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EISZEIT
Wie Russland dämonisiert
wird und warum das so
gefährlich ist
C.H.Beck
1. Auflage. 2017
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2017
Umschlagentwurf: Geviert, Grafik und Typografie, Andrea Janas
Umschlagabbildung: Autorin © dpa Picture-Alliance/
Karlheinz Schindler, Hintergrundbild © shutterstock
ISBN Buch 978-3-406-71412-2
ISBN eBook 978-3-406-71413-9
Vorwort 7
Russlands Rückkehr 12
Der Showdown 73
Dank 265
Anmerkungen 266
Karten 299
«Wer so tut, als bringe er die Menschen
zum Nachdenken, den lieben sie. Wer sie wirklich
zum Nachdenken bringt, den hassen sie.»
(Aldous Huxley)
Vorwort
könnte: Jeder sollte sich sicher fühlen, allen sollte es besser gehen
und strittige globale Fragen auf der Grundlage des entstandenen
Vertrauens zwischen Ost und West behandelt werden. Was für
eine Chance! Genau zu dieser Zeit habe ich in Moskau gelebt.
Wie groß waren die Hoffnungen, wie stark war die Begeisterung
und wie stabil die Motivation, gemeinsam an einer besseren Welt
zu bauen. Wieder ein Vierteljahrhundert später ist nichts mehr
davon übrig. Die NATO, die sich seit Ende der 1980 er Jahre we-
der aufgelöst noch umgestaltet hat, sieht in Russland inzwischen
erneut eine Bedrohung. Russland hat im Westen wieder die Rolle
eingenommen, auf die früher die Sowjetunion abonniert war:
die des ewigen Schurken.
Wie kommt es, dass kaum ein Tag vergeht, ohne dass die neu-
esten russischen Untaten angeprangert werden? Der russische
Präsident Wladimir Putin erscheint in Politik und Medien gera-
dezu als Inkarnation des Bösen, dem man auf keinen Fall trauen
kann und der nichts Gutes im Schilde führt, selbst wenn er mit
Blick auf internationale Krisenherde konstruktive Vorschläge
macht, im Kampf gegen Terrorismus Zusammenarbeit anbietet
oder alte Kontakte aus sowjetischen Zeiten nutzt, um Gesprächs-
partner an einen Verhandlungstisch zu bekommen, an dem sie
auf Einladung des Westens gar nicht erschienen wären. Sicher:
Es gibt viel zu kritisieren an Putins Politik. Aber ist er wirklich
der omnipotente Bösewicht, wie ihn sich Ian Fleming, der Erfin-
der von James Bond, nicht besser hätte ausdenken können? Oder
gibt es andere Gründe für das negative Russlandbild, das uns
gegenwärtig auf allen Kanälen vermittelt wird? Geostrategische
Interessenkonflikte vielleicht? Oder die Sehnsucht nach einem
klaren Feindbild, das eine unübersichtliche Welt überschaubarer
werden lässt und der NATO wieder eindeutige Aufgaben ver-
schafft?
Moskau, so heißt es, sei eine Bedrohung – für den Zusammen-
halt der EU, für den Frieden in der Welt und ganz konkret für die
Sicherheit der osteuropäischen Staaten. Deswegen müsse der
Westen Stärke zeigen, müssten Manöver abgehalten und NATO-
Vorwort 9
Russlands Rückkehr
Verspieltes Vertrauen
Ihr geht auf Distanz.» Diese Aussage eines Russen mir gegen-
über bezog sich einerseits auf die Zeiten Anfang der 1990 er Jahre
des vorigen Jahrhunderts, als die Versorgungslage in Russland
immer katastrophaler wurde und sich in großem Stil Hilfs
konvois aus Deutschland in Bewegung setzten, um an Ort und
Stelle zu helfen. Abendfüllende Fernsehsendungen wurden in
den Dienst von Spendenaktionen gestellt, wie wir sie heute für
Opfer von Naturkatastrophen oder im Kampf gegen Hungers-
nöte kennen, und die Bürger Deutschlands engagierten sich
großzügig für Russland.
Zu Zeiten des Kalten Krieges war die Sowjetunion für den
Westen gleichermaßen bedrohlich wie rätselhaft gewesen, bis
Gorbatschows Perestroika-Politik im wahrsten Sinne des Wortes
alle Mauern einriss und sein Glasnost-Programm5 für Offenheit
und Transparenz sorgte. Vor allem Deutschland wurde von einer
Gorbimanie-Welle ergriffen, die ausländische Beobachter gele-
gentlich als «geistigen Ausnahmezustand» bezeichneten. Welt-
weit war Erleichterung zu spüren. Hoffnung auf friedliche Zei-
ten und gute Zusammenarbeit zwischen bisherigen Gegnern
bestimmte das politische und mediale Klima. Und so war es nur
folgerichtig, dass man dem zusammengebrochenen Koloss Sow-
jetunion bzw. später Russland half. Schließlich orientierten sich
die Russen jetzt mental «nach Westen», und das verdiente Unter-
stützung.
Wenn man sich die Entwicklung der letzten 25 Jahre vor Au-
gen führt, wird aber andererseits klar, was dieser Russe mit seiner
Aussage auch gemeint hat: Als Russland ins Chaos stürzte, war
die Hilfsbereitschaft groß, an einer Partnerschaft auf Augen-
höhe aber war dem Westen nicht gelegen. So war zwar viel von
Wirtschaftshilfe die Rede, weniger aber von wirtschaftlicher Zu-
sammenarbeit. Das Schlagwort, das immer wieder für gebrems-
tes wirtschaftliches Engagement in Russland herhalten musste,
lautete: «fehlende Rahmenbedingungen». Das Einreißen alter
Strukturen ging dem Westen nicht schnell genug. Das Aufbauen
neuer erst recht nicht.
Russlands Rückkehr 15
War das Ziel damals, Russland zu helfen, oder doch eher, die
eigenen Märkte abzusichern und zusätzliche Marktanteile zu
gewinnen? Der russische Markt wurde jedenfalls von Westpro-
dukten überschwemmt, während die Käufer die heimischen Pro-
dukte als «minderwertig» verschmähten. «Das führte zu so ab-
surden Erscheinungen, dass in den Lebensmittelläden Joghurt
aus Deutschland, Butter aus Neuseeland, Cornflakes aus Ame-
rika und vieles mehr angeboten und trotz hoher Preise verkauft
wurde, während russische Lebensmittel, die qualitativ nicht
schlechter und billiger waren, aus dem Sortiment verschwan-
den.»6 Russland öffnete seinen Markt gegenüber Westprodukten
und erhob keine Schutzzölle, während dies umgekehrt nicht galt.
Viele Russen nahmen es damals so wahr, dass der Westen sie auf
dem bereits aufgeteilten Weltmarkt schlicht nicht haben wollte.
