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Roswitha Reinbothe
In Landeskunde geht es um die Kenntnis orientieren muß1, will dieser Beitrag zur
und das Verständnis für ein fremdes Auseinandersetzung damit anregen, wie
Land. Ausländischen Schülern und Stu- in der Deutschlehrerausbildung an deut-
denten, die Deutsch als Fremdsprache schen Universitäten Studenten auf eine
lernen, sind die Verhältnisse in Deutsch- landeskundliche Vermittlungsarbeit im
land weitgehend fremd. Wollen sie die Deutschunterricht sinnvoll vorbereitet
deutsche Sprache nicht als abstraktes Re- werden können.
gelsystem lernen, sondern in ihrem Be- Der Sprachwissenschaftler Harald Wein-
zug auf die Gesellschaft, in der sie ge- rich bezeichnet in seinem Aufsatz »For-
sprochen wird, wollen sie nicht nur schungsaufgaben des Faches Deutsch als
sprachliche Fertigkeiten erwerben, son- Fremdsprache« Landeskunde neben Lin-
dern auch die Bedeutungen verstehen, guistik und Literaturwissenschaft als die
die der Sprache in ihrem gesellschaftli- dritte Komponente des Faches. Er weist
chen Verwendungszusammenhang zu- zwar der Linguistik die Hauptrolle zu,
gewiesen sind, dann stellt sich für einen verzichtet jedoch nicht darauf, auch an
Deutschlehrer die Frage, wie er diese die Landeskunde wissenschaftliche An-
gesellschaftlichen Verhältnisse ausländi- sprüche zu stellen, wenngleich er einräu-
schen Lernenden nahebringen kann – men muß, daß es »keine glatte und wis-
nicht als Modell, sondern als konkrete, senschaftstheoretisch rundum befriedi-
durchaus widersprüchliche Realität. Die- gende Lösung« für das »Problem Landes-
se Frage stellt sich um so mehr, wenn der kunde« gibt (Weinrich 1980: 42). An
Unterricht nicht in Deutschland, sondern diesem Problem hat sich bis heute freilich
im Ausland stattfindet und die Lernen- wenig geändert. Während an einigen aus-
den Deutschland nicht aus eigener An- ländischen Universitäten Landeskunde
schauung kennen. im Rahmen von »German Studies«
Da sich die Ausbildung von Lehrern für (Großbritannien, USA) oder »Civilisation
Deutsch als Fremdsprache noch viel Allemande« (Frankreich) längst institu-
mehr als bisher an der Unterrichtspraxis tionell etabliert ist, ist sie an deutschen
1 Dies wurde auch auf der Fachtagung, die der Fachverband Deutsch als Fremdsprache
1993 zum Thema »Fort- und Weiterbildung von DaF-Lehrern« durchführte, nachdrück-
lich gefordert (Albers 1995: 2).
denten der Bundesrepublik (im Gegen- Beschreibung einer Vielzahl von Kom-
satz etwa zu dem Frankreichs und der munikationssituationen jedenfalls nicht
USA) tragen weniger zur Bewältigung abzuleiten.
