IN
Diese Sammlung enthält alle Mär-
chen, Schnurren und Erzähl-
gedichte, die Peter Hacks für
Kinder geschrieben hat. Wer das
Buch aufschlägt, begibt sich in
seinen Bannkreis. Er kann, wie
Ulrike, plötzlich vom Himmel in
die Hölle geraten. Dort ist der
Teufel mangels Beschäftigung in-
zwischen Schriftsteller geworden
und hat „nützliche Geschichten"
verfaßt, die er nun seinem Gast
vorliest...
Skurrile Einfälle und poetische
Bilder, Phantasie und Alltagsbe-
obachtungen, treffsicherer Witz
iiiid menschliche Wärme bewir-
ken Verwunderung, Bezauberung
und - Lachen. Das Lachen aber
gilt als vorzüglicher Start fürs
Denken und der Vernunft sehr
förderlich. Erwachsene sollten
sich durch den Titel nicht von der
Lektüre abhalten lassen. Sind
denn nicht jene die besten Ge-
schichten, die jung und alt glei-
chermaßen Kurzweil bringen?
Ier nderbuchverlagBerlin
ISBN 3-358-00739-1
INFIALT
Meta Morfoss 7
Jules Ratte 59
Das Rosenkissen 83
Linde 89
Die Mädchenhasser 95
Armer Ritter 97
Aus Urgroßvaters Hutband 105
Meta Morfoss war ein kleines Mädchen, welches die Angewohnheit hatte, sich dauernd zu verwandeln.
Manchmal verwandelte sie sich in eine Muschel und lag ganz still im Algenwald und träumte im war-
men Unterwasser vor sich hin. Wenn dann die Jungens im Teich tauchten und versuchten, die Muschel
an die Oberfläche zu holen, klappte sie ihre Schalen zusammen und sagte ein bißchen furchtsam: »Aber
ich bin doch die Meta!«
Oder sie verwandelte sich in einen Engel und flog mit langsamen Flügelschlägen durch den Abend.
Dann konnte es vorkommen, daß sie einem Flugzeug begegnete und der Kapitän sehr erstaunt zu sich
sagte: »Merkwürdig, hier fliegt ein Engel.« Und er starrte so angestrengt zum Fenster hinaus, daß das
Flugzeug zu schwanken anfing. Und Meta rief ihm tröstend hinterher: »Aber ich bin doch die Meta!«
Oder sie verwandelte sich in eine Dampflokomotive und wog 1.00 Tonnen und raste mit ungeheurem
Getöse die Schienen entlang. Es ist doch aber so, daß die Eisenbahnschienen für die ordentlichen Züge
bestimmt sind, die mit Gütern oder Reisenden unterwegs sind, und die Eisenbahnverwaltung hat
schließlich einen genauen Fahrplan ausgerechnet, damit die Züge niemals zusammenstoßen. Die Zug-
führer erschraken, daher nicht wenig, wenn sie, auf dem eigenen Geleise, eine Lokomotive auf sich zu
dampfen sahen, die nicht im Fahrplan stand und auch vom Bahnwärter nicht gemeldet war. Natürlich
verwandelte sich Meta immer rechtzeitig in das kleine Mädchen zurück, das sie wirklich war, und sie
sprang vom Bahndamm und erläuterte mit einem allerhöflichsten Knicks: »Aber ich bin doch die
Meta!« Aber was nützte das denn noch? Wenn es auch mit knapper Not kein Unglück gab, die Zugfüh-
rer hatten doch einen bösen Schreck bekommen.
Man muß also ehrlich zugeben, daß Meta Morfoss den Menschen eine Menge Schwierigkeiten berei-
tete. Sie meinte es gewiß nicht böse. Nur verwandeln sich eben die meisten Leute sehr selten in eine an-
dere Sache, und wer das schon unbedingt tun muß, sollte doch gelegentlich darüber nachdenken, ob er
nicht stört.
2.Kapitel
Meta lebte zusammen mit ihren Eltern und einer Tante, die einen Schnurrbart hatte und deswegen Herr
Maffrodit hieß, in einem kleinen Haus am Rande des Stadtparks.
Metas Eltern hatten sich an die seltsame Eigenschaft ihrer Tochter schon einigermaßen gewöhnt -
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seit jenem ersten Mal, wo sie, anstatt eines Säuglings, eine Wärmflasche im Kinderbettchen gefunden
hatten, die mit einer glucksenden Gummistimme erklärt hatte: »BinnaMeta!« (Denn, wie gesagt, Meta
war da noch sehr klein gewesen und konnte sich nicht richtiger ausdrücken).
So wunderten sich die Eltern über gar nichts mehr. Ob nun mitten im Wohnzimmer ein Platzregen
niederging, oder ob am Tischbein eine Orchidee wuchs, die, in fremdartigen Farben schillernd, ab und
zu eine Fliege verspeiste, oder ob auf Herrn Maffrodits Nähtisch eine wollene Socke lag, die vier Meter
lang war und nicht einmal mehr einer Giraffe gepaßt hätte: Frau und Herr Morfoss wußten längst, daß
das die Meta war und achteten überhaupt nicht darauf.
Übrigens kann es auch ein Fehler sein, wenn man alles schon vorher weiß und auf nichts mehr achtet.
Eines Abends zum Beispiel ereignete sich eine ganz ungewöhnliche Geschichte.
Es gab nämlich in der Stadt einen besonders schlecht erzogenen jungen Mann, der sich abscheuli-
cherweise in mondlosen Nächten ein schwarzes Halstuch vors Gesicht band, sich einen Revolver (mit
dem man zum Glück nicht schießen konnte) in die Tasche steckte und in alleinstehende Häuser ein-
brach, um dort Matchbox-Autos und Brillantringe zu rauben. An dem Abend, von dem wir reden, hatte
er beschlossen, bei der Familie Morfoss einzubrechen.
Herr Morfoss saß eben vor dem Fernseher, Frau Morfoss las in der Zeitung, und Herr Maffrodit, die
Tante, strickte eine Socke, die genau so lang war, wie es sich für eine Socke gehört. Da kam der Einbre-
cher durchs Fenster gestiegen und sagte:
»Das ist ein Überfall. Keiner bewegt sich! «
Die Familie glaubte natürlich, daß der Einbrecher Meta sei. Wo gibt es denn so etwas noch, Einbre-
cher? Herr Morfoss ging in aller Seelenruhe zum Fernsehgerät und stellte eine andere Sendung ein, die
leider ebenso langweilig war wie die bisherige; Frau Morfoss hob die Augen gar nicht von ihrer Zeitung,
und Herr Maffrodit klapperte weiter mit ihren Nadeln.
Der Einbrecher fuchtelte mit dem Revolver und brüllte: »Hände hoch, sonst wird geschossen!« Nie-
mand kümmerte sich um ihn.
Der Einbrecher wurde fast närrisch vor Zorn. Er drückte den Revolver Herrn Morfoss in den Bauch
und flüsterte heiser: »Das Geld oder das Leben!«
»Schon gut«, sagte Herr Morfoss geduldig, »du bist ja die Meta.«
Da erkannte der Einbrecher, daß sich niemand vor ihm fürchten wollte. Er ging verwirrt weg. Und er
zweifelte an seiner Eignung für diesen Beruf und hängte ihn an den Nagel, und er ist dann, wie wir in
ErIahrung gebracht haben, noch ein sehr ordentlicher Autoschlosser geworden.
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3. Kapitel
Zuhause also ging es Meta so gut oder so schlecht, wie es kleinen Mädchen zuhause einmal geht Aber
wie ging es in der Schule? Wir sehen gleich, daß das eine wichtige Frage ist, und wir wollen sie beant-
worten, indem wir die Sache von ihrem Anfang an erzählen.
Der Lehrer, er hieß Herr Dr. Pauli, hatte Meta aufgefordert vorzutragen, was sie über den Himmel
wußte.
Meta war - das kommt bei kleinen Mädchen gelegentlich vor - in einer schauderhaften Blödel-
laune. Sie stand auf und äußerte mit todernstem Gesicht den folgenden Unsinn:
»Der Himmel ist ein großer, runder, blauer Teller. Der Abend ist eine Schokoladensoße, die, vom
Rand her, auf den Teller gekippt wird. Wenn der Teller voll ist, ist Nacht. Am Morgen kommt die Sonne
und leckt die Schokolade wieder ab; vermutlich ist sie eine Katze.«
»Was erzählst du uns da!« sagte Herr Dr. Pauli.
»Doch«, sagte Meta, »eigentlich bin ich ganz sicher, daß die Sonne eine Katze ist.«
»Sag einmal«, bemerkte Herr Dr. Pauli trocken,»bist du nicht ein bißchen sehr albern?«
An dieser Stelle des Gesprächs verwandelte sich Meta in den Professor Albert Einstein.
Der Professor Einstein, das muß man hier wissen, lebte vor noch gar nicht so langer Zeit und war ein
gütiger alter Herr mit wehenden weißen Haaren. Zugleich war er von allen Gelehrten vor oder nach ihm
derjenige, der über Himmels-Dinge am besten Bescheid wußte.
Meta - oder Professor Einstein, wie man will - erhob sich sehr würdig, schritt zur Tafel und schrieb
mit Kreide ein paar schwierige Ausdrücke darauf, die niemand verstehen konnte, nicht einmal der Leh-
rer. Hiernach räusperte sie sich und sprach:
»Meine hochverehrten Damen und Herren. Alle Sterne drehen sich um alle Sterne. Es gibt große
und kleine Sterne, helle und dunkle, wichtigere und weniger wichtige, aber es ist keiner unter ihnen, auf
den es nicht ankommt. Jeder Stern hat ein bißchen Hecht. Und was wir Menschen von den Sternen ler-
nen können, ist, wie nett sie, obgleich jeder ein bißchen Recht hat, sich am Ende miteinander geeinigt
haben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
Nachdem sie das gesagt hatte, ergriff sie eine Geige und spielte eine wunderschöne Melodie.
»Sie sind nicht Professor Einstein«, sprach Dr. Pauli, der Lehrer.
»Hoppla«, sagte Meta verdutzt, »woher wissen Sie das?«
»Erstens«, entgegnete Herr Dr. Pauli, »ist Professor Einstein leider schon vor einer Weile verstorben,
und zweitens, was vielleicht noch bedeutsamer ist, hat er bekanntlich überaus schlecht die Violine ge-
spielt. -
Nein, nein«, fügte er hinzu, »wer so gut geigt, ist kein Einstein.«
»Stimmt«, gab Meta zu, »was das Geigen anlangt, ist mir ein Schuß Oistrach dazwischen gekom-
men.«
»Bleibt also zu klären«, sagte der Lehrer, »wer sind Sie?«
»Aber ich bin doch die Meta!« rief Meta. (Wir haben es schon erwähnt: sie meinte es wirklich nicht
böse.)
»Dann muß ich allerdings diese Ablenkung vorn Gegenstande des Unterrichts in mein Merkbüchlein
eintragen«, sagte Herr Dr. Pauli mit Nachdruck.
Er zog das Merkbüchlein aus der Brusttasche. Meta aber, die ihr Betragen so sehr tadelnswert nicht
fand, wie sie es wahrscheinlich hätte finden sollen, ärgerte sich darüber, und sie verwandelte sich ganz
flink in Dr. Paulis Füllfederhalter. Sie hatte die Absicht, beim Eintragen einen mächtigen Tintenfleck zu
verspritzen.
Aber wie erstaunt war sie, als sie merkte, daß der Lehrer gar nichts in das Buch eintrug. Er tat zwar
so, als schriebe er den Namen Meta Morfoss, in Wahrheit jedoch malte er die Buchstaben in die Luft.
Da entdeckte Meta, wie gut Herr Dr. Pauli es mit ihr meinte.
Und seit sich dieser Vorfall so begeben hatte, unterließ es Meta, sich während der Schulstunden in
irgendetwas oder irgendwen zu verwandeln, so hart es sie auch oft ankam.
4. Kapitel
Nun läßt sich ja verstehen, daß Meta ihrer Angewohnheit am heftigsten nachgab, sobald die Schule aus
war. Sie hatte sich fünf oder sechs oder sogar sieben Stunden lang solche Mühe gegeben, unverwandelt
zu bleiben. Im Augenblick, wo sie sich verwandeln durfte, tat sie es meistens sofort. Und wenn es ihr be-
sonders schwer gefallen war, einfach bloß immer die Meta zu sein, verwandelte sie sich gern in etwas
t) nangenehmes.
Zum Beispiel fiel ihr - es muß Ende letzten Sommers gewesen sein - ein, sich in ein Krokodil
zu verwandeln, das auf der Straße sitzt und die Zähne fletscht. Sie sah wirklich ziemlich fürchter-
lich aus; denn Krokodile haben sehr lange und gelbe Zähne. Die Fußgänger drückten sich vorsich-
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fig an den Hauswänden entlang. Und selbst die Autofahrer machten lieber einen Bogen um das Unge-
heuer.
Da kam der Müllmann, Herr Karsunke, in seinem Straßenreinigungsfahrzeug des Weges gefahren.
Als er das Krokodil sitzen sah, sprach er die folgenden Worte zu sich selber:
»Hier stelle ich aber eine deutliche Verunreinigung der Fahrbahn fest.«
Und er schwenkte seinen Bagger aus und schaufelte das Krokodil kurzerhand in den Behälter, dort-
hin, wo der übrige Müll stak.
Aber weil Meta sich in ein Krokodil-das-auf-der-Straße-sitzt-und-die-Zähne-fletscht und nicht in ein
Krokodil-das-im-Müllkasten-liegt-und-sich-die-1)ärme-d urchrütteln-läßt verwandelt hatte, blieb sie
keine Sekunde lang in dem Auto, sondern saß sogleich wieder, nur ein Stückchen weiter vorn, auf der
Straße.
»Was Teufel«, sagte Herr Karsunke zu sich; »noch ein Krokodil?«
Er hob auch dieses Krokodil in sein Auto. Und wieder saß Meta ein Stück vor ihm und blickte ihn
mit bösen Augen an und fletschte die langen gelben Zähne.
Und so ging das denn immer weiter. Und der Vorgang wiederholte sich so oft, daß Herr Karsunke, als
er seine Strecke abgefahren hatte, glaubte, er hätte seinen riesengroßen Kasten jetzt bis zum Rand voll
mit Krokodilen. Er fuhr den Schuttberg hinauf und stellte sich mit der Rückseite des Müllautos an des-
sen Rand. Und dann zog er den Hebel, der die hintere Tür öffnet und die ganze Ladung den Berg hinun-
terkippt.
Doch als er nachsah, war kein einziges Krokodil herausgefallen. Alles, was da die Halde hinabrollte,
war ein bißchen Knülipapier, einige Sophaspiralen und sechs oder sieben Dachschindeln, die, vorn letz-
ten Sturm her, auf dem Pflaster gelegen hatten.
Herr Karsunke, der genau wußte, wieviele Krokodile er aufgesammelt hatte, rieb sieh ein paarmal mit
dem Handrücken über die Augen.. Das half natürlich auch nichts. Er ging verstört zur Fahrerkabine zu-
rück. Neben der Fahrerkabine saß ein Krokodil; es fletschte die langen und gelben Zähne und sagte ent-
schuldigend:
»Aber ich bin doch die Meta!«
»Wenn das so ist. .
versetzte Herr Karsunke,
werde ich mich bei deinen Eltern beschweren.«
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5. Kapitel
Und noch desselbigen Tages, nachdem er sich gewaschen und zwei Stullen gegessen hatte, ging Herr
Karsunke zum Hause der Familie Morfoss und läutete an der Tür. Die Tante öffnete ihm.
»Karsunke«, sagte der Müllmann mit einer Verbeugung.
»Maffrodit«, stellte sich die Tante ihrerseits vor.
»Nun«, sagte der Müllmann, »um ein Wort von Mann zu Mann zu reden.
»Von Mann zu Frau«, unterbrach ihn die Tante und zwirbelte ihren Schnurrbart.
»Entschuldigen Sie, Frau Maffrodit«, sagte der Müllmann.
»Herr Maffrodit bitte«, verbesserte die Tante.
»Also Herr Maffrodit«, sagte der Müllmann, »von Mann zu Frau, oder sagen wir vielleicht lieber:
ganz unter uns zwei beiden, ich habe eine Beschwerde über Ihr Fräulein Nichte vorzutragen.«
»Kommen Sie nur ruhig herein«, sagte die Tante. »Der Lehrer Pauli ist auch schon drin, es ist ein Ab-
wasch.«
Herr Karsunke folgte Herrn Maffrodit ins Wohnzimmer, und Frau und Herr Morfoss und Herr
Dr. Pauli gaben ihm die Hand, und Herr Morfoss brachte ein paar Flaschen Bier, und dann saßen sie
alle um den Tisch herum und redeten über Meta.
»Ich weiß nicht, von wem sie das hat«, sagte Frau Morfoss. »Geerbt kann sie es nicht haben; denn
weder mein Mann noch ich haben jemals. die mindeste Lust verspürt, uns in allerlei fremdes Zeug zu
verwandeln. Beigebracht haben wir es ihr natürlich auch nicht.«
»Kinder kommen eben manchmal auf Ideen«, sagte Herr Morfoss.
»Ich muß bestätigen«, erklärte Herr Dr. Pauli, »daß sie sich meistens recht rücksichtsvoll verhält.«
»Außer wenn sie ein Krokodil ist«, rief Herr Karsunke.
Zugegeben«, sagte der Lehrer. »Das geht entschieden zu weit.«
»Sie ist häßlich«, sagte Herr Karsunke.
»Außer wenn sie ein Engel ist«, widersprach Frau Morfoss.
»Wie?« fragte der Müllmann, »sie ist auch gelegentlich ein Engel?«
Frau Morfoss beteuerte es.
»Aber dann liegt der Fall ja noch schlimmer, als ich dachte«, sagte der Müllmann. »Wenn sie stets ein
Krokodil wäre, wüßte man wenigstens mit der Zeit, woran man ist. Ein Krokodil, das ist nicht das Ärg-
ste. Aber nun auch noch ein Engel!«
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»Was haben Sie gegen Engel?« erkundigte sich der Lehrer.
»Gar nichts«, sagte Herr Karsunke. »Im Gegenteil. Ich finde Engel ausgesprochen niedlich. Ich ver-
lange nur eins: daß sie sich endlich entscheidet, wer sie sein will, damit man sich daran gewöhnen
kann.«
»Wir haben uns auch so daran gewöhnt«, sagte Herr Morfoss.
»Es ist doch ganz klar, wer sie ist«, sagte Frau Morfoss. »Sie ist doch die Meta.«
1-her erhob sich Herr Maffrodit, die Tante.
»Natürlich muß man verhindern, daß sie dumme Streiche macht«, sagte sie. »Aber im übrigen glaube
ich nicht, daß man viel an ihr ändern kann. Und wenn ich es zum Beispiel könnte, wüßte ich gar nicht,
wo ich das Recht dazu hernehmen sollte.«
Danach schwiegen sie eine Weile. Und dann ging Herr Morfoss in die Speisekammer und holte noch
ein paar Flaschen Bier, und die tranken sie zusammen aus und sprachen von Dingen, die minder erwäh-
nenswert sind, lind die wir deshalb auch keineswegs erwähnen wollen.
Und darum sieht es so aus, als würde Meta Morfoss nicht aufhören, sich zu verwandeln: in einen Fel-
sen oder in einen Goldfisch oder in irgendetwas, auf das wir jetzt gar nicht kommen. Vielleicht eines Ta-
ges, wenn wir in aller Gemütlichkeit ein Buch lesen, kann geschehen, daß wir das Buch aufschlagen und
es überraschenderweise in sehr artigem Tone zu uns sagt:
»Aber ich bin doch die Meta!«
Denn möglich ist ja mehr, als wir oft denken.
Feine Leute reden eben nicht wie gewöhnliche. Das Spiel, für das gewöhnliche Leute »Hopse« sagen,
heißt bei feinen Leuten »Himmel und Hölle«. Es handelt sich in beiden J"üileii um dasselbe Spiel,
»Himmel und Hölle« ist einfach die gewähltere Ausdrucksweise. Ihrer wollen wir uns natürlich bedie-
nen.
Für das Spiel »Himmel und Hölle« braucht man einen Bürgersteig, der mit viereckigen Steinplatten
gepflastert ist. Wenn das Pflaster fehlt, kann man die Vierecke mit Kreide aufmalen. Man formt ein
langes Rechteck, an dessen unterer Seite die Hölle sich anschließt und oben der Himmel. Der Zweck
besteht darin, daß man die Hölle besser, überspringt, hiernach - abwechselnd mit neheneinanderge-
stellten und gekreuzten Beinen - durchs Leben hopst und, ohne auf einen Strich zu treten, den Him-
mel erreicht. Wie man sieht, ist das keine ganz leichte Sache. Es sind wirklich nur die bravsten und
tüchtigsten Menschen, die in den Himmel kommen.
Aber diesmal ging alles glatt, und als Ulrike im Himmel angelangt war, halte sie noch keine Lust
aufzuhören. Sie machte auf dem großen Zeh kehrt und hopste den gesamten Weg wieder zurück, Dabei
wurden ihre Beine denn doch müde. Sie wollte über das verbotene Feld hinweghüpfen, sprang zu kurz
und landete mit beiden Füßen in der Hölle. »Auf dich habe ich gerade gewartet«, sagte der Teufel.
» Weshalb gerade auf mich ?«fragte Ulrike.
» Weil du nicht ungeeigneter bist als jeder andere«, erwiderte der Teufel verbindlich. »ich bin näm-
lich inzwischen Schriftsteller geworden.«
» Wie ist Ihnen denn das zugestoßen ?« erkundigte sich Ulrike.
»Ich habe hier ja fast nichts mehr zu tun«, erklärte der Teufel. »Seit alle Menschen so brav und tüch-
tig geworden sind, wie in der Zeitung steht, kommen sie nun nicht mehr zu mir, und wie jeder, dein es
an Beschäftigung mangelt, habe auch ich mich der Schriftsiellerei ergeben.«
Was 'schreiben Sie denn so ?« fragte Ulrike:.
»Fabeln«, erwiderte der Teufel kurz.
» Was sind Fabeln?« wollte Ulrike wissen.
»Fabeln sind nützliche Geschichten«, erläuterte der Teufel. »Eine nützliche Geschichte ist eine Ge-
schichte, bei der man alles, was in ihr erzählt ist, in einem einzigen Satz zusammenfassen kann, der so-
genannten Nutzanwendung.«
» Wenn die ganze Geschichte in einen einzigen Satz hineinpaßt«, gab Ulrike zu bedenken, »wozu
dann überhaupt die Geschichte?«
Der Teufel kratzte sich eine längere Weile, es waren mindestens drei Minuten, wenn nicht noch
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mehr, mit dem. Itin.lerhaf unter dein Arm.. »Ich werde dir«, sagte er dann, ohne näher auf Ulrikes Ein-
einzugehen, »tausend oder zweitausend davon vorlesen. Gewöhnlich heize ich meinen Ofen mit
ihnen. Aber da du einmal zugegen und nicht ungeeigneter als jeder andere bist, ist Vorlesen bestimmt
die noch richtigere Verwertung.«
» Das finde ich ziemlich grausam«, meinte Ulrike.
»Schließlich«, sagte der Teufel, während er ein überaus dickes Papierbündel aus der Schublade
zog, - »schließlich bist du in der hölle. «
Hier folgen die sechs nützlichsten von den Teufels Geschichten, welche Ulrike, nachdem sie von ihrer
Mutter von der Straße gerufen worden ww; in ihrem, Gedächtnis behalten, hatte.
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mernden Schein des Kürbisses zu richten. Aber kein Schein schien, und kein Schimmer schimmerte,
und so stolperte er mit seinen kurzen und dünnen Beinchen über das holperige Gelände. Endlich ge-
langte er zu einem hohen Berg. Es war der Misthaufen. Jetzt konnte und wollte er nicht weiter. Er mußte
endgültig in die Irre gegangen sein. Weit und breit kein Kürbis. Und der Mond setzte sich auf ein kugel-
förmiges Ding, das da am Fuße des Berges herumlag. »Wo mag bloß der Kürbis hingekommen sein?«
seufzte er vor, sich hin. »Ich bin ja hier«, sagte der Kürbis.
»Wer ist hier?« fragte der Mond.
»Ich«, sagte das Ding, »der Kürbis.«
>,Weshalb sehe ich dich nicht?« fragte der Mond.
»Du sitzt drauf«, erklärte der Kürbis.
Der Mond stand auf, aber er vermochte noch immer nichts zu unterscheiden. »Du bist der, der so
schön leuchtet?« fragte er mißtrauisch.
»Sehr freundlich«, entgegnete der Kürbis geschmeichelt. -
»Sag mal«, fragte der Mond, »weshalb leuchtest du denn nicht?«
»Soeben«, sagte der Kürbis, »hast du gesagt, ich tue es.«
»Sonst«, sagte der Mond.
»So ist es«, bestätigte der Kürbis. »Sonst.«
»Und warum heute nicht«, fragte der Mond ärgerlich, »ausgerechnet in der Nacht nicht, wo du Be-
such hast?«
»Siehst du nicht, daß es dunkel ist?«
»Rund heraus, Vetter: weshalb leuchtest du nicht? Ich weiß, daß du es immer tust, denn ich beob-
achte dich seit langem, und es ist noch nie vorgekommen, daß du dich in eine derartige Finsternis
hüllst.«
»Rund heraus, Herr Besuch, du bist auch nicht eben der Gescheiteste, denn du weißt nicht, daß ich
die Strahlen des Mondes widerscheine und ja also doch nicht leuchten kann, wenn der Mond nicht
leuchtet.«
Über diese Antwort geriet der Mond schier außer sich. Es läßt sich kaum sagen, wie ungehalten er
sich zeigte. .
