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Heidegger hat in Sein und Zeit einen bemerkenswerten Ansatz der Erläuterung des mensch
lichen Weltverhältnisses entwickelt. Dieser Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er in
wesentlichen Punkten mit der philosophischen Tradition zu brechen sucht. Heidegger macht
geltend, dass die zentralen Aspekte des menschlichen Weltverhältnisses auf der Basis prob
lematischer ontologischer Vorentscheidungen verstanden worden sind. Die Struktur der
menschlichen Lebensform lässt sich aus seiner Sicht nicht mit Begriffen wie denen von Sub
jekt und Objekt, Geist und Natur, Bewusstsein und Außenwelt erläutern. Heideggers Anspruch
besteht entsprechend darin, die problematischen ontologischen Vorentscheidungen, die für
die Tradition leitend waren, abzuschütteln. Auf diese Weise will er die zentralen Aspekte des
menschlichen Weltverhältnisses neu begreifen.
Will man Heidegger an diesem Anspruch messen, ist es entscheidend, sich zu fragen,
welches die zentralen Aspekte des menschlichen Weltverhältnisses sind, die Heidegger neu
zu fassen versucht. Geht es zum Beispiel um die menschliche Praxis oder um das menschliche
Denken?1 Ich bin der Meinung, dass diese möglicherweise von Sein und Zeit besonders nahe
gelegten Themen nicht diejenigen sind, die im Zentrum von Heideggers Neuentwurf stehen.
Im Zentrum steht die Frage nach dem Selbstverhältnis. Heidegger geht es darum, das Selbst
verhältnis als zentralen Aspekt der menschlichen Lebensform angemessen zu verstehen. Dies
ist verbunden mit der These, dass in der Tradition das Selbstverhältnis auf Grund falscher
ontologischer Vorentscheidungen nicht richtig begriffen wurde.2
Heidegger hat in unterschiedlicher Weise deutlich gemacht, dass das Selbstverhältnis das
große Thema von Sein und Zeit ist. Aufschlussreich ist hier bereits die grundlegende Formel,
mit der Heidegger den Begriff des Daseins erläutert. Es handelt sich um ein „Seiendes, dem
es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“.3 Dasein ist ein Seiendes mit Selbstverhältnis.
Deutlich wird das Selbstverhältnis als das Zentrum von Sein und Zeit auch in der wichtigen
Unterscheidung von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit. Wie Heidegger in § 27 sagt, geht
es hier um eine Unterscheidung zweier Realisierungsweisen von Selbstverhältnis. Heidegger
1
Vgl. hierzu zum Beispiel die wichtigen Interpretationen von Dreyfus (1991) und von Figal (1988).
2
Mit dieser grundlegenden Diagnose schließt Heidegger nahtlos an die Diskussionen nach Kant an.
Kants Erläuterung der „transzendentalen Apperzeption“ macht bereits geltend, dass das Selbstver
hältnis nicht als eine Erkenntnisbeziehung zu begreifen ist. Schelling und Hegel haben diesen Ge
danken weiterentwickelt. Es wäre eine eigene Untersuchung, Heideggers Ansatz in seinen Unter
schieden und Affinitäten zu den Positionen Kants und Hegels zu beleuchten.
3
Heidegger (1986), 12 (im Folgenden als „SuZ“).
bezeichnet die uneigentliche Realisierungsweise als „Man-selbst“ und spricht für die eigent
liche Realisierungsweise von einem „eigentlichen […] Selbst“.4 Schließlich sucht die zusam
menfassende Frage des ersten Teils von Sein und Zeit das Selbstverhältnis in spezifischer
Weise zu fassen. Heidegger fragt danach, wie Dasein eine Ganzheit zu realisieren vermag,
und antwortet auf diese Frage mit dem Begriff der „Sorge“.5 Dieser Begriff ist Heideggers
Vorschlag für eine neue Fassung des Selbstverhältnisses. Nicht zuletzt wird in den Grund-
problemen der Phänomenologie deutlich, dass Heidegger im Umfeld von Sein und Zeit das
Projekt verfolgt, das Selbstverhältnis in neuer Weise zu erläutern. An zentraler Stelle heißt es
hier unter dem Titel „Das grundsätzliche Problem der Mannigfaltigkeit der Weisen des Seins
und der Einheit des Seinsbegriffs überhaupt“ in einem Resümee der Überlegungen6: „Aus
dem recht begriffenen Selbstverständnis des Daseins ergibt sich, daß die Analyse des Selbst
bewußtseins die Aufklärung der Existenzverfassung voraussetzt.“7
Dies sind einige Anhaltspunkte dafür, dass das Selbstverhältnis im Zentrum von Sein und
Zeit steht. Ich denke also, dass Heidegger eine Fragestellung fortführt, die die Philosophie der
Neuzeit und der Moderne beherrscht hat. Es handelt sich um die Fragestellung, die in den Phi
losophien von Descartes, Locke, Kant, Hegel und vielen anderen im Zentrum steht und über
die in Neuzeit und Moderne viele entscheidende Dispute geführt worden sind. Auch wenn
Heidegger Begriffe wie diejenigen des Bewusstseins und des Subjekts zurückweist, so weist
er doch nicht die Frage zurück, auf die diese Begriffe als Antwort entwickelt worden sind: die
Frage, wie das Selbstverhältnis als zentraler Aspekt der menschlichen Lebensform zu begrei
fen ist. Heidegger schließt in dieser Frage an die Positionen an, von denen er sich rhetorisch
zugleich distanziert. Er steht, so gesehen, doch in einer tieferen Kontinuität zu Philosophien
der Neuzeit und Moderne, als er dies suggeriert.
