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ANThology

Andrea Belliger,
David J. Krieger (Hg.)
ANThology
Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie

[transcript]
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld


Lektorat: Kai Reinhardt, Bielefeld
Korrektorat: Christine Jüchter, Paderborn; Jörg Burkhard, Bielefeld
Projektmanagement: Andreas Hüllinghorst, Bielefeld
Satz: digitron GmbH, Bielefeld
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
ISBN 3-89942-479-4

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zell­


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Inhalt

Vorwort 9

ANDREA BELLIGER und DAVID J. KRIEGER


Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie 13

MICHEL CALLON
Die Sozio-Logik der Übersetzung:
Auseinandersetzungen und Verhandlungen zur Bestimmung
von Problematischem und Unproblematischem .. . ..... . ....... 51

MICHEL CALLON und BRUNO LATOUR


Die Demontage des großen Leviathans:
Wie Akteure die Makrostruktur der Realität bestimmen
und Soziologen ihnen dabei helfen . . ....... ..... . .... . ....... 75

BRUNO LATOUR
Gebt mir ein Laboratorium
und ich werde die Welt aus den Angeln heben .................. 103

MICHEL CALLON
Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung:
Die Domestikation der Kammmuscheln
und der Fischer der St.Brieuc-Bucht 135

MICHEL CALLON
Die Soziologie eines Akteur-Netzwerkes:
Der Fall des Elektrofahrzeugs ....... . . . . .. . . . ........ ........ 175
BRUNO LATOUR
Die Macht der Assoziation .............................. . ... 195

JoHN LAw
Technik und heterogenes Engineering:
Der Fall der portugiesischen Expansion ................... . ... 213

JIM JOHNSON
Die Vermischung von Menschen und Nicht-Menschen:
Die Soziologie eines Türschließers ........................... 237

BRUNO LATOUR
Drawing Things Together:
Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente ............... 259

MICHEL CALLON
Techno-ökonomische Netzwerke und Irreversibilität ............. 309

JoHN LAw
Monster, Maschinen und soziotechnische Beziehungen .......... 343

BRUNO LATOUR
Technik ist stabilisierte Gesellschaft .......................... 369

MADELEINE AKRICH und BRUNO LATOUR


Zusammenfassung einer zweckmäßigen Terminologie
für die Semiotik menschlicher und
nicht-menschlicher Konstellationen ........................... 399

MADELEINE AKRICH
Die De-Skription technischer Objekte ......................... 407

JOHN LAw
Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie:
Ordnung, Strategie und Heterogenität ........................ 429

JOHN LAw und MICHEL CALLON


Leben und Sterben eines Flugzeugs:
Eine Netzwerkanalyse technischen Wandels .................... 447
BRUNO LA.TOUR
über technische Vermittlung:
Philosophie, Soziologie und Genealogie .......... . . .... . ...... 483

BRUNO LA.TOUR
Sozialtheorie und die Erforschung
computerisierter Arbeitsumgebungen ......................... 529

MICHEL CALLON
Akteur-Netzwerk-Theorie:
Der Markttest ....... .... ......... . ................. . ...... 545

BRUNO LA.TOUR
über den Rückruf der ANT ........... .... ............ . ...... 561

Quellennachweis ....................... ........ . . . . . ...... 573


Autorinnen und Autoren .......... . . .. ... . . .......... ....... 577
Herausgeberin und Herausgeber ............................. 579
-

Vorwort
ANDREA BELLIGER UND DAVID J. KRIEGER

In einer Diskussion über die Bedeutung des Buchdruckes für die Entwick­
lung der modernen Wissenschaft weist Bruno Latour darauf hin, dass das
Druckverfahren es erlaube, eine Vielzahl verstreuter und lokal gebundener
Informationen so zusammenzubringen und wieder zu verteilen, dass etwas
bisher Unübersichtliches und aus diesem Grund Unbeachtetes plötzlich
Konturen annimmt und als Wissen erscheint. Es war dieses Zusammen­
bringen verschiedenster Informationen an einem Ort und die schnelle und
effiziente Verteilung der gesammelten Informationen - und nicht eine
revolutionäre Art des Wahrnehmens oder des Denkens -, die zu einem
neuen Wissen führten, das sich als »moderne Wissenschaft« von dem
Wissen des Mittelalters abhob. Der vorliegende Sammelband versucht
etwas Vergleichbares, indem eine Reihe ausgewählter Artikel und kurzer
Studien, die bisher nur in verschiedenen Fachzeitschriften und Publikatio­
nen verstreut verfügbar waren, zusammengebracht werden, um eine Über­
sicht zu ermöglichen, aufgrund derer möglicherweise neues Wissen ent­
stehen kann.
Es handelt sich dabei um Studien, Artikel, Aufsätze und Berichte, die
über die letzten drei Jahrzehnte unter dem Namen »Actor Network Theo­
ry« (zu Deutsch: Akteur-Netzwerk-Theorie, kurz ANT) als Teil der Wissen­
schafts- und Technikforschung bekannt geworden sind. Die Akteur-Netz­
werk-Theorie hat sich erfolgreich als eigenständige Position zwischen
technischem und sozialem Determinismus in der Wissenschafts- und
Technikforschung etabliert. Die Frage, ob die Technik die Gesellschaft
determiniere oder ob nicht viel eher die Gesellschaft die Technik gestalte,
hat seit jeher die Debatte um die Bedeutung von Wissenschaft und Technik
in der Sozialtheorie beherrscht. Jede Seite hat - wie das meistens bei sol­
chen binären Leitdifferenzen der Fall ist - eine gewisse Plausibilität. Die
Wahrheit liegt wohl in der Mitte, nur fehlt es an adäquaten theoretischen
Modellen, um die unscharfen Konturen solcher Zwischenbereiche abzu-
IO I ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

bilden. Traditionelle Modelle, die entweder technisch oder sozial gewichtet


sind, eignen sich nicht, um die komplexe Durchdringung von Technik und
Gesellschaft, die für die Wissensgesellschaft typisch ist, adäquat zu be­
schreiben. Die Akteur-Netzwerk-Theorie hingegen erweist genau hier ihre
Stärke, da sie theoretische Begriffe und Modelle aus der Empirie entstehen
lässt und (getreu dem ANT-Motto) »den Akteuren folgt«.
Auch wenn einer der Gründer der ANT, Bruno Latour, die Bezeich­
nung »Akteur-Netzwerk-Theorie« in Frage stellt und andere Vertreter wie
etwa John Law sich schon über das, was nach der ANT kommen soll,
Gedanken machen, ist die Akteur-Netzwerk-Theorie zu einem theoreti­
schen Gefüge geworden, das weit über die Grenzen der soziologischen
Wissenschaftsforschung hinaus an Bedeutung gewonnen hat. Trotz kriti­
scher Stimmen aus den eigenen Reihen ist die ANT aktueller denn je. Statt
darüber zu diskutieren, was nach dem Ende der Akteur-Netzwerk-Theorie
kommen soll, ist es wohl angebrachter, sich darüber Gedanken zu machen,
wie die Akteur-Netzwerk-Theorie im Rahmen der heutigen Gesellschafts­
theorie ihren berechtigten Platz als eine der Schlüsseltheorien der Wis­
sensgesellschaft einnehmen kann.
Der hier vorliegende Band soll dazu beitragen, die Relevanz der Akteur­
Netzwerk-Theorie für die Entwid<lung einer Soziologie der Gegenwart -
und der Zukunft - aufzuzeigen. Er soll dazu anregen, aufgrund einer
neuen Lektüre der ,klassischen< Texte der Akteur-Netzwerk-Theorie neue
Anwendungs- und Anschlussmöglichkeiten zu entdecken. Interessant sind
dabei vor allem die theoretischen Anschlussmöglichkeiten, die dazu beitra­
gen, die im Entstehen begriffene Wissensgesellschaft aus einer zukunfts­
weisenden Perspektive zu betrachten.
Die Artikel, die hier zum ersten Mal gesammelt und in die deutsche
Sprache übersetzt vorliegen, stammen ausschließlich von ,Klassikern< der
Akteur-Netzwerk-Theorie: Bruno Latour, Michel Callon, John Law und
Madeleine Akrich. Zweifellos hätten mehr oder andere Autoren und Artikel
einen berechtigen Platz in einem »Handbuch« zur Akteur-Netzwerk-Theo­
rie. Als Herausgeber sahen wir uns gezwungen, eine Auswahl zu treffen.
Entscheidend war dabei das Bemühen, die von der Wirkungsgeschichte her
betrachtet wichtigsten Artikel zu vereinen. Die Artikel, die in diesem Band
gesammelt sind, wurden zwischen 1980 und 1999 publiziert. Da eine
thematische Gliederung nicht im Vordergrund stand - und nicht sehr
ergiebig gewesen wäre -, sind die Artikel in chronologischer Reihenfolge
angeordnet, was den Vorteil mit sich bringt, dass das Buch auch als Basis­
text für Studien über die historische Entstehung der Akteur-Netzwerk­
Theorie dienlich sein kann. Auch wenn einige der Artikel auf französi­
schen Originaltexten beruhen, basieren die Übersetzungen in diesem Band
auf den für die Wirkungsgeschichte relevanten englischen Veröffentli­
chungen. Im Zweifelsfall wurden französische Originaltexte beigezogen.
---
VORWORT \ II

Die Anmerkungen und Literaturangaben in den verschiedenen Artikeln


wurden überprüft und, wenn nötig, korrigiert und vereinheitlicht.

Wir möchten Frau lic. phil. Petra Schoofs und Herrn lic. phil. Benno Filip­
pini für ihre Mitarbeit bei der Übersetzung und Frau Susan Gut für die
Hilfe bei der Rekonstruktion der Grafiken ganz herzlich danken. Unser
Dank geht auch an den transcript Verlag, insbesondere an Herrn Andreas
Hüllinghorst für die professionelle Zusammenarbeit.
Zum Schluss gebührt unser Dank Bruno Latour, Michel Callon, Made­
leine Akrich und John Law. Sie haben uns neue Gedankenwelten erschlos­
sen, uns mitgenommen an die Küsten der Bretagne, ins Labor von Pasteur,
auf Seereisen nach Indien und bis an die Türen von Walla Walla. Wir, die
Übersetzer, wurden beim übersetzen übergesetzt. Übersetzen, so Bruno
Latour, bedeutet verschieben. Übersetzen bedeutet auch, in der eigenen
Sprache auszudrücken, was andere sagen, um sich selbst als Sprecher
einzuführen. Dies haben wir hiermit getan. Wir laden Sie, sehr geehrte
Leserin, sehr geehrter Leser, ein, sich von der ANT übersetzen zu lassen.
---

Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie

ANDREA BELLIGER UND DAVID J. KRIEGER

Zur Relevanz der Akteur-Netzwerk-Theorie

Die Tatsache, dass die Akteur-Netzwerk-Theorie zunehmende Beachtung


findet, lässt sich auf verschiedene Gründe zurückführen. Einer der Gründe
liegt in der Verwissenschaftlichung und Technisierung der Gesellschaft.
Die globale Wissensgesellschaft ist bis in alle Lebensbereiche hinein von
Wissenschaft und Technik geprägt. Die Wissenschafts- und Technikfor­
schung kann unter diesen Umständen nicht mehr als exotisches Gebiet am
Rande der Sozialtheorie betrachtet werden. Sie kann sich selbst auch nicht
mehr auf eine reine Abfolgeschätzung neuer Technologien beschränken.
Eine aktuelle Einführung in die Techniksoziologie (Degele 2002) setzt sich
in diesem Sinne das Ziel, »die Technik ins Herz der soziologischen Be­
schreibung und Erldärung von Gesellschaft zu holen« (ebd.: 8). Wie auch
immer die Wirkungen und der Einfluss von Wissenschaft und Technik auf
die Gesellschaft eingeschätzt werden- ob als Fortschritt oder als Risiko, ob
als Folge der Eigendynamik technischer Entwicldungen oder wirtschaftli­
cher und politischer Entscheidungen-, die Allgegenwärtigkeit von Technik
ist zu einer nicht mehr wegzudenkenden Bedingung der Gesellschaft und
ihres theoretischen Selbstverständnisses geworden.
Im Rahmen der viel diskutierten Verwissenschaftlichung der Gesell­
schaft (Weingart 1983, 2001) und der dadurch ausgelösten Aufwertung der
Technikforschung ist die mit der Entwicklung und Verbreitung des Com­
puters zusammenhängende Integration des Menschen in automatisierte
Informations- und Kommunikationssysteme besonders hervorzuheben. Zu
den schon in der Industriegesellschaft bekannten Themen wie Abhängig­
keit von großtechnischen Systemen (large technical systems, vgl. Hughes
1983; Joerges 1988) und Technisierung von Arbeit kommen in der Wis­
sensgesellschaft Themen wie Zunahme an kollektivem Wissen, Übergang
zur Wissensarbeit und Rolle der Kommunikation hinzu. Der effiziente
I4 J ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

Umgang mit Information und Wissen ist nicht nur in der Wirtschaft,
sondern in allen gesellschaftlichen Subsystemen inklusive Wissenschafts­
system selbst, zugleich ein »Sachzwang« und entscheidender Erfolgsfaktor.
Das »Funktionale« der funktionalen Subsysteme reduziert sich immer
mehr auf den Grad der Computerisierung von Arbeits- und Kommunika­
tionsprozessen, d.h. auf die Integration des Menschen in komplexe, com­
putergesteuerte Informations- und Kommunikationssysteme (vgl. Ram­
mert 1999; Willke 1998; Knorr-Cetina 1998). Arbeitsvorgänge, Hand­
lungsabläufe und sogar Entscheidungsprozesse werden in den betroffenen
Zweigen der Informatik modelliert und in Software abgebildet. Oberflä­
chen werden zu Interfaces. Die operative Logik des Algorithmus ersetzt
angewöhnte Umgangsformen. Alltägliche Handlungen wie Einkaufen,
Zahlungsverkehr und Zusammenarbeit geschehen gemäß den Interak­
tionsvorgaben und Protokollen der Computernetzwerke. Die Abhängigkeit
von hochkomplexen, aber für selbstverständlich gehaltenen technischen
Systemen und die damit zusammenhängende Umstellung der Gesellschaft
auf »Risikokommunikation« (Beck 1986; Luhmann 2003) im Bereich von
Wissenschaft und Technik führen zu einem Problembewusstsein gegen­
über neuen Technologien, das neue Erklärungsansätze sucht.
Das Bedürfnis, die Beziehung zwischen Mensch und Technik mit
neuen theoretischen Mitteln zu verstehen, liegt nicht zuletzt darin begrün­
det, dass der Einfluss von Technik auf Menschen bis in den menschlichen
Körper hineinreicht. Abgesehen von den bekannten und viel diskutierten
Möglichkeiten der Intensivmedizin gibt es zahlreiche Forschungsprojekte
in Bereichen wie Bioelektronik, Gentechnik und Robotik, die sich nicht nur
mit den Möglichkeiten von »Heilung« oder »Wiederherstellung« befassen,
sondern sich einer grundsätzlichen »Verbesserung« des menschlichen
Körpers widmen. Wie das rege Interesse an Themen wie Cyborgs (Haraway
1991) und Posthumanismus (Fukayama 2002) zeigt, gilt die künstliche,
d.h. über die Grenzen des Natürlichen hinausgehende Erweiterung der
körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen nicht nur als mög­
lich, sondern als unausweichlich. Technikverständnis wird zum Selbstver­
ständnis. Der moderne Glaube an eine Verbesserung des menschlichen
Lebens durch Wissenschaft und Technik mag durch Ökologiekrisen, Mili­
tarisierung der Atomtechnik, unvorhersehbare Wirkungen der Gen, und
Nanotechnik und viele andere neue Forschungsprogramme erschüttert
worden sein. Trotzdem fehlt es an praktikablen Alternativen. Die einzige
Lösung technikverursachter Probleme scheint in weiterer Technik zu
liegen. Die Gesellschaft behandelt - aufgrund unvermeidlicher Zweifel an
den Vorteilen und der Sicherheit von Technik- in einer gewissen Resigna­
tion Technik als ein notwendiges Risiko.
Ob wir wollen oder nicht: Technik ist ein Teil des menschlichen Lebens
geworden. In irgendeiner Form begleitet, unterstützt, bedingt, gestaltet
und ermöglicht sie fast jede Tätigkeit, jeden Beruf, jeden Lebensbereich, ob
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 15

Arbeit oder Freizeit, und verändert dramatisch die Art und Weise des
Wahrnehmens, Denkens und Handelns. Mensch und Technik sind derart
untrennbar geworden, dass eine Theorie wie die ANT, die das Zusammen­
leben und Zusammenwachsen von Mensch und Technik in den Vorder­
grund stellt, zwangsläufig zur Schlüsseltheorie wird.
Ein weiterer Grund für die gegenwärtige und vermutlich auch künftige
Bedeutung der Akteur-Netzwerk-Theorie liegt in der Vermenschlichung
bzw. Sozialisierung der Maschine. Nicht Wissenschaft und Technik be­
stimmen den Menschen und die Gesellschaft, sondern der Mensch kon­
struiert Maschinen nach seinem eigenen Vorbild. Tedes technische Arte­
fakt, von einfachen Werkzeugen bis hin zu Supercomputern, besitzt nicht
nur von seiner Entstehungsgeschichte her, sondern in seiner Organisation
und seinem Operieren in irgendeiner Form menschliche und soziale Ei­
genschaften. Information, Kommunikation und sogar Entscheidungsver­
fahren werden durch die Technik in die materielle Welt eingeschrieben
und auf Maschinen übertragen. Erkenntnistheoretischer und sozialer
Konstruktivismus greift bei der adäquaten Konzeptionalisierung der Ver­
menschlichung von Maschinen zu kurz. Die Natur wird sozialisiert. Die
Maschine ist nicht Werkzeug, sondern Partnerin. Die bekannteste und
zugleich umstrittenste These der ANT, die methodologische Forderung,
sämtliche Entitäten - Menschen wie technische Apparate - als soziale
Akteure zu behandeln, ist von ihrer Intention her radikaler als jeder Kon­
struktivismus. Die Verbreitung von so genannten »denkenden« Dingen
(Gershenfeld 1999) und verschiedene Entwicklungen wie »ubiquitous
computing«, virtuelle Realität, künstliche Intelligenz, Robotil< etc. führen
dazu, dass der Mensch immer mehr nicht bloß mit Maschinen hantiert,
sondern mit ihnen interagiert. Intelligente Maschinen werden bald auch
den strengsten »Turing-Test« glänzend bestehen. Ihre »Sozialität« unter
Menschen, aber auch untereinander (vgl. Malsch 1998; von Lüde et al.
2003), gilt als fast selbstverständlich (vgl. Turkle 1998). Latour spricht von
einem »Kollektiv« (2000) menschlicher und nicht-menschlicher Akteure.
Es handelt sich dabei um Netzwerke von Artefakten, Dingen, Menschen,
Zeichen, Normen, Organisationen, Texten und vielem mehr, die in Hand­
lungsprogramme »eingebunden« und zu hybriden Akteuren geworden
sind. Die Hybriden entfalten sich in einem Bereich zwischen Natur und
Kultur, zwischen Objekt und Subjekt und bilden eine bis heute kaum
theoretisch erfasste Form kommunikativer Ordnung, deren Erforschung
neue konzeptionelle Modelle und einen radikalen methodologischen Per­
spektivenwechsel in der Soziologie verlangt.
Die Tendenz der von der Akteur-Netzwerk-Theorie geforderten metho­
dologischen »Symmetrie« menschlicher und nicht-menschlicher Akteure
liegt darin, die Wissenschafts- und Technikforschung mit der Theorie
menschlicher Gesellschaft schlechthin gleichzusetzen, wodurch beide
Bereiche grundsätzlich verändert werden. Der Befund zahlreicher empiri-
16 1 ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

scher Studien, die bisher im Rahmen der ANT durchgeführt wurden,


bringt die traditionelle Trennung von Gesellschaft und Technik ins Wan­
ken. Weder die Auffassung von Wissenschaft und Technik als etwas, das
außerhalb der Gesellschaft liegt und Mensch und Gesellschaft bestimmt,
noch die Auffassung einer Natur, die nach menschlichen und gesellschaft­
lichen Vorstellungen geprägt wird, stimmen mit den empirischen Daten
überdn. Die berühmten Laborstudien (Latour/Woolgar 1979; Knorr-Cetina
1984) zeigen ebenso wie historische Untersuchungen (Hughes 1983), dass
soziale Prozesse und historische Dynamiken wie das Entstehen von groß­
technischen Systemen, die Digitalisierung von Information und Kommu­
nikation und die Globalisierung der funktionalen Subsysteme neue Grund­
lagentheorien, neue Modelle und neue Selbstbilder des Menschen und der
Gesellschaft erfordern.
Aus dieser Perspektive bietet der theoretische Anspruch der ANT ein
ernst zu nehmendes Angebot für eine »Neubegründung der Epistemolo­
gie«, eine »Revolution des Paradigmas der Soziologie« (Weingart 2003= 76)
und einen »realistischen Postkonstruktivismus« (Degele 2002: 126). Empi­
rische Untersuchungen zeigen eine Gesellschaft, in der die Technik nicht
länger als ein isolierbarer Bereich oder als Umwelt betrachtet werden kann.
Technik prägt menschliches Handeln und Erleben quer durch alle funktio­
nalen Subsysteme, seien dies nun Wirtschaft, Politik, Bildung, Kunst,
Wissenschaft oder Recht. Technik lässt sich immer weniger als Ding oder
Handeln, als quasi-natürliches Artefakt oder rein menschliche Kunstfertig­
keit konzeptualisieren. Methodologien, welche sinnvolles Handeln auf der
einen und nicht-intentionales Operieren natürlicher und quasi-natürlicher
Objekte auf der anderen Seite voraussetzen, basieren auf einem epistemo­
logischen und ontologischen Graben, dessen empirischer Nachweis
schlichtweg fehlt. Das, was Bruno Latour die »Verfassung der Modeme«
(Latour 1998: 22) bzw. die »Übereinkunft der Modeme« (Latour 2000: 23)
nennt, die Aufteilung der Welt in isolierte Bereiche von Natur, Kultur,
Psyche und Gott, ist unter der Last der »Quasi-Objekte« oder »Hybriden«
zusammengebrochen. Menschliche Handlungssubjekte stehen nicht mehr
einer nicht-menschlichen bzw. sinnlosen Natur, deren alleiniger autoritati­
ver Fürsprecher die Naturwissenschaft ist, gegenüber. Die Laborstudien
haben eine gegenseitige Konstruktion von Natur und Gesellschaft bei der
Produktion wissenschaftlicher Wahrheit aufgezeigt. Die Ausdifferenzie­
rung eines allein mit der Wahrheit beschäftigten Wissenschaftssystems
kann nicht länger nach den traditionellen Deutungsmustern der Modeme
verstanden werden. Es gibt nicht die Natur auf der einen und die Gesell­
schaft auf der anderen Seite. Die Interaktion menschlicher Handlungssub­
jekte, der klassische Gegenstand soziologischer Forschung, lässt sich im­
mer weniger - weder praktisch noch theoretisch - von der Mensch-Ma­
schine-Interaktion unterscheiden. Einerseits ist die Gesellschaft durch und
durch technisiert, andererseits wird die auf Naturgesetzen basierende
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 17

Technik immer stärker ,sozialisiert< und vermenschlicht. Dass solche


Beobachtungen nicht neu sind und kaum jemanden mehr überraschen, ist
ein Zeichen für eine veränderte Selbstwahrnehmung und ein verschärftes
Problembewusstsein bezüglich Technik und Wissenschaft. Auf Druck der
Empirie hin verschieben sich zeitgenössische Theorien immer mehr in
Richtung auf ein grundlegend neues Verständnis von Mensch und Natur.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie spielt mit ihrer Verankerung in den Labor­
studien und ihrer Betonung der empirischen Beschreibung von Wissen­
schaft und Technik (bei diesem Wandel im Selbstverständnis der Sozial­
wissenschaften) eine wichtige Rolle. Neben anderen wichtigen Ansätzen
kann die ANT als Vorreiter eines Paradigmenwechsels betrachtet werden.
Die Relevanz der ANT wird schließlich aus der Perspektive der verän­
derten Theorielage in der soziologischen Grundlagenforschung ersichtlich.
Die seit der Antike vorhandene und in der philosophischen Anthropologie
der Neuzeit weiterentwickelte Auffassung von Technik als künstlich her­
gestelltes Werkzeug bzw. Artefakt einerseits oder als Kunstfertigkeit
menschlichen Handelns andererseits und die damit einhergehende Unter­
scheidung zwischen Natur und Kultur sowie Subjekt und Objekt wird
durch die Umstellung auf die Theorie der funktionalen Differenzierung
unterminiert. Die Annahme funktionaler Modelle in der Sozialtheorie und
die Umstellung von Was- auf Wie-Fragen ändern den Theorierahmen für
das Verständnis von Wissenschaft und Technik. Es wird nicht mehr da­
nach gefragt, was Wissenschaft und Technik sind, sondern wie sie sind, wie
sie funktionieren, welche Zwecksetzung sie erfüllen, welche Subsysteme
der Gesellschaft sie bilden oder durch welche gesellschaftlichen Subsyste­
me hindurch sie operieren - und zwar im Rahmen einer Gesellschaft, die
nicht mehr aus Menschen, sondern nunmehr aus Kommunikationen
besteht (Luhmann 1984). Als Form der Kommunikation ist das Wissen­
schaftssystem nach der binären Leitdifferenz von wahr /falsch codiert,
wobei die Technik als eine »funktionierende Simplifikation im Medium
der Kausalität« (Luhmann 2003: 97) aufgefasst wird. Technik wird als eine
bestimmte Form der Kopplung von als »Wahrheit« betrachteten Ereignis­
sen und Kommunikationen verstanden; sie befindet sich überall dort, wo
etwas funktioniert oder wenigstens funktionieren soll. Als Verbindung von
Ursache und Wirkung steht Technik in Zusammenhang mit Erwartungs­
strukturen - wenn X, dann Y -, die weder Menschen noch Artefakten
besonders zugeschrieben werden können. Technik ist von sich aus weder
eine Eigenschaft von Dingen, noch von Menschen. Sie wird aus dieser
Perspektive zur Systemeigenschaft, deren Zuschreibung je nach Bedarf, sei
dieser nun politisch, religiös, künstlerisch oder wirtschaftlich, anders
gehandhabt werden kann. Schon Heidegger hat mit dem Begriff »Ge-Stell«
darauf hingewiesen, dass Technik nichts Technisches ist, und dass das
Denken der Technik zugleich das Denken des Seins bedeutet (Heidegger
1994, 2000). Angesichts solcher grundlegenden theoretischen Verschie-
18 1 ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

bungen, die viele Beobachter dazu veranlasst haben, vom »Ende der Mo­
deme« zu sprechen, erscheint die ANT in einem neuen Licht. Theoretische
Neupositionierungen wie die Systemtheorie, die Theorie der Selbstorgani­
sation, die Kybernetik und Informationstheorie, die Differenztheorie und
die transklassische Logik sowie die Kommunikationstheorie, die Semiotik
und schließlich die Dekonstruktion und die Kritik der Metaphysik stellen
traditionelle Leitdifferenzen wie Natur/Kultur, Subjekt/Objekt und Ding/
Handeln in Frage. Diese Differenzierungen verlieren zunehmend ihre
selbstverständliche Legitimation und ihre Erklärungskraft. Dies ermöglicht
es, innovative Konzeptionalisierungsangebote wie die von der ANT be­
schriebenen Hybriden-Netzwerke mit unvoreingenommenem Blick zu
betrachten (Lorentzen 2002).

Akteur-Netzwerk-Theorie als Kritik der Modeme

Als soziologische Wissenschaftsforschung steht die Akteur-Netzwerk­


Theorie in der Tradition der Wissenssoziologie, der Ideologiekritik und des
Konstruktivismus (Maasen 1999) und teilt somit ihren reflexiven, wissen­
schaftskritischen Standpunkt. Der moderne Anspruch der Wissenschaft
auf objektives, wertneutrales Wissen ist aus Sicht der Wissenssoziologie
grundsätzlich suspekt. Objektivität und Wertneutralität sind soziale Tatsa­
chen. Die Wissenschaft ist eine menschliche und soziale Tätigkeit wie jede
andere. Sie ist Teil der Gesellschaft und unterliegt den Bedingungen sozia­
len Handelns. Nach Auffassung neuerer Ansätze der Wissenssoziologie
sind es nicht nur die Geistes- und Sozialwissenschaften, deren Sozialkon­
struktion vorausgesetzt wird, sondern auch die Naturwissenschaften (Bloor
1976). Dies gilt aus der Sicht der ANT nicht nur für den Kontext wissen­
schaftlicher und technischer Tätigkeiten, sondern auch für ihre kognitiven
und materiellen Inhalte (Latour 1991, vgl. den Beitrag »Technik ist stabili­
sierte Gesellschaft« in diesem Band). Es gehört dagegen zum Selbstver­
ständnis moderner Wissenschaft und bildet einen Grundpfeiler der mo­
dernen Erkenntnistheorie, dass persönliche Interessen, politische oder
religiöse Einflüsse, ästhetische Präferenzen, wirtschaftliche Überlegungen
und sogar rechtliche Schranken von der Wissensfindung ausgeschlossen
sind. Wissenschaft findet gleichsam ohne individuelle Wissenschaftlerin­
nen und Wissenschaftler statt, sofern es sich bei diesen um soziale Wesen
aus Fleisch und Blut handelt. Die moderne Erkenntnistheorie reduziert die
Wissenschaft auf eine rein kognitive Tätigkeit, die Manifestation der reinen
Vernunft seitens eines methodologisch verallgemeinerten Erkenntnissub­
jektes. Alteuropäische Traditionen einer zeitlosen, universellen Wahrheit
wurden übernommen und auf das Wissen über die Natur und dessen
Trägerinnen und Trägem projiziert, die sich nunmehr als »freischwebende
Intelligenz« (Mannheim 1929) zu verstehen haben. Die ewigen und un-
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 19

wandelbaren Ideen platonischer Herkunft finden sich wieder in den neu


entdeckten Naturgesetzen und werden gleichsam durch einen Kurzschluss
an der Gesellschaft vorbei und ohne Vermittlung sozialer oder persönlicher
Handlungen und deren Bedingungen direkt zur allgemeingültigen, objek­
tiven und wertfreien Erkenntnis. Rückblickend kann man sagen, dass die
Frühphase der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems durch eine
für die Modeme typische Entsozialisierung der Wissenschaft gekennzeich­
net war. Erst im Laufe des letzten Jahrhunderts begann die neu gegründete
Soziologie damit, die Wissenschaft zu >resozialisieren<. Dieser Prozess ist
bei weitem nicht abgeschlossen und bildet einen wichtigen Aspekt der
kritischen Auseinanderse�ung mit der Tradition der Modeme, eine Aus­
einandersetzung, bei der die ANT eine bedeutende Rolle spielt.
Zeitgleich mit der Entsozialisierung der Wissenschaft definierte sich
die Modeme über die Entmystifizierung der Natur und die Subjektivierung
der Gesellschaft. Schon zu Beginn der Modeme zeichnet sich eine grund­
legende Trennung zwischen Natur und Gesellschaft ab. Das mechanisti­
sche Weltbild vertrieb die Geister aus der Natur und schuf damit einen
Bereich außerhalb jeder intentionaler Beschreibung. Naturereignisse fan­
den innerhalb eines Bereiches statt, der durch deterministische Kausalität
umgrenzt war. Jede Zuschreibung intentionaler oder finaler Kausalität war
ausgeschlossen. Geister, Illusionen und Vorurteile wurden durch die neue
Wissenschaft des Spielfeldes der Wahrheit über die Natur verwiesen. Nur
noch mathematisch formulierbare und empirisch verifizierte »Tatsachen«
durften für die Natur »sprechen«. Im Gegenzug wurde die Gesellschaft
vom Einfluss des Natürlichen bereinigt und als Ergebnis eines Sozialver­
trags unter freien Individuen verstanden. Am Anfang der Gesellschaft
standen somit Willkür und Autonomie individueller Handlungssubjekte.
Als dritter Teil des spezifisch modernen Weltbildes wurde das Göttliche
aus Natur und Gesellschaft verbannt. Toleranz ist ein Grundpfeiler der
Modeme. Sie beinhaltet nicht nur die Alczeptanz anderer Überzeugungen
in der Gesellschaft, sondern die Privatisierung von Religion und ihre Ver­
bannung aus dem öffentlichen Bereich politischer Entscheidungen und
wissenschaftlicher Wahrheitsfindung. Glauben darf jede und jeder, was er
oder sie will. Religiöse Überzeugungen, die absolute Wahrheit beanspru­
chen, erscheinen in der öffentlichen Arena als bloße Meinungen, deren
Geltung nicht vorausgesetzt werden kann, sondern wie andere Meinungen
begründet werden müssen. Die Demokratie verlangt, dass Gründungsver­
fahren im öffentlichen Austausch von Meinungen stattfinden, die dazu
führen, dass allein der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« (Ha­
bermas 1984: 161) als »rational« akzeptiert wird. Rationalität entscheidet
über Wahrheit - nicht Autorität und nicht Offenbarung. Geltungsgründe
und Begründungsverfahren konnten Vorwürfen von Partikularismus und
Ideologie nur dann entkommen, wenn sie mit Ausnahme der unparteili­
chen Wahrheitsfindung frei aller Interessen waren. Das Erkenntnissubjekt
l

20 \ ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

wurde gezwungen, seine Individualität aufzugeben. Um die Wissenschaft


rein zu halten, opfert die Modeme ihren Individualismus dem transzen­
dentalen Subjekt, dem Weltgeist, dem wertneutralen Beobachter. Die Mo­
deme lässt sich demnach als spezifische Konstellation von Natur, Gesell­
schaft, Mensch und Göttlichem verstehen, deren Eigenart in der radikalen
Trennung dieser Bereiche besteht. Die Entsozialisierung der Wissenschaft,
die Entmystifizierung der Natur und die Subjektivierung der Gesellschaft
hängen eng miteinander zusammen, bilden ein Gefüge von Begründungs­
und Legitimierungsinstanzen, welche die »Verfassung der Modeme«
(Latour 1998: 22) bestimmen.
Die moderne Aufteilung der Welt in eine mechanistische Natur, eine
aus freien Handlungssubjekten bestehende Gesellschaft und einem fernen,
gleichgültigen Gott trennte den Menschen und sein Schicksal derart radi­
kal von der materiellen Natur, dass Wissenschaft und Technik als außer­
halb der Gesellschaft und unabhängig von den Einflüssen der Kultur er­
schienen. Auf der einen Seite stehen Wissenschaft und Technik gleichsam
als Teile der Natur und auf der anderen Seite steht die Gesellschaft als
Bereich der Freiheit und der Subjektivität. Wenn Wissenschaft und Gesell­
schaft einander als unabhängige Größen gegenüberstehen, dann können
sie sich gegenseitig beeinflussen. Wenn Wissenschaft und Technik außer­
halb der Gesellschaft stehen, können sie auf die Gesellschaft einwirken, sie
transformieren und möglicherweise bedrohen. Sie werden zu einer gesell­
schaftsbestimmenden Macht. Forschungsstrategien, die den Einfluss der
Technik auf den Menschen und die Gesellschaft voraussetzen, werden als
Technikdeterminismus bezeichnet. Die Wirkungen der Technik können
positiv als Fortschritt oder negativ als Gefahr bewertet werden. Sie können
durch Politik reguliert, durch Wirtschaft ökonomisch zu Nutze gemacht
und durch Ethik und Philosophie in Frage gestellt werden, aber sie können
nicht als Teil der Gesellschaft gelten.
So behauptet der Technikdeterminismus beispielsweise, dass Stein­
werkzeuge, die Schrift, die Dreifelderwirtschaft, Massenmedien und ver­
gleichbare Schlüsseltechnologien soziale und kulturelle Anpassungen
hervorgerufen und ganze Epochen geprägt haben (White 1962; Innis 1972;
Havelock 1963; McLuhan 1968; Postman 1985). Aus technil<deterministi­
scher Sicht wird Technik oft als »Sachzwang« oder als sich verselbständigte
und außer Kontrolle geratene Entäußerung bzw. Erweiterung des Men­
schen betrachtet (Schelsky 1965; Gehlen 1986). Es wird von einem Domi­
nantwerden gesellschaftsfremder technischer Kategorien und Denkformen
(Freyer 1960) oder von einer »Kolonisierung der Lebenswelt« (Habermas
1981) durch eine dem gesellschaftseigenen, verständigungsorientierten--­
Handeln entgegengesetzte Handlungsform gesprochen. Die Ängste und
Überzeugungen bezüglich des Entstehens einer »technischen Gesell­
schaft« (Ellul 1964) führten nicht zuletzt dazu, dass die Einwirkungen von
Technik und Wissenschaft auf die Gesellschaft zum Forschungsprogramm
--
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 21

gemacht wurden. Die Technikfolgenabschätzung, die in den r93oer Jahren


von Ogbum (1922, 1936) lanciert wurde und heute in fast allen entwickel­
ten Ländern in irgendeiner Form institutionalisiert ist, setzt Technik­
determinismus voraus. Die Technikfolgenabschätzung geht davon aus,
dass gesellschaftliche und kulturelle Entwicl<lungen den technischen hin­
terherhinken. Demzufolge besteht ein »cultural lag« (Ogburn 1936), eine
Zeitverschiebung zwischen der Einführung neuer Techniken und sozialen
sowie kulturellen Restrukturierungen, die dadurch hervorgerufen werden.
Technikfolgenabschätzung geht jedoch auch von der Annahme aus, dass
das Vorhersagen technisch beeinflussten Wandels das gesellschaftliche
Steuerungspotential erhöhen kann.
Technikdeterministische Ansätze sind aber nicht das einzige Erldä­
rungsmodell der Wissenschafts- und Technikforschung. Die Annahmen
einer Eigendynamik und eines bestimmenden Einflusses der Technik auf
die Gesellschaft konkurrieren mit entgegengesetzten Annahmen über die
Freiheit des Menschen und seine Fähigkeit, die Natur zu gestalten. Men­
schen und Gesellschaften entscheiden, ob eine Technik realisiert und wie
sie eingesetzt wird. Forschungsstrategien aus dieser Perspektive sind als
Sozialdeterminismus bekannt.
Der Sozialdeterminismus setzt den Menschen in den Mittelpunkt.
Soziale Faktoren werden für technische Entwicklungen verantwortlich
gemacht: Die Gesellschaft formt die Natur. Wissenschaft und Technik
haben kein Eigenleben, sie sind bloße Werkzeuge, deren Gebrauch von
gesellschaftlichen Entscheidungen abhängt. Nach Auffassung des Sozial­
determinismus sind wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Arte­
fakte Produkte sozialer Tätigkeiten. Sie entstehen im Rahmen vor allem
politischer und wirtschaftlicher Zielsetzungen. Der Sozialdeterminismus
betrachtet Technik als ein bloßes Werkzeug, das menschlichen Zwecken
dient. In der philosophischen Anthropologie der Modeme schlägt sich
dieser Ansatz in Theorien nieder, welche Werkzeuge als die Ergänzung
und Erweiterung der Handlungs- und Sinnesorgane des mensci\lichen
Körpers betrachten (Gehlen 1986): Der Hammer ist eine Erweiterung der
Hand, der Computer eine Erweiterung des Hirns. Auch wenn die Annah­
me, dass der Körper den bewussten Zwecksetzungen eines von Vernunft
geleiteten Willens folgt, mindestens seit Freud kontrovers ist, sind die "'
Einflüsse wirtschaftlicher, politischer und persönlicher Interessen bei der
Finanzierung, Planung, Organisation und Durchführung von Forschung
und Entwicldung im öffentlichen wie im privaten Sektor offensichtlich. Der
Transfer von Grundlagen- in angewandte Forschung und Technikentwick­
lung lässt sich nicht anders erldären. Zahlreiche Laborstudien haben
gezeigt, dass soziale Faktoren die alltägliche Praxis der Wissenschaft
bestimmen. Auch wenn die moderne Erkenntnistheorie alle Motivationen
und Einflüsse mit Ausnahme der unparteilichen und wertfreien Wahr­
heitssuche aus der Wissenschaft ausschließt, zwingt uns die konkrete
22 1 ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

Wissenschaftspraxis zur Anerkennung einer gesellschaftlichen Wirklich­


keit von Wissenschaft und Technik. Über mikro-soziologische Faktoren
wie Karriereplanung, Machtkämpfe, persönliche Wertvorstellung, Ideolo­
gien und politische Strategien hinaus hat die Technikgeneseforschung
(Rammert 1992, 2000; Weyer et al. 1997; Weyer 2004a,b,c) auf die Bedeu­
tung von makro-soziologischen Strukturen wie Leitbilder (Dierkes/Hoff­
mann/Marz 1992), Organisationsstrukturen und Konstruktionstraditionen
in Industrie und Verwaltung (Dierkes/Knie 1989) hingewiesen.
Gleichzeitig mit der modernen Konstruktion der objektiven Wissen­
schaft und der Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft wurde das
autonome rationale Subjekt der modernen Erkenntnistheorie geboren. Ob
empiristischer oder idealistischer Provenienz, das Subjekt wahren Wissens
in der Modeme wird von lokalen und historischen Bedingungen abstra­
hiert und von allen nichtkognitiven Eigenschaften gereinigt. Der epistemo­
logische und ontologische Dualismus von Subjekt und Objekt gehört nach
Latour zur »Verfassung der Modeme« (Latour 1998: 22) und bildet eines
der größten Hindernisse für die Wissenschaftsforschung. Es gibt entweder
Objekte oder Subjekte und nichts kann beides zugleich sein. Was als Ob­
jekt erscheint, verliert dadurch seine Subjektivität. Technischen Artefakten,
obwohl von Menschen gemacht, haftet eine natürliche Materialität an.
Ontologisch gesehen sind sie bloße Dinge. Wissenschaftliche Tatsachen,
von jeder Subjektivität bereinigt, nehmen dadurch dinghafte Eigenschaften
an. Die »adaequatio intellectus ad rem« reifiziert die Wahrheit. Tatsachen
sind wahr, weil sie die Natur ohne Beitrag des real existierenden Subjektes
störungsfrei wiedergeben. Auch wenn der Geist keine ,Tabula rasa< ist und
Erkenntnis aktiv gestaltet, muss das Subjekt des Erkennens nicht als
menschliches Individuum, sondern als transzendentales Subjekt gedacht
werden. Unabhängig davon, wie die Erkenntnistheorien der Modeme das
Problem des Wissens zu lösen versuchen, gehen sie von der gleichen An­
nahme eines aller Objektivität bereinigten Subjektes und eines aller Sub­
jektivität bereinigten Objektes aus. Mischwesen darf es nicht geben. Zwi­
schen Objekt und Subjekt tut sich eine unüberbrückbare Kluft auf, die
derjenigen zwischen Natur und Gesellschaft ganz ähnlich ist. Wissenschaft
und Technik, auch wenn sie eindeutig menschliche und gesellschaftliche
Errungenschaften darstellen, gehören wegen ihrer Objektivität nicht zur
Gesellschaft, sondern viel eher zur Natur. Sie erscheinen als außerhalb des
Subjektes, als etwas, dessen Erkenntnis nunmehr einer wundersamen
Überbrückung einer unüberwindbaren Kluft gleicht.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie distanziert sich von der modernen Über­
einkunft und aem daraus resultierenden Technilc- und Sozialdeterminis­
mus und versteht sich als grundsätzliche Alternative und als Kritik an der
Modeme (Latour 1998, 2000). Eine theoretische Neupositionierung in
Bezug auf so grundlegende Unterscheidungen verlangt von der ANT, dass
sie sich - über die empirische Detailbeschreibung wissenschaftlicher
--·
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEDRIE 1 23

Praxis hinaus - mit Erkenntnistheorie, Kulturtheorie und Ontologie be­


fasst. In diesem Zusammenhang sind es vor allem die methodologischen
und begrifflichen Innovationen der ANT, die Aufmerksamkeit verdienen
und tatsächlich zumeist die Aufmerksamkeit der Kommentatoren auf sich
gezogen haben (Weingart 2003; Degele 2002; Rammert 2000; Schulz­
Schaeffer 2000). Die Betonung empirischer Forschungsmethoden und die
Verwendung einer aus der Empirie abgeleiteten Terminologie jedoch
haben dazu geführt, dass die ANT hauptsächlich als empirischer, mikro­
soziologischer Forschungsansatz rezipiert wurde, der ausdrücklich Theorie
meidet (Maasen 1999). An die Stelle von Erklärungen entweder sozialer
oder materiell-technischer Bedingungen tritt die Beschreibung heterogener
Netzwerke. Sogar die Bezeichnung »Theorie« im Zusammenhang mit der
Akteur-Netzwerk-Theorie wird als irreführend betrachtet. Dass sie diesen
Eindruck erweckt haben, dafür sind die Vertreterinnen und Vertreter der
ANT wohl selbst verantwortlich. Bruno Latour behauptet beispielsweise,
dass die Erklärung sozialer Phänomene ersichtlich wird, »sobald die Be­
schreibung gesättigt ist«, und dass man »nie die Aufgabe der Beschreibung
zugunsten jener der Erklärung« aufgeben soll (Latour 1991, vgl. den Bei­
trag »Technik ist stabilisierte Gesellschaft« in diesem Band). Für viele
Beobachter der Wissenschafts- und Technikforschung reduziert sich die
ANT damit auf eine Sammlung mehr oder weniger nützlicher Forschungs­
instrumente. Dagegen wehrt sich vor allem Latour (1998, 2000), der ein
ambitiöses kultur- und erkenntnistheoretisches Programm entwirft, das
den Anspruch der ANT, Theorie zu sein, restlos einlösen soll. Latours
kulturlaitische Schriften zielen aber eher auf die Entwicklung einer >anti­
modernen< Vision denn auf die Systematisierung einer Gesellschaftstheo­
rie und den Nachweis ihrer Anschlussfähigkeit an den gegenwärtigen
Theoriediskurs der Sozialwissenschaften. Die Arbeiten von Latour sind in
ihrer Radikalität und Tragweite durchaus mit den Schriften von Derrida
und dem Programm der Dekonstruktion vergleichbar. Der Vergleich ist
insofern berechtigt, als die ANT zweifellos in der Tradition der Semiotik
Saussures und des linguistischen Poststrukturalismus zu sehen ist (H0sta­
ker 2005). Nichtsdestotrotz betont Latour seine Unabhängigkeit von Post­
strukturalismus, Dekonstrulction und Diskurstheorien (Latour 2000, vgl.
den Beitrag »Sozialtheorie und die Erforschung computerisierter Arbeits­
umgebungen« in diesem Band). Die Welt lässt sich nicht auf Text und
Diskurs reduzieren - ebenso wenig wie auf Natur oder Gesellschaft. Zei­
chen, Menschen, Institutionen, Normen, Theorien, Dinge und Artefakte
bilden Mischwesen, techno-soziale-semiotische Hybride, die sich in dau­
ernd sich verändernden Netzwerken selbst organisieren. Die Modeme hat
durch Reinigungsverfahren aus diesem Realitätsmix Konstrulcte wie Natur
und Gesellschaft, Subjekt und Objelct herauspräpariert und zu Erklärungs­
gründen erhoben, wobei diese Konstrulcte eigentlich das sind, was einer
Erklärung bedarf. Eine konsequente Kritik der Modeme, wie die ANT dies
24 1 ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

für sich beansprucht, müsste dort ansetzen, wo Natur und Gesellschaft,


Subjekt und Objekt als unhinterfragte Voraussetzungen der Theoriebil­
dung dienen und Forschungsstrategien bestimmen. Sie müsste alternative
Grundbegriffe und Methoden anbieten. An dieser Stelle zeigt die ANT ihre
Stärke. Die ANT entwickelt eine besondere Methodologie mit eigener Ter­
minologie, deren Absicht es ist, Realität so zu beschreiben, dass sie nicht in
die Kategorien und den Rahmen der modernen Übereinkunft fällt, welche
das wirkliche Geschehen - die Integration von Menschen und Nichtmen­
schen in das Kollektiv der Hybriden - verdeckt. Die herrschende Konstella­
tion von Epistemologie, Psychologie, Gesellschafts- und Wissenschafts­
theorie soll umgangen werden. Wenn die neue Terminologie der ANT
Anschluss an gegenwärtigen Theoriediskursen ermöglicht, kann auch die
Frage, ob es genügt, den »Akteuren zu folgen«, positiv beantwortet werden.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie liandelt offensichtlich von Akteuren und
von Netzwerken. Wenn Akteure sich in Netzwerke einfügen, ergeben sich
Relationen, Verbindungen und Beziehungen, die durch Prozesse verschie­
dener Art eingegangen, aufgelöst, transformiert und fixiert werden. Ein
Akteur-Netzwerk hat demnach mindestens drei theoretische >Dimensio­
nen<, die zwecks Analyse als Akteurebene, Netzwerkebene und Prozess­
ebene bezeichnet werden können. Die Begriffe und Methoden der ANT
lassen sich einordnen, indem sie jeweils auf verschiedene Dimensionen
bezogen werden. Als Wissenschaft über die Wissenschaft darf dabei nicht
außer Acht gelassen werden, dass die ANT eine reflexive Position bezieht
und sich selbst zum Forschungsgegenstand macht. Zählt man die Beob­
achtung zweiter Ordnung hinzu, ergibt sich eine vierte Dimension, näm­
lich die methodologische Ebene. Im Folgenden wird die Auseinanderset­
zung der ANT mit der Modeme anhand einiger zentraler Begriffe erörtert.

Zirkulierende Referenz - Das semiotische Modell

Das erkenntnistheoretische Problem, wie Zeichen sich auf Dinge beziehen


und somit einen Sinn, eine Referenz erhalten, steht am Anfang allen Wis­
sens. Eine wissenschaftliche Tatsache ist eine wahre Aussage, eine Ent­
sprechung von Satz und Wirklichkeit. Die Wissenschaft behauptet, die
Welt nachprüfbar abzubilden und damit die Basis für technische Realisie­
rungen zu schaffen. Wie soll diese Entsprechung ausgewiesen werden? Wo
hört das Ding auf und wo beginnt die Sprache? Wie werden Dinge zu
Zeichen und Modellen? Als sozialwissenschaftlicher Begleiter einer Feld­
studie über Bodenkunde im Amazonasgebiet setzt sich Latour das Ziel,
»die epistemologische Referenz in den Wissenschaften empirisch zu erfor­
schen« (Latour 2000: 38). Wie entstehen wissenschaftliche Erkenntnisse?
Latour will zeigen, »dass es hier weder Korrespondenz gibt, noch eine
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 25

Kluft, ja noch nicht einmal zwei völlig verschiedene ontologische Bereiche,


sondern ein ganz anderes Phänomen: zirkulierende Referenz« (ebd.: 36).
Die von Latour begleitete Expedition ist interdisziplinär zusammenge­
setzt mit Experten aus Botanik, Pedologie (Bodenbeschaffenheitskunde)
und Geographie, die sich für die Frage interessieren, ob der Urwald des
Amazonas von der Savanne zurückgedrängt wird oder umgekehrt. Zu
Beginn der Untersuchung steht die Gruppe von Forschem einer undiffe­
renzierten, amorphen und unmarkierten Landschaft gegenüber, einer zwar
repräsentativen, aber unerforschten Parzelle, wo Urwald und Savanne sich
treffen. Allein eine grobe Karte und einige Luftaufnahmen dienen zur
Orientierung. Sie befinden sich außerhalb der kleinen brasilianischen
Stadt Boa Vista, an einem Ort, wo zuvor lediglich einige Botaniker ver­
schiedene Bäume mit Schildern gekennzeichnet haben. Wie gehen sie vor?
Wie entsteht Wissen aus den vielfältigen Erscheinungen der Natur? Von
einer reinen Natur kann aber nicht die Rede sein, da die Landkarte, die
Luftaufnahmen und die Schilder an den Bäumen ein grobes Netz kartesi­
scher Koordinaten über einige Hektare Urwald gelegt haben. Das Ding an
sich erscheint nie, immer besteht ein Vorwissen, eine andere Wissenschaft,
die zuvor mindestens der Wahrnehmung und den Fragestellungen den
Weg geebnet hat. Ein strukturloser Hintergrund wird durch Feldmessung
mit geometrischen Formen überlagert und verfügbar gemacht. Die Welt ist
schon immer in irgendeiner Art und Weise ein Labor.
In einem ersten Schritt wird mit Kompass und Faden einen Planquad­
rat ausgelegt, woraus als zweiter Schritt in regelmäßigen Abständen Bo­
denproben in einem Querschnitt zwischen Savanne und Urwald entnom­
men werden. Die Proben werden in jedem Detail bezüglich Ort, Zeit;Tiefe,
Farbe und Konsistenz protokolliert. Sie werden zwar dem Boden entnom­
men, behalten aber durch die Protokollierung den Bezug zu ihrer ur­
sprünglichen Beschaffenheit. Als Nächstes werden die Proben in einen
speziellen Behälter, einen Pedokomparator, ein quadratisch gitterförmiges
Holzgefäß übertragen, worin sie in kleinen Kartonkuben in Länge und
Tiefe angeordnet werden können. Es entsteht eine Art konkretes Zeichen,
eine dinghafte graphische Darstellung, etwas zwischen Realität und Zei­
chen, das einen Überblick über die Bodenbeschaffenheit des ganzen Be­
reichs zwischen Savanne und Urwald erlaubt. Es sind reale Klumpen Erde,
die aber in einer abstrakten Gleichförmigkeit angeordnet werden. Es sind
einige kleine Stücke Erde, die die viel größeren Quadrate »re-präsentie­
ren«. Wenn sie in den Pedokomparator eingeordnet sind, ergibt sich eine
Übersicht über die ganze Parzelle zwischen Savanne und Urwald. Durch
den Pedokomparator ist der vielschichtige und undifferenzierte Boden
zusammengefasst und sichtbar gemacht. Aufgrund der Anordnung und
detaillierten Beschreibung der Proben wird es möglich, eine graphische
Darstellung, eine Tabelle auf Papier zu zeichnen. Die Tabelle wird als Refe-
26 1 ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

rent in einem wissenschaftlichen Text dienen. Der Text handelt vom Ur­
wald und von der Savanne in der Nähe von Boa Vista. Er beschreibt in
Worten, wie der sandige Boden der Savanne allmählich lehmiger wird und
in den Urwald übergeht. Die Wörter beziehen sich auf die Tabelle, die
Tabelle bezieht sich auf den Pedokomparator, die Anordnung der Erd­
klumpen im Pedokomparator bezieht sich auf das Planquadrat, die Boden­
proben und sogar auf die Schilder an den Bäumen und die groben Luftauf­
nahmen, die den Forschem als erste Orientierung dienten. Latour fasst den
Prozess so zusammen:

»Die Prosa des Abschlussberichtes spricht von einer Zeichnung; die Zeichnung
fasst die Form zusammen, die sich aus der Anordnung des Pedokomparators ergab;
dieser extrahierte, klassifizierte und codierte den Boden, der seinerseits durch ein
Zusammenspiel von Koordinaten markiert, in Quadrate aufgeteilt und abgesteckt
wurde. [...] Niemals lässt sich ein scharfer Bruch zwischen den Dingen und den
Zeichen feststellen. Und niemals stoßen wir auf eine Situation, in der willkürliche
und diskrete Zeichen einer gestaltlosen und kontinuierlichen Materie aufgezwun­
gen würden. Immer sehen wir nur eine kontinuierliche Reihe von ineinander
geschachtelten Elementen, deren jedes die Rolle eines Zeichens für das vorange­
hende und die eines Dinges für das nachfolgende Element spielt.« (Latour 2000:
70)

Was ist der Referent? Worauf bezieht sich wissenschaftliche Erkenntnis?


Auf der Papieroberfläche des Schlussberichtes befindet sich der Urwald,
aber verändert, abstrahiert, standardisiert, berechenbar und durch die
Mobilität der Vermittler vergleichbar mit ähnlichen Erkenntnissen üb(;!rall
auf der Welt. Trotz dieser »Amplifikation« (ebd.: 87) der »unveränderlich
mobilen Elemente« (Latour 1991, vgl. »Techno-ökonomische Netzwerke
und Irreversibilität« in diesem Band) kann man jeden Schritt des Weges in
die konkrete, lokale, partikulare Vielfalt der Materie peinlichst genau zu­
rückverfolgen. Wissenschaftliche Tatsachen sind nicht Sätze, die irgendwie
der Wirklichkeit >entsprechen<, sondern Transformations- und Substitu­
tionsketten, Reihen von Vermittlungen, Ansammlungen von unveränder­
lich mobilen Elementen, durch die man sich beliebig vorwärts und rück­
wärts bewegen kann. Die Kette entfaltet sich von der Mitte aus und geht
unendlich in beiden Richtungen; in Richtung der Konkretisierung und in
Richtung der Abstraktion. Egal wie weit man in die Materie hineingeht,
man trifft kein Ding an sich. Und gleichgültig wie abstrakt man denkt, das
Zeichen wird nie referenzlos. Die Erscheinungen »zirkulieren entlang
einer reversiblen Transformationskette« (ebd.: 88). Die Referenz »ist eine
Eigenschaft der Kette in ihrer Gesamtheit und nicht der adaequatio rei et
intellectus« (ebd.: 85).
Diese erkenntnistheoretische Position ist nicht neu. Schon Saussure
(1967) definierte das Zeichen als eine unzertrennbare Einheit von Signifi-
EINFÜHRUNG IN DIE ÄKTEUR-NETZWERK-THEDRIE 1 27

kat und Signifikant und löste damit das sprachliche Zeichen von einem
außersprachlichen Referenten. Die gängige Auffassung, Sprache bringe
psychische Entitäten wie Gedanken oder Vorstellungen durch ein materiel­
les Zeichen zum Ausdruck, ist falsch. Es gibt nicht einen Gedanken oder
eine Vorstellung, die durch eine bestimmte Lautmaterie zum Ausdruck
gebracht wird, ebenso wenig wie es Dinge gibt, die auf ihre Bezeichnung
warten. Bevor das Zeichen zustande kommt, gibt es weder Gedanken noch
Dinge. Unabhängig voneinander und bevor sie im Zeichen zusammenge­
kommen sind, sind das Lautmaterial und das psychische Erleben undiffe­
renziert, formlos und ohne jeden Sinn. Erst das Zeichen artikuliert die
beiden amorphen Kontinua und schafft somit Ordnung, wo vorher Chaos
herrschte. Latour folgt Hjelmslev (1974), wenn er das Entstehen eines
Zeichens nach dem Materie-Form-Schema erklärt. Auf die Arbeit der For­
schergruppe im Amazonas bezogen, bedeutet dies, dass jedes Glied in der
Kette der Vermittlungen »von seinem Ursprung her auf die Materie und
von seiner Bestimmung her auf die Form bezogen« ist (ebd.: 70). Die
Parzelle Urwald z.B. ist Materie für die Formgebung des Planquadrates.
Die Bodenproben sind Materie, die durch den Pedokomparator in eine
neue Form gebracht wird:

»Mit seinem Handgriff, seinen Holzrahmen, seiner Auskleidung und seinen Kar­
tonkuben gehört der Komparator zur Welt der Dinge. Aber mit der Gleichförmigkeit
seiner Kuben, ihrer Anordnung in Spalten und Reihen, ihrem diskreten Charakter
und der Möglichkeit, die Elemente frei zu vertauschen, gehört der Komparator zur
Welt der Zeichen.« (Ebd.: 62)

Die gezeichnete Tabelle verwandelt die Erdklumpen im Pedokomparator


durch die ganze Kette der Vermittlungen in eine neue Form. Materie und
Form dürfen nicht als ontologische Gegensätze verstanden werden, denn
jede Formgebung stellt nur eine Weiterdifferenzierung von etwas dar, das
in irgendeiner Art und Weise schon geformt, d.h. bezeichnet ist. Zeichen­
lose Gedanken gibt es ebenso wenig, wie es eine unbezeichnete Wirldich­
keit gibt. Wenn aber die Kette der Vermittlungen nicht auf die reine Natur
zurückgeführt werden kann, worauf bezieht sich dann die Sprache? Wie
kommt Referenz zustande?
Im semiotischen Modell hängt der Sinn der Zeichen nicht davon ab, ob
die Zeichen sich letztlich auf Dinge beziehen. Der Referent, d.h. das, wor­
auf ein Zeichen sich bezieht, existiert in der Sprache, in der es vorkommt.
Was bedeutet dann Referenz? Worauf bezieht sich die Sprache? Saussures
Antwort auf diese Frage ist eine der einflussreichsten theoretischen Inno­
vationen des letzten Jahrhunderts und gehört zu den Grundlagen der
Akteur-Netzwerk-Theorie. Nach Saussure kann die Sprache Dinge be­
zeichnen, weil sie aus Zeichen besteht, die in einem differentiellen System
bestimmte Relationen miteinander eingehen. Kein Wort existiert allein.
l
28 1 ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

Wer ein Wort spricht, spricht die ganze Sprache. Nur in der Sprache als
Ganzes, d.h. als differentielles System von Zeichen, entsteht eine Sinnwelt.
Worte sind demzufolge nicht Bezeichnungen von Dingen, sondern Posi­
tionen oder - wie Saussure sagt - »Werte« in einem ·zeichensystem. Sie
sind Knoten in einem Relationsnetz, das durch Differenz bzw. Negation
konstruiert wird. Katzen gibt es nur, weil Nicht-Katzen möglich sind. Wir
wissen, was Katzen sind, weil wir wissen, dass sie nicht Hunde, nicht Fi­
sche, nicht Bäume, nicht Vögel usw. sind. Im Rahmen des semiotischen
Modells ist eine Katze eine besondere Kette von Unterscheidungen. Die
Sprache besteht aus Unterschieden, Relationen, und zwar ohne Relata. Die
Bedingung der Möglichkeit von Unterscheidungen ist die Negation. Das
Nicht erlaubt es, dass etwas anders sein kann, als es ist. Ohne Negation
gäbe es, wenn überhaupt etwas, dann nur Eines, denn etwas >Anderes<
wäre nicht möglich. Die Sprache artikuliert die Welt als ein Netzwerk von
Unterschieden und Differenzen. Das Modell Saussures ist konstruktivis­
tisch. Je nachdem, wovon Katzen unterschieden werden, sieht die Welt
anders aus. Linguisten haben nachgewiesen, dass verschiedene Sprachen
die Welt verschieden artilrulieren (Hjelmslev 1974). Um auf die ANT zu­
rückzukommen: Referenten wie die Katze oder der Urwald »zirkulieren« in
der Sprache. Sie werden nicht entdeckt, sondern artikuliert. Wie detailliert
die jeweilige Welterkenntnis sein mag, d.h. was eine Gesellschaft jeweils
über Katzen und über den Urwald weiß, hängt davon ab, wie differenziert
bzw. artikuliert ihre Zeichensysteme sind.
Latours Beschreibung des Entstehens wissenschaftlicher Erkenntnis
durch eine Erweiterung der Kette von Vermittlungen lässt sich im Rahmen
des semiotischen Modells als eine Beschreibung eines besonderen Diffe­
renzierungsprozesses verstehen. Dieser Prozess ist etwas Besonderes, weil
die Sinnwelt durch eine eigenartige Bewegung zwischen der konkreten,
partikularen, dichten Erfahrung auf der einen Seite und der standardisier­
ten Abstraktion auf der anderen Seite artikuliert wird. Diese besondere
Artikulation der Welt erlaubt eine »funktionierende Simplifikation im
Medium der Kausalität« (Luhmann 2oor 97), während eine literarische
Beschreibung des Urwalds dies nicht erlauben würde. Die Möglichkeit,
sich vorwärts und rückwärts durch alle Vermittlungen hindurch zu bewe­
gen, ist die Voraussetzung für Wiederholbirkeit, Standardisierung, Ver­
gleichbarkeit und Kontrolle. Die Bodenproben werden so entnommen und
aufbewahrt, dass - auch wenn sie 6000 Kilometer entfernt in Paris im
Labor analysiert werden - ein Bezug zu Boa Vista besteht. Von der Tabelle
zum Pedokomparator, vom Pedokomparator zu den aufbewahrten Boden­
proben, von den Proben zum Planquadrat - die Kette der Vermittlungen
hält etwas konstant und zugleich beweglich, damit Wenn-Dann-Beziehun­
gen durch Versuch-und-Irrtum-Verfahren fixiert werden können. Dies
macht die Welt zu einem Labor. Erkenntnistheoretisch bedeutet dies, dass
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 29

Zuverlässigkeit, Wiederholbarkeit, Dauerhaftigkeit und Funktionalität,


kurz Realität, nicht irgendwo außerhalb in der Natur zu finden sind, son­
dern im Sinnsystem. Eine Realität außerhalb von Sinn wäre unerkennbar
und zudem überflüssig. Es macht deshalb wenig Sinn, von einer Wissen­
schaft und Technik zu sprechen, die gleichsam von außen auf die Gesell­
schaft einwirken. Ein Außerhalb des Sinns gibt es nicht. Ebenso wenig
kann die Gesellschaft Wissenschaft und Technik als bloßes Werkzeug in
die Hand nehmen, denn jede Handlung, sofern sie überhaupt eine Intenti­
onalität und eine Funktion hat, steht schon im Medium der Kausalität und
ist verwissenschaftlicht und technisiert. Technik- und Sozialdeterminismus
gehen beide an der empirischen Praxis der Wissenschaft vorbei und blei­
ben nach Auffassung von Latour der » Übereinkunft der Modeme« mit
ihrer Trennung von Natur und Gesellschaft verpflichtet. Die theoretische
Position der ANT befindet sich weder im Lager der Realisten noch der
Konstruktivisten. Die ANT beschreibt weder Gesellschaft noch Natur, son­
dern einen Prozess der Artikulation. Wissenschaft bildet einen besonderen
Differenzierungsprozess im Medium von Sinn.
Im Gegensatz zu Saussure artikuliert sich das Sinnsystem aus der Sicht
Latours nicht nur in akustischer oder visueller Materialität als verbale oder
geschriebene Sprache, sondern in der Bevölkerung der Welt mit Hybriden
bzw. heterogenen Akteuren. Die Materialität von Sinn ist nicht auf die
Ausdruckssubstanz (Hjelmslev) der Sprache begrenzt. Schon die grobe
Landkarte und die Luftaufnahmen haben die Parzelle Urwald geformt und
in die Sinnwelt im Horizont von Kausalität integriert. Alle darauf folgen­
den Schritte, welche die Forschergruppe unternommen hat, von den Ver­
messungen über das Legen des Planquadrates und die Entnahme der
Bodenproben bis hin zum Zeichnen der Tabelle und dem Verfassen des
Schlussberichtes, haben der Welt weitere Hybriden hinzugefügt. Die Welt
wird erweitert, komplexer gemacht kurz: in einer besonderen Art und
Weise artikuliert. Die Wissenschaft ·hat dabei nicht nur neues Wissen zu
Tage gefördert, sie hat die Welt mit einer Reihe neuer Wesen bereichert.
Die Welt ist nicht qualitativ anders geworden. Sie ist größer geworden.
Eine vorwissenschaftliche Welt ist qualitativ nicht anders als eine wissen­
schaftliche Welt. Das Mittelalter ist im Vergleich zur Moderne eine kleinere
und nicht eine qualitativ andere Welt. Die moderne Welt ist enorm viel
größer geworden und besteht aus viel mehr Hybriden einer bestimmten
Art. Als Mischwesen bestehend aus Materie und Form ist jedes Zeichen
ein Hybride und jeder Hybride ist ein Zeichen. Der Pedokomparator ist ein
Mischwesen, ein Hybride wie das Zeichen Saussures, bestehend gleicher­
maßen aus Materie und Gedanke. Dies gilt für jedes Glied der prinzipiell
unendlichen Kette. Das semiotische Modell erfährt durch die ANT eine
radikale Erweiterung über die Linguistik hinaus. Die Zeichensysteme der
Semiotik werden in der ANT zu realen Netzwerken, deren Positionen und
30 1 ANDREA ßELLIGER UND DAVID KRIEGER

Werte den Status abstrakter Strukturen verlieren und zu Akteuren und


Vermittlern werden, die durch verschiedenste Verhandlungsprozesse
entstehen, sich stabilisieren, verschieben und wieder auflösen.

Menschliche und nicht-menschliche Akteure

Die Rede von der »Fabrikation von Wissen« (Knorr-Cetina 1984) bzw. der
»Konstruktion von Tatsachen« (Latour/Wolgar 1979), die in der Wissen­
schaftsforschung als Schlagworte des Sozialkonstruktivismus gelten, legt
die Betonung auf das menschliche Handeln. Es sind die Forscher gewesen,
die den Urwald außerhalb von Boa Vista Schritt für Schritt auf eine Tabelle
in einem wissenschaftlichen Bericht reduzierten. Jeden Schritt des Weges
haben die Menschen sorgfältig geplant und bewusst durchgeführt. Der
Mensch ist in diesem Drama der einzige Akteur. Der Urwald, die Bäume,
das Gebüsch der Savanne, die Erde, der Pedokomparator, alle taten selber
nichts. Am Ende der Kette der Vermittlungen ist der Urwald der gleiche
wie am Anfang, nur h�ben die Menschen ihm seine Geheimnisse wegge­
nommen, ihn .entblößt und so gezeigt, wie er >wirklich< ist. Diese Annah­
men beruhen auf der »Übereinkunft der Modeme«, die eine zeitlose Natur
außerhalb der Gesellschaft, die ihrerseits aus freien Handlungssubjekten
besteht, postuliert. In vielen Studien hat die ANT den Akteurbegriff auf
Nichtmenschen erweitert und der Natur ihre Historizität und Sozialität
zurückgegeben (Callon 1986a, vgl. »Die Soziologie eines Akteur-Netz­
werks«; Callon 1986b, vgl. »Einige Elemente einer Soziologie der Überset­
zung«; Latour 1983, vgl. »Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die
Welt aus den Angeln heben« - alle in diesem Band). Dies soll kurz anhand
Latours Arbeiten über Pasteurs Entdeckung der Milchsäurehefe verdeut­
licht werden (1983, vgl. »Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die
Welt aus den Angeln heben« in diesem Band).
Es handelt sich um einen wissenschaftlichen Schlussbericht, den Pas­
teur über die Entdeckung einer eigenen Hefe der Milchsäuregärung 1858
verfasste. Am Anfang des Berichtes hat die Milchsäuregärung keine identi­
fizierbare Ursache. Die herrschende zeitgenössische Meinung erklärte
Gärung als chemische Reaktion ohne Mitwirkung von Mikroorganismen.
Am Ende des Berichtes tritt die Hefe als eigenständige Entität hervor, die
allein für die Gärung verantwortlich ist. Es handelt sich um die » Emergenz
eines neuen Akteurs« (Latour 2000: 143) aus einer »Reihe bemerkenswer­
ter Transformationen«, die anders als bei den Forschem in Boa Vista nicht
Dinge in Zeichen verwandelten, sondern aus etwas, das vorher kein Ding
war, das nicht einmal einen Namen hatte, einen der bedeutendsten Akteu­
re der Wissenschaftsgeschichte machten. Der Bericht beschreibt, wie Pas­
teur in seinem Labor die Existenz und Eigenschaften der Hefe >entdeckte<.
Der erste Schritt hält lediglich eine Reihe von Beobachtungen über Milch-
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 31

säuregärung fest. Beobachtet werden »Flecken eines grauen Stoffes«, der


eine »Schicht« bildet, der »schleimig« ist und unter dem Mikroskop aus
»Kügelchen« zu bestehen scheint. Es gibt keinen Mikroorganismus hier,
nicht einmal eine einheitliche Substanz, die für alle die verschiedenen
Beobachtungen verantwortlich wäre. In einem zweiten Schritt findet eine
Reihe von Laborversuchen statt, deren Ziel es ist, die charakteristischen
Tätigkeiten des möglichen Wesens, das für die beobachteten Phänomene
verantwortlich sein könnte, zu beschreiben. Daraus ergeben sich, dass der
noch nicht identifizierte Stoff in Flüssigkeit ausgesät werden kann, dass er
die Flüssigkeit trübt, dass er einen Niederschlag bildet, dass er Gas erzeugt,
Kristalle bildet und schließlich zähflüssig wird. Diese Eigenschaften be­
schreiben die »Performanz« eines noch nicht identifizierten Akteurs. Sie
sind »Aktionsnamen« (ebd.: 145), ohne dass ein Ding vorhanden wäre, das
die »Kompetenz« hätte, diese Tätigkeiten auszuführen. Welches Wesen hat
die Kompetenz, so zu agieren? · Pasteur unterzieht den Stoff allerhand
Versuche und Prüfungen, damit er ldare Konturen und Eigenschaften
zeigt.
In diesem Prozess wird das Charakteristische an Laborversuchen sicht­
bar. Laborversuche zielen darauf, etwas durch seine Performanz, seine
Handlungen zu definieren. Dies verlangt, dass alle möglichen Situationen,
Anlässe, Herausforderungen und Prüfungen angestellt werden, um die
Leistungen eines Akteurs sichtbar zu machen. Die Leistungen zeigen sich
darin, wie ein Akteur auf andere Akteure wirkt, wie er sie verändert, trans­
formiert oder hervorbringt. Laborversuche sind komplex und vielschichtig.
Zwei entgegengesetzte Epistemologien und mindestens drei verschiedene
Ebenen sind involviert. Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist das Ergebnis
eines Versuches - das wissenschaftliche Faktum - einerseits aus dem
Handeln des Wissenschaftlers und andererseits aus dem Handeln des
Gegenstandes entstanden. Tatsachen brauchen eine Theorie, die sagt, was
sie überhaupt zu bedeuten haben, eine Theorie, die in der Gesellschaft, der
Geschichte, der Situation und der Persönlichkeit des Forschers gründet.
Die Theorie leitet q.en Wissenschaftler bei der Versuchsanordnung. Pasteur
sät aus, kocht, filtert, ändert den Nährboden, isoliert Stoffe und vieles
mehr. Trotzdem soll es nicht Pasteur sein, der im Experiment eine Per­
formanz und eine Kompetenz zeigt, sondern die Hefe. Wenn der Versuch
nur etwas über Pasteur zeigen würde, z.B. seine Geschicklichkeit, dann
würde es sich nicht um Wissenschaft handeln. Um Wissenschaft zu sein,
muss der Versuch zugleich konstruiert und nicht konstruiert sein. »Pas­
teur handelt, damit die Hefe von sich aus handelt.« (Ebd.: 157) Schaut man
auf Pasteur und alles, was er tut, ergibt sich eine konstruktivistische Er­
kenntnistheorie. Schaut man dagegen auf die Hefe und alles, was sie tut,
ergibt sich eine realistische Erkenntnistheorie. Beide Erkenntnistheorien
sind zugleich wahr und falsch. Es gibt eine
1
32 1 ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

»unmögliche Antinomie: dass Fakten einerseits experimentell gemacht sind und


ihrem künstlichen Rahmen niemals entkommen können, dass es andererseits
jedoch wesentlich ist, dass Fakten nicht zurechtgemacht sind und dass etwas nicht
bloß von Menschen Gemachtes auftaucht« (ebd.: r5r).

Die Versuchsanordnung zielt darauf, die möglichen Leistungen des Ak­


teurs zu fixieren. Aus allen erdenklichen Wirkungen bleiben am Ende der
Versuchsreihe nur noch einige übrig. Man weiß, was die Hefe kann und
was sie nicht kann. Es findet eine »Simplifikation im Medium der Kausali­
tät« (Luhmann 2003: 97) statt, die - wenn die Hefe in einen Funktionszu­
sammenhang wie z.B. eine Käserei eingebunden wird - Technik ergibt
Ein wissenschaftliches Experiment besteht aus mindestens drei ver­
schiedenen Ebenen, die zwar analytisch getrennt werden können, aber nur
zusammen einen Laborversuch ausmachen. Erstens gibt es die Theorie.
Jedes Experiment wird von einer Theorie geleitet, die aus einer bestimmten
Perspektive und aufgrund bestimmter Annahmen erzählt, das etwas so ist,
weil es so agiert, d.h. das etwas eine Kompetenz hat, die durch eine Per­
formanz definiert wird. Zweitens gibt es verschiedene A,nordnungen und
Einrichtungen von den unterschiedlichen Dingen im Labor. Eine künstli­
che Welt wird aufgebaut, worin der Akteur Prüfungen unterworfen wird,
damit er Leistungen zeigen kann. Schließlich muss das Ganze durch eine
Kette von Vermittlungen in einem wissenschaftlichen Text, einen Bericht
zusammengefasst werden, damit andere Wissenschaftlerinnen und Wis­
senschaftler bestätigen können, dass alles >unabhängig< der Wünsche und
der Phantasie des Forschers stattgefunden hat. »Ein Experiment ist ein
Text über eine nichttextuelle Situation, der später von anderen gestestet
wird, um zu entscheiden, ob es bloß ein Text war oder mehr ist.« (Ebd.:
150) Wenn der Text mehr ist als Phantasie, dann ist der Autor nicht nur der
Forscher. Die Ergebnisse dürfen nicht allein von den am Versuch beteilig­
ten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern stammen. In unserem
Beispiel sind die Autoren des Berichtes Pasteur und auch die Hefebakte­
rien. Dank der Versuche tritt die Hefe aus der ontologischen Unbestimmt­
heit heraus und erscheint als Akteur auf der Bühne des Labors; als Akteur,
der sich selbst durch eigene Leistungen identifiziert. Zudem verändert die
Hefe durch ihre Performanz das Leistungsprofil, die Identität und somit
auch den ontologischen Status von Pasteur. Der Wissenschaftler wird erst
dann wirklich Wissenschaftler, wenn wenigstens einige Versuche gelingen
und die Kollegen dies bestätigen können. Latour fasst zusammen: »Wie
artifiziell der Aufbau des Experiments auch sein mag, etwas Neues muss
unabhängig von der experimentellen Anordnung auftauchen, emergieren,
oder das ganze Unternehmen war umsonst.« (Ebd.: 151) Der Begriff
»Emergenz« ist in diesem Zitat nicht zufällig, denn es handelt sich um das
Entstehen von etwas, ohne das dieses Wesen von den in das Experiment
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 33

hineingebrachten Elementen abgeleitet werden könnte. Es handelt sich um


das, was Latour ein Ereignis nennt:

»Kein Ereignis lässt sich durch die Liste der Elemente erklären, die vor seinem
Abschluss in die Situation eingingen. [...] Bei der Aufstellung einer solchen Liste
sind die Akteure nicht mit der Kompetenz begabt, die sie im Verlauf des Ereignisses
erwerben werden.« (Ebd.: 152)

Etwas ist entstanden, das vorher nicht da war, und das, was vorher da war,
hat sich verändert. Dies gilt für den Wissenschaftler, die Gesellschaft, und
schließlich auch für die Natur. Weder die Natur noch die Gesellschaft
bleiben durch die Wissenschaft unberührt. Beide -teilen eine Geschichte,
und in dieser Geschichte haben auch die nichtmenschlichen Akteure ihre
Rollen zu spielen.
Der Alcteur- bzw. Aktantenbegriff, der an dieser Stelle eine Schlüsselrol­
le in der ANT spielt, stammt aus der strukturellen Semantik bzw. struktu­
rellen Narratologie Greimas' (1971). Wichtig für das Verständnis der ANT
ist weniger die genaue Definition dieses Begriffes in der Narratologie als
vielmehr sein Stellenwert im grundlegenden semiotischen Modell. Um die
Bedeutung dieses Begriffes zu verstehen, ist es hilfreich weiter auszuholen
und das semiotische Modell etwas genauer zu betrachten. Wie oben er­
wähnt, ist das semiotische Modell eine Sinntheorie, welche Sinn in Diffe­
renz, Unterscheidung und Relation begründet. Die Katze ist, was sie ist,
weil sie kein Hund, kein Vogel usw. ist. Sinn ergibt sich aus den differenti­
ellen Beziehungen der Zeichen in einem Zeichensystem. Die Welt, wie
Heidegger im Anschluss an Husserl und im Einklang mit dem Sprachbe­
griff von Saussure formulierte, ist ein »Verweisungszusammenhang«
(Heidegger 1977: roo).
Luhmann übernimmt diesen Sinnbegriff und legt ihn der Theorie
sozialer Systeme zugrunde:

»Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen
auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Etwas steht im Blickpunkt,
im Zentrum der Intention, und anders wird marginal angedeutet als Horizont für
ein Und-so-weiter des Erlebens und Handelns.« (Luhmann 1984: 92)

Der durch die Negation eröffnete Horizont an möglichem Anders-sein­


Können lässt sich systemtheoretisch als Kontingenz definieren. Die Welt
ist kontingent. Sie muss nicht so sein, wie sie ist. Es gibt einen unendli­
chen Horizont an Möglichkeiten des Und-so-Weiters. Katzen können vieles
sein und auch vieles tun. Dies gilt natürlich auch für die Hefe. Aus allen
möglichen Verweisungen bzw. Wirkungen, die von etwas ausgehen kön­
nen, kann nicht alles zugleich aktualisiert werden. Die Kontingenz der
34 1 ANDREA ßELLIGER UND DAVID KRIEGER

Welt führt zum Selektionszwang. Will man etwas über Katzen oder Hefe
sagen, muss man wählen. Wollen Katzen und Hefe überhaupt etwas
Bestimmtes sein - und nicht alles zugleich -, müssen sie wählen. Selek­
tion reduziert Komplexität und schafft Ordnung aus Chaos. Selektion
macht die Welt einfacher, denn man weiß - Pasteur sei Dank-, dass ein
bestimmter Mikroorganismus die Milchsäuregärung verursacht und nicht
alle anderen nur erdenklichen Wirkungen hervorbringt. Dieses Wissen ist
eine Selektion aufgrund der Performanz der Hefe. Selektion kann als eine
Handlung betrachtet werden. Eine Unterscheidung wird eingeführt. Han­
deln artikuliert die Welt. Handlungen sind ihrerseits zuschreibungsbedürf­
tig. Etwas führt einen Unterschied in die Welt ein. Etwas handelt. In der
Regel werden Handlungen Akteuren zugeschrieben. Der Aktantenbegriff
in der Narratologie von Greimas bezeichnet auf der abstrakten Ebene der
Tiefenstruktur von Sinn ein Selektionsereignis, eine Transformation oder
Bewegung von etwas zu etwas anderem. Die sprachliche Beschreibung
dieser Bewegung hat immer die Form einer Erzählung. Aus dieser Per­
spektive wird es verständlich, dass die ANT wissenschaftliche Theorien,
welche Selektionsgeschehnisse beschreiben, als narrative Konstruktionen
betrachtet. Es wird auch ersichtlich, weshalb die ANT auf die Idee kommt,
die Ursachen von Wirkungen als Akteure zu bezeichnen. Akteure ergeben
sich aus der narrativen Notwendigkeit, Geschehnisse einem Agenten zuzu­
rechnen. Ob es sich bei einem wissenschaftlichen Bericht um eine >wahre<
Geschichte handelt, hängt davon ab, ob die Akteure die Rollen, die ihnen
zugeschrieben werden, erfüllen oder nicht. Verhält sich die Ursache der
Milchsäuregärung wie eine Pflanze oder wie eine chemische Reaktion?

»Zuerst besteht die Entität aus flottierenden Sinnesdaten, dann wird sie als Ak­
tionsname verstanden und schließlich in ein organisches, pflanzenähnliches Lebe­
wesen verwandelt, das einen Platz in einer feststehenden Taxonomie einnimmt.«
(Latour 2000: r47)

Kehren wir zur zirkulierenden Referenz und den Forschern im Amazonas


zurück. Jedes Mal, wenn eine Transformation in der Kette von Vermittlun­
gen stattfindet - die Vermessung des Urwaldes, die Auslegung des Plan­
quadrates, das Entnehmen der Bodenproben usw. -, zeigt sich etwas, das
vorher nicht da war. Etwas geschieht. Es geschieht ein Planquadrat, eine
Sammlung von Bodenproben, eine Anordnung in einem Pedokomparator,
eine gezeichnete Tabelle - und schließlich entsteht ein Schlussbericht in
Form einer Erzählung. Aus der Sicht der ANT sind alle diese Vermittler
auch als Akteure zu betrachten. Sie tun etwas, wie die Hefe auch etwas
getan hat. Der Akteurbegriff der ANT ist kontrovers. Im Rahmen der Luh­
mann'schen Systemtheorie ist es z.B. nicht korrekt, in diesem Fall von
Handeln zu sprechen. Dass >etwas< geschieht, wird dem Erleben und nicht
dem Handeln zugeschrieben. Eine Handlung liegt dann vor, wenn jemand
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 35

etwas tut. Wenn etwas geschieht, dann wird dies Erleben genannt. Bei der
Expedition in den Amazonas waren es die Forscher und nicht der Urwald,
die gehandelt haben. Den Urwald oder den Pedokomparator als Akteur zu
betrachten, wäre anthropomorphisierend. Das Prinzip der »methodologi­
schen Symmetrie« der ANT, gemäß der Erlebtes einem Handeln zuge­
schrieben wird, scheint die Anschlussfähigkeit der ANT an gegenwärtige
soziologische Grundlagentheorien gravierend zu beeinträchtigen. Dies
führt zur Frage: Wo liegt der theoretische Mehrwert der Aufhebung der
Unterscheidung zwischen Erleben und Handeln; eine Unterscheidung, die
die Trennung von Subjekt und Objekt ermöglicht und dem Menschenbild
der Modeme zugrunde liegt? Eine erste Antwort auf diese Frage ist die
Feststellung, dass der ANT zufolge Intentionalität, Freiheit und psychische
Innerlichkeit nicht mehr als notwendige Eigenschaften eines Akteurs
gelten. Die Hefe muss nicht Selbstbewusstsein, einen freien Willen und
Intentionen besitzen, um ein Akteur zu sein. Und wenn die Hefe diese
Eigenschaften nicht braucht, sind die Menschen ebenfalls entlastet. Die
ANT schafft Freiraum für ein neues Menschenbild und bietet zugleich
Anschlussmöglichkeiten an eine Reihe von Theorien, die Systemtheorie
inbegriffen, welche das autonome rationale Subjekt der Modeme in Frage
stellen.
Zweitens ebnet die von der ANT geforderte Symmetrie menschlicher
und nicht-menschlicher Akteure den Weg, den für die Sozialwissenschaf­
ten unentbehrlichen Begriff der Kommunikation neu zu bestimmen.
Wenn Luhmann behauptet, die Gesellschaft bestehe aus Kommunikatio­
nen - und nicht aus Menschen - und damit den Anspruch verlmüpft, bei
der Grundlegung einer Sozialwissenschaft die alteuropäischen Subjekt­
und Handlungstheorien umgangen zu haben, macht er sich die Aufgabe
nicht leicht, insofern sein Kommunikationsbegriff auf Menschen zuge­
schnitten ist. Hinter der Definition von Kommunikation als Synthese der
dreifachen Selektion von Mitteilung, Information und Verstehen (Luh­
mann 1984: 191ff.) steht die traditionelle Situation von Face-to-Face-Kom­
munikation, bei der jemand jemandem etwas in irgendeiner Art und Weise
mitteilt. Verstehensselektion bedeutet lediglich, dass der Empfänger weiß,
mit wem er über was und wozu spricht. Dies vorausgesetzt kann eine
Kommunikation zur nächsten führen oder wenigstens kann danach gefragt
werden. Die Kette der Kommunikationen mag autopoietisch und selbstre­
ferentiell sein, aber sie verlangt trotzdem Handlungszuschreibungen, denn
jemand muss etwas mitgeteilt haben, wenn Kommunikation in Gang
kommen soll. Kommunikationen entstehen zwar nur aus Kommunil<atio­
nen, aber der Luhmann'sche Kommunikationsbegriff macht es schwierig
zu sagen, Kommunikation kommuniziere (Luhmann 1990: 31). Heidegger
(1975: 12) hatte es da leichter mit der Aussage, »die Sprache spricht«, da für
Heidegger die Sprache nicht an die Unterscheidung zwischen Mitteilungs­
und Informationsselektion gebunden war. Da Kommunikation nach Luh-
36 1 ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

mann »das Prozessieren [...] der Unterscheidung von Information und


Mitteilung« ist (Luhmann 1990: 21), und weil Mitteilungen einem Hand­
lungssubjekt zugerechnet werden müssen, stellt Luhmann als Platzhalter
für den abwesenden Menschen im sozialen System »Personen« ein (ebd.:
33).
In der Theorie sozialer Systeme sind es Personen, die kommunizieren.
Diese Handlungszurechung ist zwar nötig, jedoch irreführend, denn Per­
sonen sind nicht die Ursachen von Kommunikationen, sondern deren
Wirkungen. Personen sind Konstrukte des Kommunil<ationssystems. Wie
Pasteurs Hefe kristallisieren sie aus dem Fluss der Kommunikationen und
bleiben gleichsam als Rückstand am Rande des Gesellschaftssystems kle­
ben. Was immer kommuniziert, ist eine Person. Was nicht Kommunika­
tion ist, inklusive psychische Intentionalität und Technik, wird in die Um­
welt der Gesellschaft verbannt. Die System-Umwelt-Differenz wiederholt
an dieser Stelle die moderne Trennung zwischen Natur, Gesellschaft und
Psyche. Nichtsdestoweniger ist die Systemtheorie viel freier in der Zu­
schreibung von Handlungen als die traditionellen Handlungstheorien, die
von der Intentionalität individueller Subjekte ausgehen. Der Luhmann'sche
Personenbegriff ist nicht notwendigerweise an menschliche Individuen
oder Intentionalität gebunden: »Personen sind [...] Strukturen der Auto­
poiesis sozialer Systeme, nicht aber ihrerseits psychische Systeme oder gar
komplette Menschen.« (Ebd.: 33) Der Vorwurf der Anthropomorphisierung
an die Adresse der ANT und die Diskussionen, ob es letztlich nicht doch
die Menschen sind, die für die Dinge sprechen (Collins/Yearley 1992;
Gingras 1995), fallen hinter die Differenzierungen, die bereits von der
Systemtheorie erreicht wurden, zurück. Ebenso unbefriedigend sind »gra­
dualisierte Handlungsbegriffe« (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002: 48),
welche versuchen, maschinelles Handeln entlang einer graduierten Inten­
tionalitätsskala von menschlichem Handeln zu unterscheiden, da Intentio­
nalität ein psychisches Phänomen ist, das nicht zum sozialen System ge­
hört. Die Luhmann'sche Person könnte ebenso gut Hefe oder ein Roboter
sein - vorausgesetzt, die entsprechende soziale Rolle ist dafür vorhanden:

»Wer oder was als Person zählt, ist jeweils abhängig von dem kohärenten Fungieren
entsprechender Bezeichnungen im System der Gesellschaft und insbesondere von
der Art und Weise, mit der die Gesellschaft Inklusionsprobleme löst.« (Luhmann
1990: 34)

Ob die Hefe Pasteur etwas über ihre Beschaffenheit und ihre Kompetenzen
»mitteilt« und somit als Person, d.h. als Akteur in die Gesellschaft einbe­
zogen wird, ist für die Luhmann'sche Systemtheorie wenigstens eine Op­
tion. Auf Basis dieser Offenheit könnte das von der ANT beschriebene
»Kollektiv« von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren durchaus
Anschluss an die Systemtheorie finden. Statt eine Provokation und eine
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE J 37

unzulässige Anthropomorphisierung darzustellen, könnte die Akteur­


Netzwerk-Theorie die Selbstbeschreibung einer »emergenten« technisier­
ten Gesellschaft sein. Die Selbstorganisationsdynamik der Gesellschaft
konstruiert die Akteure, die sie braucht. Die moderne Gesellschaft brauchte
rationale, autonome Subjekte, freie Bürger, die die Aufgabe der Selbstbe­
stimmung durch das Abschließen von Sozialverträgen auf sich genommen
haben. Die globale Wissensgesellschaft braucht vielleicht andere Akteure;
solche, die fähig sind, heterogene Verbindungen einzugehen, multiple
Rollen zu spielen und flexible Netzwerke ohne Rekurs auf fixierte persönli­
che, soziale und kulturelle Identitäten zu bilden. Wenn die historische
Dynamik sozialer Evolution mittels gesellschaftlichen Selbstbeschreibun­
gen laufend Identitäten, Rollen und Funktionen zur Selektion bereitstellt,
und wenn die ANT die Funktion einer solchen Meta-Erzählung erfüllt,
dann erhält der Akteurbegriff einen anderen theoretischen Stellenwert. Die
Gesellschaft, wie sie sich selbst in der ANT beobachtet und beschreibt, ist
nicht eine Gesellschaft, die über eine außergesellschaftliche Technik, z.B.
in Form von Risikokommunikation (Japp 1998; Luhmann 2003), kommu­
niziert, sondern sie ist eine Gesellschaft, in der Technik zusammen mit
den Menschen selbstreferentiell über das heterogene Kollektiv, das sie
beide bilden, kommuniziert. Indem die ANT die nicht-menschlichen Ak­
teure sprechen lässt, erzählt sie eine neue Geschichte: eine Geschichte von
heterogenen Akteuren und Netzwerken, die sich durch kommunikative
Prozesse, welche unter dem Begriff» Übersetzung« zusammengefasst sind,
quer zu allen gesellschaftlichen Funktionssystemen bilden.

Übersetzung und Netzwerk

Das von der ANT einberufene »Parlament der Dinge« (Latour 2001) setzt
deren »Sozialisierung« voraus. Werden nicht-menschliche Akteure zu
Mitgliedern der Gesellschaft, müssen sie soziale Leistungen erbringen.
Insofern das Soziale als das Kommunikative verstanden wird, entsteht die
Frage: Wie kommunizieren die Dinge? Welche Sprache sprechen sie? Die
ANT fasst soziale Kompetenz viel breiter als die Systemtheorie, welche das
Soziale auf eine Selektionsleistung von Mitteilung, Information und Ver­
stehen reduziert. Das Modell des Labors zeigt, dass ein Akteur durch eine
Reihe von Prüfungen bestimmte Leistungen im Sinne einer Performanz
zeigen muss. Wie bei der Hefe - und bei Pasteur auch - werden Kompe­
tenzen durch eine Reihe von Prüfungen ausgewiesen. Die ANT betrachtet
die Welt aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung, indem sie die
Welt zu einem Labor macht, in dem alle Akteure durch eine Art Versuchs­
anordnung herausgefordert werden, Leistungen durch Prüfungen zu
zeigen. Die Verallgemeinerung des Modells wissenschaftlicher Praxis auf
das Soziale bedeutet, dass das Soziale als das Inszenieren und das Beste-
38 1 ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

hen von Prüfungen, von Versuch und Irrtum verstanden wird. Statt von
Versuchsanordnungen zu sprechen, führt die ANT den Begriff des »Hand­
lungsprogramms« ein (Akrich/Latour 1992, vgl. »Zusammenfassung einer
zweckmäßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und nicht­
menschlicher Konstellationen« in diesem Band). Handlungskompetenz
wird demzufolge fast ausschließlich in Begriffen beschrieben, die aus dem
Bereich des strategischen bzw. instrumentellen Handelns stammen. Dies
hat der ANT den Vorwurf einer unzulässigen Verengung des Handlungs­
begriffes eingebracht (Degele 2002: 140). Akteure erscheinen immer im
Rahmen von Funktionszusammenhängen: Wenn bestimmte Bedingungen
oder Situationen vorhanden sind, dann agieren Akteure so. Im Rahmen
eines Handlungsprogramms werden Akteuren Rollen zugewiesen. Die
Zuweisung von Rollen wird in der Terminologie der ANT als »Überset­
zung« bezeichnet. Übersetzung ist ein komplexer Prozess, der aus einer
Reihe von verschiedenen kommunikativen Handlungen besteht, die alle
den Zweck verfolgen, ein Netzwerk zu konstruieren. An die Stelle der
autopoietischen Verkettung von Kommunikationen tritt das Netzwerkbil­
den. Akteure agieren in Netzwerken -wie die Hefe im Labor Pasteurs. Wie
die Hefe nur dadurch in Erscheinung treten konnte, dass ihr durch eine
bestimmte Versuchsanordnung (Pasteurs Handlungsprogramm - eine
bestimmte Rolle: jene der Pflanze) zugewiesen wurde, so treten soziale
Akteure nur durch Rollenzuweisungen, die ihnen aufgrund von Hand­
lungsprogrammen und Übersetzungen zugerechnet werden, in Erschei­
nung. Die ANT ist demzufolge eine Soziologie der Übersetzung und der
Netzwerkbildung:

» Unser allgemeines Symmetrieprinzip bedeutet damit nicht, zwischen natürlichem


Realismus und sozialem Realismus abzuwechseln, sondern Natur und Gesellschaft
beide als Resultat einer anderen Aktivität zu verstehen, die für uns interessanter ist.
Wir nennen sie Netzwerkbilden oder Kollektiv[...].« (Callon/Latour 1992: 348, Über­
setzung der Hg.)

Wie konstruieren Akteure Netzwerke mittels Übersetzungen? Welche


Formen kommunikativer Handlungen führen zur Entstehung, Transfor­
mation und Auflösung von Netzwerken? Was müssen Akteure sein, damit
sie in Netzwerken eingebunden werden können?
Netzwerke entstehen mittels Interaktionen, Transaktionen, Aushand­
lungen und Vermittlungen zwischen menschlichen und nicht-menschli ­
chen Akteuren, die im Laufe dieser Prozesse bestimmte Rollen und Funk­
tionen annehmen und ausführen. Die Interaktionen zwischen Akteuren
sind in oft entgegengesetzten Handlungsprogrammen eingebunden.
Kommunikation zwischen Akteuren kann demzufolge als das Aushandeln
eines »Interessenausgleiches« betrachtet werden. Kommunikative Hand­
lungen, die darauf zielen, Akteuren Rollen und Funktionen aufgrund eines
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 39

Interessenausgleiches zuzuschreiben, werden in der ANT als »Überset­


zung« verstanden. Der Begriff wurde von Michel Callon (1980) aus den
Schriften von Michel Serres (1974) übernommen. Übersetzung ist der
dauernde Versuch, Akteure in ein Netzwerk einzubinden, indem sie in
Rollen und Interessen »übersetzt« werden (Latour 1987), d.h. indem ihre
Interessen angeglichen und gemeinsam ausgerichtet werden. Übersetzun­
gen in irgendeiner Form ermöglichen kooperatives Handeln, da solches
Handeln gemeinsame Ziele und Interessen voraussetzt. Aus der Sicht der
Systemtheorie ermöglichen Übersetzungen das, was der Kommunikation
zugestanden wird: die Selektion und Relationierung der Systemelemente,
die Emergenz von Strukturen, die Abgrenzung des Systems gegenüber der
Umwelt und das selbstreferentielle Operieren des Systems. Im Gegensatz
zur Systemtheorie ist der Übersetzungsprozess jedoch der Mechanismus,
durch den die soziale und die natürliche Welt zugleich fortschreitend Form
annehmen (Callon 1986b, vgl. den Beitrag »Einige Elemente einer Soziolo­
gie der Übersetzung« in diesem Band). Übersetzungen beinhalten all das,
was ein Akteur tut, um andere Akteure zu beeinflussen und in das eigene
Handlungsprogramm einzubinden. Durch Übersetzungen entstehen Iden­
titäten, Eigenschaften, Kompetenzen, Qualifikationen, Verhaltensweisen,
Institutionen, Organisationen und Strukturen, die nötig sind, um ein
Netzwerk aus relativ stabilen, irreversiblen Prozessen und Abläufen zu
bilden (vgl. Callon 1986b: 203, 1991: 143).
Übersetzung ist gegenseitig, multilateral, verteilt und als Netzwerkdy­
namik zu verstehen, nicht als intentionale Strategie individueller Subjekte.
In der Terminologie der Systemtheorie sind Übersetzungen die Letztele­
mente des sozialen Systems und können nicht aus den Intentionen von
Subjekten abgeleitet werden. Auch wenn die Handlungsprogramme indi­
vidueller Akteure Übersetzungen leiten und Akteure davon ausgehen, dass
sie ihren eigenen Interessen nachgehen, sind diese Akteure und ihre
Handlungsprogramme selbst das Ergebnis von Verhandlungen, Verschie­
bungen und Anpassungen, kurz: Der Akteur ist eine Konstruktion, ein
Hybride bestehend aus mehr oder weniger verschiedenartigen Elementen.
Jeder Akteur und jedes Netzwerk ist aufgrund von Übersetzungen entstan­
den. Übersetzungen konstruieren das Soziale. In Übersetzungsprozessen
werden Interessen und Ziele angenommen, verändert, angepasst und in
Handlungsprogramme eingebunden, welche ihrerseits modifiziert, in
konkurrierende Handlungsprogramme aufgenommen oder im Laufe der
Netzwerkbildung völlig ausgeschaltet werden. Durch Übersetzungen wer­
den Koalitionen gebildet oder aufgelöst, Akteure neu eingeführt, umdefi­
niert oder aus dem Netzwerk entfernt (vgl. Callon 1986b: 2nff.; Latour
1987: ro8ff., 1992: 247). Der komplexe Kommunikationsprozess der Über­
setzung kennt vier Momente oder Phasen, die multilateral und mehrstufig
sind: die Problematisierung, das Interessement, das Enrolment und die
Mobilisierung.
40 1 ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

Problematisierung

Netzwerkbildung beginnt dort, wo ein Problem empfunden wird. Die


Expedition nach Boa Vista ist aus der Sorge um die Verdrängung des Ur­
walds durch die Savanne entstanden. Pasteur war unzufrieden mit der
Erklärung der Milchsäuregärung seitens der Chemie seiner Zeit. Proble­
matisierung ist das erste Moment der Übersetzung, weil jedes Handeln ein
Problem lösen will. Problembewusstsein führt alleine nicht zur Bildung
von Netzwerken. Das Problembewusstsein muss geteilt werden. Andere
müssen das Problem als solches ebenfalls empfinden und zu einem eige­
nen Problem machen, bevor kooperatives Handeln möglich wird. Dabei
geht es darum, gemeinsame Definitionen und Deutungen zu konstruieren.
Der übersetzende Akteur definiert ein Problem so, dass andere es als ihr
Problem akzeptieren. Der Hauptakteur identifiziert andere Akteure, die in
das Netzwerk eingebunden werden sollen und versucht sie dann zu über­
zeugen, dass die Lösung ihrer Probleme in seinem Handlungsprogramm
liegt. Der übersetzende Akteur benutzt alle möglichen Mittel, um die ande­
ren Akteure zu überzeugen, dass sie das Gleiche wollen.

lnteressement

Interessement ist das zweite Moment des Übersetzungsprozesses. Nach­


dem ein gemeinsames Problembewusstsein entstanden ist, stellt sich die
Frage, wer nun was tut, um das Problem zu beheben. Kooperatives Han­
deln ist immer Rollenverteilung. Der Akteur, dessen Handlungsprogramm
als Beschreibungsperspektive gewählt wurde, versucht, Identitäten, Funk­
tionen und Rollen für sich selbst und die anderen Akteure zur Geltung zu
bringen. Die anderen Akteure sollen sich für ihre neuen Rollenzuschrei­
bungen interessieren und die Definition ihrer Funktionen akzeptieren
(Callon 1986b). Insofern die anderen Akteure ihre Rollen und Funktionen
anpassen, beginnen sich schon vorhandene Netzwerke, in die sie einge­
bunden sind, aufzulösen. Die Akteure werden in einem neuen Netzwerk
eingebunden, alte Netzwerke verschieben sich oder werden ersetzt. Das
Interessement zielt darauf, Akteure zu Verbündeten zu machen und Alli­
anzen zu schmieden.

Enrolment

Die Entstehung des zunächst hypothetischen Netzwerks von Allianzen


hängt davon ab, ob die beteiligten Akteure die ihnen zugeschriebenen
Rollen auch tatsächlich übernehmen. Pasteur kann vieles von der Hefe
erwarten. Ob diese Erwartungen jedoch tatsächlich erfüllt werden, hängt
nicht von Pasteur ab, sondern von der Hefe. Wenn Al<teure sich rekrutie­
ren lassen, werden sie von Opponenten zu Verbündeten. Sie handeln im
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 41

Interesse des übersetzenden Akteurs. Der Übersetzungsprozess kann aber


nur erfolgreich verlaufen und zur Bildung eines Netzwerkes führen, wenn
Enrolment reziprok ist (Latour 1999). Es binden sich nicht nur die über­
setzten Akteure ein, das Netzwerk funktioniert nur dann, wenn der über­
setzende Akteur selbst eine neue Rolle übernimmt. Die Verbindungen
eines Netzwerks »halten nur dann zusammen, wenn die verschiedenen
betroffenen Entitäten [...] die ihnen zugeschriebenen Rollen akzeptieren«
(Callon 1987: 93), wenn sie also den erforderlichen (Re-)Definitionen ent­
weder keinen Widerstand entgegensetzen oder dazu gebracht werden
können, ihren Widerstand aufzugeben, oder aber überhaupt außer Stande
sind bzw. gesetzt werden, sich ihnen zu entziehen (Singleton/Michael
1993). Enrolment ist ein Transformationsprozess, der alle im Netzwerk
betrifft.

Mobilisierung

Akteure treten in Transaktionen ein. Sie tauschen Zeichen, Dinge, Rollen,


Interessen mit allen möglichen Mitteln aus. Vermittler bzw. Vermittlungs­
instanzen sind das, was zwischen Akteuren ausgetauscht wird (z.B. Pro­
dukte, Texte, Geld, Leistungen usw.). Akteure bilden Netzwerke, indem sie
Vermittlungsinstanzen untereinander derart zirkulieren lassen, dass die
Positionen der Akteure im Netzwerk stabil werden. Die Vermittlungsin­
stanzen sind die »Sprache« des Netzwerkes. Durch Vermittlungsinstanzen
»übersetzen« Akteure ihre Intentionen in andere Akteure. Vermittlungs­
instanzen sind Vertreter, Fürsprecher, Delegierte - so wie z.B. der Pedo­
komparator delegiert wurde, den Boden zwischen Savanne und Urwald zu
repräsentieren. Als Vermittler spricht der Pedokomparator für den Boden.
Die gezeichnete Tabelle im wissenschaftlichen Schlussbereicht spricht für
den Pedokomparator. Wenn Zweifel über die Richtigkeit der Tabelle auftre­
ten, kann der Pedokomparator befragt werden. Die Messungen auf den
Instrumenten im Labor werden von der Hefe delegiert, für sie zu sprechen.
Wenn es sich herausstellen würde, dass die Messwerte nur auf Pasteur
zurückverfolgt werden könnten, dass Pasteur alleine dafür verantwortlich
wäre, bliebe die Hefe eine bloße Phantasie. Zirkulierende Referenz setzt
eine Kette von Delegationen voraus. Die Delegation von Vermittlern, die
Inskription von Information in Vermittler und ihre Verteilung und Stabili­
sierung im Netzwerk wird als Mobilisierung bezeichnet. Weil die Amazo­
nas-Expedition eine möglichst differenzierte und lange Kette solcher Ver­
mittler mobilisieren konnte, wird ihr Schlussbericht von den Kollegen
akzeptiert. Aufgrund des Berichtes könnten möglicherweise Maßnahmen
für den Schutz des Urwaldes ergriffen werden. Dies wird umso wahr­
scheinlicher, wenn das Netzwerk durch die Ergebnisse anderer Expeditio­
nen überall auf der Welt ergänzt wird, wenn Regierungen und NGOs in die
Netzwerke eingebunden, wenn Vorteile für die Wirtschaft erkennbar ge-
42 \ ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

macht werden können usw. Ein Netzwerk kann erst dann entstehen, wenn
Entitäten, die als Sprecher oder Delegierte für andere agieren, geschaffen
(Grint/Woolgar 1997) und wenn sie in möglichst großer Zahl mobilisiert
werden können.

Die Gesamtheit der Übersetzungsbemühungen eines Akteurs macht sein


Handlungsprogramm aus. Das durch Übersetzung entstandene Hand­
lungsprogramm verändert die beteiligten menschlichen und nicht-mensch­
lichen Akteure und Vermittler. Sie nehmen Identitäten, Funktionen und
Rollen an, die sie alleine nicht erfüllen könnten. Dies weist daraufhin, dass
Akteure auch Netzwerke sind. Akteure sind komplex. Übersetzung schafft
nicht nur Netzwerke, sondern hybride bzw. heterogene Akteure. Die kon­
struktivistische Funktion des Übersetzungsprozesses als Medium emer­
genter Eigenschaften illustriert Latour anhand des Beispiels einer Schuss­
waffe (Latour 1994, vgl. »Über technische Vermittlung: Philosophie, Sozio­
logie und Genealogie« in diesem Band). Einerseits heißt es bekanntlich,
»Schusswaffen töten Menschen« und andererseits wird gesagt, »Menschen
töten Menschen, nicht Schusswaffen«. Die erste Behauptung ist materialis­
tisch und technikdeterministisch. Die zweite Aussage ist eher sozialdeter­
ministisch, da die Waffe als neutrales Werkzeug in den Händen des Men­
schen betrachtet wird und somit selber nichts zur Handlung beiträgt. Beide
Behauptungen gehen an der Wirklichkeit der Beziehung zwischen Men­
schen und Artefakten vorbei. Beide Standpunkte verfehlen das hybride und
heterogene Wesen eines Akteurs. Auf der einen Seite ist es klar, dass die
Waffe nicht vollkommen neutral ist. Eine Schusswaffe ist nicht eine Blu­
me. Eingeschrieben in die Waffe sind eine eigene Struktur, ein eigenes
Programm und spezifische Möglichkeiten. »Jedes Artefakt hat sein Skript,
seinen Aufforderungscharal<ter, sein Potenzial, Vorbeikommende zu pa­
cken und sie dazu zu zwingen, Rollen in seiner Erzählung zu spielen.«
(Latour 1994: 31) Die Waffe tötet zwar nicht von selbst, der Mensch aber
hat vielleicht nur verletzen wollen und nun - mit der Waffe in der Hand -
will er töten. Das erste Handlungsprogramm, nämlich zu verletzen oder
vielleicht nur einzuschüchtern, ist durch die Waffe in ein anderes Hand­
lungsprogramm übersetzt worden. Der menschliche Akteur verschmilzt
mit der Waffe und wird zu einem anderen Akteur, einem »Waffen-Men­
schen« oder einer »Menschen-Waffe«. Die Übersetzung ist symmetrisch,
denn der Mensch ist ein anderer mit der Waffe in der Hand und die Waffe
ist eine andere in der Hand des Menschen:

»Die Waffe ist nicht länger die Waffe-im-Arsenal oder die Waffe-in-der-Schublade
oder die Waffe-in-der-Tasche, sondern die Waffe-in-der-Hand, die auf jemand
Schreienden gerichtet ist. Was für das Subjekt wahr ist, für den Schützen, ist genau­
so wahr für das Objekt, die gehaltene Waffe. Ein guter Bürger wird zum Kriminel­
len, ein schlechter Mensch wird sogar noch schlechter; eine stumme Waffe wird zur
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 43

abgefeuerten Waffe, eine neue zu einer gebrauchten, eine Sportwaffe zu einer


Schusswaffe.« (Ebd.: 33, Übersetzung der Hg., vgl. Beitrag »Über technische Ver­
mittlung« in diesem Band)

Die gegenseitige Übersetzung führt dazu, dass weder Mensch noch Waffe
allein handeln, sondern ein neuer Akteur zusammengesetzt aus Mensch
und Waffe. Der Akteur ist ein Hybrid-Akteur, ein Kollektiv, ein Netzwerk.
Da es nie Menschen ohne Technik gibt, ist davon auszugehen, dass Akteu­
re immer Hybriden sind, und dass jeder Akteur zugleich auch ein Netz­
werk ist.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie ist ein fraktales Modell, denn Netzwerke
bestehen aus Akteuren, die sich selbst aus heterogenen Elementen zu­
sammensetzen, d.h. Netzwerke sind. Es gibt keine einfachen Letztelemente
- weder auf der Seite des Sozialen noch auf der Seite der Natur und der
Materie. Wirldichkeit ist hybrid. Die zirkulierende Referenz, in der der
Urwald des Amazonas beschrieben wird, bildet eine Kette, die ihren An­
fang weder in der reinen Natur noch in der reinen Gesellschaft hat, die
vielmehr in der Mitte beginnt und in beiden Richtungen ins Unendliche
verläuft. In jeder Einheit steckt eine Vielheit an Elementen und Beziehun­
gen, die ein heterogenes Netzwerk ausmachen. Die ANT beschreibt weder
Objekte noch Subjekte, sondern Netzwerke von Hybriden:

»Personen sind die, die sie sind, weil sie aus einem strukturierten Netzwerk hetero­
gener Materialien bestehen. Wenn man mir meinen Computer, meine Kollegen,
mein Büro, meine Bücher, meinen Schreibtisch, mein Telefon nähme, wäre ich
kein Artikel schreibender, Vorlesungen haltender, >Wissen, produzierender Sozio­
loge mehr, sondern eine andere Person. [...] Ist ein Akteur primär aus dem Grund
ein Akteur, weil er oder sie einen Körper bewohnt, der Wissen, Kompetenzen, Werte
und vieles mehr beherbergt? Oder ist ein Akteur aus dem Grund ein Akteur, weil er
oder sie über einen Satz von Elementen (darunter natürlich auch über einen Körper)
verfügt, die sich über ein Netzwerk von somatischen und anderen Materialien
erstrecken, die jeden Körper umgeben?« (Law 1992, Übersetzung der Hg., vgl.
Beitrag »Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie« in diesem Band)

Wenn Netzwerke zu Akteuren und Akteure zu Netzwerken werden, muss


der Übersetzungsprozess darauf zielen, das Funktionieren eines Akteurs in
einem Netzwerk zu stabilisieren, seine Rollen zu fixieren, seine Handlun­
gen irreversibel zu machen, kurz: Black Boxes zu konstruieren. Eine Black
Box liegt vor, wenn Inputs erwartungsgemäß zu Outputs werden.

»Eine Black Box enthält, was nicht länger beachtet werden muss - jene Dinge, deren
Inhalte zum Gegenstand der Indifferenz geworden sind. Je mehr Elemente man in
Black Boxes platzieren kann - Denkweisen, Angewohnheiten, Kräfte und Objekte-,
desto größer sind die Konstruktionen, die man aufstellen kann.« (Callon/Latour
44 J ANDREA BELLIGER UND DAVID KRIEGER

1981: 285, Übersetzung der Hg., vgl. Beitrag »Die Demontage des großen Levia­
than« in diesem Band)

Blackboxing führt zur Stabilisierung und Konvergenz eines sonst fragilen


und instabilen Netzwerkes. Durch das Schaffen von Black Boxes werde n
die Komplexität eines Netzwerkes reduziert, Allianzen bekräftigt, Verbün­
dete in ihren Rollen fixiert, die Macht und die Größe des Netzwerkes erwei­
tert. Der ANT zufolge ist ein Makro-Akteur nicht größer als ein Mikro-Ak­
teur. Zwischen Individuen, Organisationen, Verwaltungen und Institutio­
nen liegt kein qualitativer Sprung, sondern lediglich eine quantitative
Differenz in Bezug auf die Anzahl der Black Boxes in den jeweiligen Netz­
werken (Callon/Latour 1981). Die Unterscheidung zwischen Makro- und
Mikro-Ebene in der Soziologie wird angesichts des fraktalen Charakters
von Netzwerken unterminiert. Ein Al<teur wächst mit der Anzahl von Be­
ziehungen, die er oder sie in Black Boxes ablegen kann (ebd.). Eine Groß­
firma unterscheidet sich von einem Ein-Mann-Betrieb darin, dass die
Großfirma viele heterogene Akteure (wie z.B. Fabrikanlagen, Finanzexper­
ten, Stromaggregate, Gewerkschaften, Softwaresysteme, Autobahnan­
schlüsse usw.) in Black Boxes funktionalisiert hat, der Kleinbetrieb hinge­
gen nur wenige. Black Boxes sind jedoch instabil und können durch entge­
gengesetzte Handlungsprogramme geöffnet, aufgelöst und umfunktioniert
werden. Die Gewerkschaft lehnt den Gesamtarbeitsvertrag ab, die Banken
ziehen den Kredit zurück, die Konkurrenz entwickelt eine bessere Techno­
logie.
In der Akteur-Netzwerk-Literatur wird ein Netzwerk als »Setting«
bezeichnet (Akrich/Latour 1992, vgl. den Beitrag »Zusammenfassung
einer zweckmäßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und
nicht-menschlicher Konstellationen« in diesem Band). Ein Setting ist das
Netzwerk, das von einem (soziologischen) Beobachter als Gegenstand der
Forschung »konstruiert« wird. Wie die Übersetzung geht auch die Beob­
achtung eines Netzwerkes notwendigerweise von einer »Krise« oder von
einem »Problem« aus, denn ohne solche würde das Netzwerk dem Beob­
achter weder auffallen noch die nötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen
können. Die Krise oder das Problem betrifft zunächst die »Askription« des
Netzwerkes (ebd.), d.h. die Selbstdeutung, die Identität des Netzwerkes als
Ganzes. Es handelt sich dabei um eine für die Organisation eines Netzwer­
kes notwendige Selbstreferenz - um auf einen Anschluss an die Termino­
logie der Systemtheorie hinzuweisen. Das Netzwerk ist nur insofern als
Einheit zu betrachten, als es sich selbst eine einheitliche Identität oder
Zielsetzung gibt oder gegeben hat. Diese Selbstdeutung ist narrativer Art,
eine Erzählung, ein Skript, in dem alle im Netzwerk enthaltenen Akteure
ihre Rollen zugeschrieben erhalten und sich gegenseitig positionieren, um
durch kooperatives Handeln ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Die As­
kription beantwortet die Frage, wer wir sind und was wir tun sollen. Wenn
EINFÜHRUNG IN DIE AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 45

ein Akteur-Netzwerk diese Frage nicht mehr eindeutig und konsensfähig


beantworten kann, entsteht eine Krise. Das Netzwerk wird dysfunktional
und zieht die Aufmerksamkeit interner und externer Beobachter auf sich.
Da die Askription als Selbstreferenz des Netwerkes gilt, kann sie nicht
einem oder mehreren der Akteure im Netzwerk zugeschrieben werden,
vielmehr ist sie ein Effekt der Selbstorganisation des Netzwerkes. Das
Skript schreibt sich in jedem Akteur als Inskription ein. übernimmt bei­
spielsweise eine Verkehrsampel die Rolle des Polizisten, werden ein be­
stimmtes Verhalten und bestimmte Informationen durch seine Konstruk­
tion und Operationen in ihn inskribiert. Aufgrund von Inskriptionen ent­
stehen Präskriptionen für andere Akteure, die nup.mehr bei Rot anhalten
müssen und erst bei Grün weiterfahren dürfen. Inskriptionen und Prä­
skriptionen können durch eine Deskription wieder zu einem Text, zu einer
wissenschaftlichen Beschreibung oder einem Skript, das ein Handlungs­
programm leitet, werden. In einem System zirkulierender Referenz, in
dem die Wissenschaftsforschung selber eingebunden ist, werden Dinge zu
Zeichen und Zeichen zu Dingen.

Das Kollektiv und die Wissenschaft

Wie steht es mit der Wissenschaftsforschung? Versucht man diese Frage


theoretisch zu beantworten, verliert man sich in die sterilen Paradoxien der
Selbstreferenz (Schulz-Schaefer 2000: 195ff.). Wendet man hingegen die
ANT auf sich selbst an, zeigt sie sich als eine Erzählung, ein Skript, ein
Handlungsprogramm, wie die Expedition in den Amazonas oder die Ver­
suche von Pasteur. Die Theorie wird selbst zum Übersetzungsprozess. Das
Kollektiv der menschlichen und nicht-menschlichen Akteure beschreibt
sich selbst durch die Sozialwissenschaft. Die Erzählung der ANT über das
Kollektiv von Menschen und Nichtmenschen konkurriert mit anderen
Theorien, welche durch die Dauerkrise der Gesellschaft auf den Plan geru­
fen werden. Die Vertreterinnen und Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie
verfolgen die Strategie, dort eine Antwort auf die Krise zu suchen, wo die
Probleme entstehen: in Wissenschaft und Technik. Es dürfte eigentlich
nicht überraschen, dass die Wissensgesellschaft sich am ehesten dort re­
flektiert sieht, wo Wissen produziert wird. Was überrascht, ist die Unvor­
eingenommenheit und Konsequenz, mit der die ANT der Gesellschaft den
Spiegel vorhält. Versteht sich die heutige Gesellschaft richtig, hat das
Konsequenzen. Die erste Konsequenz besteht in der Notwendigkeit, sich
selbst anders zu sehen:

»Im neuen Paradigma ersetzen wir das ausgediente Wort ,Gesellschaft< durch den
Begriff Kollektiv - worunter wir den Austausch menschlicher und nicht-menschli­
cher Eigenschaften innerhalb einer ,Körperschaft< verstehen.« (Latour 2000: 236)
46 1 ANDREA 8ELLIGER UND DAVID KRIEGER

Die zweite Konsequenz ist viel weit reichender als eine Namensänderung,
da es sich um Grundsätze und Prinzipien des modernen Selbstverständ­
nisses handelt:

»Das Ziel des Spiels besteht nicht darin, Subjektivität auf Dinge zu übertragen oder
Menschen als Objekte zu behandeln oder Maschinen als soziale Akteure zu betrach­
ten, sondern die Subjekt-Objekt-Dichotomie ganz zu umgehen und stattdessen von
der Verflechtung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen auszugehen.«
(Latour 2000: 236f.)

Alles deutet darauf hin, dass es für uns Menschen von Vorteil wäre, sich
mit jenen Wesen anzufreunden, die bisher unbeachtet blieben. Dies ist vor
allem in jenem Moment angebracht, wo wir erkennen, dass diese Wesen
uns Menschen ausmachen.

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Die Sozio-Logik der Übersetzung:
Auseinandersetzungen und Verhandlungen
zur Bestimmung von Problematischem
und Unproblematischem
MICHEL CALLON

Im Verlauf von nur wenigen Jahren hat sich das Zentrum der Aufmerk­
samkeit in der Wissenschaftssoziologie radikal verschoben. Zuerst schüch­
tern, dann mit zunehmender Kühnheit sind Soziologen in das Allerheiligs­
te eingedrungen. Sie beschränken ihr Interesse nicht mehr länger auf die
Erforschung der Funktionsweise von Institutionen, der Regeln der Konkur­
renz oder der Organisation von Netzwerken und Gemeinschaften. Sie
untersuchen in zunehmendem Maße den Inhalt der Wissenschaft selbst.
Obwohl dieser Richtungswechsel nun legitim und faktisch unwiderruf­
lich scheint, bleibt er noch sehr vorsichtig. Die von ihrer jüngsten Vergan­
genheit tief gezeichnete Wissenschaftsforschung nimmt die aufgespaltete,
in einzelne Teilbereiche abgetrennte Welt, die Wissenschaftler so geduldig
aufbauen, als selbstverständlich an und ist dabei bereit, soziale, technische
oder kognitive Faktoren zu unterscheiden, sie sogar ohne zu zögern in
gegenseitige Opposition zueinander zu stellen (Edge/Mulkay 1973). Das
Konzept sozialer Kontexte wissenschaftlicher Forschung ist noch heute in
allgemeinem Gebrauch und beweist die anhaltende Vitalität dieser Denk­
art. Innerhalb der Realität werden Territorien und Domänen abgetrennt,
Grenzen gezogen, a-priori-Faktoren verschiedener Typen identifiziert und
einer spezifischen Logik gehorchende Prozesse aufgezählt.'

1 1 Die klassische Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Forschung und


wissenschaftlichem Wissen, wie sie von so unterschiedlichen Autoren wie Popper
52 1 MICHEL GALLON

Diese bekannten Unterscheidungen haben jedoch zunehmende


Schwierigkeiten, soziologischen Vorhaben standzuhalten. Je tiefer wir in
die Materie eindringen, desto fragwürdiger scheint die Legitimität von
Black Boxes (Whitley 1972) und desto schwieriger, riskanter und willkürli­
cher wird die Trennung des Sozialen vom Nichtsozialen, des Kognitiven
vom Nichtkognitiven (Latour 1981a). Konzepte mit einer scheinbar soliden
Basis lösen sich auf und enthüllen ihre Mehrdeutigkeit. Was bedeutet es,
»ein Experiment [zu] reproduzieren« (Collins 1975)? Was versteht man
unter dem Ausdruck: »über einen Forschungsprozess berichten« (Latour
1981b)? Es wird nach und nach offensichtlich, dass das Soziale und das
Kognitive genau dort unlösbar miteinander verschlungen sind, wo sie zu
entwirren keine Probleme zu bereiten schien. Die Protagonisten sind in
einen endlosen Kampf verstrickt, einander ihre eigenen Definitionen auf­
zuzwingen und sicherzustellen, dass ihre Ansicht darüber vorherrscht, wie
die Realität aufgeteilt sein sollte. Ein temporärer Konsens wird erreicht, der
die Machtbalance verbirgt. Die Trennungslinie zwischen dem, was als
sozial, und dem, was als technisch betrachtet wird, wird immer wieder neu
verhandelt.
Diese Auseinandersetzungen komplizieren jeden Augenblick des For­
schungsprozesses, obwohl sie wahrscheinlich die wichtigsten Konsequen­
zen in den sehr frühen Phasen haben, wenn Probleme identifiziert werden
und das Sichere vom Unsicheren getrennt wird. Von diesem Standpunkt
aus betrachtet sind bestehende Interpretationen nicht wirklich befriedi­
gend, da sie die Emergenz von Problemen (Kuhn 1970; Popper 1973) von
ihrer Anerkennung und allmählichen Legitimation bis zur Annahme durch
verschiedene soziale Gruppen unterscheiden (Mulkay 1972; Chubin/Studer
1977).2 Die Analyse der Auseinandersetzungen und Verhandlungen, in
denen sich soziale Protagonisten miteinander messen, wobei sie zu defi­
nieren suchen, was problematisch ist und was nicht, enthüllt jedoch, dass
Unterscheidungen dieser Art unrealistisch sind. Während dieser anfängli­
chen Auseinandersetzungen werden Forschungsprobleme und die Grup­
pen, die sich ihrer annehmen, gleichzeitig determiniert. Soziale und kogni­
tive Strukturen werden im selben Schmelztiegel definiert. Obwohl sie sehr
unterschiedlich sind, sind beide Nebenprodukte derselben Reaktion. Die
Untersuchung der Problematisierung ist von vitaler Bedeutung für das
Verständnis der Regeln, die permanent das Soziale und das Kognitive
produzieren.

(1959) und Holton (1973) zugestanden wird, ist das Ergebnis einer theoretischen
Wahl dieser Art.
2 1 Die archetypische Opposition ist die von Popper (1959, 1973) und von Dewey
(1929). Der Erste macht Problematisierung zum kategorischen Imperativ; der Letz­
tere sieht in der Deproblematisierung den Ausdruck eines existentiellen Erforder­
nisses: Der Mensch verabscheut Unordnung und versucht Stabilität zu produzieren.
DIE SOZIO-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 53

In diesem Text beabsichtige ich, die Relevanz dieser Perspektive aufzu­


zeigen, wobei ich mich auf die Untersuchung zweier Themen beschränke:
(a) die Beschreibung der Mechanismen, durch die Realität problematisiert
wird - ich schlage vor, diese Arbeit »Kräfte der Problematisierung« zu
nennen; (b) die Analyse der Beziehungen zwischen verschiedenen Kräften
der Problematisierung und der allgemeinen Mechanismen, durch die Prob­
leme sich aufdrängen. Ich werde versuchen, diese Fragen zu beantworten,
indem ich französische Arbeiten über Brennstoffzellen beschreibe. Diese
Forschungen wurden in den späten 195oer Jahren begonnen und beschäf­
tigten zehn Jahre lang viele Wissenschaftler, die innerhalb von Universitä­
ten, in Laboratorien des CNRS3 und in Forschungszentren von Großfir­
men tätig waren. Die Arbeit wurde finanziell und politisch von der DGRST
und der DRME unterstützt.4 Bei der Rekonstruktion der Entwicklung
dieser Forschung hatten wir Zugang zu den Berichten verschiedener invol­
vierter Laboratorien und zu den vollständigen Dokumentensammlungen
der DGRST. Zusätzlich führten wir Interviews mit den Hauptprotagonis­
ten durch.

Eine Fülle von Problematisierungen

Die DGRST wurde in Frankreich in den späten 195oer Jahren mit dem Ziel
gegründet, französische Politik im Hinblick auf wissenschaftliche und
technische Forschung vorzubereiten, zu koordinieren und umzusetzen.
Eine ihrer ersten Handlungen bestand darin, »konzertierte Aktionen«
einzusetzen, in denen sowohl private als auch öffentliche Laboratorien
innerhalb der Industrie oder der Universität für eine begrenzte Zeit zu­
sammenkamen, um an Programmen höchster Priorität zu arbeiten. Jede
»Aktion« wird von einem wissenschaftlichen Komitee verwaltet, das aus
ungefähr 15 -Experten - Personen aus Wissenschaft, Unternehmen und
Verwaltung - besteht, die intuitu personae an der Arbeit des Komitees teil-

3 1 CNRS: Centre national de la recherche scientifique, die größte öffentliche


Forschungseinrichtung in Frankreich mit mehr als 7000 Forschenden mit besonde­
rem Status, die in Laboratorien arbeiten. Das CNRS deckt alle wissenschaftlichen
Disziplinen ab, wobei es sich besonders in Richtung Grundlagenforschung orien­
tiert.
4 1 DGRST: Delegation generale de Ja recherche scientifique, gegründet 1958.
Ihre Aufgabe ist es, die von verschiedenen öffentlichen Einrichtungen ausgeführte
Forschung zu koordinieren und mit Priorität versehene Programme zu unterstüt­
zen. Zur Zeit unserer Untersuchung übte die DGRST großen Einfluss innerhalb der
Administration aus. DRME: Division de la recherche et de la mesure des emissions,
betraut mit der Koordination von durch das Verteidigungsministerium finanzierten
Forschungen.
54 1 MICHEL GALLON

nehmen. Das Komitee wählt aus den eingereichten Projekten aus und
verteilt die den Arbeiten zugewiesenen Kredite. Diese Vorgehensweise
wurde während der letzten Jahre der Vierten Republik ausgearbeitet. Auf
diese Weise können öffentliche und private Forschung zusammenarbeiten,
Programme, die von traditionellen Institutionen abgelehnt worden waren
(CNRS, Universitäten, industrielle Unternehmen), werden bereitwilliger
finanziert. Auf diese Weise wird die koordinierte und kollektive Arbeit an
Forschungsgegenständen höchster Priorität erleichtert.
Das CNRS und die Industrie hatten in den frühem 196oer Jahren die
Szene unbesetzt verlassen; das Erstere war von Akademismus unterwan.
dert, die Zweite an Forschung und Innovation wenig interessiert. Die
DGRST füllte dieses Vakuum. Als Ergebnis waren zu Beginn die Haupt­
nutznießer dieser Unterstützung jene Wissenschaftler, deren Disziplinen
sowohl von der Universität als auch vom CNRS missverstanden oder ab.
schätzig betrachtet worden waren, die sie zwar beherbergten, ihnen aber
keine wirklichen Forschungsmittel zur Verfügung stellten. Die Vorge­
hensweise der »konzertierten Aktion« war wie auf sie zugeschnitten; ihnen
war sowohl die industrielle als auch die politische Unterstützung sicher;
gleichzeitig hatten sie in Form von Krediten einen Handlungsspielraum.
Beides war ihnen zuvor versagt gewesen (Gilpin 1968; Papon 1979; Pavitt
1976).
Die obigen Bemerkungen sind auch auf die Forschung an Brennstoff.
zellen, die im Rahmen der konzertierten Aktion »Energiekonversion« un­
ternommen wurde und deren Ziel darin bestand, neue Formen der Ener­
gieproduktion zu entwickeln, sehr gut anwendbar. Es gab keine Industriel­
len im Komitee, die dafür verantwortlich gewesen wären, das Programm
zu forcieren; die Wissenschaftler hatten vor, tonangebend zu sein. Sie
zwangen den anderen ihre eigene Analyse der Situation auf, skizzierten die
zu lösenden Probleme und die Beziehungen zwischen ihnen. Sie entschie­
den, wie die Arbeit aufgeteilt und koordiniert werden sollte. Schließlich
zeigten sie auf, was auf der sozialen, politischen und ökonomischen Ebene
auf dem Spiel stand (Callon 1978).
Im Fall der Brennstoffzellen operierte die Problematisierung in drei
Phasen und enthüllte ein breites Spektrum an möglichen Analysen.

(1) Die erste Aufgabe des Komitees war es, interessante Forschungsfelder
zu identifizieren. Das allgemeine Thema der Energiekonversion gewährte
ein anfängliches Territorium, innerhalb dessen Prioritätssektoren identifi­
ziert werden mussten. Die erste Diskussion konzentrierte sich auf die
Definition, was von Relevanz sei und was nicht. Zwei Physiker, X und Z,
wurden einander gegenübergestellt.
Als X gebeten wurde, am Komitee teilzunehmen, war er innerhalb
seiner eigenen Disziplin, der Festkörperphysik, bereits ein sehr bekannter
Wissenschaftler. Er hatte eine beträchtliche Zeit mit der Arbeit in einem
DIE S0z1o-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 55

sehr bekannten Laboratorium in den Vereinigten Staaten verbracht. Seit


seiner Rückkehr hatte er einige Artikel veröffentlicht, die beträchtliche
Aufmerksamkeit erregt hatten. Beim ersten Treffen des Komitees brachte
er eine Analyse von Forschungsbereichen vor, die von Interesse sein könn­
ten. Seine Argumentation ist in Tabelle I zusammengefasst. In der ersten
Zeile und der ersten Spalte sind die verschiedenen Energieformen be­
zeichnet: elektrische Energie, Lichtenergie, mechanische Energie, thermi­
sche und chemische Energie. Die Spalten korrespondieren mit den anfäng­
lichen Energieformen, die Zeilen mit den endgültigen Formen. Jede Unter­
teilung der Tabelle repräsentiert also eine mögliche Methode der Energie­
konversion, z.B. die Konversion chemischer in elektrische Energie. Jede
dieser Unterteilungen ist gleichzeitig und unlösbar mit verschiedenen
Phänomenen, verschiedenen Effekten und einer Vielzahl technischer Gerä­
te verbunden. Manche Unterteilungen sind teilweise leer; entweder existie­
ren die Geräte noch nicht oder die Phänomene sind noch nicht korrekt
identifiziert. Andere Unterteilungen beziehen sich auf Bereiche, die so
groß sind, dass eine erschöpfende Bestandsaufnahme für unrealistisch
gehalten wird. Wir werden später zu der dieser Tabelle zugrunde liegenden
»Logik« (die wir »Sozio-Logik« nennen möchten) zurückkehren. Für den
Augenblick geben wir uns damit zufrieden darzustellen, wie sie funktio­
niert.

Tabelle 1
ursprüngli- elektrisch Licht mechanisch thermisch chemisch
ehe Ener-
gieform

finale Ener-
gieform
elektrisch Konverter, photovoltai- elektrische thermo- Brennstoff-
Gleichrich- sehe, Maschinen, elektrische, zellen,
ter, photogalva- Wind, thermoio- gewöhnli-
Transför- nische Gezeiten- nische ehe Zellen,
matoren, Effekte kraft, Effekte Akkumula-
Oszillatoren Ströme toren
Licht Elelctrolu- Lumines- Tribo-lumi- Inkandes- Chemo-
mineszenz, zenz neszenz zenz lumineszenz
Entladung
in Gasen
mechanisch elektrische Seiten- einfache thermische künstliche
Maschinen krümmung, Maschinen, Maschinen Muskelkraft
Radiometer Energie-
? speicher
56 1 MICHEL GALLON

thermisch statische Solarener- Hitzepum- Kühlgeräte Verbren-


Hitzepum- gie-Gewin- pen, (Adsorp- nung
pen nung Kühlung tion),
(Peltier- Austauscher
Effekt),
elektrische
Heizung
durch Bo-
gen,
dielektri-
sehe Hei-
zung, H.F.
Plasmen
chemisch Elektro- Photosyn- chemische Thermo- (zu groß)
chemie these, Pfropfung, chemie ?
Radioehe- Laminie- ?
mie rung

Zuallererst etabliert die Tabelle eine vollkommen klare Grenze zwischen


dem, was analysiert wird, und dem, was der Analyse entgeht. Die >Ränder<
der Tabelle grenzen die als relevant betrachtete Wirklichkeit ab. Dies ist ein
sehr allgemeines Phänomen: die Konstruktion einer Black Box. X hat ein
Innen und ein Außen geschaffen und eine lokale Kohärenz hergestellt. Er
hat ein geschütztes Territorium definiert, Autonomie beansprucht.
Die Tabelle demarkiert und definiert Forschungsbereiche auf der Basis
von Kategorien, die als offensichtlich und sehr distinkt betrachtet werden.
Wenn die Tabelle ihre eigene Kohärenz besitzt, die sie dazu befähigt, ein
distinktes Universum zu definieren, das in sich selbst geschlossen ist, dann
deshalb, weil sie über eine klare Struktur verfügt. Die Energieformen kön­
nen räumlich festgelegt und abgegrenzt werden. Das Konzept der Energie­
konversion wird dabei nicht in Frage gestellt. Anhand dieser Tabelle teilt X
das Feld auf, definiert Territorien, die voneinander getrennt sind. Er trennt
nicht nur die verschiedenen Domänen ab; er zeigt auch, welche Arbeit
noch getan werden muss. Die Felder sind mehr oder weniger einfach - fast
enigmatisch - auszufüllen. Es existiert eine große Anzahl an Veröffentli­
chungen über die Konversion thermischer in mechanische Energie, wäh­
rend es im Bereich der Konversion von chemischer in elektrische Energie
wenig Publikationen gibt. Hier tappt man noch im Dunkeln. Wer hätte zu
jener Zeit zu behaupten gewagt, dass die Funktion von Brennstoffzellen
vollständig erforscht gewesen wäre? So werden das Alte und das Neue, das
mehr und das weniger Problematische, bereits erforschte Felder (thermi­
sche Maschinen, elektrische Maschinen) und Felder, die neuer Erfor­
schung bedürfen (Brennstoffzellen, photovoltaische Effekte etc.), kontras­
tiert.
Die von X vorgebrachte Problematisierung ist nicht die einzig mögli­
che; zur selben Zeit bringt ein anderer Physiker eine andere vor. Z ist ein
DIE S0z1o-LOGIK OER ÜBERSETZUNG 1 57

Schüler einer der renommiertesten französischen Wissenschaftsinstitutio­


nen, der Ecole Normale Superieure. Obwohl seine wissenschaftliche Kar­
riere gerade erst begonnen hat, hat er bereits beachtliche Unterstützung
hinter sich. Er ist noch nicht bekannt genug, um zum Komitee für Ener­
giekonversion zu gehören, aber sein Ruf reicht aus, um Wissenschaftlern
und Industriellen, die sich mit Brennstoffzellen befassen, seine Ansicht er­
klären zu dürfen. Ein Treffen in großem Maßstab wird arrangiert. In sei­
ner Rede kritisiert Z die Pläne von X. Seine Argumentation führt ihn zu
radikal anderen Schlussfolgerungen.
Z bezieht sich nicht einmal auf die allgemeine Frage der Energiekon­
version. An keinem Punkt unterscheidet er verschiedene Formen von
Energie. All das liegt außerhalb des Feldes seiner Analyse. Sein Ausgangs­
punkt ist die Elektrokatalyse, d.h. die Katalyse von Reaktionen, die Elektro­
nen freisetzen (Oxidoreduktionsreaktionen). Auf diese Weise definiert er
den Bereich, innerhalb dessen sich die Forschung abspielen sollte. Das
Konzept der Elektrokatalyse verkürzt die Diskussion genauso effektiv wie
die von X vorgeschlagene Tabelle. Die Demarkation dieses Problemfeldes
basiert auf einer Reihe von als selbstverständlich angenommenen Konzep­
ten, Theorien und Elementen. Z bezieht sich besonders auf die jüngsten
Entwicklungen in der Festkörperphysik und auf die Werkzeuge, die diese
für die Erforschung der Elektrokatalyse bereitstellt.
Die Problematisierung von Z ist sehr viel weniger strukturiert als die
von X, sie folgt jedoch derselben Logik: ein in sich selbst geschlossenes
Problemfeld, dann die Feststellung von als selbstverständlich angenom­
menen Elementen, die als sicher betrachtet werden und dem Feld seine
rigide, autonome Struktur geben. Obwohl Zs Präsentation seiner Proble­
matisierung im Hinblick auf Details vage bleibt, ist �r in der Lage, ganz
deutlich zu zeigen, wie sie sich von Xs Analyse unterscheidet. Er erklärt,
dass die Elektrochemie in einer sehr schwachen Position bleiben wird, bis
sie es geschafft hat, sich von dem technischen Ansatz zu befreien, der sie
zu ersticken droht. Für ihn ist die theoretische Einheit der Brennstoffzelle
ein Mythos. Obwohl das Objekt durch Xs Problematisierung befürwortet
und bestätigt wurde, muss es »de-konstruiert« werden. Die Alternative ist
ldar. Das Problem besteht nicht darin, die Katalyse in Brennstoffzellen zu
verbessern, sondern eher die Gesetze herauszuarbeiten, die die Elektroka­
talyse im Allgemeinen beherrschen.

(2) Das Komitee akzeptierte die von X vorgeschlagene Problematisierung.


Brennstoffzellen sind eines von drei Themen mit äußerster Priorität. Das
Komitee beauftragt Y mit der Ausarbeitung eines Forschungsprogramms
über Brennstoffzellen. Y ist ursprünglich Elektrochemiker und Direktor
des »Elektrolyse-Labors«, das zum CNRS gehört. Nach ein paar Wochen
präsentiert er dem Komitee ein Dokument, das seine eigene Problematisie­
rung erläutert. Seine Analyse wird in einer Tabelle zusammengefasst (vgl.
58 1 MICHEL CALLON

Tabelle 2), die Details über die Linie gibt, der die Forschung folgen soll und
auf die zu mobilisierenden Forschungszentren hinweist. Wie ist diese Ta­
belle organisiert?

Tabelle 2
Themen Interessen Forschungszentren Finanzmittel
(Francs)
I. allgemeine kirre- wissenschaftlich CNRS 2.3 00.000
tische Studien technisch: Erhöhung Elektrolyselabor 400.000
zur Reaktion auf der Zellkraft IFP
Elektroden (für Hydrocarbon)
2. Studien der Kata- technisch CNRS 1.000.000/
lyse von Depola- Katalysezentrum Jahr
risationsreaktio- IFP
nen (für Hydrocarbon)
CNRS
Elektrolyselabor
3. Elektrodenfor- technisch Industriepartner 200.000/
schung Jahr
4. Elektrolytenfor- Schule von Grenoble 500.000/
schung Jahr
5 · Forschung zum technisch (Verbesse- Elektrolyselabor 500.000
internen Zellwi- rung des Zellout-
derstand puts)
6. Diffusionsfor- geschmolzen, ? 200.000
schung wässerig, CNRS 100.000
Elektrolyt Elektrolyselabor
7. Forschung zu Semipermeable ? 450.000
speziellen Elek- Membranen, solide
trolyten oder immobile Elek-
trolyten
8. technische For- HT Zellen ? 1.000.000
schung LT Zellen 500.000

Zuerst grenzt die Tabelle ein Analyseterritorium innerhalb der Realität ab.
Dieses Territorium wird von den Umrissen eines spezifischen Objekts, der
Brennstoffzelle, und durch die darüber angestellten theoretischen Annah­
men klar umrissen. Ys Problematisierung passt perfekt zu der von X, der
bereits ein System von Unterteilungen vorbereitet hatte, das Y ohne Ände­
rungen übernimmt. Nach Ansicht von Y repräsentiert die Brennstoffzelle
ein privilegiertes Objekt in der Elektrochemie. Nichts und niemand konnte
diese Beziehung unterminieren. Die Zelle ist als Ganzes in der Elektro­
chemie enthalten und umgekehrt. Es gibt auf keiner Seite Überlappungen.
Die umgebende Begrenzung passt perfekt; sie ist in sich geschlossen und
darf in keiner Weise gestört werden.
Die Tabelle definiert Forschungsthemen, indem sie Probleme formu-
DIE SOZIO-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 59

liert. Y stellt seine eigene Bilanz auf, wobei er seine eigene Organisation
und Formulierung des Problems verwendet. Er zieht eine Demarkationsli­
nie zwischen dem, was seiner Meinung nach über die Funktionsweise ei­
ner Zelle bekannt und dem, was nicht bekannt ist. Was den Beobachter
stark beeindruckt, ist, wie die Architektur der Brennstoffzelle, die verschie­
denen Elemente, die sie bilden, und die Phänomene in ihr eng mit den
Zielen und Themen der Forschung korrespondieren. Da sind die Elektro­
den, das Elektrolyt, der Katalysator. Es gibt Referenzen auf Wissen, das zu
jener Zeit in Frankreich unter Elektrochemikern weithin akzeptiert und
verwendet wurde (Diffusion, innerer Widerstand, Depolarisierung, Kinetik
etc.). Eine ganze Reihe von Konzepten, Vorschlägen, Denkweisen, Be­
weismethoden werden auf den Plan gerufen, um die dunkleren Ecken der
Funktionsweise einer Zelle zu isolieren und zu definieren. Die Bereiche
des Unwissens treten vor einem Hintergrund der Sicherheit, des bestätig­
ten Wissens und der Interpretationssysteme hervor.5
Nur nebenbei bemerkt (da dies hilft, die Art der Konkurrenz zwischen
X und Z zu erldären): Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Art von
Problematisierung ist der Platz, der der Katalyse zugeschrieben wird. Y er­
l<lärt, dass Katalyse ein bloß technisches Problem sei und daher von sekun­
därer Bedeutung (Y ist ein Fundamentalist). Dies steht in starkem Kontrast
zu Zs Position. Für Y ist das Problem der Katalyse gelöst, sobald das Prob­
lem der Kinetik, des Transports von Reagenzien und der optimalen Struk­
tur von Elektroden aufgeldärt worden ist. Z behauptet das genaue Gegen­
teil.

(3) Das von Y vorgeschlagene Forschungsprogramm wurde ohne Ände­


rungen angenommen. Da eine konzertierte Aktion involviert war, teilte er
die Arbeit auf zwischen den verschiedenen - sowohl privaten als auch öf­
fentlichen - Forschungszentren, von denen er annahm, dass sie interes­
siert sein würden. Er schlug vor, sein eigenes Laboratorium (Elektrolyse­
Labor) mit verschiedenen Forschungsthemen zu betrauen, im Besonderen
mit der Erforschung der Katalyse von Depolarisationsreaktionen. Als das
Komitee seinen Vorschlag akzeptierte, stellte Y zwei Forscher, A und B,
ein, die er in sein Labor eingliederte und mit der Forschung betraute. So
traten A und B ihrerseits dem Problematisierungsprozess bei.
Wir wollen nun beiseite lassen, was in den anderen Forschungszentren
geschah und uns auf Ys Labor konzentrieren, besonders auf seine zwei
Forscher.
A, ein gelernter Metallurge, folgt genauestens den Problematisierungen

5 1 Wir müssen hier nur feststellen, dass etablierte Fakten der Quantenmechanik
ignoriert werden. Die verwendeten Kenntnisse und Fakten stammen vom Beginn
des Jahrhunderts. Das beeindruckendste Merkmal ist ihre große Diversität. Sie ge­
hören zu den Bereichen der Physik, Chemie und Thermodynamik.
60 \ MICHEL CALLON

von X und Y. Die technische Struktur der Zelle ist für ihn die äußerste
Grenze aller Forschungen; ein verdinglichtes Objekt, das Forscher akzep­
tieren müssen. Probleme müssen innerhalb des Raumes formuliert und
gelöst werden, der von Elektroden, einer Doppelschicht und den Elektroly­
ten besetzt wird, eines Raumes, der um nicht greifbare Elemente, seien sie
materielle Komponenten der Zelle oder die Konzepte, Gesetze und experi­
mentellen Vorrichtungen, die zur Entschlüsselung ihrer Funktionsweise
dienen, organisiert wird (Tafels Gesetz, Nemsts Gesetz, Adsorption, die
Kinetik der Reaktionen etc.).
Die Problematisierung, die A vorbringt, betrifft die Textur der Elektrode
(die Referenz zur Metallurgie ist offensichtlich), das heißt: die räumliche
Verteilung der Poren, die Verteilung und Formen der Kristallisierung der
Katalysatoren, der Pfad, der von Elektrolyten verfolgt wird, die sich auf den
Brennstoff zu bewegen. A ist nur an der Elektrode und der sie umgeben­
den Doppelschicht interessiert. Seine Problematisierung zeigt die gleichen
Merkmale wie jene von X und Y: (a) Sie gibt eine exakte Definition des re­
levanten Feldes (hier die Elektrode) und weist den Rest zurück, der uner­
forscht bleibt. Wenn man sich von der Doppelschicht entfernt - der Rand
von Elektronen, der die Elektrode umgibt und speist-, werden die Schatten
allmählich dunkler und schließlich undurchdringlich. (b) Die Elektrode
selbst wird als System zur Verbindung von Elementen gesehen, die nicht
problematisiert sind (Brennstoff, Katalysatoren, von den Elektrolyten weg­
gerissene Elektronen etc.). Während der ersten Phase steht nur die räumli­
che Anordnung dieser Elemente, d.h. die Beziehung zwischen ihnen, für
eine Variation offen.
B wendet sich hingegen allmählich gegen Ys Trennungssystem und
kommt schließlich bei einer von A radikal verschiedenen Problematisie­
rung an. Während er sich von Z inspirieren lässt, arbeitet er auf eine Prob­
lematisierung hin, die das Problem der Katalyse innerhalb des elektrischen
Felds (Elektrokatalyse) betont. Er zieht den Rekurs auf Konzepte und Me­
thoden der Festkörperphysik vor. Die Brennstoffzelle ist nicht länger der
unumgängliche Referenzpunkt, das Ziel nicht länger, das Problem der Ka­
talyse zu lösen, wie es von Y dargestellt und definiert wurde. B baut die
Fragestellung in anderer Weise auf. Weder die Frage der Elektroden und
ihrer Texturen noch die der Diffusion der Reagenzien besteht. Das von B
gestellte Problem liegt im Verhalten eines Wasserstoffatoms auf einer me­
tallischen Oberfläche. Unter welchen Bedingungen und durch welche Me­
chanismen werden die Elektronen freigesetzt? Auf einen Schlag erscheint
eine andere Welt, andere Grenzen werden herausgearbeitet. B zwingt Ob­
jekte und Fragen, die seine Sphäre hätten bevölkern sollen, in die Schatten
zurück. Er führt andere Sicherheiten wieder ein, nimmt andere Tatsachen
als selbstverständlich an, entleiht andere Instrumente aus der Festkörper­
physik, Quantenmechanik, Nuklear-Magnet-Resonanz etc.
Alle diese Problematisierungen werden zum Leben erweckt; sie vervoll-
DIE SOZIO-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 61

ständigen und exponieren einander, fügen zusammen, trennen - und sie


alle teilen eine identische Struktur. Im Folgenden kläre ich, was diese
Struktur ist.

Die allgemeine Struktur von Problematisierungen

Die verschiedenen Problematisierungen setzen einen dualen Mechanis­


mus ein.
Zuerst wird eine anfängliche Grenze zwischen dem, was analysiert,
und dem, was nicht analysiert wird, zwischen dem, was als relevant be­
trachtet, und dem, was unterdrückt und verschwiegen wird, verfolgt. Die
Problematisierung schneidet ein Territorium aus, das sie dann vom Außen
abtrennt, wobei sie eine geschlossene Domäne mit ihrer eigenen Kohärenz
und Logik bildet. Durch diese Vorgehensweise werden private >Jagdreviere<
abgesteckt. Eine Trennung zwischen dem Grund der Wissenschaftler und
dem, was für Außenstehende übrig bleibt, wird vorgeschlagen. Von außen
betrachtet unterscheidet sich dieser Mechanismus nicht von jenem, der zur
Errichtung einer Black Box führt.
Als Nächstes wird eine zweite Grenze zwischen dem nicht Fassbaren,
dem als selbstverständlich Angenommenen und dem Problematisierten
oder Unbekannten nachgezeichnet. In anderen Worten: Um Probleme zu
formulieren und Bereiche der Unwissenheit abzugrenzen, nehmen Prota­
gonisten notwendigerweise Interpretations- und Argumentationssysteme
als ihre Basiskonzepte an, denen dann die Kraft von Gewissheiten zuge­
schrieben wird und die deshalb vollkommen unverdächtig sind. Problema­
tisierungen greifen nicht notwendigerweise vorgefertigtes Wissen oder
etablierte theoretische Systeme an.6 Im Gegenteil: Problematisierungen
müssen unbedingt auf Elementen der Realität (Konzepten, Vorschlägen,
Abgleichungen, Resultaten) beruhen, die als unwiderlegbar und fest eta­
bliert gelten. Ein Protagonist platziert sich selbst nie vollkommen auf die
Seite der Ordnung oder der Unordnung. Unordnung formt sich nur vor
dem Hintergrund von Ordnung und Gewissheiten, die spezifische Konfi­
gurationen formen - mit Systemen von leeren Räumen, in denen sich wei­
te Problematisierungsmöglichkeiten auftun. Demnach muss Problemati­
sierung auch als ein Prozess der Vergewisserung und Objektivierung be­
schrieben werden. Umgekehrt beinhaltet eine Objektivierung auch, eine
Auswahl zu treffen, Assoziationen und Deduktionen zu bewirken, und -
wobei man folglich leeren Raum hinterlässt - Fragen auch ohne Antworten
beiseite zu legen. Die Konstruktion von Realität funktioniert wie Camots
Hitzekreislauf, bei dem man eine Hitzequelle (Probleme) und eine Kälte-

6 1 Von diesem Standpunkt aus ist Mulkays Kritik an Kuhn entscheidend. Vgl.
im Besonderen Mulkay (1972) und auch Lemaine (1980).
62 1 MICHEL GALLON

quelle (erworbenes Wissen) verwendet. Wenn eine der beiden Quellen ver­
schwindet, wird die Produktion unterbrochen. Daraus resultiert Abbil­
dung 1.

Abbildung 1

Bereich der Gewissheit

Bevor wir in unserer Analyse des Prozesses der Problematisierung fortfah­


ren, wollen wir die bisherigen Ergebnisse des gewählten Analysetyps be­
trachten.
Problematisierung kulminiert in Konfigurationen, die durch ihre relati­
ve Singularität charakterisiert werden. Es gibt keinen einzigen Weg, ein
Problem zu definieren, zu identifizieren und zu organisieren, was sicher
ist, und das, was man nicht analysieren kann, zu verdrängen. Schauen Sie
sich die unterschiedlichen Pfade an, die zur selben Zeit von X und Z oder
A und B verfolgt werden. In diesem Fall stehen die Konfigurationen in Op­
position zueinander. Es gibt jedoch eine Vielzahl von Variationen inner­
halb jeder dieser Hauptoptionen. Obwohl es starke Ähnlichkeiten geben
mag (die Problematisierungen dazu befähigen, zusammengruppiert zu
werden), gibt es stets Unterschiede -wie gering sie auch sein mögen. Jeder
Protagonist organisiert und problematisiert Wirklichkeit in seiner eigenen
originellen Art unter Einhaltung seiner eigenen Idiosynkrasien, seines ei­
genen Hintergrunds und der besonderen Bedingungen, in denen er sich
befindet.7 Fortan werden wir nicht länger zwischen einem Akteur und
seiner Problematisierung unterscheiden. Indem wir eine Problematisie­
rung identifizieren, postulieren wir die Existenz eines Akteurs.
Wie die Fälle von X, Yund A zeigen, existieren zwischen Problematisie­
rungen oft hierarchische Beziehungen - daher die Idee eines Grades an
Allgemeinheit einer Problematisierung. Wenn X eine Demarkation von
Forschungszonen vorschlägt, definiert er verschiedene Themen, die von-

7 1 Diese Singularität, gut herausgearbeitet von Knorr (1977), ist auch gültig für
neues Wissen, das nach Anerkennung strebt. Vgl. auch Gilbert (1976).
DIE S0z1o-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 63

einander unabhängig sind: photovoltaische Zellen, Brennstoffzellen etc.


Jedes dieser Themen baut und schließt um sich eine spezifische Realität,
die einen Forschungsbereich definiert. Das Funktionieren der Brennstoff­
zelle, das als problematisch betrachtet wird, muss als solches erforscht
werden. Eine Aussage dieser Art, wie entschlossen auch immer ausge­
drückt, ist keineswegs unwiderlegbar; Zs Opposition ist ein Beweis dafür.
X bringt eine Hypothese vor; das Ergebnis ist keine vorausgegangene
Schlussfolgerung. Y hat seinen ersten Erfolg, als er innerhalb des von X
gekennzeichneten Territoriums seine eigenen Problematisierungen entwi­
ckelt. Man kann sagen, dass Y sich in Xs Räumen eingerichtet hat (er
macht seine eigene Problematisierung abhängig von der von X). So wie das
auf X und Y zutrifft, gilt es auch für Y und A. Diese Problematisierungen
sind ineinander eingeschlossen wie russische Puppen (A CY C X). Genau
wegen dieses · Systems der Inklusion kann legitimerweise behauptet wer­
den, dass Xs Problematisierung allgemeiner ist als jene von Y, wobei die
Letztere ihrerseits wiederum allgemeiner ist als die von A. X hat Y eine
Black Box gezeigt und Y hat eingewilligt, sich in dieser einzuschließen
(dasselbe gilt fürY und A). Dies ist jedoch nicht das Resultat der >Qualität<
der involvierten Problematisierungen. Der Grad an Allgemeinheit weist
nur auf das Ausmaß hin, in dem eine bestimmte Problematisierung als
Basis für weitere Arbeit akzeptiert worden ist. Er ist untrennbar mit der er­
richteten Machtbalance verbunden. Y stimmt zu, den Platz einzunehmen,
den X für ihn vorbereitet hat. A verhält sich im Hinblick aufY gleicherma­
ßen fügsam.
Die Kette von Inklusionen könnte in beide Richtungen fortgesetzt wer­
den. X hat das allgemeine Thema der Energiekonversion nicht in Frage ge­
stellt. Im Gegenteil hat seine Problematisierung geholfen, dieses zu konso­
lidieren. A hat Assistenten benannt, Techniker, an die er Teile der Opera­
tion weiter vergibt. Theoretisch ist die Kette endlos. Durch diese Ver­
schlussmechanismen, durch die Zuweisung von Positionen und die Kon­
struktion von Black Boxes verbindet und unterscheidet die Kette gleichzei­
tig Wissenschaftspolitik und spezialisierte Forschung. Diese Bemerkung
führt mich dazu, die allgemeine Natur des Problematisierungsprozesses zu
betonen. Er beeinflusst willkürlich Bereiche, die normalerweise als wissen­
schaftlich, technisch oder wirtschaftlich betrachtet werden und nimmt aktiv
an der Aufstellung dieser Kategorien teil. X etabliert enge Verbindungen
zwischen Maschinen und wissenschaftlichen Phänomenen. (Folglich ver­
bindet er die Bestimmungen der Brennstoffzelle mit denen der Elektro­
chemie.) Für Z muss die intime wechselseitige Abhängigkeit von Wissen­
schaft und Technik in Frage gestellt werden. Also arbeitet jede Problemati­
sierung für sich selbst aus, was innen und was außen, was wissenschaftlich
und was technisch ist, die Bindeglieder, die zwischen den beiden bestehen
sollten usw.
Diese letzten Bemerkungen werfen neue Fragen auf. Wie können Prob-
64 1 MICHEL GALLON

lematisierungen Verbindungen miteinander eingehen, obwohl sie vonein­


ander verschieden sind? Eine Antwort auf diese Frage ist in einer Beschrei­
bung der besonderen Logik zu finden, der Problematisierungen gehorchen.

Problematische Situationen und die Sozio-Logik


der Übersetzung

Aus jedem Problematisierungsprozess resultiert etwas, das ich eine prob­


lematische Situation nennen möchte. Ein charakteristisches Merkmal die­
ser Situation ist die spezifische Demarkation, die sie zwischen drei Feldern
oder Bereichen schafft: den unanalysierten Bereich, den Bereich von Netz­
werken von Gewissheiten und den Bereich des Zweifels (vgl. Abb. r). Prob­
leme sind identifiziert und haben Autonomie erhalten, etablierte Fakten
wurden festgestellt, Bindeglieder postuliert, ganze Bereiche von Realität
zurück in den Schatten gestoßen. Die problematische Situation ist also ein
dualer Prozess der Konstruktion und Dekonstruktion. Formen werden ge­
schaffen, umrissen, neu kombiniert; es werden Fragen gestellt. Wenn wir
die Situation von diesem Standpunkt aus betrachten, können wir sie legi­
timerweise den Ausdruck eines Gleichgewichts der Kräfte nennen. Ur­
sprung und Natur der Kräfte sind von untergeordneter Bedeutung- die Er­
forschung ihrer Wirkungen genügt: Einerseits werden Gewissheiten kom­
biniert und festgestellt, andererseits Zweifel und Fragen formuliert. Aber
wie wird dieses Gleichgewicht der Kräfte geschaffen? Wie können wir die
Arbeit von Konstruktion und Dekonstruktion, Identifikation und Formge­
bung beschreiben?
Wir wollen uns zunächst einmal dem Kern des Prozesses, dem Bereich
des Zweifels, zuwenden. Dazu müssen wir zu Y und seiner Problematisie­
rung zurückkehren, so wie ihr allgemeiner Umriss in Tabelle 2 repräsen­
tiert wird. In dem Forschungsprogramm, das er vor dem Komitee vorge­
bracht hat, stellte Y nicht nur die hauptsächlich zu lösenden Probleme dar,
sondern er schlug auch vor, welche Forschungszentren sich ihrer anneh­
men sollten (Spalte 3). Zusätzlich gab er grobe Schätzungen der Finanzmit­
tel ab, die jedem Thema zugewiesen werden können. Damit hat seine
Tabelle eine zweifache Botschaft. Zuerst diejenige, die wir uns soweit
angeschaut haben und die die Probleme und die Bindeglieder zwischen
diesen aufzeigt. Zweitens zeigt er die Beziehungen zwischen den Protago­
nisten ebenso wie die Beziehungen zwischen den Problemen. Tatsächlich
ist jeder der acht von Y gewählten Studienbereiche mit Interessen und po­
tentiellen Akteuren verbunden. Wir müssen betonen, dass diese nur Vor­
schläge sind. Y ist nicht sicher, dass er in der Lage sein wird, seine Proble­
matisierung durchzusetzen. Der wichtige Punkt ist jedoch, dass für Y das
Soziale und das Kognitive, die Probleme und die Akteure alle innerhalb
derselben Struktur angeordnet sind. Jedem seiner Probleme entsprechen
DIE S0z1o-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 65

ein Platz und eine Position, die einem Akteur zugeschrieben werden. Der
Akteur kann entweder benannt werden - oder seine Identität bleibt unbe­
kannt. Weiter sind die Beziehungen zwischen den Protagonisten und ihren
Positionen durch die zwischen den Problemen postulierten Beziehungen
klar definiert. Einfach formuliert existiert jede Tabellenzelle auf zwei Arten:
eine, die wir techno-wissenschaftlich nennen können, und die andere sozi­
al, da sie nicht von der zur Ausführung ihrer Ausarbeitung und Produktion
angesprochenen sozialen Gruppe verschieden ist. Problemdefinition, wie
von Y praktiziert, ist eine höchst strategische Aktivität, da sie darauf abzielt,
verschiedene Gruppen in einem Unternehmen zu interessieren, dessen
Entwicklung als Ganzes diese nicht kontrollieren können.
Im von uns so genannten Bereich des Zweifels, der den Kern der prob­
lematischen Situation bildet, gibt es keine Divergenz zwischen der Organi­
sation des sozialen und des kognitiven Feldes. Problemdefinitionen und
die Verbindungen zwischen ihnen können nicht von der Arbeit - der Or­
ganisation von Interessenfeldern - unterschieden werden. Man beachte die
Fragezeichen, die in einigen Feldern der Tabelle auftauchen. Eine Prob­
lemdefinition impliziert die Definition einer Gruppe, sogar wenn keine
empirische Einheit benannt werden kann. Y gibt dem Sozialen eine Form;
er baut ein Feld von Positionen.
Wir können weiter gehen: Die von Y angeregte Liste von Problemen
kann nicht vom Stand des wissenschaftlichen oder technischen Wissens
abgeleitet werden (Zs aktive Kritik ist ein Beweis dafür). Sie übersetzt einen
Willen zur Eingliederung von Interessen und dazu, jene zu interessieren,
die bisher nur potentielle Partner sind. Tatsächlich repräsentiert Ys Pro­
gramm einen Versuch, soziale Gruppen zu mobilisieren. Ich schlage vor,
diese besondere Logik, durch die Probleme direkt mit Gruppen verbunden
werden, die Sozio-Logik der Übersetzung zu nennen.8
Wozu dieser Ausdruck? Um seine Verwendung zu rechtfertigen, muss
ich lediglich den Mechanismus, der am Werk ist, analysieren. Was Y sagt,
kann folgendermaßen zusammengefasst werden:
»Ich definiere eine Reihe von Problemen Pr, P2, P3 ... P8 und weise sie
den Gruppen Gr, G2, G3 ... G8 zu (vgl. Tabelle 2). Ich stelle fest, dass eine
sequentielle Lösung dieser Probleme zu Lösungen des von X gestellten
Problems führen würde, d.h., wie man wissenschaftliche und technische
Kontrolle über Brennstoffzellen aufbaut und gewinnt.«
Definitionen von Pr, P2, P3 etc. und Feststellungen ihrer Unabhängig­
keit folgen einer Sozio-Logik. Tatsächlich bedeutet die Feststellung, dass
Pr, P2, P3 etc. »logisch« verbunden sind (durch die problematische Einheit
der Zelle), dass zwischen Gr, G2, G3 etc. eine Interessengemeinschaft be­
steht. Dies eröffnet die Hypothese, dass Gr die Verantwortung für Pr, G2
die für P2 übernimmt und dass Gr, G2 etc. die Idee akzeptieren, dass zwi-

8 1 Ich verdanke das Konzept der Übersetzung Serres (1974).


66 1 MICHEL GALLON

sehen PI, P2 etc. eine Beziehung besteht - das bedeutet, dass soziale Inter­
alction zwischen ihnen denkbar ist. Kurz gesagt: Y konstruiert ein System
sozialer Interalctionen. Wir finden nicht auf der einen Seite soziale Akteure
und auf der anderen Wissen. Es gibt eine gemeinsame, programmatische
Organisation sowohl von Wissen als auch von sozialen Akteuren. Daraus
folgt die Idee der Sozio-Logik.
Die Aussage, dass PI, P2, P3 etc. in Beziehung stehen können, postu­
liert: (a) dass eine Reihe verbundener Bezeichnungen für Probleme exis­
tiert, die innerhalb verschiedener Territorien formuliert werden und (b)
dass die Lösung eines Problems (Beherrschung der Funktion der Brenn­
stoffzelle) durch eine Reihe von Verlagerungen von Problemen erreicht
werden kann. Das Wort »Übersetzung« korrespondiert genau mit diesen
beiden Bedeutungen. Von einem sehr allgemeinen Standpunkt aus be­
trachtet postuliert diese Idee die Existenz eines einzelnen Feldes von Be­
zeichnungen, Anliegen und Interessen, den Ausdruck eines geteilten Inte­
resses, um zum gleichen Ergebnis zu kommen. Obwohl Übersetzung die
Existenz von Divergenzen und Differenzen, die nicht ausgeglichen werden
können, anerkennt, bekräftigt sie dennoch die zugrunde liegende Einheit
zwischen voneinander verschiedenen Elementen. Übersetzung beinhaltet
die Schaffung von Konvergenzen und Homologien, indem sie zuvor ver­
schiedene Dinge verbindet. In dem eher begrenzten Fall, den wir untersu­
chen, stellt die Übersetzung zuerst einmal sicher, dass verständliche Ver­
bindungen zwischen Fragen bestehen, die z.B. die Diffusion in Elektroly­
ten, Reaktionskinetik in Elektroden und die Leistung von Zellen betreffen
(nach verfügbarem Potenzial und Strömungsintensität gemessen). Vor­
schläge, Resultate und Anerkennungen können von einer zur anderen
umgewandelt werden, um vergleichbar zu werden. Z.B. wird eine be­
stimmte Modifikation in der Elektrodenstruktur und der Verteilung von
Katalysatoren auf die Operation der Diffusion reagieren, diese wird wiede­
rum die Kinetik der Oxidoreduktionen modifizieren; das Resultat wird eine
Variation in der Strömungsintensität mit Konsequenzen für die kommer­
ziellen Implikationen sein. Übersetzungen wie diese sind niemals vorher­
bestimmte Schlussfolgerungen. Sie sind als Hypothesen formuliert, die als
überzeugend oder nicht beurteilt werden (B ist, anders als A, nicht über­
zeugt).9 Gleichzeitig jedoch - und darin besteht ihre zweite Bedeutung -
betont Übersetzung die gegenseitige Abhängigkeit von Problemen. Die Lö-

9 1 Eine Analyse der Übersetzungsmechanismen muss noch entwickelt werden.


Wir stellen einfach fest, dass sie mit der Konstruktion problematischer Situationen
selbst verbunden ist. Eine problematische Situation dekontextualisiert Konzepte,
Vorschläge sowie Kategorien und rekontextualisiert sie dann unter Verwendung ih­
rer eigenen Logik. Damit schaffen problematische Situationen permanent Meta­
phern, die Übersetzungen möglich machen (zur »Metaphorisierung« vgl. Krohn
1978).
DIE Soz10-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 67

sung eines Problems hängt von der vorangegangenen Lösung einer ganzen
Reihe anderer Probleme ab (Kinetik zu verbessern impliziert, zuvor die
Diffusion zu verbessern; Kontrolle über einen Anschluss zu bekommen
beinhaltet die Zustimmung, die Struktur von Elektroden zu erforschen).
Übersetzung kündigt die Notwendigkeit einiger Umwege an und weist auf
die erforderlichen Veränderungen der Route hin. Das Konzept der Sozio­
Logik betont, dass diese Konversionen und Routenwechsel gleichzeitig für
die Probleme und die Akteure gelten. Die problematische Zone (oder Zone
des Zweifels) ist eine Zone der Fusion, in der sich das Kognitive und das
Soziale in derselben Logik vermischen.
Der Bereich der Gewissheiten ist nach dem Prinzip der Spaltung (nicht
nach dem der Fusion) organisiert. Er schließt Elemente, auf die er einen
Status der Gewissheit überträgt, ein und verbindet sie. Wir müssen hinzu­
fügen - und das ist grundlegend -, dass er gleichzeitig deutliche Unter­
scheidungen zwischen bspw. Technik, Wissenschaft und dem Sozialen
schafft. Kehren wir zu Y zurück: Die seine Tabelle begleitenden Anmer­
kungen befähigen uns, die soziale, technische, wissenschaftliche und poli­
tische Realität zu rekonstruieren. Wir finden die DGRST und ihre Politik,
das Budget, das der konzertierten Aktion zur Energiekonversion zugewie­
sen wurde, die Politik des CNRS im Hinblick auf Elektrochemie, ebenfalls
die die Elektrode umgebende Doppelschicht, Tafels Gesetz, das eine Bezie­
hung zwischen der Spannung in den Elektroden und der Strömungsdichte
etabliert, Nernsts Gesetz, das Spannung und Aktivierungsenergie verbin­
det. Der Bereich der Gewissheit beinhaltet nicht nur das Kognitive und das
Technische. Er ist eine multiple, differenzierte Welt, die aus heterogenen
Elementen gebildet wird, die stabil und identifiziert sind. Y verbindet diese
zuvor verschiedenen Elemente, organisiert sie entsprechend einer Logik,
die die Divergenzen respektiert, statt sie auszulöschen, die verschiedene
Sicherheiten verstärkt und Fakten etabliert, statt sie zu unterhöhlen - und
die letztendlich die Integrität der individuellen Elemente nicht in Frage
stellt. Anerkennung für diese Elemente ist der Preis, der im Verlauf der
Problematisierung bezahlt werden muss. Die Fusion funktioniert nur,
wenn sie von Spaltungen umgeben ist. Aber auch hier ist wieder ein
Gleichgewicht der Kräfte involviert. Alles scheint darauf hinzuweisen, dass
Y nicht willens war, die Kosten, verschiedene Elemente der Realität in Fra­
ge zu stellen, zu tragen. Er kann oder will die DGRST-Politik nicht ändern,
um Tafels Gesetz zu >modalisieren<. Er besitzt nicht die Ressourcen, um
eine Rekonstruktion auszuführen. Indem er so seinen Mangel an Macht
enthüllt, hilft er natürlich, Realitäten wie die DGRST-Politik oder Tafels
Gesetz zu konsolidieren. Diese Realitäten sind nicht ein für alle Mal ver­
kündet worden; sie existieren nur so lange, wie die Protagonisten sie -viel­
leicht mangels Ressourcen - als selbstverständlich hinnehmen. Wieder
einmal sind wir mit der Sozio-Logik konfrontiert - Tafels Gesetz oder die
DG RST-Politik nicht in Zweifel zu ziehen bedeutet, dass man nicht willens
68 1 MICHEL GALLON

ist, sie herauszufordern. In diesem Fall ist die Sozio-Logik eine Spaltung,
die Differenzen und Unterscheidungen respektiert und aufbaut.
Alles, was wir hier über die Struktur des Unanalysierten sagen müssen,
ist dies: Seine Struktur ähnelt dem des Unbewussten. Es repräsentiert das,
was ruhig gehalten wird, damit der Rest festgestellt werden kann.

Erfolg und Versagen von Problematisierungen:


Vom Konsens zum Widerstand

Wir müssen nun den Prozess beschreiben, durch den eine problematische
Situation erfolgreich Interessen eingliedert, durch den sie also ihre eigene
Problematisierung durchsetzt.
Das Komitee bat Y, ein Forschungsprogramm über Brennstoffzellen
aufzustellen. Er brachte Themen vor und sagte, welche Laboratorien seiner
Meinung nach verantwortlich für sie sein könnten. So weit handelt es sich
nur um Vermutungen. Wir haben gesehen, dass ihnen ein Wille zur In­
korporation von Interessen zugrunde liegt. In anderen Worten wird Y seine
Problematisierung nur durchsetzen, wenn die angesprochenen Gruppen
einer Teilnahme zustimmen. Daher hängt sein Erfolg von den Reaktionen
von Gr, G2, G3 etc. sowie von ihrer Akzeptanz der Probleme Pr, P2, P3 etc.
ab.
Was wird wahrscheinlich geschehen? Theoretisch sind verschiedene
Situationen möglich. Wir können zwischen fünf idealen, typischen Ant­
worten unterscheiden. Die Leute, denen die Probleme übertragen wurden
(Pr, P2 etc.), vorausgesetzt, dass sie überhaupt zustimmen, sich am Spiel
zu beteiligen, können ihre Kritik in zwei Richtungen ausdehnen; (a) ein
erster Diskussionsgegenstand ist die Formulierung des ihnen zugewiese­
nen Problems. Passt es zu ihrem eigenen Verständnis des Problems? (b)
Stimmen Sie mit dem allgemeinen Umriss der angenommenen problema­
tischen Situation überein? Dies bedeutet, stimmen sie mit der Folge Pr, P2,
P3 überein, mit der Wahl der Gruppen Gr, G 2, G3 etc.? Erachten sie Ys
Problem als unproblematisch und umgekehrt?

Tabelle 3
Reaktionen Anerkennung des Problems Anerkennung der problemati-
durch die Gruppe, der es sehen Situation als Ganzes
zugeordnet wurde durch die Gruppe
Mitlaufen + +
Verhandlung 1 - +
Verhandlung 2 + -

Opposition - +
DIE S0z1o-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 69

Welche Bedeutung haben diese verschiedenen Strategien?