»Welche Enttäuschung«, zeterte er. »Mit meinem Licht machst du dich berühmt und wichtig. Ein
stumpfer Ball bist du und hast überhaupt kein eigenes Licht. Mit erborgtem Glanze glänzen! Ich zweifle,
ob dieses Benehmen in der ganzen Welt einc Entsprechung findet!«
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So unglücklich verlief der Besuch, den der Mond dem Kürbis abstattete. Als man aber den Vorfall
der Sonne hinterti'ug, lachte sie aus bronzener Kehle und sagte:
»Laßt doch die beiden Kleinen.«
Die Nutzanwendung aus dieser Geschichte, schloß der Teufel, irntiel: Niemand ist so empfindlich ge-
gen Nachahmungen wie die Nachahmer.
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streckte sie mit dem rechten Arm immer hoch und nieder. »Ich kann es auch mit dem linken Arm ma-
chen«, erklärte er und machte es mit dem linken Arm. Die Hantel fiel ihm mitten auf den Bauch, Tor-
sten war tot, und Olga kam endlich wieder zu ihren wohlverdienten freien Nachmittagen.
Die Nutzanwendung aus diese,- Geschichte, schloß der Teufel, lautet: Einem gesunden Körper kann
nicht schaden, wenn er von einem gesunden Geist bewohnt wird.
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und dann erscheinen Sie gar nicht persönlich, sondern schicken mir den Gesellen. Was er falsch ge-
macht hat? Ich werde Ihnen schon sagen, was er falsch gemacht hat. Er hat meine Tante Fiebig in einen
grünen Papagei verwandelt; so weil, so ganz gut. Aber erstens war der Papagei blau und nicht grün.
Zweitens schrie er immerfort: das Buch ist nichts für dich! das Buch ist nichts für dich! Und drittens hat
die ganze Anfertigung keine zwanzig Minuten gehalten, danach war der Papagei schon wieder eine
Tante Hören Sie, Meister, das ist doch keine Arbeit wie früher. Das ist doch Pfusch. Außerdem war Ihr
Geselle nicht reinlich. Er hat überall danebengezaubert. Die geschnitzten Blätter am Wohnzimmerspie-
gel sind alle welk geworden und abgefallen. Oh ja, abgefallen, und der Kuckuck von der Uhr legt jetzt
Eier. Genau das will ich, daß Sie sich das selbst ansehen. Ich lasse sonst woanders zaubern, endgültig.
Donnerstag? Ja, Donnerstag ist die rfaflte anwesend. Gut, Meister. Donnerstag, aber bestimmt. Ich ver-
lasse mich drauf. Vielen Dank, Meister.«
Kaum hatte Prosper den Hörer aufgelegt, öffnete sich die Tür seines Zimmers, und die Tante Fiebig
kam herein. »Ich hörte dich murmeln«, sagte sie, »und wollte sehen, ob ich dich etwa wieder mit einem
Buch ertappe, für welches es dir noch an der erforderlichen Reife mangelt.« - »Nein«, sagte Prosper,
»ich mußte nur eben noch schnell ein Gespräch führen. Aber ab Donnerstag, liebe Tante, das verspre-
che ich dir, wirst du dich überhaupt nie wieder über mich beklagen.«
Die Nutzanwendung aus dieser Geschichte, schloß der Teufel, lautet: Die Handwerker sind inzwischen
fast zu einem ifrgernis geworden.
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Bottichen ins Nest hinein und auf die kleinen Drosseln. Die Mulde war, wie berichtet, tief und hatte
steile Wände. Aber es fehlte wenig, daß der Sturmwind die kleinen Drosseln herausgeschleudert oder
der Wolkenbruch sie herausgespült hätte. Gerade eben, daß das Unwetter sich nach drei Tagen wieder
verzog und sie alle noch mit dem Schreck davonkamen.
Die Grasmücke baute ihr Nest in der Kugel eines Buchsbaums. Ein Buchsbaum hat schmale, dunkel-
grüne Blätter, die, besonders wenn er regelmäßig geschnitten wird, dicht beieinander stehen. Keiner
kann hier eindringen oder auch nur in den Blattschatten hineinblicken. Selbst die Grasmücke, die einer
der allerwinzigsten Vögel ist, hatte Mühe, durch einen Spalt, den die Buchsbaumkugel ganz unten frei-
gab, durchzuschlüpfen. Ein besser verborgenes Nest ist kaum zu denken. Wie erschrak also die Gras-
mücke, welche - den Schwanz senkrecht nach oben gereckt, denn anders hätte er nicht ins Nest ge-
paßt - über den kleinen Grasmücken saß, als sie, gleich über ihrem Kopf, ein schauderhaftes Rattern
und Dröhnen vernahm. Die Äste splitterten, in die Luft. Das Blätterdach zerstob. Das Nest, das allen ein
Geheimnis hatte bleiben sollen, lag plötzlich offen im hellen Tageslicht. Was war geschehen? Der Gärt-
ner hatte mit der Fleckenschere die Kugel des Buchsbaumes wieder schön rund geformt, dabei war er
der Grasmücke so nahe gekommen, daß er ihr ums Haar den aufgestellten Schwanz abgeschoren hätte.
Die' Grasmücke preßte sich über die Jungen und glaubte ihr Ende herangebrochen. Lieber wollte sie
mit ihnen sterben als sie im Stich lassen. Zwar ging der Gärtner, sobald er das Nest bemerkt hatte, auf
spitzen Sohlen davon, und die Grasmücke konnte die Grasmücklein in dem ungeschützten Nest weiter-
füttern, bis sie groß waren und ihre ersten Flugversuche machten. Aber die Sache blieb gefährlich, und
die Grasmücke fürchtete Tag und' Nacht ein großes Unglück.
»Das Sichere ist also nicht sicher«, sagte der Rotschwanz, der das bedenkliche Schicksal der Drossel
und der Grasmücke mit angesehen hatte. »Die beste Vorsorge taugt nicht. Es ist alles eine Frage des
Glückes; man hat es, oder man hat es nicht. « Er warf ein paar Halme in den Hohlraum, den ein heraus-
gebrochener Ziegel in einer Mauerecke hinterlassen hatte, und legte seine sieben Eier darauf. Drei Eier
rollten gleich herunter und zerschellten auf dem Pflaster. Die anderen vier holte nicht lange danach die
Katze.
Die Nutzanwendung aus dieser Geschichte, schloß der Teufel, lautet: Wenn das Sichere nicht sicher
ist, aber sicherer als das Unsichere ist es doch.
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Der alte Igel
Der alte Igel hockte ganz behaglich vor seinem iIagebuttenpunsch; plötzlich, während die Uhr schon
die letzte Stunde des alten Jahres einläutete, sprang er hoch und rief: »Wie konnte ich das verges-
sen!« - »Was denn?« sagte die Igelin, seine Frau.
»Ach, es ist zum Stacheln ausraufen«, sagte der Igel. »Ich habe dem Siebenschläfer fest versprochen,
ihn zu Neujahr am Ohr zu rupfen. Er hält Winterschlaf und würde mir nie verzeihen, Wflfl das Fest los-
ginge und ich ihn nicht geweckt hätte. Hol mir die Stiefel, ich muß sofort hin.«
»Aber das hat keine Vernunft«, sagte die Igelin, seine Frau. »Der Siebenschläfer wohnt am anderen
Ende des Waldes, und in einer Stunde schaffst du die Strecke nicht mit deinen Watschelbeinen.« Da
hatte sie recht, und sie überlegten, was zu tun sei. Da kam die Maus vorübergelaufen. »0 mein liebes
Mäuschen«, sagte der Igel zu ihr, »tu mir den Gefallen, lauf schnell zum Siebenschläfer und rupfe ihn
am Ohr. Ich habe ihm fest versprochen, ihn vor dem neuen Jahr aufzuwecken.«
Die Maus lief davon. Aber der Schnee lag tief, die Wege waren versperrt von weißen Bergen, und die
Maus sprach zu sich: »Nein, ich komme nicht zur rechten Zeit.« Da saß das Eichhörnchen auf dem
Baum. »Ach, liebes Eichhörnchen«, sagte die Maus zu ihm, »tu mir den Gefallen, spring schnell zum
Siebenschläfer und rupfe ihn am Ohr. Der Igel hat ihm fest versprochen, ihn vor dem neuen Jahr aufzu-
wecken, und ich habe es dem Igel versprochen.«
Das Eichhörnchen tat, worum die Maus es gebeten hatte. Aber die Äste waren glatt von dem Eis, mit
dem sie überzogen waren, und die Tannenwipfel wollten sich vor Frost nicht biegen, und das Eichhörn-
chen sagte zu sich: »Nein, ich komme nicht zur rechten Zeit.« Da plusterte sich neben ihm der Kauz.
»Ach, lieber Kauz«, sagte das Eichhörnchen voll Freude, »tu mir den Gefallen, flieg schnell zum Sie-
benschläfer und rupfe ihn am Ohr. Der Igel hat ihm fest versprochen, ihn vor dem neuen Jahr auf zuwek-
ken, und die Maus hat es dem Igel versprochen, und ich es der Maus.«
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Da flog der Kauz, so schnell er konnte, durch die kalte Nacht davon.
Und als er, ganz außer Atem, eben um zwölf am Nest des Siebenschläfers ankam, rupfte er ihn am
Ohr und rief: »Wach auf, wach auf, Siebenschläfer, das neue Jahr ist da!« - »Wie wunderwunder-
schön«, sagte da der Siebenschläfer glücklich, und er drehte sich mit einem innigen und zufriedenen
Gähnen auf die andere Seite, »da kann ich noch ein ganzes Vierteljahr lang schlafen.«
Die Nutzanwendung aus dieser Geschichte, schloß der Teufel, lautet: Gefälligkeiten werden einem ge-
dankt oder nicht gedankt.
Die Nutzanwendung aus dieser Geschichte, schloß der Teufel, lautet: Aus einem Regenwurm wird kein
Schmetterling, wie richtig man ihn immer anleitet.
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KATHRINCHEN GING SPAZIEREN
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Es flogen blaue Schwalben Ein grauer Hase rannte
Und Hummeln mit Gebrumm, Vor ihr durch das Geländ.
Und Schmetterlinge flogen Man könnte nicht den Kopf drehn
Um ihr Kleid herum. So schnelle, wie der rennt.
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Der alte Eimer setzte Dann gaits nur noch zu schlucken.
Mit Scheppern sich in Trab. Gesprochen und geschehn.
Er lief hinauf die Stiege. Man sah das steinerne Fräulein
Er lief sie auch hinab. Mit einem Bart dastehn.
- 31 -
11 12
Kathrinchen sprach: Ich glaube, Kathrinchen lief im Urwald,
Ich bin europamüd. Dort war es warm und grün.
Es zieht mich nach dem Lande, Da ging der stolze Panther
Wo die Banane blüht. Und der Löwe kühn.
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13 Es kam von rechts die Sonne
Kathrinchen kaut am Daumen. Gerannt in ihrem Lauf.
Was gäbs denn noch zu sehn? Zugleich ging links mit Glänzen
Vielleicht den Mond, den guten? Die Erdenkugel auf.
Gesprochen und geschehn.
Anschien den Mond die Sonne.
Schon saß sie auf dem Monde. Anschien der Mond die Erd.
Da war es ziemlich kalt. So wurde das Kathrinchen
Ein Haufen alter Krater 1-herüber belehrt.
Aus Gips und aus Basalt.
15
Es war auch ziemlich dunkel, Kaihrinchen sah zum Himmel,
Von nirgends schien ein Licht. Wo groß die Erde stand.
Kathrinchen sprach verwundert: Die Stadt lag, wo sie wohnte,
Das versteh ich nicht. Nicht weit vom untern Rand.
Sieht man den Mond von unten, Das Haus stand, wo sie wohnte,
Dann leuchtet er doch sehr. Gleich vorne in der Stadt.
Hier oben ist es finster. Kathrinchens Mutter machte
Wo kommt das Leuchten her? Eben Kopfsalat.
Ich weiß genau, der Lehrer Jetzt bin ich doch gespannt,
Hat es mir mal erzählt, Hat sich das Kind gedacht,
Doch als ers mir erzählt hat, Ob sie ihn mit Zitrone
Hab ich grad gefehlt. Oder mit Zucker macht.
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Zuerst in Richtung Heimat 17
Schmiß sie noch ihren Ball, Kathrinchen wollte schlafen.
Der flog wie ein Komete Das Licht hat noch gebrannt.
Durchs schwarze Weltenall. Vom warmen Bett zu steigen,
Kathrinchen scheußlich fand.
Dann rief sie erbsenschluckend:
Ich wollt, ich wär schon da. Zum Glück fiel ihr die Schote
Gesprochen und geschehen. Des Magiers Xaxar ein.
Recht güten Tag, Mama. Da stak noch in der Ecke
Eine Erbse klein.
16
Kathrinchen lag im Bette. Sie legt sie auf die Zunge:
Vorm Fenster lag die Nacht. Man soll das Licht ausdrehn.
Die Lampe an der Decke Gesprochen und geschlucket,
War noch nicht ausgemacht. Geschlucket und geschehn.
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Sie trugen schwarze Mäntel Hier tagt die internatio-
Mit vielen Orden dran nale Gesellschaft zum
Und starrten durch runde Brillen Erforschen der Kunstdenkmä-
Immer das Denkmal an. ler aus dem Altertum.
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»Du bist ein erfreuliches Kind«, sagte das Gerippe. »Mein dringender Wunsch ist, dir ein paar Taler zu
schenken, sagen wir, zwölf oder hundert.«
»Ich hatte höchstens mit einem gerechnet«, sagte Oliver bescheiden.
»Unglücklicherweise«, fuhr das Gerippe fort, »kann ich mir diesen Wunsch nicht erfüllen. Das Geld
ist genau abgezählt. Wenn ich es das nächste Mal zähle, würde ich die Taler vermissen Ufld mich viel-
leicht des Umstands nicht entsinnen, daß ich sie dir gegeben habe, und ich könnte an meinem Verstand
zweifeln. Nichts ist verdrießlicher, als wenn einer an seinem eigenen Verstand zweifelt.«
»Sie dürfen sie mir auf keinen Fall geben«, sagte Oliver.
»Ich wünschte sehr, es ließe sich machen«, sagte das'Gerippe.
Die Frage erhebt sich: wer redet hier? Das ist eine gute Frage. Wenn ich es euch nicht sage, woher sollt
ihr es dann wissen? Die beste Geschichte taugt nichts, wenn man sie nicht in der richtigen Reihenfolge
erzählt. Ich beginne also anders, und zwar so-
Eines Morgens, noch vor Schulbeginn, lief Oliver zur Stadtmauer, wo Tiefbauarbeiter eben dabei wa-
ren, ein Löch, das sie in die Erde gegraben hatten, wieder zuzuschütten. Nahe der Mauer war noch ein
Spalt offen. »l)arf ich diesen Brief hier hineinwerfen?« fragte Oliver den Vorarbeiter. Der Vorarbeiter
hatte keine Einwände. Oliver warf seinen Brief in die Ritze wie in einen Briefkasten. Wenige Minuten
später schaufelten die Männer die Erdschollen mit ihren Spaten darüber. Die Stelle war schnell wieder
glatt, und die Männer konnten sich daran machen, das aufgerissene Pflaster wieder einzufügen, Stein
um Stein.
An wen der Brief gerichtet war? Nun, an die Personen, von denen die Geschichte handelt. Denn das war
der richtige Anfang. Hört zu.
0 ©
Oliver hatte eine Leidenschaft. Er sammelte Münzen. Er besaß schon ein Zwanzighellerstück, fünf Fo-
rint, eine Reichsmünze (den kleinen Adler mit großem Brustschild) und drei Hannöversche Springer-
lein, welche ungeheuer alt, freilich auch schon recht abgegriffen waren. Das war keine unansehnliche
—38-
Sammlung für einen Jungen in Olivers Alter. Andererseits gebe ich zu, daß eine noch größere Samm-
lung sich durchaus vorstellen läßt. Ich will einmal so sagen: es war ganz zweifellos der Beginn einer an-
sehnlichen Sammlung.
Aber es wurde immer schwieriger für Oliver, die Sammlung zu vervollständigen. Alle Onkel und alle
Tanten hatten ihre Münzen schon hergegeben. Oliver mußte sich eine neue Quelle ausdenken. Nun
wußte er wohl, daß Schätze für gewöhnlich im Boden vergraben liegen. Leute, die sich vor Räubern
fürchten, oder Räuber, die sich vor der Polizei fürchten, vergraben ihr Geld unter der Erde, und manch-
mal sterben sie darüber, und wenn man Glück hat, kann man die Geldstüke dann, in einem Topf oder
einer Kiste verwahrt, finden.
Aus diesem Grund war Oliver anzutreffen, wo immer Schachtarbeiten im* Gange waren. Er unter-
suchte sorgfältig jedes neue Loch und jede frische Grube. Bisher allerdings hatte er noch keinen Erfolg
gehabt. Einmal war es ihm vorgekommen, als sähe er, tief im Schoße der Erde, Smaragde funkeln, aber
es waren nur grüne Flaschenscherben gewesen. Aber trotz dieser Enttäuschung gab er nicht auf. Und er
war an dem Mittag vor jenem Morgen, an welchem er auf so sonderbare Weise seinen Brief abgeliefert
hatte, auf das ausgehobene Loch an der Stadtmauer gestoßen. Er stieg hinein und wühlte in dem feuch-
ten Erdreich. Plötzlich verschwand ihm die Erde unter den Händen. Sie sackte irgedwohin nach innen
weg. Eine Öffnung tat sich auf, die zu einer Art Keller oder einem Gewölbe unter der Mauer zu führen
schien. Und als Oliver sich auf alle Viere niederließ und den Kopf durch die Öffnung steckte, rutschte
der ganze Boden in den unterirdischen Raum hinein, Oliver mit.
Oliver erkannte ein Gerippe, das vor einer aufgeklappten und mit rostigen Eisenbändern beschlage-
nen Truhe hockte und Taler zählte. Es schob die Taler von der linken Hälfte der Truhe in die rechte
hinüber und murmelte die Summe vor sich hin. Um Oliver kümmerte es sich überhaupt nicht. Dann sah
Oliver den Raben. Der Rabe stand unmittelbar neben ihm. Aber der Ort, wie ihr euch vorstellen könnt,
war durch die eingebrochene Lücke nicht eben stark erhellt, und wenn schon die meisten Dinge im
Dunkeln schwer wahrzunehmen sind, sieht man gerade Raben im Dunkeln ausgesprochen schlecht.
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»Das ist eine der vernünftigsten Bemerkungen, die ich seit langem gehört habe«, krächzte der Rabe
beifällig. »Ich will dich gerne wissen lassen, wenn ich mit dem Nichtstun fertig bin.«
Nach diesem Satz versank der Rabe in Schweigen. Und nach ungefähr einer halben Stunde tat er sei-
nen langen und kräftigen Schnabel auseinander und fragte: »Was gibts?«
»Ich bin hier nur eben durchreisend«, begann Oliver.
»Durchfallend«, verbesserte der Rabe.
»Sie drücken es viel genauer aus«, gab Oliver zu. »Ich wäre Ihnen nun dankbar, wenn Sie die Gewo-
genheit hätten, mich jener Persönlichkeit vorzustellen.«
»Warum nicht?« erwiderte der Rabe gnädig.
»Ichheiße Oliver«, sagte Oliver und machte die bei einem derartigen Anlaß erforderte Verbeugung.
»Dann komm«, sagte der Rabe.
Aber Oliver zögerte. »Ich möchte nicht neugierig erscheinen«, sagte er vorsichtig, »aber ist es ein
Herr oder eine Dame?«
»Ist das so wichtig?« knarrte der Rabe.
»Ich muß es ja anreden«, gab Oliver zu bedenken.
»Meiner Treu«, sagte der Rabe. »Ich kann mich nicht erinnern. Es ist so lange her.«
»Bitte«.. beschwor Oliver den Raben. »Denken Sie nach. Durchforschen Sie Ihr Gedächtnis.«
»Nun, wenn ich mich recht entsinne. . . «
»Ja?«
»Wenn ich mich recht entsinne«, erklärte der Rabe, »war meine Herrschaft von derselben Beschaf-
fenheit, wie ich selbst bin.«
»Jetzt bin ich eine große Sorge los«, seufzte Oliver erleichtert. Er blickte den Raben an, und ihm fiel
mit Schrecken ein, daß der Rabe ebensogut eine Räbin sein konnte. »Würden Sie mir noch die Freund-
lichkeit erweisen«, sagte er, »mir mitzuteilen, was Sie selbst sind?«
»In welcher Hinsicht«, erkundigte sich der Rabe.
»In Betreff des Geschlechtes«, sagte Oliver. »Ich meine, sind Sie ein Herr, oder sind Sie eine Dame?«
»Woran soll ich mich denn noch alles erinnern«, versetzte der Rabe mit einem Anflug von Unmut.
»Diese Sachen liegen wirklich viel zu weit zurück. Es spielt überhaupt keine Rolle mehr.«
Er nahm Oliver mit dem Schnabel beim Kragen und stellte ihn vor das Gerippe.
»Ein Junge«, erläuterte er. »Sein Name ist Oliver.«
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Das Gerippe unterbrach seine Tätigkeit. Es blickte, die mit Talern gefüllte Knochenhand in der Luft
über der Truhe haltend, Oliver aus tiefen Augenhöhlen an und sagte verwundert:
»Ein Junge? Nach Mitternacht?«
»Nicht doch«, sagte Oliver. »Es ist ja eben erst Mittag.«
»Du bist ein kleiner Dummkopf«, urteilte das Gerippe. »Ich habe ganz deutlich die zwölf Schläge
vorn Kirchturm gehört.« Es wandte sich an den Raben.
»Eine ungewöhnlich helle Mitternacht übrigens. Sieh dir nur an, was für eine Menge Licht durch das
häßliche Loch da hereindringt.«
»Es wird Vollmond sein«, vermutete der Rabe.
Oliver war klar, daß seine Gastgeber sich im Irrtum über die Tageszeit befanden, möglicherweise seit
Jahrhunderten schon. Er hätte ihnen wohl mit Entschiedenheit widersprechen können. Aber was hätte
er davon gehabt? Er wäre im Recht und sehr unhöflich gewesen. Gerade älteren Mitbürgern gegenüber,
fand er, ist es wichtiger, höflich als im Recht zu sein. Er beschloß, den Gegenstand fallen zu lassen, und
kam auf einen neuen zu sprechen.
»Darf ich mich nach Ihrer Gesundheit erkundigen?« fragte er.
»Ein äußerst bedeutsamer Gesprächsstoff«, sagte das Gerippe. »Die Gesundheit ist nicht, wie sie soll,
in keiner Weise. Der Arzt meint, es müsse in den Knochen stecken.«
»Vielleicht hat er Recht«, gab Oliver zu erwägen.
»Ich weiß nicht«, sagte das Gerippe. »Ich halte nichts von Ärzten.«
Eine Pause trat ein. Plötzlich schlug das Gerippe vor:
»Wollen wir nicht zusammen ein Lied singen?«
»Gern«, erwiderte Oliver artig. »Aber die Wahrheit zu sagen: ich bin vollkommen unmusikalisch.«
»Ich auch«, rief das Gerippe erfreut.
»Nein«, widersprach Oliver. »Von Ihnen kann ich das nicht glauben.«
»Doch«, rief das Gerippe und patschte sich vor Vergnügen mit den Handknochen aufs Kniegelenk,
daß es klirrte. »Doch, ich bin unmusikalisch. Ich gehe jetzt selten mehr aus. Aber als ich vor zehn oder
zwanzig Jahren einmal singend durch die Kirchgasse schlenderte, starrten mich alle Menschen an und
bebten am ganzen Leibe. Mein Gesang muß sich abscheulich angehört haben. Ich bin sicher, ich treffe
nicht einen richtigen Ton.«
An dieser Stelle mischte sich der Rabe in die Unterhaltung. »Essenszeit«, sagte er.
»Ich bin noch nicht fertig«, sagte das Gerippe.
—4-
»Natürlich sind Sie fertig«, sagte der Rabe. »Sie haben das Geld schon drei Mal gezählt, und es hat
jedesmal gestimmt.«
»Ich hätte mich drei Mal verzählt haben können«, sagte das Gerippe.
»Es wird gegessen«, sagte der Rabe. »Das Essen ist eben noch kalt, wenn ich es länger stehen lassen
muß, wird alles nur wieder warm. «
Das Gerippe warf Oliver einen hilflosen Blick zu. »Was soll man da machen?« klagte es. Und es
setzte hinzu: »Du bist zu-einem kleinen Mitternachtsschmaus gebeten.«
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Auf die Art brachten sie es bis zu acht Gängen.
Endlich hatte das Gerippe genug. »Der Fehler bei diesem Gericht ist, daß es zu schnell sättigt«, er-
klärte es. »Ich bekäme keinen Bissen mehr herunter, ohne zu platzen.« Der Rabe ergriff einen Fetzen
Brokatstoff, der von Staub und Rattendreck starrte, und reinigte ihm sorgfältig den Kiefer und die In-
nenseite der Rippen. Das Gerippe lehnte sich weit zurück und sagte zu Oliver:
»Ich finde dich längst nicht mehr so dumm wie am Anfang. Für einen einfältigen kleinen jungen
scheinst du mir ganz pfiffig zu sein. Leider wird es bald eins schlagen, und ich muß verschwinden.«
»Wohin verschwinden Sie?« fragte Oliver.
»In die Nebenzeit«, gab das Gerippe Auskunft.
»Die Nebenzeit?« fragte Oliver. »Darunter kann ich mir nichts vorstellen.«
»Wenn du jetzt durch die Tür dort aus dem Raum gingest«, fragte das Gerippe, »wohin verschwän-
dest du dann?«
»In den Nebenraum«, sagte Oliver.
»Also«, sagte das Gerippe. »Ich verschwinde in die Nebenzeit.«
AD
Es erhob sich und ging, langsam wie einer, der schwer gegessen hat, zu seiner Truhe. Es erklärte Oliver,
wie gern es ihm einige von den Talern schenken wolle, und weshalb das leider unmöglich war. Aber das
habe ich euch vorn schon erzählt. »Du darfst alle Taler haben, die ich auf der Erde herumliegen lasse«,
endete es.
Oliver zeigte ein erfreutes und zugleich zurückhaltendes Gesicht.