Worin besteht nun Heideggers Vorschlag in Bezug auf die Erläuterung des Selbstverhält
nisses? Heidegger macht geltend, dass dieses Verhältnis auf Beziehungen beruht, die man
vorerst als praktisch-produktiv charakterisieren kann. Der Begriff der Sorge ist in Sein und
Zeit der Grundbegriff für diese Beziehungen. Er arbeitet damit an einem Ansatz, der in neuer
Weise ein praktisches Verständnis des Selbstverhältnisses zu gewinnen sucht. Aus diesem
Grund setze ich in den folgenden Erläuterungen bei der empiristischen Tradition an und dort
vor allem bei Positionen, die das Selbstverhältnis gleichermaßen als ein praktisch-produk
tives Verhältnis zu deuten suchen. Anhand dieser Positionen lassen sich gut die Probleme
verständlich machen, auf die Heidegger in seiner Erläuterung des Selbstverhältnisses antwor
tet. Auf diese Erläuterung komme ich nach drei knappen einleitenden Teilen im vierten und
fünften Teil zu sprechen. Im abschließenden sechsten Teil schließlich überlege ich kurz, wo
eine Kritik an Heidegger und in diesem Sinn eine Weiterentwicklung seiner Position ansetzen
kann.
4
Vgl. ebd., 129.
5
Vgl. bes. ebd., § 41. Dass Heidegger mit diesem Begriff die Struktur des Selbst zu erläutern sucht,
wird auch deutlich, wenn er sagt: „Der Ausdruck ‚Selbstsorge‘ nach der Analogie von Besorgen und
Fürsorge wäre eine Tautologie.“ (SuZ, 193)
6
Dies ist die Überschrift des § 15 der Grundprobleme der Phänomenologie (Heigegger 2005, 219).
7
Ebd., 249.
Unter anderem auf John Locke geht ein Problem zurück, das ich als grundlegendes Problem
einer Theorie des Selbstverhältnisses verstehe. Locke erläutert die Identität der Person auf
Grundlage des Begriffs der Erinnerung. Es ist seine These, dass all die Erinnerungen, deren
ein Subjekt sich als seiner Erinnerungen bewusst ist, die Identität der Person ausmachen.8 Es
ist leicht zu sehen, dass diese Erklärung voraussetzt, was sie erklären will. Die Identifikation
einer Erinnerung als eigener Erinnerung setzt genau die einheitliche Person voraus, die erklärt
werden soll. Eine Erinnerung ist nur dann eigen, wenn sie der einheitlichen Person zugehört.
Damit aber kann der Bezug auf eigene Erinnerungen die Identität der Person nicht erklären.
Ich bezeichne das Problem, das hier zu Tage tritt, als Selbst-Identifikations-Problem. Dieses
Problem kann ich durch eine einfache Frage umreißen: Muss ich nicht bereits wissen, dass
ein Zustand zu mir gehört, um ihn in die einheitliche Perspektive eines Selbst einbeziehen zu
können? Ist mit einem solchen Wissen nicht die Einheit des Selbst immer in der Erklärung
vorausgesetzt? Oder thetisch gesagt:
[Selbst-Identifikations-Problem] Ein Zustand lässt sich nur dann als ein solcher iden
tifizieren, der der Einheit eines Selbst angehört, wenn er selbst diese Einheit aufweist.
Die Einheit des Selbst kann aus diesem Grund nicht auf Basis von Identifikationen
bestimmter Zustände als eigener Zustände erklärt werden, da hier in der Erklärung
vorausgesetzt ist, was erklärt werden soll.
Das Selbst-Identifikations-Problem hat einige neoempiristische Autoren dazu bewogen, als
zentralen Begriff in der Erläuterung den Begriff der „Quasi-Erinnerung“ einzuführen.9 Mit
tels dieses Begriffs soll der Bezug gegenwärtiger Zustände auf erinnerte Zustände so gefasst
werden, dass er die Einheit des Selbst nicht bereits voraussetzt. Der Begriff der Quasi-Erinne
rung (auf den ich hier nicht weiter eingehen will) ist somit ein Symptom für das grundlegende
Problem, dem sich Theorien des Selbst ausgesetzt sehen.
Dieses Problem tritt nicht nur bei empiristischen Positionen auf. In einer anderen Form
prägt es die Reflexionstheorien des Selbstbewusstseins, die auch als Subjekt-Objekt-Theorien
des Selbstbewusstseins bezeichnet worden sind.10 Diesen zufolge gewinnt das Selbst dadurch
seine Einheit, dass es sich selbst objektiviert oder – anders gesagt – dass es auf sich reflektiert.
Die Reflexion, von der hier die Rede ist, lässt sich gut mit der Spiegelmetapher veranschauli
chen. Wenn jemand in den Spiegel blickt, sieht er sein eigenes Spiegelbild. Er erkennt sich in
dem Spiegelbild allerdings nur, wenn er bereits weiß, dass das im Spiegel Gesehene er selbst
ist. Das Erkennen im Spiegel kann also die Einheit des Selbst nicht erklären. Es setzt diese
Einheit vielmehr voraus.
8
Vgl. Locke (1988), II.xxvii, 9.
9
Vgl. Shoemaker (1999) und Parfit (1999).
10
Vgl. unter anderem Henrich (1970); Zahavi (2005).
besonderem Interesse: Positionen, die die für das Selbstverhältnis grundlegenden Beziehungen
nicht als Erkenntnisbeziehungen fassen, sondern diese Beziehungen als produktiv zu denken
suchen. Paradigmatisch hierfür sind narrativistische Ansätze, unter anderem derjenige von
Daniel Dennett, der einen vielversprechenden Versuch unternimmt, das Selbst-Identifikations-
Problem zu lösen. Um seinem Ansatz Kontur zu verleihen, hat Dennett ein Gedankenexperiment
vorgeschlagen. Der Protagonist dieses Gedankenexperiments ist der Roboter Gilbert. Dieser ist
mit unterschiedlichen Modulen ausgestattet, um sich in Umgebungen zu orientieren, um sich zu
bewegen, um Tätigkeiten auszuführen etc. Der Roboter verfügt allerdings noch über ein wei
teres Modul. Es handelt sich um ein narratives Modul. Dieses narrative Modul hält unentwegt
erzählend fest, was Gilbert macht. Wenn Gilbert die Straße entlang läuft, produziert das Modul
sprachliche Token wie „Gilbert läuft die Straße entlang“, wenn er einen Aufsatz schreibt, hin
gegen Token wie „Gilbert schreibt am 7. September 2011 an einem Aufsatz über Heideggers
Begriff des Selbstverhältnisses“. In seiner Produktion einer Erzählung verfolgt das narrative
Modul dabei ein gewisses Ideal. Alle Momente in Gilberts Aktionen und Widerfahrnissen wer
den so erzählt, dass sie in eine „einzige, gute Geschichte“11 passen. Was der Roboter Gilbert
macht und was ihm in seinen Umgebungen begegnet, wird von dem Erzählmodul sprachlich
artikuliert und in eine zusammenhänge Geschichte eingebunden.