Mitlaufen: Die angesprochene Gruppe erkennt, dass ihre Interessen mit
der Lösung des vorgeschlagenen Problems zusammenfallen. Zusätzlich
bekräftigt sie noch die der problematischen Situation zugrunde liegende
Sozio-Logik, die konsolidiert wird. Dies ist Ys Position in Beziehung zu X.
Er stimmt zu, sich des Zellthemas anzunehmen, wobei er anerkennt, dass
das Forschungsfeld ein für die Elektrochemie hoch interessantes ist. Er
zweifelt weder die intellektuelle (Klassifizierung von Energieformen, Ver­
wirrung zwischen technischen Einrichtungen und theoretischen Objekten)
noch die sozio-politische (Energiekonversion in einem homogenen For­
schungsfeld, das eher von der DG RST als vom CNRS finanziert werden
sollte) Konsistenz der Problematisierung an. A nimmt dieselbe Strategie
im Hinblick auf Y an. Diese »Mitläuferhaltung« ist ein Ausdruck des
Gleichgewichts der Kräfte, das zumindest lokal und vorläufig den Erfolg
der Problematisierung sicherstellt. Also ist es möglich, Problematisierun­
gen zu erdenken, die eine aus der anderen abgeleitet werden, jedoch nur,
solange klar anerkannt wird, dass Deduktion niemals mehr als eine erfolg­
reiche Übersetzung ist.
Verhandlung 1: Die angesprochene Gruppe stimmt allem zu außer der
Formulierung ihres eigenen vorgeschlagenen Problems; also tritt sie in ei­
ne begrenzte, detaillierte Verhandlung ein. Der definierte Kontext wird
nicht in Frage gestellt, der zugewiesene Schauplatz nicht angefochten
(Knorr 1977). Es werden jedoch verschiedene Veränderungen verlangt. Z.B.
werden einige Forscher in dem Labor, dem Y vorsteht, in Zusammenarbeit
mit A leicht die Art verändern, in der die Studie formuliert ist, mit der sie
betraut wurden, wobei sie sie verfeinern und artikulieren. Besonders ein
Forscher wird seine Aufmerksamkeit auf die Reaktion selbst und ihren
Mechanismus konzentrieren, statt die Katalyse der Depolarisierungsreak­
tionen zu untersuchen. So weicht er leicht von der ursprünglich vorge­
schlagenen Studie ab.
Verhandlung 2: Die angesprochene Gruppe stimmt überhaupt nicht zu,
außer zu der Formulierung des ihr zugewiesenen Problems. In anderen
Worten ist sie bereit, in die besondere, vorgeschlagene Untersuchung
einzutreten, beabsichtigt aber weder, sich in das dargestellte kollektive
Unternehmen einzufügen, noch wird sie die vorgeschlagenen sozio-kogni­
tiven Verhältnisse in der dargestellten Weise akzeptieren. Hier kann die
Kritik in verschiedenen Feldern wirken. Sozial: Die angesprochene Gruppe
betrachtet die vorgeschlagene Ballung von Interessen als unnatürlich;
kognitiv: Sie betrachtet die Beziehungen zwischen den postulierten Prob­
lemen als fraglich. Dies ist die Meinung der Industriellen, die Y in seine
Forschungsprogramme einschließt. Sie stimmen den vorgeschlagenen
Themen zu, verweigern jedoch die Kooperation, womit sie auf lange Sicht
das Unternehmen zum Untergang verurteilen (Callon 1979).
Opposition: Die angesprochene Gruppe zweifelt die problemati-
70 j MICHEL GALLON

sehe Situation als Ganzes an. Sie ficht aktiv die Formulierung des ihr
zugewiesenen Problems sowie auch die gesamte Reihe von Voraussetzun­
gen, die der Problematisierung zugrunde liegen, an. Z und B verfolgen
eine solche Strategie. B weigert sich z.B., sich auf die Katalyse von Oxido­
reduktionsreaktionen in Brennstoffzellen zu konzentrieren. Er verlagert die
Frage, transformiert sie in einen besonderen Aspekt einer allgemeineren
Studie, in der die Brennstoffzelle und die DG RST nicht auftauchen.
Als Ausdruck des Wunsches, eine Vielzahl von Gruppen aufzubieten,
führt die problematische Situation zu Reaktionen. Durch seine Problemati­
sierung lädt Y G1, G2, G3 etc. dazu ein, dem Unternehmen beizutreten.
Diese Gruppen reagieren wiederum jede auf ihre Weise: A folgt, B ist in
Opposition, die Industriellen verhandeln. Die Übersetzungen sind in vari­
ierenden Graden erfolgreich, die Interessen werden nur teilweise einge­
gliedert. Die Problematisierung erhält an einer Stelle Unterstützung und
provoziert an anderer vehemente Reaktionen. A und B reagieren - und das
ist vom soziologischen Standpunkt aus das Wesentliche-, weil sie gegen
ihren eigenen Willen in Ys Problematisierung einbezogen sind. Interaktion
ist zwischen Y, A und B möglich, weil sie von Y in seiner Fusionszone
platziert worden sind.
Es werden eine Kette von Beziehungen, eine Reihe von Verschiebungen
und eine Folge von Übersetzungen gebildet, die in den verschiedenen
Gruppen Zustimmung hervorrufen oder Widerstand provozieren. X prob­
lematisiert und mobilisiert Y, der folgt. Y problematisiert nun wiederum
und mobilisiert A, der nun folgt. A problematisiert und ... die Folge könnte
ewig weitergehen. Eine ziemlich andere Kette von Ereignissen wäre genau­
so möglich gewesen: X problematisiert, Y folgt, B ist in Opposition ... er
baut eine andere problematische Situation auf und beginnt damit, seiner­
seits Unterstützung zu suchen. Sein zunehmender Erfolg impliziert Ys
Versagen. Als geschlagener Mann verlässt Y seinen Posten als Leiter des
Labors. Schauen wir uns Bs Karriere weiter an. Er vergrößert sein Imperi­
um, weitet seine Übersetzungen aus und setzt sie durch. Niemals wieder
wird eine Problematisierung wie die von X eine Erfolgschance haben. Oft
gibt es Abzweigungen im Weg, Umleitungen, manchmal umgekehrte Re­
aktionen, sogar Schleifen, durch die ein Protagonist eliminiert werden
kann. Als Resultat dieser Endlosbewegung, in der Übersetzungen durchge­
setzt werden und dann zerfallen, werden Gewissheiten aufgebaut und Re­
alitätskategorien errichtet. Unsere Analyse steht damit im Kontrast zu der
von Dewey (1977), obwohl er Konzepte verwendete, die unseren ähnlich
sind. Der Effekt der Handlung des Akteurs ist nicht der, Stabilität und
Ordnung, sondern lokale Instabilität zu schaffen. Mit der Schaffung sol­
cher Instabilität steigt die Möglichkeit von Autonomie.10

10 1 Vgl. die sehr gelungene Analyse eines Romans von Toumier durch Deleuze
(1969).
DIE Sozro-LOGIK DER ÜBERSETZUNG 1 71

Ein letzter Punkt muss noch betrachtet werden. Wir haben soeben
Strategien beschrieben, die als Reaktionen auf eine Problematisierung
auftreten. Aber unter welchen Bedingungen treten sie auf? Warum folgt Y
X? Warum widersetzt sich B? Die Antwort kann man im Konzept des Kapi­
tals von Bourdieu (1979) finden, wenn auch nicht in der Weise, wie es dort
verstanden wird. Ein Konzept ist nicht ein Bestand. So ist Xs Kapital mehr
als seine sozialen Beziehungen, sein Prestige und seine einflussreiche
Position. Er ist mehr als eine Menge Ressourcen. Ökonomen sind sich sehr
bewusst, dass identische Ressourcen zu unterschiedlichen Strategien füh­
ren können, von denen einige zum Scheitern, andere zum Erfolg führen.
Kapital kann nicht von der Art abgetrennt werden, in der es verwendet
wird, um Interessen zu inkorporieren, Unterstützung zu suchen, zu inter­
venieren, zu übersetzen und zu überzeugen. Diese Valorisierungsstrate­
gien müssen erforscht werden, wenn die Kraft der Problematisierung und
ihre Macht, Unterstützung aufzubieten, eingeschätzt werden sollen (Cal­
lon/Latour 1981).

Schlussfolgerung

(1) Unter Verwendung des Konzepts der problematischen Situation mit


seiner Unterscheidung zwischen einer Zone der Fusion und einer Zone
der Spaltung können wir die natürliche Opposition überschreiten, die oft
zwischen dem Sozialen einerseits und dem Kognitiven andererseits wirkt.
Die Analyse problematischer Situationen, die zeigt, wie diese organisiert
sind, wirft Licht auf den Prozess, durch den die Grenzen zwischen dem
Sozialen und dem Kognitiven ständig neu definiert werden. Die Zone der
Fusion ist der Schmelztiegel, in dem praktische Kategorien ausgearbeitet
werden, während sie in der Zone der Spaltung konsolidiert werden. Man
muss jedoch festhalten, dass diese Spaltungen immer mit einer spezifi­
schen problematischen Situation verbunden sind. Unter diesen Bedingun­
gen müssen Konzepte wie das des sozialen Kontextes sicherlich verworfen
werden. Sie erkennen die Realität der Problematisierung nicht und neh­
men als selbstverständlich an, was tatsächlich für die Protagonisten auf
dem Spiel steht. Problematisieren heißt unter anderem, soziale Kontexte
für sich selbst und für andere zu produzieren.
(2) Zusätzlich ermöglicht das Konzept der Problematisierung eine Dis­
kussion über die Bedeutung der Soziologie des Inhalts. Meine Sicht ist die
Folgende: Es ist nur möglich, Inhalt aus dem Inneren einer problemati­
schen Situation zu diskutieren - nachdem man definiert hat, was als prob­
lematisch und was als unproblematisch betrachtet wird. Der Soziologe ist
in derselben Situation gefangen wie der Wissenschaftler. Er kann nicht
umhin, die Frage zu beantworten, wo die Grenzen liegen zwischen dem,
was sicher und dem, was unsicher ist, zwischen Fusion und Spaltung.
72 J MICHEL GALLON

Wenn man über Inhalt spricht, geht der Soziologe von bereits existieren­
den Problematisierungen aus. Wie kann er unter diesen Bedingungen sei­
ne Unternehmung von der des Wissenschaftlers abgrenzen? Dies ist eine
schwierige Frage, aber ich glaube, ich habe zumindest den Umriss einer
Antwort. Es ist selten, vielleicht sogar unmöglich, dass eine Problematisie­
rung sich selbst durchsetzt, ohne auf irgendein Hindernis zu stoßen. An
ihrer Seite und ihr entgegen springen Oppositions- und Verhandlungsstra­
tegien auf, obwohl sie letztlich zum Scheitern verurteilt sind. Die Protago­
nisten selbst üben eine aktive, niemals endende Kritik aus, mit dem Ergeb­
nis, dass eine gegebene Problematisierung immer von anderen Problema­
tisierungen parasitiert wird (Serres 1980). Wie die Etymologie von »parasi­
tiert« nahe legt, bedeutet es, sich selbst an jemandes Seite zu platzieren, ei­
nen Bruch zu schaffen, einen Unterschied, während man zur selben Zeit
Verbindungen aufrechterhält. Es bedeutet (zumindest im Französischen),
eine Nachricht zu beeinträchtigen, Information zu verzerren. Interferenz
kann ewig anhalten, Kritik und Reaktionen darauf bilden eine abzweigende
Kette, die niemals unterbrochen wird - außer der Parasit verschlingt sei­
nen Wirt. Dies passiert dann, wenn eine Problematisierung Erfolg darin
hat, das, was sie kritisiert, zu zerstören. Soziologische Analyse muss ihre
Heimstatt innerhalb dieser Reihe von Übersetzungen finden. Der Soziolo­
ge fügt den von den Protagonisten produzierten Übersetzungen eine weite­
re hinzu: Er ist ein Parasit, der von anderen Parasiten lebt. In dieser Hin­
sicht ist er wie alle anderen Akteure. Er kann im Prinzip sein Unterneh­
men nicht von dem des Wissenschaftlers differenzieren. Er unterscheidet
sich nur darin, dass der praktische Fokus seines Interesses der der Über­
setzung ist - die Sozio-Logik des Parasitismus. Er wird genährt von dem
ewig wiederkehrenden Parasitismus, den er um sich herum erforscht.

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Die Demontage des großen Leviathans:

Wie Akteure die Makrostruktur der Realität

bestimmen und Soziologen ihnen dabei helfen

MICHEL CALLON UND BRUNO LATOUR

»Kannst du seine Haut mit Stacheln spicken?[...] Lege nur deine Hand
daran - denke an den Kampf! - du tust es nicht wieder[...]. Niemand ist
so kühn, dass er es aufa,eckte, und wer kann vor ihm bestehen?«
(Hiob 40, 26f; Hiob 41, 1)1

Hobbes' Paradoxon

Die Ausgangslage: Eine Menge gleicher, egoistischer, gesetzlos in einem


erbarmungslosen, als >�Krieg jeder gegen jeden« bezeichneten Naturzu­
stand lebender Menschen (vgl. Hobbes 1978: 185). Wie kann dieser Zu­
stand beendet werden? Jeder kennt Hobbes' Antwort: durch einen Vertrag,
den jeder mit allen anderen abschließt und der einem oder einer Gruppe
von Menschen, die keinem andern untergeordnet sind, das Recht gibt, im
Namen aller zu sprechen. Sie werden damit zum »Akteur« - und die Men­
ge jener, die durch Verträge miteinander verbunden sind, zu »Autoren«
(ebd.: 218). Auf diese Weise »autorisiert« (ebd.: 219), stellt der Souverän die
Person dar, die vorgibt, was die anderen sind, was sie wollen und was sie
wert sind, Buchhalter aller Schulden, Bürger aller Gesetze, Schreiber aller
Eigentumsregister, oberste Bewertungsstelle aller Ränge, Meinungen, Ur­
teile und Währungen. Der Souverän ist zum Leviathan geworden, diesem
»sterblichen Gott, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden
und unseren Schutz verdanken« (ebd.: 227).

11 Die Bibelzitate sind nach der Zürcher Bibel wiedergegeben [Anm. d. Hg.].
76 \ MICHEL GALLON UND BRUNO LATOUR

Die von Hobbes vorgeschlagene Lösung ist für die politische Philoso­
phie von Interesse. Indem sie zum ersten Mal deutlich die Beziehung zwi­
schen Mikro- und Makro-Akteuren formuliert, erhält sie für die Soziologie
allergrößte Wichtigkeit. Hobbes sieht keinen Niveau- oder Größenunter­
schied zwischen den Mikro-Akteuren und dem Leviathan, der nicht das Er­
gebnis einer Transaktion darstellt. Die Menge, so Hobbes, ist gleichzeitig die
Form und die Materie der politischen Körperschaft; dabei wird die Kon­
struktion dieses künstlichen Körpers so kalkuliert, dass der absolute Souve­
rän nichts anderes als die Summe der Wünsche der Menge ist. Obwohl der
Begriff »Leviathan« im Allgemeinen mit dem des »totalitären Monsters«
gleichgesetzt wird, macht dieser bei Hobbes keine Aussage aufgrund sei­
ner eigenen Autorität, d.h., er äußert sich nicht, ohne von der Menge, als
deren Sprecher, Maskenträger und Verstärker er dient, dazu autorisiert
worden zu sein (ebd.: 217). Der Souverän steht weder durch die Natur noch
durch seine Funktion über dem Volk, noch stellt er ein höheres, größeres
Wesen von andersartiger Substanz dar. Er ist das Volk selbst in einem an­
deren Zustand -wie wir von einem gasförmigen oder festen Zustand spre­
chen.
Dieser Punkt scheint uns von außerordentlicher Wichtigkeit zu sein,
und in diesem Artikel möchten wir seine Konsequenzen untersuchen.
Hobbes behauptet, es gäbe keinen ihrer Natur inhärenten Unterschied zwi­
schen den Akteuren. Alle Unterschiede hinsichtlich Niveau, Größe und
Fähigkeiten stellen Ergebnisse eines Kampfes oder einer Verhandlung dar.
Man kann nicht aufgrund ihrer Dimensionen zwischen Makro-Akteuren
(Institutionen, Organisationen, sozialen Klassen, Parteien, Staaten) und
Mikro-Akteuren (Individuen, Gruppen, Familien) unterscheiden, da sie alle
gewissermaßen »die gleiche Größe« haben - oder vielmehr: Da ihre Größe
primär in ihren Kämpfen entschieden wird, ist sie auch das wichtigste
Ergebnis dieser Kämpfe. Für Hobbes wie für uns stellt sich nicht die Auf­
gabe, Makro- und Mikro-Akteure zu klassifizieren oder das, was wir von
Ersteren und Letzteren wissen, zu versöhnen, sondern erneut die alte
Frage aufzuwerfen: Auf welche Weise kann ein Mikro-Akteur zu einem
Makro-Akteur werden? Wie können viele wie eine/-r handeln?
Die Originalität des von Hobbes gestellten Problems wird teilweise von
seiner Lösung - dem sozialen Vertrag - verborgen, deren Unmöglichkeit
durch die Geschichte, Anthropologie und neuerdings auch Ethologie er­
wiesen wurde. Der Vertrag stellt jedoch eine besondere Instanz eines gene­
relleren Phänomens dar: dem der Übersetzung.2 Übersetzung umfasst
alle Verhandlungen, Intrigen, Kalkulationen, Überredungs- und Gewaltak­
te3 , dank derer ein Akteur oder eine Macht die Autorität, für einen ande-

2 1 Das Konzept wurde von Serres (r974) entwickelt und dann von Callon (r976)
auf die Soziologie angewendet.
3 1 Sogar das Opfer bei Girard (r978) stellt nichts anderes als eine erhabene und
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 77

ren Akteur oder eine andere Macht zu sprechen oder zu handeln, an sich
nimmt oder deren Übertragung auf sich veranlasst.4 »Unsere Interessen
sind dieselben«, »Tu, was ich will«, »Du kannst ohne mich keinen Erfolg
haben« - immer wenn ein Akteur von »uns« spricht, übersetzt er oder sie
andere Akteure in einen einzigen Willen, dessen Geist und Sprecher/-in er
oder sie wird. Er oder sie beginnt, für mehrere zu handeln - nicht nur für
eine/-n -, wird damit stärker, wächst. Der soziale Vertrag zeigt in einer
Rechtsterminologie, am Ursprung der Gesellschaft in einer unumstößli­
chen Alles-oder-Nichts-Zeremonie, welche Übersetzungsprozesse sich in
empirischer und umkehrbarer Weise, in einer Vielzahl detaillierter, alltäg­
licher Verhandlungen offenbaren. Der Vertrag muss nur durch Überset­
zungsprozesse ersetzt werden, um den Leviathan zum Wachsen zu brin­
gen und damit Hobbes' Lösung ihre Originalität zurückzugeben.
Das Ziel dieses Artikels besteht darin aufzuzeigen, was aus der Soziolo­
gie wird, wenn wir Hobbes' zentrale Hypothese beibehalten - vorausge­
setzt, wir ersetzen den Vertrag durch ein allgemeines Übersetzungsgesetz.
Wie können wir die Gesellschaft beschreiben, wenn unser Ziel in der Ana­
lyse der Konstruktion von Größenunterschieden zwischen Mikro- und
Makro-Akteuren besteht?
Die von uns zur Beschreibung des Leviathans aufgestellten methodolo­
gischen Beschränkungen sollten nicht missverstanden werden; unsere
Bemühungen würden ihr Ziel vollständig verfehlen, wenn wir zwischen
»Individuen« und »Institutionen« unterscheiden und dabei annehmen
würden, dass die Erstgenannten in die Sphäre der Psychologie, die Zweiten
in die Wirtschaftsgeschichte fielen.5 Es gibt natürlich Makro- und Mikro­
Akteure; die Unterschiede zwischen ihnen werden jedoch durch Machtver­
hältnisse und die Konstruktionen von Netzwerken hergestellt, die sich der
Analyse entziehen, wenn wir a priori annehmen, dass Makro-Akteure größer
oder überlegener seien als Mikro-Akteure. Solche Machtverhältnisse und
Übersetzungsprozesse tauchen noch einmal und deutlicher auf, wenn wir
Hobbes in seiner seltsamen Annahme folgen, dass alle Akteure isomorph

grausame Form von Vertrag und ein bestimmter Fall von Übersetzung dar. Es kann
nicht zur Grundlage anderer Formen gemacht werden.
4 1 Der Begriff»Akteur« hat von jetzt an die semiotische Definition von Greimas
(im »Dictionnaire semiotique« r979) als »jede Diskurseinheit, [die] eine Rolle inne
hat«; wie der Begriff »Kraft« ist er keinesfalls nur auf Menschen begrenzt.
5 1 Vgl. die vernichtende Kritik der Psychoanalyse durch Deleuze und Guattari
(r972). Für sie besteht kein Größenunterschied zwischen einem Kindertraum und
dem Reich eines Eroberers oder der Erzählung eines Familienlebens und einer poli­
tischen Geschichte. Das Unbewusste ist nicht »individuell«, sodass wir in unseren
innersten Träumen noch innerhalb der gesamtpolitischen Körperschaft agieren und
umgekehrt.
.,
78 1 MICHEL GALLON UNO BRUNO LATOUR

sind.6 Isomorphie bedeutet nicht, dass alle Akteure dieselbe Größe haben,
sondern dass es a priori keinen Weg gibt, die Größe festzulegen, da diese
das Ergebnis eines langen Kampfes darstellt. Die beste Art, diesen Sach­
verhalt zu verstehen ist, Akteure als Netzwerke aufzufassen. Zwei Netz­
werke können dieselbe Gestalt haben, obwohl das eine nur punktuell auf­
tritt, während das andere sich über das ganze Land erstreckt; genau wie der
Souverän einer unter anderen sein und gleichzeitig die Personifizierung
aller anderen darstellen kann. Das Büro des Financiers ist nicht größer als
die Werkstatt des Schusters, genauso wenig wie sein Gehirn, seine Kultur,
das Netzwerk von Freunden oder seine Welt. Der Letztgenannte ist jedoch
>nur< ein Mann, der Erste hingegen ein ,großer Mann<.
Zu häufig wechseln Soziologen - genauso wie Politiker oder der Mann
auf der Straße - ihren Analyserahmen in Abhängigkeit davon, ob sie mit ei­
nem Makro- oder einem Mikro-Akteur, dem Leviathan oder einer sozialen
Interaktion, der Kultur oder individuellen Rollen umgehen. Indem sie den
Analyserahmen wechseln, bestätigen sie die Machtverhältnisse, geben sie
dem Gewinner Hilfestellung und dem Verlierer das »vae victis«. Das Prob­
lem ist dringlich geworden, da gegenwärtig kein Soziologe Makro- und
Mikro-Akteure mit denselben Werkzeugen und Argumenten untersucht.
Stattdessen nehmen sie die Niveauunterschiede zwischen milao- und mak­
ro-sozialer Analyse noch immer als selbstverständlich an, obwohl sie sie in
einer breiten Synthese versöhnen wollen (Duster 1981; Bourdieu 1981).
Es scheint, als hingen Soziologen zu oft einer irrigen Meinung an: Ent­
weder glauben sie an die Existenz von Makro-Akteuren und antizipieren
deren Stärke, indem sie ihnen zu einem stärkeren Wachstum verhelfen.7
Oder sie leugnen ihre Existenz, und wenn sie denn einmal existieren, ver­
weigern sie uns das Recht, sie zu erforschen.8 Diese beiden alternieren­
den, aber symmetrischen Fehler rühren jedoch von derselben Vorannahme
her: in der Akzeptanz der gegebenen Tatsache, dass Akteure von verschie­
dener oder gleicher ,Größe< sein können. Sobald wir diese Vorannahme
zurückweisen, werden wir wiederum mit Hobbes Paradoxon konfrontiert:
Kein Akteur ist größer als ein anderer außer durch eine zu untersuchende
Transaktion (Übersetzung). Wenn man Hobbes Paradoxon treu bleibt,
vermeidet man symmetrische Fehler und versteht das Wachstum des Levi­
athans, wie wir in diesem Artikel zeigen werden.

6 1 An diesem wie an den meisten Punkten fehlt Hobbes Originalität (vgl. Mac­
pherson 1962). Nicht der Marxismus hilft das, was Hobbes' Theorie zugrunde liegt,
zu interpretieren, sondern im Gegenteil: der Letztere kann erklären, was Ersterem
zugrunde liegt.
7 1 Vgl. die Schlussfolgerung dieses Kapitels.
8 1 Bspw. Cicourel (1964) als ein Beispiel für Erfordernisse, die dem Beobachter
die Hände binden. Ethnomethodologen haben seitdem die Beschränkungen dessen,
was man über die Gesellschaft aussagen kann, vermehrt.
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS J 79

In Abschnitt 2 versuchen wir, das folgende Paradoxon zu lösen: Wenn


alle Akteure isomorph sind und keiner von Natur aus größer oder kleiner
ist, wieso stellen sie dann entweder Makro-Akteure oder Individuen dar? In
Abschnitt 3 werden wir untersuchen, wie Akteure zu- und abnehmen und
wie die von uns vorgeschlagenen Methoden uns befähigen, ihnen durch
ihre verschiedenen Größestadien zu folgen, ohne den Analyserahmen än­
dern zu müssen. Zuletzt betrachten wir in der Schlussfolgerung die Rolle
der Soziologen in solchen Veränderungen der relativen Größe etwas detail­
lierter.

Paviane oder der unmögliche Leviathan

Verlassen wir Hobbes' Mythos des Leviathans und wenden uns stattdessen
einem anderen zu: dem unmöglichen Affen-Leviathan oder der Schwierig­
keit, Makro-Akteure innerhalb einer in der Wildnis lebenden Pavianherde
aufzubauen.9 Hobbes glaubte, dass Gesellschaft nur unter Menschen ent­
steht. ' 0 Man glaubte dies eine relativ lange Zeit, bis man Ansammlungen
von Tieren näher untersuchte und herausfand, dass Theorien über das
Entstehen von Gesellschaften genauso wie auf Menschen auch auf Prima­
ten, Ameisen und Hunde zutreffen. Diese >ungeordneten< Herden von
wilden Tieren - fressend, sich paarend, heulend, spielend und miteinander
in einem Durcheinander von Haaren und Fängen kämpfend - deckt sich
ziemlich genau mit dem von Hobbes dargelegten »Naturzustand«. Ohne
Zweifel ist das Leben eines Pavians »einsam, arm, widerwärtig, roh und
kurz« (Hobbes 1978: 186). Dieses Bild totaler Unordnung ermöglichte von
Anfang an die Bildung eines Kontrasts zwischen menschlicher Gesellschaft
und tierischem Wesen, sozialer Ordnung und Chaos. Zumindest hat man
Tiere so gesehen, bis die Menschen tatsächlich damit begannen, sie aus der
Nähe zu erforschen. Als Forscher vor dem Zweiten Weltkrieg und intensi­
ver noch seit den 195oer Jahren damit begannen, Paviane zu studieren, gab
jeder von ihnen eine andere Rekonstruktion von Hobbes' Leviathan ab."
Die Paviane lebten nicht länger in ungeordneten Verbänden, sondern in
rigiden Kohorten, in denen die Weibchen und ihre Jungen von dominan-

9 1 Der größte Teil dieses Kapitels wurde von der Arbeit Shirley Strums inspi­
riert. Sie ist keinesfalls verantwortlich für die unangenehme Situation, in die wir
ihre Paviane gebracht haben, sondern nur für die neue und revolutionäre Art, in der
sie Tiersoziologe versteht. Zur direkten Referenz vgl. Strum (1975a: 672-791, 1975b:
755-757, 1982). Zur Analyse des Bindeglieds zwischen Primatologie und politischer
Philosophie vgl. Haraway (1978: 21-60).
10 1 Außer Insekten, natürlich, Hobbes (1978: 225).
111 Zwei allgemeinere Darstellungen in Kummer (1973) und Rowell (1972). Zum
historischen Hintergrund vgl. Haraway (1978, 1983).
80 1 MICHEL GALLON UND BRUNO LATOUR

ten, entsprechend einer strikten Hierarchie organisierten Männchen um­


geben waren. In den 197oem wurde das Bild einer pyramidenförmigen
Gesellschaft von Affen als Kontrastbild für menschliche Gesellschaften
verwendet, denen jedoch eine größere Flexibilität, Freiheit und Komplexität
unterstellt wurde. Über 30 Jahre wurde die Erforschung von Primaten als
Projektionsfläche benutzt: Zuerst beobachtete man tierisches Chaos, dann
ein rigides, beinahe totalitäres System. Paviane mussten den Leviathan re­
konstruieren und deshalb vom Krieg aller gegen alle zum absoluten Ge­
horsam übergehen.
Trotzdem haben den Tieren näher stehende Beobachter nach und nach
einen unterschiedlichen Leviathan herausgearbeitet. Tatsächlich verfügen
die Paviane über eine Organisation, in der nicht alles gleichermaßen mög­
lich ist. Ein Tier kommt nicht jedem anderen gleich nah, ein Tier bedeckt
oder laust nicht ein zufälliges anderes oder geht willkürlich beiseite - auch
Tiere können nicht hingehen, wohin sie wollen. Diese Organisation ist je­
doch niemals starr genug, um ein integriertes System zu bilden. Als die
Beobachter ihre Paviane langsam besser kennen lernten, wurden die Do­
minanzhierarchien flexibler und lösten sich schließlich auf - zumindest
was die Männchen betraf (Strum 1982). Die primäre Aggressivität nahm
ab: Sie wurde als beständig kanalisiert und sozialisiert betrachtet, bis die
Gruppen von Pavianen am Ende erstaunlich ,zivilisiert< erschienen. Die
berühmten elementaren Impulse, die den Krieg aller gegen alle antrieben -
fressen, kopulieren, dominieren, sich vermehren -, wurden durch das
Spiel sozialer Interaktionen ausgesetzt, zum Halten gebracht oder gebeugt.
Es gibt weder Chaos noch ein rigides System. Jetzt leben die Paviane in
Einheiten, von denen keine weder starr noch flexibel ist. Zu den Unter­
scheidungen der Größe, des Geschlechts, des Alters und sozialer Bezie­
hungen treten die der Familie, des Clans und der Freundschaftsnetzwerke
oder sogar die durch Traditionen und Bräuche bedingten Gewohnheiten.
Keine dieser Kategorien ist klar definiert, da alle zusammen ins Spiel
kommen und auch wieder auseinander brechen können. Beobachter kon­
struieren die Paviangesellschaft nun als eine, deren Textur viel stärker als
erwartet, aber gleichzeitig auch bedeutend flexibler ist als von den For­
schern der Nachkriegszeit, die dies für ein Chaos wilder Tiere hielten, an­
genommen.
Damit die Paviangesellschaft gleichzeitig so flexibel und fest gefügt sein
konnte, wurde eine erstaunliche Hypothese vorgebracht: Dem Affen muss­
te mehr und mehr extensive Sozialkompetenz verliehen werden, um ihn
zur Reparatur, Vervollständigung und unaufhörlichen Festigung des Ge­
webes einer so komplexen Gesellschaft zu befähigen. 12 Das Leben eines
Pavians innerhalb der neuen, für ihn geschmiedeten Gesellschaft ist nicht

12 1 Dies war bereits sichtbar in Kummer (1968) und sehr klar ausformuliert in
Kummer (1978: 687-707).
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 81

einfach; es stellt sich tatsächlich als nicht weniger schwierig dar als unser
eigenes in ethnomethodologischen Arbeiten enthülltes Leben. Ein Pavian
muss ständig bestimmen, wer wer ist, wer überlegen und wer unterlegen,
wer die Gruppe leitet und wer folgt, wer beiseite treten muss, um ihm den
Weg frei zu machen. Als einzige Orientierungshilfe dienen ihm vage Sets,
deren Logik dazu ausgelegt ist, hunderte von Elementen zu umfassen. Je­
des Mal ist es - im Wortlaut der Ethnologen - notwendig, das Register
bzw. die Indexikalität zu reparieren. Wer ruft? Was will er sagen? Keine
Markierungen, keine Kleider, keine klaren Zeichen. Natürlich gibt es viele
Zeichen, Knurren und Hinweise, aber keines von ihnen ist tatsächlich ge­
nügend unzweideutig. Nur der Kontext gibt Aufschluss, jedoch kann die
Vereinfachung und Einschätzung des Kontextes ebenfalls Kopfzerbrechen
bereiten. Aus diesem Grund vermitteln uns diese Tiere heute einen so selt­
samen Eindruck; im Herzen des Urwalds lebend sollten sie nichts anderes
zu tun haben als zu fressen und sich zu paaren - stattdessen besteht ihre
einzige Sorge darin, ihre Beziehungen zu stabilisieren oder - nach Hobbes
- Körper auf dauerhafte Weise mit anderen Körpern zu verbinden. Im sel­
ben Ausmaß wie wir bauen sie eine Gesellschaft auf, die ihre Umgebung,
ihren Schutz, ihre Aufgabe, ihr Spiel und ihre Bestimmung darstellt.
Zur Vereinfachung könnte man sagen, dass es sich bei Pavianen um
»soziale Tiere« handelt. Wie wir wissen, leitet sich das Wort »sozial« von
»socius« ab, das seinerseits mit »sequi«, »folgen«, verwandt ist. Zuerst geht
es also darum zu folgen, dann eine Allianz zu bilden oder sich einer beste­
henden anzuschließen, schließlich etwas gemeinsam zu haben, zu teilen.
Einige handeln wie eine Einheit; die soziale Verbindung besteht. Paviane
verhalten sich auf dieselbe Weise sozial wie alle sozialen Tiere: Sie folgen
einander, binden sich gegenseitig in Rollen ein, bilden Allianzen, teilen be­
stimmte Verbindungen und Territorien. Sie verhalten sich aber auch inso­
fern sozial, als sie ihre Allianzen, Verbindungen und Abgrenzungen nur
durch die uns Menschen von Ethnomethodologen für die Reparatur der
Indexikalität zugeschriebenen Werkzeuge und Prozeduren erhalten und
verstärken können. Sie stabilisieren fortwährend die Verbindungen zwi­
schen Körpern, indem sie auf andere Körper einwirken.'3
Aber unter den Pavianen sind es die lebenden Körper alleine, die - wie
Hobbes es fordert - zur gleichen Zeit Form und Materie des Leviathans
bilden. Was aber geschieht, wenn dies so ist? Es gibt keinen Leviathan. Wir
müssen nun die zentrale Frage wie folgt formulieren: Wenn die Paviane
die Forderungen Hobbes erfüllen und uns das Schauspiel einer Gesell­
schaft ohne soliden Leviathan oder dauerhafte Makro-Akteure liefern, auf
welche Weise werden dann die soliden, dauerhaften Makro-Akteure kon-

13 1 Dies ist entweder der Fall in der Art der Soziologie Bourdieus, die Kummer
verwendet, um seine Paviane zu beschreiben (1978), oder im soziobiologischen My­
thos der Verteidigung von Investitionen.
82 1 MICHEL CALLON UND BRUNO LATOUR

struiert, deren Bildung wir überall in menschlichen Gesellschaften verfol­


gen können?
Hobbes war der Meinung, der Leviathan könnte mit Körpern erbaut
werden; allerdings bezog er sich ausschließlich auf Paviane. Sein Leviathan
hätte niemals gebaut werden können, wenn die Körper gleichzeitig Form
und Materie des sozialen Körpers dargestellt hätten. Um eine Gesellschaft
zu stabilisieren muss jeder - gleichgültig, ob es sich dabei um Affen oder
Menschen handelt - Bindungen ins Spiel bringen, die die sie fonnenden In­
teraktionen überdauern; die Strategien und Ressourcen können zwischen
menschlichen und Paviangesellschaften variieren. Statt z.B. in der Art ei­
nes Pavians geradewegs auf die Körper von Kollegen, Eltern oder Freunden
einzuwirken, können Menschen sich solidieren und sich weniger variablen
Materialien zuwenden, um auf eine dauerhaftere Weise auf die Körper der
Kollegen, Eltern oder Freunde einzuwirken. Im Naturzustand ist niemand
stark genug, um jeder Koalition standzuhalten. 14 Wenn man jedoch den
Naturzustand transformiert, indem man so weit als möglich unbesiegelte
Allianzen durch Wände und geschriebene Verträge, die Ränge durch Uni­
formen und Tätowierungen und reversible Freundschaften durch Namen
und Zeichen ersetzt, erhält man einen Leviathan.

»[S]ein Verschluss ein Siegel von Stein. Eines fügt sich ans andre, kein Lüftchen
drängt sich dazwischen. Ein jedes hängt fest an dem andern; sie schließen zusam­
men, lassen sich nicht trennen.« (Hiob 41, 6-8)

Man erhält einen Unterschied in der relativen Größe, wenn ein Mikro-Ak­
teur zusätzlich zu den eingegliederten Körpern auch die größte Anzahl
dauerhafter Materialien eingliedern kann. Er oder sie schafft Größe und
Langlebigkeit, die anderen dagegen werden vergleichsweise klein und kurz­
lebig. Genau in einem Punkt, den die Analyse oft vernachlässigt, liegt das
Geheimnis des Unterschieds zwischen Mikro- und Makro-Akteuren. Die
Primatologen verschweigen, dass den Pavianen zur Stabilisierung ihrer
Welt keines der menschlichen, von den Beobachtern manipulierten In­
strumente zur Verfügung steht; Hobbes verschweigt, dass kein noch so fei­
erliches Versprechen den Vertragspartnern genügend Furcht einflößt, um
sie zum Gehorsam zu zwingen. Weiter verschweigt er, dass das, was den
Souverän furchterregend und den Vertrag feierlich macht, lediglich der Pa­
last, von dem aus er spricht, die ihn umgebenden, gut ausgerüsteten Ar­
meen und die ihm dienenden Schriftgelehrten mit ihren Geräten sind. '5

14 1 In Bezug auf Menschen vgl. Hobbes (1978: 183) und in Bezug auf Paviane vgl.
Strum (1982).
15 1 In seinem »Myth of the Machine« versucht Mumford (1966), verschiedene
Arten von Materialien zu integrieren, wobei ihm allerdings zwei Fehler unterlaufen:
Erstens ist er zu sehr der Maschinenmetapher verhaftet, statt sie aufzulösen; zwei-
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 83

Die Ethnomethodologen vergessen, den Sachverhalt in ihre Analyse zu in­


tegrieren, dass kontextuelle Mehrdeutigkeit in menschlichen Gesellschaf­
ten teilweise reduziert wird durch ganze Arsenale von Werkzeugen, Be­
stimmungen, Wänden und anderen, nur ansatzweise analysierten Objek­
ten. Wir müssen nun hinzufügen, was ihre Analyse ausgelassen hat, und
mit denselben Methoden die Strategien untersuchen, die Körper, Materia­
lien, Techniken, Gefühle, Gesetze und Organisationen einbinden. Statt den
Untersuchungsgegenstand in Dichotomien von sozial oder technisch,
menschlich oder tierisch, mikro oder makro zu teilen, behalten wir für un­
sere Analyse nur Gradienten der Widerstandefähigkeit und betrachten ledig­
lich die Variationen relativer Solidität und Dauerhaftigkeit von verschiedenen
Materialien.
Durch die Verbindung von Materialien mit verschiedener Dauerhaftig­
keit wird eine Reihe von Praktiken so in eine Hierarchie eingeordnet, dass
einige stabil werden und nicht mehr länger beachtet werden müssen. Auf
diese Weise vollzieht sich >Wachstum<. Um einen Leviathan aufzubauen ist
es nötig, etwas mehr als Beziehungen, Allianzen und Freundschaften in
Rollen einzubinden. Ein Akteur wächst mit der Anzahl von Beziehungen,
die er oder sie in so genannten »Black Boxes« ablegen kann. Eine Black
Box enthält, was nicht länger beachtet werden muss - jene Dinge, deren
Inhalte zum Gegenstand der Indifferenz geworden sind. Je mehr Elemente
man in Black Boxes platzieren kann - Denkweisen, Angewohnheiten, Kräf­
te und Objekte-, desto größer sind die Konstruktionen, die man aufstellen
kann. Natürlich bleiben Black Boxes niemals vollständig geschlossen oder
richtig abgesperrt - wie es in manchen Fällen besonders bei den Pavianen
vorkommt -; Makro-Akteure können jedoch vorgeben, sie wären verschlos­
sen und dunkel. Obwohl wir- wie die Ethnomethodologen gezeigt haben-
alle fortwährend um die Schließung undichter Black Boxes kämpfen, müs­
sen Makro-Alcteure wenigstens nicht alles mit gleicher Intensität verhandeln.
Sie können weitermachen und sich auf eine Kraft verlassen, während sie
um eine andere verhandeln. Wenn sie dabei nicht erfolgreich wären, könn­
ten sie die soziale Welt nicht vereinfachen. Mechanisch ausgedrückt könn­
ten sie keine Maschine produzieren - was bedeutet, dass sie eine fortwäh­
rende Willensanstrengung verbergen, um den Eindruck von sich selbst
bewegenden Kräften zu erwecken. In der Terminologie der Logik könnten
sie keine Argumentationskette aufstellen - was bedeutet: Sie könnten kei­
ne unter bestimmten Prämissen ablaufende Diskussion stabilisieren und
Folgerungen erlauben oder eine Ordnung zwischen verschiedenen Ele­
menten etablieren.

tens nimmt er die Größe der Megamaschine als selbstverständlich an, statt ihrer
Genealogie nachzugehen. Dasselbe gilt für Leroi-Gourhan (1964): Obwohl er sich
bemüht, die Grenzen zwischen Technik und Kultur zu verwischen, favorisiert er
dennoch eine Art von Trennung und Determinismus.
84 1 MICHEL CALLON UND BRUNO LATOUR

Falls der Ausdruck »Black Box« zu starr erscheint, um die Kräfte zu be­
schreiben, die die Stapel von Boxen verschließen, hermetisch versiegeln
und undurchsichtig machen, bietet sich eine andere Metapher an, die
Hobbes verwendet haben könnte, hätte er Waddington (1977) gelesen. In
den ersten Augenblicken der Befruchtung sind alle Zellen gleich, jedoch
sehr schnell bildet sich eine epigenetische Landschaft heraus, aus der be­
stimmte, zur Irreversibilität neigende Routen herausgeschnitten werden.
Diese werden als »Chreoden« bezeichnet. Dann beginnt die zellulare Diffe­
renzierung. Ob wir nun von Black Boxes oder Chreoden sprechen, immer
beziehen wir uns auf die Erschaffung von Asymmetrien. Stellen wir uns
nun einen Körper vor, in dem Differenzierung niemals vollständig irrever­
sibel zu machen ist, in dem jede Zelle versucht, die anderen in eine irre­
versible Spezialisierung zu zwingen und viele Organe permanent für sich
beanspruchen, der Kopf des Programms zu sein. Wenn wir uns ein solches
Monstrum vorstellen, haben wir damit schon ein ziemlich deutliches Bild
des vor unseren Augen wachsenden Körpers des Leviathans.
Das Paradoxon, mit dem wir die Einleitung beendet haben, ist nun auf­
gelöst. Obwohl alle Akteure isomorph sind, enden wir mit Akteuren ver­
schiedener Größe, weil einige von ihnen dauerhaft mehr Elemente in Black
Boxes deponieren und damit ihre relative Größe verändern konnten. Die
Frage der Methode ist ebenfalls gelöst. Wie können wir Makro- und Mikro­
Akteure untersuchen - so fragten wir uns-, ohne Größenunterschiede zu
bestätigen? Antwort: Indem wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf das So­
ziale, sondern auf die Prozesse lenkten, durch die ein Akteur dauerhafte
Asymmetrien schafft. Es braucht uns dabei nicht weiter zu interessieren,
dass unter diesen Prozessen einige zu Verbindungen führen, die man >So­
zial<- also Verbindungen von Körpern- und andere, die man >technisch<
- Verbindungen von Materialien - nennen könnte. Einzig die Unterschie­
de zwischen den in Black Boxes deponierten Elementen und jenen, die für
zukünftige Verhandlungen offen zur Verfügung stehen, sind relevant für
unsere weitere Betrachtung.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es sich bei Makro-Akteu­
ren um Mikro-Akteure handelt, die über vielen (undichten) Black Boxes
platziert sind. Sie sind weder größer noch komplexer als Mikro-Akteure; im
Gegenteil verfügen sie über dieselbe Größe und sind tatsächlich einfacher
als Mikro-Akteure, wie wir sehen werden. Wir können nun betrachten, wie
der Leviathan struktu�iert ist, weil wir wissen, dass wir uns nicht von der
relativen Größe der Meister beeindrucken oder von der Dunkelheit der
Black Boxes erschrecken lassen müssen.
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 85

Ein Essay über Teratologie

In diesem Abschnitt verlassen wir Hobbes' barbarischen, legalistischen Le­


viathan und auch den »Busch- und Savannen«-Leviathan, den wir bei den
Pavianen in Aktion beobachtet haben. Stattdessen verfolgen wir einen Teil
des riesigen, mythischen Monstrums in einem modernen Kontext: die Art,
in der zwei Akteure - »Electricite de France« (EDF) und »Renault« - im
Verlauf eines in den 197oer Jahren zwischen ihnen ausgetragenen Kamp­
fes ihre relativen Dimensionen veränderten (Callon 1978a, 1978b).
Um die üblichen Unterscheidungen (makro/mikro, menschlich/tie­
risch, sozial/technisch), von denen wir gezeigt haben, dass sie nicht sehr
zweckdienlich sind, zu ersetzen, brauchen wir eine den oben angeführten
methodologischen Prinzipien entsprechende Terminologie. Was ist ein
»Akteur«? Jedes Element, das Raum um sich herum beugt, andere Elemen­
te von sich abhängig macht und deren Willen in seine eigene Sprache
übersetzt. Ein Akteur bewirkt Veränderungen in der Menge von Elementen
und Konzepten, die für gewöhnlich zur Beschreibung der sozialen und der
natürlichen Welt verwendet wird; indem er festlegt, was zur Vergangenheit
gehört und woraus die Zukunft besteht, was vorher war und danach
kommt, indem er Bilanzen aufstellt und Chronologien aufzeichnet, er­
zwingt er seinen eigenen Raum und seine eigene Zeit. Er definiert den
Raum und seine Organisation, Größen und ihre Maße, Werte und Stan­
dards, die Gewinne und Regeln des Spieles - sogar die Existenz des Spiels
selbst. Oder er erlaubt einem anderen, mächtigeren Alcteur als er selbst
diese Festlegung. Der Kampf um das Wesentliche ist oft beschrieben wor­
den, jedoch nur wenige haben herauszufinden versucht, wie ein Akteur
diesen Asymmetrien Dauerhaftigkeit verleihen, wie er eine Zeitlichkeit und
einen Raum festlegen kann, die anderen aufgezwungen werden. Dennoch
ist die Antwort auf diese Frage im Prinzip ganz einfach: durch das Einbin­
den dauerhafterer Elemente, die an die Stelle der vorläufigen Niveauunter­
schiede treten, die er/sie etablieren konnte. Schwache, reversible Interak­
tionen werden durch starke ersetzt. Zuvor konnten die vom Akteur domi­
nierten Elemente in alle Richtungen entkommen, aber das ist nun nicht
länger möglich; statt einer Vielzahl von Möglichkeiten finden wir Kräfte­
linien, obligatorische Passagepunkte, Richtungen und Deduktionen.16
'
»Electricite de France« und »Renault«: Hybriden und Chimären

Nehmen wir den Fall der »Electricite de France« (EDF), die in den frühen
197oer Jahren darum kämpfte, ein Elektrofahrzeug auf den Marlct zu brin­
gen. Mit dem Ziel, das ideale Elektrofahrzeug zu entwickeln, wagt die EDF

:1.6 1 Umfangreichere Beschreibungen befinden sich in Nietzsche (1974); Deleuze/


Guattari (1979); Latour (1981).
86 1 MICHEL GALLON UND BRUNO LATOUR

sich auf ein ihr völlig neues Terrain; sie vollzieht das, indem sie die Totali­
tät einer Welt neu definiert, aus der sie das, was natürlich ist, und das, was
technisch ist, ausschneidet. Die EDF platziert die Entwicklung industrieller
Gesellschaften als Ganzes in einer Black Box und bindet sie zum eigenen
Vorteil in eine Rolle ein. Den Ideologen dieses öffentlichen Unternehmens
zufolge ist der totale Konsum der Nachkriegsjahre dem Untergang ge­
weiht; deshalb muss die Richtung zukünftiger Produktion das Glück des
Menschen und seine Lebensqualität mit in Betracht ziehen. Diese Sicht
unserer zukünftigen Gesellschaft vor Augen schlussfolgern die Ideologen,
dass die benzinbetriebenen Autos - die am besten den Erfolg und die
Sackgassen des Wachstums um seiner selbst willen symbolisieren - nun
ebenfalls dem Untergang geweiht seien. Die EDF schlägt vor, den Schluss
aus dieser »unausweichlichen« sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung
zu ziehen und den internen Verbrennungsmotor nach und nach durch ein
Elektrofahrzeug zu ersetzen.
Nachdem auf diese Weise die soziale Entwicklung definiert wurde, be­
stimmt die EDF weiter die Entwicklung der Technik, die dabei sorgfältig
von der der sozialen Welt getrennt wird: eine neue unanfechtbare und un­
ausweichliche Black Box. Die EDF beschließt, das Problem des VEL (das
elektrische Fahrzeug) als ein Generatorenprobelm zu betrachten. Nachdem
diese Prämissen einmal festgelegt worden sind, bezeichnet die EDF ver­
schiedene Wahlmöglichkeiten - die sie evokativ »Kanäle« nennt. Eine Rei­
he von Prozeduren, von Laboratorien, Industriellen und - am wichtigsten -
eine Chronologie sind immer unausweichlich mit jedem Kanal verbunden.
Vorausgesetzt, dass die Blei-Akkumulatoren zufrieden stellend von dieser
oder jener Firma entwickelt werden, können sie bis 1982 Verwendung fin­
den; 1982-90 werden dann die Jahre der Zink-Nickel-Akkumulatoren und
der Zink-Luft-Zirkulationsgeneratoren sein; von 1990 an stehen Brenn­
stoffzellen zum Gebrauch bereit. Diese Folge von Entscheidungen setzt
sich aus verstreuten, verschiedenen Kontexten entnommenen Elementen
zusammen - herausgefiltert von EDFs Ingenieuren, Führungskräften und
Ideologen, wo immer sie auffindbar waren. Aus diesen verstreuten Teilen
erschafft die EDF ein Netzwerk von Kanälen und regulierten Sequenzen.
Mit der Herstellung paralleler Verbindungen zwischen den übergrei­
fenden sozialen und technischen Kanälen gibt sich die EDF aber nicht zu­
frieden; sie beginnt, die Produkte, die die Industriellen produzieren möch­
ten, und die Bedürfnisse, die die Kunden und Konsumenten spüren, in ei­
ne einfache Sprache zu übersetzen. EDF sieht einen riesigen Markt für
Blei-Akkumulatoren - jene für leichte kommerzielle Fahrzeuge - voraus;
Zink-Akkumulatoren werden mit Sicherheit für den Einsatz in elektrischen
Taxis bevorzugt, während Brennstoffzellen mit Sicherheit den privaten Au­
tomarkt in seiner Gesamtheit erobern.
Innerhalb einer Spanne von einigen wenigen Jahren beginnt die EDF
durch das Organisieren der Kanäle, Zweigstellen und Entwicklungen, die
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS j 87

tiefsten Wünsche, das technische Wissen, die Bedürfnisse und Fähigkeiten


einer großen Anzahl von Akteuren zu übersetzen. Folglich stntlcturiert die
EDF eine Realität, indem sie eine gigantische organisatorische Karte er­
stellt, auf der jede Black Box, d.h. jedes abgegrenzte Inselchen, durch Pfeile
mit anderen Boxen verbunden ist. Die Inselchen sind geschlossen, die Pfei­
le eindeutig - der Leviathan ist strukturiert. Der Akteur sagt dir, was du
willst, wozu du in 5, ro oder 15 Jahren in der Lage sein wirst, in welcher
Reihenfolge du was tun wirst, was du besitzen willst und wozu es bei dir
reichen wird. Und du glaubst es wirldich, du identifizierst dich mit dem Ak­
teur und wirst ihm oder ihr mit aller Kraft helfen, unwiderstehlich angezo­
gen von den Niveau-Unterschieden, die er oder sie geschaffen hat. Was
Hobbes noch als Austausch von Worten während einer Periode universel­
len Kriegszustandes beschrieben hat, sollte folgendermaßen subtiler ge­
fasst werden: Ein Akteur formuliert, was ich will, weiß, tun kann, stellt he­
raus, was möglich und was unmöglich, was sozial und was technisch ist -
die parallele Entwicldung und Eröffnung eines Marktes für Zink-Taxis und
elektrische Postautos. Wie hätte ich widerstehen können, wenn das genau
das darstellt, was ich will, wenn darin die korrekte Übersetzung meiner un­
formulierten Wünsche besteht?
Ein Akteur wie die EDF zeigt deutlich auf, wie der Leviathan praktisch -
nicht juristisch - aufgebaut ist. Er deutet sich selbst in jedem Element an
und unterscheidet nicht zwischen Elementen aus dem Bereich der Natur
(Katalyse, Textur von Gittern in der Brennstoffzelle), der Wirtschaft (Kosten
für ein Auto mit internem Verbrennungsmotor, der Markt für Busse) oder
der Kultur (Stadtleben, >Homo automobiles<, Furcht vor Umweltver­
schmutzung). Er verbindet alle diese verstreuten Elemente in einer Kette
untrennbar miteinander; man muss sie durchlaufen wie eine sich entfal­
tende Argumentationskette - als würde ein System entwickelt oder ein Ge­
setz angewendet. Diese Kette oder Sequenz folgt einer Chreode oder einer
Reihe von Chreoden, die so den Handlungsspielraum anderer Akteure,
ihre Positionen, Wünsche, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten bestimmen;
was sie tun wollen und wozu sie in der Lage sein werden, ist kanalisiert.
Auf diese Weise deponiert die EDF - wie jeder Leviathan - nach und nach
Interaktionen; es existiert nun etwas einem Inhalt und etwas einem Behäl­
ter Vergleichbares, wobei der Inhalt von flüssiger, der Behälter von fester
Form ist. Unser Willen fließt in die EDF-Kanäle und Netzwerke; wir eilen
in Richtung des elektrischen Motors, wie das Wasser eines Flusses an Stei­
nen und von Hydraulik-Ingenieuren entworfenen Betonröhren vorbei
Richtung Seine eilt. Bestimmte Akteure werden dabei dank der vorherge­
henden Mineralisierung zur Form des Körpers des Leviathans, andere zu
seiner Materie - im Gegensatz zu Hobbes' Behauptung.
Wie wir bereits festgestellt haben, ist ein Akteur niemals allein - trotz
allem, was er hat; vergeblich füllt er die soziale Welt aus, totalisiert Ge­
schichte und die Willenszustände - er kann niemals allein sein, da alle Ak-
88 1 MICHEL GALLON UND BRUNO LATOUR

teure isomorph sind und ihn jene, die er in Rollen einbindet, auch wieder
verlassen können. Die Rolle eines Akteurs erfuhr z.B. im Rahmen der groß
angelegten Verbindung der Notwendigkeiten eine Neudefinierung durch
die EDF. »Renault«, die zu jener Zeit benzinbetriebene Autos produzier­
ten, schienen einer glänzenden Zukunft entgegenzusehen und den indus­
triellen Fortschritt in Frankreich zu symbolisieren. Die EDF veränderte
ihre Bestimmung und nahm ihnen damit die Zukunft. Jetzt symbolisiert
»Renault« durch die Verstopfung der Städte, die Umweltverschmutzung
und die Zukunft der industriellen Gesellschaft die dem Untergang geweih­
ten Industrien und ist -wie die anderen -gezwungen, Änderungen in ih­
rer geplanten Produktion vorzunehmen: »Renault« möchte nun die Fahr­
gestelle für die von der EDF geplanten elektrischen Fahrzeuge bauen. Die­
se bescheidene Rolle liegt der Firma und entspricht dem, was sie unbe­
dingt will. Also passt sich »Renault« wie das restliche Frankreich dem Wil­
len der EDF an und bewegt sich mit ihr in Richtung auf eine vollkommen
elektrische Zukunft.
Bis jetzt haben wir noch nicht erläutert, ob es sich dabei für die EDF
um eine Traumkonstruktion ihrer Ingenieure oder um die Realität handelt.
Tatsächlich ist diese Unterscheidung nicht a priori zu fällen, da es sich da­
bei um die Basis des Kampfes zwischen den Alcteuren handelt. Das Elek­
trofahrzeug ist >real<. Die Akteure, denen die EDF sich genähert hat und
die sie dazu mobilisieren konnte, die Rolle der -von EDF für sie entworfe­
nen -soliden Grundlage zu übernehmen, bleiben bei den von dem öffent­
lichen Unternehmen festgelegten Niveau-Unterschieden. Nun geschieht
jedoch etwas, das uns dabei helfen wird zu verstehen, was wir bereits seit
dem Anfang des Kapitels zu erklären suchten: wie relative Dimensionen
verändert werden.
In einigen Jahren wird »Renault« als autonomer Akteur verschwunden
sein. Zusammen mit dem Benzinmotor ist das Unternehmen dem Unter­
gang geweiht und hat keine andere Wahl, als seine Aktivitäten neu auszu­
richten -es sei denn, die von der EDF vor und um sich projizierte Land­
schaft kann umgeformt werden. Aber ist das möglich? Innerhalb der ersten
Jahre erweist sich »Renault« als unfähig, sich gegen EDFs Vorhersagen zu
behaupten; alle stimmen darin überein, dass das Privatauto keine Zukunft
hat.
Wie kann man diese Black Box öffnen? Nach übereinstimmender An­
sicht aller Soziologen wird niemand mehr ein Privatauto haben wollen.
Wie ist diese Situation umkehrbar? Wer kann technische Ignoranz im Sze­
nario eines Betriebs, der das Produktions- und Vertriebsmonopol für Elek­
trizität besitzt, entlarven? Unter diesen Umständen scheint die einzige
Möglichkeit im Scheitern »Renaults« zu bestehen, sodass einzig die best­
mögliche Anpassung an die neue Landschaft - ohne benzinbetriebene
Fahrzeuge -übrig bleibt. »Renault« zeigt jedoch kein Interesse am Ver­
schwinden, sondern möchte autonom und ungeteilt bleiben und selbst
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS j 89

über die soziale und technische Zukunft der industriellen Welt entschei­
den. Was die EDF so fest verbunden hat, würde »Renault« liebend gern
trennen. Deshalb beginnt »Renault«, das Gefüge zu unterminieren, die
Wände zu untersuchen, verlorenen Grund zu ersetzen, Verbündete zu su­
chen. Wie kann »Renault« eine Vision, die - bei unvorsichtigem Vorgehen
- morgen bereits Wirklichkeit ist, ins Reich der Fiktion verbannen? Wie
kann es die EDF dazu zwingen, ihren Entwurf nicht in die Praxis umzuset­
zen?
Die EDF prophezeite, dass niemand mehr ein benzinbetriebenes Auto
haben wolle; dennoch wächst die Nachfrage nach solchen Fahrzeugen trotz
steigender Benzinpreise dauerhaft an. Diese beiden von der EDF in einer
starken Interaktion verbundenen Elemente erweisen sich in der Praxis als
trennbar. Die Ölpreise können gleichzeitig mit der Nachfrage nach Autos,
gleichzeitig mit dem Kampf gegen Umweltverschmutzung und mit der
Verstopfung der Städte ansteigen. »Renaults« Hoffnung steigt wieder - es
beginnt die Wünsche der Verbraucher auf andere Weise zu übersetzen:
Jetzt wollen sie um jeden Preis das traditionelle Privatauto. Als Ergebnis
ändert sich die Zukunft ein weiteres Mal: Dem elektrischen Auto fehlt jeg­
licher natürliche Marlct. Dies spricht sich herum. Die Naturgesetze in der
Lesart des EDF-Leviathans sind nicht dieselben wie die durch »Renault«
interpretierten. Seiner Natur folgend verlangt der Verbraucher in Hinsicht
auf Geschwindigkeit, Komfort und Beschleunigung eine Leistung, die das
elektrische Auto niemals erbringen kann. Eine von EDFs Prämissen ist
damit bereits hinfällig, ein Niveau-Unterschied eingeebnet oder aufgefüllt,
eine der Black Boxes geöffnet und entweiht. »Renault« wird kühner. Wenn
EDFs Interpretation der sozialen Entwicklung aus dem Gleis geworfen
werden kann, vielleicht trifft das auch für ihr Wissen über Elelctrochemie
zu? Vielleicht könnten die technischen Anforderungen ebenfalls geändert
werden?
Damit macht sich »Renault« an die langwierige Aufgabe, die von der
EDF geknüpften Verbindungen aufzulösen. Jede Interaktion wird getestet,
jede Kalkulation überprüft, jede Black Box geöffnet; Ingenieure werden
noch einmal befragt, Laboratorien erneut besucht, Berichte noch einmal
geprüft, der Stand der Elektrochemie in Frage gestellt. Die EDF hatte be­
schlossen, bestimmte Informationen zu vereinfachen und eine Vielzahl
von Zahlen, die »Renault« nun als widersprüchlich betrachtet, einzubezie­
hen. Als Folge wird die Chronologie gestört. Während die EDF den inter­
nen Verbrennungsmotor als Sackgasse betrachtete, entdeckt »Renault«
nun, dass er durch den Einsatz bestimmter Elelctronik so weit perfektio­
niert werden kann, um für Jahrzehnte unschlagbar zu sein. Umgekehrt
hatte die EDF bestimmte, auf Zink-Aldcumulatoren weisende Kanäle er­
wähnt. »Renault« macht noch einmal eine neue Rechnung auf: bewertet
die Schätzungen, holt eine andere Expertenmeinung ein und legt den Zink­
Akkumulator technisch so gründlich zu den Akten, das er bestenfalls für
90 1 MICHEL GALLON UND BRUNO LATOUR

den Einsatz in einigen Kipplastern zu gebrauchen ist und auch das nur
sehr viel später als von der EDF veranschlagt. In vergleichbarer Weise stell­
te der von der EDF als Brennstoffzelle bezeichnete »Kanal« für »Renault«
eine Sackgasse dar. Statt die Chreode darzustellen, durch die der Wille der
Ingenieure floss, verkam sie zu einem bloßen Rinnsal. Das Nachsehen hat­
ten die Laboratorien, die die falsche technische Revolution unterstützt und
all ihre Hoffnungen auf die Erforschung der Katalyse gesetzt hatten. Wie
die Flüsse in China, die manchmal ihren Verlauf ändern, änderten Anfor­
derungen und technische Kanäle ihre Richtungen. Die Industriegesell­
schaft bewegte sich in Richtung auf eine vollkommen elektrische Zukunft,
setzte aber dann ihren majestätischen Verlauf in Richtung auf ein Privat­
auto mit verbessertem Verbrennungsmotor fort. Als sich »Renault« ver­
größerte, sah ihre Zukunft bedeutend rosiger aus als jemals vor dieser
Konfrontation, während die EDF im Verhältnis dazu schrumpfte. Statt das
Transportwesen zu bestimmen und »Renault« auf die Rolle eines Unterge­
benen zu reduzieren, musste die EDF sich aus dem Feld zurück- und ihre
Truppen abziehen und die Welt, die sie aus dem Traum eines Ingenieurs
bauen wollte, transformieren.

Die Regeln der soziologischen Methode

Diese Konfrontation verdeutlicht die Struktur des Leviathans und macht


keine a-priori-Unterscheidung zwischen der Größe eines Akteurs, dem
Realen und dem Irrealen, dem Notwendigen und dem Kontingenten sowie
dem Technischen und dem Sozialen. Alles ist in diese primordialen, den
Leviathan strukturierenden Kämpfe verwickelt: der Stand der Techniken,
die Natur des Sozialsystems, die geschichtliche Evolution, die Dimensio­
nen der Akteure sowie die Logiken selbst. Sobald die soziologische Sprache
die Vermutung umgeht, dass es a-priori-Unterscheidungen zwischen den
Akteuren geben könnte, werden diese Kämpfe als dem Leviathan zugrunde
liegende, fundamentale Prinzipien enthüllt. Dennoch ist auch die soziolo­
gische Analyse involviert, da sie den Verbindungen und Auflösungen folgt;
sie folgt ihnen jedoch nur dort, wo sie von den Akteuren produziert wer­
den. Die Akteure können sich zu einem Millionen von Individuen umfas­
senden Block zusammenschließen; sie können Allianzen mit Eisen, Sand­
körnern, Neuronen, Wörtern, Meinungen und Affekten eingehen. All das
hat wenig Bedeutung, solange sie mit derselben Freiheit verfolgt werden
können, die sie selbst praktizieren. Man kann den Leviathan nicht analysie­
ren, wenn man einer bestimmten Art von Verbindung - z.B. Verbindun­
gen von Menschen mit Menschen, Eisen mit Eisen, Neuronen mit Neuro­
nen - oder einer besonderen Größe der Faktoren den Vorzug gibt. Soziolo­
gie kann nur lebendig und produktiv wirken, wenn sie alle Verbindungen
mit zumindest derselben Kühnheit untersucht, wie die, die sie herstellen.
In den vorab beschriebenen primordialen Konflikten gibt es - wenigs-
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 91

tens für eine Weile - tatsächlich Gewinner und Verlierer. Das einzige Inte­
resse unserer Methode liegt darin, diese Variationen messen und die Ge­
winner benennen zu können. Deshalb betonen wir, dass sie alle in dersel­
ben Weise betrachtet und unter Verwendung ähnlicher Konzepte behan­
delt werden müssen. Welche Konzepte befähigen uns nun, den Akteuren
in allen ihren Verbindungen und Trennungen zu folgen, ihre Siege und
Niederlagen zu erklären, jedoch ohne dass wir an alle Arten von Erforder­
nissen, die sie beanspruchen, glauben? Wie wir gesehen haben wird jeder
Akteur in dem Ausmaß stärker, in dem er oder sie eine große Anzahl von
Elementen fest an sich binden - und natürlich wie schnell er mögliche
Elemente aus der Rollenbindung anderer Akteure lösen - kann. Stärke
liegt demzufolge in der Macht, Bindungen zu trennen oder herzustellen
(Hobbes 1978: 150). Allgemeiner ausgedrückt bedeutet das: Stärke beinhal­
tet Intervention, Unterbrechung, Interpretation und Interesse, wie Serres
(1980) überzeugend dargelegt hat. Ein Akteur ist also insofern stark, als er
zur Intervention fähig ist. Was bedeutet Intervention? Kehren wir zum Le­
viathan zurück: Du willst Frieden - ich auch; damit wir uns vertragen, ge­
hen wir miteinander einen Vertrag ein. Bei den Pavianen äußert sich das
folgendermaßen: Sara frisst eine Nuss; Beth erscheint, verdrängt sie,
nimmt ihren Platz und ihre Nuss. Zurück zur EDF: Ein Labor untersucht
die Brennstoffzelle. Die Ingenieure werden befragt, ihre Kenntnisse verein­
facht und mit »in 15 Jahren werden wir über eine Brennstoffzelle verfügen«
zusammengefasst. Noch einmal der Leviathan: Wir sind einen Vertrag ein­
gegangen, aber eine dritte Partei ist erschienen, die nichts respektiert und
uns beide bestielt. Noch einmal die Paviane: Sara jault auf, was ihren treu­
en Freund Brian auf den Plan ruft, der nun in eine Rolle eingebunden
wird, sich Beth nähert und sie verdrängt. Die Nuss fällt auf den Boden und
Brian nimmt sie. Noch einmal die EDF: Die Ingenieure von »Renault« le­
sen die Literatur noch einmal und ändern ihre Schlussfolgerungen: »Es
wird in 15 Jahren keine Brennstoffzelle geben.« All das gehört noch zum
»Krieg aller gegen alle«. Wer wird am Ende als Sieger hervorgehen? Detjeni­
ge, der durch irreversible Bindung die größte Anzahl von Elementen asso­
ziieren und damit einen besonderen Zustand von Machtbeziehungen stabi­
lisieren kann. Was bedeutet in diesem Zusammenhang »assoziieren«? Wir
kehren noch einmal zum Leviathan zurück. Zwei Akteure können nur
dann untrennbar sein, wenn sie einen einzigen ergeben; dazu müssen ihre
Willen äquivalent sein. Der oder diejenige, der oder die die Äquivalenz er­
hält, bewahrt das Geheimnis der Macht. Durch das Zusammenspiel von
Äquivalenzen können bislang verstreute Elemente in ein Ganzes integriert
werden und dazu beitragen, andere Elemente zu stabilisieren.
92 1 MICHEL GALLON UND BRUNO LATOUR

»Niemand ist so kühn, dass er es aufweckte,


und wer kann vor ihm bestehen?« (Hiob 41,1)

Im Vergleich zu dem von Soziologen enthüllten Leviathan stellt der von


Hobbes beschriebene eine angenehme Idealisierung dar:

»Die Kunst geht noch weiter, indem sie auch jenes vernünftige, hervorragendste
Werk der Natur nachahmt, den Menschen. Denn durch Kunst wird jener große
Leviathan geschaffen, genannt Gemeinwesen oder Staat, auf lateinisch civitas, der
nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch, wenn auch von größerer Gestaltung
und Stärke als der natürliche, zu dessen Schutz und Verteidigung er ersonnen
wurde. Die Souveränität stellt darin eine künstliche Seele dar, die dem ganzen Körper
Leben und Bewegung gibt, die Beamten und anderen Bediensteten der Jurisdiktion
und Exekutive künstliche Gelenke[...].« (Hobbes 1978: 18; 1966: 5)

Der Leviathan ist ein Körper, der selbst nach dem Bild einer Maschine
entworfen wurde. Es gibt ein einziges Strukturprinzip - den Plan eines In­
genieurs - und eine homogene, das Ganze ordnende Metapher, die des
Automaten. Der reale Leviathan ist bei weitem monströser. Ist er eine Ma­
schine? Ja, aber was wäre eine Maschine ohne denjenigen, der sie bedient?
Nicht mehr als eine unnütze Menge Eisen. Deshalb hat die Metapher des
Automaten keine Gültigkeit. Wenn die Maschine sich bewegen, sich selbst
erbauen und selbst reparieren kann, muss sie ein lebendiges Wesen sein.
Werfen wir kurz einen Blick auf die Biologie. Was ist ein Körper? Wiede­
rum eine Maschine, von der es allerdings unterschiedliche Arten gibt:
thermale, hydraulische, kybernetische, Daten verarbeitende - bei denen
ebenfalls der Bediener fehlt. Sollen wir schließen, dass es sich um eine
Reihe chemischer Austauschvorgänge und physikalischer Interaktionen
handelt? Können wir es mit einem Marktinteresse oder einem Austausch­
system vergleichen? Womit wäre es im wirtschaftlichen Bereich vergleich­
bar? Wiederum mit chemischen Interaktionen - diese wiederum mit ei­
nem Feld sich bekämpfender Kräfte. Der Leviathan stellt ein solches Mons­
trum dar, dass sein Wesenskern nicht in einer der üblicherweise verwende­
ten großartigen Metaphern stabilisiert werden kann. Er ist gleichzeitig Ma­
schine, Markt, Code, Körper und Krieg. Manchmal werden Kräfte wie in
einer Maschine übertragen, ein anderes Mal werden Bedienungsdiagram­
me auf dieselbe Weise wie kybernetische Feedbacks eingesetzt. Manchmal
existiert ein Vertrag, manchmal automatische Übersetzung. Niemals kann
jedoch die gesamte Menge von Elementen mit nur einer dieser Metaphern
beschrieben werden. Wie im Fall der aristotelischen Kategorien springen
wir von einer Metapher zu einer anderen, wenn wir die Bedeutung einer
von ihnen festzulegen versuchen.
Der Leviathan ist jedoch auch noch auf andere Weise monströs. Wie
wir gesehen haben, gibt es nicht nur einen Leviathan, sondern viele, wie
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 93

Chimären ineinander verschränkte, wobei jeder von ihnen für sich bean­
sprucht, die Realität aller, das Gesamtprogramm, zu repräsentieren. Unter
Umständen gelingt es einem von ihnen, die anderen so schrecldich zu ver­
zerren, dass er für eine Weile tatsächlich die einzige Seele in diesem künst­
lichen Körper zu sein scheint. Der Leviathan ist jedoch auch deshalb mons­
trös, weil Hobbes ihn lediglich aus Verträgen und idealen, vermutlich nack­
ten, menschlichen Körpern aufbaute. Da die Akteure Erfolg haben, indem
sie sich mit anderen Elementen als menschlichen Körpern verbinden kön­
nen, ist das Ergebnis erschreckend: Stahlplatten, Paläste, Rituale und ver­
härtete Gewohnheiten fließen auf der Oberfläche einer zähflüssigen, Gela­
tine ähnlichen Masse, die gleichzeitig wie der Mechanismus einer Maschi­
ne, der Austausch eines Marktes und das Rattern eines Fernschreibers
funktioniert. Manchmal werden ganze Elemente von Fabrik- oder techni­
schen Systemen durch niemals zuvor aktive Kräfte wieder abgetrennt und
zergliedert. Im Gegenzug produzieren diese Kräfte den groben Umriss ei­
ner Chimäre, den andere wiederum schnellstmöglich zergliedern. Weder
Hiob auf seinem Misthaufen noch die Teratologen in ihren Labors haben
jemals furchtbarere Monster beobachtet.
Es ist unmöglich, von diesem primordialen Kampf, der jegliches von
politischer Philosophie, Geschichte und Soziologie als unbestreitbar be­
trachtetes Rahmenwerk zur Beschreibung umfasst, nicht in Angst und
Schrecken versetzt zu sein. Genauso unmöglich ist es, sich von der Flut der
Ansprachen der Leviathane über sich selbst nicht erschrecken zu lassen.
An manchen Tagen und mit einigen Personen gestatten sie sich selbst,
sich vermessen oder abbauen zu lassen (abhängig davon, ob sie an diesem
Tag ein Körper oder eine Maschine zu sein beschließen), an anderen stel­
len sie sich tot oder geben vor, eine Ruine (Metapher eines Gebäudes) oder
eine Leiche (biologische Metapher) zu sein - oder aber ein großer, aus ei­
nem Museum für Industriearchäologie stammender Eisenhaufen. Zu an­
deren Zeiten gefallen sie sich darin, unergründlich zu sein und sich selbst
Monstrosität und Unnahbarkeit zuzugestehen, um sich im nächsten Au­
genblick - abhängig von ihrem Publikum - auf einer Couch auszustrecken
und ihre geheimsten Gedanken zu flüstern oder im Schatten eines Beicht­
stuhls zu kauern, ihre Fehler zu bekennen und ihre Größe oder Kleinheit,
Härte oder Weichheit, dass sie alt oder jung sind zu bereuen. Wir können
noch nicht einmal feststellen, dass sie sich in einem fortwährenden Zu­
stand der Metamorphose befinden, da sie sich nur fleckenweise verändern
und ihre Größe nur langsam variieren, beschwert und belastet mit den
enormen technischen Einrichtungen, die sie ausgesondert haben, um zu
wachsen und um genau diese Kraft der Metamorphose einzuschränken.
Diese Leviathane ähneln eher einer endlosen Baustelle in irgendeiner
großen Metropole; es gibt jedoch keinen sie überwachenden verantwortli­
chen Architekten, keinen Entwurf - noch nicht einmal einen ansatzweise
durchdachten. Jedes Rathaus und jeder Werber, jeder König und jeder Vi-
94 \ MICHEL GALLON UND BRUNO LATOUR

sionär beansprucht aber, den alles umfassenden Plan zu besitzen und die
Bedeutung der Erzählung zu kennen. Ganze Bezirke werden danach ausge­
legt. Es werden Straßen auf der Basis dieses Gesamtplans eröffnet, den an­
dere Kämpfe oder andere Willensäußerungen bald auf den egoistischen
und spezifischen Ausdruck einer Periode (oder eines Individuums) zu­
rückstufen. Fortwährend- aber nicht überall gleichzeitig- werden Straßen
eröffnet, Häuser dem Erdboden gleich gemacht, Wasserverläufe zuge­
schüttet. Zuvor veraltet oder sogar gefährlich erschienene Bezirke werden
neu belebt; moderne Gebäude kommen aus der Mode und werden zerstört.
Wir kämpfen um das, was unser Erbe ausmacht, um Transportmethoden
und zu befolgende Abläufe. Verbraucher sterben und werden von anderen
ersetzt, Schaltkreise erzwingen ihre Anerkennung graduell, indem sie In­
formationen durch ihre Drähte laufen lassen. Hier und dort zieht sich ei­
ner zurück und akzeptiert das von anderen bestimmte Schicksal; andere
entschließen sich dazu, sich selbst fortan als individuellen Akteur zu defi­
nieren, der nichts weiter ändern wird als die Aufteilung der Wohnung oder
die Schlafzimmertapete. Zu anderen Zeiten verbinden sich Akteure, die
sich zuvor immer als Mikro-Akteure definierten- und auch von anderen
so definiert wurden-, miteinander, um einen bedrohten Bereich herum,
marschieren zum Rathaus und binden regimekritische Architekten in Rol­
len ein. Durch diese Aktion erreichen sie, dass eine Umgehungsstraße
umgeleitet oder ein von einem Makro-Akteur erbauter Turm abgerissen
wird. Oder wie im Beispiel der berühmten »Trou des Halles« im Zentrum
von Paris bringen sie zusätzlich zu den hunderten, von der Pariser Regie­
rung bereits erwogenen Projekten noch einmal 600 alternative vor. Wie im
französischen Kindervers wächst ein kleiner Akteur zu einem Makro-Ak­
teur an: »Die Katze wirft den Topf um, der Topf den Tisch, der Tisch das
Zimmer, das Zimmer das Haus, das Haus die Straße, die Straße ganz Pa­
ris: Paris, Paris ist gefallen!« Es ist unmöglich zu wissen, wer groß und wer
klein, wer hart, wer weich, heiß oder kalt ist; der Effekt dieser sich plötzlich
bewegenden Zungen und ohne Vorwarnung zuschnappenden Black Boxes
formt eine Stadt, unzählige Leviathane mit der Schönheit der Bestie oder
den Kreisen der Hölle.
Hobbes' Leviathan ähnelt im Vergleich zu dem hier beschriebenen tat­
sächlich eher einem Paradies. Im Fall der Paviane entspricht er dem
Traum einer unverfälschten Gesellschaft inmitten der noch wilden Schön­
heit der Savanne. Das Monstrum, das wir sind, wir bewohnen und wir
entwerfen, singt ein anderes Lied. Wenn Weber und seine intellektuellen
Nachfolger feststellten, das Monster sei »entmythologisiert«, lag dies in
ihrer Einschüchterung durch Techniken und Makro-Akteure begründet,
wie wir jetzt aufzeigen werden.
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 95

Schlussfolgerung: der soziologische Leviathan

Um zu wachsen, müssen wir andere Willen in Rollen einbinden, indem


wir das, was sie wollen, übersetzen und diese Übersetzung so verdingli­
chen, dass niemand von ihnen mehr etwas anderes wünscht. Hobbes be­
schränkte diesen Übersetzungsprozess auf das, was wir heute »politische
Repräsentation« nennen. Die verstreuten Willen werden dazu in der Per­
son des Souveräns rekapituliert, der uns sagt, was wir wollen und dessen
Wort keinen Widerspruch duldet und Gesetzeslaaft besitzt. Dennoch ist
bereits viel Zeit vergangen, seit »politische Repräsentation« allein genügte,
um den Willen der Menge zu übersetzen. Nach der politischen Wissen­
schaft beansprucht nun auch die Wirtschaftswissenschaft, nicht nur ge­
nauestens Auskunft über den Willen der den Leviathan formenden Güter,
Dienstleistungen und Personen geben zu können, sondern auch über de­
ren Wert. Im vorliegenden Artikel interessieren uns politische oder Wirt­
schaftswissenschaft nicht; unser Interesse liegt vielmehr bei den Nachzüg­
lern, den Soziologen, die ebenfalls - mittels Umfragen und quantitativer
sowie qualitativer Untersuchungen - nicht nur den Willen der Akteure und
ihren Wert übersetzen, sondern auch das, was sie sind. Auf der Grundlage
von verstreuten Informationen, Antworten in Fragebögen, Anekdoten, Sta­
tistiken und Gefühlen interpretiert der Soziologe, er horcht aus, gliedert
ein und stellt fest, was die Akteure sind (hinsichtlich ihrer Klasse, Katego­
rien, Gruppen, Kulturen usw.), was sie wollen, was sie interessiert und wie
sie leben. Damit haben Soziologen sich seit mehr als einem Jahrhundert
selbst zu Sprechern des Volkes bestimmt und die Rolle von Hobbes' Sou-
verän übernommen: die aus der Maske ertönende Stimme ist die der So­
ziologie.

Der soziologische Leviathan

Wir haben uns die Erschaffung des politischen Leviathans auf der Basis
von Verträgen, des Affen-Leviathan und schließlich der Konstruktion des
Monster-Leviathans vergegenwärtigt. Nun wenden wir uns dem Aufbau
des soziologischen Leviathans zu. Als Prinzip können wir bereits formulie­
ren, dass Leviathane wie Soziologien und umgekehrt Soziologien wie Levia­
thane gebildet sind.
Was machen Soziologen eigentlich? Einige behaupten, es existiere ein
Sozialsystem. Diese Interpretation des Sozialen schreibt den Überset­
zungsprozessen jedoch eine ihnen fehlende Kohärenz zu. Die Existenz ei­
nes Systems festzustellen bedeutet, einen Akteur wachsen zu lassen, in­
dem die Kräfte, die er >systematisiert< oder >vereint,, entwaffnet werden.
Die Arithmetik des Leviathans ist-wie gesehen -eine ganz besondere: Je­
des System, jede Gesamtheit wird den anderen ohne Einschränkung hin­
zugefügt, wodurch das hybride, tausendköpfige, aus 1000 Systemen beste-
96 1 MICHEL CALLON UND BRUNO LATOUR

hende Monstrum entsteht. Was macht ein Soziologe außerdem noch? Er


oder sie interpretiert den Leviathan z.B. durch die Annahme, dass er eine
kybernetische Maschine darstellt. Alle Verbindungen zwischen Akteuren
werden nun als Schaltkreise einer künstlichen Intelligenz beschrieben, die
Übersetzungen als ,Integrationen< betrachtet. Hier wieder wird der Levia­
than durch die Art der Beschreibung aufgebaut: Er ist stolz darauf, eine
Maschine zu sein und beginnt wie jede andere Maschine sofort auf me­
chanische Weise mit der Übertragung von Kräften und Bewegungen. Na­
türlich wird diese Interpretation allen anderen hinzugefügt und bekämpft
diese, da der Leviathan manchmal und an einigen Orten eine traditionelle
und keine kybernetische Maschine, aber auch einen Körper, einen Markt,
einen Text, ein Spiel usw. darstellt. Da alle Interpretationen gleichzeitig auf
ihn einwirken, wobei sie entsprechend ihrer Natur als Maschinen, Codes,
Körper oder Märkte Kräfte ausüben und traniformieren, ergibt sich wieder
dasselbe Monstrum: zu ein- und derselben Zeit Maschine, Bestie, Gott,
Wort und Stadt. Was können Soziologen noch leisten? Sie können z.B. be­
haupten, dass sie sich >auf die Erforschung des Sozialen beschränken<.
Danach teilen sie den Leviathan in ,Realitätsebenen<, wobei sie - um sich
auf das Soziale beschränken zu können - z.B. die wirtschaftlichen, politi­
schen, technischen und kulturellen Aspekte beiseite lassen. Die diese Fak­
toren enthaltenden Black Boxes sind demnach versiegelt, sodass kein So­
ziologe sie öffnen kann, ohne aus seiner Disziplin herauszutreten. Die Le­
via thane schnurren vor Erleichterung, weil ihre Struktur außer Sicht gerät,
während sie die Ergründung ihrer sozialen Teile gestatten. Wie wir wissen,
ist kein Akteur so mächtig, dass die Gesamtheit seiner Entscheidungen
und Verbindungen letztlich und definitiv als technische Realität betrachtet
werden kann (vgl. die EDF). Die anderen Akteure stoßen mit der Hilfe der
Soziologen zurück und verfolgen erneut die Grenzen zwischen dem Tech­
nischen, Wirtschaftlichen, Kulturellen und Sozialen. Als Ergebnis werden
die Leviathane wieder einmal von gegnerischen Soziologenteams zerhackt,
sodass sie schließlich wie Frankenstein mit Narben bedeckt sind. Was ma­
chen Soziologen sonst noch? Wie alle anderen hören sie niemals mit der
Definition auf, wer handelt und wer spricht. Sie schneiden die Erinnerun­
gen eines Arbeiters, einer Prostituierten oder eines alten Mexikaners auf
Tonband mit; sie interviewen, geben offene und geschlossene Fragebögen
über jedes nur erdenkliche Thema aus und ergründen unablässig die Mei­
nungen der Masse. Bei jeder Interpretation ihrer Untersuchungen infor­
mieren sie den Leviathan, transformieren ihn und führen ihn aus. Jedes
Mal, wenn sie eine neue Einheit konstruieren, eine Gruppe definieren, ei­
ne Identität, einen Willen oder ein Projekt zuweisen (vgl. z.B. Boltanski
1979), jedes Mal, wenn sie die Vorgänge erklären, fügen die Soziologen,
Souveräne und Autoren - in Hobbes' Verwendung des Begriffes - den
kämpfenden Leviathanen neue Identitäten, Definitionen und Willen hinzu,
DIE DEMONTAGE OES GROSSEN LEVIATHANS 1 97

die anderen Autoren gestatten zu wachsen oder zu schrumpfen, sich zu


verbergen oder zu enthüllen, sich auszudehnen oder zusammenzuziehen.
Wie alle anderen - und aus denselben Gründen - arbeiten die Soziolo­
gen am Leviathan, wobei ihre Arbeit darin besteht, die Natur des Levia­
thans zu bestimmen: ob er einzigartig ist oder ob es mehr als diesen einen
gibt, was sie wollen und wie sie sich transformieren und entwickeln. Diese
spezifische Aufgabe ist keineswegs ungewöhnlich; es existiert kein »Meta­
diskurs« - um es archaisch auszudrücken - über den Leviathan. Jedes Mal,
wenn sie schreiben, wachsen oder schrumpfen die Soziologen, werden zu
Makro-Akteuren (oder auch nicht) oder expandieren, nach Lazarsfeld, auf
multi-nationales Ausmaß (Pollak 1979) oder schrumpfen auf die Größe ei­
nes begrenzten Marktsektors zusammen. Was veranlasst dieses Wachstum
oder Schrumpfen? Die anderen Akteure, deren Interessen, Wünsche und
Kräfte sie mehr oder weniger erfolgreich übersetzen und mit denen sie
streiten oder sich verbünden. In Abhängigkeit von der Zeitspanne, den
Strategien, den Institutionen und den Ansprüchen kann die Arbeit der So­
ziologen solchermaßen expandieren, dass sie die Gestalt dessen annimmt,
was jeder über den Leviathan sagt - oder aber auf die Größe dessen zu­
sammenschrumpfen, was drei Doktoranden an irgendeiner britischen
Universität darüber denken. Ebenso steht die Sprache der Soziologen in
keiner bevorzugten Beziehung zum Leviathan, obwohl sie auf ihn einwir­
ken. Angenommen, sie behaupteten, der Leviathan sei einzigartig oder sys­
tematisch, oder aber sie kreierten kybernetische, hierarchisch integrierte
Subsysteme, so werden diese entweder akzeptiert oder nicht, sie breiten
sich aus oder nicht, werden als Ressourcen von anderen genutzt - oder
eben nicht. Ob eine solche Definition des Leviathans erfolgreich ist oder
nicht, beweist nichts über dessen tatsächliche Natur. Ein Imperium ist ge­
boren - das von Parsons -, mehr nicht. Umgekehrt beweist es nichts über
die Nicht-Existenz von Makro-Akteuren, wenn Ethnomethodologen ihre
Kollegen davon überzeugen können, dass Makro-Akteure nicht existieren.
Soziologen sind weder besser noch schlechter als jeder andere Akteur,
noch sind sie externer oder interner oder mehr oder weniger wissenschaft­
lich.'7 So normal wie jeder andere halt.

Wie man zwischen zwei Fehler schlüpft

Wie wir festgestellt haben, ist ein Makro-Akteur ein über vielen Black Bo­
xes platzierter Mikro-Akteur und damit eine Kraft, die so viele andere Kräf­
te vereinigen kann, dass sie »wie eine« agieren. Als Resultat ist es per defi­
nitionem nicht schwerer, einen Makro-Akteur als einen Mikro-Akteur zu
untersuchen. Nur wer lang anhaltende Kräfte an sich bindet und damit die

17 1 Das Fehlen einer Unterscheidung zwischen weichen und harten Wissenschaf­


ten wird nachgewiesen bei Latour/Woolgar 1979.
98 1 MICHEL CALLON UND BRUNO LATOUR

Existenz vereinfacht, kann auch wachsen. Also ist ein Makro-Akteur min­
destens so simpel wie ein Mikro-Akteur, weil er ansonsten nicht größer hätte
werden können. Wir rücken keineswegs näher an die soziale Realität, indem
wir uns zu Mikro-Verhandlungen herunterbeugen oder zu Maluo-Akteu­
ren aufsteigen. Stattdessen müssen wir die vorgefassten Meinungen, die
uns glauben lassen, Makro-Akteure seien komplizierter als Mikro-Akteure,
hinter uns lassen. Wie das Beispiel der Paviane zeigte, kann auch das Ge­
genteil zutreffen: Ein Makro-Akteur kann nur dann wachsen, wenn er sich
vereinfacht. Indem er seine Existenz simplifiziert, vereinfacht er auch die
Arbeit des Soziologen - es gestaltet sich nicht schwieriger, Panzer nach
Kabul zu schicken, als die Nummer 999 zu wählen oder komplizierter,
»Renault« zu beschreiben als die Sekretärin, die im Polizeirevier Houston
die Telefongespräche annimmt. Wäre es schwieriger, würden sich die Pan­
zer nicht bewegen und »Renault« nicht existieren; es gäbe keine Makro-Ak­
teure. Indem die Soziologen behaupten, dass Makro-Akteure komplexer als
Mikro-Akteure sind, verhindern sie die Analyse und machen die Forscher
handlungsunfähig. Gleichzeitig bewahren sie das Geheimnis des Wachs­
tums des Makro-Akteurs vor der Enthüllung -nämlich jenes, Operationen
kinderleicht zu gestalten. Der König ist nicht nur nackt; er ist in Wirklich­
keit auch noch ein Kind, das mit (undichten) Black Boxes spielt.
Die andere, zu oft von Soziologen geteilte vorgefasste Meinung ist die,
dass individuelle Mikro-Verhandlungen wahrer und realer seien als die
abstrakten, distanzierten Strukturen der Makro-Akteure. Wiederum könnte
nichts der Wahrheit ferner sein, denn nahezu jede Ressource wird in der
großen Aufgabe der Strukturierung von Makro-Al<teuren eingesetzt. Nur
ein kleiner Rest bleibt für die Individuen übrig. Was Soziologen so voreilig
untersuchen, ist das geschwundene, anämische Wesen, das mit aller Macht
die ihm verbliebene, schrumpfende Haut zu retten versucht. In einer be­
reits durch Makro-Akteure strukturierten Welt kann nichts erbärmlicher
und abstrakter wirken als individuelle Interaktion. Die Träumer, die Mak­
ro-Akteure auf der Basis des Individuellen restrukturieren wollen, werden
damit lediglich einen noch monströseren Körper erreichen, da sie alle fes­
ten Teile, die dem Makro-Akteur die Simplifizierung der Existenz und Ein­
nahme des gesamten Raumes ermöglicht hatten, weglassen müssen.

Mehr als ein Monster: ein Monster und ein halbes

Was ist denn überhaupt ein Soziologe? Wie das Wort »sozial« bereits nahe
legt, handelt es sich dabei um jemanden, der Verbindungen und Trennun­
gen untersucht. Dabei muss es sich nicht zwangsläufig nur um Beziehun­
gen zwischen Menschen handeln, denn schon seit langem werden Verbin­
dungen zwischen Menschen durch den Einsatz anderer Verbündeter -wie
Wörter, Rituale, Eisen, Holz, Samenkörner und Regen - ausgedehnt und
erweitert. Soziologen untersuchen alle Verbindungen, jedoch im Besonde-
DIE DEMONTAGE DES GROSSEN LEVIATHANS 1 99

ren die Transformationen schwacher Interaktionen in starke und umge­


kehrt. Hier liegt ein besonderer Interessenschwerpunkt, weil an dieser Stel­
le die relativen Dimensionen des Akteurs geändert werden. Wenn wir hier
das Wort »untersuchen« verwenden, muss deutlich sein, dass damit nicht
das Vorhandensein von Wissen gemeint sein kann; alle Information bedeu­
tet Transformation - eine Notfalloperation am und im Körper des Levia­
thans.
Indem wir zwischen zwei Fehlern hindurchschlüpfen, beabsichtigen
wir damit nicht den Rückzug auf einen entfernten Planeten; was für ande­
re Gültigkeit hat, gilt auch für uns. Genau wie sie arbeiten wir am Levia­
than, möchten unsere Konzepte verkaufen, suchen Alliierte und Verbünde­
te und entscheiden, wen wir zufrieden stellen wollen und wen nicht. Wenn
wir Niveau- und Größenunterschiede zwischen den Akteuren als selbstver­
ständlich annehmen, ratifizieren wir vergangene, gegenwärtige und zu­
künftige Gewinner - wen auch immer das bezeichnen mag-, und finden
dabei das Wohlwollen der Mächtigen, weil wir sie vernünftig erscheinen
lassen. Der Soziologe versiegelt die Black Boxes, indem er die Erforschung
von Verbindungen auf den ldeinen Rest des Sozialen beschränkt und ge­
währleistet damit erneut die Sicherheit der Starken und den Frieden der
reihenweise mit hermetisch verschlossenen Black Boxes angefüllten Fried­
höfe, in denen es von Würmern wimmelt.
Für den Soziologen reduziert sich die Frage nach der Methode auf den
Platz, den er sich selbst zuweist. Er befindet sich - wie Hobbes selbst - ge­
nau an der Stelle, an der die Verträge geschlossen, die Kräfte übersetzt
werden, der Unterschied zwischen dem Technischen und dem Sozialen
ausgefochten, das Irreversible reversibel wird und die Chreoden ihre
Schlaufen umkehren. Dort bedarf es nur einer geringen Energiemenge,
um ein Maximum an Information über das Wachstum des neugeborenen
Monsters zu erhalten.
Soziologen, die sich für diesen Standpunkt entscheiden, sind nicht län­
ger irgendjemandes Lakai oder Befehlsempfänger; sie müssen nicht mehr
die bereits von anderen zurückgewiesenen Leichen der Leviathane sezieren
oder die großen, die gesamte »soziale Welt« dominierenden Black Boxes
fürchten - eine Welt, in der sie nicht länger wie Geister oder kalte Vampire
mit schweren Zungen nach dem >Sozialen< lechzen, bevor es gerinnt. Sol­
che Soziologen - oder besser Teratologen - befinden sich an warmen, hellen
Orten, an denen sich die Black Boxes öffnen, das Unumkehrbare umkehr­
bar wird und sich Techniken mit Leben füllen; Orte, die die Ungewissheit
darüber, was groß oder klein, sozial oder technisch ist, entstehen lassen.
Sie befinden sich am gesegneten Ort, an dem die betrogenen und übersetz­
ten Stimmen der Autoren - die Materie des sozialen Körpers- zur Stimme
des souveränen, von Hobbes beschriebenen Alcteurs werden: zur Form des
sozialen Körpers.
100 1 MICHEL GALLON UND BRUNO LATOUR

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Gebt mir ein Laboratorium

und ich werde die Welt aus den Angeln heben

BRUNO LA.TOUR

Nachdem nun die Feldstudien über die Arbeit in Laboratorien allmählich


zahlreicher werden, erhalten wir langsam ein besseres Bild davon, was
Wissenschaftler innerhalb der Mauem dieser seltsamen, »Laboratorien«
genannten Orte tun (vgl. Knorr-Cetina 1983). Ein neues Problem ist jedoch
aufgetaucht. Sofern wir nicht fähig sind, unsere Teilnehmer/Beobachter­
Studien so weit zu treiben, dass wir in der Lage sind, Fragen, die außerhalb
des Laboratoriums entstehen, nachzugehen, riskieren wir, in eine so ge­
nannte »intemalistische« Sicht der Wissenschaft zurückzufallen. Seit den
eigentlichen Anfängen dieser Mikro-Studien waren wir das Ziel von Kritik
seitens von Wissenschaftlern, die mit gewichtigeren Problemen beschäftigt
waren, wie etwa Wissenschaftspolitik, Wissenschaftsgeschichte oder was
im weiteren Sinne als »Science,.Technology and Society« (STS) bezeichnet
wird. Für solche Themen schienen Laboratoriumsstudien zutiefst irrele­
vant. Zur damaligen Zeit lagen unsere Kritiker im Wesentlichen falsch,
weil wir zuerst genau diese Black Boxes durchdringen mussten, um aus
erster Hand Beobachtungen der täglichen Arbeit der Wissenschaftler zu
gewinnen. Dies war die erste Priorität. Das Resultat war, in einem Satz
zusammengefasst, dass nichts Außergewöhnliches und nichts »Wissen­
schaftliches« in den heiligen Hallen dieser Tempel geschieht (Knorr 1981).
Nach einigen Forschungsjahren hätten die Kritiker aber zu Recht die naive
und dennoch kritische Frage aufgeworfen: Wenn in den Laboratorien
nichts Wissenschaftliches geschieht, warum gibt es diese Laboratorien und,
sonderbar genug, warum unterstützt sie die Gesellschaft und bezahlt für
diese Orte, an denen nichts Spezielles produziert wird?
Die Frage erscheint unschuldig genug, ist jedoch tatsächlich ziemlich
heikel, weil es eine Arbeitsteilung gibt zwischen jenen Wissenschaftlern,
welche Organisationen, Institutionen und öffentliche Politik untersuchen,
104 1 BRUNO LATOUR

und jenen, die Mikro-Verhandlungen innerhalb wissenschaftlicher Diszi­


plinen analysieren. Es ist tatsächlich schwierig, Gemeinsamkeiten auszu­
machen zwischen der Analyse der Laetril-Kontroverse (Nelkin 1979) und
der semiotischen Untersuchung eines einzelnen wissenschaftlichen Textes
(Bastide 1981), zwischen der Erforschung der Indikatoren für das Verfolgen
des Wachstums von Forschung und Entwicklung und der Geschichte des
Gravitations-Wellendetektors (Collins 1975) oder zwischen einer Abfrage
der Windskala und der Entschlüsselung des Gemurmels einiger weniger
Wissenschaftler während eines Gesprächs auf einer Bank (Lynch 1982). Es
fällt so schwer, gemeinsame Merkmale unter diesen Interessen zu entde­
cken, dass Menschen denken, dass es wirklich »makroskopische« Proble­
me gibt und die zwei Problem-Sets unterschiedlich behandelt werden
sollten, d.h. mit unterschiedlichen Methoden und mit verschiedenen Typen
von Wissenschaftlern. Dieser Glaube an eine reale Differenz im Maßstab
zwischen Makro- und Mikro-Objekten in der Gesellschaft ist unter Soziolo­
gen üblich (Knorr/Cicourel 1981), jedoch besonders ausgeprägt in der
Wissenschaftssoziologie. Viele STS-Forschende sind stolz, gar nicht in den
Inhalt der Wissenschaft und in die Mikro-Stufe von wissenschaftlichen
Verhandlungen vorgedrungen zu sein, während am anderen Ende des
Spektrums einige Wissenschaftler konstatieren, dass sie nur an den Kon­
troversen unter den Wissenschaftlern interessiert seien (Collins 1982) -
oder sogar behaupten, dass es überhaupt keine Gesellschaft gibt oder min­
destens keine Makro-Gesellschaft, über welche irgendetwas Seriöses gesagt
werden könnte (Woolgar 1981). Das Seltsame an dieser Meinungsverschie­
denheit besteht darin, dass sie unter etwas anderen Vorzeichen die alte
Polemik zwischen einer »internalistischen« und einer »externalistischen«
Sicht in der Erforschung von Wissenschaft und Technologie reproduziert.
Während die Debatten früherer Zeiten als Erklärung für die Bewegung
wissenschaftlicher Disziplinen den »sozialen Einfluss« der »reinen inter­
nen Entwicklung« entgegenstellten, stellen sie nun »Politik«, »großange­
legtes Push/Pull« den »Mikro-Verhandlungen«, dem »Opportunismus«
und der »Laboratoriumsfolklore« gegenüber. Die Terminologien haben
gewechselt, der Glaube an die »Wissenschaftlichkeit« der Wissenschaft ist
verschwunden, aber bei beiden Denkschulen manifestiert sich der gleiche
Respekt für die Grenzen der wissenschaftlichen Aktivität.
Für jene, die die praktizierenden Wissenschaftler erforschen, ist nun
die Zeit gekommen, sich mit der naiven, aber berechtigten Kritilc zu befas­
sen, die ihnen von an »Makro«-Problemen interessierten Wissenschaftlern
entgegengebracht worden ist. Natürlich gibt es keinen Weg, um solch
zutiefst verschiedene Perspektiven und Methoden auf einfache Weise in
Einklang zu bringen. Insbesondere ist es für den an die Erforschung von
Laboratorien gewohnten Beobachter unmöglich, diese solide Basis, mit der
so viel erreicht wurde, zu verlassen und einfach in »Makro«-Probleme
einzutauchen, um Bruttosozialprodukte, Zitationen, Belohnungen usw. zu
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ... 1 105

untersuchen. Wenn wir uns mit diesen Fragen befassen, wird es mit unse­
rer eigenen Terminologie geschehen.
In diesem Beitrag möchte ich eine einfache Vorgehensweise vorschla­
gen, d.h. mit der während Laboratoriumsfeldstudien entwickelten Metho­
dologie vorzugehen, sie aber nicht auf das Laboratorium selbst, sondern
auf die Konstruktion des Laboratoriums und seine Position im sozialen
Milieu zu fokussieren. Ich hoffe, den Leser davon zu überzeugen, dass
Laboratorien genau deswegen gebaut worden sind, um den wirklichen
Unterschied zwischen dem »Innerhalb« und dem »Außerhalb« sowie den
Unterschied im Maßstab zwischen »Mikro«- und »Makro«-Ebenen zu
destabilisieren oder aufzuheben. Damit können wir, ohne die anlässlich
der Untersuchungen der Laboratoriumsverfahren gemachten Entdeckun­
gen zu verschweigen, das so genannte »Makro«-Problem viel klarer als
vorher neu bewerten und vielleicht sogar etwas Licht auf die wirkliche
Konstruktion von Makro-Akteuren selbst werfen. Ich bitte die Leser einfach
(wenigstens beim Lesen dieses Artikels), für eine bestimmte Zeit ihren
Glauben an irgendeinen realen Unterschied zwischen Mikro- und Makro­
Akteuren beiseite zu legen (Callon/Latour 1981).

Gebt mir einen Platz zum Stehen


und ich werde die Erde aus den Angeln heben

Zur Illustration meiner Behauptung will ich ein Beispiel aus einer neueren
Untersuchung aus der Wissenschaftsgeschichte anführen (Latour 198ra).
Wir sind im Jahr 1881, die populäre und wissenschaftliche französische
Presse ist voll von Artikeln über die Arbeit, die in einem bestimmten Labo­
ratorium geleistet wurde, nämlich in demjenigen von Herrn Pasteur an der
Ecole Normale Superieure. Tag für Tag, Woche für Woche, fokussierten
Journalisten, Wissenschaftlerkollegen, Physiker und Hygieniker ihre Auf­
merksamkeit auf das, was mit nur wenigen Kolonien von Mikroben in
verschiedenen Medien, unter dem Mikroskop, innerhalb inokulierter Tiere,
in den Händen weniger Wissenschaftler geschieht. Allein die Existenz
dieses enormen Interesses zeigt die Irrelevanz einer zu scharfen Unter­
scheidung zwischen dem »Innerhalb« und dem »Außerhalb« von Pasteurs
Laboratorium. Relevant ist der enge Kontakt, der zwischen den vielen,
normalerweise am Geschehen innerhalb von Laboratoriumsmauern unin­
teressierten Gruppen und den in der Regel von solcher Aufmerksamkeit
und Leidenschaft isolierten und geschützten Laboratorien hergestellt
wurde. Offenbar geschieht in diesen Petrischalen etwas, das für die Projek­
te dieser vielen Gruppen, die in den Zeitungen ihr Interesse bekunden,
direkt wesentlich zu sein scheint.
Dieses Interesse von Außenseitern an Laborexperimenten ist kein
gegebener Palet: Es ist das Resultat der Bemühungen Pasteurs, diese einzu-
,.
106 1 BRUNO LATOUR

binden und zu rekrutieren. Es lohnt sich, dies hervorzuheben, da es einen


Streit unter Wissenschaftssoziologen gibt, ob es möglich ist, Persorn;n
Interessen zuzuschreiben. Einige, insbesondere die Edinburgher Schule,
behaupten, dass wir sozialen Gruppen Interessen zuschreiben können,
vorausgesetzt man hat eine allgemeine Idee, wie die Gruppen zusammen­
gesetzt sind, welcher Gesellschaft sie angehören und was der Natur des
Menschen entspricht. Andere hingegen (Woolgar 1981) leugnen die Mög­
lichkeit einer solchen Zuschreibung aufgrund der Tatsache, dass wir kei­
nen unabhängigen Weg kennen, um zu wissen, wie die Gruppen zusam­
mengesetzt sind, was die Gesellschaft will und wie die Natur des Men­
schen ist. Wie so häufig trifft dieser Disput den fundamentalen Punkt
nicht. Natürlich gibt es keinen Weg zu wissen, wie die Gruppen zusam­
mengesetzt sind, was sie wollen und was ein Mensch ist; dies sollte jedoch
niemand daran hindern, andere davon zu überzeugen, was ihre Interessen
sind, was sie wollen und sein sollen. Wer fähig ist, die Interessen anderer
in seine eigene Sprache zu übersetzen, erreicht sein Ziel. Besonders wich­
tig ist es, sich nicht auf irgendeine Wissenschaft der Gesellschaft oder des
Menschen zu stützen, um Interessen zuzuschreiben, weil - wie ich zeigen
werde - die Wissenschaften eines der glaubwürdigsten Werkzeuge sind,
um andere davon zu überzeugen, was sie sind und erstreben sollen. Eine
Wissenschaftssoziologie wird von Anbeginn gelähmt, wenn sie an die
Resultate der einen Wissenschaft, namentlich der Soziologie glaubt, um
die anderen zu erklären. Man kann jedoch verfolgen, wie Wissenschaften
verwendet werden, um die Gesellschaft zu transformieren, das Vorhandene
und ihre Ziele neu zu definieren. Es ist jedoch sinnlos, sich um den Profit
zu kümmern, den die Menschen durch ihr Interesse an Pasteurs Laborato­
rium ernten können. Ihre Interessen sind eine Konsequenz und nicht eine
Ursache für Pasteurs Bemühung, dasjenige zu übersetzen, was sie wollen
- oder wofür er sorgt, dass sie es wollen. Sie haben nicht a priori Grund,
überhaupt interessiert zu sein, aber Pasteur hat ihnen mehr als einen
Grund geboten.

Erster Schritt: Das Erwecken des Interesses anderer

Wie ist es Pasteur gelungen, das Interesse anderer, indifferenter Gruppen


zu wecken? Durch dieselbe Methode, die er immer angewendet hat (Gei­
son 1974; Salomon-Bayet 1986): Er transferiert sich selbst und sein Labora­
torium in den Dunst einer von Laboratoriumswissenschaft unberührten
Welt. Bier, Wein, Weinessig, Krankheiten der Seidenwürmer, Antisepsis
und später Asepsis wurden schon mit diesem Vorgehen angegangen. Ein­
mal mehr tut er dasselbe mit einem neuen Problem: Anthrax. Der Anthrax­
Krankheit wurde nachgesagt, dass sie für das französische Vieh schreck­
lich sei. Dieser »schreckliche« Charakter wurde den Beamten, Veterinären,
Bauern durch Statistiken »bewiesen« und deren Sorgen wurden durch die
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ••• 1 ro7

vielen landwirtschaftlichen Gesellschaften der damaligen Zeit ausgespro­


chen. Die Krankheit wurde von Statistikern und Veterinären untersucht,
aber entsprechende Laboruntersuchungen waren vor Pasteur, Koch und
ihren Schülern ohne Einfluss. Zur damaligen -Zeit waren Krankheiten
lokale Ereignisse, die mit der größtmöglichen Aufmerksamkeit unter
Berücksichtigung aller möglichen Variablen zu untersuchen waren: der
Boden, die Winde, das Wetter, das System des Bauernhofes und sogar die
individuellen Felder, Tiere und Bauern. Die Tierärzte kannten diese Idio­
synkrasien, aber es war ein vorsichtiges, veränderliches und unsicheres
Wissen. Die Krankheit war unvorhersehbar und wiederholte sich ohne
erkennbare klare Muster; sie verstärkte damit die Idee, dass lokale Idiosyn­
krasien berücksichtigt werden müssen. Dieser multifaktorielle Ansatz
machte jeden extrem verdächtig, der versuchte, all diese Idiosynkrasien zu
ignorieren und eine Krankheit mit irgendeiner einzigen Ursache, wie bei­
spielsweise mit einem Mikro-Organismus, in Beziehung zu bringen.
Krankheiten wie Anthrax mit all ihren Varianten waren typisch dafür, dass
sie nicht für die Laboratoriumswissenschaft geeignet waren. Ein Laborato­
rium in Paris und ein Bauernhof in Beauce haben nichts gemeinsam. Es
besteht ein gegenseitiges Desinteresse.
Wie bei allem anderen auch, lassen sich jedoch Interessen konstruie­
ren. Indem er die Arbeit vieler Vorgänger nutzt, die bereits begonnen
hatten, Laboratorien und Anthrax-Krankheit in Zusammenhang zu brin­
gen, geht Pasteur einen Schritt weiter und arbeitet in einem behelfsmäßi­
gen Laboratorium direkt auf dem Gelände des Bauernhofs. Verschiedener
könnten die beiden Anlagen nicht sein: hier ein schmutziger, übel rie­
chender, lauter, desorganisierter Hof aus dem 19. Jahrhundert und da das
obsessiv saubere Pasteur-Laboratorium. In der ersten Anlage werden
scheinbar zufällig große Tiere durch unsichtbare Krankheiten parasitiert;
in der zweiten werden Mikro-Organismen für das Auge des Beobachters
sichtbar gemacht. Die eine Anlage dient dazu, große Tiere, die andere,
ldeine Tiere wachsen zu lassen. Pasteur (der »Schäfer« in französischer
Sprache) wird oft im momentanen Enthusiasmus als der Erfinder einer
neuen Tierhaltung und einer neuen Agrikultur betrachtet, aber in der
damaligen Zeit haben diese zwei Formen von Viehhaltung wenig mitein­
ander zu tun. Einmal draußen auf dem Felde lernen Pasteur und seine
Assistenten jedoch von den Feldbedingungen sowie den Tierärzten und
beginnen, entsprechende Beziehungen zu schaffen. Sie sind daran interes­
siert, all die Variationen zu Beginn und in der zeitlichen Abfolge der An­
thrax-Ausbrüche genau zu lokalisieren und zu beobachten, inwieweit diese
mit dem Anthrax-Bazillus in Beziehung stehen könnten. Sie lernen vom
Feld, indem sie jeden Punkt der Veterinärwissenschaft in ihre eigenen
Terminologien übersetzen, sodass in ihren Terminologien zu arbeiten mit
arbeiten im Feld gleichgesetzt werden kann. Zum Beispiel ist die Spore des
Bazillus (wie von Koch gezeigt) die Übersetzung, durch welche schlum-
108 1 BRUNO LATOUR

mernde Felder sogar noch nach vielen Jahren plötzlich infektiös werden
können. Die »Sporenphase« ist die Laboratoriumsübersetzung des >>infi­
zierten Feldes« in der Sprache des Bauers. Die Pasteurianer beginnen,
diese Sprache zu lernen und geben jedem der relevanten Elemente im
Leben des Bauers einen ihrer eigenen Namen. Sie sind an den Feldbedin­
gungen interessiert, aber für die Bauern und ihre zahlreichen Sprecher
noch nutzlos und uninteressant.

Zweiter Schritt: Die Hebelwirkung von einer schwachen


in eine starke Position versetzen

An dieser Stelle wird Pasteur sein auf dem Bauernhof situiertes Laborato­
rium zu seinem Hauptarbeitsplatz an der Ecole Normale Superieure zu­
rücktransferieren, indem er ein Element aus dem Feld mitnimmt, den
kultivierten Bazillus. Er ist ein Meister der Mikrobenlandwirtschaft, einer
Landwirtschaftstechnik, die kein Bauer kennt. Dies reicht, um etwas zu
tun, was kein Bauer jemals getan hatte: den Bazillus in Isolation wachsen
zu lassen - und zwar in einer solch großen Quantität, dass er, obwohl
unsichtbar, sichtbar wird. Hier haben wir wegen der Laboratoriumsverfah­
ren ebenfalls eine Variation im Maßstab: Draußen in der »realen« Welt
werden Anthrax-Bazillen innerhalb der Körper mit Millionen von anderen
Organismen vermischt, mit welchen sie konstant konkurrieren. Dies
macht sie doppelt unsichtbar. Im Laboratorium von Pasteur geschieht
jedoch mit dem Anthrax-Bazillus etwas, was niemals vorher geschehen ist
(ich insistiere auf diesen zwei Punkten: irgendetwas geschieht mit dem
Bazillus, das niemals vorher geschehen ist). Dank Pasteurs Kultivierungs­
methode ist der Bazillus von allen Konkurrenten befreit und wächst so
exponen,iell; die starke Vermehrung endet dank Kochs späterer Methode
in solch großen Kolonien, dass sie für das aufmerksame Auge des Wissen­
schaftlers ein klares Muster erkennen lassen. Diese Fähigkeiten sind nicht
wundersam. Um solch ein Resultat zu erreichen, braucht man nur einen
Mikro-Organismus zu extrahieren und ein passendes Milieu zu finden.
Dank diesen Fähigkeiten wird die Asymmetrie im Maßstab einiger Phä­
nomene modifiziert: Ein Mikro-Organismus kann bedeutend größeres
Vieh töten, ein kleines Laboratorium kann mehr über eine reine Anthrax­
Kultur lernen als jemand zuvor; der unsichtbare Mikro-Organismus wird
sichtbar gemacht; der bislang uninteressante Wissenschaftler in seinem
Labor kann mit mehr Autorität über den Anthrax-Bazillus sprechen als
Tierärzte sie jemals zuvor hatten.
Die Übersetzung, welche Pasteur ermöglicht, die Anthrax-Krankheit zu
seinem Laboratorium in Paris zu transferieren, ist keine buchstäblich
getreue Übersetzung. Er nimmt nur ein Element mit sich, nämlich den
Mikro-Organismus, und nicht den ganzen Bauernbetrieb, den Geruch, die
Kühe, die Weiden entlang des Teiches oder die hübsche Tochter des Bau-
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ... 1 109

ers. Mit der Mikrobe jedoch zog er auch die nun interessierten landwirt­
schaftlichen Gesellschaften mit sich. Warum? Weil er, nachdem er den
Mikro-Organismus als die lebendige und relevante Ursache bestimmt hat,
nun die Interessen der Bauern auf eine neue Weise formulieren kann:
»Wenn Ihr Euer Anthrax-Problem lösen wollt, müsst Ihr zuerst durch mein
Laboratorium gehen. « Wie bei allen Übersetzungen gibt es durch die
zahlreichen Versionen eine reale Verschiebung. Um direkt zu Anthrax zu
gelangen, sollte man einen Umweg durch Pasteurs Laboratorium machen.
Die Anthrax-Krankheit ist nun an der Ecole Normale Superieure.
Aber diese Version der Übersetzung steht noch auf schwachen Füßen.
Wohl gibt es in Pasteurs Laboratorium eine Mikrobe, aber die Anthrax-In­
fektion ist eine zu komplexe Angelegenheit, um nur mit einer einzigen
Ursache erklärt zu werden. So könnten die daran interessierten Außenste­
henden ohne weiteres sagen, dass das Laboratorium in der Realität nichts
zu tun hat mit der Ausbreitung der Anthrax-Krankheit und dass es nur die
schiere Arroganz eines Wissenschaftlers ist, die ihn behaupten lässt, den
Schlüssel zu einer realen Krankheit »dort draußen« in den Händen zu
halten. Aber Pasteur ist fähig, eine getreuere Übersetzung zu machen.
Innerhalb der Mauem seines Laboratoriums kann er tatsächlich von ihm
ausgewählte Tiere mit einer reinen, stark verdünnten Kultur von Anthrax
impfen. Diesmal wird der Ausbruch einer Tierseuche in einem kleineren
Maßstab nachgeahmt, vollständig abhängig von den Auswertungs- und
Aufzeichnungsgeräten der Pasteurianer. Die wenigen als essentiell erachte­
ten Punkte werden auf einen kleineren Maßstab herabskaliert und so im
Kleinen nachgeahmt und neu formuliert. Die Tiere sterben an den Mikro­
ben und nur an diesen - Tierseuchen werden nach Belieben ausgelöst.
Man kann nun sagen, dass Pasteur, innerhalb seines Laboratoriums, die
»Anthrax-Krankheit« in einem kleineren Maßstab hat. Der große Unter­
schied besteht darin, dass die Untersuchung »außerhalb« schwierig ist,
weil der Milao-Organismus unsichtbar ist und im Dunkeln zuschlägt,
versteckt unter vielen anderen Elementen, während »innerhalb« des Labo­
ratoriums ein klares Bild gezeichnet werden kann über eine Ursache, die
hier aufgrund der Übersetzung für alle erkennbar ist. Die Veränderung des
Maßstabes macht eine Umkehrung der Kräfte der Akteure möglich; »au­
ßerhalb« waren die Tiere, Bauern und Tierärzte schwächer als der unsicht­
bare Anthrax-Bazillus; innerhalb des Laboratoriums von Pasteur wird der
Mensch stärker als der Bazillus; als Folge davon ist der Wissenschaftler in
seinem Labor im Vorteil gegenüber dem lokalen, gewissenhaften, erfahre­
nen Tierarzt. Die Übersetzung ist glaubhafter geworden und lautet nun:
»Wenn Sie ihr Anthrax-Problem zu lösen wünschen, kommen Sie in mein
Laboratorium, weil hier die Kräfteverhältnisse invertiert werden. Tut Ihr
dies nicht (Tierärzte oder Bauern), werdet Ihr eliminiert.«
An diesem Punkt ist jedoch die Kraft zwischen Pasteurs einzigem
Laboratorium und der Vielzahl, Komplexität und ökonomischen Bedeu-
IIO I BRUNO LATOUR

tung der Anthrax-Ausbrüche unverhältnismäßig, sodass keine Überset­


zung lang genug dauern kann, um das gesammelte Interesse vor dem
Abflauen zu bewahren. Personen schenken bereitwillig jemandem ihre
Aufmerksamkeit, der eine Lösung für ihre Probleme zu haben behauptet,
aber sie wenden sich auch schnell wieder von ihm ab. Besonders rätselhaft
für alle Praktiker und Bauern ist die Variation der Krankheit: Manchmal
tötet sie, manchmal nicht, manchmal ist sie stark, manchmal schwach.
Keine Ansteckungstheorie kann diese Vielfalt berücksichtigen. So könnte
Pasteurs Arbeit, obschon interessant, bald eine Kuriosität - oder genauer:
eine Laboratoriumskuriosität - werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass
Wissenschaftler Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ohne schließlich ein
Ergebnis vorlegen zu können. Mikro-Studien bleiben »Mikro«, und die für
eine Zeitspanne geweckten Interessen gehen bald auf andere Übersetzun­
gen von nachfolgenden Gruppen über, die diese für sich einbinden. Dies
galt besonders für die Medizin, welche zur damaligen Zeit die dauernden
Modeströmungen und Maschen satt hatte (Leonard 1977).
Nun tut aber Pasteur innerhalb seines Laboratoriums bezüglich Hüh­
nercholera und Anthrax-Bazillus etwas, das die Hierarchie zwischen Vete­
rinärwissenschaft und Mikro-Biologie definitiv modifiziert. Nachdem viele
Mikroben in reiner Form in Laboratorien kultiviert und zahlreichen Versu­
chen unterzogen wurden, um ihr Wachstum zu beschleunigen oder sie
sterben zu lassen, entsteht ein neues praktisches Know-how. In einigen
wenigen Jahren erwerben Forscher auf diese Weise Fähigkeiten im Mani­
pulieren von Materialien, die niemals vorher existierten. Dies ist neu, aber
nicht wundersam. Mikroben zu trainieren und zu domestizieren ist ein
Handwerk wie Drucken, Elektronik, Preis-Kochen oder Videokunst. Haben
sich diese Fähigkeiten einmal in den Laboratorien akkumuliert, treten viele
Verschränkungen auf, die zuvor keinen Grund hatten, irgendwo anders
aufzutreten. Dies ist nicht auf eine neue kognitive Einstellung oder die
bewusste Wahrnehmung der Mikro-Organismen, deren sich die Leute
vorher nicht bewusst waren, zurückzuführen. Es geschieht einfach deshalb,
weil sie neue Objekte manipulieren und so neue Fähigkeiten in einem
neuen idiosynkratischen Setting erwerben (Knarr 1981).
Der Glücksfall, welcher die erste abgeschwächte Kultur von Hühner­
cholera ermöglichte, ist gut bekannt (Geison 1974); das Glück favorisiert
jedoch nur gut vorbereitete Laboratorien. Die Lebensbedingungen der
Erreger von künstlichen Krankheiten durchlaufen so viele verschiedene
Versuche, dass es nicht überraschend ist, wenn einige von diesen Experi­
menten einige Mikroben nur noch geschwächt am Leben lassen. Diese
Modifikation wäre unsichtbar geblieben, wenn das Laboratorium nicht
versucht hätte, die hervorstechenden Merkmale von Tierseuchen zu imitie­
ren, indem viele Tiere inokuliert wurden. Die unsichtbare Modifikation der
unsichtbaren Mikroben wird damit erkennbar gemacht; Hühner, die vor­
her mit dem modifizierten Stamm inokuliert wurden, bekommen keine
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ••• 1 III

Cholera; vielmehr widerstehen sie der Inokulation von intakten Mikroben.


Es genügt, Kulturen von Hühnercholera dem Sauerstoff auszusetzen, um
sie weniger virulent zu machen, wenn sie den Tieren inokuliert werden.
Was durch Laboratoriumsstatistiken erhellt wurde, ist die Kette von ge­
schwächten Mikroben, dann gestärkten Mikroben und eventuell gestärk­
teren Tieren. Das Resultat ist, dass Laboratorien nun fähig sind, die Varia­
tion der Virulenz zu imitieren.
Es ist wichtig zu verstehen, dass Pasteur innerhalb seines Laboratori­
ums nun immer mehr Dinge tut, welche von immer mehr Gruppen als für
ihre eigenen Interessen relevant erachtet werden. Mikroben zu lrultivieren,
war eine Kuriosität; Tierseuchen in Laboratorien zu reproduzieren, war
interessant - aber die Virulenz der Mikroben nach Belieben zu variieren,
ist faszinierend. Selbst wenn man an Ansteclrung glaubte, könnte niemand
mit dieser einen Ursache die Zufälligkeit der Effekte erklären. Pasteur ist
jedoch nicht nur der Mann, welcher die Beziehung zwischen einer Mikrobe
und einer Krankheit bewiesen hat, er ist auch derjenige, der bewiesen hat,
dass die Infektiosität der Mikroben unter kontrollierbaren Bedingungen
variieren kann; eine davon ist beispielsweise eine erste Begegnung des
Körpers mit einer geschwächten Form der Krankheit. Diese Variation im
Laboratorium macht die Übersetzung für andere fast unbestreitbar: Die
Variation war das verwirrendste Element, das früher den Skeptizismus
gegen die Laboratoriumswissenschaft rechtfertigte und eine klare Differen­
zierung zwischen einem »Außerhalb« und »Innerhalb«, zwischen einer
praktischen und einer theoretischen Ebene erforderte. Genau diese Varia­
tion kann Pasteur jedoch am einfachsten imitieren. Er kann eine Mikrobe
abschwächen; er kann im Handumdrehen mittels Hindurchschleusen
durch verschiedene Tierarten ihre Stärke steigern; er kann eine schwache
Form einer starken oder eine Mikrobenart einer anderen gegenüberstellen.
Kurz: Er kann innerhalb seines Laboratoriums tun, was jeder außerhalb zu
tun versucht, jedoch daran scheitert, weil der Maßstab zu groß ist. Pasteur
hat Erfolg, weil er mit einem ldeineren Maßstab arbeitet. Besonders die
Hygieniker als die größte relevante soziale Bewegung der damaligen Zeit
sind von dieser imitierten Variation fasziniert. Sie befassen sich mit gan­
zen Städten und Ländern und versuchen, genau zu ergründen, warum
Winde, Boden, Klimafaktoren, Essgewohnheiten, Menschenmassen oder
verschiedene Grade von Reichtum den Ausbruch von Epidemien be­
schleunigen oder verhindern. Sie alle sehen - sie alle wurden dazu ge­
bracht, zu sehen - im pasteurianischen Mikro-Kosmos, was sie auf der
makroskopischen Ebene vergeblich zu tun versuchten. Die Übersetzung ist
nun die folgende: »Wenn Sie Viehseuchen verstehen wollen und bald
danach Epidemien, müssen Sie sich an einen bestimmten Ort begeben,
nämlich in Pasteurs Laboratorium, und eine Wissenschaft erlernen, die
Ihre bald ersetzen wird: die Mikro-Biologie.«
Wie der Leser bemerkt, verwende ich mehrmals die Worte »innerhalb«
II2 \ BRUNO LATOUR

und »außerhalb«; »Mikro« und »Makro«, »kleiner Maßstab« und »großer


Maßstab«, um damit die destabilisierende Rolle des Laboratoriums klar­
zumachen. Es sind die Laboratoriumsverfahren, welche die komplexen
Beziehungen zwischen Mikroben urid Vieh, Bauern und ihrem Vieh,
Tierärzten und den Bauern, Tierärzten und der Wissenschaft der Biologie
transformieren werden. Bedeutende Interessengruppen nehmen an, dass
eine Reihe von Laboratoriumsuntersuchungen zu ihnen spricht, ihnen hilft
und sie etwas angeht. Die großen Fragen französischer Hygiene- und Vete­
rinärwissenschaftler werden nach allgemeiner Überzeugung innerhalb
Pasteurs Laboratorium beantwortet. Dies ist der dramatische Kurzschluss,
mit dem ich startete: Jeder ist interessiert an Laboratoriumsexperimenten,
welche einige wenige Jahre zuvor nicht die geringste Beziehung zu den
eigenen Interessen hatten. Diese Attraktion und Faszination sind von einer
zweifachen Bewegung ausgelöst worden: zunächst von Pasteurs Laborato­
rium aufs Feld und dann vom Feld ins Laboratorium, wo eine frische Quel­
le von Know-how beim Manipulieren eines neuen Materials erschlossen
wurde: Reinkulturen von Mikroben.

Dritter Schritt: Mit dem Hebel die Welt aus den Angeln heben

Sogar auf dieser Stufe hätte jedoch das, was im Laboratorium war, dort
bleiben können. Der Makro-Kosmos ist mit dem Mikro-Kosmos des Labo­
ratoriums verbunden, aber ein Laboratorium ist nie größer als seine Mau­
ern und »Pasteur« ist immer noch ein Mann mit einigen wenigen Mitar­
beitern. Unabhängig davon, wie groß die Interessen mancher sozialer
Gruppen für die Arbeit in einem Laboratorium sind, kann das Nachlassen
und der Schwund des Interesses nicht aufgehalten werden, falls aus­
schließlich Laboratoriumsuntersuchungen erfolgen. Verharrt Pasteur zu
lange still in seinem Laboratorium und verschiebt beispielsweise seine
Forschungsprogramme, weil er - wie sein Schüler Duclaux - die Anthrax­
Mikrobe zum Erlernen biochemischer Prozesse verwendet, könnten die
Leute sagen: »Gut, trotz allem war es nur eine interessante Kuriosität!« Erst
im Nachhinein sagen wir, dass Pasteur in diesem Jahr 1881 die erste künst­
liche Impfung erfunden hat. Indem wir uns so verhalten, vergessen wir,
dass es dazu zur damaligen Zeit notwendig war, sich weiter zu bewegen, in
diesem Fall vom Laboratorium bis aufs Feld, von der Mikro- zur Makro­
Skala. Wie für alle Übersetzungen ist es möglich und notwendig, die Be­
deutungen zu verändern, sie aber nicht völlig zu verraten. Gruppen, die es
akzeptierten, sich zur Lösung ihrer Probleme in Pasteurs Hände begeben
zu müssen, taten dies nur zu ihrem eigenen Nutzen. Sie können nicht in
seinem Labor verharren.
Pasteur war von Karrierebeginn an ein Experte, Interessengruppen
heranzuziehen und deren Mitglieder davon zu überzeugen, dass ihre
Interessen von seinen eigenen untrennbar waren. In der Regel erreichte er
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ... 1 Il3

diese Interessenfusion (Callon 1981) durch die übliche Anwendung einiger


Laboratoriumsverfahren. Gerade mit Anthrax tat er das, jedoch auf einer
grandioseren Ebene, da er nun die Aufmerksamkeit von Gruppen auf sich
zogt, welche die maßgebenden Vertreter größerer sozialer Bewegungen
waren (Veterinärwissenschaft, Hygiene, bald auch Medizin), und er behan­
delte Themen, die auf die Tagesordnung zu setzen waren. Nachdem er
Impfungen in seinem Laboratorium ausgeführt hatte, organisierte er einen
Feldversuch in einem größeren Maßstab.
Dieses Feldexperiment wurde unter der Schirmherrschaft der landwirt­
schaftlichen Gesellschaften organisiert. Ihre Aufmerksamkeit war von
Pasteurs früheren Schritten erregt worden, aber die Übersetzung (»Löst
Eure Probleme durch Pasteurs Laboratorium«) impliziert, dass auch ihre
eigenen Probleme und nicht nur diejenigen Pasteurs gelöst werden kön­
nen. So wird die Übersetzung fast als ein Vertrag verstanden, dessen
Gegenleistung nun von Pasteur erwartet wird. »Wir sind bereit, all unsere
Interessen durch Ihre Methoden und Verfahren zu verschieben, sodass wir
sie zur Erreichung unserer eigenen Ziele verwenden können.« Diese neue
Übersetzung (oder Verschiebung) auszuhandeln, ist ebenso schwierig wie
die erste. Pasteur hat Impfstoff für Anthrax in seinem Laboratorium in
Paris. Aber wie kann das Laboratoriumsverfahren ausgeweitet werden?
Trotz all der Spitzfindigkeiten, die diesbezüglich von Epistemologen ge­
schrieben wurden, ist die Antwort einfach: nur durch Ausweitung des
Laboratoriums selbst. Pasteur kann nicht nur einige wenige Flakons des
Impfstoffes an Bauern aushändigen und sagen: »0.K., es funktioniert in
meinem Laboratorium, kommt mit diesen zurecht.« Wenn er das getan
hätte, würde es nicht funktionieren. Die Impfung kann nur unter der Be­
dingung funktionieren, dass der ausgewählte Bauernbetrieb im Dorf von
Pouilly le Fort für den Feldversuch in einigen entscheidenden Punkten so
transformiert wird, dass er mit den Vorschriften in Pasteurs Laboratorium
übereinstimmt. Eine harte Verhandlung folgt zwischen Pasteurianern und
bäuerlichen Interessen über die Bedingungen des Experiments: Wie viele
Inokulierungen? Wer wird Schiedsrichter sein? usw. Diese Verhandlung ist
symmetrisch zu der anfänglichen, als Pasteur zu den Bauern kam und die
wenigen relevanten Elemente der Krankheit, die er innerhalb seines Labo­
ratoriums imitieren konnte, zu extrahieren versuchte. Hier besteht das
Problem darin, einen Kompromiss zu finden, der Pasteurs Laboratorium
hinreichend ausweiten lässt (sodass die Impfung wiederholt werden kann
und funktioniert), aber von den Repräsentanten der Bauern im Sinne einer
Ausweitung der Laboratoriumswissenschaft nach außen noch akzeptierbar
ist. Wird die Ausweitung übertrieben, wird die Impfung scheitern und
Pasteur wird von den enttäuschten Bauern zurück in sein Laboratorium
verwiesen. Ist die Ausweitung zu bescheiden, wird dasselbe geschehen:
Pasteur wird für einen Laboratoriumswissenschaftler gehalten, uninteres­
sant für die Verwendung durch Außenstehende.
r

114 1 BRUNO LATOUR

Der Pouilly le Fort-Feldversuch ist der berühmteste von allen dramati­


schen Beweisen, die Pasteur in seiner langen Karriere inszeniert hat. Die
größten Massenmedien der damaligen Zeit waren bei drei aufeinander
folgenden Gelegenheiten anwesend, um die als Pasteurs Voraussage be­
trachtete Entwicklung zu beobachten. »Inszenierung« ist das richtige Wort,
denn in der Praxis ist es die öffentliche Zurschaustellung dessen, was
vorher vielfach in seinem Laboratorium geprobt wurde. Es handelt sich
streng genommen um eine Repetition, aber diesmal vor einem versammel­
ten Publikum, welches vorher so viel Interesse investiert hat und nun auf
seine Belohnung wartet. Sogar der beste Künstler hat Lampenfieber, selbst
wenn alles gut geprobt wurde. Es hat sich tatsächlich so abgespielt (Geison
1974). Von den Medien wurde dies jedoch nicht als eine Darbietung, son­
dern als eine Prophezeiung gesehen. Der Grund hinter diesem Glauben
zeigt uns exakt, warum die Unterscheidung zwischen innerhalb und au­
ßerhalb des Laboratoriums so irreführend ist. Isoliert man Pasteurs Labo­
ratorium vorn Bauernhof in Pouilly le Fort, sodass das eine das »Innen«
und das andere das »Außen« ist, dann gibt es natürlich für alle ein Wunder
zu sehen. In seinem Laboratorium sagt Pasteur, »alle geimpften Tiere
werden bis Ende Mai am Leben sein; all die unbehandelten Tiere werden
bis Ende Mai gestorben sein; außerhalb des Labors sterben oder überleben
die Tiere«. Also Wunder und appolinarische Prophezeiungen. Betrachtet
man jedoch sorgfältig die frühere Verschiebung des Laboratoriums, zu­
nächst um das Interesse der Bauern zu wecken, dann um von den Veteri­
närwissenschaften zu lernen, schließlich um den Bauernhof in die Form
eines Laboratoriumbetriebs zurück zu transformieren, ist es wohl interes­
sant, außerordentlich clever und raffiniert, aber es ist kein Wunder. Ich
werde später zeigen, dass die meisten der mystifizierten Versionen wissen­
schaftlicher Aktivität durch übersehen solcher Verschiebungen von Labo­
ratorien zustande kommen.
Es ist jedoch noch ein Schritt erforderlich, um unseren Ausgangspunkt
zu erreichen: die Anthrax-Ausbrüche und deren Auswirkung auf die fran­
zösische Landwirtschaft. Erinnern wir uns, dass ich gesagt habe, dass es
eine »schreckliche« Krankheit war. Während ich dies sagte, hörte ich
meine Ethnomethodologistenfreunde von ihren Sesseln aufspringen und
schreien, dass kein Analyst sagen sollte, dass »eine Krankheit schrecklich
ist« oder dass »französische Landwirtschaft« existiere; vielmehr seien dies
soziale Konstruktionen. Sie sind es wirklich. Sehen sie nun, wie die Pas­
teurgruppe diese Konstruktionen zu ihrem und Frankreichs Vorteil ver­
wenden wird. Pouilly le Fort war ein Bühnenexperiment, um die Investo­
ren zu überzeugen (im Hinblick auf das Vertrauen und später auf die
Finanzierung), dass die von Pasteur vorgenommene Übersetzung ein fairer
Vertrag war. »Wenn Sie ihr Anthrax-Problem lösen wollen, gehen Sie
durch meine Mikro-Biologie.« Nach Pouilly le Fort ist jedoch jeder über­
zeugt, dass die Übersetzung nun lautet: »Wenn Sie ihre Tiere vor Anthrax
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ... 1 II5

schützen wollen, bestellen Sie ein Impfstoffflakon im Pasteur-Laboratori­


um in der Ecole Normale Superieure an der Rue d'Ulm in Paris.« Mit
anderen Worten kann man unter der Bedingung, dass ein limitiertes Set
von Laboratoriumsverfahren respektiert wird (Desinfektion, Sauberkeit,
Konservierung, Inokulationsverfahren, Timing und Aufzeichnung), jeden
französischen Bauernbetrieb mit einem im Pasteur-Laboratorium herge­
stellten Produkt ergänzen. Was zunächst die Interessensdomäne eines
Laboratoriumswissenschaftlers war, ist nun fast einem kommerziellen
Netzwerk vergleichbar ausgeweitet worden (jedoch nur fast, da Pasteur
seine Dosen gebührenfrei abgibt), welches Laboratoriumsprodukte in ganz
Frankreich verteilt.
Aber ist »über ganz Frankreich« eine soziale Konstruktion? Ja, es ist
tatsächlich eine Konstruktion, die von Statistiken sammelnden Institutio­
nen gemacht wurde. Die Statistik gehört zu den bedeutenderen Wissen­
schaften im r9. Jahrhundert und ist das, was »Pasteur« - nun das Label für
eine größere Anzahl von Pasteurianern - sich anschickt anzuwenden, um
die Verbreitung des Impfstoffes zu beobachten und dem noch unsicheren
Publikum einen frischen und grandioser inszenierten Beweis der Effizienz
des Impfstoffes zu liefern. überall in Frankreich, geographisch markiert
durch seine zentralisierte Bürokratie, kann man auf wunderschön angefer­
tigten Karten und Diagrammen den Rückgang von Anthrax registrieren,
wo immer der Impfstoff verteilt wurde. Vergleichbar einem Experiment im
Laboratorium von Pasteur sind Statistiker innerhalb der Büros der land­
wirtschaftlichen Institutionen fähig, in den Karten die abfallenden Kurven
zu lesen, was nach ihrer Ansicht den Rückgang von Anthrax bedeutet.
Nach wenigen Jahren gilt der Transfer des in Pasteurs Laboratorium pro­
duzierten Impfstoffes zu allen Bauernbetrieben gemäß Statistiken als
Grund für den Niedergang von Anthrax. Ohne diese statistischen Institu­
tionen wäre es natürlich völlig unmöglich gewesen zu sagen, ob der Impf­
stoff von irgendeinem Nutzen gewesen ist, wie es auch unmöglich gewesen
wäre, überhaupt die Existenz der Krankheit aufzudecken. Wir haben nun
den Punkt erreicht, von dem wir ausgegangen sind. Die französische Ge­
sellschaft ist in einigen ihrer wichtigsten Aspekte durch die Verschiebun­
gen einiger weniger Laboratorien transformiert worden.

Topologie der Positionierung des Laboratoriums

Ich habe ein Beispiel gewählt, aber in Pasteurs Karriere können noch viele
gefunden werden und ich bin überzeugt, dass jeder Leser noch weitere im
Kopf hat. Der Grund, warum wir diese vielen Beispiele nicht wahrnehmen,
liegt in der Art und Weise, wie wir die Wissenschaft behandeln. Wir brau­
chen ein Analysemodell, das die tatsächlichen Grenzen zwischen Mikro­
und Makro-Skala, zwischen dem »Innerhalb« und »Außerhalb« respek-
116 1 BRUNO LATOUR

tiert, welches die Wissenschaften aber nicht anerkennen. Wir sehen alle
Laboratorien, aber wir ignorieren ihre Konstruktion, gut vergleichbar mit
den Viktorianern, die überall Kinder herumkriechen sahen, aber die Vision
von Sex als die Ursache dieser Ausbreitung unterdrückten. Wir sind alle
prüde in Belangen der Wissenschaft, Sozialwissenschaftler eingeschlossen.
Bevor ich im dritten Teil dieses Textes einige allgemeine Schlussfolgerun­
gen über Laboratorien ziehe, lassen Sie mich einige Konzepte vorschlagen,
die uns weniger prüde sein ließen und uns helfen würden, Informationen
freizusetzen, die wir sowieso haben.

Auflösung der Innerhalb/ Außerhalb-Dichotomie

Schon das oben ausgewählte, in einem knappen Umriss gezeichnete Bei­


spiel genügt, um zu zeigen, dass im schlimmsten Fall durch Positionie­
rung des Laboratoriums die Kategorien von »Innerhalb« und »Außerhalb«
total durcheinander gebracht und aufgerissen werden. Was für ein Wort
kann verwendet werden, das uns behilflich sein könnte, das Geschehene,
diese Umkehrung eingeschlossen, zu beschreiben, das zum Zusammen­
bruch der »Innerhalb«/»Außerhalb«-Dichotomie geführt hat? Ich habe
mehrmals die Worte »Übersetzung« oder »Transfer«, »Verschiebung« oder
»Metapher« benutzt, Wörter, die in Latein, Griechisch oder Deutsch alle
dasselbe bedeuten (Serres 1974; Callon 1976). Eines geht aus der oben
erzählten Geschichte mit Sicherheit hervor: Jeder denkbare Akteur hat sich
in einem gewissen Maße verschoben (Armatte 1981). Pasteurs Laboratori­
um ist nun im Zentrum der landwirtschaftlichen Interessen, mit welchen
es vorher keine Beziehung hatte; in den Bauernbetrieben wurde ein Ele­
ment aus Paris (Impfstoffflakons) eingeführt; Tierärzte haben durch Un­
terstützung der »Pasteur«-Wissenschaft und der Impfstoffflakons ihren
Status modifiziert: Sie besitzen nun eine Waffe mehr in ihren schwarzen
Taschen, Schafe und Kühe werden nun vor einem schrecldichen Tod
verschont, sie können dem Bauer mehr Milch und mehr Wolle geben
sowie mit größerem Profit geschlachtet werden. In McNeils Terminologie
(McNeil 1976) erlaubt die Verschiebung der Mikro- den Makro-Parasiten -
in diesem Fall den Bauern -, fetter zu werden, indem sie sich von gesün­
derem Vieh ernähren. Durch die gleichen Vorgänge gedeiht die ganze
makroparasitische Kette, die von reicheren Bauern versorgt wird, d.h. Steu­
ereintreiber, Tierärzte, Verwalter und Landherren (Serres 1980). Ein letztes
Element wird verschoben - der Anthrax-Bazillus. Wo immer der Tierarzt
hinkommt, muss der kleine Parasit gehen. In dieser Abfolge von Verschie­
bungen kann keiner sagen, wo das Laboratorium und wo die Gesellschaft ist.
Die Frage »wo?« ist tatsächlich eine irrelevante, wenn es sich um Verschie­
bungen eines Labors in Paris zu einigen Bauernhöfen und dann wieder
zurück nach Paris handelt unter gleichzeitiger Mitnahme der Mikroben
und der Interessen der Bauern; dann nach Pouilly le Fort, wo eine erweiter-
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ... J II7

te Repetition geboten wird, und schließlich durch Statistik und Bürolaatie


zum ganzen Landwirtschaftssystem. Es ist ldar, dass die Situation der
Bauernbetriebe nach den Bewegungen nicht mehr dieselbe ist wie zuvor.
Durch die Hebelwirkung des Labors, welches ein Moment in einem dyna­
mischen Prozess ist, ist das Landwirtschaftssystem verschoben worden. Es
schließt nun eine jährliche Routine ein, wovon ein Teil ein Laboratoriums­
verfahren zu sein pflegt und noch ein Laboratoriumsprodukt ist. Jeder hat
sich verändert, inklusive die »ganze Gesellschaft«, um eine gängige Ter­
minologie zu verwenden. Dies ist der Grund dafür, dass ich im Titel eine
abgeänderte Version des berühmten Ausspruches von Archimedes gewählt
habe: »Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den Angeln
heben«. Diese Metapher des Hebels, um irgendetwas anderes zu bewegen,
ist viel näher an der Tatsache als irgendeine Dichotomie zwischen Wissen­
schaft und Gesellschaft. Mit anderen Worten sind es die gleichen Kräfte,
die Menschen in die Pasteurianischen Labors treiben, um die Mikro-Biolo­
gie zu stärken und sie außerhalb das Pouilly le Fort-Experiment inszenie­
ren oder die französische Landwirtschaft modifizieren lassen. Später wer­
den wir verstehen, warum das Laboratorium in diesem Moment Kraft
sammelt, um die Umstände aller anderen Akteure zu modifizieren.
Ein anderer Grund, warum die »Innerhalb«/»Außerhalb«-Unterschei­
dung irrelevant ist, besteht darin, dass in diesem Beispiel das Laboratorium
sich selbst genau positioniert, dass es innerhalb seiner Mauern ein Ereignis
reproduziert, das nur außerhalb stattzufinden scheint - der erste Schritt -,
und dann außerhalb auf alle Bauernbetriebe verbreitet, was nur innerhalb
des Labors zu geschehen scheint. Wie in einem bestimmten topologischen
Theorem kann die Außen- und Innen-Welt sehr einfach in die jeweils
andere invertiert werden. Natürlich sind die drei Beziehungen »Außer­
halb«, »Innerhalb« und wieder »Außerhalb« keineswegs identisch. Nur
einige wenige Elemente der makroskopischen Tierseuchen werden im
Laboratorium erfasst, nur kontrollierte Tierseuchen werden im Laboratori­
um an experimentellen Tieren durchgeführt, nur spezifische Inokulie­
rungsverfahren und Impfstoffprodukte werden aus dem Laboratorium
extrahiert, um an Bauernbetriebe verteilt zu werden. Es ist gut bekannt,
dass dieser metaphorische Drift, welcher aus einer Folge von Verschiebun­
gen und Maßstabwechseln resultiert, die Quelle aller Innovationen ist
(Black 1961). Für unseren Zweck genügt es festzuhalten, dass jede Über­
setzung von einer Position zur nächsten von den erfassten Akteuren als
eine getreue Übersetzung und nicht als eine Täuschung, eine Deformation
oder irgendetwas Absurdes gesehen wird. So wird beispielsweise die
Krankheit in einer Petrischale, unabhängig von ihrer Entfernung vom
Bauernhof, als eine treue Übersetzung gesehen - in der Tat als die Inter­
pretation der Anthrax-Krankheit. Dies gilt auch, wenn Hygienilcer die
Versuche, denen sich die Milaoben in Pasteurs Laboratorium unterziehen,
und die Variationen von Epidemien, denen sich Massen von Menschen in
n8 \ BRUNO LATOUR

einer großen Stadt wie Paris unterziehen, als äquivalent betrachten. Es


macht keinen Sinn zu überlegen, ob diese zwei Settings wirldich äquivalent
sind - sie sind es nicht, weil Paris keine Petrischale ist -, aber sie werden
von jenen für äquivalent gehalten, die insistieren, dass, wenn Pasteur sein
Mikroskala-Problem löst, das zweite Makroskala-Problem auch gelöst wird.
Die Verhandlung über die Äquivalenz von nicht äquivalenten Situationen
ist immer das, was die Verbreitung einer Wissenschaft charakterisiert und
meistens erklärt, weshalb so viele Laboratorien involviert sind, wann im­
mer eine schwierige Verhandlung geführt werden muss.
Damit der Impfstoff effektiv ist, muss er »Außerhalb« in der »realen
Welt dort draußen« verteilt werden. Dies zeigt am besten die Absurdität
der Dichotomie zwischen »Innerhalb«/»Außerhalb« und die Nützlichkeit
von Mikro-Studien der Wissenschaft für das Verstehen von Makro-Proble­
men. Die meisten Schwierigkeiten, die mit Wissenschaft und Technologie
assoziiert werden, stammen von der Idee, dass es eine Zeit gibt, in der die
Innovationen in Laboratorien sind, und eine andere, in der sie draußen
unter neuen Bedingungen ausprobiert werden, welche die Effizienz dieser
Innovationen negieren oder bestätigen. Dies ist die »adaequatio rei et
intellectus«, welche Epistemologen so sehr fasziniert. Wie dieses Beispiel
zeigt, ist die Realität banaler und weniger mystisch.
Erstens funktioniert der Impfstoff in Pouilly le Fort und an anderen
Orten nur dann, wenn vorher an all diesen Orten dieselben Laboratori­
ums bedingungen angewendet werden. Wissenschaftliche Fakten sind wie
Eisenbahnzüge: Sie funktionieren nicht außerhalb ihrer Schienen. Man
kann die Schienen erweitern und sie verbinden, aber man kann nicht eine
Lokomotive über ein Feld führen. Der beste Beweis dafür ist, dass jedes
Mal, wenn die Methode der Verbreitung des Anthrax-Impfstoffes modifi­
ziert wurde, der Impfstoff nicht funktionierte und Pasteur sich in bittere
Kontroversen verhedderte, zum Beispiel mit den Italienern (Geison 1974).
Seine Reaktion bestand immer darin, zu überprüfen und nachzuschauen,
ob alles in Übereinstimmung mit den Vorschriften seines Laboratoriums
ausgeführt worden war. Dass die gleiche Sache wiederholt werden kann,
finde ich nicht wundersam, aber dies scheint es für all die Leute zu sein,
die sich vorstellen, dass Fakten die Laboratorien verlassen ohne gleichzeiti­
ge Verbreitung der Laboratoriumsverfahren.
Aber es gibt einen zweiten Grund, warum die Laboratorien kein »Au­
ßerhalb« haben. Die wirkliche Existenz der Anthrax-Krankheit zu Beginn
und die wirkliche Effizienz des Impfstoffes am Ende der Geschichte sind
nicht »Außerhalb«-Fakten, die für alle erkennbar sind. In beiden Fällen
sind sie das Resultat der früheren Existenz von statistischen Institutionen,
die ein Instrument zur Verfügung gestellt (Statistik in diesem Fall), ihr
Netzwerk zur Datensammlung über die ganze französische Verwaltung
ausgedehnt und all die Beamten überzeugt haben, dass es eine »Krank­
heit« gab, und zwar eine »schreckliche«, und dass es einen »Impfstoff«
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ••. 1 II9

gab, und zwar einen »effizienten«. Sprechen wir über die Außenwelt, neh­
men wir meistens einfach die vorherige Verbreitung einer früheren Wissenschaft
für gegeben an, die auf dem gleichen Prinzip aufgebaut ist wie jene, die wir
jetzt untersuchen. Dies ist der Grund dafür, dass Laboratoriumsstudien
schließlich den Schlüssel für das Verstehen von Makro-Problemen liefern,
wie ich am Ende dieses Kapitels zeigen werde.

Mit Unterschieden im Maßstab Chaos anrichten

Wird jedoch die »Innerhalb«/»Außerhalb«-Dichotomie nicht für wahr


gehalten, was werden wir zu den Differenzen im Maßstab sagen, welche
(der Leser soll daran erinnert werden) der Ausgangspunkt verschiedener
Diskussionen in der Wissenschaftssoziologie sind, da wegen dieses Glau­
bens an Differenzen im Maßstab die Mikro-Studien angeklagt werden,
einige essentielle Punkte zu übergehen? In dem von mir oben skizzierten
Beispiel sind wir nie mit einem sozialen Kontext einerseits und einer Wis­
senschaft, einem Laboratorium oder individuellen Wissenschaftlern ande­
rerseits konfrontiert. Wir haben keinen Kontext, der ein gegen soziale
Kräfte immunes Laboratorium beeinflusst oder nicht beeinflusst. Die unter
den meisten Soziologen dominante Sichtweise ist exakt die, welche unhalt­
bar ist. Viele gute Wissenschaftler, wie beispielsweise Geison, konnten
zeigen, warum die Tatsache von Bedeutung ist, dass Pasteur ein Katholik,
ein Konservativer, ein Chemiker, ein Bonapartist etc. ist (Farley/Geison
1979). Unabhängig davon, wie sorgfältig und interessant diese Art von
Analyse ist, wird sie das Hauptanliegen vollständig verfehlen: In seiner
äußerst wissenschaftlichen Arbeit, im Innern seines Laboratoriums, modifiziert
Pasteur aktiv die zeitgenössische Gesellschaft und er tut dies direkt - nicht indi­
rekt -, indem er einige seiner wichtigsten Akteure verschiebt.
Diesbezüglich ist Pasteur wiederum ein paradigmatisches Beispiel. Als
Politiker scheiterte er komplett; die wenigen Male, da er für das Amt eines
Abgeordneten kandidierte, war er nicht fähig, mehr als ein paar wenige
Stimmen auf sich zu vereinen. Zusammen mit Camot und der Republik
selbst hat er jedoch die größte Anzahl von nach ihm benannten Straßen in
allen französischen Dörfern und Städten. Dies ist auch ein schönes Symbol
für die Studien über Pasteur. Sucht man nach Beispielen für seine politi­
sche Tätigkeit, wird man natürlich fündig, aber sie sind dürftig, enttäu­
schend und niemals mit der Bedeutung seiner wissenschaftlichen Arbeit
vergleichbar. Die Dürftigkeit ihrer Recherchen wird Leser sagen lassen,
dass »irgendetwas anderes in Pasteur, in seinen wissenschaftlichen Leis­
tungen steckt, das allen sozialen oder politischen Erklärungen« entgeht.
Menschen, die dieses Klischee benutzen würden, wären wirklich im Recht.
Eine schlechte laitische Erklärung schützt immer die Wissenschaft. Des­
wegen wird die Wissenschaft umso mehr mystifiziert und geschützt, je
radikaler Wissenschaftler gegen die Wissenschaft schreiben.
I20 \ BRUNO LATOUR

Um Pasteur als einen auf die Gesellschaft einwirkenden Mann zu be­


greifen, ist es nicht notwendig, nach politischem Antrieb, nach,kurzfristi­
gen monetären oder symbolischen Profiten oder nach langfristigen chau­
vinistischen Motiven zu suchen. Es bringt keinen Nutzen, nach unbewuss­
ten Ideologien oder hinterlistigen Motiven zu suchen (Motive, welche aus
rätselhaften Gründen nur in den Augen der Forscher klar sind). Es bringt
keinen Nutzen, im Schmutz zu wühlen. Man muss nur darauf achten, was
er als Wissenschaftler in seinem Laboratorium tut. Um eine lange Studie
kurz zusammenzufassen (Latour 198ra): Pasteur fügt zu all den Kräften,
die die französische Gesellschaft zur damaligen Zeit ausmachten, eine
neue Kraft hinzu, für welche nur er ein glaubhafter Sprecher ist: die Mi­
krobe. Man kann keine wirtschaftlichen Beziehungen aufbauen ohne
dieses »tertium quid«, da eine unbekannte Mikrobe ihr Bier verbittern,
ihren Wein verderben, ihre Essigmutter steril machen, mit ihren Gütern
Cholera zurückbringen oder ihren nach Indien geschickten Abgesandten
töten kann. Sie können ohne sie keine soziale Hygienikerbewegung auf­
bauen, denn was sie auch immer für die armen Massen in ü berfüllten
Städten tun, werden diese dennoch sterben, wenn sie diesen unsichtbaren
Agenten nicht kontrollieren. Sie können nicht einmal unschuldige Bezie­
hungen zwischen einer Mutter und ihrem Sohn oder einem Liebhaber und
seiner Mätresse herstellen und den Agenten übersehen, der das Baby an
Diphtherie sterben lässt und den Liebhaber wegen Syphilis ins Irrenhaus
bringt. Sie brauchen nicht im Schmutz zu wühlen oder nach verzerrten
Ideologien zu suchen, um zu realisieren, dass eine Gruppe von Menschen,
die mit einem Laboratorium ausgerüstet ist (der einzige Platz, an dem der
unsichtbare Agent sichtbar gemacht wird), in allen Beziehungen anzutref­
fen ist, in denen die Intervention der Mikrobe vermutet werden kann.
Erklärt man Mikroben in allen sozialen Beziehungen zu essentiellen Ak­
teuren, dann muss man für sie und für die Leute, die sie zeigen und elimi­
nieren können, Platz schaffen. Tatsächlich: Je mehr man sich von den
Mikroben befreien will, desto mehr Raum sollte den Pasteurianern gege­
ben werden. Dies ist nicht falsches Denken, dies ist kein Suchen nach
voreingenommenen Weltsichten; es ist nur das, was die Pasteurianer taten
und die Art und Weise, wie sie von all den anderen zeitgenössischen Ak­
teuren gesehen wurden.
Die angeborene Schwäche der Wissenschaftssoziologie ist ihre Neigung, nach
offensichtlich bestimmten politischen Motiven und Interessen an einem der einzi­
gen Orte (den Laboratorien) zu suchen, wo Quellen von frischer, bislang als
solche unerkannter Politik sich eröffnen. Versteht man unter Politik Wahlen
und Recht, dann war Pasteur, wie ich bereits erwähnt habe, nicht von
politischen Interessen getrieben, außer in einigen marginalen Aspekten
seiner Wissenschaft. Dadurch ist seine Wissenschaft vor Nachprüfung
geschützt und der Mythos der Autonomie der Wissenschaft ist gesichert.
Versteht man unter Politik, ein Sprecher der Kräfte zu sein, mit denen man
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ... 1 121

die Gesellschaft formt, von der man die einzige glaubwürdige und legiti­
mierte Autorität ist, dann ist Pasteur ein Vollblutpolitiker. Tatsächlich
stattete er sich mit einer der erstaunlichsten frischen Quellen von Macht
aus. Wer kann sich vorstellen, der Vertreter einer Menge von Unsichtbaren
zu sein, von gefährlichen Kräften, fähig, irgendwo zuzuschlagen und ein
heilloses Durcheinander im jetzigen Status der Gesellschaft anzurichten,
Kräfte, von welchen er per Definition der einzige glaubwürdige Interpret ist
und welche nur er kontrollieren kann? überall wurden Pasteur-Laborato­
rien als die einzige Stelle eingerichtet, die fähig ist, die gefährlichen Akteu­
re zu töten, die bislang alle Bemühungen zunichte machten, Bier oder
Essig herzustellen, chirurgische Eingriffe vorzunehmen, zu gebären, eine
Kuh zu melken, ein Regiment gesund zu halten usw. Es wäre eine schwa­
che Konzeption der Soziologie, wenn der Leser nur sagen würde, dass
Mikro-Biologie »einen Einfluss hat« oder »durch den sozialen Kontext des
19. Jahrhunderts beeinflusst wird«. Laboratorien der Mikro-Biologie sind einer
der wenigen Orte, wo die wirkliche Komposition des sozialen Kontextes tranifor­
miert worden ist. Es ist kein leichtes Unterfangen, die Gesellschaft zu trans­
formieren, um Mikroben und ihre Beobachter in deren tatsächlichen
Struktur einzuschließen. Sofern der Leser nicht überzeugt ist, so kann er
die plötzlichen Bewegungen, die zur gleichen Zeit von sozialistischen Poli­
tikern gemacht wurden, vergleichen, welche im Namen einer anderen
Menge von neuen, gefährlichen, undisziplinierten und störenden Kräften
sprechen, für die in der Gesellschaft Platz gemacht werden sollte: die arbei­
tenden Massen. Die zwei Kräfte sind bezüglich des folgenden essentiellen
Merkmals vergleichbar: Sie sind frische Quellen von Kraft, um die Gesell­
schaft zu modifizieren, und können nicht durch den Zustand der Gesell­
schaft in der damaligen Zeit erldärt werden. Obwohl die zwei Kräfte zur
damaligen Zeit miteinander vermischt waren (Rosenkranz 1972), ist es
ldar, dass in politischen Terminologien der Einfluss der Pasteur-Laborato­
rien weiter und tiefer reichte und unumkehrbarer war, da sie in die tägli­
chen Details des Lebens (spucken, Milch abkochen, Hände waschen) und
in die Makro-Skala (neue Abwassersysteme bauen, Länder kolonialisieren,
neue Spitäler bauen) intervenieren konnten, ohne jemals klar als eine
bestimmte politische Kraft betrachtet zu werden.
Diese Transformation dessen, was die wirldiche Komposition der Ge­
sellschaft ausmacht, kann in keiner Weise durch Unterscheidungen bezüg­
lich Maßstäben und Stufen definiert werden. Weder der Historiker noch
der Soziologe können die Makro-Stufe der französischen Gesellschaft und
die Mikro-Stufe des milcrobiologischen Laboratoriums unterscheiden, da
die zweite hilft, die erste neu zu definieren und zu verschieben. Die Posi­
tionierung des Laboratoriums war, wie ich früher insistierte, in keiner
Weise unvermeidlich. Pasteur hätte beim Verbinden seiner Arbeit über
Mikroben mit den Interessen seiner vielen Kunden scheitern können.
Wäre er gescheitert, dann bin ich einverstanden, dass die Unterscheidung
122 1 BRUNO LATOUR

von Stufen für wahr gehalten könnte: Es würde tatsächlich französische


landwirtschaftliche, medizinische, soziale und politische Interessen einer­
seits und das isolierte Laboratorium eines uneigennützigen Wissenschaft­
lers an der Ecole Normale Superieure andererseits geben. Claude Bernard
hatte ein solches Laboratorium. Dies war jedoch in keiner Weise Pasteurs
Strategie und noch weniger diejenige des größeren Pasteur-Instituts, wel­
chem immer daran gelegen war, dass all die einschlägigen kommerziellen,
kolonialen und medizinischen Interessen ihre Laboratorien durchlaufen
mussten, um die Technik, die Verfahren, die Produkte, die Diagnostik­
ausrüstungen auszuleihen, die notwendig waren, um ihre eigenen Wün­
sche zu erfüllen. Laboratorien wurden überall installiert: An den Fronten
während des Ersten Weltkriegs in den Gräben, die sie im Wesentlichen
möglich machten; in den Tropen, bevor die Kolonialisten ankamen, wo sie
das überleben der weißen Kolonialherren und ihrer Soldaten erlaubten; in
der Chirurgiestation, die von einem Unterrichtssaal in ein Laboratorium
transformiert wurde (Salomon-Bayet 1986); in den Anlagen der Nah­
rungsmittelindustrie; in vielen öffentlichen Gesundheitsdiensten; inner­
halb der kleinen Praxen der Allgemeinmediziner; inmitten der Bauernbe­
triebe usw. Gib uns Laboratorien und wir werden den großen Krieg ohne
Infektion möglich machen, wir werden tropische Länder für die Kolonisa­
tion öffnen, wir werden Frankreichs Armee gesund machen, wir werden
die Anzahl und Kraft ihrer Einwohner erhöhen, wir werden neue Indus­
trien kreieren. Sogar blinde und taube Wissenschaftler werden diese For­
derung als »soziale« Aktivität ansehen, aber unter der Bedingung, dass
Laboratorien für Orte gehalten werden, wo Gesellschaft und Politik erneu­
ert und transformiert werden.