»Natürlich lasse ich keinen einzigen Taler auf der Erde herumliegen«, ergänzte das Gerippe. »Ich
mag meine Fehler haben, aber Achtlosigkeit in Gelddingen gehört jedenfalls nicht zu ihnen.« Es ent-
nahm der Truhe eine Handvoll mächtiger Gold- und Silberstücke. Dann klappte es den schweren Dek-
kel herunter, der sich ächzend in seinen Angeln bewegte und mit einem dumpfen Knall auf den Kasten
schlug, und verschloß das Behältnis mit einem ebenso riesigen wie künstlichen Schlüssel. »Etwas Klein-
geld«, bedeutete es Oliver, »sollte man immer bei sich tragen.«
»Man hat also Kosten auch in der Nebenzeit«, stellte Oliver fest.
»Sicher«, sagte das Gerippe. »Die Nebenkosten.«
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Und es steckte die Münzen in die Rocktasche.
ich sage es besser anders: es steckte die Münzen dorthin, wo die Tasche sich würde befunden haben,
falls das Gerippe einen Rock angehabt hätte. Aber seine Kleider waren längst vermodert. Ihm hingen
noch ein paar ausgebiaßte Fasern von den Schlüsselbeinen herab, mehr war von seinen Sachen nicht
übrig. Nun, es war schließlich auch nichts übriggeblieben, was mit Kleidung zu bedecken der Anstand
erfordert hätte, und besonders zu frieren schien das Gerippe auch nicht. So war sein Gewand durchaus
hinlänglich, nur eben nicht für den Zweck, Geld in ihm aufzubewahren. Die Münzen klirrten einfach
hin und sprangen Oliver um die Füße.
Oliver bückte sich eifrig und sammelte sie wieder ein. »Ich danke dir«, sagte das Gerippe. »Vielleicht
steckst du sie mir vorsichtshalber in die Weste.«
Oliver hielt die Münzen zwischen die sechste und die siebente Hippe und ließ sie los. Klirr machten
sie, und klirr, und schon waren sie wieder unten.
»Ich denke mir«, sagte das Gerippe zu dem Raben, »daß du meinen Anzug vernachlässigst.
»Ich tue, was ich kann«, sagte der Rabe.
»Alle Taschen haben Löcher«, sagte das Gerippe.
»Der Anzug ist nicht mehr der neueste«, sagte der Rabe.
• »Ich kann mir keinen besseren leisten«, sagte das Gerippe, »und er ist gut genug, wenn man ihn in
Ordnung hält.«
»Ich mag die ewige Maulerei nicht leiden«, sagte der Rabe.
»Von allen Schlampen der Welt«, sagte das Gerippe, »bist du.. .«
In dem Augenblick schlug die Turmuhr ihr dröhnendes Eins. Das Gerippe und der Rabe verschwan-
den so blitzschnell, daß Oliver sich die Augen reiben mußte. Tatsächlich, er war allein in dem Gewölbe
unter der Stadtmauer. Er und, nicht zu vergessen, die Münzen.
»Mein Gott«, rief ich aus, als Oliver sie vor mir auf den Tisch reihte. »Ein Maria-Theresien-Taler. Und
ein Engeltaler. Und ein Joachimstaler. Und ein sächsischer Klappmützentaler.«
»Und drei leibhaftige Goldgulden«, sagte Oliver begeistert.
»1-last du dich bedankt?« fragte ich.
—-
»Ich habe einen Brief geschrieben«, sagte Oliver. »Ich glaube, man muß einen Brief schreiben, wenn
man eingeladen war.«
»Unbedingt«, bestätigte ich. »Das muß man.«
»ich möchte Ihnen den Brief zeigen, bevor ich ihn aufgebe«, sagte Oliver, »ob er so in Ordnung ist.«
Der Brief hatte den folgenden Wortlaut:
»Sehr verehrte Persönlichkeit, für die freundliche Aufnahme in Ihrem Heim bedanke ich mich viel-
mals. Es war lehrreich und sehr gemütlich, und nicht jeder ist so nett zu einem fremden Jungen, der zur
Wand hereinfällt. Ich unterzeichne, mit besonderer Empfehlung auch an die Rabenpersönlichkeit, erge-
benst grüßend als
Ihr gehorsamer
Oliver.«
»Ja«, sagte ich, als ich den Brief durchgelesen hatte, »so ist er in Ordnung. Hattest du Schwierigkei-
ten, ihn abzufassen?«
»Überhaupt nicht«, sagte Oliver. »Oder höchstens mit der Anrede. Gewöhnlich überschreibe ich mit
Sehr geehrter Herr oder >Sehr verehrte gnädige Frau<, aber in diesem besonderen Fall konnte ich
mich ja auf nichts Bestimmtes festlegen. Ich finde, es ist gerade bei der Anrede wichtig, keinen Fehler zu
machen. «
Hierin, denke ich, hatte Oliver recht.
ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST
1 3
Was sieht die Ringeltaube Was sieht die dicke Kröte
Auf dein Luisenpiatz? Auf der bebliimten Au?
Das Taubennest im Laube, Die Fliege silberblau
Das sieht die Ringeltaube. Sieht starren Augs die Kröte.
Die Brotkrümel im Staube, Den Storch sieht sie genau,
Den frechen Dieb, den Spatz, Aus Angst, daß er sie töte.
Das sieht die Ringeltaube Das sieht die dicke Kröte
Auf dem Luisenpiatz. Auf der beblümten Au.
2 4,
Was sieht die Waldameise Was sieht der brave Hund
Am Grund der Birkenschneise? Zu jeder Tagesstund?
Nur immer ihren Pfad Er sieht nur seinen Herrn.
Verfolgt die Waldameise. Und das hat einen Grund.
Und läuft der Pfad im Kreise, Der Herr stopft ihm den Schlund,
Weiß sie sich keinen Rat. Drum hat der Hund ihn gern.
Die dumme Waldameise, Es sieht der brave Hund
Sie sieht nur ihren Pfad. Am liebsten seinen Herrn.
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5 7
Was sieht die Schleiereule Was sieht die Honigbiene?
Auf ihrer Marmorsäule? Die Blumen aller Farben,
Sie sieht die graue Maus. Die Astern und Schafgarben,
Nach der nur schaut sie aus. Den Raps und die Lupine.
Sie zieht die Stirne kraus Wenn erst die Blüten starben,
Und plustert ihren Flaus Soll ihre Brut nicht darben.
Und sieht, o Graus, die Maus, Drum sieht die Honigbiene
Die stumme Schleiereule. Die Blumen aller Farben.
6 8
Was sieht der Perlenreiher? Was sieht die Kleidermotte
Der Reiher sieht nur Weiher Dort von der Zimmerdecke?
Und etwas Schilfgebüsch. Die Truhe in der Ecke
Sonst sieht er nichts, der Reiher. Erkennt die Kleidermotte.
Im Schilf sind seine Eier, Die Hosen und die Fräcke,
Im Weiher ist sein Fisch. Das gute Kleid von Lotte,
Drum sieht der Perlenreiher Das sieht-. die Kleidermotte
Nur Schilfgebüsch und Weiher. Dort von der Zimmerdecke.
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9 10
Was sieht die Felsenziege Was sieht das kluge Kind
Von dem Gebirge bloß? In der erfüllten Welt?
Ein Fleckchen graues Moos, Die Dinge, wie sie sind,
Das sieht die Felsenziege. Seht das gescheite Kind.
Kein Gipfel ist so groß, Weil es in Wald und Feld
Daß sie ihn nicht erstiege, Die Augen offen hält.
Hat sie ein Fleckchen Moos Es ist nicht blind, das Kind.
Erspäht, die Felsenziege. Es sieht die ganze Welt.
Nun glaubt ihr wohl, sie hätte Und nun sollt ihr verstehen
Die allerschärfste Sieht? Den Schluß VOfl der Geschicht:
Im grünen Tal die Städte So viel wie Menschen sehen,
Sieht die Ziege nicht. Sehen Tiere nicht.
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In Berlin, einer größeren Stadt in der norddeutschen Ebene, stößt der Wanderer, welcher, die Rosen-
thaler Vorstadt durchquerend, den Prenzlauer Berg ersteigt und bis zu einem ziemlich stark belaufenen
Platz, dem Antonpiatz, vor-dringt, unweigerlich auf die Werkstatt des Uhrmachers Merle. Der Laden, so
unansehnlich er in seinem schmalen, windschiefen Haus daliegt, ist kaum zu verfehlen; denn in dem
winzigen Schaufenster erblickt man, wann immer man des Wegs kommt, eine Uhr von ausgefallener
Bauart oder seltener Kostbarkeit. Es handelt sich nicht jedesmal um dieselbe Uhr. Zuweilen ist sie aus
holz geschnitzt und ähnelt einem Tempel, zuweilen ist sie aus Bronze gegossen und zeigt eine schöne
nackte Frau, die, den sanften Blick hinab auf einen Zirkel gesenkt, über irgendeiner Rechenaufgabe
grübelt, aber auf jeden Fall ist sie ein bemerkenswertes Stück und erregt Bewunderung. Es sind diese
ausgestellten Uhren auch keineswegs das Eigentum des Uhrmachers Merle. Der Uhrmacher Merle hat
nicht das Geld, um sich solche kunstreichen Zier- und Räderwerke anzuschaffen. Nein, die Uhren ge-
hören den Kunden des Uhrmachers. Sie waren entzwei; er hat sie wieder in Gang gebracht; und wenn
sie heil und blank sind, stellt er sie in seinem Fenster zur Schau, den Besuchern des Antonpialzes zur
Belehrung und zur Freude.
Aber, so könnte man mich jetzt fragen, wollen denn die Uhrenbesitzer ihre Uhren nicht wiederha-
ben ?Allerdings, hier steckt der Haken. Selbstverständlich wollen die Uhrenbesitzer ihre Uhren wieder-
haben. Schließlich haben sie mindestens ein Jahr lang aufs Ganzmachen gewartet. Sie sind äußerst
ungeduldig, ihre Uhr endlich wieder an ihrem Platz auf der Kommode oder dem Bücherbord zu sehen.
Aber der Uhrmacher Merle gibt die Uhr nicht her. Er kann sich von ihr nicht losreißen. Der Kunde
kann bitten und schimpfen, so viel er will, der Uhrmacher Merle hat immer eine Ausrede. Ein Teil, sagt
er, sitzt noch nicht recht. Oder er sagt, es dauert noch manche Woche, bis er sicher ist, daß die Uhr auch
regelmäßig tickt, keine Sekunde zu schnell oder zu langsam. Der Kunde muß sich bescheiden, und in
der Zwischenzeit prunkt dann die Uhr in dem Ladenfenster, sowie ich das beschrieben habe.
Eines zeitigen Januartages bemühte ich mich, und bestimmt nicht zum ersten Mal, zum Antonplatz,
um meine Uhr abzuholen. Die Uhr hat die Form eines großen schwarzen Adlers, weicher das Ziffer-
blatt, eingehängt in einen grünen geschnitzten Vorhang, zwischen den vergoldeten Krallen hält, und sie
war spätestens seit dem Sommerfertig. Der Uhrmacher Merle begrüßte mich in seiner leisen, freundli-
chen Art. Wir sprachen über dies und jenes. Natürlich nicht über die Uhr. » Wissen Sie eigentlich«,
plauderte der. Uhrmacher, »nach wem der Antonpiatz seinen Namen trägt?« - »Nach wem denn
schon«, gab ich zur Antwort, »nach dem berühmten Anton doch zweifelsohne.« - » Viele glauben das«,
versetzte der Uhrmacher, »aber sie befinden sich alle miteinander im Irrtum. Der Antonpiatz heißt
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nicht nach dem berühmten Anton. Er heißt nach dem kleinen Anton.« - »Dem kleinen Anton?« wun-
derte ich mich. » Von dem kleinen Anton habe ich ja überhaupt noch niemals vernommen.«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte der Uhrmacher Merle. » Wir wollen heute einmal Ihre Uhr
ganz vergessen, es ist ohnehin noch eine Kleinigkeit an ihr zu richten. Aber ich will Ihnen erzählen,
wie es zustande kam, daß der Antonpiatz seinen Namen nicht dem berühmten Anton, sondern dem
kleinen Anton verdankt. Es ist eine über die Maßen abenteuerliche Geschichte, und Sie werden nicht
bereuen, den langen Weg hier heraus zurückgelegt und sich diese Geschichte von mir angehört zu
haben.«
Der kleine Anton war ein netter, kleiner, schüchterner Junge. Er wäre mit aller Welt gut Freund gewe-
sen, wenn das Unglück nicht gewollt hätte, daß seine Wohnung ausgerechnet auf dem Antonplatz lag.
Denn die anderen Jungen vom Antonpiatz, welche Axel oder Bertram oder sogar Heini hießen, hiel-
ten für lustig, den kleinen Anton mit seinem Vornamen zu hänseln.
»Heißt der Platz nach dir, Anton?« erkundigten sie sich.
»Laßt das doch«, sagte Anton.
»Aber auf dem Straßenschild steht Anton«, quiekten die blöden Kerle und schütteten sich aus vor
Lachen.
Der ganze Jammer, dachte der kleine Anton traurig, kommt daher, daß ich noch so ein kleiner Junge
bin. Wäre ich groß und erwachsen, würde mich keiner auslachen. Ja, vielleicht wäre ich dann so angese-
hen, daß man wirklich einen Platz nach mir nennen könnte. Die Erwachsenen haben es gut. Sie bekom-
men alle Tage Post, 'und sie weinen niemals, denn sie haben keine ernsthaften Sorgen.
Am vergangenen Silvesterabend trottete der kleine Anton zum Gebäude der städtischen Kalender-
druckerei.
Anton liebte neue Kalender. Er konnte in ihnen mit Augen lesen, daß er älter wurde. Gewöhnlich er-
hält man in den Geschäften neue Kalender erst im Februar, aber Anton hoffte, daß sie in der Druckerei
vielleicht schon eher fertig waren. Als er sein Ziel erreicht hatte, sah er vor sich zwei Gestalten zur Tür
hineingehen: einen Greis, der,'seinem herabgekommenen Äußeren nach zu schließen, wenig auf sich zu
halten schien, und einen Jüngling, dem noch nicht einmal ein Bart wuchs. Es waren natürlich das alle
und das neue Jahr.
» Was sie dort machten?« fragte der Uhrmacher Merle. »Nun, was macht so ein neues Jahr schon? Es
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tritt ein. Wo tritt es ein? hn Kalender. Das neue Jahr war in Begleitung des alten zum Kalenderrnann
gegangen, denn es hatte ja in kürzester Frist einzutreten vor. «
Anton ging den beiden Jahren hinterher. Sie setzten sich ins Vorzimmer und warteten auf das Getöse
der Knallfrösche und das Läuten der Glocken.
Das alte Jahr stellte seine Aktentasche vor sich, auf den Schoß und packte einen Stapel Papiere auf den
Tisch. »Beginnen wir ruhig schon mit der Übergabe«, sagte es. »Dieses Fleft betrifft die Wälder.«
»Auf die Wälder«, sagte das neue Jahr, »freue ich mich besonders.«
»Nun ja«, sagte das alte Jahr, »die meisten sind umgebrochen, wegen der vielen Stürme. Dieses näch-
ste Heft enthält das Verzeichnis der Dächer. Es ist klar, daß so ziemlich alle undicht sind. Nichts als I-Ia-
gel und immer FIagel, wie soll da der Dachdecker nachkommen? So, aber nun zu den Straßen. ich
würde ihren Zustand nicht eigentlich als rettungsbedürftig bezeichnen. ..«
»Gottseidank nicht«, unterbrach das neue Jahr.
»Nein«, sagte das alte. »Der Zustand ist unrettbar. Vergiß nicht das große Hochwasser nach der
Schneeschmelze.«
»Sind alle deine Akten so beunruhigend?« rief das neue Jahr ängstlich.
»Sie sind in gar keiner Weise beunruhigend«, versicherte das alte Jahr, »wenn man seine Wange auf
sie bettet und schläft.«
»So mag ich nicht anfangen«, klagte das neue Jahr. »Ich will schön und heiter anfangen, es sind eine
Menge Erwartungen in mich gesetzt. Was für ein Amt übergibst du mir da!«
Das alte Jahr senkte den Kahlkopf. »Es ist mir selbst ein wenig unangenehm«, murmelte es. »ich war
wohl nicht besonders erfolgreich. Aber geschehen ist geschehen; du wirst schon dort beginnen müssen,
wo ich aufgehört habe.«
»Ist denn gar kein Ausweg?« bat das neue Jahr und rang die Hände.
»Ein Ausweg wäre«, sagte das alte Jahr nachdenklich. »Aber zu dem habe ich keine Lust. Du könn-
test natürlich für diesmal zurücktreten und mich ein zweitesmal an die Reihe lassen, ich würde dir dann
eine bessere Erbschaft übergeben, das verspreche ich.« Es betrachtete das neue Jahr mit einem berech-
nenden Blick aus den Augenwinkeln und fügte hinzu: »Lieber hätte ich meinen Frieden.«
Das neue Jahr hatte nicht nur eine unschuldige Miene, offenbar' hatte es auch ein unschuldiges Herz.
»Oh bitte«, flehte es, »komm doch. noch ein Mal!«
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»Wenn du so in mich dringst«, sagte das alte Jahr. »Abgemacht.«
»Abgemacht«, sagte das neue Jahr glücklich.
»Das ist ein Vertrag«, .sagte das alte Jahr.
»Das ist ein Vertrag«, bestätigte das neue.
Und sie schlugen ein und drückten sich die Hände.
Anton, der still in einer Ecke gesessen und das Gespräch mit angehört hatte, war blaß vor Entsetzen.
»Anton wollte erwachsen werden«, erläuterte der Uhrmacher Merle. »Man muß das im Auge behal-
ten. hätte Anton nicht Anton geheißen oder der Platz nicht Antonpiatz,. dann hätte er es vielleicht ganz
drollig gefunden, das gewesene Jahr doppelt zu erleben. Aber im Argen, wie die Dinge für ihn lagen,
ging es ihm nur darum, schnell voranzuschreiten. Der 1-landet durfte nicht stattfinden. Also öffnete An-
ton die große Flügeltür, an weicher ein Schild mit der Aufschrift )Kalendermann, Eintritt verboten!( be-
festigt war. Man erreicht nirgends so viel«, verlautbarte der Uhrmacher Merle, »wie hinter Türen, auf
denen )Eintritt verboten!? steht.«
»Folgendes ist geschehen«, sagte Anton. »Das alte Jahr hat dem neuen Jahr die Genehmigung abge-
schwatzt, noch einmal stattzufinden. Es will sich wiederholen.«
»Unglaublich«, sagte der Kalendermann.
»Sie haben sogar einen Vertrag gemacht«, sagte Anton. »Mit Handschlag.«
»Unglaublich«, sagte der Kalendermann. »Einfach hier hereinzukommen. Hättest du nicht wenig-
stens anklopfen können?«
»Ich glaube«, sagte Anton, »was ich Ihnen erzähle, ist vielleicht doch noch schlimmer.«
»Schön ist es nicht«, räumte der Kalendermann ein.
»Werden Sie es verhindern?« schlug Anton vor.
»Wie kann ich?« sagte der Kalendermann. »Das Wetter richtet sich nicht nach dem Kalender, der
Kalender richtet sich nach dem Wetter. Draußen ist Winter, also drucken wir: es ist Winter. Wenn wir
drucken wollten: es ist Sommer, würden,alle Leute ihren Badeanzug anziehen und am untern frieren
und Eingaben gegen uns schreiben. Deswegen haben wir uns angewöhnt, im Großen und Ganzen zu
drucken, was ist. Wenn das alte Jahr wiederkehrt, muß ich den alten Kalender wieder drucken.«
»Aber das wäre furchtbar«, sagte Anton.
»In der Tat«, sagte der Kalendermann. »Wir sind auf den Fall völlig unvorbereitet. Es wird nun wohl
bis Juli dauern, bis die neuen alten Kalender fertig sind.«
— 53 —
»Das ist nicht das Hauptunglück«, erklärte Anton. »Das Hauptunglück ist, daß dann die Kinder nicht
mehr wachsen. Die allerkleinsten müssen sogar noch ein Mal zur Welt gebracht werden. Die Schulkin-
der bleiben, sozusagen, alle sitzen. Wie soll man denn weiterkommen?«
»Hör auf«, sagte der Kalendermann. »Es ist nichts zu machen. Du selbst sagst, sie haben einen Ver-
trag. Ein Vertrag kann nur durch ein Gericht aufgehoben werden, oder zur Not durch ein Schiedsge-
richt. Ein Schiedsgericht besteht aus drei unbescholtenen Bürgern. Wo willst du, jetzt kurz vor Silvester,
drei unbescholtene Bürger hernehmen, sage mir das!«
Anton sagte es ihm nicht. Er war schon auf die Straße hinaus gelaufen.
Aber auf der Straße gab es wirklich keinen einzigen Menschen. Nur eine leere Straßenbahn nach der
anderen rumpelte an Anton vorbei. Der Schnee schimmerte im Licht der Laternen. Da dauernd ein
paar Flocken fielen, waren sogar die Fußstapfen zugeschneit, und nur die Spur, die Antons Stiefelsohlen
in die silberne Fläche drückten, zog sich wie eine Perlenschnur über den schweigenden Damm.
*s.
Endlich traf Anton den ersten Bürger. Es war ein Schwein, welches auf einer seiner Hinterpfoten um ,
einen Brunnen tanzte.
»Sind Sie sehr beschäftigt?« frage Anton das Schwein.
»Sehr«, gab das Schwein zur Auskunft. »ich bin glücklich.«
>Immer?« wollte Anton wissen.
»Nun«, überlegte das Schwein, »immerfort glücklich ist wohl keiner, auch ein Glücksschwein nicht.
Zum Beispiel sind im Winter die Pfützen zugefroren, und ich kann mich nicht in ihnen wälzen. Aber
was tue ich? Ich bitte vorübergehende kleine Jungen, mich auf dem Rücken zu kratzen.«
Das Schwein zwinkerte mit den Äuglein, und Anton kratzte ihm den Rücken. »Alles wird gut«, sagte
es.
»Ich wollte Sie um einen Gefallen bitten«, begann Anton mutig. »Das neue Jahr hat dem alten Jahr
seine Stelle abgetreten, und ich suche drei unbescholtene Bürger, die ein Schiedsgericht bilden und
hiergegen einschreiten könnten.«
»Eine Hand kratzt die andere«, erklärte das Schwein. »Außerdem ist es ein Mißstand. Ich mache
nut. «
»Ach, aber es fehlen noch zwei«, sagte Anton dankbar und traurig.
— 54 —
»Wie wäre es mit dem da?« Das Schwein zeigte zum Himmel. Da stand auf dem Dach der Schorn-
steinfeger. Er war nur als schwarzer Umriß sichtbar, so als wäre er mit einer Schere aus dem Mond au-
geschnitten gewesen. Aber er war an seinem Zylinder zu erkennen., Es stehen ja die wenigsten Men-
schen auf dem Dach. Und wenn die Menschen, die auf dem Dach stehen, dann noch einen Zylinderhut
auf dem Kopf tragen, kann man sich ziemlich fest darauf verlassen, daß es sich bei diesen Menschen um
Schornsteinfeger handelt.
Das Schwein legte eine Pfote an die Schnauze. »Könnten Sie nicht einmal herabsteigen, bester
Freund«, brüllte es nach oben.
»Ich warte aufs neue Jahr«, brüllte der Schornsteinfeger nach unten.
»Ich auch«, brüllte das Schwein zurück. »Aber das kommt nicht, wenn Sie nicht kommen.«
Während der Schornsteinfeger in seiner Luke verschwand, kam ein schmächtiger Herr mit einem
Zwickelbart um die Ecke gebogen. »Guten Abend, Schwein«, begrüßte er das Schwein. Und: »Guten
Abend, Schornsteinfeger« den Schornsteinfeger, der eben aus der Haustür trat. »Und wer bist du?«
fragte er Anton.
»Ich bin der kleine Anton.«
»Ich bin der Feuerwerkshosenschneider. «
»Bitte«, sagte Anton, »es ist wichtig, daß Sie mich nicht anflunkern. Ich kann nur unbedingt unbe-
scholtene Bürger brauchen. Es gibt doch gar keine Feuerwerkshosenscheider.«
»Es gibt mich nicht?« erkundigte sich der zwickelbärtige Herr etwas empfindlich.
» Sie schon«, stellte Anton klar. »Aber es gibt keinen Feuerwerkshosenschneider, das ist es, weshalb
ich annehme, daß Sie flunkern.«
»Womit bedeckst du die untere Hälfte deines Körpers?« forschte der Feuerwerkshosenschneider.
»Mit einer 1-lose«, gab Anton zu.
»Und die untere Hälfte eines Feuerwerkskörpers?« setzte der Zwickelbart das Verhör fort. »Soll der
vielleicht nackt herumlaufen?«
Mit dieser Beweisführung war Anton einverstanden.
»Ich mache es kurz«, sagte der Uhrmacher Merle. »Antons drei neue Bekannte willigten ein, ihm zu
helfen. Sie folgten ihm zur städtischen Kalenderdruckerei und traten unverzüglich zu einem Schiedsge-
richt zusammen.«
»Wenn ich Sie nicht gehabt hätte«, sagte Anton aufgeregt zu dem Schwein.
»Ja«, sprach das.Schwein. »Ein Schwein wie mich muß man haben.«
—55-
e
— 56 —
»Prost«, sagte das alte Jahr. »Prost Altjahr. Noch fünf Minuten, und ich komme wieder.«
»Sie kommen nicht wieder!« sagte Anton.
