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Andrea Belliger,
David J. Krieger (Hg.)
ANThology
Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie
[transcript]
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektro
nischen Systemen.
Vorwort 9
MICHEL CALLON
Die Sozio-Logik der Übersetzung:
Auseinandersetzungen und Verhandlungen zur Bestimmung
von Problematischem und Unproblematischem .. . ..... . ....... 51
BRUNO LATOUR
Gebt mir ein Laboratorium
und ich werde die Welt aus den Angeln heben .................. 103
MICHEL CALLON
Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung:
Die Domestikation der Kammmuscheln
und der Fischer der St.Brieuc-Bucht 135
MICHEL CALLON
Die Soziologie eines Akteur-Netzwerkes:
Der Fall des Elektrofahrzeugs ....... . . . . .. . . . ........ ........ 175
BRUNO LATOUR
Die Macht der Assoziation .............................. . ... 195
JoHN LAw
Technik und heterogenes Engineering:
Der Fall der portugiesischen Expansion ................... . ... 213
JIM JOHNSON
Die Vermischung von Menschen und Nicht-Menschen:
Die Soziologie eines Türschließers ........................... 237
BRUNO LATOUR
Drawing Things Together:
Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente ............... 259
MICHEL CALLON
Techno-ökonomische Netzwerke und Irreversibilität ............. 309
JoHN LAw
Monster, Maschinen und soziotechnische Beziehungen .......... 343
BRUNO LATOUR
Technik ist stabilisierte Gesellschaft .......................... 369
MADELEINE AKRICH
Die De-Skription technischer Objekte ......................... 407
JOHN LAw
Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie:
Ordnung, Strategie und Heterogenität ........................ 429
BRUNO LA.TOUR
Sozialtheorie und die Erforschung
computerisierter Arbeitsumgebungen ......................... 529
MICHEL CALLON
Akteur-Netzwerk-Theorie:
Der Markttest ....... .... ......... . ................. . ...... 545
BRUNO LA.TOUR
über den Rückruf der ANT ........... .... ............ . ...... 561
Vorwort
ANDREA BELLIGER UND DAVID J. KRIEGER
In einer Diskussion über die Bedeutung des Buchdruckes für die Entwick
lung der modernen Wissenschaft weist Bruno Latour darauf hin, dass das
Druckverfahren es erlaube, eine Vielzahl verstreuter und lokal gebundener
Informationen so zusammenzubringen und wieder zu verteilen, dass etwas
bisher Unübersichtliches und aus diesem Grund Unbeachtetes plötzlich
Konturen annimmt und als Wissen erscheint. Es war dieses Zusammen
bringen verschiedenster Informationen an einem Ort und die schnelle und
effiziente Verteilung der gesammelten Informationen - und nicht eine
revolutionäre Art des Wahrnehmens oder des Denkens -, die zu einem
neuen Wissen führten, das sich als »moderne Wissenschaft« von dem
Wissen des Mittelalters abhob. Der vorliegende Sammelband versucht
etwas Vergleichbares, indem eine Reihe ausgewählter Artikel und kurzer
Studien, die bisher nur in verschiedenen Fachzeitschriften und Publikatio
nen verstreut verfügbar waren, zusammengebracht werden, um eine Über
sicht zu ermöglichen, aufgrund derer möglicherweise neues Wissen ent
stehen kann.
Es handelt sich dabei um Studien, Artikel, Aufsätze und Berichte, die
über die letzten drei Jahrzehnte unter dem Namen »Actor Network Theo
ry« (zu Deutsch: Akteur-Netzwerk-Theorie, kurz ANT) als Teil der Wissen
schafts- und Technikforschung bekannt geworden sind. Die Akteur-Netz
werk-Theorie hat sich erfolgreich als eigenständige Position zwischen
technischem und sozialem Determinismus in der Wissenschafts- und
Technikforschung etabliert. Die Frage, ob die Technik die Gesellschaft
determiniere oder ob nicht viel eher die Gesellschaft die Technik gestalte,
hat seit jeher die Debatte um die Bedeutung von Wissenschaft und Technik
in der Sozialtheorie beherrscht. Jede Seite hat - wie das meistens bei sol
chen binären Leitdifferenzen der Fall ist - eine gewisse Plausibilität. Die
Wahrheit liegt wohl in der Mitte, nur fehlt es an adäquaten theoretischen
Modellen, um die unscharfen Konturen solcher Zwischenbereiche abzu-
IO I ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER
Wir möchten Frau lic. phil. Petra Schoofs und Herrn lic. phil. Benno Filip
pini für ihre Mitarbeit bei der Übersetzung und Frau Susan Gut für die
Hilfe bei der Rekonstruktion der Grafiken ganz herzlich danken. Unser
Dank geht auch an den transcript Verlag, insbesondere an Herrn Andreas
Hüllinghorst für die professionelle Zusammenarbeit.
Zum Schluss gebührt unser Dank Bruno Latour, Michel Callon, Made
leine Akrich und John Law. Sie haben uns neue Gedankenwelten erschlos
sen, uns mitgenommen an die Küsten der Bretagne, ins Labor von Pasteur,
auf Seereisen nach Indien und bis an die Türen von Walla Walla. Wir, die
Übersetzer, wurden beim übersetzen übergesetzt. Übersetzen, so Bruno
Latour, bedeutet verschieben. Übersetzen bedeutet auch, in der eigenen
Sprache auszudrücken, was andere sagen, um sich selbst als Sprecher
einzuführen. Dies haben wir hiermit getan. Wir laden Sie, sehr geehrte
Leserin, sehr geehrter Leser, ein, sich von der ANT übersetzen zu lassen.
---
Umgang mit Information und Wissen ist nicht nur in der Wirtschaft,
sondern in allen gesellschaftlichen Subsystemen inklusive Wissenschafts
system selbst, zugleich ein »Sachzwang« und entscheidender Erfolgsfaktor.
Das »Funktionale« der funktionalen Subsysteme reduziert sich immer
mehr auf den Grad der Computerisierung von Arbeits- und Kommunika
tionsprozessen, d.h. auf die Integration des Menschen in komplexe, com
putergesteuerte Informations- und Kommunikationssysteme (vgl. Ram
mert 1999; Willke 1998; Knorr-Cetina 1998). Arbeitsvorgänge, Hand
lungsabläufe und sogar Entscheidungsprozesse werden in den betroffenen
Zweigen der Informatik modelliert und in Software abgebildet. Oberflä
chen werden zu Interfaces. Die operative Logik des Algorithmus ersetzt
angewöhnte Umgangsformen. Alltägliche Handlungen wie Einkaufen,
Zahlungsverkehr und Zusammenarbeit geschehen gemäß den Interak
tionsvorgaben und Protokollen der Computernetzwerke. Die Abhängigkeit
von hochkomplexen, aber für selbstverständlich gehaltenen technischen
Systemen und die damit zusammenhängende Umstellung der Gesellschaft
auf »Risikokommunikation« (Beck 1986; Luhmann 2003) im Bereich von
Wissenschaft und Technik führen zu einem Problembewusstsein gegen
über neuen Technologien, das neue Erklärungsansätze sucht.
Das Bedürfnis, die Beziehung zwischen Mensch und Technik mit
neuen theoretischen Mitteln zu verstehen, liegt nicht zuletzt darin begrün
det, dass der Einfluss von Technik auf Menschen bis in den menschlichen
Körper hineinreicht. Abgesehen von den bekannten und viel diskutierten
Möglichkeiten der Intensivmedizin gibt es zahlreiche Forschungsprojekte
in Bereichen wie Bioelektronik, Gentechnik und Robotik, die sich nicht nur
mit den Möglichkeiten von »Heilung« oder »Wiederherstellung« befassen,
sondern sich einer grundsätzlichen »Verbesserung« des menschlichen
Körpers widmen. Wie das rege Interesse an Themen wie Cyborgs (Haraway
1991) und Posthumanismus (Fukayama 2002) zeigt, gilt die künstliche,
d.h. über die Grenzen des Natürlichen hinausgehende Erweiterung der
körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen nicht nur als mög
lich, sondern als unausweichlich. Technikverständnis wird zum Selbstver
ständnis. Der moderne Glaube an eine Verbesserung des menschlichen
Lebens durch Wissenschaft und Technik mag durch Ökologiekrisen, Mili
tarisierung der Atomtechnik, unvorhersehbare Wirkungen der Gen, und
Nanotechnik und viele andere neue Forschungsprogramme erschüttert
worden sein. Trotzdem fehlt es an praktikablen Alternativen. Die einzige
Lösung technikverursachter Probleme scheint in weiterer Technik zu
liegen. Die Gesellschaft behandelt - aufgrund unvermeidlicher Zweifel an
den Vorteilen und der Sicherheit von Technik- in einer gewissen Resigna
tion Technik als ein notwendiges Risiko.
Ob wir wollen oder nicht: Technik ist ein Teil des menschlichen Lebens
geworden. In irgendeiner Form begleitet, unterstützt, bedingt, gestaltet
und ermöglicht sie fast jede Tätigkeit, jeden Beruf, jeden Lebensbereich, ob
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 15
Arbeit oder Freizeit, und verändert dramatisch die Art und Weise des
Wahrnehmens, Denkens und Handelns. Mensch und Technik sind derart
untrennbar geworden, dass eine Theorie wie die ANT, die das Zusammen
leben und Zusammenwachsen von Mensch und Technik in den Vorder
grund stellt, zwangsläufig zur Schlüsseltheorie wird.
Ein weiterer Grund für die gegenwärtige und vermutlich auch künftige
Bedeutung der Akteur-Netzwerk-Theorie liegt in der Vermenschlichung
bzw. Sozialisierung der Maschine. Nicht Wissenschaft und Technik be
stimmen den Menschen und die Gesellschaft, sondern der Mensch kon
struiert Maschinen nach seinem eigenen Vorbild. Tedes technische Arte
fakt, von einfachen Werkzeugen bis hin zu Supercomputern, besitzt nicht
nur von seiner Entstehungsgeschichte her, sondern in seiner Organisation
und seinem Operieren in irgendeiner Form menschliche und soziale Ei
genschaften. Information, Kommunikation und sogar Entscheidungsver
fahren werden durch die Technik in die materielle Welt eingeschrieben
und auf Maschinen übertragen. Erkenntnistheoretischer und sozialer
Konstruktivismus greift bei der adäquaten Konzeptionalisierung der Ver
menschlichung von Maschinen zu kurz. Die Natur wird sozialisiert. Die
Maschine ist nicht Werkzeug, sondern Partnerin. Die bekannteste und
zugleich umstrittenste These der ANT, die methodologische Forderung,
sämtliche Entitäten - Menschen wie technische Apparate - als soziale
Akteure zu behandeln, ist von ihrer Intention her radikaler als jeder Kon
struktivismus. Die Verbreitung von so genannten »denkenden« Dingen
(Gershenfeld 1999) und verschiedene Entwicklungen wie »ubiquitous
computing«, virtuelle Realität, künstliche Intelligenz, Robotil< etc. führen
dazu, dass der Mensch immer mehr nicht bloß mit Maschinen hantiert,
sondern mit ihnen interagiert. Intelligente Maschinen werden bald auch
den strengsten »Turing-Test« glänzend bestehen. Ihre »Sozialität« unter
Menschen, aber auch untereinander (vgl. Malsch 1998; von Lüde et al.
2003), gilt als fast selbstverständlich (vgl. Turkle 1998). Latour spricht von
einem »Kollektiv« (2000) menschlicher und nicht-menschlicher Akteure.
Es handelt sich dabei um Netzwerke von Artefakten, Dingen, Menschen,
Zeichen, Normen, Organisationen, Texten und vielem mehr, die in Hand
lungsprogramme »eingebunden« und zu hybriden Akteuren geworden
sind. Die Hybriden entfalten sich in einem Bereich zwischen Natur und
Kultur, zwischen Objekt und Subjekt und bilden eine bis heute kaum
theoretisch erfasste Form kommunikativer Ordnung, deren Erforschung
neue konzeptionelle Modelle und einen radikalen methodologischen Per
spektivenwechsel in der Soziologie verlangt.
Die Tendenz der von der Akteur-Netzwerk-Theorie geforderten metho
dologischen »Symmetrie« menschlicher und nicht-menschlicher Akteure
liegt darin, die Wissenschafts- und Technikforschung mit der Theorie
menschlicher Gesellschaft schlechthin gleichzusetzen, wodurch beide
Bereiche grundsätzlich verändert werden. Der Befund zahlreicher empiri-
16 1 ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER
bungen, die viele Beobachter dazu veranlasst haben, vom »Ende der Mo
deme« zu sprechen, erscheint die ANT in einem neuen Licht. Theoretische
Neupositionierungen wie die Systemtheorie, die Theorie der Selbstorgani
sation, die Kybernetik und Informationstheorie, die Differenztheorie und
die transklassische Logik sowie die Kommunikationstheorie, die Semiotik
und schließlich die Dekonstruktion und die Kritik der Metaphysik stellen
traditionelle Leitdifferenzen wie Natur/Kultur, Subjekt/Objekt und Ding/
Handeln in Frage. Diese Differenzierungen verlieren zunehmend ihre
selbstverständliche Legitimation und ihre Erklärungskraft. Dies ermöglicht
es, innovative Konzeptionalisierungsangebote wie die von der ANT be
schriebenen Hybriden-Netzwerke mit unvoreingenommenem Blick zu
betrachten (Lorentzen 2002).
rent in einem wissenschaftlichen Text dienen. Der Text handelt vom Ur
wald und von der Savanne in der Nähe von Boa Vista. Er beschreibt in
Worten, wie der sandige Boden der Savanne allmählich lehmiger wird und
in den Urwald übergeht. Die Wörter beziehen sich auf die Tabelle, die
Tabelle bezieht sich auf den Pedokomparator, die Anordnung der Erd
klumpen im Pedokomparator bezieht sich auf das Planquadrat, die Boden
proben und sogar auf die Schilder an den Bäumen und die groben Luftauf
nahmen, die den Forschem als erste Orientierung dienten. Latour fasst den
Prozess so zusammen:
»Die Prosa des Abschlussberichtes spricht von einer Zeichnung; die Zeichnung
fasst die Form zusammen, die sich aus der Anordnung des Pedokomparators ergab;
dieser extrahierte, klassifizierte und codierte den Boden, der seinerseits durch ein
Zusammenspiel von Koordinaten markiert, in Quadrate aufgeteilt und abgesteckt
wurde. [...] Niemals lässt sich ein scharfer Bruch zwischen den Dingen und den
Zeichen feststellen. Und niemals stoßen wir auf eine Situation, in der willkürliche
und diskrete Zeichen einer gestaltlosen und kontinuierlichen Materie aufgezwun
gen würden. Immer sehen wir nur eine kontinuierliche Reihe von ineinander
geschachtelten Elementen, deren jedes die Rolle eines Zeichens für das vorange
hende und die eines Dinges für das nachfolgende Element spielt.« (Latour 2000:
70)
kat und Signifikant und löste damit das sprachliche Zeichen von einem
außersprachlichen Referenten. Die gängige Auffassung, Sprache bringe
psychische Entitäten wie Gedanken oder Vorstellungen durch ein materiel
les Zeichen zum Ausdruck, ist falsch. Es gibt nicht einen Gedanken oder
eine Vorstellung, die durch eine bestimmte Lautmaterie zum Ausdruck
gebracht wird, ebenso wenig wie es Dinge gibt, die auf ihre Bezeichnung
warten. Bevor das Zeichen zustande kommt, gibt es weder Gedanken noch
Dinge. Unabhängig voneinander und bevor sie im Zeichen zusammenge
kommen sind, sind das Lautmaterial und das psychische Erleben undiffe
renziert, formlos und ohne jeden Sinn. Erst das Zeichen artikuliert die
beiden amorphen Kontinua und schafft somit Ordnung, wo vorher Chaos
herrschte. Latour folgt Hjelmslev (1974), wenn er das Entstehen eines
Zeichens nach dem Materie-Form-Schema erklärt. Auf die Arbeit der For
schergruppe im Amazonas bezogen, bedeutet dies, dass jedes Glied in der
Kette der Vermittlungen »von seinem Ursprung her auf die Materie und
von seiner Bestimmung her auf die Form bezogen« ist (ebd.: 70). Die
Parzelle Urwald z.B. ist Materie für die Formgebung des Planquadrates.
Die Bodenproben sind Materie, die durch den Pedokomparator in eine
neue Form gebracht wird:
»Mit seinem Handgriff, seinen Holzrahmen, seiner Auskleidung und seinen Kar
tonkuben gehört der Komparator zur Welt der Dinge. Aber mit der Gleichförmigkeit
seiner Kuben, ihrer Anordnung in Spalten und Reihen, ihrem diskreten Charakter
und der Möglichkeit, die Elemente frei zu vertauschen, gehört der Komparator zur
Welt der Zeichen.« (Ebd.: 62)
Wer ein Wort spricht, spricht die ganze Sprache. Nur in der Sprache als
Ganzes, d.h. als differentielles System von Zeichen, entsteht eine Sinnwelt.
Worte sind demzufolge nicht Bezeichnungen von Dingen, sondern Posi
tionen oder - wie Saussure sagt - »Werte« in einem ·zeichensystem. Sie
sind Knoten in einem Relationsnetz, das durch Differenz bzw. Negation
konstruiert wird. Katzen gibt es nur, weil Nicht-Katzen möglich sind. Wir
wissen, was Katzen sind, weil wir wissen, dass sie nicht Hunde, nicht Fi
sche, nicht Bäume, nicht Vögel usw. sind. Im Rahmen des semiotischen
Modells ist eine Katze eine besondere Kette von Unterscheidungen. Die
Sprache besteht aus Unterschieden, Relationen, und zwar ohne Relata. Die
Bedingung der Möglichkeit von Unterscheidungen ist die Negation. Das
Nicht erlaubt es, dass etwas anders sein kann, als es ist. Ohne Negation
gäbe es, wenn überhaupt etwas, dann nur Eines, denn etwas >Anderes<
wäre nicht möglich. Die Sprache artikuliert die Welt als ein Netzwerk von
Unterschieden und Differenzen. Das Modell Saussures ist konstruktivis
tisch. Je nachdem, wovon Katzen unterschieden werden, sieht die Welt
anders aus. Linguisten haben nachgewiesen, dass verschiedene Sprachen
die Welt verschieden artilrulieren (Hjelmslev 1974). Um auf die ANT zu
rückzukommen: Referenten wie die Katze oder der Urwald »zirkulieren« in
der Sprache. Sie werden nicht entdeckt, sondern artikuliert. Wie detailliert
die jeweilige Welterkenntnis sein mag, d.h. was eine Gesellschaft jeweils
über Katzen und über den Urwald weiß, hängt davon ab, wie differenziert
bzw. artikuliert ihre Zeichensysteme sind.
Latours Beschreibung des Entstehens wissenschaftlicher Erkenntnis
durch eine Erweiterung der Kette von Vermittlungen lässt sich im Rahmen
des semiotischen Modells als eine Beschreibung eines besonderen Diffe
renzierungsprozesses verstehen. Dieser Prozess ist etwas Besonderes, weil
die Sinnwelt durch eine eigenartige Bewegung zwischen der konkreten,
partikularen, dichten Erfahrung auf der einen Seite und der standardisier
ten Abstraktion auf der anderen Seite artikuliert wird. Diese besondere
Artikulation der Welt erlaubt eine »funktionierende Simplifikation im
Medium der Kausalität« (Luhmann 2oor 97), während eine literarische
Beschreibung des Urwalds dies nicht erlauben würde. Die Möglichkeit,
sich vorwärts und rückwärts durch alle Vermittlungen hindurch zu bewe
gen, ist die Voraussetzung für Wiederholbirkeit, Standardisierung, Ver
gleichbarkeit und Kontrolle. Die Bodenproben werden so entnommen und
aufbewahrt, dass - auch wenn sie 6000 Kilometer entfernt in Paris im
Labor analysiert werden - ein Bezug zu Boa Vista besteht. Von der Tabelle
zum Pedokomparator, vom Pedokomparator zu den aufbewahrten Boden
proben, von den Proben zum Planquadrat - die Kette der Vermittlungen
hält etwas konstant und zugleich beweglich, damit Wenn-Dann-Beziehun
gen durch Versuch-und-Irrtum-Verfahren fixiert werden können. Dies
macht die Welt zu einem Labor. Erkenntnistheoretisch bedeutet dies, dass
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 29
Die Rede von der »Fabrikation von Wissen« (Knorr-Cetina 1984) bzw. der
»Konstruktion von Tatsachen« (Latour/Wolgar 1979), die in der Wissen
schaftsforschung als Schlagworte des Sozialkonstruktivismus gelten, legt
die Betonung auf das menschliche Handeln. Es sind die Forscher gewesen,
die den Urwald außerhalb von Boa Vista Schritt für Schritt auf eine Tabelle
in einem wissenschaftlichen Bericht reduzierten. Jeden Schritt des Weges
haben die Menschen sorgfältig geplant und bewusst durchgeführt. Der
Mensch ist in diesem Drama der einzige Akteur. Der Urwald, die Bäume,
das Gebüsch der Savanne, die Erde, der Pedokomparator, alle taten selber
nichts. Am Ende der Kette der Vermittlungen ist der Urwald der gleiche
wie am Anfang, nur h�ben die Menschen ihm seine Geheimnisse wegge
nommen, ihn .entblößt und so gezeigt, wie er >wirklich< ist. Diese Annah
men beruhen auf der »Übereinkunft der Modeme«, die eine zeitlose Natur
außerhalb der Gesellschaft, die ihrerseits aus freien Handlungssubjekten
besteht, postuliert. In vielen Studien hat die ANT den Akteurbegriff auf
Nichtmenschen erweitert und der Natur ihre Historizität und Sozialität
zurückgegeben (Callon 1986a, vgl. »Die Soziologie eines Akteur-Netz
werks«; Callon 1986b, vgl. »Einige Elemente einer Soziologie der Überset
zung«; Latour 1983, vgl. »Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die
Welt aus den Angeln heben« - alle in diesem Band). Dies soll kurz anhand
Latours Arbeiten über Pasteurs Entdeckung der Milchsäurehefe verdeut
licht werden (1983, vgl. »Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die
Welt aus den Angeln heben« in diesem Band).
Es handelt sich um einen wissenschaftlichen Schlussbericht, den Pas
teur über die Entdeckung einer eigenen Hefe der Milchsäuregärung 1858
verfasste. Am Anfang des Berichtes hat die Milchsäuregärung keine identi
fizierbare Ursache. Die herrschende zeitgenössische Meinung erklärte
Gärung als chemische Reaktion ohne Mitwirkung von Mikroorganismen.
Am Ende des Berichtes tritt die Hefe als eigenständige Entität hervor, die
allein für die Gärung verantwortlich ist. Es handelt sich um die » Emergenz
eines neuen Akteurs« (Latour 2000: 143) aus einer »Reihe bemerkenswer
ter Transformationen«, die anders als bei den Forschem in Boa Vista nicht
Dinge in Zeichen verwandelten, sondern aus etwas, das vorher kein Ding
war, das nicht einmal einen Namen hatte, einen der bedeutendsten Akteu
re der Wissenschaftsgeschichte machten. Der Bericht beschreibt, wie Pas
teur in seinem Labor die Existenz und Eigenschaften der Hefe >entdeckte<.
Der erste Schritt hält lediglich eine Reihe von Beobachtungen über Milch-
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 31
»Kein Ereignis lässt sich durch die Liste der Elemente erklären, die vor seinem
Abschluss in die Situation eingingen. [...] Bei der Aufstellung einer solchen Liste
sind die Akteure nicht mit der Kompetenz begabt, die sie im Verlauf des Ereignisses
erwerben werden.« (Ebd.: 152)
Etwas ist entstanden, das vorher nicht da war, und das, was vorher da war,
hat sich verändert. Dies gilt für den Wissenschaftler, die Gesellschaft, und
schließlich auch für die Natur. Weder die Natur noch die Gesellschaft
bleiben durch die Wissenschaft unberührt. Beide -teilen eine Geschichte,
und in dieser Geschichte haben auch die nichtmenschlichen Akteure ihre
Rollen zu spielen.
Der Alcteur- bzw. Aktantenbegriff, der an dieser Stelle eine Schlüsselrol
le in der ANT spielt, stammt aus der strukturellen Semantik bzw. struktu
rellen Narratologie Greimas' (1971). Wichtig für das Verständnis der ANT
ist weniger die genaue Definition dieses Begriffes in der Narratologie als
vielmehr sein Stellenwert im grundlegenden semiotischen Modell. Um die
Bedeutung dieses Begriffes zu verstehen, ist es hilfreich weiter auszuholen
und das semiotische Modell etwas genauer zu betrachten. Wie oben er
wähnt, ist das semiotische Modell eine Sinntheorie, welche Sinn in Diffe
renz, Unterscheidung und Relation begründet. Die Katze ist, was sie ist,
weil sie kein Hund, kein Vogel usw. ist. Sinn ergibt sich aus den differenti
ellen Beziehungen der Zeichen in einem Zeichensystem. Die Welt, wie
Heidegger im Anschluss an Husserl und im Einklang mit dem Sprachbe
griff von Saussure formulierte, ist ein »Verweisungszusammenhang«
(Heidegger 1977: roo).
Luhmann übernimmt diesen Sinnbegriff und legt ihn der Theorie
sozialer Systeme zugrunde:
»Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen
auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Etwas steht im Blickpunkt,
im Zentrum der Intention, und anders wird marginal angedeutet als Horizont für
ein Und-so-weiter des Erlebens und Handelns.« (Luhmann 1984: 92)
Welt führt zum Selektionszwang. Will man etwas über Katzen oder Hefe
sagen, muss man wählen. Wollen Katzen und Hefe überhaupt etwas
Bestimmtes sein - und nicht alles zugleich -, müssen sie wählen. Selek
tion reduziert Komplexität und schafft Ordnung aus Chaos. Selektion
macht die Welt einfacher, denn man weiß - Pasteur sei Dank-, dass ein
bestimmter Mikroorganismus die Milchsäuregärung verursacht und nicht
alle anderen nur erdenklichen Wirkungen hervorbringt. Dieses Wissen ist
eine Selektion aufgrund der Performanz der Hefe. Selektion kann als eine
Handlung betrachtet werden. Eine Unterscheidung wird eingeführt. Han
deln artikuliert die Welt. Handlungen sind ihrerseits zuschreibungsbedürf
tig. Etwas führt einen Unterschied in die Welt ein. Etwas handelt. In der
Regel werden Handlungen Akteuren zugeschrieben. Der Aktantenbegriff
in der Narratologie von Greimas bezeichnet auf der abstrakten Ebene der
Tiefenstruktur von Sinn ein Selektionsereignis, eine Transformation oder
Bewegung von etwas zu etwas anderem. Die sprachliche Beschreibung
dieser Bewegung hat immer die Form einer Erzählung. Aus dieser Per
spektive wird es verständlich, dass die ANT wissenschaftliche Theorien,
welche Selektionsgeschehnisse beschreiben, als narrative Konstruktionen
betrachtet. Es wird auch ersichtlich, weshalb die ANT auf die Idee kommt,
die Ursachen von Wirkungen als Akteure zu bezeichnen. Akteure ergeben
sich aus der narrativen Notwendigkeit, Geschehnisse einem Agenten zuzu
rechnen. Ob es sich bei einem wissenschaftlichen Bericht um eine >wahre<
Geschichte handelt, hängt davon ab, ob die Akteure die Rollen, die ihnen
zugeschrieben werden, erfüllen oder nicht. Verhält sich die Ursache der
Milchsäuregärung wie eine Pflanze oder wie eine chemische Reaktion?
»Zuerst besteht die Entität aus flottierenden Sinnesdaten, dann wird sie als Ak
tionsname verstanden und schließlich in ein organisches, pflanzenähnliches Lebe
wesen verwandelt, das einen Platz in einer feststehenden Taxonomie einnimmt.«
(Latour 2000: r47)
etwas tut. Wenn etwas geschieht, dann wird dies Erleben genannt. Bei der
Expedition in den Amazonas waren es die Forscher und nicht der Urwald,
die gehandelt haben. Den Urwald oder den Pedokomparator als Akteur zu
betrachten, wäre anthropomorphisierend. Das Prinzip der »methodologi
schen Symmetrie« der ANT, gemäß der Erlebtes einem Handeln zuge
schrieben wird, scheint die Anschlussfähigkeit der ANT an gegenwärtige
soziologische Grundlagentheorien gravierend zu beeinträchtigen. Dies
führt zur Frage: Wo liegt der theoretische Mehrwert der Aufhebung der
Unterscheidung zwischen Erleben und Handeln; eine Unterscheidung, die
die Trennung von Subjekt und Objekt ermöglicht und dem Menschenbild
der Modeme zugrunde liegt? Eine erste Antwort auf diese Frage ist die
Feststellung, dass der ANT zufolge Intentionalität, Freiheit und psychische
Innerlichkeit nicht mehr als notwendige Eigenschaften eines Akteurs
gelten. Die Hefe muss nicht Selbstbewusstsein, einen freien Willen und
Intentionen besitzen, um ein Akteur zu sein. Und wenn die Hefe diese
Eigenschaften nicht braucht, sind die Menschen ebenfalls entlastet. Die
ANT schafft Freiraum für ein neues Menschenbild und bietet zugleich
Anschlussmöglichkeiten an eine Reihe von Theorien, die Systemtheorie
inbegriffen, welche das autonome rationale Subjekt der Modeme in Frage
stellen.
Zweitens ebnet die von der ANT geforderte Symmetrie menschlicher
und nicht-menschlicher Akteure den Weg, den für die Sozialwissenschaf
ten unentbehrlichen Begriff der Kommunikation neu zu bestimmen.
Wenn Luhmann behauptet, die Gesellschaft bestehe aus Kommunikatio
nen - und nicht aus Menschen - und damit den Anspruch verlmüpft, bei
der Grundlegung einer Sozialwissenschaft die alteuropäischen Subjekt
und Handlungstheorien umgangen zu haben, macht er sich die Aufgabe
nicht leicht, insofern sein Kommunikationsbegriff auf Menschen zuge
schnitten ist. Hinter der Definition von Kommunikation als Synthese der
dreifachen Selektion von Mitteilung, Information und Verstehen (Luh
mann 1984: 191ff.) steht die traditionelle Situation von Face-to-Face-Kom
munikation, bei der jemand jemandem etwas in irgendeiner Art und Weise
mitteilt. Verstehensselektion bedeutet lediglich, dass der Empfänger weiß,
mit wem er über was und wozu spricht. Dies vorausgesetzt kann eine
Kommunikation zur nächsten führen oder wenigstens kann danach gefragt
werden. Die Kette der Kommunikationen mag autopoietisch und selbstre
ferentiell sein, aber sie verlangt trotzdem Handlungszuschreibungen, denn
jemand muss etwas mitgeteilt haben, wenn Kommunikation in Gang
kommen soll. Kommunikationen entstehen zwar nur aus Kommunil<atio
nen, aber der Luhmann'sche Kommunikationsbegriff macht es schwierig
zu sagen, Kommunikation kommuniziere (Luhmann 1990: 31). Heidegger
(1975: 12) hatte es da leichter mit der Aussage, »die Sprache spricht«, da für
Heidegger die Sprache nicht an die Unterscheidung zwischen Mitteilungs
und Informationsselektion gebunden war. Da Kommunikation nach Luh-
36 1 ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER
»Wer oder was als Person zählt, ist jeweils abhängig von dem kohärenten Fungieren
entsprechender Bezeichnungen im System der Gesellschaft und insbesondere von
der Art und Weise, mit der die Gesellschaft Inklusionsprobleme löst.« (Luhmann
1990: 34)
Ob die Hefe Pasteur etwas über ihre Beschaffenheit und ihre Kompetenzen
»mitteilt« und somit als Person, d.h. als Akteur in die Gesellschaft einbe
zogen wird, ist für die Luhmann'sche Systemtheorie wenigstens eine Op
tion. Auf Basis dieser Offenheit könnte das von der ANT beschriebene
»Kollektiv« von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren durchaus
Anschluss an die Systemtheorie finden. Statt eine Provokation und eine
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE J 37
Das von der ANT einberufene »Parlament der Dinge« (Latour 2001) setzt
deren »Sozialisierung« voraus. Werden nicht-menschliche Akteure zu
Mitgliedern der Gesellschaft, müssen sie soziale Leistungen erbringen.
Insofern das Soziale als das Kommunikative verstanden wird, entsteht die
Frage: Wie kommunizieren die Dinge? Welche Sprache sprechen sie? Die
ANT fasst soziale Kompetenz viel breiter als die Systemtheorie, welche das
Soziale auf eine Selektionsleistung von Mitteilung, Information und Ver
stehen reduziert. Das Modell des Labors zeigt, dass ein Akteur durch eine
Reihe von Prüfungen bestimmte Leistungen im Sinne einer Performanz
zeigen muss. Wie bei der Hefe - und bei Pasteur auch - werden Kompe
tenzen durch eine Reihe von Prüfungen ausgewiesen. Die ANT betrachtet
die Welt aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung, indem sie die
Welt zu einem Labor macht, in dem alle Akteure durch eine Art Versuchs
anordnung herausgefordert werden, Leistungen durch Prüfungen zu
zeigen. Die Verallgemeinerung des Modells wissenschaftlicher Praxis auf
das Soziale bedeutet, dass das Soziale als das Inszenieren und das Beste-
38 1 ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER
hen von Prüfungen, von Versuch und Irrtum verstanden wird. Statt von
Versuchsanordnungen zu sprechen, führt die ANT den Begriff des »Hand
lungsprogramms« ein (Akrich/Latour 1992, vgl. »Zusammenfassung einer
zweckmäßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und nicht
menschlicher Konstellationen« in diesem Band). Handlungskompetenz
wird demzufolge fast ausschließlich in Begriffen beschrieben, die aus dem
Bereich des strategischen bzw. instrumentellen Handelns stammen. Dies
hat der ANT den Vorwurf einer unzulässigen Verengung des Handlungs
begriffes eingebracht (Degele 2002: 140). Akteure erscheinen immer im
Rahmen von Funktionszusammenhängen: Wenn bestimmte Bedingungen
oder Situationen vorhanden sind, dann agieren Akteure so. Im Rahmen
eines Handlungsprogramms werden Akteuren Rollen zugewiesen. Die
Zuweisung von Rollen wird in der Terminologie der ANT als Ȇberset
zung« bezeichnet. Übersetzung ist ein komplexer Prozess, der aus einer
Reihe von verschiedenen kommunikativen Handlungen besteht, die alle
den Zweck verfolgen, ein Netzwerk zu konstruieren. An die Stelle der
autopoietischen Verkettung von Kommunikationen tritt das Netzwerkbil
den. Akteure agieren in Netzwerken -wie die Hefe im Labor Pasteurs. Wie
die Hefe nur dadurch in Erscheinung treten konnte, dass ihr durch eine
bestimmte Versuchsanordnung (Pasteurs Handlungsprogramm - eine
bestimmte Rolle: jene der Pflanze) zugewiesen wurde, so treten soziale
Akteure nur durch Rollenzuweisungen, die ihnen aufgrund von Hand
lungsprogrammen und Übersetzungen zugerechnet werden, in Erschei
nung. Die ANT ist demzufolge eine Soziologie der Übersetzung und der
Netzwerkbildung:
Problematisierung
lnteressement
Enrolment
Mobilisierung
macht werden können usw. Ein Netzwerk kann erst dann entstehen, wenn
Entitäten, die als Sprecher oder Delegierte für andere agieren, geschaffen
(Grint/Woolgar 1997) und wenn sie in möglichst großer Zahl mobilisiert
werden können.
»Die Waffe ist nicht länger die Waffe-im-Arsenal oder die Waffe-in-der-Schublade
oder die Waffe-in-der-Tasche, sondern die Waffe-in-der-Hand, die auf jemand
Schreienden gerichtet ist. Was für das Subjekt wahr ist, für den Schützen, ist genau
so wahr für das Objekt, die gehaltene Waffe. Ein guter Bürger wird zum Kriminel
len, ein schlechter Mensch wird sogar noch schlechter; eine stumme Waffe wird zur
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 43
Die gegenseitige Übersetzung führt dazu, dass weder Mensch noch Waffe
allein handeln, sondern ein neuer Akteur zusammengesetzt aus Mensch
und Waffe. Der Akteur ist ein Hybrid-Akteur, ein Kollektiv, ein Netzwerk.
Da es nie Menschen ohne Technik gibt, ist davon auszugehen, dass Akteu
re immer Hybriden sind, und dass jeder Akteur zugleich auch ein Netz
werk ist.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie ist ein fraktales Modell, denn Netzwerke
bestehen aus Akteuren, die sich selbst aus heterogenen Elementen zu
sammensetzen, d.h. Netzwerke sind. Es gibt keine einfachen Letztelemente
- weder auf der Seite des Sozialen noch auf der Seite der Natur und der
Materie. Wirldichkeit ist hybrid. Die zirkulierende Referenz, in der der
Urwald des Amazonas beschrieben wird, bildet eine Kette, die ihren An
fang weder in der reinen Natur noch in der reinen Gesellschaft hat, die
vielmehr in der Mitte beginnt und in beiden Richtungen ins Unendliche
verläuft. In jeder Einheit steckt eine Vielheit an Elementen und Beziehun
gen, die ein heterogenes Netzwerk ausmachen. Die ANT beschreibt weder
Objekte noch Subjekte, sondern Netzwerke von Hybriden:
»Personen sind die, die sie sind, weil sie aus einem strukturierten Netzwerk hetero
gener Materialien bestehen. Wenn man mir meinen Computer, meine Kollegen,
mein Büro, meine Bücher, meinen Schreibtisch, mein Telefon nähme, wäre ich
kein Artikel schreibender, Vorlesungen haltender, >Wissen, produzierender Sozio
loge mehr, sondern eine andere Person. [...] Ist ein Akteur primär aus dem Grund
ein Akteur, weil er oder sie einen Körper bewohnt, der Wissen, Kompetenzen, Werte
und vieles mehr beherbergt? Oder ist ein Akteur aus dem Grund ein Akteur, weil er
oder sie über einen Satz von Elementen (darunter natürlich auch über einen Körper)
verfügt, die sich über ein Netzwerk von somatischen und anderen Materialien
erstrecken, die jeden Körper umgeben?« (Law 1992, Übersetzung der Hg., vgl.
Beitrag »Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie« in diesem Band)
»Eine Black Box enthält, was nicht länger beachtet werden muss - jene Dinge, deren
Inhalte zum Gegenstand der Indifferenz geworden sind. Je mehr Elemente man in
Black Boxes platzieren kann - Denkweisen, Angewohnheiten, Kräfte und Objekte-,
desto größer sind die Konstruktionen, die man aufstellen kann.« (Callon/Latour
44 J ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER
1981: 285, Übersetzung der Hg., vgl. Beitrag »Die Demontage des großen Levia
than« in diesem Band)
»Im neuen Paradigma ersetzen wir das ausgediente Wort ,Gesellschaft< durch den
Begriff Kollektiv - worunter wir den Austausch menschlicher und nicht-menschli
cher Eigenschaften innerhalb einer ,Körperschaft< verstehen.« (Latour 2000: 236)
46 1 ANDREA 8ELLIGER UND DAVID KRIEGER
Die zweite Konsequenz ist viel weit reichender als eine Namensänderung,
da es sich um Grundsätze und Prinzipien des modernen Selbstverständ
nisses handelt:
»Das Ziel des Spiels besteht nicht darin, Subjektivität auf Dinge zu übertragen oder
Menschen als Objekte zu behandeln oder Maschinen als soziale Akteure zu betrach
ten, sondern die Subjekt-Objekt-Dichotomie ganz zu umgehen und stattdessen von
der Verflechtung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen auszugehen.«
(Latour 2000: 236f.)
Alles deutet darauf hin, dass es für uns Menschen von Vorteil wäre, sich
mit jenen Wesen anzufreunden, die bisher unbeachtet blieben. Dies ist vor
allem in jenem Moment angebracht, wo wir erkennen, dass diese Wesen
uns Menschen ausmachen.
Literatur
,,,
: 1
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 47
Im Verlauf von nur wenigen Jahren hat sich das Zentrum der Aufmerk
samkeit in der Wissenschaftssoziologie radikal verschoben. Zuerst schüch
tern, dann mit zunehmender Kühnheit sind Soziologen in das Allerheiligs
te eingedrungen. Sie beschränken ihr Interesse nicht mehr länger auf die
Erforschung der Funktionsweise von Institutionen, der Regeln der Konkur
renz oder der Organisation von Netzwerken und Gemeinschaften. Sie
untersuchen in zunehmendem Maße den Inhalt der Wissenschaft selbst.
Obwohl dieser Richtungswechsel nun legitim und faktisch unwiderruf
lich scheint, bleibt er noch sehr vorsichtig. Die von ihrer jüngsten Vergan
genheit tief gezeichnete Wissenschaftsforschung nimmt die aufgespaltete,
in einzelne Teilbereiche abgetrennte Welt, die Wissenschaftler so geduldig
aufbauen, als selbstverständlich an und ist dabei bereit, soziale, technische
oder kognitive Faktoren zu unterscheiden, sie sogar ohne zu zögern in
gegenseitige Opposition zueinander zu stellen (Edge/Mulkay 1973). Das
Konzept sozialer Kontexte wissenschaftlicher Forschung ist noch heute in
allgemeinem Gebrauch und beweist die anhaltende Vitalität dieser Denk
art. Innerhalb der Realität werden Territorien und Domänen abgetrennt,
Grenzen gezogen, a-priori-Faktoren verschiedener Typen identifiziert und
einer spezifischen Logik gehorchende Prozesse aufgezählt.'
(1959) und Holton (1973) zugestanden wird, ist das Ergebnis einer theoretischen
Wahl dieser Art.
2 1 Die archetypische Opposition ist die von Popper (1959, 1973) und von Dewey
(1929). Der Erste macht Problematisierung zum kategorischen Imperativ; der Letz
tere sieht in der Deproblematisierung den Ausdruck eines existentiellen Erforder
nisses: Der Mensch verabscheut Unordnung und versucht Stabilität zu produzieren.
DIE SOZIO-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 53
Die DGRST wurde in Frankreich in den späten 195oer Jahren mit dem Ziel
gegründet, französische Politik im Hinblick auf wissenschaftliche und
technische Forschung vorzubereiten, zu koordinieren und umzusetzen.
Eine ihrer ersten Handlungen bestand darin, »konzertierte Aktionen«
einzusetzen, in denen sowohl private als auch öffentliche Laboratorien
innerhalb der Industrie oder der Universität für eine begrenzte Zeit zu
sammenkamen, um an Programmen höchster Priorität zu arbeiten. Jede
»Aktion« wird von einem wissenschaftlichen Komitee verwaltet, das aus
ungefähr 15 -Experten - Personen aus Wissenschaft, Unternehmen und
Verwaltung - besteht, die intuitu personae an der Arbeit des Komitees teil-
nehmen. Das Komitee wählt aus den eingereichten Projekten aus und
verteilt die den Arbeiten zugewiesenen Kredite. Diese Vorgehensweise
wurde während der letzten Jahre der Vierten Republik ausgearbeitet. Auf
diese Weise können öffentliche und private Forschung zusammenarbeiten,
Programme, die von traditionellen Institutionen abgelehnt worden waren
(CNRS, Universitäten, industrielle Unternehmen), werden bereitwilliger
finanziert. Auf diese Weise wird die koordinierte und kollektive Arbeit an
Forschungsgegenständen höchster Priorität erleichtert.
Das CNRS und die Industrie hatten in den frühem 196oer Jahren die
Szene unbesetzt verlassen; das Erstere war von Akademismus unterwan.
dert, die Zweite an Forschung und Innovation wenig interessiert. Die
DGRST füllte dieses Vakuum. Als Ergebnis waren zu Beginn die Haupt
nutznießer dieser Unterstützung jene Wissenschaftler, deren Disziplinen
sowohl von der Universität als auch vom CNRS missverstanden oder ab.
schätzig betrachtet worden waren, die sie zwar beherbergten, ihnen aber
keine wirklichen Forschungsmittel zur Verfügung stellten. Die Vorge
hensweise der »konzertierten Aktion« war wie auf sie zugeschnitten; ihnen
war sowohl die industrielle als auch die politische Unterstützung sicher;
gleichzeitig hatten sie in Form von Krediten einen Handlungsspielraum.
Beides war ihnen zuvor versagt gewesen (Gilpin 1968; Papon 1979; Pavitt
1976).
Die obigen Bemerkungen sind auch auf die Forschung an Brennstoff.
zellen, die im Rahmen der konzertierten Aktion »Energiekonversion« un
ternommen wurde und deren Ziel darin bestand, neue Formen der Ener
gieproduktion zu entwickeln, sehr gut anwendbar. Es gab keine Industriel
len im Komitee, die dafür verantwortlich gewesen wären, das Programm
zu forcieren; die Wissenschaftler hatten vor, tonangebend zu sein. Sie
zwangen den anderen ihre eigene Analyse der Situation auf, skizzierten die
zu lösenden Probleme und die Beziehungen zwischen ihnen. Sie entschie
den, wie die Arbeit aufgeteilt und koordiniert werden sollte. Schließlich
zeigten sie auf, was auf der sozialen, politischen und ökonomischen Ebene
auf dem Spiel stand (Callon 1978).
Im Fall der Brennstoffzellen operierte die Problematisierung in drei
Phasen und enthüllte ein breites Spektrum an möglichen Analysen.
(1) Die erste Aufgabe des Komitees war es, interessante Forschungsfelder
zu identifizieren. Das allgemeine Thema der Energiekonversion gewährte
ein anfängliches Territorium, innerhalb dessen Prioritätssektoren identifi
ziert werden mussten. Die erste Diskussion konzentrierte sich auf die
Definition, was von Relevanz sei und was nicht. Zwei Physiker, X und Z,
wurden einander gegenübergestellt.
Als X gebeten wurde, am Komitee teilzunehmen, war er innerhalb
seiner eigenen Disziplin, der Festkörperphysik, bereits ein sehr bekannter
Wissenschaftler. Er hatte eine beträchtliche Zeit mit der Arbeit in einem
DIE S0z1o-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 55
Tabelle 1
ursprüngli- elektrisch Licht mechanisch thermisch chemisch
ehe Ener-
gieform
finale Ener-
gieform
elektrisch Konverter, photovoltai- elektrische thermo- Brennstoff-
Gleichrich- sehe, Maschinen, elektrische, zellen,
ter, photogalva- Wind, thermoio- gewöhnli-
Transför- nische Gezeiten- nische ehe Zellen,
matoren, Effekte kraft, Effekte Akkumula-
Oszillatoren Ströme toren
Licht Elelctrolu- Lumines- Tribo-lumi- Inkandes- Chemo-
mineszenz, zenz neszenz zenz lumineszenz
Entladung
in Gasen
mechanisch elektrische Seiten- einfache thermische künstliche
Maschinen krümmung, Maschinen, Maschinen Muskelkraft
Radiometer Energie-
? speicher
56 1 MICHEL GALLON
Tabelle 2), die Details über die Linie gibt, der die Forschung folgen soll und
auf die zu mobilisierenden Forschungszentren hinweist. Wie ist diese Ta
belle organisiert?
Tabelle 2
Themen Interessen Forschungszentren Finanzmittel
(Francs)
I. allgemeine kirre- wissenschaftlich CNRS 2.3 00.000
tische Studien technisch: Erhöhung Elektrolyselabor 400.000
zur Reaktion auf der Zellkraft IFP
Elektroden (für Hydrocarbon)
2. Studien der Kata- technisch CNRS 1.000.000/
lyse von Depola- Katalysezentrum Jahr
risationsreaktio- IFP
nen (für Hydrocarbon)
CNRS
Elektrolyselabor
3. Elektrodenfor- technisch Industriepartner 200.000/
schung Jahr
4. Elektrolytenfor- Schule von Grenoble 500.000/
schung Jahr
5 · Forschung zum technisch (Verbesse- Elektrolyselabor 500.000
internen Zellwi- rung des Zellout-
derstand puts)
6. Diffusionsfor- geschmolzen, ? 200.000
schung wässerig, CNRS 100.000
Elektrolyt Elektrolyselabor
7. Forschung zu Semipermeable ? 450.000
speziellen Elek- Membranen, solide
trolyten oder immobile Elek-
trolyten
8. technische For- HT Zellen ? 1.000.000
schung LT Zellen 500.000
Zuerst grenzt die Tabelle ein Analyseterritorium innerhalb der Realität ab.
Dieses Territorium wird von den Umrissen eines spezifischen Objekts, der
Brennstoffzelle, und durch die darüber angestellten theoretischen Annah
men klar umrissen. Ys Problematisierung passt perfekt zu der von X, der
bereits ein System von Unterteilungen vorbereitet hatte, das Y ohne Ände
rungen übernimmt. Nach Ansicht von Y repräsentiert die Brennstoffzelle
ein privilegiertes Objekt in der Elektrochemie. Nichts und niemand konnte
diese Beziehung unterminieren. Die Zelle ist als Ganzes in der Elektro
chemie enthalten und umgekehrt. Es gibt auf keiner Seite Überlappungen.
Die umgebende Begrenzung passt perfekt; sie ist in sich geschlossen und
darf in keiner Weise gestört werden.
Die Tabelle definiert Forschungsthemen, indem sie Probleme formu-
DIE SOZIO-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 59
liert. Y stellt seine eigene Bilanz auf, wobei er seine eigene Organisation
und Formulierung des Problems verwendet. Er zieht eine Demarkationsli
nie zwischen dem, was seiner Meinung nach über die Funktionsweise ei
ner Zelle bekannt und dem, was nicht bekannt ist. Was den Beobachter
stark beeindruckt, ist, wie die Architektur der Brennstoffzelle, die verschie
denen Elemente, die sie bilden, und die Phänomene in ihr eng mit den
Zielen und Themen der Forschung korrespondieren. Da sind die Elektro
den, das Elektrolyt, der Katalysator. Es gibt Referenzen auf Wissen, das zu
jener Zeit in Frankreich unter Elektrochemikern weithin akzeptiert und
verwendet wurde (Diffusion, innerer Widerstand, Depolarisierung, Kinetik
etc.). Eine ganze Reihe von Konzepten, Vorschlägen, Denkweisen, Be
weismethoden werden auf den Plan gerufen, um die dunkleren Ecken der
Funktionsweise einer Zelle zu isolieren und zu definieren. Die Bereiche
des Unwissens treten vor einem Hintergrund der Sicherheit, des bestätig
ten Wissens und der Interpretationssysteme hervor.5
Nur nebenbei bemerkt (da dies hilft, die Art der Konkurrenz zwischen
X und Z zu erldären): Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Art von
Problematisierung ist der Platz, der der Katalyse zugeschrieben wird. Y er
l<lärt, dass Katalyse ein bloß technisches Problem sei und daher von sekun
därer Bedeutung (Y ist ein Fundamentalist). Dies steht in starkem Kontrast
zu Zs Position. Für Y ist das Problem der Katalyse gelöst, sobald das Prob
lem der Kinetik, des Transports von Reagenzien und der optimalen Struk
tur von Elektroden aufgeldärt worden ist. Z behauptet das genaue Gegen
teil.
5 1 Wir müssen hier nur feststellen, dass etablierte Fakten der Quantenmechanik
ignoriert werden. Die verwendeten Kenntnisse und Fakten stammen vom Beginn
des Jahrhunderts. Das beeindruckendste Merkmal ist ihre große Diversität. Sie ge
hören zu den Bereichen der Physik, Chemie und Thermodynamik.
60 \ MICHEL CALLON
von X und Y. Die technische Struktur der Zelle ist für ihn die äußerste
Grenze aller Forschungen; ein verdinglichtes Objekt, das Forscher akzep
tieren müssen. Probleme müssen innerhalb des Raumes formuliert und
gelöst werden, der von Elektroden, einer Doppelschicht und den Elektroly
ten besetzt wird, eines Raumes, der um nicht greifbare Elemente, seien sie
materielle Komponenten der Zelle oder die Konzepte, Gesetze und experi
mentellen Vorrichtungen, die zur Entschlüsselung ihrer Funktionsweise
dienen, organisiert wird (Tafels Gesetz, Nemsts Gesetz, Adsorption, die
Kinetik der Reaktionen etc.).
Die Problematisierung, die A vorbringt, betrifft die Textur der Elektrode
(die Referenz zur Metallurgie ist offensichtlich), das heißt: die räumliche
Verteilung der Poren, die Verteilung und Formen der Kristallisierung der
Katalysatoren, der Pfad, der von Elektrolyten verfolgt wird, die sich auf den
Brennstoff zu bewegen. A ist nur an der Elektrode und der sie umgeben
den Doppelschicht interessiert. Seine Problematisierung zeigt die gleichen
Merkmale wie jene von X und Y: (a) Sie gibt eine exakte Definition des re
levanten Feldes (hier die Elektrode) und weist den Rest zurück, der uner
forscht bleibt. Wenn man sich von der Doppelschicht entfernt - der Rand
von Elektronen, der die Elektrode umgibt und speist-, werden die Schatten
allmählich dunkler und schließlich undurchdringlich. (b) Die Elektrode
selbst wird als System zur Verbindung von Elementen gesehen, die nicht
problematisiert sind (Brennstoff, Katalysatoren, von den Elektrolyten weg
gerissene Elektronen etc.). Während der ersten Phase steht nur die räumli
che Anordnung dieser Elemente, d.h. die Beziehung zwischen ihnen, für
eine Variation offen.
B wendet sich hingegen allmählich gegen Ys Trennungssystem und
kommt schließlich bei einer von A radikal verschiedenen Problematisie
rung an. Während er sich von Z inspirieren lässt, arbeitet er auf eine Prob
lematisierung hin, die das Problem der Katalyse innerhalb des elektrischen
Felds (Elektrokatalyse) betont. Er zieht den Rekurs auf Konzepte und Me
thoden der Festkörperphysik vor. Die Brennstoffzelle ist nicht länger der
unumgängliche Referenzpunkt, das Ziel nicht länger, das Problem der Ka
talyse zu lösen, wie es von Y dargestellt und definiert wurde. B baut die
Fragestellung in anderer Weise auf. Weder die Frage der Elektroden und
ihrer Texturen noch die der Diffusion der Reagenzien besteht. Das von B
gestellte Problem liegt im Verhalten eines Wasserstoffatoms auf einer me
tallischen Oberfläche. Unter welchen Bedingungen und durch welche Me
chanismen werden die Elektronen freigesetzt? Auf einen Schlag erscheint
eine andere Welt, andere Grenzen werden herausgearbeitet. B zwingt Ob
jekte und Fragen, die seine Sphäre hätten bevölkern sollen, in die Schatten
zurück. Er führt andere Sicherheiten wieder ein, nimmt andere Tatsachen
als selbstverständlich an, entleiht andere Instrumente aus der Festkörper
physik, Quantenmechanik, Nuklear-Magnet-Resonanz etc.
Alle diese Problematisierungen werden zum Leben erweckt; sie vervoll-
DIE SOZIO-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 61
6 1 Von diesem Standpunkt aus ist Mulkays Kritik an Kuhn entscheidend. Vgl.
im Besonderen Mulkay (1972) und auch Lemaine (1980).
62 1 MICHEL GALLON
quelle (erworbenes Wissen) verwendet. Wenn eine der beiden Quellen ver
schwindet, wird die Produktion unterbrochen. Daraus resultiert Abbil
dung 1.
Abbildung 1
7 1 Diese Singularität, gut herausgearbeitet von Knorr (1977), ist auch gültig für
neues Wissen, das nach Anerkennung strebt. Vgl. auch Gilbert (1976).
DIE S0z1o-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 63
ein Platz und eine Position, die einem Akteur zugeschrieben werden. Der
Akteur kann entweder benannt werden - oder seine Identität bleibt unbe
kannt. Weiter sind die Beziehungen zwischen den Protagonisten und ihren
Positionen durch die zwischen den Problemen postulierten Beziehungen
klar definiert. Einfach formuliert existiert jede Tabellenzelle auf zwei Arten:
eine, die wir techno-wissenschaftlich nennen können, und die andere sozi
al, da sie nicht von der zur Ausführung ihrer Ausarbeitung und Produktion
angesprochenen sozialen Gruppe verschieden ist. Problemdefinition, wie
von Y praktiziert, ist eine höchst strategische Aktivität, da sie darauf abzielt,
verschiedene Gruppen in einem Unternehmen zu interessieren, dessen
Entwicklung als Ganzes diese nicht kontrollieren können.
Im von uns so genannten Bereich des Zweifels, der den Kern der prob
lematischen Situation bildet, gibt es keine Divergenz zwischen der Organi
sation des sozialen und des kognitiven Feldes. Problemdefinitionen und
die Verbindungen zwischen ihnen können nicht von der Arbeit - der Or
ganisation von Interessenfeldern - unterschieden werden. Man beachte die
Fragezeichen, die in einigen Feldern der Tabelle auftauchen. Eine Prob
lemdefinition impliziert die Definition einer Gruppe, sogar wenn keine
empirische Einheit benannt werden kann. Y gibt dem Sozialen eine Form;
er baut ein Feld von Positionen.
Wir können weiter gehen: Die von Y angeregte Liste von Problemen
kann nicht vom Stand des wissenschaftlichen oder technischen Wissens
abgeleitet werden (Zs aktive Kritik ist ein Beweis dafür). Sie übersetzt einen
Willen zur Eingliederung von Interessen und dazu, jene zu interessieren,
die bisher nur potentielle Partner sind. Tatsächlich repräsentiert Ys Pro
gramm einen Versuch, soziale Gruppen zu mobilisieren. Ich schlage vor,
diese besondere Logik, durch die Probleme direkt mit Gruppen verbunden
werden, die Sozio-Logik der Übersetzung zu nennen.8
Wozu dieser Ausdruck? Um seine Verwendung zu rechtfertigen, muss
ich lediglich den Mechanismus, der am Werk ist, analysieren. Was Y sagt,
kann folgendermaßen zusammengefasst werden:
»Ich definiere eine Reihe von Problemen Pr, P2, P3 ... P8 und weise sie
den Gruppen Gr, G2, G3 ... G8 zu (vgl. Tabelle 2). Ich stelle fest, dass eine
sequentielle Lösung dieser Probleme zu Lösungen des von X gestellten
Problems führen würde, d.h., wie man wissenschaftliche und technische
Kontrolle über Brennstoffzellen aufbaut und gewinnt.«
Definitionen von Pr, P2, P3 etc. und Feststellungen ihrer Unabhängig
keit folgen einer Sozio-Logik. Tatsächlich bedeutet die Feststellung, dass
Pr, P2, P3 etc. »logisch« verbunden sind (durch die problematische Einheit
der Zelle), dass zwischen Gr, G2, G3 etc. eine Interessengemeinschaft be
steht. Dies eröffnet die Hypothese, dass Gr die Verantwortung für Pr, G2
die für P2 übernimmt und dass Gr, G2 etc. die Idee akzeptieren, dass zwi-
sehen PI, P2 etc. eine Beziehung besteht - das bedeutet, dass soziale Inter
alction zwischen ihnen denkbar ist. Kurz gesagt: Y konstruiert ein System
sozialer Interalctionen. Wir finden nicht auf der einen Seite soziale Akteure
und auf der anderen Wissen. Es gibt eine gemeinsame, programmatische
Organisation sowohl von Wissen als auch von sozialen Akteuren. Daraus
folgt die Idee der Sozio-Logik.
Die Aussage, dass PI, P2, P3 etc. in Beziehung stehen können, postu
liert: (a) dass eine Reihe verbundener Bezeichnungen für Probleme exis
tiert, die innerhalb verschiedener Territorien formuliert werden und (b)
dass die Lösung eines Problems (Beherrschung der Funktion der Brenn
stoffzelle) durch eine Reihe von Verlagerungen von Problemen erreicht
werden kann. Das Wort »Übersetzung« korrespondiert genau mit diesen
beiden Bedeutungen. Von einem sehr allgemeinen Standpunkt aus be
trachtet postuliert diese Idee die Existenz eines einzelnen Feldes von Be
zeichnungen, Anliegen und Interessen, den Ausdruck eines geteilten Inte
resses, um zum gleichen Ergebnis zu kommen. Obwohl Übersetzung die
Existenz von Divergenzen und Differenzen, die nicht ausgeglichen werden
können, anerkennt, bekräftigt sie dennoch die zugrunde liegende Einheit
zwischen voneinander verschiedenen Elementen. Übersetzung beinhaltet
die Schaffung von Konvergenzen und Homologien, indem sie zuvor ver
schiedene Dinge verbindet. In dem eher begrenzten Fall, den wir untersu
chen, stellt die Übersetzung zuerst einmal sicher, dass verständliche Ver
bindungen zwischen Fragen bestehen, die z.B. die Diffusion in Elektroly
ten, Reaktionskinetik in Elektroden und die Leistung von Zellen betreffen
(nach verfügbarem Potenzial und Strömungsintensität gemessen). Vor
schläge, Resultate und Anerkennungen können von einer zur anderen
umgewandelt werden, um vergleichbar zu werden. Z.B. wird eine be
stimmte Modifikation in der Elektrodenstruktur und der Verteilung von
Katalysatoren auf die Operation der Diffusion reagieren, diese wird wiede
rum die Kinetik der Oxidoreduktionen modifizieren; das Resultat wird eine
Variation in der Strömungsintensität mit Konsequenzen für die kommer
ziellen Implikationen sein. Übersetzungen wie diese sind niemals vorher
bestimmte Schlussfolgerungen. Sie sind als Hypothesen formuliert, die als
überzeugend oder nicht beurteilt werden (B ist, anders als A, nicht über
zeugt).9 Gleichzeitig jedoch - und darin besteht ihre zweite Bedeutung -
betont Übersetzung die gegenseitige Abhängigkeit von Problemen. Die Lö-
sung eines Problems hängt von der vorangegangenen Lösung einer ganzen
Reihe anderer Probleme ab (Kinetik zu verbessern impliziert, zuvor die
Diffusion zu verbessern; Kontrolle über einen Anschluss zu bekommen
beinhaltet die Zustimmung, die Struktur von Elektroden zu erforschen).
Übersetzung kündigt die Notwendigkeit einiger Umwege an und weist auf
die erforderlichen Veränderungen der Route hin. Das Konzept der Sozio
Logik betont, dass diese Konversionen und Routenwechsel gleichzeitig für
die Probleme und die Akteure gelten. Die problematische Zone (oder Zone
des Zweifels) ist eine Zone der Fusion, in der sich das Kognitive und das
Soziale in derselben Logik vermischen.
Der Bereich der Gewissheiten ist nach dem Prinzip der Spaltung (nicht
nach dem der Fusion) organisiert. Er schließt Elemente, auf die er einen
Status der Gewissheit überträgt, ein und verbindet sie. Wir müssen hinzu
fügen - und das ist grundlegend -, dass er gleichzeitig deutliche Unter
scheidungen zwischen bspw. Technik, Wissenschaft und dem Sozialen
schafft. Kehren wir zu Y zurück: Die seine Tabelle begleitenden Anmer
kungen befähigen uns, die soziale, technische, wissenschaftliche und poli
tische Realität zu rekonstruieren. Wir finden die DGRST und ihre Politik,
das Budget, das der konzertierten Aktion zur Energiekonversion zugewie
sen wurde, die Politik des CNRS im Hinblick auf Elektrochemie, ebenfalls
die die Elektrode umgebende Doppelschicht, Tafels Gesetz, das eine Bezie
hung zwischen der Spannung in den Elektroden und der Strömungsdichte
etabliert, Nernsts Gesetz, das Spannung und Aktivierungsenergie verbin
det. Der Bereich der Gewissheit beinhaltet nicht nur das Kognitive und das
Technische. Er ist eine multiple, differenzierte Welt, die aus heterogenen
Elementen gebildet wird, die stabil und identifiziert sind. Y verbindet diese
zuvor verschiedenen Elemente, organisiert sie entsprechend einer Logik,
die die Divergenzen respektiert, statt sie auszulöschen, die verschiedene
Sicherheiten verstärkt und Fakten etabliert, statt sie zu unterhöhlen - und
die letztendlich die Integrität der individuellen Elemente nicht in Frage
stellt. Anerkennung für diese Elemente ist der Preis, der im Verlauf der
Problematisierung bezahlt werden muss. Die Fusion funktioniert nur,
wenn sie von Spaltungen umgeben ist. Aber auch hier ist wieder ein
Gleichgewicht der Kräfte involviert. Alles scheint darauf hinzuweisen, dass
Y nicht willens war, die Kosten, verschiedene Elemente der Realität in Fra
ge zu stellen, zu tragen. Er kann oder will die DGRST-Politik nicht ändern,
um Tafels Gesetz zu >modalisieren<. Er besitzt nicht die Ressourcen, um
eine Rekonstruktion auszuführen. Indem er so seinen Mangel an Macht
enthüllt, hilft er natürlich, Realitäten wie die DGRST-Politik oder Tafels
Gesetz zu konsolidieren. Diese Realitäten sind nicht ein für alle Mal ver
kündet worden; sie existieren nur so lange, wie die Protagonisten sie -viel
leicht mangels Ressourcen - als selbstverständlich hinnehmen. Wieder
einmal sind wir mit der Sozio-Logik konfrontiert - Tafels Gesetz oder die
DG RST-Politik nicht in Zweifel zu ziehen bedeutet, dass man nicht willens
68 1 MICHEL GALLON
ist, sie herauszufordern. In diesem Fall ist die Sozio-Logik eine Spaltung,
die Differenzen und Unterscheidungen respektiert und aufbaut.
Alles, was wir hier über die Struktur des Unanalysierten sagen müssen,
ist dies: Seine Struktur ähnelt dem des Unbewussten. Es repräsentiert das,
was ruhig gehalten wird, damit der Rest festgestellt werden kann.
Wir müssen nun den Prozess beschreiben, durch den eine problematische
Situation erfolgreich Interessen eingliedert, durch den sie also ihre eigene
Problematisierung durchsetzt.
Das Komitee bat Y, ein Forschungsprogramm über Brennstoffzellen
aufzustellen. Er brachte Themen vor und sagte, welche Laboratorien seiner
Meinung nach verantwortlich für sie sein könnten. So weit handelt es sich
nur um Vermutungen. Wir haben gesehen, dass ihnen ein Wille zur In
korporation von Interessen zugrunde liegt. In anderen Worten wird Y seine
Problematisierung nur durchsetzen, wenn die angesprochenen Gruppen
einer Teilnahme zustimmen. Daher hängt sein Erfolg von den Reaktionen
von Gr, G2, G3 etc. sowie von ihrer Akzeptanz der Probleme Pr, P2, P3 etc.
ab.
Was wird wahrscheinlich geschehen? Theoretisch sind verschiedene
Situationen möglich. Wir können zwischen fünf idealen, typischen Ant
worten unterscheiden. Die Leute, denen die Probleme übertragen wurden
(Pr, P2 etc.), vorausgesetzt, dass sie überhaupt zustimmen, sich am Spiel
zu beteiligen, können ihre Kritik in zwei Richtungen ausdehnen; (a) ein
erster Diskussionsgegenstand ist die Formulierung des ihnen zugewiese
nen Problems. Passt es zu ihrem eigenen Verständnis des Problems? (b)
Stimmen Sie mit dem allgemeinen Umriss der angenommenen problema
tischen Situation überein? Dies bedeutet, stimmen sie mit der Folge Pr, P2,
P3 überein, mit der Wahl der Gruppen Gr, G 2, G3 etc.? Erachten sie Ys
Problem als unproblematisch und umgekehrt?
Tabelle 3
Reaktionen Anerkennung des Problems Anerkennung der problemati-
durch die Gruppe, der es sehen Situation als Ganzes
zugeordnet wurde durch die Gruppe
Mitlaufen + +
Verhandlung 1 - +
Verhandlung 2 + -
Opposition - +
DIE S0z1o-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 69
sehe Situation als Ganzes an. Sie ficht aktiv die Formulierung des ihr
zugewiesenen Problems sowie auch die gesamte Reihe von Voraussetzun
gen, die der Problematisierung zugrunde liegen, an. Z und B verfolgen
eine solche Strategie. B weigert sich z.B., sich auf die Katalyse von Oxido
reduktionsreaktionen in Brennstoffzellen zu konzentrieren. Er verlagert die
Frage, transformiert sie in einen besonderen Aspekt einer allgemeineren
Studie, in der die Brennstoffzelle und die DG RST nicht auftauchen.
Als Ausdruck des Wunsches, eine Vielzahl von Gruppen aufzubieten,
führt die problematische Situation zu Reaktionen. Durch seine Problemati
sierung lädt Y G1, G2, G3 etc. dazu ein, dem Unternehmen beizutreten.
Diese Gruppen reagieren wiederum jede auf ihre Weise: A folgt, B ist in
Opposition, die Industriellen verhandeln. Die Übersetzungen sind in vari
ierenden Graden erfolgreich, die Interessen werden nur teilweise einge
gliedert. Die Problematisierung erhält an einer Stelle Unterstützung und
provoziert an anderer vehemente Reaktionen. A und B reagieren - und das
ist vom soziologischen Standpunkt aus das Wesentliche-, weil sie gegen
ihren eigenen Willen in Ys Problematisierung einbezogen sind. Interaktion
ist zwischen Y, A und B möglich, weil sie von Y in seiner Fusionszone
platziert worden sind.
Es werden eine Kette von Beziehungen, eine Reihe von Verschiebungen
und eine Folge von Übersetzungen gebildet, die in den verschiedenen
Gruppen Zustimmung hervorrufen oder Widerstand provozieren. X prob
lematisiert und mobilisiert Y, der folgt. Y problematisiert nun wiederum
und mobilisiert A, der nun folgt. A problematisiert und ... die Folge könnte
ewig weitergehen. Eine ziemlich andere Kette von Ereignissen wäre genau
so möglich gewesen: X problematisiert, Y folgt, B ist in Opposition ... er
baut eine andere problematische Situation auf und beginnt damit, seiner
seits Unterstützung zu suchen. Sein zunehmender Erfolg impliziert Ys
Versagen. Als geschlagener Mann verlässt Y seinen Posten als Leiter des
Labors. Schauen wir uns Bs Karriere weiter an. Er vergrößert sein Imperi
um, weitet seine Übersetzungen aus und setzt sie durch. Niemals wieder
wird eine Problematisierung wie die von X eine Erfolgschance haben. Oft
gibt es Abzweigungen im Weg, Umleitungen, manchmal umgekehrte Re
aktionen, sogar Schleifen, durch die ein Protagonist eliminiert werden
kann. Als Resultat dieser Endlosbewegung, in der Übersetzungen durchge
setzt werden und dann zerfallen, werden Gewissheiten aufgebaut und Re
alitätskategorien errichtet. Unsere Analyse steht damit im Kontrast zu der
von Dewey (1977), obwohl er Konzepte verwendete, die unseren ähnlich
sind. Der Effekt der Handlung des Akteurs ist nicht der, Stabilität und
Ordnung, sondern lokale Instabilität zu schaffen. Mit der Schaffung sol
cher Instabilität steigt die Möglichkeit von Autonomie.10
10 1 Vgl. die sehr gelungene Analyse eines Romans von Toumier durch Deleuze
(1969).
DIE Sozro-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 71
Ein letzter Punkt muss noch betrachtet werden. Wir haben soeben
Strategien beschrieben, die als Reaktionen auf eine Problematisierung
auftreten. Aber unter welchen Bedingungen treten sie auf? Warum folgt Y
X? Warum widersetzt sich B? Die Antwort kann man im Konzept des Kapi
tals von Bourdieu (1979) finden, wenn auch nicht in der Weise, wie es dort
verstanden wird. Ein Konzept ist nicht ein Bestand. So ist Xs Kapital mehr
als seine sozialen Beziehungen, sein Prestige und seine einflussreiche
Position. Er ist mehr als eine Menge Ressourcen. Ökonomen sind sich sehr
bewusst, dass identische Ressourcen zu unterschiedlichen Strategien füh
ren können, von denen einige zum Scheitern, andere zum Erfolg führen.
Kapital kann nicht von der Art abgetrennt werden, in der es verwendet
wird, um Interessen zu inkorporieren, Unterstützung zu suchen, zu inter
venieren, zu übersetzen und zu überzeugen. Diese Valorisierungsstrate
gien müssen erforscht werden, wenn die Kraft der Problematisierung und
ihre Macht, Unterstützung aufzubieten, eingeschätzt werden sollen (Cal
lon/Latour 1981).
Schlussfolgerung
Wenn man über Inhalt spricht, geht der Soziologe von bereits existieren
den Problematisierungen aus. Wie kann er unter diesen Bedingungen sei
ne Unternehmung von der des Wissenschaftlers abgrenzen? Dies ist eine
schwierige Frage, aber ich glaube, ich habe zumindest den Umriss einer
Antwort. Es ist selten, vielleicht sogar unmöglich, dass eine Problematisie
rung sich selbst durchsetzt, ohne auf irgendein Hindernis zu stoßen. An
ihrer Seite und ihr entgegen springen Oppositions- und Verhandlungsstra
tegien auf, obwohl sie letztlich zum Scheitern verurteilt sind. Die Protago
nisten selbst üben eine aktive, niemals endende Kritik aus, mit dem Ergeb
nis, dass eine gegebene Problematisierung immer von anderen Problema
tisierungen parasitiert wird (Serres 1980). Wie die Etymologie von »parasi
tiert« nahe legt, bedeutet es, sich selbst an jemandes Seite zu platzieren, ei
nen Bruch zu schaffen, einen Unterschied, während man zur selben Zeit
Verbindungen aufrechterhält. Es bedeutet (zumindest im Französischen),
eine Nachricht zu beeinträchtigen, Information zu verzerren. Interferenz
kann ewig anhalten, Kritik und Reaktionen darauf bilden eine abzweigende
Kette, die niemals unterbrochen wird - außer der Parasit verschlingt sei
nen Wirt. Dies passiert dann, wenn eine Problematisierung Erfolg darin
hat, das, was sie kritisiert, zu zerstören. Soziologische Analyse muss ihre
Heimstatt innerhalb dieser Reihe von Übersetzungen finden. Der Soziolo
ge fügt den von den Protagonisten produzierten Übersetzungen eine weite
re hinzu: Er ist ein Parasit, der von anderen Parasiten lebt. In dieser Hin
sicht ist er wie alle anderen Akteure. Er kann im Prinzip sein Unterneh
men nicht von dem des Wissenschaftlers differenzieren. Er unterscheidet
sich nur darin, dass der praktische Fokus seines Interesses der der Über
setzung ist - die Sozio-Logik des Parasitismus. Er wird genährt von dem
ewig wiederkehrenden Parasitismus, den er um sich herum erforscht.
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74 1 MICHEL GALLON
»Kannst du seine Haut mit Stacheln spicken?[...] Lege nur deine Hand
daran - denke an den Kampf! - du tust es nicht wieder[...]. Niemand ist
so kühn, dass er es aufa,eckte, und wer kann vor ihm bestehen?«
(Hiob 40, 26f; Hiob 41, 1)1
Hobbes' Paradoxon
11 Die Bibelzitate sind nach der Zürcher Bibel wiedergegeben [Anm. d. Hg.].
76 \ MICHEL GALLON UND BRUNO LATOUR
Die von Hobbes vorgeschlagene Lösung ist für die politische Philoso
phie von Interesse. Indem sie zum ersten Mal deutlich die Beziehung zwi
schen Mikro- und Makro-Akteuren formuliert, erhält sie für die Soziologie
allergrößte Wichtigkeit. Hobbes sieht keinen Niveau- oder Größenunter
schied zwischen den Mikro-Akteuren und dem Leviathan, der nicht das Er
gebnis einer Transaktion darstellt. Die Menge, so Hobbes, ist gleichzeitig die
Form und die Materie der politischen Körperschaft; dabei wird die Kon
struktion dieses künstlichen Körpers so kalkuliert, dass der absolute Souve
rän nichts anderes als die Summe der Wünsche der Menge ist. Obwohl der
Begriff »Leviathan« im Allgemeinen mit dem des »totalitären Monsters«
gleichgesetzt wird, macht dieser bei Hobbes keine Aussage aufgrund sei
ner eigenen Autorität, d.h., er äußert sich nicht, ohne von der Menge, als
deren Sprecher, Maskenträger und Verstärker er dient, dazu autorisiert
worden zu sein (ebd.: 217). Der Souverän steht weder durch die Natur noch
durch seine Funktion über dem Volk, noch stellt er ein höheres, größeres
Wesen von andersartiger Substanz dar. Er ist das Volk selbst in einem an
deren Zustand -wie wir von einem gasförmigen oder festen Zustand spre
chen.
Dieser Punkt scheint uns von außerordentlicher Wichtigkeit zu sein,
und in diesem Artikel möchten wir seine Konsequenzen untersuchen.
Hobbes behauptet, es gäbe keinen ihrer Natur inhärenten Unterschied zwi
schen den Akteuren. Alle Unterschiede hinsichtlich Niveau, Größe und
Fähigkeiten stellen Ergebnisse eines Kampfes oder einer Verhandlung dar.
Man kann nicht aufgrund ihrer Dimensionen zwischen Makro-Akteuren
(Institutionen, Organisationen, sozialen Klassen, Parteien, Staaten) und
Mikro-Akteuren (Individuen, Gruppen, Familien) unterscheiden, da sie alle
gewissermaßen »die gleiche Größe« haben - oder vielmehr: Da ihre Größe
primär in ihren Kämpfen entschieden wird, ist sie auch das wichtigste
Ergebnis dieser Kämpfe. Für Hobbes wie für uns stellt sich nicht die Auf
gabe, Makro- und Mikro-Akteure zu klassifizieren oder das, was wir von
Ersteren und Letzteren wissen, zu versöhnen, sondern erneut die alte
Frage aufzuwerfen: Auf welche Weise kann ein Mikro-Akteur zu einem
Makro-Akteur werden? Wie können viele wie eine/-r handeln?
Die Originalität des von Hobbes gestellten Problems wird teilweise von
seiner Lösung - dem sozialen Vertrag - verborgen, deren Unmöglichkeit
durch die Geschichte, Anthropologie und neuerdings auch Ethologie er
wiesen wurde. Der Vertrag stellt jedoch eine besondere Instanz eines gene
relleren Phänomens dar: dem der Übersetzung.2 Übersetzung umfasst
alle Verhandlungen, Intrigen, Kalkulationen, Überredungs- und Gewaltak
te3 , dank derer ein Akteur oder eine Macht die Autorität, für einen ande-
2 1 Das Konzept wurde von Serres (r974) entwickelt und dann von Callon (r976)
auf die Soziologie angewendet.
3 1 Sogar das Opfer bei Girard (r978) stellt nichts anderes als eine erhabene und
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 77
ren Akteur oder eine andere Macht zu sprechen oder zu handeln, an sich
nimmt oder deren Übertragung auf sich veranlasst.4 »Unsere Interessen
sind dieselben«, »Tu, was ich will«, »Du kannst ohne mich keinen Erfolg
haben« - immer wenn ein Akteur von »uns« spricht, übersetzt er oder sie
andere Akteure in einen einzigen Willen, dessen Geist und Sprecher/-in er
oder sie wird. Er oder sie beginnt, für mehrere zu handeln - nicht nur für
eine/-n -, wird damit stärker, wächst. Der soziale Vertrag zeigt in einer
Rechtsterminologie, am Ursprung der Gesellschaft in einer unumstößli
chen Alles-oder-Nichts-Zeremonie, welche Übersetzungsprozesse sich in
empirischer und umkehrbarer Weise, in einer Vielzahl detaillierter, alltäg
licher Verhandlungen offenbaren. Der Vertrag muss nur durch Überset
zungsprozesse ersetzt werden, um den Leviathan zum Wachsen zu brin
gen und damit Hobbes' Lösung ihre Originalität zurückzugeben.
Das Ziel dieses Artikels besteht darin aufzuzeigen, was aus der Soziolo
gie wird, wenn wir Hobbes' zentrale Hypothese beibehalten - vorausge
setzt, wir ersetzen den Vertrag durch ein allgemeines Übersetzungsgesetz.
Wie können wir die Gesellschaft beschreiben, wenn unser Ziel in der Ana
lyse der Konstruktion von Größenunterschieden zwischen Mikro- und
Makro-Akteuren besteht?
Die von uns zur Beschreibung des Leviathans aufgestellten methodolo
gischen Beschränkungen sollten nicht missverstanden werden; unsere
Bemühungen würden ihr Ziel vollständig verfehlen, wenn wir zwischen
»Individuen« und »Institutionen« unterscheiden und dabei annehmen
würden, dass die Erstgenannten in die Sphäre der Psychologie, die Zweiten
in die Wirtschaftsgeschichte fielen.5 Es gibt natürlich Makro- und Mikro
Akteure; die Unterschiede zwischen ihnen werden jedoch durch Machtver
hältnisse und die Konstruktionen von Netzwerken hergestellt, die sich der
Analyse entziehen, wenn wir a priori annehmen, dass Makro-Akteure größer
oder überlegener seien als Mikro-Akteure. Solche Machtverhältnisse und
Übersetzungsprozesse tauchen noch einmal und deutlicher auf, wenn wir
Hobbes in seiner seltsamen Annahme folgen, dass alle Akteure isomorph
grausame Form von Vertrag und ein bestimmter Fall von Übersetzung dar. Es kann
nicht zur Grundlage anderer Formen gemacht werden.
4 1 Der Begriff»Akteur« hat von jetzt an die semiotische Definition von Greimas
(im »Dictionnaire semiotique« r979) als »jede Diskurseinheit, [die] eine Rolle inne
hat«; wie der Begriff »Kraft« ist er keinesfalls nur auf Menschen begrenzt.
5 1 Vgl. die vernichtende Kritik der Psychoanalyse durch Deleuze und Guattari
(r972). Für sie besteht kein Größenunterschied zwischen einem Kindertraum und
dem Reich eines Eroberers oder der Erzählung eines Familienlebens und einer poli
tischen Geschichte. Das Unbewusste ist nicht »individuell«, sodass wir in unseren
innersten Träumen noch innerhalb der gesamtpolitischen Körperschaft agieren und
umgekehrt.
.,
78 1 MICHEL GALLON UNO BRUNO LATOUR
sind.6 Isomorphie bedeutet nicht, dass alle Akteure dieselbe Größe haben,
sondern dass es a priori keinen Weg gibt, die Größe festzulegen, da diese
das Ergebnis eines langen Kampfes darstellt. Die beste Art, diesen Sach
verhalt zu verstehen ist, Akteure als Netzwerke aufzufassen. Zwei Netz
werke können dieselbe Gestalt haben, obwohl das eine nur punktuell auf
tritt, während das andere sich über das ganze Land erstreckt; genau wie der
Souverän einer unter anderen sein und gleichzeitig die Personifizierung
aller anderen darstellen kann. Das Büro des Financiers ist nicht größer als
die Werkstatt des Schusters, genauso wenig wie sein Gehirn, seine Kultur,
das Netzwerk von Freunden oder seine Welt. Der Letztgenannte ist jedoch
>nur< ein Mann, der Erste hingegen ein ,großer Mann<.
Zu häufig wechseln Soziologen - genauso wie Politiker oder der Mann
auf der Straße - ihren Analyserahmen in Abhängigkeit davon, ob sie mit ei
nem Makro- oder einem Mikro-Akteur, dem Leviathan oder einer sozialen
Interaktion, der Kultur oder individuellen Rollen umgehen. Indem sie den
Analyserahmen wechseln, bestätigen sie die Machtverhältnisse, geben sie
dem Gewinner Hilfestellung und dem Verlierer das »vae victis«. Das Prob
lem ist dringlich geworden, da gegenwärtig kein Soziologe Makro- und
Mikro-Akteure mit denselben Werkzeugen und Argumenten untersucht.
Stattdessen nehmen sie die Niveauunterschiede zwischen milao- und mak
ro-sozialer Analyse noch immer als selbstverständlich an, obwohl sie sie in
einer breiten Synthese versöhnen wollen (Duster 1981; Bourdieu 1981).
Es scheint, als hingen Soziologen zu oft einer irrigen Meinung an: Ent
weder glauben sie an die Existenz von Makro-Akteuren und antizipieren
deren Stärke, indem sie ihnen zu einem stärkeren Wachstum verhelfen.7
Oder sie leugnen ihre Existenz, und wenn sie denn einmal existieren, ver
weigern sie uns das Recht, sie zu erforschen.8 Diese beiden alternieren
den, aber symmetrischen Fehler rühren jedoch von derselben Vorannahme
her: in der Akzeptanz der gegebenen Tatsache, dass Akteure von verschie
dener oder gleicher ,Größe< sein können. Sobald wir diese Vorannahme
zurückweisen, werden wir wiederum mit Hobbes Paradoxon konfrontiert:
Kein Akteur ist größer als ein anderer außer durch eine zu untersuchende
Transaktion (Übersetzung). Wenn man Hobbes Paradoxon treu bleibt,
vermeidet man symmetrische Fehler und versteht das Wachstum des Levi
athans, wie wir in diesem Artikel zeigen werden.
6 1 An diesem wie an den meisten Punkten fehlt Hobbes Originalität (vgl. Mac
pherson 1962). Nicht der Marxismus hilft das, was Hobbes' Theorie zugrunde liegt,
zu interpretieren, sondern im Gegenteil: der Letztere kann erklären, was Ersterem
zugrunde liegt.
7 1 Vgl. die Schlussfolgerung dieses Kapitels.
8 1 Bspw. Cicourel (1964) als ein Beispiel für Erfordernisse, die dem Beobachter
die Hände binden. Ethnomethodologen haben seitdem die Beschränkungen dessen,
was man über die Gesellschaft aussagen kann, vermehrt.
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS J 79
Verlassen wir Hobbes' Mythos des Leviathans und wenden uns stattdessen
einem anderen zu: dem unmöglichen Affen-Leviathan oder der Schwierig
keit, Makro-Akteure innerhalb einer in der Wildnis lebenden Pavianherde
aufzubauen.9 Hobbes glaubte, dass Gesellschaft nur unter Menschen ent
steht. ' 0 Man glaubte dies eine relativ lange Zeit, bis man Ansammlungen
von Tieren näher untersuchte und herausfand, dass Theorien über das
Entstehen von Gesellschaften genauso wie auf Menschen auch auf Prima
ten, Ameisen und Hunde zutreffen. Diese >ungeordneten< Herden von
wilden Tieren - fressend, sich paarend, heulend, spielend und miteinander
in einem Durcheinander von Haaren und Fängen kämpfend - deckt sich
ziemlich genau mit dem von Hobbes dargelegten »Naturzustand«. Ohne
Zweifel ist das Leben eines Pavians »einsam, arm, widerwärtig, roh und
kurz« (Hobbes 1978: 186). Dieses Bild totaler Unordnung ermöglichte von
Anfang an die Bildung eines Kontrasts zwischen menschlicher Gesellschaft
und tierischem Wesen, sozialer Ordnung und Chaos. Zumindest hat man
Tiere so gesehen, bis die Menschen tatsächlich damit begannen, sie aus der
Nähe zu erforschen. Als Forscher vor dem Zweiten Weltkrieg und intensi
ver noch seit den 195oer Jahren damit begannen, Paviane zu studieren, gab
jeder von ihnen eine andere Rekonstruktion von Hobbes' Leviathan ab."
Die Paviane lebten nicht länger in ungeordneten Verbänden, sondern in
rigiden Kohorten, in denen die Weibchen und ihre Jungen von dominan-
9 1 Der größte Teil dieses Kapitels wurde von der Arbeit Shirley Strums inspi
riert. Sie ist keinesfalls verantwortlich für die unangenehme Situation, in die wir
ihre Paviane gebracht haben, sondern nur für die neue und revolutionäre Art, in der
sie Tiersoziologe versteht. Zur direkten Referenz vgl. Strum (1975a: 672-791, 1975b:
755-757, 1982). Zur Analyse des Bindeglieds zwischen Primatologie und politischer
Philosophie vgl. Haraway (1978: 21-60).
10 1 Außer Insekten, natürlich, Hobbes (1978: 225).
111 Zwei allgemeinere Darstellungen in Kummer (1973) und Rowell (1972). Zum
historischen Hintergrund vgl. Haraway (1978, 1983).
80 1 MICHEL GALLON UND BRUNO LATOUR
12 1 Dies war bereits sichtbar in Kummer (1968) und sehr klar ausformuliert in
Kummer (1978: 687-707).
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 81
einfach; es stellt sich tatsächlich als nicht weniger schwierig dar als unser
eigenes in ethnomethodologischen Arbeiten enthülltes Leben. Ein Pavian
muss ständig bestimmen, wer wer ist, wer überlegen und wer unterlegen,
wer die Gruppe leitet und wer folgt, wer beiseite treten muss, um ihm den
Weg frei zu machen. Als einzige Orientierungshilfe dienen ihm vage Sets,
deren Logik dazu ausgelegt ist, hunderte von Elementen zu umfassen. Je
des Mal ist es - im Wortlaut der Ethnologen - notwendig, das Register
bzw. die Indexikalität zu reparieren. Wer ruft? Was will er sagen? Keine
Markierungen, keine Kleider, keine klaren Zeichen. Natürlich gibt es viele
Zeichen, Knurren und Hinweise, aber keines von ihnen ist tatsächlich ge
nügend unzweideutig. Nur der Kontext gibt Aufschluss, jedoch kann die
Vereinfachung und Einschätzung des Kontextes ebenfalls Kopfzerbrechen
bereiten. Aus diesem Grund vermitteln uns diese Tiere heute einen so selt
samen Eindruck; im Herzen des Urwalds lebend sollten sie nichts anderes
zu tun haben als zu fressen und sich zu paaren - stattdessen besteht ihre
einzige Sorge darin, ihre Beziehungen zu stabilisieren oder - nach Hobbes
- Körper auf dauerhafte Weise mit anderen Körpern zu verbinden. Im sel
ben Ausmaß wie wir bauen sie eine Gesellschaft auf, die ihre Umgebung,
ihren Schutz, ihre Aufgabe, ihr Spiel und ihre Bestimmung darstellt.
Zur Vereinfachung könnte man sagen, dass es sich bei Pavianen um
»soziale Tiere« handelt. Wie wir wissen, leitet sich das Wort »sozial« von
»socius« ab, das seinerseits mit »sequi«, »folgen«, verwandt ist. Zuerst geht
es also darum zu folgen, dann eine Allianz zu bilden oder sich einer beste
henden anzuschließen, schließlich etwas gemeinsam zu haben, zu teilen.
Einige handeln wie eine Einheit; die soziale Verbindung besteht. Paviane
verhalten sich auf dieselbe Weise sozial wie alle sozialen Tiere: Sie folgen
einander, binden sich gegenseitig in Rollen ein, bilden Allianzen, teilen be
stimmte Verbindungen und Territorien. Sie verhalten sich aber auch inso
fern sozial, als sie ihre Allianzen, Verbindungen und Abgrenzungen nur
durch die uns Menschen von Ethnomethodologen für die Reparatur der
Indexikalität zugeschriebenen Werkzeuge und Prozeduren erhalten und
verstärken können. Sie stabilisieren fortwährend die Verbindungen zwi
schen Körpern, indem sie auf andere Körper einwirken.'3
Aber unter den Pavianen sind es die lebenden Körper alleine, die - wie
Hobbes es fordert - zur gleichen Zeit Form und Materie des Leviathans
bilden. Was aber geschieht, wenn dies so ist? Es gibt keinen Leviathan. Wir
müssen nun die zentrale Frage wie folgt formulieren: Wenn die Paviane
die Forderungen Hobbes erfüllen und uns das Schauspiel einer Gesell
schaft ohne soliden Leviathan oder dauerhafte Makro-Akteure liefern, auf
welche Weise werden dann die soliden, dauerhaften Makro-Akteure kon-
13 1 Dies ist entweder der Fall in der Art der Soziologie Bourdieus, die Kummer
verwendet, um seine Paviane zu beschreiben (1978), oder im soziobiologischen My
thos der Verteidigung von Investitionen.
82 1 MICHEL CALLON UND BRUNO LATOUR
»[S]ein Verschluss ein Siegel von Stein. Eines fügt sich ans andre, kein Lüftchen
drängt sich dazwischen. Ein jedes hängt fest an dem andern; sie schließen zusam
men, lassen sich nicht trennen.« (Hiob 41, 6-8)
Man erhält einen Unterschied in der relativen Größe, wenn ein Mikro-Ak
teur zusätzlich zu den eingegliederten Körpern auch die größte Anzahl
dauerhafter Materialien eingliedern kann. Er oder sie schafft Größe und
Langlebigkeit, die anderen dagegen werden vergleichsweise klein und kurz
lebig. Genau in einem Punkt, den die Analyse oft vernachlässigt, liegt das
Geheimnis des Unterschieds zwischen Mikro- und Makro-Akteuren. Die
Primatologen verschweigen, dass den Pavianen zur Stabilisierung ihrer
Welt keines der menschlichen, von den Beobachtern manipulierten In
strumente zur Verfügung steht; Hobbes verschweigt, dass kein noch so fei
erliches Versprechen den Vertragspartnern genügend Furcht einflößt, um
sie zum Gehorsam zu zwingen. Weiter verschweigt er, dass das, was den
Souverän furchterregend und den Vertrag feierlich macht, lediglich der Pa
last, von dem aus er spricht, die ihn umgebenden, gut ausgerüsteten Ar
meen und die ihm dienenden Schriftgelehrten mit ihren Geräten sind. '5
14 1 In Bezug auf Menschen vgl. Hobbes (1978: 183) und in Bezug auf Paviane vgl.
Strum (1982).
15 1 In seinem »Myth of the Machine« versucht Mumford (1966), verschiedene
Arten von Materialien zu integrieren, wobei ihm allerdings zwei Fehler unterlaufen:
Erstens ist er zu sehr der Maschinenmetapher verhaftet, statt sie aufzulösen; zwei-
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 83
tens nimmt er die Größe der Megamaschine als selbstverständlich an, statt ihrer
Genealogie nachzugehen. Dasselbe gilt für Leroi-Gourhan (1964): Obwohl er sich
bemüht, die Grenzen zwischen Technik und Kultur zu verwischen, favorisiert er
dennoch eine Art von Trennung und Determinismus.
84 1 MICHEL CALLON UND BRUNO LATOUR
Falls der Ausdruck »Black Box« zu starr erscheint, um die Kräfte zu be
schreiben, die die Stapel von Boxen verschließen, hermetisch versiegeln
und undurchsichtig machen, bietet sich eine andere Metapher an, die
Hobbes verwendet haben könnte, hätte er Waddington (1977) gelesen. In
den ersten Augenblicken der Befruchtung sind alle Zellen gleich, jedoch
sehr schnell bildet sich eine epigenetische Landschaft heraus, aus der be
stimmte, zur Irreversibilität neigende Routen herausgeschnitten werden.
Diese werden als »Chreoden« bezeichnet. Dann beginnt die zellulare Diffe
renzierung. Ob wir nun von Black Boxes oder Chreoden sprechen, immer
beziehen wir uns auf die Erschaffung von Asymmetrien. Stellen wir uns
nun einen Körper vor, in dem Differenzierung niemals vollständig irrever
sibel zu machen ist, in dem jede Zelle versucht, die anderen in eine irre
versible Spezialisierung zu zwingen und viele Organe permanent für sich
beanspruchen, der Kopf des Programms zu sein. Wenn wir uns ein solches
Monstrum vorstellen, haben wir damit schon ein ziemlich deutliches Bild
des vor unseren Augen wachsenden Körpers des Leviathans.
Das Paradoxon, mit dem wir die Einleitung beendet haben, ist nun auf
gelöst. Obwohl alle Akteure isomorph sind, enden wir mit Akteuren ver
schiedener Größe, weil einige von ihnen dauerhaft mehr Elemente in Black
Boxes deponieren und damit ihre relative Größe verändern konnten. Die
Frage der Methode ist ebenfalls gelöst. Wie können wir Makro- und Mikro
Akteure untersuchen - so fragten wir uns-, ohne Größenunterschiede zu
bestätigen? Antwort: Indem wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf das So
ziale, sondern auf die Prozesse lenkten, durch die ein Akteur dauerhafte
Asymmetrien schafft. Es braucht uns dabei nicht weiter zu interessieren,
dass unter diesen Prozessen einige zu Verbindungen führen, die man >So
zial<- also Verbindungen von Körpern- und andere, die man >technisch<
- Verbindungen von Materialien - nennen könnte. Einzig die Unterschie
de zwischen den in Black Boxes deponierten Elementen und jenen, die für
zukünftige Verhandlungen offen zur Verfügung stehen, sind relevant für
unsere weitere Betrachtung.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es sich bei Makro-Akteu
ren um Mikro-Akteure handelt, die über vielen (undichten) Black Boxes
platziert sind. Sie sind weder größer noch komplexer als Mikro-Akteure; im
Gegenteil verfügen sie über dieselbe Größe und sind tatsächlich einfacher
als Mikro-Akteure, wie wir sehen werden. Wir können nun betrachten, wie
der Leviathan struktu�iert ist, weil wir wissen, dass wir uns nicht von der
relativen Größe der Meister beeindrucken oder von der Dunkelheit der
Black Boxes erschrecken lassen müssen.
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 85
Nehmen wir den Fall der »Electricite de France« (EDF), die in den frühen
197oer Jahren darum kämpfte, ein Elektrofahrzeug auf den Marlct zu brin
gen. Mit dem Ziel, das ideale Elektrofahrzeug zu entwickeln, wagt die EDF
sich auf ein ihr völlig neues Terrain; sie vollzieht das, indem sie die Totali
tät einer Welt neu definiert, aus der sie das, was natürlich ist, und das, was
technisch ist, ausschneidet. Die EDF platziert die Entwicklung industrieller
Gesellschaften als Ganzes in einer Black Box und bindet sie zum eigenen
Vorteil in eine Rolle ein. Den Ideologen dieses öffentlichen Unternehmens
zufolge ist der totale Konsum der Nachkriegsjahre dem Untergang ge
weiht; deshalb muss die Richtung zukünftiger Produktion das Glück des
Menschen und seine Lebensqualität mit in Betracht ziehen. Diese Sicht
unserer zukünftigen Gesellschaft vor Augen schlussfolgern die Ideologen,
dass die benzinbetriebenen Autos - die am besten den Erfolg und die
Sackgassen des Wachstums um seiner selbst willen symbolisieren - nun
ebenfalls dem Untergang geweiht seien. Die EDF schlägt vor, den Schluss
aus dieser »unausweichlichen« sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung
zu ziehen und den internen Verbrennungsmotor nach und nach durch ein
Elektrofahrzeug zu ersetzen.
Nachdem auf diese Weise die soziale Entwicklung definiert wurde, be
stimmt die EDF weiter die Entwicklung der Technik, die dabei sorgfältig
von der der sozialen Welt getrennt wird: eine neue unanfechtbare und un
ausweichliche Black Box. Die EDF beschließt, das Problem des VEL (das
elektrische Fahrzeug) als ein Generatorenprobelm zu betrachten. Nachdem
diese Prämissen einmal festgelegt worden sind, bezeichnet die EDF ver
schiedene Wahlmöglichkeiten - die sie evokativ »Kanäle« nennt. Eine Rei
he von Prozeduren, von Laboratorien, Industriellen und - am wichtigsten -
eine Chronologie sind immer unausweichlich mit jedem Kanal verbunden.
Vorausgesetzt, dass die Blei-Akkumulatoren zufrieden stellend von dieser
oder jener Firma entwickelt werden, können sie bis 1982 Verwendung fin
den; 1982-90 werden dann die Jahre der Zink-Nickel-Akkumulatoren und
der Zink-Luft-Zirkulationsgeneratoren sein; von 1990 an stehen Brenn
stoffzellen zum Gebrauch bereit. Diese Folge von Entscheidungen setzt
sich aus verstreuten, verschiedenen Kontexten entnommenen Elementen
zusammen - herausgefiltert von EDFs Ingenieuren, Führungskräften und
Ideologen, wo immer sie auffindbar waren. Aus diesen verstreuten Teilen
erschafft die EDF ein Netzwerk von Kanälen und regulierten Sequenzen.
Mit der Herstellung paralleler Verbindungen zwischen den übergrei
fenden sozialen und technischen Kanälen gibt sich die EDF aber nicht zu
frieden; sie beginnt, die Produkte, die die Industriellen produzieren möch
ten, und die Bedürfnisse, die die Kunden und Konsumenten spüren, in ei
ne einfache Sprache zu übersetzen. EDF sieht einen riesigen Markt für
Blei-Akkumulatoren - jene für leichte kommerzielle Fahrzeuge - voraus;
Zink-Akkumulatoren werden mit Sicherheit für den Einsatz in elektrischen
Taxis bevorzugt, während Brennstoffzellen mit Sicherheit den privaten Au
tomarkt in seiner Gesamtheit erobern.
Innerhalb einer Spanne von einigen wenigen Jahren beginnt die EDF
durch das Organisieren der Kanäle, Zweigstellen und Entwicklungen, die
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS j 87
teure isomorph sind und ihn jene, die er in Rollen einbindet, auch wieder
verlassen können. Die Rolle eines Akteurs erfuhr z.B. im Rahmen der groß
angelegten Verbindung der Notwendigkeiten eine Neudefinierung durch
die EDF. »Renault«, die zu jener Zeit benzinbetriebene Autos produzier
ten, schienen einer glänzenden Zukunft entgegenzusehen und den indus
triellen Fortschritt in Frankreich zu symbolisieren. Die EDF veränderte
ihre Bestimmung und nahm ihnen damit die Zukunft. Jetzt symbolisiert
»Renault« durch die Verstopfung der Städte, die Umweltverschmutzung
und die Zukunft der industriellen Gesellschaft die dem Untergang geweih
ten Industrien und ist -wie die anderen -gezwungen, Änderungen in ih
rer geplanten Produktion vorzunehmen: »Renault« möchte nun die Fahr
gestelle für die von der EDF geplanten elektrischen Fahrzeuge bauen. Die
se bescheidene Rolle liegt der Firma und entspricht dem, was sie unbe
dingt will. Also passt sich »Renault« wie das restliche Frankreich dem Wil
len der EDF an und bewegt sich mit ihr in Richtung auf eine vollkommen
elektrische Zukunft.
Bis jetzt haben wir noch nicht erläutert, ob es sich dabei für die EDF
um eine Traumkonstruktion ihrer Ingenieure oder um die Realität handelt.
Tatsächlich ist diese Unterscheidung nicht a priori zu fällen, da es sich da
bei um die Basis des Kampfes zwischen den Alcteuren handelt. Das Elek
trofahrzeug ist >real<. Die Akteure, denen die EDF sich genähert hat und
die sie dazu mobilisieren konnte, die Rolle der -von EDF für sie entworfe
nen -soliden Grundlage zu übernehmen, bleiben bei den von dem öffent
lichen Unternehmen festgelegten Niveau-Unterschieden. Nun geschieht
jedoch etwas, das uns dabei helfen wird zu verstehen, was wir bereits seit
dem Anfang des Kapitels zu erklären suchten: wie relative Dimensionen
verändert werden.
In einigen Jahren wird »Renault« als autonomer Akteur verschwunden
sein. Zusammen mit dem Benzinmotor ist das Unternehmen dem Unter
gang geweiht und hat keine andere Wahl, als seine Aktivitäten neu auszu
richten -es sei denn, die von der EDF vor und um sich projizierte Land
schaft kann umgeformt werden. Aber ist das möglich? Innerhalb der ersten
Jahre erweist sich »Renault« als unfähig, sich gegen EDFs Vorhersagen zu
behaupten; alle stimmen darin überein, dass das Privatauto keine Zukunft
hat.
Wie kann man diese Black Box öffnen? Nach übereinstimmender An
sicht aller Soziologen wird niemand mehr ein Privatauto haben wollen.