Wie der Schwächste zum Stärksten wird

Was ich über das im Abschnitt I abgehandelte Beispiel gesagt habe, führt
uns zu einem allgemeineren Problem der Laboratoriumsverfahren und der
Relevanz von Mikro-Studien für das Verständnis von Problemen in »gro­
ßem Maßstab«; das Problem wurde durch das Fach, welches unter dem
Namen »Science, Technologie & Society« (STS) bekannt ist, aufgeworfen.
Wollte ich die im Abschnitt II präsentierte Behauptung zusammenfassen,
könnte ich sagen, dass eine Wissenschaftssoziologie sich von Beginn weg
selbst hemmt; sofern dies zutrifft und man es unterlässt, den wirklichen
Inhalt der Laboratoriumsarbeit zu untersuchen, wird die Differenz der
Stufen oder des Maßstabes zwischen dem »sozialen Kontext« auf der einen
Seite und dem Laboratorium oder der »wissenschaftlichen Ebene« auf der
anderen Seite für gegeben erachtet. Ich behaupte dagegen, dass die Labora­
torien zu den wenigen Orten gehören, wo die Unterschiede im Maßstab
irrelevant gemacht werden und der tatsächliche Inhalt der innerhalb der
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ••. 1 123

Mauem des Laboratoriums gemachten Versuche die Zusammensetzung


der Gesellschaft verändern kann. Die methodologische Folge dieser Be­
hauptung ist natürlich, dass wir zu Recht mit Laboratoriumsuntersuchun­
gen an Ort und Stelle begonnen haben und nach einer Soziologie der In­
halte der Wissenschaft gesucht haben (Latour/Woolgar 1979). Dies ist
nicht nur der Schlüssel zu einem soziologischen Verständnis der Wissen­
schaft, welcher in Laborstudien gefunden wird, sondern auch, so glaube
ich, der Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft selbst; es ist nämlich
in den Laboratorien, wo die meisten neuen Quellen von Macht geschaffen
werden. Die Wissenschaftssoziologie kann nicht immer Kategorien und
Konzepte von der Soziologie oder Sozialgeschichte ausleihen, um den
»sozialen Kontext« zu rekonstruieren, innerhalb dessen die Wissenschaft
zu verstehen ist. Für die Wissenschaftssoziologie ist es Zeit, den Soziolo­
gen und den Sozialhistorikern zu zeigen, wie Gesellschaft mit und durch
die wahren Inhalte der Wissenschaft verschoben und reformiert wird. Um
jedoch so zu handeln, dürfen die Soziologen der wissenschaftlichen Praxis
nicht scheu sein und nur auf der Stufe des Laboratoriums haften bleiben
(da diese Stufe nicht existiert); vielmehr sollten sie stolz sein, sich inner­
halb der Laboratoriumsmauem zu begeben, weil die Laboratorien die Orte
sind, wo die »Innerhalb«/»Außerhalb«-Relationen invertiert sind. Mit
anderen Worten sollten wir, da die Laboratoriumsverfahren uns konstant
nach »innen«/»außen« und »oben«/»unten« führen, unserer Disziplin
treu bleiben und unsere Objekte durch all ihre Transformationen hindurch
verfolgen. Das ist einfach gute Methodologie. Um uns jedoch so zu verhal­
ten, ohne dass es uns schwindelig wird, sollten wir die seltsame Topologie,
welche die Laboratoriumsverfahren darstellen, detaillierter verstehen.
Das schwierigste Problem für das Verständnis dieser Positionierung
der Laboratoriumsverfahren besteht darin, genau zu definieren, warum im
Laboratorium und nur dort neue Quellen der Macht generiert werden.
Verwenden wir die Metapher des Hebels: Warum ist ein Laboratorium ein
solider Hebel und nicht ein weicher Strohhalm? Werfen wir diese Frage
auf, sind wir wieder beim Problem angelangt, das durch Mikro-Studien der
Wissenschaft Erreichte zu verstehen. Viele Antworten wurden von den
Epistemologen gegeben, bevor Arbeiten über Laboruntersuchungen zu
erscheinen begannen. Man sprach davon, dass die Wissenschaftler speziel­
le Methoden, spezielle Denkweisen oder - im Sinne einer kulturalistischen
Form von Rassismus - eine gewisse Art spezieller Kultur haben. Diese
Quelle der Macht wurde immer mit etwas »Speziellem« erklärt, in der
Regel bezüglich einer kognitiven Qualität. Sobald die Soziologen ins Labo­
ratorium eindrangen und all diese Theorien über die Macht der Wissen­
schaft zu überprüfen begannen, verschwanden sie einfach. Nichts Speziel­
les, nichts Außergewöhnliches, tatsächlich nichts von irgendeiner kogniti­
ven Qualität fand dort statt. Die Epistemologen hatten die falschen Objekte
gewählt; sie suchten nach mentalen Begabungen und ignorierten die lokale
124 \ BRUNO LATOUR

materielle Einrichtung, d.h. die Laboratorien. Dasselbe passierte mit dem


Großteil der Merton'schen Soziologie. Keine speziellen soziologischen
Relationen konnten irgendetwas über die Macht der Wissenschaft aussa­
gen. Die »Normen« verblassten wie das »invisible college« und die »präka­
pitalistische Anerkennung der Schuld« und landeten in der Vorhölle, wo
»Falsifikation« und die Geschlechter der »Engel« zur wohlverdienten ewi­
gen Ruhe platziert werden. Die ersten Soziologen machten denselben
Fehler wie die Epistemologen. Sie suchten überall nach etwas Speziellem
außer an den offensichtlichsten und sichtbarsten Orten: den Laboratorien.
Sogar die Laborwissenschaftler selbst sind sich mehr als viele Beobachter
bewusst, was sie speziell macht. Pasteur, ein besserer Soziologe und Epis­
temologe als die meisten, schrieb beispielsweise allein durch den Hinweis
auf das Laboratorium als Ursache der von Wissenschaftlern über die Ge­
sellschaft erworbenen Macht eine Art Abhandlung über Wissenschaftsso­
ziologie (Pasteur 1871).
Laboratoriumsuntersuchungen sind erfolgreich gewesen, aber eigent­
lich nur im negativen Sinn, indem sie den früheren Mythos, der die Wis­
senschaft umgab, zerstreut haben. Nichts Spezielles geschieht bezüglich
des kognitiven und sozialen Aspekts der Laboratoriumsverfahren. Knorr­
Cetina hat dies in einer Übersicht dargestellt (1983). Dem gibt es eigentlich
nichts mehr beizufügen, nichts, außer dass wir nun zu erklären haben, was
in den Laboratorien geschieht, dass diese zu einer so unersetzlichen Quelle
politischer Macht macht, einer Macht, die nicht durch irgendwelche kogni­
tiven oder sozialen Eigentümlichkeiten zu erklären ist.
In früheren Arbeiten (Latour/Fabbri 1977; Latour/Woolgar 1979) habe
ich eine Vorgehensweise aufgezeigt, um diese schwierigste aller Fragen zu
beantworten. Dieser Ansatz kann im folgenden Satz zusammengefasst
werden: Suche nach den Inskriptionsinstrumenten. Es spielt keine Rolle, ob
die Menschen über Quasare, Bruttosozialprodukte, Statistiken über Anth­
rax, Tierseuche-Mikroben, DNA oder Teilchenphysik sprechen; die einzige
Weise zu sprechen, ohne durch plausible Gegenargumente unterhöhlt zu
werden, besteht darin - und nur darin -, die Dinge, worüber sie zu spre­
chen angeben, leicht lesbar zu machen. Unabhängig von Größe, Kosten,
Länge und Breite der Instrumente, die sie bauen, ist das finale Endprodukt
all dieser Inskriptionen immer eine schriftliche Spur, welche ein klares
Urteil anderer leichter macht. Der Wettstreit um die Erfindung dieser In­
skriptionswerkzeuge und die Vereinfachung der zur Verfügung gestellten
Inskriptionen führt auch zu einfachen Formen (Punkte, Streifen, Spitzen
und Flecken) oder - besser noch - zu einem anderen geschriebenen Text,
welcher direkt auf der Oberfläche der Inskription lesbar ist. Das Resultat
dieses exklusiven Interesses an Inskriptionen ist ein Text, welcher die Zahl
der Gegenargumente limitiert, indem er für jede schwierige Verschiebung
eine von diesen vereinfachten Inskriptionen (Diagramme, Tabellen, Bilder)
anzeigt. Der Zweck der Konstruktion dieses doppelten Textes, welcher
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ... 1 125

Argumente und Inskriptionen einschließt, besteht darin, die Modalitäten


zu verändern, die ein Leser den Aussagen hinzufügen könnte. Wenn man
eine Modalität von »es ist wahrscheinlich, dass A gleich B ist« zu »X hat
gezeigt, dass A gleich B ist« verändert, genügt dies zur Formulierung einer
wissenschaftlichen Tatsache (Latour/Woolgar 1979, Kap. 2).
Diese Art der Untersuchung hatte den immensen Vorteil, die speziellen
Merkmale des Laboratoriums aufzuzeigen - Besessenheit von lnskriptions­
instrumenten und Schreiben von spezifischen Texttypen - und den Rest
der Einrichtung beiseite zu lassen. Um den Ausspruch Feyerabends auf­
zunehmen: Im Laboratorium ist alles erlaubt, es bleiben aber immer die
lnskriptionsinstrumente und die wissenschaftlichen Publikationen.
Ein wissenschaftliches Faktum ist das Produkt aus durchschnittlichen,
gewöhnlichen Menschen und Einrichtungen, die miteinander durch keine
speziellen Normen oder Kommunikationsformen verbunden sind, aber mit
Inskriptionsinstrumenten arbeiten. Diese Behauptung, welche zunächst
reduktionistisch und zu einfach erscheint, hat nun viel mehr Unterstüt­
zung gefunden und ist gut etabliert. Die Semiotik (Bastide 1981) hat ge­
zeigt, wie weit einer im Inhalt der Wissenschaft gehen kann, wenn er
darnach im Text selbst sucht, aber die stärkere Unterstützung kommt nun
von der kognitiven Anthropologie, kognitiven Psychologie und Wissen­
schaftsgeschichte. Die Technologie der Inskription (Schreiben, Schulung,
Drucken, Aufzeichnungsprozeduren) wird von immer mehr Forschern als
die hauptsächlichste Ursache dessen angesehen, was in früheren Zeiten
einem »kognitiven« oder »vagen kulturellen« Phänomen zugeschrieben
wurde. Die Bücher von Jack Goody (1977) und vor allem von Elisabeth
Eisenstein (1979) zeigen klar die außergewöhnliche Fruchtbarkeit, wenn
man auf dieser materiellen Ebene sucht, welche der Aufmerksamkeit von
Epistemologen, Historikern, Soziologen und Anthropologen gleicherma­
ßen entgangen war, weil die lnskriptionstechnologie ihnen zu offensicht­
lich und zu »leicht« erschien. Dieser mysteriöse Denkprozess, welcher wie
ein unzugänglicher Geist über soziale Untersuchungen der Wissenschaft
zu schweben schien, hat endlich Substanz und kann gründlich untersucht
werden. Zuvor bestand der Fehler darin, gröbere Materialien (oder Infra­
strukturen im großen Maßstab wie in den ersten »materialistischen« Un­
tersuchungen der Wissenschaft) den spirituellen, kognitiven oder denken­
den Prozessen entgegenzustellen, anstatt sich auf das allgegenwärtigste
und leichteste aller Materialien zu fokussieren: nämlich das Geschriebene
(Havelock 1981; Dagognet 1973).
Verlagern wir uns nicht wieder auf die Mikro-Ebene, wenn wir diesen
Ansatz akzeptieren und entfernen uns dadurch von den Makro-Fragen aller
anderen STS-Forscher, die um ernsthafte Dinge wie Abrüstung, Technolo­
gietransfer, Innovationssoziologie oder Wissenschaftsgeschichte besorgt
sind? Man könnte sagen, dass es interessant ist, Inskriptionen zu untersu­
chen, aber wir sind noch weit davon entfernt, erklären zu können, wie
126 1 BRUNO LATOUR

Macht in Laboratorien gewonnen wird, um die Gesellschaft zu transfor­


mieren oder zu verschieben. Dies ist genau der Grund dafür, dass meine
erste Laboratoriumsuntersuchung unzureichend war; sie war aus einem
einfachen methodologischen Grund unzureichend. Ich fokussierte mich
auf ein Laboratorium und nahm dessen Existenz als eine Einheit und des­
sen Relevanz für das »Außerhalb« als gegeben an. So hatte ich keine Gele­
genheit, die rätselhafteste aller Prozeduren zu sehen, nämlich die, wie eine
Reihe von Inskriptionsprozeduren für Fragen relevant wird, die auf den
ersten Blick zutiefst fremd und viel zu grandios, kompliziert oder unor­
dentlich erscheinen, um schließlich in wenigen, gut leserlichen Diagram­
men und Karten auf einem Pult zu enden, wo sie von Doktoren in weißen
Kitteln in Ruhe diskutiert werden. Der letzte Punkt dieses Kapitels wird die
Formulierung der - dank Pasteurs Strategie - einfachen Lösung dieses
Rätsels beinhalten, tatsächlich derart einfach, dass sie meiner Aufmerk­
samkeit entgangen ist.
Diese Lösung wird erkennbar, wenn wir die drei Teile meiner Argu­
mentation zusammenfügen: die Auflösung der »Innerhalb/Außerhalb«­
Grenze; die Inversion von Maßstäben und Ebenen; schließlich der Inskrip­
tionsprozess. Diese drei Themen beziehen sich auf dasselbe Problem: Wie
gewinnen wenige Leute Macht und begeben sich innerhalb gewisser Orte,
um andere Orte sowie das Leben der Masse zu modifizieren. Pasteur und
seine wenigen Mitarbeiter beispielsweise können das Anthrax-Problem
nicht bewältigen, indem sie durch ganz Frankreich reisen und ein gründli­
ches Wissen über alle Bauernbetriebe, Bauern, Tiere und lokale Idiosyn­
krasien sammeln. Der einzige Ort, wo sie fähige und gute Arbeiter sind, ist
ihr Laboratorium. Außerhalb sind sie im Führen von Bauernbetrieben
schlechter als die Bauern und in der Veterinärmedizin schlechter als die
Tierärzte. In ihren eigenen Wänden sind sie jedoch Experten im Aufstellen
von Versuchsanordnungen und Instrumenten, sodass die unsichtbaren
Akteure, welche sie Mikroben nennen, ihre Bewegungen und ihre Entwick­
lung so bildhaft und deutlich zeigen, dass sogar ein Kind sie sehen würde.
Das Unsichtbare wird sichtbar und das »Ding« bekommt eine schriftliche
Spur, die wie jeder Text nach Belieben gelesen werden kann. Diese Sach­
kenntnis wurde in ihrem Fall schon durch eine komplette Modifikation des
Maßstabes erreicht. Wie vorher erklärt, ist die Mikrobe solange unsichtbar,
als sie nicht isoliert von den anderen Konkurrenten kultiviert wird. Sobald
sie ungehemmt in einem passend gewählten Medium wächst, wächst sie
exponentiell und macht sich selbst breit genug, dass sie als kleine Punkte
in der Petrischale gezählt werden kann. Ich weiß nicht, was eine Mikrobe
ist, aber das Zählen von Punkten mit klaren Umrissen auf einer weißen
Oberfläche ist einfach. Das Problem besteht nun darin, diese Sachkenntnis
mit dem Gesundheitsbereich zu verbinden. Ich habe die Lösung weiter
oben aufgezeigt durch die dreifachen Schritte, die das Laboratorium ver­
schieben. Die Konsequenz ist klar. Durch diese Schritte findet eine Tier-
GEBT MIR EIN LABORATORIUM .•• 1 127

seuche innerhalb der Wände des Laboratorium statt, das für das außerhalb
gelegene Makro-Problem als relevant erachtet wird. Wiederum wird der
Maßstab des Problems umgekehrt, aber diesmal ist es das »Makro«, wel­
ches klein genug gemacht wird, sodass es von den Pasteurianern bewältigt
werden kann. Vor dieser Verschiebung und Umkehrung, die den Pasteuri­
anern erlaubte, sich eine Sachkenntnis im Einrichten von Inskriptionsins­
trumenten im Gesundheitswesen anzueignen, war niemand jemals im­
stande gewesen, den Verlauf einer Epidemie zu beherrschen. Diese »Be­
herrschung« bedeutet, dass jedes Ereignis - die Inokulation, der Ausbruch
einer Epidemie, die Impfung, das Zählen der Toten und der überlebenden,
das Timing, die Orte - für einige wenige Menschen lesbar wurde, die unter
sich wegen der Einfachheit der wahrnehmbaren Beurteilung, die sie über
einfache Diagramme und Kurven zu fällen imstande waren, Einigkeit
erzielen konnten.
Die im Laboratorium gewonnene Macht ist nicht mysteriös. Gewisse
Menschen, die viel schwächer sind als Epidemien, können stärker werden,
wenn sie den Maßstab der beiden Akteure ändern - indem man die Mi­
kroben groß und die Seuchen ldein macht -, und andere beherrschen die
Ereignisse durch die Inskriptionsinstrumente, die jeden Schritt lesbar
machen. Die Veränderung des Maßstabes bringt eine Beschleunigung der
Anzahl erreichbarer Inskriptionen mit sich. Die Beschaffung von auf
Frankreich bezogenen Daten über die Anthrax-Epidemie war ein langsa­
mer, sorgfältiger und ungewisser Prozess. Aber in einem Jahr vermochte
Pasteur die Anthrax-Ausbrüche zu vervielfachen. Kein Wunder, dass er
mächtiger wurde als die Tierärzte. Für jede ihrer Statistik konnte er deren
zehn vorweisen. Vor Pasteur konnten ihre Stellungnahmen durch jede
Menge anderer, ebenso plausibler Aussagen relativiert werden. Wer ist
jedoch imstande, eine seriöse Attacke gegen Pasteur zu reiten, wenn er mit
diesen vielen Zahlen und Fakten aus seinem Labor herauskommt? Pasteur
hat Macht gewonnen, indem er einfach den Maßstab modifizierte. So hat
Pasteur in den Diskussionen über Anthrax zwei Machtquellen: die Tier­
seuche und die Mikroben. Seine Opponenten und Vorgänger mussten
»Außerhalb« in einem »großen Maßstab« arbeiten; die unsichtbaren Agen­
ten fielen ihnen immer planlos in den Rücken und ließen ihre Statistiken
als Zufallsprodukte erscheinen. Indem Pasteur jedoch sein Laboratorium
errichtete und es - wie wir gesehen haben - in die Bauernbetriebe einbau­
te, dominierte er die Mikrobe (indem er sie größer machte) sowie die
Tierseuche (indem er sie kleiner machte) und vervielfachte mit !deinem
Kostenaufwand die Experimente - ohne sein Laboratorium zu verlassen.
Diese Konzentration der Kräfte machte ihn weit mächtiger als seine Kon­
kurrenten, sodass sie nicht einmal an Gegenargumente denken konnten,
außer in den wenigen Fällen, in denen sie, wie Koch, ebenso gut ausgerüs­
tet waren wie Pasteur.
Um den Grund zu verstehen, warum die Menschen so viel für Labora-
128 1 BRUNO LATOUR

torien ausgeben, die nun gewöhnliche Orte sind, muss man diese Orte als
gefällige technische Vorrichtungen zur Umkehrung der Hierarchie der
Mächte betrachten. Dank einer Kette von Verschiebungen - des Laborato­
riums wie der Objekte - wird der Maßstab modifiziert, um den besten aller
möglichen Maßstäbe zu erreichen für das, worüber die Menschen spre­
chen wollen: die in einfachen Formen und in einfacher Schrift geschriebe­
ne Inskription auf einer flachen Oberfläche. Damit ist jedes Ding, worüber
man zu sprechen hat, nicht nur sichtbar, sondern auch lesbar, und von
wenigen sachverständigen Menschen kann leicht darauf verwiesen werden.
·Dies ist ebenso einfach und ausreichend wie der Punkt des Archimedes,
um den sich die Erde dreht, und macht den Schwächsten zum Stärksten.
Es ist tatsächlich einfach, denn das Ausführen einfacher Schritte ist das,
wozu dieses Werkzeug dient. »Akkumuliertes Wissen« sagen die Leute mit
Bewunderung, aber diese Beschleunigung wurde durch eine Änderung des
Maßstabes möglich, welche wiederum eine Vervielfachung der Versuche
ermöglicht. Die Gewissheit wird im Laboratorium nicht erhöht, weil die
Menschen dort ehrlicher, rigoroser oder »falsifizierender« sind. Sie können
einfach so viele Fehler machen, wie sie wollen, oder jedenfalls mehr Fehler
als die anderen »außerhalb«, welche die Veränderung des Maßstabes nicht
beherrschen. Jeder Fehler wiederum wird archiviert, gespeichert, registriert
und wieder leicht lesbar gemacht, was auch immer das spezifische Gebiet
oder Thema sein mag. Wird eine große Anzahl von Versuchen registriert
und kann eine Summe ihrer Inskriptionen gezogen werden, wird diese
Summe immer sicherer sein, wenn dadurch die Möglichkeit abnimmt,
dass ein Konkurrent eine Stellungnahme abgibt, die ebenso plausibel ist
wie die, welche man verteidigen will. Das genügt, sofern man die Summe
einer Serie von Fehlern zieht; man ist stärker als jeder andere, dem weni­
ger Fehler zugestanden wurden.
Betrachtet man den Unterschied zwischen einem Politiker und einem
Wissenschaftler, so wird diese Vision des Laboratoriums als eine techni­
sche Vorrichtung, um durch das Vervielfachen der Fehler Macht zu gewin­
nen, offensichtlich. Aus kognitiven oder sozialen Gründen haben sie typi­
scherweise entgegengesetzte Eigenschaften. Vom Ersten sagt man, dass er
habgierig, voller Eigeninteressen, kurzsichtig, unpräzis, immer kompro­
missbereit und wankelmütig sei. Vom Zweiten sagt man, dass er uneigen­
nützig, weitsichtig, ehrlich oder zumindest rigoros ist sowie klar und exakt
spricht und nach Gewissheit sucht. Diese vielen Unterschiede sind alles
künstliche Projektionen eines einfachen materiellen Dinges. Der Politiker
hat kein Laboratorium, der Wissenschaftler hat eines. So arbeitet der Poli­
tiker mit vollem Maßstab, mit nur einem Treffer pro Zeiteinheit und steht
dauernd im Rampenlicht. Er schlägt sich durch, gewinnt oder verliert »dort
draußen«. Der Wissenschaftler arbeitet an Modellen verschiedenen Maß­
stabs, an denen er innerhalb des Laboratoriums, abgeschirmt von einer
öffentlichen Prüfung, die Fehler vervielfacht. Er kann beliebig lange Versu-
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ••• 1 I29

ehe durchführen und tritt erst an die Öffentlichkeit, wenn er alle Fehler
gemacht hat, die ihm geholfen haben, »Gewissheit« zu erlangen. Kein
Wunder, dass der eine nicht »weiß« und der andere »weiß«. Dennoch liegt
der Unterschied nicht im »Wissen«. Kehrt man zufällig die Positionen um,
wird derselbe habgierige, kurzsichtige Politiker, wenn er im Laboratorium
ist, exakte wissenschaftliche Fakten produzieren und der ehrliche, unei­
gennützige, rigorose Wissenschaftler wird, wenn er ans Ruder politischer
Strukturen im großen Maßstab ohne Erlaubnis zu Fehlern gesetzt wird,
unpräzis, unsicher und schwach werden wie jeder andere auch. Das Spezi­
fische an der Wissenschaft ist nicht in den kognitiven, sozialen oder psy­
chologischen Qualitäten zu finden, sondern in der speziellen Konstruktion
von Laboratorien in einer Weise, dass der Maßstab der Phänomene inver­
tiert wird, sodass Dinge lesbar werden, die Frequenz von Versuchen erhöht
und zugelassen wird, dass viele Fehler gemacht und registriert werden.
Dass die Laboratoriumseinrichtung der Grund für die von Wissen­
schaftlern gewonnene Macht ist, wird noch offensichtlicher, wenn die
Leute woanders Schlussfolgerungen etablieren wollen, die ebenso stringent
wie die in den Laboratorien erreichten sind. Wie ich oben gezeigt habe,
kann man sagen, dass es kein »Außerhalb« der Laboratorien gibt. Das
Beste, das einer tun kann, ist die »Hierarchie der Kräfte«, die sich einmal
innerhalb des ersten Laboratoriums bewährt hat, auf andere Orte auszu­
dehnen. Ich habe dies für Anthrax gezeigt, aber dieser Fall kann verallge­
meinert werden. Die Mystifikation der Wissenschaft rührt häufig von der
Idee, dass Wissenschaftler imstande sind, »Voraussagen« zu machen. Sie
arbeiten in ihren Labors und tatsächlich geschieht außerhalb etwas, das
ihre Voraussagen verifiziert. Das Problem besteht darin, dass niemand
jemals imstande gewesen ist, diese Voraussagen zu verifizieren, ohne
zunächst die im Labor existierenden Verifikationsbedingungen auszuwei­
ten. Der Impfstoff verbreitet sich unter der Bedingung, dass die Bauernbe­
triebe in einen Annex von Pasteurs Laboratorium transformiert werden
und dasselbe statistische System, das Anthrax zuerst sichtbar gemacht hat,
zur Verifikation verwendet wird, ob der Impfstoff irgendeinen Effekt hat.
Wir können die Ausweitung der Laboratoriumsbedingungen und die Repe­
tition des letzten, positiv ausgefallenen Versuches sehen, aber wir können
nicht die Voraussagen der Wissenschaftler sehen, die sich selbst außerhalb
der Laboratoriumsmauern verbreiten (Latour/Woolgar 1979: Kap. 4).
Falls dies dem Leser kontraintuitiv erscheint, wird eine ldeine Überle­
gung ihn davon überzeugen, dass jedes denkbare Gegenbeispiel tatsächlich
der hier dargelegten Position entspricht. Niemand hat je einen Laboratori­
umsfakt sich nach außen bewegen gesehen, sofern nicht das Labor zu­
nächst dazu gebracht wurde, sich in eine »Außerhalb«-Situation zu bege­
ben und diese Situation derart transformiert wurde, dass sie sich den Labo­
ratoriumsvorschriften anpasste. Jedes Gegenbeispiel ist eine Überzeugung,
dass so etwas möglich ist. Eine Überzeugung ist jedoch kein Beweis. Wenn
130 j BRUNO LATOUR

ein Beweis erbracht wird, dann sind die beiden von mir aufgestellten Be­
dingungen immer erfüllt. Mein Vertrauen in diese Lösung gründet nicht
auf einer Mutmaßung, sondern auf einer einfachen wissenschaftlichen
Überzeugung, die von all meinen Wissenschaftlerkollegen geteilt wird,
nämlich dass Magie unmöglich ist und eine Aktion aus der Feme immer
eine Verfälschung ist. Die Prognosen von Wissenschaftlern sind immer
Aussagen im Nachhinein oder Repetitionen. Die Bestätigung dieses offen­
sichtlichen Phänomens zeigt sich in wissenschaftlichen Kontroversen,
wenn die Wissenschaftler gezwungen werden, den soliden Boden des
Laboratoriums zu verlassen. In dem Moment, in dem sie wirklich nach
»Außerhalb« gehen, wissen sie nichts, sie bluffen, sie scheitern, sie schla­
gen sich durch und verlieren jede Möglichkeit, irgendetwas zu sagen, das
nicht unmittelbar von einem Schwarm von ebenso plausiblen Stellung­
nahmen gekontert wird.
Der einzige Weg für einen Wissenschaftler, die innerhalb des Laborato­
riums durch den von mir beschriebenen Prozess gewonnene Macht zu
behalten, besteht darin, nicht nach »Außerhalb« zu gehen, wo er sie sofort
verlieren würde. Wiederum ist die Lösung sehr einfach - sie lautet: nie
nach Außen gehen. Bedeutet dies, dass sie an den wenigen Arbeitsstellen
festsitzen? Nein, das bedeutet, dass sie alles Mögliche tun müssen, um auf
jede Einrichtung einige der Bedingungen zu übertragen, die eine Repro­
duktion günstiger Laboratoriumsverfahren ermöglichen. Solange wissen­
schaftliche Fakten sich innerhalb der Laboratorien abspielen, muss man,
um sie zirkulieren zu lassen, kostspielige Netzwerke aufbauen, innerhalb
derer sie ihre fragile Effektivität bewahren können. Sofern dies einer Trans­
formation der Gesellschaft in ein großes Laboratorium gleichkommt, dann soll
man dies tun. Die Ausbreitung pasteurianischer Laboratorien auf alle Orte,
die bis vor wenigen Jahrzehnten nichts mit Wissenschaft zu tun hatten, ist
ein gutes Beispiel für den Aufbau eines derartigen Netzwerkes. Aber ein
Blick auf das System der standardisierten Gewichte und Maße, in Frank­
reich »Metrologie« genannt, ist noch überzeugender. Der größte Teil der
im Laboratorium geleisteten Arbeit würde für immer dort bleiben, wenn
die hauptsächlichsten physikalischen Konstanten nicht ganz allgemein
konstant geworden wären. Zeit, Gewicht, Länge, Wellenlänge usw. werden
mit einem immer größer werdenden Präzisionsgrad auf immer mehr
Lokalitäten ausgeweitet. Dann und nur dann können die Laboratoriums­
experimente, die in den Betrieben, in der Werkzeugindustrie, in der Wirt­
schaft und in den Spitälern auftretenden Probleme angehen. Versucht man
jedoch in einem gedanklichen Experiment das einfachste physikalische
Gesetz nach »Außerhalb« zu verbreiten, ohne vorher die hauptsächlichsten
Konstanten verbreitet und kontrolliert zu haben, kann man dies nicht
verifizieren; genauso wie es ohne Gesundheitsstatistiken unmöglich gewe­
sen wäre, die Existenz von Anthrax zu kennen und die Effizienz des Impf­
stoffes nachzuweisen. Diese Transformation der ganzen Gesellschaft ent-
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ••• 1 IJI

sprechend den Laboratoriumsexperimenten wird von den Wissenschafts­


soziologen ignoriert.
Es gibt kein »Außerhalb« der Wissenschaft, aber es gibt lange, schmale
Netzwerke, welche die Zirkulation von wissenschaftlichen Fakten ermögli­
chen. Natürlich ist der Grund für diese Ignoranz leicht zu verstehen. Die
Leute denken, dass die Universalität der Wissenschaft ein Fakt ist, weil sie
vergessen, die Größe der »Metrologie« zu berücksichtigen. Ignoriert man
diese Transformation, welche alle Verschiebungen möglich macht, ist dies
vergleichbar einer Untersuchung von Lokomotiven oder Autos ohne die
Eisenbahn- oder Autobahnnetzwerke. Die Analogie ist zutreffend, weil die
scheinbar einfache Arbeit der Aufrechterhaltung der physikalischen Kons­
tanten in einer modernen Gesellschaft um das Dreifache höher geschätzt
wird als die Bemühungen der gesamten Wissenschaft und Technologie
selbst (Hunter 1980). Die Kosten, um die Gesellschaft mit dem Innern der
Laboratorien konform zu machen, damit deren Aktivität für die Gesell­
schaft relevant gemacht werden kann, werden dauernd vergessen, weil die
Leute nicht sehen wollen, dass die Universalität ebenso eine soziale Kon­
struktion ist (Latour 1981b).
Sobald all diese Verschiebungen und Transformationen berücksichtigt
werden, erscheint die Unterscheidung zwischen der makro-sozialen Ebene
und der Ebene der Laboratoriumswissenschaft unscharf oder gar nichtexis­
tent. Tatsächlich werden Laboratorien gebaut, um diese Unterscheidung
aufzuheben. Sobald diese aufgehoben ist, können einige wenige Leute
innerhalb ihrer isolierten Wände an Dingen arbeiten, welche das tägliche
Leben der Masse verändern. Unabhängig davon, ob es sich um Ökonomen,
Physiker, Geographen, Epidemiologen, Buchhalter, Mikro-Biologen han­
delt, fertigen sie alle Objekte in einem solchen Maßstab (Karten, Wirt­
schaftsmodelle, Abbildungen, Tabellen, Diagramme) an, dass sie Macht
gewinnen, unwiderlegbare Schlussfolgerungen ziehen und dann die ihnen
vorteilhaft erscheinenden Folgerungen in einem größeren Maßstab ver­
breiten können. Es handelt sich um einen politischen Prozess. Es handelt
sich nicht um einen politischen Prozess. Es ist einer, da sie eine Quelle von
Macht gewonnen haben. Es ist keiner, da sie eine Quelle neuer Macht ist,
welche der Routine und einfachen Definition einer etablierten politischen
Macht entgeht. »Gib mir ein Laboratorium und ich werde die Gesellschaft
aus den Angeln heben«, sagte ich, indem ich Archimedes zitierte. Wir
wissen nun, warum ein Laboratorium ein so guter Hebel ist. Wenn ich nun
eine Aussage von Clausewitz nehme, werden wir ein kompletteres Bild
haben: »Wissenschaft ist mit anderen Mitteln verfolgte Politik.« Es handelt
sich nicht um Politik, da eine Macht immer durch eine andere Gegen­
macht blockiert wird. In den Laboratoriumswissenschaften zählen andere
Mittel, nämlich die neuen, unvorhersagbaren Quellen von Verschiebun­
gen, die alle umso mächtiger sind, je zweideutiger und unvorhersagbarer
sie sind. Pasteur macht Politik, indem er die Mikroben vertritt und alle
IJ2 1 BRUNO LATOUR

anderen verdrängt. Er tut dies aber mit anderen, unvorhersehbaren Mit­


teln, die jeden anderen hinaus drängen, auch die traditionellen politischen
Kräfte. Wir können nun verstehen, warum es so wichtig ist und war, sich
in die Laboratoriums-Mikrostudien zu vertiefen. In unserer modernen
Gesellschaft stammen die meisten der wirklich neuen Kräfte aus der Wis­
senschaft - egal welche - und nicht aus dem klassischen politischen Pro­
zess. Betrachtet man alle sozialen Erklärungen von Wissenschaft und
Technik aus der klassischen Sicht der Politik und Wirtschaft (Profit, eta­
blierte Macht, voraussagbare Güter und Übel), sind die Wissenschafts­
forscher, die behaupten, die Makro-Ebenen zu untersuchen, nicht imstan­
de, genau zu verstehen, was an Wissenschaft und Technik stark ist. In den
Äußerungen über Wissenschaftler, die Politik mit anderen Mitteln ma­
chen, lautet die langweilige und repetitive Kritik, dass sie »bloß Politik
machen«. Ihre Erklärung fällt kurz aus. Deren Kürze liegt in der Zeitspan­
ne - sie stoppen dort, wo sie starten sollten. Warum sind denn die Mittel so
verschieden? Zur Untersuchung dieser anderen Mittel muss man sich in
die Inhalte der Wissenschaft vertiefen und in die Laboratorien gehen, wo
die künftigen Quellen der politischen Macht im Entstehen begriffen sind.
Die Herausforderung der Laboratorien für die Soziologen ist dieselbe wie
die Herausforderung der Laboratorien für die Gesellschaft. Sie können die
Gesellschaft verschieben und sie wieder zusammenführen mit dem tat­
sächlichen Inhalt dessen, was innerhalb geschieht und zunächst irrelevant
und zu technisch erschien. Die sorgfältige, genaue Untersuchung der
Laboratoriumswissenschaftler kann nicht ignoriert werden, und keiner
kann von dieser »Ebene« zur makro-politischen Ebene springen, da die
letztere alle ihre wirklich effizienten Machtquellen tatsächlich von diesen
Laboratorien bekommt, die eben als uninteressant oder zu technisch erach­
tet worden sind, um analysiert zu werden.
Damit können wir auch verstehen, warum jene, die Laboratoriumsver­
fahren untersuchen, nicht scheu sein und eine Vision ihrer eigenen Me­
thode akzeptieren sollten, welche sie auf das Laboratorium beschränken
würde, während das Laboratorium nur gerade ein Moment ist in einer
Serie von Verschiebungen, die in den »Innerhalb«/»Außerhalb«- und Mak­
ro/Mikro-Dichotomien ein völlig heilloses Durcheinander erzeugen. Un­
abhängig von ihrer Zerstrittenheit bezüglich Wissenschaftssoziologie
haben Makro- und Mikro-Forscher ein Vorurteil gemeinsam: dass die Wis­
senschaft an den Laboratoriumsmauern endet oder beginnt. Das Laboratorium
ist ein bedeutend schwierigeres Objekt und ein viel effizienterer Transfor­
mator von Kräften, als diese meinen. Das kommt davon, dass der Mikro­
Forscher, sofern er dieser Methode treu bleibt, schließlich ebenso gut Mak­
ro-Fragen angehen wird, genauso wie der Wissenschaftler, der Laborexpe­
rimente mit Mikroben macht, schließlich viele Details der ganzen französi­
schen Gesellschaft modifiziert. Dennoch denke ich, dass ein Argument
angeführt werden könnte, um zu zeigen, dass die Existenz einer Makro-
GEBT MIR EIN LABORATORIUM ... 1 133

Ebene selbst, der berühmte »soziale Kontext«, eine Folge der Entwicldung
gewisser wissenschaftlicher Disziplinen ist (Callon/Latour 1981). Mir ist
ldar, dass dies der einzige Weg ist, wie die Wissenschaftssoziologie ent­
sprechend den durch die Laboratoriumsuntersuchungen gesetzten Vorga­
ben wieder neu aufgebaut werden kann. Ich glaube auch, dass dies einer
der wenigen Orte ist, wo die Wissenschaftssoziologie die Soziologie etwas
lehren kann, statt sich von ihr Kategorien und Strukturen auszuleihen, die
schon das einfachste Laboratorium vernichtet und neu ordnet. Es wäre
höchste Zeit, da das Laboratorium in der Politik und in der Soziologie viel
innovativer ist als die meisten Soziologen (inldusive mancher Wissen­
schaftssoziologen). Wir beginnen gerade erst, die Herausforderung anzu­
nehmen, welche die Laboratoriumsverfahren für die Untersuchung der
Gesellschaft darstellen.

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Einige Elemente einer Soziologie

der Übersetzung:

Die Domestikation der Kammmuscheln

und der Fischer der St. Brieuc-Bucht

MICHEL CALLON

Zusammenfassung

Der Artikel umreißt einen neuen Ansatz zur Untersuchung von Machtver­
hältnissen: die Soziologie der Übersetzung. Ausgehend von drei Prinzi­
pien, vom Agnostizismus (Unparteilichkeit zwischen den in der Kontrover­
se engagierten Akteuren), von der generalisierten Symmetrie (Verpflich­
tung, widersprüchliche Gesichtspunkte in der gleichen Terminologie zu
erklären) und von der freien Assoziation (Vermeidung aller a-priori-Unter­
scheidungen zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen) wird eine
wissenschaftliche und ökonomische Kontroverse über die Gründe für den
Rückgang der Population von Kammmuscheln in der St. Brieuc-Bucht und
die Versuche dreier Meeresbiologen, für diese Population eine Regenera­
tionsstrategie zu entwickeln, beschrieben. In den Versuchen dieser For­
scher werden im Übersetzungsprozess vier >Momente< unterschieden, die
dazu dienen, sich selbst und ihre Definition der Situation auf andere zu
übertragen: (a) Problematisierung: die Forscher versuchten in diesem
Drama für andere Akteure unentbehrlich zu werden, indem sie die Natur
und deren Probleme definierten und davon ausgingen, dass diese gelöst
würden, wenn die Akteure durch den obligatorischen Passagepunkt (OPP)
des Forschungsprogramms der Wissenschaftler hindurchgingen; (b) Inter­
essement: eine Reihe von Prozessen, durch die die Forscher die anderen
Akteure auf die für sie in diesem Programm vorgesehenen Rollen zu
fixieren suchten; (c) Enrolment: ein Set von Strategien, durch welches die
136 1 MICHEL GALLON

Forscher die zahlreichen Rollen, die sie anderen zugewiesen hatten, zu


definieren und zueinander in Beziehung zu setzen suchten; (d) Mobilisie­
rung: ein Set von Methoden, die von den Forschern angewandt wurden,
um sicherzustellen, dass ausgewählte Sprecher der verschiedenen relevan­
ten Gruppierungen fähig sind, diese Gruppierungen zu repräsentieren und
nicht von diesen hintergangen werden. Zum Schluss wird darauf hinge­
wiesen, dass Übersetzung niemals eine vollendete Realisierung, sondern
ein Prozess ist, welcher (wie in der behandelten empirischen Fallstudie)
scheitern kann.

Einführung

Gegenstand dieser Arbeit ist es, die Soziologie der Übersetzung - wie sie
neuerdings genannt wird - in ihren Grundzügen darzustellen und zu
zeigen, dass dieses analytische Werkzeug sich besonders gut zur Untersu­
chung der Rolle von Wissenschaft und Technik bei der Strukturierung von
Machtverhältnissen eignet.
Zu Beginn muss festgehalten werden, dass sich Soziologen, die in den
letzten Jahren eine detaillierte Analyse wissenschaftlicher und technologi­
scher Inhalte versucht haben, in einer paradoxen Situation befinden. Die
Erklärungen und Interpretationen, die von diesen Sozialwissenschaftlern
vorgeschlagen wurden, sind in der Tat von einer unübersehbaren Asymme­
trie geprägt. Wenn es um die Anerkennung der Rechte der Wissenschaftler
und Ingenieure geht, die sie sich zu diskutieren bemühen, kennt die Tole­
ranz der Soziologen keine Grenzen. Soziologen handeln unparteiisch und
verweisen mit derselben Terminologie auf die verschiedenen Protagonis­
ten, selbst wenn es einem unter ihnen gelingt, seinen Willen durchzuset­
zen. Die Soziologen versehen die Akteure nicht mit Einsicht, wissenschaft­
licher Methode, Wahrheit oder Effizienz, weil diese Terminologie den
Erfolg des Akteurs bezeichnet, ohne die Gründe dafür zu erklären.' Diese
Perspektive bildete die Basis sehr lebhafter und detaillierter Beschreibun­
gen der Gestaltung von Wissenschaft.2

1 1 Bloor definierte eindeutig die methodologischen Prinzipien, die nun bei einer
zunehmenden Anzahl von wissenschaftssoziologischen Untersuchungen ange­
wandt werden. Sie charakterisieren das, was er das »starke Programm der Wissen­
schaftssoziologie« nennt.
2 1 Diese empirischen Studien betrafen eine große Vielfalt wissenschaftlicher Be­
reiche. Die wichtigsten sind zu finden in Knorr/Krohn/Whitley (1980); in diesem
Buch sind die Artikel von Pinch und Pickering besonders beachtenswert. Auch die
Sonderausgabe der »Social Studies of Science« n/1 (1981) war wissenschaftlichen
Kontroversen gewidmet. Vgl. auch Barnes/Shapin (1979) und Wallis (1979). Ein
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 137

Die liberale Haltung dieser Soziologen geht jedoch nicht so weit, den
untersuchten Akteuren zuzugestehen, die Gesellschaft und ihre Bestand­
teile offen zu diskutieren. Sobald sie die wissenschaftlichen und techni­
schen Aspekte der Kontroversen zur Kenntnis genommen haben, stellen
die Soziologen die existierenden Standpunkte wieder an ihren Platz zurück
und sehen davon ab, Partei zu ergreifen.
Sie erkennen die Existenz einer Vielfalt von Beschreibungen der Natur
an, ohne in diese Beschreibungen irgendwelche Prioritäten oder Hierar­
chien einzuführen. Darin zeigt sich jedoch das Paradox: indem sich diese
Sozialwissenschaftler bei den von ihnen vorgeschlagenen Analysen so
verhalten, als ob dieser Agnostizismus gegenüber Naturwissenschaft und
Technik nicht ebenso gegenüber der Gesellschaft gelten würde. Für sie ist
die Natur ungewiss, die Gesellschaft aber nicht.3
Handelt es sich um ein einfaches Privileg, das Soziologen einander
durch den Reflex eines Zusammengehörigkeitsgefühls zugestehen, wenn
sie ihr eigenes Wissen von der öffentlichen Diskussion fernhalten? Die
Antwort ist nicht ganz einfach. Die Asymmetrie spielt eine entscheidende
Rolle in der Erklärung von Wissenschaft und Technik. Da die Natur selbst
nicht in der Lage ist, einen Konsens zwischen Experten herbeizuführen,
benötigen Soziologen und Philosophen etwas Zwingenderes und weniger
Zweideutiges, um das Entstehen, die Entwicklung und den eventuellen
Abschluss von Kontroversen zu erklären. Manche schreiben diese höhere
Macht der wissenschaftlichen Methode und folglich der Existenz von sozia­
len Normen zu, die deren Ausführung garantieren.4 Andere wenden sich

Klassiker ist Collins (1975). Eine gute Übersicht über solche Studien findet sich bei
Shapin (1982).
3 1 Dies wird am eindrücklichsten in den Studien der »Edinburgh School ofSo­
ciology« bestätigt (Barnes 1978, 1982; MacKenzie 1978). Eine gute Übersicht über
diese Soziologie findet sich in Law/Lodge (1984). Sie demonstrieren die reichen Be­
ziehungen zur Philosophie von Mary Hesse (1974). Die Ethnomethodologen und
jene, die ihnen nahe stehen, sind nicht immer direkt von dieser Kritik betroffen.
Vgl. z.B. den Artikel von Lynch (1982), welcher die gleichzeitige Konstruktion von
wissenschaftlichen Fakten und sozialem Kontext explizit einräumt. Sein Argument
wird bei Callon (1984) verwendet.
4 1 Der Glaube an die Existenz von Normen und ihre regulierende Rolle ist eines
der Grundmerkmale der Soziologie von Merton und der Post-Merton-Epoche, wel­
che selbst mit einer allgemeineren funktionalistischen oder kulturalistischen Analy­
se von Institutionen verbunden ist (Merton 1973). Aber dieser Glaube wird explizit
oder implizit von einer großen Anzahl von Epistemologen oder Wissenschaftsphilo­
sophen geteilt. Das Postulat, dass eine wie auch immer beschriebene wissenschaftli­
che Methode existiert, führt notwendigerweise zur Idee von sozialen oder techni­
schen Normen und folglich zu einer Soziologie, an die die Soziologen selbst längst
nicht mehr glauben. Als Beispiel für einen Artikel, in welchem Normen als eine ent-
138 J MICHEL CALLON

vorhandenen sozialen Kräften wie Klassen, Organisationen oder Berufs­


gruppen zu.5 Tritt die von den Soziologen beschriebene Gesellschaft der
Natur (unabhängig von der gegebenen Beschreibung) gegenüber, hat die
Gesellschaft das letzte Wort.6 Werden keine Normen mehr anerkannt,
kollabieren die Wissenschaften. Werden die Existenz von sozialen Klassen
und deren Interessen geleugnet oder verschwindet der zur Steigerung ihrer
persönlichen Glaubwürdigkeit gegen Wissenschaftler geführte Kampf,
dann tritt bei Wissenschaft und Technik wegen mangelnder Ventilfunktion
ein Stillstand ein.
Dieses den Sozialwissenschaften häufig implizit gewährte Privileg zur
Vorgehensweise bei der Erklärung von Wissenschaft und Technik führt zu
drei Hauptproblemen.
Das erste und offensichtlichste Problem ist eine Frage des Stils. Obwohl
Wissenschaftler und Ingenieure, welche in höchst technische Kontroversen
involviert sind, in gleicher Weise der Gesellschaft wie der Natur misstrau­
isch gegenüberstehen, enthält der Bericht der Soziologen im Allgemeinen
keinen Hinweis auf die Diskussionen der Akteure über soziale Strukturen.
Der Soziologe tendiert dazu, die Akteure selektiv zu zensieren, wenn sie
über sich selbst, ihre Verbündeten, ihre Widersacher oder soziale Hinter­
gründe sprechen. Er gestattet ihnen nur dann, sich frei zu äußern, wenn
sie von der Natur sprechen. Die seltenen Texte, die von dieser Zensur
verschont bleiben, erzeugen einen ganz anderen literarischen Effekt.7

scheidende Variable verwendet werden, vgl. Freudenthal (1984). Je mehr man auf
der Existenz einer wissenschaftlichen Methode besteht, desto mehr ist die angewen­
dete Soziologie vereinfacht und veraltet.
5 1 Dies ist der Fall bei marxistisch inspirierter Analyse (Yoxen 1981).
6 1 Hinsichtlich der Möglichkeit, die Sozialwissenschaften als Mittel zur Kontrol­
le anderer Diskurstypen zu verwenden, vgl. die sehr kritische Analysen von Serres
(1980) und Stengers (Prigogine/Stengers 1979).
7 1 Die zwei Hauptarbeiten dieser Art von Literatur bleiben die Bücher von Wat­
son (1968) und Kidder (1982). Kidders Beschreibung ist besonders interessant, weil
sogar in einer gut identifizierten Marktsituation die größeren Ungewissheiten nicht
nur mit den technischen Merkmalen des Mikrocomputers, sondern auch mit den
begleitenden sozialen Beziehungen in Zusammenhang gebracht werden: »Sie leb­
ten in einem Land von Dünsten und Spiegeln. Das Pilzmanagement schien in ih­
rem Team auf allen Ebenen praktiziert zu werden. Oder war es vielleicht eine Versi­
on von Steve Walladhs zu Fleisch gewordenem Ringschutzsystem: West fühlte sich
unsicher über den wirklichen Status der Chefetage des Teams; Wests eigene Mana­
ger waren über alle die Vorhaben ihres Chefs nie völlig unterrichtet; die neuen In­
genieure blieben über die wirklichen Interessen, die Politik und die hinter ihrer Ar­
beit steckenden Absichten völlig uninformiert. Aber sie fuhren unbeirrt fort.« (Ebd.:
105) Eine neue Illustration dieses literarischen Stils wird von Latours Analyse der
Arbeit Pasteurs gegeben (Latour 1984). In einem anderen Feld als der Wissenssozio-
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 139

Dies ist auf die einfache Tatsache zurückzuführen, dass die Akteure nicht
als von einem Teil ihrer selbst getrennt wahrgenommen werden. Der Ein­
druck des soziologischen Reduktionismus, der oft sogar in den besten
wissenschaftlichen Schriften vermittelt wird, ist offensichtlich ein Produkt
dieser systematischen und erbarmungslosen Zensur, welche von den So­
ziologen im Namen der Soziologie ausgeübt wird. Forscher haben das
Recht, in minutiösesten Details über solare Neutrinos, Koeffizienten statis­
tischer Zusammenhänge und die Form des Gehirns zu diskutieren, aber
die von ihnen vorgeschlagenen und erörterten sozialen Analysen und
Interpretationen werden gleichzeitig als irrelevant betrachtet oder - noch
schlimmer - gegen sie verwendet, um ihre wissenschaftlichen und techni­
schen Projekte zu kritisieren.8 Manchmal kann die Wirkung so verhee-

logie zeigte Boltanski (1984), dass die sozialen Ungewissheiten und die Größe der
Akteure den Kern von denunzierenden Briefen bildeten, die an eine größere franzö­
sische Abendzeitung gesandt wurden.
8 1 Spielen die Kontroversen, welche die Konstitution der Gesellschaft betreffen,
in den Grundlagenforschungen eine ebenso wichtige Rolle wie in angewandten oder
technischen Bereichen? Wissenschaftler diskutieren die Existenz von solaren Neu­
trinos (Pinch 1980, 1981), von verhexten Partikeln (Picketing 1980) oder der Struk­
tur von Thyrotropin Releasing Factor TRF (Latour/Woolgar 1979). Sind sie ebenso
bereit, Aspekte der sie umgebenden sozialen Welt in Frage zu stellen? Technologen
scheinen damit keine Schwierigkeiten zu haben (Callon 1980; Pinch/Bijker 1984).
Wie verhält es sich jedoch mit Wissenschaftlern? Auf diese Frage könnten mehrere
Antworten gegeben werden. Erstens: Sofern die Analyse wissenschaftlicher Kontro­
versen oft auf Labors oder wissenschaftliche Spezialitäten beschränkt zu sein
scheint, ist dies einfach darauf zurückzuführen, dass Soziologen ihren Protagonis­
ten nicht mehr folgen, wenn sie die wissenschaftliche Arena verlassen. Bahcall,
Guillemin und Weber, sie alle müssen Ressourcen finden, Lehrprogramme organi­
sieren, Handbücher schreiben, wissenschaftliche Zeitschriften herausgeben oder
kontrollieren, wenn sie in ihren wissenschaftlichen Aktivitäten Erfolg haben wollen.
Diese Aktivität findet außerhalb des Labors statt, aber sie bestimmt weitgehend die
Natur der Wissenschaft. Sie erfordert, dass Forscher dauernd Hypothesen formulie­
ren, welche die Identität und die Ziele der Menschen betreffen, mit denen sie
interagieren. Beim Versuch, den Inhalt von Wissen zu erklären, sollte diese Dimen­
sion der Wissenschaftsstudien nicht ignoriert werden. Zweitens: Die dynamische
Studie über Kontroversen zeigt, dass Phasen existieren, während denen die Debat­
ten sowohl die Gesellschaft als auch das Wissen betreffen (Shapin 1979). Dies ist
besonders der Fall, wenn Übersetzungsnetzwerke Gestalt annehmen und ausge­
handelt werden (Callon 1981). Sofern diese Netzwerke konsolidiert sind, werden die
Aktivitäten, Rollen und Interessen erkannt und differenziert. Des öfteren trennen
die Kontroversen technische und wissenschaftliche Probleme immer mehr von

l ihren sozialen Kontexten. Die Trennung wird nie völlig erreicht, solange die Kontro-

1
140 \ MICHEL CALLON

rend sein, dass der Leser den Eindruck hat, einem Gerichtsverfahren über
Naturwissenschaften unter dem Vorsitz einer privilegierten Wissenschaft
(Soziologie) beizuwohnen, die als unbestritten und über jegliche Kritik
erhaben beurteilt wird.
Die zweite Schwierigkeit ist theoretischer Natur. Wie eine Vielzahl von
Autoren gezeigt hat, sind die Kontroversen über soziologische Erklärungen
unendlich. Soziologen gelingt es nur sehr selten, untereinander zu einer
Übereinstimmung zu kommen. Analog den von ihnen untersuchten Wis­
senschaftlern werden sie durch dauernde Kontroversen entzweit. Sofern
sich Konsens überhaupt einstellt, scheint er noch seltener und zerbrechli­
cher als auf anderen Gebieten zu sein. Sollte man von sozialen Klassen und
Interessen anstatt von Normen und Institutionen sprechen? Die Debatte ist
so alt wie die Soziologie selbst und verschont auch die Wissenschaftssozio­
logie nicht. Dies ist darauf zurückzuführen, dass jede Position jeweils mit
gleich großem Eifer und Erfolg verteidigt wird.9 Ist es berechtigt, von
sozialen Klassen zu sprechen, wenn die Beobachtungen nur auf einigen
Personen basieren? Wie können Normen oder Regeln des Spiels isoliert
werden und wie kann ihre Allgemeingültigkeit bestimmt werden? Diese
Fragen gehören zu jenen, die die Sozialwissenschaften entzweien und für
deren Lösung sich keine Anzeichen finden. Die Angelegenheit ist klar: Die
soziologische Erklärung wissenschaftlicher und technischer Kontroversen
ist ebenso fragwürdig wie die Kenntnisse und die Objekte, welche sie be­
treffen. Die theoretische Schwierigkeit besteht darin, dass, sobald man
akzeptiert, dass sowohl Sozial- als auch Naturwissenschaften gleich unbe­
stimmt, mehrdeutig und strittig sind, es nicht mehr möglich ist, sie in der
Analyse verschiedene Rollen spielen zu lassen. Da die Gesellschaft nicht

versen weiter bestehen, weil diese die Rekrutierung von außen stehenden und
heterogenen Verbündeten (Verwalter, Industrielle, Lehrer etc.) der Protagonisten
implizieren. Eine rein wissenschaftliche Kontroverse, in der die Protagonisten keine
,soziologische Analyse< der Situation übernommen haben, ist ein reiner Wider­
spruch. Wissenschaftler können sich bezüglich der Gesellschaft nur einigen, wenn
sie in wissenschaftlichen und technischen Fragen völlig übereinstimmen. Dies kann
auf mehrere Weisen geschehen: Sklerose oder totale Bürokratisierung einer Diszi­
plin (Crane 1972); politischer ,Putsch< innerhalb einer Wissenschaft, die technische
Kontroversen blockiert, indem sie keine Diskussionen über die soziale Struktur
zulässt, in der sie sich entwickelt (Lecourt 1976).
9 1 Diese These wurde von Gouldner (1971) für die Soziologie im Allgemeinen
entwickelt. Ein gutes Beispiel für die endlosen Kontroversen unter Soziologen da­
rüber, wie man die Entwicklung der Wissenschaft erklären kann, betrifft die Rolle
von Interessen sowie deren Bedeutung in der Konstruktion und Bewertung des
Wissens. In diesem Punkt vgl. die in Callon/Law (1982) angebotene kritische Analy­
se.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG [ 141

klarer oder weniger widersprüchlich als die Natur ist, kann die soziologi­
sche Erklärung keine solide Grundlage finden.10
Die dritte Schwierigkeit ist methodologischer Natur. Während ihrer
Arbeit haben jene Soziologen, welche die wissenschaftlichen und techni­
schen Innovationen untersucht haben, erkannt, dass sowohl die Identität
als auch die jeweilige Bedeutung der Akteure als Ausgangspunkte in der
Entwicldung der Kontroversen zur Debatte stehen. Welches sind die Über­
zeugungen von Pasteur oder Pouchet bezüglich der spontanen Entstehung
von Leben? Die Positionen der Protagonisten werden nie - nicht einmal
rückwirkend - eindeutig definiert, weil die Definition dieser Positionen
selbst zur Debatte steht (vgl. Farley/Geison 1974). Welches waren tatsäch­
lich die Interessen von »Renault«, als die EDF ankündigte, dass das Ende
des 20. Jahrhunderts zwangsläufig einen ansteigenden Gebrauch von
Elektrofahrzeugen bringen werde? An wen hätte man sich wenden können,
um zu wissen, was »Renault« wirldich wollte (vgl. Callon 1981)? Wissen­
schaft und Technik bilden dramatische Erzählungen, in denen die Identität
der Akteure ein nahe liegendes Problem darstellt. Missachtet der Beobach­
ter diese Ungewissheiten, riskiert er, eine verzerrte Geschichte zu schrei­
ben, in der die Tatsache ignoriert wird, dass die Identitäten von Akteuren
problematisch sind.
Ein Ausweg aus diesen Schwierigkeiten würde darin bestehen, dass
man zu den Anfängen zurückl<ehrt und einfach die Möglichkeit leugnet,
eine soziologische Definition von Wissenschaft und Technik geben zu
können. Eine andere Option besteht darin, die neuen Befunde der Wissen­
schafts- und Techniksoziologie zu bewahren und zu erweitern. Wir hoffen,
in dieser Arbeit zeigen zu können, dass die Analyse mit Hilfe einer Gesell­
schaft durchgeführt werden kann, die als ungewiss und strittig beurteilt
wird. Innerhalb der untersuchten Kontroversen entwickeln die daran betei­
ligten Akteure widersprüchliche Argumente und Standpunkte, die sie dazu
verleiten, verschiedene Versionen der sozialen und natürlichen Welt zu
propagieren. Was würde geschehen, wenn durch die ganze Analyse hin­
durch zwischen den Verhandlungen, die über die natürliche und die sozia-

:10 1 Das klassische Problem von Reflexivität muss als Folge der Fortschritte in un­
serem Kontroversenverständnis in einer neuen Terminologie aufgeworfen werden.
Reflexivität bedeutet nichts anderes als eine Ausdehnung der Analyse auf die Sozi­
alwissenschaften, die diese für die Konstruktion des Konsenses innerhalb der Na­
turwissenschaften anbieten. Analog der Natur kann die Wissenschaft nicht angeru­
fen werden, um die Lösung von Kontroversen und die Konstruktion von festem
Wissen zu erklären. Es gibt keine endgültige Garantie, keine letztinstanzliche Erklä­
rung, die nicht gleichermaßen bezweifelt werden kann. Dies bedeutet natürlich
nicht, dass nicht ein vorläufiger Konsens erreicht werden kann. Das hier entwickelte
Argument ist formal mit demjenigen identisch, das es Popper (r934) ermöglichte,
der Induktion jeglichen logischen Status abzusprechen.
142 1 MICHEL CALLON

Je Welt geführt werden, die Symmetrie aufrechterhalten wird? Würde das


Ergebnis zwangsläufig totales Chaos sein? Dies sind die Fragen, welche wir
in dieser Untersuchung zu beantworten suchen.
Um die drei oben erwähnten Schwierigkeiten zu vermeiden, haben wir
beschlossen, folgende drei methodologischen Prinzipien getreu zu befol­
gen:
Das erste Prinzip erweitert den Agnostizismus des Beobachters und
schließt auch die Sozialwissenschaften ein. Der Beobachter ist nicht nur
unparteiisch gegenüber den von den Protagonisten einer Kontroverse
verwendeten wissenschaftlichen und technischen Argumenten, sondern
enthält sich einer Zensur der Akteure, wenn sie über sich selbst oder ihre
soziale Umwelt sprechen. Er vermeidet es, die Art und Weise zu beurteilen,
in der die Akteure die sie umgebende Gesellschaft analysieren. Kein
Standpunkt wird bevorzugt und keine Interpretation zensiert. Der Beob­
achter fixiert nicht die Identität der darin verwickelten Akteure, solange
diese Identität immer noch ausgehandelt wird.
Das zweite Prinzip betrifft die generalisierte Symmetrie. Es ähnelt
Bloors Prinzip von Symmetrie, ist jedoch beträchtlich erweitert (vgl. Bloor
1976). Das Ziel ist nicht nur, in einer wissenschaftlichen oder technischen
Kontroverse widersprüchliche Standpunkte und Argumente in derselben
Terminologie zu erklären. Wir wissen, dass die Bestandteile von Kontro­
versen aus einer Mischung von Überlegungen bestehen, die sowohl die
Gesellschaft als auch die Natur betreffen. Deshalb verlangen wir, dass der
Beobachter zu ihrer Beschreibung ein einziges Repertoire verwendet. Das
für diese Beschreibungen und Erklärungen gewählte Vokabular kann dem
Ermessen des Beobachters überlassen werden. Er kann nicht einfach die
Analyse der von ihm untersuchten Akteure wiederholen. Es ist jedoch eine
unendliche Anzahl von Repertoires möglich. rr Es ist Sache des Soziologen,
das für seine Aufgabe passende zu wählen und dann seine Kollegen von
der Richtigkeit seiner Wahl zu überzeugen. Nachdem wir uns in diesem
Text für ein Vokabular der Übersetzung entschieden haben, wissen wir,
dass unsere Erzählung nicht mehr - aber auch nicht weniger - wert ist als
jede andere. Nachdem aber das Prinzip der generalisierten Symmetrie
vorgegeben ist, müssen wir die Regel respektieren, nicht das Register zu

11 1 Das hier entwickelte Argument ist in gewisser Hinsicht dem von Weber
(1965) ähnlich. Für Weber wird der Soziologe von seinen eigenen Werten geleitet
und wählt das zu untersuchende Problem und die Elemente der Realität, die ihm
am wichtigsten zu sein scheinen. Erst nach einer solchen Reduktion einer unend­
lich komplexen Realität kann der Soziologe eine korrekte Arbeit beginnen. Das
Prinzip der generalisierten Symmetrie stattet den Soziologen-Beobachter mit analo­
gem Ermessensspielraum aus. Im Prinzip ist die Auswahl an Repertoires ganz frei.
Die einzige Beschränkung besteht darin, dass sie sich sowohl auf die Natur als auch
auf die Gesellschaft beziehen müssen.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 143

wechseln, wenn wir uns von den technischen zu den sozialen Aspekten des
untersuchten Problems hin bewegen. Wir hoffen, dass das Übersetzungs­
repertoire, das nicht demjenigen der untersuchten Akteure entspricht, den
Leser überzeugen wird.
Das dritte Prinzip betrifft die freie Assoziation. Der Beobachter muss
alle a-priori-Unterschiede zwischen natürlichen und sozialen Ereignissen
verwerfen. Er muss die Hypothese einer definierten, die beiden Bereiche
trennenden Grenze ablehnen. Solche Trennungen sind konfliktreich, denn
sie sind das Ergebnis und nicht der Ausgangspunkt der Analyse. Des Wei­
teren muss der Beobachter berücksichtigen, dass das Repertoire der von
ihm verwendeten Kategorien, der mobilisierten Entitäten und deren Bezie­
hungen zwischen ihnen insgesamt Themen für die Diskussionen der
Akteure sind. Statt ihnen ein vorbestimmtes Analyseraster aufzuerlegen,
folgt der Beobachter den Akteuren, um herauszufinden, wie sie die ver­
schiedenen Elemente definieren und in Verbindung bringen, mit denen sie
ihre Welt aufbauen und erldären - unabhängig davon, ob sie sozial oder
natürlich ist (Law 1986).
Im nachfolgenden Text wird ein Beispiel für die Anwendung dieser
Prinzipien beschrieben. Wir möchten damit zeigen, dass man die Gesell­
schaft genau wie die Akteure in Frage stellen und erklären kann, wie sie
ihre jeweiligen Identitäten, ihren gegenseitigen Handlungsspielraum und
den Bereich der ihnen offen stehenden Wahlmöglichkeiten definieren. Wir
hoffen zeigen zu können, dass die Geschichte zu einem besseren Ver­
ständnis der Entstehung und Entwicklung von Machtbeziehungen beitra­
gen kann, weil alle auftretenden Fluktuationen erhalten sind. In der hier
nachvollzogenen Episode hängt die Fähigkeit bestimmter Akteure, andere
Akteure zu einer Zusammenarbeit zu bringen - ob sie Menschen, Institu­
tionen oder natürliche Entitäten sind-, von einem komplexen Netz von
Wechselbeziehungen ab, in dem Gesellschaft und Natur eng verflochten
sind.

Kammmuscheln und Fischer

Die Bestände der von den französischen Konsumenten hochgeschätzten


Kammmuscheln sind in den letzten 20 Jahren systematisch dezimiert
worden. Innerhalb kurzer Zeit sind sie zu einer derart begehrten Delikates­
se geworden, dass während der Weihnachtszeit die Verkäufe beträchtlich
zunehmen, obwohl die Preise spektakulär hoch sind. In Frankreich werden
sie an drei Standorten gefischt: entlang der Küste der Normandie, in der
Reede von Brest und in der Bucht von St. Brieuc. Es gibt verschiedene
Arten von Kammmuscheln. Einige davon sind - wie in Brest - das ganze
Jahr hindurch beschalt. Die Kammmuscheln von St. Brieuc verlieren
jedoch im Frühling und Sommer ihre Schale. Dieses Charakteristikum ist
144 \ MICHEL GALLON

wirtschaftlich von Bedeutung, weil die Fischer davon überzeugt sind, dass
die Verbraucher beschalte Muscheln vorziehen.
Während der 197oer Jahre schrumpfte der Bestand bei Brest immer
mehr. Dies wurde verursacht durch die kombinierte Wirkung von natürli­
chen Feinden (Seestern), einer Reihe schwerer Winter mit einem Absinken
der Wassertemperatur - und Fischern, die, um den unersättlichen Ver­
brauchern zu genügen, das ganze Jahr hindurch den Meeresgrund von
Kammmuscheln freibaggerten, ohne ihnen Zeit zur Reproduktion zu
geben. Die Produktion von St. Brieuc hatte zur selben Zeit ebenfalls stetig
abgenommen, aber in der dortigen Bucht konnte glücklicherweise eine
Katastrophe verhindert werden. Es gab weniger Fressfeinde, und die Vor­
liebe der Konsumenten für beschalte Kammmuscheln zwang die Fischer,
während der Hälfte des Jahres an Land zu bleiben. Als Folge dieser Fakto­
ren nahm der Bestand in der St. Brieuc-Bucht weniger drastisch ab als in
Brest. 12
Gegenstand dieser Untersuchung ist die Analyse der zunehmenden
Entwicklung neuer sozialer Beziehungen durch die Konstituierung >wis­
senschaftlicher Kenntnisse< während der 197oer Jahre.'3 Die Geschichte
beginnt auf einer 1972 in Brest abgehaltenen Konferenz. Wissenschaftler
und Vertreter der Fischer trafen sich, um zu prüfen, ob durch Kontrolle der
Kultivierung dieser Schalentiere ihre Produktionsmenge gesteigert werden
könnte. Die Diskussionen drehten sich um die folgenden drei Elemente:

(1) Drei Forscher, Mitglieder des CNEX0'4, haben anlässlich einer Reise

12 1 Der Begriff »Bestand« wird in der Demographie häufig verwendet. Im vorlie­


genden Fall bezeichnet er die Population von Kammmuscheln, die in der St. Brieuc­
Bucht lebt und sich reproduziert. Ein bestimmter Bestand wird von einer Reihe von
Parametern bestimmt, die zeitlich variieren: allgemeine Gesamtzahl, Kohorten,
Größe, natürliche Mortalitätsrate, Reproduktionsrate usw. Deshalb erfordert das
Wissen über den Bestand systematische Messungen, die es ermöglichen, Verände­
rungen vorauszusagen. In der Bevölkerungsdynamik definieren mathematische
Modelle den Einfluss eines Bereichs von Variablen (z.B. Intensität des Fischens und
die Aufteilung des Fangs zwischen Kohorten) auf die Entwicklung des Bestandes.
Die Bevölkerungsdynamik ist deshalb eines der wesentlichen Werkzeuge für das,
was die Fachleute bei der Untersuchung der Meeresfischerei das rationale Manage­
ment des Bestandes nennen.
13 1 Für diese Studie standen uns alle Artikel, Referate und Beiträge von Meetings
zur Verfügung, die mit den Experimenten in St. Brieuc und der Domestikation von
Kammmuscheln zu tun haben. Zudem wurden etwa 20 Interviews mit führenden
Protagonisten geführt.
14 1 CNEXO (Centre National d'Exploitation des Oceans) ist eine Anfang der 197oer
Jahre geschaffene öffentliche Institution zur Durchführung von Forschungen und
Vermehrung der Kenntnisse und Mittel zur Nutzung der Meeresressourcen.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 145

nach Japan entdeckt, dass dort Kammmuscheln intensiv kultiviert werden.


Dazu dient folgende Technik: Die Muschellarven werden in im Meer
schwimmenden Kollektoren verankert, wo sie in der Wachstumsphase vor
Fressfeinden geschützt sind. Wenn die Schalentiere eine gewisse Größe
erreichen, werden sie auf dem Meeresgrund ,ausgesät<, wo sie sich zwei
oder drei Jahre in Sicherheit entwickeln können, bevor sie geerntet werden.
Entsprechend der Reiseberichte der Forscher konnte mit dieser Technik
der Ertrag der vorhandenen Bestände gesteigert werden. Auf der Konferenz
konzentrierten sich alle verschiedenen Beiträge auf diesen Bericht.

(2) Es herrscht ein Informationsdefizit bezüglich der für die Entwicl<lung


von Kammmuscheln wichtigen Mechanismen. Die wissenschaftliche Welt
war an diesem Thema nie sehr interessiert. Außerdem wussten die Fischer
nichts über die Frühstadien der Kammmuschelentwicl<lung, weil die ex­
tensive Nutzung der Kammmuscheln erst vor kurzem begonnen hatte. Die
Fischer hatten bislang in ihren Schleppnetzen nur ausgewachsene Exem­
plare gesehen.'5 Anfang der 197oer Jahre existierte zwischen Larven und
Fischern keine direkte Beziehung. Wie wir sehen werden, wurde durch die
Aktion der Forscher eine zunehmende Verknüpfung eingeführt.

(3) Die Fischerei war auf einem solch extensiven Niveau betrieben worden,
dass die Folgen dieser überfischung in der St. Brieuc-Bucht sichtbar zu
werden begannen. Brest war bereits praktisch von der Landkarte der
Kammmuschelfischerei gestrichen worden. Die Produktion in St. Brieuc
hatte stetig abgenommen. Die Kammmuschelindustrie von St. Brieuc war
besonders lukrativ gewesen und die Repräsentanten der Fischer begannen,
sich um den schwindenden Bestand zu sorgen. Der Rückgang der Kamm­
muschelpopulation schien unvermeidlich und viele fürchteten, dass sich
die Katastrophe von Brest auch in St. Brieuc wiederholen könnte.

15 1 Zwei Beispiele zeigen das Ausmaß der Unkenntnis sowohl bei den Fischerei­
Fachleuten wie auch bei den Fischern. Während der ganzen 197oer Jahre waren
sich Fachleute nicht einig - ohne jemals Experimente durchgeführt zu haben -, ob
die Kammmuscheln mit nicht-dauerhafter Schale dieses Merkmal beibehalten wür­
den, wenn sie in Regionen verfrachtet werden, wo Kammmuscheln dauerhafte Scha­
len haben. Wiederum behaupteten Fischer, im Gegensatz zu den Spezialisten, dass
Kammmuscheln in der Lage sind, sich auf dem Meeresgrund zu bewegen. Anfang
der 198oer Jahre war eine Reihe von Experimenten erforderlich, um den ersten
Punkt zu klären. Es wurde nachgewiesen, dass schottische Kammmuscheln mit
dauerhafter Schale dieses Merkmal bewahrten, wenn sie in die St. Brieuc-Bucht ver­
legt wurden. Bezüglich des zweiten Punktes war es nur mit Hilfe eines Videofilms
möglich, die Fischer davon zu überzeugen, dass derartige Verschiebungen von
Kammmuscheln durch die Meeresströmung verursacht werden.
146 1 MICHEL CALLON

Diese Ausgangssituation wurde für die vorliegende Arbeit gewählt. Zehn


Jahre später wurden >wissenschaftliche Erkenntnisse< produziert und
zertifiziert; eine soziale Gruppe (die Fischer der St. Brieuc-Bucht) war auf­
grund der Privilegien, die sie einzuführen und zu erhalten verstand, gebil­
det worden; eine Gruppe von Spezialisten war organisiert worden, um die
Kammmuscheln zu erforschen und ihre Kultivierung zu fördern.16 Wir
werden nun einen Teil dieser Entwicklung zurückverfolgen und die gleich­
zeitige Produktion von Wissen und die Konstruktion eines Netzwerkes von
Beziehungen beobachten, in welchem soziale und natürliche Entitäten
gegenseitig kontrollieren, wer sie sind und was sie wollen.

Die vier Momente der Übersetzung

Um diese Entwicklung zu untersuchen, haben wir beschlossen, einem


Akteur bei seiner Konstruktion und Dekonstruktion von Natur und Gesell­
schaft zu folgen. In diesem Fall bilden die drei von ihrer Reise in den Fer­
nen Osten zurückgekehrten Forscher unseren Ausgangspunkt. Woher sie
kamen und warum sie handeln, ist an dieser Stelle der Untersuchung von
geringer Bedeutung. Sie stellen das >primum movens< der hier analysierten
Geschichte dar. Wir werden sie während ihres ersten Domestikationsver­
suchs begleiten. Dieser Vorgang besteht aus vier Momenten, die sich in der
Realität überlappen können. Diese Momente bilden die verschiedenen
Phasen eines allgemeinen, »Übersetzung« genannten Prozesses, in dessen
Verlauf die Identität der Akteure, die Möglichkeit der Interaktion und der
Handlungsspielraum ausgehandelt und abgegrenzt werden.

Die Problematisierung oder:


Wie man sich unentbehrlich machen kann

Die Forscher schrieben nach ihrer Heimkehr eine Reihe von Berichten und
Artikeln, in denen sie die Eindrücke ihrer Reise und die Projekte vorstell­
ten, die sie in Zukunft zu lancieren gedachten. Sie hatten mit eigenen
Augen gesehen, wie sic;h die Larven selbst in Kollektoren verankern und
sich ungestört entwickeln, da sie vor Fressfeinden geschützt sind. Ihre
Frage ist einfach und lautet: Ist diese Erfahrung auf Frankreich übertrag­
bar, insbesondere auf die Bucht von St. Brieuc? Da die Forscher wissen,
dass die Spezies von St. Brieuc (Pecten maximus) sich von jener in japani­
schen Gewässern (Pecten patinopecten yessoensis) unterscheidet, kann keine
klare Antwort gegeben werden. Niemand widerspricht den Ausführungen

16 1 Als Resultat der verschiedenen oben umrissenen Allianzen verdienten die


Fischer im Jahr 1984 etwa [ 25.000 jährlich (nach Abzug der Auslagen) für fünf
Stunden Arbeit pro Woche während sechs Monaten des Jahres.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 147

der Forscher; daher nehmen wir an, dass ihre Behauptungen für unbe­
streitbar gehalten werden. Somit wirft die Aquakultur der Kammmuscheln
in St. Brieuc ein Problem au[ Keine Antwort kann auf folgende entschei­
dende Frage gegeben werden: Verankert sich die Pecten maximus selbst
während der ersten Momente ihrer Existenz? Andere ebenso wichtige
Fragen gesellen sich dazu: Wann findet die Metamorphose der Larven
statt? Wie schnell wachsen die Jungen heran? Können genug Larven in den
Kollektoren verankert werden, um das Projekt zur Repopulation der Bucht
zu rechtfertigen?
In ihren verschiedenen schriftlichen Dokumenten beschränkten sich
die drei Forscher nicht auf die einfache Formulierung der oben genannten
Fragen. Sie bestimmten ein Set von Akteuren und definierten ihre Identitä­
ten auf solche Weise, dass sie sich selbst als einen obligatorischen Pas­
sagepunkt im von ihnen geknüpften Netzwerk von Beziehungen einführ­
ten. Diese zweifache Handlung, die sie im Netzwerk unentbehrlich macht,
nennen wir »Problematisierung«.

Die Interdefinition der Akteure

Die von den drei Forschern formulierten Fragen und die dadurch hervor­
gerufenen Kommentare verwickeln drei andere Akteure direkt in die Ge­
schichte'7: die Kammmuscheln (Pecten maximus), die Fischer der St.
Brieuc-Bucht und die wissenschaftlichen Kollegen.18 Die Definitionen
dieser Akteure, wie sie im Bericht der Wissenschaftler präsentiert werden,
sind ziemlich grob. Sie genügen jedoch, um zu erklären, wie diese Akteure
notwendigerweise von den verschiedenen formulierten Fragen unaus­
weichlich betroffen sind. Die Definitionen der drei Forscher können fol­
gendermaßen zusammengefasst werden:

17 1 Der Begriff »Akteur« wird in gleicher Weise benutzt, wie Semiotiker die Be­
zeichnung »Aktant« verwenden (Greimas/Courtes 1979; Latour 1984). Für die Im­
plikation externer Akteure bei der Konstruktion ,wissenschaftlichen Wissens, oder
von Artefakten vgl. die Art und Weise, in der Pinch/Bijker (1984) den Begriff einer
sozialen Gruppe verwenden. Der hier vorgeschlagene Ansatz unterscheidet sich da­
von in verschiedener Hinsicht: Erstens ist, wie wir später vorschlagen werden, die
Liste der Akteure nicht auf soziale Entitäten beschränkt; zweitens - und noch wich­
tiger - wird die Definition von Gruppen, ihren Identitäten sowie ihren Wünschen
während des Prozesses der Übersetzung konstant ausgehandelt. Folglich handelt es
sich nicht um vorgegebene Daten, sondern sie nehmen die Form einer Hypothese
(einer Problematisierung) an, die von bestimmten Akteuren eingeführt und an­
schließend abgeschwächt, bestätigt oder transformiert wird.
18 1 Bezüglich der Definition von konstitutiven Einheiten vgl. Latour/Strum
(1986).
148 1 MICHEL CALLON

a) Die Fischer von St. Brieuc: Sie fischen Kammmuscheln bis zum letzten
Exemplar, ohne sich um den Bestand zu sorgen.'9 Sie machen große
Profite; wenn sie jedoch ihre eifrigen Fangbemühungen nicht verlangsa­
men, werden sie sich selbst ruinieren. Von diesen Fischern wird jedoch
angenommen, dass sie sich ihrer langfristigen ökonomischen Interessen
bewusst sind, folglich am Projekt zur Repopulation der Bucht interessiert
sind und die Studien billigen, die zur Erreichung dieses Planes lanciert
wurden. Über ihre Identität wird keine andere Hypothese aufgestellt. Die
drei Forscher geben keinen Kommentar ab über eine einheitliche sozia­
le Gruppe. Sie definieren einen durchschnittlichen Fischer als eine grund­
legende Einheit einer Gemeinschaft, die aus austauschbaren Elementen
besteht.

b) Wissenschaftliche Kollegen: Obschon sie an Konferenzen teilnehmen oder


in verschiedenen Publikationen zitiert werden, wissen sie nichts über
Kammmuscheln im Allgemeinen oder über jene von St. Brieuc im Beson­
deren. Außerdem sind sie außer Stande, die Frage zu beantworten, wie
sich diese Schalenfische selbst verankern. Man geht davon aus, dass sie
daran interessiert sind, ihre Kenntnisse zum vorgeschlagenen Thema zu
erweitern. Die Strategie besteht darin, die Kammmuscheln statt in experi­
mentellen Tanks in situ zu studieren.

c) Die Kammmuscheln von St. Brieuc: Eine besondere Art ( Pecten maximus),
die nach Meinung aller Beteiligten nur sechs Monate im Jahr beschalt ist.
Diese Muscheln sind nur im ausgewachsenen Zustand je gesehen worden,
wenn sie jeweils aus dem Meer gefischt wurden. Die Frage, die von den
drei Forschem gestellt wird, geht davon aus, dass die Kammmuscheln sich
selbst verankern können und eine Unterkunft >akzeptieren<, die es ihnen
ermöglicht, sich zu vermehren und zu überleben.20

Natürlich würde ohne diese Problematisierung auch jede Unterstützung


fehlen; die drei Forscher offenbaren natürlich auch, wer sie selbst sind und

1.9 1 Ein geringfügiger Gewinn nimmt als Funktion des natürlichen Bestandes
(verstreut oder konzentriert) und der Nachfrage der Konsumenten mehr oder weni­
ger rasch ab. Im Falle der Kammmuscheln kombinieren sich diese Parameter, um
das Einfangen der letzten Kammmuschel rentabel zu machen.
20 1 Der Leser sollte diese Phrasen nicht einem Anthropomorphismus zuschrei­
ben! Die Gründe für das Verhalten der Kammmuscheln - ob diese in ihren Genen,
in göttlich bestimmten Schemen oder irgendetwas anderem liegen - sind wenig
wichtig! Das einzig Wichtige ist die Definition ihres Verhaltens durch die verschie­
denen identifizierten Akteure. Man ist in gleicher Weise der Meinung, dass sich die
Kammmuscheln selbst verankern und dass die Fischer ihre kurzfristigen ökonomi·
sehen Interessen verfolgen. Deshalb handeln sie.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 149

was sie wollen. Sie präsentieren sich selbst als »Grundlagen«-Forscher, die
- von der ausländischen Leistung beeindruckt - versuchen, das verfügbare
Wissen auf eine Spezies anzuwenden, die zuvor nie gründlich untersucht
worden ist. Mit der Durchführung dieser Untersuchung hoffen diese For­
scher, das Leben der Fischer zu erleichtern und den Bestand an Kammmu­
scheln in der St. Brieuc-Bucht zu erhöhen.
Dieses Beispiel zeigt, dass die Problematisierung keine bloße Reduk­
tion der Studie auf eine einfache Formulierung darstellt, sondern vielmehr
Elemente - wenigstens teilweise und lokal - berührt, die Teile der sozialen
und der natürlichen Welt sind. Eine einzige Frage - verankert sich Pecten
maximus? - genügt, um eine ganze Reihe von Akteuren zu involvieren,
indem man ihre Identitäten und wechselseitigen Verbindungen festlegt.21

Die Definition eines obligatorischen Passagepunktes (OPP)

Die drei Forscher beschränken sich nicht einfach darauf, einige Akteure zu
identifizieren. Sie zeigen auch, dass es im Interesse der Akteure ist, das
vorgeschlagene Forschungsprogramm zu unterstützen. Das Argument,
das sie in ihrer Arbeit entwickeln, wird konstant wiederholt: Wenn die
Kammmuscheln überleben wollen (unabhängig davon, welche Mechanis­
men diesen Impuls erklären), wenn die wissenschaftlichen Kollegen ihr
Wissen auf diesem Gebiet zu erweitern hoffen (was auch immer ihre Moti­
vationen sein mögen), wenn die Fischer ihre langfristigen ökonomischen
Interessen zu wahren hoffen (was auch immer ihre Gründe sind), dann
müssen sie:

r) die Antwort auf die Frage »Wie verankern sich Kammmuscheln?«


kennen und
2) erkennen, dass ihre Allianz in dieser Fragestellung jedem von ihnen
nützen kann.22

Abbildung r zeigt, dass die Problematisierung bestimmte dynamische Ei­


genschaften besitzt: Sie zeigt sowohl die Verschiebungen und Umwege, die
akzeptiert, als auch die Allianzen, die geschmiedet werden müssen. Die
Kammmuscheln, die Fischer und die wissenschaftlichen Kollegen sind
aufeinander angewiesen: Allein können sie ihr Ziel nicht erreichen. Ihr
Weg wird von einer Reihe von Problemen blockiert. Die Zukunft von Pec­
ten maximus wird ständig von verschiedenen Arten von Fressfeinden be-

2:1. 1 Hindess (1982) hat den verhandlungsfähigen Charakter von Interessen gut
aufgezeigt. Man muss jedoch weitergehen: Die Identitäten der Akteure selbst sind
Fragen ausgesetzt, wenn es darum geht, ob sie von Werten, Interessen oder Wün­
schen bewegt werden. Zu diesem Punkt vgl. Callon/Law (1982).
22 1 Für vergleichbare Analysen vgl. Callon (1981) und Latour (1984).
150 1 MICHEL GALLON

Abbildung 1

Die drei Forscher Pecten maximus Der Fischer Die wissenschaft­


lichen Kollegen

Der obligatorische
Passage-Punkt (OPP)

droht, die bereit sind, sie auszurotten; die nach kurzfristigen Profiten gie­
renden Fischer riskieren ihr langfristiges überleben; wissenschaftliche Kol­
legen, die ihr Wissen erweitern wollen, sind verpflichtet, den früheren
Mangel an unverzichtbaren Beobachtungen von Kammmuscheln in situ
zuzugeben. Für die drei Forscher dreht sich ihr ganzes Projekt um die Fra­
ge der Verankerung von Pecten maximus. Für diese Akteure sind die Alter­
nativen klar: Entweder ändert man die Richtung oder anerkennt den For­
schungsbedarf über die Art und Weise, wie die Larven sich selbst veran­
kern.23
Wie Abbildung 2 zeigt, beschreibt die Problematisierung ein System
von Allianzen oder Assoziationen 24 zwischen Entitäten, die dadurch die
Identität und das, was sie >Wollen<, definieren. In diesem Fall muss eine
,Heilige Allianz< gebildet werden, um die Kammmuscheln der St. Brieuc­
Bucht dazu zu bringen, sich zu vermehren.

23 1 Wie sich aus der etymologischen Ableitung ergibt, bezeichnet das Wort »Pro­
blem« Hindernisse, die auf dem Pfad eines Akteurs aufgestellt sind und seine Be­
wegungsfreiheit einschränken. Diese Terminologie wird auf eine Art verwendet, die
sich von der in der Wissenschaftsphilosophie und Epistemologie geläufigen voll­
ständig unterscheidet. Probleme werden nicht spontan vom Zustand des Wissens
oder von der Dynamik des Forschungsfortschritts generiert. Vielmehr ergeben sie
sich aus der Definition und Interrelation von Akteuren, die zuvor nicht miteinander
verbunden waren. Problematisieren bedeutet gleichzeitig, eine Reihe von Akteuren
und Hindernissen zu definieren, die sie davon abhalten, die ihnen zugeschriebenen
Ziele oder Vorhaben zu verwirklichen. Probleme und die postulierten Äquivalenzen
zwischen ihnen ergeben sich somit aus der Interaktion zwischen einem gegebenen
Akteur und all den sozialen und natürlichen Entitäten, die sie definiert und für die
sie unentbehrlich zu werden scheint.
24 1 Zum Begriff »Assoziation« vgl. Callon/Latour (1981).
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG J 151

Der Vorgang des lnteressement oder:


Wie die Alliierten in ihren Positionen fixiert werden

Wir haben den hypothetischen Aspekt der Problematisierung hervorgeho­


ben. Auf dem Papier oder genauer in den Berichten und Artikeln, die von
den drei Forschem vorgelegt wurden, haben die identifizierten Gruppen
eine reale Existenz. Realität ist jedoch als ein Prozess zu verstehen. Wie ein
chemischer Körper durchläuft er aufeinander folgende Stadien. 25 An die­
ser Stelle unserer Geschichte sind die identifizierten Entitäten und die ins
Auge gefassten Beziehungen noch nicht getestet worden. Die Szene ist für

l
eine Reihe von Machtproben vorbereitet, deren Ergebnis die Solidität der
Problematisierung unserer Forscher bestimmen wird.

Abbildung 2

Die drei Forscher Pecten maximus Der Fischer


E�WM
1
Hindernis: Problem
vollkommenes fehlen

l�
von Informationen
OPP über Pecten maximus
1

Ziele der
Entitäten

Kenntnisse erweitern Selbsterhaltung langfristige Profite Wissen über Pecten


und den Bestand der sichern maximus erweitern
Bucht zum Nutzen der ohne vorherige
Fischer wieder aufstocken Kenntnisse in Zweifel
ziehen

Jede in die Problematisierung einbezogene Entität kann beantragen, in den


· Anfangsplan integriert zu werden, oder umgekehrt: die Transaktion ver­
weigern, indem sie ihre Identität, ihre Ziele, Projekte, Orientierung, Moti­
vationen oder Interessen auf eine andere Art definiert. In der Tat ist die
Situation nie klar abgegrenzt. Wie die Phase der Problematisierung gezeigt
hat, wäre es für den Beobachter absurd, Entitäten so zu beschreiben, als

25 1 Ein gutes Beispiel für solch eine Veränderung des Zustandes kann bei Tracy
Kidder (1982) gefunden werden. Dort wird beschrieben, wie der Computer in Ge­
sprächen Gestalt annimmt, die in einen Computer auf Papier umgewandelt werden,
der wiederum in ein Netzwerk von Kabeln und geschlossenen Schaltkreisen trans­
formiert wird. Zur philosophischen Diskussion der Realisation und Nicht-Realisation
vgl. »Irreductions« (Latour 1984).
r

152 \ MICHEL GALLON

formulierten sie ihre Identität und ihre Ziele auf eine völlig unabhängige
Art. Sie werden erst im Laufe der Aktion geformt und angepasst.26
Das Interessement umfasst die Gruppe von Aktionen, durch welche ei­
ne Entität (hier die drei Forscher) versucht, die Identität der anderen Ak­
teure, die sie durch ihre Problematisierung definiert, zu bestimmen und zu
stabilisieren. Verschiedene Vorgehensweisen werden benutzt, um diese
Aktionen durchzuführen.
Warum spricht man von Interessement? Die Etymologie dieses Wortes
rechtfertigt seine Wahl. Interessiert sein bedeutet, dazwischen zu sein (in­
ter-esse), d.h. zwischengeschaltet zu sein. Aber zwischen was? Kehren wir
zu den drei Forschem zurück. Während ihrer Problematisierung verbinden
sie ihre Kräfte mit denen der Kammmuscheln, der Fischer und ihrer Kolle­
gen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Indem sie so handeln, definie­
ren sie sorgfältig die Identität, die Ziele oder die Neigungen ihrer Verbün­
deten. Diese Alliierten werden versuchsweise in die Problematisierung an­
derer Akteure verwickelt. Ihre Identitäten werden folglich auf andere kon­
kurrierende Weisen definiert. Den Interessementbegriff sollte man in die­
sem Sinn verstehen. Andere Akteure zu interessieren, bedeutet Schranken
aufzubauen, die zwischen sie und jene anderen Entitäten gestellt werden
können, die ihre Identitäten auf andere Weise definieren wollen. A interes­
siert B, indem er alle Verbindungen zwischen B und der unsichtbaren
(oder zeitweise ziemlich sichtbaren) Gruppe anderer Entitäten C, D, E
usw., die sich selbst mit B verbinden wollen, trennt oder schwächt. 27
Die Eigenschaften und die Identität von B (ob es sich um Kamm­
muscheln, wissenschaftliche Kollegen oder Fischer handelt) werden wäh­
rend des Interessement-Prozesses konsolidiert und/oder neu definiert. B
ist das >Resultat< der Assoziation, die ihn mit A verbindet. Diese Verbin­
dung grenzt B von den C, D und E (wenn sie existieren) ab, die ihm ihrer­
seits eine andere Definition zu geben versuchen. Wir nennen diese ele­
mentare Beziehung, welche die soziale Verbindung zu formen und zu
konsolidieren beginnt, das »Dreieck des Interessement«. 28

26 1 Dies ist zweifelsohne der wichtigste Lehrinhalt von Touraines Soziologie. Der
Akteur existiert nicht außerhalb der Beziehungen, die er eingeht. Seine Identität
schwankt parallel zu ihnen (Touraine 1974). Darin unterscheidet sich Touraine von
Bourdieu (1972, 1975), wo der Akteur - den dieser den Agenten nennt - in Bezug
auf bestimmte Grundeigenschaften definiert ist.
27 1 Serres (1983) verwendet den Begriff »Interesse« in einer ähnlichen Art, aber
die daraus gezogenen Schlüsse sind ganz anders. Für ihn sterilisieren Interessen
das Wissen, weil sie sich zwischen das Letztere und dessen Objekt stellen. Das ge­
wählte Argument ist überzeugend (Alexander, der zwischen Diogenes und seiner
Sonne steht), aber seine Interpretation ist falsch, wie neue Entwicklungen in der
Wissenschaftssoziologie gezeigt haben.
28 1 Hier wird keine Hypothese über die Natur oder Größe von A, B, C, D, E etc.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 153

Abbildung3

�D

�E

Der Bereich von möglichen Strategien und Mechanismen, die übernom­


men werden, um diese Verhaltensmuster zu ändern, ist unbegrenzt. Wie
Feyerabend über die wissenschaftliche Methode sagt: »Alles ist möglich.«
Es kann reine und einfache Gewalt sein, wenn die Verbindungen zwischen
B, C und D fest gefügt sind. Es kann Verführung oder eine einfache Bitte
sein, wenn B bereits nahe bei der Problematisierung von A ist. Die Identi­
tät und >Geometrie< der interessierten Entitäten werden, außer in den äu­
ßerst seltenen Fällen, in denen das Formen von B perfekt mit der vorge­
schlagenen Problematisierung übereinstimmt, alle im Prozess des Interes­
sement modifiziert.29 Wir können diese Punkte mit der Geschichte über
die Domestikation der Kammmuscheln illustrieren.
Die Domestikation der Kammmuscheln erläutert eindrucksvoll den all­
gemeinen Mechanismus des Interessement. Die drei Forscher werden von
einer Technik inspiriert, die von den Japanern erfunden worden war:
Schlepptaue mit Kollektoren werden im Meer versenkt. Jeder Kollektor
trägt einen feinmaschigen Sack, der eine Stütze für das Verankern der Lar-

geboten. Sie können soziale Klassen, die sich wechselseitig definieren (Touraine
1974), Vater und Sohn, die durch den Ödipus-Komplex verbunden sind, Grundme­
chanismen des Nachahmungsdranges (Girard 1982) oder aber Kammmuscheln
sein, die von Forschern interessiert werden.
29 1 Zur Analyse dieses Prozesses vgl. Thevenot (1984) und sein Konzept der In­
vestition in Formen.
154 1 MICHEL GALLON

ven enthält. Diese Säcke machen es möglich, die jungen Kammmuscheln


am Entkommen zu hindern und gleichzeitig den freien Fluss von Wasser
und Larven zu sichern. Diese Vorrichtung hindert zudem Fressfeinde da­
ran, die Larven anzugreifen. Auf diese Weise sind die Larven während der
Zeitspanne, in der sie keine eigene Abwehr, d.h. keine Schale haben, ge­
schützt.30 Die Kollektoren sind in einer Reihe an Leinen befestigt. Die En­
den zweier Leinen werden an Schwimmern befestigt, die von einem An­
kersystem am Ort gehalten werden.
Die Schlepptaue und ihre Kollektoren bilden einen Archetyp eines In­
teressement-Prozesses. Die Larven werden aus ihrem Kontext >extrahiert<.
Sie sind vor Fressfeinden (Seestern), die sie angreifen und ausrotten wol­
len, vor Strömungen, die sie wegschwemmen, sodass sie zugrunde gehen,
und vor den Schleppnetzen der Fischer, die ihnen schaden, geschützt. Sie
sind (physisch) von all den Akteuren abgegrenzt, die sie bedrohen. Außer­
dem erweitern und bestätigen die Prozesse des Interessement die von den
Forschem gemachte Hypothese über die Kammmuscheln und die Larven:
(1) die wehrlosen Larven werden konstant von Fressfeinden bedroht, (2) die
Larven können sich verankern, (3) die japanische Erfahrung kann auf

Abbildung 4

Strömungen
Die drei
Forscher
•E •
Gesammelte
Larven /

�Fischer

30 1 Sobald die Schale geformt ist, bildet sie einen wirkungsvollen Schutz gegen
bestimmte Fressfeinde wie den Seestern.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG J 155

Frankreich übertragen werden, weil St. Brieucs Kammmuscheln nicht


grundsätzlich anders sind als ihre japanischen Verwandten. Die Kollekto­
ren würden alle Effektivität verlieren, wenn sich die Larven >weigerten<,
sich zu verankern, zu wachsen, die Metamorphose durchzumachen und
sich in (relativer) Gefangenschaft zu vermehren. Der Prozess des Interes­
sement bestätigt, sofern erfolgreich, (mehr oder weniger vollständig) die
Gültigkeit der Problematisierung und der Allianz, die sie impliziert. In die­
ser besonderen Fallstudie wird die Problematisierung schließlich widerlegt.
Obwohl die Kollektoren für das Interessement der Kammmuscheln
und ihrer Larven notwendig sind, erweist sich diese Art >Maschinerie< für
das Interessement der Fischer und der wissenschaftlichen Kollegen als
überflüssig. Außerdem beabsichtigen die drei Forscher nicht, die erste
Gruppe als Ganzes zu überzeugen. Es sind vielmehr die Repräsentanten
professioneller Organisationen, um deren Interesse die Forscher werben.
Die drei Forscher vervielfachen ihre Treffen und Debatten, um den Fi­
schern die Gründe zu erklären, die hinter dem Aussterben der Kammmu­
scheln stecken. Sie entwerfen Diagramme und kommentieren Kurven, die
>unwiderlegbar< den unglaublichen Rückgang des Bestandes an Kamm­
muscheln in der St. Brieuc-Bucht aufzeigen. Sie präsentieren auch mit Ei­
fer die ,spektakulären< Ergebnisse der Japaner. Die wissenschaftlichen Kol­
legen werden durch Konferenzen und Publikationen angesprochen. Die
Argumentation ist immer dieselbe: Eine umfassende Überprüfung der Li­
teratur zeigt, dass über Kammmuscheln nichts bekannt ist. Dieser Mangel
an Wissen ist bedauerlich, weil das überleben einer Spezies auf dem Spiel
steht, die (zumindest in Frankreich) zunehmende ökonomische Wichtig­
keit erlangt hat.31
Im Fall der Kammmuscheln (wie auch der Fischer und der wissen­
schaftlichen Kollegen) gründet das Interessement auf einer gewissen In­
terpretation, was die noch mit ihren Rollen zu versehenden Akteure sind
und wollen, wie auch: mit welchen Entitäten diese Akteure assoziiert sind.
Die Prozesse des Interessement schaffen einen günstigen Machtausgleich:
Für die erste Gruppe sind diese Werkzeuge die in der St. Brieuc-Bucht ver­
senkten Schlepptaue; für die zweite Gruppe sind es Texte und Gespräche,
die die betreffenden Akteure anlocken, um dem Projekt der drei Forscher
zu folgen. All den involvierten Gruppen hilft das Interessement, die Entitä­
ten dazu zu bringen, dass sie sich in Rollen einbinden lassen. Außerdem
wird so versucht, alle potentiellen konkurrierenden Verbände zu unterbin-

31 1 Zahlreiche Analysen haben klargestellt, dass ein wissenschaftliches Argu­


ment als ein Werkzeug für das Interessement betrachtet werden kann. Vgl. u.a. Cal­
lon et al. (1983, 1984); Callon/Law/Rip (1985); Law (1983); Law/Williams (1982) und
Latour (1984). Da dieser Punkt gut etabliert ist, werden Details der rhetorischen Me­
chanismen, durch die Akademiker und Fischer interessiert wurden, im vorliegen­
den Artikel nicht beschrieben.
156 J MICHEL GALLON

den und ein System von Bündnissen zu konstruieren. Soziale Strukturen,


die sowohl soziale als auch natürliche Entitäten umfassen, werden geformt
und konsolidiert.

Das Enrolment:
Wie die Rollen zu definieren und zu koordinieren sind

Unabhängig davon, wie zwingend die Fangvorrichtung und wie überzeu­


gend die Argumentation ist: Der Erfolg ist nie garantiert. Mit anderen Wor­
ten führt der Prozess des Interessement nicht notwendigerweise zu Allian­
zen, d.h. zum tatsächlichen Enrolment. Das Problem besteht darin, eine
Frage in eine Anzahl möglichst sicherer Stellungnahmen zu verwandeln:
Pecten maximus verankert sich; die Fischer wollen den Muschelbestand der
Bucht wieder vergrößern.
Warum spricht man von Enrolment? Beim Verwenden dieser Termino­
logie greifen wir nicht zu einer funktionalistischen oder kulturalistischen
Soziologie, welche die Gesellschaft als eine Entität von Rollen und Inha­
bern von Rollen definiert.32 Das Enrolment impliziert keine bereits festge­
legten Rollen, schließt sie aber auch nicht aus. Es bezeichnet den Vorgang,
in dem ein Set von zueinander in Beziehung stehenden Rollen definiert
und Akteuren zugeteilt wird, die sie akzeptieren. Sofern der Prozess des
Interessement erfolgreich ist, führt er zum Enrolment. Das Enrolment zu
beschreiben bedeutet somit, die Folge multilateraler Verhandlungen, Prü­
fungen der Willensstärke und Tricks zu beschreiben, welche die Prozesse
des Interessement begleiten und ihnen den Erfolg ermöglichen.
Wenn die Kammmuscheln in Rollen eingebunden sein sollen, müssen
sie zuerst bereit sein, sich selbst in den Kollektoren zu verankern. Aber
diese Verankerung ist nicht leicht zu erreichen. In der Tat müssen die drei
Forscher ihre längsten und schwierigsten Verhandlungen mit den
Kammmuscheln führen. Wie in einem Märchen gibt es viele feindliche
Kräfte, die versuchen, das Projekt der Forscher zu durchkreuzen, indem sie
die Larven umleiten, bevor sie eingefangen werden. Zuerst sind es die
Meeresströmungen: Von den sechs Schlepptauen, die ausgelegt wurden,
funktionierten vier einwandfrei, bevor verschiedene Variablen intervenier­
ten. Es ist offensichtlich, dass sich die Larven besser in den innersten Tei­
len der Bucht verankern, wo die Gezeitenströmungen am schwächsten
sind (Buestel/Dao 1974).
Mit den Kammmuscheln zu verhandeln heißt, zunächst mit den Strö­
mungen zu verhandeln, weil die von der Flut verursachten Turbulenzen
ein Verankerungshindernis darstellen. Aber die Forscher haben es neben
den Strömungen noch mit anderen Elementen zu tun. Alle Arten von Pa-

32 1 Für einen systematischen und scharfsinnigen Abriss dieses Analyse-Stils vgl.


Nadel 1970.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 157

rasiten bedrohen das Experiment und bilden Hindernisse beim Einfangen


der Larven.

»Ein Großteil der Erfolgsschwankungen wird verursacht durch die Art, in der Para­
siten angezogen werden. Wir hatten viele Besucher, die Unfälle provozierten, Leinen
verschoben oder Kollektoren verwickelten. Dies verursachte sofort negative Resulta­
te. Es scheint, dass die Kammmuscheln in Bezug auf alle Manipulationen (verscho­
bene Leinen, Kollektoren, die gegeneinander reiben, usw.) äußerst empfindlich rea­
gieren, indem sie sich von ihren Stützen abtrennen.« (Ebd.)

Die Aufzählung kann fortgesetzt werden. Ein wahrer Kampf wird ausge­
fochten. Strömungen und Besucher sind nur einige der Einflüsse, die den
Allianzen entgegenwirken, welche die Forscher mit den Kammmuscheln
schmieden möchten. 33 Im Dreieck A-B-C, von dem wir zuvor gesprochen
haben, gibt die Partei C, die ausgeschlossen werden soll (ob sie Strömun­
gen oder Seestern genannt wird), nicht so leicht auf. C (der Seestern) hat
die Möglichkeit, die Beziehungen zwischen A (den Forschern) und B (den
Larven) zu unterbinden. C tut dies, indem er B (die von allen begehrten
Larven) einem eigenen Prozess des Interessement unterzieht.
Die Aufzählung der Forscher ergibt, dass die Verankerungen »zwi­
schen 5 Metern über dem Meeresgrund und dem Meeresgrund selbst«
zahlreicher sind. Dies liegt sowohl an der Tiefe als eventuell auch am Ver­
halten der Kammmuscheln bei der Verankerung: Die Larven lassen sich
sinken und verankern sich am ersten Hindernis, das ihr Hinabsinken auf­
hält (Buestel/Dao 1974).
Das Schlepptau, ein Werkzeug des Interessement, zeigt dem Beobach­
ter das Niveau der Verankerung. Die Hypothesen und Interpretationen der
Forscher sind nichts als ein Verhandlungsprogramm: Larven, sollen wir
auf dem Grund der Bucht nach euch suchen oder sollen wir auf eurem
Weg nach unten warten, um euch beim Sinken einzufangen?
Dies ist jedoch bei Weitem nicht alles. Die Forscher sind zu jeder Art
von Zugeständnis bereit, um die Larven in ihre Falle zu locken. Welche Art
von Materialien bevorzugen die Larven, um sich selbst daran zu verankern?

33 1 Die hier übernommene Beschreibung ist nicht absichtlich anthropomorph.


Die Tatsache, dass die Meeresströmung interveniert, um die Experimente der For­
scher zu vereiteln, bedeutet nicht, dass wir sie mit besonderen Motiven ausstatten.
Forscher verwenden manchmal ein Vokabular, das annehmen lässt, dass Seesterne,
klimatische Änderungen und Strömungen eigene Motive und Absichten hätten.
Genau in dieser Hinsicht sieht man den Abstand, der den Beobachter vom Akteur
und die Neutralität des Ersteren vom Standpunkt des Letzteren unterscheidet. Das
verwendete Vokabular des Interessement und Enrolment ermöglicht es, den For­
schem in ihren Kämpfen mit den gegen sie gerichteten Gewalten zu folgen, ohne
jede Rücksicht auf deren Natur zu nehmen.
158 1 MICHEL CALLON

Eine weitere Reihe von Transaktionen ist notwendig, um diese Frage zu


beantworten.

»Es wurde beobachtet, dass die Entwicklung der Kammmuscheln mit aus Stroh,
Ginster oder Rosshaar angefertigten Kollektoren langsamer war. Diese Arten von
Stützen sind zu engmaschig und verhindern eine hinreichende Wasserzirkulation
durch die Kollektoren.« (Ebd.)

Auf diese Art wird immer wieder ein modus vivendi arrangiert. Wenn all
diese Konditionen erfüllt sind, dann werden sich die Larven in signifikan­
ter Weise selbst verankern. Aber was bedeutet das Adjektiv »signifikant«?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir - analog der in Paris abgehal­
tenen, drei Seiten beteiligenden Vietnam-Konferenz - den zweiten Akteur
einführen, mit dem die drei Forscher verhandeln müssen: die wissen­
schaftlichen Kollegen.
Zu Beginn existierte ein allgemeiner Konsens: Die Idee, dass Kamm­
muscheln sich verankern, wurde nicht diskutiert.34 Die ersten Resultate
wurden jedoch nicht ohne Vorverhandlungen akzeptiert. Die Vorgabe
»Pecten maximus verankert sich selbst in ihrem Larvenzustand« ist eine
Behauptung, welche die in St. Brieuc durchgeführten Experimente eventu­
ell in Frage stellen. In bestimmten Kollektoren wurden keine Verankerun­
gen beobachtet, und die Anzahl der Larven, die sich auf den Kollektoren
verankerten, erreichten nie die japanischen Niveaus. In welchem Ausmaß
kann bestätigt und akzeptiert werden, dass Kammmuscheln sich im All­
gemeinen selbst verankern? Die drei Forscher sind auf diesen Einwand
vorbereitet, weil sie in ihrer ersten Mitteilung bestätigen, dass die beobach­
teten Verankerungen nicht zufällig erfolgten: In diesem Zusammenhang
sehen wir die Bedeutung der Verhandlungen, die mit den Kammmuscheln
geführt wurden, um das Interessement zu steigern, und der Lockangebote,
die gemacht wurden, um die Larven (Rosshaar anstelle von Nylon usw.)
festzuhalten. Mit den wissenschaftlichen Kollegen waren die Verhandlun­
gen einfach: Die Diskussion der Resultate zeigte, dass sie bereit waren, an
das Prinzip der Verankerung zu glauben, und das Experiment für überzeu­
gend hielten. Die einzige Bedingung, welche die Kollegen stellten, war die
Anerkennung der Existenz früherer Arbeiten, welche - wenn auch unvoll­
kommen - die Fähigkeit der Kammmuscheln zur Verankerung vorherge­
sagt hatten.35 Unter dieser Bedingung wurde die von den Forschem zuge-

34 1 Die Diskussionen wurden in Berichten festgehalten, die verfügbar gemacht


wurden.
35 1 Ein Teilnehmer an der Diskussion bemerkte bei der Kommentierung des Be·
richts von Dao et al.: »Auf einer theoretischen Ebene dürfen wir das bereits vorhan­
dene Wissen über Kammmuscheln nicht vermindern[...]. Es ist wichtig, sich daran
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 159

sicherte Anzahl der Verankerungen für ausreichend gehalten. Unsere drei


Forscher akzeptieren dies, nachdem sie ironisch bemerkten, dass alle bona
.fide-Entdeckungen wie durch ein Wunder Vorreiter aufdecken, die zuvor
ignoriert worden waren.36
Verhandlungen mit den Fischern bzw. mit ihren Repräsentanten fin­
den nicht statt. Sie beobachten das Ganze wie amüsierte Zuschauer und
warten auf das letzte Urteil. Sie sind einfach bereit, die von den Spezialis­
ten gezogenen Schlussfolgerungen zu akzeptieren. Ihre Zustimmung wird
(von vornherein) ohne jede Diskussion vorausgesetzt.
Somit wird die Verhandlung vornehmlich zwischen drei Parteien ge­
führt, da der vierte Partner ohne jeden Widerstand in seine Rolle einge­
bunden wurde. Dieses Beispiel illustriert die verschiedenen möglichen
Wege für das Enrolment von Akteuren: physische Gewalt (gegen die Fress­
feinde), Verführung, Transaktion, Zustimmung ohne Diskussion. Dieses
Beispiel zeigt vor allem, dass die Definition und die Verteilung von Rollen
(die sich verankernden Kammmuscheln, die vom positiven Beitrag der Kol­
lektoren zur Repopulation der Bucht überzeugten Fischer, die an die Ver­
ankerung glaubenden Kollegen) das Resultat von multilateralen Verhand­
lungen sind, im Laufe derer die Identität der Akteure bestimmt und getes­
tet wird.

Die Mobilisierung von Verbündeten:


Sind die Sprecher repräsentativ?

Wer spricht in wessen Namen? Wer repräsentiert wen? Diese entscheiden­


den Fragen müssen beantwortet werden, sofern das von den Forschern ver­
folgte Projekt Erfolg haben soll. Wie bei der Beschreibung der Prozesse des
Interessement und des Enrolment sind nämlich nur einige wenige Indivi­
duen involviert, ob es sich nun um Kammmuscheln, Fischer oder wissen­
schaftliche Kollegen handelt. Verankert Pecten maximus sich wirklich
selbst? Ja, in Übereinstimmung mit den Kollegen sind die beobachteten
Verankerungen nicht zufällig. Obwohl jeder glaubt, dass sie nicht zufällig

zu erinnern, dass die Biologie von Pecten etwas besser bekannt war, als sie uns
glauben machten.«
36 1 »Offensichtlich ist dies eine sehr interessante Beobachtung. Unsere Erfah­
rung zeigt, dass sich im Allgemeinen nach getaner Arbeit die Zungen lösen und
Informationen kommen. Beispielsweise hatten die ·Fischer nie gesehen, dass
Kammmuscheln sich mit Haftfäden fixieren. Nachdem wir jedoch gezeigt haben,
dass sie auf diese Weise fixiert sind, wussten die Fischer, wo entdeckt werden könn­
te, dass sie auf diese Weise fixiert sind, wo diese Muscheln gefunden werden kön­
nen und wo sie vorher waren. Ich glaube, dass dies noch mehr für die wissenschaft­
liche Information gilt.« (Ebd.) Bezüglich Diskussionen über Vorgänger und die Art,
in der ihnen Glauben geschenkt wird, vgl. besonders Brannigan (1979).
160 1 MICHEL GALLON

sind, wird anerkannt, dass ihre Anzahl begrenzt ist. Wenige Larven werden
als offizielle Repräsentanten einer anonymen Masse von Kammmuscheln,
die still und schwer zugänglich auf dem Ozeanboden liegen, betrachtet.
Die drei Forscher führen den Prozess des Interessement der Kamm­
muscheln an einer Hand voll Larven aus, die all die unzählbaren anderen re­
präsentieren, welche der Gefangenschaft entgehen. Diese Massen wider­
sprechen niemals den Kammmuscheln, die sich verankern. Was auf einige
zutrifft, gilt für die ganze Population. Wenn die CBI (Confederation of Bri­
tish Industry) mit Gewerkschaftsdelegierten verhandelt, betrachtet sie die
Letzteren als Vertreter aller Arbeiter. Diese kleine Anzahl von Individuen
spricht im Namen aller anderen. Die Epistemologen sprechen von Induk­
tion und die Politikwissenschaftler verwenden den Begriff des Sprechers.
Die Frage jedoch bleibt dieselbe: Werden die Massen (Arbeitgeber, Arbei­
ter, Kammmuscheln) ihren Vertretern folgen? 37 Die Repräsentation ist
auch ein Problem bei den Transaktionen der Forscher mit den Kollegen
und den Fischern. Korrekt ausgedrückt, ist es nicht die wissenschaftliche
Welt ·als Ganze, die überzeugt ist, sondern sind es einige wenige Kollegen,
welche die Publikationen lesen und die Konferenz besuchen. Es sind nicht
die Fischer, sondern deren offizielle Repräsentanten, die den Experimenten
grünes Licht geben und das Projekt zur Repopulation der Bucht unterstüt­
zen. In beiden Fällen wurden einige wenige Individuen stellvertretend für
Massen von anderen (zumindest erheben sie den Anspruch, diese zu re­
präsentieren) »interessiert«. Die drei Forscher haben nur zu einigen Re­
präsentanten eine Beziehung hergestellt, ob es sich um Larven in einem
Kollektor, Delegierte oder wissenschaftliche Kollegen handelt, die an einem
Kolloquium teilnehmen. Es mag so scheinen, dass die Situationen nicht
vergleichbar sind. Die Delegierten und Kollegen sprechen für sich, wäh­
rend die Larven still sind. Einerseits handelt es sich um wirkliche Sprecher,
anderseits sind die verankerten Larven nur Repräsentanten. Bei näherer
Analyse verschwindet jedoch dieser Unterschied.
Kehren wir zu den Kammmuscheln zurück. Die Larven, die sich selbst
im Kollektor verankern, sind >gleich< den Kammmuscheln der St. Brieuc­
Bucht. Sie drücken nichts aus, haben jedoch wie die Fischer am Ende ei­
nen authentischen Sprecher. Wie wir gesehen haben, drehen sich die Ver­
handlungen zwischen den Kammmuscheln und den Forschern um die
Frage: Wie viele Larven können eingefangen werden? Die Tatsache, dass
diese Anzahl zum Hauptthema der Diskussion wird, entspricht nicht einer
absoluten Notwendigkeit. Durch das Zählen der Larven möchten die drei
Forscher wissen, worauf sie sich in ihren Verhandlungen mit ihren Kolle­
gen und den Fischern stützen können. Ihre Gesprächspartner zollen der
Anzahl von Verankerungen besondere Aufmerksamkeit: einerseits um von

37 1 Dies ist nur ein besonderes Beispiel für das allgemeine Problem der Induk­
tion.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG I r6r

der Allgemeingültigkeit der Beobachtung, anderseits um von der Effizienz


des Vorgehens überzeugt zu sein. Wie viele Wähler haben ihre Repräsen­
tanten bestimmt? Wie viele Larven haben sich selbst in den Kollektoren
verankert? Dies ist die einzig wichtige Frage. Die Verankerung entspricht
einer Stimme und das Zählen von verankerten Larven dem Auszählen der
Stimmzettel.38 Bei der Wahl von Sprechern der Fischergemeinschaft ist
das Verfahren dasselbe. Aus der Fischergemeinschaft, die sich ebenso still
wie die Kammmuscheln in der Bucht verhält, kommen nur einige wenige
Individuen dazu, ihre Stimmen in die Wahlurnen zu legen. Die Stimmen
werden gezählt und dann unter den verschiedenen Kandidaten aufgeteilt:
Die Analyse dieser Resultate führt zur Designation des offiziellen Spre­
) chers. Wo sind die Unterschiede im Falle der Larven? Die Larven veran­
kern sich selbst und werden gezählt; die drei Forscher registrieren diese
Anzahl auf Papierblättern, konvertieren diese Zahlen in Kurven und Tabel­
len, die dann in einem Artikel verwendet werden.39 Diese Resultate wer­
den analysiert und auf einer Konferenz diskutiert; werden sie für signifi­
kant gehalten, sind die drei Forscher dazu bevollmächtigt, in legitimer
Weise für die Kammmuscheln der St. Brieuc-Bucht zu sprechen: Pecten
maximus durchläuft tatsächlich eine Verankerungsphase.
Die Symmetrie ist perfekt. Eine Reihe von Vermittlern und Äquivalen­
zen wird angeordnet - dies führt zur Bestimmung des Sprechers. Im Falle
der Fischer ist die Kette ein bisschen länger, weil die Delegierten zwischen
der Stimmauswertung und den drei Forschem stehen. Das Resultat ist je­
doch dasselbe: Sowohl die Fischer als auch die Kammmuscheln werden
schließlich von den drei Forschem vertreten, die in ihrem Namen sprechen
und handeln.40 Obwohl keine Abstimmung vorgenommen wurde, basiert
die Zustimmung der wissenschaftlichen Welt auf demselben allgemeinen

38 1 Gleich zu Beginn der Experimente sammelten die drei Forscher die St.
Brieuc-Kollektoren ein und transportierten sie zu ihrem Labor in Brest. Erst nach ihrer
Ankunft in Brest und in Gegenwart von aufmerksamen Kollegen wurden die Larven
aus den Kollektoren genommen und auf eine nahe der spanischen Brücke aufge­
stellten Palette verteilt und gezählt. Es gibt keinen Unterschied zwischen diesem
Vorgang und dem, was nach der Stimmabgabe geschieht; die Lokale schließen und
die Wahlurnen werden versiegelt. Diese werden erst unter dem wachsamen Blick
der um die zum Auszählen aufgestellten Tische versammelten Wahlprüfer wieder
geöffnet.
39 1 Man muss im Detail zeigen, wie man wählt, d.h., wie eine Zählung in ein
»Enrolment« und in Machtbeziehungen transformiert werden kann - ob dies Lar­
ven oder Fischer betrifft. Dies zu tun bedeutet, Licht auf die fundamentalen Gründe
zu werfen, warum (ob in Politik oder Wissenschaft) die Arithmetik eine zentrale
Rolle spielt.
40 1 Diese allgemeine Definition von Repräsentation wirft Licht auf den Begriff
der mentalen Repräsentation, wie er in der kognitiven Psychologie verwendet wird.
162 1 MICHEL GALLON

Mechanismus: dieselbe Kaskade von Vermittlern, die Schritt für Schritt die
Anzahl der repräsentativen Gesprächspartner reduziert. Die wenigen Kol­
legen, welche die verschiedenen Konferenzen oder Seminare besuchen,
sprechen im Namen aller involvierten Forscher.4' Sobald die Transaktion
erfolgreich abgeschlossen ist, gibt es drei Individuen, die im Namen der
Spezialisten und damit auch im Namen der Kammmuscheln und der Fi­
scher sprechen.
Das unten stehende Schema zeigt, wie so verschiedene Entitäten wie
Pecten maximus, die Fischer von St. Brieuc und das Gremium von Spezia­
listen durch dazwischengeschaltete Sprecher konstruiert werden.
Die Verwendung des Begriffes »Sprecher« für alle auf verschiedenen
Stufen des Repräsentationsprozesses beteiligten Akteure bereitet kein
Problem. Für andere zu sprechen bedeutet zunächst, jene zum Schweigen
zu bringen, in deren Namen man spricht. Es ist sicher sehr schwierig,
menschliche Wesen auf eine definitive Art zum Schweigen zu bringen,
aber es ist noch schwieriger, im Namen von Entitäten zu sprechen, die kei­
ne verständliche Sprache besitzen: Dies setzt einen Bedarf an kontinuierli­
chen Anpassungen und weit höher entwickelten Werkzeugen des Interes­
sement voraus.4
2

Drei Männer sind einflussreich geworden und ihnen wird zugehört,


weil sie zum >Kopf< mehrerer Populationen geworden sind. Sie haben wis­
senschaftliche Experten, grobschlächtige Fischer und feine Schalentiere
miteinander vermischt. Diese Ketten von Vermittlern, die zu einem einzi­
gen und endgültigen Sprecher führen, können als die zunehmende Mobili­
sierung von Akteuren beschrieben werden, welche die folgenden Vorschlä­
ge glaubwürdig und unbestreitbar machen, indem sie Allianzen bilden und
als vereinte Kraft wirken: »Pecten maximus verankert sich« und »Die Fi­
scher wollen die Bestände der Bucht wieder aufstocken«. Die Idee der Mo­
bilisierung ist perfekt an die Mechanismen angepasst, die wir beschrieben
haben, weil sie alle notwendigen Verschiebungen hervorhebt. Wie das
Wort aufzeigt, bedeutet »mobilisieren«, dass Entitäten, die zuvor unbeweg­
lich waren, Beweglichkeit verliehen wird. Zuerst waren die Kamm­
muscheln, Fischer und Spezialisten tatsächlich alle verstreut und nicht leicht
zugänglich. Am Ende sagen drei Forscher bei Brest, was diese Entitäten

41 1 Im Verlauf der Diskussion kam der Forscher, nach dessen Meinung die Teil·
nehmer konstant fragten, zu folgendem Urteil: »Lassen Sie mich die Tatsache un·
terstreichen, dass diese sehr bemerkenswerte Kommunikation einen wichtigen
Schritt in unserer Kenntnis über das Wachstum von Pecten maximus markiert.«
42 1 Dies impliziert nicht, dass alle Fischer die von ihren Delegierten übemom·
mene Position aktiv unterstützen. Dies bedeutet vielmehr ganz einfach, dass sie die
Verhandlungen nicht unterbrechen, die ihre Delegierten mit den Wissenschaftlern
und den Larven führen. Wie die nachfolgenden Geschehnisse zeigen, kann eine Un·
terbrechung auch eintreten, ohne dass die Fischer sich öffentlich erklären.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 163

sind und wollen. Durch die Designation der sukzessiven Sprecher und die
Einsetzung einer Reihe von Äquivalenzen werden all diese Akteure zuerst
verschoben und dann zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort
wieder versammelt. Diese Mobilisierung oder Konzentration hat eine be­
stimmte physische Realität, die durch eine Reihe von Verschiebungen ma­
terialisiert wird (Law 1986).

Abbildung5

l
Pecten Fischer der Die Gemeinschaft
maxiumus SL

l l
verankerte Wahlvorgang Kollegen, die
Larven T diskutieren und lesen

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Zählung der Stimmen

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Zählung

Linien einer Ernennung eines


Grafik

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Die drei Forscher. ie im
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Pecten Fischer der Die Gemeinschaft


maxiumus St. Brieuc-Bay von Experten

Die Kammmuscheln werden in Larven, die Larven in Zahlen, die Zahlen in


Tabellen und Kurven transformiert, die leicht zu transportierende, repro­
duzierbare und zu verbreitende Papierblätter darstellen (Latour 1986). An­
statt ihren Kollegen bei Brest die Larven und die Abschleppseile zu de­
monstrieren, zeigen die drei Forscher graphische Repräsentationen und
mathematische Analysen. Die Kammmuscheln wurden verschoben; durch
eine Reihe von Transformationen sind sie ins Konferenzzimmer transpor-
164 1 MICHEL GALLON

tiert worden. Die Wahl jedes neuen Vermittlers, jedes neuen Repräsentan­
ten muss eine doppelte Anforderung erfüllen: Sie muss jede neue Ver­
schiebung leichter machen und Äquivalenzen etablieren, welche die drei
Forscher zu Sprechern bestimmen. Dasselbe gilt für die Fischer, die in
Stimmzettel und dann in professionelle Delegierte verwandelt wurden, de­
ren zuvor aufgezeichneten Standpunkte nach Brest gemeldet werden.
Das erzielte Resultat ist beeindruckend. Eine Hand voll Forscher erör­
tert in einem geschlossenen Raum einige Diagramme und Tabellen mit
Zahlen. Diese Diskussionen verpflichten unzählige Populationen stiller Ak­
teure: Kammmuscheln, Fischer und Spezialisten, die alle in Brest von eini­
gen Sprechern vertreten werden. Diese unterschiedlichen Populationen
sind mobilisiert worden, d.h., sie sind von ihren Heimstätten in ein Konfe­
renzzimmer verschoben worden. Sie nehmen durch zwischengeschaltete
Repräsentanten an den Verhandlungen über die Verankerung von Pecten
maximus und die Interessen der Fischer teil. Das Enrolment ist in aktive
Unterstützung umgewandelt worden. Die Kammmuscheln und die Fischer
befinden sich an einem bestimmten Tag im November 1974 an der Seite
der drei Forscher in einem Hörsaal am Ozeanographischen Zentrum von
Brest.
Wie diese Analyse zeigt, sind die Gruppen oder Populationen, in deren
Namen sich die Sprecher äußern, schwer zu fassen. Der Garant (oder der
Referent) existiert, sobald die lange Kette der Repräsentanten steht. Sie ist
das Ergebnis und nicht die Ausgangsposition. Ihre Konsistenz wird strikt
an der Solidität der eingesetzten Äquivalenzen und der Treue einiger weni­
ger verstreuter Vermittler gemessen, die ihre Repräsentativität und ihre
Identität aushandeln (Hennion 1983). Wenn die Mobilisierung erfolgreich
ist, folgt: Pecten maximus existiert als eine Spezies, die sich selbst verankert;
die Fischer wollen die Repopulation und sind bereit, das experimentelle
Projekt zu unterstützen; die Kollegen sind von der Stichhaltigkeit der er­
zielten Resultate überzeugt.43 Die soziale und natürliche >Realität< ist das
Resultat der allgemeinen Verhandlung über die Repräsentativität der Spre­
cher. Ist der Konsens erreicht, werden die Handlungsspielräume jeder En­
tität fest abgesteckt. Die anfängliche Problematisierung definierte eine Rei­
he von verhandlungsfähigen Hypothesen bezüglich Identität, Beziehungen
und Zielen der verschiedenen Akteure. Jetzt, am Schluss der vier beschrie­
benen Momente, ist ein zwingendes Netzwerk von Beziehungen geknüpft
worden.44 Dieser Konsens und die dadurch implizierten Allianzen können
jedoch jederzeit angefochten werden. Die Übersetzung wird zum Verrat.

43 1 Thevenot (1984) folgend, kann man von »Investitionen in Formen« sprechen.


44 1 Um das Netzwerk von Beschränkungen und Ressourcen zu beschreiben, das
sich aus einer Reihe von Übersetzungsprozessen ergibt, habe ich das Akteur-Netz­
werk-Konzept vorgeschlagen (Callon 1985).
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 165

Dissidenz: Betrug und Kontroversen


In den letzten Jahren haben Soziologen den Kontroversen zahlreiche Stu­
dien gewidmet und die wichtige Rolle aufgezeigt, die sie in der Dynamik
von Wissenschaft und Technik spielen. Warum und unter welchen Bedin­
gungen treten Kontroversen auf? Wie werden sie beigelegt? Das vorge­
schlagene Analyseschema erlaubt es, diese zwei Fragen auf dieselbe Weise
zu prüfen. Gleichzeitig wahrt dieses Schema die Symmetrie zwischen den
Kontroversen, welche die Natur, und jenen, welche die Gesellschaft betref­
fen.
Ist ein Sprecher oder ein Vermittler repräsentativ? Dies ist eine prakti­
sche und keine theoretische Frage. Die Frage wird in gleicher Weise für die
Kammmuscheln, die Fischer und die wissenschaftlichen Kollegen gestellt.
Eine Kontroverse umfasst alle Manifestationen, welche die Repräsentativi­
tät des Sprechers in Frage stellen, diskutieren, verhandeln, ablehnen usw.
Beginnen wir mit den Kammmuscheln. Das erste Experiment oder,
wenn wir unser Vokabular verwenden, der erste Akt des Interessement
mobilisiert sie in Form von in Kollektoren verankerten Larven und in Form
von in Brest vor einem wissenschaftlichen Gremium diskutierten Dia­
grammen. Dieses Gremium stellte eine Tatsache fest: Pecten maximus ver­
ankert sich selbst im Larvenzustand. Etwa 100 an der Küste von St. Brieuc
in Netzen versammelte Larven genügten, um die Wissenschaftler davon zu
überzeugen, dass sie das Verhalten einer ungezählten Menge ihrer un­
sichtbaren und schwer zu fassenden Brüder reflektieren.
Wird diese Bewegung andauern? Werden die Kammmuscheln fortfah­
ren, ihre Larven Generation für Generation in den Kollektoren zu veran­
kern? Diese Frage ist für unsere drei Forscher von entscheidender Bedeu­
tung. Sie betrifft die Zukunft der Repopulation der Bucht, die Zukunft der
Fischer und damit ihre eigene Zukunft. Die Jahre vergehen und die Dinge
ändern sich. Die Wiederholung des Experimentes führt zu einer Katastro­
phe. Die Forscher werfen ihre Netze aus, aber die Kollektoren bleiben
hoffnungslos leer. In der Theorie verankern sich die Larven, aber in der
Praxis weigern sie sich, in die Kollektoren zu kommen. Die schwierigen
Verhandlungen, die das erste Mal erfolgreich waren, scheitern in den fol­
genden Jahren. Vielleicht waren die Verankerungen zufällig! Die Vielzahl
feindlicher Interventionen (dies wenigstens ist die Interpretation der For­
scher in ihrer Rolle als Sprecher der Kammmuscheln), die Temperatur der
Wasserschichten, unerwartete Meeresströmungen, alle Arten von Fress­
feinden und Tierseuchen werden angeführt, um zu erklären, warum nun
das Interessement ineffizient ist. Die Larven trennen sich selbst vom Pro­
jekt der Forscher -und eine Menge anderer Akteure trägt sie fort. Die
Kammmuscheln werden zu Dissidenten. Die bereitwilligen Larven werden
von jenen betrogen, die sie repräsentieren sollten. Die Situation ist mit je­
ner Basis identisch, welche die Resultate der Gewerkschaftsverhandlungen
166 1 MICHEL GALLON

mit stiller Entrüstung zur Kenntnis nimmt: Die Repräsentativität wird in


Frage gestellt.45
Diese Kontroverse über die Repräsentativität der Larven, die sich wäh­
rend der Experimente des ersten Jahres selbst verankern, wird von einer
anderen begleitet - diesmal sind es die Fischer. Ihre gewählten Repräsen­
tanten wurden in ein langfristiges Programm einbezogen, das darauf ab­
zielte, den Muschelbestand der St. Brieuc-Bucht vorbehaltlos und ohne den
Deut eines Zweifels wieder zu vergrößern. In den zwei Jahren, die den ers­
ten (und einzigen) Verankerungen folgten, wurden die von den Kollektoren
>interessierten< Larven, die sich dort zu ausgewachsenen Kammmuscheln
entwickelt hatten, auf den Grund der Bucht in einen durch einen Beton­
gürtel geschützten Bereich umgesiedelt. Am Heiligabend konnte eine
Horde von Fischern der Versuchung eines wundersamen Fanges nicht
länger widerstehen und fischte schamlos. Damit verleugneten sie brutal
und ohne ein Wort zu sagen ihre Sprecher und ihre langfristigen Pläne. Sie
zogen es vor - wie im berühmten Aphorismus von Lord Keynes -, ihre
unmittelbaren Begierden zu befriedigen, anstatt auf eine hypothetische,
zukünftige Belohnung zu warten.
Mit dem stillen Meutern der Kammmuscheln und Fischer konfrontiert,
beginnt die Strategie der drei Forscher nachzugeben. Ist die Verankerung
ein obligatorischer Passagepunkt? Sogar die wissenschaftlichen Kollegen
werden skeptisch. Die drei Forscher müssen nun mit dem wachsenden
Zweifel von Seiten ihres Labordirektors und der Organisationen, die sich
zur Finanzierung des Experimentes bereit erklärt hatten, umgehen.
Mit einer Kontroverse wankt nicht nur der Überzeugungsstand, son­
dern auch die Identität und die Charakteristika der darin verwickelten Ak­
teure ändern sich. (Was wollen die Fischer wirklich? Wie verhält sich Pecten
maximus?) Die Natur und die Gesellschaft werden in ihre Grenzen verwie­
sen und in derselben Bewegung transformiert.
Durch Beibehaltung des Analyserasters werden nun die Mechanismen
zur Beilegung der Kontroverse leichter verstanden. Eine Schließung wird
erzielt, wenn die Sprecher nicht mehr in Frage gestellt werden. Dieses Re­
sultat wird im Allgemeinen nur nach einer Reihe verschiedenster Verhand­
lungen erreicht, die ziemlich viel Zeit kosten können. Die Kammmuscheln
folgen den zunächst verankerten Larven nicht, und die Fischer respektieren
die Verpflichtungen ihrer Repräsentanten nicht; dies führt die drei For­
scher dazu, die für die Kammmuscheln und ihre Larven verwendete Tech­
nik des Interessement zu transformieren und eine breite Kampagne zu
starten, um die Fischer zu informieren (d.h. formieren) und dazu anzuhal­
ten, andere Vermittler und andere Repräsentanten zu wählen. An dieser

45 1 Man ist nicht überrascht, dass die Kontroverse oder der Disput nicht explizit
zum Ausdruck gebracht wurde. Sogar Wähler wählen manchmal ,mit ihren Füßen<.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 167

Stelle ihrer Geschichte verlassen wir sie, um die Lehren zu überprüfen, die
aus der vorgeschlagenen Analyse gezogen werden können.

Abschließende Bemerkungen

In dieser Studie haben wir die in der Einführung formulierten drei Prinzi­
pien durchgehend beachtet.

(r) Um dem ersten Prinzip (allgemeiner Agnostizismus) zu entsprechen,


untersuchten wir, wie die drei Forscher die Fakten der Natur und die von
ihnen ausgearbeiteten und geformten sozialen Kontexte berücksichtigten.
Wir haben die Zweifel an der Gesellschaft und den geknüpften Allianzen
aufgezeigt. In der Folge waren wir in der Lage, Ungewissheiten über die
Eigenschaften der Kammmuscheln und Ungewissheiten über die Fischer
und ihre Interessen in gleicher Weise zu behandeln.
Außerdem zwangen wir uns systematisch, weder die von den Akteuren
eingenommenen Positionen zu beurteilen noch diese auf eine besondere
>soziologische< Interpretation zu reduzieren - was uns befähigte, mit der
ersten Schwierigkeit, die von neuen Studien der Wissenschaftssoziologie
aufgezeigt wurde, umzugehen. So wurde beispielsweise der Glaube der
drei Forscher an die Verankerung der Larven oder an die Existenz einer
homogenen Gruppe von Fischern mit denselben langfristigen Interessen
nie als Illusion oder Fehlurteil präsentiert. Die Existenz oder Nicht-Existenz
der Verankerung oder dieser sozialen Gruppe kann nur am Ende des ver­
folgten Weges bestimmt werden, und es sind die drei Forscher, die dies
durch ihre verschiedenen Bestrebungen enthüllen.

(2) Das zweite Prinzip (generalisierte Symmetrie) zwang uns, das Analy­
seraster nicht zu ändern, um die Kontroversen in Verbindung mit der Na­
tur und jene in Verbindung mit der Gesellschaft zu untersuchen.
Wir haben diese Vorgabe sorgfältig befolgt, indem wir durchgängig
dasselbe Vokabular verwendeten. Die Begriffe »Problematisierung«, »Inte­
ressement«, »Enrolment«, »Mobilisierung« und »Dissidenz« (Kontroverse
- Betrug) wurden für die Fischer, die Kammmuscheln und die wissen­
schaftlichen Kollegen verwendet. Die Terminologie wurde unterschiedslos
auf alle Akteure angewandt.
Durch Befolgen dieses Verfahrens haben wir die zweite in der Einfüh­
rung erwähnte Schwierigkeit vermieden. Wir verwendeten keine sozialen
Faktoren, Normen oder besondere institutionelle oder organisatorische
Konfigurationen um zu erklären, warum Diskussionen über Kamm­
muscheln oder Fischer stattfanden oder abgeschlossen wurden. Um >urbi et
orbi< festzustellen, dass Larven sich verankern, war die Mittäterschaft der
Kammmuscheln ebenso erforderlich wie die der Fischer. Diese drei Kate-
168 1 MICHEL GALLON

gorien von Akteuren sind alle gleich wichtig. Niemals kann die Gesellschaft
auf eine Machtbalance oder auf eine Reihe von Konditionen reduziert wer­
den, um die Entwicklung und den Abschluss einer Kontroverse zu erklä­
ren.

(3) Das dritte Prinzip (freie Assoziation), machte es möglich, all die Vari­
anten zu verfolgen, welche die von den drei Forschern geschmiedeten Alli­
anzen beeinflussten, ohne sie in fixe Rollen einzubinden. Nicht nur wurde
der Identität der Kammmuscheln oder der Fischer und den Repräsentan­
ten ihrer Vermittler oder Sprecher (verankerte Larven, professionelle Dele­
gierte usw.) zu wanken erlaubt, sondern auch den unvorhersehbaren Be­
ziehungen zwischen diesen verschiedenen Entitäten gestattet, ihren Lauf
zu nehmen. Dies war möglich, weil keine a-priori-Kategorie oder -Bezie­
hung verwendet wurde.
Wer hätte zu Beginn der Geschichte vorhersagen können, dass die Ver­
ankerung der Kammmuscheln einen Einfluss auf die Fischer haben wür­
de? Wer wäre in der Lage gewesen, die Kanäle zu erraten, durch die dieser
Einfluss ausgeübt würde? Diese Beziehungen werden erst nach Eintritt des
Ereignisses sichtbar und plausibel.
Auf diese Art wurde die dritte Schwierigkeit problemlos umgangen. Die
hier beschriebene Geschichte hat, obwohl sie sich auf die drei Forscher
konzentrierte, weder Akteure hinzugezogen, die sie selbst nicht ausdrück­
lich ins Feld führten, noch den intervenierenden Entitäten irgendeine feste
Definition aufgesetzt.
Obschon dies als ein hoher Grad an Permissivität in der Analyse beur­
teilt werden kann, waren die Resultate kein unbeschreibbares Chaos. Si­
cher wurden die untersuchten Akteure mit verschiedenen Arten von Un­
gewissheit konfrontiert. Die für sie hier vorgeschlagene Situation ist viel
weniger komfortabel als die, welche im Allgemeinen von der Wissen­
schaftssoziologie vorgegeben wird. Aber ihre Kompetenzen erwiesen sich
als den aufgetretenen Schwierigkeiten gewachsen. Sie arbeiteten unabläs­
sig an Gesellschaft und Natur, indem sie Entitäten definierten und verban­
den, um Allianzen zu schmieden, die sich nur für einen gewissen Standort
zu einer bestimmten Zeit als stabil erwiesen haben.
Diese methodologische Wahl, in welcher die Gesellschaft als ebenso
unbestimmt und strittig betrachtet wird wie die Natur, enthüllt eine unge­
wöhnliche Realität, die ziemlich getreu durch das Übersetzungsvokabular
wiedergegeben wird.
Erstens betont die Vorstellung von Übersetzung die Kontinuität der
Verschiebungen und Umwandlungen, die in dieser Geschichte auftreten:
Verschiebungen von Zielen und Interessen - und auch von Vorrichtungen,
menschlichen Wesen, Larven und Inskriptionen. Verschiebungen traten
auf jeder Stufe auf. Einige spielten eine strategischere Rolle als andere.

1,,1
li
i,
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG J 169

Verschiebungen während der Problematisierung: Anstatt ihre individuellen


kurzfristigen Interessen zu verfolgen, sind die Fischer aufgefordert, den
Fokus ihrer Bemühungen und ihrer Projekte zu ändern, um den Un­
tersuchungen der Forscher zu folgen.
Verschiebungen während der Phase des Interessement: Die Larven, die auf den
Meeresgrund fallen oder von den Meeresströmungen weggeschwemmt
werden, werden von den Netzen abgelenkt und abgefangen.
Verschiebungen während der Phase des Enrolment, wo eine Vereinbarung durch
gegenseitige Konzessionen gefunden wird: Die Kollektoren werden zu ei­
nem neuen Standort bewegt, um die von den Forschem zu ihrem eige­
nen Terrain gelenkten Larven effizienter einfangen zu können.
Verschiebungen - und diese sind essentiell - während der Phase der Mobilisie­
rung: Die in den Kollektoren verankerten Larven, die Fischer der St.
Brieuc-Bucht und die überall in der Welt verstreuten Kollegen wurden
nach Brest verschoben, nachdem sie ihre Form und ihren Status ge­
wechselt haben, um die drei Forscher zu unterstützen, die ihre Spre­
cher zu sein beanspruchten.
Schließ/ich Verschiebungen während der letzten Phase, der Dissidenz: Die Fi­
scher dringen in die Barrieren ein, verweigern den Forschem die Ge­
folgschaft und vernichten den nachwachsenden Tierbestand; die
Kammmuscheln und ihre Larven meiden die Netze, die zu ihrer Veran­
kerung bestimmt waren.

Wegen einer Reihe unvorhersehbarer Verschiebungen können all diese


Prozesse als eine Übersetzung beschrieben werden, die alle beteiligten Ak­
teure als ein Resultat verschiedener Metamorphosen und Transformatio­
nen dazu veranlassen, die drei Forscher und ihr Entwicklungsprojekt zu
übergehen.
Übersetzen bedeutet Verschieben: Die drei unermüdlichen Forscher
versuchen, ihre Alliierten zu verschieben, um sie dazu zu bringen, nach
Brest und zu ihren Labors zu kommen. Übersetzen bedeutet aber auch, in
der eigenen Sprache auszudrücken, was andere sagen und wünschen, wa­
rum sie auf diese eine Weise handeln, wie sie sich mit anderen verbinden:
Dies geschieht, um sich selbst als Sprecher einzuführen. Am Ende des
Prozesses sind nur noch im Gleichklang sprechende Stimmen zu hören,
sofern er erfolgreich ist. Die drei Forscher sprechen im Namen der
Kammmuscheln, der Fischer und der wissenschaftlichen Welt. Zu Beginn
waren diese drei Universen getrennt und hatten keine Mittel zur wechsel­
seitigen Kommunikation. Am Ende hat ein Diskurs von Gewissheit sie ge­
eint oder hat sie in einer nachvollziehbaren Art in eine Beziehung zuein­
ander gesetzt. Dies wäre jedoch ohne die oben erwähnten verschiedenen
Arten von Verschiebungen und Transformationen und die sie begleitenden
Verhandlungen und Anpassungen nicht möglich gewesen. Um diese zwei
1

il,
1 11

170 j MICHEL CALLON


1

untrennbaren Mechanismen und ihr Resultat auszudrücken, verwenden


wir das Wort »Übersetzung«. Die drei Forscher übersetzten die Fischer, die
Kammmuscheln und die wissenschaftliche Welt.
Übersetzung ist zuallererst ein Prozess, bevor er zu einem Resultat
wird. Deshalb haben wir von Momenten gesprochen, die in Wirklichkeit
nie so deutlich wie in dieser Arbeit sind. Jeder von ihnen markiert einen
Fortschritt in den Verhandlungen, die zur Bestimmung eines legitimierten
Sprechers führen, der in dieser Fallstudie sagt, was die Kammmuscheln
wollen bzw. brauchen, und der nicht verleugnet wird: Die Problematisie­
rung, die nur eine einfache Idee war, wurde in Mobilisierung transfor­
miert. Dissidenz spielt eine andere Rolle, da sie einige der Erfolge der vo­
rausgehenden Phasen in Frage stellt. Die Verschiebungen und die Spre­
cher werden angefochten oder abgelehnt. Die involvierten Akteure aner­
kennen weder ihre Rollen in dieser Geschichte noch die allmähliche Ab­
weichung, an der sie ihrer Überzeugung nach voll und ganz teilgenommen
haben. Wie der Aphorismus »traduttore - traditore« sagt, ist es von der
Übersetzung zum Verrat nur ein kleiner Schritt. Dieser Schritt wird in der
letzten Phase vollzogen. Neue Verschiebungen nehmen den Platz der vo­
rausgehenden ein und lenken die Akteure von den ihnen auferlegten obli­
gatorischen Passagepunkten ab. Neue Sprecher werden angehört, welche
die Repräsentativität ihrer Vorläufer verneinen. Die Übersetzung geht wei­
ter, aber das Gleichgewicht wurde modifiziert. Dies trifft für die hier vorge­
legte Geschichte zu, in welcher die drei Forscher-Sprecher damit enden,
denunziert zu werden. Gleichzeitig beginnt die Beschreibung der sozialen
und natürlichen Realität zu wanken.
Übersetzung ist der Mechanismus, durch den die soziale und die natür­
liche Welt fortschreitend Form annehmen. Das Resultat ist eine Situation,
in der bestimmte Entitäten andere kontrollieren. Will man verstehen, was
die Soziologen Machtbeziehungen nennen, muss man den Weg beschrei­
ben, durch den die Akteure definiert, assoziiert und gleichzeitig verpflichtet
werden, ihren Allianzen treu zu bleiben. Das Repertoire der Übersetzung
dient nicht nur dazu, eine symmetrische und tolerante Beschreibung eines
komplexen Prozesses zu liefern, der konstant eine Vielfalt von sozialen und
natürlichen Entitäten vermischt. Es erlaubt auch eine Erklärung, wie einige
das Recht erhalten, die vielen von ihnen mobilisierten stillen Akteure der
sozialen und natürlichen Welt zu repräsentieren und für sie zu sprechen.46

46 1 Dieser Punkt verbindet sich mit dem von Foucault (1976) vorgeschlagenen
Begriff der politischen Ökonomie der Macht.
EINIGE ELEMENTE EINER SOZIOLOGIE DER ÜBERSETZUNG 1 171

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Die Soziologie eines Akteur-Netzwerkes:

Der Fall des Elektrofahrzeugs

MICHEL CALLON

Einleitung
Wenn Laboratorien und Forschungsstätten für das 20. Jahrhundert das
sind, was Klöster für das 12. waren, dann bleiben die Quellen ihrer Macht
und Wirksamkeit ein Geheimnis. Wie kommt es, dass die Ideen und
Schriften, die aus diesen Institutionen stammen, die Arbeitsbedingungen
in der Industrie, die Universen der Konsumgüter und Lebensstile - wenn
auch nur graduell - revolutionieren können? Wie werden die in Stanford,
Gif-sur-Yvette und Cambridge gemachten Entdeckungen solchermaßen
verbreitet, dass sie universell bekannt und anerkannt werden? Wie sind
technische Vorrichtungen, die in den Forschungsabteilungen französischer
oder englischer Firmen Form angenommen haben, in der Lage, Märkte in
der ganzen Welt zu erobern? Anthropologische Studien von Laboratorien
haben gezeigt, dass nichts Außergewöhnliches hinter den Mauem der
Forschungszentren stattfindet, das ihren Einfluss erklären könnte. Diese
Studien haben auch gezeigt, dass der Einfluss und die Gültigkeit von er­
zielten Ergebnissen nicht der Existenz einer bestimmten wissenschaftli­
chen Methode zugeschrieben werden können (Latour/Woolgar 1979;
Knorr-Cetina 1981; Lynch 1985). Obwohl Wissenschaftler bestimmten
Aktivitäten eine höhere Priorität einräumen als anderen, besitzen diese
nicht größere Exaktheit oder Logik, die einen Beobachter dazu befähigen
würde, sie von anderen zu unterscheiden. Zusätzlich hat die Erforschung
von Kontroversen die Sicht diskreditiert, dass Wissenschaft und Technik
frei von jedem Einfluss - der intellektuelle ausgenommen - sind (Collins/
Pinch 1982; Shapin 1979; MacKenzie 1978). Sie sind eher unrein und
heterogen. Wenn die Unsicherheiten, der Wandel und die Evolutionen, die
ihre Entwicklung kennzeichnen, verstanden werden sollen, dann müssen
176 \ MICHEL CALLON

Interessen, Strategien und Machtbeziehungen, die nicht an der Labortür


Halt machen, in die Analyse eingebracht werden. Kurz: Obwohl Wissen­
schaft und Technik sich in gewissem Maße vom Rest der Welt getrennt
entwickeln, sind sie weder losgelöst noch fundamental verschieden in ihrer
Art von anderen Aktivitäten.
Die Macht der Wissenschaft muss also auf andere Weise erklärt wer­
den. Obwohl Soziologie und Anthropologie eine entscheidende Rolle in der
Beschreibung des detaillierten Inhalts wissenschaftlicher Praktiken gespielt
und klassische Annahmen über Wissenschaft unterhöhlt haben, haben sie
unglücklicherweise darin versagt, deren unleugbaren Einfluss befriedigend
zu erklären. Der Grund dafür ist, dass sie die Ursprünge und den Erfolg
der Wissenschaft mit politischen Interessen (MacKenzie 1978), den von
Forschem gesammelten Ressourcen (Latour/Woolgar 1979; Knorr-Cetina
1981) oder dem Druck durch wirtschaftliche Nachfrage (Hessen 1971;
Yoxen 1981) zu erklären suchten. Sie haben nach den Gründen für die
Macht der Wissenschaft nicht innerhalb der Wissenschaft gesucht, son­
dern innerhalb der sie umgebenden Gesellschaft. Unglücklicherweise sind
diese Erklärungen, wie in einer wachsenden Zahl von Studien gezeigt wird,
inadäquat, da die Entwicklung wissenschaftlichen Wissens und technischer
Systeme nicht verstanden werden kann - außer man erforscht gleichzeitig
den sozialen Kontext, zu dem sie gehören (Latour 1984; Callon 1980, 1981;
Law 1987; Pinch/Bijker 1984).
Um die Mechanismen der Macht von Wissenschaft und Technik zu
entdecken, ist es deshalb wichtig, die Arten zu enthüllen, in denen Labora­
torien gleichzeitig die sozialen und natürlichen Kontexte neu aufbauen und
verbinden, auf die sie einwirken. In diesem Beitrag beschreiben wir drei
Konzepte, die es ermöglichen, die >Ko-Evolution< der >Gesellschaft<, techni­
scher Artefakte und Erkenntnisse über die Natur zu analysieren. Die drei
Konzepte sind die der Akteur-Welt, der Übersetzung und des Akteur­
Netzwerkes.

Akteur-Welten

Beginnen wir also mit einem kleinen Umweg, indem wir die Frage stellen,
die für Soziologen von ständigem Interesse ist: Aus welchen Elementen
wird Gesellschaft gebildet? Soziologen glauben oft, dass sie als Disziplin
besser in der Lage sind, diese Frage zu beantworten als andere. Sind sie
nicht Spezialisten des Sozialen, die wissen, wie man mit Gruppen, Klassen,
Orientierungen, Habitus und Macht umgeht, um Verhalten zu erklären
und vorherzusagen?
Naturwissenschaftler und Technologen unterminieren stets das Wissen
und die Kompetenz der Soziologen. Der Grund dafür ist, dass sie die Ge­
sellschaft kontinuierlich neu aufbauen, indem sie unvorhersehbare Varia-
DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 177

tionen und neue Verbindungen einführen. Zudem ziehen sie aus diesen
Variationen und Verbindungen ihre Macht. Mehr als andere Akteure kön­
nen Technologen mit der Fähigkeit ausgestattet sein, eine Welt - ihre Welt
- zu konstruieren, ihre konstituierenden Elemente zu definieren und ih­
nen eine Zeit, einen Raum und eine Geschichte zur Verfügung zu stellen
(Latour 1984; Hughes 1983). Um diese Fähigkeit zu illustrieren, werden
wir der Entwicklung einer technischen Innovation folgen, die man in den
frühen 197oer Jahren in Frankreich für höchst wichtig hielt: die des Elek­
trofahrzeugs, des Vehicule Electrique (VEL).
1973 präsentierte die Electricite de France (EDF) einen Plan für das
VEL, der nicht nur die präzisen Charakteristika des Fahrzeugs festlegte,
das es fördern wollte, sondern auch das soziale Universum, in dem dieses
Fahrzeug funktionieren würde.
Zuerst definierte die EDF eine bestimmte Geschichte, indem sie eine
Gesellschaft von städtischen, post-industriellen Konsumenten beschrieb,
die sich mit neuen sozialen Bewegungen auseinander setzen musste. Das
motorisierte Auto besetzt eine höchst exponierte Position, da es einen Teil
des angefeindeten Weltbildes verkörpert. Also dient es als Ausgangspunkt
für die Konstruktion weitreichender und radikaler Forderungen, die zu
einer Zukunft führen, die nur mit Schwierigkeiten vorhergesehen werden
kann. Der Verbrennungsmotor ist der Nachkomme einer industriellen
Zivilisation, die hinter uns liegt. Der Carnot-Kreislauf und seine bekla­
genswerten Nebenprodukte werden stigmatisiert, um die Notwendigkeit
anderer Formen von Energiekonversion zu demonstrieren. Einerseits wird
das Motorfahrzeug für die Luftverschmutzung und den Lärm, die die
Städte plagen, verantwortlich gemacht. Auf der anderen Seite ist es un­
trennbar mit einer Verbrauchergesellschaft verbunden, in der das private
Auto ein grundlegendes Statussymbol darstellt. Der elektrische Antrieb
wird das Auto jedoch zu einem Gemeinplatz machen, indem er dessen
Leistung mindert und es auf ein simples, nützliches Objekt reduziert. Das
elektrische Auto könnte zu einer neuen Ära im öffentlichen Verkehr in den
Händen einer neuen sozialen Gruppe führen, die darum kämpft, die Be­
dingungen in der Stadt durch die Mittel von Wissenschaft und Technik zu
verbessern. Das Ziel wäre, Wissenschaft und Technik in den Dienst am
Konsumenten zu stellen und soziale Kategorien, die sich durch Konsumsti­
le abzugrenzen versuchen, abzulegen. Die EDF hat diese Vision auf eine
Evaluation von Prognosen über die möglichen Entwicklungen verschiede­
ner Arten elektrochemischer Batterien begründet.' Zuerst könnte der
öffentliche Verkehr mit verbesserten Bleiakkumulatoren ausgestattet wer­
den. Dann könnten die Akkumulatoren und Kraftstoffzellen die größeren

1 1 In diesem Kapitel wird der Begriff »Batterie« als Oberbegriff verwendet, um


alle tragbaren chemischen Vorrichtungen zur Erzeugung von Elektrizität zu umfas­
sen.
178 1 MICHEL GALLON

Märkte des privaten Transports öffnen, indem sie das VEL dazu befähigten,
Geschwindigkeiten von bis zu 90 km/h zu erreichen.
Indem sie das Verschwinden des internen Verbrennungsmotors auf­
grund des Aufkommens elektrochemischer Generatoren vorhersagte und
traditionelle Konsumenten ignorierte, um Verwender mit neuen Ansprü­
chen besser befriedigen zu können, hat die EDF nicht nur eine soziale und
technische Geschichte definiert, sondern auch die Hersteller identifiziert,
die für die Konstruktion des neuen VEL verantwortlich sein würden. Die
»Compagnie Generale d'Electricite« (CGE) würde gebeten werden, den
elektrischen Motor und die zweite Batteriengeneration zu entwickeln und
die Bleiakkumulatoren, die in der ersten Generation des VEL verwendet
worden waren, zu perfektionieren. »Renault« würde seine Sachkenntnis in
der Produktion traditioneller Automobile mobilisieren, um das Chassis zu
bauen und die Karosserie der Autos zu produzieren. Die Regierung würde
ebenfalls rekrutiert: Das Ministerium würde für das VEL günstige Verord­
nungen formulieren; es würde die an elektrischer Beförderung interessier­
ten Gemeinden subventionieren. Die Liste setzt sich fort: Gesellschaften,
die städtische Transportsysteme betreiben, würden mit Forschungszent­
ren, Wissenschaftlern etc. kooperieren. Die EDF hat die Rollen definiert
und versucht dann, andere Entitäten in sie einzubinden (Enrolment).2 Sie
bindet die Funktionen dieser Rollen zusammen, indem sie eine Welt er­
baut, in der alle ihren eigenen Platz haben.
Bis zu diesem Punkt sind die Entitäten dem Soziologen bekannt. Es
gibt Konsumenten, soziale Bewegungen und Ministerien. Es wäre jedoch
falsch, das-Inventar zu limitieren. Es gibt auch Akkumulatoren, Kraftstoff­
zellen, Elektroden, Elektronen, Katalysatoren und Elektrolyte. Wenn die
Elektronen nicht ihre Rolle spielen oder die Katalysatoren kontaminiert
würden, wäre das Ergebnis nicht weniger verhängnisvoll, als wenn der
Konsument das Fahrzeug ablehnte; die neuen Verordnungen würden nicht
durchgesetzt oder »Renault« entschiede stur die Entwicklung des »R5«.
Der von der EDF defmierten und erbauten Welt müssen drei neue und
wesentliche Entitäten hinzugefügt werden: Zink-/Luftakkumulatoren,
Bleiakkumulatoren und Kraftstoffzellen mit ihrer Kohorte von verbunde­
nen Elementen (Katalysatoren, Elektronen usw.).
Aber einen Augenblick! Die EDF ist weder eine Akteurin, die mit Tech­
niken oder Kenntnissen, die bereits in der Gesellschaft vorhanden sind,
konfrontiert ist, noch ist es eine imaginäre Konstruktion, die von einem
erfahrenen Soziologen als unrealistisch betrachtet würde, noch ist sie eine
einfache Welt. Sie ist das, was wir als Akteur-Welt bezeichnen würden, eine
Welt, in der die EDF, die primär treibende Kraft, einen Teil bildet. Die EDF
legt eine Liste von Entitäten und eine Liste dessen vor, was sie tun, denken,
wollen und erfahren. Diese Entitäten sind nicht allein menschlich, da auch

2 1 Zum Begriff des Enrolment vgl. Callon/Law (1982).


DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 179

Elektronen, Katalysatoren, Elektrolyte und Bleiakkumulatoren eingeschlos­


sen sind. Sie agieren, reagieren aufeinander und heben einander in dersel­
ben Weise auf wie alle anderen. Sie können entweder Individuen oder
Kollektive sein. Akteur-Welten betrachten alle als gleichwertig und diskri­
minieren höchstens aus Versehen.
Die Akteur-Welt bestimmt nicht nur das Repertoire der Entitäten, die
sie einbindet, und die Geschichten, in denen diese teilnehmen. Sie be­
stimmt auch ihre relative Größe. Für die EDF-Akteur-Welt ist »Renault«
nicht länger eine mächtige Firma, die der größte europäische Autoherstel­
ler werden will. Tatsächlich wird sie diesen Status nie wieder erlangen. Sie
ist eher auf die Ebene einer bescheidenen Entität reduziert, die in der
VEL-Zusammenstellung eine Rolle spielt. Dasselbe gilt für die Statusgrup­
pen, die sozialen Bewegungen und ihren neuen Ansprüchen Platz machen.
Die Idee der Akteur-Welt ermöglicht es, den Inhalt technischer Objekte
und des theoretischen Wissens zu beschreiben. Das VEL ist eines der
Ergebnisse der Identifikation und Interpretation von Entitäten durch die
EDF-Akteur-Welt. Die Bestandteile des VEL sind die Elektronen, die mühe­
los zwischen den Elektroden hin- und herspringen; die Konsumenten, die
das Statussymbol des Motorautos aufgeben und die bereit sind, in den
öffentlichen Verkehr zu investieren; das Ministerium für Lebensqualität,
das Verordnungen über eine akzeptable Lärmbelastung erlässt; »Renault«,
die die Tatsache akzeptiert, dass sie zu einem Hersteller von Autokarosse­
rien wird; Bleiakkumulatoren, deren Leistung sich verbessert hat, und eine
post-industrielle Gesellschaft, die sich auf ihrem Weg befindet. Keiner
dieser Bestandteile kann in einer Hierarchie platziert oder entsprechend
seiner Natur unterschieden werden. Der Aktivist, der den öffentlichen
Verkehr favorisiert, ist genauso wichtig wie Bleiakkumulatoren, die einige
hundert Mal aufgeladen werden können.
Bei Abwesenheit eines Bestandteils würde das Gesamte zusammenbre­
chen. Wenn der Konsument entfernt würde, wäre das genauso ernst wie
ein Versagen bei der Sicherstellung der Haltbarkeit der Brennstoffzellen.
In beiden Fällen würde dies zum Stopp des Fahrzeugs führen. Die Existenz
des VEL ist, mit anderen Worten, mit der Konstruktion der Akteur-Welt
verbunden. Dieses besondere technische Objekt kann nicht verstanden
werden ohne Betrachtung der mit ihm verbundenen Akteur-Welt. Es
macht keinen Unterschied, ob der Katalysator kontaminiert, der Konsu­
ment mit einer schlechten Leistung unzufrieden ist, oder »Renault« sich
weigert, sich einzugliedern. Wenn etwas davon eintritt, hört das VEL auf zu
arbeiten und zu existieren. Entsprechend müssen technische Objekte als
ein Ergebnis der Gestaltung vieler miteinander verbundener und heteroge­
ner Elemente gesehen werden. Sie werden so haltbar wie diese Verbindun­
gen sein - nicht mehr und nicht weniger. Deshalb können wir technische
Objekte nicht beschreiben, ohne die Akteur-Welten zu beschreiben, die sie
in aller Diversität und in ihrem Umfang geformt haben. Das VEL ist genau
r8o I MICHEL GALLON

wie die Akteur-Welt, die es sowohl unterstützt als auch sie von ihm unter­
stützt wird. Diese Sichtweise ist durch und durch wissenschaftlich, poli­
tisch und ökonomisch, weil sie eine Kombination von Elementen ist, die
aus diesen verschiedenen Bereichen entliehen wurden, von denen der
Soziologe angibt, sie voneinander unterscheiden zu können.
Wenn wir einmal akzeptiert haben, dass das VEL aus dieser Palette von
heterogenen Elementen konstruiert wird, ist die nächste Frage, die wir
stellen müssen, die, wie wir diese Konstruktion beschreiben können. Wie
wir gerade gesehen haben, ist das dasselbe als zu fragen, wie unsere Ak­
teur-Welt aufgebaut ist; denn ohne die Akteur-Welt würde das technische
Objekt nicht existieren.

Übersetzung

Eine Akteur-Welt verbindet heterogene Entitäten. Sie definiert ihre Identi­


tät; die Rollen, die sie spielen sollten; die Natur der Bindungen, die sie
vereinigen; ihre respektive Größe und die Geschichte, an der sie Anteil
haben. Aber Akteur-Welten dürfen nicht als Einkäufer in einem gut sortier­
ten Supermarkt dargestellt werden, die auswählen, was sie von einer vorher
zusammengestellten Liste kaufen möchten. Wenn eine Akteur-Welt einmal
zu existieren begonnen hat, zieht sie ihre Entitäten nicht aus einem vorher
angelegten Vorrat. Sie ist nicht auf die Weise konstituiert, in der ein Ein­
kaufswagen gefüllt wird. Kurz: Es gibt keine Welt oder Welten, aus der
oder denen vorher existierende Elemente gezogen werden können, noch
gibt es eine Welt, die garantiert, dass die von der Akteur-Welt geschaffenen
Kombinationen realistisch sind. Akteure können eine Vielzahl von ver­
schiedenen und unvereinbaren Welten konstruieren.
Ist die Welt der EDF von 1973 so real und wahr wie jede rivalisierende
Konstruktion? Ist die Brennstoffzelle eine Fiktion? Sind die neuen Konsu­
menten, die bereit sind, Autos mit Verbrennungsmotoren aufzugeben,
einfach Phantome? Wurden die Interessen der CGE angemessen analy­
siert? Beinahe drei Jahre lang ist jeder unsicher. EDFs Antworten auf diese
Fragen werden unbestritten akzeptiert. Sogar »Renault« bleibt still, durch
die Möglichkeit einer Welt, deren Rückgängigmachung nicht in ihrer
Macht steht, in Panik versetzt: eine Welt, in der sie einen schwierigen
Wandlungsprozess durchmachen müssen. Ist das VEL realisierbar? Das
hängt von EDFs Fähigkeit ab, »Renault« in ihrer Rolle zu halten, die Kon­
tamination von Katalysatoren zu verhindern und den neuen Ansprüchen
der Konsumenten Dauerhaftigkeit zu verleihen. Aber wird »Renault« in
ihrer untergeordneten Rolle bleiben? Oder werden sie zurückschlagen?
Wie die Geschichte zeigt, kämpft »Renault« wirklich mit der EDF; sie ver­
suchen ihre eigene und sehr unterschiedliche Welt aufzubauen. Kurz: Wie
die EDF vor ihr, versucht sie das zu tun, was wir Übersetzung zu nennen
DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 181

vorschlagen (Callon 1975, 1980, 1985). Der Übersetzungsbegriff weist drei


Komponenten au(

Der Übersetzer-Sprecher

Die EDF übersetzt »Renault«, die EDF übersetzt Brennstoffzellen und die
EDF übersetzt Konsumenten. Alle diese Ausdrücke bezeichnen dieselbe
Sache. Die EDF weist »Renault« eine Identität, Interessen, eine zu spielen­
de Rolle, einen zu verfolgenden Handlungsverlauf und auszuführende
Projekte zu. Die EDF charakterisiert Brennstoffzellen, die Art, wie sie
arbeiten, ihre Leistung und ihre Anwendungsweise. Die Idee der Überset­
zung ist notwendig, weil dieses Enrolment (im strengen Sinn: eine Rolle
besetzen) weder vorgegeben noch eine äußere (wenn auch versteckte)
Realität ist, die eine raffinierte EDF zu verstehen und einzufangen ver­
sucht. »Renault« kann etwas vollkommen anderes sein. Es kann als Auto­
hersteller gesehen werden, dessen Zukunft von der Entwicklung des ben­
zinbetriebenen Fahrzeugs, von der Automation des Fließbands und der
Anwendung von Elektronik im Automobil abhängt. Aber einige Jahre lang
existiert diese Wahlmöglichkeit nicht. »Renault« wird eine Firma, deren
Interessen und Fähigkeiten mit der Konstruktion von Karosserien für das
VEL verbunden sind. Also übersetzt die EDF sowohl den Willen als auch
die Projekte der mächtigen Firma in Billancourt genauso, wie sie die Be­
dürfnisse, Erwartungen und Forderungen der Konsumenten und die Cha­
rakteristika und Leistungen von Akkumulatoren und Brennstoffzellen
übersetzt.
Der Übersetzer ist somit der Sprecher der Entitäten, die er konstituiert.
Die EDF spricht im Namen von »Renault«, der Konsumenten und der
Brennstoffzellen genauso wie ein Politiker oder eine politische Partei im
Namen der Wählerschaft oder der sozialen Klassen sprechen, die sie zu
repräsentieren suchen. Der Übersetzer drückt ihre Wünsche, ihre gehei­
men Gedanken, ihre Interessen, ihre Funktionsmechanismen aus. Dies ist
die allgemeinste Weise, dies auszudrücken, weil das, was für menschliche
Entitäten gilt, seien sie nun Kollektive oder Individuen, auch auf die ande­
ren Elemente zutrifft, die eine Akteur-Welt konstituieren. Die EDF spricht
auch für Akkumulatoren, für Zellen, für Elektronen und für Katalysatoren.
Indem sie die Charakteristika von Bleiakkumulatoren etabliert, das Verhal­
ten eines Elektrons an einem Katalysator beschreibt, indem sie demons­
triert, dass ein billigerer Katalysator Platin ersetzen könnte, durch die
Projektion der Zukunft von Brennstoffzellen usw. bestimmt die EDF die
Identität dieser Elemente und reguliert ihr Verhalten sowie ihre Entwick­
lung.
Zuerst ist Übersetzung ein Versuch. Später kann sie tatsächlich umge­
setzt werden. Genauso kann »Renault« die Übersetzung blockieren und
182 J MICHEL CALLON

ihre Zukunft anders definieren. Genau das geschah, wie oben angedeutet,
einige Jahre später: »Renault« gab eine Dokumentation voller Argumente
gegen die EDF und das VEL heraus. Alles wird darin in Frage gestellt:
EDFs Version der Interessen und Projekte der Autofirma, die Möglichkeit,
Hochleistungszellen zu konstruieren, die Erwartungen der Konsumenten
und die zweifelhafte Zukunft des Fahrzeugs mit Verbrennungsmotor. Die
Akteur-Welt der EDF beginnt - gleichzeitig mit dem VEL -, in Teile zu
zerfallen. Währenddessen hat »Renault« elektrochemische Fachkenntnisse
gesammelt, Kontakte mit der Administration hergestellt und Auswertun­
gen über die Reaktionen der Konsumenten erhalten. Sie sind folglich in
der Lage, sich aus ihrer Zuschauerposition zu befreien und stattdessen den
Gegenangriff zu starten. Das VEL existierte 1973, 1976 wurde es von allen
Seiten angegriffen - und existiert heute nur in der eingeschränkten Form
eines kommerziellen, mit Bleiakkumulatoren ausgestatteten Fahrzeugs.
Übersetzung wird zu Verrat, traduttore - traditore, wenn eine in eine Rolle
eingebundene Entität sich einmal weigert, in die Akteur-Welt einzutreten,
mit der Absicht, in andere zu expandieren. Da es nicht einfach ist, Entitä­
ten zu übersetzen, besteht die Bestimmung der meisten Sprecher darin,
dass man ihnen brutal widerspricht.
Die Übersetzung baut aus Entitäten Akteur-Welten. Sie fügt ihnen
Charakteristika hinzu und etabliert mehr oder weniger stabile Beziehun­
gen zwischen ihnen. Übersetzung ist eine Definition und Verteilung von
Rollen und die Darstellung eines Szenarios. Sie spricht für andere, jedoch
in ihrer eigenen Sprache. Sie ist eine Anfangsdefinition. Wie aber das
Beispiel von »Renault« zeigt, kann keine Übersetzung als selbstverständ­
lich angenommen werden, da sie nicht ohne Widerstand entsteht. Katalysa­
toren, »Renault«, Konsumenten und CGE sind nicht Entitäten mit gren­
zenloser Elastizität oder gutem Willen. Die EDF muss mit ihnen umgehen
und ihre Stärke mit der eigenen messen. In der Theorie lassen die Kataly­
satoren die Brennstoffzellen arbeiten. In der Praxis muss die EDF die Tat­
sache einkalkulieren, dass sie zu teuer sein oder kontaminiert werden
können (was die Wissenschaftler und Ökonomen des »Institut fram;:ais du
Petrole« der EDF fortwährend sagen). In der Theorie kann »Renault«
transformiert werden und das benzinbetriebene Fahrzeug fallen lassen,
um in die Akteur-Welt der EDF gezogen zu werden. In der Praxis erweist
sich diese Modifikation nur mit Schwierigkeiten als verhandelbar. Dasselbe
gilt für die Gemeinden, die Ministerien und die Konsumenten. Überset­
zung kann nicht immer als selbstverständlich angenommen werden, und
die verwendeten Strategien hängen von den bestimmten Umständen ab, in
denen sie sich entwickeln. Gewisse Gemeinden sind bereit, die für sie
vorgesehene Rolle zu akzeptieren, und gewisse elektrochemische Genera­
toren stehen bereits für das VEL zur Verfügung. »Renault« hinkt jedoch
hinterher, akkumuliert Ressourcen, fordert am Ende die EDF heraus.
Erfolgreiche Übersetzung hängt von der Fähigkeit der Akteur-Welt ab,
DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 183

Entitäten zu definieren und in Rollen einzubinden, die diese Definitionen


und Rollenzuweisungen möglicherweise anfechten werden.

Übersetzung:
Eine Geographie von obligatorischen Passagepunkten

Wenn der Erfolg von Übersetzungen niemals als selbstverständlich ange­


nommen werden kann, wieso wird er dann manchmal erzielt? Diese Frage
bringt uns zur zweiten Komponente von Übersetzung: zu den Strategien,
mit denen eine Akteur-Welt, in diesem Falle die EDF, sich selbst unver­
zichtbar macht. »Renault«, CGE, neue Konsumenten, Kraftstoffzellen und
Akkumulatoren - keiner von diesen hat außerhalb dieser Akteur-Welt eine
Zukunft. Also wird das Elektrofahrzeug zu einem Durchgangspunkt, den
alle Entitäten, die die Welt bilden, passieren müssen. Übersetzen bedeutet
dann, eine Entität dazu zu verpflichten, in einen Umweg einzuwilligen.
Dies geschieht durch die Auswahl aus einem Spektrum an Methoden,
die vom einfachen Handel über Verführung bis zu reiner Gewalt reichen.
Im Fall von Wissenschaft und Technik kann man die am meisten verwen­
dete Strategie »Problematisierung« nennen. Die EDF sagt zu ihren Kon­
sumenten: Wenn ihr eure Verschmutzungs- und Transportprobleme lösen
wollt, müssen wir zuerst ein elektrisches Fahrzeug erschaffen. Wenn wir
aber das Problem lösen wollen, wie man ein elektrisches Fahrzeug baut,
müssen wir zuerst das Problem der Kurzlebigkeit elektrochemischer Ener­
giequellen lösen, die zur Ausstattung der elektrischen Fahrzeuge gebraucht
werden. Forschungsinstitute können die Übersetzung weiter ausdehnen:
Um die Leistung elektrochemischer Energiequellen zu verbessern, muss
man zuerst unsere Laboratorien und Wissenschaftsteams durchlaufen, die
die Wasserstofikatalyse auf Platinoberflächen erforschen. Die Übersetzung
zeichnet also eine Geographie notwendiger Passagepunkte jener Elemente
auf, die weiter existieren und sich entwickeln wollen. Danach platziert sich
das Labor im obigen Beispiel an einem strategischen Punkt, durch den die
Akteur-Welt passieren muss. Käufer des VEL können ihre Zukunft, ihre
Werte und ihre Projekte als von der Weisheit eines Forschers abhängig
betrachten, dessen Augen auf die Daten fixiert sind, die von einer nuklea­
ren Magnet-Resonanz-Maschine (NMR) produziert werden. Das erklärt
teilweise die Quelle der Macht, die ein Labor in seiner Isolation hat: Es
kann ein obligatorischer Passagepunkt werden.

Übersetzung als Verlagerung

Während die Übersetzung bestimmt, wo die obligatorischen Passagepunk­


te platziert werden, erschöpft dies nicht die Handlung. Der Übersetzer-
184 1 MICHEL GALLON

Sprecher und der Übersetzer-Stratege, die gewisse Abläufe bestimmen,


schaffen Bewegung. Also ist die dritte Komponente der Übersetzung die
Verlagerung im wörtlichen Sinn. Eine Verbindung ist notwendig, um
Entitäten bestimmte Sprecher und bestimmte Passagepunkte akzeptieren
zu lassen. Ansonsten bliebe die Handlung aus der Feme, die in die Ein­
bindung von »Renault«, der CGE und der Brennstoffzellen in EDFs Projek­
te involviert ist, magisch.
Beginnen wir mit der Aufzählung einiger Verlagerungen: Entitäten
werden in Inskriptionen umgewandelt, in Berichte, Memoranden, Doku­
mente, Untersuchungsergebnisse, wissenschaftliche Artikel. Diese werden
ausgesandt und zurückerhalten. Sie veranlassen zur Handlung und Reak­
tion. Die EDF versucht, die Zirkulation von Inskriptionen sowie die Bewe­
gungen von Menschen zu orchestrieren. Sie organisiert Konferenzen,
Symposien, Seminare, auf denen verschiedene Parteien physisch versam­
melt sind. Es gibt auch Bewegungen von Materialien und Geld. Eine Über­
setzung kann nicht effektiv sein, d.h. zu stabilen Konstruktionen führen,
wenn sie nicht in solchen Bewegungen, in körperlichen und sozialen Ver­
lagerungen, verankert ist (Latour 1986; Law 1987).
Die EDF ist nicht nur ein Zentrum der Übersetzung, weil sie die Bewe­
gungen zu organisieren und zu strukturieren versucht, sondern auch, weil
sie tatsächlich ihre eigenen Kommunikations- und Versammlungszentren
wie Forschungszentren, Versammlungsräume und Konstruktionseinrich­
tungen sicherstellt, die die Verlagerungen fokussieren und kontrollieren.
Auf diese Weise dehnt sie die Zukunft ihrer Akteur-Welt durch Symposien,
Experimente, die Konstruktion von Prototypen, Testläufe und Investitionen
aus. Die Akteur-Welt akkumuliert Material, das ihr Dauerhaftigkeit ver­
leiht.
Um die Wichtigkeit von Dauerhaftigkeit einschätzen zu können, stellen
!
il Sie sich vor, die EDF sei erfolgreich gewesen und das VEL wäre schließlich
11
I' auf den Markt gekommen. Einmal gebaut und im Umlauf hätte es Produ­
zenten und Konsumenten, die Zentralregierung und die Gemeinden auf
die Rollen beschränkt, die für sie geschaffen worden waren. Der Konsu­
ment hätte dann in der Falle gesteckt - unabhängig von weiteren Hand­
lungen der EDF. Entweder hätte er sein Schicksal akzeptiert und sich selbst
hinter das Lenkrad eines Elektrofahrzeugs gesetzt - oder er hätte beschlie­
,1.
ßen können, zu Fuß zu gehen.
Zusammenfassend bedeutet Übersetzen, für andere zu sprechen, un­
verzichtbar zu sein und sie zu verlagern. Jede Übersetzung bewirkt die
Festigung von Akteur-Welten. Erfolgreiche Übersetzungen lassen uns
schnell ihre Geschichte vergessen. Wäre das VEL erfolgreich gewesen,
hätte die Akteur-Welt, die es hervorbrachte, viel länger überdauert als die
Strategien, Intrigen, Machtspiele und Testläufe, die angewendet wurden,
um es zu bauen. Alles, was übrig geblieben wäre, wären Produzenten,
Konsumenten, Angebot und Nachfrage sowie eine wachsame Regierung

l 1
DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 185

gewesen. Die Idee der Übersetzung bringt all die Arbeit und die zugesi­
cherte Einwilligung in Erinnerung, die vonnöten waren, um die scheinbar
natürliche Ordnung, in der sich jedes Element mit dem anderen verbindet,
zu erreichen.

Das Konzept des Akteur-Netzwerkes

In den vorherigen Abschnitten wurde die Heterogenität der Elemente, die


zusammen die Akteur-Welt bilden, betont, und wir haben die Mechanis­
men betrachtet, durch die diese eingebunden werden können. Dies hat
zum Verständnis beigetragen, wie sowohl einer Gesellschaft als auch
einem technischen Objekt, das sie bildet, gleichzeitig Form verliehen
werden kann. Eine Anzahl zusätzlicher Fragen muss jedoch betrachtet
werden. Besonders über die Struktur der Akteur-Welten und die genaue
Art ihrer Entwicklung ist wenig gesagt worden. Es ist klar, dass eine Ak­
teur-Welt mehr oder weniger groß, heterogen und komplex sein kann. Wie
sollen wir diesen Bereich von Möglichkeiten und die Übersetzungen, die
zwischen ihnen auftauchen, beschreiben? Um diese Fragen zu beantwor­
ten, führen wir den Begriff des Akteur-Netzwerks ein. Dieses Konzept
gestattet uns, die Dynamik und die innere Struktur von Akteur-Welten zu
beschreiben.
Das erste Element, das in der Organisation einer Akteur-Welt notwen­
dig ist, ist die Vereinfachung: Tatsächlich ist sie das zwangsläufige Resultat
der Übersetzung. In der Theorie ist die Realität unbegrenzt. In der Praxis
ist eine Akteur-Welt als Resultat der Übersetzung, die sie mit sich bringt,
auf eine Reihe verschiedener Entitäten beschränkt, deren Charakteristika
und Attribute definiert sind. Der Begriff der Vereinfachung wird verwen­
det, um die Reduktion einer unbegrenzt komplexen Welt mittels Überset­
zung zu erklären.3 Zum Beispiel bestehen Städte aus mehr als öffentli­
chen Verkehrsmitteln, dem Wunsch, Stadtzentren zu erhalten, und dem
Stadtrat, der ihre Sprecher stellt. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf
die Bevölkerung, die Geschichte und die geographische Lage voneinander.
Sie verbergen geheime Leben, deren anonyme Bestimmungen interagie­
ren. So weit es jedoch die EDF betrifft, können sie auf ein Transportsystem
reduziert werden, das vermeiden muss, das Verschmutzungsniveau zu
erhöhen, und auf einen Stadtrat, der versucht, dieses Ziel zu erreichen.
Die EDF muss nicht mehr wissen. Diese Definition bleibt realistisch,
solange die Vereinfachung, auf der sie basiert, aufrechterhalten bleibt. Mit

3 1 Es gibt hier eine Analogie zur wissenschaftlichen Theorie. Wie Hesse (1974)
so stringent argumentiert, bringt Beschreibung immer einen Informationsverlust
und Vereinfachung mit sich. Die Letztgenannte ist nicht notwendigerweise eine
machiavellische Taktik.
186 j MICHEL GALLON

anderen Worten bleiben solche Vereinfachungen erhalten, solange keine


anderen Entitäten erscheinen, die der Welt mehr Komplexität verleihen,
indem sie die durch diese Vereinfachungen repräsentierte Realität als
falsch zurückweisen; der Stadtrat ist nicht repräsentativ; die Lebensbedin­
gungen in verschiedenen Quartieren können nicht auf jene im Stadtzent­
rum reduziert werden, und das öffentliche Transportsystem ist nur ein
Aspekt einer größeren urbanen Struktur. Dasselbe gilt für Brennstoffzel­
len. Wenn die Katalysatoren und Elektrolyte, denen man vertraute, konta­
miniert oder destabilisiert werden, wird die Brennstoffzelle, von der wir
hofften, dass sie das VEL antreiben würde, entsetzlich komplex. Statt ein­
fach gehandhabt zu werden, werden Brennstoffzellen in einen Apparat
transformiert, dessen sich vervielfachende Elemente sich als unkontrollier­
bar erweisen. Eine »Black Box«, deren Funktion auf ein paar definierte
Parameter reduziert wurde, macht einem Schwarm neuer Akteure Platz:
Wissenschaftler und Ingenieure, die behaupten, den Schlüssel zum Funk­
tionieren der Brennstoffzelle zu kennen; Wasserstoffatome, die sich wei­
gern, von den billigeren Katalysatoren gefangen zu werden; Dritte-Welt­
Länder, die die Preise für Edelmetalle erhöhen usw.4

Die Anatomie der EDF-Akteur-Welt

Akteur-Welt •
EDF
• •
11 �
Brennstoffzellen
• • •

tt,
11 Komponenten Wissenschaftler
11
1
11,
:1,,

tl
Mechanismen
i',:i'

1,:
jl

li

II

4 1 Zum Begriff des Black-Boxing als Form der Vereinfachung vgl. Callon
(1981b) und Law (1984b).
1

: 1
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,[;
DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 187

Hinter jeder Entität verbirgt sich eine Reihe anderer Entitäten, die sie mehr
oder weniger effektiv zusammenhält. Wir können von ihnen wenig sehen
oder wissen, bevor sie demaskiert werden. Wasserstoff-Brennstoffzellen
und Zink-/Luft-Akkumulatoren sind zwei der Elemente, die die Akteur­
Welt der EDF bilden. Die Kontroversen, die sich jedoch in ihrem Namen
entwickelten, trennten sie schnell in eine Reihe anderer Elemente (ver­
gleichbar einer Uhr, die ein Uhrmacher auseinander nimmt, um herauszu­
finden, wo der Fehler steckt). Also ist Vereinfachung - ebenso wie Über­
setzung - niemals garantiert: Sie muss immer getestet werden. Die Kataly­
satoren geben nach und die Brennstoffzelle funktioniert nicht mehr und
verursacht damit den Sturz der EDF. Was die Katalysatoren betrifft, kön­
nen die Elektrolyte in eine Reihe von Bestandteilen zerlegt werden: die
Elektronen auf dem Platin und die abwandernden Ionen. Jedes dieser Ele­
mente wird nur dann enthüllt, wenn sie in eine Kontroverse verwickelt
werden: in anderen Worten in eine Kraftprobe, in der die Entität vermutet
wird. Was wir über die Brennstoffzellen, Katalysatoren und die Elektronen
sagen, trifft auch auf den Stadtrat und die Verwaltungen zu. In der Akteur­
Welt der EDF ist die Stadt auf den Stadtrat-der-das-Stadtzentrum-um-je­
den-Preis-erhalten-will reduziert. Um jedoch seine Integrität zu erhalten,
muss der Stadtrat die Elemente stabilisieren, die ihn zusammenhalten: die
Wählerschaft der Mittelschicht, die ihm vertraut; die Fußgängerzone, die
den Verkehrsfluss an den Rand des Stadtzentrums schiebt; die Ausbrei­
tung der Stadt und das öffentliche Transportsystem, das den Bewohnern
der Vororte gestattet zu kommen und im Stadtzentrum ihre Einkäufe zu
tätigen.
Eine Entität in einer Akteur-Welt (d.h. eine vereinfachte Entität) exis­
tiert nur im Kontext, d.h. in der Gegenüberstellung mit anderen Entitäten,
mit denen sie verbunden ist. Brennstoffzellen, »Renault« als Karosserie­
bauer für das VEL und Konsumenten, die das Auto nicht länger als Status­
symbol betrachten, sind alle miteinander verbunden. Wenn man eines der
Elemente entfernt, verschiebt sich die gesamte Struktur und verändert sich.
Die Akteur-Welt ist der Kontext, der jeder Entität ihre Bedeutung verleiht
und ihre Begrenzungen definiert. Sie erreicht das, indem sie die Entität mit
anderen, die innerhalb eines Netzwerkes existieren, verbindet. Es gibt also
einen doppelten Prozess: den der Vereinfachung und den der Gegenüber­
stellung. Die Vereinfachungen sind nur möglich, wenn die Elemente in ei­
nem Netzwerk von Beziehungen einander gegenübergestellt werden - was
im Gegenzug ihre Vereinfachung verlangt.
Diese Gegenüberstellungen definieren die Handlungsbedingungen der
Akteur-Welt. Tatsächlich zieht die Akteur-Welt aus diesen Gegenüberstel­
lungen ihre Kohärenz, ihre Konsistenz und die Struktur der Beziehungen,
die zwischen den die Akteur-Welt bildenden Komponenten existieren.
Wenn sie nicht in einem Netzwerk platziert werden, sind die Elemente
dem Untergang geweiht. Diese Beziehungen, die den Beitrag jedes Ele-
r88 1 MICHEL GALLON

ments ebenso wie die Solidität der Konstruktion als Ganzes definieren,
sind sehr unterschiedlich. Man muss die konventionelle soziologische Ana­
lyse, die versucht, eine einfache Lösung zur Limitierung von Beziehungen
auf einen begrenzten Bereich von soziologischen Kategorien durchzuset­
zen, fallenlassen. Natürlich mag es Austausch- (der Konsument tauscht
sein Geld gegen ein VEL), Subunternehmer- (die CGE arbeitet für die
EDF), Macht- (die EDF zwingt »Renault« in die Knie) oder Dominanzbe­
ziehungen geben. Oft jedoch fließen die Beziehungen zwischen Entitäten
gleichzeitig in alle diese Kategorien, während einige dem Vokabular der
Soziologie oder der Ökonomie komplett entgehen. Wie kann man die Be­
ziehungen zwischen Brennstoffzellen und dem Elektromotor in anderen
Begriffen als denen der elektrischen Ströme und elektromagnetischen
Kräfte beschreiben? Die Akteur-Welt wird nicht nur aus heterogenen Ele­
menten zusammengesetzt, sondern auch deren Beziehungen sind hetero­
gen. Was immer ihre Natur sein mag - was zählt, ist, dass sie einer Abfol­
ge von Ereignissen Vorhersagbarkeit und Stabilität verleihen. Wasserstoff
versorgt die Brennstoffzellen, die den Motor antreiben, der die Leistung
des VEL, für das die Konsumenten einen bestimmten Preis bezahlen wol­
len, sicherstellt. Jedes Element ist Teil einer Kette, die das korrekte Funk­
tionieren des Objekts garantiert. Das kann mit einer Black Box verglichen
werden, die ein Netzwerk von Black Boxes enthält, die sowohl im Hinblick
auf ihre korrekte Funktion als Individuen als auch für das korrekte Funk­
tionieren des Ganzen voneinander abhängen. Was wäre die Batterie ohne
Wasserstoff? Was würde aus dem Konsumenten ohne sein Elektrofahr­
zeug?
Daher sind die Operationen, die zu Veränderungen in der Zusammen­
setzung und Funktion der Akteur-Welt führen, extrem komplex. Das Aus­
maß, zu dem eine Entität für Modifikation empfänglich ist, ist eine Funk­
tion der Art, wie die fragliche Entität ein Netzwerk im Auftrag eines ande­
ren zusammenfasst und vereinfacht. Wenn wir eine graphische Repräsen­
tation eines Netzwerkes konstruieren wollen, indem wir Abfolgen von
Punkten und Linien verwenden, müssen wir jeden Punkt als ein Netzwerk
sehen, das wiederum eine Serie von Punkten ist, die von ihren eigenen Be­
ziehungen an Ort und Stelle gehalten werden. Die Netzwerke leihen ein­
ander ihre Kraft. Die Vereinfachungen, die die Akteur-Welt bilden, sind ein
effektives Mittel, weil jede Entität eine Kaskade anderer Entitäten versam­
melt oder rekrutiert. Brennstoffzellen mobilisieren Katalysatoren, Elektro­
nen und Ionen, die alle für die Brennstoffzelle arbeiten. Diese wiederum
arbeitet für das VEL und die EDF-Akteur-Welt. Durch diese aufeinander
folgenden Vereinfachungen (die niemals so offensichtlich sind wie bei ih­
rem Versagen) wurden Elektronen, Spezialisten bei »Renault«, die Mittel­
schicht-Wählerschaft und Forscher bei der CGE rekrutiert, übersetzt und
mobilisiert. Die EDF sieht und kennt nur Brennstoffzellen, Akkumulato­
ren, Sprecher des Stadtrats und die Behörden des öffentlichen Verkehrs.
DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 189

Aber jede dieser Entitäten bindet eine Menge stiller anderer ein, von denen
sie ihre Stärke und Glaubwürdigkeit zieht. Entitäten sind stark, weil jede
Entität andere versammelt. Die Stärke der EDF und die Dauerhaftigkeit des
VEL werden mittels dieser vereinfachten und mobilisierten Entitäten auf­
gebaut. Also ist ein Netzwerk nicht nur aufgrund der Dauerhaftigkeit der
Bindungen zwischen den Punkten haltbar (ob diese Punkte nun Interessen
oder elektrolytische Kräfte betreffen), sondern auch, weil jeder dieser Punk­
te ein dauerhaftes und vereinfachtes Netzwerk konstituiert. Dieses Phäno­
men erklärt die Bedingungen, die zur Transformation von Akteur-Welten
führen. Es ist nur möglich, die Leistung von Brennstoffzellen zu modifizie­
ren, um der neuen Nachfrage der Benutzer zu entsprechen, wenn die Kata­
lysatoren oder die Elektronenspinzustände modifiziert werden können, um
z.B. die Energie und Langlebigkeit der Brennstoffzelle zu erhöhen. Jede
Modifikation beeinflusst also nicht nur die Elemente der Akteur-Welt und
ihre Beziehungen, sondern auch die Netzwerke, die von jedem dieser Ele­
mente vereinfacht werden. Eine Akteur-Welt ist ein Netzwerk von verein­
fachten Entitäten, die wiederum andere Netzwerke sind.
Transformation hängt also vom Test des Widerstands der verschiede­
nen Elemente ab, die die Alcteur-Welt bilden. Ist es leichter, die Erwartun­
gen der Benutzer, die Ansprüche der Gemeinden, »Renaults« Interessen
oder die Langlebigkeit von Platin zu verändern? Dies ist eine praktische
Frage, die durch die kontinuierlichen Anpassungen, die auch verhandelte
Veränderungen sind, beantwortet wird. Das VEL anzupassen, indem man
diesen oder jenen Aspelct seiner Leistung verändert, heißt, auf seine Ak­
teur-Welt einzuwirken; der Erfolg hängt also von der Fähigkeit ab, be­
stimmte Widerstände auf ihre Grenzen hin zu testen: ob diese aus sozialen
Gruppen, Finanzflüssen oder zu verbessernden Elektroden stammen.
Eine Akteur-Welt wie die in diesem Kapitel beschriebene kann wiede­
rum vereinfacht werden. Die Solidität des Ganzen resultiert aus einer Ar­
chitektur, in der jeder Punkt am Schnittpunlct zweier Netzwerke liegt: ei­
nes, das durch sie vereinfacht wird, und ein anderes, das sie vereinfacht.
Sie kann in andere Akteur-Welten übersetzt werden. Z.B. kann das VEL
mit dem TGV (ein Hochgeschwindigkeitszug) oder dem Airbus verbunden
werden und damit einen Teil einer neuen französischen Transportstrategie
bilden. Obwohl auf einen Punlct vereinfacht und auf diese Weise verlagert,
ist sie noch immer aus verbundenen Entitäten zusammengesetzt. Während
diese Entitäten anfällig dafür sind, geformt oder umgebildet zu werden,
können sie ihrerseits die Akteur-Welt transformieren, von der sie ein Teil
sind. Sie verdient also, ein Akteur-Netzwerk genannt zu werden. Sie unter­
scheidet sich jedoch von einem einfachen Netzwerk, weil ihre Elemente
sowohl heterogen als auch im Verlauf ihrer Verbindung gegenseitig defi­
niert sind. Entitäten können verschwinden, um Netzwerken, die sie verein­
fachen, zu erlauben, sich auszudehnen und aufzutauchen. Diese Fähigkeit
zur Selbstdefinition und Selbsttransformation wird von der Tatsache un-
190 J MICHEL GALLON

terstrichen, dass die zwei Wörter »Akteur« und »Netzwerk« in einem ein­
zigen Begriff verbunden werden. Ein Akteur-Netzwerk unterscheidet sich
jedoch von einem einfachen Akteur durch seine Textur oder Struktur, die
ein übersetztes Arrangement von konstituierenden Elementen ist. Wenn
man alle entfernt, die das VEL übersetzt, wird es eine Entität ohne Stärke,
Gesellschaft oder Zukunft und kann nicht länger funktionieren. Der Ak­
teur ist eine Verbindung von heterogenen Elementen, von denen jedes sei­
ne eigenen Elemente assoziiert.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Begriffe Akteur-Welt und
Akteur-Netzwerk die Aufmerksamkeit auf zwei unterschiedliche Aspekte
desselben Phänomens lenken. Der Begriff Akteur-Welt betont die Art, in
der diese Welten, gebaut um die Entitäten, die sie erschufen, sowohl ver­
sammelt als auch in sich geschlossen sind. Der Begriff Akteur-Netzwerk
betont, dass sie eine Struktur haben und dass diese Struktur anfällig für
Veränderungen ist. Entsprechend werden die beiden synonym verwendet.