Die Hilfsprogramme für Russland waren in ihrer Höhe bemer-
kenswert. Vieles davon floss jedoch wieder in den Westen zurück,
um alte Kredite abzulösen, aber mehr noch, um importierte West-
waren zu bezahlen. Damals ist viel Vertrauen verspielt worden.7
Moskau wurde aus westlichen Hauptstädten und von Einrich-
tungen wie dem IWF, dem Internationalen Währungsfonds, mit
detaillierten Vorschriften überschüttet, die zwingend zu befol-
gen waren, andernfalls gab es weder Zusammenarbeit noch
Kredite. Man hätte wissen können, dass diese Hauruckpolitik
ein erhebliches Destabilisierungspotential in sich barg. Wie
der inzwischen leider verstorbene Altbundeskanzler Helmut
Schmidt im Jahr 2000 zu Recht bemerkte, war die Politik des
IWF für die wirtschaftliche Krise Russlands in den 1990 er Jahren
mit verantwortlich.8
ein, wo sie mit großer Brutalität agierte, um das Land unter Kon-
trolle zu bekommen.31 Im internationalen Dschihad spielten
tschetschenische Kämpfer damals eine wichtige Rolle, und sie
tun dies bis heute. Ob westliche Medien und Politik den Krieg in
Tschetschenien als Antiterrorkampf eingestuft hätten, wenn es
nicht Russland gewesen wäre? Weil er Putins Popularitätswerte
in die Höhe schnellen ließ und ihm dabei half, seine erste Präsi-
dentschaftswahl im März 2000 zu gewinnen, wurde stattdessen
spekuliert, der Kreml habe den Krieg vom Zaun gebrochen, um
Putin an die Macht zu bringen. Einige gingen sogar so weit zu
behaupten, die Anschläge auf die Wohnhäuser seien vom russi-
schen Geheimdienst FSB verübt worden, um einen Vorwand für
das Eingreifen in Tschetschenien zu schaffen – eine Denkfigur,
die den Verschwörungstheorien zu den Anschlägen vom 11. Sep-
tember 2001 ähnelt, in denen behauptet wird, die CIA habe diese
verübt, um einen Vorwand für das Eingreifen in Afghanistan
und im Irak zu haben.32
Putin nahm in der Folge diverse westliche Aktivitäten im
«Krieg gegen den Terror» hin, die – wie man heute weiß und da-
mals wissen konnte – ganze Regionen destabilisierten. Dazu ge-
hörten der Einmarsch in Afghanistan 2001, den Russland sogar
unterstützte, und der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen
den Irak 2003, für dessen Rechtfertigung gefälschte Beweise
über angebliche Massenvernichtungswaffen herhalten mussten.
Auch die systematische Eskalation in den Beziehungen zwischen
dem Westen und dem Iran hat Russland relativ ruhig begleitet,
obwohl der Iran seit dem Sturz des Schahs gute Beziehungen zu
Moskau unterhält.
Wie sehr Russland in Afghanistan kooperierte, gerät heute
gerne in Vergessenheit, bzw. es scheint als selbstverständlich hin-
genommen zu werden. Um den Taliban die Herrschaft zu ent
reißen, verließen sich die USA stark auf die Bodentruppen der
sogenannten afghanischen Nordallianz. Diese wurde schon seit
Mitte der 1990 er Jahre von Russland unterstützt. Im Herbst
2001, nach den Anschlägen von 9/11 und vor der Offensive, er-
Russlands Rückkehr 25
Mit der Zeit wurden denn auch die kritischen Stimmen lauter.
2005 verlangten die Staaten der Schanghaier Organisation für
Zusammenarbeit – Russland, China, Usbekistan, Kirgistan, Tad-
schikistan und Kasachstan –, die Amerikaner und die NATO
sollten eine Frist für den Abzug ihres Militärs nennen und Aus-
kunft darüber geben, wann sie die Nutzung militärischer Infra-
struktur in Zentralasien beenden wollten.37 Tatsächlich war die
Bundeswehr im usbekischen Termez von 2002 bis 2015 prä-
sent,38 die USA in Usbekistan von 2001 bis 2005 und in Kirgistan
von 2001 bis 2014 – im Vorfeld hatte Russland die kirgisische
Regierung über etliche Jahre gedrängt, endlich für einen Schluss-
strich zu sorgen.39 Heute nutzen die USA, nachdem das Gros
der westlichen Truppen aus Afghanistan abgezogen wurde, vor
allem einen Stützpunkt in Rumänien als Nachschubbasis für
Afghanistan.40
Aber auch nach 2005 gab es auf russischer Seite noch die Be-
reitschaft zur Kooperation. 2008 gerieten die NATO-Truppen in
Afghanistan insofern in eine schwierige Lage, als es mit dem
Nachschub über Pakistan zunehmend Probleme gab. Es häuften
sich Angriffe der Taliban auf Konvois noch auf pakistanischer
Seite.41 Obwohl die Beziehungen zwischen Moskau und Wa
shington sich zu diesem Zeitpunkt schon deutlich eingetrübt
hatten, erlaubte Russland der NATO, russisches Territorium für
den Landtransit von «nicht tödlichen Gütern», also Transport-
fahrzeugen, Lebensmitteln, Treibstoff etc., zu nutzen.42
Im März 2012 gestattete der damalige Präsident Medwedew
dann auch den Lufttransit. Als Logistikzentrum war dabei der
Flughafen Uljanowsk- Wostotschny vorgesehen. Ein NATO-
Stützpunkt ausgerechnet in der Geburtsstadt Lenins – darauf-
hin warfen die Kommunisten dem Kreml «Staatsverrat» vor.
Putin, inzwischen erneut Präsident, erklärte am 1. August 2012,
als das Logistikzentrum der NATO eröffnet wurde: Es sei im
nationalen Interesse Russlands, der NATO bei der Erfüllung
ihrer Aufgaben in Afghanistan zu helfen.43 Die USA und die
NATO waren zu diesem Zeitpunkt dringend auf Routen für den
Russlands Rückkehr 27
unterbreitet worden seien. Und das ist nicht einmal falsch, auch
wenn die meisten von ihnen in die Ära Jelzin fallen. 1992 wurde
Russland in den Internationalen Währungsfonds und die Welt-
bank aufgenommen. 1996 folgte der Europarat, 1998 wurde
Russland Mitglied der G8, aus der man es im Zuge der Ukraine-
krise wieder ausschloss. 1999 war Moskau Gründungsmitglied
der G20, und 2012 wurde es in die Welthandelsorganisation
(WTO) aufgenommen. Geschichte ist nie nur schwarz und weiß,
es gibt immer zahlreiche Grautöne und unterschiedliche Per
spektiven, unter denen sie betrachtet werden kann. Wer sie ver-
stehen will, tut allerdings gut daran, sich nicht bloß auf einen
Blickwinkel zu beschränken.
