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Gabriele Krone-­Schmalz

EISZEIT
Wie Russland dämonisiert
wird und warum das so
gefährlich ist

C.H.Beck
1. Auflage. 2017
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2017
Umschlagentwurf: Geviert, Grafik und Typografie, Andrea Janas
Umschlagabbildung: Autorin © dpa Picture-Alliance/
Karlheinz Schindler, Hintergrundbild © shutterstock
ISBN Buch 978-3-406-71412-2
ISBN eBook 978-3-406-71413-9

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Inhalt

Vorwort  7

Russlands Rückkehr  12

Der Showdown  73

Gut und Böse  128

Wer bedroht wen?  168

«Wandel durch Annäherung»  225

Selber Denken  258

Dank  265

Anmerkungen  266

Karten  299
«Wer so tut, als bringe er die Menschen
zum Nachdenken, den lieben sie. Wer sie wirklich
zum Nachdenken bringt, den hassen sie.»
(Aldous Huxley)

Vorwort

Wissen Sie noch, wie es in den Hochzeiten des Kalten Krieges


war? Der böse Russe lauerte überall, während der gute Westen
seine Werte verteidigte. «Gut» und «Böse» waren sauber verteilt,
Orientierung kein Problem. Wer eine antisowjetische Politik be-
trieb, zählte zu den «Guten», auch wenn er Pinochet, Suharto
oder Reza Schah Pahlevi hieß. Wer westlichen Interessen in die
Quere kam, steckte gewiss mit Moskau unter einer Decke und
gehörte beseitigt, wie Allende in Chile, Lumumba im Kongo,
Mossadegh im Iran, Sukarno in Indonesien oder Nasser in Ägyp-
ten. Der Kalte Krieg war eine Zeit zynischer geostrategischer In-
teressenpolitik – auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Und
nicht selten verstellten die klaren Feindbilder den Blick auf die
Realität. Mehrfach stand die Welt am Rande eines Atomkrieges.
Die Kontrahenten belauerten sich, rätselten über die Absichten
des Gegners und lagen oft spektakulär daneben. Geglaubt wurde
dem, der die düstersten Annahmen traf, alles andere galt als naiv.
Ein Vierteljahrhundert später wurde es komplizierter: Entspan­
nungspolitik, Abrüstung, Gorbatschows Perestroika, die deut-
sche Wiedervereinigung, das Ende der Ost-­West-­Konfrontation.
Für ­einen kurzen Moment schien es möglich, gemeinsam statt
gegeneinander über die Gestaltung der Zukunft nachzudenken,
unterschiedliche Erfahrungen in die Waagschale zu werfen und
zu überlegen, wie man Völkerverständigung  – immerhin eines
der erklärten Ziele deutscher Außenpolitik – konkret umsetzen
8 Vorwort

könnte: Jeder sollte sich sicher fühlen, allen sollte es besser gehen
und strittige globale Fragen auf der Grundlage des entstandenen
Vertrauens zwischen Ost und West behandelt werden. Was für
eine Chance! Genau zu dieser Zeit habe ich in Moskau gelebt.
Wie groß waren die Hoffnungen, wie stark war die Begeisterung
und wie stabil die Motivation, gemeinsam an einer besseren Welt
zu bauen. Wieder ein Vierteljahrhundert später ist nichts mehr
davon übrig. Die NATO, die sich seit Ende der 1980 er Jahre we-
der aufgelöst noch umgestaltet hat, sieht in Russland inzwischen
erneut eine Bedrohung. Russland hat im Westen wieder die Rolle
eingenommen, auf die früher die Sowjetunion abonniert war:
die des ewigen Schurken.
Wie kommt es, dass kaum ein Tag vergeht, ohne dass die neu-
esten russischen Untaten angeprangert werden? Der russische
Präsident Wladimir Putin erscheint in Politik und Medien gera-
dezu als Inkarnation des Bösen, dem man auf keinen Fall trauen
kann und der nichts Gutes im Schilde führt, selbst wenn er mit
Blick auf internationale Krisenherde konstruktive Vorschläge
macht, im Kampf gegen Terrorismus Zusammenarbeit anbietet
oder alte Kontakte aus sowjetischen Zeiten nutzt, um Gesprächs-
partner an einen Verhandlungstisch zu bekommen, an dem sie
auf Einladung des Westens gar nicht erschienen wären. Sicher:
Es gibt viel zu kritisieren an Putins Politik. Aber ist er wirklich
der omnipotente Bösewicht, wie ihn sich Ian Fleming, der Erfin-
der von James Bond, nicht besser hätte ausdenken können? Oder
gibt es andere Gründe für das negative Russlandbild, das uns
­gegenwärtig auf allen Kanälen vermittelt wird? Geostrategische
Interessenkonflikte vielleicht? Oder die Sehnsucht nach einem
­klaren Feindbild, das eine unübersichtliche Welt überschaubarer
werden lässt und der NATO wieder eindeutige Aufgaben ver-
schafft?
Moskau, so heißt es, sei eine Bedrohung – für den Zusammen-
halt der EU, für den Frieden in der Welt und ganz konkret für die
Sicherheit der osteuropäischen Staaten. Deswegen müsse der
Westen Stärke zeigen, müssten Manöver abgehalten und NATO-­
Vorwort 9

Truppen in die baltischen Staaten und nach Polen verlegt wer-


den. Alles andere würde Putin nur ermutigen, seine aggressive
Expansionspolitik fortzusetzen, so wie die Appeasement-­Politik
der 1930 er Jahre Hitler nur darin bestärkt habe, dass Vertrags-
bruch und Gewalt erfolgversprechend seien. Doch welche Belege
gibt es eigentlich dafür, dass der Kreml danach strebt, sich die
baltischen Staaten einzuverleiben? Wäre das überhaupt in sei-
nem strategischen Interesse? Woher weiß man, dass Putins Ziele
expansiv sind und er den alten Einflussbereich der Sowjetunion
wiederherstellen will? Könnten sie nicht auch defensiv sein an­
gesichts einer immer mehr geschrumpften Einflusszone in den
letzten Jahrzehnten? Wer agiert, wer reagiert? Und ist P
­ utin der
unberechenbare Draufgänger, als der er manchmal dargestellt
wird? Oder nicht doch ein rational und strategisch geschickt
agierender Machtpolitiker, der damit letztendlich berechenbar
ist?
Wer früher im Westen über die Motive und Absichten der sow-
jetischen Führung spekulierte, den nannte man einen Kremlas­
trologen  – auch weil die Voraussagen über die Ziele Moskaus
nicht selten denselben Realitätsgehalt hatten wie Horoskope.
In ähnlicher Weise wird heute über die Absichten Putins speku-
liert, wobei auf die größte Zustimmung rechnen kann, wer die
schlimmste Prognose stellt  – doch auf welcher Grundlage ei-
gentlich?
Müsste nicht über diese zentralen Fragen offen gestritten wer-
den? Immerhin hängt von der Antwort ab, welche Politik wir ge-
genüber Russland in Zukunft verfolgen sollen. Doch diejenigen,
die nicht in das «Kreuziget ihn» einstimmen, werden der Propa-
ganda bezichtigt, als «Trolle» oder Verbreiter von «Fake News»
und «Verschwörungstheorien» diffamiert, vom Kreml angeblich
auf die eine oder andere Weise bezahlt oder ob ihrer bedauerli-
chen Naivität belächelt. Eine faire Auseinandersetzung über un-
terschiedliche Perspektiven kann unter diesen Bedingungen
kaum noch stattfinden. Für eine Demokratie, die eine lebendige
Debatte ihrer Bürger braucht, ist es fatal, wenn jemand, der auch
10 Vorwort

die russische Perspektive zu beleuchten versucht, in den Ver-


dacht gerät, «im Auftrag» zu handeln oder bestenfalls ein nütz­
licher Idiot einer Propagandamaschinerie zu sein, die er nicht
durchschaut.
Wegen dieser vergifteten Grundstimmung habe ich das vorlie-
gende Buch etwas anders gestaltet als meine bisherigen Bücher.
In «Eiszeit» mute ich Ihnen viele Details und einen umfangrei-
chen Anmerkungsapparat zu. Die «leichte Lesbarkeit», die Sie
von meinen Büchern gewohnt sind, wird an der einen oder ande-
ren Stelle, an der es gilt, komplizierte Zusammenhänge durch-
schaubar zu machen, möglicherweise nicht ganz so leicht sein.
Ich will nicht ausschließen, dass «Arbeit» und «Lesefreude» – so-
weit das behandelte Thema Freude zulässt – sich bei der Lektüre
ein wenig anders verteilen als bisher, aber da das Anliegen des
Buches so wichtig ist, möchte ich es den «Hardlinern», die keine
andere Position als die eigene zulassen, so schwer wie möglich
machen.
Was lässt die Befürworter einer militärischen und politischen
Eindämmung Putins so sicher sein, dass ihre Deutung der Reali-
tät entspricht? Ist ihre Haltung wirklich so alternativlos, dass
es sich nicht zu streiten lohnt? Ist Russland unser Feind? Und
wenn ja, warum? Ist eine konfrontative Politik richtig, weil sie
dem Mainstream entspricht? Weil eine Mehrheit der Eliten sie
vertritt? Bis kurz vor der Finanzkrise von 2008 lautete ein breiter
Elitenkonsens, dass eine Deregulierung der Finanzmärkte «alter­
nativlos», durch die Globalisierung erzwungen und überdies
zum Wohle der Wirtschaft sei. Heute sagt das niemand mehr.
Von dem britischen Philosophen John Stuart Mill stammt der
Satz: «Da keiner die Wahrheit besitzt, ist es gut, um die Wahrheit
zu streiten.» Demokratische westliche Gesellschaften rühmen
sich, genau das tun zu können und auch zu tun. Unsere Verfas-
sung garantiert uns Presse- und Meinungsfreiheit. Pluralismus
gilt als Wert. Wir sollten uns auch im alltäglichen Streit daran
orientieren. Nicht jeder, der vom Mainstream abweicht, ist ein
«Populist» oder ein Einflussagent fremder Mächte. Man kann
Vorwort 11

auch ganz von alleine zu einer anderen Meinung kommen. Si-


cher, es gibt Fakten, über die sich nicht streiten lässt. Was etwa in
Verträgen steht, kann man schwarz auf weiß nachlesen. Aber um
auf Fragen wie: Was will Putin? Welche Politik gegenüber Russ-
land sollten wir verfolgen? etc. unterschiedliche Antworten zu
geben, braucht es keine «alternativen Fakten». Bei solch komple-
xen Fragen gibt es kein Richtig oder Falsch, sondern nur bessere
und schlechtere Argumente.
Meines Erachtens kommt man der Wahrheit am nächsten,
wenn man erstens akzeptiert, dass niemand sie besitzt, und wenn
man zweitens versucht, Interessen auf den Grund zu gehen.
Wem nützt das, was da passiert? Warum wird diese Information
gerade jetzt verbreitet? Und es gilt noch einen Punkt zu beach-
ten: sich und andere dafür zu sensibilisieren, nicht mit zweierlei
Maß zu messen. Ob absichtsvoll oder gedankenlos, ist für die
Wirkung unerheblich.
Wie soll es weitergehen? Immer mehr NATO-­Soldaten und
schweres Militärgerät näher an die Grenzen Russlands rücken,
um Moskau ein deutliches Signal zu senden und dem Sicher-
heitsbedürfnis in Polen und den baltischen Staaten Rechnung
zu tragen? Eine Wiederauflage des Kalten Krieges? Was ist mit
der Angst von Menschen im Westen und in Russland vor einem
heißen Krieg? Will den jemand? Kann der einfach so passieren?
Weil Missverständnisse in einer Atmosphäre des Säbelrasselns
eine Eigendynamik entwickeln, die sich nicht mehr einfangen
lässt? Die «Kriegsgeneration» stirbt langsam aus, und ich habe
den Eindruck, das Bewusstsein für die Zerbrechlichkeit von Frie-
den auch. Deeskalieren, vermitteln, sich in die Lage anderer ver-
setzen, um deren Handeln besser begreifen und die Folgen des
eigenen Handelns besser einschätzen zu können – das hat nichts
mit Schwäche zu tun, sondern mit politischer Weitsicht, mit
menschlicher Größe und mit genau den christlichen Werten, die
so viele im Munde führen.
«Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz.
Wer sie sich zurückwünscht, keinen Verstand.»
(Wladimir Putin)

Russlands Rückkehr

Die Enthüllungsplattform Wikileaks hat im März 2016 Tau-


sende E-­Mails veröffentlicht, die in den Jahren 2010 bis 2014
vom und an den privaten E-­Mail-­Account von Hillary Clinton
gesendet wurden. Um sie in die Hände zu bekommen, waren
keine rus­sischen Hackerangriffe vonnöten, es reichte der Free-
dom of In­formation Act, der es in den USA erlaubt, Einsicht in
Regierungsunterlagen zu erhalten, denn Clinton hatte ihren pri-
vaten E-­Mail-­Account für dienstliche Zwecke verwendet. Unter
den geleakten Mails aus dem Postfach der Ex-­Außenministerin
findet sich auch eine ohne Unterschrift, Absender und Empfän-
ger, die wohl von April oder Mai 2012 stammt.1 In ihr wird erläu-
tert, warum ein Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-­Assad
im Interesse der USA sei, und dafür plädiert, die Hilfen für die
­syrische Opposition auszuweiten. Auf Russland, so heißt es,
müsse keine besondere Rücksicht genommen werden: «Einige
behaupten, die Einmischung der USA berge das Risiko eines
Krieges mit Russland. Aber das Beispiel des Kosovo zeigt das Ge-
genteil. Damals hatte Russland sogar besondere ethnische und
politische Bindungen zu den Serben, die zwischen Russland und
Syrien nicht existieren, und sogar damals hat Russland wenig
mehr getan, als sich zu beschweren.»2
Wie wir wissen, kam es diesmal anders. Wer auch immer die
­E-­Mail verfasst hat – ob Clinton selbst oder einer ihrer aktiven
bzw. ehemaligen Mitarbeiter3  –, sie macht eines deutlich: Die
USA nahmen Russland bis vor kurzem weltpolitisch nicht son-
Russlands Rückkehr 13

derlich ernst – Barack Obama sprach sogar im März 2014 noch


von Russland als einer «Regionalmacht».4 Selbst bei Verletzung
vitaler außenpolitischer Interessen  – Syrien ist neben dem Iran
der einzige Verbündete Moskaus im Nahen Osten, es gab bei Kon-
fliktbeginn dort eine der wenigen russischen Militärbasen außer-
halb Russlands (inzwischen ist eine weitere hinzugekommen), es
existieren noch aus Sowjetzeiten enge wirtschaftliche und poli­
tische Beziehungen – rechnete man mit keinem ernsthaften Wi-
derstand und hielt eine Abstimmung mit Moskau für unnötig.
Als Russland im Syrienkonflikt und in der Ukrainekrise seine
eigenen Interessen offensiv vertrat und den Westen auch macht-
politisch herausforderte, herrschte dort eine Mischung aus Fas-
sungslosigkeit und Unverständnis. Russland erschien als schwie-
riger und unzuverlässiger «Partner», der die ausgestreckte Hand
des Westens ausschlug und sich nicht an Regeln hielt. Wenn es
jetzt zur Konfrontation gekommen war, so die vorherrschende
Meinung in Politik und Medien, dann lag das allein an Russland,
das seit längerer Zeit versuche, seine Einflusssphäre aggressiv
auszudehnen.
Doch war der Westen wirklich so unschuldig, wie er sich dar-
stellte? War die russische Reaktion wirklich so unvorherseh-
bar? Stimmt es überhaupt, dass Russland seinen Einflussbereich
schon seit langem aggressiv auszudehnen versucht? Und wer war
in den Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Krieges der schwie-
rigere Partner? Russland für den Westen oder der Westen für
Russland?

Verspieltes Vertrauen

Es sind manchmal die kleinen Dinge, die im Gedächtnis bleiben,


weil sie auf einfache Weise die großen auf den Punkt bringen.
«Ihr Deutschen hattet Mitleid mit uns Russen, als es uns schlecht
ging, Ihr habt uns geholfen, grandios, wirklich, aber jetzt, wo wir
wieder auf die Beine kommen, da werden wir Euch suspekt, und
14  Russlands Rückkehr

Ihr geht auf Distanz.» Diese Aussage eines Russen mir gegen-
über bezog sich einerseits auf die Zeiten Anfang der 1990 er Jahre
des vorigen Jahrhunderts, als die Versorgungslage in Russland
immer katastrophaler wurde und sich in großem Stil Hilfs­
konvois aus Deutschland in Bewegung setzten, um an Ort und
Stelle zu helfen. Abendfüllende Fernsehsendungen wurden in
den Dienst von Spendenaktionen gestellt, wie wir sie heute für
Opfer von Naturkatastrophen oder im Kampf gegen Hungers-
nöte kennen, und die Bürger Deutschlands engagierten sich
großzügig für Russland.
Zu Zeiten des Kalten Krieges war die Sowjetunion für den
Wes­ten gleichermaßen bedrohlich wie rätselhaft gewesen, bis
Gorbatschows Perestroika-­Politik im wahrsten Sinne des Wortes
alle Mauern einriss und sein Glasnost-­Programm5 für Offenheit
und Transparenz sorgte. Vor allem Deutschland wurde von einer
Gorbi­manie-­Welle ergriffen, die ausländische Beobachter gele-
gentlich als «geistigen Ausnahmezustand» bezeichneten. Welt-
weit war Erleichterung zu spüren. Hoffnung auf friedliche Zei-
ten und gute Zusammenarbeit zwischen bisherigen Gegnern
bestimmte das politische und mediale Klima. Und so war es nur
folgerichtig, dass man dem zusammengebrochenen Koloss Sow-
jetunion bzw. später Russland half. Schließlich orientierten sich
die Russen jetzt mental «nach Westen», und das verdiente Unter-
stützung.
Wenn man sich die Entwicklung der letzten 25 Jahre vor Au-
gen führt, wird aber andererseits klar, was dieser Russe mit seiner
Aussage auch gemeint hat: Als Russland ins Chaos stürzte, war
die Hilfsbereitschaft groß, an einer Partnerschaft auf Augen-
höhe aber war dem Westen nicht gelegen. So war zwar viel von
Wirtschaftshilfe die Rede, weniger aber von wirtschaftlicher Zu-
sammenarbeit. Das Schlagwort, das immer wieder für gebrems-
tes wirtschaftliches Engagement in Russland herhalten musste,
lautete: «fehlende Rahmenbedingungen». Das Einreißen alter
Strukturen ging dem Westen nicht schnell genug. Das Aufbauen
neuer erst recht nicht.
Russlands Rückkehr 15

War das Ziel damals, Russland zu helfen, oder doch eher, die
e­igenen Märkte abzusichern und zusätzliche Marktanteile zu
­gewinnen? Der russische Markt wurde jedenfalls von Westpro-
dukten überschwemmt, während die Käufer die heimischen Pro-
dukte als «minderwertig» verschmähten. «Das führte zu so ab-
surden Erscheinungen, dass in den Lebensmittelläden Joghurt
aus Deutschland, Butter aus Neuseeland, Cornflakes aus Ame-
rika und vieles mehr angeboten und trotz hoher Preise verkauft
wurde, während russische Lebensmittel, die qualitativ nicht
schlechter und billiger waren, aus dem Sortiment verschwan-
den.»6 Russland öffnete seinen Markt gegenüber Westprodukten
und erhob keine Schutzzölle, während dies umgekehrt nicht galt.
Viele Russen nahmen es damals so wahr, dass der Westen sie auf
dem bereits aufgeteilten Weltmarkt schlicht nicht haben wollte.
Die Hilfsprogramme für Russland waren in ihrer Höhe bemer-
kenswert. Vieles davon floss jedoch wieder in den Westen zurück,
um alte Kredite abzulösen, aber mehr noch, um importierte West-
waren zu bezahlen. Damals ist viel Vertrauen verspielt worden.7
Moskau wurde aus westlichen Hauptstädten und von Einrich-
tungen wie dem IWF, dem Internationalen Währungsfonds, mit
detaillierten Vorschriften überschüttet, die zwingend zu befol-
gen waren, andernfalls gab es weder Zusammenarbeit noch
­Kredite. Man hätte wissen können, dass diese Hauruckpolitik
ein erhebliches Destabilisierungspotential in sich barg. Wie
der inzwischen leider verstorbene Altbundeskanzler Helmut
Schmidt im Jahr 2000 zu Recht bemerkte, war die Politik des
IWF für die wirtschaftliche Krise Russlands in den 1990 er Jahren
mit verantwortlich.8

Der Zusammenbruch unter Jelzin

Unter Präsident Jelzin (1991 – 1999) brach die staatliche Auto­


rität zusammen, und die Mehrheit der Russen musste ums tägli-
che Überleben kämpfen, während sich einige wenige hemmungs-
16  Russlands Rückkehr

los bereicherten – die Geburtsstunde der «Oligarchen». Bis Mitte


der 1990 er Jahre halbierte sich das russische Bruttoinlandspro-
dukt im Vergleich zu 1989.9 Um diese schlichte Aussage in ihrer
Dramatik wenigstens ansatzweise zu begreifen, bietet sich ein
Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930 er Jahre
an, die zu Massenarbeitslosigkeit, Hunger, Not und Elend führte.
Damals schrumpfte die Wirtschaft in den USA, dem am stärks-
ten betroffenen Industrieland, «nur» um 30 – nicht um fast 50 –
Prozent.
Nach außen fiel Russland als Machtfaktor praktisch aus, was
Jelzins Popularität im Westen vermutlich nicht geschadet hat.
Das russische Außenministerium agierte in den Worten des bri-
tischen Historikers und Essayisten Perry Anderson damals we-
nig anders als ein amerikanisches Konsulat.10 Das traf für die
ersten Jelzin-­Jahre durchaus zu, als Russland sich vorbehaltlos
nach Westen orientierte und eine Einbindung in die europäisch-­
transatlantischen Strukturen anstrebte. Spätestens als die USA
1993 Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen in ihrem Stre-
ben nach einer NATO-­Mitgliedschaft unterstützten und sich
gleichzeitig dem russischen Wunsch nach einer Einbindung in
die NATO und einem Bündnisvertrag mit Washington verwei-
gerten, war die «romantische Phase» in den Beziehungen zum
Westen aber vorbei. Denn jetzt zeigte sich, dass es nicht zu einer
neuen Sicherheitsarchitektur für Europa, etwa im Rahmen der
OSZE, kommen würde. Im Dezember 1994 warnte Jelzin vor ei-
nem «kalten Frieden», sollte die NATO sich Richtung Osten
­erweitern, was jedoch nichts bewirkte. Auch die antiserbische
Haltung des Westens bei der Auflösung Jugoslawiens und im
Bosnienkonflikt trug zur Verhärtung der Beziehungen bei, und
Jelzin bemühte sich nun darum, den russischen Einfluss in den
benachbarten, gerade erst unabhängig gewordenen ehemaligen
Sowjetrepubliken wieder zu stärken. In Russland entstand der
Eindruck, der Westen drücke Moskau in die Rolle eines Junior-
partners und degradiere Jelzin zu einem Bittsteller anstatt ihn
wie einen Partner zu behandeln.11
Russlands Rückkehr 17

Es lohnt sich, einmal zusammenzutragen, was Russland rein


faktisch – nicht gefühlt – mit dem Auseinanderbrechen der Sow-
jetunion zu Beginn der Präsidentschaft Jelzins abhandengekom-
men ist. Mehr als fünf Millionen Quadratkilometer des Terri­
toriums sind verloren gegangen, eine Fläche eineinhalb Mal so
groß wie Indien, wobei nicht die gigantische Zahl das Entschei-
dende ist, sondern die Tatsache, dass es sich um die kultiviertes-
ten und am höchsten entwickelten Gebiete (im Westen) und die
bevölkerungsreichsten (in Zentralasien) handelte. Russland war
damit territorial so «klein», wie es zuletzt im 17. Jahrhundert ge-
wesen war.12 In der Russländischen Föderation lebten nur noch
halb so viele Menschen wie in der Sowjetunion. Geopolitisch
und strategisch hat Russland viel eingebüßt, zum Beispiel große
Teile der Schwarzmeerküste und mit Ausnahme von Sankt Pe-
tersburg und Kaliningrad den Zugang zur Ostsee. Von den zwan-
zig größten Hafenstädten der Sowjetunion verblieben nur drei
bei Russland.13 Nicht unwesentlich ist die Tatsache, dass Russ-
land sozusagen in die nordöstliche Ecke Europas «verschoben»
wurde, also in Richtung Eurasien, wo die Infrastruktur schlech-
ter und die Lebensbedingungen härter sind. Diverse direkte
Landwege über eigenes Territorium nach Westeuropa stehen
nicht mehr zur Verfügung, dazu gehören Straßen- und Eisen-
bahnverbindungen, aber auch Pipelines. Plötzlich fanden sich
zudem etwa 25 Millionen Russen als Minderheiten in fremden
Staaten wieder, in denen sie vorher heimisch waren.14
Überhaupt nicht im westlichen Blick ist die Tatsache, dass
Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion an zahlreichen Stel-
len zu ehemaligen Unionsrepubliken keine «eingerichteten», fest
gezogenen Grenzen hatte und bis in die Gegenwart nicht hat.
Zum Teil dauern die Grenzstreitigkeiten heute noch an, so gibt
es zum Beispiel zwischen Estland und Russland ungeklärte
Grenzziehungen, auch wenn hier inzwischen möglicherweise
eine Lösung in Sicht ist.15 Eine Grenzinfrastruktur fehlt in wei-
ten Teilen gänzlich. Das ist insbesondere im Süden Russlands
von Belang, wo sich islamistische Fundamentalisten in ehemals
18  Russlands Rückkehr

sowjetischen Republiken Mittelasiens ausbreiten. Die Auswir-


kungen der beschleunigten Desintegration zwischen den Staa-
ten der ehemaligen Sowjetunion sind auch nicht zu unterschät-
zen. Teilweise sind die bilateralen Kontakte auf ein Minimum
zurückgegangen. Unter Jelzin kam es zudem in den 1990 er Jah-
ren zu einer gewaltigen Abwanderung von Fachkräften aus Russ-
land. Die Zahl der Wissenschaftler hat sich in dieser Zeit um ein
Drittel reduziert, 25 Prozent der Auswanderer waren Leute mit
Hochschulabschluss, davon stammten 41 Prozent aus Moskau
und Sankt Petersburg.16
Die Amtszeit Jelzins zeichnete sich darüber hinaus durch ein
erstaunliches Phänomen aus. Er hat reihenweise Zeitungen ver-
boten und zur Aushöhlung der unter Gorbatschow praktizier-
ten Pressefreiheit beigetragen. Er hat Korruption seiner «Fami-
lie» in ungeahntem Ausmaß geduldet. Er hat im Oktober 1993
das Weiße Haus, das Parlamentsgebäude, in dem sich Abgeord-
nete verschanzt hatten, von Panzern zusammenschießen lassen.
Hintergrund war ein Verfassungskonflikt: Das russische Parla-
ment wollte Jelzin seines Amtes entheben, dieser erklärte es dar-
aufhin für aufgelöst und setzte Neuwahlen an, was verfassungs-
widrig war. Und schließlich, nicht zu vergessen: Jelzin hat im
Dezember 1994 den ersten Tschetschenienkrieg begonnen und
damit einen Konflikt losgetreten, dem allein in den ersten zwei
Jahren mehr als 80 000 Menschen zum Opfer gefallen sind, von
den Zerstörungen und den bis heute andauernden Folgen gar
nicht zu reden.17 Dennoch wurde Jelzin nahezu bis zum Schluss
im westlichen Ausland als die Galionsfigur für die Demokra­
tisierung und Liberalisierung Russlands gefeiert. Ein Wider-
spruch, der in weiten Teilen der russischen Bevölkerung irritiert
zur Kenntnis genommen wurde.
Mitte 1996 stellte sich Jelzin als Präsident zur Wiederwahl.
Seine Popularitätswerte ließen für seine verbliebenen Anhänger
Schlimmes befürchten. Noch im Februar 1996 hatten ihn Um-
fragen bei gerade einmal acht Prozent gesehen. Verwunderlich
war das aus den geschilderten Gründen nicht. Es brauchte also
Russlands Rückkehr 19

eine aufwendige, von den «Oligarchen» großzügig unterstützte


Kampagne, die verschiedenen Schätzungen zufolge zwischen
700 Millionen und zwei Milliarden US-­Dollar gekostet haben
soll, wobei das russische Wahlgesetz umgerechnet lediglich un-
gefähr drei Millionen US-­Dollar pro Kandidat erlaubte.18 US-­
Bera­ter, unter ihnen ein ehemaliger Wahlhelfer Bill Clintons,
sorgten für einen «professionellen» Wahlkampf, zu dem auch
systematisches ­«negative campaigning» gegen den wichtigsten
Gegenkandi­daten, den Kommunisten Gennadij Sjuganow, ge-
hörte.19 Doch ­damit nicht genug. Die USA drängten den IWF,
Russland einen Kredit in Höhe von 10,2 Milliarden US-­Dollar zu
gewähren, damit Jelzin rechtzeitig vor der Wahl ausstehende
Löhne und Renten zahlen konnte.20 Seine verheerende innenpo-
litische Bilanz – wirtschaftlicher Niedergang, Korruption, Waf­
fen­­
einsatz gegen das eigene Parlament, Unterdrückung der
freien Presse und der Krieg in Tschetschenien  – spielte dabei
­offenbar keine Rolle.

Der neue Mann

Im August 1998, zwei Jahre nach Jelzins Wiederwahl, kam es


schließlich zum Staatsbankrott. Russland musste die Bedienung
seiner Auslandsschulden einstellen. Der Rubel war nichts mehr
wert. Die Bevölkerung verlor über Nacht den Großteil jener Er-
sparnisse, die ihnen nach der galoppierenden Inflation der Vor-
jahre noch geblieben waren. Und dann inthronisierte Jelzin, ein
alter kranker Mann, Ende Dezember 1999 seinen jungen tatkräf-
tigen Nachfolger Wladimir Putin, der bereits seit August 1999
als Ministerpräsident amtierte und es sich zur Aufgabe gemacht
hatte, «sein» Land wieder auf die Beine zu bringen. Nach all den
Demütigungen wollte er den Menschen wieder Selbstvertrauen
geben. Eine Mischung aus Politik, Psychologie («wir sind wieder
wer») und Glück (steigende Rohstoffpreise beflügelten die Wirt-
schaft und ermöglichten es Russland, vorfristig alle Auslands-
20  Russlands Rückkehr

schulden zu begleichen) mobilisierte ungeahnte Kräfte und


führte Russland weit weg von dem Abgrund, in den es nach An-
sicht vieler politischer Beobachter längst hätte fallen müssen.
Der Westen war irritiert. Statt mit einem Bittsteller namens
Jelzin hatte man es plötzlich mit einem politischen Führer zu
tun, der eigene Vorstellungen über die Geschwindigkeit von ge-
sellschaftlicher Transformation hatte («Demokratie entsteht
nicht über Nacht»), der als Gleicher unter Gleichen behandelt
werden wollte, der zu allem Überfluss auch noch aus dem Ge-
heimdienst kam und meinte, dem Westen Angebote zur Zusam-
menarbeit machen zu können.
Außenpolitisch war der junge russische Präsident ohne Wenn
und Aber westlich orientiert.21 Wladimir Putin hat in seiner ers-
ten Amtszeit (2000 – 2004) entsprechende Signale in Serie ge-
sandt. 2001, bei seinem Staatsbesuch in Deutschland, brachte
er eine Freihandelszone von Wladiwostok bis Lissabon ins Ge-
spräch und signalisierte die Bereitschaft, über einen russischen
NATO-­Beitritt zu sprechen.22 Noch 2008, am 5. Juni in seiner
«Berliner Rede», schlug Präsident Medwedew eine «paneuropäi-
sche Sicherheitsarchitektur» vor,23 und 2010 erneuerte Putin in
einem Gastbeitrag in der «Süddeutschen Zeitung» seinen Vor-
schlag einer engen Wirtschaftskooperation zwischen Russland
und EU.24 Die Liste der russischen Initiativen ließe sich noch ver-
längern, doch auf eine substantielle Reaktion jenseits höflicher
Floskeln wartete man in Moskau vergeblich.
Zwar waren Deutschland und Frankreich durchaus an einer
engeren Kooperation interessiert, aber in den osteuropäischen
Staaten und in den USA sah man das anders. In Washington
hatte man sich abgewöhnt, Russland ernst zu nehmen, und vom
Vertrauen aus Perestroika-­Zeiten, wenn es denn je wirklich exis-
tiert hat, war nichts mehr zu spüren. Es wurde viel zu wenig be-
achtet, dass sich in Putins Anfangsjahren – als kriminelle Struk-
turen fast das einzig Verlässliche in Russland waren – innerhalb
der politischen Führung ein Richtungsstreit abspielte. Die Ori-
entierung nach Westen war alles andere als selbstverständlich.
Russlands Rückkehr 21

Der junge russische Präsident, gerade erst im Amt, hat dafür


kämpfen müssen.25 Doch statt die Gelegenheit beherzt zu ergrei-
fen, ließ man ihn gleichsam am ausgestreckten Arm verhungern.
Die Chance wurde vertan.
In der Rede, die Wladimir Putin am 25. September 2001 vor
dem Deutschen Bundestag – auf Deutsch – gehalten hat, war die
Enttäuschung bereits deutlich zu spüren: «Wir sprechen von ei-
ner Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch
nicht gelernt, einander zu vertrauen.» Es sei noch einmal daran
erinnert: Der russische Präsident – das erste Staatsoberhaupt sei-
nes Landes, dem die Ehre zuteilwurde, vor dem Deutschen Bun-
destag zu sprechen – erhielt für seine Rede stehende Ovationen,
obwohl oder vielleicht gerade weil er Dinge deutlich beim Na-
men genannt hat. Zum Beispiel den Widerspruch, dass einer-
seits – damals wie heute – betont wird, wie sehr die Weltgemein-
schaft darauf angewiesen sei, dass sich Russland international
an Problemlösungen beteiligt, andererseits aber immer wieder
an Russland vorbei Entscheidungen getroffen werden und man
wie selbstverständlich erwartet, dass Moskau sie ohne weitere
Diskussion abnickt.26
Wäre Russland als politischer Akteur ernst genommen wor-
den, dann hätte es zum Beispiel keine Bombardierung Serbiens
durch die NATO geben dürfen. Aber anders als heute «beschwer­
­te» sich Russland damals eben nur. Also setzte sich die NATO
über alle Einwände hinweg und beschloss Luftangriffe auf Bel-
grad (März 1999), um eine «humanitäre Katastrophe» im Kosovo
zu verhindern. Der UN-­Sicherheitsrat wurde übergangen, wor-
über sich in der westlichen Welt kaum jemand aufregte.27 Keine
gute Erfahrung für jemanden, von dem umgekehrt erwartet
wird, sich an genau die westlichen Regeln zu halten, die in die-
sem Fall gebrochen wurden. Die USA sollten «nicht für eine
­Minute, nicht für eine Sekunde» vergessen, dass Russland über
Nuklearwaffen verfüge, drohte Jelzin, als er von den NATO-­
Bombardements in Serbien erfuhr. Doch war dies, wie der Russ-
landhistoriker Dietmar Neutatz schreibt, weniger ein «Zeichen
22  Russlands Rückkehr

der Stärke» als vielmehr «Ausdruck der Hilflosigkeit» gegenüber


der Politik des Westens.28
Etwa zeitgleich  – auch im März 1999  – waren Polen, Tsche-
chien und Ungarn, einst im Warschauer Vertrag mit der Sow­
jetunion verbündet, der NATO beigetreten. Weitere Staaten des
ehemaligen Ostblocks bzw. der Sowjetunion, darunter die balti-
schen Republiken, sollten 2004 folgen. Russland protestierte,
mal lauter, mal leiser, und versuchte, die Erweiterung zu verhin-
dern. Aber letztlich blieben alle Bemühungen erfolglos. Moskau
nahm die von der NATO unterbreiteten Kompensationsangebote
an, die für eine engere Zusammenarbeit sorgen sollten (NATO­­
Russland-­Rat), musste aber die Erfahrung machen, dass es sich
eher um Kosmetik als um Substanz handelte. Denn Russland
wurde weder an Entscheidungsfindungen beteiligt, noch fanden
russische Interessen Gehör. Schlimmer noch: Als der NATO-­
Russland-­ Rat wirklich gebraucht worden wäre, während der
­Ukrainekrise 2014/15, wurde er nicht einmal einberufen.
1998, als die erste Welle der NATO-­Osterweiterung durch den
US-­Senat ratifiziert worden war, hatte der damals 94-jährige Ge-
orge Kennan, der Architekt der amerikanischen Eindämmungs-
politik gegenüber der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg,
gewarnt, dies sei der Beginn eines neuen kalten Krieges. «Ich
denke, das ist ein tragischer Fehler. Es gab überhaupt keinen
Grund dafür. Niemand bedrohte irgendjemanden. … Natürlich
wird es darauf zukünftig eine böse Reaktion durch Russland ge-
ben, und dann werden [die NATO-­Erweiterer, GKS] sagen: So
sind die Russen, wir haben es euch immer gesagt – aber das ist
komplett falsch.»29