Anwendung der Methode

In der Einführung zu diesem Beitrag wurde gefragt, wie wir die »Koevolu­
tion« von Wissenschaft und Gesellschaft beschreiben könnten, um die Ef­
fektivität und den Einfluss der Ersteren zu erklären. Dieser Beitrag hat be­
stimmte Analyseinstrumente aufgezeigt, die Ansätze einer Antwort auf
diese Frage bieten.
Wir haben vorgeschlagen, dass der Begriff der Übersetzung es möglich
macht, die Mechanismen zu beschreiben, durch die Akteur-Welten kon­
struiert werden. Das enthüllt auch, dass Mechanismen nicht als selbstver­
ständlich angenommen werden können: Ob sie Brennstoffzellen, Katalysa­
toren, Konsumenten oder Industriebetriebe sind, übersetzte Entitäten kön­
nen theoretisch anderen Routen folgen oder in andere Projekte eingebracht
werden. Sie können in anderen Worten der Logik der Akteur-Welt, in wel­
che sie rekrutiert worden sind, entkommen.
Wie wir festgestellt haben, ist das Funktionieren der Akteur-Welten und
ihrer Übersetzungen nicht durch die üblichen Formen der Analyse be­
schreibbar. Es gibt tatsächlich zwei hauptsächliche Hindernisse, die dem
im Wege stehen: (a) Die Elemente von Natur und Gesellschaft sind auf he­
terogene Weise miteinander verbunden und können unmöglich voneinan­
der unterschieden werden (Law 1987); (b) die Wahl der Entitäten und die
Art, in der sie verbunden werden, kann normalerweise nicht vorhergesagt
werden, weil sie aus gerade ablaufenden Übersetzungsoperationen resul­
tieren. Kurz, das Repertoire übersetzter Entitäten erstreckt sich nicht nur
darüber hinaus, was in der Sozialwissenschaft allgemein akzeptiert wird,
sondern auch die Komposition dieses Repertoires gehorcht keinen definiti­
ven Regeln. Wie können die sozialen Elemente isoliert werden, wenn die
DIE SOZIOLOGIE EINES AKTEUR-NETZWERKES 1 191

Akteur-Welt einen Elektronenspin direkt mit der Konsumentenzufrieden­


heit verbindet? Wie kann irgendeine Interpretation von sozialer Interaktion
aufgestellt werden, wenn die Akteur-Welten konstant versuchen, die Identi­
täten und Größen der Akteure genauso wie ihre Beziehungen untereinan­
der zu transformieren? DieTatsache, dass Akteur-Welten stets neue Kom­
binationen von Entitäten schaffen, macht diese Aufgabe noch schwieriger.
Die Idee des Akteur-Netzwerkes wurde entwickelt, um diese Fragen be­
antworten zu können. Dieser Begriff macht es möglich, den einengenden
Rahmen der soziologischen Analyse mit ihren vorgefertigten sozialen Ka­
tegorien und ihrer rigidenTrennung zwischen Sozialem und Natürlichem
zu verlassen. Wir haben gezeigt, dass, indem man die Entitäten in eine Bal­
lung von heterogenen Beziehungen einbringt, eine Akteur-Welt sie in ei­
nem Netzwerk platziert. Jede Entität wird also auf ein paar Eigenschaften
reduziert, die mit den zwischen den Entitäten etablierten Beziehungen
kompatibel sind: »Renault«, eine-Gesellschaft-die-Autokarosserien-baut,
kann mit der CGE kooperieren, einer Firma-die-Motoren-und-Kupplungen­
produziert; Elektronen sind Elementarteilchen-die-elektrische-Ladungen­
von -einer-Elektrode-zu-einer-anderen-transportieren und dabei den-elektri-
schen-Strom-der-den-Motor-des-VEL-antreibt produzieren. Eine Entität,
Firma, technische Vorrichtung oder soziale Gruppe wird einer Black Box
zugewiesen - und die Akteur-Welt kann folglich als ein Bündel von Black
Boxes gesehen werden. Wir haben gesehen, dass diese Vereinfachungen
immer zurückgewiesen werden können: Eine soziale Gruppe, die einge­
bunden und auf ein paar Interessen und/oder Ansprüche reduziert wird,
kann sich selbst anders definieren; eine Brennstoffzelle, auf ein paar Ele­
mente zurechtgestutzt, deren Charakteristika bekannt sind, kann plötzlich
extrem komplex werden. Akteur-Welten werden von all den Elementen ge­
stützt, die innerhalb der übersetzten und eingegliederten Entitäten ge­
sammelt und vereinfacht wurden. Kraft dieser Tatsache erhalten sie ihre
Macht - und im Fall einer Desintegration sind sie entsprechend ge­
schwächt.

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Die Macht der Assoziation

BRUNO LATOUR

Zusammenfassung

Dieser Artikel beginnt mit einem Paradoxon: Wenn ein Akteur einfach nur
Macht hat, geschieht nichts und er/sie ist machtlos; wenn andererseits ein
Akteur Macht ausübt, führen andere die Handlungen aus. Es scheint, als
sei Macht nicht etwas, das man besitzen kann - tatsächlich muss man sie
eher als eine Konsequenz einer Handlung denn als deren Ursache betrach­
ten. Um dieses Paradoxon zu erforschen, wird im Folgenden ein Diffu­
sionsmodell von Macht, in dem sich ein erfolgreicher Befehl unter einem
ihm von einer zentralen Quelle gegebenen Impetus bewegt, mit einem
Übersetzungsmodell kontrastiert, in dem solch ein Befehl - sofern erfolg­
reich - aus den Handlungen einer Kette von Akteuren resultiert, von denen
sie jeder entsprechend seinen/ihren eigenen Projekten »übersetzt«. Da im
Übersetzungsmodell die Macht hier und jetzt zusammengesetzt wird,
indem viele Akteure in ein gegebenes politisches oder soziales Schema
eingebunden werden, und nicht etwas ist, das gelagert und durch eine
vorher existierende »Gesellschaft« an die Mächtigen weitergegeben werden
kann, folgt daraus, dass Debatten über die Ursprünge von Gesellschaft, die
Natur ihrer Komponenten und deren Beziehungen für die Soziologen zu
wesentlichen Daten werden. Es folgt ebenfalls, dass die Natur von Gesell­
schaft verhandelbar, eine praktische und revidierbare Sache (performativ)
ist und nicht etwas, das ein für alle Mal von einem Soziologen bestimmt
werden kann, der außerhalb zu stehen versucht (ostensiv). Der Soziologe
sollte entsprechend versuchen, die Art zu analysieren, in der die Personen
assoziiert sind und seine Aufmerksamkeit besonders auf die materiellen
und extrasomatischen Ressourcen (einschließlich Inskriptionen) richten,
die Möglichkeiten bieten, Personen durch Mittel aneinander zu binden, die
haltbarer sind als jede vorgegebene Interaktion. Im Übersetzungsmodell
bewegt sich die Erforschung von Gesellschaft aus diesem Grund weg vom
1! 11

1
11 196 1 BRUNO LATOUR

1, Studium des Sozialen (wie dies für gewöhnlich verstanden wird) - hin zu
einem Studium der Assoziationsmethoden.
1'.I
'I I
1,
Die Problematik von Macht kann in folgendem Paradoxon zusammenge­

'·1
fasst werden: Wenn man einfach nur Macht hat - in potentia -, geschieht
nichts und man ist machtlos; wenn man Macht ausübt - in actu -, führen
andere die Handlungen aus und nicht man selbst. Amin Gemayel in
!i seinem Palast hat beispielsweise offiziell Macht über den Libanon; da
111
jedoch nur wenige Personen handeln, wenn er etwas anordnet, ist er in der
Praxis machtlos. Macht ist nicht etwas, das man besitzen und horten kann;
entweder man hat sie in der Praxis und dann hat man sie selbst nicht,
sondern andere, oder man hat sie in der Theorie und überhaupt nicht.
Worin besteht der Unterschied zwischen Macht in potentia und Macht
in actu? In den Handlungen anderer. Macht über jemanden oder etwas zu
haben, ist eine von vielen gestaltete Komposition (ich werde das den »pri­
mären Mechanismus« nennen), die einem unter ihnen zugewiesen wird
(was im Folgenden mit »sekundärer Mechanismus« bezeichnet wird).'
Die Macht, die jemand ausübt, variiert nicht entsprechend der Macht, die
jemand hat, sondern ent�prechend der Anzahl anderer Personen, die in die
Komposition eintreten. Deshalb ist die Vorstellung von Macht umso weni­
ger nützlich, wenn Macht zu- oder abnimmt. Progressive »Gewinne« oder
»Verluste« gehören normalerweise nicht zum Konzept von Macht; die
Geschichte ist voll von Menschen, die - da sie den Sozialwissenschaftlern
glaubten und Macht für etwas hielten, das man besitzen und kapitalisieren
kann - Anordnungen gaben, denen niemand gehorchte.
Trotz dieses wesentlichen Paradoxons wird der Machtbegriff oft dort
verwendet, wo etwas geschieht. Man gehorcht einem Diktator - so sagt
man-, weil er Macht »hat«; ein Manager kann sein Hauptquartier verle­
gen, »weil er mächtig« ist; ein dominantes Affenweibchen kann die besten
Futterplätze beanspruchen, weil es einen hohen und machtvollen Rang
»innehat«. Diese Erklärungen sind genauso tautologisch wie die »dormitive
Eigenschaft des Schlafmohns«, die Molieres Ärzte schätzten. Die Aus­
übung von Macht ist genauso wenig Ursache von irgendetwas wie die
»dormitive Eigenschaft« die Ursache des tiefen Schlafes der Patienten
darstellt, die Opium geraucht haben. Im Gegenteil: Macht ist etwas, das
durch die Handlungen anderer, die dem Diktator, dem Manager oder dem
dominanten Weibchen gehorchen, erklärt werden muss. Wenn die Vorstel-

11 Die vollständigste Studie über dieses Problem ist die von Tolstoi in »Krieg
und Frieden« (1957). Der primäre Mechanismus ist der der halben Million Soldaten
in der großen Armee, wobei jeder von ihnen mehr oder weniger tut, was er will -
flüchten, töten, sterben. Der sekundäre Mechanismus gibt eine Lösung dessen, was
das Kollektiv in jedem Moment tut: Napoleon führt die große Armee und ist die
Ursache ihrer Bewegungen.
---
DIE MACHT DER ASSOZIATION J 197

lung von »Macht« als bequeme Erldänmg verwendet werden kann, die
Konsequenz kollektiven Handelns zusammenzufassen, kann sie nicht auch
noch erklären, was dieses kollektive Handeln an Ort und Stelle hält. Sie
kann als Wirkung verwendet werden, aber niemals als Ursache. Die Arbeit,
die von den Kartesianern geleistet wurde, als sie die »okkulten Qualitäten«
wie die der »dormitiven Eigenschaft« kritisierten, muss nun hinsichtlich
einer anderen »okkulten Qualität« geleistet werden (dabei hat der Begriff
der Macht denselben schwächenden Effekt auf die kritische Ausdauer
vieler Sozialwissenschaftler wie der Schlafmohn auf die Opium-Konsu­
menten).
Wenn es eine Möglichkeit gäbe, den Begriff der Macht loszuwerden,
wäre dieser Punkt offensichtlich. Aber er erweist sich als Notlösung als so
nützlich, um unsere Ignoranz zu verhüllen, Hierarchie, Gehorsam und
Hegemonie (weg) zu erklären, dass es auf den ersten Blick schwer einzu­
sehen ist, wie man ohne diesen formbaren und leeren Terminus auskom­
men soll. In diesem Artikel erkläre ich einige alternative Möglichkeiten, die
den Sozialwissenschaftlern erlauben, die Ausübung von Macht als einen
Effekt und nicht als eine Ursache zu behandeln.

Von der Diffusion zur Übersetzung

Was den Machtbegriff gleichzeitig so nützlich und so leer macht, ist ein
philosophisches Argument über die Natur kollektiven Handelns. Mit
diesem Argument sollten wir uns zuerst beschäftigen, wenn wir die
»mächtige Eigenschaft« der Macht beiseite legen wollen.
Es gibt zwei Möglichkeiten, um die Verbreitung einer Anordnung,
eines Anspruchs oder eines Artefakts in Zeit und Raum zu erklären. Die
erste besteht darin, die Anordnung, den Anspruch oder das Artefakt - was
wir hier ein Token nennen wollen - mit einer inneren Kraft auszustatten,
die der Trägheit in der Physik ähnelt. Dem Gesetz der Trägheit entspre­
chend wird der Token sich in derselben Richtung bewegen, solange er
nicht auf ein Hindernis trifft. In einem solchen Modell - das wir hier das
Diffusionsmodell nennen wollen - muss die Verschiebung eines Tokens
durch Zeit und Raum nicht erklärt werden. Was erklärt werden muss, ist
die Verlangsamung bzw. Beschleunigung eines Tokens, die aus der Hand­
lung oder Reaktion anderer Personen resultiert. Wissenschaftlicher Fort­
schritt kann z.B. innerhalb des Diffusionsmodells leicht verstanden wer­
den. Nicht die Verbreitung exakter Fakten über die Natur muss erklärt
werden, sondern lediglich ihre Verlangsamung oder Beeinträchtigung, die
durch rückwärts gerichtetes Denken oder solche Länder und Kulturen
verursacht wird. Technischer Fortschritt wird beispielsweise meistens
(obwohl nicht immer) vom Standpunkt des Diffusionsmodells interpretiert:
Dampfmaschinen, Elektrizität oder Computer sind solchermaßen mit

--
198 1 BRUNO LATOUR

Trägheit ausgestattet, dass sie außer durch die reaktionärsten Interessen­


gruppen und Nationen kaum noch gestoppt werden können; ihre Träg­
heitskraft muss nicht erklärt werden, sondern vielmehr die Fähigkeit eini­
ger Gruppen, sie zu verlangsamen (jene, die sich dem Fortschritt gegen­
über »geschlossen« verhalten) oder zu beschleunigen (jene, die »offen« für
Fortschritt sind). Andere Beispiele zeigen, dass Moden, Ideen, Geräte,
Güter und Lebensstile ebenfalls über genügend Trägheit verfügen, um sich
durch die Gesellschaft zu verbreiten, die als Medium mit verschiedenen
Graden von Widerstandskraft betrachtet wird.
Das Modell der Diffusion definiert folglich drei wichtige Elemente in
der Ausbreitung eines Tokens durch Zeit und Raum: die Initialkraft, die
die Bewegungen auslöst und seine einzige Energie bildet, die Trägheit, die
diese Energie konserviert, und das Medium, durch das der Token zirku­
liert. Wenn die Vorstellung von Macht als Ursache zur Erklärung kollekti­
ven Handelns verwendet wird, wird sie in Begriffen des Diffusionsmodells
betrachtet: Was zählt, ist die Initialkraft jener, die Macht haben. Diese Kraft
wird dann in ihrer Gänze übertragen; schließlich kann das Medium, durch
das Macht ausgeübt wird, diese Macht aufgrund von Reibungen und Wi­
derständen (Mangel an Kommunikation, schlechten Willen, Opposition
von Interessengruppen, Gleichgültigkeit) vermindern. Wenn wir in solch
einem Modell sehen, dass eine von einem Manager befohlene Anordnung
von 200 Leuten ausgeführt worden ist, schließen wir, dass die Kraft, die
die letztere bewegt hat, in die Hände des Managers gelegt werden sollte.
Sicherlich ist die Anordnung, so wie sie ausgeführt worden ist, nicht mehr
genau dieselbe, die befohlen wurde; aber solche Verzerrungen können
Reibungen und Widerständen, die das Fortschreiten der ursprünglichen
Kraft abgelenkt und verlangsamt haben, zugeschrieben werden. Der Vorteil
eines solchen Modells besteht darin, dass alles entweder dadurch erklärt
werden kann, dass man über die Initialkraft spricht, oder auf das Wider­
stand leistende Medium verweist. Wenn eine Anordnung getreu ausge­
führt wird, sagt man einfach, dass die Herren eine Menge Macht hatten;
wird sie nicht ausgeführt, sagt man lediglich, dass die Macht der Herren
auf große Widerstände getroffen ist. Folglich besaß Stalin eine große
Schlagkraft, während Amin Gemayel viele Feinde hat.
Dieses Diffusionsmodell kann mit einem anderen kontrastiert werden:
dem Modell der Übersetzung. Diesem zufolge liegt die Verbreitung aller
Elemente in Zeit und Raum (Ansprüche, Anordnungen, Artefakte, Güter)
in den Händen von Personen; jede dieser Personen kann auf viele ver­
jll schiedene Arten handeln, den Token fallenlassen, ihn modifizieren, ablen­
ken oder betrügen, ihm etwas hinzufügen oder ihn sich aneignen. Die
.
;1,1 getreue Übermittlung einer Anordnung z.B. durch eine große Anzahl an
I'
.
Personen ist in solch einem Modell rar - und falls sie auftritt, erfordert sie

)i
:11
eine Erklärung. Anders ausgedrückt gibt es keine Trägheit, um die Verbrei-

:,

lii
,

ili
,
,1
DIE MACHT DER ASSOZIATION 1 199

tung eines Tokens zu bedingen. Wenn niemand da ist, der die Aussage
oder den Token aufnimmt, hört er einfach au[
Noch wichtiger ist, dass die Verlagerung nicht von einem initialen Im­
petus verursacht wird, da der Token keinen wie auch immer gearteten
Impetus hat; vielmehr ist sie die Konsequenz einer Energie, die dem Token
von jedem Element der Kette verliehen worden ist, das etwas mit ihm
macht, wie etwa im Fall von Rugbyspielern und einem Ball. Die Initialkraft
des Ersten in der Kette ist nicht wichtiger als die der zweiten, der 40. oder
der 400. Person; folglich ist klar, dass die Energie weder angehäuft, noch
kapitalisiert werden kann. Wenn man möchte, dass sich der Token weiter­
bewegt, muss man fortlaufend frische Energiequellen finden; man kann
sich niemals auf dem zuvor Gemachten ausruhen, so wenig wie sich Rug­
byspieler das ganze Spiel lang ausruhen können, nachdem der erste Spieler
dem Ball den ersten Stoß versetzt hat.
Der dritte Aspekt des Übersetzungsmodells ist der wichtigste. Jede der
Personen in der Kette setzt nicht einfach einer Kraft Widerstand entgegen
oder übermittelt sie auf die Art, wie es im Diffusionsmodell geschehen
würde; stattdessen tut sie etwas Wichtiges für die Existenz und Aufrechter­
haltung des Tokens. In anderen Worten besteht die Kette aus Akteuren
(nicht passiven Vermittlern), und da der Token sich der Reihe nach in der
Hand jedes Einzelnen befindet, formt ihn jeder entsprechend der verschie­
denen Projekte. Aus diesem Grund heißt es Übersetzungsmodell: Der
Token verändert sich, während er von Hand zu Hand geht, und die getreue
Übertragung einer Aussage wird zu einem ungewöhnlichen Einzelfall
unter viel wahrscheinlicheren anderen.
In den beiden Modellen sind die zu beachtenden Elemente vollkom­
men verschieden: Im Übersetzungsansatz zählt die Initialkraft nicht mehr
als eine andere; Kraft wird niemals in ihrer Gänze übertragen. Und gleich­
gültig, was vorher geschehen ist, kann sie abhängig von der nächsten Per­
son in der Kette jederzeit aufhören; statt eines passiven Mediums, durch
das die Kraft ausgeübt wird, gibt es aktive Mitglieder, die den Token for­
men und verändern, während er bewegt wird. Statt der Übertragung dessel­
ben Tokens (einfach abgelenkt oder durch Reibung verlangsamt) erhält
man im zweiten Modell die kontinuierliche Transformation des Tokens.
Wenn er als Resultat ungewöhnlicher Umstände derselbe bleibt, erfordert
das eine Erklärung.
Die Vorstellung von Macht sähe sicher vollständig anders aus, wenn sie
in Begriffen des Übersetzungsmodelles betrachtet würde. Das Befolgen
einer von jemandem erteilten Anordnung würde die Gruppierung aller
Personen erfordern, die sie betrifft und die ihr alle getreu zustimmen,
ohne etwas hinzuzufügen oder abzuziehen. Eine solche Situation ist höchst
unwahrscheinlich. Die Chancen stehen dafür, dass die Anordnung von
vielen verschiedenen Personen modifiziert und zusammengesetzt wurde,
200 j BRUNO LATOUR

die sie langsam in etwas vollkommen anderes verwandelten, indem sie ihre
eigenen Ziele zu erreichen suchten. Wie können wir dessen so sicher sein?
Ganz einfach: Wäre dies nicht der Fall, wäre der Anordnung zuerst einmal
nicht »gehorcht« worden - die Person, die die Anordnung gegeben hatte,
würde als machtlos betrachtet werden. »Macht« umfasst immer die Illusi­
on, die Personen bekommen, wenn man ihnen gehorcht. Wenn man in
Begriffen des Diffusionsmodells denkt, stellt man sich vor, dass andere
sich aufgrund der Schlagkraft des Mächtigen entsprechend benehmen,
ohne jemals die vielen verschiedenen Gründe, die andere dafür haben,
etwas anderem zu gehorchen oder etwas anderes zu tun, in Betracht zu
ziehen. Menschen, denen »gehorcht« wird, entdecken, woraus ihre Macht
tatsächlich besteht, wenn sie sie zu verlieren beginnen. Sie erkennen (je­
doch zu spät), dass sie aus dem Willen all der anderen »gemacht ist«.
Ein Wechsel vom Diffusions- zum Übersetzungsmodell ist folglich der
erste Schritt, der es Sozialwissenschaftlern erlaubt, Macht als eine Konse­
quenz und nicht als eine Ursache kollektiven Handelns zu betrachten.

Von einem vergangenen zu einem gegenwärtigen


Ursprung der Gesellschaft

Wenn wir die »okkulte Qualität der Macht« in etwas transformieren wol­
len, das der Sozialwissenschaftler erforschen kann, müssen wir uns des
Übersetzungsmodells bedienen. Das ist jedoch nicht leicht, weil wir sozu­
sagen gezwungen sind, die Chronologie der Ursprünge der Gesellschaft zu
modifizieren.
Seit Durkheim haben Sozialwissenschaftler die politische Philosophie
als Vorgeschichte ihrer Wissenschaft betrachtet. Erst nachdem die Soziolo­
gie damit aufgehört hatte, über die Ursprünge von Gesellschaft zu streiten
und stattdessen mit der Idee einer allumfassenden Gesellschaft begonnen
hatte, die dazu verwendet werden konnte, verschiedene interessante Phä­
nomene zu erklären, war sie zu einer positiven Wissenschaft geworden.
Die Frage nach ihrem Ursprung wurde zu einem dieser obsoleten Proble­
me, die man besser den Philosophen überlässt. In einem solchen Rahmen
betrachtet, wird die Vorstellung von Macht nützlich für Soziologen. Es gibt
immer genug bereits akkumulierte Energie, um z.B. die Verbreitung der
Multinationalen, Pinochets Diktatur, die männliche Dominanz in schwar­
zen Ghettos, die Arbeitsteilung in Fabriken usw. zu erklären. Man beginnt
mit so vielen Ungleichheiten, dass ihre Ursprünge irrelevant werden. Folg­
lich erscheint es unproblematisch, wenn man sagt, Reagan, Napoleon, die
Stadt London oder der Kapitalismus »hätten Macht« - so lange unproble­
matisch zumindest, wie man aus einem großen, von einer ewig präsenten
und umfassenden Gesellschaft bereit gestellten Energiereservoir schöpfen
kann.
DIE MACHT DER ASSOZIATION 1 20I

Wenn man das Übersetzungsmodell anwendet, trocknet dieses Reser­


voir sofort aus. Man hat keine gespeicherte Energie mehr, um zu erklären,
warum einem Präsidenten gehorcht wird und ein Multinationaler wächst,
da diese Effekte eine Konsequenz des Handelns von vielen darstellen. Man
ist folglich mit Massen konfrontiert, die sich fragen, wie sie als einer han­
deln können. Dieses Problem ist typisch für die Art von Fragen, die von
politischen Philosophen seit der Zeit Aristoteles' aufgeworfen wurden. Es
gibt die Macht noch nicht wie in den Sozialwissenschaften. Sie wird zuerst
zusammengesetzt wie beispielsweise in Hobbes' oder Rousseaus Vertrags­
theorien. Diese Position wirft für Soziologen Probleme auf, da sie bedeutet,
sich rückwärts zu bewegen und die Frage nach den Ursprüngen der Ge­
sellschaft neu zu eröffnen, von der man gedacht hatte, sie ein für alle mal
ausgetrieben zu haben, als man zu respektablen Wissenschaftlern gewor­
den war. Es könnte bedeuten, in die Prähistorie zurückzufallen.
Glücklicherweise ist der Sog nicht so groß. Wenn wir das Überset­
zungsmodell anwenden, verstehen wir, dass die Ursprünge der Gesell­
schaft auch heute noch bei uns liegen und dass die Debatten darüber, wie
alles begann, unser Verhaltenetzt und hier formen. Wenn wir solche Hypo­
thesen aufstellen, hören alle Debatten darüber, was Gesellschaft zusam­
menhält, auf, end- und ergebnislos zu sein; stattdessen werden sie selbst
zu einem der Wege, Gesellschaft zusammenzuhalten und genug Personen
in Rollen einzubinden, um Macht zu konstituieren. An anderer Stelle habe
ich argumentiert, dass Debatten über die Ursprünge von Gesellschaft nicht
willkürlich auftreten, sondern sich um eine kleine Anzahl von Elementen
drehen: 2

a) die Einheiten, in deren Begriffen jede Person die Gesellschaft definiert


(Familie, Gene, Klassen, Verwandtschaft, Individuen, Städte);
b) die Qualitäten, mit denen diese Einheiten ausgestattet sind (Weitblick,
. soziale Kompetenz, Gier, blinde Gewalt, Selbstsucht);
c) die Form, die die Beziehungen zwischen Einheiten annehmen (Aus­
tausch, Kalkulation, Parasitismus, Ausbeutung, Asymmetrie) und -
wenn das angebracht ist -
d) die Währung, in der die Beziehungen kalkuliert werden (Geld, Zahl der
Nachkommen, Energie, Lust und Schmerz, Macht) sowie
e) die Zeitverzögerung, mit der diese Kalkulationen stattfinden (ein Tag, ein
Jahr, eine Generation, eine Million Jahre) und
f) der Grad an Reziprozität, der als akzeptabel angesehen wird (Eins-zu­
Eins-Tausch, Potlach, persönliche Balance, Markt oder verallgemeiner­
ter Austausch).

2 1 Vgl. Latour/Strum 1985. Zu den in diesem Artikel untersuchten Ursprungs­


geschichten gehören die von Sigmund Freud, Richard Dawkin, Rene Girard, Tho­
mas Hobbes, Richard Leakey, Karl Marx und Jean-Jacques Rousseau.
202 1 BRUNO LATOUR

Wenn diese Fragen betrachtet werden, tritt eine neue Ordnung aus den
kontinuierlichen Debatten darüber, was uns alle zusammenhält, hervor.
Die erhaltene Ordnung stellt eine Funktion der aus dem oben angegebe­
nen »Fragebogen« gewählten Optionen dar; die daraus resultierende Zu­
sammensetzung der Gesellschaft unterscheidet sich radikal. Jede Modi­
fikation jeder der Antworten, gleich wie klein oder wissenschaftlich sie sein
mag, kann enorme Konsequenzen haben. Die Soziobiologie ist ein gutes
Beispiel: Eine Verschiebung von der Gruppen- zur Verwandtschaftsselek­
tion führt z.B. dazu, dass sich Kosten und Nutzen aller Akteure in der
Gesellschaft ändem.3 Ein anderes Beispiel: Wenn man die Arbeitsteilung
zwischen Männern und Frauen vor (oder auch in) ein paar 1000 Jahren
verfolgen will, ist damit ein vollkommener Wechsel dessen, was Frauen
heute können und was nicht, verbunden.4 Etabliert man die Motivation
sozialer Akteure auf der Basis von Natur- statt von göttlichen Gesetzen,
verändern sich die Zeichen der Legitimation aller Kräfte in der Gesell­
schaft. 5
Die Ursprünge der Gesellschaft liegen nicht länger hinter uns und die
Aufgabe besteht nicht in der Entdeckung der »wirklichen« Einheiten und
der »wirklichen« Qualitäten, der »wirklichen« Währung und der »wirkli­
chen« Zeitverzögerungen, die die Gesellschaft bilden. Die vor uns liegende
Aufgabe ist eher, die Schreie und die Wut der Gesamtheit aller Gruppen,
die mit der Genealogie ihrer Positionen unzufrieden sind, zu verwenden,
denn jede der heftigen Debatten - ob sie in der politischen oder der wis­
senschaftlichen Arena geführt werden - entscheidet jetzt, direkt vor unse­
ren Augen über die Zusammensetzung der Gesellschaft. Es ist z.B. klar,
dass, wenn die Einheiten zwei Klassen darstellen, die sich in einem kons­
tanten Kampf darum befinden, wessen Form definiert wird und im Hin­
blick auf die Verwendung des Arbeitswertes zählt, die Gesellschaft sich in
eine bestimmte Richtung bewegt: Einige Mitglieder werden von anderen
als parasitäre Ausbeuter definiert, die über große Macht verfügen.6 Wenn

3 1 Dies ist die Hauptrevolution, die von der Soziobiologie in die Kalkulation
aller sozialen Bindungen eingeführt wurde. Um sich eine Vorstellung von dieser
Verschiebung zu verschaffen, vergleiche man Wilsons Buch über Insekten (1971),
das die politische Philosophie traditioneller Gruppenselektion verwendet, mit sei­
nem Buch »Soziobiologie« (1975), das Verwandtschaftsselektion verwendet.
4 1 Vgl. z.B. Hardy (1981). Die Idee der Genealogie ist sinnvoll, um alle diese
Debatten aufzuzeichnen; jede neue Position über die Vergangenheit modifiziert die
Genealogie (und damit die Rechte und Pflichten) jeder Gruppe in der gegenwärtigen
Gesellschaft.
5 1 Dies ist z.B. der Wechsel, den Hobbes in seinem »Leviathan« (1981) vor­
nimmt.
6 1 Niemals wird ausreichend betont, dass der Marxismus im Effekt ein Kalkula­
tionsmodus ist, um alle Vorkommen von Austausch, die in der Gesellschaft prakti-
DIE MACHT DER ASSOZIATION 1 203

- in einem anderen Beispiel - die Einheiten Verwandtschaftsclans sind,


deren Qualität in guter Selbstkontrolle, die Form ihrer Beziehungen in
Gehorsam und die Währungen in Ehre und Schande bestehen, wird eine
andere Gesellschaft definiert.7 Eine dritte wird konstruiert, wenn es sich
bei den Einheiten um Gene handelt, die keinen Halt machen, wenn es um
die Verbreitung von Repliken ihrer selbst geht und die die Kalkulation
bezüglich der Anzahl ihrer Nachkommenschaft in einer Tausend-Jahre­
Zeitskala machen. Im letzten Fall wird eine vollständig andere Liste von
Gewinnern und Verlierern, Ausbeutern und Ausgebeuteten, Mächtigen
und Machtlosen, Selbstsüchtigen und Selbstlosen hervorgebracht.
Entweder ist Macht etwas, das durch die vorherige Existenz der Gesell­
schaft bereitgestellt wird, oder etwas, das durch die Rolleneinbindung
möglichst vieler Akteure erreicht werden muss. Wenn das Erstgenannte
der Fall ist, bedürfen weder Macht noch Gesellschaft einer Erklärung;
vielmehr ermöglichen sie die Erklärung für das Verhalten alles anderen. Ist
das Letztgenannte der Fall, werden weder Macht noch Gesellschaft als
Erklärungen verwendet. Diese ergeben sich aus den Modifikationen, die an
der sich entwickelnden Definition dessen, worum es bei der Gesellschaft
geht, vorgenommen werden. Die Machtquellen liegen in den Händen
derer, die die Antworten des oben angeführten Fragebogens verschieben
können. Wenn das akzeptiert wird, wird die Vorstellung von Macht zu
einer Konsequenz und das Übersetzungsmodell kann problemlos ange­
wendet werden.

Von einer ostensiven zu einer performativen Definition


der sozialen Bindung

Bis jetzt habe ich argumentiert, dass man, wenn man vernünftig über
Macht sprechen will, diese Vorstellung auf den Kopf stellen und sie als eine
Konsequenz statt einer Ursache kollektiven Handelns betrachten sollte.8

ziert werden, zu erfassen. Wenn der Arbeitswert als Standard verwendet wird,
erscheint derselbe Kapitalist, der unter dem Standard des Tauschwertes den ihm
zustehenden Preis für alles zu zahlen bereit war, als Ausbeuter. Die Entrüstung der
Ausgebeuteten bleibt solange erhalten, wie das Abrechnungssystem durchgesetzt
wird. Wenn jeder Austausch in einer Gesellschaft nun in Kilokalorien vergolten
wird, ergibt sich eine ziemlich andere Auflistung der Ausgebeuteten und der Parasi­
ten.
7 1 Es darf an diesem Punkt nicht zwischen so genannten traditionellen und so
genannten modernen Gesellschaften unterschieden werden. Potlach beispielsweise
wird einfach erhalten, indem man unterschiedliche Antworten auf denselben Frage·
bogen gibt (Mauss 1923, 1967).
8 1 Dies ist wieder, was Tolstoi in seinem Buch macht: Napoleons Bewegungen,
204 1 BRUNO LATOUR

Um das zu tun, war ich jedoch gezwungen, einen Wechsel von einem
Diffusions- zu einem Übersetzungsmodell vorzuschlagen. Wir wurden
dadurch mit einem Problem konfrontiert: Um diesen Wechsel zu ermögli­
chen, mussten wir die Chronologie der Gesellschaft verändern; ihre Ur­
sprünge befanden sich nicht in der entfernten Vergangenheit; stattdessen
waren sie gegenwärtig und standen in wissenschaftlichen oder politischen
Debatten konstant zur Hinterfragung offen. Diese Position eröffnet wiede­
rum ein anderes Problem: Wenn Gesellschaft erst vor unseren Augen
gemacht wird, kann sie unser Verhalten nicht erklären, sondern wird eher
durch unser kollektives Verhalten geformt. Sie ist genauso wenig Ursache
des letzteren wie die Macht selbst. Bedeutet das, dass wir die Existenz einer
umfassenden Gesellschaft verneinen müssen, um mit der Vorstellung von
Macht abschließen zu können? Nicht ganz. Wir müssen jedoch von einer
ostensiven zu einer performativen Definition von Gesellschaft wechseln.
Auf diese Art verstehen wir, wieso jede Definition von Gesellschaft, jede
Debatte darüber, woraus sie besteht, jede neue Wissenschaft, die darauf
abzielt, ihre Funktion zu entdecken, und jede neue Genealogie der
menschlichen Vergangenheit einen solch enormen Einfluss auf uns alle
hat. Kritik an der Vorstellung von Macht bringt auch eine Kritik an der
meistgeliebten Vorstellung- jener von der Gesellschaft - mit sich. Um
diesen Punkt zu verdeutlichen, lassen Sie mich hier die Grundprinzipien
der ostensiven und performativen Definitionen aufführen:

Ostensive Definition

1. Im Prinzip ist es möglich, Eigenschaften, die für das Leben in der Ge­
sellschaft typisch sind und die die soziale Bindung und ihre Evolution
erklären könnten, zu entdecken, obwohl sie in der Praxis schwer zu
finden sind.
2. Soziale Akteure gleich welcher Größe befinden sich in der oben defi­
nierten Gesellschaft; auch wenn sie aktiv sind- worauf ihre Bezeich­
nung hinweist-, ist ihre Aktivität beschränkt, da sie nur Teile einer
größeren Gesellschaft darstellen.
3. Die Akteure innerhalb der Gesellschaft sind nützliche Informanten für
diejenigen, die Prinzipien suchen, die die Gesellschaft zusammenhal­
ten (vgl. 1). Da Akteure jedoch nur Teile der Gesellschaft sind (vgl. 2),
sind sie auch nur Informanten; man sollte sich nicht zu sehr auf sie
verlassen, da sie niemals das gesamte Bild sehen.
4. Mit der adäquaten Methodologie können Sozialwissenschaftler die
Meinungen, den Glauben, die Illusionen und das Verhalten der Akteure

sein Genie, seine Kompetenz, seine Ineffizienz - nichts von alledem erklärt, was
mit der großen Armee geschah. Für einen historischen und philosophischen Kom­
mentar vgl. Latour (1984).
DIE MACHT DER ÄSSDZIATION J 205

herausfinden, um die für ein Leben in der Gesellschaft typischen Ei­


genschaften zu entdecken (vgl. 1) und das ganze Bild zusammenzuset­
zen.

Innerhalb eines solchen Rahmens stellen alle Kontroversen, einschließlich


jener über die Ursprünge von Gesellschaft, lediglich praktische Schwierigkei­
ten dar, die durch mehr Daten, bessere Methodologie und eine bessere
Isolierung der Bemühungen der Sozialwissenschaftler gegen Ideologien
und Unprofessionalität ausgeräumt werden können. Unsicherheiten und
Kontroversen darüber, was die Gesellschaft ist, stellen nur augenblickliche
Probleme dar, die ein Bild der Gesellschaft, das der Gegenstand einer
ostensiven Definition sein kann, verbergen.

Performative Definition

1. Es ist im Prinzip unmöglich, die Liste der Eigenschaften, die für das
Leben in der Gesellschaft typisch sind, zu definieren, obwohl es in der
Praxis möglich ist.
2. Akteure gleich welcher Größe definieren in der Praxis, was Gesellschaft
ist, woraus sie besteht, was das Ganze und was die Teile sind - sowohl
für sich selbst als auch für andere.
3. Es ist keine Annahme nötig, ob irgendein Akteur mehr weiß als ein
anderer. Das »ganze Bild« steht in den praktischen, von den Akteuren
gemachten Definitionen auf dem Spiel.
4. Sozialwissenschaftler bringen die gleichen Fragen auf wie alle anderen
Akteure (vgl. 2) und finden verschiedene praktische Arten, ihre Defini­
tion dessen, worum es in der Gesellschaft geht, geltend zu machen.

In diesem Rahmen können Kontroversen darüber, worum es in der Gesell­


schaft geht, nicht eliminiert werden, um den Wissenschaftler das ganze
Bild entfalten zu lassen. Unabhängig von ihrem Umfang und ihrer Intensi­
tät sind Kontroversen wesentliche Bestandteile der Definition der sozialen
Bindung. Die Frage: »Was verbindet uns?« kann nicht prinzipiell beant­
wortet werden, sondern nur in der Praxis; jedes Mal, wenn jemand diese
Frage stellt, wird eine neue Assoziation hergestellt, die uns tatsächlich
verbindet. Die Gesellschaft ist nicht der Referent einer ostensiven Defini­
tion, die von Sozialwissenschaften trotz der Ignoranz ihrer Informanten
entdeckt wurde; sie wird eher durch die Definitionsbemühung jedes Ein­
zelnen performativ ausgeführt. 9 Diejenigen, die mächtig sind, sind nicht

9 1 Der Wechsel ist analog zu dem in der Physik vom Prärelativismus (in dem
es notwendig ist, einen Referenten zu haben, um gute Messungen vorzunehmen)
zum Relativismus, in dem es nicht notwendig ist, einen Referenten zu haben, um
206 1 BRUNO LATOUR

die, die im Prinzip die Macht in Händen »halten«, sondern jene, die prak­
tisch definieren oder redefinieren, was alle zusammen »hält«. Dieser
Wechsel vom Prinzip zur Praxis erlaubt es uns, die vage Vorstellung von
Macht nicht als Ursache des Verhaltens von Personen zu betrachten, son­
dern als Folge einer intensiven Aktivität von Rolleneinbindung, Überzeu­
gung und Einschreibung. Wird statt des ersten der zweite Rahmen ge­
wählt, erscheinen die praktischen Ressourcen, die zur performativen Aus­
führung von Gesellschaft notwendig sind, deutlich. Wir müssen sie erfor­
schen, wenn wir die Vorstellung von Macht ausschalten wollen.

Von Prinzipien zu praktischen Ressourcen

Wenn Macht nicht etwas ist, das man anhäufen und besitzen kann, ist es
doch etwas, das gemacht werden muss. Wer macht sie? Andere, per defini­
tionem (vgl. Abschnitt 1). Diese anderen, die einzigen, die wirklich (in actu)
mächtig sind, müssen deshalb ihre Handlungen einem unter ihnen zu­
schreiben, der in potentia mächtig wird. Dies bedeutet eine konstante Aus­
einandersetzung darüber, wer gehorcht und wem gehorcht werden muss
(Abschnitt 2). In diesen kontinuierlichen Kämpfen gibt es so viele Defini­
tionen des »ganzen Bildes« wie es Akteure gibt, die sich darum bemühen,
andere in Rollen einzubinden oder selbst eingebunden zu werden. Weder
»Gesellschaft« noch »Macht« können diese Kämpfe erklären. Sie stellen
ganz im Gegenteil das vorläufige Ergebnis vieler Definitionen dar: Gesell­
schaft ist das, was man ausführt, solange man in der Lage ist, es auszufüh­
ren (vgl. Abschnitt 3). Bedeutet das, dass wir in das vollständige Chaos
geführt werden, in dem Gesellschaft fortwährend ausgeführt und wieder
demontiert wird? Es gibt im Prinzip keine Antwort auf diese Frage. Wir
können ins Chaos geführt werden oder auch nicht; das hängt einzig von
den praktischen Ressourcen ab, die mobilisiert werden können, um eine
Definition über eine Zeitspanne hinweg halten zu lassen. Die gesamte
Bürde, die Gesellschaft fest zu erhalten, hat sich von der Gesellschaft selbst
(die zur Konsequenz geworden ist) zu den vielen materiellen Aufgaben
verschoben, die die vorläufigen, von den Akteuren hergestellten Bindungen
durchsetzen oder verstärken können. 10
Um diesen Punkt zu verdeutlichen, möchte ich ein Beispiel jenes So­
ziologen anführen, der am weitesten von diesem Standpunkt entfernt ist.
Durkheim gilt als Inbegriff dessen, was ich die ostensive Definition der
sozialen Bindung nenne; nirgendwo kommt das stärker zum Ausdruck als
in »Die elementaren Formen des religiösen Lebens« (vgl. Durkheim 1915).

gute und kompatible Messungen vorzunehmen. Vgl. Callon/Latour (1985) und


Strum/Latour (1987).
10 1 Vgl. die Arbeit von Elihu Gerson und seinen Kollegen über »Aufgaben«.
r

DIE MACHT DER ASSOZIATION 1 207

In Buch II, Kapitel III, V und VII anerkennt er jedoch, dass die Clan-Struk­
tur nicht dicht genug ist, um den Clan zusammenzuhalten. Diese Stellen
sind die einzigen im ganzen Buch, in denen die umfassende Gesellschaft,
die sonst überall als Ursache zur Erklärung von allem dient, ungenügend
erscheint. Wohin wendet sich Durkheim, um den Clan zusammenhalten
zu lassen? Zu materiellen Ressourcen, die die Verbindung verstärken:

»Aber wenn die Bewegungen, durch die sich diese Gefühle ausgedrückt haben, mit
Dingen verbunden sind, die dauern, dann werden sie selbst dauerhaft.« (Ebd.: 316)

Diese Ressourcen (Flaggen, Namen, Skarifizierungen, Farben, Tätowie­


rungen) sind nicht, wie er angibt, bloße Anhänger, »die fertigen Vorstel­
lungen angehängt werden, um sie handlicher zu machen: Sie sind viel­
mehr deren integraler Teil.« (Ebd.) Zwei Seiten weiter sind diese »integra­
len Teile« der Verbindungen zu deren Ursache geworden:

»Ein Klan ist im Wesentlichen eine Vereinigung von Individuen, die den gleichen
Namen tragen und die sich um das gleiche Zeichen versammeln. Nimmt man den
Namen und das Zeichen weg, das ihn materialisiert, dann ist der Klan nicht mehr
vorstellbar. Da er nur unter dieser Bedingung möglich war, kann man sich sowohl
die Institution des Emblems wie den Platz erklären, den dieses Zeichen im Leben
der Gruppe spielt.« (Ebd.: 319)

Bald nach dieser Passage kehrt Durkheim zu seinem üblichen Rahmen


zurück und erklärt kollektives Verhalten durch die Existenz von Gesell­
schaft. Jedoch: Ein paar Seiten lang - und zumindest die vage Idee des
Clans betreffend- haben die Ressourcen die wichtigste Rolle übernommen
und sind zu dem geworden, was den Clan zusammenbindet. Sein Haupt­
argument während dieser kurzen Zeitspanne ist, dass die Dauerhaftigkeit
der Definition des Clans von der Dauer der Ressourcen, die für seinen
Zusammenhalt verwendet wurden, abhängt." Der Anspruch ist eine
schwache und kurzlebige Idee; sie dauert länger an und wird stärker durch
Tätowierungen, Flaggen, Namen und Skarifizierungen. Das bedeutet, dass
wir zur Definition von Gesellschaft eine längere Liste brauchen, die natür­
lich die Idee des Clans, aber auch Flaggen, Farben, Namen und Tätowie­
rungen beinhaltet. Anders ausgedrückt: Gesellschaft besteht nicht aus
sozialen Elementen, sondern aus einer Liste, die soziale und nicht-soziale
Elemente vermischt.
Das wird klarer, wenn wir das Gegenteil ausdrücken: Besteht eine Ge­
sellschaft einzig aus sozialen Elementen, hat sie keine stabile Struktur. Um
eine solche Situation zu finden, muss man nicht menschliche, sondern

11 1 Im Französischen »duree« und »durete«. Zu diesem Punkt vgl. Latour


(1984), zweiter Teil.
208 \ BRUNO LATOUR

Tiergesellschaften erforschen. An anderer Stelle haben Shirley Strum und


ich gezeigt, wie z.B. Paviangesellschaften ihr intensives Sozialleben ohne
den Einsatz von dem, was wir extrasomatische Ressourcen nennen, meis­
tern.12 Sie bauen den kollektiven Körper nur mit ihren eigenen Körpern,
wobei sie außer diesen keinerlei Ressourcen einsetzen. Dies führt zu einer
extremen Komplexität ihrer sozialen Kompetenzen, da sie außer durch den
Einsatz von mehr Sozialkompetenz keine Möglichkeit haben, eine schwa­
che Verbindung in eine stärkere zu transformieren. Das Ergebnis einer
solch aktiven Redefinition ihrer Gesellschaft ist, dass es keine stabile Struk­
tur gibt, sondern soziale Kompetenzen, um die zerfallende Sozialordnung
fortlaufend zu reparieren. Da sie keine extrasomatischen Ressourcen für
diese Reparaturen verwenden, können wir uns halb im Scherz die Paviane
als das ideale »kompetente Mitglied« (nach der Definition der Ethnome­
thodologie) vorstellen.
Auf die menschliche Gesellschaft angewendet funktioniert das Pavian­
Modell jedoch nicht besser als das ethnomethodologische, da die für das
Zusammenhalten der Gesellschaft wichtigen Elemente meistens extra­
somatisch sind. Jede performative Definition dessen, worum es bei Gesell­
schaft geht, wird durch die Einbeziehung neuer und nicht-menschlicher
Ressourcen verstärkt, unterstrichen und stabilisiert. Dieselben, von nicht­
menschlichen Primaten auf andere Körper angewendeten Sozialkompe­
tenzen werden nun in menschlichen Gesellschaften auf Dinge angewen­
det, die Körper an ihrem Platz halten.13 An diesem Punkt wird die Vorstel­
lung von Macht allen Potentials beraubt. »Macht« wird nur auf die vielen
Ressourcen transferiert, die zur Verstärkung der Bindungen gebraucht
wurden. Die Macht des Managers wird jetzt vielleicht durch eine lange
Reihe von Telefongesprächen, Aufzeichnungen, Wänden, Kleidern und
Maschinen erhalten, genauso wie der Clan zur Ausführung seiner Defini­
tion von der Verwendung neuer Elemente wie Tätowierungen und Skarifi­
zierungen abhängt. Die genaue Zusammensetzung der Liste ist für die
gegenwärtige Argumentation nicht wichtig; was zählt ist, dass sie nicht
abschließend ist, dass die so genannten sozialen Elemente einfach Elemente
unter vielen anderen in einer bedeutend längeren Liste darstellen und dass
sie nicht verwendet werden können, um alle anderen Elemente zu ersetzen
oder gar als ihre Überschriften zu fungieren.
Wenn aber soziale Elemente so wenig nützlich sind, muss irgendwo in
der Definition des Sozialen etwas schief gegangen sein. Ich muss diesen
letzten Punkt in Angriff nehmen, um der Vorstellung von Macht ihre
Faszination zu nehmen.

12 1 Vgl. Strum/Latour (1987); zu den relevantesten Arbeiten über Paviangesell­


schaften vgl. Strum (1982, 1983a, 1983b) und Strum/Westem (1982).
13 1 Dies impliziert eine andere Art, Technologie und ihre Beziehungen zur
Gesellschaft zu betrachten. Vgl. dazu Callon/Latour (1981).
DIE MACHT DER ASSOZIATION 1 209

Fazit: Von der Erforschung der Gesellschaft


zur Erforschung der Assoziationen

Die Argumentation oben kann in einem Satz zusammengefasst werden:


Gesellschaft ist nicht, was uns zusammenhält, sondern was selbst zusam­
mengehalten wird. Sozialwissenschaftler haben die Wirkung mit der Ursa­
che, passiv mit aktiv, das Geklebte mit dem Kleber verwechselt. Sich auf
eine Energiereserve zu beziehen, sei sie nun »Kapital«'4 oder »Macht«,
um das gehorsame Verhalten der Masse zu erklären, hat folglich keinen
Sinn. Nur solange man es nicht braucht (d.h. solange andere es pflicht­
schuldig füllen), ist dieses Reservoir gefüllt. Es ist leer, wenn man es
braucht, d.h. wenn andere es nicht länger füllen. Es führt kein Weg aus
diesem Paradoxon heraus. Es spielt keine Rolle, wie viel Macht jemand
anhäuft, es ist immer notwendig, sie von den anderen, die handeln, zu
erhalten (dies habe ich den Wechsel von Diffusion zu Übersetzung ge­
nannt). Folglich ist es immer notwendig, neu zu definieren, wer handelt;
weshalb es notwendig ist, gemeinsam zu handeln; welche Grenzen das
Kollektiv hat; wie Verantwortung zugewiesen werden sollte; welches die
besten Metasprachen sind, um kollektives Handeln zu definieren (dies
nenne ich die Ursprünge der Gesellschaft in der Gegenwart erhalten). Das
Ergebnis einer solchen kontinuierlichen Definition und Redefinition des­
sen, worum es bei kollektivem Handeln geht, ist es, die Gesellschaft von
etwas Existierendem und prinzipiell Erkennbaren in etwas sozusagen von
jedem Akteur gleich Erbautes zu transformieren, das im Prinzip nicht
erkennbar ist - es beinhaltet den Wechsel von einer ostensiven zu einer
performativen Definition. Woher kommen die Ungleichheiten zwischen
den Definitionen von Gesellschaft, die von jedem Akteur ausgeführt wer­
den, wenn nicht aus einer stabilen Gesellschaft? Aus einer Liste verschie­
denartiger, extrasomatischer Ressourcen, die von Akteuren mobilisiert
wurden, um ihre Definition durchzusetzen (dies habe ich den Wechsel von
Prinzipien zur Praktiken genannt).'5 Stabile Gesellschaftszustände kön­
nen erreicht werden, jedoch nicht allein mit sozialen Elementen. Solange
lediglich soziale Kompetenzen eingebracht werden, erhält man eine Ge­
sellschaft, die nicht stabiler und technisch entwickelter ist als die der Pavi­
ane oder Schimpansen.'6 Die einzige Möglichkeit zu verstehen, wie Macht

14 1 Die hier geäußerte Kritik an der Macht könnte an die Vorstellung von »Kapi­
tal« gerichtet sein, was z.B. in Bourdieus Soziologie sehr beliebt ist. Frankreich ist
voller Firmen und Banken, die, da sie große Mengen an Kapital hielten, dachten,
dass dies genüge, um ewig zu existieren und zu herrschen. Die Fabriken sind nun
geschlossen, die Banken bankrott. Zu einer Kritik des Kapitals vgl. Thevenot (1984).
15 1 Dies ist, was John Law »heterogenes Engineering« nennt. Vgl. Law (1986,
1987).
16 1 Die technische Entwicklung ist invers proportional zu der der sozialen Kom-
210 1 BRUNO LATOUR

lokal ausgeübt wird, ist folglich, alles das in Erwägung zu ziehen, was
beiseite gelegt worden ist- im Wesentlichen sind dies Techniken.'7
All die oben angeführten Verschiebungen führen dann zu einer leich­
ten, aber notwendigen Neudefinition dessen, worum es in der Soziologie
geht. Als eine Gesellschaftswissenschaft kann sie nicht sehr weit gehen, da
sie (meiner vorab gegebenen Argumentation zufolge) immer Wirkungen
als Ursachen behandeln wird. Sie verwendet Vorstellungen von »Macht«
und »Kapital«, wenn diese örtlich zusammengesetzt werden müssen; sie
spricht von »Klassen«, »Rängen« und »Werten«, wenn diese das Ergebnis
einer kontinuierlichen Debatte darüber darstellen, wie man klassifiziert, in
Ränge einteilt und evaluiert; sie versucht, die Gesellschaft mit »Hierar­
chien«, »Professionen«, »Institutionen« oder »Organisationen« zusam­
menhängen zu lassen, während die praktischen Details, die es diesen
Entitäten ermöglichen, länger als eine Minute zu überdauern, der Auf­
merksamkeit entgehen; schließlich erfindet die Soziologie in dem verzwei­
felten Versuch, etwas zu finden, das stark genug ist, um uns zusammen­
zubinden, solche Begriffe wie »Legitimität«, »Autorität«, »Rolle«, »Kultur«
oder »Zeitgeist«, obwohl diese Vorstellungen nur dann effizient sind, wenn
alles andere bereits fest verbunden ist. Eine Gesellschaft allein durch sozia­
le Elemente zusammenhängen zu lassen ist, als versuchte man, eine Ma­
yonnaise ohne Eier oder öl herzustellen- d.h. aus heißer Luft allein.
Eine alternative Weise, Soziologie zu definieren, ist, sie zum Studium
von Assoziationen zu machen- statt zur Erforschung der wenigen Bindun­
gen, die wir sozial nennen. Wenn diese neue Definition akzeptiert wird,
steht dem Wissenschaftler eine andere Art von Erklärung zur Verfügung.
Er oder sie kann alle Kräfte verwenden, die in unserer menschlichen Welt
zur Erklärung dessen mobilisiert werden, weshalb wir verbunden sind und
einige Anordnungen gehorsam befolgt werden, andere hingegen nicht. Die
Art dieser Kräfte ist heterogen: Sie können Atome, Wörter, Lianen oder
Tätowierungen sein und sind ebenfalls selbst zusammengebunden, um
Maschinen und Machenschaften zu kreieren, die uns alle an Ort und Stelle
halten.
Dieses Papier hat eine negative Argumentation präsentiert: Es hat vor­
geschlagen, die Vorstellung von Macht fallen zu lassen. Nun beginnt die

petenzen, sodass wir paradoxerweise dazu geführt werden, nicht-menschliche Pri­


matengesel!schaften als komplexer als menschliche zu betrachten. Vgl. Strum/La­
tour (1987).
17 1 Dies ist das gleiche Resultat wie jenes von Foucault (1977), als er die Vorstel­
lung von Macht, die von Mächtigen gehalten wird, zugunsten von Mikromächten
auflöste, die durch die vielen Techniken zur Disziplinierung und zum In-der-Reihe­
Halten verteilt wurden. Es ist einfach eine Erweiterung von Foucaults Idee hin zu
den vielen Techniken, die in Maschinen und den harten Wissenschaften eingesetzt
werden.
DIE MACHT DER ASSOZIATION 1 2II

ernsthafte Erforschung des Stoffes, aus dem Gesellschaft gemacht ist.


Beim Fehlstart, der der Soziologie unterlief, ist etwas vergessen worden,
etwas, das zuerst unwichtig erschien: der Klebstoff, der stark genug ist, um
uns alle zusammenzuhalten und der die Form von Wissenschaft und
Technik annimmt.

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212 1 BRUNO LATOUR

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Wilson, E.O. (1975): Sociobiology: The New Synthesis, Cambridge, Mass.:
Harvard University Press.
Technik und heterogenes Engineering:

Der Fall der portugiesischen Expansion

JOHN LAw

» Wenn du das Beten lernen willst,fahre zur See.«


Portugiesisches Sprichwort (zitiert bei Diffie/Winius 1977)

Wie werden Objekte, Artefakte und technische Praktiken stabilisiert? Und


warum nehmen sie ausgerechnet die Form an, die sie gerade annehmen?
In diesem Beitrag vertrete und veranschauliche ich einen Ansatz zu diesen
Fragen, der (1) die Heterogenität der in technologische Problemlösungen
involvierten Elemente, (2) die Komplexität und Kontingenz der Weisen, in
denen sich diese Elemente miteinander verbinden, und (3) die Art, in der
Lösungen in Konfliktsituationen gefunden werden, herausarbeitet. Dieser
Netzwerkansatz bezieht sich auf und zieht Parallelen zur Arbeit von Michel
Callon (Callon 1980; Bijker/Hughes/Pinch 1987) und wurde im Blick auf
sekundäres empirisches Material über die Technik der portugiesischen
Übersee-Expansion des 15. und 16. Jahrhunderts entwickelt. Um die Aus­
gangslage zu klären und meine Argumentation zu positionieren, beginne
ich damit, zwei alternative Ansätze der Techniksoziologie kurz zu kom­
mentieren.
Der erste Ansatz wird häufig sozialer Konstruktivismus genannt.'
Dieser Zweig der Wissenschaftssoziologie geht davon aus, dass Artefakte
und Praktiken von der natürlichen Welt unterdeterminiert sind, und
argumentiert, dass man sie am besten als Konstruktionen von Individuen
und Kollektiven betrachtet, die zu sozialen Gruppen gehören. Weil soziale
Gruppen unterschiedliche Interessen und Ressourcen haben, neigen sie
dazu, auch verschiedene Ansichten über die richtige Struktur von Artefak-

:1. 1 Dies wird vollständig beschrieben bei Pinch/Bijker (1984, 1987). Vgl. auch
Bijker (1987).
214 1 JOHN LAW

ten zu entwickeln. Entsprechend wird die Stabilisierung von Artefakten


dadurch erklärt, dass man sich auf die sozialen Interessen und die unter­
schiedliche Fähigkeit zur Mobilisierung von Ressourcen im Verlauf von
Debatten und Kontroversen bezieht, die den betreffenden Gruppen zuge­
schrieben werden. Soziale Konstruktivisten sprechen häufig von diesem
Prozess als von »Schließung«. Eine Schließung wird erreicht, wenn die
Debatte oder Kontroverse über die Form eines Artefaktes ein effektives
Ende findet.
Die Verdienste des sozialkonstruktivistischen Ansatzes sind offensicht­
lich. Viele Artefakte werden tatsächlich durch Kontroversen gestaltet und
erhalten ihre endgültige Form, wenn eine soziale Gruppe oder eine Reihe
von Gruppen anderen interessierten Parteien ihre Lösungen auf die eine
oder andere Weise aufzwingt. Das Schicksal des Elektrofahrzeugs in
Frankreich (Callon 1987) ist für eine solche Analyse zugänglich, ebenso
einige andere Fälle, wie etwa jener des britischen TSR.2-Flugzeugs (Law
1985), des Concorde-Flugzeugs (Feldman 1985), der dritten Flughäfen von
London und Paris (Feldman 1985), des Fahrrads (Pinch/Bijker 1984, 1987)
und Aspekte der Entwicklung von Raketenleitsystemen (MacKenzie 1987).2
Tatsächlich ist es einfach, an weitere Beispiele zu denken. Immer wenn es
eine Kontroverse gibt, wird die kontingente und konstruierte Natur der
Artefakte manifest und Erklärungen in Begriffen verschiedener Machtver­
hältnisse und sozialer Interessen drängen sich auf.
Der zweite Ansatz, der aus der Technikgeschichte und im Besonderen
aus der Arbeit von Hughes (1979a, 1983) stammt, fasst technische Innova­
tion und Stabilisation in Begriffe einer Systemmetapher. Die Argumenta­
tion ist, dass die Erbauer von Artefakten sich nicht allein für Artefakte
interessieren, sondern auch die Art und Weise betrachten müssen, in
welchen sich die Artefakte mit sozialen, ökonomischen, politischen und
wissenschaftlichen Faktoren verbinden. Alle diese Faktoren sind miteinan­
der verbunden und alle sind potentiell formbar. Das heißt mit anderen
Worten, dass man Erfinder und Innovatoren am besten als Systemerbauer
betrachtet: Sie jonglieren mit einer großen Anzahl an Variablen, wenn sie
sie in einem dauerhaften Ganzen zu verbinden versuchen. Von Zeit zu
Zeit treten strategische Probleme auf, die der reibungslosen Funktion oder
Ausdehnung des Systems im Wege stehen. Um eine militärische Metapher
zu verwenden, spricht Hughes von diesen Problemen als von umgekehrten
Frontausbuchtungen und er zeigt die Art und Weise auf, in der Unter­
nehmer dazu neigen, sich auf solche Probleme zu konzentrieren und
soziale, technische und ökonomische Variablen einander gegenüberzustel­
len, während sie nach einer Lösung suchen.

2 1 Ich will damit nicht andeuten, dass diese Autoren alle einen sozialkonstruk­
tivistischen Ansatz verwenden, sondern dass ihr Material einer Analyse in diesen
Begriffen zugänglich ist.
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 2I5

Hughes' Untersuchung über Edison illustriert sowohl die systemische


Natur großer Bereiche technischer Aktivitäten, als auch die Wichtigkeit des
Begriffes der umgekehrten Frontausbuchtung. Edisons Problem (seine
umgekehrte Frontausbuchtung) war gleichzeitig ökonomisch (Wie kann
man elektrisches Licht zu einem Preis zur Verfügung stellen, der mit Gas
konkurrieren kann?), politisch (Wie kann man Politiker dazu bringen, die
Entwicklung eines Elektrizitätsnetzwerkes zu erlauben?), technisch (Wie
kann man die Kosten der Energieverteilung minimieren, indem man
Leitungen verkürzt, Strom reduziert, Spannung erhöht?) und wissenschaft­
lich (Wie findet man einen hoch widerstandsfähigen Glühfaden?). Dass
Edison bei der Lösung dieser Probleme erfolgreich war, enthüllt seinen
Erfolg als Systemerbauer und zeigt auch, wie Hughes es darstellt, dass »das
Gewebe nahtlos ist«, dass das Soziale untrennbar mit dem Technischen
und dem ökonomischen verbunden ist.3
Soziale Konstruktivisten und Systemansätze haben viel gemeinsam.
Zuerst einmal besteht Konsens darüber, dass Technik nicht von der Natur
allein festgelegt wird. Zweitens stimmen sie darin überein, dass Technik
nicht in einem unveränderlichen Verhältnis zur Wissenschaft steht. Dritter
und wichtigster Punkt ist, dass sie beide annehmen, dass technische Stabi­
lisierung nur dann verstanden werden kann, wenn das in Frage stehende
Artefakt als mit einem weiten Bereich nicht-technischer und spezifisch
sozialer Faktoren verbunden betrachtet wird. Die Meinungsverschiedenhei­
ten beginnen jedoch, wenn sie die Beziehung zwischen dem Technischen
und dem Sozialen spezifizieren. Der soziale Konstruktivismus arbeitet mit
der Annahme, dass das Soziale hinter den Artefakten liegt und deren
Wachstum und Stabilisierung leitet. Im Besonderen nimmt er an, dass die
Erfassung relativ stabil lenkender sozialer Interessen eine befriedigende
Erklärung für das Wachstum von Technik bietet. Im Gegensatz dazu ba­
siert der Systemansatz auf der Annahme, dass das Soziale nicht besonders
bevorzugt ist. Im Besonderen setzt er voraus, dass soziale Interessen varia­
bel sind, zumindest innerhalb bestimmter Grenzen. Es stimmt zwar, dass
die beiden Ansätze schon an diesem Punkt einen gewissen Grad an Kon­
vergenz aufweisen\ dennoch bleibt der Hauptunterschied bestehen: Am
Ende ziehen es die Soziologen vor, das Soziale auf der Suche nach explana­
torischer Einfachheit zu privilegieren, während viele Historiker solche
Verpflichtungen nicht kennen.s

3 1 Für eine andere Studie, die einen Systemansatz verwendet, vgl. MacKenzie
(1987).
4 1 Pinch und Bijker (1987) sprechen von den Wirkungen der Werbung auf die
Bildung von sozialen Gruppen.
5 1 Obwohl ich mich auf das Werk von Hughes bezogen habe, kann derselbe
Punkt meiner Meinung nach mit Bezug auf Constant gemacht werden. Seine Idee
der Koevolution (1978) scheint ebenfalls einen Versuch darzustellen, sich mit der
216 1 JOHN LAW

In diesem Papier vereinige ich meine Kräfte mit denen Callons und
stelle mich in dieser besonderen Argumentation an die Seite der Histori­
ker. Besonders möchte ich vorschlagen, dass in Erklärungen technischen
Wandels das Soziale nicht privilegiert werden sollte. Das bedeutet, dass es
nicht so dargestellt werden darf, als stehe das Soziale hinter dem im Bau
befindlichen System und als hätte es einen besonderen Einfluss auf seine
Entwicklung. Obwohl es zeitweise ein wichtiger - tatsächlich der dominan­
te - Faktor im Entstehen des Systems sein kann, ist das Soziale dennoch
ein rein kontingenter Sachverhalt, der nur durch empirische Mittel be­
stimmt werden kann. Andere Faktoren - natürliche, ökonomische oder
technische - können hartnäckiger als die sozialen sein und den besten
Bemühungen der Systemerbauer, sie umzuformen, widerstehen. Andere
Faktoren können deshalb die Gestalt der in Frage stehenden Artefakte und
die daraus resultierende soziale Struktur weit besser erklären. Um dies
formeller auszudrücken, argumentiere ich gemeinsam mit Callon (1987,
1980b, 1986), dass die Stabilität und Form von Artefakten als eine Funktion
der Interaktion heterogener Elemente gesehen werden sollte, so wie diese in einem
Netzwerk geformt und dort assimiliert werden. In dieser Sichtweise ruht die
Erklärung technischer Form auf einer Untersuchung sowohl der Bedingun­
gen als auch der Taktiken des Systemerbauens. Weil diese Taktiken, wie
Hughes nahe legt, von den Beziehungen einer Anzahl getrennter Elemente
mit variierenden Formbarkeitsgraden abhängt, nenne ich solche Aktivitä­
ten heterogenes Engineering und schlage vor, das Produkt als ein Netzwerk
einander gegenübergestellter Komponenten zu betrachten.6
Ganz offensichtlich entlehnt dieser Netzwerkansatz viel von Hughes'
Perspektive des Systemerbauens. Es gibt jedoch zumindest einen wichtigen
Aspekt, in dem er sich von Hughes Ansatz unterscheidet und dieser Un­
terschied erwächst aus der Betonung des Aspektes des Konflikts innerhalb
des Netzwerkansatzes. Wie die Beispiele der Portugiesen, von Edison und
von »Renault« enthüllen, ist erfolgreiches heterogenes Engineering im
großen Maßstab schwierig. Elemente im Netzwerk erweisen sich mögli­
cherweise als schwierig zu zähmen oder an Ort und Stelle zu halten.

Verbundenheit heterogener Elemente auseinander zu setzen und mit dem Ergebnis


umzugehen, dass sowohl das Soziale als auch das Technische konstruiert werden.
Zusätzlich kann die Analyse der Entwicklung von Traditionen »technischer Testbar­
keit«, die Constant entwickelte (1983), als eine Untersuchung der Art und Weise
betrachtet werden, wie eine breite Palette von Akteuren zur lokal durchsetzbaren
Übereinstimmung kommt, dass bestimmte soziale/technische Beziehungen ange­
messen und praktikabel sind.
6 1 Es steht zur Diskussion, ob wir alle heterogene Ingenieure sind, die getrenn­
te Elemente in den »laufenden Betrieb« ihres täglichen Lebens einbauen, so wie wir
es tun. Im vorliegenden Artikel liegt mein Interesse jedoch nur bei technisch
relevantem Systemerbauen im großen Maßstab.
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 217

Wachsamkeit und Kontrolle sind nötig; ansonsten werden die Elemente


aus der Reihe fallen und das Netzwerk wird beginnen, sich aufzulösen. Der
Netzwerkansatz betont dies in seiner Feststellung, dass es fast immer eine
gewisse Divergenz gibt zwischen dem, was die Elemente eines Netzwerkes
täten, wenn man sie ihren eigenen Bestrebungen überließe, und dem,
wozu sie verpflichtet, ermutigt oder gezwungen werden, wenn sie in ein
Netzwerk eingebunden werden. Natürlich sind einige dieser Divergenzen
schwerwiegender als andere. Zum Zweck der Analyse kann jedoch die
Umwelt, innerhalb derer ein Netzwerk aufgebaut wird, als feindlich und
heterogenes Engineering als die Verbindung widerwilliger Elemente in
einem selbsterhaltenden Netzwerk betrachtet werden, die entsprechend in
der Lage sind, sich der Dissoziation zu widersetzen.
Dieser Vorschlag hat eine wichtige methodologische Implikation: Es
macht Sinn, natürliche und soziale Gegner in Begriffen desselben analytischen
Vokabulars zu behandeln. Ehe man z.B. das Soziale in einer Weise und das
Wissenschaftliche in einer anderen zu behandeln beginnt, sucht man statt­
dessen, den Geschidcen des in Frage stehenden Netzwerkes zu folgen und
seine Probleme, die Dauerhaftigkeit seiner in diese Probleme involvierten
Elemente und die Antworten des Netzwerks, während es diese Probleme
zu lösen versucht, zu betrachten. Während man sich von Element zu
Element bewegt, ist kein Wechsel im Vokabular nötig; vom Standpunkt des
Netzwerkes aus unterscheiden sich die menschlichen oder sozialen Ele­
mente in ihrer Art nicht notwendigerweise von den natürlichen oder tech­
nischen. Also ist der Punkt nicht (wie in der Soziologie) zu betonen, dass
ein besonderer Typ von Element, das Soziale, für die Struktur des Netz­
werkes grundlegend ist; eher sollen die Kräfteverhältnisse entdeckt werden,
die in den zwischen den verschiedenen Arten von Elementen - sozialen
wie auch anderen - auftretenden Kollisionen enthüllt werden. Dieser
Aufgabe wende ich mich nun zu.7

Der Kampf zwischen Kap Bojador und der Galeere

1291 setzten Ugolino und Vadino Vivaldi in zwei Galeeren Segel vor Ge­
nua, fuhren durch die Säulen des Herkules »ad partes Indiae per mare
oceanum« und verschwanden, um niemals wieder von einem Europäer
gesehen zu werden (Diffie/Winius 1977: 24; Chaunu 1979: 82). 1497
segelte Vasco da Gama über den Fluss Tejo aus Lissabon weg. Sein Ziel
war ebenfalls, über den Ozeanweg nach Indien zu gelangen; anders als bei
den Brüdern Vivaldi jedoch wissen wir, was aus seiner Expedition wurde.
Am 20. Mai 1498 ankerte er in der Kalikut-Straße vor der Malabarküste

7 1 Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass dieser Ansatz parallel zu dem von
Callon ist. Ebenso viel verdankt er jedoch auch der Arbeit Latours (1984).
218 1 JOHN LAW

Südwestindiens. Er trat mit dem Samorin von Kalikut in Verhandlungen


über den Gewürzhandel ein. Seine Unterredungen waren so erfolglos, dass
da Gamas nun schwer bewaffnete Flotte auf seiner zweiten Expedition im
Jahr 1502 die Stadt Kalikut in dem Versuch bombardierte, den Samorin zur
Unterwerfung zu zwingen (Parry 1963: 153). Der portugiesische Gewürz­
handel hatte begonnen und mit ihm die portugiesische Vorherrschaft im
Indischen Ozean. Ich schlage vor, den Prozess, der zu dieser Dominierung
führte, vom Standpunkt des Systemerbauens oder des heterogenen Engi­
neering zu betrachten. Manchmal waren die Gegenspieler Menschen,
manchmal natürliche Objekte. Beginnen wir also, indem wir über die
Galeeren sprechen:
Primär war die Galeere ein Kriegsschiff. Sie war leicht und gut manöv­
rierbar, eine Methode, um die Kraft von 150 bis 200 Männern in effiziente
Vorwärtsbewegung umzuwandeln. Um den Wasserwiderstand zu verrin­
gern, war die Galeere lang und dünn - zumindest in Venedig typisch war
eine Länge von 125 und eine Breite von 22 Fuß, einschließlich der Ausle­
ger. Der Rumpf war leicht gebogen und die Planken nach Art der Karavel­
len Kante an Kante gelegt, um den Widerstand des Wassers zu minimie­
ren. Die Galeere war auch niedrig. Die Ruderer zogen, drei an einem
Ruder, an 25 bis 30 Rudern an jeder Seite. Das Schiff trug einen Mast
(möglicherweise mehr als einen; vgl. Landstrom 1978: 52), weit vorn ange­
bracht, der ein dreieckiges Lateinsegel trug. Das Segel unterstützte die
Ruderer, obwohl es nie mehr als eine Hilfsenergiequelle war. Das Schiff
wurde mittels eines oder zwei Rudern gesteuert und das Heck war leicht
angehoben und formte ein so genanntes »Kastell«. Im Gegensatz dazu war
der Bug niedrig und spitz, dazu entworfen, andere Schiffe zu rammen.
Lassen Sie mich nun das Offensichtliche feststellen: Die Galeere ist ein
emergentes Phänomen, das heißt, dass sie Attribute besitzt, die keines ihrer
einzelnen Komponenten hat. Die Erbauer der Galeere verbanden Holz und
Männer, Pech und Segeltuch, und sie bauten eine Verbindung, die
schwamm, angetrieben und gesteuert werden konnte. Die Galeere konnte
Wind und Manneskraft verbinden, um sich auf den Weg zu entfernten
Orten zu machen. Sie wurde eine »Galeere«, die dem Kapitän oder Händ­
ler gestattete, von Venedig aufzubrechen, um in Alexandria anzukommen
und dort Handel zu betreiben, Gewinne zu erzielen und so seinen Palast
mit feinen Kunstwerken zu füllen.
Die Galeere ist natürlich ein technisches Objekt. Wir können somit
Technik als eine Familie von Methoden definieren, um andere Entitäten
und Kräfte - sowohl menschliche als auch nicht-menschliche - zu verbin­
den und zu kanalisieren. Sie ist eine Methode - eine Methode unter ande­
ren - zur Ausführung heterogenen Engineerings, d.h. zur Konstruktion
relativ stabiler Systeme verbundener Einzelteile mit emergenten Eigen­
schaften in einer feindlichen oder gleichgültigen Umgebung. Wenn ich das
sage, meine ich nicht, dass die Methoden irgendwie verschieden von den
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 219

Kräften sind, die sie kanalisieren. Technik agiert nicht als eine Art Ver­
kehrspolizist, der sich naturgemäß vom Verkehr unterscheidet, den er
regelt. Sie ist selbst nichts anderes als eine Reihe kanalisierter Kräfte oder
verbundener Entitäten. Es besteht immer die Gefahr, dass die verbundenen
Entitäten, die ein Stück Technik bilden, angesichts eines stärkeren oder
feindlichen Systems voneinander gelöst werden. Betrachten wir deshalb die
Beschränkungen der Galeere.
Als Kriegsmaschine in den relativ geschützten Gewässern des Mittel­
meeres war die Galeere ein großer Erfolg. Als Frachtschiff hatte sie jedoch
ihre Nachteile: Ihre Frachtleistung war extrem begrenzt. Die Merkmale, die
sie zu einem guten Kriegsschiff machten - sie war schlank, niedrig und
konnte eine große Besatzung befördern, was Überfälle abschrecken konnte
-, stellten eine Hürde für die Beförderung von Frachten dar (Lane 1973:
122; Denoix 1966: 142). Weiter war die Ausdauer einer Galeere durch die
Größe ihrer Besatzung beschränkt. Sie konnte sich nicht weit vom Land
und der Möglichkeit der Aufnahme von Wasser und Proviant entfernen.
Obwohl die Venezianer und Genueser Galeeren zum Transport wertvoller
Güter verwendeten, bei denen Verlässlichkeit gefragt war, wurden diese in
dieser Rolle nach etwa 1320 durch die »großen Galeeren« ersetzt (Lane
1973= 122, 126).
In solchen Schiffen müssen die Brüder Vivaldi 1291 aus Genua zu
ihrer, wie sie glaubten, zehn Jahre dauernden Reise nach Indien aufgebro­
chen sein (Diffie/Winius 1977: 24-52). Vielleicht waren ihre Galeeren
größer als normal, Vorläufer der großen Galeeren. Vielleicht hatten sie
höhere Freiborde. Aber ihre Ausdauer wäre begrenzt gewesen und ihre
Seetauglichkeit zweifelhaft - man kann sich nur zu gut die Konsequenzen
vorstellen, wenn man vor der Sahara-Küste in einen Sturm geriet. Und:
Falls die Vivaldis tatsächlich versucht hatten, die Westküste Afrikas hinab­
zurudem, würden sie jene Stelle passiert haben müssen, die als Punkt
ohne Wiederkehr gilt - Kap Bojador oder das Kap der Angst. Chaunu fasst
das Problem des Kap Bojador folgendermaßen zusammen:

»Mit 27 Grad Nord liegt Kap Bojador schon fast in der Sahara, also konnte es von
der Küste keine Unterstützung geben. Das Kap ist 800 Kilometer vom Fluss Sous
entfernt; die Rundfahrt von 1600 Kilometern war gerade innerhalb der Reichweite
einer Galeere, aber es war unmöglich, ohne Quellen für frisches Wasser weiterzu­
gehen, es sei denn per Segel. Zusätzlich gab es die Schwierigkeiten[...] der starken
Strömungen von den Kanarischen Inseln, beständigen Nebels, Untiefen des Mee­
resbodens und am schlimmsten die Unmöglichkeit, auf derselben Route zurückzu­
kehren.« (Chaunu 1979: 118)

Wie tapfer waren die Vivaldi-Brüder und ihre Männer, als sie ihre Galeeren
an den Säulen des Herkules vorbei und aus der aufgezeichneten Geschich­
te hinaussegelten? Wir wissen nicht, in welcher Form das Verhängnis
220 1 JOHN LAW

letztendlich zuschlug. Was wir jedoch erraten können ist, dass die Galee­
ren, emergente, von heterogenen Ingenieuren konstituierte Objekte, in
ihre Einzelteile zerlegt wurden. Das technische Objekt wurde angesichts
eines stärkeren Gegenparts, der besser in der Lage war, Elemente zu ver­
binden als die italienischen Systemerbauer, aufgelöst. Es war ein Konflikt
zwischen zwei Opponenten, eine Kraftprobe, in der ein Teil der natürlichen
Welt das letzte Wort hatte. Entsprechend war es ein paradigmatischer Fall
des fundamentalen Problems, mit dem die Systemerbauer konfrontiert
waren: Wie kann man heterogene Elemente auf eine Art nebeneinander
stellen und verbinden, sodass sie an Ort und Stelle bleiben und nicht von
anderen Akteuren - ob diese nun sozial, natürlich oder eine Mischung der
beiden sind - in der Umgebung im Verlauf der unvermeidlichen Kämpfe
dissoziiert werden. Und es legt auch nahe, weshalb wir bereit sein müssen,
Heterogenität in all ihrer Komplexität zu behandeln, aristatt das Soziale als
einen explanatorischen Nachgedanken anzufügen, da ein System - hier
eine Galeere - alles verbindet: von Menschen bis zum Wind. Es hängt
genau von der Kombination von sozialem und technischem Engineering in
einer mit gleichgültigen oder offen feindseligen, natürlichen und sozialen
Akteuren gefüllten Umwelt ab.

Die Portugiesen gegen Kap Bojador:


Schließung und Feldlinien

Im Kampf zwischen dem Atlantik und der Galeere war der Atlantik der
Gewinner. Die von den Europäern verbundenen Kräfte, so könnte man
sagen, waren nicht stark genug, um jene des Atlantiks zu dissoziieren. Die
heterogenen Ingenieure Europas bedurften erhöhter Verbindung und
Kanalisierung sowie verschiedener Kräfte, wenn sie einen solch schreckli­
chen Gegner dissoziieren und seine Komponenten an ihren Platz setzen
wollten. So blieb Kap Bojador über 100 Jahre lang der Punkt ohne Wieder­
kehr. Woher sollten die neuen Verbündeten kommen? Wie könnten sie mit
dem europäischen Unternehmen verbunden werden?
Drei Arten von technischer Innovation waren wichtig. 8 Die erste
nahm die Form einer Revolution des Segelschiffdesigns im 14. und frühen
15. Jahrhundert an. Die Einzelheiten dieser Revolution bleiben unklar,
nebensächlich und sprengen auf alle Fälle den Rahmen dieses Artikels,
aber das Resultat war ein seetaugliches Schiff mit gemischter Takelage, das
über größere Ausdauer und Seetüchtigkeit verfügte als seine Vorgänger,
eines, das in der Lage war, Winde aus vielen Richtungen in Vorwärtsbewe­
gung umzuwandeln. Es gab keine Ruderer, also wurde Menschenkraft

8 1 Das folgende ist ein Beispiel dessen, was ich rationale Rekonstruktion
nenne. Vgl. die Schlussfolgerung dieses Beitrages.
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 221

reduziert und es war folglich möglich, genügend Vorräte zu laden, um eine


lange Überfahrt ohne Wiederauffüllen des Lagers zu unternehmen. Dies
war dann der erste Schritt in der Konstruktion einer Reihe verbündeter
Entitäten, um den Nordatlantik an seinen Platz zu verweisen. Der zweite
bestand in der Tatsache, dass der Magnetkompass im christlichen Europa
des späten 12. Jahrhunderts allgemein verfügbar wurde. Ich werde in
einem späteren Abschnitt verschiedene Methoden der Navigation betrach­
ten, aber hier soll festgehalten werden, dass die anfängliche Bedeutung
dieser Innovation darin bestand, dass sie es gestattete, bei bedecktem
Himmel einen in vernünftigem Rahmen konsistenten Kurs zu segeln.
Verbunden mit Koppelnavigation und Portolano-Karte9 nahm der Mag­
netkompass der Langstreckennavigation einiges ihrer Unsicherheit; im
Besonderen bedeutete dies, dass der Seefahrer nicht direkt an der Küste
bleiben musste, um eine Vorstellung von seiner Position zu haben. Dies
war dann der zweite entscheidende Schritt in Richtung auf einen Wechsel
in der Balance der Kräfte. Wenn neue Schiffe neu kanalisierte Winde mit
neuen Navigationsmethoden und einem konsequenten Wissen um die
Position verbanden, war damit der Grund für einen möglichen Wechsel in
der Machtbalance bereitet.
Was war der entscheidende dritte Schritt? Um diese Frage zu beantwor­
ten, müssen wir etwas über die Strömungen und Winde zwischen Portugal
und den Kanarischen Inseln wissen. Es ist relativ einfach, von Lissabon
oder der Algarve in südwestlicher Richtung entlang der afrikanischen At­
lantikküste zu fahren. Das Schiff wird von der Kanarischen Strömung
getragen und auch von den nordöstlichen Passatwinden getrieben, die im
Sommer besonders stark sind. So weit helfen die Kräfte von Wind und
Strömung dem Projekt des Seefahrers. Es ist jedoch aus genau denselben
Gründen schwieriger, die Rückreise anzutreten. In einem Schiff, das gut
dafür ausgerüstet ist, sich windwärts zu schlagen, ist es zweifellos möglich,
eine nordöstliche Richtung zu verfolgen. Dies erfordert jedoch andauern­
des Aufkreuzen, etwas, das in den vollgetakelten Schiffen jener Tage
schwierig war, die keinesfalls nah am Wind segeln konnten. Obwohl der
Wind eine Zeit lang im Winter von Südwesten weht und damit die Rück­
reise erleichtert (Diffie/Winius 1977: 6i, 136), beschlossen die Segler an
einem nicht belegten Punkt in der Geschichte, Gegenwind und -strömun­
gen zu nutzen und sich seewärts zu schlagen, weg von der marokkani­
schen Küste, da sich herausstellte, dass - so lange man über ein angemes­
senes Schiff, gewisse Mittel, um einen Kurs zu verfolgen, und eine ange­
messene Portion Mut verfügte - es viel einfacher war, auf diesem Weg
nach Lissabon oder die Algarve zurückzukehren als an der Küste entlang.
Das Schiff segelte auf nordwestlichem Kurs hart am Wind gegen die nord-

9 1 Die Portolano- oder plane Karte verwendete Windrosen und Kursgleichen


konstanter magnetischer Ausrichtung.
222 1 JOHN LAW

östlichen Passatwinde. Auf diese Weise ist es, wenn es die Passatwinde
hinter sich lässt, allmählich in der Lage, einen nördlicheren Kurs anzu­
steuern, bis es auf die Westwinde und die Nordatlantikdrift trifft, und es
möglich wird, nach Osten in Richtung Iberien zu segeln (Chaunu 1979:
n-n5). Die Erfindung dieses Kreises, von den Portugiesen Volta genannt,
bezeichnet den entscheidenden dritten Schritt. Die Schiffe waren nicht
länger gezwungen, nahe der Küste zu bleiben. Kap Bojador, der klassische
Punkt ohne Wiederkehr, war nicht länger das Hindernis, das es zuvor
gewesen war. Die Kapitäne konnten an ihm vorbeisegeln und erwarten,
auch zurückkommen zu können.
Das Volta kann also als geographischer Ausdruck eines Kampfes zwi­
schen heterogenen Einzelteilen betrachtet werden, die von den portugiesi­
schen Systemerbauern und ihren Kontrahenten, also den Winden, den
Strömungen und den Kaps, zusammengesetzt worden waren. Es verfolgt
auf einer Karte die den Portugiesen verfügbare Lösung. Es stellt dar, was
die Portugiesen den auseinander treibenden Kräften des Ozeans mit den
ihnen zur Verfügung stehenden Kräften aufzwingen konnten. Es zeigt uns
bildlich, wie die Portugiesen die Strömungen, Winde und den Rest der
Gegner in Verbündete umwandeln konnten und wie sie in der Lage waren,
diese Elemente in akzeptabler und brauchbarer Weise mit ihren Schiffen
und Navigationstechniken zu verbinden.
Nun beginnen wir, die Vorteile und Nachteile der Systemmetapher in
einem empirischen Kontext zu sehen. Die Metapher betont Heterogenität
und Aufeinanderbezogensein, aber sie tendiert auch dazu, die Aufmerk­
I, samkeit weg von den Kämpfen zu lenken, die ein Netzwerk von heteroge­
' nen und sich gegenseitig erhaltenden Elementen formen. Systemerbauer
·
! versuchen Elemente in etwas zu verbinden, von dem sie hoffen, dass es
I sich als dauerhafte Aufstellung erweisen wird. Sie versuchen, feindliche
1
'I
Systeme aufzulösen und deren Komponenten in einer Weise neu anzuord­
nen, die zu dem im Bau Befindlichen beiträgt. Aber die besondere Form,
die die (Dis-)Assoziation annimmt, hängt vom Zustand der Kräfte ab. Eini­
l
:,1i
ge von ihnen sind unerbittlich: Mit Strömungen und Winden kann man
1'1
aufgrund ihrer Stärke nicht spielen. Einige von ihnen sind manipulierbar,
:1
1
jedoch nur mit Schwierigkeiten. Hier waren z.B. das vollgetakelte Schiff
1 und die Navigationspraktiken, wenn auch nicht unveränderlich, so doch
:I schwer beeinflussbar. Andere können jedoch einfacher zu verändern sein.
l1i In diesem Fall war der von den Schiffen auf ihrer Rückreise gesegelte Kurs
!1
eine Ermessenssache als Ergebnis der Fortschritte im Schiffbau und der
Navigation der letzten 150 Jahre. Hier gab es, im ursprünglichsten Sinn des
l.·
11
'
·
:I Wortes, neuen Manövrierraum. Der Kurs war für die Systemerbauer nicht
mehr starr überdeterminiert. Entsprechend kann das Volta als den Status
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der Kräfte verfolgend und ihre relativen Kräfte in wörtlichem Sinn mes­
1!

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1
send betrachtet werden. Es repräsentierte den Stand des Schiffbaus und
der Navigation, den Stand des Seemannshandwerks und deren Kollision

::.1
1
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 223

mit den Naturgewalten. Das Volta war die zusätzliche Steigerung an Kraft,
die dem neuen Netzwerk erlaubte, sich zu stabilisieren, denn der Kurs war
plötzlich das formbarste Element im Konflikt zwischen dem portugiesi­
schen Wunsch, nach Lissabon zurückzukehren und den Naturkräften des
Atlantik.

Die Karavelle und die afrikanische Küste:


Schließung und Adaption

Wie die Portugiesen feststellen mussten, beschränkte sich Afrika nicht auf
Kap Bojador. Die Fähigkeit, das Kap zu umschiffen und dann in europäi­
sche Gewässer zurückzukehren, war im Ganzen sehr gut, aber es gab noch
mehr Küstenlinie zu erforschen. Südlich des Kaps wird die Küste sogar
noch unwirtlicher, bis man den Senegalfluss und Schwarzafrika erreicht.
Für die meisten dieser schwierigen Erkundungen verwendeten die
Portugiesen Karavellen. Obwohl die Ursprünge dieses Schiffstyps nicht
bekannt sind (Landstrom 1978: roo; Chaunu 1979: 243; Parry 1963: 65;
Unger 1980: 212-215), sind seine dem 15. Jahrhundert entstammenden
Merkmale gut bekannt. Mit einem Gewicht von weniger als roo Tonnen
und einer Länge von 70 bis 80 Fuß von Heck bis Bug (Parry 1963: 65) war
die Karavelle als langes Segelschiff ungewöhnlich, da sie ein Länge-Breite­
Verhältnis von 3-3 bis 3.8 zu I hatte (Diffie/Winius [1977: n8] geben 3 zu 1
an). Sie war im Carvelstil gebaut, ziemlich leicht und mit feinen Linien,
zog wenig Wasser, hatte einen flachen hinteren Teil und wenig Freibord
(Parry 1963: 65; Denoix 1966: 143; Landstrom 1978: roo). Sie hatte nur ein
Deck und war tatsächlich manchmal sogar offen oder mit Halbdeck verse­
hen. Es gab kein Vordeck und der Aufbau des Puppdecks war bescheiden
und barg bestenfalls einen Raum (Parry 1963: 65). Mitte des 15. Jahrhun­
derts und auf den frühen Entdeckungsreisen war die Karavelle sicherlich
auf allen Masten mit Lateinsegeln getakelt.
Die Karavelle war dem Kontext von Forschungsreisen vor der Küste gut
angepasst. Dennoch müssen wir feststellen (wie es viele Historiker, z.B.
Denoix, getan haben), dass man für eine solche Aufgabe ein Schiffbraucht,
das nicht in Felsenriffe gerät, leicht und manövrierfähig ist, das wenig
Wasser zieht, gut gegen den Wind segelt und keine große Mannschaft
braucht. Alle diese Attribute trafen auf die Karavelle zu, die der Aufgabe
tatsächlich gut angepasst war. Aber was drücken wir wirklich damit aus,
wenn wir diese Feststellung machen?
Die Antwort auf diese Frage kann in der Vorstellung eines Netzwerkes
gefunden werden. Systemerbauer versuchen ein Netzwerk heterogener,
jedoch sich gegenseitig erhaltender Elemente zu schaffen. Sie trachten
danach, feindliche Kräfte zu dissoziieren und sie mit ihrem Unternehmen
zu verbinden, indem sie sie transformieren. Der wesentliche Punkt besteht
224 1 JOHN LAW

jedoch darin, dass die Struktur des Netzwerkes die Kraft und die Natur
sowohl der verfügbaren Kräfte als auch der Kräfte, mit denen das Netzwerk
kollidiert, reflektiert. Zu sagen, ein Artefakt sei seiner Umgebung gut
angepasst, heißt zu konstatieren, dass es einen Teil eines Systems oder
Netzwerkes bildet, das fähig ist, potentiell feindliche äußere Kräfte zu
assimilieren (oder abzuweisen). Man muss folglich feststellen, dass das in
Frage stehende Netzwerk relativ stabil ist. Wiederum: Wenn man über ein
Artefakt wie die Karavelle aussagt, dass es anpassungsfähig sei, bedeutet
dies festzustellen, dass ein Netzwerk verbundener Elemente erzeugt wor­
den ist, das stabil ist, weil es den Auflösungsbestrebungen einer großen
Vielzahl potentiell feindlicher Kräfte widerstehen kann und zumindest
einige dieser Kräfte nutzt, indem es sie transformiert und mit dem Projekt
verbindet. Und genau darin besteht die Schönheit der Karavelle im Kontext
des 15. Jahrhunderts, in dem sie von den Portugiesen verwendet wurde.
Richtig bemannt und mit ausreichendem Proviant versehen, war sie in der
Lage, alles umzuwandeln, was die westafrikanische Küstenzone in kontrol­
lierter Bewegung und kontrollierter Reaktion auf sie zu richte'n vermochte.
Sie war ein Netzwerk von Menschen, Holmen, Planken und Segeln, das
ein großes Spektrum an Umständen in Erforschung umwandeln konnte,
ohne sich auf irgendeine der zahlreichen Weisen in seine Bestandteile zu
zerlegen, die Schiffen offen stehen, wenn die Dinge aus dem Ruder zu
laufen beginnen. Wie das Volta erreichte die Karavelle Stabilität, indem sie
die Kräfte um sich herum reflektierte. Sie war gut angepasst, weil sie stabi­
le Beziehungen zwischen ihren Komponenten aufrechterhielt, indem sie
alles, dem sie begegnete, mit diesem Netzwerk verband, während sie sich
bewegte.

Navigation und Sonnenaufgang:


Schließung und Metrikation

Zwischen 1440 und 1490 erforschten die Portugiesen den größten Teil der
westafrikanischen Küste. Als sie sich weiter südwärts bewegten und zu­
nehmend größere Voltas verwendeten, sahen die Portugiesen ihre Naviga­
tionsprobleme akuter werden. Wie konnten sie ihre Position bestimmen,
wenn sie so weit vom Land entfernt waren? Weil die klassischen europäi­
schen Methoden des Kompasskurses, der planen Karten und der Koppel­
navigation nur wenig hilfreich waren, war dieses Problem für die Portugie­
sen äußerst Besorgnis erregend. 1480 entwickelten sie eine praktische
Methode zur astronomischen Bestimmung des Breitengrades an Bord
eines Schiffes. Die allgemeine Idee war, dass, falls die Altura, d.i. die Höhe
über dem Horizont der Sonne oder eines Sterns (normalerweise des Polar­
sterns), bestimmt und mit der bekannten Altura des Bestimmungshafens
verglichen werden konnte, das Schiff nordwärts oder südwärts segeln
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 225

konnte, bis es diesen Breitengrad erreichte. Es konnte dann in dem erfor­


derlichen Maße östlich oder westlich fahren in der Gewissheit, seinen
Bestimmungspunkt zu erreichen.
Die Messung der Altura war entweder mithilfe des Quadranten oder
des Astrolabiums, des Sternhöhenmessers, möglich. Beide Geräte waren
Standardinstrumente der Astronomie und Astrologie an Universitäten, die
eine Menge Informationen darstellten, die einerseits unnötig für die Be­
rechnung des Breitengrads, andererseits für Laien schlicht unverständlich
waren. Auf der Rückseite des Astrolabiums befand sich jedoch eine Alhi­
dade, ein Stab auf einem Drehlager mit zwei Durchsichtslöchern. Der
Beobachter hielt das Instrument mit einem Drehlagerungsring aufrecht
und maß die Altura des Sterns, indem er die Position mittels einer auf dem
Rand der Alhidade markierten Skala ablas. Der Quadrant war ein Instru­
ment mit ähnlichen Funktionen. Er hatte die Form eines Viertelkreises
und die Sternensicht wurde entlang eines seiner »radii« genommen. Der
künstliche Horizont wurde von einem Lot, das in der Mitte des »Kreises«
aufgehängt war, gebildet und mit einer Skala entlang des Umfangs gemes­
sen (Taylor 1956: 158-159). In seiner universitären und astrologischen
Version trug der Quadrant, genau wie das Astrolabium, Informationen
über die Bewegungen der Planeten, die Jahreszeiten und die Stunden.
Beide Instrumente, bis auf die für die Messung der Altura wesentlichen
Vorrichtungen von allem befreit, wurden von portugiesischen Erforschern
verwendet, obwohl es scheint, dass der etwas einfachere Quadrant zuerst
von den Navigatoren benutzt worden ist (Taylor 1956: 159).
Allein waren diese Instrumente natürlich machtlos. Die bloße Tatsache,
einen Himmelskörper durch die Durchsichtslöcher einer Alhidade zu
sichten, hatte per se nichts mit Navigation zu tun. Die Sichtung oder das
mit ihr korrespondierende Ablesen mussten zuerst eine Anzahl komplexer
Transformationen durchlaufen, bevor sie in einen Breitengrad konvertiert
werden konnten. Die Konstruktion eines Netzwerkes von Artefakten und
Kompetenzen, um die Sterne von irrelevanten Lichtpunkten am Nacht­
himmel in bedeutende Verbündete im Kampf gegen den Atlantik zu ver­
wandeln, ist ein gutes Beispiel für heterogenes Engineering.
Ich habe bereits die Vereinfachung des Quadranten und des Astrolabi­
ums erwähnt. Dies kann als ein erster Schritt im Prozess betrachtet wer­
den.10

10 1 Im Folgenden bin ich im Hinblick auf das Material sehr selektiv vorgegan­
gen, um das hervorzuheben, was ich für das Wesentliche des Prozesses halte und zu
vermeiden, mich in zu vielen Details festzufahren. Aus ähnlichen Gründen habe ich
mir auch die Freiheit genommen, die Chronologie der Ereignisse zu reorganisieren,
indem ich von der Einführung der Breitengrade wichtiger Küstenpunkte nach der
Diskussion des Regimento spreche. Für eine ausführlichere soziologische Darstel­
lung vgl. Law (1986a).
226 1 JOHN LAW

Der zweite Schritt bezieht das mit ein, was als soziales Engineering
behandelt werden kann - die Konstruktion eines Netzwerkes von Prakti­
ken, das, wenn es mit den Instrumenten selbst verbunden wird, zur not­
wendigen Transformation von Sonne und Sternenlicht führen würde.
Dieses soziale Engineering selbst tauchte in drei Stufen auf. Zuerst berief
Anfang 1480 König Johann II. eine »wissenschaftliche Kommission« ein,
um verbesserte Methoden zur Messung der Altura zu finden. Diese Kom­
mission bestand aus vier Experten: dem königlichen Leibarzt Meister Rod­
rigo, dem königlichen Seelsorger Bischof Ortiz, dem Geographen Martin
Behaim und Jose Vizinho, der ein Schüler des Astronomen Abraham Zacu­
to von Salamanca gewesen war (Chaunu 1979: 257; Taylor 1956: 162; Beau­
jouan 1966: 74). Die Einberufung einer »wissenschaftlichen Kommission«
zum Zweck, esoterisches wissenschaftliches Wissen in eine Reihe weithin
anwendbarer Praktiken zu verwandeln, ist bereits bemerkenswert. Noch
bemerkenswerter ist die Tatsache, dass diese vier Männer, und wahrschein­
lich besonders Vizinho, in der Lage waren, diese Transformation zu bewir­
ken, indem sie eine Reihe von Regeln für die Berechnung des Breitengra­
des durch halbgebildete Seeleute aufstellten. Diese Regeln, die den zweiten
Teil dieses Experiments in sozialem Engineering bilden, nahmen die Form
des Regimento do Astrolabio do Quadrante an, das wahrscheinlich seit Ende
des Jahres 1480 zur Verfügung stand, zumindest in handschriftlicher
Form. Das Regimento kann als Instruktion gelesen werden, wie man das
Schiff und seine Instrumente in ein Observatorium verwandelt - wie man,
in anderen Worten, eine stabile heterogene Verbindung von Elementen
schafft, die die Eigenschaft hat, Messungen der Altura in Bestimmungen
des Breitengrads zu verwandeln.
Doch das war noch nicht genug. Um die neue Methode des Segelns
übernehmen zu können, mussten die Steuermänner einen dritten Schritt
machen: Es war notwendig, die Breitengrade wichtiger Küstenmerkmale
und besonders der größten Häfen und Kaps zu kennen. Es war in anderen
Worten notwendig, ein Maß zu erzeugen, aus dem die Beobachtungen die
absolute Nord-/Süd-Bedeutung erhalten konnten und von dem aus das
Observatorium des Schiffes entsprechend platziert werden konnte. Die
Messung wichtiger Breitengrade an der Küste brachte wiederum einen
großen organisatorischen Aufwand mit sich. Sie involvierte die Aussen­
dung kompetenter, mit großen hölzernen Astrolabien bewaffneter Beob­
achter auf Forschungsschiffen, die nach Lissabon Bericht erstatteten. 1473
hatten die Astronomen in Lissabon eine Liste von Breitengraden, die bis
zum Äquator reichten (Taylor 1956: 159), eine Liste, die noch erweitert
wurde, als das Jahrhundert fortschritt. Sie machte es weiterhin nötig, dass
bekannte Breitengrade den Seefahrern zugänglich gemacht wurden - und
tatsächlich führt ein weiterer Abschnitt des Regimento diese auf.
Die neue Navigationsmethode erwies sich für die meisten Seefahrer als
schwierig. Nur die fortschrittlichsten Seeleute versuchten sich in ihrer
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 227

Anwendung, und es gibt Beweise, dass Kolumbus- unter anderen - sie nur
unvollständig beherrschte. Obwohl die Einzelheiten unklar bleiben, scheint
es, dass im frühen 16. Tahrhundert, und möglicherweise früher, Steuer­
männern in Lissabon Navigationsunterricht erteilt wurde (Diffie/Winius
1977: 142). Solche Instruktionen waren jedoch nicht durchgängig erfolg­
reich. Es gab im 16. Tahrhundert Beschwerden, dass viele Steuermänner
unfachmännisch seien. Es scheint, dass in dem Versuch, ein stabiles Netz­
werk von Elementen für die Konversion von Sternen in Maße für Breiten­
grade zu erschaffen - in anderen Worten in dem Versuch, Schiffe in Ob­
servatorien umzuwandeln-, die Seeleute das schwächste Glied darstellten.
Die Sterne waren immer da, ebenso wie die Ozeane; sie konnten nicht von
der Stelle bewegt werden. Wenn die Instrumente und die Inskriptionen
auch erst einmal an ihrem Platz waren, erwiesen sie sich als ziemlich
dauerhaft. Aber Instrumente, Inskriptionen und Sterne waren nicht genug.
Ein Teil der Verbindung von Elementen, um Sterne in Breitengrade um­
zuwandeln, lag in den Praktiken der Seeleute- und dieses Element war am
störungsanfälligsten. Es war schwierig, wenn auch nicht vollkommen un­
möglich, eine neue soziale Gruppe zu erschaffen, die für die Schließung
notwendig war: die der asti;onomisch gebildeten Steuermänner.
Soweit bin ich stillschweigend von der Annahme ausgegangen, dass
Erfolg offensichtlich ist, wenn er erreicht wird. Wenn man in seinem
Bestimmungshafen ankommt (oder in diesem Fall auf den Riffen von Kap
Bojador auf Grund läuft), ist der Erfolg (oder Misserfolg) des Unterneh­
mens für alle offenkundig. Wir können sagen, dass es in der ultimativen
Analyse die Fähigkeit der Portugiesen war, zu ihrem Ausgangspunkt zu­
rückzukehren, die ihren Erfolg kennzeichnete. Der Erfolg der astronomi­
schen Navigation bestand darin, dass sie zu dieser Rückkehr beitrug. Den­
noch, wie sehr auch immer die Schließung von der Kapazität zurückzukeh­
ren abhing, so wäre doch das Entscheiden ohne einen Referenzmaßstab
während der Reise nicht möglich gewesen. Der Erfolg jedes gesegelten
Kurses konnte in der Zwischenzeit nur gegen ein vollständig von Men­
schen gemachtes Maß gemessen werden, ein Maß, das von Inskriptionen
und der Fähigkeit, diese Inskriptionen zu interpretieren, abhing. Wir
haben also die Konstruktion eines Hintergrundes, gegen den wir Erfolg
messen - etwas, das der von Constant beschriebenen technischen Testtra­
dition im Kontext der Konstruktion von Wasserturbinen verwandt, wenn
nicht sogar mit ihr identisch ist (Constant 1983). Ich glaube, die Geschichte
der Navigation kann als die Konstruktion (lokal) allgemeinerer Maßsyste­
me verstanden werden, gegen die die Adäquatheit bestimmter Kurse und
Navigationsentscheidungen gemessen werden kann.
228 1 JOHN LAW

Der Moslem und die Kanone: Dissoziation

Am 8. Juli 1497 lichtete Vasco da Gamas Flotte im Tejo die Anker und
setzte Segel. Seine vier kleinen Schiffe beförderten 170 M ann und 20
Kanonen. Sie beförderten ebenfalls Handelswaren. Zwei Jahre später

)
kehrten zwei der ursprünglich vier Schiffe nach Lissabon zurück. Die
Kap-Route nach Indien war eröffnet und Gewürze zurückgebracht worden.
Die Portugiesen trafen auf verschiedene Schwierigkeiten, die teilweise
aus der Feindseligkeit der moslemischen Händler in Indien erwuchsen
(Magalhaes-Godhino 1969: 558). Solche Händler organisierten und kon­
trollierten den Abschnitt des Indischen Ozeans für den Gewürzhandel. Sie
kauften Gewürze in den Basaren von Kalikut und verschifften diese entwe­
der durch den Persischen Golf oder das Rote Meer zu arabischen Häfen
zur weiteren Verschiffung ins Mittelmeer und nach Venedig. Es überrascht
nicht, dass die Moslems die Ankunft da Gamas an der Malabarküste von
Kalikut nicht begeistert begrüßten. Die Verhandlungen zwischen den Por­
tugiesen und dem Hindu-Regenten von Kalikut, dem Samorin, liefen
schlecht. Es gab dafür viele Gründe, aber der wichtigste scheint in der
Feindseligkeit der moslemischen Händler gelegen zu haben, von deren
Übersetzungen die Portugiesen gezwungenermaßen abhingen. Die Über­
setzer verbreiteten eine Vielzahl feindlicher Gerüchte über die Portugiesen,
die dann gezwungen waren, direkt mit den Hindu-Händlern zu verhandeln
(Diffie/Winius 1977: 182-183).
Zurück in Lissabon überdachten die Portugiesen die Situation. Eine
Schlussfolgerung, die sie sehr schnell zogen, war, dass es notwendig sein
würde, im Indischen Ozean Macht auszuüben. Da Gamas erste Expedition
hatte einige Kanonen befördert, aber wenn man der Feindseligkeit der
Moslems Herr werden wollte, würden mehr notwendig sein. Tatsächlich
kamen die Portugiesen bereits vor da Gamas Rückkehr zu diesem Schluss.
Eine größere und stärker bewaffnete zweite Expedition hatte sich bereits
auf den Weg gemacht; die Expedition bestand aus 13 Schiffen und zwi­
schen 1000 und 1500 Mann und wurde von Pedro Cabral befehligt. Cab­
rals Anweisungen waren deutlich: Er sollte einen Bevollmächtigten einset­
zen, um Gewürze in Kalikut zu kaufen und hatte die Instruktion, Stärke zu
demonstrieren, wenn das nötig würde, jedoch von einer Eroberung abzu­
sehen (Magalhaes-Godhino 1969: 561). Obwohl die Verhandlungen gut
begannen, liefen die Dinge schnell wieder schief. Als Antwort stach Cabral
in See, zerstörte eine Anzahl moslemischer Schiffe und bombardierte die
Stadt Kalikut. Die Geschichte wurde mit da Gamas zweiter Expedition
wiederholt, die sogar noch mehr Gewalt einsetzte. Zusammen gossen diese
ersten drei militärischen Einsätze die Form, die die portugiesische Kontrol­
le des Indischen Ozeans in den folgenden Jahren annehmen würde. Die
Kontrolle musste hauptsächlich durch Gewalt aufrechterhalten werden, da

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M.l.:l
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 229

es keinen Raum für beide Handelsmächte - die moslemische und die


portugiesische - gab.
Zur See waren die Portugiesen, zumindest auf kurze Sicht, in der Lage,
die notwendige Militärmacht auszuüben und den moslemischen Seehan­
del zu ersticken. Portugiesische Kanonen erwiesen sich als besser (jedoch
nicht als zahlreicher) als asiatische. Der europäische Fortschritt im Kano­
nenbau hatte viele Probleme überwunden, die den Kanonen des Spätmit­
telalters noch anhafteten. Besonders durch die Entwicklung gussbronzener
Kanonen war das Gewicht der Kanonen reduziert worden. Und obwohl sie
noch immer sehr schwer waren, war ihre Explosion in die Gesichter der
Kanoniere unwahrscheinlicher als bei ihren geschweißten Vorläufern.
Zudem waren die für den unwirtlichen Atlantik gebauten Schiffe der Por­
tugiesen solider als jene ihrer moslemischen Gegenspieler (Boxer 195J:
196). Cipolla formuliert es folgendermaßen:

»Das vom atlantischen Europa im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts entwickelte
Kanonenschiff war die Erfindung, die die europäische Saga möglich machte. Es war
notwendigerweise eine kompakte Einrichtung, die einer relativ kleinen Besatzung
gestattete, nie gesehene Mengen unbelebter Energie zur Bewegung und Zerstörung
zu beherrschen. « (Cipolla 196s: 137)

Die Kanone, das Schiff, der Kapitän, der Kanonier, das Pulver und die
Kanonenkugeln - alle diese bildeten einen relativ stabilen Satz verbunde­
ner Entitäten, der relative Dauerhaftigkeit erreichte, weil sie zusammen in
der Lage waren, die feindlichen Kräfte, auf die sie stießen, zu dissoziieren,
ohne selbst dissoziiert zu werden. Es ist wichtig, an diesem Punkt festzu­
halten, dass einige dieser feindlichen Kräfte natürlich (die Ozeane), andere
sozial waren (die Moslems). Wie ich bereits formuliert habe, assoziiert und
dissoziiert Technik gleichzeitig, und das heterogene Engineering der Por­
tugiesen war dazu erdacht, natürliche und soziale Kräfte gleichermaßen zu
bewältigen und diese Kräfte in einer angemessenen Schließung zu ver­
binden.
Diese Feststellung darf aber nicht dazu verleiten, in die Falle des tech­
nischen Determinismus zu geraten und nun anzunehmen, dass nur die
Technik allein den portugiesischen Erfolg zuwege brachte. Wie im Fall der
Karavelle, des Voltas und der Praxis astronomischer Navigation war die
Haltbarkeit des bewaffneten Kriegsschiffes eine Funktion einer Kollision
von Kräften der portugiesischen Systemerbauer und jenen der Meere sowie
in diesem Fall der Moslems. Boxer (1953: 194-197) argumentiert, dass die
portugiesische »See- und Militärüberlegenheit, wo es sie denn gab, relativ
und begrenzt war«. Es war so, dass es kein gut bewaffnetes Moslem-Schiff
im Indischen Ozean gab. Es war so, dass sich die Chinesen zu ihren Küs­
ten zurückgezogen hatten. Es war so, dass die portugiesischen Expeditio-
230 1 JOHN LAW

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nen Staatsunternehmen waren, die die Macht und organisatorische Fähig­
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keit der Krone mit der Suche nach Profit verbanden. Es war so, dass mos­

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lemische Händler auf eigene Rechnung handelten und nicht für ihre Mon­
archen. Es war so, dass diesen Monarchen wenig Holz zur Verfügung
stand, um Flotten zu bauen, die die Portugiesen aufhalten hätten können.

II
Unter diesen Umständen waren die Portugiesen in der Lage, den Seehan­
del im Indischen Ozean zu dominieren. Sie waren nicht in der Lage (und
1
da sie das wussten, machten sie auch nicht den Versuch), größere Kolo­
nien an Land aufzubauen. Dort riskierten sie, die Balance der Kräfte durch
Kavallerien und einsetzbare Männer gegen sich, eine vernichtende Nieder­
lage.

Fazit

Ich habe damit begonnen, drei Ansätze zur sozialen Untersuchung von
Technik aufzuzeigen. Einer, der des sozialen Konstruktivismus, stammt
aus der Wissenschaftssoziologie. Ich stellte fest, dass obwohl er viele Vor­
teile hat, seine Verpflichtung einem gewissen sozialen Reduktionismus
gegenüber unbefriedigend ist. Der zweite, der Systemansatz, stammt aus
der Technologiegeschichte. Er betont die Heterogenität technischer Aktivi­
tät und vermeidet eine Verpflichtung zu sozialem (oder technologischem)
Reduktionismus. Ich argumentierte, dass dieser Ansatz, in einer Weise
angepasst, die deutlich macht, dass Systeme durch Kämpfe gleichgültiger
oder feindlicher Elemente entstehen, ein befriedigendes Modell für die
Analyse technischer Innovation bietet. Ich stellte weiter fest, dass »hetero­
gene Ingenieure« Entitäten zu verbinden suchen, die von Menschen über
Kompetenzen zu Artefakten und natürlichen Phänomenen reichen. Dies
ist erfolgreich, wenn die daraus resultierenden heterogenen Netzwerke
fähig sind, angesichts der Versuche anderer Entitäten des Systems, sie in
ihre Komponenten zu zerlegen, ein gewisses Maß an Stabilität zu erhalten.
Daraus folgt, dass die Struktur eines in Frage stehenden Netzwerks (oder
Systems) nicht nur das Interesse reflektiert, eine praktikable Lösung zu
erzielen, sondern auch die Beziehung zwischen den Kräften, die es aufbie­
ten konnte, und jenen, die die verschiedenen Gegner einsetzten. Ich könn­
te, wenn ich mehr Gebrauch von der Metapher der Stärke oder Macht
machen würde, über die relative Dauerhaftigkeit oder Stärke verschiedener
Netzwerke oder unterschiedlicher Teile derselben Netzwerke schreiben.
Dann habe ich durch ein empirisches Beispiel zu zeigen versucht, dass in
der Kollision verschiedener Netzwerke einige Komponenten dauerhafter
sind als andere und dass die von der einen oder anderen Seite erreichten
Erfolge eine Funktion der relativen Stärke der in Frage stehenden Kompo­
nenten sind.
Was sind die Vorteile physischer Metaphern wie »Kraft«, »Stärke« und
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 231

»Dauerhaftigkeit«? Zunächst möchte ich sagen, dass ich diesen Begriffen


nicht sehr stark verpflichtet bin. Zweifellos können uns andere Metaphern
genauso gut oder besser dienen. Ich glaube jedoch, dass die Stärke dieses
Vokabulars in seiner Fähigkeit liegt, unter Verwendung derselben Begriffe
mit den verschiedenen heterogenen Elementen, die normalerweise inner­
halb eines Systems versammelt sind, umzugehen. Wie ich früher festge­
stellt habe, strebt die Methode danach, das Soziale, das ökonomische, das
Politische, das Technische, das Natürliche und das Wissenschaftliche mit
denselben Begriffen zu behandeln auf der Grundlage, dass (in den meisten
empirischen Fällen) alle diese Kategorien in angemessener Weise versam­
melt sein müssen, wenn eine Schließung erreicht werden soll. Innerhalb
aller dieser (normalerweise unterschiedenen) Kategorien kann es Entitäten,
Prozesse, Körper, Objekte, Institutionen oder Regeln geben, die im Hin­
blick auf das in Frage stehende System Kraft besitzen und damit relativ
dauerhaft sind. Sie können die Form wissenschaftlicher Wahrheiten,
ökonomischer Märkte, sozialer Fakten, Maschinen etc. annehmen. Sie
formen dann eine relativ zwingende (obwohl schließlich revidierbare)
Szenerie, die gemeistert werden muss, wenn ein System erbaut werden
soll. Da jedoch Dauerhaftigkeit sich nicht in einer einzigen Kategorie allein
befindet, habe ich konventionelle Unterscheidungen zwischen Kategorien
ignoriert und im Besonderen argumentiert, dass es nicht gut genug ist, das
Soziale als explanatorischen Nachgedanken anzufügen. Das Soziale (ein­
schließlich des Makro-Sozialen) muss gleichwertig neben alles andere
gestellt werden, wenn die Kollisionen und Schließungen zwischen Kräften
und Entitäten verstanden werden sollen.
Wie· Callon habe ich versucht, das Prinzip der Symmetrie (Bloor 1976)
weiter zu treiben als in der Wissenschaftssoziologie üblich. In der Wissen­
schaftssoziologie besagt dieses Prinzip, dass derselbe Typ von Erklärung
für sowohl richtige als auch falsche Überzeugungen verwendet werden
sollte. Es soll damit der allgemein in der Wissenssoziologie zu beobachten­
den Tendenz entgegnet werden, wahre Überzeugungen in Begriffen aus­
zudrücken, in denen sie mit der Wirklichkeit korrespondieren, während
den falschen Überzeugungen nur die Erklärung in Begriffen der Operation
psychologischer oder sozialer Faktoren übrig bleibt. Die verallgemeinerte
Version des Symmetrieprinzips (Callon 1986), die ich hier übernommen
habe, besagt, dass derselbe Typ von Erklärung für alle Elemente verwendet
werden soll, die ein heterogenes Netzwerk bilden, ob diese Elemente Gerä­
te, natürliche Kräfte oder soziale Gruppen sind. Im Besonderen besagt das
Prinzip der Symmetrie, dass dem sozialen Element in einem System kein
spezieller explanatorischer Status zugestanden werden sollte. n Die Form,
die diese Elemente annehmen, kann eine Funktion der technischen oder

11 I Ähnliche Argumentationen wurden von Woolgar (1981), Yearley (1982) und


Callon/Law (1982) vorgebracht.
232 1 JOHN LAW

natürlichen Merkmale eines Systems sein (und ist es auch oft). Dies ist ein
kontingenter Sachverhalt, eine Funktion, durch die die Komponenten eines
Systems am dauerhaftesten und am wenigsten anfällig für Dissoziation
verbunden werden.
Damit soll nicht gesagt sein, dass das Soziale immer formbar und das
Technische oder Natürliche immer dauerhaft ist. Es soll eher betont wer­
den, dass die Beziehung zwischen ihnen eine kontingente ist und dass es
wichtig ist, einen Weg zu finden, alle Komponenten in einem System mit
gleichen Begriffen, d.h. gleichgestellt, zu behandeln. Dies führt aber zu
einer weiteren Art, in der der Netzwerkansatz sich von dem des sozia­
len Konstruktivismus unterscheidet. Im sozialen Konstruktivismus haben
natürliche Kräfte oder technische Objekte immer den Status eines Expla­
nandums. Die natürliche Welt oder der in Frage stehende Apparat werden
niemals als Explanans behandelt. Sie haben sozusagen in der Erklärung
keine eigene Stimme. Die Übernahme des Prinzips der generalisierten
Symmetrie bedeutet, dass das nicht länger der Fall ist. Natürlich abhängig
von den kontingenten Umständen können die natürliche Welt und die
Artefakte als Explanans in die Darstellung eintreten. Falls es scheint, als
räumte ich dem Realismus zu viel ein, möchte ich hinzufügen, dass, so­
lange wir es ausschließlich mit Netzwerken zu tun haben, die von Men­
schen erbaut werden, die »Natur« nur dann ihre Unnachgiebigkeit in einer
Art und Weise enthüllt, die für das Netzwerk relevant ist, wenn sie von den
Systemerbauern registriert wird. Also wird die Natur nicht in einen beson­
deren Status erhoben. Es ist, wie ich bereits angedeutet habe, eher so, dass '1

das Soziale degradiert wird. Im Netzwerkansatz haben weder Natur noch 1

Gesellschaft irgendeine Rolle zu spielen, außer sie treffen auf den System­
erbauer. Deshalb findet man in meiner Erklärung der portugiesischen
Expansion Kaps und Strömungen neben Schiffen und Seefahrern. Wenn
das Prinzip der generalisierten Symmetrie einmal akzeptiert worden ist,
können diese nicht ausgeschlossen werden. Der Versuch, eine Erklärung
des portugiesischen Systems auf eine begrenzte Anzahl sozialer Katego­
rien zu reduzieren, würde ein Misslingen der Erklärung der Spezifizität
des Volta, der Karavelle oder des Regimento bedeuten. Die portugiesische
Sichtweise der Sonne und der ungünstigen Winde ist notwendig, damit die
Erklärung funktioniert. 12

12 1 Nachdem ich das gesagt habe, räume ich bereitwillig ein, dass ich im vorlie­
genden Artikel aufgrund eines Mangels an Daten über mittelalterliche und frühmo­
deme maritime Praktiken manchmal gezwungen war, eine Art »rationaler Rekon­
struktion« anzuwenden, um zu zeigen, wie die Natur und die Gesellschaft die
portugiesische Analyse ihrer Probleme beeinflussten. Dies sollte so verstanden
werden, dass ich rationale Rekonstruktion nicht zum Zwecke eines epistemologi­
schen Urteils einsetze, sondern auf dem Boden der Tatsachen auszuarbeiten versu­
che, was in Fällen, in denen historische Daten fehlen, passiert zu sein scheint. Für
TECHNIK UND HETEROGENES ENGINEERING 1 233

Daraus folgt ein weiteres methodologisches Prinzip. Es besagt, dass die


Reichweite des erforschten Netzwerkes von der Existenz von Akteuren
bestimmt wird, die fähig sind, es ihre Präsenz individuell spüren zu lassen.
Wenn ein Systemerbauer gezwungen ist, sich einem Akteur zuzuwenden,
dann existiert dieser Akteur innerhalb des Systems. Umgekehrt existiert
ein in Frage kommendes Element vom Standpunkt des Netzwerks nicht,
wenn es das Netzwerk seine Präsenz nicht durch Beeinflussung der Netz­
werkstruktur in einer wahrnehmbaren und individuellen Weise spüren
lassen kann. Es ist klar, dass deshalb die Wahl eines Netzwerkes, auf das
man sich konzentriert, wesentlich ist. Wenn der Fokus auf einem System
liegt, wird ein Muster auftreten. Wenn der Fokus auf einem anderen
System oder sogar auf einem Element innerhalb des ursprünglichen
Systems liegt, wird eine andere Struktur sichtbar. Also enthielt das System
der portugiesischen Expansion für Henry, den Navigator, Elemente wie
Schiffe und ihre Kapitäne. Eine Verschiebung des Fokus von Henry zum
Kapitän und seinem Schiff brächte ein weiteres Netzwerk von Seeleuten,
Rundhölzern und Vorräten in den Fokus- ein Netzwerk mit seiner eige­
nen Kraft, das, wenn es innerhalb des Systems der portugiesischen Expan­
sion platziert wird, als einzelne Einheit agierte. Falls das Schiff und sein
Kapitän nicht die Rollen spielten, die für sie im Netzwerk der Expansion
definiert wurden, dann könnten die Elemente, die sie bilden, natürlich in
Lissabon individuell relevant geworden und in Henrys Expansionsnetzwerk
eingebaut worden sein. Eine solche Abstimmung ist konsistent mit dem
ursprünglichen Vorschlag- sie exemplifiziert ihn sogar-, dass das Aus­
maß eines Netzwerkes von der Präsenz von Akteuren definiert wird, die
ihre Anwesenheit individuell spürbar werden lassen können.13
Das bedeutet natürlich auch, dass der/die heterogene Ingenieur/-in,
der/die im Herzen seines oder ihres Netzwerkes steht, nicht prinzipiell
analytisch privilegiert ist. Es stimmt, dass ich zum Zweck dieser bestimm­
ten Studie beschlossen habe, einer Systemerbauungsbemühung zu folgen
- der der portugiesischen maritimen Planer. Ich habe das getan, um der
Analyse praktische Grenzen zu setzen. Indem ich diese Entscheidung
fällte, habe ich mich jedoch nicht der Idee verpflichtet, dass Systemerbauer
primäre Entitäten und selbst der Analyse unzugänglich sind. Genauso wie
Schiffe oder Navigatoren ihre Form aus der Interaktion zwischen Netzwer-

eine weitergehende Diskussion der rationalen Rekonstruktion und der Unzuläng­


lichkeit von Daten vgl. Law (1985). Es ist offensichtlich, dass diese Vorgehensweise
nicht ideal ist. Sie ist - außer wenn empirische Studien gänzlich vorenthalten wer­
den - offensichtlich unvermeidlich.
13 1 Es ist aus dem bis jetzt Gesagten klar, dass jedes Netzwerk an einem Kno­
tenpunkt steht und (wenn es relativ stabil ist) von der Kraft profitiert, die von endlo­
sen anderen, zu individuellen Einheiten simplifizierten Netzwerken beigetragen
wird. Vgl. Callon (198ia) und Law (1984).
234 1 JOHN LAW

ken von Kräften erhalten, geschieht das auch mit heterogenen Ingenieu­
ren. Die Tatsache, dass diese in einer Position sind, Systeme zu bauen, ist
selbst das Resultat einer Reihe von Interaktionen unter Kräften mit ver­
schiedenen Graden von Widerstandsfähigkeit. Einfach ausgedrückt könnte
man sagen, der König von Portugal ist genauso sehr eine Wirkung wie eine
Ursache: Er ist die Wirkung einer Reihe von endlosen Transaktionen, die
prinzipiell der Analyse zur Verfügung stehen. In der vorliegenden Studie
entschließe ich mich aus Gründen der Einfachheit, ihn als Ursache und
Navigation als eine Wirkung zu betrachten; in einer anderen Studie oder in
vergleichbaren können sie ebenso umgekehrt sein.
Zusammengefasst gibt es zwei eng verbundene methodologische Prin­
zipien für die Untersuchung heterogener Netzwerke. Das erste, das der
generalisierten Symmetrie, besagt, dass derselbe Analysetypus auf alle
Komponenten eines Systems angewendet werden sollte, ob diese Kompo­
nenten menschlich sind oder nicht. Das zweite, das der reziproken Defini­
tion, besagt, dass Akteure Entitäten sind, die wahrnehmbaren Einfluss auf
andere ausüben können. Wenden wir das auf ein relativ stabiles System an,
so können wir deshalb das Ausmaß des Systems oder Netzwerkes durch
die Anzahl von Akteuren definieren, die als einheitliche Kräfte zur Beein­
flussung der Netzwerkstruktur operieren. In diesem Beitrag habe ich ver­
sucht, diesen beiden Prinzipien in einer Analyse der portugiesischen Ex­
pansion zu folgen. Durch die Neuinterpretation der Begriffe des Systems,
der Adaption und des technischen Testens an einem historischen Fall hoffe
ich, dass ich mit Erfolg die Relevanz des Ansatzes für die Analyse techni­
scher Innovation zeigen konnte.

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Die Vermischung von Menschen
und Nicht-Menschen:
Die Soziologie eines Türschließers
1
JIM JOHNS0N

Ist Soziologie die Untersuchung sozialer Fragen oder ist sie die Untersu­
chung von Verbindungen? In diesem Beitrag nimmt der Autor die zweite
Position ein und erweitert die Analyse unserer Verbindungen auf Nicht­
menschen. Zur Verdeutlichung der Argumentation wird ein sehr beschei­
dener Nichtmensch gewählt, ein Türschließer, und analysiert, wie dieses
>rein< technische Artefakt ein hoch moralischer, hoch sozialer Akteur ist,
der sorgfältige Betrachtung verdient. Dann schlägt der Autor eine Termino­
logie vor, um menschlichen und nichtmenschlichen Beziehungen zu
folgen, ohne an der künstlichen Trennung zwischen dem, was rein tech­
nisch, und dem, was sozial ist, stehen zu bleiben. Der Autor baut seinen
eigenen Text so auf, dass dieser selbst eine Maschine ist, die verschiedene
Standpunkte des Autors veranschaulicht. Im Besonderen wird der Autor
selbst einige Male konstruiert und dekonstruiert, um zu zeigen, wie viele
soziale Akteure von Maschinen und Automatismen inskribiert oder prä­
skribiert werden.

Der liberalste Soziologe diskriminiert manchmal Nichtmenschen. Bereit,


das bizarrste, exotischste oder verschrobenste Sozialverhalten zu erfor­
schen, scheut er aber vor der Untersuchung von Kernkraftwerken, Robo­
tern oder Pillen zurück. Obwohl die Soziologie Expertin im Umgang mit
menschlichen Gruppierungen ist, ist sie ihrer selbst weniger sicher, wenn
es um Nichtmenschen geht. Die Versuchung besteht, den Nichtmenschen

11 Zur sozialen Dekonstruktion der Autoren vgl. unten den Abschnitt »Diszi­
plinierung des Türschließers«.
238 1 JIM JOHNSON

der Obhut der Technologen zu überlassen oder den Einfluss von Techni­
ken als Black Boxes auf die Evolution sozialer Gruppen zu untersuchen.
Trotz der Arbeiten von Marx oder Lewis Murnford und der neueren Ent­
wicklung einer Techniksoziologie (MacKenzie/Wacjman 1985; Bijker/
Hughes/Pinch 1986; Winner 1986; Latour 1987) fühlen sich Soziologen
entfremdet, wenn sie auf die bizarren Verbindungen zwischen Menschen
und Nichtmenschen stoßen. Teil ihres Unbehagens hat mit der Besonder­
heit komplexer Objekte zu tun und dem Fehlen einer zweckmäßigen Ter­
minologie, die ihnen gestattet, sich - frei von der Untersuchung menschli­
cher Verbindungen - hin zu Verbindungen von Nichtmenschlichen zu
bewegen. In diesem Beitrag möchte ich zur Wiedereinführung von Nicht­
menschen in den Mainstream der amerikanischen Soziologie beitragen,
indem ich eine extrem einfache Technik untersuche und eine kohärente
Terminologie anbiete, die auf komplexere menschliche und nichtrnenschli­
che Verstrickungen übertragen werden kann.

Die Neuerfindung der Tür


An einem eiskalten Tag im Februar konnte man eine kleine, an der Tür der
Soziologieabteilung der Walla Walla Universität in Washington angebrach­
te handschriftliche Notiz sehen: »Der Türschließer streikt, um Gottes
Willen haltet die Tür geschlossen.« Dieser Mix von Beziehungen zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Religion, Ankündigung, Semiotik und
Technik in einem einzigen unbedeutenden Faktum ist genau das, was ich
beschreiben möchte. Als Technologe, der an einer Ingenieurschule in
Columbus (Ohio) unterrichtet, möchte ich gern einige der Annahmen auf
die Probe stellen, die Soziologen oft über den >sozialen Kontext< von Ma­
schinen vertreten.
Wände sind eine nette Erfindung, aber wenn es keine Löcher in ihnen
gäbe, gäbe es keine Möglichkeit, hinein- oder hinauszukommen; sie wären
Mausoleen oder Gräber. Das Problem ist, dass alles und jedes hinein oder
hinaus kann (Bären, Besucher, Staub, Ratten, Lärm), wenn man Löcher in
die Wände macht. Also haben Architekten diesen Hybriden erfunden: eine
Lochwand, oft auch Tür genannt, die, obwohl sie verbreitet genug ist, mir
immer wie ein Wunder der Technik vorgekommen ist. Die Klugheit dieser
Erfindung hängt an ihrer Angel: Statt mithilfe eines Vorschlaghammers
oder Pickels ein Loch durch Wände zu treiben, drückt man einfach sanft
die Tür auf (ich setze hier voraus, dass das Schloss noch nicht erfunden
worden ist; dies würde die schon hoch komplexe Geschichte dieser Tür
noch verkomplizieren). Weiter - und hier ist der wirkliche Trick - muss
man, nachdem man einmal durch die Tür gegangen ist, nicht nach Mau­
rerkelle und Zement suchen, um die Wand wieder aufzubauen, die man
gerade zerstört hat; man drückt die Tür einfach sanft zurück (ich ignoriere
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN J 239

für den Augenblick die zusätzliche Komplikation der »Ziehen«- und


»Drücken«-Symbole).
Um also die Arbeit einzuschätzen, die von den Angeln geleistet wird,
muss man sich nur vorstellen, dass man jedes Mal, wenn man in ein
Gebäude hinein oder aus ihm hinaus will, dieselbe Arbeit tun muss wie ein
Sträfling, der zu entkommen, oder ein Verbrecher, der eine Bank zu über­
fallen versucht, plus der Arbeit, die jene tun müssen, die die Wände des
Gefängnisses oder der Bank wieder aufbauen.
Wenn Sie sich nicht vorstellen wollen, wie Leute Wände zerstören und
sie jedes Mal wieder aufbauen, wenn sie ein Gebäude verlassen oder betre­
ten möchten, dann stellen Sie sich die Arbeit vor, die verrichtet werden
müsste, um all die Dinge und Leute drinnen oder draußen zu halten, die,
wenn man sie sich selbst überließe, den falschen Weg nähmen. Wie Max­
well gesagt haben könnte: Stellen Sie sich seinen Dämon vor, der ohne eine
Tür arbeitet. Alles könnte aus der Abteilung entkommen oder in sie ein­
dringen, und es gäbe bald ein vollkommenes Gleichgewicht zwischen der
deprimierenden und lauten Umgebung und dem Inneren des Gebäudes.
Technik ist immer involviert, wenn Asymmetrie oder Irreversibilität das
Ziel sind. Es mag so erscheinen, als seien Türen ein erstaunliches Gegen­
beispiel, da sie die Lochwand in einem reversiblen Zustand erhalten. Aber
1

\ die Anspielung auf Maxwells Dämonen zeigt deutlich, dass dies nicht der
Fall ist. Die reversible Tür ist der einzige Weg, eine differentielle Akkumu­
1 lation von warmgehaltenen Soziologen, Wissen, Papieren und leider auch
Schreibarbeit irreversibel innen zu fangen; die Tür mit Angeln gestattet
eine Auswahl dessen, was hinein- und hinausgeht, um lokal Ordnung oder
Information zu vergrößern.
Nun zeichnen Sie zwei Spalten (wenn ich den Lesern keine Anweisun­
gen geben darf, dann betrachten Sie es als sehr streng formulierten Rat­
schlag). In der rechten Spalte listen Sie die Arbeit auf, die Leute tun müss­
ten, wenn sie keine Tür hätten; in die linke Spalte tragen Sie das sanfte
Drücken (oder Ziehen) ein, das sie ausführen müssen, um dieselbe Aufga­
be zu erfüllen. Vergleichen Sie die beiden Spalten; dem enormen Aufwand
auf der rechten Seite steht der geringe auf der linken gegenüber - dank der
Angeln. Ich werde diese Transformation einer großen in eine geringe
Anstrengung als Übersetzung oder Delegierung definieren; ich werde sagen,
dass wir an die Angel die Arbeit delegiert (oder übersetzt oder verlagert
oder nach außen verschoben) haben, das Lochwand-Dilemma umkehrbar
zu lösen. Wenn ich einen befreundeten Soziologen besuche, muss ich
diese Arbeit nicht tun oder noch nicht einmal daran denken; sie wurde
vom Zimmermann an eine Figur delegiert, die Angel nämlich, die ich
einen Nichtmenschen nennen werde (nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich
nicht »Unmenschen« gesagt habe). Ich betrete einfach die soziologische
Abteilung. Als allgemeinere deskriptive Regel kann man sich vergegenwär­
tigen, dass man sich jedes Mal, wenn man wissen möchte, was ein Nicht-
240 1 JIM JOHNSON

mensch tut, einfach vorstellt, was andere Menschen oder Nichtmenschen


würden tun müssen, wenn diese Figur nicht anwesend wäre. Dieses ima­
ginäre Ersetzen schätzt genau die Rolle oder Funktion dieser kleinen Figur
ein.
Bevor wir weitergehen, lassen Sie mich einen der Nebenvorteile dieser
Tabelle feststellen: Tatsächlich haben wir eine Skalenbalance gezeichnet, in
der kleine Bemühungen mächtige Gewichte ausgleichen. Die Skala, die wir
gezeichnet haben (zumindest die, die Sie gezeichnet haben, wenn Sie
meinen Anweisungen gefolgt sind - ich meine, wenn Sie meinen Rat
befolgt haben), reproduziert die tatsächliche Hebelwirkung, die Angeln
erlauben. Dass die Kleinen stärker gemacht werden sollen als die Großen,
ist tatsächlich eine sehr moralische Geschichte (denken Sie an David und
Goliath). Zugleich ist dies auch, seit Archimedes' Tagen zumindest, eine
sehr gute Definition von Hebel und Kraft: das Minimum, das man halten
und klug einsetzen muss, um einen maximalen Effekt zu produzieren.
Spiele ich auf Maschinen an oder auf den König von Syrakus? Ich weiß es
nicht. Es spielt auch keine Rolle, da der König und Archimedes die zwei
>Minimaximen< in einer von Plutarch erzählten Geschichte verschmolzen:
in der Verteidigung von Syrakus. Ich behaupte, dass die Umkehr der Kräfte
das ist, was Soziologen sich anschauen sollten, um die >soziale Konstruk­
tion< von Technik zu verstehen - und nicht einen hypothetischen sozialen
Kontext, den zu erfassen sie nicht ausgerüstet sind. Nachdem dieser kleine
Punkt gemacht ist, lassen Sie mich mit der Geschichte fortfahren. (Wir
werden später verstehen, weshalb ich nicht wirklich Ihre Erlaubnis zum
Weitermachen brauche und wieso es Ihnen trotzdem freisteht, nicht fort­
zufahren, wenn auch nur aufrelative Weise.)

Delegation an Menschen

Es gibt ein Problem mit Türen. Besucher drücken sie, um hineinzukom­


men, oder ziehen sie, um hinauszugehen (oder umgekehrt), aber dann
bleibt die Tür offen. D.h. anstelle der Tür hat man ein klaffendes Loch in
der Wand, durch das z.B. die Kälte hinein- und die Wärme hinauszieht.
Natürlich könnte man sich vorstellen, dass die Leute, die im Gebäude
wohnen oder die die Soziologieabteilung besuchen, eine disziplinierte
Gruppe seien (Soziologen sind immerhin sorgfältige Leute). Sie werden
lernen, die Tür hinter sich zu schließen und das momentane Loch in eine
versiegelte Wand zurückzuverwandeln. Das Problem ist, dass Disziplin
nicht das Hauptcharakteristikum von Menschen ist. Werden sie sich so
wohlerzogen verhalten? Eine Tür zu schließen könnte seit der Erfindung
li!'
i'
der Angeln als ziemlich einfaches Stück Know-how erscheinen; wenn man
jedoch die Menge an Arbeit, Innovationen, Wegweisern und gegenseitigen
Beschuldigungen betrachtet, die endlos weitergehen, um sie geschlossen
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 241

zu halten (zumindest in nördlichen Regionen), scheint dieses Know-how


ziemlich wenig verbreitet zu sein.
Hier wird uns die uralte, von Mumford (1966) so treffend analysierte
Wahl angeboten, entweder die Leute zu disziplinieren oder die unverlässli­
chen Leute durch eine andere delegierte menschliche Figur zu ersetzen, deren
einzige Funktion es ist, die Tür zu öffnen und zu schließen. Diesen nennt
man einen Portier (nach dem französischen Wort für Tür) oder Türhüter,
einen Pförtner, einen Concierge, einen Schließer oder einen Wärter. Der
Vorteil ist, dass man nun nur einen Menschen disziplinieren muss und
man die anderen sicher ihrem unberechenbaren Verhalten überlassen
kann. Ungeachtet, wer diese anderen sind und woher sie kommen, wird
der Portier sich immer um die Tür kümmern. Ein Nichtmensch (die An­
geln) und ein Mensch (der Portier) haben das Lochwand-Dilemma gelöst.
Gelöst? Nicht ganz. Zuallererst: Wenn die Abteilung einen Portier
bezahlt, hat sie kein Geld übrig, um Kaffee oder Bücher zu kaufen oder
bedeutende Ausländer einzuladen, um Vorträge zu halten. Wenn sie dem
armen Kerl neben den Pflichten des Portiers andere Aufgaben zuweisen,
wird er den Großteil der Zeit nicht anwesend sein und die verdammte Tür
wird offen bleiben. Sogar wenn sie das Geld hätten, um ihn dort zu halten,
sind wir nun mit dem Problem konfrontiert, dass 200 Jahre Kapitalismus
nicht vollständig lösen konnten: Wie diszipliniert man einen Jugendlichen
dazu, eine langweilige und unterbezahlte Pflicht verlässlich zu erfüllen?
Obwohl es jetzt nur einen zu disziplinierenden Menschen gibt anstelle von
Hunderten (in der Praxis nur etwa Dutzende, weil Walla Walla ziemlich
schwer zu lokalisieren ist), ist nun der Schwachpunkt der Taktik enthüllt:
Wenn dieser eine Bursche unverlässlich ist, bricht die ganze Kette zusam­
men. Wenn er bei der Arbeit einschläft oder herumläuft, ist es aus; die Tür
bleibt offen (man erinnere sich, dass es keine Lösung ist, die Tür abzu­
schließen, da sie dies in eine Wand verwandeln würde und es eine unmög­
liche Aufgabe wäre, alle Besucher mit dem richtigen Schlüssel zu versor­
gen). Natürlich könnte der unzuverlässige Kerl bestraft werden oder sogar
eine Tracht Prügel bekommen. Aber stellen Sie sich diese Schlagzeile vor:
»Wissenschaftssoziologen verprügeln Portier aus armen Arbeiterklasse-Mi­
lieu«. Und was, wenn er auch noch schwarz ist, was er bei dem niedrigen
Lohn sehr wohl sein könnte? Nein, einen Portier zu disziplinieren ist eine
enorme und kostspielige Aufgabe, die nur die »Hilton Hotels« bewältigen
können - und das aus anderen Gründen, die nichts damit zu tun haben,
eine Tür vernünftig geschlossen zu halten.
Wenn wir die Arbeit, den Portier zu disziplinieren, mit der Arbeit
vergleichen, die er entsprechend der oben definierten Liste ersetzt, sehen
wir, dass diese delegierte Figur den gegenteiligen Effekt der Angeln hat.
Eine einfache Aufgabe, die Leute dazu zu zwingen, die Tür zu schließen,
wird nun mit unglaublichen Kosten ausgeführt; der minimale Effekt wird
mit maximalen Ausgaben und Zwang erreicht. Wir stellen auch einen
242 1 JIM JOHNSON

interessanten Unterschied fest, während wir die beiden Listen zeichnen. In


der ersten Beziehung (Angeln gegenüber der Arbeit einer Menge Leute),
gab es nicht nur eine Umkehr der Kräfte (der Hebel erlaubt sanfte Manipu­
lation mit schweren Gewichten), sondern auch eine Umkehr der Zeit.
Wenn die Angeln einmal an Ort und Stelle sind, muss, abgesehen von der
Wartung (d.h. sie von Zeit zu Zeit zu ölen), nichts mehr getan werden. Bei
der zweiten Reihe von Beziehungen (Arbeit des Türschließer gegenüber
der Arbeit einer Menge Leute) versagt man nicht nur darin, die Kräfte
umzukehren, sondern auch darin, den Zeitplan zu modifizieren. Man kann
nichts tun, um den Portier, der zwei Monate lang zuverlässig war, davon
abzuhalten, am 62. Tag zu versagen; an diesem Punkt muss nicht War­
tungsarbeit erfüllt werden, sondern dieselbe Arbeit wie am ersten Tag -
abgesehen von den paar Angewohnheiten, die man in seinen Körper inkor­
porieren konnte. Obwohl sie zwei ähnliche Delegierungen zu sein scheinen,
ist die erste in der Zeit konzentriert, während die andere fortdauernd ist;
genauer schafft die erste eine deutliche Unterscheidung zwischen Produk­
tion und Wartung, während bei der anderen die Unterscheidung zwischen
Schulung und In-Funktion-Behalten entweder verschwommen ist oder
gegen Null tendiert. Die erste evoziert das Plusquamperfekt (»als Angeln
einmal installiert worden waren«); die zweite das Präsens (»wenn der
Portier auf seinem Posten ist«). Es gibt eine eingebaute Trägheit in der
ersten, die der zweiten größtenteils fehlt. Eine profunde zeitliche Verschie­
bung findet statt, wenn man sich an Nichtmenschen wendet: Die Zeit wird
gefaltet.

Disziplinierung des Türschließers

An diesem Punkt gibt es eine relativ neue Wahlmöglichkeit: entweder die


Leute zu disziplinieren oder den unzuverlässigen Menschen durch eine
delegierte nichtmenschliche Figur zu ersetzen, deren einzige Funktion
darin besteht, die Tür zu öffnen und zu schließen. Diesen nennt man
einen Türschließer. Der Vorteil ist der, dass man nun nur einen Nicht­
menschen disziplinieren muss und die anderen (einschließlich Portiers)
ihrem unberechenbaren Verhalten überlassen kann. Ungeachtet, wer diese
anderen sind und woher sie kommen - höflich oder unhöflich, schnell
oder langsam, Freunde oder Feinde -, wird der nichtmenschliche Portier
sich immer, bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit, um die Tür küm­
mern. Ein Nichtmensch (die Angeln) und ein anderer Nichtmensch (der
Türschließer) haben das Lochwand-Dilemma gelöst.
Gelöst? Nicht ganz. Hier kommt nun die Frage der Dequalifizierung,
die Sozialhistorikern so lieb ist: Tausende menschlicher Portiers wurden
von ihren nichtmenschlichen Brüdern arbeitslos gemacht. Sind sie ersetzt
worden? Das hängt von der Art der Handlung ab, die übersetzt oder an sie
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 243

delegiert wurde. In anderen Worten: Wenn Menschen ersetzt und dequali­


fiziert werden, müssen Nichtmenschen aufgewertet und weiterqualifiziert
werden. Dies ist keine leichte Aufgabe, wie wir jetzt sehen werden.
Wir haben sicher alle schon einmal erlebt, wie eine Tür mit einem
starken Federmechanismus uns ins Gesicht schlägt. Sicherlich erledigen
Federn die Aufgabe des Portiers, aber sie spielen die Rolle eines sehr un­
höflichen, ungebildeten Portiers, der offensichtlich die Wandversion der
Tür der Lochversion vorzieht. Sie schlagen die Tür einfach zu. Das Interes­
sante an solch unhöflichen Türen ist dies: Wenn sie die Tür so gewaltsam
zuschlagen, bedeutet das, dass Sie, der Besucher, sehr schnell beim
Durchgehen sein müssen und dass Sie nicht direkt hinter jemandem gehen
sollten; andernfalls wird Ihre Nase gestaucht und blutig. Ein inkompetenter
nichtmenschlicher Portier setzt also einen kompetenten menschlichen
Benutzer voraus. Es ist immer eine gegenseitige Abstimmung. Ich werde,
Madeleine Akrich folgend, das von nichtmenschlichen Delegierten auf den
Menschen überwälzte Verhalten Präskription nennen (Akrich 1987). Wie
kann man diese Präskriptionen darstellen? Indem man sie durch Reihen
von Sätzen (gewöhnlich im Imperativ) ersetzt, die (still und kontinuierlich)
von den Mechanismen zum Vorteil derer, die mechanisiert sind, geäußert
werden: Tu dies, tu das, benimm dich auf diese Weise, nimm nicht diesen
Weg. Solche Sätze sehen einer Programmiersprache sehr ähnlich. Dieses
Ersetzen von Stille durch Worte kann in den Gedankenexperimenten des
Wissenschaftlers, aber auch in Handbüchern oder explizit in jeder Schu­
lung durch die Stimme des Vorführers, Ausbilders oder Lehrers erledigt
werden. Das Militär ist besonders gut darin, Anweisungen durch den
Mund eines menschlichen Ausbilders zu brüllen, der sich selbst die Auf­
gabe zurückdelegiert hat, im Namen des Gewehrs die Eigenschaften des
idealen Gewehrbenutzers zu erklären. Wie Akrich feststellt, ist die Prä­
skription die moralische und ethische Dimension des Mechanismus. Trotz
des steten Unbehagens von Moralisten ist kein Mensch so unerbittlich
moralisch wie eine Maschine, besonders, wenn sie so ,benutzerfreundlich<
ist (sie ist, er ist, es ist, sie sind) wie mein Computer.
Das Ergebnis einer solchen Verteilung von Kompetenzen zwischen
Menschen und Nichtmenschen ist bekannt: Mitglieder der Abteilung für
Soziologie gehen sicher in gutem Abstand voneinander durch die zuschla­
genden Türen; Besucher, die sich der lokal-kulturellen Bedingung nicht be­
wusst sind, drängen in Gruppen durch die Tür und holen sich blutige
Nasen. Diese Geschichte ist vergleichbar mit jener über die Busse, die mit
armen Schwarzen voll besetzt nicht unter den Brücken hindurchpassten,
die in die Manhattan Parks führten (Winner 1980). Also gehen Konstruk­
teure zurück zu ihren Zeichenbrettern und versuchen, sich eine nicht­
menschliche Figur vorzustellen, die ihren menschlichen Benutzern nicht
diese seltenen lokal-kulturellen Kompetenzen präskribiert. Eine schwache
Feder könnte als gute Lösung erscheinen. Dies ist aber nicht der Fall, weil
11I:
244 1 JIM JOHNSON

sie eine andere Art von sehr inkompetentem und unentschlossenem Por­
tier ersetzen würde, der sich nie des Zustands der Tür (oder seines eige­
nen) sicher ist: Ist sie ein Loch oder eine Wand? Bin ich ein Schließer oder
ein Öffner? Wenn sie beides gleichzeitig ist, kann man die Wärme verges­
sen. In der Computersprache ist eine Tür ein ODER-, nicht ein UND-Tor.
Ich bin ein großer Fan von Angeln, aber ich muss gestehen, dass ich
hydraulische Türschließer viel mehr bewundere, besonders die alten,
schweren, verkupferten, die den Haupteingang unseres Hauses in Colum­
bus (Ohio) ganz langsam schlossen. Ich bin fasziniert vom Hinzufügen
eines hydraulischen Kolbens zur Feder, der sanft die Energie derjenigen,
die die Tür öffnen, aufnimmt, sie hält und dann langsam mit einer raffi­
nierten Art unerbittlicher Festigkeit, die man von einem gut ausgebildeten
Butler erwarten könnte, zurückgibt. Besonders raffiniert ist die Art, von
wirklich jedem widerwilligen, ahnungslosen Passanten Energie zu ziehen.
Meine Militärfreunde an der Akademie nennen eine solche kluge Abstrak­
tion »obligatorischen Passage-Punkt«, was ein sehr passender Name für
eine Tür ist; ungeachtet, was man fühlt, denkt oder tut, man muss buch­
stäblich etwas von seiner Energie an der Tür lassen. Das ist so schlau wie
eine Mautstelle.
Dies löst jedoch noch nicht alle Probleme. Sicherlich schlägt der hy­
11
,1
draulische Türschließer nicht die Nasen derer ein, die sich der lokalen
,,
Bedingungen nicht bewusst sind, womit man sagen könnte, dass seine
Präskriptionen weniger restriktiv sind. Aber er lässt noch immer Segmente
menschlicher Populationen außer Acht. Weder mein kleiner Neffe noch
meine Großmutter könnten ohne Hilfe hineinkommen, weil unser Tür­
schließer der Kraft einer körperlich kräftigen Person bedarf, um genug
Energie zum Schließen der Tür zu akkumulieren. Um eine klassische
Wendung von Winner (1980) zu benutzen, diskriminieren diese Türen
aufgrund ihrer Präskriptionen sehr kleine und sehr alte Personen. Wenn es
außerdem keinen Weg gibt, sie ständig offen zu halten, diskriminieren sie
auch Möbelpacker und im Allgemeinen jeden mit Paketen, was normaler­
weise in unserer spätkapitalistischen Gesellschaft bedeutet, Arbeitende der
Arbeiter- oder unteren Mittelklasse (wer, sogar wenn er aus einer höheren
Klasse stammt, ist nicht schon einmal von einem automatisierten Butler
eingeklemmt worden, als er oder sie die Hände voller Pakete hatte?). Es
gibt jedoch Lösungen: Die Delegierung des Türschließers kann aufgeho­
ben werden (gewöhnlich durch Blockierung seines Armes) oder, prosa­
ischer, seiner delegierten Aktion kann mit einem Fuß entgegengetreten
werden (Vertreter sollen Experten dafür sein). Der Fuß kann seinerseits an
einen Teppich oder irgendetwas delegieren, das den Butler in Schach hält
(obwohl ich immer über die Anzahl an Objekten erstaunt bin, die dieser
Kraftprobe nicht standhalten - ich habe sehr oft gesehen, wie sich die Tür,
die ich gerade aufgekeilt hatte, höflich schloss, wenn ich ihr den Rücken
zuwandte).
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 245

Als Technologe könnte ich behaupten, dass der Türschließer, vorausge­


setzt, dass man die Wartung und die wenigen Sektoren der Population, die
er diskriminiert, beiseite lässt, seine Sache gut macht, indem er die Tür
hinter Ihnen konstant, fest und langsam schließt. Er zeigt in seiner be­
scheidenen Art, wie drei Reihen von delegierten nichtmenschlichen Aktan­
ten (Angeln, Federn und hydraulische Kolben) 90 Prozent der Zeit entwe­
der einen undisziplinierten Portier, der niemals da ist, wenn man ihn
braucht, ersetzen, indem sie für die allgemeine Öffentlichkeit die Pro­
gramminstruktionen, die mit daran-erinnern-die-Tür-zu-schließen-wenn­
es-kalt-ist zu tun haben, vollziehen. Angel und Türschließer sind der
Traum des Technologen von effizienter Handlung, oder sie waren es
zumindest bis zu jenem traurigen Tag, als ich die Notiz an der Tür der
soziologischen Abteilung in Walla Walla sah, mit der ich diesen Artikel
begonnen habe: »Der Türschließer streikt.« Wir sind also nicht nur in der
Lage gewesen, den Alct des Türschließens von Menschen an Nichtmen­
schen zu delegieren, wir waren auch fähig, den Mangel an Disziplin des
menschlichen Türöffners zu delegieren (und vielleicht auch die dazugehö­
rige Gewerkschaft). Im Streik. Stellen Sie sich das vor! Nichtmenschen
legen die Arbeit nieder und beanspruchen was? Pensionsleistungen? Frei­
zeit? Büro im Grünen? Dennoch nützt es nicht, ungehalten zu sein, weil es
sehr wahr ist, dass Nichtmenschen nicht so verlässlich sind, dass die Irre­
versibilität, die wir ihnen zuschreiben möchten, vollständig wäre. Wir
haben nie wieder an diese Tür denken wollen- abgesehen von regel- und
planmäßigen Routinewartungen (was eine andere Art ist zu sagen, dass wir
uns nicht darum kümmern müssen)-, und da sind wir, machen uns wie­
der Sorgen darüber, wie wir die Tür geschlossen und den Durchzug drau­
ßen halten können.
Interessant an der Notiz an der Tür ist der Humor, einem Versagen
menschliche Qualität zuzuschreiben, das normalerweise als >rein tech­
nisch< betrachtet wird. Dieser Humor jedoch ist profunder als die synony­
me Notiz, die man hätte anbringen können: »Der Türschließer arbeitet
nicht.« Ich rede ständig mit meinem Computer, der mir antwortet. Ich bin
sicher, Sie schimpfen mit ihrem alten Auto. Wir räumen den Kobolden in
jedem wahrnehmbaren Heimgerät ständig mysteriöse Fähigkeiten ein, von
den Rissen im Betongürtel unserer Atomkraftwerke ganz zu schweigen.
Dennoch wird dieses Verhalten von Moralisten, ich meine Soziologen, als
skandalöser Bruch natürlicher Barrieren verstanden. Wenn man schreibt,
der Türschließer sei >im Streik<, wird das nur als »Projektion«, wie sie
sagen, eines menschlichen Verhaltens auf ein nichtmenschliches, kaltes,
technisches Objekt gesehen, ein Objekt, das naturgemäß jedem Gefühl
unzugänglich ist. Sie nennen eine solche Projektion einen Anthropomor­
phismus, der für sie eine der Zoophilie verwandte Sünde ist, nur viel
schlimmer.
Diese Art des Moralisierens ist sehr irritierend für Technologen, weil
1
II
246 1 JIM JOHNSON

der automatische Türschließer bereits durch und durch anthropomorph


ist. »Anthropos« und »morph« bedeuten zusammen entweder etwas, das
menschliche Gestalt hat, oder etwas, das Menschen Gestalt gibt. Der Tür­
schließer ist tatsächlich anthropomorph, und zwar in drei Hinsichten:
Zuerst wurde er von Menschen gemacht, er ist eine Konstruktion; zweitens
ersetzt er die Handlungen von Menschen und ist ein Delegierter, der per­
manent die Position eines Menschen besetzt; drittens gibt er menschlicher
Handlung Gestalt, indem er präskribiert, welche Art von Menschen durch
die Tür gehen sollen. Und dennoch würden uns einige verbieten, diesem
gründlich anthropomorphen Wesen Gefühle zuzuschreiben, Arbeitsbezie­
hungen zu delegieren, andere menschliche Eigenschaften auf den Tür­
schließer zu >projizieren< - was bedeutet, zu übersetzen. Was ist mit
diesen vielen anderen Innovationen, die viel kompliziertere Türen mit der
Fähigkeit ausgestattet haben, uns im Voraus kommen zu sehen (elektroni­
sche Augen), nach unserer Identität zu fragen (elektronischer Ausweis)
oder eine Tür im Fall von Gefahr zuzuschlagen (oder sie zu öffnen)? Aber
wer sind Sie, Sie, der Soziologe, dass Sie für immer die richtige und end­
gültige Gestalt von Menschen beschließen, mit Zuversicht die Grenze
zwischen dem, was eine ,echte< Delegierung und dem, was eine >bloße<
Projektion ist, verfolgen, für alle Zeiten und ohne mögliche Nachfragen die
drei verschiedenen, oben aufgelisteten Arten von Anthropomorphismus
voneinander trennen können? Werden wir nicht von nichtrnenschlichen
Türschließern geformt, wenn auch, wie ich zugeben muss, nur ein kleines
bisschen? Sind sie nicht unsere Brüder? Verdienen sie nicht, dass man sie
berücksichtigt? Mit Ihren eigennützigen und selbstgerechten sozialen
Problemen plädieren Sie immer gegen Maschinen und für dequalifizierte
Arbeiter; sind Sie sich Ihrer diskriminatorischen Tendenz bewusst? Sie
unterscheiden zwischen Menschen und Nichtmenschen. Ich unterstütze
diese Tendenz nicht, sondern sehe nur Akteure - einige menschlich,
einige nichtrnenschlich, einige kompetent, einige inkompetent-, die ihre
Eigenschaften austauschen.
Die an der Tür angebrachte Notiz ist also korrekt. Sie gibt das Beneh­
men des Türschließers auf humorvolle, aber exakte Weise wieder: Er arbei­
tet nicht, er streikt (nehmen Sie zur Kenntnis, dass das Wort »Streik« auch
ein Anthropomorphismus ist, der aus dem nichtrnenschlichen Repertoire
auf das menschliche übertragen wurde, was wiederum beweist, dass die
Trennung unhaltbar ist). Was ist passiert? Soziologen bringen die Dicho­
tomie menschlich/nichtrnenschlich mit einer anderen durcheinander:
.figurativ/nichtjigurativ. Wenn ich sage, dass Hamlet die Figuration der
>Depression in der Adelsklasse< ist, bewege ich mich von einer persönli­
chen Figur zu einer weniger persönlichen (Klasse). Wenn ich sage, dass
Hamlet für Untergang und Düsternis steht, verwende ich weniger figurati­
ve Entitäten. Und wenn ich behaupte, dass er die westliche Zivilisation

II
repräsentiert, verwende ich nichtfigurative Abstraktionen. Sie sind den-
1

,llii
---
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 247

noch alle gleichermaßen Aktanten, das bedeutet, Entitäten, die Dinge tun,
entweder in Shakespeares kunstvollen Stücken oder in den weitschweifige­
ren Wälzern der Kommentatoren. Die Wahl, den Aktanten Figurativität zu
gewähren oder nicht, ist vollkommen den Autoren überlassen. Dasselbe
trifft auf Technik zu. Wir Ingenieure sind die Autoren dieser subtilen Plots
oder Scenarii, wie Madeleine Akrich sie nennt (1987), von Dutzenden von
Delegierten und ineinander greifenden Charakteren, von denen nur weni­
ge Leute wissen, wie man sie schätzt. Das an Technik angebrachte Etikett
>nichtmenschlich< übersieht einfach Übersetzungsmechanismen und die
vielen Wahlmöglichkeiten, die zur Figuration oder Defi guration, Personifi­
zierung oder Abstraktion, Verkörperung oder Entkörperung von Akteuren
bestehen.
Als ich z.B. neulich auf der Autobahn fuhr, musste ich abbremsen, weil
dort ein Bursche in einem gelben Anzug und einem roten Helm stand, der
eine rote Fahne schwang. Die Bewegungen des Burschen waren so regel­
mäßig und er war so gefährlich platziert und hatte ein solch bleiches (wenn
auch freundliches) Gesicht, dass ich ihn beim Vorbeifahren als Maschine
erkannte (ein Kognitivist würde sagen, dass er beim Turing-Test durchfiel).
Nicht nur die rote Fahne, sondern auch der Arm, der die Fahne schwang,
und sogar die körperliche Erscheinung waren an die Maschine delegiert.
Wir Ingenieure könnten in Richtung auf Figuration viel weiter gehen,
jedoch zu einem gewissen Preis: Wir hätten ihm oder ihr (Vorsicht hier,
keine sexuelle Diskriminierung von Robotern) elektronische Augen geben
können, sodass nur noch dann die Fahne geschwungen würde, wenn sich
ein Auto genähert hätte, oder wir hätten die Bewegung regulieren können,
sodass sie schneller ist, wenn Autos nicht gehorchen. Wir hätten auch -
warum nicht? - ein wütendes Starren oder ein erkennbares Gesicht wie
eine Maske von Präsident Reagan hinzufügen können, das mit Sicherheit
die Fahrer sehr effektiv verlangsamt hätte. Aber wir hätten uns auch in die
andere Richtung bewegen können, hin zu einer weniger figurativen Dele­
gierung; die Fahne hätte die Aufgabe auch allein bewältigen können. Und
wieso eine Fahne? Wieso nicht einfach ein Schild: »Baustelle«. Und wieso
überhaupt ein Schild? Fahrer - wenn sie umsichtig, diszipliniert und auf­
merksam sind - werden selbst sehen, dass dort Arbeiten im Gange sind
und langsamer fahren.
Dem Enunziator (ein allgemeines Wort für den Autor eines Textes oder
den Ingenieur, der die Maschine entwickelt) steht es frei, eine Repräsenta­
tion ihrer/seiner selbst im Skript (Texte oder Maschinen) zu platzieren
oder nicht. Der Ingenieur kann im Fahnenschwinger eine Gestalt delegie­
ren, die seiner/ihrer ähnlich ist oder nicht. Dies ist genau dieselbe Opera­
tion wie meine, als ich vorgab, dass der Autor dieses Artikels ein zum
harten Kern gehörender Technologe aus Columbus (Ohio) sei. Wenn ich
sage: »wir, die Technologen«, schlage ich damit ein Bild des Autors-des­
Texts vor, das nur eine vage Beziehung zum Autor-in-Fleisch-und-Blut hat,
248 1 JIM JOHNSON

in derselben Weise, in der der Ingenieur in seinem Fahnenschwinger ein


Bild von sich selbst delegiert, das wenig Ähnlichkeit mit ihm/ihr hat.2
Aber es wäre für mich oder für den Ingenieur vollkommen möglich gewe­
sen, überhaupt keinen figurativen Charakter als Autor in den Skripten von
unseren Skripten zu positionieren (in semiotischer Ausdrucksweise gäbe

!,i:i
es keinen Erzähler). Ich hätte einfach nur Dinge zu sagen brauchen wie:
;::!
:1,1, »neuere Entwicklungen der Wissenschaftssoziologie haben gezeigt, dass
l!:1
i, 1
1
...« statt »ich« und der Ingenieur hätte einfach nur den Attrappen-Arbeiter
'I herausnehmen und ihn durch Kurbeln und Rollen ersetzen müssen.
l,1,

ill:1
IJ Anruf der Götter
'1
'' 11
Hier folgt nun die interessanteste und traurigste Lektion der an der Tür

1r
'
1 11
angebrachten Notiz: Leute sind nicht umsichtig, diszipliniert und aufmerk­
l,11 :
1

sam, besonders nicht Fahrer in Walla Walla nach der Happyhour freitag­
nachts. Das ist genau die Aussage des Zettels. »Der Türschließer streikt,
'1
1,' · um Gottes Willen, haltet die Tür geschlossen.« In unseren Gesellschaften
1,'
gibt es zwei Systeme des Anrufens: nichtmenschlich und übermenschlich,
, 1
also Maschinen und Götter. Diese Notiz verweist darauf, wie verzweifelt
ihre durchgefrorenen und anonymen Autoren waren (ich war nie in der
Lage, sie zurückzuverfolgen und sie zu ehren, wie sie es verdienen). Zuerst
verließen sie sich auf die innere Moralität und den gesunden Menschen­
verstand von Menschen. Dies schlug fehl; die Tür wurde immer offen
gelassen. Dann wandten sie sich an das, was wir Technologen als das

2 1 Der Autor-im-Text ist Jim Johnson, Technologe in Columbus (Ohio), der zur
Universität Walla Walla ging, während der Autor-aus-Fleisch-und-Blut Bruno Latour
ist, Soziologe aus Paris, der niemals nach Columbus oder zur Universität Walla
Walla ging. Die Distanz zwischen beiden ist groß, jedoch ähnlich der zwischen
Steven Jobs, dem Erfinder des »Macintosh«, und dem figurativen, nichtmenschli­
chen Charakter, der »Willkommen bei Macintosh« sagt, wenn man den Computer
startet. Der Grund für diese Verwendung eines Pseudonyms war die Meinung des
Herausgebers, dass kein amerikanischer Soziologe willens ist, Dinge zu lesen, die
sich auf bestimmte Orte und Zeiten beziehen, die nicht amerikanisch sind. Daher
inskribierte ich amerikanische Szenen in meinen Text, um die Kluft zwischen dem
prä-skribierten Leser und dem prä-inskribierten zu vermindern. [Anm. d. Hg. von
»Social Problems«: Da wir diese Örtlichkeiten für Bruno Latours Argumentation für
unwichtig hielten, drängten wir ihn, spezifische Ortsbezüge zu entfernen, mit
denen Leser, die nicht aus den USA stammten, nicht vertraut sind und sie deshalb

1:I vielleicht ablenken könnten. Seine Lösung scheint unserem Bedenken Recht gege­
ben zu haben. Korrespondenz an den Autor-aus-Fleisch-und-Blut sollte an das
1 !I
1111:I
Centre de Sociologie de L'Innovation, Ecole Nationale Superieure des Mines, 62
11 Boulevard Saint Michel, 75006 Paris, Frankreich gerichtet werden.]
1i :

·II,
1111
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 249

Oberste Appellationsgericht betrachten, d.h. an einen Nichtmenschen, der


auf regelmäßige und bequeme Weise die Arbeit anstelle der treulosen
Menschen erledigt. Zu unserer Schande müssen wir gestehen, dass auch
das nach einer Weile fehlschlug. Die Tür wurde ebenfalls immer offen
gelassen. Wie ergreifend ihre Gedanken sind! Sie bewegten sich hinauf zu
dem ältesten und härtesten Appellationsgericht, das es gibt, gab und jemals
geben wird. Wenn Menschen und Nichtmenschen versagen, wird Gott sie
sicher nicht betrügen. Ich schäme mich zu sagen, dass die Tür, als ich an
diesem fatalen Februartag die Halle durchquerte, offen war. Beschuldigen
Sie jedoch nicht Gott, weil die Notiz sich nicht direkt an ihn richtete (ich
weiß, ich hätte aus Gründen der politischen Korrektheit »an sie« hinzufü­
gen müssen, aber ich frage mich, wie Theologen reagieren würden). Gott
ist ohne Vermittler nicht zugänglich. Die anonymen Autoren kannten
ihren Katechismus gut, deshalb appellieren sie an den Respekt vor Gott in
den menschlichen Herzen, statt ihn um ein direktes Wunder zu bitten
(Gott sollte selbst die Tür fest geschlossen halten oder sich der Vermittlung
eines Engels bedienen, wie es schon bei einigen Gelegenheiten passierte,
z.B. als Paulus aus dem Gefängnis geholt wurde). Das war ein Fehler. In
unseren säkularisierten Zeiten genügt das nicht mehr.
Heutzutage scheint niemand mehr die Aufgabe zu übernehmen, Män­
ner und Frauen zu disziplinieren und sie einfach dazu zu zwingen, die
Türen bei kaltem Wetter zu schließen. Eine ähnliche Verzweiflung trieb
den Straßenbauingenieur dazu, der roten Fahne einen Golem hinzuzufü­
gen, um Fahrer zur Vorsicht zu zwingen - obwohl die einzige Art, Fahrer
zu verlangsamen, noch immer ein guter Stau ist. Man scheint immer mehr
von diesen fi gurativen, in Reihen angeordneten Delegierten zu brauchen.
Es ist dasselbe mit Delegierten wie mit Drogen; man beginnt mit weichen
und endet bei harten. Es gibt auch eine Inflation der delegierten Figuren:
Nach einer Weile werden sie schwächer. In den alten Tagen mag es genügt
haben, einfach nur eine Tür zu haben, damit die Leute wussten, wie man
sie schloss. Aber dann verschwanden die verkörperten Kompetenzen
irgendwie; die Leute mussten an ihre Erziehung erinnert werden. Sogar die
einfache Inskription »Bitte Tür geschlossen halten« mag in den alten
Tagen noch ausreichend gewesen sein. Aber Sie kennen die Leute: Die
achten nicht länger auf solche Notizen und müssen durch stärkere Hilfs­
mittel erinnert werden. Dann installierte man automatische Türschließer,
da Elektroschocks für Menschen nicht so akzeptabel sind wie für Kühe. In
den alten Zeiten, als die Qualität noch gut war, mag es genügt haben, ihn
von Zeit zu Zeit zu ölen, aber heute treten sogar Automaten in den Streik.
Die Bewegung geht jedoch nicht immer von weichen zu härteren
Hilfsmitteln, d.h. von autonomen Erkenntnissen über verbale Anweisun­
gen hin zu Zwang, wie die Walla Walla-Tür suggerieren könnte. Es funk­
tioniert auch in der anderen Richtung. Obwohl die These der Dequalifizie­
rung der Normalfall zu sein scheint (man gehe immer von intrasomati-
250 1 JIM JOHNSON

sehen zu extrasomatischen Kompetenzen, verlasse sich nie auf undiszipli­


nierte Menschen, sondern immer auf sichere delegierte Nichtmenschen),
ist sie weit von der Wahrheit entfernt. Z.B. werden Rotlichter gewöhnlich
respektiert, zumindest wenn sie entwickelt genug sind, den Verkehrsfluss
durch Sensoren zu integrieren. Der delegierte Polizist, der Tag und Nacht
dort steht, wird respektiert, obwohl er keine Pfeife, keine behandschuhten
Hände, keinen Körper hat, der dem Respekt Nachdruck verleiht. Imagi­
nierte Kollisionen mit anderen Autos oder mit dem abwesenden Polizisten
sind genug, um Fahrer und Autos im Zaum zu halten. Das Gedankenexpe­
riment: »Was würde geschehen, wenn der delegierte Charakter nicht hier
wäre?«, ist dasselbe, das ich oben zur Einschätzung seiner Funktionen
empfohlen habe. Dieselbe Inkorporation von geschriebenen Anordnungen
hin zu körperlichen Kompetenzen ist bei Handbüchern für Autos am
Werk. Ich vermute, dass niemand mehr als einen flüchtigen Blick in dieses
Handbuch wirft, bevor er die Maschine in Gang setzt. Es gibt eine große
Fülle an Kompetenzen, die wir nun so gut verinnerlicht oder inkorporiert
haben, dass die Vermittlungen der geschriebenen Instruktionen nutzlos
sind. Vom Extrasomatischen sind sie intrasomatisch geworden. Inkorpora­
tion in menschliche oder nichtmenschliche Körper ist auch den Autoren/
Ingenieuren überlassen.