Genau dies soll verständlich machen, inwiefern wir uns als Wesen mit einer einheitlichen
Perspektive verstehen können. Der subjektive Eindruck, dass es mir in besonderer Weise
um mich geht, dass ich es bin, der irgendwelche Wahrnehmungen macht oder irgendwelche
Handlungen vollbringt, ist Dennett zufolge dadurch zu erklären, dass wir narrativ veranlagt
sind. Die Konstitution eines einheitlichen Selbst lässt sich damit folgendermaßen erklären:
[Dennett: Narrative Konstitution des Selbst] Die Einheit des Selbst konstituiert sich
dadurch, dass ein narratives Modul eine einheitliche Erzählung entwickelt, innerhalb
deren das Selbst als Protagonist entfaltet wird.
In diesem Sinn erläutert Dennett das Selbst als das Gravitationszentrum einer Erzählung, als
ein „center of narrative gravity“.12 Das Selbst ist, so gesehen, eine fiktive Größe. Es ist nicht
real, sondern nur eine Figur in einer Erzählung, die ein bestimmtes Modul unserer neuronalen
Architektur hervorbringt.
Diese Erläuterung soll das Selbst-Identifikations-Problem dadurch lösen, dass sie die Ein
heit des Selbst als produktiv konstruiert begreift. Die Einheit wird nicht durch Identifikatio
nen (Erinnerungsbeziehungen) begründet. Sie wird durch das narrative Modul konstruiert.
Alles, was in dessen Erzählung einbezogen wird, ist für die Einheit des Selbst relevant. Das
narrative Modul hat die Regie. Es entscheidet, was zu der Einheit des Selbst gehört und was
nicht. Bei Gilbert ist damit nichts weiter vorausgesetzt als ein neuronales Modul, das eine
zusammenhängende Erzählung hervorbringt. Der von diesem Modul produzierte Charakter
ist fiktiv. Für das reale Tun des Roboters spielt das Selbst keine Rolle.
Auch wenn Dennetts Erläuterungen so gerade in einem neoempiristischen Umfeld vielver
sprechend sind, können sie dennoch in mindestens einem Punkt nicht überzeugen. Dieser Punkt
lässt sich folgendermaßen umreißen: Dennett zufolge erzählt das narrative Modul all das, was
Gilbert betrifft, im Nachhinein. Dies wird aber der Sprachlichkeit eines Selbst nicht vollständig
gerecht. Die Sprachlichkeit eines Selbst muss so erläutert werden, dass einige seiner sprach
lichen Äußerungen im Vorhinein Elemente des sonstigen Verhaltens festlegen. Das narrative
Modul Gilberts bringt demnach nicht nur eine Erzählung ex post hervor. Es produziert immer
11
Dennett (1992), 114.
12
Vgl. ebd.
wieder auch Äußerungen, die für das Verhalten Gilberts Konsequenzen haben. So sagt Gil
bert zum Beispiel: „Ich bereite jetzt ein Abendessen.“ Eine solche Äußerung lässt sich nicht so
begreifen, dass sie etwas sprachlich artikuliert, das unabhängig von dieser sprachlichen Artiku
lation stattfindet. Wenn Gilbert erzählt, er bereite nun ein Abendessen, dann hat diese Erzählung
Konsequenzen für das, was er in der Folge tut. Die Erzählung ist mit dem Anspruch verbunden,
etwas über das Verhalten zu sagen, das Gilbert im nächsten Moment zeigt. Dennett räumt indi
rekt durchaus ein, dass die erzählte Geschichte sich in dieser Weise auch in der Auseinanderset
zung mit der Welt niederschlagen kann.13 Sofern dies aber gilt, kann die Einheit des Selbst nicht
allein auf narrativen Beziehungen beruhen. In diese Einheit geht dann immer wieder auch das
nichtsprachliche Verhalten, das Gilbert an den Tag legt, als solches ein.
Das Defizit, das sich in Dennetts Erläuterungen zeigt, ist von allgemeiner Bedeutung für
die Theorie des Selbst. Es hat sich in Philosophien der Neuzeit und Moderne immer wieder
in unterschiedlicher Weise manifestiert. Ich bezeichne dieses Problem als Festlegung-durch-
Artikulation-Problem. Wiederum will ich es zuerst durch eine Frage umreißen: Wie können
Artikulationen anderweitiges Verhalten festlegen? Wie kann das narrative Verhalten eines
Selbst als ein Verhalten verstanden werden, das anderes Verhalten dieses Selbst bindet? Auch
dieses Problem will ich noch einmal thetisch fassen:
[Festlegung-durch-Artikulation-Problem] Sofern die Einheit des Selbst (auch) auf nar
rativen Artikulationen beruht, müssen diese so verstanden werden, dass sie auch das von
den narrativen Artikulationen verschiedene Verhalten dieses Selbst festzulegen vermö
gen. Wenn man die Artikulationen als solche begreift, die im Nachhinein erfolgen, wird
genau dies nicht erklärt.
Da Dennetts Vorschlag dieses Problem nicht löst, kann er nicht zufrieden stellen.