»Sei nicht starrsinnig, mein Junge«, riet der Kalendermann. »Du selbst hast dieses Gericht auf die
Beine gebracht. Soll es nun nicht so sein, wie das Gericht urteilt?«
»Doch«, sagte Anton. »Es soll so sein.«
»Ich gehe«, sagte der Kalendermann, »meine Kalender umdrucken.«
»Aber verstehen Sie doch«, sagte Anton. »Das Gericht hat doch das alte Jahr verboten.«
Jetzt glaubten alle, Anton hätte vor Kummer den Verstand verloren. Aber Anton machte ein ganz
vergnügtes -Gesicht und fuhr mit den folgenden Worten fort:
»Wie lautet das Urteil? Das alte Jahr darf noch ein Mal wiederkommen. Ein Mal, nicht öfter. Aber
das alte Jahr kann gar nicht ein Mal wiederkommen. Wenn es wiederkommt, kommen die Stürme, der
Hagel, das Hochwasser wieder, alles, wie es stattgefunden hat. Der einunddreißigste Dezember kommt
wieder, wie stattgefunden. Das neue Jahr wird wieder überlistet, wir müssen wieder das Urteil fällen,
und das Urteil wird wieder lauten wie das heutige. Wenn das alte Jahr ein Mal wiederkommt, dann muß
es immer wiederkommen. Und das hat das hohe Gericht ausdrücklich untersagt.«
»Betrug«, zischte das alte Jahr. (»Es ist festhaltenswert«, merkte der Uhrmacher Merle an, »mit wel-
chem Nachdruck Betrüger ihren Abscheu zu äußern pflegen, wenn sie betrogen werden.«) Der Hauch,
womit das alte Jahr zischte, war frostig und mit feinen Eiskörnern durchmengt, die den Anwesenden röt-
liche Löcher in die Backen schlugen. »Aber man wird sich an mich erinnern: als an das plagenreichste,
widernatürlichste und unleidlichste Jahr seit dem Anfang der Welt.«
Diesen trostvollen Gedanken hervorgezischt, verließ es den Raum und entschwand in der Dunkel-
heit.
Der Kalendermann öffnete weit die Tür zu seinem Amtszimmer. »Belieben Sie einzutreten«, sagte ei-
zu dem neuen Jahr. Und das neue Jahr trat, genau in dem Augenblick, wo der Sekundenzeiger, der Mi-
nutenzeiger und der Stundenzeiger auf der Ziffer zwölf zusammentrafen, ein.
»Viel Glück«, sagte das Schwein zum kleinen Anton und schüttelte ihm die Hand.
»Viel Glück«, sagte hiernach der Schornsteinfeger.
—57-
»Viel Glück«, sagte auch der Feuerwerkshosenschneider. Sie sagten alle drei dasselbe. Aber wenn
ein Satz der richtige Satz für eine bestimmte Gelegenheit ist, ist es ziemlich überflüssig, lediglich der Ab-
wechslung wegen nach einem anderen zu suchen.
Der Kalendermann aber hob den Telephonhörer von der Gabel und verlangte: »Verbinden Sie mich
mit dem Kollegen Straßenümtäufer! Was, es ist Neujahr? Wem erzählen Sie das, mir?« Er wardte sich
zu den Umstehenden. »Ich erwische ihn jetzt oder nie. Er ist unser meistbeschäftigtes Ratsmitglied.«
»Dieses Teiephongespräch hatte offenkundig seine Auswirkungen«, erläuterte der Uhrmacher Merle.
»Denn wenn ich überspringe, wie der kleine Anton heimkam, und wenn ich die ganze erste Woche des
neuen Jahres weglasse, gelange ich zu einem Tag, wo im Hausbriefkasten ein Brief lag, der zu Antons
großem Entzücken an ihn selbst gerichtet war.«
»Sehr geehrter Schüler Anton«, stand in dem Brief, »der Rat der Stadt Berlin hat einstimmig be-
schlossen, Ihre Verdienste um das ordnungsgemäße Eintreffen des neuen Jahres durch Umbenennung
des bisherigen Antonpiatzes in Schüler-Anton-Eisenblätter-Platz( zu ehren. Mit freundschaftlichen
Grüßen, Ihr ..
Stadtischer Straßenumtaufer. «
Anton erwiderte, nach einigem Nachdenken, den Brief mit folgendem Brief.
»Sehr geehrter Herr Straßenumtäufer«, so schrieb Anton, »ich freue mich, daß Sie den Antonplatz,
auf, dem ich wohne, nach mir persönlich nennen wollen; denn nun kann mich so leicht kein Junge mehr
hänseln. Aber der Name )Schüler-Anton-Eisenblätter-Platz< gefällt mir nicht besonders. An eine so
lange Anschrift schreibt doch niemand freiwillig, und Sie müssen wissen, ich erhalte gern Post. Meinen
Sie nicht, Antonplatzc genügt? Mit freundschaftlichen Grüßen, Ihr
Schüler Anton Eisenblätter.«
»So wurde der Antonpiatz«, schloß der Uhrmacher Merle seine Erzählung, »wie ich ihnen schon
sagte, aus 4ntonplatz (nach dem berühmten Anton) in >Antonplatz (nach dem kleinen Anton) umbe-
nannt.« - »Das ist eine gute Geschichte«, meinte ich, »und mit einem gerechten Ausgang. « - »Nicht
vrahr?« stimmte der Uhrmacher mir bei. Schließlich verdanken wir es diesem aufgeweckten Knaben,
däß wir alle-in der Neujahrsnacht miteinander anstoßen und pünktlich den Beginn eines schöneren
und besseren Jahres feiern konnten. « - »Ich nicht, mein lieber Merle«, sagte ich. »Alle haben pünktlich
gefeiert, ich leider nicht.« - »Sie nicht:?« erkundigte sich der Uhrmacher Merle teilnahmsvoll, »wes-
halb denn nur nicht ?« -'» Übersehen Sie doch nicht, mein werter Freund«, erwiderte ich, »daß Sie mir
meine Uhr noch nicht zurückgegeben haben. «
—58-
JULES RATTE
ODER
SELBER LERNEN MACHT SCHLAU
Ein Kind mit Namen Jule janke Drauf sprach die Jule zu dem rfle,.e:
Sah eines Morgens, blaß vor Schreck, Du Mutter der Verfressenheit,
Es warn in ihrem Bücherschranke Wer hilft mir nun, wenn ich studiere?
All die gelehrten Bücher weg. Wer rät mir bei der Schularbeit?
Da lag nur, noch im Hintergrunde Von meinen Büchern blieben Fetzen,
Eine benagte Heimatkunde, Du sollst sie, denn du kannsts, ersetzen.
Und ein paar Schnipsel von Papier Willst du das tun? Die Ratte will.
Die lagen traurig neben ihr. Und unsre Jule lächelt still.
Die Jule rannte voller Galle Oder die Jule spricht: ist 7
Zu einem Trödler, alt und krumm, Und 1 wohl 8? Die Ratte nickt.
Und kaufte eine Rattenfalle So hat die Jule 8 geschrieben
Aus Draht und Aluminium. Und hat dafür ein Lob gekriegt.
Und legt das Buch in das Gebauer, Und wenn sie nicht mal raten wollte
Sich selbst hingegen auf die Lauer. Und sich nur faul aufs Sofa rollte,
Die Ratte kam bei Mondenschein, Dann trug die Ratte ganz allein
Roch an der Falle und ging hinein. Mit tintigem Schwanz die Antwort ein.
—59-
So gings zuhaus. Doch in der Schule, Und Jules Ratte mit den andern
Wie ging es da? Geduld, Geduld. Bestieg den Zug um 9 Uhr 4,
Beim Unterricht, da hatte Jule Um nach Granada auszuwandern.
Die weise Hatte unterm Pult. Dort wurde sie ein großes Tier.
Und ließ die Lösung aller Fragen Sie schrieb ein Buch, gelobt von allen,
Sich heimlich von der Hatte sagen Über den Bau von Katzenfallen
Und schrieb nie Aufsatz noch Diktat Und eine komplizierte Schrift
Ohne die Hatte und ihren Rat. Zum Thema Rattengegengift.
Der Lehrer prüfte allzu gerne Ihr könnt euch denken, wie der Jule
Die Jule vor der Schülerschar. Das faule Herz im Halse stak,
Er glaubte, daß sie fleißig lerne, Als nächsten Morgens auf dem Stuhle
Was leider nicht die Wahrheit war. Ein eng beschriebener Zettel lag:
Dann rief er freudig: danke, janke. Dies halbe Jahr mocht ich dir schenken,
Die Ratte grinste in der Banke. Jetzt mußt du wieder selber denken.
Und Jule setzt sich wieder hin, Ergebenst, Piep. Mit trübem Sinn
Pampig wie eine Königin. Ging Jule nach der Schule hin.
Die Knospen waren aufgesprungen. Dci' Schulrat kam just an dem Tage
Es kam der Mai und kam die Zeit Mit einer ganzen Kommission.
Der großen Rattenwanderungen. An Jule ging die erste Frage.
Und alle machten sich bereit. l)ic Jule sagte keinen Ton.
Sie krochen, nimmermehr› zu zählen, Denn da saß niemand, ihr zu zeigen,
Aus Küchen, Kellern und Kanälen Was sie nicht wußt. Der Rest war Schweigen.
Und saßen schweigend, Ratz an Ratz, Der Schulrat murmelt: Das ist ja
im Mondlicht auf dem Bahnhofsplatz. Das dümmste Mädchen, das ich sah.
60-
Jetzt sieht man Jule, tief die Locken
In Berge von Papier getaucht,
In einer Bücherhalle hocken.
Es ist ihr Kopf, was da so raucht.
Nur eigene Weisheit macht den Weisen.
Ratgeber können mal verreisen.
Der kluge Freund läßt dich im Stich.
Dann fragst du wen?
1
Immer wenn es regnete, langweilte sich Leberecht. Immer wenn Leberecht sich langweilte, setzte er sich
ans schiefe Fenster, weil es dort doch noch ein wenig mehr zu sehen gab als anderswo.
»Merkwürdig«, sagte Leberecht, als er zum schiefen Fenster hinausblickte, zu sich selber, »an die-
sein Fenster regnet es immer.«
2
Dann sah er ein graugelbes Kätzchen sehr eilig die Hauptstraße hinablaufen. Das Kätzchen trug eine
schwere goldene Taschenuhr im Maul, und die schwere goldene Kette, woran sie hing; baumelte fast bis
auf das feuchte Pflaster.
Hinter dem Kätzchen her fuhr die dicke Frau Propst auf einem Klapprad. Ihr Gesicht war vorn Regen
und von der Anstrengung gerötet. Es hatte den Anschein, als ob sie das Kätzchen verfolge. Beide, erst
das Kätzchen und dann die dicke Frau Propst, verschwanden um die Ecke zum Salzmarkt.
3
Leberecht hatte die Gewohnheit, sich zu den Ereignissen, die vor dem schiefen Fenster begannen, eine
Fortsetzung auszudenken.
»Was mag da vorgefallen sein?« fragte er sich.
»lJnd wie könnte (las weitergehen?« überlegte er.
»Vermutlich .. .«
— 64 —
rd
Am Salzmarkt schien schon wieder die Sonne.
Das Kätzchen saß mit der Taschenuhr auf einem Baugerüst, das die Dachdecker am Haus des Bäk-
kers Semmelkern errichtet hatten. Die dicke Frau Propst hatte ihr Klapprad gegen die Wand gelehnt
und versuchte, das Gerüst ebenfalls zu erklettern.
Der Bäcker trat aus der Tür und sagte: »Steig herunter, Erna. Ich bin zufrieden, daß die Dachdecker
kommen wollen; und nun brichst du mir alle Bohlen durch.«
Aber die dicke Frau Propst hörte gar nicht auf ihn.
Da nahm der Bäcker Semmelkern eine strenge Miene an und sprach:
»Ich befehle dir dienstlich, herunter zu steigen; denn du gefährdest die Sicherheit, und ich bin ein
Helfer der Polizei.«
5
»Wenn du ein Polizeihelfer bist«, sagte die Frau Propst, »so wirf einmal einen Blick auf diese Katze.«
»Gern«, willigte der Bäcker ein.
»Ist es nicht furchtbar!« rief die Frau.
»Was denn?« erkundigte sich der Bäcker.
»Bemerkst du denn nichts?« rief die Frau.
»Nein«, entgegnete der Bäcker. »Meinst du, ich sollte etwas bemerken?«
»Die Uhr!« rief die Frau.
»Furchtbar!« rief nun auch der, Bäcker Semmelkern. »Es geht schon auf halb eins, und die Schrippen
für den Freitagnachmittag sind noch nicht im Ofen!«
Er wollte rasch in seine Backstube zurück, aber die dicke Frau Propst hielt ihn am Ärmel fest. »Ich
bringe hiermit zur Anzeige«, sprach sie, »daß dieses boshafte Tier diese goldene Uhr, welche aus dem
Besitz meines verstorbenen Bruders Oswald stammt, gestohlen hat.«
.6
»Kein Wort ist wahr«, sagte das Kätzchen. »Er hat mir die Uhr vererbt.«
»Schriftlich?« fragte der Bäcker.
»Schriftlich«, sagte das Kätzchen. »In seinem Testament.«
—65-
»Weshalb hätte er das tun sollen?« fragte der Bäcker.
»Wir waren Milchbrüder«, erklärte das Kätzchen. »Ich stahl in demselben Milchladen, in welchem er
kaufte.«
Der Bäcker wandte sich an Frau Propst. »Was erwiderst du hierzu, Erna?«
»Mein verstorbener Bruder Oswald war leider ein ausgemachter Narr«, brummte sie. »Wozu braucht
'eine Katze zu wissen, wie spät es ist?«
»Katzen wissen auch ohne Uhr immer, wie spät es ist«, sagte das Kätzchen verächtlich. »Aber diese
goldene Uhr gefällt mir; ihr Ticken ist zart und fein und bringt mich zum Spinnen.«
7
Der Bäcker Semmelkern dachte eine Weile lang nach. Dann öffnete er den Mund und verkündete:
>Ich entscheide jetzt den Rechtsstreit. Das beklagte Kätzchen muß die geerbte Uhr an Frau Erna
Propst herausgeben, weil es nämlich nicht erben darf. Es ist keine Person, jedenfalls keine juristische
Person.«
»Was ist eine juristische Person?« wollte das Kätzchen wissen.
»Eine richtige Person eben«, sagte die Frau, »eine Person wie ich.«
»Ich möchte gar keine Person wie Sie sein«, bemerkte das Kätzchen. »Um keinen Preis der Welt
nicht. «
»Die Dame will sagen«, erläuterte der Bäcker, »daß eine juristische Person so viel bedeutet wie eine
Person, welcher erlaubt ist, Geschäfte abzuschließen. Du bist eine Person, insofern als du persönlich
Mäuse fängst oder persönlich auf der Mauer schläfst oder persönlich deine Lieder singst, aber du bist
keine Person im gesetzlichen Sinne; so ist das Testament des verstorbenen Oswald Propst, was die Hin-
terlassenschaft an dich betrifft, ungültig, und 'die Frau Erna Propst kann dir die Uhr abfordern, wenn sie
darauf besteht. «
»Und ob ich darauf bestehe«, rief die dicke Frau Propst. »Komm sofort herunter!«
8
Das Kätzchen stieg ganz gehorsam herunter und trat, zierlich die graugelben Pfoten setzend, vor die
dicke Frau Propst hin. Aber was war das? Es hatte die Uhr nicht mehr.
—1;-
»Wo hast du meine Uhr?« rief die Frau ängstlich.
»Ich habe sie fallen lassen«, antwortete das Kätzchen, »als Sie mich zum Reden zwangen. Schließlich
spricht man nicht mit vollem Munde; es gilt allgemein als unfein, selbst wenn es sich um eine goldene
Taschenuhr handelt.«
»Aber wo ist sie nun?« rief die Frau und schlug die Hände zusammen.
»Weg«, erwiderte das Kätzchen kühl.
9
In dem Augenblick kam ein Sperling aus der Luft geflattert, er trug die verschwundene Uhr im Schna-
bel. »Sie haben wohl diese wertvolle Uhr verloren, nicht wahr?« sagte er zu dem graugelben Kätzchen.
»Kann sein«, sagte das Kätzchen unwillig. »Kann sein, auch nicht.«
»Ich habe sie gefunden«, erklärte der Sperling stolz. »Ich besitze nämlich in dem Efeu, der hier an
dem Baugerüst rankt, ein Nest vom vergangenen Jahr. Eben fliege ich vorbei, um einmal wieder nach
ihm zu sehen, und was entdecke ich darin? Die Uhr! Sie muß Ihnen zufällig hineingeglitten sein.«
»Sicher«, bestätigte das Kätzchen. »Es war reiner Zufall. Und nun geben Sie die Uhr her«, fügte es
hinzu, »und scheren sich dann vielleicht dorthin, woher Sie gekommen sind.«
»Ich hätte mit etwas Dank rechnen können«, sagte der Sperling gekränkt, »aber ich begnüge mich mit
dem Finderlohn.«
»Ich brauche nichts zu zahlen«, sagte das Kätzchen. »Ich bin keine juristische Person, mit mir macht
man keine Geschäfte.«
»Unter anständigen Leuten«, versetzte der Sperling, »bezahlt man seine Schulden und redet sich
nicht mit Ausflüchten heraus.«
»Unter anständigen Leuten«, sagte das Kätzchen, »verlangt man kein Geld für eine selbstverständli-
che Gefälligkeit.«
»Ich pflegte von Katzen immer schlecht zu denken«, sagte der Sperling, der das letzte Wort behalten
wollte, »ich habe meine ganz bestimmten Gründe dafür,«
Nun hatte er das letzte Wort, und er verließ flatternd diese merkwürdige Geschichte.
ui
-1-IS-
10
»Hereingefallen, du diebisches Biest!« rief die dicke Frau Propst und riß dem Kätzchen mit einem gro-
ben Ruck die Uhr aus den Zähnen.
11
In dem graugelben Kätzchen erwachte das Raubtier.
Das Raubtier rieb sich den Schlaf aus den Augen, gähnte herzhaft und drehte sich drei Mal auf sei-
nem Lager um sich selbst. Dann erhob es sich. Es schlenderte.bis zum Kopf des Kätzchens und flüsterte
ihm von innen ins Ohr:
»Sollten wir ihr nicht die Augen auskratzen?«
Aber das Kätzchen, welches sanften Sinnes und von städtischer Gesittung war, folgte dem bösen Vor-
schlag nicht.
12
Anstelledessen nahm es einen versonnenen Ausdruck an und äußerte den unerwarteten Satz:
>,Wenn ein armes kleines Tier nicht berechtigt ist zu erben, dann ist es gewiß auch nicht berechtigt,
eine Erbschaft zu hinterlassen?«
»Das stimmt«, bekräftigte Herr Semmelkern. »Das eine nicht und das andere nicht.«
»Schade«, murmelte das Kätzchen. »Mir ist nämlich der Inhalt eines Testamentes zugunsten der
Frau Erna Propst bekannt.«
»Ein Testament!« sagte die dicke Frau erregt. »Für mich! Über eine große Summe?«
»Ach nein«, gab das Kätzchen bescheiden zur Auskunft. »Nur über einen Schatz.«
»Einen Schatz!« rief die Frau. -
»Ja, um mehr handelt es sich gar nicht«, sagte das Kätzchen.
»Der Schatz gehört mir«, entschied die Frau. »Ich will ihn haben.«
»Aber ich sagte Ihnen schon«, wiederholte das Kätzchen betrübt, »er stammt leider nur von einem
Tiere.«
»Welchem Tiere denn?« fragte die Frau ungeduldig.
>,Erinnern Sie sich«, fragte das graugelbe Kätzchen zurück, »an Walburga, den tanzenden Rattler-
Rüden?«
13
»Was ist das, ein Rüde?« fragte die Frau hierauf.
Der Bäcker Semmelkern wußte es. »Ein Rüde ist ein männlicher Hund.«
»Warum«, fragte die Frau, »hieß der männliche Hund Walburga?«
»Er tat in einem rosa Tüllkleid auf«, erläuterte das Kätzchen; »so konnte er sich doch schlecht Har-
ras oder Nero oder Sultan nennen. Es war eben ein Künstlername.«
»Ich erinnere mich an keinen Hund im Tüllkleid«, sagte die Frau.
»Aber erinnern Sie sich«, begann das Kätzchen von neuem, »an den kleinen zitternden Hund, den
Sie vor zwei Jahren unter der Kellertreppe fanden, wohin er sich vor der Kälte verkrochen hatte?«
»Habe ich den nicht ersäuft?« fragte die dicke Frau Propst verwundert.
»Nein«, erwiderte das Kätzchen. »Er lief Ihnen rechtzeitig davon.«
14
»Er wurde«, setzte das Kätzchen seinen Bericht fort, »eine große Künstlerin. Aber er blieb bei allem
Ruhm, den er erlangte, einsam. Er begann, Bier zu trinken. Und als er, von Glanz und Reichtümern um-
geben, bei jungen Jahren starb, sprach er zu mir: die einzige glückliche Zeit, die ich in meinem vergeu-
deten Leben verbracht habe, waren die Tage bei meiner zweiten Mutter, der Frau Erna Propst zu Mit-
tenwalde ...
»Ah, wie wahr er sprach!« warf die dicke Frau Propst dazwischen.
»... Ihr hinterlasse ich meinen gesamten Schatz; denn ich habe Tag für Tag etwas für mein Alter zu-
rückgelegt und an einem geheimen Ort vergraben. Du aber, mein graugelbes Kätzchen, sollst dir die
Stelle, die ich dir nun bezeichne, wohl merken und keinem, nur meiner Wohltäterin allein, verraten.«
15
»Heraus mit meinem Schatz«, sagte die dicke Frau Propst und schüttelte das graugelbe Kätzchen am
Nackenfell. »Wo liegt er versteckt?« Aber das Kätzchen schwieg und gab keinen Mucks von sich.
»Ich erwarte dein amtliches Einschreiten«, sagte Frau Propst scharf zu Herrn Semmelkern. »Das
Tier
will meinen Schatz nicht herausrücken.«
»Es braucht ihn nicht herauszugeben«, sagte der Bäcker, »so wenig du die goldene Uhr herauszuge-
-70—
ben brauchst. Der Fall ist längst geklärt, Erna.« Er fügte hinzu: »Und ich stehe hier am Freitagnachmit-
tag auf dem Salzmarkt herum und verschwatze meine Zeit, und ich habe die Nase voll zu tun.«
»Du wolltest sagen: die Hände voll«, verbesserte ihn Frau Propst.
»Ich habe so viel zu tun, daß ich davon die Nase voll habe«, entgegnete der Bäcker. »Das wollte ich
sagen, und wenn ich nicht irre, habe ich das gesagt.«
Er ging in seine Bäckerei und zog die Tür hinter sich zu.
16
Leberecht saß noch immer am schiefen Fenster. Er war allzu neugierig zu erfahren, ob die Geschichte
sich wirklich so, wie er sie sich ausgerechnet hatte, verlaufen war.
»Das Kätzchen könnte noch zu der Frau gesagt haben: Ihren Schatz gegen meine Uhr«, dachte er bei
sich.
»Und das Kätzchen könnte gesagt haben: das Fahrrad erbitte ich mir für meine Tätigkeit als Testa-
mentsvollstrecker; ich mache mir nicht sehr gern die Pfoten naß«, grübelte er weiter.
»Und das Kätzchen könnte mit vorgehaltener Pfote der Frau zugewispert haben: der Schatz des tan-
zenden Rattler-Rüden Walburga liegt in der Müllkippe am Weinberg. .
17
Dann sah er das graugelbe Kätzchen sehr eilig auf dem Klapprad der Frau Propst die Hauptstraße her-
unterfahren. Es trug die goldene Taschenuhr im Maul und sah so vergnügt aus, wie eine Katze über-
haupt aussehen kann.
Hinter dem Kätzchen her kam die dicke Frau Propst gestolpert. Sie war vom Kopf bis zum Fuß mit
Asche und Abfällen beschmutzt, und sie schleifte einen alten, zerrissenen Sack hinter sich her, aus des-
sen Löchern von Zeit zu Zeit verfaulte Knochen herausfielen; es hatte den Anschein, als ob sie das
Kätzchen verfolge. Die Sonne glänzte auf den Pfützen und den Schieferdächern. Beide, erst das Kätz-
chen und dann die dicke Frau Propst, bewegten sich an dem schiefen Fenster vorüber und verschwan-
den am Ende der Straße, dort, wo sie die Richtung nach Motzen einschlägt.
- 71 -
- Ist es nicht. zu traurig? sagt Claudia; meine Puppe kann wieder überhaupt nicht einschlafen.
- Ein wahrer Jammer. Ich wollte, man könnte etwas dagegen tun.
- Sie können, sagt Claudia mit großer Bestimmtheit.
- Ich? Was denn nur?
- Also erzählen Sie doch schon los, sagt Claudia.
w
Es war ein kleines Schulinädchen. Ihr Vater war Grobschmied in dein Do:f Dümde.
- Ein Schulmädchen? fragt Claudia.
- Ja, sicher.
- Ich denke, sie war eine Prinzessin.
-. Aber es geht nicht. Ihr Vater war doch der Grobschmied.
- Es muß gehen, sagt Claudia. Meine Puppe zieht Prinzessinnen allen anderen Berufen vor.
- Na gut. Aber um die Schule kommt sie nicht herum.
- Auf keine Weise? fragt Claudia.
- Auf keine Weise.
Die Prinzessin wachte auf; stieg aus dem Bett, wusch und kämmte sich und zog sich an. Sie trank ein
Glas Milch und schmierte sich zwei Brote; denn ihre Mama schlief noch. Dann nahm sie ihre Mappe
und ging zur Eisenbahn, um, wie alle Tage, zur Schule zu fahren.
- Sie fuhr mit der Eisenbahn?
- Ja, nach Luckenwalde.
- Ich würde annehmen,sagt Claudia, daß sie auf dem Rücken einer Schwalbe flog.
- Warum muß sie denn nun schon wieder fliegen?
- Es geht schneller, sagt Claudia.
Als sie, wie alle Tage, um fünf Minuten vor acht Uhr auf dem Schulplatz gelandet war, wunderte sich
die Prinzessin seht-. Es war nämlich gar kein Tag wie alle Tage. Es war Sonntag. Die Prinzessin hatte
das vergessen. Sie stand ganz alleine in der leeren Gegend, und sie fragte sich, wo nur die anderen Kin-
der'geblieben seien. »Ob sie alle auf einmal Halsweh bekommen haben?« sagte sie zu sich selber.