von Alltagssituationen bei als die Kennt- Eine weitere, ebenfalls zu diskutierende
nis der Tagesabläufe von Bewohnern Landeskundeversion findet sich in den
deutschsprachiger Länder und die Rolle, »ABCD-Thesen zur Rolle der Landeskun-
die Essen und Trinken für sie spielen« de im Deutschunterricht«, die 1988/90
(Latour 1989: 86). Eine derart auf alltägli- von Vertretern der Deutschlehrerverbän-
che Verrichtungen und Konventionen zu- de aus Österreich, der BRD, der Schweiz
sammengeschrumpfte Landeskunde hat und der damals noch bestehenden DDR
auch in viele Sprachlehrwerke Eingang gemeinsam formuliert wurden. Auch hier
gefunden, und es ist wohl bezeichnend, wird Landeskunde vor allem als »integra-
daß Latours Ausführungen zur Landes- ler Bestandteil des Sprachunterrichts« (61)
kunde in diesem Zusammenhang stehen. definiert und ihre fachliche Eigenständig-
So wichtig es zweifellos ist, im Deutsch- keit bestritten, wobei allerdings unklar ist,
unterricht für Ausländer auf bestimmte was mit der Formulierung »Landeskunde
Situationen und Kommunikationsfor- im Fremdsprachenunterricht ist ein Prin-
men des Alltagslebens einzugehen, ins- zip« eigentlich gemeint ist. Ohnehin ge-
besondere dann, wenn es darum geht, die winnt man den Eindruck, daß diese The-
Anpassung an deutsche Lebensverhält- sen – offensichtlich ein ausgehandelter
nisse zu erleichtern1, so ist jedoch einer Kompromiß – ungenau und widersprüch-
Landeskunde, die darauf verzichtet, re- lich formuliert sind. Einerseits wird mehr-
flektierte Kenntnisse über gesellschaftli- fach auf die Bedeutung landeskundlicher
che und politische Zusammenhänge, in Informationen hingewiesen, andererseits
die alltägliche Erfahrungen eingebettet aber wird ausdrücklich betont, daß es
sind, zu vermitteln und zur kritischen nicht primär um Informationen gehe, son-
Auseinandersetzung damit anzuregen, dern allgemein um »Sensibilisierung«
eine wesentliche Grundlage entzogen. und die »Entwicklung von Fähigkeiten,
Darin, daß häufig die Vermittlung weiter- Strategien und Fertigkeiten im Umgang
reichender landeskundlicher Kenntnisse mit fremden Kulturen« (60), ohne näher
vernachlässigt wird, scheint mir auch auszuführen, was eigentlich darunter zu
eine Geringschätzung der Informations- verstehen ist, und auf den Zusammen-
bedürfnisse und Bildungsinteressen von hang der verschiedenen Komponenten
Ausländern zu liegen, denen nicht nur einzugehen. Inhalte oder Themen werden
daran gelegen ist, sich im deutschen All- ohnehin so gut wie gar nicht erwähnt.
tag zurechtzufinden. Außerdem sollte Was jedoch das »Problem Landeskunde«
bedacht werden, daß eine Aneinanderrei- zusätzlich kompliziert, ist die Vorstellung,
hung nur oberflächlich beschriebener nach der Landeskunde – ausgehend von
Sachverhalte und Banalitäten in intellek- der gemeinsamen deutschen Sprache –
tueller Hinsicht eben auch gähnende auf alle deutschsprachigen Länder, den
Langeweile erzeugen kann. Eine wissen- sogenannten »deutschsprachigen Raum«,
schaftliche Begründung der Landeskun- ausgedehnt werden soll. Doch auch hier
de ist aus der bloßen Beobachtung und wird nichts dazu gesagt, wie denn in einer
1 Hier spielt die Diskussion über die Integration von Arbeitsimmigranten und ihren
Familien eine wichtige Rolle.