Wie ist diese Situation umkehrbar? Wer kann technische Ignoranz im Sze
nario eines Betriebs, der das Produktions- und Vertriebsmonopol für Elek
trizität besitzt, entlarven? Unter diesen Umständen scheint die einzige
Möglichkeit im Scheitern »Renaults« zu bestehen, sodass einzig die best
mögliche Anpassung an die neue Landschaft - ohne benzinbetriebene
Fahrzeuge -übrig bleibt. »Renault« zeigt jedoch kein Interesse am Ver
schwinden, sondern möchte autonom und ungeteilt bleiben und selbst
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS j 89
über die soziale und technische Zukunft der industriellen Welt entschei
den. Was die EDF so fest verbunden hat, würde »Renault« liebend gern
trennen. Deshalb beginnt »Renault«, das Gefüge zu unterminieren, die
Wände zu untersuchen, verlorenen Grund zu ersetzen, Verbündete zu su
chen. Wie kann »Renault« eine Vision, die - bei unvorsichtigem Vorgehen
- morgen bereits Wirklichkeit ist, ins Reich der Fiktion verbannen? Wie
kann es die EDF dazu zwingen, ihren Entwurf nicht in die Praxis umzuset
zen?
Die EDF prophezeite, dass niemand mehr ein benzinbetriebenes Auto
haben wolle; dennoch wächst die Nachfrage nach solchen Fahrzeugen trotz
steigender Benzinpreise dauerhaft an. Diese beiden von der EDF in einer
starken Interaktion verbundenen Elemente erweisen sich in der Praxis als
trennbar. Die Ölpreise können gleichzeitig mit der Nachfrage nach Autos,
gleichzeitig mit dem Kampf gegen Umweltverschmutzung und mit der
Verstopfung der Städte ansteigen. »Renaults« Hoffnung steigt wieder - es
beginnt die Wünsche der Verbraucher auf andere Weise zu übersetzen:
Jetzt wollen sie um jeden Preis das traditionelle Privatauto. Als Ergebnis
ändert sich die Zukunft ein weiteres Mal: Dem elektrischen Auto fehlt jeg
licher natürliche Marlct. Dies spricht sich herum. Die Naturgesetze in der
Lesart des EDF-Leviathans sind nicht dieselben wie die durch »Renault«
interpretierten. Seiner Natur folgend verlangt der Verbraucher in Hinsicht
auf Geschwindigkeit, Komfort und Beschleunigung eine Leistung, die das
elektrische Auto niemals erbringen kann. Eine von EDFs Prämissen ist
damit bereits hinfällig, ein Niveau-Unterschied eingeebnet oder aufgefüllt,
eine der Black Boxes geöffnet und entweiht. »Renault« wird kühner. Wenn
EDFs Interpretation der sozialen Entwicklung aus dem Gleis geworfen
werden kann, vielleicht trifft das auch für ihr Wissen über Elelctrochemie
zu? Vielleicht könnten die technischen Anforderungen ebenfalls geändert
werden?
Damit macht sich »Renault« an die langwierige Aufgabe, die von der
EDF geknüpften Verbindungen aufzulösen. Jede Interaktion wird getestet,
jede Kalkulation überprüft, jede Black Box geöffnet; Ingenieure werden
noch einmal befragt, Laboratorien erneut besucht, Berichte noch einmal
geprüft, der Stand der Elektrochemie in Frage gestellt. Die EDF hatte be
schlossen, bestimmte Informationen zu vereinfachen und eine Vielzahl
von Zahlen, die »Renault« nun als widersprüchlich betrachtet, einzubezie
hen. Als Folge wird die Chronologie gestört. Während die EDF den inter
nen Verbrennungsmotor als Sackgasse betrachtete, entdeckt »Renault«
nun, dass er durch den Einsatz bestimmter Elelctronik so weit perfektio
niert werden kann, um für Jahrzehnte unschlagbar zu sein. Umgekehrt
hatte die EDF bestimmte, auf Zink-Aldcumulatoren weisende Kanäle er
wähnt. »Renault« macht noch einmal eine neue Rechnung auf: bewertet
die Schätzungen, holt eine andere Expertenmeinung ein und legt den Zink
Akkumulator technisch so gründlich zu den Akten, das er bestenfalls für
90 1 MICHEL GALLON UND BRUNO LATOUR
den Einsatz in einigen Kipplastern zu gebrauchen ist und auch das nur
sehr viel später als von der EDF veranschlagt. In vergleichbarer Weise stell
te der von der EDF als Brennstoffzelle bezeichnete »Kanal« für »Renault«
eine Sackgasse dar. Statt die Chreode darzustellen, durch die der Wille der
Ingenieure floss, verkam sie zu einem bloßen Rinnsal. Das Nachsehen hat
ten die Laboratorien, die die falsche technische Revolution unterstützt und
all ihre Hoffnungen auf die Erforschung der Katalyse gesetzt hatten. Wie
die Flüsse in China, die manchmal ihren Verlauf ändern, änderten Anfor
derungen und technische Kanäle ihre Richtungen. Die Industriegesell
schaft bewegte sich in Richtung auf eine vollkommen elektrische Zukunft,
setzte aber dann ihren majestätischen Verlauf in Richtung auf ein Privat
auto mit verbessertem Verbrennungsmotor fort. Als sich »Renault« ver
größerte, sah ihre Zukunft bedeutend rosiger aus als jemals vor dieser
Konfrontation, während die EDF im Verhältnis dazu schrumpfte. Statt das
Transportwesen zu bestimmen und »Renault« auf die Rolle eines Unterge
benen zu reduzieren, musste die EDF sich aus dem Feld zurück- und ihre
Truppen abziehen und die Welt, die sie aus dem Traum eines Ingenieurs
bauen wollte, transformieren.
tens für eine Weile - tatsächlich Gewinner und Verlierer. Das einzige Inte
resse unserer Methode liegt darin, diese Variationen messen und die Ge
winner benennen zu können. Deshalb betonen wir, dass sie alle in dersel
ben Weise betrachtet und unter Verwendung ähnlicher Konzepte behan
delt werden müssen. Welche Konzepte befähigen uns nun, den Akteuren
in allen ihren Verbindungen und Trennungen zu folgen, ihre Siege und
Niederlagen zu erklären, jedoch ohne dass wir an alle Arten von Erforder
nissen, die sie beanspruchen, glauben? Wie wir gesehen haben wird jeder
Akteur in dem Ausmaß stärker, in dem er oder sie eine große Anzahl von
Elementen fest an sich binden - und natürlich wie schnell er mögliche
Elemente aus der Rollenbindung anderer Akteure lösen - kann. Stärke
liegt demzufolge in der Macht, Bindungen zu trennen oder herzustellen
(Hobbes 1978: 150). Allgemeiner ausgedrückt bedeutet das: Stärke beinhal
tet Intervention, Unterbrechung, Interpretation und Interesse, wie Serres
(1980) überzeugend dargelegt hat. Ein Akteur ist also insofern stark, als er
zur Intervention fähig ist. Was bedeutet Intervention? Kehren wir zum Le
viathan zurück: Du willst Frieden - ich auch; damit wir uns vertragen, ge
hen wir miteinander einen Vertrag ein. Bei den Pavianen äußert sich das
folgendermaßen: Sara frisst eine Nuss; Beth erscheint, verdrängt sie,
nimmt ihren Platz und ihre Nuss. Zurück zur EDF: Ein Labor untersucht
die Brennstoffzelle. Die Ingenieure werden befragt, ihre Kenntnisse verein
facht und mit »in 15 Jahren werden wir über eine Brennstoffzelle verfügen«
zusammengefasst. Noch einmal der Leviathan: Wir sind einen Vertrag ein
gegangen, aber eine dritte Partei ist erschienen, die nichts respektiert und
uns beide bestielt. Noch einmal die Paviane: Sara jault auf, was ihren treu
en Freund Brian auf den Plan ruft, der nun in eine Rolle eingebunden
wird, sich Beth nähert und sie verdrängt. Die Nuss fällt auf den Boden und
Brian nimmt sie. Noch einmal die EDF: Die Ingenieure von »Renault« le
sen die Literatur noch einmal und ändern ihre Schlussfolgerungen: »Es
wird in 15 Jahren keine Brennstoffzelle geben.« All das gehört noch zum
»Krieg aller gegen alle«. Wer wird am Ende als Sieger hervorgehen? Detjeni
ge, der durch irreversible Bindung die größte Anzahl von Elementen asso
ziieren und damit einen besonderen Zustand von Machtbeziehungen stabi
lisieren kann. Was bedeutet in diesem Zusammenhang »assoziieren«? Wir
kehren noch einmal zum Leviathan zurück. Zwei Akteure können nur
dann untrennbar sein, wenn sie einen einzigen ergeben; dazu müssen ihre
Willen äquivalent sein. Der oder diejenige, der oder die die Äquivalenz er
hält, bewahrt das Geheimnis der Macht. Durch das Zusammenspiel von
Äquivalenzen können bislang verstreute Elemente in ein Ganzes integriert
werden und dazu beitragen, andere Elemente zu stabilisieren.
92 1 MICHEL GALLON UND BRUNO LATOUR
»Die Kunst geht noch weiter, indem sie auch jenes vernünftige, hervorragendste
Werk der Natur nachahmt, den Menschen. Denn durch Kunst wird jener große
Leviathan geschaffen, genannt Gemeinwesen oder Staat, auf lateinisch civitas, der
nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch, wenn auch von größerer Gestaltung
und Stärke als der natürliche, zu dessen Schutz und Verteidigung er ersonnen
wurde. Die Souveränität stellt darin eine künstliche Seele dar, die dem ganzen Körper
Leben und Bewegung gibt, die Beamten und anderen Bediensteten der Jurisdiktion
und Exekutive künstliche Gelenke[...].« (Hobbes 1978: 18; 1966: 5)
Der Leviathan ist ein Körper, der selbst nach dem Bild einer Maschine
entworfen wurde. Es gibt ein einziges Strukturprinzip - den Plan eines In
genieurs - und eine homogene, das Ganze ordnende Metapher, die des
Automaten. Der reale Leviathan ist bei weitem monströser. Ist er eine Ma
schine? Ja, aber was wäre eine Maschine ohne denjenigen, der sie bedient?
Nicht mehr als eine unnütze Menge Eisen. Deshalb hat die Metapher des
Automaten keine Gültigkeit. Wenn die Maschine sich bewegen, sich selbst
erbauen und selbst reparieren kann, muss sie ein lebendiges Wesen sein.
Werfen wir kurz einen Blick auf die Biologie. Was ist ein Körper? Wiede
rum eine Maschine, von der es allerdings unterschiedliche Arten gibt:
thermale, hydraulische, kybernetische, Daten verarbeitende - bei denen
ebenfalls der Bediener fehlt. Sollen wir schließen, dass es sich um eine
Reihe chemischer Austauschvorgänge und physikalischer Interaktionen
handelt? Können wir es mit einem Marktinteresse oder einem Austausch
system vergleichen? Womit wäre es im wirtschaftlichen Bereich vergleich
bar? Wiederum mit chemischen Interaktionen - diese wiederum mit ei
nem Feld sich bekämpfender Kräfte. Der Leviathan stellt ein solches Mons
trum dar, dass sein Wesenskern nicht in einer der üblicherweise verwende
ten großartigen Metaphern stabilisiert werden kann. Er ist gleichzeitig Ma
schine, Markt, Code, Körper und Krieg. Manchmal werden Kräfte wie in
einer Maschine übertragen, ein anderes Mal werden Bedienungsdiagram
me auf dieselbe Weise wie kybernetische Feedbacks eingesetzt. Manchmal
existiert ein Vertrag, manchmal automatische Übersetzung. Niemals kann
jedoch die gesamte Menge von Elementen mit nur einer dieser Metaphern
beschrieben werden. Wie im Fall der aristotelischen Kategorien springen
wir von einer Metapher zu einer anderen, wenn wir die Bedeutung einer
von ihnen festzulegen versuchen.
Der Leviathan ist jedoch auch noch auf andere Weise monströs. Wie
wir gesehen haben, gibt es nicht nur einen Leviathan, sondern viele, wie
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 93
Chimären ineinander verschränkte, wobei jeder von ihnen für sich bean
sprucht, die Realität aller, das Gesamtprogramm, zu repräsentieren. Unter
Umständen gelingt es einem von ihnen, die anderen so schrecldich zu ver
zerren, dass er für eine Weile tatsächlich die einzige Seele in diesem künst
lichen Körper zu sein scheint. Der Leviathan ist jedoch auch deshalb mons
trös, weil Hobbes ihn lediglich aus Verträgen und idealen, vermutlich nack
ten, menschlichen Körpern aufbaute. Da die Akteure Erfolg haben, indem
sie sich mit anderen Elementen als menschlichen Körpern verbinden kön
nen, ist das Ergebnis erschreckend: Stahlplatten, Paläste, Rituale und ver
härtete Gewohnheiten fließen auf der Oberfläche einer zähflüssigen, Gela
tine ähnlichen Masse, die gleichzeitig wie der Mechanismus einer Maschi
ne, der Austausch eines Marktes und das Rattern eines Fernschreibers
funktioniert. Manchmal werden ganze Elemente von Fabrik- oder techni
schen Systemen durch niemals zuvor aktive Kräfte wieder abgetrennt und
zergliedert. Im Gegenzug produzieren diese Kräfte den groben Umriss ei
ner Chimäre, den andere wiederum schnellstmöglich zergliedern. Weder
Hiob auf seinem Misthaufen noch die Teratologen in ihren Labors haben
jemals furchtbarere Monster beobachtet.
Es ist unmöglich, von diesem primordialen Kampf, der jegliches von
politischer Philosophie, Geschichte und Soziologie als unbestreitbar be
trachtetes Rahmenwerk zur Beschreibung umfasst, nicht in Angst und
Schrecken versetzt zu sein. Genauso unmöglich ist es, sich von der Flut der
Ansprachen der Leviathane über sich selbst nicht erschrecken zu lassen.
An manchen Tagen und mit einigen Personen gestatten sie sich selbst,
sich vermessen oder abbauen zu lassen (abhängig davon, ob sie an diesem
Tag ein Körper oder eine Maschine zu sein beschließen), an anderen stel
len sie sich tot oder geben vor, eine Ruine (Metapher eines Gebäudes) oder
eine Leiche (biologische Metapher) zu sein - oder aber ein großer, aus ei
nem Museum für Industriearchäologie stammender Eisenhaufen. Zu an
deren Zeiten gefallen sie sich darin, unergründlich zu sein und sich selbst
Monstrosität und Unnahbarkeit zuzugestehen, um sich im nächsten Au
genblick - abhängig von ihrem Publikum - auf einer Couch auszustrecken
und ihre geheimsten Gedanken zu flüstern oder im Schatten eines Beicht
stuhls zu kauern, ihre Fehler zu bekennen und ihre Größe oder Kleinheit,
Härte oder Weichheit, dass sie alt oder jung sind zu bereuen. Wir können
noch nicht einmal feststellen, dass sie sich in einem fortwährenden Zu
stand der Metamorphose befinden, da sie sich nur fleckenweise verändern
und ihre Größe nur langsam variieren, beschwert und belastet mit den
enormen technischen Einrichtungen, die sie ausgesondert haben, um zu
wachsen und um genau diese Kraft der Metamorphose einzuschränken.
Diese Leviathane ähneln eher einer endlosen Baustelle in irgendeiner
großen Metropole; es gibt jedoch keinen sie überwachenden verantwortli
chen Architekten, keinen Entwurf - noch nicht einmal einen ansatzweise
durchdachten. Jedes Rathaus und jeder Werber, jeder König und jeder Vi-
94 \ MICHEL GALLON UND BRUNO LATOUR
sionär beansprucht aber, den alles umfassenden Plan zu besitzen und die
Bedeutung der Erzählung zu kennen. Ganze Bezirke werden danach ausge
legt. Es werden Straßen auf der Basis dieses Gesamtplans eröffnet, den an
dere Kämpfe oder andere Willensäußerungen bald auf den egoistischen
und spezifischen Ausdruck einer Periode (oder eines Individuums) zu
rückstufen. Fortwährend- aber nicht überall gleichzeitig- werden Straßen
eröffnet, Häuser dem Erdboden gleich gemacht, Wasserverläufe zuge
schüttet. Zuvor veraltet oder sogar gefährlich erschienene Bezirke werden
neu belebt; moderne Gebäude kommen aus der Mode und werden zerstört.
Wir kämpfen um das, was unser Erbe ausmacht, um Transportmethoden
und zu befolgende Abläufe. Verbraucher sterben und werden von anderen
ersetzt, Schaltkreise erzwingen ihre Anerkennung graduell, indem sie In
formationen durch ihre Drähte laufen lassen. Hier und dort zieht sich ei
ner zurück und akzeptiert das von anderen bestimmte Schicksal; andere
entschließen sich dazu, sich selbst fortan als individuellen Akteur zu defi
nieren, der nichts weiter ändern wird als die Aufteilung der Wohnung oder
die Schlafzimmertapete. Zu anderen Zeiten verbinden sich Akteure, die
sich zuvor immer als Mikro-Akteure definierten- und auch von anderen
so definiert wurden-, miteinander, um einen bedrohten Bereich herum,
marschieren zum Rathaus und binden regimekritische Architekten in Rol
len ein. Durch diese Aktion erreichen sie, dass eine Umgehungsstraße
umgeleitet oder ein von einem Makro-Akteur erbauter Turm abgerissen
wird. Oder wie im Beispiel der berühmten »Trou des Halles« im Zentrum
von Paris bringen sie zusätzlich zu den hunderten, von der Pariser Regie
rung bereits erwogenen Projekten noch einmal 600 alternative vor. Wie im
französischen Kindervers wächst ein kleiner Akteur zu einem Makro-Ak
teur an: »Die Katze wirft den Topf um, der Topf den Tisch, der Tisch das
Zimmer, das Zimmer das Haus, das Haus die Straße, die Straße ganz Pa
ris: Paris, Paris ist gefallen!« Es ist unmöglich zu wissen, wer groß und wer
klein, wer hart, wer weich, heiß oder kalt ist; der Effekt dieser sich plötzlich
bewegenden Zungen und ohne Vorwarnung zuschnappenden Black Boxes
formt eine Stadt, unzählige Leviathane mit der Schönheit der Bestie oder
den Kreisen der Hölle.
Hobbes' Leviathan ähnelt im Vergleich zu dem hier beschriebenen tat
sächlich eher einem Paradies. Im Fall der Paviane entspricht er dem
Traum einer unverfälschten Gesellschaft inmitten der noch wilden Schön
heit der Savanne. Das Monstrum, das wir sind, wir bewohnen und wir
entwerfen, singt ein anderes Lied. Wenn Weber und seine intellektuellen
Nachfolger feststellten, das Monster sei »entmythologisiert«, lag dies in
ihrer Einschüchterung durch Techniken und Makro-Akteure begründet,
wie wir jetzt aufzeigen werden.
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 95
Wir haben uns die Erschaffung des politischen Leviathans auf der Basis
von Verträgen, des Affen-Leviathan und schließlich der Konstruktion des
Monster-Leviathans vergegenwärtigt. Nun wenden wir uns dem Aufbau
des soziologischen Leviathans zu. Als Prinzip können wir bereits formulie
ren, dass Leviathane wie Soziologien und umgekehrt Soziologien wie Levia
thane gebildet sind.
Was machen Soziologen eigentlich? Einige behaupten, es existiere ein
Sozialsystem. Diese Interpretation des Sozialen schreibt den Überset
zungsprozessen jedoch eine ihnen fehlende Kohärenz zu. Die Existenz ei
nes Systems festzustellen bedeutet, einen Akteur wachsen zu lassen, in
dem die Kräfte, die er >systematisiert< oder >vereint,, entwaffnet werden.
Die Arithmetik des Leviathans ist-wie gesehen -eine ganz besondere: Je
des System, jede Gesamtheit wird den anderen ohne Einschränkung hin
zugefügt, wodurch das hybride, tausendköpfige, aus 1000 Systemen beste-
96 1 MICHEL CALLON UND BRUNO LATOUR
Wie wir festgestellt haben, ist ein Makro-Akteur ein über vielen Black Bo
xes platzierter Mikro-Akteur und damit eine Kraft, die so viele andere Kräf
te vereinigen kann, dass sie »wie eine« agieren. Als Resultat ist es per defi
nitionem nicht schwerer, einen Makro-Akteur als einen Mikro-Akteur zu
untersuchen. Nur wer lang anhaltende Kräfte an sich bindet und damit die
Existenz vereinfacht, kann auch wachsen. Also ist ein Makro-Akteur min
destens so simpel wie ein Mikro-Akteur, weil er ansonsten nicht größer hätte
werden können. Wir rücken keineswegs näher an die soziale Realität, indem
wir uns zu Mikro-Verhandlungen herunterbeugen oder zu Maluo-Akteu
ren aufsteigen. Stattdessen müssen wir die vorgefassten Meinungen, die
uns glauben lassen, Makro-Akteure seien komplizierter als Mikro-Akteure,
hinter uns lassen. Wie das Beispiel der Paviane zeigte, kann auch das Ge
genteil zutreffen: Ein Makro-Akteur kann nur dann wachsen, wenn er sich
vereinfacht. Indem er seine Existenz simplifiziert, vereinfacht er auch die
Arbeit des Soziologen - es gestaltet sich nicht schwieriger, Panzer nach
Kabul zu schicken, als die Nummer 999 zu wählen oder komplizierter,
»Renault« zu beschreiben als die Sekretärin, die im Polizeirevier Houston
die Telefongespräche annimmt. Wäre es schwieriger, würden sich die Pan
zer nicht bewegen und »Renault« nicht existieren; es gäbe keine Makro-Ak
teure. Indem die Soziologen behaupten, dass Makro-Akteure komplexer als
Mikro-Akteure sind, verhindern sie die Analyse und machen die Forscher
handlungsunfähig. Gleichzeitig bewahren sie das Geheimnis des Wachs
tums des Makro-Akteurs vor der Enthüllung -nämlich jenes, Operationen
kinderleicht zu gestalten. Der König ist nicht nur nackt; er ist in Wirklich
keit auch noch ein Kind, das mit (undichten) Black Boxes spielt.
Die andere, zu oft von Soziologen geteilte vorgefasste Meinung ist die,
dass individuelle Mikro-Verhandlungen wahrer und realer seien als die
abstrakten, distanzierten Strukturen der Makro-Akteure. Wiederum könnte
nichts der Wahrheit ferner sein, denn nahezu jede Ressource wird in der
großen Aufgabe der Strukturierung von Makro-Al<teuren eingesetzt. Nur
ein kleiner Rest bleibt für die Individuen übrig. Was Soziologen so voreilig
untersuchen, ist das geschwundene, anämische Wesen, das mit aller Macht
die ihm verbliebene, schrumpfende Haut zu retten versucht. In einer be
reits durch Makro-Akteure strukturierten Welt kann nichts erbärmlicher
und abstrakter wirken als individuelle Interaktion. Die Träumer, die Mak
ro-Akteure auf der Basis des Individuellen restrukturieren wollen, werden
damit lediglich einen noch monströseren Körper erreichen, da sie alle fes
ten Teile, die dem Makro-Akteur die Simplifizierung der Existenz und Ein
nahme des gesamten Raumes ermöglicht hatten, weglassen müssen.
Was ist denn überhaupt ein Soziologe? Wie das Wort »sozial« bereits nahe
legt, handelt es sich dabei um jemanden, der Verbindungen und Trennun
gen untersucht. Dabei muss es sich nicht zwangsläufig nur um Beziehun
gen zwischen Menschen handeln, denn schon seit langem werden Verbin
dungen zwischen Menschen durch den Einsatz anderer Verbündeter -wie
Wörter, Rituale, Eisen, Holz, Samenkörner und Regen - ausgedehnt und
erweitert. Soziologen untersuchen alle Verbindungen, jedoch im Besonde-
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 99
Literatur
BRUNO LA.TOUR
untersuchen. Wenn wir uns mit diesen Fragen befassen, wird es mit unse
rer eigenen Terminologie geschehen.
In diesem Beitrag möchte ich eine einfache Vorgehensweise vorschla
gen, d.h. mit der während Laboratoriumsfeldstudien entwickelten Metho
dologie vorzugehen, sie aber nicht auf das Laboratorium selbst, sondern
auf die Konstruktion des Laboratoriums und seine Position im sozialen
Milieu zu fokussieren. Ich hoffe, den Leser davon zu überzeugen, dass
Laboratorien genau deswegen gebaut worden sind, um den wirklichen
Unterschied zwischen dem »Innerhalb« und dem »Außerhalb« sowie den
Unterschied im Maßstab zwischen »Mikro«- und »Makro«-Ebenen zu
destabilisieren oder aufzuheben. Damit können wir, ohne die anlässlich
der Untersuchungen der Laboratoriumsverfahren gemachten Entdeckun
gen zu verschweigen, das so genannte »Makro«-Problem viel klarer als
vorher neu bewerten und vielleicht sogar etwas Licht auf die wirkliche
Konstruktion von Makro-Akteuren selbst werfen. Ich bitte die Leser einfach
(wenigstens beim Lesen dieses Artikels), für eine bestimmte Zeit ihren
Glauben an irgendeinen realen Unterschied zwischen Mikro- und Makro
Akteuren beiseite zu legen (Callon/Latour 1981).
Zur Illustration meiner Behauptung will ich ein Beispiel aus einer neueren
Untersuchung aus der Wissenschaftsgeschichte anführen (Latour 198ra).
Wir sind im Jahr 1881, die populäre und wissenschaftliche französische
Presse ist voll von Artikeln über die Arbeit, die in einem bestimmten Labo
ratorium geleistet wurde, nämlich in demjenigen von Herrn Pasteur an der
Ecole Normale Superieure. Tag für Tag, Woche für Woche, fokussierten
Journalisten, Wissenschaftlerkollegen, Physiker und Hygieniker ihre Auf
merksamkeit auf das, was mit nur wenigen Kolonien von Mikroben in
verschiedenen Medien, unter dem Mikroskop, innerhalb inokulierter Tiere,
in den Händen weniger Wissenschaftler geschieht. Allein die Existenz
dieses enormen Interesses zeigt die Irrelevanz einer zu scharfen Unter
scheidung zwischen dem »Innerhalb« und dem »Außerhalb« von Pasteurs
Laboratorium. Relevant ist der enge Kontakt, der zwischen den vielen,
normalerweise am Geschehen innerhalb von Laboratoriumsmauern unin
teressierten Gruppen und den in der Regel von solcher Aufmerksamkeit
und Leidenschaft isolierten und geschützten Laboratorien hergestellt
wurde. Offenbar geschieht in diesen Petrischalen etwas, das für die Projek
te dieser vielen Gruppen, die in den Zeitungen ihr Interesse bekunden,
direkt wesentlich zu sein scheint.
Dieses Interesse von Außenseitern an Laborexperimenten ist kein
gegebener Palet: Es ist das Resultat der Bemühungen Pasteurs, diese einzu-
,.
106 1 BRUNO LATOUR
mernde Felder sogar noch nach vielen Jahren plötzlich infektiös werden
können. Die »Sporenphase« ist die Laboratoriumsübersetzung des >>infi
zierten Feldes« in der Sprache des Bauers. Die Pasteurianer beginnen,
diese Sprache zu lernen und geben jedem der relevanten Elemente im
Leben des Bauers einen ihrer eigenen Namen. Sie sind an den Feldbedin
gungen interessiert, aber für die Bauern und ihre zahlreichen Sprecher
noch nutzlos und uninteressant.
An dieser Stelle wird Pasteur sein auf dem Bauernhof situiertes Laborato
rium zu seinem Hauptarbeitsplatz an der Ecole Normale Superieure zu
rücktransferieren, indem er ein Element aus dem Feld mitnimmt, den
kultivierten Bazillus. Er ist ein Meister der Mikrobenlandwirtschaft, einer
Landwirtschaftstechnik, die kein Bauer kennt. Dies reicht, um etwas zu
tun, was kein Bauer jemals getan hatte: den Bazillus in Isolation wachsen
zu lassen - und zwar in einer solch großen Quantität, dass er, obwohl
unsichtbar, sichtbar wird. Hier haben wir wegen der Laboratoriumsverfah
ren ebenfalls eine Variation im Maßstab: Draußen in der »realen« Welt
werden Anthrax-Bazillen innerhalb der Körper mit Millionen von anderen
Organismen vermischt, mit welchen sie konstant konkurrieren. Dies
macht sie doppelt unsichtbar. Im Laboratorium von Pasteur geschieht
jedoch mit dem Anthrax-Bazillus etwas, was niemals vorher geschehen ist
(ich insistiere auf diesen zwei Punkten: irgendetwas geschieht mit dem
Bazillus, das niemals vorher geschehen ist). Dank Pasteurs Kultivierungs
methode ist der Bazillus von allen Konkurrenten befreit und wächst so
exponen,iell; die starke Vermehrung endet dank Kochs späterer Methode
in solch großen Kolonien, dass sie für das aufmerksame Auge des Wissen
schaftlers ein klares Muster erkennen lassen. Diese Fähigkeiten sind nicht
wundersam. Um solch ein Resultat zu erreichen, braucht man nur einen
Mikro-Organismus zu extrahieren und ein passendes Milieu zu finden.
Dank diesen Fähigkeiten wird die Asymmetrie im Maßstab einiger Phä
nomene modifiziert: Ein Mikro-Organismus kann bedeutend größeres
Vieh töten, ein kleines Laboratorium kann mehr über eine reine Anthrax
Kultur lernen als jemand zuvor; der unsichtbare Mikro-Organismus wird
sichtbar gemacht; der bislang uninteressante Wissenschaftler in seinem
Labor kann mit mehr Autorität über den Anthrax-Bazillus sprechen als
Tierärzte sie jemals zuvor hatten.
Die Übersetzung, welche Pasteur ermöglicht, die Anthrax-Krankheit zu
seinem Laboratorium in Paris zu transferieren, ist keine buchstäblich
getreue Übersetzung. Er nimmt nur ein Element mit sich, nämlich den
Mikro-Organismus, und nicht den ganzen Bauernbetrieb, den Geruch, die
Kühe, die Weiden entlang des Teiches oder die hübsche Tochter des Bau-
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ... 1 109
ers. Mit der Mikrobe jedoch zog er auch die nun interessierten landwirt
schaftlichen Gesellschaften mit sich. Warum? Weil er, nachdem er den
Mikro-Organismus als die lebendige und relevante Ursache bestimmt hat,
nun die Interessen der Bauern auf eine neue Weise formulieren kann:
»Wenn Ihr Euer Anthrax-Problem lösen wollt, müsst Ihr zuerst durch mein
Laboratorium gehen. « Wie bei allen Übersetzungen gibt es durch die
zahlreichen Versionen eine reale Verschiebung. Um direkt zu Anthrax zu
gelangen, sollte man einen Umweg durch Pasteurs Laboratorium machen.
Die Anthrax-Krankheit ist nun an der Ecole Normale Superieure.
Aber diese Version der Übersetzung steht noch auf schwachen Füßen.
Wohl gibt es in Pasteurs Laboratorium eine Mikrobe, aber die Anthrax-In
fektion ist eine zu komplexe Angelegenheit, um nur mit einer einzigen
Ursache erklärt zu werden. So könnten die daran interessierten Außenste
henden ohne weiteres sagen, dass das Laboratorium in der Realität nichts
zu tun hat mit der Ausbreitung der Anthrax-Krankheit und dass es nur die
schiere Arroganz eines Wissenschaftlers ist, die ihn behaupten lässt, den
Schlüssel zu einer realen Krankheit »dort draußen« in den Händen zu
halten. Aber Pasteur ist fähig, eine getreuere Übersetzung zu machen.
Innerhalb der Mauem seines Laboratoriums kann er tatsächlich von ihm
ausgewählte Tiere mit einer reinen, stark verdünnten Kultur von Anthrax
impfen. Diesmal wird der Ausbruch einer Tierseuche in einem kleineren
Maßstab nachgeahmt, vollständig abhängig von den Auswertungs- und
Aufzeichnungsgeräten der Pasteurianer. Die wenigen als essentiell erachte
ten Punkte werden auf einen kleineren Maßstab herabskaliert und so im
Kleinen nachgeahmt und neu formuliert. Die Tiere sterben an den Mikro
ben und nur an diesen - Tierseuchen werden nach Belieben ausgelöst.
Man kann nun sagen, dass Pasteur, innerhalb seines Laboratoriums, die
»Anthrax-Krankheit« in einem kleineren Maßstab hat. Der große Unter
schied besteht darin, dass die Untersuchung »außerhalb« schwierig ist,
weil der Milao-Organismus unsichtbar ist und im Dunkeln zuschlägt,
versteckt unter vielen anderen Elementen, während »innerhalb« des Labo
ratoriums ein klares Bild gezeichnet werden kann über eine Ursache, die
hier aufgrund der Übersetzung für alle erkennbar ist. Die Veränderung des
Maßstabes macht eine Umkehrung der Kräfte der Akteure möglich; »au
ßerhalb« waren die Tiere, Bauern und Tierärzte schwächer als der unsicht
bare Anthrax-Bazillus; innerhalb des Laboratoriums von Pasteur wird der
Mensch stärker als der Bazillus; als Folge davon ist der Wissenschaftler in
seinem Labor im Vorteil gegenüber dem lokalen, gewissenhaften, erfahre
nen Tierarzt. Die Übersetzung ist glaubhafter geworden und lautet nun:
»Wenn Sie ihr Anthrax-Problem zu lösen wünschen, kommen Sie in mein
Laboratorium, weil hier die Kräfteverhältnisse invertiert werden. Tut Ihr
dies nicht (Tierärzte oder Bauern), werdet Ihr eliminiert.«
An diesem Punkt ist jedoch die Kraft zwischen Pasteurs einzigem
Laboratorium und der Vielzahl, Komplexität und ökonomischen Bedeu-
IIO I BRUNO LATOUR
Dritter Schritt: Mit dem Hebel die Welt aus den Angeln heben
Sogar auf dieser Stufe hätte jedoch das, was im Laboratorium war, dort
bleiben können. Der Makro-Kosmos ist mit dem Mikro-Kosmos des Labo
ratoriums verbunden, aber ein Laboratorium ist nie größer als seine Mau
ern und »Pasteur« ist immer noch ein Mann mit einigen wenigen Mitar
beitern. Unabhängig davon, wie groß die Interessen mancher sozialer
Gruppen für die Arbeit in einem Laboratorium sind, kann das Nachlassen
und der Schwund des Interesses nicht aufgehalten werden, falls aus
schließlich Laboratoriumsuntersuchungen erfolgen. Verharrt Pasteur zu
lange still in seinem Laboratorium und verschiebt beispielsweise seine
Forschungsprogramme, weil er - wie sein Schüler Duclaux - die Anthrax
Mikrobe zum Erlernen biochemischer Prozesse verwendet, könnten die
Leute sagen: »Gut, trotz allem war es nur eine interessante Kuriosität!« Erst
im Nachhinein sagen wir, dass Pasteur in diesem Jahr 1881 die erste künst
liche Impfung erfunden hat. Indem wir uns so verhalten, vergessen wir,
dass es dazu zur damaligen Zeit notwendig war, sich weiter zu bewegen, in
diesem Fall vom Laboratorium bis aufs Feld, von der Mikro- zur Makro
Skala. Wie für alle Übersetzungen ist es möglich und notwendig, die Be
deutungen zu verändern, sie aber nicht völlig zu verraten. Gruppen, die es
akzeptierten, sich zur Lösung ihrer Probleme in Pasteurs Hände begeben
zu müssen, taten dies nur zu ihrem eigenen Nutzen. Sie können nicht in
seinem Labor verharren.
Pasteur war von Karrierebeginn an ein Experte, Interessengruppen
heranzuziehen und deren Mitglieder davon zu überzeugen, dass ihre
Interessen von seinen eigenen untrennbar waren. In der Regel erreichte er
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ... 1 Il3
Ich habe ein Beispiel gewählt, aber in Pasteurs Karriere können noch viele
gefunden werden und ich bin überzeugt, dass jeder Leser noch weitere im
Kopf hat. Der Grund, warum wir diese vielen Beispiele nicht wahrnehmen,
liegt in der Art und Weise, wie wir die Wissenschaft behandeln. Wir brau
chen ein Analysemodell, das die tatsächlichen Grenzen zwischen Mikro
und Makro-Skala, zwischen dem »Innerhalb« und »Außerhalb« respek-
116 1 BRUNO LATOUR
tiert, welches die Wissenschaften aber nicht anerkennen. Wir sehen alle
Laboratorien, aber wir ignorieren ihre Konstruktion, gut vergleichbar mit
den Viktorianern, die überall Kinder herumkriechen sahen, aber die Vision
von Sex als die Ursache dieser Ausbreitung unterdrückten. Wir sind alle
prüde in Belangen der Wissenschaft, Sozialwissenschaftler eingeschlossen.
Bevor ich im dritten Teil dieses Textes einige allgemeine Schlussfolgerun
gen über Laboratorien ziehe, lassen Sie mich einige Konzepte vorschlagen,
die uns weniger prüde sein ließen und uns helfen würden, Informationen
freizusetzen, die wir sowieso haben.
gab, und zwar einen »effizienten«. Sprechen wir über die Außenwelt, neh
men wir meistens einfach die vorherige Verbreitung einer früheren Wissenschaft
für gegeben an, die auf dem gleichen Prinzip aufgebaut ist wie jene, die wir
jetzt untersuchen. Dies ist der Grund dafür, dass Laboratoriumsstudien
schließlich den Schlüssel für das Verstehen von Makro-Problemen liefern,
wie ich am Ende dieses Kapitels zeigen werde.
die Gesellschaft formt, von der man die einzige glaubwürdige und legiti
mierte Autorität ist, dann ist Pasteur ein Vollblutpolitiker. Tatsächlich
stattete er sich mit einer der erstaunlichsten frischen Quellen von Macht
aus. Wer kann sich vorstellen, der Vertreter einer Menge von Unsichtbaren
zu sein, von gefährlichen Kräften, fähig, irgendwo zuzuschlagen und ein
heilloses Durcheinander im jetzigen Status der Gesellschaft anzurichten,
Kräfte, von welchen er per Definition der einzige glaubwürdige Interpret ist
und welche nur er kontrollieren kann? überall wurden Pasteur-Laborato
rien als die einzige Stelle eingerichtet, die fähig ist, die gefährlichen Akteu
re zu töten, die bislang alle Bemühungen zunichte machten, Bier oder
Essig herzustellen, chirurgische Eingriffe vorzunehmen, zu gebären, eine
Kuh zu melken, ein Regiment gesund zu halten usw. Es wäre eine schwa
che Konzeption der Soziologie, wenn der Leser nur sagen würde, dass
Mikro-Biologie »einen Einfluss hat« oder »durch den sozialen Kontext des
19. Jahrhunderts beeinflusst wird«. Laboratorien der Mikro-Biologie sind einer
der wenigen Orte, wo die wirkliche Komposition des sozialen Kontextes tranifor
miert worden ist. Es ist kein leichtes Unterfangen, die Gesellschaft zu trans
formieren, um Mikroben und ihre Beobachter in deren tatsächlichen
Struktur einzuschließen. Sofern der Leser nicht überzeugt ist, so kann er
die plötzlichen Bewegungen, die zur gleichen Zeit von sozialistischen Poli
tikern gemacht wurden, vergleichen, welche im Namen einer anderen
Menge von neuen, gefährlichen, undisziplinierten und störenden Kräften
sprechen, für die in der Gesellschaft Platz gemacht werden sollte: die arbei
tenden Massen. Die zwei Kräfte sind bezüglich des folgenden essentiellen
Merkmals vergleichbar: Sie sind frische Quellen von Kraft, um die Gesell
schaft zu modifizieren, und können nicht durch den Zustand der Gesell
schaft in der damaligen Zeit erldärt werden. Obwohl die zwei Kräfte zur
damaligen Zeit miteinander vermischt waren (Rosenkranz 1972), ist es
ldar, dass in politischen Terminologien der Einfluss der Pasteur-Laborato
rien weiter und tiefer reichte und unumkehrbarer war, da sie in die tägli
chen Details des Lebens (spucken, Milch abkochen, Hände waschen) und
in die Makro-Skala (neue Abwassersysteme bauen, Länder kolonialisieren,
neue Spitäler bauen) intervenieren konnten, ohne jemals klar als eine
bestimmte politische Kraft betrachtet zu werden.
Diese Transformation dessen, was die wirldiche Komposition der Ge
sellschaft ausmacht, kann in keiner Weise durch Unterscheidungen bezüg
lich Maßstäben und Stufen definiert werden. Weder der Historiker noch
der Soziologe können die Makro-Stufe der französischen Gesellschaft und
die Mikro-Stufe des milcrobiologischen Laboratoriums unterscheiden, da
die zweite hilft, die erste neu zu definieren und zu verschieben. Die Posi
tionierung des Laboratoriums war, wie ich früher insistierte, in keiner
Weise unvermeidlich. Pasteur hätte beim Verbinden seiner Arbeit über
Mikroben mit den Interessen seiner vielen Kunden scheitern können.
Wäre er gescheitert, dann bin ich einverstanden, dass die Unterscheidung
122 1 BRUNO LATOUR
Was ich über das im Abschnitt I abgehandelte Beispiel gesagt habe, führt
uns zu einem allgemeineren Problem der Laboratoriumsverfahren und der
Relevanz von Mikro-Studien für das Verständnis von Problemen in »gro
ßem Maßstab«; das Problem wurde durch das Fach, welches unter dem
Namen »Science, Technologie & Society« (STS) bekannt ist, aufgeworfen.
Wollte ich die im Abschnitt II präsentierte Behauptung zusammenfassen,
könnte ich sagen, dass eine Wissenschaftssoziologie sich von Beginn weg
selbst hemmt; sofern dies zutrifft und man es unterlässt, den wirklichen
Inhalt der Laboratoriumsarbeit zu untersuchen, wird die Differenz der
Stufen oder des Maßstabes zwischen dem »sozialen Kontext« auf der einen
Seite und dem Laboratorium oder der »wissenschaftlichen Ebene« auf der
anderen Seite für gegeben erachtet. Ich behaupte dagegen, dass die Labora
torien zu den wenigen Orten gehören, wo die Unterschiede im Maßstab
irrelevant gemacht werden und der tatsächliche Inhalt der innerhalb der
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ••. 1 123
seuche innerhalb der Wände des Laboratorium statt, das für das außerhalb
gelegene Makro-Problem als relevant erachtet wird. Wiederum wird der
Maßstab des Problems umgekehrt, aber diesmal ist es das »Makro«, wel
ches klein genug gemacht wird, sodass es von den Pasteurianern bewältigt
werden kann. Vor dieser Verschiebung und Umkehrung, die den Pasteuri
anern erlaubte, sich eine Sachkenntnis im Einrichten von Inskriptionsins
trumenten im Gesundheitswesen anzueignen, war niemand jemals im
stande gewesen, den Verlauf einer Epidemie zu beherrschen. Diese »Be
herrschung« bedeutet, dass jedes Ereignis - die Inokulation, der Ausbruch
einer Epidemie, die Impfung, das Zählen der Toten und der überlebenden,
das Timing, die Orte - für einige wenige Menschen lesbar wurde, die unter
sich wegen der Einfachheit der wahrnehmbaren Beurteilung, die sie über
einfache Diagramme und Kurven zu fällen imstande waren, Einigkeit
erzielen konnten.
Die im Laboratorium gewonnene Macht ist nicht mysteriös. Gewisse
Menschen, die viel schwächer sind als Epidemien, können stärker werden,
wenn sie den Maßstab der beiden Akteure ändern - indem man die Mi
kroben groß und die Seuchen ldein macht -, und andere beherrschen die
Ereignisse durch die Inskriptionsinstrumente, die jeden Schritt lesbar
machen. Die Veränderung des Maßstabes bringt eine Beschleunigung der
Anzahl erreichbarer Inskriptionen mit sich. Die Beschaffung von auf
Frankreich bezogenen Daten über die Anthrax-Epidemie war ein langsa
mer, sorgfältiger und ungewisser Prozess. Aber in einem Jahr vermochte
Pasteur die Anthrax-Ausbrüche zu vervielfachen. Kein Wunder, dass er
mächtiger wurde als die Tierärzte. Für jede ihrer Statistik konnte er deren
zehn vorweisen. Vor Pasteur konnten ihre Stellungnahmen durch jede
Menge anderer, ebenso plausibler Aussagen relativiert werden. Wer ist
jedoch imstande, eine seriöse Attacke gegen Pasteur zu reiten, wenn er mit
diesen vielen Zahlen und Fakten aus seinem Labor herauskommt? Pasteur
hat Macht gewonnen, indem er einfach den Maßstab modifizierte. So hat
Pasteur in den Diskussionen über Anthrax zwei Machtquellen: die Tier
seuche und die Mikroben. Seine Opponenten und Vorgänger mussten
»Außerhalb« in einem »großen Maßstab« arbeiten; die unsichtbaren Agen
ten fielen ihnen immer planlos in den Rücken und ließen ihre Statistiken
als Zufallsprodukte erscheinen. Indem Pasteur jedoch sein Laboratorium
errichtete und es - wie wir gesehen haben - in die Bauernbetriebe einbau
te, dominierte er die Mikrobe (indem er sie größer machte) sowie die
Tierseuche (indem er sie kleiner machte) und vervielfachte mit !deinem
Kostenaufwand die Experimente - ohne sein Laboratorium zu verlassen.
Diese Konzentration der Kräfte machte ihn weit mächtiger als seine Kon
kurrenten, sodass sie nicht einmal an Gegenargumente denken konnten,
außer in den wenigen Fällen, in denen sie, wie Koch, ebenso gut ausgerüs
tet waren wie Pasteur.
Um den Grund zu verstehen, warum die Menschen so viel für Labora-
128 1 BRUNO LATOUR
torien ausgeben, die nun gewöhnliche Orte sind, muss man diese Orte als
gefällige technische Vorrichtungen zur Umkehrung der Hierarchie der
Mächte betrachten. Dank einer Kette von Verschiebungen - des Laborato
riums wie der Objekte - wird der Maßstab modifiziert, um den besten aller
möglichen Maßstäbe zu erreichen für das, worüber die Menschen spre
chen wollen: die in einfachen Formen und in einfacher Schrift geschriebe
ne Inskription auf einer flachen Oberfläche. Damit ist jedes Ding, worüber
man zu sprechen hat, nicht nur sichtbar, sondern auch lesbar, und von
wenigen sachverständigen Menschen kann leicht darauf verwiesen werden.
·Dies ist ebenso einfach und ausreichend wie der Punkt des Archimedes,
um den sich die Erde dreht, und macht den Schwächsten zum Stärksten.
Es ist tatsächlich einfach, denn das Ausführen einfacher Schritte ist das,
wozu dieses Werkzeug dient. »Akkumuliertes Wissen« sagen die Leute mit
Bewunderung, aber diese Beschleunigung wurde durch eine Änderung des
Maßstabes möglich, welche wiederum eine Vervielfachung der Versuche
ermöglicht. Die Gewissheit wird im Laboratorium nicht erhöht, weil die
Menschen dort ehrlicher, rigoroser oder »falsifizierender« sind. Sie können
einfach so viele Fehler machen, wie sie wollen, oder jedenfalls mehr Fehler
als die anderen »außerhalb«, welche die Veränderung des Maßstabes nicht
beherrschen. Jeder Fehler wiederum wird archiviert, gespeichert, registriert
und wieder leicht lesbar gemacht, was auch immer das spezifische Gebiet
oder Thema sein mag. Wird eine große Anzahl von Versuchen registriert
und kann eine Summe ihrer Inskriptionen gezogen werden, wird diese
Summe immer sicherer sein, wenn dadurch die Möglichkeit abnimmt,
dass ein Konkurrent eine Stellungnahme abgibt, die ebenso plausibel ist
wie die, welche man verteidigen will. Das genügt, sofern man die Summe
einer Serie von Fehlern zieht; man ist stärker als jeder andere, dem weni
ger Fehler zugestanden wurden.
Betrachtet man den Unterschied zwischen einem Politiker und einem
Wissenschaftler, so wird diese Vision des Laboratoriums als eine techni
sche Vorrichtung, um durch das Vervielfachen der Fehler Macht zu gewin
nen, offensichtlich. Aus kognitiven oder sozialen Gründen haben sie typi
scherweise entgegengesetzte Eigenschaften. Vom Ersten sagt man, dass er
habgierig, voller Eigeninteressen, kurzsichtig, unpräzis, immer kompro
missbereit und wankelmütig sei. Vom Zweiten sagt man, dass er uneigen
nützig, weitsichtig, ehrlich oder zumindest rigoros ist sowie klar und exakt
spricht und nach Gewissheit sucht. Diese vielen Unterschiede sind alles
künstliche Projektionen eines einfachen materiellen Dinges. Der Politiker
hat kein Laboratorium, der Wissenschaftler hat eines. So arbeitet der Poli
tiker mit vollem Maßstab, mit nur einem Treffer pro Zeiteinheit und steht
dauernd im Rampenlicht. Er schlägt sich durch, gewinnt oder verliert »dort
draußen«. Der Wissenschaftler arbeitet an Modellen verschiedenen Maß
stabs, an denen er innerhalb des Laboratoriums, abgeschirmt von einer
öffentlichen Prüfung, die Fehler vervielfacht. Er kann beliebig lange Versu-
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ••• 1 I29
ehe durchführen und tritt erst an die Öffentlichkeit, wenn er alle Fehler
gemacht hat, die ihm geholfen haben, »Gewissheit« zu erlangen. Kein
Wunder, dass der eine nicht »weiß« und der andere »weiß«. Dennoch liegt
der Unterschied nicht im »Wissen«. Kehrt man zufällig die Positionen um,
wird derselbe habgierige, kurzsichtige Politiker, wenn er im Laboratorium
ist, exakte wissenschaftliche Fakten produzieren und der ehrliche, unei
gennützige, rigorose Wissenschaftler wird, wenn er ans Ruder politischer
Strukturen im großen Maßstab ohne Erlaubnis zu Fehlern gesetzt wird,
unpräzis, unsicher und schwach werden wie jeder andere auch. Das Spezi
fische an der Wissenschaft ist nicht in den kognitiven, sozialen oder psy
chologischen Qualitäten zu finden, sondern in der speziellen Konstruktion
von Laboratorien in einer Weise, dass der Maßstab der Phänomene inver
tiert wird, sodass Dinge lesbar werden, die Frequenz von Versuchen erhöht
und zugelassen wird, dass viele Fehler gemacht und registriert werden.
Dass die Laboratoriumseinrichtung der Grund für die von Wissen
schaftlern gewonnene Macht ist, wird noch offensichtlicher, wenn die
Leute woanders Schlussfolgerungen etablieren wollen, die ebenso stringent
wie die in den Laboratorien erreichten sind. Wie ich oben gezeigt habe,
kann man sagen, dass es kein »Außerhalb« der Laboratorien gibt. Das
Beste, das einer tun kann, ist die »Hierarchie der Kräfte«, die sich einmal
innerhalb des ersten Laboratoriums bewährt hat, auf andere Orte auszu
dehnen. Ich habe dies für Anthrax gezeigt, aber dieser Fall kann verallge
meinert werden. Die Mystifikation der Wissenschaft rührt häufig von der
Idee, dass Wissenschaftler imstande sind, »Voraussagen« zu machen. Sie
arbeiten in ihren Labors und tatsächlich geschieht außerhalb etwas, das
ihre Voraussagen verifiziert. Das Problem besteht darin, dass niemand
jemals imstande gewesen ist, diese Voraussagen zu verifizieren, ohne
zunächst die im Labor existierenden Verifikationsbedingungen auszuwei
ten. Der Impfstoff verbreitet sich unter der Bedingung, dass die Bauernbe
triebe in einen Annex von Pasteurs Laboratorium transformiert werden
und dasselbe statistische System, das Anthrax zuerst sichtbar gemacht hat,
zur Verifikation verwendet wird, ob der Impfstoff irgendeinen Effekt hat.
Wir können die Ausweitung der Laboratoriumsbedingungen und die Repe
tition des letzten, positiv ausgefallenen Versuches sehen, aber wir können
nicht die Voraussagen der Wissenschaftler sehen, die sich selbst außerhalb
der Laboratoriumsmauern verbreiten (Latour/Woolgar 1979: Kap. 4).
Falls dies dem Leser kontraintuitiv erscheint, wird eine ldeine Überle
gung ihn davon überzeugen, dass jedes denkbare Gegenbeispiel tatsächlich
der hier dargelegten Position entspricht. Niemand hat je einen Laboratori
umsfakt sich nach außen bewegen gesehen, sofern nicht das Labor zu
nächst dazu gebracht wurde, sich in eine »Außerhalb«-Situation zu bege
ben und diese Situation derart transformiert wurde, dass sie sich den Labo
ratoriumsvorschriften anpasste. Jedes Gegenbeispiel ist eine Überzeugung,
dass so etwas möglich ist. Eine Überzeugung ist jedoch kein Beweis. Wenn
130 j BRUNO LATOUR
ein Beweis erbracht wird, dann sind die beiden von mir aufgestellten Be
dingungen immer erfüllt. Mein Vertrauen in diese Lösung gründet nicht
auf einer Mutmaßung, sondern auf einer einfachen wissenschaftlichen
Überzeugung, die von all meinen Wissenschaftlerkollegen geteilt wird,
nämlich dass Magie unmöglich ist und eine Aktion aus der Feme immer
eine Verfälschung ist. Die Prognosen von Wissenschaftlern sind immer
Aussagen im Nachhinein oder Repetitionen. Die Bestätigung dieses offen
sichtlichen Phänomens zeigt sich in wissenschaftlichen Kontroversen,
wenn die Wissenschaftler gezwungen werden, den soliden Boden des
Laboratoriums zu verlassen. In dem Moment, in dem sie wirklich nach
»Außerhalb« gehen, wissen sie nichts, sie bluffen, sie scheitern, sie schla
gen sich durch und verlieren jede Möglichkeit, irgendetwas zu sagen, das
nicht unmittelbar von einem Schwarm von ebenso plausiblen Stellung
nahmen gekontert wird.
Der einzige Weg für einen Wissenschaftler, die innerhalb des Laborato
riums durch den von mir beschriebenen Prozess gewonnene Macht zu
behalten, besteht darin, nicht nach »Außerhalb« zu gehen, wo er sie sofort
verlieren würde. Wiederum ist die Lösung sehr einfach - sie lautet: nie
nach Außen gehen. Bedeutet dies, dass sie an den wenigen Arbeitsstellen
festsitzen? Nein, das bedeutet, dass sie alles Mögliche tun müssen, um auf
jede Einrichtung einige der Bedingungen zu übertragen, die eine Repro
duktion günstiger Laboratoriumsverfahren ermöglichen. Solange wissen
schaftliche Fakten sich innerhalb der Laboratorien abspielen, muss man,
um sie zirkulieren zu lassen, kostspielige Netzwerke aufbauen, innerhalb
derer sie ihre fragile Effektivität bewahren können. Sofern dies einer Trans
formation der Gesellschaft in ein großes Laboratorium gleichkommt, dann soll
man dies tun. Die Ausbreitung pasteurianischer Laboratorien auf alle Orte,
die bis vor wenigen Jahrzehnten nichts mit Wissenschaft zu tun hatten, ist
ein gutes Beispiel für den Aufbau eines derartigen Netzwerkes. Aber ein
Blick auf das System der standardisierten Gewichte und Maße, in Frank
reich »Metrologie« genannt, ist noch überzeugender. Der größte Teil der
im Laboratorium geleisteten Arbeit würde für immer dort bleiben, wenn
die hauptsächlichsten physikalischen Konstanten nicht ganz allgemein
konstant geworden wären. Zeit, Gewicht, Länge, Wellenlänge usw. werden
mit einem immer größer werdenden Präzisionsgrad auf immer mehr
Lokalitäten ausgeweitet. Dann und nur dann können die Laboratoriums
experimente, die in den Betrieben, in der Werkzeugindustrie, in der Wirt
schaft und in den Spitälern auftretenden Probleme angehen. Versucht man
jedoch in einem gedanklichen Experiment das einfachste physikalische
Gesetz nach »Außerhalb« zu verbreiten, ohne vorher die hauptsächlichsten
Konstanten verbreitet und kontrolliert zu haben, kann man dies nicht
verifizieren; genauso wie es ohne Gesundheitsstatistiken unmöglich gewe
sen wäre, die Existenz von Anthrax zu kennen und die Effizienz des Impf
stoffes nachzuweisen. Diese Transformation der ganzen Gesellschaft ent-
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ••• 1 IJI
Ebene selbst, der berühmte »soziale Kontext«, eine Folge der Entwicldung
gewisser wissenschaftlicher Disziplinen ist (Callon/Latour 1981). Mir ist
ldar, dass dies der einzige Weg ist, wie die Wissenschaftssoziologie ent
sprechend den durch die Laboratoriumsuntersuchungen gesetzten Vorga
ben wieder neu aufgebaut werden kann. Ich glaube auch, dass dies einer
der wenigen Orte ist, wo die Wissenschaftssoziologie die Soziologie etwas
lehren kann, statt sich von ihr Kategorien und Strukturen auszuleihen, die
schon das einfachste Laboratorium vernichtet und neu ordnet. Es wäre
höchste Zeit, da das Laboratorium in der Politik und in der Soziologie viel
innovativer ist als die meisten Soziologen (inldusive mancher Wissen
schaftssoziologen). Wir beginnen gerade erst, die Herausforderung anzu
nehmen, welche die Laboratoriumsverfahren für die Untersuchung der
Gesellschaft darstellen.
Literatur
der Übersetzung:
MICHEL CALLON
Zusammenfassung
Der Artikel umreißt einen neuen Ansatz zur Untersuchung von Machtver
hältnissen: die Soziologie der Übersetzung. Ausgehend von drei Prinzi
pien, vom Agnostizismus (Unparteilichkeit zwischen den in der Kontrover
se engagierten Akteuren), von der generalisierten Symmetrie (Verpflich
tung, widersprüchliche Gesichtspunkte in der gleichen Terminologie zu
erklären) und von der freien Assoziation (Vermeidung aller a-priori-Unter
scheidungen zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen) wird eine
wissenschaftliche und ökonomische Kontroverse über die Gründe für den
Rückgang der Population von Kammmuscheln in der St. Brieuc-Bucht und
die Versuche dreier Meeresbiologen, für diese Population eine Regenera
tionsstrategie zu entwickeln, beschrieben. In den Versuchen dieser For
scher werden im Übersetzungsprozess vier >Momente< unterschieden, die
dazu dienen, sich selbst und ihre Definition der Situation auf andere zu
übertragen: (a) Problematisierung: die Forscher versuchten in diesem
Drama für andere Akteure unentbehrlich zu werden, indem sie die Natur
und deren Probleme definierten und davon ausgingen, dass diese gelöst
würden, wenn die Akteure durch den obligatorischen Passagepunkt (OPP)
des Forschungsprogramms der Wissenschaftler hindurchgingen; (b) Inter
essement: eine Reihe von Prozessen, durch die die Forscher die anderen
Akteure auf die für sie in diesem Programm vorgesehenen Rollen zu
fixieren suchten; (c) Enrolment: ein Set von Strategien, durch welches die
136 1 MICHEL GALLON
Einführung
Gegenstand dieser Arbeit ist es, die Soziologie der Übersetzung - wie sie
neuerdings genannt wird - in ihren Grundzügen darzustellen und zu
zeigen, dass dieses analytische Werkzeug sich besonders gut zur Untersu
chung der Rolle von Wissenschaft und Technik bei der Strukturierung von
Machtverhältnissen eignet.
Zu Beginn muss festgehalten werden, dass sich Soziologen, die in den
letzten Jahren eine detaillierte Analyse wissenschaftlicher und technologi
scher Inhalte versucht haben, in einer paradoxen Situation befinden. Die
Erklärungen und Interpretationen, die von diesen Sozialwissenschaftlern
vorgeschlagen wurden, sind in der Tat von einer unübersehbaren Asymme
trie geprägt. Wenn es um die Anerkennung der Rechte der Wissenschaftler
und Ingenieure geht, die sie sich zu diskutieren bemühen, kennt die Tole
ranz der Soziologen keine Grenzen. Soziologen handeln unparteiisch und
verweisen mit derselben Terminologie auf die verschiedenen Protagonis
ten, selbst wenn es einem unter ihnen gelingt, seinen Willen durchzuset
zen. Die Soziologen versehen die Akteure nicht mit Einsicht, wissenschaft
licher Methode, Wahrheit oder Effizienz, weil diese Terminologie den
Erfolg des Akteurs bezeichnet, ohne die Gründe dafür zu erklären.' Diese
Perspektive bildete die Basis sehr lebhafter und detaillierter Beschreibun
gen der Gestaltung von Wissenschaft.2
1 1 Bloor definierte eindeutig die methodologischen Prinzipien, die nun bei einer
zunehmenden Anzahl von wissenschaftssoziologischen Untersuchungen ange
wandt werden. Sie charakterisieren das, was er das »starke Programm der Wissen
schaftssoziologie« nennt.
2 1 Diese empirischen Studien betrafen eine große Vielfalt wissenschaftlicher Be
reiche. Die wichtigsten sind zu finden in Knorr/Krohn/Whitley (1980); in diesem
Buch sind die Artikel von Pinch und Pickering besonders beachtenswert. Auch die
Sonderausgabe der »Social Studies of Science« n/1 (1981) war wissenschaftlichen
Kontroversen gewidmet. Vgl. auch Barnes/Shapin (1979) und Wallis (1979). Ein
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 137
Die liberale Haltung dieser Soziologen geht jedoch nicht so weit, den
untersuchten Akteuren zuzugestehen, die Gesellschaft und ihre Bestand
teile offen zu diskutieren. Sobald sie die wissenschaftlichen und techni
schen Aspekte der Kontroversen zur Kenntnis genommen haben, stellen
die Soziologen die existierenden Standpunkte wieder an ihren Platz zurück
und sehen davon ab, Partei zu ergreifen.
Sie erkennen die Existenz einer Vielfalt von Beschreibungen der Natur
an, ohne in diese Beschreibungen irgendwelche Prioritäten oder Hierar
chien einzuführen. Darin zeigt sich jedoch das Paradox: indem sich diese
Sozialwissenschaftler bei den von ihnen vorgeschlagenen Analysen so
verhalten, als ob dieser Agnostizismus gegenüber Naturwissenschaft und
Technik nicht ebenso gegenüber der Gesellschaft gelten würde. Für sie ist
die Natur ungewiss, die Gesellschaft aber nicht.3
Handelt es sich um ein einfaches Privileg, das Soziologen einander
durch den Reflex eines Zusammengehörigkeitsgefühls zugestehen, wenn
sie ihr eigenes Wissen von der öffentlichen Diskussion fernhalten? Die
Antwort ist nicht ganz einfach. Die Asymmetrie spielt eine entscheidende
Rolle in der Erklärung von Wissenschaft und Technik. Da die Natur selbst
nicht in der Lage ist, einen Konsens zwischen Experten herbeizuführen,
benötigen Soziologen und Philosophen etwas Zwingenderes und weniger
Zweideutiges, um das Entstehen, die Entwicklung und den eventuellen
Abschluss von Kontroversen zu erklären. Manche schreiben diese höhere
Macht der wissenschaftlichen Methode und folglich der Existenz von sozia
len Normen zu, die deren Ausführung garantieren.4 Andere wenden sich
Klassiker ist Collins (1975). Eine gute Übersicht über solche Studien findet sich bei
Shapin (1982).
3 1 Dies wird am eindrücklichsten in den Studien der »Edinburgh School ofSo
ciology« bestätigt (Barnes 1978, 1982; MacKenzie 1978). Eine gute Übersicht über
diese Soziologie findet sich in Law/Lodge (1984). Sie demonstrieren die reichen Be
ziehungen zur Philosophie von Mary Hesse (1974). Die Ethnomethodologen und
jene, die ihnen nahe stehen, sind nicht immer direkt von dieser Kritik betroffen.
Vgl. z.B. den Artikel von Lynch (1982), welcher die gleichzeitige Konstruktion von
wissenschaftlichen Fakten und sozialem Kontext explizit einräumt. Sein Argument
wird bei Callon (1984) verwendet.
4 1 Der Glaube an die Existenz von Normen und ihre regulierende Rolle ist eines
der Grundmerkmale der Soziologie von Merton und der Post-Merton-Epoche, wel
che selbst mit einer allgemeineren funktionalistischen oder kulturalistischen Analy
se von Institutionen verbunden ist (Merton 1973). Aber dieser Glaube wird explizit
oder implizit von einer großen Anzahl von Epistemologen oder Wissenschaftsphilo
sophen geteilt. Das Postulat, dass eine wie auch immer beschriebene wissenschaftli
che Methode existiert, führt notwendigerweise zur Idee von sozialen oder techni
schen Normen und folglich zu einer Soziologie, an die die Soziologen selbst längst
nicht mehr glauben. Als Beispiel für einen Artikel, in welchem Normen als eine ent-
138 J MICHEL CALLON
scheidende Variable verwendet werden, vgl. Freudenthal (1984). Je mehr man auf
der Existenz einer wissenschaftlichen Methode besteht, desto mehr ist die angewen
dete Soziologie vereinfacht und veraltet.
5 1 Dies ist der Fall bei marxistisch inspirierter Analyse (Yoxen 1981).
6 1 Hinsichtlich der Möglichkeit, die Sozialwissenschaften als Mittel zur Kontrol
le anderer Diskurstypen zu verwenden, vgl. die sehr kritische Analysen von Serres
(1980) und Stengers (Prigogine/Stengers 1979).
7 1 Die zwei Hauptarbeiten dieser Art von Literatur bleiben die Bücher von Wat
son (1968) und Kidder (1982). Kidders Beschreibung ist besonders interessant, weil
sogar in einer gut identifizierten Marktsituation die größeren Ungewissheiten nicht
nur mit den technischen Merkmalen des Mikrocomputers, sondern auch mit den
begleitenden sozialen Beziehungen in Zusammenhang gebracht werden: »Sie leb
ten in einem Land von Dünsten und Spiegeln. Das Pilzmanagement schien in ih
rem Team auf allen Ebenen praktiziert zu werden. Oder war es vielleicht eine Versi
on von Steve Walladhs zu Fleisch gewordenem Ringschutzsystem: West fühlte sich
unsicher über den wirklichen Status der Chefetage des Teams; Wests eigene Mana
ger waren über alle die Vorhaben ihres Chefs nie völlig unterrichtet; die neuen In
genieure blieben über die wirklichen Interessen, die Politik und die hinter ihrer Ar
beit steckenden Absichten völlig uninformiert. Aber sie fuhren unbeirrt fort.« (Ebd.:
105) Eine neue Illustration dieses literarischen Stils wird von Latours Analyse der
Arbeit Pasteurs gegeben (Latour 1984). In einem anderen Feld als der Wissenssozio-
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 139
Dies ist auf die einfache Tatsache zurückzuführen, dass die Akteure nicht
als von einem Teil ihrer selbst getrennt wahrgenommen werden. Der Ein
druck des soziologischen Reduktionismus, der oft sogar in den besten
wissenschaftlichen Schriften vermittelt wird, ist offensichtlich ein Produkt
dieser systematischen und erbarmungslosen Zensur, welche von den So
ziologen im Namen der Soziologie ausgeübt wird. Forscher haben das
Recht, in minutiösesten Details über solare Neutrinos, Koeffizienten statis
tischer Zusammenhänge und die Form des Gehirns zu diskutieren, aber
die von ihnen vorgeschlagenen und erörterten sozialen Analysen und
Interpretationen werden gleichzeitig als irrelevant betrachtet oder - noch
schlimmer - gegen sie verwendet, um ihre wissenschaftlichen und techni
schen Projekte zu kritisieren.8 Manchmal kann die Wirkung so verhee-
logie zeigte Boltanski (1984), dass die sozialen Ungewissheiten und die Größe der
Akteure den Kern von denunzierenden Briefen bildeten, die an eine größere franzö
sische Abendzeitung gesandt wurden.
8 1 Spielen die Kontroversen, welche die Konstitution der Gesellschaft betreffen,
in den Grundlagenforschungen eine ebenso wichtige Rolle wie in angewandten oder
technischen Bereichen? Wissenschaftler diskutieren die Existenz von solaren Neu
trinos (Pinch 1980, 1981), von verhexten Partikeln (Picketing 1980) oder der Struk
tur von Thyrotropin Releasing Factor TRF (Latour/Woolgar 1979). Sind sie ebenso
bereit, Aspekte der sie umgebenden sozialen Welt in Frage zu stellen? Technologen
scheinen damit keine Schwierigkeiten zu haben (Callon 1980; Pinch/Bijker 1984).
Wie verhält es sich jedoch mit Wissenschaftlern? Auf diese Frage könnten mehrere
Antworten gegeben werden. Erstens: Sofern die Analyse wissenschaftlicher Kontro
versen oft auf Labors oder wissenschaftliche Spezialitäten beschränkt zu sein
scheint, ist dies einfach darauf zurückzuführen, dass Soziologen ihren Protagonis
ten nicht mehr folgen, wenn sie die wissenschaftliche Arena verlassen. Bahcall,
Guillemin und Weber, sie alle müssen Ressourcen finden, Lehrprogramme organi
sieren, Handbücher schreiben, wissenschaftliche Zeitschriften herausgeben oder
kontrollieren, wenn sie in ihren wissenschaftlichen Aktivitäten Erfolg haben wollen.
Diese Aktivität findet außerhalb des Labors statt, aber sie bestimmt weitgehend die
Natur der Wissenschaft. Sie erfordert, dass Forscher dauernd Hypothesen formulie
ren, welche die Identität und die Ziele der Menschen betreffen, mit denen sie
interagieren. Beim Versuch, den Inhalt von Wissen zu erklären, sollte diese Dimen
sion der Wissenschaftsstudien nicht ignoriert werden. Zweitens: Die dynamische
Studie über Kontroversen zeigt, dass Phasen existieren, während denen die Debat
ten sowohl die Gesellschaft als auch das Wissen betreffen (Shapin 1979). Dies ist
besonders der Fall, wenn Übersetzungsnetzwerke Gestalt annehmen und ausge
handelt werden (Callon 1981). Sofern diese Netzwerke konsolidiert sind, werden die
Aktivitäten, Rollen und Interessen erkannt und differenziert. Des öfteren trennen
die Kontroversen technische und wissenschaftliche Probleme immer mehr von
�
l ihren sozialen Kontexten. Die Trennung wird nie völlig erreicht, solange die Kontro-
1
140 \ MICHEL CALLON
rend sein, dass der Leser den Eindruck hat, einem Gerichtsverfahren über
Naturwissenschaften unter dem Vorsitz einer privilegierten Wissenschaft
(Soziologie) beizuwohnen, die als unbestritten und über jegliche Kritik
erhaben beurteilt wird.
Die zweite Schwierigkeit ist theoretischer Natur. Wie eine Vielzahl von
Autoren gezeigt hat, sind die Kontroversen über soziologische Erklärungen
unendlich. Soziologen gelingt es nur sehr selten, untereinander zu einer
Übereinstimmung zu kommen. Analog den von ihnen untersuchten Wis
senschaftlern werden sie durch dauernde Kontroversen entzweit. Sofern
sich Konsens überhaupt einstellt, scheint er noch seltener und zerbrechli
cher als auf anderen Gebieten zu sein. Sollte man von sozialen Klassen und
Interessen anstatt von Normen und Institutionen sprechen? Die Debatte ist
so alt wie die Soziologie selbst und verschont auch die Wissenschaftssozio
logie nicht. Dies ist darauf zurückzuführen, dass jede Position jeweils mit
gleich großem Eifer und Erfolg verteidigt wird.9 Ist es berechtigt, von
sozialen Klassen zu sprechen, wenn die Beobachtungen nur auf einigen
Personen basieren? Wie können Normen oder Regeln des Spiels isoliert
werden und wie kann ihre Allgemeingültigkeit bestimmt werden? Diese
Fragen gehören zu jenen, die die Sozialwissenschaften entzweien und für
deren Lösung sich keine Anzeichen finden. Die Angelegenheit ist klar: Die
soziologische Erklärung wissenschaftlicher und technischer Kontroversen
ist ebenso fragwürdig wie die Kenntnisse und die Objekte, welche sie be
treffen. Die theoretische Schwierigkeit besteht darin, dass, sobald man
akzeptiert, dass sowohl Sozial- als auch Naturwissenschaften gleich unbe
stimmt, mehrdeutig und strittig sind, es nicht mehr möglich ist, sie in der
Analyse verschiedene Rollen spielen zu lassen. Da die Gesellschaft nicht
versen weiter bestehen, weil diese die Rekrutierung von außen stehenden und
heterogenen Verbündeten (Verwalter, Industrielle, Lehrer etc.) der Protagonisten
implizieren. Eine rein wissenschaftliche Kontroverse, in der die Protagonisten keine
,soziologische Analyse< der Situation übernommen haben, ist ein reiner Wider
spruch. Wissenschaftler können sich bezüglich der Gesellschaft nur einigen, wenn
sie in wissenschaftlichen und technischen Fragen völlig übereinstimmen. Dies kann
auf mehrere Weisen geschehen: Sklerose oder totale Bürokratisierung einer Diszi
plin (Crane 1972); politischer ,Putsch< innerhalb einer Wissenschaft, die technische
Kontroversen blockiert, indem sie keine Diskussionen über die soziale Struktur
zulässt, in der sie sich entwickelt (Lecourt 1976).
9 1 Diese These wurde von Gouldner (1971) für die Soziologie im Allgemeinen
entwickelt. Ein gutes Beispiel für die endlosen Kontroversen unter Soziologen da
rüber, wie man die Entwicklung der Wissenschaft erklären kann, betrifft die Rolle
von Interessen sowie deren Bedeutung in der Konstruktion und Bewertung des
Wissens. In diesem Punkt vgl. die in Callon/Law (1982) angebotene kritische Analy
se.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG [ 141
klarer oder weniger widersprüchlich als die Natur ist, kann die soziologi
sche Erklärung keine solide Grundlage finden.10
Die dritte Schwierigkeit ist methodologischer Natur. Während ihrer
Arbeit haben jene Soziologen, welche die wissenschaftlichen und techni
schen Innovationen untersucht haben, erkannt, dass sowohl die Identität
als auch die jeweilige Bedeutung der Akteure als Ausgangspunkte in der
Entwicldung der Kontroversen zur Debatte stehen. Welches sind die Über
zeugungen von Pasteur oder Pouchet bezüglich der spontanen Entstehung
von Leben? Die Positionen der Protagonisten werden nie - nicht einmal
rückwirkend - eindeutig definiert, weil die Definition dieser Positionen
selbst zur Debatte steht (vgl. Farley/Geison 1974). Welches waren tatsäch
lich die Interessen von »Renault«, als die EDF ankündigte, dass das Ende
des 20. Jahrhunderts zwangsläufig einen ansteigenden Gebrauch von
Elektrofahrzeugen bringen werde? An wen hätte man sich wenden können,
um zu wissen, was »Renault« wirldich wollte (vgl. Callon 1981)? Wissen
schaft und Technik bilden dramatische Erzählungen, in denen die Identität
der Akteure ein nahe liegendes Problem darstellt. Missachtet der Beobach
ter diese Ungewissheiten, riskiert er, eine verzerrte Geschichte zu schrei
ben, in der die Tatsache ignoriert wird, dass die Identitäten von Akteuren
problematisch sind.
Ein Ausweg aus diesen Schwierigkeiten würde darin bestehen, dass
man zu den Anfängen zurückl<ehrt und einfach die Möglichkeit leugnet,
eine soziologische Definition von Wissenschaft und Technik geben zu
können. Eine andere Option besteht darin, die neuen Befunde der Wissen
schafts- und Techniksoziologie zu bewahren und zu erweitern. Wir hoffen,
in dieser Arbeit zeigen zu können, dass die Analyse mit Hilfe einer Gesell
schaft durchgeführt werden kann, die als ungewiss und strittig beurteilt
wird. Innerhalb der untersuchten Kontroversen entwickeln die daran betei
ligten Akteure widersprüchliche Argumente und Standpunkte, die sie dazu
verleiten, verschiedene Versionen der sozialen und natürlichen Welt zu
propagieren. Was würde geschehen, wenn durch die ganze Analyse hin
durch zwischen den Verhandlungen, die über die natürliche und die sozia-
:10 1 Das klassische Problem von Reflexivität muss als Folge der Fortschritte in un
serem Kontroversenverständnis in einer neuen Terminologie aufgeworfen werden.
Reflexivität bedeutet nichts anderes als eine Ausdehnung der Analyse auf die Sozi
alwissenschaften, die diese für die Konstruktion des Konsenses innerhalb der Na
turwissenschaften anbieten. Analog der Natur kann die Wissenschaft nicht angeru
fen werden, um die Lösung von Kontroversen und die Konstruktion von festem
Wissen zu erklären. Es gibt keine endgültige Garantie, keine letztinstanzliche Erklä
rung, die nicht gleichermaßen bezweifelt werden kann. Dies bedeutet natürlich
nicht, dass nicht ein vorläufiger Konsens erreicht werden kann. Das hier entwickelte
Argument ist formal mit demjenigen identisch, das es Popper (r934) ermöglichte,
der Induktion jeglichen logischen Status abzusprechen.
142 1 MICHEL CALLON
11 1 Das hier entwickelte Argument ist in gewisser Hinsicht dem von Weber
(1965) ähnlich. Für Weber wird der Soziologe von seinen eigenen Werten geleitet
und wählt das zu untersuchende Problem und die Elemente der Realität, die ihm
am wichtigsten zu sein scheinen. Erst nach einer solchen Reduktion einer unend
lich komplexen Realität kann der Soziologe eine korrekte Arbeit beginnen. Das
Prinzip der generalisierten Symmetrie stattet den Soziologen-Beobachter mit analo
gem Ermessensspielraum aus. Im Prinzip ist die Auswahl an Repertoires ganz frei.
Die einzige Beschränkung besteht darin, dass sie sich sowohl auf die Natur als auch
auf die Gesellschaft beziehen müssen.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 143
wechseln, wenn wir uns von den technischen zu den sozialen Aspekten des
untersuchten Problems hin bewegen. Wir hoffen, dass das Übersetzungs
repertoire, das nicht demjenigen der untersuchten Akteure entspricht, den
Leser überzeugen wird.
Das dritte Prinzip betrifft die freie Assoziation. Der Beobachter muss
alle a-priori-Unterschiede zwischen natürlichen und sozialen Ereignissen
verwerfen. Er muss die Hypothese einer definierten, die beiden Bereiche
trennenden Grenze ablehnen. Solche Trennungen sind konfliktreich, denn
sie sind das Ergebnis und nicht der Ausgangspunkt der Analyse. Des Wei
teren muss der Beobachter berücksichtigen, dass das Repertoire der von
ihm verwendeten Kategorien, der mobilisierten Entitäten und deren Bezie
hungen zwischen ihnen insgesamt Themen für die Diskussionen der
Akteure sind. Statt ihnen ein vorbestimmtes Analyseraster aufzuerlegen,
folgt der Beobachter den Akteuren, um herauszufinden, wie sie die ver
schiedenen Elemente definieren und in Verbindung bringen, mit denen sie
ihre Welt aufbauen und erldären - unabhängig davon, ob sie sozial oder
natürlich ist (Law 1986).
Im nachfolgenden Text wird ein Beispiel für die Anwendung dieser
Prinzipien beschrieben. Wir möchten damit zeigen, dass man die Gesell
schaft genau wie die Akteure in Frage stellen und erklären kann, wie sie
ihre jeweiligen Identitäten, ihren gegenseitigen Handlungsspielraum und
den Bereich der ihnen offen stehenden Wahlmöglichkeiten definieren. Wir
hoffen zeigen zu können, dass die Geschichte zu einem besseren Ver
ständnis der Entstehung und Entwicklung von Machtbeziehungen beitra
gen kann, weil alle auftretenden Fluktuationen erhalten sind. In der hier
nachvollzogenen Episode hängt die Fähigkeit bestimmter Akteure, andere
Akteure zu einer Zusammenarbeit zu bringen - ob sie Menschen, Institu
tionen oder natürliche Entitäten sind-, von einem komplexen Netz von
Wechselbeziehungen ab, in dem Gesellschaft und Natur eng verflochten
sind.
wirtschaftlich von Bedeutung, weil die Fischer davon überzeugt sind, dass
die Verbraucher beschalte Muscheln vorziehen.
Während der 197oer Jahre schrumpfte der Bestand bei Brest immer
mehr. Dies wurde verursacht durch die kombinierte Wirkung von natürli
chen Feinden (Seestern), einer Reihe schwerer Winter mit einem Absinken
der Wassertemperatur - und Fischern, die, um den unersättlichen Ver
brauchern zu genügen, das ganze Jahr hindurch den Meeresgrund von
Kammmuscheln freibaggerten, ohne ihnen Zeit zur Reproduktion zu
geben. Die Produktion von St. Brieuc hatte zur selben Zeit ebenfalls stetig
abgenommen, aber in der dortigen Bucht konnte glücklicherweise eine
Katastrophe verhindert werden. Es gab weniger Fressfeinde, und die Vor
liebe der Konsumenten für beschalte Kammmuscheln zwang die Fischer,
während der Hälfte des Jahres an Land zu bleiben. Als Folge dieser Fakto
ren nahm der Bestand in der St. Brieuc-Bucht weniger drastisch ab als in
Brest. 12
Gegenstand dieser Untersuchung ist die Analyse der zunehmenden
Entwicklung neuer sozialer Beziehungen durch die Konstituierung >wis
senschaftlicher Kenntnisse< während der 197oer Jahre.'3 Die Geschichte
beginnt auf einer 1972 in Brest abgehaltenen Konferenz. Wissenschaftler
und Vertreter der Fischer trafen sich, um zu prüfen, ob durch Kontrolle der
Kultivierung dieser Schalentiere ihre Produktionsmenge gesteigert werden
könnte. Die Diskussionen drehten sich um die folgenden drei Elemente:
(1) Drei Forscher, Mitglieder des CNEX0'4, haben anlässlich einer Reise
(3) Die Fischerei war auf einem solch extensiven Niveau betrieben worden,
dass die Folgen dieser überfischung in der St. Brieuc-Bucht sichtbar zu
werden begannen. Brest war bereits praktisch von der Landkarte der
Kammmuschelfischerei gestrichen worden. Die Produktion in St. Brieuc
hatte stetig abgenommen. Die Kammmuschelindustrie von St. Brieuc war
besonders lukrativ gewesen und die Repräsentanten der Fischer begannen,
sich um den schwindenden Bestand zu sorgen. Der Rückgang der Kamm
muschelpopulation schien unvermeidlich und viele fürchteten, dass sich
die Katastrophe von Brest auch in St. Brieuc wiederholen könnte.
15 1 Zwei Beispiele zeigen das Ausmaß der Unkenntnis sowohl bei den Fischerei
Fachleuten wie auch bei den Fischern. Während der ganzen 197oer Jahre waren
sich Fachleute nicht einig - ohne jemals Experimente durchgeführt zu haben -, ob
die Kammmuscheln mit nicht-dauerhafter Schale dieses Merkmal beibehalten wür
den, wenn sie in Regionen verfrachtet werden, wo Kammmuscheln dauerhafte Scha
len haben. Wiederum behaupteten Fischer, im Gegensatz zu den Spezialisten, dass
Kammmuscheln in der Lage sind, sich auf dem Meeresgrund zu bewegen. Anfang
der 198oer Jahre war eine Reihe von Experimenten erforderlich, um den ersten
Punkt zu klären. Es wurde nachgewiesen, dass schottische Kammmuscheln mit
dauerhafter Schale dieses Merkmal bewahrten, wenn sie in die St. Brieuc-Bucht ver
legt wurden. Bezüglich des zweiten Punktes war es nur mit Hilfe eines Videofilms
möglich, die Fischer davon zu überzeugen, dass derartige Verschiebungen von
Kammmuscheln durch die Meeresströmung verursacht werden.
146 1 MICHEL CALLON
Die Forscher schrieben nach ihrer Heimkehr eine Reihe von Berichten und
Artikeln, in denen sie die Eindrücke ihrer Reise und die Projekte vorstell
ten, die sie in Zukunft zu lancieren gedachten. Sie hatten mit eigenen
Augen gesehen, wie sic;h die Larven selbst in Kollektoren verankern und
sich ungestört entwickeln, da sie vor Fressfeinden geschützt sind. Ihre
Frage ist einfach und lautet: Ist diese Erfahrung auf Frankreich übertrag
bar, insbesondere auf die Bucht von St. Brieuc? Da die Forscher wissen,
dass die Spezies von St. Brieuc (Pecten maximus) sich von jener in japani
schen Gewässern (Pecten patinopecten yessoensis) unterscheidet, kann keine
klare Antwort gegeben werden. Niemand widerspricht den Ausführungen
der Forscher; daher nehmen wir an, dass ihre Behauptungen für unbe
streitbar gehalten werden. Somit wirft die Aquakultur der Kammmuscheln
in St. Brieuc ein Problem au[ Keine Antwort kann auf folgende entschei
dende Frage gegeben werden: Verankert sich die Pecten maximus selbst
während der ersten Momente ihrer Existenz? Andere ebenso wichtige
Fragen gesellen sich dazu: Wann findet die Metamorphose der Larven
statt? Wie schnell wachsen die Jungen heran? Können genug Larven in den
Kollektoren verankert werden, um das Projekt zur Repopulation der Bucht
zu rechtfertigen?
In ihren verschiedenen schriftlichen Dokumenten beschränkten sich
die drei Forscher nicht auf die einfache Formulierung der oben genannten
Fragen. Sie bestimmten ein Set von Akteuren und definierten ihre Identitä
ten auf solche Weise, dass sie sich selbst als einen obligatorischen Pas
sagepunkt im von ihnen geknüpften Netzwerk von Beziehungen einführ
ten. Diese zweifache Handlung, die sie im Netzwerk unentbehrlich macht,
nennen wir »Problematisierung«.
Die von den drei Forschern formulierten Fragen und die dadurch hervor
gerufenen Kommentare verwickeln drei andere Akteure direkt in die Ge
schichte'7: die Kammmuscheln (Pecten maximus), die Fischer der St.
Brieuc-Bucht und die wissenschaftlichen Kollegen.18 Die Definitionen
dieser Akteure, wie sie im Bericht der Wissenschaftler präsentiert werden,
sind ziemlich grob. Sie genügen jedoch, um zu erklären, wie diese Akteure
notwendigerweise von den verschiedenen formulierten Fragen unaus
weichlich betroffen sind. Die Definitionen der drei Forscher können fol
gendermaßen zusammengefasst werden:
17 1 Der Begriff »Akteur« wird in gleicher Weise benutzt, wie Semiotiker die Be
zeichnung »Aktant« verwenden (Greimas/Courtes 1979; Latour 1984). Für die Im
plikation externer Akteure bei der Konstruktion ,wissenschaftlichen Wissens, oder
von Artefakten vgl. die Art und Weise, in der Pinch/Bijker (1984) den Begriff einer
sozialen Gruppe verwenden. Der hier vorgeschlagene Ansatz unterscheidet sich da
von in verschiedener Hinsicht: Erstens ist, wie wir später vorschlagen werden, die
Liste der Akteure nicht auf soziale Entitäten beschränkt; zweitens - und noch wich
tiger - wird die Definition von Gruppen, ihren Identitäten sowie ihren Wünschen
während des Prozesses der Übersetzung konstant ausgehandelt. Folglich handelt es
sich nicht um vorgegebene Daten, sondern sie nehmen die Form einer Hypothese
(einer Problematisierung) an, die von bestimmten Akteuren eingeführt und an
schließend abgeschwächt, bestätigt oder transformiert wird.
18 1 Bezüglich der Definition von konstitutiven Einheiten vgl. Latour/Strum
(1986).
148 1 MICHEL CALLON
a) Die Fischer von St. Brieuc: Sie fischen Kammmuscheln bis zum letzten
Exemplar, ohne sich um den Bestand zu sorgen.'9 Sie machen große
Profite; wenn sie jedoch ihre eifrigen Fangbemühungen nicht verlangsa
men, werden sie sich selbst ruinieren. Von diesen Fischern wird jedoch
angenommen, dass sie sich ihrer langfristigen ökonomischen Interessen
bewusst sind, folglich am Projekt zur Repopulation der Bucht interessiert
sind und die Studien billigen, die zur Erreichung dieses Planes lanciert
wurden. Über ihre Identität wird keine andere Hypothese aufgestellt. Die
drei Forscher geben keinen Kommentar ab über eine einheitliche sozia
le Gruppe. Sie definieren einen durchschnittlichen Fischer als eine grund
legende Einheit einer Gemeinschaft, die aus austauschbaren Elementen
besteht.
c) Die Kammmuscheln von St. Brieuc: Eine besondere Art ( Pecten maximus),
die nach Meinung aller Beteiligten nur sechs Monate im Jahr beschalt ist.
Diese Muscheln sind nur im ausgewachsenen Zustand je gesehen worden,
wenn sie jeweils aus dem Meer gefischt wurden. Die Frage, die von den
drei Forschem gestellt wird, geht davon aus, dass die Kammmuscheln sich
selbst verankern können und eine Unterkunft >akzeptieren<, die es ihnen
ermöglicht, sich zu vermehren und zu überleben.20
1.9 1 Ein geringfügiger Gewinn nimmt als Funktion des natürlichen Bestandes
(verstreut oder konzentriert) und der Nachfrage der Konsumenten mehr oder weni
ger rasch ab. Im Falle der Kammmuscheln kombinieren sich diese Parameter, um
das Einfangen der letzten Kammmuschel rentabel zu machen.
20 1 Der Leser sollte diese Phrasen nicht einem Anthropomorphismus zuschrei
ben! Die Gründe für das Verhalten der Kammmuscheln - ob diese in ihren Genen,
in göttlich bestimmten Schemen oder irgendetwas anderem liegen - sind wenig
wichtig! Das einzig Wichtige ist die Definition ihres Verhaltens durch die verschie
denen identifizierten Akteure. Man ist in gleicher Weise der Meinung, dass sich die
Kammmuscheln selbst verankern und dass die Fischer ihre kurzfristigen ökonomi·
sehen Interessen verfolgen. Deshalb handeln sie.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 149
was sie wollen. Sie präsentieren sich selbst als »Grundlagen«-Forscher, die
- von der ausländischen Leistung beeindruckt - versuchen, das verfügbare
Wissen auf eine Spezies anzuwenden, die zuvor nie gründlich untersucht
worden ist. Mit der Durchführung dieser Untersuchung hoffen diese For
scher, das Leben der Fischer zu erleichtern und den Bestand an Kammmu
scheln in der St. Brieuc-Bucht zu erhöhen.
Dieses Beispiel zeigt, dass die Problematisierung keine bloße Reduk
tion der Studie auf eine einfache Formulierung darstellt, sondern vielmehr
Elemente - wenigstens teilweise und lokal - berührt, die Teile der sozialen
und der natürlichen Welt sind. Eine einzige Frage - verankert sich Pecten
maximus? - genügt, um eine ganze Reihe von Akteuren zu involvieren,
indem man ihre Identitäten und wechselseitigen Verbindungen festlegt.21
Die drei Forscher beschränken sich nicht einfach darauf, einige Akteure zu
identifizieren. Sie zeigen auch, dass es im Interesse der Akteure ist, das
vorgeschlagene Forschungsprogramm zu unterstützen. Das Argument,
das sie in ihrer Arbeit entwickeln, wird konstant wiederholt: Wenn die
Kammmuscheln überleben wollen (unabhängig davon, welche Mechanis
men diesen Impuls erklären), wenn die wissenschaftlichen Kollegen ihr
Wissen auf diesem Gebiet zu erweitern hoffen (was auch immer ihre Moti
vationen sein mögen), wenn die Fischer ihre langfristigen ökonomischen
Interessen zu wahren hoffen (was auch immer ihre Gründe sind), dann
müssen sie:
2:1. 1 Hindess (1982) hat den verhandlungsfähigen Charakter von Interessen gut
aufgezeigt. Man muss jedoch weitergehen: Die Identitäten der Akteure selbst sind
Fragen ausgesetzt, wenn es darum geht, ob sie von Werten, Interessen oder Wün
schen bewegt werden. Zu diesem Punkt vgl. Callon/Law (1982).
22 1 Für vergleichbare Analysen vgl. Callon (1981) und Latour (1984).
150 1 MICHEL GALLON
Abbildung 1
Der obligatorische
Passage-Punkt (OPP)
droht, die bereit sind, sie auszurotten; die nach kurzfristigen Profiten gie
renden Fischer riskieren ihr langfristiges überleben; wissenschaftliche Kol
legen, die ihr Wissen erweitern wollen, sind verpflichtet, den früheren
Mangel an unverzichtbaren Beobachtungen von Kammmuscheln in situ
zuzugeben. Für die drei Forscher dreht sich ihr ganzes Projekt um die Fra
ge der Verankerung von Pecten maximus. Für diese Akteure sind die Alter
nativen klar: Entweder ändert man die Richtung oder anerkennt den For
schungsbedarf über die Art und Weise, wie die Larven sich selbst veran
kern.23
Wie Abbildung 2 zeigt, beschreibt die Problematisierung ein System
von Allianzen oder Assoziationen 24 zwischen Entitäten, die dadurch die
Identität und das, was sie >Wollen<, definieren. In diesem Fall muss eine
,Heilige Allianz< gebildet werden, um die Kammmuscheln der St. Brieuc
Bucht dazu zu bringen, sich zu vermehren.
23 1 Wie sich aus der etymologischen Ableitung ergibt, bezeichnet das Wort »Pro
blem« Hindernisse, die auf dem Pfad eines Akteurs aufgestellt sind und seine Be
wegungsfreiheit einschränken. Diese Terminologie wird auf eine Art verwendet, die
sich von der in der Wissenschaftsphilosophie und Epistemologie geläufigen voll
ständig unterscheidet. Probleme werden nicht spontan vom Zustand des Wissens
oder von der Dynamik des Forschungsfortschritts generiert. Vielmehr ergeben sie
sich aus der Definition und Interrelation von Akteuren, die zuvor nicht miteinander
verbunden waren. Problematisieren bedeutet gleichzeitig, eine Reihe von Akteuren
und Hindernissen zu definieren, die sie davon abhalten, die ihnen zugeschriebenen
Ziele oder Vorhaben zu verwirklichen. Probleme und die postulierten Äquivalenzen
zwischen ihnen ergeben sich somit aus der Interaktion zwischen einem gegebenen
Akteur und all den sozialen und natürlichen Entitäten, die sie definiert und für die
sie unentbehrlich zu werden scheint.
24 1 Zum Begriff »Assoziation« vgl. Callon/Latour (1981).
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG J 151
l
eine Reihe von Machtproben vorbereitet, deren Ergebnis die Solidität der
Problematisierung unserer Forscher bestimmen wird.
Abbildung 2
l�
von Informationen
OPP über Pecten maximus
1
Ziele der
Entitäten
25 1 Ein gutes Beispiel für solch eine Veränderung des Zustandes kann bei Tracy
Kidder (1982) gefunden werden. Dort wird beschrieben, wie der Computer in Ge
sprächen Gestalt annimmt, die in einen Computer auf Papier umgewandelt werden,
der wiederum in ein Netzwerk von Kabeln und geschlossenen Schaltkreisen trans
formiert wird. Zur philosophischen Diskussion der Realisation und Nicht-Realisation
vgl. »Irreductions« (Latour 1984).
r
formulierten sie ihre Identität und ihre Ziele auf eine völlig unabhängige
Art. Sie werden erst im Laufe der Aktion geformt und angepasst.26
Das Interessement umfasst die Gruppe von Aktionen, durch welche ei
ne Entität (hier die drei Forscher) versucht, die Identität der anderen Ak
teure, die sie durch ihre Problematisierung definiert, zu bestimmen und zu
stabilisieren. Verschiedene Vorgehensweisen werden benutzt, um diese
Aktionen durchzuführen.
Warum spricht man von Interessement? Die Etymologie dieses Wortes
rechtfertigt seine Wahl. Interessiert sein bedeutet, dazwischen zu sein (in
ter-esse), d.h. zwischengeschaltet zu sein. Aber zwischen was? Kehren wir
zu den drei Forschem zurück. Während ihrer Problematisierung verbinden
sie ihre Kräfte mit denen der Kammmuscheln, der Fischer und ihrer Kolle
gen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Indem sie so handeln, definie
ren sie sorgfältig die Identität, die Ziele oder die Neigungen ihrer Verbün
deten. Diese Alliierten werden versuchsweise in die Problematisierung an
derer Akteure verwickelt. Ihre Identitäten werden folglich auf andere kon
kurrierende Weisen definiert. Den Interessementbegriff sollte man in die
sem Sinn verstehen. Andere Akteure zu interessieren, bedeutet Schranken
aufzubauen, die zwischen sie und jene anderen Entitäten gestellt werden
können, die ihre Identitäten auf andere Weise definieren wollen. A interes
siert B, indem er alle Verbindungen zwischen B und der unsichtbaren
(oder zeitweise ziemlich sichtbaren) Gruppe anderer Entitäten C, D, E
usw., die sich selbst mit B verbinden wollen, trennt oder schwächt. 27
Die Eigenschaften und die Identität von B (ob es sich um Kamm
muscheln, wissenschaftliche Kollegen oder Fischer handelt) werden wäh
rend des Interessement-Prozesses konsolidiert und/oder neu definiert. B
ist das >Resultat< der Assoziation, die ihn mit A verbindet. Diese Verbin
dung grenzt B von den C, D und E (wenn sie existieren) ab, die ihm ihrer
seits eine andere Definition zu geben versuchen. Wir nennen diese ele
mentare Beziehung, welche die soziale Verbindung zu formen und zu
konsolidieren beginnt, das »Dreieck des Interessement«. 28
26 1 Dies ist zweifelsohne der wichtigste Lehrinhalt von Touraines Soziologie. Der
Akteur existiert nicht außerhalb der Beziehungen, die er eingeht. Seine Identität
schwankt parallel zu ihnen (Touraine 1974). Darin unterscheidet sich Touraine von
Bourdieu (1972, 1975), wo der Akteur - den dieser den Agenten nennt - in Bezug
auf bestimmte Grundeigenschaften definiert ist.
27 1 Serres (1983) verwendet den Begriff »Interesse« in einer ähnlichen Art, aber
die daraus gezogenen Schlüsse sind ganz anders. Für ihn sterilisieren Interessen
das Wissen, weil sie sich zwischen das Letztere und dessen Objekt stellen. Das ge
wählte Argument ist überzeugend (Alexander, der zwischen Diogenes und seiner
Sonne steht), aber seine Interpretation ist falsch, wie neue Entwicklungen in der
Wissenschaftssoziologie gezeigt haben.
28 1 Hier wird keine Hypothese über die Natur oder Größe von A, B, C, D, E etc.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 153
Abbildung3
�D
�E
geboten. Sie können soziale Klassen, die sich wechselseitig definieren (Touraine
1974), Vater und Sohn, die durch den Ödipus-Komplex verbunden sind, Grundme
chanismen des Nachahmungsdranges (Girard 1982) oder aber Kammmuscheln
sein, die von Forschern interessiert werden.
29 1 Zur Analyse dieses Prozesses vgl. Thevenot (1984) und sein Konzept der In
vestition in Formen.
154 1 MICHEL GALLON
Abbildung 4
Strömungen
Die drei
Forscher
•E •
Gesammelte
Larven /
�Fischer
30 1 Sobald die Schale geformt ist, bildet sie einen wirkungsvollen Schutz gegen
bestimmte Fressfeinde wie den Seestern.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG J 155
Das Enrolment:
Wie die Rollen zu definieren und zu koordinieren sind
»Ein Großteil der Erfolgsschwankungen wird verursacht durch die Art, in der Para
siten angezogen werden. Wir hatten viele Besucher, die Unfälle provozierten, Leinen
verschoben oder Kollektoren verwickelten. Dies verursachte sofort negative Resulta
te. Es scheint, dass die Kammmuscheln in Bezug auf alle Manipulationen (verscho
bene Leinen, Kollektoren, die gegeneinander reiben, usw.) äußerst empfindlich rea
gieren, indem sie sich von ihren Stützen abtrennen.« (Ebd.)
Die Aufzählung kann fortgesetzt werden. Ein wahrer Kampf wird ausge
fochten. Strömungen und Besucher sind nur einige der Einflüsse, die den
Allianzen entgegenwirken, welche die Forscher mit den Kammmuscheln
schmieden möchten. 33 Im Dreieck A-B-C, von dem wir zuvor gesprochen
haben, gibt die Partei C, die ausgeschlossen werden soll (ob sie Strömun
gen oder Seestern genannt wird), nicht so leicht auf. C (der Seestern) hat
die Möglichkeit, die Beziehungen zwischen A (den Forschern) und B (den
Larven) zu unterbinden. C tut dies, indem er B (die von allen begehrten
Larven) einem eigenen Prozess des Interessement unterzieht.
Die Aufzählung der Forscher ergibt, dass die Verankerungen »zwi
schen 5 Metern über dem Meeresgrund und dem Meeresgrund selbst«
zahlreicher sind. Dies liegt sowohl an der Tiefe als eventuell auch am Ver
halten der Kammmuscheln bei der Verankerung: Die Larven lassen sich
sinken und verankern sich am ersten Hindernis, das ihr Hinabsinken auf
hält (Buestel/Dao 1974).
Das Schlepptau, ein Werkzeug des Interessement, zeigt dem Beobach
ter das Niveau der Verankerung. Die Hypothesen und Interpretationen der
Forscher sind nichts als ein Verhandlungsprogramm: Larven, sollen wir
auf dem Grund der Bucht nach euch suchen oder sollen wir auf eurem
Weg nach unten warten, um euch beim Sinken einzufangen?
Dies ist jedoch bei Weitem nicht alles. Die Forscher sind zu jeder Art
von Zugeständnis bereit, um die Larven in ihre Falle zu locken. Welche Art
von Materialien bevorzugen die Larven, um sich selbst daran zu verankern?
»Es wurde beobachtet, dass die Entwicklung der Kammmuscheln mit aus Stroh,
Ginster oder Rosshaar angefertigten Kollektoren langsamer war. Diese Arten von
Stützen sind zu engmaschig und verhindern eine hinreichende Wasserzirkulation
durch die Kollektoren.« (Ebd.)
Auf diese Art wird immer wieder ein modus vivendi arrangiert. Wenn all
diese Konditionen erfüllt sind, dann werden sich die Larven in signifikan
ter Weise selbst verankern. Aber was bedeutet das Adjektiv »signifikant«?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir - analog der in Paris abgehal
tenen, drei Seiten beteiligenden Vietnam-Konferenz - den zweiten Akteur
einführen, mit dem die drei Forscher verhandeln müssen: die wissen
schaftlichen Kollegen.
Zu Beginn existierte ein allgemeiner Konsens: Die Idee, dass Kamm
muscheln sich verankern, wurde nicht diskutiert.34 Die ersten Resultate
wurden jedoch nicht ohne Vorverhandlungen akzeptiert. Die Vorgabe
»Pecten maximus verankert sich selbst in ihrem Larvenzustand« ist eine
Behauptung, welche die in St. Brieuc durchgeführten Experimente eventu
ell in Frage stellen. In bestimmten Kollektoren wurden keine Verankerun
gen beobachtet, und die Anzahl der Larven, die sich auf den Kollektoren
verankerten, erreichten nie die japanischen Niveaus. In welchem Ausmaß
kann bestätigt und akzeptiert werden, dass Kammmuscheln sich im All
gemeinen selbst verankern? Die drei Forscher sind auf diesen Einwand
vorbereitet, weil sie in ihrer ersten Mitteilung bestätigen, dass die beobach
teten Verankerungen nicht zufällig erfolgten: In diesem Zusammenhang
sehen wir die Bedeutung der Verhandlungen, die mit den Kammmuscheln
geführt wurden, um das Interessement zu steigern, und der Lockangebote,
die gemacht wurden, um die Larven (Rosshaar anstelle von Nylon usw.)
festzuhalten. Mit den wissenschaftlichen Kollegen waren die Verhandlun
gen einfach: Die Diskussion der Resultate zeigte, dass sie bereit waren, an
das Prinzip der Verankerung zu glauben, und das Experiment für überzeu
gend hielten. Die einzige Bedingung, welche die Kollegen stellten, war die
Anerkennung der Existenz früherer Arbeiten, welche - wenn auch unvoll
kommen - die Fähigkeit der Kammmuscheln zur Verankerung vorherge
sagt hatten.35 Unter dieser Bedingung wurde die von den Forschem zuge-
zu erinnern, dass die Biologie von Pecten etwas besser bekannt war, als sie uns
glauben machten.«
36 1 »Offensichtlich ist dies eine sehr interessante Beobachtung. Unsere Erfah
rung zeigt, dass sich im Allgemeinen nach getaner Arbeit die Zungen lösen und
Informationen kommen. Beispielsweise hatten die ·Fischer nie gesehen, dass
Kammmuscheln sich mit Haftfäden fixieren. Nachdem wir jedoch gezeigt haben,
dass sie auf diese Weise fixiert sind, wussten die Fischer, wo entdeckt werden könn
te, dass sie auf diese Weise fixiert sind, wo diese Muscheln gefunden werden kön
nen und wo sie vorher waren. Ich glaube, dass dies noch mehr für die wissenschaft
liche Information gilt.« (Ebd.) Bezüglich Diskussionen über Vorgänger und die Art,
in der ihnen Glauben geschenkt wird, vgl. besonders Brannigan (1979).
