Beitrage
zur
• 1) .A. ª· o. s. 61.
ª 2) Ueber .Urtlleil• und .Beurtheilung• vgl. Windelband, Priludien,
1
3) Reine Logik, l. S. 177 ff., vgl. S. 46 ff. und Grundprobleme der
Logik, § 10.
Beitrage zur Lebre vom negativen Urtheil. 171
verbindung; vgl. unten), sondern auch die ,practische" Functíon
einer Billigung oder Missbilligung, eines Annehmens oder Verwerfens
zu finden, dass es deshalb als eine ,Aeusserung der Seele zu be-
trachten sei, an welcber ihre practische Natur, das Begehrungsver-
m1!gen, betheiligt ist•.
Mit der Einsicht in diese ,practische" Seite der Urtheilsthátig-
keit ist Descartes vorangegangen, der bei seiner Erklárung des
Irrthums 1) ausdrücklich lehrte, dass weder in einzelnen ,,Ideen• .
noch in Verbindungen von Ideen Wahrheit oder Falschheit zu suchen
sei, sondern erst in den Ur theilen, welche eine Bejahnng oder Ver-
neinung der Ideen oder ihrer Verbindungen enthalten. Affirmation
und Negation wurden deshalb von Descartes ausdrücklich a1s Wil-
lensacte, als Volitiones, bezeichnet 2) . In neuerer Zeit hat Fortlage ª )
die von ihm sogenannten .apriorischen Schemata• J a und Nein als
die beiden moglichen Antworten auf die das W esen der Aufmerk-
samkeit áusmachende ,Fraga• für •Trieb-Kategorien" oder • Willens-
kategorien• erklart. Mit besonderem Nachdruck aber und mit einer
eigenthümlichen Verschiebung · der Ausdrucksweise begegnet man
dieser Auff'assung in der Classification der psychischen Functionen,
welche Brentano 4) zu begründen versucht hat. Derselbe schlagt
eine Dreitheilung der Seelentbatigkeiten in ,,Vorstellungen•, ,,U r -
theile" und ,Phanomene von Liebe und Hass• vor und leitet die
Nothwendigkeit, die •Urtheile" als eine eigene Hanptclasse anzner-
kennen, aus einer sehr scharfsinnigen Kritik verschiedener Ansichten
ab, welche die neueren englischen Associationspsychologen über das
W esen des Urtheils aufgestellt haben. Er zeigt namentlich, dass
es nicht ausreicht, das Urtheil als eine irgendwie durch ihre Leb-
haftigkeit, ihre Folgeerscheinungen oder ihre Verbindungsweise
1) A. a. O. S. 262.
Beitrige zur Lehre vom negativen Urtheil. 173
welche sonst in der empirischen Psychologie auf die beiden Klassen
des .Gefühls• und des •Willens• vertheilt zu werden pflegen.
Ueber die Berechtigung dieser Zusammenfassung kann man (wozu
hier nicht der Ort ist) streiten: aber giebt man sie zu und findet
man sie darin begründet, dass ebenso im Gefühl wie im Willen
das Bewusstsein sich zu einem Vorstellungsobject in der alter-
nativen W eiile der Billigung oder der Missbilligung verhalt, so ist
absolut nicht abzusehen, weshalb nicht in diese Klasse auch das
Moment der Billigung oder Missbilligung gerechnet werden soll,
welches beim • Urtheil" zu dem blossen Vorstellungsinhalt hinzu-
tritt. Brentano selbst hat 1) sehr ausführlich die zahlreichen und
tiefgehenden Analogien aufgezahlt, welche zwischen den •Urtheilen•
und den ,Phanomenen von Liebe und Hass• bestehen: wo er jedoch
7
die ersteren von den letzteren als besondere Klasse abzugrenzen
unternimmt ll), da ist er nicht im Stande gcwesen, zu beweisen,
dass diejenigen Beurtheilungen, welche durch das Pradicatpaar wahr
und falsch characterisirt sind , von allen andern Arten der Beur-
theilung mehr verschieden sind, als dieso7 unter einander, z. B. als
diejenigen, in welchen das Pradicatpaar angenehm und unangenehm
fungirt, von denjenigen, welche ihr Object als gut oder hose be-
stimmen ª); und noch weniger hat er einleuchtend machen konnen,
dass für die Classification · diese !rt@terschiede der Beurtheilung
wichtiger seien, als der gemeinsame Character der Beurtheilung,
in welchem die ,Urtheile" mit den ,Phanomenen von Liebe und
Hass• übereinstimmen und sich gleichmassig von den blossen Vor-
stellungen oder Vorstellungsverbindungen unterscheiden. Man wird
sich vielmehr zu der Anerkennung entschliesson müssen , dass die
logische Werthbeurtheilung der Vorstellungen, welche im Urtheil
von Statten geht, der practischen Seite des Seelenlebens einzuordnen
1) A. a. O. S. 291 fi'.
