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378 Soziologie in der Offentlichkeit Maurizio Bach Brasilianische Irritationen. Kommentar zu Jessé Souza Jessé Souza, langjahriger Humboldt-Stipendiat in Bremen und Heidelberg und heute in Brasilien ein viel beachteter Intellektueller, dekonstruiert in diesen Text die brasilianischen Mythen der nationalen Identititskonstruktion, die ihnen zugrunde liegenden naturalistischen Fehlschliisse und Illusionen. Scharfsinnig und erhellend finden sich die Paradoxien der brasilianischen Nationalidentitit entschliisselt. Auch das moderne Brasilien, diese an Menschen und Rohstoffen so reiche ehemalige Kolonie, hat grofe Erzihlungen hervorgebracht, unter ande- rem die von der sozialen und kulturellen Singularitit des Tropenlandes und von der einzigartigen Harmonie der Rassen. Souzas soziologische Kritik richtet sich vor allem gegen die von Gilberto Freyre und Buarque de Holanda — den geisti- gen Vatern der kollektiven Identitat Brasiliens — so wirkungsvoll eingeleitete kulturessenzialistische Tradition der Selbstbeschreibung der brasilianischen Ge- sellschafit, die sich in dem Wunsch- und Trugbild des ,,herzlichen*, ,,sinnlichen“ und ,,optimistischen“ Brasilianers verdichtet. Doch es geht um mehr. Der Text enthalt noch einen Subtext, der wiederam auf andere Texte des Autors verweist. Die zweite Bedeutungsebene wird in dem vorliegenden Beitrag durch einen bei uns ungebriiuchlichen Begriff angedeutet: sub-cidadania, subalterne Staatsbiirgerschaft. Souza flihrt das Konzept hier nicht naher aus, ich halte aber gerade diesen Terminus fur aufschlussreich, um die In- tentionen des Autors besser zu verstehen (vgl. Souza 2003). Zuniichst verweist sub-cidadania auf ein in den brasilianischen GroBstidten allgegenwartiges Phnomen: Auf die Millionen von Menschen, die in den gigan- tischen Slums, den favelas, oder schlicht auf der StraBe leben. Wer offenen Au- ges durch Brasilien reist, bekommt tagtiglich das vorgefiihrt, was Zygmunt Bauman treffend als ein unvermeidliches Ergebnis der Modernisierung und eine untrennbare Begleiterscheinung der Moderne beschrieben hat: Die Produktion »menschlichen Abfalls“ (Bauman 2005: 12ff.). Noch erschreckender: Die inmit- ten von Schmutz und Mill vegetierenden Ausgeschlossenen und Nutzlosen werden auf ihre leiblichen Funktionen reduziert. Selbst Luhmann irritierte diese Beobachtung: ,,Es scheint so zu sein, daB eine Tendenz besteht, den ausge- schlossenen Bereich der Gesellschaft auf die kérperliche Existenz zu reduzieren. Die Leute sind da und haben das Problem des nachsten Tages, sie haben die Probleme der Gewalt, der Sexualitat, der unzureichenden Emiihrung, aber sie Soziologie, 36. Jg., Heft 4, 2007, S. 378-381 Soziologie in der Offentlichkeit 379 existieren als Kérper, unter Umstinden auch als infektiéser K6rper* (Luhmann. 2005: 80ff.) Das ist harte Kost fiir europiische Soziologen, als deren analytische Letztein- heit immer das handlungsfthige, in funktional differenzierte soziale Strukturen eingebundene Subjekt mit einer personalen Identitiit, einem ,,Selbst“* und einer sozial-moralischen Integritit fungiert. Statt sozialer Integration sehen wir in den Tropen weite Bereiche der Gesellschaft in Anomie versinken. Uberfliissige und nutzlose Menschenmassen, Teil einer gigantischen Uberflussbevélkerung be- vélkern diese Region. Die Entbehrlichen kénnen keinem reguléren produktiven Zyklus zugefiihrt werden. ,,Passive Proletarisierung* nennen dies brasilianische Slumforscher. Die schiere Zahl lasst aber auch eine effektive, flachendeckende staatliche Alimentierung utopisch erscheinen. Die Fertilitit der Slumbewohner ist unvorstellbar hoch. Sao Paulos favelas, deren Anteil an der Gesamtbevilke- rung Anfang der 1970er Jahre 1,2 Prozent ausmachte und 1993 bereits auf 16,4 Prozent angewachsen war, explodierten in den 1990er Jahren mit einer jahrli- chen (!) Wachstumsrate von 19,8 Prozent. Im Amazonas-Gebiet, eine der Regi- onen mit der weltweit héchsten Urbanisierungsrate, sind 80 Prozent der Stadt- entwicklung auf das Wuchern von shantytowns ohne kommunale Infrastruktur und Verkehrsanbindung zuriickzuftihren (vgl. Davis 2006: 17). Promiskuitat und Vergewaltigung sind in den Elendsvierteln die Regel. Prostitution und Krimina- litat bieten vielen Menschen oft die einzigen Uberlebenschancen, allenthalben herrschen Gewalt und die Macht des Starkeren. Und das in einer sich im groBen und ganzen als durchaus zivilisiert und duBerlich modern prisentierenden Kon- sumgesellschaft mit einer demokratischen Verfassung, ansehnlichem Wohl- stand, den nicht nur die Oberschicht, sondern auch die breiteren Mittelschichten genieBen. Sub-cidadania steht also zunichst fiir soziale Exklusion in den extre- men Auspragungen der sozialen Ungleichheit, wie wir sie weltweit in den peri- pheren Gesellschaften finden. Sub-cidadania meint aber ferner die kognitive, rechtliche und politische De- klassierung der Ausgeschlossenen und Nutzlosen. Es meint die Zuweisung, Re- produktion und Legitimation eines stigmatisierten Status, den man nicht anders als sub-human nennen kann. Die staatlichen Ordnungskriifte dringen in die fave- Jas ein und erschieBen wahllos Menschen, ohne fiirchten zu miissen, fiir ihre ob- skuren Einsatze zur Rechenschaft gezogen zu werden. Diese Toten haben keinen Namen, keine Identi Verletzt ein Angchériger der Mittelschicht einen Armen bei einem Verkehrsunfall, wird er vor Gericht aller Wahrscheinlichkeit nach freigesprochen werden. So geht das durch simtliche sozialen Systeme hindurch. Es gilt ftir das Gesundheitssystem, wo Menschen in den Warteschlangen ster- ben, ebenso wie fiir das Bildungssystem, das den Armen so gut wie verschlossen ist. Da diese alltagliche Barbarei von den meisten Brasilianern ganz selbstver- stindlich hingenommen, nicht hinterfragt und zu einem unbewussten Deu- tungsmuster habitualisiert wird, spricht Souza von der ,,Naturalisierung* der Ungleichheit. Sub-cidadania umschreibt somit ebenso den verstérenden Sach- verhalt, des systematischen und ,,legitimen* Ausschlusses von grofen Men- 380 Soziologie in der Offentlichkeit schenmassen aus dem Basiskontext der gesellschafilichen Wertsetzungen, aus der Gemeinschaft der Biirger und damit aus dem kulturellen Zurechnungssystem der Gesellschaft. Das ist zweifellos ein Erbe der Sklavenwirtschaft, die iiber Jahrhunderte wie in keinem anderen Land der Welt die gesellschaftlichen Strukturen bestimmte, die Arbeitsbeziehungen ebenso wie die zwischenmenschlichen und sexuellen Verhaltnisse. Mit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts einsetzenden Bevél- kerungsexplosion — die Population Brasiliens verdreifachte sich in den letzten sechzig Jahren und wird sich bis 2050 mehr als vervierfacht haben (Kréhnert 2007) — verschirfte sich die soziale Lage der Ausgeschlossenen dramatisch. Nur zégerlich stellen in jiingster Zeit GesetzesmaBnahmen der brasilianischen Regierung, wie die Einflihrung des Mindestlohnes auch fiir Hausangestellte (empregadas), die traditionellen, an Sklaverei und Leibeigenschaft erinneden Ausbeutungsverhiltnisse auf eine geldwirtschaftliche und damit formal freie Vertragsgrundlage (vgl. Brites 2006). Doch nach wie vor gibt es in Brasilien Menschen, deren Habitus schon anzeigt, dass sie tiber dem Gesetz stehen. Und es gibt die unzihligen Entbehrlichen und Marginalisierten, die strukturell auBer- halb der Menschen- und Rechtsordnung stehen, deren ,,prekiirer Habitus“ (Sou- za) gesellschaftlich letztlich keinerlei Wert besitzt. Was hat dies aber mit soziologischer Theorie zu tun? Kein Soziologe hat das Massenelend der peripheren Gesellschaften nachdriicklicher als Herausforde- rung an die soziologische Theoriebildung thematisiert, als der auch in der Di ten Welt herumgekommene Luhmann. Wenn massenhafte Exklusion aus samtli- chen sozialen Funktionssystemen in bestimmten Weltregionen dazu fiihrt, dass man nur noch Kérper ist, der eine Zeit lang lebt und dann nicht mehr, dann ist alles, was fiir eine normale ,,biirgerliche“ Existenz wichtig ist — Freiheit, Gltick, Karriere, Geld, Sicherheit und all das — vollig irrelevant. ,Man mu mit der Méglichkeit rechnen“, folgert Luhmann, ,da8 die funktionale Differenzierung durch die Differenz von Inklusion und Exklusion sozusagen supercodiert wird. Primar kommt es darauf an, ob man drin ist oder drauBen.