160 1 MICHEL GALLON
sind, wird anerkannt, dass ihre Anzahl begrenzt ist. Wenige Larven werden
als offizielle Repräsentanten einer anonymen Masse von Kammmuscheln,
die still und schwer zugänglich auf dem Ozeanboden liegen, betrachtet.
Die drei Forscher führen den Prozess des Interessement der Kamm
muscheln an einer Hand voll Larven aus, die all die unzählbaren anderen re
präsentieren, welche der Gefangenschaft entgehen. Diese Massen wider
sprechen niemals den Kammmuscheln, die sich verankern. Was auf einige
zutrifft, gilt für die ganze Population. Wenn die CBI (Confederation of Bri
tish Industry) mit Gewerkschaftsdelegierten verhandelt, betrachtet sie die
Letzteren als Vertreter aller Arbeiter. Diese kleine Anzahl von Individuen
spricht im Namen aller anderen. Die Epistemologen sprechen von Induk
tion und die Politikwissenschaftler verwenden den Begriff des Sprechers.
Die Frage jedoch bleibt dieselbe: Werden die Massen (Arbeitgeber, Arbei
ter, Kammmuscheln) ihren Vertretern folgen? 37 Die Repräsentation ist
auch ein Problem bei den Transaktionen der Forscher mit den Kollegen
und den Fischern. Korrekt ausgedrückt, ist es nicht die wissenschaftliche
Welt ·als Ganze, die überzeugt ist, sondern sind es einige wenige Kollegen,
welche die Publikationen lesen und die Konferenz besuchen. Es sind nicht
die Fischer, sondern deren offizielle Repräsentanten, die den Experimenten
grünes Licht geben und das Projekt zur Repopulation der Bucht unterstüt
zen. In beiden Fällen wurden einige wenige Individuen stellvertretend für
Massen von anderen (zumindest erheben sie den Anspruch, diese zu re
präsentieren) »interessiert«. Die drei Forscher haben nur zu einigen Re
präsentanten eine Beziehung hergestellt, ob es sich um Larven in einem
Kollektor, Delegierte oder wissenschaftliche Kollegen handelt, die an einem
Kolloquium teilnehmen. Es mag so scheinen, dass die Situationen nicht
vergleichbar sind. Die Delegierten und Kollegen sprechen für sich, wäh
rend die Larven still sind. Einerseits handelt es sich um wirkliche Sprecher,
anderseits sind die verankerten Larven nur Repräsentanten. Bei näherer
Analyse verschwindet jedoch dieser Unterschied.
Kehren wir zu den Kammmuscheln zurück. Die Larven, die sich selbst
im Kollektor verankern, sind >gleich< den Kammmuscheln der St. Brieuc
Bucht. Sie drücken nichts aus, haben jedoch wie die Fischer am Ende ei
nen authentischen Sprecher. Wie wir gesehen haben, drehen sich die Ver
handlungen zwischen den Kammmuscheln und den Forschern um die
Frage: Wie viele Larven können eingefangen werden? Die Tatsache, dass
diese Anzahl zum Hauptthema der Diskussion wird, entspricht nicht einer
absoluten Notwendigkeit. Durch das Zählen der Larven möchten die drei
Forscher wissen, worauf sie sich in ihren Verhandlungen mit ihren Kolle
gen und den Fischern stützen können. Ihre Gesprächspartner zollen der
Anzahl von Verankerungen besondere Aufmerksamkeit: einerseits um von
37 1 Dies ist nur ein besonderes Beispiel für das allgemeine Problem der Induk
tion.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG I r6r
38 1 Gleich zu Beginn der Experimente sammelten die drei Forscher die St.
Brieuc-Kollektoren ein und transportierten sie zu ihrem Labor in Brest. Erst nach ihrer
Ankunft in Brest und in Gegenwart von aufmerksamen Kollegen wurden die Larven
aus den Kollektoren genommen und auf eine nahe der spanischen Brücke aufge
stellten Palette verteilt und gezählt. Es gibt keinen Unterschied zwischen diesem
Vorgang und dem, was nach der Stimmabgabe geschieht; die Lokale schließen und
die Wahlurnen werden versiegelt. Diese werden erst unter dem wachsamen Blick
der um die zum Auszählen aufgestellten Tische versammelten Wahlprüfer wieder
geöffnet.
39 1 Man muss im Detail zeigen, wie man wählt, d.h., wie eine Zählung in ein
»Enrolment« und in Machtbeziehungen transformiert werden kann - ob dies Lar
ven oder Fischer betrifft. Dies zu tun bedeutet, Licht auf die fundamentalen Gründe
zu werfen, warum (ob in Politik oder Wissenschaft) die Arithmetik eine zentrale
Rolle spielt.
40 1 Diese allgemeine Definition von Repräsentation wirft Licht auf den Begriff
der mentalen Repräsentation, wie er in der kognitiven Psychologie verwendet wird.
162 1 MICHEL GALLON
Mechanismus: dieselbe Kaskade von Vermittlern, die Schritt für Schritt die
Anzahl der repräsentativen Gesprächspartner reduziert. Die wenigen Kol
legen, welche die verschiedenen Konferenzen oder Seminare besuchen,
sprechen im Namen aller involvierten Forscher.4' Sobald die Transaktion
erfolgreich abgeschlossen ist, gibt es drei Individuen, die im Namen der
Spezialisten und damit auch im Namen der Kammmuscheln und der Fi
scher sprechen.
Das unten stehende Schema zeigt, wie so verschiedene Entitäten wie
Pecten maximus, die Fischer von St. Brieuc und das Gremium von Spezia
listen durch dazwischengeschaltete Sprecher konstruiert werden.
Die Verwendung des Begriffes »Sprecher« für alle auf verschiedenen
Stufen des Repräsentationsprozesses beteiligten Akteure bereitet kein
Problem. Für andere zu sprechen bedeutet zunächst, jene zum Schweigen
zu bringen, in deren Namen man spricht. Es ist sicher sehr schwierig,
menschliche Wesen auf eine definitive Art zum Schweigen zu bringen,
aber es ist noch schwieriger, im Namen von Entitäten zu sprechen, die kei
ne verständliche Sprache besitzen: Dies setzt einen Bedarf an kontinuierli
chen Anpassungen und weit höher entwickelten Werkzeugen des Interes
sement voraus.4
2
41 1 Im Verlauf der Diskussion kam der Forscher, nach dessen Meinung die Teil·
nehmer konstant fragten, zu folgendem Urteil: »Lassen Sie mich die Tatsache un·
terstreichen, dass diese sehr bemerkenswerte Kommunikation einen wichtigen
Schritt in unserer Kenntnis über das Wachstum von Pecten maximus markiert.«
42 1 Dies impliziert nicht, dass alle Fischer die von ihren Delegierten übemom·
mene Position aktiv unterstützen. Dies bedeutet vielmehr ganz einfach, dass sie die
Verhandlungen nicht unterbrechen, die ihre Delegierten mit den Wissenschaftlern
und den Larven führen. Wie die nachfolgenden Geschehnisse zeigen, kann eine Un·
terbrechung auch eintreten, ohne dass die Fischer sich öffentlich erklären.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 163
sind und wollen. Durch die Designation der sukzessiven Sprecher und die
Einsetzung einer Reihe von Äquivalenzen werden all diese Akteure zuerst
verschoben und dann zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort
wieder versammelt. Diese Mobilisierung oder Konzentration hat eine be
stimmte physische Realität, die durch eine Reihe von Verschiebungen ma
terialisiert wird (Law 1986).
Abbildung5
l
Pecten Fischer der Die Gemeinschaft
maxiumus SL
l l
verankerte Wahlvorgang Kollegen, die
Larven T diskutieren und lesen
l
Zählung der Stimmen
l
Zählung
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Die drei Forscher. ie im
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--
tiert worden. Die Wahl jedes neuen Vermittlers, jedes neuen Repräsentan
ten muss eine doppelte Anforderung erfüllen: Sie muss jede neue Ver
schiebung leichter machen und Äquivalenzen etablieren, welche die drei
Forscher zu Sprechern bestimmen. Dasselbe gilt für die Fischer, die in
Stimmzettel und dann in professionelle Delegierte verwandelt wurden, de
ren zuvor aufgezeichneten Standpunkte nach Brest gemeldet werden.
Das erzielte Resultat ist beeindruckend. Eine Hand voll Forscher erör
tert in einem geschlossenen Raum einige Diagramme und Tabellen mit
Zahlen. Diese Diskussionen verpflichten unzählige Populationen stiller Ak
teure: Kammmuscheln, Fischer und Spezialisten, die alle in Brest von eini
gen Sprechern vertreten werden. Diese unterschiedlichen Populationen
sind mobilisiert worden, d.h., sie sind von ihren Heimstätten in ein Konfe
renzzimmer verschoben worden. Sie nehmen durch zwischengeschaltete
Repräsentanten an den Verhandlungen über die Verankerung von Pecten
maximus und die Interessen der Fischer teil. Das Enrolment ist in aktive
Unterstützung umgewandelt worden. Die Kammmuscheln und die Fischer
befinden sich an einem bestimmten Tag im November 1974 an der Seite
der drei Forscher in einem Hörsaal am Ozeanographischen Zentrum von
Brest.
Wie diese Analyse zeigt, sind die Gruppen oder Populationen, in deren
Namen sich die Sprecher äußern, schwer zu fassen. Der Garant (oder der
Referent) existiert, sobald die lange Kette der Repräsentanten steht. Sie ist
das Ergebnis und nicht die Ausgangsposition. Ihre Konsistenz wird strikt
an der Solidität der eingesetzten Äquivalenzen und der Treue einiger weni
ger verstreuter Vermittler gemessen, die ihre Repräsentativität und ihre
Identität aushandeln (Hennion 1983). Wenn die Mobilisierung erfolgreich
ist, folgt: Pecten maximus existiert als eine Spezies, die sich selbst verankert;
die Fischer wollen die Repopulation und sind bereit, das experimentelle
Projekt zu unterstützen; die Kollegen sind von der Stichhaltigkeit der er
zielten Resultate überzeugt.43 Die soziale und natürliche >Realität< ist das
Resultat der allgemeinen Verhandlung über die Repräsentativität der Spre
cher. Ist der Konsens erreicht, werden die Handlungsspielräume jeder En
tität fest abgesteckt. Die anfängliche Problematisierung definierte eine Rei
he von verhandlungsfähigen Hypothesen bezüglich Identität, Beziehungen
und Zielen der verschiedenen Akteure. Jetzt, am Schluss der vier beschrie
benen Momente, ist ein zwingendes Netzwerk von Beziehungen geknüpft
worden.44 Dieser Konsens und die dadurch implizierten Allianzen können
jedoch jederzeit angefochten werden. Die Übersetzung wird zum Verrat.
45 1 Man ist nicht überrascht, dass die Kontroverse oder der Disput nicht explizit
zum Ausdruck gebracht wurde. Sogar Wähler wählen manchmal ,mit ihren Füßen<.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 167
Stelle ihrer Geschichte verlassen wir sie, um die Lehren zu überprüfen, die
aus der vorgeschlagenen Analyse gezogen werden können.
Abschließende Bemerkungen
In dieser Studie haben wir die in der Einführung formulierten drei Prinzi
pien durchgehend beachtet.
(2) Das zweite Prinzip (generalisierte Symmetrie) zwang uns, das Analy
seraster nicht zu ändern, um die Kontroversen in Verbindung mit der Na
tur und jene in Verbindung mit der Gesellschaft zu untersuchen.
Wir haben diese Vorgabe sorgfältig befolgt, indem wir durchgängig
dasselbe Vokabular verwendeten. Die Begriffe »Problematisierung«, »Inte
ressement«, »Enrolment«, »Mobilisierung« und »Dissidenz« (Kontroverse
- Betrug) wurden für die Fischer, die Kammmuscheln und die wissen
schaftlichen Kollegen verwendet. Die Terminologie wurde unterschiedslos
auf alle Akteure angewandt.
Durch Befolgen dieses Verfahrens haben wir die zweite in der Einfüh
rung erwähnte Schwierigkeit vermieden. Wir verwendeten keine sozialen
Faktoren, Normen oder besondere institutionelle oder organisatorische
Konfigurationen um zu erklären, warum Diskussionen über Kamm
muscheln oder Fischer stattfanden oder abgeschlossen wurden. Um >urbi et
orbi< festzustellen, dass Larven sich verankern, war die Mittäterschaft der
Kammmuscheln ebenso erforderlich wie die der Fischer. Diese drei Kate-
168 1 MICHEL GALLON
gorien von Akteuren sind alle gleich wichtig. Niemals kann die Gesellschaft
auf eine Machtbalance oder auf eine Reihe von Konditionen reduziert wer
den, um die Entwicklung und den Abschluss einer Kontroverse zu erklä
ren.
(3) Das dritte Prinzip (freie Assoziation), machte es möglich, all die Vari
anten zu verfolgen, welche die von den drei Forschern geschmiedeten Alli
anzen beeinflussten, ohne sie in fixe Rollen einzubinden. Nicht nur wurde
der Identität der Kammmuscheln oder der Fischer und den Repräsentan
ten ihrer Vermittler oder Sprecher (verankerte Larven, professionelle Dele
gierte usw.) zu wanken erlaubt, sondern auch den unvorhersehbaren Be
ziehungen zwischen diesen verschiedenen Entitäten gestattet, ihren Lauf
zu nehmen. Dies war möglich, weil keine a-priori-Kategorie oder -Bezie
hung verwendet wurde.
Wer hätte zu Beginn der Geschichte vorhersagen können, dass die Ver
ankerung der Kammmuscheln einen Einfluss auf die Fischer haben wür
de? Wer wäre in der Lage gewesen, die Kanäle zu erraten, durch die dieser
Einfluss ausgeübt würde? Diese Beziehungen werden erst nach Eintritt des
Ereignisses sichtbar und plausibel.
Auf diese Art wurde die dritte Schwierigkeit problemlos umgangen. Die
hier beschriebene Geschichte hat, obwohl sie sich auf die drei Forscher
konzentrierte, weder Akteure hinzugezogen, die sie selbst nicht ausdrück
lich ins Feld führten, noch den intervenierenden Entitäten irgendeine feste
Definition aufgesetzt.
Obschon dies als ein hoher Grad an Permissivität in der Analyse beur
teilt werden kann, waren die Resultate kein unbeschreibbares Chaos. Si
cher wurden die untersuchten Akteure mit verschiedenen Arten von Un
gewissheit konfrontiert. Die für sie hier vorgeschlagene Situation ist viel
weniger komfortabel als die, welche im Allgemeinen von der Wissen
schaftssoziologie vorgegeben wird. Aber ihre Kompetenzen erwiesen sich
als den aufgetretenen Schwierigkeiten gewachsen. Sie arbeiteten unabläs
sig an Gesellschaft und Natur, indem sie Entitäten definierten und verban
den, um Allianzen zu schmieden, die sich nur für einen gewissen Standort
zu einer bestimmten Zeit als stabil erwiesen haben.
Diese methodologische Wahl, in welcher die Gesellschaft als ebenso
unbestimmt und strittig betrachtet wird wie die Natur, enthüllt eine unge
wöhnliche Realität, die ziemlich getreu durch das Übersetzungsvokabular
wiedergegeben wird.
Erstens betont die Vorstellung von Übersetzung die Kontinuität der
Verschiebungen und Umwandlungen, die in dieser Geschichte auftreten:
Verschiebungen von Zielen und Interessen - und auch von Vorrichtungen,
menschlichen Wesen, Larven und Inskriptionen. Verschiebungen traten
auf jeder Stufe auf. Einige spielten eine strategischere Rolle als andere.
1,,1
li
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EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG J 169
il,
1 11
46 1 Dieser Punkt verbindet sich mit dem von Foucault (1976) vorgeschlagenen
Begriff der politischen Ökonomie der Macht.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 171
Literatur
MICHEL CALLON
Einleitung
Wenn Laboratorien und Forschungsstätten für das 20. Jahrhundert das
sind, was Klöster für das 12. waren, dann bleiben die Quellen ihrer Macht
und Wirksamkeit ein Geheimnis. Wie kommt es, dass die Ideen und
Schriften, die aus diesen Institutionen stammen, die Arbeitsbedingungen
in der Industrie, die Universen der Konsumgüter und Lebensstile - wenn
auch nur graduell - revolutionieren können? Wie werden die in Stanford,
Gif-sur-Yvette und Cambridge gemachten Entdeckungen solchermaßen
verbreitet, dass sie universell bekannt und anerkannt werden? Wie sind
technische Vorrichtungen, die in den Forschungsabteilungen französischer
oder englischer Firmen Form angenommen haben, in der Lage, Märkte in
der ganzen Welt zu erobern? Anthropologische Studien von Laboratorien
haben gezeigt, dass nichts Außergewöhnliches hinter den Mauem der
Forschungszentren stattfindet, das ihren Einfluss erklären könnte. Diese
Studien haben auch gezeigt, dass der Einfluss und die Gültigkeit von er
zielten Ergebnissen nicht der Existenz einer bestimmten wissenschaftli
chen Methode zugeschrieben werden können (Latour/Woolgar 1979;
Knorr-Cetina 1981; Lynch 1985). Obwohl Wissenschaftler bestimmten
Aktivitäten eine höhere Priorität einräumen als anderen, besitzen diese
nicht größere Exaktheit oder Logik, die einen Beobachter dazu befähigen
würde, sie von anderen zu unterscheiden. Zusätzlich hat die Erforschung
von Kontroversen die Sicht diskreditiert, dass Wissenschaft und Technik
frei von jedem Einfluss - der intellektuelle ausgenommen - sind (Collins/
Pinch 1982; Shapin 1979; MacKenzie 1978). Sie sind eher unrein und
heterogen. Wenn die Unsicherheiten, der Wandel und die Evolutionen, die
ihre Entwicklung kennzeichnen, verstanden werden sollen, dann müssen
176 \ MICHEL CALLON
Akteur-Welten
Beginnen wir also mit einem kleinen Umweg, indem wir die Frage stellen,
die für Soziologen von ständigem Interesse ist: Aus welchen Elementen
wird Gesellschaft gebildet? Soziologen glauben oft, dass sie als Disziplin
besser in der Lage sind, diese Frage zu beantworten als andere. Sind sie
nicht Spezialisten des Sozialen, die wissen, wie man mit Gruppen, Klassen,
Orientierungen, Habitus und Macht umgeht, um Verhalten zu erklären
und vorherzusagen?
Naturwissenschaftler und Technologen unterminieren stets das Wissen
und die Kompetenz der Soziologen. Der Grund dafür ist, dass sie die Ge
sellschaft kontinuierlich neu aufbauen, indem sie unvorhersehbare Varia-
DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 177
tionen und neue Verbindungen einführen. Zudem ziehen sie aus diesen
Variationen und Verbindungen ihre Macht. Mehr als andere Akteure kön
nen Technologen mit der Fähigkeit ausgestattet sein, eine Welt - ihre Welt
- zu konstruieren, ihre konstituierenden Elemente zu definieren und ih
nen eine Zeit, einen Raum und eine Geschichte zur Verfügung zu stellen
(Latour 1984; Hughes 1983). Um diese Fähigkeit zu illustrieren, werden
wir der Entwicklung einer technischen Innovation folgen, die man in den
frühen 197oer Jahren in Frankreich für höchst wichtig hielt: die des Elek
trofahrzeugs, des Vehicule Electrique (VEL).
1973 präsentierte die Electricite de France (EDF) einen Plan für das
VEL, der nicht nur die präzisen Charakteristika des Fahrzeugs festlegte,
das es fördern wollte, sondern auch das soziale Universum, in dem dieses
Fahrzeug funktionieren würde.
Zuerst definierte die EDF eine bestimmte Geschichte, indem sie eine
Gesellschaft von städtischen, post-industriellen Konsumenten beschrieb,
die sich mit neuen sozialen Bewegungen auseinander setzen musste. Das
motorisierte Auto besetzt eine höchst exponierte Position, da es einen Teil
des angefeindeten Weltbildes verkörpert. Also dient es als Ausgangspunkt
für die Konstruktion weitreichender und radikaler Forderungen, die zu
einer Zukunft führen, die nur mit Schwierigkeiten vorhergesehen werden
kann. Der Verbrennungsmotor ist der Nachkomme einer industriellen
Zivilisation, die hinter uns liegt. Der Carnot-Kreislauf und seine bekla
genswerten Nebenprodukte werden stigmatisiert, um die Notwendigkeit
anderer Formen von Energiekonversion zu demonstrieren. Einerseits wird
das Motorfahrzeug für die Luftverschmutzung und den Lärm, die die
Städte plagen, verantwortlich gemacht. Auf der anderen Seite ist es un
trennbar mit einer Verbrauchergesellschaft verbunden, in der das private
Auto ein grundlegendes Statussymbol darstellt. Der elektrische Antrieb
wird das Auto jedoch zu einem Gemeinplatz machen, indem er dessen
Leistung mindert und es auf ein simples, nützliches Objekt reduziert. Das
elektrische Auto könnte zu einer neuen Ära im öffentlichen Verkehr in den
Händen einer neuen sozialen Gruppe führen, die darum kämpft, die Be
dingungen in der Stadt durch die Mittel von Wissenschaft und Technik zu
verbessern. Das Ziel wäre, Wissenschaft und Technik in den Dienst am
Konsumenten zu stellen und soziale Kategorien, die sich durch Konsumsti
le abzugrenzen versuchen, abzulegen. Die EDF hat diese Vision auf eine
Evaluation von Prognosen über die möglichen Entwicklungen verschiede
ner Arten elektrochemischer Batterien begründet.' Zuerst könnte der
öffentliche Verkehr mit verbesserten Bleiakkumulatoren ausgestattet wer
den. Dann könnten die Akkumulatoren und Kraftstoffzellen die größeren
Märkte des privaten Transports öffnen, indem sie das VEL dazu befähigten,
Geschwindigkeiten von bis zu 90 km/h zu erreichen.
Indem sie das Verschwinden des internen Verbrennungsmotors auf
grund des Aufkommens elektrochemischer Generatoren vorhersagte und
traditionelle Konsumenten ignorierte, um Verwender mit neuen Ansprü
chen besser befriedigen zu können, hat die EDF nicht nur eine soziale und
technische Geschichte definiert, sondern auch die Hersteller identifiziert,
die für die Konstruktion des neuen VEL verantwortlich sein würden. Die
»Compagnie Generale d'Electricite« (CGE) würde gebeten werden, den
elektrischen Motor und die zweite Batteriengeneration zu entwickeln und
die Bleiakkumulatoren, die in der ersten Generation des VEL verwendet
worden waren, zu perfektionieren. »Renault« würde seine Sachkenntnis in
der Produktion traditioneller Automobile mobilisieren, um das Chassis zu
bauen und die Karosserie der Autos zu produzieren. Die Regierung würde
ebenfalls rekrutiert: Das Ministerium würde für das VEL günstige Verord
nungen formulieren; es würde die an elektrischer Beförderung interessier
ten Gemeinden subventionieren. Die Liste setzt sich fort: Gesellschaften,
die städtische Transportsysteme betreiben, würden mit Forschungszent
ren, Wissenschaftlern etc. kooperieren. Die EDF hat die Rollen definiert
und versucht dann, andere Entitäten in sie einzubinden (Enrolment).2 Sie
bindet die Funktionen dieser Rollen zusammen, indem sie eine Welt er
baut, in der alle ihren eigenen Platz haben.
Bis zu diesem Punkt sind die Entitäten dem Soziologen bekannt. Es
gibt Konsumenten, soziale Bewegungen und Ministerien. Es wäre jedoch
falsch, das-Inventar zu limitieren. Es gibt auch Akkumulatoren, Kraftstoff
zellen, Elektroden, Elektronen, Katalysatoren und Elektrolyte. Wenn die
Elektronen nicht ihre Rolle spielen oder die Katalysatoren kontaminiert
würden, wäre das Ergebnis nicht weniger verhängnisvoll, als wenn der
Konsument das Fahrzeug ablehnte; die neuen Verordnungen würden nicht
durchgesetzt oder »Renault« entschiede stur die Entwicklung des »R5«.
Der von der EDF defmierten und erbauten Welt müssen drei neue und
wesentliche Entitäten hinzugefügt werden: Zink-/Luftakkumulatoren,
Bleiakkumulatoren und Kraftstoffzellen mit ihrer Kohorte von verbunde
nen Elementen (Katalysatoren, Elektronen usw.).
Aber einen Augenblick! Die EDF ist weder eine Akteurin, die mit Tech
niken oder Kenntnissen, die bereits in der Gesellschaft vorhanden sind,
konfrontiert ist, noch ist es eine imaginäre Konstruktion, die von einem
erfahrenen Soziologen als unrealistisch betrachtet würde, noch ist sie eine
einfache Welt. Sie ist das, was wir als Akteur-Welt bezeichnen würden, eine
Welt, in der die EDF, die primär treibende Kraft, einen Teil bildet. Die EDF
legt eine Liste von Entitäten und eine Liste dessen vor, was sie tun, denken,
wollen und erfahren. Diese Entitäten sind nicht allein menschlich, da auch
wie die Akteur-Welt, die es sowohl unterstützt als auch sie von ihm unter
stützt wird. Diese Sichtweise ist durch und durch wissenschaftlich, poli
tisch und ökonomisch, weil sie eine Kombination von Elementen ist, die
aus diesen verschiedenen Bereichen entliehen wurden, von denen der
Soziologe angibt, sie voneinander unterscheiden zu können.
Wenn wir einmal akzeptiert haben, dass das VEL aus dieser Palette von
heterogenen Elementen konstruiert wird, ist die nächste Frage, die wir
stellen müssen, die, wie wir diese Konstruktion beschreiben können. Wie
wir gerade gesehen haben, ist das dasselbe als zu fragen, wie unsere Ak
teur-Welt aufgebaut ist; denn ohne die Akteur-Welt würde das technische
Objekt nicht existieren.
Übersetzung
Der Übersetzer-Sprecher
Die EDF übersetzt »Renault«, die EDF übersetzt Brennstoffzellen und die
EDF übersetzt Konsumenten. Alle diese Ausdrücke bezeichnen dieselbe
Sache. Die EDF weist »Renault« eine Identität, Interessen, eine zu spielen
de Rolle, einen zu verfolgenden Handlungsverlauf und auszuführende
Projekte zu. Die EDF charakterisiert Brennstoffzellen, die Art, wie sie
arbeiten, ihre Leistung und ihre Anwendungsweise. Die Idee der Überset
zung ist notwendig, weil dieses Enrolment (im strengen Sinn: eine Rolle
besetzen) weder vorgegeben noch eine äußere (wenn auch versteckte)
Realität ist, die eine raffinierte EDF zu verstehen und einzufangen ver
sucht. »Renault« kann etwas vollkommen anderes sein. Es kann als Auto
hersteller gesehen werden, dessen Zukunft von der Entwicklung des ben
zinbetriebenen Fahrzeugs, von der Automation des Fließbands und der
Anwendung von Elektronik im Automobil abhängt. Aber einige Jahre lang
existiert diese Wahlmöglichkeit nicht. »Renault« wird eine Firma, deren
Interessen und Fähigkeiten mit der Konstruktion von Karosserien für das
VEL verbunden sind. Also übersetzt die EDF sowohl den Willen als auch
die Projekte der mächtigen Firma in Billancourt genauso, wie sie die Be
dürfnisse, Erwartungen und Forderungen der Konsumenten und die Cha
rakteristika und Leistungen von Akkumulatoren und Brennstoffzellen
übersetzt.
Der Übersetzer ist somit der Sprecher der Entitäten, die er konstituiert.
Die EDF spricht im Namen von »Renault«, der Konsumenten und der
Brennstoffzellen genauso wie ein Politiker oder eine politische Partei im
Namen der Wählerschaft oder der sozialen Klassen sprechen, die sie zu
repräsentieren suchen. Der Übersetzer drückt ihre Wünsche, ihre gehei
men Gedanken, ihre Interessen, ihre Funktionsmechanismen aus. Dies ist
die allgemeinste Weise, dies auszudrücken, weil das, was für menschliche
Entitäten gilt, seien sie nun Kollektive oder Individuen, auch auf die ande
ren Elemente zutrifft, die eine Akteur-Welt konstituieren. Die EDF spricht
auch für Akkumulatoren, für Zellen, für Elektronen und für Katalysatoren.
Indem sie die Charakteristika von Bleiakkumulatoren etabliert, das Verhal
ten eines Elektrons an einem Katalysator beschreibt, indem sie demons
triert, dass ein billigerer Katalysator Platin ersetzen könnte, durch die
Projektion der Zukunft von Brennstoffzellen usw. bestimmt die EDF die
Identität dieser Elemente und reguliert ihr Verhalten sowie ihre Entwick
lung.
Zuerst ist Übersetzung ein Versuch. Später kann sie tatsächlich umge
setzt werden. Genauso kann »Renault« die Übersetzung blockieren und
182 J MICHEL CALLON
ihre Zukunft anders definieren. Genau das geschah, wie oben angedeutet,
einige Jahre später: »Renault« gab eine Dokumentation voller Argumente
gegen die EDF und das VEL heraus. Alles wird darin in Frage gestellt:
EDFs Version der Interessen und Projekte der Autofirma, die Möglichkeit,
Hochleistungszellen zu konstruieren, die Erwartungen der Konsumenten
und die zweifelhafte Zukunft des Fahrzeugs mit Verbrennungsmotor. Die
Akteur-Welt der EDF beginnt - gleichzeitig mit dem VEL -, in Teile zu
zerfallen. Währenddessen hat »Renault« elektrochemische Fachkenntnisse
gesammelt, Kontakte mit der Administration hergestellt und Auswertun
gen über die Reaktionen der Konsumenten erhalten. Sie sind folglich in
der Lage, sich aus ihrer Zuschauerposition zu befreien und stattdessen den
Gegenangriff zu starten. Das VEL existierte 1973, 1976 wurde es von allen
Seiten angegriffen - und existiert heute nur in der eingeschränkten Form
eines kommerziellen, mit Bleiakkumulatoren ausgestatteten Fahrzeugs.
Übersetzung wird zu Verrat, traduttore - traditore, wenn eine in eine Rolle
eingebundene Entität sich einmal weigert, in die Akteur-Welt einzutreten,
mit der Absicht, in andere zu expandieren. Da es nicht einfach ist, Entitä
ten zu übersetzen, besteht die Bestimmung der meisten Sprecher darin,
dass man ihnen brutal widerspricht.
Die Übersetzung baut aus Entitäten Akteur-Welten. Sie fügt ihnen
Charakteristika hinzu und etabliert mehr oder weniger stabile Beziehun
gen zwischen ihnen. Übersetzung ist eine Definition und Verteilung von
Rollen und die Darstellung eines Szenarios. Sie spricht für andere, jedoch
in ihrer eigenen Sprache. Sie ist eine Anfangsdefinition. Wie aber das
Beispiel von »Renault« zeigt, kann keine Übersetzung als selbstverständ
lich angenommen werden, da sie nicht ohne Widerstand entsteht. Katalysa
toren, »Renault«, Konsumenten und CGE sind nicht Entitäten mit gren
zenloser Elastizität oder gutem Willen. Die EDF muss mit ihnen umgehen
und ihre Stärke mit der eigenen messen. In der Theorie lassen die Kataly
satoren die Brennstoffzellen arbeiten. In der Praxis muss die EDF die Tat
sache einkalkulieren, dass sie zu teuer sein oder kontaminiert werden
können (was die Wissenschaftler und Ökonomen des »Institut fram;:ais du
Petrole« der EDF fortwährend sagen). In der Theorie kann »Renault«
transformiert werden und das benzinbetriebene Fahrzeug fallen lassen,
um in die Akteur-Welt der EDF gezogen zu werden. In der Praxis erweist
sich diese Modifikation nur mit Schwierigkeiten als verhandelbar. Dasselbe
gilt für die Gemeinden, die Ministerien und die Konsumenten. Überset
zung kann nicht immer als selbstverständlich angenommen werden, und
die verwendeten Strategien hängen von den bestimmten Umständen ab, in
denen sie sich entwickeln. Gewisse Gemeinden sind bereit, die für sie
vorgesehene Rolle zu akzeptieren, und gewisse elektrochemische Genera
toren stehen bereits für das VEL zur Verfügung. »Renault« hinkt jedoch
hinterher, akkumuliert Ressourcen, fordert am Ende die EDF heraus.
Erfolgreiche Übersetzung hängt von der Fähigkeit der Akteur-Welt ab,
DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 183
Übersetzung:
Eine Geographie von obligatorischen Passagepunkten
l 1
DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 185
gewesen. Die Idee der Übersetzung bringt all die Arbeit und die zugesi
cherte Einwilligung in Erinnerung, die vonnöten waren, um die scheinbar
natürliche Ordnung, in der sich jedes Element mit dem anderen verbindet,
zu erreichen.
3 1 Es gibt hier eine Analogie zur wissenschaftlichen Theorie. Wie Hesse (1974)
so stringent argumentiert, bringt Beschreibung immer einen Informationsverlust
und Vereinfachung mit sich. Die Letztgenannte ist nicht notwendigerweise eine
machiavellische Taktik.
186 j MICHEL GALLON
Akteur-Welt •
EDF
• •
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Brennstoffzellen
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4 1 Zum Begriff des Black-Boxing als Form der Vereinfachung vgl. Callon
(1981b) und Law (1984b).
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DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 187
Hinter jeder Entität verbirgt sich eine Reihe anderer Entitäten, die sie mehr
oder weniger effektiv zusammenhält. Wir können von ihnen wenig sehen
oder wissen, bevor sie demaskiert werden. Wasserstoff-Brennstoffzellen
und Zink-/Luft-Akkumulatoren sind zwei der Elemente, die die Akteur
Welt der EDF bilden. Die Kontroversen, die sich jedoch in ihrem Namen
entwickelten, trennten sie schnell in eine Reihe anderer Elemente (ver
gleichbar einer Uhr, die ein Uhrmacher auseinander nimmt, um herauszu
finden, wo der Fehler steckt). Also ist Vereinfachung - ebenso wie Über
setzung - niemals garantiert: Sie muss immer getestet werden. Die Kataly
satoren geben nach und die Brennstoffzelle funktioniert nicht mehr und
verursacht damit den Sturz der EDF. Was die Katalysatoren betrifft, kön
nen die Elektrolyte in eine Reihe von Bestandteilen zerlegt werden: die
Elektronen auf dem Platin und die abwandernden Ionen. Jedes dieser Ele
mente wird nur dann enthüllt, wenn sie in eine Kontroverse verwickelt
werden: in anderen Worten in eine Kraftprobe, in der die Entität vermutet
wird. Was wir über die Brennstoffzellen, Katalysatoren und die Elektronen
sagen, trifft auch auf den Stadtrat und die Verwaltungen zu. In der Akteur
Welt der EDF ist die Stadt auf den Stadtrat-der-das-Stadtzentrum-um-je
den-Preis-erhalten-will reduziert. Um jedoch seine Integrität zu erhalten,
muss der Stadtrat die Elemente stabilisieren, die ihn zusammenhalten: die
Wählerschaft der Mittelschicht, die ihm vertraut; die Fußgängerzone, die
den Verkehrsfluss an den Rand des Stadtzentrums schiebt; die Ausbrei
tung der Stadt und das öffentliche Transportsystem, das den Bewohnern
der Vororte gestattet zu kommen und im Stadtzentrum ihre Einkäufe zu
tätigen.
Eine Entität in einer Akteur-Welt (d.h. eine vereinfachte Entität) exis
tiert nur im Kontext, d.h. in der Gegenüberstellung mit anderen Entitäten,
mit denen sie verbunden ist. Brennstoffzellen, »Renault« als Karosserie
bauer für das VEL und Konsumenten, die das Auto nicht länger als Status
symbol betrachten, sind alle miteinander verbunden. Wenn man eines der
Elemente entfernt, verschiebt sich die gesamte Struktur und verändert sich.
Die Akteur-Welt ist der Kontext, der jeder Entität ihre Bedeutung verleiht
und ihre Begrenzungen definiert. Sie erreicht das, indem sie die Entität mit
anderen, die innerhalb eines Netzwerkes existieren, verbindet. Es gibt also
einen doppelten Prozess: den der Vereinfachung und den der Gegenüber
stellung. Die Vereinfachungen sind nur möglich, wenn die Elemente in ei
nem Netzwerk von Beziehungen einander gegenübergestellt werden - was
im Gegenzug ihre Vereinfachung verlangt.
Diese Gegenüberstellungen definieren die Handlungsbedingungen der
Akteur-Welt. Tatsächlich zieht die Akteur-Welt aus diesen Gegenüberstel
lungen ihre Kohärenz, ihre Konsistenz und die Struktur der Beziehungen,
die zwischen den die Akteur-Welt bildenden Komponenten existieren.
Wenn sie nicht in einem Netzwerk platziert werden, sind die Elemente
dem Untergang geweiht. Diese Beziehungen, die den Beitrag jedes Ele-
r88 1 MICHEL GALLON
ments ebenso wie die Solidität der Konstruktion als Ganzes definieren,
sind sehr unterschiedlich. Man muss die konventionelle soziologische Ana
lyse, die versucht, eine einfache Lösung zur Limitierung von Beziehungen
auf einen begrenzten Bereich von soziologischen Kategorien durchzuset
zen, fallenlassen. Natürlich mag es Austausch- (der Konsument tauscht
sein Geld gegen ein VEL), Subunternehmer- (die CGE arbeitet für die
EDF), Macht- (die EDF zwingt »Renault« in die Knie) oder Dominanzbe
ziehungen geben. Oft jedoch fließen die Beziehungen zwischen Entitäten
gleichzeitig in alle diese Kategorien, während einige dem Vokabular der
Soziologie oder der Ökonomie komplett entgehen. Wie kann man die Be
ziehungen zwischen Brennstoffzellen und dem Elektromotor in anderen
Begriffen als denen der elektrischen Ströme und elektromagnetischen
Kräfte beschreiben? Die Akteur-Welt wird nicht nur aus heterogenen Ele
menten zusammengesetzt, sondern auch deren Beziehungen sind hetero
gen. Was immer ihre Natur sein mag - was zählt, ist, dass sie einer Abfol
ge von Ereignissen Vorhersagbarkeit und Stabilität verleihen. Wasserstoff
versorgt die Brennstoffzellen, die den Motor antreiben, der die Leistung
des VEL, für das die Konsumenten einen bestimmten Preis bezahlen wol
len, sicherstellt. Jedes Element ist Teil einer Kette, die das korrekte Funk
tionieren des Objekts garantiert. Das kann mit einer Black Box verglichen
werden, die ein Netzwerk von Black Boxes enthält, die sowohl im Hinblick
auf ihre korrekte Funktion als Individuen als auch für das korrekte Funk
tionieren des Ganzen voneinander abhängen. Was wäre die Batterie ohne
Wasserstoff? Was würde aus dem Konsumenten ohne sein Elektrofahr
zeug?
Daher sind die Operationen, die zu Veränderungen in der Zusammen
setzung und Funktion der Akteur-Welt führen, extrem komplex. Das Aus
maß, zu dem eine Entität für Modifikation empfänglich ist, ist eine Funk
tion der Art, wie die fragliche Entität ein Netzwerk im Auftrag eines ande
ren zusammenfasst und vereinfacht. Wenn wir eine graphische Repräsen
tation eines Netzwerkes konstruieren wollen, indem wir Abfolgen von
Punkten und Linien verwenden, müssen wir jeden Punkt als ein Netzwerk
sehen, das wiederum eine Serie von Punkten ist, die von ihren eigenen Be
ziehungen an Ort und Stelle gehalten werden. Die Netzwerke leihen ein
ander ihre Kraft. Die Vereinfachungen, die die Akteur-Welt bilden, sind ein
effektives Mittel, weil jede Entität eine Kaskade anderer Entitäten versam
melt oder rekrutiert. Brennstoffzellen mobilisieren Katalysatoren, Elektro
nen und Ionen, die alle für die Brennstoffzelle arbeiten. Diese wiederum
arbeitet für das VEL und die EDF-Akteur-Welt. Durch diese aufeinander
folgenden Vereinfachungen (die niemals so offensichtlich sind wie bei ih
rem Versagen) wurden Elektronen, Spezialisten bei »Renault«, die Mittel
schicht-Wählerschaft und Forscher bei der CGE rekrutiert, übersetzt und
mobilisiert. Die EDF sieht und kennt nur Brennstoffzellen, Akkumulato
ren, Sprecher des Stadtrats und die Behörden des öffentlichen Verkehrs.
DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 189
Aber jede dieser Entitäten bindet eine Menge stiller anderer ein, von denen
sie ihre Stärke und Glaubwürdigkeit zieht. Entitäten sind stark, weil jede
Entität andere versammelt. Die Stärke der EDF und die Dauerhaftigkeit des
VEL werden mittels dieser vereinfachten und mobilisierten Entitäten auf
gebaut. Also ist ein Netzwerk nicht nur aufgrund der Dauerhaftigkeit der
Bindungen zwischen den Punkten haltbar (ob diese Punkte nun Interessen
oder elektrolytische Kräfte betreffen), sondern auch, weil jeder dieser Punk
te ein dauerhaftes und vereinfachtes Netzwerk konstituiert. Dieses Phäno
men erklärt die Bedingungen, die zur Transformation von Akteur-Welten
führen. Es ist nur möglich, die Leistung von Brennstoffzellen zu modifizie
ren, um der neuen Nachfrage der Benutzer zu entsprechen, wenn die Kata
lysatoren oder die Elektronenspinzustände modifiziert werden können, um
z.B. die Energie und Langlebigkeit der Brennstoffzelle zu erhöhen. Jede
Modifikation beeinflusst also nicht nur die Elemente der Akteur-Welt und
ihre Beziehungen, sondern auch die Netzwerke, die von jedem dieser Ele
mente vereinfacht werden. Eine Akteur-Welt ist ein Netzwerk von verein
fachten Entitäten, die wiederum andere Netzwerke sind.
Transformation hängt also vom Test des Widerstands der verschiede
nen Elemente ab, die die Alcteur-Welt bilden. Ist es leichter, die Erwartun
gen der Benutzer, die Ansprüche der Gemeinden, »Renaults« Interessen
oder die Langlebigkeit von Platin zu verändern? Dies ist eine praktische
Frage, die durch die kontinuierlichen Anpassungen, die auch verhandelte
Veränderungen sind, beantwortet wird. Das VEL anzupassen, indem man
diesen oder jenen Aspelct seiner Leistung verändert, heißt, auf seine Ak
teur-Welt einzuwirken; der Erfolg hängt also von der Fähigkeit ab, be
stimmte Widerstände auf ihre Grenzen hin zu testen: ob diese aus sozialen
Gruppen, Finanzflüssen oder zu verbessernden Elektroden stammen.
Eine Akteur-Welt wie die in diesem Kapitel beschriebene kann wiede
rum vereinfacht werden. Die Solidität des Ganzen resultiert aus einer Ar
chitektur, in der jeder Punkt am Schnittpunlct zweier Netzwerke liegt: ei
nes, das durch sie vereinfacht wird, und ein anderes, das sie vereinfacht.
Sie kann in andere Akteur-Welten übersetzt werden. Z.B. kann das VEL
mit dem TGV (ein Hochgeschwindigkeitszug) oder dem Airbus verbunden
werden und damit einen Teil einer neuen französischen Transportstrategie
bilden. Obwohl auf einen Punlct vereinfacht und auf diese Weise verlagert,
ist sie noch immer aus verbundenen Entitäten zusammengesetzt. Während
diese Entitäten anfällig dafür sind, geformt oder umgebildet zu werden,
können sie ihrerseits die Akteur-Welt transformieren, von der sie ein Teil
sind. Sie verdient also, ein Akteur-Netzwerk genannt zu werden. Sie unter
scheidet sich jedoch von einem einfachen Netzwerk, weil ihre Elemente
sowohl heterogen als auch im Verlauf ihrer Verbindung gegenseitig defi
niert sind. Entitäten können verschwinden, um Netzwerken, die sie verein
fachen, zu erlauben, sich auszudehnen und aufzutauchen. Diese Fähigkeit
zur Selbstdefinition und Selbsttransformation wird von der Tatsache un-
190 J MICHEL GALLON
terstrichen, dass die zwei Wörter »Akteur« und »Netzwerk« in einem ein
zigen Begriff verbunden werden. Ein Akteur-Netzwerk unterscheidet sich
jedoch von einem einfachen Akteur durch seine Textur oder Struktur, die
ein übersetztes Arrangement von konstituierenden Elementen ist. Wenn
man alle entfernt, die das VEL übersetzt, wird es eine Entität ohne Stärke,
Gesellschaft oder Zukunft und kann nicht länger funktionieren. Der Ak
teur ist eine Verbindung von heterogenen Elementen, von denen jedes sei
ne eigenen Elemente assoziiert.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Begriffe Akteur-Welt und
Akteur-Netzwerk die Aufmerksamkeit auf zwei unterschiedliche Aspekte
desselben Phänomens lenken. Der Begriff Akteur-Welt betont die Art, in
der diese Welten, gebaut um die Entitäten, die sie erschufen, sowohl ver
sammelt als auch in sich geschlossen sind. Der Begriff Akteur-Netzwerk
betont, dass sie eine Struktur haben und dass diese Struktur anfällig für
Veränderungen ist. Entsprechend werden die beiden synonym verwendet.
In der Einführung zu diesem Beitrag wurde gefragt, wie wir die »Koevolu
tion« von Wissenschaft und Gesellschaft beschreiben könnten, um die Ef
fektivität und den Einfluss der Ersteren zu erklären. Dieser Beitrag hat be
stimmte Analyseinstrumente aufgezeigt, die Ansätze einer Antwort auf
diese Frage bieten.
Wir haben vorgeschlagen, dass der Begriff der Übersetzung es möglich
macht, die Mechanismen zu beschreiben, durch die Akteur-Welten kon
struiert werden. Das enthüllt auch, dass Mechanismen nicht als selbstver
ständlich angenommen werden können: Ob sie Brennstoffzellen, Katalysa
toren, Konsumenten oder Industriebetriebe sind, übersetzte Entitäten kön
nen theoretisch anderen Routen folgen oder in andere Projekte eingebracht
werden. Sie können in anderen Worten der Logik der Akteur-Welt, in wel
che sie rekrutiert worden sind, entkommen.
Wie wir festgestellt haben, ist das Funktionieren der Akteur-Welten und
ihrer Übersetzungen nicht durch die üblichen Formen der Analyse be
schreibbar. Es gibt tatsächlich zwei hauptsächliche Hindernisse, die dem
im Wege stehen: (a) Die Elemente von Natur und Gesellschaft sind auf he
terogene Weise miteinander verbunden und können unmöglich voneinan
der unterschieden werden (Law 1987); (b) die Wahl der Entitäten und die
Art, in der sie verbunden werden, kann normalerweise nicht vorhergesagt
werden, weil sie aus gerade ablaufenden Übersetzungsoperationen resul
tieren. Kurz, das Repertoire übersetzter Entitäten erstreckt sich nicht nur
darüber hinaus, was in der Sozialwissenschaft allgemein akzeptiert wird,
sondern auch die Komposition dieses Repertoires gehorcht keinen definiti
ven Regeln. Wie können die sozialen Elemente isoliert werden, wenn die
DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 191
Literatur
BRUNO LATOUR
Zusammenfassung
Dieser Artikel beginnt mit einem Paradoxon: Wenn ein Akteur einfach nur
Macht hat, geschieht nichts und er/sie ist machtlos; wenn andererseits ein
Akteur Macht ausübt, führen andere die Handlungen aus. Es scheint, als
sei Macht nicht etwas, das man besitzen kann - tatsächlich muss man sie
eher als eine Konsequenz einer Handlung denn als deren Ursache betrach
ten. Um dieses Paradoxon zu erforschen, wird im Folgenden ein Diffu
sionsmodell von Macht, in dem sich ein erfolgreicher Befehl unter einem
ihm von einer zentralen Quelle gegebenen Impetus bewegt, mit einem
Übersetzungsmodell kontrastiert, in dem solch ein Befehl - sofern erfolg
reich - aus den Handlungen einer Kette von Akteuren resultiert, von denen
sie jeder entsprechend seinen/ihren eigenen Projekten »übersetzt«. Da im
Übersetzungsmodell die Macht hier und jetzt zusammengesetzt wird,
indem viele Akteure in ein gegebenes politisches oder soziales Schema
eingebunden werden, und nicht etwas ist, das gelagert und durch eine
vorher existierende »Gesellschaft« an die Mächtigen weitergegeben werden
kann, folgt daraus, dass Debatten über die Ursprünge von Gesellschaft, die
Natur ihrer Komponenten und deren Beziehungen für die Soziologen zu
wesentlichen Daten werden. Es folgt ebenfalls, dass die Natur von Gesell
schaft verhandelbar, eine praktische und revidierbare Sache (performativ)
ist und nicht etwas, das ein für alle Mal von einem Soziologen bestimmt
werden kann, der außerhalb zu stehen versucht (ostensiv). Der Soziologe
sollte entsprechend versuchen, die Art zu analysieren, in der die Personen
assoziiert sind und seine Aufmerksamkeit besonders auf die materiellen
und extrasomatischen Ressourcen (einschließlich Inskriptionen) richten,
die Möglichkeiten bieten, Personen durch Mittel aneinander zu binden, die
haltbarer sind als jede vorgegebene Interaktion. Im Übersetzungsmodell
bewegt sich die Erforschung von Gesellschaft aus diesem Grund weg vom
1! 11
1
11 196 1 BRUNO LATOUR
1, Studium des Sozialen (wie dies für gewöhnlich verstanden wird) - hin zu
einem Studium der Assoziationsmethoden.
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Die Problematik von Macht kann in folgendem Paradoxon zusammenge
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fasst werden: Wenn man einfach nur Macht hat - in potentia -, geschieht
nichts und man ist machtlos; wenn man Macht ausübt - in actu -, führen
andere die Handlungen aus und nicht man selbst. Amin Gemayel in
!i seinem Palast hat beispielsweise offiziell Macht über den Libanon; da
111
jedoch nur wenige Personen handeln, wenn er etwas anordnet, ist er in der
Praxis machtlos. Macht ist nicht etwas, das man besitzen und horten kann;
entweder man hat sie in der Praxis und dann hat man sie selbst nicht,
sondern andere, oder man hat sie in der Theorie und überhaupt nicht.
Worin besteht der Unterschied zwischen Macht in potentia und Macht
in actu? In den Handlungen anderer. Macht über jemanden oder etwas zu
haben, ist eine von vielen gestaltete Komposition (ich werde das den »pri
mären Mechanismus« nennen), die einem unter ihnen zugewiesen wird
(was im Folgenden mit »sekundärer Mechanismus« bezeichnet wird).'
Die Macht, die jemand ausübt, variiert nicht entsprechend der Macht, die
jemand hat, sondern ent�prechend der Anzahl anderer Personen, die in die
Komposition eintreten. Deshalb ist die Vorstellung von Macht umso weni
ger nützlich, wenn Macht zu- oder abnimmt. Progressive »Gewinne« oder
»Verluste« gehören normalerweise nicht zum Konzept von Macht; die
Geschichte ist voll von Menschen, die - da sie den Sozialwissenschaftlern
glaubten und Macht für etwas hielten, das man besitzen und kapitalisieren
kann - Anordnungen gaben, denen niemand gehorchte.
Trotz dieses wesentlichen Paradoxons wird der Machtbegriff oft dort
verwendet, wo etwas geschieht. Man gehorcht einem Diktator - so sagt
man-, weil er Macht »hat«; ein Manager kann sein Hauptquartier verle
gen, »weil er mächtig« ist; ein dominantes Affenweibchen kann die besten
Futterplätze beanspruchen, weil es einen hohen und machtvollen Rang
»innehat«. Diese Erklärungen sind genauso tautologisch wie die »dormitive
Eigenschaft des Schlafmohns«, die Molieres Ärzte schätzten. Die Aus
übung von Macht ist genauso wenig Ursache von irgendetwas wie die
»dormitive Eigenschaft« die Ursache des tiefen Schlafes der Patienten
darstellt, die Opium geraucht haben. Im Gegenteil: Macht ist etwas, das
durch die Handlungen anderer, die dem Diktator, dem Manager oder dem
dominanten Weibchen gehorchen, erklärt werden muss. Wenn die Vorstel-
11 Die vollständigste Studie über dieses Problem ist die von Tolstoi in »Krieg
und Frieden« (1957). Der primäre Mechanismus ist der der halben Million Soldaten
in der großen Armee, wobei jeder von ihnen mehr oder weniger tut, was er will -
flüchten, töten, sterben. Der sekundäre Mechanismus gibt eine Lösung dessen, was
das Kollektiv in jedem Moment tut: Napoleon führt die große Armee und ist die
Ursache ihrer Bewegungen.
---
DIE MACHT DER ASSOZIATION J 197
lung von »Macht« als bequeme Erldänmg verwendet werden kann, die
Konsequenz kollektiven Handelns zusammenzufassen, kann sie nicht auch
noch erklären, was dieses kollektive Handeln an Ort und Stelle hält. Sie
kann als Wirkung verwendet werden, aber niemals als Ursache. Die Arbeit,
die von den Kartesianern geleistet wurde, als sie die »okkulten Qualitäten«
wie die der »dormitiven Eigenschaft« kritisierten, muss nun hinsichtlich
einer anderen »okkulten Qualität« geleistet werden (dabei hat der Begriff
der Macht denselben schwächenden Effekt auf die kritische Ausdauer
vieler Sozialwissenschaftler wie der Schlafmohn auf die Opium-Konsu
menten).
Wenn es eine Möglichkeit gäbe, den Begriff der Macht loszuwerden,
wäre dieser Punkt offensichtlich. Aber er erweist sich als Notlösung als so
nützlich, um unsere Ignoranz zu verhüllen, Hierarchie, Gehorsam und
Hegemonie (weg) zu erklären, dass es auf den ersten Blick schwer einzu
sehen ist, wie man ohne diesen formbaren und leeren Terminus auskom
men soll. In diesem Artikel erkläre ich einige alternative Möglichkeiten, die
den Sozialwissenschaftlern erlauben, die Ausübung von Macht als einen
Effekt und nicht als eine Ursache zu behandeln.
Was den Machtbegriff gleichzeitig so nützlich und so leer macht, ist ein
philosophisches Argument über die Natur kollektiven Handelns. Mit
diesem Argument sollten wir uns zuerst beschäftigen, wenn wir die
»mächtige Eigenschaft« der Macht beiseite legen wollen.
Es gibt zwei Möglichkeiten, um die Verbreitung einer Anordnung,
eines Anspruchs oder eines Artefakts in Zeit und Raum zu erklären. Die
erste besteht darin, die Anordnung, den Anspruch oder das Artefakt - was
wir hier ein Token nennen wollen - mit einer inneren Kraft auszustatten,
die der Trägheit in der Physik ähnelt. Dem Gesetz der Trägheit entspre
chend wird der Token sich in derselben Richtung bewegen, solange er
nicht auf ein Hindernis trifft. In einem solchen Modell - das wir hier das
Diffusionsmodell nennen wollen - muss die Verschiebung eines Tokens
durch Zeit und Raum nicht erklärt werden. Was erklärt werden muss, ist
die Verlangsamung bzw. Beschleunigung eines Tokens, die aus der Hand
lung oder Reaktion anderer Personen resultiert. Wissenschaftlicher Fort
schritt kann z.B. innerhalb des Diffusionsmodells leicht verstanden wer
den. Nicht die Verbreitung exakter Fakten über die Natur muss erklärt
werden, sondern lediglich ihre Verlangsamung oder Beeinträchtigung, die
durch rückwärts gerichtetes Denken oder solche Länder und Kulturen
verursacht wird. Technischer Fortschritt wird beispielsweise meistens
(obwohl nicht immer) vom Standpunkt des Diffusionsmodells interpretiert:
Dampfmaschinen, Elektrizität oder Computer sind solchermaßen mit
--
198 1 BRUNO LATOUR
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:11
eine Erklärung. Anders ausgedrückt gibt es keine Trägheit, um die Verbrei-
:,
lii
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ili
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DIE MACHT DER ASSOZIATION 1 199
tung eines Tokens zu bedingen. Wenn niemand da ist, der die Aussage
oder den Token aufnimmt, hört er einfach au[
Noch wichtiger ist, dass die Verlagerung nicht von einem initialen Im
petus verursacht wird, da der Token keinen wie auch immer gearteten
Impetus hat; vielmehr ist sie die Konsequenz einer Energie, die dem Token
von jedem Element der Kette verliehen worden ist, das etwas mit ihm
macht, wie etwa im Fall von Rugbyspielern und einem Ball. Die Initialkraft
des Ersten in der Kette ist nicht wichtiger als die der zweiten, der 40. oder
der 400. Person; folglich ist klar, dass die Energie weder angehäuft, noch
kapitalisiert werden kann. Wenn man möchte, dass sich der Token weiter
bewegt, muss man fortlaufend frische Energiequellen finden; man kann
sich niemals auf dem zuvor Gemachten ausruhen, so wenig wie sich Rug
byspieler das ganze Spiel lang ausruhen können, nachdem der erste Spieler
dem Ball den ersten Stoß versetzt hat.
Der dritte Aspekt des Übersetzungsmodells ist der wichtigste. Jede der
Personen in der Kette setzt nicht einfach einer Kraft Widerstand entgegen
oder übermittelt sie auf die Art, wie es im Diffusionsmodell geschehen
würde; stattdessen tut sie etwas Wichtiges für die Existenz und Aufrechter
haltung des Tokens. In anderen Worten besteht die Kette aus Akteuren
(nicht passiven Vermittlern), und da der Token sich der Reihe nach in der
Hand jedes Einzelnen befindet, formt ihn jeder entsprechend der verschie
denen Projekte. Aus diesem Grund heißt es Übersetzungsmodell: Der
Token verändert sich, während er von Hand zu Hand geht, und die getreue
Übertragung einer Aussage wird zu einem ungewöhnlichen Einzelfall
unter viel wahrscheinlicheren anderen.
In den beiden Modellen sind die zu beachtenden Elemente vollkom
men verschieden: Im Übersetzungsansatz zählt die Initialkraft nicht mehr
als eine andere; Kraft wird niemals in ihrer Gänze übertragen. Und gleich
gültig, was vorher geschehen ist, kann sie abhängig von der nächsten Per
son in der Kette jederzeit aufhören; statt eines passiven Mediums, durch
das die Kraft ausgeübt wird, gibt es aktive Mitglieder, die den Token for
men und verändern, während er bewegt wird. Statt der Übertragung dessel
ben Tokens (einfach abgelenkt oder durch Reibung verlangsamt) erhält
man im zweiten Modell die kontinuierliche Transformation des Tokens.
Wenn er als Resultat ungewöhnlicher Umstände derselbe bleibt, erfordert
das eine Erklärung.
Die Vorstellung von Macht sähe sicher vollständig anders aus, wenn sie
in Begriffen des Übersetzungsmodelles betrachtet würde. Das Befolgen
einer von jemandem erteilten Anordnung würde die Gruppierung aller
Personen erfordern, die sie betrifft und die ihr alle getreu zustimmen,
ohne etwas hinzuzufügen oder abzuziehen. Eine solche Situation ist höchst
unwahrscheinlich. Die Chancen stehen dafür, dass die Anordnung von
vielen verschiedenen Personen modifiziert und zusammengesetzt wurde,
200 j BRUNO LATOUR
die sie langsam in etwas vollkommen anderes verwandelten, indem sie ihre
eigenen Ziele zu erreichen suchten. Wie können wir dessen so sicher sein?
Ganz einfach: Wäre dies nicht der Fall, wäre der Anordnung zuerst einmal
nicht »gehorcht« worden - die Person, die die Anordnung gegeben hatte,
würde als machtlos betrachtet werden. »Macht« umfasst immer die Illusi
on, die Personen bekommen, wenn man ihnen gehorcht. Wenn man in
Begriffen des Diffusionsmodells denkt, stellt man sich vor, dass andere
sich aufgrund der Schlagkraft des Mächtigen entsprechend benehmen,
ohne jemals die vielen verschiedenen Gründe, die andere dafür haben,
etwas anderem zu gehorchen oder etwas anderes zu tun, in Betracht zu
ziehen. Menschen, denen »gehorcht« wird, entdecken, woraus ihre Macht
tatsächlich besteht, wenn sie sie zu verlieren beginnen. Sie erkennen (je
doch zu spät), dass sie aus dem Willen all der anderen »gemacht ist«.
Ein Wechsel vom Diffusions- zum Übersetzungsmodell ist folglich der
erste Schritt, der es Sozialwissenschaftlern erlaubt, Macht als eine Konse
quenz und nicht als eine Ursache kollektiven Handelns zu betrachten.
Wenn wir die »okkulte Qualität der Macht« in etwas transformieren wol
len, das der Sozialwissenschaftler erforschen kann, müssen wir uns des
Übersetzungsmodells bedienen. Das ist jedoch nicht leicht, weil wir sozu
sagen gezwungen sind, die Chronologie der Ursprünge der Gesellschaft zu
modifizieren.
Seit Durkheim haben Sozialwissenschaftler die politische Philosophie
als Vorgeschichte ihrer Wissenschaft betrachtet. Erst nachdem die Soziolo
gie damit aufgehört hatte, über die Ursprünge von Gesellschaft zu streiten
und stattdessen mit der Idee einer allumfassenden Gesellschaft begonnen
hatte, die dazu verwendet werden konnte, verschiedene interessante Phä
nomene zu erklären, war sie zu einer positiven Wissenschaft geworden.
Die Frage nach ihrem Ursprung wurde zu einem dieser obsoleten Proble
me, die man besser den Philosophen überlässt. In einem solchen Rahmen
betrachtet, wird die Vorstellung von Macht nützlich für Soziologen. Es gibt
immer genug bereits akkumulierte Energie, um z.B. die Verbreitung der
Multinationalen, Pinochets Diktatur, die männliche Dominanz in schwar
zen Ghettos, die Arbeitsteilung in Fabriken usw. zu erklären. Man beginnt
mit so vielen Ungleichheiten, dass ihre Ursprünge irrelevant werden. Folg
lich erscheint es unproblematisch, wenn man sagt, Reagan, Napoleon, die
Stadt London oder der Kapitalismus »hätten Macht« - so lange unproble
matisch zumindest, wie man aus einem großen, von einer ewig präsenten
und umfassenden Gesellschaft bereit gestellten Energiereservoir schöpfen
kann.
DIE MACHT DER ASSOZIATION 1 20I
Wenn diese Fragen betrachtet werden, tritt eine neue Ordnung aus den
kontinuierlichen Debatten darüber, was uns alle zusammenhält, hervor.
Die erhaltene Ordnung stellt eine Funktion der aus dem oben angegebe
nen »Fragebogen« gewählten Optionen dar; die daraus resultierende Zu
sammensetzung der Gesellschaft unterscheidet sich radikal. Jede Modi
fikation jeder der Antworten, gleich wie klein oder wissenschaftlich sie sein
mag, kann enorme Konsequenzen haben. Die Soziobiologie ist ein gutes
Beispiel: Eine Verschiebung von der Gruppen- zur Verwandtschaftsselek
tion führt z.B. dazu, dass sich Kosten und Nutzen aller Akteure in der
Gesellschaft ändem.3 Ein anderes Beispiel: Wenn man die Arbeitsteilung
zwischen Männern und Frauen vor (oder auch in) ein paar 1000 Jahren
verfolgen will, ist damit ein vollkommener Wechsel dessen, was Frauen
heute können und was nicht, verbunden.4 Etabliert man die Motivation
sozialer Akteure auf der Basis von Natur- statt von göttlichen Gesetzen,
verändern sich die Zeichen der Legitimation aller Kräfte in der Gesell
schaft. 5
Die Ursprünge der Gesellschaft liegen nicht länger hinter uns und die
Aufgabe besteht nicht in der Entdeckung der »wirklichen« Einheiten und
der »wirklichen« Qualitäten, der »wirklichen« Währung und der »wirkli
chen« Zeitverzögerungen, die die Gesellschaft bilden. Die vor uns liegende
Aufgabe ist eher, die Schreie und die Wut der Gesamtheit aller Gruppen,
die mit der Genealogie ihrer Positionen unzufrieden sind, zu verwenden,
denn jede der heftigen Debatten - ob sie in der politischen oder der wis
senschaftlichen Arena geführt werden - entscheidet jetzt, direkt vor unse
ren Augen über die Zusammensetzung der Gesellschaft. Es ist z.B. klar,
dass, wenn die Einheiten zwei Klassen darstellen, die sich in einem kons
tanten Kampf darum befinden, wessen Form definiert wird und im Hin
blick auf die Verwendung des Arbeitswertes zählt, die Gesellschaft sich in
eine bestimmte Richtung bewegt: Einige Mitglieder werden von anderen
als parasitäre Ausbeuter definiert, die über große Macht verfügen.6 Wenn
3 1 Dies ist die Hauptrevolution, die von der Soziobiologie in die Kalkulation
aller sozialen Bindungen eingeführt wurde. Um sich eine Vorstellung von dieser
Verschiebung zu verschaffen, vergleiche man Wilsons Buch über Insekten (1971),
das die politische Philosophie traditioneller Gruppenselektion verwendet, mit sei
nem Buch »Soziobiologie« (1975), das Verwandtschaftsselektion verwendet.
4 1 Vgl. z.B. Hardy (1981). Die Idee der Genealogie ist sinnvoll, um alle diese
Debatten aufzuzeichnen; jede neue Position über die Vergangenheit modifiziert die
Genealogie (und damit die Rechte und Pflichten) jeder Gruppe in der gegenwärtigen
Gesellschaft.
5 1 Dies ist z.B. der Wechsel, den Hobbes in seinem »Leviathan« (1981) vor
nimmt.
6 1 Niemals wird ausreichend betont, dass der Marxismus im Effekt ein Kalkula
tionsmodus ist, um alle Vorkommen von Austausch, die in der Gesellschaft prakti-
DIE MACHT DER ASSOZIATION 1 203
Bis jetzt habe ich argumentiert, dass man, wenn man vernünftig über
Macht sprechen will, diese Vorstellung auf den Kopf stellen und sie als eine
Konsequenz statt einer Ursache kollektiven Handelns betrachten sollte.8
ziert werden, zu erfassen. Wenn der Arbeitswert als Standard verwendet wird,
erscheint derselbe Kapitalist, der unter dem Standard des Tauschwertes den ihm
zustehenden Preis für alles zu zahlen bereit war, als Ausbeuter. Die Entrüstung der
Ausgebeuteten bleibt solange erhalten, wie das Abrechnungssystem durchgesetzt
wird. Wenn jeder Austausch in einer Gesellschaft nun in Kilokalorien vergolten
wird, ergibt sich eine ziemlich andere Auflistung der Ausgebeuteten und der Parasi
ten.
7 1 Es darf an diesem Punkt nicht zwischen so genannten traditionellen und so
genannten modernen Gesellschaften unterschieden werden. Potlach beispielsweise
wird einfach erhalten, indem man unterschiedliche Antworten auf denselben Frage·
bogen gibt (Mauss 1923, 1967).
8 1 Dies ist wieder, was Tolstoi in seinem Buch macht: Napoleons Bewegungen,
204 1 BRUNO LATOUR
Um das zu tun, war ich jedoch gezwungen, einen Wechsel von einem
Diffusions- zu einem Übersetzungsmodell vorzuschlagen. Wir wurden
dadurch mit einem Problem konfrontiert: Um diesen Wechsel zu ermögli
chen, mussten wir die Chronologie der Gesellschaft verändern; ihre Ur
sprünge befanden sich nicht in der entfernten Vergangenheit; stattdessen
waren sie gegenwärtig und standen in wissenschaftlichen oder politischen
Debatten konstant zur Hinterfragung offen. Diese Position eröffnet wiede
rum ein anderes Problem: Wenn Gesellschaft erst vor unseren Augen
gemacht wird, kann sie unser Verhalten nicht erklären, sondern wird eher
durch unser kollektives Verhalten geformt. Sie ist genauso wenig Ursache
des letzteren wie die Macht selbst. Bedeutet das, dass wir die Existenz einer
umfassenden Gesellschaft verneinen müssen, um mit der Vorstellung von
Macht abschließen zu können? Nicht ganz. Wir müssen jedoch von einer
ostensiven zu einer performativen Definition von Gesellschaft wechseln.
Auf diese Art verstehen wir, wieso jede Definition von Gesellschaft, jede
Debatte darüber, woraus sie besteht, jede neue Wissenschaft, die darauf
abzielt, ihre Funktion zu entdecken, und jede neue Genealogie der
menschlichen Vergangenheit einen solch enormen Einfluss auf uns alle
hat. Kritik an der Vorstellung von Macht bringt auch eine Kritik an der
meistgeliebten Vorstellung- jener von der Gesellschaft - mit sich. Um
diesen Punkt zu verdeutlichen, lassen Sie mich hier die Grundprinzipien
der ostensiven und performativen Definitionen aufführen:
Ostensive Definition
1. Im Prinzip ist es möglich, Eigenschaften, die für das Leben in der Ge
sellschaft typisch sind und die die soziale Bindung und ihre Evolution
erklären könnten, zu entdecken, obwohl sie in der Praxis schwer zu
finden sind.
2. Soziale Akteure gleich welcher Größe befinden sich in der oben defi
nierten Gesellschaft; auch wenn sie aktiv sind- worauf ihre Bezeich
nung hinweist-, ist ihre Aktivität beschränkt, da sie nur Teile einer
größeren Gesellschaft darstellen.
3. Die Akteure innerhalb der Gesellschaft sind nützliche Informanten für
diejenigen, die Prinzipien suchen, die die Gesellschaft zusammenhal
ten (vgl. 1). Da Akteure jedoch nur Teile der Gesellschaft sind (vgl. 2),
sind sie auch nur Informanten; man sollte sich nicht zu sehr auf sie
verlassen, da sie niemals das gesamte Bild sehen.
4. Mit der adäquaten Methodologie können Sozialwissenschaftler die
Meinungen, den Glauben, die Illusionen und das Verhalten der Akteure
sein Genie, seine Kompetenz, seine Ineffizienz - nichts von alledem erklärt, was
mit der großen Armee geschah. Für einen historischen und philosophischen Kom
mentar vgl. Latour (1984).
DIE MACHT DER ÄSSDZIATION J 205
Performative Definition
1. Es ist im Prinzip unmöglich, die Liste der Eigenschaften, die für das
Leben in der Gesellschaft typisch sind, zu definieren, obwohl es in der
Praxis möglich ist.
2. Akteure gleich welcher Größe definieren in der Praxis, was Gesellschaft
ist, woraus sie besteht, was das Ganze und was die Teile sind - sowohl
für sich selbst als auch für andere.
3. Es ist keine Annahme nötig, ob irgendein Akteur mehr weiß als ein
anderer. Das »ganze Bild« steht in den praktischen, von den Akteuren
gemachten Definitionen auf dem Spiel.
4. Sozialwissenschaftler bringen die gleichen Fragen auf wie alle anderen
Akteure (vgl. 2) und finden verschiedene praktische Arten, ihre Defini
tion dessen, worum es in der Gesellschaft geht, geltend zu machen.
9 1 Der Wechsel ist analog zu dem in der Physik vom Prärelativismus (in dem
es notwendig ist, einen Referenten zu haben, um gute Messungen vorzunehmen)
zum Relativismus, in dem es nicht notwendig ist, einen Referenten zu haben, um
206 1 BRUNO LATOUR
die, die im Prinzip die Macht in Händen »halten«, sondern jene, die prak
tisch definieren oder redefinieren, was alle zusammen »hält«. Dieser
Wechsel vom Prinzip zur Praxis erlaubt es uns, die vage Vorstellung von
Macht nicht als Ursache des Verhaltens von Personen zu betrachten, son
dern als Folge einer intensiven Aktivität von Rolleneinbindung, Überzeu
gung und Einschreibung. Wird statt des ersten der zweite Rahmen ge
wählt, erscheinen die praktischen Ressourcen, die zur performativen Aus
führung von Gesellschaft notwendig sind, deutlich. Wir müssen sie erfor
schen, wenn wir die Vorstellung von Macht ausschalten wollen.
Wenn Macht nicht etwas ist, das man anhäufen und besitzen kann, ist es
doch etwas, das gemacht werden muss. Wer macht sie? Andere, per defini
tionem (vgl. Abschnitt 1). Diese anderen, die einzigen, die wirklich (in actu)
mächtig sind, müssen deshalb ihre Handlungen einem unter ihnen zu
schreiben, der in potentia mächtig wird. Dies bedeutet eine konstante Aus
einandersetzung darüber, wer gehorcht und wem gehorcht werden muss
(Abschnitt 2). In diesen kontinuierlichen Kämpfen gibt es so viele Defini
tionen des »ganzen Bildes« wie es Akteure gibt, die sich darum bemühen,
andere in Rollen einzubinden oder selbst eingebunden zu werden. Weder
»Gesellschaft« noch »Macht« können diese Kämpfe erklären. Sie stellen
ganz im Gegenteil das vorläufige Ergebnis vieler Definitionen dar: Gesell
schaft ist das, was man ausführt, solange man in der Lage ist, es auszufüh
ren (vgl. Abschnitt 3). Bedeutet das, dass wir in das vollständige Chaos
geführt werden, in dem Gesellschaft fortwährend ausgeführt und wieder
demontiert wird? Es gibt im Prinzip keine Antwort auf diese Frage. Wir
können ins Chaos geführt werden oder auch nicht; das hängt einzig von
den praktischen Ressourcen ab, die mobilisiert werden können, um eine
Definition über eine Zeitspanne hinweg halten zu lassen. Die gesamte
Bürde, die Gesellschaft fest zu erhalten, hat sich von der Gesellschaft selbst
(die zur Konsequenz geworden ist) zu den vielen materiellen Aufgaben
verschoben, die die vorläufigen, von den Akteuren hergestellten Bindungen
durchsetzen oder verstärken können. 10
Um diesen Punkt zu verdeutlichen, möchte ich ein Beispiel jenes So
ziologen anführen, der am weitesten von diesem Standpunkt entfernt ist.
Durkheim gilt als Inbegriff dessen, was ich die ostensive Definition der
sozialen Bindung nenne; nirgendwo kommt das stärker zum Ausdruck als
in »Die elementaren Formen des religiösen Lebens« (vgl. Durkheim 1915).
In Buch II, Kapitel III, V und VII anerkennt er jedoch, dass die Clan-Struk
tur nicht dicht genug ist, um den Clan zusammenzuhalten. Diese Stellen
sind die einzigen im ganzen Buch, in denen die umfassende Gesellschaft,
die sonst überall als Ursache zur Erklärung von allem dient, ungenügend
erscheint. Wohin wendet sich Durkheim, um den Clan zusammenhalten
zu lassen? Zu materiellen Ressourcen, die die Verbindung verstärken:
»Aber wenn die Bewegungen, durch die sich diese Gefühle ausgedrückt haben, mit
Dingen verbunden sind, die dauern, dann werden sie selbst dauerhaft.« (Ebd.: 316)
»Ein Klan ist im Wesentlichen eine Vereinigung von Individuen, die den gleichen
Namen tragen und die sich um das gleiche Zeichen versammeln. Nimmt man den
Namen und das Zeichen weg, das ihn materialisiert, dann ist der Klan nicht mehr
vorstellbar. Da er nur unter dieser Bedingung möglich war, kann man sich sowohl
die Institution des Emblems wie den Platz erklären, den dieses Zeichen im Leben
der Gruppe spielt.« (Ebd.: 319)
14 1 Die hier geäußerte Kritik an der Macht könnte an die Vorstellung von »Kapi
tal« gerichtet sein, was z.B. in Bourdieus Soziologie sehr beliebt ist. Frankreich ist
voller Firmen und Banken, die, da sie große Mengen an Kapital hielten, dachten,
dass dies genüge, um ewig zu existieren und zu herrschen. Die Fabriken sind nun
geschlossen, die Banken bankrott. Zu einer Kritik des Kapitals vgl. Thevenot (1984).
15 1 Dies ist, was John Law »heterogenes Engineering« nennt. Vgl. Law (1986,
1987).
16 1 Die technische Entwicklung ist invers proportional zu der der sozialen Kom-
210 1 BRUNO LATOUR
lokal ausgeübt wird, ist folglich, alles das in Erwägung zu ziehen, was
beiseite gelegt worden ist- im Wesentlichen sind dies Techniken.'7
All die oben angeführten Verschiebungen führen dann zu einer leich
ten, aber notwendigen Neudefinition dessen, worum es in der Soziologie
geht. Als eine Gesellschaftswissenschaft kann sie nicht sehr weit gehen, da
sie (meiner vorab gegebenen Argumentation zufolge) immer Wirkungen
als Ursachen behandeln wird. Sie verwendet Vorstellungen von »Macht«
und »Kapital«, wenn diese örtlich zusammengesetzt werden müssen; sie
spricht von »Klassen«, »Rängen« und »Werten«, wenn diese das Ergebnis
einer kontinuierlichen Debatte darüber darstellen, wie man klassifiziert, in
Ränge einteilt und evaluiert; sie versucht, die Gesellschaft mit »Hierar
chien«, »Professionen«, »Institutionen« oder »Organisationen« zusam
menhängen zu lassen, während die praktischen Details, die es diesen
Entitäten ermöglichen, länger als eine Minute zu überdauern, der Auf
merksamkeit entgehen; schließlich erfindet die Soziologie in dem verzwei
felten Versuch, etwas zu finden, das stark genug ist, um uns zusammen
zubinden, solche Begriffe wie »Legitimität«, »Autorität«, »Rolle«, »Kultur«
oder »Zeitgeist«, obwohl diese Vorstellungen nur dann effizient sind, wenn
alles andere bereits fest verbunden ist. Eine Gesellschaft allein durch sozia
le Elemente zusammenhängen zu lassen ist, als versuchte man, eine Ma
yonnaise ohne Eier oder öl herzustellen- d.h. aus heißer Luft allein.
Eine alternative Weise, Soziologie zu definieren, ist, sie zum Studium
von Assoziationen zu machen- statt zur Erforschung der wenigen Bindun
gen, die wir sozial nennen. Wenn diese neue Definition akzeptiert wird,
steht dem Wissenschaftler eine andere Art von Erklärung zur Verfügung.
Er oder sie kann alle Kräfte verwenden, die in unserer menschlichen Welt
zur Erklärung dessen mobilisiert werden, weshalb wir verbunden sind und
einige Anordnungen gehorsam befolgt werden, andere hingegen nicht. Die
Art dieser Kräfte ist heterogen: Sie können Atome, Wörter, Lianen oder
Tätowierungen sein und sind ebenfalls selbst zusammengebunden, um
Maschinen und Machenschaften zu kreieren, die uns alle an Ort und Stelle
halten.
Dieses Papier hat eine negative Argumentation präsentiert: Es hat vor
geschlagen, die Vorstellung von Macht fallen zu lassen. Nun beginnt die
Literatur
Callon, M./Latour, B. (1981): »Unscrewing the Big Leviathan, or How Ac
tors Macrostructure Reality and How Sociologists Help Thern to Do so«.
In: K.D. Knorr/A.V. Cicourel (Hg.), Advances in Social Theory and Me
thodology: Toward an Integration of Micro- and Macro-Sociologies, Boston/
London: Routledge and Kegan Paul, S. 277-303.
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Arbeitspapier, nicht publiziert.
Durkheim, E. (1915): The Elementary Forms of the Religious Lift, London: Al
len and Unwin [für die Übersetzung wurde folgende deutsche Ausgabe
beigezogen: Durkheim, E. (1994): Die elementaren Formen des religiö
sen Lebens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Anm. der Hg.].
Foucault, M. (1977): Discipline and Punish: the Birth of the Prison, Har
mondsworth: Penguin.
Hobbes, T. (1651/1981): The Leviathan, New York: Pelican.
Hardy, S.B. (1981): The Woman that Never Evolved, Cambridge, Mass.: Har
vard University Press.
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Latour, B./Strum, S. (1985): »Human Social Origins: Oh Please Tell us An
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169-187.
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gation, and the Portugese Route to India«. In: J. Law (Hg.), Power,
Action and Belief: a New Sociology of Knowledge?, London: Routledge, S.
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Law, J. (Hg.) (1986): Power, Action and Belief a New Sociology of Knowledge?,
London: Routledge and Kegan Paul.
Law, J. (1987): »Technology and Heterogeneous Engineering: the Case of
the Portuguese Expansion«. In: W.E. Bijker/T.P. Hughes/T.J. Pinch
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Mauss, M. (1923, 1967): The Gift. Forms and Functions of Exchange in Ar
chaic Society, New York: Norton & Co.
Strum, S. (1982): »Agonistic Dominance Among Baboons: an Alternative
View«. In: International Journal ofPrimatology 3, S. 175-202.
212 1 BRUNO LATOUR
JOHN LAw
:1. 1 Dies wird vollständig beschrieben bei Pinch/Bijker (1984, 1987). Vgl. auch
Bijker (1987).
214 1 JOHN LAW
2 1 Ich will damit nicht andeuten, dass diese Autoren alle einen sozialkonstruk
tivistischen Ansatz verwenden, sondern dass ihr Material einer Analyse in diesen
Begriffen zugänglich ist.
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 2I5
3 1 Für eine andere Studie, die einen Systemansatz verwendet, vgl. MacKenzie
(1987).
4 1 Pinch und Bijker (1987) sprechen von den Wirkungen der Werbung auf die
Bildung von sozialen Gruppen.
5 1 Obwohl ich mich auf das Werk von Hughes bezogen habe, kann derselbe
Punkt meiner Meinung nach mit Bezug auf Constant gemacht werden. Seine Idee
der Koevolution (1978) scheint ebenfalls einen Versuch darzustellen, sich mit der
216 1 JOHN LAW
In diesem Papier vereinige ich meine Kräfte mit denen Callons und
stelle mich in dieser besonderen Argumentation an die Seite der Histori
ker. Besonders möchte ich vorschlagen, dass in Erklärungen technischen
Wandels das Soziale nicht privilegiert werden sollte. Das bedeutet, dass es
nicht so dargestellt werden darf, als stehe das Soziale hinter dem im Bau
befindlichen System und als hätte es einen besonderen Einfluss auf seine
Entwicklung. Obwohl es zeitweise ein wichtiger - tatsächlich der dominan
te - Faktor im Entstehen des Systems sein kann, ist das Soziale dennoch
ein rein kontingenter Sachverhalt, der nur durch empirische Mittel be
stimmt werden kann. Andere Faktoren - natürliche, ökonomische oder
technische - können hartnäckiger als die sozialen sein und den besten
Bemühungen der Systemerbauer, sie umzuformen, widerstehen. Andere
Faktoren können deshalb die Gestalt der in Frage stehenden Artefakte und
die daraus resultierende soziale Struktur weit besser erklären. Um dies
formeller auszudrücken, argumentiere ich gemeinsam mit Callon (1987,
1980b, 1986), dass die Stabilität und Form von Artefakten als eine Funktion
der Interaktion heterogener Elemente gesehen werden sollte, so wie diese in einem
Netzwerk geformt und dort assimiliert werden. In dieser Sichtweise ruht die
Erklärung technischer Form auf einer Untersuchung sowohl der Bedingun
gen als auch der Taktiken des Systemerbauens. Weil diese Taktiken, wie
Hughes nahe legt, von den Beziehungen einer Anzahl getrennter Elemente
mit variierenden Formbarkeitsgraden abhängt, nenne ich solche Aktivitä
ten heterogenes Engineering und schlage vor, das Produkt als ein Netzwerk
einander gegenübergestellter Komponenten zu betrachten.6
Ganz offensichtlich entlehnt dieser Netzwerkansatz viel von Hughes'
Perspektive des Systemerbauens. Es gibt jedoch zumindest einen wichtigen
Aspekt, in dem er sich von Hughes Ansatz unterscheidet und dieser Un
terschied erwächst aus der Betonung des Aspektes des Konflikts innerhalb
des Netzwerkansatzes. Wie die Beispiele der Portugiesen, von Edison und
von »Renault« enthüllen, ist erfolgreiches heterogenes Engineering im
großen Maßstab schwierig. Elemente im Netzwerk erweisen sich mögli
cherweise als schwierig zu zähmen oder an Ort und Stelle zu halten.
1291 setzten Ugolino und Vadino Vivaldi in zwei Galeeren Segel vor Ge
nua, fuhren durch die Säulen des Herkules »ad partes Indiae per mare
oceanum« und verschwanden, um niemals wieder von einem Europäer
gesehen zu werden (Diffie/Winius 1977: 24; Chaunu 1979: 82). 1497
segelte Vasco da Gama über den Fluss Tejo aus Lissabon weg. Sein Ziel
war ebenfalls, über den Ozeanweg nach Indien zu gelangen; anders als bei
den Brüdern Vivaldi jedoch wissen wir, was aus seiner Expedition wurde.
Am 20. Mai 1498 ankerte er in der Kalikut-Straße vor der Malabarküste
7 1 Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass dieser Ansatz parallel zu dem von
Callon ist. Ebenso viel verdankt er jedoch auch der Arbeit Latours (1984).
218 1 JOHN LAW
Kräften sind, die sie kanalisieren. Technik agiert nicht als eine Art Ver
kehrspolizist, der sich naturgemäß vom Verkehr unterscheidet, den er
regelt. Sie ist selbst nichts anderes als eine Reihe kanalisierter Kräfte oder
verbundener Entitäten. Es besteht immer die Gefahr, dass die verbundenen
Entitäten, die ein Stück Technik bilden, angesichts eines stärkeren oder
feindlichen Systems voneinander gelöst werden. Betrachten wir deshalb die
Beschränkungen der Galeere.
Als Kriegsmaschine in den relativ geschützten Gewässern des Mittel
meeres war die Galeere ein großer Erfolg. Als Frachtschiff hatte sie jedoch
ihre Nachteile: Ihre Frachtleistung war extrem begrenzt. Die Merkmale, die
sie zu einem guten Kriegsschiff machten - sie war schlank, niedrig und
konnte eine große Besatzung befördern, was Überfälle abschrecken konnte
-, stellten eine Hürde für die Beförderung von Frachten dar (Lane 1973:
122; Denoix 1966: 142). Weiter war die Ausdauer einer Galeere durch die
Größe ihrer Besatzung beschränkt. Sie konnte sich nicht weit vom Land
und der Möglichkeit der Aufnahme von Wasser und Proviant entfernen.
Obwohl die Venezianer und Genueser Galeeren zum Transport wertvoller
Güter verwendeten, bei denen Verlässlichkeit gefragt war, wurden diese in
dieser Rolle nach etwa 1320 durch die »großen Galeeren« ersetzt (Lane
1973= 122, 126).
In solchen Schiffen müssen die Brüder Vivaldi 1291 aus Genua zu
ihrer, wie sie glaubten, zehn Jahre dauernden Reise nach Indien aufgebro
chen sein (Diffie/Winius 1977: 24-52). Vielleicht waren ihre Galeeren
größer als normal, Vorläufer der großen Galeeren. Vielleicht hatten sie
höhere Freiborde. Aber ihre Ausdauer wäre begrenzt gewesen und ihre
Seetauglichkeit zweifelhaft - man kann sich nur zu gut die Konsequenzen
vorstellen, wenn man vor der Sahara-Küste in einen Sturm geriet. Und:
Falls die Vivaldis tatsächlich versucht hatten, die Westküste Afrikas hinab
zurudem, würden sie jene Stelle passiert haben müssen, die als Punkt
ohne Wiederkehr gilt - Kap Bojador oder das Kap der Angst. Chaunu fasst
das Problem des Kap Bojador folgendermaßen zusammen:
»Mit 27 Grad Nord liegt Kap Bojador schon fast in der Sahara, also konnte es von
der Küste keine Unterstützung geben. Das Kap ist 800 Kilometer vom Fluss Sous
entfernt; die Rundfahrt von 1600 Kilometern war gerade innerhalb der Reichweite
einer Galeere, aber es war unmöglich, ohne Quellen für frisches Wasser weiterzu
gehen, es sei denn per Segel. Zusätzlich gab es die Schwierigkeiten[...] der starken
Strömungen von den Kanarischen Inseln, beständigen Nebels, Untiefen des Mee
resbodens und am schlimmsten die Unmöglichkeit, auf derselben Route zurückzu
kehren.« (Chaunu 1979: 118)
Wie tapfer waren die Vivaldi-Brüder und ihre Männer, als sie ihre Galeeren
an den Säulen des Herkules vorbei und aus der aufgezeichneten Geschich
te hinaussegelten? Wir wissen nicht, in welcher Form das Verhängnis
220 1 JOHN LAW
letztendlich zuschlug. Was wir jedoch erraten können ist, dass die Galee
ren, emergente, von heterogenen Ingenieuren konstituierte Objekte, in
ihre Einzelteile zerlegt wurden. Das technische Objekt wurde angesichts
eines stärkeren Gegenparts, der besser in der Lage war, Elemente zu ver
binden als die italienischen Systemerbauer, aufgelöst. Es war ein Konflikt
zwischen zwei Opponenten, eine Kraftprobe, in der ein Teil der natürlichen
Welt das letzte Wort hatte. Entsprechend war es ein paradigmatischer Fall
des fundamentalen Problems, mit dem die Systemerbauer konfrontiert
waren: Wie kann man heterogene Elemente auf eine Art nebeneinander
stellen und verbinden, sodass sie an Ort und Stelle bleiben und nicht von
anderen Akteuren - ob diese nun sozial, natürlich oder eine Mischung der
beiden sind - in der Umgebung im Verlauf der unvermeidlichen Kämpfe
dissoziiert werden. Und es legt auch nahe, weshalb wir bereit sein müssen,
Heterogenität in all ihrer Komplexität zu behandeln, aristatt das Soziale als
einen explanatorischen Nachgedanken anzufügen, da ein System - hier
eine Galeere - alles verbindet: von Menschen bis zum Wind. Es hängt
genau von der Kombination von sozialem und technischem Engineering in
einer mit gleichgültigen oder offen feindseligen, natürlichen und sozialen
Akteuren gefüllten Umwelt ab.
Im Kampf zwischen dem Atlantik und der Galeere war der Atlantik der
Gewinner. Die von den Europäern verbundenen Kräfte, so könnte man
sagen, waren nicht stark genug, um jene des Atlantiks zu dissoziieren. Die
heterogenen Ingenieure Europas bedurften erhöhter Verbindung und
Kanalisierung sowie verschiedener Kräfte, wenn sie einen solch schreckli
chen Gegner dissoziieren und seine Komponenten an ihren Platz setzen
wollten. So blieb Kap Bojador über 100 Jahre lang der Punkt ohne Wieder
kehr. Woher sollten die neuen Verbündeten kommen? Wie könnten sie mit
dem europäischen Unternehmen verbunden werden?
Drei Arten von technischer Innovation waren wichtig. 8 Die erste
nahm die Form einer Revolution des Segelschiffdesigns im 14. und frühen
15. Jahrhundert an. Die Einzelheiten dieser Revolution bleiben unklar,
nebensächlich und sprengen auf alle Fälle den Rahmen dieses Artikels,
aber das Resultat war ein seetaugliches Schiff mit gemischter Takelage, das
über größere Ausdauer und Seetüchtigkeit verfügte als seine Vorgänger,
eines, das in der Lage war, Winde aus vielen Richtungen in Vorwärtsbewe
gung umzuwandeln. Es gab keine Ruderer, also wurde Menschenkraft
8 1 Das folgende ist ein Beispiel dessen, was ich rationale Rekonstruktion
nenne. Vgl. die Schlussfolgerung dieses Beitrages.
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 221
östlichen Passatwinde. Auf diese Weise ist es, wenn es die Passatwinde
hinter sich lässt, allmählich in der Lage, einen nördlicheren Kurs anzu
steuern, bis es auf die Westwinde und die Nordatlantikdrift trifft, und es
möglich wird, nach Osten in Richtung Iberien zu segeln (Chaunu 1979:
n-n5). Die Erfindung dieses Kreises, von den Portugiesen Volta genannt,
bezeichnet den entscheidenden dritten Schritt. Die Schiffe waren nicht
länger gezwungen, nahe der Küste zu bleiben. Kap Bojador, der klassische
Punkt ohne Wiederkehr, war nicht länger das Hindernis, das es zuvor
gewesen war. Die Kapitäne konnten an ihm vorbeisegeln und erwarten,
auch zurückkommen zu können.
Das Volta kann also als geographischer Ausdruck eines Kampfes zwi
schen heterogenen Einzelteilen betrachtet werden, die von den portugiesi
schen Systemerbauern und ihren Kontrahenten, also den Winden, den
Strömungen und den Kaps, zusammengesetzt worden waren. Es verfolgt
auf einer Karte die den Portugiesen verfügbare Lösung. Es stellt dar, was
die Portugiesen den auseinander treibenden Kräften des Ozeans mit den
ihnen zur Verfügung stehenden Kräften aufzwingen konnten. Es zeigt uns
bildlich, wie die Portugiesen die Strömungen, Winde und den Rest der
Gegner in Verbündete umwandeln konnten und wie sie in der Lage waren,
diese Elemente in akzeptabler und brauchbarer Weise mit ihren Schiffen
und Navigationstechniken zu verbinden.
Nun beginnen wir, die Vorteile und Nachteile der Systemmetapher in
einem empirischen Kontext zu sehen. Die Metapher betont Heterogenität
und Aufeinanderbezogensein, aber sie tendiert auch dazu, die Aufmerk
I, samkeit weg von den Kämpfen zu lenken, die ein Netzwerk von heteroge
' nen und sich gegenseitig erhaltenden Elementen formen. Systemerbauer
·
! versuchen Elemente in etwas zu verbinden, von dem sie hoffen, dass es
I sich als dauerhafte Aufstellung erweisen wird. Sie versuchen, feindliche
1
'I
Systeme aufzulösen und deren Komponenten in einer Weise neu anzuord
nen, die zu dem im Bau Befindlichen beiträgt. Aber die besondere Form,
die die (Dis-)Assoziation annimmt, hängt vom Zustand der Kräfte ab. Eini
l
:,1i
ge von ihnen sind unerbittlich: Mit Strömungen und Winden kann man
1'1
aufgrund ihrer Stärke nicht spielen. Einige von ihnen sind manipulierbar,
:1
1
jedoch nur mit Schwierigkeiten. Hier waren z.B. das vollgetakelte Schiff
1 und die Navigationspraktiken, wenn auch nicht unveränderlich, so doch
:I schwer beeinflussbar. Andere können jedoch einfacher zu verändern sein.
l1i In diesem Fall war der von den Schiffen auf ihrer Rückreise gesegelte Kurs
!1
eine Ermessenssache als Ergebnis der Fortschritte im Schiffbau und der
Navigation der letzten 150 Jahre. Hier gab es, im ursprünglichsten Sinn des
l.·
11
'
·
:I Wortes, neuen Manövrierraum. Der Kurs war für die Systemerbauer nicht
mehr starr überdeterminiert. Entsprechend kann das Volta als den Status
.
111
der Kräfte verfolgend und ihre relativen Kräfte in wörtlichem Sinn mes
1!
'l"'I1
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'
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1
send betrachtet werden. Es repräsentierte den Stand des Schiffbaus und
der Navigation, den Stand des Seemannshandwerks und deren Kollision
::.1
1
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 223
mit den Naturgewalten. Das Volta war die zusätzliche Steigerung an Kraft,
die dem neuen Netzwerk erlaubte, sich zu stabilisieren, denn der Kurs war
plötzlich das formbarste Element im Konflikt zwischen dem portugiesi
schen Wunsch, nach Lissabon zurückzukehren und den Naturkräften des
Atlantik.
Wie die Portugiesen feststellen mussten, beschränkte sich Afrika nicht auf
Kap Bojador. Die Fähigkeit, das Kap zu umschiffen und dann in europäi
sche Gewässer zurückzukehren, war im Ganzen sehr gut, aber es gab noch
mehr Küstenlinie zu erforschen. Südlich des Kaps wird die Küste sogar
noch unwirtlicher, bis man den Senegalfluss und Schwarzafrika erreicht.
Für die meisten dieser schwierigen Erkundungen verwendeten die
Portugiesen Karavellen. Obwohl die Ursprünge dieses Schiffstyps nicht
bekannt sind (Landstrom 1978: roo; Chaunu 1979: 243; Parry 1963: 65;
Unger 1980: 212-215), sind seine dem 15. Jahrhundert entstammenden
Merkmale gut bekannt. Mit einem Gewicht von weniger als roo Tonnen
und einer Länge von 70 bis 80 Fuß von Heck bis Bug (Parry 1963: 65) war
die Karavelle als langes Segelschiff ungewöhnlich, da sie ein Länge-Breite
Verhältnis von 3-3 bis 3.8 zu I hatte (Diffie/Winius [1977: n8] geben 3 zu 1
an). Sie war im Carvelstil gebaut, ziemlich leicht und mit feinen Linien,
zog wenig Wasser, hatte einen flachen hinteren Teil und wenig Freibord
(Parry 1963: 65; Denoix 1966: 143; Landstrom 1978: roo). Sie hatte nur ein
Deck und war tatsächlich manchmal sogar offen oder mit Halbdeck verse
hen. Es gab kein Vordeck und der Aufbau des Puppdecks war bescheiden
und barg bestenfalls einen Raum (Parry 1963: 65). Mitte des 15. Jahrhun
derts und auf den frühen Entdeckungsreisen war die Karavelle sicherlich
auf allen Masten mit Lateinsegeln getakelt.
Die Karavelle war dem Kontext von Forschungsreisen vor der Küste gut
angepasst. Dennoch müssen wir feststellen (wie es viele Historiker, z.B.
Denoix, getan haben), dass man für eine solche Aufgabe ein Schiffbraucht,
das nicht in Felsenriffe gerät, leicht und manövrierfähig ist, das wenig
Wasser zieht, gut gegen den Wind segelt und keine große Mannschaft
braucht. Alle diese Attribute trafen auf die Karavelle zu, die der Aufgabe
tatsächlich gut angepasst war. Aber was drücken wir wirklich damit aus,
wenn wir diese Feststellung machen?
Die Antwort auf diese Frage kann in der Vorstellung eines Netzwerkes
gefunden werden. Systemerbauer versuchen ein Netzwerk heterogener,
jedoch sich gegenseitig erhaltender Elemente zu schaffen. Sie trachten
danach, feindliche Kräfte zu dissoziieren und sie mit ihrem Unternehmen
zu verbinden, indem sie sie transformieren. Der wesentliche Punkt besteht
224 1 JOHN LAW
jedoch darin, dass die Struktur des Netzwerkes die Kraft und die Natur
sowohl der verfügbaren Kräfte als auch der Kräfte, mit denen das Netzwerk
kollidiert, reflektiert. Zu sagen, ein Artefakt sei seiner Umgebung gut
angepasst, heißt zu konstatieren, dass es einen Teil eines Systems oder
Netzwerkes bildet, das fähig ist, potentiell feindliche äußere Kräfte zu
assimilieren (oder abzuweisen). Man muss folglich feststellen, dass das in
Frage stehende Netzwerk relativ stabil ist. Wiederum: Wenn man über ein
Artefakt wie die Karavelle aussagt, dass es anpassungsfähig sei, bedeutet
dies festzustellen, dass ein Netzwerk verbundener Elemente erzeugt wor
den ist, das stabil ist, weil es den Auflösungsbestrebungen einer großen
Vielzahl potentiell feindlicher Kräfte widerstehen kann und zumindest
einige dieser Kräfte nutzt, indem es sie transformiert und mit dem Projekt
verbindet. Und genau darin besteht die Schönheit der Karavelle im Kontext
des 15. Jahrhunderts, in dem sie von den Portugiesen verwendet wurde.
Richtig bemannt und mit ausreichendem Proviant versehen, war sie in der
Lage, alles umzuwandeln, was die westafrikanische Küstenzone in kontrol
lierter Bewegung und kontrollierter Reaktion auf sie zu richte'n vermochte.
Sie war ein Netzwerk von Menschen, Holmen, Planken und Segeln, das
ein großes Spektrum an Umständen in Erforschung umwandeln konnte,
ohne sich auf irgendeine der zahlreichen Weisen in seine Bestandteile zu
zerlegen, die Schiffen offen stehen, wenn die Dinge aus dem Ruder zu
laufen beginnen. Wie das Volta erreichte die Karavelle Stabilität, indem sie
die Kräfte um sich herum reflektierte. Sie war gut angepasst, weil sie stabi
le Beziehungen zwischen ihren Komponenten aufrechterhielt, indem sie
alles, dem sie begegnete, mit diesem Netzwerk verband, während sie sich
bewegte.
Zwischen 1440 und 1490 erforschten die Portugiesen den größten Teil der
westafrikanischen Küste. Als sie sich weiter südwärts bewegten und zu
nehmend größere Voltas verwendeten, sahen die Portugiesen ihre Naviga
tionsprobleme akuter werden. Wie konnten sie ihre Position bestimmen,
wenn sie so weit vom Land entfernt waren? Weil die klassischen europäi
schen Methoden des Kompasskurses, der planen Karten und der Koppel
navigation nur wenig hilfreich waren, war dieses Problem für die Portugie
sen äußerst Besorgnis erregend. 1480 entwickelten sie eine praktische
Methode zur astronomischen Bestimmung des Breitengrades an Bord
eines Schiffes. Die allgemeine Idee war, dass, falls die Altura, d.i. die Höhe
über dem Horizont der Sonne oder eines Sterns (normalerweise des Polar
sterns), bestimmt und mit der bekannten Altura des Bestimmungshafens
verglichen werden konnte, das Schiff nordwärts oder südwärts segeln
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 225
10 1 Im Folgenden bin ich im Hinblick auf das Material sehr selektiv vorgegan
gen, um das hervorzuheben, was ich für das Wesentliche des Prozesses halte und zu
vermeiden, mich in zu vielen Details festzufahren. Aus ähnlichen Gründen habe ich
mir auch die Freiheit genommen, die Chronologie der Ereignisse zu reorganisieren,
indem ich von der Einführung der Breitengrade wichtiger Küstenpunkte nach der
Diskussion des Regimento spreche. Für eine ausführlichere soziologische Darstel
lung vgl. Law (1986a).
226 1 JOHN LAW
Der zweite Schritt bezieht das mit ein, was als soziales Engineering
behandelt werden kann - die Konstruktion eines Netzwerkes von Prakti
ken, das, wenn es mit den Instrumenten selbst verbunden wird, zur not
wendigen Transformation von Sonne und Sternenlicht führen würde.
Dieses soziale Engineering selbst tauchte in drei Stufen auf. Zuerst berief
Anfang 1480 König Johann II. eine »wissenschaftliche Kommission« ein,
um verbesserte Methoden zur Messung der Altura zu finden. Diese Kom
mission bestand aus vier Experten: dem königlichen Leibarzt Meister Rod
rigo, dem königlichen Seelsorger Bischof Ortiz, dem Geographen Martin
Behaim und Jose Vizinho, der ein Schüler des Astronomen Abraham Zacu
to von Salamanca gewesen war (Chaunu 1979: 257; Taylor 1956: 162; Beau
jouan 1966: 74). Die Einberufung einer »wissenschaftlichen Kommission«
zum Zweck, esoterisches wissenschaftliches Wissen in eine Reihe weithin
anwendbarer Praktiken zu verwandeln, ist bereits bemerkenswert. Noch
bemerkenswerter ist die Tatsache, dass diese vier Männer, und wahrschein
lich besonders Vizinho, in der Lage waren, diese Transformation zu bewir
ken, indem sie eine Reihe von Regeln für die Berechnung des Breitengra
des durch halbgebildete Seeleute aufstellten. Diese Regeln, die den zweiten
Teil dieses Experiments in sozialem Engineering bilden, nahmen die Form
des Regimento do Astrolabio do Quadrante an, das wahrscheinlich seit Ende
des Jahres 1480 zur Verfügung stand, zumindest in handschriftlicher
Form. Das Regimento kann als Instruktion gelesen werden, wie man das
Schiff und seine Instrumente in ein Observatorium verwandelt - wie man,
in anderen Worten, eine stabile heterogene Verbindung von Elementen
schafft, die die Eigenschaft hat, Messungen der Altura in Bestimmungen
des Breitengrads zu verwandeln.