David Velleman hat Dennett gegenüber eine Kritik vorgebracht, wie ich sie gerade in ihren
Grundzügen dargestellt habe. Auch wenn er nicht das grundsätzliche Problem geltend macht,
das ich benannt habe, so macht er doch verständlich, inwiefern Dennett eine Voraussetzung
macht, die er in seinen Erläuterungen nicht einholt. Es handelt sich um die Voraussetzung, dass
die Erzählung des narrativen Moduls sich in Gilberts Auseinandersetzung mit der Welt nieder
schlagen kann. Velleman hat einen Vorschlag unterbreitet, wie man die von Dennett implizit
gemachte Voraussetzung einholen kann. Dieser Vorschlag lässt sich in folgender These fassen:
[Velleman: Narrative Konstitution des Selbst] Die Einheit des Selbst konstituiert sich
dadurch, dass ein narratives Modul sprachliche Artikulationen entwickelt und anderes
öffentlich wahrnehmbares Verhalten so steuert, dass es mit den sprachlichen Artikula
tionen kohärent ist.14
Velleman zufolge besteht zwischen den autobiographischen Erzählungen Gilberts und seinem
sonstigen Verhalten ein verschränktes Passungsverhältnis. Einerseits sind die Erzählungen des
narrativen Moduls vielfach an dem Verhalten orientiert, das die sonstigen Module der neuro
13
So schreibt Dennett zum Fall einer Patientin mit multipler Persönlichkeit: „And, of course, since
Sybil was a sort of living novel, she went out and engaged the world with these new selves, more or
less created on demand, under the eager suggestion of a therapist.“ (Dennett 1992, 111)
14
Vgl. Velleman (2005), 212 ff.
nalen Architektur Gilberts hervorbringen. Andererseits aber bringen diese sonstigen Module
immer wieder auch ein Verhalten hervor, durch das die von Gilbert erzählte Geschichte realisiert
wird. Wenn das narrative Modul die Äußerung „Ich bereite jetzt ein Abendessen“ produziert,
muss ein äußerlich wahrnehmbares Verhalten folgen, das dieser Ankündigung gerecht wird. Die
Sprachproduktion des narrativen Moduls ist also nicht nur so zu verstehen, dass sie ein Verhal
ten in der Welt nachträglich beschreibt. Sie muss dieses Verhalten auch prägen können.
So spitzt Velleman ein praktisch-produktives Verständnis des Selbstverhältnisses zu. Er
folgert aus seinen Überlegungen, dass das narrative Modul die Aktivitäten anderer neuronaler
Module steuern können muss. Das narrative Modul muss als der „zentrale Kontrolleur“15
aller Module des narrativistisch veranlagten Roboters verstanden werden. Damit allerdings
verändert sich, darauf insistiert Velleman, die Stellung des Protagonisten der Erzählung. Er
ist nicht nur – wie Dennett meint – eine fiktive Größe, die in einer Erzählung besteht, deren
innerer Schwerpunkt für die wirkliche Welt irrelevant ist. Der Protagonist der Erzählung ist
eine Größe, die in der wirklichen Welt auftritt.16 Sie tritt in dem Maße auf, wie die Erzählung
des narrativen Moduls auch das öffentlich wahrnehmbare Verhalten prägt, das andere neuro
nale Module hervorbringen.
Ich halte diese von Velleman gegebene Erklärung im Grundsatz für weiterführend. Den
noch kann auch sie nicht überzeugen. Sie bringt nämlich eine Variante des Selbst-Identifika
tions-Problems mit sich. Dieses neuerliche Problem kann ich folgendermaßen artikulieren:
[Velleman: Selbst-Identifikations-Problem*] Ein öffentlich wahrnehmbares Verhalten
lässt sich nur dann als eines identifizieren, das mit den sprachlichen Artikulationen eines
bestimmten Selbst kohärent sein muss, wenn es ein eigenes Verhalten ist, wenn es also
die Einheit des Selbst aufweist. Damit ist wiederum in der Erklärung vorausgesetzt, was
erklärt werden soll.
Das Selbst-Identifikations-Problem hat hier folgende, wie mir scheint, paradigmatische
Struktur: Der faktisch hergestellte Zusammenhang von Zuständen soll die Einheit des Selbst
erklären. Auf welcher Basis allerdings wird der Zusammenhang faktisch hergestellt? Zustän
de müssen als solche identifiziert werden, die in den Zusammenhang gehören. Es muss für
das Subjekt, das seine Einheit konstituiert, erkennbar sein, dass Zustände zu ihm gehören.
Somit setzt eine entsprechende Theorie voraus, was sie erklären will: die Einheit des Selbst.
Ich komme damit zu folgendem Zwischenstand: In den betrachteten Positionen werden
zwei Probleme nicht in zufrieden stellender Weise in Verbindung miteinander gelöst. Fol
gende Fragen stehen damit im Raum: Wie lassen sich bestimmte Zustände so begreifen, dass
sie zur Einheit eines Selbst gehören, ohne dass diese Einheit in den Zuständen vorausgesetzt
wird? Inwiefern hängt die Einheit dabei zugleich damit zusammen, dass ein Selbst durch
Artikulationen sein von den Artikulationen verschiedenes Verhalten zu prägen vermag?
Ich bin der Meinung, dass Heideggers Sein und Zeit – zumindest implizit – an einer Antwort
auf diese beiden Fragen arbeitet. Heideggers Neuansatz ist mit dem Anspruch verbunden, diese
charakteristischen Probleme in der Theorie des Selbst zu lösen. Ich will zuerst den Versuch
15
Ebd., 212.
16
Vgl. ebd., 216.
unternehmen, Heideggers Lösungen der zwei Probleme im Kern anzuzeigen, und gehe dann
genauer auf Heideggers Ansatz und auf Fragen der Interpretation ein.
Heidegger löst das Selbst-Identifikations-Problem dadurch, dass er die für die Einheit
des Selbst konstitutiven Beziehungen weder als kognitive Beziehungen erläutert, die auf die
Vergangenheit gerichtet sind, noch als produktive Beziehungen, die sich in der Gegenwart
realisieren. Er erläutert sie vielmehr als produktive Beziehungen, die auf die Zukunft gerich
tet sind.17
[Einheit ohne Identifikation] Die Einheit des Selbst konstituiert sich durch die Bindung
an eine unbestimmte Zukunft. Diese Bindung wird durch Zustände realisiert, die aus
der Vergangenheit kommend dadurch gegenwärtig sind, dass sie eine zukunftsgerichtete
Festlegung eingehen.