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der sich Landeskunde »ereignet«, sehr Überlegungen an: Neuner, der hier Lan-
einfach zu sein, ein fremdes Land kennen- deskunde auf eine »alltagsorientierte
zulernen: Man braucht nur in eine be- Leutekunde« beschränkt (Neuner 1994:
stimmte Stadt dieses Landes zu reisen. 33), geht es im Landeskundeunterricht
Eine Stadt, so heißt es, ist »eine über- ausdrücklich »nicht um die Vermittlung
schaubare soziale Einheit«, die jedem eines ›objektiven Sachverhalts‹«. Viel-
Fremden durch die Begegnung mit »Men- mehr legt er Wert auf das »Reden über
schen« vertraut werden kann: Wahrnehmungen« und »Bilder« (34f.),
»In diesen Städten beginnen die Entdek- ohne ausreichend zu berücksichtigen,
kungsreisen ins andere Land, auf denen die daß Wahrnehmungsweisen und Bilder
Reisenden inzwischen Vertrautes wieder- nicht nur (subjektiv) individuell, sondern
finden, Übertragbares, vielleicht nach und auch (objektiv) historisch und gesell-
nach als für das gesamte Land gültig Er- schaftlich geprägt sind – durchaus wider-
kanntes, aber auch bei jeder Reise – hoffent-
lich – wieder Neues, anderes, Fremdes, und sprüchlich und nicht auf eine »kollektive
ganz langsam wächst ein differenziertes Mentalität« (29) fixiert, wie Neuner meint
Verständnis für das jeweilige Land« (Ent- – und in ihrem Bezug auf die »objektiven
deckende Landeskunde 1989: 11, 40).1 Sachverhalte« von den Lernenden gerade
Sind Städte denn »überschaubare soziale zu reflektieren und von einem Lehrer
Einheiten«? Braucht man nur darauf zu reflektierend zu vermitteln sind. Statt-
warten, daß schon wie von selbst, ohne dessen aber wird diese intellektuelle Lei-
besondere Anstrengung, bei dem Aufent- stung sowohl des Lernenden als auch des
halt in einer fremden Stadt langsam »ein Lehrers hier weitgehend ausgeblendet; es
differenziertes Verständnis für das jewei- wird mehr oder weniger dem Deutsch-
lige Land« heranwächst? Wozu braucht lernenden selbst überlassen, sein subjek-
man dann noch Landeskunde? tiv gefärbtes »Bild«, die »bewußte Entfal-
Eine Überbewertung unreflektierter tung des inneren Erlebnisses der fremden
Wahrnehmung scheint mir auch das »ler- Welt« in das »Mosaik« »übergreifende(r)
nerorientierte, interkulturelle Konzept Welterfahrung« aufzulösen, ohne zu be-
der Landeskundedidaktik« aufzuweisen, denken, daß solche Bilder und »inneren
das Gerhard Neuner 1993 auf einer von Erlebnisse« allerdings mit allerlei Vorur-
ihm geleiteten Tagung »Fremde Welt und teilen behaftet und verzerrt sein können,
eigene Wahrnehmung. Konzepte von und das um so mehr, je weniger sie an der
Landeskunde im fremdsprachlichen objektiven Realität, an sachlichen Inhal-
Deutschunterricht« vorgetragen hat. ten sich orientieren und abarbeiten kön-
Auch hier wird – bezogen auf den nen. Doch indem Neuner von den kon-
Deutschunterricht in Ländern Mittel- kreten Tatsachen gerade abschweift,
und Osteuropas – das Studium der realen kann ihm als allgemeines, aber auch
Verhältnisse Deutschlands sowie des nichtssagendes Ziel des Landeskundeun-
Landes, aus dem die Lernenden kom- terrichts »die Ausweitung und Differen-
men, eher geringgeschätzt, während die zierung vorhandener Strukturen von
subjektiven Erlebnisse alles dominieren Weltwissen und Welterfahrung in der Be-
»dürfen«. Schon die Formulierung des gegnung mit der fremden Welt« (Neuner
Tagungsthemas gibt die Richtung der 1994: 34f.) vorschweben. Allerdings ver-