Gemeinsamer Kampf gegen den Terror

Nach den Anschlägen des 11. September 2001 bot Putin dem


amerikanischen Präsidenten George W. Bush dennoch eine enge
Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus an – auch weil er
Russlands Rückkehr 23

sich davon mehr Verständnis für die Schwierigkeiten erhoffte,


die Russland seit geraumer Zeit mit islamistischen Terroristen
aus Tschetschenien hatte. Ein Problem, das durch die Politik
Präsident Jelzins zu keinem geringen Teil erst geschaffen worden
war. Aber Russland ist nicht die einzige Großmacht, die ihre
schlimmsten Feinde immer wieder selbst hervorbringt. Während
der erste Tschetschenienkrieg 1994 unter Jelzin noch dazu
diente, Selbständigkeitsbestrebungen zu unterdrücken, waren
die Hintergründe beim zweiten Tschetschenienkrieg, der zwar
ebenfalls noch unter Jelzin begonnen, aber im Grunde von Putin
geführt wurde, schon komplizierter. Nach dem ersten Tsche­
tschenienkrieg war der Anfang 1997 gewählte tschetschenische
Präsident Maschadow nicht in der Lage gewesen, die zahlreichen
bewaffneten islamistischen Banden in seinem Land zu kontrol-
lieren, die infolgedessen die Macht unter sich aufteilten. Zudem
wurde die Scharia eingeführt, so dass die «Tschetschenische Re-
publik Itschkerija» nach strengsten islamischen Regeln funktio-
nierte. Die russische Minderheit im Land wurde drangsaliert,
und immer wieder kam es zu Raubzügen in die benachbarten
russischen Kaukasusrepubliken. Anfang August 1999 überfielen
tschetschenische Dschihadisten die russische Nachbarrepublik
Dagestan, um auch dort einen islamischen Gottesstaat zu er-
richten. Daraufhin griff die russische Armee ein und vertrieb die
tschetschenischen Kämpfer aus Dagestan. Der angesehene und
grundsätzlich regierungskritische russische Menschenrechtler
Sergej Kowaljow kommentierte den Einsatz in Dagestan so:
«Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat die russische
Armee eine echte Befreiungsaktion durchgeführt.»30
Im September 1999 wurde Russland zusätzlich durch eine
Reihe von Anschlägen auf Wohnhäuser mit über 200 Toten er-
schüttert, bei denen es sich nach dem offiziellen Untersuchungs-
ergebnis um Racheakte für das Eingreifen in Dagestan handelte.
Da sich Präsident Maschadow Moskaus Forderung verweigerte,
gemeinsam gegen die Islamisten vorzugehen, marschierte die
rus­­sische Armee am 1. Oktober 1999 erneut in Tschetschenien
24  Russlands Rückkehr

ein, wo sie mit großer Brutalität agierte, um das Land unter Kon-
trolle zu bekommen.31 Im internationalen Dschihad spielten
tschetschenische Kämpfer damals eine wichtige Rolle, und sie
tun dies bis heute. Ob westliche Medien und Politik den Krieg in
Tschetschenien als Antiterrorkampf eingestuft hätten, wenn es
nicht Russland gewesen wäre? Weil er Putins Popularitätswerte
in die Höhe schnellen ließ und ihm dabei half, seine erste Präsi-
dentschaftswahl im März 2000 zu gewinnen, wurde stattdessen
spekuliert, der Kreml habe den Krieg vom Zaun gebrochen, um
Putin an die Macht zu bringen. Einige gingen sogar so weit zu
behaupten, die Anschläge auf die Wohnhäuser seien vom russi-
schen Geheimdienst FSB verübt worden, um einen Vorwand für
das Eingreifen in Tschetschenien zu schaffen – eine Denkfigur,
die den Verschwörungstheorien zu den Anschlägen vom 11. Sep-
tember 2001 ähnelt, in denen behauptet wird, die CIA habe diese
verübt, um einen Vorwand für das Eingreifen in Afghanistan
und im Irak zu haben.32
Putin nahm in der Folge diverse westliche Aktivitäten im
«Krieg gegen den Terror» hin, die – wie man heute weiß und da-
mals wissen konnte – ganze Regionen destabilisierten. Dazu ge-
hörten der Einmarsch in Afghanistan 2001, den Russland sogar
unterstützte, und der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen
den Irak 2003, für dessen Rechtfertigung gefälschte Beweise
über angebliche Massenvernichtungswaffen herhalten mussten.
Auch die systematische Eskalation in den Beziehungen zwischen
dem Westen und dem Iran hat Russland relativ ruhig begleitet,
obwohl der Iran seit dem Sturz des Schahs gute Beziehungen zu
Moskau unterhält.
Wie sehr Russland in Afghanistan kooperierte, gerät heute
gerne in Vergessenheit, bzw. es scheint als selbstverständlich hin-
genommen zu werden. Um den Taliban die Herrschaft zu ent­
reißen, verließen sich die USA stark auf die Bodentruppen der
sogenannten afghanischen Nordallianz. Diese wurde schon seit
Mitte der 1990 er Jahre von Russland unterstützt. Im Herbst
2001, nach den Anschlägen von 9/11 und vor der Offensive, er-
Russlands Rückkehr 25

hielt die Nordallianz weitere Waffenlieferungen aus Russland.33


Zudem sollen russische Militärberater ebenso wie amerikanische
Special Forces die Nordallianz bei ihrem Vormarsch verstärkt
haben – die USA gaben vor allem Luftunterstützung und setzten
eigene Bodentruppen nur in geringem Ausmaß ein.34 Russland
hatte selbst Interesse am Sturz der Taliban, da Afghanistan un-
ter ihrer Herrschaft im Januar 2000 diplomatische Beziehungen
zu den Tschetschenen aufgenommen und ihnen alle nur mögli-
che Unterstützung im Kampf gegen Russland zugesagt hatte.
Moskau warf den Taliban außerdem vor, tschetschenische Kämp­
fer in Afghanistan auszubilden.35 Zudem waren die ehemaligen
zentralasiatischen Sowjetrepubliken, vor allem Tadschikistan
und Kirgistan, wiederholt Angriffsziele islamistischer Terroris-
ten, und somit wurde auch die russische Südflanke durch den
­islamistischen Terror bedroht. Außerdem befürchtete Moskau
durch das Beispiel Afghanistans auch eine Radikalisierung russi-
scher Muslime.
Für den Krieg in Afghanistan brauchten die westlichen Streit-
kräfte Militärbasen in den Nachbarländern. Ein Blick auf die
Landkarte zeigt, welche Schwierigkeiten damit verbunden wa-
ren. Die Nachbarn Afghanistans sind Pakistan, Iran, an einem
kleinen Zipfelchen auch China und die ehemaligen Sowjetrepu-
bliken Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan. Ohne rus-
sische Unterstützung wäre nur Pakistan übrig geblieben, mit der
großen Gefahr einer weiteren Stärkung antiwestlicher Stimmun­
gen in der pakistanischen Bevölkerung, in der die Taliban ohne-
hin bereits über großen Rückhalt verfügten. Es sei daran erinnert,
dass auch Al-­Qaida-­Chef Osama Bin Laden Pakistan als Rück-
zugsraum nutzte. Vor diesem Hintergrund akzeptierte Russ­­land
2001, dass die USA Militärbasen in den ehemaligen Sowjetrepu-
bliken Usbekistan und Kirgistan einrichteten. Auch die Bun­
deswehr nutzte einen Stützpunkt in Usbekistan für ihren Afgha­
nistaneinsatz. Diese Militärpräsenz der NATO in Zentralasien,
unmittelbar an der eigenen Südgrenze, war in Russland nicht
unumstritten, und selbstverständlich war sie schon gar nicht.36
26  Russlands Rückkehr

Mit der Zeit wurden denn auch die kritischen Stimmen lauter.
2005 verlangten die Staaten der Schanghaier Organisation für
Zusammenarbeit – Russland, China, Usbekistan, Kirgistan, Tad-
schikistan und Kasachstan  –, die Amerikaner und die NATO
sollten eine Frist für den Abzug ihres Militärs nennen und Aus-
kunft darüber geben, wann sie die Nutzung militärischer Infra-
struktur in Zentralasien beenden wollten.37 Tatsächlich war die
Bundeswehr im usbekischen Termez von 2002 bis 2015 prä-
sent,38 die USA in Usbekistan von 2001 bis 2005 und in Kirgistan
von 2001 bis 2014  – im Vorfeld hatte Russland die kirgisische
Regierung über etliche Jahre gedrängt, endlich für einen Schluss-
strich zu sorgen.39 Heute nutzen die USA, nachdem das Gros
der westlichen Truppen aus Afghanistan abgezogen wurde, vor
allem einen Stützpunkt in Rumänien als Nachschubbasis für
­Afghanistan.40
Aber auch nach 2005 gab es auf russischer Seite noch die Be-
reitschaft zur Kooperation. 2008 gerieten die NATO-­Truppen in
Afghanistan insofern in eine schwierige Lage, als es mit dem
Nachschub über Pakistan zunehmend Probleme gab. Es häuften
sich Angriffe der Taliban auf Konvois noch auf pakistanischer
Seite.41 Obwohl die Beziehungen zwischen Moskau und Wa­
shington sich zu diesem Zeitpunkt schon deutlich eingetrübt
hatten, erlaubte Russland der NATO, russisches Territorium für
den Landtransit von «nicht tödlichen Gütern», also Transport-
fahrzeugen, Lebensmitteln, Treibstoff etc., zu nutzen.42
Im März 2012 gestattete der damalige Präsident Medwedew
dann auch den Lufttransit. Als Logistikzentrum war dabei der
Flughafen Uljanowsk-­ Wostotschny vorgesehen. Ein NATO-­
Stütz­punkt ausgerechnet in der Geburtsstadt Lenins – darauf-
hin warfen die Kommunisten dem Kreml «Staatsverrat» vor.
­Putin, inzwischen erneut Präsident, erklärte am 1. August 2012,
als das Logistikzentrum der NATO eröffnet wurde: Es sei im
­nationalen Interesse Russlands, der NATO bei der Erfüllung
­ihrer Aufgaben in Afghanistan zu helfen.43 Die USA und die
NATO waren zu diesem Zeitpunkt dringend auf Routen für den
Russlands Rückkehr 27

geplanten Abzug aus Afghanistan angewiesen, da Pakistan sein


Territorium nach einem amerikanischen Angriff auf einen pa-
kistanischen Grenzposten Ende November 2011 eine Zeit lang
für den Transit komplett geschlossen hatte. Die Route über den
Flughafen Uljanowsk-­Wostotschny wurde dennoch für den Ab-
zug wenig genutzt, angeblich weil Russland relativ hohe Tran­
sitgebühren verlangt habe und zentralasiatische Republiken von
daher günstiger gewesen seien. Außerdem habe es bei der NATO
auch politische Bedenken gegen diese Route gegeben.44 Im Mai
2015 hat Moskau die Zusammenarbeit dann eingestellt.45
Auch als der UN-­Sicherheitsrat 2011 eine Flugverbotszone für
Libyen beschloss, legte Russland kein Veto ein, wie man viel-
leicht hätte erwarten können, sondern hat, ebenso wie China, die
Resolution durch Stimmenthaltung passieren lassen – auch die
Bundesrepublik enthielt sich, was dem damaligen Außenminis-
ter Guido Westerwelle heftige Kritik einbrachte. Die Flugver-
botszone sollte zum Schutz der Zivilbevölkerung eingerichtet
werden, die unter katastrophalen Bedingungen in der Stadt
Benghasi von libyschen Regierungstruppen eingekesselt war.
Doch Frankreich, Großbritannien und die USA erweiterten das
Mandat des UN-­ Sicherheitsrates eigenmächtig und agierten
quasi als Luftwaffe der libyschen Rebellen. Es ging nicht mehr
um den Schutz der Zivilbevölkerung, sondern mehr oder weni-
ger offen um Regimechange. Das Ergebnis ist bekannt. Ghaddafi
wurde aufgespürt und beseitigt. Seither haben in Libyen diverse
Milizen das Sagen, zwei Regierungen kämpfen um die Vorherr-
schaft, und von Staatlichkeit geschweige denn Demokratisie-
rung kann keine Rede sein. Ob es der Zivilbevölkerung unter den
neuen Umständen tatsächlich besser geht, wäre eine berechtigte
Frage, die aber kaum einmal gestellt wird. Dieser Erfahrungs­
hintergrund ist für das Verständnis der russischen Po­sition im
Syrienkonflikt jedenfalls von großer Bedeutung.46
Aus dieser Perspektive wird die Geschichte bei uns jedoch sel-
ten erzählt. Stattdessen wird darauf verwiesen, wie sehr der Wes-
ten Russland unterstützt habe und welche vielfältigen Angebote
28  Russlands Rückkehr

unterbreitet worden seien. Und das ist nicht einmal falsch, auch
wenn die meisten von ihnen in die Ära Jelzin fallen. 1992 wurde
Russland in den Internationalen Währungsfonds und die Welt-
bank aufgenommen. 1996 folgte der Europarat, 1998 wurde
Russland Mitglied der G8, aus der man es im Zuge der Ukraine-
krise wieder ausschloss. 1999 war Moskau Gründungsmitglied
der G20, und 2012 wurde es in die Welthandelsorganisation
(WTO) aufgenommen. Geschichte ist nie nur schwarz und weiß,
es gibt immer zahlreiche Grautöne und unterschiedliche Per­
spektiven, unter denen sie betrachtet werden kann. Wer sie ver-
stehen will, tut allerdings gut daran, sich nicht bloß auf einen
Blickwinkel zu beschränken.
Bei uns besteht derzeit die Neigung, nur einen Teil der Ge-
schichte zu erzählen und die Elemente wegzulassen, die nicht in
das Bild vom friedlichen Westen und vom aggressiven Russland
passen. Wer aber die eigenen Handlungen unerwähnt lässt und
nur die Reaktionen Russlands benennt, der verwischt Ursache
und Wirkung und verfehlt den bereits erwähnten Erfahrungs-
hintergrund, vor dem die russische Politik handelt. Wenn daher
in diesem Buch die Aktionen des Westens im Vordergrund ste-
hen, dann nicht deswegen, weil Russland lediglich das wehrlose
Opfer westlicher Aktionen wäre und eine komplett reine Weste
hätte, sondern weil der andere Erzählstrang bei uns viel zu oft
überhaupt keine Berücksichtigung findet.

Die Revolutions-GmbH

Am 14. November 2005 erschien im Nachrichtenmagazin «Der


Spiegel» eine Titelgeschichte unter dem Namen «Die Re­vo­lu­
tions-­GmbH». Es ging dort um die Verbindungen zwischen den
Umstürzen in Serbien (2000), Georgien («Rosenrevolution»,
2003), der Ukraine («Orangene Revolution», 2004) und Kirgis-
tan («Tulpenrevolution», 2005). Darin war von jungen Revolu­
tionären zu lesen, Reisenden in Sachen Umsturz, die sich länder­
Russlands Rückkehr 29

übergreifend vernetzten, Erfahrungen austauschten und eine


Art Leitfaden zum Sturz autoritärer Regime entwickelt hatten,
der in unterschiedlichen Ländern immer wieder zur Anwendung
kam. Und noch etwas hatten sie gemeinsam: Sie wurden bei ihrer
Tätigkeit in erheblichem Umfang  – finanziell und logistisch  –
aus den USA unterstützt.47 Besonders aktiv zeigten sich die
­«Soros Foundation» und das «Open Society Institute», beides
Gründungen des Milliardärs und Investors George Soros, der
auch immer wieder als Mitauslöser des Währungscrashs in Russ-
land 1998 ins Spiel gebracht wird; darüber hinaus ebenso das
«International Republican Institute» (IRI), dessen Board von
den Republikanern dominiert wird, und das «National De-
mocratic Institute» (NDI), sozusagen das Gegenstück auf Seiten
der Demokraten, sowie die 1941 im Kampf gegen den Faschis-
mus gegründete Organisation «Freedom House» und das «Na­
tional Endowment for Democracy» (NED).
NED, IRI und NDI wurden 1983 unter Präsident Ronald Rea­
gan als NGOs (Non Governmental Organizations, also Nicht­
regierungsorganisationen) geschaffen, um im Kalten Krieg die
«Verbreitung von Demokratie und Freiheit» fördern zu können,
und zwar offen und nicht wie zuvor verdeckt durch die CIA. Das
NED erhält seine Mittel jährlich aus dem Etat des US-­Außen­
minis­teriums, unterliegt also der Budgetkontrolle des Kongres-
ses. Es leitet dann wiederum Mittel an das IRI und NDI weiter,
die beide zudem ebenfalls direkt Gelder aus dem Budget des US-­
Außen­­ministeriums erhalten. Die dritte Finanzierungsquelle
beider ­Or­ganisationen ist die «United States Agency for Interna-
tional Development» (USAID), eine unabhängige, aber der Auf-
sicht des US-­Außenministeriums unterstehende Behörde, die
ihre beträchtlichen Mittel ebenfalls direkt aus dessen Budget be-
zieht.48 2016 waren es über 27 Milliarden US-­Dollar.49 USAID
fördert außerdem eine Reihe anderer NGOs und finanziert di-
rekt Organisationen im Ausland, die sich die Verbreitung der
Demokratie auf die Fahnen geschrieben haben. Auch «Freedom
House» erhält seine Mittel überwiegend aus US-­Steuergeldern.
30  Russlands Rückkehr

Abgesehen von den Soros-­Organisationen bezogen die NGOs,


die die «Re­volutions-­GmbH» unterstützten, ihre Gelder also
mehr oder weniger direkt aus dem Staatshaushalt der USA – eine
ganz uneigennützige Investition?
All die genannten Länder – Serbien, Georgien, die Ukraine und
Kirgistan – haben für Washington eine große geostrategische Be-
deutung. In Serbien war es mithilfe der NATO-­Luftschläge gelun-
gen, den Krieg um das Kosovo zu beenden. Doch Präsident Milo-
sevic war im Amt geblieben – eine offene Rechnung. Die U ­ kraine,
auf die im nächsten Kapitel noch genauer eingegangen wird,
würde der NATO-­Osterweiterung strategische Tiefe ver­leihen.
Auch Kirgistan besaß eine nicht zu unterschätzende geostra-
tegische Bedeutung: als Basis für den Afghanistankrieg, die sich
bei einer westlich orientierten kirgisischen Führung nutzen ließ,
ohne von russischem Wohlwollen abhängig zu sein. Seit 2001
gab es dort eine amerikanische Luftwaffenbasis. Der damalige
Präsident Akajew gestattete jedoch 2003 auch die Eröffnung
­einer russischen Luftwaffenbasis, was Kirgistan zum einzigen
Land machte, in dem die USA und Russland je eine Basis unter-
hielten. Akajew, der nach seinem Sturz durch die «Tulpenrevolu-
tion» im Februar/März 2005 nach Moskau flüchtete, gab «Asso-
ciated Press» am 30. Juni 2005 ein Interview, in dem er sagte,
Washington sei offenbar über seinen Versuch verärgert gewesen,
den amerikanischen, russischen und chinesischen Einfluss auf
sein Land zu balancieren. Die USA wollten keine Balance, son-
dern dass andere sich an ihnen orientieren. Und die Chronologie
spricht dafür, dass hier nicht einfach ein gestürzter Herrscher
­einen Sündenbock für seinen Machtverlust suchte: Putin hatte
am 23. Oktober 2003 in Anwesenheit von Akajew den russischen
Luftwaffenstützpunkt in Kant eröffnet. Ab November 2003 be-
trieb die amerikanische Stiftung «Freedom House» mit Finanzie­
rung durch das State Departement in Kirgistan eine Druckerei,
um der kirgisischen Presse eine Alternative zum Staatsmonopol
für den Druck von Presseerzeugnissen zu bieten. «Freedom
House» wurde damals von dem früheren CIA-­Direktor und An-
Russlands Rückkehr 31

hänger der Neokonservativen James Woolsey geleitet. Zur Dru-


ckereieröffnung im November 2003 kamen der republikanische
Senator John McCain, ein ausgesprochener Hardliner in Bezug
auf Russland, und zwei weitere US-­Senatoren. Gelder zur Stär-
kung der kirgisischen Opposition flossen außerdem von NED,
IRI und NDI sowie den Soros-­Stiftungen.50
Sollten die USA gehofft haben, der neue Präsident Bakijew
werde die russische Luftwaffenbasis schließen, hatten sie sich
­allerdings getäuscht. Im Gegenteil: Am 5. Juli 2005 stellte sich
Bakijew auf die Seite der Schanghaier Organisation für Zu­
sammenarbeit, die die USA zum Abzug aus der Region anhielt.
Nicht immer bringen Umstürze den gewünschten Effekt. Es
folgten dringende Besuche von US-­Verteidigungsminister Rums-
feld und der Nationalen Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice,
um Bakijew mit deutlich erhöhten amerikanischen Finanzhilfen
dazu zu bewegen, das Fortbestehen der Basis zu erlauben. 2010
gab es in Kirgistan dann einen erneuten Regierungswechsel, der
zur Schließung der amerikanischen Basis im Jahr 2014 beigetra-
gen hat.
Erfreulicher gestaltete sich für die USA der Umsturz in Geor-
gien. Die Kaukasusrepublik, ehemals Teil der Sowjetunion, be-
sitzt an sich schon großen strategischen Wert als nördlicher
Sperrgürtel für das NATO-­Mitglied Türkei und aufgrund ihrer
Schwarzmeerhäfen. Doch Georgien hat noch eine viel wichtigere
Bedeutung. Und wie so oft spielt Öl eine Rolle. Wenn dieser wert-
volle Rohstoff aus dem aserbaidschanischen Baku am Kaspi-
schen Meer in die Türkei gepumpt werden soll, ohne russisches
Territorium oder das Gebiet des russischen Verbündeten Arme-
nien zu berühren, dann ist man auf Pipelines durch Georgien an-
gewiesen. Genau um eine solche Pipeline von Baku über die ge-
orgische Hauptstadt Tiflis ins türkische Ceyhan ging es damals.51
Am 8. Februar 2008 erläuterte die US-­Botschaft in Tiflis in
­einem Bericht die strategische Bedeutung Georgiens für die
USA. Darin hieß es unter anderem: «Georgien kontrolliert den
hauptsächlichen alternativen Korridor für den Handel von Öl,
32  Russlands Rückkehr

Gas und anderen Waren aus Zentralasien und weiter östlich


nach Europa. Ohne die Kooperation Georgiens kann keine Stra-
tegie, zusätzliches aserbaidschanisches, kasachisches oder turk-
menisches Öl auf den Weltmarkt zu bringen, ohne russisches
Territorium zu berühren, erfolgreich sein.»52
Dieses Dokument findet sich neben mehr als 250 000 anderen
in der von Wikileaks seit dem Jahr 2010 online gestellten «Public
Library of U. S. Diplomacy». Da diese Quelle im Folgenden noch
öfter auftauchen wird, muss die Herkunft kurz erläutert werden.
Denn heute wird allgemein vor «Leaks» gewarnt, die im Ver-
dacht stehen, von Russland gesteuerte Beeinflussungsversuche
der öffentlichen Meinung zu sein und gefälschte Dokumente
neben echten zu verbreiten, um den Westen zu diskreditieren
und russische Propagandapositionen glaubhaft erscheinen zu
lassen.53 Die Dokumente stammen aus dem sogenannten Cable-
gate. Bradley Manning, ein im Irak stationierter US-­Soldat, hatte
sie aus einem internen Kommunikationsnetz des US-­Ver­tei­
digungsministeriums heimlich heruntergeladen und Wiki­leaks
zugespielt. Die Sammlung enthält Berichte und andere Doku-
mente aus amerikanischen Botschaften und Vertretungen auf
der ganzen Welt bis zum Februar 2010 und bis zur Geheimhal-
tungsstufe «secret». Als «top secret» markierte Dokumente wa-
ren über dieses Netz nicht einsehbar. Manning wurde 2013 zu
35 Jahren Haft verurteilt, von Präsident Barack Obama aber als
eine seiner letzten Amtshandlungen begnadigt. Manning han-
delte vor dem Hintergrund der US-­Kriege im Irak und in Afgha-
nistan. Mit Russland hatte er keinerlei Kontakte. Bis heute ist
zwar die Veröffentlichung der Dokumente kritisiert worden, da
sie zum Teil Klarnamen enthalten und beteiligte Personen in
ernste Schwierigkeiten bringen können und auch gebracht ha-
ben, ihre Authentizität ist jedoch bislang nicht angezweifelt wor-
den. Alle hier unter Verweis auf Wikileaks zitierten Dokumente
kommen aus diesem Bestand.
Vor der «Rosenrevolution» hieß der georgische Präsident Edu-
ard Schewardnadse, der letzte Außenminister der Sowjetunion.
Russlands Rückkehr 33

Während seiner Präsidentschaft wuchsen Korruption und Insta-


bilität, aber die amerikanischen Investitionen in Zusammen-
hang mit der Pipeline sollten nicht gefährdet werden. Davor
hatte Michail Saakaschwili  – damals Präsident des Stadtrates
von Tiflis und Führer der georgischen Opposition – bei seinem
Besuch in Washington am 17. April 2003 eindringlich gewarnt.54
Noch im Sommer 2003 versuchte James Baker, ehemals ameri-
kanischer Außenminister, im Regierungsauftrag, Schewardnadse
auf Linie zu bringen, allerdings bereits in einer anderen Funk-
tion: als Anwalt einer führenden Kanzlei in Öl- und Gas­ge­schäf­
ten rund um das Kaspische Meer.55
Saakaschwili, der nach der Rosenrevolution 2004 Scheward-
nadse als Präsident ablöste, genoss in den USA großes Vertrauen,
denn er hatte in Amerika studiert, promoviert und einige Zeit als
Anwalt gearbeitet. Die Bush-­Regierung betrachtete ihn als «our
guy» im Kaukasus.56 Er machte nie einen Hehl daraus, sich nach
Westen orientieren zu wollen, und forcierte das schon unter
Schewardnadse begonnene Streben nach einer NATO-­Mitglied­
schaft seines Landes. Als Präsident Georgiens versuchte er, des
von Schewardnadse hinterlassenen Chaos aus Korruption und
Verwaltungsvakuum Herr zu werden, und konnte dabei auch
­einige Erfolge vorweisen. Er bediente sich allerdings eines auto­
ritären Führungsstils, nutzte Wahlmanipulationen, um an der
Macht zu bleiben, und beschnitt die Unabhängigkeit von Justiz
und Medien massiv.57
Nach dem Ende seiner Präsidentschaft 2013 – die georgische
Verfassung erlaubt nur zwei Wahlperioden – emigrierte Saaka-
schwili in die USA und lebte eine Zeit lang in New York. Im Fe­
bruar 2015, nach dem Regierungswechsel in Kiew, wurde er als
Präsidentenberater in die Ukraine berufen, erhielt die ukrainische
Staatsbürgerschaft und war von Mai 2015 bis November 2016
Gouverneur in Odessa, der ukrainischen Hafenstadt und dem
gleichnamigen Bezirk (Oblast) am Schwarzen Meer. 2017 wurde
ihm die ukrainische Staatsbürgerschaft wieder entzogen, nach-
dem er sich mit dem Präsidenten Petro Poroschenko überworfen
34  Russlands Rückkehr

hatte. Auch in seinem eigenen Land kann Saakaschwili nicht


mehr politisch tätig werden, denn schon seit Mai 2013 ermittelt
die georgische Staatsanwaltschaft gegen ihn. Gegenstand der
­Ermittlungen sind die Veruntreuung von Staatsgeldern und die
gewaltsame Niederschlagung von Protesten im November 2007.
Es existiert ein Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft, der in
Abwesenheit ausgesprochen wurde, und Saakaschwili steht auf
der georgischen Fahndungsliste. Im Falle einer Verurteilung
droht ihm eine mehrjährige Haftstrafe. Saakaschwili selbst hält
das Verfahren für politisch motiviert.58 Jedenfalls ließ er im No-
vember 2007 Demonstranten brutal auseinandertreiben und
verhängte den Ausnahmezustand, was selbst die US-­Diplomaten
in Tiflis kritisierten.59 An Washingtons Unterstützung des Präsi-
denten und seiner NATO-­Beitrittspläne änderte das aber nichts.
Offenbar hatten die geostrategischen Interessen Vorrang.
Am 10. Mai 2005 hielt sich George W. Bush in Tiflis auf. An-
lass war die Einweihung der Pipeline Baku–Tiflis–Ceyhan. Der
amerikanische Präsident fand lobende Worte für die «Rosen­
revolution», pries den «mutigen Kampf des georgischen Volkes
für Unabhängigkeit» und nannte Georgien einen «Leuchtturm
der Freiheit». Führende Aktivisten der «Rosenrevolution» und
der «Orangenen Revolution» in der Ukraine waren anschließend
zu einem Empfang geladen. Die extra angereisten Demokratie-
aktivisten aus dem Nachbarland Aserbaidschan erfuhren aller-
dings eine weniger zuvorkommende Behandlung. Ihre Plakate
und Flugblätter wurden beschlagnahmt, und zwei von ihnen,
darunter der Gründer der Jugendbewegung «Joch!», Rasi Nurul-
lajew, wurden sogar verhaftet. Es war ja auch reichlich naiv von
­ihnen anzunehmen, sie würden im Kampf gegen ihren autoritär
regierenden Präsidenten Ilham Alijew ebenfalls unterstützt, den
Herrn über die Ölquellen von Baku und Verbündeten der USA.60
Die Politikwissenschaftlerin Mária Huber hat die Demokra­
tisierungsbemühungen in dieser Region einmal als «Kollateral-
nutzen» amerikanischer Außenpolitik beschrieben.61 Wie diese
US-­Politik zu bewerten ist, darüber wird intensiv gestritten. Be-
Russlands Rückkehr 35

trieben die USA unter George W. Bush mit ihrer Hilfe Geopolitik


durch Regimechange? Zumindest aus russischer Sicht schien es
so. Im Juli 2006 berichtete der Moskauer US-­Botschafter, eine
«Welle der Hysterie» rolle durch Russland, «dass die USA die
Orangene Revolution und die Rosenrevolution angefacht hät-
ten, um Russland mit feindlichen Regimen und NATO-­Basen
einzukreisen, und russische Experten warnen, dass die USA (und
George Soros) nun Russland im Visier hätten».62 Kann es da ver-
wundern, wenn Wladimir Putin in seiner zweiten Amtszeit ab
2004 andere Prioritäten setzte, aus dem Ausland finanzierte
NGOs durch Gesetzesverschärfungen (2005 und 2012) stärker
kontrollierte und der Politik des Westens zunehmend misstrau-
isch gegenüberstand?
In einem als geheim eingestuften Bericht vom 14. November
2005 beklagte der US-­Botschafter in der tadschikischen Haupt-
stadt Duschanbe, dass Russland sowohl in Tadschikistan als
auch in umliegenden Ländern aktiv vor US-­gesteuerten «Farben-
revolutionen» warne. Als «Farbenrevolutionen» bezeichnet man
das Werk der «Revolutions-­GmbH», obwohl genau genommen
nur die «Orangene Revolution» in der Ukraine nach einer Farbe
benannt ist. Weiter heißt es, Moskau entwickle größere Aktivi­
täten in Tadschikistan, gerade auch im ökonomischen Bereich,
um seinen Einfluss zu bewahren und die Arbeit der US-­NGOs,
vor allem von «Freedom House» und dem NDI, zu erschweren.
Diese russischen Aktivitäten könnten der «Demokratieagenda»
des US-­Präsidenten und «den größeren Zielen der Transforma­
tionsdiplomatie [transformational diplomacy, GKS] in den frü-
heren Sowjetrepubliken» schweren Schaden zufügen. In Moskau
scheine man zu glauben, «dass die USA zusätzliche und perma-
nente Militärbasen in Zentralasien wollten und Tadschikistan
als Hauptkandidaten dafür sähen», vor allem nach dem Verlust
der usbekischen Basis. «Eine ‹Farbenrevolution›», so fürchte
man in Moskau, «würde die Tür für eine US-­Militärbasis öffnen
oder, schlimmer noch für Moskau, könnte Duschanbe ermögli-
chen, die Russen hinauszuwerfen und die russische Militärbasis
36  Russlands Rückkehr

den USA zu geben.» In diesem Albtraum «würden die USA dann


eine Kette von Basen von Afghanistan über Tadschikistan bis
nach Kirgistan haben, um Russland zu schwächen und Zentral­
asien zu dominieren, das Russland nach wie vor seine ‹Einfluss-
sphäre› nennt». Solche Überlegungen, so der Bericht weiter,
könnten natürlich nur der russischen «Paranoia» entspringen,
denn in Moskau orientiere man sich nicht, wie in den USA, an
«faktenbasierter Logik».63

Die NATO-Perspektive für Georgien und die Ukraine

Entspringt Moskaus Angst vor neuen US- und NATO-­Basen an


seinen Grenzen wirklich nur einer typisch russischen «Para-
noia»? Im April 2008 fand in Bukarest ein NATO-­Gipfel statt, im
ehemaligen Ostblockland Rumänien, das seit 2004 NATO-­Mit­
glied ist. Dort wurde über mögliche NATO-­Mitgliedschaften Ge-
orgiens und der Ukraine verhandelt, die beide seit ihren erfolg-
reichen Revolutionen mit neuer Energie in das Bündnis strebten.
Wenn heute in Deutschland von diesem Gipfel die Rede ist, dann
mit dem Tenor, es sei insbesondere Kanzlerin Angela Merkel zu
verdanken, dass damals, anders als von den USA gewünscht, eine
Aufnahme Georgiens und der Ukraine unterblieb. Das ist auch
zutreffend. Nicht zutreffend wäre es jedoch, daraus abzuleiten,
eine NATO-­Mitgliedschaft beider Länder hätte sich damit erle-
digt gehabt.
Die USA hatten in Bukarest konkrete Membership Action
Plans für die Ukraine und Georgien durchsetzen wollen, was
­aller Wahrscheinlichkeit nach eine zeitnahe Aufnahme beider
Länder zur Folge gehabt hätte. Dies verhinderte Deutschland
zwar mit französischer Unterstützung, doch fällte der Gipfel
gleichzeitig die Grundsatzentscheidung, dass beide Länder in
Zukunft NATO-­Mitglieder werden, und das wird in den entspre-
chenden Artikeln und Büchern heute gerne weggelassen.64
Schaut man unter der Rubrik «Beziehungen mit der Ukraine»
Russlands Rückkehr 37

auf die offizielle NATO-­Webseite, dann steht dort Folgendes:


«April 2008: Auf dem Bukarester Gipfel stimmten die alliierten
politischen Führer zu, dass die Ukraine in Zukunft ein Mitglied
der NATO werden wird.»65 Diese Passage findet sich wortgleich
auch unter «Beziehungen zu Georgien».66 In dem Bericht, mit
dem die NATO über die Ergebnisse des Gipfels informierte,
heißt es: «Während die Alliierten eine Entscheidung darüber ver-
tagten, die Ukraine und Georgien in den Prozess der Member­
ship Action Plans (MAP) aufzunehmen, kamen die Alliierten,
was wichtiger ist, überein, dass die Ukraine und Georgien NATO-­
Mitglieder werden. Die Frage ist jetzt, ‹wann› und nicht mehr,
‹ob›, und MAPs könnten bereits bei dem NATO-­Außenminister­
treffen im Dezember beschlossen werden.»67
In der Folge setzten die USA alles daran, den deutschen Wider-
stand bis zum Dezembertreffen zu brechen. «Merkel hat gezeigt,
dass sie bereit ist, erheblichem Druck standzuhalten», heißt es in
einem Bericht der Berliner US-­Botschaft vom 5. Juni 2008. Dabei
ignorierten Merkel und hochrangige Beamte im Kanzleramt und
im Außenministerium einfach, dass ihre Skepsis im Widerspruch
stünde zu der offensiven Wortwahl der Bukarester Erklärung.
Doch der Bericht sah auch Hoffnung: Zwar habe die deutsche
Haltung Züge des «Katzbuckelns» (kow­towing) vor Russland,
doch scheine Merkel vor allem Zweifel an der Beitrittsreife Geor-
giens und der Ukraine zu haben, und genau hier könnten die
USA ansetzen und sollten die Regierungen Georgiens und der
Ukraine ermutigen, das ebenfalls zu tun. Es gebe ein tiefes Miss-
trauen gegenüber dem georgischen Präsidenten Saakaschwili
und seinem Bekenntnis zur Demokratie und zur friedlichen Lö-
sung der separatistischen Konflikte in Geor­gien. Die Deutschen
hätten die starke Sorge, Saakaschwili könnte die Allianz in einen
Konflikt mit Russland hineinziehen, an dem «Tiflis nicht ganz
unschuldig wäre». Im Falle der Ukraine wieder­um dominierten
die Zweifel, ob in nächster Zeit überhaupt eine belastbare Mehr-
heit für das Projekt einer NATO-­Mitgliedschaft im Land gefun-
den werden könne. Gebe es die nicht, würde die Gewährung ei-
38  Russlands Rückkehr

nes MAP destabilisierend wirken, und «das Land könnte zwi­schen


dem prorussischen Osten und dem, relativ gesehen, eher Rich-
tung NATO tendierenden Westen zerrissen werden». Außerdem
betone die deutsche Seite, wie wichtig es sei, eine Kompensa­
tionsstrategie für Russland zu haben, falls beide Länder aufge-
nommen werden sollten. Die USA müssten sich in den nächsten
Monaten immer wieder auf höchster Ebene engagieren, wenn
Berlin bis zum Dezember «an Bord» geholt werden solle.68
Wie leichtfertig Washington über russische Sicherheitsinter-
essen hinwegging, zeigt auch ein Briefing für US-­Vertei­digungs­
minister Robert Gates vom 8. Februar 2008. Dort heißt es, Saa-
kaschwilis Vorgehen gegen Demonstranten im November 2007
habe dem NATO-­Beitritt Georgiens geschadet, da es «europäi-
schen Ländern» Munition geliefert habe, die diesen verhindern
wollten, und zwar aus «damit nicht verbundenen Gründen (ihre
Beziehungen zu Russland)».69 Übersetzt heißt das: Was geht es
Moskau an, wenn Georgien in die NATO will?
Innerhalb der NATO begann nach dem Bukarester Gipfel ein
heftiges Tauziehen, wobei Deutschland von Frankreich, den Nie-
derlanden, Spanien, Norwegen und gelegentlich auch Portugal
unterstützt wurde. Zu den entschiedenen Befürwortern zählten
demgegenüber die USA, Kanada, die baltischen Staaten, Polen,
Tschechien, Rumänien und Bulgarien.70 Der US-­Senat wieder-
um hatte bereits am 28. April einstimmig eine Resolution be-
schlossen, die die Beitrittsperspektive Georgiens und der Ukrai-
ne begrüßte und die Verabschiedung von MAPs im Dezember
forderte.71 Doch dazu kam es nicht. Deutschland verhinderte im
Dezember 2008 erneut die Gewährung von MAPs und hat dies
zusammen mit Frankreich und seinen anderen Verbündeten bis
auf den heutigen Tag getan.
Allerdings bekräftigten Mitglieder der Bundesregierung öf-
fentlich die in Bukarest beschlossene generelle Beitrittsperspek-
tive. Am 17. August 2008 etwa, also unmittelbar nach dem Geor-
gienkrieg, sagte Angela Merkel anlässlich ihres Besuchs bei
Saakaschwili in Tiflis: «Ge­orgien wird, wenn es das will, Mitglied
Russlands Rückkehr 39

der NATO werden.»72 Wie Filmmaterial in einem «Panorama»-­


Beitrag von Ende August 2008 dokumentiert, hat sich die Kanz-
lerin in diesem Monat wiederholt so geäußert und dabei nicht
nur die NATO-­Beitritts­­perspektive für Georgien, sondern auch
für die Ukraine bekräftigt, darunter bei einem Treffen mit dem
russischen Präsidenten Med­wedew in Sotschi.73 Nach einer Mei-
nungsumfrage für die ARD lehnte damals eine deutliche Mehr-
heit der deutschen Bürger einen NATO-­Beitritt Georgiens ab:
58 Prozent waren dagegen, nur 26 Prozent eher dafür.74
Um Russlands Ängste vor einer weiteren Ostexpansion der
NATO als unbegründet hinzustellen, wird gerne darauf verwie-
sen, dass die Beitrittsperspektive der Ukraine und Georgiens
­«irreal» sei.75 Doch das ist eine Verharmlosung. Vielmehr wird
innerhalb der NATO seit 2008 intensiv um diese Frage gerungen.
Der Streit um die Erweiterung «durchseuche» das Bündnis und
ziehe Risse durch die Allianz, «welche die Arbeit an den eigent-
lich drängenden Aufgaben … behindern», stellte Patrick Keller,
der Koordinator für Außen- und Sicherheitspolitik der Konrad-­
Adenauer-­ Stiftung, 2013 fest.76 Auf jedem NATO-­Gipfel seit
­Bukarest wurde die Beitrittsperspektive für Georgien und die
Ukraine bekräftigt, sei es 2009 in Straßburg, 2010 in Lissabon,
2012 in Chicago, 2014 in Wales oder 2016 in Warschau.77 Selbst
als die Ukraine 2010 nach einem Machtwechsel den Blockfreien-
status in ihrer Verfassung verankert hatte, betonte das Schluss-
kommuniqué des Lissaboner Gipfels, die Politik der «offenen
Tür» werde fortgesetzt, hielt also an der Beitrittsperspektive fest,
obwohl die Ukraine selbst gar nicht mehr in die NATO strebte.78
Nun mag mancher einwenden, wenn es in den neun Jahren
seit dem Bukarester Gipfel nicht zu einem Beitritt gekommen
sei, dann könne es mit der Beitrittsperspektive nicht so weit her
sein. Doch ging diese Zeit keineswegs untätig vorbei. Georgien
erhielt großzügige Hilfen und wurde aus Washington dabei un-
terstützt, sich den NATO-­Standards anzunähern. Seit 2014 gilt
dies auch wieder für die Ukraine. Man muss die Jahre seit dem
Bukarester Gipfel eher unter dem Gesichtspunkt «steter Tropfen
40  Russlands Rückkehr

höhlt den Stein» sehen, wobei der Stein hier die deutsche Bun-
deskanzlerin symbolisiert. Als die NATO 2012 in Chicago zu-
sammenkam, stellte die US-­Außenministerin Hillary Clinton
vor Vertretern von Bosnien-­Herzegowina, Georgien, Mazedo-
nien und Montenegro, die alle auf eine NATO-­Mitgliedschaft
hinarbeiteten, fest: «Ich denke, dies sollte der letzte Gipfel sein,
der kein Erweiterungsgipfel ist.»79 Für Moskau jedenfalls musste
der Eindruck entstehen, dass eine Aufnahme Georgiens und der
Ukraine in die NATO seit dem Bukarester Gipfel als reale Option
im Raum stand.