Mit dieser Erläuterung wird das Selbst-Identifikations-Problem dadurch gelöst, dass der pro
duktive Charakter des Selbstverhältnisses auf die Zukunft hin verlagert wird. Die Einheit
des Selbst beruht, so gesehen, nicht auf einer Einbindung vergangener oder gegenwärtiger
Zustände. Vielmehr besteht sie in einer Bindung an die Zukunft. Die Einheit des Selbst lässt
sich so nicht als ein faktischer Zusammenhang, als eine faktisch abgeschlossene Einheit
begreifen. Vielmehr ist es für sie konstitutiv, dass immer noch etwas aussteht. Heidegger
formuliert es so: Sein Sein ist für das Dasein immer das, was es zu sein hat.18 Die Einheit des
Selbst kommt dadurch zu Stande, dass das Selbst sich aus vergangen-gegenwärtigen Zustän
den heraus voraus ist. Nun gilt es allerdings zu erklären, wie eine solche Bindung an die
Zukunft zu verstehen ist. Die hier gesuchte Erklärung liefert eine Lösung für das Festlegung-
durch-Artikulation-Problem.
[Festlegung durch Artikulation] Die Bindung an zukünftige Zustände beziehungsweise
Praktiken resultiert aus festlegenden Artikulationen. Die Einheit des Selbst stellt sich
durch Artikulationen her, die eine Zukunft zu prägen beanspruchen.
Die Festlegungen, von denen ich hier spreche, fasst Heidegger unter anderem mit dem Begriff
der Ausgelegtheit. Dasein ist, so Heidegger, immer ausgelegt. Auslegungen stellen eine Bin
dung an die Zukunft her. Damit kommt ein (stets unabgeschlossener) Zusammenhang zwi
schen Auslegungen und zukünftigen Zuständen beziehungsweise Praktiken zu Stande. Dieser
Zusammenhang macht das Selbstverhältnis aus. Die Bindung an die Zukunft ist nicht kogni
tiv, das heißt prognostisch. Sie hat einen normativen Charakter, wobei zu klären ist, was
„normativ“ hier besagt.
Es deutet sich damit an, inwiefern eine Erläuterung wie diejenige Vellemans aus Heideg
gers Perspektive problematisch ist. Die Festlegung wird von Velleman so erläutert, dass sie
immer bereits stattgefunden hat. Velleman zufolge konstituiert sie sich im Übergang von der
Vergangenheit zur Gegenwart. Damit aber ist aus Heideggers Sicht die Einheit des Selbst nicht
zu begreifen, da unklar bleibt, was zu dieser Einheit gehört. Diese Frage hingegen lässt sich
beantworten, wenn man das Selbstverhältnis unter Rekurs auf eine Bindung an die Zukunft
17
Heidegger erläutert den Zukunftsbezug unter anderem mit der Formulierung, dass das Dasein „ist,
was es wird bzw. nicht wird, […]“ (SuZ, 145). Eine andere Formulierung lautet: „das Dasein ist ihm
selbst in seinem Sein je schon vorweg“ (SuZ, 191).
18
Dieses Moment wird in der Interpretation von Tugendhat, auf die ich unten noch zurückkomme,
betont: „Heideggers These ist also: wir verhalten uns, solange wir existieren, zu diesem Existieren,
und zwar zu dem jeweils künftigen, wobei künftiges heißt: das im gegenwärtigen Moment zu voll
ziehende, und darüber hinaus freilich das ganze künftige Sein. Dieses Sein ist uns vorgegeben als
ein solches, das wir zu sein haben und um das es uns geht, […].“ (Tugendhat 1979, 177)
erklärt. In einer auslegenden Bindung an die Zukunft wird bestimmt, was zur Einheit eines
bestimmten Selbst gehört. Zugleich ist diese Einheit damit als eine wesentlich offene Einheit
konstituiert. Es ist für ein Selbst wesentlich, dass es sich niemals in einem abschließenden
Sinne realisieren kann. Die Einheit des Selbst resultiert auf einer konstitutiv unabgeschlos
senen Beziehung. Solange man sie als eine faktisch geschlossene Einheit denkt, kann man nur
voraussetzen, dass die Einheit des Selbst in allen seinen Zuständen vorliegt. Damit aber ist,
so macht Heidegger geltend, nichts erklärt.19 Die Lösung des Festlegung-durch-Artikulation-
Problems, die Heidegger vorschlägt, besteht also in dem Gedanken, die von der Artikulation
festgelegten Zustände als solche zu fassen, die immer noch ausstehen.20 Wenn man sie in
dieser Weise fasst, wird verständlich, dass die Einheit aus Festlegungen resultiert.
Ich will nun die soweit angezeigte Position Heideggers dadurch weiter schärfen, dass
ich den Thesen, die ich Heidegger zuschreibe, im Vokabular von Sein und Zeit etwas mehr
Kontur verleihe. Heidegger geht davon aus, dass Dasein immer praktisch in der Welt orien
tiert ist. Dasein ist In-der-Welt-sein, und das heißt: Es versteht sich aus einem Mit-sein mit
anderen heraus auf vielfältiges Zuhandenes in den Beziehungen, in denen dieses konstituiert
ist. Heidegger allerdings ist, anders als Interpreten es ihm immer wieder zuschreiben, nicht
der Meinung, dass Dasein aus seinem Umgang mit Zuhandenem heraus in seinem Verste
hen zu begreifen ist. Es gibt nach Heideggers Verständnis nicht nur die Zusammenhänge
unter Zuhandenem als solche, die sich zum Beispiel durch Handlungstypen und Typen von
Antworthandlungen fortschreiben.21 Es gibt nicht nur das, was Hubert Dreyfus nicht müde
wird als ein „involved coping“ in seinem grundlegenden Charakter zu betonen.22 Entspre
chend pragmatistische Interpretationen von Sein und Zeit übergehen ein Moment, das gerade
für Heideggers Erläuterung des Selbstverhältnisses zentral ist. Heidegger kommt auf dieses
Moment unter anderem in § 31 zu sprechen. Dort heißt es, dass dem Dasein mit den prak
tischen Verständnissen Möglichkeiten eröffnet sind. Die Möglichkeiten aber bieten als solche,
so argumentiert Heidegger, keine Orientierung. Orientierung gewinnt Dasein nur dadurch,
dass es innerhalb ihrer eine bestimmte Perspektive verfolgt. Heidegger bezeichnet eine solche
Perspektive als „Entwurf“. Dasein entwirft sich in seinen Möglichkeiten (wobei solche Mög
lichkeiten, wie Heidegger unter anderem am Phänomen der Angst analysiert, immer wieder
auch prekär sein können). Ein Entwurf stiftet einen Zusammenhang vielfältiger praktischer
Verständnisse dadurch, dass er diese auf eine bestimmte Perspektive hin orientiert.
Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Die Beherrschung von Praktiken des Unter
richtens, des Schreibens, des Vortragens, des kollegialen Gesprächs, der Mitarbeit in Gre
19
Heidegger kommt auf diese Zusammenhänge in seiner Explikation des Seins zum Tode direkt zu
sprechen. Er argumentiert hier, dass sich mit dem Tod keine Ganzheit des Daseins herstellt. Wenn
man eine solche Ganzheit gegeben sehe, verfehle man die spezifische Einheit, die das Dasein im
Zukunftsbezug gewinnt, setze also zu Unrecht voraus, dass die Einheit in einer gegenständlichen
Weise verstanden werden könne (vgl. bes. SuZ, 245).
20
William Blattner artikuliert diesen Aspekt von Heideggers Position, indem er diesem eine „unat
tainability thesis“ zuschreibt. In Blattners Worten lautet diese: „The Unattainability Thesis: Dasein’s
proper ability characteristics are not attainable.“ (Blattner 1999, 82) Auch wenn ich Blattner grund
sätzlich zustimme, ist seine Artikulation meines Erachtens ein wenig irreführend, da er den Aspekt
negativ fasst. Positiv kann man ihn unter anderem fassen, indem man sagt, dass nach Heidegger die
Einheit des Selbst durch eine Beziehung auf etwas konstituiert wird, das immer noch aussteht.
21
Vgl. hierzu Robert Brandom (1997), 536–540; Haugeland (1982), 15–26.
22
Vgl. hierzu unter anderem Hubert Dreyfus in seinen Interpretationen von Sein und Zeit (1991) und
jüngst in seinen Beiträgen der Debatte mit McDowell: Dreyfus (2005), 47–65; ders. (2007), 352–
365.
23
SuZ, 148.
24
Vgl. hierzu ebd., § 32.
25
Den Zusammenhang von Auslegung und Rede in Heideggers Erläuterungen betont auch Taylor
Carman (2003), 5. Kap.
26
Vgl. SuZ, 133, 161.
27
Ebd., 162.
28
In Heideggers Text heißt es: „Rede […] liegt […] der Auslegung […] zugrunde.“ (SuZ, 161)
29
In diese Richtung dieser These weist auch die Interpretation von Friedrich-Wilhelm von Herrmann
(2004), 198–224.
30
Vgl. SuZ, § 33.
31
Ebd., 169.
Autorität, mit der Auslegungen „zunächst und zumeist“ verbunden sind. Die Autorität geht
von einem anonymen Kollektiv aus – von einem Kollektiv, das in seiner Identität unbestimmt
ist. Dieses Kollektiv ist für Heidegger keine faktische Größe, es ist eine normative Instanz.
Entsprechend heißt es bei Heidegger: „Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar
nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.“32 Die normative Instanz
des Man erlegt einzelnen Instanzen von Dasein (einzelnen Individuen) Auslegungen auf und
fungiert damit als Autorität der Bindung an die Zukunft, der Prägung zukünftiger Verständ
nisse. Die Autorität wirkt durch die entwerfenden Artikulationen. So heißt es bei Heidegger
weiter: „Das Man-selbst, worum-willen das Dasein alltäglich ist, artikuliert den Verweisungs
zusammenhang der Bedeutsamkeit.“33 Aus dieser Erläuterung der Autorität folgt, dass das
Selbst der Alltäglichkeit, das „Man-Selbst“, kollektiv ist. Die Einheit des Selbst, die sich
unter der Autorität der Auslegungen des Man herstellt, ist die eines anonymen Kollektivs.
An dieser Einheit partizipieren viele Individuen, die mit ihren Praktiken und entwerfenden
Akten der Rede diese Einheit realisieren. Nun kann man einwenden, dass mit dem Begriff
der Autorität Heideggers Erläuterung des Man überzeichnet wird. Heidegger mache doch
allein geltend, dass das menschliche Weltverhältnis immer aus einer Tradition herkommt, zu
deren Erbe man sich verhalten muss. Ein entsprechender Einwand aber fasst die Tradition als
ein faktisch Gegebenes und wird genau darin Heideggers Erläuterungen nicht gerecht. Die
Tradition ist nichts faktisch Gegebenes, sondern normativ wirksam. Sie leitet Prägungen von
Zukunft und leistet genau in dieser Weise einen aus Heideggers Sicht irreduziblen Beitrag zur
Konstitution des Selbstverhältnisses. Zwar belässt es Heidegger in Sein und Zeit nicht dabei,
das Selbstverhältnis allein vom Man-Selbst her zu begreifen. Es geht ihm zentral auch um die
Frage, wie sich aus dem kollektiven Selbstverhältnis heraus individuelle Selbstverhältnisse
bilden können. Mit dem alltäglichen Man-Selbst aber ist aus seiner Sicht die Struktur des
Selbstverhältnisses erläutert. Aus diesem Grund ist Heideggers Lösung der Probleme, die
sich im Zusammenhang mit der Einheit des Selbst stellen, nun in ihren Grundzügen absehbar.