schwinden in dieser recht verschwom- von Literatur und Landeskunde und die
menen und inhaltsleeren Vorstellung die Integration der Landeskunde in den Lite-
realen Gegensätze und Konflikte in und raturunterricht ist dagegen separat an
zwischen unterschiedlichen Gesellschaf- anderer Stelle kontrovers diskutiert wor-
ten und die damit verbundenen Denk- den. So hat Siegfried J. Schmidt (1980) das
und Wahrnehmungsweisen; so kann die Konzept einer »instrumentalen« Unter-
von Neuner anvisierte »Lernerzentriert- ordnung der Landeskunde unter Lingui-
heit« probemlos zu vielfältiger Beliebig- stik und Literaturwissenschaft sowie den
keit und beliebiger Vielfalt ausufern. Sprach- und Literaturunterricht vertreten
Über die mühevolle Arbeit des Lehrers, und dabei Landeskunde auf eine »Men-
die mit den kulturellen Differenzen ver- ge« zusammenhanglosen enzyklopädi-
knüpften Verstehens- und Vermittlungs- schen »Kontextwissens« reduziert, das
probleme aufzuspüren und die Lernen- eben, je nachdem, um welchen Text und
den an ein Verständnis des für sie frem- welche Textarbeit es sich gerade handelt,
den Landes heranzuführen, braucht man ad hoc abgerufen werden kann. Infolge-
sich dann allerdings keine Gedanken dessen lehnt Schmidt auch die fachliche
mehr zu machen. Hier aber müßte ein Eigenständigkeit der Landeskunde strikt
ernstgemeintes »lernerorientiertes, inter- ab und läßt sich auf eine Diskussion
kulturelles Konzept der Landeskundedi- landeskundlicher Inhalte und Methoden
daktik« eigentlich ansetzen. erst gar nicht ein. Robert Picht (1980)
Doch statt die Vermittlung von Fakten- und, in Anlehnung an diesen, Rainer Epp
wissen, Bedeutungen, Erfahrungen und (1992) haben Schmidts Position überzeu-
Reflexionen unter vergleichenden kultur- gend kritisiert und dieser eine sozialwis-
soziologischen und historischen Frage- senschaftlich orientierte Landeskunde
stellungen zu diskutieren, scheint sich in entgegengesetzt, die den historisch-ge-
letzter Zeit eher die Tendenz zu verstär- sellschaftlichen Zusammenhang, in dem
ken, Erlebnisse und Bilder, Fremdheitser- ein literarischer Text steht, auf den er sich
fahrungen, Empathie und »Wahrneh- bezieht und den er zugleich erhellt, erst
mungstraining« (Krumm 1994: 122) so- verständlich machen kann.1 Allerdings
wie allgemein Sensibilisierung für frem- ist für Picht eine solche mit literarischen
de Kulturen und Toleranz in den Vorder- Texten verbundene Landeskunde nur un-
grund der Überlegungen zu stellen. Die ter wechselnden Fragestellungen und
inhaltliche Auseinandersetzung mit den Themen, dem jeweiligen Untersuchungs-
tatsächlichen kulturellen Unterschieden gegenstand entsprechend, in einzelnen
und Konflikten und die damit verbunde- interdisziplinären »Projekten« zu reali-
nen Probleme und Möglichkeiten der sieren, während er eine »allgemeinver-
Verständigung und des Verstehens rük- bindliche Definition von Landeskunde,
ken dadurch eher in den Hintergrund. sei es nun als Kontextwissen oder als
Im übrigen spielt nicht zufällig in den dogmatische Festlegung eines sozialwis-
bisher diskutierten Vorstellungen über senschaftlichen Themenkanons«, zurück-
Landeskunde, in denen der Reflexion ge- weist (Picht 1980: 285). Angesichts dieser
sellschaftlicher Zusammenhänge wenig von Picht vertretenen Position ist jedoch
Bedeutung beigemessen wird, Literatur zu fragen, ob es nicht erforderlich ist, auf