Der Kampf um Südossetien und Abchasien

«Vier Monate später [nach dem NATO-­Gipfel in Bukarest, GKS]


fiel Russland in Georgien ein [‹invaded Georgia›, GKS] und tes-
tete die Bereitschaft des Westens zu intervenieren  – das tat er
nicht  –, und das wiederum bedeutete einen Präzedenzfall, der
dann Herrn Putin 2014 ermutigte, die Krim zu erobern.»80 Das
konnte man am 12. März 2017 in der «New York Times» lesen.
In unseren Debatten wird derzeit gerne behauptet, Russland
­ver­suche seit geraumer Zeit, seinen Einflussbereich aggressiv
aus­zudehnen. Dabei wird eine direkte Linie zwischen dem Ge­
orgienkrieg 2008 und dem Ukrainekonflikt 2014 gezogen. Im
«Deutschlandfunk» war am 22. März 2015 zu hören: «Die Nach-
barländer der Ukraine sind besorgt – besonders Georgien, das im
August 2008 selbst zum Objekt für die russische Aggression
wurde.»81 Der Vorwurf zieht sich ebenfalls durch die putin-­
kritische Literatur. In dem Buch von Michel Eltchaninoff «In
Putins Kopf» heißt es: «Ein Jahr später fällt sein [Putins, GKS]
Nachfolger Dmitri Medwedew in Georgien ein und stellt zwei
Territorien, Südossetien und Abchasien, unter den Schutz Russ-
lands.»82 Im «Positionspapier Russland» der CDU/CSU-­Bun­des­
tagsfraktion vom 29. November 2016 steht zu lesen: «Mit der
völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der militärischen
Russlands Rückkehr 41

Intervention im Donbass hat Russland zum zweiten Mal nach


Georgien 2008 nach dem Ende des Ost-­West-­Konflikts das Ter­
ritorium eines souveränen Staates angegriffen und besetzt.»83
Und Ralf Fücks, bis Juni 2017 langjähriger Vorstand der den
Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung, schreibt in sei-
nem aktuellen Buch: «Während Putin nicht zögert, militärische
Machtmittel einzusetzen, um strategische Geländegewinne zu
erzielen, scheidet diese Option auf westlicher Seite aus, sobald
ein Konflikt mit Moskau droht. Dieses Muster zeigte sich schon
2008 in Georgien …»84
Tatsächlich sieht die Sache jedoch anders aus. Wer sich auf die
wirklichen Geschehnisse einlässt, wird ein Bild des russischen
Vorgehens gewinnen, das sich von dieser Darstellung erheblich
unterscheidet. Südossetien und Abchasien, zu Sowjetzeiten eine
autonome Region bzw. Republik innerhalb der Unionsrepublik
Georgien, streben nach Unabhängigkeit, was von georgischer
Seite bekämpft wird. De facto übt Tiflis jedoch schon seit gerau-
mer Zeit dort keine Autorität mehr aus. Um die Hintergründe zu
verstehen, ist leider ein kleiner Blick in die Geschichte nötig.
Manchmal sind die Dinge eben kompliziert.
Zunächst muss man sich die Situation in der Sowjetrepublik
Georgien mit ihren zahlreichen nationalen Minderheiten Ende
der 1980 er, Anfang der 1990 er Jahre vergegenwärtigen. Georgien
strebte in der untergehenden Sowjetunion nach nationaler Un-
abhängigkeit. Dabei gewannen schnell nationalistische Strömun­
gen die Oberhand.85 Swiad Gamsachurdia, der 1991 mit 86 Pro­
zent der Stimmen gewählte Präsident Georgiens, ist zu Recht als
«fanatischer Nationalist» charakterisiert worden.86 Sowohl die
Abchasen als auch die Südosseten fürchteten, in einem zentrali-
sierten georgischen Nationalstaat ihre Autonomierechte zu ver-
lieren. Das war ihnen auch kaum zu verdenken: Gamsachurdia
hatte vor den georgischen Parlamentswahlen im Oktober 1990
ein Wahlgesetz durchgedrückt, das Parteien, die nicht in ganz
Georgien antraten  – also die Parteien der Minderheiten  –, von
den Wahlen ausschloss.87 Im Fall der Südosseten kam noch et-
42  Russlands Rückkehr

was anderes hinzu: Ihre nationalen Brüder jenseits des Kauka-


suskamms, die Nordosseten, bildeten eine autonome Republik
innerhalb der russischen Sowjetrepublik. Bei einer Unabhängig-
keit Georgiens würden Süd- und Nordosseten, anders als fast
durchgängig in den zurückliegenden knapp zweihundert Jah-
ren, nicht mehr in einem gemeinsamen Staatsverband leben.88
Daher hatten die Abchasen und Südosseten zunächst ein Inte-
resse daran, die Sowjetunion in reformierter Form zu erhalten
bzw. sich nach deren Zerfall Ende 1991 Russland anzuschließen
oder unabhängig zu werden. Die Georgier wiederum sahen in
den Abchasen und Südosseten nichts als Werkzeuge des russi-
schen Imperialismus, die Moskau dazu dienten, ihren nationa-
len Traum zu zerstören. Anders ausgedrückt: Die Georgier woll-
ten nicht erkennen, dass die Abchasen und Südosseten ihnen
gegenüber etwas Ähnliches forderten, was sie selbst von Moskau
verlangten.89 Sicher, ab einem bestimmten Zeitpunkt hat Mos-
kau die Minderheitenkonflikte auch genutzt, um Druck auf
­Georgien auszuüben. Dennoch ist unbestreitbar, dass sie tief­
liegende historische Wurzeln haben, die völlig unabhängig von
russischer Einflussnahme existieren. Es waren die Georgier selbst,
die durch ihren verblendeten Nationalismus die Konflikte mit
den Abchasen und den Südosseten schufen – und zwar nicht erst
in der Auflösungsphase der Sowjetunion.
Abchasien war im Mittelalter zeitweilig ein eigenes König-
reich gewesen, geriet aber später unter osmanischen Einfluss. Im
19. Jahrhundert wurde das Fürstentum Abchasien gegen den
­Widerstand der Bevölkerung in das Russische Reich eingeglie-
dert, konnte aber noch bis 1864 autonome Rechte bewahren.90
Die zahlreichen abchasischen Aufstände hatten zur Folge, dass
große Teile der Abchasen, besonders die Muslime unter ihnen,
ins Osmanische Reich flüchteten oder vom Zarenreich dorthin
deportiert wurden. Dadurch wurden die Abchasen in Abchasien,
also ihrem ureigenen Gebiet, an der Wende vom 19. zum 20. Jahr-
hundert zu einer Bevölkerungsminderheit.91 In den Wirren der
Oktoberrevolution scheiterten ihre Versuche, die Unabhängig-
Russlands Rückkehr 43

keit zurückzuerlangen. Georgische Truppen besetzten und an-


nektierten das Land mit Unterstützung des deutschen Kaiser-
reichs.92
Nach dem Sieg der Roten Armee wurde Abchasien zunächst
eine eigenständige Sowjetrepublik, ging jedoch ebenso wie Geor-
gien in der Transkaukasischen Sowjetrepublik auf. Staatsrecht-
lich hatte Abchasien in der Gründungsphase der Sowjetunion
also zunächst auf derselben Ebene gestanden wie Georgien,
­weshalb die Frage nicht unberechtigt ist, wieso es sich nicht
ebenfalls für unabhängig erklären durfte, als sich dieser Staats-
verband auflöste. Erst 1931 hatte Stalin Abchasien seinem Ge-
burtsland Georgien zum Geschenk gemacht. Es war fortan nur
noch eine autonome Republik innerhalb Georgiens. Ab 1936
veranlasste Lawrenti Beria, der wie Stalin aus Georgien stammte,
bald darauf zum Chef aller Geheimdienste der Sowjetunion auf-
steigen sollte und maßgeblich an Stalins brutalen Säuberungs-
wellen beteiligt war, eine Politik der «Georgisierung» Abchasiens.
Den ­Abchasen wurde das georgische Alphabet aufgezwungen,
Schulen mit nationaler Unterrichtssprache wurden in Abchasien
ebenso wie in Südossetien zwischen 1944 und 1953 geschlossen,
und Nichtabchasen, vor allem Georgier, wurden gezielt in Ab-
chasien angesiedelt.93 Selbst unter den repressiven Bedingungen
der poststalinistischen Sowjetunion setzten sich die Abchasen
für ihre nationalen Rechte ein und verlangten wiederholt ihren
Anschluss an die russische föderative Unionsrepublik, um dem
Zugriff der Georgier zu entkommen.94
Am 18. März 1989 versammelte sich ein abchasisches «Volks-
forum» im Dorf Lykhny. Dort sprachen sich etwa 30 000 Men-
schen für die Trennung Abchasiens von Georgien und die
­Aufwertung der autonomen Republik zu einer eigenen Unions-
republik aus, die einer Moskauer Sonderverwaltung unterstellt
werden sollte. Dagegen lief die georgische Seite Sturm.95 Bei Zu-
sammenstößen zwischen Abchasen und Georgiern im Sommer
1989 gab es in Abchasien über ein Dutzend Tote und fast fünf-
hundert Verletzte.96 Nach Gerüchten über einen weiteren Zwi-
44  Russlands Rückkehr

schenfall im August 1989 behauptete Swiad Gamsachurdia:


«Die Abchasen sind Terroristen. Sie sind Agenten Moskaus, in­
struiert, unschuldige Georgier zu töten.»97 Hier zeigt sich bereits
ein Muster, das sich bis heute durchzieht: Die georgische Seite
ist unfähig, die Interessen der Abchasen und auch der Südosse-
ten als berechtigt anzuerkennen – ein klassisches Problem von
Nationalisten im Umgang mit Minderheiten. Deren Widerstand
können die Georgier sich nur durch finstere Machenschaften
Moskaus erklären. Bedenklich ist allerdings, dass dieses Narrativ
der georgischen Nationalisten inzwischen von vielen im Westen
kritiklos geteilt wird.
Anders als Abchasien gehörte Südossetien ursprünglich zum
Königreich Georgien. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde es
zwar in das Russische Reich eingegliedert, verfügte aber über
eine Selbstverwaltung. In den unübersichtlichen Zeiten der Ok-
toberrevolution besetzten georgische Truppen auch diese Re-
gion, denn die Bewohner des heutigen Südossetien hielten es mit
den Bolschewiken und widersetzten sich der Beherrschung aus
Tiflis. Nachdem der Widerstand im Juni 1920 endgültig gebro-
chen worden war, kam es zu Massakern an der Zivilbevölkerung.
Über 40 ossetische Dörfer wurden niedergebrannt, mindestens
5000 Osseten kamen ums Leben, je nach Quelle zwischen 20 000
und 35 000 mussten fliehen.98 Schon damals urteilte ein briti-
scher Journalist, in der georgischen Republik sei «der Chauvinis-
mus Amok gelaufen». Nach der Eroberung durch die Rote Ar-
mee blieb Südossetien Teil der georgischen Sowjetrepublik,
allerdings als autonome Region. 99
Trotz dieser Vorgeschichte und der Verbindungen der Süd­
osseten zur autonomen Republik Nordossetien im russischen
Nordkaukasus spricht viel dafür, dass sich der Konflikt zwischen
ihnen und den Georgiern bei der Auflösung der Sowjetunion mit
etwas gutem Willen hätte friedlich lösen lassen. Südosseten und
Georgier siedelten in Südossetien bunt gemischt, viele Men-
schen waren dreisprachig, und die Hälfte der Familien in der Re-
gion beruhte auf Mischehen.100 Am 16. November 1989 erklär-
Russlands Rückkehr 45

ten die Südosseten, die über ein Gesetz verärgert waren, mit dem
das Georgische zur alleinigen Amtssprache erklärt wurde, ihre
Region zur autonomen Republik (damit beanspruchten sie den
Status, den Abchasien bereits innehatte). Die Behörden in Tiflis
wiesen die Deklaration zurück. Zudem machten sich am 23. No-
vember mehr als 20 000 teilweise bewaffnete Georgier unter Füh-
rung von Swiad Gamsachurdia in einem Konvoi aus Pkws und
Bussen in die südossetische Hauptstadt Zchinwali auf. Osseten
stellten sich ihnen entgegen. Bei dreitägigen Gewalttätigkeiten
gab es sechs Tote und Dutzende Verletzte. Das Eingreifen sow­
jetischer Truppen verhinderte ein Blutbad.101
Gamsachurdia heizte den Konflikt mit Südossetien weiter an,
das die Georgier «Zchinwali und Java» oder «Samachablo und
Innerkartlien» nennen, um den Gebietsanspruch der Osseten
auch im Namen der Region auszulöschen.102 Er betrachtete die
Osseten nur als «Gäste», die in ihre Heimat Nordossetien zu-
rückkehren sollten. Mischehen gefährdeten seiner Ansicht nach
das Überleben der georgischen Nation. Gamsachurdias Behaup-
tung über den angeblichen Gaststatus der Osseten in Georgien
war nicht nur eine kaum verhohlene Aufforderung zur ethni-
schen Säuberung und damit politische Brandstiftung, sondern
auch historisch verwegen, da die Osseten seit dem 13. Jahrhun-
dert in der Region siedeln. Nach anderer Auffassung gehen sie
­sogar auf eine Volksgruppe zurück, die dort bereits seit dem ers-
ten christlichen Jahrhundert zu Hause war.103 Gamsachurdias
Ressentiments gegen die Südosseten fanden unter den Geor-
giern breite Unterstützung. Dabei taten sich besonders die ge­
orgischen Intellektuellen hervor und weniger die einfachen ge­
orgischen Dorfbewohner in Südossetien selbst.104 Georgische
His­toriker publizierten Texte, in denen die «Georgischheit» Süd-
ossetiens und Abchasiens «nachgewiesen» wurde.105 Der Bürger-
rechtler Andrej Sacharow hat Georgien wegen dieser zumindest
damals vorherrschenden Mentalität als «kleines Imperium» be-
zeichnet.106 Das hindert heute, unter dem Eindruck des Kon-
flikts mit Russland, allerdings nicht daran, die georgische Kul-
46  Russlands Rückkehr

turnation zu romantisieren, die 2018 Gastland der Frankfurter


Buchmesse sein wird.107
Im September 1990 erklärten sich die Südosseten zur Unions-
republik der UdSSR und damit für unabhängig von Georgien.
Nachdem Gamsachurdia bei den georgischen Parlamentswahlen
im Oktober 1990 einen großen Wahlsieg eingefahren hatte, hob
der Oberste Sowjet Georgiens am 11. Dezember 1990 einseitig
den autonomen Status von Südossetien auf. Am nächsten Tag
verhängte er dort den Ausnahmezustand und beschloss eine
­Belagerung der Region, die bis zum Waffenstillstand im Juni
1992 andauern sollte. Damit nahm der Krieg in Südossetien sei-
nen Lauf. Georgische Truppen drangen in Südossetien ein und
mach­­ten mehr als 100 ossetische Dörfer dem Erdboden gleich.108
Bei einer dreiwöchigen Besetzung Zchinwalis im Januar 1991
zerstörten sie zudem auch gezielt südossetisches Kulturgut und
Friedhöfe. Anschließend rächten sich die Osseten. Ungefähr
10 000 Georgier flohen aus Zchinwali aus Angst um ihr Leben.109
Ab Mitte des Jahres beschossen die Georgier die Stadt mit Artil-
lerie. Dabei hatten sie es offenkundig darauf abgesehen, die os­
setische Bevölkerung zu vertreiben. Zchinwali wurde dadurch
weitgehend zerstört. Am 19. Januar 1992 wurde ein Referendum
abgehalten, in dem sich über 90 Prozent der Südosseten für die
Unabhängigkeit von Georgien und den Anschluss an Nordosse-
tien aussprachen. In der Schlussphase des Krieges im Mai und
Juni 1992 griff Russland auf der südossetischen Seite in den Kon­
flikt ein. Dabei stand Moskau selbst unter erheblichem Druck der
Nordosseten, die sich mit den Südosseten solidarisiert hatten.
Der Krieg zwischen Südosseten und Georgiern 1991/92 war
zu seiner Zeit der schwerste innere Konflikt auf dem Gebiet
der Sowjetunion seit den 1920 er Jahren. Etwa 1000 Menschen
kamen ums Leben, was in einer Region mit knapp unter
100 000 Einwohnern viel ist. Etwa 23 000 Georgier flohen aus
Südossetien in das georgische Kernland, je nach Quelle zwischen
40 000 und 100 000 Osseten wiederum flohen aus dem georgi-
schen Kernland und aus Süd­ossetien, die meisten von ihnen
Russlands Rückkehr 47

nach Nordossetien.110 In den internationalen Medien wurde


dennoch kaum über die Kämpfe berichtet, was angesichts der
dramatischen Zeiten damals nicht verwundert, aber vielleicht er-
klärt, warum heute die georgische Erzählung, die das Land als
unschuldiges Opfer Moskaus hinstellt, im Westen so bereitwillig
geglaubt wird.111
Der neue georgische Präsident Eduard Schewardnadse, der
am 10. März 1992 die Nachfolge Gamsachurdias angetreten
hatte, und der russische Präsident Jelzin unterzeichneten am
24. Juni in Dagomys, einem Stadtteil von Sotschi, eine Friedens-
vereinbarung, die aber tatsächlich nicht mehr als ein Waffenstill-
stand war. Die süd- und nordossetischen Führer waren zwar bei
dem Treffen zugegen, sie unterschrieben den Waffenstillstand
aber nicht. Denn die Südosseten, die weiterhin den Anschluss
an Russland anstrebten, betrachteten das Vorgehen Moskaus als
«Verrat». Der Vertrag sah die Stationierung einer 1500 Mann
starken Friedenstruppe aus ossetischen, georgischen und russi-
schen Soldaten vor sowie eine «Gemeinsame Kontrollkommis-
sion» aller vier Parteien. Ab Ende 1992 beteiligte sich auch die
OSZE mit einer sehr kleinen Be­obachtertruppe an der Über­
wachung des Waffenstillstands.112 Doch wurde der Konflikt da-
mals nicht gelöst und schwelte weiter. Südossetien war de facto
unabhängig, wenngleich Teile des Landes von georgischen Trup-
pen kontrolliert wurden.
Abchasien hatte sich bereits am 25. August 1990 zu einer Uni-
onsrepublik der Sowjetunion und damit für unabhängig erklärt,
was Georgien nicht anerkannte.113 Nachdem sich die Sowjet-
union aufgelöst hatte, unterbreitete der abchasische Präsident
Kompromissvorschläge. Die neue georgische Führung unter
Eduard Schewardnadse wies diese jedoch zurück. Daraufhin
setzte Abchasien am 23. Juli 1992 seine Verfassung von 1925 wie-
der in Kraft, die es als unabhängig, aber vereint mit der Sowjet­
republik Georgien auf der Grundlage eines speziellen Unionsver-
trages definierte.114 Georgien selbst hatte bereits am 22. Februar
1992 seine Verfassung von 1978 annulliert und die von 1921
48  Russlands Rückkehr

wieder in Kraft gesetzt, als Abchasien noch kein Bestandteil Ge-


orgiens war.115 Damit hatte die abchasische Autonomie im geor-
gischen Verfassungsrecht keine Grundlage mehr.
Ende Juli 1992 wurde Georgien als unabhängiger Staat formal
in die Vereinten Nationen aufgenommen. Nur zwei Wochen
­später fiel die georgische Nationalgarde in Abchasien ein und
marschierte auf die Hauptstadt Sochumi zu. Die Chronologie
der Erei­gnisse legt nahe, dass die georgische Führung nach dem
Waffenstillstand für Südossetien im Juni die Anerkennung durch
die UN abgewartet hatte, um gegen Abchasien militärisch vorzu-
gehen. Sie hatte zudem für den Oktober 1992 Neuwahlen zum
georgischen Parlament anberaumt, denn sie war dringend auf
eine demokratische Legitimierung angewiesen. Es handelte sich
bei ihr nämlich de facto um ein Putschistenregime: Gamsachur-
dia war im Januar 1992 gewaltsam von der Macht entfernt wor-
den, im März wurde – zur Steigerung der internationalen Akzep-
tanz  – Gorbatschows früherer Außenminister Schewardnadse
als Präsident an die Spitze berufen. Was machte sich zur Legiti-
mation vor den Georgiern besser als ein siegreicher Krieg?116
Der georgische Militärkommandeur in Abchasien, Oberst
­Giorgi Karkaraschwili, drohte am 25. August 1992 im lokalen
Fernsehsender von Sochumi: «Wir sind bereit, 100 000 Georgier
zu opfern, um 97 000 Abchasen auszulöschen. Wir werden die
ganze abchasische Nation ohne Nachfahren zurücklassen.» Da
die von Karkaraschwili genannte Zahl von 97 000 Abchasen fast
exakt der gesamten abchasischen Bevölkerung entsprach, inter-
pretierten die Abchasen das verständlicherweise als eine Dro-
hung mit Völkermord. Obendrein war das kein Einzelfall, auch
die politische Führung Georgiens äußerte sich in dem Sinne, dass
die Abchasen nur ein kleines Volk seien, dessen genetische Basis
leicht zerstört werden könne.117 Beim Plündern und Brandschat-
zen in Sochumi brannte die georgische Nationalgarde vorsätz-
lich das abchasische Nationalarchiv und die Nationalbi­bliothek
nieder und zerstörte so fast 95 Prozent des Archivguts zur ab-
chasischen Geschichte.118 Ob man daran erinnern wird, wenn im
Russlands Rückkehr 49

Herbst 2018 auf der Frankfurter Buchmesse der heroische Wi-


derstand Georgiens gegen die russischen Aggressoren gefeiert
werden wird? Oder haben die Abchasen jedes Recht auf eine ei-
gene Kultur verwirkt, weil sie von Russland unterstützt werden?
Jedenfalls stießen die Georgier auf einen unerwartet hartnä-
ckigen militärischen Widerstand der Abchasen. Da parallel ein
Bürgerkrieg in Westgeorgien zwischen Anhängern Gamsachur-
dias und der Regierung in Tiflis tobte, überforderte dies ihre Ka-
pazitäten. Die Abchasen erhielten Unterstützung vom Kongress
der Bergvölker des Kaukasus, vor allem von den Tschetschenen
und Tscherkessen, von in der Türkei, Syrien und Jordanien le-
benden Abchasen und auch von Russland. Zunächst halfen ne-
ben den Nordkaukasiern Kosaken, frühere Offiziere der Roten
Armee und noch aus Sowjetzeiten in Abchasien stationierte Mi-
litärverbände auf eigene Faust. Im Laufe des Jahres 1993 nahm
die russische Unterstützung dann weiter zu.119 Russland be-
nutzte den Konflikt in Abchasien nun auch als Hebel, um Geor-
gien, das im Vorjahr noch die NATO um Hilfe bei der Verteidi-
gung seiner territorialen Integrität gebeten hatte, zu einer Reihe
von politischen Zugeständnissen zu zwingen: zum Beitritt zur
«Gemeinschaft Unabhängiger Staaten» (GUS), zur Einwilligung
in das Fortbestehen von vier russischen Militärstützpunkten in
Georgien (Batumi an der Küste, Achalkalaki im Süden, Wasiani
bei Tiflis und Gudauta in Abchasien) und zu einer gemeinsa-
men russisch-­georgischen Überwachung der georgischen Grenze
zum NATO-­Mitglied Türkei.120
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch stellte
1995 fest, sie habe zahllose Berichte erhalten, dass von beiden
Seiten in dem Konflikt Kriegsgefangene misshandelt und getö-
tet worden seien, in erster Linie allerdings durch die Georgier,
und dass Kämpfer Vergewaltigungen als Kriegswaffe eingesetzt
hätten. Human Rights Watch stufte diese Anschuldigungen als
glaubwürdig ein.121
Im September 1993 gewannen die Abchasen schließlich den
Krieg. Daraufhin musste fast die gesamte georgische Bevölke-
50  Russlands Rückkehr

rung, mehr als 200 000 Menschen, aus Abchasien flüchten.122


Die georgische Aggression hatte sich als Bumerang erwiesen. Im
Mai 1994 wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet. Eine Frie-
denstruppe der GUS, de facto eine russische Truppe, rückte in
die Waffenstillstandszone ein. Eine UN-­Mission wurde einge-
richtet, allerdings umfasste sie nur etwas mehr als hundert unbe-
waffnete Beobachter. Vor allem der Streit um die Frage der Rück-
kehr der georgischen Flüchtlinge nach Abchasien sorgte dafür,
dass der abchasische Waffenstillstand der brüchigste im Süd-
kaukasus blieb.123 Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Ab-
chasen, die durch die Entwicklungen in der zweiten Hälfte des
19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur noch weni-
ger als ein Fünftel der Bevölkerung in Abchasien gestellt hatten,
durch die Flucht der Georgier nun wieder fast die Hälfte der ab-
chasischen Bevölkerung ausmachten, kann man sich leicht vor-
stellen, wie explosiv die Frage der Flüchtlingsrückkehr war.124
Allerdings war es zunächst keinesfalls so, dass Russland nur
die Partei Abchasiens ergriff. Nach 1993 übte es zunächst auf
Abchasien ebenso viel Druck aus wie auf Georgien. Moskau ver-
hängte unter anderem Handelssanktionen gegen die Region.
Der russische Premierminister Primakow drängte Georgier und
Abchasen, zu einem Abkommen zu gelangen.125 Ein Friedensver-
trag konnte jedoch nicht erreicht werden.126 Ebenso wie Südos-
setien wurde Abchasien zu einem «eingefrorenen Konflikt».
Für Moskau hatte diese Situation eine Reihe von Vorteilen. Es
konnte Druck auf Georgien ausüben, indem es damit drohte, die
Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens anzuerkennen,
und erhielt sich so einen gewissen Einfluss in der Kaukasusrepu-
blik. Zudem bestand – im Fall der USA fälschlicherweise, wie sich
zeigen sollte – die Hoffnung, die NATO werde Georgien nicht auf-
nehmen wollen, solange die separatistischen Territorial­konflikte
ungelöst seien.127 Weil die USA seit der zweiten Amtszeit von Prä-
sident Bill Clinton ab 1997 im Kaukasus und in Zen­tralasien eine
wesentlich aggressivere Politik als zuvor verfolgten, war dies von
großer strategischer Bedeutung. Nicht zuletzt, da auch eine wir-
Russlands Rückkehr 51

kungsvolle Unterstützung des russischen Verbündeten Arme-


nien wegen der geografischen Gegebenheiten von ­Georgien ab-
hängig war.128 Die amerikanische Offensive hatte auch etwas
damit zu tun, dass die USA damals noch auf Ener­gieimporte an-
gewiesen waren, sie die beiden Öllieferanten Irak und Iran gleich-
zeitig einzudämmen versuchten und in den 1990 er Jah­­ren die
Ölvorräte des Kaspischen Beckens dramatisch überschätzt wur-
den. Dementsprechend intensiv war das neue «Great Game»,129
das geostrategische Ringen um die Region, dessen wichtigsten
Bestandteil die Pipeline Baku–Tiflis–Ceyhan bildete.130
Obwohl Tiflis nicht müde wurde, das zu behaupten: Ein Inter-
esse an einer Annexion Südossetiens und Abchasiens hatte Mos-
kau nicht. Denn damit hätte es jeden Einfluss auf Georgien ver-
loren. Umgekehrt jedoch hatte es aus denselben Gründen auch
kein Interesse an einer Lösung des Konflikts. Dabei kam noch
hinzu, dass die russischen nordkaukasischen Republiken erheb-
lichen Druck aufbauten, die beiden Regionen nicht im Stich zu
lassen. Insbesondere Nordossetien, der Stabilitätsanker in der
Region, meldete sich zu Wort. Diesen Wunsch zu vernachlässigen
hätte die moskaufreundliche Regierung in Nordossetien schwä-
chen können und das Risiko erhöht, dass auch hier, in der Nach-
barrepublik Tschetscheniens, Chaos ausbrach. Alles in allem
hatte sich Russland daher mit dem Status quo gut arrangiert.
Doch die «Rosenrevolution» zerstörte das zerbrechliche
Gleich­­gewicht. Denn der Machtwechsel hatte, wie häufig über­
sehen wird, auch eine nationalpolitische Komponente. Am Tag
vor seiner Vereidigung als neuer Präsident Georgiens pilgerte
Saakaschwili an das Grab eines georgischen Königs des 12. Jahr-
hunderts und schwor: «Georgien wird vereint sein, stark, es wird
seine Integrität wiederherstellen und ein vereinigter, starker
Staat werden.»131 Anstatt den Weg einer Föderalisierung zu ge-
hen, die einzige Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts mit
Südossetien und Abchasien, steuerte der neue Präsident auf ei-
nen starken Einheitsstaat zu, in dem für Sonderrechte von Min-
derheiten kein Platz war.
52  Russlands Rückkehr

Am 21. September 2004 legte Saakaschwili der UN-­General­


versammlung einen Plan vor, der Abchasien und Südossetien in
den georgischen Staatsverband zurückführen sollte, was von den
beiden Regionen umgehend abgelehnt wurde.132 Zuvor war es in
Südossetien immer wieder zu Zwischenfällen gekommen, für die
beide Seiten Verantwortung trugen, die aber eben auch von geor-
gischer Seite ausgingen. Im Frühjahr 2004 etwa eskalierte die
­Situation, als Georgien die Grenze zu Südossetien abriegelte und
Spezialkräfte, Panzer und Artillerie zusammenzog, worauf Russ-
land seinerseits mit militärischen Verstärkungen antwortete. Es
kam zu den schwersten Gefechten seit dem Waffenstillstand von
1992, und der im August 2004 ausgehandelte neue Waffenstill-
stand blieb brüchig.133 Unter anderem wurde die südossetische
Hauptstadt Zchinwali im September 2005 durch die georgische
Armee beschossen.134
Zumindest im Rückblick gab es klare Anzeichen, dass für
­Saakaschwili auch eine gewaltsame Lösung der Konflikte um
Abchasien und Südossetien eine Option war. Er erhöhte den ge-
orgischen Militäretat von gerade einmal 93 Millionen US-­Dol­
lar 2003 in nur vier Jahren auf 1,2 Milliarden US-­Dollar  2007.135
Schon 2004 rehabilitierte er den fanatischen georgischen Na­
tionalisten Swiad Gamsachurdia als den «ersten Präsidenten»
des unabhängigen Georgien. Im April 2007 wurden dessen sterb-
liche Überreste von Grosny nach Tiflis überführt. Nach einer
­offiziellen Prozession durch die Straßen der Hauptstadt wur-
den sie im Mtazminda-­Pantheon beigesetzt, in dem prominente
Georgier ruhen.136 Und im Dezember 2007, während des ge­
orgischen Wahlkampfs, erklärte Saakaschwili, das Regime in
Zchinwali sei wie ein loser Zahn, reif zur Entfernung. Im neuen
Jahr sei das eine Sache von Wochen, allenfalls Monaten.137
Ob die USA nicht sahen oder nicht sehen wollten, wie ge­
fährlich Saakaschwilis Politik war, sei einmal dahingestellt. Sie
machten sich jedenfalls Georgiens Position zu eigen, Moskau
solle aufhören, die abtrünnigen Provinzen zu unterstützen, und
seine Truppen aus Georgien abziehen. Im Grunde verbarg sich
Russlands Rückkehr 53

dahinter der georgische Mythos, es gäbe keine natürlichen Ab-


spaltungsbestrebungen in den beiden Regionen. Sie seien viel-
mehr ausschließlich auf Machenschaften Moskaus zurückzufüh­
ren und würden verschwinden, sobald Russland sich zurückziehe
und die Souveränität Georgiens respektiere. Doch wie realistisch
war das? Ganz abgesehen von der fundamentalen Fehleinschät-
zung des Konflikts, hätte Russland bei einem Rückzug aus Geor-
gien keinerlei Einfluss mehr auf den Südkaukasus besessen, und
auch sein Verbündeter Armenien wäre isoliert gewesen. Damit
hätten die USA ihr Ziel erreicht, die Rohstoffe des Kaspischen
Beckens und Zentralasiens ungestört an Russland vorbeileiten
zu können, und das geostrategische Ringen um den Südkauka-
sus für sich entschieden. Denkbar wäre dies nur gewesen, wenn
man parallel einen einvernehmlichen Interessenausgleich gefun-
den hätte, durch den diese Region Russland in Zukunft nicht
verschlossen geblieben wäre. Dass Georgien seit 2008 eine offi­
zielle Beitrittsperspektive der NATO besaß, wird das russische
Vertrauen in diese Option nicht gerade befördert haben.
Zudem gerät gerne in Vergessenheit, dass sich Russland durch-
aus kompromissbereit zeigte, und zwar selbst dann noch, als
Saakaschwili Präsident von Georgien war.138 1999 hatte Moskau
bei Verhandlungen in Istanbul zugestimmt, 2001 seine Basen in
Wasiani und Gudauta aufzugeben und sich mit den Georgiern
über die verbleibenden Militärbasen zu verständigen, die es – ab-
gesehen von den Friedenstruppen – im Land unterhielt und die
durch Vereinbarungen nach dem Abchasienkrieg legitimiert wa-
ren.139 Bereits im Juni 2001 wurde die Basis in Wasiani überge-
ben. Als im Jahr darauf amerikanische Militärberater nach Geor-
gien kamen, nutzten sie die gerade erst verlassene Basis.140 Heute
finden dort gemeinsame Manöver der NATO und Georgiens
statt. Im Juni 2007 folgte die Basis in Achalkalaki, im November
2007 die in Batumi.141 Im Falle der Basis Gudauta in Abchasien
gestaltete sich die Situation schwieriger. Russland wollte den
Stütz­punkt weiterhin für seine Friedenstruppen in der Region
nutzen, Georgien vermutete dahinter ein Täuschungsmanöver.
54  Russlands Rückkehr

Jedenfalls ist es nicht so, dass sich Russland in der Frage seiner
Truppenpräsenz in Georgien nicht bewegt hätte. Tiflis jedoch
ging es auch darum, die russischen Friedenstruppen aus dem
Land zu bekommen, nicht bloß die regulären Truppen – eine Un­
terscheidung, die in den einschlägigen Berichten oftmals fehlt.142
Dabei wurden die russischen Friedenstruppen in Südossetien
und Abchasien in den Istanbuler Vereinbarungen von 1999 mit
keinem Wort erwähnt. Also kann auch keine Rede davon sein,
dass Russland sich 1999 zu deren Abzug verpflichtet hätte.143
Alle, die die Forderung nach einem Abzug der russischen Frie-
denssoldaten aufgriffen, sollten sich fragen, was in diesem Fall
mit den Südosseten und Abchasen geschehen wäre. In Moskau,
so berichtete der US-­Botschafter am 12. Juli 2006, glaube man,
dass es nur diese Friedenstruppen seien, die «Krieg und Geno-
zid» verhinderten.144 Wenn man sich die Vorgeschichte verge-
genwärtigt, dann ist diese Einschätzung nicht ganz abwegig. Auf
die Frage, ob er glaube, dass die Südosseten und die Abchasen
überhaupt noch etwas mit den Georgiern zu tun haben wollten,
erwiderte Saakaschwili 2008: «Es geht nicht darum, ob sie zu
uns zurückkommen, sondern darum, dass wir zu ihnen kom-
men; diese Gebiete gehören alle zu Georgien.»145 Der Politikwis-
senschaftler Egbert Jahn gelangt daher zu dem Schluss, dass eine
gewaltsame Wiedervereinigung der Separatistengebiete mit Ge-
orgien «nur um den Preis des Völkermords und der Vertreibung
der Abchasen und Südosseten aus ihren Siedlungsgebieten mög-
lich wäre».146 Auch das ist ein Grund, warum so viele Abchasen
und Südosseten inzwischen russische Pässe besitzen – mehr als
die Hälfte sollen es in Abchasien sein und sogar 90 Prozent in
Südossetien.147 Und daher kann es auch nicht überraschen, dass
es in Abchasien und Südossetien große Mehrheiten in der Bevöl-
kerung für die russische Militärpräsenz gibt, wie der in den USA
lehrende Geograf Gerard Toal 2010 durch Meinungsumfragen
ermittelte.148
Am 12. November 2006 war in Südossetien ein Referendum
durchgeführt worden, an dem ethnische Georgier nicht teilneh-
Russlands Rückkehr 55

men durften. Darin sprachen sich 99 Prozent für die «Beibehal-


tung der Unabhängigkeit» aus. Der Westen verurteilte das Refe-
rendum, Russland betonte zwar, man werde es nicht anerkennen
und Südossetien auch nicht in die Russische Föderation aufneh-
men, doch sei das Referendum als Willensäußerung zu berück-
sichtigen.149 Gleichzeitig aber machte Moskau deutlich, dass die
Position Russlands in dieser Frage von der zukünftigen Haltung
des Westens zum Kosovo abhängen werde. Würde die volle Un-
abhängigkeit des Kosovo akzeptiert, was die USA, Frankreich,
Großbritannien und Deutschland im Februar 2008 binnen Ta-
gen nach deren Erklärung getan haben, dann müsse das umge-
kehrt auch für Südossetien gelten.150 Das war im Übrigen nicht
nur die Haltung Moskaus: Während der Westen bestritt, dass es
sich um einen «Präzedenzfall» handele, wenn die Abspaltung des
Kosovo auch ohne Zustimmung Serbiens anerkannt werde, be-
trachteten die Südosseten und Abchasen das genau als einen sol-
chen.151 Tatsächlich ist schwer zu erkennen, worin sich das Un-
abhängigkeitsstreben Abchasiens und Südossetiens prinzipiell
von dem des Kosovo unterscheiden soll – einmal abgesehen von
den vollkommen anders gelagerten geopolitischen Interessen.
Die USA beharrten zwar auf der «territorialen Integrität Geor­
giens», doch die umstrittene Anerkennung der Unabhängig-
keit des Kosovo hatte natürlich Auswirkungen auf alle separa­
tistischen Regionen weltweit. Sie wirkte auch in Georgien als
Konfliktverstärker, da Saakaschwili nun befürchten musste,
Süd­­­ossetien, Abchasien und Russland könnten sich auf diesen
Präzedenzfall berufen, um die Abspaltung der Regionen auch
­offiziell zu vollziehen.