Bei uns besteht derzeit die Neigung, nur einen Teil der Ge-
schichte zu erzählen und die Elemente wegzulassen, die nicht in
das Bild vom friedlichen Westen und vom aggressiven Russland
passen. Wer aber die eigenen Handlungen unerwähnt lässt und
nur die Reaktionen Russlands benennt, der verwischt Ursache
und Wirkung und verfehlt den bereits erwähnten Erfahrungs-
hintergrund, vor dem die russische Politik handelt. Wenn daher
in diesem Buch die Aktionen des Westens im Vordergrund ste-
hen, dann nicht deswegen, weil Russland lediglich das wehrlose
Opfer westlicher Aktionen wäre und eine komplett reine Weste
hätte, sondern weil der andere Erzählstrang bei uns viel zu oft
überhaupt keine Berücksichtigung findet.
Die Revolutions-GmbH
höhlt den Stein» sehen, wobei der Stein hier die deutsche Bun-
deskanzlerin symbolisiert. Als die NATO 2012 in Chicago zu-
sammenkam, stellte die US-Außenministerin Hillary Clinton
vor Vertretern von Bosnien-Herzegowina, Georgien, Mazedo-
nien und Montenegro, die alle auf eine NATO-Mitgliedschaft
hinarbeiteten, fest: «Ich denke, dies sollte der letzte Gipfel sein,
der kein Erweiterungsgipfel ist.»79 Für Moskau jedenfalls musste
der Eindruck entstehen, dass eine Aufnahme Georgiens und der
Ukraine in die NATO seit dem Bukarester Gipfel als reale Option
im Raum stand.
ten die Südosseten, die über ein Gesetz verärgert waren, mit dem
das Georgische zur alleinigen Amtssprache erklärt wurde, ihre
Region zur autonomen Republik (damit beanspruchten sie den
Status, den Abchasien bereits innehatte). Die Behörden in Tiflis
wiesen die Deklaration zurück. Zudem machten sich am 23. No-
vember mehr als 20 000 teilweise bewaffnete Georgier unter Füh-
rung von Swiad Gamsachurdia in einem Konvoi aus Pkws und
Bussen in die südossetische Hauptstadt Zchinwali auf. Osseten
stellten sich ihnen entgegen. Bei dreitägigen Gewalttätigkeiten
gab es sechs Tote und Dutzende Verletzte. Das Eingreifen sow
jetischer Truppen verhinderte ein Blutbad.101
Gamsachurdia heizte den Konflikt mit Südossetien weiter an,
das die Georgier «Zchinwali und Java» oder «Samachablo und
Innerkartlien» nennen, um den Gebietsanspruch der Osseten
auch im Namen der Region auszulöschen.102 Er betrachtete die
Osseten nur als «Gäste», die in ihre Heimat Nordossetien zu-
rückkehren sollten. Mischehen gefährdeten seiner Ansicht nach
das Überleben der georgischen Nation. Gamsachurdias Behaup-
tung über den angeblichen Gaststatus der Osseten in Georgien
war nicht nur eine kaum verhohlene Aufforderung zur ethni-
schen Säuberung und damit politische Brandstiftung, sondern
auch historisch verwegen, da die Osseten seit dem 13. Jahrhun-
dert in der Region siedeln. Nach anderer Auffassung gehen sie
sogar auf eine Volksgruppe zurück, die dort bereits seit dem ers-
ten christlichen Jahrhundert zu Hause war.103 Gamsachurdias
Ressentiments gegen die Südosseten fanden unter den Geor-
giern breite Unterstützung. Dabei taten sich besonders die ge
orgischen Intellektuellen hervor und weniger die einfachen ge
orgischen Dorfbewohner in Südossetien selbst.104 Georgische
Historiker publizierten Texte, in denen die «Georgischheit» Süd-
ossetiens und Abchasiens «nachgewiesen» wurde.105 Der Bürger-
rechtler Andrej Sacharow hat Georgien wegen dieser zumindest
damals vorherrschenden Mentalität als «kleines Imperium» be-
zeichnet.106 Das hindert heute, unter dem Eindruck des Kon-
flikts mit Russland, allerdings nicht daran, die georgische Kul-
46 Russlands Rückkehr
Jedenfalls ist es nicht so, dass sich Russland in der Frage seiner
Truppenpräsenz in Georgien nicht bewegt hätte. Tiflis jedoch
ging es auch darum, die russischen Friedenstruppen aus dem
Land zu bekommen, nicht bloß die regulären Truppen – eine Un
terscheidung, die in den einschlägigen Berichten oftmals fehlt.142
Dabei wurden die russischen Friedenstruppen in Südossetien
und Abchasien in den Istanbuler Vereinbarungen von 1999 mit
keinem Wort erwähnt. Also kann auch keine Rede davon sein,
dass Russland sich 1999 zu deren Abzug verpflichtet hätte.143
Alle, die die Forderung nach einem Abzug der russischen Frie-
denssoldaten aufgriffen, sollten sich fragen, was in diesem Fall
mit den Südosseten und Abchasen geschehen wäre. In Moskau,
so berichtete der US-Botschafter am 12. Juli 2006, glaube man,
dass es nur diese Friedenstruppen seien, die «Krieg und Geno-
zid» verhinderten.144 Wenn man sich die Vorgeschichte verge-
genwärtigt, dann ist diese Einschätzung nicht ganz abwegig. Auf
die Frage, ob er glaube, dass die Südosseten und die Abchasen
überhaupt noch etwas mit den Georgiern zu tun haben wollten,
erwiderte Saakaschwili 2008: «Es geht nicht darum, ob sie zu
uns zurückkommen, sondern darum, dass wir zu ihnen kom-
men; diese Gebiete gehören alle zu Georgien.»145 Der Politikwis-
senschaftler Egbert Jahn gelangt daher zu dem Schluss, dass eine
gewaltsame Wiedervereinigung der Separatistengebiete mit Ge-
orgien «nur um den Preis des Völkermords und der Vertreibung
der Abchasen und Südosseten aus ihren Siedlungsgebieten mög-
lich wäre».146 Auch das ist ein Grund, warum so viele Abchasen
und Südosseten inzwischen russische Pässe besitzen – mehr als
die Hälfte sollen es in Abchasien sein und sogar 90 Prozent in
Südossetien.147 Und daher kann es auch nicht überraschen, dass
es in Abchasien und Südossetien große Mehrheiten in der Bevöl-
kerung für die russische Militärpräsenz gibt, wie der in den USA
lehrende Geograf Gerard Toal 2010 durch Meinungsumfragen
ermittelte.148
Am 12. November 2006 war in Südossetien ein Referendum
durchgeführt worden, an dem ethnische Georgier nicht teilneh-
Russlands Rückkehr 55
Der Showdown
auf den Schlachtfeldern selber. Für die USA waren die Erfahrun-
gen mit dem Vietnamkrieg in dieser Hinsicht prägend. Kritische
Berichte in der Heimat trugen erheblich dazu bei, dass die Unter-
stützung der Bevölkerung für diesen schmutzigen Krieg schwand.