Doch das war noch nicht genug. Um die neue Methode des Segelns
übernehmen zu können, mussten die Steuermänner einen dritten Schritt
machen: Es war notwendig, die Breitengrade wichtiger Küstenmerkmale
und besonders der größten Häfen und Kaps zu kennen. Es war in anderen
Worten notwendig, ein Maß zu erzeugen, aus dem die Beobachtungen die
absolute Nord-/Süd-Bedeutung erhalten konnten und von dem aus das
Observatorium des Schiffes entsprechend platziert werden konnte. Die
Messung wichtiger Breitengrade an der Küste brachte wiederum einen
großen organisatorischen Aufwand mit sich. Sie involvierte die Aussen
dung kompetenter, mit großen hölzernen Astrolabien bewaffneter Beob
achter auf Forschungsschiffen, die nach Lissabon Bericht erstatteten. 1473
hatten die Astronomen in Lissabon eine Liste von Breitengraden, die bis
zum Äquator reichten (Taylor 1956: 159), eine Liste, die noch erweitert
wurde, als das Jahrhundert fortschritt. Sie machte es weiterhin nötig, dass
bekannte Breitengrade den Seefahrern zugänglich gemacht wurden - und
tatsächlich führt ein weiterer Abschnitt des Regimento diese auf.
Die neue Navigationsmethode erwies sich für die meisten Seefahrer als
schwierig. Nur die fortschrittlichsten Seeleute versuchten sich in ihrer
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 227
Anwendung, und es gibt Beweise, dass Kolumbus- unter anderen - sie nur
unvollständig beherrschte. Obwohl die Einzelheiten unklar bleiben, scheint
es, dass im frühen 16. Tahrhundert, und möglicherweise früher, Steuer
männern in Lissabon Navigationsunterricht erteilt wurde (Diffie/Winius
1977: 142). Solche Instruktionen waren jedoch nicht durchgängig erfolg
reich. Es gab im 16. Tahrhundert Beschwerden, dass viele Steuermänner
unfachmännisch seien. Es scheint, dass in dem Versuch, ein stabiles Netz
werk von Elementen für die Konversion von Sternen in Maße für Breiten
grade zu erschaffen - in anderen Worten in dem Versuch, Schiffe in Ob
servatorien umzuwandeln-, die Seeleute das schwächste Glied darstellten.
Die Sterne waren immer da, ebenso wie die Ozeane; sie konnten nicht von
der Stelle bewegt werden. Wenn die Instrumente und die Inskriptionen
auch erst einmal an ihrem Platz waren, erwiesen sie sich als ziemlich
dauerhaft. Aber Instrumente, Inskriptionen und Sterne waren nicht genug.
Ein Teil der Verbindung von Elementen, um Sterne in Breitengrade um
zuwandeln, lag in den Praktiken der Seeleute- und dieses Element war am
störungsanfälligsten. Es war schwierig, wenn auch nicht vollkommen un
möglich, eine neue soziale Gruppe zu erschaffen, die für die Schließung
notwendig war: die der asti;onomisch gebildeten Steuermänner.
Soweit bin ich stillschweigend von der Annahme ausgegangen, dass
Erfolg offensichtlich ist, wenn er erreicht wird. Wenn man in seinem
Bestimmungshafen ankommt (oder in diesem Fall auf den Riffen von Kap
Bojador auf Grund läuft), ist der Erfolg (oder Misserfolg) des Unterneh
mens für alle offenkundig. Wir können sagen, dass es in der ultimativen
Analyse die Fähigkeit der Portugiesen war, zu ihrem Ausgangspunkt zu
rückzukehren, die ihren Erfolg kennzeichnete. Der Erfolg der astronomi
schen Navigation bestand darin, dass sie zu dieser Rückkehr beitrug. Den
noch, wie sehr auch immer die Schließung von der Kapazität zurückzukeh
ren abhing, so wäre doch das Entscheiden ohne einen Referenzmaßstab
während der Reise nicht möglich gewesen. Der Erfolg jedes gesegelten
Kurses konnte in der Zwischenzeit nur gegen ein vollständig von Men
schen gemachtes Maß gemessen werden, ein Maß, das von Inskriptionen
und der Fähigkeit, diese Inskriptionen zu interpretieren, abhing. Wir
haben also die Konstruktion eines Hintergrundes, gegen den wir Erfolg
messen - etwas, das der von Constant beschriebenen technischen Testtra
dition im Kontext der Konstruktion von Wasserturbinen verwandt, wenn
nicht sogar mit ihr identisch ist (Constant 1983). Ich glaube, die Geschichte
der Navigation kann als die Konstruktion (lokal) allgemeinerer Maßsyste
me verstanden werden, gegen die die Adäquatheit bestimmter Kurse und
Navigationsentscheidungen gemessen werden kann.
228 1 JOHN LAW
Am 8. Juli 1497 lichtete Vasco da Gamas Flotte im Tejo die Anker und
setzte Segel. Seine vier kleinen Schiffe beförderten 170 M ann und 20
Kanonen. Sie beförderten ebenfalls Handelswaren. Zwei Jahre später
)
kehrten zwei der ursprünglich vier Schiffe nach Lissabon zurück. Die
Kap-Route nach Indien war eröffnet und Gewürze zurückgebracht worden.
Die Portugiesen trafen auf verschiedene Schwierigkeiten, die teilweise
aus der Feindseligkeit der moslemischen Händler in Indien erwuchsen
(Magalhaes-Godhino 1969: 558). Solche Händler organisierten und kon
trollierten den Abschnitt des Indischen Ozeans für den Gewürzhandel. Sie
kauften Gewürze in den Basaren von Kalikut und verschifften diese entwe
der durch den Persischen Golf oder das Rote Meer zu arabischen Häfen
zur weiteren Verschiffung ins Mittelmeer und nach Venedig. Es überrascht
nicht, dass die Moslems die Ankunft da Gamas an der Malabarküste von
Kalikut nicht begeistert begrüßten. Die Verhandlungen zwischen den Por
tugiesen und dem Hindu-Regenten von Kalikut, dem Samorin, liefen
schlecht. Es gab dafür viele Gründe, aber der wichtigste scheint in der
Feindseligkeit der moslemischen Händler gelegen zu haben, von deren
Übersetzungen die Portugiesen gezwungenermaßen abhingen. Die Über
setzer verbreiteten eine Vielzahl feindlicher Gerüchte über die Portugiesen,
die dann gezwungen waren, direkt mit den Hindu-Händlern zu verhandeln
(Diffie/Winius 1977: 182-183).
Zurück in Lissabon überdachten die Portugiesen die Situation. Eine
Schlussfolgerung, die sie sehr schnell zogen, war, dass es notwendig sein
würde, im Indischen Ozean Macht auszuüben. Da Gamas erste Expedition
hatte einige Kanonen befördert, aber wenn man der Feindseligkeit der
Moslems Herr werden wollte, würden mehr notwendig sein. Tatsächlich
kamen die Portugiesen bereits vor da Gamas Rückkehr zu diesem Schluss.
Eine größere und stärker bewaffnete zweite Expedition hatte sich bereits
auf den Weg gemacht; die Expedition bestand aus 13 Schiffen und zwi
schen 1000 und 1500 Mann und wurde von Pedro Cabral befehligt. Cab
rals Anweisungen waren deutlich: Er sollte einen Bevollmächtigten einset
zen, um Gewürze in Kalikut zu kaufen und hatte die Instruktion, Stärke zu
demonstrieren, wenn das nötig würde, jedoch von einer Eroberung abzu
sehen (Magalhaes-Godhino 1969: 561). Obwohl die Verhandlungen gut
begannen, liefen die Dinge schnell wieder schief. Als Antwort stach Cabral
in See, zerstörte eine Anzahl moslemischer Schiffe und bombardierte die
Stadt Kalikut. Die Geschichte wurde mit da Gamas zweiter Expedition
wiederholt, die sogar noch mehr Gewalt einsetzte. Zusammen gossen diese
ersten drei militärischen Einsätze die Form, die die portugiesische Kontrol
le des Indischen Ozeans in den folgenden Jahren annehmen würde. Die
Kontrolle musste hauptsächlich durch Gewalt aufrechterhalten werden, da
': I
lil
M.l.:l
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 229
»Das vom atlantischen Europa im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts entwickelte
Kanonenschiff war die Erfindung, die die europäische Saga möglich machte. Es war
notwendigerweise eine kompakte Einrichtung, die einer relativ kleinen Besatzung
gestattete, nie gesehene Mengen unbelebter Energie zur Bewegung und Zerstörung
zu beherrschen. « (Cipolla 196s: 137)
Die Kanone, das Schiff, der Kapitän, der Kanonier, das Pulver und die
Kanonenkugeln - alle diese bildeten einen relativ stabilen Satz verbunde
ner Entitäten, der relative Dauerhaftigkeit erreichte, weil sie zusammen in
der Lage waren, die feindlichen Kräfte, auf die sie stießen, zu dissoziieren,
ohne selbst dissoziiert zu werden. Es ist wichtig, an diesem Punkt festzu
halten, dass einige dieser feindlichen Kräfte natürlich (die Ozeane), andere
sozial waren (die Moslems). Wie ich bereits formuliert habe, assoziiert und
dissoziiert Technik gleichzeitig, und das heterogene Engineering der Por
tugiesen war dazu erdacht, natürliche und soziale Kräfte gleichermaßen zu
bewältigen und diese Kräfte in einer angemessenen Schließung zu ver
binden.
Diese Feststellung darf aber nicht dazu verleiten, in die Falle des tech
nischen Determinismus zu geraten und nun anzunehmen, dass nur die
Technik allein den portugiesischen Erfolg zuwege brachte. Wie im Fall der
Karavelle, des Voltas und der Praxis astronomischer Navigation war die
Haltbarkeit des bewaffneten Kriegsschiffes eine Funktion einer Kollision
von Kräften der portugiesischen Systemerbauer und jenen der Meere sowie
in diesem Fall der Moslems. Boxer (1953: 194-197) argumentiert, dass die
portugiesische »See- und Militärüberlegenheit, wo es sie denn gab, relativ
und begrenzt war«. Es war so, dass es kein gut bewaffnetes Moslem-Schiff
im Indischen Ozean gab. Es war so, dass sich die Chinesen zu ihren Küs
ten zurückgezogen hatten. Es war so, dass die portugiesischen Expeditio-
230 1 JOHN LAW
,,
1
"
nen Staatsunternehmen waren, die die Macht und organisatorische Fähig
il!i
1
keit der Krone mit der Suche nach Profit verbanden. Es war so, dass mos
t1
r,,1
1\1·:· ·
,,1
lemische Händler auf eigene Rechnung handelten und nicht für ihre Mon
archen. Es war so, dass diesen Monarchen wenig Holz zur Verfügung
stand, um Flotten zu bauen, die die Portugiesen aufhalten hätten können.
II
Unter diesen Umständen waren die Portugiesen in der Lage, den Seehan
del im Indischen Ozean zu dominieren. Sie waren nicht in der Lage (und
1
da sie das wussten, machten sie auch nicht den Versuch), größere Kolo
nien an Land aufzubauen. Dort riskierten sie, die Balance der Kräfte durch
Kavallerien und einsetzbare Männer gegen sich, eine vernichtende Nieder
lage.
Fazit
Ich habe damit begonnen, drei Ansätze zur sozialen Untersuchung von
Technik aufzuzeigen. Einer, der des sozialen Konstruktivismus, stammt
aus der Wissenschaftssoziologie. Ich stellte fest, dass obwohl er viele Vor
teile hat, seine Verpflichtung einem gewissen sozialen Reduktionismus
gegenüber unbefriedigend ist. Der zweite, der Systemansatz, stammt aus
der Technologiegeschichte. Er betont die Heterogenität technischer Aktivi
tät und vermeidet eine Verpflichtung zu sozialem (oder technologischem)
Reduktionismus. Ich argumentierte, dass dieser Ansatz, in einer Weise
angepasst, die deutlich macht, dass Systeme durch Kämpfe gleichgültiger
oder feindlicher Elemente entstehen, ein befriedigendes Modell für die
Analyse technischer Innovation bietet. Ich stellte weiter fest, dass »hetero
gene Ingenieure« Entitäten zu verbinden suchen, die von Menschen über
Kompetenzen zu Artefakten und natürlichen Phänomenen reichen. Dies
ist erfolgreich, wenn die daraus resultierenden heterogenen Netzwerke
fähig sind, angesichts der Versuche anderer Entitäten des Systems, sie in
ihre Komponenten zu zerlegen, ein gewisses Maß an Stabilität zu erhalten.
Daraus folgt, dass die Struktur eines in Frage stehenden Netzwerks (oder
Systems) nicht nur das Interesse reflektiert, eine praktikable Lösung zu
erzielen, sondern auch die Beziehung zwischen den Kräften, die es aufbie
ten konnte, und jenen, die die verschiedenen Gegner einsetzten. Ich könn
te, wenn ich mehr Gebrauch von der Metapher der Stärke oder Macht
machen würde, über die relative Dauerhaftigkeit oder Stärke verschiedener
Netzwerke oder unterschiedlicher Teile derselben Netzwerke schreiben.
Dann habe ich durch ein empirisches Beispiel zu zeigen versucht, dass in
der Kollision verschiedener Netzwerke einige Komponenten dauerhafter
sind als andere und dass die von der einen oder anderen Seite erreichten
Erfolge eine Funktion der relativen Stärke der in Frage stehenden Kompo
nenten sind.
Was sind die Vorteile physischer Metaphern wie »Kraft«, »Stärke« und
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 231
natürlichen Merkmale eines Systems sein (und ist es auch oft). Dies ist ein
kontingenter Sachverhalt, eine Funktion, durch die die Komponenten eines
Systems am dauerhaftesten und am wenigsten anfällig für Dissoziation
verbunden werden.
Damit soll nicht gesagt sein, dass das Soziale immer formbar und das
Technische oder Natürliche immer dauerhaft ist. Es soll eher betont wer
den, dass die Beziehung zwischen ihnen eine kontingente ist und dass es
wichtig ist, einen Weg zu finden, alle Komponenten in einem System mit
gleichen Begriffen, d.h. gleichgestellt, zu behandeln. Dies führt aber zu
einer weiteren Art, in der der Netzwerkansatz sich von dem des sozia
len Konstruktivismus unterscheidet. Im sozialen Konstruktivismus haben
natürliche Kräfte oder technische Objekte immer den Status eines Expla
nandums. Die natürliche Welt oder der in Frage stehende Apparat werden
niemals als Explanans behandelt. Sie haben sozusagen in der Erklärung
keine eigene Stimme. Die Übernahme des Prinzips der generalisierten
Symmetrie bedeutet, dass das nicht länger der Fall ist. Natürlich abhängig
von den kontingenten Umständen können die natürliche Welt und die
Artefakte als Explanans in die Darstellung eintreten. Falls es scheint, als
räumte ich dem Realismus zu viel ein, möchte ich hinzufügen, dass, so
lange wir es ausschließlich mit Netzwerken zu tun haben, die von Men
schen erbaut werden, die »Natur« nur dann ihre Unnachgiebigkeit in einer
Art und Weise enthüllt, die für das Netzwerk relevant ist, wenn sie von den
Systemerbauern registriert wird. Also wird die Natur nicht in einen beson
deren Status erhoben. Es ist, wie ich bereits angedeutet habe, eher so, dass '1
Gesellschaft irgendeine Rolle zu spielen, außer sie treffen auf den System
erbauer. Deshalb findet man in meiner Erklärung der portugiesischen
Expansion Kaps und Strömungen neben Schiffen und Seefahrern. Wenn
das Prinzip der generalisierten Symmetrie einmal akzeptiert worden ist,
können diese nicht ausgeschlossen werden. Der Versuch, eine Erklärung
des portugiesischen Systems auf eine begrenzte Anzahl sozialer Katego
rien zu reduzieren, würde ein Misslingen der Erklärung der Spezifizität
des Volta, der Karavelle oder des Regimento bedeuten. Die portugiesische
Sichtweise der Sonne und der ungünstigen Winde ist notwendig, damit die
Erklärung funktioniert. 12
12 1 Nachdem ich das gesagt habe, räume ich bereitwillig ein, dass ich im vorlie
genden Artikel aufgrund eines Mangels an Daten über mittelalterliche und frühmo
deme maritime Praktiken manchmal gezwungen war, eine Art »rationaler Rekon
struktion« anzuwenden, um zu zeigen, wie die Natur und die Gesellschaft die
portugiesische Analyse ihrer Probleme beeinflussten. Dies sollte so verstanden
werden, dass ich rationale Rekonstruktion nicht zum Zwecke eines epistemologi
schen Urteils einsetze, sondern auf dem Boden der Tatsachen auszuarbeiten versu
che, was in Fällen, in denen historische Daten fehlen, passiert zu sein scheint. Für
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 233
ken von Kräften erhalten, geschieht das auch mit heterogenen Ingenieu
ren. Die Tatsache, dass diese in einer Position sind, Systeme zu bauen, ist
selbst das Resultat einer Reihe von Interaktionen unter Kräften mit ver
schiedenen Graden von Widerstandsfähigkeit. Einfach ausgedrückt könnte
man sagen, der König von Portugal ist genauso sehr eine Wirkung wie eine
Ursache: Er ist die Wirkung einer Reihe von endlosen Transaktionen, die
prinzipiell der Analyse zur Verfügung stehen. In der vorliegenden Studie
entschließe ich mich aus Gründen der Einfachheit, ihn als Ursache und
Navigation als eine Wirkung zu betrachten; in einer anderen Studie oder in
vergleichbaren können sie ebenso umgekehrt sein.
Zusammengefasst gibt es zwei eng verbundene methodologische Prin
zipien für die Untersuchung heterogener Netzwerke. Das erste, das der
generalisierten Symmetrie, besagt, dass derselbe Analysetypus auf alle
Komponenten eines Systems angewendet werden sollte, ob diese Kompo
nenten menschlich sind oder nicht. Das zweite, das der reziproken Defini
tion, besagt, dass Akteure Entitäten sind, die wahrnehmbaren Einfluss auf
andere ausüben können. Wenden wir das auf ein relativ stabiles System an,
so können wir deshalb das Ausmaß des Systems oder Netzwerkes durch
die Anzahl von Akteuren definieren, die als einheitliche Kräfte zur Beein
flussung der Netzwerkstruktur operieren. In diesem Beitrag habe ich ver
sucht, diesen beiden Prinzipien in einer Analyse der portugiesischen Ex
pansion zu folgen. Durch die Neuinterpretation der Begriffe des Systems,
der Adaption und des technischen Testens an einem historischen Fall hoffe
ich, dass ich mit Erfolg die Relevanz des Ansatzes für die Analyse techni
scher Innovation zeigen konnte.
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236 1 JOHN LAW
Ist Soziologie die Untersuchung sozialer Fragen oder ist sie die Untersu
chung von Verbindungen? In diesem Beitrag nimmt der Autor die zweite
Position ein und erweitert die Analyse unserer Verbindungen auf Nicht
menschen. Zur Verdeutlichung der Argumentation wird ein sehr beschei
dener Nichtmensch gewählt, ein Türschließer, und analysiert, wie dieses
>rein< technische Artefakt ein hoch moralischer, hoch sozialer Akteur ist,
der sorgfältige Betrachtung verdient. Dann schlägt der Autor eine Termino
logie vor, um menschlichen und nichtmenschlichen Beziehungen zu
folgen, ohne an der künstlichen Trennung zwischen dem, was rein tech
nisch, und dem, was sozial ist, stehen zu bleiben. Der Autor baut seinen
eigenen Text so auf, dass dieser selbst eine Maschine ist, die verschiedene
Standpunkte des Autors veranschaulicht. Im Besonderen wird der Autor
selbst einige Male konstruiert und dekonstruiert, um zu zeigen, wie viele
soziale Akteure von Maschinen und Automatismen inskribiert oder prä
skribiert werden.
11 Zur sozialen Dekonstruktion der Autoren vgl. unten den Abschnitt »Diszi
plinierung des Türschließers«.
238 1 JIM JOHNSON
der Obhut der Technologen zu überlassen oder den Einfluss von Techni
ken als Black Boxes auf die Evolution sozialer Gruppen zu untersuchen.
Trotz der Arbeiten von Marx oder Lewis Murnford und der neueren Ent
wicklung einer Techniksoziologie (MacKenzie/Wacjman 1985; Bijker/
Hughes/Pinch 1986; Winner 1986; Latour 1987) fühlen sich Soziologen
entfremdet, wenn sie auf die bizarren Verbindungen zwischen Menschen
und Nichtmenschen stoßen. Teil ihres Unbehagens hat mit der Besonder
heit komplexer Objekte zu tun und dem Fehlen einer zweckmäßigen Ter
minologie, die ihnen gestattet, sich - frei von der Untersuchung menschli
cher Verbindungen - hin zu Verbindungen von Nichtmenschlichen zu
bewegen. In diesem Beitrag möchte ich zur Wiedereinführung von Nicht
menschen in den Mainstream der amerikanischen Soziologie beitragen,
indem ich eine extrem einfache Technik untersuche und eine kohärente
Terminologie anbiete, die auf komplexere menschliche und nichtrnenschli
che Verstrickungen übertragen werden kann.
\ die Anspielung auf Maxwells Dämonen zeigt deutlich, dass dies nicht der
Fall ist. Die reversible Tür ist der einzige Weg, eine differentielle Akkumu
1 lation von warmgehaltenen Soziologen, Wissen, Papieren und leider auch
Schreibarbeit irreversibel innen zu fangen; die Tür mit Angeln gestattet
eine Auswahl dessen, was hinein- und hinausgeht, um lokal Ordnung oder
Information zu vergrößern.
Nun zeichnen Sie zwei Spalten (wenn ich den Lesern keine Anweisun
gen geben darf, dann betrachten Sie es als sehr streng formulierten Rat
schlag). In der rechten Spalte listen Sie die Arbeit auf, die Leute tun müss
ten, wenn sie keine Tür hätten; in die linke Spalte tragen Sie das sanfte
Drücken (oder Ziehen) ein, das sie ausführen müssen, um dieselbe Aufga
be zu erfüllen. Vergleichen Sie die beiden Spalten; dem enormen Aufwand
auf der rechten Seite steht der geringe auf der linken gegenüber - dank der
Angeln. Ich werde diese Transformation einer großen in eine geringe
Anstrengung als Übersetzung oder Delegierung definieren; ich werde sagen,
dass wir an die Angel die Arbeit delegiert (oder übersetzt oder verlagert
oder nach außen verschoben) haben, das Lochwand-Dilemma umkehrbar
zu lösen. Wenn ich einen befreundeten Soziologen besuche, muss ich
diese Arbeit nicht tun oder noch nicht einmal daran denken; sie wurde
vom Zimmermann an eine Figur delegiert, die Angel nämlich, die ich
einen Nichtmenschen nennen werde (nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich
nicht »Unmenschen« gesagt habe). Ich betrete einfach die soziologische
Abteilung. Als allgemeinere deskriptive Regel kann man sich vergegenwär
tigen, dass man sich jedes Mal, wenn man wissen möchte, was ein Nicht-
240 1 JIM JOHNSON
Delegation an Menschen
sie eine andere Art von sehr inkompetentem und unentschlossenem Por
tier ersetzen würde, der sich nie des Zustands der Tür (oder seines eige
nen) sicher ist: Ist sie ein Loch oder eine Wand? Bin ich ein Schließer oder
ein Öffner? Wenn sie beides gleichzeitig ist, kann man die Wärme verges
sen. In der Computersprache ist eine Tür ein ODER-, nicht ein UND-Tor.
Ich bin ein großer Fan von Angeln, aber ich muss gestehen, dass ich
hydraulische Türschließer viel mehr bewundere, besonders die alten,
schweren, verkupferten, die den Haupteingang unseres Hauses in Colum
bus (Ohio) ganz langsam schlossen. Ich bin fasziniert vom Hinzufügen
eines hydraulischen Kolbens zur Feder, der sanft die Energie derjenigen,
die die Tür öffnen, aufnimmt, sie hält und dann langsam mit einer raffi
nierten Art unerbittlicher Festigkeit, die man von einem gut ausgebildeten
Butler erwarten könnte, zurückgibt. Besonders raffiniert ist die Art, von
wirklich jedem widerwilligen, ahnungslosen Passanten Energie zu ziehen.
Meine Militärfreunde an der Akademie nennen eine solche kluge Abstrak
tion »obligatorischen Passage-Punkt«, was ein sehr passender Name für
eine Tür ist; ungeachtet, was man fühlt, denkt oder tut, man muss buch
stäblich etwas von seiner Energie an der Tür lassen. Das ist so schlau wie
eine Mautstelle.
Dies löst jedoch noch nicht alle Probleme. Sicherlich schlägt der hy
11
,1
draulische Türschließer nicht die Nasen derer ein, die sich der lokalen
,,
Bedingungen nicht bewusst sind, womit man sagen könnte, dass seine
Präskriptionen weniger restriktiv sind. Aber er lässt noch immer Segmente
menschlicher Populationen außer Acht. Weder mein kleiner Neffe noch
meine Großmutter könnten ohne Hilfe hineinkommen, weil unser Tür
schließer der Kraft einer körperlich kräftigen Person bedarf, um genug
Energie zum Schließen der Tür zu akkumulieren. Um eine klassische
Wendung von Winner (1980) zu benutzen, diskriminieren diese Türen
aufgrund ihrer Präskriptionen sehr kleine und sehr alte Personen. Wenn es
außerdem keinen Weg gibt, sie ständig offen zu halten, diskriminieren sie
auch Möbelpacker und im Allgemeinen jeden mit Paketen, was normaler
weise in unserer spätkapitalistischen Gesellschaft bedeutet, Arbeitende der
Arbeiter- oder unteren Mittelklasse (wer, sogar wenn er aus einer höheren
Klasse stammt, ist nicht schon einmal von einem automatisierten Butler
eingeklemmt worden, als er oder sie die Hände voller Pakete hatte?). Es
gibt jedoch Lösungen: Die Delegierung des Türschließers kann aufgeho
ben werden (gewöhnlich durch Blockierung seines Armes) oder, prosa
ischer, seiner delegierten Aktion kann mit einem Fuß entgegengetreten
werden (Vertreter sollen Experten dafür sein). Der Fuß kann seinerseits an
einen Teppich oder irgendetwas delegieren, das den Butler in Schach hält
(obwohl ich immer über die Anzahl an Objekten erstaunt bin, die dieser
Kraftprobe nicht standhalten - ich habe sehr oft gesehen, wie sich die Tür,
die ich gerade aufgekeilt hatte, höflich schloss, wenn ich ihr den Rücken
zuwandte).
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 245
II
repräsentiert, verwende ich nichtfigurative Abstraktionen. Sie sind den-
1
,llii
---
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 247
noch alle gleichermaßen Aktanten, das bedeutet, Entitäten, die Dinge tun,
entweder in Shakespeares kunstvollen Stücken oder in den weitschweifige
ren Wälzern der Kommentatoren. Die Wahl, den Aktanten Figurativität zu
gewähren oder nicht, ist vollkommen den Autoren überlassen. Dasselbe
trifft auf Technik zu. Wir Ingenieure sind die Autoren dieser subtilen Plots
oder Scenarii, wie Madeleine Akrich sie nennt (1987), von Dutzenden von
Delegierten und ineinander greifenden Charakteren, von denen nur weni
ge Leute wissen, wie man sie schätzt. Das an Technik angebrachte Etikett
>nichtmenschlich< übersieht einfach Übersetzungsmechanismen und die
vielen Wahlmöglichkeiten, die zur Figuration oder Defi guration, Personifi
zierung oder Abstraktion, Verkörperung oder Entkörperung von Akteuren
bestehen.
Als ich z.B. neulich auf der Autobahn fuhr, musste ich abbremsen, weil
dort ein Bursche in einem gelben Anzug und einem roten Helm stand, der
eine rote Fahne schwang. Die Bewegungen des Burschen waren so regel
mäßig und er war so gefährlich platziert und hatte ein solch bleiches (wenn
auch freundliches) Gesicht, dass ich ihn beim Vorbeifahren als Maschine
erkannte (ein Kognitivist würde sagen, dass er beim Turing-Test durchfiel).
Nicht nur die rote Fahne, sondern auch der Arm, der die Fahne schwang,
und sogar die körperliche Erscheinung waren an die Maschine delegiert.
Wir Ingenieure könnten in Richtung auf Figuration viel weiter gehen,
jedoch zu einem gewissen Preis: Wir hätten ihm oder ihr (Vorsicht hier,
keine sexuelle Diskriminierung von Robotern) elektronische Augen geben
können, sodass nur noch dann die Fahne geschwungen würde, wenn sich
ein Auto genähert hätte, oder wir hätten die Bewegung regulieren können,
sodass sie schneller ist, wenn Autos nicht gehorchen. Wir hätten auch -
warum nicht? - ein wütendes Starren oder ein erkennbares Gesicht wie
eine Maske von Präsident Reagan hinzufügen können, das mit Sicherheit
die Fahrer sehr effektiv verlangsamt hätte. Aber wir hätten uns auch in die
andere Richtung bewegen können, hin zu einer weniger figurativen Dele
gierung; die Fahne hätte die Aufgabe auch allein bewältigen können. Und
wieso eine Fahne? Wieso nicht einfach ein Schild: »Baustelle«. Und wieso
überhaupt ein Schild? Fahrer - wenn sie umsichtig, diszipliniert und auf
merksam sind - werden selbst sehen, dass dort Arbeiten im Gange sind
und langsamer fahren.
Dem Enunziator (ein allgemeines Wort für den Autor eines Textes oder
den Ingenieur, der die Maschine entwickelt) steht es frei, eine Repräsenta
tion ihrer/seiner selbst im Skript (Texte oder Maschinen) zu platzieren
oder nicht. Der Ingenieur kann im Fahnenschwinger eine Gestalt delegie
ren, die seiner/ihrer ähnlich ist oder nicht. Dies ist genau dieselbe Opera
tion wie meine, als ich vorgab, dass der Autor dieses Artikels ein zum
harten Kern gehörender Technologe aus Columbus (Ohio) sei. Wenn ich
sage: »wir, die Technologen«, schlage ich damit ein Bild des Autors-des
Texts vor, das nur eine vage Beziehung zum Autor-in-Fleisch-und-Blut hat,
248 1 JIM JOHNSON
!,i:i
es keinen Erzähler). Ich hätte einfach nur Dinge zu sagen brauchen wie:
;::!
:1,1, »neuere Entwicklungen der Wissenschaftssoziologie haben gezeigt, dass
l!:1
i, 1
1
...« statt »ich« und der Ingenieur hätte einfach nur den Attrappen-Arbeiter
'I herausnehmen und ihn durch Kurbeln und Rollen ersetzen müssen.
l,1,
ill:1
IJ Anruf der Götter
'1
'' 11
Hier folgt nun die interessanteste und traurigste Lektion der an der Tür
1r
'
1 11
angebrachten Notiz: Leute sind nicht umsichtig, diszipliniert und aufmerk
l,11 :
1
sam, besonders nicht Fahrer in Walla Walla nach der Happyhour freitag
nachts. Das ist genau die Aussage des Zettels. »Der Türschließer streikt,
'1
1,' · um Gottes Willen, haltet die Tür geschlossen.« In unseren Gesellschaften
1,'
gibt es zwei Systeme des Anrufens: nichtmenschlich und übermenschlich,
, 1
also Maschinen und Götter. Diese Notiz verweist darauf, wie verzweifelt
ihre durchgefrorenen und anonymen Autoren waren (ich war nie in der
Lage, sie zurückzuverfolgen und sie zu ehren, wie sie es verdienen). Zuerst
verließen sie sich auf die innere Moralität und den gesunden Menschen
verstand von Menschen. Dies schlug fehl; die Tür wurde immer offen
gelassen. Dann wandten sie sich an das, was wir Technologen als das
2 1 Der Autor-im-Text ist Jim Johnson, Technologe in Columbus (Ohio), der zur
Universität Walla Walla ging, während der Autor-aus-Fleisch-und-Blut Bruno Latour
ist, Soziologe aus Paris, der niemals nach Columbus oder zur Universität Walla
Walla ging. Die Distanz zwischen beiden ist groß, jedoch ähnlich der zwischen
Steven Jobs, dem Erfinder des »Macintosh«, und dem figurativen, nichtmenschli
chen Charakter, der »Willkommen bei Macintosh« sagt, wenn man den Computer
startet. Der Grund für diese Verwendung eines Pseudonyms war die Meinung des
Herausgebers, dass kein amerikanischer Soziologe willens ist, Dinge zu lesen, die
sich auf bestimmte Orte und Zeiten beziehen, die nicht amerikanisch sind. Daher
inskribierte ich amerikanische Szenen in meinen Text, um die Kluft zwischen dem
prä-skribierten Leser und dem prä-inskribierten zu vermindern. [Anm. d. Hg. von
»Social Problems«: Da wir diese Örtlichkeiten für Bruno Latours Argumentation für
unwichtig hielten, drängten wir ihn, spezifische Ortsbezüge zu entfernen, mit
denen Leser, die nicht aus den USA stammten, nicht vertraut sind und sie deshalb
1:I vielleicht ablenken könnten. Seine Lösung scheint unserem Bedenken Recht gege
ben zu haben. Korrespondenz an den Autor-aus-Fleisch-und-Blut sollte an das
1 !I
1111:I
Centre de Sociologie de L'Innovation, Ecole Nationale Superieure des Mines, 62
11 Boulevard Saint Michel, 75006 Paris, Frankreich gerichtet werden.]
1i :
·II,
1111
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 249
1 1 1 Diese Inskription von Autor und Benutzern in der Szene ist nahezu
11
dieselbe wie die eines Textes. Ich habe bereits gezeigt, wie dem Autor
dieses Artikels (fälschlicherweise) zugeschrieben wurde, ein Technologe in
1 Ohio zu sein. Dasselbe trifft auf den Leser zu. Ich habe viele Male »Sie«
und sogar »Sie Soziologen« verwendet. Wenn Sie sich erinnern, habe ich
Sie sogar angewiesen, eine Tabelle aufzustellen (oder Ihnen geraten, dies
II,[ zu tun). Ich habe um Ihre Erlaubnis gebeten, mit der Erzählung fortzufah
II
ren. Indem ich dies tat, habe ich einen inskribierten Leser aufgebaut, dem
ich Eigenschaften und Verhalten in der gleichen Weise zuschrieb, wie die
Ampel oder das Gemälde dem Betrachter. Haben Sie dieser Beschreibung
ihrer selbst zugestimmt, sie subskribiert? Oder schlimmer: Gibt es über
haupt jemanden, der diesen Text liest und die für den Leser bestimmte
Position besetzt? Diese Frage ist eine Quelle ständiger Schwierigkeiten für
die, die die Grundlagen der Semiotik nicht verstanden haben. Nichts in
einer vorgegebenen Szene kann den inskribierten Benutzer oder Leser
davon abhalten, sich anders zu verhalten als von ihm erwartet (d.h. nichts
bis zum nächsten Paragraphen). Der Leser-aus-Fleisch-und-Blut kann
meine Definition von ihm oder ihr vollkommen ignorieren. Der Benutzer
der Ampel kann auch bei Rot weiterfahren. Sogar Besucher der Abteilung
für Soziologie tauchen vielleicht niemals auf, weil Walla Walla so weit
entfernt ist, trotz der Tatsache, dass ihr Verhalten und ihre Trajektoren
vom Türschließer vollkommen antizipiert worden sind. Was die Benutzer
eingabe beim Computer betrifft, kann der Cursor ewig blinken, ohne dass
der Benutzer da ist oder weiß, was zu tun ist. Es kann eine enorme Kluft
zwischen dem präskribierten Benutzer und dem Benutzer-aus-Fleisch-und-
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 253
Blut geben, ein so großer Unterschied wie zwischen dem »Ich« eines
Romans und dem Schriftsteller. Genau dieser Unterschied bestürzt die
Autoren des anonymen Appells an der Tür so sehr. Weil sie die Leute nicht
mit Worten, Notizen und Türschließern disziplinieren konnten, mussten
sie sich an Gott wenden. Bei einer anderen Gelegenheit mag die Kluft
zwischen den beiden jedoch nicht vorhanden sein: Der präskribierte Be
nutzer ist so gut antizipiert, so sorgfältig in die Szenen eingebettet, so
genau koordiniert, dass er tut, was von ihm erwartet wird. Um bei dersel
ben etymologischen Wurzel zu bleiben, wäre ich versucht, die Art, in der
Akteure (menschliche oder nichtmenschliche) dazu neigen, sich selbst
vollständig vom präskribierten Benehmen loszureißen, Des-Inskription und
die Art, in der sie es akzeptieren oder sich glücklich in ihr Los fügen, Sub
skription zu nennen.
Das Problem mit Szenen ist, dass sie gewöhnlich gut vorbereitet sind,
um Benutzer oder Leser zu antizipieren, die in der Nähe sind. Der Tür
schließer beispielsweise liegt ziemlich gut mit seiner Erwartung, dass die
Leute die Tür aufstoßen und ihm die Energie geben werden, sie wieder zu
schließen. Er ist aber ziemlich schlecht darin, den Leuten zu helfen, an die
Tür zu gelangen. über eine Distanz von 50 Zentimetern hinaus z.B. ist er
hilflos und kann nicht agieren. Dennoch wird keine Szene ohne eine vor
konzipierte Idee, welche Art von Akteuren die präskribierten Positionen
besetzen werden, vorbereitet. Deshalb sagte ich, dass, obwohl Sie frei wa
ren, dieses Papier nicht weiterzulesen, Sie nur ,relativ< frei waren. Wieso?
Weil ich weiß, dass Sie ein hart arbeitender, ernsthafter, amerikanischer
Soziologe sind, der eine seriöse Ausgabe von »Social Problems« über die
Soziologie von Wissenschaft und Technik liest. Ich kann also sicher wetten,
dass ich eine gute Chance habe, dass Sie das Papier gründlich lesen! Also
war meine Anordnung: »Lesen Sie das Papier bis zum Ende, Sie Soziolo
ge«, nicht sehr riskant. Ich werde all die Arbeiten, die im Vorfeld der Szene
getan werden und all die Dinge, die von einem Akteur (menschlich oder
nichtmenschlich) assimiliert werden müssen, bevor dieser als Benutzer
oder Autor die Szene betritt, Prä-Inskription nennen. Wie man beispiels
weise ein Auto fährt, ist grundsätzlich in jedem (westlichen) Jugendlichen
prä-inskribiert, Jahre bevor er oder sie den Führerschein macht; hydrauli
sche Kolben waren ebenso prä-inskribiert, um langsam die gesammelte
Energie zurückzugeben, Jahre bevor Erfinder sie dazu verwendeten, in
automatischen Türschließern zu arbeiten. Ingenieure können sich auf
diese Prä-Determinierung verlassen, wenn sie ihre Präskriptionen auf
zeichnen. Das nennen Gerson und seine Kollegen »Artikulationsarbeit«
(Fujimura 1987). Ein gutes Beispiel für Prä-Inskriptionsbemühungen gibt
Orson Welles in »Citizen Kane«, wo der Held nicht nur ein Theater für
seine singende Ehefrau kauft, in dem man ihr applaudieren kann, sondern
er kauft auch die Magazine, die die Besprechungen machen, kauft die
Kunstl<ritiker selbst und bezahlt das Publikum fürs Kommen - alles ohne
254 1 JIM JOHNSON
positionieren (»Wären Sie dort gewesen, wären Sie von Millikans Experi
menten überzeugt gewesen«): Es gibt keine Begrenzung für die Anzahl an
Verschiebungen nach außen, mit denen eine Geschichte gebaut sein kann.
Z.B. kann »ich« einen Dialog in der Aula zwischen zwei Charakteren auf
führen, die eine Geschichte darüber erzählen, was in der Akademie der
Wissenschaft in Washington geschah. In diesem Fall ist die Aula der Platz,
von dem aus Erzähler eine Verschiebung nach außen vornehmen, um eine
Geschichte über die Akademie zu erzählen, und sie mögen eine Verschie
bung zurück vornehmen oder nicht, um die erste Geschichte über Millikan
wieder aufzunehmen. »Ich« kann ebenfalls eine Verschiebung in der ganzen
Reihe von ineinander nistenden Erzählungen vornehmen, um meine
abzuschließen und zu der Situation zurückzukehren, von der ich ausge
gangen bin: Sie und ich. Alle diese Verlagerungen sind in Literaturab
teilungen gut bekannt und machen die Kunst talentierter Schriftsteller
aus.
II
Ungeachtet, wie klug und begabt unsere Schriftsteller sind, können sie
1 ! 1
es mit den Ingenieuren nicht aufnehmen. Ingenieure verschieben fortwäh
rend Charaktere nach außen in andere Räume oder andere Zeiten, erden
ken Positionen für menschliche und nichtmenschliche Benutzer, zerteilen
Kompetenzen, die sie dann auf viele verschiedene Aktanten umverteilen,
:i i
bauen komplizierte narrative Programme und Subprogramme, die evalu
i l'
'1 iert und beurteilt werden. Unglücklicherweise gibt es viel mehr Literatur
kritiker als Technologen und die subtile Schönheit technisch-sozialer Ver
wicklungen entgeht der Aufmerksamkeit der gebildeten Öffentlichkeit.
Einer der Gründe für diesen Mangel an Interesse kann in der besonderen
Natur der Verschiebung nach außen liegen, die Maschinen und Geräte
erzeugt. Statt den Zuhörer einer Erzählung in eine andere Welt zu senden,
inskribiert die technische Verschiebung nach außen die Wörter in eine
andere Materie. Statt dem Leser einer Erzählung zu gestatten, zur selben
Zeit weg (im Referenzrahmen der Erzählung) und hier (in seinem Sessel)
zu sein, zwingt ihn die technische Verschiebung nach außen, zwischen
Referenzrahmen zu wählen. Statt Sprechern und Empfängern eine Art
simultane Präsenz und Gemeinschaft mit anderen Akteuren zu erlauben,
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 257
Literatur
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Drawing Things Together:
Die Macht der unveränderlich mobile,:i Elemente1
ßRUNO LA.TOUR
Es wäre schön, wenn man in der Lage wäre zu definieren, was für unsere
moderne wissenschaftliche Kultur spezifisch ist. Es wäre sogar noch schö
ner, wenn man die ökonomischste Erklärung (die nicht die wirtschaftlichs
te sein muss) ihrer Ursprünge und besonderen Charakteristika finden
könnte. Um bei einer sparsamen Erklärung anzukommen, ist es am bes
ten, sich nicht auf universelle Charakterzüge der Natur zu beziehen. Hypo
thesen über Veränderungen im Geist oder im menschlichen Bewusstsein,
in der Struktur des Gehirns, in sozialen Beziehungen, »mentalites« oder in
der wirtschaftlichen Infrastruktur, die postuliert werden, um das Auftreten
von Wissenschaft oder ihre momentanen Errungenschaften zu erklären,
sind in den meisten Fällen einfach zu grandios - um nicht zu sagen hagio
graphisch -, in anderen Fällen offensichtlich rassistisch. Das Ockham'sche
Rasiermesser sollte diese Erklärungen zurechtstutzen. Kein »neuer
Mensch« trat irgendwann im 16. Jahrhundert plötzlich auf; genauso wenig
arbeiten Mutanten mit größeren Gehirnen, die anders als der Rest von uns
denken, in modernen Laboratorien. Die Idee eines rationaleren Geistes
oder zwingender wissenschaftlicher Methoden, die aus Dunkelheit und
Chaos auftauchten, stellt eine zu komplizierte Hypothese dar.
Der erste Schritt in Richtung auf eine überzeugende Erklärung scheint
mir zu sein, eine Apriori-Position zu übernehmen. Sie reinigt das For
schungsfeld von allen Unterscheidungen zwischen vorwissenschaftlichen
und wissenschaftlichen Kulturen, solchem Denken, solchen Methoden
oder Gesellschaften. Wie Jack Goody (1977) herausstellt, sollte die »große
Dichotomie« mit ihrer selbstgerechten Sicherheit durch viele ungewisse und
unerwartete Trennungen ersetzt werden. Dieser negative erste Schritt be
freit uns von positiven Antworten, die die Glaubwürdigkeit strapazieren.
Alle solchen dichotomischen Unterscheidungen können nur solange über
zeugend sein, wie sie von einer starken asymmetrischen einseitigen Sicht,
die die beiden Seiten der Unterscheidung oder Grenze sehr unterschied
lich behandelt, durchgesetzt werden. Sobald dieses Vorurteil den Halt
verliert, springen die kognitiven Fähigkeiten in alle Richtungen: Zauberer
werden zu Popper'schen Falsifikationisten, Wissenschaftler zu naiven
Gläubigen, Ingenieure zu herkömmlichen »bricoleurs«; die Bastler aller
dings erscheinen als ganz vernünftig (Knorr 1981; Auge 1975). Diese
schnellen Umschwünge beweisen, dass die Unterscheidung zwischen
vorwissenschaftlicher und wissenschaftlicher Kultur lediglich eine Grenze
darstellt - so wie die zwischen Tijuana und San Diego. Sie wird willkürlich
von Polizei und Bürokraten durchgesetzt, repräsentiert jedoch keine natür
liche Grenze. Obwohl sie für das Unterrichten, für Eröffnungsansprachen
und Polemiken sehr nützlich sind, liefern diese »großen Trennungen«
keine Erklärungen, sondern sind im Gegenteil das, was erklärt werden
muss (Latour 1983).
Es gibt jedoch gute Gründe, weshalb diese Dichotomien - obwohl
fortwährend widerlegt - hartnäckig aufrechterhalten werden oder weshalb
die Kluft zwischen den beiden Seiten sich sogar noch vergrößert. Die
relativistische Position, die dadurch erreicht wurde, den von mir vorge
schlagenen ersten Schritt vorzunehmen und große Dichotomien aufzuge
ben, wirkt wegen der enormen Konsequenzen der Wissenschaft lächerlich.
1: Man kann nicht den von Goody beschriebenen »Intellektuellen« (1977:
Kap. 2) und Galileo in seinen Studien gleichsetzen - genauso wenig wie
das Volkswissen über medizinische Kräuter und die »National Institutes of
Health«, die sorgsamen Prozeduren an der Elfenbeinküste zur Leichenbe
fragung und die sorgsame Planung von DNA-Tests in einem kaliforni
schen Labor, das Erzählen von Ursprungsmythen irgendwo im südafrika
nischen Busch und die Urknalltheorie, die zögernden Kalkulationen eines
Vierjährigen in Piagets Labor und die Berechnung eines Gewinners der
Field-Medaille, einen Abakus und einen Supercomputer. Die Unterschiede
in den Wirkungen von Wissenschaft und Technik sind so enorm, dass es
absurd erscheint, nicht nach enormen Ursachen zu suchen. Wenn For
schende mit diesen extravaganten Ursachen unzufrieden sind, sogar wenn
sie zugeben, dass diese willkürlich definiert, durch tägliche Erfahrung
falsifiziert und oft widersprüchlich sind, ziehen sie es vor, sie zu erhalten,
um die absurden Konsequenzen des Relativismus zu umgehen. Partikel
physik muss sich auf radikale Weise von Volksbotanik unterscheiden; wir
wissen nicht, auf welche Weise, aber als Verlegenheitslösung ist die Idee
der Rationalität besser als nichts (Hollis/Lukes 1982).
DRAWING THINGS TOGETHER 1 26!
Wir müssen einen Kurs steuern, der uns aus einem simplen Relativis
mus herausführt, und der, indem er einige einfache, empirisch verifizier
bare Ursachen postuliert, die enormen Unterschiede in den Wirkungen,
die jeder als real anerkennt, erklären kann. Wir müssen den Maßstab der
Effekte beibehalten, jedoch nach schlichteren Erklärungen als der einer
großen Trennung im menschlichen Bewusstsein suchen.
Hier werden wir jedoch mit einem anderen Problem konfrontiert. Wie
schlicht ist schlicht? Wenn die Leute vor mentalen Ursachen zurückwei
chen, bedeutet das normalerweise, dass sie an materiellen Ursachen Ver
gnügen finden. Gigantische Veränderungen im kapitalistischen Produk
tionsmodus durch die Mittel vieler »Reflexionen«, »Trübungen« und
»Vermittlungen« beeinflussen die Arten von Beweisen, Argumentationen
und Glauben. »Materialistische« Erklärungen beziehen sich oft auf tief
verwurzelte Phänomene, zu deren Superstrukturen die Wissenschaft ge
hört (Sohn-Rethel 1978). Das Endresultat dieser Strategie ist, dass nichts
empirisch verifizierbar ist, da eine gähnende Kluft zwischen allgemeinen
ökonomischen Trends und den feinen Details kognitiver Innovationen
besteht. Am schlimmsten ist jedoch, dass wir zur Erklärung von Wissen
schaft vor einer bestimmten Wissenschaft, der Ökonomie, niederknien
müssen. Ironischweise sind viele »materialistische« Darstellungen des
Auftretens von Wissenschaft keineswegs materiell, da sie die präzise Praxis
und Kunstfertigkeit des Wissens ignorieren und den allwissenden ökono
mischen Historiker von genauerer Untersuchung abhalten.
Es scheint mir so zu sein, dass die einzige Möglichkeit, der simplizisti
schen, relativistischen Position zu entkommen, die ist, sowohl »materialis
tische« als auch »mentalistische« Erklärungen um jeden Preis zu vermei
den und stattdessen nach sparsameren Darstellungen zu suchen, die durch
und durch empirisch und in der Lage sind, die großen Effekte von Wissen
schaft und Technik zu erklären.
Es scheint, dass die besten Erklärungen - jene, die aus dem Wenigsten
das Meiste machen - die sind, die die Handwerkskunst des Schreibens
und der Visualisierung in Betracht ziehen. Sie sind sowohl materiell als
auch schlicht, da sie so praktisch, so bescheiden, so durchdringend sind, so
direkt vor Augen und Händen liegen, dass sie der Aufmerksamkeit entge
hen. Jede von ihnen entleert grandiose Schemata und konzeptuelle Dicho
tomien und ersetzt sie durch einfache Modifikationen der Art, wie Perso
nengruppen miteinander argumentieren und dabei Papier, Zeichen, Dru
cke und Diagramme verwenden. Trotz ihrer verschiedenen Methoden,
Felder und Ziele verbindet diese Strategie der Deflation sehr verschiedene
Forschungsansätze und stattet sie mit einem gleichermaßen ironischen
wie erfrischenden Stil aus. 2
Wie diese Forscher war auch ich während einer Studie über ein biologi
sches Laboratorium beeindruckt von der Art, wie viele Aspekte der Labor
praxis geordnet werden konnten, indem man sich weder die Gehirne der
Wissenschaftler (zu denen mir der Zutritt verweigert wurde!) noch die
kognitiven Strukturen (nichts Besonderes) oder die Paradigmen (seit 30
Jahren dieselben) ansah, sondern die Transformation von Ratten und
Chemikalien in Papier (Latour/Woolgar 1979, 1986). Es war nicht, wie ich
zuerst dachte, einfach meine subjektive Sicht, mich auf die Literatur sowie
auf die Art, in der alles und jedes in Inskriptionen umgewandelt wurde, zu
konzentrieren; das Labor war vielmehr genau dafür gemacht worden. Die
Instrumente z.B. waren von verschiedener Art, verschiedenem Alter und
unterschiedlichem Verfeinerungsgrad. Einige waren Möbelstücke, andere
füllten große Räume, gaben vielen Technikern Arbeit und brauchten viele
Wochen für ihren Betrieb. Ihr Endresultat jedoch, unabhängig vom Fach
bereich, war immer ein kleines Fenster, durch das man einige wenige
Zeichen eines ziemlich kärglichen Repertoires (Diagramme, Flecken,
Bänder, Spalten) ablesen konnte. Alle diese Inskriptionen, wie ich sie
nannte, waren kombinierbar, übereinander lagerbar und konnten - mit
nur einem Mindestaufwand an Ordnen - als Darstellungen in den Text von
Artikeln, die von Menschen geschrieben wurden, integriert werden. Viele
der intellektuellen Glanzleistungen, die ich bewundern sollte, konnten neu
formuliert werden, sobald diese Aktivität des Schreibens auf Papier und
der Inskription in den Fokus der Analyse rückte. Statt hochtrabende Theo
rien oder Logikunterschiede zu bemühen, konnte ich mich so fest wie
Goody an der Ebene einfacher Kunstfertigkeit festhalten. Die Domestizie
rung oder Disziplinierung des Geistes dauerte noch an, mit Instrumenten,
die denen, auf die Goody sich bezog, sehr ähnlich waren. Fehlten diese
Ressourcen, begannen dieselben Wissenschaftler zu stammeln, zu zögern
und Unsinn zu reden und dabei jede Art politischer oder kultureller Vorur
teile zur Schau zu stellen. Obwohl ihr Denken, ihre wissenschaftlichen
Methoden, ihre Paradigmen, ihre Weltsichten und ihre Kulturen weiterhin
galten, konnte ihre Konversation sie nicht am rechten Platz halten. Inskrip
tionen oder die Praxis des Inskribierens hätten das jedoch vermocht.
Die große Trennung kann in viele kleine, unerwartete und praktische
Kompetenzen zerlegt werden, Bilder zu produzieren, über sie zu lesen und
zu schreiben. Diese Strategie der Deflation hat jedoch einen gewichtigen
Nachteil. Ihre Resultate scheinen gleichermaßen offensichtlich (an der
3 1 Eine Tatsache ist härter oder weicher als eine Funktion dessen, was später in
anderen Händen mit ihr geschieht. Jeder von uns agiert als ein Multikonduktor für
die vielen Ansprüche, die uns begegnen: Wir mögen uninteressiert sein oder sie
ignorieren oder interessiert sein - wir werden sie jedoch immer modifizieren und in
etwas vollkommen anderes verwandeln. Manchmal agieren wir tatsächlich als
Konduktor und geben den Anspruch ohne weitere Modifikation weiter (vgl. dazu
Latour/Woolgar 1979; Latour r984b).
DRAWING THINGS TOGETHER 1 265
La Perouse braucht. Ein Jüngerer sieht, dass die ansteigende Flut die Karte
bald auslöschen wird und nimmt eines von La Perouses Notizbüchern, um
die Karte noch einmal mit einem Bleistift zu zeichnen.
Was sind die Unterschiede zwischen unzivilisierter und zivilisierter
Geographie? Es ist weder notwendig, vorwissenschaftliches Denken ins
Feld zu führen, noch zwischen einem geschlossenen und einem offenen
Dilemma (Horton 1977) oder primären und sekundären Theorien (Horton
1982), implizit und explizit, konkreter und abstrakter Geographie zu unter
scheiden. Die Chinesen sind sehr wohl in der Lage, in Begriffen einer
Landkarte zu denken oder mit La Perouse auf gleicher Augenhöhe über
Navigation zu sprechen. Die Fähigkeit des Zeichnens und des Visualisie
rens macht, genauer gesagt, auch keinen wirklichen Unterschied, da sie
alle Karten zeichnen, die mehr oder weniger auf demselben Projektions
prinzip basieren - zuerst auf Sand, dann auf Papier. Es gibt also vielleicht
gar keinen Unterschied? Hat der Relativismus, da die Geographie gleich
ist, Recht? Das kann nicht sein, weil La Perouse etwas tut, das einen enor
men Unterschied zwischen Chinesen und Europäern macht. Was für den
einen eine unwichtige Zeichnung ist, die die Flut ruhig auslöschen kann,
ist für den Letzteren der einzige Gegenstand seiner Mission. Was ins Bild
gebracht werden muss, ist, wie das Bild zurückgebracht werden muss. Der
Chinese braucht keine Aufzeichnungen zu machen, weil er so viele Land
karten erzeugen kann wie er will, da er auf dieser Insel geboren und dazu
bestimmt ist, hier zu sterben. La Perouse wird nicht länger als eine Nacht
bleiben; er ist nicht dort geboren und wird weit entfernt sterben. Was
macht er dann? Er durchquert alle diese Orte, um etwas nach Versailles
zurückzunehmen, wo viele Leute erwarten, dass seine Karte bestimmt, wer
in dem Punkt, ob Sakhalin eine Insel ist oder nicht, Recht hat und wer
nicht; wem dieser oder jener Teil der Welt gehört und entlang welcher
Routen das nächste Schiff segeln soll. Ohne diesen besonderen Trajektor
wäre La Perouses ausschließliches Interesse an Spuren und Inskriptionen
unmöglich zu verstehen - dies ist der erste Aspekt; ohne Dutzende von
Innovationen in der Inskription, Projektion, im Schreiben, Archivieren und
Berechnen wäre seine Bewegung durch den Pazifik vollkommen vergeblich
- und dies ist der zweite, ebenso entscheidende Aspekt. Wir müssen die
beiden zusammen betrachten. Kommerzielle Interessen, kapitalistischer
Geist, Imperialismus und Wissensdurst sind leere Begriffe, wenn man
nicht Mercators Projektion, Schiffsuhren und ihre Hersteller, Kupfergravu
ren auf Karten, das Führen von »Logbüchern« und die vielen gedruckten
Ausgaben von »Cooks Reisen«, die La Perouse bei sich trug, in Betracht
zieht. An diesem Punkt ist die oben von mir skizzierte Deflationsstrategie
stark. Andererseits würde keine Innovation in der Berechnung des Längen
und Breitengrades, im Bau von Uhren, in der Zusammenstellung von
Logbüchern, im Druck von Kupferplatten einen wie auch immer gearteten
Unterschied machen, wenn sie nicht dazu beitragen würde, Alliierte auf-
I
I
266 1 BRUNO LATOUR
1
zubieten, zu gruppieren und neue und unerwartete Verbündete weitab von
'.111·.
',1, 1, Versailles zu gewinnen. Die Praktiken, an denen ich interessiert bin, wären
sinnlos, wenn sie nicht auf bestimmte Kontroversen Einfluss hätten und
Kritiker dazu bringen würden, neue Fakten zu glauben und sich auf neue
Art zu verhalten. Hier versagt ein ausschließliches Interesse an Visualisie
rung - und Schrift und kann sogar kontraproduktiv sein. Nur den zweiten
Argumentationsstrang zu verfolgen, würde eine mystische Sicht auf die
von semiotischem Material gewährleisteten Mächte wie z.B. bei Derrida
(1967) bedeuten; nur die erste zu erhalten würde bedeuten, eine idealisti
sche Erklärung hochzuhalten (auch wenn diese einen materialistischen
Anschein macht).
Ziel dieses Beitrags ist es, beide Argumentationsstränge gleichzeitig zu
verfolgen. Wir finden, anders ausgedrückt, nicht alle Erklärungen betref
fend Inskription gleichermaßen überzeugend, sondern nur die, die uns
helfen zu verstehen, wie die Mobilisierung und Aufbietung neuer Ressour
cen erreicht wird. Wir finden nicht alle Erklärungen hinsichtlich sozialer
Gruppen, Interessen und ökonomischer Trends gleichermaßen überzeu
gend, sondern nur die, die einen spezifischen Mechanismus zur Zusam
menfassung von »Gruppen«, »Interessen«, »Geld« und »Trends« anbieten:
Mechanismen, von denen wir glauben, dass sie von der Manipulation von
Papier, Formen, Bildern usw. abhängen. La Perouse zeigt uns den Weg, da
ohne neue Arten von Inskriptionen nichts Brauchbares von seiner langen,
kostspieligen und schicksalsschweren Reise nach Versailles zurückge
kommen wäre. Ohne seine seltsame Mission jedoch, die von ihm verlang
te, fortzugehen und zurückzukehren, sodass andere in Frankreich über
zeugt werden könnten, würde keine Modifikation der Inskription den auch
nur kleinsten Unterschied gemacht haben.
Die wesentlichen Eigenschaften von Inskriptionen können nicht in
Begriffen von Visualisierung, Form und Schrift definiert werden. Bei
diesem Problem von Visualisierung und Kognition steht nicht die Wahr
nehmung auf dem Spiel. Neue Inskriptionen und neue Arten, diese wahr
zunehmen, sind vielmehr das Ergebnis von etwas, das tiefer liegt. Wenn
man von seinem gewohnten Weg abweichen und schwer beladen zurück
kehren möchte, um andere dazu zu zwingen, ihre gewohnten Wege zu
verlassen, besteht das hauptsächlich zu lösende Problem in der Mobilisie
rung. Man muss fortgehen und mit den »Dingen« zurückkehren, wenn die
Bewegungen nicht vergeblich sein sollen; die »Dinge« müssen aber in der
Lage sein, die Rückreise zu überstehen, ohne Schaden zu nehmen. Weitere
',
Erfordernisse: Die gesammelten und verlagerten » Dinge« müssen alle
1:
gleichzeitig denen präsentierbar sein, die man überzeugen will und die
nicht fortgegangen sind. Kurz: Man muss Objekte erfinden, die mobil, aber
i
auch unveränderlich, präsentierbar, lesbar und miteinander kombinierbar
i,,!
1
sind.
j ,'
�l'lir1
DRAWING THINGS TOGETHER 1 267
Es scheint mir, dass die meisten Forscher, die an den Beziehungen zwi
schen Inskriptionsprozeduren und Kognition gearbeitet haben, tatsächlich
auf verschiedene Art und Weise über die Geschichte dieser unveränderlich
mobilen Elemente geschrieben haben.
Optische Konsistenz
Das erste Beispiel, das ich betrachten will, ist sehr bemerkenswert. Ivins
schrieb vor Jahren darüber und fasste alles auf ein paar folgenreichen
Seiten zusammen. Die Rationalisierung, die sich während der so genann
ten »wissenschaftlichen Revolution« ereignete, betrifft nicht den Geist, das
Auge oder die Philosophie, sondern das Sehen. Wieso ist die Perspektiv,e
eine so wichtige Erfindung?
»Wegen ihres logischen Erkennens interner Invarianzen durch alle durch Verände
rung der räumlichen Platzierung produzierten Transformationen.« (Ivins 1973: 9)
4 1 »Wissenschaft und Technik sind in mehr als direkter Proportion zur Fähig
keit des Menschen, Methoden zu entwickeln, durch die Phänomene, die anderer
seits nur durch die Sinne des Hörens, Schmeckens und Riechens erfahren werden
könnten, vorangeschritten, in den Bereich des visuellen Erkennens und Messens
268 J BRUNO LATOUR
»verändern sich mit der Verschiebung der Örtlichkeiten entweder die äußeren
Beziehungen der Objekte wie etwa ihre Formen visueller Wahrnehmung oder dann
ihre inneren Beziehungen.« (Ebd.)
Die Verschiebung von den anderen Sinnen zum Sehen ist eine Konse
quenz der agonistischen Situation. Man präsentiert abwesende Dinge.
Niemand kann die Insel Sakhalin riechen, hören oder berühren, aber man
kann auf die Karte schauen und bestimmen, auf welchem Kurs man das
Land erreichen wird, wenn man die nächste Flotte schickt. Die Sprecher
reden miteinander, fühlen, hören und berühren einander, aber sie spre
chen jetzt mittels vieler abwesender Dinge, die alle gleichzeitig präsentiert
werden. Diese Präsenz/Absenz ist durch die Hin- und Rück-Verbindung
möglich, die von diesen Dingen etabliert wird - Perspektive, Projektion,
Karte, Logbuch usw. - und die eine Übersetzung ohne Beeinträchtigung
gestatten.
Auch Edgerton richtet unsere Aufmerksamkeit auf einen Vorteil linea
rer Perspektive (1976). Dieser unerwartete Vorteil zeigt sich, wenn religiöse
oder mythologische Themen und Utopien mit der gleichen Perspektive
dargestellt werden, die zur Wiedergabe von Natur verwendet wird (Edger
ton 1980: 189).
»Sogar wenn der Inhalt des gedruckten Testes unwissenschaftlich wäre, präsentierte
das gedruckte Bild im Westen immer ein rationales, auf den universellen Gesetzen
der Geometrie basierendes Bild. In diesem Sinn verdankt die wissenschaftliche
Revolution Albrecht Dürer mehr als Leonardo da Vinci.« (Ebd.: 190)
Selbst die wildeste oder heiligste Fiktion und Dinge der Natur - sogar die
niedrigsten - haben einen Versammlungsort, einen gemeinsamen Platz, weil
sie alle von derselben »optischen Konsistenz« profitieren.5 Man kann
gebracht worden und sind dann Gegenstand jener logischen Symbolisierung gewor
den, ohne die rationale Gedanken und Analyse unmöglich sind.« (Ivins 1973: 13)
5 1 »Die bezeichnendsten Charakteristika der europäischen bildlichen Reprä
sentation s�it dem 14. Jahrhundert waren einerseits ihr beständig zunehmender
Naturalismus und andererseits ihre rein schematische und logische Ausdehnung.
Es wird hier behauptet, dass beide in großen Teilen von der Entwicklung und
Durchdringung von Methoden abhängen, die in invarianter Form wiederholbare
Symbole bereitstellen, um das visuelle Bewusstsein und eine Grammatik der Per
spektive zu repräsentieren, die es ermöglichten, logische Beziehungen nicht nur
innerhalb des Symbolsystems, sondern auch zwischen dem System und den For-
DRAWING THINGS TOGETHER 1 269
nicht nur Städte, Landschaften oder Ureinwohner verlagern und auf Stra
ßen durch den Raum von ihnen weg und wieder zu ihnen hin gehen,
sondern man kann auch Heilige, Götter, Himmel, Paläste oder Träume mit
denselben Hin- und Rück-Straßen erreichen und sie durch dieselbe »Fens
terscheibe« auf derselben zweidimensionalen Oberfläche betrachten. Die
doppelspurige Straße wird zu einer vierspurigen Autobahn! Unmögliche
Paläste können realistisch gezeichnet werden, umgekehrt ist es aber auch
möglich, mögliche Objekte so zu zeichnen, als seien sie utopisch. Wie
Edgerton in seinem Kommentar zu Agricolas Drucken zeigt, können reale
Objekte in getrennten Teilen oder explodierenden Ansichten gezeichnet
oder in verschiedenen Maßstäben, Winkeln oder Perspektiven auf demsel
ben Blatt Papier abgebildet werden. Es spielt keine Rolle, da die »optische
Konsistenz« allen Teilen gestattet, sich miteinander zu mischen.
»Antonellos Heiliger Jerome ist das perfekte Paradigma eines neuen Bewusstseins
der physischen Welt, das von den westeuropäischen Intellektuellen im späten 15.
Jahrhundert erlangt worden ist. Dieses Bewusstsein trat besonders bei Künstlern
wie Leonardo da Vinci, Francesco di Giorgio Martini, Albrecht Dürer, Hans Holbein
und einigen mehr zutage, die alle [...] eine verfeinerte Grammatik und Syntax zur
Quantifizierung natürlicher Phänomene in Bildern entwickelt hatten. In ihren
Händen wurde das Erschaffen von Bildern zu einer piktorialen Sprache, die mit
etwas Übung mehr Informationen schneller und [sie!] für ein potentiell größeres
Publikum kommunizieren konnte als jede verbale Sprache in der menschlichen
Geschichte.« (Ebd.: 189)
men und Örtlichkeiten der Objekte, die es symbolisiert, herzustellen.« (Ivins 1973=
12)
270 1 BRUNO LATOUR
Visuelle Kultur
Noch bemerkenswerter als die italienische, von Ivans und Edgerton be
schriebene Perspektive ist, wie Svetlana Alpers sehr schön aufzeigt (1983),
die niederländische Perspektiven-Methode in der bildenden Kunst. Wie sie
uns erzählt, malen die Holländer nicht grandiose historische Szenen, als
würde man sie durch ein sorgfältig gerahmtes Fenster betrachten; sie
verwenden die Oberfläche ihrer Gemälde (wie das Äquivalent einer Netz
haut), um die Welt direkt darauf zu malen. Wenn Bilder auf diese Weise
eingefangen werden, gibt es für den Betrachter keinen privilegierten
Standpunkt mehr. Die Tricks der Camera Obscura transformieren groß
formatige dreidimensionale Objekte in eine kleine zweidimensionale Ober
fläche, um die sich der Betrachter nach Gutdünken bewegen kann. 6
Für unsere Zwecke liegt das Hauptinteresse von Alpers Buch in der
Art, in der sie die Veränderungen einer »visuellen Kultur« im Lauf der Zeit
zeigt. Sie richtet ihr Hauptaugenmerk nicht auf die Inskriptionen oder
Bilder, sondern auf die simultane Transformation von Wissenschaft,
Kunst, Theorie des Sehens, Organisation der Handwerke und wirtschaftli
chen Kräften. Die Leute sprechen oft von »Weltsichten«, aber dieser kraft
volle Ausdruck wird metaphorisch verwendet. Alpers stattet diesen alten
Begriff mit seiner materiellen Bedeutung aus: Wie eine Kultur die Welt
sieht und sie sichtbar macht. Eine neue visuelle Kultur redefiniert sowohl,
was Sehen bedeutet, als auch, was es zu sehen gibt. Ein Zitat von Come
nius fasst auf passende Weise die neue Obsession, Objekte neu sichtbar zu
machen, zusammen:
»Wir sprechen nun von der Art, in der Objekte den Sinnen präsentiert werden
müssen, wenn der Eindruck deutlich sein soll. Dies ist einfach zu verstehen, wenn
wir den Prozess des tatsächlichen Sehens betrachten. Wenn man das Objektdeut
lich sehen will, ist es notwendig: (1) es vor unseren Augen zu platzieren, (2) das
nicht weit entfernt, sondern in einem vernünftigen Abstand, (3) nicht von einer
Seite, sondern genau vor unseren Augen, (4) sodass die Vorderseite des Objekts
nicht vom Betrachter weg, sondern in Richtung auf den Betrachter gedreht ist, (5)
dass die Augen zunächst das Objekt als Ganzes aufnehmen, (6) und dann fortfah
ren, die Teile zu unterscheiden, (7) diese dann der Reihe nach von Anfang bis Ende
inspizieren, (8) die Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Teil gerichtet wird, (9) bis sie
alle anhand ihrer wesentlichen Attribute aufgenommen sind. Wenn alle diese Erfor
dernisse vollständig beachtet werden, findet das Sehen erfolgreich statt; wird nur
eines vernachlässigt, gibt es nur einen Teilerfolg.« (Zit. n. Alpers 1983: 95)
Diese neue Obsession, den Akt des Sehens zu definieren, kann in der
Wissenschaft jener Zeit, aber auch in modernen Laboratorien gefunden
werden. Comenius' Ratschlag ähnelt sowohl dem von Boyle, als er die
Zeugen seines Luftpumpen-Experiments disziplinierte (Shapin 1984), als
auch jenem von Lynch untersuchten Neurologen, als sie ihre Hirnzellen
»disziplinierten« (Lynch 1985a). Menschen in vorwissenschaftlicher Zeit
und außerhalb von Laboratorien gebrauchen ihre Augen, aber nicht auf
diese Weise. Sie schauen auf das Spektakel der Welt, aber nicht auf diesen
neuen Typus von Bild, der dazu erdacht ist, die Objekte der Welt zu trans
portieren, sie in Holland zu akkumulieren, sie mit Unterschriften und
Legenden zu versehen und nach eigenem Willen zu kombinieren. Alpers
macht verständlich, was Foucault (1966) nur anriss: wie dieselben Augen
plötzlich beginnen, »Repräsentationen« zu sehen. Das »Panoptikum«, das
sie beschreibt, ist ein fait social total, das alle Aspekte der Kultur neu defi
niert. Noch wichtiger ist, dass Alpers nicht eine neue Sicht erklärt, indem
sie »soziale Interessen« oder die »ökonomische Infrastruktur« einbringt.
Die neue präzise Szenographie, die in einer Weltsicht resultiert, definiert
zugleich, was Wissenschaft oder Kunst ist und was es bedeutet, eine Welt
wirtschaft zu haben. Wie ich es vorher schon formuliert habe, wird ein
kleines flaches Land mächtig, indem es einige wesentliche Erfindungen
macht, die es Menschen erlauben, ihre Mobilität zu beschleunigen und die
Unveränderbarkeit der Inskriptionen zu verstärken: Auf diese Weise ist die
Welt in diesem kleinen Land versammelt.
Alpers Beschreibung der niederländischen visuellen Kultur erreicht
dasselbe Ergebnis wie Edgertons Studie der technischen Zeichnungen: Ein
neuer Versammlungsplatz für Fakten und Fiktion, Wörter und Bilder ist
entworfen. Die Karte selbst ist ein solches Ergebnis, umso mehr, als sie zur
Inskribierung ethnographischer Inventare (Ende ihres Kapitels IV) oder
Unterschriften (Kapitel V), Stadtumrisse usw. verwendet wird. Die Haupt
qualität des neuen Raumes ist nicht die, »objektiv« zu sein, wie eine naive
Realismusdefinition oftmals vorgibt, sondern: optische Konsistenz zu
haben. Diese Konsistenz bringt die Kunst, alles zu beschreiben, und die
Möglichkeit, von einem Typ von visueller Spur zu einer anderen zu gehen,
mit sich. Folglich überrascht es uns nicht, dass Briefe, Spiegel, Linsen,
gemalte Wörter, Perspektiven, Inventare, illustrierte Kinderbücher, Mikro-
272 1 BRUNO LATOUR
1 Ein anderes Beispiel soll zeigen, dass Inskriptionen nicht per se interessant
1.
sind, sondern nur, weil sie entweder die Mobilität oder die Unveränderbar
11
keit von Spuren steigern. Die Erfindung des Buchdrucks und seine Aus
li
11 1 wirkungen auf Wissenschaft und Technik ist ein Klischee der Historiker;
niemand hat jedoch diese Renaissance-Argumentation so vollständig er
neuert wie Elizabeth Eisenstein (1979). Wieso? Weil sie die Druckerpres,se
als Mobilisierungsvorrichtung betrachtet oder, genauer, als Vorrichtung,
die sowohl Mobilisierung als auch Unveränderbarkeit zur selben Zeit er
möglicht. Eisenstein sucht nicht nach einer einzigen Ursache der wissen
schaftlichen Revolution, sondern nach einer Nebenursache, die alle Wirk
ursachen ins Verhältnis zueinander setzt. Die Druckerpresse ist offensicht
lich eine machtvolle Ursache dieser Art. Unveränderbarkeit wird durch den
Prozess des Druckens vieler identischer Kopien sichergestellt, Mobilität
durch die Anzahl der Kopien, das Papier, die beweglichen Lettern. Die
Verbindungen zwischen verschiedenen Orten in Zeit und Raum werden
von dieser phantastischen Beschleunigung unveränderlich mobiler Ele
mente, die irgendwo in allen Richtungen Europas zirkulieren, vollstän
dig modifiziert. Wie Ivins gezeigt hat, ist Perspektive plus Druckerpresse
plus Aqua Porte die wirklich wichtige Kombination, da Bücher nun die
realistischen Bilder dessen, worüber sie sprechen, bei sich tragen. Zum
ersten Mal kann eine Örtlichkeit andere, in Raum und Zeit weit entfernte
Orte akkumulieren und sie dem Auge synoptisch präsentieren; diese syn
optische Präsentation kann, einmal überarbeitet, verbessert oder unterbro
chen, noch besser ohne Modifikation an anderen Plätzen verbreitet und zu
anderen Zeiten verfügbar gemacht werden.
Nachdem Eisenstein Historiker diskutiert hat, die viele widersprüchli
che Einflüsse zur Erklärung des Aufstiegs der Astronomie vorschlugen,
schreibt sie:
»Ob der Astronom des 16. Jahrhunderts mit Materialien aus dem vierten vorchristli
chen Jahrhundert - oder im 14. Jahrhundert neu verfassten - konfrontiert war oder
ob er empfänglicher gegenüber akademischen oder humanistischen Gedanken
strömungen war, scheint in dieser bestimmten Verbindung von geringerer Bedeu
1 ! tung als die Tatsache, dass alle Arten diverser Materialien im Verlauf eines Lebens
: 1
von einem Paar Augen gesehen wurden. Für Kopernikus wie für Tycho war das
Ergebnis ein erhöhtes Bewusstheitsein und Unzufriedenheit mit den Diskrepanzen
der inhärenten Daten.« (Eisenstein 1979: 602)
DRAWING THINGS TOGETHER 1 273
>»Um die Wahrheit eines Satzes von Euklid zu entdecken<, schrieb John Locke,
,bedarf es kaum der Offenbarung; Gott hatte uns mit natürlicheren und sichereren
Mitteln, Kenntnis über sie zu erlangen, ausgestattet<. Im elften Jahrhundert jedoch
hatte Gott die westlichen Gelehrten nicht mit natürlicheren und sichereren Mitteln
zum Erfassen eines Euklidschen Theorems ausgestattet. Stattdessen engagierten
sich die gelehrtesten Männer der Christenheit in einer fruchtlosen Suche, um zu
entdecken, was Euklid mit seinem Bezug auf innere Winkel gemeint hatte.« (Ebd.:
649)
Für Eisenstein kann jede große Diskussion über die Reformation, die wis
senschaftliche Revolution und die neue kapitalistische Wirtschaft umge-
i · formt werden, indem man sich anschaut, was Verleger und die Drucker
presse ermöglichen. Der Grund, weshalb diese alte Erklärung in ihrer
Behandlung neue Form annimmt, ist, dass Eisenstein sich nicht nur auf
graphische Darstellung konzentriert, sondern auch auf deren Veränderun
gen, die mit dem Mobilisierungsprozess verbunden sind. Zum Beispiel
erklärt sie (ebd.: 508ff., nach Ivins 1953) das rätselhafte Phänomen eines
Zeitabstandes zwischen der Einführung der Druckerpresse und der exakter
realistischer Bilder. Zuerst wird die Presse nur zur Reproduktion von
Herbarien, anatomischen Stichen, Karten und Kosmologien verwendet, die
Jahrhunderte alt sind und die viel später als ungenau gelten werden. Wenn
wir nur auf die semiotische Ebene schauen würden, wäre dieses Phänomen
rätselhaft; wenn wir aber einmal die tiefere Struktur betrachten, ist es leicht
zu erklären. Zuerst erfolgt die Verlagerung vieler unveränderbar mobiler
Elemente; die alten Texte werden überall verbreitet und können billiger an
einem Ort gesammelt werden. Aber dann wird der Widerspruch in ihnen
schließlich auf wortwörtliche Weise sichtbar. Die vielen Orte, an denen
diese Texte synoptisch gesammelt sind, bieten viele Gegenbeispiele (ver
schiedene Blumen, verschiedene Organe mit anderen Namen, verschiede
ne Formen der Küstenlinie, unterschiedliche Kurse verschiedener Wäh
rungen, verschiedene Gesetze). Diese Gegenbeispiele können den alten
Texten hinzugefügt und in der gleichen Weise ohne Modifikation an all
den Orten verbreitet werden, an denen dieser Prozess des Vergleichs wie
der aufgenommen werden kann. In anderen Worten werden Fehler genau
reproduziert und ohne Veränderung verbreitet. Korrekturen werden jedoch
auch schnell, billig und ohne weitere Veränderungen reproduziert. Am
Ende verschiebt sich also die Genauigkeit vom Medium zur Botschaft, vom
gedruckten Buch zum Kontext, mit dem es eine Hin- und Rückverbindung
eingeht. Ein neues Interesse an der »Wahrheit« kommt nicht von einer
neuen Sichtweise, sondern von derselben alten, die sich selbst auf neue
274 1 BRUNO LATOUR
7 1 Der Beweis, dass die Bewegung zuerst kommt, liegt für Eisenstein in der
Tatsache, dass sie den gegensätzlichen Effekt auf die heiligen Schriften mit sich
bringt. Die Genauigkeit des Mediums enthüllt mehr und mehr die Ungenauigkeit in
der Botschaft, die bald gefährdet ist. Die Schönheit von Eisensteins Konstruktion
liegt in der Art, in der sie zwei gegensätzliche Konsequenzen aus derselben Ursache
erhält: Wissenschaft und Technik beschleunigen sich; das Evangelium wird zweifel
haft (Latour 1983).
DRAWING THINGS TOGETHER 1 275
Texte allein beschreiben; sie müssen die Dinge zeigen. Dieses Zeigen, das
zur Überzeugung so wesentlich ist, war vor der Erfindung »eingravierter
Bilder« vollkommen unmöglich. Ein Text konnte nur mit einigen Verfäl
schungen kopiert werden, nicht jedoch ein Diagramm, ein anatomischer
Stich oder eine Karte. Der Effekt auf die Konstruktion von Fakten ist be
trächtlich, wenn ein Schreiber in der Lage ist, einen Leser mit einem Text,
der eine große Anzahl von den Dingen, über die er spricht, an einem Ort
präsentiert, zu versorgen. Wenn man annimmt, dass alle Leser und alle
Schreiber dasselbe tun, wird ohne zusätzliche Ursache eine neue Welt aus
der alten hervortreten. Wieso? Einfach weil der Kritisierte dasselbe tun
muss wie sein Kritiker. Um sozusagen die »Kritik zu erwidern«, wird er ein
anderes Buch schreiben, es drucken lassen und mit Kupferplatten die
Gegendarstellungen, die er ins Feld führen möchte, mobilisieren müs
sen. Die Kosten des Widersprechens werden ansteigen. 8
Positive Rückmeldungen entstehen, sobald man in der Lage ist, eine
große Zahl an mobilen, lesbaren, sichtbaren Ressourcen an einem Ort
zusammenzubringen, um einen Punkt zu stützen. Nach Tycho Brahe
(Eisenstein 1979) muss der Gegner entweder aufgeben und das, was Kos
mologen sagen, als Tatsache akzeptieren, oder Gegenbeweise produzieren,
indem er seinen Prinz dazu überredet, eine vergleichbare Geldsumme in
Observatorien zu investieren. In diesem Punkt ist der »Wettlauf um Be
weise« dem Rüstungswettlauf sehr ähnlich, weil der Feedbackmechanis
mus derselbe ist. Wenn einmal ein Konkurrent damit beginnt, harte Fak
ten aufzubauen, müssen die anderen dasselbe tun oder nachgeben.
Diese leichte Umformung von Eisensteins Argumentation in Begriffe
unveränderbar mobiler Elemente erlaubt uns, eine Schwierigkeit in ihrer
Argumentation zu überwinden. Obwohl sie die Wichtigkeit von Herausge
berstrategien betont, gibt sie keine Erklärung über technische Innovationen
selbst. Die Druckerpresse platzt in ihre Darstellung hinein wie die exoge
nen Faktoren vieler Historiker, wenn sie über technische Innovationen
sprechen. Sie richtet das Hauptaugenmerk ausgezeichnet auf den semioti
schen Aspekt des Druckes und die Mobilisierung, die er erlaubt; die tech
nischen Notwendigkeiten, um die Presse zu erfinden, sind jedoch alles
andere als offensichtlich. Wenn wir die agonistische Situation betrachten,
die ich als Referenzpunkt verwende, wird die Notwendigkeit, die so etwas
wie die Druckerpresse begünstigt, klarer. Alles, was die Mobilität der Spu-
ren, die eine Örtlichkeit über einen anderen Ort erhält, beschleunigt, oder
alles, was diesen Spuren gestattet, sich ohne Transformation von einem Ort
zu einem anderen zu bewegen, wird favorisiert: Geometrie, Projektion,
Perspektive, Buchhaltung, Papierherstellung, Aqua Porte, Münzprägung,
neue Schiffe (Law 1986). Das Privileg der Druckerpresse kommt von ihrer
Fähigkeit, vielen Innovationen dazu zu verhelfen, auf einmal zu agieren,
aber sie selbst ist nur eine Innovation unter den vielen, die helfen, die
einfachste aller Fragen zu beantworten: Wie ist Dominanz in großem
Maßstab möglich? Diese Umformulierung ist nützlich, da sie uns zu sehen
hilft, dass derselbe Mechanismus, dessen Wirkungen von Eisenstein be
schrieben wurden, heute noch fanktioniert - in einem stets zunehmenden
Ausmaß an den Grenzen von Wissenschaft und Technik. Ein paar Tage in
einem Labor enthüllen, dass dieselben Kräfte, die die Druckerpresse so
notwendig machten, noch immer agieren, um neue Datenbanken, Raum
teleskope, Chromatographien, Gleichungen, Scanner, Fragebögen usw. zu
produzieren. Der Geist wird noch immer domestiziert.
Über Inskriptionen
Was ist so wichtig an den Bildern und Inskriptionen, die Wissenschaftler
und Ingenieure geschäftig gewinnen, zeichnen, inspizieren, berechnen
und diskutieren? Zuallererst ist es der einzigartige Vorteil, den sie in rheto
rischen oder polemischen Situationen verschaffen. »Sie zweifeln an dem,
was ich sage? Ich werde es Ihnen zeigen.« Und ohne mich mehr als ein
paar Zentimeter zu bewegen, entfalte ich vor Ihren Augen Ziffern, Dia
gramme, Stiche, Texte, Umrisse und zeige hier und jetzt Dinge, die weit
entfernt sind und mit denen nun eine Art von Hin- und Rückverbindung
hergestellt worden ist. Ich glaube nicht, dass man die Wichtigkeit dieses
simplen Mechanismus überbewerten kann. Eisenstein hat das für die
Vergangenheit der Wissenschaft bewiesen, aber die Ethnographie von
gegenwärtigen Laboratorien zeigt denselben Mechanismus (Lynch 1985a,
1985b; Star 1983; Law 1985). Wir sind so an diese Welt von Formen und
Bildern gewöhnt, dass wir kaum denken können, wie es ist, etwas ohne
Index, Bibliographien, Wörterbücher, Papiere mit Referenzen, Tabellen,
Spalten, Fotographien, Peaks, Punkte und Bänder zu wissen. 9
Eine einfache Art, die Wichtigkeit von Inskriptionen zu verdeutlichen,
9 1 Aus diesem Grund schließe ich in die Diskussion die große Llteratur über
die Neurologie des Sehens oder über die Psychologie der Wahrnehmung nicht ein
(vgl. z.B. Block r98r; de Mey 1982). Diese Disziplinen, wie wichtig sie auch sein
mögen, verwenden den gleichen Prozess, den ich erforschen möchte, so ausgiebig,
dass sie gegenüber einer Ethnographie der Kunstfertigkeit und den Tricks der
Visualisierung so blind wie die anderen sind.
'
DRAWING THINGS TOGETHER 1 277
»Für die, die die periodische Tabelle zu betrachten und zu lesen wissen, entfalten
sich die Eigenschaften der Elemente und die ihrer zahlreichen Kombinationen
vollständig und direkt aus ihren Positionen in der Tabelle.« (Dagognet 1969: 213)
»Es mag so scheinen, als ob wir triviale Details betrachten - eine leichte Modifika
tion in der Ebene, die zur Beschreibung eines Chlorins verwendet wird -, diese
kleinen Details lösen jedoch paradoxerweise die Kräfte der modernen Welt aus.«
(Ebd.: 199)
die alles über jeden sieht, zu illustrieren. Der Hauptvorteil von Foucaults
Analyse liegt darin, sich nicht nur auf Akten, Buchhaltungsbücher, Zeit
pläne und Drill zu konzentrieren, sondern auch auf die Art von Institutio
nen, in denen diese Inskriptionen aufhören, so bedeutend zu sein. 10 Die
11
hauptsächliche Innovation ist die eines »Panoptikums«, das der Kriminal
strafkunde, der Pädagogik, der Psychiatrie und der klinischen Medizin
11
gestattet, als ausgewachsene Wissenschaften aus ihren sorgfältig geführten
Akten hervorzutreten. Das Panoptikum ist eine andere Art, die »optische
Konsistenz«, die für Macht im großen Maßstab notwendig ist, zu erhalten.
' 1
1
In einem berühmten Satz sagt Kant, dass wir der Vernunft einen
Dienst leisten, wenn wir erfolgreich den Pfad entdecken, auf dem sie sich
1
sicher bewegen kann. Der »sichere Pfad einer Wissenschaft« jedoch liegt
zwangsläufig in der Konstruktion gut geführter Akten in Institutionen, die
eine größere Anzahl von Ressourcen in einem größeren Maßstab mobili
sieren wollen.
»Optische Konsistenz« wird - wie Rudwick gezeigt hat (1976) - in der
Geologie erreicht, indem man eine neue visuelle Sprache erfindet. Ohne
sie bleiben die Erdschichten versteckt, und gleichgültig, wie viele Reisende
und Grabende sich dort auch bewegen, gibt es doch keine Möglichkeit, ihre
Reisen, Visionen und Ansprüche zusammenzufassen. Die Kopernikani
sche Wende, die Kant sehr am Herzen lag, ist eine idealistische Darstel
lung eines sehr einfachen Mechanismus: Wenn wir nicht zur Erde gehen
können, lass die Erde zu uns kommen, oder genauer, lasst uns alle zu
vielen Plätzen auf der Erde gehen und mit denselben, aber unterschiedli
chen homogenen Bildern, die gesammelt, verglichen, überlagert und an
ein paar Orten neu gezeichnet werden können, zusammen mit den sorgfäl
tig etikettierten Proben von Gestein und Fossilien .zurückkehren.
In einem anregenden Buch hat Fourquet (1980) dasselbe Sammeln von
Inskriptionen durch die INSEE, die französische Institution, die die meis
ten ökonomischen Statistiken bereitstellt, illustriert. Es ist natürlich un
möglich, über die Ökonomie einer Nation zu sprechen, indem man »sie«
sich anschaut. Dieses »sie« ist schlicht unsichtbar, solange nicht Kohorten
von Forschenden und Inspektoren lange Fragebögen ausgefüllt haben,
solange nicht die Antworten in Karten gestanzt, von Computern verarbeitet
und in einem gigantischen Laboratorium analysiert worden sind. Erst am
Ende kann die Wirtschaft in Stapeln von Karten und Listen sichtbar ge
macht werden. Sogar das ist noch zu verwirrend, sodass neues Zeichnen
und Extrahieren notwendig wird, um eine paar ordentliche Diagramme zu
erstellen, die das Bruttosozialprodukt oder die Zahlungsbilanz zeigen. Das
auf diese Weise erhaltene Panoptikum hat in der Struktur Ähnlichkeit mit
einem riesenhaften wissenschaftlichen Instrument, das die unsichtbare
Welt des Austausches in »die Wirtschaft« transformiert. Deshalb habe ich
anfangs die materialistische Erklärung zurückgewiesen, die »Infrastruk
tur«, »Märkte« oder »Verbraucherbedürfnisse« verwendet, um Wissen
schaft oder Technik darzustellen. Die visuelle Konstruktion von etwas wie
einem »Markt« oder einer »Ökonomie« ist das, was einer Erklärung bedarf,
und dieses Endprodukt kann nicht verwendet werden, um Wissenschaft zu
erklären.
In einem anderen anregenden Buch versucht Fabian, die Anthropologie
zu erklären, indem er ihre Visualisierungskompetenz betrachtet (1983).
Der Hauptunterschied zwischen uns und den Wilden, so argumentiert er,
liegt nicht in der Kultur, im Geist, sondern in der Art, wie wir sie visualisie
ren. Es wird eine Asymmetrie geschaffen, weil wir einen Raum und eine
Zeit kreieren, in die wir andere Kulturen platzieren, sie aber machen nicht
dasselbe. Wir erfassen beispielsweise ihr Land auf Karten, sie aber haben
weder Karten ihres noch unseres Landes; wir erfassen ihre Vergangenheit,
sie nicht; wir schaffen schriftliche Kalender, sie nicht. Fabians Argumenta
tion, die sowohl mit Goodys als auch mit Bourdieus Kritik der Ethnogra
phie (1972) verbunden ist, lautet, dass, wenn diese erste Gewaltanwendung
einmal verübt worden ist, wir diese Wilden nicht mehr verstehen können,
ganz gleich, was wir tun. Fabian jedoch betrachtet diese Mobilisierung aller
Wilden in einigen Ländern durch Sammlung, Karten- und Listenerstel
lung, Archive, Linguistik usw. als etwas Bösartiges. In aller Offenheit
wünscht er, einen anderen Weg zu finden, um die Wilden zu »kennen«.
»Kennen« jedoch bedeutet keine desinteressierte kognitive Aktivität; härte
re Fakten über die anderen Kulturen sind in unseren Gesellschaften pro
duziert worden, in genau derselben Weise wie andere Fakten über Ballistik,
Taxonomie oder Chirurgie. Ein Ort sammelt alle anderen und präsentiert
sie dem Kritiker auf synoptische Weise, um das Ergebnis einer agonisti
schen Kontroverse zu modifizieren. Um eine große Anzahl von Konkur
renten und Landsleuten von ihren üblichen Wegen abzubringen, mussten
viele Ethnographen sowohl weiter und länger von ihren üblichen Wegen
abgehen als auch zurückkommen. Die Beschränkungen, die auferlegt wer
den, Menschen zum Weggehen und zur Wiederkehr zu überzeugen, sind
so, dass dies nur erreicht werden kann, wenn alles über das Leben der
Wilden in unveränderlich mobile Elemente transformiert wird, die einfach
lesbar und präsentierbar sind. Trotz seines Wunsches kann es Fabian nicht
besser machen. Entweder muss er das »Kennen« oder die Produktion
harter Fakten aufgeben (Latour 1987).
Es gibt hinsichtlich der Besessenheit von graphischer Darstellung kei
nen messbaren Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften.
Wenn Wissenschaftler die Natur, die Wirtschaft, die Sterne oder die Orga
ne betrachteten, würden sie nichts sehen. Dieser »Beweis« wird als klassi-
280 1 BRUNO LATOUR
Lebens erforscht, aber sie kann bei der Analyse von Wissenschaft und
Technik nicht hoch genug geschätzt werden.
Genauer gesagt ist es möglich, die Inskription überzubewerten, nicht
jedoch das Setting, in dem die Kaskade von immer mehr geschriebenen
und nummerierten Inskriptionen produziert wird. Womit wir wirklich
umgehen, ist das Staging einer Szenographie, in der die Aufmerksamkeit
auf einen bestimmten Satz dramatisierter Inskriptionen konzentriert wird.
Das Setting wirkt wie eine gewaltige optische Vorrichtung, die ein neues
Labor, eine neue Art von Sehen und ein neues Phänomen erschafft. Ich
zeigte ein solches Setting, das ich als »Pasteurs Theater der Beweise«
(Latour 1988a) erzählte. Pasteur arbeitet genauso viel auf der Bühne wie in
der Szenerie und der Handlung. Was am Ende zählt, ist eine einfache
visuelle Wahrnehmung: tote ungeimpfte Schafe gegen lebende geimpfte
Schafe. Je früher wir in die Geschichte der Wissenschaft zurückgehen, je
mehr Aufmerksamkeit wird dem Setting gezollt und je weniger den In
skriptionen selbst. In seinem faszinierenden Bericht seines Vakuumpum
pen-Experiments - beschrieben von Shapin (1984) - musste Boyle z.B.
nicht nur das Phänomen erfinden, sondern auch das Instrument, um es
sichtbar zu machen und die Anordnung, in der das Instrument aufgestellt
wurde, die geschriebenen und gedruckten Berichte, durch die der stille
Leser »über« das Experiment lesen konnte, die Art von Zeugen, die auf der
Bühne zugelassen wurden, und sogar die Arten von Kommentaren, die die
potentiellen Zeugen äußern durften. »Das Vakuum zu sehen« war nur
möglich, nachdem alle diese Zeugen diszipliniert worden waren.
Das Staging solcher »optischer Mittel« ist das von Eisenstein beschrie
bene: Einige Personen im selben Raum sprechen miteinander und verwei
sen auf zweidimensionale Bilder; diese Bilder sind alles, was man von den
Dingen, über die sie sprechen, sehen kann. Nur weil wir an ein solches
Staging gewöhnt sind und es wie frische Luft atmen, heißt das nicht, dass
wir nicht all die kleinen Innovationen beschreiben sollten, die es zum
kraftvollsten Instrument machen, um Macht zu gewinnen. Tycho Brahe in
Oranienburg hatte zum ersten Mal in der Geschichte alle Vorhersagen -
wörtlich alle »Vorher-Sehungen« - der Planetenbewegungen - am selben
Ort, geschrieben in derselben Sprache oder demselben Code, kann auch er
seine eigenen Beobachtungen lesen. Das ist mehr als genug Begründung
für Brahes neue »Einsichten«.
»Nicht weil er in den Nachthimmel statt in alte Bücher schaute, unterschied sich
Tycho Brahe von den Sternbeobachtern der Vergangenheit. Ich glaube auch nicht,
dass es deshalb war, weil er sich mehr als die Alexandriner oder die Araber für
>sture Fakten, und präzise Messungen interessierte. Aber ihm standen wie nur
wenigen vor ihm zwei getrennte Reihen von Berechnungen zur Verfügung, die auf
zwei verschiedenen Theorien basierten, die im Abstand von einigen Jahrhunderten
--
284 1 BRUNO LATOUR
Historiker sagen, dass er der erste war, der die Planetenbewegung mit
einem von den Vorurteilen des dunklen Zeitalters befreiten Geist sah.
Nein, sagt Eisenstein, er ist der erste, der nicht in den Himmel schaute,
sondern simultan auf alle vorhergehenden Vorhersagen und seine eigene,
die zusammen in derselben Form niedergeschrieben worden waren.
»Der dänische Beobachter war nicht nur der letzte der großen Beobachter mit
bloßem Auge; er war auch der erste sorgfältige Beobachter, der die neuen Mächte
der Druckerpresse vollkommen ausnutzen konnte - Mächte, die Astronomen dazu
befähigten, Anomalien in den alten Aufzeichnungen aufzuspüren, die Position
jedes Sterns präziser festzulegen und in Katalogen zu registrieren, Mitarbeiter in
vielen Regionen aufzulisten, jede neue Beobachtung in permanenter Form festzu
halten und notwendige Korrekturen in nachfolgenden Ausgaben vorzunehmen.«
(Ebd.: 625)
Die Diskrepanzen mehrten sich, nicht indem man in den Himmel schaute,
sondern indem man sorgfältig Spalten von Winkeln und Azimut überein
ander lagerte. Kein Widerspruch, keine gegenteiligen Vorhersagen hätten
jemals sichtbar sein können. Widerspruch ist, wie Goody sagt, weder eine
Eigenschaft des Geistes noch der wissenschaftlichen Methode, sondern
eine Fähigkeit, Buchstaben und Zeichen innerhalb neuer Settings zu lesen,
die die Aufmerksamkeit allein auf die Inskriptionen fokussieren.
Derselbe Mechanismus ist in Roger Guillemins Vision des Endorphins,
eines Gehirnpeptides, sichtbar - um ein Beispiel aus einer anderen Zeit
und von einem anderen Ort heranzuziehen. Das Gehirn ist so obskur und
ungeordnet wie der Renaissancehimmel. Sogar die vielen erstgradigen
Purifikationen von Gehirnextrakten sind eine »Suppe« von Substanzen.
Die ganze Forschungsstrategie ist es, klar lesbare Peaks aus einem wirren
Hintergrund zu erhalten. Jede der Proben, die einen ordentlicheren Peak
gewährt, wird wiederum gereinigt, bis es im kleinen Fenster des Hoch
druckflüssigkeitschromatographen nur noch einen Peak gibt. Dann wird
die Substanz in kleinsten Mengen in den Darm eines Meerschweinchens
injiziert. Die Kontraktionen des Darms werden mittels elektronischer
Hardware an einen Physiographen übermittelt. Woran kann man hier das
Objekt »Endorphin« sehen? Die Überlagerung des ersten Peaks mit der
Kurve des Physiographen beginnt ein Objekt zu produzieren, dessen Gren
zen die im Labor produzierten visuellen Inskriptionen sind. Das Objekt ist
nicht mehr oder weniger ein reales Objekt als jedes andere, da viele solcher
visuellen Schichten produziert werden können. Sein Widerstand als reales
Faktum hängt nur von der Anzahl solcher visuellen Schichten ab, die
Guillemins Labor auf einmal an einem Ort vor dem Kritiker mobilisieren
---
DRAWING THINGS TOGETHER 1 285
kann. Für jeden »Einwand« gibt es eine Inskription, die den Dissens blo
ckiert; bald ist der Zweifler gezwungen, das Spiel aufzugeben oder später
mit anderem und besserem Anschauungsmaterial wiederzukommen.
Durch die Mobilisierung von immer mehr treuen Verbündeten wird in
nerhalb der Wände des Laboratoriums langsam Objektivität errichtet.
Diese neun Vorteile sollten nicht voneinander isoliert werden und immer
in Verbindung mit dem Mobilisierungsprozess betrachtet werden, den sie
beschleunigen und zusammenfassen. Jede mögliche Innovation, die ir
gendeinen dieser Vorteile bietet, wird in anderen Worten von eifrigen
Wissenschaftlern und Ingenieuren ausgewählt: neue Fotographien; neue
Farben, um mehr Zellkulturen einzufärben; neues reaktives Papier; ein
empfindlicherer Physiograph; ein neues Indexsystem für Bibliothekare;
eine neue Notation für algebraische Funktionen; ein neues Heizungssys
tem, um Proben länger zu halten. Die Wissenschaftsgeschichte ist die
Geschichte dieser Innovationen. Die Rolle des Geistes wurde genau wie die
der Wahrnehmung gewaltig übertrieben (Arnheim 1969). Ein durch
schnittlicher Geist oder ein durchschnittlicher Mensch mit durchschnittli
chen Wahrnehmungsfähigkeiten, innerhalb normaler sozialer Bedingun
gen, wird abhängig davon, ob er oder seine durchschnittlichen Fähigkeiten
auf die verwirrende Welt oder auf Inskriptionen angewendet werden,
vollkommen unterschiedliche Outputs erzeugen.