Wer hat 2008 den Georgienkrieg begonnen?

So weit, so komplex. Aber wie kommt es nun zu dem Vorwurf,


Moskau sei 2008 in Georgien eingefallen? Er geht zurück auf die
Interpretation des Konflikts, die der georgische Präsident Saa­
56  Russlands Rückkehr

kaschwili damals prägte und öffentlich verkündete.152 Doch was


war tatsächlich geschehen? Im Frühjahr 2008 hatten sich die
Spannungen zwischen Russland, Südossetien und Georgien ver-
schärft, wofür alle Beteiligten Verantwortung trugen. Georgien
zog 12 000 Soldaten und 75 Panzer an der Grenze zu Südosse-
tien zusammen, wo zu diesem Zeitpunkt etwa 500 Mann der
russischen Friedenstruppen sowie etwa 500 Mann südosseti-
scher Milizen stationiert waren.153 In der Nacht vom 7. auf den
8. August begann die georgische Großoffensive gegen Südos­
setien mit Panzern, Kampfjets und Raketenwerfern auf die schla-
fende Zivilbevölkerung und die dort stationierten Friedenstrup-
pen. Unter anderem wurden Streubomben eingesetzt.154 Laut
offiziellen russischen Angaben kamen 162 Zivilisten ums Leben.
Die Südosseten sprachen von 365 Opfern, wobei jedoch nicht
zwischen Kämpfern und Zivilisten unterschieden wurde.155 Das
Ausmaß der Zerstörung gerade ziviler Objekte war enorm. Auch
14 Angehörige der russischen Friedenstruppen kamen ums Le-
ben, da ihr Hauptquartier gezielt von georgischer Artillerie ange-
griffen wurde.156 Schon am selben Tag verkündete Georgien,
weite Teile Südossetiens erfolgreich besetzt zu haben  – bemer-
kenswerterweise nur etwas mehr als ein halbes Jahr nachdem
Moskau die letzte Militärbasis im georgischen Kernland ge-
räumt hatte. Russland griff nun seinerseits Georgien an und ver-
trieb die georgischen Truppen aus Südossetien, wobei es zu Ge-
waltakten gegenüber georgischen Zivilisten kam, von Seiten der
russischen Truppen, insbesondere aber durch südossetische Mi-
lizen. Die russischen Verbände rückten dann weiter auf geor­
gisches Territorium vor und zerstörten dort militärische Ziele.
Dabei ließen sie sich die Gelegenheit nicht entgehen, gleich in
den ersten Stunden des Vormarschs in Georgien installierte Ab-
höranlagen des US-­Geheimdienstes NSA im Wert von etwa einer
Milliarde US-­Dollar unschädlich zu machen.157 Die von Russ-
land eingenommenen Teile des georgischen Kernlandes mach-
ten allerdings nur einen sehr geringen Teil der Gesamtfläche des
Landes aus, während im Westen der Eindruck entstand, Moskau
Russlands Rückkehr 57

habe halb Georgien besetzt.158 Tiflis seinerseits reagierte mit ei-


ner wüsten Propagandakampagne gegen die russischen «Aggres-
soren»: Putin in Naziuniform und mit Hitlerbart sowie Haken-
kreuze und SS-­ Runen in Russlands Namen waren beliebte
Motive auf Plakaten in Tiflis.159 Die Darstellung Saakaschwilis
in russischen Medien unterschied sich davon jedoch kaum. Zu-
dem verbreitete die russische Seite stark übertriebene Opferzah-
len des Überfalls auf Südossetien.160 Am 12. August waren die
Kampfhandlungen beendet.161
Anfang Oktober, nach der Ankunft einer EU-­Beobachter­mis­
sion, die sicherstellen sollte, dass sich ein solcher Überfall nicht
wiederholte, zog Russland seine Truppen aus dem georgischen
Kernland zurück.162 Doch stellte es nicht den Zustand wieder
her, der vor dem georgischen Angriff geherrscht hatte. Die geor-
gischen Truppen und teilweise auch die georgische Bevölkerung
waren aus den bisher von Tiflis kontrollierten Gebieten Süd­
ossetiens und Abchasiens vertrieben worden, und dabei blieb es.
Nach dem Krieg erkannte Russland die Unabhängigkeit Südos-
setiens und Abchasiens an – ein Schritt, den es bis dahin immer
vermieden hatte – und schloss mit ihnen Beistandspakte, die es
ihm erlauben, dort jeweils 3800 Mann und schwere Waffen zu
stationieren.163
Natürlich lässt sich darüber diskutieren, ob die russische Re-
aktion verhältnismäßig war, aber kann man diese Geschichte
wirklich mit den Worten «Russia invaded Georgia» zusammen-
fassen? Die georgische Position, man sei von Russland über­
fallen worden, die der damalige Präsident Saakaschwili – auch
in fließendem Englisch  – vertrat, traf im Westen auf großes
­Verständnis. Innerhalb kürzester Zeit wurde in der westlichen
Wahrnehmung aus dem reagierenden Russland der militärische
Aggressor, wohingegen Georgien die Opferrolle zugeschrieben
wurde. Einer unabhängigen Überprüfung hielt diese Version je-
doch nicht stand. Die von Georgien beantragte einseitige Verur-
teilung Russlands wies der Internationale Gerichtshof in Den
Haag in einem Urteil vom 15. Oktober 2008 zurück.164 Die EU
58  Russlands Rückkehr

beauftragte auf Initiative des deutschen Außenministers Frank-­


Walter Steinmeier ihrerseits eine «Independent International
Fact-­­Finding Mission on the Conflict in Georgia», 165 geleitet von
der Schweizer Diplomatin und Kaukasusexpertin Heidi Taglia-
vini. Auch der Bericht ihrer Kommission kam zu dem Schluss,
dass Georgien mit den Kampfhandlungen begonnen hatte.166
Noch deutlicher wurde Tagliavini bei ihrer Vorstellung des Be-
richts vor internationalen Diplomaten in Brüssel Ende Septem-
ber 2009: Aus Sicht ihres Teams «war es Georgien, das den Krieg
begonnen hat», und «keine der von den georgischen Behörden
gelieferten Erklärungen, um den Angriff in irgendeiner Form
rechtlich zu legitimieren, verleiht ihm eine wirksame Begrün-
dung», sagte sie.167
Wer sich ernsthaft mit den vorliegenden Quellen beschäf-
tigt, wird nicht bezweifeln können, dass Georgien die Kampf-
handlungen begann.168 Nicht selten liest man daher verharm­
losend, Saakaschwili habe eine «militärische Dummheit»169
begangen bzw. «fahrlässig»170 gehandelt und damit Moskau ei-
nen Vorwand zum Eingreifen geliefert. «Er begann den Krieg
und tappte prompt in eine russische Falle», brachte Stefan Kor-
nelius, der Außenpolitikchef der «Süddeutschen Zeitung», diese
Position auf den Punkt.171 Doch worauf stützt sich die Behaup-
tung, es habe eine russische Falle gegeben? Die meisten Auto-
ren begründen sie nicht weiter, aber wenn, dann werden ver­
schiedene Indizien zusammengetragen. Am prominentesten ist
das russische Militärmanöver mit 8000 beteiligten Soldaten ei-
nen Monat vor dem Krieg im Nordkaukasus, in dessen Zentrum
die 58. Armee stand, die dann auch die Kämpfe in Georgien
führte. Daraus wird abgeleitet, dass Russland den Einmarsch
im Voraus geplant und geübt und dann nur noch auf einen
­Vorwand zum Handeln gewartet habe. Diesen habe Russland
dann durch gezielte Provokationen herbeiführen wollen. Etwa
indem es seine Beziehungen zu Südossetien und Abchasien aus-
gebaut, zu­­­sätz­liche Soldaten nach Abchasien geschickt, den ge-
orgischen Luft­raum verletzt sowie unbewaffnete Pioniere nach
Russlands Rückkehr 59

Abchasien verlegt habe, um eine Eisenbahnverbindung instand


zu setzen.172
Besonders stark sind die Indizien für eine russische «Falle»
nicht. Sie gewinnen ihre Überzeugungskraft nur dann, wenn
man eine ganze Reihe entgegenstehender Fakten ausblendet
und bereits grundsätzlich davon überzeugt ist, dass Russland
nur auf die Gelegenheit wartete, in Georgien einzufallen – wenn
man also, mit anderen Worten, die Perspektive der georgischen
Regierung teilt. Wie passt etwa die Tatsache dazu, dass Russland
noch am 15. April 2008 im UN-­Sicherheitsrat für eine Resolu-
tion stimmte (Resolution 1808), die ein Bekenntnis zur «Souve-
ränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit Geor-
giens innerhalb seiner anerkannten Grenzen» enthielt und die
dazu aufrief, den georgisch-­ abchasischen Konflikt «mit aus-
schließlich friedlichen Mitteln und im Rahmen der Resolutio-
nen des Sicherheitsrates» zu regeln?173
Und auch dies passt nicht zu einer russischen Falle: Im Juni
2008 traf Saakaschwili in Sankt Petersburg erstmals mit dem
neuen russischen Präsidenten Medwedew zusammen. Dieser
bot an, beim Aushandeln von Kompromissen zu helfen, die lang-
fristig eine Reintegration von Abchasien und Südossetien in Ge-
orgien ermöglichen sollten. Doch müsse Georgien dafür direkt
mit den Führungen der Gebiete verhandeln – sich also von der
bequemen Vorstellung verabschieden, die Abchasen und Süd­
osseten seien nichts als Marionetten Moskaus und hätten keine
legitimen Interessen  – und eine Erklärung über einen Gewalt­
verzicht abgeben. Obwohl auch die USA und Deutschland alle
Konfliktparteien drängten, eine solche Erklärung abzugeben,
weigerte sich Saakaschwili.174
Vollends unglaubwürdig wird die Behauptung, es habe eine
russische Falle gegeben, allerdings, wenn man berücksichtigt,
dass hohe russische Amtsträger den Moskauer US-­Botschafter
noch im Mai 2008 vor einem bevorstehenden georgischen An-
griff warnten. Am 6. Mai sagte der russische Generalstabschef
Juri Balujewsky in einem Telefongespräch mit dem Botschafter,
60  Russlands Rückkehr

Russland sorge sich wegen der Gefahr eines militärischen Kon-


fliktes im Kaukasus. Er bezog sich auf Geheimdiensterkennt-
nisse und warnte, Georgien könne zu «extremen Maßnahmen»
greifen. «Während Russland keinen Kampf mit Georgien suche,
würde es aber seine Interessen in der Region verteidigen.» Balu-
jewsky erinnerte daraufhin an den Abchasienkrieg von 1992/93,
der viele Leben gekostet habe, und stellte fest: «Wir können nicht
erlauben, dass dies noch einmal geschieht.» Die USA sollten ver-
stehen, dass diese Angelegenheit «nur am Verhandlungstisch
aufgebracht werden dürfe».175 General Buschinsky aus dem rus-
sischen Verteidigungsministerium warnte am selben Tag, dass
die Option eines NATO-­Beitritts Georgiens die Spannungen in
der Region verstärkt habe. Weil er auf US-­Unterstützung baue,
könne Saakaschwili «fehlkalkulieren». Die Aufstockung der rus-
sischen Friedenstruppen in Abchasien um 1500 Mann sei ver-
traglich erlaubt und eine Reaktion auf die georgische Truppen-
konzentration. Durch sie wolle Russland «Tiflis signalisieren,
dass es eine georgische Invasion der Separatistengebiete durch-
kreuzen werde».176 Sollte Russland gehofft haben, Saakaschwili
zu einer «militärischen Dummheit» zu provozieren, dann wäre es
so ziemlich die schlechtestmögliche Idee gewesen, dessen engs-
ten Verbündeten genau davor zu warnen und zugleich deutlich
zu machen, dass man dagegenhalten werde. Worin besteht die
Falle, wenn man dem Gegner vorher sagt, was man tun wird?
Tatsächlich gibt es eine viel banalere Erklärung für die Trup-
penverstärkungen, den Ausbau der Eisenbahnlinie und das
große Militärmanöver: Russland rechnete seit Längerem mit ei-
nem Angriff Saakaschwilis und bereitete sich darauf vor.177 Seit
dessen Amtsantritt befanden sich Moskau und Tiflis in einer Es-
kalationsspirale mit gegenseitigen Beschuldigungen, Provokati-
onen und Nadelstichen. Putin, so schrieb der Moskauer US-­Bot­
schafter im Juli 2006, halte Saakaschwili für einen «respektlosen
Punk». Die russische Seite nehme seine Regierung als «kriegslüs-
tern» und «amateurhaft» wahr, Saakaschwili sei «unberechen-
bar», «irrational», «emotional» und «unfähig vorauszudenken».
Russlands Rückkehr 61

Doch werde Moskau trotzdem nicht gegen ihn vorgehen, prog-


nostizierte der Botschafter, denn «Russlands vorrangiges Ziel ist
die Erhaltung des Status quo in diesen Konflikten».178
Tatsächlich hatte Russland ein großes Interesse daran, dass
sich an den Verhältnissen in Georgien nach Möglichkeit nichts
änderte. Moskau bereitete sich zwar darauf vor, auf einen Angriff
Saakaschwilis zu reagieren, doch wollte es den militärischen
Konflikt nach Möglichkeit vermeiden. Und tatsächlich war
Russland auch der strategische Verlierer des Georgienkrieges.
Wie Egbert Jahn treffend zusammenfasst: «Betrachtet man die
strategische Gesamtsituation im Kaukasus, so muss Russland
als der eigentliche Verlierer des Augustkrieges angesehen wer-
den. Es hat zwar seine Machtposition in Abchasien und Südosse-
tien ausgebaut, aber damit jedes Druckmittel auf Georgien ver-
loren, dessen Westorientierung endgültig ist.  … Dadurch ist
Armenien geopolitisch isoliert und hat längerfristig keine an-
dere Wahl mehr, als die Bindungen an Russland zu lockern und
ein Einvernehmen mit dem Westen, der Türkei und in irgendei-
ner Form auch mit Aserbaidschan anzustreben.»179

«Heute sind wir alle Georgier»

Einige der Verantwortlichen in Moskau gingen übrigens davon


aus, dass gerade umgekehrt der Westen Russland eine Falle
­gestellt habe. Die USA hätten Georgien zum Angriff auf Süd­
ossetien ermuntert, um Russland entweder als schwach (falls es
nicht reagierte) oder als aggressiv (falls es doch reagierte) hinzu-
stellen.180 Tatsächlich ist nach wie vor unklar, welche Rolle die
zahlreichen in Georgien aktiven US-­Berater während des Krie-
ges spielten. Im EU-­Bericht steht zu lesen, dass damals «mehr als
hundert US-­ Militärberater in den georgischen Streitkräften»
tätig gewesen seien und «eine noch größere Zahl von US-­
­
Spezialisten und Beratern in den georgischen Machtstrukturen
und der Verwaltung». Was genau diese Berater zu Beginn und
62  Russlands Rückkehr

während des Georgienkrieges taten, dazu findet sich in dem ver-


öffentlichten Bericht erstaunlicherweise keinerlei Hinweis, ob-
gleich im Vorfeld seiner Publikation in mehreren Zeitungs­
artikeln zu lesen war, Diplomaten in Brüssel würden gerade die-
sen Teil für «ausgesprochen politisch brisant» halten.181 Es ist je-
denfalls schwer vorstellbar, dass die US-­Militärberater von den
georgischen Vorbereitungen zum Angriff auf Südossetien nichts
mitbekommen haben sollen. Obendrein fühlte sich die US-­Mi­li­
tärführung Georgien zu Dank verpflichtet, weil sich das kleine
Land unter Saakaschwili in sehr erheblichem Umfang am US-­
geführten Besatzungsregime im Irak und am NATO-­Einsatz in
Afghanistan beteiligte. Man darf vermuten, dass bei Saakaschwili
dahinter strategisches Kalkül steckte.182
In einem Artikel der «taz» hieß es am 13. August 2008, hinter
verschlossenen Türen räumten NATO-­Diplomaten inzwischen
ein, dass die auf dem Bukarester Gipfel beschlossene Beitritts-
perspektive für Georgien beim Kriegsausbruch insofern eine
Rolle spielte, als sie Saakaschwili dazu ermutigt habe zu versu-
chen, Südossetien mit militärischen Mitteln zurückzugewinnen.
Für dieses Vorgehen habe er in den Monaten vor Konfliktbeginn
«zahlreiche Signale der Unterstützung aus Washington erhal-
ten», so NATO-­Diplomaten verschiedener west- wie osteuro­päi­
scher Mitgliedsländer.183 Auch die «New York Times» konsta-
tierte am 12. August 2008 noch mit kritischem Unterton,
Wash­ington habe jahrelang «gemischte Signale» an Georgien
­gesandt. Zwar habe US-­Außenministerin Rice laut Angaben i­ hrer
Mitarbeiter bei einem Besuch in Georgien am 9. Juli Saa­kaschwili
eindringlich davor gewarnt, sich auf einen militärischen Kon-
flikt mit Russland einzulassen, den Georgien nicht ­gewinnen
könne, aber in der Öffentlichkeit habe Rice anders gesprochen
und Georgien kompromisslos den Rücken gestärkt. Zusammen
mit der massiven militärischen und politischen Unterstützung
Georgiens durch die USA – unter anderem fand noch im Monat
vor dem Angriff auf Südossetien ein gemeinsames Manöver
statt, an dem mehr als 1000 US-­Soldaten beteiligt waren, also
Russlands Rückkehr 63

praktisch zeitgleich zum russischen Manöver, das als Beleg für


die These von der Falle dient – habe das dazu geführt, dass alle
Warnungen, wie sie etwa auch der US-­Botschafter in Tiflis äu-
ßerte, bei Saakaschwili auf taube Ohren gestoßen seien.184
Möglicherweise hat Washington im Vorfeld des Georgienkrie-
ges mit gespaltener Zunge gesprochen. Denn der Kandidat der
Republikaner im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf
2008, John McCain, war auch nach Ansicht des ehemaligen deut-
schen Außenministers Klaus Kinkel ein Profiteur des Georgien-
kriegs. McCain berichtete bei einem Wahlkampfauftritt am
12. August pathetisch von einem Telefonat mit seinem Freund
Präsident Saakaschwili, den er und Hillary Clinton 2005 zusam-
men mit dessen ukrainischem Kollegen Viktor Juschtschenko
für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen hatten:185 «Ich weiß,
sagte ich ihm, dass ich für jeden Amerikaner spreche, wenn ich
ihm erkläre: Heute sind wir alle Georgier.»186 Das war im Übri-
gen nicht das einzige Gespräch zwischen den beiden in diesen
Tagen. Während des Krieges telefonierten sie täglich miteinan-
der, teilweise mehrfach. Dabei war McCain kein Mitglied der US-­
Regierung, sondern lediglich Parlamentarier und republikani-
scher Präsidentschaftsbewerber.187 Auf «Fox News» verglich er
das russische Vorgehen mit der Niederschlagung des Aufstands
in Budapest 1956 und des Prager Frühlings 1968 durch die Sow-
jetunion. «Dies ist ein Akt der Aggression, mit dem wir im
21. Jahrhundert nicht gerechnet hatten» – aus dem Munde eines
Mannes, der Vorstandsmitglied des «Komitees für die Befreiung
des Irak» (Committee for the Liberation of Iraq) gewesen war
und im US-­Senat den völkerrechtswidrigen amerikanischen An-
griffskrieg gegen den Irak 2003 unterstützt hatte, ein geradezu
dreistes Unschuldsgehabe.188
Aber nicht nur das, McCain nahm während des Krieges eine
härtere Haltung ein als die Bush-­Regierung und verlangte schon
am 8. August, dass der Nordatlantikrat, das oberste Entschei-
dungsgremium der NATO, sofort zusammentreten, die Sicher-
heitslage Georgiens bewerten und Maßnahmen erwägen solle,
64  Russlands Rückkehr

mit denen die NATO zur «Stabilisierung dieser sehr gefährlichen


Situation» beitragen könne.189 Mit anderen Worten: Wäre es nach
dem Präsidentschaftskandidaten McCain gegangen, dann hätte
sich die NATO, obwohl Georgien kein NATO-­Mitglied ist, in den
Konflikt zwischen dem Südkaukasusstaat und Russland einge-
mischt. Darüber hinaus forderte er, Russlands Mitgliedschaft in
der G8 solle suspendiert, das Land nicht in die Welthandelsorga-
nisation aufgenommen werden, und – in Reaktion darauf, dass
Russland nach Kriegsende die Unabhängigkeit Abchasiens und
Südossetiens anerkannte – sogar, die USA sollten jetzt die Unab-
hängigkeit Tschetscheniens anerkennen.190 Der alte kalte Krie-
ger McCain glaubte ganz offensichtlich, mit dem Georgienkrieg
und der «russischen Bedrohung» ein Thema gefunden zu haben,
mit dem er den Präsidentschaftswahlkampf gegen seinen außen-
politisch unerfahrenen Konkurrenten, den demokratischen Ju-
niorsenator Barack Obama, erfolgreich bestreiten könne.191
Waren es dabei einfach nur dumme Zufälle, dass McCains
Chefaußenpolitikberater, der Neokonservative Randy Scheune-
mann, der 2002/03 das «Komitee für die Befreiung des Irak»
mitgeleitet hatte, inzwischen auf der Gehaltsliste der georgi-
schen Regierung stand und noch im Mai 2008 persönlich als
Lobbyist für Georgien in Sachen NATO-­Beitritt in Washington
tätig gewesen war?192 Und dass Joseph R. Wood, ein wichtiger
Berater von Vizepräsident Dick Cheney, kurz vor Kriegsbeginn
in Georgien zu Besuch war? Der Falke Cheney setzte sich, wenn
auch vergeblich, während des Krieges in der Bush-­Administration
dafür ein, Georgien aufzurüsten.193 Wladimir Putin mochte
nicht an Zufälle glauben. Er sprach Ende August in einem Inter-
view mit CNN von Verdachtsmomenten, die Anlass zur Vermu-
tung gäben, dass jemand in den USA den Konflikt herbeigeführt
habe, um Spannungen anzuheizen und so einem der beiden
amerikanischen Präsidentschaftskandidaten einen Vorteil zu
verschaffen.194 Angesichts all dessen verwundert es auch nicht
mehr, dass die USA Saakaschwili und seine Regierung nach ih-
rem Reinfall mit dem südossetischen Abenteuer retteten und ih-
Russlands Rückkehr 65

nen vier weitere Jahre an der Macht ermöglichten. Das Weiße


Haus und der Kongress brachten im September 2008 ein von Ge-
orgien dringend benötigtes Hilfspaket in Höhe von einer Milli-
arde Dollar auf den Weg, das im Parlament mit überparteilicher
Mehrheit beschlossen wurde.195
Wie klingt diese Geschichte in Ihren Ohren? Ein Beispiel da-
für, wie rücksichtslos Russland mit seinen Nachbarn umgeht,
um seine Einflusszone aggressiv auszudehnen? Hätte der Westen
damals «agieren» müssen, um Moskau rechtzeitig in die Schran-
ken zu weisen? Wer hat agiert, wer reagiert? Und welche Rolle
spielten westliche Interessen? War Russland expansiv oder defen-
siv? Dass Russland in den letzten Jahren so viel in Auslandsme-
dien investiert hat, liegt übrigens nicht zuletzt daran, dass man
dort den Eindruck hat, zwar den Krieg 2008 gegen Georgien ge-
wonnen, die damit verbundene Propagandaschlacht gegen die
USA und den Westen aber haushoch verloren zu haben.196

Das Erbe des Imperiums

Der Fall Georgien zeigt exemplarisch, dass es sich bei Russlands


Peripherie um einen postimperialen Raum handelt mit allen
Problemen, die das mit sich bringt. In den westlichen Medien
werden die Konflikte oftmals nach einem sehr einfachen Schema
interpretiert, bei dem bemerkenswerterweise immer unerwähnt
bleibt, dass Moskau die Auflösung der Sowjetunion auf friedli-
chem Wege zuließ. Gibt es einen vergleichbaren Fall in der Welt-
geschichte? Dass es auch anders hätte kommen können, verdeut-
licht der Putschversuch gegen Gorbatschow im August 1991.
Russland habe seinen Einflussverlust nicht verwunden und ver-
suche nun seine alte Hegemonie über die Region wiederherzu-
stellen, lautet die westliche Deutung der heutigen Konflikte.
Dazu instrumentalisiere es die russischen Minderheiten, übe
wirtschaftlichen Druck aus und wolle Regime, die gegenüber
dem Kreml nicht willfährig seien, destabilisieren. In der «New
66  Russlands Rückkehr

York Review of Books» hieß es beispielsweise im März 2014 in ei-


nem Artikel, der Obamas Politik gegenüber Putin als zu lasch
kritisierte: «Während die USA durch die Kriege im Irak und in
Afghanistan abgelenkt waren, hat Moskau seine aggressiven Be-
mühungen verstärkt, eine ‹Eurasische Union› zu bilden, mit
postsowjetischen Staaten wie Weißrussland, Kasachstan, Mol­
dawien und in letzter Zeit der Ukraine, mit dem Ziel, eine Reihe
von kremlfreundlichen Regierungen zu schaffen und seine He-
gemonie in der Region wiederherzustellen. Die Invasion in Geor-
gien war eindeutig Teil dieser langfristigen Strategie, so wie auch
die russischen Aktivitäten in der Ukraine eine Fortsetzung weit
zurückreichender Bemühungen sind, ein weiteres Heranrücken
des Landes an den Westen zu verhindern  – Bemühungen, die
nach der Orangenen Revolution von 2004 verstärkt worden
sind.»197
Doch mit einer solchen Deutung wird die Komplexität der
Probleme, die in einem nachimperialen Raum zwangsläufig auf-
treten, verfehlt. Es wird so getan, als hätten die nach 1991 neu
entstandenen Nationalstaaten schon zuvor existiert und seien
nur von Moskau unterdrückt worden. Damit wird eine staat­
liche Kontinuität nahegelegt, die so gar nicht bestanden hat.
Tatsächlich mussten sich die Nachfolgestaaten der Sowjetunion
nach ihrer Unabhängigkeit erst als Nationalstaaten neu erfin-
den. Nicht wenige Bürger fühlten sich in erster Linie als Sowjet-
bürger, nicht als Georgier, Ukrainer oder Weißrussen, was nicht
verwunderlich war, da es innerhalb des Imperiums Sowjetunion
zu zahlreichen Mischehen gekommen war sowie zu Migrations-
bewegungen und sonstigen Verflechtungen. Es war nicht ent-
scheidend, wo man wohnte. Der Nationalstaat und die ihn
­tragenden und propagierenden Nationalisten mussten die Be-
völkerung gewissermaßen «umerziehen», wozu Intellektuelle
und Historiker neue nationale Geschichten und Mythen erfan-
den. Die neuen Nationalstaaten mussten auch damit zurecht-
kommen, dass nationale Minderheiten sie eventuell ablehnten,
da sie sich im Imperium besser aufgehoben fühlten und nun die
Russlands Rückkehr 67

Unterdrückung durch die neue Mehrheit fürchteten. Nationali-


tätenkonflikte, die durch das Imperium still gestellt waren, bra-
chen erneut aus, und weitere Abspaltungen von den neuen Staa-
ten drohten. Die Kämpfe in Georgien zwischen 1991 und 1993
können daher als eine Art «Staatenbildungskrieg» verstanden
werden, zumal auch im georgischen Kernland zu dieser Zeit die
staatlichen Strukturen unzureichend waren. Der Begriff «Sepa-
ratismus» greift in dieser Interpretation zu kurz, weil er von ei-
nem etablierten georgischen Nationalstaat ausgeht, der zu die-
sem Zeitpunkt gar nicht bestanden hat. Vielmehr verteidigten
Südossetien und Abchasien ihre Autonomie gegen ein georgi-
sches nationales Projekt.198
Neben Georgien ist Moldawien für einen solchen Zusammen-
hang das prominenteste Beispiel, das ebenfalls immer wieder her­
angezogen wird, um zu belegen, wie Russland seine Nachbarn
drangsaliert. Tatsächlich aber ist der Konflikt um die Region
Transnistrien im Osten Moldawiens, das heißt um die moldawi-
schen Gebiete östlich des Flusses Dnjestr, ebenso wie die Kon-
flikte um Südossetien und Abchasien nicht einfach eine Erfin-
dung Russlands, um die Westorientierung der Republik Moldau
zu unterlaufen. Auch dieser Konflikt hat tiefliegende historische
Wurzeln und ist nicht zuletzt mit der Unfähigkeit der Moldauer
verbunden, die Interessen nationaler Minderheiten zu respek­
tieren.
1812 trat das Fürstentum Moldau – ein Vorläufer des heuti-
gen Rumänien  – Bessarabien an Russland ab, also das Gebiet,
das den größten Teil des heutigen Moldawien bildet. Nach der
Oktoberrevolution erklärte sich Bessarabien für unabhängig
und schloss sich Rumänien an. Um den Anspruch auf dieses
­Gebiet aufrechtzuerhalten, bildete die Sowjetunion aus nicht zu
Bessarabien gehörenden Territorien die autonome moldauische
Sowjetrepublik, die im Wesentlichen das heutige Transnistrien
umfasste. Die Sowjetunion annektierte im Zuge des Hitler-­
Stalin-­Paktes 1940 Bessarabien erneut. Bessarabien und Trans-
nistrien wurden in der Sowjetrepublik Moldawien vereinigt. Un-
68  Russlands Rückkehr

terschiedliche Einstellungen zu Russland heute sind also auch


dadurch bedingt, dass Transnistrien länger zur Sowjet­union ge-
hörte als die übrigen Gebiete Moldawiens und dass der Westen
des Landes 1940 durch eine Annexion zum sowjetischen Impe-
rium kam, der Osten jedoch nicht.
Beim Untergang der Sowjetunion Ende der 1980 er Jahre do-
minierte eine nationalistische Strömung die moldawische Poli-
tik, die langfristig eine Vereinigung Moldawiens mit Rumänien
anstrebte. Im August 1991 erklärte sich Moldawien schließlich
für unabhängig und trat aus der Sowjetunion aus. Menschen im
Land, die nicht Rumänisch sprachen, wurden nun diskriminiert,
während es zuvor umgekehrt gewesen war. Transnistrien bean-
spruchte seit 1990 Autonomie. Als die nationalistische Führung
der Republik Moldau 1992 Russisch als zweite Amtssprache ab-
schaffte, kam es zu einem fünfmonatigen Krieg mit Transnis-
trien, in dem mehr als 1 000 Menschen starben. Russisches Mili-
tär beendete den Krieg und blieb anschließend als Friedenstruppe.
Transnistrien ist seitdem de facto unabhängig, wird aber inter-
national  – auch von Russland  – nicht anerkannt. Dass es der
ureigene Wunsch der dortigen Bevölkerung ist, nicht zu Molda-
wien zu gehören, dürfte schwer zu bestreiten sein.
Die starke Orientierung der Menschen in Transnistrien auf
Russland erklärt sich im Übrigen nicht einfach nur durch Sow-
jetnostalgie oder durch das Festhalten an der russischen Sprache,
sondern auch durch handfeste ökonomische Motive. Transnis-
trien war das Industrierevier Moldawiens, hatte also ein Interesse
daran, sich den sowjetischen Absatzmarkt oder zumindest so
viel wie möglich davon zu erhalten. Zudem gab es in Moldawien
eine russische Bevölkerung, die aus allen Ecken der Sowjetunion
kam. In den zurückliegenden Jahren verfolgte die Republik Mol-
dau einen klaren Westkurs und schloss wie die Ukraine und Ge-
orgien ein Assoziierungsabkommen mit der EU ab, das Mitte
2016 vollständig in Kraft trat. Einzelne moldawische Parteien
verlangen auch einen NATO-­Beitritt.
Jedoch wurde Ende 2016 der Sozialist Igor Dodon zum neuen
Russlands Rückkehr 69

moldawischen Präsidenten gewählt, der im Wahlkampf einen


prorussischen Kurs eingeschlagen und für eine strategische Part-
nerschaft mit Russland plädiert hat.199 Dodon kritisiert die EU
scharf, weil mindestens die Hälfte der fast 800 Millionen Euro,
die zwischen 2007 und 2015 von Brüssel nach Moldawien flos-
sen, in dunklen Kanälen verschwunden seien. Korrupte Mitglie-
der der angeblich proeuropäischen Regierungen seines Landes
hätten das Geld gestohlen, und die EU habe sich mitschuldig ge-
macht, weil sie die Verwendung der Mittel nicht ausreichend
kontrolliert habe. Auch westliche Medien stellen fest, dass die
«Allianz für europäische Integration» in Moldawien ein kor­
ruptes Regime errichtet hatte.200 In Transnistrien stimmten
2006 über 97 Prozent der Bevölkerung in einem Referendum für
die Unabhängigkeit und den späteren Anschluss der Region an
Russ­­land, den 2014 auch das transnistrische Parlament ver-
langte.201 Es lohnt sich, diese Dinge im Hinterkopf zu behalten,
wenn wieder einmal behauptet wird, Russland destabilisiere
Moldawien und solle seine Unterstützung Transnistriens ein-
stellen.
Im Westen dominiert eine Strömung, die die Konflikte im
postsowjetischen Raum durch die Brille der neu entstandenen
Nationalstaaten sieht und deren Perspektive kritiklos über-
nimmt. Das alte Imperium wird von den neuen Staaten aus-
schließlich als Unterdrückungszusammenhang wahrgenommen
und dargestellt, obgleich die Realität viel komplexer war und ist.
Hinter den Handlungen der alten Zentrale erblicken die neuen
Staaten nur Machtstreben, gegen das es sich zu behaupten gilt,
obwohl es auch fortdauernde Problemlagen gibt, die «Einmi-
schungen» Moskaus erfordern. Denn die Strukturen eines Im­
periums verschwinden nicht mit dem Federstrich unter seine
Auflösungsurkunde: wirtschaftliche Verflechtungen, Arbeitsbe-
ziehungen, Pendler, Familienbande etc. bleiben zunächst «im­
perial». Grenzregime existieren nicht, zum Teil bis heute nicht.
Für die neuen Nationalstaaten ist dies eine existenzielle Bedro-
hung, hinter der gerne finstere Machenschaften der ehemaligen
70  Russlands Rückkehr

Zen­trale vermutet werden. Was für absurde Blüten dies treiben


kann, zeigt folgendes Beispiel: Der polnische Generalstabschef
schimpfte während des Georgienkrieges über die Dummheit
Saakaschwilis, die Moskau direkt in die Karten spiele, und teilte
seinem Gesprächspartner aus der Warschauer US-­Botschaft an-
schließend mit, «Polen glaube, dass Saakaschwili von russischen
Agenten manipuliert worden sei».202 Sicherlich nimmt Russland
in der Region auch eigene Interessen wahr. Aber wenn alle Hand-
lungen Moskaus auf Herrschsucht zurückgeführt werden, ohne
noch einen Blick für die Komplexität der Probleme zu bewahren,
dann wird die Realität verfehlt.
Dies zeigt sich auch bei Moskaus Bemühungen um eine
­«Eurasische Union», einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit
­seinen Nachbarn, die ebenfalls nur als hegemoniales Projekt
wahrgenommen wird. Doch was ist so illegitim daran, einen
regionalen Wirtschaftsraum zu schaffen, insbesondere wenn
­
sich eine enge Kooperation geradezu aufdrängt angesichts der
Arbeitsteilung zwischen den Industrien der Sowjetrepubliken?
Schon gar, da die russischen Vorschläge für einen gemeinsamen
Wirtschaftsraum mit dem Westen nicht auf Gegenliebe stießen?
Streben denn nicht alle Staaten danach, durch Freihandelsver-
träge, Zollabkommen und dergleichen den Wirtschaftsraum zu
vergrößern, der den eigenen Waren offensteht? Es wird zudem
gerne vergessen, dass die Idee einer EU-­ähnlichen Kooperation
der postsowjetischen Staaten auf den kasachischen Präsiden-
ten Nursultan Nasarbajew zurückgeht, der diese 1994 ins Spiel
brachte.203 Allein das spricht schon dagegen, dass es sich ledig-
lich um ein russisches hegemoniales Projekt handelt. Außerdem
treffen im «Eurasischen Wirtschafstrat» (das ist die höchste Ins-
tanz der seit Anfang 2015 existierenden Eurasischen Wirtschafts­
union) die Mitglieder Russland, Weißrussland, Kasachstan,
­Kirgistan und Armenien alle Entscheidungen nach dem Ein-
stimmigkeitsprinzip.204 Wenn allerdings schon die bloße wirt-
schaftliche Integration Hegemoniestreben ist, was sind dann
die – erfolgreichen – Versuche des Westens, die Ukraine in den
Russlands Rückkehr 71

europäischen Wirtschaftsraum einzuschließen? Und ist die west-


liche Politik dem hehren Maßstab der Nichteinmischung zum
Beispiel im Nahen und Mittleren Osten in den letzten Jahren im-
mer gerecht geworden?