—74-
- Hatten sie wirklich Halsweh? fragt Claudia.
- Natürlich nicht.
- Woher wissen Sie das?
- Verstehst du nicht: es war einfach Sonntag.
- Man kann auch sonntags Halsweh bekommen, sagt Claudia. Leider.
Sie ergriff die Klinke der großen Schullür, aber fand die flir verschlossen. Sie war ganz verzweifelt.
Daran, daß Sonntag war, dachte sie schlechterdings nicht.
- Weshalb heißt eigentlich der Sonntag Sonntag? fragt Claudia.
- Weshalb?
- Ja, es muß doch einen Grund geben.
- Vermutlich, weilda die Sohne scheint.
- Und warum heißt der Montag Montag?
- Da scheint der Mond.
- Und wer scheint am Dienstag? fragt Claudia. Vielleicht der I)iens?
- jedenfalls ist Mittwoch die Mitte der Woche.
- Einverstanden, sagt Claudia.
- Und am Donnerstag donnert es.
- Und am Schneitag schneit es, wie? sagt Claudia ärgerlich. ich bitte Sie wirklich, sieh nicht über
meine Puppe lustig zu machen, bloß weil das arme Ding kleiner ist als wir beide.
Da hörte die Prinzessin ein Hämmern oder Klopfen, das irgendwoher aus dem Inneren der Schule zu.
dringen schien. Sie ging um das Schulhaus herum. Und als sie um eine Ecke bog, entdeckte sie eine
Leiter, die an ein Fensterbrett gelehnt stand. Weil sie eine sehr mutige Prinzessin wut; stieg sie die Lei-
ter hinauf und blickte in das Fenster. Und da sah sie eitlen Mann, der sich mit einem Werkzeug an der
Zentralheizung zu schaffen machie
- Aha, sagt Claudia. Der Prinz.
- Das glaube ich nun doch nicht. Er ist wirklich nicht mehr der Jüngste, und er hat einen billigen Art-
zug am Leibe und Ölflecken an dem Anzug.
- Verstehe, sagt Claudia. Ein Schweinehirt.
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Die Prinzessin hielt den Mann für einen Einbrecher, denn ganz offenkundig war er nicht auf die rich-
tige Weise ins Haus gelangt. » Was machen Sie denn hier?« sagte sie daher. Tatsächlich bekam der
Mann einen roten Kopf und sagte: »Es ist mir aber unangenehm, liebes Fräulein, daß Sie mich hier er-
wischen. Ich bitte Sie sehr herzlich, es niemandem weiterzuerzählen; es wäre zu peinlich, wenn alles
herauskäme.« - »Schön«, sagte die Prinzessin gutmütig, »aber sehen Sie zu, daß Sie schnell wegkom-
men.« - »Ich kann ja nicht«, sagte der Mann. »Ich muß ja noch ein Klassenzimmer weißen und das
Dach reparieren.«
- Wie geht denn das zu? fragt Claudia.
—76--
- Gefällt sie dir nicht?
- Schließlich soll sie meiner Puppe gefallen. Es war wirklich ein Glück, daß ich mich vorher verge-
wissert habe.
Und sie verkündet:
Was jetzt folgt, erzähle ich. vvf
Es war einmal ein mächtiger Zauberer, und als in dem Dorf Dümde eine Prinzessin geboren war,
wurde er von ihrem Vater, dem Grobschmied, zum Paten geladen. Weil er aber nicht selbst kommen
konnte...
- Warum konnte er nicht selbst kommen?
- Er hätte den Zylinder aufsetzen müssen, sagt Claudia.
- Na und?
- Das tut immerhin ziemlich weh, behauptet Claudia.
- Wieso?
- Weil, erklärt Claudia geduldig, alle Zauberer Kaninchen im Zylinder haben. Würden Sie sich etwa
wohifühlen mit einer Masse Kaninchen auf dem Kopf? Die kratzen, sage ich Ihnen. Die ganze
Wahrheit zu sagen, hatte der Zauberer schon fast kein Haar mehr am Schädel und stattdessen lau-
ter blutige Schrammen.
- Ja, das sehe ich ein.
Der Zauberer schickte seinen Schweinehirten mit einem Brief, worin er versprach, die Prinzessin gegen
alle Unglücksfälle und Gefahren zu beschützen. Aber als dann ein Jahr später die Prinzessin von einer
Biene gestochen wurde, kam heraus, daß der alte böse Lügenzauberer gar nicht daran dachte, für sein
Patenkind zu sorgen. Aber der gute Schweinehirt, der den Brief überbracht hatte, hat seit... Ist die
Prinzessin schon alt?
- Sehr.
Also seit dreizehn Jahren hat der gute Schweinehirt alle Felsen aufgefangen, alle wilden Bären getötet
und überhaupt jeden Feind vertrieben, der der Prinzessin ein Leid zufügen wollte.
- Das ist keine schlechte Geschichte.
- 77 -
01
- Sehen Sie.
- Aber meine Geschichte ist wahr.
- Meine Geschichte ist ein Märchen, sagt Claudia, und ich finde sie wahr genug.
Dann fügt sie hinzu:
So wahr wie Ihre schon lange.
Und dann:
Ebenso wahr, aber sehr viel schöner.
Und nachdem sie das alles vorgebracht hat, fragt sie:
Was für einen Schluß hat Ihre Geschichte?
- Nun, das Schulmädchen bedankt sich sehr nett bei dem Paten und fährt mit dem nächsten Zug wie-
der nach Hause.
- Das soll ein Schluß sein? fragt Claudia höhnisch.
- Hast du einen besseren?
- Das will ich hoffen, sagt Claudia.
An dem Tag, an dem die Prinzessin entdeckte, daß es der Schweinehirt und nicht der Zauberer war, der
ihr ihr Leben lang Gutes getan hatte, küßte sie den Schweinehirten auf den Mund und heiratete ihn.
- Und dann?
- Dann, sagt Claudia, höre ich SO auf:
Und da sie nun einmal geboren sind, werden sie sicher noch eine schöne Weile leben.
— 78 —
Der Laubfrosch wohnte im Schneeballbusch, und die Unken wohnten im Tümpel, an dem der stand, so
waren sie gewissermaßen Nachbarn. Die Unken hießen Unka und Gunka. Sie waren größer und älter
und fetter als der Laubfrosch und hielten sich also für etwas Besseres. Die Wahrheit zu sagen, sie waren
zwei alberne, aufgeblasene Kühe. Aber als der Laubfrosch Geburtstag hatte und sie einlud, machten sie
keine großen Umstände. Wer geht schon nicht gern zum Geburtstag? Es wurde ein wunderbares Fest.
Sie spielten Sackhüpfen und Mückenwerfen und Schneckenrennen, und sie beendeten den Tag mit
einem Umzug, bei welchem jeder einen Glühwurm trug, der auf einem Grashalm saß und sich sehr
hübsch im Tümpel spiegelte. Die Unken halten zwar dem Laubfrosch nichts mitgebracht, aber dafür be-
kam jede von ihnen ein kleines Gastgeschenk auf den Heimweg.
Ein paar Wochen später hatten Unka und Gunka Geburtstag, und der Laubfrosch hatte sich die
ganze Zeit im Voraus gefreut. Er hatte längst Geschenke besorgt: für Unka ein Poesiealbum und für
Gunka einen Kugelschreiber. Er erwachte mit dem ersten Sonnenstrahl und überlegte alle fünf Minu-
ten, ob es nicht schon Zeit sei, hinüber zu gehen. Ei' hatte übrigens keine Einladung bekommen. Aber
was sich von selbst versteht, muß nicht ausdrücklich gesagt oder geschrieben werden, und unter guten
Freunden gibt es keine Formfragen. Endlich ging am Ufer gegenüber ein fröhliches Froschkonzert los.
Der Laubfrosch begriff, daß die Feierlichkeiten begonnen hatten.
Ei' nahm seine Geschenke unter den Arm und schlenderte, so langsam seine Ungeduld es zuließ, um
den Tümpel herum. Da war ein Trubel im Gange. Die Eidechse war da, der Krebs war da, der Molch
war da, die Blindschleiche fehlte nicht, und sogar die Wasserschildkröte hatte sich blicken lassen. Unka
und Gunka hüpften auf und ab und waren der Mittelpunkt. Der Laubfrosch steckte seine Nase aus den
Rohrstengeln, in der Hoffnung, daß sie ihn wahrnehmen und herbeirufen würden. Aber sie sahen ihn
nicht. Wollten sie ihn nicht sehen? Der Laubfrosch hatte nicht den Mut umzukehren. Er kam aus dem
Röhricht hervor und näherte sich den Unken, um sie zu beglückwünschen. Aber bevor er noch viel
mehr als Hallo gesagt hatte, sagte Unka zu ihm: »Heute geht es nicht, Laubfrosch, siehst du nicht, daß
wir Besuch haben?« Und Gunka fügte hinzu: »Wir haben nämlich Geburtstag, mußt du wissen.« -
»Ja«, sagte der Laubfrosch. »Entschuldigt. Dann ein andermal.«
Wieder auf einem Schneeballbusch angekommen, war der Laubfrosch sehr unglücklich. Ihm war
nach Weinen zumute. Aber dann fiel ihm ein, daß er nun ein Buch mit sauberen weißen Seiten und
einen Kugelschreiber besaß und ebensogut ein Gedicht schreiben konnte. Der Laubfrosch ging später
zum Wetterdienst und hat sich nie wieder mit der Dichtkunst befaßt, dies ist das einzige Gedicht, das er
in seinem Leben gedichtet hat. 1-her nun ist das Gedicht des Laubfroschs zu lesen:
-*1-
Lieber Teich mit goldnen Weiden, Wie sie wirklich keiner zieht.
Himmel zwischen Schilf und Gras, Sie sind gänzlich unbereit'
Kann dich einer mir verleiden? Zur geringsten Höflichkeit.
Ach, die Unken können das!
Ach, du wärst mein Königreich Gelbe Bäuche, schwarze Glatzen,
Ohne Unken, lieber Teich. Wenig Hals und gar kein Kinn.
Mit den spindeldürren Tatzen
Wenn vom ersten Frührotschimmer Schlagen sie nach sonstwo hin.
Sich ein Abglanz her verlor, Voller Warzen auf dem Knie,
Ragen aus der Fläche immer Patschen sie und quatschen sie.
Aufgetunkte Unken vor.
Keine Stimmung findet statt, Niemals hörst von diesen großen
Wenn das Wasser Beulen hat. Ekeln du ein nettes Wort,
Mit den dicken Hintern stoßen
Stunden hängen sie und Stunden Sie die kleinen Tiere fort.
Ausdruckslos und unbewegt. Häßlich sind sie außenwärts.
Ob sich je in diesen runden Häßlich ist ihr Unkenherz.
Schädeln ein Gedanke regt?
Nein, sie sind so dumm wie faul. Hoffe ich auf helle Tage,
Doch ihr Größtes ist ihr Maul. Ist es wer, der Trübes raunt?
Unken stehn zu jeder Frage
Hör ich still in mich versunken Unvergnügt und mißgelaunt.
Wellen flüstern mit dem Wind, Jeder frohe Lebenspunkt
Kann ich wetten, daß die Unken Wird von ihnen angeunkt.
Gräßlich zu vernehmen sind.
U! und Hu! und U-Uhu! Könnte man die Lust und Gaben
Rufen sie einander.zu. Dieser wundervollen Welt
Einfach ohne Unken haben,
Wenn ich schönen Morgen wünsche Alles wäre wohlbestellt.
Oder frohen Abend biet, Ach, das Dasein wird zur Qual,
Ziehn sie so gemeine Flünsche, Denn wir haben sie einmal.
—81-
Die eine Tante hieß Tante Perpetua, die andere Tante Elsbeth. Beide Tanten waren Buchhalterinnen
bei der Autowäscherei gewesen. Als sie so alt geworden waren, daß sie sich beim Zusammenrechnen
keine Zahl mehr merken konnten, ohne dafür eine andere zu vergessen, hörten sie zu arbeiten auf, gin-
gen in ihre kleinen Wohnungen und dachten an dies und das. Ihnen fielen Sachen ein, die ihnen bisher
niemals eingefallen waren. Tante Perpetua dachte ans Sticken. Tante Elsbeth dachte ans Heiraten.
Nun hat es mit dem heiraten für alte Damen seine Schwierigkeiten. Es gibt nämlich weniger alte Her-
ren als alte Damen, und wenn Tante Elsbeth einem ordentlichen Mann in den passenden Jahren begeg-
nete, hatte der-gewöhnlich schon eine Frau. Hinzu kommt, daß alte Herren eigensinnig sind. Sie leben,
wie sie leben, und wollen es nicht anders. Tante Elsbeth hatte kein Glück bei ihren Absichten. Tante
Perpetua stieß beim Sticken auf weit geringere Hindernisse.
Sie kaufte sich mehrere Knäuel Wolle, grüne, gelbe und solche von vielerlei Rot. Mit der Wolle be-
stickte sie ein großes, gemütliches Kissen. Die Stickerei stellte eine Art Vase dar, eine flache Schüssel,
die auf einem Fuß stand und mit einem Strauß sehr regelmäßig angeordneter Rosen gefüllt war. Die Ro-
sen verbreiteten einen starken Wohlgeruch, den jeder sofort bemerkte, der in Tante Perpetuas Zimmer
trat. In der Mitte ihrer Blütenschalen hatten die Rosen einen goldfarbenen Punkt, darin steckte der Ho-
nig. Es war eine ausgezeichnete Handarbeit.
Als das Rosenkissen fertig war, legte Tante Perpetua es in die Ecke ihres Ohrenstuhls, dorthin, wo der
sein linkes Ohr hatte, schmiegte den Kopf hinein und schickte sich an, ihr Mittagsschläfchen zu halten.
Aber in dem Augenblick...
Wir wollen an dieser Stelle die folgende Erklärung einschieben. Alle alten Leute schlafen nach dem
Mittagessen, und es wäre ein Fehler, das wunderlich zu finden. Alte Leute - die Rede ist von wirklich
sehr alten Leuten, Leuten über fünfzig oder fünfundfünfzig - sind in vieler Hinsicht anders als junge
Leute oder gar Kinder. Sie haben künstliche Zähne. Sie sehen ungenau ohne Brille. Sie können sich
nicht ohne weiteres bücken. Wenn sie morgens aus dem Bett aufstehen, tut ihnen irgendein Teil ihres
Körpers weh, und meistens legen sie die Hand auf den betreffenden Fleck, um ihn zu wärmen. Alle
Kinder werden eines Tages alte Leute sein, hierauf verlasse man sich, und keinem, der heute springt,
singt und überflüssigen Lärm macht, wird es dann besser gehen. Es hat übrigens auch große Vorteile,
alt zu sein. Alte Leute haben viel gesehen und viel gelernt, und siefallen so leicht auf nichts Dummes
herein. Deshalb lesen sie oft keine Zeitung. Man muß wissen, wie alte Leute beschaffen sind. Es ist
wichtig, um diese Geschichte zu verstehen, aber es kann auch sonst nichts schaden.
In dem Augenblick also, wo Tante Perpetua sich ihr Mittagsschläfchen zu halten anschickte, kamen
die Bienen. Der Wohlgeruch hatte sie angelockt. Sie kamen zum Fenster hereingeflogen, summten um
das Rosenkissen herum und begannen, den Honig aus den gestickten Blüten zu saugen. Tante Perpetua
freute sich über ihren Erfolg. Sie ließ die Bienen gewähren, und die kamen von nun an alle Tage.
So wurden Tante Perpetua und die Bienen gut miteinander bekannt. Die Bienen erzählten ihr alle
Geschehnisse, die in der Stadt vorfielen. Sie berichteten, wer von weither Besuch erhalten hatte, wem
ein Kind geboren war oder wem sein Betrieb ein Lob hatte zukommen lassen. Das war immer sehr un-
terhaltsam. Oft ging Tante Perpetua auch hin und brachte den Leuten einen kleinen Blumengruß oder
eine Kleinigkeit aus ihrer Knopfschachtel oder einen guten Rat. Die Leute freuten sich, daß jemand an
ihren Angelegenheiten teilnahm, und alle Bewohner der Stadt hatten Tante Perpetua gern.
An einem Tag erzählten die Bienen, daß Herr Remigius Möller seinen siebzigsten Geburtstag begehe.
»Wer ist Herr Remigius Müller?« wunderte sich Tante Perpetua. Sie war eigentlich mit jedem Men-
schen am Ort befreundet, aber von Herrn Remigius Möller hatte sie noch nicht einmal den Namen ge-
hört. »Er war früher Schiffskoch«, erzählten die Bienen. »Er hat ein braunes Gesicht und einen silber-
nen Kinnbart. Er verläßt sein 1-laus niemals. Er hat auf seinen Reisen die Welt kennengelernt, und er
liebt sie nicht.« -‚ »Aber wer schenkt ihm denn nun etwas?« fragte Tante Perpetua besorgt. »Keiner
schenkt ihm etwas«, erzählten die Bienen.
Tante Perpetua überlegte, was einem gewesenen Schiffskoch, der die Welt nicht liebt, Vergnügen be-
reiten könne. 1-hernach ging sie in die Kaufhalle, erwarb eine Flasche Rum und stellte dieselbe mit
einem schönen Gruß in Herrn Remigius Müllers leeren Briefkasten. Nicht lange später läutete ihre Tür-
glocke. Herr Remigius Möller stand draußen. »Mir ist aufgefallen«, sagte Ar, »daß Sie gar nicht wenig
Unkraut in Ihrem Phlox haben.« - »Nicht wahr?« stimmte Tante Perpetua bei, »es sieht scheußlich
aus. Aber der Vorgarten macht mir inzwischen doch schon Mühe, so klein, wie er ist.« - »Ja, es gibt we-
nig Grund, die Welt zu lieben«, bemerkte Herr Remigius Möller. »Woher wußten Sie eigentlich, wann
ich Geburtstag habe? Nicht daß ich viel Wert auf meinen Geburtstag legte, aber der Rum war wirklich
gut.« Dann jätete er den Vorgarten und ging wieder zu sich.
An einem anderen Tag erzählten die Bienen Tante Perpetua, daß Herr Bemigius Möller Fieber habe
und zu Bett liegen müsse. Tante Perpetua kochte eine Fleischbrühe. Mit der ging sie zu Herrn Möllers
Haus, das hinter dem Mühlgraben stand, und diesmal ging sie ins Haus hinein. Das Haus war winzig,
und es war voll von großen Muscheln und getrockneten Kugelfischen und malalischen Dolchen und
dieser Art Dinge, mit welchen Rentner, die einstmals die See befahren haben, in der Regel eingerichtet
sind.
— 85 —
»Ich denke«, sagte Tante Perpetua zu Herrn Remigius Möller, der mißtrauisch aus seinem Bett her-
vorsah, »etwas kräftiges Leichtes wäre in Ihrem Zustand eben das Richtige.« - »Das ist eine höchst un-
gewöhnliche Brühe«, äußerte Herr Remigius Möller schlürfend; »denn ich koche sie selbst nicht besser.
Woher wußten Sie eigentlich, daß ich krank bin?« - »Ich gebe nämlich immer ein oder zwei Pastina-
ken ans Suppengrün«, erwiderte Tante Perpetua auf diese Frage. Herrn Müllers Krankheit besserte sich
bald, und seit der Zeit her kam er manchmal abends zu Besuch, um mit der Tante Kanasta zu spielen.
Jetzt wollen wir uns wieder an Tante Elsbeth erinnern, die immer noch auf der Suche nach einem
Ehemann war. Tante Elsbeth hatte natürlich herausbekommen, daß Tante Perpetua Herrn Remigius
Möller kannte, und auch, daß die Bienen ihr alle Nachrichten über ihn ins Zimmer trugen. »Was du
kannst«, sagte Tante Elsbeth in einem Selbstgespräch, »kann ich auch, meine Liebe.« Sie machte sich
an die Arbeit und stickte ein Kissen, das noch größer als Tante Perpetuas Kissen und über und über mit
sehr bunten Blumen bedeckt war. Das Kissen legte sie gut sichtbar auf ihr Sofa. Sich selbst setzte sie da-
neben, so wartete sie auf die Bienen.
Es dauerte eine Weile, bis die Bienen eintrafen; denn selbstverständlich strömte das Kissen keinen
Duft aus. Kissen riechen einmal nach nichts. Gegen Miltag endlich fielen den Bienen die leuchtenden
Farben auf. Sie schwärmten zum Fenster herein und ließen sich auf den Blüten nieder. Sie waren ziem-
lich enttäuscht, als sie keinen Honig fanden. Wolle gibt einmal keinen Honig, wir müssen das kaum be-
tonen, aber Bienen sind keine besonders klugen Tiere und können manche Dinge schwer auseinander-
halten.
Als die Bienen eben wieder abfliegen wollten, redete Tante Elsbeth sie an. »Wartet, halt!« sagte sie
ungeduldig. »Gibt es denn nichts Neues?« Die Bienen, die sich von Tante Elsbeth genarrt fühlten, ga-
ben zur Antwort: »Herr Remigius Möller ist gerade in der Laune, etwas zu unternehmen, er weiß nur
eben nicht, was, dabei gibt es heute das schönste und beständigste Wetter.« Das war rachsüchtig gehan-
delt. Denn an dieser Auskunft war, wie wir gleich erfahren werden, jedes einzelne Wort gelogen.
Schnurstracks begab sich Tante Elsbeth zu Herrn Müllers 1-laus. »Ich höre, Sie sind so prächtig auf-
gelegt«, sagte sie. »Bin ich das?« brummte Herr Möller, unter dessen Tisch vom Vorabend her drei
leere Flaschen standen und der, aus diesem Grund oder einem anderen, an heftigem. Hauptweh litt.
»Gewiß sind Sie das«, versicherte Tante Elsbeth, »aber Sie wissen mit Ihrer Zeit nichts anzufangen.« -
»Weiß ich das nicht?« brummte Herr Möller, der sich auf einen geruhsamen Nachmittag vor dem Fern-
seher gefreut hatte; man übertrug dort eine Segelregatta. »Das Wetter hält sich«, erklärte die Tante, »ich
weiß es zuverlässig. Nehmen Sie Stock und Flut. Wir machen jetzt einen Ausflug ins Grüne.«
Sie machten einen Ausflug ins Grüne. Herrn Möller schmerzte das Haupt mit jedem Schritt stärker.
Die Bäume waren grün, und Herr Möller betrachtete die grünen Bäume und versuchte, sich die. schnitti-
gen Boote vorzustellen, die eben jetzt im Fernsehen würden zu betrachten sein. Die Luft stand ganz still.
Die Sonne strahlte. Der Himmel war von tiefem Blau, und plötzlich schlug ein fürchterlicher Hagel auf
das wandelnde Paar herab. Die scheibenförmigen Eiskörner waren so groß wie Fünfmarkstücke, nur
noch viel dicker. Sie prasselten Tante Elsbeth und Herrn Remigius Möller um die Köpfe, und wenn die
beiden nicht in einem alten Futterhaus für Hirsche unter Dach gekommen wären, wären sie vielleicht
totgeschlagen worden.
Der Hagel ging so schlagartig vorüber, wie er aufgezogen war. Die Sonne kam heraus. Tante Elsbeth
und Herr Remigius Möller kamen auch heraus. »Ich bedaure«, sagte Tante Elsbeth, »Sie zu diesem un-
glücklichen Ausflug überredet zu haben.« - »Es macht nichts«, sagte Herr Remigius Möller, »ich pflege
von der Welt nichts Besseres zu erwarten.« Mit diesen düsteren Worten ließ er Tante Elsbeth stehen
und ging geraden Weges zu Tante Perpetua und fragte sie, ob sie ihn zum Mann haben wolle.
Es wurde eine glückliche Ehe. Herr Remigius hatte eine Reihe aufregender Geschichten auf Lager,
die er selbst erlebt zu haben behauptete. Tante Perpetua kannte sie bald alle. Aber zum Glück war sie,
wie wir erwähnten, schon stark vergeßlich, und sie hörte sie immer wieder gern, jedesmal so, als wäre es
zum ersten Male.
Linde
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Das ist eine merkwürdige Liebesgeschichte, die sich in der siebenten Klasse der erweiterten Bürgermnei-
ster-Professor- Dr.-Gariieb-Okonkowski-Schaaf-Oberschule zugetragen hat, genau so, wie ich sie jetzt
erzähle. Wer sie glaubt, tut gut daran. Dem, der sie nicht glaubt, bin ich auch nicht gleich böse, bitte
ihn aber, sich bei Frau Studienrat Thugut zu erkundigen.
Es begann im Naturkundeunterricht. Mitten während Frau Thugut den Unterschied zwischen dem indi-
schen und dem afrikanischen Elefanten erklärte, spürte Linde einen leichten Schlag gegen ihren rechten
Oberarm, und eine Kugel aus zusammengeknülltem Papier rollte in ihren Schoß. Jemand hatte nach ihr
geworfen. Linde sah sich in der Klasse um. Alle Kinder waren auf irgendeine Weise mit ihren Angele-
genheiten beschäftigt, nur Egon folgte mit gesammelter Aufmerksamkeit dem Vortrag der Lehrerin. Da
wußte Linde, daß Egon die Kugel geworfen hatte.
Linde zupfte an der Kugel. Es gelang ihr, sie auseinander zu falten. Sie glättete sie mit dem Unterarm,
bis sie wieder ein richtiger, wenngleich mit vielen Knittern durchzogener, Zettel geworden war. Auf dem
Zettel stand: »Du hast blaue Augen.«
Das stimmte, und hiergegen ließ sich nichts sagen. Also riß Linde eine Seite aus ihrem Heft, auf die
schrieb sie: »Du hast auch blaue Augen.« Das stimmte ebenfalls, und auch hiergegen war kein Einwand
möglich. Sie rollte die Heftseite in ihren Handflächen zusammen und warf sie Egon an den Kopf. Egon
fing Lindes Kugel sehr geschickt, bevor sie in den Raum hätte zurückprallen können, und öffnete sie.