Es ist besonders interessant, sich auf den neunten Vorteil zu konzent
rieren, weil er uns einen Weg eröffnet, »Formalismus« zu einer profaneren
und materielleren Realität zu machen. Um sich von »empirisch« zu »theo
retisch« zu bewegen, muss die Wissenschaft von langsameren zu schnelle
ren mobilen Elementen, von veränderlicheren zu weniger veränderlichen
Inskriptionen gehen. Die Tendenzen, die wir oben studiert haben, brechen
288 J BRUNO LATOUR
»Man sieht, wie die gesamte Demonstration eine Reduktion des Problems des
Gleichgewichts auf geneigten Flächen zum Hebel konstituiert, die in sich selbst das
Theorem aus der Isolation, in dem es zuvor stand, herausholt.« (Ebd.: 106)
»Das Wesentliche, das im Verhalten der Experten aufschien, war, dass die Formulie
rung der initialen und der finalen Bedingung auf eine Weise zusammengestellt
wurde, dass die Beziehung zwischen ilmen und also die Antwort wesentlich von
ihm [dem Diagramm] abgelesen werden konnte. « (Ebd.: 169)
290 1 BRUNO LATOUR
Mit dieser Frage vor Augen ist man beeindruckt von den Metaphern, die
die »Theoretiker« verwenden, um Theorien zu feiern und ihnen Ränge
zuzuteilen.12 Die zwei Hauptarten von Metaphern bestehen in erhöhter
Mobilität respektive erhöhter Unveränderbarkeit. Gute Theorien werden
schlechten gegenübergestellt oder zu »bloßen Sammlungen empirischer
Fakten«, weil sie einen »leichten Zugang zu ihnen« gewähren. Hankel
kritisiert z.B. Diophanus mit den Worten, die ein französischer Ingenieur
verwenden würde, um das Nigerianische Autobahnsystem zu verunglimp
fen:
»Jede Frage erfordert eine ganz bestimmte Methode, die danach nicht einmal für
ganz ähnliche Probleme dient. Es ist dementsprechend auch nach dem Studium von
100 Diophantischen Lösungen schwierig für einen modernen Mathematiker, das
100. Problem zu lösen; wenn wir den Versuch gemacht haben und nach einigen
vergeblichen Unternehmungen Diophantus' eigene Lösung lesen, werden wir er
staunt sein zu sehen, wie er plötzlich die breite Hauptstraße verlässt, in einen Sei
tenweg rast und mit einer schnellen Drehung das Ziel erreicht.« (Zitiert in Bloor
1976: 102)
Der sichere Pfad der Wissenschaft, wie Kant sagen würde, ist nicht dersel
be für die Griechen, die Bororos und für uns; genauso wenig sind die
Transportmittel identisch. Man könnte einwenden, dass diese nur Meta
phern sind. Ja, aber die Etymologie des Begriffs metaphoros selbst ist erhel
lend. Genau bedeutet er Verlagerung, Transport, Transfer. Gleichgültig, ob
sie bloße Bilder sind, tragen diese Metaphern treffend die Obsession der
Theoretiker für einfachen Transport und schnelle Kommunikation. Eine
kraftvollere Theorie, behaupten wir, ist die, die mit weniger Elementen und
wenigeren und einfacheren Transformationen ermöglicht, an jede andere
(vergangene und zukünftige) Theorie heranzukommen. Jedes Mal, wenn
eine starke Theorie gefeiert wird, ist es möglich, diese Bewunderung in
12 1 Ein schönes Beispiel ist das von Carnots Thermodynamik, erforscht von
Redondi (1980). Carnots Know-how bezieht sich nicht auf den Bau einer Maschine,
sondern eher auf ein Diagramm. Dieses Diagramm ist so gezeichnet, dass es gestat
tet, von einer Maschine zu jeder weiteren zu gehen - und tatsächlich zu nichtexis
tenten Maschinen, die nur auf dem Papier gezeichnet waren. Wirkliche dreidimen
sionale Dampfmaschinen sind interessant, jedoch lokalisiert und schwerfällig. Für
sie hat Thermodynamik dieselbe Bedeutung wie La Perouses Karten für die pazifi
schen Inseln. Wenn man von einer Maschine zur Theorie geht oder von einer Insel
zur Karte, geht man nicht vom Konkreten zum Abstrakten, vom Empirischen zum
Theoretischen; man geht von einem Ort, der nichts dominiert, zu einem anderen
Ort, der alle anderen dominiert. Wenn man Thermodynamik versteht, versteht man
alle Maschinen (der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft - vgl. Diesel).
Die Frage bei Theorien ist: Wer kontrolliert wen und zu welchem Ausmaß?
r l
DRAWING THINGS TOGETHER 1 291
Raum hineinnehmen, an dem ein Ingenieur arbeiten und Berechnungen und Vor
hersagen machen kann, sondern sie als Illustrationen betrachten. Folglich werden
alle Verbindungen zwischen den Teilen der Maschinen zu Dekorationen (ein kom
plexer Teil der Pumpe wird z.B. nach mehreren Kopien zu Wellen auf einem
Teich!). Niemand würde behaupten, dass Chinesen nicht abstrahieren können; es
wäre jedoch keineswegs absurd zu behaupten, dass sie nicht ihr volles Vertrauen in
das Schreiben und in die graphische Darstellung setzen.
14 1 In einem schönen Artikel spricht Carlo Ginzburg von einem »Pradigma der
Spuren«, um diese besondere Obsession unserer Kultur zu bezeichnen, die er von
der griechischen Medizin über Conan Doyles Detektivgeschichten, durch Freuds
Interesse an Fehlleistungen bis zur Entdeckung von Kunstfalschungen (1980)
aufspürt. Indem er jedoch auf ein klassisches Vorurteil zurück greift, trennt Ginz
burg Physik und harte Wissenschaften von einem solchen Paradigma, weil sie, wie
er behauptet, sich nicht auf Spuren, sondern auf abstrakte, universelle Phänomene
verlassen.
15 1 Ivins erklärt z.B., dass die meisten griechischen Parallelen in der Geometrie
[1
sich nicht treffen, weil sie mit den Händen berührt werden, während die Parallelen
der Renaissance sich treffen, da sie nur auf Papier gesehen werden (1973: 7). Jean
1
Lave zeigt in ihrer Studie kalifornischer Supermarkteinkäufer, dass Personen, die
I'
mit einer Schwierigkeit in ihren Berechnungen konfrontiert werden, selten beim
Papier bleiben und niemals ihr Vertrauen in etwas Geschriebenes setzen (Lave et al.
1984). Es zu tun, gleichgültig, wie absurd die Konsequenzen sein mögen, erfordert
eine zusätzliche Reihung sonderbarer Umstände, die mit der Laboreinrichtung
verbunden sind, sogar wenn diese, wie Llvingston (1986) sagt, »flache Laboratorien«
sind. In einem seiner etwa zwölf Ursprünge der Geometrie argumentiert Serres,
dass die Griechen, indem sie das Alphabet erfanden und damit jede Verbindung
I
!i
--
DRAWING THINGS TOGETHER 1 293
Papierarbeit
»halfen den >Blickpunkt< oder die Art der Betrachtung von Dingen seelisch zu
verändern. Anstelle der imaginären Linien des Raumes, die man nur sehr schwierig
klar wahrnehmen kann, die zu dieser Zeit die Basis der Perspektive waren, erlaubte
die projektive Geometrie es, die Perspektive in Begriffen der soliden G eometrie zu
sehen.« (Booker 1982: 34)
Mit der deskriptiven Geometrie wird die Position des Beobachters irrele
vant.
»Es kann von jedem Winkel betrachtet oder fotographiert oder auf jede Ebene proji
ziert - d.h. verzerrt - werden und das Resultat bleibt wahr.« (Ebd.: 35)
!
1: Booker und sogar noch besser Baynes und Push (1981) zeigen in einem
ausgezeichneten Buch (vgl. auch Deforges 1981), wie ein paar Ingenieure
enorme Maschinen meistern konnten, die noch nicht einmal existierten.
Diese Glanzleistungen sind ohne technische Zeichnungen nicht vorstell
bar. Booker, der einen Ingenieur zitiert, beschreibt die Veränderung des
Maßstabs, der den Wenigen erlaubt, die Vielen zu dominieren:
»Eine gezeichnete Maschine ist wie eine ideale Realisation davon, jedoch in einem
Material, das wenig kostet und einfacher zu handhaben ist als Eisen oder Stahl. [...]
Wenn alles zuerst gut ausgedacht ist und die wesentlichen Dimensionen durch
Berechnungen oder Erfahrung bestimmt sind, kann der Plan einer Maschine oder
die Installation schnell auf Papier gebracht und das Ganze genauso wie das Detail
danach auf bequemste Weise der schärfsten Kritik ausgesetzt werden. Wenn es
zuerst Zweifel gibt, welches der verschiedenen möglichen Arrangements das wün
schenswerteste ist, werden sie alle aufgezeichnet, miteinander verglichen und das
passendste auf einfache Weise gewählt.« (Booker 1982: 187)
l
DRAWING THINGS TOGETHER 1 295
Eine industrielle Zeichnung erschafft nicht nur eine Papierwelt, die wie in
drei Dimensionen manipuliert werden kann. Sie kreiert auch einen ge
meinsamen Platz, an dem viele andere Inskriptionen zusammenkommen
können. Toleranzgrenzen können auf der Zeichnung inskribiert, die
Zeichnung für ökonomische Berechnungen, für eine Definition der zu
erfüllenden Aufgabe oder zur Organisation der Reparaturen und Verkäufe
verwendet werden.
»Zeichnungen sind jedoch nicht nur für die Planung, sondern auch für die Ausfüh
rung von äußerster Wichtigkeit, da durch sie von Anfang an die Bemessungen und
Proportionen aller Teile so genau und endgültig festgelegt werden können, dass,
wenn es zur Herstellung kommt, es nur noch notwendig ist, in den für die Kon
struktion verwendeten Materialien genau das zu imitieren, was in der Zeichnung
gezeigt wird. Jeder Teil der Maschine kann im Allgemeinen unabhängig von jedem
anderen Teil hergestellt werden; deshalb ist es möglich, die gesamte Arbeit unter
einer großen Anzahl von Arbeitern aufzuteilen. [...] Keine substantiellen Fehler
können in der auf diese Weise organisierten Arbeit auftreten, und falls einmal ein
Fehler gemacht wird, weiß man sofort, wer dafür verantwortlich ist.« (Ebd.: 188)
kraten zugeschrieben: Es liegt alles in den Akten selbst. Ein Büro ist - in
vielen Hinsichten und mit jedem Jahr zunehmend - ein kleines Laborato
rium, in dem viele Elemente miteinander verbunden werden können, weil
ihr Maßstab und ihre Natur angeglichen wurden: juristische Texte, Spezi
fikationen, Standards, Gehaltslisten, Landkarten, Untersuchungen (seit der
Eroberung durch die Normannen, wie aufgezeigt bei Clanchy 1979). Öko
nomie, Politik, Soziologie und harte Wissenschaften kommen nicht durch
den grandiosen Zugang der »Interdisziplinarität« in Kontakt, sondern
durch die Hintertür der Akte. Das »Kratie« im Wort »Bürokratie« ist myste
riös und schwer zu erforschen, aber das »Büro« ist etwas, das empirisch
untersucht werden kann und das aufgrund seiner Struktur erklärt, weshalb
etwas Macht an einen durchschnittlichen Geist abgegeben wird, einfach
indem man Akten durchsieht: Weit entfernte Domänen rücken in unmit
telbare Nähe, verschlungene und versteckte Domänen werden flach, Tau
sende von Vorkommnissen können synoptisch betrachtet werden. Noch
wichtiger ist, dass, wenn Akten einmal überall zusammengetragen werden,
um eine Hin- und Rückzirkulation unveränderlich mobiler Elemente
sicherzustellen, sie in einer Kaskade aufgestellt werden können: Akten
über Akten können erzeugt werden und man kann diesen Prozess fortset
zen, bis einige Menschen Millionen betrachten, als wären sie in ihrer
Handfläche. Ironischerweise macht sich der gesunde Menschenverstand
über diese »gratte-papiers« oder »Papiertiger« lustig und fragt sich, wozu
dieser »Papierkrieg« notwendig ist; dieselbe Frage sollte jedoch bezüglich
aller Themen von Wissenschaft und Technik gestellt werden. In unserer
Kultur ist der Umgang mit Akten und Papier der Ursprung aller essentiel
len Macht, was konstant der Aufmerksamkeit entgeht, da man deren Mate
rialität ignoriert.
In seinem grundlegenden Buch »The Pursuit of Power« (1982) benutzt
McNeill diese Fähigkeit, um chinesische Bürokratie von der des Okzidents
zu unterscheiden. Die Akkumulation von Aufzeichnungen und Ideo
grammen machten das chinesische Imperium möglich. Es gibt jedoch
einen wesentlichen Nachteil bei Ideogrammen; wenn sie einmal gesam
melt sind, kann man sie nicht zu einer Kaskade zusammenstellen, sodass
Tausende von Aufzeichnungen - in eine verwandelt -, wortwörtlich durch
geometrische oder mathematische Kompetenz »punktualisiert« werden
können. Wenn wir sowohl die Qualität der Zeichen als auch den Mobilisie
rungsprozess im Fokus behalten, können wir verstehen, wieso dem Wachs
tum des chinesischen Imperiums in der Vergangenheit bestimmte Gren
zen gesetzt worden sind und wieso diese Grenzen der Mobilisierung von
Ressourcen in großem Maßstab in Europa durchbrochen worden sind. Die
Macht, die durch die Konzentration von in einer homogenen und kombi
nierbaren Form verfassten Akten erlangt wird, kann man kaum hoch
genug einschätzen (Wheeler 1969; Clanchy 1979).
Diese Rolle des Bürokraten, qua Wissenschaftler, qua Schreiber und
--
DRAWING THINGS TOGETHER j 297
fremde Orte und Zeiten an einem Ort versammelt werden in einer Form,
die all den Orten und Zeiten gestattet, auf einmal präsentiert zu werden,
und es ihnen zudem erlaubt, sich dorthin zurück zu bewegen, woher sie
kommen? über Macht zu sprechen ist eine endlose und mystische Aufga
be; von Distanz, Sammlung, Loyalität, Zusammenfassung, Transmission
zu sprechen ist eine empirische Aufgabe, wie in einer neuen Studie von
John Law über die portugiesische Gewürzroute nach Indien (1986) illus
triert worden ist. Statt wie die meisten Wissenschaftler große Entitäten zu
verwenden, um Wissenschaft und Technik zu erklären, sollten wir bei den
Inskriptionen und ihren Mobilisierungen beginnen und sehen, wie sie
kleinen Entitäten helfen, zu großen zu werden. In dieser Verschiebung von
einem Forschungsprogramm zu einem anderen werden »Wissenschaft
und Technik« aufhören, mysteriöse kognitive Objekte zu sein, die durch
die soziale Welt erklärt werden müssen. Sie werden zu einer der Haupt
quellen von Macht (McNeill 1982). Wenn man die Existenz von Makro-Ak
teuren als selbstverständlich annimmt, ohne das Material zu erforschen,
das sie »makro« macht, macht man damit sowohl Wissenschaft als auch
Gesellschaft mysteriös. Das Herstellen verschiedener Maßstäbe zu unse
rem Hauptinteresse zu machen bedeutet, die praktischen Mittel zur Erlan
gung von Macht auf eine feste Basis zu stellen (Cicourel 1981). Das Penta
gon sieht nicht mehr von der Strategie der Russen als Guillemin von seinen
Endorphinen. Es setzt einfach seinen Glauben in übereinander gelagerte
Spuren verschiedener Qualität, stellt einige anderen gegenüber, geht den
Schritten jener nach, die zweifelhaft sind, und gibt Milliarden dafür aus,
neue Zweige von Wissenschaft und Technik zu schaffen, die die Mobilität
von Spuren beschleunigen, ihre Unveränderbarkeit perfektionieren, die
Lesbarkeit erhöhen, Kompatibilität sicherstellen, die Anzeige beschleuni
gen: Satelliten, Spionagenetzwerke, Computer, Bibliotheken, Radioimmu
nountersuchungen, Archive, Studien. Das Pentagon wird niemals mehr
von diesen Phänomenen sehen als das, was es durch diese unveränderlich
mobilen Elemente aufbauen kann. Das ist offensichtlich, wird aber selten
gesehen.
Wenn diese kleine Verschiebung von einer sozial/kognitiven Unter
scheidung zum Studium von Inskriptionen akzeptiert wird, dann erscheint
die Wichtigkeit der Metrologie im rechten Licht. Metrologie ist die wissen
schaftliche Organisation stabiler Messungen und Standards. Ohne sie ist
keine Messung stabil genug, um weder Homogenität der Inskriptionen
noch ihre Umkehr zuzulassen. Es ist deshalb auch nicht überraschend,
wenn man erfährt, dass die Metrologie bis zu dem Dreifachen des Budgets
aller Forschungen und Entwicklungen kostet und dass sich diese Zahl nur
auf die ersten Elemente der metrologischen Kette bezieht (Hunter 1980).
Dank der metrologischen Organisation können die grundlegenden physi
kalischen Konstanten (Zeit, Raum, Gewicht, Wellenlänge) und viele biolo
gische und chemische Standards »überallhin« ausgeweitet werden. (Zeru-
DRAWING THINGS TOGETHER 1 299
bavel 1982; Landes 1983). Die Universalität von Wissenschaft und Technik
ist ein Klischee der Epistemologie, aber Metrologie ist die praktische
Durchsetzung dieser mystischen Universalität. In der Praxis ist sie kost
spielig und voller Lücken (vgl. Cochrane 1966 für die Geschichte des Eich
amts). Metrologie ist nur die offizielle und primäre Komponente einer
stetig wachsenden Anzahl von Messaktivitäten, die wir alle in unserem
täglichen Leben unternehmen müssen. Jedes Mal, wenn wir auf unsere
Armbanduhr schauen oder eine Wurst bei einem Metzger wiegen lassen,
jedes Mal, wenn Laboratorien die Bleibelastung oder die Reinheit des Was
sers messen oder die Qualität von Industriegütern kontrollieren, erlauben
wir mehr unveränderlich mobilen Elementen neue Orte zu erreichen.
»Rationalisierung« hat sehr wenig mit der Vernunft der Büro- und Tech
nokraten, aber eine Menge mit der Erhaltung metrologischer Ketten zu tun
(Uselding 1981). Der Aufbau langer Netzwerke gewährleistet die Stabilität
der physikalischen Hauptkonstanten, aber es gibt viele andere metrologi
sche Aktivitäten für weniger »universelle« Messungen (Abstimmungen,
Fragebögen, auszufüllende Formulare, Konten, Zählungen).
Es gibt noch eine weitere Domäne, in die diese Ethnographie der In
skription etwas »Licht« bringen könnte. Ich möchte darüber sprechen, weil
ich am Anfang dieser übersieht die Dichotomien zwischen »mentalisti
schen« und »materialistischen« Erklärungen zurückwies. Unter diesen
interessanten, unveränderlich mobilen Elementen gibt es eines, das sowohl
zu viel als auch zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hat: das Geld. Die
Anthropologie des Geldes ist so kompliziert und verwirrend wie die des
Schreibens. Eines jedoch ist klar: Sobald Geld durch verschiedene Kulturen
zu zirkulieren beginnt, entwickelt es einige deutlich ausgeprägte Charakte
ristika: Es ist mobil (in kleinen Teilen), unveränderlich (da es aus Metall
besteht), zählbar (wenn es einmal gemünzt ist), kombinierbar und kann
von den gewerteten Dingen zum bewertenden Zentrum zirkulieren und
zurück. Geld hat zu viel Aufmerksamkeit erhalten, weil man es für etwas
Besonderes gehalten hat, tief eingefügt in die Infrastrukturen von Ökono
mien, während es einfach eines von vielen unveränderlich mobilen Ele
menten ist, die notwendig sind, wenn ein Ort über viele andere Orte, die in
Raum und Zeit weit entfernt sind, Macht ausüben soll. Als ein Typ eines
unveränderlich mobilen Elementes unter anderen hat es jedoch zu wenig
Aufmerksamkeit erhalten. Geld wird verwendet, um alle Arten von Sach
verhalten in genau derselben Weise zu kodieren, in der La Perouse alle
Orte mit Längengrad und Breitengrad kodierte. (Tatsächlich registrierte er
in seinem Logbuch sowohl die Plätze auf der Karte als auch den Wert jedes
Gutes, als sollte es an einem anderen Ort verkauft werden.) Auf diese
Weise ist es möglich, alle diese Arten von Sachverhalten zu akkumulieren,
zu zählen, zu zeigen und wieder zu verbinden. Geld ist weder mehr noch
weniger »materiell« als Kartenzeichnen, technische Zeichnungen oder
Statistiken.
300 1 BRUNO LATOUR
Ist erst einmal sein gewöhnlicher Charakter erkannt, kann die »Ab
straktion« des Geldes nicht länger das Objekt eines Fetischkults sein. Die
Wichtigkeit der Kunst der Buchführung passt z.B. sowohl in der Ökonomie
als auch in der Wissenschaft gut ins Bild. Geld als solches ist nicht interes
sant, sondern als eine Art unveränderlich mobiles Element, das Güter und
Orte verbindet; es ist deshalb kein Wunder, dass es schnell mit anderen
geschriebenen Inskriptionen wie Zahlen, Spalten und doppelter Buchfüh
rung verschmilzt (Roover 1963). Kein Wunder, dass es durch die Buchfüh
rung möglich ist, durch eine neue Kombination von Zahlen mehr zu ver
dienen (Braudel 1979: besonders Bd. 3; Chandler 1977). Hier sollte wieder
nicht zu viel Betonung auf die Visualisierung von Zahlen per se gelegt
werden; was man wirklich betonen sollte, ist die Kaskade mobiler Inskrip
tionen, die in einem Konto enden, was - buchstäblich - das Einzige ist,
was zählt. Genau wie bei jeder wissenschaftlichen Inskription zieht der
neue Buchhalter es im Zweifelsfalle vor, der Inskription zu glauben,
gleichgültig, wie seltsam die Konsequenzen und kontraintuitiv das Phä
nomen erscheinen. Die Geschichte des Geldes ist also von denselben
Trends ergriffen wie all die anderen unveränderlich mobilen Elemente;
jede Innovation, die Geld beschleunigen kann, um seine Macht der Mobili
sierung zu vergrößern, wird beibehalten: Schecks, Indossament, Papier
geld, elektronisches Geld. Dieser Trend hängt nicht von der Entwicklung
des Kapitalismus ab. »Kapitalismus« ist im Gegenteil ein leeres Wort, so
lange nicht präzise materielle Instrumente vorgeschlagen werden, um
Kapitalisierung überhaupt zu erklären, sei es die von Mustern, Büchern,
Information oder Geld.
Folglich sollte der Kapitalismusbegriff nicht verwendet werden, um die
Evolution von Wissenschaft und Technik zu erklären. Es scheint mir, als
sollte es genau das Gegenteil sein. Wenn Wissenschaft und Technik in
Begriffen von unveränderlich mobilen Elementen neu formuliert werden,
wird es möglich, ökonomischen Kapitalismus als einen anderen Prozess
von Mobilisierung und Konskription zu erklären. Die vielen Schwächen
des Geldes weisen darauf hin; Geld ist ein hübsches, unveränderlich mobi
les Element, das von einem Punkt zu einem anderen zirkuliert, jedoch sehr
wenig bei sich trägt. Wenn das Ziel des Spiels darin besteht, genügend
Verbündete an einem Ort zu akkumulieren, um den Glauben und das
Verhalten aller anderen zu modifizieren, ist Geld eine schwache Ressource,
solange es isoliert ist. Es wird nützlich, wenn es mit all den anderen In
skriptionsvorrichtungen verbunden wird; dann werden die verschiedenen
Punkte der Welt tatsächlich in einer handhabbaren Form zu einem einzel
nen Ort transportiert, der dann zu einem Zentrum wird. Genau wie bei
Eisensteins Druckerpresse, die ein Faktor ist, der allen anderen erlaubt,
miteinander zu verschmelzen, zählt nicht die Kapitalisierung des Geldes,
sondern die Kapitalisierung aller kompatiblen Inskriptionen. Statt von
Händlern, Prinzen, Wissenschaftlern, Astronomen und Ingenieuren zu
DRAWING THINGS TOGETHER 1 301
sprechen, die eine Art von Beziehung zueinander haben, scheint es mir
produktiver zu sein, über »Berechnungszentren« zu sprechen. Die Währung,
in der sie rechnen, ist weniger wichtig als die Tatsache, dass sie nur mit
Inslaiptionen kalkulieren und in diese Kalkulationen Inslaiptionen, die
aus den verschiedenartigsten Disziplinen kommen, hineinmischen. Die
Berechnungen selbst sind weniger wichtig als die Art, in der sie zu Kaska
den zusammengestellt werden, und die bizarre Situation, in der der letzten
Inslaiption mehr geglaubt wird als allem anderen. Geld ist per se sicher
nicht der universelle Standard, den Marx und andere Ökonomen suchten.
Diese Qualifikation sollte Berechnungszentren und der Besonderheit ge
schriebener Spuren gewährt werden, die schnelle Übersetzung zwischen
einem Medium und einem anderen ermöglichen.
Viele Bemühungen wurden erbracht, um die Geschichte der Wissen
schaft mit der Geschichte des Kapitalismus zu verbinden, und viele Bemü
hungen wurden erbracht, um den Wissenschaftler als Kapitalisten zu be
schreiben. Alle diese Bemühungen (meine inbegriffen - Latour/Woolgar
1979: Kap. 5; Latour 1984a) waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt,
da sie eine Unterscheidung zwischen mentalen und materiellen Faktoren
als gegeben ansahen, ein Artefakt unserer Ignoranz bezüglich Inslaiptio
nen.'7 Es gibt keine Geschichte der Ingenieure, dann der Kapitalisten,
17 1 Die Richtung, in die wir gehen, wenn wir solche Fragen stellen, ist sowohl
von der der Wissenschaftssoziologie als auch von der der kognitiven Wissenschaften
ziemlich verschieden (besonders wenn sie beide wie in Meys Synthese [1982] zu
verschmelzen versuchen). Zwei jüngere Versuche wurden unternommen, um die
feinen Strukturen der kognitiven Fähigkeiten mit der Sozialstruktur zu verbinden.
Der erste verwendet Hesses Netzwerke und Kuhns Paradigmen (Bames 1982), der
zweite Wittgensteins »Sprachspiele« (Bloor 1983). Diese Versuche sind interessant,
aber sie versuchen noch immer eine Frage zu beantworten, die der vorliegende
Artikel zurückzuweisen wünscht: wie kognitive Fähigkeiten mit unseren Gesell
schaften verbunden sind. Die Frage (und folglich die verschiedenen Antworten) geht
von der Idee aus, dass der Stoff, aus dem Gesellschaft gemacht ist, irgendwie ver
schieden ist von dem unserer Wissenschaften, unserer Bilder und unserer Informa
tion. Das Phänomen, auf das ich mich konzentrieren möchte, unterscheidet sich
etwas von jenen von Bames und Bloor. Wir haben es mit einem einzelnen ethno
graphischen Rätsel zu tun: Einige Gesellschaften - tatsächlich sehr wenige - werden
durch Kapitalisierung im großen Stil gebildet. Die Obsession mit schnellen Verlage
rungen und stabilen Invarianzen, starken und sicheren Verbindungen, ist nicht Teil
unserer Kultur oder durch soziale Interessen »beeinflusst«; sie ist unsere Kultur. Zu
oft suchen Soziologen nach indirekten Beziehungen zwischen »Interessen« und
»technischen« Details. Der Grund für ihre Blindheit ist einfach: Sie begrenzen die
Bedeutung von »sozial« auf die Gesellschaft, ohne zu erkennen, dass die Mobilisie
rung von Verbündeten und im Allgemeinen die Transformation schwacher Assozia
tionen in starke auch die Bedeutung von »sozial« ist. Wieso nach weit hergeholten
302 1 BRUNO LATOUR
dann eine der Wissenschaftler, dann eine der Mathematiker, dann eine der
Wirtschaftswissenschaftler. Es gibt vielmehr eine einzige Geschichte dieser
Berechnungszentren. Es ist nicht nur, weil sie auf Karten, in Kontobü
chern, Zeichnungen, Rechtstexten und Akten exklusiv aussehen, dass
Kartographen, Händler, Ingenieure, Juristen und Bauingenieure den ande
ren überlegen sind. Es ist, weil alle diese Inskriptionen überlagert, neu
gemischt, neu verbunden und zusammengefasst werden können und dass
vollkommen neue Phänomene auftauchen, vor den anderen Leuten ver
borgen, von denen diese Inskriptionen erhoben worden waren.
Präziser ausgedrückt: Wir sollten mit dem Konzept und dem empiri
schen Wissen dieser Berechnungszentren in der Lage sein zu erklären, wie
unbedeutende Menschen, die nur mit Papier und Zeichen arbeiten, die
mächtigsten von allen werden. Papier und Zeichen sind unglaublich
schwach und zerbrechlich. Deshalb erscheint es zuerst grotesk, irgendet
was mit ihnen erklären zu wollen. La Perouses Karte ist nicht der Pazifik,
genauso wenig wie Watts Zeichnungen und Patente die Maschinen sind
oder die Wechselkurse der Bankiers die Ökonomien oder die Theoreme der
Topologie die »echte Welt«. Das ist genau das Paradoxon. Indem man nur
auf Papier arbeitet, an zerbrechlichen Inskriptionen, die sehr viel weniger
sind als die Dinge, aus denen sie extrahiert sind, ist es doch möglich, alle
Dinge und alle Menschen zu dominieren. Was für alle anderen Kulturen
unbedeutend ist, wird zum wichtigsten, zum einzig wichtigen Aspekt der
Realität. Der Schwächste wird durch die obsessive und exklusive Manipula
tion aller möglichen Arten von Inskriptionen zum Stärksten. Dies ist das
Verständnis von Macht, zu dem wir gelangen, wenn wir dem Thema von
Visualisierung und Kognition in aller Konsequenz folgen. Wenn man
verstehen möchte, was Dinge zusammenzieht, muss man sich anschau
en, was Dinge zusammen zeichnet.
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DRAWING THINGS TOGETHER 1 307
Zusammenfassung
Einführung
2 1 Zur Charakterisierung der Morphologie der TÖNs vgl. Callon et al. (1991).
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT j 3II
Das Leben ist kompliziert. Ich will aber mit einer heuristischen Vereinfa
chung beginnen und annehmen, dass TÖNs um drei bestimmte Pole
herum organisiert sind:
Erstens gibt es einen wissenschaftlichen Pol, der zertifiziertes Wissen
produziert. Dort wird wissenschaftliche Forschung praktiziert - wie bei
spielsweise in unabhängigen Forschungszentren, Universitäten und relativ
einfachen industriellen Laboratorien.
Zweitens gibt es einen technischen Pol, der die Grundideen von Artefak
ten entwirft, sie entwickelt und/oder transformiert. Seine Produkte schlie
ßen Modelle, Pilotprojekte, Prototypen, Tests und Versuche sowie Patente,
Normen und technische Regeln ein; er befindet sich in industriellen tech
nischen Labors, Forschungsstätten und in Pilotbetrieben.
Drittens gibt es einen Marktpol, der sich auf Benutzer oder Verbraucher
bezieht, welche mehr oder weniger explizit Forderungen und Bedürfnisse
entwickeln, ihnen Ausdruck verleihen oder sie zu befriedigen suchen.3
In gewissem Sinne liegen diese Pole Welten auseinander. Was hat ein
Forscher, der sich mit den Feinstrukturen von Keramik beschäftigt, mit
einem Konsumenten gemeinsam, der ein leistungsfähiges, aber komforta
bles, sparsames und zuverlässiges Auto sucht? Im Prinzip sind sie so
verschieden wie Tag und Nacht. Die Wissenschaftlerin, die darüber beun
ruhigt ist, was ihre Kollegen von ihrer Arbeit halten, der Ingenieur, der
ohne Preisgabe von vertraulichen, patentrechtlich geschützten Informatio
nen einen Prototyp in ein Pilotprodukt umzuwandeln versucht, und der
Konsument - alle sind irgendwie miteinander verbunden. Wie sind sie
aber verbunden? Wie interagieren Wissenschaft oder Technik mit dem
sozialen Pol? Wie beeinflussen sie einander? Um diesen Mechanismus zu
verstehen, müssen wir sowohl auf die Ökonomie als auch auf die Soziolo
gie zurückgreifen.
Die Ökonomie lehrt uns, dass es Dinge sind, die Akteure gegenseitig in
Beziehung zueinander setzen. Sie lehrt uns beispielsweise, dass ein Kon
sument und ein Produzent durch ein Produkt in eine Beziehung treten
oder dass ein Arbeitgeber und ein Angestellter dadurch verbunden sind,
dass die Kompetenzen des Letzteren durch den Ersteren mobilisiert und
bezahlt werden. Ökonomen sprechen in diesen Fällen von Vennittlem.
Diese Erkenntnis ist wichtig und kann vielleicht verallgemeinert werden.
Ich möchte behaupten, dass ein Vennittler all das ist, was sich zwischen Ak-
teuren abspielt und die Beziehungen zwischen ihnen definiert.4 Beispiele von
Vermittlern umfassen wissenschaftliche Artikel, Computersoftware, diszi
plinierte menschliche Körper, technische Artefakte, Instrumente, Verträge
und Geld.
Im Gegensatz zur Ökonomie beginnt die Soziologie nicht mit einer
stilisierten Vorstellung des Akteurs. Sie nimmt stattdessen an, dass Akteu
re nur verstehbar sind, wenn sie in einen gemeinsamen Raum eingefügt
werden, den sie selbst konstruiert haben. So sprechen Crozier und Fried
berg (1977) beispielsweise von Akteuren und Systemen, Bourdieu (1980)
von Agenten und Feldern und Parsons (1977) von Rollen und funktionellen
Prärequisiten. In unterschiedlicher Weise nehmen die Soziologen folglich
an, dass jedem Akteur ein verstecktes, aber bereits soziales Wesen innewohnt;
somit kann das Akteursein nicht von den Beziehungen zwischen den
Akteuren abgetrennt werden.
Die Ökonomen lehren uns, dass Interaktion die Zirkulation von Ver
mittlern einschließt. Die Soziologen lehren uns, dass Akteure nur in Bezug
auf ihre Beziehungen definiert werden können. Aber dies sind zwei Teile
desselben Puzzles; fügen wir sie zusammen, so finden wir die Lösung:
Akteure definieren einander in der Interaktion - in den Vermittlern, die sie in
Umlauf bringen.5
Vermittler
Ich will erneut vereinfachen und von vier Hauptarten von Vermittlern
sprechen:
Erstens gibt es Texte oder - allgemeiner formuliert - literarische Inskrip
tionen (Latour 1986). Diese umfassen Berichte, Bücher, Artikel, Patente
und Notizen. Es handelt sich um Materialien, weil sie auf Papier, Disketten
und Magnetbändern, d.h. auf relativ unveränderliche, transportable Me
dien inskribiert und auf diese Weise im Urnlauf sind. 6
Zweitens gibt es technische Artefakte. Dazu gehören wissenschaftliche
Instrumente, Maschinen, Roboter und Verbrauchsgüter; sie sind (relativ)
stabile und strukturierte Gruppen von nicht-menschlichen Entitäten, die
gemeinsam bestimmte Aufgaben ausführen.
Texte sind in vielen Bereichen des sozialen Lebens - aber nirgends mehr
als in der Wissenschaft - von vitaler Bedeutung (Callon et al. 1986; Latour
1989). Somit kann ein wissenschaftlicher Text als Objekt betrachtet wer
den, das Verbindungen mit anderen Texten und literarischen Inskriptio
nen eingeht. Die Auswahl der Zeitschrift, der Sprache und des Titels sind
die Methoden, mit denen ein Artikel versucht, ein interessiertes Publikum
zu definieren und anzusprechen. Die Liste der Autoren gibt über deren
Mitarbeit und die relative Bedeutung jedes Beitrags Auskunft. Hier beginnt
ein Netzwerk; dieses Netzwerk erstreckt sich jedoch weiter bis zu den Refe
renzen und Zitaten. Diese überarbeiten die zitierten Texte, führen sie in
neue Zusammenhänge ein und identifizieren und verbinden neue Akteure
miteinander. Wörter, Ideen, Konzepte und die Ausdrucksweisen, die sie
organisieren, beschreiben damit eine ganze Population von menschlichen
und nicht-menschlichen Entitäten. Einige sind gut etabliert, andere wiede
rum sind neu. Insgesamt jedoch definieren, erkunden, stabilisieren und
testen sie gegenseitig ihre Identitäten. Ein Text kann von Elektronen,
Enzymen, Behörden, Oxiden, Methoden, experimentellen Anordnungen,
multinationalen Gesellschaften und Industriesektoren handeln. Analog
den Akteuren in einigen amerikanischen Romanen, die sonst nie zusam
mengefunden hätten, sind ihre Schicksale in >soziotechnischen Dramen<
verwoben, die in wissenschaftlichen Arbeiten beschrieben sind.7
Die Wörter eines Textes beziehen sich auf andere Texte; sie überarbei
ten und erweitern die Netzwerke, die darin gefunden werden. Während wir
traditionsgemäß angenommen haben, dass Texte geschlossen sind - wir
haben zwischen ihrem Kontext und ihrem Inhalt unterschieden-, sagen
wir nun, dass Texte weder ein Innen noch ein Außen haben. Vielmehr sind
sie Objekte, welche Kompetenzen, Handlungen und Verbindungen hetero
gener Entitäten definieren. Somit ist der wissenschaftliche Artikel analog
anderen Texten ein Netzwerk, dessen Beschreibung er kreiert.8
Was ist das für eine sonderbare Alchemie, die uns erlaubt, Gruppen von
Nicht-Menschen in Netzwerke zu transmutieren, die heterogene Akteure
definieren und verbinden? Wie können wir Maschinenwerkzeuge, Explo
sionsmotoren, Videorekorder, Nuklearanlagen oder automatische Fahr
scheinautomaten derart behandeln? Eine neue Arbeit aus dem Bereich der
Technosoziologie von Madeleine Akrich und Bruno Latour schlägt vor, ein
technisches Objekt als Handlungsprogramm zu betrachten, das ein Netzwerk
von Rollen koordiniert. Diese Rollen werden von Nicht-Menschen (von der
Maschine selbst und anderen Objekten wie Zubehör und Antriebsquellen)
und >peripheren< Menschen (wie Verkäufern, Konsumenten, Reparaturper
sonal) gespielt.
In der Praxis fällt es nicht allzu schwer, die den technischen Objekten
innewohnenden Programme oder die Art und Weise, wie deren soziotech
nische Komponenten handeln, kommunizieren, Befehle erteilen, sich
gegenseitig ins Wort fallen und Protokollen folgen, zu beschreiben. Der
Grund dafür ist, dass die Beschreibungen oder die >Textualisierungen<
alltäglich sind. Technische Objekte sind nicht so dumm, wie wir denken!
So wird in seiner Entwurfsphase der Charakter eines Objekts endlos
diskutiert:9 Wie wird es aussehen? Was wird es tun? Wofür wird es ver
wendet werden? Welche Kompetenzen brauchen seine Benutzer? Welche
Instandhaltung erfordert es?
Ein solches Gespräch ist heterogen. Tatsächlich verwandeln sich Inge
nieure genau in jenen Phasen, in denen sie am meisten mit technischen
Problemen befasst sind, selbst in Soziologen, Ethiker oder Politiker. Soll
ein Auto einfach als ein simples und wirtschaftliches Transportmittel
behandelt werden? Oder soll es unterdrückte Wünsche nach einem auffäl-
8 1 Die Äquivalenz zwischen Texten und den Netzwerken, die sie beschreiben,
ist peinlich genau in die Wissenschaftssoziologie eingeführt worden. Dabei ist be
sonders zu beachten, dass Texte sowohl Diagramme, Labornotizen, Patente, Benut
zerhandbücher, Kataloge als auch Marktstudien einschließen (zur Analyse von Pa
tenten vgl. Bowker 1989). Man berücksichtige ebenfalls, dass die Bedeutung wissen
schaftlicher Texte im Wirtschaftsleben immer mehr zunimmt. Tatsächlich könnte
ein Großteil ökonomischer Aktivität als die Umwandlung von wissenschaftlichen
Texten in marktfähige Waren beschrieben werden!
9 1 Siehe z.B. Callon/Latour (1981), Latour/Coutouzis (1986), Akrich/Callon/La
tour (1987), Law/Callon (1988) und die Beiträge von Clegg/Wilson (1991).
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 315
Traditionsgemäß wird Geld als eine Wertreserve und ein Instrument des
Austausches interpretiert. Als ein Instrument des Tausches verlangt es eine
Gegenleistung12 und ein minimales, aber essentielles Entgelt in Form von
Information. Dementsprechend konstituiert es den Käufer und Verkäufer
und bestimmt das Ausmaß ihrer gegenseitigen Verpflichtung - eine Be
ziehung, die in den Wirtschaftswissenschaften erforscht und analysiert
wird. Die Beziehung zwischen Geld und Gegenleistung ist jedoch noch
eindeutiger in Bezug auf die Wertreserve oder im Rahmen öffentlicher
oder privater Finanzierungen (Aglietta/Orlean 1982). Wird beispielsweise
die Forschung durch Risikokapital finanziert, basiert dies auf einem Hand
lungsprogramm, das als Gegengewicht zum Darlehen wirkt. In diesen
12 1 Semiotisch betrachtet könnten wir sagen, dass eine Rückkehr vom Empfän-
1: I ger zum Sender stattfindet
111
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 317
Fällen ist das Geld textualisiert, d.h. übersetzt in Aufträge, Indikatoren und
Empfehlungen. Diese definieren und verbinden einen Bereich von hetero
genen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren: Kooperiere mit X
von der ICI und Y vom Labor Z, um eine kritische Temperatur von 150
Grad Kelvin zu erreichen, und du wirst ein Darlehen von x Dollar erhalten.
In diesem Fall bilden die Vermittler wiederum ein Netzwerk von Rollen.
Es handelt sich dabei um Grenzfälle. In der Praxis ist die Welt voll von
hybriden Vermittlern. Nirgends trifft dies mehr zu als für die Texte, die
andere Klassen von Vermittlern begleiten. In diesen Fällen betreten wir
eine Zivilisation von Inskriptionen, die alle Formen von Vermittlern bein
haltet. Die weite Verbreitung von Texten bedeutet eine Stärkung der
Gleichwertigkeit von Netzwerken und Vermittlern; sie wird legitimer,
expliziter und vermehrt zum Gegenstand der Herausforderung. Je mehr
man liest, desto mehr verbindet man,'3 und umso wichtiger ist es, zu
verhandeln und Kompromisse zu schließen.
Menschliche und nicht-menschliche Hybriden sind jedoch nicht weni
ger invasiv. Es ist tatsächlich zunehmend schwierig, zwischen Menschen
und Nicht-Menschen zu unterscheiden. Zum Beispiel gibt es Systeme
verteilter Intelligenz, die Computer, die Programmierer brauchen, und
Programmierer, die Computer mobilisieren, mit einer Hingabe durchein
ander bringen, die Rene Girard das Fürchten lehren könnte. Wer verhan
delt mit wem? Was impliziert was? Wer ist der Akteur und folgt nur? Dies
sind offene Fragen.
Unreinheit ist dann die Regel. Nirgends ist dies sichtbarer als im
Dienstleistungssektor.'4 Das durch »Club Med«, »Cap Sogeti« oder CISI
verkaufte Produkt ist eine Mischung aus Menschen und Nicht-Menschen,
Texten und Finanzprodukten, die in einer genau koordinierten Abfolge
zusammengesetzt worden sind. Denken Sie an die Voraussetzungen, die
notwendig sind, damit Herr Schmid in der Lage (und willens) ist, seine
Ferien am Ufer des Ranguiroa-Sees zu verbringen und sich anzusehen,
wie sich die Barrakudas mit den sonnengebräunten Körpern seiner Mit
menschen vermischen. Computer, Legierungen, Düsentriebwerke, For
schungsabteilungen, Marktstudien, Werbung, Empfangshostessen, Ein
heimische, die ihren Wunsch nach Unabhängigkeit unterdrückt und
gelernt haben, lächelnd Gepäck zu tragen, Darlehen und Wechselstuben -
dies alles und vieles andere mehr musste auf dieses eine Ziel hin gruppiert
werden.
Der Vermittler, welcher Herrn Schmid mit den (anfangs unwahrschein
lichen) Träumen und Interessen eines Pauschalreiseveranstalters verbin
det, ist wirklich monströs und kompliziert. Aber grundsätzlich arbeitet er
wie andere Vermittler. Wenn Herr Martin eine Gabel verwendet, um Kar
toffeln zu zerquetschen, ist dies nur ein anderer (wenn auch einfacherer)
Vermittler. Wie sein komplexerer Vetter teilt er ihm eine Rolle zu - die
Rolle eines menschlichen Wesens mit einer Anzahl von Optionen und
Rechten. Also ist das, was am Ende der Kette liegt, in beiden Fällen glei
chermaßen leicht zu beschreiben. Die Komplexität des Vermittlers selbst
ist irrelevant.'5
Ich habe zu zeigen versucht, dass Akteure mehr oder weniger klar und
übereinstimmend ihre Netzwerke beschreiben. Das heißt, sie beschreiben
eine Ansammlung von menschlichen und nicht-menschlichen, individuel
len und kollektiven Entitäten. Diese sind durch ihre Rollen, ihre Identitäten
und ihre Programme definiert, die alle von den Beziehungen abhängen,
die sie eingehen. Mein Argument hat zwei Folgen: Die erste hat mit der
entscheidenden Rolle zu tun, die Vermittler spielen, indem sie sozialen
Verbindungen Form, Existenz und Konsistenz verleihen. Ich will damit
sagen, dass Akteure sich gegenseitig durch ihre Vermittler definieren, die sie in
Umlauf setzen. Die zweite ist methodologischer Natur, d.h. das Soziale kann
in den Inskriptionen gelesen werden, welche die Vermittler markieren.
Zur Zeit der Renaissance wurde das große Buch der Natur immer und
immer wieder gelesen. Nun müssen wir die literarische Metapher erwei
tern. Unser Anliegen sollte sein, die vielen Vermittler lesen zu lernen, die
durch unsere Hände gehen: Artefakte, Texte, disziplinierte Körper und
kaltes Geld. Soziologie ist einfach eine Erweiterung der Inskriptionswis
senschaft, die nun ihren Rahmen erweitern sollte, um nicht nur die Akteu
re, sondern auch die Vermittler einzuschließen, mittels derer sie sprechen.
Akteure
Ich will den Begriff zunächst folgendermaßen definieren: Als Akteur gilt
jede Entität, die fähig ist, Texte, Menschen, Nicht-Menschen und Geld zu
assoziieren. Dementsprechend ist all das eine Entität, was mehr oder weni
ger erfolgreich eine von anderen Entitäten mit eigener Geschichte, Identi
tät und Wechselbeziehungen gefüllte Welt definiert und aufbaut. Diese
16 1 Dies ist mit dem Konzept des Sprechaktes (Austin 1970) und des Textaktes
(Coleman 1988) verbunden. Es gibt viele Beispiele für Texte, die ständig Handlun
gen auslösen: Ein unterschriebener Scheck führt zu einem Übertrag von einem
Konto zu einem anderen; eine Unterschrift unter einem notariellen Dokument öff
net einem neuen Bewohner die Wohnungstüren; ein Klick mit der Computermaus
startet einen Drucker.
17 1 Es ist sehr selten, Gruppen von Menschen ohne Nicht-Menschen zu finden.
Ein Nicht-Mensch fügt sich fast immer zwischen zwei Körper ein. Selbst eine un
vermittelte Interaktion zwischen zwei Körpern - ein reiner Verband von Menschen
-, welcher in der Realität nur im Sexualakt eintritt (und dann oft in der Gegenwart
von Kondomen, welche den kleinen Faktor/Vermittler AIDS-Virus in Betracht zie
hen), kann Anlass zu widersprüchlichen Bezichtigungen geben. Ist die andere Per
son einfach ein Gefäß für Triebe ohne Gewissen? Ist sie/er nur ein treuer Vermittler
seiner oder ihrer Gene? Oder sollte einer der Partner die Kontrolle dem Anderen
übergeben und den Akt in eine Liebeserklärung verwandeln? Wer kann diese
schwierige Frage definitiv beantworten? Wer kann sagen, wo der Akteur ist?
18 1 Die hier erörterten Vermittler schließen Texte, technische Objekte, Körper
oder Geld ein. Eine allgemeine Netzwerktheorie würde jedoch alle möglichen Ver
mittler - von der freien Assoziation eines Patienten auf der Couch seines Analyti
kers über eine geflüsterte Beichte und die dazugehörige Buße bis zu den Anklagen
eines Azande-Zauberers - einschließen. Alle sind Vermittler, alle Basis für Kom
munikation, und alle organisieren Netzwerke und verbinden ihre Bestandteile. Die
alte Frau, die einem müden Priester zum x-ten Mal dieselbe Liste von Sünden wie
derholt, trägt zu einer mit Menschen und Nicht-Menschen bevölkerten Welt bei. Es
gibt Priester, die verzeihen; Götter, Heilige und Engel, die lieben, bestrafen oder er
lösen; es gibt Satan, der in Versuchung führt, und es gibt Nachbarn, die einwilligen,
das Objekt guter oder schlechter Taten zu sein.
320 1 MICHEL CALLON
oder inskribiert ist (ich habe behauptet, dass inerte Materie gesprächig ist),
dann handelt nichts. Eine Handlung arbeitet via Zirkulation von Vermitt
lern. Diese übertragen unermüdlich Nachrichten, welche (im doppelten
Sinne des Worts) die Netzwerke beschreiben, in denen sie inskribiert sind.
Weshalb brauchen wir noch die Vorstellung von Akteuren? Weshalb be
gnügen wir uns nicht einfach mit den Vermittlern?
Die Antwort hat mit Urheberschaft zu tun. Alle Interaktionen schließen
eine Methode ein, um den Autoren Vermittler zuzuschreiben. Tatsächlich
ist die Urheberschaft oft in den Vermittlern selbst inskribiert. Wissen
schaftliche Artikel werden signiert und technische Objekte mit einem
Copyright versehen. Verkörperte Kompetenzen werden dem Körper oder
dem Subjekt zugeschrieben. Damit will ich ausdrücken, dass ein Akteur
ein Vermittler ist, der andere Vermittler in Umlauf setzt.'9 Somit ist ein
Akteur ein Autor. Allerdings ist die Zuschreibung der Autorschaft, analog
allen anderen Behauptungen oder Andeutungen, die von Vermittlern ge
macht werden, kontrovers und offen für Zweifel oder Fragen.
Bei einer solchen Definition ist ein Akteur eine Entität, welche die letzte
Generation von Vermittlern übernimmt und sie transformiert (kombiniert,
mischt, verkettet, degradiert, berechnet, antizipiert), um die nächste Gene
ration zu schaffen. Wissenschaftler transformieren Texte, experimentelle
Apparate und Stipendien in neue Texte. Firmen kombinieren Maschinen
und die ihnen innewohnenden Kompetenzen mit Gütern und Konsumen
ten. Im Allgemeinen sind Akteure jene, die Vermittler planen, entwickeln,
in Umlauf bringen, aussenden oder aus dem Umlauf nehmen. 20 Die
Trennung zwischen Akteuren und Vermittlern ist eine rein praktische
Angelegenheit2' Ist eine Gruppe ein Akteur oder ein Vermittler? Ist ein
19 1 Man stelle sich vor, die Patientin auf der Couch des Analytikers oder der
reuige Sünder im Beichtstuhl denken nicht mehr daran, werden nicht mehr länger
als die Autoren ihrer oder seiner Taten betrachtet (dies ist völlig plausibel: Psycho
analyse löst die Person in eine Serie von Autoren auf und Exorzismus versucht, die
Einflussnahme Satans aufzudecken). In diesem Zusammenhang verschiebt sich die
Vermittlung. Die Patientin wird zum Medium, durch das sich das Unbewusste aus
drückt, ein Set von zu entschlüsselnden Symptomen. Der reuige Sünder ist des frei
en Willens beraubt und vom Teufel besessen.
20 1 Die Liste von möglichen Vermittlern, Kombinationen, Handlungen und Ko
inzidenzen ist endlos.
21 1 Die konventionelle Ökonomie der Konventionen, die soweit gegangen ist,
das Grundmodell der Ökonomie zu unterhöhlen, hält plötzlich inne, wenn sie mit
dem Akteur konfrontiert wird. »Die Autoren dieses Beitrags stimmen darin überein,
dass die durch gemeinsame von allgemeinen Konventionen gespielte Rolle nicht zu
einer Preisgabe der Prinzipien des methodologischen Individualismus führen sollte.
Nur Leute können Akteure sein, ungeachtet dessen, ob sie als Mitglieder einer
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 321
Akteur eine Kraft zur Erhaltung oder zur Transformation? Die Antwort hat
nichts mit Metaphysik, Ontologie oder den Menschenrechten zu tun; viel
mehr handelt es sich um Empirie. 22
Betrachten sie beispielsweise den Fall eines Kernkraftwerkes. Dies ist
eine hybride, monströse Gruppe, welche die Interaktion zwischen Graphit
stäben, Turbinen, Atomen, Betreibern, Kontrolltafeln, Blinklichtern, Be
tonplatten und Ingenieuren reguliert. Sollten wir dieser Gruppe das Recht
verweigern, ein Akteur zu sein? Sie verwandelt alles, womit sie gefüttert
wird. Akten, Rechnungen, Treibstoff, Wasser, Kompetenzen und Budget
vorgaben werden in zu Verbrauchern transportierte Elektronen, in an
lokale Verwaltungen gezahlte Steuern und Abfallprodukte verwandelt, die
wiederum zur Bildung verärgerter Umweltschutzgruppen führen. Sicher
handelt es sich um ein Netzwerk. Handelt es sich jedoch wirklich um einen
Akteur, sofern man annimmt, dass wir es nur mit einer Black Box zu tun
haben, die bekannte Inputs in programmierte Outputs konvertiert?
Die Frage ist empirischer Natur. Gilt der Betrieb als Autor der Vermitt
ler, die er in Umlauf setzt? Die Antwort ist ja, aber nur manchmal. Auf
diese Art wird der Betrieb oft als eine simple Verbindung in einer Kette
betrachtet, welche sich vom Benutzer zum erzeugenden Unternehmen
erstreckt und vielleicht darüber hinaus bis zu den schrecklichen ,Nukleo
kraten<, die ihn ausgedacht und geplant haben. In diesem Fall durchlaufen
die Akteure den Betrieb, ohne anzuhalten. Die Menschen, die dort tatsäch
lich wie Turbinen, Isotope, Abfallpumpen und Kühlkreisläufe arbeiten und
mit denen sie interagieren, verschwinden in tiefste Nischen. Andererseits
wird der Betrieb für bestimmte Zwecke von allem Außenstehenden sorg
fältig abgegrenzt - und zu einem Autor. Einige bezweifeln beispielsweise
seine Zuverlässigkeit und Sicherheit oder die Fähigkeit der Operatoren, das
erforderliche Konzentrationsniveau aufrechtzuerhalten.
Hier besteht nun eine Ambiguität. Manche behandeln die Gruppe als
einen Vermittler, der mit anderen, hinter ihm stehenden Akteuren, die ihn
in Umlauf bringen, gruppiert ist. Andere behandeln die Gruppe als einen
speziellen Akteur, der unerwartete und unprogrammierte Sequenzen und
Verbände einführt. Diese Ambiguität ist der Grund für Kontroversen,
deren Intensität natürlich von den Umständen abhängt. Als sich die Wol
ken von Tschernobyl über Europa ausbreiteten, um die Rentiere in Lapp
land und die walisischen Schafe gleichermaßen zu kontaminieren, wurde
die Anlage vom Vermittler zum Akteur. Formulierungen, die Technik als
eine unkontrollierte und autonome Kraft darstellten - als einen eigenstän
digen Akteur (Ellul 1964; Winner 1977, 1986) - gewannen die überhand
Gruppe oder einer Institution oder in der Ausübung einer Funktion als Vertreter
l
einer Gruppe betrachtet werden.« (Dupuy 1989)
' 22 1 Die Tatsache, dass menschliche Körper eine Klasse von Vermittlern darstel
len, bedeutet nicht, dass sie nicht auch Akteure sind!
322 1 MICHEL GALLON
über jene, die sie als ein Instrument oder Werkzeug betrachteten. Somit
können bereits minimale Änderungen Vermittler in Akteure oder Akteure
in Vermittler zurückverwandeln. Es ist eine Frage der Betrachtungsweise.
Entweder richtet man sein Augenmerk auf die Gruppe selbst und geht von
dort aus weiter, so erhält man einen Akteur. Geht man jedoch durch sie
hindurch in das dahinter liegende Netzwerk, so erhält man einen einfa
chen Vermittler. 23
Netzwerke
Alle Gruppen, Akteure und Vermittler beschreiben ein Netzwerk; sie iden
tifizieren und definieren andere Gruppen, Akteure und Vermittler, mit
samt den Beziehungen, die sie zusammenbringen. Sofern solche Beschrei
bungen eine Zuschreibung der Autorschaft einschließen, emergieren die
Akteure an den Haltestellen, Asymmetrien oder Falten (Deleuze 1989).
Das Netzwerk der Vermittler jedoch, das der Akteur nach Verhandlungen
und Transformationen akzeptiert, wird andererseits auch von diesem
Akteur transformiert. Es wird in ein Szenario umgewandelt und trägt die
Unterschrift seines Autors, der nach Akteuren sucht, die bereit sind, ihre
Rollen zu spielen. Weil ein Akteur auch ein Netzwerk ist, spreche ich von
Akteur-Netzwerken.
Wie können unterschiedliche Akteur-Netzwerke, die a priori keinen
Grund haben, miteinander kompatibel zu sein, jemals Einigung erreichen?
Was geschieht, wenn einer die Definition des anderen nicht akzeptiert oder
sich zwei Akteur-Netzwerke über die Natur eines Dritten nicht einigen
können? Wie ist es möglich, dass manchmal Vereinbarungen zustande
kommen und diese Vereinbarungen sogar Bestand haben? Die Antwort auf
diese Fragen hat mit Konvergenz und Irreversibilisation zu tun. Bevor ich
jedoch diese Fragestellungen diskutiere, will ich zunächst die elementaren
Beziehungen zwischen Akteuren während des Übersetzungsprozesses
erläutern. 4
2
Die Übersetzung
24 1 Zur Diskussion der Übersetzung vgl. Callon (1976, 1980, 1986, 1989), Cal
lon/Law (1982), Latour (1984), Law (1986).
l
25 1 An anderer Stelle habe ich die Vermittler als Übersetzungs-Operatoren oder
Techniken des »Inter-esses« beschrieben.
324 1 MICHEL GALLON
Das Netzwerk
Die Natur der Beziehung zwischen Akteuren und ihren Netzwerken ist nie
endgültig geklärt. Vereinigen sich zwei Übersetzungsprozesse, generieren
sie einen dritten, der Gruppen zusammenbringen kann, die sonst getrennt
geblieben wären. Der Beobachter darf jedoch nicht die Position eines der
Akteur-Netzwerke übernehmen, denn Netzwerke werden aus der Aggrega
tion und Komposition aller relevanten, mehr oder weniger kompatiblen
Akteur-Netzwerke gebildet. Hinter der Heterogenität finden wir Textuali
sierungen, die manchmal übereinstimmen. Manchmal ist es möglich, Ver
bindungen herzustellen; in diesem Prozess müssen wir die Kommensurabi
lität suchen, nicht in den kognitiven Fähigkeiten der Akteure.
Konvergenz
Nachdem ich von der Übersetzung gesprochen habe, kann ich mich nun
der Dynamik von Netzwerken zuwenden, d.h. den komplexen Prozessen,
in welchen Akteure und ihre gesprächigen (manchmal indiskreten) Ver
mittler sich verflechten. In diesem Zusammenhang will ich von Konver
genz und Irreversibilität sprechen. Konvergenz misst das Ausmaß, in dem
der Übersetzungsprozess und seine Zirkulation von Vermittlern zu einer
Übereinstimmung führen. Gleichzeitig ist sie eine Methode zur Erkun
dung der Grenzen eines TÖN. Konvergenz hat zwei Dimensionen: Grup
pierung und Koordination.
Gruppierung
Beim elementaren Übersetzungsprozess werden zwei Objekte durch einen
Vermittler definiert. Der Bereich, in dem diese Definition angenommen
und ausgeführt wird, variiert jedoch. Manchmal entstehen Kontroversen,
Konflikte, und die Übersetzung wird als Verrat zurückgewiesen, wie das
italienische Wortspiel »traduuore - traditore« veranschaulicht. Wir finden
Arbeiter, die die von der Maschine für sie definierte Rolle nicht spielen
wollen; Verbraucher, die Zweifel an der Qualität und am Wert eines Pro
dukts haben; Wissenschaftler, die die Argumente ihrer Mitautoren nicht
akzeptieren; Schuldner, die die mit einem Darlehen verbundenen Bedin
gungen zurückweisen; Elektronen, die sich weigern, von einer Elektrode zu
1
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 325
einer anderen zu wandern. Des Weiteren finden wir Akteure, die den
Charakter ihrer Autorschaft leugnen oder neu interpretieren: »Ich sprach
nur über das Erinnerungsvermögen des Wassers, um Ihre Neugier zu
wecken. Ich meinte es nicht wirklich ernst.«
Uneinigkeiten variieren in ihrem Ausmaß. Sie können auf einen Ak
teur oder einen Vermittler fokussiert sein. Sie können zu offener Kontro
verse oder einfach zum Verzicht führen; sie können überwunden werden
oder auch nicht. Ein Übersetzungsprozess, der allgemein akzeptiert wird,
tendiert jedoch dazu, seine Geschichte abzulegen. Er wird offensichtlich
und damit zu einer Angelegenheit, der jeder zustimmen kann. Es gibt
Empathie, die perfekte Information, die ohne Schwierigkeit mit dem von
Austin beschriebenen unerschütterlichen Glück zirkuliert. Zwischen
diesen Extremen liegen all jene in der Spieltheorie ausgezeichnet beschrie
benen Situationen, in denen sich jeder Spieler an die Stelle des anderen
platziert; durch eine Serie von Wiederholungen kommen sie zu einem
möglichst stabilen Schluss. Ein erfolgreicher Übersetzungsprozess gene
riert auf diese Weise einen mit anderen geteilten Raum, Äquivalenz und
Kommensurabilität; er gruppiert. Ein erfolgloser Übersetzungsprozess
bedeutet jedoch, dass die Spieler nicht mehr länger in der Lage sind zu
kommunizieren. Durch einen Prozess der Nicht-Gruppierung rekonfigu
rieren sie sich selbst in separaten Räumen ohne gemeinsamen Nenner.
Also fließen Übersetzungen durch Vermittler durch den Raum und wer
den gleichzeitig von ihnen dort gehalten.26
Bei einem >perfekten Übersetzungsprozess< sprechen A und B in iden
tischer Weise über sich, über einander und über den Vermittler, der sie
verbindet. Es gibt totale Äquivalenz ohne jegliche Mehrdeutigkeit. Je weiter
man sich von einer solchen Übereinstimmung entfernt, desto größer
werden die Differenzen und Inkohärenzen. Die Isotropie weicht einem
Zustand voller Diskontinuitäten: Wir bewegen uns von der Harmonie zur
Polyphonie und schließlich zur Kakophonie.
Ein Netzwerk beginnt sich zu formen, sobald drei Akteure durch Ver
mittler zusammengefügt werden. Grundsätzlich gibt es zwei mögliche
Konfigu rationen:
26 1 Maschinen, menschliche Körper und Texte in ihrer Rolle als Vermittler sind
die Wurzel von Missverständnissen, Uneinigkeit und (erneuter) Versöhnung. Das
Telefon schafft einen gemeinsamen Raum, der ebenso Durkheims Religion wie den
Habitus Bourdieus integriert. Kernkraftanlagen generieren ebenso intensive Kon
flikte wie alles, was mit Menschenrechten zu tun hat.
326 1 MICHEL CALLON
Bei der ersten handelt es sich um Komplementarität, bei der die Beziehun
gen transitiv sind. Wenn A B übersetzt, welcher C übersetzt, dann über
setzt A auch C. Bei der zweiten handelt es sich um Substitutabilität, bei
welcher C gleichzeitig durch A und B übersetzt wird. Das Ausmaß der
Gruppierung hängt vom Erfolg der Übersetzungen ab - und im Falle von
Substitutabilität vom Ausmaß, in dem sie einander ähneln.
Dieselben zwei Konfigurationen verbinden sich, um längere Ketten von
Übersetzungen zu bilden; Netzwerke sind - wie komplex sie auch sein
mögen - aus diesen zwei Grundkonfigurationen aufgebaut.27 Wie kom
plex und weit reichend ein Netzwerk auch sein mag, wir können bestim
men- wenn auch unter Umständen nur qualitativ-, wie gut seine Grup
pierung funktioniert. Ein stark gruppiertes Netzwerk ist ein Netzwerk, in
dem die Übersetzungen erfolgreich und (im Falle von Substitutabilität) re
lativ ähnlich sind. Umgekehrt ist ein schwach gruppiertes Netzwerk eines,
in dem diese Konditionen nicht erfüllt sind.28
Koordination
Die Zuschreibung der Autorschaft ist ein wichtiger Teil des Übersetzungs
prozesses. Aber solche Zuschreibungen werden von mehr oder weniger
expliziten und stabilen Regeln oder Konventionen geprägt, die in früheren
Interaktionen produziert worden sind. Wie sehen diese aus?
Erstens gibt es Regeln über die Identität der Akteure. Ist A wirklich ein
Akteur? Hier hat die Angelegenheit mit den Vermittlern zu tun, die A zu
geschrieben werden können. Die Regeln, die diese Fragen betreffen, er
strecken sich von schriftlichen Gesetzen bis zu Sitten und Gebräuchen.
Zum Beispiel gibt es gesetzliche Regeln darüber, Produkte auf Unterneh
men zurückzuführen; es gibt Gesetze, die Erfindern das Recht auf Eigen
tum ihrer Erfindung versagen können29; des Weiteren gibt es ungeschrie
bene Konventionen, die jemanden, der ein Forschungsprogramm finan
ziert, daran hindern, die daraus hervorgehenden Publikationen mit zu un
terzeichnen.
Zweitens gibt es in vergleichbarer Weise Regeln und Konventionen da
rüber, bestimmten Akteuren Vermittler zuzuschreiben. Manche von diesen
sind komplex, strittig und nur mit Schwierigkeit durchsetzbar. Es gibt bei
spielsweise Unternehmen, die als Zivilpersonen auftreten und kommerzi
elle Warenzeichen verwenden, welche weder das Eigentumsrecht noch die
Vertragsfähigkeit besitzen, um zu fordern, dass der Einzelhändler die
Kundenzahlungen weitergibt. In diesem Fall sind die Mehrdeutigkeiten
enorm (Eymard-Duvernay 1989). Eine Wissenschaftlerin kann zwar einen
Artikel unterschreiben, aber wenn die Signaturen nicht in der richtigen
Reihenfolge sind, wenn das Datum, an dem der Artikel bei der Zeitschrift
eingegangen ist, nicht registriert ist, und wenn es keine Zitationspflicht
gibt, dann ist die Autorschaft der im Papier inskribierten Übersetzung
nicht gesichert.
Drittens gibt es Konventionen darüber, wer in wessen Namen sprechen
kann. Dies ist besonders offensichtlich in der Politik mit ihren vorge
schriebenen Prozeduren für das Ernennen von Repräsentanten - und auch
in der Industrie, wo es vertragliche und kollektive Vereinbarungen gibt, die
Verantwortungen und Arbeitskonditionen festschreiben. Solche Regeln
können jedoch auch in der Organisation des Marktes gefunden werden, wo
sie die Form von Preiskontrollen, von Methoden zur Regulierung des
durch Staatsmonopole festgelegten Preises und von informellen Netzwer
ken zur Weiterleitung von Angaben zur Reputation annehmen (Karpik
1989). Des Weiteren können sie in der Wissenschaft gefunden werden: Die
Fähigkeit eines Wissenschaftlers, einen Primaten höherer Ordnung oder
einen Menschen »zu übersetzen«, hängt von einer Reihe von Vorschriften
ab - einem Ethikkodex über zulässige Experimente.
29 1 Diese können dem Unternehmen zugeteilt werden, für das sie arbeiten.
328 1 MICHEL GALLON
30 1 Die Anwendung und in einem gewissen Maß die Entwicklung und Interpre
tation dieser Regeln hängt von Gruppen ab, die Antoine Hennion Mediatoren
nennt, welche daran arbeiten, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Ziele zu richten.
Sie können Menschen (Juristen, Notare, Rechtsanwälte, industrielle Grundstücks
makler), Texte oder technische Objekte sein. Beispielsweise leiten Konzerthallen die
Aufmerksamkeit des Publikums auf den Sänger und wissenschaftliche Zeitschriften
drucken die Namen der Autoren fett. Mediatoren liegen auf halbem Weg zwischen
Akteuren und Vermittlern. Sie ,reichen nicht nur weiter, oder ,senden,, denn sie
greifen auch ein. Die Zuordnung hört bei ihnen jedoch nicht auf. Mediatoren or
chestrieren die Anerkennung, die einen Akteur von der Menge trennt. Vgl. Hennion
(1989); Hennion/Meadel (1986).
31 1 Der Begriff der Übersetzungsregime ist in etwa den von Boltanski und The
venot beschriebenen »Naturen« vergleichbar. Die drei Hauptkategorien, die ich un
terschieden habe, umspannen teilweise ihre sechs Axiome, die eine Skala definie
ren. Es gibt jedoch mindestens drei wesentliche Unterschiede; erstens sehe ich kei
nen Grund, eine Apriori-Liste der verschiedenen möglichen Prozesse bereitzustel
len; zweitens sehe ich keine Notwendigkeit, ideale Typen zu suchen - es kann sein,
dass eine Übersetzung mehr oder weniger homogen und wandelbar ist; und da drit
tens die Übersetzung allgemeiner als das Regime selbst ist, vermag sie zu erklären,
wie verschiedene Regime miteinander artikuliert sind. Ich brauche weder einen
,Kunstgriff, noch ein ,Rauschen<, um die Konstitution von TÖNs zu verstehen. Ich
sollte noch hinzufügen, dass das Konzept der Übersetzungsregime uns gestattet, die
drei Pole zu differenzieren. Jeder wird von bestimmten Regulierungen und seinem
eigenen Set an Vermittlern geformt.
32 1 Die Unterscheidung entspricht im Allgemeinen Thevenots Begriff »les in
vestissements de forme« (1985).
,p
Konvergenz
Ich werde den Begriff »Konvergenz« verwenden, um mich auf eine Kom
bination von Gruppierung und Koordination zu beziehen. Je höher der
Grad der Gruppierung und Koordination eines Netzwerkes ist, desto mehr
arbeiten seine Akteure zusammen und desto weniger wird ihr eigentlicher
Status als Akteure in Zweifel gezogen. Dies bedeutet nicht, dass jeder das
selbe macht, denn Netzwerke schließen normalerweise eine ganze Palette
sich ergänzender Akteure - zum Beispiel Wissenschaftler, Technologen,
Unternehmer, Verkäufer und Kunden - ein. Eher ist dies ein Hinweis auf
die Art und Weise, in der die Aktivitäten von Akteuren trotz deren Hetero
genität zusammenpassen. Es weist auch darauf hin, wie jeder Akteur in
nerhalb eines konvergenten Netzwerkes in der Lage ist, die Kompetenzen
dieses Netzwerkes zu identifizieren und zu mobilisieren, ohne in kostspie
lige Adaptations-, Übersetzungs- oder Entschlüsselungsprozesse verwickelt
zu werden. In einem konvergenten Netzwerk weiß der Verkäufer sofort -
wenn er mit einem verärgerten Kunden konfrontiert wird -, welchen Inge
nieur er zu rufen und wie er das Problem zu beschreiben hat, damit der
Ingenieur daran arbeiten kann. Zudem weiß der Verkäufer, wie er mit ei
ner passend umformulierten Version des Problems auf einen Grundlagen
forscher zuzugehen hat. Die Rückl<0ppelung ist gleichermaßen leicht:
330 1 MICHEL CALLON
Grenzen
ner Konvergenz berechnen? Wie kann man ihr einen numerischen Wert
geben? Wie kann man in der Praxis die Grenze zwischen Innen und Au
ßen ziehen?
Diese Fragen hängen von den Methoden zur Identifikation und Be
schreibung der Übersetzungsprozesse oder der Vermittler ab. Da jeder
Vermittler in Worte oder Texte gefasst werden kann, müssen wir uns prak
tisch mit der Analyse der mehr oder weniger redundanten Textkörper be
fassen, die die Akteure, ihre Identitäten und ihre Beziehungen definieren.
In der Praxis ist die entsprechende Messmethode äußerst einfach (obwohl
sie im Hinblick auf eine Computerunterstützung auch anspruchsvoll ist).
Man muss lediglich zählen, wie oft ein bestimmter Übersetzungsprozess
6
in den relevanten Textkörpern oder Textualisierungen inskribiert ist.3
Ein anderes wichtiges Element zur Festlegung von Grenzen betrifft die
Kompatibilität von Übersetzungsregimes. Dies ist nur eine Dimension der
Konvergenz. Es gibt beispielsweise Regeln und Bestimmungen, die den
wissenschaftlichen vom technischen Pol abgrenzen und ihn teilweise au
tonom machen, aber gleichzeitig die beiden Pole in spezifischer Weise ver
binden. Sie beinhalten z.B. einen Veröffentlichungsverzug von Ergebnis
sen, die auf von der Industrie finanzierter Forschung beruhen, das Prinzip
der Nicht-Akzeptanz publizierter Ergebnisse sowie Bestimmungen über
die Patentfähigkeit bestimmter, mittels Gentechnik produzierter Organis
men.
Schließlich ist es möglich, zwischen langen und kurzen Netzwerken zu
unterscheiden. Lange Netzwerke schließen all die oben beschriebenen Pole
und Vermittler ein; sie erstrecken sich von der wissenschaftlichen Grund
lagenforschung bis in die >auf Wissenschaft basierenden< Bereiche der In
dustrie. Kurze Netzwerke reichen nicht so weit. Obschon sie dann und
wann auf industrielle Forschung zurückgreifen können, sind solche Ver
bindungen weder stabil noch systematisch. Kurze Netzwerke sind somit
um den technischen und den Marktpol organisiert. Der Unterschied liegt
in der Länge des Umwegs, der zu bewältigen ist, um einen Markt zu schaf
fen oder zu entwickeln, obwohl beide natürlich mit der Koordinierung von
Aktivität zu tun haben (vgl. Gaffard 1989).
Irreversibilität
Ich behaupte, dass der Grad der Irreversibilität einer Übersetzung von zwei
Dingen abhängt:
36 1 Die »Co-word«-Analyse benutzt diese Art von Berechnung. Vgl. Callon et al.
(1986).
332 1 MICHEL GALLON
Definiert man die Irreversibilität einer Übersetzung auf diese Weise, wird
sie zu einem relativen Sachverhalt, der nur dann gemessen werden kann,
wenn man ihn einem Test unterzieht. Sie ist auch nie endgültig abge
schlossen: Alle Übersetzungen sind grundsätzlich reversibel, auch wenn
sie als gesichert erscheinen.
Wie kann eine Übersetzung anhaltenden und hartnäckigen Angriffen
konkurrierender Übersetzungsvorgänge standhalten? Wie kann sie solche
Herausforderungen fernhalten? Die Antwort hängt von ihrer Dauerhaftig
keit und Robustheit ab. Wiederum sind dies relative Eigenschaften. Man
kann sich leicht vorstellen, dass es ein Spektrum an materieller Wider
standsfähigkeit gibt, das sich von in oberflächliches Kantinengespräch ein
gebetteten Inskriptionen über Gesetze und rechtliche Vorschriften bis zu
den Inskriptionen erstreckt, die in den Beton einer Nuklearanlage geätzt
sind. Man kann sich gleichermaßen leicht vorstellen, dass die Robustheit
davon abhängen könnte, wie sehr die Identitäten der in der Übersetzung
inskribierten Akteure selbst widerstandsfähig gegen Erosion sind. Dies be
deutet jedoch nur, das Problem zu verlagern. Wie wir gesehen haben, sind
Akteure konstant von Unstimmigkeiten und internen Krisen bedrohte hy
bride Gruppen. Somit müssen wir vorsichtig sein, denn keiner Strategie ist
der Sieg sicher. Insgesamt jedoch gilt, dass die Irreversibilität in dem Maß
zunimmt, in dem jedes Element, Vermittler und Übersetzer in ein Bündel
wechselseitiger Beziehungen inskribiert ist. In derart fest gekoppelten
Netzwerken führt jeder Versuch, ein Element durch Umdefinition zu mo
difizieren, zu einem allgemeinen Prozess der Umübersetzung. Dement
sprechend wage ich den folgenden Vorschlag: Je zahlreicher und heteroge
ner die wechselseitigen Verbindungen, desto größer der Grad der Netz
werkkoordination und desto höher die Wahrscheinlichkeit eines erfolgrei
chen Widerstandes gegenüber alternativen Übersetzungen.
Die Dauerhaftigkeit und Robustheit einer Übersetzung sagt nichts da
rüber aus, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, zukünftige Übersetzungen
zu formen. Wie hoch ist die Chance, dass ein robuster wissenschaftlicher
Text, der Angriffen standhält und einen monoklonalen Antikörper über
setzt, zwangsläufig zu bestimmten Forschungsentwicklungen und not
wendigen industriellen Strategien führt? Bis zu welchem Ausmaß machen
ein Mikro-Computer und seine Software mit ihrer Hierarchie von Proble
men und Rollen für die Benutzer das Verhalten der Letzteren tatsächlich
voraussehbar? Wir können sagen, dass eine Übersetzung irreversibel ist,
wenn sie wahrscheinlich nach Ersatz oder nach Übersetzungsvorgängen
suchen wird, die ihr Leben zu verlängern oder ihren Umfang zu erweitern
.p
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 333
37 1 Es gibt viele Beispiele für solche Standardisierungen, die alle Klassen von
möglichen Gruppen verbinden: (a) im Fall von hauptsächlich aus Menschen beste
henden Gruppen kann man - Riveline (1983) und Oury (1983) folgend - von Ma-
334 ! MICHEL CALLON
er und quantifizierter diese Standards sind, desto eher wird eine erfolgrei
che Übersetzung irreversibel. Ein Netzwerk, das sich selbst irreversibel
macht, ist schwer mit Normen befrachtet; es ist ein Netzwerk, das in ein
kodifiziertes Messwesen und Informationssystem geglitten ist.
Es fällt nicht schwer, die Beschreibung eines solchen Netzwerkes zu
mathematisieren, da jedes Element durch seine Spezifikationen quantitativ
mit anderen Elementen verbunden ist. Beispielsweise ist es möglich, die
Leistung eines technischen Objekts (Geschwindigkeit, Speicherfähigkeit,
Leistung eines Mikroprozessors), den Typ der Benutzer und den Preis, den
sie zu zahlen bereit sind, zu verbinden. 38 Mit der Irreversibilisierung einer
Übersetzung und ihrer Normalisierung betreten wir eine den Ökonomen
vertraute Welt (Akrich 1989b). Tatsächlich kann man sagen, dass es teuer
zu stehen käme, bestimmte Übersetzungen anzufechten. Dies bedeutet,
dass zur Einführung anderer Verbindungen und neuer Übersetzungen zu
erst all die bereits existierenden durch Mobilisieren und Einbeziehen neuer
Allianzen aufzulösen sind. In Übereinstimmung damit möchte ich be
haupten, dass die Ökonomie nicht mit per Allokation, sondern eher mit der
Lokalisierung oder >Lokation< von knappen Ressourcen beginnt.39
nagementparametem sprechen, die Normen setzen und die Agenten und ihre Be
ziehungen regulieren. Der Verkäufer muss beispielsweise jeden Monat mehr als 20
potentielle Kunden kontaktieren (Minimalschwelle); der Betriebsingenieur sollte
nicht mehr als X Ausschüsse (Maximalschwelle) haben; die Größe der Lohntüte ei
nes freiberuflichen Journalisten (Maß für die relative Schätzung des Angestellten
durch den Unternehmer) verhält sich proportional zur Anzahl von geschriebenen
Zeilen. (b) Felgende Beispiele schließen Normen zwischen Nicht-Menschen ein: das
Subsystem, das sich selbst ausschaltet, wenn der Strom einen bestimmten Wert
übersteigt; die Unmöglichkeit, ein Gerät einzustecken, sofern Stecker und Steckdose
nicht zueinander passen. (c) Normen, welche die Beziehungen zwischen wissen
schaftlichen Texten organisieren, schließen die Reproduktion der Konventionen und
Gebräuche der Zeitschrift auf jeder Seite eines Artikels und die Standardisierung
von Referenzen und Diagrammen ein.
38 1 Wenn sie beispielsweise eine bestimmte Leistungsfähigkeit erreichen kön
nen, dann weitet sich der Desktop-Publishing-Markt aus. Solche Korrelationen kön
nen den ganzen oder einen Teil des TÖN und der verschiedenen Elemente umfas
sen, die es ausmachen.
39 1 Somit sind Nicht-Linearität und Pfadabhängigkeit wesentlich für die Dyna
mik der Wirtschaft.
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 335
Schlussfolgerung
Das Paradox besteht darin, dass die Akteure keine Wahlmöglichkeit haben,
da sie vom Netzwerk gesteuert werden, welches sie in ihren Positionen
festhält. Umgekehrt sind sie nur dann in einer Position frei handeln zu
können, wenn die Information unvollkommen und asymmetrisch ist.4'
Zwischen diesen beiden Extremen gibt es viele Zwischenstufen - wie
zum Beispiel Verfahrensrationalität oder die gegenseitige Erwartung der
Spieltheorie (Thevenot 1989). Dieser Ansatz verdient es, weiter entwickelt
zu werden. Sofern er sich als gut begründet erweist, eröffnet er einen ganz
neuen Bereich in den Sozialwissenschaften. Er legt nahe, dass es keine
Theorie oder kein Muster des Akteurs gibt, auch nicht im Plural. Der Ak
teur hat eine variable Geometrie und ist untrennbar mit den Netzwerken
verbunden, die ihn definieren und die er zusammen mit anderen zu defi
nieren hilft. Deswegen wird Geschichte zu einem notwendigen Teil der
Analyse.
Einige werden sagen, dass ich zur Beschreibung von TÖNs und deren
Asymmetrien zwar eine Methode angeboten habe, jedoch kein theoreti
sches Gerüst für deren Erklärung. Aber der Gegensatz zwischen Beschrei
bung und Erklärung wird größtenteils von der Methode unterhöhlt, die ich
vorgeschlagen habe. Je konvergenter und weniger reversibel ein Netzwerk
ist, desto mehr geraten die von den Vermittlern gelieferten Beschreibungen
zu Erklärungen oder Voraussagen. Das Verlangen nach Erklärung geht da
von aus, dass eine Netzwerkevolution mit Hilfe einer kleinen Anzahl von
Variablen oder Konzepten beschrieben werden kann. Dies setzt aber eine
sehr starke Annahme über die Form des Netzwerkes und der Konvergenz
seiner Übersetzungen voraus. In einem stark konvergenten und irreversi
bel gemachten Netzwerk sind die Akteure völlig identifizierbar und ihr
Verhalten ist bekannt und voraussehbar. Das Ganze arbeitet und entwickelt
sich in einer geregelten Form als Funktion einiger einfacher Gesetze und
gut gewählter Informationen. In einem divergenten und reversiblen Netz
werk muss die Beschreibung alle Details abdecken, da jedes Detail zählt.
Dies ist erforderlich, weil sich jeder Akteur darum bemüht, die anderen zu
übersetzen; diese Übersetzungen fluktuieren, ohne jemals zu stabilisieren.
Jeder, der unter solchen Umständen Erklärungen sucht, lernt jedoch nichts
über die Mechanismen, durch die Irreversibilität geschaffen wird. Jene, die
bei der Suche nach Gesetzen Regelmäßigkeiten der qualitativen oder stra
tegischen Analyse entgegenstellen, übersehen die Art und Weise, wie eben
40 1 Die Ökonomen würden sagen, dass moralische Risiken und ungünstige Se
lektionen unwahrscheinlich sind.
411 Dupuy (1989) entwickelt ein ähnliches Argument. Dies könnte anders for
muliert folgendermaßen lauten: Die Existenz des neoklassischen Markts nimmt die
Existenz einer Serie von Gruppierungen (vor allem Verbraucher/Kunden) an, wel
che die Akteure vorprogrammieren und in der Praxis Marktstudien ermöglichen.
338 1 MICHEL GALLON
Netzwerke nicht in den Akteuren enthalten sind, sondern von ihnen pro
duziert werden. Sie ignorieren die Art und Weise, wie sich Netzwerke nur
an bestimmten Stellen und zu bestimmten Zeiten stabilisieren.
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·f
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 339
JOHN LAW
»Ich sagte: ,Ich glaube, sie könnten auch das sein, was man ,hoffnungs
volle Monster< nennt.<
Sie antwortete: > Was sind hoffnungsvolle Monster?<
Ich sagte: ,Sie sind vielleicht etwas vor ihrer Zeit geboren, und man weiß
noch nicht, ob die Umwelt schon bereitfür sie ist.«< (Mosley 1991: 71)
Einleitung
nung erkämpft. Da wir alle auf dem Markt als frei und gleich betrachtet
werden, fanden »wir« es schwierig, »Klassen« zu erkennen. Genauso ka
men Ethnien nur langsam ins Blickfeld, vielleicht, weil die Hoffnung auf
Untermauerung durch so etwas wie die >Logik der Klasse< bestand. Dieje
nigen, die den Begriff der Klasse ernst nahmen - und die anderen sicher
lich auch-, empfanden es als schwierig, die Genderproblematik zu erken
I nen. An dem Punkt, an dem >wir< uns jetzt befinden, scheint der Gender
I
begriff zum Teil - aber auch nur zum Teil - ins Zentrum zu rücken; es
gibt noch vieles, das über Gender nicht gesagt ist, genauso wie über Alter
oder Behinderung.
Es geschieht etwa Folgendes: Zuerst verfügen die Enteigneten über gar
keine Stimme; wenn sie dann beginnen, eine Stimme zu bilden, werden
sie verspottet, um anschließend (obwohl ich mir der Reihenfolge nicht
ganz sicher bin) gesagt zu bekommen, dass sie sich irren oder dass es sich
bei gerade diesem Sachverhalt um etwas handelt, das sowieso schon jeder
wusste. Dann sagt man ihnen, dass sie eine Gefahr darstellen, und endlich
geschieht es vielleicht- in einer sehr eingeschränkten Art-, dass man ihre
Stimmen hört und ernst nimmt. Der ganze Weg besteht aus einem einzi
gen Kampf.
Es gibt verschiedene Gründe dafür, einen Sammelband über Technik
und Macht mit einer solchen Diskussion über die Geburt des Leidens und
die Entdeckung der Verteilungen in der Soziologie einzuleiten. Der zwin
gendste erwächst aus der Kluft zwischen dem kritischen soziologischen
Interesse an der Verteilung einerseits und einem Großteil der wichtigen
neuen Veröffentlichungen über Wissenschaft und Technik andererseits.
Obwohl diese Kluft leicht zu charakterisieren ist, finde ich es schwierig,
dies treffend zu tun. In einer Version kommt sie der gegenseitigen Be
schuldigung der Kurzsichtigkeit von Soziologie und STS (wie ich im Weite
ren aus Gründen der Knappheit »Science, Technology and Society« benen
nen will) gleich.
Ich habe einen Fuß in beiden Lagern; deshalb möchte ich in aller Kürze
sagen, dass sogar viele der besten Arbeiten von STS sich gegenüber den
großen Verteilungen und Leiden, die von der Soziologie ausfindig ge
macht, fokussiert und mehr oder weniger zögernd beschrieben wurden, als
blind erwiesen haben. Es gibt zwar Arbeiten - vornehmlich feministische
oder solche aus der Arbeitsprozesstradition -, auf die dies nicht zutrifft.
Aber ein Großteil der STS wurde - zumindest bis jetzt - nicht von einem
Interesse an der Enteignung getrieben. Die Klage, viele Autoren im Bereich
STS hätten wenig über Klasse, Rasse oder Gender zu sagen,' wird von
einer Reihe politisch engagierter Kritiker detaillierter vorgebracht. Wie ich
Epistemologie ist die »Theorie der Methode oder der Gründe des Wis
sens«.2 Sie sagt manchmal auf deskriptive, häufiger auf präskriptive
Weise etwas darüber aus, was wir wissen können und wie wir Wissen
sammeln können. Ursprünglich stellte die Epistemologie einen Zweig der
Philosophie dar, wurde jedoch in den 196oer Jahren von Historikern und
Soziologen mit dem Argument für sich besetzt, die Methode oder Gründe
des Wissens seien nicht invariant, sondern sie variierten als Funktion des
sozialen Kontextes. Beispielsweise stellte sich heraus, dass wissenschaftli
ches Wissen im Laufe der Zeit erheblichen Variationen oder gar radikalen
Veränderungen ausgesetzt war: Dies gibt zumindest Thomas Kuhn in
seinem Buch »The Structure of Scienitfic Revolutions« (1970) an - und er
war bei weitem nicht der Einzige.
Lange vor der gegenwärtigen Debatte über die postmoderne Kondition
provozierten die relativistischen Obertöne dieser Annahme einigen Auf
ruhr. Im Besonderen veranlasste sie einige dazu, die ihrer Meinung nach
bestehenden wissenschaftlichen Standards zu verteidigen. Falls man Wis
sen als Funktion des sozialen Kontexts betrachtete (so gaben d1ese Kritiker
an), wäre Irrationalität die Folge: Es bestünde keine Möglichkeit der Unter
scheidung zwischen Wahrheit und Macht mehr.3 Dies war der springen
de Punkt beim Angriff auf den epistemologischen Relativismus, der zu
nächst von den Philosophen - einige von ihnen Flüchtlinge des National
sozialismus oder Stalinismus, die die Wissenschaft vor der Politik schützen
wollten - benannt wurde. Danach wurde dieser Punkt in einer zunächst
überraschend erscheinenden Kehrtwende von politischen Radikalen ange
führt, zunächst von Marxisten, dann - in durchschlagenderer Weise - von
Feministinnen. Vereinfacht ausgedrückt, plädierten die (radikalen) Kritiker
für eine >Standpunkt-Epistemologie<4, die besagt, dass - obwohl die von
den Philosophen verteidigte >wissenschaftliche Methode< tatsächlich feh
lerhaft sei - dennoch bestimmte soziale Gruppen existierten (die Arbeiter
klasse, die Kommunistische Partei, Frauen, Feministinnen, lesbische
Feministinnen), deren Erfahrungen und/oder Methoden des Wissens aus
Gründen des sozialen Kontextes auf einer stabileren Grundlage stehen als
die der Bourgeoisie oder die der genderspezifischen Wissenschaft.
In der einen oder anderen Version haben sich die Argumente zwei
Jahrzehnte lang erhalten, obwohl sie im Detail - nicht in der hauptsächli
chen Form - Veränderungen unterworfen waren. Zum Beispiel erfolgen
»Man hat mich manchmal einen Nazi genannt; manchmal wurden auch Parallelen
zwischen der sozialen Konstruktion von Wissenschaft und der Nazi-Wissenschaft
gezogen. Ich habe eine Weile gebraucht, um herauszufinden, wovon die Leute
überhaupt sprechen. Wenn man die Perspektive einnimmt, in der Faschismus eine
Art Situationsethik und eine von Opportunismus oder gestörter Wahrnehmung der
Wissenschaft und Natur geprägte Neudefinitionen der jeweiligen Situation erfor
dert, erhält jeder Versuch der Situationsrelativierung moralische Bedrohlichkeit. Der
Grund dafür ist, dass ein Gegenmittel zur faschistischen Ideologie in der Bestäti
gung des vorrangigen Wertes menschlichen Lebens besteht, eines universellen
Wertes, der nicht von den durch örtlich vorherrschenden Rassen-und Genozid-Ideo
logien gespeisten Monstrositäten beeinträchtigt werden kann.« (Star 1988: 202)
Wie Rorty vertritt Star die Auffassung, dass die Befürwortung eines epis
temologischen Realismus nicht bedeutet, dass wir auch unser Interesse an
richtigen Wegen zur Erlangung von Wissen über die Welt oder unsere
politischen oder ethischen Verpflichtungen aufgeben müssen (zweiter Teil
des Arguments). Wenn ich mich zur Vielstimmigkeit und zum Relativis
mus bekenne, impliziert dies weder die Verpflichtung zu Unmoral und
Opportunismus, noch führt es notwendigerweise zur Gleichgültigkeit
gegenüber Verteilung. Vielmehr leitet es uns zu einer wichtigen Form
intellektueller Vorsicht an: zur Wahrnehmung, dass alles Wissen geformt
und abhängig ist und in einer anderen Welt auch eine andere Form an
nehmen könnte (der positive Punkt der Argumentation). Wenn uns also
jemand von einer Form der Verteilung berichtet, die unumgänglich und
notwendigerweise so sein muss, können wir dieser Information Glauben
schenken oder nicht. Mit Sicherheit werden wir uns daran orientieren, dass
das hier so >natürlich< Erscheinende in einer anderen Welt anders sein
könnte. Wir werden auf diese Ordnung misstrauisch reagieren und statt
dessen fragen, weshalb es so ist, wie es ist für diese Betrachter (uns inbe
griffen), die uns sagen, dass es so ist.8
Mit ihrem Interesse an der Verteilung kann die Soziologie von den
Kämpfen der STS sowie von den parallelen Debatten über Überzeugung
und Wahrheit in der Postmoderne folgende Lektion lernen: sich vor Abso
lutismus - auch dem eigenen - wie auch vor dem eigenen Anteil innerhalb
der Verteilung zu hüten und sich zu vergegenwärtigen, dass keine Not
wendigkeit besteht, die unmögliche Aufgabe zu versuchen, einen Absolu
tismus durch den anderen zu ersetzen. Wie Star (1991a) verdeutlicht, ist es
möglich, Relativismus, Strenge, Moralität und Aktivismus zu verbinden.
Alles zusammengenommen klingt entschieden nach einem Versuch der
STS-Perspektive, der eigenen Großmutter lehren zu wollen, wie man
postmoderne Eier ausschlürft. Aber es gibt ja bekanntlich Eier und Eier:
Die Soziologie weiß vielleicht etwas über Klasse oder Gender, aber wie viel
weiß sie über die systematische, praktische Abgrenzung zu anderen Spezi
es - über den Speziezismus? Wie viel weiß sie von Maschinen - und wie
viel hat sie sich bisher um sie gekümmert?
>bloß Technischen< andererseits. Wie erkennbar ist, halte ich diese Unter
scheidung nicht für besonders glücklich gewählt; starke Obertöne von C.P.
Snows zu Recht berühmter »Zwei-Kulturen«-Diagnose schwingen mit.
Tatsächlich halte ich sie für eine Art von Speziezismus. STS und Teile der
Technikgeschichte - sowie auch Teile der sozialen Welt selbst - haben
jedoch Wege gefunden, diese Unterscheidung zu umgehen. Wenn sich die
Soziologen STS genauer anschauen würden, könnten sie meiner Meinung
nach einen Weg finden, in einem Atemzug über das-Soziale-und-das
Technische zu sprechen.
Betrachten wir z.B. das Werk des Technikhistorikers Thomas Hughes.
Er hat in einem meisterhaften Werk (1983) die Entwicklung der Erzeu
gung, Übertragung und Verteilung elektrischen Stroms in verschiedenen
Ländern von den Anfängen in den 188oer bis in die 193oer Jahre verfolgt.
Hughes ist kein Soziologe - tatsächlich neigt er dazu, sich in seinen knap
pen soziologischen Referenzen auf funktionalistische Quellen zu beziehen
(was sich als nicht sehr hilfreich erweist).'5 Dennoch besteht sein Hand
werk als Historiker darin, die Methode und narrative Form seiner Studie
zu organisieren; sein Handwerk führt ihn auch dazu, Wirtschaft, Politik,
Technik, angewandte wissenschaftliche Forschung und verschiedene
Aspekte sozialen Wandels gleichermaßen zu umfassen.
Hughes' Argumentation zufolge ist es unmöglich, das Wachstum und
die Entwicklung des Netzwerkes der Elektrizität zu verstehen, wenn man
kein Verständnis für die Arbeit der so genannten »System-Erbauer« auf
bringt. Ebenso könne man deren Arbeit nicht verstehen - Hughes denkt
dabei an Menschen wie Thomas Edison-, wenn man ihre Auffassung von
Politik, Technik und den restlichen Elementen als integriertes Ganzes
nicht nachvollziehen kann. Beispielsweise förderte Edison die angewandte
wissenschaftliche Forschung- an der er auch teilnahm- zur Entwicklung
einer brauchbaren elektrischen Glühbirne. Diese Forschung war eng mit
einer Reihe wirtschaftlicher Kalkulationen verbunden, die gleichzeitig
technischen Charakter hatten: solche bezüglich der Kosten dafür, Kabel zu
verlegen, Elektrizität einer vorgegebenen Voltzahl als eine Funktion der
Entfernung und des elektrischen Widerstandes durch diese Kabel zu leiten,
Kraftwerke zu bauen und zu betreiben, die in Städten in der Nähe der von
ihnen bedienten Nachbarschaften situiert waren (im ersten Fall in New
York). Gleichzeitig betrachtete er die Sache auch politisch: Um Kraftwerke
zu bauen, brauchte er die Zustimmung von Stadträten, die - zumindest in
einigen Fällen - enge Verbindungen zur Gasindustrie der Stadt pflegten.
So versuchte er, Einfluss auf die Politiker zu nehmen, um Lizenznehmer
zu finden. Bei einer Gelegenheit brachte er sie zu seinem Forschungslabo
ratorium in New Jersey, um sie mit der blendenden Demonstration elektri
scher Lichter auf dem Gelände zu beeindrucken.
Wichtiger als die Einzelheiten ist hier das allgemeine Argument, dass
es sich bei Edison um einen »heterogenen Ingenieur« (vgl. Law 1987)
1 353
16 1 Eine Rezension dieser Arbeit ist zu finden in Clegg/Wilson (1991), vgl. auch
MacKenzie (1984).
17 1 Callon (1986) bezieht sich darauf als das Prinzip der generalisierten Symme
trie.
' 1
1
·1 1, 1
'
354 J JOHN LAW
,
,i 1
sondern eher einer soziotechnischen Ordnung entspricht. Was sozial zu sein
scheint, ist zumindest teilweise technisch. Was wir für gewöhnlich tech
nisch nennen, erweist sich als teilweise sozial. Praktisch ist nichts weder
rein technisch noch rein sozial. Dasselbe trifft auf das Wirtschaftliche, das
Politische, das Wissenschaftliche und alles Übrige zu.
1 i: Obwohl Hughes' Ausführungen stellenweise problematisch sind - was
ich in Kürze näher ausführen werde -, erscheint mir seine Enthüllung des
Soziotechnischen, der Unreinheit des >sozialen Klebers<, als eine Entde
ckung von höchster Wichtigkeit.18 Wo auch immer wir an der Oberfläche
des Sozialen kratzen, finden wir, dass es aus Netzwerken heterogener
Materialien besteht; aus mir unerfindlichen Gründen liegt diese Idee
jedoch den meisten Formen soziologischer Praxis fern und hat auch bisher
noch nicht Eingang in die soziologische Vorstellungswelt gefunden. Das ist
ein Fehler.
Wie sollen die unter der sozialen Oberfläche liegenden Stränge identifi
ziert werden? Statt ausdrücklich eine Methode zu benennen, benutzt
Hughes sie einfach, indem er Edison und den anderen Systemerbauern
folgt - wohin sie auch gehen. Diese Methode ist insofern brillant - wie ich
unfairerweise feststellen könnte -, als Edison bereits alle Arbeit für
Hughes erledigt zu haben scheint. Diese Behauptung stimmt aber so nicht;
Hughes hat ein Jahrzehnt damit verbracht, Edisons Spur zu ,verfolgen.
Dennoch wies Edison ihn darauf hin, wo er suchen sollte, welche hetero
genen Materialien sich mit anderen verbinden und auf welche Weise sie
eine Verbindung eingehen würden. Hughes' Methode entspricht damit der
von Latour beschriebenen und befürworteten: »Folge den Akteuren« (vgl.
Latour 1987).
In mancherlei Hinsicht erweist sich diese Methode als gut; sie erzeugt
Überraschungen und vergegenwärtigt uns das Geheimnisvolle, da sie die
>natürlichen< Kategorien demontiert - womit ich solche Unterscheidungen
und Verteilungen meine, die für die Soziologen >natürlich< sind. Wie
jedoch nicht nur ein Kritiker beobachtete, hat auch diese Strategie des
»Folge den Akteuren« ihren Preis. Dieser besteht hier in der wachsenden
Schwierigkeit, eine kritische Distanz zu den Autoren aufrechtzuerhalten: Wir
nehmen ihre Kategorien an, sehen die Welt durch ihre Augen, überneh
men die Perspektive derer, die wir erforschen.'9
Durch internationale Vergleiche baut Hughes kritische Distanz in seine
Ausführungen ein; die Unterschiede in der frühen Geschichte amerikani
scher, deutscher und britischer Stromproduzenten sind auch tatsächlich
lehrreich. Fehlt eine solche Distanz, zieht das im Allgemeinen eine Reihe
18 1 Diese Argumentation wurde von Michel Callon und Bruno Latour aufge
stellt. Vgl. z.B. Callon/Latour (1981) und Latour (1986).
19 1 Natürlich reduzieren wir niemals >wirklich< unsere Kategorien auf die unse
rer Forschungsobjekte.
r
f.
MONSTER, MASCHINEN UND SDZIDTECHNISCHE BEZIEHUNGEN J 355
20 1 Und hier liegt auch die Basis für Latours Einwand gegen den Begriff der
Macht - dass er Allianzen, Arbeit und Gewalt tilgt, die die Mächtigen konstituieren.
356 1 JOHN LAW
Ich behaupte also, dass die den Akteuren folgenden Vertreter von STS
sich normalerweise nicht einer ungeprüften und heroisierenden Theorie
des Akteurseins schuldig machen. Helden werden aus heterogenen Netz
werken aufgebaut; dennoch: Wenn sie (wir) Akteure in ihre Komponenten
und Strategien zerlegen, ergibt sich eine Art Probenproblem, das daher
rührt, dass wir dafür gern Helden, große Männer, wichtige Organisationen
oder wesentliche Projekte auswählen. Warum geschieht das und welche
Konsequenzen zieht dies nach sich?
Es gibt zwei Hauptgründe dafür, sich die Großen und Mächtigen näher
anzusehen. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Art von Entlarvung:
Wenn wir sehen, dass diese Großen - wie wir - abends nicht einschlafen
können und am Morgen - wie wir - ihre Socken anziehen müssen, dann
erkennen wir (so besagt zumindest die Argumentation), dass sie doch nicht
so artverschieden von uns selbst sind: Sie sind zwar größer, jedoch nicht
besser, besonders oder ausgezeichnet. Dies entspricht Hemingways Teil
des berühmten Austausches mit F. Scott Fitzgerald:
(1 .
konzentrieren, ist der folgende: Da sie größer und mächtiger sind, beein
flussen ihre Arten der Organisation und Ordnung das heterogene Netz
werk des Sozialen in sehr viel größerem Ausmaß als die Strategien der
Erfolglosen. Wenn wir also die moderne Welt verstehen wollen, genügt es
'· nicht, das Versagen zu betrachten; stattdessen sollte man sich die Erfolge
vor Augen führen - oder vielleicht die Fälle heroischen Scheiterns (vgl.
Callon 1980; Law/Callon 1988 und Latour 1991b).
Beide dieser Gründe machen Sinn, wenigstens innerhalb gewisser
Grenzen - wenn auch nur innerhalb gewisser Grenzen. Obwohl die vor
1 1
dringliche Aufgabe in der Dekonstruktion der Helden bestehen soll, kann
I['
man sich des Gefühls nicht erwehren, dass STS die Helden letztlich doch
interessanter findet als die Normalsterblichen. Es stehen aber noch ernst
haftere Fragen auf dem Spiel. Wenn wir nämlich immer nur die Mächtigen
- oder die, die mit einiger Aussicht auf Erfolg nach der Macht streben -
auswählen, besteht eine echte Chance, dass wir der Gefahr des Manageria
lismus erliegen. Es wird in unseren Analysen von aktiven, manipulativen
II1 ';::
MONSTER, MASCHINEN UND SOZIOTECHNISCHE BEZIEHUNGEN 1 357
Akteuren nur so wimmeln, die gute Chancen haben, spontan zur Spitze
der Organisation und zum Erfolg aufzusteigen, und die - wie Pasteur -
Aussichten haben, die Welt zu verändern, in der sie handeln. Die Frage
besteht dann nicht mehr im heterogenen Engineering, weil wir alle hetero
gene Ingenieure sind, sondern in den Strategien, Ressourcen und dem
Charakter des heterogenen Engineering. Im Großen und Ganzen erwarten
Manager den Sieg, womit sie auch - im Großen und Ganzen - Recht ha
ben. Im Großen und Ganzen managen sie - wie Star nahe legt - ihre
instabilen Netzwerke der Heterogenität in einer Art, die normativen Kon
zeptionen von Kohäsion und Konsistenz entspricht. Allerdings sind sie -
wie Star weiter ausführt - von vielen anderen Akteuren umgeben, auf die
die genannten Attribute nicht oder nur teilweise zutreffen: Sie verfügen
nur über wenige Ressourcen, ihre Strategien sind begrenzt, ihre Erwartun
gen herabgeschraubt. Die Folgen könnten in Fragmentierung, Leid und
Schweigen bestehen - Möglichkeiten, die sich nicht sehr gut mit dem
Managerialismus vereinbaren lassen.