Die schöne neue Weltordnung

Als 1989 die Weltordnung des Kalten Krieges zusammenbrach,


fühlte sich der Westen als Sieger und sah seine Werte, Demo­
kratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Kapitalismus,
durch die Geschichte glänzend bestätigt. In Zukunft, so meinte
man, gehe es nur noch um die globale Durchsetzung des west­
lichen Systems. Historische Alternativen würden nicht mehr ent-
stehen. Wenn alle Staaten demokratisch geworden seien, so der
Glaube, würde es keine Kriege mehr geben, und die Welt wäre ein
besserer Ort. Doch die Vision der neuen liberalen Weltordnung,
wie sie etwa der amerikanische Präsident George Bush Anfang
der 1990 er Jahre entwarf, hatte zwei zentrale Schwächen. Erstens
konnte der Westen, insbesondere die USA, der Versuchung nicht
widerstehen, den eigenen Werten zuwiderzuhandeln, wenn sie
geostrategischen Interessen im Wege standen. Und zweitens ge-
wann eine Richtung an Gewicht, die dem Rad der Geschichte in
die Speichen greifen und die Ausbreitung der Demokratie aktiv
befördern wollte, wenn nötig, mit Hilfe militärischer Gewalt, zu-
mindest aber durch die Unterstützung von prowestlichen Grup-
pen innerhalb der Länder, die nicht oder nur halb demokratisch
strukturiert waren. Der Gedanke dahinter war derselbe: aktive
Beschleunigung, auch durch Regimechange, statt evolutionärer
Entwicklung zur Demokratie. Die «westliche Wertegemein-
schaft» schickte sich an, die Welt zu retten, notfalls auch mit Ge-
walt und gegen den Willen derjenigen, die gerettet werden soll-
ten.
Beide Schwächen der neuen Weltordnung zusammen führten
dazu, dass sie außerhalb des Westens zunehmend als eine Art
72  Russlands Rückkehr

«­ liberaler Imperialismus» wahrgenommen wurde, als Versuch


des Westens, dem Rest der Welt sein System und seine Interessen
aufzudrücken. Heute, so wird man nach bald 30 Jahren festhal-
ten müssen, hat dieser liberale Imperialismus mehr Schaden an-
gerichtet als Nutzen gebracht. Er ist gescheitert, nur haben das
seine Protagonisten noch nicht bemerkt. In jedem Fall war die
westliche Politik seit 1989, geostrategisch betrachtet, selber ex-
pansiv: Sie sollte den eigenen Einflussbereich, den Geltungsbe-
reich der eigenen Werte, ausdehnen – auf Kosten derjenigen, die
sich ihnen entgegenstellten. Von unserer Warte aus gesehen,
mag diese Politik dennoch wünschenswert erscheinen, zumin-
dest solange man zugesteht, dass es ihr tatsächlich um Men-
schenrechte und Demokratie geht. Aber wie sieht das wohl in
den Augen derjenigen aus, gegen die sie sich richtet? Wer also
agiert, wer reagiert? Haben diejenigen, die unsere Werte nicht
oder zumindest nicht in Gänze teilen, keinerlei Existenzberech­
tigung? Geben wir ihnen eine andere Perspektive, als zum Wohle
der Menschheit zu verschwinden? Manchmal ist es heilsam, die
Welt von ihren wohlklingenden Sinngebungen zu entkleiden
und einfach auf die Dinge selbst zu schauen.
Russlands Rückkehr auf die weltpolitische Bühne nach Jahren
des Niedergangs und Phasen der Schwäche hätte eine Erfolgsge-
schichte werden können – nicht nur für Europa –, wenn es gelun-
gen wäre, Moskau in eine neue globale Sicherheitsarchitektur
einzubinden. So aber hat sich ein Koloss zurückgemeldet, der
wie kaum ein anderes Land der Welt in der Lage ist, autark zu
überleben, und der seine Hoffnungen nicht mehr auf den Wes-
ten setzt. Konfrontation und Aufrüstung sind die Folge – zum
Schaden beider Seiten. Russland ist wieder da, aber nicht in der
Rolle eines starken freundschaftlich verbundenen Nachbarn,
mit dem man die weitere Gestaltung dieser Welt mit all ihren
Problemen kontrovers, aber ernsthaft und konstruktiv in Angriff
nimmt, sondern als verletzte, misstrauische, wieder auferstan-
dene Großmacht, die den Westen als Gegner sieht. Welch eine er-
nüchternde Erkenntnis.
«Den Interessen unseres Volkes wird nicht gerecht,
wer schon ‹Amen› sagt, wenn in Washington noch gebetet wird.»
(Willy Brandt)

Der Showdown

Haben Sie schon einmal vom «Joint Hometown News Service»


gehört? Nach Informationen der Nachrichtenagentur «Associa-
ted Press» (AP) handelt es sich um eine Dienststelle des US-­ame­
rikanischen Verteidigungsministeriums, die 2009 ihren Sitz auf
einem früheren Luftwaffenstützpunkt in San Antonio, Texas,
hatte. Dort werden Wort- und Bildberichte produziert, die man
ohne Quellenangabe den Medien zuspielt, wie Tom Curley, der
AP-­Chef, im Februar 2009 in einem Vortrag an der University
of Kansas darlegte. Er beklagte den immensen Einfluss des Ver­
teidigungsministeriums auf Journalisten, insbesondere wenn sie
aus Kriegsgebieten wie Afghanistan oder Irak berichteten. Unter
der Präsidentschaft von George W. Bush sei das US-­Militär in
eine globale Propagandamaschine verwandelt worden. Hohe
­Generäle, so Curley, hätten ihm gesagt, dass man AP und ihn
persönlich ruinieren werde, wenn er nicht kooperiere. Etwa
27 000 Mit­arbeiter sind nach einer investigativen AP-­Studie bei
den Streitkräften für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Dafür wer­
den jährlich 4,7 Milliarden US-­Dollar ausgegeben. Damit ist das
Medienimperium des Pentagon größer als die allermeisten
­Pressekonzerne der USA.1 Inzwischen ist der «Joint Hometown
News Service» übrigens nach Fort Meade, Maryland, umgezo-
gen. Das ist der Militärkomplex, auf dem sich auch der Sitz der
NSA2 befindet – eine illustre Nachbarschaft.
Um die Deutungshoheit über Kriege und internationale Kon-
flikte wird heutzutage beinahe genauso intensiv gekämpft wie
74  Der Showdown

auf den Schlachtfeldern selber. Für die USA waren die Erfahrun-
gen mit dem Vietnamkrieg in dieser Hinsicht prägend. Kritische
Berichte in der Heimat trugen erheblich dazu bei, dass die Unter-
stützung der Bevölkerung für diesen schmutzigen Krieg schwand.
Zur Erinnerung: Es kam ein ganzes Horrorarsenal an Waffen
zum Einsatz, von Agent Orange, einem hochgiftigen Entlau-
bungsmittel, bis hin zu Phosphorbrandbomben, die durch ihre
Mischung aus Phosphor und Kautschuk dafür sorgen, dass
brennende Körperstellen nur sehr schwer zu löschen sind.3
Heute betreibt das Pentagon einen erheblichen Aufwand, um
bei Kampfeinsätzen seine Sicht der Dinge in den internationalen
Medien wiederzufinden, sei es durch «eingebettete» Journalisten,
durch Pressekonferenzen oder durch die Produktion von Ma­te­
rial, zum Beispiel Videoaufnahmen von startenden Toma­hawk-­
Raketen oder Bildern aus dem Cockpit angreifender Jets, die eine
chirurgische Präzision der Militärschläge suggerieren sollen.4
Auch in Russland hat man, wie erwähnt, aus dem PR-­Desaster
nach dem Georgienkrieg gelernt und in Auslandsmedien inves-
tiert, wie etwa Sputnik oder RT (Russia Today). Diese verbreiten
die russische Sicht der Dinge, sind dabei aber deutlich weniger
erfolgreich als ihre westlichen Konkurrenten. Sie gelten hierzu-
lande als Produzenten russischer «Fake News», deren einzige
Aufgabe darin bestehe, Zwietracht im Westen zu säen und zu
ver­hindern, dass sich die Bevölkerung in den westlichen Staaten
zu einer harten Haltung gegenüber Russland aufrafft. Eine kriti-
sche Einstellung gegenüber den russischen Auslandssendern ist
in der Tat angebracht. Sie haben die internationale Öffentlich-
keit immer mal wieder bewusst in die Irre geführt. Doch lässt
sich daraus ableiten, dass alles, was aus Russland kommt, «Fake
News» sind, während den westlichen Quellen und ihren Verbün-
deten vorbehaltlos geglaubt werden kann?
Die Wahrheit kommt leider oft erst hinterher ans Licht. Und
beim nächsten Mal sind alle wieder genauso klug wie zuvor. Er-
innern Sie sich noch an den ersten Irakkrieg unter George Bush
sen.? Im Jahre 1990 überfiel Saddam Hussein Kuwait, und eine
Der Showdown 75

zögerliche Weltöffentlichkeit musste davon überzeugt werden,


dass militärisches Eingreifen zur Befreiung des Wüstenstaats
notwendig sei. In den Reden des US-­Präsidenten und auch in
den Veröffentlichungen von Menschenrechtsorganisationen,
etwa Amnesty International, spielte damals eine Geschichte eine
große Rolle, in der behauptet wurde, irakische Soldaten hätten
in einem Krankenhaus in Kuwait Frühgeborene aus ihren Brut­
kästen gerissen und sie, auf dem Boden liegend, elendiglich zu-
grunde gehen lassen. Erzählt wurde das vor dem US-­Kongress
von einer jungen Kuwaiterin, die sich als «Nayirah» vorstellte
und behauptete, als Hilfskrankenschwester Augenzeugin der
Vor­fälle gewesen zu sein. Ein Regime, das einen solchen Akt der
Barbarei begeht, darf man doch nicht ungestraft davonkommen
lassen, oder? Bei einem solchen Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit darf der Westen doch nicht untätig zuschauen? Kommt
Ihnen die Argumentation bekannt vor?
Die demokratischen Gesellschaften des Westens sind heutzu-
tage – Gott sei Dank – nur sehr schwer für Kriegseinsätze zu mo-
bilisieren. Nationale geopolitische Interessen allein reichen dazu
in der Regel nicht aus. Also stehen bei der Legitimation poten­
tieller Einsätze humanitäre Motive im Vordergrund, während
von Interessen meist nicht die Rede ist.
«Nayirah» stellte sich im Nachhinein übrigens als Tochter des
kuwaitischen Botschafters in Washington heraus, die nie in ei-
nem kuwaitischen Krankenhaus gearbeitet hatte. Ihr Bericht war
frei erfunden. Die kuwaitische Regierung hatte eine führende
PR-­Agentur, Hill&Knowlton, mit einer Kampagne beauftragt,
um in der amerikanischen Öffentlichkeit für ein militärisches
Vorgehen gegen Saddam Hussein zu werben.5 Welchen Grund
haben wir anzunehmen, dass derartige Methoden heute nur
noch von Russland und seinen Verbündeten angewendet wer-
den? Weil der zweite Irakkrieg, der mit der Existenz frei erfun­
dener Massenvernichtungswaffen begründet wurde, jetzt schon
14 Jahre her ist und sich seitdem sicher alles geändert hat? Bis
zum nächsten Fall, der im Nachhinein aufgedeckt wird?
76  Der Showdown

Wegen neuer Technologien und der Social-Media-­Netzwerke


sind die Möglichkeiten der Beeinflussung heute sogar noch grö-
ßer, und der Zugang zur Weltöffentlichkeit ist auch für Gruppen
möglich, denen er früher verschlossen war. Inzwischen tobt welt-
weit eine Propagandaschlacht um die Deutungshoheit, bei der
zahlreiche Akteure mitmischen und die sehr schwer zu durch-
schauen ist. Das macht die Aufgabe von Journalisten nicht ein­
facher. Umso wichtiger ist es, nach allen Richtungen hin kritisch
zu bleiben, nicht vorschnell zu urteilen, keine vorgefasste Deu-
tung auf die Ereignisse zu stülpen und auch für Korrekturen
­offen zu bleiben, sollten sich neue Fakten ergeben. Wer sich über
die heißesten Konflikte der Gegenwart, in der Ukraine und in
­Syrien, informieren will, der muss jedenfalls – ganz gleich woher
die Nachrichten stammen – auf der Hut sein.

Jenseits von Schwarz und Weiß

Leider herrscht in beiden Fällen – Ukraine und Syrien – in der


westlichen Öffentlichkeit eine Rahmenerzählung vor, in der die
Rollen der «Guten» und der «Bösen» klar verteilt sind und die
eindeutige Verhältnisse suggeriert, die es so nicht gibt. Denn
­dabei wird weggelassen, was nicht in das vorherrschende Bild
­hineinpasst. Das ist deshalb gefährlich, weil dieses einseitige Bild
eine Sicht auf die Konflikte befördert, die zwangsläufig auf eine
Politik der Konfrontation und der Abschreckung gegenüber
Russland hinausläuft. Aber was wäre, wenn dadurch nur immer
weiter an der Eskalationsspirale gedreht wird und zur Kon-
fliktlösung eine ganz andere Politik verfolgt werden müsste?
Es kann nicht darum gehen, diese einseitige Schwarz-­Weiß-­
Malerei einfach umzudrehen und so zu tun, als wäre nun umge-
kehrt Russland ein reines Opfer westlicher Expansion und hätte
sich selber nichts zuschulden kommen lassen. Der Westen hat in
der Ukraine und in Syrien viel falsch gemacht. Aber Russlands
Politik ist ebenso kritikwürdig. Auch Wladimir Putin verfolgt in
Der Showdown 77

beiden Ländern eine kühle Machtpolitik, die auf das Leid von
Menschen wenig Rücksicht nimmt.
In Syrien hält Russland ein Regime an der Macht, das einen
brutalen Krieg gegen einen Teil des eigenen Volkes führt. In syri-
schen Gefängnissen sind Tausende Menschen gequält und er-
mordet worden.6 Ob Russland überhaupt in der Lage wäre,
­Assad zu einer anderen Politik zu zwingen, sei einmal dahinge-
stellt, ebenso die Frage, was passieren würde, wenn Assad stürzte.
Auch von seinen Gegnern sind schwerste Menschenrechtsverlet-
zungen begangen worden. Fakt bleibt aber, dass Russland auf-
grund seiner Hilfe eine Mitverantwortung für das Leid trägt, das
die Bomben des Regimes etwa in Aleppo verursacht haben.
Ebenso tragen die USA eine Mitverantwortung für das Leid von
Zivilisten bei der Rückeroberung der vom IS besetzten Städte
Raqqa in Syrien und Mossul im Irak. Über 40 000 Zivilisten sol-
len nach Informationen der britischen Zeitung «The Indepen-
dent» beim Kampf um Mossul ums Leben gekommen sein.7
2014 hat Moskau zudem seinen Teil dazu beigetragen, dass
sich die Proteste in der Ostukraine radikalisierten und dass aus
Demonstrationen bewaffnete Aufstände wurden, nachdem das
Kiewer Parlament am 22. Februar den Sturz des gewählten
ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch beschlossen
­
hatte, was von der Verfassung so nicht gedeckt war. Russland hat
den «Volksrepubliken» in Donezk und Lugansk schwere Waffen
geliefert, und es spricht viel dafür, dass der Zustrom russischer
Freiwilliger dorthin nicht nur geduldet, sondern auch aktiv be-
fördert worden ist. Und Russland hat – völkerrechtswidrig – mit
eigenen Truppen auf ukrainischem Gebiet eingegriffen, als eine
militärische Niederlage der Rebellen drohte.8 Es ist sicher nicht
so, wie die neue ukrainische Regierung behauptet, dass es im öst-
lichen Teil des Landes ohne die Einmischung Moskaus keinerlei
Unruhen gegeben hätte. Wahrscheinlich hätten sich die Men-
schen dort auch von alleine radikalisiert. Doch es bleibt die Tat-
sache, dass auch russische Politik viel menschliches Leid verur-
sacht hat.
78  Der Showdown

Eventuell zählt dazu ebenso der Tod von 298 Passagieren des


Malaysia-Airlines-­Flugs MH-17. Wenn sich die Zwischenergeb-
nisse des niederländischen «Joint Investigation Teams» vom
Sep­tember 2016 bewahrheiten sollten, dann wurde die Maschine
mit einem russischen BUK-­Flugabwehrsystem abgeschossen,
und zwar aus einem Gebiet, das damals nicht unter Kontrolle
der ukrainischen Regierung stand. Bisher haben die Ermittler
keine Angaben zu den Personen gemacht, denen der Abschuss
zur Last gelegt wird, und Russland hat neue Radardaten vorge-
legt, die noch nicht endgültig ausgewertet sind. Der abschlie-
ßende Bericht bleibt also abzuwarten.9
Und auch die Abspaltung der Krim war aufgrund der Präsenz
russischer Soldaten außerhalb ihrer Stützpunkte in Sewastopol
während des Beschlusses über das Referendum und während des
Referendums selbst völkerrechtswidrig, obwohl – wie Umfragen
und entsprechende frühere Beschlüsse des Regionalparlaments
nahelegen – eine große Mehrheit der dortigen Bevölkerung dies
tatsächlich wollte und die Präsenz der russischen Soldaten, zu-
mindest aus der Sicht Moskaus, nur dem Schutz vor ukraini-
schen Nationalisten und einem Eingreifen ukrainischer Streit-
kräfte diente.10 Zudem hat weder die ukrainische Regierung noch
die internationale Gemeinschaft die Abspaltung der Krim akzep-
tiert. Wäre die internationale Gemeinschaft mit der Abspaltung
einverstanden gewesen, sähe die Sache rechtlich anders aus. Aber
so steht die Aufnahme in die Russische Föderation im Gegensatz
zum internationalen Recht, auch wenn das mit dem Begriff «An-
nexion» heraufbeschworene Bild eines gewaltsamen Land­raubs
gegen den Willen der Bevölkerung hier nicht zutrifft.11
Wenn man es allerdings dabei belässt, einseitig das russische
Fehlverhalten zu benennen, und Hintergründe sowie die Chro-
nologie der Ereignisse ausblendet, dann entsteht schnell ein
­falsches Bild, in dem Russland als unberechenbarer Gegner er-
scheint, dem geschlossen entgegengetreten werden muss, um
weitere Aggressionen zu verhindern. Doch setzt Moskau in der
Ukraine und in Syrien tatsächlich eine aggressive Expansionsstra­
Der Showdown 79

tegie um, der bald noch andere Staaten zum Opfer fallen wer-
den? Ist Putin wirklich unberechenbar? Verfolgt nur Russland
eine zynische Machtpolitik, die noch in Einflusszonen und geo­
strategischen Interessen denkt? In der Tat ist die Sache auch hier
komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Auch die feh-
lenden Teile der Geschichte müssen erzählt werden. Nur so ent-
steht ein vollständiges Bild, das eine realistische Einschätzung
der Zusammenhänge ermöglicht und auf dieser Grundlage zu
einer konstruktiven politischen Lösung überhaupt befähigt.

Der freie Wille eines Volkes

Seit dem 18. Jahrhundert gehörten weite Teile der heutigen Uk-


raine zur russischen Einflusssphäre. Bei der ethnischen Un­
terscheidung zwischen Russen und Ukrainern tun sich auch
Spezialisten schwer, ganz abgesehen von den tatsächlich weit­ver­
zweigten und tief in die Vergangenheit reichenden familiären
Verbindungen zwischen beiden Völkern. Schon allein aufgrund
dieser Nähe hatte es für Moskau eine qualitativ andere und viel
größere Bedeutung, die Ukraine 1991 in die Selbständigkeit zu
entlassen als etwa die baltischen Republiken.
Die Ukraine wandte sich auch zunächst nicht von Russland ab.
Unter Präsident Kutschma verfolgte sie bis zur Mitte der 2000 er
Jahre eine Art Schaukelpolitik zwischen Ost und West. Und Russ-
land nahm hin, dass Kiew Verbindungen in den Westen unter-
hielt, solange diese nicht zur Aufgabe der Bindungen an Russland
führten.12 Doch dieser Kompromiss galt seit der «Orangenen Re-
volution» vom November 2004, die sich an dem Ausgang einer
Präsidentschaftswahl entzündete, nicht mehr. Damals war Vik-
tor Janukowitsch, der von Kutschma favorisierte Kandidat, als
Sieger verkündet worden, wogegen das Lager von Viktor Juscht-
schenko, der in Umfragen vorne gelegen hatte, w ­ egen Wahlfäl-
schung protestierte. Die Massendemonstrationen waren erfolg-
reich, die Wahl wurde wiederholt, und jetzt gewann Juschtschenko.
80  Der Showdown

Später stellte sich heraus, dass der neue Präsident in seinem


Wahlkampf erhebliche Unterstützung aus Washington erfahren
hatte. Zudem hat Juschtschenko ebenso wie der georgische
­Präsident Saakaschwili eine persönliche Bindung an die USA. Er
ist mit einer Ukrainoamerikanerin verheiratet, die für das US-­
Außen­ministerium und unter Reagan im Weißen Haus gearbei-
tet hat.13 65 Millionen US-­Dollar sind allein vom US-­Außen­
ministerium für die Wahl in die Ukraine geflossen. «Wir wissen
nicht genau, wie viele Millionen oder Dutzende Millionen Dollar
die Regierung der USA für die Präsidentenwahl in der Ukraine
ausgegeben hat», sagte der republikanische Abgeordnete Ron
Paul. «Aber wir wissen, dass der Großteil des Geldes zur Unter-
stützung eines bestimmten Kandidaten gedacht war.» «Koffer-
weise wird in den Wochen vor der Wahl Bargeld aus den USA am
Flughafen Kiew ausgeladen», schrieb der «Spiegel» 2005. Eine
Spende über 150 000  US-­Dollar habe man am Ende beiseitelegen
müssen, weil niemand mehr wusste, wohin damit, berichtete die
Buchhalterin einer oppositionellen Gruppe.14
Eine ganz uneigennützige Hilfe ohne jeden strategischen Hin-
tergedanken? Oder hatte es doch etwas mit der Befürchtung zu
tun, dass Russland die Ukraine näher an seinen Wirtschafts-
raum binden wollte? Im April 2004 hatte das Parlament in Kiew
das Rahmenabkommen für die Schaffung eines Einheitlichen
Wirtschaftsraums (EWR) zwischen Russland, Weißrussland, der
Ukraine und Kasachstan ratifiziert, das im September 2003 von
den Staatschefs dieser vier Länder in Jalta auf der Krim unter-
zeichnet worden war.15 Damit wäre Russlands Gewicht in der
­Region gestärkt worden. Und umgekehrt wären die Hindernisse
gewachsen, die man aus dem Weg hätte räumen müssen, wenn
die Ukraine in den westlichen Wirtschaftsraum integriert wer-
den sollte, ohne Russland einzubeziehen. Der damalige Oppo­
sitionsführer Juschtschenko beeilte sich daher noch im April
2004 vor der westlichen Presse festzustellen, er werde dieses Ab-
kommen im Falle eines Wahlsieges umgehend begraben.16
Spielte vielleicht auch die NATO-­Beitrittsperspektive der
Der Showdown 81

­Ukraine eine Rolle? Bereits 1997 war die NATO-­Ukraine-­Charta


verabschiedet worden, durch die unter anderem die NATO-­
Ukraine-­­­
Kom­ mission geschaffen wurde. Im Mai 2002 hatte
der Nationale ­Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine
­(RNBOU) unter Kutschma beschlossen, das Ziel der Ukraine sei
es, der NATO (und der EU) beizutreten. Zwar stand die NATO
Kutschma reserviert gegenüber, da sie ihm nicht traute, doch
­beschloss die NATO-­Ukraine-­Kommission im November 2002
dennoch einen «NATO-­Ukraine Action Plan», der die Beziehun-
gen zwischen der NATO und der Ukraine vertiefen und erwei-
tern sowie die Ukraine bei ihren Reformanstrengungen auf dem
Weg der euroatlantischen Integration unterstützen sollte. 2004
jedoch vollzog Kutschma eine Kehrtwende. Kurz vor einem Tref-
fen mit Putin auf der Krim im Juli 2004 wurde eine revidierte Mi-
litärdoktrin der Ukraine veröffentlicht: Darin war nur noch von
einer «substantiellen Vertiefung» der Beziehungen des Landes
zur NATO und der EU die Rede, nicht mehr jedoch von einem
angestrebten Beitritt zu beiden Organisationen.17 Zufall, das mit
den Geld­koffern?
Innenpolitisch jedenfalls änderte sich in der Ukraine unter
Juschtschenko, der sich dem Westen als entschlossener demo-
kratischer Reformer präsentierte, nicht viel. Die Hoffnungen auf
ein Ende der Korruption und eine Verbesserung der wirtschaft­
lichen Lage wurden schnell enttäuscht. Im Gegenteil, am Ende
seiner Amtszeit stand die Ukraine vor dem Staatsbankrott und
der Unregierbarkeit. Dafür strebte das Land unter Juschtschen-
kos Führung aktiv in Richtung Westen und bemühte sich in bis-
her nicht gekannter Intensität um eine Mitgliedschaft in EU und
NATO – und das, obwohl es dafür in der ukrainischen Bevölke-
rung keine Mehrheit gab. Gerade einmal 16 Prozent der Ukrai-
ner wollten einer Umfrage zufolge Ende 2005 der NATO beitre-
ten und nur ein Drittel der EU.18 Schon seit längerer Zeit floss
allerdings aus westlichen Staaten viel Geld in die Ukraine, um an
diesem Stimmungsbild etwas zu ändern. Zwei Milliarden US-­
Dol­lar hatte etwa USAID nach eigenen Angaben bis Anfang
82  Der Showdown

2005 für Ukraineprogramme ausgegeben. Zumindest ein Teil


davon diente dem Ziel, «in der Ukraine die gesellschaftliche Basis
der EU-­Befürworter zu erweitern».19
Auch andere westliche Organisationen und Stiftungen haben
sich diesem Ziel gewidmet. Victoria Nuland, unter Obama die
für Europa und Eurasien zuständige Staatssekretärin im US-­
Außenministerium, schätzte im Dezember 2013 in einer Rede
vor der «U. S.-Ukraine Foundation» in Kiew, die USA hätten seit
1991 insgesamt fünf Milliarden US-­Dollar investiert, um die
­Ukraine dabei zu unterstützen, demokratische Verhaltensweisen
und Institutionen zu entwickeln – «all dies Vorbedingungen für
die Ukraine, um ihre europäischen Hoffnungen zu erfüllen».
Wohlgemerkt: Diese US-­Gelder dienten nicht dazu, den Maidan
zu finanzieren oder die Bevölkerung zum Aufstand gegen ihre
Regierung zu bewegen, wie einige behaupten.20 Zumindest ein
Teil der Summe war aber schon dazu bestimmt, der in dieser
Frage gespaltenen Bevölkerung die Orientierung in Richtung
Westen zu erleichtern oder, wie Victoria Nuland es ausdrückte:
der Ukraine die europäische Zukunft zu ermöglichen, die sie
«wollte» und die sie «verdiente».21 Wie scheinheilig ist es dann,
wenn bei uns argumentiert wird, man könne einem Volk doch
nicht den Wunsch nach einer Anbindung an den Westen abschla­
gen und Russland müsse das Votum der ukrainischen Bevölke-
rung doch respektieren?
Seit 1997 gibt es in der Ukraine ein «NATO Information and
Documentation Centre (NIDC)», dessen Aufgabe auf der NATO-­
Webseite so umschrieben wird: «Das NIDC in Kiew spielt eine
aktive Rolle dabei, in der Ukraine ein besseres Verständnis zu
fördern für die Prioritäten und Kernaufgaben der NATO sowie
für die Vorteile einer Zusammenarbeit zwischen der NATO und
der Ukraine und die ukrainischen Behörden im Bereich der öf-
fentlichen Information und strategischen Kommunikation zu
unterstützen.»22 Das klingt so, als habe die NATO in der Ukraine
Werbung für sich gemacht und aktiv versucht, die Stimmung im
Land gegenüber der NATO zu beeinflussen. Alles ohne jegliches
Der Showdown 83

strategische Interesse an dem Land? Einflusszonen – das ist nur


ein Begriff russischer Politik? Der Westen hingegen reagiert le-
diglich auf die Wünsche der Völker?
In einem als geheim eingestuften Bericht vom 15. Februar
2006 mit dem Titel «Die Ukraine auf dem Weg in die NATO: ein
Statusreport» beklagte der US-­Botschafter in Kiew die «unge-
wöhnliche Spaltung zwischen der Sichtweise der politischen
Elite und der Meinungsmacher, die eine NATO-­Mitgliedschaft
enthusiastisch unterstützen, und der Bevölkerung, die das nicht
tut». Nur 25 bis 30 Prozent der Ukrainer seien für einen NATO-­
Beitritt ihres Landes. Auf den Gedanken, dass es sich hierbei um
ein ernst zu nehmendes Votum handeln könnte, also um den
freien Willen eines Volkes, kam der Botschafter jedoch nicht. Er-
klären konnte er es sich nur mit dem Erbe «sowjetischer Stereo-
type» und der «zynischen Manipulation der Kutschma-­Ära», mit
ihren «Medienberichten über angebliche ‹NATO›-Aggressionen
in Serbien und im Irak». Der «niedrige Grad an öffentlicher
­Unterstützung für die NATO-­Mitgliedschaft» könne sich als die
«Achillesferse für die Hoffnung der Ukraine» erweisen, «eher
früher (2008) als später der NATO beizutreten». Während eine
«aggressive Kampagne zur Erziehung der Öffentlichkeit im Hin-
blick auf die ‹neue NATO› und die ukrainischen Sicherheitsinte-
ressen» [aggressive public education campaign] nötig sei, wür-
den die NATO-­freundlichen ukrainischen Politiker genau davor
leider gegenwärtig noch zurückscheuen, da sie die politischen
Folgen an der Wahlurne fürchteten.
Auch andere NATO-­ Beitrittskandidaten, wie die Slowakei,
Ungarn und Slowenien, hätten solch niedrige Zustimmungs­
raten erfolgreich überwunden, und die baltischen Staaten hät-
ten ebenfalls mit dem Sowjeterbe und starkem russischen Wider­
stand kämpfen müssen. Doch kein anderer Beitrittskandidat
habe solche «jahrhundertelangen engen kulturellen, religiösen
Verbindungen mit Russland und eine der russischen so ähnliche
Identität» wie die Ukraine. Das erschwere leider den «Prozess der
öffentlichen Erziehung» [public education process].
84  Der Showdown