Zur Erinnerung: Es kam ein ganzes Horrorarsenal an Waffen
zum Einsatz, von Agent Orange, einem hochgiftigen Entlau-
bungsmittel, bis hin zu Phosphorbrandbomben, die durch ihre
Mischung aus Phosphor und Kautschuk dafür sorgen, dass
brennende Körperstellen nur sehr schwer zu löschen sind.3
Heute betreibt das Pentagon einen erheblichen Aufwand, um
bei Kampfeinsätzen seine Sicht der Dinge in den internationalen
Medien wiederzufinden, sei es durch «eingebettete» Journalisten,
durch Pressekonferenzen oder durch die Produktion von Mate
rial, zum Beispiel Videoaufnahmen von startenden Tomahawk-
Raketen oder Bildern aus dem Cockpit angreifender Jets, die eine
chirurgische Präzision der Militärschläge suggerieren sollen.4
Auch in Russland hat man, wie erwähnt, aus dem PR-Desaster
nach dem Georgienkrieg gelernt und in Auslandsmedien inves-
tiert, wie etwa Sputnik oder RT (Russia Today). Diese verbreiten
die russische Sicht der Dinge, sind dabei aber deutlich weniger
erfolgreich als ihre westlichen Konkurrenten. Sie gelten hierzu-
lande als Produzenten russischer «Fake News», deren einzige
Aufgabe darin bestehe, Zwietracht im Westen zu säen und zu
verhindern, dass sich die Bevölkerung in den westlichen Staaten
zu einer harten Haltung gegenüber Russland aufrafft. Eine kriti-
sche Einstellung gegenüber den russischen Auslandssendern ist
in der Tat angebracht. Sie haben die internationale Öffentlich-
keit immer mal wieder bewusst in die Irre geführt. Doch lässt
sich daraus ableiten, dass alles, was aus Russland kommt, «Fake
News» sind, während den westlichen Quellen und ihren Verbün-
deten vorbehaltlos geglaubt werden kann?
Die Wahrheit kommt leider oft erst hinterher ans Licht. Und
beim nächsten Mal sind alle wieder genauso klug wie zuvor. Er-
innern Sie sich noch an den ersten Irakkrieg unter George Bush
sen.? Im Jahre 1990 überfiel Saddam Hussein Kuwait, und eine
Der Showdown 75
beiden Ländern eine kühle Machtpolitik, die auf das Leid von
Menschen wenig Rücksicht nimmt.
In Syrien hält Russland ein Regime an der Macht, das einen
brutalen Krieg gegen einen Teil des eigenen Volkes führt. In syri-
schen Gefängnissen sind Tausende Menschen gequält und er-
mordet worden.6 Ob Russland überhaupt in der Lage wäre,
Assad zu einer anderen Politik zu zwingen, sei einmal dahinge-
stellt, ebenso die Frage, was passieren würde, wenn Assad stürzte.
Auch von seinen Gegnern sind schwerste Menschenrechtsverlet-
zungen begangen worden. Fakt bleibt aber, dass Russland auf-
grund seiner Hilfe eine Mitverantwortung für das Leid trägt, das
die Bomben des Regimes etwa in Aleppo verursacht haben.
Ebenso tragen die USA eine Mitverantwortung für das Leid von
Zivilisten bei der Rückeroberung der vom IS besetzten Städte
Raqqa in Syrien und Mossul im Irak. Über 40 000 Zivilisten sol-
len nach Informationen der britischen Zeitung «The Indepen-
dent» beim Kampf um Mossul ums Leben gekommen sein.7
2014 hat Moskau zudem seinen Teil dazu beigetragen, dass
sich die Proteste in der Ostukraine radikalisierten und dass aus
Demonstrationen bewaffnete Aufstände wurden, nachdem das
Kiewer Parlament am 22. Februar den Sturz des gewählten
ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch beschlossen
hatte, was von der Verfassung so nicht gedeckt war. Russland hat
den «Volksrepubliken» in Donezk und Lugansk schwere Waffen
geliefert, und es spricht viel dafür, dass der Zustrom russischer
Freiwilliger dorthin nicht nur geduldet, sondern auch aktiv be-
fördert worden ist. Und Russland hat – völkerrechtswidrig – mit
eigenen Truppen auf ukrainischem Gebiet eingegriffen, als eine
militärische Niederlage der Rebellen drohte.8 Es ist sicher nicht
so, wie die neue ukrainische Regierung behauptet, dass es im öst-
lichen Teil des Landes ohne die Einmischung Moskaus keinerlei
Unruhen gegeben hätte. Wahrscheinlich hätten sich die Men-
schen dort auch von alleine radikalisiert. Doch es bleibt die Tat-
sache, dass auch russische Politik viel menschliches Leid verur-
sacht hat.
78 Der Showdown
tegie um, der bald noch andere Staaten zum Opfer fallen wer-
den? Ist Putin wirklich unberechenbar? Verfolgt nur Russland
eine zynische Machtpolitik, die noch in Einflusszonen und geo
strategischen Interessen denkt? In der Tat ist die Sache auch hier
komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Auch die feh-
lenden Teile der Geschichte müssen erzählt werden. Nur so ent-
steht ein vollständiges Bild, das eine realistische Einschätzung
der Zusammenhänge ermöglicht und auf dieser Grundlage zu
einer konstruktiven politischen Lösung überhaupt befähigt.
2008 erhielt die Ukraine, wie bereits erwähnt, auf dem NATO-
Gipfel in Bukarest eine offizielle Beitrittsperspektive, die auch
in der Folge nie zurückgenommen, sondern auf jedem NATO-
Gipfel erneut bekräftigt wurde, auch als die Ukraine selber nach
der Abwahl Juschtschenkos einen Beitritt gar nicht mehr an-
strebte. Zwar hatten Deutschland, Frankreich und andere west-
europäische Staaten konkrete Membership Action Plans immer
wieder verhindern können, womit sie sich in Washington nicht
gerade beliebt machten. Doch hätte es nur eines politischen
Kurswechsels in Berlin und Paris bedurft, um das zu ändern – ge-
setzt den Fall, die Position Kiews würde sich ebenfalls wieder
drehen. Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine stand jedenfalls
seit 2008 offiziell im Raum, was der russischen Führung natür-
lich bewusst war, als es in Kiew 2014 zum Umsturz kam.
Dies in Erinnerung zu rufen ist wichtig, weil in der Bericht
erstattung über die Ukrainekrise meist so getan wurde, als ginge
es ausschließlich um westliche Werte und um die Alternative:
EU-Assoziierungsabkommen oder Eurasische Wirtschaftsunion.