Nun ein Argument zur Heterogenität - diesmal geht es jedoch nicht
um die von Materialien (obwohl wir in materiellem Sinn alle heterogene
Ingenieure sind), sondern um Strategien und Ressourcen. Hier besteht
eine Verbindung mit einem zweiten Punkt, der auf die Annahme qualitati
ver Einheitlichkeit abzielt: Hemingways mächtiges Gegenargument zu
Scott Fitzgerald. Dabei handelt es sich um eine alte Debatte innerhalb der
Sozialtheorie: um die Beziehung zwischen quantitativen und qualitativen
Unterschieden. Man muss jedoch nicht in die klassische Form dieser
Debatte innerhalb des dialektischen Materialismus eintreten, um zu be
merken, dass quantitative Unterschiede sich sehr wohl in qualitative ver
wandeln können. Tatsächlich existiert besonders über diesen Punkt eine
Vielzahl an Literatur, auch innerhalb der STS-Forschung (vgl. Law 1991).
Star z.B. befasst sich mit der Art, in der die Literatur der Frage von
Eintrittskosten und Netzwerkexterna nachgeht. Isoliert betrachtet mag es
keinen Unterschied zwischen einem IBM- und einem »Acorn«-Rechner
geben; möglicherweise unterscheiden sie sich hinsichtlich der Kosten
kaum. Wenn aber jeder Konsument eher die eine als die andere Marke
kauft, stellen bald weder der Kaufpreis noch die relativen technischen Vor
teile der beiden Systeme entscheidende Faktoren dar. Stattdessen dominie
ren Fragen im Zusammenhang mit Kompatibilität (vgl. z.B. David/Bunn
1988). Was zuvor eine kleine quantitative Differenz darstellte - IBM ver
kaufte einige Geräte mehr als »Acorn« -, entwickelte sich zu einer großen
quantitativen und (möglicherweise) qualitativen Differenz. In diesem (an
genommenen) Fall gestaltete sich das Leben eines IBM-Besitzers besser
und einfacher, die Netzwerke sind größer und hilfreicher. Aber auch diese
qualitative Differenz ist im Prinzip umkehrbar, z.B. indem man »Acorns«
mit der Kapazität ausstattet, IBM-Programme zu verwenden und IBM-Dis
ketten zu lesen.
358 1 JOHN LAW
Was ich also - kurz gefasst - ausdrücken möchte ist, dass sowohl He
mingway als auch Scott Fitzgerald Recht haben oder zumindest - abhängig
von den Umständen - Recht haben könnten. Quantitative Unterschiede
können in qualitative umgewandelt und qualitative können entweder durch
qualitative oder quantitative Mittel aufgelöst werden. Es genügt also nicht
zu behaupten, dass die Mächtigen, die Manager, sich lediglich quantitativ
von den Elenden dieser Erde unterscheiden. Obwohl sie tatsächlich quanti
tativ verschieden sind, besteht - zumindest zeitweise - nicht nur ein quanti
tativer Unterschied. Wenn wir uns also - wie bisher in großen Teilen der
STS geschehen - allein auf diesen Aspekt konzentrieren, laufen wir Ge
fahr, dass uns einige Arten, auf die sich Quantität (umkehrbar) in Qualität
verwandelt, entgehen.22 Anders ausgedrückt versäumen wir die Strategien,
mit denen die großen Verteilungen festgelegt und erhalten werden.
Hoffnungsvolle Monster28
andere Monster wahrhaft elend und Leid ausgesetzt und aller Hoffnung
und Würde beraubt sind; und weshalb wir auf eine Form von bescheide
ner, vielstimmiger Organisation hinarbeiten sollten, in der wir alle als
hoffnungsvolle Monster wiedergeboren werden könnten - als Orte, an
denen die notwendigen Unvereinbarkeiten, Inkonsistenzen und Überlap
pungen auf sanfte und kreative Weise zusammenkommen.
Literatur
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MONSTER, MASCHINEN UNO SOZIOTECHNISCHE BEZIEHUNGEN 1 365
BRUNO LATOUR
Zusammenfassung
Die Sozialtheorie beschäftigt sich bereits sehr lange mit der Definition von
Machtverhältnissen (Bames 1988), empfand es jedoch immer als schwierig
herauszufinden, wie Herrschaft herbeigeführt wird. In diesem Artikel
schlage ich vor, dass wir uns vom ausschließlichen Interesse an sozialen
Beziehungen abwenden und sie in ein auch nicht-menschliche Aktanten -
Aktanten, die die Möglichkeit haben, die Gesellschaft als beständiges Gan
zes zusammenzuhalten - beinhaltendes Gewebe einschließen, wenn wir
Herrschaft verstehen wollen. Die Unterscheidung zwischen materieller
Infrastruktur und symbolischer Superstruktur ist sicherlich sinnvoll, um
die Sozialtheorie an die Wichtigkeit des Nicht-Menschlichen zu erinnern;
sie gibt jedoch ein falsches Bild ihrer Mobilisierung und Tätigkeit inner
halb der sozialen Verbindungen. Der vorliegende Beitrag zielt darauf, ein
anderes Repertoire zum Studium dieses Mobilisierungsprozesses zu erfor
schen. Im ersten Teil verwende ich ein sehr einfaches Beispiel zur Illustrie
rung des meiner Meinung nach richtigen Fokus zur Ermittlung des Ein-
370 1 BRUNO LATOUR
Schlüssel sind nicht mehr dieselben - noch nicht einmal das Hotel ist noch
genau dasselbe (Akrich 1987; Latour 1991; Law 1986a).
Dieses kleine Beispiel veranschaulicht das >erste Prinzip< jeder Studie
über Innovation in Wissenschaft und Technik: Das Schicksal einer Aussa
ge liegt in den Händen anderer (Latour 1987). Jede Terminologie, die wir
anzuwenden gedenken, wenn wir der Integration nicht-menschlicher
Elemente in soziale Verbindungen nachgehen wollen, sollte sowohl die
Folge verschiedener, die Aussage transportierender Hände als auch die
Reihe von Transformationen, denen die Aussage unterliegt, in Betracht
ziehen. Wenn diese Folge von Transformationen berücksichtigt werden
soll, bedarf es zuerst einmal der Bedeutungserklärung des Begriffs »Aus
sage«. Mit einer Aussage bezeichnen wir alles, was von einem Sprecher
eingeworfen, versandt oder delegiert wird; die Bedeutung einer Aussage
kann sich während ihres Weges als Funktion des ihr vom Sprecher mitge
gebenen Gewichtes verändern. Die Aussage kann sich auf ein Wort, einen
Satz, ein Objekt, einen Apparat, eine Vorrichtung oder auch eine Institu
tion beziehen. In unserem Beispiel kann sie sich auf einen Satz des Ho
telmanagers beziehen - aber auch auf die materielle Vorrichtung, die die
Gäste letztlich zur Schlüsselabgabe zwingt. Die Bezeichnung »Aussage«
bezieht sich also nicht auf einen linguistischen Terminus, sondern auf
einen Gradienten, der uns von Wörtern zu Dingen und umgekehrt auch
von Dingen zu Wörtern trägt.
Sogar bei einem solch einfachen Bespiel ist bereits nachvollziehbar,
dass wir bei der Erforschung von Wissenschaft und Technik nicht einer
gegebenen Aussage durch einen Kontext nachgehen können. Stattdessen
müssen wir der simultanen Produktion von >Text< und >Kontext< folgen.
Mit anderen Worten muss jede Trennung, die wir zwischen der Gesell
schaft einerseits und wissenschaftlichen oder technischen Inhalten ande
rerseits vornehmen, notwendigerweise eine willkürliche sein. Die einzige
nicht-willkürliche Trennung besteht in der Abfolge von Unterscheidungen
zwischen >bloßen< und >gewichteten< Aussagen. Ausschließlich diese Unter
scheidungen und Abfolgen bilden unsere sozio-technische Welt; sie müs
sen wir zu dokumentieren und aufzuzeichnen lernen.
Wir möchten sowohl der Kette von Sprechern und ihren Aussagen als
auch der Transformation von Sprechern und ihren Aussagen folgen. Dazu
definieren wir zwei Dimensionen: Assoziation (ähnlich dem Syntagma der
Linguisten) und Substitution (oder Paradigma in der linguistischen Termi
nologie). Um noch weiter zu vereinfachen, können wir auch von der UND
Dimension - entsprechend dem Breitengrad - und der ODER-Dimension
- die die Rolle des Längengrades übernimmt - sprechen. Jede Integration
von Nichtmenschen kann durch ihre Position auf den UND-/ODER-Ach
sen sowie durch die Aufzeichnung ihrer sie sukzessive definierenden
UND- und ODER-Positionen verfolgt werden. Die vertikale Dimension
korrespondiert mit der Erforschung von Substitutionen, die horizontale mit
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 373
der Anzahl von Akteuren, die sich selbst an die Innovation gebunden
haben (vgl. Latour/Mauguin/Teil 1992).
Um am Beispiel der Schlüssel ein Diagramm zu erstellen, nehmen wir
den Standpunkt des Hotelmanagers als Ursprung an. Er stellt den Spre
cher - den Enunziator - dar, also den, der die Aussage macht. Die Bahn,
der der Hotelmanager seine Gäste - die Zuhörer - folgen lassen will,
nennen wir Handlungsprogramm. Wir verwenden eingeklammerte Zahlen
zur Nummerierung der nacheinander folgenden Versionen eines Hand
lungsprogramms, wie es von einem einzigen Standpunkt aus Darstellung
findet. Alle Programme platzieren wir links vom ausgewählten Ursprungs
punkt, alle Anti-Programme rechts. Die Segmente der Handlungspro
gramme sollen ebenfalls mit eingeklammerten Zahlen nummeriert wer
den. Schließlich erscheint die Trennungslinie zwischen Programmen und
Anti-Programmen, die mit der Frontlinie der von uns hier verfolgten Kon
troverse korrespondiert, in Fettdruck.
Abbildung 1
l tflt tUtltltfHtfltltli
'
(1) {
(2)
tttfHt HHltfUtHtftH
..,
{ f
'
(3)
Der Hotelmanager fügt nach und nach Schlüssel, mündliche Mitteilungen, schriftli
che Mitteilungen und schließlich Metallgewichte hinzu; jedes Mal modifiziert er
damit die Haltung eines Teils der Gruppe der ,Hotelgäste<.
In Version (4) stimmen sowohl der Hotelmanager als auch nahezu alle
seine Gäste überein, während in Version (1) der Manager der Einzige zu
sein scheint, der die Rückgabe der Schlüssel wünscht. Das Syntagma oder
die Assoziation oder auch UND-Dimension haben sich auf dauerhafte Art
ausgedehnt. Diese Ausdehnung nach rechts hatte jedoch ihren Preis: Es
erwies sich als notwendig, entlang der ODER-Linie abzusteigen und das
Handlungsprogramm mit einer Reihe subtiler Übersetzungen anzurei
chern. Zunächst werden die Wünsche des Managers lediglich durch einen
Satz in der Befehlsform ergänzt, dann durch ein geschriebenes Schild und
schließlich durch Metallgewichte. Die Gäste werden nach und nach gekö-
374 1 BRUNO LATOUR
dert, bis sie schließlich ihre Anti-Programme aufgeben und sich dem Pro
gramm >ergeben<. Aber die Finanzen, Energie und Intelligenz des Hotel
managers werden ebenfalls nach und nach aufgezehrt! Am Anfang existier
te der ,bloße< Wunsch; am Ende - einem Ende, das immer nur vorläufigen
Charakter haben kann, da immer die Möglichkeit der Manifestation ande
rer Anti-Programme besteht - war er gewichtig; war er am Anfang irreal,
hatte er am Ende einiges an Realität erlangt.
Ein solches Diagramm zeigt weder die Verschiebung einer unwandel
baren Aussage noch diejenige eines technischen Objekts - in diesem Fall
eines von einem Gewicht beschwerten Schlüssels - innerhalb eines Ver
wendungs- oder Anwendungskontextes. Stattdessen zeigt es eine Bewe
gung, die weder linguistisch noch sozial, weder technisch noch pragma
tisch ist. Das Diagramm verfolgt sukzessive Veränderungen, denen die
Gäste, Schlüssel, Hotels und Hotelmanager unterliegen. Dies geschieht
durch die Aufzeichnung der Arten, in denen für eine (syntagmatische)
Verschiebung innerhalb der Assoziationen mit einer (paradigmatischen)
Verschiebung innerhalb der Substitutionen ,bezahlt< wird. In einem sol
chen Diagramm kostet jeder Schritt nach rechts einen weiteren nach un
ten.
Der Grad der Verbundenheit eines Aktanten mit einem Handlungspro
gramm variiert von Version zu Version. Die Begriffe »Aktant« und »Grad
der Verbundenheit« sind symmetrisch- d.h., sie können auf gleiche Weise
sowohl auf Menschen als auch auf Nicht-Menschen angewendet werden.
Der Schlüssel ist durch einen Ring eng mit dem Gewicht verbunden, ge
nauso wie eine enge Verbindung zwischen dem Manager und seinen
Schlüsseln besteht. Es macht keinen Unterschied, dass das erste Verbin
dungsglied >physisch< genannt werden kann und das zweite >emotional<
oder >finanziell< (Law 1986b; Bijker/Law 1992; Bijker/Hughes/Pinch
1986). Das Problem für den Hotelmanager besteht genau darin, einen Weg
zu finden, seine Schlüssel mit der Rezeption zu verbinden, wenn die Gäste
das Hotel verlassen, und er erreicht das, indem er seine Gäste auf eine en
gere und dauerhaftere Weise an die Rezeption bindet, als die Schlüssel an
die Taschen seiner Gäste gebunden sind.
Wir bemerken im Diagramm, dass sich die soziale Gruppe der Hotel
gäste nach und nach transformiert. Die Akkumulation von Elementen -
des Willens des Managers, der Härte seiner Worte, der Vielzahl seiner
Schilder, der Gewichte seiner Schlüssel - erschöpft die Geduld einiger Ho
telgäste, die schließlich aufgeben und der Zusammenarbeit mit dem Ma
nager zustimmen, indem sie folgsam ihre Schlüssel zurückgeben. Die
Gruppe von Hotelgästen, die noch nicht in das (vorläufige) Ende einge
bunden sind, besteht (nach Angabe des Managers) aus Leuten mit un
überwindlichem Trotz oder aus außerordentlich zerstreuten Professoren.
Diese graduelle Transformation betrifft jedoch nicht nur die soziale Grup
pe der >Hotelgäste<, sondern auch die Schlüssel. Plötzlich, gleichgültig und
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 375
Abbildung 2
UND
1 3 4 5 6
(5)
Gewichte Schlüssel Gäste Verlorene Schlüssel
Frontline
ODER
Der Manager kann seine Kunden darum bitten, ihre Schlüssel abzugeben;
nachdem er jedoch mehrere Schilder aufgestellt hat, erliegt er möglicher
weise dem Eindruck, genug getan und nichts mehr zu sagen zu haben. Im
376 1 BRUNO LATOUR
Ergebnis folgen genauso viele Gäste weder den mündlichen noch den
schriftlichen Instruktionen. In seinem Herzen der Technik ergeben, wählt
unser guter Mann eine technische Lösung und delegiert alle Arbeit an das
Objekt: Er beschwert alle Schlüssel, ohne weitere Schilder aufzustellen
oder mündliche Instruktionen zu geben. Dadurch erreicht er, dass sich ei
nige Gäste mehr seinen Wünschen fügen, wird dessen aber bald überdrüs
sig und beendet sein Programm. Was bleibt in diesem Fall noch übrig? Ei
ne Anzahl Schlüssel, die durch einige schöne Metallringe fest mit einer
Anzahl von Metallgewichten verbunden sind, sowie Gäste, die die Schlüs
sel/Gewicht-Kombination fröhlich mit sich herumtragen. Was den Hotel
manager betrifft, so weiß niemand mehr, was er eigentlich will. In diesem
Szenario würde die letzte Version (5) aus der Sicht des ursprünglichen
Sprechers weniger Elemente assoziieren und wäre - unserer Definition
gemäß - folglich weniger real. Für uns als Beobachter der Mobilisierung
des Nicht-Menschlichen in menschlichen Gefügen jedoch besteht die ein
zig interessante Realität in der Form der Frontlinie. Während in den meis
ten Innovationsstudien die Asymmetrien zwischen dem Durchführbaren
und dem Undurchführbaren, dem Realen und dem Imaginierten, dem
Realistischen und dem Idealistischen im Vordergrund stehen, erkennt un
sere Darstellung lediglich Variationen von Realisierung und De-Realisierung.
Die Frontlinie, die durch die Erforschung des Zusammenhaltenden und
des Nicht-Zusammenhaltenden nachgezeichnet wurde, zeichnet die unter
schiedlichen Kompatibilitäten und Inkompatibilitäten zwischen Menschen
und Nicht-Menschlichem - d.h., die Sozio-Logik der Welten, in denen wir
leben - auf.
Die beiden Szenarien unseres Beispiels zeigen, wie schwierig es ist, die
gepaarten Fallstricke von Soziologismus und Technologismus zu umge
hen. Niemals werden wir mit bloßen Objekten oder sozialen Beziehungen
konfrontiert, sondern mit Ketten, die aus Menschen (M) und Nichtmen
schen (N) bestehen. Niemand hat jemals eine lediglich soziale Beziehung
gesehen - wenn nicht in der Form des Hotelmanagers, der seine Gäste
nicht disziplinieren kann -, noch hat jemand eine lediglich technische Be
ziehung gesehen - wenn nicht in Form von Schlüsseln und Gewichten, die
alle vergessen haben.
Stattdessen werden wir stets mit Ketten konfrontiert, die das Muster
M-N-M-N-N-N-M-M-M-M-N aufweisen, wobei »M« für menschlicher, »N«
für nicht-menschlicher Aktant steht.
Natürlich hat eine M-M-M-Konstellation das Aussehen von sozialen Be
ziehungen, während eine N-N-N-Verbindung eher einem Mechanismus
oder einer Maschine gleicht; wesentlich ist jedoch dabei, dass sie immer in
längere Ketten integriert sind. Wir erforschen die Kette (das Syntagma)
oder ihre Transformationen (das Paradigma), aber niemals nur einige ihrer
Aggregate oder Knoten. Statt also Fragen zu stellen wie: »Ist das sozial?«,
»Ist das technisch oder wissenschaftlich?«, »Werden diese Techniken von
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 377
1l 1,111,1
(1) Profi-Amateur (A)/Daguerrotypie (B)
1 l1,11 1
(2) Profi-Amateur (A)/Kollodium-Nassplatte (C) 1850/Papierherstellung (D) -//- al-
,:11 f111l
les sofort selbst tun
(3) Profi-Amateur (A)/Papierherstellung (D)/trockene Kollodiumplatten werden
ihrer Zeit voraus hergestellt (E) 1860-1870 -//-
i (l\li'1.
i'1i11 1
(4) Profi-Amateur/Papierherstellung (D)/empfindlichere trockene Gelatineplatten
1870-1880/Platten herstellende Firmen sind ihrer Zeit voraus -//-
(1i! 1 1
(5) Profi-Amateur/Papierherstellung/trockene Gelatineplatten/Platten herstellen-
['!
l·il1 il l
de Firmen sind ihrer Zeit voraus/kontinuierliche Plattenüberzugsmaschine/
Eastrnan -//·
1 1il11l
(6) (5) Kapital von Strong/EASTMAN DRY PLATE COMPANY (Eastrnan Tro-
ckenplatten-Gesellschaft) 1881-1883 -//- niedriger Anfangspreis/einfacher
JI
1 il l 1'1
Wettbewerb
11!1' 1 1
(7) (6) Konsortium von Plattenherstellern -//- noch immer begrenzter Markt/zer-
brechliche Platten
I
(8) der flexible Walker-Film/Walkers Taschenkamera 1884 -//·
f111111
(9) Rollenfilm statt Filmplatte/Kameras, die diese Filme verwendeten -//· Bis jetzt
existiert nichts anderes als schwere, Filmplatten verwendende Filmkameras
1
auf dem Markt
1i1 1
(10) Film verwendende Kameras/in England entwickelt Warnerke 1870 seinen
1
Prototyp eines nicht patentierten Rollenfilms/Rollenhalter/zwei mit Kollo-
l
I'
dion überzogene Papierrollen -//- zu teuer/schwieriger Austausch/ungewisse
lii'
Märkte/Verzerrung führt zu undeutlichen Bildern/nicht sehr verlässlich/
1!
noch für Profis
Eastrnan/Walker/eine Gesellschaft mit hohem Status/kommerzielles Netz-
1 l1I
(II)
werk/Rollenhalter/flexibler Film in Rollen/Fließband-Fertigungs-Maschine
·//-
1 11
(12) (u) 1884 Gelatineschichten plus Kollodion -//· zerbrechlich
11 111
(13) (12) Papier/Kollodion -//- zerbrechlich
(14) (13) Papier/Gelatine -//· zerbrechlich
111111
(15) (14) Papier/lösliche Gelatine/weniger lösliche fotosensitive Gelatine ·//- Ver-
11 1 1
zerrung
(16) (15) Zur Vermeidung von Verzerrung Gelatine auf der Rückseite/dicke Gela-
1ir 1
tineschicht -//-
1ll1li11 111li
l
1 (17) (16) Rollenhalterrahmen/Feder gegen Verzerrung/entfernbare Teile gegen
Ladung und Entladung/Messtrommel/Auslöser zur Weiterbeförderung des
i1il l\i!"l'll/11
Films/Locher zur exakten Markierung -//-
, 1 l,1
11i11 1ll1 11,!
(18) (17) Früh im Jahr 1884 kontinuierliche Papiermaschine für Seriendruck -//·
(19) (18) Patente -//· 1885 Beanspruchung des Houston-Patentes/gestanzte Löcher
111 11111"1111
in Rollenfilm für exakte Markierung/Vermeidung von Doppelbelichtungen
1111111111111111 11
(20) (19) Frühling 1889 Houston verkauft das Patent -//- sehr teuer
(21) (20) Neue Handelsgesellschaft EASTMAN DRY PLATE AND FILM COM-
'1i111l'1i' ,l !I1J1 II
PANY/Strong/Walker/acht Aktionäre/Zulieferer stellt Rollenhalter her -//-
1 passionierte Filmfans
111
l1l! Jl11 :l1i11,
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 379
(22) (21) Ende 1885 Filme sind jetzt in langen Streifen erhältlich
( 23) (22) Verführt führende Persönlichkeiten der Fotografie/weltweite Einnahmen
Juni 1885 London-//-
(24) (23) Wamerke sagt: »Er ist besser als meiner und anders aufgrund der Mas
senproduktion.«-//- Filme sind zu zart zum Entwickeln/gefallen Spezialisten
nicht, da von schlechterer Qualität als Platten
(25) Eastrnans Druckpapier ist sehr gut/professioneller Markt zeigt sich interes
siert/Eastrnan-Gesellschaft nimmt Fixierung und Entwicklung in Serie vor/
1887 6000 Entwicklungen pro Tag -//· Markt für Entwicklungen noch be
grenzt
(26) Film nicht gut für Fachleute, gut für Amateure -//-Fallenlassen des Profi
Amateurs (Öffnen der Black Boxes (2) bis (6))
(27) Gut für Amateure/Massenmarkt -//- keine Kamera Sommer 1887
(28) Massenmarkt/flexibler Film (16)/existierende Kameras/Entwicklungsfixie
rung von der Eastrnan-Gesellschaft -//- Amateure nicht interessiert, da exis
tierende Kameras schwer zu gebrauchen
( 29) Massenmarkt/flexibler Film (16)/existierende Kameras/Entwicklungsfixie
rung von der Eastrnan-Gesellschaft -//- Benutzer müssen nichts tun -//- die
Eastrnan-Gesellschaftverrichtet die gesamte Arbeit
(3o) Massenmarkt/Eastrnan-Kamera/flexibler Film/1887 der Name Kodak/25 Dol
lar/100 Aufnahmen/Eastman kommerzielles Netzwerk/Gebrauchshand
buch/Anzeigen-//-
(31) (30) Triumphaler Empfang -//- Film noch immer zerbrechlich
(32) (31) Ersatz für die Unterstützung von Nitrozellulosepapier/Verschiebung der
Rollen vor statt hinter die Brennebene -//-
(33) (32) Ganze Welt/Preise/Massenmarkt bestätigt -//- Zelluloidprobleme: Ver
käufe sinken 1892-1893
(34) (33) Neue Unterstützung für Film/Markt boomt-//- potentielle Konkurrenten
und Patente
(35) (34) Kauft alle Patente zurück
(3 6) (35) 1899 große Industrie/Massenproduktion/Massenmarkt ausgeweitet auf
Amateure von 7 bis 77 Jahren/Hunderttausende von Kameras verkauft-//-
Das erste dieser Rätsel umfasst den Begriff des Trajektors. Beispielsweise
könnte der Kurator eines Technikmuseums sich versucht fühlen, aufein
ander folgende Versionen früher Kameras in einem Ausstellungskasten zu
verbinden. Es handelt sich dabei offensichtlich um harte, physische, ein
fach aufzubewahrende und ausstellbare Objekte. Der Kurator leugnet die
Existenz des > Übrigen< - all der Fotografen, Gegenstände, Märkte und In
dustrien, die die Kameras umgaben - nicht, stattdessen wird all dies in ei
nen Kontext transformiert, innerhalb dessen sich das technische Objekt be
wegte, wuchs, veränderte oder an Komplexität zunahm. Wenn wir Wamer
kes Erfindung und die erste Eastman-Kamera vergleichen, stellen wir fest,
dass sie sich in gleicher Weise voneinander unterscheiden wie die Versio
nen (ro) und (24) der oben angeführten Tabelle - eine Episode, in der
Wamerke in allergrößter Höflichkeit Eastmans Originalität anerkennt. Der
Grad an Ähnlichkeit muss als Index einer Assoziationskette angenommen
werden.
Aus der Perspektive des Trajektors, eines aus Glas und Holz gefertig
ten, sich durch die Gesellschaft bewegenden Objekts, sollten diese beiden
Innovationen genauso wenig in einem Ausstellungskasten verbunden wer
den wie eine Nähmaschine und ein Operationstisch. Beim Durchqueren
der Übersetzungen kreiert der Trajektor surrealistische cadavre exquis;
dennoch existiert aus der Perspektive des Assoziations- und Substitutions
flusses tatsächlich ein von Wamerke und Eastman selbst eingeführtes Bin
deglied. Diese Verbindung wird jedoch nicht durch Holz, Spulen oder Glas
bewerkstelligt; beide Erfindungen haben nicht ein einziges nicht-menschli
ches Element gemeinsam. Dies scheint lediglich in der Retrospektive so zu
sein. Allein Eastmans Forschungsarbeit stellt eine Verbindung zwischen
dem für englische Fachleute konzipierten Rollenhalter und der in Amerika
in Massen gefertigten Automatikkamera dar. Entweder räumen wir dieser
Arbeit einen Platz in unserer Analyse ein - in diesem Fall wäre die Verbin
dung nicht zufällig - oder nicht; im letzteren Fall wäre die Verbindung
zwischen den beiden nichts als ein Artefakt der technischen Technikge
schichte.
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 381
Indem wir die Unterschiede zwischen dem Mutierenden und der Umge
bung, in der eine Innovation mutiert, auflösen, sollten wir auch ein ande
res Problem lösen: das der Asymmetrie zwischen dem Realisierbaren und
dem Unrealisierbaren.
Wenn man Eastmans sozio-technische Erzählung liest, lässt sich leicht
feststellen, dass es sich bei Version (36) nicht um die Realisierung - oder
Objektivierung, Verdinglichung oder Verkörperung - von Version (1) han
delt, da keiner derselben Akteure am (vorläufigen) Ende der Kontroverse
aufzufinden ist. Dennoch haben wir es mit der progressiven Konstruktion
von Realität zu tun; bei der Kontinuität dieser Geschichte handelt es sich
jedoch nicht um eine leicht verrückte Idee, die schließlich Wirklichkeit
wird, sondern um die einer Übersetzung, die das Transportierte vollkom
men transformiert. Das Reale unterscheidet sich nicht vom Möglichen,
Unrealistischen, Verwirklichbaren, Erwünschten, Utopischen, Absurden,
Vernünftigen oder Kostspieligen. Alle diese Attribute stellen lediglich Be
schreibungsarten aufeinander folgender Punkte entlang der Erzählung dar.
Nur im Vergleich mit dem gewaltsamen Ereignis von Version (26) scheint
Version (24) undurchführbar; Version (10) stellt keine Verkörperung von
Version (9) dar, da die beiden nur über eine einzige Gemeinsamkeit verfü
gen. Folglich sollte die Erzählung dieselben Werkzeuge für jede Stufe unse-
384 1 BRUNO LATOUR
Die Erzählung sollte auch noch ein anderes kleines Geheimnis erklären:
den progressiven Übergang vom Mikroskopischen zum Makroskopischen.
Netzwerkanalyse und Feldforschung wurden oft dafür kritisiert, interessan
te Demonstrationen lokaler Kontingenzen zu liefern, ohne dabei die den
Verlauf der Lokalgeschichte beeinflussenden >Sozialstrukturen< in Betracht
zu ziehen. Wie jedoch Hughes in einer bemerkenswerten Studie elektri
scher Netzwerke (Hughes 1979, 1983) verdeutlicht hat, besteht die gesell
schaftliche Makro-Struktur aus demselben Material wie die Mikro-Struktur;
dies trifft besonders auf Innovationen zu, die oft in einer Garage ihren Ur
sprung haben und in einer alle möglichen Garagen umfassenden Welt en
den, oder umgekehrt auf technische Systeme, die als ganze Welt beginnen
und auf einer Müllhalde enden. Genau diesen Skalenwechsel von Mikro zu
Makro und von Makro zu Mikro sollten wir dokumentieren können.
Wenn eine Version tatsächlich einen progressiven Skalenwechsel von
Mikro zu Makro mit dem Einschluss einer zunehmend größeren Anzahl
von Black Boxes repräsentiert (von denen jede >als eine< zählt), können wir
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT J 385
Es lohnt sich, noch eine weitere Folge des Austausches von Sozio-Logik ge
gen asymmetrische Begriffe des Realen und des Möglichen festzuhalten.
Der Verlauf der Zeit wird zur Konsequenz von Verbindungen und stellt
nicht länger den festen, regelmäßigen Rahmen dar, innerhalb dessen der
Beobachter seine Geschichte erzählt. Der Beobachter braucht ebenso wenig
einen regulierten Zeitrahmen wie Akteure mit festen Konturen und vor
herbestimmten Skalen. Wie der Relativist in der Physik geben sich die rela
tivistischen (oder relationistischen) Wissenschafts- oder Technikstudien
mit dem zufrieden, was Einstein so schön »die Molluske der Referenz«
nannte (Einstein 1920). So wie wir Akteure ihre jeweiligen Beziehungen,
Transformationen und Größen kreieren lassen, lassen wir sie ihre Zeitein
heiten markieren; wir lassen sie sogar entscheiden, was welchem voran
geht.
Die ODER-Dimension zeichnet auf, in welcher Reihenfolge - aus der
Perspektive des Beobachters als gewähltem Anfangspunkt - verschiedene
Versionen aufeinander folgen; sie nimmt jedoch keine regelmäßigen
Zeitmessungen vor. Auf das Eastrnan-Beispiel zurückkommend, sind 30
Jahre zwischen den Versionen (1) und (15) vergangen, jedoch lediglich ein
paar Monate zwischen den Versionen (25) und (30). Sollten wir daraus
schließen, dass die Innovation >sich 30 Jahre lang schleppend fortbewegt<
und dann im Jahr 1887 >brüsk beschleunigt< hat, wie Historiker oft be
haupten? Man könnte tatsächlich zu dieser Schlussfolgerung gelangen,
aber Wörter wie »schnell«, »langsam«, »reif«, »unreif«, »durchführbar«,
»utopisch« oder »real« treiben nur auf der Oberfläche von Übersetzungs
bewegungen, ohne irgendetwas zu erklären. Die Anzahl und Geschwindig
keit von Ereignissen hängt vollständig von den durch die Akteure ausge
führten Bewegungen von Allianzen oder Brüchen ab. Wenn man diese
Bewegungen rekonstituieren kann, erhält man ebenfalls die Dimensionen
386 1 BRUNO LATOUR
Wenn wir jetzt zugegebenermaßen in der Lage sind, die feinen Variationen
einer sozio-technischen Untersuchung darzustellen, wie hilft uns dann
diese Fähigkeit dabei, die kontingente, von einem bestimmten Trajektor
angenommene Gestalt zu erklären? Die drei Grazien der Wahrheit, Effizi
enz und Rentabilität, die für das Bereitstellen von Ursachen in Wissen
schaft, Technik und Wirtschaft oft sehr nützlich sind, erweisen sich hier als
offensichtlich unbrauchbar, da sie das Ergebnis und nicht die Ursache die
ser Darstellung versinnbildlichen. Eastmans Kameras in den Versionen (8)
bis (29) sind weder rentabel noch effizient; sie werden diese Qualitäten er
langen, jedoch erst im Bereich der Version (36). Folglich ist es unmöglich,
das Ende der Geschichte zur Erklärung ihrer Anfänge oder Entwicklung zu
verwenden. Die Erforschung von Innovationen ist nicht teleologischer als
die Evolutionslehre Darwins. Man kann jedoch fraglos soziologische Inte
ressen gegen die drei Grazien in der Rolle des Motors der Geschichte aus
tauschen; stabile Interessen, wie gute Effizienz und sichere Rentabilität,
brauchen stabile Netzwerke und Instrumente, um Vorhersagen zu gestat
ten. Die Amateure wissen jedoch bis zur Version (36) nicht, dass sie die Fo
tografie brauchen; Aktionäre warten 30 Jahre lang, um zu entscheiden, ob
ihren Interessen mit Platten, Filmen oder Kodak-Kameras besser gedient
ist. Und Eastman selbst gestaltet seine Interessen nach und nach im Ver
lauf der Entwicklung seiner Forschungen. Sowohl Ökonomie als auch eine
stabile Soziologie betreten die Szene nach den die Schlacht entscheidenden
Momenten. Sie treten nach den Punkten auf, an denen große UND-Varia
tionen durch große ODER-Verschiebungen erkauft wurden und befassen
sich mit Zuständen, in denen große UND-Verschiebungen nur mit kleine
ren ODER-Verschiebungen abgegolten werden. 2
Da die Erklärung des Innovationspfades nicht aus der Retrospektive
erfolgen kann, muss sie aus der Sozio-Logik der Programme und Anti-Pro-
Wir definieren einen Akteur oder einen Alctanten nur durch seine in Kon
formität mit der Etymologie ausgeführten Aktionen. Wenn eine Innovation
durch ein Diagramm definiert wird, in dem ihre Essenz sich koextensiv zu
ihrer Existenz - also zu der allzeit provisorischen Gesamtsumme ihrer
Versionen und deren Transformationen - verhält, werden diese Versionen
und Transformationen wiederum vollkommen von den sie konstituieren
den Aktanten definiert. Woher bekommen wir aber diese Aktanten? Woher
kommen der Hotelgast, der Manager, der Schlüssel und das Schild? Wo
läge der Sinn, Innovationen ohne Reduktionismus darzustellen, wenn wir
gleichzeitig eine reduktionistische Definition von Alctanten verwenden?
Aber zum Glück für uns wird ein Aktant auf dieselbe Weise wie eine Inno
vation definiert; alles, was wir tun müssen, ist: unsere Perspektive zu ver
schieben: Statt eine von Akteur zu Akteur gehende Innovation als Aus
gangspunkt zu verwenden, müssen wir zu diesem Zweck einen dieser Al<
teure, durch dessen ,Hände< nachfolgende Versionen der Innovation ge
hen, auswählen. Hier kann uns ebenfalls die linguistische Metapher hel
fen. Ein Linguist kann entweder ein Syntagma - eine Gruppe assoziierter
Elemente in einem bedeutungsvollen Satz - erforschen oder das Element
selbst innerhalb des Rahmens aller bedeutungsvollen Sätze, in denen es
erscheint, also ein Paradigma. Dabei erfolgt z.B. eine Bewegung:
388 1 BRUNO LATOUR
Der Fischer
Der Fischer/fischt/
Der Fischer/fischt/einen Hai/
Der Fischer/fischt/einen Hai/mit/einem Gewehr
Der Maler/fischt/eine Forelle/mit/einem Messer
Der Maler/malt/Bilder
Der Maler/malt/Häuser
Der Maler/ist/ein/Substantiv
Der Maler/ist/hyper-realistisch.
Die Veränderung vollzieht sich in dem Punkt, den wir festzuhalten be
schließen. Im ersten Fall umfasst unser Objekt sowohl die Länge des Syn
tagmas als auch die Gruppe der bei jeder Artikulation ersetzbaren Para
digmen. Im zweiten Fall besteht unser Objekt aus einer spezifischen Arti
kulation, wobei wir die Gruppe der Syntagmen, in denen sie auftaucht, zu
rekonstituieren wünschen. Wenn wir die Essenz von Innovationen durch
die Existenz ihrer sukzessiven und simultanen Aktanten definieren und
uns dann umdrehen, um die Aktanten durch die sukzessiven Innovationen
zu definieren, in denen sie auftreten, ist das hier nicht zirkulärer und wi
dersprüchlicher als in der Linguistik.
Wie definieren wir einen Aktanten? Ein Aktant umfasst eine Liste von
Antworten auf Tests, die, wenn sie einmal stabilisiert ist, dem Namen eines
Gegenstandes oder einer Substanz angehängt wird. Diese Substanz agiert
als Subjekt für alle Prädikate; sie wird also zum Ursprung von Handlungen
(Callon 1991). Wie definieren wir unseren Hotelmanager in unserer
Schlüsselgeschichte? Mit Sicherheit >ist< er der hartnäckige Sprecher, der
die Gäste immer wieder an das Abgeben ihrer Schlüssel erinnert, aber er
ist auch mehr als das: Er >ist< es, der die Rechnungen schreibt; er >ist< es,
der saubere Laken bestellt; er >ist< es, der Anzeigen ins Telefonbuch setzt;
er >ist< es, der Termine mit den Anstreichern vereinbart usw. Genauso
kann auch der Schlüssel nicht allein nur durch sein Auftauchen in unserer
Innovationsgeschichte definiert werden, sondern auch durch die Liste alles
anderen, dem er sich in allen Innovationsgeschichten, in denen er er
scheint, unterziehen muss. Sein einziger Lebenszweck besteht nicht allein
darin, zur Rezeption zurückzukehren: Er lässt Riegel zurückgleiten, bleibt
stecken, wenn ein betrunkener Gast versucht, ihn mit Gewalt in ein
Schloss zu zwängen, wird von einem Generalschlüssel imitiert usw. Auch
das Metallgewicht interveniert nicht nur als bescheidenes Anhängsel des
Hotelschlüssels; es durchläuft verschiedene Tests, die es viel umfassender
definieren: Es schmilzt bei 1800 Grad in einem Brennofen, besteht aus Ei
sen oder Karbon, enthält bis zu 4 Prozent Silikon, färbt sich weiß oder
grau, wenn es zerbricht usw.
Je länger eine solche Liste, desto größer ist auch die Aktivität des Ak
teurs. Je mehr Variationen unter den mit ihm verbundenen Akteuren auf-
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 389
treten, desto polymorpher ist unser Akteur; je mehr er von Variation zu Va
riation aus unterschiedlichen Elementen zu bestehen scheint, desto weni
ger stabil ist seine Essenz. Umgekehrt gilt auch: Je kürzer die Liste, desto
unbedeutender der Akteur; je mehr Diversität er unter den anderen Akteu
ren begegnet oder je schwieriger das öffnen seiner Black Box ist, desto ko
härenter und gefestigter ist er. Die Liste der von einem vorgegebenen Ak
teur durchlaufenen Tests definiert seine Historizität auf gleiche Weise, wie
ein sozio-technischer Graph die Historizität einer Innovation oder eines
Wissensanspruchs definiert.
Ebenso wie eine Innovation an Vorhersagbarkeit gewinnt, je länger die
Ass oziationsketten werden, die zu Black Boxes wurden, kann auch ein Ak
teur bis zur fast vollständigen Vorhersagbarkeit an Kohärenz gewinnen.
Wenn A in einer Folge von Erzählungen immer mit B assoziiert oder von
D getrennt wird, können wir sicher annehmen, dass, wenn sich A in einer
neuen Erzählung mit B verbindet, er die Verbindung zu D lösen wird. Folg
lich können wir damit beginnen, die Pe,formanz von Akteuren von ihrer
Kompetenz abzuleiten. Nur dann ist es uns gestattet, Normen anzulegen;
diese Normen werden jedoch den Daten nicht aufgezwungen, sondern von
den eigenen Bemühungen der Akteure extrahiert, dem gegenseitigen Ver
halten mehr Vorhersagbarkeit zu verleihen. Macht und Herrschaft erklären
nicht, wie die Stabilisierungen entstehen, sie sind vielmehr Namen, die ih
nen zugeschrieben werden, sie stellen nur einen möglichen Assoziations
zustand dar. Eine Essenz - die sich im späteren Verlauf auflösen kann -
geht aus der Existenz des Akteurs hervor; ihre Geschichte wird zur Natur
(um Sartres Bezeichnung zu verwenden), wobei wir allerdings »um später
wieder Geschichte zu werden« hinzufügen sollten. Der Akteur ist von
»Name der Aktion« zu »Name des Objekts« gegangen (Latour 1987). Die
sich aus den vereinigten Geschichten von Innovationen und Akteuren er
gebenden Listen verdeutlichen die kontinuierliche Variation in der Isotopie
eines Akteurs, d.h. seiner Stabilität im Verlauf der Zeit. Sein Verhalten
wird entweder immer besser oder immer weniger vorhersagbar; die Liste
erlaubt uns, von extrem instabiler Sicherheit zur Notwendigkeit zu gehen -
oder aber im Gegenzug von Notwendigkeit zu Unsicherheit. Die Macht der
Gewohnheit oder des Habitus wird sich entweder bemerkbar machen oder
nicht; entweder agiert sie als Funktion der historischen Aufzeichnung des
Akteurs oder nicht.
Trotz der zirkulären Definitionen von Akteuren und Innovationen sind wir
noch weit davon entfernt, Erklärungen liefern zu können: Wir können le
diglich vorhersagen, wie lange eine Assoziation vermutlich Bestand haben
wird, wenn eine Innovation einen bestimmten Akteur oder ein Akteur eine
bestimmte Innovation an sich bindet. Um es noch genauer zu sagen: Wir
390 1 BRUNO LATOUR
können außerdem solche Reaktionen nur für Fälle vorhersagen, die uns
am wenigsten interessieren, nämlich die, in denen entweder die Innova
tion bereits eine Black Box ist, Fälle, in denen dieAkteure über eine so sta
bile Geschichte verfügen, dass diese schon fast zur zweiten Natur gewor
den ist, oder Fälle, in denen die traditionellen Begriffe von Macht und
Herrschaft auf vorhersagbare Weise eingesetzt werden. Wie kann man je
doch in anderen Fällen, in denen Herrschaft noch nicht ausgeübt wird, Re
aktionen antizipieren? Dazu müssen wir uns einer dritten Variationsquelle
nähern.
Da wir in der Lage sind, Aktanten und Innovationen ohne weiteren Es
sentialismus gegenseitig zu definieren, können wir auch eine Karte der
Übersetzungsoperation erstellen. Diese entscheidende Operation erzeugt -
wenn auch nur lokal und vorläufig - soziale Verbindungen. Dank der
Übersetzung müssen wir unsere Analyse nicht mit der Verwendung von
Aktanten mit festen Grenzen und zugewiesenen Interessen beginnen;
stattdessen können wir verfolgen, auf welche WeiseAktant BAktantA eine
feste Grenze, wie BA Interessen und Ziele zuweist; wir können eine Defi
nition dieser von A und B geteilten Grenzen und Ziele aufstellen und
schließlich die Verteilung von Verantwortung zwischen A und B für das
gemeinsame Handeln nachvollziehen. In einem Universum von Innova
tionen, das ausschließlich von Assoziationen und Substitutionen von Ak
tanten definiert wird, wobei dieAktanten ihrerseits nur durch die Vielzahl
der Erfindungen, in denen sie mitwirken, definiert werden, wird die Über
.1· setzungsoperation zum wesentlichen Prinzip von Komposition, Bindung,
'1 Rekrutierung und Einbindung. Da aber kein externer Standpunkt mehr be
steht, dem wir einen Grad an Realität oder Erfolg einer Innovation zu
schreiben können, erhalten wir nur eine Evaluation, indem wir die vielen
Standpunkte der Akteure triangulieren. Daher ist es äußerst wichtig, uns
einfach von einem Beobachter zu einem anderen bewegen zu können.
Das Folgende ist eine besonders elegante Übersetzungsoperation von
Pasteur:
es keine kenntnisreichere und präzisere Abhandlung über Weine als die bereits vor
rnehr als 60 Jahren erschienene von Chaptal. Dies genügt als Indiz dafür, was hier
noch zu leisten bleibt.
Innerhalb der letzten fünf Jahre habe ich am Problem der Fermentation gearbei
tet; rnein besonderes Interesse lag mit der Alkoholfermentation im Herzen des
Weinproduktionsprozesses. Der Fortschritt meiner Forschung hat in mir den
Wunsch geweckt, meine Arbeit in situ und in Ländern, die für ihre Produktion von
in Frankreich besonders geschätzten Weinen bekannt sind, fortzusetzen. Ich möch
te den Fermentationsprozess dort studieren und dabei besonders die mikroskopi
sche pflanzliche Substanz ins Auge fassen, die die einzige Ursache dieses großen
und mysteriösen Phänomens zu sein scheint.
Ich beabsichtige diese Arbeit während meines nächsten Aufenthalts auszufüh
ren der etwa sechs Wochen an Reisen und Studium mit einem Assistenten und ei
,
nigen notwendigen Ausrüstungsgegenständen und chemischen Produkten umfas
sen wird. Ich schätze die entstehenden Kosten auf etwa 2500 Francs.
Das Anliegen dieses Schreibens besteht darin, Eurer Exzellenz dieses Projekt
vorzustellen und die Mittel zur Deckung seiner Ausführung zu erbitten. Damit ist
mein Interesse an der Sache jedoch keineswegs erschöpft; ich werde diesem Projekt
in den kommenden Jahren -jeweils zur selben Jahreszeit - weitere Arbeiten folgen
lassen.
Weiter bin ich der Erste, der zugibt, dass möglicherweise nicht sofortige prakti
sche Konsequenzen aus meinen Studien zu ziehen sind. Die Anwendung wissen
schaftlicher Resultate auf die Industrie nimmt immer Zeit in Anspruch. Meine ge
genwärtigen Ziele sind sehr bescheiden; ich möchte gern größere Kenntnisse über
diese Sporenpflanze erzielen, die die alleinige Ursache der Fermentation in Trau
bensaft darstellt.«
als deren Willen unterstellt, mit dem vergleichen, was diese anderen tat
sächlich als ihren Willen ausgeben, können wir uns leicht vorstellen, dass
pasteur ein paar Finanzierungsprobleme ins Haus stehen, weil die in sei
nen Versionen mobilisierten Elemente nicht die ihnen von ihm zugewiesenen
Positionen einnehmen - zumindest noch nicht. Ein solcher Vergleich würde
den Zustand der Aktanten hinsichtlich einer Gruppierung oder Zerstreu
ung zeigen und damit helfen, die Komplexität zukünftiger Verhandlungen
vorherzusagen.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass nicht nur Aussagen als eine Funktion
von Innovationen variieren; beide variieren außerdem noch als eine Funk
tion der Perspektive des Beobachters oder des Informanten.
Bis jetzt sind die Ausgangspunkte aller Erzählungen stabil geblieben;
wir haben die Geschichte der Hotelschlüssel aus der Perspektive des Ma
nagers, die Kodak-Geschichte aus der Eastmans und Jenkins' erzählt. Den
noch hängt die Fähigkeit eines Programms, Anti-Programmen zu entgeg
nen, offensichtlich davon ab, wie gut die Wahrnehmung eines Akteurs von
anderen mit ihrer Konzeption von sich selbst oder vom besagten Akteur
korrespondiert. Ist diese Konvergenz schwach, wird der Akteur seine Welt
zwar mit anderen Wesen bevölkern; diese Wesen werden sich jedoch in
unvorhersagbarer Weise benehmen, indem sie sich von Version zu Version
unterschiedlich mit dem Programm verbinden oder sich von ihm trennen.
Ist andererseits diese Konvergenz stark, kann der Akteur damit beginnen,
Vorhersagen zu machen oder jedenfalls das konsistente Verhalten der sei
ne Welt konstituierenden Wesen zu garantieren.
Folglich müssen wir mehr tun als nur der Abfolge von Ereignissen
rund um eine Innovation zu folgen: Wir sollten die verschiedenen Versionen
vergleichen, die aufeinander folgende Informanten >desselben< Syntagmas ge
ben. Wir haben keinen auswärtigen Schiedsrichter zur Prüfung der
Glaubwürdigkeit eines Anspruchs; der Grad an Gruppierung oder Zer
streuung der Darstellungen genügt, um die Realität eines Anspruchs zu
evaluieren. Folgender Satz wird oft von Sprachphilosophen zitiert: »Der
gegenwärtige König von Frankreich ist kahl.« Dieser Satz hat innerhalb der
Sprachphilosophie endlose Diskussionen hervorgerufen, weil er sowohl
grammatisch korrekt als auch vollkommen sinnlos ist, da er nicht mit ir
gendeinem realen Sachverhalt >korrespondiert<. Man sagt deshalb, er habe
zwar ein Bezeichnetes, jedoch keinen Referenten. Können wir die Glaub
würdigkeit dieses Satzes ermitteln, ohne Zuflucht zum Begriff des Refe
renten nehmen zu müssen? Wenn wir den Standpunkt des Beobachters
verschieben und ihn verfolgen können, ist es möglich.
Historikern ist zwar König Karl der Kahle bekannt, nicht aber der ge
genwärtige französische König; Friseure kennen vermutlich einige kahl
köpfige Menschen, jedoch keine Könige - und den gegenwärtigen von
Frankreich schon gar nicht -, obwohl ihnen Kopfhäute, Cremes und Haar
lotionen sehr am Herzen liegen. Momentan ereignet sich eine Menge in
394 1 BRUNO LATOUR
Berlin und Kambodscha, aber nichts davon hat nur das Geringste mit dem
König von Frankreich zu tun. Tatsächlich gibt es Personen, die den Staat
Frankreich regieren; sie nennen sich allerdings nicht Könige, sondern Prä
sidenten. Die einzigen Leute, die diesen Satz für betrachtenswert halten,
sind Linguisten und Philosophen, die ihn als Klischee verwenden. Basie
rend auf diesem Skript können wir den Grad an Konvergenz oder Diver
genz zwischen den von diesem Satz mobilisierten Akteuren und dem, was
sie bei Befragung über sich selbst sagen, ermessen. Im vorliegenden Fall kann
keiner der mobilisierten Akteure die Aussage aufnehmen, ohne ihr andere,
vollkommen disparate hinzuzufügen. Folglich gibt es - außer in der letzten
Version - nur sehr wenige Verbündete, jedoch viele neue Akteure; die ein
zige Version, die diesen Satz problemlos übernimmt, ist die der Philoso
phen, die sie durch die Umwandlung in ein klassisches Rätsel der Sprach
philosophie stabilisieren.
Dieses klassische Beispiel erlaubt uns, die Netzwerkanalyse in einem
Bogen auf sich selbst zurückzuführen. Es besteht niemals die Notwendig
keit, unser Netzwerk zu verlassen, selbst wenn wir über Definitionen der
Wahrheit, der Exaktheit, der Kohärenz, der Absurdität oder der Realität ei
ner Aussage sprechen. Die Beurteilung von Realität ist dem Pfad einer
Aussage immanent, nicht transzendent. Sich selbst das Verlassen des
Netzwerkes zu untersagen, bedeutet andersherum nicht, sich selbst eine
Beurteilung zu verbieten. In unserem Beispiel können wir den Wahrheits
grad der Aussage »Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl«, kor
rekt beurteilen, ohne die Idee eines Referenten anzuführen; tatsächlich
stellt diese Idee das einzige mythische Element in der gesamten Kahler
König-Geschichte dar. Alle Aussagen verfügen über Realität, und diese
Realität kann präzise evaluiert werden, indem man jedes Mal die Aussagen
eines Akteurs über einen anderen mit denen vergleicht, die der letztge
nannte Akteur über sich selbst macht. Dieser Vergleich beschreibt ein
Netzwerk, das sowohl die Existenz als auch die Essenz der Aussage um
fasst. Einhörner, kahle französische Könige, schwarze Löcher, fliegende
Untertassen, Marienerscheinungen, Chromosomen, Atome, »Roger Rab
bit« und utopische technische Projekte besitzen alle den von ihren Netz
werken dargestellten Grad an Realismus, nichts mehr und nichts weniger.
Dieser Punkt ist nicht relativistisch - alle Aussagen sind nicht gleich -,
sondern relationistisch, indem er die Beziehung zwischen den Standpunk
ten mobilisierter und mobilisierender Akteure aufzeigt und dadurch Urtei
le von höchstmöglichem Präzisionsgrad hervorbringt. Die Sprach-, Wis
senschafts- oder Technikphilosophie können diese Urteile weder rekon
struieren noch mit einiger Feinheit kalkulieren (Pavel 1986); stattdessen
geben sie sich mit groben, hastigen Aussagen über die offenkundige Ab
surdität oder die unausweichliche Realität dieser oder jener Aussage oder
dieses oder jenes Projekts zufrieden.
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 395
Fazit
Wenn wir die Kluft zwischen der materiellen Infrastruktur einerseits und
sozialer Superstruktur andererseits verlassen, ermöglichen wir damit ein
größeres Maß an Relativismus. Anders als Forscher, die Macht und Herr
schaft mit besonderen Werkzeugen angehen, müssen wir nicht von einem
stabilen Akteur, von stabilen Aussagen, einem stabilen Repertoire an Ein
stellungen und Interessen oder von einem stabilen Beobachter ausgehen.
Dennoch gewinnen wir die Dauerhaftigkeit sozialer Konstellationen zu
rück, die jedoch von mobilisierten nicht-menschlichen Elementen geteilt
wird. Mit der Gruppierung von Akteuren und Standpunkten treten wir in
eine stabile Definition von Gesellschaft ein, die das Aussehen von Herr
schaft besitzt. Wenn hingegen Akteure instabil sind und sich die Stand
punkte der Beobachter endlos verschieben, treten wir in eine höchst insta
bile und ausgehandelte Situation ein, in der Herrschaft noch nicht ausge
übt wird. Die Werkzeuge des Wissenschaftlers bedürfen jedoch keiner Mo
difikation; ebenso wenig korrespondiert der zwischen mehr und weniger
stabilen Konstellationen diskriminierende Gradient mit der Trennung zwi
schen Technik und Gesellschaft. Man könnte Technik den Augenblick
nennen, in dem soziale Konstellationen durch die Gruppierung von Akteu
ren und Beobachtern Stabilität erhalten; so stellen Gesellschaft und Tech
nik nicht zwei ontologisch verschiedene Einheiten, sondern eher Phasen
derselben essentiellen Handlung dar.
Ersetzt man diese beiden willkürlichen Unterscheidungen durch die
Bezeichnungen »Syntagma« und »Paradigma«, so kann man noch einige
methodologische Schlussfolgerungen ziehen. Die Beschreibung sozio-tech
nischer Netzwerke steht oft ihrer Erklärung - die dieser eigentlich folgen
sollte - entgegen. Kritiker der Wissenschafts- und Techniksoziologie legen
oft nahe, dass sogar die genaueste Beschreibung einer Fallstudie nicht aus
reichen würde, um die Entwicklung zu erklären. Diese Art von Kritik ent
lehnt den Unterschied zwischen Empirie und Theorie, zwischen »wie« und
»wieso«, zwischen Briefmarkensammeln (eine verachtenswerte Beschäfti
gung) und der Suche nach Kausalität (die einzige der Aufmerksamkeit wer
te Aktivität) aus der Epistemologie. Es gibt jedoch keinerlei Beweise für die
Notwendigkeit dieser Unterscheidung. Wenn wir ein sozio-technisches
Netzwerk zeigen - wobei wir die Bahnen durch die Assoziationen und
Substitutionen der Aktanten, die Aktanten durch alle Bahnen, in die sie
eintreten, definieren, allen Übersetzungen folgen und schließlich den
Standpunkt des Beobachters variieren -, brauchen wir nicht nach zusätzli
chen Gründen zu suchen. Die Erklärung erscheint, sobald die Beschrei
bung gesättigt ist. Wir können sicherlich weiterhin Aktanten, Innovationen
und Übersetzungsoperationen durch andere Netzwerke folgen, werden uns
jedoch niemals dazu gezwungen sehen, die Aufgabe der Beschreibung zu
gunsten jener der Erklärung aufzugeben. Der Eindruck, man könne in den
396 1 BRUNO LATOUR
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Zusammenfassung einer zweckmäßigen
Setting (setting): Eine Maschine kann genauso wenig wie ein Mensch be
trachtet werden, weil es sich bei dem, womit der Analytiker konfrontiert
wird, um Konstellationen von Menschen und nicht-menschlichen Aktanten
handelt, bei denen Kompetenzen und Performanzen verteilt sind; das
Objekt der Analyse wird »Setting« oder »Setup« (in Französisch »disposi
tif«) genannt.
einer Legierung definiert wird; der Bankrott einer Firma ist eine Prüfung,
durch die die Treue eines Verbündeten definiert werden kann; ein Akteur
ist ein Aktant, der mit einem Charakter ausgestattet ist (normalerweise
anthropomorph).
nen) definiert die An- oder Abwesenheit einer Krise, die eine Beschreibung
des Settings erlaubt. Wenn alles störungsfrei abläuft, wenn sogar die bloße
Unterscheidung zwischen Präskription und dem, dem sich der Akteur
unterordnet, unsichtbar ist, weil es keine Kluft gibt, gibt es demzufolge
keine Krise und keine mögliche Deskription.
Somit ist ein Setting eine Kette von M (Menschen) und N (Nicht-Men
schen), jedes ausgestattet mit einer neuen Kompetenz oder seine Kompe
tenz an ein anderes delegierend: In der Kette kann man Aggregate erken
nen, die wie jene der traditionellen Sozialtheorie aussehen: soziale Grup
pen, Maschinen, Schnittstellen, Einwirkung.
Abbildung 1
Abbildung 2
(1) { tfHtUtttfttHtfttltH
(2) j tttf Ht HltftlHtHtltft
l T tttlHtHt flttlltltH
' ..
(3)
Der Hotelmanager fügt nach und nach Schlüssel, mündliche Mitteilungen, schriftli
che Mitteilungen und schließlich Metallgewichte hinzu; jedes Mal modifiziert er
damit die Einstellung eines Teils der Gruppe der >Hotelgäste<, während er die syn
tagmatische Anhäufung der Elemente erweitert.
f,
1
MADELEINE AKRICH
4 1 Vgl. Bruno Latours Artikel »Where are the Missing Masses« (1992) zur
weiteren Diskussion von Delegation.
5 1 Diese Terminologie wird von Latour (1992) und in unserem gemeinsamen
Artikel (Akrich/Latour 1992) weiter diskutiert.
4IO I MADELEINE ÄKRICH
6 1 Ich bin mir bewusst, dass der Leser durch die Art, in der diese Beispiele
verwendet werden, frustriert sein mag. Innerhalb eines kurzen Artikels ist es nicht
möglich, volle Einzelheiten wiederzugeben. Da sie aber eine Argumentation veran
schaulichen sollen, hoffe ich, dass der Leser zustimmen wird, dass die Vorteile ihrer
Verwendung die Nachteile der verkürzten Darstellung überwiegen.
p
li:
·:,.!.l i l
Objekte erfahren - Schicksale, die von vollkommenem Erfolg bis zu abso
,1
lutem Misserfolg reichen.
.
.
,,
: Eine Art, das Problem anzugehen, ist, den Verhandlungen zwischen
Innovator und potentiellen Benutzern zu folgen und den Weg zu erfor
1
8 1 Vgl. z.B. Winner (1980) und Latour (1988). Winner beschreibt, wie die Höhe
von Überführungen über die Bundesstraße in Long Island gewählt wurde, um die
Durchfahrt von Bussen - den von Schwarzen verwendeten Verkehrsmitteln - zu
verhindern, sodass die Nutzung von Freizeiteinrichtungen effektiv auf Weiße be
schränkt blieb. Latour, der das von Daumas (1977) beschriebene Beispiel neu inter
pretiert, erzählt, wie in genau derselben Weise der radikale Pariser Stadtrat am Ende
des 19. Jahrhunderts beschloss, Metrotun.nel zu bauen, die zu eng für die Standard
wagen der Zuggesellschaften waren. Die Absicht, die 70 Jahre lang den Sieg davon
trug, war, die privaten Zuggesellschaften (die von den Rechten unterstützt wurden)
davon abzuhalten, ihre Hände an die Pariser Metro zu legen, gleichgültig, welche
Partei an der Macht war. Vielfache Übersetzungen sind nötig, um zu solchen
Ergebnissen zu gelangen. In Winners Fall müssen wir von der Weiß/Schwarz- zur
Auto/Bus-Unterscheidung gehen und dann weiter zur Höhe der Überführungen.
Dies ist nur möglich, weil die Schwarz/Weiß-Unterscheidung schon im ungleichen
Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen und, als Konsequenz, zu teuren Produkten
F
wie Autos prä-inskribiert ist. In Latours Fall ist es die Breite der Tunnel, die der
Zuganlage (und damit den verschiedenen Gesellschaften und politischen Parteien)
erlaubt, auf Armeslänge von der Metro entfernt gehalten zu werden.
412 J MADELEINE ÄKRICH
8 1 Vgl. z.B. Winner (1980) und Latour (1988). Winner beschreibt, wie die Höhe
von Überführungen über die Bundesstraße in Long Island gewählt wurde, um die
Durchfahrt von Bussen - den von Schwarzen verwendeten Verkehrsmitteln - zu
,1 verhindern, sodass die Nutzung von Freizeiteinrichtungen effektiv auf Weiße be
schränkt blieb. Latour, der das von Daumas (1977) beschriebene Beispiel neu inter
pretiert, erzählt, wie in genau derselben Weise der radikale Pariser Stadtrat am Ende
des 19. Jahrhunderts beschloss, Metrotunnel zu bauen, die zu eng für die Standard
wagen der Zuggesellschaften waren. Die Absicht, die 70 Jahre lang den Sieg davon
trug, war, die privaten Zuggesellschaften (die von den Rechten unterstützt wurden)
davon abzuhalten, ihre Hände an die Pariser Metro zu legen, gleichgültig, welche
Partei an der Macht war. Vielfache Übersetzungen sind nötig, um zu solchen
Ergebnissen zu gelangen. In Winners Fall müssen wir von der Weiß/Schwarz- zur
Auto/Bus-Unterscheidung gehen und dann weiter zur Höhe der Überführungen.
Dies ist nur möglich, weil die Schwarz/Weiß-Unterscheidung schon im ungleichen
Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen und, als Konsequenz, zu teuren Produkten
11
,
,
1 j,
DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE J 413
wie Autos prä-inskribiert ist. In Latours Fall ist es die Breite der Tunnel, die der
Zuganlage (und damit den verschiedenen Gesellschaften und politischen Parteien)
erlaubt, auf Armeslänge von der Metro entfernt gehalten zu werden.
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I
: 1
: 1
!,1,'
: : I 'I' es schwierig war, die Anlagen zur Verwendung in Räumen verschiedener
l j
11
billiger als Wechselstrom, weil ein Transformator einen guten Teil der
verfügbaren Energie verbraucht. Wasserdichte Batterien und nicht stan
dardisierte Anschlüsse wurden gewählt, um die Leute davon abzuhalten,
selbst Hand an das Gerät zu legen und es so potentiell zu beschädigen. Die
Länge der Verdrahtung musste begrenzt sein, da diese sonst die Leistung
des Gerätes reduziert hätte. Diese Entscheidungen waren dazu gedacht,
sicherzustellen, dass die Lichtanlage unter allen Umständen >arbeiten<
würde - eine wichtige Überlegung in den Verhandlungen zwischen den
Industriellen und ihren Kunden. Man muss sich erinnern, dass nicht die
Letztgenannten die Endbenutzer der Anlage waren, sondern eher die
Behörde und die Regierung, der man das Geschenk machte. Das Anliegen,
eine narrensichere Anlage zu produzieren, war dergestalt, dass die Desi
gner beschlossen, keinen separaten Schalter im Kreislauf zu haben, weil
dieser vielleicht zu einem Punkt unbefugten Eindringens in das System
werden könnte. Dies bedeutete, dass es Benutzer oft schwierig fanden, das
Licht ein- oder auszuschalten, weil der einzige Schalter direkt am Licht
angebracht und somit normalerweise außerhalb der Reichweite war.
Also war es das technische Objekt, das die Akteure definierte, mit
denen es interagieren sollte. Die Lichtanlage (und hinter ihr die Designer)
arbeiteten mit einem Prozess der Eliminierung. Es würde nur einen füg
samen Benutzer tolerieren und andere Akteure wie Techniker oder Ge
schäftsleute, von denen man normalerweise erwartet hätte, dass sie zur
Schaffung eines technoökonomischen Netzwerkes beitragen, ausschließen.
Wären die Benutzer wirklich so fügsam gewesen, wie die Designer beab
sichtigten, hätte ich nicht gesehen, dass die Anlage eine große Reihe von
technisch delegierten Präskriptionen repräsentierte, die von den Entwicklern
an den Benutzer gerichtet waren.
Wenn wir technische Objekte beschreiben wollen, brauchen wir Ver
mittler, um die Bindeglieder zwischen technischem Inhalt und Benutzer
zu schaffen. Im Fall einer nicht stabilisierten Technik können diese entwe
der der Entwickler oder der Benutzer sein. Die Situation ist eine andere,
wenn wir mit einer stabilisierten Technik konfrontiert werden, die bereits
eine »Black Box« ist. Hier ist der Entwickler nicht länger präsent und die
Erforschung des gewöhnlichen Benutzers ist nicht sehr hilfreich, weil er
oder sie bereits die in Interaktionen mit der Maschine implizierten Prä
skriptionen angenommen hat. Unter solchen Umständen können einige
Präskriptionen in Benutzerhandbüchern oder Verträgen gefunden werden.
Alternativ können wir Konflikte erforschen, schauen, was passiert, wenn
Geräte falsch funktionieren, oder dem Gerät folgen, wie es sich in Länder
bewegt, die kulturell oder historisch von seinem Ursprungsort entfernt
sind. Im nächsten Abschnitt verwende ich die letzte dieser Methoden, um
den Gebrauch von Generatoren im Senegal zu beschreiben.
416 1 MADELEINE AKRICH
De-Skription im Technologietransfer:
Objekte im Gebrauch neu erfinden und neu gestalten
werden konnte. Wie man es aber auch einsetzt, erzeugt ein Solarpanel
Strom als Funktion von Klima und Breitengrad. Die ,Standard<-Beziehung
zwischen Produktion und Verbrauch (eine Reflexion der gegenseitigen
Abhängigkeit von zwei Gruppen von Akteuren) wird durch eine individuel
le, direkte und tatsächlich willkürliche Unterordnung unter Naturlcräfte
ersetzt.
Der Unterschied zwischen diesem und dem Generator ist offensicht
lich. Im Fall des Generators kann der Brennstofftank dazu benutzt werden,
die Beziehung zwischen seiner Verwendung und den Kosten dieser Ver
wendung zu messen - eine Beziehung, die im Motor als Ganzem verkör
pert ist. Die Schaffung einer besonderen Art sozialer Bindung, des Vermie
tens, wird von der Existenz dieser Beziehung bedingt, die den Generator
delokalisiert, indem sie viele Gruppen von Akteuren schafft: Investoren/
Käufer, Besitzer/Benutzer, gemeinsame Benutzer, Mieter und Transpor
teure. Die Existenz von Transporteuren macht das Eigentum sogar noch
,reiner<, da sie es von Dienstbarkeit befreien. Ihre Bezahlung markiert die
Grenze der Gruppensolidarität, da die Arbeit einer einzelnen Person die
Gemeinschaft nicht bereichern kann. Zur selben Zeit baut der Generator
eine räumliche und soziale Geographie. So erwogen die Lehrer in einem
der Dörfer, die Beleuchtung für ihre Abendklassen brauchten, noch nicht
einmal, einen Generator zu mieten. Die Trennung zwischen der Welt des
»Marktes« und der »öffentlichen«'0 Welt mag vielleicht noch nicht durch
die soziale Differenzierung, die mit der Elektrizität und ihren Verwendun
gen einherging, in das Dorf gebracht worden sein, aber sie wurde sicher
lich von dieser modifiziert.
Die Lichtanlage führte sich selbst als ,hypothetisches< Objekt ein, wäh
rend der Generator lediglich ein anderes Gerät war, das in die verschiede
nen Sektoren wirtschaftlichen Lebens integriert wurde. Wir sollten jedoch
den Unterschied zwischen ihnen nicht überbetonen. Dies sieht man am
besten in Begriffen des differentiellen Widerstandes. Es würde viel mehr
Mühe machen, den Generator (wieder) zu demontieren, als die Lichtanla
ge. In beiden Fällen jedoch haben wir es mit der Schaffung und Auswei
tung von Netzwerken zu tun, die gleichzeitig sowohl das Soziale als auch
das Technische definieren. Gegenstände wie nicht standardisierte Stecker
und Sicherungen erhalten Bedeutung, wenn die realen Benutzer beginnen,
die projizierten zu ersetzen. Die Kompetenz der Jugendgruppe, ihre Bezie
hung zu anderen Elementen des Dorflebens, die bloße Definition dieser
Elemente - alle diese werden zur selben Zeit und durch denselben Prozess,
der die den Generator bildenden Komponenten definiert, bestimmt. Wenn
wir unsere Aufmerksamkeit auf die ,Funktion, beschränken müssten, die
von diesem Gerät innerhalb der Jugendgruppe erfüllt wird, könnten wir
10 1 Ich beziehe mich hier auf die Unterscheidung zwischen »marchand« und
»civique«, wie sie bei Boltanski und Thevenot diskutiert wird (1987).
418 1 MADELEINE ÄKRICH
So weit habe ich Technik beschrieben, die jenen, die sie benutzen, relativ
geringe Beschränkungen aufzuerlegen scheint. Wenn der Generator und
jene, die ihn fördern, einige von denen, die ansonsten außerhalb der öko
nomischen Beziehungen sind, hin auf einen Einbezug bewegen, dann ist
dieser Effekt relativ klein. Im Fall der fotoelektrischen Lichtanlage liegt die
Hauptgefahr darin, dass niemand sie überhaupt benutzen will. Technik ist
jedoch nicht immer so. Manchmal benutzen ihre Designer und Konstruk
teure sie, um Zugang zu bestimmten Akteuren zu erhalten, die sie dann in
spezifische Rollen drängen. Dies geschah im Fall der Elfenbeinküste und
ihres Elektrizitätsnetzwerks. Hier war die physische Ausdehnung des
Netzwerkes ein integraler Teil der großen Bemühung, das Land räumlich,
architektonisch und rechtlich zu reorganisieren. Die Absicht war, neue und
>moderne< Entitäten wie den individuellen Bürger zu erschaffen.
Winner (1980) hat argumentiert, dass bestimmte Technologien inhä
rent politisch - z.B. nichtdemokratisch - sind. Wenn er damit Recht hat,
würde der hier von mir gewählte Ansatz zu einer Form von Technikdeter
minismus führen. Der Fall der Elektrifizierung der Elfenbeinküste zeigt
jedoch, dass sogar in jenen Fällen, in denen es ausgewiesene politische
Implikationen gibt, es zuerst wichtig ist, die Akteure zu interessieren und
zu überreden, die ihnen vorgeschlagenen Rollen zu spielen.
Bis vor kurzem war das Dorfeigentum an der Elfenbeinküste kollektiv
und stand unter der Kontrolle der Ältesten, die Dorfbewohnern nach Be
darf Landanteile zuwiesen. Diese Zuweisung war nicht permanent und die
Leute konnten in andere Gegenden ziehen. Als die Behörden über Elektri
fizierung nachzudenken begannen, beschlossen sie, dass diese abhängig
von einer stabileren Landzuweisung und im Besonderen von einer Unter
scheidung zwischen privatem und öffentlichem Eigentum geschehen
sollte. Diejenigen, die das neue Elektrizitätsnetzwerk entwickelten (die sich
auch selbst als Sprecher des Allgemeinwohls präsentierten), nahmen an,
dass das Netzwerk sowohl zu dieser Teilung beitragen als auch von ihr
abhängen würde, da es auf öffentlichem Land installiert werden würde. In
anderen Worten ermöglichte das Elektrizitätsnetzwerk es dem Staat, seinen
eigenen Raum zu schaffen (den Raum des Gemeinwohls), den sich nie-
.F
mand anderer aneignen konnte. Zur selben Zeit definierte es jene, mit
denen es interagieren würde. Weil in diesem neuen System nur Individuen
rechtlich existieren würden, wurden frühere kollektive Modi der Dorfreprä
sentation systematisch ausgeschlossen.
Sicherlich war die Schaffung eines Systems, in dem Land auf perma
nenter Basis entweder Individuen oder dem Staat zugewiesen wurde, eine
Funktion der Übereinstimmung im Dorf als Ganzem darüber, dass es
einen Bedarf an einer solchen Stabilität gab. Durch das neue Eigentums
system forderte die Elektrizitätsgesellschaft die Dorfbewohner dazu auf,
Prä-Inskriptionen zu machen, die ihre Zustimmung zu einer bestimmten
Art von Zukunft bezeugten. Folglich hatten individuelle Dorfbewohner
bestimmte Formalitäten zu erledigen, um das Anrecht auf festgelegten
Besitz sicherzustellen. Vom Standpunkt der Elektrizitätsgesellschaft aus
konnte der legale Besitzstand als Zeichen für eine Reihe von Zustimmun
gen zwischen verschiedenen Körperschaften über die Zukunft des Dorfes
betrachtet werden. Das neue Eigentumssystem war auch die Grundlage
einer Reihe von Projekten anderer öffentlicher Unternehmungen (der
Straßenbauabteilung, der Wasserbehörde, des medizinischen Dienstes, des
Erziehungssystems). Das bedeutete, dass Elektrifizierung in verschiedene
Modernisierungsprogramme integriert werden konnte und sie wirtschaftli
che Prozeduren zur Beratung und politischen Verhandlung etablierte.
Schließlich würde die Konstruktion des Netzwerkes selbst die Zustim
mung des Dorfes in die Praxis umsetzen und es stabilisieren, indem es
eine dauerhafte Inskription in der Landschaft machte.
Aber wieso sollten die Dorfbewohner zustimmen, in ein Spiel einzutre
ten, in dem sie, zumindest dem Anschein nach, einen Teil ihrer Unabhän
gigkeit verlieren würden? Indem sie es täten, brächten sie sich selbst unter
den Einfluss einer zentralen Autorität, die aufgrund dieser bloßen Tatsache
ihre Macht vergrößerte. Es gibt verschiedene Antworten auf diese Frage.
Die Dorfbewohner wollten Zugang zur Elektrizität haben, aber es gab die
Frage der Art, in der die Gesellschaft mit dem Dorf verhandelte. Es auf
diese Weise darzustellen, ist tatsächlich irreführend. Die Gesellschaft ver
handelte nicht direkt mit dem Dorf. Sie verhandelte eher mit seinem Spre
cher - ausnahmslos jemand, der >Karriere gemacht< hatte und aus dem
Dorf in die Hauptstadt gezogen war. Sowohl der Sprecher, der im Auftrag
des Dorfes mit einer Anzahl zentraler Behörden verhandelte, als auch die
Dorfbewohner selbst wussten, dass einer Einigung mit der Elektrizitätsge
sellschaft eine Reihe indirekter Vorteile folgen würde. Nach der Elektrifi
zierung konnte das Dorf auf bessere Lehrer hoffen, auf einen verbesserten
Gesundheitsdienst, größere finanzielle Unterstützung und einen Zuwachs
an Entwicklungsprojekten. Kurz: Die Elektrifizierung war eine Methode,
die direkten und spezifischen Verhandlungen zwischen den Dorfbewoh
nern und einer Reihe externer Behörden zu vermeiden. Es war ein Paket,
dessen Bedingungen im Voraus festgelegt waren. Die Dorfbewohner
420 1 MADELEINE ÄKRICH
hatten eine Wahl. Sie konnten diese Bedingungen akzeptieren oder zu
rückweisen; das Gesamtpaket war attraktiv.
Im Allgemeinen wird ein Individuum nur dann zum Bürger, wenn er
oder sie eine Beziehung mit dem Staat eingeht. An der Elfenbeinküste
wurde das durch die Vermittlung von Kabeln, Leitungsmasten, Transfor
matoren und Messgeräten bewirkt. Im Gegensatz dazu sind Individuen in
Frankreich in so vielen Netzwerken eingeführt, dass sie nur geringe Chan
cen haben, die Bürgerschaft zu vermeiden. Von der Meldestelle über die
Schulpflicht bis zum Militärdienst und dem Wohlfahrtsstaat, das staatliche
Netz mit seinen verschiedenen aufgesetzten Netzwerken zieht sich immer
enger um sie. In Ländern, die erst vor kurzem geschaffen worden sind,
können spezifische Netzwerke einem schwachen oder nicht existenten
Staat zu Hilfe kommen. Das Elektrizitätsnetzwerk kann eine Beziehung
zwischen einem Individuum und einem Ort schaffen und erhalten. An der
Elfenbeinküste, wo nur eine Minderheit von besoldeten Arbeitern Ein
kommenssteuer bezahlte, wurde die Elektrizitätsrechnung das Mittel, mit
dem in kürzlich erbauten Städten lokale Steuern eingezogen wurden. Hier
war es also das Elektrizitätsnetzwerk, das eine Definition des Konzepts der
Bürgerschaft förderte.
In den obigen Beispielen habe ich gezeigt, wie technische Objekte Akteure
definieren, den Raum, in dem diese sich bewegen, und die Arten, in denen
sie interagieren. Kompetenzen im weitesten Sinn des Wortes werden im
Skript des technischen Objekts verteilt. Viele der Wahlen der Designer
können als Entscheidungen darüber betrachtet werden, was an eine Ma
schine delegiert werden und was der Initiative menschlicher Akteure über
lassen bleiben sollte. Auf diese Weise drückt der Designer das Szenario des
in Frage stehenden Gerätes aus - das Skript, aus dem sich die zukünftige
Geschichte des Objekts entwickeln wird. Der Designer legt aber nicht nur
die Verteilung der Akteure fest, er oder sie stellt auch einen >Schlüssel, zur
Verfügung, der zur Interpretation aller folgenden Ereignisse verwendet
werden kann. Offensichtlich kann dieser Schlüssel in Frage gestellt werden
- Verbraucherorganisationen sind auf solchen Skeptizismus spezialisiert.
Dennoch: Obwohl Benutzer ihre eigenen Interpretationen hinzufügen,
wird das Skript wahrscheinlich ein Hauptelement zur Interpretation der
Interaktion zwischen dem Objekt und seinen Benutzern werden, solange
die Umstände, in denen das Gerät benutzt wird, nicht zu radikal von den
Vorhersagen der Designer abweichen.
.r
DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE 1 421
Ein rotes Licht leuchtet im DR in Abobo auf, einem Unterschichtsvorort von Abid
jan, an dem es 66.854 Abonnenten gibt; die Ertragsrate des Netzwerkes (die Bezie
hung zwischen der Energie, die der Erzeuger ausgibt, und der Energie, die den
Kunden berechnet wird) ist von 0.93 auf 0.87 im Verlauf eines Jahres gefallen!«
Jede Reduktion in der Ertragsrate kann als Anwachsen der Anzahl unbe
fugter Verbindungen, als Werk korrupter Angestellter oder als Folge des
Handels mit Zählern interpretiert werden. Da sowohl menschliche als auch
technische Akteure involviert sind, misst das Netzwerk illegales Verhalten
und bestimmt seinen Charakter.
Die Definition des sozialen Raumes erstreckt sich auch auf nicht elek
trifizierte Bereiche. Diese werden in Begriffen des Grades ihrer Abwei
chung von der Norm - das ist in diesem Fall: von Elektrifizierung- charak
terisiert. Ein anderer Vorort von Abidjan, Marcory, wurde durch das Netz
werk zweigeteilt. Jedem Teil wurde ein Name gegeben und er wurde in
sozialen Begriffen charakterisiert:
nl ·I
Ir
11)
»Anders als der Wohnbezirk Marcory ist Marcory-kein-Draht ohne Elektrizität, ohne
Kabel. Es ist bekannt, dass Abidjanis Sinn für Humor haben. Ein Vorort ohne Draht,
stellen Sie sich vor, was für ein Spektaculum sich dort bietet. Wenn Elektrizität ein
Zeichen des Fortschritts ist, legt ihre Abwesenheit andere Abwesenheiten nahe: der
von Hygiene, von Straßen, die bestimmten Standards genügen, von Apotheken,
Spiel- und Sportplätzen usw. Wenn man diesen Abwesenheiten noch nächtliche
Dunkelheit hinzufügt, würden die Wächter des Friedens sagen, dass man eine Brut
stätte der Kriminalität erhält.« (Toure 1985)
gen der Benutzer nachzukommen. Dies ist jedoch eine kostspielige Option.
Entsprechend wählen die Designer die dritte Option, indem sie einen Reg
ler einbauen, der den Strom zum Benutzer abstellt, wenn die Batteriela
dung zu niedrig wird, und das Solarpanel isoliert, wenn sie zu hoch wird."
Als Ergebnis wird eine besondere Art von Verbrauch aufgezwungen: Der
Benutzer kann nicht zu habgierig sein, jedoch kann er oder sie aber auch
genauso einen übermäßigen Konsum durch längere Abstinenz kompen
sieren. Die Strafe für ein Brechen der Regeln - Regeln, die sowohl sozial
als auch technisch sind - ist sofortig und abrupt: Der Strom wird abgestellt
und nicht eher wieder angestellt, bis die Batterie angemessen geladen ist.
Diese Methode der Regulierung ist dazu erdacht, den Benutzer >abzu
richten<. Sie bietet eine Reihe von Belohnungen und Strafen, die die richti
gen Verhaltensregeln lehren sollen. Ein Fehler im System besteht jedoch
darin, dass es keinen einfachen Weg gibt, die Ladung der Batterie zu mes
sen. Spannung ist nur eine grobe Richtlinie. Was soll man da tun? Ein
General, der sich der Loyalität seiner Truppen nicht sicher ist, hat zwei
Optionen. Er kann sich entscheiden, nichts zu tun. Oder - wie die Desi
gner im vorliegenden Fall - er kann seine Sicherheitsvorkehrungen und
disziplinarischen Maßnahmen verdoppeln. Wie ich erwähnt habe, wurde
entsprechend ein besonders unflexibles System mit nicht standardisierten
Steckern eingeführt. Während also das Kontrollgerät dem Benutzer erzähl
te, er oder sie solle sich nicht zu viel vornehmen, zwangen ihm oder ihr die
nicht standardisierten Stecker sogar noch drakonischere Verhaltensbe
schränkungen au[ Das Umgehen des Kontrollgerätes war in keinem Fall
statthaft!
In Französisch-Polynesien erwies sich das Kontrollgerät als heikler
Verbündeter der Designer, da die Benutzer das Gefühl hatten, dass seine
Sanktionen willkürlich waren. Das Ergebnis war, dass sie es schlecht mach
ten, und ihr Missbehagen dadurch ausdrückten, dass sie den Elektriker
jedes Mal anriefen, wenn das System verräterischerweise den Strom abge
stellt hatte, während sie still dasaßen und fernsahen. Der Elektriker, der es
schnell leid war, am Abend zu Reparaturen gerufen zu werden, trickste das
System aus, indem er einen Sicherungskreislauf parallel zum Kontrollgerät
installierte. Wenn das Kontrollgerät den Strom abschaltete, konnten die
Benutzer es mit der Sicherung umgehen, und der Elektriker würde erst am
folgenden Morgen gerufen werden. Der Sicherungskreislauf bezeichnete
somit die Unterordnung der Elektriker unter die Wünsche ihrer Kunden
und erlaubte ihnen, durch einen Bevollmächtigten anwesend zu sein, statt
in Person von zornigen Benutzern herbeizitiert zu werden.
Der bedenkliche und behelfsmäßige Charakter der Sicherung macht
deutlich, dass eine Art von Intervention notwendig war, auch wenn sie erst
Ich habe einige Fälle beschrieben, in denen technische Objekte ihre Bezie
hungen mit Akteuren vorformten und sie mit etwas ausstatteten, was man
>moralischen< Inhalt nennen könnte. Weil Rollen und Verantwortlichkei
ten zugewiesen werden, pflegen Anschuldigungen und Verhandlungen zu
folgen. Im Prinzip ist nichts und niemand vor einer solchen Denunzierung
geschützt. Im Fall des Elektrizitätsnetzwerkes wurden die Benutzer be�
schuldigt, den Vertrag mit dem Zähler nicht zu respektieren. Die Elektrizi
tätsgesellschaft beschuldigte jedoch auch einige der Zähler, den Vertrag
nicht zu repräsentieren. Im Fall der fotoelektrischen Anlagen waren es die
Elektriker und indirekt die Hersteller, die sich selbst durch die Einwirkung
des Kontrollgeräts auf der Anklagebank wieder fanden. Tatsächlich kann
die Geschichte der Anlagen als lange Reihe reziproker Anschuldigungen
gelesen werden. Die Industriellen pflegten zu argumentieren, dass, falls sie
(technisch) nicht funktionierten, sie (sozial) missbräuchlich verwendet
würden. Die Benutzer oder jene, die ihre Repräsentanten zu sein bean
spruchten, argumentierten, dass, wenn sie sozial nicht funktionierten, das
deshalb der Fall war, weil sie technisch schlecht konzipiert waren. Hier
sehen wir nun eine beinahe perfekte >Umkehrreaktion<, die den Mangel an
Beziehungen zwischen Designern und Benutzern durch die Anlage ent
hüllte. Die Benutzer interessierten die Hersteller nicht; sie waren nur in
dem Maß wichtig, als sie ermöglichten, zum Ministerium für Übersee
Entwicklung zu gehen und um Unterstützung für ein Produkt nachzusu
chen, das bislang noch keinen Markt hatte. Und bei dieser Interaktion hatte
die Anlage tatsächlich nichts zu tun. Eher wurden die Benutzer wie eine Art
Instrument zum Aufbau einer Beziehung zwischen den Herstellern und
der Regierung behandelt.
Im Fall des Elektrizitätsnetzwerkes war die Situation ziemlich anders.
Es ist schwierig, sich ein plausibles Argument für den illegalen Anschluss
ans Netzwerk vorzustellen - eines, bei dem das Elektrizitätsnetzwerk auf
der Anklagebank säße. Der Grund dafür ist, dass das Netzwerk eine ganze
Reihe von Beziehungen konfiguriert hat. Ich habe bereits den Zähler
erwähnt und die Art, in der er mit der Zuweisung von Eigentum verbun
den war. Aber Beziehungen wurden vom Netzwerk auf viele andere Arten
strukturiert. Zum Beispiel tendierte es auch dazu, Lebensraum zu stabili
sieren. Der Grund dafür war, dass aus Gründen der Sicherheit und als
r
DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE 1 425
12 1 Die Frage des >Zusammenbruchs, ist für dieses Thema relevant und ver
dient weitere Betrachtung. Ein >Zusammenbruch, ist eng mit der Definition eines
technischen Objekts verbunden, die ich vorgeschlagen habe. Der Grund dafür ist,
dass er nur als Teil der Praxis verstanden werden kann, d.h. als Kollaps einer Bezie·
hung zwischen einem Teil eines Apparates und seiner Verwendung. Ein Zusam
menbruch ist also der Test der Solidität des soziotechnischen Netzwerkes, das sich
durch das technische Objekt materialisiert. Die Schnelligkeit, mit der die Suche
nach Ursachen für den Zusammenbruch abgeschlossen werden kann, ist ein Maß
dieser Solidität.
13 1 Vielleicht wäre es besser zu sagen, dass die Stabilisierung eines technischen
Objekts untrennbar mit der Konstituierung einer Form von Wissen von großer oder
geringer Signifikanz verbunden ist. Diese Hypothese wird durch den von Misa
426 1 MADELEINE ÄKRICH
Tarife für viel und wenig verbrauchende private Benutzer, für Werkstätten
und für Industrieverbraucher ansetzt, findet sie Wege, verschiedene soziale
Schichten zu charakterisieren und zu identifizieren. Wenn sie auch Kate
gorien wählt, die in anderen sozioökonomisch-politischen Netzwerken
verwendet werden, kann das von ihr produzierte Wissen >exportiert< wer
den. >Daten< können also aus dem Netzwerk gezogen und an einen ande
ren Ort übermittelt werden, z.B. zu Ökonomen, die an einer Beziehung
zwischen den Energiekosten oder dem Bruttosozialprodukt und dem
Konsum interessiert sind. Die Konversion soziotechnischer in reine und
einfache Fakten hängt jedoch von der Fähigkeit ab, technische Objekte in
Black Boxes umzuwandeln. In anderen Worten: Indem sie unentbehrlich
werden, müssen Objekte sich selbst auslöschen. Ich werde das mit einem
Beispiel aus Burkina Faso illustrieren.
Burkina Faso ist ein Entwicklungsland mit einem kleinen Elektrizitäts
netzwerk. In den letzten Jahren war es Regierungspolitik, die Stadtzentren
zu elektrifizieren. Das erste Problem für die Ingenieure und Techniker
war, den potentiellen Bedarf einzuschätzen und zu entscheiden, wie groß
das Netzwerk sein sollte. Zwei verschiedene Ansätze wurden verfolgt. Die
Abteilung für Wirtschaftsforschung fragte potentielle Abonnenten, wel
chen Preis sie für Elektrizität zu zahlen bereit wären. Dieser Ansatz setzte
voraus, dass es eine Beziehung zwischen Angebot und Nachfrage gäbe und
dass der Verbrauch invers zum Preis variieren würde. Die technische Ab
teilung bediente sich einer ganz anderen Methode. Sie zeichnete Karten
der Städte, grenzte die bebauten Gebiete ab und vermerkte die Charakteris
tika der Häuser (groß oder klein, permanent oder temporär usw.). Auf der
Grundlage dieser Karte entwarfen sie ein Netzwerk, das rechtlich, wirt
schaftlich und technisch umsetzbar wäre - ein Netzwerk, das von öffentli
chem Raum Gebrauch machen und nur permanente Gebäude und Regie
rungseinrichtungen bedienen würde.
Die von den beiden Ansätzen erzielten Ergebnisse waren ziemlich
verschieden. Im Besonderen legte der geographische und rechtliche Ansatz
der technischen Abteilung den Bedarf nach einem weit größeren Netzwerk
nahe als der marktgeführte Ansatz der Abteilung für Wirtschaftsforschung.
Die Letztgenannte hatte agiert, als ob es keinen Bedarf für technische Ver
mittlung zwischen Preis und Konsum gäbe. Sie nahm an, dass diese Be
ziehung eine naturbedingte Tatsache war, die durch das Elektrizitätsnetz
werk eine konkrete Form erhielt. In gewisser Weise wurde sie vom Natura
lisierungseffekt irregeführt, der auftritt, wenn technische Systeme voll
kommen in soziale Gewebe integriert sind. Erst wenn das vom Designer
erdachte Skript ausgeführt wird - ob konform zu den Absichten des Desi
gners oder nicht -, stabilisiert sich ein integriertes Netzwerk technischer
beschriebenen Fall (r992) klar unterstützt: Dort wurden eine Industrie, ein Markt
und der Begriff davon, was als »Stahl« zählen sollte, gleichzeitig konstruiert.
·F
DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE 1 427
Literatur
14 1 Wie bekannt ist, hat Foucault (1975) die Bindeglieder zwischen der Technik
der Strafanstalt, Machtbeziehungen und neuen Formen von Wissen beschrieben.
428 1 MADELEINE AKRICH
JOHN LAw
Einleitung
1 1 Diese ist das Produkt einer Gruppe von Soziologen, die mit dem Centre de
Sociologie de !'Innovation der Ecole Nationale Superieure des Mines in Paris ver
bunden sind oder dort in einigen Fällen auch vor Ort arbeiten. Die Autoren, die mit
diesem Ansatz verbunden sind, schließen Madeleine Alaich (1989a, 1989b, 1992),
Geof Bowker (1988, 1992), Michel Callon (1980, 1986*, 1987, 1991 und Callon/La
tour 1981; Callon/Law/Rip 1986), Alberto Cambrosio (1990), Antoine Hennion
(1985, 1989, 1990), Bruno Latour (1985*, 1986, 1987*, 1988a, 1988b, 1990*, 1991a,
1991b, 1992a, 1992b), John Law (1986a*, 1986b, 1987, 1991a, 1991b, 1992 und
Law/Bijker 1992; Law/Callon 1988*, 1992), Cecile Medeal (vgl. Hennion/Medeal
430 1 JOHN LAW
satz, der Gegenstand der vorliegenden Notizen ist. Diese auch als »Sozio
logie der Übersetzung« bekannte Theorie befasst sich mit den Mechanis
men der Macht und legt nahe, die Großen in der Praxis auf genau dieselbe
Weise wie jeden anderen zu analysieren. Damit soll natürlich nicht geleug
net werden, dass die Nabobs dieser Welt mächtig sind- sie sind es tatsäch
lich; darzustellen ist stattdessen, dass sie sich dennoch soziologisch nicht
von den Machtlosen dieser Welt unterscheiden. Dazu wird folgende Argu
mentation verwendet: Wenn wir die Mechanismen von Macht und Organi
sation verstehen wollen, ist es wichtig, nicht mit einer Annahme dessen zu
beginnen, was wir erklären wollen. Es ist z.B. eine gute Idee, nicht als
selbstverständlich anzunehmen, dass es einerseits ein makro-soziales Sys
tem gibt, andererseits davon abgeleitete mikro-soziale Details existieren.
Wenn wir diese nämlich annehmen, schließen wir die meisten interessan
ten Fragen nach dem Ursprung von Macht und Organisation schon von
Anfang an aus. Stattdessen sollte man ganz von vom- z.B. mit der Interak
tion - beginnen und annehmen, Interaktion sei alles, was zur Verfügung
stehe. Dann könnte man fragen, weshalb einige Arten der Interaktion sich
mehr oder weniger erfolgreich stabilisieren und reproduzieren, wie sie
Widerstände überwinden und einen >makro-sozialen< Charakter anzuneh
men scheinen, wie sie solche bekannten Effekte wie Macht, Ruhm, Größe,
Breitenwirkung und Organisation erzeugen. Darin besteht nun eine der
Hauptannahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie: dass weder die Napoleons
sich von Kleinkriminellen, noch die IBMs von Marktständen unterschei
den. Falls sie größer sind, sollten wir erforschen, woher das kommt - wie
Größe, Macht oder Organisation erzeugt werden.
Ich beginne diese Notizen mit der Untersuchung der Metapher des
heterogenen Netzwerkes. Sie liegt im Kern der Akteur-Netzwerk-Theorie
und besagt, dass die Gesellschaft, Organisationen, Akteure und Maschinen
Effekte sind, die in strukturierten Netzwerken diverser (nicht nur mensch
licher) Materialien erzeugt werden. Dann betrachte ich die Konsolidierung
von Netzwerken, besonders den Aspekt, weshalb Netzwerke manchmal als
einzelne punktuelle Akteure wahrgenommen werden, weshalb wir z.B.
über >die britische Regierung< sprechen können, statt über die Einzelkom
ponenten, aus denen sie besteht. Darauf folgend untersuche ich den Cha
rakter von Netzwerk-Ordnung und plädiere dafür, diesen ungewissen
Prozess der Überwindung von Widerständen eher als Verb denn als ein
durch ein Substantiv ausgedrücktesfait accompli zu betrachten. Schließlich
diskutiere ich die Materialien und Strategien der Netzwerk-Ordnung und
beschreibe einige organisationsrelevante Resultate der Akteur-Netzwerk-
1986, 1989), Arie Rip (1986) und Susan Leigh Star (1990b, 1991* und Star/Grie
semer 1989) ein. Die mit einem Sternchen versehenen Beiträge sind vielleicht mit
dem Ansatz nicht so vertrauten Lesern eine Hilfe.
NOTIZEN ZUR AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 431
Theorie. Besonders betrachte ich dabei, inwieweit die Bildung von Mustern
institutionelle und organisatorische Effekte - einschließlich Hierarchie
und Macht - erzeugt.
r
Kommunikation, da er meine Aussagen verstärkt und den Studenten
i! wenig Gelegenheit zu einer Entgegnung bleibt (Thompson 1990). In einer
I!
,, ,i anderen Welt ginge das vielleicht anders vor sich: Die Studenten könnten
das Podium stürmen und den Projektor in ihre Gewalt bringen. Oder sie
könnten mich einfach ignorieren, wenn ich eine schlechte Vorlesung halte.
Aber das alles tun sie nicht - und während sie diese Handlungen unterlas
sen, nimmt der Projektor weiter an unserer sozialen Beziehung teil, indem
li: er hilft, die Beziehung zwischen dem Vortragenden und den Studenten zu
definieren. Er ist damit Teil des Sozialen und wirkt auf sie, um die Art
ihrer Handlungen zu beeinflussen.
i
j
!11
iiir;
NOTIZEN ZUR AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 433
logischer und ontologischer Ansätze auf die Füße tritt. Im Speziellen pro
pagiert sie die Idee, dass es zwischen Personen auf der einen Seite und
Objekten auf der anderen keinen Wesensunterschied gibt. Sie bestreitet,
dass Personen notwendigerweise eine Sonderstellung einnehmen und
wirft stattdessen die grundlegende Frage danach auf, was wir genau mei
nen, wenn wir von <Personen< sprechen. Verständlicherweise bringt das
die Alarmglocken des ethischen und epistemologischen Humanismus zum
Läuten. Was machen wir daraus? Eine Erklärung und eine Argumentation.
Zunächst zur Erklärung. Wir müssen zwischen Ethik und Soziologie
unterscheiden, wobei eine die andere informieren sollte, auch wenn sie
nicht identisch sind. Wenn man nun behauptet, es gäbe keinen fundamen
talen Unterschied zwischen Personen und Objekten, bezieht man eine
analytische Position, keine ethische. Eine solche Behauptung beinhaltet
auch nicht, dass man nun alle Personen in seinem Leben wie Maschinen
behandeln muss und ihnen die Rechte, Pflichten und Verantwortungen,
die wir normalerweise mit Menschen verbinden, vorenthält. Tatsächlich
sollte man sie dazu verwenden, ethische Fragen über den speziellen Cha
rakter des Menschseins präziser zu formulieren, z.B. in schwierigen Fällen
wie etwa der Lebenserhaltung durch die Technik der Intensivmedizin.
Das analytische Argument kann auf verschiedenen Wegen angegangen
werden. Wie der Soziologe Steve Woolgar (1991) und die Technikpsycho
login Sherry Turkle (1984) könnte ich argumentieren, dass die Trennungs
linie zwischen Menschen und Maschinen (bzw. Tieren) Verhandlungen
und Veränderungen unterworfen ist. Daher lässt sich leicht zeigen, dass
Maschinen (und Tiere) Attribute wie Unabhängigkeit, Intelligenz und
persönliche Verantwortung erhalten und wieder einbüßen; umgekehrt
nehmen Menschen die Attribute von Maschinen und Tieren an und verlie
ren sie wieder.
Ich werde auf eine andere Art weiter argumentieren, indem ich - analy
tisch - behaupte, dass, was als Person zählt, ein Effekt ist, der von einem
aus heterogenen, interagierenden Materialien bestehenden Netzwerk er
zeugt wird. Dieses Argument entspricht fast genau dem, das ich oben
bereits über das wissenschaftliche Wissen und die soziale Welt als Ganzes
vorgebracht habe. In eine Behauptung über Menschen umgewandelt, be
sagt es jedoch: Personen sind die, die sie sind, weil sie aus einem struktu
rierten Netzwerk heterogener Materialien bestehen. Wenn man mir mei
nen Computer, meine Kollegen, mein Büro, meine Bücher, meinen
Schreibtisch, mein Telefon nähme, wäre ich kein Artikel schreibender,
Vorlesungen haltender, »Wissen« produzierender Soziologe mehr, son
dern eine andere Person. Vergleichbares träfe sicher auf uns alle zu. Die
analytische Frage muss also lauten: Ist ein Akteur primär aus dem Grund
ein Akteur, weil er oder sie einen Körper bewohnt, der Wissen, Kompeten
zen, Werte und vieles mehr beherbergt? Oder ist er aus dem Grund ein
NOTIZEN ZUR AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 435
Akteur, weil er über einen Satz von Elementen (darunter natürlich auch
über einen Körper) verfügt, die sich über ein Netzwerk von somatischen
und anderen Materialien erstrecken, die jeden Körper umgeben?
Erving Goffman (1968) antwortet auf diese Fragen, dass Requisiten
wichtig seien, dass sich jedoch die moralische Karriere geisteskranker
Patienten nicht auf Requisiten reduzieren lasse. Akteur-Netzwerk-Theorie
und symbolische Interaktion (Star 1990a, 1992) bieten eine ähnliche Ant
wort an. Weder leugnen sie, dass menschliche Wesen normalerweise über
Körper verfügen (aber wie verhält es sich mit Banquos Geist und Karl
Marx' Schatten?), noch stellen sie in Abrede, dass Menschen -wie z.B. die
von Goffman beschriebenen Patienten in Heilanstalten - ein inneres
Leben haben. Allerdings bestehen sie darauf, dass soziale Akteure nicht
ausschließlich in Körpern festgelegt sind, sondern dass ein Akteur ein
strukturiertes Netzwerk heterogener Beziehungen oder einen von einem
solchen Netzwerk produzierten Effekt umfasst. Die Argumentation besagt
weiter, dass Attribute wie Denken, Handeln, Schreiben, Lieben, Verdienen,
die wir für gewöhnlich Menschen zuschreiben, in Netzwerken erzeugt
werden, die durch den Körper verlaufen oder sich innerhalb und weiter
außerhalb des Körpers verzweigen. Darauf, dass ein Akteur auch immer
aus einem Netzwerk besteht, lässt sich die Bezeichnung Akteur-Netzwerk
zurückführen.
Die Aussage lässt sich einfach verallgemeinern. So besteht eine Ma
schine z.B. ebenfalls aus einem heterogenen Netzwerk, aus einem Satz von
Rollen, die von technischem Material und auch menschlichen Komponen
ten -wie Operatoren, Benutzern oder Reparatur- und Wartungspersonal -
gespielt werden. Genauso verhält es sich bei einem Text. Alle diese Netz
werke partizipieren am Sozialen; das gilt auch für Organisationen und
Institutionen; diese sind mehr oder weniger instabil strukturierte Rollen,
gespielt von Personen, Maschinen, Texten oder Gebäuden, die alle Wider
stand leisten können.
Pu n ktua I isieru ng
Aus welchem Grund sind wir uns gelegentlich -aber nur gelegentlich -
der Netzwerke bewusst, die hinter einem Akteur, einem Objekt oder einer
Institution liegen und diese konstituieren? Für die meisten von uns stellt
ein Fernsehgerät z.B. die meiste Zeit ein einzelnes, zusammenhängendes
Objekt mit relativ wenigen sichtbaren Teilen dar. Wenn es aber plötzlich
defekt ist, verwandelt es sich schnell für denselben Benutzer - und erst
recht für den Monteur -in ein Netzwerk elektronischer Komponenten und
menschlicher Interventionen. In einem anderen Fall repräsentierte die
BCCI-Bank für jede durchschnittliche kleine Geschäftsperson einen zu-
436 1 JOHN LAW
3 1 Dies ist eine der Stellen, an denen sich die Akteur-Netzwerk-Theorie mit der
Organisationssoziologie deckt: Die Affinität zwischen diesem Argument und der
Theorie des institutionellen Isomorphismus ist offensichtlich.