Dass NATO-­Repräsentanten im Oktober 2005 die Ukraine be-


sucht und auch die Öffentlichkeit in der Provinz zu erreichen
versucht hätten, habe immerhin dabei geholfen, die öffentliche
Debatte über die NATO und den Beitrittswunsch der Ukraine in
Gang zu bringen. Dies müsse verstärkt werden durch «offizielle
Besuche, nichtoffizielle Experten aus NGOs und der Wissen-
schaft, Aktivitäten der ukrainischen Regierung und Unterstüt-
zung durch ukrainische Interessengruppen, sei es aus der Zivil-
gesellschaft oder der Wirtschaft».23
Natürlich hat es umgekehrt auch russische Einflussnahmen
auf die öffentliche Meinung in der Ukraine gegeben – wie auch
anders angesichts der jahrhundertelangen engen Verbindungen.
Aber russische Offizielle stellen sich immerhin anschließend
nicht mit ratlosem Achselzucken vor die Kameras und sagen
Dinge wie: «Was sollen wir machen? Wir sind eben so attraktiv,
dass alle Mitglied in unserem Club werden wollen. Wir können
diesen hoffnungsvollen Menschen doch nicht die Tür vor der
Nase zuschlagen und sie um ihren Traum bringen! Auch Russ-
land sollte lernen, die freie Entscheidung souveräner Völker zu
akzeptieren!»
Zum großen Missbehagen der ukrainischen NATO-­Befür­
worter und der US-­Botschaft hatte man seit Ende 2005 in der
Ukraine zudem damit begonnen, Unterschriften für ein Referen­
dum über den NATO-­Beitritt zu sammeln, das Volk also an der
Entscheidung zu beteiligen. Die ukrainische Verfassung sah da-
für die hohe Hürde von drei Millionen Unterschriften vor. Im
Frühjahr 2006 hatte man viereinhalb Millionen zusammen. Ein
Bericht der US-­Botschaft in Kiew vom 29. Dezember 2006 infor-
miert über die zahlreichen Manipulationen, mit denen man das
Verfahren zu verzögern versuchte oder dieses weiter versuchen
könnte – Unterschriften für gefälscht erklären, behaupten, diese
seien gekauft oder erpresst worden, Anzweiflung der Rechtmä-
ßigkeit der Verfassungsvorschriften über das Volksbegehren etc.
Am Ende lief es aber darauf hinaus, dass Präsident Juscht-
schen­ko von seinem Recht Gebrauch machte, den Volksent-
Der Showdown 85

scheid schlicht nicht durchzuführen. Arsenij Jazenjuk, damals


stellvertretender Leiter der Präsidialkanzlei, versicherte dem
amerikanischen Botschafter, «der Präsident werde in nächster
Zeit kein Referendum zulassen». Grundsätzlich, so der Bericht,
herrsche Einigkeit, ein Referendum über den NATO-­Beitritt
durchzuführen, aber erst nach sorgfältiger Vorbereitung und
­einer «effektiven öffentlichen Erziehungskampagne, um die Un-
terstützung in der Bevölkerung zu erhöhen» [effective public
education campaign to lift popular support]. Würde das Refe-
rendum jetzt abgehalten, würde eine überwältigende Mehrheit
sich gegen einen NATO-­Beitritt aussprechen, und das gelte es zu
verhindern.24 Im Februar 2007 schätzte die US-­Botschaft in Kiew
die Befürworter eines NATO-­Beitritts nur noch auf 25 Prozent
der Bevölkerung.25 Auch das war aber natürlich kein Grund, den
eingeschlagenen Kurs zu überdenken.
Ebenso wenig wie diese Geschichte: Im Juli/August 2006 sollte
ein gemeinsames Manöver von ukrainischen und NATO-­Trup­
pen mit dem Namen «See Breeze 2006» auf der Krim stattfinden.
Geübt werden sollte Folgendes: Die Halbinsel «Runo», vormals
Teil des Landes «Sapphire» mit einem NATO-­feindlichen Re-
gime, gehört jetzt zum «demokratischen Staat Emerald». Dies
kann «Sapphire» nicht akzeptieren und gründet daher eine
­separatistische Bewegung, die Sabotageakte verübt und auslän-
dische Staatsbürger ermordet. Schließlich nehmen die Separatis-
ten Gei­seln, und zwar eine große Studentengruppe aus NATO-­
Ländern, und gleichzeitig kommt es zu Demonstrationen, mit
denen die Rückkehr «Runos» zu «Sapphire» gefordert wird.
«Emerald» ruft daher die Vereinten Nationen an, die der NATO
die Erlaubnis geben, eine Stabilisierungsmission auf «Runo»
durchzuführen und die Geiseln zu befreien.26
Allerdings hatte Präsident Juschtschenko diesem eindeutig
gegen Russland gerichteten Manöver zugestimmt, ohne zuvor
die Erlaubnis des Parlaments einzuholen, das wegen der Anwe-
senheit ausländischer Truppen auf ukrainischem Gebiet an der
Entscheidung hätte beteiligt werden müssen. Das Parlament
86  Der Showdown

weigerte sich, sein Einverständnis nachträglich zu gewähren,


denn mittlerweile – nach den Wahlen vom Frühjahr 2006 – hatte
der Juschtschenko-­Block seine Mehrheit verloren. Als die ersten
amerikanischen Soldaten Ende Mai auf der Krim ankamen – es
handelte sich um einen unbewaffneten Voraustrupp von Reser-
visten der Marines, der die Unterkünfte für das Manöver instand
setzen sollte –, waren sie daher illegal dort. Die ersten 113 Mann
konnten am 24. Mai unbemerkt in der Hafenstadt Feodosia
an Land gehen. Bei der zweiten Gruppe von weiteren 120 Mann
war dies am 27. Mai jedoch anders, denn mit ihnen wurden
­Container ausgeladen, die unter anderem Waffen und Munition
für die Übung enthielten. Die Container wurden von den
Hafen­behörden blockiert, Demonstranten sammelten sich und
verhinderten am 1. Juni, dass die Marines in ihr Quartier gefah-
ren werden konnten. Die Protestierer warfen Steine, die Scheiben
der Busse gingen zu Bruch, und die Soldaten mussten in ein Sa-
natorium flüchten, aus dem sie anschließend erst einmal nicht
mehr herauskamen. Denn nun sammelten sich jeden Tag De-
monstranten vor dem Gebäude, täglich zwischen etwa 300 und
bis zu 1500 Menschen. Am 6. Juni erklärte das Parlament der
Krim die Region zu einer «NATO-­freien Zone», um die Demons-
tranten zu unterstützen. Bereits am 2. Juni hatte das Regional-
parlament in Lugansk dasselbe getan. Am 11. Juni schließlich be-
gann der Abzug der Soldaten, Mitte Juli wurde das Manöver
abgesagt.27
«Sea Breeze 2006» fiel in eine Zeit heftiger innenpolitischer
Kämpfe in der Ukraine, und die Demonstrationen wurden offen­
bar maßgeblich von Janukowitschs «Partei der Regionen» geför-
dert. Die Proteste machten dennoch deutlich, wie umstritten die
Frage einer NATO-­Mitgliedschaft im Land war. Dass es daher
vielleicht besser sein könnte, der Ukraine diese Zerreißprobe zu
ersparen, auf diese Schlussfolgerung kam man in Washington –
anders als in Berlin und Paris – nicht. Vermutlich glaubte man
eher dem, was Julia Timoschenko der Kiewer US-­Botschaft am
12. Juni 2006 erzählte, dass nämlich die Anti-­NATO-­Proteste auf
Der Showdown 87

der Krim lediglich das Werk des russischen Geheimdienstes ge-


wesen seien.28

Moskaus rote Linie

2008 erhielt die Ukraine, wie bereits erwähnt, auf dem NATO-­
Gipfel in Bukarest eine offizielle Beitrittsperspektive, die auch
in der Folge nie zurückgenommen, sondern auf jedem NATO-­
Gipfel erneut bekräftigt wurde, auch als die Ukraine selber nach
der Abwahl Juschtschenkos einen Beitritt gar nicht mehr an-
strebte. Zwar hatten Deutschland, Frankreich und andere west-
europäische Staaten konkrete Membership Action Plans immer
wieder verhindern können, womit sie sich in Washington nicht
gerade beliebt machten. Doch hätte es nur eines poli­tischen
Kurswechsels in Berlin und Paris bedurft, um das zu ändern – ge-
setzt den Fall, die Position Kiews würde sich ebenfalls wieder
drehen. Eine NATO-­Mitgliedschaft der Ukraine stand jedenfalls
seit 2008 offiziell im Raum, was der russischen Führung natür-
lich bewusst war, als es in Kiew 2014 zum Umsturz kam.
Dies in Erinnerung zu rufen ist wichtig, weil in der Bericht­
erstattung über die Ukrainekrise meist so getan wurde, als ginge
es ausschließlich um westliche Werte und um die Alternative:
EU-­Assoziierungsabkommen oder Eurasische Wirtschaftsunion.
Der amerikanische Historiker Timothy Snyder schaffte es zum
Beispiel, zahlreiche Artikel über die «Maidan»-Bewegung zu
schreiben, ohne das Wort «NATO» auch nur ein einziges Mal zu
verwenden. Dann fällt es natürlich bedeutend leichter, die «geo-
politische Bedeutung der Ukraine» als eine «leere Fantasie» ab-
zutun, wie es bei Snyder geschieht.29 Oder auch zu behaupten,
Putins Eingreifen in der Ukraine habe nichts mit Geopolitik zu
tun, sondern diene nur dem Zweck, eine Demokratiebewegung
zu unterdrücken, die im Erfolgsfalle nach Russland überschwap-
pen könnte.30
Auf dem Bukarester Gipfel, bei dem Präsident Putin als Gast
88  Der Showdown

dabei war, hatte er gesagt, eine Aufnahme der Ukraine und Geor-
giens in die NATO würde Russlands Interessen unmittelbar be-
rühren. Moskau wäre gezwungen, darauf mit geeigneten Maß-
nahmen zu reagieren, um seine Sicherheit zu gewährleisten.31
Bereits im Vorfeld des Gipfels hatten russische Diplomaten dar-
auf hingewiesen, dass Putin in konstruktiver Absicht nach Buka-
rest komme, um ein «positives Signal» für die zukünftige Koope-
ration zwischen Russland und der NATO zu geben, um «globale
Risiken gemeinsam anzugehen». Aber alles hänge an der Frage
der Beitrittsperspektive für die Ukraine und Georgien.32
Am 18. Januar 2008 hatte die politische Führung in Kiew
um die Vereinbarung eines Membership Action Plans für die
­Ukraine auf dem Bukarester Gipfel nachgesucht. Unterzeichnet
war das entsprechende Schreiben von Präsident Viktor Juscht-
schenko, Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und dem da-
maligen Parlamentspräsidenten Arsenij Jazenjuk.33 Als Reaktion
darauf hatte der russische Außenminister Lawrow festgestellt,
Russland müsse die anhaltende Osterweiterung der NATO als
eine «potentielle militärische Bedrohung» betrachten. Er sei
durchaus bereit, den Versicherungen des Westens zu glauben,
dass die NATO sich nicht gegen Russland richte. Angesichts der
jüngsten militärischen Aktivitäten in NATO-­Ländern34 müsse
Moskau die Erweiterungsabsichten aber nach ihrem tatsäch­
lichen Bedrohungspotential bewerten und könne sich nicht mit
behaupteten Absichten zufriedengeben. Natürlich hätten die
USA und Europa legitime Interessen in der Region, so Lawrow
weiter, und Staaten müssten frei sein, selber zu entscheiden, wel-
chem Bündnis sie angehören wollten. Aber dabei müsse auch be-
rücksichtigt werden, welche Folgen dies für die Nachbarn habe.
In ihrem Freundschaftsvertrag von 1997 seien Russland und die
Ukraine übereingekommen, «von der Teilnahme an oder der Un-
terstützung von allen Handlungen abzusehen, die die Sicherheit
der anderen Seite beeinträchtigen könnten».35
In einem Bericht vom 1. Februar 2008 fasste der US-­Bot­schaf­
ter die Bedenken zusammen, die in Moskau gegenüber der Auf-
Der Showdown 89

nahme der Ukraine und Georgiens in die NATO herrschten. Die


Erweiterungsabsichten träfen einen «freiliegenden Nerv», so der
amerikanische Botschafter. Russland fürchte um die Stabilität
der Region, nehme die Aktivitäten der NATO als «Einkreisung»
wahr und als Versuche, russischen Einfluss zu unterminieren.
Experten würden der Botschaft mitteilen, Russland sei «insbe-
sondere besorgt, die starke Spaltung in der Ukraine über die
Frage der NATO-­Mitgliedschaft, gegen die ein großer Teil der
dort lebenden ethnischen Russen opponiere, könne zu einer Zer-
reißprobe führen, mit Ausbrüchen von Gewalt oder schlimms-
tenfalls einem Bürgerkrieg. In diesem Fall müsste Russland sich
entscheiden, ob es intervenieren solle; eine Entscheidung, vor die
Russland nicht gestellt werden möchte.»
Ein weiterer Grund für den russischen Widerstand sei die enge
Zusammenarbeit der Rüstungsindustrien beider Länder, so
heißt es in dem Bericht der Moskauer US-­Botschaft weiter. Im
Falle einer NATO-­Mitgliedschaft der Ukraine müsste Russland
seine Rüstungsindustrie umbauen, was sehr teuer würde. Außer-
dem wären die ökonomischen Beziehungen der beiden Länder
betroffen, und die Bewegungsfreiheit der vielen Arbeiter würde
beschränkt, die jeweils im anderen Land beschäftigt seien. Im
Gegensatz zum russischen Widerstand bei der ersten Runde der
NATO-­Osterweiterung, so schloss der Bericht, würde sich Russ-
land nun «in der Lage fühlen, schärfer auf das zu reagieren, was
es als Handlungen wahrnimmt, die gegen seine nationalen Inte-
ressen gerichtet sind».36
Es war also bekannt, dass Russland eine Aufnahme der
­Ukraine in die NATO als Überschreitung einer «roten Linie» be-
trachten würde.37 In einem weiteren Bericht der Moskauer US-­
Bot­schaft hieß es sogar, die NATO-­Osterweiterung sei eines der
wenigen Themen, bei denen in Russland nahezu ein vollständi-
ger Konsens herrsche, in den politischen Eliten ebenso wie in der
­informierten Bevölkerung. Ein russischer Experte habe gesagt,
die Ukraine werde als eine Art «letzte Verteidigungslinie» ge­
sehen. Träte sie der NATO bei, sei «die russische Einkreisung
90  Der Showdown

komplett». Russland sei in einer viel stärkeren Position als Mitte


der 1990 er Jahre und werde das nicht hinnehmen.38 Wenn man
dies alles weiß, wie konnte einen dann die russische Reaktion
2014 überraschen?
Es muss vielleicht zusätzlich noch einmal daran erinnert wer-
den, dass die russische Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der
Krim stationiert ist – ein Erbe aus Sowjetzeiten. 1997 pachtete
Moskau den Militärstützpunkt in Sewastopol für 20 Jahre von
der Ukraine. Der Pachtvertrag wäre also 2017 regulär ausgelau-
fen, wenn ihn Juschtschenkos Nachfolger Janukowitsch nicht
2010 im Gegenzug für niedrige Gaspreise verlängert hätte, und
zwar bis 2042. Das war eine seiner ersten Amtshandlungen, was
zeigt, wie besorgt Russland angesichts des auslaufenden Pacht-
vertrags war. Präsident Juschtschenko hatte nämlich deutlich ge-
macht, dass er eine Verlängerung ablehnte, nicht zuletzt, um der
Ukraine den angestrebten NATO-­Beitritt zu erleichtern. In der
Folge war es immer wieder zu kleinlichen Rechtsstreitigkeiten
rund um die russische Schwarzmeerflotte gekommen. Als bei-
spielsweise die russischen Behörden entnervt andeuteten, sie
würden zwei Radarstationen, die Teil des russischen Frühwarn-
systems waren und die gemeinsam mit der Ukraine betrieben
wurden, durch Neubauten in Russland ersetzen, ließ Juscht-
schenko im Februar 2006 umgehend in Washington anfragen,
ob die NATO oder die US-­Streitkräfte Interesse an den frei wer-
denden Stationen hätten.39 Schon 2007 hatte Russland mit dem
Ausbau einer alternativen Marinebasis am Schwarzen Meer im
russischen Noworossijsk begonnen, um sich auf alle Eventuali-
täten vorzubereiten. Bei einem Verlust Sewastopols hätte diese
aber schon aufgrund der geografischen Lage keinen gleichwerti-
gen Ersatz geboten.40
Die Verlängerung des Pachtvertrages stieß auf vehementen
Widerstand der prowestlichen Kräfte um Juschtschenko. Arsenij
Jazenjuk, der spätere Ministerpräsident der Ukraine, äußerte da-
mals: «Dies ist ein Kampf um die Ukraine. Heute müssen wir
entscheiden, ob die Ukraine ein wahrhaft unabhängiger Staat ist
Der Showdown 91

oder nur ein Territorium mit einem Wappen, einer Flagge und
Grenzen, aber ohne eine internationale Stimme.»41 Bei der Ab-
stimmung im Parlament kam es damals zu einer Schlägerei, es
wurden Rauchbomben gezündet, und der Parlamentspräsident
wurde mit Eiern beworfen.42 Es war sehr wahrscheinlich, dass
diese Kräfte alles daransetzen würden, die Verlängerung des
Pachtvertrages aufzuheben, wenn sie die Gelegenheit dazu be­
kämen.
Was hätte es für Russlands strategische Interessen wohl prak-
tisch bedeutet, wenn Sewastopol von NATO-­Gebiet umgeben ge-
wesen oder der Pachtvertrag einseitig gekündigt worden wäre?
Die Einflussmöglichkeiten der russischen Marine im Schwarzen
Meer wären stark reduziert worden, die Fähigkeit, sich durch
Anti-­Access-/Area-­Denial-­Maßnahmen (das sind Maßnahmen,
mit denen der Zugang zu einem bestimmten Gebiet militärisch
blockiert werden kann) gegen einen NATO-­Angriff zu vertei­
digen, wäre beeinträchtigt worden. Alles hinnehmen, weil die
NATO ja niemanden bedroht? Erwartet man allen Ernstes, dass
die Planungsstäbe in Moskau das auch so sehen? Würden die
USA umgekehrt den Verlust eines strategisch derart bedeutsa-
men Stützpunktes einfach so akzeptieren?
Wenn man komplett ausblendet, dass es seit 2008 eine kon-
krete NATO-­Beitrittsperspektive für die Ukraine gab und der
Bei­tritt ausgerechnet von denjenigen Kräften mit aller Macht an-
gestrebt worden war, die 2014 in Kiew wieder an die Regierung
kamen (Petro Poroschenko, der heutige Präsident, war der letzte
Außenminister Juschtschenkos), kann man die russischen Hand-
lungen vielleicht als unberechenbare Aggression deuten. Mit der
Realität hat das dann aber nicht mehr viel zu tun.

Das Ringen um die Ukraine

Im Februar 2010 war Präsident Juschtschenko, für den nur noch


etwas mehr als fünf Prozent der Bevölkerung gestimmt hatten,
92  Der Showdown

in freien Wahlen durch den aus dem Osten der Ukraine stam-
menden Viktor Janukowitsch abgelöst worden, der schon 2004
der Gegenkandidat gewesen war. Janukowitsch hatte im Wahl-
kampf damit geworben, die Beziehungen zu Moskau verbessern
zu wollen. Seine Gegenkandidatin in der Stichwahl war Julia
Timoschenko, die nur knapp unterlag. Der Osten und Süden
hatte für Janukowitsch gestimmt, der Westen für Timoschenko.
Dies zeigt erneut, wie gespalten die Ukraine war und wie be­
rechtigt die Sorgen waren, was mit dem Land passieren würde,
wenn man es vor die Wahl zwischen West und Ost stellte. Keines-
wegs stand da eine klare Mehrheit eindeutig hinter dem einsei­
tigen Westkurs Juschtschenkos. «Einen möglichen Beitritt zur
NATO, das Ziel des scheidenden Präsidenten Juschtschenko, hat
Janukowitsch … mit breiter Zustimmung der Bevölkerung vom
Tisch gefegt», so kommentierte «ZEIT Online» damals die
Wahl.43 Janukowitsch nahm schon im März 2010 die NATO-­
Beitrittsperspektive der Ukraine offiziell zurück.44 Wenig später
verankerte das Land den Blockfreienstatus in seiner Verfassung.
Janukowitsch betrieb ­allerdings keine einseitige Anbindung an
Russland, sondern kehrte zur Schaukelpolitik Kutschmas zu-
rück. Auf der verzweifelten Suche nach Geld – die Ukraine, einer
der korruptesten Staaten der Welt, war faktisch pleite – verhan-
delte er mit beiden Seiten, mit Russland und dem Westen. Damit
fing die Vorgeschichte der Ukrainekrise an.
Die Verhandlungen über ein EU-­Assoziierungsabkommen
hatten noch unter Präsident Juschtschenko, 2007, begonnen.
2009 war die Ukraine der östlichen Partnerschaft beigetreten.
Präsident Janukowitsch setzte die Verhandlungen Richtung Wes­
ten fort. Auf dem EU-­Ukraine-­Gipfel in Kiew im Dezember 2011
hätte das EU-­ Assoziierungsabkommen unterzeichnet werden
können. Dazu kam es jedoch nicht, weil die EU darauf bestand,
die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko aus der
Haft zu entlassen, zu der sie wegen Amtsmissbrauchs verurteilt
worden war. Angeblich hatte sie zu hohe Gaspreise in den Verträ-
gen mit Russland vereinbart und so die ukrainische Wirtschaft
Der Showdown 93

ruiniert. Die Unterzeichnung des Abkommens scheiterte 2011


also weder an der Haltung des ukrainischen Präsidenten Janu­
kowitsch noch an politischem Druck aus Russland. Es ist wich-
tig, dies in Erinnerung zu rufen, weil es deutlich macht, dass die
heftige russische Reaktion 2014 nicht allein an der EU-­Perspek­
tive der Ukraine lag.
Im Stile langjährig erprobter Schaukelpolitik zwischen Ost
und West hielt Janukowitsch für sein Land parallel die Perspek-
tive offen, der Eurasischen Zollunion beizutreten, die Russland,
Weißrussland und Kasachstan von Juli 2011 an bildeten. Seit
Oktober 2011 betrieb die Ukraine im Rahmen eines multilate­
ralen Freihandelsabkommens zollfreien Handel mit Russland
(die anderen Partner waren Weißrussland, Kasachstan, Arme-
nien, Kirgistan, Moldawien und Tadschikistan). Im Mai 2013 er-
hielt die Ukraine einen Beobachterstatus in der Zollunion.45
Laut einer Erhebung des Kiewer Rasumkow-­Zentrums waren in
der ukrainischen Bevölkerung die Sympathien zu diesem Zeit-
punkt immer noch gespalten. 42 Prozent sprachen sich für das
EU-­Assoziierungsabkommen aus, 33 Prozent zog es in die Eura-
sische Zollunion. 25 Prozent votierten für «weder noch» oder
mochten sich nicht festlegen. Hätten sich in dieser Situation Ge-
spräche zwischen der EU, der Ukraine und Russland nicht gera-
dezu aufgedrängt, um herauszufinden, wie diese unterschied­
lichen Perspektiven unter einen Hut zu bekommen wären? Noch
dazu vor dem Hintergrund, dass russische Vorschläge für einen
gemeinsamen Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon
auf dem Tisch lagen, die Wladimir Putin 2010 im Vorfeld eines
Staatsbesuchs in Deutschland in einem Gastbeitrag in der «Süd-
deutschen Zeitung» noch einmal erneuert hatte.46
2013 begann Moskau, das EU-­Assoziierungsabkommen zu
kritisieren, was vermutlich damit zu tun hatte, dass die Pläne,
die Ukraine in die Eurasische Zollunion einzubinden, konkreter
wurden, während gleichzeitig auch die Vorbereitungen für das
EU-­Assoziierungsabkommen an Fahrt gewannen. Für Novem-
ber 2013 war dessen Unterzeichnung geplant.
94  Der Showdown

Um zu verstehen, was das für Russland bedeutete, muss man


wissen, dass ein Land Mitglied in mehreren, auch unverbun­
denen Freihandelszonen sein kann (wenn auch nicht ohne
Schwierigkeiten), nicht aber zugleich Mitglied in einer Zollunion
und einer weiteren Freihandelszone, wenn die nicht ihrerseits
­einen Freihandelsvertrag mit dieser Zollunion hat. Das klingt
erst einmal kompliziert, lässt sich aber an einem hypothetischen
Beispiel veranschaulichen. Angenommen, der Einfuhrzoll der
Eurasischen Zollunion für Autoimporte aus der EU betrüge
fünf Prozent, dann sieht man daran, dass die Ukraine nicht Mit-
glied in der Zollunion sein und zugleich einen Freihandels­
vertrag mit der EU unterhalten kann, weil die Idee eines Freihan-
delsvertrags ja gerade darin besteht, untereinander zollfrei zu
handeln.
Der EU war dieser Zusammenhang schon länger bewusst,
denn der damalige Kommissionspräsident Barroso hatte bereits
im April 2011 festgestellt, eine Mitgliedschaft der Ukraine in der
Eurasischen Zollunion sei mit dem EU-­Assoziierungsabkommen
unvereinbar. Dessen Unterzeichnung hätte also das Aus für die
russischen Pläne bedeutet, die Ukraine  – immerhin der zweit-
größte Markt unter den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – in
die Eurasische Zollunion einzuschließen. Es kann nicht ernst-
haft verwundern, dass Russland dagegenhielt und versuchte,
­Janukowitsch von der Unterzeichnung des Abkommens abzu-
bringen.
Doch das war nicht das Einzige, was russische Interessen be-
rührte. Da Russland und die Ukraine bereits ein Freihandels­
abkommen miteinander hatten, hätte sich die Unterzeichnung
des EU-­Assoziierungsabkommens zwangsläufig auf die Wirt-
schaftsbeziehungen zwischen Russland und der Ukraine ausge-
wirkt. Die daraus resultierenden praktischen Probleme hätten
sich nur in Verhandlungen zwischen allen Beteiligten lösen las-
sen. Konkret: Wenn ukrainische Zölle auf europäische Waren
schnell gesenkt werden, dann haben russische Hersteller kaum
Zeit, sich an das veränderte Marktumfeld anzupassen, und für
Der Showdown 95

sie gehen Marktanteile in der Ukraine verloren. Und: Wenn sich


der ukrainische Markt an EU-­Standards und Grenzwerten orien-
tiert, dann werden russische Produkte zwangsläufig verdrängt.
Oder: Wenn höherwertige EU-­Güter in die Ukraine gelangen,
spricht viel dafür, dass ukrainische Unternehmer ihre heimi-
schen Produkte verstärkt auf den russischen Markt werfen. Und
schließlich: Nicht zuletzt hätte die Gefahr bestanden, dass durch
eine einfache ukrainische Umetikettierung importierter euro­
päischer Waren die Zollschranken der Eurasischen Zollunion ge-
genüber der EU umgangen worden wären, mit allen negativen
Folgen für den russischen Binnenmarkt.
Es wäre also sinnvoll gewesen, wenn sich Kiew, Brüssel und
Moskau eng abgestimmt hätten. Stattdessen führte die EU die
Verhandlungen weiter, ohne Russland in die Gespräche einzu­
beziehen. Günter Verheugen, bis 2010 EU-­Kommissar, hat sich
2014 in einem offenen Brief an Altkanzler Helmut Schmidt
­folgendermaßen dazu geäußert: «Mit Russland wurde schlicht
nicht darüber geredet, was die Assoziierung der Ukraine (und
anderer) politisch und wirtschaftlich bedeutet. Russische Beden-
ken, dass sich dadurch der Handel mit der Ukraine verschlech-
tern könnte, wurden vom Tisch gewischt.»47 Und der Politikwis-
senschaftler Herfried Münkler stellte in einem Interview mit
dem «Stern» damals zutreffend fest: «Das Assoziierungsabkom-
men mit der Ukraine ohne Einbezug Russlands, zumindest ohne
Rücksicht auf Russland, zu verhandeln war eine Dummheit.»48
So wurde die Chance verpasst, der Ukraine die Entscheidung
zwischen Ost und West zu ersparen und eine absehbare Kon-
frontation zu vermeiden.
War den Verhandlungsführern der EU der potentielle Konflikt
mit Russland wirklich nicht klar? Waren ihnen die wirtschaft­
lichen Folgewirkungen für Russland nicht bewusst? Übersahen
sie, dass es auch um die zukünftige Ausrichtung des Landes
ging und im Hintergrund die Perspektive eines NATO-­Beitritts
schwebte? Oder glaubten sie, auf russische Interessen keine
Rücksicht nehmen zu müssen, und hielten es zudem für schlicht
96  Der Showdown

undenkbar, dass sich die Ukraine für Moskau statt für Brüssel
entscheiden könnte?
Auch wenn man selber angeblich nicht mehr in den Kate­
gorien von Einflusszonen denkt, wie im Westen immer wieder
behauptet wird, so müsste doch zumindest bewusst bleiben,
dass andere dies eventuell noch tun? Eine kluge Politik muss
Derartiges doch in ihre Überlegungen mit einbeziehen, oder
etwa nicht? Wie dem auch sei, Janukowitsch brauchte dringend
Geld, um den Bankrott der Ukraine zu verhindern. Er wandte
sich an Brüssel. Dort redete man über westliche Werte und Julia
Timoschenko. Moskau dagegen bot ein Paket von umgerechnet
15 Milliarden US-­Dollar. Der ukrainische Präsident sagte da­
rauf­hin am 28. November 2013 die Unterzeichnung des EU-­As­
so­­zi­ierungsabkommens ab – Putin, so schien es, hatte das Rin-
gen um die Ukraine für sich entschieden.49

Putsch in Kiew

Doch nun überschlugen sich die Ereignisse. Als die Westper­


spektive in sich zusammenfiel, hatte die Opposition gegen die –
nicht erst seit Janukowitsch – durch und durch korrupte ukrai-
nische Führung einen neuen Kristallisationspunkt. Der Maidan,
ein Platz in der Hauptstadt Kiew, entwickelte sich zum Macht-
zentrum, auf dem sich selbsternannte Führer zum Sprachrohr
der Demonstranten machten, die zunächst nichts anderes woll-
ten als eine verlässliche Regierung und längst überfällige Refor-
men, damit sich ihr Lebensstandard endlich verbesserte. Es kam
zu blutigen Auseinandersetzungen. Über einhundert Menschen
wurden erschossen, wobei man bis heute nicht genau weiß, wer
dafür verantwortlich war.
Die in dem Zusammenhang getöteten Polizisten tauchen im
Übrigen in den offiziellen ukrainischen Listen gar nicht auf. Es
gibt nur Opfer auf der eigenen Seite. Und so werden auch die
­Ermittlungen nur in eine Richtung geführt. Mit der Untersu-
Der Showdown 97

chung der Vorfälle haben sich diverse Gremien befasst, darunter


eine Kommission des ukrainischen Parlaments sowie eine der
ukrainischen Staatsanwaltschaft, wobei man wissen muss, dass
der neue Generalstaatsanwalt Luzenko selbst zu den Maidan-­
Aktivisten gehörte.50 Ein internationales Beratergremium, das
der Europarat eingesetzt hatte, um die Arbeit der ukrainischen
Stellen zu kontrollieren, hat dazu am 31. März 2015 einen Be-
richt veröffentlicht. In diesem stellt das Gremium fest, dass die
Untersuchungen «nicht den Erfordernissen der Europäischen
Menschenrechtskonvention entsprechen».51 Kiew hat eine unab-
hängige Untersuchungskommission versprochen, die es nie gab.
Bis heute mahnt niemand hörbar Ergebnisse an.
Angesichts der immer bedrohlicher werdenden Proteste floh
Janukowitsch am 22. Februar 2014 nach Russland. Das Parla-
ment in Kiew erklärte ihn noch am selben Tag für abgesetzt,
hielt dabei aber das vorgeschriebene Verfahren nicht ein und
­verfehlte auch knapp die dafür nötige Dreiviertelmehrheit. For-
mal handelte es sich also um einen Putsch, um einen Staats-
streich.52
Janukowitsch wurde vom Westen sofort fallen gelassen, ob-
wohl dieser 2010 regulär zum Präsidenten gewählt worden war –
­­
was ausländische Wahlbeobachter damals bestätigt hatten.
­Stattdessen gaben sich westliche Regierungsmitglieder und Par-
lamentarier sowie Funktionsträger von Geheimdiensten in Kiew
die Klinke in die Hand, um den Maidansprechern ihre Auf­
wartung zu machen. Es wurde eine Regierung installiert, deren
Le­gitimität fraglich und die für die sehr unterschiedlichen
­Lan­desteile der Ukraine nicht – wie ursprünglich versprochen –
repräsentativ war.
In der mehrheitlich russischsprachigen Ost- und Südukraine
nahmen viele Menschen angstvoll wahr, wie nationalistische Be-
wegungen, die keinen Hehl aus ihrer Russenfeindlichkeit mach-
ten, in Kiew Oberwasser bekamen. Die durchaus berechtigten
Sorgen der Menschen im Osten und Süden des Landes wurden
in der westlichen Welt jedoch in keiner Weise ernst genommen.
98  Der Showdown

Stattdessen wurde nur auf die russische Propaganda verwiesen,


die übertriebene Ängste vor den «Faschisten» in Kiew schüre.
Es ist zwar richtig, dass die Sorgen der Menschen durch russi-
sche Propaganda verstärkt wurden, aber wie berechtigt diese
Ängste im Grunde waren, zeigen Gräueltaten, die im Westen
kaum Beachtung fanden, weil die Täter nicht ins Bild passten.
So etwa die Vorkommnisse in der ukrainischen Hafenstadt
Odessa. Hier kamen mindestens 48 Menschen zu Tode, und zahl-
reiche wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Ukrainische
Nationalisten hatten sogenannte prorussische Demonstranten
gejagt, ein Gebäude in Brand gesteckt, in das diese sich geflüch-
tet hatten, und sie dann daran gehindert, es zu verlassen.53 Der
Europarat erhob im November 2015 in einem Bericht schwere
Vorwürfe gegen die ukrainische Polizei, die weitgehend passiv
geblieben sei und daher eine Mitschuld trage. Auch kritisierte
der Bericht, dass die Ermittlungen zu diesem Vorfall vom ukrai-
nischen Innenministerium, also der Aufsichtsbehörde der Poli-
zei, geführt und dort verschleppt würden. Im ukrainischen Par-
lament sei unterdessen ein Amnestiegesetz für die Täter von
Odessa eingebracht worden.54 Auch die Besetzung von Rathäu-
sern in der Ostukraine im Februar/März 2014 wurde im Westen
nicht als demokratischer Aufbruch gewertet wie auf dem Mai-
dan in Kiew, sondern entweder verschwiegen oder als illegale
­Aktivität separatistischer, russenfreundlicher Kreise dargestellt.

Eine Regierung aus NATO-Befürwortern

Wie wird die deutliche Parteinahme des Westens für die Aufstän-
dischen des Maidan und gegen den gewählten Präsidenten Janu-
kowitsch auf die russische Seite gewirkt haben? Zumal sich eben
jener Präsident unmittelbar zuvor gegen das EU-­Assozi­ierungs­
abkommen entschieden hatte und niemand im Westen es offen-
bar für nötig hielt, das eigene Vorgehen in der Ukraine mit
­Russland abzustimmen? Liegt die Verantwortung für die nun
Der Showdown 99

fol­gende Konfrontation wirklich einseitig bei Moskau? Ist sie ein


Zeichen für aggressiven russischen Expansionismus oder einen
«Neoimperialismus», wie es gelegentlich heißt?
Um die russische Reaktion besser einordnen zu können, ist es
hilfreich, sich die Zusammensetzung der neuen ukrainischen
Regierung zu vergegenwärtigen, die am 26. Februar 2014 in Kiew
ihre Arbeit aufnahm. Ministerpräsident wurde ebenjener Arsenij
Jazenjuk, den Victoria Nuland in ihrem abgehörten «Fuck the
EU»-Telefonat, das am 4. Februar auf YouTube hochgeladen
worden war, als «unseren Mann» bezeichnet hatte – nebenbei ein
bemerkenswerter Vorgang, dass eine US-­Staatssekretärin und
ein US-­Bot­schaf­ter darüber diskutieren, wer die neue Regierung
eines fremden Landes bilden soll. Es lohnt, sich dieses Telefonat
einmal anzuhören.55 Jazenjuk war ein Mann Juschtschenkos. Er
hatte nicht nur das Schreiben mitunterzeichnet, mit dem die
Ukraine die NATO 2008 um einen Membership Action Plan ge-
beten hatte, er war selber auch 2007 Außenminister gewesen und
hatte zur Zeit Juschtschenkos zahlreiche andere Ämter beklei-
det. In den Berichten der Kiewer US-­Botschaft taucht er wieder-
holt als Informant auf, unterhielt also seit langem gute Bezie-
hungen nach Washington.56
Sein Stellvertreter wurde Boris Tarasjuk, von 2005 bis 2007
erster Außenminister Juschtschenkos und einer der scharfen Be-
fürworter eines möglichst raschen NATO-­Beitritts der Ukraine.
Im Bericht des US-­Botschafters in Kiew nach dem Rücktritt
­Tarasjuks 2007 heißt es: «Tarasjuk drängte sehr an der NATO-­
Front und forderte, so schnell wie möglich einen Schritt in Rich-
tung Membership Action Plan zu unternehmen, um die Grund­
lage zu legen für eine mögliche Einladung zur Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen auf dem NATO-­Gipfel von 2008.»57
Auch andere Minister der neuen Regierung hatten unter
Juschtschenko wichtige Ämter bekleidet. Außenminister wurde
Andrij Deschtschyzja, von 2006 bis 2008 Sprecher des Außen­
ministeriums. Das Ministerium für Energie übernahm Jurij Pro-
dan, der dieses Amt schon von 2007 bis 2010 innegehabt hatte.
100  Der Showdown

Übergangspräsident war bereits am 22. Februar 2014 Olexander


Turtschynow geworden, ein langjähriger Weggefährte Julia Ti­
mo­schenkos, der 2004 dem Wahlkampfstab von Juschtschenko
angehört hatte und von diesem anschließend zum Leiter des
Inlandsgeheimdienstes ernannt worden war. Als Julia Timo-
­
schenko Ende 2007 erneut Ministerpräsidentin wurde und als
eine der ersten Amtshandlungen um den Membership Action
Plan der NATO nachsuchte, war Turtschynow ihr Stellvertreter
gewesen.
In der neuen Kiewer Regierung saßen also Personen, die aus
dem Umfeld Juschtschenkos und Timoschenkos stammten und
die mit dem Vorhaben eines NATO-­Beitritts eng verbunden wa-
ren, das damals mit aller Macht und gegen den Wunsch der Be-
völkerung verfolgt worden war. Ist es völlig abwegig zu vermu-
ten, dass das in Moskau genau registriert wurde? Am 26. Februar
2014 wurde die neue ukrainische Regierung vom Parlament be-
stätigt, am 27. Februar beschloss das Regionalparlament der
Krim das Unabhängigkeitsreferendum.
Es hat damals Stimmen gegeben, die sich über die heftige rus-
sische Reaktion erstaunt zeigten. Dass Russland sich wegen ei-
nes EU-­Assoziierungsabkommens so sehr bedroht fühlen würde,
habe man ja nicht ahnen können. Was dabei übersehen wird, ist,
dass die russischen Maßnahmen auf der Krim und in der Ost­
ukraine gar keine Reaktion auf die EU-­Perspektive der Ukraine
waren. Hätte Präsident Janukowitsch sich am Ende dazu ent-
schlossen, das EU-­Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen,
hätte Russland vermutlich protestiert und vielleicht einige öko­
nomische Vergeltungsmaßnahmen gegenüber der Ukraine be-
schlossen. Aber es wäre sicherlich nicht zur Aufnahme der Krim
in die Russische Föderation gekommen. Dies war eine Reaktion
auf den Sturz des gewählten Präsidenten und die unter undurch-
sichtigen Umständen erfolgte Einsetzung einer Regierung in der
Ukraine, deren wichtigste Protagonisten aus dem Lager der
NATO-­Befürworter der Juschtschenko-­Zeit stammten.
In Moskau herrschte zudem der Verdacht, dass der Westen,
Der Showdown 101

insbesondere die USA, hinter der Absetzung Janukowitschs


steckte, dass es sich also um einen von außen orchestrierten
Staatsstreich nach dem Muster der «Farbenrevolutionen» han-
delte. Dafür gibt es bislang keine sicheren Belege, auch wenn das
abgehörte Nuland-­Telefonat misstrauisch stimmen muss. Es ist
zumindest nicht verwunderlich, dass Moskau diesen Eindruck
bekam und sich entsprechend verhielt. Unberechenbar, unver-
ständlich und überraschend war es jedenfalls nicht. Was hätte
Russland denn unternehmen können, um seinen Interessen in
dieser Situation Gehör zu verschaffen? Erwartete man im Westen
angesichts der Vorgeschichte ernsthaft, Russland würde auch im
Falle der Ukraine nicht viel mehr tun, als sich zu beschweren?
Könnte es sein, dass man von Russland etwas verlangt, wozu kei-
ner der westlichen Staaten selber bereit wäre? Nämlich seine na-
tionalen Interessen einfach selbstlos außer Acht zu lassen?
Diese Fragen zu stellen bedeutet durchaus nicht, sämtliches
Vorgehen Russlands auf der Krim und in der Ostukraine gutzu-
heißen und auf Kritik zu verzichten. Aber es macht bewusst, dass
die Reaktion Moskaus nicht aus heiterem Himmel kam und
dass der Westen Russland keinerlei andere Wege gelassen hat,
auf denen es seine Interessen hätte wirksam zur Geltung bringen
können. Dies wiederum ist substantiell wichtig für die politische
Einschätzung: Handelt Moskau expansiv oder defensiv? Ist
­Putins Politik unberechenbar? Ist heute eine konfrontative oder
eine ausgleichende Politik gegenüber Russland nötig?
Der Philosoph Julian Nida-­Rümelin hat Ende Juli 2014 im
«Stern» treffend gesagt: «Der zentrale und in Variationen immer
sich wiederholende Vorwurf lautet, Russland betreibe eine ‹neo-­
imperialistische› Politik. Eine imperialistische Politik ist darauf
gerichtet, ein Imperium zu errichten, also die Kontrolle von Ter-
ritorien und Nationalitäten auszuweiten.  … Wer das Einfluss­
gebiet der früheren Sowjetunion mit dem des heutigen Russland
vergleicht, sieht einen gewaltigen Schrumpfungsprozess. Russ-
land ist von seiner territorialen Ausdehnung her gesehen immer
noch riesig, aber die Russische Föderation ist von der Bevöl­
102  Der Showdown

kerungszahl, der Wirtschafts- und Militärkraft her gesehen nicht


mehr vergleichbar mit dem Sowjet-­Imperium.  … Die Europäi-
sche Union, ein staatliches Gebilde sui generis mit eigener Ge-
setzgebung und eigener Regierung, wenn auch in einer schwa-
chen Form der europäischen Kommission, eigenem Parlament
und europäischen Parlamentswahlen, hat sich dagegen seit dem
Ende der Sowjetunion gewaltig ausgedehnt. Die Zahl der Mit-
gliedsstaaten hat sich fast verdoppelt, die Wirtschaftskraft ist
die größte der Welt, noch vor den USA und erst recht vor China,
und die Einflusssphäre der EU reicht weit über die Mitgliedsstaa-
ten hinaus. Vor diesem Hintergrund gehört schon eine gehörige
Chuzpe hinzu, von Neo-­Imperialismus gerade im Hinblick auf
Russland zu sprechen. Die USA hat Jahrzehnte hinter sich, in de-
nen sie sich als einzig verbliebene Weltmacht in der Tat imperia-
listisch gebärdete, nämlich mit dem Anspruch, entscheiden zu
können, welche Regimes legitim und welche illegitim sind und
welches gestürzt werden sollte, wie im Irak oder in Libyen, wel-
che dagegen zu unterstützen sind, wie in Saudi-­Arabien oder in
Afghanistan.»58