Der amerikanische Historiker Timothy Snyder schaffte es zum
Beispiel, zahlreiche Artikel über die «Maidan»-Bewegung zu
schreiben, ohne das Wort «NATO» auch nur ein einziges Mal zu
verwenden. Dann fällt es natürlich bedeutend leichter, die «geo-
politische Bedeutung der Ukraine» als eine «leere Fantasie» ab-
zutun, wie es bei Snyder geschieht.29 Oder auch zu behaupten,
Putins Eingreifen in der Ukraine habe nichts mit Geopolitik zu
tun, sondern diene nur dem Zweck, eine Demokratiebewegung
zu unterdrücken, die im Erfolgsfalle nach Russland überschwap-
pen könnte.30
Auf dem Bukarester Gipfel, bei dem Präsident Putin als Gast
88 Der Showdown
dabei war, hatte er gesagt, eine Aufnahme der Ukraine und Geor-
giens in die NATO würde Russlands Interessen unmittelbar be-
rühren. Moskau wäre gezwungen, darauf mit geeigneten Maß-
nahmen zu reagieren, um seine Sicherheit zu gewährleisten.31
Bereits im Vorfeld des Gipfels hatten russische Diplomaten dar-
auf hingewiesen, dass Putin in konstruktiver Absicht nach Buka-
rest komme, um ein «positives Signal» für die zukünftige Koope-
ration zwischen Russland und der NATO zu geben, um «globale
Risiken gemeinsam anzugehen». Aber alles hänge an der Frage
der Beitrittsperspektive für die Ukraine und Georgien.32
Am 18. Januar 2008 hatte die politische Führung in Kiew
um die Vereinbarung eines Membership Action Plans für die
Ukraine auf dem Bukarester Gipfel nachgesucht. Unterzeichnet
war das entsprechende Schreiben von Präsident Viktor Juscht-
schenko, Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und dem da-
maligen Parlamentspräsidenten Arsenij Jazenjuk.33 Als Reaktion
darauf hatte der russische Außenminister Lawrow festgestellt,
Russland müsse die anhaltende Osterweiterung der NATO als
eine «potentielle militärische Bedrohung» betrachten. Er sei
durchaus bereit, den Versicherungen des Westens zu glauben,
dass die NATO sich nicht gegen Russland richte. Angesichts der
jüngsten militärischen Aktivitäten in NATO-Ländern34 müsse
Moskau die Erweiterungsabsichten aber nach ihrem tatsäch
lichen Bedrohungspotential bewerten und könne sich nicht mit
behaupteten Absichten zufriedengeben. Natürlich hätten die
USA und Europa legitime Interessen in der Region, so Lawrow
weiter, und Staaten müssten frei sein, selber zu entscheiden, wel-
chem Bündnis sie angehören wollten. Aber dabei müsse auch be-
rücksichtigt werden, welche Folgen dies für die Nachbarn habe.
In ihrem Freundschaftsvertrag von 1997 seien Russland und die
Ukraine übereingekommen, «von der Teilnahme an oder der Un-
terstützung von allen Handlungen abzusehen, die die Sicherheit
der anderen Seite beeinträchtigen könnten».35
In einem Bericht vom 1. Februar 2008 fasste der US-Botschaf
ter die Bedenken zusammen, die in Moskau gegenüber der Auf-
Der Showdown 89
oder nur ein Territorium mit einem Wappen, einer Flagge und
Grenzen, aber ohne eine internationale Stimme.»41 Bei der Ab-
stimmung im Parlament kam es damals zu einer Schlägerei, es
wurden Rauchbomben gezündet, und der Parlamentspräsident
wurde mit Eiern beworfen.42 Es war sehr wahrscheinlich, dass
diese Kräfte alles daransetzen würden, die Verlängerung des
Pachtvertrages aufzuheben, wenn sie die Gelegenheit dazu be
kämen.
Was hätte es für Russlands strategische Interessen wohl prak-
tisch bedeutet, wenn Sewastopol von NATO-Gebiet umgeben ge-
wesen oder der Pachtvertrag einseitig gekündigt worden wäre?
Die Einflussmöglichkeiten der russischen Marine im Schwarzen
Meer wären stark reduziert worden, die Fähigkeit, sich durch
Anti-Access-/Area-Denial-Maßnahmen (das sind Maßnahmen,
mit denen der Zugang zu einem bestimmten Gebiet militärisch
blockiert werden kann) gegen einen NATO-Angriff zu vertei
digen, wäre beeinträchtigt worden. Alles hinnehmen, weil die
NATO ja niemanden bedroht? Erwartet man allen Ernstes, dass
die Planungsstäbe in Moskau das auch so sehen? Würden die
USA umgekehrt den Verlust eines strategisch derart bedeutsa-
men Stützpunktes einfach so akzeptieren?
Wenn man komplett ausblendet, dass es seit 2008 eine kon-
krete NATO-Beitrittsperspektive für die Ukraine gab und der
Beitritt ausgerechnet von denjenigen Kräften mit aller Macht an-
gestrebt worden war, die 2014 in Kiew wieder an die Regierung
kamen (Petro Poroschenko, der heutige Präsident, war der letzte
Außenminister Juschtschenkos), kann man die russischen Hand-
lungen vielleicht als unberechenbare Aggression deuten. Mit der
Realität hat das dann aber nicht mehr viel zu tun.
in freien Wahlen durch den aus dem Osten der Ukraine stam-
menden Viktor Janukowitsch abgelöst worden, der schon 2004
der Gegenkandidat gewesen war. Janukowitsch hatte im Wahl-
kampf damit geworben, die Beziehungen zu Moskau verbessern
zu wollen. Seine Gegenkandidatin in der Stichwahl war Julia
Timoschenko, die nur knapp unterlag. Der Osten und Süden
hatte für Janukowitsch gestimmt, der Westen für Timoschenko.
Dies zeigt erneut, wie gespalten die Ukraine war und wie be
rechtigt die Sorgen waren, was mit dem Land passieren würde,
wenn man es vor die Wahl zwischen West und Ost stellte. Keines-
wegs stand da eine klare Mehrheit eindeutig hinter dem einsei
tigen Westkurs Juschtschenkos. «Einen möglichen Beitritt zur
NATO, das Ziel des scheidenden Präsidenten Juschtschenko, hat
Janukowitsch … mit breiter Zustimmung der Bevölkerung vom
Tisch gefegt», so kommentierte «ZEIT Online» damals die
Wahl.43 Janukowitsch nahm schon im März 2010 die NATO-
Beitrittsperspektive der Ukraine offiziell zurück.44 Wenig später
verankerte das Land den Blockfreienstatus in seiner Verfassung.
Janukowitsch betrieb allerdings keine einseitige Anbindung an
Russland, sondern kehrte zur Schaukelpolitik Kutschmas zu-
rück. Auf der verzweifelten Suche nach Geld – die Ukraine, einer
der korruptesten Staaten der Welt, war faktisch pleite – verhan-
delte er mit beiden Seiten, mit Russland und dem Westen. Damit
fing die Vorgeschichte der Ukrainekrise an.