4 1 In dieser Hinsicht bestehen Ähnlichkeiten mit verschiedenen anderen ge
genwärtigen Sozialtheorien. Man denke z.B. an Giddens' Idee der »Strukturierung«
(1984), Elias' Theorie der »Figuration« (1978) oder Bourdieus Konzept des »Habi
tus« (1989).
438 1 JOHN LAW
5 1 Dieses Interesse an einer impliziten Strategie stimmt wieder mit der Sozio
logie Foucaults überein. Vgl. z.B. Foucault (1981: 94f.).
NOTIZEN ZUR AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 441
Fazit
Ich habe oben die Akteur-Netzwerk-Theorie beschrieben und vorgeschla
gen, sie als relationale und prozessorientierte Soziologie zu betrachten, die
Akteure, Organisationen und Vorrichtungen als interaktive Effekte behan
delt. Dabei habe ich einige Erzeugungsweisen solcher Effekte berührt und
ihre Heterogenität, ihre Unsicherheit und ihren anfechtbaren Charakter
betont; speziell habe ich darauf verwiesen, dass soziale Strukturen besser
als Verb denn als Substantiv betrachtet werden sollten.
Offensichtlich teilt dieser Ansatz einige Gemeinsamkeiten mit anderen
Soziologien; sein relationaler Materialismus unterscheidet ihn jedoch
erheblich von ihnen. Sicherlich stellt der Materialismus keinen neuen
Aspekt der Soziologie dar; jedoch haben sich Materialismus und soziale
Beziehungen als nicht immer ideale Weggefährten erwiesen. In einigen
der besten Soziologien wie dem Marxismus und dem Feminismus haben
sie interagiert. Gleichermaßen üblich war es, sie als natürlicherweise art
verschieden, als Dualismus statt als Kontinuität zu betrachten. Während
die Dualismen in der Soziologie langsam fallen, tritt der Akteur-Netzwerk
Ansatz mit einer radikalen Haltung auf die Bühne, da er nicht nur die
analytischen Unterscheidungen zwischen Handlungsfähigkeit und Struk
tur, zwischen dem Makro- und dem Mikro-Sozialen auslöscht, sondern uns
zudem auffordert, unterschiedliche Materialien - Personen, Maschinen,
>Ideen< und all die übrigen - als interaktionale Wirkungen statt als primiti
ve Ursachen zu behandeln. Somit stellt der Akteur-Netzwerk-Ansatz eine
Theorie der Akteurschaft, eine Theorie des Wissens und eine Theorie der
Maschinen dar; von noch größerer Wichtigkeit ist ihre Aussage, dass wir
soziale Effekte - ganz gleich welcher materieller Form - erforschen sollten,
wenn wir die Fragen nach dem >Wie< von Strukturen, Macht und Organisa
tion beantworten wollen. Das Basisargument lässt sich folgendermaßen
zusammenfassen: Insofern die <Gesellschaft< sich selbst rekursiv reprodu-
442 1 JOHN LAW
ziert, tut sie dies aufgrund ihrer materiellen Heterogenität. Eine Soziologie,
die Maschinen und Architekturen nicht genauso wichtig wie Personen
nimmt, wird das Reproduktionsproblem niemals lösen.
Was hat die Akteur-Netzwerk-Theorie der Organisationssoziologie zu
sagen? Zunächst einmal definiert sie eine Anzahl von Fragen zur Erfor
schung der instabilen Organisationsmechanismen. Oben habe ich darge
legt, dass diese Fragen auf unterschiedliche Arten formuliert werden; es ist
hilfreich, einerseits zwischen den auf Organisationsmaterialien und ande
rerseits den auf Organisationsstrategie abzielenden Fragen zu unterschei
den. Wenn also die Akteur-Netzwerk-Theorie den Charakter von Organisa
tionen erforscht, behandelt sie dies als Wirkung oder Konsequenz - als den
Effekt von Interaktion zwischen Materialien und Strategien von Organisa
tionen.
Dies sind die Fragen, die sie Organisationen und den ihnen vorstehen
den Mächtigen stellt: Welche Arten heterogener Einzelelemente werden
geschaffen oder mobilisiert und dann nebeneinander gestellt, um organisa
torische Effekte zu erzeugen? Wie werden sie nebeneinander gestellt? Wie
werden Widerstände überwunden? Auf welche Weise (wenn überhaupt)
wird die für eine organisatorische Musterbildung sozialer Beziehungen
notwendige Materialdauerhaftigkeit und Transportfähigkeit erreicht? Wel
che Strategien werden als Teil davon innerhalb der sozialen Netzwerke
ausgeführt? Wie weit verbreiten sie sich? Wie weit reichend werden sie
ausgeführt? Wie interagieren sie? Wie wird (wenn überhaupt) der Versuch
organisatorischer Kalkulation gemacht? Wie werden die Ergebnisse dieser
Kalkulation (wenn überhaupt) in Handlung übersetzt? Wie können (wenn
überhaupt) die eine Organisation erzeugenden, heterogenen Einzelelemen
te eine asymmetrische Beziehung zwischen Peripherie und Zentrum er
zeugen? Auf welche Weise kann mit anderen Worten ein Zentrum für den
zur Peripherie gewordenen Teil sprechen und von seinen Bemühungen
profitieren? Wie kann ein so genannter >Manager< etwas >managen<?
Wenn man den Sachverhalt auf diese Weise betrachtet, stellt eine
Organisation eine Leistung, einen Prozess, eine Folge, eine Reihe über
wundener Widerstände, einen instabilen Effekt dar. Ihre Komponenten -
die Hierarchien, organisatorischen Arrangements, Machtbeziehungen und
Informationsflüsse - sind unsichere Folgen des Ordnens heterogener
Materialien. Auf diese Weise wirkt die Akteur-Netzwerk-Theorie analysie
rend und die Macht der Mächtigen entrnystifizierend. Sie besagt, dass es in
letzter Instanz keinen grundsätzlichen Unterschied, keine große Tren
nungslinie zwischen den Mächtigen und den Machtlosen gibt. Dann führt
sie aber weiter aus, dass es so etwas wie eine letzte Instanz nicht gibt. Und
da sie nicht existiert, gibt es in der Praxis tatsächlich reale Unterschiede
zwischen den Mächtigen und den Machtlosen; Unterschiede, die allerdings
in den Methoden und Materialien liegen, die sie einsetzen, um sich selber
zu erzeugen. Unsere Aufgabe besteht darin, diese Materialien und Metho-
NOTIZEN ZUR AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 443
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446 1 JOHN LAW
Stellen Sie sich ein technologisches Projekt vor, das ein paar Jahre dauert,
die Mobilisierung von zehntausenden oder hunderttausenden von Arbei
tern, Designern, Managern und eine Fülle von heterogenen Einzelteilen
und -teilchen einschließlich Designs, Teilen, Maschinenwerkzeugen und
einer Menge mehr involviert. Stellen Sie sich vor, dass dieses Projekt in
einer sich ständig verändernden Umwelt entwickelt wird - dass sich An
forderungen, Interessen und sogar die Akteure selbst im Verlauf seines
Lebens verändern. Stellen Sie sich vor, dass nicht hunderte, sondern hun
derte von tausenden von Entscheidungen gefällt werden. Und stellen Sie
sich vor, dass es am Ende in einer Flut gegenseitiger Vorwürfe und Enttäu
schungen eingestellt wird. Wie können wir ein solches Projekt auf eine
Weise beschreiben, die mehr ist als >einfache< Geschichte? Wie können wir
es auf eine Weise beschreiben, die für die Analyse anderer Projekte und
technischer Innovationen relevant ist? Wie können wir die Entscheidung,
das Projekt zu beenden, erklären? Wie können wir sein Fehlschlagen erklä
ren? Und wie können wir das auf eine Art tun, die uns vermeiden hilft,
Partei zu ergreifen?
Obwohl das Interesse an der sozialen Analyse von Technik seit kurzem
gewachsen ist, sind nur wenige gegenwärtig verfügbare Werkzeuge wirk
lich nützlich. Unser Problem besteht darin, dass es zu einfach ist (obwohl
ein Funke Wahrheit enthalten ist) zu sagen, dass der Kontext den Inhalt
beeinflusst und er gleichzeitig von ihm beeinflusst wird. Was wir brau
chen, ist ein Werkzeug, das es möglich macht, die Koevolution dessen, was
wir normalerweise als soziotechnischen Kontext und soziotechnischen
Inhalt voneinander abgrenzen, zu beschreiben und zu erklären. In neueren
Arbeiten haben wir eine Netzwerkmetapher verwendet, um zu versuchen,
diese Art von Prozess zu verstehen (Callon/Law 1989). Wir haben die Art
448 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON
betrachtet, in der ein Akteur versucht, das, was wir ein globales Netzwerk
nennen, zu mobilisieren und zu stabilisieren, um Ressourcen zu erlangen,
mit denen er ein Projekt >baut<. In unserer Sprache ist ein globales Netz
werk dann eine Reihe von Beziehungen zwischen einem Akteur und
seinen Nachbarn einerseits und zwischen diesen Nachbarn andererseits.
Es ist ein Netzwerk, das - absichtlich oder nicht - aufgebaut wurde und
das einen Raum, eine Zeitspanne und eine Menge von Ressourcen erzeugt,
worin Innovationen stattfinden können. Innerhalb dieses Raums - wir
nennen ihn einen Verhandlungsraum - kann der Prozess des Aufbaus eines
Projektes als die Artikulation eines lokalen Netzwerkes behandelt werden,
d.h. als die Entwicklung einer Aufstellung einer heterogenen Menge von
einzelnen Teilen, die für die erfolgreiche Produktion jeder funktionieren
den Vorrichtung notwendig ist. Wir haben angeregt, dass die Ideen von
Kontext und Inhalt, die in der Wissenschafts- und Techniksoziologie als
allgemeine analytische Instrumente verwendet werden, überwunden wer
den, wenn man Projekte als Balanceakte behandelt, in denen heterogene
Elemente sowohl von >innerhalb< als auch von >außerhalb< des Projekts
einander gegenübergestellt werden.
In diesem Beitrag treiben wir unsere Analyse noch einen Schritt weiter,
indem wir die Dynamik eines großen britischen Luft- und Raumfahrtpro
jekts betrachten. Wir betrachten die Art, in der die Manager dieses Projekts
ihr Projekt in einem globalen Netzwerk zu positionieren suchten, um die
für den Bau und den Erhalt eines lokalen Netzwerkes benötigte Zeit und
die Ressourcen zu erhalten. Und wir diskutieren die Art, in der die Form
des Projekts nicht nur von den Bemühungen jener Manager. beeinflusst
wurde, sondern auch von den Ereignissen und Strategien, die die Form des
globalen Netzwerkes beeinflussten. Damit verfolgen wir die Strategien und
Eventualitäten, die zur Schaffung sowohl des lokalen als auch des globalen
Netzwerkes führten, die Geschicke oder die Manager, wie sie beide Netz
werke zu gestalten und die Beziehungen zwischen ihnen zu kontrollieren
suchten, und den schließlichen Zusammenbruch des Projekts, als die
Beziehungen zwischen ihnen letztlich vollständig unkontrollierbar wurden.
In einem gewissen Sinn ist unsere Geschichte banal. Sie ist die Be
schreibung eines großen militärischen Technikprojekts, das falsch lief.
Aber obwohl dieses Projekt von beträchtlichem Interesse für die Geschich
te der britischen Luft- und Raumfahrt ist, liegt unser Ziel hier nicht primär
darin, der Reihe der Berichterstattung über militärische Verschwendung
noch etwas hinzuzufügen. Unser Vorhaben ist eher analytisch. Uns ist die
Entwicklung eines Vokabulars zur Analyse wichtig, das uns gestattet, alle
Versuche, dauerhafte Institutionen zu bauen, zu beschreiben und zu erklä
ren. Analytisch sieht man die Tatsache des Fehlschlagens der gegenwärti
gen Projekte am besten als methodologische Zweckmäßigkeit: Die Fehl
schläge umgebende Kontroverse tendiert dazu, Prozesse zu enthüllen, die
im Falle erfolgreicher Projekte und Institutionen versteckt sind.
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 449
1 1 Hier übernehmen wir das methodologische Prinzip von Latour (1987) und
»folgen den Akteuren«.
450 J JOHN LAW UND MICHEL GALLON
Partnerschaft mit einer anderen Firma, »English Electric«, ein, die den
erfolgreichen Leichtbomber »Canberra« und das Überschall-Kampfflug
zeug »Lightning« geplant und hergestellt hatte. »English Electric« hatte
jedoch seinen eigenen Entwurf mit dem Code-Namen P17A eingereicht,
ein detailliertes aerodynamisches Flugwerkdesign für einen 60.000 bis
70.000 Pfund schweren Mach-2-Schlagbomber mit Deltaflügeln, zwei
Triebwerken und zwei Sitzen (Hastings 1966: 30; Williams/Gregory/
Simpson 1969: 18; Woods 1975: 155). Obwohl die P17A vielen Spezifikatio
nen von GOR 339 entsprach, fehlte im die Allwettertauglichkeit und die
Fähigkeit zu schnellem Take Off (Williams/Gregory/Simpson 1969: 18).
»English Electric« begegnete den letztgenannten Schwachpunkten mit der
Argumentation, dass die Fähigkeit zu schnellem Take Off nicht die dring
lichste Anforderung war (die ihrer Meinung nach der Ersatz der »Canber
ra« war); stattdessen schlugen sie vor, dass dies zu einem späteren Zeit
punkt durch eine Plattform gewährleistet werden sollte, die die P17A in die
Luft hob, lancierte und barg. Diese Plattform sollte von »Short Brothers«
entworfen und gebaut werden, die ein entsprechendes Design eingereicht
hatten (Hastings 1966: 29; Williams/Gregory/Simpson 1969: 18; Wood
197s: 155).
Mit den mobilisierten Flugwerkherstellern und einer Reihe Eingaben
begann die zweite Stufe in der Erarbeitung eines lokalen Netzwerkes - die
Überlegung, welches Design oder welche Kombination von Designs die
Anforderungen, die mit benachbarten Akteuren verhandelt worden waren,
am besten erfüllen konnte. Obwohl das schlanke Design von »Vickers«
vom Schatzamt favorisiert wurde, weil es wahrscheinlich relativ billig sein
würde, war die große Eingabe besonders attraktiv für das »Air Staff«, die
RAF und Teile des Verteidigungsministeriums. Der Grund dafür war, dass
es sowohl die Verpflichtung des »Air Staff« zu einem Flugzeug mit schnel
lem Take Off (das groß sein musste, weil es zwei mächtige Triebwerke
brauchen würde) als auch den Waffensystemansatz stärkte. »Air Staff«,
Verteidigungsministerium und »Ministry of Supply« waren auch beein
druckt von der integrierten Designphilosophie, die von der Firma vertreten
wurde, und wurden überzeugt, dass »Vickers« die Managementkapazität
hatte, um ein komplexes Projekt zu kontrollieren und zu integrieren (Wood
197s: 158; Gardner 1981: 33). Sie waren jedoch auch beeindruckt von der
Eingabe von »English Electric«, der allgemein ein »First-Class-Design«
eingeräumt wurde (Wood 197s: 155), das das Produkt reicher Erfahrung mit
Überschallflugzeugen war und auch den Vorteil hatte, dass sie kurzfristig
bereits existierende Avionikausrüstung verwenden konnte. Obwohl der
Kontakt zwischen den beiden Firmen eingeschränkt war (»English Elec
tric« war vertraglich an »Short Brothers« gebunden), hatte »Vickers« zu
sätzlich seinem Wunsch Ausdruck verliehen, »English Electric« zum Part
ner zu haben. Entsprechend kam das »Air Staff« zum Schluss, dass eine
Verbindung des großen »Vickers«-Typs 571 mit dem »English Electric«-
t
1
;r,
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 455
p17A sowohl angemessen als auch in der Lage wäre, zur Mobilisierung von
Akteuren im globalen Netzwerk zu dienen.4
Entsprechend kehrte das »Air Staff« im Juni 1958 mit einem mutmaß
lichen Design und potentiellen Kontraktoren in Reichweite in das globale
Netzwerk zurück. Sie gingen ausdrücklich zum »Defence Research Policy
Committee« (Gardner 1981: 32). Diese Gruppe war verantwortlich für die
Gesamtkontrolle von Verteidigungsanschaffungen. Als Teil ihrer Rolle
schätzte sie die Priorität von Projekten ein, die von Verbraucherdiensten
und geeigneten Versorgungsabteilungen vorgelegten wurden, und schrieb
ihnen diese Priorität auch zu (Williams/Gregory/Simpson 1981: 32).
schl ießlich wurde die Zustimmung auf Kabinettsebene erlangt und GOR
339 wurde früh im Jahr 1959 durch eine dichtere, technischere und defini
tivere Anforderung, das »Operational Requirement« (OR) 343 (Gardner
1981: 33; Wood 1975: 158) und eine damit zusammenhängende Spezifika
tion des »Ministry of Supply« RB 192 (Gunston 1974: 41) ersetzt.5 Alles
war nun an seinem Platz: Ein erstes Netzwerk lokaler Akteure war mobili
siert worden und hatte dazu beigetragen, die Vermittler zu schaffen, die
gebraucht wurden, um die globalen Akteure zu befriedigen oder ihre Ein
wände zu beseitigen. Dem Design für ein lokales Netzwerk von Firmen,
technischen Komponenten, Managementprozeduren und allem Übrigen
»Vickers« und »English Electric« warteten nicht darauf, dass ihnen die
Verträge formell zuerkannt wurden. Spät im Jahr 1958 machten sie sich an
die schwierige Aufgabe, ein permanentes lokales Netzwerk von Designern,
Designs, Produktionsteams, Management und Subkontraktoren aufzubau
en, das die Konstruktion von TSR.2 innerhalb der Zeit und des von be
nachbarten Akteuren erlaubten Budgets zustande bringen würde. Der erste
Schritt bestand darin, zwei getrennte industrielle Organisationen und
Designs zu integrieren und zu übernehmen. Mehrere Probleme mussten
in diesem Prozess der Gestaltung und Mobilisierung eines lokalen Netz
werkes überwunden werden. Zuerst einmal hatten die Designer, die zuvor
in zwei Teams etwa 200 Meilen voneinander entfernt gearbeitet hatten,
recht verschiedene Zugänge zum Design. Das »Vickers«-Team, das in
Weybridge in Surrey und in der Nähe von Winchester in Hampshire
seinen Sitz hatte, hatte sich auf elektronische Systeme, Flugsysteme im
Allgemeinen, Rumpfdesign und kurze Abhebe- und Landemanöver kon
zentriert (Williams/Gregory/Simpson 1969: 29). Das »English Electric«
Team hatte seinen Sitz in Warton in Lancashire und hatte sich auf die
Überschallaspekte des Designs und die Implikationen des Fluges auf nie
driger Höhe konzentriert und - wie wir feststellten - das detailliertere
Flugwerkdesign vorgelegt. Der Prozess des gegenseitigen Kennenlernens
und konkreten Zusammenarbeitens war schwierig, jedoch im Allgemeinen
am Ende erfolgreich (Beamont 1968: 137; Beamont 1980: 134; Williams/
Gregory/Simpson 1969: 47). Ein vereintes Team von 50 Designern unter
nahm eine detaillierte Untersuchung der technischen und Designproble
me, die GOR 339 in den frühen Monaten des Jahres 1959 aufwarf. Dem
folgend entwickelte sich eine Arbeitsteilung, die die relativen Kompetenzen
der zwei Teams reflektierte: Die Weybridge-Gruppe arbeitete an Systemen,
am Kosten-Nutzen-Verhältnis und an Waffen, während sich das Warton
Team mit der Aerodynamik befasste (Wood 1975: 164).
Aber das lokale Netzwerk wurde nicht allein von Menschen gebildet.
Beispielsweise waren die von den Unterschieden zwischen den beiden
Designs aufgeworfenen Probleme zuerst beträchtlich. Die fundamentalsten
dieser Unterschiede erwuchsen aus den verschiedenen Anforderungen des
Überschallfluges einerseits und der Fähigkeit zu schnellem Take Off ande
rerseits. Hochgeschwindigkeitsflug bedeutete kleine Flügel mit kleiner
Flügelspanne, ein geringes Dicke-Tiefe-Verhältnis der Tragflächen und
einen großen Pfeilwinkel der Eintrittskante - alles Merkmale der P17A. Die
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 457
6 1 STOL = Short Take-Off and Landing, VTOL = Vertical Take-Off and Landing
[Anm. d. Hg.].
7 1 In seiner definitiven Form hatte das vorgeschlagene Flugzeug eine Flugge
schwindigkeit von Mach 0.9-1.r auf Meereshöhe und Mach 2.05 auf hoher Flughö
he; einen Einsatzradius von rooo nautischen Meilen; einen Take Off mit 3000-
458 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON
Während das Design und die Schaffung eines lokalen Netzwerkes Fort
schritte machten, gab es anhaltende Schwierigkeiten in der Interaktion
zwischen dem lokalen und dem globalen Netzwerk, das dem Ersteren zur
Existenz verholfen hatte. Wie wir bereits bemerkt haben, war das »Ministry
of Supply« im Prinzip bei der Beschaffung einem Waffensystem-Ansatz
verpflichtet - die gesamte Maschine einschließlich aller Avionik, Bewaff
nung und anderer Subsysteme sollte als Ganzes geplant werden. Aus der
Sicht des Ministeriums hatte dieser Ansatz Implikationen für das Ma
nagement:
»Da das Versagen nur eines Gliedes ein Waffensystem nutzlos machen könnte,
wäre es ideal, wenn die vollständige Verantwortung für die Koordination der ver
schiedenen Komponenten des Systems bei einem Individuum liegen würde, beim
Designer des Flugzeugs.« (Supply ofMilitary Aircraft 1955= 9)
4000 Fuß auf unebenem Gelände; einen Aufstieg von 50.000 Fuß pro Minute ab
Meereshöhe; ein Abhebgewicht von 95.000 Pfund für eine Mission von 1000 nauti
schen Meilen; eine Delta-Konfiguration der oberen Flügel mit großen Landeklappen,
jedoch ohne Kontrolloberflächen; ein großes Höhenleitwerk mit allseits beweglichen
vertikalen und horizontalen Oberflächen; zwei innen montierte Olympus-22R
Triebwerke, einen internen Waffenschacht und eine interne Brennstoffkapazität von
5588 Gallonen.
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 459
festgelegt worden waren (was die BAC zumindest glaubte). Ein Ergebnis
war, dass - zumindest aus der Sicht der BAC - der Fortschritt im Hinblick
auf eine Festlegung des Flugzeugdesigns behindert wurde (Hastings 1966:
144; Gardner 1981: I01; Williams/Gregory/Simpson 1969: 49).
2. In Anbetracht der Anzahl globaler Akteure, die das Recht hatten, ihre
Ansichten im Komitee auszudrücken, war es manchmal schwierig, eine
klare Entscheidung zu erreichen.
a) Es war oft unmöglich, eine schnelle Entscheidung von den verschie
denen Regierungsstellen zu erhalten. Hastings (1966: 160) beschreibt den
Fall eines Navigationscomputers, der in die Verantwortlichkeit einer Firma
namens »Elliott Brothers« fiel. Die Spezifikation für diesen Computer war
sehr anspruchsvoll, und »Elliott« beschloss, dass die einzige Art, in der
dieser in der zugestandenen Zeit entsprochen werden konnte, war, den
Basisrechner von »North American Autonetics« zu kaufen. Das Ministeri
um stimmte dem nicht zu, weil es die Grundlagenforschung für in der Luft
verwendete Digitalcomputer in den Jahren 1956/57 subventioniert hatte.
Schließlich akzeptierte das Ministerium » Elliotts« Sicht, aber die benötig
ten Apparaturen waren komplex und der Preis hoch. Dies brachte die
Repräsentanten des Schatzamtes ins Spiel, die darauf bestanden, dass die
Entscheidung nach einem Jahr noch einmal überprüft würde. Die gesamte
Debatte verschleppte die Entwicklung des Computers und (so argumentiert
Hastings) fügte den Kosten weitere 750.000 Pfund hinzu.
b) Bei einer Anzahl von Gelegenheiten benutzte das Schatzamt seine
Position für den Versuch, das Projekt abzusagen oder zumindest seine
Kosten zu reduzieren, und es scheint kaum zweifelbar, dass eine anfängli
che Verzögerung bei der Vergabe der Verträge teilweise eine Folge des
Widerstrebens des Schatzamtes war. Als die Struktur des Komitees 1963
weiter ausgebaut wurde, nahmen die Gelegenheiten zur Kostendiskussion
noch zu. Das »Projects Review Committee«, in dem das Schatzamt Einsitz
nahm, hatte tatsächlich keine Vertreter aus der Industrie (Hastings 1966:
38, Williams/Gregory/Simpson 1969: 82).
c) Die technischen Komitees trafen oft Entscheidungen, bei denen sie
relativ wenig an die Kosten dachten, während jene Komitees, die mit den
Kosten betraut waren, nur wenig Information über die technische Notwen
digkeit der von ihnen untersuchten Aufgaben oder wenig Kompetenzen,
diese zu bestimmen, hatten (Hastings 1966: 35, Williams/Gregory/Simp
son 1969: 22). Sicher erschien es so, dass die RAF optimale Leistung in
einer Art suchte, die sehr kostenintensiv war (Hastings 1966: 59-60). Die
Neigung des »Air Staff« zu Verzögerung wurde durch die Waffensystem
Philosophie verstärkt sowie durch einen bestimmten Entwicklungsansatz -
wobei beide den Wunsch der RAF verstärkten, sich zu vergewissern, dass
das Design >absolut richtig< war, bevor es eingefroren wurde, weil es so
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 461
Wir haben die Reaktion der »British Aircraft Corporation« auf die Tatsache
beschrieben, dass äußere Akteure ihr verweigerten, als obligatorischer
Passage-Punkt zwischen den globalen und lokalen Netzwerken des Projek
tes zu fungieren. Das verstärkte Misstrauen zwischen dem Ministerium
und der BAC war gegenseitig. Das Ministerium begann zu glauben, dass
der Generalunternehmer in der Ausübung angemessener Management
kontrolle versagte (Hastings 1966: 157; Williams/Gregory/Simpson 1969:
54). Es wurde im Besonderen angenommen, dass es keinen einzelnen
»Iran-Man«, keine einzelne Führungspersönlichkeit bei der BAC gäbe, um
das Projekt zu leiten (Wood 1975: 172), und an einem Punkt fühlte sich das
Ministerium gezwungen, die Firma sehr konkret mit dieser Ansicht zu
konfrontieren. Obwohl die Ansicht des Ministeriums nicht so gut doku
mentiert worden ist wie die der BAC, ist sehr deutlich, dass für einen
Großteil der Zeitspanne nach 1959 keiner von beiden als obligatorischer
Passage-Punkt zwischen den lokalen und globalen Netzwerken fungierte;
es gab kontinuierliche >Lecks<, als die lokalen Akteure bei ihrem globalen
Gegenüber Lobbying betrieben, was den reibungslosen Ablauf des Projekts
beeinflusste und in einigen Fällen behinderte.
Tatsächlich präsentierte die Konstruktion des lokalen Netzwerkes viele
Probleme. Das vielleicht ernsteste von ihnen betraf die Triebwerke. In der
Rückschau ist klar, dass weder das Ministerium noch »Bristol Siddeley«
wussten, worauf sie sich einließen, als der Vertrag vergeben wurde. Das
Ministerium spezifizierte die Maschinen in sehr allgemeinen Begriffen
und man dachte zuerst, dass ihre Entwicklung eine ziemlich unkomplizier
te Sache, eine Aufwertung eines existierenden Typs, der »Olympus«, sein
würde (Williams/Gregory/Simpson 1969: 27, 52). Es stellte sich heraus,
dass dem nicht so war. Das entwickelte Triebwerk hatte einen viel größeren
Schub als seine Vorgängerin und operierte bei weit höheren Temperaturen
und Druckbelastungen. Als es zuerst auf dem Prüfstand getestet wurde,
stellte sich heraus, dass seine gegossenen Rotorblätter zu brüchig waren
und es deshalb notwendig wurde, sie unter beträchtlichen - sowohl zeitli
chen als auch finanziellen - Kosten durch geschmiedete zu ersetzen (Has
tings 1966: 42; Gardner 1981: 104).
Dies war nicht die einzige Schwierigkeit, die »Bristol Siddeley« wider
fuhr. Ernsthafte Probleme erwuchsen aus dem Zusatzschubsystem; es
erwies sich als unmöglich, das fertig montierte Triebwerk im Rumpf zu
1 1
f
,1
462 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON
,-,)'
8 1 Die Entwicklung des Triebwerks und die Detektivarbeit, die mit der Diagno
se der Ursache seines Versagens verbunden war, werden bei Law (r992) detaiJliert
diskutiert.
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 463
rnehr noch ab 1962, als das politische Klima das Projekt zu unterminieren
begann - zweifelten viele Subunternehmer daran, ob das Flugzeug tatsäch
lich fliegen würde. Dieses Gefühl war ein Resultat einer anderen Art von
Leck zwischen den lokalen und globalen Netzwerken - besonders das
Wissen, dass das Projekt mächtige Gegner in der Regierung hatte. Die
Subunternehmer suchten sich selbst zu schützen (und ihre Kosten inner
halb jedes Vertrags zur Gänze zu decken), indem sie hohe Preise berechne
ten, und sie neigten auch dazu, der Arbeit wenig Priorität beizumessen
(Beamont 1968: 143; Gardner 1981: 102; Williams/Gregory/Simpson 1969:
28). Zusätzlich gab es die Tendenz, eine breite Palette an Entwicklungs
arbeit dem TSR.2 in Rechnung zu stellen, weil es das einzige fortgeschrit
tene Militärflugzeugprojekt in Großbritannien war (Gunston 1974: 53;
Gardner 1981: 102). Jedenfalls war ein Großteil der Arbeit für eine vorgän
gige präzise Kostenberechnung nicht brauchbar (Gunston 1914: 60; Willi
ams/Gregory/Simpson 1969: 27, 51). Obwohl das Ziel von Ministerium
und der BAC war, nach Möglichkeit Festpreisverträge zu vergeben, wurde
dieses Ziel für viele der wichtigsten Arbeitsbereiche nicht erreicht, weil
unerwartete technische Probleme auftraten oder die Spezifikationen der
Apparaturen verändert wurden.
II
firmen) (For-
schung, Entwick-
111,
'1 lung und Produk-
1
tion von 150 Flug-
zeugen)
;l1' 1,·
::11
jl,I
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS j 465
Endspiel
Im Herbst 1964 trat das Projekt in eine entscheidende Phase. Das lokale
Netzwerk war praktisch an Ort und Stelle: Das TSR.2 war - obwohl sehr
weit hinter dem Zeitplan zurück und mit überzogenem Budget - fast bereit
für seinen Jungfernflug. Aber die Struktur des globalen Netzwerkes hatte
sich verändert. Die Unstimmigkeiten waren nicht nur auf das Schatzamt,
die Marine, die Luftwaffe, das Ministerium für Luftfahrt und das Verteidi
gungsministerium beschränkt (tatsächlich begannen einige dieser Stellen,
ihre Ansichten über das Projekt zu ändern). Der Disput war nun öffentlich
und die konservative Regierung hatte sich selbst fest und öffentlich zu
TSR.2 bekannt, während die Labour-Opposition, trotz der Vorbehalte ihrer
Position, den Kosten und dem Nutzen des Projekts im Allgemeinen höchst
kritisch gegenüberstand. Die Zukunft des Projekts hing also von zwei Fak
toren ab. Zuerst war es wichtig, die technische Kompetenz des Projekts zu
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 467
demonstrieren - und der beste Weg, das zu tun, lag in einem erfolgreichen
ersten Flug. Dies würde die Position derer verstärken, die das Projekt
durchsetzen wollten. Zur selben Zeit war das Ergebnis der allgemeinen
Wahlen ebenfalls äußerst wichtig. Der Erfolg der Konservativen würde
wahrscheinlich die Zulamft des Projekts sichern. Ein Labour-Sieg würde es
in Frage stellen.
Der Jungfernflug fand nur gerade 18 Tage vor den allgemeinen Wahlen
statt. Roland Beamont, der Testpilot, beschreibt die ziemlich kleinlaute
Gruppe von Ingenieuren, Technikern, Managern und RAF-Personal, die
sich in »Boscombe Down« vor dem Flug versammelte. Die meisten wuss
ten von der potentiell tödlichen Natur des Triebwerkproblems, was der
großen Menge hinter den Absperrungen nicht bekannt war, und sie wuss
ten auch, dass, obwohl die Ursache diagnostiziert, das Problem nicht beho
ben war. Tatsächlich war der Flug sehr erfolgreich, das Flugzeug ließ sich
gut steuern und es gab keinen Hinweis auf die destruktive Resonanz, die
die Triebwerke geplagt hatte. Im tobenden Wahlkampf beschrieb es der
Premierminister Sir Alec Douglas Hume als »glänzende Errungenschaft«
(Beamont 1968: 151). Das Flugzeug blieb dann einige Monate lang auf dem
Boden, um die Triebwerke zu modifizieren und geringere Probleme mit
dem Fahrgestell anzugehen.
Die allgemeinen Wahlen fanden am 15. Oktober statt. Das Ergebnis war
knapp und es wurde nicht vor dem nächsten Tag klar, dass die Labour-Par
tei mit einer kleinen Mehrheit wieder zur Macht zurückgekehrt war. Als
Resultat eines großen Zahlungsbilanzdefizits nahm die neue Verwaltung
ihre Arbeit in einer Atmosphäre der Krise auf und sie beschloss, die Ver
teidigungsausgaben auf 2 Milliarden Pfund zu begrenzen. Sie ordnete
auch eine detaillierte Prüfung der verschiedenen Militärflugzeug-Projekte
an und begann, die adäquate zukünftige Gestalt und Größe der Flugzeug
industrie zu überprüfen (Campbell 1983: 79). Im Februar machte der neue
Premierminister Harold Wilson klar, dass die Zukunft von TSR.2 von vier
Faktoren abhängen würde: erstens von einer technischen Einschätzung des
Flugzeugs und seiner Alternativen; zweitens von der Tatsache, dass, ob
wohl der Kauf eines alternativen Flugzeugs in Übersee 250 Millionen
Pfund einsparen würde, dieser auch eine beträchtliche Dollarausgabe be
deutet; drittens von der zukünftigen Gestalt der Flugzeugindustrie und der
möglichen Arbeitslosigkeit, die aus der Einstellung des Projekts resultieren
würde; und viertens von der Art der Bedingungen, die mit der BAC ausge
handelt werden könnten. 9
9 1 Im Januar erwog die Regierung ein Angebot der BAC, no Flugzeuge zu ei
nem Preis von 575 Millionen Pfund herzustellen, wobei die Firma die ersten 9 Mil
lionen Pfund als Defizitgarantie abdecken würde (Flight International 87, 2928, 22.
April 1965: 622). Sie nahm das Angebot primär nicht an, weil sie nicht alle zusätzli
chen Verluste tragen wollte.
468 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON
Anfang April trafen sich die Sprecher der Hauptakteure im neu rekon
struierten globalen Netzwerk - die Kabinettsminister, die für die Regie
rungsabteilungen verantwortlich waren -, um eine Entscheidung zu tref
fen. Sie erwogen drei mögliche Vorgehensweisen: mit dem TSR.2 fortzu
fahren; das Projekt ersatzlos einzustellen; es zu beenden und durch das
ähnliche Fn1 (Crossman 1975: 191; Wilson 1971: 90) zu ersetzen. Das
Schatzamt blieb dem TSR.2 gegenüber feindlich und verfolgte entspre
chend die Absetzung des Projekts. Obwohl es besorgt darüber war, dass der
Großeinkauf eines alternativen amerikanischen Flugzeugs wie des Fn1 er
hebliche Dollarkosten verursachen würde, war es zu a_kzeptieren bereit,
dass eine Option für den Kauf dieses Flugzeugs gehalten werden sollte -
auf dem Verständnis beruhend, dass diese keine feste Verpflichtung impli
ziert. Das Verteidigungsministerium war ebenfalls aus Kostengründen für
die Einstellung, und jene, die, wie z.B. die Marine, die Unterstützung an
derer Projekte favorisierten, schlossen sich ihm an (Hastings 1966: 68,
70). Der Verteidigungsminister favorisierte den Kauf der Fu1, aber es gab
eine gewisse Unsicherheit, ob Großbritannien im Hinblick auf seine
schwindende Rolle in der Welt diesen Typ von Flugzeug wirklich brauchte
(Williams/Gregory/Simpson 1969: 31). Er war deshalb sehr zufrieden da
mit, lediglich eine Option auf das amerikanische Flugzeug zu halten, statt
eine feste Bestellung aufzugeben.
Die Position des Verteidigungsministers reflektierte wahrscheinlich
teilweise eine Verschiebung in der Sichtweise des »Air Staff«. Die Kombi
nation von Verzögerungen und Kostenüberzug zusammen mit der viel här
teren ökonomischen Politik, die der neue Verteidigungsminister einführte,
hatte das »Air Staff« davon überzeugt, dass es höchst unwahrscheinlich
war, dass es eine komplette Produktion von 150 TSR.2 geben würde. Und
das hatte zu Zweifeln daran geführt, ob es möglich sein würde, solch eine
kleine Anzahl von teuren Flugzeugen in konventioneller Kriegsführung zu
riskieren. Für einige Offiziere wies das auf die Vorteile des Erwerbs einer
größeren Anzahl billigerer Flugzeuge hin, die flexibler eingesetzt werden
könnten. Hinzu kam noch, dass, obwohl die technischen Probleme des
TSR.2 lösbar schienen, sein Lieferdatum noch mindestens drei Jahre ent
fernt lag. Weil das Fn1- mit den im Wesentlichen selben Spezifikationen
konstruiert-, bereits in Produktion war, empfand die RAF es als attraktive
Alternative (Reed/Williams 1971: 181).
Das Luftfahrtministerium war besorgt, dass die Entscheidung zur Ver
schrottung des TSR.2 die zukünftige Fähigkeit der britischen Luftfahrtin
dustrie, fortschrittliche Militärprojekte auszurichten, ernsthaft reduzieren
würde, und neigte dazu, die Einstellung, verbunden mit dem Kauf eines
britischen Ersatzes mit niedrigerer Leistung, zu favorisieren. Die meisten
Minister - einschließlich des Luftfahrtministers - glaubten jedoch, dass
dieser Industriezweig viel zu groß für eine mittelgroße Nation war. Das
wirkliche Problem bestand darin, dass eine politische Richtungsentschei-
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 469
dung über dessen zukünftige Gestalt und Größe noch nicht vorlag. Den
noch kostete das TSR.2 über eine Million Pfund pro Woche, sodass weitere
Ver zögerungen der Einstellung finanziell nicht gerechtfertigt schienen.
Im Allgemeinen war die Regierung darüber beunruhigt, dass eine Ein
stellung zu Arbeitslosigkeit führen würde. Mit einer knappen Labour
Mehrheit im Parlament waren die Minister bestrebt, keine unnötige Unbe
liebtheit zu erregen. Demgegenüber meinten die Minister, dass die resul
tierende Arbeitslosigkeit größtenteils temporär wäre, dass viele von jenen,
die am TSR.2 gearbeitet hatten, schnell von anderen Firmen oder Projek
ten aufgenommen werden würden.
Dennoch war die Entscheidung keinesfalls eindeutig: Es gab keine um
fassende Mehrheit für eine der drei Optionen (Wilson 1971: 90). Eine An
zahl von Ministern - hauptsächlich scheinbar jene, die nicht direkt betrof
fen waren -wollte die Einstellung verschieben, bis eine langfristige Vertei
digungsstrategie verabschiedet worden war (Crossman 1975: 190). Im
Großen und Ganzen wurden jedoch die, die das Projekt erhalten wollten,
zahlenmäßig von jenen übertroffen, die (mit oder ohne die F111-Lösung)
die Einstellung favorisierten, und die Offenheit der letztgenannten Ver
pflichtung ermöglichte schließlich diesen beiden Gruppen, ihre Differen
zen zu vergessen.
Die Einstellung des Projekts wurde vom Kanzler des Finanzministeri
ums, James Callaghan, in seiner Ansprache zum Budget Day, dem 6. April
1965, verkündet. Das Ergebnis war politischer Aufruhr, als die Konservati
ven ihren Ärger und ihre Frustration über die in ihren Augen verantwor
tungslose und kurzsichtige Entscheidung zu artikulieren suchten. Am 13.
April wurde über einen Misstrauensantrag debattiert. Inmitten von Ankla
ge und Gegenanldage schloss der Minister für Luftfahrt, Roy Jenkins, die
Debatte für die Regierung, indem er zustimmte, dass die TSR.2 eine groß
artige technische Errungenschaft sei:
»Um jedoch ein Erfolg zu sein, müssen Flugzeugprojekte mehr als das sein. Sie
müssen kontrollierbare Kosten haben; sie müssen die Bedürfnisse des Landes zu
einem Preis erfüllen, den es sich leisten kann; sie müssen auf breiter Front wettbe
werbsfähige Preise mit vergleichbaren, in anderen Ländern produzierten Flugzeu
gen bieten, und sie müssen die Aussichten eines Überseemarkts haben, der den in
ihrer Entwicklung aufgewendeten Ressourcen entspricht. Aus allen diesen vier
Gründen muss ich bedauerlicherweise sagen, dass TSR.2 nicht ein Preisprojekt,
sondern ein Preisalbatros ist.« (Hansard, 13. April 1965= 1283)
Das Ergebnis der Debatte war ein haushoher Sieg für die Regierung: Es
sicherte eine Mehrheit von 26 Stimmen. Jede verbliebene Hoffnung der
Opposition, dass das Projekt irgendwie gerettet werden könnte, wurde zer
schlagen, als Mitglieder der kleinen Partei der Liberalen mit der Regierung
stimmten.
i
I'
,i
470 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON
Fazit
In diesem Beitrag haben wir gezeigt, dass der Erfolg und die -Gestalt eines
Projekts, des TSR.2, wesentlich von der Schaffung zweier Netzwerke und
vom Austausch von Vermittlern zwischen diesen beiden Netzwerken ab
hingen. Vom globalen Netzwerk kam eine Reihe von Ressourcen- Finan
zen, politische Unterstützung, technische Spezifikationen und, zumindest
in einigen Fällen, feindliche Neutralität. Diese Ressourcen wurden dem
Projekt zugänglich gemacht und erzeugten, was wir einen Verhandlungs
raum genannt haben. Dieser ist ein Raum und eine Zeit, innerhalb derer
ein lokales Netzwerk gebaut werden kann, das seinerseits eine Reihe von
Vermittlern erzeugen würde- jedoch am offensichtlichsten ein funktions
fähiges Flugzeug-, die an die Akteure im globalen Netzwerk im Gegenzug
für deren Unterstützung zurückgegeben werden. Wir haben auch festge
stellt, dass es im Fall des TSR.2-Projekts kontinuierliche Lecks zwischen
dem globalen und dem lokalen Netzwerk gab. Akteure im globalen Netz
werk waren in der Lage, die Struktur und Gestalt des lokalen Netzwerkes
zu beeinflussen, während jene im lokalen Netzwerk die Projektleitung hin
tergehen und direkt Akteure des globalen Netzwerkes konsultieren konn
ten. Als Ergebnis war die Projektleitung nicht fähig, sich als obligatori
schen Passage-Punkt zwischen den beiden Netzwerken einzusetzen, wor
auf die vorher detailliert dargestellten Schwierigkeiten folgten.'0
Die von uns beschriebene Geschichte bietet weitere Beweise für ver
schiedene wichtige Erkenntnisse der neuen Techniksoziologie. Zuerst il
lustriert sie die interpretative Flexibilität von Objekten - die Art, in der sie
für verschiedene soziale Gruppen verschiedene Dinge bedeuten. Zweitens,
wie auch offensichtlich ist, repräsentiert sie ein weiteres Beispiel der sozia
len Formung von Technik - besonders der Art, in der Objekte durch ihre
organisatorischen Umstände geformt werden (Pinch/Bijker 1987; Mac
Kenzie/Wajcman 1985; Callon 1986; Law 1987; MacKenzie 1987; MacKen
zie/Spinardi 1988; Alcrich 1994; Bijker 1994; Latour 1994). So haben wir
den Weg aufgezeichnet, auf dem das TSR.2-Flugzeug sowohl tatsächlich
als auch metaphorisch im Verlauf seiner Entwicklung seine Gestalt verän
dert hat. Wir haben ebenso die Beziehungen zwischen diesen Veränderun
gen und die Kompromisse, die eine Zeit lang zwischen den relevanten
menschlichen und nichtrnenschlichen Akteuren erwuchsen, aufgearbeitet;
Kompromisse, die, wie wir gesehen haben, keine endgültige Solidität er
reichten, sondern die im Gegenzug als eine Folge der neuen Umstände in
den lokalen und globalen Netzwerken überarbeitet wurden.
Was wir also zurück im Jahr 1957 Flugzeug Nummer eins nennen könn
ten, hatte im Denken des »Air Staff« oder des »Ministry of Supply« über-
10 1 Die Grenzen organisatorischer Macht werden bei Clegg (1989) hilfreich dis
kutiert.
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 471
haupt keine physische Gestalt (vgl. Tabelle 2). Es war eher die Leistungs
spezifikation - eine zu spielende Rolle - und einige der Umstände, in de
nen es erbaut werden sollte. Diese Rolle reflektierte ihre Ansichten da
rüber, was von anderen relevanten Akteuren akzeptiert würde. Die RAF
wollte also ein Flugzeug zum Luftkampf, aber das Verteidigungsministe
rium hatte eine Sicht der Zukunft, die weder für einen strategischen Bom
ber noch für einen Fighter Raum ließ. Ein taktischer Bomber und Aufklä
rungsflugzeug war die einzige verbleibende Möglichkeit - ein Flugzeug,
das spezifische, nicht-strategische Rollen in Europa und in britischen
Schutzgebieten in Übersee spielen würde. Im Gegensatz dazu war das
Schatzamt relativ uninteressiert an der Verteidigung der westlichen Alli
anz. Viel wichtiger war angesichts immer kostspieligerer Militärtechnik die
Verteidigung des öffentlichen Geldbeutels. Entsprechend wollte es kein
Flugzeug oder (2. Option) ein existierendes Flugzeug, oder falls das nicht
möglich war (3. Option), nicht mehr als einen neuen Flugzeugtyp. Die RAF
urteilte, sie könnte das Schatzamt auf seine Rückzugsposition drängen,
also antwortete sie mit der Spezifikation eines einzelnen vielseitigen Flug
zeugs. Die Marine hatte eine klare Meinung zu den Verteidigungsbedürf
nissen, aber sie sah diese in ihrer eigenen, ziemlich anderen, flugzeugträ
gerorientierten Sichtweise. Entsprechend wollte sie, dass die RAF eine
Version ihres kleinen Unterschall-»Buccaneers« beschaffte. In einem nega
tiveren Sinne war das ein starker Anreiz für die RAF, den Bedarf an einem
großen Überschallflugzeug, das von seinem Marine-Konkurrenten qualita
tiv verschieden war, zu bekräftigen. Das »Ministry of Supply« wollte ein
Flugzeug, das von einem Konsortium von Firmen statt von einer einzigen
gebaut werden würde.
Obwohl es riskant war, schätzte das »Air Staff« die Dinge richtig ein,
und das für dieses Schatten-Flugzeug Nummer eins erforderliche Netzwerk
wurde stabilisiert. Das Resultat war Flugzeug Nummer zwei - dieses Mal
eines, das zumindest auf dem Papier eine physische Gestalt hatte. Diese
Gestalt war teilweise eine Funktion des globalen Netzwerkes der oben er
wähnten institutionellen Akteure. Aber viele andere Akteure, Überlegun
gen und Verhandlungen halfen, das Design zu strukturieren. Die Gestalt
der Flügel repräsentierte einen Kompromiss zwischen den anspruchsvol
len Spezifikationen, die die RAF forderte, auf der einen Seite, und Design
kompetenz, Aerodynamikkenntnis, Materialstärke und der Praxis von
Windkanaltests auf der ander�n. Wie konnte man eine kurze Abheb- und
Landestrecke mit einer Höhenflugkapazität von Mach 2.5 und einer niedri
gen Flughöhe und niedriger Fallwinddynamik kombinieren? Die Tragflä
che war die physische Antwort auf diese Frage. Sie repräsentierte einen
Kompromiss zwischen diesen verschiedenen Überlegungen. Sie repräsen
tierte aber auch einen Kompromiss zwischen den Designerteams von
»English Electric« und »Vickers« - wobei »English Electric« die Oberhand
hatte. Ähnliche Überlegungen - wiederum zugunsten von »English Elec-
472 1 JOHN LAW UND MICHEL CALLON
schiedlichen Beweggründen waren alle von ihnen bereit, mit mehr oder
weniger Begeisterung, TSR.2 einzustellen und eine Option auf das Fn1 an
zunehmen. Entsprechend war das Projekt für ein taktisches Schlag- und
Aufklärungsflugzeug durch die Beziehungen zwischen den involvierten
Akteuren noch einmal überarbeitet worden und mit dieser Umformung
hatte das im Zentrum des Projektes liegende Objekt noch einmal eine Me
tamorphose durchlaufen. Diese Umformung wird in Tabelle 2 auf der fol
genden Seite zusammengefasst.
So viel zur Formung und Umformung von TSR.2." Aber wie sollten
wir solch eine »Übersetzungsbahn«12 beschreiben? Hier liegt nun also un
ser drittes Anliegen. Können wir, wenn Technik interpretativ flexibel ist,
wenn sie von ihren Kontexten geformt wird, aber auch die Letzteren formt,
überhaupt etwas Allgemeines über die kontingenten und iterativen Prozes
se, die sie erzeugten, sagen? Wie wir bereits in der Einleitung angedeutet
haben, besteht unsere Antwort darin, ein Netzwerk-Vokabular einzusetzen
und besonderen Gebrauch von den Konzepten des globalen und lokalen
Netzwerkes und dem obligatorischen Passage-Punkt zu machen. Unser Vor
schlag ist, dass die Gestalt und das Schicksal technischer Projekte als eine
Funktion von drei miteinander verbundenen Faktoren zu betrachten sind.
Der erste Faktor ist die Fähigkeit eines Projekts, ein globales Netzwerk
aufzubauen und zu erhalten, das eine Zeit lang verschiedenartige Ressour
cen in der Erwartung einer schließlichen Rückgabe bereitstellt. Festzustel
len ist, dass die erfolgreiche Konstruktion eines globalen Netzwerkes eine
spezifische und wichtige Konsequenz hat: Es bietet den Projektkonstruk
teuren einen Grad an Privatheit, um ihre Fehler im Privaten und ohne
Einmischung zu machen - es bietet einen Verhandlungsraum (vgl. Callon/
Law 1989). Im Idealfall erhält der Projektkonstrukteur einen Grad an Au
tonomie in seinen Versuchen, eine Rückgabe zu generieren. Er erhält auch
- wieder im Idealfall - sowohl vollkommene Kontrolle über als auch Ver
antwortlichkeit für diese Versuche.
Der zweite Faktor ist die Fähigkeit des Projekts, ein lokales Netzwerk zu
bauen und dabei die vom globalen Netzwerk bereitgestellten Ressourcen
zu verwenden, um schließlich den Akteuren im globalen Netzwerk eine
materielle, wirtschaftliche, kulturelle oder symbolische Rückgabe anzubie-
z
starke externe Bindung
starke interne Mobilisierung
starker obligatorischer Passage-Punkt
i: 1
1,
schwache externe Bindung
1
schwache interne Mobilisierung
1111
1 : 11
1 1
schwacher obligatorischer Passage-Punkt
:,I1"I II
möglich ist, seine zwei Netzwerke und die Art ihrer Beziehung zu kontrol
lieren, problematisch, und es ist der Grad und die Form der Mobilisierung
1 der zwei Netzwerke und die Art, in der sie verbunden sind, die sowohl den
Trajektor als auch den Erfolg des Projekts bestimmen (Abb. 1).
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 477
Wenn man sich auf die zwei Netzwerke konzentriert, ist es möglich,
jedes Projekt in einem zweidimensionalen Graphen abzubilden, bei dem
die X-Achse den Grad der Mobilisierung der lokalen Akteure (Kontrolle
über das lokale Netzwerk) und die Y-Achse das Ausmaß, in welchem exter
ne Akteure verbunden sind (Kontrolle über das globale Netzwerk), misst.
Weiter ist es möglich, die Übersetzungsbahn jedes Projekts zu beschreiben
(Abb. 2).
Hoch
1 � Grad der Bindung von Akteuren
im globalen Netzwerk
\/
Niedrig
Im Fall von TSR.2 begann das Projekt im Zentrum des Diagramms und
stieg auf der vertikalen Achse, da es sein Produkt vom »Buccaneer« (A) ab
zugrenzen bestrebt war. Dann, als die Führungsstrukturen ausgearbeitet
worden waren, bewegte es sich die X-Achse entlang nach rechts (B), und
diese Tendenz wurde gestärkt, als die beiden vorherigen Designteams sich
auf ein Design einigten und diese im Gegenzug die Formierung eines ein
zigen, vereinigten Designteams (C) ermöglichten. Diese Position blieb je
doch nicht erhalten. Nach und nach, als die Subunternehmer sich nicht
integrierten und in einigen Fällen direkt mit der RAF interagierten, sank
der Grad, zu welchem das Projektmanagement das innere Netzwerk mo
nopolisierte (D). Dieser Prozess erreichte seinen Tiefstpunkt, als die Nied
rigdruckwelle des Triebwerks auseinander fiel und das Triebwerk explo-
478 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON
dierte (E), und die Australier sich entschieden, die Fn1 (F) zu kaufen. Nach
vielen Reparaturarbeiten fand der erfolgreiche Jungfernflug statt und ein
Grad an Kontrolle über das lokale Netzwerk wurde zurückgewonnen (G).
Entsprechend bewegte sich das Projekt zurück in den Quadranten 1. Je
doch: Mit wechselnden politischen Umständen und der Verfügbarkeit des
Fnr kehrte es in diesen Quadranten an einer tieferen Position an der
Y-Achse zurück. Schließlich wurde mit der Wahl einer Labour-Regiemng
das Frn als eine realistische Alternative betrachtet und das Projekt rutschte
hinunter in den Quadranten 4 (H). Mit der Einstellung des Projekts schloss
es mit einem vollständigen Verlust der Kontrolle über das lokale Netzwerk;
auf diese Weise endete es am niedrigsten Punkt im Quadranten 3 (I) (vgl.
Abb. 3).
Hoch
Grad der Bindung von Akteuren
im globalen Netzwerk
C
Niedrig�--1----�;,--�-----�Hoch
Grad der Mobilisierung von Akteuren
im lokalen Netzwerk
Niedrig
Wir schließen mit dem Gedanken, dass die Trajektoren technischer Projek
te kontingent und iterativ sind. Manchmal kann ein Projekt oder eine
Technik sich sicherlich in einer Weise vorwärts bewegen, die mit der ste
reotypen Repräsentation des Prozesses von Forschung und Entwicklung
übereinstimmt. Es besteht jedoch keine Notwendigkeit zu einem solchen
Fortschritt. Wenn alles reibungslos funktioniert, ist das der Fall, weil die
Kontingenz in dieser Weise operiert. Die Art von unberechenbarem Pro
zess, den wir beschrieben haben, ist weit wahrscheinlicher - obwohl solche
Kontingenzen oft in Geschichten verborgen sind, die die Notwendigkeit
des Erfolgreichen nach dem Ereignis feiern (vgl. Bowker 1994).
Unser Ziel ist es jedoch, über die Annahme hinaus zu gehen, Resultate
seien bloß kontingent. Obwohl das richtig ist, ist dies nicht sonderlich hilf
reich, außer wir geben uns damit zufrieden, spezifische Fallstudien zu
sammeln. Unser Ziel ist es eher, Muster in den Fallstudien zu suchen. Wir
glauben, dass der Fall des TSR.2 - wie eine Anzahl anderer Fälle auch -
vermuten lässt, dass ein wesentlicher strategischer Zug im Aufbau vieler,
vielleicht aller Soziotechnik darin besteht, eine Untersc,heidung zwischen
innen und außen, zwischen >hinter der Bühne< und >auf der Bühne< zu
schaffen. Die Methoden und Materialien, um solche Verhandlungsräume
480 1 JOHN LAW UND MICHEL CALLON
hinter der Bühne zu bauen und sie mit der Hauptbühne zu verbinden, sind
vielfältig - und wie der Fall des TSR.2 zeigt, sind sie sicher nicht allein eine
Folge der Strategie. Wir verwenden die Metapher eines Netzwerkes, weil
wir eine neutrale Art und Weise benötigen, um über die Barrieren zu spre
chen, die für eine Zeit lang das nahtlose Gewebe der Soziotechnik gestalte
ten.
Literatur
ßRUNO LA.TOUR
Im Mythos des Daedalus weichen alle Dinge von der geraden Linie ab. Der
direkte Pfad der Vernunft und der wissenschaftlichen Erkenntnisse - die
Episteme - ist nicht der Pfad jedes Griechen. Das clevere technische
Know-how von Daedalus ist ein Beispiel für metis, für Strategie, für die Art
von Intelligenz, für die Odysseus (von dem die Bias sagt, er sei polymetis,
484 1 BRUNO LATOUR
Philosophie
spielt die Wissenschaft der Technik, deren einziger Zweck es ist, die Natur
endlos zu rationalisieren und verfügbar zu machen, in die Hände. Unsere
moderne Bestimmung - Technik - erscheint Heidegger radikal von der
poiesis, der Art des »Herstellens«, die die antiken Handwerker zu erreichen
wussten, verschieden. Technik ist vollkommen einzigartig, unüberwind
lich, allgegenwärtig, überlegen, ein in unserer Mitte geborenes Monster.
Aber Heidegger irrte sich. Ich werde zu zeigen versuchen, wie und auf
welche Weise er sich im Hinblick auf die technische Vermittlung irrte,
indem ich ein einfaches, bekanntes Beispiel verwende.
»Schusswaffen töten Leute« ist ein Slogan von jenen, die den unbe
schränkten Verkauf von Schusswaffen zu kontrollieren versuchen. Worauf
die »National Rifle Association« (NRA) mit einem anderen Slogan kontert:
»Menschen töten Menschen, nicht Schusswaffen.« Der erste Slogan ist
materialistisch; die Schusswaffe agiert aufgrund ihrer materiellen Kompo
nenten, die nicht auf die sozialen Eigenschaften des Schützen reduzierbar
sind. Wegen der Waffe wird der gute Mann und gesetzestreue Bürger
gefährlich. Die NRA andererseits bietet (amüsanterweise, wenn man sich
ihre politischen Ansichten vergegenwärtigt) eine soziologische Version, die
häufiger mit den Linken verbunden wird: Für die NRA verrichtet die
Schusswaffe aus sich selbst oder kraft ihrer materiellen Komponenten
nichts. Die Schusswaffe ist ein Werkzeug, ein Medium, ein neutraler Trä
ger eines Willens. Wenn der Waffenbesitzer ein guter Mann ist, wird die
Schusswaffe weise eingesetzt und nur gerecht töten. Wenn er jedoch ein
Verbrecher oder Verrückter ist, dann wird ohne eine Veränderung in der
Waffe selbst ein ohnehin ausgeführter Mord (einfach) effizienter ausge
führt. Was fügt die Waffe der Schießerei hinzu? Alles - in der materialisti
schen Betrachtungsweise: Ein unschuldiger Bürger wird ein Krimineller
kraft der Waffe in seiner Hand. Die Waffe befähigt natürlich, aber sie
instruiert auch, lenkt, zieht sogar am Abzug - und wer hätte nicht, mit
einem Messer in der Hand, zu einer gewissen Zeit jemanden oder etwas
erstechen wollen? Jedes Artefakt hat sein Skript, seinen Aufforderungscha
rakter, sein Potenzial, Vorbeikommende zu packen und sie dazu zu zwin
gen, Rollen in seiner Erzählung zu spielen. Im Gegensatz dazu macht die
soziologische Version der NRA die Waffe zu einem neutralen Willensträ
ger, der der Handlung nichts hinzufügt, der die Rolle eines elektrischen
Leiters spielt, durch den Gutes und Böses mühelos fließen.
Die zwei Positionen widersprechen sich auf absurde Weise. Kein Mate
rialist behauptet, dass Waffen von selbst töten. Was Materialisten behaup
ten, ist, dass der gute Bürger mit dem Tragen einer Waffe verwandelt wird.
Ein guter Bürger, der ohne Waffe vielleicht verärgert sein könnte, kann
zum Kriminellen werden, wenn er eine Waffe trägt - als hätte die Waffe
die Macht, Dr. Jekyll in Mr. Hyde zu verwandeln. Materialisten machen
also den bedenkenswerten Vorschlag, dass unsere Qualitäten als Subjekte,
unsere Kompetenzen, unsere Persönlichkeiten davon abhängen, was wir in
486 / BRUNO LATOUR
Wer oder was ist verantwortlich für den Akt des Tötens? Ist die Schusswaf
fe nicht mehr als ein Stück vermittelnder Technik? Die Antwort auf diese
Fragen hängt davon ab, was Vermittlung bedeutet. Eine erste Bedeutung
von Vermittlung (ich werde insgesamt vier anbieten) ist das Handlungspro
gramm, die Abfolge von Zielen, Schritten und Intentionen, die einen Agen
= ·
ten in einer Erzählung wie in der meiner Skizze der Schusswaffe beschrei
ben kann (Abb. r).
UNTERBRECHUNG
L
AGENT 1
.... � ZIEL 1
UMWEG �ZIELJ
AGENT1
AGENT 2 +AGENT2 ZIEL 2
Wenn der Agent menschlich und verärgert ist und Rache nehmen will, und
wenn die Erreichung des Ziels des Agenten aus welchem Grund auch im
mer unterbrochen wird (vielleicht ist der Agent nicht stark genug), macht
er einen Umweg, eine Abweichung: Wie wir bereits gesehen haben, kann
man nicht von Techniken sprechen, ohne daedalia zu erwähnen. Agent r
fällt auf Agent 2 zurück, in diesem Fall eine Schusswaffe. Agent r rekru
tiert die Schusswaffe oder wird von ihr rekrutiert - es spielt keine Rolle,
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 487
welches von beiden der Fall ist - und ein dritter Agent entsteht aus der
Verschmelzung der anderen beiden.
Die Frage stellt sich nun, welches Ziel der neue zusammengesetzte
Agent verfolgen wird. Wenn er nach seinem Umweg zu Ziel r zurückkehrt,
ist die NRA-Geschichte die richtige. Die Waffe ist ein Werkzeug, ein bloßer
Vermittler. Wenn Agent 3 von Ziel I zu Ziel 2 treibt, obsiegt die Geschichte
der Materialisten. Die Absicht der Waffe, der Wille der Waffe, das Skript
der Waffe haben jene von Agent I abgelöst; die menschliche Handlung ist
nicht mehr als eine Vermittlungsinstanz, ein Zwischenglied. Es ist zu be
merken, dass es im Diagramm keinen Unterschied macht, ob Agent r oder
Agent 2 vertauscht werden. Der Mythos des neutralen Werkzeugs unter
vollständiger menschlicher Kontrolle und der Mythos der autonomen Be
stimmung, die kein Mensch beherrschen kann, sind symmetrisch. Aber
eine dritte Möglichkeit liegt meistens näher: die Schaffung eines neuen
Ziels, das keinem der Handlungsprogramme der Agenten entspricht. (Man
hatte nur verletzen wollen, jedoch jetzt - mit einer Schusswaffe in der
Hand -will man töten.) Ich nenne diese Unsicherheit über Ziele Überset
zung. Ich habe diesen Begriff schon etliche Male verwendet und jedes Mal
begegne ich denselben Missverständnissen.2 » Übersetzung« bedeutet
nicht eine Verschiebung von einem Vokabular in ein anderes, z.B. von ei
nem französischen in ein englisches Wort, als ob die beiden Sprachen un
abhängig existierten. Wie Michel Serres verwende ich »Übersetzung«, um
Verschiebung, Driften, Erfindung, Vermittlung, die Erschaffung eines Bin
deglieds, das zuvor nicht existiert hatte und das zu einem gewissen Grad
zwei Elemente oder Agenten modifiziert, auszudrücken.
Wer ist dann der Akteur in meiner kleinen Geschichte? Jemand anderer
(eine Bürger-Waffe, ein Waffen-Bürger). Wenn wir versuchen, Technik zu
verstehen in der Annahme, dass das psychische Vermögen von Menschen
für immer festgelegt ist, werden wir weder erfolgreich verstehen können,
wie Technik geschaffen noch wie sie verwendet wird. Man ist eine andere
Person mit einer Waffe in der Hand. Sein ist Existenz und Existenz ist
Handeln. Wenn ich Sie durch das definiere, was Sie haben (die Schusswaf
fe) und durch die Reihe von Verbindungen, in die Sie eintreten, wenn Sie
benutzen, was Sie haben (wenn die Waffe abgefeuert wird), werden Sie von
der Waffe verändert -mehr oder weniger, abhängig vom Gewicht der an
deren Verbindungen, die Sie tragen. Die Übersetzung ist vollkommen
symmetrisch. Sie sind anders mit einer Waffe in der Hand; die Waffe ist
anders, wenn Sie sie halten. Sie sind ein anderes Subjekt, weil Sie eine
Waffe halten; die Waffe ist ein anderes Objekt, weil sie eine Beziehung mit
Ihnen eingegangen ist. Die Waffe ist nicht länger die Waffe-im-Arsenal
eine neutrale Bezeichnung, die nützlich ist, wenn eine Zuweisung von
menschlichen Zielen oder nicht-menschlichen Funktionen noch nicht vor
genommen worden ist. Haben die Waffen in »Roger Rabbit« oder die Uhr
und die Kerze in Disneys »Die Schöne und das Biest« Ziele oder Funktio
nen? Das hängt vom Grad des involvierten Anthropomorphismus ab.4
Diese Beispiele von Akteur-Aktant-Symmetrie zwingen uns dazu, die
Subjekt-Objekt-Dichotomie fallen zu lassen, eine Unterscheidung, die das
Verständnis von Technik und sogar von Gesellschaft verhindert. Es sind
weder Menschen noch Waffen, die töten. Die Verantwortung für ein Han
deln müssen sich die verschiedenen Aktanten teilen. Und dies ist die erste
der (vier) Bedeutungen von »Vermittlung«.
L
AGENT 1 HANDLUNGSPROGRAMM
·-···-·-·-·-···-·---;:!,,
;RO·G=��-'-�
AGENT 2
OORAMMl
AGENT 3 E
1 1,
1r
'I
il
4 1 Diese Position hat eine lebhafte Debatte über den Unterschied der Begriffe
Agent, Akteur und Aktant ausgelöst. Vgl. Collins/Yearley (1992: 301-326) und die
Antwort von Michel Callon und Bruno Latour im gleichen Band (Callon/Latour
1992: 343-368).
490 1 BRUNO LATOUR
2, vgl. z.B. Beck 1980). Ein Agent hat ein Ziel oder Ziele; plötzlich wird der
Zugang zu diesen Zielen durch jene Bresche im geraden Weg unterbro
chen, der metis von Episteme trennt. Der Umweg, ein daedalion, beginnt.
Der frustrierte Agent dreht sich in einer verrückten und willkürlichen Su
che und dann - ob durch Einsicht, Heureka oder Versuch und Irrtum (es
stehen verschiedene Psychologien zur Verfügung, um diesen Augenblick
zu erklären) - ergreift der Agent einen anderen Agenten - einen Stock, ei
nen Partner, elektrischen Strom - und dann, so geht die Geschichte weiter,
kehrt er zu seiner vorherigen Aufgabe zurück, entfernt das Hindernis und
erreicht das Ziel. Natürlich sind in den meisten Werkzeugerzählungen
nicht eines, sondern zwei oder mehrere Subprogramme ineinander ge
schachtelt. Ein Schimpanse kann einen Stock ergreifen, ihn als zu stumpf
befinden, nach einer anderen Krise ein anderes Subprogramm beginnen,
um ihn zu schärfen und dabei ein zusammengesetztes Werkzeug erfinden.
(Wie weit die Vervielfältigung dieser Subprogramme fortgesetzt werden
kann, wirft in der kognitiven Psychologie und der Evolutionstheorie inte
ressante Fragen auf.)
Obwohl man sich viele andere Ausgänge der Geschichte vorstellen
kann (z.B. den Verlust eines ursprünglichen Zieles im Labyrinth der Sub
programme), wollen wir jetzt annehmen, dass die ursprüngliche Aufgabe
wieder aufgenommen wird. Die Zusammensetzung der Handlung ist hier
interessant - die Linien verlängern sich bei jedem Schritt. Wer führt die
Handlung aus? Agent I plus Agent 2 plus Agent 3. Handlung ist eine Ei
genschaft assoziierter Entitäten. Agent I erhält Erlaubnis, Autorisierung
und Befähigung von den anderen. Der Schimpanse und der angespitzte
Stock erreichen (und nicht erreicht) die Banane. Die Zuschreibung der Rol
le des Hauptantriebs an einen Akteur schwächt in keiner Weise die Not
wendigkeit einer Zusammensetzung der Kräfte, um die Handlung zu erklä
ren. Durch einen Fehler oder eine Ungerechtigkeit liest sich unsere
Schlagzeile: »Der Mann fliegt« und »Die Frau erobert das Weltall«. Fliegen
ist eine Eigenschaft der gesamten Verbindung von Entitäten, die Flughäfen
und Flugzeuge, Abflugrampen und Ticketschalter umfasst. Die B-52-Bom
ber fliegen nicht, sondern die »U.S. Air Force«. Handeln ist nicht einfach
ein Vermögen von Menschen, sondern von einer Verbindung von Aktanten
- und dies im zweiten Sinn dessen, was ich mit technischer Vermittlung
meinte. Vorläufige >aktoriale Rollen< können Aktanten nur zugeschrieben
werden, weil Aktanten im Prozess eines Austausches von Kompetenzen
stehen, wobei sie einander neue Möglichkeiten, neue Ziele, neue Funktio
nen anbieten. So gilt die Symmetrie sowohl im Fall der Herstellung als
auch im Fall des Gebrauchs von Werkzeugen.
Was aber bedeutet »Symmetrie«? Jede vorgegebene Symmetrie wird
durch das definiert, was durch Transformationen hindurch bewahrt wird.
Bei der Symmetrie zwischen Menschen und Nicht-Menschen halte ich die
Reihe von Kompetenzen, Eigenschaften, dass Agenten durch gegenseitige
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 491
Überlappung zum Austausch fähig sind, konstant. Ich möchte mich selbst
auf eine Stufe stellen, wo wir noch nicht klar Menschen und Nicht-Men
schen, Ziele und Funktionen, Form und Materie voneinander abgrenzen
können, bevor der Austausch von Eigenschaften und Kompetenzen sicht
bar und interpretierbar wird. Ausgewachsene menschliche Akteure und
respektable Objekte draußen in der Welt können nicht mein Ausgangs
punkt, sondern nur unser Endpunkt sein. Gibt es einen solchen Ort? Ist er
mehr als ein Mythos?
Dieses Prinzip der Symmetrie kann verwendet werden, u m die vielen
etablierten Mythen aufzuzeigen, die uns erzählen, wir wären von unseren
Werkzeugen gemacht worden. Der Ausdruck homo faber oder besser homo
faberfabricatus beschreibt für Hegel und Leroi-Gourhan, Marx und Bergson
eine dialektische Bewegung, die damit endet, uns zu Söhnen und Töchtern
unserer eigenen Artefakte zu machen.5 Was Heidegger betrifft, ist der
relevante Mythos, dass, »solange wir die Technik als ein Instrument vor
stellen, wir im Willen hängen bleiben, sie zu meistem. Wir treiben am We
sen der Technik vorbei.« (Heidegger 1977: 32, 2000: 32) Wir werden später
sehen, was mit der Dialektik und dem Gestell angefangen werden kann,
aber wenn das Erfinden von Mythen der einzige Weg zur Bewältigung die
ser Aufgabe ist, sollten wir nicht zögern, neue zu erfinden.
Weshalb ist es so schwierig, die vermittelnde Rolle der Technik mit einiger
Präzision einzuschätzen? Weil die Handlung, die wir einzuschätzen versu
chen, dem »Blackboxing« unterliegt, einem Prozess, der die vereinte Pro
duktion von Akteuren und Artefakten völlig undurchsichtig macht. Daeda
lus' Labyrinth wird undurchdringlich. Können wir das Labyrinth öffnen
und betrachten, was sich darin verbirgt?
Man nehme z.B. einen Tageslichtprojektor. Er ist ein Punkt in einer
Handlungsfolge (sagen wir einmal in einer Vorlesung), eine ruhige und
stumme Vermittlungsinstanz, die für selbstverständlich gehalten und voll
kommen von ihrer Funktion bestimmt wird. Nun nehmen wir an, dass der
Projektor nicht mehr funktioniert. Die Krise erinnert uns an die Existenz
des Projektors. Wenn die Monteure ihn umringen, diese Linse justieren,
jene Birne befestigen, werden wir uns bewusst, dass der Projektor aus
mehreren Teilen gemacht ist, jedes mit seiner Rolle, seiner Funktion und
seinen relativ unabhängigen Zielen. Während der Projektor vor einem Au
genblick kaum existiert hatte, besitzen nun sogar seine Teile individuelle
Existenz, jedes seine eigene »Black Box«. In einem Moment wuchs unser
»Projektor« von einer Komposition aus null Teilen zu einer aus einem bis
zu vielen Einzelteilen. Wie viele Aktanten sind wirklich da? Die Technik
philosophie hat wenig Verwendung für Arithmetik.
5 1 Vgl. dazu besonders das schöne, nie ins Englische übersetzte Buch von An
dre Leroi-Gourhan (1964).
492 1 BRUNO LATOUR
Die Krise hält an. Die Monteure fallen in eine routinierte Abfolge von
Handlungen zurück, indem sie Teile ersetzen. Es wird klar, dass ihre
Handlungen aus Schritten in einer Sequenz gebildet werden, die verschie
dene menschliche Handgriffe integriert. Wir konzentrieren uns nicht län
ger auf ein Objekt, sondern sehen eine Gruppe von Menschen um dieses
Objekt. Eine Verschiebung zwischen Aktanten und Vermittler ist aufgetre
1 1,
ten. Die Abbildungen I und 2 zeigten, wie Ziele durch Verbindungen mit
nicht-menschlichen Aktanten neu definiert werden und wie Handlung eine
Eigenschaft des gesamten Gefüges ist, nicht nur der menschlichen Aktan
ten. Wie jedoch Abbildung 3 zeigt, wird die Situation noch verwirrender, da
die Anzahl der Aktanten von Schritt zu Schritt variiert. Die Komposition
der Objekte variiert ebenfalls: Manchmal erscheinen Objekte als stabil,
manchmal erscheinen sie als aufgeregt wie eine Gruppe von Menschen um
ein Artefakt/Quasi-Objekt/Quasi-Subjekt mit einer Fehlfunktion. Also
zählt der Projektor für ein, für kein, für 100 Teile, für so viele Menschen,
für keinen Menschen- und jedes Teil wiederum kann für ein, für null, für
viele, für ein Objekt, für eine Gruppe zählen. In den sieben Stufen der Ab
bildung 3 kann jede Handlung in Richtung auf entweder die Zerstreuung
von Aktanten oder ihre Integration in ein einzelnes Ganzes (ein Ganzes,
das bald darauf für nichts zählen wird) fortgesetzt werden. Einige zeitge
nössische westliche Philosophien können Schritt 7 oder Schritt 2 oder bei
de erklären; erforderlich ist jedoch - und was zu entwickeln ich vorschlage
- eine Philosophie, die alle sieben Schritte erklären kann.
Schauen Sie sich in dem Raum um, in dem Sie sich über Abbildung 3
den Kopf zerbrechen. Überlegen Sie, wie viele Black Boxes es in diesem
Raum gibt. öffnen Sie die Black Boxes; untersuchen sie die Verbindungen
in ihnen. Jedes der Einzelteile in der Black Box ist eine Black Box voller
Einzelteile. Wenn irgendeines der Teile zerbrechen würde, wie viele Men
schen würden sich sofort um jedes materialisieren? Wie weit zurück in der
Zeit, entfernt im Raum, sollten wir unsere Schritte zurückverfolgen, um all
jenen stummen Entitäten zu folgen, die friedlich zum Lesen dieses Artikels
auf Ihrem Schreibtisch beitragen? Bringen Sie jede dieser Entitäten zu
Schritt r zurück; stellen Sie sich die Zeit vor, als jede von ihnen desinteres
siert war und ihren eigenen Weg ging, ohne in irgendeinem Handlungsab
lauf von einem anderen eingebundrn, rekrutiert, beteiligt, mobilisiert wor
den zu sein. Aus welchem Wald sollten wir unser Holz holen? In welchem
Steinbruch sollten wir die Steine liegen lassen? Die meisten dieser Entitä
ten verharren jetzt schweigend, als ob sie nicht existierten, unsichtbar,
transparent, stumm und bringen in die gegenwärtige Szenerie ihre Kraft
und ihr Handeln aus wer weiß wie vielen Millionen Jahren Vergangenheit
mit. Sie haben einen besonderen ontologischen Status, aber bedeutet das,
dass sie nicht handeln, dass sie nicht Handeln vermitteln? Können wir sa
gen, weil wir alle von ihnen hergestellt haben - wer ist übrigens dieses
»wir«? Ich sicher nicht-, dass sie als Sklaven, Werkzeuge oder bloße Be-
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG j 493
weise für ein Gestell betrachtet werden sollten? Die Tiefe unserer Ignoranz
gegenüber Technik ist unergründlich. Wir sind weder fähig, ihre Anzahl zu
zählen, noch können wir sagen, ob sie als Objekte existieren oder als Ver
sammlungen oder als so viele Sequenzen kompetenter Handlungen.
Dennoch gibt es noch Philosophen, die glauben, es gäbe solche Dinge
wie Objekte.
A
C Stufe 3: Komposition eines neuen Ziels
composition of a new goal
B �
A
C Stufe 4: Obligatorischer Passage-Punkt
obligatory passage point
�
Stufe 5: Gruppierung
A 0---0-----0 C
alignment
B
D
8 Stufe 6: Blackboxing
blackboxing :1
Stufe 7: Konvergenz
D 0 > convergence
, ·1
Der Grund für eine solche Ignoranz wird deutlicher, wenn man die vierte
und wichtigste Bedeutung der Vermittlung betrachtet. Bis zu diesem Punkt
habe ich die Bezeichnungen Erzählung und Handlungsprogramm, Ziel und
Funktion, Übersetzung und Interesse, menschlich und nicht-menschlich ver
wendet, als wären Techniken zuverlässige Bewohner der Welt des Diskur
ses. Aber Techniken modifizieren die Materie unseres Ausdrucks, nicht
nur seine Form. Techniken haben Bedeutung, aber sie erzeugen Bedeu-
494 1 BRUNO LATOUR
tung über einen speziellen Typ von Artikulation, der die Grenzen des all
gemeinen Verständnisses zwischen Zeichen und Dingen überschreitet.
Ein einfaches Beispiel dessen, was ich vor Augen habe: Eine Bodenschwel
le, die Fahrer zwingt, auf dem Campus das Tempo zu reduzieren. Das Ziel
der Fahrer wird mittels der Bodenschwelle übersetzt von »Ich fahre lang
samer, um keine Studenten zu gefährden« in »Ich fahre langsam und
schütze die Federung meines Autos«. Die zwei Ziele sind weit voneinander
entfernt und wir erkennen hier dieselbe Verschiebung wie in unserer Waf
fenerzählung. Die erste Version des Fahrers appelliert an seine Moral, sei
ne aufgeklärte Uneigennützigkeit und seine Reflexion, während die zweite
an reinen Eigennutz und Reflexhandlung appelliert. Meiner Erfahrung
nach gibt es viel mehr Menschen, die auf die zweite als auf die erste reagie
ren würden: Eigennutz ist ein weiter verbreiteter Wesenszug als der Res
pekt vor dem Gesetz und dem Leben - zumindest in Frankreich. Der Fah
rer modifiziert sein Verhalten durch die Vermittlung der Bodenschwelle; er
fällt von Moral zurück auf Zwang. Vom Standpunkt eines Beobachters aus
jedoch spielt es keine Rolle, auf welchem Weg ein bestimmtes Verhalten
erreicht wird. Von ihrem Fenster aus sieht die Rektorin, dass die Autos ver
langsamen, und für sie ist das genug.
Der Übergang von rücksichtslosen zu disziplinierten Fahrern wurde
durch einen Umweg bewirkt. Anstelle von Zeichen und Warntafeln haben
die Campusingenieure Beton verwendet. In diesem Kontext sollte der Be
griff des Umwegs, der Übersetzung, nicht nur modifiziert werden (wie bei
den vorausgegangenen Beispielen), um die Verschiebung in der Definition
von Zielen und Funktionen, sondern auch eine Veränderung in der tat
sächlichen Ausdrucksmaterie zu umfassen. Das Handlungsprogramm der
Ingenieure (»Veranlasse Fahrer dazu, auf dem Campus zu verlangsamen«)
ist nun in Beton inskribiert. Statt »inskribiert« hätte ich auch »objekti
viert«, »verdinglicht«, »realisiert«, »materialisiert« oder »eingraviert« sagen
können, aber alle diese Worte implizieren einen übermächtigen menschli
chen Agenten, der formloser Materie seinen Willen aufzwingt, während
Nicht-Menschen ebenfalls handeln, Ziele ersetzen und zu deren Neudefini
tion beitragen. 6 Die vierte Bedeutung von Übersetzung hängt von den drei
vorangegangenen ab.
Nicht nur wurde eine Bedeutung wie in unserem Beispiel durch eine
andere ersetzt, sondern eine Handlung (die Erzwingung der Geschwindig
keitsbegrenzung) wurde in eine andere Art von Ausdruck übersetzt. Das
Programm der Ingenieure ist in Beton inskribiert, und indem wir diese
Verschiebung betrachten, verlassen wir die relativ vertrauten Gefilde der
linguistischen Metapher und betreten unbekanntes Territorium. Wir haben
nicht bedeutungsgeladene menschliche Beziehungen verlassen und abrupt
UNTERBRECHUNG
AGENT1
BEDEUTUNG1 c,
c::,
m
2_::
:,:;,
V,
UMWEG
n,o_N_______ C
2
GI
AGENT 2 BEDEUTUNG 2
eine Welt der rohen materiellen Beziehungen betreten - obwohl das der
Eindruck der Fahrer, die an den Umgang mit verhandelbaren Zeichen ge
wöhnt sind, sein kann, wenn sie jetzt mit einer nicht verhandelbaren Bo
denschwelle konfrontiert sind .. Die Verschiebung vollzieht sich nicht vom
Diskurs zur Materie, weil für die Ingenieure die Bodenschwelle eine sinn
volle Artikulation innerhalb einer Skala von Möglichkeiten ist, unter denen
sie so frei wählen wie andere das Vokabular einer Sprache. Also bleiben wir
im Bereich von Sinn,jedoch nicht länger im Bereich von Diskurs; dennoch be
finden wir uns nicht unter bloßen Objekten. Wo sind wir nur?
Umweg, Übersetzung, Delegation, Inskription und Verschiebung er
fordern unser besseres Verständnis, bevor wir überhaupt damit beginnen
können, eine Technikphilosophie zu erarbeiten; und um diese zu verste
hen, müssen wir auch die von Semiotikern so genannte Verschiebung ver
stehen.7 Wenn ich z.B. zu Ihnen sage: »Stellen wir uns vor, wir steckten
in den Schuhen der Campusingenieure, als sie entschieden, die Boden
schwellen zu installieren«, transportiere ich Sie nicht nur in einen anderen
I'
Raum und eine andere Zeit, sondern übersetze Sie in einen anderen Ak 1
I'
11
teur. Ich verschiebe Sie aus der Szene, die Sie im Augenblick besetzen. Der 11
II
Punkt bei räumlichen, zeitlichen und >aktorialen< Verschiebungen, der für li'
alle Fiktion grundlegend ist, ist der, Sie sich bewegen zu lassen, ohne Sie
zu bewegen. Sie machten einen Umweg durch das Büro des Ingenieurs,
ohne jedoch ihren Platz zu verlassen. S1e liehen mir für eine Weile einen
Charakter, der mit der Hilfe Ihrer Geduld und Vorstellungskraft mit mir
an einen anderen Ort reiste, ein anderer Akteur wurde, dann zurückkehrte,
um wieder Sie selbst in Ihrer eigenen Welt zu werden. Dieser Mechanis
mus wird Identifikation genannt; durch ihn tragen wir beide, der Sprecher
(ich) und der Empfänger (Sie) dazu bei, dass Delegierte unserer selbst in
andere, zusammengesetzte Bezugsrahmen verschoben werden (Abb. 4).
Im Fall der Bodenschwellen ist die Verschiebung >aktoriak Der >schla
fende Polizist<, als der die Schwelle auch bekannt ist, ist kein Polizist und
hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem. Die Verschiebung ist auch
räumlich: Auf der Campusstraße residiert nun ein neuer Aktant, der Autos
verlangsamt (oder sie beschädigt). Schließlich ist die Verschiebung tempo
ral: Die Schwelle ist Tag und Nacht da. Aber der Sprecher dieses techni
schen Aktes ist aus der Szene verschwunden - wo sind die Ingenieure? Wo
ist der Polizist? -, während jemand, etwas, verlässlich als Stellvertreter
handelt, den Platz des Sprechers hält. Angeblich ist die gemeinsame Ge
genwart des Sprechers und des Empfängers notwendig, damit ein Akt der
Fiktion möglich wird; was wir aber nun haben, sind ein abwesender Inge
nieur, eine stets präsente Bodenschwelle und ein Empfänger, der der An
wender eines Artefakts geworden ist, so als würde ich damit aufhören, die
sen Artikel zu schreiben und seine Bedeutung würde weiterhin artikuliert
- jedoch in meiner Abwesenheit verlässlicher und schneller.
Sie mögen einwenden, dass das nicht überraschend ist. In der Fantasie
von Frankreich nach Bali transportiert zu werden, ist nicht dasselbe, als ein
Flugzeug von Frankreich nach Bali zu nehmen. Vollkommen wahr, aber
worin genau liegt der Unterschied? In den Reisen der Fantasie nehmen wir
gleichzeitig alle möglichen Bezugsrahmen ein, verschieben uns in alle de
legierten personae, die der Erzähler anbietet, hinein und aus allen hinaus.
Durch Fiktion kann das ego, hie et nunc verschoben werden, Sie können zu
anderen personae an anderen Orten und zu anderen Zeiten werden. Aber
an Bord eines Flugzeugs kann ich nicht mehr als einen Bezugsrahmen
gleichzeitig einnehmen. Ich sitze in einer Objekt-Institution, die zwei
Flughäfen durch eine Fluglinie verbindet. Der Akt des Transports wurde
nach unten und nicht nach außen verschoben - nach unten zu Flugzeugen,
Maschinen, Autopiloten, Objekt-Institutionen, auf die die Aufgabe der Be
wegung delegiert worden ist, während die Ingenieure und Manager abwe
1.
send sind (oder sich auf das Überwachen beschränken). Die Kopräsenz von
Sprecher und Empfänger ist mit dem Bezugsrahmen zusammengebro
chen. Ein Objekt vertritt einen Akteur und schafft eine Asymmetrie zwi
schen den abwesenden Schöpfern und gelegentlichen Verwendern. Ohne
diesen Umweg, diese Verschiebung nach unten, würden wir nicht verste
hen, wie ein Sprecher abwesend sein könnte: Entweder er ist da, würden
wir sagen, oder er existiert nicht. Aber durch die Verschiebung nach unten
wird eine andere Kombination von Ab- und Anwesenheit möglich. Es ist
nicht wie in der Fiktion, dass ich hier bin und woanders, dass ich ich selbst
und jemand anderer bin, sondern dass eine lang vergangene Handlung ei
nes lang verschwundenen Akteurs hier noch aktiv ist, heute, an mir - ich
lebe inmitten von technischen Delegierten.
Die gesamte Technikphilosophie ist mit diesem Umweg beschäftigt
gewesen. Denken Sie an Technik als an geronnene Arbeit. Betrachten Sie
die bloße Idee der Investition: Ein reguläres Vorgehen wird ausgesetzt, ein
Umweg durch verschiedene Typen von Aktanten eingeleitet - und der Er
trag ist ein frischer Hybrid, der vergangene Akte in die Gegenwart trägt
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 497
8 1 Im Gefolge von Marx natürlich, vgl. dazu besonders die klassische Argu
mentation von Winner (1980: 121-136).
498 1 BRUNO LATOUR
alle, der Eigenschaften des Betons zu Polizisten, und einige, wenn auch
nicht alle, Eigenschaften von Polizisten zu Bodenschwellen werden.
1
i,1 zwingt oder indem wir uns gegen eine Invasion rein objektiver Kräfte ver
teidigen, die die Würde des menschlichen Subjekts bedrohen. Humanis
mus muss an einem anderen Ort lokalisiert werden, in der Position, die ich
1
zwischen Antihumanismus und »Humanismus« tastend zu definieren su
che. Wir müssen lernen, die definitive Gestalt von Menschen und von
Nicht-Menschen, mit denen wir mehr und mehr unserer Existenz teilen, zu
ignorieren. Die Verschwommenheit, die wir dann wahrnehmen würden,
der Austausch von Eigenschaften, ist ein Charakteristikum unserer prämo
dernen Vergangenheit, in den guten alten Tagen der poiesis, und genauso
ein Charakteristikum unserer modernen und nicht-modernen Gegenwart.
Ein Punkt, in dem Heidegger Recht hatte, ist seine Kritik an der >humanis
tischen< NRA-Erzählung, an der Idee, dass Technik und Werkzeuge Men
schen gestatten, ihre Projekte fest in der Hand zu halten, Objekten ihren
Willen aufzuzwingen (vgl. Latour 1993a). Er fügte auch den Gefahien der
Technik etwas hinzu: Er addierte die GefahI zu ignorieren, wie viel
Menschlichkeit durch die vermittelnde Rolle der Technik ausgetauscht
wird - und er fügte die Gefahr hinzu, die Funktion, Genealogie und Ge
schichte jener sozio-technischen Verwicklungen (denen ich mich nun zu
wenden werde) zu ignorieren, die unser politisches Leben und unsere zer
brechliche Menschlichkeit konstruieren.
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG j 499
Materialismus: Soziologismus: V,
C
LU OJ
--,
objektive Eigenschaften der Subjekte prägen gestalt
m Materie durchbrechen endlich loser Materie Formen
0 die soziale und mentale Trägheit und Kategorien ein
Anti-Humanismus: Humanismus:
Mittel sind zu Zielen Mittel sind nur Vermittler
ohne Ziele geworden menschlicher Ziele
Symmetrie:
Aktanten mischen die Eigenschaften
durch Überkreuzung neu
'III
1
'1
j1
Soziologie
I' ,
1
,
1
111
!1
(außer ihrer Schwärze - so undurchsichtig wie die Genealogie der Technik,
,
,1
die ich hier auszuloten versuche), aber die Box hat eine mysteriöse Wir
kung auf die Affen. Kommt das daher, dass sie zum ersten Mal ihre Auf
1
11.
,1
ili
I
merksamkeit auf ein Objekt konzentrieren, oder durch das, was dieses be
sondere Objekt beinhaltet? Was auch immer der Fall ist, sie werden erfin
derisch, machen große Schritte in Richtung auf die Menschlichkeit. Ein 1:
großer Knochen, der beim Wasserloch liegt, wird plötzlich von einem sich 1
Wäre die akademische Gelehrsamkeit so effizient wie die Kunst des Films,
könnte ich mit Ihnen Fortschritte im Tempo der Affen in Kubricks Film
erreichen - von einer Gruppe von nur durch soziale Bindungen verknüpf
ten Primaten zu einer entwickelten Spezies von sozio-technischen Men
schen, die ihre unterlegenen Brüder, die Nicht-Menschen, zu ihrem sozia
len Denken zulassen. Aber es käme einem Wunder gleich, dies zuwege zu
bringen, da die soziale Theorie so bar der Artefakte ist wie Kubricks Affen
vor der Ankunft des Monolithen. Wie die Affen werde ich meine Aufmerk
samkeit präzise auf den Monolithen konzentrieren: Was ist eine Soziologie
der Objekte? Wie sind Objekte dazu gekommen, in das menschliche Kol
lektiv einzutreten? Durch welche Eintrittspunkte? Wir verstehen nun, dass
Technik als solche nicht existiert, dass es nichts gibt, was wir philosophisch
oder soziologisch als ein Artefakt oder ein Stück Technik definieren kön
nen. Sicherlich gibt es das Adjektiv »technisch«, das wir in vielen verschie
denen Situationen - und zu Recht - verwenden. Lassen Sie mich kurz sei
ne verschiedenen Bedeutungen zusammenfassen.
Zuerst bezeichnet es ein Subprogramm oder eine Reihe verschachtelter
Subprogramme (wie die oben von mir diskutierten). Wenn wir sagen:
»Dies ist ein technisches Problem«, bedeutet dies, dass wir für einen Mo
ment von der Hauptaufgabe abweichen müssen und dass wir schließlich
unsere normalen Handlungen wieder aufnehmen werden, die der einzige
Fokus sind, der unserer Aufmerksamkeit wert ist. Für einen Augenblick
öffnet sich eine Black Box und wird wieder schwarz, vollkommen unsicht
bar im Hauptablauf des Handelns.
Zweitens bezeichnet »technisch« die untergeordnete Rolle von Men
schen, Kompetenzen oder Objekten, die die sekundäre Funktion des An
wesend-, Unverzichtbar-, jedoch Unsichtbarseins besetzen. Also bezeichnet
es eine spezialisierte und genau umschriebene, in der Hierarchie klar un
tergeordnete Aufgabe.
Drittens bezeichnet das Adjektiv ein Problem, eine Schwierigkeit, einen
Haken, eine Störung im reibungslosen Funktionieren des Subprogramms,
sodass wir sagen: »Es gibt zuerst ein technisches Problem zu lösen«. Hier
führt uns die Umleitung vielleicht nicht zurück zur Hauptstraße wie bei
der ersten Bedeutung, sondern gefährdet unter Umständen das ursprüng
liche Ziel zur Gänze. »Technisch« bedeutet nicht länger einen bloßen
Umweg, sondern ein Hindernis, eine Straßensperre. Was ein Mittel hätte
sein sollen, kann vielleicht zu einem Ende werden, zumindest für eine
Weile.
Die vierte Bedeutung trägt dieselbe Unsicherheit darüber, was ein
Zweck und was ein Mittel ist. »Technische Fertigkeiten«, »technisches Per
sonal« bezeichnen eine einzigartige Fähigkeit, ein Geschick, eine Bega
bung und auch die Fähigkeit, sich selbst unverzichtbar zu machen, privile
gierte, obwohl untergeordnete Positionen zu besetzen, die ich - in Anleh
nung an einen militärischen Begriff - obligatorische Passagepunkte ge-
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 501
dreht habe). Die neue Pipette ist selbst kompetent - das Handlungspro
gramm wird nun zwischen einer höher kompetenten Pipette und einem
relativ geringer kompetenten menschlichen Pipettenbenutzer geteilt.
Technische Fertigkeit ist nicht etwas, das man direkt untersuchen
kann. Wir können nur ihre Verbreitung unter verschiedenen Typen von
Aktanten beobachten. Man könnte z.B. nicht nur das Aufnehmen von
Flüssigkeit automatisieren, sondern auch die Abgabe; in biologischen La
boratorien existieren jetzt viele Pipettenroboter. Die Gesamtsumme der Ak
tivität- meine Beziehung zur Pasteur-Pipette verglichen mit meiner Be
ziehung zu einem Pipettenroboter - wird beibehalten oder erhöht; ihre
Verteilung jedoch ist modifiziert worden. Gut ausgebildete Techniker wer
den überflüssig, ungelernte Arbeiter werden eingestellt; hoch technisierte
Firmen werden geschaffen, um Roboter zu produzieren, wo bis vor kurzem
noch einfache Werkstätten genügt hatten. Wie Marx vor langer Zeit gezeigt
hatte, sprechen wir über Verschiebung, Konflikte, Ersetzen, Verlust von,
Zugewinn an und erneutem Erwerb von Fertigkeiten, niemals über ein
bloßes >Ding<, wenn wir über etwas Technisches sprechen. Technische
Fertigkeit ist nicht ausschließlich im Besitz von Menschen und wird nur
zögernd den Nicht-Menschen gewährt. Fertigkeiten treten vielmehr im Um
feld der Transaktion auf; sie sind Eigenschaften der Gruppierung; sie zir
kulieren oder werden unter menschlichen und nicht-menschlichen Techni
kern umverteilt, wobei sie diese zum Handeln befähigen und dazu autori
sieren.
Wir müssen dann erwägen, wer durch welche Art von Handeln mobili
siert wird. Unser erster Schritt ist der, die Faltung der Zeit zu suchen, die
eine Eigenschaft technischen Handelns ist. Wenn ich einmal die geeichte
Pasteur-Pipette gekauft habe, dann kann ich mit meiner spezialisierten
Aufgabe fortfahren. Wenn ich einmal die Knöpfe an der automatischen Pi
pette gedreht habe, dann kann ich auf eine weniger spezialisierte Aufgabe
zurückfallen. Der Sprecher kann sich entfernen. Sogar meine eigene vor
herige Handlung ist mir nun fremd, obwohl sie noch in einer neuen Ge
stalt anwesend ist. Durch meinen produktiven Umweg, meine Investition,
ist eine relative Irreversibilität eingesetzt worden.
Wir müssen aber auch die Rolle der ökonomischen Vermittlung in der
Faltung von Zeit und Raum erkennen. Pasteur hätte seine Pipette beim ört
lichen Glasbläser anfertigen lassen können. Ich kann keine automatische
Pipette herstellen, einen Pipettenroboter schon gar nicht. Was bedeutet,
dass ich beim zweimaligen Drücken eines Instruments mit meinem Dau
men einen langen Umweg durch den Herstellungsprozess nehme. Natür
lich ist der Umweg unsichtbar- außer als ein Posten auf einer langen Liste
von Artikeln, die ich mit Forschungsgeldern bestelle-, es sei denn, eine
Krise, entweder in meinem Budget oder in der Pipette, taucht auf oder ich
verlege mein Labor nach Afrika oder Bosnien, in welchen Fällen ich fest
stellen werde, dass zusätzlich zu der einfachen Aufgabe, zweimal mit dem
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 503
10 1 Das klassische Werk von Emile Durkheim (r893, r984) erwähnt Technik
und Artefakte aber überhaupt nicht.
504 1 BRUNO LATOUR
einem oder mehreren zusammengesetzt sind, aus einer Black Box, die für
eines zählt, oder für ein Labyrinth, das eine Vielzahl in sich birgt. Deshalb
kann die Technikphilosophie nicht sehr weit gehen: Ein Objekt ist ein Sub
jekt, das nur die Soziologie studieren kann - eine Soziologie aber, die be
reit ist, sowohl mit nicht-menschlichen als auch mit menschlichen Aktan
ten umzugehen.
Überkreuzung
Crossover
KOLLEKTIV
COLLECTIVE
Übersetzung
Verschiebung Translation
Displacement
i
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG / 509
nimmt die harmlose Annahme ernst, dass Menschen die Gesellschaft kon
struieren. Sozialordnung, so argumentieren die Ethnomethodologiker, ist
nicht gegeben, sondern das Resultat einer andauernden Praxis, durch die
die Akteure im Verlauf ihrer Interaktion ad-hoc-Regeln erarbeiten, um ihre
Aktivitäten zu koordinieren. Die Akteure erhalten natürlich Hilfe durch
Präzedenzen, aber diese Präzedenzen genügen nicht aus sich selbst, um
Verhalten zu verursachen, und sie werden übersetzt, rekrutiert, rekonfigu
riert, (in Teilen) erfunden, um im Hinblick auf die Verschiebung und un
erwartete Umstände zu genügen. Wir erarbeiten kollektiv ein auftretendes
und historisches Ereignis, das von keinem Teilnehmenden geplant wurde,
und das durch das vor dem Ereignis Geschehene oder das, was anderswo
geschieht, nicht erldärbar ist. Alles hängt von den lokalen und praktischen
Interaktionen ab, in die wir uns im Augenblick einbringen.
Die Theorie erscheint im Hinblick auf die Behauptungen, die die meis
ten vernünftigen Soziologen und Historiker z.B. über unsere gegenwärti
gen Umstände machen würden, absurd: Es existiert ein Kontext im großen
Maßstab, der mein Schreiben und Ihr Lesen dieses Artikels erklärt, unser
Wissen, was ein akademischer Artikel ist, was eine Fachzeitschrift macht,
welche Rolle Intellektuelle in Amerika und Frankreich spielen. Der ver
nünftige Soziologe erzählt dem radikalen, dass der Agent höchstens lokale
Einstellungen in einem seit langem und weit entfernt etablierten Kontext
vornehmen kann. So verlaufen die Debatten zwischen Ethnomethodologie
und dem Hauptstrom der Soziologie seit 30 Jahren und der noch länger
andauernde Disput zwischen Handeln und Struktur.
Das neue Paradigma, das ich zur Erforschung von Technik vorschlage,
umgeht diese Dispute. Geben wir zu, dass die Ethnomethodologen Recht
haben, dass nur lokale Interaktionen existieren, die auf der Stelle eine So
zialordnung produzieren. Und geben wir zu, dass der Hauptstrom der So
ziologie Recht hat, dass ferne Handlungen transportiert werden können,
um auf lokale Interaktionen zu wirken. Wie können diese Positionen ver
söhnt werden? Eine Handlung in der fernen Vergangenheit, an einem weit
entfernten Ort, von nun abwesenden Akteuren, kann unter der Bedingung,
dass sie verschoben, übersetzt, delegiert oder auf andere Typen von Aktan
ten, die ich hier Nicht-Menschen nenne, verlagert wird, noch anwesend
sein. Mein Textverarbeitungssystem, Ihre Ausgabe von »Common Know
ledge« der Oxford University Press, die »International Postal Union«, alle
von diesen organisieren, formen und limitieren unsere Interaktionen. Ihre
Existenz zu vergessen - ihre seltsame Art des Abwesend- und Anwesend
seins -, wäre ein großer Fehler. Wenn wir sagen, dass »wir« hier Anwe
senden in unsere lokalen Interaktionen engagiert sind, muss die Summe
aller Zusammengerufenen all die anderen personae einschließen, die zu
vor nach unten verschoben worden sind. »Wir« ist keine einfache synopti
sche und kohärente Kategorie. Die Idee einer gegenwärtigen und lokalen
Interaktion wird von einer immensen Menge von Nicht-Menschen unter-
510 1 BRUNO LATOUR
graben, von denen jeder durch seine eigenen Verschiebungen in der Zeit,
im Raum und in Aktantenrollen bestimmt ist.
Aus der Schlussfolgerung, dass wir in unseren Interaktionen nicht al
lein sind, jedoch die Existenz einer umfassenden Gesellschaft zu folgern,
wäre ein ebenso großer Fehler, da dies uns verpflichten würde, die Auf
merksamkeit von der Mikro- auf die Makro-Ebene zu verschieben, so als
existierte die Makro-Ebene und wäre aus anderen Dingen geschaffen, aus
einer anderen Materie gemacht als die gegenwärtige lokale Interaktion. Der
Disput über die entsprechenden Rollen von Handeln und Struktur, von
»Habitus« und »Feld« (um Bourdieus Formulierung zu verwenden), von
Mikro-Interaktion zum Makro-Sozialkontext enthüllt durch sein eigenes
Versagen die Präsenz/Absenz technischer Vermittlung. Natürlich haben
die Ethnomethodologen Recht, die traditionelle Soziologie mit ihrer phan
tasievollen Makro-Ebene zu kritisieren, sie haben jedoch Unrecht zu
schließen, dass es so etwas wie eine absolute lokale Interaktion gibt. Keine
menschliche Beziehung existiert in einem Rahmen, der hinsichtlich Raum,
Zeit und Aktanten homogen ist. Der Fehler, den die traditionelle Soziologie
macht, ist jedoch genauso groß, wenn sie zu fragen vergisst, wie ein Unter
schied des Maßstabs erreicht wird, wie Macht ausgeübt wird, wie Unum
kehrbarkeit eingeführt und Rollen und Funktionen verteilt werden. Alles in
der Definition der Makro-Sozialordnung kann auf das Enrolment von
Nicht-Menschen zurückgeführt werden, d.h. auf technische Vermittlung.