Angebot einer kohärenten Terminologie

Weil Menschen, Nichtmenschen und sogar Engel niemals in sich geschlos­


sen sind und weil es keine einzelne Richtung gibt, die von einem Delegie­
rungstyp zum anderen führt, ist es sinnlos, a-priori-Trennungen zu ma­
chen zwischen den Kompetenzen, die menschlich, und denen, die nicht­
menschlich sind; zwischen Charakteren, die personifiziert werden, und
denen, die abstrakt bleiben; welche Delegierung verboten und welche
zulässig ist, welche Art von Delegierung stärker oder nachhaltiger als die
andere ist. Weshalb nimmt man nicht statt dieser vielen lästigen Unter­
scheidungen ein paar einfache, deskriptive Werkzeuge auf?
Indem wir Madeleine Akrich folgen, werden wir nur in Begriffen von
Skripten oder Szenen oder von Menschen und Nichtmenschen gespielten
Szenarios sprechen, die entweder figurativ oder nichtfigurativ sein können.
Menschen sind nicht notwendigerweise figurativ; z.B. darf man nicht den
Polizisten auf der Autobahn als individuellen Kumpel nehmen. Er/sie
repräsentiert die Autorität und wenn er/sie wirklich dumm ist, wird er/sie
jegliche individualisierende Bemühung von Ihnen zurückweisen, wie
Lächeln, Späße, Bestechungen oder Wutausbrüche. Er/sie wird vollkom­
men die administrative Maschinerie spielen.
Akrich folgend werde ich das Herauslesen des Skripts aus der Situation
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 251

Deskription nennen. Diese Deslaiptionen erfolgen immer in Worten und


erscheinen wie semiotische Kommentare über einen Text oder wie eine
Programmiersprache. Sie definieren Akteure, statten sie mit Kompeten­
zen aus und veranlassen sie, etwas zu tun und evaluieren die Sanktionen
dieser Handlungen sehr ähnlich den narrativen Programmen der Semioti­
ker.
Obwohl die meisten der Skripte in der Praxis stumm sind, da intra­
oder extrasomatisch, sind die schriftlichen Deskriptionen nicht ein Artefakt
des Wissenschaftlers (Technologen, Soziologen oder Semiotikers), weil es
viele Situationen gibt, in denen sie explizit geäußert werden. Die Skala, die
durch Diskurs von intrasomatischen zu extrasomatischen Kompetenzen
gelangt, ist niemals völlig stabilisiert und erlaubt viele Zugänge, die den
Prozess der Übersetzung enthüllen. Ich habe bereits verschiedene Zugän­
ge aufgeführt: Benutzerhandbücher, Instruktion, Demonstrations- oder
Trainingssituationen (in diesem Fall spricht ein Mensch oder ein Sprach­
synthesizer das Benutzerhandbuch), praktische Gedankenexperimente
(»Was würde passieren, wenn statt des roten Lichtes ein Polizist da wä­
re?«). Dazu sollte noch die Werkstatt des Erfinders gezählt werden, wo die
meisten zu konstruierenden Objekte noch in dem Stadium sind, in dem sie
nur auf dem Papier existieren (»Wenn wir ein Gerät hätten, das dies und
das tut, könnten wir dieses und jenes tun«); Marktanalysen, in denen
Konsumenten mit dem neuen Gerät konfrontiert werden, und natürlich
die von Anthropologen erforschte Trainingssituation, in der mit einem
fremden Gerät konfrontierte Menschen mit sich selbst sprechen, während
sie verschiedene Kombinationen ausprobieren (»Was passiert, wenn ich
diese Leitung hier mit dem Hauptschalter verbinde?«). Der Wissenschaftler
muss diese Situationen einfangen, um die Skripte aufzuschreiben. Er
macht ein Gedankenexperiment, indem er Präsenz-/Absenztabellen und
alle von Aktanten verrichteten Handlungen vergleicht: Wenn ich dies weg­
nehme, wird diese oder jene andere Aktion modifiziert.
Ich werde die Übersetzung jedes Skripts von einem in ein dauerhafte­
res Repertoire Transkription, Inskription oder Inkodierung nennen. Überset­
zung hat hier nicht nur ihre linguistische Bedeutung, sondern auch eine
religiöse (»Übersetzung der Überreste von St. Christel«) und eine künstle­
rische (»die Übersetzung der Gefühle Calders in Bronze«). Diese Defini­
tion impliziert nicht, dass die Richtung immer von weichen Körpern zu
harten Maschinen geht, sondern einfach, dass sie von etwas Vorläufigem,
wenig Verlässlichen, zu etwas Dauerhafterem, Treueren geht. Die Verkör­
perung in der kulturellen Tradition eines Benutzerhandbuches für ein
Auto ist zum Beispiel eine Transkription, genauso wie der Ersatz eines
Polizisten durch eine Ampel. Eine geht von Maschinen zu Körpern, wäh­
rend die andere den anderen Weg nimmt. Spezialisten für Robotik haben
das Hirngespinst der totalen Automation zunehmend fallengelassen; sie
252 1 JIM JOHNSON

haben auf schmerzhafte Art gelernt, dass viele Kompetenzen besser an


Menschen als an Nichtmenschen delegiert werden, während andere von
inkompetenten Menschen weggenommen werden müssen.
Ich werde all das, was eine Szene von ihren transkribierten Akteuren
und Autoren verlangt, Präskription nennen (dies ist der »Rollenerwartung«
in der Soziologie sehr ähnlich, außer dass sie in die Maschinen inskribiert
oder inkodiert werden kann). Z.B. ist ein Gemälde der italienischen Re­
naissance so angelegt, um aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet
zu werden, der von Fluchtlinien vorgeschrieben wird, genauso wie eine
Ampel von ihren Verkehrsteilnehmenden erwartet, dass diese sie von der
Straße und nicht von der Seite sehen. In derselben Weise, in der sie einen
Verkehrsteilnehmenden voraussetzen, setzen Ampeln voraus, dass es
jemanden gibt, der die Lichter eingestellt hat, sodass sie einen regelmäßi­
gen Rhythmus haben. Wenn der Mechanismus hängen bleibt, ist es amü­
1i·1·,
I'1 sant zu sehen, wie lange Fahrer brauchen, bevor sie beschließen, dass die
Ampel nicht länger von einem verlässlichen Autor beherrscht wird. »Be­
1
nutzereingabe« ist in der Computersprache ein anderes, sehr beredtes
1
Beispiel dieser Inskription in den Automatismus eines lebenden Charak­
i ters, dessen Verhalten sowohl frei als auch vorherbestimmt ist.
1

1 1 1 Diese Inskription von Autor und Benutzern in der Szene ist nahezu
11
dieselbe wie die eines Textes. Ich habe bereits gezeigt, wie dem Autor
dieses Artikels (fälschlicherweise) zugeschrieben wurde, ein Technologe in
1 Ohio zu sein. Dasselbe trifft auf den Leser zu. Ich habe viele Male »Sie«
und sogar »Sie Soziologen« verwendet. Wenn Sie sich erinnern, habe ich
Sie sogar angewiesen, eine Tabelle aufzustellen (oder Ihnen geraten, dies
II,[ zu tun). Ich habe um Ihre Erlaubnis gebeten, mit der Erzählung fortzufah­
II
ren. Indem ich dies tat, habe ich einen inskribierten Leser aufgebaut, dem
ich Eigenschaften und Verhalten in der gleichen Weise zuschrieb, wie die
Ampel oder das Gemälde dem Betrachter. Haben Sie dieser Beschreibung
ihrer selbst zugestimmt, sie subskribiert? Oder schlimmer: Gibt es über­
haupt jemanden, der diesen Text liest und die für den Leser bestimmte
Position besetzt? Diese Frage ist eine Quelle ständiger Schwierigkeiten für
die, die die Grundlagen der Semiotik nicht verstanden haben. Nichts in
einer vorgegebenen Szene kann den inskribierten Benutzer oder Leser
davon abhalten, sich anders zu verhalten als von ihm erwartet (d.h. nichts
bis zum nächsten Paragraphen). Der Leser-aus-Fleisch-und-Blut kann
meine Definition von ihm oder ihr vollkommen ignorieren. Der Benutzer
der Ampel kann auch bei Rot weiterfahren. Sogar Besucher der Abteilung
für Soziologie tauchen vielleicht niemals auf, weil Walla Walla so weit
entfernt ist, trotz der Tatsache, dass ihr Verhalten und ihre Trajektoren
vom Türschließer vollkommen antizipiert worden sind. Was die Benutzer­
eingabe beim Computer betrifft, kann der Cursor ewig blinken, ohne dass
der Benutzer da ist oder weiß, was zu tun ist. Es kann eine enorme Kluft
zwischen dem präskribierten Benutzer und dem Benutzer-aus-Fleisch-und-
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 253

Blut geben, ein so großer Unterschied wie zwischen dem »Ich« eines
Romans und dem Schriftsteller. Genau dieser Unterschied bestürzt die
Autoren des anonymen Appells an der Tür so sehr. Weil sie die Leute nicht
mit Worten, Notizen und Türschließern disziplinieren konnten, mussten
sie sich an Gott wenden. Bei einer anderen Gelegenheit mag die Kluft
zwischen den beiden jedoch nicht vorhanden sein: Der präskribierte Be­
nutzer ist so gut antizipiert, so sorgfältig in die Szenen eingebettet, so
genau koordiniert, dass er tut, was von ihm erwartet wird. Um bei dersel­
ben etymologischen Wurzel zu bleiben, wäre ich versucht, die Art, in der
Akteure (menschliche oder nichtmenschliche) dazu neigen, sich selbst
vollständig vom präskribierten Benehmen loszureißen, Des-Inskription und
die Art, in der sie es akzeptieren oder sich glücklich in ihr Los fügen, Sub­
skription zu nennen.
Das Problem mit Szenen ist, dass sie gewöhnlich gut vorbereitet sind,
um Benutzer oder Leser zu antizipieren, die in der Nähe sind. Der Tür­
schließer beispielsweise liegt ziemlich gut mit seiner Erwartung, dass die
Leute die Tür aufstoßen und ihm die Energie geben werden, sie wieder zu
schließen. Er ist aber ziemlich schlecht darin, den Leuten zu helfen, an die
Tür zu gelangen. über eine Distanz von 50 Zentimetern hinaus z.B. ist er
hilflos und kann nicht agieren. Dennoch wird keine Szene ohne eine vor­
konzipierte Idee, welche Art von Akteuren die präskribierten Positionen
besetzen werden, vorbereitet. Deshalb sagte ich, dass, obwohl Sie frei wa­
ren, dieses Papier nicht weiterzulesen, Sie nur ,relativ< frei waren. Wieso?
Weil ich weiß, dass Sie ein hart arbeitender, ernsthafter, amerikanischer
Soziologe sind, der eine seriöse Ausgabe von »Social Problems« über die
Soziologie von Wissenschaft und Technik liest. Ich kann also sicher wetten,
dass ich eine gute Chance habe, dass Sie das Papier gründlich lesen! Also
war meine Anordnung: »Lesen Sie das Papier bis zum Ende, Sie Soziolo­
ge«, nicht sehr riskant. Ich werde all die Arbeiten, die im Vorfeld der Szene
getan werden und all die Dinge, die von einem Akteur (menschlich oder
nichtmenschlich) assimiliert werden müssen, bevor dieser als Benutzer
oder Autor die Szene betritt, Prä-Inskription nennen. Wie man beispiels­
weise ein Auto fährt, ist grundsätzlich in jedem (westlichen) Jugendlichen
prä-inskribiert, Jahre bevor er oder sie den Führerschein macht; hydrauli­
sche Kolben waren ebenso prä-inskribiert, um langsam die gesammelte
Energie zurückzugeben, Jahre bevor Erfinder sie dazu verwendeten, in
automatischen Türschließern zu arbeiten. Ingenieure können sich auf
diese Prä-Determinierung verlassen, wenn sie ihre Präskriptionen auf­
zeichnen. Das nennen Gerson und seine Kollegen »Artikulationsarbeit«
(Fujimura 1987). Ein gutes Beispiel für Prä-Inskriptionsbemühungen gibt
Orson Welles in »Citizen Kane«, wo der Held nicht nur ein Theater für
seine singende Ehefrau kauft, in dem man ihr applaudieren kann, sondern
er kauft auch die Magazine, die die Besprechungen machen, kauft die
Kunstl<ritiker selbst und bezahlt das Publikum fürs Kommen - alles ohne
254 1 JIM JOHNSON

Erfolg, da die Frau schließlich aufgibt. Menschen und Nichtmenschen sind


sehr undiszipliniert, gleichgültig, was man tut und wie viele Prädetermi­
nierungen man im Vorfeld der Handlung kontrollieren kann.
Wir ziehen im Vorbeigehen eine Nebenschlussfolgerung: Soziologismus
können wir die Behauptung nennen, dass man, die Kompetenz und Prä­
Inskription der menschlichen Benutzer und Autoren vorausgesetzt, die
Skripte, die nichtmenschliche Akteure spielen müssen, herauslesen kann;
Technologismus ist die symmetrische Behauptung, dass man, die Kompe­
tenz und Prä-Inskription der nichtrnenschlichen Akteure vorausgesetzt,
das für Autoren und Benutzer präskribierte Verhalten einfach verlesen und
deduzieren kann. Von nun an werden, wie ich hoffe, diese beiden Absurdi­
täten von der Szene verschwinden, da die Akteure an jedem Punkt mensch­
lich oder nichtrnenschlich sein können und da die Verlagerung (oder
Übersetzung oder Transkription) das leichte Überführen von einem Reper­
toire in ein nächstes unmöglich macht. Die bizarre Idee, die Gesellschaft
bestünde aus menschlichen Beziehungen, ist ein Spiegelbild der anderen,
nicht weniger bizarren Idee, dass Technik aus nichtmenschlichen Bezie­
hungen bestehen könnte. Wir haben es mit Figuren, Delegierten, Reprä­
sentanten oder - schöner ausgedrückt - »Leutnants« (aus dem Französi­
schen »lieu« und »tenant«, d.h. jemand, der den Platz für jemanden frei
oder von jemandem besetzt hält) zu tun, einige figurativ, andere nichtfigu­
rativ, einige menschlich, andere nichtrnenschlich, einige kompetent, ande­
re inkompetent. Sie möchten diese reichhaltige Vielfalt von Delegierten
durchschneiden und auf künstliche Weise zwei Abfallhaufen schaffen:
>Gesellschaft< auf der einen Seite und >Technik< auf der anderen? Das ist
Ihr Privileg; ich habe aber eine weniger schmutzige Arbeit im Sinn.
Eine Szene, ein Text, ein Automatismus kann den präskribierten Be­
nutzern auf kurze Entfernung eine Menge Dinge antun, aber die meisten
ihnen schließlich zugeschriebenen Wirkungen hängen von der Gruppie­
rung einer Reihe von anderen Setups ab. Z.B. schließt der Türschließer die
Tür nur, wenn Leute die Abteilung für Soziologie in Walla Walla erreichen.
Diese Leute kommen nur vor der Tür an, wenn sie Karten gefunden haben,
und nur, wenn Straßen dorthin führen. Und natürlich werden sich die
Leute nur die Mühe machen, diese Karten zu lesen, in den Staat Washing­
ton zu fahren und die Tür aufzustoßen, wenn sie davon überzeugt sind,
dass die Abteilung einen Besuch wert ist. Ich nenne das die Neigung oder
den Gradienten gruppierter Setups, der Akteure mit den prä-inskribierten
Kompetenzen ausstattet, um eine Chreode (einen »notwendigen Pfad« im
Griechisch des Biologen Waddington) für ihre Benutzer zu finden; Men­
schen fließen mühelos durch die Türen und der Türschließer schließt -
hundert Mal am Tag - die Tür wieder, wenn sie nicht klemmt. Das Ergeb­
nis einer solchen Gruppierung von Setups ist es, die Anzahl von Gelegen­
heiten zu reduzieren, in denen Wörter benutzt werden; die meisten Aktio­
nen laufen wortlos, automatisiert und verinnerlicht (in menschliche oder in
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 255

nichtmenschliche Körper) ab - und erschweren damit die Arbeit des Wis­


senschaftlers erheblich. Sogar die klassischen Debatten über Freiheit,
Bestimmung, Vorbestimmung, rohe Gewalt oder effizienten Willen -
Debatten, die die Version des 20. Jahrhunderts einer Diskussion des
17. Jahrhunderts über Gnade sind - werden langsam wegerodiert. Da Sie
diesen Punkt erreicht haben, bedeutet das, dass ich Recht hatte, wenn ich
früher sagte, dass Sie überhaupt nicht frei wären, mit dem Lesen des Pa­
piers aufzuhören. Indem ich mich selbst schlau entlang einer Chreode
positionierte und ein paar meiner anderen Tricks hinzufügte, habe ich Sie
hierher geführt - oder nicht? (Vielleicht haben Sie das Meiste überschlagen,
vielleicht haben Sie nicht ein Wort davon verstanden, oh, Ihr undiszipli­
nierten, amerikanischen, soziologischen Leser!)
Es gibt noch ein loses Ende in meiner Geschichte: Wieso streikte der
(automatische) Türöffner? Die Antwort darauf ist dieselbe wie auf die frü­
her gestellte Frage, weshalb wenige Leute nach Walla Walla kommen.
Nicht, weil ein Stück eines Verhaltens durch eine Inskription präskribiert
wurde, sodass die prädeterminierten Figuren rechtzeitig kommen und die
Aufgabe erfüllen, die man von ihnen erwartet. Das trifft weder auf Men­
schen und noch weniger auf Nichtmenschen zu. In diesem Fall machte der
hydraulische Kolben seine Arbeit, nicht jedoch die Feder, die mit ihm
zusammenarbeiten sollte. Jedes der oben verwendeten Wörter kann dazu
benutzt werden, ein Setup auf jedem Niveau - und nicht nur auf dem
einfachen, das ich aus Gründen der Klarheit gewählt habe - zu beschrei­
ben. Es muss nicht auf das Niveau beschränkt sein, auf dem ein Mensch
mit einer Reihe nichtmenschlicher Delegierter umgeht; dies kann auch auf
Beziehungen zwischen Nichtmenschen zutreffen. In anderen Worten:
Wenn wir auf eine kompliziertere Verwicklung treffen als den Türschlie­
ßer, müssen wir nicht damit aufhören, Soziologie zu betreiben; wir fahren
damit fort, »Rollenerwartungen«, Verhalten, soziale Beziehungen zu erfor­
schen. Der nichtfigurative Charakter der Akteure sollte uns nicht ein­
schüchtern.

Die Leutnants unserer Gesellschaften


Ich habe die Geschichte des Türschließers benutzt, um die Ohren und
Augen von Soziologen mit nichtmenschlichen Delegierten vertraut zu
machen. Ich habe auch auf reflexive Weise die Semiotik einer Erzählung
verwendet, um die Beziehungen zwischen Inskription, Präskription, Prä­
Inskription und Chreoden zu erklären. Es gibt jedoch einen wesentlichen
Unterschied zwischen Texten und Maschinen, den ich herausstellen muss.
Maschinen sind Leutnants; sie halten die Plätze und die ihnen delegierten
Rollen, aber diese Art der Verschiebung unterscheidet sich sehr von ande­
ren Typen (Latour 1988b).
256 1 JIM JOHNSON

Wenn man eine Geschichte erzählt, nennt man es Verschiebung nach


außen, wenn man einen Charakter entweder in einen anderen Raum, in
eine andere Zeit oder auf einen anderen Charakter verlagert. Wenn ich
Ihnen erzähle: »Millikan betrat die Aula«, übersetze ich das gegenwärtige
Setting - Sie und mich - und verschiebe es in einen anderen Raum, eine
andere Zeit und auf andere Charaktere (Millikan und seine Zuhörer).
»Ich«, der Sprecher, kann entscheiden, zu erscheinen, zu verschwinden
oder durch einen Erzähler repräsentiert zu werden, der die Geschichte
erzählt (»An jenem Tag saß ich in der oberen Reihe der Aula«); »ich« kann
auch entscheiden, Sie und jeden anderen Leser innerhalb der Erzählung zu
! 1

positionieren (»Wären Sie dort gewesen, wären Sie von Millikans Experi­
menten überzeugt gewesen«): Es gibt keine Begrenzung für die Anzahl an
Verschiebungen nach außen, mit denen eine Geschichte gebaut sein kann.
Z.B. kann »ich« einen Dialog in der Aula zwischen zwei Charakteren auf­
führen, die eine Geschichte darüber erzählen, was in der Akademie der
Wissenschaft in Washington geschah. In diesem Fall ist die Aula der Platz,
von dem aus Erzähler eine Verschiebung nach außen vornehmen, um eine
Geschichte über die Akademie zu erzählen, und sie mögen eine Verschie­
bung zurück vornehmen oder nicht, um die erste Geschichte über Millikan
wieder aufzunehmen. »Ich« kann ebenfalls eine Verschiebung in der ganzen
Reihe von ineinander nistenden Erzählungen vornehmen, um meine
abzuschließen und zu der Situation zurückzukehren, von der ich ausge­
gangen bin: Sie und ich. Alle diese Verlagerungen sind in Literaturab­
teilungen gut bekannt und machen die Kunst talentierter Schriftsteller
aus.
II
Ungeachtet, wie klug und begabt unsere Schriftsteller sind, können sie
1 ! 1
es mit den Ingenieuren nicht aufnehmen. Ingenieure verschieben fortwäh­
rend Charaktere nach außen in andere Räume oder andere Zeiten, erden­
ken Positionen für menschliche und nichtmenschliche Benutzer, zerteilen
Kompetenzen, die sie dann auf viele verschiedene Aktanten umverteilen,
:i i
bauen komplizierte narrative Programme und Subprogramme, die evalu­

i l'
'1 iert und beurteilt werden. Unglücklicherweise gibt es viel mehr Literatur­
kritiker als Technologen und die subtile Schönheit technisch-sozialer Ver­
wicklungen entgeht der Aufmerksamkeit der gebildeten Öffentlichkeit.
Einer der Gründe für diesen Mangel an Interesse kann in der besonderen
Natur der Verschiebung nach außen liegen, die Maschinen und Geräte
erzeugt. Statt den Zuhörer einer Erzählung in eine andere Welt zu senden,
inskribiert die technische Verschiebung nach außen die Wörter in eine
andere Materie. Statt dem Leser einer Erzählung zu gestatten, zur selben
Zeit weg (im Referenzrahmen der Erzählung) und hier (in seinem Sessel)
zu sein, zwingt ihn die technische Verschiebung nach außen, zwischen
Referenzrahmen zu wählen. Statt Sprechern und Empfängern eine Art
simultane Präsenz und Gemeinschaft mit anderen Akteuren zu erlauben,
DIE VERMISCHUNG VON MENSCHEN UND NICHT-MENSCHEN 1 257

gestatten die Techniker beiden, die delegierten Akteure zu ignorieren und


wegzulaufen, ohne überhaupt ihre Präsenz zu spüren.3
Um diesen Unterschied in den zwei Richtungen der Verschiebung
nach außen zu verstehen, wollen wir uns noch einmal auf eine Columbus­
Autobahn hinauswagen. Zum zigsten Mal habe ich Robin angebrüllt:
»Setz dich nicht in die Mitte des Rücksitzes; wenn ich zu stark bremsen
muss, bist du tot.« In einem Autogeschäft weiter unten an der Autobahn
finde ich ein Gerät, das for müde-und-ärgerliche-Eltern-die-Autos-mit-Kin­
dem-zwischen-zwei-und-fünf-fahren-(also zu alt für einen Babysitz und
nicht alt genug für einen Sicherheitsgurt)-und-die-aus-kleinen-Familien­
stammen-(also ohne andere Personen, die die Kinder sicher halten kön­
nen)-und-die-Autos-mit-zwei-getrennten-Vordersitzen-und-Kopfstützen-be­
sitzen gemacht ist. Es ist ein !deiner Markt - jedoch von diesen japanischen
Burschen hübsch analysiert, sodass er sich bei diesen Preisen sicher gut
rechnet. Diese Beschreibung meiner selbst sowie der kleinen Kategorie, die
ich gern subskribiere, ist im Gerät transkribiert - eine Stahlstange mit star­
ken Befestigungen an der Kopflehne - und in der Anzeige an der Außen­
seite der Schachtel. Sie ist ebenfalls prä-inskribiert in den einzigen Ort, die
Autobahn, an dem ich mir vorstellen könnte, es je zu gebrauchen. Langer
Geschichte, kurzer Sinn - ich brülle Robin nicht länger an und ich versu­
che nicht länger, ihn idiotischerweise mit meinem ausgestreckten Arm
aufzuhalten. Er hält sich an der Stange fest, die ihn - wie ich glaube -
gegen mein Bremsen schützt. Ich habe den kontinuierlichen Gebrauch
meiner Stimme und meines ausgestreckten rechten Armes (mit vermin­
dernden Ergebnissen, wie wir von Fechners Gesetz wissen) an eine ver­
stärkte, gepolsterte Stahlstange delegiert. Natürlich musste ich zwei Um­
wege machen: einen über meine Brieftasche, den anderen über meinen
Werkzeugkasten. 30 Dollar und fünf Minuten später hatte ich das Gerät
angebracht (nachdem ich den mit japanischen Ideogrammen inkodierten
Instruktionen Sinn gegeben hatte). Der Umweg plus die Übersetzung der
Wörter und ausgestreckter Arm zu Stahl ist sicherlich eine Verschiebung
nach außen, jedoch nicht desselben Typs wie die aus einer Erzählung. Die
Stahlstange hat nun meine Kompetenz übernommen, soweit sie das Hal­
ten meines Sohnes auf Armeslänge betrifft.
Wenn es in unseren Gesellschaften tausende solcher Leutnants gibt, an
die wir Kompetenzen delegiert haben, bedeutet das, dass das, was unsere

3 1 Zur Schande unseres Gewerbes ist es ein Kunsthistoriker, Michael Baxandall


(1985), der die präziseste Beschreibung eines technischen Artefakts anbietet (einer
schottischen Eisenbrücke) und der die grundsächlichen Unterscheidungen zwi.
sehen delegierten Akteuren, die still bleiben (in Black Boxes) und einer reichhaltigen
Reihe von Vermittlern, die in einem Kunstwerk anwesend bleiben, am detailliertes­
ten zeigt.
258 1 JIM JOHNSON

sozialen Beziehungen definiert, zum größten Teil von Nichtmenschen zu


uns zurück präskribiert wird. Wissen, Moral, Kunstfertigkeit, Kraft, Gesel­
ligkeit sind nicht Eigenschaften von Menschen, sondern von Menschen
begleitet von ihrem Gefolge delegierter Charaktere. Da jeder dieser Delegier­
ten einen Teil unserer sozialen Welt zusammenhält, bedeutet das, dass die
Untersuchung sozialer Beziehungen ohne die Nichtmenschen unmöglich
(Latour 1988a) oder nur für komplexe Primatengesellschaften wie jene der
Paviane geeignet ist (Strum/Latour 1987). Eine der Aufgaben der Soziolo­
gie ist, für die Massen der Nichtmenschen, die unsere modernen Gesell­
schaften bilden, das zu tun, was sie so gut für die Massen von gewöhnli­
chen und verachteten Menschen getan hat, die unsere Gesellschaft bilden.
Den gewöhnlichen Menschen sollten nun die lebhaften, faszinierenden
und ehrenhaften gewöhnlichen Maschinen hinzugefügt werden. Wenn die
Konzepte, Angewohnheiten und bevorzugten Felder der Soziologen ein
wenig modifiziert werden müssen, um diese neuen Massen unterzubrin­
gen, ist das ein kleiner Preis, den wir bezahlen müssen.

Literatur
Akrich, M. (1987): »Comment decrite les objets techniques«. In: Technique
et Culture 5, S. 49-63.
Baxandall, M. (1985): Patterns of Invention. On the Historical Explanation of
Pictures, New Haven, Con.: Yale University Press.
Bijker, W.E./Hughes, T.P./Pinch, T.J. (Hg.) (1986): New Developments in the
Social Studies ofTechnology, Cambridge, Mass.: MIT Press.
Fujimura, J. (1987): »Constructing >Do-Able< Problems in Cancer Re­
search: Articulating Alignment«. In: Social Studies of Science 17, S. 257-
293.
Latour, B. (1987): Science in Action, Cambridge, Mass.: Harvard University
Press.
Latour, B. (1988a): »How to Write The Prince for Machines as Well as for
Machinations«. In: B. Elliot (Hg.), Technology and Social Change, Edin­
burgh: Edinburgh University Press, S. 20-63.
Latour, B. (1988b): »A Relativistic Account of Einstein's Relativity«. In:
Social Studies of Science 18, S. 3-44.
MacKenzie, D.A./Wacjman, J. (Hg.) (1985): The Social Shaping of Techno­
logy. A Reader, Philadelphia: Milton Keynes und Open University Press.
Mumford, L. (1966): The Myth of the Machine, New York: Harcourt.
Strum, S./Latour, B. (1987): »Redefining the Social Link: from Baboons to
Humans«. In: Social Science Information 26, S. 783-802.
Winner, L. (1980): »Do Artefacts Have Politics?« In: Daedalus 109, S. 121-136.
Winner, L. (1986): The Whale and the Reactor: a Search for the Limits in an
Age of HighTechnology, Chicago: University of Chicago Press.
Drawing Things Together:
Die Macht der unveränderlich mobile,:i Elemente1
ßRUNO LA.TOUR

Visualisierung und Kognition im Fokus

Es wäre schön, wenn man in der Lage wäre zu definieren, was für unsere
moderne wissenschaftliche Kultur spezifisch ist. Es wäre sogar noch schö­
ner, wenn man die ökonomischste Erklärung (die nicht die wirtschaftlichs­
te sein muss) ihrer Ursprünge und besonderen Charakteristika finden
könnte. Um bei einer sparsamen Erklärung anzukommen, ist es am bes­
ten, sich nicht auf universelle Charakterzüge der Natur zu beziehen. Hypo­
thesen über Veränderungen im Geist oder im menschlichen Bewusstsein,
in der Struktur des Gehirns, in sozialen Beziehungen, »mentalites« oder in
der wirtschaftlichen Infrastruktur, die postuliert werden, um das Auftreten
von Wissenschaft oder ihre momentanen Errungenschaften zu erklären,
sind in den meisten Fällen einfach zu grandios - um nicht zu sagen hagio­
graphisch -, in anderen Fällen offensichtlich rassistisch. Das Ockham'sche
Rasiermesser sollte diese Erklärungen zurechtstutzen. Kein »neuer
Mensch« trat irgendwann im 16. Jahrhundert plötzlich auf; genauso wenig
arbeiten Mutanten mit größeren Gehirnen, die anders als der Rest von uns
denken, in modernen Laboratorien. Die Idee eines rationaleren Geistes
oder zwingender wissenschaftlicher Methoden, die aus Dunkelheit und
Chaos auftauchten, stellt eine zu komplizierte Hypothese dar.
Der erste Schritt in Richtung auf eine überzeugende Erklärung scheint
mir zu sein, eine Apriori-Position zu übernehmen. Sie reinigt das For­
schungsfeld von allen Unterscheidungen zwischen vorwissenschaftlichen
und wissenschaftlichen Kulturen, solchem Denken, solchen Methoden

1 1 Der ursprüngliche Titel »Drawing Things Together« lässt sich in seiner


doppelten Bedeutung von »Dinge an einem Ort zusammenziehen« und »visuell
darstellen/zeichnen« nicht adäquat ins Deutsche übersetzen [Anm. d. Hg.].
260 1 BRUNO LATOUR

oder Gesellschaften. Wie Jack Goody (1977) herausstellt, sollte die »große
Dichotomie« mit ihrer selbstgerechten Sicherheit durch viele ungewisse und
unerwartete Trennungen ersetzt werden. Dieser negative erste Schritt be­
freit uns von positiven Antworten, die die Glaubwürdigkeit strapazieren.
Alle solchen dichotomischen Unterscheidungen können nur solange über­
zeugend sein, wie sie von einer starken asymmetrischen einseitigen Sicht,
die die beiden Seiten der Unterscheidung oder Grenze sehr unterschied­
lich behandelt, durchgesetzt werden. Sobald dieses Vorurteil den Halt
verliert, springen die kognitiven Fähigkeiten in alle Richtungen: Zauberer
werden zu Popper'schen Falsifikationisten, Wissenschaftler zu naiven
Gläubigen, Ingenieure zu herkömmlichen »bricoleurs«; die Bastler aller­
dings erscheinen als ganz vernünftig (Knorr 1981; Auge 1975). Diese
schnellen Umschwünge beweisen, dass die Unterscheidung zwischen
vorwissenschaftlicher und wissenschaftlicher Kultur lediglich eine Grenze
darstellt - so wie die zwischen Tijuana und San Diego. Sie wird willkürlich
von Polizei und Bürokraten durchgesetzt, repräsentiert jedoch keine natür­
liche Grenze. Obwohl sie für das Unterrichten, für Eröffnungsansprachen
und Polemiken sehr nützlich sind, liefern diese »großen Trennungen«
keine Erklärungen, sondern sind im Gegenteil das, was erklärt werden
muss (Latour 1983).
Es gibt jedoch gute Gründe, weshalb diese Dichotomien - obwohl
fortwährend widerlegt - hartnäckig aufrechterhalten werden oder weshalb
die Kluft zwischen den beiden Seiten sich sogar noch vergrößert. Die
relativistische Position, die dadurch erreicht wurde, den von mir vorge­
schlagenen ersten Schritt vorzunehmen und große Dichotomien aufzuge­
ben, wirkt wegen der enormen Konsequenzen der Wissenschaft lächerlich.
1: Man kann nicht den von Goody beschriebenen »Intellektuellen« (1977:
Kap. 2) und Galileo in seinen Studien gleichsetzen - genauso wenig wie
das Volkswissen über medizinische Kräuter und die »National Institutes of
Health«, die sorgsamen Prozeduren an der Elfenbeinküste zur Leichenbe­
fragung und die sorgsame Planung von DNA-Tests in einem kaliforni­
schen Labor, das Erzählen von Ursprungsmythen irgendwo im südafrika­
nischen Busch und die Urknalltheorie, die zögernden Kalkulationen eines
Vierjährigen in Piagets Labor und die Berechnung eines Gewinners der
Field-Medaille, einen Abakus und einen Supercomputer. Die Unterschiede
in den Wirkungen von Wissenschaft und Technik sind so enorm, dass es
absurd erscheint, nicht nach enormen Ursachen zu suchen. Wenn For­
schende mit diesen extravaganten Ursachen unzufrieden sind, sogar wenn
sie zugeben, dass diese willkürlich definiert, durch tägliche Erfahrung
falsifiziert und oft widersprüchlich sind, ziehen sie es vor, sie zu erhalten,
um die absurden Konsequenzen des Relativismus zu umgehen. Partikel­
physik muss sich auf radikale Weise von Volksbotanik unterscheiden; wir
wissen nicht, auf welche Weise, aber als Verlegenheitslösung ist die Idee
der Rationalität besser als nichts (Hollis/Lukes 1982).
DRAWING THINGS TOGETHER 1 26!

Wir müssen einen Kurs steuern, der uns aus einem simplen Relativis­
mus herausführt, und der, indem er einige einfache, empirisch verifizier­
bare Ursachen postuliert, die enormen Unterschiede in den Wirkungen,
die jeder als real anerkennt, erklären kann. Wir müssen den Maßstab der
Effekte beibehalten, jedoch nach schlichteren Erklärungen als der einer
großen Trennung im menschlichen Bewusstsein suchen.
Hier werden wir jedoch mit einem anderen Problem konfrontiert. Wie
schlicht ist schlicht? Wenn die Leute vor mentalen Ursachen zurückwei­
chen, bedeutet das normalerweise, dass sie an materiellen Ursachen Ver­
gnügen finden. Gigantische Veränderungen im kapitalistischen Produk­
tionsmodus durch die Mittel vieler »Reflexionen«, »Trübungen« und
»Vermittlungen« beeinflussen die Arten von Beweisen, Argumentationen
und Glauben. »Materialistische« Erklärungen beziehen sich oft auf tief
verwurzelte Phänomene, zu deren Superstrukturen die Wissenschaft ge­
hört (Sohn-Rethel 1978). Das Endresultat dieser Strategie ist, dass nichts
empirisch verifizierbar ist, da eine gähnende Kluft zwischen allgemeinen
ökonomischen Trends und den feinen Details kognitiver Innovationen
besteht. Am schlimmsten ist jedoch, dass wir zur Erklärung von Wissen­
schaft vor einer bestimmten Wissenschaft, der Ökonomie, niederknien
müssen. Ironischweise sind viele »materialistische« Darstellungen des
Auftretens von Wissenschaft keineswegs materiell, da sie die präzise Praxis
und Kunstfertigkeit des Wissens ignorieren und den allwissenden ökono­
mischen Historiker von genauerer Untersuchung abhalten.
Es scheint mir so zu sein, dass die einzige Möglichkeit, der simplizisti­
schen, relativistischen Position zu entkommen, die ist, sowohl »materialis­
tische« als auch »mentalistische« Erklärungen um jeden Preis zu vermei­
den und stattdessen nach sparsameren Darstellungen zu suchen, die durch
und durch empirisch und in der Lage sind, die großen Effekte von Wissen­
schaft und Technik zu erklären.
Es scheint, dass die besten Erklärungen - jene, die aus dem Wenigsten
das Meiste machen - die sind, die die Handwerkskunst des Schreibens
und der Visualisierung in Betracht ziehen. Sie sind sowohl materiell als
auch schlicht, da sie so praktisch, so bescheiden, so durchdringend sind, so
direkt vor Augen und Händen liegen, dass sie der Aufmerksamkeit entge­
hen. Jede von ihnen entleert grandiose Schemata und konzeptuelle Dicho­
tomien und ersetzt sie durch einfache Modifikationen der Art, wie Perso­
nengruppen miteinander argumentieren und dabei Papier, Zeichen, Dru­
cke und Diagramme verwenden. Trotz ihrer verschiedenen Methoden,
Felder und Ziele verbindet diese Strategie der Deflation sehr verschiedene
Forschungsansätze und stattet sie mit einem gleichermaßen ironischen
wie erfrischenden Stil aus. 2

2 1 Z.B. Levi Strauss' Unterscheidung zwischen Bastler und Ingenieur oder


zwischen heißen und kalten Gesellschaften (1962); oder der von Garfinkel zwischen
262 1 BRUNO LATOUR

Wie diese Forscher war auch ich während einer Studie über ein biologi­
sches Laboratorium beeindruckt von der Art, wie viele Aspekte der Labor­
praxis geordnet werden konnten, indem man sich weder die Gehirne der
Wissenschaftler (zu denen mir der Zutritt verweigert wurde!) noch die
kognitiven Strukturen (nichts Besonderes) oder die Paradigmen (seit 30
Jahren dieselben) ansah, sondern die Transformation von Ratten und
Chemikalien in Papier (Latour/Woolgar 1979, 1986). Es war nicht, wie ich
zuerst dachte, einfach meine subjektive Sicht, mich auf die Literatur sowie
auf die Art, in der alles und jedes in Inskriptionen umgewandelt wurde, zu
konzentrieren; das Labor war vielmehr genau dafür gemacht worden. Die
Instrumente z.B. waren von verschiedener Art, verschiedenem Alter und
unterschiedlichem Verfeinerungsgrad. Einige waren Möbelstücke, andere
füllten große Räume, gaben vielen Technikern Arbeit und brauchten viele
Wochen für ihren Betrieb. Ihr Endresultat jedoch, unabhängig vom Fach­
bereich, war immer ein kleines Fenster, durch das man einige wenige
Zeichen eines ziemlich kärglichen Repertoires (Diagramme, Flecken,
Bänder, Spalten) ablesen konnte. Alle diese Inskriptionen, wie ich sie
nannte, waren kombinierbar, übereinander lagerbar und konnten - mit
nur einem Mindestaufwand an Ordnen - als Darstellungen in den Text von
Artikeln, die von Menschen geschrieben wurden, integriert werden. Viele
der intellektuellen Glanzleistungen, die ich bewundern sollte, konnten neu
formuliert werden, sobald diese Aktivität des Schreibens auf Papier und
der Inskription in den Fokus der Analyse rückte. Statt hochtrabende Theo­
rien oder Logikunterschiede zu bemühen, konnte ich mich so fest wie
Goody an der Ebene einfacher Kunstfertigkeit festhalten. Die Domestizie­
rung oder Disziplinierung des Geistes dauerte noch an, mit Instrumenten,
die denen, auf die Goody sich bezog, sehr ähnlich waren. Fehlten diese
Ressourcen, begannen dieselben Wissenschaftler zu stammeln, zu zögern
und Unsinn zu reden und dabei jede Art politischer oder kultureller Vorur­
teile zur Schau zu stellen. Obwohl ihr Denken, ihre wissenschaftlichen
Methoden, ihre Paradigmen, ihre Weltsichten und ihre Kulturen weiterhin
galten, konnte ihre Konversation sie nicht am rechten Platz halten. Inskrip­
tionen oder die Praxis des Inskribierens hätten das jedoch vermocht.
Die große Trennung kann in viele kleine, unerwartete und praktische
Kompetenzen zerlegt werden, Bilder zu produzieren, über sie zu lesen und
zu schreiben. Diese Strategie der Deflation hat jedoch einen gewichtigen
Nachteil. Ihre Resultate scheinen gleichermaßen offensichtlich (an der

alltäglichen und wissenschaftlichen Gedankenmodi (1967); oder Bachelards vielen


»coupures epistemologiques«, die die Wissenschaft vom gesunden Menschenver­
stand, von der Intuition oder von ihrer eigenen Vergangenheit trennen (1934, 1967);
oder Hortons differenzierte Unterscheidung zwischen der Akzeptanz von Monstern
und ihrer Vermeidung (1977) oder primären und sekundären Theorien (1982).
DRAWING THINGS TOGETHER 1 263

Grenze zu einem wortwörtlichen Klischee) und zu schwach zu sein, um die


gewaltigen Konsequenzen von Wissenschaft und Technik zu erklären, die
nicht geleugnet werden können (wie wir oben einvernehmlich feststellten).
Natürlich stimmt jeder zu, dass Schreiben, Drucken und Visualisieren
wichtige Nebenprodukte der wissenschaftlichen Revolution oder der Psy­
chogenese des wissenschaftlichen Denkens sind. Sie können notwendig
sein, stellen jedoch keine zureichenden Gründe dar. Die Deflationsstrate­
gie mag uns von einer mystischen großen Kluft befreien, wird uns jedoch
allem Anschein nach in eine schlimmere Art von Mystizismus führen,
wenn der Forscher, der sich mit Formen und Bildern beschäftigt, an die
Macht von Zeichen und Symbolen glauben soll, die von allem anderen
isoliert sind.
Dies ist ein starker Einwand. Wir müssen zugeben, dass es beim Spre­
chen über Bilder und Formen einfach ist, sich von der überzeugendsten
hin zu einer trivialen Erklärung zu verschieben, die nur marginale Aspekte
des Phänomens, das wir erklären möchten, enthüllt. Diagramme, Listen,
Formeln, Archive, technische Zeichnungen, Akten, Gleichungen, Wörter­
bücher, Sammlungen und so weiter können abhängig von der Art, wie sie
in den Fokus gerückt werden, nahezu alles oder nichts erklären. Es ist nur
zu einfach, eine Reihe von Klischees - von der chinesischen Vorliebe für
Ideogramme über die doppelte Buchführung (ohne die Bibel zu vergessen)
bis hin zur Computerkultur - zusammenzuwerfen, um Havelocks Argu­
mentation über das griechische Alphabet (1980) oder Walter Ongs Wieder­
gabe der Methode von Rame (1971) zu erweitern. Jeder stimmt zu, dass
Formen, Bilder und Schrift überall gegenwärtig sind. Aber wie viel Erklä­
rungsbedarf können sie decken? Wie viele kognitive Fähigkeiten können
durch sie nicht nur leichter, sondern erschöpfend erklärt werden? Wäh­
rend ich durch diese Literatur wate, habe ich das deprimierende Gefühl,
dass wir uns abwechselnd auf festem, neuem Grund bewegen oder aber in
einem alten Sumpf stecken geblieben sind. Ich möchte einen Weg finden,
den Fokus beständig zu halten, sodass wir wissen, was wir von unserer
Deflationsstrategie erwarten können.
Um diesen Fokus zu halten, müssen wir zuerst überlegen, wann wir
erwarten können, dass Änderungen in den Schreib- und Visualisierungs­
prozeduren überhaupt einen Unterschied in der Art unseres Argumentie­
rens, Beweisens oder Glaubens machen. Ohne diesen vorbereitenden
Schritt wird den Inskriptionen - abhängig vom Kontext - entweder zu viel
oder zu wenig Gewicht beigemessen.
Anders als Leroi-Gourhan (1964) wollen wir nicht die gesamte Ge­
schichte des Schreibens und der visuellen Hilfsmittel vom primitiven
Menschen bis zum Computer betrachten. Wir sind hier nur an ein paar
spezifischen Erfindungen des Schreibens und der bildlichen Darstellung
1
'I'
11!
'I
264 1 BRUNO LATOUR

interessiert. Um diese Besonderheit zu definieren, müssen wir uns die


Konstruktion härterer Fakten genauer ansehen.3
Wer gewinnt in einer agonistischen Begegnung zweier Autoren sowie
zwischen ihnen und all jenen, die sie dazu brauchen, um eine Aussage A
aufzubauen? Antwort: Derjenige, der in der Lage ist, am schnellsten die
größte Anzahl gruppierter und treuer Alliierter aufzubieten. Diese Definition
von Sieg ist dem Krieg, der Politik, dem Recht und - wie ich jetzt zeigen
werde - der Wissenschaft und der Technik gemeinsam. Ich behaupte, dass
Schreiben und bildliche Darstellung nicht selbst die Veränderungen in
unserer wissenschaftlichen Gesellschaft erklären können, sondern dazu
verhelfen, diese agonistische Situation günstiger zu gestalten. Also ist es
weder die gesamte Anthropologie des Schreibens noch die Geschichte der
11
,1 Visualisierung, die uns in diesem Kontext interessieren. Wir sollten uns
II
lieber auf jene Aspekte konzentrieren, die beim Aufbieten, der Präsenta­
tion, der Zunahme, der effektiven Gruppierung oder der Rückversicherung
der Treue neuer Verbündeter helfen. Wir müssen - in anderen Worten -
die Art betrachten, in der jemand einen anderen davon überzeugt, eine
Aussage aufzunehmen, sie weiterzugeben, sie wie eine Tatsache zu gestal­
ten und die Autorschaft und Originalität des ersten Autors anzuerkennen.
Das ist, was ich hinsichtlich Visualisierung und Kognition mit »den Fokus
beständig halten« meine. Wenn wir nur auf der Ebene der visuellen Aspek­
te bleiben, fallen wir in eine Reihe schwacher Klischees zurück oder wer­
den in alle nur denkbaren faszinierenden, akademischen Fragestellungen
weit ab von unserem Problem geführt; wenn wir uns aber andererseits nur
auf die agonistische Situation konzentrieren, entgleitet uns das Prinzip
jedes Sieges, jeglicher Solidität in Wissenschaft und Technik für immer.
Wir müssen die beiden Okulare zusammen halten, um sie in ein wirkli­
ches Binokular zu verwandeln; es dauert eine Weile, sie zu fokussieren,
aber das, was man am Ende sieht, lohnt hoffentlich das Warten.
Ein Beispiel zur Illustration: La Perouse reist für Ludwig XVI. durch
den Pazifik, mit der ausdrücklichen Mission, eine bessere Karte zurückzu­
bringen. Eines Tages trifft er bei seiner Landung auf Sakhalin (wie er es
nennt) auf Chinesen und versucht, von ihnen zu erfahren, ob Sakhalin eine
Insel oder eine Halbinsel ist. Zu seiner großen Überraschung verstehen
die Chinesen Geographie recht gut. Ein älterer Mann steht auf und zeich­
net eine Karte der Insel in den Sand im Maßstab und mit den Details, die

3 1 Eine Tatsache ist härter oder weicher als eine Funktion dessen, was später in
anderen Händen mit ihr geschieht. Jeder von uns agiert als ein Multikonduktor für
die vielen Ansprüche, die uns begegnen: Wir mögen uninteressiert sein oder sie
ignorieren oder interessiert sein - wir werden sie jedoch immer modifizieren und in
etwas vollkommen anderes verwandeln. Manchmal agieren wir tatsächlich als
Konduktor und geben den Anspruch ohne weitere Modifikation weiter (vgl. dazu
Latour/Woolgar 1979; Latour r984b).
DRAWING THINGS TOGETHER 1 265

La Perouse braucht. Ein Jüngerer sieht, dass die ansteigende Flut die Karte
bald auslöschen wird und nimmt eines von La Perouses Notizbüchern, um
die Karte noch einmal mit einem Bleistift zu zeichnen.
Was sind die Unterschiede zwischen unzivilisierter und zivilisierter
Geographie? Es ist weder notwendig, vorwissenschaftliches Denken ins
Feld zu führen, noch zwischen einem geschlossenen und einem offenen
Dilemma (Horton 1977) oder primären und sekundären Theorien (Horton
1982), implizit und explizit, konkreter und abstrakter Geographie zu unter­
scheiden. Die Chinesen sind sehr wohl in der Lage, in Begriffen einer
Landkarte zu denken oder mit La Perouse auf gleicher Augenhöhe über
Navigation zu sprechen. Die Fähigkeit des Zeichnens und des Visualisie­
rens macht, genauer gesagt, auch keinen wirklichen Unterschied, da sie
alle Karten zeichnen, die mehr oder weniger auf demselben Projektions­
prinzip basieren - zuerst auf Sand, dann auf Papier. Es gibt also vielleicht
gar keinen Unterschied? Hat der Relativismus, da die Geographie gleich
ist, Recht? Das kann nicht sein, weil La Perouse etwas tut, das einen enor­
men Unterschied zwischen Chinesen und Europäern macht. Was für den
einen eine unwichtige Zeichnung ist, die die Flut ruhig auslöschen kann,
ist für den Letzteren der einzige Gegenstand seiner Mission. Was ins Bild
gebracht werden muss, ist, wie das Bild zurückgebracht werden muss. Der
Chinese braucht keine Aufzeichnungen zu machen, weil er so viele Land­
karten erzeugen kann wie er will, da er auf dieser Insel geboren und dazu
bestimmt ist, hier zu sterben. La Perouse wird nicht länger als eine Nacht
bleiben; er ist nicht dort geboren und wird weit entfernt sterben. Was
macht er dann? Er durchquert alle diese Orte, um etwas nach Versailles
zurückzunehmen, wo viele Leute erwarten, dass seine Karte bestimmt, wer
in dem Punkt, ob Sakhalin eine Insel ist oder nicht, Recht hat und wer
nicht; wem dieser oder jener Teil der Welt gehört und entlang welcher
Routen das nächste Schiff segeln soll. Ohne diesen besonderen Trajektor
wäre La Perouses ausschließliches Interesse an Spuren und Inskriptionen
unmöglich zu verstehen - dies ist der erste Aspekt; ohne Dutzende von
Innovationen in der Inskription, Projektion, im Schreiben, Archivieren und
Berechnen wäre seine Bewegung durch den Pazifik vollkommen vergeblich
- und dies ist der zweite, ebenso entscheidende Aspekt. Wir müssen die
beiden zusammen betrachten. Kommerzielle Interessen, kapitalistischer
Geist, Imperialismus und Wissensdurst sind leere Begriffe, wenn man
nicht Mercators Projektion, Schiffsuhren und ihre Hersteller, Kupfergravu­
ren auf Karten, das Führen von »Logbüchern« und die vielen gedruckten
Ausgaben von »Cooks Reisen«, die La Perouse bei sich trug, in Betracht
zieht. An diesem Punkt ist die oben von mir skizzierte Deflationsstrategie
stark. Andererseits würde keine Innovation in der Berechnung des Längen­
und Breitengrades, im Bau von Uhren, in der Zusammenstellung von
Logbüchern, im Druck von Kupferplatten einen wie auch immer gearteten
Unterschied machen, wenn sie nicht dazu beitragen würde, Alliierte auf-
I

I
266 1 BRUNO LATOUR

1
zubieten, zu gruppieren und neue und unerwartete Verbündete weitab von
'.111·.
',1, 1, Versailles zu gewinnen. Die Praktiken, an denen ich interessiert bin, wären
sinnlos, wenn sie nicht auf bestimmte Kontroversen Einfluss hätten und
Kritiker dazu bringen würden, neue Fakten zu glauben und sich auf neue
Art zu verhalten. Hier versagt ein ausschließliches Interesse an Visualisie­
rung - und Schrift und kann sogar kontraproduktiv sein. Nur den zweiten
Argumentationsstrang zu verfolgen, würde eine mystische Sicht auf die
von semiotischem Material gewährleisteten Mächte wie z.B. bei Derrida
(1967) bedeuten; nur die erste zu erhalten würde bedeuten, eine idealisti­
sche Erklärung hochzuhalten (auch wenn diese einen materialistischen
Anschein macht).
Ziel dieses Beitrags ist es, beide Argumentationsstränge gleichzeitig zu
verfolgen. Wir finden, anders ausgedrückt, nicht alle Erklärungen betref­
fend Inskription gleichermaßen überzeugend, sondern nur die, die uns
helfen zu verstehen, wie die Mobilisierung und Aufbietung neuer Ressour­
cen erreicht wird. Wir finden nicht alle Erklärungen hinsichtlich sozialer
Gruppen, Interessen und ökonomischer Trends gleichermaßen überzeu­
gend, sondern nur die, die einen spezifischen Mechanismus zur Zusam­
menfassung von »Gruppen«, »Interessen«, »Geld« und »Trends« anbieten:
Mechanismen, von denen wir glauben, dass sie von der Manipulation von
Papier, Formen, Bildern usw. abhängen. La Perouse zeigt uns den Weg, da
ohne neue Arten von Inskriptionen nichts Brauchbares von seiner langen,
kostspieligen und schicksalsschweren Reise nach Versailles zurückge­
kommen wäre. Ohne seine seltsame Mission jedoch, die von ihm verlang­
te, fortzugehen und zurückzukehren, sodass andere in Frankreich über­
zeugt werden könnten, würde keine Modifikation der Inskription den auch
nur kleinsten Unterschied gemacht haben.
Die wesentlichen Eigenschaften von Inskriptionen können nicht in
Begriffen von Visualisierung, Form und Schrift definiert werden. Bei
diesem Problem von Visualisierung und Kognition steht nicht die Wahr­
nehmung auf dem Spiel. Neue Inskriptionen und neue Arten, diese wahr­
zunehmen, sind vielmehr das Ergebnis von etwas, das tiefer liegt. Wenn
man von seinem gewohnten Weg abweichen und schwer beladen zurück­
kehren möchte, um andere dazu zu zwingen, ihre gewohnten Wege zu
verlassen, besteht das hauptsächlich zu lösende Problem in der Mobilisie­
rung. Man muss fortgehen und mit den »Dingen« zurückkehren, wenn die
Bewegungen nicht vergeblich sein sollen; die »Dinge« müssen aber in der
Lage sein, die Rückreise zu überstehen, ohne Schaden zu nehmen. Weitere
',
Erfordernisse: Die gesammelten und verlagerten » Dinge« müssen alle
1:
gleichzeitig denen präsentierbar sein, die man überzeugen will und die
nicht fortgegangen sind. Kurz: Man muss Objekte erfinden, die mobil, aber

i
auch unveränderlich, präsentierbar, lesbar und miteinander kombinierbar

i,,!
1
sind.
j ,'

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DRAWING THINGS TOGETHER 1 267

Über unveränderlich mobile Elemente

Es scheint mir, dass die meisten Forscher, die an den Beziehungen zwi­
schen Inskriptionsprozeduren und Kognition gearbeitet haben, tatsächlich
auf verschiedene Art und Weise über die Geschichte dieser unveränderlich
mobilen Elemente geschrieben haben.

Optische Konsistenz

Das erste Beispiel, das ich betrachten will, ist sehr bemerkenswert. Ivins
schrieb vor Jahren darüber und fasste alles auf ein paar folgenreichen
Seiten zusammen. Die Rationalisierung, die sich während der so genann­
ten »wissenschaftlichen Revolution« ereignete, betrifft nicht den Geist, das
Auge oder die Philosophie, sondern das Sehen. Wieso ist die Perspektiv,e
eine so wichtige Erfindung?

»Wegen ihres logischen Erkennens interner Invarianzen durch alle durch Verände­
rung der räumlichen Platzierung produzierten Transformationen.« (Ivins 1973: 9)

In linearer Perspektive, ungeachtet aus welcher Entfernung und aus wel­


chem Winkel ein Objekt gesehen wird, ist es immer möglich, dieses zu
transferieren - zu übersetzen - und dasselbe Objekt in einer anderen Grö­
ße als der von einer anderen Position aus gesehenen zu erhalten. Im Ver­
lauf dieser Übersetzung werden seine internen Eigenschaften nicht modi­
fiziert. Diese Unveränderbarkeit der verlagerten Figur gestattet Ivins eine
zweite wesentliche Feststellung: Da das Bild sich ohne Verzerrung bewegt,
ist es im Rahmen linearer Perspektive möglich, eine von ihm so bezeichne­
te »Hin- und Rück«-Beziehung zwischen Objekt und Figur zu etablieren.
Ivins zeigt uns, wie die Perspektive Bewegung durch den Raum sozusagen
mit Rückfahrkarte ermöglicht. Man kann eine Kirche in Rom sehen, sie
mit sich nach London nehmen, sodass man sie in London rekonstruieren
kann oder nach Rom zurückkehren und das Bild verbessern. Durch die
Perspektive werden genau wie durch La Perouses Karte - und aus densel­
ben Gründen - neue Bewegungen ermöglicht. Man kann seinen Weg
verlassen und mit allen Orten, durch die man gegangen ist, zurückkehren;
diese sind alle in derselben homogenen Sprache (Längengrad und Breiten­
grad, Geometrie) aufgeschrieben, die es erlaubt, den Maßstab zu wech­
seln, sie repräsentierbar zu machen und sie beliebig zu kombinieren.4

4 1 »Wissenschaft und Technik sind in mehr als direkter Proportion zur Fähig­
keit des Menschen, Methoden zu entwickeln, durch die Phänomene, die anderer­
seits nur durch die Sinne des Hörens, Schmeckens und Riechens erfahren werden
könnten, vorangeschritten, in den Bereich des visuellen Erkennens und Messens
268 J BRUNO LATOUR

Für Ivins ist Perspektive eine wesentliche Determinante von Wissen­


schaft und Technik, weil sie »optische Konsistenz« oder, einfacher ausge­
drückt, eine gerade Straße durch den Raum schafft. Ohne sie

»verändern sich mit der Verschiebung der Örtlichkeiten entweder die äußeren
Beziehungen der Objekte wie etwa ihre Formen visueller Wahrnehmung oder dann
ihre inneren Beziehungen.« (Ebd.)

Die Verschiebung von den anderen Sinnen zum Sehen ist eine Konse­
quenz der agonistischen Situation. Man präsentiert abwesende Dinge.
Niemand kann die Insel Sakhalin riechen, hören oder berühren, aber man
kann auf die Karte schauen und bestimmen, auf welchem Kurs man das
Land erreichen wird, wenn man die nächste Flotte schickt. Die Sprecher
reden miteinander, fühlen, hören und berühren einander, aber sie spre­
chen jetzt mittels vieler abwesender Dinge, die alle gleichzeitig präsentiert
werden. Diese Präsenz/Absenz ist durch die Hin- und Rück-Verbindung
möglich, die von diesen Dingen etabliert wird - Perspektive, Projektion,
Karte, Logbuch usw. - und die eine Übersetzung ohne Beeinträchtigung
gestatten.
Auch Edgerton richtet unsere Aufmerksamkeit auf einen Vorteil linea­
rer Perspektive (1976). Dieser unerwartete Vorteil zeigt sich, wenn religiöse
oder mythologische Themen und Utopien mit der gleichen Perspektive
dargestellt werden, die zur Wiedergabe von Natur verwendet wird (Edger­
ton 1980: 189).

»Sogar wenn der Inhalt des gedruckten Testes unwissenschaftlich wäre, präsentierte
das gedruckte Bild im Westen immer ein rationales, auf den universellen Gesetzen
der Geometrie basierendes Bild. In diesem Sinn verdankt die wissenschaftliche
Revolution Albrecht Dürer mehr als Leonardo da Vinci.« (Ebd.: 190)

Selbst die wildeste oder heiligste Fiktion und Dinge der Natur - sogar die
niedrigsten - haben einen Versammlungsort, einen gemeinsamen Platz, weil
sie alle von derselben »optischen Konsistenz« profitieren.5 Man kann

gebracht worden und sind dann Gegenstand jener logischen Symbolisierung gewor­
den, ohne die rationale Gedanken und Analyse unmöglich sind.« (Ivins 1973: 13)
5 1 »Die bezeichnendsten Charakteristika der europäischen bildlichen Reprä­
sentation s�it dem 14. Jahrhundert waren einerseits ihr beständig zunehmender
Naturalismus und andererseits ihre rein schematische und logische Ausdehnung.
Es wird hier behauptet, dass beide in großen Teilen von der Entwicklung und
Durchdringung von Methoden abhängen, die in invarianter Form wiederholbare
Symbole bereitstellen, um das visuelle Bewusstsein und eine Grammatik der Per­
spektive zu repräsentieren, die es ermöglichten, logische Beziehungen nicht nur
innerhalb des Symbolsystems, sondern auch zwischen dem System und den For-
DRAWING THINGS TOGETHER 1 269

nicht nur Städte, Landschaften oder Ureinwohner verlagern und auf Stra­
ßen durch den Raum von ihnen weg und wieder zu ihnen hin gehen,
sondern man kann auch Heilige, Götter, Himmel, Paläste oder Träume mit
denselben Hin- und Rück-Straßen erreichen und sie durch dieselbe »Fens­
terscheibe« auf derselben zweidimensionalen Oberfläche betrachten. Die
doppelspurige Straße wird zu einer vierspurigen Autobahn! Unmögliche
Paläste können realistisch gezeichnet werden, umgekehrt ist es aber auch
möglich, mögliche Objekte so zu zeichnen, als seien sie utopisch. Wie
Edgerton in seinem Kommentar zu Agricolas Drucken zeigt, können reale
Objekte in getrennten Teilen oder explodierenden Ansichten gezeichnet
oder in verschiedenen Maßstäben, Winkeln oder Perspektiven auf demsel­
ben Blatt Papier abgebildet werden. Es spielt keine Rolle, da die »optische
Konsistenz« allen Teilen gestattet, sich miteinander zu mischen.

»Merkwürdigerweise erlauben lineare Perspektive und Chiaroscuro, die Bildern


geometrische Stabilität verleihen, dem Betrachter ebenfalls eine momentane Aufhe­
bung seiner Abhängigkeit vom Gesetz der Schwerkraft. Mit ein bisschen Übung
kann sich der Betrachter solide Volumen vorstellen, die als abgetrennte Komponen­
ten einer Vorrichtung frei im Raum treiben.« (Ebd.: 193)

Wie Ferguson sagt, hat »der Geist« endlich »ein Auge«.


In diesem Stadium, auf Papier, können Hybriden geschaffen werden,
in denen sich Zeichnungen aus vielen Quellen vermischen. Perspektive ist
nicht interessant, weil sie realistische Bilder bietet; andererseits ist sie doch
von Interesse, weil sie vollständige Hybriden erschafft: Natur gesehen als
Fiktion, Fiktion gesehen als Natur, mit allen Elementen, die im Raum so
homogeni�iert werden, dass es nun möglich ist, sie wie ein Kartenspiel zu
mischen. In seinem Kommentar zum Gemälde »St. J erome in seinem
Studierzimmer« schreibt Edgerton:

»Antonellos Heiliger Jerome ist das perfekte Paradigma eines neuen Bewusstseins
der physischen Welt, das von den westeuropäischen Intellektuellen im späten 15.
Jahrhundert erlangt worden ist. Dieses Bewusstsein trat besonders bei Künstlern
wie Leonardo da Vinci, Francesco di Giorgio Martini, Albrecht Dürer, Hans Holbein
und einigen mehr zutage, die alle [...] eine verfeinerte Grammatik und Syntax zur
Quantifizierung natürlicher Phänomene in Bildern entwickelt hatten. In ihren
Händen wurde das Erschaffen von Bildern zu einer piktorialen Sprache, die mit
etwas Übung mehr Informationen schneller und [sie!] für ein potentiell größeres
Publikum kommunizieren konnte als jede verbale Sprache in der menschlichen
Geschichte.« (Ebd.: 189)

men und Örtlichkeiten der Objekte, die es symbolisiert, herzustellen.« (Ivins 1973=
12)
270 1 BRUNO LATOUR

Die Perspektive illustriert den doppelten Argumentationsstrang, den ich im


vorangegangenen Abschnitt präsentiert habe. Innovationen in der graphi­
schen Darstellung sind insofern wesentlich, als sie neue Hin- und Rückbe­
ziehungen mit Objekten (aus der Natur oder aus der Fiktion) etablieren -
und nur insofern sie Inskriptionen entweder erlauben, mobiler zu werden,
oder durch alle Verlagerungen hindurch unveränderbar zu bleiben.

Visuelle Kultur

Noch bemerkenswerter als die italienische, von Ivans und Edgerton be­
schriebene Perspektive ist, wie Svetlana Alpers sehr schön aufzeigt (1983),
die niederländische Perspektiven-Methode in der bildenden Kunst. Wie sie
uns erzählt, malen die Holländer nicht grandiose historische Szenen, als
würde man sie durch ein sorgfältig gerahmtes Fenster betrachten; sie
verwenden die Oberfläche ihrer Gemälde (wie das Äquivalent einer Netz­
haut), um die Welt direkt darauf zu malen. Wenn Bilder auf diese Weise
eingefangen werden, gibt es für den Betrachter keinen privilegierten
Standpunkt mehr. Die Tricks der Camera Obscura transformieren groß­
formatige dreidimensionale Objekte in eine kleine zweidimensionale Ober­
fläche, um die sich der Betrachter nach Gutdünken bewegen kann. 6
Für unsere Zwecke liegt das Hauptinteresse von Alpers Buch in der
Art, in der sie die Veränderungen einer »visuellen Kultur« im Lauf der Zeit
zeigt. Sie richtet ihr Hauptaugenmerk nicht auf die Inskriptionen oder
Bilder, sondern auf die simultane Transformation von Wissenschaft,
Kunst, Theorie des Sehens, Organisation der Handwerke und wirtschaftli­
chen Kräften. Die Leute sprechen oft von »Weltsichten«, aber dieser kraft­
volle Ausdruck wird metaphorisch verwendet. Alpers stattet diesen alten
Begriff mit seiner materiellen Bedeutung aus: Wie eine Kultur die Welt
sieht und sie sichtbar macht. Eine neue visuelle Kultur redefiniert sowohl,
was Sehen bedeutet, als auch, was es zu sehen gibt. Ein Zitat von Come­
nius fasst auf passende Weise die neue Obsession, Objekte neu sichtbar zu
machen, zusammen:

»Wir sprechen nun von der Art, in der Objekte den Sinnen präsentiert werden
müssen, wenn der Eindruck deutlich sein soll. Dies ist einfach zu verstehen, wenn
wir den Prozess des tatsächlichen Sehens betrachten. Wenn man das Objektdeut­
lich sehen will, ist es notwendig: (1) es vor unseren Augen zu platzieren, (2) das
nicht weit entfernt, sondern in einem vernünftigen Abstand, (3) nicht von einer

6 1 »Charakteristischerweise versuchten nördliche Künstler, durch eine Trans­


formation der Ausdehnung des Sehens auf ihre kleinen, flachen Arbeitsflächen alles
zu repräsentieren [...]. Es ist die Kapazität der Bildoberfläche, eine Ähnlichkeit mit
der Welt - ein Aggregat von Ansichten - zu beinhalten, die viele Bilder im Norden
charakterisiert.« (Ebd.: 51)
DRAWING THINGS TOGETHER 1 271

Seite, sondern genau vor unseren Augen, (4) sodass die Vorderseite des Objekts
nicht vom Betrachter weg, sondern in Richtung auf den Betrachter gedreht ist, (5)
dass die Augen zunächst das Objekt als Ganzes aufnehmen, (6) und dann fortfah­
ren, die Teile zu unterscheiden, (7) diese dann der Reihe nach von Anfang bis Ende
inspizieren, (8) die Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Teil gerichtet wird, (9) bis sie
alle anhand ihrer wesentlichen Attribute aufgenommen sind. Wenn alle diese Erfor­
dernisse vollständig beachtet werden, findet das Sehen erfolgreich statt; wird nur
eines vernachlässigt, gibt es nur einen Teilerfolg.« (Zit. n. Alpers 1983: 95)

Diese neue Obsession, den Akt des Sehens zu definieren, kann in der
Wissenschaft jener Zeit, aber auch in modernen Laboratorien gefunden
werden. Comenius' Ratschlag ähnelt sowohl dem von Boyle, als er die
Zeugen seines Luftpumpen-Experiments disziplinierte (Shapin 1984), als
auch jenem von Lynch untersuchten Neurologen, als sie ihre Hirnzellen
»disziplinierten« (Lynch 1985a). Menschen in vorwissenschaftlicher Zeit
und außerhalb von Laboratorien gebrauchen ihre Augen, aber nicht auf
diese Weise. Sie schauen auf das Spektakel der Welt, aber nicht auf diesen
neuen Typus von Bild, der dazu erdacht ist, die Objekte der Welt zu trans­
portieren, sie in Holland zu akkumulieren, sie mit Unterschriften und
Legenden zu versehen und nach eigenem Willen zu kombinieren. Alpers
macht verständlich, was Foucault (1966) nur anriss: wie dieselben Augen
plötzlich beginnen, »Repräsentationen« zu sehen. Das »Panoptikum«, das
sie beschreibt, ist ein fait social total, das alle Aspekte der Kultur neu defi­
niert. Noch wichtiger ist, dass Alpers nicht eine neue Sicht erklärt, indem
sie »soziale Interessen« oder die »ökonomische Infrastruktur« einbringt.
Die neue präzise Szenographie, die in einer Weltsicht resultiert, definiert
zugleich, was Wissenschaft oder Kunst ist und was es bedeutet, eine Welt­
wirtschaft zu haben. Wie ich es vorher schon formuliert habe, wird ein
kleines flaches Land mächtig, indem es einige wesentliche Erfindungen
macht, die es Menschen erlauben, ihre Mobilität zu beschleunigen und die
Unveränderbarkeit der Inskriptionen zu verstärken: Auf diese Weise ist die
Welt in diesem kleinen Land versammelt.
Alpers Beschreibung der niederländischen visuellen Kultur erreicht
dasselbe Ergebnis wie Edgertons Studie der technischen Zeichnungen: Ein
neuer Versammlungsplatz für Fakten und Fiktion, Wörter und Bilder ist
entworfen. Die Karte selbst ist ein solches Ergebnis, umso mehr, als sie zur
Inskribierung ethnographischer Inventare (Ende ihres Kapitels IV) oder
Unterschriften (Kapitel V), Stadtumrisse usw. verwendet wird. Die Haupt­
qualität des neuen Raumes ist nicht die, »objektiv« zu sein, wie eine naive
Realismusdefinition oftmals vorgibt, sondern: optische Konsistenz zu
haben. Diese Konsistenz bringt die Kunst, alles zu beschreiben, und die
Möglichkeit, von einem Typ von visueller Spur zu einer anderen zu gehen,
mit sich. Folglich überrascht es uns nicht, dass Briefe, Spiegel, Linsen,
gemalte Wörter, Perspektiven, Inventare, illustrierte Kinderbücher, Mikro-
272 1 BRUNO LATOUR

skope und Teleskope in dieser visuellen Kultur zusammenkommen. Alle


Innovationen werden ausgewählt, um »insgeheim und ohne Verdächti­
gung zu sehen, was weit entfernt an anderen Orten gemacht wird« (zit. in
Alpers 1983: 201).

Eine neue Art, Zeit und Raum zu akkumulieren

1 Ein anderes Beispiel soll zeigen, dass Inskriptionen nicht per se interessant
1.
sind, sondern nur, weil sie entweder die Mobilität oder die Unveränderbar­
11

keit von Spuren steigern. Die Erfindung des Buchdrucks und seine Aus­
li
11 1 wirkungen auf Wissenschaft und Technik ist ein Klischee der Historiker;
niemand hat jedoch diese Renaissance-Argumentation so vollständig er­
neuert wie Elizabeth Eisenstein (1979). Wieso? Weil sie die Druckerpres,se
als Mobilisierungsvorrichtung betrachtet oder, genauer, als Vorrichtung,
die sowohl Mobilisierung als auch Unveränderbarkeit zur selben Zeit er­
möglicht. Eisenstein sucht nicht nach einer einzigen Ursache der wissen­
schaftlichen Revolution, sondern nach einer Nebenursache, die alle Wirk­
ursachen ins Verhältnis zueinander setzt. Die Druckerpresse ist offensicht­
lich eine machtvolle Ursache dieser Art. Unveränderbarkeit wird durch den
Prozess des Druckens vieler identischer Kopien sichergestellt, Mobilität
durch die Anzahl der Kopien, das Papier, die beweglichen Lettern. Die
Verbindungen zwischen verschiedenen Orten in Zeit und Raum werden
von dieser phantastischen Beschleunigung unveränderlich mobiler Ele­
mente, die irgendwo in allen Richtungen Europas zirkulieren, vollstän­
dig modifiziert. Wie Ivins gezeigt hat, ist Perspektive plus Druckerpresse
plus Aqua Porte die wirklich wichtige Kombination, da Bücher nun die
realistischen Bilder dessen, worüber sie sprechen, bei sich tragen. Zum
ersten Mal kann eine Örtlichkeit andere, in Raum und Zeit weit entfernte
Orte akkumulieren und sie dem Auge synoptisch präsentieren; diese syn­
optische Präsentation kann, einmal überarbeitet, verbessert oder unterbro­
chen, noch besser ohne Modifikation an anderen Plätzen verbreitet und zu
anderen Zeiten verfügbar gemacht werden.
Nachdem Eisenstein Historiker diskutiert hat, die viele widersprüchli­
che Einflüsse zur Erklärung des Aufstiegs der Astronomie vorschlugen,
schreibt sie:

»Ob der Astronom des 16. Jahrhunderts mit Materialien aus dem vierten vorchristli­
chen Jahrhundert - oder im 14. Jahrhundert neu verfassten - konfrontiert war oder
ob er empfänglicher gegenüber akademischen oder humanistischen Gedanken­
strömungen war, scheint in dieser bestimmten Verbindung von geringerer Bedeu­
1 ! tung als die Tatsache, dass alle Arten diverser Materialien im Verlauf eines Lebens
: 1

von einem Paar Augen gesehen wurden. Für Kopernikus wie für Tycho war das
Ergebnis ein erhöhtes Bewusstheitsein und Unzufriedenheit mit den Diskrepanzen
der inhärenten Daten.« (Eisenstein 1979: 602)
DRAWING THINGS TOGETHER 1 273

Mit vernichtender Ironie verlagert die Autorin die Aufmerksamkeit vom


Geist auf die Oberfläche der mobilisierten Ressourcen:

>»Um die Wahrheit eines Satzes von Euklid zu entdecken<, schrieb John Locke,
,bedarf es kaum der Offenbarung; Gott hatte uns mit natürlicheren und sichereren
Mitteln, Kenntnis über sie zu erlangen, ausgestattet<. Im elften Jahrhundert jedoch
hatte Gott die westlichen Gelehrten nicht mit natürlicheren und sichereren Mitteln
zum Erfassen eines Euklidschen Theorems ausgestattet. Stattdessen engagierten
sich die gelehrtesten Männer der Christenheit in einer fruchtlosen Suche, um zu
entdecken, was Euklid mit seinem Bezug auf innere Winkel gemeint hatte.« (Ebd.:
649)

Für Eisenstein kann jede große Diskussion über die Reformation, die wis­
senschaftliche Revolution und die neue kapitalistische Wirtschaft umge-
i · formt werden, indem man sich anschaut, was Verleger und die Drucker­
presse ermöglichen. Der Grund, weshalb diese alte Erklärung in ihrer
Behandlung neue Form annimmt, ist, dass Eisenstein sich nicht nur auf
graphische Darstellung konzentriert, sondern auch auf deren Veränderun­
gen, die mit dem Mobilisierungsprozess verbunden sind. Zum Beispiel
erklärt sie (ebd.: 508ff., nach Ivins 1953) das rätselhafte Phänomen eines
Zeitabstandes zwischen der Einführung der Druckerpresse und der exakter
realistischer Bilder. Zuerst wird die Presse nur zur Reproduktion von
Herbarien, anatomischen Stichen, Karten und Kosmologien verwendet, die
Jahrhunderte alt sind und die viel später als ungenau gelten werden. Wenn
wir nur auf die semiotische Ebene schauen würden, wäre dieses Phänomen
rätselhaft; wenn wir aber einmal die tiefere Struktur betrachten, ist es leicht
zu erklären. Zuerst erfolgt die Verlagerung vieler unveränderbar mobiler
Elemente; die alten Texte werden überall verbreitet und können billiger an
einem Ort gesammelt werden. Aber dann wird der Widerspruch in ihnen
schließlich auf wortwörtliche Weise sichtbar. Die vielen Orte, an denen
diese Texte synoptisch gesammelt sind, bieten viele Gegenbeispiele (ver­
schiedene Blumen, verschiedene Organe mit anderen Namen, verschiede­
ne Formen der Küstenlinie, unterschiedliche Kurse verschiedener Wäh­
rungen, verschiedene Gesetze). Diese Gegenbeispiele können den alten
Texten hinzugefügt und in der gleichen Weise ohne Modifikation an all
den Orten verbreitet werden, an denen dieser Prozess des Vergleichs wie­
der aufgenommen werden kann. In anderen Worten werden Fehler genau
reproduziert und ohne Veränderung verbreitet. Korrekturen werden jedoch
auch schnell, billig und ohne weitere Veränderungen reproduziert. Am
Ende verschiebt sich also die Genauigkeit vom Medium zur Botschaft, vom
gedruckten Buch zum Kontext, mit dem es eine Hin- und Rückverbindung
eingeht. Ein neues Interesse an der »Wahrheit« kommt nicht von einer
neuen Sichtweise, sondern von derselben alten, die sich selbst auf neue
274 1 BRUNO LATOUR

sichtbare Objekte anwendet, die Raum und Zeit unterschiedlich mobilisie­


ren.7
Die Konsequenz von Eisensteins Argumentation besteht darin, dass
mentalistische Erklärungen in die Geschichte unveränderlich mobiler
Elemente transformiert werden. Wiederholt zeigt sie, dass vor dem Auftre­
ten des Buchdrucks alle nur denkbaren intellektuellen Leistungen erbracht
worden sind: organisierter Skeptizismus, wissenschaftliche Methode,
Widerlegung, Datensammeln, Theoriebildung. Alles ist ausprobiert wor­
den, in allen Disziplinen: Geographie, Kosmologie, Medizin, Bewegungs­
lehre, Politik, Ökonomie usw. Aber jede Leistung blieb lokal und temporär,
da es keine Möglichkeit gab, ihre Ergebnisse anderswohin zu bewegen und
die anderer einzubringen, ohne neue Verfälschungen oder Fehler einzu­
führen. Zum Beispiel war jede sorgfältig verbesserte Version eines alten
Autors nach ein paar Kopien wieder verfälscht. Keine irreversiblen Gewin­
ne konnten erzielt werden; deshalb war auch keine groß angelegte langfris­
tige Kapitalisierung möglich. Die Druckerpresse fügt aber nicht dem Den­
ken, der wissenschaftlichen Methode oder dem Gehirn etwas hinzu. Sie
konserviert und verbreitet alles - gleichgültig, wie falsch, seltsam oder wild
es ist. Sie macht alles mobil, aber diese Mobilität wird nicht von Verfäl­
schung entkräftet. Die neuen Wissenschaftler, die neuen Kleriker, die
neuen Händler, die neuen Prinzen, die Eisenstein beschreibt, unterschei­
den sich nicht von den alten, aber sie schauen sich nun neues Material an,
das zahlreiche Orte und Zeiten verfolgt. Gleichgültig, wie ungenau diese
Spuren auf den ersten Blick sein mögen, sie gewinnen alle an Genauigkeit
als Konsequenz von mehr Mobilisierung und mehr Unveränderbarkeit. Ein
Mechanismus, der irreversibel Genauigkeit einfängt, wurde erfunden. Der
Buchdruck spielt dieselbe Rolle wie Maxwells Dämon. Keine neue Theorie,
Weltsicht oder neuer Geist sind notwendig, um den Kapitalismus, die
Reformation und die Wissenschaft zu erklären: Sie sind das Resultat eines
ersten Schrittes in der langen Geschichte unveränderlich mobiler Elemen­
te.
Indem sie Ivins Argumentation aufnehmen, konzentrieren sich sowohl
Mukerji (1983) als auch Eisenstein wieder auf das illustrierte Buch. Für
diese Autoren war McLuhans Revolution bereits geschehen, sobald Bilder
gedruckt wurden. Ingenieurwesen, Botanik, Architektur, Mathematik -
keine dieser Wissenschaften kann das, worüber sie sprechen, nur durch

7 1 Der Beweis, dass die Bewegung zuerst kommt, liegt für Eisenstein in der
Tatsache, dass sie den gegensätzlichen Effekt auf die heiligen Schriften mit sich
bringt. Die Genauigkeit des Mediums enthüllt mehr und mehr die Ungenauigkeit in
der Botschaft, die bald gefährdet ist. Die Schönheit von Eisensteins Konstruktion
liegt in der Art, in der sie zwei gegensätzliche Konsequenzen aus derselben Ursache
erhält: Wissenschaft und Technik beschleunigen sich; das Evangelium wird zweifel­
haft (Latour 1983).
DRAWING THINGS TOGETHER 1 275

Texte allein beschreiben; sie müssen die Dinge zeigen. Dieses Zeigen, das
zur Überzeugung so wesentlich ist, war vor der Erfindung »eingravierter
Bilder« vollkommen unmöglich. Ein Text konnte nur mit einigen Verfäl­
schungen kopiert werden, nicht jedoch ein Diagramm, ein anatomischer
Stich oder eine Karte. Der Effekt auf die Konstruktion von Fakten ist be­
trächtlich, wenn ein Schreiber in der Lage ist, einen Leser mit einem Text,
der eine große Anzahl von den Dingen, über die er spricht, an einem Ort
präsentiert, zu versorgen. Wenn man annimmt, dass alle Leser und alle
Schreiber dasselbe tun, wird ohne zusätzliche Ursache eine neue Welt aus
der alten hervortreten. Wieso? Einfach weil der Kritisierte dasselbe tun
muss wie sein Kritiker. Um sozusagen die »Kritik zu erwidern«, wird er ein
anderes Buch schreiben, es drucken lassen und mit Kupferplatten die
Gegendarstellungen, die er ins Feld führen möchte, mobilisieren müs­
sen. Die Kosten des Widersprechens werden ansteigen. 8
Positive Rückmeldungen entstehen, sobald man in der Lage ist, eine
große Zahl an mobilen, lesbaren, sichtbaren Ressourcen an einem Ort
zusammenzubringen, um einen Punkt zu stützen. Nach Tycho Brahe
(Eisenstein 1979) muss der Gegner entweder aufgeben und das, was Kos­
mologen sagen, als Tatsache akzeptieren, oder Gegenbeweise produzieren,
indem er seinen Prinz dazu überredet, eine vergleichbare Geldsumme in
Observatorien zu investieren. In diesem Punkt ist der »Wettlauf um Be­
weise« dem Rüstungswettlauf sehr ähnlich, weil der Feedbackmechanis­
mus derselbe ist. Wenn einmal ein Konkurrent damit beginnt, harte Fak­
ten aufzubauen, müssen die anderen dasselbe tun oder nachgeben.
Diese leichte Umformung von Eisensteins Argumentation in Begriffe
unveränderbar mobiler Elemente erlaubt uns, eine Schwierigkeit in ihrer
Argumentation zu überwinden. Obwohl sie die Wichtigkeit von Herausge­
berstrategien betont, gibt sie keine Erklärung über technische Innovationen
selbst. Die Druckerpresse platzt in ihre Darstellung hinein wie die exoge­
nen Faktoren vieler Historiker, wenn sie über technische Innovationen
sprechen. Sie richtet das Hauptaugenmerk ausgezeichnet auf den semioti­
schen Aspekt des Druckes und die Mobilisierung, die er erlaubt; die tech­
nischen Notwendigkeiten, um die Presse zu erfinden, sind jedoch alles
andere als offensichtlich. Wenn wir die agonistische Situation betrachten,
die ich als Referenzpunkt verwende, wird die Notwendigkeit, die so etwas
wie die Druckerpresse begünstigt, klarer. Alles, was die Mobilität der Spu-

8 1 Z.B. portraitiert Mukerji einen Geographen, der die neuen Geographiebü­


cher hasst, seinem Hass jedoch in gedruckter Form Luft verschaffen muss. »Ironi­
scherweise machte Davis seine Reise, weil er nicht darauf vertraute, dass gedruckte
Information so komplett wie ein mündlicher Erfahrungsbericht ist; er beschloss
jedoch, die Reise zu machen, nachdem er holländische Geographiebücher gelesen
und aus seiner Reise einen anderen geographischen bzw. Navigationstext verfasst
hatte.« (Mukerji 1983: 114)
276 1 BRUNO LATOUR

ren, die eine Örtlichkeit über einen anderen Ort erhält, beschleunigt, oder
alles, was diesen Spuren gestattet, sich ohne Transformation von einem Ort
zu einem anderen zu bewegen, wird favorisiert: Geometrie, Projektion,
Perspektive, Buchhaltung, Papierherstellung, Aqua Porte, Münzprägung,
neue Schiffe (Law 1986). Das Privileg der Druckerpresse kommt von ihrer
Fähigkeit, vielen Innovationen dazu zu verhelfen, auf einmal zu agieren,
aber sie selbst ist nur eine Innovation unter den vielen, die helfen, die
einfachste aller Fragen zu beantworten: Wie ist Dominanz in großem
Maßstab möglich? Diese Umformulierung ist nützlich, da sie uns zu sehen
hilft, dass derselbe Mechanismus, dessen Wirkungen von Eisenstein be­
schrieben wurden, heute noch fanktioniert - in einem stets zunehmenden
Ausmaß an den Grenzen von Wissenschaft und Technik. Ein paar Tage in
einem Labor enthüllen, dass dieselben Kräfte, die die Druckerpresse so
notwendig machten, noch immer agieren, um neue Datenbanken, Raum­
teleskope, Chromatographien, Gleichungen, Scanner, Fragebögen usw. zu
produzieren. Der Geist wird noch immer domestiziert.

Über Inskriptionen
Was ist so wichtig an den Bildern und Inskriptionen, die Wissenschaftler
und Ingenieure geschäftig gewinnen, zeichnen, inspizieren, berechnen
und diskutieren? Zuallererst ist es der einzigartige Vorteil, den sie in rheto­
rischen oder polemischen Situationen verschaffen. »Sie zweifeln an dem,
was ich sage? Ich werde es Ihnen zeigen.« Und ohne mich mehr als ein
paar Zentimeter zu bewegen, entfalte ich vor Ihren Augen Ziffern, Dia­
gramme, Stiche, Texte, Umrisse und zeige hier und jetzt Dinge, die weit
entfernt sind und mit denen nun eine Art von Hin- und Rückverbindung
hergestellt worden ist. Ich glaube nicht, dass man die Wichtigkeit dieses
simplen Mechanismus überbewerten kann. Eisenstein hat das für die
Vergangenheit der Wissenschaft bewiesen, aber die Ethnographie von
gegenwärtigen Laboratorien zeigt denselben Mechanismus (Lynch 1985a,
1985b; Star 1983; Law 1985). Wir sind so an diese Welt von Formen und
Bildern gewöhnt, dass wir kaum denken können, wie es ist, etwas ohne
Index, Bibliographien, Wörterbücher, Papiere mit Referenzen, Tabellen,
Spalten, Fotographien, Peaks, Punkte und Bänder zu wissen. 9
Eine einfache Art, die Wichtigkeit von Inskriptionen zu verdeutlichen,

9 1 Aus diesem Grund schließe ich in die Diskussion die große Llteratur über
die Neurologie des Sehens oder über die Psychologie der Wahrnehmung nicht ein
(vgl. z.B. Block r98r; de Mey 1982). Diese Disziplinen, wie wichtig sie auch sein
mögen, verwenden den gleichen Prozess, den ich erforschen möchte, so ausgiebig,
dass sie gegenüber einer Ethnographie der Kunstfertigkeit und den Tricks der
Visualisierung so blind wie die anderen sind.
'
DRAWING THINGS TOGETHER 1 277

besteht darin, darüber nachzudenken, wie wenig wir zu überzeugen in der


Lage sind, wenn man uns die graphische Darstellung nimmt, durch die
Mobilität und Unveränderbarkeit erhöht werden. Wie Dagognet in zwei
ausgezeichneten Büchern gezeigt hat (1969, 1973), existiert keine wissen­
schaftliche Disziplin, ohne zuerst einmal eine visuelle und geschriebene
Sprache zu erfinden, die es ihr erlaubt, mit ihrer verwirrenden Vergangen­
heit zu brechen. Die Manipulation von Substanzen in Galipot und Alambik
wird erst zur Chemie, wenn alle Substanzen in einer homogenen Sprache
aufgeschrieben werden können, in der alles dem Auge simultan präsentiert
wird. Das Aufschreiben von Wörtern innerhalb einer Klassifizierung ist
nicht genug. Chemie wird erst dann mächtig, wenn ein visuelles Vokabular
erfunden wird, das die Manipulationen durch Kalkulationen von Formeln
ersetzt. Chemische Strukturen können auf dem Papier gezeichnet, kom­
poniert, auseinander gebrochen werden, wie Musik oder Arithmetik, den
ganzen Weg bis zu Mendeleievs Tabelle:

»Für die, die die periodische Tabelle zu betrachten und zu lesen wissen, entfalten
sich die Eigenschaften der Elemente und die ihrer zahlreichen Kombinationen
vollständig und direkt aus ihren Positionen in der Tabelle.« (Dagognet 1969: 213)

Nachdem er die vielen Innovationen in chemischen Schriften und Zeich­


nungen analysiert hat, fügt er diesen kleinen Satz hinzu, der Goodys Sicht
sehr nahe kommt:

»Es mag so scheinen, als ob wir triviale Details betrachten - eine leichte Modifika­
tion in der Ebene, die zur Beschreibung eines Chlorins verwendet wird -, diese
kleinen Details lösen jedoch paradoxerweise die Kräfte der modernen Welt aus.«
(Ebd.: 199)

In seiner bekannten Studie über klinische Medizin hat Foucault dieselbe


Transformation von kleinformatiger Praxis zu einer Manipulation von
Aufzeichnungen im großen Umfang (1963) gezeigt. Dasselbe medizini­
sche Denken wird vollkommen unterschiedliches Wissen erzeugen, wenn
man es auf Bäuche, Fieber, Hälse und Häute einiger weniger aufeinander
folgender Patienten oder aber auf die gut geführten Berichte von Hunder­
ten von beschriebenen Bäuchen, Fiebern, Hälsen und Häuten anwendet,
die alle in derselben Weise kodiert und synoptisch präsent sind. Medizin
wird nicht im Denken oder im Auge des Praktizierenden wissenschaftlich,
sondern in der Anwendung alter Augen und alten Denkens auf neue
Informationsblätter innerhalb neuer Institutionen, dem Krankenhaus. In
»Überwachen und Strafen« (r976) kommt Foucaults diesbezügliche Dar­
stellung der Forschung über Inskriptionen am nächsten. Das Hauptanlie­
gen des Buches ist es, die Verschiebung von einer Macht, die von unsicht­
baren Betrachtern gesehen wird, hin zu einer neuen unsichtbaren Macht,
278 1 BRUNO LATOUR

die alles über jeden sieht, zu illustrieren. Der Hauptvorteil von Foucaults
Analyse liegt darin, sich nicht nur auf Akten, Buchhaltungsbücher, Zeit­
pläne und Drill zu konzentrieren, sondern auch auf die Art von Institutio­
nen, in denen diese Inskriptionen aufhören, so bedeutend zu sein. 10 Die
11
hauptsächliche Innovation ist die eines »Panoptikums«, das der Kriminal­
strafkunde, der Pädagogik, der Psychiatrie und der klinischen Medizin
11
gestattet, als ausgewachsene Wissenschaften aus ihren sorgfältig geführten
Akten hervorzutreten. Das Panoptikum ist eine andere Art, die »optische
Konsistenz«, die für Macht im großen Maßstab notwendig ist, zu erhalten.
' 1

1
In einem berühmten Satz sagt Kant, dass wir der Vernunft einen
Dienst leisten, wenn wir erfolgreich den Pfad entdecken, auf dem sie sich
1
sicher bewegen kann. Der »sichere Pfad einer Wissenschaft« jedoch liegt
zwangsläufig in der Konstruktion gut geführter Akten in Institutionen, die
eine größere Anzahl von Ressourcen in einem größeren Maßstab mobili­
sieren wollen.
»Optische Konsistenz« wird - wie Rudwick gezeigt hat (1976) - in der
Geologie erreicht, indem man eine neue visuelle Sprache erfindet. Ohne
sie bleiben die Erdschichten versteckt, und gleichgültig, wie viele Reisende
und Grabende sich dort auch bewegen, gibt es doch keine Möglichkeit, ihre
Reisen, Visionen und Ansprüche zusammenzufassen. Die Kopernikani­
sche Wende, die Kant sehr am Herzen lag, ist eine idealistische Darstel­
lung eines sehr einfachen Mechanismus: Wenn wir nicht zur Erde gehen
können, lass die Erde zu uns kommen, oder genauer, lasst uns alle zu
vielen Plätzen auf der Erde gehen und mit denselben, aber unterschiedli­
chen homogenen Bildern, die gesammelt, verglichen, überlagert und an
ein paar Orten neu gezeichnet werden können, zusammen mit den sorgfäl­
tig etikettierten Proben von Gestein und Fossilien .zurückkehren.
In einem anregenden Buch hat Fourquet (1980) dasselbe Sammeln von
Inskriptionen durch die INSEE, die französische Institution, die die meis­
ten ökonomischen Statistiken bereitstellt, illustriert. Es ist natürlich un­
möglich, über die Ökonomie einer Nation zu sprechen, indem man »sie«
sich anschaut. Dieses »sie« ist schlicht unsichtbar, solange nicht Kohorten
von Forschenden und Inspektoren lange Fragebögen ausgefüllt haben,
solange nicht die Antworten in Karten gestanzt, von Computern verarbeitet
und in einem gigantischen Laboratorium analysiert worden sind. Erst am
Ende kann die Wirtschaft in Stapeln von Karten und Listen sichtbar ge­
macht werden. Sogar das ist noch zu verwirrend, sodass neues Zeichnen
und Extrahieren notwendig wird, um eine paar ordentliche Diagramme zu
erstellen, die das Bruttosozialprodukt oder die Zahlungsbilanz zeigen. Das

10 1 »Als wesentliches Element in den Räderwerken der Disziplin konstituiert


sich eine ,Schriftmacht,, die sich zwar in vielen Punkten an die traditionellen Me­
thoden der administrativen Dokumentation anlehnt, aber doch auch bedeutende
Änderungen und Neuerungen einführt.« (Foucault 1976: 244)
DRAWING THINGS TOGETHER j 279

auf diese Weise erhaltene Panoptikum hat in der Struktur Ähnlichkeit mit
einem riesenhaften wissenschaftlichen Instrument, das die unsichtbare
Welt des Austausches in »die Wirtschaft« transformiert. Deshalb habe ich
anfangs die materialistische Erklärung zurückgewiesen, die »Infrastruk­
tur«, »Märkte« oder »Verbraucherbedürfnisse« verwendet, um Wissen­
schaft oder Technik darzustellen. Die visuelle Konstruktion von etwas wie
einem »Markt« oder einer »Ökonomie« ist das, was einer Erklärung bedarf,
und dieses Endprodukt kann nicht verwendet werden, um Wissenschaft zu
erklären.
In einem anderen anregenden Buch versucht Fabian, die Anthropologie
zu erklären, indem er ihre Visualisierungskompetenz betrachtet (1983).
Der Hauptunterschied zwischen uns und den Wilden, so argumentiert er,
liegt nicht in der Kultur, im Geist, sondern in der Art, wie wir sie visualisie­
ren. Es wird eine Asymmetrie geschaffen, weil wir einen Raum und eine
Zeit kreieren, in die wir andere Kulturen platzieren, sie aber machen nicht
dasselbe. Wir erfassen beispielsweise ihr Land auf Karten, sie aber haben
weder Karten ihres noch unseres Landes; wir erfassen ihre Vergangenheit,
sie nicht; wir schaffen schriftliche Kalender, sie nicht. Fabians Argumenta­
tion, die sowohl mit Goodys als auch mit Bourdieus Kritik der Ethnogra­
phie (1972) verbunden ist, lautet, dass, wenn diese erste Gewaltanwendung
einmal verübt worden ist, wir diese Wilden nicht mehr verstehen können,
ganz gleich, was wir tun. Fabian jedoch betrachtet diese Mobilisierung aller
Wilden in einigen Ländern durch Sammlung, Karten- und Listenerstel­
lung, Archive, Linguistik usw. als etwas Bösartiges. In aller Offenheit
wünscht er, einen anderen Weg zu finden, um die Wilden zu »kennen«.
»Kennen« jedoch bedeutet keine desinteressierte kognitive Aktivität; härte­
re Fakten über die anderen Kulturen sind in unseren Gesellschaften pro­
duziert worden, in genau derselben Weise wie andere Fakten über Ballistik,
Taxonomie oder Chirurgie. Ein Ort sammelt alle anderen und präsentiert
sie dem Kritiker auf synoptische Weise, um das Ergebnis einer agonisti­
schen Kontroverse zu modifizieren. Um eine große Anzahl von Konkur­
renten und Landsleuten von ihren üblichen Wegen abzubringen, mussten
viele Ethnographen sowohl weiter und länger von ihren üblichen Wegen
abgehen als auch zurückkommen. Die Beschränkungen, die auferlegt wer­
den, Menschen zum Weggehen und zur Wiederkehr zu überzeugen, sind
so, dass dies nur erreicht werden kann, wenn alles über das Leben der
Wilden in unveränderlich mobile Elemente transformiert wird, die einfach
lesbar und präsentierbar sind. Trotz seines Wunsches kann es Fabian nicht
besser machen. Entweder muss er das »Kennen« oder die Produktion
harter Fakten aufgeben (Latour 1987).
Es gibt hinsichtlich der Besessenheit von graphischer Darstellung kei­
nen messbaren Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften.
Wenn Wissenschaftler die Natur, die Wirtschaft, die Sterne oder die Orga­
ne betrachteten, würden sie nichts sehen. Dieser »Beweis« wird als klassi-
280 1 BRUNO LATOUR

sehe Widerlegung naiver Versionen des Empirizismus verwendet (Arn­


heim 1969). Wissenschaftler beginnen damit, etwas zu sehen, wenn sie
einmal damit aufhören, die Natur anzuschauen und stattdessen aus­
schließlich und obsessiv auf Ausdrucke und flache Inskriptionen schauen.u
Was in den Debatten über Wahrnehmung immer vergessen wird, ist diese
einfache Verlagerung von einer Betrachtung verwirrender dreidimensiona­
ler Objekte zu einer Inspektion zweidimensionaler Bilder, die weniger
verwirrend gemacht worden sind. Wie alle Laborbeobachter war Lynch ver­
blüfft von der außergewöhnlichen Besessenheit der Wissenschaftler von
Papieren, Ausdrucken, Diagrammen, Archiven, Zusammenfassungen und
Kurven auf Millimeterpapier. Gleichgültig, worüber sie sprechen, beginnen
sie das Gespräch mit einem gewissen Grad an Zuversicht und Glauben,
den ihnen ihre Kollegen entgegenbringen, wenn sie nur einmal auf einfa­
che, geometrisierte, zweidimensionale Formen deuten. Die »Objekte« sind
entfernt oder oft in den Labors nicht anwesend. Blutende und schreiende
Ratten werden schnell entsorgt; was aus ihnen extrahiert wird, ist ein hüb­
scher Satz von Ziffern. Diese Extraktion - wie die paar Längen- und Brei­
tengrade, die La Perouse von den Chinesen extrahierte - ist alles, was zählt.
Man kann nichts über die Ratten sagen, aber eine ganze Mepge über die
Ziffern (Latour/Woolgar 1979). Knorr (1981) und Star (1983) haben eben­
falls die Vereinfachungsprozeduren, die am Werk sind, gezeigt, als seien
die Bilder niemals einfach genug, um eine Kontroverse schnell beizulegen.
Jedes Mal, wenn es einen Disput gibt, werden große Anstrengungen un­
ternommen, um ein neues Instrument zur Visualisierung zu finden (oder
manchmal sogar zu erfinden), das das Bild verstärkt, das Lesen beschleu­
nigt und, wie Lynch gezeigt hat, sich mit den visuellen Charakteristika der
Dinge, die sich zu Diagrammen auf Papier fügen (Küstenlinien, Sterne, die
wie Punkte sind, schön gruppierte Zellen usw.), konspirativ zusammentun.
Wiederum sollte der präzise Fokus sorgfältig gewählt werden, weil es
nicht die Inskription selbst ist, die die Last tragen sollte, die Macht der
Wissenschaft zu erklären; es ist die Inskription als präziser Abschluss und
letzte Stufe eines ganzen Mobilisierungsprozesses, die die Größenordnung
der Rhetorik modifiziert. Ohne die Verlagerung ist die Inskription wertlos;
ohne die Inskription ist die Verlagerung umsonst. Deshalb ist Mobilisie­
rung nicht auf das Papier beschränkt, sondern Papier erscheint immer am
Ende, wenn die Größenordnung dieser Mobilisierung vergrößert werden

111 Diese einfachen Verschiebungen werden oft von Philosophen in vollkomme­


ne Trennungen vom gesunden Menschenverstand transformiert - etwa bei Bache­
lard in »coupures epistemologiques«. Es ist nicht aufgrund der Naivität der Empiri­
ker, dass man auf die Macht der Theorien zurückgreifen muss, um Daten einen
Sinn zu geben. Der Fokus auf Inskriptionen und Manipulationen von Spuren liegt
genau in der Mitte zwischen Empirie und Bachelards Argumentation über die
Macht von Theorien.
DRAWING THINGS TOGETHER 1 281

soll. Sammlungen von Gestein, ausgestopfte Tiere, Proben, Fossilien,


Artefakte, Genbanken sind die ersten, die bewegt werden (Star/Griesemer
1989). Was zählt, ist das Aufstellen und Aufbieten von Ressourcen (Bio­
graphien von Naturalisten, z.B. übervoll mit Anekdoten über Kisten, Archi­
ve und Musterexemplare), aber diese Aufstellung ist niemals einfach ge­
nug. Sammlungen sind wesentlich, jedoch nur, solange die Archive gut
sortiert und die Etiketten an Ort und Stelle sind und die Musterexemplare
nicht verderben. Sogar das ist nicht genug, da eine Museumssammlung
noch zu viel zur Bewältigung für einen »Geist« ist. Also wird die Samm­
lung gezeichnet, niedergeschrieben, aufgezeichnet - und dieser Prozess
wird sich so lange abspielen, bis nicht besser kombinierbare geometrische
Formen von den Mustern abgeleitet worden sind (wobei der Prozess, durch
den die Musterexemplare aus ihrem Kontext extrahiert werden, noch an­
dauert).
Das Phänomen, das wir hier behandeln, ist also nicht die Inskription
per se, sondern die Kaskade immer simplifizierterer Inskriptionen, die die
Produktion harter Fakten zu größeren Kosten ermöglicht. Beispielsweise
erfolgt die Beschreibung menschlicher Fossilien, die gewöhnlich anhand
von Zeichnungen vorgenommen wurde, heute durch Überlagerung einer
Anzahl von mechanischen Diagrammen auf die Zeichnungen. Obwohl die
Fotographien des Himmels säuberliche kleine Flecken produzieren, sind
sie immer noch viel zu reichhaltig und verwirrend für das menschliche
Auge; deshalb wurden ein Computer- und Laserauge erfunden, um die
Fotographien zu lesen, sodass der Astronom weder in den Himmel (zu
kostspielig) noch auf Fotographien schaut (zu verwirrend). Die gesamte
Taxonomie der Pflanzen ist in einer berühmten Reihe von Büchern in Kew
Garden enthalten, aber die Manipulation dieses Buches ist so schwierig wie
die alter Manuskripte, da es nur an einem Ort existiert; ein anderer Com­
puter hat nun die Instruktion erhalten, zu versuchen, die verschiedenen
Drucke dieses Buches zu lesen und so viele Kopien des taxonomischen
Inventars wie möglich zu erstellen.
Pinch (1985) zeigt einen schönen Fall von Akkumulation solcher Spu­
ren, wobei jede Schicht erst auf die vorherige aufgelegt wird, wenn die
Sicherheit über ihre Bedeutung stabilisiert ist. »Sehen« die Astrophysiker
die Neutrinos der Sonne oder irgendwelche der vermittelnden »Schleier«,
»Spitzen« und »Flecken«, die durch Akkumulation das sichtbare Phäno­
men bilden? Wieder können wir feststellen, dass die von Eisenstein für die
Druckerpresse erforschten Mechanismen auch heute noch an jeder Wis­
senschaftsfront gegenwärtig sind. Die Ethologie der Paviane z.B. war
gewöhnlicherweise ein Prosatext, in dem der Erzähler über Tiere sprach;
der Erzähler musste in den Text einschließen, was er oder sie zuerst als
Bilder und dann als statistische Darstellung der Ereignisse gesehen hatte.
Jedoch: Mit zunehmender Konkurrenz um die Konstruktion härterer Fak­
ten beinhalten die Artikel jetzt mehr und mehr Schichten graphischer
282 1 BRUNO LATOUR

Darstellungen, und die von Tabellen, Diagrammen und Gleichungen


zusammengefasste Kaskade von Spalten entfaltet sich noch. In der Moleku­
larbiologie wurde Chromatographie vor ein paar Jahren als Bänder ver­
schiedener Graustufen gelesen; die Interpretation dieser Stufen wird nun
von einem Computer vorgenommen - und direkt aus dem Computer
erhält man schließlich einen Text: »ATGCGTTCGC«. Obwohl mehr empi­
rische Studien in vielen verschiedenen Feldern gemacht werden sollten,
scheint ein Trend in diesen Kaskaden zu liegen. Sie bewegen sich immer
in Richtung eines stärkeren Verschmelzens von Ziffern, Zahlen und Buch­
staben, was durch ihre homogene Behandlung als binäre Einheiten in und
durch Computer extrem erleichtert wird.
Dieser Trend zu immer einfacheren Inskriptionen, die immer größere
Mengen von Ereignissen an einem Ort mobilisieren, kann nicht verstanden
werden, wenn man ihn von dem agonistischen Modell trennt, das wir als
unseren Referenzpunkt verwenden. Es ist so notwendig wie der Wettlauf,
Gräben an der Front von 1914 zu graben. Derjenige, der schlecht visuali­
siert, verliert den Kampf; seine Fakten halten nicht stand. Knorr hat dieses
Argument kritisiert, indem sie den ethnomethodologischen Standpunkt
eingenommen hat (1981). Sie argumentiert zu Recht, dass ein Bild oder
Diagramm niemanden überzeugen kann, sowohl, weil immer viele Inter­
pretationen möglich sind, als auch und vor allem, weil ein Diagramm
einen Zweifler nicht dazu zwingt, es anzusehen. Sie erachtet das Interesse
an Inskriptionsmitteln als eine Übertreibung der Macht der Semiotik (und
noch dazu als eine französische). Eine solche Position verfehlt jedoch den
Punkt meiner Argumentation. Genau weil der Abtrünnige immer ent­
kommen und eine andere Interpretation ausprobieren kann, wird ihm von
den Wissenschaftlern so viel Energie und Zeit gewidmet, um ihn in die
Ecke zu treiben und ihn mit immer dramatischeren visuellen Effekten zu
umgeben. Obwohl im Prinzip jede Interpretation jedem Text und jedem
Bild entgegengestellt werden kann, ist das in der Praxis bei Weitem nicht
der Fall; die Kosten des Widerspruchs steigen mit jeder neuen Sammlung,
mit jeder neuen Etikettierung, jeder Neuzeichnung. Das trifft besonders
zu, wenn die Phänomene, die wir glauben sollen, mit bloßem Auge nicht
sichtbar sind; Quasare, Chromosome, Hirnpeptide, Leptone, Bruttosozial­
produkte, Klassen und Küstenlinien werden niemals anders als durch das
»bewehrte« Auge der Inskriptionsmittel gesehen. Folglich können eine
weitere Inskription, ein weiterer Kniff, um den Kontrast zu erhöhen, eine
einfache Vorrichtung, um den Hintergrund zu vermindern oder eine
weitere Kolorierungsprozedur genügen, wobei alle anderen Dinge gleich
bleiben, um die Machtbalance umschwingen zu lassen und eine unglaubwür­
dige Aussage in eine glaubwürdige zu verwandeln, die dann ohne weitere
Modifikation weitergegeben wird. Die Wichtigkeit dieser Kaskade von
Inskriptionen mag ignoriert werden, wenn man Ereignisse des täglichen
1 DRAWING THINGS TOGETHER 1 283

Lebens erforscht, aber sie kann bei der Analyse von Wissenschaft und
Technik nicht hoch genug geschätzt werden.
Genauer gesagt ist es möglich, die Inskription überzubewerten, nicht
jedoch das Setting, in dem die Kaskade von immer mehr geschriebenen
und nummerierten Inskriptionen produziert wird. Womit wir wirklich
umgehen, ist das Staging einer Szenographie, in der die Aufmerksamkeit
auf einen bestimmten Satz dramatisierter Inskriptionen konzentriert wird.
Das Setting wirkt wie eine gewaltige optische Vorrichtung, die ein neues
Labor, eine neue Art von Sehen und ein neues Phänomen erschafft. Ich
zeigte ein solches Setting, das ich als »Pasteurs Theater der Beweise«
(Latour 1988a) erzählte. Pasteur arbeitet genauso viel auf der Bühne wie in
der Szenerie und der Handlung. Was am Ende zählt, ist eine einfache
visuelle Wahrnehmung: tote ungeimpfte Schafe gegen lebende geimpfte
Schafe. Je früher wir in die Geschichte der Wissenschaft zurückgehen, je
mehr Aufmerksamkeit wird dem Setting gezollt und je weniger den In­
skriptionen selbst. In seinem faszinierenden Bericht seines Vakuumpum­
pen-Experiments - beschrieben von Shapin (1984) - musste Boyle z.B.
nicht nur das Phänomen erfinden, sondern auch das Instrument, um es
sichtbar zu machen und die Anordnung, in der das Instrument aufgestellt
wurde, die geschriebenen und gedruckten Berichte, durch die der stille
Leser »über« das Experiment lesen konnte, die Art von Zeugen, die auf der
Bühne zugelassen wurden, und sogar die Arten von Kommentaren, die die
potentiellen Zeugen äußern durften. »Das Vakuum zu sehen« war nur
möglich, nachdem alle diese Zeugen diszipliniert worden waren.
Das Staging solcher »optischer Mittel« ist das von Eisenstein beschrie­
bene: Einige Personen im selben Raum sprechen miteinander und verwei­
sen auf zweidimensionale Bilder; diese Bilder sind alles, was man von den
Dingen, über die sie sprechen, sehen kann. Nur weil wir an ein solches
Staging gewöhnt sind und es wie frische Luft atmen, heißt das nicht, dass
wir nicht all die kleinen Innovationen beschreiben sollten, die es zum
kraftvollsten Instrument machen, um Macht zu gewinnen. Tycho Brahe in
Oranienburg hatte zum ersten Mal in der Geschichte alle Vorhersagen -
wörtlich alle »Vorher-Sehungen« - der Planetenbewegungen - am selben
Ort, geschrieben in derselben Sprache oder demselben Code, kann auch er
seine eigenen Beobachtungen lesen. Das ist mehr als genug Begründung
für Brahes neue »Einsichten«.

»Nicht weil er in den Nachthimmel statt in alte Bücher schaute, unterschied sich
Tycho Brahe von den Sternbeobachtern der Vergangenheit. Ich glaube auch nicht,
dass es deshalb war, weil er sich mehr als die Alexandriner oder die Araber für
>sture Fakten, und präzise Messungen interessierte. Aber ihm standen wie nur
wenigen vor ihm zwei getrennte Reihen von Berechnungen zur Verfügung, die auf
zwei verschiedenen Theorien basierten, die im Abstand von einigen Jahrhunderten

--
284 1 BRUNO LATOUR

zusammengetragen worden waren und die er miteinander vergleichen konnte.«


(Eisenstein 1979: 624)

Historiker sagen, dass er der erste war, der die Planetenbewegung mit
einem von den Vorurteilen des dunklen Zeitalters befreiten Geist sah.
Nein, sagt Eisenstein, er ist der erste, der nicht in den Himmel schaute,
sondern simultan auf alle vorhergehenden Vorhersagen und seine eigene,
die zusammen in derselben Form niedergeschrieben worden waren.

»Der dänische Beobachter war nicht nur der letzte der großen Beobachter mit
bloßem Auge; er war auch der erste sorgfältige Beobachter, der die neuen Mächte
der Druckerpresse vollkommen ausnutzen konnte - Mächte, die Astronomen dazu
befähigten, Anomalien in den alten Aufzeichnungen aufzuspüren, die Position
jedes Sterns präziser festzulegen und in Katalogen zu registrieren, Mitarbeiter in
vielen Regionen aufzulisten, jede neue Beobachtung in permanenter Form festzu­
halten und notwendige Korrekturen in nachfolgenden Ausgaben vorzunehmen.«
(Ebd.: 625)

Die Diskrepanzen mehrten sich, nicht indem man in den Himmel schaute,
sondern indem man sorgfältig Spalten von Winkeln und Azimut überein­
ander lagerte. Kein Widerspruch, keine gegenteiligen Vorhersagen hätten
jemals sichtbar sein können. Widerspruch ist, wie Goody sagt, weder eine
Eigenschaft des Geistes noch der wissenschaftlichen Methode, sondern
eine Fähigkeit, Buchstaben und Zeichen innerhalb neuer Settings zu lesen,
die die Aufmerksamkeit allein auf die Inskriptionen fokussieren.
Derselbe Mechanismus ist in Roger Guillemins Vision des Endorphins,
eines Gehirnpeptides, sichtbar - um ein Beispiel aus einer anderen Zeit
und von einem anderen Ort heranzuziehen. Das Gehirn ist so obskur und
ungeordnet wie der Renaissancehimmel. Sogar die vielen erstgradigen
Purifikationen von Gehirnextrakten sind eine »Suppe« von Substanzen.
Die ganze Forschungsstrategie ist es, klar lesbare Peaks aus einem wirren
Hintergrund zu erhalten. Jede der Proben, die einen ordentlicheren Peak
gewährt, wird wiederum gereinigt, bis es im kleinen Fenster des Hoch­
druckflüssigkeitschromatographen nur noch einen Peak gibt. Dann wird
die Substanz in kleinsten Mengen in den Darm eines Meerschweinchens
injiziert. Die Kontraktionen des Darms werden mittels elektronischer
Hardware an einen Physiographen übermittelt. Woran kann man hier das
Objekt »Endorphin« sehen? Die Überlagerung des ersten Peaks mit der
Kurve des Physiographen beginnt ein Objekt zu produzieren, dessen Gren­
zen die im Labor produzierten visuellen Inskriptionen sind. Das Objekt ist
nicht mehr oder weniger ein reales Objekt als jedes andere, da viele solcher
visuellen Schichten produziert werden können. Sein Widerstand als reales
Faktum hängt nur von der Anzahl solcher visuellen Schichten ab, die
Guillemins Labor auf einmal an einem Ort vor dem Kritiker mobilisieren
---
DRAWING THINGS TOGETHER 1 285

kann. Für jeden »Einwand« gibt es eine Inskription, die den Dissens blo­
ckiert; bald ist der Zweifler gezwungen, das Spiel aufzugeben oder später
mit anderem und besserem Anschauungsmaterial wiederzukommen.
Durch die Mobilisierung von immer mehr treuen Verbündeten wird in­
nerhalb der Wände des Laboratoriums langsam Objektivität errichtet.

Inskriptionen kapitalisieren, um Verbündete


zu mobilisieren

Können wir zusammenfassen, weshalb es für Brahe, Boyle, Pasteur oder


Guillemin so wichtig ist, an zweidimensionalen Inskriptionen statt am
Himmel, an der Luft, der Gesundheit oder dem Gehirn zu arbeiten? Was
können sie mit dem Ersten machen, was sie nicht mit dem Zweiten tun
können? Lassen Sie mich ein paar Vorteile der »Schreibarbeit« auflisten.

r. Inskriptionen sind mobil, worauf ich in La Perouses Fall hingewiesen


habe. Chinesen, Planeten, Mikroben - keines dieser Elemente kann
sich bewegen; Landkarten, fotographische Stiche und Petrischalen
jedoch können es.
2. Sie sind unveränderlich, wenn sie sich bewegen - oder zumindest wird
alles getan, um dieses Ergebnis zu erhalten: Musterexemplare werden
chloroformiert, Mikrobenkolonien in Gelatine eingelegt, sogar explodie­
rende Sterne werden in jeder Phase ihrer Explosion auf Millimeterpa­
pier aufgezeichnet.
3. Sie werden flach gemacht. Es gibt nichts, was so einfach zu dominieren
ist wie eine flache Oberfläche auf ein paar Quadratmetern; nichts ist
versteckt oder gewunden, keine Schatten, kein »double entendre«.
Wenn sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft von jemandem
gesagt wird, er »meistere« eine Frage oder er »dominiere« einen Sach­
verhalt, sollte man normalerweise nach einer flachen Oberfläche su­
chen, die Beherrschung ermöglicht (eine Karte, eine Liste, eine Akte,
ein Zensus, die Wand einer Galerie, ein Kartenindex, ein Repertoire),
und man wird ihn finden.
4. Der Maßstab der Inskriptionen kann willentlich modifiziert werden,
ohne irgendwelche Änderungen ihrer internen Proportionen. Beobach­
ter bestehen niemals auf dieser einfachen Tatsache: Gleichgültig, wel­
che (rekonstruierte) Größe die Phänomene haben, sie enden alle damit,
nur mit derselben Durchschnittsgröße erforscht zu werden. Milliarden
von Galaxien' sind, wenn sie gezählt werden, niemals größer als nano­
metergroße Chromosomen; der internationale Handel ist niemals
größer als Mesonen; Maßstabmodelle von Ölraffinerien haben am Ende
dieselben Dimensionen wie Plastikmodelle von Atomen. Die Verwir­
rung beginnt wieder außerhalb von ein paar Quadratmetern. Diese
286 1 BRUNO LATOUR

triviale Veränderung des Maßstabs erscheint harmlos genug, ist jedoch


der Grund für den größten Teil der »Überlegenheit« von Wissenschaft­
lern und Ingenieuren: Niemand sonst befasst sich mit Phänomenen,
die mit den Augen dominiert und mit den Händen gefasst werden
können; gleichgültig, aus welcher Zeit und woher sie kommen oder was
ihre ursprüngliche Größe ist.
5. Sie können reproduziert und mit geringen Kosten verbreitet werden,
sodass alle Momente in der Zeit und alle Orte im Raum in einem ande­
ren Raum und einer anderen Zeit gesammelt werden können. Dies ist
»Eisensteins Effekt«.
6. Da diese Inskriptionen mobil, flach, reproduzierbar, still und von vari­
ierendem Maßstab sind, können sie neu gemischt und neu kombiniert
werden. Das meiste, was wir Verbindungen im Geist zuschreiben, kann
durch dieses erneute Mischen von Inskriptionen erklärt werden, die alle
dieselbe »optische Konsistenz« haben. Dasselbe trifft auf das zu, was
wir »Metapher« nennen (vgl. Latour/Woolgar 1979: Kap. 4; Goody 1977;
Hughes 1979; Ong 1982).
7. Ein Aspekt dieser Neukombinationen ist die Möglichkeit, verschiedene
Bilder von vollkommen unterschiedlichem Ursprung und Maßstab zu
überlagern. Es scheint eine unmögliche Aufgabe zu sein, Geologie und
Ökonomie zu verbinden. Die Überlagerung der geologischen Karte mit
einem Ausdruck des Rohstoffmarktes an der New Yorker Börse erfor­
dert gute Dokumentation und ein paar Zentimeter. Das Meiste, was
wir »Struktur«, »Muster«, »Theorie« und »Abstraktion« nennen, sind
Konsequenzen solcher Überlagerungen (Bertin 1973). »Denken ist
Handarbeit«, sagt Heidegger; was aber in den Händen ist, sind Inskrip­
tionen. Levi-Strauss' Theorien über die Wilden sind ein Artefakt der
Kartenindexierung am College de France, genauso wie Rames Theorie
für Ong ein Artefakt der in der Sorbonne gesammelten Drucke darstellt
oder moderne Taxonomie ein Ergebnis der Buchhaltung ist, die unter
anderem in Kew Gardens unternommen wird.
8. Einer der wichtigsten Vorteile ist jedoch, dass die Inskription (nach
etwas Reinigung) zum Bestandteil eines geschriebenen Texts gemacht
werden kann. An anderer Stelle habe ich ausführlich diese allgemeine
Grundlage erörtert, auf der Inskriptionen, die von Instrumenten kom­
men, sich mit bereits veröffentlichten Texten und neuen, im Entwurf
befindlichen Texten vereinen. Dieses Charakteristikum wissenschaftli­
cher Texte ist für die Vergangenheit von Ivins und Eisenstein demons­
triert worden. Ein heutiges Labor kann immer noch als einzigartiger
Ort definiert werden, an dem ein Text gemacht wird, um Dinge zu
kommentieren, die alle noch präsent sind. Weil der Kommentar, frühe­
re Texte (durch Zitate und Referenzen) und »Dinge« dieselbe optische
Konsistenz und dieselbe semiotische Homogenität haben, wird durch
das Schreiben und Lesen dieser Artikel ein außerordentlicher Grad an
DRAWING THINGS TOGETHER 1 287

Sicherheit erreicht (Latour/Bastide 1983; Lynch 1985a; Law 1983). Der


Text ist nicht einfach »illustriert«, sondern er trägt alles, was es zu
sehen gibt, in sich. Durch das Labor haben der Text und das Spektakel
der Welt am Ende denselben Charakter.
9. Der letzte Vorteil ist jedoch der größte. Der zweidimensionale Charak­
ter von Inskriptionen erlaubt ihnen, mit der Geometrie zu verschmelzen.
Wie wir bei der Perspektive gesehen haben, kann zwischen Raum auf
Papier und dreidimensionalem Raum eine Kontinuität hergestellt
werden. Das Ergebnis ist, dass wir auf dem Papier mit Linealen und
Zahlen arbeiten können, aber noch immer dreidimensionale Objekte
»dort draußen« manipulieren (Ivins 1973). Besser noch: Aufgrund
dieser optischen Konsistenz kann alles, gleichgültig, woher es kommt,
in Diagramme und Zahlen umgewandelt werden; Kombinationen von
Zahlen und Tafeln können verwendet werden, die noch einfacher zu
handhaben sind als Wörter und Silhouetten (Dagognet 1973). Man kann
die Sonne nicht messen, aber man kann eine Fotographie der Sonne
mit einem Lineal messen. Dann kann die abgelesene Anzahl an Zenti­
metern einfach verschiedene Maßstäbe durchlaufen und die Solarmas­
se völlig verschiedener Objekte liefern. Dies nenne ich in Ermangelung
eines besseren Begriffes den zweitgradigen Vorteil von Inskriptionen
oder den Mehrwert, der durch ihre Kapitalisierung erzielt wird.

Diese neun Vorteile sollten nicht voneinander isoliert werden und immer
in Verbindung mit dem Mobilisierungsprozess betrachtet werden, den sie
beschleunigen und zusammenfassen. Jede mögliche Innovation, die ir­
gendeinen dieser Vorteile bietet, wird in anderen Worten von eifrigen
Wissenschaftlern und Ingenieuren ausgewählt: neue Fotographien; neue
Farben, um mehr Zellkulturen einzufärben; neues reaktives Papier; ein
empfindlicherer Physiograph; ein neues Indexsystem für Bibliothekare;
eine neue Notation für algebraische Funktionen; ein neues Heizungssys­
tem, um Proben länger zu halten. Die Wissenschaftsgeschichte ist die
Geschichte dieser Innovationen. Die Rolle des Geistes wurde genau wie die
der Wahrnehmung gewaltig übertrieben (Arnheim 1969). Ein durch­
schnittlicher Geist oder ein durchschnittlicher Mensch mit durchschnittli­
chen Wahrnehmungsfähigkeiten, innerhalb normaler sozialer Bedingun­
gen, wird abhängig davon, ob er oder seine durchschnittlichen Fähigkeiten
auf die verwirrende Welt oder auf Inskriptionen angewendet werden,
vollkommen unterschiedliche Outputs erzeugen.
Es ist besonders interessant, sich auf den neunten Vorteil zu konzent­
rieren, weil er uns einen Weg eröffnet, »Formalismus« zu einer profaneren
und materielleren Realität zu machen. Um sich von »empirisch« zu »theo­
retisch« zu bewegen, muss die Wissenschaft von langsameren zu schnelle­
ren mobilen Elementen, von veränderlicheren zu weniger veränderlichen
Inskriptionen gehen. Die Tendenzen, die wir oben studiert haben, brechen
288 J BRUNO LATOUR

nicht zusammen, wenn wir den Formalismus betrachten, sondern nehmen


im Gegenteil auf phantastische Weise zu. Tatsächlich ist, was wir Forma­
lismus nennen, die Beschleunigung der Verlagerung ohne Transformation. Um
diesen Punkt zu erfassen, müssen wir zurück zu Abschnitt 2 gehen. Die
Mobilisierung vieler Ressourcen durch Raum und Zeit ist wesentlich für
die Dominierung in großem Maßstab. Ich schlug vor, diese Objekte, die es
erlauben, dass diese Mobilisierung stattfindet, »unveränderlich mobile
Elemente« zu nennen. Ich argumentierte ebenfalls, dass die besten dieser
mobilen Elemente mit geschriebenen, nummerierten oder optisch konsis­
tenten Papieroberflächen zu tun haben.. Ich wies aber auch darauf hin -
ohne jedoch eine Erklärung anzubieten-, dass wir mit Kaskaden von im­
mer stärker vereinfachten und kostspieligeren Inskriptionen umgehen
müssen. Diese Fähigkeit zur Kaskadenbildung muss nun erklärt werden,
weil die Sammlung schriftlicher und bildlicher Ressourcen an einem Ort -
auch mit Hin- und Rückverbindungen - demjenigen, der sie sammelt,
allein noch keine Überlegenheit garantiert. Wieso? Weil der Sammler
solcher Spuren sofort von ihnen überflutet wird. Ich habe ein solches
Phänomen in Guillemins Labor beschrieben: Nach nur ein paar Tagen, in
denen die Instrumente in Betrieb waren, gab es Stapel von Ausdrucken,
genug, um den Verstand fassungslos zu machen (Latour/Woolgar 1979:
Kap. 2). Dasselbe passierte Darwin nach ein paar Jahren des Sammelns von
Musterexemplaren mit dem Beagle; es gab so viele Kisten, dass Darwin
geradezu aus seinem Haus gedrückt wurde. Allein helfen die Inskriptionen
also nicht, dass eine Örtlichkeit ein Zentrum wird, das den Rest der Welt
dominiert. Etwas muss mit der Inskription gemacht werden, das dem
ähnlich ist, was Inskriptionen mit »Dingen« tun, sodass am Ende einige
Elemente alle anderen in großem Maßstab manipulieren können. Dieselbe
Deflationsstrategie, die wir verwendeten, um zu zeigen, wie »Dinge« in
Papier verwandelt werden, kann ebenfalls zeigen, wie Papier in weniger
Papier umgewandelt werden kann. Nehmen wir als Beispiel »Die Effektivi­
tät der Arbeit Galileos«, wie sie bei Drake betrachtet wird (1970). Drake
verwendet tatsächlich das Wort Formalismus, um das zu kennzeichnen,
wozu Galileo fähig war, seine Vorgänger jedoch nicht. Was beschrieben
wird, ist jedoch interessanter als dies. Drake vergleicht die Diagramme und
Kommentare Galileos mit denen von zwei älteren Gelehrten, Jordan und
Stevin. Interessanterweise wird in Jordans Demonstration »das physikali­
sche Element, wie man sieht, als ein Nachgedanke zur Geometrie einge­
bracht, gleichsam mit Gewalt« (1970: 103). Bei Stevins Diagramm ist es das
Gegenteil: »Die vorherige Situation ist umgekehrt; Geometrie ist zuguns­
ten reiner mechanischer Intuition eliminiert.« (Ebd.) Was also scheinbar
passiert, ist, dass Galileos zwei Vorgänger das Problem nicht visuell auf
einer Papieroberfläche unterbringen und das Resultat gleichzeitig sowohl
als Geometrie als auch als Physik betrachten konnten. Eine einfache Ver-
--
DRAWING THINGS TOGETHER 1 289

änderung in der von Galileo verwendeten Geometrie gestattete ihm, viele


verschiedene Probleme zu verbinden, während seine zwei Vorgänger an
unverbundenen Formen arbeiteten, die sie nicht kontrollieren konnten:

»Galileos Art, Geometrie und Physik zu verschmelzen, wurde in seinem Beweis


desselben Theorems in seinem frühen Traktat über Bewegung aus dem Jahr 1590
offensichtlich. Die Methode selbst legte ihm nicht nur viele logische Schlussfolge­
rungen nahe, sondern auch sukzessive Verbesserungen des Beweises selbst und
dessen weitere physikalische Implikationen. « (Ebd.: 104)

Diese Fähigkeit der Verbindung könnte in Galileos Geist lokalisiert wer­


den. Was faktisch verbunden wird, sind drei verschiedene visuelle Hori­
zonte, die synoptisch gehalten werden, weil die Papieroberfläche als geo­
metrischer Raum betrachtet wird:

»Man sieht, wie die gesamte Demonstration eine Reduktion des Problems des
Gleichgewichts auf geneigten Flächen zum Hebel konstituiert, die in sich selbst das
Theorem aus der Isolation, in dem es zuvor stand, herausholt.« (Ebd.: 106)

Dieser harmlose Begriff »aus der Isolation herausholen« wird fortwährend


von denen gebraucht, die über Theorien sprechen. Kein Wunder. Wenn
man Galileos Diagramm hält, hält man drei Domänen, wenn man die
anderen hält, nur eine. Das von einer Theorie gestattete »Halten« ist nicht
mysteriöser (und auch nicht weniger mysteriös) als das Halten von Arme­
en, von Aktien oder von Positionen im Raum. Es ist faszinierend zu sehen,
dass Drake die Effizienz von Galileos Verbindung in Begriffen seiner Krea­
tion eines geometrischen Mediums, in dem Geometrie und Physik ver­
schmelzen, erklärt. Diese ist eine viel materiellere Erklärung als Koyres
idealistische, obwohl die »Sache« in Drakes Darstellung ein bestimmter
Typ von Inskription auf Papier und eine bestimmte Betrachtungsweise
dessen ist.
Ähnliche Taktiken, die Diagramme verwenden, um schnelle Verbin­
dungen zwischen vielen unverbundenen Problemen herzustellen, werden
von kognitiven Psychologen dokumentiert. Herbert Simon (1982) ver­
gleicht die Taktiken von Experten und Anfängern im Zeichnen von Dia­
grammen, wenn sie über einfache physikalische Probleme befragt werden
(Pumpen, Wasserfluss usw.). Der wesentliche Unterschied zwischen Ex­
perten und Anfängern ist genau derselbe, den Drake herausstellt:

»Das Wesentliche, das im Verhalten der Experten aufschien, war, dass die Formulie­
rung der initialen und der finalen Bedingung auf eine Weise zusammengestellt
wurde, dass die Beziehung zwischen ilmen und also die Antwort wesentlich von
ihm [dem Diagramm] abgelesen werden konnte. « (Ebd.: 169)
290 1 BRUNO LATOUR

Mit dieser Frage vor Augen ist man beeindruckt von den Metaphern, die
die »Theoretiker« verwenden, um Theorien zu feiern und ihnen Ränge
zuzuteilen.12 Die zwei Hauptarten von Metaphern bestehen in erhöhter
Mobilität respektive erhöhter Unveränderbarkeit. Gute Theorien werden
schlechten gegenübergestellt oder zu »bloßen Sammlungen empirischer
Fakten«, weil sie einen »leichten Zugang zu ihnen« gewähren. Hankel
kritisiert z.B. Diophanus mit den Worten, die ein französischer Ingenieur
verwenden würde, um das Nigerianische Autobahnsystem zu verunglimp­
fen:

»Jede Frage erfordert eine ganz bestimmte Methode, die danach nicht einmal für
ganz ähnliche Probleme dient. Es ist dementsprechend auch nach dem Studium von
100 Diophantischen Lösungen schwierig für einen modernen Mathematiker, das
100. Problem zu lösen; wenn wir den Versuch gemacht haben und nach einigen
vergeblichen Unternehmungen Diophantus' eigene Lösung lesen, werden wir er­
staunt sein zu sehen, wie er plötzlich die breite Hauptstraße verlässt, in einen Sei­
tenweg rast und mit einer schnellen Drehung das Ziel erreicht.« (Zitiert in Bloor
1976: 102)

Der sichere Pfad der Wissenschaft, wie Kant sagen würde, ist nicht dersel­
be für die Griechen, die Bororos und für uns; genauso wenig sind die
Transportmittel identisch. Man könnte einwenden, dass diese nur Meta­
phern sind. Ja, aber die Etymologie des Begriffs metaphoros selbst ist erhel­
lend. Genau bedeutet er Verlagerung, Transport, Transfer. Gleichgültig, ob
sie bloße Bilder sind, tragen diese Metaphern treffend die Obsession der
Theoretiker für einfachen Transport und schnelle Kommunikation. Eine
kraftvollere Theorie, behaupten wir, ist die, die mit weniger Elementen und
wenigeren und einfacheren Transformationen ermöglicht, an jede andere
(vergangene und zukünftige) Theorie heranzukommen. Jedes Mal, wenn
eine starke Theorie gefeiert wird, ist es möglich, diese Bewunderung in

12 1 Ein schönes Beispiel ist das von Carnots Thermodynamik, erforscht von
Redondi (1980). Carnots Know-how bezieht sich nicht auf den Bau einer Maschine,
sondern eher auf ein Diagramm. Dieses Diagramm ist so gezeichnet, dass es gestat­
tet, von einer Maschine zu jeder weiteren zu gehen - und tatsächlich zu nichtexis­
tenten Maschinen, die nur auf dem Papier gezeichnet waren. Wirkliche dreidimen­
sionale Dampfmaschinen sind interessant, jedoch lokalisiert und schwerfällig. Für
sie hat Thermodynamik dieselbe Bedeutung wie La Perouses Karten für die pazifi­
schen Inseln. Wenn man von einer Maschine zur Theorie geht oder von einer Insel
zur Karte, geht man nicht vom Konkreten zum Abstrakten, vom Empirischen zum
Theoretischen; man geht von einem Ort, der nichts dominiert, zu einem anderen
Ort, der alle anderen dominiert. Wenn man Thermodynamik versteht, versteht man
alle Maschinen (der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft - vgl. Diesel).
Die Frage bei Theorien ist: Wer kontrolliert wen und zu welchem Ausmaß?
r l
DRAWING THINGS TOGETHER 1 291

Begriffen des trivialsten Machtkampfes neu zu formulieren: Diesen Platz


zu halten gestattet mir, alle anderen zu halten. Dies ist das Problem, dem
wir durch diesen gesamten Artikel hindurch begegnet sind: wie man viele
Verbündete an einem Ort versammelt (Latour 1988b). Inskriptionen gestat­
ten Konskription1
Eine ähnliche Verbindung zwischen der Fähigkeit zu abstrahieren und
der praktischen Arbeit der Mobilisierung von Ressourcen, ohne sie zu
transformieren, ist in weiten Teilen der kognitiven Wissenschaft erkenn­
bar. In Piagets Tests wird beispielsweise viel Aufhebens um Wasser ge­
macht, das aus einem !deinen dünnen Becher in einen kurzen, flachen
gegossen wird. Wenn die Kinder sagen, das Wasservolumen habe sich
verändert, sind sie nicht konservativ. Wie aber jeder Laborbeobachter weiß,
hängen die meisten Phänomene davon ab, welches Maß man abliest oder
welchem man im Fall einer Diskrepanz glaubt. Die Verschiebung von nicht
konservativ zu konservativ mag nicht eine Modifikation in der kognitiven
Struktur sein, sondern eine Verschiebung der Indikatoren: Lies die Höhe
des Wassers im ersten Becher ab und glaube ihm mehr als der Markierung
des flachen Bechers. Die Idee des »Volumens« wird zwischen den kali­
brierten Bechern genauso gehalten wie Guillemins Endorphin zwischen
verschiedenen Peaks von mindestens fünf verschiedenen Instrumenten.
Piaget bittet in anderen Worten seine Kinder, ein Laborexperiment auszu­
führen, das in der Schwierigkeit dem eines durchschnittlichen Nobelpreis­
trägers vergleichbar ist. Wenn irgendeine Verschiebung im Denken auf­
tritt, hat das nichts mit dem Denken zu tun, sondern mit der Manipulation
der Laboreinrichtung. Aus dieser Einrichtung kann keine Antwort über
Volumen abgelesen werden. Der beste Beweis dafür ist, dass Piaget selbst
ohne industriell kalibrierte Becher vollkommen unfähig wäre zu entschei­
den, was konservativ ist (vgl. auch Cole/Scribner 1974: letztes Kap.). Wie­
der einmal mag das Meiste, dem wir a priori »höhere kognitive Funktio­
nen« zugestehen, konkrete Aufgaben sein, die mit neu kalibrierten, gradu­
ierten und geschriebenen Objekten ausgeführt werden. Allgemeiner aus­
gedrückt ist Piaget von Konservation und Verlagerung durch den Raum
ohne Veränderung besessen (Piaget/Garcia 1983). Denken ist gleichbedeu­
tend mit der Fähigkeit, sich so schnell wie möglich zu bewegen, während
man so viel wie möglich vom Muster konserviert. Was Piaget als die Logik
der Psyche bezeichnet, ist die tatsächliche Logik der Mobilisierung und
Unveränderbarkeit, die unseren wissenschaftlichen Gesellschaften so eigen
ist, wenn sie harte Fakten zur Dominierung in einem großen Maßstab
produzieren wollen. Kein Wunder, dass sich alle diese »Fähigkeiten«, sich
in solch einer Welt schnell zu bewegen, mit der Schulbildung verbessem!'3

13 1 Einen schönen a-contrario-Beweis liefert Edgertons Studie zu chinesischen


technischen Zeichnungen (1980). Er bemerkt, dass chinesische Künstler kein Inte­
resse an Ziffern haben, oder genauer, dass sie Ziffern nicht in den perspektivischen
292 1 BRUNO LATOUR

Wir kommen nun näher an ein Verständnis jenes Sachverhalts, der


Formalismus konstituiert. Der Ausgangspunkt ist, dass wir fortlaufend
zwischen einer Vielzahl oft widersprüchlicher Indikationen unserer Sinne
zögern. Das Meiste, was wir »Abstraktion« nennen, ist in der Praxis der
Glaube, dass einer geschriebenen Inskription mehr Glauben geschenkt
1
werden muss als jeglicher widersprüchlichen Indikation der Sinne. 4
Koyre z.B. hat gezeigt, dass Galileo an das Trägheitsprinzip aus mathema­
tischen Gründen glaubte, sogar entgegen widersprüchlicher Beweise, die
ihm nicht nur von den Schriften, sondern auch von seinen Sinnen geboten
wurden. Koyre bemerkt, dass diese Zurückweisung der Sinne auf Galileos
platonistische Philosophie zurückging. Dies mag so gewesen sein. Aber
was bedeutet das in der Praxis? Es bedeutet, dass, wenn Galileo mit vielen
gegensätzlichen Indikationen konfrontiert wurde, er in letzter Instanz dem
Dreieckdiagramm für die Berechnung des Gesetzes fallender Körper mehr
glaubte als jeder anderen Vision fallender Körper (Koyre 1966: 147): »Im
Zweifel glaube den Inskriptionen, die in mathematischen Begriffen ausge­
drückt sind, ungeachtet, zu welchen Absurditäten dich das führt.«'5

Raum hineinnehmen, an dem ein Ingenieur arbeiten und Berechnungen und Vor­
hersagen machen kann, sondern sie als Illustrationen betrachten. Folglich werden
alle Verbindungen zwischen den Teilen der Maschinen zu Dekorationen (ein kom­
plexer Teil der Pumpe wird z.B. nach mehreren Kopien zu Wellen auf einem
Teich!). Niemand würde behaupten, dass Chinesen nicht abstrahieren können; es
wäre jedoch keineswegs absurd zu behaupten, dass sie nicht ihr volles Vertrauen in
das Schreiben und in die graphische Darstellung setzen.
14 1 In einem schönen Artikel spricht Carlo Ginzburg von einem »Pradigma der
Spuren«, um diese besondere Obsession unserer Kultur zu bezeichnen, die er von
der griechischen Medizin über Conan Doyles Detektivgeschichten, durch Freuds
Interesse an Fehlleistungen bis zur Entdeckung von Kunstfalschungen (1980)
aufspürt. Indem er jedoch auf ein klassisches Vorurteil zurück greift, trennt Ginz­
burg Physik und harte Wissenschaften von einem solchen Paradigma, weil sie, wie
er behauptet, sich nicht auf Spuren, sondern auf abstrakte, universelle Phänomene
verlassen.
15 1 Ivins erklärt z.B., dass die meisten griechischen Parallelen in der Geometrie
[1
sich nicht treffen, weil sie mit den Händen berührt werden, während die Parallelen
der Renaissance sich treffen, da sie nur auf Papier gesehen werden (1973: 7). Jean

1
Lave zeigt in ihrer Studie kalifornischer Supermarkteinkäufer, dass Personen, die
I'
mit einer Schwierigkeit in ihren Berechnungen konfrontiert werden, selten beim
Papier bleiben und niemals ihr Vertrauen in etwas Geschriebenes setzen (Lave et al.
1984). Es zu tun, gleichgültig, wie absurd die Konsequenzen sein mögen, erfordert
eine zusätzliche Reihung sonderbarer Umstände, die mit der Laboreinrichtung
verbunden sind, sogar wenn diese, wie Llvingston (1986) sagt, »flache Laboratorien«
sind. In einem seiner etwa zwölf Ursprünge der Geometrie argumentiert Serres,
dass die Griechen, indem sie das Alphabet erfanden und damit jede Verbindung

I
!i
--
DRAWING THINGS TOGETHER 1 293

Nach Eisensteins großartiger Überarbeitung der »Buch der Natur«-Ar­


gumentation und Alpers Neudefinition von »visueller Kultur« ist die Eth­
nographie der Abstraktion einfacher geworden: Was ist diese Gesellschaft,
in der eine geschriebene, gedruckte, mathematische Form im Zweifelsfall
größere Glaubwürdigkeit besitzt als alles andere: als gesunder Menschen­
verstand, andere Sinne als Sehen, politische Autorität, Tradition und sogar
heilige Schriften? Es ist offensichtlich, dass dieser Wesenszug der Gesell­
schaft überdeterrniniert ist, da er im geschriebenen Gesetz (Clanchy 1979),
in der biblischen Exegese der heiligen Schriften und in der Geschichte der
Geometrie (Husserl 1954; Derrida 1967; Serres 1980) gefunden werden
kann. Ohne diese sonderbare Tendenz, das Geschriebene zu privilegieren,
wäre die Macht der Inskriptionen vollkommen verloren, worauf Edgerton
in seiner Diskussion chinesischer Diagramme hinweist. Gleichgültig, wie
schön, reich, präzise oder realistisch Inskriptionen sein mögen, niemand
würde glauben, was sie zeigten, wenn ihnen andere Beweise örtlichen,
sinnlichen Ursprungs oder Erklärungen örtlicher Behörden widersprechen
könnten. Ich glaube, dass wir einen beachtlichen Schritt vorwärts machen
würden, wenn wir diesen besonderen Wesenszug unserer Kultur mit den
Erfordernissen der Mobilisierung, die ich bereits mehrmals dargestellt
habe, verbinden könnten. Ein Großteil der kognitiven Psychologie und
Epistemologie existiert nicht, sondern ist mit diesem seltsamen anthropo­
logischen Puzzle verbunden: mit einer Ausbildung (oft in Schulen), um
geschriebene Inskriptionen zu manipulieren, sie in Kaskaden aufzustellen
und der letzten in der Reihe mehr als jedem gegenteiligen Beweis zu glau­
ben. In der Beschreibung dieser Ausbildung sollte die Anthropologie der
Geometrie und der Mathematik stärker betont werden (Livingston 1986;
Lave 1986, 1988; Serres 1982).

Papierarbeit

Es gibt zwei Arten, den Visualisierungsprozess, an dem wir alle interessiert


sind, zu ignorieren: erstens, dem wissenschaftlichen Denken das zuzu­
schreiben, was eigentlich Händen, Augen und Zeichen zusteht; zweitens,
sich ausschließlich auf Zeichen qua Zeichen zu konzentrieren, ohne die
Mobilisierung zu erwägen, deren feinen Rand sie lediglich darstellen. Ob

zwischen geschriebenen Formen und dem Bezeichneten abbrachen, die piktoriale


Repräsentation bewältigen mussten. Er argumentiert, dass der von uns so genannte
Formalismus ein Alphabettext ist, der versucht, visuelle Diagramme zu beschreiben.
»Was ist diese Geometrie in der Praxis? Nicht ,Idee<, sondern ein Tun, das sie
voraussetzt. Sie ist in erster Linie eine Kunst des Zeichnens. Sie ist dann eine
Sprache, die über die Zeichnung spricht, sei sie nun präsent oder abwesend.« (Ser­
res 1980: 176)
294 1 BRUNO LATOUR

die Wahl aller Innovationen im Erstellen von Bildern, in Gleichungen,


Kommunikationen, Archiven, Dokumentationen, Instrumentationen und
Argumentationen für oder gegen sie ausfällt, hängt davon ab, wie sie
gleichzeitig entweder die Inskription oder die Mobilisierung beeinflussen.
Dieses Bindeglied ist nicht nur in den empirischen Wissenschaften sicht­
bar, nicht nur im (früheren) Bereich von Formalismus, sondern ebenfalls
in vielen »praktischen« Unternehmungen, von denen die Wissenschaft oft
übermäßig getrennt wird.
In einem schönen Buch verfolgt Booker die Geschichte des technischen
Zeichnens (1982). Lineare Perspektive (vgl. oben) »veränderte« progressiv
»das Konzept des Bildes von der bloßen Repräsentation zur Projektion auf
eine Ebene« (ebd.: 31). Aber die Perspektive hing noch von der Position des
Beobachters ab, sodass die Objekte ohne Beeinträchtigung nicht wirklich
überallhin bewegt werden konnten. Desargues und Monges Arbeiten

»halfen den >Blickpunkt< oder die Art der Betrachtung von Dingen seelisch zu
verändern. Anstelle der imaginären Linien des Raumes, die man nur sehr schwierig
klar wahrnehmen kann, die zu dieser Zeit die Basis der Perspektive waren, erlaubte
die projektive Geometrie es, die Perspektive in Begriffen der soliden G eometrie zu
sehen.« (Booker 1982: 34)

Mit der deskriptiven Geometrie wird die Position des Beobachters irrele­
vant.

»Es kann von jedem Winkel betrachtet oder fotographiert oder auf jede Ebene proji­
ziert - d.h. verzerrt - werden und das Resultat bleibt wahr.« (Ebd.: 35)

!
1: Booker und sogar noch besser Baynes und Push (1981) zeigen in einem
ausgezeichneten Buch (vgl. auch Deforges 1981), wie ein paar Ingenieure
enorme Maschinen meistern konnten, die noch nicht einmal existierten.
Diese Glanzleistungen sind ohne technische Zeichnungen nicht vorstell­
bar. Booker, der einen Ingenieur zitiert, beschreibt die Veränderung des
Maßstabs, der den Wenigen erlaubt, die Vielen zu dominieren:

»Eine gezeichnete Maschine ist wie eine ideale Realisation davon, jedoch in einem
Material, das wenig kostet und einfacher zu handhaben ist als Eisen oder Stahl. [...]
Wenn alles zuerst gut ausgedacht ist und die wesentlichen Dimensionen durch
Berechnungen oder Erfahrung bestimmt sind, kann der Plan einer Maschine oder
die Installation schnell auf Papier gebracht und das Ganze genauso wie das Detail
danach auf bequemste Weise der schärfsten Kritik ausgesetzt werden. Wenn es
zuerst Zweifel gibt, welches der verschiedenen möglichen Arrangements das wün­
schenswerteste ist, werden sie alle aufgezeichnet, miteinander verglichen und das
passendste auf einfache Weise gewählt.« (Booker 1982: 187)
l
DRAWING THINGS TOGETHER 1 295

Eine industrielle Zeichnung erschafft nicht nur eine Papierwelt, die wie in
drei Dimensionen manipuliert werden kann. Sie kreiert auch einen ge­
meinsamen Platz, an dem viele andere Inskriptionen zusammenkommen
können. Toleranzgrenzen können auf der Zeichnung inskribiert, die
Zeichnung für ökonomische Berechnungen, für eine Definition der zu
erfüllenden Aufgabe oder zur Organisation der Reparaturen und Verkäufe
verwendet werden.

»Zeichnungen sind jedoch nicht nur für die Planung, sondern auch für die Ausfüh­
rung von äußerster Wichtigkeit, da durch sie von Anfang an die Bemessungen und
Proportionen aller Teile so genau und endgültig festgelegt werden können, dass,
wenn es zur Herstellung kommt, es nur noch notwendig ist, in den für die Kon­
struktion verwendeten Materialien genau das zu imitieren, was in der Zeichnung
gezeigt wird. Jeder Teil der Maschine kann im Allgemeinen unabhängig von jedem
anderen Teil hergestellt werden; deshalb ist es möglich, die gesamte Arbeit unter
einer großen Anzahl von Arbeitern aufzuteilen. [...] Keine substantiellen Fehler
können in der auf diese Weise organisierten Arbeit auftreten, und falls einmal ein
Fehler gemacht wird, weiß man sofort, wer dafür verantwortlich ist.« (Ebd.: 188)

Realitätssphären, die weit entfernt zu liegen scheinen (Mechanik, Ökono­


mie, Marketing, wissenschaftliche Organisationen), sind nur noch Zenti­
meter entfernt, wenn sie einmal auf derselben Oberfläche ausgebreitet
werden. Die Ballung von Zeichnungen in einem optisch konsistenten
Raum ist einmal mehr der »universelle Austauscher«, der es erlaubt, Arbeit
zu planen, prompt zu erledigen, zu erkennen und Verantwortlichkeit
zuzuweisen. 16
Die verbindende Qualität geschriebener Spuren ist sogar noch sichtba­
rer im meistverachteten aller ethnographischen Objekte: in der Akte oder
der Aufzeichnung. Die der Bürokratie seit Hegel und Weber gewährte
»Rationalisierung« wurde versehentlich dem »Geist« (preußischer) Büro-

16 1 Die Verbindung zwischen technischem Denken und technischem Zeichnen


ist so eng, dass Forscher sie sogar unwillentlich herstellen. Wenn z.B. Bertrand Gille
die Schaffung eines neuen »systeme technique« in Alexandria während der hellenis­
tischen Periode erklärt, ist er gezwungen, zu sagen, dass es die Verfügbarkeit einer
guten Bibliothek und einer Sammlung von Maßstabsmodellen aller zuvor erfunde­
nen Maschinen ist, die »bloße Praxis« in Techno-Logie umwandelte (1980). Was das
»systeme technique« zu einem System macht, ist die synoptische Vision aller vorhe­
rigen technischen Errungenschaften, die alle aus ihrer Isolation genommen werden.
Die Verbindung ist am deutlichsten sichtbar, wenn eine Inskriptionsvorrichtung an
eine arbeitende Maschine angeschlossen wird, um sie verständlich zu machen
(Hills/Pacey 1981; Constant 1983). Eine schöne Darstellung der Papierwelt, die dazu
notwendig ist, einen Computer real zu machen, findet sich in Kidder (1981). »Die
Seele der Maschine« ist ein Stoß Papier.
296 1 BRUNO LATOUR

kraten zugeschrieben: Es liegt alles in den Akten selbst. Ein Büro ist - in
vielen Hinsichten und mit jedem Jahr zunehmend - ein kleines Laborato­
rium, in dem viele Elemente miteinander verbunden werden können, weil
ihr Maßstab und ihre Natur angeglichen wurden: juristische Texte, Spezi­
fikationen, Standards, Gehaltslisten, Landkarten, Untersuchungen (seit der
Eroberung durch die Normannen, wie aufgezeigt bei Clanchy 1979). Öko­
nomie, Politik, Soziologie und harte Wissenschaften kommen nicht durch
den grandiosen Zugang der »Interdisziplinarität« in Kontakt, sondern
durch die Hintertür der Akte. Das »Kratie« im Wort »Bürokratie« ist myste­
riös und schwer zu erforschen, aber das »Büro« ist etwas, das empirisch
untersucht werden kann und das aufgrund seiner Struktur erklärt, weshalb
etwas Macht an einen durchschnittlichen Geist abgegeben wird, einfach
indem man Akten durchsieht: Weit entfernte Domänen rücken in unmit­
telbare Nähe, verschlungene und versteckte Domänen werden flach, Tau­
sende von Vorkommnissen können synoptisch betrachtet werden. Noch
wichtiger ist, dass, wenn Akten einmal überall zusammengetragen werden,
um eine Hin- und Rückzirkulation unveränderlich mobiler Elemente
sicherzustellen, sie in einer Kaskade aufgestellt werden können: Akten
über Akten können erzeugt werden und man kann diesen Prozess fortset­
zen, bis einige Menschen Millionen betrachten, als wären sie in ihrer
Handfläche. Ironischerweise macht sich der gesunde Menschenverstand
über diese »gratte-papiers« oder »Papiertiger« lustig und fragt sich, wozu
dieser »Papierkrieg« notwendig ist; dieselbe Frage sollte jedoch bezüglich
aller Themen von Wissenschaft und Technik gestellt werden. In unserer
Kultur ist der Umgang mit Akten und Papier der Ursprung aller essentiel­
len Macht, was konstant der Aufmerksamkeit entgeht, da man deren Mate­
rialität ignoriert.
In seinem grundlegenden Buch »The Pursuit of Power« (1982) benutzt
McNeill diese Fähigkeit, um chinesische Bürokratie von der des Okzidents
zu unterscheiden. Die Akkumulation von Aufzeichnungen und Ideo­
grammen machten das chinesische Imperium möglich. Es gibt jedoch
einen wesentlichen Nachteil bei Ideogrammen; wenn sie einmal gesam­
melt sind, kann man sie nicht zu einer Kaskade zusammenstellen, sodass
Tausende von Aufzeichnungen - in eine verwandelt -, wortwörtlich durch
geometrische oder mathematische Kompetenz »punktualisiert« werden
können. Wenn wir sowohl die Qualität der Zeichen als auch den Mobilisie­
rungsprozess im Fokus behalten, können wir verstehen, wieso dem Wachs­
tum des chinesischen Imperiums in der Vergangenheit bestimmte Gren­
zen gesetzt worden sind und wieso diese Grenzen der Mobilisierung von
Ressourcen in großem Maßstab in Europa durchbrochen worden sind. Die
Macht, die durch die Konzentration von in einer homogenen und kombi­
nierbaren Form verfassten Akten erlangt wird, kann man kaum hoch
genug einschätzen (Wheeler 1969; Clanchy 1979).
Diese Rolle des Bürokraten, qua Wissenschaftler, qua Schreiber und
--
DRAWING THINGS TOGETHER j 297

Leser wird immer missverstanden, weil wir als selbstverständlich anneh­


men, dass irgendwo in der Gesellschaft Makro-Akteure existieren, die auf
natürliche Weise die Szene dominieren: Korporationen, Staaten, Produk­
tionskräfte, Kulturen, Imperialismus, »mentalites« usw. Wenn sie einmal
akzeptiert sind, werden diese großen Entitäten verwendet, »kognitive«
Aspekte der Wissenschaft und Technik zu erklären (oder nicht zu erklä­
ren). Das Problem ist, dass diese Einheiten ohne die Konstruktion eines
langen Netzwerkes, in dem zahlreiche getreue Aufzeichnungen - Auf­
zeichnungen, die wiederum zusammengefasst und ausgestellt sind, um zu
überzeugen - in beiden Richtungen zirkulieren, überhaupt nicht existieren
könnten. Ein »Staat«, eine »Korporation«, eine »Kultur« oder eine »Öko­
nomie« sind das Ergebnis eines Punktualisierungsprozesses, der einige
Indikatoren aus vielen Spuren herausholt. Um existieren zu können, müs­
sen diese Entitäten irgendwo zusammengefasst sein (Chandler 1977; Beniger
1986). Weit davon entfernt, der Schlüssel zum Verständnis von Wissen­
schaft und Technik zu sein, sind diese Entitäten die tatsächlichen Dinge,
die ein neues Verständnis von Wissenschaft und Technik erklären sollten.
Die Akteure im großen Maßstab, denen Wissenschaftssoziologen gern
»Interessen« beifügen, sind praktisch immateriell, solange keine präzisen
Mechanismen vorgeschlagen werden, um ihren Ursprung oder ihre Extrak­
tion und ihren Maßstabwechsel zu erklären.
Ein Mensch ist niemals viel mächtiger als ein anderer - sogar von
einem Thron aus; von einem Mann jedoch, dessen Auge Aufzeichnungen
dominiert, durch die gewisse Verbindungen mit Millionen anderer herge­
stellt werden können, kann man sagen, dass er dominiert. Diese Herrschaft
ist jedoch kein gegebenes Faktum, sondern eine langsame Konstruktion,
und sie kann korrodiert, unterbrochen oder zerstört werden, wenn die
Aufzeichnungen, Akten und Zahlen immobilisiert, veränderbarer und
weniger les- und kombinierbar oder bei ihrer Ausstellung undeutlich ge­
macht werden. Der Maßstab eines Akteurs ist mit anderen Worten kein
absoluter, sondern ein relativer Begriff, der mit der Fähigkeit variiert,
Information über andere Orte oder Zeiten zu produzieren, zu erfassen,
zusammenzufassen und zu interpretieren (Callon/Latour 1981). Sogar die
bloße Idee eines Maßstabs ist unmöglich zu verstehen, ohne eine Inskrip­
tion oder Karte im Kopf zu haben. Der »große Mann« ist ein kleiner Mann,
der auf eine gute Karte schaut. In Mercators Frontispiz wird Atlas von
einem Gott, der die Welt trägt, in einen Wissenschaftler verwandelt, der sie
in den Händen hält.
Seit dem Anfang der Darstellung darüber, wie man Dinge zusammen­
zieht, habe ich das einfache Problem von Macht umgeformt: Wie können
die Wenigen die Vielen dominieren? Nach McNeills Hauptrekonzeptuali­
sierung der Geschichte der Macht in Begriffen der Mobilisierung kann
diese jahrhundertealte Frage der politischen Philosophie und Soziologie in
einer anderen Weise umformuliert werden: Wie können entfernte oder
298 1 BRUNO LATOUR

fremde Orte und Zeiten an einem Ort versammelt werden in einer Form,
die all den Orten und Zeiten gestattet, auf einmal präsentiert zu werden,
und es ihnen zudem erlaubt, sich dorthin zurück zu bewegen, woher sie
kommen? über Macht zu sprechen ist eine endlose und mystische Aufga­
be; von Distanz, Sammlung, Loyalität, Zusammenfassung, Transmission
zu sprechen ist eine empirische Aufgabe, wie in einer neuen Studie von
John Law über die portugiesische Gewürzroute nach Indien (1986) illus­
triert worden ist. Statt wie die meisten Wissenschaftler große Entitäten zu
verwenden, um Wissenschaft und Technik zu erklären, sollten wir bei den
Inskriptionen und ihren Mobilisierungen beginnen und sehen, wie sie
kleinen Entitäten helfen, zu großen zu werden. In dieser Verschiebung von
einem Forschungsprogramm zu einem anderen werden »Wissenschaft
und Technik« aufhören, mysteriöse kognitive Objekte zu sein, die durch
die soziale Welt erklärt werden müssen. Sie werden zu einer der Haupt­
quellen von Macht (McNeill 1982). Wenn man die Existenz von Makro-Ak­
teuren als selbstverständlich annimmt, ohne das Material zu erforschen,
das sie »makro« macht, macht man damit sowohl Wissenschaft als auch
Gesellschaft mysteriös. Das Herstellen verschiedener Maßstäbe zu unse­
rem Hauptinteresse zu machen bedeutet, die praktischen Mittel zur Erlan­
gung von Macht auf eine feste Basis zu stellen (Cicourel 1981). Das Penta­
gon sieht nicht mehr von der Strategie der Russen als Guillemin von seinen
Endorphinen. Es setzt einfach seinen Glauben in übereinander gelagerte
Spuren verschiedener Qualität, stellt einige anderen gegenüber, geht den
Schritten jener nach, die zweifelhaft sind, und gibt Milliarden dafür aus,
neue Zweige von Wissenschaft und Technik zu schaffen, die die Mobilität
von Spuren beschleunigen, ihre Unveränderbarkeit perfektionieren, die
Lesbarkeit erhöhen, Kompatibilität sicherstellen, die Anzeige beschleuni­
gen: Satelliten, Spionagenetzwerke, Computer, Bibliotheken, Radioimmu­
nountersuchungen, Archive, Studien. Das Pentagon wird niemals mehr
von diesen Phänomenen sehen als das, was es durch diese unveränderlich
mobilen Elemente aufbauen kann. Das ist offensichtlich, wird aber selten
gesehen.
Wenn diese kleine Verschiebung von einer sozial/kognitiven Unter­
scheidung zum Studium von Inskriptionen akzeptiert wird, dann erscheint
die Wichtigkeit der Metrologie im rechten Licht. Metrologie ist die wissen­
schaftliche Organisation stabiler Messungen und Standards. Ohne sie ist
keine Messung stabil genug, um weder Homogenität der Inskriptionen
noch ihre Umkehr zuzulassen. Es ist deshalb auch nicht überraschend,
wenn man erfährt, dass die Metrologie bis zu dem Dreifachen des Budgets
aller Forschungen und Entwicklungen kostet und dass sich diese Zahl nur
auf die ersten Elemente der metrologischen Kette bezieht (Hunter 1980).
Dank der metrologischen Organisation können die grundlegenden physi­
kalischen Konstanten (Zeit, Raum, Gewicht, Wellenlänge) und viele biolo­
gische und chemische Standards »überallhin« ausgeweitet werden. (Zeru-
DRAWING THINGS TOGETHER 1 299

bavel 1982; Landes 1983). Die Universalität von Wissenschaft und Technik
ist ein Klischee der Epistemologie, aber Metrologie ist die praktische
Durchsetzung dieser mystischen Universalität. In der Praxis ist sie kost­
spielig und voller Lücken (vgl. Cochrane 1966 für die Geschichte des Eich­
amts). Metrologie ist nur die offizielle und primäre Komponente einer
stetig wachsenden Anzahl von Messaktivitäten, die wir alle in unserem
täglichen Leben unternehmen müssen. Jedes Mal, wenn wir auf unsere
Armbanduhr schauen oder eine Wurst bei einem Metzger wiegen lassen,
jedes Mal, wenn Laboratorien die Bleibelastung oder die Reinheit des Was­
sers messen oder die Qualität von Industriegütern kontrollieren, erlauben
wir mehr unveränderlich mobilen Elementen neue Orte zu erreichen.
»Rationalisierung« hat sehr wenig mit der Vernunft der Büro- und Tech­
nokraten, aber eine Menge mit der Erhaltung metrologischer Ketten zu tun
(Uselding 1981). Der Aufbau langer Netzwerke gewährleistet die Stabilität
der physikalischen Hauptkonstanten, aber es gibt viele andere metrologi­
sche Aktivitäten für weniger »universelle« Messungen (Abstimmungen,
Fragebögen, auszufüllende Formulare, Konten, Zählungen).
Es gibt noch eine weitere Domäne, in die diese Ethnographie der In­
skription etwas »Licht« bringen könnte. Ich möchte darüber sprechen, weil
ich am Anfang dieser übersieht die Dichotomien zwischen »mentalisti­
schen« und »materialistischen« Erklärungen zurückwies. Unter diesen
interessanten, unveränderlich mobilen Elementen gibt es eines, das sowohl
zu viel als auch zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hat: das Geld. Die
Anthropologie des Geldes ist so kompliziert und verwirrend wie die des
Schreibens. Eines jedoch ist klar: Sobald Geld durch verschiedene Kulturen
zu zirkulieren beginnt, entwickelt es einige deutlich ausgeprägte Charakte­
ristika: Es ist mobil (in kleinen Teilen), unveränderlich (da es aus Metall
besteht), zählbar (wenn es einmal gemünzt ist), kombinierbar und kann
von den gewerteten Dingen zum bewertenden Zentrum zirkulieren und
zurück. Geld hat zu viel Aufmerksamkeit erhalten, weil man es für etwas
Besonderes gehalten hat, tief eingefügt in die Infrastrukturen von Ökono­
mien, während es einfach eines von vielen unveränderlich mobilen Ele­
menten ist, die notwendig sind, wenn ein Ort über viele andere Orte, die in
Raum und Zeit weit entfernt sind, Macht ausüben soll. Als ein Typ eines
unveränderlich mobilen Elementes unter anderen hat es jedoch zu wenig
Aufmerksamkeit erhalten. Geld wird verwendet, um alle Arten von Sach­
verhalten in genau derselben Weise zu kodieren, in der La Perouse alle
Orte mit Längengrad und Breitengrad kodierte. (Tatsächlich registrierte er
in seinem Logbuch sowohl die Plätze auf der Karte als auch den Wert jedes
Gutes, als sollte es an einem anderen Ort verkauft werden.) Auf diese
Weise ist es möglich, alle diese Arten von Sachverhalten zu akkumulieren,
zu zählen, zu zeigen und wieder zu verbinden. Geld ist weder mehr noch
weniger »materiell« als Kartenzeichnen, technische Zeichnungen oder
Statistiken.
300 1 BRUNO LATOUR

Ist erst einmal sein gewöhnlicher Charakter erkannt, kann die »Ab­
straktion« des Geldes nicht länger das Objekt eines Fetischkults sein. Die
Wichtigkeit der Kunst der Buchführung passt z.B. sowohl in der Ökonomie
als auch in der Wissenschaft gut ins Bild. Geld als solches ist nicht interes­
sant, sondern als eine Art unveränderlich mobiles Element, das Güter und
Orte verbindet; es ist deshalb kein Wunder, dass es schnell mit anderen
geschriebenen Inskriptionen wie Zahlen, Spalten und doppelter Buchfüh­
rung verschmilzt (Roover 1963). Kein Wunder, dass es durch die Buchfüh­
rung möglich ist, durch eine neue Kombination von Zahlen mehr zu ver­
dienen (Braudel 1979: besonders Bd. 3; Chandler 1977). Hier sollte wieder
nicht zu viel Betonung auf die Visualisierung von Zahlen per se gelegt
werden; was man wirklich betonen sollte, ist die Kaskade mobiler Inskrip­
tionen, die in einem Konto enden, was - buchstäblich - das Einzige ist,
was zählt. Genau wie bei jeder wissenschaftlichen Inskription zieht der
neue Buchhalter es im Zweifelsfalle vor, der Inskription zu glauben,
gleichgültig, wie seltsam die Konsequenzen und kontraintuitiv das Phä­
nomen erscheinen. Die Geschichte des Geldes ist also von denselben
Trends ergriffen wie all die anderen unveränderlich mobilen Elemente;
jede Innovation, die Geld beschleunigen kann, um seine Macht der Mobili­
sierung zu vergrößern, wird beibehalten: Schecks, Indossament, Papier­
geld, elektronisches Geld. Dieser Trend hängt nicht von der Entwicklung
des Kapitalismus ab. »Kapitalismus« ist im Gegenteil ein leeres Wort, so­
lange nicht präzise materielle Instrumente vorgeschlagen werden, um
Kapitalisierung überhaupt zu erklären, sei es die von Mustern, Büchern,
Information oder Geld.
Folglich sollte der Kapitalismusbegriff nicht verwendet werden, um die
Evolution von Wissenschaft und Technik zu erklären. Es scheint mir, als
sollte es genau das Gegenteil sein. Wenn Wissenschaft und Technik in
Begriffen von unveränderlich mobilen Elementen neu formuliert werden,
wird es möglich, ökonomischen Kapitalismus als einen anderen Prozess
von Mobilisierung und Konskription zu erklären. Die vielen Schwächen
des Geldes weisen darauf hin; Geld ist ein hübsches, unveränderlich mobi­
les Element, das von einem Punkt zu einem anderen zirkuliert, jedoch sehr
wenig bei sich trägt. Wenn das Ziel des Spiels darin besteht, genügend
Verbündete an einem Ort zu akkumulieren, um den Glauben und das
Verhalten aller anderen zu modifizieren, ist Geld eine schwache Ressource,
solange es isoliert ist. Es wird nützlich, wenn es mit all den anderen In­
skriptionsvorrichtungen verbunden wird; dann werden die verschiedenen
Punkte der Welt tatsächlich in einer handhabbaren Form zu einem einzel­
nen Ort transportiert, der dann zu einem Zentrum wird. Genau wie bei
Eisensteins Druckerpresse, die ein Faktor ist, der allen anderen erlaubt,
miteinander zu verschmelzen, zählt nicht die Kapitalisierung des Geldes,
sondern die Kapitalisierung aller kompatiblen Inskriptionen. Statt von
Händlern, Prinzen, Wissenschaftlern, Astronomen und Ingenieuren zu
DRAWING THINGS TOGETHER 1 301

sprechen, die eine Art von Beziehung zueinander haben, scheint es mir
produktiver zu sein, über »Berechnungszentren« zu sprechen. Die Währung,
in der sie rechnen, ist weniger wichtig als die Tatsache, dass sie nur mit
Inslaiptionen kalkulieren und in diese Kalkulationen Inslaiptionen, die
aus den verschiedenartigsten Disziplinen kommen, hineinmischen. Die
Berechnungen selbst sind weniger wichtig als die Art, in der sie zu Kaska­
den zusammengestellt werden, und die bizarre Situation, in der der letzten
Inslaiption mehr geglaubt wird als allem anderen. Geld ist per se sicher
nicht der universelle Standard, den Marx und andere Ökonomen suchten.
Diese Qualifikation sollte Berechnungszentren und der Besonderheit ge­
schriebener Spuren gewährt werden, die schnelle Übersetzung zwischen
einem Medium und einem anderen ermöglichen.
Viele Bemühungen wurden erbracht, um die Geschichte der Wissen­
schaft mit der Geschichte des Kapitalismus zu verbinden, und viele Bemü­
hungen wurden erbracht, um den Wissenschaftler als Kapitalisten zu be­
schreiben. Alle diese Bemühungen (meine inbegriffen - Latour/Woolgar
1979: Kap. 5; Latour 1984a) waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt,
da sie eine Unterscheidung zwischen mentalen und materiellen Faktoren
als gegeben ansahen, ein Artefakt unserer Ignoranz bezüglich Inslaiptio­
nen.'7 Es gibt keine Geschichte der Ingenieure, dann der Kapitalisten,

17 1 Die Richtung, in die wir gehen, wenn wir solche Fragen stellen, ist sowohl
von der der Wissenschaftssoziologie als auch von der der kognitiven Wissenschaften
ziemlich verschieden (besonders wenn sie beide wie in Meys Synthese [1982] zu
verschmelzen versuchen). Zwei jüngere Versuche wurden unternommen, um die
feinen Strukturen der kognitiven Fähigkeiten mit der Sozialstruktur zu verbinden.
Der erste verwendet Hesses Netzwerke und Kuhns Paradigmen (Bames 1982), der
zweite Wittgensteins »Sprachspiele« (Bloor 1983). Diese Versuche sind interessant,
aber sie versuchen noch immer eine Frage zu beantworten, die der vorliegende
Artikel zurückzuweisen wünscht: wie kognitive Fähigkeiten mit unseren Gesell­
schaften verbunden sind. Die Frage (und folglich die verschiedenen Antworten) geht
von der Idee aus, dass der Stoff, aus dem Gesellschaft gemacht ist, irgendwie ver­
schieden ist von dem unserer Wissenschaften, unserer Bilder und unserer Informa­
tion. Das Phänomen, auf das ich mich konzentrieren möchte, unterscheidet sich
etwas von jenen von Bames und Bloor. Wir haben es mit einem einzelnen ethno­
graphischen Rätsel zu tun: Einige Gesellschaften - tatsächlich sehr wenige - werden
durch Kapitalisierung im großen Stil gebildet. Die Obsession mit schnellen Verlage­
rungen und stabilen Invarianzen, starken und sicheren Verbindungen, ist nicht Teil
unserer Kultur oder durch soziale Interessen »beeinflusst«; sie ist unsere Kultur. Zu
oft suchen Soziologen nach indirekten Beziehungen zwischen »Interessen« und
»technischen« Details. Der Grund für ihre Blindheit ist einfach: Sie begrenzen die
Bedeutung von »sozial« auf die Gesellschaft, ohne zu erkennen, dass die Mobilisie­
rung von Verbündeten und im Allgemeinen die Transformation schwacher Assozia­
tionen in starke auch die Bedeutung von »sozial« ist. Wieso nach weit hergeholten
302 1 BRUNO LATOUR

dann eine der Wissenschaftler, dann eine der Mathematiker, dann eine der
Wirtschaftswissenschaftler. Es gibt vielmehr eine einzige Geschichte dieser
Berechnungszentren. Es ist nicht nur, weil sie auf Karten, in Kontobü­
chern, Zeichnungen, Rechtstexten und Akten exklusiv aussehen, dass
Kartographen, Händler, Ingenieure, Juristen und Bauingenieure den ande­
ren überlegen sind. Es ist, weil alle diese Inskriptionen überlagert, neu
gemischt, neu verbunden und zusammengefasst werden können und dass
vollkommen neue Phänomene auftauchen, vor den anderen Leuten ver­
borgen, von denen diese Inskriptionen erhoben worden waren.
Präziser ausgedrückt: Wir sollten mit dem Konzept und dem empiri­
schen Wissen dieser Berechnungszentren in der Lage sein zu erklären, wie
unbedeutende Menschen, die nur mit Papier und Zeichen arbeiten, die
mächtigsten von allen werden. Papier und Zeichen sind unglaublich
schwach und zerbrechlich. Deshalb erscheint es zuerst grotesk, irgendet­
was mit ihnen erklären zu wollen. La Perouses Karte ist nicht der Pazifik,
genauso wenig wie Watts Zeichnungen und Patente die Maschinen sind
oder die Wechselkurse der Bankiers die Ökonomien oder die Theoreme der
Topologie die »echte Welt«. Das ist genau das Paradoxon. Indem man nur
auf Papier arbeitet, an zerbrechlichen Inskriptionen, die sehr viel weniger
sind als die Dinge, aus denen sie extrahiert sind, ist es doch möglich, alle
Dinge und alle Menschen zu dominieren. Was für alle anderen Kulturen
unbedeutend ist, wird zum wichtigsten, zum einzig wichtigen Aspekt der
Realität. Der Schwächste wird durch die obsessive und exklusive Manipula­
tion aller möglichen Arten von Inskriptionen zum Stärksten. Dies ist das
Verständnis von Macht, zu dem wir gelangen, wenn wir dem Thema von
Visualisierung und Kognition in aller Konsequenz folgen. Wenn man
verstehen möchte, was Dinge zusammenzieht, muss man sich anschau­
en, was Dinge zusammen zeichnet.

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i Verbindungen suchen, wenn technische Details der Wissenschaft direkt von Invari­
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Techno-ökonomische Netzwerke
und lrreversibilität
MICHEL CALLON

Zusammenfassung

Die Arbeit untersucht die heterogenen Prozesse sozialen und technischen


Wandels und vor allem die Dynamiken der techno-ökonomischen Netz­
werke. Zunächst wird dargelegt, wie Akteure und Vermittler konstituiert
sind und sich im Laufe des Übersetzungsprozesses in einem solchen
Netzwerk gegenseitig definieren. Anschließend wird erstens untersucht,
auf welchem Weg Teile dieser heterogenen Netzwerke konvergieren,
indem inkommensurable Elemente zur Schaffung eines vereinten Raumes
verbunden werden, und zweitens, wie einige dieser Verbindungen Dauer­
haftigkeit erreichen und dazu tendieren, zukünftige Übersetzungsprozesse
zu bestimmen.

Einführung

Wissenschaft und Technik liegen inmitten einer sozialen Asymmetrie. So


kreiert Technik einerseits Systeme, die andere Optionen ausschließen',
anderseits generiert sie neuartige, unvoraussehbare und tatsächlich zuvor
undenkbare Optionen (vgl. Bijker et al. 1987; MacKenzie/Wajcman 1985).
Die Spielformen von Technik sind niemals erschöpft und ihre Verästelun­
gen erscheinen endlos. Wie sollen wir jedoch technischen Wandel verste­
hen? Wie sollen wir die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Technik und
Asymmetrie verstehen? Wie sollen wir insbesondere jene Prozesse verste­
hen, die Asymmetrien aufbauen und zerstören?