Die Verhandlungen über ein EU-Assoziierungsabkommen
hatten noch unter Präsident Juschtschenko, 2007, begonnen.
2009 war die Ukraine der östlichen Partnerschaft beigetreten.
Präsident Janukowitsch setzte die Verhandlungen Richtung Wes
ten fort. Auf dem EU-Ukraine-Gipfel in Kiew im Dezember 2011
hätte das EU- Assoziierungsabkommen unterzeichnet werden
können. Dazu kam es jedoch nicht, weil die EU darauf bestand,
die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko aus der
Haft zu entlassen, zu der sie wegen Amtsmissbrauchs verurteilt
worden war. Angeblich hatte sie zu hohe Gaspreise in den Verträ-
gen mit Russland vereinbart und so die ukrainische Wirtschaft
Der Showdown 93
undenkbar, dass sich die Ukraine für Moskau statt für Brüssel
entscheiden könnte?
Auch wenn man selber angeblich nicht mehr in den Kate
gorien von Einflusszonen denkt, wie im Westen immer wieder
behauptet wird, so müsste doch zumindest bewusst bleiben,
dass andere dies eventuell noch tun? Eine kluge Politik muss
Derartiges doch in ihre Überlegungen mit einbeziehen, oder
etwa nicht? Wie dem auch sei, Janukowitsch brauchte dringend
Geld, um den Bankrott der Ukraine zu verhindern. Er wandte
sich an Brüssel. Dort redete man über westliche Werte und Julia
Timoschenko. Moskau dagegen bot ein Paket von umgerechnet
15 Milliarden US-Dollar. Der ukrainische Präsident sagte da
raufhin am 28. November 2013 die Unterzeichnung des EU-As
soziierungsabkommens ab – Putin, so schien es, hatte das Rin-
gen um die Ukraine für sich entschieden.49
Putsch in Kiew
Wie wird die deutliche Parteinahme des Westens für die Aufstän-
dischen des Maidan und gegen den gewählten Präsidenten Janu-
kowitsch auf die russische Seite gewirkt haben? Zumal sich eben
jener Präsident unmittelbar zuvor gegen das EU-Assoziierungs
abkommen entschieden hatte und niemand im Westen es offen-
bar für nötig hielt, das eigene Vorgehen in der Ukraine mit
Russland abzustimmen? Liegt die Verantwortung für die nun
Der Showdown 99
noch direkt aus Russland, sondern aus der EU. Dabei handelt es
sich aber um «reverse flows», d. h. um Erdgas, das ursprünglich
aus Russland stammt und über EU-Gebiet in die Ukraine zu-
rückgeleitet wird.66 Man muss also feststellen, dass die Hinwen-
dung der Ukraine zur EU und die Abkehr von Russland auch
ökonomisch in vollem Gange sind.67 All dies wird übersehen,
wenn nur von europäischen Werten und nicht von Interessen,
seien es geostrategische oder wirtschaftliche, die Rede ist.
In den Hintergrund gerät auch die Frage, ob den Menschen in
der Ukraine diese wirtschaftliche Hinwendung zum Westen
überhaupt nutzt. Gewinnt am Ende vielleicht nur der Westen
einen Markt hinzu? Es ist zu früh, um über die wirtschaftlichen
Auswirkungen des EU-Assoziierungsabkommens sichere Anga-
ben machen zu können, und gegenwärtig sind die ukrainischen
Zahlen durch den Konflikt in der Ostukraine stark belastet. Fakt
ist jedenfalls, dass sich die Wirtschaftsleistung pro Kopf nach
heutigen Preisen in den letzten Jahren stark reduziert hat und
2016 nach einer Schätzung des IWF vom April 2017 nur noch bei
2194 US-Dollar pro Kopf und Jahr lag. Zum Vergleich: Beim
Nachbarn Weißrussland liegt dieser Wert mehr als doppelt so
hoch bei 5143 US-Dollar. Russland kommt mit 8929 US-Dollar
gar auf das Vierfache. Besonders bitter für die Ukraine ist, dass
dieser Wert 2013 noch bei 3969 US-Dollar lag – hier zeigt sich
insbesondere die starke Inflation seitdem.68 Damit liegt das
Land 2016 auf Platz 135 von 190 Ländern, knapp hinter Nigeria
und knapp vor Vietnam.69 Was wird in der Ukraine passieren,
falls die Westperspektive den Menschen keine Wohlstandsge-
winne bringt?
schen Staates in Syrien, aber eben nicht auf Einheiten der syri-
schen Armee.
Ist das Problem der amerikanischen Syrienpolitik also tatsäch
lich, wie Obama vielfach vorgeworfen wird, dass sie zu zurück-
haltend war? Es ist zwar richtig, dass der Präsident dem Drängen
der Falken nach einer direkten militärischen Intervention wider-
stand, doch das heißt nicht, dass sich die USA aus dem Konflikt
komplett herausgehalten hätten. Sie unterstützten die Rebellen
auf vielfältige Weise, und Obama ließ sich von den Falken in
seiner Administration mehr und mehr in den Konflikt hinein
ziehen.
Öl ins Feuer
ren müssen, bevor sie sich einseitig auf den Sturz Assads fest-
legte.
Machen wir aber noch einmal die Gegenprobe: Was wäre denn
passiert, wenn Russland und der Iran Assad fallen gelassen und
sich die Rebellen dank der ausländischen Hilfe durchgesetzt hät-
ten? Dann hätte Obama vor genau der mit Libyen vergleichbaren
Situation gestanden, die er eigentlich vermeiden wollte: viele
unterschiedliche bewaffnete Gruppen, überhaupt viel zu viele
Waffen im Land, verschiedenste Clane und Loyalitäten, eine zer-
strittene Opposition, Exilpolitiker ohne Bindung in die Heimat,
die von außen eingesetzt werden, eine Bevölkerung ohne Erfah-
rung mit einer freien Demokratie und praktisch ohne funktio-
nierende Zivilgesellschaft, die sich ja unter dem repressiven
Assad-Regime nicht hatte entfalten können. Allein diese noch
nicht einmal vollständige Aufzählung bietet schon alle nötigen
Zutaten für Chaos und Staatszerfall. Dass aus dieser Gemenge-
lage eine Demokratie entstehen würde, muss auch Obama als
unwahrscheinlich erschienen sein. Nur zog er aus dieser bitteren
Einsicht keine Konsequenzen. Letztlich goss er mit seiner Politik
Öl ins Feuer, anstatt es zu löschen.
Wladimir Putin hat die Schwächen der westlichen Syrienpoli-
tik offenbar sehr kühl analysiert und sie gnadenlos ausgenutzt.