Sogar der einfache Effekt der Dauer, der lang anhaltenden sozialen Kraft,
kann ohne die Dauerhaftigkeit von Nicht-Menschen, zu denen menschliche
lokale Interaktionen verschoben worden sind, nicht erhalten werden.
Die Sozialtheorie von Technik korrigiert die Soziologie zugleich mit der
Reparatur der Schwächen der Ethnomethodologie. Gesellschaft ist das Er
gebnis lokaler Konstruktion, aber wir sind auf der Baustelle nicht allein, da
wir dort auch die vielen Nicht-Menschen mobilisieren, durch die die Ord
nung von Raum und Zeit umgebildet worden ist. Menschlich zu sein er
fordert, mit Nicht-Menschen zu teilen. Die Sozialtheorie mag bei der Auf
gabe zu definieren, was menschlich ist, besser sein als die Philosophie,
jedoch nur wenn und insofern sie soziale Komplexität erklärt, die Erfin
dung von Werkzeugen und das plötzliche Auftreten der Black Box. Ich
denke noch immer an Stanley Kubrick, an seinen gewagten Schnitt, der ei
nen herumwirbelnden Tomahawk in eine stille Weltraumstation verwan
delte, die sich langsam in den Tiefen des Alls dreht, aber ich würde natür
lich gern auf einen Appell an einen außerirdischen Wohltäter verzichten.
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG j 5II
Genealogie13
Elf Uhr morgens: Clairborne sitzt in der Nähe von Niva, schaut sich wach
sam um. Bevor Clairborne eine Bewegung machen kann, kommt Crook an,
sehr nervös. Sowohl Clairborne als auch Crook wollen Niva gefallen, aber
Clairborne ist ihr alter Freund. Crook ist gerade in der Gruppe angekom
men und ist so unberechenbar, dass ihm niemand traut. Clairborne bewegt
sich auf Niva zu, aber das hält Crook nicht ab, der fortfährt, näher zu rü
cken. Die Spannung steigt. Niva ist zwischen widersprüchlichen Empfin
dungen gefangen; sie möchte fliehen, ist aber dennoch darüber beunru
higt, Crook allein so nah zu sein. Sie entscheidet sich dafür, neben Clair
borne zu bleiben, was die sicherere Option zu sein scheint. Die anderen
beobachten sorgsam, um zu sehen, was geschehen wird. Sharman passt
besonders gut auf, da das Ergebnis ihn betreffen könnte. Crook springt auf
Clairborne zu, aber statt wegzulaufen, greift Clairborne Nivas Kind. Das
Kind hält sich vertrauensvoll an seinem großen Freund fest. Plötzlich ver
schiebt sich die Handlung, als hätte Clairbome einen Schutzschild um sich
selbst und Niva errichtet. Frustriert, jedoch keinen weiteren Schritt auf sie
zu wagend, wendet sich Crook anderem zu, um seine Frustration anderswo
abzureagieren. Wie er vermutet hatte, wird Sharman zur Zielscheibe von
Crooks Aggression. Die zwei laufen davon, während sie Drohungen aus
tauschen und die kleine Gruppe um Niva entspannt sich. Clairborne
schmiegt sich näher an Niva; das Kind kuschelt sich in ihren Schoß. Nun
hat Sharman das Problem. Es ist n:05 Uhr.
Dieser Ausschnitt einer Seifenoper stammt nicht aus »Dallas« oder ir
gendeinem anderen Programm, mit dem die Amerikaner die Fernsehgerä
te in der ganzen Welt erobern, sondern aus Shirley Strums Studie über Pa
viane in Kenia. Ich möchte den dritten Teil dieser Diskussion nicht mit ei
nem technischen Mythos wie dem von Daedalus oder dem aus Kubricks
»2001« beginnen, sondern mit dieser exemplarischen Studie einer nicht
technischen, jedoch hoch komplexen Gesellschaft. Diese Gruppe Paviane,
»Pump-House« genannt, die das Glück hatte, 20 Jahre lang von Strum er
forscht zu werden, bietet die beste Grundlinie, den besten Richtpunkt, um
festzustellen, was wir mit Techniken meinen, da sie, obwohl das soziale
und politische Manövrieren der Paviane - im Gegensatz zu Schimpansen -
komplex ist, zumindest in der Wildnis ohne jegliche Werkzeuge und Arte
fakte auskommt. '4
dem Titel »Genealogie« ist eine Fortsetzung unserer gemeinschaftlichen Arbeit. Vgl.
Bijker/Law (1992), Latour (199p), MacKenzie (1990).
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 513
Aber Techniken sind nicht Fetische, sie sind unberechenbar, nicht Mit
tel, sondern Vermittler, Mittel und Zweck zur selben Zeit; deshalb wirken
sie sich auf das soziale Gewebe aus. Die kritische Theorie ist unfähig zu
erklären, wieso Artefakte in den Strom unserer Beziehungen eintreten,
weshalb wir so kontinuierlich Nicht-Menschen rekrutieren und sozialisie
ren. Es ist nicht, um soziale Beziehungen zu spiegeln, zu inskribieren oder
zu verstecken, sondern um sie durch frische und unerwartete Kraftquellen
neu zu gestalten. Die Gesellschaft ist nicht stabil genug, um sich in irgend
etwas zu inskribieren. Im Gegenteil ist es sogar unmöglich, die meisten
der Eigenschaften dessen, was wir mit sozialer Ordnung meinen - Maß
stab, Asymmetrie, Dauerhaftigkeit, Macht, Hierarchie, die Verteilung von
Rollen -, überhaupt zu definieren, ohne sozialisierte Nicht-Menschen zu
rekrutieren. Die Gesellschaft ist konstruiert, jedoch nicht sozial konstruiert.
Nur der machiavellische Pavian, Kubricks Affe, konstruiert seine Gesell
schaft sozial. Menschen haben seit Jahrmillionen ihre sozialen Beziehun
gen auf andere Aktanten ausgedehnt, mit denen sie viele Eigenschaften
ausgetauscht haben und mit denen sie Kollektive formen.
Aber ist Symmetrie zwischen Menschen und Nicht-Menschen wirklich
möglich? Haben nicht Menschen immer die Initiative? Dieser Einwand des
gesunden Menschenverstands ist nicht allgemeingültig vernünftig, da wir
in den meisten unserer Aktivitäten nicht den Menschen eine ursächliche
Rolle zuordnen. Wissenschaftler z.B. erklären gern, dass nicht sie spre
chen, sondern dass die Natur durch das Medium des Labors und seiner In
strumente spräche (oder präziser: schriebe). In anderen Worten erledigt die
Realität den Großteil des Sprechens. Wir finden dasselbe Rätsel in der poli
tischen Theorie (Hobbes' Souverän agiert, aber das Volk schreibt das
Skript) und auch in der Fiktion (Schriftsteller sagen gern, dass sie von der
Muse oder dem schieren Impuls ihrer Charaktere zum Schreiben gezwun
gen werden), während viele Historiker und Kritiker an noch eine andere
kollektive Kraft appellieren, für die Schriftsteller die expressive Rolle des
Mediums spielen, die der Gesellschaft oder des Zeitgeistes. Ein zweiter
Blick auf jedwede Aktivität untergräbt die einfache, landläufige Idee, dass
Menschen sprechen und handeln. Jede Aktivität impliziert das Prinzip der
Symmetrie zwischen Menschen und Nicht-Menschen oder bietet zumindest
eine widersprüchliche Mythologie an, die die einzigartige Position der
Menschen anficht. Dieselbe Unsicherheit plagt die Technil<, die menschli
ches Handeln ist, das damit endet, nicht-menschliches Handeln zu sein.
Die Verantwortung für das Handeln muss geteilt, die Symmetrie wieder
hergestellt, die Menschlichkeit neu beschrieben werden: nicht als die allei
nige, transzendente Ursache, sondern als der vermittelnde Vermittler.
liehen. Diese Studien werden von den Lesern als Paradebeispiele der ,Sozi
alkonstruktion< von Technik verstanden. Die Leser erklären sich die in ih
nen versammelten Beweise mit Bezug auf das dualistische Paradigma, zu
dessen Unterminierung die Studien selbst beitragen. Die hartnäckige Ver
ehrung der ,Sozialkonstruktion< als Erklärungsmittel scheint von der
Schwierigkeit herzurühren, die verschiedenen Bedeutungen des Schlag
wortes »sozio-technisch« zu entwirren. Dazu muss man die verschiedenen
Schichten der Bedeutung eine nach der anderen ablösen und eine Genea
logie ihrer Assoziationen versuchen. Außerdem habe ich, nachdem ich
Jahre lang das dualistische Paradigma in Frage gestellt habe, erkannt, dass
niemand bereit ist, eine willkürliche, aber nützliche Dichotomie wie z.B.
die zwischen Gesellschaft und Technik aufzugeben, wenn sie nicht durch
Kategorien ersetzt wird, die zumindest dieselbe unterscheidende Kraft ha
ben wie die über Bord geworfene. Wir können den Ausdruck »sozio-tech
nische Netzwerke« ewig herumschieben, ohne uns hinter das dualistische
Paradigma zu bewegen, das wir überwinden wollen. Um mich vorwärts zu
bewegen, muss ich Sie überzeugen, dass man viel feinere Details unter
scheiden kann, wenn man das neue Paradigma verwendet, das die Unter
scheidung zwischen sozialen Akteuren und Objekten verwischt. Dies wie
derum erfordert, dass ich von den zeitgenössischsten Bedeutungen ausge
he und mich zu den primitivsten hinab bewege. Jede Bedeutung könnte
vage als sozio-technisch beschrieben werden, aber die Neuheit ist, dass ich
in Zukunft in der Lage sein werde, mit einiger Präzision zu qualifizieren,
welche Art von Eigenschaften auf jeder Bedeutungsebene ausgetauscht
oder erfunden werden.
Für meine gegenwärtige Erzählung habe ich elf verschiedene Schichten
isoliert. Natürlich beanspruche ich weder für diese Definitionen noch für
ihre Sequenzen Plausibilität. Ich möchte einfach nur zeigen, dass die Ty
rannei der Dichotomie zwischen Menschen und Nicht-Menschen nicht un
vermeidlich ist, da es möglich ist, einen anderen Mythos zu entwerfen, in
dem sie keine Rolle spielt. Wenn ich Erfolg habe und etwas Freiraum für
Imagination öffne, dann stecken wir nicht ewig bei diesem langweiligen
Hin und Her von Menschen und Nicht-Menschen fest. Es sollte möglich
sein, sich einen Raum vorzustellen, der empirisch erforscht werden kann,
in dem wir den Austausch von Eigenschaften beobachten können, ohne bei
A-priori-Definitionen von Menschlichkeit ansetzen zu müssen.
telte, war zugleich eine Person (er nannte sich »ich«), eine Körperschaft
(»der Koordinator«) und ein natürliches Phänomen (das Genom, die DNA
Sequenz von Hefe). Das dualistische Paradigma hilft nicht, diesen Hybri
den zu verstehen. Platziere den sozialen Aspekt auf die eine und die Hefe
DNA auf die andere Seite und du wirst nicht nur die Daten verderben,
sondern auch die Gelegenheit zu erfahren, wie ein Genom einer Organisa
tion bekannt wird und wie eine Organisation in einer DNA-Sequenz auf
einer Festplatte naturalisiert wird.
Wir begegnen hier wiederum einer Überkreuzung, aber sie ist von an
derer Art und verläuft in eine andere Richtung, obwohl sie auch sozio
technisch genannt werden könnte. Für den von mir befragten Wissen
schaftler stellt sich die Frage nicht, der Hefe irgendeine Art von Rechten
oder Bürgerschaft zu gewähren. Für ihn ist Hefe nur eine materielle Enti
tät. Dennoch ist das Industrielabor, in dem er arbeitet, ein Ort, an dem völ
lig neue Formen von Arbeitsorganisation vollständig neue Eigenschaften in
Nicht-Menschen zum Vorschein bringen. Hefe wird natürlich bereits seit
Jahrtausenden zur Arbeit einges�tzt, z.B. im alten Braugewerbe, aber nun
arbeitet sie für ein Netzwerk von 30 europäischen Laboratorien, wo ihr Ge
nom entschlüsselt, humanisiert und sozialisiert wird, als Code, als Buch,
als Handlungsprogramm, kompatibel mit unseren Arten der Kodierung,
des Zählens und Lesens, wobei sie wenig von ihrer materiellen Qualität er
hält. Sie wird in das Kollektiv absorbiert. Durch Technik- im anglophonen
Sinn als eine Verschmelzung von Wissenschaft, Organisation und Indus
trie definiert - werden die Formen von Koordination, die durch die >Netz
werke der Macht< (vgl. unten) erlernt wurden, auf disartikulierte Entitäten
erweitert. Nicht-Menschen werden mit Sprache- wie primitiv auch immer
- ausgestattet, mit Intelligenz, Voraussicht, Selbstkontrolle und Disziplin,
sowohl in großem Maßstab als auch auf intime Art. Sozialität wird mit
Nicht-Menschen in einer fast promiskuitiven Art geteilt. Während in die
sem Modell (der zehnten Bedeutung von »sozio-technisch«) Automaten
keine Rechte haben, sind sie viel mehr als materielle Entitäten; sie sind
komplexe Organisationen.
Organisationen sind jedoch nicht rein sozial, weil sie selbst neun vorange
gangene Überkreuzungen von Menschen und Nicht-Menschen rekapitulie
ren. Alfred Chandler und Thomas Hughes haben jeder die Interpenetra
tion von technischen und sozialen Faktoren in dem, was Chandler die
»globale Korporation« und Hughes die »Netzwerke der Macht« nennt, ver
folgt (vgl. Chandler 1990; Hughes 1983). Hier wäre wieder der Ausdruck
»sozio-technische Wirrnis« passend und man könnte das dualistische Pa
radigma durch das >nahtlose Netz< technischer und sozialer Faktoren er
setzen, das von Hughes so schön beschrieben wird. Aber der Punkt meiner
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 517
Megamaschine
7.Ebene Überkreuzung
--
Industrie
Gesellschaft der Nichtmenschen, 8.Ebene
Automaten, Maschinen
-�
Netzwerke der Macht Bildung großangelegter
9.Ebene Organisationen mit Nichtmenschen
--
Technologien
Nichtmenschen als Organisationen 10.Ebene
Neumischen intimer Eigenschaften
-�
Politische Ökologie Nichtmenschen mit Rechten
11.Ebene Politik der Dinge
Die Ausdehnung der Netzwerke der Macht in der Stromindustrie, der Te
lekommunikation, im Transport ist unmöglich vorstellbar ohne eine mas
sive Mobilisierung von materiellen Entitäten. Hughes' Buch ist für Tech
nikstudenten exemplarisch, weil es zeigt, wie eine technische Erfindung
(elektrisches Licht) zur Etablierung (durch Edison) einer Korporation vor
her nie da gewesenen Ausmaßes führte, wobei ihr Ausmaß in direkter Be
ziehung zu den physischen Eigenschaften der elektrischen Netzwerke
stand. Nicht dass Hughes in irgendeiner Weise von einer Infrastruktur
518 1 BRUNO LATOUR
Industrie (Ebene 8)
Aber woher kommt Industrie? Sie ist weder etwas Vorgegebenes noch die
plötzliche Entdeckung der objektiven Gesetze der Materie durch den Kapi
talismus. Wir müssen uns ihre Genealogie durch frühere und ursprüngli
chere Bedeutungen des Begriffs »sozio-technisch« vorstellen. Lewis Mum
ford hat den faszinierenden Vorschlag gemacht, dass die »Megamaschine«
- die Organisation großer Menschenmengen über Befehlsketten, ausge
klügelte Planung und Buchführung- einen Wandel der Größenverhältnis
se repräsentiert, der vollzogen werden musste, bevor Räder und Getriebe
entwickelt werden konnten (vgl. Mumford 1966). Ab einem bestimmten
Punkt in der Geschichte wurden menschliche Interaktionen durch eine
520 1 BRUNO LATOUR
Im Kontext der Schicht sieben scheint die Megamaschine eine reine und
glatte, endgültige Form zu sein, die gänzlich aus sozialen Beziehungen be
steht; wenn wir aber die Schicht sechs erreichen und untersuchen, was der
Megamaschine zugrunde liegt, finden wir die erstaunlichste Ausweitung
sozialer Beziehungen auf Nicht-Menschen: Landwirtschaft und die Domes
tizierung von Tieren. Die intensive Sozialisierung, Umerziehung und Neu
konfiguration von Pflanzen und Tieren - so intensiv, dass sie ihre Form,
Funktion und oft auch die genetische Beschaffenheit verändern - bezeich
ne ich mit dem Begriff »internalisierte Ökologie«. Wie bei unseren ande
ren Episoden mit gerader Nummerierung kann die Domestizierung nicht
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 521
Gesellschaft (Ebene 5)
Was ist eine Gesellschaft- der Anfang aller sozialen Erklärungen, das Vor
gegebene der Sozialwissenschaft? Wenn meine Pragmatogonie nur annä
hernd überzeugend ist, kann »Gesellschaft« nicht Teil unserer Terminolo
gie sein, da der Begriff selbst gemacht, >sozial konstruiert< werden musste,
wie die irreführende Bezeichnung lautet. In der Durkheim'schen Interpre
tation ist Gesellschaft jedoch tatsächlich etwas Letztgültiges: Sie geht indi
vidueller Handlung voraus, dauert viel länger als jede Interaktion, domi
niert unser Leben- sie ist, wohin wir hineingeboren sind, wo wir leben und
sterben. Sie ist externalisiert, verdinglicht, realer als wir selbst und daher
auch der Ursprung aller Religion und jedes religiösen Rituals, die - für
Durkheim - nichts anderes sind als die Wiederkehr dessen, was durch Fi
guration und Mythos an individuellen Interaktionen transzendent ist.
Und doch wird Gesellschaft selbst durch solche alltäglichen Interaktio
nen konstruiert. Wie fortgeschritten, differenziert und diszipliniert die Ge
sellschaft auch sein mag, wir reparieren noch immer das soziale Gewebe
mit unserem eigenen, immanenten Wissen und unseren eigenen Metho
den. Durkheim mag Recht haben, Garfinkel jedoch auch. Vielleicht ist die
Lösung, entsprechend der generativen Prinzipien meiner Genealogie, jene,
nach Nicht-Menschen zu suchen (das Prinzip: Suche nach Nicht-Menschen,
wenn das Auftreten eines sozialen Charakteristikums unerklärlich ist;
schau dir den Stand sozialer Beziehungen an, wenn ein neuer und uner
klärlicher Objekttyp das Kollektiv betritt). Was Durkheim als die Wirkung
einer Sozialordnung sui generis missverstand, ist die Folge des Einwirkens
von Technik auf unsere sozialen Beziehungen. Von Techniken lernten wir,
was es heißt, zu überdauern und sich auszudehnen, eine Rolle zu über
nehmen und eine Funktion zu erfüllen. Indem wir diese Kompetenz in die
Definition von Gesellschaft reimportierten, lehrten wir uns selbst, sie zu
verdinglichen, Gesellschaft unabhängig von flüchtigen Interaktionen Dau-
522 1 BRUNO LATOUR
Techniken (Ebene 4)
Auf dieser Stufe unserer spekulativen Genealogie können wir nicht länger
von Menschen, von anatomisch modernen Menschen sprechen, sondern
nur von sozialen Frühmenschen. Jetzt sind wir in der Lage, »Techniken«
mit einiger Präzision zu definieren. Techniken, so lernen wir von den Ar
chäologen, sind artikulierte Subprogramme für Handlungen, die (in der
Zeit) überdauern und sich (im Raum) ausdehnen. Techniken implizieren
nicht Gesellschaft (den spät entwickelten Hybriden), sondern eine semiso
ziale Organisation, die Nicht-Menschen aus sehr verschiedenen Zeiten, Or
ten und Materialien zusammenbringt. Pfeil und Bogen, ein Speer, ein
Hammer, ein Netz, ein Kleidungsstück, sind aus Teilen und Stücken zu
sammengesetzt, die eine Rekombination von Sequenzen aus Zeit und
Raum erfordern, die keine Beziehung zu ihrem natürlichen Umfeld mehr
haben. Techniken sind das, was Werkzeugen und nicht-menschlichen Ak
tanten geschieht, wenn sie durch eine Organisation verarbeitet werden, die
sie extrahiert, neu kombiniert und sozialisiert. Sogar die einfachsten Tech
niken sind sozio-technisch; selbst auf dieser primitiven Bedeutungsschicht
sind Organisationsformen nicht trennbar von technischen Handgriffen.
Die Werkzeuge selbst, woher sie auch kommen mögen, sind seit hunder
ten von Jahrtausenden unsere einzigen Zeugen. Viele Archäologen gehen
von der Annahme aus, dass der »Basiswerkzeugkasten« (wie ich es nenne)
und Technik direkt durch eine Evolution von Werkzeugen zu zusammen
gesetzten Werkzeugen verbunden sind. Es gibt aber keine direkte Linie
vom Feuerstein zum Atomkraftwerk. Weiter gibt es keine direkte Linie -
obwohl viele Sozialtheoretiker annehmen, dass es eine gäbe - von sozialen
Komplikationen zur Gesellschaft, zu Megamaschinen und Netzwerken.
Schließlich gibt es keine zwei parallelen Geschichten, eine Geschichte der
technischen Infrastruktur und eine Geschichte des sozialen Überbaus,
sondern nur eine einzige sozio-technische Geschichte.
Was ist dann ein Werkzeug? Die Ausdehnung sozialer Kompetenzen
auf Nicht-Menschen. Machiavellistische Affen sowie jene Affen, die zu Be
ginn dieses Abschnitts vorgestellt wurden, besitzen im Hinblick auf Tech
nik nicht viel, aber können (wie Hans Kummer gezeigt hat) durch komple
xe Strategien, mit denen sie einander manipulieren und modifizieren, so
ziale Werkzeuge erfinden (vgl. Kummer 1993). Wenn man den Frühmen
schen meiner eigenen Mythologie dieselbe Art von sozialer Komplexität
zugesteht, darf man auch annehmen, dass sie durch Verschiebung dieser
Kompetenz auf Nicht-Menschen Werkzeuge erzeugen können, indem sie
einen Stein als einen sozialen Partner behandeln, ihn modifizieren, und
damit auf einen zweiten Stein einwirken. Frühmenschliche Werkzeuge, im
Gegensatz zu den Ad-hoc-Geräten anderer Primaten, stellen die Auswei
tung einer Kompetenz dar, die im Bereich sozialer Interaktion erprobt
wurde.
Wir haben schließlich die Ebene von Clairbome, Niva und Crook, den ma
chiavellistischen Primaten erreicht. Hier engagieren sie sich in Garfinkel' -
sehen Interaktionen, um eine stets in Auflösung begriffene Sozialordnung
zu reparieren. Sie manipulieren einander, um in Gruppen zu überleben,
jede Gruppe von Artgenossen in einem Zustand ständiger gegenseitiger
Einmischung. Wir nennen diesen Zustand, diese Ebene, »soziale Kample-
524 1 BRUNO LATOUR
Formbarkeit Basiswerkzeugkasten 2.
Haltbarkeit V
7. Megamaschine Management im
I großen Maßstab
Automat Industrie 8.
I
>GESELLSCHAFT< ,TECHNIK<
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528 1 BRUNO LATOUR
Zusammenfassung
Dieser Artikel ist eine von einem Ignoranten niedergeschriebene Medita
tion, der zu verstehen versucht, welche Veränderungen in seinem Feld, der
Sozialtheorie, durch die Entwicklungen der Informationstechnik und die
Analysen von Soziologen, Spezialisten für Arbeitsbeziehungen, von Orga
nisationen, situierter Kognition usw. stattgefunden haben. Sie geht von
einem einfachen praktischen Beispiel aus und versucht es zu analysieren,
indem sie neuen Konzepten folgt, die sich aus einer Umverteilung
menschlicher und nicht-menschlicher Komponenten aufgrund der Allge
genwärtigkeit computerisierter Arbeitsumgebungen ergeben. Im Weiteren
werden die von weitaus informierteren Kollegen geleisteten Beiträge zur
Sozialtheorie angeführt und schließlich soll unter Zuhilfenahme eines sehr
schwerfälligen Vokabulars gezeigt werden, wie wir eine durch die Informa
tionstechnik und ihre Forscher veränderte Sozialtheorie in treffenderer
Terminologie als der der Netzwerke erklären könnten.
Prolog
»Treffen wir uns um 12:30 Uhr am Bahnsteig des Eurotunnels im Bahnhof
Waterloo«, hatte ich Adam von Paris aus am Telefon vorgeschlagen. »Gut,
ich werde dort sein«, stimmte er diesem Quasi-Vertrag mit dem telefoni
schen Äquivalent eines Handschlags oder einer Unterschrift zu. Ich hätte
ihn bitten können, mir per Fax eine Bestätigung zu schicken, um mich
doppelt zu vergewissern, dass wir uns trotz der einstündigen Zeitdifferenz,
auf der England gegenüber dem >Kontinent< besteht (vermutlich, um sich
530 1 BRUNO LATOUR
Mithilfe des Telefons haben Helene und Adam einander eine Geschichte
über London, Züge, Bahnhöfe, Waterloo und einen Besuch in der Natio
nalgalerie erzählt, die sich, isoliert betrachtet, nicht von Tagträumen oder
Romanen unterscheidet. Gemeinsam haben sie - einer dem anderen An
stöße gebend - eine mögliche Welt erfunden, in der sie sich treffen und
wieder Freunde sein konnten (vgl. z.B. Pavel 1986). Im Verlauf der Ge
schichte delegierten sie ebenfalls »Adam« und »Helene« genannte Charak
tere, die Handlungen ausführen, sich treffen, reden und einem bestimm
ten Pfad vor dem Hintergrund von Markierungen namens »London«,
»Waterloo« und »Trafalgar Square« folgen konnten. Indem sie ihrer Ge
schichte Charaktere verliehen, die ihnen selbst teilweise ähnlich und teil
weise verschieden von ihnen waren und die innerhalb dieses anderen Refe
renzrahmens neue und unmögliche Handlungen ausführten, durchlebten
sie eine andere Art von Geistreise-Erfahrung. Wie im Film von Woody
Allen, in dem Bogart das Gespräch des zu unbeholfenen Woody an sich
nimmt, verdoppeln sie sich und fügen ihrem eigenen Selbst eine Reihe von
Klonen hinzu.
Die Geschichte hätte jedoch eine vollkommen andere Wendung ge
nommen, wenn sie am Telefon beschlossen hätten, dass die Welt, die sie
bislang mit ihren Doppelgängern bevölkert hatten, nicht länger eine mögli
che Welt sei, sondern dass sie sich stattdessen von nun an an ein Hand
lungsprogramm, ein Skript, binden wollten, dass Rollen und Bahnen an sie
delegiert.' Sie organisierten eine gemeinsame Reise nach London; dabei
war das Skript eine Art Sendschreiben ihrer zukünftigen Aktivität gewor
den. Sie mussten nun die ihnen zugeteilten Rollen erfüllen, obwohl sie
noch vor einigen Minuten selbst ihnen ähnelnde Charaktere in einen ande
ren Raum und eine andere Zeit ausgesandt hatten. Ohne viel an ihrem
materiellen Inhalt zu verändern, hatte die Geschichte, die sie einander
erzählten, die Gestalt einer Organisation angenommen. Sie konnten sie
nach Gutdünken abändern; nachdem sie aber einmal aufgelegt hatten und
keine Möglichkeit mehr bestand, einander noch einmal anzurufen, über
nahm das Skript und schränkte ihren Handlungsspielraum ein. Helene
und Adam-in-Fleisch-und-Blut stellen nun die delegierten Charaktere ihrer
eigenen Geschichte dar - der Punkt ist nur, dass es sich nicht länger um
ihre eigene Geschichte handelt.
Die Charaktere in der Geschichte mögen sich ändern. Und weil sie sich
ändern, indem sie z.B. schnelle Verschiebungen nach außen in andere
Zeiten, an andere Orte oder Aktanten vornehmen, erstellen sie viele ver
schiedene Welten, die einige Minuten zuvor noch nicht einmal in der Vor
stellung existierten. Charaktere im Skript teilen Rollen, Verabredungen,
Performanzen in einer Ort- und Zeitbahn zu, was ebenfalls etwas Neues
1 1 Vgl. z.B. Taylor (1993) oder das Werk von Barbara Czarniawska über Organi
sationen als besondere Diskursforrnen.
532 1 BRUNO LATOUR
hervorbringt, obwohl diese Neuheit von anderer Art ist als die der Ge
schichte. Statt neue Welten zu erschaffen, aktualisiert diese Zuteilung eine
Welt, in der Adam-aus-Fleisch-und-Blut Helene-aus-Fleisch-und-Blut um
12:30 Uhr in London trifft, indem sie Akteure und Funktionen in einer
2 1 Für ein Beispiel aus einem wissenschaftlichen Feld vgl. Latour (1995).
SOZIALTHEORIE & ERFORSCHUNG COMPUTERISIERTER ARBEITSUMGEBUNGEN 1 533
Ort ist, weil sie die Entsprechung der von ihr niedergeschriebenen Infor
mation und der großen Zeichen, die sie jetzt durch ihr Fenster sieht, er
kennt. »Entsprechung« und nicht »Ähnlichkeit« führt sie beide durch die
blinden, referentiellen Ketten. (Adam jedoch, der aus London stammt, wird
diese Etiketten überhaupt keines Blickes würdigen; stattdessen wird er in
alte Routinen zurückfallen und von seiner Wohnung aus durch die Straßen
zum Bahnhof gehen, wobei er gelegentlich seinen Weg ohne nachzuden
ken anpasst, um einige Straßensperren zu umgehen, und er dabei das ihm
natürlich Erscheinende als nächstes tut. )3
Wer spricht via Telefon? Wer reist nach London? Nicht nur Adam und
Helene. Wenn man eine Unterhaltung von Paris nach London führen
möchte, braucht man dazu entweder eine sehr laute Stimme oder einen
langen Atem und einen sportlichen Körper, um das Laufen und Schwim
men von einem Punkt zum anderen bewältigen zu können - und eine
Menge Zeit. Möglicherweise wird Helene auf dem Weg durch diese An
strengungen etwas altem oder sogar ertrinken. Adam, Helene, Elektronen,
Ziffern und Telefongesellschaften erledigen das Sprechen; Helene, die
Züge, die französische Bahngesellschaft SNCF und der Eurotunnel das
Reisen. Millionen von Delegierten übernehmen wiederum die Aufgaben
des Sprechens und Reisens und gewähren, erlauben, gestatten, autorisie
ren Adams und Helenes Treffen. Nicht das Treffen dieser Helene und
dieses Adams, sondern eines Adams und einer Helene der vielen, statistisch
Erwartbaren, für die Telefone konstruiert, Sitze entworfen und Fahrpreise
und Wochenendtarife erdacht worden sind. Konsumenten werden dabei
auf kleine, fein auf den Markt abgestimmte, durch kluge Ergonomie mit
gemittelten Körpermaßen und Gewichten versehene, sozioprofessionelle
Kategorien reduziert. Für diese Helene bedeuten die Hunderten von Dele
gierten nichts: Sie steigt nur in den eleganten Zug ein; sie handeln jedoch
alle gleich. In Hinsicht auf den Eurotunnel stellt Helene nur eine von (er
hofften) Millionen von Passagieren dar - die Eingabe einer Benutzerin an
der Tastatur des Fahrkartenschalters (obwohl die Angestellte im Rahmen
eines von der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit entworfenen Trainings
programms dazu angehalten wurde, die anonyme Beziehung durch ein
Lächeln zu >personalisieren<).
Die Eisenbahnschienen, Telefonleitungen, Software - sogar der wun
derschöne Schirm des Eurostar-Bahnhofs Waterloo, die Sitze -, sie alle
sind nicht aus dem Grund verlässlich und stabil, weil sie die Außenwelt
bilden, in der Helenes menschliche Interaktion mit Adam stattfindet,
sondern weil jedes von ihnen von anderen Aktanten, die ein anderes Ti
ming haben, abhängen.4 Das Silikon der Chips, der Stahl der Kuppel, das
3 1 Zur in einer Organisation angelegten Routine vgl. das klassische Werk von
Suchmann (1987).
4 1 Zum Begriff der technischen Delegierten vgl. Latour (r994a).
534 1 BRUNO LATOUR
geschäumte Plastikmaterial der Sitze haben einen weiten Weg durch Raum
und Zeit hinter sich gebracht und setzen in anderer Anordnung, umarran
giert und neu verbunden ihre Handlungen fort, wobei sie der flüchtigen
Interaktion, in der zwei junge Leute sich den Bruchteil einer Sekunde lang
am Eurotunnel-Bahnsteig küssen, einen stabilen Hintergrund bieten. Das
Paar kann seine Pläne ändern oder die Reise absagen; die Chips, der Stahl
rahmen, der Waggon werden - vorausgesetzt, dass Inspektoren, Ingenieu
re und Wartungsmannschaften sich vorschriftsmäßig um sie kümmern -
überdauern. Der Intersubjektivität ihrer Beziehungen muss die Interobjek
tivität aller dieser gefalteten Delegierten, von denen sie in so hohem Maße
abhängen, hinzugefügt werden (Latour 1994b).
Wir treffen die Helene-am-Telefon, die wir der Einfachheit halber
»Helene-aus-Fleisch-und-Blut« nennen, dann den nach London fahrenden
Helene-Charakter in der Geschichte, dann die vom Skript delegierte He
lene, die die von ihr erwartete Rolle erfüllt, dann die mittels Verträgen und
Verbindlichkeiten durch Zeit und Raum stabilisierte Helene, dann die
vielen statistischen, in das System, das Marketing und in Telefongebühren
und Eisenbahngesellschaften inskribierten Helene-ähnlichen Kundinnen
und Konsumentinnen. Eine ganz schöne Menge an Helenes! Bei all denen
sind bis jetzt noch jene unerwähnt geblieben, die Adam erwartet, und die
vielleicht, durch Kristallisierung und Kondensierung aus einer Vielzahl von
Müttern, Körpern, Tieren und Dschinns heraufbeschworen, mehr Ähn
lichkeit mit Traumidolen haben als mit der schönen, vergänglichen und
unverlässlichen Helene, die in einen roten Mantel gehüllt aus dem Zug
steigt und aus tiefblauen Augen lächelt. Dann gab es die vielen Delegierten,
die hin und zurück durch verschiedene referentielle Ketten reisten, wobei
sie Orten, Aktanten und Zeiten den Übergang in verschiedene Formen
und Darstellungen - und wieder zurück dorthin, woher sie gekommen
waren - erlaubten. Dabei ist noch nicht einmal die Metrologie berücksich
tigt, die unter großem Aufwand die Verbindung aller Uhren Europas er
möglicht, sodass die große mechanische des »Big Ben«, oberhalb der
Themse, mit der hochtechnisierten digitalen über dem Bahnsteig und
derjenigen an Adams Handgelenk, auf die er nervös schaut, überein
stimmt. Steine, Stahl, Software, Türschließer, Schalter und Aufzüge, hun
derte vdn Ingenieuren, Arbeitern, Designern, Architekten, Büroangestell
ten und Millionen von anderen Elementen teilen durch ihre fortwährende
Vermittlung die Interaktion des Paares, dass, hie et nunc, nun vereinigt ist.
Ob diese Delegierten an- oder abwesend, still oder bedeutungsvoll sind -
immer beeinflussen sie durch Aktionen des im Voraus Organisierens,
Anzeigens, Erzwingens, Verbietens, Gewährens oder Erlaubens den Zick
zack-Kurs, dem die beiden Freunde gerade über den weißen Boden der
Eingangshalle des Bahnhofs Waterloo Richtung Ausgang folgen.
SOZIALTHEORIE & ERFORSCHUNG COMPUTERISIERTER ARBEITSUMGEBUNGEN 1 535
5 1 Für gewöhnlich gelingt das Romanautoren - wenn sie einmal auf dem
richtigen Weg sind - besser als Sozialtheoretikern, wie man beim Lesen des außer
ordentlich subtilen Buches von Powers (r995) feststellen kann. Dank an Geff Bow
ker für diesen und andere Hinweise.
6 1 Dies wird von Gardner (r985) sowie in einigen Artikeln von Phil Agre ver
deutlicht.
11 '
536 1 BRUNO LATOUR
1
,, 1
1
7 1 Wenigstens für die allgemeine Öffentlichkeit wird diese Position von Dreyfus
(1992) gut vertreten.
8 1 Vgl. z.B. die großartige Arbeit über kognitive Gruppenarbeit auf einem
ozeanographischen Schiff von Goodwin (r995).
9 1 Unter diesen gilt die von Simon Schaffer vorgelegte Arbeit als besonders mit
SOZIALTHEORIE & ERFORSCHUNG COMPUTERISIERTER ARBEITSUMGEBUNGEN 1 537
Die Artefakte selbst haben sich in einem Ausmaß verändert, dass weder
Ingenieure noch Soziologen sie wieder erkennen würden. Maschinen,
Automatismen und Materialkomponenten waren als asozial und ahisto
risch gedacht; aus diesem Grund faszinierten sie Ingenieure so sehr, die
davon träumten, an diese das Fleisch und Blut unorganisierter Körper zu
delegieren - und aus dem gleichen Grund beunruhigten sie Sozialwissen
schaftler und Humanisten mit deren barbarischer Einführung in die zivili
sierte Welt. Artefakte wiederum haben sich zu aktiven, sozialen, mit einer
Geschichte und einer kollektiven Karriere ausgestatteten Aktanten entwi
ckelt, die Kompetenzen und Gewährungen untereinander und zwischen
den (mittlerweile vollkommen) umverteilten menschlichen Akteuren
verschieben (Latour 1992). Sie betreten das Kollektiv nicht aus dem Grund,
weil sie die Münder absichtsvoller Menschen verschließen, die Kontrover
sen sich streitender Wissenschaftler beenden, dem schöpferischen Geist
passive Ressourcen eröffnen oder ein bequemes Gefäß für soziale Werte
darstellen, sondern weil sie Handlungsprogrammen Absichten, Kontrover
sen, Aktivitäten und Bedeutungen hinzufügen, die ohne sie zu begrenzt
oder eng wären.
Aus politischen Gründen hatte die Wissenschaft einige Jahrhunderte
lang die allgemeinen Entwürfe zur Vorstellung des menschlichen Den
kens, seiner natürlichen Intelligenz sowie der von Materie und Artefakten
geliefert. Was ist nun von der früheren Vision einer asozialen, ahistori
schen Wissenschaft übrig geblieben, die über dem kollektiven Gebräu von
Leidenschaften und Politik schwebt? Auch die Wissenschaften wurden bis
zu einem Punkt jenseits der Wiedererkennbarkeit umgestaltet, ohne die
Wirklichkeit und Objektivität einzubüßen, derer sie sich so gebrüstet
hatten. Viele neue Realitäten werden durch referentielle Ketten eingeführt,
die ihrerseits von instabilen Disziplinen innerhalb enger, örtlich begrenz
ter, kleiner, teurer und blinder Praxis-Netzwerke lanciert werden. Die
Netzwerke etablieren Verbindungen mit vollkommen unerwarteten Entitä
ten, die von nun an über eine andere Geschichte verfügen und eine andere
Gesellschaft bilden (für ein Beispiel eines solch kompletten Wandels vgl.
Smith/Wise 1989). Clevere Delegierte, verfeinerte Instrumente, winzige
nicht-menschliche Beobachter bevölkern nun diese relativistischen Netz
werke und beleben Gesellschaft und Geschichte mit neuen Aktanten. Dabei
sind sie auch real und objektiv, wodurch sie nicht als Fremdkörper im
sozialen Gefüge erscheinen, sondern lediglich zu seiner Komplexität und
der Kompliziertheit seiner politischen Repräsentation beitragen.
Wenn die Wissenschaften solchermaßen rekonfiguriert werden, nimmt
auch die Information eine neue Bedeutung an. Eine Form kann nicht
identisch mit dem Inhalt sein, dem sie Form verleiht. Die Worte »Bahnhof
Waterloo« sind genauso wenig der Bahnhof selbst wie eine Landkarte mit
der Landschaft identisch ist, jedoch erlauben sie Helene in Paris, bereits
aus der Entfernung eine Verbindung zwischen Paris und dem Ort ihres
SOZIALTHEORIE & ERFORSCHUNG COMPUTERISIERTER ARBEITSUMGEBUNGEN 1 539
Eine weitere Beschreibung der dritten Welt, in die uns die Erforschung
computerisierter Arbeitsumgebungen eingeführt hat, besteht darin zu
behaupten, dass Computersysteme genauso wenig in menschliche Organi
sationen eingebettet sein können wie menschliche Organisationen in
Computersysteme. »Einbettung« ist keine sehr treffende Metapher zur
Beschreibung der vielen Verlagerungen, die die Definitionen von »Arbeit«,
»Experten«; »Information«, »Kommunikation«, »Computerwesen«, »Si
mulation« und »Institution« bis zur Unkenntlichkeit modifiziert haben.
Wie kann man diese Verlagerungen nachvollziehen?
Ein Weg, über diese Verlagerungen zu sprechen, ohne die Begriffe
»Struktur« und »Substanz« zu verwenden, ist natürlich, sich zu vergegen
wärtigen, dass es sich bei unserem Hauptinteresse um Fragmente handelt:
durch Maschinen verteilte Fragmente von Intelligenz, auf Körper verteilte
Maschinenfragmente, Fragmente von in Softwarezeilen umgewandelte
Organisationen, Fragmente von in Institutionen steckenden Codes, Frag
mente von im virtuellen Raum treibenden Subjekten. Ein Großteil der
Cyborg-Llteratur gleicht einem Appell an die unvermeidliche Fragmentie
rung von Körpern, Organisationen, Subjekten, Wissenschaft, Artefakten,
Märkten und Geschichten.
Unterscheiden sich Fragmente jedoch so grundlegend von der struktu
ralistischen Position, die sie verbreiten wollen? Das steht nicht fest. Das
Fragment hat dieselbe differentiale Eigenschaft wie das Element der längst
vergangenen Struktur. Genauso wie ein Element einer Struktur nur durch
seinen Unterschied von einer Reihe austauschbarer Elemente definiert ist,
bekommt ein Fragment seine Bedeutung lediglich aus seiner Position im
Transformationssystem, auf das es sich bezieht. Der einzige Unterschied
zwischen der Konstruktion des Strukturalismus und seiner Dekonstruktion
in Fragmente besteht darin, dass es nicht länger eine Struktur zur Bildung
der Substitutionsreihe gibt. Also stellen Fragmente strukturelle Merkmale
ohne Struktur dar! Dies mag eine Art und Weise sein, die Nachteile des
kritisierten Rationalismus beizubehalten, ohne seine erhellenden Eigen
schaften zu übernehmen. 12 Wenn wir die Metaphorik der Dekonstruktion
12 1 Wie Serres (1995) es ausdrückt: »Je größer die [Vase], desto zerbrechlicher
wird sie. Wenn man sie zerbricht, ist das einzelne Fragment je widerstandsfähiger,
desto kleiner es ist. Folglich: Wenn man ein Fragment schafft, sucht man Zuflucht
an Orten, Lokalitäten, die widerstandsfähiger sind als globale Konstruktionen. [... ]
SOZIALTHEORIE & ERFORSCHUNG COMPUTERISIERTER ARBEITSUMGEBUNGEN 1 54I
i
tanzen anzugehen. Ein neues Softwarepaket, eine neue Website, ein neuer
l
1
Chip, eine neue Anti-Trust-Politik, ein neues Elektronikforum wird nicht 1]1
dienstleistung wird auf genau gleiche Weise durch seine Verbindung mit
dem Bankautomaten neu definiert wie die Definition eines »Intel«-Chips
sich durch dessen Verbindung mit einer neuen Software oder einem mili 1
Die Philosophie der Fragmente bringt die Philosophie des Museums und das
Museum der Philosophie zusammen; dadurch ist sie doppelt konservativ.« (Ebd.:
120)
13 1 Eine neuere Analyse bietet Callon (1992). Das Wort »Rhizom« stammt
natürlich von Deleuze und Guattari (1972, 1983). Dabei ist Deleuze in dieser Hin
sicht sicher der interessanteste Philosoph, da er immer in seiner dritten Welt gelebt
hat. Für eine ausgezeichnete Präsentation vgl. Zourabichvili (1994).
1111 11
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542 1 BRUNO LATOUR
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Bahnen zu einem Präzisionsgrad, der in der strukturalistischen Literatur
!i.1111:11.'11,1i'1,,i1l.·,1 ·
unbekannt war.'4 In einem Netzwerk stellt jedes Element einen unabhän
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gigen Vermittler und nicht ein Differential am Schnittpunkt einer paradig
matischen oder syntagmatischen Reihe dar; einen Vermittler, der als
Ereignis definiert ist, das weder vollkommen Ursache noch Wirkung ist.
1 1 ,1!1, ·l'.liI
Rhizome und heterogene Netzwerke sind also machtvolle Mittel, Subs
1i!!!i tanz und willkürliche Dichotomien zu vermeiden und Strukturen zu
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bekämpfen. Auch wenn sie die Wissenschaftler mit einem gewissen Grad
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1· 11 11 1,
an Freiheit und Agnostizismus versehen, schränkt ihre ausschließliche
Definition der Entitäten durch deren Verbindungen sie auch wieder ein.
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lt1 1i'!l i 1 I
Ihre Flexibilität stellt gleichermaßen ihren größten Vorteil, aber auch ihren
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größten Nachteil dar. Während sie gegen Strukturen, Substanz und Mora
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lisierung Macht besitzen, versagen sie bei der Bereitstellung von Strate
1 1. 11 '11
gien, der Urteilsbildung oder der Erklärung stabiler Merkmale. Das Spre
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liegt. Außerdem gestatten sie uns, Fragmente auf sehr freie Art miteinan
der zu verbinden. Aber genau hier liegt auch die Schwäche der Rhizome:
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Sie reagieren auf jede Bewegung - den anklagenden Ton des Kritikers
I 11 .Ji,l.:
inbegriffen - kritisch, bleiben jedoch selbst Werkzeuge der Kritik, die nur
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sie sich mit der Auflösung der Illusion kritischer Posen beschäftigt haben,
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nicht viel davon übrig bleibt und sie vielleicht sogar in eine irgendwie per
verse Freude über die Vielfalt, Heterogenität und Fülle der von ihnen so
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gut eingesetzten Verbindungen verfallen.
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werden, um sie zur Analyse von Verlagerungen verwenden zu können,
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ohne sie als eine bloße Vielzahl von Fragmenten zu betrachten; etwas, über
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natürlich keine Rückkehr zur Substanz oder zu Strukturen bedeuten; auch
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kann er keine Bestimmung von Verbindungstypen sein, in denen Entitäten
][1 eingebunden sind, da definitionsgemäß die Anzahl dieser Typen der Viel
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zahl der Verbindungen entspricht. Die Kraft von Netzwerken wäre verlo
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ren, wenn man den unrealisierbaren Traum verfolgen müsste, eine Liste
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der erlaubten und der verbotenen oder unmöglichen Verbindungen aufzu-
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'",'· l",;..'1i1'1l!', ·. 1111,1'',,..1
1 14 1 Das erklärt außerdem auch die virtuelle Verschmelzung - zumindest in der
wissenschaftlichen Forschung - der Sozialgeschichte mit der Soziologie von Wis
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1988).
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',/. ·'.:'l..'I''il11I1
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Akteur-Netzwerk-Theorie:
Der Markttest
MICHEL CALLON
Zusammenfassung
Was ist ein Markt? Es gibt zahlreiche Antworten auf diese Frage, aber
Guesneries Definition scheint gut zu unserer Argumentation zu passen
(Guesnerie 1996). Ihm zufolge ist ein Markt eine Einrichtung zur Koordi
nation, in der a) die Agenten ihre eigenen Interessen verfolgen und zu
diesem Zweck wirtschaftliche Berechnungen ausführen, was als Operation
zur Optimierung und/oder Maximierung betrachtet werden kann; b) die
Agenten allgemein divergierende Interessen haben, die sie dazu führen,
sich zu engagieren, und zwar in c) Transaktionen, die den Konflikt auflö
sen, indem sie einen Preis definieren. In seinen Worten stellt ein Markt
Käufer und Verkäufer gegenüber und die Preise, die den Konflikt lösen,
sind der Input, aber auch in einem Sinn das Ergebnis der wirtschaftlichen
Berechnung der Agenten.
Dieser Definition kommt das Verdienst zu, das Wesentliche zu beto
nen. Das ist: die Dezentralisierung der Entscheidungsfindung, die Defini
tion von Akteuren als berechnende Agenten und Interessenkonflikte, die
eine in Preisen gemessene Äquivalenz herstellen.
Der Punkt, den man dabei im Gedächtnis behalten muss, ist, dass die
Agenten den Austausch wie Fremde betreten und verlassen. Wenn die
Transaktion einmal abgeschlossen ist, sind die Agenten quitt; sie ziehen
sich selbst nur für einen Moment aus der Anonymität und gleiten unmit
telbar danach wieder dorthin zurück.
Wie diese Definition zeigt, impliziert der Marlct als eine Methode der
Koordination die Existenz von zur Berechnung fähigen Agenten. Dies wird
von Williamson in seiner Diskussion der Idee von Vertrauen bestätigt
(Williamson 1993).
548 J MICHEL GALLON
»Berechnung ist die allgemeine Bedingung, die ich mit dem wirtschaftlichen Ansatz
und der progressiven Ausdehnung in die verbundenen Sozialwissenschaften assozi
iere.«
Lassen Sie uns diese Hypothese akzeptieren und uns die folgende Frage
stellen: Unter welchen Bedingungen ist Berechnung möglich? Unter wel
chen Bedingungen treten berechnende Agenten auf?
Um berechnete Verträge zu schreiben und abschließen zu können, d.h.
in den Inhalt von Gütern und ihre Preise zu gehen, brauchen die Agenten
Informationen über die möglichen Zustände der Welt. Genauer bedeutet
das: Damit berechnende Agenten in der Lage sind, Entscheidungen zu
treffen, müssen sie zumindest fähig sein:
Wenn also Marktkoordination erfolgreich sein soll, muss es nicht nur be
rechnende Agenten geben, sondern auch Agenten mit Informationen über
alle möglichen Zustände der Welt, über die Natur der Handlungen, die
unternommen werden können, und über die Konsequenzen dieser ver
schiedenen Handlungen, wenn diese einmal unternommen worden sind.
Die Marktkoordination trifft auf Probleme, wenn Unsicherheiten über
die Zustände der Welt, über die Natur der Handlungen, die unternommen
werden können und über die erwarteten Konsequenzen dieser Handlun
gen zunehmen. Die Probleme werden am schlimmsten, wenn die Unsi
cherheiten sich schlicht und einfach in Ignoranz verwandeln. Nun sind
solche Situationen die Regel und nicht die Ausnahme. Dies ist sogar noch
offensichtlicher, wenn die Unsicherheiten von der Technowissenschaft
erzeugt werden. Die allgemeine Frage ist also die folgende: Wie sind Agen
ten zur Berechnung fähig, wenn keine stabile Information über die Zu
kunft existiert (Eymard-Duvernay 1996)?
Um die Möglichkeit von Koordination aufrechtzuerhalten, haben Öko
nomen verschiedene Möglichkeiten vorgeschlagen, die - wie sie uns versi
chern - in konlaeten Marktsituationen angewendet werden oder angewen
det werden sollten. Die >orthodoxeste< Lösung ist die der kontingenten
Verträge. Kontingente Verträge sind revidierbare Verträge; ihre Wiederver
handlung ist geplant, wobei das Auftreten von vorher spezifizierten Ereig
nissen in Betracht gezogen wird. Je größer die Unsicherheiten, desto
schwieriger ist es, diesen Ansatz zu verwenden. Er impliziert, dass die
Agenten eine beträchtliche Menge ihrer Zeit damit verbringen, ihre Ver
träge wieder zu verhandeln, das bedeutet: zu interagieren und Informatio-
AKTEUR-NETZWERK-THEORIE: DER MARKTTEST J 549
Lösung die durch das Netzwerk gewährleistete; nicht durch ein Netzwerk,
das Entitäten verbindet, die bereits da sind, sondern ein Netzwerk, das
Ontologien konfiguriert. Die Agenten, ihre Dimensionen und was sie sind
und tun - alles hängt von der Morphologie der Beziehungen ab, in die sie
involviert sind. Eine sehr einfache Variable z.B. wie die Länge des Netz.
werks oder die Anzahl der Verbindungen, die ein Akteur mit verschiede
nen Netzwerken hat, determiniert, was der Akteur ist, will und tun kann.
Demnach beginnt sich in Granovetters Arbeit eine Theorie des Akteur
Netzwerkes abzuzeichnen. Wir finden darin die Umkehrbarkeit der Per
spektiven zwischen Akteur und Netzwerk, genauso wie die variable Geo
metrie der Identitäten (z.B. Interessen, Projekte, Erwartungen und Präfe
renzen; vgl. Burt 1993).
Die Konsequenz dieses Ansatzes ist radikal. Was erklärt werden muss,
ist genau das, was wir in der üblichen Beschreibung des Marktes als offen
sichtlich betrachten: die Existenz berechnender Agenten, die Verträge
unterschreiben.
Der von Granovetter eingeführte Bruch - obgleich er ihn nicht bis zum
Ende verfolgt - liegt in dieser Umkehrung. Was erklärt werden muss, ist
nicht die Tatsache, dass - trotz des Marktes und ihm entgegen - die Inter
aktion von Person zu Person entwickelt werden muss, um geteilte Infor
mation zu reproduzieren. Im Gegenteil müssen wir eher die Möglichkeit
dieses raren, künstlichen Zu-spät-Kommenden, gebildet aus Agenten, die
allgemein individuelle, berechnende Menschen sind, einander fremd und
in die Verhandlungen von Verträgen engagiert, erklären. Der Beweis ist der
Fluss, die Zirkulation, die Verbindungen; die Seltenheit ist die Rahmung.
Statt Verbindungen hinzuzufügen (kontingente Verträge, Vertrauen, Re
geln, Kultur), um die Möglichkeit der Koordination und den Realismus der
Kalkulation zu erklären - wie in den verschiedenen, von Ökonomen vorge
schlagenen Lösungen -, müssen wir bei der Ausbreitung von Beziehungen
beginnen und fragen, wie weit die Klammerung dieser Verbindungen - die
ich unten >Rahmung< nenne - gehen muss, um Berechnung und Koordi
nation durch Berechnung zu gestatten.
Wie wir sehen werden, müssen wir, um die Emergenz berechnender
Agenten und einer großen Trennung zwischen Agenten und Gütern zu
erklären, das übersoziale Netzwerk Granovetters weiter ausstatten und
anreichern. Das führt mich zurück zu einigen der Leistungen der ANT.
die die Agenten in Betracht ziehen und die ihren Berechnungen dienen,
auf der einen Seite und der Vielzahl von Beziehungen, die durch die Be
rechnungen als solche ignoriert werden, auf der anderen Seitevornehmen.
Die ökonomische Theorie hat diese Frage durch die Idee der Äußer
lichkeit, die die Einführung der allgemeineren Frage der Entwirrung er
laubt, schon sehr spezifisch angesprochen.
Ökonomen erfanden die Idee der Äußerlichkeit, um alle Verbindungen,
Beziehungen und Effekte zu bezeichnen, die Agenten in ihren Berechnun
gen nicht in Betracht ziehen, wenn sie in eine Markttransaktion eintreten.
Wenn beispielsweise eine chemische Fabrik den Fluss verschmutzt, in den
sie ihre giftigen Abwässer pumpt, produziert sie eine negative Äußerlich
keit. Die Interessen von Fischern, Badenden und anderen Benutzern wer
den verletzt. Um ihre Aktivitäten fortsetzen zu können, werden sie Investi
tionen tätigen müssen, für die sie keine Entschädigung erhalten. Die
Fabrik berechnet ihre Entscheidungen, ohne die Auswirkungen auf die
Aktivitäten der Fischer in Betracht zu ziehen. Äußerlichkeiten sind nicht
notwendigerweise negativ, sie können auch positiv sein. Man nehme z.B.
den Fall der pharmazeutischen Firma, die ein neues Molekül entwickeln
will. Um sich selbst zu schützen, meldet sie ein Patent an. Indem sie das
jedoch tut, gibt sie Informationen preis, die dadurch für Konkurrenten frei
zugänglich sind und für die Gestaltung ihrer eigenen Forschung und
Entwicklung verwendet werden können.
Diese Beispiele helfen, die folgende Definition von Äußerlichkeiten zu
erklären: A, B und C sind Agenten, die in eine Markttransaktion oder -
allgemeiner - in die Verhandlung eines Vertrags involviert sind. Während
der Transaktion oder der Vertragsverhandlung geben diese Agenten ihren
Präferenzen oder Interessen Ausdruck und fahren damit fort, die verschie
denen möglichen Entscheidungen zu evaluieren. Die getroffene Entschei
dung hat positive oder negative Wirkungen, Äußerlichkeiten genannt, auf
eine Reihe von Agenten X, Y und Z (unterschieden von A, B und C), die
nicht in diese Transaktion involviert sind, um sich für ihre Interessen
einzusetzen.
Die Idee der Äußerlichkeiten ist in der Wirtschaftstheorie wesentlich,
weil sie uns befähigt, eine der möglichen Unzulänglichkeiten des Marktes,
eine der Grenzen seiner Wirksamkeit, zu unterstreichen. Sie ist außerdem
sehr nützlich, um die Bedeutung des Ausdrucks »einen Markt konstruie
ren« zu verstehen. Hier fügen sich die vereinten Vorstellungen von Rah
mung und überfließen ein.
Granovetter - und an diesem Punkt stimmt er mit der ANT überein -
erinnert uns, dass jede Entität in einem Netzwerk von Beziehungen, in
einem Fluss von Vermittlern, gefangen ist, die zirkulieren, verbinden,
zusammenschließen und Identitäten rekonstituieren (Callon 1991). Was
die Idee der Äußerlichkeit im Negativen zeigt, ist all die Arbeit, die verrich
tet werden muss, alle Investitionen, die getätigt werden müssen, um Be-
552 J MICHEL CALLON
»Waren werden hier als Objekte, Personen oder Elemente von Personen verstanden,
die in einem Kontext platziert sind, in dem sie Tauschwert besitzen und von dem sie
entfremdet werden können. Die Entfremdung eines Dinges ist seine Abtrennung
von Produzenten, früheren Benutzern oder einem vorherigen Kontext.« (Ebd.: 39)
Der letzte Satz dieses Zitats ist offensichtlich der wichtige. Um eine Markt
transaktion zu konstruieren, d.h., etwas in eine Ware zu verwandeln, ist es
notwendig, die Bindungen zwischen diesem Ding und anderen Objekten
oder menschlichen Wesen nach und nach zu durchtrennen. Es muss
dekontextualisiert sein, abgetrennt und losgelöst. Das Auto muss, um vom
Produzenten/Verkäufer zum Kunden/Käufer übergehen zu können,
abgelöst werden. Nur wenn das erreicht werden kann, kann die Kalkulation
erfolgen, können der Käufer und der Verkäufer, wenn die Transaktion
einmal abgeschlossen worden ist, auf gleichem Stand stehen. Wenn das
Ding verstrickt bleibt, ist derjenige, der es erhält, niemals auf gleichem
Stand und kann dem Geflecht von Beziehungen nicht entkommen. Die
Rahmung ist niemals zu Ende. Die Schuld kann nicht beglichen werden.
554 1 MICHEL GALLON
Diese Idee der Verstrickung ist sehr nützlich, da sie sowohl theoretisch
als auch praktisch ist. Sie befähigt uns, den Prozess der Kommoditisierung
zu verstehen, der wie der Prozess der Rahmung oder der Ablösung Investi
tionen und spezifische Handlungen impliziert, um bestimmte Bindungen
zu durchtrennen und andere zu internalisieren. Der Vorteil ist, dass diese
Analyse allgemein anwendbar ist und uns dazu befähigt, dem Risiko des
Essentialismus zu entkommen. Anthropologische Studien über Geld sind
von diesem Blickpunkt her sehr informativ. Geld scheint der Inbegriff der
Ware zu sein; es ist reine Äquivalenz, reine Entwirrung, reine Zirkulation.
Wie jedoch Viviana Zelizer so überzeugend gezeigt hat, sind Agenten
fähig, fortlaufend privates Geld zu produzieren, das Bindungen verkörpert
und vermittelt (Zelizer 1994). Dies ist der Fall bei der Großmutter, die
ihrer Enkelin Silbermünzen gibt, oder bei Supermärkten, die Treuegut
scheine an ihre Kunden ausgeben. Verwirren und Entwirren sind zwei
gegensätzliche Bewegungen, die erklären, wie wir uns weiter vom Markt
regime weg oder näher zu ihm hin bewegen. Beide Bewegungen können
auf jede Entität zutreffen. Keine Berechnung ist ohne diese Rahmung
möglich, eine Rahmung, die es ermöglicht, eine klare Liste der Entitäten,
der Weltzustände, von möglichen Handlungen und erwartetem Ergebnis
dieser Handlungen zu gewährleisten.
Es existieren nur sehr wenige Studien, in denen die Rahmung, die Kalkula
tion gestattet, analysiert wird. Meines Wissens ist die beste Studie die von
Marie-France Garcia über die Transformation des Marktes für Tafelerdbee
ren in der französischen Region Sologne (Garcia 1986). Diese Transforma
tion trat in den frühen 198oer Jahren auf und resultierte in der Konstitu
tion eines Marktes mit Charakteristika, die denen in Handbüchern der
Politischen Ökonomie beschriebenen entsprechen: die Existenz eines
perfekt qualifizierten Produkts, die Existenz eines klar konstituierten
Angebots und einer ebensolchen Nachfrage und die Organisation von
Transaktionen, die die Etablierung eines austarierten Preises erlauben.
Garcia analysierte alle Investitionen, die zur Produktion der Rahmen
notwendig waren, die die Konstruktion dieses Marktes gestatteten. Zuerst
wurden materielle Investitionen benötigt. Unkoordinierte Transaktionen
zwischen Produzenten und Vermittlern, die in interpersonellen Beziehun
gen verbunden waren, wurden durch Interaktionen ersetzt, die in einem zu
diesem Zweck errichteten Lagerhaus abgehalten wurden. Die Produzenten
nahmen täglich ihr in Körben verpacktes Produkt dorthin und stellten es
dort in Chargen aus. Jede Charge hatte ein entsprechendes Datenblatt, das
sofort an den Auktionator weitergegeben wurde. Dieser gab die Daten in
AKTEUR-NETZWERK-THEORIE: DER MARKTTEST 1 555
seinen Computer ein und stellte einen Katalog zusammen, der den Käu
fern ausgehändigt wurde. Produzenten und Transporteure gingen dann in
den Auktionsraum, der so konstruiert war, dass Käufer und Verkäufer sich
nicht gegenseitig sehen konnten, jedoch trotzdem eine klare Sicht auf den
Auktionator und die elektronische Tafel, auf der die Preise angezeigt wur
den, hatten. Die Ausstellung der Erdbeeren in der Halle und der Katalog
befähigten alle betroffenen Parteien zu präzisen Kenntnissen über das
Angebot sowohl im Hinblick auf die Qualität als auch auf die Quantität.
Zusätzlich hob die Tatsache, dass die verschiedenen Chargen direkt neben
einander ausgestellt waren, Unterschiede in Qualität und Quantität zwi
schen den Produzenten hervor. Die Letzteren konnten ihre eigene Produk
tion mit der ihrer Konkurrenten vergleichen, etwas, das zuvor nicht mög
lich gewesen war, als die Sammlungen noch lokal gemacht wurden. Wie
Garcia feststellt, »traten die Anbauer, die in persönliche Beziehungen zu
Vermittlern und Transporteuren verwickelt gewesen waren, in unpersönli
che Beziehungen ein« (Garcia-Parpet 1996).
Alle diese verschiedenen Elemente und Einrichtungen trugen zur
Rahmung von Transaktionen bei, indem sie die Zurückweisung von Be
ziehungsnetzwerken gestatteten und so eine Arena konstruierten, in der
jede Entität von den anderen getrennt war. Diese Arena schuf einen Raum
von Berechenbarkeit: die Technik degressiven Bietens, das Anzeigen von
Transaktionen auf der elektronischen Tafel, die relative Qualifikation von
Chargen von Erdbeeren auf ihren Datenblättern und die Kenntnisse des
nationalen Marktes - das alles machte die Transaktionen berechenbar. Wie
dieses Beispiel deutlich zeigt, ist der Hauptpunkt nicht der der intrinsi
schen Kompetenzen des Agenten, sondern der der Ausrüstung und der
Einrichtungen, die ihren oder seinen Handlungen Form verleihen.
Die Wichtigkeit der Einführung solcher Instrumente wird zunehmend
besser dokumentiert. Das ist fraglos ein wesentlicher Beitrag der Wissen
schaftsstudien. Die Arbeit von Peter Miller hat z.B. die Rolle der Buchhal
tungsinstrumente in der Konstruktion von zur Berechnung fähigen Agen
ten hervorgehoben (Miller 1998). Was Garcia deutlich zeigt, sind all die
Einrichtungen- materieller (das Lagerhaus, die nebeneinander ausgestell
ten Chargen), metrologischer (der Meter) und prozeduraler (degressives
Bieten) Art-, die diesen Instrumenten ihre Macht und ihre Wirkung ver
leihen.
Außerdem dient Garcias Studie noch dazu, die betreffenden Rollen der
Instrumente der Berechnung, der materiellen Investitionen und der öko
nomischen Theorie in diesem Prozess der Rahmung und der Konstruktion
von Räumen der Berechenbarkeit zu spezifizieren. In der Konstruktion des
Erdbeermarktes spielte ein junger Berater der regionalen Landwirtschafts
kammer eine zentrale Rolle. Bemerkenswert daran ist, dass seine Hand
lung größtenteils durch seine Ausbildung in Wirtschaftswissenschaften
inspiriert war, die er an der Universität erhielt, und durch sein Wissen der
.1
Fazit
Was trägt die ANT also zum Verständnis von Wirtschaftsmärkten bei? Im
Ganzen finde ich die Einschätzung positiv und ermutigend. Die ANT befä
higt uns mehr als die Sozioökonomie oder eine Netzwerkanalyse, wie sie
von Forschem wie Granovetter vorgeschlagen werden, einen Schritt wei
terzugehen. Märkte sind nicht in Netzwerke eingebettet. Mit anderen
Worten: Es ist nicht eine Frage des Hinzufügens von sozialen, interperso
nellen oder informellen Beziehungen, um ihre Funktionsweise zu verste
hen. Ein konkreter Markt ist das Resultat von Operationen der Entwirrung,
Rahmung, Internalisierung und Externalisierung. Um einen Markt zu
verstehen ist es notwendig, zuerst einmal darin übereinzustimmen, das,
was er tut, ernst zu nehmen; das bedeutet, die Konstruktion berechnender
Akteure, die die Sache als erledigt betrachten, wenn die Transaktion einmal
abgeschlossen worden ist. Das bedeutet nicht, dass alles gerahmt und
AKTEUR-NETZWERK-THEORIE: DER MARKTTEST 1 557
internalisiert worden ist und dass keine anderen Beziehungen als die
Marktbeziehungen existieren. Ich habe vorgeschlagen, dass vollkommene
Entwirrung unmöglich ist; Rahmung kann nur funktionieren und überle
ben, wenn es ein überfließen gibt und Verbindungen noch nicht internali
siert sind. Aber es ist eine Sache, diese Verbindungen und Beziehungen als
freiwillig und aktiv vom Rahmen der Marktbeziehungen zurückgewiesen
zu sehen, mit dem präzisen Ziel, die Marktbeziehungen lokal und tempo
rär zu purifizieren; es ist eine andere Sache zu sagen, dass der Markt mög
lich ist und nur funktioniert, weil diese Beziehungen präsent sind und in
gewissem Sinn das Substrat des Marktaustausches bilden.
Die Metapher der Rahmung und Externalisierung (bei der man nur
jene Beziehungen in Betracht zieht, die es ermöglichen, die Kalkulation
zum Abschluss zu bringen) ist nicht dieselbe wie die der Einbettung und
der sozialen Konstruktion (wobei informelle Beziehungen in Betracht
gezogen werden, um die Möglichkeit einer Kalkulation zu erklären). Im
einen Fall werden die Konfiguration von Marktbeziehungen und der Markt
ernst genommen, während im anderen Fall das gesamte überfließen, das
der Markt nicht verhindern kann, hervorgehoben wird. Im einen Fall glau
ben wir an den homo oeconomicus, der jedoch variabel, konfiguriert, ge
rahmt etc. ist - und im anderen Fall denunzieren wir ihn als abstrakte
Erfindung. Die ANT, die Entitäten erlaubt, einander zu definieren und zu
konstruieren, ist zur Beobachtung der Konstruktion des homo oeconomicus
sehr geeignet. Mit ihrem Fokus auf der Rolle der technischen Einrichtun
gen und wissenschaftlichen Kompetenzen in der Ausführung des Kollek
tivs betont die ANT die Wichtigkeit der materiellen Instrumente und der
Naturwissenschaft, aber auch die Wichtigkeit der Sozialwissenschaften im
Allgemeinen und der Wirtschaftwissenschaften im Besonderen in der
Ausführung der Wirtschaft.
Eine letzte Bemerkung zum Akteur. Wie ich zuvor bemerkt habe, ist die
ANT oft dafür kritisiert worden, Akteure zu präsentieren, die von ihrem
Streben nach Macht geleitet werden und einzig daran interessiert sind,
Netzwerke und ihren Einfluss auszubreiten. Wir haben wahrscheinlich
gesündigt, obwohl es eine lässliche Sünde war. Was Studien über Märkte,
aber auch über Tauschhandlungen wie auch über andere Konstellationen,
wie z.B. die der politischen Repräsentation, zeigen, ist die Vielzahl mögli
cher Konfigurationen von Handeln und Akteuren (Hennion 1993). In
einem Netzwerk reiner wissenschaftlicher Mobilisierung ähnelt der Akteur
jenem schrecklichen weißen Mann, der in die Macht verliebt ist und die
Welt um sich herum gruppiert. In einem Marktnetzwerk ist er berechnend,
selbstsüchtig und unpersönlich. Die gute Nachricht ist, dass er oder sie
sich in einem Geschenknetzwerk in Verbindungen und Beziehungen
verstrickt, die er oder sie nicht haben will, aus denen er sich jedoch nicht
selbst befreien kann. Plötzlich ist er großzügig und altruistisch. In politi
scher Repräsentation streut er Worte und verleiht der Welt Beredsamkeit,
558 1 MICHEL CALLON
was nicht unbedingt unangenehm sein muss. Dies gipfelt in der Aussage,
dass es keine Modell-Akteure gibt. Die Identität des Akteurs und die Hand
lung hängen genau von diesen Konfigurationen ab, und jede von ihnen
kann nur verstanden werden, wenn wir darin übereinstimmen, den Men
schen all die Nicht-Menschen an die Seite zu stellen, die ihre Handlungen
erweitern. Genau weil menschliche Handlung nicht nur menschlich ist,
sondern sich auch entfaltet, delegiert und in Netzwerken mit multiplen
Konfigurationen formatiert wird, ist die Vielfalt der Handlungen und
Akteure möglich.
Zu Beginn dieses Artikels war ich bereit, die Akteur-Netzwerk-Theorie
nicht nur zurückzurufen, sondern, wenn möglich, das Modell zu ändern
und einen neuen Bereich einzuführen. Zum Schluss bin ich optimisti
scher. Kurz: Die ANT hat einen der anspruchsvollsten Tests bestanden,
den des Marktes. Und wenn sie ihn bestanden hat, dann deshalb, weil die
ANT keine Theorie ist. Das gibt ihr sowohl ihre Stärke als auch ihre Anpas
sungsfähigkeit. Außerdem haben wir nie behauptet, eine Theorie zu schaf
fen. Im Akronym ANT ist das »T« zu viel (»de trop«). Es ist ein Geschenk
unserer Kollegen. Wir müssen dieser Art von Weihe argwöhnisch gegen
überstehen, besonders dann, wenn sie die Arbeit unserer besten Freunde
ist. Timeo danaos et dona ferentes: Ich fürchte unsere Kollegen und ihre
Faszination von Theorie.
Literatur
BRUNO LA.TOUR
Zusammenfassung
Ich beginne damit festzustellen, dass es vier Dinge gibt, die bei der Akteur
Netzwerk-Theorie problematisch sind: das Wort Akteur, das Wort Netz
werk, das Wort Theorie und der Bindestrich! Vier Nägel zum Sarg.
Der erste Sargnagel ist, wie ich vermute, das Wort »Netzwerk« (vgl.
dazu auch Law/Hassard 1999). Darin liegt die große Gefahr, wenn man
eine technische Metapher dem allgemeinen Gebrauch etwas voraus ver
wendet. Nun, da das World Wide Web existiert, glaubt jeder zu verstehen,
was ein Netzwerk ist. Während es vor 20 Jahren noch etwas Frische in dem
Begriff als kritischem Werkzeug gegenüber so unterschiedlichen Ideen wie
Institution, Gesellschaft, Nationalstaat und - allgemeiner - jeder flachen
Oberfläche gab, hat er jegliche Schärfe verloren und ist nun der Lieblings
begriff all jener, die die Modernisierung modernisieren wollen. »Nieder
mit rigiden Institutionen,« sagen sie alle, »lang leben flexible Netzwerke«.
Welcher Unterschied besteht zwischen dem älteren und dem neuen
Gebrauch? Früher bedeutete das Wort »Netzwerk« noch eindeutig, wie
Deleuzes und Guattaris Begriff »Rhizom«, eine Reihe von Transformatio
nen - Übersetzungen, Umformungen-, die nicht von irgendeinem tradi
tionellen Begriff der Sozialtheorie erfasst werden konnten. Mit der neuen
Popularisierung des Wortes Netzwerk bedeutet es nun Transport ohne
562 / BRUNO LATOUR
1
i
haben die Sozialwissenschaftler das Gefühl, dass etwas fehlt, dass die Abs
traktion von Begriffen wie Kultur und Struktur, Normen und Werten zu
groß ist und dass man sich durch einen gegensätzlichen Schritt zurück
wieder mit den lokalen Fleisch-und-Blut-Situationen, von denen aus sie
begannen, verbinden muss. Wieder zurück an den örtlichen Schauplätzen
setzt jedoch dasselbe Unwohlsein wieder ein, das sie in die Richtung einer
Suche nach sozialen Strukturen trieb. Sozialwissenschaftler erkennen
schnell, dass die lokale Situation genauso abstrakt ist wie die so genannte
Makro-Situation, aus der sie kamen, und sie möchten sie nun wieder ver
lassen in Richtung dessen, was die Situation zusammenhält. Und so weiter
ad in.finitum.
Es scheint mir, dass die ANT einfach ein Weg ist, diesen beiden Unzu
friedenheiten Aufmerksamkeit zu schenken - nicht, sie zu überwinden
oder das Problem zu lösen, sondern ihnen an einen anderen Ort zu folgen
und zu versuchen, die tatsächlichen Bedingungen, die diese beiden gegen
sätzlichen Enttäuschungen ermöglichen, zu erforschen. Durch die Veror
tung der den Sozialwissenschaften eigenen Kontroversen könnte die ANT
auf das tatsächliche Phänomen der sozialen Ordnung getroffen sein: Viel
leicht besitzt das Soziale die bizarre Eigenschaft, überhaupt nicht aus
Akteurschaft und Struktur gemacht, sondern eher eine zirkulierende Entität
zu sein. Die doppelte Unzufriedenheit, die in der Vergangenheit so viel
sozialwissenschaftliche konzeptuelle Agitation ausgelöst hat, würde so zum
Artefakt: das Resultat des Versuchs, eine Bahn, eine Bewegung abzubilden,
indem man Gegensätze zwischen zwei Begriffen - Mikro und Makro,
Individuum und Struktur verwendet, die nichts damit zu tun haben.
Wenn diese Umgehungsstrategie akzeptiert wird, werden vielleicht ein
paar Dinge geklärt: Die ANT konzentriert die Aufmerksamkeit auf eine
Bewegung - eine Bewegung, die die sukzessiven Verschiebungen von
Aufmerksamkeit der unzufriedenen Sozialwissenschaftler gut demonstrie
ren. Diese Bewegung hat viele spezielle Charakteristika. Das Erste ist die
erneute Beschreibung dessen, was früher als etwas wahrgenommen wurde,
das mit dem Makro-Sozialen zu tun hat. Der Netzwerkpol des Akteur-
564 1 BRUNO LATOUR
Netzwerkes zielt - und das wurde sogar von den härtesten Kritikern der
ANT verstanden - überhaupt nicht ab auf die Bezeichnung einer Gesell
schaft, des großen Tieres, das den lokalen Interaktionen einen Sinn gibt.
Genauso wenig bezeichnet er ein anonymes Feld von Kräften. Stattdessen
bezieht er sich auf etwas vollkommen anderes, das die Zusammenfassung
von Interaktionen durch verschiedene Arten von Vorrichtungen, Inskrip
tionen, Formen und Formeln in einem sehr lokalen, sehr praktischen, sehr
kleinen Ort ist. Dies wurde durch die Untersuchungen von Buchhaltung
und Management (Power 1995), durch Organisationsstudien (Czarniaws
ka-Borges 1997), einige soziolinguistische Studien (Taylor 1993), Panoptika
(oder was ich nun »Oligoptika« nenne, vgl. Latour/Hermant 1998), Wirt
schaft, die Anthropologie von Märkten und so weiter allgemein bekannt.
Groß bedeutet dabei nicht »wirklich groß« oder »überall« oder »überspan
nend«, sondern verbunden, blind, lokal, vermittelt, aufeinander bezogen.
Das ist bereits ein wichtiger Beitrag der ANT, da es bedeutet, dass man
nicht von den lokalen Schauplätzen weggeführt wird, wenn man die Struk
turen des Sozialen erforscht - wie es beim unzufriedenen Sozialwissen
schaftler der Fall war-, sondern näher zu ihnen rückt.
Die zweite Konsequenz ist weniger gut entwickelt, jedoch genauso
wichtig: Aktantialität ist nicht die Tätigkeit eines Akteurs- mit der Konse
quenz für die demiurgische Version der ANT-, sondern das, was Aktanten
mit ihren Aktionen, ihrer Subjektivität, ihrer Intentionalität und ihrer Mo
ralität ausstattet. Wenn man sich an diese zirkulierende Entität anschließt,
wird man teilweise mit Bewusstsein, Subjektivität, Aktorialität usw. ver
sorgt. Es gibt keinen Grund, zwischen einer Konzeption von Sozialord
nung, wie sie von einer Gesellschaft gebildet wird, und einer anderen, die
man von der stochastischen Komposition individueller Atome erhält, zu
wechseln. Ein Akteur zu werden ist genauso sehr eine lokale Errungen
schaft wie die, eine >totale< Struktur zu erhalten. Ich werde in einem Au
genblick zu diesem Aspekt zurückkommen, aber die Konsequenz ist be
reits wichtig: Es gibt nichts in besonderer Weise Lokales und nichts beson
ders Menschliches in einer lokalen, intersubjektiven Begegnung. Ich habe
den Begriff »Interobjektivität« als eine Art, die neue Position des Akteurs
zu formulieren, vorgeschlagen (Latour 1996a).
Die dritte und sehr verwirrende Konsequenz ist, dass wir, wenn wir der
von der ANT erlaubten Bewegung folgen, niemals in einer Verlagerung,
die einem Beobachter gestattet, sich vom Globalen auf das Lokale und
wieder zurückzuzoomen, zu einer Erforschung der Sozialordnung geführt
werden. Im Sozialen gibt es keinen Wechsel des Maßstabes. Es ist sozusa
gen immer flach und gefaltet, und dies trifft in besonderer Weise auf die
Naturwissenschaften zu, von denen man sagt, dass sie den Kontext, den
Rahmen, die globale Umwelt, in der Gesellschaft situiert sein soll, gewähr
leisten. Kontexte fließen ebenfalls lokal durch Netzwerke, seien sie Geo
graphie, Medizin, Statistik, Ökonomie oder sogar Soziologie. Hier hat die
ÜBER DEN RÜCKRUF DER ANT 1 565
Charis Cussins das Wort »Choreografie« (Cussins 1996). Alle diese Wörter
bezeichnen meiner Ansicht nach, was die Theorie sein sollte und was die
exzessive Verbreitung des »Doppelldick«-Netzwerkes unwiederbringlich
gemacht hat: Es ist eine Theorie, die besagt, dass wir, indem wir den Zirku
lationen folgen, mehr bekommen können als durch das Definieren von
Entitäten, Essenzen oder Domänen. In diesem Sinne ist die ANT bloß eine
von vielen anti-essentialistischen Bewegungen, die das Ende des Jahrhun
derts zu charakterisieren scheinen. Sie ist aber auch, wie die Ethnometho
dologie, einfach eine Möglichkeit für den Sozialwissenschaftler, Zugang zu
Schauplätzen zu bekommen, eine Methode, nicht eine Theorie, eine Art,
von einem Punkt zum nächsten zu reisen, von einem Feld zum nächsten,
nicht eine in anderer, genießbarerer und universalistischerer Sprache
erklärte Interpretation dessen, was Akteure tun.
Ich habe sie oft wegen dieser besonderen Beziehung einer leeren Kon
struktion, die nichtsdestotrotz streng festgelegt ist, die jedoch kein anderes
Ziel hat, als zu verschwinden, wenn das Bild einmal verlassen ist, um
seinen eigenen Raum einzusetzen, mit perspektivischem Zeichnen vergli
chen (Latour 1997a). Ich bin mir der Grenzen dieser Metapher bewusst, da
es kaum eine einschränkendere Methode als dreidimensionales perspekti
visches Zeichnen gibt! Dennoch hat das Bild seine Vorteile: Die ANT er
klärt niemandem die Form von dem, was gezeichnet werden soll- Kreise
oder Würfel oder Linien -, sondern nur, wie man bei der systematischen
Aufzeichnung der weltbildenden Fähigkeiten der zu dokumentierenden
und zu registrierenden Schauplätze vorgehen soll. In diesem Sinne sind
die Potenziale der ANT noch größtenteils ungenutzt, insbesondere die
politischen Implikationen einer Sozialtheorie, die nicht beanspruchen
würde, das Verhalten und die Beweggründe der Akteure zu erklären, son
dern nur die Prozeduren zu finden, die Akteure dazu befähigen, ihre Wege
durch die weltbildenden Aktivitäten des jeweils anderen zu finden.
Der vierte und letzte Nagel im Sarg ist der Bindestrich, der die beiden
Wörter »Akteur« und »Netzwerk« sowohl verbindet als auch unterscheidet.
Wie ich oben hingewiesen habe, ist er eine unglückliche Erinnerung an die
Debatte zwischen Handeln und Struktur, in die wir niemals eintreten
wollten. Aber er ist auch ein Platzhalter eines viel größeren Problems,
dessen wir uns nur sehr langsam bewusst geworden sind und dessen
Wirkung in Zukunft spürbar sein wird. Im gleichzeitigen Umgang mit
menschlichen und nicht-menschlichen Akteurschaften rutschten wir unbe
absichtigt in einen leeren Raum zwischen den vier Hauptanliegen der
modernistischen Denkweise. Wir waren uns dieses Zusammenhangs zu
erst nicht bewusst, lernten es jedoch auf schmerzhafte Weise, als wir zu
verstehen begannen, dass diejenigen, die am meisten an unserer Arbeit
interessiert sein sollten, nämlich die Sozialwissenschaftler - einschließlich
der Wissenschaftssoziologen-, sich als unsere härtesten Kritiker erwiesen
(Collins/Yearley 1992; Bloor 1998). Ihre soziale Erklärung schien uns nicht
568 J BRUNO LATOUR
stringent zu sein: Die tatsächliche Definition von Gesellschaft war Teil des
Problems, nicht Teil der Lösung. Wie konnte das möglich sein und wie
konnte die Wissenschaftssoziologie so vollkommen verschiedene For
schungsprogramme auslösen?
Die ANT trieb langsam von einer Wissenschafts- und Techniksoziologie
zu einer Sozialtheorie und weiter zu einer anderen Infragestellung der
Modeme - manchmal komparative, symmetrische oder monistische An
thropologie genannt (Descola/Palsson 1996). Der Unterschied zwischen
der ANT und der Unmenge an Reflexionen über die Modeme und Post-,
Hyper-, Prä- und Antimodeme war, dass sie alle Komponenten dessen, was
man die modernistische Problematik nennen könnte, simultan in Frage
stellte. Der Grund, weshalb sie sich nicht an eine Theorie der Sozialord
nung halten konnte, ist, dass die gesamte Gesellschaftstheorie in einen
komplexeren Kampf verstrickt schien, in einen Kampf zur Definition einer
,'
1 epistemologischen Festlegung darüber: (a) wie die Welt außerhalb ohne
menschliche Intervention ist; über (b) ein psychologisches Innen - eine
i
'''I
1
isolierte Subjektivität, die auch noch in der Lage ist, die Welt dort draußen
zu verstehen; (c) eine politische Theorie darüber, wie man die Massen im
Zaum halten kann, ohne dass sie sich durch ihre unbändigen Leidenschaf
i1J'
II
ten in die soziale Ordnung einmischen und sie zerstören, und schließlich
(d) eine ziemlich verdrängte, jedoch sehr präsente Theologie, die der einzi
t
ge Weg ist, die Unterschiede und die Verbindungen zwischen diesen drei
anderen Domänen der Realität zu garantieren. Es gibt nicht ein Problem
zu entscheiden, was Gesellschaft ist, ein Zweites zu erklären, wieso es eine
Psychologie gibt, ein Drittes der Definition von Politik und ein Viertes zur
Ergründung der Löschung theologischer Interessen. Stattdessen gibt es
nur eine einzige Problematik, die, gleichgültig, wie verstrickt sie ist, sofort
angegangen werden muss. Um es in einer einfachen Formel zusammen
zufassen: >dort draußen< Natur, >dort drinnen< Psychologie, >dort unten<
Politik, >dort oben< Theologie. Es ist dieses ganze Paket, das die ANT auf
einmal durch Zufall in Frage stellt.
Es gibt hier nicht genug Raum, um die ganze Frage zu behandeln - ich
habe das an anderer Stelle getan (Latour 1999) -, sondern nur, um auf die
Konsequenzen für eine mögliche Zukunft der ANT hinzuweisen. Die ANT
ist genauso wenig eine Theorie des Sozialen, wie sie eine Theorie des Sub
jekts, eine Theorie Gottes oder eine Theorie der Natur ist. Sie ist eine Theo
rie des Raumes oder der in einer nicht-modernen Situation zirkulierenden
Fluide. Welche Art von Verbindung kann zwischen diesen beiden Begrif
fen hergestellt werden anstelle der einer systematischen, modernistischen
Lösung? Das ist, glaube ich, deutlich die Richtung dessen, was >nach< der
ANT kommt und was viele Sorgen, die in den Beiträgen des Sammelband
»Actor Network Theory and After« (Law/Hassard 1999) geäußert wurden,
auflösen würde.
Lassen Sie uns nicht vergessen, dass das Erste, das wir zirkulieren
ÜBER DEN RÜCKRUF DER ANT 1 569
ließen, Natur und Referenz ist; das ist die >dort draußen<-Box. Ich war
erstaunt zu sehen, dass kaum ein Autor den sozialen Konstruktivismus
und die aktuellen Wissenschaftskriege erwähnte. Die Behandlung des
Kollektivs wissenschaftlicher Realität als Zirkulation von Transformationen
- ist es notwendig, noch einmal zu sagen, dass Referenz das Reale, Soziale
und Narrative gleichzeitig ist? - wird nun, wenn auch nicht als selbstver
ständlich betrachtet, so doch zumindest deutlich artikuliert. Wenn die ANT
ein Verdienst errungen hat, dann das, Wissenschaftsstudien entwickelt zu
haben, die die Frage der »sozialen Konstruktion« und die »Realisten-Rela
tivisten«-Debatte vollkommen umgehen. Es ist keine relevante Frage und
war es nie, obwohl sie noch immer viele Leute amüsiert, die weder mit
Wissenschaftsstudien noch mit der ANT vertraut sind. Der Sozialtheorie ist
nun gestattet, so viele Kontaktpunkte, so viele Korrespondenzen mit einer
reichen Realität zu haben, wie es zirkulierende Referenzen gibt. Die ANT
kann sich an Realitäten gütlich tun, ohne sich nur einen einzigen Augen
blick dafür entschuldigen zu müssen, dass sie nicht an >äußere< Realitäten
glaubt. Im Gegenteil ist sie nun in der Lage zu erklären, warum um alles in
der Welt die Modemisten die bizarre Idee hatten, Realität mach außen< zu
verlegen.
Was ich die »zweite Welle« der Wissenschaftsstudien nenne, hat uns
dieselbe Form von Behandlung für die andere Sphäre - >dort drinnen< -
angeboten (oder bietet sie noch an). Subjektivität, Körperlichkeit ist nicht
mehr eine Eigenschaft von Menschen, von Individuen, intentionalen Sub
jekten, als es eine Eigenschaft der Natur ist, eine äußere Realität zu sein.
Dieser neue Ansatz ist im Buch »Actor Network Theory and After« (Law/
Hassard 1999) so gut vertreten, dass keine Notwendigkeit besteht, den
Punkt hier weiter zu entwickeln (vgl. Mol 1999). Subjektivität scheint auch
ein zirkulierendes Vermögen zu sein, etwas, was teilweise durch den
Anschluss an bestimmte Praktiken gewonnen oder verloren wird. Made
leine Akrichs Arbeit, der Beitrag von Emilie Gomart und Antoine Hennion
(Gomart/Hennion 1999), meine Arbeit über Ethnopsychiatrie (Latour
1996b), die Arbeit von Charis Cussins, das Buch von Marc Berg und Anne
marie Mol (Berg/Mol 1998), alle verteilen subjektive Qualität sozusagen
nach außen - aber das ist natürlich ein vollkommen anderes >Außen<,
nachdem die Epistemologie nun in eine zirkulierende Referenz umgewan
delt worden ist. Die beiden Bewegungen - die erste und die zweite Welle,
eine über Objektivität, die andere über Subjektivität - sind eng verbunden:
Je mehr wir sozusagen die >äußere< Natur >sozialisiert< haben, umso mehr
>äußere< Objektivität kann der Inhalt unserer Subjektivität erhalten. Es gibt
nun genug Raum für beides.
Was kommt als Nächstes? Ganz klar der >dort untern-Aspekt der mo
dernistischen Problematik, d.h. politische Theorie, auf die eine kleine, aber
wachsende Anzahl an Arbeiten verweist (vgl. dazu die Arbeit von Dick
Pels). Nicht ein einziges Charakteristikum unserer Definition politischer
570 1 BRUNO LATOUR
Praxis entgeht dem Druck der Epistemologie (>dort draußen<) und der
Psychologie (>dort drinnen<). Wenn wir die Besonderheit einer bestimmten
Art von Zirkulation herauslocken könnten, die die Gesellschaft in eine
solche verwandelt, das heißt, ein Typus von Zirkulation, der das Kollektiv
>sammelt<, hätten wir einen enormen Schritt vorwärts gemacht. Wir hätten
zuletzt die Politik von der Wissenschaft befreit - oder genauer von der
Epistemologie (Latour 1997b) -, ein Ergebnis, das eine ziemliche Errungen
schaft für Leute darstellt, die noch immer beschuldigt werden, die Wissen
schaft irreparabel politisiert zu haben. Nach den neuesten Arbeiten in
politischer Ökologie oder in dem, was Isabelle Stengers » Kosmopolitik«
nennt (Stengers 1996, 1997), bin ich ziemlich zuversichtlich, dass das bald
verwirklicht wird. Die politische Relevanz, nach der Akademiker immer
irgendwie verzweifelt suchen, ist ohne einen Standortwechsel der außeror
dentlichen Originalität politischer Zirkulation nicht zu erreichen.
Was ist mit der halbversteckten Sphäre oben, die als Garantie für den
Rest der modernistischen Systeme verwendet worden ist? Ich weiß, dass
das ein ziemlich riskantes Territorium ist, da, falls es etwas Schlimmeres
gibt, als mit Nichtmenschlichem herumzuspielen, es das ist, Theologie
ernst zu nehmen. Dieser Fokus ist, da stimme ich zu, im Band »Actor
Network Theory and After« (Law/Hassard 1999) überhaupt nicht repräsen
tiert. Dennoch glaube ich, dass gerade in der Theologie der Begriff der
Zirkulation am lohnendsten ist, genau weil er ein Gewebe von Absurditä
ten (bzw. was zu einem Gewebe von Absurditäten geworden ist) durch den
Schatten, der durch die Idee einer Wissenschaft und durch die Idee einer
Gesellschaft geworfen wird, schnell erneuert. Moralität, die in den Inge
nieurträumen der ANT vollkommen abwesend scheint, mag reichlich
vorhanden sein, wenn wir uns die Mühe nehmen, sie auch für einen
bestimmten Typ von Zirkulation zu halten.
Der Punkt, an dem ich schließen möchte, unterscheidet sich in gewis
ser Weise von dem John Laws. In seinem Beitrag (Law 1999) bittet er uns,
die ANT zu begrenzen und Komplexität und Lokalität ernsthaft und be
scheiden anzugehen. Es geht ihm wie einigen von uns, die wir irgendwie
erschreckt über das von uns erschaffene Monster sind. Man kann jedoch
nicht mit Ideen machen, was Autohersteller mit schlecht konstruierten
Autos machen: Man kann sie nicht zurückrufen, indem man Anzeigen an
die Besitzer schickt, sie mit verbesserten Maschinen oder Teilen ausstatten
und sie wieder zurückschicken, alles kostenlos. Wenn man sich einmal auf
dieses ungeplante und unergründete Experiment in kollektiver Philosophie
eingelassen hat, gibt es keine Möglichkeit mehr, sich zurückzuziehen und
wieder bescheiden zu sein. Die einzige Lösung ist die, die Viktor Franken
stein nicht gewählt hat, nämlich die, seine Kreatur nicht ihrem Schicksal zu
überlassen, sondern den ganzen Weg der Entwicklung ihres seltsamen
Potenzials fortzuführen.
Ja, ich glaube, es gibt ein Leben nach der ANT. Wenn wir einmal einen
ÜBER DEN RÜCKRUF DER ANT 1 571
Pflock in das Herz der sicher in ihrem Sarg begrabenen Kreatur getrieben
haben - somit das hinter uns lassen, was an der ANT so falsch war, also
»Akteur«, »Netzwerk«, »Theorie« und nicht zu vergessen der Bindestrich!
-, kann vielleicht eine andere Kreatur auftreten, hell und schön: unsere
zukünftige kollektive Leistung.
Literatur
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Welt 47, S. 369-381.
Latour, B. (1999): Pandora's Hope. Essays on the Reality of Science Studies,
Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
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Empecheurs de penser en rond.
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Law/J. Hassard (Hg.), Actor Network and After, Oxford: Blackwell/The
Sociological Review, S. 1-14.
Law, J./Hassard, J. (Hg.) (1999): Actor Network Theory and After, Oxford:
Blackwell.
Lee, N./Brown, S. (1994): »Otherness and the Actor-Network: the Undis
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Power, M. (Hg.) (1995): Accounting and Science: National Inquiry and Com
mercial Reason, Cambridge: Cambridge University Press.
Stengers, I. (1996): Cosmopolitique - Tome 1: la guerre des sciences, Paris: La
Decouverte, Les Empecheurs de penser en rond.
Stengers, I. (1997): Power and Invention,Minneapolis: University ofMinne
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Taylor, J.R. (1993): Rethinking the Theory of Organizational Communication:
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Quellennachweis
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trofahrzeugs.
Original: Callon, M. (1986): »The Sociology of an Actor-Network: The Case
of the Electric Vehicle«. In: M. Callon/J. Law/A. Rip (Hg.), Mapping the
Dynamics of Science and Technology: Sociology of Science in the Real World.
Basingstoke: Macmillan Press, S. 19-34. Mit freundlicher Genehmigung
von Palgrave Macmillan.
574 J QUELLENNACHWEIS
Michel Callon und Bruno Latour: Die Demontage des großen Leviathan:
Wie Akteure die Makrostruktur der Realität bestimmen und Soziologen
ihnen dabei helfen.
Original: Callon, M./Latour, B. (1981): »Unscrewing the Big Leviathan:
How Actors Macrostructure Reality and How Sociologists Help Thern to
Do So«. In: K. Knorr/A.V. Cicourel (Hg.), Advances in Social Theory and
Methodology: Toward an Integration of Micro- and Macro-Sociologies, Boston:
Routledge and Kegan Paul, S. 277-303. Mit freundlicher Genehmigung der
Sociological Review /Routledge.
Jim Johnson [Bruno Latour]: Die Vermischung von Menschen und Nicht
menschen: Die Soziologie eines Türschließers.
Original: Johnson, J. (1988): »Mixing Humans and Nonhumans Together:
The Sociology of a Door-Closer«. In: Social Problems 35/3, S. 298-310. Mit
freundlicher Genehmigung der University ofCalifornia Press.
QUELLENNACHWEIS 1 575
Bruno Latour: Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den
Angeln heben.
Original: Latour, B. (1983): »Give Me a Laboratory and I Will Raise the
World«. In: K.D. Knorr-Cetina/M.J. Mulkay (Hg.) (1983): Science Observed,
Beverly Hills: Sage, S. 141-170. Mit freundlicher Genehmigung von Sage
Publications Ltd, www. sagepub.co.uk.
John Law: Technik und heterogenes Engineering: Der Fall der portugiesi
schen Expansion.
Original: Law, J. (1987): »Technology and Heterogeneous Engineering: The
Case ofthe Portuguese Expansion«. In: W.E. Bijker/T.P. Hughes/T. Pinch
(Hg.), The Social Construction of Technological Systems. New Directions in the
Sociology and History of Technology. Cambridge, Mass.: MIT Press, S. m-
134. Mit freundlicher Genehmigung von MIT Press.
John Law und Michel Callon: Leben und Sterben eines Flugzeugs: Eine
Netzwerkanalyse technischen Wandels.
Original: Law, J./Callon, M. (1994): »The Life and Death of an Aircraft: A
Network Analysis ofTechnical Change«. In: W.E. Bijker/J. Law (Hg.), Sha
ping Technology, Building Society. Studies in Sociotechnical Change, 2. Aufl.,
Cambridge, Mass.: MIT Press, S. 21-52. Mit freundlicher Genehmigung
von MIT Press.
Autorinnen und Autoren
Michel Callon ist Professor für Soziologie an der Ecole Nationale Superi
eure des Mines in Paris, ehemaliger Direktor des Centre de Sociologie de
!'Innovation (CSI, 1982-1994) und ehemaliger Präsident der Society for
Social Studies of Science (4S, 1998-1999). Er hat einen ingenieurwissen
schaftlichen Hintergrund mit Vertiefungsstudien im Bereich der Wirt
schaftswissenschaften. Er ist neben Bruno Latour und John Law einer der
>Gründer< der Akteur-Netzwerk-Theorie oder der Soziologie der Überset
zung. Seine Werke decken ein weites Spektrum an Themen im Schnittstel
lenbereich von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft ab: Wissenschafts
und Technikanthropologie, Sozioökonomie von Innovation, Wissenschaft,
Technik und Demokratie, Scientometrics und quantitative Methoden,
Anthropologie der Märkte, Medizin- und Gesundheitssoziologie.
578 1 AUTORINNEN UND AUTOREN
Bruno Latour ist Professor für Soziologie an der Ecole Nationale Superi
eure des Mines in Paris und Gastprofessor an der London School of Eco
nomics und an der Historischen Fakultät der Harvard University. Nach
einem Studium der Philosophie und Anthropologie sowie Feldforschungen
in Afrika promovierte er an der Universität Tours. 1979 veröffentlichte er
zusammen mit dem britischen Soziologen Steve Woolgar »Laboratory
Life«, das Ergebnis seiner Feldstudien im kalifornischen Labor des späte
ren Nobelpreisträgers Roger Guillemin. Dabei konnte Latour unter Ver
wendung ethnographischer Methoden aufzeigen, welche Rollen rhetori
sche Strategien und technische Artefakte bei der Konstruktion wissen
schaftlicher Tatsachen spielen. Mit dem 1987 erschienenen »Science in
Action« weitete Bruno Latour diese Argumentation auf das Gebiet der
Technik aus. Zusammen mit Michel Callon und John Law entwickelte er
die Akteur-Netzwerk-Theorie. Auf Basis dieser Überlegungen schuf er mit
seinem Ansatz einer symmetrischen Anthropologie in den Werken »Wir
sind nie modern gewesen« und »Das Parlament der Dinge« eine Kritik der
modernen Gesellschaft. Seine Interessen liegen an der Schnittstelle von
Soziologie, Geschichte, Technikökonomie, Innovation, Organisation und
der zugrunde liegenden Technikphilosophie. Latour wurde für seine Arbeit
mit verschiedenen Ehrungen ausgezeichnet: Prix Bemal der Society for the
Social Studies of Science (1992), Prix Roberval (1992), Ehrendoktorat
Universität Lund/Schweden, Spinoza Chair der Universität Amsterdam
(Frühlingssemester 2005).
John Law ist Professor und Co-Leiter der Soziologischen Fakultät der Lan
caster University. Er arbeitete bis 1998 an der Keele University in den
Bereichen Soziologie und Science and Technology Studies (STS). Zwischen
2000 und 2003 war er Direktor des Centre for Science Studies in Lancas
ter, einem interdisziplinären Forschungszentrum für Soziologie, Women's
Studies, Umwelt, Philosophie und Politk, Linguistik, Geschichte und Ma
nagement. Ziel war die Schaffung einer neuen Art Cultural Studies of
Science. Seine Hauptaufmerksamkeit gilt komplexen sozialen und techni
schen Gefügen, und vermehrt auch fluiden Dingen wie Agape, Leiden
schaft, Ästhetik, Spiritualität, fraktalen Entitäten, Unsichtbarkeiten und
Asymmetrien, die nicht in gängige Vorstellungen wie Netzwerke, Kalku
lierbarkeit, Vernunft und Rationalität passen, sowie Methoden der Reflexi
on darüber.
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1 '
David Krieger ist Professor an der Universität Luzern und leitet gemein
sam mit Andrea Belliger das Institut für Kommunikationsforschung in
Luzern. Studien der Philosophie, Theologie und Religionswissenschaft an
der Universität von San Francisco und Promotion an der Universität von
Chicago, Habilitation an der Universität Luzern (Religionswissenschaft mit
Schwerpunkt Kultur und Kommunikation und Kommunikationswissen
schaft), Mitbegründer und Leiter des Instituts für Kommunikation und
Kultur an der Universität Luzern. Arbeitsschwerpunkte: Kommunikations
wissenschaft, Systemtheorie, Interkulturelle Kommunikation, Semiotik,
Wissenschaft und Gesellschaft.
Andrea Belliger leitet gemeinsam mit David Krieger das Institut für Kom
munikationsforschung in Luzern. Sie studierte Theologie, Philosophie und
Geschichte in Luzern, Straßburg und Athen. Assistenzen am Lehrstuhl für
Kirchenrecht und Staatskirchenrecht und am Lehrstuhl für Religionswis
senschaft in Luzern, 1999 Promotion im Bereich des kanonischen Rechts,
2001 Mitbegründerin des Instituts für Kommunikation und Kultur an der
Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. Seit 2001 Co
Leitung des Instituts, seit 2003 Leitung des Studienganges Master of
Advanced Studies eLearning und Wissensmanagement. Arbeitsschwerpunk
te: Kommunikationswissenschaft, Neue Medien, Wissensmanagement,
Wissenschaft und Gesellschaft.