11 Andere einschlägige Arbeiten in diesem Zusammenhang sind Gille (1978),


Hughes (1983), Perrin (1988), Katz/Shapiro (1985), Arthur (1989).
3!0 1 MICHEL CALLON

Im Verlauf der letzten zehn Jahre haben Soziologen und Ökonomen


gezeigt, dass die Standardmodelle für technische Entwicklung fehlerhaft
sind. Technik wächst selten in voraussehbarer und linearer Weise inner­
halb eines relativ stabilen sozialen und industriellen Kontextes (Foray
1989). Modelle, die von einer solchen Annahme ausgehen, vermögen
deren radikalen und manchmal revolutionären Charakter nicht zu erklären.
Stattdessen schlagen uns Soziologie und Technoökonomie vor, Wissen­
schaft und Technik als Produkt einer Interaktion zwischen einer großen
Anzahl unterschiedlicher Akteure zu betrachten (vgl. Callon/Latour 1981;
Freeman 1982; Hughes 1983; Dosi 1986; Kline/Rosenberg 1986; von
Hippel 1988; Callon 1989; Gaffard 1989; Latour 1989). Wie sollen wir
jedoch diese Interaktionen beschreiben und analysieren?
Bisher gibt es keine zufriedenstellende Antwort auf diese Fragestellung.
In diesem Beitrag will ich durch die Einführung des Konzepts eines Tech­
no-ökonomischen Netzwerkes (TÖN) dieser Frage nachgehen. TÖN ist eine
Bezeichnung, die ich verwenden will, um ein koordiniertes Set von hetero­
genen Akteuren zu beschreiben, die mehr oder weniger erfolgreich inter­
agieren, um Methoden zur Generierung von Waren und Dienstleistungen
zu entwickeln, zu produzieren, zu vertreiben und zu verbreiten. Manchmal
ist es möglich, den Weg vorherzusehen, den ein TÖN in seiner Entwick­
lung einschlägt. Das unilineare Modell technologischer Veränderung ist
also nicht immer falsch. Die Akteure haben aber sehr häufig bedeutsame
Freiräume. Sie entwickeln komplizierte Strategien und viele mögliche
Innovationen mit unerwarteten sozialen und technischen Auswirkungen.
Es stellt sich dann die Frage, wie und warum dies geschieht. Wie sollen wir
das radikale Potential von Technik und deren Beziehung zur sozialen und
ökonomischen Asymmetrie verstehen?
Im ersten Teil beschreibe ich ein Set analytischer Werkzeuge für das
Erkunden der Mechanismen, durch die heterogene Aktivitäten in Bezie­
hung zueinander gesetzt werden, und führe die Konzepte »Vermittler«,
»Akteure« und »Übersetzung« ein. Im zweiten Teil zeige ich, wie Netzwer­
ke aufgebaut werden und sich entwickeln; ich spreche von Konvergenz (die
sich mit der Konstruktion eines vereinheitlichten Raumes für inkommen­
surable Elemente beschäftigt) und Irreversibilisierung (die mit der Dauerhaf­
tigkeit dieser Verbindungen sowie dem Ausmaß zu tun hat, in dem sie
vorbestimmt sind). Ich streife auch die Netzwerkdynamik und erwäge die
Art und Weise, wie sowohl die Handlungsfähigkeit als auch die Möglich­
keit der Quantifizierung vom Charakter des Netzwerkes abhängen.
Schließlich führe ich in der Schlussfolgerung aus, dass die Beziehung
zwischen dem Makro- und Mikro-Sozialen und vielen der großen sozialen
und technischen Asymmetrien die Punktualisierung des Netzwerkes reflek­
tieren.2

2 1 Zur Charakterisierung der Morphologie der TÖNs vgl. Callon et al. (1991).
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT j 3II

Akteure und Vermittler

Das Leben ist kompliziert. Ich will aber mit einer heuristischen Vereinfa­
chung beginnen und annehmen, dass TÖNs um drei bestimmte Pole
herum organisiert sind:
Erstens gibt es einen wissenschaftlichen Pol, der zertifiziertes Wissen
produziert. Dort wird wissenschaftliche Forschung praktiziert - wie bei­
spielsweise in unabhängigen Forschungszentren, Universitäten und relativ
einfachen industriellen Laboratorien.
Zweitens gibt es einen technischen Pol, der die Grundideen von Artefak­
ten entwirft, sie entwickelt und/oder transformiert. Seine Produkte schlie­
ßen Modelle, Pilotprojekte, Prototypen, Tests und Versuche sowie Patente,
Normen und technische Regeln ein; er befindet sich in industriellen tech­
nischen Labors, Forschungsstätten und in Pilotbetrieben.
Drittens gibt es einen Marktpol, der sich auf Benutzer oder Verbraucher
bezieht, welche mehr oder weniger explizit Forderungen und Bedürfnisse
entwickeln, ihnen Ausdruck verleihen oder sie zu befriedigen suchen.3
In gewissem Sinne liegen diese Pole Welten auseinander. Was hat ein
Forscher, der sich mit den Feinstrukturen von Keramik beschäftigt, mit
einem Konsumenten gemeinsam, der ein leistungsfähiges, aber komforta­
bles, sparsames und zuverlässiges Auto sucht? Im Prinzip sind sie so
verschieden wie Tag und Nacht. Die Wissenschaftlerin, die darüber beun­
ruhigt ist, was ihre Kollegen von ihrer Arbeit halten, der Ingenieur, der
ohne Preisgabe von vertraulichen, patentrechtlich geschützten Informatio­
nen einen Prototyp in ein Pilotprodukt umzuwandeln versucht, und der
Konsument - alle sind irgendwie miteinander verbunden. Wie sind sie
aber verbunden? Wie interagieren Wissenschaft oder Technik mit dem
sozialen Pol? Wie beeinflussen sie einander? Um diesen Mechanismus zu
verstehen, müssen wir sowohl auf die Ökonomie als auch auf die Soziolo­
gie zurückgreifen.
Die Ökonomie lehrt uns, dass es Dinge sind, die Akteure gegenseitig in
Beziehung zueinander setzen. Sie lehrt uns beispielsweise, dass ein Kon­
sument und ein Produzent durch ein Produkt in eine Beziehung treten
oder dass ein Arbeitgeber und ein Angestellter dadurch verbunden sind,
dass die Kompetenzen des Letzteren durch den Ersteren mobilisiert und
bezahlt werden. Ökonomen sprechen in diesen Fällen von Vennittlem.
Diese Erkenntnis ist wichtig und kann vielleicht verallgemeinert werden.
Ich möchte behaupten, dass ein Vennittler all das ist, was sich zwischen Ak-

3 1 Offensichtlich liegen viele Aktivitäten, vielleicht sogar die meisten, zwischen


diesen drei Polen und sind den von Boltanski/Thevenot (1987) beschriebenen Kom­
promissen zwischen Naturen vergleichbar. Siehe auch Laws Diskussion (1991) über
Interdiskursivität.
1 312 1 MICHEL CALLON

teuren abspielt und die Beziehungen zwischen ihnen definiert.4 Beispiele von
Vermittlern umfassen wissenschaftliche Artikel, Computersoftware, diszi­
plinierte menschliche Körper, technische Artefakte, Instrumente, Verträge
und Geld.
Im Gegensatz zur Ökonomie beginnt die Soziologie nicht mit einer
stilisierten Vorstellung des Akteurs. Sie nimmt stattdessen an, dass Akteu­
re nur verstehbar sind, wenn sie in einen gemeinsamen Raum eingefügt
werden, den sie selbst konstruiert haben. So sprechen Crozier und Fried­
berg (1977) beispielsweise von Akteuren und Systemen, Bourdieu (1980)
von Agenten und Feldern und Parsons (1977) von Rollen und funktionellen
Prärequisiten. In unterschiedlicher Weise nehmen die Soziologen folglich
an, dass jedem Akteur ein verstecktes, aber bereits soziales Wesen innewohnt;
somit kann das Akteursein nicht von den Beziehungen zwischen den
Akteuren abgetrennt werden.
Die Ökonomen lehren uns, dass Interaktion die Zirkulation von Ver­
mittlern einschließt. Die Soziologen lehren uns, dass Akteure nur in Bezug
auf ihre Beziehungen definiert werden können. Aber dies sind zwei Teile
desselben Puzzles; fügen wir sie zusammen, so finden wir die Lösung:
Akteure definieren einander in der Interaktion - in den Vermittlern, die sie in
Umlauf bringen.5

Vermittler

Ich will erneut vereinfachen und von vier Hauptarten von Vermittlern
sprechen:
Erstens gibt es Texte oder - allgemeiner formuliert - literarische Inskrip­
tionen (Latour 1986). Diese umfassen Berichte, Bücher, Artikel, Patente
und Notizen. Es handelt sich um Materialien, weil sie auf Papier, Disketten
und Magnetbändern, d.h. auf relativ unveränderliche, transportable Me­
dien inskribiert und auf diese Weise im Urnlauf sind. 6
Zweitens gibt es technische Artefakte. Dazu gehören wissenschaftliche
Instrumente, Maschinen, Roboter und Verbrauchsgüter; sie sind (relativ)
stabile und strukturierte Gruppen von nicht-menschlichen Entitäten, die
gemeinsam bestimmte Aufgaben ausführen.

4 1 Wie ich später argumentieren werde, muss die Unterscheidung zwischen


Vermittlern und Akteuren mit Sorgfalt behandelt werden.
5 1 Dieser Lösungsansatz für die Verbindung von Soziologie und Ökonomie un­
terscheidet sich von der Vorstellung einer »Einbettung«, die von Granovetter wieder­
belebt wurde (1985). Die von ihm beschriebenen Netzwerke sind reine Verbindun­
gen zwischen menschlichen Wesen.
6 1 Zur Unveränderlichkeit, die zentral für Handlungen auf Entfernung ist, vgl.
Latour (1989).
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT I JI3

Drittens gibt es offensichtlich menschliche Wesen mit ihren Kompeten­


zen, ihrem Wissen und Know-how.
Viertens gibt es schließlich Geld in all seinen verschiedenen Formen.
Ich möchte nun behaupten, dass solche Vermittler ihre Netzwerke im
literarischen Sinn beschreiben. Sie komponieren sie dadurch, dass sie ihnen
Form verleihen. Vermittler ordnen und formen auf diese Art das Medium
der Netzwerke, die sie beschreiben.

Texte als Netzwerke

Texte sind in vielen Bereichen des sozialen Lebens - aber nirgends mehr
als in der Wissenschaft - von vitaler Bedeutung (Callon et al. 1986; Latour
1989). Somit kann ein wissenschaftlicher Text als Objekt betrachtet wer­
den, das Verbindungen mit anderen Texten und literarischen Inskriptio­
nen eingeht. Die Auswahl der Zeitschrift, der Sprache und des Titels sind
die Methoden, mit denen ein Artikel versucht, ein interessiertes Publikum
zu definieren und anzusprechen. Die Liste der Autoren gibt über deren
Mitarbeit und die relative Bedeutung jedes Beitrags Auskunft. Hier beginnt
ein Netzwerk; dieses Netzwerk erstreckt sich jedoch weiter bis zu den Refe­
renzen und Zitaten. Diese überarbeiten die zitierten Texte, führen sie in
neue Zusammenhänge ein und identifizieren und verbinden neue Akteure
miteinander. Wörter, Ideen, Konzepte und die Ausdrucksweisen, die sie
organisieren, beschreiben damit eine ganze Population von menschlichen
und nicht-menschlichen Entitäten. Einige sind gut etabliert, andere wiede­
rum sind neu. Insgesamt jedoch definieren, erkunden, stabilisieren und
testen sie gegenseitig ihre Identitäten. Ein Text kann von Elektronen,
Enzymen, Behörden, Oxiden, Methoden, experimentellen Anordnungen,
multinationalen Gesellschaften und Industriesektoren handeln. Analog
den Akteuren in einigen amerikanischen Romanen, die sonst nie zusam­
mengefunden hätten, sind ihre Schicksale in >soziotechnischen Dramen<
verwoben, die in wissenschaftlichen Arbeiten beschrieben sind.7
Die Wörter eines Textes beziehen sich auf andere Texte; sie überarbei­
ten und erweitern die Netzwerke, die darin gefunden werden. Während wir
traditionsgemäß angenommen haben, dass Texte geschlossen sind - wir
haben zwischen ihrem Kontext und ihrem Inhalt unterschieden-, sagen

7 1 Vergleichbar mit »The Sentimental Education« erzählt ein wissenschaftlicher


Artikel also eine Geschichte, die den Leser an die Hand nimmt und ihn oder sie
mehr oder weniger erfolgreich zu bewegen versteht: »Aber, um die Wahrheit zu
sagen, ging er an diesem Morgen nicht sehr weit, da fast ganz oben auf der Batterie
ein frisch fotokopierter, fünf Seiten umfassender Artikel aus der >Zeitschrift für
Physik< lag, wo sein Student Li Gao ihn am vorherigen Tag gelassen hatte; Chu
konnte seine Aufregung kaum verbergen, als er den Titel wieder las: >Mögliche hohe
Tc Superleitfähigkeit im Be-La-Cu-0-System<.« (Hazen 1989: 24)
,.
314 1 MICHEL GALLON

wir nun, dass Texte weder ein Innen noch ein Außen haben. Vielmehr sind
sie Objekte, welche Kompetenzen, Handlungen und Verbindungen hetero­
gener Entitäten definieren. Somit ist der wissenschaftliche Artikel analog
anderen Texten ein Netzwerk, dessen Beschreibung er kreiert.8

Technische Objekte als Netzwerke

Was ist das für eine sonderbare Alchemie, die uns erlaubt, Gruppen von
Nicht-Menschen in Netzwerke zu transmutieren, die heterogene Akteure
definieren und verbinden? Wie können wir Maschinenwerkzeuge, Explo­
sionsmotoren, Videorekorder, Nuklearanlagen oder automatische Fahr­
scheinautomaten derart behandeln? Eine neue Arbeit aus dem Bereich der
Technosoziologie von Madeleine Akrich und Bruno Latour schlägt vor, ein
technisches Objekt als Handlungsprogramm zu betrachten, das ein Netzwerk
von Rollen koordiniert. Diese Rollen werden von Nicht-Menschen (von der
Maschine selbst und anderen Objekten wie Zubehör und Antriebsquellen)
und >peripheren< Menschen (wie Verkäufern, Konsumenten, Reparaturper­
sonal) gespielt.
In der Praxis fällt es nicht allzu schwer, die den technischen Objekten
innewohnenden Programme oder die Art und Weise, wie deren soziotech­
nische Komponenten handeln, kommunizieren, Befehle erteilen, sich
gegenseitig ins Wort fallen und Protokollen folgen, zu beschreiben. Der
Grund dafür ist, dass die Beschreibungen oder die >Textualisierungen<
alltäglich sind. Technische Objekte sind nicht so dumm, wie wir denken!
So wird in seiner Entwurfsphase der Charakter eines Objekts endlos
diskutiert:9 Wie wird es aussehen? Was wird es tun? Wofür wird es ver­
wendet werden? Welche Kompetenzen brauchen seine Benutzer? Welche
Instandhaltung erfordert es?
Ein solches Gespräch ist heterogen. Tatsächlich verwandeln sich Inge­
nieure genau in jenen Phasen, in denen sie am meisten mit technischen
Problemen befasst sind, selbst in Soziologen, Ethiker oder Politiker. Soll
ein Auto einfach als ein simples und wirtschaftliches Transportmittel
behandelt werden? Oder soll es unterdrückte Wünsche nach einem auffäl-

8 1 Die Äquivalenz zwischen Texten und den Netzwerken, die sie beschreiben,
ist peinlich genau in die Wissenschaftssoziologie eingeführt worden. Dabei ist be­
sonders zu beachten, dass Texte sowohl Diagramme, Labornotizen, Patente, Benut­
zerhandbücher, Kataloge als auch Marktstudien einschließen (zur Analyse von Pa­
tenten vgl. Bowker 1989). Man berücksichtige ebenfalls, dass die Bedeutung wissen­
schaftlicher Texte im Wirtschaftsleben immer mehr zunimmt. Tatsächlich könnte
ein Großteil ökonomischer Aktivität als die Umwandlung von wissenschaftlichen
Texten in marktfähige Waren beschrieben werden!
9 1 Siehe z.B. Callon/Latour (1981), Latour/Coutouzis (1986), Akrich/Callon/La­
tour (1987), Law/Callon (1988) und die Beiträge von Clegg/Wilson (1991).
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 315

ligen Konsumverhalten erfüllen (Callon 1987)? Sollte Benutzern erlaubt


werden einzugreifen, wenn eine fotoelektrische Lichtanlage defekt ist oder
sollte sie hermetisch versiegelt werden, um Schaden durch Amateure zu
verhindern (Akrich/Callon/Latour 1987)? Antworten auf diese Fragen -
Fragen über das Design - sind sowohl technischer wie sozialer Natur. Sie
implizieren Entscheidungen über die Definition und Verteilung von Rollen
zwischen dem Objekt und seiner Umgebung. Die Definition eines Objekts
ist auch die Definition seines soziotechnischen Kontexts: Zusammen addie­
ren sie sich zu einer möglichen Netzwerkkonfiguration. Da gibt es weder
ein >Innen< noch ein >Außen<.
Eine derartige >Textualisierung< gibt es auch in der Lehrlingsausbil­
dung. In diesem Fall beschreibt der Ausbilder die Wirkungsweise eines
Objekts: Das ihm inskribierte Netzwerk wird aufgezeigt und untersucht.
Welches sind die Verbindungen zwischen technischen Objekten? Welche
Rollen spielen die Menschen? Vielleicht beobachten sie ein Schleusentor
und drücken einen Hebel oder sie beobachten den Bildschirm und klicken
die Maus? Auf diese Weise wird eine Maschine interpretiert, dekonstruiert
und wieder in ihren Kontext eingefügt, jedoch möglicherweise nicht auf die
vom Konstrukteur beabsichtigte Weise. Die schriftlichen Spuren derartiger
Versuche, Objekte in Worte zu fassen, können überall gefunden werden,
ebenso die Kontroversen, zu welchen sie Anlass geben.10 Kodierungen,
Checklisten, Instandhaltungshandbücher und Benutzerhandbücher beglei­
ten die Objekte auf ihren Reisen (Akrich/Boullier 1992); manchmal sind
Texte in den Maschinen selbst inskribiert. Solche Texte schreiben Men­
schen Kompetenzen zu - die Fähigkeit, verschiedenfarbige Signale wahr­
zunehmen oder Beschriftungen zu lesen, die mit »on/off«, »record« oder
»play« gekennzeichnet werden. Hier kommandieren Maschinen menschli­
che Wesen herum, indem sie mit ihren Körpern, ihren Gefühlen oder
ihren moralischen Reflexen spielen (Latour 1988)."

10 1 In gleicher Weise gibt es >Textualisiemng<, wenn Objekte Kontroversen her­


vorrufen - d.h. explizite, aber widersprüchliche Netzwerkstrukturen. Rivalisierende
Beschreibungen und Beschuldigungen sind eine chaotische Mischung aus Techni­
schem und Sozialem: Es gibt genauso viele widersprüchliche Interpretationen einer
strittigen Nuklearanlage wie von Baudelaires »Les Fleurs du Mal«. Technische Ob­
jekte sind weder mehr noch weniger transparent oder undurchsichtig als Literatur.
Sofern das 19. Jahrhundert als das Zeitalter der Literaturkritik gelten kann, wird das
21. Jahrhundert das Zeitalter der >Technikkritik< sein, in dem wir die Netzwerke, die
in Artefakten zusammengefügt wurden, entschlüsseln und kommentieren.
111 Beispiele können sein: der Wecker, der läutet, auf einen verbalen Befehl hin
aufhört und dann wieder beginnt und läutet, bis der Knopf gedrückt wird; die Ket­
ten, die den Maschinisten daran hindern, das Mahlwerk loszulassen; die »Totmann­
kurbel« (SIFA-Schalttaste) in einer Lokomotive; das Fernsehbild, das eine Geste der
Solidarität heraufbeschwört.
316 1 MICHEL GALLON

Kurz: Artefakte sind nicht die rätselhaften und unnahbaren Objek­


te, auf die sie oft reduziert werden. Wenn sie in Kontakt mit ihren Benut­
zern kommen, werden sie auf einer Welle von Texten getragen, welche die
Klippen der Textualisierungen bezeugen, die ihr Design und ihre Ver­
schiebung begleiteten (Akrich 1989a). Technische Objekte definieren und
verteilen auf diese Art mehr oder weniger explizit die Rollen an Menschen
und Nicht-Menschen. Wie Texte verknüpfen sie in Netzwerken Entitäten in
einer Art und Weise miteinander, die dekodiert werden kann.

Kompetenzen als Netzwerke

Verkörperte Kompetenzen können auch als Netzwerke von Entitäten be­


handelt werden. Manchmal können Menschen als Netzwerke aus >rein
sozialem< Fleisch und Blut betrachtet werden: Vielleicht ist dies das Bild,
das Headhunter von der Menschheit haben. Häufiger jedoch wird ange­
nommen, dass sie technische Kompetenzen verkörpern. Auf diese Art
bringt ein >reiner< Techniker wie beispielsweise ein Computerprogrammie­
rer oder ein disziplinierter Produktionsarbeiter Gruppen von Nicht-Men­
schen dazu, ihre Rollen zu spielen. Andere Kompetenzen entfalten sich
innerhalb eines >reinen< Universums kodifizierter Texte (z.B. dem der
Bürokraten oder Buchhalter) oder finanzieller Instrumente. Wiederum
verschwindet die Trennung zwischen Kontext und Inhalt. Es ist keine
Beschreibung von Kompetenzen möglich, außer wenn die Netzwerke von
Menschen, Texten und Maschinen, innerhalb derer man sie sich entfalten
und arbeiten lässt, wiederhergestellt werden (Cambrosio/Limoges/Hoff­
mann 1992; Mustar 1989). Eine Kompetenz zu beschreiben kommt somit
einer Beschreibung ihres Kontextes gleich.

Geld als Netzwerk

Traditionsgemäß wird Geld als eine Wertreserve und ein Instrument des
Austausches interpretiert. Als ein Instrument des Tausches verlangt es eine
Gegenleistung12 und ein minimales, aber essentielles Entgelt in Form von
Information. Dementsprechend konstituiert es den Käufer und Verkäufer
und bestimmt das Ausmaß ihrer gegenseitigen Verpflichtung - eine Be­
ziehung, die in den Wirtschaftswissenschaften erforscht und analysiert
wird. Die Beziehung zwischen Geld und Gegenleistung ist jedoch noch
eindeutiger in Bezug auf die Wertreserve oder im Rahmen öffentlicher
oder privater Finanzierungen (Aglietta/Orlean 1982). Wird beispielsweise
die Forschung durch Risikokapital finanziert, basiert dies auf einem Hand­
lungsprogramm, das als Gegengewicht zum Darlehen wirkt. In diesen

12 1 Semiotisch betrachtet könnten wir sagen, dass eine Rückkehr vom Empfän-
1: I ger zum Sender stattfindet
111
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 317

Fällen ist das Geld textualisiert, d.h. übersetzt in Aufträge, Indikatoren und
Empfehlungen. Diese definieren und verbinden einen Bereich von hetero­
genen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren: Kooperiere mit X
von der ICI und Y vom Labor Z, um eine kritische Temperatur von 150
Grad Kelvin zu erreichen, und du wirst ein Darlehen von x Dollar erhalten.
In diesem Fall bilden die Vermittler wiederum ein Netzwerk von Rollen.

Von reinen zu hybriden Vermittlern

Es handelt sich dabei um Grenzfälle. In der Praxis ist die Welt voll von
hybriden Vermittlern. Nirgends trifft dies mehr zu als für die Texte, die
andere Klassen von Vermittlern begleiten. In diesen Fällen betreten wir
eine Zivilisation von Inskriptionen, die alle Formen von Vermittlern bein­
haltet. Die weite Verbreitung von Texten bedeutet eine Stärkung der
Gleichwertigkeit von Netzwerken und Vermittlern; sie wird legitimer,
expliziter und vermehrt zum Gegenstand der Herausforderung. Je mehr
man liest, desto mehr verbindet man,'3 und umso wichtiger ist es, zu
verhandeln und Kompromisse zu schließen.
Menschliche und nicht-menschliche Hybriden sind jedoch nicht weni­
ger invasiv. Es ist tatsächlich zunehmend schwierig, zwischen Menschen
und Nicht-Menschen zu unterscheiden. Zum Beispiel gibt es Systeme
verteilter Intelligenz, die Computer, die Programmierer brauchen, und
Programmierer, die Computer mobilisieren, mit einer Hingabe durchein­
ander bringen, die Rene Girard das Fürchten lehren könnte. Wer verhan­
delt mit wem? Was impliziert was? Wer ist der Akteur und folgt nur? Dies
sind offene Fragen.
Unreinheit ist dann die Regel. Nirgends ist dies sichtbarer als im
Dienstleistungssektor.'4 Das durch »Club Med«, »Cap Sogeti« oder CISI
verkaufte Produkt ist eine Mischung aus Menschen und Nicht-Menschen,
Texten und Finanzprodukten, die in einer genau koordinierten Abfolge
zusammengesetzt worden sind. Denken Sie an die Voraussetzungen, die
notwendig sind, damit Herr Schmid in der Lage (und willens) ist, seine
Ferien am Ufer des Ranguiroa-Sees zu verbringen und sich anzusehen,
wie sich die Barrakudas mit den sonnengebräunten Körpern seiner Mit­
menschen vermischen. Computer, Legierungen, Düsentriebwerke, For­
schungsabteilungen, Marktstudien, Werbung, Empfangshostessen, Ein­
heimische, die ihren Wunsch nach Unabhängigkeit unterdrückt und
gelernt haben, lächelnd Gepäck zu tragen, Darlehen und Wechselstuben -

13 1 Wortspiel im Originaltext mit »lit« (gelesenen) und »lic« (Verbindungen)


[Anm. d. Hg.].
14 1 Anzumerken ist, dass der unreine Dienstleistungssektor für die Wirtschaft
als Ganzes immer wichtiger wird.
318 1 MICHEL CALLON

dies alles und vieles andere mehr musste auf dieses eine Ziel hin gruppiert
werden.
Der Vermittler, welcher Herrn Schmid mit den (anfangs unwahrschein­
lichen) Träumen und Interessen eines Pauschalreiseveranstalters verbin­
det, ist wirklich monströs und kompliziert. Aber grundsätzlich arbeitet er
wie andere Vermittler. Wenn Herr Martin eine Gabel verwendet, um Kar­
toffeln zu zerquetschen, ist dies nur ein anderer (wenn auch einfacherer)
Vermittler. Wie sein komplexerer Vetter teilt er ihm eine Rolle zu - die
Rolle eines menschlichen Wesens mit einer Anzahl von Optionen und
Rechten. Also ist das, was am Ende der Kette liegt, in beiden Fällen glei­
chermaßen leicht zu beschreiben. Die Komplexität des Vermittlers selbst
ist irrelevant.'5

Das Dekodieren von Vermittlern

Ich habe zu zeigen versucht, dass Akteure mehr oder weniger klar und
übereinstimmend ihre Netzwerke beschreiben. Das heißt, sie beschreiben
eine Ansammlung von menschlichen und nicht-menschlichen, individuel­
len und kollektiven Entitäten. Diese sind durch ihre Rollen, ihre Identitäten
und ihre Programme definiert, die alle von den Beziehungen abhängen,
die sie eingehen. Mein Argument hat zwei Folgen: Die erste hat mit der
entscheidenden Rolle zu tun, die Vermittler spielen, indem sie sozialen
Verbindungen Form, Existenz und Konsistenz verleihen. Ich will damit
sagen, dass Akteure sich gegenseitig durch ihre Vermittler definieren, die sie in
Umlauf setzen. Die zweite ist methodologischer Natur, d.h. das Soziale kann
in den Inskriptionen gelesen werden, welche die Vermittler markieren.
Zur Zeit der Renaissance wurde das große Buch der Natur immer und
immer wieder gelesen. Nun müssen wir die literarische Metapher erwei­
tern. Unser Anliegen sollte sein, die vielen Vermittler lesen zu lernen, die
durch unsere Hände gehen: Artefakte, Texte, disziplinierte Körper und
kaltes Geld. Soziologie ist einfach eine Erweiterung der Inskriptionswis­
senschaft, die nun ihren Rahmen erweitern sollte, um nicht nur die Akteu­
re, sondern auch die Vermittler einzuschließen, mittels derer sie sprechen.

Akteure

Ich will den Begriff zunächst folgendermaßen definieren: Als Akteur gilt
jede Entität, die fähig ist, Texte, Menschen, Nicht-Menschen und Geld zu
assoziieren. Dementsprechend ist all das eine Entität, was mehr oder weni­
ger erfolgreich eine von anderen Entitäten mit eigener Geschichte, Identi­
tät und Wechselbeziehungen gefüllte Welt definiert und aufbaut. Diese

15 1 Weiterhin können die Produktion von ,materiellen, Objekten und >nicht-ma­


teriellen, Dienstleistungen in derselben Terminologie beschrieben werden.
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 319

Anfangsdefinition deutet an, dass Vermittler und Akteure Synonyme sind.


Ein wissenschaftlicher Text versucht beispielsweise, einen Leser mit den
Kompetenzen zu versehen, die notwendig sind, um das im Papier be­
schriebene Netzwerk zu mobilisieren, zu festigen oder zu transformieren.
Wenn etwas auf diese Weise handelt, ist es ein Akteur.'6 Dasselbe gilt
auch für andere Vermittler. Analog den Vermittlern können Akteure
hybrid sein. Sie können ein Kollektiv darstellen, müssen es aber nicht. Sie
können die Form von Gesellschaften, Vereinigungen von Menschen und
Vereinigungen von Nicht-Menschen annehmen.'7 In dieser Ontologie
haben Akteure sowohl einen variablen Inhalt als auch eine variable Geome­
trie.
Natürlich sind Akteure nicht immer erfolgreich. Ein Artikel kann die
richtigen Leser nicht finden oder falsch konstruiert sein, eine Maschine
kann durchrosten, eine verkörperte Kompetenz kann keinen Arbeitgeber
finden, ein Antrag auf ein Stipendium kann abgelehnt werden usw. Die
Handlungsbefehle sind in Vermittlern inskribiert.'8 Wenn nichts gesagt

16 1 Dies ist mit dem Konzept des Sprechaktes (Austin 1970) und des Textaktes
(Coleman 1988) verbunden. Es gibt viele Beispiele für Texte, die ständig Handlun­
gen auslösen: Ein unterschriebener Scheck führt zu einem Übertrag von einem
Konto zu einem anderen; eine Unterschrift unter einem notariellen Dokument öff­
net einem neuen Bewohner die Wohnungstüren; ein Klick mit der Computermaus
startet einen Drucker.
17 1 Es ist sehr selten, Gruppen von Menschen ohne Nicht-Menschen zu finden.
Ein Nicht-Mensch fügt sich fast immer zwischen zwei Körper ein. Selbst eine un­
vermittelte Interaktion zwischen zwei Körpern - ein reiner Verband von Menschen
-, welcher in der Realität nur im Sexualakt eintritt (und dann oft in der Gegenwart
von Kondomen, welche den kleinen Faktor/Vermittler AIDS-Virus in Betracht zie­
hen), kann Anlass zu widersprüchlichen Bezichtigungen geben. Ist die andere Per­
son einfach ein Gefäß für Triebe ohne Gewissen? Ist sie/er nur ein treuer Vermittler
seiner oder ihrer Gene? Oder sollte einer der Partner die Kontrolle dem Anderen
übergeben und den Akt in eine Liebeserklärung verwandeln? Wer kann diese
schwierige Frage definitiv beantworten? Wer kann sagen, wo der Akteur ist?
18 1 Die hier erörterten Vermittler schließen Texte, technische Objekte, Körper
oder Geld ein. Eine allgemeine Netzwerktheorie würde jedoch alle möglichen Ver­
mittler - von der freien Assoziation eines Patienten auf der Couch seines Analyti­
kers über eine geflüsterte Beichte und die dazugehörige Buße bis zu den Anklagen
eines Azande-Zauberers - einschließen. Alle sind Vermittler, alle Basis für Kom­
munikation, und alle organisieren Netzwerke und verbinden ihre Bestandteile. Die
alte Frau, die einem müden Priester zum x-ten Mal dieselbe Liste von Sünden wie­
derholt, trägt zu einer mit Menschen und Nicht-Menschen bevölkerten Welt bei. Es
gibt Priester, die verzeihen; Götter, Heilige und Engel, die lieben, bestrafen oder er­
lösen; es gibt Satan, der in Versuchung führt, und es gibt Nachbarn, die einwilligen,
das Objekt guter oder schlechter Taten zu sein.
320 1 MICHEL CALLON

oder inskribiert ist (ich habe behauptet, dass inerte Materie gesprächig ist),
dann handelt nichts. Eine Handlung arbeitet via Zirkulation von Vermitt­
lern. Diese übertragen unermüdlich Nachrichten, welche (im doppelten
Sinne des Worts) die Netzwerke beschreiben, in denen sie inskribiert sind.
Weshalb brauchen wir noch die Vorstellung von Akteuren? Weshalb be­
gnügen wir uns nicht einfach mit den Vermittlern?
Die Antwort hat mit Urheberschaft zu tun. Alle Interaktionen schließen
eine Methode ein, um den Autoren Vermittler zuzuschreiben. Tatsächlich
ist die Urheberschaft oft in den Vermittlern selbst inskribiert. Wissen­
schaftliche Artikel werden signiert und technische Objekte mit einem
Copyright versehen. Verkörperte Kompetenzen werden dem Körper oder
dem Subjekt zugeschrieben. Damit will ich ausdrücken, dass ein Akteur
ein Vermittler ist, der andere Vermittler in Umlauf setzt.'9 Somit ist ein
Akteur ein Autor. Allerdings ist die Zuschreibung der Autorschaft, analog
allen anderen Behauptungen oder Andeutungen, die von Vermittlern ge­
macht werden, kontrovers und offen für Zweifel oder Fragen.
Bei einer solchen Definition ist ein Akteur eine Entität, welche die letzte
Generation von Vermittlern übernimmt und sie transformiert (kombiniert,
mischt, verkettet, degradiert, berechnet, antizipiert), um die nächste Gene­
ration zu schaffen. Wissenschaftler transformieren Texte, experimentelle
Apparate und Stipendien in neue Texte. Firmen kombinieren Maschinen
und die ihnen innewohnenden Kompetenzen mit Gütern und Konsumen­
ten. Im Allgemeinen sind Akteure jene, die Vermittler planen, entwickeln,
in Umlauf bringen, aussenden oder aus dem Umlauf nehmen. 20 Die
Trennung zwischen Akteuren und Vermittlern ist eine rein praktische
Angelegenheit2' Ist eine Gruppe ein Akteur oder ein Vermittler? Ist ein

19 1 Man stelle sich vor, die Patientin auf der Couch des Analytikers oder der
reuige Sünder im Beichtstuhl denken nicht mehr daran, werden nicht mehr länger
als die Autoren ihrer oder seiner Taten betrachtet (dies ist völlig plausibel: Psycho­
analyse löst die Person in eine Serie von Autoren auf und Exorzismus versucht, die
Einflussnahme Satans aufzudecken). In diesem Zusammenhang verschiebt sich die
Vermittlung. Die Patientin wird zum Medium, durch das sich das Unbewusste aus­
drückt, ein Set von zu entschlüsselnden Symptomen. Der reuige Sünder ist des frei­
en Willens beraubt und vom Teufel besessen.
20 1 Die Liste von möglichen Vermittlern, Kombinationen, Handlungen und Ko­
inzidenzen ist endlos.
21 1 Die konventionelle Ökonomie der Konventionen, die soweit gegangen ist,
das Grundmodell der Ökonomie zu unterhöhlen, hält plötzlich inne, wenn sie mit
dem Akteur konfrontiert wird. »Die Autoren dieses Beitrags stimmen darin überein,
dass die durch gemeinsame von allgemeinen Konventionen gespielte Rolle nicht zu
einer Preisgabe der Prinzipien des methodologischen Individualismus führen sollte.
Nur Leute können Akteure sein, ungeachtet dessen, ob sie als Mitglieder einer
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 321

Akteur eine Kraft zur Erhaltung oder zur Transformation? Die Antwort hat
nichts mit Metaphysik, Ontologie oder den Menschenrechten zu tun; viel­
mehr handelt es sich um Empirie. 22
Betrachten sie beispielsweise den Fall eines Kernkraftwerkes. Dies ist
eine hybride, monströse Gruppe, welche die Interaktion zwischen Graphit­
stäben, Turbinen, Atomen, Betreibern, Kontrolltafeln, Blinklichtern, Be­
tonplatten und Ingenieuren reguliert. Sollten wir dieser Gruppe das Recht
verweigern, ein Akteur zu sein? Sie verwandelt alles, womit sie gefüttert
wird. Akten, Rechnungen, Treibstoff, Wasser, Kompetenzen und Budget­
vorgaben werden in zu Verbrauchern transportierte Elektronen, in an
lokale Verwaltungen gezahlte Steuern und Abfallprodukte verwandelt, die
wiederum zur Bildung verärgerter Umweltschutzgruppen führen. Sicher
handelt es sich um ein Netzwerk. Handelt es sich jedoch wirklich um einen
Akteur, sofern man annimmt, dass wir es nur mit einer Black Box zu tun
haben, die bekannte Inputs in programmierte Outputs konvertiert?
Die Frage ist empirischer Natur. Gilt der Betrieb als Autor der Vermitt­
ler, die er in Umlauf setzt? Die Antwort ist ja, aber nur manchmal. Auf
diese Art wird der Betrieb oft als eine simple Verbindung in einer Kette
betrachtet, welche sich vom Benutzer zum erzeugenden Unternehmen
erstreckt und vielleicht darüber hinaus bis zu den schrecklichen ,Nukleo­
kraten<, die ihn ausgedacht und geplant haben. In diesem Fall durchlaufen
die Akteure den Betrieb, ohne anzuhalten. Die Menschen, die dort tatsäch­
lich wie Turbinen, Isotope, Abfallpumpen und Kühlkreisläufe arbeiten und
mit denen sie interagieren, verschwinden in tiefste Nischen. Andererseits
wird der Betrieb für bestimmte Zwecke von allem Außenstehenden sorg­
fältig abgegrenzt - und zu einem Autor. Einige bezweifeln beispielsweise
seine Zuverlässigkeit und Sicherheit oder die Fähigkeit der Operatoren, das
erforderliche Konzentrationsniveau aufrechtzuerhalten.
Hier besteht nun eine Ambiguität. Manche behandeln die Gruppe als
einen Vermittler, der mit anderen, hinter ihm stehenden Akteuren, die ihn
in Umlauf bringen, gruppiert ist. Andere behandeln die Gruppe als einen
speziellen Akteur, der unerwartete und unprogrammierte Sequenzen und
Verbände einführt. Diese Ambiguität ist der Grund für Kontroversen,
deren Intensität natürlich von den Umständen abhängt. Als sich die Wol­
ken von Tschernobyl über Europa ausbreiteten, um die Rentiere in Lapp­
land und die walisischen Schafe gleichermaßen zu kontaminieren, wurde
die Anlage vom Vermittler zum Akteur. Formulierungen, die Technik als
eine unkontrollierte und autonome Kraft darstellten - als einen eigenstän­
digen Akteur (Ellul 1964; Winner 1977, 1986) - gewannen die überhand

Gruppe oder einer Institution oder in der Ausübung einer Funktion als Vertreter

l
einer Gruppe betrachtet werden.« (Dupuy 1989)
' 22 1 Die Tatsache, dass menschliche Körper eine Klasse von Vermittlern darstel­
len, bedeutet nicht, dass sie nicht auch Akteure sind!
322 1 MICHEL GALLON

über jene, die sie als ein Instrument oder Werkzeug betrachteten. Somit
können bereits minimale Änderungen Vermittler in Akteure oder Akteure
in Vermittler zurückverwandeln. Es ist eine Frage der Betrachtungsweise.
Entweder richtet man sein Augenmerk auf die Gruppe selbst und geht von
dort aus weiter, so erhält man einen Akteur. Geht man jedoch durch sie
hindurch in das dahinter liegende Netzwerk, so erhält man einen einfa­
chen Vermittler. 23

Netzwerke

Alle Gruppen, Akteure und Vermittler beschreiben ein Netzwerk; sie iden­
tifizieren und definieren andere Gruppen, Akteure und Vermittler, mit­
samt den Beziehungen, die sie zusammenbringen. Sofern solche Beschrei­
bungen eine Zuschreibung der Autorschaft einschließen, emergieren die
Akteure an den Haltestellen, Asymmetrien oder Falten (Deleuze 1989).
Das Netzwerk der Vermittler jedoch, das der Akteur nach Verhandlungen
und Transformationen akzeptiert, wird andererseits auch von diesem
Akteur transformiert. Es wird in ein Szenario umgewandelt und trägt die
Unterschrift seines Autors, der nach Akteuren sucht, die bereit sind, ihre
Rollen zu spielen. Weil ein Akteur auch ein Netzwerk ist, spreche ich von
Akteur-Netzwerken.
Wie können unterschiedliche Akteur-Netzwerke, die a priori keinen
Grund haben, miteinander kompatibel zu sein, jemals Einigung erreichen?
Was geschieht, wenn einer die Definition des anderen nicht akzeptiert oder
sich zwei Akteur-Netzwerke über die Natur eines Dritten nicht einigen
können? Wie ist es möglich, dass manchmal Vereinbarungen zustande

23 1 Diese Definition lässt eine Anzahl unliebsamer Fragen ungelöst, insbeson­


dere die der Unterscheidung zwischen Menschen und Nicht-Menschen, welche die
so genannten Humanwissenschaften verfolgt hat und weiterhin beschäftigt. Ein
gutes Beispiel - das die Form der Furcht vor dem großen bösen Wolf annimmt -
kann bei Bourdieu gefunden werden, der schreibt: »Es genügt, daran zu denken,
was geschehen würde, sofern wie in einer Fabel Hunden, Füchsen und Wölfen ein
eigenes Mitspracherecht bei der Klassifizierung der Gattung >Hund< eingeräumt
würde.« (Bourdieu 1982) Wie verschiedene Autoren (vgl. Law 1991) implizieren,
kann mittels der üblichen Unterscheidung zwischen Menschen und Nicht-Men­
schen sowie Lebenden und Nicht-Lebenden die Unterscheidung zwischen Akteuren
und Vermittlern nicht getroffen werden. Menschliche Wesen werden genauso oft
auf den Status von Vermittlern ,reduziert<, wie Nicht-Menschen zur Würde von Ak­
teuren erhoben werden (wenn juristischen Personen und unbelebten Objekten
Rechte gewährt werden). Im Prinzip sind alle Konfigurationen möglich, obwohl
Konventionen und Gesetzgebungen die Rechtmäßigkeit einiger Zuschreibungen
einschränken.
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 323

kommen und diese Vereinbarungen sogar Bestand haben? Die Antwort auf
diese Fragen hat mit Konvergenz und Irreversibilisation zu tun. Bevor ich
jedoch diese Fragestellungen diskutiere, will ich zunächst die elementaren
Beziehungen zwischen Akteuren während des Übersetzungsprozesses
erläutern. 4
2

Die Übersetzung

A übersetzt B. Diese Aussage ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass A


B definiert. Es ist unwichtig, ob B eine menschliche oder nicht-menschli­
che Entität, ein Kollektiv oder ein Individuum ist. Es wird auch nichts über
den Status von B als Akteur ausgesagt. B könnte mit Interessen, Projekten,
Wünschen, Strategien, Reflexen oder Bedenken ausgestattet sein. Die Ent­
scheidung liegt bei A, obwohl dies nicht bedeutet, dass dieser totale Frei­
heit hat. Wie A handelt, hängt von den früheren Übersetzungen ab. Diese
können das Folgende bis zur Determinierung beeinflussen. Methodolo­
gisch wichtig ist, dass der Beobachter keine Zensur ausüben sollte. Sie/er
sollte all die Übersetzungen sammeln und keine a priori zurückweisen. Es
sollte vermieden werden, zwischen solchen, die vernünftig erscheinen, und
anderen, die als phantastisch oder unrealistisch betrachtet werden, zu
trennen. Alle Entitäten und Beziehungen zwischen diesen Entitäten sollten
beschrieben werden, da sie in ihrer Gesamtheit den Übersetzer ausma­
chen.
Deshalb impliziert die Idee einer » Übersetzung« eine Definition. Aber
Definitionen sind in Vermittlern inskribiert (wir spielen hier nicht mit
Idealismus oder Psychologismus), die in vielen Formen vorkommen.
Dementsprechend ergibt es wenig Sinn, von einem Übersetzungsprozess
>im Allgemeinen< zu sprechen. Wir müssen das Medium, d.h. das Material
definieren, worin sie inskribiert ist: Diskussionen am runden Tisch, öffent­
liche Erklärungen, Texte, technische Objekte, verkörperte Kompetenzen,
Währungen - die Möglichkeiten sind unerschöpflich. Dennoch ist die
Grundoperation des Übersetzungsprozesses dreigestaltig: Sie umfasst
einen Übersetzer, das übersetzte und ein Medium, worin diese Überset­
zung inskribiert ist.25
Übersetzungsprozesse können sich mit der Zeit ändern. Manchmal
sind sie das Produkt eines Kompromisses und einer gegenseitigen Anpas­
sung, die durch eine Serie von Wiederholungen ausgehandelt worden sind
(Akrich/Callon/Latour 1987). Sind sie in Texte, Maschinen, körperliche
Kompetenzen oder ähnliches eingegliedert, unterstützen sie diese und

24 1 Zur Diskussion der Übersetzung vgl. Callon (1976, 1980, 1986, 1989), Cal­
lon/Law (1982), Latour (1984), Law (1986).

l
25 1 An anderer Stelle habe ich die Vermittler als Übersetzungs-Operatoren oder
Techniken des »Inter-esses« beschrieben.
324 1 MICHEL GALLON

werden zu ihren mehr oder weniger treuen Ausführungsorganen. Im


Extremfall kann dies ein isolierter und homogener Vermittler sein, aber
genauso gut eine hybride Kaskade von Vermittlern mit artikulierten Rollen,
Verbindungen und Rückkopplungsschleifen zwischen den Akteuren. In
beiden Fällen fokussiert die Beschäftigung mit Übersetzung auf den Pro­
zess gegenseitiger Definition und Inskription und erweitert mit Sicherheit
die traditionelle Definition von Handlung.

Das Netzwerk

Die Natur der Beziehung zwischen Akteuren und ihren Netzwerken ist nie
endgültig geklärt. Vereinigen sich zwei Übersetzungsprozesse, generieren
sie einen dritten, der Gruppen zusammenbringen kann, die sonst getrennt
geblieben wären. Der Beobachter darf jedoch nicht die Position eines der
Akteur-Netzwerke übernehmen, denn Netzwerke werden aus der Aggrega­
tion und Komposition aller relevanten, mehr oder weniger kompatiblen
Akteur-Netzwerke gebildet. Hinter der Heterogenität finden wir Textuali­
sierungen, die manchmal übereinstimmen. Manchmal ist es möglich, Ver­
bindungen herzustellen; in diesem Prozess müssen wir die Kommensurabi­
lität suchen, nicht in den kognitiven Fähigkeiten der Akteure.

Konvergenz

Nachdem ich von der Übersetzung gesprochen habe, kann ich mich nun
der Dynamik von Netzwerken zuwenden, d.h. den komplexen Prozessen,
in welchen Akteure und ihre gesprächigen (manchmal indiskreten) Ver­
mittler sich verflechten. In diesem Zusammenhang will ich von Konver­
genz und Irreversibilität sprechen. Konvergenz misst das Ausmaß, in dem
der Übersetzungsprozess und seine Zirkulation von Vermittlern zu einer
Übereinstimmung führen. Gleichzeitig ist sie eine Methode zur Erkun­
dung der Grenzen eines TÖN. Konvergenz hat zwei Dimensionen: Grup­
pierung und Koordination.

Gruppierung
Beim elementaren Übersetzungsprozess werden zwei Objekte durch einen
Vermittler definiert. Der Bereich, in dem diese Definition angenommen
und ausgeführt wird, variiert jedoch. Manchmal entstehen Kontroversen,
Konflikte, und die Übersetzung wird als Verrat zurückgewiesen, wie das
italienische Wortspiel »traduuore - traditore« veranschaulicht. Wir finden
Arbeiter, die die von der Maschine für sie definierte Rolle nicht spielen
wollen; Verbraucher, die Zweifel an der Qualität und am Wert eines Pro­
dukts haben; Wissenschaftler, die die Argumente ihrer Mitautoren nicht
akzeptieren; Schuldner, die die mit einem Darlehen verbundenen Bedin­
gungen zurückweisen; Elektronen, die sich weigern, von einer Elektrode zu

1
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 325

einer anderen zu wandern. Des Weiteren finden wir Akteure, die den
Charakter ihrer Autorschaft leugnen oder neu interpretieren: »Ich sprach
nur über das Erinnerungsvermögen des Wassers, um Ihre Neugier zu
wecken. Ich meinte es nicht wirklich ernst.«
Uneinigkeiten variieren in ihrem Ausmaß. Sie können auf einen Ak­
teur oder einen Vermittler fokussiert sein. Sie können zu offener Kontro­
verse oder einfach zum Verzicht führen; sie können überwunden werden
oder auch nicht. Ein Übersetzungsprozess, der allgemein akzeptiert wird,
tendiert jedoch dazu, seine Geschichte abzulegen. Er wird offensichtlich
und damit zu einer Angelegenheit, der jeder zustimmen kann. Es gibt
Empathie, die perfekte Information, die ohne Schwierigkeit mit dem von
Austin beschriebenen unerschütterlichen Glück zirkuliert. Zwischen
diesen Extremen liegen all jene in der Spieltheorie ausgezeichnet beschrie­
benen Situationen, in denen sich jeder Spieler an die Stelle des anderen
platziert; durch eine Serie von Wiederholungen kommen sie zu einem
möglichst stabilen Schluss. Ein erfolgreicher Übersetzungsprozess gene­
riert auf diese Weise einen mit anderen geteilten Raum, Äquivalenz und
Kommensurabilität; er gruppiert. Ein erfolgloser Übersetzungsprozess
bedeutet jedoch, dass die Spieler nicht mehr länger in der Lage sind zu
kommunizieren. Durch einen Prozess der Nicht-Gruppierung rekonfigu­
rieren sie sich selbst in separaten Räumen ohne gemeinsamen Nenner.
Also fließen Übersetzungen durch Vermittler durch den Raum und wer­
den gleichzeitig von ihnen dort gehalten.26
Bei einem >perfekten Übersetzungsprozess< sprechen A und B in iden­
tischer Weise über sich, über einander und über den Vermittler, der sie
verbindet. Es gibt totale Äquivalenz ohne jegliche Mehrdeutigkeit. Je weiter
man sich von einer solchen Übereinstimmung entfernt, desto größer
werden die Differenzen und Inkohärenzen. Die Isotropie weicht einem
Zustand voller Diskontinuitäten: Wir bewegen uns von der Harmonie zur
Polyphonie und schließlich zur Kakophonie.
Ein Netzwerk beginnt sich zu formen, sobald drei Akteure durch Ver­
mittler zusammengefügt werden. Grundsätzlich gibt es zwei mögliche
Konfigu rationen:

26 1 Maschinen, menschliche Körper und Texte in ihrer Rolle als Vermittler sind
die Wurzel von Missverständnissen, Uneinigkeit und (erneuter) Versöhnung. Das
Telefon schafft einen gemeinsamen Raum, der ebenso Durkheims Religion wie den
Habitus Bourdieus integriert. Kernkraftanlagen generieren ebenso intensive Kon­
flikte wie alles, was mit Menschenrechten zu tun hat.
326 1 MICHEL CALLON

A------------:�B -------- ----:,;:;;. C

Bei der ersten handelt es sich um Komplementarität, bei der die Beziehun­
gen transitiv sind. Wenn A B übersetzt, welcher C übersetzt, dann über­
setzt A auch C. Bei der zweiten handelt es sich um Substitutabilität, bei
welcher C gleichzeitig durch A und B übersetzt wird. Das Ausmaß der
Gruppierung hängt vom Erfolg der Übersetzungen ab - und im Falle von
Substitutabilität vom Ausmaß, in dem sie einander ähneln.
Dieselben zwei Konfigurationen verbinden sich, um längere Ketten von
Übersetzungen zu bilden; Netzwerke sind - wie komplex sie auch sein
mögen - aus diesen zwei Grundkonfigurationen aufgebaut.27 Wie kom­
plex und weit reichend ein Netzwerk auch sein mag, wir können bestim­
men- wenn auch unter Umständen nur qualitativ-, wie gut seine Grup­
pierung funktioniert. Ein stark gruppiertes Netzwerk ist ein Netzwerk, in
dem die Übersetzungen erfolgreich und (im Falle von Substitutabilität) re­
lativ ähnlich sind. Umgekehrt ist ein schwach gruppiertes Netzwerk eines,
in dem diese Konditionen nicht erfüllt sind.28

27 1 Sie sind nicht nur ein simplifizierender Kunstgriff.


28 1 Auf dem Marktpol werden die Benutzer gruppiert, wenn sie alle ein Stan­
dardprodukt (Substitutabilität) suchen, oder ihre Auswahl wird mechanisch mit je­
nen von Anderen (Komplementarität) verbunden. Die Erstere repräsentiert die in
der neoklassischen Orthodoxie angenommenen Konditionen und die Letztere
kommt dem nahe, was in der Soziologie des Konsums oder in der Ökonomie der
Netzwerkeffekte beschrieben ist. Um die Marktstrukturen zu analysieren, wie sie in
der Ökonomie (der Verbindung zwischen Angebot und Nachfrage) definiert sind,
müssen wir den technischen Pol zu jenem des Markts hinzufügen und seine Hybri­
den erkunden. Dies schafft zusätzliche Konfigurationen, von denen aber nur einige
in der Ökonomie erforscht werden.
p

TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 327

Koordination
Die Zuschreibung der Autorschaft ist ein wichtiger Teil des Übersetzungs­
prozesses. Aber solche Zuschreibungen werden von mehr oder weniger
expliziten und stabilen Regeln oder Konventionen geprägt, die in früheren
Interaktionen produziert worden sind. Wie sehen diese aus?
Erstens gibt es Regeln über die Identität der Akteure. Ist A wirklich ein
Akteur? Hier hat die Angelegenheit mit den Vermittlern zu tun, die A zu­
geschrieben werden können. Die Regeln, die diese Fragen betreffen, er­
strecken sich von schriftlichen Gesetzen bis zu Sitten und Gebräuchen.
Zum Beispiel gibt es gesetzliche Regeln darüber, Produkte auf Unterneh­
men zurückzuführen; es gibt Gesetze, die Erfindern das Recht auf Eigen­
tum ihrer Erfindung versagen können29; des Weiteren gibt es ungeschrie­
bene Konventionen, die jemanden, der ein Forschungsprogramm finan­
ziert, daran hindern, die daraus hervorgehenden Publikationen mit zu un­
terzeichnen.
Zweitens gibt es in vergleichbarer Weise Regeln und Konventionen da­
rüber, bestimmten Akteuren Vermittler zuzuschreiben. Manche von diesen
sind komplex, strittig und nur mit Schwierigkeit durchsetzbar. Es gibt bei­
spielsweise Unternehmen, die als Zivilpersonen auftreten und kommerzi­
elle Warenzeichen verwenden, welche weder das Eigentumsrecht noch die
Vertragsfähigkeit besitzen, um zu fordern, dass der Einzelhändler die
Kundenzahlungen weitergibt. In diesem Fall sind die Mehrdeutigkeiten
enorm (Eymard-Duvernay 1989). Eine Wissenschaftlerin kann zwar einen
Artikel unterschreiben, aber wenn die Signaturen nicht in der richtigen
Reihenfolge sind, wenn das Datum, an dem der Artikel bei der Zeitschrift
eingegangen ist, nicht registriert ist, und wenn es keine Zitationspflicht
gibt, dann ist die Autorschaft der im Papier inskribierten Übersetzung
nicht gesichert.
Drittens gibt es Konventionen darüber, wer in wessen Namen sprechen
kann. Dies ist besonders offensichtlich in der Politik mit ihren vorge­
schriebenen Prozeduren für das Ernennen von Repräsentanten - und auch
in der Industrie, wo es vertragliche und kollektive Vereinbarungen gibt, die
Verantwortungen und Arbeitskonditionen festschreiben. Solche Regeln
können jedoch auch in der Organisation des Marktes gefunden werden, wo
sie die Form von Preiskontrollen, von Methoden zur Regulierung des
durch Staatsmonopole festgelegten Preises und von informellen Netzwer­
ken zur Weiterleitung von Angaben zur Reputation annehmen (Karpik
1989). Des Weiteren können sie in der Wissenschaft gefunden werden: Die
Fähigkeit eines Wissenschaftlers, einen Primaten höherer Ordnung oder
einen Menschen »zu übersetzen«, hängt von einer Reihe von Vorschriften
ab - einem Ethikkodex über zulässige Experimente.

29 1 Diese können dem Unternehmen zugeteilt werden, für das sie arbeiten.
328 1 MICHEL GALLON

Alle diese Konventionen tendieren dazu, das Universum möglicher Ak­


teure auszudünnen, indem sie Zuschreibungen organisieren und die An­
zahl von einfach zu stabilisierenden Übersetzungsprozessen begrenzen.3°
Ich werde diese kodifizierenden Bestimmungen Formen der Koordination
oder übersetzungsregimes nennen.3' Manche sollen Allgemeingültigkeit
haben. Solche Konventionen schließen allgemeine Definitionen ein - zum
Beispiel darüber, was als ein Bürger, als ein offizielles Diplom, als ein ga­
rantiertes Darlehen, als ein technisches Standardobjekt oder als Konditio­
nen zum Erhalt eines Darlehens gelten soll. Andere wiederum sind in ih­
rem Umfang eingegrenzt. Diese greifen auf allgemeinere Konventionen
zurück, sind jedoch bemüht, das Universum der Akteure und Vermittler
mittels Konventionen in Untergruppen einzuteilen, die ausschließlich lokal
gelten.32
Obschon eine solche Unterscheidung abstrakt ist, erweist sie sich als
empirisch sehr sinnvoll. So gibt es viele Bestimmungen, die nur einen be­
schränkten Geltungsbereich haben. Diese beinhalten: Kartellgesetze, kol-

30 1 Die Anwendung und in einem gewissen Maß die Entwicklung und Interpre­
tation dieser Regeln hängt von Gruppen ab, die Antoine Hennion Mediatoren
nennt, welche daran arbeiten, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Ziele zu richten.
Sie können Menschen (Juristen, Notare, Rechtsanwälte, industrielle Grundstücks­
makler), Texte oder technische Objekte sein. Beispielsweise leiten Konzerthallen die
Aufmerksamkeit des Publikums auf den Sänger und wissenschaftliche Zeitschriften
drucken die Namen der Autoren fett. Mediatoren liegen auf halbem Weg zwischen
Akteuren und Vermittlern. Sie ,reichen nicht nur weiter, oder ,senden,, denn sie
greifen auch ein. Die Zuordnung hört bei ihnen jedoch nicht auf. Mediatoren or­
chestrieren die Anerkennung, die einen Akteur von der Menge trennt. Vgl. Hennion
(1989); Hennion/Meadel (1986).
31 1 Der Begriff der Übersetzungsregime ist in etwa den von Boltanski und The­
venot beschriebenen »Naturen« vergleichbar. Die drei Hauptkategorien, die ich un­
terschieden habe, umspannen teilweise ihre sechs Axiome, die eine Skala definie­
ren. Es gibt jedoch mindestens drei wesentliche Unterschiede; erstens sehe ich kei­
nen Grund, eine Apriori-Liste der verschiedenen möglichen Prozesse bereitzustel­
len; zweitens sehe ich keine Notwendigkeit, ideale Typen zu suchen - es kann sein,
dass eine Übersetzung mehr oder weniger homogen und wandelbar ist; und da drit­
tens die Übersetzung allgemeiner als das Regime selbst ist, vermag sie zu erklären,
wie verschiedene Regime miteinander artikuliert sind. Ich brauche weder einen
,Kunstgriff, noch ein ,Rauschen<, um die Konstitution von TÖNs zu verstehen. Ich
sollte noch hinzufügen, dass das Konzept der Übersetzungsregime uns gestattet, die
drei Pole zu differenzieren. Jeder wird von bestimmten Regulierungen und seinem
eigenen Set an Vermittlern geformt.
32 1 Die Unterscheidung entspricht im Allgemeinen Thevenots Begriff »les in­
vestissements de forme« (1985).
,p

TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT J 329

lektive Vereinbarungen in spezifischen industriellen Sektoren, Regeln zur


professionellen Zertifikation, technische Normen für einige ausgewählte
Produzenten und Benutzer, die Entwicklung einer appellation controlee für
Weine, die Gründung von Verbrauchergruppen, die Organisation von Be­
rufsverbänden oder wissenschaftlichen Vereinigungen, das Organisieren
von Trainingskursen für einige Unternehmen und die Schaffung von For­
schungsgesellschaften. Solche Formen lokaler Koordination beruhen oft
auf eher allgemeinen Bestimmungen - zum Beispiel auf Kartellgesetzen.
Aber die Unterscheidung zwischen lokalen und allgemeinen Konventionen
ist nur relativ. Es kann sein, dass allgemeine Konventionen wieder lokal
werden, wenn sie erfolgreich in Frage gestellt und angefochten werden
(Reynaud 1989). Umgekehrt können lokale Formen der Koordination aus­
geweitet werden. So können für einen Sektor geltende Konventionen auf
die ganze Wirtschaft angewendet werden, private Normen können zu öf­
fentlichen werden oder Konditionen für die Garantie eines Kredits allge­
mein übernommen werden. Ich spreche von schwacher Koordination,
wenn ich ein Netzwerk charakterisieren möchte, welches keine ausdrück­
lich lokalen Regeln hat. Umgekehrt spreche ich von starker Koordination,
wenn ich mich auf ein von sowohl lokalen als auch allgemeinen Regeln ge­
formtes Netzwerk beziehe. Im Vergleich zum Ersteren ist das Universum
des Letzteren bezüglich möglicher Übersetzungsprozesse relativ einge­
schränkt und das Verhalten des Netzwerkes relativ voraussehbar.

Konvergenz
Ich werde den Begriff »Konvergenz« verwenden, um mich auf eine Kom­
bination von Gruppierung und Koordination zu beziehen. Je höher der
Grad der Gruppierung und Koordination eines Netzwerkes ist, desto mehr
arbeiten seine Akteure zusammen und desto weniger wird ihr eigentlicher
Status als Akteure in Zweifel gezogen. Dies bedeutet nicht, dass jeder das­
selbe macht, denn Netzwerke schließen normalerweise eine ganze Palette
sich ergänzender Akteure - zum Beispiel Wissenschaftler, Technologen,
Unternehmer, Verkäufer und Kunden - ein. Eher ist dies ein Hinweis auf
die Art und Weise, in der die Aktivitäten von Akteuren trotz deren Hetero­
genität zusammenpassen. Es weist auch darauf hin, wie jeder Akteur in­
nerhalb eines konvergenten Netzwerkes in der Lage ist, die Kompetenzen
dieses Netzwerkes zu identifizieren und zu mobilisieren, ohne in kostspie­
lige Adaptations-, Übersetzungs- oder Entschlüsselungsprozesse verwickelt
zu werden. In einem konvergenten Netzwerk weiß der Verkäufer sofort -
wenn er mit einem verärgerten Kunden konfrontiert wird -, welchen Inge­
nieur er zu rufen und wie er das Problem zu beschreiben hat, damit der
Ingenieur daran arbeiten kann. Zudem weiß der Verkäufer, wie er mit ei­
ner passend umformulierten Version des Problems auf einen Grundlagen­
forscher zuzugehen hat. Die Rückl<0ppelung ist gleichermaßen leicht:
330 1 MICHEL CALLON

Brauchbare Empfehlungen und Vorschläge fließen aus dem Labor zurück


zum Verkäufer.33
Ein völlig konvergentes Netzwerk wäre damit eine Art Turm zu Babel.
Jeder würde seine eigene Sprache sprechen, aber jeder andere würde sie
auch verstehen. Jeder hätte bestimmte Kompetenzen, aber jeder andere
wüsste ebenfalls damit umzugehen. Dies wäre besonders effizient, da so­
wohl auf die Potenz des Kollektivs als auch auf die synthetische Fähigkeit
der Person zurückgegriffen werden könnte. Jeder Akteur wäre in der Lage,
für alle zu sprechen und all die Kompetenzen und Verbindungen im Netz­
werk zu mobilisieren. Das Netzwerk als Ganzes wäre dazu fähig, seine
Bemühungen auf einen ganz bestimmten Punkt zu konzentrieren. Ein sol­
ches Netzwerk ist jedoch ein Grenzfall. Hochgradig konvergente Netzwer­
ke entwickeln sich erst nach langen Investitionsperioden, intensiver Be­
mühung und Koordination.34 Es gibt viele andere Netzwerke, welche nur
schwach konvergent sind, und in denen die Akteure feststellen müssen,
dass einerseits ihr Status konstant in Frage gestellt ist, es anderseits
schwierig (wenngleich nicht unmöglich) ist, andere Teile des Netzwerks zu
mobilisieren.

Grenzen

Die Grenze eines Netzwerkes kann mit seinem Konvergenzpegel in Bezie­


hung gesetzt werden. Dementsprechend möchte ich vorschlagen, dass ein
Element als außerhalb eines Netzwerkes gelegen betrachtet werden muss,
wenn es bei Einbezug ins Netzwerk dessen Gruppierung und Koordinie­
rung, d.h. seine Konvergenz, schwächen würde.35 Dies wirft jedoch eine
weitere Frage bezüglich der Messbarkeit auf: Wie kann man den Grad ei-

33 1 In einem konvergenten Netzwerk wissen die Grundlagenforscher sehr gut,


dass ihre Probleme mit einem Netzwerk von Erwartungen und Nachfragen überein­
stimmen, die über die Mauem des Labors hinausgehen.
34 1 »Betas« Team in der Werkstoffwissenschaft ist der Archetyp eines TÖN. Ei­
nerseits gibt es Benutzer, die ein hitze- und druckwiderstandsfähiges Material su­
chen, welches geklebt und gelötet werden kann; anderseits gibt es strategische For­
schung über die physikalischen Eigenschaften von Materialien. Dazwischen gibt es
Materialien, die dazu da sind, Forschungsbemühungen in generischen Techniken
wie Kleben und Löten sowie Kollaborationen, Bündnisse und den Rest zu veranlas­
sen. Mit anderen Worten gibt es eine Verbindung der Grundlagenforschung mit
dem Benutzer, die durch eine Serie von sorgfältig artikulierten Zwischenstufen
führt (Cohendet et al. 1987).
35 1 Es ist offensichtlich, dass diese Definition nicht derjenigen entspricht, die
bei klassischen Gruppierungsalgorithmen benutzt wird. Diese stellen die Grenzen
von Gruppen als Funktion einer Schwelle in der Intensität der Beziehungen zwi­
schen Elementen dar.
.F

TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 331

ner Konvergenz berechnen? Wie kann man ihr einen numerischen Wert
geben? Wie kann man in der Praxis die Grenze zwischen Innen und Au­
ßen ziehen?
Diese Fragen hängen von den Methoden zur Identifikation und Be­
schreibung der Übersetzungsprozesse oder der Vermittler ab. Da jeder
Vermittler in Worte oder Texte gefasst werden kann, müssen wir uns prak­
tisch mit der Analyse der mehr oder weniger redundanten Textkörper be­
fassen, die die Akteure, ihre Identitäten und ihre Beziehungen definieren.
In der Praxis ist die entsprechende Messmethode äußerst einfach (obwohl
sie im Hinblick auf eine Computerunterstützung auch anspruchsvoll ist).
Man muss lediglich zählen, wie oft ein bestimmter Übersetzungsprozess
6
in den relevanten Textkörpern oder Textualisierungen inskribiert ist.3
Ein anderes wichtiges Element zur Festlegung von Grenzen betrifft die
Kompatibilität von Übersetzungsregimes. Dies ist nur eine Dimension der
Konvergenz. Es gibt beispielsweise Regeln und Bestimmungen, die den
wissenschaftlichen vom technischen Pol abgrenzen und ihn teilweise au­
tonom machen, aber gleichzeitig die beiden Pole in spezifischer Weise ver­
binden. Sie beinhalten z.B. einen Veröffentlichungsverzug von Ergebnis­
sen, die auf von der Industrie finanzierter Forschung beruhen, das Prinzip
der Nicht-Akzeptanz publizierter Ergebnisse sowie Bestimmungen über
die Patentfähigkeit bestimmter, mittels Gentechnik produzierter Organis­
men.
Schließlich ist es möglich, zwischen langen und kurzen Netzwerken zu
unterscheiden. Lange Netzwerke schließen all die oben beschriebenen Pole
und Vermittler ein; sie erstrecken sich von der wissenschaftlichen Grund­
lagenforschung bis in die >auf Wissenschaft basierenden< Bereiche der In­
dustrie. Kurze Netzwerke reichen nicht so weit. Obschon sie dann und
wann auf industrielle Forschung zurückgreifen können, sind solche Ver­
bindungen weder stabil noch systematisch. Kurze Netzwerke sind somit
um den technischen und den Marktpol organisiert. Der Unterschied liegt
in der Länge des Umwegs, der zu bewältigen ist, um einen Markt zu schaf­
fen oder zu entwickeln, obwohl beide natürlich mit der Koordinierung von
Aktivität zu tun haben (vgl. Gaffard 1989).

Irreversibilität

Ich behaupte, dass der Grad der Irreversibilität einer Übersetzung von zwei
Dingen abhängt:

a) vom Ausmaß, in dem es in der Folge unmöglich ist, zu einem Punkt

36 1 Die »Co-word«-Analyse benutzt diese Art von Berechnung. Vgl. Callon et al.
(1986).
332 1 MICHEL GALLON

zurückzukehren, an dem die Übersetzung lediglich eine unter anderen


war;
b) vom Ausmaß, in dem nachfolgende Übersetzungen geformt und be­
stimmt werden.

Definiert man die Irreversibilität einer Übersetzung auf diese Weise, wird
sie zu einem relativen Sachverhalt, der nur dann gemessen werden kann,
wenn man ihn einem Test unterzieht. Sie ist auch nie endgültig abge­
schlossen: Alle Übersetzungen sind grundsätzlich reversibel, auch wenn
sie als gesichert erscheinen.
Wie kann eine Übersetzung anhaltenden und hartnäckigen Angriffen
konkurrierender Übersetzungsvorgänge standhalten? Wie kann sie solche
Herausforderungen fernhalten? Die Antwort hängt von ihrer Dauerhaftig­
keit und Robustheit ab. Wiederum sind dies relative Eigenschaften. Man
kann sich leicht vorstellen, dass es ein Spektrum an materieller Wider­
standsfähigkeit gibt, das sich von in oberflächliches Kantinengespräch ein­
gebetteten Inskriptionen über Gesetze und rechtliche Vorschriften bis zu
den Inskriptionen erstreckt, die in den Beton einer Nuklearanlage geätzt
sind. Man kann sich gleichermaßen leicht vorstellen, dass die Robustheit
davon abhängen könnte, wie sehr die Identitäten der in der Übersetzung
inskribierten Akteure selbst widerstandsfähig gegen Erosion sind. Dies be­
deutet jedoch nur, das Problem zu verlagern. Wie wir gesehen haben, sind
Akteure konstant von Unstimmigkeiten und internen Krisen bedrohte hy­
bride Gruppen. Somit müssen wir vorsichtig sein, denn keiner Strategie ist
der Sieg sicher. Insgesamt jedoch gilt, dass die Irreversibilität in dem Maß
zunimmt, in dem jedes Element, Vermittler und Übersetzer in ein Bündel
wechselseitiger Beziehungen inskribiert ist. In derart fest gekoppelten
Netzwerken führt jeder Versuch, ein Element durch Umdefinition zu mo­
difizieren, zu einem allgemeinen Prozess der Umübersetzung. Dement­
sprechend wage ich den folgenden Vorschlag: Je zahlreicher und heteroge­
ner die wechselseitigen Verbindungen, desto größer der Grad der Netz­
werkkoordination und desto höher die Wahrscheinlichkeit eines erfolgrei­
chen Widerstandes gegenüber alternativen Übersetzungen.
Die Dauerhaftigkeit und Robustheit einer Übersetzung sagt nichts da­
rüber aus, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, zukünftige Übersetzungen
zu formen. Wie hoch ist die Chance, dass ein robuster wissenschaftlicher
Text, der Angriffen standhält und einen monoklonalen Antikörper über­
setzt, zwangsläufig zu bestimmten Forschungsentwicklungen und not­
wendigen industriellen Strategien führt? Bis zu welchem Ausmaß machen
ein Mikro-Computer und seine Software mit ihrer Hierarchie von Proble­
men und Rollen für die Benutzer das Verhalten der Letzteren tatsächlich
voraussehbar? Wir können sagen, dass eine Übersetzung irreversibel ist,
wenn sie wahrscheinlich nach Ersatz oder nach Übersetzungsvorgängen
suchen wird, die ihr Leben zu verlängern oder ihren Umfang zu erweitern
.p
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 333

vermögen. Eine Lehrlingsausbildung ist ein solches Beispiel. Dabei werden


die in einem Übersetzungsvorgang verbundenen Elemente in einem Pro­
zess gegenseitiger Adaptation voneinander abhängig. Ein Maschinist kann
nicht ohne seine Maschine arbeiten. Die Entwicklung einer Technik hängt
von Ingenieuren mit einer spezialisierten Ausbildung ab. Die Praxis eines
derartigen Handelns setzt bestimmte Objekte in Umlauf usw. Auf diese
Weise werden Entscheidungen immer mehr von vorausgegangenen Über­
setzungen abhängig.
Die Schaffung von systemischen Wirkungen und der Lehrprozess sind
Ausdruck eines fundamentaleren Mechanismus: der Normalisierung, wel­
che die Irreversibilisation von Übersetzungen begleitet und misst. Wie Da­
vid (1987) bemerkt, ist dieser Prozess in allen Arten von hybriden Gruppen
zu finden. Normalisierung macht eine Serie von Verbindungen vorausseh­
bar, grenzt Schwankungen ein, gruppiert Akteure und Vermittler und re­
duziert die Zahl der Übersetzungen sowie die Menge an Information, die
in Umlauf gesetzt wird. Sie arbeitet, indem sie Schnittstellen standardi­
siert, d.h. indem sie Akteure und Vermittler standardisiert und begrenzt.
Somit kann die Normalisierung sich von Referenzstandards bis zu voll
kompatiblen Schnittstellen erstrecken, indem sie die Maximal- und Mini­
malschwellen definiert. Sobald eine Beziehung zwischen Akteuren norma­
lisiert ist, kann sie wirkungsvoll zur Produktion von systemischen Wirkun­
gen beitragen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass ihre Elemente sich nur
dann umordnen können, wenn sie von definierten Elementen Gebrauch
machen, die kompatible Standards übernehmen. Je strikter die Kompatibi­
litätsnormen (Stöpsel), umso mehr alternative Übersetzungen werden dis­
qualifiziert und desto voraussehbarer werden die Wahlmöglichkeiten. Ein
Netzwerk, dessen Schnittstellen alle genormt sind, verwandelt seine Akteu­
re in gefügige Agenten und seine Vermittler in Stimuli, die automatisch
bestimmte Arten von Antworten hervorrufen. Die Regeln der Koordination
werden dann zu zwingenden Normen, die Abweichungen schaffen und
kontrollieren: Die Vergangenheit greift in die Zukunft ein. Kurz: Die Irre­
versibilisation, verstanden als die Vorherbestimmung der Übersetzung und
als Unmöglichkeit einer Rückkehr zu konkurrierenden Übersetzungen, ist
ein Synonym zu Normalisierung.
Mit der Normalisierung oder Standardisierung ergibt sich die Möglich­
keit der Quantifizierung. Als Minimum erfordern Normen für Schnittstel­
len eine relevante Variable, die einen von zwei möglichen Werten anneh­
men kann, z.B. gut oder schlecht, bestehen oder versagen. Zur Feineinstel­
lung können sie sich zwischen mehreren kontinuierlichen Variablen aus­
weiten, indem sie obere und untere Schwellengrenzen setzen.37 Je genau-

37 1 Es gibt viele Beispiele für solche Standardisierungen, die alle Klassen von
möglichen Gruppen verbinden: (a) im Fall von hauptsächlich aus Menschen beste­
henden Gruppen kann man - Riveline (1983) und Oury (1983) folgend - von Ma-
334 ! MICHEL CALLON

er und quantifizierter diese Standards sind, desto eher wird eine erfolgrei­
che Übersetzung irreversibel. Ein Netzwerk, das sich selbst irreversibel
macht, ist schwer mit Normen befrachtet; es ist ein Netzwerk, das in ein
kodifiziertes Messwesen und Informationssystem geglitten ist.
Es fällt nicht schwer, die Beschreibung eines solchen Netzwerkes zu
mathematisieren, da jedes Element durch seine Spezifikationen quantitativ
mit anderen Elementen verbunden ist. Beispielsweise ist es möglich, die
Leistung eines technischen Objekts (Geschwindigkeit, Speicherfähigkeit,
Leistung eines Mikroprozessors), den Typ der Benutzer und den Preis, den
sie zu zahlen bereit sind, zu verbinden. 38 Mit der Irreversibilisierung einer
Übersetzung und ihrer Normalisierung betreten wir eine den Ökonomen
vertraute Welt (Akrich 1989b). Tatsächlich kann man sagen, dass es teuer
zu stehen käme, bestimmte Übersetzungen anzufechten. Dies bedeutet,
dass zur Einführung anderer Verbindungen und neuer Übersetzungen zu­
erst all die bereits existierenden durch Mobilisieren und Einbeziehen neuer
Allianzen aufzulösen sind. In Übereinstimmung damit möchte ich be­
haupten, dass die Ökonomie nicht mit per Allokation, sondern eher mit der
Lokalisierung oder >Lokation< von knappen Ressourcen beginnt.39

Dynamik und Punktualisierung von Netzwerken

Netzwerke lassen sich selten in einfache und leicht quantifizierbare de­


skriptive Grundstrukturen zerlegen. >Dinge mit Zahlen ausdrücken<, was
1
1
1111
, 1
den Extremfall von >Dinge mit Worten ausdrücken< darstellt, ist nur eine

nagementparametem sprechen, die Normen setzen und die Agenten und ihre Be­
ziehungen regulieren. Der Verkäufer muss beispielsweise jeden Monat mehr als 20
potentielle Kunden kontaktieren (Minimalschwelle); der Betriebsingenieur sollte
nicht mehr als X Ausschüsse (Maximalschwelle) haben; die Größe der Lohntüte ei­
nes freiberuflichen Journalisten (Maß für die relative Schätzung des Angestellten
durch den Unternehmer) verhält sich proportional zur Anzahl von geschriebenen
Zeilen. (b) Felgende Beispiele schließen Normen zwischen Nicht-Menschen ein: das
Subsystem, das sich selbst ausschaltet, wenn der Strom einen bestimmten Wert
übersteigt; die Unmöglichkeit, ein Gerät einzustecken, sofern Stecker und Steckdose
nicht zueinander passen. (c) Normen, welche die Beziehungen zwischen wissen­
schaftlichen Texten organisieren, schließen die Reproduktion der Konventionen und
Gebräuche der Zeitschrift auf jeder Seite eines Artikels und die Standardisierung
von Referenzen und Diagrammen ein.
38 1 Wenn sie beispielsweise eine bestimmte Leistungsfähigkeit erreichen kön­
nen, dann weitet sich der Desktop-Publishing-Markt aus. Solche Korrelationen kön­
nen den ganzen oder einen Teil des TÖN und der verschiedenen Elemente umfas­
sen, die es ausmachen.
39 1 Somit sind Nicht-Linearität und Pfadabhängigkeit wesentlich für die Dyna­
mik der Wirtschaft.
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT 1 335

mögliche Form der Beschreibung. Inwieweit dies überhaupt möglich ist,


hängt eindeutig vom Zustand des Netzwerkes ab. Es ergibt keinen Sinn,
Verhaltensweisen quantifizieren oder unter allen Umständen aufVariablen
und Funktionen reduzieren zu wollen. Umgekehrt ist es albern, jegliche
Quantifizierung abzulehnen. Die Methodenwahl gehorcht keinem episte­
mologischen Imperativ, da sie gänzlich vom Zustand des Netzwerkes dik­
tiert wird. Wenn das Netzwerk sich selbst standardisiert, muss man zählen
und berechnen. Sofern es divergent und reversibel ist, werden übermäßige
Vereinfachung (und Quantifizierung) dem Zustand des Netzwerkes nicht
gerecht; es ist dann besser, gleich eine Geschichte zu erzählen! Jeder Ak­
teur ist relativ unvorhersehbar, weil jede Übersetzung dauernd rückgängig
gemacht wird. In diesem Fall ist die literarische Beschreibung die einzig
ehrliche - wirklich verständliche - Methode. Eine solche Beschreibung
multipliziert Standpunkte bis zur Gestaltung einer polyphonen Erzählung
- verteilt über so viele Stimmen wie es Akteure gibt - und stellt all die rele­
vanten Details wieder her.
Ist ein Netzwerk stark konvergent und irreversibel, kann es mit einer
Black Box verglichen werden, deren Verhalten unabhängig von ihrem Kon­
text bekannt und vorhersehbar ist. Es kann sich dann mit einem oder meh­
reren >externen< Akteur-Netzwerken verbinden und Vermittler austau­
schen. Unter solchen Umständen ist es in diesem anderen Netzwerk punk­
tualisiert (Callon 1987). Komplette industrielle Sektoren, wissenschaftliche
Disziplinen, Märkte oder Techniken können punktualisiert sein. Somit
kann die Computerindustrie für bestimmte Zwecke als eine Black Box be­
handelt werden, die aufgrund spezifischer Inputs ein besonderes Produkt
mit definierten Merkmalen herstellt. Durch Beobachten der Vermittler, die
zwischen ihr und ihren Nachbarn zirkulieren, kann sie analysiert werden.
Der Punktualisierungsprozess wandelt damit ein ganzes Netzwerk in
einen einzelnen Punkt oder Knoten eines anderen Netzwerkes um. Dieses
Vorgehen kann unendliche Male wiederholt werden. Punktualisierte Kno­
ten können neben andere punktualisierte Knoten in nachfolgenden Über­
setzungen gesetzt werden, die sich grundsätzlich nicht von den oben erör­
terten unterscheiden. Sie können die Rolle von Akteuren oder Vermittlern
spielen. Das Prinzip ist dann allgemeingültig: Netzwerke von punktuali­
sierten Netzwerken können selbst zu Punkten zusammengefaltet werden.
Da solche Punkte zusammengebündelt sind, ist der Schritt vom Mikro­
zum Makro-Sozialen getan. Konvergenz und Irreversibilität können jedoch
auch abnehmen; tatsächlich können sie in katastrophaler Weise abneh­
men. Manchmal brechen Märkte zusammen, industrielle Sektoren werden
ausgelagert und wissenschaftliche Spezialitäten zerstören sich selbst. Das
Makro-Soziale unterscheidet sich nicht grundlegend vom Mikro-Sozialen;
wir können das Steigen und Fallen der Asymmetrie durch Erkunden des
Schicksals dieser Punktualisierungen erfassen.
336 1 MICHEL GALLON

Schlussfolgerung

TÖNs entsprechen nicht den Netzwerken, wie sie normalerweise definiert


werden. Sie sind nur entfernt vergleichbar mit den von Ökonomen unter­
suchten technischen Netzwerken (wie Telekommunikationssysteme, Ei­
senbahnen oder Abwasserkanalisation). Diese können im Kern auf lang­
fristige Verbände von Nicht-Menschen reduziert werden, die hie und da ei­
nige Menschen einschließen. Sie sind auch nicht auf die Netzwerke der
von Soziologen beschriebenen Akteure reduzierbar, welche Interaktionen
zwischen Menschen ohne Zutun von Materiellem bevorzugen. Techno­
ökonomische Netzwerke sind zusammengesetzt. Sie vermischen Men­
schen und Nicht-Menschen, Inskriptionen aller Art und Geld in all seinen
Formen. Ihre Dynamik kann nur verstanden werden, wenn wir die Über­
setzungsprozesse studieren, welche die gegenseitige Definition der Akteure
in die Vermittler inskribieren, sie in Umlauf setzen und die relevanten In­
skriptionen >lesen<. Außerdem wird der Übersetzungsprozess selbst von
mehr oder weniger lokalen und revidierbaren Konventionen reguliert.
Mit den Begriffen von TÖNs zu argumentieren hat unter anderem den
Vorzug, dadurch zu demonstrieren, dass die eigenen Theorien der Akteure
nicht allgemeingültig sind. Das Verhalten und- allgemeiner ausgedrückt -
deren Definition ändern sich mit dem Zustand des Netzwerkes, welches
selbst das Produkt vorausgehender Handlungen ist. Die Akteure und ihre
Handlungsprofile können für jede mögliche Konfiguration eines Netzwer­
kes charakterisiert werden. Je weniger konvergent ein Netzwerk ist, desto
weniger wird es irreversibel gemacht und desto mehr können die Akteure,
die es komponieren, bezüglich ihrer Konzepte wie Strategie, Verhandlung
und Abwandlung von Zielen, Projektrevisionen sowie Koalitionsänderun­
gen verstanden werden. Unter solchen Umständen muss die Analyse mit
den Akteuren beginnen und ihre fluktuierenden Interaktionen auswerten.
Die Spur ist immer noch heiß. Die Information ist knapp, widersprüchlich,
asymmetrisch sowie schwierig zu interpretieren und anzuwenden. Unge­
wissheit ist an der Tagesordnung.
Das andere Extrem bilden völlig konvergente und irreversibel gemachte
Netzwerke, in denen die Akteure zu Agenten mit genauen Zielen und In­
strumenten für das Einführen von Hierarchien, Berechnen von Kosten und
Messen von Einkünften werden. Die Spur ist kalt und die Geschichte ist
karg. Die Zustände der Welt, d.h. die Zustände des Netzwerkes sind jeder­
zeit für jeden Punkt bekannt. Die von der in den Vermittlern inskribierten
Übersetzung gelieferte Information ist perfekt (das Netzwerk ist bekannt
und voraussehbar), jedoch beschränkt (sie geht nicht über das betrachtete
Netzwerk hinaus). Kontroverse und Desinteresse (um die Sprache der
r
TECHNO-ÖKONOMISCHE NETZWERKE UND IRREVERSIBILITÄT j 337

Übersetzungssoziologie zu verwenden) sind höchst unwahrscheinlich.4


0

Das Paradox besteht darin, dass die Akteure keine Wahlmöglichkeit haben,
da sie vom Netzwerk gesteuert werden, welches sie in ihren Positionen
festhält. Umgekehrt sind sie nur dann in einer Position frei handeln zu
können, wenn die Information unvollkommen und asymmetrisch ist.4'
Zwischen diesen beiden Extremen gibt es viele Zwischenstufen - wie
zum Beispiel Verfahrensrationalität oder die gegenseitige Erwartung der
Spieltheorie (Thevenot 1989). Dieser Ansatz verdient es, weiter entwickelt
zu werden. Sofern er sich als gut begründet erweist, eröffnet er einen ganz
neuen Bereich in den Sozialwissenschaften. Er legt nahe, dass es keine
Theorie oder kein Muster des Akteurs gibt, auch nicht im Plural. Der Ak­
teur hat eine variable Geometrie und ist untrennbar mit den Netzwerken
verbunden, die ihn definieren und die er zusammen mit anderen zu defi­
nieren hilft. Deswegen wird Geschichte zu einem notwendigen Teil der
Analyse.
Einige werden sagen, dass ich zur Beschreibung von TÖNs und deren
Asymmetrien zwar eine Methode angeboten habe, jedoch kein theoreti­
sches Gerüst für deren Erklärung. Aber der Gegensatz zwischen Beschrei­
bung und Erklärung wird größtenteils von der Methode unterhöhlt, die ich
vorgeschlagen habe. Je konvergenter und weniger reversibel ein Netzwerk
ist, desto mehr geraten die von den Vermittlern gelieferten Beschreibungen
zu Erklärungen oder Voraussagen. Das Verlangen nach Erklärung geht da­
von aus, dass eine Netzwerkevolution mit Hilfe einer kleinen Anzahl von
Variablen oder Konzepten beschrieben werden kann. Dies setzt aber eine
sehr starke Annahme über die Form des Netzwerkes und der Konvergenz
seiner Übersetzungen voraus. In einem stark konvergenten und irreversi­
bel gemachten Netzwerk sind die Akteure völlig identifizierbar und ihr
Verhalten ist bekannt und voraussehbar. Das Ganze arbeitet und entwickelt
sich in einer geregelten Form als Funktion einiger einfacher Gesetze und
gut gewählter Informationen. In einem divergenten und reversiblen Netz­
werk muss die Beschreibung alle Details abdecken, da jedes Detail zählt.
Dies ist erforderlich, weil sich jeder Akteur darum bemüht, die anderen zu
übersetzen; diese Übersetzungen fluktuieren, ohne jemals zu stabilisieren.
Jeder, der unter solchen Umständen Erklärungen sucht, lernt jedoch nichts
über die Mechanismen, durch die Irreversibilität geschaffen wird. Jene, die
bei der Suche nach Gesetzen Regelmäßigkeiten der qualitativen oder stra­
tegischen Analyse entgegenstellen, übersehen die Art und Weise, wie eben

40 1 Die Ökonomen würden sagen, dass moralische Risiken und ungünstige Se­
lektionen unwahrscheinlich sind.
411 Dupuy (1989) entwickelt ein ähnliches Argument. Dies könnte anders for­
muliert folgendermaßen lauten: Die Existenz des neoklassischen Markts nimmt die
Existenz einer Serie von Gruppierungen (vor allem Verbraucher/Kunden) an, wel­
che die Akteure vorprogrammieren und in der Praxis Marktstudien ermöglichen.
338 1 MICHEL GALLON

Netzwerke nicht in den Akteuren enthalten sind, sondern von ihnen pro­
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Monster, Maschinen und
soziotechnische Beziehungen

JOHN LAW

»Ich sagte: ,Ich glaube, sie könnten auch das sein, was man ,hoffnungs­
volle Monster< nennt.<
Sie antwortete: > Was sind hoffnungsvolle Monster?<
Ich sagte: ,Sie sind vielleicht etwas vor ihrer Zeit geboren, und man weiß
noch nicht, ob die Umwelt schon bereitfür sie ist.«< (Mosley 1991: 71)

Einleitung

Erst machten wir die Klasse zu unserem Fundament; dann, zu einem


wesentlich späteren Zeitpunkt, lernten wir etwas über die Zugehörigkeit zu
einer Ethnie, etwas später entdeckten wir Gender - und noch später lern­
ten wir etwas (vielleicht noch nicht besonders viel) über Alter und Behinde­
rungen. Das könnte ein weißer, zur Mittelschicht gehöriger Mann mittle­
ren Alters mit einer normativ akzeptierten Anzahl körperlicher Fähigkeiten
über die Geschichte seiner Soziologie schreiben. So könnte er kommentie­
ren, wie er langsam begriff, dass >seine< Soziologie niemals für >uns< ge­
sprochen hat, dass das soziologische »Wir« die ganze Zeit über aus einem
Leviathan bestand, der sein(e) (Gefühl für) Ordnung durch die Usurpation
anderer oder dadurch, dass er ihre Stimmen zum Schweigen brachte,
erlangte.
Dennoch war diese Soziologie immer von einem Interesse an der Ver­
teilung durchdrungen - ansonsten hätte sie nie etwas über ihre Isolation
gelernt; sie wurde von einem Interesse am Leiden und dem ambivalenten
Wunsch, etwas über Ungerechtigkeit zu lernen und einzugreifen, ange­
trieben. Was nun allerdings alles mit dem Begriff »Verteilung« bezeichnet
werden sollte, wurde immer wieder im Rückzug von einer souveränen Ord-
344 1 JOHN LAW

nung erkämpft. Da wir alle auf dem Markt als frei und gleich betrachtet
werden, fanden »wir« es schwierig, »Klassen« zu erkennen. Genauso ka­
men Ethnien nur langsam ins Blickfeld, vielleicht, weil die Hoffnung auf
Untermauerung durch so etwas wie die >Logik der Klasse< bestand. Dieje­
nigen, die den Begriff der Klasse ernst nahmen - und die anderen sicher­
lich auch-, empfanden es als schwierig, die Genderproblematik zu erken­
I nen. An dem Punkt, an dem >wir< uns jetzt befinden, scheint der Gender­
I
begriff zum Teil - aber auch nur zum Teil - ins Zentrum zu rücken; es
gibt noch vieles, das über Gender nicht gesagt ist, genauso wie über Alter
oder Behinderung.
Es geschieht etwa Folgendes: Zuerst verfügen die Enteigneten über gar
keine Stimme; wenn sie dann beginnen, eine Stimme zu bilden, werden
sie verspottet, um anschließend (obwohl ich mir der Reihenfolge nicht
ganz sicher bin) gesagt zu bekommen, dass sie sich irren oder dass es sich
bei gerade diesem Sachverhalt um etwas handelt, das sowieso schon jeder
wusste. Dann sagt man ihnen, dass sie eine Gefahr darstellen, und endlich
geschieht es vielleicht- in einer sehr eingeschränkten Art-, dass man ihre
Stimmen hört und ernst nimmt. Der ganze Weg besteht aus einem einzi­
gen Kampf.
Es gibt verschiedene Gründe dafür, einen Sammelband über Technik
und Macht mit einer solchen Diskussion über die Geburt des Leidens und
die Entdeckung der Verteilungen in der Soziologie einzuleiten. Der zwin­
gendste erwächst aus der Kluft zwischen dem kritischen soziologischen
Interesse an der Verteilung einerseits und einem Großteil der wichtigen
neuen Veröffentlichungen über Wissenschaft und Technik andererseits.
Obwohl diese Kluft leicht zu charakterisieren ist, finde ich es schwierig,
dies treffend zu tun. In einer Version kommt sie der gegenseitigen Be­
schuldigung der Kurzsichtigkeit von Soziologie und STS (wie ich im Weite­
ren aus Gründen der Knappheit »Science, Technology and Society« benen­
nen will) gleich.
Ich habe einen Fuß in beiden Lagern; deshalb möchte ich in aller Kürze
sagen, dass sogar viele der besten Arbeiten von STS sich gegenüber den
großen Verteilungen und Leiden, die von der Soziologie ausfindig ge­
macht, fokussiert und mehr oder weniger zögernd beschrieben wurden, als
blind erwiesen haben. Es gibt zwar Arbeiten - vornehmlich feministische
oder solche aus der Arbeitsprozesstradition -, auf die dies nicht zutrifft.
Aber ein Großteil der STS wurde - zumindest bis jetzt - nicht von einem
Interesse an der Enteignung getrieben. Die Klage, viele Autoren im Bereich
STS hätten wenig über Klasse, Rasse oder Gender zu sagen,' wird von
einer Reihe politisch engagierter Kritiker detaillierter vorgebracht. Wie ich

1 1 Zu diesen Kritikern gehören z.B. Harding (1986), Delamont (1987), Traweek


(1988b), Fox Keller (1988), Rose/Rose (1976).
·F
MONSTER, MASCHINEN UND SOZIOTECHNISCHE BEZIEHUNGEN 1 345

zuvor angedeutet habe, muss der Urteilsspruch hier - zumindest teilweise


- auf >schuldig< lauten.
Was ist also falsch gelaufen? Eine Möglichkeit hängt damit zusammen,
dass STS ein sehr kleiner Bereich ist - im Vergleich mit den großen Fab­
rikgebäuden der Soziologie erscheint es irgendwie wie Heimarbeit. Wir
konnten wirklich nicht alles auf einmal in Angriff nehmen, aber das ist ein
vorübergehender Zustand. Was die Substanz betrifft, sind tatsächlich viele
STS-Autoren der Meinung, es sei nichts schief gelaufen; teilweise liegt der
Grund dafür darin, dass der Forschungszweig STS seit den 196oer Jahren
mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen hat, wobei diese Probleme und
deren Lösungen - so partiell und strittig sie auch sein mögen - von großer
Wichtigkeit sind. Sie könnten - dies ist der Kern meiner Aussage - zum
zentralen soziologischen Interesse an der Verteilung beitragen und es
stärken. Dass das bislang nicht geschehen ist, liegt daran, dass die Soziolo­
gie nicht erfolgreich zwischen dem analytischen »Holz« von STS und
einigen ziemlich offenkundigen Mängeln in den »das Holz liefernden
Bäumen« unterschieden hat.
Was hat es nun mit diesem analytischen Holz auf sich? Wenn wir
zurückschauen, neigen wir dazu, das zu sehen, was wir sehen möchten;
entsprechend sieht jeder etwas anderes. Meiner Auffassung nach hat sich
die Entwicklung von STS in den letzten 20 Jahren durch drei Hauptstadien
(nun, eher 2 1/4) hindurch vollzogen, in denen sie drei große Fragen von
großer potentieller Bedeutung für die Soziologie angegangen ist - oder
zumindest begonnen hat, sie anzugehen. Die erste, in der Zeitspanne nach
1968 erforschte, Frage hat mit dem Charakter von Wissen und hier beson­
ders mit dem hohen Status wissenschaftlichen Wissens zu tun: Es ist dies
das Problem der Epistemologie. Die zweite wurde ab den 198oer Jahren
systematisch bearbeitet und befasst sich mit dem Charakter der Gesell­
schaft und besonders mit den Dingen, die diese Gesellschaft zusammen­
binden (sofern sie tatsächlich zusammengebunden ist). Ich bezeichne dies
gern als Problem der Heterogenität; aber diese Bezeichnung ist eher die
STS-Version der großen, irreführenden Bezeichnung >Problem der Sozial­
ordnung<. Die dritte, die zunehmend die Tagesordnungen zu beherrschen
beginnt, ist die STS-eigene Version des Problems der Verteilung. Diese mit
der zweiten eng verbundene Frage umfasst den Charakter von Unterschei­
dungen zwischen den in der Welt auffindbaren Klassen von Akteuren. Im
Folgenden werde ich mich nach und nach jeder der Fragen zuwenden.
346 1 JOHN LAW

Das Problem der Epistemologie:


Absolutismus, Moral und Politik

Epistemologie ist die »Theorie der Methode oder der Gründe des Wis­
sens«.2 Sie sagt manchmal auf deskriptive, häufiger auf präskriptive
Weise etwas darüber aus, was wir wissen können und wie wir Wissen
sammeln können. Ursprünglich stellte die Epistemologie einen Zweig der
Philosophie dar, wurde jedoch in den 196oer Jahren von Historikern und
Soziologen mit dem Argument für sich besetzt, die Methode oder Gründe
des Wissens seien nicht invariant, sondern sie variierten als Funktion des
sozialen Kontextes. Beispielsweise stellte sich heraus, dass wissenschaftli­
ches Wissen im Laufe der Zeit erheblichen Variationen oder gar radikalen
Veränderungen ausgesetzt war: Dies gibt zumindest Thomas Kuhn in
seinem Buch »The Structure of Scienitfic Revolutions« (1970) an - und er
war bei weitem nicht der Einzige.
Lange vor der gegenwärtigen Debatte über die postmoderne Kondition
provozierten die relativistischen Obertöne dieser Annahme einigen Auf­
ruhr. Im Besonderen veranlasste sie einige dazu, die ihrer Meinung nach
bestehenden wissenschaftlichen Standards zu verteidigen. Falls man Wis­
sen als Funktion des sozialen Kontexts betrachtete (so gaben d1ese Kritiker
an), wäre Irrationalität die Folge: Es bestünde keine Möglichkeit der Unter­
scheidung zwischen Wahrheit und Macht mehr.3 Dies war der springen­
de Punkt beim Angriff auf den epistemologischen Relativismus, der zu­
nächst von den Philosophen - einige von ihnen Flüchtlinge des National­
sozialismus oder Stalinismus, die die Wissenschaft vor der Politik schützen
wollten - benannt wurde. Danach wurde dieser Punkt in einer zunächst
überraschend erscheinenden Kehrtwende von politischen Radikalen ange­
führt, zunächst von Marxisten, dann - in durchschlagenderer Weise - von
Feministinnen. Vereinfacht ausgedrückt, plädierten die (radikalen) Kritiker
für eine >Standpunkt-Epistemologie<4, die besagt, dass - obwohl die von
den Philosophen verteidigte >wissenschaftliche Methode< tatsächlich feh­
lerhaft sei - dennoch bestimmte soziale Gruppen existierten (die Arbeiter­
klasse, die Kommunistische Partei, Frauen, Feministinnen, lesbische
Feministinnen), deren Erfahrungen und/oder Methoden des Wissens aus
Gründen des sozialen Kontextes auf einer stabileren Grundlage stehen als
die der Bourgeoisie oder die der genderspezifischen Wissenschaft.
In der einen oder anderen Version haben sich die Argumente zwei
Jahrzehnte lang erhalten, obwohl sie im Detail - nicht in der hauptsächli­
chen Form - Veränderungen unterworfen waren. Zum Beispiel erfolgen

2 1 Zitiert nach dem »Concise Oxford Dictionary«.


3 1 Vgl. dazu die »Kuhn-Popper«-Debatten, die teilweise in Lakatos/Musgrave
(1970) gesammelt sind.
4 1 Eine Diskussion findet sich in Harding (1986).
r_ __ M_ON
_ S
_ T
_ ER__ ,_M_A_S_CH
_ N
I_ _ EN_ _U_N_D_s_oO_
_Z_ITEC_
_ H_N_IS_C_H _E_B_E_ZI_E _H_UN

viele Argumente über den epistemologischen (und politischen) Charakter


_ G_ E_N____.1�3"--4-'-'--7

der Wissenschaft in einer postmodernen Sprache und haben die Absicht,


das Ende der großen Erzählung zu feiern (oder zu denunzieren).5 Auch
wenn manchmal nur die Sprache Veränderungen erfahren hat, gibt es
auch ein paar neue Wendungen in der Debatte. Einige Feministinnen
haben z.B. auf eine interessante Absonderlichkeit aufmerksam gemacht:
Gerade als Frauen ihre kraftvolle politische und analytische Stimme zu
entdecken schienen, entdecken einige Männer plötzlich die Tugenden des
epistemologischen Pluralismus (vgl. Harding 1986, 1990; Benhabib 1990,
aber auch Fujimura 1991), nämlich die Idee, dass jede/r die Gelegenheit
erhalten solle, mit seinem/ihrem eigenen Anliegen zurande zu kommen.
Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft sich auszumalen, dass darin
eine weitere Taktik zur Vermeidung der Politik von Genderverteilung
besteht. Das Argument beschränkt sich nicht auf den Feminismus; radika­
le Kritiker haben auf die Tatsache verwiesen, dass das Zelebrieren von
Diversität hohl ist angesichts des Mangels an einer Politik, die die Bedin­
gungen für die Durchführung von Diversität gewährleistet (vgl. z.B. Con­
nor 1989).
Ich möchte die epistemologischen Argumente hier nicht noch einmal
detailliert erläutern; stattdessen werde ich zwei einfache, jedoch eng ver­
bundene Punkte anführen, die sich auf den Relativismus von STS bezie­
hen. Bei dem ersten handelt es sich um die Regeln der Methode. Wie ich
bereits festgestellt habe, wurde die Annahme, dass die Regeln der Methode
- Epistemologien - als Funktion des sozialen Kontextes variieren können,
von vielen mit Grauen zur Kenntnis genommen; man fürchtete, wenn man
den ordnenden Leviathan der wissenschaftlichen Methode verließe, könne
jeder glauben, was er wolle. Aber - und dies ist mein erster Punkt - diese
Furcht ist unbegründet. Die Tatsache, dass die Regeln der Methode zwischen
Kontexten oder im Lauf der Zeit variieren können, bedeutet nicht, dass wir
uns in einer Position befinden, in der wir glauben können, was uns beliebt.
Es bedeutet ebenfalls nicht, dass wir keinen örtlichen Konventionen zur
Produktion guten Wissens Folge leisten müssten. Glauben Sie, dass es so
etwas wie die »cold fusion« noch gibt? Oder dass Genderunterschiede ein
Produkt angeborener biologischer Differenzen sind? Ich nehme an, dass
Sie das nicht glauben - ich weiß, dass ich es nicht glaube. Ich weiß aber
auch, dass es einige Orte gibt, wo es einfach ist, an diese Dinge zu glauben,
und dass - selbst wenn wir noch so sehr wünschen, dass es anders sei -
das einfach im Moment den Tatsachen entspricht.
Der erste Punkt befasst sich also mit Standards. Ich kann Relativist sein
und noch immer feststellen, dass ich - wie wir alle - durch Theorien oder
Praktiken darüber, was als befriedigendes Argument zu gelten hat, einge­
schränkt, aber auch befähigt werde. Muss das aber auch bedeuten, dass ich

5 1 Vgl. die berühmte Aussage von Lyotard (1986).


348 1 JOHN LAW

damit aufhöre, jemanden davon zu überzeugen, dass er Unrecht hat? Kann


ich folglich nur noch Paul Feyerabends berühmten Ausspruch »Alles ist
möglich!« (1975) zitieren und mich vom Wissen, das wir nicht überein­
stimmen könnten, blockieren lassen?
Was auch immer Kritiker behaupten - keine dieser Folgen tritt ein; ich
bleibe meinen Methoden der Wahrheitsfindung verpflichtet, 6 die wahr­
scheinlich nicht idiosynkratisch ausfallen (da wir alle soziale Wesen sind).
Das Zugeständnis, dass die Standards guten Wissens von Gruppe zu
Gruppe variieren (epistemologischer Relativismus), impliziert keine Ver­
pflichtung zum Quietismus. Ich kann sie mit Ihnen verhandeln - genauso
wie unsere Glaubensinhalte -, und ich kann Sie möglicherweise zum
Nachgeben bewegen (oder auch nicht). Ich empfinde Widerwillen, wenn
Menschen durch Gewaltanwendung dazu gezwungen werden, bestimmte
Dinge zu glauben oder auf eine bestimmte, sie selbst verratende Weise
oder entgegen ihrer Überzeugung dessen, was richtig ist, zu handeln.
Wenn man die Realität des epistemologischen Relativismus akzeptiert und
die Existenz universeller Standards leugnet, bedeutet es weder, dass es
überhaupt keine Standards gibt, noch, dass es einen moralischen oder politi­
schen Relativismus zu begrüßen gilt. Wie Richard Rorty exemplarisch
aufzeigt, ist die von Vertretern des Absolutismus vorgebrachte Entweder­
Oder-Dichotomie (entweder absolute Standards oder überhaupt keine -
weder epistemologische noch moralische) eine falsche: Wir können immer
vor Ort versuchen, Wahrheit von Macht, Überzeugung von Gewalt und das,
was uns richtig erscheint, von seinem Gegenteil zu unterscheiden.7
Inzwischen haben wir den zweiten, damit zusammenhängenden Punkt
über die Beziehung zwischen epistemologischem Relativismus einerseits
und ethischer und politischer Verpflichtung andererseits erreicht. Leigh
Star schreibt dazu:

»Man hat mich manchmal einen Nazi genannt; manchmal wurden auch Parallelen
zwischen der sozialen Konstruktion von Wissenschaft und der Nazi-Wissenschaft
gezogen. Ich habe eine Weile gebraucht, um herauszufinden, wovon die Leute
überhaupt sprechen. Wenn man die Perspektive einnimmt, in der Faschismus eine
Art Situationsethik und eine von Opportunismus oder gestörter Wahrnehmung der
Wissenschaft und Natur geprägte Neudefinitionen der jeweiligen Situation erfor­
dert, erhält jeder Versuch der Situationsrelativierung moralische Bedrohlichkeit. Der
Grund dafür ist, dass ein Gegenmittel zur faschistischen Ideologie in der Bestäti­
gung des vorrangigen Wertes menschlichen Lebens besteht, eines universellen

6 1 In dieser Sichtweise wird die Wahrheit des Wissens üblicherweise nicht in


Entsprechung zur Realität definiert (bestenfalls als vage Idee), sondern im Sinne von
Wirksamkeit in Begriffen der Anwendbarkeit. Vgl. z.B. Barnes (1977).
7 1 Vgl. Rortys charmanten Kommentar zu Lyotard (Rorty 1991b).
·t
MONSTER, MASCHINEN UND SOZIOTECHNISCHE BEZIEHUNGEN 1 349

Wertes, der nicht von den durch örtlich vorherrschenden Rassen-und Genozid-Ideo­
logien gespeisten Monstrositäten beeinträchtigt werden kann.« (Star 1988: 202)

Wie Rorty vertritt Star die Auffassung, dass die Befürwortung eines epis­
temologischen Realismus nicht bedeutet, dass wir auch unser Interesse an
richtigen Wegen zur Erlangung von Wissen über die Welt oder unsere
politischen oder ethischen Verpflichtungen aufgeben müssen (zweiter Teil
des Arguments). Wenn ich mich zur Vielstimmigkeit und zum Relativis­
mus bekenne, impliziert dies weder die Verpflichtung zu Unmoral und
Opportunismus, noch führt es notwendigerweise zur Gleichgültigkeit
gegenüber Verteilung. Vielmehr leitet es uns zu einer wichtigen Form
intellektueller Vorsicht an: zur Wahrnehmung, dass alles Wissen geformt
und abhängig ist und in einer anderen Welt auch eine andere Form an­
nehmen könnte (der positive Punkt der Argumentation). Wenn uns also
jemand von einer Form der Verteilung berichtet, die unumgänglich und
notwendigerweise so sein muss, können wir dieser Information Glauben
schenken oder nicht. Mit Sicherheit werden wir uns daran orientieren, dass
das hier so >natürlich< Erscheinende in einer anderen Welt anders sein
könnte. Wir werden auf diese Ordnung misstrauisch reagieren und statt­
dessen fragen, weshalb es so ist, wie es ist für diese Betrachter (uns inbe­
griffen), die uns sagen, dass es so ist.8
Mit ihrem Interesse an der Verteilung kann die Soziologie von den
Kämpfen der STS sowie von den parallelen Debatten über Überzeugung
und Wahrheit in der Postmoderne folgende Lektion lernen: sich vor Abso­
lutismus - auch dem eigenen - wie auch vor dem eigenen Anteil innerhalb
der Verteilung zu hüten und sich zu vergegenwärtigen, dass keine Not­
wendigkeit besteht, die unmögliche Aufgabe zu versuchen, einen Absolu­
tismus durch den anderen zu ersetzen. Wie Star (1991a) verdeutlicht, ist es
möglich, Relativismus, Strenge, Moralität und Aktivismus zu verbinden.
Alles zusammengenommen klingt entschieden nach einem Versuch der
STS-Perspektive, der eigenen Großmutter lehren zu wollen, wie man
postmoderne Eier ausschlürft. Aber es gibt ja bekanntlich Eier und Eier:
Die Soziologie weiß vielleicht etwas über Klasse oder Gender, aber wie viel
weiß sie über die systematische, praktische Abgrenzung zu anderen Spezi­
es - über den Speziezismus? Wie viel weiß sie von Maschinen - und wie
viel hat sie sich bisher um sie gekümmert?

8 1 Eine produktive Art, Absolutismus zu erforschen und zu unterhöhlen, be­


steht darin, die Unterscheidung zwischen Repräsentation und dem zu Repräsentie­
renden zu unterminieren. Vgl. z.B. Woolgar (1988).
1

I' 350 1 JOHN LAW

Das Problem der Heterogenität


Ich möchte behaupten, dass eine Art, STS zu betrachten, darin besteht,
darauf hinzuweisen, dass sie mit dem Verstehen von Unterschieden und
Überlappungen zu tun hat. Glücklicherweise trifft dies nicht allein auf STS
zu. Eine Vielzahl verschiedener Strömungen wie der Postmodernismus,
der Pragmatismus, zumindest Teile des Feminismus und soziologischen
Traditionen wie der symbolische Interaktionismus werden von denselben
Fragen angetrieben. 9 Die Epistemologien aller dieser Programme, ihre
Ablehnung des Absolutismus, zwingen sie zur Untersuchung dessen, wie
die verschiedenen Arten von Wissen sich aneinander reiben und weshalb
Fragen lokal entschieden werden. STS ist diese Fragestellung mithilfe
verschiedener Terminologien angegangen; sie spricht z.B. oft von einem
»Schließen der Verhandlungen« (vgl. z.B. Collins 1985). Diese Terminolo­
gien führen uns direkt zur zweiten großen Entdeckung durch STS, in der
es um die Natur des Sozialen, den Charakter des die soziale Welt mehr
oder weniger stabil zusammenhaltenden >Klebers< geht. Diese Entdeckung
besagt, dass - wenn die >Gesellschaft< denn überhaupt zusammengehalten
wird - heterogene Mittel diesen Zusammenhalt gewährleisten, dass - radikal
formuliert - das Soziale überhaupt nicht rein sozial ist.
An diesem Punkt begegnen wir einer rätselhaften Inkongruenz von
Soziologie und STS. Große Teile der Soziologie sind sich deutlich bewusst,
dass die soziale Welt nicht zusammenhinge,10 wenn man die natürlichen,
körperlichen, technischen, textlichen oder topographischen Elemente ent­
fernte. Innerhalb der letzten zehn Jahre - vermutlich unter dem Einfluss
von Foucault und einer Reihe strukturalistischer und post-strukturalisti­
scher Autoren - hat die Soziologie damit begonnen, sowohl den Körper als
auch den Text extrem ernst zu nehmen: Wohin immer man schaute, stieß
man auf einen Text; Repräsentationen repräsentierten allgegenwärtig;
Körper waren überall inskribiert.
Außer bei der Informationstechnik lag im Fall der Technik die Sache
etwas anders" - Maschinen wurden vom neuen Enthusiasmus ausge­
schlossen. Dabei ist es nicht so, dass das Technische innerhalb der Sozio­
logie nicht vorhanden wäre; tatsächlich akzeptiert die Soziologie die Prä­
senz und das aktive Handeln des (so genannten) Technischen. Die Behaup­
tung, die Verteilungssoziologie ignoriere das Technische oder Artefakti­
sche, entspricht also nicht den Tatsachen. Besonders unfair erscheint diese
Behauptung im Hinblick auf jene Marxisten und Feministinnen, die Klas-

9 1 Ich bin Leigh Star für die Verdeutlichung der Überschneidungsproblematik


sehr dankbar. Vgl. Star (1989), Star/Griesemer (1989) und Fujimura (1987).
10 1 Von nun an sollte der Leser selbst ,insofern sie es tut< hinzufügen.
111 Vgl. z.B. die bahnbrechende Arbeit von Mark Poster (1990) über »den
Informationsmodus«.
MONSTER, MASCHINEN UND SOZIOTECHNISCHE BEZIEHUNGEN 1 351

sen- und Genderwirkungen von (z.B.) Produktion und Haushaltstechnik


untersucht haben; diese beiden Traditionen haben wichtige Arbeiten über
die Gestaltung von Technik durch Verteilungsinteressen vorgelegt (vgl. z.B.
Braverman 1974; Noble 1977; Schwarz Cowan 1983; Cockbum 1983; Mac­
Kenzie/Wajcman 1985b; Traweek 1988 und Hacker 1990), die sich eben­
falls produktiv mit dem Forschungsinteresse von STS überschneiden.12
Es gibt natürlich noch eine Menge anderer Autoren, die - wenn auch
manchmal in einer technisch-deterministischen Art und Weise - z.B. die
Beziehung zwischen Produktionstechniken und Arbeitsplatzorganisation
(vgl. z.B. Bums/Stalker 1961; Blauner 1964 und Perrow 1988) oder jene
zwischen militärischen Techniken und der Organisation von Nationalstaa­
ten beschrieben haben (vgl. z.B. Mann 1986; Giddens 1985 und McNeil
1983 ).
Technik ist also tatsächlich in der Soziologie präsent. In anderer Be­
trachtungsweise scheint Technik - trotz der Pionierarbeit der Tavistock­
Gruppe über soziotechnische Systeme in den 196oer Jahren (vgl. z.B.
Woodward 1965) - jedoch keineswegs produktiv in weite Teile der soziolo­
gischen Vorstellungswelt integriert zu sein. Seit Foucault stellt es kein
Problem dar, Texte auf Körper zu inskribieren oder Akteure diskursiv zu
konstituieren. Abgesehen von einigen rühmlichen Ausnahrnen'3 kommt
es uns nicht in den Sinn, Maschinen mit denselben analytischen Prozedu­
ren zu behandeln wie Menschen. Das Problem lässt sich auf das Fehlen
einer Methode zum Jonglieren von beiden, dem Sozialen und dem Techni­
schen, zurückführen. Ich möchte sagen, Soziologen wechseln zwischen
den Registern; sie sprechen vom Sozialen, um dann zum Technischen
überzugehen (wenn sie es überhaupt erwähnen). Wenn das Technische
erscheint, agiert es entweder als eine Art erklärender deus ex machina
(technischer Determinismus) oder es wird als Ausdruck sozialer Beziehun­
gen betrachtet (sozialer Reduktionismus).'4 Mit Mühe können die beiden
Alternativen auch als zwei interagierende und sich gegenseitig formende
Klassen von Objekten behandelt werden.
Meiner Hypothese zufolge haben wir es hier mit einer tief in der Sozio­
logie verwurzelten Form der Verteilung zu tun: der Verteilung zwischen
Menschen auf der einen und Maschinen auf der anderen Seite oder zwi­
schen >sozialen Beziehungen< oder >Sozialstruktur< einerseits und dem

12 1 Vgl. als kreatives Beispiel Bowker (1987).


13 1 Es ist natürlich kein Zufall, dass einige dieser Ausnahmen im vorliegenden
Band (Law 1991, Anm. der Hg.] versammelt sind. Vgl. besonders die Artikel von
Bruno Latour (1991b) und Steve Woolgar (1991). An anderer Stelle Michel Callon
(1980), Madeleine Akrich (1992), Bruno Latour (1991a, 1991b) und John Law
(1986a, 1987).
14 1 Eine ausgezeichnete Einleitung in die Thematik geben MacKenzie und
Wajcman (1985a).
3S2 1 JOHN LAW

>bloß Technischen< andererseits. Wie erkennbar ist, halte ich diese Unter­
scheidung nicht für besonders glücklich gewählt; starke Obertöne von C.P.
Snows zu Recht berühmter »Zwei-Kulturen«-Diagnose schwingen mit.
Tatsächlich halte ich sie für eine Art von Speziezismus. STS und Teile der
Technikgeschichte - sowie auch Teile der sozialen Welt selbst - haben
jedoch Wege gefunden, diese Unterscheidung zu umgehen. Wenn sich die
Soziologen STS genauer anschauen würden, könnten sie meiner Meinung
nach einen Weg finden, in einem Atemzug über das-Soziale-und-das­
Technische zu sprechen.
Betrachten wir z.B. das Werk des Technikhistorikers Thomas Hughes.
Er hat in einem meisterhaften Werk (1983) die Entwicklung der Erzeu­
gung, Übertragung und Verteilung elektrischen Stroms in verschiedenen
Ländern von den Anfängen in den 188oer bis in die 193oer Jahre verfolgt.
Hughes ist kein Soziologe - tatsächlich neigt er dazu, sich in seinen knap­
pen soziologischen Referenzen auf funktionalistische Quellen zu beziehen
(was sich als nicht sehr hilfreich erweist).'5 Dennoch besteht sein Hand­
werk als Historiker darin, die Methode und narrative Form seiner Studie
zu organisieren; sein Handwerk führt ihn auch dazu, Wirtschaft, Politik,
Technik, angewandte wissenschaftliche Forschung und verschiedene
Aspekte sozialen Wandels gleichermaßen zu umfassen.
Hughes' Argumentation zufolge ist es unmöglich, das Wachstum und
die Entwicklung des Netzwerkes der Elektrizität zu verstehen, wenn man
kein Verständnis für die Arbeit der so genannten »System-Erbauer« auf­
bringt. Ebenso könne man deren Arbeit nicht verstehen - Hughes denkt
dabei an Menschen wie Thomas Edison-, wenn man ihre Auffassung von
Politik, Technik und den restlichen Elementen als integriertes Ganzes
nicht nachvollziehen kann. Beispielsweise förderte Edison die angewandte
wissenschaftliche Forschung- an der er auch teilnahm- zur Entwicklung
einer brauchbaren elektrischen Glühbirne. Diese Forschung war eng mit
einer Reihe wirtschaftlicher Kalkulationen verbunden, die gleichzeitig
technischen Charakter hatten: solche bezüglich der Kosten dafür, Kabel zu
verlegen, Elektrizität einer vorgegebenen Voltzahl als eine Funktion der
Entfernung und des elektrischen Widerstandes durch diese Kabel zu leiten,
Kraftwerke zu bauen und zu betreiben, die in Städten in der Nähe der von
ihnen bedienten Nachbarschaften situiert waren (im ersten Fall in New
York). Gleichzeitig betrachtete er die Sache auch politisch: Um Kraftwerke
zu bauen, brauchte er die Zustimmung von Stadträten, die - zumindest in
einigen Fällen - enge Verbindungen zur Gasindustrie der Stadt pflegten.
So versuchte er, Einfluss auf die Politiker zu nehmen, um Lizenznehmer
zu finden. Bei einer Gelegenheit brachte er sie zu seinem Forschungslabo­
ratorium in New Jersey, um sie mit der blendenden Demonstration elektri­
scher Lichter auf dem Gelände zu beeindrucken.

15 1 Das ist nicht vollkommen zufällig.


1
1 MONSTER, MASCHINEN UND SOZIOTECHNISCHE BEZIEHUNGEN

Wichtiger als die Einzelheiten ist hier das allgemeine Argument, dass
es sich bei Edison um einen »heterogenen Ingenieur« (vgl. Law 1987)
1 353

handelte. Er arbeitete nicht nur mit unbelebten physikalischen Materialien,


sondern auch mit und durch Menschen, Texte, Vorrichtungen, Stadträte,
Architekturen, Wirtschaft und vielem anderen. Jedes dieser Materialien
musste dem Design des Gesamtsystems angepasst werden, wenn dieses
Gesamtsystem funktionieren sollte. Folglich reiste er zwischen den unter­
schiedlichen Domänen und webte ein aufstrebendes Netz, das die von ihm
zusammengebrachten Einzelelemente konstituierte und rekonstituierte.
Natürlich ist Hughes' Argument nicht vollständig neu, und wie ich
bereits bemerkt habe, gibt es eine bedeutende Tradition innerhalb der
Veröffentlichungen im Rahmen der Arbeitsprozessforschung, die die
disziplinarischen Wirkungen technischer Innovationen in kapitalistischen
Unternehmen erforschte.16 Nichtsdestotrotz ist die Leichtigkeit, mit der er
Edison durch die einzelnen Domänen folgt, genauso überraschend wie die
Ernsthaftigkeit, mit der er nicht nur mit den politischen und wirtschaftli­
chen, sondern auch mit den technischen Problemen umgeht, denen Edi­
son begegnet. Für Hughes stellt das Technische nicht eine zu unterschät­
zende Größe, etwas >bloß Technisches< zur Erreichung eines Zieles dar. Es
gibt keine Ehrerbietung gegenüber den zwei Kulturen; stattdessen geht das
Technische als lebenswichtiger Bestandteil aus Edisons kunstvollem sozia­
len und politischen Engineering hervor. So betrachtet wird alles von Edison
Gesammelte und miteinander Verwobene ernst genommen.'7,
Die Unterscheidung zwischen Menschen und Maschinen wird hier -
obwohl vorhanden - der Erforschung der Entwicklung eines komplexen
soziotechnischen Systems untergeordnet. Hughes umgeht die Annahme,
dass entweder das Technische oder das Soziale letztendlich determiniert.
Wie viele Historiker ist er mehr am »Wie« als am »Wieso« interessiert;
wenn er jedoch zu einer Erklärung ansetzt, befasst sie sich eher mit dem
Charakter des Systemerbauers selbst - mit dem großen Synthetiker, dem
Ingenieur, der in bedeutend höherem Maße als seine Kollegen auf kreative
Weise Elemente konstituiert und verbindet, die vorher niemals vereint
waren.
Was geschieht hier aus der Perspektive der Soziologie? Die Antwort
besteht, denke ich, in einer Mischung. Nicht alles ist gut. Aber sie enthält
jedoch einen Teil von entscheidender Wichtigkeit. Hughes' Version der
>sozialen Ordnung< - auch wenn er es so nicht sagt -, also seine Antwort
auf das Problem, was die überlappenden Elemente des Sozialen zusam­
menhält, impliziert, dass diese soziale Ordnung überhaupt keine solche ist,

16 1 Eine Rezension dieser Arbeit ist zu finden in Clegg/Wilson (1991), vgl. auch
MacKenzie (1984).
17 1 Callon (1986) bezieht sich darauf als das Prinzip der generalisierten Symme­
trie.
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354 J JOHN LAW
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sondern eher einer soziotechnischen Ordnung entspricht. Was sozial zu sein
scheint, ist zumindest teilweise technisch. Was wir für gewöhnlich tech­
nisch nennen, erweist sich als teilweise sozial. Praktisch ist nichts weder
rein technisch noch rein sozial. Dasselbe trifft auf das Wirtschaftliche, das
Politische, das Wissenschaftliche und alles Übrige zu.
1 i: Obwohl Hughes' Ausführungen stellenweise problematisch sind - was
ich in Kürze näher ausführen werde -, erscheint mir seine Enthüllung des
Soziotechnischen, der Unreinheit des >sozialen Klebers<, als eine Entde­
ckung von höchster Wichtigkeit.18 Wo auch immer wir an der Oberfläche
des Sozialen kratzen, finden wir, dass es aus Netzwerken heterogener
Materialien besteht; aus mir unerfindlichen Gründen liegt diese Idee
jedoch den meisten Formen soziologischer Praxis fern und hat auch bisher
noch nicht Eingang in die soziologische Vorstellungswelt gefunden. Das ist
ein Fehler.
Wie sollen die unter der sozialen Oberfläche liegenden Stränge identifi­
ziert werden? Statt ausdrücklich eine Methode zu benennen, benutzt
Hughes sie einfach, indem er Edison und den anderen Systemerbauern
folgt - wohin sie auch gehen. Diese Methode ist insofern brillant - wie ich
unfairerweise feststellen könnte -, als Edison bereits alle Arbeit für
Hughes erledigt zu haben scheint. Diese Behauptung stimmt aber so nicht;
Hughes hat ein Jahrzehnt damit verbracht, Edisons Spur zu ,verfolgen.
Dennoch wies Edison ihn darauf hin, wo er suchen sollte, welche hetero­
genen Materialien sich mit anderen verbinden und auf welche Weise sie
eine Verbindung eingehen würden. Hughes' Methode entspricht damit der
von Latour beschriebenen und befürworteten: »Folge den Akteuren« (vgl.
Latour 1987).
In mancherlei Hinsicht erweist sich diese Methode als gut; sie erzeugt
Überraschungen und vergegenwärtigt uns das Geheimnisvolle, da sie die
>natürlichen< Kategorien demontiert - womit ich solche Unterscheidungen
und Verteilungen meine, die für die Soziologen >natürlich< sind. Wie
jedoch nicht nur ein Kritiker beobachtete, hat auch diese Strategie des
»Folge den Akteuren« ihren Preis. Dieser besteht hier in der wachsenden
Schwierigkeit, eine kritische Distanz zu den Autoren aufrechtzuerhalten: Wir
nehmen ihre Kategorien an, sehen die Welt durch ihre Augen, überneh­
men die Perspektive derer, die wir erforschen.'9
Durch internationale Vergleiche baut Hughes kritische Distanz in seine
Ausführungen ein; die Unterschiede in der frühen Geschichte amerikani­
scher, deutscher und britischer Stromproduzenten sind auch tatsächlich
lehrreich. Fehlt eine solche Distanz, zieht das im Allgemeinen eine Reihe

18 1 Diese Argumentation wurde von Michel Callon und Bruno Latour aufge­
stellt. Vgl. z.B. Callon/Latour (1981) und Latour (1986).
19 1 Natürlich reduzieren wir niemals >wirklich< unsere Kategorien auf die unse­
rer Forschungsobjekte.
r
f.
MONSTER, MASCHINEN UND SDZIDTECHNISCHE BEZIEHUNGEN J 355

�· von Konsequenzen nach sich; es heißt z.B., dass bestimmte Verteilungen


wahrscheinlich unsichtbar sind: Solche, die für den verfolgten Akteur nicht
von Interesse sind, tendieren dazu, außer Sicht zu geraten. Mir ist nicht
bekannt, ob Edison sich für Gender interessierte. Ich weiß es nicht. Und
wenn er es getan hätte, würde es überraschen, wenn er es in einer Art und
Weise getan hätte, die den Interessen seines Projektes entgegengestanden
hätten. Die Methode ist also blind gegenüber den Leiden der Gendervertei­
lung; diesem Mangel könnte zu einem gewissen Grad abgeholfen werden,
wenn die (mehr oder weniger implizite) genderbezogene Arbeit, die einige
Unternehmer - wie auch Edison - auf diesem Gebiet geleistet haben,
durch eine weniger vollständige Verpflichtung, dem Akteur zu folgen und
seine Materialauswahl und -organisation zu akzeptieren, in den Blickpunkt
gerückt werden könnte.
In der Tat ist der Slogan: »Folge den Akteuren«, genau das: ein Slogan.
Er ist in dem Maße ein guter Slogan, in dem er uns an unsere Neigung
erinnert, möglicherweise wichtige Verteilungen zu verdinglichen, zu natu­
ralisieren oder schlicht zu ignorieren. Angewendet auf Edison warnt er uns
vor dem Speziezismus von Mensch und Maschine, eine Unterscheidung,
der Edison für viele (nicht alle) Zwecke wenig Belang zumaß. Aber er ist
ein schlechter Slogan, wenn wir ihn wortwörtlich nehmen. In der Realität
können wir ihn gar nicht wortwörtlich nehmen. Sogar eine wissenschaftli­
che Biographin folgt dem Gegenstand ihrer Nachforschungen nicht über­
allhin: So umfassend sie auch sein möchte, sie ordnet, sortiert und wählt
aus.
Im Zusammenhang mit dem Slogan gibt es jedoch noch weitere Prob­
leme, die mit dem akteurzentrierten Charakter der Methode zusammen­
hängen: die Thematik von Akteursein und Heroismus. Hughes beschloss,
große Männer zu erforschen. Tatsächlich vermute ich, dass ihn eine hero­
ische Theorie des Akteurseins anzieht; also stellt der genannte Aspekt für
ihn vermutlich kein Problem dar. Für die meisten Soziologen jedoch, die
im letzten Jahrzehnt viel Zeit darauf verwendet haben, das Subjekt zu
dezentrieren, erscheint eine solche Fragestellung durchaus problematisch.
STS bildet dabei keine Ausnahme. Eine große Zahl von Arbeiten innerhalb
STS - darunter auch die, die uns rät, den Akteuren zu folgen -, vertrat
genau das Anliegen, das heroische Subjekt zu dezentralisieren. Auch wenn
Latour Louis Pasteur ausgewählt haben mag (Latour 1988a), so liegt das
Ziel der Untersuchung nicht so sehr darin, das Subjekt zu zelebrieren, als
vielmehr zu dekonstruieren. Für Latour präsentiert sich Pasteur als ein
Effekt, ein Produkt einer Reihe von Allianzen und heterogener Materialien.
Soweit Pasteur ein >großer Mann< ist, müssen wir das als ein Ergebnis und
nicht als etwas diesem bestimmten Menschen Inhärentes betrachten.20

20 1 Und hier liegt auch die Basis für Latours Einwand gegen den Begriff der
Macht - dass er Allianzen, Arbeit und Gewalt tilgt, die die Mächtigen konstituieren.
356 1 JOHN LAW

Ich behaupte also, dass die den Akteuren folgenden Vertreter von STS
sich normalerweise nicht einer ungeprüften und heroisierenden Theorie
des Akteurseins schuldig machen. Helden werden aus heterogenen Netz­
werken aufgebaut; dennoch: Wenn sie (wir) Akteure in ihre Komponenten
und Strategien zerlegen, ergibt sich eine Art Probenproblem, das daher
rührt, dass wir dafür gern Helden, große Männer, wichtige Organisationen
oder wesentliche Projekte auswählen. Warum geschieht das und welche
Konsequenzen zieht dies nach sich?
Es gibt zwei Hauptgründe dafür, sich die Großen und Mächtigen näher
anzusehen. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Art von Entlarvung:
Wenn wir sehen, dass diese Großen - wie wir - abends nicht einschlafen
können und am Morgen - wie wir - ihre Socken anziehen müssen, dann
erkennen wir (so besagt zumindest die Argumentation), dass sie doch nicht
so artverschieden von uns selbst sind: Sie sind zwar größer, jedoch nicht
besser, besonders oder ausgezeichnet. Dies entspricht Hemingways Teil
des berühmten Austausches mit F. Scott Fitzgerald:

Fitzgerald: »Die Reichen sind anders als wir.«


Hemingway: »Ja, sie haben mehr Geld.«21

Hemingways Argument zufolge stellt es einen analytischen Fehler dar, die


Großen und Mächtigen in einer anderen Weise zu beurteilen. Politisch
und moralisch erweist es sich ebenfalls als falsch, da eine solche Beurtei­
lung einen Beitrag zu ihrem weiteren Machterhalt bedeutet (vgl. Latour
1 1988a, 1988b). Der zweite Grund, sich auf die Großen und Mächtigen zu

(1 .
konzentrieren, ist der folgende: Da sie größer und mächtiger sind, beein­
flussen ihre Arten der Organisation und Ordnung das heterogene Netz­
werk des Sozialen in sehr viel größerem Ausmaß als die Strategien der
Erfolglosen. Wenn wir also die moderne Welt verstehen wollen, genügt es
'· nicht, das Versagen zu betrachten; stattdessen sollte man sich die Erfolge
vor Augen führen - oder vielleicht die Fälle heroischen Scheiterns (vgl.
Callon 1980; Law/Callon 1988 und Latour 1991b).
Beide dieser Gründe machen Sinn, wenigstens innerhalb gewisser
Grenzen - wenn auch nur innerhalb gewisser Grenzen. Obwohl die vor­
1 1
dringliche Aufgabe in der Dekonstruktion der Helden bestehen soll, kann
I['
man sich des Gefühls nicht erwehren, dass STS die Helden letztlich doch
interessanter findet als die Normalsterblichen. Es stehen aber noch ernst­
haftere Fragen auf dem Spiel. Wenn wir nämlich immer nur die Mächtigen
- oder die, die mit einiger Aussicht auf Erfolg nach der Macht streben -
auswählen, besteht eine echte Chance, dass wir der Gefahr des Manageria­
lismus erliegen. Es wird in unseren Analysen von aktiven, manipulativen

211 Aus F. Scott Fitzgeralds Notizbüchern wiedergegeben in Cohen/Cohen


• i li (1971); vgl. Callon/Latour (1981) .
,1

II1 ';::
MONSTER, MASCHINEN UND SOZIOTECHNISCHE BEZIEHUNGEN 1 357

Akteuren nur so wimmeln, die gute Chancen haben, spontan zur Spitze
der Organisation und zum Erfolg aufzusteigen, und die - wie Pasteur -
Aussichten haben, die Welt zu verändern, in der sie handeln. Die Frage
besteht dann nicht mehr im heterogenen Engineering, weil wir alle hetero­
gene Ingenieure sind, sondern in den Strategien, Ressourcen und dem
Charakter des heterogenen Engineering. Im Großen und Ganzen erwarten
Manager den Sieg, womit sie auch - im Großen und Ganzen - Recht ha­
ben. Im Großen und Ganzen managen sie - wie Star nahe legt - ihre
instabilen Netzwerke der Heterogenität in einer Art, die normativen Kon­
zeptionen von Kohäsion und Konsistenz entspricht. Allerdings sind sie -
wie Star weiter ausführt - von vielen anderen Akteuren umgeben, auf die
die genannten Attribute nicht oder nur teilweise zutreffen: Sie verfügen
nur über wenige Ressourcen, ihre Strategien sind begrenzt, ihre Erwartun­
gen herabgeschraubt. Die Folgen könnten in Fragmentierung, Leid und
Schweigen bestehen - Möglichkeiten, die sich nicht sehr gut mit dem
Managerialismus vereinbaren lassen.
Nun ein Argument zur Heterogenität - diesmal geht es jedoch nicht
um die von Materialien (obwohl wir in materiellem Sinn alle heterogene
Ingenieure sind), sondern um Strategien und Ressourcen. Hier besteht
eine Verbindung mit einem zweiten Punkt, der auf die Annahme qualitati­
ver Einheitlichkeit abzielt: Hemingways mächtiges Gegenargument zu
Scott Fitzgerald. Dabei handelt es sich um eine alte Debatte innerhalb der
Sozialtheorie: um die Beziehung zwischen quantitativen und qualitativen
Unterschieden. Man muss jedoch nicht in die klassische Form dieser
Debatte innerhalb des dialektischen Materialismus eintreten, um zu be­
merken, dass quantitative Unterschiede sich sehr wohl in qualitative ver­
wandeln können. Tatsächlich existiert besonders über diesen Punkt eine
Vielzahl an Literatur, auch innerhalb der STS-Forschung (vgl. Law 1991).
Star z.B. befasst sich mit der Art, in der die Literatur der Frage von
Eintrittskosten und Netzwerkexterna nachgeht. Isoliert betrachtet mag es
keinen Unterschied zwischen einem IBM- und einem »Acorn«-Rechner
geben; möglicherweise unterscheiden sie sich hinsichtlich der Kosten
kaum. Wenn aber jeder Konsument eher die eine als die andere Marke
kauft, stellen bald weder der Kaufpreis noch die relativen technischen Vor­
teile der beiden Systeme entscheidende Faktoren dar. Stattdessen dominie­
ren Fragen im Zusammenhang mit Kompatibilität (vgl. z.B. David/Bunn
1988). Was zuvor eine kleine quantitative Differenz darstellte - IBM ver­
kaufte einige Geräte mehr als »Acorn« -, entwickelte sich zu einer großen
quantitativen und (möglicherweise) qualitativen Differenz. In diesem (an­
genommenen) Fall gestaltete sich das Leben eines IBM-Besitzers besser
und einfacher, die Netzwerke sind größer und hilfreicher. Aber auch diese
qualitative Differenz ist im Prinzip umkehrbar, z.B. indem man »Acorns«
mit der Kapazität ausstattet, IBM-Programme zu verwenden und IBM-Dis­
ketten zu lesen.
358 1 JOHN LAW

Was ich also - kurz gefasst - ausdrücken möchte ist, dass sowohl He­
mingway als auch Scott Fitzgerald Recht haben oder zumindest - abhängig
von den Umständen - Recht haben könnten. Quantitative Unterschiede
können in qualitative umgewandelt und qualitative können entweder durch
qualitative oder quantitative Mittel aufgelöst werden. Es genügt also nicht
zu behaupten, dass die Mächtigen, die Manager, sich lediglich quantitativ
von den Elenden dieser Erde unterscheiden. Obwohl sie tatsächlich quanti­
tativ verschieden sind, besteht - zumindest zeitweise - nicht nur ein quanti­
tativer Unterschied. Wenn wir uns also - wie bisher in großen Teilen der
STS geschehen - allein auf diesen Aspekt konzentrieren, laufen wir Ge­
fahr, dass uns einige Arten, auf die sich Quantität (umkehrbar) in Qualität
verwandelt, entgehen.22 Anders ausgedrückt versäumen wir die Strategien,
mit denen die großen Verteilungen festgelegt und erhalten werden.

Das Problem der Verteilung

In der Heterogenitätsdiskussion bin ich hart mit STS umgegangen. Ich


habe ihnen vorgeworfen, dass sie in ihrer Behandlung der Verteilung
entweder deshalb versagen, weil sie einer heroisierenden Theorie des
Akteurseins verpflichtet sind, oder aufgrund ihrer Neigung, bevorzugt
Helden zur Dekonstruktion auszuwählen. Diese Tendenz führt sie nicht
nur zum Managerialismus, sondern auch (als Teil der Dekonstruktions­
strategie) zu einer Betonung der quantitativen und nicht der qualitativen
Unterschiede.23 Dies ist sicher reparabel, wenn STS nicht nur über Helden
nachdenkt, sondern auch über Opfer und ihre unterschiedlichen Schicksa­
le. Wenn sie sich sensibel zeigt gegenüber der Art und Weise, in der Diffe­
renzen zu Verteilungen werden sowie Quantitatives in Qualitatives umge­
wandelt wird (und tatsächlich auch umgekehrt das Qualitative in Quantita­
tives).24 Jedenfalls stellt das die Bedeutung von Stars Vorschlag dar (vgl.
auch Star 1991b). Und es ist ebenfalls reparabel, wenn wir Wege zur Erfor­
schung des Charakters von Verteilungsstrategien, d.h. der verschiedenen
Arten diskursiver und nichtdiskursiver Effekte, die innerhalb der Prozesse
heterogenen Konstruierens eingesetzt und reproduziert werden, finden
können.

22 1 Es gibt unzählige Beispiele dafür in der Sozialliteratur, z.B. Mary Douglas'


und Baron Isherwoods Analyse (1978) über den informationellen Sinn von Konsum
oder Jean Laves (1976) Beschreibung der Verwendung von »verrücktem Geld«.
23 1 Meiner Meinung nach repräsentiert ein Großteil des Interesses an Dauerhaf­
tigkeit - sichtbar z.B. im Beitrag von Latour (1991b) - den Versuch, mit diesem
Problem zurande zu kommen.
24 1 Dieser Punkt taucht sehr häufig in den STS-Arbeiten auf: dass die Dinge
auch anders sein könnten.
MONSTER, MASCHINEN UND SOZIOTECHNISCHE BEZIEHUNGEN 1 359

Trotz einiger offensichtlicher Fehlleistungen halte ich die STS-Perspek­


tive für reparabel. Wenn sie also reparabel ist, trifft dies auch auf die Sozio­
logie zu? Wiederum bin ich optimistisch. Soziologen, so möchte ich raten,
sollten das Beste an der STS erkennen - und das hat mit Überlappungen
zu tun.
Einerseits stellt sich die Frage nach der epistemologischen Bescheiden­
heit. Natürlich trifft es zu, dass wir nicht über absolutes Wissen verfügen
können; das bedeutet allerdings nicht auch, dass wir überhaupt nicht wis­
sen, nicht zwischen Wahrheit und Macht unterscheiden können. Und mit
Sicherheit bedeutet es nicht, dass wir zu ethischem oder politischem Op­
portunismus gezwungen sind. Stattdessen bedeutet es, dass wir uns ernst­
haft - ernsthafter als wir das vielleicht in der Vergangenheit gewohnt
waren - darum bemühen sollten, Wege zum Aufbau, zur Überzeugung
und Überredung jener zu finden, die genug unserer Interessen, Anliegen
und Standards teilen, um Interaktion überhaupt möglich zu machen. Ge­
nauso wie es auch bedeutet, ihnen aufmerksamer zuzuhören, Dinge wahr­
zunehmen, denen gegenüber wir vielleicht manchmal taub waren. Natür­
lich ist das idealistisch. Wir werden versagen: Wir werden niemanden
überzeugen, nicht zuhören, Wahrheit und Macht durcheinander bringen -
zumindest manchmal. Zu behaupten, es sei idealistisch, bedeutet jedoch
nicht, dass es unrealistisch ist - solange wir anerkennen, dass Lernen,
Wissen, Hören und Handeln Prozesse sind, Teile einer Reise, die ein Ziel,
aber kein Ende hat. 25
Hier beginnt nun der epistemologische Teil der Geschichte. STS sind
dann am besten, wenn sie mit ihren Überlappungen zu Recht kommt,
indem sie lokales Wissen in einer Art und Weise bildet, die weder die
Suche nach der großen Erzählung noch den Einbezug dessen, was
manchmal die >Verzweiflung< des moralischen Relativismus genannt wird,
anstrebt. Und dies ist ein Ort, an dem Soziologen etwas von der STS lernen
könnten - ebenso von ihrer ernsthaften Verpflichtung gegenüber Hetero­
genität, besonders der Heterogenität des Soziotechnischen. Ich habe ver­
sucht, die Botschaft zu betonen, dass die >soziale Ordnung< weder sozial
noch eine Ordnung ist; das Problem der >sozialen Ordnung< kann deshalb
auch nicht allein mit sozialen Mitteln gelöst werden. Strukturen liegen
nicht einfach in den Handlungen von Personen oder in Gedächtnisspuren
(vgl. Giddens 1984; Clegg 1989: 138ff.), sondern sie existieren in einem
Netzwerk von heterogenen Materialarrangements. Das Geniale an STS
besteht nun darin, dass sie dies entdeckt und sich die Wichtigkeit von
Materialüberlappungen in Bezug auf die >Sozialordnung< zu Herzen
genommen hat. Sie verstand, dass heterogene Ingenieure dort draußen die
Überlappungen arrangierten, ordneten, formten, regulierten und (mit
Sicherheit) auch von ihnen zu profitieren suchten, dass heterogene Inge-

25 1 Vgl. Paul Bellabys Kommentare zu Reisen und Pilgerfahrten (1991).


360 1 JOHN LAW

nieure - Akteure, ob menschlich oder nicht - im Arrangement dieser


Materialien konstituiert werden und dass solche Prozesse des Ordnens, der
Formgebung und der Bearbeitung dieser Überlappungen in ihrer eigenen
instabilen Art gemeinsam die so genannte soziale Ordnung ergeben.
Die Stärke von STS besteht in dem intuitiven Gefühl für das Ordnen
von Heterogenität, die Konstruktion und Rekonstruktion von Überlappun­
gen sowie die Konstitution von Akteurschaft zusammen mit der Unemp­
fänglichkeit gegenüber >natürlichen< Verteilungen. Ihre Unempfindlichkeit
gegenüber den Verteilungen von Leid stellt sowohl eine Stärke als auch
eine Schwäche dar. Die meisten Soziologen behandeln Maschinen - wenn
sie sie überhaupt wahrnehmen - als nur mit wenigen Rechten ausgestatte­
te Bürger zweiter Klasse ohne Sprecherlaubnis, deren Handlungen abgelei­
tet und abhängig von den Handlungen menschlicher Wesen sind (vgl.
Woolgar 1985).
Man kann auf diese Fehlleistung höchst beleidigend reagieren, wenn
man z.B. mögliche Analogien zwischen der Position von Frauen, Schwar­
zen und Maschinen aufzeigt. Aber gerade die Tatsache, dass dies als Belei­
digung aufgefasst wird (wovon ich ausgehe), bestätigt, was ich sage. Es
deckt auf, dass wir wirkliche Speziezisten sind und dass es inkorrekt, ja
sogar obszön ist, Analogien zwischen Menschen und Maschinen zu zie­
hen, außer wenn das in Form eines Witzes, einer Schmähung oder eines
hochintellektuellen metaphorischen Spiels geschieht.
Was hier geschieht ist, dass wir einen epistemologischen Unterschied
zwischen Menschen und Maschinen mit einer überlappenden Unterschei­
dung vermischen, die mit Ethik, Moral oder Politik zu tun hat. Wir reagie­
ren auf den Sog eines der von Isaac Asimov festgehaltenen Gesetze der
Robotik: die Verpflichtung (der Roboter natürlich!), niemals Menschen zu
verletzen. Im Rahmen der ethischen Verpflichtung bekenne ich mich voll
und ganz zu diesem Gesetz der Robotik - ich bin weder ein Nazi noch
betrachte ich mich im Augenblick als Maschine (trotz Steve Woolgars hilf­
reichem Versuch, die Grenzen zu verwischen). Es gibt aber mindestens
zwei Gründe, weshalb dieser Trennung keine vergleichbare Erklärungskraft
zugemessen werden sollte.
Mit dem ersten sind wir inzwischen bestens vertraut: Wir alle sind
heterogene Netzwerke, Produkte verworrener Überlappungen. Konnten wir
in der letzten Woche tatsächlich ohne Maschinen auskommen? Natürlich
nicht - weil wir alle zum Teil Maschinen sind. Wer etwas anderes denkt, hat
wahrscheinlich - wie ich - beschlossen, etwas anderes zu glauben. Trotz
der Darstellung in Donna Haraways kraftvoller Polemik über Cyborgs (vgl.
Haraway 1990), gehört es sich in wohlerzogener Gesellschaft nicht, sich
selbst >entmenschlichen< zu lassen. Maschinen sind nicht wie wir, nicht
wie Frauen, Schwarze, Angehörige der Arbeiterklasse oder Behinderte;
ihnen fehlt dasjenige, was immer es auch ist, das uns gegenwärtig als
MONSTER, MASCHINEN UND SOZIOTECHNISCHE BEZIEHUNGEN 1 361

Paradigma menschlicher Wesen auszeichnet.26 Hier besteht eine funda­


mentale Verteilung von Leid.
Das führt uns zu einem zweiten analytischen und ethischen Punkt,
nämlich dem, dass die Trennungslinie zwischen den wahlweise »Men­
schen« oder »Maschinen« genannten Objekten variabel und verhandelbar
ist und deshalb genauso viel über die Rechte, Pflichten, Verantwortungen
und das Versagen von Menschen wie über jene von Maschinen aussagt.
Der analytische Punkt befasst sich mit den diese Verteilung konstituieren­
den Methoden und den Wirkungen auf das Ordnen sowohl von »Maschi­
nen« als auch von »Menschen«. Auf diese Weise entwickelt sich auf jeden
Fall die Argumentation der STS, mit Sicherheit die Woolgars (1991), in
dem er die Notwendigkeit betont, nicht nur Computer, sondern auch ihre
Benutzer zu konfigurieren und zu testen. Es gibt aber auch einen ethi­
schen Aspekt. So wie die Vorstellung von Gender eine (reale) Verteilung
des Leides konstituiert, die Männern in gleicher Weise wie Frauen zusetzt
(?), so kann der Speziezismus der Diskriminierung von Maschinen uns
genauso wie den Maschinen, die wir wie beiläufig an die Peripherie unse­
rer menschlichen Zivilisation verbannen, Schaden zufügen.
Wir haben immer wieder gesehen, dass eine scheinbar in die Ordnung
der Dinge inskribierte Verteilung auch eine andere sein könnte; wie ich
bereits zu Beginn dieses Artikels sagte, weiß die Soziologie einiges über die
(früher) >natürlichen< Verteilungen wie Rassismus, Sexismus, Klassen­
und Altersvorurteile. Aber sie weiß wenig über den Speziezismus von
Maschinen, Tieren und Pflanzen - wir weisen diesen immer noch einen
anderen Platz in der Ordnung der Dinge zu. Die STS hat - wenn auch
vorsichtig- bereits damit begonnen, diesen Fehler zu korrigieren.27

Hoffnungsvolle Monster28

Obwohl STS-Forschende von verschiedenen Visionen ausgehen, denken


viele >soziotechnisch<, d.h. alle setzen sich mit Heterogenität auseinander
(vgl. Law 1991). Sie beschäftigen sich mit Überlappungen, damit, wie un-

26 1 Vielleicht ,mögen< die Maschinen es andererseits auch nicht, darüber nach­


zudenken, dass sie größtenteils von Menschen konstituiert sind.
27 1 Gedanken zur historischen Konstruktion des Unterschieds zwischen Men­
schen und Natur sind in Harding (1986) zu finden; ebenso im großartigen Aufsatz
über die Entwicklung der experimentellen Wissenschaft von Shapin und Schaffer
(1985).
28 1 Der Begriff stammt zusammen mit seinem biologischen Bezug aus dem
Titel von Nicholas Mosleys kraftvollem und kreativem Roman über Diskordanzen
und Überschneidungen. Die Idee verweist jedoch auch auf die Schriften von Donna
Haraway und Leigh Star.
362 1 JOHN LAW

terschiedliche Elemente zusammengebracht, Unterschiede und Ähnlich­


keiten konstruiert und erhalten werden. Die Frage der Aufrechterhaltung ist
von wesentlicher Bedeutung; nichts und niemand, keine Klasse, kein
Geschlecht kann über >Macht verfügen<, wenn nicht eine Reihe von Bezie­
hungen hergestellt und aufrechterhalten wird: eine Reihe von zwischen
diesem und jenem unterscheidenden Beziehungen (Verteilung), die an­
schließend die Beziehungen zwischen diesem und jenem reguliert. Da sich
alle mit Verteilung und Macht auseinander setzen, versuchen sie alle auf
die eine oder andere Art zu erforschen, wie Maschinen oder andere techni­
sche Materialien die von uns üblicherweise »soziale Beziehungen« genann­
ten Verbindungen infiltrieren, versteifen, reorganisieren oder auflösen. Der
Argumentation zufolge wird die Macht - in welcher Form auch immer sie
auftritt - immer wieder in den elaborierten, das Soziale und das Techni­
sche vereinigenden Tanz hineingewoben.
Welcher Natur ist dieser Tanz? Wer oder was hat die Musik dazu ver­
fasst? Die Autoren unterscheiden sich in ihrer Diagnose. Meiner Meinung
nach zielt die allgemeine Antwort auf Nicht-Reduktionismus ab. Es gibt
keine >letzten Instanzen<. Stattdessen entdecken die Autoren emergente
strukturelle Effekte, Eigenschaften von Beziehungen zwischen gegenseitig
konstitutiven soziotechnischen Elementen. Das Anliegen besteht also nicht
darin, einfache Erklärungen anzubieten (die nicht zu finden sind), sondern
innerhalb der Netzwerke Muster und Schaltkreise, die sich selbst reprodu­
zieren - und die sich daraus ergebenden Verteileffekte wahrzunehmen. 29
Aus diesem Grund beschäftigen sich viele der Autoren mit der durch die
Reproduktion implizierten Stabilisierung, und aus diesem Grund beschäf­
tigen sie sich auch mit Dauerhaftigkeit, der Art, in der das Quantitative
zeitweilig in die großen qualitativen Unterschiede oder Differenzen umge­
wandelt werden kann.
Ich möchte mit einem abgeänderten Gedanken von Marx schließen,
indem ich sage, dass Entitäten Geschichte machen, aber nicht unter den
von ihnen gewählten Bedingungen. Dialektischerweise sollte ich hinzufü­
gen, dass Entitäten auch von der Geschichte gemacht werden. Wenn wir
einmal verstanden haben, dass Entitäten und ihre Beziehungen kontinuier­
lich sind; wenn wir einmal verstanden haben, dass sie heterogen sind (was
die Soziologie nicht versteht); wenn wir einmal verstanden haben, dass ihre
Unterschiede und Verteilungen, die zwischen ihnen gezogen werden,
anders sein könnten; wenn wir einmal verstanden haben, dass ihre Ge­
schichte und Schicksale stark variieren (was die STS schwierig findet),
dann können wir anerkennen, dass wir alle Monster - ungeheuerliche,
heterogene Collagen - sind. Und wir werden verstehen, weshalb manche
Monster es so einfach finden, dass sie kaum wie solche aussehen; weshalb

29 1 Der ausgezeichnete Begriff »Schaltkreise der Macht« wurde von Stewart


Clegg geprägt (1989).
MONSTER, MASCHINEN UND SOZIOTECHNISCHE BEZIEHUNGEN 1 363

andere Monster wahrhaft elend und Leid ausgesetzt und aller Hoffnung
und Würde beraubt sind; und weshalb wir auf eine Form von bescheide­
ner, vielstimmiger Organisation hinarbeiten sollten, in der wir alle als
hoffnungsvolle Monster wiedergeboren werden könnten - als Orte, an
denen die notwendigen Unvereinbarkeiten, Inkonsistenzen und Überlap­
pungen auf sanfte und kreative Weise zusammenkommen.

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Technik ist stabilisierte Gesellschaft

BRUNO LATOUR

Zusammenfassung

Ist es möglich, Konzepte zu entwerfen, die die Unterscheidung zwischen


Technik und Gesellschaft ersetzen könnten? Neue Konzepte - Assoziation
und Substitution - könnten dazu beitragen, einige der traditionellen Fra­
gen der sozialen Ordnung, und besonders die der Erhaltung von Herr­
schaft und Macht, umzuformulieren. Statt jedoch andere Werkzeuge zu
verwenden, um Macht und Schwäche zu analysieren, wird argumentiert,
dass Macht und Herrschaft lediglich andere Werte von Variablen darstel­
len, die in ihrer ganzen Bandbreite erforscht werden sollten. Es wird eben­
falls dargelegt, dass durch die Rekonstruktion von Netzwerken möglicher­
weise eine vollständige Beschreibung von Macht und Herrschaft erreicht
werden könnte.

Die Sozialtheorie beschäftigt sich bereits sehr lange mit der Definition von
Machtverhältnissen (Bames 1988), empfand es jedoch immer als schwierig
herauszufinden, wie Herrschaft herbeigeführt wird. In diesem Artikel
schlage ich vor, dass wir uns vom ausschließlichen Interesse an sozialen
Beziehungen abwenden und sie in ein auch nicht-menschliche Aktanten -
Aktanten, die die Möglichkeit haben, die Gesellschaft als beständiges Gan­
zes zusammenzuhalten - beinhaltendes Gewebe einschließen, wenn wir
Herrschaft verstehen wollen. Die Unterscheidung zwischen materieller
Infrastruktur und symbolischer Superstruktur ist sicherlich sinnvoll, um
die Sozialtheorie an die Wichtigkeit des Nicht-Menschlichen zu erinnern;
sie gibt jedoch ein falsches Bild ihrer Mobilisierung und Tätigkeit inner­
halb der sozialen Verbindungen. Der vorliegende Beitrag zielt darauf, ein
anderes Repertoire zum Studium dieses Mobilisierungsprozesses zu erfor­
schen. Im ersten Teil verwende ich ein sehr einfaches Beispiel zur Illustrie­
rung des meiner Meinung nach richtigen Fokus zur Ermittlung des Ein-
370 1 BRUNO LATOUR

trittspunktes von Technik in das menschliche Kollektiv. Im zweiten Teil


analysiere ich den schönen, von Jenkins erforschten Fall der Kodak-Kame­
ra, um aufzuzeigen, wie die Sozialtheorie von der Technikgeschichte profi­
tieren kann. Schließlich versuche ich zu erklären, wie Stabilität und Herr­
schaft verstanden werden können, wenn das Nicht-Menschliche in das
soziale Gewebe eingebunden wird.

Von Kontext und Inhalt zu Assoziation und Substitution

In vielen europäischen Hotels findet man die folgende kleine Neuerung:


Große, unhandliche Gewichte werden an den Zimmerschlüsseln ange­
bracht, um die Gäste daran zu erinnern, ihren Schlüssel bei jedem Verlas­
sen des Hotels an der Rezeption abzugeben, statt ihn mit auf ihre Stadt­
erkundungen zu nehmen. Die als Imperativ auf einem Schild inskribierte
Aussage - »Bitte lassen Sie Ihren Zimmerschlüssel an der Rezeption,
bevor Sie das Hotel verlassen« - genügt scheinbar nicht, damit sich die
Gäste den Wünschen des Sprechers gemäß verhalten. Da unsere achtlosen
Gäste anscheinend an anderen Dingen interessiert sind, lösen sich ihre
Zimmerschlüssel immer wieder in Luft auf. Um Hilfe gerufen, ersetzt ein
findiger Kopf, den wir hier »Erfinder« nennen wollen, die Inskription
durch ein großes Metallgewicht; fortan muss sich der Hotelmanager nicht
länger auf das moralische Pflichtbewusstsein seiner Gäste verlassen: Sie
sind nur allzu froh, das ärgerliche, ihre Taschen ausbeulende und ihre
Handtaschen beschwerende Objekt loszuwerden und gehen selbstständig
zur Rezeption, um ihren Schlüssel abzugeben. Wo das Schild, die Inskrip­
tion, der Imperativ, Disziplin oder moralische Verpflichtung versagten,
trugen der Hotelmanager, der Erfinder und das Metallgewicht den Sieg
davon. Solche Disziplin hat jedoch auch ihren Preis: Der Hotelmanager
musste sich mit dem Erfinder, dieser sich mit verschiedenen Metallgewich­
ten und ihren Herstellungsprozessen verbinden.
Diese kleinere Innovation illustriert deutlich das allen wissenschaftli­
chen und technischen Forschungen zugrunde liegende fundamentale
Prinzip: Die Kraft, mit der ein Sprecher eine Aussage vorbringt, genügt
anfänglich nie, um den Pfad, dem diese Aussage folgen wird, vorauszusa­
gen. Dieser Pfad hängt davon ab, was nachfolgende Zuhörer mit der Aus­
sage anfangen. Falls der Zuhörer - also im vorliegenden Fall der Hotelgast
- den auf dem Schild inskribierten Befehl vergisst oder falls er die Sprache
nicht spricht, reduziert sich die Aussage auf ein bisschen Farbe auf einem
Stück Karton. Falls ein gewissenhafter Hotelgast dem Befehl folgt, ent­
spricht er dem Imperativ und verleiht ihm damit Realität. Die Stärke der
Aussage hängt folglich teilweise von dem ab, was auf dem Schild geschrie­
ben ist und teilweise davon, wie jeder Zuhörer mit der Inskription umgeht.
Tausend verschiedene Gäste werden tausend verschiedenen Pfaden folgen,
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 371

nachdem sie den Befehl gelesen haben. Um diese Pfade vorherzusagen,


hat der Hotelmanager zwei Möglichkeiten: Entweder macht er alle Gäste
gleich, indem er sicherstellt, dass sie die Sprache verstehen, und dass ande­
rerseits in einem europäischen Hotel zu wohnen bedeutet, über ein ab­
schließbares, privates Zimmer zu verfügen, dessen Schlüssel beim Verlas­
sen des Hotels an der Rezeption abgegeben werden muss. Oder er kann
seine Aussage in einer Weise gewichten, dass viele verschiedene Gäste sich
auf dieselbe Art benehmen, ungeachtet ihrer Muttersprache oder vorange­
gangener Hotelerfahrungen. Er hat die Wahl zwischen Inkorporation und
Exkorporation.
Der grammatische Imperativ fungiert als erstes Gewicht - »Geben Sie
Ihren Schlüssel ab«; die Inskription auf dem Schild stellt das zweite Ge­
wicht dar; das höfliche, das Wohlwollen des Gegenübers erhaschende und
deshalb dem Imperativ hinzugefügte »bitte« das dritte; die Masse des
Metallgewichtes steuert ein viertes bei. Die Anzahl der der Aussage hinzu­
gefügten Gewichte hängt einerseits vom Widerstand der Gäste, von ihrer
Achtlosigkeit oder Wildheit und ihrer Laune, andererseits davon, wie
unbedingt der Hotelmanager seine Gäste kontrollieren möchte, und
schließlich von der Schlauheit der Gäste selbst ab. Die Programme des
Sprechers verkomplizieren sich, wenn sie auf die Anti-Programme der Zu­
hörer reagieren. Wenn ein seltsamer Gast den Ring zerbrechen würde, der
den leichten Schlüssel mit dem schweren Gewicht verbindet, müsste der
Erfinder zur Vermeidung eines solchen Bruches einen gelöteten Ring
anbringen - dies entspricht einem Anti-Anti-Programm. Wenn ein para­
noider Hotelmanager den Schlüsselverlust mit hundertprozentiger Sicher­
heit unterbinden wollte, könnte er an jede Tür eine Wache postieren, die
die Gäste durchsuchte - was aber dann vermutlich das Wegbleiben der
Gäste zur Folge hätte. Nur wenn den meisten dieser Anti-Programme
entgegengewirkt wird, wird der Pfad der Aussage vorhersagbar: Bis auf
wenige Ausnahmen gehorchen die Gäste dem Befehl und der Hotelmana­
ger nimmt den Verlust einiger Schlüssel in Kauf.
Der befolgte Befehl ist jedoch nicht länger derselbe wie der ursprüngli­
che. Er ist übersetzt, nicht bloß übermittelt worden. Während wir ihm fol­
gen, gehen wir nicht einem Satz durch den Kontext seiner Anwendung
nach oder bewegen uns von der Sprache zur Praxis. Das Programm »Ge­
ben Sie Ihren Schlüssel an der Rezeption ab«, das nun von der Mehrheit
der Gäste gewissenhaft befolgt wird, ist einfach nicht mehr dasselbe wie
das, mit dem wir begonnen haben; seine Verschiebung hat es transfor­
miert. Die Gäste geben nicht länger ihren Zimmerschlüssel ab, sondern sie
entledigen sich eines sperrigen, ihre Taschen deformierenden Objekts.
Wenn sie sich den Wünschen des Managers fügen, geschieht das nicht,
weil sie das Schild gelesen hätten oder weil sie besonders gut erzogen
wären, sondern weil sie nicht anders können und noch nicht einmal da­
rüber nachdenken. Die Aussage ist nicht länger dieselbe, die Gäste und die
372 1 BRUNO LATOUR

Schlüssel sind nicht mehr dieselben - noch nicht einmal das Hotel ist noch
genau dasselbe (Akrich 1987; Latour 1991; Law 1986a).
Dieses kleine Beispiel veranschaulicht das >erste Prinzip< jeder Studie
über Innovation in Wissenschaft und Technik: Das Schicksal einer Aussa­
ge liegt in den Händen anderer (Latour 1987). Jede Terminologie, die wir
anzuwenden gedenken, wenn wir der Integration nicht-menschlicher
Elemente in soziale Verbindungen nachgehen wollen, sollte sowohl die
Folge verschiedener, die Aussage transportierender Hände als auch die
Reihe von Transformationen, denen die Aussage unterliegt, in Betracht
ziehen. Wenn diese Folge von Transformationen berücksichtigt werden
soll, bedarf es zuerst einmal der Bedeutungserklärung des Begriffs »Aus­
sage«. Mit einer Aussage bezeichnen wir alles, was von einem Sprecher
eingeworfen, versandt oder delegiert wird; die Bedeutung einer Aussage
kann sich während ihres Weges als Funktion des ihr vom Sprecher mitge­
gebenen Gewichtes verändern. Die Aussage kann sich auf ein Wort, einen
Satz, ein Objekt, einen Apparat, eine Vorrichtung oder auch eine Institu­
tion beziehen. In unserem Beispiel kann sie sich auf einen Satz des Ho­
telmanagers beziehen - aber auch auf die materielle Vorrichtung, die die
Gäste letztlich zur Schlüsselabgabe zwingt. Die Bezeichnung »Aussage«
bezieht sich also nicht auf einen linguistischen Terminus, sondern auf
einen Gradienten, der uns von Wörtern zu Dingen und umgekehrt auch
von Dingen zu Wörtern trägt.
Sogar bei einem solch einfachen Bespiel ist bereits nachvollziehbar,
dass wir bei der Erforschung von Wissenschaft und Technik nicht einer
gegebenen Aussage durch einen Kontext nachgehen können. Stattdessen
müssen wir der simultanen Produktion von >Text< und >Kontext< folgen.
Mit anderen Worten muss jede Trennung, die wir zwischen der Gesell­
schaft einerseits und wissenschaftlichen oder technischen Inhalten ande­
rerseits vornehmen, notwendigerweise eine willkürliche sein. Die einzige
nicht-willkürliche Trennung besteht in der Abfolge von Unterscheidungen
zwischen >bloßen< und >gewichteten< Aussagen. Ausschließlich diese Unter­
scheidungen und Abfolgen bilden unsere sozio-technische Welt; sie müs­
sen wir zu dokumentieren und aufzuzeichnen lernen.
Wir möchten sowohl der Kette von Sprechern und ihren Aussagen als
auch der Transformation von Sprechern und ihren Aussagen folgen. Dazu
definieren wir zwei Dimensionen: Assoziation (ähnlich dem Syntagma der
Linguisten) und Substitution (oder Paradigma in der linguistischen Termi­
nologie). Um noch weiter zu vereinfachen, können wir auch von der UND­
Dimension - entsprechend dem Breitengrad - und der ODER-Dimension
- die die Rolle des Längengrades übernimmt - sprechen. Jede Integration
von Nichtmenschen kann durch ihre Position auf den UND-/ODER-Ach­
sen sowie durch die Aufzeichnung ihrer sie sukzessive definierenden
UND- und ODER-Positionen verfolgt werden. Die vertikale Dimension
korrespondiert mit der Erforschung von Substitutionen, die horizontale mit
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 373

der Anzahl von Akteuren, die sich selbst an die Innovation gebunden
haben (vgl. Latour/Mauguin/Teil 1992).
Um am Beispiel der Schlüssel ein Diagramm zu erstellen, nehmen wir
den Standpunkt des Hotelmanagers als Ursprung an. Er stellt den Spre­
cher - den Enunziator - dar, also den, der die Aussage macht. Die Bahn,
der der Hotelmanager seine Gäste - die Zuhörer - folgen lassen will,
nennen wir Handlungsprogramm. Wir verwenden eingeklammerte Zahlen
zur Nummerierung der nacheinander folgenden Versionen eines Hand­
lungsprogramms, wie es von einem einzigen Standpunkt aus Darstellung
findet. Alle Programme platzieren wir links vom ausgewählten Ursprungs­
punkt, alle Anti-Programme rechts. Die Segmente der Handlungspro­
gramme sollen ebenfalls mit eingeklammerten Zahlen nummeriert wer­
den. Schließlich erscheint die Trennungslinie zwischen Programmen und
Anti-Programmen, die mit der Frontlinie der von uns hier verfolgten Kon­
troverse korrespondiert, in Fettdruck.

Abbildung 1

Programm Anti-Programm UND

l tflt tUtltltfHtfltltli
'
(1) {

(2)
tttfHt HHltfUtHtftH

..,
{ f
'
(3)

(4) tftfHtHtltttlUtfHlt llt


ODER Frontline

Der Hotelmanager fügt nach und nach Schlüssel, mündliche Mitteilungen, schriftli­
che Mitteilungen und schließlich Metallgewichte hinzu; jedes Mal modifiziert er
damit die Haltung eines Teils der Gruppe der ,Hotelgäste<.

In Version (4) stimmen sowohl der Hotelmanager als auch nahezu alle
seine Gäste überein, während in Version (1) der Manager der Einzige zu
sein scheint, der die Rückgabe der Schlüssel wünscht. Das Syntagma oder
die Assoziation oder auch UND-Dimension haben sich auf dauerhafte Art
ausgedehnt. Diese Ausdehnung nach rechts hatte jedoch ihren Preis: Es
erwies sich als notwendig, entlang der ODER-Linie abzusteigen und das
Handlungsprogramm mit einer Reihe subtiler Übersetzungen anzurei­
chern. Zunächst werden die Wünsche des Managers lediglich durch einen
Satz in der Befehlsform ergänzt, dann durch ein geschriebenes Schild und
schließlich durch Metallgewichte. Die Gäste werden nach und nach gekö-
374 1 BRUNO LATOUR

dert, bis sie schließlich ihre Anti-Programme aufgeben und sich dem Pro­
gramm >ergeben<. Aber die Finanzen, Energie und Intelligenz des Hotel­
managers werden ebenfalls nach und nach aufgezehrt! Am Anfang existier­
te der ,bloße< Wunsch; am Ende - einem Ende, das immer nur vorläufigen
Charakter haben kann, da immer die Möglichkeit der Manifestation ande­
rer Anti-Programme besteht - war er gewichtig; war er am Anfang irreal,
hatte er am Ende einiges an Realität erlangt.
Ein solches Diagramm zeigt weder die Verschiebung einer unwandel­
baren Aussage noch diejenige eines technischen Objekts - in diesem Fall
eines von einem Gewicht beschwerten Schlüssels - innerhalb eines Ver­
wendungs- oder Anwendungskontextes. Stattdessen zeigt es eine Bewe­
gung, die weder linguistisch noch sozial, weder technisch noch pragma­
tisch ist. Das Diagramm verfolgt sukzessive Veränderungen, denen die
Gäste, Schlüssel, Hotels und Hotelmanager unterliegen. Dies geschieht
durch die Aufzeichnung der Arten, in denen für eine (syntagmatische)
Verschiebung innerhalb der Assoziationen mit einer (paradigmatischen)
Verschiebung innerhalb der Substitutionen ,bezahlt< wird. In einem sol­
chen Diagramm kostet jeder Schritt nach rechts einen weiteren nach un­
ten.
Der Grad der Verbundenheit eines Aktanten mit einem Handlungspro­
gramm variiert von Version zu Version. Die Begriffe »Aktant« und »Grad
der Verbundenheit« sind symmetrisch- d.h., sie können auf gleiche Weise
sowohl auf Menschen als auch auf Nicht-Menschen angewendet werden.
Der Schlüssel ist durch einen Ring eng mit dem Gewicht verbunden, ge­
nauso wie eine enge Verbindung zwischen dem Manager und seinen
Schlüsseln besteht. Es macht keinen Unterschied, dass das erste Verbin­
dungsglied >physisch< genannt werden kann und das zweite >emotional<
oder >finanziell< (Law 1986b; Bijker/Law 1992; Bijker/Hughes/Pinch
1986). Das Problem für den Hotelmanager besteht genau darin, einen Weg
zu finden, seine Schlüssel mit der Rezeption zu verbinden, wenn die Gäste
das Hotel verlassen, und er erreicht das, indem er seine Gäste auf eine en­
gere und dauerhaftere Weise an die Rezeption bindet, als die Schlüssel an
die Taschen seiner Gäste gebunden sind.
Wir bemerken im Diagramm, dass sich die soziale Gruppe der Hotel­
gäste nach und nach transformiert. Die Akkumulation von Elementen -
des Willens des Managers, der Härte seiner Worte, der Vielzahl seiner
Schilder, der Gewichte seiner Schlüssel - erschöpft die Geduld einiger Ho­
telgäste, die schließlich aufgeben und der Zusammenarbeit mit dem Ma­
nager zustimmen, indem sie folgsam ihre Schlüssel zurückgeben. Die
Gruppe von Hotelgästen, die noch nicht in das (vorläufige) Ende einge­
bunden sind, besteht (nach Angabe des Managers) aus Leuten mit un­
überwindlichem Trotz oder aus außerordentlich zerstreuten Professoren.
Diese graduelle Transformation betrifft jedoch nicht nur die soziale Grup­
pe der >Hotelgäste<, sondern auch die Schlüssel. Plötzlich, gleichgültig und
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 375

unterschiedslos sind sie zu >europäischen Hotelschlüsseln< geworden - zu


sehr spezifischen Objekten, die wir nun genauso sorgfältig unterscheiden
und isolieren müssen wie die Hotelgäste. Hierin besteht nun das Haupt­
gewicht bei der Betrachtung von Innovationen: Innovationen verdeutlichen
uns, dass wir niemals in einer Welt von Akteuren arbeiten, denen feste
Umrisse zugeschrieben werden könnten. Nicht nur variiert ihr Grad an
Verbundenheit mit einer Aussage; ihre Kompetenz, sogar ihre Definition
kann transformiert werden. Diese Transformationen, denen die Akteure
unterliegen, sind von wesentlicher Bedeutung für uns, wenn wir Innova­
tionen untersuchen, weil sie enthüllen, dass der vereinheitlichte Akteur -
in diesem Fall der seine-Hotelschlüssel-vergessende-Hotelgast - selbst aus
einer Assoziation anders verteilbarer Elemente besteht. Das Öffnen und
Schließen dieser Black Boxes hat bislang das Verstehen der Einstiegspunk­
te von Innovationen zu einem heiklen Prozess gemacht.
Es ist festzustellen, dass im hier vorgestellten Fall der Erfolg der Inno­
vation - also ihre Ausdehnung nach (aus der Perspektive des Managers)
rechts - nur durch die konstante Erhaltung der gesamten Abfolge akkumu­
lierter Elemente ermöglicht wird. Nur weil der Hotelmanager darauf be­
steht, seine Schlüssel zurückzubekommen, er den Gast vernehmlich erin­
nert, Schilder aufstellt und schließlich die Schlüssel mit Gewichten be­
schwert, kann er die Gäste zur Disziplin anhalten. Durch diese Akkumula­
tion erhalten wir den Eindruck von Realität; dennoch wäre auch ein ande­
res Szenario vorstellbar.

Abbildung 2
UND
1 3 4 5 6

Manager Gäste Verlorene Schlüssel


(1)
Manager Anordnung Gäste Gäste Verlorene Schlüssel
(2)
Manager Zeichen Gäste Gäste Verlorene Schlüssel
(3)
Manager Gewichte Schlüssel Gäste Verlorene Schlüssel
(4)

(5)
Gewichte Schlüssel Gäste Verlorene Schlüssel

Frontline
ODER

Der Manager kann seine Kunden darum bitten, ihre Schlüssel abzugeben;
nachdem er jedoch mehrere Schilder aufgestellt hat, erliegt er möglicher­
weise dem Eindruck, genug getan und nichts mehr zu sagen zu haben. Im
376 1 BRUNO LATOUR

Ergebnis folgen genauso viele Gäste weder den mündlichen noch den
schriftlichen Instruktionen. In seinem Herzen der Technik ergeben, wählt
unser guter Mann eine technische Lösung und delegiert alle Arbeit an das
Objekt: Er beschwert alle Schlüssel, ohne weitere Schilder aufzustellen
oder mündliche Instruktionen zu geben. Dadurch erreicht er, dass sich ei­
nige Gäste mehr seinen Wünschen fügen, wird dessen aber bald überdrüs­
sig und beendet sein Programm. Was bleibt in diesem Fall noch übrig? Ei­
ne Anzahl Schlüssel, die durch einige schöne Metallringe fest mit einer
Anzahl von Metallgewichten verbunden sind, sowie Gäste, die die Schlüs­
sel/Gewicht-Kombination fröhlich mit sich herumtragen. Was den Hotel­
manager betrifft, so weiß niemand mehr, was er eigentlich will. In diesem
Szenario würde die letzte Version (5) aus der Sicht des ursprünglichen
Sprechers weniger Elemente assoziieren und wäre - unserer Definition
gemäß - folglich weniger real. Für uns als Beobachter der Mobilisierung
des Nicht-Menschlichen in menschlichen Gefügen jedoch besteht die ein­
zig interessante Realität in der Form der Frontlinie. Während in den meis­
ten Innovationsstudien die Asymmetrien zwischen dem Durchführbaren
und dem Undurchführbaren, dem Realen und dem Imaginierten, dem
Realistischen und dem Idealistischen im Vordergrund stehen, erkennt un­
sere Darstellung lediglich Variationen von Realisierung und De-Realisierung.
Die Frontlinie, die durch die Erforschung des Zusammenhaltenden und
des Nicht-Zusammenhaltenden nachgezeichnet wurde, zeichnet die unter­
schiedlichen Kompatibilitäten und Inkompatibilitäten zwischen Menschen
und Nicht-Menschlichem - d.h., die Sozio-Logik der Welten, in denen wir
leben - auf.
Die beiden Szenarien unseres Beispiels zeigen, wie schwierig es ist, die
gepaarten Fallstricke von Soziologismus und Technologismus zu umge­
hen. Niemals werden wir mit bloßen Objekten oder sozialen Beziehungen
konfrontiert, sondern mit Ketten, die aus Menschen (M) und Nichtmen­
schen (N) bestehen. Niemand hat jemals eine lediglich soziale Beziehung
gesehen - wenn nicht in der Form des Hotelmanagers, der seine Gäste
nicht disziplinieren kann -, noch hat jemand eine lediglich technische Be­
ziehung gesehen - wenn nicht in Form von Schlüsseln und Gewichten, die
alle vergessen haben.
Stattdessen werden wir stets mit Ketten konfrontiert, die das Muster
M-N-M-N-N-N-M-M-M-M-N aufweisen, wobei »M« für menschlicher, »N«
für nicht-menschlicher Aktant steht.
Natürlich hat eine M-M-M-Konstellation das Aussehen von sozialen Be­
ziehungen, während eine N-N-N-Verbindung eher einem Mechanismus
oder einer Maschine gleicht; wesentlich ist jedoch dabei, dass sie immer in
längere Ketten integriert sind. Wir erforschen die Kette (das Syntagma)
oder ihre Transformationen (das Paradigma), aber niemals nur einige ihrer
Aggregate oder Knoten. Statt also Fragen zu stellen wie: »Ist das sozial?«,
»Ist das technisch oder wissenschaftlich?«, »Werden diese Techniken von
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 377

der Gesellschaft beeinflusst?« oder »Wird diese >soziale Beziehung< von


der Technik beeinflusst?«, fragen wir einfach: »Hat ein Mensch einen
Nicht-Menschen ersetzt?« - »Hat ein Nicht-Mensch einen Menschen er­
setzt?«, »Wurde die Kompetenz dieses Akteurs modifiziert?«, »Wurde die­
ser Akteur - menschlich oder nicht-menschlich - von einem anderen er­
setzt?«, »Wurde diese Assoziationskette erweitert oder modifiziert?«.
Macht stellt nicht eine Eigenschaft eines einzelnen Elementes, sondern ei­
ne der gesamten Kette dar.