Dann las er den Inhalt mit großem Ernst mehrmals genau durch.
Dann warf Egon eine neue Kugel nach Linde, auf welcher zu lesen war: »Du gefällst mir gut.« Dann
warf Linde eine Kugel nach Egon, auf weicher zu lesen war: »Du gefällst mir auch gut.« Dann legte
Linde die beiden Briefe, die sie von Egon hatte, sorgfältig in ihren Atlas.
Aber schon kam eine dritte Kugel geflogen, auf welcher der folgende seltsame Satz sich vorfand:
»Nach der Schule möchte ich dich küssen.«
Kaum hatte Linde den Sinn dieses abscheulichen Vorschlages begriffen, nahm sie das Papier und
schleuderte es zornig zu Egon zurück. In dem Augenblick merkte sie, daß Frau Studienrat Thugut sie
etwas gefragt hatte. »Er schmeißt immer mit Papierkugeln«, sagte sie daher.
»Wer?« fragte Frau Thugut. »Der indische Elefant?«
»Der Egon«, gab Linde an.
»Eben hat sie mich geschmissen«, sagte Egon.
»Es war seine eigene Kugel«, erklärte Linde. »Soll ich die Dinger vielleicht behalten?«
Die Lehrerin seufzte. Sie ging im Grunde gern in die Schule, so wie auch die Schüler im Grunde gern
in die Schule gingen. Aber natürlich gibt es in der Schule, wie überall im Leben, Minuten, in denen
einen die Schwermut überfallen kann, und wahrscheinlich haben Lehrer noch öfter Anlaß zu traurigen
Gedanken als die Schüler.
Mit der Naturkundestunde war auch die Schule vorüber, und die Kinder gingen nach 1-lause. Als Linde
um die erste Ecke bog, stand Egon an eine Laterne gelehnt und wartete auf sie.
»Was willst du denn von mir?« fragte Linde besorgt.
»Das weißt du ganz genau«, sagte Egon.
»Woher soll ich das wissen?« fragte Linde.
»Nun«, sprach Egon kühl. »Immerhin hast du es schriftlich.«
Da überkam Linde eine gewaltige Angst. Sie drehte blitzschnell um und lief vor Egon weg, so schnell
sie konnte. Aber Egon rannte ihr nach und verfolgte sie. Linde rannte, als ginge, es um ihr Leben. Sie
hatte dünne und lange Beine und war keine schlechte Läuferin, aber die Geschwindigkeit, mit der sie
jetzt durch die Straßen floh, lag weit über ihren bisherigen Ergebnissen.
Aber alle Eile half nichts.
Es steht leider fest: Jungen sind dümmer als Mädchen, dafür laufen sie schneller.
Egon blieb Linde immer dicht auf den Fersen. Und als Linde mit wehendem Haar und stoßendem
Atem den Stadtgarten erreicht hatte, erkannte sie, daß sie verloren war. »Nur ein Wunder kann mich
retten«, dachte sie.
Und tatsächlich geschah das Wunder.
Lindes Füße wuchsen tief in den Boden hinein. Ihr Körper wurde hart und verlängerte sich
nach oben. Ihre zum Himmel gestreckten Arme und Finger verzweigten sich knisternd, ihre Haare
verwandelten sich in ein Blättermeer und ihre Fingernägel in Knospen. Sie war ein Baum gewor-
den.
Von ihrer Höhe herab sah sie Egon verdutzt in die Runde blicken. Er verstand nicht, wie Linde ihm
hatte entwischen können. Eben war sie noch vor ihm gewesen. Er wickelte sehr ärgerlich einen Kau-
gummi aus, steckte ihn in den Mund und schlug dann irgendeinen der Gartenwege ein, die nach vielen
Richtungen hin leer vor ihm lagen.
Linde prüfte ihre neue Lage. »Wohlan«, dachte sie, »ich bin hiernach kein Mädchen mehr, sondein
ein Baum. Ich habe also meine Ruhe, besonders vor diesem fürchterlichen Menschen. Vielleicht werde
—91-
ich einige meiner Freundinnen vermissen. Aber ich werde neue unterhaltsame Freunde haben: die
niedlichen Bienen zum Beispiel oder die possierlichen Käfer.«
Ein leichter Wind brachte Lindes große, hellgrüne, samtige Blätter zum Rascheln. Es war ein angeneh-
mes Gefühl, etwa wie wenn man nach dem Baden einen Luftzug auf der vollen Fläche der Haut spürt.
Auf einem Lindenblatt landeten zwei braune Käfer. Der eine war ein Maikäfer, der andere, der ein we-
fig kleiner und schlanker war, schien ein Junikäfer zu sein. Sie saßen eine ganze Weile nebeneinander
und wackelten mit den schwarzen, dreieckigen Schwänzen. Ohn besonderen Übergang begannen sie
eine Unterhaltung.
»Schon da?« sagte der Maikäfer zu dem Junikäfer.
»Es wird Juni, oder?« sagte der Junikäfer;
Der Maikäfer entgegnete: »Noch ist Mai.«
Nachdem sie diese Worte miteinander gewechselt hatten, saßen sie noch lange, wobei sie nicht ver-
säumten, schweigend mit, dem Schwanz zu wippen. Dann hoben beide Käfer ihre haselnußfarbenen
Flügel und stoben mit Rattern und Brummen empor.
Etwas später kam der Maikäfer zurück und landete wieder auf dem Blatt. »Ich habe den Junikäfer ge-
troffen«, erzählte er Linde.
»Ich weiß«, sagte sie.
»Wir hatten eine ziemliche Auseinandersetzung«, behauptete der Maikäfer.
Linde erkannte, daß die Höflichkeit gebot, ein wenig Neugier zu zeigen. »Wirklich?« bemerkte sie.
»Eine Auseinandersetzung?«
»Ich fragte ihn unverblümt, wie er sich herausnehmen könne, jetzt schon aufzutauchen«, berichtete
der Maikäfer. »Du kannst glauben, daß ihm das die Sprache verschlug. Der Mund blieb ihm offen ste-
hen. Er war einfach baff.«
»Nun ja«, sagte Linde. »Gewisse Fragen sind nicht leicht zu beantworten.«
»Weshalb hätte ich ihn schonen sollen?« meinte der Maikäfer. » Zufrühkommen, sagte ich, ist genau
so flegelhaft wie Zuspätkommnen. Warten Sie doch ab, sagte ich, bis man Sie braucht. Es gibt irgendet-
was wie Ordnung, sagte ich, auch wenn Sie dieses Wort vermutlich noch nie gehört haben. Jeder auf sei-
nem Platz und alles zu seiner Zeit. Nichts, sagte ich, ist ungezogener, als Leute zur ungelegenen Stunde
zu belästigen.«
— 92 —
»Das war deutlich«, sagte Linde anerkennend.
»Ich bin nicht gern grob«, stellte der Maikäfer fest. »Ich bin eigentlich eher verträglich. Aber gegen
Tiere, die sich vordrängeln, habe ich einmal einen Widerwillen.«
Er brummte davon. Linde sann darüber nach, ob er die Darstellung für wahr hielt, die er ihr da aufge-
tischt hatte. Schließlich mußte ihm klar sein, daß sie das Gespräch mit angehört hatte. Entweder ist er SO
einfältig, folgerte sie, daß er an seinen eigenen Unsinn glaubt, oder aber so frech zu denken, ich traute
seinen Behauptungen mehr als meinen eigenen Ohren. Während sie diese Überlegung anstellte, er-
schien der Junikäfer im Gewirr der Äste und kam seinerseits auf das Blatt zu sitzen.
»Hast du schon vernommen«, fragte er Linde, »wie ich den Maikäfer abgefertigt habe?«
»Nein, wahrhaftig«, fragte Linde zurück. »1-last du das?«
»Er versuchte, mich anzurempeln«, gab der Junikäfer zu verstehen. »Man muß ihm manches zugute
halten. Seine Zeit ist vorüber. Im Grunde hatte ich Mitleid mit ihm. Aber weißt du: diese rFie.e die sich
ans Alte klammern, weil sie Angst vor allem Neuen haben, sind boshaft und gefährlich. Ich konnte lei-
der nicht umhin, ihn zu erledigen.«
»Was hast du bloß gesagt?« erkundigte sich Linde.
>Ich ließ nur fallen: Stemmen Sie sich ruhig gegen den Gang der Welt, lieber Herr, der Tag, wo Sie
ganz und gar vergessen sind, ist näher, als Sie denken.«
»Und was sagte er?«
»Ho ho«, machte der Junikäfer. »Was hätte er schon sagen können? Er stotterte irgendetwas; ich
glaube, er versuchte, noch einmal von vorn anzufangen. Natürlich würdigte ich ihn keiner Antwort.
Weißt du, das Peinlichste ist, wenn einer nicht kapiert, wann er geschlagen ist. Der ganze Vorfall wäre
keiner Erwähnung wert«, fügte der Junikäfer noch hinzu, »aber vielleicht ist doch richtig, wenn du die
Tatsachen kennst.«
Linde war furchtbar enttäuscht von diesen Begegnungen. So sah die Gesellschaft aus, in der sie fortan
ihr Leben verbringen sollte? Das war die Art von Unterhaltung, die sie bei den niedlichen Tieren zu er-
warten hatte? Immer solches käfermäßiges Gewäsch und nie ein Funken Menschenverstand?
Linde wollte kein Baum mehr sein.
Lieber ein Mädchen, was das auch für Gefahren mit sich bringen mochte.
Aber sie war einmal ein Baum geworden. Sie stand mit festem Stamm und schmiegsamen Ästen und
sonnendurchschimmerten Blättern im Stadtgarten, und nur ein Wunder konnte sie retten.
—93--
Manche Leute haben Glück. Das Wunder geschah.
Linde verwandelte sich wieder in eine Schülerin der siebenten Klasse. Sie nahm die Beine in die
Hand, und es gelang ihr, vor den Eltern die Wohnung zu erreichen, so daß ihre Abwesenheit während
der Zeit, wo sie ein Lindenbaum gewesen war, überhaupt nicht auffiel,
'Am anderen Morgen begann der Schultag mit Erdkunde. Linde ergriff ein Blatt Papier. Sie kritzelte
etwas darauf, rollte es zu einer Kugel und warf mit der Kugel nach Egon. Egon las natürlich sofort, was
sie ihm geschrieben hatte.
»Ich möchte dich auch küssen«, hatte Linde geschriebeh.
hiermit übrigens war der Briefwechsel abgeschlossen, und, einer Auskunft von Frau Studienrat Thu-
gut zufolge, widmeten sich Linde wie Egon dem restlichen Unterricht mit dem Grad von Anteilnahme
welchen man von einem Kind, das nicht zu Übertreibungen neigt, vernünftigerweise erwarten kann,
»Es war so«, sagte die Studienrätin wö'ztlich, »wenn ich sie langweilte, langweilten sie sich, wenn ich es
spannend machte, waren sie gespannt.«
DIE MÄDCI-ILNF1ASSFH
- 95 -
Und nun, fuhr er fort, laß uns ringen und raufen.
Ringen und raufen, frug der andre, wozu?
Warte, rief jener, ich bring dich ins Schnaufen,
Wirst sehn, alter Junge, ich bin stärker als du.
Auf der Heide ward nun gerungen,
Auf der Heide um Sperenberg.
—96-
Auf der hohen Birke im Garten vor meinem 1-laus wohnen zwei Eulen. Sie sitzen den ganzen Tag bei-
einander in einer Astgabel. Nachts schweben sie vermutlich lautlos im Dunkel und fangen Maulwürfe
und Schermäuse, aber man weiß da nichts Näheres. Am Tag, wie ich schon sagte, sitzen sie in der
Gabel. Schlafen sie? Hört einmal genau hin. Huh, huh, machen sie. Ob sie träumen? Nein, sie träu-
men nicht, sie erzählen sich Geschichten, und zwar immer entweder die eine der anderen oder die an-
dere der einen. Die hübscheste von den Geschichten habe ich für euch übersetzt. Es war nicht die eine
Eule, die sie erzählte, ich erinnere mich gut, es. war die andere.
Erstes. Kapitel
Ein Mann also, erzählte die Eule, hieß Armer Ritter, er lebte allein in seiner verfallenen Ritterburg und
ernährte sich von einem winzigen Rübenacker, welchen er im Burghof angelegt hatte. Eines Tages, als er
nach Feierabend mit den Dorfleuten im Wirtshaus saß, sagte ein Bauer zu ihm: »Armer Ritter, es gibt
Arbeit für dich; man vernimmt, der Drache Feuerschnief ist in unser Land eingefallen und tut Schaden
unter Groß und Klein. Willst du ihn nicht erschlagen gehen, wie es deines Standes ist?« - »Wie soll ich
mir das herausnehmen«, erwiderte Armer Ritter, »mein Roß Ajax ist ganz elend vor Hunger, meine
blanke Lanze ist mir beim Disteinstechen abgebrochen, und ich habe, aufrichtig zu sprechen, auch keine
heile Hose mehr. Vorn ist sie noch ziemlich gut, leider hinten gar nicht.« - »Du willst nicht mit dem
Drachen kämpfen?« fragte der Dorfschmied. »Ich wollte schon«, erwiderte Armer Ritter, »ich kann
nicht.« - »Das ist ein guter Grund«, äußerte jetzt der Gastwirt besorgt, »aber der Fall bleibt traurig;
denn so ein Drache im Land ist ein wahrer Schrecken, wer weiß denn, welche Richtung er einschlägt?«
Am andern Morgen kam der Bauer und ließ sich auf der Burg sehen. Armer Ritter war eben beim Rü-
benverziehen; die ausgerissenen Pflänzchen trug er in seinem 1-leim zum Komposthaufen, der in einer
Mauerecke lag, gleich rechts neben der Kanone. »Ich habe dir da einen halben Sack Hafer mitge-
bracht«, sagte der Bauer; »er ist für dein Roß Ajax, daß es zu futtern bekommt.« - »Aber du hast selbst
wenig«, sagte Armer Ritter, »von dir mag ich nichts, nehmen.« - »Nimm ruhig«, versetzte der Bauer.
»Eine kleine Ausgabe. ist besser als der Drache Feuerschnief; wenn du es nicht geschenkt willst, kannst
du es ja aus dem Drachenschatz zurückzahlen.« Und Armer Ritter gab dem Bauern die Hand, und das
Roß Ajax malmte in dem Hafer, daß es eine Lust zu hören war. Aber desselbigen Tages kam der
Schmied und schmiedete die Lanze wieder zurecht, und endlich kam der Wirt mit einer fast neuen
Hose aus rehfarbenem Leder. »Aber ihr habt selbst wenig«, sagte Armer Ritter jedesmal, und: »Von
euch mag ich nichts nehmen.« Und der Schmied und der Wirt entgegneten: »Eine kleine Ausgabe ist
besser .als der Drache Feuerschnief; wenn du es nicht geschenkt willst, kannst du es ja aus dem Dra-
chenschatz zurückzahlen.«
Zweites Kapitel
Armer Ritter streifte die rehfarbene 1-lose über, ergriff die geflickte Lanze und setzte sich auf sein wie-
herndes Roß Ajax; auf dem Kopf trug er den 1-leim, den er unter der Pumpe gewaschen hatte und der
daher prächtig in der Sonne glänzte. So ritt er zum Wald Jetieferjeschwärzer, wo der Drache sich auf-
hielt. Aber vor dem Walde stieß er auf zwei herrliche Ritter mit silbernen Harnischen über den seide-
nen Wämsern und goldenen Sporen an den Stiefeln und wallenden Federbüschen auf den Hauben. Es
waren die berühmtesten Ritter weit und breit, ihr kennt sicher ihre Namen; es waren Herr Gurlewanz
und Herr Firlefanz, sie selbst und keine schlechtem. »Ich bin zu spät gekommen«, sagte Armer Ritter
zu sich; »diese tapferen und reichen Herren werden die Sache besser erledigen, wäre ich nur bei mei-
nen Rüben geblieben.«
»Lange nicht gesehen, Armer Ritter«, sprach Herr Gurlewanz artig. »Auch beim Drachentöten, Ar-
mer Ritter?« fragte Herr Firlefanz verbindlich. »Ja«, sagte Armer Ritter, »so trifft man sich. Aber ich
sehe, ich bin hier überflüssig, und ich möchte nicht
' lange gestört haben.« Er wandte sein Roß Ajax und
wollte heimreiten; doch Herr Gurlewanz und Herr Firlefanz hinderten ihn daran mit vieler Höflichkeit.
»Wir lassen dir den Vortritt, Armer Ritter«, sagten sie. »Wir waren aus Zufäll vor dir am Fleck, aber es
wäre unritterlich und von geringem Anstand, wollten wir daraus ein Recht ableiten. Reite ruhig in den
Wald Jetieferjeschwärzer; wir nehmen es dir gewiß nicht übel.« So höflich also sprachen sie, und Armer
Ritter wußte ihnen nicht Dank genug zu sagen.
Dann ritt er in den Wald Jetieferjeschwärzer hinein, und richtig, im tiefsten Innern des Waldes fand
er den Drachen Feuerschnief. Der saß auf seinem Schatz und biß um sich, und es dauerte eine ganze
Weile, bis er totgeschlagen war.
Als Armer Ritter den Wald wieder verließ, war von den beiden Rittern nichts zu sehen, von Herrn
Gurlewanz nichts und nichts von Herrn Firlefanz. Er fand sie erst drei Dörfer weiter, unten im Tal.
»Hast du ihn wahrhaftig besiegt?« erkundigten sie sich. »Freilich«, gab Armer Ritter zur Antwort, »und
hier ist auch der Schatz, er ist euer.« - »Unser?« fragten sie überrascht. »Es war euer Drache«, sagte
Armer Ritter. >Ihr habt mir nach adeliger Sitte den Vortritt gelassen, aber der Kampf stand euch zu, so
muß ja doch der Schatz euch gehören.« - »Wir werden uns nicht an fremder Beute bereichern«,
wehrte Herr Firlefanz ab. »Der Schatz gehört uns zu gleichen Teilen, und ein Drittel davon gehört
selbstverständlich dir.« - »Nein, nein«, sagte Armer Ritter hierauf; »erlaubt nur, daß ich ein paar alte
Schulden bezahle, von dem Rest kein Wort mehr.« Er nahm aus dein Drachenschatz einen Heller für
den Hafer, einen Heller für die hose und einen halben Heller für den Schmied, macht zwei und einen
halben Heller, und gab alles übrige den Rittern. Dann zogen sie gemeinsam zum Hofe des Rosenkönigs.
Drittes Kapitel
Der Rosenkönig wohnte im Schloß Belle Odeur und herrschte zu jedermanns Zufriedenheit über das
Land. Seine einzige Tochter war die Blütenprinzessin. Die Blütenprinzessin war allerliebst anzusehen.
An ihren Armen und Fingern und Ohren, überhaupt an ihrem ganzen niedlichen Leib, wuchsen hell-
grüne Blätter, zwischen den Blättern saßen Knospen, und wo die Knospen sich geöffnet hatten, waren
sie zu großen roten Rosen geworden und rochen so stark nach Honig, daß immer ein paar Ilummeln um
die Prinzessin herumschwirrten. Wie man weiß, hatte der König die Blütenprinzessin demjenigen ver-
sprochen, der das Land VOfl dem Drachen Feuerschnief befreien würde, hoch oder niedrig.
Er empfing die siegreichen Ritter voller Wohlgefallen. Und weil Armer Ritter mit Drachenblut be-
deckt war, sprach er zu ihm: »Du bekommst meine Tochter.« - '>Sie befinden sich im Irrtum, Maje-
stät«, sagte Armer Ritter, »diese beiden hochedlen Herren haben Anspruch auf den Preis. Sollen sie der
wunderschönen Prinzessin verlustig gehen, bloß weil ihre Höflichkeit noch größer war als ihre Tapfer-
keil?« - »1)u schlägst sie aus?« fragte der König ganz trübsinnig. »Ich muß«, sagte Armer Ritter; »denn
sie steht mir nicht zu.« - »Ach«, seufzte der Rosenkönig, »es hat sich also schon herumgesprochen? Ja,
es ist die fürchterliche Wahrheit: meine Tochter trägt leider nicht nur Blätter und Knospen und Blüten.;
sie trägt auch Dornen, so lange und so scharfe, daß sie jedem, der sie umarmt, das Herz durchbohren
muß, und wappne ihn die festeste Rüstung. Dabei sehnt sie sich sehr nach einem Gemahl; denn im
Grunde ist sie ein zärtliches Mädchen. Ach, bitte, meine Herren Drachentöter, will sie nicht einer von
euch zu nehmen wagen und mein Reich erben?«
»Ein Schuft, wer da nein sagt«, versicherte Herr Gurlewanz. »Ehrensache«, sprach 1 lerr Firlefanz.
»Aber«, so fügten sie hinzu, »die Artigkeit verlangt, daß wir unserem bescheidenen Vetter den Vortritt.
lassen.« Armer Ritter mochte sich sträuben, wie er wollte. Er kam gegen ihre guten Umgangsformen
nicht an, und er heiratete im Dom der Düfte die Blütenprinzessin. Sie lächelte ihm zu und weinte dabei
vor Freude, daß sie nun einen Mann hatte, der sich vor ihren Dornen nicht fürchtete, und die Tränen
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lagen wie Tautropfen in den Rosenblüten. Armer Ritter aber war im Herzen glücklich und freute sich
auch.
Viertes Kapitel
Am Abend, als die Jungvermählten sich zur Ruhe legen sollten, suchte der Rosenkönig seinen Schwie-
gersohn auf, der im Nachtwams vor der Kammertür saß. »Ach, Armer Ritter«, sagte er, »du bist mir
wert und teuer geworden, du darfst dir von allen Panzern in meinem Schloß den härtesten aussuchen;
ich fürchte freilich, er wird auch nicht viel helfen.« - »iIerr Schwiegervater«, erwiderte Armer Ritter,
»wer wird denn mit seiner Frau Liebsten im Panzer zu Bette gehn?« - »So kann ich nichts mehr für
dich tun?« fragte der König. »Doch«, erklärte Armer Ritter. »Lassen Sie mir einen Bottich mit Lehm in
die Schlafstube tragen, und lassen Sie ein Feuer im Kamin anzünden.«
Armer Ritter ging in die Schlafstube, wo seine Frau auf ihn wartete, und breitete die Arme aus. Die
Blütenprinzessin flog ihm entgegen. Aber bevor sie ihm an die Brust fallen konnte, stellte er ihr ein Bein,
so daß sie in den Bottich stürzte und vom Kopf bis zum Fuß darin versank. Je heftiger sie strampelte,
desto vollständiger umkleisterte sie der Lehm, bis sie mehr einem Brot als einer Braut glich. Armer Rit-
ter nahm den Klumpen aus dem Bottich und warf ihn ins Feuer. Dort mußte er trocknen und backen;
endlich klopfte Armer Ritter die Kruste entzwei. Und seht an, alle Dornen waren in dem gebrannten
Lehm steckengeblieben.
Übrigens, die Blätter und Knospen und Blüten waren ebenfalls mit abgegangen. Aber das schadete
nichts. Die Blütenprinzessin hatte eine weiß und rosenfarbene ganz glatte Haut bekommen; ihr glaubt
nicht, was für ein entzückendes Geschöpf sie jetzt war; hatte sie vorher mit Rosen geblüht, war sie jetzt
selbst eine. Morgens rief Armer Ritter nach dem Hosenkönig, und der kam, und Herr Gurlewanz und
Herr Firlefanz, die kamen auch. »Sie hat keine Dornen,' wenn wir recht sehen, sagten die beiden
Herren. )>Ihr seht recht«, sagte Armer Ritter. »Nun erst«, rief der König vergnügt, »ist sie die
Allerschönste.«
Fünftes Kapitel
Die Blütenprinzessin, nachdem sie sich im Spiegel betrachtet hatte, fand sich auch nicht übel und sagte:
»Wenn ich die Allerschönste bin, so will ich auch nur noch den Allerschönsten zum Gemahl haben.« -
»Der bin ich«, rief Herr Gurlewanz, und das Morgenrot schimmerte auf seinem goldenen Harnisch.
»Nein, ich«, rief Herr Firlefanz, und die Federn seines Helmbuschs wehten im Wind. »Ihr habt leider
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nur zu Recht«, sagte Armer Ritter, »ihr beide seid unvergleichlich viel schöner, als ich bin, aber ich (Jan
doch vielleicht ein wenig mit eurer ausgesuchten Höflichkeit rechnen.« - » Was, Höflichkeit?« grunzten
die Ritter mißtrauisch, »worauf soll das hinaus?« - »Ich meine nur«, bat Armer Ritter flehentlich,
»wurdet ihr mir nicht in diesem besonderen Fall noch ein Mal den Vortritt lassen?« - »Ein dreister
Kerl«, bemerkte Herr Gurlewanz kurz. »Lumpenpack«, erklärte Herr Firlefanz bündig. »Hört auf«,
sagte da die Blütenprinzessin, »der Allerschönste ist Armer Ritter, und ein blinder Esel, wer das nicht
sehen kann.«
»Dann müssen wir ihn zum Zweikampf herausfordern«, brüllten die abgewiesenen Freier. Ihre ganze
Artigkeit war verschwunden; ich kann selbst nicht sagen, wohin. Armer Ritter wurde von einer großen
Bangigkeit befallen. »Jetzt bin ich verloren und würde gern auf. meine Burg zurück reiten«, sagte er zu
der Blütenprinzessin, »aber ich habe dich so lieb gewonnen, daß ich den Streit mit diesen erlesenen
Herren aufnehmen und für dich den Tod dulden will.« Und dabei zitterte er am ganzen Leibe. Sie gin-
gen in die Turnierbahn und legten die Lanzen ein, und Armer Ritter gab erst Herrn Gurlewanz und
nach ihm Herrn Firlefanz dermaßen hinter die Löffel, daß sie daran wohl gestorben sein müssen. Heuti-
gentags jedenfalls, nach dem, was ich höre, schloß die Eule, leben sie nicht mehr.