“ Und weiter: ,,Man steht vor der Frage, ob die Differenz von Exklusion und Inklusion sozusagen der Endzustand der modernen Gesellschaft wird: ob dies unvermeidlich wird, viel- leicht schon aus ékologisch-demographischen Griinden, weil wir nicht die ge- samte Weltbevélkerung auf unser Bielefelder Lebensniveau bringen kénnen“ (Luhmann 2005: 81). Das sind Perspektiven, auf die man kommt, wenn man von einem weltgesellschaftlichen Problemzusammenhang ausgeht. Beunruhigend ist auch diese Prognose. Souza wendet das Problem aber handlungstheoretisch: Er fragt, welche Fol- gen es fiir die Gesellschaftheorie hat, wenn deren Pramissen durch Entwicklun- gen der Weltgesellschaft ihre bisher als selbstverstandlich betrachtete universale Giiltigkeit einbiiBen. Was heifbt es, wenn die Ausgeschlossenen nur noch in ihrer Leiblichkeit von Bedeutung sind und nicht mehr in ihrer Subjektivitit, in ihrer Individualitat, als handlungsfahige und selbstverantwortliche Akteure? Dann ist die Gesellschaftstheorie in ihren ontologischen Primissen irritiert. Gilt fiir die Soziologie in der Offentlichkeit 381 Ungleichheitstheorie, wie Souza mit Bezug auf Pierre Bourdieu, Charles Taylor und Axel Honneth ausfiihrt, grundsétzlich ein unausgesprochener Konsens, dass die Menschen, um die es in ihren Forschungen geht, humane Wesen, handlungs- fihige Subjekte und ,agenthafte Akteure“ (im Sinne John Meyers) sind, die ei- nem gemeinsam geteilten Wertekosmos angehéren, so kénnen diese Grundan- nahmen in Anbetracht der garbage humanity in den favelas Brasiliens nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden. Dann hat dieses klassische humanis- tische Kulturmodell seine Stimmigkeit flir den planet of slums, und damit fir weite Teile des Globus, faktisch eingebiifit. Die Gesellschafistheorie muss diese Entwicklungen reflektieren, wenn sie ihre Analyse- und Diagnoseftihigkeit nicht preisgeben will. Eine Soziologie, die sich kognitiv der Weltgesellschaft dffnen will, muss nicht nur die ihr zugrunde liegenden Annahmen tiber soziale Integra- tion iiberdenken. Sie miisste auch ihre fundamentalen epistemologischen Pri- missen neu justieren, will sie nicht zu einer Legitimationswissenschaft der herr- schenden Barbarei degenerieren. Jessé Souzas Uberlegungen verdienen deshalb auch bei uns Gehér. Literatur Bauman, Z. 2005: Verworfenes Leben, Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg: Hambur- ger Edition Brites, J. 2006: Atras dos bastidores: Clientelismo, cidadania e servigio domésticos, in: C. Fonseca, J. Brites (Hg.). Etnografias da participagdo, Santa Cruz do Sol: EDUNISC, S. 186-211. Davis, M. 2006: Planet of Slums. London/New York: Verso Books. Krdnert, 8. 2007: Bevélkerungsentwicklung in Lateinamerika, Berlin-Institut ftir Bevolkerung und Entwicklung, http://www.berlin-institut.org/pdfs/Kroehnert_Bevoelkerung %20in%20 Lateinamerika.pdf (letter Aufruf 20.08.2007). Kahn, T., Souza, J. (Hg,) 2006: Das moderne Brasilien. Gesellschaft, Politik und Kultur in der Peripherie des Westens. Wiesbaden: VS Verlag Luhmann, N. 2005: Einfiihrung in die Theorie der Gesellschaft. Heidelberg: Carl-Auer- Verlag. Souza, J. 2007: Die Naturalisierung der Ungleichheit: Ein neues Paradigma zum Verstindnis, peripherer Gesellschaften. Wiesbaden: VS Verlag,

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