so gut wie keine Rolle. Das Verhältnis einer umfassenderen Grundlage, als
1 Zum Verhältnis von Landeskunde und Literatur vgl. auch Gerald Stieg 1980.
505
Picht sie hier vorschwebt, Landeskunde des Landes bezieht, in dem sie gespro-
wissenschaftlich zu definieren, zumal sie chen wird, dient Landeskunde immer
nicht bloß auf »Kontextwissen« zu be- auch der Förderung des Sprachverständ-
grenzen ist und eine Erörterung der Kri- nisses und, darauf aufbauend, auch des
terien für die Auswahl und Behandlung Literaturverständnisses, wie umgekehrt
landeskundlicher Themen nicht zwangs- die Kenntnis der Sprache und Literatur
läufig in einen »dogmatisch festgelegten des jeweiligen Landes dessen Verständ-
Kanon« münden muß. Während Picht nis fördert. Schon bei den Wortbedeutun-
zwar betont, daß es notwendig und gen fängt im Sprach- und Literaturunter-
durchaus möglich ist, sich als Sprach- richt landeskundliches Lernen und im
und Literaturwissenschaftler in die je- Landeskundeunterricht sprachliches Ler-
weils relevanten methodischen Ansätze nen an. Dieser enge Zusammenhang zwi-
der »Nachbarwissenschaften« einzuar- schen Sprache, Literatur und Landeskun-
beiten, scheint für ihn jedoch eine wissen- de muß im Fremdsprachenunterricht
schaftliche Bestimmung der Landeskun- ständig beachtet werden, ohne die Eigen-
de überhaupt erst dann in Betracht zu ständigkeit eines dieser Bereiche aufzu-
kommen, wenn ausgewählte Landeskun- heben.
de-Projekte, die auch die Perspektive des Im folgenden sollen vier grundlegende,
Auslands berücksichtigen, exemplarisch miteinander verknüpfte Aspekte der Lan-
durchgeführt und so »die wichtigsten deskunde in der Deutschlehrerausbil-
Themenfelder und Forschungsergebnisse dung – bezogen auf Deutschland – skiz-
nach und nach für die Projektarbeit er- ziert werden:
schlossen werden könnten« (Picht 1980:
286). Hier fragt sich allerdings, wie denn 1.
solche Projekte, noch dazu »in einer ge- Gegenstand der Landeskunde sind die
zielten Strategie«, wie Picht vorschlägt geographischen, ökonomischen, sozia-
(ebd.), konzipiert, durchgeführt und aus- len, politischen und kulturellen Verhält-
gewertet werden können, ohne doch we- nisse in Deutschland, deren Geschichte
nigstens bestimmte – wenn auch vorläu- und Begriffe. Während man davon aus-
fige und ständig zu überprüfende – theo- gehen muß, daß ausländische Schüler
retische Vorstellungen davon zu haben, und Studenten im allgemeinen nicht auf
unter welchen Fragestellungen und nach das Wissen und die Erfahrungen zurück-
welchen Methoden man dabei überhaupt greifen können, die deutsche Schüler auf-
vorgehen will. grund ihrer Sozialisation und während
Grundsätzlich ist jedenfalls davon auszu- ihrer Schulzeit angesammelt haben, kann
gehen, daß sich Landeskunde nicht nur es nun jedoch keineswegs darum gehen,
auf Kontextwissen im Sprach- und Lite- diese umfangreichen Wissensbestände
raturunterricht beschränkt und die für den Landeskundeunterricht etwa
Kenntnis und das Verständnis für ein vollständig aufzuarbeiten. Auf der ande-
fremdes Land sich nicht allein in sprach- ren Seite aber sollte man sich nicht darauf
licher Verständigung erschöpfen. Viel- beschränken, die Komplexität der deut-
mehr handelt es sich um eine enge wech- schen Gesellschaft einfach auf ein »Mo-
selseitige Beziehung zwischen Sprache, dell Deutschland« zu verkürzen oder gar
Literatur und Landeskunde. Da Sprache »die« typische deutsche Mentalität zu