Werte und Interessen

Dass die russischen Befürchtungen nicht unbegründet waren,


zeigt die anschließende Entwicklung. Unter Präsident Poro-
schenko strebt die Ukraine wieder ganz offiziell sowohl in die EU
als auch in die NATO. Am 28. August 2014 stimmte der Natio-
nale Sicherheits- und Verteidigungsrat dafür, den neutralen
­Status des Landes abzuschaffen, obwohl zu diesem Zeitpunkt
laut Meinungsumfragen immer noch eine Mehrheit der Ukrai-
ner eine NATO-­Mitgliedschaft ihres Landes ablehnte. Tags dar-
auf, am 29. August 2014, erklärte NATO-­Generalsekretär Anders
Fogh Rasmussen, die Ukraine könne, wenn sie die Voraussetzun-
gen erfülle, eines Tages NATO-­Mitglied werden.59 Vier Monate
später, am 23. Dezember 2014, hob das ukrainische Parlament
Der Showdown 103

mit großer Mehrheit den Blockfreienstatus des Landes auf, und


erneut meldete sich ein NATO-­Sprecher zu Wort: Die Ukraine
werde NATO-­Mitglied, wenn sie die Mitgliedschaft beantrage,
die Standards erfülle und die notwendigen Prinzipien befolge.60
Im Herbst 2016 ließ Poroschenko verlauten, er wolle sein Land
bis 2020 NATO-­beitrittsreif machen,61 und im Februar 2017
kündigte er eine Volksabstimmung darüber an, nicht ohne auf
Umfragen zu verweisen, nach denen inzwischen 54 Prozent der
­Ukrainer einen Beitritt befürworteten.62 Angesichts der scharfen
Konfrontation mit Russland in den letzten Jahren im Übrigen
immer noch eine bemerkenswert niedrige Zahl.
Am 26. August 2014, also nachdem das Kind in den Brunnen
gefallen war – nach Ausbruch der Kämpfe in der Ostukraine und
nach der Abspaltung der Krim –, hatten endlich Gespräche zwi-
schen der EU, der Ukraine und der Eurasischen Zollunion über
die wirtschaftlichen Folgen des EU-­Assoziierungsabkommens
begonnen. Ungeachtet dessen wurde es am 16. September 2014
vom ukrainischen sowie vom EU-­Parlament ratifiziert. Und es
trat am 1. Januar 2016 vollständig in Kraft, nachdem die EU im
Vormonat die Verhandlungen mit Russland für gescheitert er-
klärt hatte. Daraufhin kündigte Russland, ebenfalls zum 1. Ja-
nuar 2016, sein Freihandelsabkommen mit der Ukraine. Fortan
wurden in Russland auf ukrainische Waren sieben Prozent Zoll
erhoben.63 Außerdem verhängte Russland ein Importembargo
gegen ukrainische Lebensmittel. Schon 2015 waren die ukraini-
schen Exporte nach Russland drastisch eingebrochen. Aber die-
sen Preis für die Westorientierung war man in Kiew bereit zu
zahlen.64 Die Ukraine verhängte ihrerseits Importsanktionen ge-
gen russische Lebensmittel.
Im Jahr 2016 machte der Handel mit der EU 40 Prozent des
gesamten ukrainischen Handelsvolumens aus, der mit Russland
12 Prozent. 37,1 Prozent der ukrainischen Exporte gingen in die
EU, 9,9 Prozent nach Russland. Damit sind die ukrainischen Ex-
porte nach Russland gegenüber dem Vorjahr erneut um 25,6 Pro-
zent zurückgegangen.65 Auch Erdgas bezieht die Ukraine kaum
104  Der Showdown

noch direkt aus Russland, sondern aus der EU. Dabei handelt es
sich aber um «reverse flows», d. h. um Erdgas, das ursprünglich
aus Russland stammt und über EU-­Gebiet in die Ukraine zu-
rückgeleitet wird.66 Man muss also feststellen, dass die Hinwen-
dung der Ukraine zur EU und die Abkehr von Russland auch
ökonomisch in vollem Gange sind.67 All dies wird übersehen,
wenn nur von europäischen Werten und nicht von Interessen,
seien es geostrategische oder wirtschaftliche, die Rede ist.
In den Hintergrund gerät auch die Frage, ob den Menschen in
der Ukraine diese wirtschaftliche Hinwendung zum Westen
überhaupt nutzt. Gewinnt am Ende vielleicht nur der Westen
­einen Markt hinzu? Es ist zu früh, um über die wirtschaftlichen
Auswirkungen des EU-­Assoziierungsabkommens sichere Anga-
ben machen zu können, und gegenwärtig sind die ukrainischen
Zahlen durch den Konflikt in der Ostukraine stark belastet. Fakt
ist jedenfalls, dass sich die Wirtschaftsleistung pro Kopf nach
heutigen Preisen in den letzten Jahren stark reduziert hat und
2016 nach einer Schätzung des IWF vom April 2017 nur noch bei
2194 US-­Dollar pro Kopf und Jahr lag. Zum Vergleich: Beim
Nachbarn Weißrussland liegt dieser Wert mehr als doppelt so
hoch bei 5143 US-­Dollar. Russland kommt mit 8929 US-­Dollar
gar auf das Vierfache. Besonders bitter für die Ukraine ist, dass
dieser Wert 2013 noch bei 3969 US-­Dollar lag – hier zeigt sich
insbesondere die starke Inflation seitdem.68 Damit liegt das
Land 2016 auf Platz 135 von 190 Ländern, knapp hinter Nigeria
und knapp vor Vietnam.69 Was wird in der Ukraine passieren,
falls die Westperspektive den Menschen keine Wohlstandsge-
winne bringt?

Der Aufstand in Syrien

Statt zu deeskalieren und nach gemeinsamen Wegen aus dem


Konflikt zu suchen, verhängte der Westen Sanktionen gegen
Russland und drehte damit weiter an der Konfliktspirale. Russ-
Der Showdown 105

land stand am Pranger, und die Beziehungen zwischen den west-


lichen Staaten und Moskau waren auf dem Gefrierpunkt an­
gekommen. Doch nun zeigte sich mehr als deutlich, welche
Schwierigkeiten die Konfrontationspolitik mit sich brachte.
Denn letztlich überschätzte der Westen seine Kräfte. Russland
hat weltpolitisch immer noch großen Einfluss und ist eben keine
«Regionalmacht». Um die drängenden Konflikte der Gegenwart
bewältigen zu können, ist eine Kooperation mit Russland unab-
dingbar. Wie problematisch es ist, diesen Sachverhalt zu leugnen
oder zu ignorieren, sollte sich schon bald in Syrien zeigen.
Anfang 2011 hatte der «arabische Frühling» auch Syrien er-
fasst. Teile der Bevölkerung protestierten gegen Präsident Ba-
schar al-­Assad. Zu Beginn wurden nur demokratische Reformen
und politische Freiheiten gefordert, doch das Regime ging bru-
tal gegen die Demonstranten vor, was die Proteste radikalisierte
und letztlich in den Bürgerkrieg führte.
Die syrische Bevölkerung ist in einer schwierigen Lage. In
­ihrem Land herrscht ein Regime, das wirkliche demokratische
Reformen eigentlich nicht gewähren kann, ohne sich selbst und
die tragenden Kräfte des Staates zu gefährden. Der Assad-­Clan
ge­hört zu den Alawiten, die nur etwa 12 Prozent der Bevölkerung
stellen. Die Alawiten, eine religiös definierte Volksgruppe, die
den Schiiten nahesteht, bilden die Basis der politischen Führung
und dominieren den Militär- und Sicherheitsapparat. Die Bevöl-
kerungsmehrheit sind jedoch Sunniten. Sie machen ungefähr
75 Prozent der Bevölkerung aus, etwa 10 Prozent davon sind
Kurden. Mit anderen Worten: 65 Prozent der Syrer sind nicht-­
kur­dische Sunniten. Bleiben insgesamt noch 13 Prozent und die
entfallen auf Christen, Drusen und andere Minderheiten.70
Würde Assad Syrien ernsthaft demokratisieren, wie von den
Demonstranten gefordert, würde mit ziemlicher Sicherheit eine
Partei der nicht-­kurdischen Sunniten an die Macht kommen.
Vergleichbar mit dem Irak, nur umgekehrt: Nach dem Sturz Sad­
dam Husseins ist die Regierungsgewalt durch demokratische
Wahlen von den Sunniten auf die Schiiten übergegangen, die im
106  Der Showdown

Irak die Bevölkerungsmehrheit stellen. Vor dieser völligen Um-


kehrung  – plötzlich sitzt eine Mehrheit, die bislang von einer
Minderheit regiert wurde, an den Schalthebeln der Macht  –
fürchten sich viele, und das sind nicht nur diejenigen, die sich an
den Futtertrögen des Regimes laben, sondern auch Alawiten,
Christen und die übrigen Minderheiten des Landes. Allen Hoff-
nungen auf eine friedliche Demokratisierung Syriens, die früher
auch im Westen mit Baschar al-­Assad verbunden wurden, waren
angesichts des Charakters des Regimes und der Bevölkerungs-
struktur Syriens von vornherein enge Grenzen gesetzt.
Darüber hinaus liegt Syrien im Brennpunkt verschiedener
geopolitischer Interessen, so dass ein Bürgerkrieg immer auch
auswärtige Mächte in den Konflikt hineinziehen muss. Syrien ist
Teil des sogenannten schiitischen Halbmondes, der von Bahrain
über den Iran und den Irak bis in den Libanon reicht. Über
­Syrien laufen zudem die Waffenlieferungen des Iran an die liba-
nesische Schiitenmiliz Hisbollah, einen der wichtigsten Feinde
­Israels. Der Kampf zwischen den Sunniten mit ihrer Führungs-
macht Saudi-­Arabien und den Schiiten mit ihrer Führungs-
macht Iran um die Vorherrschaft in der Region prägt die Kon-
flikte des Nahen und Mittleren Ostens schon eine ganze Weile.
Im Gegensatz zu den anderen Ländern des schiitischen Halb-
mondes besitzt Syrien aber eben eine sunnitische und keine schii­
tische Bevölkerungsmehrheit. Das macht das Land so attraktiv
für alle Pläne, die es darauf anlegen, einen wichtigen Baustein
aus dem schiitischen Halbmond herauszulösen.
Ebenso wie der Iran, der Irak und die Türkei hat Syrien zu-
dem – wie schon erwähnt – eine starke kurdische Minderheit. Als
die Kolonialmächte England und Frankreich nach dem Ersten
Weltkrieg die Grenzen in diesem Teil der Erde neu gezogen ha-
ben, wollte man den Kurden keinen eigenen Staat geben und hat
den dringenden Wunsch dieser Bevölkerungsgruppe nach Eigen­
staatlichkeit komplett ignoriert – ein Fehler, der die Region bis
heute destabilisiert. Seit dem Zerfall des irakischen Staates, aus-
gelöst durch die amerikanische Invasion von 2003, gibt es de
Der Showdown 107

facto einen kurdischen Staat auf irakischem Territorium. Für die


Türkei, die zurzeit wieder brutal gegen ihre kurdische Minderheit
vorgeht, wäre ein Zusammenschluss dieses irakischen «Kurden-
staates» mit syrischen Kurdengebieten ein Horrorszenario. Ge-
nauso schlimm wäre aus ihrer Sicht aber die Entstehung eines de
facto unabhängigen «Kurdenstaates» in Syrien, da die kurdische
PKK71 diese Gegend bereits jetzt als Rückzugsgebiet nutzt, wenn
sie der Verfolgung in der Türkei entgehen will. Hinzu kommt,
dass Präsident Erdogan aus Gründen, die wohl nur ihm selbst
einleuchten, glaubt, die Türkei müsse sich wieder als re­gionale
Vormacht etablieren, wie in Zeiten des Osmanischen Reiches.
Und schließlich sind all diese Konflikte zurückgekoppelt an
die Konfrontation zwischen den USA und Russland. Denn Russ-
lands Verbündete in der Region sind Syrien und Iran, während
die USA eng mit Saudi-­Arabien zusammenarbeiten und natür-
lich auch mit Israel und dem NATO-­Partner Türkei verbunden
sind. Dass das syrische Volk frei und demokratisch und ohne
Einflussnahme von außen über sein Schicksal entscheidet, ist
angesichts dieser Gemengelage nahezu unmöglich – eine bittere
Erkenntnis.
Es musste allen Beteiligten klar sein, welche Risiken ein Bür-
gerkrieg in Syrien für das Land selbst und die gesamte Region
bedeutete. Es hätte alles getan werden müssen, um genau das zu
verhindern. Sicher trägt Assad einen gewichtigen Teil der Verant-
wortung für die katastrophale Entwicklung. Das Regime in Da-
maskus war schon in der Vergangenheit, unter Baschars Vater
Hafiz, nicht zimperlich, wenn es seine Machtbasis herausgefor-
dert sah. In dieser Tradition handelte schließlich auch der Sohn:
mit brutalen Mitteln die Bevölkerung davon abhalten, die Macht
des Regimes infrage zu stellen. Doch auch hier ist das nicht die
ganze Geschichte.
Der amerikanische Nahostexperte Robert Baer, ein ehema­liger
CIA-­Agent, behauptete schon Mitte August 2011 in einem Inter-
view mit «ZEIT Online», dass Saudi-­Arabien und die Türkei sich
zunehmend in die inneren Angelegenheiten Syriens einmisch-
108  Der Showdown

ten: «Die Türkei und Saudi-­Arabien sind sunnitische Staaten,


während der syrische Präsident ein enger Verbündeter des Irans
und der Hisbollah im Libanon ist. Die Türkei versucht diese
schiitische Allianz zu schwächen, um das eigene Einflussgebiet
zu erweitern. Diese Interessen decken sich mit Saudi-­Ara­bien,
dem sunnitisch-­wahhabitischen Gottesstaat und Feind des schii­
tischen Irans.» Baer wies bereits zu diesem frühen Zeitpunkt da-
rauf hin, dass die Aufständischen von Sunniten aus der Region,
unter anderem aus der Türkei, mit Waffen versorgt würden.72
Welches Ausmaß diese frühen Hilfen tatsächlich hatten, ist
schwer abzuschätzen. Es gibt auch Berichte, die nahelegen, dass
die Waffenlieferungen zunächst überschaubar blieben. So oder
so, es ist nicht einfach, sich in einem Land von über 180 000 Qua-
dratkilometern (halb so groß wie Deutschland) mit über 20 Mil-
lionen Einwohnern in einer so unübersichtlichen S ­ituation
73
­einen allgemeingültigen Überblick zu verschaffen. Man wird
wohl nie wissen, ob Assad die Proteste im Laufe des Jahres 2011
niedergeschlagen hätte, wenn die Unterstützung aus dem Aus-
land ausgeblieben wäre.74 In Kenntnis dessen, was die syrische
Bevölkerung seitdem erleiden musste, wäre das vielleicht – und
das ist nicht zynisch gemeint – das kleinere Übel gewesen.
Stattdessen bildete sich im Juli 2011 die «Freie Syrische Ar-
mee» (FSA), und die Kämpfe eskalierten. Die FSA darf man sich
im Übrigen nicht wie eine straff organisierte Truppe vorstellen.
Eher war sie eine Art Franchiseunternehmen, zu dem sich un­
terschiedliche lokale Gruppen bekannten, ohne dass damit die
Anerkennung einer zentralen Führung verbunden gewesen wäre.
Die Kämpfer rekrutierten sich zunächst überwiegend aus der
­lokalen Bevölkerung, anfangs vor allem in ländlichen Regionen,
und es waren fast ausschließlich nicht-­kurdische Sunniten. Ver-
einzelt kamen desertierte Soldaten aus Assads Streitkräften
hinzu.75 Zu keinem Zeitpunkt jedoch, und das ist wichtig im
Kopf zu behalten, erfasste der Aufstand sämtliche nicht-­kur­di­
schen Sunniten des Landes, geschweige denn «das» syrische Volk
als Ganzes.
Der Showdown 109

Syrien und der Westen

Und was tat der Westen? Bereits am 18. August 2011 forderten


Barack Obama, Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und David Ca-
meron erstmals, Baschar al-­Assad müsse zurücktreten.76 Auf
diese Weise war die Vorbedingung für alle weiteren Gespräche
um die Zukunft Syriens zementiert. Damit stellten sich die west-
lichen Regierungen klar auf eine Seite und vergaben ohne Not
die Chance, als Mittler zwischen den unterschiedlichen an Sy-
rien zerrenden Interessen auftreten zu können. Wie sinnvoll war
das, und warum legte sich der Westen so früh fest? Und vor
­allem: Warum erhob der Westen diese Forderung, ohne sich vor-
her mit Russland abzustimmen und sicherzustellen, dass Mos-
kau eine Ablösung Assads mittrug?
Syrien, daran muss vielleicht erinnert werden, war schon zu
Zeiten des Kalten Krieges ein Verbündeter der Sowjetunion.
Durch mehrere von der CIA organisierte Putschversuche, die
­darauf abzielten, ein den USA genehmes Regime in Damaskus
zu installieren, hatte Washington Syrien geradezu in die Arme
Moskaus getrieben.77 Auch unter Baschar al-­Assad bestanden
besondere, nicht immer spannungsfreie Beziehungen zu Russ-
land. Moskaus einzige Marinebasis im Mittelmeer befindet sich
in Tartus in Syrien. Da Moskau beim Regimechange in Libyen
stillgehalten hatte, rechnete man in Washington offenbar damit,
auch in Syrien keine Rücksicht auf russische Interessen nehmen
zu müssen. Doch Moskau hatte seine eigenen Schlüsse aus dem
Sturz Ghaddafis in Libyen gezogen, nämlich dass der Westen hu-
manitär motivierte Resolutionen des UN-­Sicherheitsrates als
Deckmantel für Regimechange nutzt. Außerdem stellte sich spä-
ter heraus – nach dem Sturz des libyschen Regimes und der bes-
tialischen Ermordung Ghaddafis im Oktober 2011 –, dass Russ-
land in keiner Weise an der Neugestaltung des Landes beteiligt
wurde, die in einem völligen Fiasko endete.
Daher zeigte und zeigt sich Moskau – zusammen mit China –
110  Der Showdown

sehr reserviert gegenüber allen Versuchen, im UN-­Sicherheitsrat


gegen Assad vorzugehen. Denn man befürchtete in Moskau,
dass damit ein Prozess eingeleitet würde, der am Ende auf ein
ähnliches Szenario wie in Libyen hinauslaufen könnte. Eine sol-
che Deutung hatten die wichtigsten politischen Führer des Wes-
tens allerdings selber dadurch nahegelegt, dass sie gemeinsam
den Sturz Assads zum Ziel erklärten.
Als Russland am 4. Oktober 2011 zusammen mit China eine
Sicherheitsratsresolution78 blockierte, die Assad mit Sanktionen
drohte, erklärte der russische UN-­Botschafter, dies liege an un-
terschiedlichen politischen Herangehensweisen. Der «konfron-
tative Ansatz» der Resolution verhindere eine «friedliche Lösung
der Krise». Die Resolution könne eine Tür öffnen für eine Inter-
vention wie in Libyen.79 Die Botschafterin der USA bei der UN
sprach dagegen von einem «billigen Trick von denen, die lieber
Waffen an das syrische Regime verkaufen, als an der Seite des
­syrischen Volkes zu stehen».80 Auf diesem Altar opfere Russland
jegliche humanitären Überlegungen. Tatsächlich hat Russland
damals und in der Folge Waffen an Assad geliefert und damit
dazu beigetragen, ihn an der Macht zu halten. Und sicherlich
hatte das, neben anderen Gründen, auch mit ganz nüchternen
geostrategischen Interessen zu tun. Doch unterscheidet das
Russland wirklich vom Westen?
Offiziell geht es der westlichen Politik nur um das Wohl «des»
syrischen Volkes und um die Einhaltung von Menschenrechten.
Doch ist das wirklich alles? Wenn die Niederschlagung eines
Aufstands, so wie Assad es versucht hat, nicht zu tolerieren ist,
was war dann mit Bahrain? Auch dort hatte der «arabische Früh-
ling» Proteste inspiriert. Doch im März 2011 hat Saudi-­Arabien
zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten den Auf-
ständen im Nachbarland durch eine Militärintervention ein
Ende bereitet. Es gab mehrere Tote, Hunderte Verletzte und viele
Verhaftungen. Hierzu muss man wissen, dass in Bahrain die Be-
völkerungsmehrheit schiitisch, das Königshaus aber sunnitisch
ist. Eine Demokratisierung des Landes lag daher nicht im saudi-
Der Showdown 111

schen Interesse. Konsequenzen wie in Syrien hatte es nicht. Das


saudische Vorgehen hinderte die deutsche Bundesregierung
2011 nicht einmal daran, eine Voranfrage der Saudis zu Waffen-
lieferungen positiv zu bescheiden. Dabei ging es um den Kampf-
panzer Leopard 2 in der modernsten, für den Städtekampf be-
sonders geeigneten Version. Nach dem Regierungswechsel 2013
und der Bildung der großen Koalition kam es dann allerdings
doch nicht zu der Waffenlieferung.81
Und was ist mit dem Krieg, den Saudi-­Arabien gegen die Zivil-
bevölkerung im Jemen führt? Wo bleiben die vergleichbare Kri-
tik und das westliche Engagement im Sinne der Menschen-
rechte, weil «man nicht untätig zusehen darf»? Inzwischen sind
im Jemen fast 20 Millionen Menschen auf internationale Hilfen
angewiesen, das sind zwei Drittel der Bevölkerung. Etwa sieben
Millionen Jemeniten hungern, vielen von ihnen droht der Hun-
gertod.82
Im Jemen ist die Bevölkerungsmehrheit sunnitisch, aber eine
starke Minderheit von mehr als einem Drittel schiitisch. Seit
2012 hatte sich die staatliche Autorität der Zentralregierung
mehr und mehr aufgelöst. Zahlreiche Milizen kämpften mitein-
ander, darunter Al-Qaida und die schiitische Huthi-­Miliz, die
­gegenwärtig die beiden stärksten Gruppierungen bilden. Als die
Huthi-­Miliz die Hauptstadt Sanaa eroberte und im Februar 2015
eine Übergangsverfassung verkündete, begann im März 2015 der
saudisch geführte Angriff – der Jemen sollte nicht in die Hand
von Schiiten fallen.
Kann man wirklich glauben, dass die geopolitischen Dimen­
sionen des Konflikts in Syrien westlichen Akteuren nicht be-
wusst waren? Oder sind vielleicht gerade die geopolitischen Di-
mensionen der Grund für die harte Haltung gegenüber Baschar
al-­Assad und nicht die Menschenrechte? George W. Bush hatte
das Land 2002 auf seiner «Achse des Bösen» angesiedelt. Ein Re-
gimechange in Syrien stand schon seit längerer Zeit auf Wa­
shingtoner Wunschlisten weit oben. Dabei ging es zum einen um
die Sicherheit Israels, zum anderen darum, den Iran zu schwä-
112  Der Showdown

chen, den die USA selber – quasi als Kollateralschaden – unge-


wollt gestärkt hatten, weil im Anschluss an die amerikanische
Invasion im Irak 2003 die dortige schiitische Mehrheit an die
Macht kam, also die Glaubensbrüder der Bevölkerungsmehrheit
im Iran.83 Zumindest ein Teil der Obama-­Administration, allen
voran die Außenministerin Hillary Clinton, scheint geglaubt zu
haben, die Gunst der Stunde nutzen zu können. Die Falken hat-
ten jedoch ein Problem: Präsident Obama zögerte, die USA in
­Syrien aktiv in einen weiteren Krieg zu verwickeln, zumal davon
auszugehen war, dass Russland und China eine entsprechende
Resolution des Sicherheitsrats verhindern würden. Und damit
wären militärische Maßnahmen nicht legitimiert gewesen, so
dass ein Einsatz der US-­Streitkräfte gegen das Völkerrecht ver-
stoßen hätte.
Anders als seine Außenministerin hatte Obama aber auch
seine Schlüsse gezogen aus dem Desaster, das in Libyen auf den
Sturz des Diktators gefolgt war. Die Erfahrung in Libyen, sagte
er 2014 der «New York Times», sei eine Lehre, die er nun jedes
Mal anwende, wenn er die Frage stelle, ob die USA militärisch
­intervenieren sollten. «Haben wir eine Antwort für den Tag
­danach?»84 Libyen, so wird ein Mitarbeiter zitiert, habe Obama
darin bestärkt, in Syrien nicht robuster zu intervenieren, weil er
keine Antwort darauf gefunden habe, was passiere, nachdem
man den syrischen Staat eliminiert habe.85 Jedenfalls verweigerte
sich Obama nicht nur den Forderungen nach einem direkten
militärischen Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg, wie sie
etwa der Republikaner John McCain erhob, sondern auch der
Einrichtung einer Flugverbotszone, die vielfach angemahnt
wurde und für die auch Hillary Clinton seit dem Sommer 2012
eintrat.86
Konsequent zu Ende gedacht, hätten diese Bedenken dazu
führen müssen, den Rücktritt Assads als politisches Ziel aufzu-
geben und die Türkei, Saudi-­Arabien und Katar daran zu hin-
dern, die Rebellion zu unterstützen. Wenn Obama zu Recht eine
Entwicklung wie in Libyen fürchtete, dann hätte er das Assad-­
Der Showdown 113

Regime stabilisieren müssen, um die Kämpfe schnellstmöglich


zu beenden. Dadurch hätte sich die Möglichkeit eröffnet, mit
Russland gemeinsam Druck auf das Regime auszuüben, damit
grundlegende Menschenrechte eingehalten werden. Aber um zu
dieser realpolitischen Einsicht vorzustoßen, war das Gedanken-
gut der amerikanischen Demokratisierungspolitik offenbar zu
tief verankert, und zumindest am Anfang dürften auch die Illu-
sionen eine Rolle gespielt haben, mit denen man im Westen dem
«arabischen Frühling» grundsätzlich begegnete.
Nur einmal in all den Jahren des syrischen Bürgerkriegs sah es
kurz danach aus, als könnten sich die Falken durchsetzen, und
das war nach dem Giftgaseinsatz von Ghouta, ein Vorort von
Damaskus, im August 2013. Es gab Hunderte Tote, manche
Quellen sprechen von fast 2000 Toten. Die Urheberschaft schien
klar: das Assad-­Regime, wer sonst? Obama hatte Giftgaseinsätze
zur roten Linie erklärt, und der politisch-­moralische Druck, end-
lich militärisch direkt gegen Assad vorzugehen, stieg, unter be-
merkenswerter Mithilfe der Medien. Es wurde viel von Beweisen
geredet  – sowohl in der Politik als auch in den Medien  –, aber
keine vorgelegt. Bis heute ist der Vorfall nicht letztgültig ge-
klärt.87 Jedenfalls war in den USA alles für einen vernichtenden
Schlag vorbereitet. Doch Obama blies das geplante Unterneh-
men gewissermaßen fünf vor zwölf wieder ab. Über die Gründe
kann nur spekuliert werden. Offenbar war er von James Clapper,
dem Geheimdienstkoordinator im Weißen Haus, gewarnt wor-
den, dass die Schuld Assads nicht so eindeutig erwiesen sei, wie
die Falken es darstellten.88 Ob das den Ausschlag gab, muss aber
­offenbleiben. Vielleicht schreckte er auch vor den möglichen
Weiterungen eines solchen Schrittes zurück. So oder so: Bis zum
Luftschlag durch Präsident Trump im April 2017 blieb es dabei,
dass die USA Assad nicht selber angriffen – abgesehen von der
«versehentlichen» Bombardierung von Regimetruppen in Deir
as-­Sor am 17. September 2016, bei der über 90 Soldaten getötet
und über 100 weitere verwundet wurden. Seit September 2014
flog die US-­Luftwaffe zwar Einsätze auf Stellungen des Islami-
114  Der Showdown

schen Staates in Syrien, aber eben nicht auf Einheiten der syri-
schen ­Armee.
Ist das Problem der amerikanischen Syrienpolitik also tatsäch­
lich, wie Obama vielfach vorgeworfen wird, dass sie zu zurück-
haltend war? Es ist zwar richtig, dass der Präsident dem Drängen
der Falken nach einer direkten militärischen Intervention wider-
stand, doch das heißt nicht, dass sich die USA aus dem Konflikt
komplett herausgehalten hätten. Sie unterstützten die Rebellen
auf vielfältige Weise, und Obama ließ sich von den Falken in
­seiner Administration mehr und mehr in den Konflikt hinein­
ziehen.

Öl ins Feuer

Wenig bekannt ist, dass Washington schon in den Jahren vor


dem Ausbruch der Unruhen die syrische Opposition insgeheim
finanziell unterstützte. Unter anderem finanzierten die USA
­einen oppositionellen Fernsehsender, Barada TV, der im April
2009 auf Sendung ging.89 Doch auch zahlreiche zivilgesellschaft-
liche und politische Gruppen in, aber insbesondere auch außer-
halb Syriens wurden heimlich unterstützt, indem die Geld-
ströme über NGOs, Nichtregierungsorganisationen, umgeleitet
wurden. Wie viel genau floss, ist unbekannt. Allein zwölf Millio-
nen US-­Dollar wurden zwischen 2005, als George W. Bush den
Botschafter aus Damaskus zurückrief, und 2010 aus der Middle
East Partnership Initiative (MEPI) verteilt und über Institutio-
nen geleitet wie das Aspen Institute in Berlin, das Democracy
Council of California oder das International Republican Insti-
tute.90 Weitere fünf Millionen US-­Dollar flossen 2006 zur Unter-
stützung unabhängiger Kandi­daten bei den Parlamentswahlen
in Syrien von 2007.91 Wie auf Wikileaks eingestellte Berichte der
US-­Vertretung in Damaskus enthüllen, lebten die Diplomaten,
die im Verborgenen enge Kontakte zu zentralen Figuren der syri-
schen Opposition unterhielten, in ständiger Angst, die syrischen
Der Showdown 115

Geheimdienste könnten die verschleierten Geldströme aufde-


cken.92 Tatsächlich wurde zum Beispiel Ende 2009 der Direktor
von Barada TV verhört, der aber dichthielt.93
Dass die USA weltweit zivilgesellschaftliche Gruppen und
­demokratische Kräfte unterstützen, weiß man, obwohl sonst
­politische Oppositionsgruppen angeblich nicht direkt gefördert
werden, wie es aber in Syrien passierte. Umstritten ist, welchem
Ziel diese Aktivitäten dienen. Die Erfahrungen mit den Revo­lu­
tionen in Serbien, Georgien, der Ukraine und Kirgistan haben in
Moskau dazu geführt, dass die amerikanische Demokratisie-
rungspolitik für die zivile Variante des Regimechange gehalten
wird. Damaskus sah das ähnlich. Deshalb wurde die US-­Bot­
schaft genau überwacht. Washington hingegen behauptet, es
gehe nur um das Wohl der Menschen.
Ein Bericht der US-­Vertretung in Damaskus vom 28. April
2009 macht deutlich, dass die Demokratisierungspolitik für
beide Zwecke eingesetzt werden kann und eingesetzt worden ist.
Da der frisch gewählte Präsident Obama eine Neuorientierung
der Syrienpolitik erwog, schickten die Diplomaten entspre-
chende Vorschläge. «Die US-­Politik könnte weniger auf ‹Regime-
change› abzielen und mehr darauf, ‹Verhaltensänderung› zu
­befördern», hieß es dort, womit gemeint war, das Regime nicht
zu stürzen, sondern es zu ermuntern, sich weniger repressiv zu
verhalten. Wenn dies die neue Marschrichtung sein solle, so die
Nachricht weiter, dann biete sich eine «Neubewertung der ge-
genwärtigen US-­finanzierten Programme an, mit denen die Anti-
regierungsgruppen innerhalb und außerhalb Syriens unter-
stützt» würden. Denn: «Einige Programme könnten, wenn sie
öffentlich würden, als Versuche, die syrische Regierung zu unter-
minieren, wahrgenommen werden und nicht als Versuche, deren
Verhalten zu ändern.»94
Diese Aussagen sind sehr bemerkenswert, denn sie belegen,
dass zumindest unter George W. Bush das Ziel der Demokrati-
sierungspolitik in Syrien der Regimechange war, was Washing-
ton immer abgestritten hat. Dazu passt ein Bericht vom ­De­zem­ber
116  Der Showdown