Als er infolge der Ukrainekrise international isoliert war, brachte
er sich über Syrien zurück ins Spiel. Im September 2015 griffen
russische Streitkräfte, insbesondere der Luftwaffe, auf Bitten der
syrischen Regierung und damit völkerrechtskonform in den
syrischen Bürgerkrieg ein. Offiziell hieß es, Russland beteilige
sich am Kampf der internationalen Koalition unter der Führung
der USA gegen den «Islamischen Staat», der das Chaos in Syrien
genutzt hatte, um den Osten des Landes weitgehend unter seine
Kontrolle zu bekommen.
Tatsächlich darf man dieses Anliegen nicht so leichtfertig vom
Tisch wischen, wie es damals rasch geschah. Russland hat selber
seit geraumer Zeit ein Problem mit islamistischen Terroristen.
Nicht wenige Kämpfer des IS kamen aus Tschetschenien, und es
Der Showdown 121
nahm wahr, dass es ein substantieller Teil der Syrer mit Assad
hielt – und wenn auch nur aus Angst, was nach seinem Sturz
folgen mochte. Und Russland warnte von Anfang an vor einem
Erstarken der Dschihadisten unter den Rebellen. Deren Ein-
fluss war in Syrien schon lange vor der Revolte gestiegen – eine
Folge des Staatszerfalls im Irak, der sich zu einem Hotspot des
Dschihad entwickelte und auf Syrien ausstrahlte. Von einem
Sturz Assads erwartete Moskau nicht den Sieg der Demokratie,
sondern den Sieg des Chaos und das Vordringen der Dschihadis-
ten – wie in Libyen. Ist das eine so ganz unverständliche Prog-
nose? Welche Erwartung kam der Realität näher? Die Hoffnung
auf die demokratische Zukunft oder die Sorge vor dem Verlust
jeglicher Ordnung, vielleicht auf Jahrzehnte?
Tatsächlich gewannen die Dschihadisten schon im Laufe des
Jahres 2012 immer mehr Einfluss in Syrien, und dies lag nicht
nur daran, dass Assad einige von ihnen aus dem Gefängnis ent-
ließ.111 Eher hatte es etwas zu tun mit der Unterstützung dieser
Gruppen aus Ländern wie Saudi-Arabien und Katar, mit dem
Zustrom ausländischer islamistischer Kämpfer, nicht zuletzt aus
dem Irak, und mit einem zwangsläufigen Radikalisierungspro-
zess durch die Brutalität der Kämpfe.112 Jedenfalls wurde es zu-
nehmend schwieriger, eindeutig zwischen «gemäßigten» Rebel-
len und dschihadistischen Gruppen zu unterscheiden – eine
Fiktion, die aber die Grundlage der amerikanischen Unterstüt-
zungs- und Ausbildungsprogramme bildete. Vom Westen gelie-
ferte Waffen sind daher auch in die Hände von Dschihadisten
gelangt.
In einem ebenfalls von Judicial Watch freigeklagten Geheim-
bericht der DIA, des US-Militärgeheimdiensts, vom August 2012
heißt es: «Die treibenden Kräfte der Revolte in Syrien sind die
Salafisten, die Muslimbruderschaft und Al-Qaida im Irak.» Un-
ter Al-Qaida im Irak werden in diesem Dokument sowohl die
Nusra-Front als auch die Gruppen verstanden, die später den
Islamischen Staat bildeten; sie trennten sich erst 2013 voneinan-
der. «Al-Qaida im Irak hat die syrische Opposition von Beginn
124 Der Showdown
gut wie keinen Einfluss. Nach wie vor wird so getan, als kämpfe
«das» syrische Volk gegen Assad. Kaum einmal wird gefragt, wie
viele Menschen eigentlich in den von Assad beherrschten Gebie-
ten leben, wie es ihnen geht, warum sie sich dort aufhalten und
wie sie zu dem Konflikt stehen. Wer unsere Nachrichten verfolgt,
muss den Eindruck bekommen, niemand halte es freiwillig mit
Assad. In seinen Gebieten müsste Friedhofsruhe herrschen.
Auch aus Aleppo ist kaum mehr berichtet worden, seit es von Re-
gimetruppen zurückerobert wurde.
Ein Artikel, den kürzlich ein unabhängiges Internetportal in
den USA veröffentlichte, hat Stimmen aus dem Assad-Land ge-
sammelt und schätzt, dass die große Mehrheit der noch im Land
befindlichen Syrer unter der Herrschaft Assads lebt.119 Nahezu
alle Binnenflüchtlinge seien in die von der syrischen Regierung
kontrollierten Regionen geflohen – die einzigen Gebiete, die eini-
germaßen sicher seien. Dazu passen auch Angaben des Flücht-
lingshilfswerks UNHCR. Demnach sind im ersten Halbjahr 2017
440 000 Binnenflüchtlinge und 31 000 ins Ausland geflohene
Syrer zurückgekehrt, und zwar in die von den Assad-Truppen im
Rahmen ihrer Offensive gesicherten Gebiete, darunter auch
Aleppo.120 Unter der Kontrolle der Opposition und in den vom
IS kontrollierten Landesteilen lebten laut dem in den USA veröf-
fentlichten Artikel nur noch vergleichsweise wenige Menschen.
Die Autorin, die sich mehrere Monate im Regierungsgebiet
aufgehalten hatte, berichtet, dass die Menschen dort keineswegs
den Sturz Assads wünschten, da sie Angst hätten vor dem, was
danach käme. «Wir sind gefangen zwischen einem Polizeistaat
und Al-Qaida», erzählte ihr ein Syrer. «Natürlich wähle ich den
Polizeistaat.» Eine Studentin, die 2011 in Aleppo lebte und vor
der Belagerung der Westhälfte der Stadt durch die Rebellen 2013
nach Damaskus floh, sagte: «Ich war bei den Demonstrationen
dabei. Am Anfang des Krieges ging es um die Freiheit. Aber wenn
ich die Zeit vier Jahre zurückdrehen könnte, würde ich nicht
mehr zu den Demonstrationen gehen, weil ich nicht wollen
würde, dass die Situation so wird wie heute. Wir bedauern es.»
Der Showdown 127
Gut und Böse, Schwarz und Weiß, richtig und falsch. Das sieht
nach eindeutigen Kategorien aus. Jedenfalls auf den ersten Blick.
Auf den zweiten stellt sich heraus, dass es sehr verschiedene
Nuancen von Schwarz und Weiß gibt. Das hat jeder schon ein-
mal erfahren, der Schwarzes mit Schwarzem oder Weißes mit
Weißem in seiner Garderobe kombinieren wollte. Richtig und
falsch ist auch nicht ganz so eindeutig, wie man erwarten könnte.
Ist es zum Beispiel richtig, eine in terroristische Hände geratene
Verkehrsmaschine abzuschießen, die im Begriff ist, ein vollbe-
setztes Stadion anzusteuern? Oder ist es vielleicht doch falsch?