als »soziales Faktum« (Saussure) mit den konstruieren. Angehende Deutschlehrer
anderen sozialen Tatsachen aufs engste sollten es vielmehr lernen, sich über
verknüpft ist, sich also auf die Realität Deutschland unter sozialwissenschaftli-
506
chen Fragestellungen ein fundiertes Fak- der die Zeit des Kolonialismus, des Na-
tenwissen anzueignen, sich mit gesell- tionalsozialismus und der Bundesrepu-
schaftskritischen Analysen auseinander- blik Deutschland von besonderer Bedeu-
zusetzen und ein entsprechendes Pro- tung sind, exemplarisch an einzelnen
blembewußtsein zu entwickeln, so daß Themen wie: Bildungssystem, Öffentli-
sie später im Unterricht in der Lage sind, che Meinung/Medien, politisches Sy-
dem jeweiligen Sprach- und Bildungsni- stem, Sozialpolitik (Sozialstaat), Justiz
veau der Lernenden entsprechend, re- (Rechtsstaat), Wirtschaftssystem, Arbeit
flektierte Kenntnisse über eine hochindu- und Arbeitslosigkeit, Wohnverhältnisse,
strialisierte Gesellschaft zu vermitteln. Familienstrukturen, Situation der Frau-
Erst auf dieser Grundlage werden sie en, der Ausländer und Migranten, Natio-
auch in der Lage sein, die durch verschie- nalismus, Antisemitismus und Rassis-
dene Medien verbreiteten Deutschland- mus ein kritisches Verständnis der Situa-
bilder zu beurteilen und klischeehafte tion in Deutschland zu erarbeiten.1 Die
Vorstellungen zu entkräften. Themen sollten in ihrem historischen
Allerdings stellt sich die Frage, wie der und gesellschaftlichen Zusammenhang
umfangreiche Stoff einzugrenzen und zu betrachtet werden, in dem auch verschie-
strukturieren ist, wo die zentrale Thema- dene Wertvorstellungen und Szenen des
tik liegt, wie grundlegende Zusammen- Alltagslebens einzubeziehen sowie die
hänge durchschaubar gemacht und in unterschiedlichen Entwicklungen in Ost-
einen interkulturellen Bezugsrahmen ge- und West-Deutschland zu berücksichti-
stellt werden können, in dem sowohl die gen sind. Grundsätzlich ist zu überlegen,
»Außenperspektive« der Lernenden als
ob eine Erarbeitung solcher Themen für
auch die internationalen Entwicklungen,
die interkulturelle Verständigung heute
insbesondere auch die weltweiten Aus-
nicht wesentlich wichtiger ist als die Er-
einandersetzungen zwischen Industrie-
örterung allgemeiner »Kulturthemen«
ländern und »Entwicklungsländern«, be-
oder »Universalthemen« wie »Essen«,
rücksichtigt werden. Unter diesem Blick-
»Höflichkeit«, »Fremdheit« und »Tole-
winkel erscheint es nun sinnvoll, die Ge-
ranz«, die von Vertretern einer »interkul-
schichte des Industrialisierungs- und
Demokratisierungsprozesses in Deutsch- turellen Germanistik« bevorzugt wird.2
land (als Teil der westlichen Moderne) Die Arbeit kann sich auf sozial-, politik-
und der damit verbundenen Errungen- und geschichtswissenschaftliche Metho-
schaften und Deformationen ins Zen- den und Untersuchungen stützen sowie
trum des Landeskundestudiums zu rük- Materialien, die für den Geschichts-, So-
ken. Um auch im Hinblick auf den späte- zialkunde- und Politikunterricht an
ren Unterricht den Stoff inhaltlich und Schulen und für die politische Bildung,
sprachlich zu konzentrieren sowie Me- unter anderem von der Bundeszentrale
thoden der Untersuchung und Vermitt- und den Landeszentralen für politische
lung an Beispielen zu erörtern, empfiehlt Bildung3, erstellt worden sind, und auf
es sich, neben der Behandlung einzelner literarische Texte, die die jeweilige Pro-
Abschnitte der neueren Geschichte, in blematik reflektieren.