2) A. a. O. S. 328 fi'. ..
8) Ueber die vier Grundformen der Beurtbeilnng (die hedoniscbe, logische,
etbische nnd iisthetische) nnd ihre wisseischa.ftliche Behandlnng vgl. W in d e l -
b a n d , Priilndien, S. 37 ft'.
174 W. W I N D E L B A N D
u. A. z• .B. ergibt, dass a1Ie Axiome oder Nonnen, denen . die un1!1ittelb re
Evidenz innewolmt, eigcntlich affirmative Urtheile und nur spraehhch the1l-
weise in negative Fonn. zu kleiden sind.
1).Dieser definirt das Urtheil als einen .Denkact", durch welchen . e t w a s
von etwas ausgesagt wird •. Logik, I. S. 23 ff.
Strusburger phílosoph. Aohancllunren . 12
•
178 W , WINDEL:IIAND
bei Lotze 1), Aehnlich, und deshalb auch hinsichtlich der Qualitat ·
der Urtheile von ahnlicham Erfolge sind die Ansichten von Ulrici 2),
Schuppe 9), Wundt') u. A.
Wer dagegen, wie Brentano, das wesentliche Merkmal, wodurch
sich das Urtheil von der Vorstellung oder Vorstellungsverbindung
allein unterscheide, in dem Acte der billigenden oder missbilligenden
Beurtheilung findet, für den musa die Eintheilung der Urtheile nach
der Qualitat nicht nur die wichtigste, sondern die einzig wesentliche,
den Urtheilsact selbst betreffende sein: alle anderen Unterschiede
SÍJ,ld dann nebensachlich und ausserlich, es sind Unterschiede des
Urtheilsobjects, nicht der Urtheilsfunction, Unterschiede nur des
Vorstellungsinhalts, der gebilligt oder gemissbilligt werden soll.
Ganz in diesem Sin ne bat scbon Herbart 5) gelehrt: •diese Einthei-
lung (nach der sogenannten Qnalitat) ist die einzige den Urtheilen
wesentliche; alle übrigen müssen ala zufallige derselben nachgesetzt
werden•, und ebenso 6), obwol mit etwas verándertem Sinn: .Qualita.t
macht das Wesen des Urtheils aus; denn Subject und Prádicat,
jedes für sicb, sind Begrift'e•.
Eine interessante Consequenz dieser principiell verschiedenen
Auft'assung vom W esen des Urtheils zeigt FJich auch in der Behand-
lung der sog. Existentialsl!.tze, welche , vielfach vern11sChlü.ssigt, in
neuerer Zeit erst wieder im Zusa.m¡nenbang mit den hier behandelten
Fragen die Aufmerksamkeit auf sich geiogen haben. Geht man
nli.mlich von der alten Ansicbt aus, die schon der Dialog Sophistes 7)
im Corpus Platonicum vertritt, dass für das Urtheil eine Beziehung
von Subject und Prii.dicat, welche dann durch die sog. Copula oder
1) Vgl. Logik (1874) S. 57: .Jedes Urtheil will ein Verhiiltuiss zwischen
den Inhalten zweier Vorstellungen aussprechen ª.
2) Compendium der Logik, S. 266 f., vgl. S. l!75. ·
8) Erkenntnisstheoretische Logik, S. 117 ft'., 644 ·lf. ; vgl. Das menschliche
Denken, S. 7 f.
. 4). Logik, I. S. 1?5 f., wo sich die merkwürdige Aeusserung findet: die
Emtheilung der Urthe1Ie in wahre und falsche sei die oberfliichlichste von allen.
_5) Lehrbuch zur Einleitung in die Philosopbie, § 54. W. W. (Harten-
ste1n) I. S. 94.
6) Hauptpunkte der Logik, II. W. W. I. S. 470.