2006, in dem der damalige Geschäftsträger der US-­­Botschaft


v­ erschiedene Strategien durchspielte, mit denen sich das Regime
destabilisieren ließe, etwa die Ängste der Sunniten vor irani-
schem Einfluss zu verstärken oder internationale Me­dienberichte
zu lancieren, in denen das Regime angeprangert würde  – alles,
um neue «Möglichkeiten» für die US-­Politik zu schaffen.95 Mög-
lichkeiten wozu? Assad loszuwerden? Hinter den Kulissen dräng-
ten zudem Saudi-­Arabien und Saad Hariri ihrerseits auf ei-
nen Regimechange in Syrien.96 Saad Hariri ist der Sohn des
ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri,
der im Februar 2005 ermordet wurde. Dieser Mord löste die
­«Zedernrevolution» aus. Die damalige prosyrische Regierung
des Libanon wurde auf diese Weise beseitigt, und Syrien musste
nach fast 30 Jahren seine Truppen aus dem Libanon abzie-
hen.97 Seitdem ist Saad Hariri der starke Mann der libane­sischen
Politik.
Ob diese Programme zur Destabilisierung des Assad-­Regimes
unter Obama fortgesetzt wurden, ist unklar, da die bei Wikileaks
eingestellten Dokumente nur bis Anfang 2010 reichen. Ein Be-
richt vom Februar 2010 legt aber nahe, dass die geheime Finan-
zierung andauerte.98 Doch auch wenn Obama einen ehrlichen
Neustart mit Syrien suchen wollte, wofür die erneute Ernen-
nung eines US-­Botschafters 2010 spricht, so erklärt diese Vorge-
schichte doch, warum sich die USA beim Ausbruch der Unruhen
so schnell auf die Seite der Demonstranten schlugen und warum
sie insbesondere der Exilopposition so großes Gewicht einräum-
ten: Es waren über die Jahre enge Verbindungen gewachsen, und
man hatte schließlich lange gemeinsam genau an dem Ziel ge­
arbeitet, das nun zum Greifen nah schien.
Doch ab wann unterstützten die USA die Aufständischen
auch mit Waffen? Im Juni 2013 verkündete die Obama-­Ad­mi­
nistration, in Zukunft auch ganz offiziell Waffen an die Oppo­
sition liefern zu wollen. Das hing mit den Giftgaseinsätzen zu-
sammen, die dem Assad-­Regime zugeschrieben wurden. Hieraus
entwickelte sich ein CIA-­Programm, in das jährlich eine Milli-
Der Showdown 117

arde Dollar flossen und das zusammen mit anderen Unterstüt-


zerstaaten  – Saudi-­Arabien, Katar und der Türkei  – eine Art
Bestellservice für Rebellengruppen einrichtete. Der hatte alles
außer schweren Waffen und tragbaren Boden-­Luft-­Raketen im
Angebot.99 Über Letztere war diskutiert worden, und es gibt
auch Berichte, die vereinzelte Lieferungen nahelegen.100 Doch
kann eine Versorgung der Rebellen im großen Stil nicht erfolgt
sein, denn sonst hätten sie mehr Hubschrauber und Flugzeuge
des Regimes abschießen müssen. Der Grund für die Zurück­
haltung bei der Belieferung mit solchen Waffen ist einfach: In
die falschen Hände gelangt, hätten diese sogenannten Manpads
auch dazu verwendet werden können, Terroranschläge zu be­
gehen, etwa gegen israelische Zivilflugzeuge. Erst Ende 2016,
nach der Wahl Donald Trumps, beschloss der US-­Kongress, dass
künftig auch Manpads geliefert werden dürfen. Zumindest
denkbar ist, dass damit der Spielraum des neuen amerikani-
schen Präsidenten mit Blick auf Russland eingeengt werden
sollte. Denn auch russische Flugzeuge in Syrien können natür-
lich Opfer der Manpads werden. Und so nahm denn Moskau
­diesen Beschluss auch als «unfreundlichen Akt» wahr.101 Im
­September 2014 hatte Washington zusätzlich ein Trainingspro-
gramm aufgelegt, das jährlich etwa 5000 «moderate» Rebellen
militärisch ausbilden sollte und das mit 500 Millionen US-­
Dollar ausgestattet war.102
Doch gibt es auch Hinweise, dass die USA schon sehr früh,
eventuell schon seit Herbst 2011, in Waffenlieferungen an die
Rebellen verwickelt waren. Bekannt ist, dass sich CIA-­Mitarbeiter
im Juni 2012 «seit einigen Wochen» im Süden der Türkei auf-
hielten und dabei halfen, von Saudi-­Arabien, Katar und der Tür-
kei finanzierte Waffen an die Rebellen zu verteilen.103 Bekannt ist
auch, dass Obama zuvor eine Geheimorder unterzeichnet hatte,
die es der CIA erlaubte, die Rebellen zu unterstützen – allerdings
zumindest offiziell nicht durch Waffenlieferungen.104 Unklar ist
aber, wie weit die CIA tatsächlich gegangen ist.
Am 11. September 2012 kam es in Benghasi in Libyen zu ei-
118  Der Showdown

nem Terroranschlag auf die dortige diplomatische Vertretung


der USA. 150 Bewaffnete stürmten die Anlage. Am Ende waren
vier Amerikaner tot, darunter der gerade in Benghasi weilende
US-­Botschafter in Libyen. Was folgte, war eine offizielle Vertu-
schungsaktion, die auch durch einen Untersuchungsausschuss
des Kongresses nicht aufgeklärt werden konnte. Es kam jeden-
falls ans Licht, dass es in Benghasi neben den «normalen» Ge-
bäuden auch einen zusätzlichen Komplex gegeben hatte, in dem
eine unbekannte Zahl an CIA-­Agenten arbeitete. Woran genau,
konnte nicht geklärt werden, da die Regierung großen Druck auf
alle Beteiligten ausübte. Indizien weisen aber darauf hin, dass sie
etwas mit dem Einsammeln und Verschicken von Waffen zu tun
hatten, die nach dem Sturz des Ghaddafi-­Regimes von Libyen
nach Syrien verschifft wurden.105
Der Organisation Judicial Watch, eine konservative amerika-
nische Stiftung, die gegen Machtmissbrauch durch Regierungs-
stellen vorgeht, gelang es, über den Freedom of Information Act
an geheime Dokumente zu kommen. Eines davon ist ein Bericht
der DIA, des Militärgeheimdienstes der USA, vom Oktober 2012.
Darin heißt es, nach dem Sturz Ghaddafis seien von «Oktober
2011 bis Anfang September 2012 in Ben­ghasi gelagerte Waffen
aus den früheren Beständen der libyschen Armee von Benghasi
in die Häfen Banias und Bortsch Islam in Syrien geliefert» wor-
den. Allein Ende August 2012 seien «500  Scharf­schützengewehre,
100 Panzerfäuste mit 300 Schuss und etwa 400 Haubitzenge-
schosse» verschifft worden.106 Der stark geschwärzte Bericht spe-
zifiziert nicht, von wem diese Waffen geliefert wurden. Da sich
der US-­Botschafter in Libyen kurz vor seinem Tod mit einem li-
byschen Reeder und dem türkischen Generalkonsul traf, liegt es
nahe, dass die USA direkt involviert waren.107 Es ist aber mög-
lich, dass sie auch hier nur im Hintergrund blieben und Liefe-
rungen begleiteten, die von anderer Seite, etwa der Türkei oder
Katar, durchgeführt wurden.108 Diese frühe Route von Waffen-
lieferungen aus Libyen an die syrische Opposition wurde jeden-
falls nur bekannt, weil die US-­Vertretung in Benghasi aus ganz
Der Showdown 119

anderen Gründen von Al-­Qaida-­Terroristen angegriffen worden


war.109
Im Endeffekt betrieb Obama eine problematische, halbher-
zige Syrienpolitik. Zwar scheute er zu Recht davor zurück, Assad
durch eine völkerrechtlich nicht legitimierte militärische Inter-
vention zu stürzen – und das ist allein schon wegen der damit
verbundenen unabsehbaren Weiterungen eine große Leistung.
Gleichzeitig aber machte er keinen Hehl daraus, sich den Auf-
ständischen gegenüber verpflichtet zu fühlen, und forderte sehr
früh den Rücktritt Assads, wodurch der diplomatische Spiel-
raum unnötig begrenzt wurde. Zudem ließ er sich von den
­Falken in seiner Administration immer mehr in den Konflikt
hin­einziehen und genehmigte schließlich umfangreiche Waffen-
lieferungs- und Ausbildungsprogramme, ohne jedoch schwere
Waffen zur Verfügung zu stellen oder die Rebellen mit Boden-­
Luft-­Raketen zu versorgen. Das bedeutete in der Konsequenz:
Die Unterstützung der Rebellen war zu stark, als dass diese hät-
ten besiegt werden, aber auch zu schwach, als dass sie sich hätten
durchsetzen können. Das Ergebnis: Der blutige Bürgerkrieg ging
immer weiter, die Gewalt setzte sich fest, und die Kämpfer radi-
kalisierten sich.
Diese Strategie hätte nur dann Erfolg haben können, wenn
sich ­Assad gewissermaßen im Vorbeigehen hätte stürzen lassen,
wie es einige Beobachter vielleicht gehofft hatten. Tatsächlich
sah es zeitweise so aus, als sei sein Fall nur noch eine Frage der
Zeit. Doch das erwies sich als fatale Fehlkalkulation. Zum einen
besaß Assad deutlich mehr Rückhalt in der Bevölkerung als
­erwartet. Und zum anderen zog er sich taktisch klug auf sein
Kern­gebiet zurück und machte nicht den Fehler, seine Kräfte in
dem Versuch zu zersplittern, das ganze Land zu halten. Das ließ
ihn schwächer erscheinen, als er tatsächlich war. Zudem hatte
man im Westen offenbar nicht einkalkuliert, dass Russland, aber
auch der Iran sich nicht bloß beschweren, sondern ihren Verbün-
deten Assad gegen den Willen des Westens unterstützen würden.
Eine verantwortungsvolle Politik hätte sich das vor Augen füh-
120  Der Showdown

ren müssen, bevor sie sich einseitig auf den Sturz Assads fest-
legte.
Machen wir aber noch einmal die Gegenprobe: Was wäre denn
passiert, wenn Russland und der Iran Assad fallen gelassen und
sich die Rebellen dank der ausländischen Hilfe durchgesetzt hät-
ten? Dann hätte Obama vor genau der mit Libyen vergleichbaren
Situation gestanden, die er eigentlich vermeiden wollte: viele
­unterschiedliche bewaffnete Gruppen, überhaupt viel zu viele
Waffen im Land, verschiedenste Clane und Loyalitäten, eine zer-
strittene Opposition, Exilpolitiker ohne Bindung in die Heimat,
die von außen eingesetzt werden, eine Bevölkerung ohne Erfah-
rung mit einer freien Demokratie und praktisch ohne funktio-
nierende Zivilgesellschaft, die sich ja unter dem repressiven
Assad-­Regime nicht hatte entfalten können. Allein diese noch
nicht einmal vollständige Aufzählung bietet schon alle nötigen
Zutaten für Chaos und Staatszerfall. Dass aus dieser Gemenge-
lage eine Demokratie entstehen würde, muss auch Obama als
unwahrscheinlich erschienen sein. Nur zog er aus dieser bitteren
Einsicht keine Konsequenzen. Letztlich goss er mit seiner Politik
Öl ins Feuer, anstatt es zu löschen.
Wladimir Putin hat die Schwächen der westlichen Syrienpoli-
tik offenbar sehr kühl analysiert und sie gnadenlos ausgenutzt.
Als er infolge der Ukrainekrise international isoliert war, brachte
er sich über Syrien zurück ins Spiel. Im September 2015 griffen
russische Streitkräfte, insbesondere der Luftwaffe, auf Bitten der
syrischen Regierung und damit völkerrechtskonform in den
­syrischen Bürgerkrieg ein. Offiziell hieß es, Russland beteilige
sich am Kampf der internationalen Koalition unter der Führung
der USA gegen den «Islamischen Staat», der das Chaos in Syrien
genutzt hatte, um den Osten des Landes weitgehend unter seine
Kontrolle zu bekommen.
Tatsächlich darf man dieses Anliegen nicht so leichtfertig vom
Tisch wischen, wie es damals rasch geschah. Russland hat selber
seit geraumer Zeit ein Problem mit islamistischen Terroristen.
Nicht wenige Kämpfer des IS kamen aus Tschetschenien, und es
Der Showdown 121

war zu befürchten, dass sie anschließend noch weiter radikali-


siert in ihre Heimat zurückkehren würden. In seiner Rede in
New York zum 70. Jahrestag der Vereinten Nationen am 28. Sep-
tember 2015 schlug Putin daher eine breite Koalition gegen den
IS vor: «Wie die Anti-­Hitler-­Koalition könnte sie in ihren Reihen
unterschiedlichste Kräfte vereinen, die bereit sind, denjenigen
entschieden entgegenzutreten, die wie die Nazis das Böse und
die Menschenverachtung säen.»110
Natürlich ging es Russland auch darum, das Assad-­Regime zu
stabilisieren und es in die Offensive zu bringen. Doch beide
Ziele – Stabilisierung des Regimes und Kampf gegen den Islami-
schen Staat  – schlossen sich nicht aus, auch wenn damals von
Seiten der syrischen Opposition behauptet wurde, Russland
bombardiere nur die «gemäßigten» Rebellen, und Assad habe
gar kein Interesse, gegen den IS vorzugehen. Die russische Stra-
tegie bestand darin, erst die Gebiete zu sichern und zu konsoli-
dieren, die unter Kontrolle der syrischen Regierungstruppen wa-
ren, und anschließend gegen den IS zu kämpfen. Und diese
Strategie erwies sich als erfolgreich. Das Regime gewann mit rus-
sischer Hilfe stark an Territorium und konnte im Dezember
2016 nach einem blutigen und grausamen Häuserkampf Aleppo
zurückerobern. Im Frühjahr und Sommer 2017 folgte dann eine
Großoffensive gegen den IS.

Was will «das» syrische Volk?

In unseren Medien sind «Gut» und «Böse» im Falle Syriens recht


eindeutig verteilt: Der Westen handelt moralisch richtig, weil er
«das» syrische Volk im Kampf gegen den Diktator Baschar al-­
Assad unterstützt. Wenn man dem Westen etwas vorwerfen
kann, so heißt es, dann, sich nicht stärker für die Rebellen enga-
giert zu haben. In dieser Sichtweise kämpft «das» syrische Volk
für Freiheit und Demokratie. Nur Assad steht einer demokrati-
schen Zukunft Syriens im Wege. Tritt er ab, so wird das syrische
122  Der Showdown

Volk selbst über seine Zukunft entscheiden. Was danach pas-


siert, darüber wird relativ selten geschrieben, aber offenbar
nimmt man an, dass sich anschließend alles zum Guten wendet
und Syrien eine stabile Demokratie wird. Russland handelt dem-
gegenüber moralisch verwerflich, weil es Assad aus rein geostra-
tegischem Kalkül und zur Verteidigung von Einflusszonen an
der Macht hält, dessen Verbrechen deckt und damit die fried­
liche und demokratische Zukunft des syrischen Volkes verhin-
dert. Ich gebe zu, dass dieses Bild etwas überspitzt gezeichnet ist
und dass die Wahrnehmung des Konflikts inzwischen nicht
mehr ganz so schlicht ist wie am Anfang. Aber im Kern geht es
immer noch in diese Richtung.
Natürlich spielen geostrategische Überlegungen bei Russ-
lands Syrienpolitik eine wichtige Rolle, doch lag ihr von Anfang
an auch eine gänzlich andere Wahrnehmung des Konflikts zu-
grunde. In Moskau war man sehr viel skeptischer, was die syri-
sche Opposition und ihren Widerstand anging. Anders als im
Westen, wo die weltweite Verbreitung der westlichen Werte, von
Demokratie und Menschenrechten, eine hohe Priorität genießt,
kreist das russische Denken angesichts der eigenen historischen
Erfahrungen eher um den Erhalt von Ordnung und um das, was
passieren kann, wenn staatliche Ordnung zusammenbricht. Ge-
walt setzt sich fest, es herrscht Chaos, das Recht des Stärkeren.
Wenn die staatlichen Strukturen erst einmal zusammengebro-
chen sind, ist es sehr schwer, die Ordnung wiederherzustellen. Es
droht ein «Failed State», ein «gescheiterter Staat», eine Gesell-
schaft, die vielleicht über viele Jahrzehnte nicht mehr zur Ruhe
kommt. Und tatsächlich hat das «Nation Building», der Wieder-
aufbau nach westlichem Regimechange, bisher nicht funktio-
niert. Afghanistan, Irak und Libyen stellen hier besonders ab-
schreckende Beispiele dar.
Zudem betrachtete Moskau den Konflikt nicht nur aus der
Sichtweise der westlich orientierten syrischen Opposition, deren
Stärke im Westen überschätzt wurde, sondern bezog auch die
Psychologie des Regimes in seine Überlegungen mit ein und
Der Showdown 123

nahm wahr, dass es ein substantieller Teil der Syrer mit Assad
hielt  – und wenn auch nur aus Angst, was nach seinem Sturz
­folgen mochte. Und Russland warnte von Anfang an vor einem
Erstarken der Dschihadisten unter den Rebellen. Deren Ein-
fluss war in Syrien schon lange vor der Revolte gestiegen – eine
Folge des Staatszerfalls im Irak, der sich zu einem Hotspot des
Dschihad entwickelte und auf Syrien a­usstrahlte. Von einem
Sturz Assads erwartete Moskau nicht den Sieg der Demokratie,
sondern den Sieg des Chaos und das Vordringen der Dschihadis-
ten – wie in Libyen. Ist das eine so ganz unverständliche Prog-
nose? Welche Erwartung kam der Realität näher? Die Hoffnung
auf die demokratische Zukunft oder die Sorge vor dem Verlust
jeglicher Ordnung, vielleicht auf Jahrzehnte?
Tatsächlich gewannen die Dschihadisten schon im Laufe des
Jahres 2012 immer mehr Einfluss in Syrien, und dies lag nicht
nur daran, dass Assad einige von ihnen aus dem Gefängnis ent-
ließ.111 Eher hatte es etwas zu tun mit der Unterstützung dieser
Gruppen aus Ländern wie Saudi-­Arabien und Katar, mit dem
Zustrom ausländischer islamistischer Kämpfer, nicht zuletzt aus
dem Irak, und mit einem zwangsläufigen Radikalisierungspro-
zess durch die Brutalität der Kämpfe.112 Jedenfalls wurde es zu-
nehmend schwieriger, eindeutig zwischen «gemäßigten» Rebel-
len und dschihadistischen Gruppen zu unterscheiden  – eine
Fiktion, die aber die Grundlage der amerikanischen Unterstüt-
zungs- und Ausbildungsprogramme bildete. Vom Westen gelie-
ferte Waffen sind daher auch in die Hände von Dschihadisten
gelangt.
In einem ebenfalls von Judicial Watch freigeklagten Geheim-
bericht der DIA, des US-­Militärgeheimdiensts, vom August 2012
heißt es: «Die treibenden Kräfte der Revolte in Syrien sind die
­Salafisten, die Muslimbruderschaft und Al-Qaida im Irak.» Un-
ter Al-Qaida im Irak werden in diesem Dokument sowohl die
Nusra-­Front als auch die Gruppen verstanden, die später den
­Islamischen Staat bildeten; sie trennten sich erst 2013 voneinan-
der. «Al-Qaida im Irak hat die syrische Opposition von Beginn
124  Der Showdown

an unterstützt, sowohl ideologisch als auch durch die Medien.


Al-Qaida hat gegen Assads Regierung Partei ergriffen, weil sie sie
als ein konfessionelles Regime sieht, das die Sunniten ins Visier
nimmt.» Einer ihrer Sprecher im Irak habe das syrische Regime
zur «Speerspitze der schiitischen Front» erklärt, weil es gegen
die Sunniten Krieg führe, und «die Sunniten im Irak, insbeson-
dere die Stämme in der Grenzregion (zwischen Irak und Syrien)
aufgefordert, gegen das syrische Regime in den Krieg zu zie-
hen».113
Der vielfach ausgezeichnete amerikanische Journalist Sey-
mour Hersh beruft sich in einem Artikel noch auf einen anderen
Geheimbericht der DIA und der Vereinigten Stabschefs der USA
vom Sommer 2013, in dem man sogar zu dem Schluss gekom-
men sei, es gebe keine «gemäßigte» Opposition mehr, sie habe
sich «in Luft aufgelöst», und somit bewaffneten die USA Extre-
misten. Stürze Assad, so das Papier laut Hersh, werde es Chaos
geben, und islamistische Extremisten könnten an die Macht
kommen.114
Dass die «gemäßigte» Opposition nicht so zahlreich war, wie
man erwartet und erhofft hatte, erfuhr Washington bald auch
ganz konkret. Im Oktober 2015 wurde das ambitiöse, 500 Millio­
nen US-­Dollar schwere Ausbildungsprogramm gestoppt, nach-
dem sich herausgestellt hatte, dass statt der geplanten 5000 nur
etwa 60 Kämpfer ausgebildet worden waren. Teil des Problems
waren die Auswahlkriterien: Es gab schlicht nicht genug Be­­­
werber, die wirklich als gemäßigt gelten konnten. Die wenigen
ausgebildeten Kämpfer gerieten zudem ins Visier der Nusra-­
Front, wurden von ihr getötet, verwundet oder entführt. Einige
der ­ Übriggebliebenen übergaben daraufhin der Nusra-­ Front
115
ihre Waffen im Gegenzug für freies Geleit. Im September 2015
musste General Lloyd Austin, der unter anderem für den Nahen
Osten zuständig war, vor dem Kongress einräumen, dass im
­Moment nur «vier oder fünf» Kämpfer aus dem 500 Millionen
US-­Dollar teuren Programm einsatzfähig seien.116 Schon im Au-
gust 2014, also noch bevor das Programm überhaupt beschlos-
Der Showdown 125

sen worden war, hatte Präsident Obama in einem Interview zu-


gegeben, dass es schwierig sei, genügend «säkulare», also nicht
religiös angetriebene Rebellen zu finden, die man ausbilden
könne. «Es gibt da nicht so viel Potential, wie man es sich wün-
schen würde.»117
De facto unterstützten die USA mit ihren Hilfsprogrammen
also Dschihadisten, darunter die Nusra-­Front, den Ableger von
Al-Qaida im Irak, also genau jenes Terrornetzwerk, das die USA
überall sonst auf der Welt vehement bekämpfen. Es gibt Hin-
weise darauf, dass Washington diesen Effekt ganz bewusst in
Kauf genommen haben könnte, um ein höheres Ziel, nämlich
die Schwächung Assads, zu erreichen. In dem von Judicial Watch
freigeklagten DIA-­Bericht vom August 2012 wird ein Zukunfts­
szenario entworfen, wie es in Syrien weitergehen könnte. Das
­Regime werde nicht stürzen, heißt es da, sondern weiterhin Teile
Syriens beherrschen. Der Konflikt werde sich zu einem Stellver-
treterkrieg entwickeln. Russland, China und Iran würden Assad
stützen, der Westen, die Golfstaaten und die Türkei die Opposi-
tion. Der Rückzug des Regimes aus den östlichen Grenzregionen
könne zum Entstehen eines «salafistischen Herrschaftsgebietes»
führen, und das sei auch genau das, «was die die Opposition un-
terstützenden Mächte wollen, um das syrische Regime zu isolie-
ren, das als strategische Tiefe des schiitischen Einflussgebiets
(Irak und Iran) gesehen wird».118 Mit anderen Worten: Um Assad
zu isolieren, also einen Baustein aus dem schiitischen Halbmond
herauszulösen, wird das Entstehen eines islamistischen Gottes-
staates in Kauf genommen. Es ist allerdings durchaus möglich,
dass dieser Bericht nur die Meinung bestimmter Kreise inner-
halb der US-­Administration widerspiegelte.
Heute ist jedenfalls kaum noch umstritten, dass der Wider-
stand gegen das Assad-­Regime militärisch in erster Linie von
dschihadistischen Gruppen getragen wird. Stürzte Assad, kä-
men sie an die Macht. Syrien würde keine Demokratie, sondern
ein Gottesstaat. Auf das «Framing», die Rahmenerzählung, mit
der dieser Konflikt bei uns gedeutet wird, hat das aber bis jetzt so
126  Der Showdown

gut wie keinen Einfluss. Nach wie vor wird so getan, als kämpfe
«das» syrische Volk gegen Assad. Kaum einmal wird gefragt, wie
viele Menschen eigentlich in den von Assad beherrschten Gebie-
ten leben, wie es ihnen geht, warum sie sich dort aufhalten und
wie sie zu dem Konflikt stehen. Wer unsere Nachrichten verfolgt,
muss den Eindruck bekommen, niemand halte es freiwillig mit
Assad. In seinen Gebieten müsste Friedhofsruhe herrschen.
Auch aus Aleppo ist kaum mehr berichtet worden, seit es von Re-
gimetruppen zurückerobert wurde.
Ein Artikel, den kürzlich ein unabhängiges Internetportal in
den USA veröffentlichte, hat Stimmen aus dem Assad-­Land ge-
sammelt und schätzt, dass die große Mehrheit der noch im Land
befindlichen Syrer unter der Herrschaft Assads lebt.119 Nahezu
alle Binnenflüchtlinge seien in die von der syrischen Regierung
kontrollierten Regionen geflohen – die einzigen Gebiete, die eini-
germaßen sicher seien. Dazu passen auch Angaben des Flücht-
lingshilfswerks UNHCR. Demnach sind im ersten Halbjahr 2017
440 000 Binnenflüchtlinge und 31 000 ins Ausland geflohene
­Syrer zurückgekehrt, und zwar in die von den Assad-­Truppen im
Rahmen ihrer Offensive gesicherten Gebiete, darunter auch
Aleppo.120 Unter der Kontrolle der Opposition und in den vom
IS kontrollierten Landesteilen lebten laut dem in den USA veröf-
fentlichten Artikel nur noch vergleichsweise wenige Menschen.
Die Autorin, die sich mehrere Monate im Regierungsgebiet
aufgehalten hatte, berichtet, dass die Menschen dort keineswegs
den Sturz Assads wünschten, da sie Angst hätten vor dem, was
danach käme. «Wir sind gefangen zwischen einem Polizeistaat
und Al-Qaida», erzählte ihr ein Syrer. «Natürlich wähle ich den
Polizeistaat.» Eine Studentin, die 2011 in Aleppo lebte und vor
der Belagerung der Westhälfte der Stadt durch die Rebellen 2013
nach Damaskus floh, sagte: «Ich war bei den Demonstrationen
dabei. Am Anfang des Krieges ging es um die Freiheit. Aber wenn
ich die Zeit vier Jahre zurückdrehen könnte, würde ich nicht
mehr zu den Demonstrationen gehen, weil ich nicht wollen
würde, dass die Situation so wird wie heute. Wir bedauern es.»
Der Showdown 127

Und weiter: «Es gibt keine Gewinner. Alle Länder  – Russland,


Iran, Amerika, Saudi-­Arabien  – spielen mit uns. Wir sind wie
Spielzeug.»121 Nun ist ein einzelner Artikel kein Beleg für eine
generelle Stimmung. Und man muss heutzutage immer aufpas-
sen, wer was mit welchem Interesse lanciert. Doch genau des­
wegen wäre es sehr wünschenswert, mehr solcher Artikel zu ha-
ben. Warum erscheinen sie bei uns nicht? Liegt es tatsächlich
nur an den Schwierigkeiten, wirklich unabhängige Berichte zu
bekommen, und an der extrem schlechten Sicherheitslage im
Land, der bereits mehr als 130 Medienschaffende zum Opfer ge-
fallen sind, die meisten davon sogenannte Bürgerjournalis-
ten?122 Oder liegt es vielleicht auch an dem, was dann in diesen
Berichten drinstünde?
Wenn man Bilanz zieht: Ist es wirklich so klar, dass die russi-
sche Deutung des Syrienkonfliktes völlig abwegig war? Und war
die westliche Regimechange-­Politik für die Menschen in Syrien
wirklich so viel besser als der russische Ansatz, auf eine schnelle
Stabilisierung der Ordnung zu setzen? Wie dem auch sei: Zum
Beleg dafür, dass Russland eine aggressive und unberechenbare
Politik verfolgt, taugt das Beispiel Syrien jedenfalls genauso we-
nig wie die Ukraine. Beide Male ging es darum, eine bestehende
Einflusszone zu erhalten, nicht den eigenen Einflussbereich aus-
zudehnen. Beide Male wollte Moskau verhindern, dass ein Staat
in den Einflussbereich des Westens und seiner Verbündeten her-
überwandert. Im Falle Syriens reagierte Russland auf den west­
lichen Vorstoß, den Sturz Assads zu fordern. Das wahre Problem
bestand sowohl bei der Ukraine als auch bei Syrien darin, dass
der Westen sich daran gewöhnt hatte, Russland in weltpoli­
tischen Fragen nicht wirklich für voll nehmen zu müssen. Als
Moskau dann ernsthaften Widerstand leistete, um einem weite-
ren Einflussverlust zu entgehen, erschien als Unberechenbarkeit,
was in Wahrheit eine kühl kalkulierte und vorhersehbare Wahr-
nehmung eigener Interessen war. Wer also hat agiert und wer
­reagiert?
«Alle denken nur, wie man die Menschheit ändern könnte,
doch niemand denkt daran, sich selbst zu ändern.»
(Leo Tolstoi)

Gut und Böse

Gut und Böse, Schwarz und Weiß, richtig und falsch. Das sieht
nach eindeutigen Kategorien aus. Jedenfalls auf den ersten Blick.
Auf den zweiten stellt sich heraus, dass es sehr verschiedene
Nuancen von Schwarz und Weiß gibt. Das hat jeder schon ein-
mal erfahren, der Schwarzes mit Schwarzem oder Weißes mit
Weißem in seiner Garderobe kombinieren wollte. Richtig und
falsch ist auch nicht ganz so eindeutig, wie man erwarten könnte.
Ist es zum Beispiel richtig, eine in terroristische Hände geratene
Verkehrsmaschine abzuschießen, die im Begriff ist, ein vollbe-
setztes Stadion anzusteuern? Oder ist es vielleicht doch falsch?
Könnte es sein, dass die Passagiere im Flugzeug dazu eine andere
Auffassung vertreten als diejenigen, die im Stadion sitzen? Und
was ist mit Gut und Böse?
Selbstverständlich lässt sich bei bestimmten Taten schnell
Einigkeit erzielen. Verhalten, das sich durch Nächstenliebe,
­
Barmherzigkeit und Mitgefühl auszeichnet, ist gut. Mord und
Totschlag sind böse. Wenn in Literatur und Film Motive für Ge-
walttaten thematisiert werden  – Notwehr, Verzweiflung nach
jahrelangem Martyrium –, dann ändert das nichts an der morali-
schen Kategorie, Mord und Totschlag sind und bleiben böse,
und schon gar nichts an der Ahndung nach Recht und Gesetz,
aber es tauchen Empfindungen auf, die um die Begriffe «ge-
recht» und «ungerecht» kreisen. Kompliziert. Mit Gut oder Böse
kommt man da nicht weiter.
Ähnlich verhält es sich bei der politischen Analyse. Die Auftei-
Gut und Böse 129

lung in Gut (wir) und Böse (unser Gegner) schafft eine trüge­
rische Eindeutigkeit, wenn man sie über außenpolitische Kon-
flikte stülpt. Das aber geschieht schon fast automatisch, sobald
irgendwo ein Konflikt auftaucht. US-­Präsident Ronald Reagan
sprach vom «Reich des Bösen», unter Bill Clinton wurde der
­Begriff «Schurkenstaaten» geprägt, und George W. Bush erfand
die «Achse des Bösen». Das gängige Verfahren ist eine personelle
Zuspitzung, die den Bösewicht auf der Gegenseite im wahrsten
Sinne des Wortes greifbar macht. Dessen Qualität als «Böser»
­erklärt dann zumeist auch schon den Konflikt an sich. Das ist
bequem. Bei der Komplexität außenpolitischer Probleme, wie sie
sich zum Beispiel im Nahen Osten zeigen, lässt sich mit diesem
Verfahren viel leichter Position beziehen. Und es ist nicht zuletzt
auch deshalb bequem, weil sich die Akteure auf der «guten» Seite
keine Mühe geben müssen, ihr Verhalten zu erklären oder zu
rechtfertigen. Böses muss bekämpft werden. Was gibt es da zu
diskutieren!
Die personelle Zuspitzung – in Syrien ist es Assad, in Jugosla-
wien war es Milosevic, im Irak Saddam Hussein, in Libyen Ghad-
dafi, in Russland ist es Putin – führt zu einer fatalen Fehlwahr-
nehmung: Man muss nur das Böse an der Spitze, dieses moralisch
defekte Individuum, beseitigen, und schon ist der Konflikt ge-
löst. Die Menschen sind von ihren Fesseln befreit und werden
von ihren Diktatoren nicht länger daran gehindert, sich dem
Westen, den Guten, zuzuwenden. Mit der Realität hat das oft-
mals nicht viel zu tun, weswegen solche «Lösungsversuche» re-
gelmäßig in der Katastrophe enden.
Das Denken in den Kategorien von «Gut» und «Böse» hat in
Washington eine lange Tradition – gerade auch in der Außenpo-
litik. Die Vorstellung, das Land sei von Gott dazu auserwählt, als
Leuchtturm der Freiheit zu dienen und das Licht Gottes in der
Welt zu verbreiten, lässt sich bis auf die Gründerväter und die
Amerikanische Revolution zurückführen. Daraus entstand im
19. Jahrhundert die Idee der «Manifest Destiny», die besagte,
dass die USA von Gott den Auftrag hätten, den amerikanischen
130  Gut und Böse

Kontinent bis zum Pazifik zu besiedeln und mit den Segnungen


des Fortschritts zu beglücken – auch gegen den Willen der dort
bereits lebenden Menschen, der Indianer, die für die gute Sache
über die Klinge springen mussten.1 Dass Gottes Wille zudem
zahlreiche Möglichkeiten der Bereicherung bot, war ein will-
kommener Nebeneffekt. Als die Siedler am Pazifik angekommen
waren, bot die Idee Anknüpfungspunkte für die Außenpolitik.
Bei Woodrow Wilson, dem amerikanischen Präsidenten wäh-
rend des Ersten Weltkriegs, verschmolz sie mit der Vorstellung
des «Leuchtturms der Freiheit» in der Absicht, die Welt «reif für
die Demokratie» zu machen.2 Die amerikanische Mission einer
Demokratisierung der Welt wurde seitdem immer wieder betont,
zuletzt unter George W. Bush, bei dem sie sich mit einem beson-
ders aggressiven (und naiven) Interventionismus verband.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Sich für die Ver-
breitung von Freiheit und Demokratie einzusetzen und sich
selbst an diesen Werten zu orientieren, ist nicht die schlechteste
Basis für politisches Handeln. Aber in den religiösen Wurzeln
der amerikanischen Demokratisierungspolitik liegt eine große
Gefahr, die sich inzwischen auch in unseren deutschen Debatten
beobachten lässt: nämlich die des missionarischen Fanatismus.
Es gibt nicht nur die Alternative zwischen einer aggressiven Ver-
breitung der Demokratie und einem zynischen Tolerieren von
Unfreiheit und Unterdrückung. Auch hier sind es die Grautöne,
die die Realität bestimmen, und nicht jeder, der nach den kon-
kreten Auswirkungen von Demokratisierungspolitik fragt, ist
ein Gegner der Freiheit. Wenn man die gegenwärtigen außenpo-
litischen Debatten verfolgt, dann erkennt man – etwa bei einigen
Außenpolitikern der «Grünen»  – eine Strömung, die, ähnlich
wie die frühen Christen, von einer Naherwartung des Paradieses,
der Wiederkunft Christi bzw. heute der einen, demokratischen
Welt geprägt scheint. Das Eintreten für die Verbreitung von
­Freiheit, Demokratie und Menschenrechten wird hier zu einer
Glaubensfrage. Ob die damit verbundene Politik die Lebensbe-
dingungen der Menschen ganz konkret verbessert, gerät in den
Gut und Böse 131

Hintergrund, es geht ums Prinzip. In den Augen derart Denken-


der muss man sich entscheiden, ob man Teil der Lösung oder
Teil des Problems sein will, ob man zu den «Guten» gehört oder
zu den «Bösen».
Auf Russland bezogen, bedeutet dieser Zusammenhang, dass
in den westlichen Medien praktisch nur noch Raum für negative
Nachrichten über das Land bleibt. Dass Russland «böse» Absich-
ten verfolgt und in alle möglichen finsteren Machenschaften ver-
wickelt ist, versteht sich von selbst. Dass es eventuell auch andere
Gründe für das Handeln der russischen Führung geben könnte,
die auf eine abweichende Interpretation von Konflikten zurück-
gehen oder auf Problemlagen beruhen, die wir verlernt haben
wahrzunehmen, wird kaum einmal thematisiert. Hinter der mo-
ralischen Empörung tritt die nüchterne Analyse zurück. Dass je-
mand eine Position vertritt, die auch der Kreml einnimmt, ist al-
lein schon ein Gegenargument. Denn was aus Moskau kommt,
kann nur falsch sein. Viele Journalisten haben sich offenbar ab-
gewöhnt, genauer hinzuschauen, wenn es um Russland geht, da
die Sache ja ohnehin klar scheint: Putin ist der Gegner der freien
Welt, der sich der Verbreitung des «Guten» in den Weg stellt. Er
muss weg, koste es, was es wolle!

«Njet»

Selbst diejenigen, denen die russische Sprache vollkommen


fremd ist, kennen das Wort für nein: njet. Das Synonym für die
Blockadepolitik im UN-­Sicherheitsrat, früher durch die Sowjet-
union, heute durch Russland. Die Liste der russischen bzw. sow-
jetischen «njets» ist lang. Das ist eine unbestreitbare Tatsache
und alles andere als gelogen. Aber wer hat je die «Nos» der USA
dokumentiert, wenn es zum Beispiel darum ging, die eindeutig
völkerrechtswidrige Siedlungspolitik Israels per Resolution zu
verurteilen oder unabhängige Untersuchungen mit Blick auf
Vorfälle in den Palästinensergebieten zu fordern? Das kann man
132  Gut und Böse

nicht vergleichen, meinen Sie? Dann lassen Sie uns darüber strei-
ten und uns gegenseitig zuhören. Denn ohne offene Debatten
werden demokratische Systeme, die diesen Namen verdienen,
nicht überleben. Jedenfalls liest man gegenwärtig überall, dass
Russland den UN-­Sicherheitsrat durch sein Veto blockiere und
der internationalen Gemeinschaft daher oftmals die Hände ge-
bunden seien. Aber ist es wirklich immer so eindeutig?
Am Morgen des 4. April 2017 starben in der von Rebellen ge-
haltenen syrischen Stadt Chan Scheichun nach einem Luftan-
griff mehr als 70 Menschen, darunter zahlreiche Kinder, vermut-
lich durch das Giftgas Sarin oder eine sarinähnliche Substanz.
Genau weiß man das nicht, da, anders als im August 2013 in
Ghouta, einem Vorort von Damaskus, bisher keine unabhängige
Untersuchung vor Ort durchgeführt werden konnte. Während
ein UN-­Inspektorenteam im Falle Ghoutas hervorragende, peni-
bel dokumentierte Arbeit geleistet hat,3 musste sich der Anfang
Juli 2017 vorgelegte Bericht der OPCW, der Organisation zum
Verbot von Chemiewaffen, zu Chan Scheichun auf Material
­stützen, das nicht mit letzter Gewissheit als authentisch gewer-
tet werden kann, auch wenn sich die Organisation große Mühe
gegeben hat, die Kette der Überlieferung so genau wie möglich
zu dokumentieren.4 Daher können auch andere Erklärungen
nicht vollständig ausgeschlossen werden, wie sie etwa der ame­
rikanische Enthüllungsjournalist Seymour Hersh vorgelegt hat,
der, allerdings im Wesentlichen nur auf eine Quelle gestützt,
­davon ausgeht, dass durch einen Luftangriff ein Vorratslager der
Rebellen getroffen wurde, dessen Inhalt eine Chlorgaswolke frei-
gesetzt habe.5
Was war der Grund dafür, dass eine zeitnahe Untersuchung
vor Ort nicht stattfand? Richard Herzinger stellte es in der
«Welt» so dar: «Beim Hinweis auf verbleibende Unklarheiten
über Umstände und Ablauf des Angriffs auf die nordwestsyri-
sche Stadt unterschlagen die Kritiker einer ‹Dämonisierung›
und ‹Vorverurteilung› Assads und Putins gern, dass es Russland
war, das durch sein Veto eine umfassende Untersuchung der
Gut und Böse 133

Vorgänge durch die UN verhindert hat. Die Blockade der Fakten-


findung schuf den Raum, in dem ‹alternative Wahrheiten› als
scheinbar gleichrangig nebeneinander kursieren können.»6 Aber
war es wirklich so einfach? Was genau ist auf den Sitzungen des
UN-­Sicherheitsrats nach dem 4. April 2017 geschehen? Tatsäch-
lich hat Russland am 12. April eine von westlichen Staaten
­ein­gebrachte Resolution durch sein Veto verhindert. Doch das
ist nicht die ganze Geschichte. Die USA, Großbritannien und
Frank­reich hatten bereits am 4. April einen ersten Entwurf ein-
gereicht, der von Russland als «unakzeptabel» zurückgewiesen
wurde. Er sei «eindeutig in Eile und sehr nachlässig verfasst wor-
den», sagte der Pressesprecher des ständigen russischen UN-­
Botschafters damals. Der Entwurf würde bereits einseitig die
Schuldigen benennen, bevor die Fakten feststünden. Ganz abwe-
gig war diese Einschätzung nicht, denn in besagtem Schriftstück
war unter anderem «vergessen» worden, eine Untersuchung vor
Ort in Chan Scheichun zu erwähnen. Stattdessen war nur von
­einer Inspizierung von syrischen Luftstützpunkten die Rede,
und es wurden weitere erstaunlich detaillierte Forderungen an
die syrische Regierung formuliert.7 In einem überarbeiteten Ent-
wurf vom 6. April hatten die westlichen Staaten ihren anfäng­
lichen Fehler korrigiert und unter Punkt 2 einen Satz eingefügt,
der alle Parteien aufforderte, «einen verzögerungsfreien und
siche­ren Zugang zu allen Orten zu gewähren, die von der Fact
Finding Mission der OPCW im Zusammenhang mit dem Vorfall
von Chan Scheichun für relevant gehalten» würden. Damit wäre
nun auch eine Untersuchung in Chan Scheichun selbst abge-
deckt gewesen. Doch der ursprüngliche umfangreiche Forde-
rungskatalog an das Assad-­Regime war unverändert geblieben.
Syrien sollte herausgeben
a) «Flugpläne und Fluglogbücher und alle anderen Informatio-
nen über Luftoperationen, einschließlich aller Flugpläne und
Fluglogbücher vom 4. April 2017;
b) die Namen aller Personen, die irgendeine Helikopterstaffel
kommandieren»,
134  Gut und Böse

und zudem
c) «innerhalb von fünf Tagen nach Eintreffen der Anfrage Tref-
fen arrangieren, auch mit Generälen und anderen Offizieren;
d) unverzüglich Zugang gewähren zu relevanten Luftstützpunk­
ten, von denen die Fact Finding Mission der OPCW oder der
Joint Investigation Mechanism glaubt, dass von dort mögli-
cherweise Attacken mit chemischen Waffen gestartet wur-
den.»8
Da die USA schon sehr früh Radarbilder vorlegten, nach denen
ein syrischer Kampfjet die Giftgasattacke geflogen habe, ist zu-
mindest die Forderung nach einer Herausgabe der Namen ­aller