Der Sturm, der jagt die Wolken, auflodert der Kamin.
Es sitzt der Urgroßvater und zittert mit den Knien:
Die lieben, alten Lieder, die wackersten von allen,
ich trug sie einst im Kopfe, sie sind mir längst herausgefallen.
eLz ez
Jona
Als Jona aus dem Tanzschuppen kam
In Ninive, der Stadt,
Er laut zum Himmel das Wort nahm
In Ninive, der Stadt:
Die ganze Stadt, auf meinem Knie
Beschwör ich dich: zerstöre sie!
Es ist ein schlimmer Sündenort,
Am klügsten zerstörst du sie sofort.
— 106 —
Bist du so fromm, bist du so klug?
Ich bin mir selber fromm genug.
Willst du noch frömmer und klüger seir,
Sperr ich dich wieder in den Walfisch rein.
Genoveva
Pfalzgraf Siegfried ritt aus zum Jagen,
Und die Jagd ging fröhlich über Stock und Stein,
Und da sah er eine weiße Hirschkuh,
Und er sprengte hinter ihr waldein.
Und die Hirschkuh floh in eine Grotte.
In der Grotte saß ein Weib so wundermild.
Pfalzgraf Siegfried ließ die Armbrust sinken,
Und er stand als wie ein Marmorbild.
Genoveva, meine weiße Hirschkuh,
Genoveva, meine wahre Liebe,
Genoveva, seit du mir entschwunden,
Aus der Seele schwand mir all mein Glück.
—107-
- Weil ich dich nicht mit ihm betrog.
- Kannst du mir einmal noch verzeihn?
- Im Bösen nie gedacht ich dein.
Der Kahlbutz
Wenn Sie bei Bückwitz links halten
Auf der Kyrilzer Chaussee,
1)a liegt der Ritter Kahlbutz
In seiner Schaubude.
Er liegt da schon dreihundert Jahr
Und wird und wird nicht faul.
Der \'irchow und der Sauerbruch,
Die stein mit offnem Maul.
- 109 -
Tu ichs nicht, ists dumm,
Tu ichs, nimmt mans krumm,
Sprach der alte König zu seiner Königsfrau.
— 110 —
Davon wird der Schnurrbart mir heute noch grau.
Fritz zog in den Krieg,
Flog von Sieg zu Sieg...
1-lätt er sollen oder nicht, wer weiß das so genau?
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Der Bär schwankte durch den Wald, es war übrigens Winter; er ging zum Maskenfest. Er war von der
besten Laune. Er hatte schon ein paar Kübel Bärenschnaps getrunken; den mischt man aus Honig,
Wodka und vielen schwierigen Gewürzen. Des Bären Maske war sehr komisch. Er trug einen grünen
Rock, fabelhafte Stiefel und eine Flinte auf der Schulter; ihr merkt schon, er ging als Förster. Da kam
ihm, quer über den knarrenden Schnee, einer entgegen: auch im grünen Rock, auch mit fabelhaften
Stiefeln und auch die Flinte geschulten. Ihr merkt schon, das war der Förster. Der Förster sagte mit
einer tiefen Baßstimme: »Gute Nacht, Herr Kollege, auch zum Försterball?« - »Brumm«, sagte der
Bär, und sein Baß war so tief wie die Schlucht am Weg, in die die Omnibusse fallen. »Um Vergebung«,
sagte der Förster erschrocken, »ich wußte ja nicht, daß Sie der Oberförster sind.« - »Macht nichts«,
sagte der Bär leutselig. Er faßte den Förster unterm Arm, um sich an ihm festzuhalten, und so schwank-
ten sie beide in den Krug zum zwölften Ende, wo der Försterball stattfand.
Die Förster waren alle versammelt. Manche Förster hatten Geweihe, die sie vorzeigten, und manche
Hörner, auf denen sie bliesen. Sie hatten alle lange Bärte und geschwungene Schnurrbärte, aber die mei-
sten Haare im Gesicht hatte der Bär. »Juhu«, riefen die Förster und hieben den Bären kräftig auf den
Rücken. »Stimmung«, erwiderte der Bär und hieb die Förster auf den Rücken, und es war wie ein gan-
zer Steinschlag. »Um Vergebung«, sagten die Förster erschrocken, »wir wußten ja nicht, daß Sie der
Oberförster sind.« »Weitermachen«, sagte der Bär. Und sie tanzten und tranken und lachten; sie san-
gen, sie hätten so viel Dorst im grünen Forst. Ich weiß nicht, ob ihr es schon erlebt habt, in welchen Zu-
stand man gerät, wenn man so viel tanzt und trinkt, lacht und singt. Die Förster gerieten in einen Taten-
drang und der Bär mit ihnen; der Bär sagte: »Wir wollen jetzt ausgehii, den Bären schießen.«
Da streiften sich die Förster ihre Pelzhandschuhe über und schnallten sich ihre Lederriemen fest um
den Bauch; so strömten sie in die kalte Nacht. Sie stapften durchs Gehölz. Sie schossen mit ihren Flin-
ten in die Luft. Sie riefen Hussa und F-Iallihallo und Halali, wovon das eine so viel bedeutet wie das an-
dere, nämlich gar nichts, aber so ist das Jägerleben. Der Bär riß im Vorübergehen eine Handvoll trocke-
ner Hagebutten vom Strauch und fraß sie. Die Förster riefen: »Seht den Oberförster, den Schelm«, und
fraßen auch Hagebutten und wollten sich ausschütten vor Spaß. Nach einer Weile jedoch merkten sie,
daß sie den Bären nicht fanden. »Warum finden wir ihn nicht?« sagte der Bär. »Er sitzt in seinem Loch,
ihr Schafsköpfe.« Er ging zum Bärenloch, die Förster hinterdrein. Er zog den Hausschlüssel aus dem
Fell, schloß den Deckel auf und stieg hinunter, die Förster hinterdrein. »1)er Bär ist ausgegangen«, sagte
der Bär schnüffelnd, »aber es kann noch nicht lange her sein, es riecht stark nach ihm.« Dann torkelte er
zurück in den Krug zum zwölften Ende und die Förster hinterdrein.
- 114 -.
Sie tranken gewaltig nach der Anstrengung, aber die Menge, die der Bär trank, war wie ein Schmelz-
wasser, das die Brücken fortreißt. »Um Vergebung«, sagten die Förster erschrocken,. »Sie sind ein groß-
artiger Oberförster.« Der Bär sagte: »Der Bär steckt nicht im Walde, und der Bär steckt nicht in seinem
Loch; es bleibt nur eins, er steckt unter uns und hat sich als Förster verkleidet.« - »Das muß es sein«,
riefen die Förster, und sie blickten einander mißtrauisch und scheel an. Es war aber ein ganz junger För-
ster dabei, der einen verhältnismäßig kleinen Bart hatte und nur wenige Geweihe und überhaupt der
Schwächste und Schüchternste war von allen. So beschlossen sie, dieser sei der Bär. Sie krochen müh-
sam auf die Bänke, stützten ihre Bärte auf die Tische und langten mit den Händen an der Wand empor.
»Was sucht ihr denn?« rief der junge Förster. »Unsere Flinten«, sagten sie, »sie hängen leider an den
Haken.« - »Wozu die Flinten?« rief der junge Förster. »Wir wollen dich doch schießen«, antwoi'teten
sie, »du bist doch der Bär.« - »Ihr vei'steht überhaupt nichts von Bären«, sagte der Bär.
»Man muß untersuchen, ob er einen Schwanz hat und Krallen an den Tatzen«, sagte der Bär. »Die
hat er nicht«, sagten die Förster, »aber, Potz Wetter! Sie selbst haben einen Schwanz und Krallen an
den Tatzen, Herr Oberförster.« Die Frau des Bären kam zur Tür herein und war zornig. »Pfui Teufel«,
rief sie, »in was für Gesellschaft du dich herumtreibst.« Sie biß den Bären in den Nacken, damit 'er nüch-
terner würde, und ging mit ihm weg. »Schade, daß du so früh kamst«, sagte der Bär im Walde zu ihr,
»eben hatten wir ihn gefunden, den Bären. Na, macht nichts. Andermal ist auch ein Tag.«
» Wenn du mir ein Märchen erzählst, lasse ich dich laufen«, sagte der Storch zum Ochsenfrosch; denn
er war schon satt genug. Was glaubt ih,; wie dein Ochsenfrosch die Reime aus dem Maul flossen?
An einem heißen Ort der Erde Nur des Künstlers feines Ohr
Da lebte eine Nashornherde. Richtet voll Mißtraun sich empor.
Sie gingen schläfrig auf der Weide.
Sie waren stark, doch ohne Zorn. Und näher kamen die 1 öwen. geschlichen.
Sie taten keinem was zu Leide,
Und nur dem Räuber droht ihr Horn. Und immer näher.
Und wenn sie gut geweidet hatten, Aufwachten da die Bullen all
Im Herzen Ruh und Gras im Magen, Und stellten sich zu einem Wall.
Und malvenblaue Mondenschatten Die Hintern hinten, die Nasen vorn.
Wie Bänder auf der Steppe lagen, Und immer Horn an Horn an Horn.
Stand unser Musensohn allein
Im apfelroten Abendschein Die Löwen sahen sich ertappt
Und blies voll Schmelz und ohne Härte Und hättens lieber leicht gehabt.
Die allbeliebten Hornkonzerte. Sie strichen in lautlosen Kreisen und Schleifen
Und wagten doch nicht anzugreifen
Doch eines Nachts aus Urwalds Tiefen Und sind zuletzt in langem Bogen,
Kamen die Löwen. Die Nashörner schliefen. Die Schwänze einwärts, abgezogen.
Die Bullen eilten umzuschaun »Ich kämpfe«, sprach der Musikus,
Nach ihren Kindern oder Fraun, »Nicht weil ich möchte, weil ich muß.
Die in der Väter Schutz und Gatten Doch bis zum nächsten Vollmond scheiden
Sich vor dem Feind verborgen hatten. Laßt mich zuvor und haltet still,
Jedoch wie groß war ihr Entsetzen, Da ist ein Hornkonzert von Haydn,
Als mitten auf den tiefsten Plätzen Das ich noch fertig üben will.
Des Hörnerrings sich wer? befand - Dann tue ich, wie ihr begehrt.«
Wahrhaftig: unser Musikant. Der Bulle sprach: »Es ist gewährt.«
Der Oberbulle sprach mit Schnauben: Was aber war in Wahrheit dann,
»Wenn ichs nicht säh, ich könnts nicht glauben. Was unser schlauer Freund begann?
Ein strammer Kerl von festen Knochen Er gab ein Päckchen auf die Post
Hat sich beim Kälbervolk verkrochen. Äns Löweniudel Süd-Süd-Ost.
Wer Angst hat«, sprach er, womit er schloß,
»Wird nie ein rechtes Rhinozeros.« Die Löwen, als sie die Schnur abbanden,
Im Päckchen 50 Kämme fanden
»Ich hatte doch nicht Angst um mich«, Samt 50 seidnen Blatt Papier.
Verteidigt unser Nashorn sich. Sie sprachen: »Wozu soll das hier?«
»Nur um mein Horn. Der Kunst bestimmt, Doch lag ein gedruckter Zettel bei,
Im Kriege leicht es Schaden nimmt. Wie Blatt und Kamm zu brauchen sei:
Ihr hört doch alle, will ich schwören, »Du legst es an die Schneidezähne
Gern meine Nachtmusik.« - »Wir hören«, Und singst hinein, dann gibt es Töne.«
Versetzt der Bulle ohne Spaß, Das Instrument ist leicht gemeistert.
»Nur schlecht, wenn uns der Löwe fraß.« Die Löwen waren wild begeistert.
Dann ward von den Rhinozerossen Und als die sandig gelbe Flur
Ein harter Urteilsspruch beschlossen: Des Mondes Fülle schräg beschien,
Allein greifst du die Löwen an. Da sah man auf der Löwen Spur
Allein jetzt stehst du deinen Mann. Die Nashornherde schweigend ziehn.
Wenn sie dich fressen, sei dein Trost: Das Rudel lag auf einer LicMung.
Es ist die Strafe, daß du flohst. Man hörte aber aus der Richtung
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Ein süßes Zirpen oder Summen. - »Halt, Freunde, halt!« rief der Hornist.
Was ist das? Doch kein Löwenbrummen! »Nicht komm ich im Bösen. Die Absicht ist,
Daß ich euch allerhöflichst lade
Das Nashorn senkt das gepanzerte Haupt Zu meiner Mondscheinseienade.«
Und hebt das Schwänzlein verwegen. - Was spielt man?
Der Boden er bebet, die Steppe sie staubt. - »Das Konzert von Haydn.«
So stampft es dem Feinde entgegen. - »Das mögen wir besonders leiden.«
Ernst nickt die Herde hinterdrein: Aufstieg der Mond zu seiner Stunde.
Er wird nicht als Feigling gestorben sein. Ein Wind ging lau von den Oasen.
Der Künstler hob das Horn zum Munde,
Dem Ziel jetzt naht der Donnerlauf. Sein Glück sich aus dem Hals zu blasen.
Die Löwen schnurrten auf dem Kamm.
Die fünfzig Löwen springen auf, Das Publikum saß rings im Schlamm.
Und Tränen höchster Lust entflossen
Und rennen weg. Den staunenden Rhinozerossen.
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Andere Länder, andere Sitten. Einige halten es so, andere so. in unserer Geschichte haben wir es mit
zwei Ländern zu tun, die sich dadurch unterschieden, daß das eine in gewissen Dingen anders verfuhr
als das andere.
Das eine Land war das, wo man sich vorn Kopf bis zum Fuß wäscht, also erst das Gesicht, dann die
Ohren, dann den Hals und so fort bis zu den Zehen.
Das andere war das Land, wo man sich vom Fuß bis zum Kopf wäscht. Erst die Zehen, dann den
Fuß, die Waden, die Oberschenkel - bis man zum Gesicht kam und fertig war.
Im Grunde wurde man bei dem Verfahren so sauber wiebei dem. Aber wie die Leute einmal sind, sie
legten Wert darauf.
Das Land, wo man sich vorn Kopf bis zum Fuß wäscht, hatte einen König. Der wohnte in seinem
Schloß, und in dein Schloß standen Uhren, in jedem Zimmer eine, im Ganzen waren es zweiundzwan-
zig Uhren.
Die Uhren, das muß man wissen, sahen in jenen Tagen anders aus als heute.
Sie waren mit goldenen Engeln, Greifen und Delphinen verziert, und obenauf stand der Gott der
Zeit, kraute sich den Bart und blickte ernst und sorgenvoll, so als ob er dauernd daran dächte, daß alte
Dinge ein Ende würden nehmen müssen, sobald er aufhörte, sie in Gang zu halten. Die Zifferblätter wa-
ren aus Emaille oder gekerbtem Messing. Die Kästen waren aus edlen Hölzern. Die Pendel hatten die
Form einer Sonne oder stellten die Morgenröte dar, wie sie in ihrem zweispännigen Wagen über den
Rand der Erde steigt, um den Tag anzukünden.
Manchmal gingen die Uhren eine Minute vor oder drei Minuten nach. Das kann man einen Fehler
nennen. Aber vielleicht ist übermäßige Genauigkeit nicht die I-Iaupsache an einer Uhr und nicht das,
worauf es am meisten ankommt.
Die Uhren wurden mit Schlüsseln aufgezogen. Man mußte sich vorsehen, daß man nicht die Feder
überspannte oder die Uhr von ihrem Platz verrückte; denn die damaligen Uhren gingen nur, wenn sie in
der Lage blieben, in der sie einmal standen, schief oder gerade. Natürlich hatte der König keine Zeit,
sich um das Aufziehen seiner Uhren selbst zu kümmern Er hatte einen Handwerker in seinem Dienst,
der jeden Morgen im Schloß erschien und das für ihn. besorgte. Der Name dieses Handwerkers war
Meister I-Iartmuth, und er trug den Titel eines königlichen Uhrenaufziehers.
An einem gewissen Vormittag kam er, begleitet von seinem Lehrling, welcher ihm folgen und mit
einem weichen Pinsel den Staub von den Gehäusen wischen durfte, ins Zimmer des Königs. Der König
wärmte seine Füße am Kamin und regierte so vor sich hin. Meister Hartmuth zog mit vielem Geschick
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die Kaminuhr auf und trat danach zwei Schritte zurück, um sein Werk zu beinachten, und hierbei ge-
schah es, daß er dem Palastmops auf die Pfote trat.
Der Palastmops quiekte zum Erbarmen, und dci' König sagte: »Hartmuth, Sie sind ein Kamel.«
Über den Satz schmollte Meister Hartmuth, der seinen Wert kannte, gar bitterlich. Er grämte und
grämte sich, bis es ihm das Herz abdrückte und er sich entschloß, das Land, darin ihm solche Schmä-
hung angetan worden, zu verlassen.
Er ging in das Land, wo man sich vom Fuß bis zum Kopf wäscht, und wie der Zufall es wollte,' es war
dort eine Stelle für ihn frei. Das Land war viel größer und reicher als das, aus welchem man ihn vertrie-
ben hatte. Das Schloß hatte zwei Flügel, den Westflügel und den Hasenflügel.
Im Westflügel wohnte der König, und im Hasenflügel arbeiteten des Königs fünfhundert Schreiber.
Die Schreiber arbeiteten übrigens sehr wenig. Es kam gelegentlich vor, daß, ein Brief eintraf. Dann las
ihn jeder Schreiber und fügte seinen Namen unter den Brief zum Zeichen, daß er ihn gut gelesen hatte,
und wenn der letzte Schreiber ihn geles"en und abgezeichnet hatte, warf er ihn in den Papierkorb. Es
kam auch vor, daß ein Brief geschrieben-wurde. Den schrieb dann einer von den Schreibern, und alle
anderen Schreiber unterschrieben ihn, und dann wurde auch der in den Papierkorb geworfen. Die
Schreiber waren nämlich der Meinung, daß die Angelegenheiten des Landes genau in der richtigen
Ordnung waren und es nur zu Scherereien führte, wenn man Neuigkeiten beachtete oder gar in die Welt
setzte. In der restlichen Zeit, und das war meistens, schliefen sie. Sie hatten alle gelernt, mit offenen
Augen zu schlafen, daher hieß der Teil des Schlosses, wo sie ihre Plätze hatten, der Hasenflügel. Gerade
darum aber, weil sie kaum arbeiteten, war es besonders wichtig, daß sie pünktlich anlangten und fortgin-
gen, und aus diesem Grunde durften die Uhren im Hasenflügel niemals stehen bleiben. Es waren nicht
weniger als sechsunddreißig.
So wurde Meister Hartmuth königlicher Uhrenaufzieher im Hasenflügel. Der Westflügel hatte einen
eigenen Uhrenaufzieher, den Meister Severin. Aber der war ein Tölpel und ein Dummkopf, der fort-
während die Uhren umwarf oder den Zierat abbrach.
Für Meister Hartmuth lief alles glücklich, in dem Land aber, aus dem er gekommen war, änderte sich
alles zum Schlechten. Ab und an erhielt Meister Hartmuth Post aus seiner Heimat. Daraus erfuhr er
denn, wie im königlichen Schlosse die Uhren die Kreuz und die Quere gingen, jede anders als die ande-
ren, und indem die Jahre verstrichen, erlitt Uhr um Uhr einen Schaden und stand überhaupt still. Bei
jeder solchen Unglücksbotschaft freute sich Meister Hartmuth und lachte laut und sonderbar. Später
verloren sich seine Bekanntschaften zuhause, und die Nachrichten hörten auf.
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Eines bösen Tages indessen starb Meister Hartmuths König. Der Kronprinz war ein unruhiger
Mensch mit empfindlichen Ohren. Das ewige Ticken und Klingeln der Uhren war ihm unerträglich, und
er befahl, kaum daß er den Thron bestiegen hatte, alle Uhren im Westflügel anzuhalten. Die Uhren im
Hasenflügel, wo, wie wir schon erklärt haben, alles davon abhing, daß die Schreiber pünktlich eintrafen
und aufbrachen, mußten natürlich in Gang bleiben.
Folglich bedurfte es in dem Land, wo man sich vom Fuß bis zum Kopf wäscht, nur mehr eines einzi-
gen königlichen Uhrenaufziehers. Die Frage war, wer der sein sollte, Meister Hartmuth oder Meister Se-
verin.
Die Frage war leicht zu entscheiden. Jeder sah, daß Meister Hartmuth ein Künstler war und Meister
Severin ein Tolpatsch. Dein jungen König, der, obgleich er die Stille liebte, viel Freundlichkeit und
Huld im Gemüt trug, fiel ein, Meister Hartmuth in dessen Kammer aufzusuchen und ihm seine Ernen-
nung aus eigenem Königsmunde mitzuteilen.
Aber nun begab sich etwas Entsetzliches.
Der König öffnete die Tür und überraschte Meister Hartmuth dabei, wie er sich eben wusch - vom
Kopf bis zum Fuß! Ja, es war nicht zu leugnen. Meister Hartmuth wusch sich von oben nach unten, so
wie er es von Kindheit her gewohnt war.
»Himmel«, sagte der König. »Wie unreinlich. Sie sind auf der Stelle entlassen, übrigens ist es ja wohl
nicht das erste Mal. Wie ich mich entsinne, hat Sie ja auch Ihr früherer König, mein Freund und Nach-
bar, schon hinauswerfen müssen.« - »Aber Majestät befinden sich im Irrtum«, stammelte Meister Hart-
muth, »ich bin seinerzeit aus freien Stücken entronnen. .. entflohen.. .«
»Was für ein Unsinn, entflohen«, sagte der König. »Kein Mann von Zucht verläßt ohne Not seinen
König und sein Vaterland. Nein, nein, wir behalten unseren guten Severin. « Und als er es gesagt hatte,
knallte er die Tür zu.
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Wir können schwer beschreiben, wie tief gekränkt Meister Ilarlmuth durch diese Behandlung war.
Zudem stand er nun plötzlich ohne Brot und Stellung, und er faßte Mut und machte sich auf den Weg
zurück in sein altes Land, wo man sich wenigstens auf anständige Art säuberte. Sie werden froh sein,
mich wiederzubekommen, dachte er. Der König wird sich entschuldigen, und ich werde die Entschuldi-
gung annehmen, falls er mich in den Rang eines königlichen Oberuhrenaufziehers erhebt. Aber in dem
Punkt hatte er falsch gedacht. Er hatte schon ziemlich lange keine Post mehr erhalten. Sein ehemaliger
Lehrling nämlich hatte in der Zwischenzeit die Kunst des Uhrenaufziehens, teils aus Büchern und teils
durch Übung, erlernt, und keine Uhr der Welt konnte besser die Zeit zeigen als die zweiundzwanzig
Uhren im Schloß.
So gab es auch hier für Meister Hartmuth keine seinem Können angemessene Beschäftigung. Er
wurde Gehilfe bei einem Uhrmacher für Kirchturmuhren, fiel von der Leiter, behielt ein steifes Bein,
ging auf Rente und starb früh und ohne Zufriedenheit.
Lange ist es her, seit die alten Griechen die Erde bewohnten
Und viel Kluges sich dachten und manches Schöne ersannen.
Aber zur Zeit, da sie lebten, warn sie nicht älter, als wir sind.
Greise gab es voll Ernst, es gab wackere Frauen und Männer
Und der Kinder hüpfenden Haufen. - »Sagen Sie, Doktor,
Wie waren die?« - Teils brav und teils schlimm. Es war alles wie heute.
— 128 —
Mit dem eisernen Horn. Da hatten die kretischen Bauern
Herakles gerufen, ob der das Untier bezwinge.
Und gleich war er geeilt zum Kampf mit dem kretischen Stiere.
— 129 —
Des Triballos Einfall - dem Wandrer mit spitzigem Schilfrohr,
Das sie gleich Pfeilen geschnellt von des Bogens hurtiger Sehne,
in die bloßen Arme. So stechen Mücken im Sommer,
Wo die Feuchte des Orts sie und kühlender Schalten ermuntert.
Herakles schwieg auch hierzu. Doch mochte er wenig es leiden.
Denn nicht gern gepickt wird der 1-leid auf dem Weg von der. Arbeit.
Nun aber bog sich der Pfad. Entlang einer felsigen Klippe
Führte er überm Meer durch rauh und struppige Gräser.
Ungehindert nun stach und heiß die Sonne hernieder.
Und den Strohhut hervor zog der Held und stülpte ihn über
Und hielt klüglich ihn fest mit der Linken; denn kräftiger Wind blies.
Doch zugleich mit der Rechten hielt er die knorrige Keule.
»Jetzt geht alles glücklich« - Triballos riefs, der gewitzte -
»Jetzt hat er keine Hand frei, sie wider uns zu erheben,
Frisch, mein Sillos, ans Werk!« Und mit Grases raschelnden Halmen
Krabbelten, so wie Fliegen tun, die Kerkopen den Müden
In den Kehlen der Knie, in denen der Schweiß ihm herabrann.
Ungern indes gekitzelt auf dem Weg von der Arbeit
Wird der Held. Er beschloß, ihr Treiben nicht ferner zu dulden.
Wupp, ein einziger Griff. Und schon packte er sie mit der Linken
An den gelben Locken, die Brüder. Freilich den Strohhut
Mußte er lassen. Der flog ihm davon und schwankte im Winde
Niederwärts, bis er endlich unten versank in der Meerbucht.
Doch die erschrocknen Kerkopen, er hatte fest sie am Wickel.
— 130 —
Finde ich euch«, so entgegnet ihm drauf der traurig Erzürnte,
»Lausegötterchen seid ihr, wohlgeborenste Plagen,
Himmelsgeschmeiß. 0 Welt, o Jammer! Gibt es denn nicht der
Ungeheuer genug und muß es auch Kinder noch geben,
Daß sie uns necken und lassen nicht ungeärgert den Edlen?