Das Zusammenweben einer Technikgeschichte

Die hauptsächliche Schwierigkeit bei der Integration von Technik in die


Sozialtheorie besteht im Mangel an narrativen Ressourcen. Wir wissen, wie
man menschliche Beziehungen, aber auch Mechanismen beschreibt; wir
wechseln oft zwischen Kontext und Inhalt, um über den Einfluss der Tech­
nik auf die Gesellschaft - und umgekehrt - zu sprechen, aber wir sind weit
davon entfernt, diese beiden Ressourcen zu einem integrierten Ganzen
verweben zu können. Das erweist sich oft als unglücklich, weil immer
dann, wenn wir eine stabile soziale Beziehung entdecken, es die Einfüh­
rung von etwas Nicht-Menschlichem ist, das diese relative Dauerhaftigkeit
erklärt. Als die produktivste Art, neue narrative Mittel zu schaffen, hat sich
die Untersuchung der Entwicklung einer Innovation erwiesen (Bijker et al.
1986; Bijker/Law 1992; Hughes 1983). Diese jüngsten Geschichten gestat­
ten uns, von machtlosen Ingenieuren zu einer so vollständigen Herrschaft
zu gehen, dass sie unsichtbar geworden ist. Dies ist nun die Landschaft, in
der menschliche Handlungen und menschlicher Wille mühelos fließen.
Wenden wir uns z.B. Jenkins' Geschichte der gleichzeitigen Erfindung
der Kodak-Kamera und des Massenmarktes für Amateurfotografie zu (Jen­
kins 1975, 1979). Wir kürzen sie jedoch etwas ab, indem wir jedes Pro­
gramm und Anti-Programm identifizieren und nach und nach alle neuen
Akteure - menschliche oder nicht-menschliche, einzelne oder kollektive -
aufführen.

Verkürztes Skript eines sozio-technischen Pfades (nach Jenkins'):

11 Ich akzeptiere diese Geschichte als im Wesentlichen korrekt, da ich lediglich


zeigen wollte, wie eine solche Erzählung der Sozialtheorie bei der Integration der
Technik in ihren Fragenkanon behilflich sein kann. Wenn eine Version eine vorhe­
rige noch einmal verwendet, ist die Nummer der Black Box-Version in Fettdruck
nachgestellt. Das Symbol -//- verweist auf die Trennlinie zwischen Programmen
und Anti-Programmen (aus Eastmans Perspektive). Zu Kodierungsproblemen vgl.
Latour/Mauguin/Teil (1992).
11 ]', I !
1il'il11
111 i'1 i1 i
11 11i'1,11
378 1 BRUNO LATOUR i·':-i'

1l 1,111,1
(1) Profi-Amateur (A)/Daguerrotypie (B)

1 l1,11 1
(2) Profi-Amateur (A)/Kollodium-Nassplatte (C) 1850/Papierherstellung (D) -//- al-

,:11 f111l
les sofort selbst tun
(3) Profi-Amateur (A)/Papierherstellung (D)/trockene Kollodiumplatten werden
ihrer Zeit voraus hergestellt (E) 1860-1870 -//-

i (l\li'1.
i'1i11 1
(4) Profi-Amateur/Papierherstellung (D)/empfindlichere trockene Gelatineplatten
1870-1880/Platten herstellende Firmen sind ihrer Zeit voraus -//-

(1i! 1 1
(5) Profi-Amateur/Papierherstellung/trockene Gelatineplatten/Platten herstellen-
['!

l·il1 il l
de Firmen sind ihrer Zeit voraus/kontinuierliche Plattenüberzugsmaschine/
Eastrnan -//·

1 1il11l
(6) (5) Kapital von Strong/EASTMAN DRY PLATE COMPANY (Eastrnan Tro-
ckenplatten-Gesellschaft) 1881-1883 -//- niedriger Anfangspreis/einfacher

JI
1 il l 1'1
Wettbewerb

11!1' 1 1
(7) (6) Konsortium von Plattenherstellern -//- noch immer begrenzter Markt/zer-
brechliche Platten

I
(8) der flexible Walker-Film/Walkers Taschenkamera 1884 -//·

f111111
(9) Rollenfilm statt Filmplatte/Kameras, die diese Filme verwendeten -//· Bis jetzt
existiert nichts anderes als schwere, Filmplatten verwendende Filmkameras

1
auf dem Markt

1i1 1
(10) Film verwendende Kameras/in England entwickelt Warnerke 1870 seinen

1
Prototyp eines nicht patentierten Rollenfilms/Rollenhalter/zwei mit Kollo-
l
I'
dion überzogene Papierrollen -//- zu teuer/schwieriger Austausch/ungewisse

lii'
Märkte/Verzerrung führt zu undeutlichen Bildern/nicht sehr verlässlich/

1!
noch für Profis
Eastrnan/Walker/eine Gesellschaft mit hohem Status/kommerzielles Netz-

1 l1I
(II)
werk/Rollenhalter/flexibler Film in Rollen/Fließband-Fertigungs-Maschine
·//-

1 11
(12) (u) 1884 Gelatineschichten plus Kollodion -//· zerbrechlich

11 111
(13) (12) Papier/Kollodion -//- zerbrechlich
(14) (13) Papier/Gelatine -//· zerbrechlich

111111
(15) (14) Papier/lösliche Gelatine/weniger lösliche fotosensitive Gelatine ·//- Ver-

11 1 1
zerrung
(16) (15) Zur Vermeidung von Verzerrung Gelatine auf der Rückseite/dicke Gela-

1ir 1
tineschicht -//-

1ll1li11 111li
l
1 (17) (16) Rollenhalterrahmen/Feder gegen Verzerrung/entfernbare Teile gegen
Ladung und Entladung/Messtrommel/Auslöser zur Weiterbeförderung des

i1il l\i!"l'll/11
Films/Locher zur exakten Markierung -//-

, 1 l,1
11i11 1ll1 11,!
(18) (17) Früh im Jahr 1884 kontinuierliche Papiermaschine für Seriendruck -//·
(19) (18) Patente -//· 1885 Beanspruchung des Houston-Patentes/gestanzte Löcher

111 11111"1111
in Rollenfilm für exakte Markierung/Vermeidung von Doppelbelichtungen

1111111111111111 11
(20) (19) Frühling 1889 Houston verkauft das Patent -//- sehr teuer
(21) (20) Neue Handelsgesellschaft EASTMAN DRY PLATE AND FILM COM-

'1i111l'1i' ,l !I1J1 II
PANY/Strong/Walker/acht Aktionäre/Zulieferer stellt Rollenhalter her -//-

1 passionierte Filmfans

111
l1l! Jl11 :l1i11,
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 379

(22) (21) Ende 1885 Filme sind jetzt in langen Streifen erhältlich
( 23) (22) Verführt führende Persönlichkeiten der Fotografie/weltweite Einnahmen
Juni 1885 London-//-
(24) (23) Wamerke sagt: »Er ist besser als meiner und anders aufgrund der Mas­
senproduktion.«-//- Filme sind zu zart zum Entwickeln/gefallen Spezialisten
nicht, da von schlechterer Qualität als Platten
(25) Eastrnans Druckpapier ist sehr gut/professioneller Markt zeigt sich interes­
siert/Eastrnan-Gesellschaft nimmt Fixierung und Entwicklung in Serie vor/
1887 6000 Entwicklungen pro Tag -//· Markt für Entwicklungen noch be­
grenzt
(26) Film nicht gut für Fachleute, gut für Amateure -//-Fallenlassen des Profi­
Amateurs (Öffnen der Black Boxes (2) bis (6))
(27) Gut für Amateure/Massenmarkt -//- keine Kamera Sommer 1887
(28) Massenmarkt/flexibler Film (16)/existierende Kameras/Entwicklungsfixie­
rung von der Eastrnan-Gesellschaft -//- Amateure nicht interessiert, da exis­
tierende Kameras schwer zu gebrauchen
( 29) Massenmarkt/flexibler Film (16)/existierende Kameras/Entwicklungsfixie­
rung von der Eastrnan-Gesellschaft -//- Benutzer müssen nichts tun -//- die
Eastrnan-Gesellschaftverrichtet die gesamte Arbeit
(3o) Massenmarkt/Eastrnan-Kamera/flexibler Film/1887 der Name Kodak/25 Dol­
lar/100 Aufnahmen/Eastman kommerzielles Netzwerk/Gebrauchshand­
buch/Anzeigen-//-
(31) (30) Triumphaler Empfang -//- Film noch immer zerbrechlich
(32) (31) Ersatz für die Unterstützung von Nitrozellulosepapier/Verschiebung der
Rollen vor statt hinter die Brennebene -//-
(33) (32) Ganze Welt/Preise/Massenmarkt bestätigt -//- Zelluloidprobleme: Ver­
käufe sinken 1892-1893
(34) (33) Neue Unterstützung für Film/Markt boomt-//- potentielle Konkurrenten
und Patente
(35) (34) Kauft alle Patente zurück
(3 6) (35) 1899 große Industrie/Massenproduktion/Massenmarkt ausgeweitet auf
Amateure von 7 bis 77 Jahren/Hunderttausende von Kameras verkauft-//-

Diese Tafel fasst die simultanen Erfolgsgeschichten des Aufbaus eines


neuen Objekts (der Kodak-Kamera) und eines neuen Marktes (des Mas­
senmarktes) zusammen. Bemerkenswert an dieser Geschichte ist, dass
man niemals mit zwei Repertoires - Infrastruktur und Superstruktur,
Technik und Ökonomie, Funktion und Stil - konfrontiert wird, sondern
mit sich verschiebenden Konstellationen von Assoziationen und Substitu­
tionen. Der Film substituiert die Platten, das trockene Kollodion das nasse,
bestimmte Kapitalisten ersetzen andere - und vor allem treten durch­
schnittliche Verbraucher an die Stelle von Fachleuten. Ist der Konsument
letztlich zum Kauf einer Kodak-Kamera gezwungen? In gewisser Weise ja,
da die gesamte Landschaft nun so aufgebaut ist, dass die einzig noch mög-
380 1 BRUNO LATOUR

liehe Handlung darin besteht, zur Eastman-Vertretung zu hasten. Diese


Herrschaft wird jedoch erst gegen Ende der Geschichte sichtbar; während
vieler anderer Stufen in der Geschichte war die Innovation höchst flexibel,
verhandelbar, der Willkür eines kontingenten Ereignisses ausgeliefert. Die­
se Variation macht Technik zu solch einem Rätsel für die Sozialtheorie.
Anhand der vereinfachten Geschichte der Kodak-Kamera sollen einige sol­
cher Rätsel im Folgenden genauer untersucht werden.

Trajektor oder Übersetzung?

Das erste dieser Rätsel umfasst den Begriff des Trajektors. Beispielsweise
könnte der Kurator eines Technikmuseums sich versucht fühlen, aufein­
ander folgende Versionen früher Kameras in einem Ausstellungskasten zu
verbinden. Es handelt sich dabei offensichtlich um harte, physische, ein­
fach aufzubewahrende und ausstellbare Objekte. Der Kurator leugnet die
Existenz des > Übrigen< - all der Fotografen, Gegenstände, Märkte und In­
dustrien, die die Kameras umgaben - nicht, stattdessen wird all dies in ei­
nen Kontext transformiert, innerhalb dessen sich das technische Objekt be­
wegte, wuchs, veränderte oder an Komplexität zunahm. Wenn wir Wamer­
kes Erfindung und die erste Eastman-Kamera vergleichen, stellen wir fest,
dass sie sich in gleicher Weise voneinander unterscheiden wie die Versio­
nen (ro) und (24) der oben angeführten Tabelle - eine Episode, in der
Wamerke in allergrößter Höflichkeit Eastmans Originalität anerkennt. Der
Grad an Ähnlichkeit muss als Index einer Assoziationskette angenommen
werden.
Aus der Perspektive des Trajektors, eines aus Glas und Holz gefertig­
ten, sich durch die Gesellschaft bewegenden Objekts, sollten diese beiden
Innovationen genauso wenig in einem Ausstellungskasten verbunden wer­
den wie eine Nähmaschine und ein Operationstisch. Beim Durchqueren
der Übersetzungen kreiert der Trajektor surrealistische cadavre exquis;
dennoch existiert aus der Perspektive des Assoziations- und Substitutions­
flusses tatsächlich ein von Wamerke und Eastman selbst eingeführtes Bin­
deglied. Diese Verbindung wird jedoch nicht durch Holz, Spulen oder Glas
bewerkstelligt; beide Erfindungen haben nicht ein einziges nicht-menschli­
ches Element gemeinsam. Dies scheint lediglich in der Retrospektive so zu
sein. Allein Eastmans Forschungsarbeit stellt eine Verbindung zwischen
dem für englische Fachleute konzipierten Rollenhalter und der in Amerika
in Massen gefertigten Automatikkamera dar. Entweder räumen wir dieser
Arbeit einen Platz in unserer Analyse ein - in diesem Fall wäre die Verbin­
dung nicht zufällig - oder nicht; im letzteren Fall wäre die Verbindung
zwischen den beiden nichts als ein Artefakt der technischen Technikge­
schichte.
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 381

Form oder Inhalt?

Wir sollten uns lieber an den primären Mechanismus der Mobilisierung


halten, statt ihn mit dem sekundären der Attribution durcheinander zu
bringen. Eine Innovation besteht aus einer syntagmatischen Linie (UND),
die gerade so viele menschliche und nicht-menschliche Elemente umfasst,
wie zur Entgegnung des Anti-Programms relautiert worden sind. Wenn
nur ein einziges Segment sich von einer Version zur nächsten unterschei­
det, ist die Innovation einfach nicht länger dieselbe. Wenn sich alle Segmen­
te bis auf eines unterscheiden, besteht überhaupt kein Grund dafür, beide
im selben Ausstellungskasten anzuordnen. Noch immer existiert die
schlechte Angewohnheit der Diffusionisten (Latour 1987), anzunehmen,
dass ein bestimmtes Segment eines Handlungsprogramms die Essenz der
Innovation beinhaltet und dass die anderen lediglich Kontext, Verpackung,
Geschichte oder Entwicklung darstellen. Die einzige Essenz eines Projekts
oder der Anspruch eines Wissens besteht in dessen gesamthaften Existenz.
Dieser (auf Dinge ausgeweitete!) Existentialismus füllt die Unterschei­
dung zwischen rhetorischen (oder verpackungsmäßigen) und substantiel­
len Fragen mit einem präzisen Inhalt. Die Netzwerkanalyse wurde oft da­
für kritisiert, dass sie Wissenschaftler in Waschmaschinenverkäufer ver­
wandelte - in fortwährend um Rhetorik und Einbindungen (Enrolments)
besorgte Menschen, die für den Inhalt ihrer Entdeckungen wenig Interesse
aufbrachten. Dieser Einwand ist jedoch in doppeltem Sinn unfair, zum ei­
nen gegenüber den Waschmaschinenverkäufern, die mit Sicherheit subti­
ler vorgehen, als ihnen für gewöhnlich zugestanden wird, zum anderen
gegenüber Erfindern. Ist die Erfindung des Wortes »Kodak« wichtig oder
nicht? Genügt es, die Bildung eines Marktes zu beschließen oder ist eine
solche Entscheidung überflüssig? Stellt die ganze Sache nur ein Marke­
tingproblem dar? Alle diese Fragen sollten eine präzise Bedeutung erhal­
ten: Führt der Akteur, der »Name Kodak«, zu einer Modifikation der Dau­
erhaftigkeit des Syntagmas - und wenn ja: Wie groß ist diese Modifikation?
In Jenkins' Erzählung ist der Akteur »Name Kodak« in Version (30) ein Ak­
teur unter 23 anderen und gestattet nur die Relautierung eines einzigen
neuen Akteurs in Version (31). In diesem speziellen Fall können wir das
genaue Gewicht der rhetorischen Verpackung messen; die Kontingenz
oder Notwendigkeit selbst variiert entsprechend der Größe des Syntagmas
und der Anzahl der Substitutionen, die es durchläuft.
Wenn z.B. der türkische Astronom in Saint-Exuperys »Der Kleine
Prinz« die Existenz des Asteroiden B 612 demonstriert und dabei seine tra­
ditionelle Nationaltracht trägt, behandeln ihn seine Kollegen mit Hohn und
Gelächter. Am nächsten Tag führt er >dieselbe< Demonstration in einen
dreiteiligen Anzug gekleidet durch und erwirbt die Achtung seiner Kolle­
gen - der einzige Unterschied besteht in der Kleidung des Astronomen.
Hier liegt tatsächlich ein Fall vor, in dem der bloßen Rhetorik wesentliches
: 7. '

382 1 BRUNO LATOUR

Gewicht zukommt. Nur ein Diffusionist, ein Essentialist oder einEpiste­


mologe fände es lächerlich, dass der ersten Demonstration des Astrono­
men nur eine Krawatte zur Stichhaltigkeit fehlte. Forscher, die Innovatio­
nen folgen, wissen genau, dass das Vorhandensein einer Krawatte den alles
entscheidenden Unterschied ausmachen kann, und dass kein Grund be­
steht, das Syntagma »Demonstration+ türkische Nationaltracht+ Geläch­
ter der Kollegen« mit dem Syntagma »Demonstration+ dreiteiliger Anzug
+ Achtung der Kollegen« gleichzusetzen. Wir müssen jedoch nicht notwen­
digerweise daraus schließen, dass das Gewicht einer Krawatte und eines
dreiteiligen Anzugs prinzipiell und für immer für die Mathematik wesent­
lich ist. Der Analytiker sollte niemals das Gewicht dessen, was zählt und
was nicht, was rhetorisch und was wesentlich ist, was von Cleopatras Nase
abhängt und was allen Kontingenzen widersteht, im Voraus bestimmen.
Das Gewicht dieser sich in jeder Geschichte unterscheidenden Faktoren
muss als eine Funktion der Bewegung der Syntagmata einkalkuliert werden.

Sozialer Kontext oder technischer Inhalt?

Symmetrisch zur Illusion eines einen Kontext durchquerenden Trajektors


ist jene eines von Innovationen durchquerten Kontextes. Wir müssen auch
dieses soziologische Gespenst aufgeben, wenn wir die Verwebung mensch­
licher und nicht-menschlicherElemente verstehen wollen.
Kann man sagen, dass die Profis der ersten Tage der Fotografie ihr
Denken dem technischen Fortschritt ab 1886 gegenüber verschlossen ha­
ben und dass die breitere Öffentlichkeit ihr Denken dem Fortschritt ab
1892 gegenüber öffnete? Lässt sich die Diffusion der Fotografie durch die
Erforschung der an ihr interessierten sozialen Gruppen erklären? Muss in
anderen Worten der Interessebegriff stabilisiert sein, um den Pfad der
Wissensansprüche erklären zu können? Die Antwort muss »nein« lauten,
weil die sozialen Gruppen selbst zutiefst von den Innovationen transfor­
miert wurden. Die an den Trockenplatten vonEastman interessierten Pro­
fis - Versionen (5) und (6) - zeigten sich außerordentlich enttäuscht von
den Rollenfilmen - Version (24) -, deren Qualität sich als derjenigen von
Platten weit unterlegen erwies; sie waren am Druck und derEntwicklung
von Bildern aufEastmans Fotopapier interessiert (25), jedoch vollkommen
desinteressiert an der Kodak-Kamera. Sie wählten aktiv unter den vorge­
stellten Innovationen, wurden jedoch ebenfalls verändert, indem sie ihre
Labors modifizierten und die Aufgaben der Bearbeitung der Platte, dann
des Papiers an einzelne Unternehmen delegierten. Das von uns Beobachte­
te stellt eine Gruppe variabler Geometrie, die eine Beziehung mit einem Objekt
variabler Geometrie eingeht, dar - beide Seiten verändern sich. Wir beobach­
ten einen Prozess der Übersetzung - nicht einen der Rezeption, der Ab­
lehnung, des Widerstandes oder der Akzeptanz.
Dasselbe trifft auf die Amateure zu. Der Amateur in Version (36), der
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 383

nur noch den Auslöser an der Kodak-Kamera zu betätigen braucht, wobei


er Millionen von anderen Amateuren imitiert, der kein Labor mehr
braucht, da er seine Kamera mit den Filmen zur Entwicklung an die East­
rnan-Fabriken senden kann, ist damit nicht länger der gleiche wie jener,
der in Version (24) einschüchternde, unscharfe Bilder produzierende Ka­
meras kaufte, deren Filme stecken blieben. Der Amateurmarkt wurde aus
heterogenen sozialen Gruppen, die als solche vor Eastman nicht existiert
hatten, erforscht, extrahiert und konstruiert. Die neuen Amateure und
Eastrnans Kamera koproduzierten einander; wir nehmen weder Widerstand
noch Öffnung, Akzeptanz oder ein Zurückweisen des technischen Fort­
schritts wahr. Stattdessen sehen wir Millionen von Menschen, die selbst
eine Innovation halten, die wiederum sie hält.
Und was ist mit Eastman? Ist er ein festgelegter Akteur? überhaupt
nicht, da die Konturen dessen, was er tun kann und will, sowie die Größe
und der Aufbau seiner Firma in dieser Geschichte ebenfalls variieren. Im
Gegensatz zu den Ansprüchen jener, die entweder den Stand der Technik
oder den der Gesellschaft konstant halten wollen, ist es möglich, einen
pfad der Innovation zu betrachten, in dem sich alle Akteure gemeinsam
entwickeln. Die Einheit einer Innovation wird nicht durch etwas gewahrt,
das im Verlauf der Zeit gleich bleibt, sondern durch die sich bewegende
Übersetzung dessen, was wir - nach Serres - ein Quasi-Objekt nennen.

Realistisch oder unrealistisch?

Indem wir die Unterschiede zwischen dem Mutierenden und der Umge­
bung, in der eine Innovation mutiert, auflösen, sollten wir auch ein ande­
res Problem lösen: das der Asymmetrie zwischen dem Realisierbaren und
dem Unrealisierbaren.
Wenn man Eastmans sozio-technische Erzählung liest, lässt sich leicht
feststellen, dass es sich bei Version (36) nicht um die Realisierung - oder
Objektivierung, Verdinglichung oder Verkörperung - von Version (1) han­
delt, da keiner derselben Akteure am (vorläufigen) Ende der Kontroverse
aufzufinden ist. Dennoch haben wir es mit der progressiven Konstruktion
von Realität zu tun; bei der Kontinuität dieser Geschichte handelt es sich
jedoch nicht um eine leicht verrückte Idee, die schließlich Wirklichkeit
wird, sondern um die einer Übersetzung, die das Transportierte vollkom­
men transformiert. Das Reale unterscheidet sich nicht vom Möglichen,
Unrealistischen, Verwirklichbaren, Erwünschten, Utopischen, Absurden,
Vernünftigen oder Kostspieligen. Alle diese Attribute stellen lediglich Be­
schreibungsarten aufeinander folgender Punkte entlang der Erzählung dar.
Nur im Vergleich mit dem gewaltsamen Ereignis von Version (26) scheint
Version (24) undurchführbar; Version (10) stellt keine Verkörperung von
Version (9) dar, da die beiden nur über eine einzige Gemeinsamkeit verfü­
gen. Folglich sollte die Erzählung dieselben Werkzeuge für jede Stufe unse-
384 1 BRUNO LATOUR

rer Geschichte verwenden, ohne beurteilen zu müssen, wie >intrinsisch<


realistisch oder unrealistisch eine Assoziation ist - da die einzig aufge­
zeichnete Realität eine sozio-logische ist.
Ein Hauptergebnis dieser Art sozio-logischer Aufzeichnung besteht da­
rin, dass >Realität< nicht als finaler, definitiver Zustand aufgefasst wird, der
keinen weiteren Aufwand erfordert. Eine Assoziationskette ist realer als ei­
ne andere, wenn sie vom Standpunkt des Sprechers, vom Ausgangspunkt
der Geschichte aus betrachtet länger ist. Diese Realität wird durch kontinu­
ierliche Erweiterung im Bereich des Syntagmas (UND) erhalten. Dank die­
ser Erzählung wird die >Trägheitskraft< der Innovationen - jener berühmte
Zustand, in dem sie unurnkehrbar sind und durch ihren eigenen Dampf
durch die Gesellschaft vorwärts getrieben werden - einfach aufgelöst. Das­
selbe geschieht mit der symmetrischen >Trägheitskraft< der Gruppen, die
sich als unfähig erweisen, eine Innovation zu >akzeptieren<. Nichts erreicht
eine so große Realität, dass es kein Netzwerk zur Aufrechterhaltung seiner
Existenz bräuchte; kein Genpool ist gut genug angepasst, um sich nicht
mehr reproduzieren zu müssen. Das einzig Mögliche besteht in der Be­
grenzung des Verhandlungsspielraums oder in der Verwandlung der
treuesten Verbündeten in Black Boxes. Die einzige vollkommen unmögli­
che Aktion stellt eine Verringerung der Anzahl verbundener Akteure dar -
bei gleichzeitiger Vorgabe, dass die Existenz der Innovation dauerhaft ge­
nauso >real< bliebe. Herrschaft ist niemals ein auf einer Bank zu lagerndes
Kapital; sie muss eingesetzt, in Black Boxes umgewandelt, repariert und
erhalten werden.

Lokal oder global?

Die Erzählung sollte auch noch ein anderes kleines Geheimnis erklären:
den progressiven Übergang vom Mikroskopischen zum Makroskopischen.
Netzwerkanalyse und Feldforschung wurden oft dafür kritisiert, interessan­
te Demonstrationen lokaler Kontingenzen zu liefern, ohne dabei die den
Verlauf der Lokalgeschichte beeinflussenden >Sozialstrukturen< in Betracht
zu ziehen. Wie jedoch Hughes in einer bemerkenswerten Studie elektri­
scher Netzwerke (Hughes 1979, 1983) verdeutlicht hat, besteht die gesell­
schaftliche Makro-Struktur aus demselben Material wie die Mikro-Struktur;
dies trifft besonders auf Innovationen zu, die oft in einer Garage ihren Ur­
sprung haben und in einer alle möglichen Garagen umfassenden Welt en­
den, oder umgekehrt auf technische Systeme, die als ganze Welt beginnen
und auf einer Müllhalde enden. Genau diesen Skalenwechsel von Mikro zu
Makro und von Makro zu Mikro sollten wir dokumentieren können.
Wenn eine Version tatsächlich einen progressiven Skalenwechsel von
Mikro zu Makro mit dem Einschluss einer zunehmend größeren Anzahl
von Black Boxes repräsentiert (von denen jede >als eine< zählt), können wir
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT J 385

ebenfalls unter Verwendung desselben Werkzeugs die progressive Wieder­


eröffnung, Zerstreuung und Auflösung von Akteuren dokumentieren, die
von der Makro-Ebene zur Mikro-Ebene übergehen. Die sozio-technische
Welt verfügt nicht über eine feste, unveränderbare Skala, und die Aufgabe
des Beobachters kann nicht darin bestehen, das zu ändern. Dieselbe Inno­
vation kann uns von einem Laboratorium in eine Welt und umgekehrt von
einer Welt in ein Laboratorium führen. Es erweist sich als genauso wichtig,
solche von den Akteuren selbst induzierte Skalenwechsel wie die Verschie­
bungen von Übersetzungen zu respektieren. In Anbetracht der der Netz­
werkanalyse zur Verfügung stehenden Werkzeuge ist es nicht nur ein ge­
fährliches, sondern auch unnötiges Vorhaben, Akteure sowohl mit einer
festen Dimension als auch einer festen Form auszustatten.

Langsam oder schnell?

Es lohnt sich, noch eine weitere Folge des Austausches von Sozio-Logik ge­
gen asymmetrische Begriffe des Realen und des Möglichen festzuhalten.
Der Verlauf der Zeit wird zur Konsequenz von Verbindungen und stellt
nicht länger den festen, regelmäßigen Rahmen dar, innerhalb dessen der
Beobachter seine Geschichte erzählt. Der Beobachter braucht ebenso wenig
einen regulierten Zeitrahmen wie Akteure mit festen Konturen und vor­
herbestimmten Skalen. Wie der Relativist in der Physik geben sich die rela­
tivistischen (oder relationistischen) Wissenschafts- oder Technikstudien
mit dem zufrieden, was Einstein so schön »die Molluske der Referenz«
nannte (Einstein 1920). So wie wir Akteure ihre jeweiligen Beziehungen,
Transformationen und Größen kreieren lassen, lassen wir sie ihre Zeitein­
heiten markieren; wir lassen sie sogar entscheiden, was welchem voran­
geht.
Die ODER-Dimension zeichnet auf, in welcher Reihenfolge - aus der
Perspektive des Beobachters als gewähltem Anfangspunkt - verschiedene
Versionen aufeinander folgen; sie nimmt jedoch keine regelmäßigen
Zeitmessungen vor. Auf das Eastrnan-Beispiel zurückkommend, sind 30
Jahre zwischen den Versionen (1) und (15) vergangen, jedoch lediglich ein
paar Monate zwischen den Versionen (25) und (30). Sollten wir daraus
schließen, dass die Innovation >sich 30 Jahre lang schleppend fortbewegt<
und dann im Jahr 1887 >brüsk beschleunigt< hat, wie Historiker oft be­
haupten? Man könnte tatsächlich zu dieser Schlussfolgerung gelangen,
aber Wörter wie »schnell«, »langsam«, »reif«, »unreif«, »durchführbar«,
»utopisch« oder »real« treiben nur auf der Oberfläche von Übersetzungs­
bewegungen, ohne irgendetwas zu erklären. Die Anzahl und Geschwindig­
keit von Ereignissen hängt vollständig von den durch die Akteure ausge­
führten Bewegungen von Allianzen oder Brüchen ab. Wenn man diese
Bewegungen rekonstituieren kann, erhält man ebenfalls die Dimensionen
386 1 BRUNO LATOUR

der Zeitlichkeit; kann man diese Bewegungen nicht rekonstituieren, besitzt


der reguläre Zeitverlauf keinerlei Aussagekraft. Was der sozio-technische
Graph an Historizität der Innovationen rekonstituiert, hängt immer von
der Sozio-Logik der Akteure ab. Wie alles andere muss die Zeit konstruiert
werden; sie ist nicht als unwandelbar vorgegeben - der Erfinder ruht nie
am siebten Tag.

Reparatur des Relativismus

Wenn wir jetzt zugegebenermaßen in der Lage sind, die feinen Variationen
einer sozio-technischen Untersuchung darzustellen, wie hilft uns dann
diese Fähigkeit dabei, die kontingente, von einem bestimmten Trajektor
angenommene Gestalt zu erklären? Die drei Grazien der Wahrheit, Effizi­
enz und Rentabilität, die für das Bereitstellen von Ursachen in Wissen­
schaft, Technik und Wirtschaft oft sehr nützlich sind, erweisen sich hier als
offensichtlich unbrauchbar, da sie das Ergebnis und nicht die Ursache die­
ser Darstellung versinnbildlichen. Eastmans Kameras in den Versionen (8)
bis (29) sind weder rentabel noch effizient; sie werden diese Qualitäten er­
langen, jedoch erst im Bereich der Version (36). Folglich ist es unmöglich,
das Ende der Geschichte zur Erklärung ihrer Anfänge oder Entwicklung zu
verwenden. Die Erforschung von Innovationen ist nicht teleologischer als
die Evolutionslehre Darwins. Man kann jedoch fraglos soziologische Inte­
ressen gegen die drei Grazien in der Rolle des Motors der Geschichte aus­
tauschen; stabile Interessen, wie gute Effizienz und sichere Rentabilität,
brauchen stabile Netzwerke und Instrumente, um Vorhersagen zu gestat­
ten. Die Amateure wissen jedoch bis zur Version (36) nicht, dass sie die Fo­
tografie brauchen; Aktionäre warten 30 Jahre lang, um zu entscheiden, ob
ihren Interessen mit Platten, Filmen oder Kodak-Kameras besser gedient
ist. Und Eastman selbst gestaltet seine Interessen nach und nach im Ver­
lauf der Entwicklung seiner Forschungen. Sowohl Ökonomie als auch eine
stabile Soziologie betreten die Szene nach den die Schlacht entscheidenden
Momenten. Sie treten nach den Punkten auf, an denen große UND-Varia­
tionen durch große ODER-Verschiebungen erkauft wurden und befassen
sich mit Zuständen, in denen große UND-Verschiebungen nur mit kleine­
ren ODER-Verschiebungen abgegolten werden. 2
Da die Erklärung des Innovationspfades nicht aus der Retrospektive
erfolgen kann, muss sie aus der Sozio-Logik der Programme und Anti-Pro-

2 1 Diese Arbeitsteilung stellt keine Schwäche von Wirtschaft oder Soziologie


dar, sie ist einfach mit dem Problem der Kontrolle einer großen Anzahl von Dingen
verbunden: Die Fähigkeit eines Objektes, entweder eine große Anzahl von Massen
oder Märkten in einer vorhersagbaren Weise zu rekrutieren, hängt sowohl von der
Stabilität des Objekts als auch von der seines Netzwerkes ab.
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 387

grarnrne hervorgehen. Können Akteure eines Anti-Programms rekrutiert,


ignoriert oder abgewiesen werden? Können Akteure eines Programms ihre
Verbindungen erhalten, wenn dieser oder jener Akteur rekrutiert, ignoriert
oder abgewiesen wird? Die Frontlinie einer Kontroverse erzeugt jederzeit
solche Fragen; allerdings sind die Antworten auf diese bestimmten Fragen
für Gedeih und Verderb einer Innovation ausschlaggebend. Alle Antworten
hängen davon ab, wie Akteure den vorgeschlagenen Test bestehen: Wenn
ich einem aus ABC bestehenden Syntagma den Akteur D hinzufüge, wie
wird A reagieren? Wie B oder C? Um den Pfad einer Innovation zu verste­
hen, müssen wir den von den sukzessiven, durch sie mobilisierten oder
zurückgewiesenen Akteuren aufgebrachten Widerstand evaluieren. Aus der
Beschreibung folgen nicht notwendigerweise Erklärungen; vielmehr be­
deutet es, die Beschreibung weiterzuführen. Wir suchen nicht nach einer
stabilisierten und vereinfachten Beschreibung, bevor wir eine Erldärung
vorzubringen beginnen. Im Gegenteil verwenden wir die Handlungswei­
sen von Akteuren gegenüber einer Innovation oder einer Aussage dazu, sie
zu definieren; und ausschließlich aus ihnen extrahieren wir jede von uns
benötigte ,Ursache<. Paradoxerweise sind unsere Erklärungen ,intemalis­
tisch< in dem Sinne, dass sie alle aus der inhärenten Topografie spezifi­
scher Netzwerke herrühren.

Definition von Akteuren anhand der Liste ihrer Tests

Wir definieren einen Akteur oder einen Alctanten nur durch seine in Kon­
formität mit der Etymologie ausgeführten Aktionen. Wenn eine Innovation
durch ein Diagramm definiert wird, in dem ihre Essenz sich koextensiv zu
ihrer Existenz - also zu der allzeit provisorischen Gesamtsumme ihrer
Versionen und deren Transformationen - verhält, werden diese Versionen
und Transformationen wiederum vollkommen von den sie konstituieren­
den Aktanten definiert. Woher bekommen wir aber diese Aktanten? Woher
kommen der Hotelgast, der Manager, der Schlüssel und das Schild? Wo
läge der Sinn, Innovationen ohne Reduktionismus darzustellen, wenn wir
gleichzeitig eine reduktionistische Definition von Alctanten verwenden?
Aber zum Glück für uns wird ein Aktant auf dieselbe Weise wie eine Inno­
vation definiert; alles, was wir tun müssen, ist: unsere Perspektive zu ver­
schieben: Statt eine von Akteur zu Akteur gehende Innovation als Aus­
gangspunkt zu verwenden, müssen wir zu diesem Zweck einen dieser Al<­
teure, durch dessen ,Hände< nachfolgende Versionen der Innovation ge­
hen, auswählen. Hier kann uns ebenfalls die linguistische Metapher hel­
fen. Ein Linguist kann entweder ein Syntagma - eine Gruppe assoziierter
Elemente in einem bedeutungsvollen Satz - erforschen oder das Element
selbst innerhalb des Rahmens aller bedeutungsvollen Sätze, in denen es
erscheint, also ein Paradigma. Dabei erfolgt z.B. eine Bewegung:
388 1 BRUNO LATOUR

Der Fischer
Der Fischer/fischt/
Der Fischer/fischt/einen Hai/
Der Fischer/fischt/einen Hai/mit/einem Gewehr
Der Maler/fischt/eine Forelle/mit/einem Messer
Der Maler/malt/Bilder
Der Maler/malt/Häuser
Der Maler/ist/ein/Substantiv
Der Maler/ist/hyper-realistisch.

Die Veränderung vollzieht sich in dem Punkt, den wir festzuhalten be­
schließen. Im ersten Fall umfasst unser Objekt sowohl die Länge des Syn­
tagmas als auch die Gruppe der bei jeder Artikulation ersetzbaren Para­
digmen. Im zweiten Fall besteht unser Objekt aus einer spezifischen Arti­
kulation, wobei wir die Gruppe der Syntagmen, in denen sie auftaucht, zu
rekonstituieren wünschen. Wenn wir die Essenz von Innovationen durch
die Existenz ihrer sukzessiven und simultanen Aktanten definieren und
uns dann umdrehen, um die Aktanten durch die sukzessiven Innovationen
zu definieren, in denen sie auftreten, ist das hier nicht zirkulärer und wi­
dersprüchlicher als in der Linguistik.
Wie definieren wir einen Aktanten? Ein Aktant umfasst eine Liste von
Antworten auf Tests, die, wenn sie einmal stabilisiert ist, dem Namen eines
Gegenstandes oder einer Substanz angehängt wird. Diese Substanz agiert
als Subjekt für alle Prädikate; sie wird also zum Ursprung von Handlungen
(Callon 1991). Wie definieren wir unseren Hotelmanager in unserer
Schlüsselgeschichte? Mit Sicherheit >ist< er der hartnäckige Sprecher, der
die Gäste immer wieder an das Abgeben ihrer Schlüssel erinnert, aber er
ist auch mehr als das: Er >ist< es, der die Rechnungen schreibt; er >ist< es,
der saubere Laken bestellt; er >ist< es, der Anzeigen ins Telefonbuch setzt;
er >ist< es, der Termine mit den Anstreichern vereinbart usw. Genauso
kann auch der Schlüssel nicht allein nur durch sein Auftauchen in unserer
Innovationsgeschichte definiert werden, sondern auch durch die Liste alles
anderen, dem er sich in allen Innovationsgeschichten, in denen er er­
scheint, unterziehen muss. Sein einziger Lebenszweck besteht nicht allein
darin, zur Rezeption zurückzukehren: Er lässt Riegel zurückgleiten, bleibt
stecken, wenn ein betrunkener Gast versucht, ihn mit Gewalt in ein
Schloss zu zwängen, wird von einem Generalschlüssel imitiert usw. Auch
das Metallgewicht interveniert nicht nur als bescheidenes Anhängsel des
Hotelschlüssels; es durchläuft verschiedene Tests, die es viel umfassender
definieren: Es schmilzt bei 1800 Grad in einem Brennofen, besteht aus Ei­
sen oder Karbon, enthält bis zu 4 Prozent Silikon, färbt sich weiß oder
grau, wenn es zerbricht usw.
Je länger eine solche Liste, desto größer ist auch die Aktivität des Ak­
teurs. Je mehr Variationen unter den mit ihm verbundenen Akteuren auf-
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 389

treten, desto polymorpher ist unser Akteur; je mehr er von Variation zu Va­
riation aus unterschiedlichen Elementen zu bestehen scheint, desto weni­
ger stabil ist seine Essenz. Umgekehrt gilt auch: Je kürzer die Liste, desto
unbedeutender der Akteur; je mehr Diversität er unter den anderen Akteu­
ren begegnet oder je schwieriger das öffnen seiner Black Box ist, desto ko­
härenter und gefestigter ist er. Die Liste der von einem vorgegebenen Ak­
teur durchlaufenen Tests definiert seine Historizität auf gleiche Weise, wie
ein sozio-technischer Graph die Historizität einer Innovation oder eines
Wissensanspruchs definiert.
Ebenso wie eine Innovation an Vorhersagbarkeit gewinnt, je länger die
Ass oziationsketten werden, die zu Black Boxes wurden, kann auch ein Ak­
teur bis zur fast vollständigen Vorhersagbarkeit an Kohärenz gewinnen.
Wenn A in einer Folge von Erzählungen immer mit B assoziiert oder von
D getrennt wird, können wir sicher annehmen, dass, wenn sich A in einer
neuen Erzählung mit B verbindet, er die Verbindung zu D lösen wird. Folg­
lich können wir damit beginnen, die Pe,formanz von Akteuren von ihrer
Kompetenz abzuleiten. Nur dann ist es uns gestattet, Normen anzulegen;
diese Normen werden jedoch den Daten nicht aufgezwungen, sondern von
den eigenen Bemühungen der Akteure extrahiert, dem gegenseitigen Ver­
halten mehr Vorhersagbarkeit zu verleihen. Macht und Herrschaft erklären
nicht, wie die Stabilisierungen entstehen, sie sind vielmehr Namen, die ih­
nen zugeschrieben werden, sie stellen nur einen möglichen Assoziations­
zustand dar. Eine Essenz - die sich im späteren Verlauf auflösen kann -
geht aus der Existenz des Akteurs hervor; ihre Geschichte wird zur Natur
(um Sartres Bezeichnung zu verwenden), wobei wir allerdings »um später
wieder Geschichte zu werden« hinzufügen sollten. Der Akteur ist von
»Name der Aktion« zu »Name des Objekts« gegangen (Latour 1987). Die
sich aus den vereinigten Geschichten von Innovationen und Akteuren er­
gebenden Listen verdeutlichen die kontinuierliche Variation in der Isotopie
eines Akteurs, d.h. seiner Stabilität im Verlauf der Zeit. Sein Verhalten
wird entweder immer besser oder immer weniger vorhersagbar; die Liste
erlaubt uns, von extrem instabiler Sicherheit zur Notwendigkeit zu gehen -
oder aber im Gegenzug von Notwendigkeit zu Unsicherheit. Die Macht der
Gewohnheit oder des Habitus wird sich entweder bemerkbar machen oder
nicht; entweder agiert sie als Funktion der historischen Aufzeichnung des
Akteurs oder nicht.

Den relativistischen Variationen der Übersetzung folgen

Trotz der zirkulären Definitionen von Akteuren und Innovationen sind wir
noch weit davon entfernt, Erklärungen liefern zu können: Wir können le­
diglich vorhersagen, wie lange eine Assoziation vermutlich Bestand haben
wird, wenn eine Innovation einen bestimmten Akteur oder ein Akteur eine
bestimmte Innovation an sich bindet. Um es noch genauer zu sagen: Wir
390 1 BRUNO LATOUR

können außerdem solche Reaktionen nur für Fälle vorhersagen, die uns
am wenigsten interessieren, nämlich die, in denen entweder die Innova­
tion bereits eine Black Box ist, Fälle, in denen dieAkteure über eine so sta­
bile Geschichte verfügen, dass diese schon fast zur zweiten Natur gewor­
den ist, oder Fälle, in denen die traditionellen Begriffe von Macht und
Herrschaft auf vorhersagbare Weise eingesetzt werden. Wie kann man je­
doch in anderen Fällen, in denen Herrschaft noch nicht ausgeübt wird, Re­
aktionen antizipieren? Dazu müssen wir uns einer dritten Variationsquelle
nähern.
Da wir in der Lage sind, Aktanten und Innovationen ohne weiteren Es­
sentialismus gegenseitig zu definieren, können wir auch eine Karte der
Übersetzungsoperation erstellen. Diese entscheidende Operation erzeugt -
wenn auch nur lokal und vorläufig - soziale Verbindungen. Dank der
Übersetzung müssen wir unsere Analyse nicht mit der Verwendung von
Aktanten mit festen Grenzen und zugewiesenen Interessen beginnen;
stattdessen können wir verfolgen, auf welche WeiseAktant BAktantA eine
feste Grenze, wie BA Interessen und Ziele zuweist; wir können eine Defi­
nition dieser von A und B geteilten Grenzen und Ziele aufstellen und
schließlich die Verteilung von Verantwortung zwischen A und B für das
gemeinsame Handeln nachvollziehen. In einem Universum von Innova­
tionen, das ausschließlich von Assoziationen und Substitutionen von Ak­
tanten definiert wird, wobei dieAktanten ihrerseits nur durch die Vielzahl
der Erfindungen, in denen sie mitwirken, definiert werden, wird die Über­
.1· setzungsoperation zum wesentlichen Prinzip von Komposition, Bindung,
'1 Rekrutierung und Einbindung. Da aber kein externer Standpunkt mehr be­
steht, dem wir einen Grad an Realität oder Erfolg einer Innovation zu­
schreiben können, erhalten wir nur eine Evaluation, indem wir die vielen
Standpunkte der Akteure triangulieren. Daher ist es äußerst wichtig, uns
einfach von einem Beobachter zu einem anderen bewegen zu können.
Das Folgende ist eine besonders elegante Übersetzungsoperation von
Pasteur:

»An den Minister für öffentliche Bildung


Paris, den I. August 1864
Minister,
Wein stellt einen der größten landwirtschaftlichen Reichtümer Frankreichs dar. Der
Wert dieses Produkts unseres Heimatbodens wird durch den Wirtschaftsvertrag mit
England noch erhöht. In allen Wein anbauenden Ländern besteht ein Interesse da­
ran, die Methoden zu verbessern, um sowohl die Menge als auch die Qualität jener
Weine, die rentabel exportiert werden können, zu steigern.
Leider lässt unser Wissen über dieses kostbare Getränk zu wünschen übrig. Un­
tersuchungen über seine Zusammensetzung sind so unvollständig, dass erst in den
letzten zwei Jahren zwei seiner Hauptbestandteile - Glyzerin und Bernsteinsäure -
identifiziert wurden. Trotz des in der modernen Chemie erzielten Fortschrittes gibt
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 391

es keine kenntnisreichere und präzisere Abhandlung über Weine als die bereits vor
rnehr als 60 Jahren erschienene von Chaptal. Dies genügt als Indiz dafür, was hier
noch zu leisten bleibt.
Innerhalb der letzten fünf Jahre habe ich am Problem der Fermentation gearbei­
tet; rnein besonderes Interesse lag mit der Alkoholfermentation im Herzen des
Weinproduktionsprozesses. Der Fortschritt meiner Forschung hat in mir den
Wunsch geweckt, meine Arbeit in situ und in Ländern, die für ihre Produktion von
in Frankreich besonders geschätzten Weinen bekannt sind, fortzusetzen. Ich möch­
te den Fermentationsprozess dort studieren und dabei besonders die mikroskopi­
sche pflanzliche Substanz ins Auge fassen, die die einzige Ursache dieses großen
und mysteriösen Phänomens zu sein scheint.
Ich beabsichtige diese Arbeit während meines nächsten Aufenthalts auszufüh­
ren der etwa sechs Wochen an Reisen und Studium mit einem Assistenten und ei­
,
nigen notwendigen Ausrüstungsgegenständen und chemischen Produkten umfas­
sen wird. Ich schätze die entstehenden Kosten auf etwa 2500 Francs.
Das Anliegen dieses Schreibens besteht darin, Eurer Exzellenz dieses Projekt
vorzustellen und die Mittel zur Deckung seiner Ausführung zu erbitten. Damit ist
mein Interesse an der Sache jedoch keineswegs erschöpft; ich werde diesem Projekt
in den kommenden Jahren -jeweils zur selben Jahreszeit - weitere Arbeiten folgen
lassen.
Weiter bin ich der Erste, der zugibt, dass möglicherweise nicht sofortige prakti­
sche Konsequenzen aus meinen Studien zu ziehen sind. Die Anwendung wissen­
schaftlicher Resultate auf die Industrie nimmt immer Zeit in Anspruch. Meine ge­
genwärtigen Ziele sind sehr bescheiden; ich möchte gern größere Kenntnisse über
diese Sporenpflanze erzielen, die die alleinige Ursache der Fermentation in Trau­
bensaft darstellt.«

Aufeinander folgenden Schichten von Aktanten - der Minister, Chemie,


meine Forschung, meine Reise nach Arbois - werden Ziele und Grenzen
hinzugefügt. Jede dieser Schichten ist durch unvereinbare Terminologie
gekennzeichnet: 2500 Francs, der Wirtschaftsvertrag mit England, Bern­
steinsäure, Sporenpflanze. (Deswegen die Bezeichnung Übersetzung.) Je­
dem dieser Handlungsprogramme wird ein Anti-Programm zugeordnet:
Es wäre wünschenswert, Wein nach England zu verkaufen - diese Weine
sind jedoch von einer Krankheit befallen. Es wäre wünschenswert, die Ur­
sprünge dieser Krankheit zu erfahren - die Weinchemie ist jedoch bereits
über 60 Jahre alt. Ich würde gern meiner Forschung weiter nachgehen,
habe aber weder Geld noch Assistenten. Einerseits besteht der Überset­
zungsprozess daraus, sukzessive Schichten von Vokabular zu definieren,
Ziele hinzuzufügen, Unmöglichkeiten zu definieren; andererseits besteht
er aus einer Verschiebung - daher die andere Bedeutung des Begriffes
Übersetzung - eines Handlungsprogramms in ein anderes Handlungspro­
gramm. Die übergreifende Übersetzungsbewegung ist durch einen Umweg
und einen Rückfluss definiert. Indem der Minister Pasteur am Ende 2500
392 j BRUNO LATOUR

Francs gibt, soll er die Balance zwischen den Zahlungen wiederherstellen


und dadurch seine Ziele erreichen.
Der Übersetzungsprozess ist jedoch immer riskant; tatsächlich gibt es
keine Garantie dafür, dass der Umweg sich schließlich auszahlt und durch
einen Rückfluss belohnt wird. Pasteur gibt - klug wie immer - in seinem.
letzten Paragraphen bereits einen Hinweis darauf. Das einzige Ziel, das
erreicht werden muss, so sagt er, bestehe im puren Wissensgewinn über
die Sporenpflanze: Dieses Wissen anzuwenden - also einen Rückfluss zu
erzielen - erweise sich immer als problematisch. Viele andere mögliche
Szenarien sind vorstellbar: Der Minister könnte nicht am Weinhandel inte­
ressiert sein, den Wein betreffende Krankheiten könnten auf bloß chemi­
sche Phänomene zurückgeführt werden, die 2500 Francs könnten niemals
in Erscheinung treten oder Pasteur könnte sein Forschungsprojekt ändern.
Diese durch die Übersetzungsoperation komponierten und verbundenen
Dinge könnten sich wie ein Schwarm Vögel zerstreuen; genau diese Mög­
lichkeit müssen wir vorhersagen, wenn wir einige Evaluationen erklären
und produzieren wollen. Und wie anders könnten wird dies tun, da wir
nicht länger über einen externen Referenten verfügen, außer Pasteurs Ver­
sion der Ziele und Wünsche aller menschlichen und nicht-menschlichen
Akteure einem Test zu unterziehen und sie mit den Zielen und Wünschen
zu vergleichen, die sie selbst angeben oder Pasteur zuschreiben. Tatsächlich
garantiert nichts die Übereinstimmung der von Pasteur vorgeschlagenen
Operation mit der Version der Aktanten - mit der des Ministers, der Che­
mie, der Sporenpflanze, Englands oder des Ferments. Um den potentiellen
Erfolg oder Misserfolg der Übersetzungsoperation messen zu können - na­
türlich relativ zu einem Sprecher und zu einem Beobachter-, müssen wir
verifizieren, ob sie die von Pasteur erwartete Position einnehmen oder
nicht. Die Haltbarkeit der Position Pasteurs kann nicht durch seine Macht,
sondern nur durch die Konvergenz der Aktionen, die er von anderen erwar­
tet, mit denen, die andere von ihm erwarten, erklärt werden. Dieser Ver­
handlungsprozess wird von denen vergessen, die schon erworbene Herr­
schaft als Grundlage zur Erklärung zukünftiger verwenden.
Nehmen wir einmal an, man fände nun durch weitere Interviews und
Dokumente heraus, dass - was den Minister betrifft - das Problem der
Zahlungsbalance nichts mit Wein und seinen Krankheiten zu tun hat, son­
dern mit Seide, deren Handel von Japan behindert wird. Die Chemiker
nehmen sicherlich nicht die von Pasteur vorhergesagten Positionen ein;
ihre Tragik hat nichts mit der Tatsache zu tun, dass ihre Disziplin nicht
zeitgemäß ist; im Gegenteil sind sie über die dramatische Rückkehr zum
Vitalismus besorgt, der den Fortschritt innerhalb der Chemie verlangsamt.
Tatsächlich erscheinen Pasteur und seine Fermentationen in auffallender
Weise in ihren Anti-Programmen! Schließlich die Fermente: Sie beginnen
an Luftknappheit einzugehen und machen damit Pasteurs Bemühungen
zunichte, sie zu kultivieren. Wenn wir also das, was Pasteur den anderen
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 393

als deren Willen unterstellt, mit dem vergleichen, was diese anderen tat­
sächlich als ihren Willen ausgeben, können wir uns leicht vorstellen, dass
pasteur ein paar Finanzierungsprobleme ins Haus stehen, weil die in sei­
nen Versionen mobilisierten Elemente nicht die ihnen von ihm zugewiesenen
Positionen einnehmen - zumindest noch nicht. Ein solcher Vergleich würde
den Zustand der Aktanten hinsichtlich einer Gruppierung oder Zerstreu­
ung zeigen und damit helfen, die Komplexität zukünftiger Verhandlungen
vorherzusagen.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass nicht nur Aussagen als eine Funktion
von Innovationen variieren; beide variieren außerdem noch als eine Funk­
tion der Perspektive des Beobachters oder des Informanten.
Bis jetzt sind die Ausgangspunkte aller Erzählungen stabil geblieben;
wir haben die Geschichte der Hotelschlüssel aus der Perspektive des Ma­
nagers, die Kodak-Geschichte aus der Eastmans und Jenkins' erzählt. Den­
noch hängt die Fähigkeit eines Programms, Anti-Programmen zu entgeg­
nen, offensichtlich davon ab, wie gut die Wahrnehmung eines Akteurs von
anderen mit ihrer Konzeption von sich selbst oder vom besagten Akteur
korrespondiert. Ist diese Konvergenz schwach, wird der Akteur seine Welt
zwar mit anderen Wesen bevölkern; diese Wesen werden sich jedoch in
unvorhersagbarer Weise benehmen, indem sie sich von Version zu Version
unterschiedlich mit dem Programm verbinden oder sich von ihm trennen.
Ist andererseits diese Konvergenz stark, kann der Akteur damit beginnen,
Vorhersagen zu machen oder jedenfalls das konsistente Verhalten der sei­
ne Welt konstituierenden Wesen zu garantieren.
Folglich müssen wir mehr tun als nur der Abfolge von Ereignissen
rund um eine Innovation zu folgen: Wir sollten die verschiedenen Versionen
vergleichen, die aufeinander folgende Informanten >desselben< Syntagmas ge­
ben. Wir haben keinen auswärtigen Schiedsrichter zur Prüfung der
Glaubwürdigkeit eines Anspruchs; der Grad an Gruppierung oder Zer­
streuung der Darstellungen genügt, um die Realität eines Anspruchs zu
evaluieren. Folgender Satz wird oft von Sprachphilosophen zitiert: »Der
gegenwärtige König von Frankreich ist kahl.« Dieser Satz hat innerhalb der
Sprachphilosophie endlose Diskussionen hervorgerufen, weil er sowohl
grammatisch korrekt als auch vollkommen sinnlos ist, da er nicht mit ir­
gendeinem realen Sachverhalt >korrespondiert<. Man sagt deshalb, er habe
zwar ein Bezeichnetes, jedoch keinen Referenten. Können wir die Glaub­
würdigkeit dieses Satzes ermitteln, ohne Zuflucht zum Begriff des Refe­
renten nehmen zu müssen? Wenn wir den Standpunkt des Beobachters
verschieben und ihn verfolgen können, ist es möglich.
Historikern ist zwar König Karl der Kahle bekannt, nicht aber der ge­
genwärtige französische König; Friseure kennen vermutlich einige kahl­
köpfige Menschen, jedoch keine Könige - und den gegenwärtigen von
Frankreich schon gar nicht -, obwohl ihnen Kopfhäute, Cremes und Haar­
lotionen sehr am Herzen liegen. Momentan ereignet sich eine Menge in
394 1 BRUNO LATOUR

Berlin und Kambodscha, aber nichts davon hat nur das Geringste mit dem
König von Frankreich zu tun. Tatsächlich gibt es Personen, die den Staat
Frankreich regieren; sie nennen sich allerdings nicht Könige, sondern Prä­
sidenten. Die einzigen Leute, die diesen Satz für betrachtenswert halten,
sind Linguisten und Philosophen, die ihn als Klischee verwenden. Basie­
rend auf diesem Skript können wir den Grad an Konvergenz oder Diver­
genz zwischen den von diesem Satz mobilisierten Akteuren und dem, was
sie bei Befragung über sich selbst sagen, ermessen. Im vorliegenden Fall kann
keiner der mobilisierten Akteure die Aussage aufnehmen, ohne ihr andere,
vollkommen disparate hinzuzufügen. Folglich gibt es - außer in der letzten
Version - nur sehr wenige Verbündete, jedoch viele neue Akteure; die ein­
zige Version, die diesen Satz problemlos übernimmt, ist die der Philoso­
phen, die sie durch die Umwandlung in ein klassisches Rätsel der Sprach­
philosophie stabilisieren.
Dieses klassische Beispiel erlaubt uns, die Netzwerkanalyse in einem
Bogen auf sich selbst zurückzuführen. Es besteht niemals die Notwendig­
keit, unser Netzwerk zu verlassen, selbst wenn wir über Definitionen der
Wahrheit, der Exaktheit, der Kohärenz, der Absurdität oder der Realität ei­
ner Aussage sprechen. Die Beurteilung von Realität ist dem Pfad einer
Aussage immanent, nicht transzendent. Sich selbst das Verlassen des
Netzwerkes zu untersagen, bedeutet andersherum nicht, sich selbst eine
Beurteilung zu verbieten. In unserem Beispiel können wir den Wahrheits­
grad der Aussage »Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl«, kor­
rekt beurteilen, ohne die Idee eines Referenten anzuführen; tatsächlich
stellt diese Idee das einzige mythische Element in der gesamten Kahler­
König-Geschichte dar. Alle Aussagen verfügen über Realität, und diese
Realität kann präzise evaluiert werden, indem man jedes Mal die Aussagen
eines Akteurs über einen anderen mit denen vergleicht, die der letztge­
nannte Akteur über sich selbst macht. Dieser Vergleich beschreibt ein
Netzwerk, das sowohl die Existenz als auch die Essenz der Aussage um­
fasst. Einhörner, kahle französische Könige, schwarze Löcher, fliegende
Untertassen, Marienerscheinungen, Chromosomen, Atome, »Roger Rab­
bit« und utopische technische Projekte besitzen alle den von ihren Netz­
werken dargestellten Grad an Realismus, nichts mehr und nichts weniger.
Dieser Punkt ist nicht relativistisch - alle Aussagen sind nicht gleich -,
sondern relationistisch, indem er die Beziehung zwischen den Standpunk­
ten mobilisierter und mobilisierender Akteure aufzeigt und dadurch Urtei­
le von höchstmöglichem Präzisionsgrad hervorbringt. Die Sprach-, Wis­
senschafts- oder Technikphilosophie können diese Urteile weder rekon­
struieren noch mit einiger Feinheit kalkulieren (Pavel 1986); stattdessen
geben sie sich mit groben, hastigen Aussagen über die offenkundige Ab­
surdität oder die unausweichliche Realität dieser oder jener Aussage oder
dieses oder jenes Projekts zufrieden.
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 395

Fazit
Wenn wir die Kluft zwischen der materiellen Infrastruktur einerseits und
sozialer Superstruktur andererseits verlassen, ermöglichen wir damit ein
größeres Maß an Relativismus. Anders als Forscher, die Macht und Herr­
schaft mit besonderen Werkzeugen angehen, müssen wir nicht von einem
stabilen Akteur, von stabilen Aussagen, einem stabilen Repertoire an Ein­
stellungen und Interessen oder von einem stabilen Beobachter ausgehen.
Dennoch gewinnen wir die Dauerhaftigkeit sozialer Konstellationen zu­
rück, die jedoch von mobilisierten nicht-menschlichen Elementen geteilt
wird. Mit der Gruppierung von Akteuren und Standpunkten treten wir in
eine stabile Definition von Gesellschaft ein, die das Aussehen von Herr­
schaft besitzt. Wenn hingegen Akteure instabil sind und sich die Stand­
punkte der Beobachter endlos verschieben, treten wir in eine höchst insta­
bile und ausgehandelte Situation ein, in der Herrschaft noch nicht ausge­
übt wird. Die Werkzeuge des Wissenschaftlers bedürfen jedoch keiner Mo­
difikation; ebenso wenig korrespondiert der zwischen mehr und weniger
stabilen Konstellationen diskriminierende Gradient mit der Trennung zwi­
schen Technik und Gesellschaft. Man könnte Technik den Augenblick
nennen, in dem soziale Konstellationen durch die Gruppierung von Akteu­
ren und Beobachtern Stabilität erhalten; so stellen Gesellschaft und Tech­
nik nicht zwei ontologisch verschiedene Einheiten, sondern eher Phasen
derselben essentiellen Handlung dar.
Ersetzt man diese beiden willkürlichen Unterscheidungen durch die
Bezeichnungen »Syntagma« und »Paradigma«, so kann man noch einige
methodologische Schlussfolgerungen ziehen. Die Beschreibung sozio-tech­
nischer Netzwerke steht oft ihrer Erklärung - die dieser eigentlich folgen
sollte - entgegen. Kritiker der Wissenschafts- und Techniksoziologie legen
oft nahe, dass sogar die genaueste Beschreibung einer Fallstudie nicht aus­
reichen würde, um die Entwicklung zu erklären. Diese Art von Kritik ent­
lehnt den Unterschied zwischen Empirie und Theorie, zwischen »wie« und
»wieso«, zwischen Briefmarkensammeln (eine verachtenswerte Beschäfti­
gung) und der Suche nach Kausalität (die einzige der Aufmerksamkeit wer­
te Aktivität) aus der Epistemologie. Es gibt jedoch keinerlei Beweise für die
Notwendigkeit dieser Unterscheidung. Wenn wir ein sozio-technisches
Netzwerk zeigen - wobei wir die Bahnen durch die Assoziationen und
Substitutionen der Aktanten, die Aktanten durch alle Bahnen, in die sie
eintreten, definieren, allen Übersetzungen folgen und schließlich den
Standpunkt des Beobachters variieren -, brauchen wir nicht nach zusätzli­
chen Gründen zu suchen. Die Erklärung erscheint, sobald die Beschrei­
bung gesättigt ist. Wir können sicherlich weiterhin Aktanten, Innovationen
und Übersetzungsoperationen durch andere Netzwerke folgen, werden uns
jedoch niemals dazu gezwungen sehen, die Aufgabe der Beschreibung zu­
gunsten jener der Erklärung aufzugeben. Der Eindruck, man könne in den
396 1 BRUNO LATOUR

Sozialwissenschaften manchmal der exakten Wissenschaften ähnliche Er­


klärungen anbieten, erwächst aus der Stabilisierung von Netzwerken - aus
einer Stabilisierung, die eine Erklärung einfach nicht >erklärt<. Erklärung
bedeutet- wie der Name schon sagt-, etwas offen zu legen oder zu expli­
zieren. Es besteht keine Notwendigkeit, außerhalb des Netzwerkes nach
mysteriösen oder globalen Ursachen zu suchen; wenn etwas fehlt, liegt das
an der Unvollständigkeit der Beschreibung. Punkt. Umgekehrt ist es mög­
lich, auf bestimmte Ursachen folgende Wirkungen zu erklären, wenn be­
reits ein stabilisiertes Netzwerk vorliegt.
Unsere zweite Schlussfolgerung steht in Verbindung mit dem Relati­
vismus und der Heterogenität von Netzwerken. Kritiker von Seiten der
Kontroverseforschung bestehen auf der lokalen, weichen und inkonsisten­
ten Natur der Ergebnisse; sie vertreten die Meinung, Netzwerkanalyse er­
schaffe die »Nacht, in der alle Kühe schwarz sind«, über die bereits Hegel
sich lustig machte, neu. Tatsächlich führt uns die Netzwerkanalyse in
genau die entgegengesetzte Richtung. Dabei bedeutet die Eliminierung
der großen Unterscheidungen zwischen Wissenschaft/Gesellschaft, Tech­
nik/Wissenschaft, Makro/Mikro, Wirtschaft/Forschung, menschlich/nicht­
menschlich und rational/irrational nicht, in Relativismus und Indifferenz
einzutauchen. Netzwerke sind nicht amorph, sondern höchst differenziert;
ihre Unterschiede jedoch sind fein, situationsgebunden und klein und er­
fordern aus diesem Grund neue Werkzeuge und Konzepte. Statt im >Rela­
tivismus zu versinken< ist es relativ leicht, auf ihm zu treiben.
Schließlich bleiben noch die Vorwürfe der Immoralität, der apolitischen
Haltung und des moralischen Relativismus, die jedoch nicht mehr Sinn als
die anderen ergeben. Die Weigerung, den Abschluss einer Kontroverse mit
ihren Konsequenzen zu erklären, bedeutet nicht, dass man der Möglichkeit
eines Urteils gleichgültig gegenübersteht, sondern nur, dass wir Urteile
ablehnen, die die Situation übersteigen. Netzwerkanalyse vermeidet weder
Beurteilungen noch Differenzierungen; Effizienz, Wahrheit, Rentabilität
und Interesse müssen als Eigenschaften von Netzwerken, nicht als solche
von Aussagen betrachtet werden. Herrschaft stellt eine Wirkung dar, keine
Ursache. Um eine Diagnose über die Absurdität, die Gefahr, die Amoral
oder die Unwirklichkeit einer Innovation zu stellen oder darüber zu ent­
scheiden, muss man zuerst das Netzwerk beschreiben. Wenn die Fähigkeit
zur Beurteilung ihren nutzlosen Bezug auf Transzendenz aufgibt, büßt sie
nichts von ihrer Schärfe ein.
TECHNIK IST STABILISIERTE GESELLSCHAFT 1 397

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Paul.
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Zusammenfassung einer zweckmäßigen

Terminologie für die Semiotik

menschlicher und nicht-menschlicher


Konstellationen
MADELEINE AKRICH UND BRUNO l.ATOUR

Semiotik (semiotics): Das Studium dessen, wie Bedeutung aufgebaut ist,


wobei das Wort »Bedeutung« in seiner ursprünglichen nicht-textlichen und
nicht-linguistischen Interpretation verwendet wird; wie ein privilegierter
Trajektor aus einer unbestimmten Anzahl von Möglichkeiten entsteht. In
diesem Sinne ist Semiotik das Studium der Bildung von Ordnungen und
Bahnen und kann auf Settings, Maschinen, Körper und Programmierspra­
chen genauso angewendet werden wie auf Texte. Das Wort »Sozio-Semio­
tik« wird zum Pleonasmus, wenn einmal deutlich ist, dass Semiotik sich
nicht auf Zeichen beschränkt. Der Schlüsselaspekt der Maschinensemiotik
ist ihre Fähigkeit, sich von Zeichen zu Dingen und zurück zu bewegen.

Setting (setting): Eine Maschine kann genauso wenig wie ein Mensch be­
trachtet werden, weil es sich bei dem, womit der Analytiker konfrontiert
wird, um Konstellationen von Menschen und nicht-menschlichen Aktanten
handelt, bei denen Kompetenzen und Performanzen verteilt sind; das
Objekt der Analyse wird »Setting« oder »Setup« (in Französisch »disposi­
tif«) genannt.

Aktant (actant): Was immer agiert oder Handlungen verlagert, wobei


Handlung selbst definiert wird als eine Reihe von Performanzen gegen­
über Herausforderungen und Prüfungen. Von diesen Performanzen wird
eine Reihe von Kompetenzen abgeleitet, mit denen der Aktant ausgestattet
ist; der Fusionspunkt eines Metalls ist eine Prüfung, durch die die Stärke
400 1 MADELEINE ÄKRICH UND BRUNO LATOUR

einer Legierung definiert wird; der Bankrott einer Firma ist eine Prüfung,
durch die die Treue eines Verbündeten definiert werden kann; ein Akteur
ist ein Aktant, der mit einem Charakter ausgestattet ist (normalerweise
anthropomorph).

Skript, Deskription, Inskription oder Transkription (script, description, in­


scription, transcription): Das Ziel der wissenschaftlichen schriftlichen Analy­
se eines Settings ist es, den Text von dem, wie die verschiedenen Akteure
innerhalb der Settings miteinander reagieren und aufeinander einwirken,
auf Papier zu bringen. Die De-Skription, gewöhnlich durch einen Analyti­
ker, ist die der In-Skription durch den Ingenieur, Erfinder, Hersteller oder
Designer entgegengesetzte Bewegung (Barthes' Neologismus verwendet
die Begriffe »scribe« oder »scripter«). Der folgende Text z.B. stellt die De­
skription eines schweren Hotelschlüssels dar: »Vergessen Sie nicht, die
Schlüssel zurück zum Empfang zu bringen«, wobei die In-Skription lautet:
»übersetze die obige Nachricht mit die Schlüssel sind mit schweren Gewichten
versehen, um die Hotelgäste zu zwingen, sich daran zu erinnern, die Schlüs­
i sel an den Empfang zurückzubringen.« Die De-Skription ist nur möglich,
1.
! wenn ein außergewöhnliches Ereignis - eine Krise - die Richtung der
Übersetzung von Dingen zurück zu Worten modifiziert und dem Analyti­
ker erlaubt, die Bewegung von Worten zu Dingen nachzuzeichnen. Diese
Ereignisse sind gewöhnlich folgende: die exotische oder die pädagogische
Position (wir werden mit einem neuen oder fremden Setup konfrontiert),
die Situation des Zusammenbruchs (es gibt ein Versagen, das die inneren
Mechanismen eines Setups enthüllt), die historische Situation (entweder
vom Historiker aus Archiven rekonstruiert, vom Soziologen in Echtzeit
beobachtet oder durch ein Gedankenexperiment eines Philosophen ima­
1
giniert) und schließlich die willkürliche experimentelle Intervention (ent­
weder auf individueller oder auf kollektiver Ebene). Keine Deskription
:1
1
eines Settings ist möglich oder sogar denkbar ohne die Vermittlung einer
Prüfung; ohne eine Prüfung und eine Krise können wir noch nicht einmal
i' entscheiden, ob es ein Setting gibt oder nicht - und noch weniger, wie viele
Teile es beinhaltet.

Verschiebung nach außen (shifling out), Verschiebung nach innen (shifting


in): Jegliche Verschiebung in einen anderen Referenzrahmen, die einem
Aktanten erlaubt, das Ego zu verlassen (Verschiebung nach außen) oder
zum Ausgangspunkt zurückzukehren (Verschiebung nach innen). Für
erzählende Texte gibt es drei Verschiebungen: aktorial (vom »Ich« zu
einem anderen Akteur und zurück), räumlich (von »hier« nach »dort« und
zurück), zeitlich (vom »Jetzt« zum »Dann« und zurück); beim Studium der
Settings muss man einen vierten Typ der Verschiebung hinzufügen, die
materielle Verschiebung, durch die das Ausdrucksmittel modifiziert wird
(von einem Zeichen »Schließen Sie Ihre Sicherheitsgurte« z.B. zu einem
ZUSAMMENFASSUNG EINER ZWECKMÄSSIGEN TERMINOLOGIE 1 401

Alarm) oder von einem Alarm zu einer elektrischen Verbindung zwischen


der Schnalle und dem Schalter der Maschine - oder umgekehrt vom elek­
trischen Strom zu einer routinierten Angewohnheit gut erzogener Fahrer.
Die erste Richtung heißt »Verschiebung nach unten« (von Zeichen zu
Dingen) und die andere »Verschiebung nach oben« (von Dingen zu Zei­
chen).

Handlungsprogramm (program ofactions): Dieser Terminus ist eine Verall­


gemeinerung des narrativen Programms, das verwendet wird, um Texte zu
beschreiben; jedoch mit dem wesentlichen Unterschied, dass jeder Teil der
Handlung auf verschiedene Materien verschoben werden kann. Wenn ich
in einem Text schreibe, dass Margarete zu Faust sagt »Fahre zur Hölle!«,
verschiebe ich in einen anderen Referenzrahmen innerhalb der narrativen
Welt selbst, ohne sie zu verlassen. Wenn ich dem Leser sage »Gehe zur
Seite 768«, verschiebe ich schon von der Narration weg, gewissermaßen
seitlich, da ich nun darauf warte, dass der tatsächliche Leser die Handlung
ausführt. Wenn ich dann die Anweisung »Gehe zur Zeile 768« nicht an
den Leser, sondern an meinen Computer richte, verschiebe ich das Aus­
drucksmittel noch mehr (Maschinensprache, Serien von o und 1, dann
Stromspannungen in Chips). Ich rechne überhaupt nicht damit, dass Men­
schen die Handlungen ausführen. Das Ziel der Deskription eines Settings
ist es, ein Handlungsprogramm und die komplette Liste von Substitutio­
nen, die damit verbunden sind, niederzuschreiben - und nicht nur das
narrative Programm, das eine Maschine in einen Text transformieren
würde.

Anti-Programme (antiprograms): Alle Handlungsprogramme von Aktanten,


die am Ausgangspunkt der Analyse mit dem gewählten Programm im
Konflikt stehen. Was ein Programm und was ein Anti-Programm ist, ver­
hält sich relativ zum gewählten Beobachter.

Präskription (prescription), Proskription (proscription), Gewährungen (a.ffor­


dances), Erlaubnisse (allowances): Was eine Vorgabe den Aktanten -
menschlichen oder nicht-menschlichen -, die es antizipiert, erlaubt oder
verbietet. Es ist die Moralität eines Settings sowohl in negativer (was es
vorschreibt) als auch in positiver Hinsicht (was es gestattet).

Subskription (subscription) oder das Gegenteil, De-Inskription (de-inscrip­


tion): Die Reaktion der antizipierten Aktanten - der menschlichen und der
nicht-menschlichen - auf das, was ihnen vorgeschrieben, und das, was
ihnen untersagt wird. Ihren eigenen Anti-Programmen entsprechend,
billigen sie es oder sie versuchen, sich ihm zu entziehen, oder passen ihr
Verhalten oder das Setting durch Verhandlungen an. Die Kluft zwischen
den Vorschriften (Präskriptionen) und den Unterordnungen (Subskriptio-
402 1 MADELEINE ÄKRICH UND BRUNO LATOUR

nen) definiert die An- oder Abwesenheit einer Krise, die eine Beschreibung
des Settings erlaubt. Wenn alles störungsfrei abläuft, wenn sogar die bloße
Unterscheidung zwischen Präskription und dem, dem sich der Akteur
unterordnet, unsichtbar ist, weil es keine Kluft gibt, gibt es demzufolge
keine Krise und keine mögliche Deskription.

Prä-Inskription (pre-inscription): Die Kompetenzen, die von Akteuren erwar­


tet werden können, bevor sie am Setting eintreffen, und die notwendig
sind, um die Krise zwischen Präskription und Subskription aufzulösen.

Circumskription (Umgrenzung, Eingrenzung, Begrenzung, circumscrip­


tion): Die Grenzen, die das Setting in sich selbst inskribiert: zwischen dem,
was es bewältigen kann - die Arena des Settings-, und dem, was es auf­
gibt, um es der Prä-Inskription zu überlassen. Die Glasfronten einer Bar
umgrenzen das Setting; das Wort »Ende« am Ende eines Romans begrenzt
den Text; die starre photovoltaische Zelle begrenzt sich selbst und hält
>Schwachköpfe< fern, mit denen sie nichts anfangen kann.

Conskription (Einberufung, conscription): Es ist niemals klar, wo die >wirk­


lichen< Grenzen eines Settings sind, auch wenn es sich selbst präzise Be­
grenzungen inskribiert hat- ein Buch endet genauso wenig mit dem Wort
»Ende«, wie eine Bar an ihren Glasfronten aufhört; Conskription ist die
Serie von Akteuren, die zu einem Setting gruppiert' werden müssen, um
es aufrechtzuerhalten, oder die gruppiert werden müssen, um andere
davon abzuhalten, in das Setting einzudringen und es zu stören. Conskrip­
tion macht die Prä-Inskription vorteilhafter für ein Setting; sie ist der
Netzwerkeffekt jedes Settings, seine Tendenz, sich auszuw�iten. (Das Buch
braucht Bibliothekare, Verleger, Kritiker und Papier und die Bar braucht
Whiskeyfabrikanten, Werbung, eine Hitzewelle und Bekannte, die gemein­
sam etwas trinken wollen etc.)

Schnittstelle (inteiface) oder Stöpsel (plugs): Die vielen Kluften zwischen


Prä-Inskription, Circumskription und Conskription werden vorläufig durch
Stöpsel, Siebe, »Dekompressionskammem« oder, allgemeiner, durch
Schnittstellen limitiert. Wenn ein Setting größtenteils aus materialisierten
Schnittstellen besteht, sieht es wie ein Netzwerk in der technologischen
Bedeutung des Wortes aus: Elektrizität, Telefone, Wasserversorgung und
Abwassersystem sind besondere Settings, die die Gestalt eines Netzwerkes
haben.

11 Die im Original verwendeten Begriffe »alignment« bzw. »aligned« werden


hier als »Gruppierung« bzw. »gruppiert« wiedergegeben [Anm. der Hg.].
ZUSAMMENFASSUNG EINER ZWECKMÄSSIGEN TERMINOLOGIE 1 403

Re-Inskription (re-inscription): Derselbe Sachverhalt wie Inskription, jedoch


als Bewegung gesehen, als Feedbackrnechanismus. Sie ist die Rückvertei­
lung all der anderen Variablen, damit ein Setting die sich widersprechen­
den Anforderungen vieler Anti-Programme bewältigen kann. Sie bedeutet
normalerweise eine Komplikation - eine Faltung - oder eine Differenzie­
rung des Settings. Ansonsten bedeutet sie, dass die Komplikation, die
Differenzierung in die Prä-Inskription verschoben wird; die für die Re-In­
skription getroffene Wahl definiert die Dramaturgie, die Spannung, den
Plot innerhalb eines Settings.

Rückverteilung von Kompetenzen und Performanzen (redistributing compe­


tencies and pe,formances) von Akteuren in einem Setting: Der neue Aus­
gangspunkt der Beobachtung statt der Unterscheidung zwischen Men­
schen und Nicht-Menschlichem. Richtungen dieser Rückverteilungen gibt
es viele: extrasomatisch, intrasomatisch, so.ftwire, hardwire; figurativ, nicht­
figurativ, linguistisch, pragmatisch. Der Designer kann die Kompetenz »Ist
autorisiert, die Tür zu öffnen« entweder in einen Schlüssel (Exkorporation)
oder einen erinnerten Code verschieben (Inkorporation); der Code selbst
kann so.ftwired oder hardwired sein (z.B.an einen Kindervers gebunden); die
Aufgabe, die Tür zu öffnen, kann entweder auf Menschen oder Nicht-Men­
schen verschoben werden (durch die figurative Attribution elektronischer
Augen); die Basiskompetenz, um die Tür zu öffnen, kann entweder durch
Anweisungen niedergeschrieben sein (linguistische Ebene) - wie bei Flug­
zeugen - oder auf die pragmatische Ebene verschoben werden (Ein-Weg­
Notausgänge, die sich öffnen, wenn eine Menschenmenge in Panik dage­
gen drückt).

Somit ist ein Setting eine Kette von M (Menschen) und N (Nicht-Men­
schen), jedes ausgestattet mit einer neuen Kompetenz oder seine Kompe­
tenz an ein anderes delegierend: In der Kette kann man Aggregate erken­
nen, die wie jene der traditionellen Sozialtheorie aussehen: soziale Grup­
pen, Maschinen, Schnittstellen, Einwirkung.

Askription (ascription): Der Zuschreibungsprozess, durch den der Ur­


sprung der Aktivität des Settings letztlich im Setting selbst entschieden
wird; sie ist kein primärer Mechanismus wie all die anderen, sondern ein
sekundärer; zum Beispiel kann die Bewegung eines Settings der autono­
men Druckkraft einer Maschine zugeschrieben werden, dem Stakhanovis­
tischen Mut der Arbeiter, den klugen Berechnungen der Ingenieure, der
Physik, der Kunst, dem Kapitalismus, den Körperschaften, dem Zufall usw.

»Scribe«, »Enscripter«, »Scripter«, »Designer« oder »Autor«: Wer oder was


der Designer eines Settings ist, ist das Resultat eines Askriptions- oder
Zuschreibungsprozesses. Dieser Ursprung aber kann in vielen Formen im
404 1 MADELEINE ÄKRICH UND BRUNO LATOUR

Setting selbst inskribiert sein - Warenzeichen, Unterschriften, Rechts­


grundlagen, Beweise, dass Standards erfüllt werden oder allgemeiner: was
die Industrie »Rückverfolgbarkeit« nennt. Die dunkelste aller Black Boxes
wird durch solche Inskriptionen erhellt.

UND (syntagmatisch, Assoziation; Allianzen); ODER (paradigmatisch,


Substitution, Übersetzung): Die zwei fundamentalen Dimensionen, um
der Reinskription eines Settings zu folgen; daher ihre Dynamik oder Ge­
schichte; die mündliche oder schriftliche Nachricht »Bringen Sie Ihren
Schlüssel zum Empfang zurück« wird nicht notwendigerweise befolgt -
Anti-Programm. Das Verschieben von Schlüsseln zu Gewichten bindet die
Hotelgäste an den · Empfang, weil sie eine schwere Last in der Tasche
tragen. Andere Anti-Programme werden erscheinen, die besiegt werden
müssen. Die Frontlinie zwischen Programmen und Anti-Programmen
bezeichnet den Plot eines Skripts und verfolgt seine Geschichte.

Abbildung 1

Nicht-menschlich Schnittstelle: Einwirkung


gestaltet von Menschen der Gesellschaft auf die Maschine

Automatismu� Maschine Einwirkung der Maschine


Soziale Beziehungen
auf die Gesellschaft

Die üblichen Kategorien, die Menschen und Nicht-Menschen scharf voneinander


trennen, entsprechen einem künstlichen Schnitt entlang der Assoziationsketten.
Wenn diese gezogen werden, ist es noch möglich, die früheren Kategorien als ge­
nauso viele eingeschränkte Ketten zu erkennen. Wenn wir M und N durch die Na­
men spezifischer Aktanten ersetzen, erhalten wir ein Syntagma. Wenn wir einen
spezifischen Namen durch einen anderen ersetzen, erhalten wir die sich verschie­
benden Paradigmen.
ZUSAMMENFAS SUNG EINER ZWECKMÄSSIGEN TERMINOLOGIE 1 405

Abbildung 2

Programm Anti-Programm UND

(1) { tfHtUtttfttHtfttltH
(2) j tttf Ht HltftlHtHtltft
l T tttlHtHt flttlltltH
' ..
(3)

(4) III\ tttfHtHtltltlHtfttlt


ODER Frontline

Der Hotelmanager fügt nach und nach Schlüssel, mündliche Mitteilungen, schriftli­
che Mitteilungen und schließlich Metallgewichte hinzu; jedes Mal modifiziert er
damit die Einstellung eines Teils der Gruppe der >Hotelgäste<, während er die syn­
tagmatische Anhäufung der Elemente erweitert.
f,
1

Die De-Skription technischer Objekte

MADELEINE AKRICH

Eine Beschreibung der Interaktion zwischen


Technik und Menschen
Obwohl man oft denkt, Wissenschaft und Technik gehören zusammen,
beschäftigen sie sich mit sehr unterschiedlichen Gegenständen. Wissen­
schaft soll die soziale Welt überschreiten und in eine von menschlichen
Abhängigkeiten unbelastete Realität vordringen. Vielleicht als Ergebnis
davon hat die Wissenschaftssoziologie die Arten erforscht, in denen das
Lokale und das Heterogene verbunden werden, um Wissen mit dem Status
universeller und zeitloser Wahrheit zu schaffen. Im Gegensatz dazu fan­
-� den Soziologen es schwierig, mit technischen Objekten zurechtzukommen.
Maschinen und Geräte sind offensichtlich zusammengesetzt, heterogen
und physisch lokalisiert. Obwohl sie auf einen Zweck hinweisen, eine
Verwendung, für die sie erdacht wurden, bilden sie auch einen Teil einer
langen Kette von Menschen, Produkten, Werkzeugen, Maschinen, Geld
usw. Sogar die Erforschung der technischen Komponenten von Geräten
produziert kein fokussiertes Bild, weil es immer einen unklaren Kontext
oder einen Hintergrund mit verschwommenen Grenzen gibt. Sogar die
profansten Objekte scheinen das Produkt einer Reihe unterschiedlicher
Kräfte zu sein. Die Stärke der Materialien, die man braucht, um Autos zu
bauen, ist eine Funktion der Vorhersagen über die Belastungen, die sie
ertragen müssen. Diese sind wiederum mit der Geschwindigkeit des Autos
verbunden, die selbst das Produkt eines komplexen Kompromisses zwi­
schen der Motorenleistung, der Gesetzgebung, der Umsetzung der Gesetze
und den Werten, die bestimmten Verhaltensweisen zugeschrieben werden,
ist. Als Konsequenz können Versicherungsexperten, Polizei und Passanten
die Verfassung der Karosserie des Autos verwenden, um zu beurteilen, zu
welchem Ausmaß es in einer Weise verwendet wurde, die den von ihm
repräsentierten Normen entspricht.
408 1 MADELEINE ÄKRICH

Technische Objekte verkörpern und messen gleichermaßen eine Reihe


von Beziehungen zwischen heterogenen Elementen. Der Prozess jedoch,
alles, was mit einem Auto zu tun hat, in solchen Begriffen zu beschreiben,
wäre eine Mammutaufgabe.1 Weiterhin kann das Endprodukt genauso
gut banal sein. Das Automobil ist so sehr Teil der Welt, in der wir leben,
dass seine Soziographie (eine Beschreibung all der Verbindungen, die es
bilden) zweifellos aussehen würde wie eine Sammlung von Gemeinplät­
zen. Sie würde, anders ausgedrückt, wie eine Reihe von Plätzen aussehen,
wo Elemente des Technischen, des Sozialen, des Wirtschaftlichen usw.
vereint anzutreffen sind, und sie würde Beobachtern die Freiheit lassen,
nach Belieben zwischen einem Element oder Register und einem anderen
zu wechseln. 2
Deshalb argumentiere ich, dass technische Objekte am Bau heteroge­
ner Netzwerke, die Aktanten aller Arten und Größen, ob menschlich oder
nichtmenschlich, zusammenbringen, teilnehmen.3 Aber wie können wir
die spezifische Rolle, die sie innerhalb dieser Netzwerke spielen, beschrei­
ben? Weil die Antwort mit der Art zu tun hat, in der sie eine Struktur von
Verbindungen zwischen verschiedenen Aktanten bauen, erhalten und
stabilisieren, können wir weder einfachen Technikdeterminismus noch ..1
Sozialkonstruktivismus einsetzen. Technikdeterminismus achtet nicht

1 1 Zweifellos könnte es befriedigend sein, auf einer großen Leinwand zu ma­


len, beim A und O anzufangen, bei Kolben und Brüchen, Zahnrädern und Keilrie­
men, dann zu Wahlsystemen weiterzugehen, zu den Strategien großer industrieller
Gruppen, der Definition der Familie, der Festkörperphysik. Im Fall einer solchen
Untersuchung würden wir zweifellos eine Menge von Führern (Leute, Texte, Objek­
te) finden, die bereit wären, uns Wege vorzuschlagen, auf denen wir unser Netzwerk
ausdehnen könnten. Aber solche Vorschläge wären endlos. Aus welchen Gründen
würde der Forscher aufhören - außer aus dem willkürlichen der Ermüdung? Abge­
sehen von der unbestimmten Zeit, die eine solche Studie in Anspruch nähme,
besteht auch die Frage, ob eine solche überhaupt interessant wäre.
2 1 Hier haben wir es mit dem zu tun, was man die konsensuelle Zone des
Automobils nennen könnte, die simultan durch die technischen Hauptelemente, die
den meisten Fahrzeugen gemeinsam sind, und ihre allgemein anerkannten Ver­
wendungen definiert wird. Offensichtlich gibt es an den Rändern hoch kontroverse
Zonen, und um diese Reibungspunkte werden die Kämpfe geführt, die zur Etablie­
rung der Vorherrschaft dieses und jenes Herstellers oder dieses und jenes Autos
führen.
3 1 Dieser Begriff wird nur als bequemes, jedoch unpräzises Kürzel verwendet.
Abhängig von den Umständen kann der Akteur (ein allgemeinerer Begriff, der
bevorzugt werden sollte) vielleicht ein Bürger, ein Mitglied einer bestimmten sozia­
len Klasse, ein Mitglied eines Berufsstandes oder sogar ein Finger oder ein Körper
mit einer bestimmten Temperatur, wie von einem Erfassungssystem gemessen,
sein.
,...
DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE 1 409

darauf, was von den strukturellen Effekten eines Netzwerkes zusammen­


gebracht und schließlich ersetzt wird. Im Gegensatz dazu leugnet der
soziale Konstruktivismus die Dauerhaftigkeit von Objekten und nimmt an,
dass nur Menschen den Status von Akteuren haben können. Das Problem
liegt nicht darin zu entscheiden, ob eine Technik als Instrument des Fort­
schritts oder als eine neue Methode, Menschen zu unterwerfen, gesehen
werden sollte. Es liegt eher darin, einen Weg zu finden, die Konditionen
und Mechanismen zu erforschen, unter denen die Beziehungen, die so­
wohl unsere Gesellschaft als auch unser Wissen über jene Gesellschaft
definieren, partieller Rekonstruktion zugänglich sind.
Um das zu tun, müssen wir uns ständig zwischen dem Technischen
und dem Sozialen hin- und herbewegen. Wir müssen uns auch zwischen
dem Innen und dem Außen technischer Objekte bewegen. Wenn wir das
tun, beginnen zwei wesentliche Fragen in den Blickpunkt zu treten. Die
erste hat mit dem Ausmaß zu tun, in welchem die Komposition eines
technischen Objekts Aktanten in der Art einschränkt, in der sie sich einer­
seits mit dem Objekt und andererseits miteinander verbinden. Die zweite
betrifft den Charakter dieser Aktanten und ihre Verbindungen, das Aus­
maß, zu welchem sie in der Lage sind, das Objekt umzuformen, und die
verschiedenen Arten, in denen das Objekt verwendet werden kann. Wenn
man sie einmal in dieser Weise betrachtet hat, erscheint die Grenze zwi­
schen dem Innen und dem Außen eines Objekts eher als eine Konsequenz
solcher Interaktion und nicht als etwas, das sie bestimmt. Die Grenze wird
in eine Demarkationslinie verwanqelt, die innerhalb einer Geographie der
Delegation4 zwischen dem, was vom technischen Objekt angenommen,
und dem, was von den Kompetenzen anderer Aktanten verfolgt wird.
Die Beschreibung dieser elementaren Mechanismen der Abstimmung
gibt zwei Probleme auf: ein methodologisches und ein terminologisches.
Die Schwierigkeit bei der Terminologie ist die Notwendigkeit, Begriffe zu
vermeiden, die von einer Unterscheidung zwischen dem Technischen und
dem Sozialen ausgehen. Weil die Verbindungen, die uns interessieren,
notwendigerweise technisch und sozial sind, entwickle und verwende ich
ein aus der Semiotik entlehntes Vokabular, das diese Schwierigkeit ver­
meiden soll.5 Das methodologische Problem ist, dass wir, wenn wir die
elementaren Mechanismen der Abstimmung beschreiben wollen, Um­
stände finden müssen, in denen das Innen und das Außen von Objekten
nicht gut zusammenpassen. Wir müssen Widerspruch, Verhandlung und
das Potenzial für Zusammenbruch finden.
Es gibt verschiedene Bereiche - z.B. bei technischer Innovation und

4 1 Vgl. Bruno Latours Artikel »Where are the Missing Masses« (1992) zur
weiteren Diskussion von Delegation.
5 1 Diese Terminologie wird von Latour (1992) und in unserem gemeinsamen
Artikel (Akrich/Latour 1992) weiter diskutiert.
4IO I MADELEINE ÄKRICH

Technologietransfer-, in denen Objekte und ihre vorausgesetzten Funk­


tionen oder die Beziehungen zwischen Angebot und Nachfrage schlecht
zusammenpassen. Im Folgenden beschreibe ich eine Anzahl von Fällen
von >Technologietransfer< in Entwicklungsländer, die ich meiner eigenen
Feldforschung entnommen habe. Diese reichen von der einfachen Über­
führung einer in Industriegesellschaften weithin verwendeten Technologie
bis hin zur Entwicklung von Objekten, die besonders für den Gebrauch in
Entwicklungsländern konzipiert sind. 6 Bei jedem Fall beschreibe ich die
elementaren Mechanismen der reziproken Abstimmung zwischen dem
technischen Objekt und seiner Umgebung.
Ich beginne mit einer Betrachtung der Art, in der technische Objekte
Aktanten und die Beziehungen zwischen Aktanten definieren. Ich zeige,
dass die Einfachheit, mit der die Aktanten, die im Design des Objekts
angenommen wurden, mit denen verbunden sind, die in der Praxis existie­
ren, teilweise eine Funktion der von den Designern gefällten Entscheidun­
gen ist. Die Dauerhaftigkeit oder Plastizität der Objekte, etwas, das in der
Konfrontation mit Benutzern etabliert wird, ist eine Funktion der Distribu­
tion von Kompetenzen, die angenommen werden, wenn ein Objekt konzi­
piert und entworfen wird.
Dann erwäge ich die Art, in der technische Objekte Ursachen verteilen.
Wenn die meisten der von den Designern getroffenen Wahlen die Form
von Entscheidungen darüber, was an wen oder was delegiert werden sollte,
annehmen, bedeutet das, dass technische Objekte eine spezifische Geogra­
phie der Verantwortlichkeiten oder - allgemeiner ausgedrückt- der Ursa­
chen enthalten und produzieren. Sicherlich kann diese Geographie in
Frage gestellt werden und man kann ihr widersprechen. Dennoch schlägt
sie vor, dass neue Technologien nicht nur zu neuen Anordnungen von
Menschen und Dingen führen können. Sie können zusätzlich neue For­
men und Anordnungen von Kausalität und tatsächlich neue Formen von
Weltwissen erzeugen und >naturalisieren<. Ich werde diesen Prozess be­
trachten und die Art illustrieren, in der Technik sowohl Formen des Wis­
sens als auch moralische Urteile generieren kann.

6 1 Ich bin mir bewusst, dass der Leser durch die Art, in der diese Beispiele
verwendet werden, frustriert sein mag. Innerhalb eines kurzen Artikels ist es nicht
möglich, volle Einzelheiten wiederzugeben. Da sie aber eine Argumentation veran­
schaulichen sollen, hoffe ich, dass der Leser zustimmen wird, dass die Vorteile ihrer
Verwendung die Nachteile der verkürzten Darstellung überwiegen.
p

DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE 1 4n

Die Herstellung von Subjekten und Objekten

Vom Skript zur De-Skription

Eine Zeit lang haben Techniksoziologen argumentiert, dass Technologen,


wenn sie die Charakteristika ihrer Objekte definieren, notwendigerweise
Hypothesen über die Entitäten aufstellen, die die Welt, in die das Objekt
eingeführt werden soll, bilden.7 Designer definieren folglich Akteure mit
besonderem Geschmack, besonderen Kompetenzen, Motiven, Zielen,
politischen Vorurteilen und vielem anderen, und sie nehmen an, dass
Moral, Technik, Wissenschaft und Ökonomie sich auf bestimmte Weisen
entwickeln werden. Ein großer Teil der Arbeit von Innovatoren ist der des
»Inskribierens« dieser Vision der Welt (oder der Vorhersage darüber) in den
technischen Inhalt des neuen Objekts. Ich nenne das Endprodukt dieser
Arbeit ein »Skript« oder ein »Szenario«.
Die technische Realisierung der Vorstellungen des lnnovators über die
Beziehungen zwischen einem Objekt und den es umgebenden Akteuren
ist also ein Versuch der Vorherbestimmung der Settings, die Benutzer sich
für ein bestimmtes Stück Technik vorstellen sollen, und die Präskriptionen
(Notizen, Verträge, Ratschläge usw.), die es begleiten. Sicherlich kann es
sein, dass sich keine Akteure dazu bereit erklären, die Rollen zu spielen,
die der Designer sich vorgestellt hatte, oder dass Benutzer selbst ziemlich
andere Rollen definieren. Falls das passiert, bleibt das Objekt eine Chimä­
re, denn die Konfrontation von technischen Objekten und ihren Benutzern
verleiht den Letztgenannten Realität oder Irrealität.
Also definieren technische Objekte wie ein Filmskript den Rahmen
einer Handlung zusammen mit den Akteuren und dem Raum, in dem sie
agieren sollen. Sigaut (1984) gibt Beispiele von Werkzeugen, deren Form
eine genaue Beschreibung (a la Sherlock Holmes) ihrer Benutzer sugge­
riert. Die mit zwei Griffen versehene angolanische Hacke wurde für Frau­
en gemacht, die Kinder auf ihrem Rücken tragen. Der Arbeitspfahl mit
seiner einzigen Spitze kann nur von zwei Leuten eingetrieben werden und
setzt damit gemeinschaftliche Benutzung voraus. Wenn man sich aber
einmal von solch einfachen Beispielen wegbewegt, wird es schwieriger, die
Verbindungen zwischen technischen Entscheidungen, Benutzerrepräsenta­
tionen und dem tatsächlichen Gebrauch von Technik zu entdecken. Die
Methode der Inhaltsanalyse, wie sie bei Texten angewendet wird, setzt
einen individuellen und psychologischen Ansatz an, der keine oder nur
geringe Relevanz für unser Problem hat: Tatsächlich kommt sie dem tech­
nologischen Determinismus ziemlich nahe, weil sie einen großen Bereich

7 1 Für ein bemerkenswertes Beispiel des Zusammenhangs zwischen der


Definition von technischen Parametern und der Definition einer ,Welt<, für die das
Objekt bestimmt ist, vgl. Callons Artikel über das Elektrofahrzeug (1987).
II[!
412 1 MADELEINE ÄKRICH

'I von möglichen Verwendungen der Objekte ignoriert. Offensichtlich kann


sie unmöglich die große Vielzahl von Schicksalen erklären, die technische
1 1

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Objekte erfahren - Schicksale, die von vollkommenem Erfolg bis zu abso­
,1
lutem Misserfolg reichen.
.
.
,,
: Eine Art, das Problem anzugehen, ist, den Verhandlungen zwischen
Innovator und potentiellen Benutzern zu folgen und den Weg zu erfor­
1

schen, in dem die Ergebnisse solcher Verhandlungen in eine technische


Form übersetzt werden. Tatsächlich ist diese Methode oft in soziologischen
und historischen Technikstudien verwendet worden. Wenn wir also an
technischen Objekten und nicht an Chimären interessiert sind, können wir
methodologisch nicht allein mit der Sichtweise des Designers oder des
Benutzers zufrieden sein. Stattdessen müssen wir kontinuierlich zwischen
dem Designer und dem Benutzer, zwischen dem vom Designer projizier­
ten Benutzer und dem wirklichen Benutzer, zwischen der im Objekt inskri­
bierten Welt und der durch deren Verschiebung beschriebenen Welt hin- und
zurückgehen. Durch diese kontinuierliche Variation erhalten wir Zugang
zu entscheidenden Beziehungen: zu den Reaktionen des Benutzers, die
dem Projekt des Designers Realität verleihen, und zu der Art, in der die
reale Umwelt des Benutzers teilweise durch die Einführung eines neuen
Gerätes spezifiziert wird. Die Idee der hier vorgeschlagenen De-Skription
muss innerhalb dieses Rahmens entwickelt werden. Es ist das Inventar
und die Analyse der Mechanismen, die der Beziehung zwischen einer
Form und einer Bedeutung, die von einem technischen Objekt konstituiert
wird und die für dieses auch konstitutiv ist, in die Existenz zu treten erlau­
ben. Diese Mechanismen der Abstimmung (oder des Versagens, sich abzu­
stimmen) zwischen dem Benutzer, wie ihn sich der Designer vorgestellt
hat, und dem realen Benutzer werden besonders deutlich, wenn sie durch
Ausschluss wirken, ob dieser Ausschluss beabsichtigt ist oder nicht.8 Der

8 1 Vgl. z.B. Winner (1980) und Latour (1988). Winner beschreibt, wie die Höhe
von Überführungen über die Bundesstraße in Long Island gewählt wurde, um die
Durchfahrt von Bussen - den von Schwarzen verwendeten Verkehrsmitteln - zu
verhindern, sodass die Nutzung von Freizeiteinrichtungen effektiv auf Weiße be­
schränkt blieb. Latour, der das von Daumas (1977) beschriebene Beispiel neu inter­
pretiert, erzählt, wie in genau derselben Weise der radikale Pariser Stadtrat am Ende
des 19. Jahrhunderts beschloss, Metrotun.nel zu bauen, die zu eng für die Standard­
wagen der Zuggesellschaften waren. Die Absicht, die 70 Jahre lang den Sieg davon­
trug, war, die privaten Zuggesellschaften (die von den Rechten unterstützt wurden)
davon abzuhalten, ihre Hände an die Pariser Metro zu legen, gleichgültig, welche
Partei an der Macht war. Vielfache Übersetzungen sind nötig, um zu solchen
Ergebnissen zu gelangen. In Winners Fall müssen wir von der Weiß/Schwarz- zur
Auto/Bus-Unterscheidung gehen und dann weiter zur Höhe der Überführungen.
Dies ist nur möglich, weil die Schwarz/Weiß-Unterscheidung schon im ungleichen
Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen und, als Konsequenz, zu teuren Produkten
F

DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE J 413

Fall der fotoelektrischen Lichtanlage ist ein Beispiel, in dem Ausschluss


ausdrücklich von niemandem gesucht wurde.

Die fotoelektrische Lichtanlage oder:


Wie man einen Nicht-Benutzer produziert

Die fotoelektrische Lichtanlage wurde aus dem Wunsch einer Regierungs­


stelle geboren, neue Energiequellen zu fördern. Als Teil ihrer kooperativen
internationalen Aktivitäten wollte die Behörde an Lichtquellen arbeiten und
damit dem Bedarf an Licht begegnen - etwas, von dem alle wohlmeinen­
den Informanten sagen, dass es für alle Entwicklungsländer von entschei­
dender Wichtigkeit sei. Zur selben Zeit wollte sie der französischen Indus­
trie für fotoelektrische Zellen helfen, einen Markt zu schaffen.
Da sie in einem spezifischen Netzwerk gefangen waren, das Unterstüt­
zung durch den Staat und die Industrie involvierte, erdachten die mit dem
Design Betrauten die Anlage als eine Funktion der spezifischen Bedürfnis­
se und Beschränkungen, die ihnen von diesem Netzwerk auferlegt wurden.
An keinem Punkt kamen z.B. kommerzielle Überlegungen ins Spiel. Ent­
sprechend kann die Gestalt der Lichtanlage als eine Beschreibung der Art
behandelt werden, in der dieses Netzwerk wirkte - ein Netzwerk, charakte­
risiert durch die Zirkulation von bestimmten Typen von Ressourcen und
den Ausschluss anderer Akteure. Die >narrativen< Muster und Skripte, die
von denen erdacht worden waren, die diese Anlage konzipierten, waren
ziemlich spezifisch, eine Funktion ihrer Positionen. Die Erforschung der
Lichtanlage (oder jedes anderen technischen Objekts) ermöglicht uns, die
>Soziologie< des Netzwerkes zu schaffen, das von seiner Zirkulation defi­
niert wird.
Als ich die Industriellen und Designer zum ersten Mal über die Licht­
anlage sprechen hörte, schien es eine sehr simple Anordnung mit drei
funktionalen Elementen zu sein. Es gab ein Solarpanel zur Produktion von
Elektrizität, einen Aklmmulator und eine Lampe, die die Elektrizität ver­
brauchte. Als ich jedoch in Afrika ankam und damit begann, die Arten zu
erforschen, in denen solche Anlagen tatsächlich verwendet wurden, wurde
das Bild schnell komplizierter. Diejenigen, die für die Installation und
Wartung der Anlagen verantwortlich waren, wurden mit beträchtlichen
Schwierigkeiten konfrontiert. Die erste von diesen war, dass die Drähte, die
die verschiedenen Komponenten verbanden - das Solarpanel, die Batterien
und die Leuchtstoffröhre - der Länge nach befestigt waren und nicht ein­
fach verändert werden konnten, weil die Verbindungen mit Steckern her­
gestellt wurden, die nicht dem Standard entsprachen. Dies bedeutete, dass

wie Autos prä-inskribiert ist. In Latours Fall ist es die Breite der Tunnel, die der
Zuganlage (und damit den verschiedenen Gesellschaften und politischen Parteien)
erlaubt, auf Armeslänge von der Metro entfernt gehalten zu werden.
412 J MADELEINE ÄKRICH

von möglichen Verwendungen der Objekte ignoriert. Offensichtlich kann


sie unmöglich die große Vielzahl von Schicksalen erklären, die technische
Objekte erfahren - Schicksale, die von vollkommenem Erfolg bis zu abso­
lutem Misserfolg reichen.
Eine Art, das Problem anzugehen, ist, den Verhandlungen zwischen
Innovator und potentiellen Benutzern zu folgen und den Weg zu erfor­
schen, in dem die Ergebnisse solcher Verhandlungen in eine technische
Form übersetzt werden. Tatsächlich ist diese Methode oft in soziologischen
und historischen Technikstudien verwendet worden. Wenn wir also an
technischen Objekten und nicht an Chimären interessiert sind, können wir
methodologisch nicht allein mit der Sichtweise des Designers oder des
Benutzers zufrieden sein. Stattdessen müssen wir kontinuierlich zwischen
dem Designer und dem Benutzer, zwischen dem vom Designer projizier­
ten Benutzer und dem wirklichen Benutzer, zwischen der im Objekt inskri­
bierten Welt und der durch deren Verschiebung beschriebenen Welt hin- und
zurückgehen. Durch diese kontinuierliche Variation erhalten wir Zugang
zu entscheidenden Beziehungen: zu den Reaktionen des Benutzers, die
dem Projekt des Designers Realität verleihen, und zu der Art, in der die
reale Umwelt des Benutzers teilweise durch die Einführung eines neuen
Gerätes spezifiziert wird. Die Idee der hier vorgeschlagenen De-Skription
muss innerhalb dieses Rahmens entwickelt werden. Es ist das Inventar
i,
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und die Analyse der Mechanismen, die der Beziehung zwischen einer
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i
Form und einer Bedeutung, die von einem technischen Objekt konstituiert
wird und die für dieses auch konstitutiv ist, in die Existenz zu treten erlau­
ben. Diese Mechanismen der Abstimmung (oder des Versagens, sich abzu­
stimmen) zwischen dem Benutzer, wie ihn sich der Designer vorgestellt
hat, und dem realen Benutzer werden besonders deutlich, wenn sie durch
Ausschluss wirken, ob dieser Ausschluss beabsichtigt ist oder nicht.8 Der

8 1 Vgl. z.B. Winner (1980) und Latour (1988). Winner beschreibt, wie die Höhe
von Überführungen über die Bundesstraße in Long Island gewählt wurde, um die
Durchfahrt von Bussen - den von Schwarzen verwendeten Verkehrsmitteln - zu
,1 verhindern, sodass die Nutzung von Freizeiteinrichtungen effektiv auf Weiße be­
schränkt blieb. Latour, der das von Daumas (1977) beschriebene Beispiel neu inter­
pretiert, erzählt, wie in genau derselben Weise der radikale Pariser Stadtrat am Ende
des 19. Jahrhunderts beschloss, Metrotunnel zu bauen, die zu eng für die Standard­
wagen der Zuggesellschaften waren. Die Absicht, die 70 Jahre lang den Sieg davon­
trug, war, die privaten Zuggesellschaften (die von den Rechten unterstützt wurden)
davon abzuhalten, ihre Hände an die Pariser Metro zu legen, gleichgültig, welche
Partei an der Macht war. Vielfache Übersetzungen sind nötig, um zu solchen
Ergebnissen zu gelangen. In Winners Fall müssen wir von der Weiß/Schwarz- zur
Auto/Bus-Unterscheidung gehen und dann weiter zur Höhe der Überführungen.
Dies ist nur möglich, weil die Schwarz/Weiß-Unterscheidung schon im ungleichen
Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen und, als Konsequenz, zu teuren Produkten

11
,
,
1 j,
DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE J 413

Fall der fotoelektrischen Lichtanlage ist ein Beispiel, in dem Ausschluss


ausdrücklich von niemandem gesucht wurde.

Die fotoelektrische Lichtanlage oder:


Wie man einen Nicht-Benutzer produziert

Die fotoelektrische Lichtanlage wurde aus dem Wunsch einer Regierungs­


stelle geboren, neue Energiequellen zu fördern. Als Teil ihrer kooperativen
internationalen Aktivitäten wollte die Behörde an Lichtquellen arbeiten und
damit dem Bedarf an Licht begegnen - etwas, von dem alle wohlmeinen­
den Informanten sagen, dass es für alle Entwicklungsländer von entschei­
dender Wichtigkeit sei. Zur selben Zeit wollte sie der französischen Indus­
trie für fotoelektrische Zellen helfen, einen Markt zu schaffen.
Da sie in einem spezifischen Netzwerk gefangen waren, das Unterstüt­
zung durch den Staat und die Industrie involvierte, erdachten die mit dem
Design Betrauten die Anlage als eine Funktion der spezifischen Bedürfnis­
se und Beschränkungen, die ihnen von diesem Netzwerk auferlegt wurden.
An keinem Punkt kamen z.B. kommerzielle Überlegungen ins Spiel. Ent­
sprechend kann die Gestalt der Lichtanlage als eine Beschreibung der Art
behandelt werden, in der dieses Netzwerk wirkte - ein Netzwerk, charakte­
risiert durch die Zirkulation von bestimmten Typen von Ressourcen und
den Ausschluss anderer Akteure. Die >narrativen< Muster und Skripte, die
von denen erdacht worden waren, die diese Anlage konzipierten, waren
ziemlich spezifisch, eine Funktion ihrer Positionen. Die Erforschung der
Lichtanlage (oder jedes anderen technischen Objekts) ermöglicht uns, die
>Soziologie< des Netzwerkes zu schaffen, das von seiner Zirkulation defi­
niert wird.
Als ich die Industriellen und Designer zum ersten Mal über die Licht­
anlage sprechen hörte, schien es eine sehr simple Anordnung mit drei
funktionalen Elementen zu sein. Es gab ein Solarpanel zur Produktion von
Elektrizität, einen Aklrumulator und eine Lampe, die die Elektrizität ver­
brauchte. Als ich jedoch in Afrika ankam und damit begann, die Arten zu
erforschen, in denen solche Anlagen tatsächlich verwendet wurden, wurde
das Bild schnell komplizierter. Diejenigen, die für die Installation und
Wartung der Anlagen verantwortlich waren, wurden mit beträchtlichen
Schwierigkeiten konfrontiert. Die erste von diesen war, dass die Drähte, die
die verschiedenen Komponenten verbanden - das Solarpanel, die Batterien
und die Leuchtstoffröhre - der Länge nach befestigt waren und nicht ein­
fach verändert werden konnten, weil die Verbindungen mit Steckern her­
gestellt wurden, die nicht dem Standard entsprachen. Dies bedeutete, dass

wie Autos prä-inskribiert ist. In Latours Fall ist es die Breite der Tunnel, die der
Zuganlage (und damit den verschiedenen Gesellschaften und politischen Parteien)
erlaubt, auf Armeslänge von der Metro entfernt gehalten zu werden.
I

I
: 1
: 1

•, 414 1 MADELEINE ÄKRICH


1.
:

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: : I 'I' es schwierig war, die Anlagen zur Verwendung in Räumen verschiedener
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11

Größe anzupassen. Die Komponenten mit kurzer Lebensdauer wie z.B.


l
Lampen oder Batterien zu ersetzen, stellte eine zweite Schwierigkeit dar.
Weder passende Leuchtstoffröhren noch die wasserdichten Batterien, die
il,' 1
gewählt worden waren, um sicherzustellen, dass Wartungsprobleme nicht
die Lebensdauer des Systems verkürzten, waren auf den Märkten außer­
halb der Hauptstadt erhältlich. Lokale Versorgungsquellen waren für den
Benutzer also keine Hilfe. Trotz der Tatsache, dass es ein Hauptelement in
ihrer technischen Umwelt war, verloren die Benutzer als Ergebnis die
Kontrolle über die Installation. Plötzlich begann das zuvor Vertraute fremd
zu werden. (Die erste Frage, die Benutzer oft stellten, war: »Wann muss ich
Wasser in die Batterien nachfüllen?«) Ein dritter Faktor hielt die Benutzer
davon ab, die Installation anzuschaffen. Dies war die Tatsache, dass der
Vertragshändler, der die Anlage installierte, den Benutzern untersagte, sich
im Fall eines Defekts an einen örtlichen Elektriker zu wenden. Stattdessen
sagte er zu, dass er zwei Mal im Jahr in die Gegend komme, um fehlerhaf­
te Installationen zu reparieren. Der Grund für dieses Embargo gegen
örtliche Reparaturen war die Empfindlichkeit des Solarpanels. Wie die
Anleitung es formulierte, »wandelt [sie] Sonnenenergie direkt in elektri­
sche Energie um«. Die Tatsache jedoch, dass dies die Form von Gleich­
strom mit nichtäquivalenten Polen annahm, bedeutete - zumindest nach
Ansicht des Vertragshändlers-, dass es riskant wäre, einen örtlichen Elek­
triker hinzuzuziehen, der Erfahrungen mit Wechsel-, aber nicht mit
Gleichstrom hätte. Die Gefahr war, dass die Ausrüstung, falls sie falsch
angeschlossen würde, beschädigt werden könnte.
Die Entdeckung dieser Schwierigkeiten illustriert einen wichtigen
methodologischen Punkt. Bevor ich von Paris aus nach Afrika reiste, hatte
ich nicht an die potentielle Bedeutung von nicht standardisierten Steckern,
Gleichstrom oder wasserdichten Batterien gedacht. Erst in der Konfronta­
tion zwischen dem realen und dem projizierten Benutzer kam die Bedeu­
tung solcher Dinge wie Stecker aufgrund der Unterschiede zwischen
diesen beiden ans Licht.9 Die Materialisierung und Implementierung
dieses und anderer technischer Objekte war ein langer Prozess, in dem
sowohl technische als auch soziale Elemente gleichzeitig ins Leben gerufen
wurden - ein Prozess, der die Grenzen des Labors oder der Werkstatt weit
überschritt.
Die Tatsache, dass die Wichtigkeit dieser Charakteristika erst in der
Interaktion von Designer und Benutzer evident wurde, war nicht das Re­
sultat von Zufall oder Nachlässigkeit. Jede tatsächlich getroffene Entschei­
dung ergab in Begriffen von Designkriterien einen Sinn. Gleichstrom ist

9 1 Im Französischen gibt es ein Wortspiel über dessein (Design im Sinne eines


Plans) und dessin (Design im Sinne einer Zeichnung). Die beiden haben dieselbe
Etymologie.
F

DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE 1 415

billiger als Wechselstrom, weil ein Transformator einen guten Teil der
verfügbaren Energie verbraucht. Wasserdichte Batterien und nicht stan­
dardisierte Anschlüsse wurden gewählt, um die Leute davon abzuhalten,
selbst Hand an das Gerät zu legen und es so potentiell zu beschädigen. Die
Länge der Verdrahtung musste begrenzt sein, da diese sonst die Leistung
des Gerätes reduziert hätte. Diese Entscheidungen waren dazu gedacht,
sicherzustellen, dass die Lichtanlage unter allen Umständen >arbeiten<
würde - eine wichtige Überlegung in den Verhandlungen zwischen den
Industriellen und ihren Kunden. Man muss sich erinnern, dass nicht die
Letztgenannten die Endbenutzer der Anlage waren, sondern eher die
Behörde und die Regierung, der man das Geschenk machte. Das Anliegen,
eine narrensichere Anlage zu produzieren, war dergestalt, dass die Desi­
gner beschlossen, keinen separaten Schalter im Kreislauf zu haben, weil
dieser vielleicht zu einem Punkt unbefugten Eindringens in das System
werden könnte. Dies bedeutete, dass es Benutzer oft schwierig fanden, das
Licht ein- oder auszuschalten, weil der einzige Schalter direkt am Licht
angebracht und somit normalerweise außerhalb der Reichweite war.
Also war es das technische Objekt, das die Akteure definierte, mit
denen es interagieren sollte. Die Lichtanlage (und hinter ihr die Designer)
arbeiteten mit einem Prozess der Eliminierung. Es würde nur einen füg­
samen Benutzer tolerieren und andere Akteure wie Techniker oder Ge­
schäftsleute, von denen man normalerweise erwartet hätte, dass sie zur
Schaffung eines technoökonomischen Netzwerkes beitragen, ausschließen.
Wären die Benutzer wirklich so fügsam gewesen, wie die Designer beab­
sichtigten, hätte ich nicht gesehen, dass die Anlage eine große Reihe von
technisch delegierten Präskriptionen repräsentierte, die von den Entwicklern
an den Benutzer gerichtet waren.
Wenn wir technische Objekte beschreiben wollen, brauchen wir Ver­
mittler, um die Bindeglieder zwischen technischem Inhalt und Benutzer
zu schaffen. Im Fall einer nicht stabilisierten Technik können diese entwe­
der der Entwickler oder der Benutzer sein. Die Situation ist eine andere,
wenn wir mit einer stabilisierten Technik konfrontiert werden, die bereits
eine »Black Box« ist. Hier ist der Entwickler nicht länger präsent und die
Erforschung des gewöhnlichen Benutzers ist nicht sehr hilfreich, weil er
oder sie bereits die in Interaktionen mit der Maschine implizierten Prä­
skriptionen angenommen hat. Unter solchen Umständen können einige
Präskriptionen in Benutzerhandbüchern oder Verträgen gefunden werden.
Alternativ können wir Konflikte erforschen, schauen, was passiert, wenn
Geräte falsch funktionieren, oder dem Gerät folgen, wie es sich in Länder
bewegt, die kulturell oder historisch von seinem Ursprungsort entfernt
sind. Im nächsten Abschnitt verwende ich die letzte dieser Methoden, um
den Gebrauch von Generatoren im Senegal zu beschreiben.
416 1 MADELEINE AKRICH

De-Skription im Technologietransfer:
Objekte im Gebrauch neu erfinden und neu gestalten

Im ländlichen Senegal werden Generatoren weithin für »Festgruppen«


verwendet. Eine Verwaltung kauft einige kleine Generatoren, die sie an
Jugendgruppen in den Dörfern verteilt. Zusammen mit den Generatoren
kommt vielleicht Beleuchtung, ein Plattenspieler oder ein Lautsprecher.
Die Jugendgruppen benutzen die Generatoren oder verleihen sie an ihre
Mitglieder, die für die Kosten für Treibstoff und Öl aufkommen. Sie kön­
nen auch an andere Dorfbewohner ausgeliehen werden, die ebenfalls für
die Treibstoff- und Ölkosten verantwortlich sind. Das Geld, das so durch
die Vermietung von Generatoren verdient wird, wird geteilt, wobei ein Teil
an die Person geht, die den Generator transportiert, und ein anderer an die
Gruppe. Auf diese Weise ist eine kleine Anzahl von Akteuren mit dem
Generator involviert - Akteure, die als eine Menge von Zusätzen zu den
Komponenten, die den Generator bilden, betrachtet werden können.
Der Metallanhänger des Generators bedeutet, dass er mobil ist, und so
spielt er eine wichtige Rolle in diesem Prozess. Das Feld der möglichen
Verwender und die Beziehungen zwischen den verschiedenen Akteuren
werden von der Bewegung des Generators definiert. Der Treibstofftank
macht dem Generator jedoch die Hauptrolle streitig, weil er eine grund­
sätzliche Unterscheidung zwischen Kapital- und Operationskosten zieht.
Diese Unterscheidung ist von Anfang an im sozialen Aufbau, der den Ge­
nerator ins Dorf bringt, inskribiert: Es gibt eine Administration, die die
Investition sichert, und es gibt eine Gruppe, die tatsächlich den Generator
verwaltet und betreibt. Das technische Gerät reduziert die Verhandlungen
zwischen den beiden Parteien auf ein Minimum, weil es eine vorverhandel­
te Übereinkunft direkt suggeriert. Offensichtlich könnten die Dinge auch
anders arrangiert sein. Dies würde jedoch bedeuten, eine ganze Reihe von
Aufgaben an zusätzliche Strukturen außerhalb des Generators und seines
Anhängers zu delegieren (rechtliche, menschliche und technische). Es
könnte sogar neue Maßsysteme mit sich bringen - in welchem Fall nicht
klar wäre, ob wir es noch mit demselben Objekt zu tun hätten.
Die Situation wäre ziemlich anders, wenn wir mit einem Gerät kon­
frontiert wären, dessen Kosten ausschließlich auf der Seite der Investition
konzentriert wären - wie z.B. bei fotoelektrischen Anlagen. Welche Art von
Beziehung kann es unter diesen Bedingungen zwischen dem Käufer und
dem Benutzer geben? Mit dieser Frage waren diejenigen konfrontiert, die
die Entwicklung von Solaranlagen in Französisch-Polynesien vorantreiben
wollten. Als die Solaranlagen einmal verteilt worden waren, war es nicht
immer möglich, darauf zu bestehen, dass diese zwei Klassen von Kosten
unterschieden werden sollten. Die Technik versagte nicht nur selbst darin,
zwischen diesen zu unterscheiden, sondern sie bot auch keinerlei Mess­
methode an, die in angemessene sozioökonomische Begriffe übersetzt
F

DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE 1 417

werden konnte. Wie man es aber auch einsetzt, erzeugt ein Solarpanel
Strom als Funktion von Klima und Breitengrad. Die ,Standard<-Beziehung
zwischen Produktion und Verbrauch (eine Reflexion der gegenseitigen
Abhängigkeit von zwei Gruppen von Akteuren) wird durch eine individuel­
le, direkte und tatsächlich willkürliche Unterordnung unter Naturlcräfte
ersetzt.
Der Unterschied zwischen diesem und dem Generator ist offensicht­
lich. Im Fall des Generators kann der Brennstofftank dazu benutzt werden,
die Beziehung zwischen seiner Verwendung und den Kosten dieser Ver­
wendung zu messen - eine Beziehung, die im Motor als Ganzem verkör­
pert ist. Die Schaffung einer besonderen Art sozialer Bindung, des Vermie­
tens, wird von der Existenz dieser Beziehung bedingt, die den Generator
delokalisiert, indem sie viele Gruppen von Akteuren schafft: Investoren/
Käufer, Besitzer/Benutzer, gemeinsame Benutzer, Mieter und Transpor­
teure. Die Existenz von Transporteuren macht das Eigentum sogar noch
,reiner<, da sie es von Dienstbarkeit befreien. Ihre Bezahlung markiert die
Grenze der Gruppensolidarität, da die Arbeit einer einzelnen Person die
Gemeinschaft nicht bereichern kann. Zur selben Zeit baut der Generator
eine räumliche und soziale Geographie. So erwogen die Lehrer in einem
der Dörfer, die Beleuchtung für ihre Abendklassen brauchten, noch nicht
einmal, einen Generator zu mieten. Die Trennung zwischen der Welt des
»Marktes« und der »öffentlichen«'0 Welt mag vielleicht noch nicht durch
die soziale Differenzierung, die mit der Elektrizität und ihren Verwendun­
gen einherging, in das Dorf gebracht worden sein, aber sie wurde sicher­
lich von dieser modifiziert.
Die Lichtanlage führte sich selbst als ,hypothetisches< Objekt ein, wäh­
rend der Generator lediglich ein anderes Gerät war, das in die verschiede­
nen Sektoren wirtschaftlichen Lebens integriert wurde. Wir sollten jedoch
den Unterschied zwischen ihnen nicht überbetonen. Dies sieht man am
besten in Begriffen des differentiellen Widerstandes. Es würde viel mehr
Mühe machen, den Generator (wieder) zu demontieren, als die Lichtanla­
ge. In beiden Fällen jedoch haben wir es mit der Schaffung und Auswei­
tung von Netzwerken zu tun, die gleichzeitig sowohl das Soziale als auch
das Technische definieren. Gegenstände wie nicht standardisierte Stecker
und Sicherungen erhalten Bedeutung, wenn die realen Benutzer beginnen,
die projizierten zu ersetzen. Die Kompetenz der Jugendgruppe, ihre Bezie­
hung zu anderen Elementen des Dorflebens, die bloße Definition dieser
Elemente - alle diese werden zur selben Zeit und durch denselben Prozess,
der die den Generator bildenden Komponenten definiert, bestimmt. Wenn
wir unsere Aufmerksamkeit auf die ,Funktion, beschränken müssten, die
von diesem Gerät innerhalb der Jugendgruppe erfüllt wird, könnten wir

10 1 Ich beziehe mich hier auf die Unterscheidung zwischen »marchand« und
»civique«, wie sie bei Boltanski und Thevenot diskutiert wird (1987).
418 1 MADELEINE ÄKRICH

uns vorstellen, dass manches andere technische System (z.B. Sonnenkol­


lektoren oder Anbindung an das nationale Stromnetz) in derselben Weise
funktionieren würde. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn unter solchen
Umständen wäre die Beziehung zwischen der Jugendgruppe und anderen
im Dorf anders und wahrscheinlich fließender. In diesem Sinn können wir
also sagen, dass unsere Beziehungen zur >realen Welt< von technischen
Objekten vermittelt werden.

Präskriptionen als ein Weg, Akteure einzubinden oder:


Wie man Bürger macht

So weit habe ich Technik beschrieben, die jenen, die sie benutzen, relativ
geringe Beschränkungen aufzuerlegen scheint. Wenn der Generator und
jene, die ihn fördern, einige von denen, die ansonsten außerhalb der öko­
nomischen Beziehungen sind, hin auf einen Einbezug bewegen, dann ist
dieser Effekt relativ klein. Im Fall der fotoelektrischen Lichtanlage liegt die
Hauptgefahr darin, dass niemand sie überhaupt benutzen will. Technik ist
jedoch nicht immer so. Manchmal benutzen ihre Designer und Konstruk­
teure sie, um Zugang zu bestimmten Akteuren zu erhalten, die sie dann in
spezifische Rollen drängen. Dies geschah im Fall der Elfenbeinküste und
ihres Elektrizitätsnetzwerks. Hier war die physische Ausdehnung des
Netzwerkes ein integraler Teil der großen Bemühung, das Land räumlich,
architektonisch und rechtlich zu reorganisieren. Die Absicht war, neue und
>moderne< Entitäten wie den individuellen Bürger zu erschaffen.
Winner (1980) hat argumentiert, dass bestimmte Technologien inhä­
rent politisch - z.B. nichtdemokratisch - sind. Wenn er damit Recht hat,
würde der hier von mir gewählte Ansatz zu einer Form von Technikdeter­
minismus führen. Der Fall der Elektrifizierung der Elfenbeinküste zeigt
jedoch, dass sogar in jenen Fällen, in denen es ausgewiesene politische
Implikationen gibt, es zuerst wichtig ist, die Akteure zu interessieren und
zu überreden, die ihnen vorgeschlagenen Rollen zu spielen.
Bis vor kurzem war das Dorfeigentum an der Elfenbeinküste kollektiv
und stand unter der Kontrolle der Ältesten, die Dorfbewohnern nach Be­
darf Landanteile zuwiesen. Diese Zuweisung war nicht permanent und die
Leute konnten in andere Gegenden ziehen. Als die Behörden über Elektri­
fizierung nachzudenken begannen, beschlossen sie, dass diese abhängig
von einer stabileren Landzuweisung und im Besonderen von einer Unter­
scheidung zwischen privatem und öffentlichem Eigentum geschehen
sollte. Diejenigen, die das neue Elektrizitätsnetzwerk entwickelten (die sich
auch selbst als Sprecher des Allgemeinwohls präsentierten), nahmen an,
dass das Netzwerk sowohl zu dieser Teilung beitragen als auch von ihr
abhängen würde, da es auf öffentlichem Land installiert werden würde. In
anderen Worten ermöglichte das Elektrizitätsnetzwerk es dem Staat, seinen
eigenen Raum zu schaffen (den Raum des Gemeinwohls), den sich nie-
.F

DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE 1 419

mand anderer aneignen konnte. Zur selben Zeit definierte es jene, mit
denen es interagieren würde. Weil in diesem neuen System nur Individuen
rechtlich existieren würden, wurden frühere kollektive Modi der Dorfreprä­
sentation systematisch ausgeschlossen.
Sicherlich war die Schaffung eines Systems, in dem Land auf perma­
nenter Basis entweder Individuen oder dem Staat zugewiesen wurde, eine
Funktion der Übereinstimmung im Dorf als Ganzem darüber, dass es
einen Bedarf an einer solchen Stabilität gab. Durch das neue Eigentums­
system forderte die Elektrizitätsgesellschaft die Dorfbewohner dazu auf,
Prä-Inskriptionen zu machen, die ihre Zustimmung zu einer bestimmten
Art von Zukunft bezeugten. Folglich hatten individuelle Dorfbewohner
bestimmte Formalitäten zu erledigen, um das Anrecht auf festgelegten
Besitz sicherzustellen. Vom Standpunkt der Elektrizitätsgesellschaft aus
konnte der legale Besitzstand als Zeichen für eine Reihe von Zustimmun­
gen zwischen verschiedenen Körperschaften über die Zukunft des Dorfes
betrachtet werden. Das neue Eigentumssystem war auch die Grundlage
einer Reihe von Projekten anderer öffentlicher Unternehmungen (der
Straßenbauabteilung, der Wasserbehörde, des medizinischen Dienstes, des
Erziehungssystems). Das bedeutete, dass Elektrifizierung in verschiedene
Modernisierungsprogramme integriert werden konnte und sie wirtschaftli­
che Prozeduren zur Beratung und politischen Verhandlung etablierte.
Schließlich würde die Konstruktion des Netzwerkes selbst die Zustim­
mung des Dorfes in die Praxis umsetzen und es stabilisieren, indem es
eine dauerhafte Inskription in der Landschaft machte.
Aber wieso sollten die Dorfbewohner zustimmen, in ein Spiel einzutre­
ten, in dem sie, zumindest dem Anschein nach, einen Teil ihrer Unabhän­
gigkeit verlieren würden? Indem sie es täten, brächten sie sich selbst unter
den Einfluss einer zentralen Autorität, die aufgrund dieser bloßen Tatsache
ihre Macht vergrößerte. Es gibt verschiedene Antworten auf diese Frage.
Die Dorfbewohner wollten Zugang zur Elektrizität haben, aber es gab die
Frage der Art, in der die Gesellschaft mit dem Dorf verhandelte. Es auf
diese Weise darzustellen, ist tatsächlich irreführend. Die Gesellschaft ver­
handelte nicht direkt mit dem Dorf. Sie verhandelte eher mit seinem Spre­
cher - ausnahmslos jemand, der >Karriere gemacht< hatte und aus dem
Dorf in die Hauptstadt gezogen war. Sowohl der Sprecher, der im Auftrag
des Dorfes mit einer Anzahl zentraler Behörden verhandelte, als auch die
Dorfbewohner selbst wussten, dass einer Einigung mit der Elektrizitätsge­
sellschaft eine Reihe indirekter Vorteile folgen würde. Nach der Elektrifi­
zierung konnte das Dorf auf bessere Lehrer hoffen, auf einen verbesserten
Gesundheitsdienst, größere finanzielle Unterstützung und einen Zuwachs
an Entwicklungsprojekten. Kurz: Die Elektrifizierung war eine Methode,
die direkten und spezifischen Verhandlungen zwischen den Dorfbewoh­
nern und einer Reihe externer Behörden zu vermeiden. Es war ein Paket,
dessen Bedingungen im Voraus festgelegt waren. Die Dorfbewohner
420 1 MADELEINE ÄKRICH

hatten eine Wahl. Sie konnten diese Bedingungen akzeptieren oder zu­
rückweisen; das Gesamtpaket war attraktiv.
Im Allgemeinen wird ein Individuum nur dann zum Bürger, wenn er
oder sie eine Beziehung mit dem Staat eingeht. An der Elfenbeinküste
wurde das durch die Vermittlung von Kabeln, Leitungsmasten, Transfor­
matoren und Messgeräten bewirkt. Im Gegensatz dazu sind Individuen in
Frankreich in so vielen Netzwerken eingeführt, dass sie nur geringe Chan­
cen haben, die Bürgerschaft zu vermeiden. Von der Meldestelle über die
Schulpflicht bis zum Militärdienst und dem Wohlfahrtsstaat, das staatliche
Netz mit seinen verschiedenen aufgesetzten Netzwerken zieht sich immer
enger um sie. In Ländern, die erst vor kurzem geschaffen worden sind,
können spezifische Netzwerke einem schwachen oder nicht existenten
Staat zu Hilfe kommen. Das Elektrizitätsnetzwerk kann eine Beziehung
zwischen einem Individuum und einem Ort schaffen und erhalten. An der
Elfenbeinküste, wo nur eine Minderheit von besoldeten Arbeitern Ein­
kommenssteuer bezahlte, wurde die Elektrizitätsrechnung das Mittel, mit
dem in kürzlich erbauten Städten lokale Steuern eingezogen wurden. Hier
war es also das Elektrizitätsnetzwerk, das eine Definition des Konzepts der
Bürgerschaft förderte.

Von Ursachen zu Beschuldigungen und


Formen des Wissens

In den obigen Beispielen habe ich gezeigt, wie technische Objekte Akteure
definieren, den Raum, in dem diese sich bewegen, und die Arten, in denen
sie interagieren. Kompetenzen im weitesten Sinn des Wortes werden im
Skript des technischen Objekts verteilt. Viele der Wahlen der Designer
können als Entscheidungen darüber betrachtet werden, was an eine Ma­
schine delegiert werden und was der Initiative menschlicher Akteure über­
lassen bleiben sollte. Auf diese Weise drückt der Designer das Szenario des
in Frage stehenden Gerätes aus - das Skript, aus dem sich die zukünftige
Geschichte des Objekts entwickeln wird. Der Designer legt aber nicht nur
die Verteilung der Akteure fest, er oder sie stellt auch einen >Schlüssel, zur
Verfügung, der zur Interpretation aller folgenden Ereignisse verwendet
werden kann. Offensichtlich kann dieser Schlüssel in Frage gestellt werden
- Verbraucherorganisationen sind auf solchen Skeptizismus spezialisiert.
Dennoch: Obwohl Benutzer ihre eigenen Interpretationen hinzufügen,
wird das Skript wahrscheinlich ein Hauptelement zur Interpretation der
Interaktion zwischen dem Objekt und seinen Benutzern werden, solange
die Umstände, in denen das Gerät benutzt wird, nicht zu radikal von den
Vorhersagen der Designer abweichen.
.r
DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE 1 421

Abobo-der-Krieg und Marcory-kein-Draht oder:


Wo Technik auf Moral trifft

In diesem Abschnitt konzentriere ich mich auf einen bestimmten Prozess


- moralische Delegation- und diskutiere Geräte, die von Designern instal­
liert wurden, um das moralische Verhalten ihrer Benutzer zu kontrollieren.
Ich beschreibe die Art und Weise, in der solche Geräte Verhalten messen,
es in einer Hierarchie platzieren, die Tatsache einer Unterordnung ausdrü­
cken und kausale Erzählungen und Sanktionen verbreiten können.
Wie ich bereits bemerkt habe, hat die Einführung des Elektrizitätsnetz­
werkes Verbindungen zwischen Individuen an der Elfenbeinküste etabliert.
Die Art, in der sich das Individuum/der Verbraucher mit dem Netzwerk
und über das Netzwerk mit der Elektrizitätsgesellschaft verbindet, wird
mittels eines technischen Grundwerkzeugs, des Stromzählers, kodifiziert
und quantifiziert. Dieses formuliert den anfänglichen Vertrag zwischen
dem Erzeuger und dem Verbraucher. Wenn der eine oder der andere
seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, wird der Zähler ungültig oder
inaktiv. Zähler haben einen symmetrischen Effekt auf die Erzeuger/Ver­
braucher-Beziehung. Beider Zustimmung ist erforderlich, wenn sie in
Gang bleiben sollen. Entsprechend ist die Anzahl an Zählern ein mächtiges
Kontrollinstrument. Zusammengenommen misst der Zählersatz die Kohä­
sion des soziotechnischen Gebäudes, das sich im Netzwerk materialisiert.
Betrachten Sie die folgende Geschichte, die im »The Kanian«, der Zeitung
der Elektrizitätsgesellschaft, in der Februar/Mai-Ausgabe 1985 erschien:

»Operation Einsatztruppe in ,Abobo-der-Krieg<

Ein rotes Licht leuchtet im DR in Abobo auf, einem Unterschichtsvorort von Abid­
jan, an dem es 66.854 Abonnenten gibt; die Ertragsrate des Netzwerkes (die Bezie­
hung zwischen der Energie, die der Erzeuger ausgibt, und der Energie, die den
Kunden berechnet wird) ist von 0.93 auf 0.87 im Verlauf eines Jahres gefallen!«

Jede Reduktion in der Ertragsrate kann als Anwachsen der Anzahl unbe­
fugter Verbindungen, als Werk korrupter Angestellter oder als Folge des
Handels mit Zählern interpretiert werden. Da sowohl menschliche als auch
technische Akteure involviert sind, misst das Netzwerk illegales Verhalten
und bestimmt seinen Charakter.
Die Definition des sozialen Raumes erstreckt sich auch auf nicht elek­
trifizierte Bereiche. Diese werden in Begriffen des Grades ihrer Abwei­
chung von der Norm - das ist in diesem Fall: von Elektrifizierung- charak­
terisiert. Ein anderer Vorort von Abidjan, Marcory, wurde durch das Netz­
werk zweigeteilt. Jedem Teil wurde ein Name gegeben und er wurde in
sozialen Begriffen charakterisiert:
nl ·I
Ir
11)

1 li 422 1 MADELEINE ÄKRICH

»Anders als der Wohnbezirk Marcory ist Marcory-kein-Draht ohne Elektrizität, ohne
Kabel. Es ist bekannt, dass Abidjanis Sinn für Humor haben. Ein Vorort ohne Draht,
stellen Sie sich vor, was für ein Spektaculum sich dort bietet. Wenn Elektrizität ein
Zeichen des Fortschritts ist, legt ihre Abwesenheit andere Abwesenheiten nahe: der
von Hygiene, von Straßen, die bestimmten Standards genügen, von Apotheken,
Spiel- und Sportplätzen usw. Wenn man diesen Abwesenheiten noch nächtliche
Dunkelheit hinzufügt, würden die Wächter des Friedens sagen, dass man eine Brut­
stätte der Kriminalität erhält.« (Toure 1985)

Dennoch: Die Grenzlinie zwischen dem Zulässigen und dem Unzulässi­


gen ist verhandelbar. In ihren Einsatztruppenoperationen werden die Ver­
treter der Elektrizitätsgesellschaft angewiesen, so genannte russische Zäh­
ler zu ersetzen. Diese hatten sich als fehlerhaft erwiesen, ohne ihre Besit­
zer strafbar zu machen. Sogar ein einfaches Klopfen auf den Zähler würde
sie blockieren und den Verbrauch unberechneter Energie gestatten. Anders
als die Vertreter fanden die »russischen« Zähler es unmöglich, zwischen
rechtmäßigem und unrechtmäßigem Verhalten, zwischen den Handlun­
gen von Menschen und Nichtmenschen zu unterscheiden. Obwohl der
Vertrag zwischen Händler und Verbraucher in Kraft blieb, versagte der
Zähler in seiner vorgeschriebenen Rolle als Materialinskription des Vertra­
ges.
Jeder individuelle Zähler schritt als Schiedsrichter und Manager in die
Beziehung zwischen Lieferant und Verbraucher ein. Zusammengenom­
men operierte die Menge der Zähler als Polizei in einer kollektiven Organi­
sation, die Unregelmäßigkeiten aufdeckt. Solche Unregelmäßigkeiten
erschienen zuerst als Abweichungen in Verbrauchskurven, die weder loka­
lisiert noch sanktioniert waren. Sie konnten jedoch schnell in >soziale<
Begriffe übersetzt werden.
Einige Techniken rücken näher an die >soziale Kontrolle<. Sie etablieren
Normen und bestrafen die, die gegen sie verstoßen. Das Speicher- und
Regulierungssystem in fotoelektrischen Anlagen nimmt die Form von
Batterien und elektrischen Komponenten an. Die Batterien speichern die
Elektrizität, sodass diese z.B. zur Beleuchtung in der Dunkelheit ausgege­
ben werden kann. Das Kontrollsystem liegt jedoch im Herzen einer techni­
schen, ökonomischen und sozialen Wirrnis. Wenn man der Batterie gestat­
tet, sich zu sehr zu leeren, wird ihre Lebensdauer reduziert. Wird sie ande­
rerseits überladen, könnte Elektrizität in sie zurückfließen und die foto­
elektrische Zelle minieren. Man könnte natürlich den Benutzern Zähler
geben, mit denen sie ihren Elektrizitätsverbrauch planen und damit beide
Gefahren umgehen könnten. Tatsächlich wird diese Lösung niemals auf­
gegriffen, weil die Designer nicht glauben, dass Benutzer den technischen
Anforderungen des Systems erlauben würden, ihre augenblicklichen Wün­
sche außer Kraft zu setzen. Wieder konnten die Designer wählen, die
Kapazität des Systems zu vergrößern, um den wahrscheinlichen Nachfra-
.r
DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE 1 423

gen der Benutzer nachzukommen. Dies ist jedoch eine kostspielige Option.
Entsprechend wählen die Designer die dritte Option, indem sie einen Reg­
ler einbauen, der den Strom zum Benutzer abstellt, wenn die Batteriela­
dung zu niedrig wird, und das Solarpanel isoliert, wenn sie zu hoch wird."
Als Ergebnis wird eine besondere Art von Verbrauch aufgezwungen: Der
Benutzer kann nicht zu habgierig sein, jedoch kann er oder sie aber auch
genauso einen übermäßigen Konsum durch längere Abstinenz kompen­
sieren. Die Strafe für ein Brechen der Regeln - Regeln, die sowohl sozial
als auch technisch sind - ist sofortig und abrupt: Der Strom wird abgestellt
und nicht eher wieder angestellt, bis die Batterie angemessen geladen ist.
Diese Methode der Regulierung ist dazu erdacht, den Benutzer >abzu­
richten<. Sie bietet eine Reihe von Belohnungen und Strafen, die die richti­
gen Verhaltensregeln lehren sollen. Ein Fehler im System besteht jedoch
darin, dass es keinen einfachen Weg gibt, die Ladung der Batterie zu mes­
sen. Spannung ist nur eine grobe Richtlinie. Was soll man da tun? Ein
General, der sich der Loyalität seiner Truppen nicht sicher ist, hat zwei
Optionen. Er kann sich entscheiden, nichts zu tun. Oder - wie die Desi­
gner im vorliegenden Fall - er kann seine Sicherheitsvorkehrungen und
disziplinarischen Maßnahmen verdoppeln. Wie ich erwähnt habe, wurde
entsprechend ein besonders unflexibles System mit nicht standardisierten
Steckern eingeführt. Während also das Kontrollgerät dem Benutzer erzähl­
te, er oder sie solle sich nicht zu viel vornehmen, zwangen ihm oder ihr die
nicht standardisierten Stecker sogar noch drakonischere Verhaltensbe­
schränkungen au[ Das Umgehen des Kontrollgerätes war in keinem Fall
statthaft!
In Französisch-Polynesien erwies sich das Kontrollgerät als heikler
Verbündeter der Designer, da die Benutzer das Gefühl hatten, dass seine
Sanktionen willkürlich waren. Das Ergebnis war, dass sie es schlecht mach­
ten, und ihr Missbehagen dadurch ausdrückten, dass sie den Elektriker
jedes Mal anriefen, wenn das System verräterischerweise den Strom abge­
stellt hatte, während sie still dasaßen und fernsahen. Der Elektriker, der es
schnell leid war, am Abend zu Reparaturen gerufen zu werden, trickste das
System aus, indem er einen Sicherungskreislauf parallel zum Kontrollgerät
installierte. Wenn das Kontrollgerät den Strom abschaltete, konnten die
Benutzer es mit der Sicherung umgehen, und der Elektriker würde erst am
folgenden Morgen gerufen werden. Der Sicherungskreislauf bezeichnete
somit die Unterordnung der Elektriker unter die Wünsche ihrer Kunden
und erlaubte ihnen, durch einen Bevollmächtigten anwesend zu sein, statt
in Person von zornigen Benutzern herbeizitiert zu werden.
Der bedenkliche und behelfsmäßige Charakter der Sicherung macht
deutlich, dass eine Art von Intervention notwendig war, auch wenn sie erst

11 1 Natürlich werden die verschiedenen Teile des Systems wieder automatisch


verbunden, wenn sich die Bedingungen ändern.
424 1 MADELEIN E ÄKRICH

nach den Vorfällen stattfinden konnte. In diesem besonderen Prozess


bekannten sich die Elektriker schuldig. Indem sie die Sicherung einbauten,
anerkannten sie, dass sowohl das Kontrollgerät als auch die Kunden beide
Recht hatten, und sie milderten die Urteile des Erstgenannten zugunsten
der Letztgenannten.

Die Ordnung der Dinge und die menschliche Natur:


Die Stabilisierung und Naturalisierung von Skripten

Ich habe einige Fälle beschrieben, in denen technische Objekte ihre Bezie­
hungen mit Akteuren vorformten und sie mit etwas ausstatteten, was man
>moralischen< Inhalt nennen könnte. Weil Rollen und Verantwortlichkei­
ten zugewiesen werden, pflegen Anschuldigungen und Verhandlungen zu
folgen. Im Prinzip ist nichts und niemand vor einer solchen Denunzierung
geschützt. Im Fall des Elektrizitätsnetzwerkes wurden die Benutzer be�
schuldigt, den Vertrag mit dem Zähler nicht zu respektieren. Die Elektrizi­
tätsgesellschaft beschuldigte jedoch auch einige der Zähler, den Vertrag
nicht zu repräsentieren. Im Fall der fotoelektrischen Anlagen waren es die
Elektriker und indirekt die Hersteller, die sich selbst durch die Einwirkung
des Kontrollgeräts auf der Anklagebank wieder fanden. Tatsächlich kann
die Geschichte der Anlagen als lange Reihe reziproker Anschuldigungen
gelesen werden. Die Industriellen pflegten zu argumentieren, dass, falls sie
(technisch) nicht funktionierten, sie (sozial) missbräuchlich verwendet
würden. Die Benutzer oder jene, die ihre Repräsentanten zu sein bean­
spruchten, argumentierten, dass, wenn sie sozial nicht funktionierten, das
deshalb der Fall war, weil sie technisch schlecht konzipiert waren. Hier
sehen wir nun eine beinahe perfekte >Umkehrreaktion<, die den Mangel an
Beziehungen zwischen Designern und Benutzern durch die Anlage ent­
hüllte. Die Benutzer interessierten die Hersteller nicht; sie waren nur in
dem Maß wichtig, als sie ermöglichten, zum Ministerium für Übersee­
Entwicklung zu gehen und um Unterstützung für ein Produkt nachzusu­
chen, das bislang noch keinen Markt hatte. Und bei dieser Interaktion hatte
die Anlage tatsächlich nichts zu tun. Eher wurden die Benutzer wie eine Art
Instrument zum Aufbau einer Beziehung zwischen den Herstellern und
der Regierung behandelt.
Im Fall des Elektrizitätsnetzwerkes war die Situation ziemlich anders.
Es ist schwierig, sich ein plausibles Argument für den illegalen Anschluss
ans Netzwerk vorzustellen - eines, bei dem das Elektrizitätsnetzwerk auf
der Anklagebank säße. Der Grund dafür ist, dass das Netzwerk eine ganze
Reihe von Beziehungen konfiguriert hat. Ich habe bereits den Zähler
erwähnt und die Art, in der er mit der Zuweisung von Eigentum verbun­
den war. Aber Beziehungen wurden vom Netzwerk auf viele andere Arten
strukturiert. Zum Beispiel tendierte es auch dazu, Lebensraum zu stabili­
sieren. Der Grund dafür war, dass aus Gründen der Sicherheit und als
r
DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE 1 425

Garantie für Solvenz nur >permanente< Strukturen an das Netz ange­


schlossen wurden. Und als das Netz erst einmal an Ort und Stelle w:ar,
kamen schnell neue kommerzielle Netzwerke zur Distribution elektrischen
Zubehörs auf. War das Netzwerk also erst einmal etabliert, tendierte es
dazu, sowohl physische als auch soziale Stabilität zu fördern. Eine große
Anzahl an Elementen wurde zusammengebracht und erhielt Substanz.
Eine kleine Randgruppe von >Abweichlern< konnte unmöglich hoffen, die
Kraft aufzubringen, um die vielen vom Netz zusammengebundenen Ak­
teure aufzuwiegen. Entsprechend konnte die Elektrizitätsgesellschaft die
Zähler dafür nach Gutdünken in Anspruch nehmen, als unzweideutige
Sprecher zu agieren. Eine doppelte Irreversibilität war etabliert worden -
eine materielle Irreversibilität, die in Raum und Praxis inskribiert war, und
eine gerichtete Irreversibilität, in der Anschuldigungen und Anklagen nicht
länger umgekehrt werden konnten. Offensichtlich waren die beiden eng
verbunden.
In diesem Abschnitt habe ich argumentiert, dass technische Objekte
nicht nur Akteure und die Beziehungen zwischen ihnen definieren, son­
dern diese auch stabilisieren und kanalisieren müssen, um weiter zu funk­
tionieren. Sie müssen Kausalitätssysteme etablieren, die Mechanismen für
die Abstraktion und Simplifizierung kausaler Bahnen heranziehen. Im
oben diskutierten Fall war der Ersatz der »russischen« Zähler wesentlich
Teil dieses Prozesses - eines Prozesses, der dazu erdacht war, die Diagnose
zu automatisieren. Etwas weiter - aber auf demselben Weg - liegt die
künstliche Intelligenz.12

Fazit: Zur Konstitution von Wissen

Wenn technische Objekte einmal stabilisiert sind, werden sie Instrumente


des Wissens.'3 Wenn also eine Elektrizitätsgesellschaft unterschiedliche

12 1 Die Frage des >Zusammenbruchs, ist für dieses Thema relevant und ver­
dient weitere Betrachtung. Ein >Zusammenbruch, ist eng mit der Definition eines
technischen Objekts verbunden, die ich vorgeschlagen habe. Der Grund dafür ist,
dass er nur als Teil der Praxis verstanden werden kann, d.h. als Kollaps einer Bezie·
hung zwischen einem Teil eines Apparates und seiner Verwendung. Ein Zusam­
menbruch ist also der Test der Solidität des soziotechnischen Netzwerkes, das sich
durch das technische Objekt materialisiert. Die Schnelligkeit, mit der die Suche
nach Ursachen für den Zusammenbruch abgeschlossen werden kann, ist ein Maß
dieser Solidität.
13 1 Vielleicht wäre es besser zu sagen, dass die Stabilisierung eines technischen
Objekts untrennbar mit der Konstituierung einer Form von Wissen von großer oder
geringer Signifikanz verbunden ist. Diese Hypothese wird durch den von Misa
426 1 MADELEINE ÄKRICH

Tarife für viel und wenig verbrauchende private Benutzer, für Werkstätten
und für Industrieverbraucher ansetzt, findet sie Wege, verschiedene soziale
Schichten zu charakterisieren und zu identifizieren. Wenn sie auch Kate­
gorien wählt, die in anderen sozioökonomisch-politischen Netzwerken
verwendet werden, kann das von ihr produzierte Wissen >exportiert< wer­
den. >Daten< können also aus dem Netzwerk gezogen und an einen ande­
ren Ort übermittelt werden, z.B. zu Ökonomen, die an einer Beziehung
zwischen den Energiekosten oder dem Bruttosozialprodukt und dem
Konsum interessiert sind. Die Konversion soziotechnischer in reine und
einfache Fakten hängt jedoch von der Fähigkeit ab, technische Objekte in
Black Boxes umzuwandeln. In anderen Worten: Indem sie unentbehrlich
werden, müssen Objekte sich selbst auslöschen. Ich werde das mit einem
Beispiel aus Burkina Faso illustrieren.
Burkina Faso ist ein Entwicklungsland mit einem kleinen Elektrizitäts­
netzwerk. In den letzten Jahren war es Regierungspolitik, die Stadtzentren
zu elektrifizieren. Das erste Problem für die Ingenieure und Techniker
war, den potentiellen Bedarf einzuschätzen und zu entscheiden, wie groß
das Netzwerk sein sollte. Zwei verschiedene Ansätze wurden verfolgt. Die
Abteilung für Wirtschaftsforschung fragte potentielle Abonnenten, wel­
chen Preis sie für Elektrizität zu zahlen bereit wären. Dieser Ansatz setzte
voraus, dass es eine Beziehung zwischen Angebot und Nachfrage gäbe und
dass der Verbrauch invers zum Preis variieren würde. Die technische Ab­
teilung bediente sich einer ganz anderen Methode. Sie zeichnete Karten
der Städte, grenzte die bebauten Gebiete ab und vermerkte die Charakteris­
tika der Häuser (groß oder klein, permanent oder temporär usw.). Auf der
Grundlage dieser Karte entwarfen sie ein Netzwerk, das rechtlich, wirt­
schaftlich und technisch umsetzbar wäre - ein Netzwerk, das von öffentli­
chem Raum Gebrauch machen und nur permanente Gebäude und Regie­
rungseinrichtungen bedienen würde.
Die von den beiden Ansätzen erzielten Ergebnisse waren ziemlich
verschieden. Im Besonderen legte der geographische und rechtliche Ansatz
der technischen Abteilung den Bedarf nach einem weit größeren Netzwerk
nahe als der marktgeführte Ansatz der Abteilung für Wirtschaftsforschung.
Die Letztgenannte hatte agiert, als ob es keinen Bedarf für technische Ver­
mittlung zwischen Preis und Konsum gäbe. Sie nahm an, dass diese Be­
ziehung eine naturbedingte Tatsache war, die durch das Elektrizitätsnetz­
werk eine konkrete Form erhielt. In gewisser Weise wurde sie vom Natura­
lisierungseffekt irregeführt, der auftritt, wenn technische Systeme voll­
kommen in soziale Gewebe integriert sind. Erst wenn das vom Designer
erdachte Skript ausgeführt wird - ob konform zu den Absichten des Desi­
gners oder nicht -, stabilisiert sich ein integriertes Netzwerk technischer

beschriebenen Fall (r992) klar unterstützt: Dort wurden eine Industrie, ein Markt
und der Begriff davon, was als »Stahl« zählen sollte, gleichzeitig konstruiert.
·F
DIE DE-SKRIPTION TECHNISCHER OBJEKTE 1 427

Objekte und (menschlicher und nichtmenschlicher) Akteure. Nur an


diesem Punkt kann dieses Netzwerk durch die Zirkulation einer begrenz­
ten Anzahl von Elementen - von Objekten, physischen Komponenten,
monetären Einheiten - charakterisiert werden. Disziplinen wie Wirt­
schaftswissenschaften oder Technikforschung hängen von der Gegenwart
eines bescheidenen Gerätes ab, das außerhalb ihrer Domänen liegt. Öko­
nomen entnehmen eine Art von Informationen aus technischen Objekten,
Technologen eine andere. Sie können dies tun, da solche Objekte in stabi­
len Situationen funktionieren. Die Einführung eines neuen Gerätes kann
folglich z.B. von Ökonomen in die Preis-/Konsumbeziehung assimiliert
werden. Die Ökonomie ist nicht von der Technik abgeschnitten; es existiert
keine radikale Trennung.
Deshalb macht es Sinn zu sagen, dass technische Objekte politische
Stärke besitzen. Sie können soziale Beziehungen verändern, aber sie stabi­
lisieren, naturalisieren, entpolitisieren und übersetzen diese auch in andere
Medien. Im Nachhinein werden die Prozesse verdeckt, die am Aufbau
technischer Objekte beteiligt waren. Die kausalen Verbindungen, die sie
etablierten, werden naturalisiert. Es gab - oder zumindest scheint es so -
niemals die Möglichkeit, dass es anders hätte sein können.14
Wir sind selbst in dieser Hinsicht nicht unschuldiger als irgendjemand
anderer. Wir sind nur im Nachhinein in der Lage zu sagen, dass technische
Objekte soziale Beziehungen veränderten, stabilisierten, naturalisierten
oder entpolitisierten. Die Bürde dieses Aufsatzes ist, dass technische Ob­
jekte und Menschen in einem Prozess reziproker Definition, in dem die
Objekte durch die Subjekte und die Subjekte durch die Objekte definiert
werden, ins Sein gerufen werden. Erst im Nachhinein werden die Ursa­
chen stabilisiert. Und erst im Nachhinein sind wir in der Lage zu sagen,
dass Objekte dieses tun, während Menschen jenes tun. In diesem Sinn -
und nur in diesem Sinn - bauen technische Objekte unsere Geschichte für
uns und >oktroyieren< bestimmte Rahmen. Aus diesem Grund ist eine
Technikanthropologie sowohl möglich als auch notwendig.

Literatur

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the Semiotics of Human and Non-Human Assemblies«. In: W.E. Bij­
ker/J. Law (Hg.), Shaping Technology - Building Society. Studies in Socio­
technical Change, Cambridge, Mass: MIT Press, S. 259-264.
Boltanski, L./Thevenot, L. (1987): Les iconomies de la grandeur, Paris: PUF,
Cahiers du Centre d'Etudes de l'Emploi.

14 1 Wie bekannt ist, hat Foucault (1975) die Bindeglieder zwischen der Technik
der Strafanstalt, Machtbeziehungen und neuen Formen von Wissen beschrieben.
428 1 MADELEINE AKRICH

Callon, M. (1987): »Society in the Making: the Study of Technology as a


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dans la region parisienne de 1855 bis 1939, Paris: Centre de Documenta­
tion d'Histoire des Techniques.
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nations«. In: B. Elliott (Hg.), Technology and Social Change, Edinburgh:
Edinburgh University Press, S. 20-43.
Latour, B. (1992): »Where Are the Missing Masses? Sociology of a Few
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Building Society. Studies in Sociotechnical Change, Cambridge, Mass.:
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structing >Steel«<. In: W.E. Bijker/J. Law (Hg.), Shaping Technology/
Building Society, Cambridge, Mass.: MIT Press, S. 109-139.
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Winner, L. (1980): »Do Artefacts Have Politics?«. In: Daedalus 109, S. 121-
136.
Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie:

Ordnung, Strategie und Heterogenität

JOHN LAw

Einleitung

Gelegentlich werden wir Zeugen des Zusammenbruchs einer Ordnung.


Für selbstverständlich gehaltene Organisationen oder Systeme - die Sow­
jetunion oder Continental Illinois - sind wie vom Erdboden verschluckt;
Kommissare, Mogule und Industriekapitäne verschwinden. Diese gefährli­
chen Augenblicke bergen jedoch mehr als ein politisches Versprechen;
wenn die versteckten Falltüren des Sozialen aufspringen, erfahren wir
plötzlich, dass auch die Meister des Universums auf tönernen Füßen
stehen.
Wie konnte es uns jemals anders erscheinen? Wie haben sie es -
zumindest eine Zeit lang - verstanden, anders als wir zu sein? Durch
welche organisatorischen Mittel konnten sie sich an ihrem Platz behaupten
und die Widerstände überwinden, die sie eigentlich schon viel früher
hätten ins Wanken bringen müssen? Wieso haben wir darin eingewilligt?
Diese Fragen stellen Schlüsselfragen der Sozialwissenschaft dar; sie liegen
im Zentrum der »Akteur-Netzwerk-Theorie«' - dem soziologischen An-

1 1 Diese ist das Produkt einer Gruppe von Soziologen, die mit dem Centre de
Sociologie de !'Innovation der Ecole Nationale Superieure des Mines in Paris ver­
bunden sind oder dort in einigen Fällen auch vor Ort arbeiten. Die Autoren, die mit
diesem Ansatz verbunden sind, schließen Madeleine Alaich (1989a, 1989b, 1992),
Geof Bowker (1988, 1992), Michel Callon (1980, 1986*, 1987, 1991 und Callon/La­
tour 1981; Callon/Law/Rip 1986), Alberto Cambrosio (1990), Antoine Hennion
(1985, 1989, 1990), Bruno Latour (1985*, 1986, 1987*, 1988a, 1988b, 1990*, 1991a,
1991b, 1992a, 1992b), John Law (1986a*, 1986b, 1987, 1991a, 1991b, 1992 und
Law/Bijker 1992; Law/Callon 1988*, 1992), Cecile Medeal (vgl. Hennion/Medeal
430 1 JOHN LAW

satz, der Gegenstand der vorliegenden Notizen ist. Diese auch als »Sozio­
logie der Übersetzung« bekannte Theorie befasst sich mit den Mechanis­
men der Macht und legt nahe, die Großen in der Praxis auf genau dieselbe
Weise wie jeden anderen zu analysieren. Damit soll natürlich nicht geleug­
net werden, dass die Nabobs dieser Welt mächtig sind- sie sind es tatsäch­
lich; darzustellen ist stattdessen, dass sie sich dennoch soziologisch nicht
von den Machtlosen dieser Welt unterscheiden. Dazu wird folgende Argu­
mentation verwendet: Wenn wir die Mechanismen von Macht und Organi­
sation verstehen wollen, ist es wichtig, nicht mit einer Annahme dessen zu
beginnen, was wir erklären wollen. Es ist z.B. eine gute Idee, nicht als
selbstverständlich anzunehmen, dass es einerseits ein makro-soziales Sys­
tem gibt, andererseits davon abgeleitete mikro-soziale Details existieren.
Wenn wir diese nämlich annehmen, schließen wir die meisten interessan­
ten Fragen nach dem Ursprung von Macht und Organisation schon von
Anfang an aus. Stattdessen sollte man ganz von vom- z.B. mit der Interak­
tion - beginnen und annehmen, Interaktion sei alles, was zur Verfügung
stehe. Dann könnte man fragen, weshalb einige Arten der Interaktion sich
mehr oder weniger erfolgreich stabilisieren und reproduzieren, wie sie
Widerstände überwinden und einen >makro-sozialen< Charakter anzuneh­
men scheinen, wie sie solche bekannten Effekte wie Macht, Ruhm, Größe,
Breitenwirkung und Organisation erzeugen. Darin besteht nun eine der
Hauptannahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie: dass weder die Napoleons
sich von Kleinkriminellen, noch die IBMs von Marktständen unterschei­
den. Falls sie größer sind, sollten wir erforschen, woher das kommt - wie
Größe, Macht oder Organisation erzeugt werden.
Ich beginne diese Notizen mit der Untersuchung der Metapher des
heterogenen Netzwerkes. Sie liegt im Kern der Akteur-Netzwerk-Theorie
und besagt, dass die Gesellschaft, Organisationen, Akteure und Maschinen
Effekte sind, die in strukturierten Netzwerken diverser (nicht nur mensch­
licher) Materialien erzeugt werden. Dann betrachte ich die Konsolidierung
von Netzwerken, besonders den Aspekt, weshalb Netzwerke manchmal als
einzelne punktuelle Akteure wahrgenommen werden, weshalb wir z.B.
über >die britische Regierung< sprechen können, statt über die Einzelkom­
ponenten, aus denen sie besteht. Darauf folgend untersuche ich den Cha­
rakter von Netzwerk-Ordnung und plädiere dafür, diesen ungewissen
Prozess der Überwindung von Widerständen eher als Verb denn als ein
durch ein Substantiv ausgedrücktesfait accompli zu betrachten. Schließlich
diskutiere ich die Materialien und Strategien der Netzwerk-Ordnung und
beschreibe einige organisationsrelevante Resultate der Akteur-Netzwerk-

1986, 1989), Arie Rip (1986) und Susan Leigh Star (1990b, 1991* und Star/Grie­
semer 1989) ein. Die mit einem Sternchen versehenen Beiträge sind vielleicht mit
dem Ansatz nicht so vertrauten Lesern eine Hilfe.
NOTIZEN ZUR AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 431

Theorie. Besonders betrachte ich dabei, inwieweit die Bildung von Mustern
institutionelle und organisatorische Effekte - einschließlich Hierarchie
und Macht - erzeugt.

Die Gesellschaft als heterogenes Netzwerk

Akteur-Netzwerk-Theoretiker begannen im Rahmen der Wissenschafts­


und Techniksoziologie. Gemeinsam mit anderen in der Wissenschaftsso­
ziologie argumentierten sie, dass Wissen als soziales Produkt und nicht als
etwas, das durch die Einwirkung privilegierter wissenschaftlicher Metho­
den generiert wird, betrachtet werden muss. Sie argumentierten im Beson­
deren, dass »Wissen« als Produkt oder Effekt eines aus heterogenen Mate­
rialien bestehenden Netzwerkes gesehen werden kann. Der Wissensbegriff
wird dabei auf Akteure, soziale Institutionen, Maschinen und Organisatio­
nen verallgemeinert.
Ich habe das Wort »Wissen« in Anführungszeichen gesetzt, weil das
Wissen immer materielle Form annimmt. Dies geschieht in Form von
Gesprächen, Konferenzvorträgen, in Artikeln, Vorabdrucken, Patenten
oder auch in der Verkörperung durch kompetente Wissenschaftler und
Technologen (Latour/Woolgar 1979). »Wissen« tritt also in vielfacher
materieller Form in Erscheinung. Aber woher kommt es? Nach Auffassung
der Akteur-Netzwerk-Theorie stellt es das Endprodukt harter Arbeit hetero­
gener Einzelkomponenten - von Reagenzgläsern und Reagenzien, Orga­
nismen, geschickten Händen, scannenden Elektronenmikroskopen, Strah­
lungsüberwachungsgeräten, anderen Wissenschaftlern, Artikeln, Compu­
terterminals und vielen anderen mehr - dar, die sich allerdings lieber
selbstständig machen würden. Dennoch werden sie in einem strukturier­
ten Netzwerk, das ihren Widerstand überwindet, nebeneinander gestellt.
Kurz gesagt: Es handelt sich dabei sowohl um materielle Elemente als auch
um das Organisieren und Ordnen dieser Elemente. Der Akteur-Netzwerk­
Diagnose der Wissenschaft folgend handelt es sich bei dieser um einen
Prozess »heterogenen Engineering«, in dem soziale, technische, konzep­
tionelle und textuelle Einzelkomponenten zusammengefügt und auf diese
Weise in einen Satz gleichermaßen heterogener wissenschaftlicher Pro­
dukte umgewandelt (oder »übersetzt«) werden.
So weit die Wissenschaft, die aber, wie ich bereits angedeutet habe,
keine besondere Stellung einnimmt. Was jedoch auf die Wissenschaft
zutrifft, sollte auch für andere Institutionen gelten. Dementsprechend
können die Familie, die Organisation, Computersysteme, Wirtschaft und
Technik - alle aus dem sozialen Leben stammend - gleichermaßen als
geordnete Netzwerke heterogener Materialien, deren Widerstand über­
wunden wurde, betrachtet werden. In genau dieser Annahme, dass näm­
lich das Soziale nichts anderes als strukturierte Netzwerke heterogener
432 1 JOHN LAW

Materialien umfasst, besteht der wesentliche analytische Schritt der Akteur­


Netzwerk-Theorie.
Das Radikale dieser Perspektive ist, dass die Netzwerke nicht nur aus
Menschen, sondern auch aus Maschinen, Tieren, Texten, Geld, Architektu­
ren - faktisch aus jedem gewünschten Material - bestehen können. Der
Hauptpunkt ist also, dass der Stoff des Sozialen nicht nur das Menschliche,
sondern auch all diese anderen Materialien umfasst. Tatsächlich besagt
diese Argumentation, dass wir ohne die Heterogenität der sozialen Netz­
werke gar keine Gesellschaft hätten. In dieser Sichtweise besteht die Auf­
gabe der Soziologie in der Charakterisierung dieser Netzwerke und deren
Heterogenität, und in der Erforschung der Art und Weise, wie sie so struk­
turiert sind, dass sie Effekte wie Organisationen, Ungleichheit und Macht
erzeugen.
Wenn man die materielle Welt aus diesem Blickwinkel betrachtet,
bedeutet dies, dass wir nicht nur essen, in unseren Häusern Schutz finden
I'
II und mithilfe von Maschinen Objekte produzieren, sondern auch, dass
nahezu alle unsere Interaktionen mit anderen Menschen durch die eine
II
oder andere Art von Objekt vermittelt werden. Ich spreche z.B. mit Ihnen
durch diesen Text, obwohl wir uns wahrscheinlich niemals persönlich
treffen werden. Um das zu tun, bediene ich mich einer Computertastatur.
Auf jeden Fall wird unsere Kommunikation von einem Objekt-Netzwerk
vermittelt - bestehend aus dem Computer, dem Papier, der Druckerpresse
-, und ebenfalls von solchen aus Objekten und Personen bestehenden
Netzwerken wie dem Postsystem. Die Argumentation besagt weiter, dass
diese verschiedenen Netzwerke am Sozialen teilhaben, ihm Form geben.
In erster Linie helfen sie auch, Ihren Widerstand gegen das Lesen meines
Textes zu überwinden; auf jeden Fall tragen sie wesentlich zur sozialen
Beziehung zwischen Autor und Leser bei.
Ein zweites Beispiel: Ich stehe auf einer Bühne, die Studenten schauen
mich von mehreren Reihen von Tischen her an, Papier und Stifte liegen
vor ihnen. Sie machen Notizen, können mich sehen und hören; gleich­
zeitig sehen sie auch die Folien, die ich auf den Overheadprojektor lege.
Auf diese Weise nehmen der Projektor sowie die Form des Raums an
der Formgebung unserer Interaktion teil. Der Projektor vermittelt unsere

r
Kommunikation, da er meine Aussagen verstärkt und den Studenten
i! wenig Gelegenheit zu einer Entgegnung bleibt (Thompson 1990). In einer
I!

,, ,i anderen Welt ginge das vielleicht anders vor sich: Die Studenten könnten
das Podium stürmen und den Projektor in ihre Gewalt bringen. Oder sie
könnten mich einfach ignorieren, wenn ich eine schlechte Vorlesung halte.
Aber das alles tun sie nicht - und während sie diese Handlungen unterlas­
sen, nimmt der Projektor weiter an unserer sozialen Beziehung teil, indem
li: er hilft, die Beziehung zwischen dem Vortragenden und den Studenten zu
definieren. Er ist damit Teil des Sozialen und wirkt auf sie, um die Art
ihrer Handlungen zu beeinflussen.
i
j
!11

iiir;
NOTIZEN ZUR AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 433

Vielleicht stellt nur der Geschlechtsakt eine unvermittelte Interaktion


zwischen menschlichen Körpern dar - obwohl auch hier das Außersomati­
sche für gewöhnlich eine Rolle spielt. Aber der allgemeine Fall, der von der
Akteur-Netzwerk-Theorie besonders betrachtet wird, ist dieser: Wenn Men­
schen ein soziales Netzwerk bilden, tun sie es nicht, weil sie mit anderen
Menschen, sondern weil sie mit Menschen und einer Vielzahl anderer
Materialien interagieren. So wie Menschen ihre Präferenzen haben - sie
bevorzugen eine gewisse Art der Interaktion vor anderen -, haben die
anderen Komponenten heterogener Netzwerke, die zusammen das Soziale
bilden, ebenfalls ihre Präferenzen. Maschinen, Architekturen, Kleider,
Texte - sie alle tragen zur sozialen Musterbildung bei. Meiner Ansicht
nach würde mit dem Verschwinden dieser Materialien auch die so genann­
te soziale Ordnung verschwinden. Hier formuliert die Akteur-Netzwerk­
Theorie, dass Ordnung ein durch heterogene Mittel erzeugter Effekt ist.
An diesem Punkt scheiden sich die Geister. Die Argumentation bezüg­
lich der materiellen Strukturiertheit des Sozialen kann aus reduktionisti­
scher Perspektive betrachtet werden, die besagt, dass entweder Maschinen
oder menschliche Beziehungen letztlich bestimmend wirken: Eine treibt
die andere an. 2 Obwohl sich die Reduktionismen unterscheiden, haben
sie zwei Aspekte gemeinsam: Erstens unterteilen sie das Menschliche und
das Technische in zwei verschiedene Lager, zweitens gehen sie davon aus,
dass eines das andere antreibt.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie akzeptiert solchen Reduktionismus nicht.
Sie besagt, dass es keinen Grund dafür gibt, von vornherein anzunehmen,
dass entweder Objekte oder Personen a priori den Charakter sozialen Wan­
dels oder sozialer Stabilität determinieren. Natürlich werden in bestimm­
ten Fällen Maschinen durch soziale Beziehungen geformt, so wie Maschi­
nenbeziehungen in anderen Fällen ihren sozialen Gegenstücken Form
verleihen. Der Sachverhalt ist jedoch ein empirischer; für gewöhnlich
gestalten sich die Dinge komplexer. In Langdon Winners Worten (1980)
können auch Artefakte Politik beinhalten. Der Charakter dieser Politik
jedoch sowie die Frage, wie determinierend sie wirkt und ob es möglich ist,
Menschen und Maschinen zuerst einmal daraus abzuziehen, bleibt kontin­
gent.

Akteursein als Netzwerk

Die Akteur-Netzwerk-Theorie ist, um es ganz deutlich zu machen, auch


aus dem Grund analytisch radikal, weil sie einer Reihe ethischer, epistemo-

2 1 Maschinen-Reduktionismus ist im Technikdeterminismus soziotechnischer


Organisationstheorie verbreitet. Menschlicher Reduktionismus ist in vielen Soziolo­
gien verbreitet - z.B. in der Arbeitsprozesstheorie.
434 1 JOHN LAW

logischer und ontologischer Ansätze auf die Füße tritt. Im Speziellen pro­
pagiert sie die Idee, dass es zwischen Personen auf der einen Seite und
Objekten auf der anderen keinen Wesensunterschied gibt. Sie bestreitet,
dass Personen notwendigerweise eine Sonderstellung einnehmen und
wirft stattdessen die grundlegende Frage danach auf, was wir genau mei­
nen, wenn wir von <Personen< sprechen. Verständlicherweise bringt das
die Alarmglocken des ethischen und epistemologischen Humanismus zum
Läuten. Was machen wir daraus? Eine Erklärung und eine Argumentation.
Zunächst zur Erklärung. Wir müssen zwischen Ethik und Soziologie
unterscheiden, wobei eine die andere informieren sollte, auch wenn sie
nicht identisch sind. Wenn man nun behauptet, es gäbe keinen fundamen­
talen Unterschied zwischen Personen und Objekten, bezieht man eine
analytische Position, keine ethische. Eine solche Behauptung beinhaltet
auch nicht, dass man nun alle Personen in seinem Leben wie Maschinen
behandeln muss und ihnen die Rechte, Pflichten und Verantwortungen,
die wir normalerweise mit Menschen verbinden, vorenthält. Tatsächlich
sollte man sie dazu verwenden, ethische Fragen über den speziellen Cha­
rakter des Menschseins präziser zu formulieren, z.B. in schwierigen Fällen
wie etwa der Lebenserhaltung durch die Technik der Intensivmedizin.
Das analytische Argument kann auf verschiedenen Wegen angegangen
werden. Wie der Soziologe Steve Woolgar (1991) und die Technikpsycho­
login Sherry Turkle (1984) könnte ich argumentieren, dass die Trennungs­
linie zwischen Menschen und Maschinen (bzw. Tieren) Verhandlungen
und Veränderungen unterworfen ist. Daher lässt sich leicht zeigen, dass
Maschinen (und Tiere) Attribute wie Unabhängigkeit, Intelligenz und
persönliche Verantwortung erhalten und wieder einbüßen; umgekehrt
nehmen Menschen die Attribute von Maschinen und Tieren an und verlie­
ren sie wieder.
Ich werde auf eine andere Art weiter argumentieren, indem ich - analy­
tisch - behaupte, dass, was als Person zählt, ein Effekt ist, der von einem
aus heterogenen, interagierenden Materialien bestehenden Netzwerk er­
zeugt wird. Dieses Argument entspricht fast genau dem, das ich oben
bereits über das wissenschaftliche Wissen und die soziale Welt als Ganzes
vorgebracht habe. In eine Behauptung über Menschen umgewandelt, be­
sagt es jedoch: Personen sind die, die sie sind, weil sie aus einem struktu­
rierten Netzwerk heterogener Materialien bestehen. Wenn man mir mei­
nen Computer, meine Kollegen, mein Büro, meine Bücher, meinen
Schreibtisch, mein Telefon nähme, wäre ich kein Artikel schreibender,
Vorlesungen haltender, »Wissen« produzierender Soziologe mehr, son­
dern eine andere Person. Vergleichbares träfe sicher auf uns alle zu. Die
analytische Frage muss also lauten: Ist ein Akteur primär aus dem Grund
ein Akteur, weil er oder sie einen Körper bewohnt, der Wissen, Kompeten­
zen, Werte und vieles mehr beherbergt? Oder ist er aus dem Grund ein
NOTIZEN ZUR AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 435

Akteur, weil er über einen Satz von Elementen (darunter natürlich auch
über einen Körper) verfügt, die sich über ein Netzwerk von somatischen
und anderen Materialien erstrecken, die jeden Körper umgeben?
Erving Goffman (1968) antwortet auf diese Fragen, dass Requisiten
wichtig seien, dass sich jedoch die moralische Karriere geisteskranker
Patienten nicht auf Requisiten reduzieren lasse. Akteur-Netzwerk-Theorie
und symbolische Interaktion (Star 1990a, 1992) bieten eine ähnliche Ant­
wort an. Weder leugnen sie, dass menschliche Wesen normalerweise über
Körper verfügen (aber wie verhält es sich mit Banquos Geist und Karl
Marx' Schatten?), noch stellen sie in Abrede, dass Menschen -wie z.B. die
von Goffman beschriebenen Patienten in Heilanstalten - ein inneres
Leben haben. Allerdings bestehen sie darauf, dass soziale Akteure nicht
ausschließlich in Körpern festgelegt sind, sondern dass ein Akteur ein
strukturiertes Netzwerk heterogener Beziehungen oder einen von einem
solchen Netzwerk produzierten Effekt umfasst. Die Argumentation besagt
weiter, dass Attribute wie Denken, Handeln, Schreiben, Lieben, Verdienen,
die wir für gewöhnlich Menschen zuschreiben, in Netzwerken erzeugt
werden, die durch den Körper verlaufen oder sich innerhalb und weiter
außerhalb des Körpers verzweigen. Darauf, dass ein Akteur auch immer
aus einem Netzwerk besteht, lässt sich die Bezeichnung Akteur-Netzwerk
zurückführen.
Die Aussage lässt sich einfach verallgemeinern. So besteht eine Ma­
schine z.B. ebenfalls aus einem heterogenen Netzwerk, aus einem Satz von
Rollen, die von technischem Material und auch menschlichen Komponen­
ten -wie Operatoren, Benutzern oder Reparatur- und Wartungspersonal -
gespielt werden. Genauso verhält es sich bei einem Text. Alle diese Netz­
werke partizipieren am Sozialen; das gilt auch für Organisationen und
Institutionen; diese sind mehr oder weniger instabil strukturierte Rollen,
gespielt von Personen, Maschinen, Texten oder Gebäuden, die alle Wider­
stand leisten können.