Bevor ich mit meinen Überlegungen fortschreite, will ich seine Lösung noch einmal kurz
resümieren: Velleman hat das Zusammenspiel von sprachlichen Artikulationen und nichtsprach
lichen Praktiken so erläutert, dass das Problem der Identifikation zurückkehrt: Es müssen
jeweils die nichtsprachlichen Praktiken identifiziert werden, die mit den Erzählungen eines
Selbst kohärent sein müssen. Heidegger löst dieses Problem, indem er den Zusammenhang von
Artikulationen und praktischen Verständnissen als zukunftsgerichtet versteht. Einzelne wachsen
in eine Praxis zukunftsgerichteter Artikulationen und der entsprechenden Prägung praktischer
Verständnisse hinein. Ihr Selbstverhältnis ist im Rahmen einer solchen Praxis konstituiert.
Heideggers Neuansatz in der Philosophie ist, so habe ich eingangs gesagt, daran orientiert,
falsche ontologische Vorentscheidungen abzuschütteln. Dies geschieht mit dem Ziel, zentrale
Aspekte des menschlichen Weltverhältnisses angemessener erläutern zu können, als dies Vor
gängerpositionen gelungen ist. Ich habe versucht zu zeigen, inwiefern es Heidegger dabei in
erster Linie um eine angemessene Fassung des Selbstverhältnisses – oder anders gesagt: der
32
Ebd., 127.
33
Ebd., 129.
Einheit des Selbst – geht. Heidegger erläutert das Selbstverhältnis als ein praktisch-produk
tives Verhältnis und argumentiert, dass ein solches Verhältnis nur auf Basis einer Bindung
an die Zukunft zu Stande kommt. Eine solche Bindung wiederum leisten, so Heidegger, aus
legende Praktiken, in die einzelne Instanzen von Dasein (einzelne Individuen) im Rahmen
eines Kollektivs hineinwachsen. Das Selbstverhältnis ist so nicht von einem einzelnen Indivi
duum her, sondern nur unter Rekurs auf eine gemeinschaftliche Praxis zu begreifen.
Dieser Gedanke Heideggers lässt sich schärfen, wenn man ihn mit einer Interpretation
John Haugelands konfrontiert. Haugeland erläutert Heidegger so, dass es ihm darum gehe,
Personen als Institutionen zu verstehen, als in einer gesellschaftlichen Praxis konstituierte
„units of accountability“.34 Mit dieser Erläuterung aber verfehlt Haugeland die Pointe von
Heideggers Erläuterungen. Heidegger vertritt mit seinem Rekurs auf eine kollektive Ausge
legtheit keinen solchen Institutionalismus (wie Haugeland ihm dies zuschreibt).35 Die kollek
tive Ausgelegtheit ist bei Heidegger vielmehr die Erklärung für die Verfügbarkeit von Prak
tiken, mittels derer einzelne Individuen sich an zukünftige Zustände binden und so in einem
Selbstverhältnis stehen. Sie bauen dieses Selbstverhältnis nicht auf, sondern empfangen es
gewissermaßen aus der Praxis heraus, in die sie hineinwachsen. Heideggers These ist gerade,
dass ein Selbst nicht als Einheit (unit) begriffen werden kann, die auf eine abgeschlossene
Weise konstituiert ist. Das Kollektiv ist also nicht der Rahmen, innerhalb dessen Individuen
als bestimmte und abgeschlossene Einheiten konstituiert werden. Das Kollektiv ist vielmehr
der Hintergrund, der sowohl die Formen von Praktiken als auch konkrete Realisierungen
dieser Praxisformen bereitstellt, aus denen sich ein Selbstverhältnis realisiert. Das Kollektiv
als solches stellt das Selbstverhältnis nicht her, sondern nur der Zusammenhang zwischen
bestimmten Formen der Praxis (zwischen Auslegungen und zukünftig realisierten Verständ
nissen) leistet dies. Heidegger vertritt so, wie dargelegt, die Auffassung, dass die Einheit des
Selbstverhältnisses nicht ohne das Moment der Offenheit des Bezugs auf die Zukunft verstan
den werden kann. Nach Heidegger gilt es, die besondere Bindung des Bezugs auf die Zukunft
als konstitutives Moment des Selbstverhältnisses zu begreifen. Genau dies holt Haugelands
Interpretation nicht ein.36
Anders aber steht es mit der Interpretation von Ernst Tugendhat. Dieser hat in Selbst-
bewusstsein und Selbstbestimmung in bemerkenswerter Weise den Bezug auf die Zukunft
als das zentrale Element von Heideggers Erläuterungen herausgearbeitet.37 Allerdings deutet
Tugendhat diesen Bezug falsch. Er erläutert ihn so, dass ein Selbst sich auf seine Zukunft
bezieht. Das Selbst habe eine Bestimmung der eigenen Zukunft zu entwickeln.38 Es sehe sich
im Extremfall immer vor die Frage gestellt, zu sein oder nicht zu sein, und müsse diese Frage
als die praktische Grundfrage der Existenz je neu beantworten. In Tugendhats Erläuterung
ist damit wieder vorausgesetzt, was durch die von Heidegger erläuterte Struktur erst gefasst
34
Haugeland (1982), 20 f.
35
So lautet der berühmte von Haugeland geprägte Slogan: „All constitution is institution.“ (Haugeland
1982, 18)
36
Wie schon vermerkt, betrifft diese Kritik auch die Heidegger-Interpretationen von Robert Brandom
und in anderer Weise auch diejenigen von Hubert Dreyfus.
37
Dieser Aspekt wird von Tugendhat zugleich emphatisch aufgegriffen. So heißt es bei ihm: „Soweit
ich sehe, ist Heideggers Ansatz der einzige, der eine strukturell einwandfreie Aufklärung des Sich
zusichverhaltens im allgemeinen und der Selbstbestimmung im besonderen erlaubt.“ (Tugendhat
1979, 241)
38
Heideggers These hingegen lautet: Das Selbst bildet sich durch bestimmende Artikulationen in Be
zug auf zukünftige praktische Verständnisse aus.
werden soll: die Einheit des Selbst. Der Bezug auf die Zukunft geht Tugendhat zufolge so
vonstatten, dass man sich in Bezug auf zukünftiges Verhalten (rational) entscheidet. Jede ent
sprechende Entscheidung aber geht von einem bereits konstituierten Selbst aus. Ein solches
Selbst wäre tatsächlich in der Lage, sich rational zu orientieren und in diesem Sinn die prak
tische Grundfrage der Existenz zu beantworten. Heideggers These aber ist, dass die Einheit
des Selbst sich überhaupt erst durch die Bindung an die Zukunft konstituiert. Deshalb kann
der Bezug auf die Zukunft nicht von einem bereits konstituierten Selbst aus gedacht werden.