Aber euch züchtigen will ich, daß ihr die Lehre erinnert.«
Auftat den vorlauten Mund Triballös, der klügere Zwilling:
»Dies wäre ungerecht!« - »Und weshalb?« sprach Herakles. »Beide«,
Sprach der Gewitzte, »sind gleichgut und haben Anspruch zu leben
Jeder mit nämlichem Recht, der Held sowohl als der Lausbub.«
- »Wie?« fragte Herakles, »und wieso denn?« Hierauf nun blähten
Sich die Kerkopen und kreischten die bedenklichen Worte:
»Jeder Held, er war doch ein Lausbub, bevor er ein Held war! «
Herakles erwogs; doch wußt er, wie folgt, zu erwidern:
»Wohl, aber nicht aus jedem Lausbub wächset ein Held einst.«
Sie aber sahens so: das Meer war oben, die Segel
Hingen herab, doch des Himmels Gewölbe weheten unten.
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Fragte der 1-leid, und ihm erwiderten so die Kerkopen:
»Unserer Mutter Worte sinds, die wir plötzlich begreifen.«
- »Welche Worte?« - »Es war just dies, was sie uns auf den Weg gab:
Hütet, ihr Milchpopos, euch vor dem Mann mit dem schwärzlichen Hintern! -
Und jetzt sehen wir nah, daß du mit der Warnung gemeint bist.«
1-lierob lachte der Held auch. Er wollte zwar nicht, doch er mußte.
Sein Gelächter hallte wie Donner und rührte das Meer auf.
Und er kam auf einen Felsen zu sitzen, und lachend
Löste er ihnen die Fessel und ließ, fortlachend, sie laufen.
Und für diesmal durch Possen entwischt warn die Schelme der Strafe.
Aber lange Zeit noch und kurz bis vor unsere Tage
Rief man »Herakles hilf!« wenn zu toll die Kinder es trieben.
— 132 —
1. Kapitel
Die Nadel in König Fäustlings Handballen
Eines recht schönen Morgens sprach der Minister Spannelang beim Wichtelprinzen vor und eröffnete
ihm den Wunsch seines Vaters, des Wichtelkönigs Fäustling, er möge sich zu der Verhandlung mit dem
Abgesandten der Kraniche, seiner Exzellenz dem Herzog von Kreischmayr, einstellen, welche am
Nachmittag des gleichen Tages im Thronsaal stattfinden würde. Ein Wunsch eines Königs ist natürlich
von höherer Geltung als der Wunsch eines gewöhnlichen Menschen. Er ist einerseits einfach ein Befehl,
andererseits wieder eine Auszeichnung und eine Gnade, und aus beiden Gründen gibt es gar keinen
Zweifel, daß man einem solchen Wunsch mit größter Pünktlichkeit nachkommt. Aber auch noch in
einer weiteren Rücksicht war dem \Vichtelprinzen die Einladung hochwillkommen. Er fand seit langem,
daß er erwachsen genug sei, um zu den Staatsgeschäften herangezogen zu werden; sein Vater hingegen
hatte das Herrschen bisher immer für eine zu folgenschwere Verrichtung angesehen, als daß man einem
Grünschnabel wie ihm, wie sorgfältig er auch von dem alten Spannelang im Schmieden von Pflugscha-
ren und Ausbringen von Trinksprüchen unterrichtet worden war, Mitrede hätte erlauben dürfen. Es
war heute das erste Mal, daß der König von diesem Grundsatz eine Ausnahme gemacht hatte, und nun
plötzlich eine so bedeutsame.
Die Kraniche liegen bekanntlich mit den Wichteln im Streit. Die Wichtel sind ein arbeitsames und ge-
lehrtes Volk, das in Bergklüften wohnt und in den schmalen Felstälern Korn anbaut. Man kann sagen,
sie haben drei Dinge erfunden, das Gute, das Wahre und das Schöne. Das ist vielleicht keine Kleinig-
keit. Die Nahrung der Wichtel besteht in schwarzem Brot und weißem Schnaps, welche, das wie der,
aus Korn hergestellt werden. Die Erklärung hierfür ist darin zu suchen, daß das Korn gelb ist. Verdünnt
man es, wird es weiß, verdichtet man es, schwarz. Die Wichtel hätten alle Voraussetzungen, froh zu sein,
wenn nicht die Kraniche wären. Denn jährlich, genauer: im Mai jeden Jahres, erscheinen, keiner weiß
woher, die Kraniche in der hohen Luft. Sie stürzen sich mit widerwärtigem Geschrei über die winzigen
Äcker, sie fressen das junge Getreide bis aufs letzte sprossende Hälmchen auf und, wofern die sich nicht
rechtzeitig in ihre Ritzen und Spalten verkriechen, die Wichtel gleich mit. Der Krieg zwischen den Kra-
nichen und den Wichteln geht, solange man zurückdenkt. Die Wichtel haben einen großen Kopf und
die Kraniche einen kleinen. Damit ist alles gesagt.
»Seine Majestät, Ihr Herr Vater«, erläuterte der Minister, »wünscht von Ihnen, daß Sie ihm bei der
Arbeit helfen und ihn besonders im Hauptpunkt der Verhandlungsführung unterstützen: im Mit-der-
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Hand-auf-den-Tisch-Schlagen. Seine Majestät hat sich bedauerlicherweise beim Anlegen einer Akte
eine Heftnadel in die Hand gerammt, und diese Nadel ist, als die Majestät sie am Faden herausziehen
wollte, abgebrochen, so daß der größere Teil derselben sich noch im königlichen Handballen befindet.
Es liegt in der erhabenen Natur unseres Herrschers, sich den grimmigsten Schmerz zu verbeißen. Aber
selbst ein Halbgott wäre überfordert, wollte man ihm zumuten, mit einer Hand, worin eine Nadel sich
aufhält, auf den Tisch zu schlagen. So erwartet seine Majestät, Ihr Herr Vater, daß Sie jedes Mal, wenn
er Sie unter dem Tisch mit dem Fuß anstößt, zur Bekräftigung seines königlichen Willens mit der Hand
auf den Tisch schlagen, ohne alles Zögern odr die mindeste Unentschiedenheit.
2. Kapitel
Der Tod der Königin Däumeline
Der Wichtelprinz erfreute sich eines Vaters, der ein tapferer König war, und eines Lehrers, dessen
Sanftmut ihn befähigt hatte, alle Weisheit des Wichtelgeschlechtes in einen jungen Prinzen, der, wie an-
dere junge Leute auch, lieber an Dummheiten dachte, den Mägden Wichtelzöpfe flocht und den Bauern
auf dem Dachboden polterte, hineinzuflößen, aber die Mutter, die doch wahrscheinlich im Leben eines
Kindes das Unentbehrlichste ist, hatte er in seinem zartesten Alter auf jammervolle Weise verloren. Die
Königin Däumeline nämlich, dichterischen Gemütes, wie sie zu aller Freude war, liebte die Blumen und
die Monate und unter denen leider vorzüglich die Maiblumen und den Monat Mai, und SO hatte es ge-
schehen können, daß sie eben auf einer Wiese saß und einen Kranz wand, als der Himmel sich verdü-
sterte und die Luft sich mit einem ohrenbetäubenden Rattern und Rauschen füllte; die Kraniche waren
gekommen. Man muß der Ärmsten nicht im Nachhinein noch Vorwürfe machen, es sollte ihr schlimm
genug ergehen. Tatsache freilich ist, sie hatte sich zu weit hinausgewagt.
Die Kraniche also schnappten Däumeline beim Kragen, und als sie in ihrer Gefangenen die Königin
erkannten, benutzten sie sie für einen Scherz, oder was sie dafür hielten. Sie nahmen den Leichnam
eines gefallenen Kranichkriegers und balgten ihn ab. In das Federkleid des toten Kranichs aber nähten
sie die Königin Däumeline, die Beine in die Kranichbeine, die Arme in die Flügel, den Kopf in den
Kropf, wobei sie den langen Vogelhals mit einer Weidengerte biegsam versteiften; da Wichtel kürzer
sind als Kraniche, paßte sie gut hinein. Dann gaben sie ihr die Freiheit. Überglücklich, nicht gefressen
worden zu sein, lief Däumeline zu den ihrigen zurück. Aber die Wichtel hielten sie für einen verwunde-
-135—
ten Feind, der, weil er nicht mehr fortfliegen konnte, den Angriff wählte, und bedrohten sie mit Waffen
und ließen sie nicht zu sich.
Däumeline begriff, daß sie mit einem Kranich verwechselt wurde. Sie irrte weinend an der Grenze
ihres eigenen Reiches hin und her und mußte sich immer wieder verscheuchen lassen; denn aus ihrer
gräßlichen Verkleidung vermochte sie sich nicht selbst zu befreien. Mit der Zeit wurde die Sehnsucht
nach ihrem kleinen Sohn in ihr überstark. Sie rannte, mit bebendem Busen und ohne der Gefahr zu ach-
ten, in Richtung der Schlafkammer des Knaben, und auf der Krone des Felsenturmes, hinter einer
Schießscharte verborgen, stand ihr Mann, der König Fäustling, und sandte ihr einen scharfgeschmiede-
ten Pfeil ins liebende aber mit falschen Federn entstellte Herz. Er hatte sein Kind verteidigen wollen
und seine Frau durchbohrt. Von dem schauderhaften Augenblick an hatte sich die Seele des jungen
Prinzen mit einer untilgbaren Abscheu gegen die Schuldigen gefüllt, wohingegen in das Wesen des tap-
feren Königs etwas Nachdenkliches sich gemischt hatte. Man kann es so ausdrücken: der Wichtelprinz
haßte eher die Kraniche, der König Fäustling haßte eher den Krieg.
3. Kapitel
Die zehnjährige Freundschaft
Als der Wichtelprinz zur ihm angewiesenen Stunde im Thronsaal erschien, fand er dort den Kinig
Fäustling, den Minister Spannelang und die Exzellenz Kreischmayr an einem langen Tisch versammelt.
Sein Vater stellte ihn dem Kranichherzog vor, der ihn sogleich zu seinem wohlgeratenen Sohn beglück-
wünschte. Die Exzellenz war der erste Kranich, den der Prinz je von Nahem gesehen hatte. Aber der
Anblick der Exzellenz war weniger grausam als vielmehr lächerlich. Der Kranichherzog hatte spindel-
dürre, stelzenartige Beine, und sein spitzes Leibesende war mit einem bogenförmigen Busch gekräusel-
ter Federn künstlich gerundet. Am albernsten war, daß er eine Wichtelmütze auf dem Kopf trug, die
ihm, ihrer Weite wegen, keineswegs paßte und, wäre sie nicht auf seinem Schnabel hängengeblieben,
ihm weit würde über den nackten Hals herabgesunken sein.
Auch der Anblick des Vaters verblüffte den Wichtelprinzen. König Fäustling hatte sich einen Strauß
Kranichfedern in den Hintern gesteckt. Der Federschmuck störte ihn erheblich beim Sitzen. Er rückte
ihn dauernd an der Stuhllehne nach rechts oder nach links, während die Exzellenz, sooft sie etwas er-
kennen wollte, die rutschende Mütze über die Augen hochschob. Diese merkwürdigen Erscheinungen
— 136 —
klärten sich im Verlauf des nun folgenden Gespräches zwar auf, auf eine Weise indessen, die den Prin-
zen vollends aus der Fassung brachte. Es wurde über eine zwischen den Seiten zu schließende Freund-
schaft verhandelt. Zehn Jahre zunächst, so der Vorschlag des Kranichherzogs, würden die Kraniche die
Saatfluren des Wichtelvolkes verschonen und ungerupft lassen, jedenfalls im Großen und Ganzen, wo-
für als Gegenleistung die Wichtel sich lediglich verpflichten sollten, ihr Gebiet überfliegende Kraniche
nicht mit Pfeilen zu beschießen. Der Wichtelkönig seines Ortes betonte, daß das Gemeinwesen der
Wichtel nie etwas anderes angestrebt habe, als in Frieden seinen Beschäftigungen nachzugehen, und
daß er in dem Angebot der Kraniche viel Schönes und Herzanrührendes erkenne, und er äußerte sich
dahin, daß einem Bunde der Liebe und des Vertrauens nach Maßgabe seiner aufrichtigsten Gefühle
nichts im Wege stehe.
Es wäre doch aber, wandte hiergegen der Minister ein, zu bedenken, ob eine Aussöhnung so außeror-
dentlichen Inhalts so kurz betrachtet gebilligt werden könne. »Sie ist gebilligt«, sagte der König. Der
Prinz spürte, wie sein Vater ihn mit dem Fuß anstieß, und er schlug also zu dem Königswort mit der
Hand auf den Tisch. Der Minister ließ sich nicht entmutigen; er führte aus, daß die Kraniche von Ewig-
keit hr den Wichteln nichts als Arges gewollt hätten und also mit dieser scheinbar neuen Handlungs-
weise unter Umständen auch wieder Arges im Schilde führen könnten. »Sie meinen' es redlich«, sagte
der König und stieß den Prinzen, und der schlug auf den Tisch. »Und können Majestät denn wirklich«,
sagte der Minister mit blasser Stirn, »den heimtückischen Mord an Ihrer Gemahlin:, der Frau Königin
vergeben?« Der König wurde ebenfalls sehr blaß. »Das ist vergessen«, sagte er nur. Er stieß den Prin-
zen, aber der Prinz brachte nicht über sich, den Verrat an seiner Mutter zu bekräftigen, und der König
mußte nach ihm treten wie ein Pferd, bis er einen kümmerlichen Klaps auf die Tischplatte zustande
brachte. Nun schwieg der Minister.
Der König Fäustling und der Herzog Kreischmayr erhoben sich von ihren Plätzen, tauschten ihre Or-
den und besiegelten die zehnjährige Freundschaft mit einem Kuß und einer Umarmung. Das besorgt,
riß der Kranich den Schnabel herum und verschlang den Minister Spannelang mit einem Ruck. Hier-
nach entschuldigte er sich sofort und beteuerte, ihm sei dieses mißliche Versehen nur aus alter Gewohn-
heit zugestoßen. Der König versicherte, daß die Freundschaft an solchen Geringfügigkeiten nicht leiden
könne, und nahm die Entschuldigung an. Der Kranichherzog entfernte sich mit schönen Schlägen sei-
ner weilausladenden Schwingen. Im Auffliegen ließ er noch einen großen Klecks fallen. Der Wichtel-
prinz stand wehmütig am Hand des kreidefarbenen Fleckes. Das war also mein alter Lehrer, dachte er.
138-
4. Kapitel
Die Vorhersagen des Nabels
Da legte ihm sein Vater mit gütiger Gebärde die Hand auf den Rücken. » Du hast viel durchgemacht,
Sohn«, sagte er, »und bist reif über deine Jahre; ich will dich in das. Handwerk der Herrschaft einwei-
hen, welches schwerer ist, als man denkt, und manche Entsagung und den Abschied von vielen (der SO-
gar den meisten Vorlieben erfordert. Du glaubst, ich hätte mich unseren Feinden unt(„,rworfen. i)em ist
nicht so. Ich habe nur das Mittel ergriffen, das zu ihrem tatsächlichen Untergang führt. im offenen Krieg
können wir Ruhm, aber niemals den Sieg erringen, indem wir aber den Vorwurf der Feigheit auf uns la-
den und Freundschaft schließen, vernichten wir sie. Ich weiß dies so zuverlässig, wie eine Sache sich
überhaupt wissen läßt; denn ich weiß es vom Nabel der Erde persönlich. Ich habe diesem erstklassig
wahrsagenden Naturgebilde eine Flasche von unserem Kornbrand geopfert, und es hat mir verkündet,
daß die Kraniche, wofern wir mit ihnen zu einem herzlichen Einvernehmen gelangen, in zehn Jahren
von selbst aussterben. Es kommt für uns darauf an, diese Weile zu überleben, und da es der einzige
Weg zu unserer Rettung ist, werden wir ihn beschreiten, so peinlich das Ganze nach außen hin sich aus-
nimmt.«
Es ist nun - dieser allgemeinen Bemerkung sei hier ein Platz, vergönnt - der Mensch so beschaffen,
daß er das Vernünftige besonders vernünftig findet, wenn es mit seinen Neigungen übereinstimmt, und
weniger vernünftig, wenn es ihnen widerstrebt. Dci' Wichtelprinz erkannte wohl, daß der König Recht
hatte, aber er sah zugleich, daß der König nicht ungern Recht hatte, weil ihm das blutige Geschäft des
Tötens zum Ekel geworden war. Er selbst wieder, wiewohl er des Königs Gründe nicht bestreiten
konnte, hätte gern gegen die Kraniche gekämpft. Daher beschloß er, die Vernünftigkeit der Maßnahme
noch einmal zu überprüfen, und erbat diA Erlaubnis, den Nabel der Erde zu besuchen und sich dessen
Spruch wiederholen und aufs Unzweideutigste bestätigen zu lassen. Der Vater gewährte sie ihm, und
der Prinz reiste noch am nämlichen Tage ab.
Der Nabel der Erde, wenn man ihn zu beschreiben versucht, gleicht einem in sich gekrümmten Tal-
kessel oder faltenreichen Bodentrichter, dessen Rand mit einem Ringgebirge von ungenauer, ungefähr
gummiartiger Festigkeit umstanden ist, und aus dessen uneinsehbarem Grunde betäubende Dampfwol-
ken mit regelmäßigem Puffen himmelwärts steigen. Der Prinz legte die Hände vorm Mund zusammen
und rief hinunter: »Ich hätte gern eine Vorhersage.« Der Nabel geriet in Bewegung. Seine Windungen
dehnten sich und zogen sich zusammen, und aus der Tiefe der Erde scholl eine rülpsende Stimme, wel-
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ehe mit abscheülichem Geräusch erklärte: »Warum nicht, es ist mein Beruf.« - »Was kostet es?«
brüllte der Prinz. »Geben Sie, was Sie wollen«, rülpste der Nabel, »Schnaps ist mir freilich am lieb-
sten.« - »Wie viel?« fragte der Prinz. »Nach Belieben«, rülpste der Nabel. »Ein oder zwei Flaschen.«
Der Prinz goß zwei Flaschen weißen Wichteischnapses in den Abgrund, woraufhin sich die Dämpfe ver-
stärkten und einen noch betäubenderen Geruch annahmen. »Welche Folgen«, so stellte der Prinz nun
seine Frage, »hätte eine Freundschaft zwischen den Kranichen und dem Volk der Wichtel?«
»Das ist leicht zu sehen«, gab der Nabel bereitwillig Auskunft. »Die Kraniche würden in zehn Jahren
aussterben und die Wichtel in acht.« - Ist das die Wahrheit«; rief der Prinz entsetzt, »die Wichtel vor
den Kranichen?« - »ich sage immer die Wahrheit«, sagte der Nabel beleidigt, »und genau so habe ich
es auch dem Kreisehmayr verkündet.< - »Aber meinem Vater«, fragte der Prinz, »weshalb haben Sie
ihm nur die eine Wahrheit verraten und die andere nicht?«
»Ich erinnere mich an vergangene Dinge nur verschwommen«, sagte der Nabel, »die künftigen liegen
ja natürlich viel klarer vor Augen. Aber wenn ich über jenen zurückliegenden Tag eine Mutmaßung wa-
gen soll, so will mich eine dunkle Ahnung berühren, als wenn Ihr verehrter Herr Vater nur eine Flasche
hätte springen lassen. Nun, für eine Flasche gebe ich eine Wahrheit, für zwei Flaschen zwei, und es war
umsichtig VOfl Ihnen, zwei Wahrheiten zu erwerben; denn eine einzelne Wahrheit ist in fast allen Fällen
eine Wahrheit zu wenig.«
5. Kapitel
Krieg und Frieden
Es gelang dem Prinzen, in großen Eilmärschen seine Heimat binnen dreier Monate zu erreichen, aber
er hatte sich nicht genug beeilt; er kam gerade noch zur Beerdigung seines Vaters zurecht. Der König
Fäustling hatte sich bei einem Balztanz den Hals gebrochen. Baiztänze sind ursprünglich ein Brauch der
Kraniche. Die Wichtel waren der Meinung, man müsse, wenn man denn schon befreundet sei, die
Hochachtung vor dem Freund beglaubigen, indem man dessen Sitten nachahmt. So war die Ausübung
von Baiztänzen bei ihnen in Schwang gekommen, nur war eben der König für die hierbei nötigen Ver-
renkungen der Beine und des Rumpfes zu steif gewesen, und er hatte einen unglücklichen Sturz getan.
Überhaupt war zu erkennen, in welchem Grade die Wichtel bereits im Zustand der Verkranichung und
im Aussterben begriffen waren. Sie hatten für weltläufig gefunden, ihre Ernährung auf Frösche umzu-
-140—
stellen. 1-herüber hatten sie verabsäumt, ihr Korn auszusäen, und aber vergessen, daß im Gebirge kaum
Frösche leben; SO fehlte ihnen schließlich beides, das Korn und die Frösche.
Der Prinz, der ja nun selbst der König war, gab sofort aller 'Welt zu wissen, daß er dem herzog von
Kreischmayr die Freundschaft aufkündige. Nach einer Weile gaben die Kraniche aller Welt zu wissen,
daß der Exzellenz, bei einem besonders kühnen Flug die Wichtelniütze über den Kopf gerutscbl sei und
Höchstdieselbe vermöge dieses Umstandes sich zu Tode gefallen habe. (woraus der neue Wichtdkörug
entnahm, daß die Aussterberei bei den Kranichen gleichfalls ganz schön in Gang gekommen war); in-
zwischen führte ciii anderer, minder berühmter herzog ihre Verwaltungsangelegenheiten; dieser neue
Herzog nun zeigte keine geringe Entrüstung über den Bruch der beschworenen l'reUfl(lSChaft. Er drohte
einen wütenden Angriff der Kraniche fürs bevorstehende Frühjahr an und erregte Furch im gesamten
Wichtelvolke.
»Wir dürfen uns«, sagte der junge König zu seinen 'Wichteln, »nicht tatenlos bedrängen lassen. Wir
müssen uns über die Wohnungen der Kranich(,> hermachen, bevor sie bei uns eintreffen.« - »Aber die
Kraniche«, sagten die Wichtel, »haben keine Wohnungen; sie brechen aus der Luft hernieder und zwar
ausschließlich im Mai.« - »Und wo sind Sie in der übrigen Zeit?« fragte der König. »beispielsweise im
Juni?« - »Das ist eben das Geheimnis ihrer Unbesiegbarkeit«, sagten die Wichtel. Da entsann sich der
König gewisser Andeutungen, die der Minister Spannelang in den vielen Unterrichtsstunden hatte fallen
lassen. »Niemand hat ein Geheimnis«, sagte er. »Auch die Kraniche haben kein Geheimnis, se sind nur
besonders vorsichtig. Sie beschmieren sich und ihre Eier während (1Cr Brutzeit mit Dreck, so daß ihr
Nest schwer zu erkennen ist, und sie machen ein Wesen daraus, als seien sie unenistanden und gleich-
sam von selbst da, aber wenn wir die Brutplätze aufspüren und die Wachen überlisten, können wir die
Eier mit unseren eisernen 1-lämmern zerschlagen, und dann sollen sie sehen, WO SC bleiben. Ich will
ausdrücken«, endete er, »daß wir die Sache wissenschaftlich angehen und den Feind zerstören müssen,
bevor er geboren ist. Und nehmt euch endlich die Federn aus dem Hintern.«
Die Wichtel folgten seinem Rat. Sie fanden die Kraniche, gewannen den Krieg und schlossen einen
sehr gerechten Frieden, wonach beide Seiten sich verpflichteten, einander völlig ungeschoren zu lassen,
und (leni zufolge ein Kranich, der einem Wichtel, oder ein Wichtel, der einem Kranich zufällig auf der
Landstraße begegnete, gehalten war, unverzüglich auf die andere Straßenseite zu gehen. So erklärt sich,
(laß bis zum heutigen Tage noch beide Völker auf der Erde vorkommen. Die Kraniche freilich sind sel-
ten geworden. Die Wichtel hingegen triffl man in jeder Mauerritze und unter jeder Fußbodendiele, oft
in größerer Zahl, als einem lieb ist.
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Vom gleichen Autor
In Vorbereitung:
/ KÖNIGKASPER, KROKODIL
Märchendramen für Kinder - zum Lesen? Oder zum Spielen? Eines braucht das andere nicht auszu-
schließen. Ihre Lektüre ist ein andrer Genuß als die schauspielerische Darstellung. Großzügige Illu-
strationen, poetische Sprache und dramatische Spannung lassen die Figuren in der Vorstellung lebendig
werden: Armer Ritter, der den Drachen tötet und die Prinzessin erlöst; die Drei Könige aus dem Mor-
genland, die zu dem neuen Stern in Palästina eilen; Gott Kronos und sein Sohn Zeus, dem Erdmutter
Era den Donner schenkt. Alte Geschichten, die in eigenwilliger Gestaltung aufs neue fesseln.
ONKEL MO
Des Steuermanns Tochter Emilie fällt vorn Schiff und wird von einem AlTen aus dein Wasser gefischt.
Sie nimmt ihren Retter mit nach Doberan. Bald ist er dort als „Onkel Mo" eingebürgert und stadtbe-
kannt. Zwar ist Mo friedlich und vernünftig, aber er hat seine Eigenarten,. und die ma..chen Emilie
manchmal Sorgen. Andererseits ist es für ihn nicht einfach, auf Emilie aufzupassen. So ergeben sich Si-
tuationen, die für die Beteiligten nicht immer angenehm, für den Leser jedoch vergnüglich zu lesen sind.
1. Auflage 1986
© DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN - DDR 1986
Lizenz-Nr. 304-270/108/86-(20)
Salz: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30
Druck und buchbinderisehe Verarbeitung: Sachsendruck Plauen
LSV 729
Bestell-Nr. 631 7388
01480
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Über den Autor
Geboren am 21. 3. 1928 in Breslau
(Wrociaw, Volksrepublik Polen), Dra-
matiker, Lyriker, Essayist; studierte So-
ziologie, Philosophie, Literatur, Thea-
terwissenschaften, Dr. phil.; lebt in
Berlin; Mitglied der Akademie der
Künste der DDR; Nationalpreis.
Ha ck
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Kinderkurz wei
ISBN 3-358-00739-1