Könnte es sein, dass die Passagiere im Flugzeug dazu eine andere
Auffassung vertreten als diejenigen, die im Stadion sitzen? Und
was ist mit Gut und Böse?
Selbstverständlich lässt sich bei bestimmten Taten schnell
Einigkeit erzielen. Verhalten, das sich durch Nächstenliebe,
Barmherzigkeit und Mitgefühl auszeichnet, ist gut. Mord und
Totschlag sind böse. Wenn in Literatur und Film Motive für Ge-
walttaten thematisiert werden – Notwehr, Verzweiflung nach
jahrelangem Martyrium –, dann ändert das nichts an der morali-
schen Kategorie, Mord und Totschlag sind und bleiben böse,
und schon gar nichts an der Ahndung nach Recht und Gesetz,
aber es tauchen Empfindungen auf, die um die Begriffe «ge-
recht» und «ungerecht» kreisen. Kompliziert. Mit Gut oder Böse
kommt man da nicht weiter.
Ähnlich verhält es sich bei der politischen Analyse. Die Auftei-
Gut und Böse 129
lung in Gut (wir) und Böse (unser Gegner) schafft eine trüge
rische Eindeutigkeit, wenn man sie über außenpolitische Kon-
flikte stülpt. Das aber geschieht schon fast automatisch, sobald
irgendwo ein Konflikt auftaucht. US-Präsident Ronald Reagan
sprach vom «Reich des Bösen», unter Bill Clinton wurde der
Begriff «Schurkenstaaten» geprägt, und George W. Bush erfand
die «Achse des Bösen». Das gängige Verfahren ist eine personelle
Zuspitzung, die den Bösewicht auf der Gegenseite im wahrsten
Sinne des Wortes greifbar macht. Dessen Qualität als «Böser»
erklärt dann zumeist auch schon den Konflikt an sich. Das ist
bequem. Bei der Komplexität außenpolitischer Probleme, wie sie
sich zum Beispiel im Nahen Osten zeigen, lässt sich mit diesem
Verfahren viel leichter Position beziehen. Und es ist nicht zuletzt
auch deshalb bequem, weil sich die Akteure auf der «guten» Seite
keine Mühe geben müssen, ihr Verhalten zu erklären oder zu
rechtfertigen. Böses muss bekämpft werden. Was gibt es da zu
diskutieren!
Die personelle Zuspitzung – in Syrien ist es Assad, in Jugosla-
wien war es Milosevic, im Irak Saddam Hussein, in Libyen Ghad-
dafi, in Russland ist es Putin – führt zu einer fatalen Fehlwahr-
nehmung: Man muss nur das Böse an der Spitze, dieses moralisch
defekte Individuum, beseitigen, und schon ist der Konflikt ge-
löst. Die Menschen sind von ihren Fesseln befreit und werden
von ihren Diktatoren nicht länger daran gehindert, sich dem
Westen, den Guten, zuzuwenden. Mit der Realität hat das oft-
mals nicht viel zu tun, weswegen solche «Lösungsversuche» re-
gelmäßig in der Katastrophe enden.
Das Denken in den Kategorien von «Gut» und «Böse» hat in
Washington eine lange Tradition – gerade auch in der Außenpo-
litik. Die Vorstellung, das Land sei von Gott dazu auserwählt, als
Leuchtturm der Freiheit zu dienen und das Licht Gottes in der
Welt zu verbreiten, lässt sich bis auf die Gründerväter und die
Amerikanische Revolution zurückführen. Daraus entstand im
19. Jahrhundert die Idee der «Manifest Destiny», die besagte,
dass die USA von Gott den Auftrag hätten, den amerikanischen
130 Gut und Böse
«Njet»
nicht vergleichen, meinen Sie? Dann lassen Sie uns darüber strei-
ten und uns gegenseitig zuhören. Denn ohne offene Debatten
werden demokratische Systeme, die diesen Namen verdienen,
nicht überleben. Jedenfalls liest man gegenwärtig überall, dass
Russland den UN-Sicherheitsrat durch sein Veto blockiere und
der internationalen Gemeinschaft daher oftmals die Hände ge-
bunden seien. Aber ist es wirklich immer so eindeutig?
Am Morgen des 4. April 2017 starben in der von Rebellen ge-
haltenen syrischen Stadt Chan Scheichun nach einem Luftan-
griff mehr als 70 Menschen, darunter zahlreiche Kinder, vermut-
lich durch das Giftgas Sarin oder eine sarinähnliche Substanz.
Genau weiß man das nicht, da, anders als im August 2013 in
Ghouta, einem Vorort von Damaskus, bisher keine unabhängige
Untersuchung vor Ort durchgeführt werden konnte. Während
ein UN-Inspektorenteam im Falle Ghoutas hervorragende, peni-
bel dokumentierte Arbeit geleistet hat,3 musste sich der Anfang
Juli 2017 vorgelegte Bericht der OPCW, der Organisation zum
Verbot von Chemiewaffen, zu Chan Scheichun auf Material
stützen, das nicht mit letzter Gewissheit als authentisch gewer-
tet werden kann, auch wenn sich die Organisation große Mühe
gegeben hat, die Kette der Überlieferung so genau wie möglich
zu dokumentieren.4 Daher können auch andere Erklärungen
nicht vollständig ausgeschlossen werden, wie sie etwa der ame
rikanische Enthüllungsjournalist Seymour Hersh vorgelegt hat,
der, allerdings im Wesentlichen nur auf eine Quelle gestützt,
davon ausgeht, dass durch einen Luftangriff ein Vorratslager der
Rebellen getroffen wurde, dessen Inhalt eine Chlorgaswolke frei-
gesetzt habe.5
Was war der Grund dafür, dass eine zeitnahe Untersuchung
vor Ort nicht stattfand? Richard Herzinger stellte es in der
«Welt» so dar: «Beim Hinweis auf verbleibende Unklarheiten
über Umstände und Ablauf des Angriffs auf die nordwestsyri-
sche Stadt unterschlagen die Kritiker einer ‹Dämonisierung›
und ‹Vorverurteilung› Assads und Putins gern, dass es Russland
war, das durch sein Veto eine umfassende Untersuchung der
Gut und Böse 133
und zudem
c) «innerhalb von fünf Tagen nach Eintreffen der Anfrage Tref-
fen arrangieren, auch mit Generälen und anderen Offizieren;
d) unverzüglich Zugang gewähren zu relevanten Luftstützpunk
ten, von denen die Fact Finding Mission der OPCW oder der
Joint Investigation Mechanism glaubt, dass von dort mögli-
cherweise Attacken mit chemischen Waffen gestartet wur-
den.»8
Da die USA schon sehr früh Radarbilder vorlegten, nach denen
ein syrischer Kampfjet die Giftgasattacke geflogen habe, ist zu-
mindest die Forderung nach einer Herausgabe der Namen aller