7) P la. to , Sophista, 262. '
,
Beitriige zur Lehre vom negativen Urtheil. 179
deren grammatische Substituta ausgedrückt werde, einerseits wesent-
lich andererseits unerlásslich sei, so bleibt hinsiohtlich des Existential-
satzes nur die Alternativa übrig, entweder die Existenz als ein be-
rechtigtes Pradicat zu betrachtén oder in den Existentialsiitzen keine
eigentlichen Urtheile im logischen Sinne anzuerkennen. Das Letztere
scheint die Ansicht der roeisten Logiker zu sein, da der Existential-
satz gewohnlich gar nicht oder nur ganz gelegentlich erwahnt wird,
ohne in den üblichen oder den neu versuchten Eintheilungen eine
passende Stelle zu finden und finden zu konnen 1). Der anderen
Auffassung steht die Autoritiit Kants im Wege, welcher bekanntlichª )
gelehrt bat, dass die Existehz kein Urtheilsprádicat sei. ' Daher bat
Bergmann, welcher neben der Werthentscheidung aucb die "Pradi-
cirung" als wesentlichen Bestandtheil des Urtheils ansieht 8) , sich,
um dero Existentialsatze sein logisches Recht nicht verküromern zu
lassen, dazu genotbigt gesehen, im Gegensatze zu Kant die Existenz
zwar nicht für ein Merkmal: aber doch für ein inhaltlich selbstandiges
Prádicat zu erklaren 4).
Wenn man auf der anderen Seite das Wesen des Urtheils
lediglich in der billigenden oder missbilligenden Benrtheilung sucht,
so ist es für das Wesen des Urtheils zufállig und erst secundaren
lnteresses, ob das Object der Beurtheilung eine "einfache" Vorstel-
lung oder eine Sy n these von Vorstellungen ist ; dann gehort die
Pradication nicht mehr zuro Wesen des Urtheils 5), und dann ist
. die im Existentialgesetze ausgesprochene Bejabung des Begrifl's
nicht nur eine berechtigte Forro des Urtheils, sondern · der reinste
und einfachste Grundtypus des Urtheils überbaupt. Für Brentano,
der diese Consequenz gezogen hat 1), ist sie dies in dem Masse, dass
er behauptet, es liessen sich alle kategorischen Urtheile in Existen-
tialsátze verwandeln. Versucht man dies und geht man über die
etwas sehr einfachen Beispiele hinaus, die Brentano gewahlt hat,
so zeigt es sich, dass man nicht nur auf sprachliche Ungefügig-
keiten stosst, welche j a ertraglich waren, sondern a u f sehr viel
wichtigere Fragen.
Es ist freilich immer moglich, die rein sprachliche Umformung
vorzunebmen, wonach das, was im natürlichen Ausdruck 1mseres
Denkens als ein Satz mit Subject und Prádicat sich darstellte, zu
einem durcb alle diese Merkmale bestimmten Substantivum umge-
bildet wird, welches dann als Subjectbegri:ff des Existentialsatzes
figuriren kann. W enn der Existentialsatz • Gott ist • besagen will,
dass der in dem W o r t e • Gott • gedachte Begri:ff eines W esens,
welches die Merkmale der Allweisheit, Allgüte u. s. w. bat, als
seiend anerkannt werden soll, so darf man den Sinn des Satzes
wGott regiert die W elt • dahin aussprechen, dass der in dieser
1) Logik, I. S. 191.
2) !bid.
3) Es braucht natürlích nur kurz darauf hingewi':5cn _werden, d_ss
der Gipfel aller Thorhcit wiire, das Vorkom en des Hil_fsze1tworts . k o n n n
als characteristisches Merkmal des problematischen Urth.eils anzu.sehcn. Diese,
sprachliche Fonn dient fast biiufiger zum Ausdruck emes, part1cularen re p.
eines Subordinationsurtheils oder eines prii.dicativen Urtheils . . Das Urthe1I :
Ein Dreieck kann rechtwinklig sein, ist sic er nicht pro le atisch, und _wcnn
Jemand meine Behauptung: .ich kann Jateimsch lesen fur em problemat1sches
Urtheil erklirte, so wollte ich ihn schief ansehen.
190 W. WtND"tLBAND
1) A. a. O. I. S. 193 ft'. · § 44
· m
2) A. a. O. S. 62 ff. Besonders schlagend ist der N achwe1s
3) Psychologie, l . S. 302 ff.
192 W. WIND.ll:LBAND