richt sinnvoll mit solchen Schwierigkei- den kann. Hier stellt sich auch die Auf-
ten umgehen, zumal auch die Möglich- gabe, mögliche Verständnisschwierig-
keiten, eine fremde Kultur zu verstehen, keiten zu ermitteln und Vorschläge zu
durch diese Schwierigkeiten beträchtlich machen, wie anschauliche Lehrmateria-
eingeschränkt werden. Auf der anderen lien verwendet und die Lernenden befä-
Seite aber werden solche Fähigkeiten ge- higt werden können, sich mit Tatsachen
rade gebraucht, um angesichts der welt- und Meinungen auseinanderzusetzen,
weiten Durchsetzung technisch-industri- Fragen zu stellen sowie auf Fragen prä-
eller Wirtschaftsformen und damit ver- zise zu antworten. Da in manchen Län-
knüpfter Denk- und Lebensweisen die dern festgelegte Wertordnungen und
komplexen Zusammenhänge durch- Sprachregelungen wirksam sind, muß
schauen und sich selbständig behaupten im Hinblick darauf überlegt werden, wie
zu können. Unter diesem Blickwinkel wichtig, aber auch heikel es ist, die Rea-
muß auch die Frage der »angepaßten lität gerade in ihrer Widersprüchlichkeit
Unterrichtsformen«, die im »Werkstatt- zu zeigen, verschiedene Seiten eines
gespräch« des Goethe-Instituts im Hin- Themas und unterschiedliche Auffas-
blick auf die Anpassung an traditionelle sungen dazu gegenüberzustellen und
Lehr- und Lernmethoden in »Entwick- nach den Ursachen gesellschaftlicher
lungsländern« kontrovers diskutiert Konflikte zu fragen sowie Sprache als
wurde (Gerighausen/Seel 1986), kritisch Mittel individueller Ausdrucksweise
betrachtet werden. und Argumentation, der Kritik und De-
Anhand von einschlägiger wissenschaft- batte zu verwenden. Es ist jedoch darauf
licher Literatur sowie Erfahrungsberich- zu achten, daß Lernende im Unterrichts-
ten von Lektoren und Dozenten über die raum nicht in jedem Fall zu individuel-
Unterrichtspraxis in einem bestimmten len Meinungsäußerungen herausgefor-
Land können die Studenten in der dert werden sollten, da ihnen das in
Deutschlehrerausbildung dazu angeregt einigen Ländern auch angesichts der
werden, interkulturelle Studien mit der dortigen Kontrolle schaden kann. Ohne-
Erarbeitung von Unterrichtskonzepten hin sollte ein Lehrer die Verhältnisse des
zu verbinden, in denen es um die Ver- Landes der Lernenden nicht unter allen
mittlung landeskundlicher Themen un- Umständen explizit zum Vergleich her-
ter spezifischen Unterrichtsbedingun- anziehen – Kontraste können auch im-
gen geht. Ausgehend vom Stellenwert plizit herausgearbeitet werden; denn die
der Landeskunde in den jeweiligen Cur- Lernenden sind schließlich von sich aus
ricula und Lehrbüchern können sie un- dazu in der Lage, anhand gut ausge-
tersuchen, welche Aspekte der deut- wählter Informationen – darauf kommt
schen Gesellschaft vor dem Hintergrund es an – die Verbindung zu ihrem eigenen
der gesellschaftlichen Verhältnisse des Land herzustellen. So ist es zum Beispiel
Landes der Lernenden für den Unter- möglich, im Unterricht in der Türkei
richt relevant sind und wie – je nach über die vier Landessprachen und die
Sprachstand und Vorkenntnissen der liberale Sprachenpolitik in der Schweiz
Lernenden – die landeskundliche mit zu sprechen, ohne auf die repressive
der sprachlichen Arbeit verknüpft wer- Sprachenpolitik in der Türkei gegenüber
1 Leider werden diese Voraussetzungen auch von deutschen Studenten nicht immer
erfüllt.
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