Tugendhats Missverständnis macht so nochmals deutlich, worin die Spezifik von Hei
deggers Ansatz besteht: Heidegger macht geltend, dass ein Selbstverhältnis seine Einheit
aus der Offenheit gewinnt. Die Einheit kommt nicht dadurch zu Stande, dass die Zukunft in
bestimmter Weise festgelegt wird. Eine solche Festlegung impliziert bereits die Einheit und
kann sie nicht erklären. Die Einheit basiert vielmehr auf einer Bindung an die Zukunft. Auf
Grund dieser Bindung kommt die Einheit nie zu einem Abschluss. Keine Entscheidung bezie
hungsweise konkrete Bestimmung von Zukunft kann einen solchen Abschluss herbeiführen.
Für die Einheit des Selbstverhältnisses ist es konstitutiv, dass etwas aussteht. Mit einem etwas
existenzialistischen Ton kann man es auch folgendermaßen sagen: Die Einheit des Selbstver
hältnisses ist damit verbunden, dass etwas in bestimmter Weise auf dem Spiel steht. Durch
einen bestimmten Entwurf, mit dem ein Selbst sich an die Zukunft bindet, steht es auf dem
Spiel. Dass das Dasein sein eigenes Sein zu sein hat, heißt somit nicht, dass es sich für eine
bestimmte Zukunft zu entscheiden hat, sondern dass es mit seinem bestimmten Entwurf in
der Zukunft auf dem Spiel steht. Genau dies sagt Heidegger, wenn er sagt, dass das Dasein in
seiner Ganzheit „Sorge“ ist.39
Tugendhat macht Heidegger den Vorwurf, dass diesem der Begriff der Wahrheit und der
Begriff des Guten fehle. Ohne diese Begriffe lasse sich das Sich-zur-eigenen-Zukunft-Ver
halten nicht angemessen fassen. Nun habe ich argumentiert, dass Tugendhat mit seiner Inter
pretation Heideggers Begriff der Bindung an die Zukunft verfehlt. Entsprechend bin ich auch
der Meinung, dass Tugendhats Kritik nicht greift. Nur wenn ein Selbst bereits konstituiert ist,
kann es sich in seinem Bezug auf die Zukunft dezidiert an Instanzen wie dem Guten und dem
Wahren orientieren. Wenn aber der Bezug auf die Zukunft (beziehungsweise genauer: die
Bindung an sie) das Selbst allererst konstituiert, wird nicht verständlich, wie dabei eine solche
Orientierung leitend sein könnte. Das schließt nicht aus, dass der Bezug auf die Zukunft in
sich eine normative Dimension trägt. Wie dargelegt, sagt Heidegger genau dies. Die Normati
vität muss aber in Begriffen einer praktischen Prägung verstanden werden, nicht in Begriffen
einer Orientierung an Instanzen wie dem Guten und dem Wahren.
Wenn man die Kritik Tugendhats in dieser Weise zurückweist, steht man erneut vor der
Frage, wo eine Kritik an Heideggers Position ansetzen muss (sofern man eine solche Kritik für
erforderlich hält). Meines Erachtens ist dies dort der Fall, wo ich die Erläuterungen von Hei
deggers Position am Ende des vierten Abschnitts verlassen habe. Dort habe ich Heidegger die
These zugeschrieben, dass Auslegungen mit der Autorität des Man verbunden sind. Heidegger
begreift diese Autorität als eine, die Auslegungen vorgibt. Diese Autorität ist in der kollektiven
39
Heidegger hat auf dieser Grundidee in der Erläuterung des Selbstverhältnisses auch in seiner Kritik
an Kant bestanden. So heißt es in der Vorlesung zur Kritik der reinen Vernunft: „Die Transzendenz
ist die Voraussetzung für die Möglichkeit seines [des Subjekts] Selbstseins.“ (Heidegger 1977, 315)
40
Gadamer hat die begriffliche Verbindung von Autorität und Freiheit zur Anerkennung von Autorität
in einer besonders überzeugenden Weise verteidigt; vgl. Gadamer (1990), 284.
41
Heideggers Ansatz ist also aus meiner Sicht nicht zu monologisch, wie Thomas Rentsch meint (vgl.
Rentsch 1990, 144 f.). Er ist zu kollektivistisch.
42
Die Struktur einer entsprechenden Reflexionspraxis habe ich an anderer Stelle von Hegel her erläu
tert; vgl. Bertram (2008), 877–898.
Prof. Dr. Georg W. Bertram, Freie Universität Berlin, Institut für Philosophie, Habelschwerdter
Allee 30, 14195 Berlin
43
Meine Überlegungen haben von vielen Kommentaren und Diskussionen profitiert, die ich in un
terschiedlichen Kontexten führen konnte. Besonders danken will ich David Blumenthal, Matthias
Flatscher und Holm Tetens für Kommentare und letzterem auch dafür, dass er mir in seinem For
schungskolloquium eine für mich sehr aufschlussreiche Diskussion des Textes ermöglicht hat.
Literatur
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Abstract
Since Kant, many philosophers have struggled to overcome the problems of an empiricist conception
of the self. In this paper I argue that Heidegger’s philosophy in Being and Time has to be considered as
one of the most powerful attempts to gain an anti-empiricist conception of the self and its unity. I high
light the power of Heidegger’s conception by contrasting it with contemporary empiricist conceptions,
namely those of Dennett and Velleman. The basic aspect of Heidegger’s conception can be captured by
the claim that the unity of the subject is constituted by relations to an open future.