Pu n ktua I isieru ng

Aus welchem Grund sind wir uns gelegentlich -aber nur gelegentlich -
der Netzwerke bewusst, die hinter einem Akteur, einem Objekt oder einer
Institution liegen und diese konstituieren? Für die meisten von uns stellt
ein Fernsehgerät z.B. die meiste Zeit ein einzelnes, zusammenhängendes
Objekt mit relativ wenigen sichtbaren Teilen dar. Wenn es aber plötzlich
defekt ist, verwandelt es sich schnell für denselben Benutzer - und erst
recht für den Monteur -in ein Netzwerk elektronischer Komponenten und
menschlicher Interventionen. In einem anderen Fall repräsentierte die
BCCI-Bank für jede durchschnittliche kleine Geschäftsperson einen zu-
436 1 JOHN LAW

sammenhängenden und organisierten Ort zur Aufbewahrung und Ent­


nahme von Geld. Jetzt jedoch ist sie -besonders für die Ermittler des Be­
trugsdezernats - ein komplexes Netzwerk fragwürdiger - tatsächlich kri­
mineller -Transaktionen. Ebenso bleibt der gesunden Person ein Großteil
der Vorgänge im Körper verborgen. Im Gegensatz dazu besteht für eine
kranke Person und besonders für ihren Arzt der Körper aus einem kom­
plexen Netzwerk von Prozessen und einer Reihe menschlicher, technischer
und pharmazeutischer Interventionen.
Weshalb verschwinden die einen Akteur aufbauenden Netzwerke
manchmal -oder werden unsichtbar? Und weshalb geschieht das manch­
mal nicht? Beginnen wir mit dem Begriff der Tautologie. Jedes der oben
aufgeführten Beispiele suggeriert, dass die Erscheinung von Einheit und
das Verschwinden eines Netzwerkes mit Simplifikation zu tun hat. Der
Argumentation zufolge stellen alle Phänomene Effekte oder Produkte
heterogener Netzwerke dar. In der Praxis haben wir es nicht mit endlosen
Netzwerkverzweigungen zu tun; tatsächlich können wir meistens noch
nicht einmal die Komplexität von Netzwerken wahrnehmen. Was geschieht
nun also? Falls ein Netzwerk als einziger Block handelt, verschwindet es,
um von der Handlung selbst und dem anscheinend simplen Autor dieser
Handlung ersetzt zu werden. Gleichzeitig wird die Art, in der der Effekt
erzeugt wird, gelöscht: Zum gegebenen Zeitpunkt ist sie weder sichtbar
noch relevant. Auf diese Weise maskiert zu bestimmten Zeiten ein einfa­
cheres Element - ein funktionierendes Fernsehgerät, eine gut verwaltete
Bank oder ein gesunder Körper -das es produzierende Netzwerk.
Akteur-Netzwerk-Theoretiker bezeichnen solche instabilen Vereinfa­
chungseffekte, die auf ein wesentliches Merkmal des sozialen Netzwerkes
hinweisen, als Punktualisierungen. Wie ich vorher bereits angemerkt habe,
lehne ich eine analytische Trennung zwischen dem Makro- und dem Mik­
ro-Sozialen ab. Andererseits stellte ich ebenfalls fest, dass manche Netz­
werkmuster häufig und überall anzutreffen sind, dass sie öfters ausgeführt
werden als andere. Die Verbindung besteht darin, dass häufig ausgeführte
Netzwerke oft jene sind, die punktualisiert werden können, weil sie Netz­
werkpakete - Routinen - darstellen, die - wenn auch nur instabil - im
Prozess des heterogenen Engineering als mehr oder weniger selbstver­
ständlich angesehen werden können. Man kann sie als Quellen oder Res­
sourcen betrachten, die in einer Vielzahl von Formen auftreten: Akteure,
Vorrichtungen, Texte, relativ standardisierte Gruppen organisatorischer
Beziehungen, soziale Techniken, Grenzprotokolle, Organisationsformen.
Zu beachten ist jedoch, dass der heterogene Ingenieur nicht sicher sein
kann, dass diese auf die vorherbestimmte Art funktionieren. Punktualisie­
rung gestaltet sich immer unsicher, wird mit Widerstand konfrontiert und
kann zu einem nicht funktionierenden Netzwerk degenerieren. Anderer­
seits bieten punktualisierte Ressourcen die Möglichkeit, schnell auf soziale
Netzwerke Bezug nehmen zu können, ohne es mit endloser Komplexität
NOTIZEN ZUR AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 437

zu tun zu haben. Und in dem Ausmaß, in dem sie in solchen Ordnungs­


bestrebungen verkörpert werden, werden sie in sozialen Netzwerken aus­
geführt, reproduziert und durch diese verteilt.3

Übersetzung: Soziales Ordnen als instabiler Prozess


Ich habe vorab darauf bestanden, dass Punktualisierung einen Prozess
oder Effekt bezeichnet und nicht etwas ein für alle Mal Erreichtes. Aus
diesem Grund betrachtet die Akteur-Netzwerk-Theorie soziale Struktur als
Verb und nicht als Substantiv. Struktur gleicht nicht einem frei stehenden
Gerüst auf einer Baustelle, sondern eher einem Ort des Kampfes, einem
sich selbst immer wieder erzeugenden und reproduzierenden relationalen
Effekt.4 Das Bestehen auf einem Prozess ist mit einer Anzahl von Impli­
kationen verbunden; z.B. bedeutet es, dass keine Version der sozialen Ord­
nung, keine Organisation und kein Akteur jemals komplett, autonom und
abgeschlossen sein kann, dass - ungeachtet der Träume von Diktatoren
und normativen Soziologen - eine mit einem einzigen Zentrum oder
einem einzigen Satz stabiler Beziehungen ausgestattete >soziale Ordnung<
nicht existiert. Stattdessen existieren Ordnungen, also die Pluralform, und
Widerstände.
Hier ist Vorsicht geboten, da die Theorie nicht als pluralistisch in der
üblichen Wortbedeutung aufgefasst werden kann. Sie besagt nicht, dass es
viele mehr oder weniger gleichwertige Ordnungs- oder Machtzentren gibt,
sondern dass die Effekte der Macht in einer relationalen und verteilten
Weise erzeugt werden und nichts endgültig abgeschlossen ist. Und dass,
um die Sprache der klassischen Soziologie zu verwenden, Ordnung (und
ihre Effekte - einschließlich der Macht) herausforderbar ist und auch oft
herausgefordert wird. Als ich mich vorher auf die Menschen und Maschi­
nen eigenen Präferenzen bezog, habe ich damit auf informelle Weise über
den Widerstand und den polyvalenten Charakter der Ordnung als einem
Weg gesprochen, auf dem jede Ordnungsbestrebung ihren Grenzen be­
gegnet und darum kämpft, diese zu akzeptieren oder zu überwinden. Man
könnte auch sagen, dass die für eine gewisse Zeit in einer Ordnung ver­
sammelten Einzelteile stets zum Zusammenbruch oder zur Verselbststän­
digung neigen. Folglich nimmt die Analyse des Ordnungskampfes eine

3 1 Dies ist eine der Stellen, an denen sich die Akteur-Netzwerk-Theorie mit der
Organisationssoziologie deckt: Die Affinität zwischen diesem Argument und der
Theorie des institutionellen Isomorphismus ist offensichtlich.
4 1 In dieser Hinsicht bestehen Ähnlichkeiten mit verschiedenen anderen ge­
genwärtigen Sozialtheorien. Man denke z.B. an Giddens' Idee der »Strukturierung«
(1984), Elias' Theorie der »Figuration« (1978) oder Bourdieus Konzept des »Habi­
tus« (1989).
438 1 JOHN LAW

zentrale Position in der Akteur-Netzwerk-Theorie ein, wobei die Hauptan­


liegen in der Erforschung und Beschreibung lokaler Prozesse der Muster­
bildung, sozialer Orchestrierung, von Ordnung und Widerstand bestehen.
Es geht also um die Erforschung des oftmals mit »Übersetzen« beschrie­
benen Prozesses, der Ordnungseffekte wie Vorrichtungen, Akteure, Insti­
tutionen oder Organisationen erzeugt. »Übersetzen« bezeichnet somit ein
Verb, das Transformation und die Möglichkeit von Äquivalenz - die Mög­
lichkeit, dass ein Element (z.B. ein Akteur) für ein anderes (z.B. ein Netz­
werk) stehen kann - umfasst.
Hierin besteht nun das Kernanliegen des Akteur-Netzwerk-Ansatzes:
Wie mobilisieren Akteure und Organisationen die Einzelelemente, aus
denen sie sich zusammensetzen, wie stellen sie sie nebeneinander, wie
gewährleisten sie ihren Zusammenhalt, d.h. auf welche Weise halten sie
diese Einzelelemente davon ab, ihren eigenen Neigungen zu folgen und
sich zu verselbstständigen? Und schließlich: Wie bringen sie es zuwege,
den Prozess der Übersetzung eine Zeit lang zu verbergen und ein Netz­
werk von einem heterogenen Satz von Einzelelementen - von denen jedes
seine eigenen Neigungen mitbringt - in einen punktualisierten Akteur zu
verwandeln?

Die Strategien der Übersetzung


Auf welche Weise wird die Arbeit all jener Netzwerke, die den punktuali­
sierten Akteur ausmachen, ausgeliehen, gebeugt, verlagert, gestört, wieder
aufgebaut, umgeformt, gestohlen; wie wird von ihr profitiert und/oder wie
wird sie repräsentiert, um Effekte des Akteurseins, der Organisation und
Macht zu erzeugen? Wie werden Widerstände überwunden? An diesem
Punkt setzt sich die Akteur-Netzwerk-Theorie mit jener Fragestellung
auseinander, die ich bereits am Anfang eingeführt habe: Wie kommt es,
dass wir niemals wahrgenommen haben, dass die Gorbatschows dieser
Welt auf tönernen Füssen stehen? In der Akteur-Netzwerk-Theorie geht es
um Macht, wobei Macht als (verborgener oder repräsentierter) Effekt und
nicht als eine Ansammlung von Ursachen verstanden wird. Hier steht sie
Foucault (1979) nahe, folgt ihm jedoch nicht ausschließlich, da sie das
Synchronische umgeht und stattdessen empirische Geschichten über
Übersetzungsprozesse erzählt. Tatsächlich steckt mehr als ein bisschen
Machiavellismus in der Methode; so zitieren verschiedene Vertreter der
Akteur-Netzwerk-Theorie die schonungslose Analyse von Machttaktiken
und -strategien des Autors von »Der Prinz« auf zustimmende Weise.
Was kann man über Übersetzung und die Methoden zur Überwindung
von Widerstand aussagen? Die Akteur-Netzwerk-Theorie geht ihre Aufga­
ben fast ausnahmslos empirisch an. Die empirische Schlussfolgerung
NOTIZEN ZUR AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 439

besagt, dass Übersetzung kontingent, lokal und variabel ist. Es ergeben


sich vier weitere allgemeine Resultate:

1) Im ersten geht es darum, dass einige Materialien dauerhafter als andere


sind und sie deshalb ihre relationalen Muster auch länger erhalten
können. Man stelle sich ein Kontinuum vor: Gedanken sind billig, aber
als solche nicht sehr dauerhaft; Sprache dauert nur wenig länger. Wenn
wir jedoch beginnen, Beziehungen - besonders mit unbelebten Mate­
rialien wie Texten und Gebäuden - herzustellen, kann ihre Dauerhaf­
tigkeit erheblich erhöht werden. Wenn man also eine Reihe von Bezie­
hungen in dauerhaften Materialien verkörpert, stellt das eine gute Ord­
nungsstrategie dar. Folglich verfügt ein von einer Anzahl dauerhafter
Materialien verkörpertes und ausgeführtes Netzwerk über gewisse
Stabilität.
Auch wenn die Argumentation attraktiv erscheint, ist sie nicht so
einfach, wie es den Anschein hat. Die Ursache dafür liegt darin, dass
auch Dauerhaftigkeit ein weiterer relationaler Effekt ist und nicht etwas
in der Natur der Dinge Liegendes. Wenn sich Materialien als dauerhaft
verhalten, bedeutet das auch einen interaktionalen Effekt. Wände kön­
nen den Fluchtversuchen von Gefangenen widerstehen, solange es
Gefängniswärter gibt. Anders ausgedrückt: Dauerhafte Materialformen
können auch andere Verwendungen finden; ihre Wirkungen ändern
sich bei ihrem Eintreten in ein neues Beziehungsnetzwerk. Auch wenn
es sehr attraktiv und plausibel klingt, sollte das Argument der Dauer­
haftigkeit mit Vorsicht verwendet werden.
2) Wenn Dauerhaftigkeit etwas über die Ordnung innerhalb der zeitlichen
Abfolge aussagt, geht es bei der Mobilität um Ordnung im Raum, be­
sonders um ein Agieren über eine Distanz. Folglich handelt es sich bei
Zentren und Peripherien auch um durch Überwachung und Kontrolle
erzeugte Effekte. Die Affinität zu Foucault ist offensichtlich, auch wenn
die Akteur-Netzwerk-Theorie das Problem anders angeht, wobei sie im
Besonderen Kommunikationsmaterialien und -prozesse - Schreiben,
elektronische Kommunikation, Methoden der Repräsentation, Banksys­
teme und solche augenscheinlichen Alltäglichkeiten wie frühmodeme
Handelsstraßen - erforscht. Sie befasst sich mit Übersetzungen, die die
Übertragungsmöglichkeiten der - nach Bruno Latour - unveränderli­
chen Mobilien (z.B. Kreditbriefe, militärische Befehle oder Kanonenku­
geln) schaffen. Wiederum liegt der Hauptakzent auf den instabilen
Beziehungswirkungen, wenn auch mit starker geschichtlicher Beto­
nung, die teils von Studien zum »system building« von Technikhistori­
kern wie Thomas Hughes (1983) und teils von der Anna/es-Schule und
materialistischen Geschichte mit ihrem Bestehen auf »longue duree«
(Braudel 1975) beeinflusst wird.
440 1 JOHN LAW

3) Übersetzungen sind effektiver, wenn sie die Antworten und Reaktionen


der zu übersetzenden Materialien antizipieren. Es handelt sich dabei
um keine neue Idee - sie bildet z.B. bereits einen wesentlichen Be­
standteil der machiavellistischen Politikwissenschaft und zählt zu den
zentralen Themen der Wirtschaftsgeschichte (Chandler 1977; Beniger
1986), obwohl die Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie dem dort ver­
breiteten Funktionalismus und Technikdeterminismus widerstehen.
Stattdessen behandeln sie, was Bruno Latour als die Übersetzungszen­
tren bezeichnet, als relationale Effekte und erforschen die Bedingungen
und Materialien, die diese Effekte erzeugen und die den sie potentiell
auflösenden Widerstand beinhalten. Indem sie sich auf Historiker (z.B.
Ivins 1975; Eisenstein 1980) und Anthropologen (Goody 1977; Ong
1982) beziehen, betrachten sie die Beziehungen zwischen der Fähigkeit
zu lesen und zu schreiben, zwischen Bürokratie, Buchdruck, der Ent­
wicklung doppelter Buchführung und neuerer elektronischer Techno­
logie einerseits und der Fähigkeit, Ergebnisse vorherzusehen anderer­
seits. Ihrer Argumentation zufolge haben solche Innovationen unter den
angemessenen relationalen Bedingungen wichtige kalkulationsbeein­
1 1 flussende Folgen, die wiederum die Robustheit des Netzwerks erhöhen.
Es gibt Vorbehalte gegenüber relationalen Bedingungen. Wie Weber
erkannte, ist Kalkulation kein deus ex machina, sondern eine Reihe
sozialer Methoden oder Beziehungen mit eigener Berechtigung. Sie
kann weiterhin nur bei materiellen Repräsentationen - den Produkten
der Überwachung, die auch relationale Effekte darstellen - funktionie­
ren. Wie ich bereits angedeutet habe, sind Repräsentationssysteme -
Systeme unveränderlicher Mobilien - auch instabil. Es besteht eine
direkte Analogie zum Problem politischer Repräsentation: Wie jede
andere Form der Übersetzung ist Repräsentation fehlbar; man kann
nicht vorhersagen, ob ein Repräsentant erfolgreich für das, was er zu
repräsentieren vorgibt, sprechen kann (und es gleichzeitig maskiert).
4) Schließlich besteht das Thema des Umfangs der Ordnung. Ich habe die
Ansicht vertreten, dass dieser örtlich begrenzt ist, aber zugegebenerma­
ßen besteht die Möglichkeit, allgemeinere Übersetzungsstrategien
Netzwerken zuzuschreiben, Strategien, die sich wie in den Diskursen
Foucaults über einen Bereich von Netzwerkinstanzen und -örtlichkeiten
verteilen und in diesen reproduzieren. Falls solche existieren, sind sie
mehr oder weniger implizit, da eine explizite strategische Kalkulation
nur bei einem schon bestehenden Übersetzungszentrum möglich ist.5
Wie könnten solche Strategien aussehen? Diese Frage verweist
wieder auf einen empirischen Sachverhalt. Wie verschiedene Vertreter
der Akteur-Netzwerk-Theorie bemerken, können wir eine Reihe von

5 1 Dieses Interesse an einer impliziten Strategie stimmt wieder mit der Sozio­
logie Foucaults überein. Vgl. z.B. Foucault (1981: 94f.).
NOTIZEN ZUR AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 441

koexistierenden und interagierenden Strategien erwarten, da keine


Ordnung jemals vollständig ist. In einer jüngeren Managementstudie
habe ich eine Anzahl von Strategien gefunden - » Unternehmen«,
»Verwaltung«, »Beruf« und »Vision« -, die gemeinsam multistrategi­
sche Akteure, organisatorische Arrangements und interorganisatorische
Transaktionen erzeugen. Tatsächlich kann eine Organisation als eine
Reihe solcher Strategien betrachtet werden, die zusammen komplexe
Konfigurationen für die Dauerhaftigkeit, die räumliche Mobilität, die
Repräsentationssysteme und die Kalkulierbarkeit von Netzwerken gene­
rieren - Konfigurationen, die die Erzeugung von Zentrum-Peripherie­
Asymmetrien und von für die meisten formalen Organisationen cha­
rakteristischen Hierarchien nach sich ziehen.

Fazit
Ich habe oben die Akteur-Netzwerk-Theorie beschrieben und vorgeschla­
gen, sie als relationale und prozessorientierte Soziologie zu betrachten, die
Akteure, Organisationen und Vorrichtungen als interaktive Effekte behan­
delt. Dabei habe ich einige Erzeugungsweisen solcher Effekte berührt und
ihre Heterogenität, ihre Unsicherheit und ihren anfechtbaren Charakter
betont; speziell habe ich darauf verwiesen, dass soziale Strukturen besser
als Verb denn als Substantiv betrachtet werden sollten.
Offensichtlich teilt dieser Ansatz einige Gemeinsamkeiten mit anderen
Soziologien; sein relationaler Materialismus unterscheidet ihn jedoch
erheblich von ihnen. Sicherlich stellt der Materialismus keinen neuen
Aspekt der Soziologie dar; jedoch haben sich Materialismus und soziale
Beziehungen als nicht immer ideale Weggefährten erwiesen. In einigen
der besten Soziologien wie dem Marxismus und dem Feminismus haben
sie interagiert. Gleichermaßen üblich war es, sie als natürlicherweise art­
verschieden, als Dualismus statt als Kontinuität zu betrachten. Während
die Dualismen in der Soziologie langsam fallen, tritt der Akteur-Netzwerk­
Ansatz mit einer radikalen Haltung auf die Bühne, da er nicht nur die
analytischen Unterscheidungen zwischen Handlungsfähigkeit und Struk­
tur, zwischen dem Makro- und dem Mikro-Sozialen auslöscht, sondern uns
zudem auffordert, unterschiedliche Materialien - Personen, Maschinen,
>Ideen< und all die übrigen - als interaktionale Wirkungen statt als primiti­
ve Ursachen zu behandeln. Somit stellt der Akteur-Netzwerk-Ansatz eine
Theorie der Akteurschaft, eine Theorie des Wissens und eine Theorie der
Maschinen dar; von noch größerer Wichtigkeit ist ihre Aussage, dass wir
soziale Effekte - ganz gleich welcher materieller Form - erforschen sollten,
wenn wir die Fragen nach dem >Wie< von Strukturen, Macht und Organisa­
tion beantworten wollen. Das Basisargument lässt sich folgendermaßen
zusammenfassen: Insofern die <Gesellschaft< sich selbst rekursiv reprodu-
442 1 JOHN LAW

ziert, tut sie dies aufgrund ihrer materiellen Heterogenität. Eine Soziologie,
die Maschinen und Architekturen nicht genauso wichtig wie Personen
nimmt, wird das Reproduktionsproblem niemals lösen.
Was hat die Akteur-Netzwerk-Theorie der Organisationssoziologie zu
sagen? Zunächst einmal definiert sie eine Anzahl von Fragen zur Erfor­
schung der instabilen Organisationsmechanismen. Oben habe ich darge­
legt, dass diese Fragen auf unterschiedliche Arten formuliert werden; es ist
hilfreich, einerseits zwischen den auf Organisationsmaterialien und ande­
rerseits den auf Organisationsstrategie abzielenden Fragen zu unterschei­
den. Wenn also die Akteur-Netzwerk-Theorie den Charakter von Organisa­
tionen erforscht, behandelt sie dies als Wirkung oder Konsequenz - als den
Effekt von Interaktion zwischen Materialien und Strategien von Organisa­
tionen.
Dies sind die Fragen, die sie Organisationen und den ihnen vorstehen­
den Mächtigen stellt: Welche Arten heterogener Einzelelemente werden
geschaffen oder mobilisiert und dann nebeneinander gestellt, um organisa­
torische Effekte zu erzeugen? Wie werden sie nebeneinander gestellt? Wie
werden Widerstände überwunden? Auf welche Weise (wenn überhaupt)
wird die für eine organisatorische Musterbildung sozialer Beziehungen
notwendige Materialdauerhaftigkeit und Transportfähigkeit erreicht? Wel­
che Strategien werden als Teil davon innerhalb der sozialen Netzwerke
ausgeführt? Wie weit verbreiten sie sich? Wie weit reichend werden sie
ausgeführt? Wie interagieren sie? Wie wird (wenn überhaupt) der Versuch
organisatorischer Kalkulation gemacht? Wie werden die Ergebnisse dieser
Kalkulation (wenn überhaupt) in Handlung übersetzt? Wie können (wenn
überhaupt) die eine Organisation erzeugenden, heterogenen Einzelelemen­
te eine asymmetrische Beziehung zwischen Peripherie und Zentrum er­
zeugen? Auf welche Weise kann mit anderen Worten ein Zentrum für den
zur Peripherie gewordenen Teil sprechen und von seinen Bemühungen
profitieren? Wie kann ein so genannter >Manager< etwas >managen<?
Wenn man den Sachverhalt auf diese Weise betrachtet, stellt eine
Organisation eine Leistung, einen Prozess, eine Folge, eine Reihe über­
wundener Widerstände, einen instabilen Effekt dar. Ihre Komponenten -
die Hierarchien, organisatorischen Arrangements, Machtbeziehungen und
Informationsflüsse - sind unsichere Folgen des Ordnens heterogener
Materialien. Auf diese Weise wirkt die Akteur-Netzwerk-Theorie analysie­
rend und die Macht der Mächtigen entrnystifizierend. Sie besagt, dass es in
letzter Instanz keinen grundsätzlichen Unterschied, keine große Tren­
nungslinie zwischen den Mächtigen und den Machtlosen gibt. Dann führt
sie aber weiter aus, dass es so etwas wie eine letzte Instanz nicht gibt. Und
da sie nicht existiert, gibt es in der Praxis tatsächlich reale Unterschiede
zwischen den Mächtigen und den Machtlosen; Unterschiede, die allerdings
in den Methoden und Materialien liegen, die sie einsetzen, um sich selber
zu erzeugen. Unsere Aufgabe besteht darin, diese Materialien und Metho-
NOTIZEN ZUR AKTEUR-NETZWERK-THEORIE 1 443

den zu erforschen, um zu verstehen, wie sie sich verwirklichen, und um


festzustellen, dass es anders sein könnte - und oft anders sein sollte.

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Leben und Sterben eines Flugzeugs:

Eine Netzwerkanalyse technischen Wandels

JOHN LAw UND MICHEL CALLON

Stellen Sie sich ein technologisches Projekt vor, das ein paar Jahre dauert,
die Mobilisierung von zehntausenden oder hunderttausenden von Arbei­
tern, Designern, Managern und eine Fülle von heterogenen Einzelteilen
und -teilchen einschließlich Designs, Teilen, Maschinenwerkzeugen und
einer Menge mehr involviert. Stellen Sie sich vor, dass dieses Projekt in
einer sich ständig verändernden Umwelt entwickelt wird - dass sich An­
forderungen, Interessen und sogar die Akteure selbst im Verlauf seines
Lebens verändern. Stellen Sie sich vor, dass nicht hunderte, sondern hun­
derte von tausenden von Entscheidungen gefällt werden. Und stellen Sie
sich vor, dass es am Ende in einer Flut gegenseitiger Vorwürfe und Enttäu­
schungen eingestellt wird. Wie können wir ein solches Projekt auf eine
Weise beschreiben, die mehr ist als >einfache< Geschichte? Wie können wir
es auf eine Weise beschreiben, die für die Analyse anderer Projekte und
technischer Innovationen relevant ist? Wie können wir die Entscheidung,
das Projekt zu beenden, erklären? Wie können wir sein Fehlschlagen erklä­
ren? Und wie können wir das auf eine Art tun, die uns vermeiden hilft,
Partei zu ergreifen?
Obwohl das Interesse an der sozialen Analyse von Technik seit kurzem
gewachsen ist, sind nur wenige gegenwärtig verfügbare Werkzeuge wirk­
lich nützlich. Unser Problem besteht darin, dass es zu einfach ist (obwohl
ein Funke Wahrheit enthalten ist) zu sagen, dass der Kontext den Inhalt
beeinflusst und er gleichzeitig von ihm beeinflusst wird. Was wir brau­
chen, ist ein Werkzeug, das es möglich macht, die Koevolution dessen, was
wir normalerweise als soziotechnischen Kontext und soziotechnischen
Inhalt voneinander abgrenzen, zu beschreiben und zu erklären. In neueren
Arbeiten haben wir eine Netzwerkmetapher verwendet, um zu versuchen,
diese Art von Prozess zu verstehen (Callon/Law 1989). Wir haben die Art
448 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON

betrachtet, in der ein Akteur versucht, das, was wir ein globales Netzwerk
nennen, zu mobilisieren und zu stabilisieren, um Ressourcen zu erlangen,
mit denen er ein Projekt >baut<. In unserer Sprache ist ein globales Netz­
werk dann eine Reihe von Beziehungen zwischen einem Akteur und
seinen Nachbarn einerseits und zwischen diesen Nachbarn andererseits.
Es ist ein Netzwerk, das - absichtlich oder nicht - aufgebaut wurde und
das einen Raum, eine Zeitspanne und eine Menge von Ressourcen erzeugt,
worin Innovationen stattfinden können. Innerhalb dieses Raums - wir
nennen ihn einen Verhandlungsraum - kann der Prozess des Aufbaus eines
Projektes als die Artikulation eines lokalen Netzwerkes behandelt werden,
d.h. als die Entwicklung einer Aufstellung einer heterogenen Menge von
einzelnen Teilen, die für die erfolgreiche Produktion jeder funktionieren­
den Vorrichtung notwendig ist. Wir haben angeregt, dass die Ideen von
Kontext und Inhalt, die in der Wissenschafts- und Techniksoziologie als
allgemeine analytische Instrumente verwendet werden, überwunden wer­
den, wenn man Projekte als Balanceakte behandelt, in denen heterogene
Elemente sowohl von >innerhalb< als auch von >außerhalb< des Projekts
einander gegenübergestellt werden.
In diesem Beitrag treiben wir unsere Analyse noch einen Schritt weiter,
indem wir die Dynamik eines großen britischen Luft- und Raumfahrtpro­
jekts betrachten. Wir betrachten die Art, in der die Manager dieses Projekts
ihr Projekt in einem globalen Netzwerk zu positionieren suchten, um die
für den Bau und den Erhalt eines lokalen Netzwerkes benötigte Zeit und
die Ressourcen zu erhalten. Und wir diskutieren die Art, in der die Form
des Projekts nicht nur von den Bemühungen jener Manager. beeinflusst
wurde, sondern auch von den Ereignissen und Strategien, die die Form des
globalen Netzwerkes beeinflussten. Damit verfolgen wir die Strategien und
Eventualitäten, die zur Schaffung sowohl des lokalen als auch des globalen
Netzwerkes führten, die Geschicke oder die Manager, wie sie beide Netz­
werke zu gestalten und die Beziehungen zwischen ihnen zu kontrollieren
suchten, und den schließlichen Zusammenbruch des Projekts, als die
Beziehungen zwischen ihnen letztlich vollständig unkontrollierbar wurden.
In einem gewissen Sinn ist unsere Geschichte banal. Sie ist die Be­
schreibung eines großen militärischen Technikprojekts, das falsch lief.
Aber obwohl dieses Projekt von beträchtlichem Interesse für die Geschich­
te der britischen Luft- und Raumfahrt ist, liegt unser Ziel hier nicht primär
darin, der Reihe der Berichterstattung über militärische Verschwendung
noch etwas hinzuzufügen. Unser Vorhaben ist eher analytisch. Uns ist die
Entwicklung eines Vokabulars zur Analyse wichtig, das uns gestattet, alle
Versuche, dauerhafte Institutionen zu bauen, zu beschreiben und zu erklä­
ren. Analytisch sieht man die Tatsache des Fehlschlagens der gegenwärti­
gen Projekte am besten als methodologische Zweckmäßigkeit: Die Fehl­
schläge umgebende Kontroverse tendiert dazu, Prozesse zu enthüllen, die
im Falle erfolgreicher Projekte und Institutionen versteckt sind.
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 449

Ein Projekt und seine Nachbarn


Das TSR.2-Projekt wurde in der »Operational Requirements Branch« der
»Royal Air Force« (RAF) in den späten 195oer Jahren ausgedacht (TSR
steht für »Tactical Strike and Reconnaissance«; die Bedeutung der Zahl
».2« bleibt ein Rätsel). Die Struktur des Projekts und seines Flugzeugs
wurden im Verlauf einer Reihe von Verhandlungen mit benachbarten
Akteuren konzipiert. Diejenigen, die das Projekt vorantrieben, versuchten
eine Form zu etablieren, die ihm das überleben ermöglichen würde. In
einigen Fällen war es eine Frage der Sicherung von genügend Ressourcen
benachbarter Akteure. In anderen Fällen war es eine Frage der Wahrung
der Neutralität über einen angemessenen Zeitraum. In beiden Fällen war
es eine Frage, zu angemessenen Arrangements zu kommen - eine Frage
der Definition der Beziehung zwischen dem Projekt und seinen Nachbam.
1

Der Ursprung dieses Prozesses kann zurückverfolgt werden zum »Ge­


neral Operational Requirement« (GOR 339), entwickelt von der »Operatio­
nal Requirements Branch«, und zu einer politischen Strategie zur Rationa­
lisierung der Flugzeugindustrie, eingeführt von der Beschaffungsabteilung
der britischen Regierung, dem »Ministry of Supply«. Soweit es die RAF im
Allgemeinen betraf, war es notwendig, dass das Endprodukt ein Flugzeug
ist. Alle anderen Transaktionen waren auf dieser Annahme begründet.
Dass man ein Kampfflugzeug brauchte, war tatsächlich in den späten
195oer Jahren nicht so klar. Die Verteidigungspolitik Großbritanniens, die
im Weißbuch zur Verteidigung von 1957 zum Ausdruck kommt, war die
der nuklearen Abschreckung, basierend auf Vergeltungsschlägen durch
Raketen. Soweit es das Verteidigungsministerium betraf, war es wichtig,
dass das Endprodukt kein strategischer Bomber war - diese Alternative war
vom Weißbuch ausdrücklich ausgeschlossen worden. Dies ließ vermuten,
dass das Projekt ein Kampfflugzeug sein sollte - und in Anbetracht der
vom Ministerium erdachten britischen Verteidigungsverpflichtungen war
es angemessen, dass es ein taktisches Schlag- und Aufklärungsflugzeug
sein sollte (TSR).
Soweit es das Schatzamt betraf, war es wichtig, dass das Endprodukt
billig war. In Anbetracht dieser Perspektive, die auf der vernehmlichen
Notwendigkeit für Einsparungen in den Ausgaben der Verteidigung basier­
te, neigte das Schatzamt dazu, den Bedarf für ein Flugzeug überhaupt
anzuzweifeln. Allerhöchstens konnte für ein einzelnes Kampfflugzeug
Unterstützung gefunden werden. Dies bedeutete, dass das Flugzeug alle
möglichen Anforderungen der RAF an ein Kampfflugzeug erfüllen musste.
Entsprechend gab es Druck in Richtung auf ein vielseitiges Flugzeug -
eine Anforderung, die die TSR-Definition erfüllte - und auch auf eines, das

1 1 Hier übernehmen wir das methodologische Prinzip von Latour (1987) und
»folgen den Akteuren«.
450 J JOHN LAW UND MICHEL GALLON

man in Übersee verkaufen konnte, um damit die Kosten pro Einheit zu


senken.
Was die Marine betraf, so musste ein hohes Maß an Widerstand über­
wunden werden. Die Marine erwarb ein kleines taktisches Schlagflugzeug
namens »Buccaneer« und war bemüht, die RAF davon zu überzeugen,
dieses Flugzeug zu kaufen, weil das die Kosten pro Einheit für die Marine
senken und den Druck auf das gesamte Budget für Waffenbeschaffung
mildem würde. Als Antwort schlug die »Operational Requirements
Branch« ein großes Überschall-, Präzisionsschlag-, Langstreckenflugzeug
vor, das sich deutlich vom »Buccaneer« unterschied. Obwohl diese Antwort
nicht das war, wonach die Marine gesucht hatte, beabsichtigte man, die
(vom Schatzamt unterstützten) Versuche des Letzteren zu neutralisieren,
um den »Buccaneer« zu erzwingen.
Was das »Ministry of Supply« betraf, war es wichtig, dass das Flug­
zeugprojekt mit einer Politik zur Rationalisierung der Flugwerk- und
Flugmaschinenindustrie konsistent war. Es gab in den späten 195oer Jah­
ren in Großbritannien mehr als ein dutzend Flugwerkhersteller. Das Mi­
nisterium befand, dass es für höchstens zwei oder drei Platz gab. Entspre­
chend wurde das Projekt als Instrument gesehen, um ein großes und
mächtiges Konsortium ins Leben zu rufen: Es würde nicht an eine einzelne
Firma vergeben werden.
Diese Transaktionen formten das Projekt und halfen es zu definieren.
Wir wollen eine Anzahl wichtiger Charakteristika dieses Prozesses aufzei­
gen.
Das TSR.2-Projekt zeigte, was wir variable Geometrie nennen können:
Es repräsentierte verschiedene Dinge für verschiedene Akteure. Es besaß
in anderen Worten einen hohen Grad an >interpretativer Flexibilität<. Für
das Verteidigungsministerium und die RAF war es nicht ein strategischer
Bomber, sondern ein taktisches Schlag- und Aufklärungsflugzeug. Für das
Schatzamt war es relativ (jedoch nicht ausreichend) billig. Für die Marine
war es ein erfolgreicher Konkurrent zum »Buccaneer« und für das »Minis­
try of Supply« war es ein Instrument der Wirtschaftspolitik.
Zur selben Zeit war es jedoch auch für jeden dieser Akteure ein relativ
einfaches Objekt. Obwohl unsere Darstellung natürlich schematisch ist,
waren die meisten Komplexitäten des Flugzeugs und seines Projekts un­
sichtbar für die außen stehenden Akteure. Aber die Vereinfachung, die
damit verbunden war, dieses Projekt ins Leben zu rufen, war reziprok: Die
äußeren Akteure wurden ebenfalls vom Standpunkt des Projekts aus sim­
plifiziert. Das Schatzamt war (und ist) eine höchst komplexe Bürokratie mit
einem weiten Spektrum an politischen Interessen und Prozeduren. Vom
Standpunkt des Projekts aus waren die meisten von diesen irrelevant. Das
Schatzamt war ein >punktualisierter< Akteur, ein Akteur, der auf eine
einzige Funktion reduziert wurde - nämlich die, die Finanzierung zu ge­
währleisten.
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 451

Dieser Prozess der reziproken Simplifizierung hat einige Konsequen­


zen. Eine ist, dass das Projekt sowohl vom Standpunkt seiner Nachbarn als
auch von dem des äußeren Beobachters aus als eine Reihe von Transaktio­
nen behandelt werden kann. Einige von ihnen nahmen die Form wirt­
schaftlichen Austausches an: Im Gegenzug für die Gewährleistung von
Finanzierung würde das Projekt Reports, Fortschrittsberichte und schließ­
lich ein funktionsfähiges Flugzeug bereitstellen. Einige davon hatten politi­
schen Charakter: Im Gegenzug für den demonstrierten Bedarf an einem
großen und komplexen Flugzeug würden die Einwände der Marine zu­
rückgewiesen. Wieder andere waren technisch (»General Operational Re­
quirement« und darauf basierend das spezifischere »Operational Require­
ment«) oder industriell definiert (die Bereitstellung von Verträgen im Aus­
tausch für eine Rationalisierung der Flugzeugindustrie). In einem früheren
Artikel (Callon/Law 1989) bezogen wir uns auf das, was zwischen einem
Akteur und seinen Nachbarn als Vermittler weitergegeben wird und wir
werden diese (absichtlich allgemeine und unspezifische) Terminologie hier
übernehmen, um uns auf das zu beziehen, was im Verlauf relativ stabiler
Transaktionen zwischen Akteuren weitergegeben wird. Und wie bereits
früher angedeutet, werden wir den Begriffglobales Netzwerk verwenden, um
uns sowohl auf die Reihe von Beziehungen zwischen einem Akteur und
seinen Nachbarn als auch auf jene zwischen seinen Nachbarn zu bezie­
hen.
Es ist auch wichtig anzumerken, dass Transaktionen, die zu reziproken
Simplifikationen führen, nicht nur das Projekt selbst formten, sondern
auch die Akteure, die in Transaktionen mit ihm eintraten. Wieder erfolgte
diese Formgebung durch eine Vielzahl von Mechanismen. Oft wurden die
ausdrücklichen Interessen existierender Akteure neu definiert. 1957 >wusste<
das Verteidigungsministerium nicht, dass es ein TSR-Flugzeug brauchte.
Es wusste nur, dass es keinen strategischen Bomber brauchte, um den
existierenden V-Bomber zu ersetzen, weil Raketen diese Rolle erfüllen
würden. Im Interaktionsprozess mit der »Operational Requirements
Branch« wurde das Ministerium überzeugt oder sich seines Interesses an
einem TSR-Flugzeug bewusst. Ein ähnlicher Prozess ereilte die RAF. Zu
Beginn wusste sie nur, dass sie ein neues Kampfflugzeug wollte und dass
diesem Verlangen wichtige Hindernisse im Wege standen. Am Ende nahm
sie ihre Interessen im Hinblick auf TSR.2 wahr. Ein ähnlicher - jedoch
sogar dramatischerer - Prozess ereilte die Flugwerkhersteller. Sie began­
nen mit einem allgemeinen Interesse, Verträge zur Produktion neuer
Flugzeuge zu erhalten und fanden am Schluss, dass es in ihrem Interesse
lag, mit Herstellern zu fusionieren, die zuvor Rivalen gewesen waren, um
ein TSR-Flugzeug zu planen und herzustellen. In diesem Fall war der
Prozess so profund, dass sie nicht einfach umgeformt, sondern in neue
Akteure umgewandelt wurden.
Die Akteure jedoch, die von diesem Projekt geformt wurden, waren in
452 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON

einigen Fällen durch die Operation an ihren wahrnehmbaren Interessen


beeinflusst. So blieben die ausdrücklichen Interessen der Marine im Hin­
blick auf das Projekt in den folgenden Jahren unverändert: Sie blieb feind­
lich und wünschte die Einstellung des Projekts. Wegen der oben beschrie­
benen Definition des Flugzeugs und einer Reihe bürokratischer und politi­
scher Tricks, die hier nicht detailliert wiedergegeben werden sollen, versa­
hen das Projekt und diejenigen, die es rekrutiert hatten (hauptsächlich die
RAF selbst), die Marine mit einer Black Box. Die Letztere war feindlich,
aber nicht in der Lage, ihren Widerstand durchzusetzen. In diesem Fall
agierten Machtspiele und bürokratische Taktiken in der Gestaltung der
Marine. Die Neutralität des Schatzamtes wurde teilweise durch dieselben
Mittel sichergestellt.
Wir betonen diesen Prozess des gegenseitigen Formens, weil es wichtig
ist zu verstehen, dass Akteure nicht nur einfach von den Netzwerken
geformt werden, in denen sie sich befinden (obwohl das sicher der Wahr­
heit entspricht), sondern dass sie auch die Akteure beeinflussen, mit denen
sie interagieren. Einerseits ist das offensichtlich, weil die letztgenannte
Klasse von Akteuren sich selbst in einem globalen Netzwerk befindet und
durch dieses geformt wird. Es lohnt sich jedoch, diesen Punkt expliziter zu
behandeln, weil er eine abstrakte Unterscheidung überwindet, die in der
Sozialanalyse zwischen (bestimmtem) Akteur und (bestimmender) Struk­
tur oder zwischen Inhalt und Kontext üblich ist. Nachbarn geben neuen
Akteuren tatsächlich eine neue Form, wenn sie Transaktionen mit ihnen
eingehen, aber sie werden im Gegenzug von den neuen Umständen umge­
formt.2
Schließlich sollten wir feststellen, dass finanzielle Ressourcen, eine
Reihe von Spezifikationen, die Toleranz bestimmter Nachbarn und die
Neutralisierung anderer den Projektmanagern die Ressourcen boten, um
ihre Seite der expliziten und impliziten Vereinbarungen zu erfüllen, in die
sie eingetreten waren. Kurz: Das Projekt hat für sich selbst eine Zeit und
einen Raum geschaffen, innerhalb derer es die Ressourcen einsetzen konn­
te, die es von außen entliehen hatte. Entsprechend hatte es einen Grad an
Autonomie, einen »Verhandlungsraum« erreicht. Wir werden nun einige
der Transaktionen betrachten, die innerhalb dieses Verhandlungsraums
stattfanden.

2 1 In einem früheren Papier (Callon/Law 1989), in dem wir diese Argumenta­


tion detaillierter entwickelten, bezogen wir uns auf diese Nachbarn als »vorformen­
de Netzwerke«.
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 453

Entwurf eines lokalen Netzwerkes


Im Herbst 1957 war der Verhandlungsraum für die Projektmanager recht
begrenzt. Im Allgemeinen waren sie gezwungen, einen schrittweisen An­
satz anzunehmen: Die Zahlung von Finanzmitteln wurde z.B. nicht fortge­
setzt, außer sie produzierten Vermittler in Form konkreterer Ideen über
die Gestaltung des Flugzeugs, seine wahrscheinlichen Hersteller, die invol­
vierten Kosten und das wahrscheinliche Lieferdatum. Die erste Stufe in
diesem Prozess war eine vollständigere Spezifikation der Designmerkmale.
Die GOR 339 war ziemlich allgemein und spezifizierte eher die Art von
geforderter Leistung als das Design eines Flugzeugs. Das Letztgenannte
wäre aber notwendig, wenn solche Skeptiker wie das Schatzamt davon
überzeugt werden sollten, dass ein Konsortium von Herstellern tatsächlich
dazu fähig war, das vorgeschlagene Flugzeug innerhalb des Budgetrah­
mens zu produzieren. Entsprechend wurde der Prozess, in dem dem
Projekt eine Form gegeben wurde, fortgesetzt. Nun wendete sich jedoch
das Hauptaugenmerk der Manager nach innen: Sie begannen den Versuch,
ein Netzwerk von Designteams, Designcharakteristika, Plänen und Ver­
tragspartnern zu erarbeiten. Sie begannen in dem, was wir ein lokales
Netzwerk nennen, Akteure zu mobilisieren und zu schaffen.3
Der erste Schritt in diesem Prozess bestand darin, die britische Flug­
zeugindustrie im Herbst 1957 zur Einreichung von Skizzen aufzufordern.
Das brachte keine besonderen Probleme mit sich, da die fraglichen Firmen
nach Aufträgen gierten und sich bereitwillig mobilisieren ließen. Insge­
samt waren es neun eingereichte Vorschläge (Gardner 1981: 25), obwohl
wir hier nur die drei für unsere Erzählung wichtigsten erwähnen werden
(Williams/Gregory/Simpson 1969). »Vickers« bot zwei Möglichkeiten an.
Die eine schlug ein kleines einmaschiniges Flugzeug vor, das relativ billig
war, jedoch von GOR 339 beträchtlich abwich. Die andere betraf ein viel
größeres Flugzeug, das GOR 339 streng befolgte. Beide Vorschläge befür­
worteten den Designansatz eines »Waffensystems« mit einem integrierten
Ansatz für das Flugwerk, die Triebwerke, die Ausrüstung und die Waffen
(Wood 197s: 156). Obwohl dies eine Abkehr von traditionellen Methoden
der Flugzeugherstellung bedeutete, in denen Flugwerke zuerst entworfen,
gebaut und getestet und Waffen und Ausrüstung später hinzugefügt wur­
den, wurde der Ansatz in Whitehall gut aufgenommen, teilweise wegen
extensiven Marketingbemühungen von »Vickers« und teilweise, weil es
dem Denken des »Ministry of Supply« und der jüngsten amerikanischen
Erfahrung entsprach.
Dennoch: Obwohl die allgemeine Philosophie der Vorlage deutlich,
gut formuliert und überzeugend argumentiert war, war »Vickers« nicht in
der Lage, die gesamte notwendige Designarbeit zu erledigen und ging eine

3 1 Mehr Details dieses Designprozesses werden in Law (1987) wiedergegeben.


454 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON

Partnerschaft mit einer anderen Firma, »English Electric«, ein, die den
erfolgreichen Leichtbomber »Canberra« und das Überschall-Kampfflug­
zeug »Lightning« geplant und hergestellt hatte. »English Electric« hatte
jedoch seinen eigenen Entwurf mit dem Code-Namen P17A eingereicht,
ein detailliertes aerodynamisches Flugwerkdesign für einen 60.000 bis
70.000 Pfund schweren Mach-2-Schlagbomber mit Deltaflügeln, zwei
Triebwerken und zwei Sitzen (Hastings 1966: 30; Williams/Gregory/
Simpson 1969: 18; Woods 1975: 155). Obwohl die P17A vielen Spezifikatio­
nen von GOR 339 entsprach, fehlte im die Allwettertauglichkeit und die
Fähigkeit zu schnellem Take Off (Williams/Gregory/Simpson 1969: 18).
»English Electric« begegnete den letztgenannten Schwachpunkten mit der
Argumentation, dass die Fähigkeit zu schnellem Take Off nicht die dring­
lichste Anforderung war (die ihrer Meinung nach der Ersatz der »Canber­
ra« war); stattdessen schlugen sie vor, dass dies zu einem späteren Zeit­
punkt durch eine Plattform gewährleistet werden sollte, die die P17A in die
Luft hob, lancierte und barg. Diese Plattform sollte von »Short Brothers«
entworfen und gebaut werden, die ein entsprechendes Design eingereicht
hatten (Hastings 1966: 29; Williams/Gregory/Simpson 1969: 18; Wood
197s: 155).
Mit den mobilisierten Flugwerkherstellern und einer Reihe Eingaben
begann die zweite Stufe in der Erarbeitung eines lokalen Netzwerkes - die
Überlegung, welches Design oder welche Kombination von Designs die
Anforderungen, die mit benachbarten Akteuren verhandelt worden waren,
am besten erfüllen konnte. Obwohl das schlanke Design von »Vickers«
vom Schatzamt favorisiert wurde, weil es wahrscheinlich relativ billig sein
würde, war die große Eingabe besonders attraktiv für das »Air Staff«, die
RAF und Teile des Verteidigungsministeriums. Der Grund dafür war, dass
es sowohl die Verpflichtung des »Air Staff« zu einem Flugzeug mit schnel­
lem Take Off (das groß sein musste, weil es zwei mächtige Triebwerke
brauchen würde) als auch den Waffensystemansatz stärkte. »Air Staff«,
Verteidigungsministerium und »Ministry of Supply« waren auch beein­
druckt von der integrierten Designphilosophie, die von der Firma vertreten
wurde, und wurden überzeugt, dass »Vickers« die Managementkapazität
hatte, um ein komplexes Projekt zu kontrollieren und zu integrieren (Wood
197s: 158; Gardner 1981: 33). Sie waren jedoch auch beeindruckt von der
Eingabe von »English Electric«, der allgemein ein »First-Class-Design«
eingeräumt wurde (Wood 197s: 155), das das Produkt reicher Erfahrung mit
Überschallflugzeugen war und auch den Vorteil hatte, dass sie kurzfristig
bereits existierende Avionikausrüstung verwenden konnte. Obwohl der
Kontakt zwischen den beiden Firmen eingeschränkt war (»English Elec­
tric« war vertraglich an »Short Brothers« gebunden), hatte »Vickers« zu­
sätzlich seinem Wunsch Ausdruck verliehen, »English Electric« zum Part­
ner zu haben. Entsprechend kam das »Air Staff« zum Schluss, dass eine
Verbindung des großen »Vickers«-Typs 571 mit dem »English Electric«-

t
1

;r,
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 455

p17A sowohl angemessen als auch in der Lage wäre, zur Mobilisierung von
Akteuren im globalen Netzwerk zu dienen.4
Entsprechend kehrte das »Air Staff« im Juni 1958 mit einem mutmaß­
lichen Design und potentiellen Kontraktoren in Reichweite in das globale
Netzwerk zurück. Sie gingen ausdrücklich zum »Defence Research Policy
Committee« (Gardner 1981: 32). Diese Gruppe war verantwortlich für die
Gesamtkontrolle von Verteidigungsanschaffungen. Als Teil ihrer Rolle
schätzte sie die Priorität von Projekten ein, die von Verbraucherdiensten
und geeigneten Versorgungsabteilungen vorgelegten wurden, und schrieb
ihnen diese Priorität auch zu (Williams/Gregory/Simpson 1981: 32).
schl ießlich wurde die Zustimmung auf Kabinettsebene erlangt und GOR
339 wurde früh im Jahr 1959 durch eine dichtere, technischere und defini­
tivere Anforderung, das »Operational Requirement« (OR) 343 (Gardner
1981: 33; Wood 1975: 158) und eine damit zusammenhängende Spezifika­
tion des »Ministry of Supply« RB 192 (Gunston 1974: 41) ersetzt.5 Alles
war nun an seinem Platz: Ein erstes Netzwerk lokaler Akteure war mobili­
siert worden und hatte dazu beigetragen, die Vermittler zu schaffen, die
gebraucht wurden, um die globalen Akteure zu befriedigen oder ihre Ein­
wände zu beseitigen. Dem Design für ein lokales Netzwerk von Firmen,
technischen Komponenten, Managementprozeduren und allem Übrigen

4 1 Über den tatsächlichen Prozess, durch den Entscheidungen erreicht wurden,


ist wenig bekannt. Die besten uns verfügbaren Informationen belaufen sich auf we­
nig mehr als Hinweise. Es scheint jedoch, dass das Schatzamt und das Verteidi­
gungsministerium im Februar 1958 wieder abgewehrt wurden (Wood 197s; 158).
Das Finanzministerium war noch besorgt über die Kosten des gesamten Projekts
und das Verteidigungsministerium, das die kleinere der beiden Vorlagen von »Vi­
ckers« anführte, spielte mit der Idee, ein Flugzeug zu spezifizieren, das einige GOR
339-Anforderungen erfüllen würde und auch zu flugzeugträgergestützten Operatio­
nen in der Lage war (Wood 1975: 156). Der Bedarf der RAF nach einem großen
Flugzeug vom TSR-Typ wurde jedoch sowohl auf formeller als auch auf informeller
Ebene durchgesetzt und GOR 339 erschien unversehrt.
5 1 Dies spezifizierte, dass TSR.2, wie es bekannt zu werden begann, zu Über­
schallflügen in großer Höhe und einem Operationsradius von tausend nautischen
Meilen in gemischten Unter- und Überschalleinsätzen fähig sein sollte. Es sollte
auch zu Niedrigflügen auf Baumhöhe fähig sein, über ein geländefolgendes Radar
verfügen, eine geringe Schlagresonanz zeigen und die Fähigkeit zum kurzen Take
Off haben, was wiederum ein hohes Schubkraft-Gewicht-Verhältnis mit sich brach­
te. Es sollte Präzision und unabhängige Navigationshilfen haben, in der Lage sein,
sowohl nukleare als auch hochexplosive Bomben zu befördern, über fortschrittliche
Foto- und Linescan-Möglichkeiten verfügen, im Hinblick auf die Minimierung von
Verlusten verlässlich sein und die Operation von schlecht ausgestatteten Marsch­
basen aus gestatten. Schließlich sollte es eine Überführungsreichweite von 3000
nautischen Meilen haben und zur Betankung in der Luft geeignet sein.
456 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON

war zugestimmt worden. Vermittler würden vom globalen Netzwerk zu


fließen beginnen, um ein permanenteres lokales Netzwerk zu mobilisie­
ren.

Die Schaffung eines lokalen Netzwerkes

»Vickers« und »English Electric« warteten nicht darauf, dass ihnen die
Verträge formell zuerkannt wurden. Spät im Jahr 1958 machten sie sich an
die schwierige Aufgabe, ein permanentes lokales Netzwerk von Designern,
Designs, Produktionsteams, Management und Subkontraktoren aufzubau­
en, das die Konstruktion von TSR.2 innerhalb der Zeit und des von be­
nachbarten Akteuren erlaubten Budgets zustande bringen würde. Der erste
Schritt bestand darin, zwei getrennte industrielle Organisationen und
Designs zu integrieren und zu übernehmen. Mehrere Probleme mussten
in diesem Prozess der Gestaltung und Mobilisierung eines lokalen Netz­
werkes überwunden werden. Zuerst einmal hatten die Designer, die zuvor
in zwei Teams etwa 200 Meilen voneinander entfernt gearbeitet hatten,
recht verschiedene Zugänge zum Design. Das »Vickers«-Team, das in
Weybridge in Surrey und in der Nähe von Winchester in Hampshire
seinen Sitz hatte, hatte sich auf elektronische Systeme, Flugsysteme im
Allgemeinen, Rumpfdesign und kurze Abhebe- und Landemanöver kon­
zentriert (Williams/Gregory/Simpson 1969: 29). Das »English Electric«­
Team hatte seinen Sitz in Warton in Lancashire und hatte sich auf die
Überschallaspekte des Designs und die Implikationen des Fluges auf nie­
driger Höhe konzentriert und - wie wir feststellten - das detailliertere
Flugwerkdesign vorgelegt. Der Prozess des gegenseitigen Kennenlernens
und konkreten Zusammenarbeitens war schwierig, jedoch im Allgemeinen
am Ende erfolgreich (Beamont 1968: 137; Beamont 1980: 134; Williams/
Gregory/Simpson 1969: 47). Ein vereintes Team von 50 Designern unter­
nahm eine detaillierte Untersuchung der technischen und Designproble­
me, die GOR 339 in den frühen Monaten des Jahres 1959 aufwarf. Dem
folgend entwickelte sich eine Arbeitsteilung, die die relativen Kompetenzen
der zwei Teams reflektierte: Die Weybridge-Gruppe arbeitete an Systemen,
am Kosten-Nutzen-Verhältnis und an Waffen, während sich das Warton­
Team mit der Aerodynamik befasste (Wood 1975: 164).
Aber das lokale Netzwerk wurde nicht allein von Menschen gebildet.
Beispielsweise waren die von den Unterschieden zwischen den beiden
Designs aufgeworfenen Probleme zuerst beträchtlich. Die fundamentalsten
dieser Unterschiede erwuchsen aus den verschiedenen Anforderungen des
Überschallfluges einerseits und der Fähigkeit zu schnellem Take Off ande­
rerseits. Hochgeschwindigkeitsflug bedeutete kleine Flügel mit kleiner
Flügelspanne, ein geringes Dicke-Tiefe-Verhältnis der Tragflächen und
einen großen Pfeilwinkel der Eintrittskante - alles Merkmale der P17A. Die
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 457

Fähigkeit zum schnellen Take Off forderte eine geringe Tragflächenbelas­


tun g, die ihrerseits implizierte, dass der Flügel groß sein sollte und sowohl
ein hohes Dicke-Tiefe-Verhältnis der Tragflächen als auch einen kleinen
Eintrittskanten- und Flügelaustrittskantenpfeilwinkel besaß. Sir George
Edwards, Leiter von »Vickers« und später der vereinten »British Aircraft
Corporation«, soll damals gesagt haben, dass die »Vickers«-STOL6-Studie
und die Maschine von »English Electric« mit einer geringen Tragfläche
unvereinbar seien (Gunston 1974: 44). Das Team kämpfte mit diesen
verschiedenen Anforderungen und löste das Problem schließlich in einer
einzigen Lösung: durch a) der Bereitstellung sehr großer Klappen, die
sowohl das Dicke-Tiefe-Verhältnis der Tragflächen als auch den Angriffs­
winkel vergrößerten; b) das Zwingen von Hochdruckluft über die Klappen,
um den Auftrieb bei niedrigen Geschwindigkeiten zu verbessern, indem
man das Abreißen des Luftflusses über die obere Oberfläche des Flügels
verhinderte; und c) die Erhöhung des Schub-Gewicht-Verhältnisses durch
die Vorgabe zweier extrem kraftvoller Triebwerke (Gunston 1974: 46;
Williams/Gregory/Simpson 1969: 25, 39; Wood 1975: 165).
Obwohl das die fundamentalste Designentscheidung war - denn in
Anbetracht des »Operational Requirement« wurden viele andere Entschei­
dungen über Triebwerke, bewegende Oberflächen, Fahrgestelle und integ­
rale Brennstofftanks vom Team als bereits getroffen betrachtet -, traten
andere Designprobleme auf. Eines davon betraf die Platzierung des Trieb­
werks. Die Notwendigkeit von dünnen, einfachen Flügeln legte nahe,
dieses wie im Designvorschlag von »English Electric« innerhalb des Flug­
zeugrumpfes zu platzieren. »Vickers« stand dem skeptisch gegenüber, weil
das Unternehmen sich über Kühlungsprobleme und das Risiko von Brän­
den sorgte. Am Ende trug die Lösung von »English Electric« den Sieg
davon (Wood 197s: 163). Ein anderes Problem betraf das schnelle Take Off.
1959 hoffte das »Air Staff« darauf, aber die Designer schlossen schnell,
dass das vorgeschlagene Flugzeug zu schwer war und sie ersuchten um
Erlaubnis- und bekamen sie auch-, ein Flugzeug zu bauen, das stattdes­
sen von halb so langen Rollfeldern und unbearbeiteten Landebahnen aus
starten konnte (Gunston 1974: 41).
Im März 1960 wurde als Ergebnis dieser und ähnlicher Überlegungen
die Position der Flügel um drei Zoll bewegt (Hastings 1966: 40; Gardner
1981: ro5), danach wurde das Konzept des Designs nur noch wenig geän­
dert und eine Broschüre und Zeichnungen wurden 1962 an die Werkstät­
ten weitergegeben (Wood 197s: 165).7 Ein vermeintlich lokales Netzwerk

6 1 STOL = Short Take-Off and Landing, VTOL = Vertical Take-Off and Landing
[Anm. d. Hg.].
7 1 In seiner definitiven Form hatte das vorgeschlagene Flugzeug eine Flugge­
schwindigkeit von Mach 0.9-1.r auf Meereshöhe und Mach 2.05 auf hoher Flughö­
he; einen Einsatzradius von rooo nautischen Meilen; einen Take Off mit 3000-
458 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON

der technischen Komponenten war spezifiziert worden. Alles, was noch zu


tun blieb, war, diese von Papier in Metall umzuwandeln.
11/.',:
Die Designs und die Designteams zu integrieren war nicht das einzige
1
1,:1 Integrations- und Kontrollproblem, dem sich die beiden Firmen gegen­
übersahen. Es gab auch noch die Frage, wie die Produktionsarbeit zuge­
wiesen werden sollte. Obwohl der Vertrag des »Ministry ofSupply« festleg­
te, dass die beiden Firmen die Arbeit zu gleichen Teilen aufteilen sollten,
wurde auch deutlich gemacht, dass »Vickers« derGeneralunternehmer war
und die gesamte Managementkontrolle übernehmen würde (Hastings
1966: 35; Williams/Gregory/Simpson 1969: 22). Dies führte zu Missstim­
mungen bei »English Electric«, die das Gefühl hatten, dass sie ihren eige­
nen Vertrag direkt vom Ministerium hätten bekommen müssen. Das Prob­
lem wurde durch die Verpflichtung zu einem bestimmten Entwicklungs­
ansatz noch verschlimmert. Die Prototypen und das Testflugzeug würden
auf dem Fertigungsband für die Hauptserie und nicht separat von Hand
gebaut werden. Der Ort des Fertigungsbandes musste deshalb vorher
festgelegt werden - und die diesbezüglichen Verhandlungen waren
schwierig (Gardner 1981: 32).

Beziehungen zwischen globalen und lokalen Netzwerken

Während das Design und die Schaffung eines lokalen Netzwerkes Fort­
schritte machten, gab es anhaltende Schwierigkeiten in der Interaktion
zwischen dem lokalen und dem globalen Netzwerk, das dem Ersteren zur
Existenz verholfen hatte. Wie wir bereits bemerkt haben, war das »Ministry
of Supply« im Prinzip bei der Beschaffung einem Waffensystem-Ansatz
verpflichtet - die gesamte Maschine einschließlich aller Avionik, Bewaff­
nung und anderer Subsysteme sollte als Ganzes geplant werden. Aus der
Sicht des Ministeriums hatte dieser Ansatz Implikationen für das Ma­
nagement:

»Da das Versagen nur eines Gliedes ein Waffensystem nutzlos machen könnte,
wäre es ideal, wenn die vollständige Verantwortung für die Koordination der ver­
schiedenen Komponenten des Systems bei einem Individuum liegen würde, beim
Designer des Flugzeugs.« (Supply ofMilitary Aircraft 1955= 9)

4000 Fuß auf unebenem Gelände; einen Aufstieg von 50.000 Fuß pro Minute ab
Meereshöhe; ein Abhebgewicht von 95.000 Pfund für eine Mission von 1000 nauti­
schen Meilen; eine Delta-Konfiguration der oberen Flügel mit großen Landeklappen,
jedoch ohne Kontrolloberflächen; ein großes Höhenleitwerk mit allseits beweglichen
vertikalen und horizontalen Oberflächen; zwei innen montierte Olympus-22R­
Triebwerke, einen internen Waffenschacht und eine interne Brennstoffkapazität von
5588 Gallonen.
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 459

Damit implizierte der Ansatz zentralisierte Kontrolle. Es wurde vorgeschla­


gen, dass eine einzige Örtlic��eit das lokale Netzwerk formen und mobili­
sieren sollte und dass diese Ortlichkeit Kontrolle über alle Transaktionen
zwischen den lokalen und globalen Netzwerken haben sollte. Sie sollte,
kurz gesagt, ein obligatorischer Passage-Punkt zwischen den beiden Netz­
werken werden.
Wie wir bemerkt haben, war »Vickers« tatsächlich zum Generalunter­
nehmer ernannt worden - und damit im Prinzip verantwortlich für die
Kontrolle des ganzen Projekts (Hastings 1966: 35; Williams/Gregory/
Sim pson 1969: 22). In der Praxis jedoch übertrug das »Ministry of Supply«
(später das Ministerium für Luft- und Raumfahrt) nicht alle Kontrollver­
antwortung auf »Vickers«. Das Projekt wurde eher von einer Vielzahl an
Komitees kontrolliert, in denen eine Auswahl verschiedener Agenturen
und Ämter präsent waren, aber beide waren nicht in der Position, alle
Aspekte des Projekts zu kontrollieren. Das Versagen des Managements der
neu gegründeten »British Aircraft Corporation« (BAC), sich selbst als
obligatorischen Passage-Punkt einzusetzen, führte zu einer Anzahl von
Beschwerden der Letzteren über Einmischung von außen. Diese fielen in
zwei Gruppen:

1. Akteure im globalen Netzwerk waren in der Lage, Entscheidungen zu


fällen oder (durch Veto) zu verhindern, die die Struktur des lokalen Netz­
werkes beeinflussten:
a) Viele der wichtigsten Verträge wurden direkt vom Ministerium ver­
geben; der Vertrag für die Triebwerke stellt einen solchen Fall dar. Das
Designteam war einstimmig der Meinung, dass dieser an »Rolls Royce«
vergeben werden sollte. Diese Empfehlung basierte auf dem Glauben, dass
eine Zusatzschub-Ausführung des RB 142R das für das Flugzeug notwen­
dige Schub-Gewichtsverhältnis anbot, leichter war und mehr Potenzial als
ein alternatives erweitertes Olympus-Triebwerk, hergestellt von »Bristol
Siddeley«, aufwies (Hastings 1966: 41; Wood 1975: 164). Das »Ministry of
Supply« hatte jedoch andere Ansichten, die offensichtlich aus seinem
Interesse an einer wirtschaftspolitischen Taktik der Zusammenführung
erwuchsen und bot den Vertrag trotz der Empfehlung »Bristol Siddeley« an
(Clarke 1965: 77; Gardner 1981: 29; Gunston 1974: 41; Williams/Gregory/
Simpson 1969: 21). Tatsächlich kontrollierte die BAC selbst nur etwa 30
Prozent der Projektausgaben (Gunston 1974: 67; Hastings 1966: 40).
b) Das »Air Staff« neigte dazu, Entscheidungen ohne Einbezug der
BAC zu treffen. Das Problem war hier, dass die RAF fortfuhr, ihre Vorstel­
lungen über die ideale Leistung und Fähigkeiten der TSR.2 zu entwickeln.
Diese Tendenz, Spezifikationen zu ändern, wurde durch die Tatsache un­
terstützt, dass Vertragspartner oft direkt mit dem »Air Staff« und dem
Ministerium für Luftfahrt verhandelten. Manchmal führten solche Diskus­
sionen zu Änderungen in der Spezifikation der Apparaturen, die bereits
460 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON

festgelegt worden waren (was die BAC zumindest glaubte). Ein Ergebnis
war, dass - zumindest aus der Sicht der BAC - der Fortschritt im Hinblick
auf eine Festlegung des Flugzeugdesigns behindert wurde (Hastings 1966:
144; Gardner 1981: I01; Williams/Gregory/Simpson 1969: 49).

2. In Anbetracht der Anzahl globaler Akteure, die das Recht hatten, ihre
Ansichten im Komitee auszudrücken, war es manchmal schwierig, eine
klare Entscheidung zu erreichen.
a) Es war oft unmöglich, eine schnelle Entscheidung von den verschie­
denen Regierungsstellen zu erhalten. Hastings (1966: 160) beschreibt den
Fall eines Navigationscomputers, der in die Verantwortlichkeit einer Firma
namens »Elliott Brothers« fiel. Die Spezifikation für diesen Computer war
sehr anspruchsvoll, und »Elliott« beschloss, dass die einzige Art, in der
dieser in der zugestandenen Zeit entsprochen werden konnte, war, den
Basisrechner von »North American Autonetics« zu kaufen. Das Ministeri­
um stimmte dem nicht zu, weil es die Grundlagenforschung für in der Luft
verwendete Digitalcomputer in den Jahren 1956/57 subventioniert hatte.
Schließlich akzeptierte das Ministerium » Elliotts« Sicht, aber die benötig­
ten Apparaturen waren komplex und der Preis hoch. Dies brachte die
Repräsentanten des Schatzamtes ins Spiel, die darauf bestanden, dass die
Entscheidung nach einem Jahr noch einmal überprüft würde. Die gesamte
Debatte verschleppte die Entwicklung des Computers und (so argumentiert
Hastings) fügte den Kosten weitere 750.000 Pfund hinzu.
b) Bei einer Anzahl von Gelegenheiten benutzte das Schatzamt seine
Position für den Versuch, das Projekt abzusagen oder zumindest seine
Kosten zu reduzieren, und es scheint kaum zweifelbar, dass eine anfängli­
che Verzögerung bei der Vergabe der Verträge teilweise eine Folge des
Widerstrebens des Schatzamtes war. Als die Struktur des Komitees 1963
weiter ausgebaut wurde, nahmen die Gelegenheiten zur Kostendiskussion
noch zu. Das »Projects Review Committee«, in dem das Schatzamt Einsitz
nahm, hatte tatsächlich keine Vertreter aus der Industrie (Hastings 1966:
38, Williams/Gregory/Simpson 1969: 82).
c) Die technischen Komitees trafen oft Entscheidungen, bei denen sie
relativ wenig an die Kosten dachten, während jene Komitees, die mit den
Kosten betraut waren, nur wenig Information über die technische Notwen­
digkeit der von ihnen untersuchten Aufgaben oder wenig Kompetenzen,
diese zu bestimmen, hatten (Hastings 1966: 35, Williams/Gregory/Simp­
son 1969: 22). Sicher erschien es so, dass die RAF optimale Leistung in
einer Art suchte, die sehr kostenintensiv war (Hastings 1966: 59-60). Die
Neigung des »Air Staff« zu Verzögerung wurde durch die Waffensystem­
Philosophie verstärkt sowie durch einen bestimmten Entwicklungsansatz -
wobei beide den Wunsch der RAF verstärkten, sich zu vergewissern, dass
das Design >absolut richtig< war, bevor es eingefroren wurde, weil es so
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 461

schwierig war, nach dem Erscheinen Modifikationen einzuführen (Willi­


ams/Gregory/Simpson 1969: 53).

Schwierigkeiten bei der Mobilisierung


eines lokalen Netzwerkes

Wir haben die Reaktion der »British Aircraft Corporation« auf die Tatsache
beschrieben, dass äußere Akteure ihr verweigerten, als obligatorischer
Passage-Punkt zwischen den globalen und lokalen Netzwerken des Projek­
tes zu fungieren. Das verstärkte Misstrauen zwischen dem Ministerium
und der BAC war gegenseitig. Das Ministerium begann zu glauben, dass
der Generalunternehmer in der Ausübung angemessener Management­
kontrolle versagte (Hastings 1966: 157; Williams/Gregory/Simpson 1969:
54). Es wurde im Besonderen angenommen, dass es keinen einzelnen
»Iran-Man«, keine einzelne Führungspersönlichkeit bei der BAC gäbe, um
das Projekt zu leiten (Wood 1975: 172), und an einem Punkt fühlte sich das
Ministerium gezwungen, die Firma sehr konkret mit dieser Ansicht zu
konfrontieren. Obwohl die Ansicht des Ministeriums nicht so gut doku­
mentiert worden ist wie die der BAC, ist sehr deutlich, dass für einen
Großteil der Zeitspanne nach 1959 keiner von beiden als obligatorischer
Passage-Punkt zwischen den lokalen und globalen Netzwerken fungierte;
es gab kontinuierliche >Lecks<, als die lokalen Akteure bei ihrem globalen
Gegenüber Lobbying betrieben, was den reibungslosen Ablauf des Projekts
beeinflusste und in einigen Fällen behinderte.
Tatsächlich präsentierte die Konstruktion des lokalen Netzwerkes viele
Probleme. Das vielleicht ernsteste von ihnen betraf die Triebwerke. In der
Rückschau ist klar, dass weder das Ministerium noch »Bristol Siddeley«
wussten, worauf sie sich einließen, als der Vertrag vergeben wurde. Das
Ministerium spezifizierte die Maschinen in sehr allgemeinen Begriffen
und man dachte zuerst, dass ihre Entwicklung eine ziemlich unkomplizier­
te Sache, eine Aufwertung eines existierenden Typs, der »Olympus«, sein
würde (Williams/Gregory/Simpson 1969: 27, 52). Es stellte sich heraus,
dass dem nicht so war. Das entwickelte Triebwerk hatte einen viel größeren
Schub als seine Vorgängerin und operierte bei weit höheren Temperaturen
und Druckbelastungen. Als es zuerst auf dem Prüfstand getestet wurde,
stellte sich heraus, dass seine gegossenen Rotorblätter zu brüchig waren
und es deshalb notwendig wurde, sie unter beträchtlichen - sowohl zeitli­
chen als auch finanziellen - Kosten durch geschmiedete zu ersetzen (Has­
tings 1966: 42; Gardner 1981: 104).
Dies war nicht die einzige Schwierigkeit, die »Bristol Siddeley« wider­
fuhr. Ernsthafte Probleme erwuchsen aus dem Zusatzschubsystem; es
erwies sich als unmöglich, das fertig montierte Triebwerk im Rumpf zu
1 1

f
,1
462 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON
,-,)'

installieren, und es gab auch eine Schwachstelle in der Verbindung zwi­


schen dem Haupttriebwerk und der Düse. Das ernsthafteste Problem
tauchte jedoch erst spät im Entwicklungsprozess auf. Nachdem das Trieb­
werk über 400 Stunden lang auf dem Prüfstand getestet worden war (Has­
.•
tings 1966: 43), wurde es Ende des Jahres 1962 in eine »Vulcan« einge­
baut. Am dritten Dezember rangierte dieses Flugzeug während der Boden­
tests in den BSE-Werken bei Filton in Bristol, als das Triebwerk explodier­
te, wobei es, wie Woods berichtet, »eine große Menge schwelender Trüm­
mer vor dem Fenster des Pressebüros der Firma hinterließ«. Das Flugzeug
war auf ein brennendes Wrack reduziert. Und obwohl die Besatzung geret­
tet wurde, wurde ein Feuerwehrauto, das den Flammen ohne angemessene
Vorsicht zu nahe kam, in das Inferno verwickelt (Gunston 1974: 56).
Innerhalb von 48 Stunden war klar, dass das Versagen von einem
Primärversagen der Tiefdruck-Kompressor-Antriebswelle verursacht wor­
den war. Nicht klar war jedoch, was dieses Versagen verursacht hatte.
»Bristol Siddeleys« Hypothese war, dass es an der Belastung lag, und man
ordnete eine Verdopplung der Wellendicke an. Zur selben Zeit ordneten
sie eine ausgiebige Testreihe an- ein weiteres, ausgefeilt mobilisiertes
Netzwerk von Akteuren-, um die Ursachen des Versagens zu untersu­
chen. Dies führte zu weiteren unvorhersehbaren und unerklärbaren Explo­
sionen. Schließlich wurde im Sommer 1964 die Ursache des Problems
diagnostiziert. Im ursprünglichen, unmodifizierten Triebwerk hatte sich
die Niedrigdruckwelle auf drei Lagern gedreht. Das Designteam hatte sich
jedoch darüber gesorgt, dass das mittlere dieser drei Lager bei hohen Ope­
rationstemperaturen Feuer fangen könnte; dieses Lager war deshalb ent­
fernt worden und dann war der Durchmesser der Welle erhöht worden,
um ihr ausreichende Festigkeit zu verleihen (Beamont 1968: 139; Hastings
1966: 43; Wood 197s: 174). Unter bestimmten außergewöhnlichen Um­
ständen hatte die Luft zwischen der Welle und ihrer Hochdrucknachbarn
auf einer Frequenz zu vibrieren begonnen, die mit der natürlichen Reso­
nanzfrequenz der Niedrigdruckwelle korrespondierte. Auch wenn man
eine Diagnose zur Hand hatte, würde eine Lösung weitere Finanzmittel
und Zeit erfordern. 8
Nicht alle Probleme des lokalen Netzwerkes betrafen die Triebwerke. Es
erwies sich auch als sehr schwierig, die Subunternehmer zu kontrollieren.
Wie wir bereits gezeigt haben, wendeten sich einige Subunternehmer über
den Kopf der BAC hinweg an das Ministerium, um günstige Entscheidun­
gen hinsichtlich der Kosten zu erwirken (Hastings 1966: 36; Gardner 1981:
101). Andere konspirierten mit dem »Air Staff«, um Apparaturen zu spezi­
fizieren, die unangemessen kompliziert waren. Von 1959 an- und sogar

8 1 Die Entwicklung des Triebwerks und die Detektivarbeit, die mit der Diagno­
se der Ursache seines Versagens verbunden war, werden bei Law (r992) detaiJliert
diskutiert.
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 463

rnehr noch ab 1962, als das politische Klima das Projekt zu unterminieren
begann - zweifelten viele Subunternehmer daran, ob das Flugzeug tatsäch­
lich fliegen würde. Dieses Gefühl war ein Resultat einer anderen Art von
Leck zwischen den lokalen und globalen Netzwerken - besonders das
Wissen, dass das Projekt mächtige Gegner in der Regierung hatte. Die
Subunternehmer suchten sich selbst zu schützen (und ihre Kosten inner­
halb jedes Vertrags zur Gänze zu decken), indem sie hohe Preise berechne­
ten, und sie neigten auch dazu, der Arbeit wenig Priorität beizumessen
(Beamont 1968: 143; Gardner 1981: 102; Williams/Gregory/Simpson 1969:
28). Zusätzlich gab es die Tendenz, eine breite Palette an Entwicklungs­
arbeit dem TSR.2 in Rechnung zu stellen, weil es das einzige fortgeschrit­
tene Militärflugzeugprojekt in Großbritannien war (Gunston 1974: 53;
Gardner 1981: 102). Jedenfalls war ein Großteil der Arbeit für eine vorgän­
gige präzise Kostenberechnung nicht brauchbar (Gunston 1914: 60; Willi­
ams/Gregory/Simpson 1969: 27, 51). Obwohl das Ziel von Ministerium
und der BAC war, nach Möglichkeit Festpreisverträge zu vergeben, wurde
dieses Ziel für viele der wichtigsten Arbeitsbereiche nicht erreicht, weil
unerwartete technische Probleme auftraten oder die Spezifikationen der
Apparaturen verändert wurden.

Das neu geformte globale Netzwerk

Die Konsequenzen des Versagens, ein befriedigendes lokales Netzwerk


aufzubauen, wurden auf vielfältige Weise spürbar. Der RAF war verspro­
chen worden, dass das TSR.2 1965 für den Geschwaderdienst zur Verfü­
gung stünde, aber es war ldar, dass dieser Termin erheblich überschritten
werden würde, nachdem die Triebwerke Mitte 1964 noch ungetestet wa­
ren. Dem Verteidigungsministerium war gleichermaßen eine unerlässliche
Waffe versprochen worden, die es ab 1965 in einem Krieg in Europa oder
dem Commonwealth einsetzen könnte. Sie würde nicht verfügbar sein.
Dem Schatzamt war ein billiges und vielseitiges Flugzeug versprochen
worden. Obwohl es der Wahrheit entspricht, dass die Schuld für die Über­
ziehung der Kosten beim Schatzamt selbst liegt, hatten sich 1963 die ver­
anschlagten Kosten des Flugzeuges nahezu verdoppelt. Die Marine, die
dem Projekt von Anfang an feindlich gegenüberstand, sah es immer grö­
ßere Teile des Beschaffungsbudgets verschlingen. 1963 sahen alle relevan­
ten Akteure des globalen Netzwerkes, ob sie mit dem Projekt sympathisier­
ten oder nicht, dass es in großen Schwierigkeiten steckte. Es versagte ganz
einfach darin, dem globalen Netzwerk die Vermittler zu liefern, die es
versprochen hatte, als ihm die Starterlaubnis erteilt worden war. Obwohl
die Daten der Tabelle I auf einer Vielzahl von Grundlagen basieren und
nicht in allen Fällen streng miteinander vergleichbar sind, illustrieren sie
ausreichend die allgemeine Tendenz.
�I!
1111
1:
464 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON
'1
'1

Tabelle 1: Geschätzte Kosten und Lieferdaten des TSR.2


Datum Entwicklung Produktion Gesamt
Januar 1959 f25-50 Mio. bis f200 Mio. bis [ 250 Mio.
Dezember 1959 f80-90 Mio.
(für 9 Flugzeuge)
Oktober 1960 f90 Mio. ca. f237 Mio. ca. [ 330 Mio.
(für 158 Flugzeuge)
März 1962 f137 Mio.
Januar 1963 f175-200 Mio.
November 1963 f400 Mio.
(gesamt, Ministe-
rium für Luftfahrt)
Januar 1964 f240-260 Mio.
Februar 1964 f 500 Mio.
(gesamt, Verteidi-
gungsministerium)
Januar 1965 f604 Mio.
(gesamt, Ministe-
rium für Luftfahrt)
f670 Mio.
(gesamt, Vertrags-

II
firmen) (For-
schung, Entwick-
111,
'1 lung und Produk-
1
tion von 150 Flug-
zeugen)

Obwohl diese Schwierigkeiten ernsthaft waren, bedeuteten sie jedoch nicht


1·,,'
·' notwendigerweise, dass das Projekt zum Scheitern verurteilt war. Falls die
1,
notwendigen Vermittler vom globalen Netzwerk erhalten werden könnten,
wäre es in der Lage, fortzufahren: Finanzen vom Schatzamt, Fachkenntnis­
se und Unterstützung von der RAF,_politische Unterstützung vom Vertei­
digungsministerium und spezialisierte Dienstleistungen von Abteilungen
,· wie dem »Royal Aircraft Establishment« - diese würden eine Fortsetzung
1
gestatten. Die RAF und der Minister, obwohl nicht notwendigerweise das
gesamte Verteidigungsministerium, blieben starke Unterstützer des Pro­
jekts. Durch die Verpflichtung der Regierung war es dem Schatzamt, der
Marine, aber auch den feindlichen Gruppierungen innerhalb des Verteidi­
gungsministeriums nicht möglich, das Projekt zu stoppen. Entsprechend
flossen die Mittel weiter. Mit dem Wissen bewaffnet, dass aus ihrer Teil­
nahme an den Verwicklungen von Regierungs- und Industrieausschüssen
stammte, waren die Skeptiker dennoch in einer starken Position, um das
Projekt durch indirekte Mittel zu unterminieren. Dies hieß, den Kampf in
eine größere Arena zu tragen.
Das Projekt war innerhalb eines Kontextes einer begrenzten Anzahl

;l1' 1,·
::11
jl,I
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS j 465

globaler Akteure konzipiert und geformt worden. Regierungsabteilungen,


die Armee, die Flugzeugindustrie- diese waren die relevanten Akteure, die
dem Projekt Leben und Gestalt gegeben hatten. Obwohl Bereiche der
Fachpresse gewisse Kenntnisse über das Projekt hatten, gab es wenig öf­
fentliche Stellungnahmen von Ministern. Bis 1963 war das Projekt in der
öffentlichkeit wenig bekannt. Das änderte sich jedoch nach und nach, als
neue Akteure zuerst etwas über das Projekt erfuhren und dann ihre Oppo­
sition anmeldeten.
Der wichtigste neue Akteur war die Labour-Partei, die ihre Opposition
zu >Prestigeprojekten< wie der »Concorde« und TSR.2 erklärte und ver­
sprach, sie zu prüfen, falls sie in den nächsten allgemeinen Wahlen wieder
an die Macht käme. In den frühen Tagen des Projekts waren die Ansichten
der Labour-Partei über das Projekt unwichtig und tatsächlich nur vage vor­
handen. Im Jahr 1963 begann sich das jedoch zu verändern. Die Labour­
Partei schnitt in den Meinungsumfragen sehr gut ab und eine allgemeine
Wahl stand spätestens im Oktober 1964 an. Die Flüsterpropaganda in der
Regierung und bei anderen Insidern sowie eine Reihe von Zugeständnis­
sen des Ministeriums für Luftfahrt und des Verteidigungsministeriums
hinsichtlich Verspätungen und eskalierender Kosten führten dazu, dass
das TSR.2 ab 1963 zum Gegenstand der politischen Kontroverse wurde.
Dieser Prozess wurde durch einen höchst dramatischen Rückschlag des
Projekts verstärkt - das Versagen, die australische Regierung davon zu
überzeugen, das TSR.2 für die Königlich-Australische Luftwaffe zu erwer­
ben. Im auffiammenden öffentlichen Interesse stimmten die Australier für
das rivalisierende Fn1, ein Flugzeug, das mit ähnlichen Spezifikationen
von der amerikanischen Firma »General Dynamics« gebaut worden war.
Obwohl die Aufsicht des Projekts in Whitehall blieb, vervielfachte sich
1963 die Anzahl der Akteure - einschließlich der Kritiker-, die in seine
Überwachung involviert waren. Die Kosten des Projekts waren im Novem­
ber 1963 offiziell mit 400 Millionen Pfund angegeben worden. Die Labour­
Opposition argumentierte jedoch, dass dies eine grobe Unterschätzung sei
und rückte die Summe näher an eine Milliarde heran, eine Schätzung, die
von der Regierung aufs Schärfste bestritten wurde (»The Times« vom 12.
November 1963: 5). Weiter argumentierte die Opposition, dass die Kosten
einer der Hauptgründe für den Entzug des australischen Auftrags waren,
ein Vorwurf, der von der Regierung vehement zurückgewiesen wurde, die
stattdessen angab, dass die fortwährende Mäkelei der britischen Kritiker
die Australier dazu geführt hatte, daran zu zweifeln, ob das Flugzeug über­
haupt jemals produziert werden würde (»The Times« vom 4. Dezember
1963: 7). Andere Kritiker vermuteten, dass das Flugzeug zu teuer für seine
Rolle und dafür, im Kampf risldert zu werden, geworden war; die »Times«
nahm an, dass es bei einem Preis von 10 Millionen Pfund pro Maschine
die »bisher teuerste Methode war, Brücken in die Luft zu sprengen« (28.
September 1964: ro).
466 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON

Weitere politische Unstimmigkeiten drehten sich um die Rolle des


Flugzeugs. Die Stornierung des britischen Raketensystems »Blue Streak«
im Jahr 1960 und die 1962 folgende Einstellung des amerikanischen
»Skybolt«, das das »Blue Streak« ersetzt hatte, führte bestimmte Kommen­
tatoren dazu, über die Möglichkeit zu spekulieren, das TSR.2 in einer stra­
tegischen atomaren Rolle einzusetzen. Diese Vermutung (die innerhalb der
Regierung immer als Möglichkeit betrachtet worden war) wurde vom Ver­
teidigungsweißpapier von 1963 aufgenommen und verursachte weitere kri­
tische Äußerungen sowohl von jenen, die das Gefühl hatten, das Flugzeug
sei weder ,Fisch noch Fleisch<, wie der » Times« und dem »Economist«, als
auch vom linken Flügel der Labour-Partei, die einer Politik der einseitigen
:11 atomaren Abrüstung verpflichtet waren. Andere wie z.B. Denis Healey, der
I
:I

! Sprecher der Labour-Partei in Verteicligungsangelegenheiten, schlossen,


dass dieser »strategische Bonus« nicht so sehr einen Wandel in der Spezi­
fikation des Flugzeugs repräsentierte, als vielmehr einen Versuch der Re­
1
gierung, ihre Hinterbänkler von der Stichhaltigkeit ihrer atomaren Vertei­
1
digungspolitik zu überzeugen (»Tue Times« vom 5. März 1963: 14). Die
Kontroversen betrafen auch die anhaltenden Verzögerungen des ersten
Testflugs. Healey stellte die symbolische Wichtigkeit des Jungfernflugs he­
raus, als er Anfang 1964 im Parlament behauptete, die BAC habe »die An­
ordnung erhalten, die TSR.2 vor der Wahl abheben zu lassen und dass dies
Priorität habe« (»Tue Times« vom 17. Januar 1964: 14). Obwohl er ein viel
zu professonieller Politiker war, um die konservative Regierung mit ihrer
angeblichen Inkompetenz einfach davonkommen zu lassen, war er auch
flexibel genug, um seine eigenen Möglichkeiten nicht zu beschneiden, in­
dem er versprechen würde, das Projekt zu beenden, sofern die Labour-Par­
tei die allgemeinen Wahlen gewinnen würde.

Endspiel

Im Herbst 1964 trat das Projekt in eine entscheidende Phase. Das lokale
Netzwerk war praktisch an Ort und Stelle: Das TSR.2 war - obwohl sehr
weit hinter dem Zeitplan zurück und mit überzogenem Budget - fast bereit
für seinen Jungfernflug. Aber die Struktur des globalen Netzwerkes hatte
sich verändert. Die Unstimmigkeiten waren nicht nur auf das Schatzamt,
die Marine, die Luftwaffe, das Ministerium für Luftfahrt und das Verteidi­
gungsministerium beschränkt (tatsächlich begannen einige dieser Stellen,
ihre Ansichten über das Projekt zu ändern). Der Disput war nun öffentlich
und die konservative Regierung hatte sich selbst fest und öffentlich zu
TSR.2 bekannt, während die Labour-Opposition, trotz der Vorbehalte ihrer
Position, den Kosten und dem Nutzen des Projekts im Allgemeinen höchst
kritisch gegenüberstand. Die Zukunft des Projekts hing also von zwei Fak­
toren ab. Zuerst war es wichtig, die technische Kompetenz des Projekts zu
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 467

demonstrieren - und der beste Weg, das zu tun, lag in einem erfolgreichen
ersten Flug. Dies würde die Position derer verstärken, die das Projekt
durchsetzen wollten. Zur selben Zeit war das Ergebnis der allgemeinen
Wahlen ebenfalls äußerst wichtig. Der Erfolg der Konservativen würde
wahrscheinlich die Zulamft des Projekts sichern. Ein Labour-Sieg würde es
in Frage stellen.
Der Jungfernflug fand nur gerade 18 Tage vor den allgemeinen Wahlen
statt. Roland Beamont, der Testpilot, beschreibt die ziemlich kleinlaute
Gruppe von Ingenieuren, Technikern, Managern und RAF-Personal, die
sich in »Boscombe Down« vor dem Flug versammelte. Die meisten wuss­
ten von der potentiell tödlichen Natur des Triebwerkproblems, was der
großen Menge hinter den Absperrungen nicht bekannt war, und sie wuss­
ten auch, dass, obwohl die Ursache diagnostiziert, das Problem nicht beho­
ben war. Tatsächlich war der Flug sehr erfolgreich, das Flugzeug ließ sich
gut steuern und es gab keinen Hinweis auf die destruktive Resonanz, die
die Triebwerke geplagt hatte. Im tobenden Wahlkampf beschrieb es der
Premierminister Sir Alec Douglas Hume als »glänzende Errungenschaft«
(Beamont 1968: 151). Das Flugzeug blieb dann einige Monate lang auf dem
Boden, um die Triebwerke zu modifizieren und geringere Probleme mit
dem Fahrgestell anzugehen.
Die allgemeinen Wahlen fanden am 15. Oktober statt. Das Ergebnis war
knapp und es wurde nicht vor dem nächsten Tag klar, dass die Labour-Par­
tei mit einer kleinen Mehrheit wieder zur Macht zurückgekehrt war. Als
Resultat eines großen Zahlungsbilanzdefizits nahm die neue Verwaltung
ihre Arbeit in einer Atmosphäre der Krise auf und sie beschloss, die Ver­
teidigungsausgaben auf 2 Milliarden Pfund zu begrenzen. Sie ordnete
auch eine detaillierte Prüfung der verschiedenen Militärflugzeug-Projekte
an und begann, die adäquate zukünftige Gestalt und Größe der Flugzeug­
industrie zu überprüfen (Campbell 1983: 79). Im Februar machte der neue
Premierminister Harold Wilson klar, dass die Zukunft von TSR.2 von vier
Faktoren abhängen würde: erstens von einer technischen Einschätzung des
Flugzeugs und seiner Alternativen; zweitens von der Tatsache, dass, ob­
wohl der Kauf eines alternativen Flugzeugs in Übersee 250 Millionen
Pfund einsparen würde, dieser auch eine beträchtliche Dollarausgabe be­
deutet; drittens von der zukünftigen Gestalt der Flugzeugindustrie und der
möglichen Arbeitslosigkeit, die aus der Einstellung des Projekts resultieren
würde; und viertens von der Art der Bedingungen, die mit der BAC ausge­
handelt werden könnten. 9

9 1 Im Januar erwog die Regierung ein Angebot der BAC, no Flugzeuge zu ei­
nem Preis von 575 Millionen Pfund herzustellen, wobei die Firma die ersten 9 Mil­
lionen Pfund als Defizitgarantie abdecken würde (Flight International 87, 2928, 22.
April 1965: 622). Sie nahm das Angebot primär nicht an, weil sie nicht alle zusätzli­
chen Verluste tragen wollte.
468 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON

Anfang April trafen sich die Sprecher der Hauptakteure im neu rekon­
struierten globalen Netzwerk - die Kabinettsminister, die für die Regie­
rungsabteilungen verantwortlich waren -, um eine Entscheidung zu tref­
fen. Sie erwogen drei mögliche Vorgehensweisen: mit dem TSR.2 fortzu­
fahren; das Projekt ersatzlos einzustellen; es zu beenden und durch das
ähnliche Fn1 (Crossman 1975: 191; Wilson 1971: 90) zu ersetzen. Das
Schatzamt blieb dem TSR.2 gegenüber feindlich und verfolgte entspre­
chend die Absetzung des Projekts. Obwohl es besorgt darüber war, dass der
Großeinkauf eines alternativen amerikanischen Flugzeugs wie des Fn1 er­
hebliche Dollarkosten verursachen würde, war es zu a_kzeptieren bereit,
dass eine Option für den Kauf dieses Flugzeugs gehalten werden sollte -
auf dem Verständnis beruhend, dass diese keine feste Verpflichtung impli­
ziert. Das Verteidigungsministerium war ebenfalls aus Kostengründen für
die Einstellung, und jene, die, wie z.B. die Marine, die Unterstützung an­
derer Projekte favorisierten, schlossen sich ihm an (Hastings 1966: 68,
70). Der Verteidigungsminister favorisierte den Kauf der Fu1, aber es gab
eine gewisse Unsicherheit, ob Großbritannien im Hinblick auf seine
schwindende Rolle in der Welt diesen Typ von Flugzeug wirklich brauchte
(Williams/Gregory/Simpson 1969: 31). Er war deshalb sehr zufrieden da­
mit, lediglich eine Option auf das amerikanische Flugzeug zu halten, statt
eine feste Bestellung aufzugeben.
Die Position des Verteidigungsministers reflektierte wahrscheinlich
teilweise eine Verschiebung in der Sichtweise des »Air Staff«. Die Kombi­
nation von Verzögerungen und Kostenüberzug zusammen mit der viel här­
teren ökonomischen Politik, die der neue Verteidigungsminister einführte,
hatte das »Air Staff« davon überzeugt, dass es höchst unwahrscheinlich
war, dass es eine komplette Produktion von 150 TSR.2 geben würde. Und
das hatte zu Zweifeln daran geführt, ob es möglich sein würde, solch eine
kleine Anzahl von teuren Flugzeugen in konventioneller Kriegsführung zu
riskieren. Für einige Offiziere wies das auf die Vorteile des Erwerbs einer
größeren Anzahl billigerer Flugzeuge hin, die flexibler eingesetzt werden
könnten. Hinzu kam noch, dass, obwohl die technischen Probleme des
TSR.2 lösbar schienen, sein Lieferdatum noch mindestens drei Jahre ent­
fernt lag. Weil das Fn1- mit den im Wesentlichen selben Spezifikationen
konstruiert-, bereits in Produktion war, empfand die RAF es als attraktive
Alternative (Reed/Williams 1971: 181).
Das Luftfahrtministerium war besorgt, dass die Entscheidung zur Ver­
schrottung des TSR.2 die zukünftige Fähigkeit der britischen Luftfahrtin­
dustrie, fortschrittliche Militärprojekte auszurichten, ernsthaft reduzieren
würde, und neigte dazu, die Einstellung, verbunden mit dem Kauf eines
britischen Ersatzes mit niedrigerer Leistung, zu favorisieren. Die meisten
Minister - einschließlich des Luftfahrtministers - glaubten jedoch, dass
dieser Industriezweig viel zu groß für eine mittelgroße Nation war. Das
wirkliche Problem bestand darin, dass eine politische Richtungsentschei-
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 469

dung über dessen zukünftige Gestalt und Größe noch nicht vorlag. Den­
noch kostete das TSR.2 über eine Million Pfund pro Woche, sodass weitere
Ver zögerungen der Einstellung finanziell nicht gerechtfertigt schienen.
Im Allgemeinen war die Regierung darüber beunruhigt, dass eine Ein­
stellung zu Arbeitslosigkeit führen würde. Mit einer knappen Labour­
Mehrheit im Parlament waren die Minister bestrebt, keine unnötige Unbe­
liebtheit zu erregen. Demgegenüber meinten die Minister, dass die resul­
tierende Arbeitslosigkeit größtenteils temporär wäre, dass viele von jenen,
die am TSR.2 gearbeitet hatten, schnell von anderen Firmen oder Projek­
ten aufgenommen werden würden.
Dennoch war die Entscheidung keinesfalls eindeutig: Es gab keine um­
fassende Mehrheit für eine der drei Optionen (Wilson 1971: 90). Eine An­
zahl von Ministern - hauptsächlich scheinbar jene, die nicht direkt betrof­
fen waren -wollte die Einstellung verschieben, bis eine langfristige Vertei­
digungsstrategie verabschiedet worden war (Crossman 1975: 190). Im
Großen und Ganzen wurden jedoch die, die das Projekt erhalten wollten,
zahlenmäßig von jenen übertroffen, die (mit oder ohne die F111-Lösung)
die Einstellung favorisierten, und die Offenheit der letztgenannten Ver­
pflichtung ermöglichte schließlich diesen beiden Gruppen, ihre Differen­
zen zu vergessen.
Die Einstellung des Projekts wurde vom Kanzler des Finanzministeri­
ums, James Callaghan, in seiner Ansprache zum Budget Day, dem 6. April
1965, verkündet. Das Ergebnis war politischer Aufruhr, als die Konservati­
ven ihren Ärger und ihre Frustration über die in ihren Augen verantwor­
tungslose und kurzsichtige Entscheidung zu artikulieren suchten. Am 13.
April wurde über einen Misstrauensantrag debattiert. Inmitten von Ankla­
ge und Gegenanldage schloss der Minister für Luftfahrt, Roy Jenkins, die
Debatte für die Regierung, indem er zustimmte, dass die TSR.2 eine groß­
artige technische Errungenschaft sei:

»Um jedoch ein Erfolg zu sein, müssen Flugzeugprojekte mehr als das sein. Sie
müssen kontrollierbare Kosten haben; sie müssen die Bedürfnisse des Landes zu
einem Preis erfüllen, den es sich leisten kann; sie müssen auf breiter Front wettbe­
werbsfähige Preise mit vergleichbaren, in anderen Ländern produzierten Flugzeu­
gen bieten, und sie müssen die Aussichten eines Überseemarkts haben, der den in
ihrer Entwicklung aufgewendeten Ressourcen entspricht. Aus allen diesen vier
Gründen muss ich bedauerlicherweise sagen, dass TSR.2 nicht ein Preisprojekt,
sondern ein Preisalbatros ist.« (Hansard, 13. April 1965= 1283)

Das Ergebnis der Debatte war ein haushoher Sieg für die Regierung: Es
sicherte eine Mehrheit von 26 Stimmen. Jede verbliebene Hoffnung der
Opposition, dass das Projekt irgendwie gerettet werden könnte, wurde zer­
schlagen, als Mitglieder der kleinen Partei der Liberalen mit der Regierung
stimmten.

i
I'
,i
470 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON

Fazit
In diesem Beitrag haben wir gezeigt, dass der Erfolg und die -Gestalt eines
Projekts, des TSR.2, wesentlich von der Schaffung zweier Netzwerke und
vom Austausch von Vermittlern zwischen diesen beiden Netzwerken ab­
hingen. Vom globalen Netzwerk kam eine Reihe von Ressourcen- Finan­
zen, politische Unterstützung, technische Spezifikationen und, zumindest
in einigen Fällen, feindliche Neutralität. Diese Ressourcen wurden dem
Projekt zugänglich gemacht und erzeugten, was wir einen Verhandlungs­
raum genannt haben. Dieser ist ein Raum und eine Zeit, innerhalb derer
ein lokales Netzwerk gebaut werden kann, das seinerseits eine Reihe von
Vermittlern erzeugen würde- jedoch am offensichtlichsten ein funktions­
fähiges Flugzeug-, die an die Akteure im globalen Netzwerk im Gegenzug
für deren Unterstützung zurückgegeben werden. Wir haben auch festge­
stellt, dass es im Fall des TSR.2-Projekts kontinuierliche Lecks zwischen
dem globalen und dem lokalen Netzwerk gab. Akteure im globalen Netz­
werk waren in der Lage, die Struktur und Gestalt des lokalen Netzwerkes
zu beeinflussen, während jene im lokalen Netzwerk die Projektleitung hin­
tergehen und direkt Akteure des globalen Netzwerkes konsultieren konn­
ten. Als Ergebnis war die Projektleitung nicht fähig, sich als obligatori­
schen Passage-Punkt zwischen den beiden Netzwerken einzusetzen, wor­
auf die vorher detailliert dargestellten Schwierigkeiten folgten.'0
Die von uns beschriebene Geschichte bietet weitere Beweise für ver­
schiedene wichtige Erkenntnisse der neuen Techniksoziologie. Zuerst il­
lustriert sie die interpretative Flexibilität von Objekten - die Art, in der sie
für verschiedene soziale Gruppen verschiedene Dinge bedeuten. Zweitens,
wie auch offensichtlich ist, repräsentiert sie ein weiteres Beispiel der sozia­
len Formung von Technik - besonders der Art, in der Objekte durch ihre
organisatorischen Umstände geformt werden (Pinch/Bijker 1987; Mac­
Kenzie/Wajcman 1985; Callon 1986; Law 1987; MacKenzie 1987; MacKen­
zie/Spinardi 1988; Alcrich 1994; Bijker 1994; Latour 1994). So haben wir
den Weg aufgezeichnet, auf dem das TSR.2-Flugzeug sowohl tatsächlich
als auch metaphorisch im Verlauf seiner Entwicklung seine Gestalt verän­
dert hat. Wir haben ebenso die Beziehungen zwischen diesen Veränderun­
gen und die Kompromisse, die eine Zeit lang zwischen den relevanten
menschlichen und nichtrnenschlichen Akteuren erwuchsen, aufgearbeitet;
Kompromisse, die, wie wir gesehen haben, keine endgültige Solidität er­
reichten, sondern die im Gegenzug als eine Folge der neuen Umstände in
den lokalen und globalen Netzwerken überarbeitet wurden.
Was wir also zurück im Jahr 1957 Flugzeug Nummer eins nennen könn­
ten, hatte im Denken des »Air Staff« oder des »Ministry of Supply« über-

10 1 Die Grenzen organisatorischer Macht werden bei Clegg (1989) hilfreich dis­
kutiert.
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 471

haupt keine physische Gestalt (vgl. Tabelle 2). Es war eher die Leistungs­
spezifikation - eine zu spielende Rolle - und einige der Umstände, in de­
nen es erbaut werden sollte. Diese Rolle reflektierte ihre Ansichten da­
rüber, was von anderen relevanten Akteuren akzeptiert würde. Die RAF
wollte also ein Flugzeug zum Luftkampf, aber das Verteidigungsministe­
rium hatte eine Sicht der Zukunft, die weder für einen strategischen Bom­
ber noch für einen Fighter Raum ließ. Ein taktischer Bomber und Aufklä­
rungsflugzeug war die einzige verbleibende Möglichkeit - ein Flugzeug,
das spezifische, nicht-strategische Rollen in Europa und in britischen
Schutzgebieten in Übersee spielen würde. Im Gegensatz dazu war das
Schatzamt relativ uninteressiert an der Verteidigung der westlichen Alli­
anz. Viel wichtiger war angesichts immer kostspieligerer Militärtechnik die
Verteidigung des öffentlichen Geldbeutels. Entsprechend wollte es kein
Flugzeug oder (2. Option) ein existierendes Flugzeug, oder falls das nicht
möglich war (3. Option), nicht mehr als einen neuen Flugzeugtyp. Die RAF
urteilte, sie könnte das Schatzamt auf seine Rückzugsposition drängen,
also antwortete sie mit der Spezifikation eines einzelnen vielseitigen Flug­
zeugs. Die Marine hatte eine klare Meinung zu den Verteidigungsbedürf­
nissen, aber sie sah diese in ihrer eigenen, ziemlich anderen, flugzeugträ­
gerorientierten Sichtweise. Entsprechend wollte sie, dass die RAF eine
Version ihres kleinen Unterschall-»Buccaneers« beschaffte. In einem nega­
tiveren Sinne war das ein starker Anreiz für die RAF, den Bedarf an einem
großen Überschallflugzeug, das von seinem Marine-Konkurrenten qualita­
tiv verschieden war, zu bekräftigen. Das »Ministry of Supply« wollte ein
Flugzeug, das von einem Konsortium von Firmen statt von einer einzigen
gebaut werden würde.
Obwohl es riskant war, schätzte das »Air Staff« die Dinge richtig ein,
und das für dieses Schatten-Flugzeug Nummer eins erforderliche Netzwerk
wurde stabilisiert. Das Resultat war Flugzeug Nummer zwei - dieses Mal
eines, das zumindest auf dem Papier eine physische Gestalt hatte. Diese
Gestalt war teilweise eine Funktion des globalen Netzwerkes der oben er­
wähnten institutionellen Akteure. Aber viele andere Akteure, Überlegun­
gen und Verhandlungen halfen, das Design zu strukturieren. Die Gestalt
der Flügel repräsentierte einen Kompromiss zwischen den anspruchsvol­
len Spezifikationen, die die RAF forderte, auf der einen Seite, und Design­
kompetenz, Aerodynamikkenntnis, Materialstärke und der Praxis von
Windkanaltests auf der ander�n. Wie konnte man eine kurze Abheb- und
Landestrecke mit einer Höhenflugkapazität von Mach 2.5 und einer niedri­
gen Flughöhe und niedriger Fallwinddynamik kombinieren? Die Tragflä­
che war die physische Antwort auf diese Frage. Sie repräsentierte einen
Kompromiss zwischen diesen verschiedenen Überlegungen. Sie repräsen­
tierte aber auch einen Kompromiss zwischen den Designerteams von
»English Electric« und »Vickers« - wobei »English Electric« die Oberhand
hatte. Ähnliche Überlegungen - wiederum zugunsten von »English Elec-
472 1 JOHN LAW UND MICHEL CALLON

tric« - führten zu einer Entscheidung über die Platzierung der Triebwerke.


Diese, so wurde beschlossen, würden im Rumpf liegen, um die Oberflä­
chen der Tragflächen freizuhalten und übermäßige differentiale Triebkräf­
te im Fall des Versagens eines einzelnen Triebwerks zu vermeiden - und
das trotz der potentiellen Feuergefahr, über die das »Vickers«-Te.am sich so
sorgte. Es ist möglich, durch das Flugzeug zu fahren und dabei die Gestalt
jedes Systems als einen physischen Kompromiss zwischen der Spezifika­
tion, den Designteams und einer Reihe von Inputs von Aerodynamik bis zu
den Ansichten der Experten beim »Royal Aircraft Establishment« zu erklä­
ren.
Man kann jetzt argumentieren, dass Flugzeug Nummer zwei aus Flug­
zeug Nummer eins hervorgegangen ist. Mit Sicherheit halfen viele Be­
schränkungen und Ressourcen, die Nummer eins Gestalt verliehen, auch
bei der Formung von Nummer zwei. Der Prozess ist jedoch keine uniline­
are Entwicklung. Flugzeug Nummer zwei war nicht einfach das >Auspacken<
einer Reihe von Implikationen, die in Flugzeug Nummer eins eingebaut wa­
ren. Flugzeug Nummer eins hatte eine Reihe von Problemen, zu denen es
viele verschiedene Lösungen gab. Flugzeug Nummer zwei präsentierte ge­
wisse Lösungen für diese Probleme - Kompromisse, die von zahlreichen
vorherigen Akteuren ausgehandelt worden waren. Oder zumindest in eini­
gen Fällen repräsentierten sie die Weigerung, die von GOR 339 gestellten
Probleme zu akzeptieren, wie es am offensichtlichsten am Beispiel der
kurzen Abhebe- und Landeanforderungen der Fall war, in denen die gege­
benen Regeln des Tragflächenverhaltens die Wünsche des »Air Staff«
überstimmten. In diesem Fall sehen wir (wenn überhaupt irgendetwas) das
Gegenstück zur sozialen Formung von Technik: Es war das Technische,
um das herum das Soziale gebeugt wurde.
Wenn aber das Flugzeug Nummer zwei eher eine Übersetzung als eine
einfache Weiterentwicklung von Flugzeug Nummer eins darstellt - eine von
einer Reihe von Kompromissen zwischen einer Reihe verschiedener Ak­
teure gestaltete Übersetzung -, dann ist die Metamorphose bei Flugzeug
Nummer drei sogar noch deutlicher. Dieses, besser bekannt als F1n, nahm
allmählich nach den allgemeinen Wahlen Gestalt an. So verfolgten wir die
Veränderungen, die unter vielen der wichtigsten Akteure nach Oktober
1964 stattfanden. Das Schatzamt verhängte rigorose Sparmaßnahmen und
drückte seine extreme Sorge über die ständig steigenden Kosten, die kleine
Produktion und die fehlenden Aussichten auf Auslandsexporte des TSR.2-
Projekts aus. Das Luftfahrtministerium strebte die Bildung einer kleineren
und besser angepassten Flugzeugindustrie an. Das Verteidigungsministe­
rium war nicht nur in der Kostenbeschneidung, sondern auch in eine Ver­
teidigungsprüfung involviert, die zu einer Einstellung vieler britischer Ver­
antwortlichkeiten in Übersee führen und damit Teil der Argumentation
um TSR.2 werden könnte. Das »Air Staff« war zunehmend besorgt, dass
sie nicht die volle Anzahl von 140 TSR.2 erhalten würden. Aus ihren unter-
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS j 473

schiedlichen Beweggründen waren alle von ihnen bereit, mit mehr oder
weniger Begeisterung, TSR.2 einzustellen und eine Option auf das Fn1 an­
zunehmen. Entsprechend war das Projekt für ein taktisches Schlag- und
Aufklärungsflugzeug durch die Beziehungen zwischen den involvierten
Akteuren noch einmal überarbeitet worden und mit dieser Umformung
hatte das im Zentrum des Projektes liegende Objekt noch einmal eine Me­
tamorphose durchlaufen. Diese Umformung wird in Tabelle 2 auf der fol­
genden Seite zusammengefasst.
So viel zur Formung und Umformung von TSR.2." Aber wie sollten
wir solch eine »Übersetzungsbahn«12 beschreiben? Hier liegt nun also un­
ser drittes Anliegen. Können wir, wenn Technik interpretativ flexibel ist,
wenn sie von ihren Kontexten geformt wird, aber auch die Letzteren formt,
überhaupt etwas Allgemeines über die kontingenten und iterativen Prozes­
se, die sie erzeugten, sagen? Wie wir bereits in der Einleitung angedeutet
haben, besteht unsere Antwort darin, ein Netzwerk-Vokabular einzusetzen
und besonderen Gebrauch von den Konzepten des globalen und lokalen
Netzwerkes und dem obligatorischen Passage-Punkt zu machen. Unser Vor­
schlag ist, dass die Gestalt und das Schicksal technischer Projekte als eine
Funktion von drei miteinander verbundenen Faktoren zu betrachten sind.
Der erste Faktor ist die Fähigkeit eines Projekts, ein globales Netzwerk
aufzubauen und zu erhalten, das eine Zeit lang verschiedenartige Ressour­
cen in der Erwartung einer schließlichen Rückgabe bereitstellt. Festzustel­
len ist, dass die erfolgreiche Konstruktion eines globalen Netzwerkes eine
spezifische und wichtige Konsequenz hat: Es bietet den Projektkonstruk­
teuren einen Grad an Privatheit, um ihre Fehler im Privaten und ohne
Einmischung zu machen - es bietet einen Verhandlungsraum (vgl. Callon/
Law 1989). Im Idealfall erhält der Projektkonstrukteur einen Grad an Au­
tonomie in seinen Versuchen, eine Rückgabe zu generieren. Er erhält auch
- wieder im Idealfall - sowohl vollkommene Kontrolle über als auch Ver­
antwortlichkeit für diese Versuche.
Der zweite Faktor ist die Fähigkeit des Projekts, ein lokales Netzwerk zu
bauen und dabei die vom globalen Netzwerk bereitgestellten Ressourcen
zu verwenden, um schließlich den Akteuren im globalen Netzwerk eine
materielle, wirtschaftliche, kulturelle oder symbolische Rückgabe anzubie-

11 1 Obwohl es außerhalb dieser Erzählung liegt, durchlief das Flugzeug 1967


eine weitere Formveränderung, als die F1n eingestellt wurde. An diesem Punkt be­
trat Flugzeug Nummer vier - eine weitere Version des »Buccaneer« - die Szene.
12 1 Der Begriff der »Übersetzungsbahnen« ist natürlich ironisch. Übersetzun­
gen sind das Produkt kontinuierlicher Verhandlungen. Sie sind genau nicht das Re­
sultat eines an ihrem Ursprungspunkt übermittelten Schwunges. Wir verwenden
diesen Begriff, um auf die Art hinzuweisen, in der unsere Interessen die von Bah·
nentheoretikem überlappen (vgl. beispielsweise Sahal 1981; Dosi 1982; Nelson/Win­
ter 1982), die jedoch eine verschiedenartige Analyse technischen Wandels anbieten.
474 j JOHN LAW UND MICHEL GALLON

Tabelle 2: Drei Flugzeuge


Gestalt Interessierte Gegner Neutrale Akteure
Akteure (+ Definition des
(+ Definition des Flugzeugs)
Flugzeugs)
I Langstrecken; RAF: Marine:
Überschall; Bomber; »Buccaneer«
niedrige Flughö- innerhalb und Schatzamt:
he; außerhalb Euro- billig, vielseitiger
STOL; pas; »Buccaneer«?
allwettertauglich; verteilt;
groß Präzisionsbom-
bardierung/
Aufklärung
Verteidigungs-
rninisterium:
kein strategischer
Bomber
2 Flügelform; RAF: Marine: Labour Party:
Delta; groß, Doppel- (blockiert) wissen von nichts
schmal; triebwerk, vielsei- Schatzamt:
zwei Hochleis- tig; (blockiert)
tungstriebwerke; TSR-Flugzeug;
Hochauftriebs- STOL;
system; Langstrecken;
Triebwerke im Verteidigungs-
Rumpf; rninisterium:
Doppeltriebwerke; TSR-Flugzeug
integrierte Treibs- BAC:
toffianks STOL ist
schwierig;
VTOL unmöglich
3 Option auf Fnr BAC: RAF:
TSR.2 abgebro- 140 kaufen billigeres, sichere-
chen Conservative res Flugzeug
Party: kaufen
TSR.2 ist wesent- Verteidigungs-
lieh ministerium:
Gewerkschaften: billigeres Flug-
Erhaltung von zeug kaufen
Arbeitsplätzen Schatzamt:
Ausgabendach;
Überseeausgaben
begrenzen
Marine:
Bucaneer
anpassen
Ministry of
Aviation:
billigere UK Flug-
zeuge kaufen
Labour Party:
abbrechen
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 475

ten. Weniger formell ausgedrückt ist das die Fähigkeit zu experimentieren,


Dinge auszuprobieren und sie erfolgreich zusammenzusetzen. Es ist auch
die Fähigkeit, was auch immer produziert worden ist, zu kontrollieren und
es zurückzuführen und auf diese Weise die Vereinbarungen zu erfüllen,
die mit anderen Akteuren im globalen Netzwerk eingegangen worden sind.
Der dritte Faktor, den die ersten beiden mit sich bringen, ist die Fähig­
keit des Projekts, sich selbst als obligatorischer Passage-Punkt zwischen
den beiden Netzwerken einzusetzen. Wenn es dazu nicht in der Lage ist,
hat es r. keine Kontrolle über die Verwendung der globalen Ressourcen, die
als Resultat falsch verwendet oder zurückgenommen werden können, und
2. ist es unfähig, im globalen Netzwerk Verantwortung für jeden Erfolg,
der tatsächlich im lokalen Netzwerk erreicht wird, zu beanspruchen. Es ist,
kurz gesagt, nicht in der Position, vom lokalen Netzwerk zu profitieren.
Es ist festzustellen, dass die Objekte und Akteure sowohl im globalen als
auch im lokalen Netzwerk heterogen sind. Im Fall von TSR.2 erwähnten
wir eine Anzahl wichtiger institutioneller Akteure in der Form von White­
hall-Ministerien. Wir haben aber auch geopolitische Faktoren (die vermut­
lichen Interessen einer Reihe von Nationalstaaten) und technischen Wan­
del (der Fortschritt von Geschoss- und Flugzeugabwehrtechnik) berührt.
Und wir hätten auch genauso gut die Rolle solcher natürlich auftretender
Charakteristika wie vorherrschende Winde (sie waren von größter Wichtig­
keit in den Berechnungen von Überführungsreichweiten), Terrainquer­
schnitte (die in die Kalkulation von Risiken im Zusammenhang mit Flie­
gen in niedriger Höhe eingingen) oder solche menschlichen, geographi­
schen - aber globalen - Überlegungen wie die Verfügbarkeit und Vertei­
lung von Landebahnen unterschiedlicher Länge betrachten können.
Wenn aber globale Netzwerke heterogen sind, dann sind lokale das
auch. Das TSR.2-Projekt mobilisierte institutionelle Akteure in der Form
von Unternehmern, Subunternehmern und speziellen Behörden wie dem
Institut für Luftfahrtmedizin. Es mobilisierte zehntausende von Zeich­
nern, Designern, Marketingpersonal und Monteuren. Es involvierte die
Nutzung einer großen Menge an hochqualifiziertem Wissen in Form von
wissenschaftlichen und technischen Fachkenntnissen und eine große
Menge gleichermaßen wichtigen Produktionswissens und Fertigungskom­
petenzen. Und es involvierte zahllose maschinelle Werkzeuge, Vorrichtun­
gen, Motorfahrzeuge, Verfolgerflugzeuge und Prüfstände - nicht zu er­
wähnen die ehrfurchtgebietende Menge an Papieraufwand in Form von
Zeichnungen, Instruktionen, Führungsdiagrammen, Broschüren, Ver­
kaufsprospekten, Karten und Werbeunterlagen.
Wenn die Elemente, die die globalen und lokalen Netzwerke bilden,
heterogen sind, ist das Ausmaß ihrer Verlässlichkeit ebenfalls problema­
tisch: Der Grad, bis zu welchem sie mobilisiert werden können, ist varia­
bel, umkehrbar und kann in letzter Instanz nur empirisch festgestellt
werden. In anderen Worten ist das Ausmaß, in welchem es einem Projekt
r!
l
'i , 476 1 JOHN LAW UND MICHEL CALLON
1

Abbildung 1: Stark und schwach mobilisierte Netzwerke

lokales Netzwerk Globales Netzwerk


1

z
starke externe Bindung
starke interne Mobilisierung
starker obligatorischer Passage-Punkt

i: 1

1,
schwache externe Bindung
1
schwache interne Mobilisierung
1111
1 : 11

1 1
schwacher obligatorischer Passage-Punkt

:,I1"I II

möglich ist, seine zwei Netzwerke und die Art ihrer Beziehung zu kontrol­
lieren, problematisch, und es ist der Grad und die Form der Mobilisierung
1 der zwei Netzwerke und die Art, in der sie verbunden sind, die sowohl den
Trajektor als auch den Erfolg des Projekts bestimmen (Abb. 1).
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 477

Wenn man sich auf die zwei Netzwerke konzentriert, ist es möglich,
jedes Projekt in einem zweidimensionalen Graphen abzubilden, bei dem
die X-Achse den Grad der Mobilisierung der lokalen Akteure (Kontrolle
über das lokale Netzwerk) und die Y-Achse das Ausmaß, in welchem exter­
ne Akteure verbunden sind (Kontrolle über das globale Netzwerk), misst.
Weiter ist es möglich, die Übersetzungsbahn jedes Projekts zu beschreiben
(Abb. 2).

Abbildung 2: Mobilisierung lokaler und globaler Netzwerke

Hoch
1 � Grad der Bindung von Akteuren
im globalen Netzwerk

starkes, unverzichtbares Projekt

Niedrig <E�-----------1-----------::::.� Hoch


Grad der Mobilisierung
von Akteuren
im lokalen Netzwerk
schwaches, desintegrierendes Projekt

\/
Niedrig

Im Fall von TSR.2 begann das Projekt im Zentrum des Diagramms und
stieg auf der vertikalen Achse, da es sein Produkt vom »Buccaneer« (A) ab­
zugrenzen bestrebt war. Dann, als die Führungsstrukturen ausgearbeitet
worden waren, bewegte es sich die X-Achse entlang nach rechts (B), und
diese Tendenz wurde gestärkt, als die beiden vorherigen Designteams sich
auf ein Design einigten und diese im Gegenzug die Formierung eines ein­
zigen, vereinigten Designteams (C) ermöglichten. Diese Position blieb je­
doch nicht erhalten. Nach und nach, als die Subunternehmer sich nicht
integrierten und in einigen Fällen direkt mit der RAF interagierten, sank
der Grad, zu welchem das Projektmanagement das innere Netzwerk mo­
nopolisierte (D). Dieser Prozess erreichte seinen Tiefstpunkt, als die Nied­
rigdruckwelle des Triebwerks auseinander fiel und das Triebwerk explo-
478 1 JOHN LAW UND MICHEL GALLON

dierte (E), und die Australier sich entschieden, die Fn1 (F) zu kaufen. Nach
vielen Reparaturarbeiten fand der erfolgreiche Jungfernflug statt und ein
Grad an Kontrolle über das lokale Netzwerk wurde zurückgewonnen (G).
Entsprechend bewegte sich das Projekt zurück in den Quadranten 1. Je­
doch: Mit wechselnden politischen Umständen und der Verfügbarkeit des
Fnr kehrte es in diesen Quadranten an einer tieferen Position an der
Y-Achse zurück. Schließlich wurde mit der Wahl einer Labour-Regiemng
das Frn als eine realistische Alternative betrachtet und das Projekt rutschte
hinunter in den Quadranten 4 (H). Mit der Einstellung des Projekts schloss
es mit einem vollständigen Verlust der Kontrolle über das lokale Netzwerk;
auf diese Weise endete es am niedrigsten Punkt im Quadranten 3 (I) (vgl.
Abb. 3).

Abbildung 3: Der Trajektor des TSR.2

Hoch
Grad der Bindung von Akteuren
im globalen Netzwerk
C

Niedrig�--1----�;,--�-----�Hoch
Grad der Mobilisierung von Akteuren
im lokalen Netzwerk

Niedrig

Die hauptsächlichen Wendepunkte im Trajektor des Projekts können als


eine Tabelle von Wahlmöglichkeiten und Konsequenzen dargestellt werden
(vgl. Tabelle 3).
LEBEN UND STERBEN EINES FLUGZEUGS 1 479

Tabelle 3: Wahlmöglichkeiten und Konsequenzen


Ereignis/ Lokale Globale
Entscheidungen Konsequenzen Konsequenzen
A Ein neues Flugzeug zu Design benennen Marine und Schatzamt
bauen blockiert
B Benennung des General- Waffen benennen Intervention von außen
unternehmers minimieren
C Entscheidung über Entwicklung von Pro- Finanzierung sicherstel-
Design duktionseinrichtungen len
D Auswahl des Generalun- Generalunternehmer Direkte Interventionen
ternehmers unterstützen unterminieren der RAF gestatten
E Zerstörung von Verzögerung, Mobilisie- Ausgaben und verstärkte
Triebwerken rung neuer Teams und Skepsis
Einrichtungen
F Australische Zunehmende Skepsis Zunehmende Politisie-
Kaufentscheidung bei den Subunterneh- rung des Projekts
mern
G Jungfernflug Technisches Vertrauen Stärkt Befürworter des
in das Flugzeug und Projekts
Unternehmer
H Labour-Partei gewinnt Zweifel bei den Subun- Stärkt Gegner des Pro-
die Wahl ternehmern nehmen zu jekts
I Einstellung Auflösung des Projekts Option, die Frn zu kau-
fen

Wir schließen mit dem Gedanken, dass die Trajektoren technischer Projek­
te kontingent und iterativ sind. Manchmal kann ein Projekt oder eine
Technik sich sicherlich in einer Weise vorwärts bewegen, die mit der ste­
reotypen Repräsentation des Prozesses von Forschung und Entwicklung
übereinstimmt. Es besteht jedoch keine Notwendigkeit zu einem solchen
Fortschritt. Wenn alles reibungslos funktioniert, ist das der Fall, weil die
Kontingenz in dieser Weise operiert. Die Art von unberechenbarem Pro­
zess, den wir beschrieben haben, ist weit wahrscheinlicher - obwohl solche
Kontingenzen oft in Geschichten verborgen sind, die die Notwendigkeit
des Erfolgreichen nach dem Ereignis feiern (vgl. Bowker 1994).
Unser Ziel ist es jedoch, über die Annahme hinaus zu gehen, Resultate
seien bloß kontingent. Obwohl das richtig ist, ist dies nicht sonderlich hilf­
reich, außer wir geben uns damit zufrieden, spezifische Fallstudien zu
sammeln. Unser Ziel ist es eher, Muster in den Fallstudien zu suchen. Wir
glauben, dass der Fall des TSR.2 - wie eine Anzahl anderer Fälle auch -
vermuten lässt, dass ein wesentlicher strategischer Zug im Aufbau vieler,
vielleicht aller Soziotechnik darin besteht, eine Untersc,heidung zwischen
innen und außen, zwischen >hinter der Bühne< und >auf der Bühne< zu
schaffen. Die Methoden und Materialien, um solche Verhandlungsräume
480 1 JOHN LAW UND MICHEL CALLON

hinter der Bühne zu bauen und sie mit der Hauptbühne zu verbinden, sind
vielfältig - und wie der Fall des TSR.2 zeigt, sind sie sicher nicht allein eine
Folge der Strategie. Wir verwenden die Metapher eines Netzwerkes, weil
wir eine neutrale Art und Weise benötigen, um über die Barrieren zu spre­
chen, die für eine Zeit lang das nahtlose Gewebe der Soziotechnik gestalte­
ten.

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Über technische Vermittlung:

Philosophie, Soziologie und Genealogie

ßRUNO LA.TOUR

Nach Daedalus' Entkommen aus dem Labyrinth verwendete Minos, Apol­


lodorus zufqlge, eine von Daedalus' eigenen Listen, um sein Versteck zu
finden und Rache zu nehmen. Der verkleidete Minos ließ nah und fern
sein Angebot einer Belohnung an jeden verkünden, der einen Faden durch
das gewundene Gehäuse einer Schnecke fädeln könne. Daedalus, der sich
am Hof von König Cocalus versteckt hielt und nicht ahnte, dass es sich bei
diesem Angebot um eine Falle handelte, brachte das Kunststück fertig,
indem er Ariadnes List imitierte: Er befestigte einen Faden an einer Amei­
se und brachte sie dazu, nachdem er sie durch ein Loch an der Spitze in
das Gehäuse eindringen ließ, ihren Weg durch dieses winzige Labyrinth zu
suchen. Triumphierend beanspruchte Daedalus seine Belohnung, aber
König Minos verlangte ebenfalls triumphierend Daedalus' Auslieferung
nach Kreta. Cocalus ließ Daedalus im Stich; dennoch gelang es dem Raffi­
nierten mit der Hilfe von Minos' Tochter, das heiße Wasser aus Rohren,
die er im Palast eingebaut hatte, umzuleiten, sodass es wie zufällig auf den
in seinem Bad sitzenden Minos fiel. (Der König starb, gekocht wie ein Ei.)
Nur für einen kurzen Moment konnte Minos seinen Meisteringenieur
überlisten - Daedalus war seinen Rivalen immer eine List, eine Machen­
schaft voraus.

Im Mythos des Daedalus weichen alle Dinge von der geraden Linie ab. Der
direkte Pfad der Vernunft und der wissenschaftlichen Erkenntnisse - die
Episteme - ist nicht der Pfad jedes Griechen. Das clevere technische
Know-how von Daedalus ist ein Beispiel für metis, für Strategie, für die Art
von Intelligenz, für die Odysseus (von dem die Bias sagt, er sei polymetis,
484 1 BRUNO LATOUR

viellistig) berühmt war.' Keine unvermittelte Handlung ist möglich, wenn


wir einmal den Bereich der Ingenieure und Handwerker betreten haben.
Ein daedalion ist im Griechischen etwas Gekrümmtes, von der geraden
Linie Abweichendes, kunstvoll, jedoch unecht, schön · und gekünstelt.
Daedalus ist ein Erfinder von Apparaten: Statuen, die lebendig zu werden
scheinen, Militärroboter, die über Kreta wachen, eine antike Version von
Gentechnologie, die Poseidons Stier befähigte, Pasiphae mit dem Minotau­
rus zu schwängern - für den er das Labyrinth baute, von dem aus er, über
eine andere Reihe von Maschinen, es schaffte, zu entkommen, wobei er
seinen Sohn Ikarus verlor - verschmäht, unentbehrlich, kriminell, stets im
Streit mit den drei Königen, die ihre Macht aus seinen Machenschaften
zogen. Daedalus ist unser bestes Eponym für Technik - und der Begriff
daedalion unser bestes Werkzeug, um die Entwicklung der Zivilisation zu
durchdringen. Sein Pfad führt durch drei Disziplinen: Philosophie, Sozio­
logie und Genealogie.

Philosophie

Um Techniken - technische Mittel - und ihren Platz in der Gesellschaft zu


verstehen, müssen wir so gewitzt wie die Ameise sein, an der Daedalus
seinen Faden befestigte. Die geraden Linien der Philosophie nützen nichts,
wenn es darum geht, das verschlungene Labyrinth der Maschinerie und
der Machenschaften, der Artefakte und daedalia zu erforschen. Ich finde es
überraschend, dass Heideggers Interpretation von Technik als die tief­
gründigste Interpretation durchgeht (vgl. Heidegger 1977, 2000). Um ein
Loch in die Spitze des Gehäuses zu schneiden und meinen Faden zu zie­
hen, muss ich im Gegensatz zu Heidegger definieren, was Vermittlung im
Bereich der Technik bedeutet.
Für Heidegger ist Technik niemals ein Instrument, ein bloßes Werk­
zeug. Bedeutet das, dass Techniken Handlungen vermitteln? Nein, weil wir
selbst zu keinem anderen Zweck als der Instrumentalisierung selbst In­
strumente geworden sind. Männer - bei Heidegger niemals Frauen - sind
von der Technik besessen, und es ist eine vollkommene Illusion zu glau­
ben, dass wir sie meistern könnten. Im Gegenteil: Wir sind in dieses Gestell
eingefügt, das selbst wiederum eine Form der Entbergung des Seins ist. Ist
Technik der Wissenschaft und der reinen Erkenntnis untergeordnet? Nein,
weil sie - für Heidegger - weit davon entfernt ist, als angewandte Wissen­
schaft zu dienen, dominiert die Technik alle, sogar die rein theoretischen
Wissenschaften. Indem sie die Natur rationalisiert und verfügbar macht,

1 1 Bezüglich des Daedalus-Mythos folge ich dem bemerkenswerten Buch von


Frontisi-Ducroux (1975).
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 485

spielt die Wissenschaft der Technik, deren einziger Zweck es ist, die Natur
endlos zu rationalisieren und verfügbar zu machen, in die Hände. Unsere
moderne Bestimmung - Technik - erscheint Heidegger radikal von der
poiesis, der Art des »Herstellens«, die die antiken Handwerker zu erreichen
wussten, verschieden. Technik ist vollkommen einzigartig, unüberwind­
lich, allgegenwärtig, überlegen, ein in unserer Mitte geborenes Monster.
Aber Heidegger irrte sich. Ich werde zu zeigen versuchen, wie und auf
welche Weise er sich im Hinblick auf die technische Vermittlung irrte,
indem ich ein einfaches, bekanntes Beispiel verwende.
»Schusswaffen töten Leute« ist ein Slogan von jenen, die den unbe­
schränkten Verkauf von Schusswaffen zu kontrollieren versuchen. Worauf
die »National Rifle Association« (NRA) mit einem anderen Slogan kontert:
»Menschen töten Menschen, nicht Schusswaffen.« Der erste Slogan ist
materialistisch; die Schusswaffe agiert aufgrund ihrer materiellen Kompo­
nenten, die nicht auf die sozialen Eigenschaften des Schützen reduzierbar
sind. Wegen der Waffe wird der gute Mann und gesetzestreue Bürger
gefährlich. Die NRA andererseits bietet (amüsanterweise, wenn man sich
ihre politischen Ansichten vergegenwärtigt) eine soziologische Version, die
häufiger mit den Linken verbunden wird: Für die NRA verrichtet die
Schusswaffe aus sich selbst oder kraft ihrer materiellen Komponenten
nichts. Die Schusswaffe ist ein Werkzeug, ein Medium, ein neutraler Trä­
ger eines Willens. Wenn der Waffenbesitzer ein guter Mann ist, wird die
Schusswaffe weise eingesetzt und nur gerecht töten. Wenn er jedoch ein
Verbrecher oder Verrückter ist, dann wird ohne eine Veränderung in der
Waffe selbst ein ohnehin ausgeführter Mord (einfach) effizienter ausge­
führt. Was fügt die Waffe der Schießerei hinzu? Alles - in der materialisti­
schen Betrachtungsweise: Ein unschuldiger Bürger wird ein Krimineller
kraft der Waffe in seiner Hand. Die Waffe befähigt natürlich, aber sie
instruiert auch, lenkt, zieht sogar am Abzug - und wer hätte nicht, mit
einem Messer in der Hand, zu einer gewissen Zeit jemanden oder etwas
erstechen wollen? Jedes Artefakt hat sein Skript, seinen Aufforderungscha­
rakter, sein Potenzial, Vorbeikommende zu packen und sie dazu zu zwin­
gen, Rollen in seiner Erzählung zu spielen. Im Gegensatz dazu macht die
soziologische Version der NRA die Waffe zu einem neutralen Willensträ­
ger, der der Handlung nichts hinzufügt, der die Rolle eines elektrischen
Leiters spielt, durch den Gutes und Böses mühelos fließen.
Die zwei Positionen widersprechen sich auf absurde Weise. Kein Mate­
rialist behauptet, dass Waffen von selbst töten. Was Materialisten behaup­
ten, ist, dass der gute Bürger mit dem Tragen einer Waffe verwandelt wird.
Ein guter Bürger, der ohne Waffe vielleicht verärgert sein könnte, kann
zum Kriminellen werden, wenn er eine Waffe trägt - als hätte die Waffe
die Macht, Dr. Jekyll in Mr. Hyde zu verwandeln. Materialisten machen
also den bedenkenswerten Vorschlag, dass unsere Qualitäten als Subjekte,
unsere Kompetenzen, unsere Persönlichkeiten davon abhängen, was wir in
486 / BRUNO LATOUR

unseren Händen halten. In einer Umkehrung des Dogmas des Moralismus


bestehen die Materialisten darauf, dass wir das sind, was wir haben -
zumindest, was wir in unseren Händen haben.
Was die NRA betrifft, so kann sie die Behauptung nicht aufrechterhal­
ten, dass die Waffe ein so neutrales Objekt wäre, dass sie am Akt des Tö­
tens keinen Anteil hätte. Sie muss anerkennen, dass die Waffe etwas hin­
zufügt, obgleich nicht zur moralischen Haltung der Person, die die Waffe
hält. Für die NRA ist die moralische Haltung einer Person eine platonische
Essenz. Man wird als guter Bürger oder Krimineller geboren. Punkt. Inso­
fern ist die Darstellung der NRA moralistisch - was eine Rolle spielt, ist,
was du bist, nicht was du hast. Der einzige Beitrag, den die Waffe leistet, ist
der, den Akt zu beschleunigen. Mit den Fäusten oder mit einem Messer zu
töten ist schlicht langsamer, schmutziger, widerlicher. Mit einer Schuss­
waffe tötet es sich besser, aber zu keiner Zeit verändert sich die Absicht.
Also machen die Soziologen der NRA den beunruhigenden Vorschlag, dass
wir Techniken meistern können, dass Techniken nicht mehr sind als füg­
same und fleißige Sklaven.

Wer oder was ist verantwortlich für den Akt des Tötens? Ist die Schusswaf­
fe nicht mehr als ein Stück vermittelnder Technik? Die Antwort auf diese
Fragen hängt davon ab, was Vermittlung bedeutet. Eine erste Bedeutung
von Vermittlung (ich werde insgesamt vier anbieten) ist das Handlungspro­
gramm, die Abfolge von Zielen, Schritten und Intentionen, die einen Agen­

= ·
ten in einer Erzählung wie in der meiner Skizze der Schusswaffe beschrei­
ben kann (Abb. r).

Abbildung 1: Die erste Bedeutung von Vermittlung: Übersetzung

UNTERBRECHUNG

L
AGENT 1
.... � ZIEL 1
UMWEG �ZIELJ
AGENT1
AGENT 2 +AGENT2 ZIEL 2

Wenn der Agent menschlich und verärgert ist und Rache nehmen will, und
wenn die Erreichung des Ziels des Agenten aus welchem Grund auch im­
mer unterbrochen wird (vielleicht ist der Agent nicht stark genug), macht
er einen Umweg, eine Abweichung: Wie wir bereits gesehen haben, kann
man nicht von Techniken sprechen, ohne daedalia zu erwähnen. Agent r
fällt auf Agent 2 zurück, in diesem Fall eine Schusswaffe. Agent r rekru­
tiert die Schusswaffe oder wird von ihr rekrutiert - es spielt keine Rolle,
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 487

welches von beiden der Fall ist - und ein dritter Agent entsteht aus der
Verschmelzung der anderen beiden.
Die Frage stellt sich nun, welches Ziel der neue zusammengesetzte
Agent verfolgen wird. Wenn er nach seinem Umweg zu Ziel r zurückkehrt,
ist die NRA-Geschichte die richtige. Die Waffe ist ein Werkzeug, ein bloßer
Vermittler. Wenn Agent 3 von Ziel I zu Ziel 2 treibt, obsiegt die Geschichte
der Materialisten. Die Absicht der Waffe, der Wille der Waffe, das Skript
der Waffe haben jene von Agent I abgelöst; die menschliche Handlung ist
nicht mehr als eine Vermittlungsinstanz, ein Zwischenglied. Es ist zu be­
merken, dass es im Diagramm keinen Unterschied macht, ob Agent r oder
Agent 2 vertauscht werden. Der Mythos des neutralen Werkzeugs unter
vollständiger menschlicher Kontrolle und der Mythos der autonomen Be­
stimmung, die kein Mensch beherrschen kann, sind symmetrisch. Aber
eine dritte Möglichkeit liegt meistens näher: die Schaffung eines neuen
Ziels, das keinem der Handlungsprogramme der Agenten entspricht. (Man
hatte nur verletzen wollen, jedoch jetzt - mit einer Schusswaffe in der
Hand -will man töten.) Ich nenne diese Unsicherheit über Ziele Überset­
zung. Ich habe diesen Begriff schon etliche Male verwendet und jedes Mal
begegne ich denselben Missverständnissen.2 » Übersetzung« bedeutet
nicht eine Verschiebung von einem Vokabular in ein anderes, z.B. von ei­
nem französischen in ein englisches Wort, als ob die beiden Sprachen un­
abhängig existierten. Wie Michel Serres verwende ich »Übersetzung«, um
Verschiebung, Driften, Erfindung, Vermittlung, die Erschaffung eines Bin­
deglieds, das zuvor nicht existiert hatte und das zu einem gewissen Grad
zwei Elemente oder Agenten modifiziert, auszudrücken.
Wer ist dann der Akteur in meiner kleinen Geschichte? Jemand anderer
(eine Bürger-Waffe, ein Waffen-Bürger). Wenn wir versuchen, Technik zu
verstehen in der Annahme, dass das psychische Vermögen von Menschen
für immer festgelegt ist, werden wir weder erfolgreich verstehen können,
wie Technik geschaffen noch wie sie verwendet wird. Man ist eine andere
Person mit einer Waffe in der Hand. Sein ist Existenz und Existenz ist
Handeln. Wenn ich Sie durch das definiere, was Sie haben (die Schusswaf­
fe) und durch die Reihe von Verbindungen, in die Sie eintreten, wenn Sie
benutzen, was Sie haben (wenn die Waffe abgefeuert wird), werden Sie von
der Waffe verändert -mehr oder weniger, abhängig vom Gewicht der an­
deren Verbindungen, die Sie tragen. Die Übersetzung ist vollkommen
symmetrisch. Sie sind anders mit einer Waffe in der Hand; die Waffe ist
anders, wenn Sie sie halten. Sie sind ein anderes Subjekt, weil Sie eine
Waffe halten; die Waffe ist ein anderes Objekt, weil sie eine Beziehung mit
Ihnen eingegangen ist. Die Waffe ist nicht länger die Waffe-im-Arsenal

2 1 Im Besonderen in Latour (1987). Meine Verwendung des Wortes Überset­


zung stammt von Michel Serres und der soziologischen Verwendung durch Michel
Callon (1986).
488 1 BRUNO LATOUR

oder die Waffe-in-der-Schublade oder die Waffe-in-der-Tasche, sondern die


Waffe-in-der-Hand, die auf jemand Schreienden gerichtet ist. Was für das
Subjekt wahr ist, für den Schützen, ist genauso wahr für das Objekt, die
gehaltene Waffe. Ein guter Bürger wird zum Kriminellen, ein schlechter
Mensch wird sogar noch schlechter; eine stumme Waffe wird zur abgefeu­
erten Waffe, eine neue zu einer gebrauchten, eine Sportwaffe zu einer Tö­
tungswaffe. Der Fehler sowohl der Materialisten als auch der Soziologen ist
der, mit den Wesenheiten zu beginnen, denen der Subjekte oder jenen der
Objekte. Der Ausgangspunkt macht unser Verständnis der vermittelnden
Rolle der Technik unmöglich. Weder das Subjekt noch das Objekt (oder
ihre Ziele) sind festgelegt.
Es ist nun möglich, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf jemand ande­
ren richten, den Hybrid-Akteur, der z.B. aus Waffe und Schütze gebildet
wird. Wir müssen lernen, Handlungen viel mehr Agenten zuzuschreiben -
auf sie zu verteilen -, als es weder für die materialistische noch für die so­
ziologische Darstellung akzeptabel ist. Agenten können menschlich oder
(wie die Waffe) nicht-menschlich sein und jeder kann Ziele (oder Funktio­
nen, wie Ingenieure es bevorzugt ausdrücken) haben. Da das Wort »Agent«
im Fall von Nicht-Menschen ungewöhnlich ist, ist ein besserer Terminus
»Aktant«, ein Lehnwort aus der Semiotik, das jede Entität beschreibt, die in
einem Plot bis zur Zuweisung einer figurativen oder nichtfigurativen Rolle
agiert (»Bürger«, »Schusswaffe«).3 Weshalb ist diese Nuance wichtig?
Weil ich z.B. in meiner Skizze den Schützen durch »eine Klasse arbeitslo­
ser Herumtreiber« ersetzen könnte, wobei ich den individuellen Agenten
in ein Kollektiv übersetzen würde, oder ich könnte über »unbewusste Moti­
ve« sprechen, wobei ich ihn in subindividuelle Agenten übersetzte. Ich
könnte die Waffe als »was die Schusswaffenlobby in die Hände nichts ah­
nender Kinder legt« neu beschreiben und sie damit von einem Objekt in
eine kollektive Person, eine Institution oder ein kommerzielles Netzwerk
übersetzen; ich könnte die Waffe als »die Aktion eines Auslösers auf eine
Patrone durch die Vermittlung einer Feder und eines Schlagbolzens« defi­
nieren und sie damit in eine mechanische Abfolge von Ursachen und Wir­
kungen übersetzen.
Der Unterschied zwischen Akteur und Aktant ist genau derselbe wie im
Märchen, wo die plötzliche Tat eines Helden mit einem Zauberstab ver­
bunden werden kann oder mit einem Pferd, einem Zwerg, Geburt, mit den
Göttern oder der inneren Kompetenz des Helden. Ein einzelner Aktant
kann viele verschiedene >aktantielle< Formen annehmen, und im Gegen­
zug kann derselbe Akteur viele verschiedene >aktorielle< Rollen spielen.
Dasselbe trifft auf die Ziele und Funktionen zu, wobei die ersten eher mit
Menschen, die letzteren mit Nicht-Menschen in Verbindung gebracht wer­
den; beide jedoch können als Handlungsprogramme beschrieben werden -

3 1 Vgl. dazu die Definition in Greimas/Courtes (1986).


ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 489

eine neutrale Bezeichnung, die nützlich ist, wenn eine Zuweisung von
menschlichen Zielen oder nicht-menschlichen Funktionen noch nicht vor­
genommen worden ist. Haben die Waffen in »Roger Rabbit« oder die Uhr
und die Kerze in Disneys »Die Schöne und das Biest« Ziele oder Funktio­
nen? Das hängt vom Grad des involvierten Anthropomorphismus ab.4
Diese Beispiele von Akteur-Aktant-Symmetrie zwingen uns dazu, die
Subjekt-Objekt-Dichotomie fallen zu lassen, eine Unterscheidung, die das
Verständnis von Technik und sogar von Gesellschaft verhindert. Es sind
weder Menschen noch Waffen, die töten. Die Verantwortung für ein Han­
deln müssen sich die verschiedenen Aktanten teilen. Und dies ist die erste
der (vier) Bedeutungen von »Vermittlung«.

Abbildung 2: Die zweite Bedeutung von Vermittlung: Komposition

L
AGENT 1 HANDLUNGSPROGRAMM
·-···-·-·-·-···-·---;:!,,
;RO·G=��-'-�

AGENT 2

OORAMMl

AGENT 3 E
1 1,
1r
'I
il

Man mag natürlich entgegnen, dass die grundsätzliche Asymmetrie fortbe­


steht - Frauen stellen elektronische Chips her, aber kein Computer hat je­
mals Frauen hergestellt. Gesunder Menschenverstand ist hier nicht die
sicherste Orientierung; kaum mehr als auch in den Wissenschaften. Die
Schwierigkeit, die wir gerade am Beispiel der Waffe betrachtet haben,
bleibt bestehen, und die Lösung ist dieselbe: Der hauptsächliche Antrieb
einer Handlung wird eine neue, verteilte und verschachtelte Serie von
Praktiken. Zwar kann man sie zu einer Summe addieren, aber nur wenn
der Vermittlungscharakter aller Aktanten in der Serie respektiert wird.
Um in diesem Punkt überzeugen zu können, müssen wir uns kurz klar
machen, wie wir über Werkzeuge sprechen. Wenn jemand eine Geschichte
über die Erfindung, Herstellung oder den Gebrauch eines Werkzeugs er­
zählt, ob im Tier- oder Menschenreich, ob im psychologischen Labor, der
Geschichte oder Vorgeschichte - die literarische Struktur ist dieselbe (Abb.

4 1 Diese Position hat eine lebhafte Debatte über den Unterschied der Begriffe
Agent, Akteur und Aktant ausgelöst. Vgl. Collins/Yearley (1992: 301-326) und die
Antwort von Michel Callon und Bruno Latour im gleichen Band (Callon/Latour
1992: 343-368).
490 1 BRUNO LATOUR

2, vgl. z.B. Beck 1980). Ein Agent hat ein Ziel oder Ziele; plötzlich wird der
Zugang zu diesen Zielen durch jene Bresche im geraden Weg unterbro­
chen, der metis von Episteme trennt. Der Umweg, ein daedalion, beginnt.
Der frustrierte Agent dreht sich in einer verrückten und willkürlichen Su­
che und dann - ob durch Einsicht, Heureka oder Versuch und Irrtum (es
stehen verschiedene Psychologien zur Verfügung, um diesen Augenblick
zu erklären) - ergreift der Agent einen anderen Agenten - einen Stock, ei­
nen Partner, elektrischen Strom - und dann, so geht die Geschichte weiter,
kehrt er zu seiner vorherigen Aufgabe zurück, entfernt das Hindernis und
erreicht das Ziel. Natürlich sind in den meisten Werkzeugerzählungen
nicht eines, sondern zwei oder mehrere Subprogramme ineinander ge­
schachtelt. Ein Schimpanse kann einen Stock ergreifen, ihn als zu stumpf
befinden, nach einer anderen Krise ein anderes Subprogramm beginnen,
um ihn zu schärfen und dabei ein zusammengesetztes Werkzeug erfinden.
(Wie weit die Vervielfältigung dieser Subprogramme fortgesetzt werden
kann, wirft in der kognitiven Psychologie und der Evolutionstheorie inte­
ressante Fragen auf.)
Obwohl man sich viele andere Ausgänge der Geschichte vorstellen
kann (z.B. den Verlust eines ursprünglichen Zieles im Labyrinth der Sub­
programme), wollen wir jetzt annehmen, dass die ursprüngliche Aufgabe
wieder aufgenommen wird. Die Zusammensetzung der Handlung ist hier
interessant - die Linien verlängern sich bei jedem Schritt. Wer führt die
Handlung aus? Agent I plus Agent 2 plus Agent 3. Handlung ist eine Ei­
genschaft assoziierter Entitäten. Agent I erhält Erlaubnis, Autorisierung
und Befähigung von den anderen. Der Schimpanse und der angespitzte
Stock erreichen (und nicht erreicht) die Banane. Die Zuschreibung der Rol­
le des Hauptantriebs an einen Akteur schwächt in keiner Weise die Not­
wendigkeit einer Zusammensetzung der Kräfte, um die Handlung zu erklä­
ren. Durch einen Fehler oder eine Ungerechtigkeit liest sich unsere
Schlagzeile: »Der Mann fliegt« und »Die Frau erobert das Weltall«. Fliegen
ist eine Eigenschaft der gesamten Verbindung von Entitäten, die Flughäfen
und Flugzeuge, Abflugrampen und Ticketschalter umfasst. Die B-52-Bom­
ber fliegen nicht, sondern die »U.S. Air Force«. Handeln ist nicht einfach
ein Vermögen von Menschen, sondern von einer Verbindung von Aktanten
- und dies im zweiten Sinn dessen, was ich mit technischer Vermittlung
meinte. Vorläufige >aktoriale Rollen< können Aktanten nur zugeschrieben
werden, weil Aktanten im Prozess eines Austausches von Kompetenzen
stehen, wobei sie einander neue Möglichkeiten, neue Ziele, neue Funktio­
nen anbieten. So gilt die Symmetrie sowohl im Fall der Herstellung als
auch im Fall des Gebrauchs von Werkzeugen.
Was aber bedeutet »Symmetrie«? Jede vorgegebene Symmetrie wird
durch das definiert, was durch Transformationen hindurch bewahrt wird.
Bei der Symmetrie zwischen Menschen und Nicht-Menschen halte ich die
Reihe von Kompetenzen, Eigenschaften, dass Agenten durch gegenseitige
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 491

Überlappung zum Austausch fähig sind, konstant. Ich möchte mich selbst
auf eine Stufe stellen, wo wir noch nicht klar Menschen und Nicht-Men­
schen, Ziele und Funktionen, Form und Materie voneinander abgrenzen
können, bevor der Austausch von Eigenschaften und Kompetenzen sicht­
bar und interpretierbar wird. Ausgewachsene menschliche Akteure und
respektable Objekte draußen in der Welt können nicht mein Ausgangs­
punkt, sondern nur unser Endpunkt sein. Gibt es einen solchen Ort? Ist er
mehr als ein Mythos?
Dieses Prinzip der Symmetrie kann verwendet werden, u m die vielen
etablierten Mythen aufzuzeigen, die uns erzählen, wir wären von unseren
Werkzeugen gemacht worden. Der Ausdruck homo faber oder besser homo
faberfabricatus beschreibt für Hegel und Leroi-Gourhan, Marx und Bergson
eine dialektische Bewegung, die damit endet, uns zu Söhnen und Töchtern
unserer eigenen Artefakte zu machen.5 Was Heidegger betrifft, ist der
relevante Mythos, dass, »solange wir die Technik als ein Instrument vor­
stellen, wir im Willen hängen bleiben, sie zu meistem. Wir treiben am We­
sen der Technik vorbei.« (Heidegger 1977: 32, 2000: 32) Wir werden später
sehen, was mit der Dialektik und dem Gestell angefangen werden kann,
aber wenn das Erfinden von Mythen der einzige Weg zur Bewältigung die­
ser Aufgabe ist, sollten wir nicht zögern, neue zu erfinden.

Weshalb ist es so schwierig, die vermittelnde Rolle der Technik mit einiger
Präzision einzuschätzen? Weil die Handlung, die wir einzuschätzen versu­
chen, dem »Blackboxing« unterliegt, einem Prozess, der die vereinte Pro­
duktion von Akteuren und Artefakten völlig undurchsichtig macht. Daeda­
lus' Labyrinth wird undurchdringlich. Können wir das Labyrinth öffnen
und betrachten, was sich darin verbirgt?
Man nehme z.B. einen Tageslichtprojektor. Er ist ein Punkt in einer
Handlungsfolge (sagen wir einmal in einer Vorlesung), eine ruhige und
stumme Vermittlungsinstanz, die für selbstverständlich gehalten und voll­
kommen von ihrer Funktion bestimmt wird. Nun nehmen wir an, dass der
Projektor nicht mehr funktioniert. Die Krise erinnert uns an die Existenz
des Projektors. Wenn die Monteure ihn umringen, diese Linse justieren,
jene Birne befestigen, werden wir uns bewusst, dass der Projektor aus
mehreren Teilen gemacht ist, jedes mit seiner Rolle, seiner Funktion und
seinen relativ unabhängigen Zielen. Während der Projektor vor einem Au­
genblick kaum existiert hatte, besitzen nun sogar seine Teile individuelle
Existenz, jedes seine eigene »Black Box«. In einem Moment wuchs unser
»Projektor« von einer Komposition aus null Teilen zu einer aus einem bis
zu vielen Einzelteilen. Wie viele Aktanten sind wirklich da? Die Technik­
philosophie hat wenig Verwendung für Arithmetik.

5 1 Vgl. dazu besonders das schöne, nie ins Englische übersetzte Buch von An­
dre Leroi-Gourhan (1964).
492 1 BRUNO LATOUR

Die Krise hält an. Die Monteure fallen in eine routinierte Abfolge von
Handlungen zurück, indem sie Teile ersetzen. Es wird klar, dass ihre
Handlungen aus Schritten in einer Sequenz gebildet werden, die verschie­
dene menschliche Handgriffe integriert. Wir konzentrieren uns nicht län­
ger auf ein Objekt, sondern sehen eine Gruppe von Menschen um dieses
Objekt. Eine Verschiebung zwischen Aktanten und Vermittler ist aufgetre­
1 1,
ten. Die Abbildungen I und 2 zeigten, wie Ziele durch Verbindungen mit
nicht-menschlichen Aktanten neu definiert werden und wie Handlung eine
Eigenschaft des gesamten Gefüges ist, nicht nur der menschlichen Aktan­
ten. Wie jedoch Abbildung 3 zeigt, wird die Situation noch verwirrender, da
die Anzahl der Aktanten von Schritt zu Schritt variiert. Die Komposition
der Objekte variiert ebenfalls: Manchmal erscheinen Objekte als stabil,
manchmal erscheinen sie als aufgeregt wie eine Gruppe von Menschen um
ein Artefakt/Quasi-Objekt/Quasi-Subjekt mit einer Fehlfunktion. Also
zählt der Projektor für ein, für kein, für 100 Teile, für so viele Menschen,
für keinen Menschen- und jedes Teil wiederum kann für ein, für null, für
viele, für ein Objekt, für eine Gruppe zählen. In den sieben Stufen der Ab­
bildung 3 kann jede Handlung in Richtung auf entweder die Zerstreuung
von Aktanten oder ihre Integration in ein einzelnes Ganzes (ein Ganzes,
das bald darauf für nichts zählen wird) fortgesetzt werden. Einige zeitge­
nössische westliche Philosophien können Schritt 7 oder Schritt 2 oder bei­
de erklären; erforderlich ist jedoch - und was zu entwickeln ich vorschlage
- eine Philosophie, die alle sieben Schritte erklären kann.
Schauen Sie sich in dem Raum um, in dem Sie sich über Abbildung 3
den Kopf zerbrechen. Überlegen Sie, wie viele Black Boxes es in diesem
Raum gibt. öffnen Sie die Black Boxes; untersuchen sie die Verbindungen
in ihnen. Jedes der Einzelteile in der Black Box ist eine Black Box voller
Einzelteile. Wenn irgendeines der Teile zerbrechen würde, wie viele Men­
schen würden sich sofort um jedes materialisieren? Wie weit zurück in der
Zeit, entfernt im Raum, sollten wir unsere Schritte zurückverfolgen, um all
jenen stummen Entitäten zu folgen, die friedlich zum Lesen dieses Artikels
auf Ihrem Schreibtisch beitragen? Bringen Sie jede dieser Entitäten zu
Schritt r zurück; stellen Sie sich die Zeit vor, als jede von ihnen desinteres­
siert war und ihren eigenen Weg ging, ohne in irgendeinem Handlungsab­
lauf von einem anderen eingebundrn, rekrutiert, beteiligt, mobilisiert wor­
den zu sein. Aus welchem Wald sollten wir unser Holz holen? In welchem
Steinbruch sollten wir die Steine liegen lassen? Die meisten dieser Entitä­
ten verharren jetzt schweigend, als ob sie nicht existierten, unsichtbar,
transparent, stumm und bringen in die gegenwärtige Szenerie ihre Kraft
und ihr Handeln aus wer weiß wie vielen Millionen Jahren Vergangenheit
mit. Sie haben einen besonderen ontologischen Status, aber bedeutet das,
dass sie nicht handeln, dass sie nicht Handeln vermitteln? Können wir sa­
gen, weil wir alle von ihnen hergestellt haben - wer ist übrigens dieses
»wir«? Ich sicher nicht-, dass sie als Sklaven, Werkzeuge oder bloße Be-
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG j 493

weise für ein Gestell betrachtet werden sollten? Die Tiefe unserer Ignoranz
gegenüber Technik ist unergründlich. Wir sind weder fähig, ihre Anzahl zu
zählen, noch können wir sagen, ob sie als Objekte existieren oder als Ver­
sammlungen oder als so viele Sequenzen kompetenter Handlungen.
Dennoch gibt es noch Philosophen, die glauben, es gäbe solche Dinge
wie Objekte.

Abbildung 3: Die dritte Bedeutung der Vermittlung:


Reversibles Blackboxing

A 0 > Stufe 1: Desinteresse


disinterest
B 0 >
A 0 > Stufe 2: Interesse
(Unterbrechung, Umweg, Rekrutierung)
B 0 > interest
(interruption, detour, enlistment)

A
C Stufe 3: Komposition eines neuen Ziels
composition of a new goal
B �

A
C Stufe 4: Obligatorischer Passage-Punkt
obligatory passage point

Stufe 5: Gruppierung
A 0---0-----0 C
alignment
B

D
8 Stufe 6: Blackboxing
blackboxing :1

Stufe 7: Konvergenz
D 0 > convergence
, ·1

Der Grund für eine solche Ignoranz wird deutlicher, wenn man die vierte
und wichtigste Bedeutung der Vermittlung betrachtet. Bis zu diesem Punkt
habe ich die Bezeichnungen Erzählung und Handlungsprogramm, Ziel und
Funktion, Übersetzung und Interesse, menschlich und nicht-menschlich ver­
wendet, als wären Techniken zuverlässige Bewohner der Welt des Diskur­
ses. Aber Techniken modifizieren die Materie unseres Ausdrucks, nicht
nur seine Form. Techniken haben Bedeutung, aber sie erzeugen Bedeu-
494 1 BRUNO LATOUR

tung über einen speziellen Typ von Artikulation, der die Grenzen des all­
gemeinen Verständnisses zwischen Zeichen und Dingen überschreitet.

Ein einfaches Beispiel dessen, was ich vor Augen habe: Eine Bodenschwel­
le, die Fahrer zwingt, auf dem Campus das Tempo zu reduzieren. Das Ziel
der Fahrer wird mittels der Bodenschwelle übersetzt von »Ich fahre lang­
samer, um keine Studenten zu gefährden« in »Ich fahre langsam und
schütze die Federung meines Autos«. Die zwei Ziele sind weit voneinander
entfernt und wir erkennen hier dieselbe Verschiebung wie in unserer Waf­
fenerzählung. Die erste Version des Fahrers appelliert an seine Moral, sei­
ne aufgeklärte Uneigennützigkeit und seine Reflexion, während die zweite
an reinen Eigennutz und Reflexhandlung appelliert. Meiner Erfahrung
nach gibt es viel mehr Menschen, die auf die zweite als auf die erste reagie­
ren würden: Eigennutz ist ein weiter verbreiteter Wesenszug als der Res­
pekt vor dem Gesetz und dem Leben - zumindest in Frankreich. Der Fah­
rer modifiziert sein Verhalten durch die Vermittlung der Bodenschwelle; er
fällt von Moral zurück auf Zwang. Vom Standpunkt eines Beobachters aus
jedoch spielt es keine Rolle, auf welchem Weg ein bestimmtes Verhalten
erreicht wird. Von ihrem Fenster aus sieht die Rektorin, dass die Autos ver­
langsamen, und für sie ist das genug.
Der Übergang von rücksichtslosen zu disziplinierten Fahrern wurde
durch einen Umweg bewirkt. Anstelle von Zeichen und Warntafeln haben
die Campusingenieure Beton verwendet. In diesem Kontext sollte der Be­
griff des Umwegs, der Übersetzung, nicht nur modifiziert werden (wie bei
den vorausgegangenen Beispielen), um die Verschiebung in der Definition
von Zielen und Funktionen, sondern auch eine Veränderung in der tat­
sächlichen Ausdrucksmaterie zu umfassen. Das Handlungsprogramm der
Ingenieure (»Veranlasse Fahrer dazu, auf dem Campus zu verlangsamen«)
ist nun in Beton inskribiert. Statt »inskribiert« hätte ich auch »objekti­
viert«, »verdinglicht«, »realisiert«, »materialisiert« oder »eingraviert« sagen
können, aber alle diese Worte implizieren einen übermächtigen menschli­
chen Agenten, der formloser Materie seinen Willen aufzwingt, während
Nicht-Menschen ebenfalls handeln, Ziele ersetzen und zu deren Neudefini­
tion beitragen. 6 Die vierte Bedeutung von Übersetzung hängt von den drei
vorangegangenen ab.
Nicht nur wurde eine Bedeutung wie in unserem Beispiel durch eine
andere ersetzt, sondern eine Handlung (die Erzwingung der Geschwindig­
keitsbegrenzung) wurde in eine andere Art von Ausdruck übersetzt. Das
Programm der Ingenieure ist in Beton inskribiert, und indem wir diese
Verschiebung betrachten, verlassen wir die relativ vertrauten Gefilde der
linguistischen Metapher und betreten unbekanntes Territorium. Wir haben
nicht bedeutungsgeladene menschliche Beziehungen verlassen und abrupt

6 1 Für ausgearbeitete Beispiele vgl. Latour (1992a: 225-259, 1993b).


r
= - - - - - - -�
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG J 495

Abbildung 4: Die vierte Bedeutung der Vennittlung: Delegation

UNTERBRECHUNG
AGENT1
BEDEUTUNG1 c,
c::,
m

2_::
:,:;,
V,
UMWEG
n,o_N_______ C
2
GI
AGENT 2 BEDEUTUNG 2

eine Welt der rohen materiellen Beziehungen betreten - obwohl das der
Eindruck der Fahrer, die an den Umgang mit verhandelbaren Zeichen ge­
wöhnt sind, sein kann, wenn sie jetzt mit einer nicht verhandelbaren Bo­
denschwelle konfrontiert sind .. Die Verschiebung vollzieht sich nicht vom
Diskurs zur Materie, weil für die Ingenieure die Bodenschwelle eine sinn­
volle Artikulation innerhalb einer Skala von Möglichkeiten ist, unter denen
sie so frei wählen wie andere das Vokabular einer Sprache. Also bleiben wir
im Bereich von Sinn,jedoch nicht länger im Bereich von Diskurs; dennoch be­
finden wir uns nicht unter bloßen Objekten. Wo sind wir nur?
Umweg, Übersetzung, Delegation, Inskription und Verschiebung er­
fordern unser besseres Verständnis, bevor wir überhaupt damit beginnen
können, eine Technikphilosophie zu erarbeiten; und um diese zu verste­
hen, müssen wir auch die von Semiotikern so genannte Verschiebung ver­
stehen.7 Wenn ich z.B. zu Ihnen sage: »Stellen wir uns vor, wir steckten
in den Schuhen der Campusingenieure, als sie entschieden, die Boden­
schwellen zu installieren«, transportiere ich Sie nicht nur in einen anderen
I'
Raum und eine andere Zeit, sondern übersetze Sie in einen anderen Ak­ 1

I'
11

teur. Ich verschiebe Sie aus der Szene, die Sie im Augenblick besetzen. Der 11

II
Punkt bei räumlichen, zeitlichen und >aktorialen< Verschiebungen, der für li'

alle Fiktion grundlegend ist, ist der, Sie sich bewegen zu lassen, ohne Sie
zu bewegen. Sie machten einen Umweg durch das Büro des Ingenieurs,
ohne jedoch ihren Platz zu verlassen. S1e liehen mir für eine Weile einen
Charakter, der mit der Hilfe Ihrer Geduld und Vorstellungskraft mit mir
an einen anderen Ort reiste, ein anderer Akteur wurde, dann zurückkehrte,
um wieder Sie selbst in Ihrer eigenen Welt zu werden. Dieser Mechanis­
mus wird Identifikation genannt; durch ihn tragen wir beide, der Sprecher
(ich) und der Empfänger (Sie) dazu bei, dass Delegierte unserer selbst in
andere, zusammengesetzte Bezugsrahmen verschoben werden (Abb. 4).
Im Fall der Bodenschwellen ist die Verschiebung >aktoriak Der >schla­
fende Polizist<, als der die Schwelle auch bekannt ist, ist kein Polizist und

7 1 Vgl. Greimas/Courtes (1986) und zum Thema der Verschiebung Pavel


(1986).
496 1 BRUNO LATOUR

hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem. Die Verschiebung ist auch
räumlich: Auf der Campusstraße residiert nun ein neuer Aktant, der Autos
verlangsamt (oder sie beschädigt). Schließlich ist die Verschiebung tempo­
ral: Die Schwelle ist Tag und Nacht da. Aber der Sprecher dieses techni­
schen Aktes ist aus der Szene verschwunden - wo sind die Ingenieure? Wo
ist der Polizist? -, während jemand, etwas, verlässlich als Stellvertreter
handelt, den Platz des Sprechers hält. Angeblich ist die gemeinsame Ge­
genwart des Sprechers und des Empfängers notwendig, damit ein Akt der
Fiktion möglich wird; was wir aber nun haben, sind ein abwesender Inge­
nieur, eine stets präsente Bodenschwelle und ein Empfänger, der der An­
wender eines Artefakts geworden ist, so als würde ich damit aufhören, die­
sen Artikel zu schreiben und seine Bedeutung würde weiterhin artikuliert
- jedoch in meiner Abwesenheit verlässlicher und schneller.
Sie mögen einwenden, dass das nicht überraschend ist. In der Fantasie
von Frankreich nach Bali transportiert zu werden, ist nicht dasselbe, als ein
Flugzeug von Frankreich nach Bali zu nehmen. Vollkommen wahr, aber
worin genau liegt der Unterschied? In den Reisen der Fantasie nehmen wir
gleichzeitig alle möglichen Bezugsrahmen ein, verschieben uns in alle de­
legierten personae, die der Erzähler anbietet, hinein und aus allen hinaus.
Durch Fiktion kann das ego, hie et nunc verschoben werden, Sie können zu
anderen personae an anderen Orten und zu anderen Zeiten werden. Aber
an Bord eines Flugzeugs kann ich nicht mehr als einen Bezugsrahmen
gleichzeitig einnehmen. Ich sitze in einer Objekt-Institution, die zwei
Flughäfen durch eine Fluglinie verbindet. Der Akt des Transports wurde
nach unten und nicht nach außen verschoben - nach unten zu Flugzeugen,
Maschinen, Autopiloten, Objekt-Institutionen, auf die die Aufgabe der Be­
wegung delegiert worden ist, während die Ingenieure und Manager abwe­
1.
send sind (oder sich auf das Überwachen beschränken). Die Kopräsenz von
Sprecher und Empfänger ist mit dem Bezugsrahmen zusammengebro­
chen. Ein Objekt vertritt einen Akteur und schafft eine Asymmetrie zwi­
schen den abwesenden Schöpfern und gelegentlichen Verwendern. Ohne
diesen Umweg, diese Verschiebung nach unten, würden wir nicht verste­
hen, wie ein Sprecher abwesend sein könnte: Entweder er ist da, würden
wir sagen, oder er existiert nicht. Aber durch die Verschiebung nach unten
wird eine andere Kombination von Ab- und Anwesenheit möglich. Es ist
nicht wie in der Fiktion, dass ich hier bin und woanders, dass ich ich selbst
und jemand anderer bin, sondern dass eine lang vergangene Handlung ei­
nes lang verschwundenen Akteurs hier noch aktiv ist, heute, an mir - ich
lebe inmitten von technischen Delegierten.
Die gesamte Technikphilosophie ist mit diesem Umweg beschäftigt
gewesen. Denken Sie an Technik als an geronnene Arbeit. Betrachten Sie
die bloße Idee der Investition: Ein reguläres Vorgehen wird ausgesetzt, ein
Umweg durch verschiedene Typen von Aktanten eingeleitet - und der Er­
trag ist ein frischer Hybrid, der vergangene Akte in die Gegenwart trägt
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 497

und seinen vielen Schöpfern erlaubt, zu verschwinden, während sie auch


gleichzeitig anwesend bleiben. Solche Umwege untergraben die Ordnung
der Zeit - in einer Minute kann ich Kräfte mobilisieren, die in ihrer Bewe­
gung vor Hunderten oder Millionen von Jahren eingeschlossen waren. Die
relativen Formen von Aktanten und ihre ontologischen Zustände können
vollständig umgebildet werden - Technik agiert als Formwandler, macht
einen Polizisten aus einer Schwelle in der Straße, verleiht einem Polizisten
die Dauerhaftigkeit und Hartnäckigkeit von Stein. Die relative Anordnung
von An- und Abwesenheit wird umverteilt - wir begegnen stündlich Hun­
derten, sogar Tausenden von abwesenden Schöpfern, die in Zeit und Raum
entfernt sind und dennoch gleichzeitig aktiv und präsent. Und durch sol­
che Umwege wird schließlich die politische Ordnung untergraben, da ich
mich auf viele delegierte Handlungen verlasse, die mich selbst im Namen
anderer, die nicht länger hier sind, die ich nicht gewählt habe und deren
Existenzverlauf ich nicht einmal verfolgen kann, Dinge tun lassen.
Ein Umweg dieser Art ist nicht einfach zu verstehen und die Schwie­
rigkeit wird durch den Vorwurf des Fetischismus seitens der Technikkriti­
ker verstärkt.8 Wir sind es, die menschlichen Schöpfer (wie sie sagen), die
man in jenen Maschinen, jenen Geräten sieht, wir in einer anderen Ge­
stalt, unsere eigene harte Arbeit. Wir sollten die menschliche Arbeitskraft
wiederherstellen (so fordern sie), die hinter jenen Idolen steht. Wir hörten
die gleiche Geschichte in einem anderen Zusammenhang von der NRA:
Waffen handeln nicht selbsttätig, das tun nur Menschen. Eine gute Ge­
schichte, jedoch zu spät. Menschen sind nicht länger unter sich. Unsere
Delegation von Handlungen an andere Aktanten, die nun unsere mensch­
liche Existenz teilen, ist so weit fortgeschritten, dass ein Programm zum
Antifetischismus uns nur in eine unmenschliche Welt führen könnte, eine
Welt vor der Vermittlung von Artefakten, eine Welt der Paviane.
Andererseits können wir auch nicht in den Materialismus zurückfallen.
In Artefakten und Techniken finden wir nicht die Wirksamkeit und den
Widerstand von Materie, die den formbaren Menschen ihre Ketten von Ur­
sache und Wirkung aufprägen. Die Bodenschwelle ist letztlich nicht aus
Materie gemacht; sie ist voller Ingenieure, Rektoren und Gesetzgeber, die
ihr Wollen und ihre Erzählungen mit denen von Kies, Beton, Farbe und
Standardberechnungen mischen. Die Vermittlung, die technische Überset­
zung, die ich zu verstehen versuche, ruht auf dem blinden Fleck, wo Ge­
sellschaft und Materie ihre Eigenschaften austauschen. Die von mir berich­
tete Erzählung ist keine Homofaber-Geschichte, in der sich der mutige Er­
finder von den Beschränkungen der Sozialordnung löst, um in Kontakt mit
der harten und unmenschlichen, aber - letztlich - objektiven Materie zu
treten. Ich kämpfe, um die Zone zu erreichen, wo einige, wenn auch nicht

8 1 Im Gefolge von Marx natürlich, vgl. dazu besonders die klassische Argu­
mentation von Winner (1980: 121-136).
498 1 BRUNO LATOUR

alle, der Eigenschaften des Betons zu Polizisten, und einige, wenn auch
nicht alle, Eigenschaften von Polizisten zu Bodenschwellen werden.

Daedalus faltet, webt, plant, entwickelt, findet Lösungen, wo keine sichtbar


sind, benutzt jedes zur Verfügung stehende Hilfsmittel bei Brüchen und
Unwägbarkeiten in der üblichen Routine, tauscht Eigenschaften zwischen
unbeweglichen, tierischen und menschlichen Materialien aus. Heidegger
ist kein Daedalus: Er sieht keine Vermittlung, kein Loslassen, kein Beiseite­
treten, keine poiesis in der technischen Welt, nur Vermittler, eine erschre­
ckende Art von Vermittlern, die den Handwerker und den Ingenieur -wie
alle Menschen - aufzehren, sie in zwecklose Instrumente der zwecklosen
Ziele der Technik verwandeln. Falle ich der humanistischen Illusion, über
die Heidegger sich lustig macht, zum Opfer, wenn ich die Vermittler ver­
vielfache? Vielleicht falle ich in die materialistische Falle, indem ich den
Artefakten einen sozialen, ethischen und politischen Sittenkodex zugeste­
he, den sie unmöglich besitzen können. Ich glaube, dass die Technikphilo­
sophie uns zwingt, den Standort des Humanismus neu zu bestimmen.

Humanismus findet man weder am rechten Pol der Abbildung 5, wo das


Wort Humanismus zu finden ist, noch in der Vorstellung eines demiurgi­
schen Prometheus, der der formlosen Materie eine willkürliche Form auf­

1
i,1 zwingt oder indem wir uns gegen eine Invasion rein objektiver Kräfte ver­
teidigen, die die Würde des menschlichen Subjekts bedrohen. Humanis­
mus muss an einem anderen Ort lokalisiert werden, in der Position, die ich

1
zwischen Antihumanismus und »Humanismus« tastend zu definieren su­
che. Wir müssen lernen, die definitive Gestalt von Menschen und von
Nicht-Menschen, mit denen wir mehr und mehr unserer Existenz teilen, zu
ignorieren. Die Verschwommenheit, die wir dann wahrnehmen würden,
der Austausch von Eigenschaften, ist ein Charakteristikum unserer prämo­
dernen Vergangenheit, in den guten alten Tagen der poiesis, und genauso
ein Charakteristikum unserer modernen und nicht-modernen Gegenwart.
Ein Punkt, in dem Heidegger Recht hatte, ist seine Kritik an der >humanis­
tischen< NRA-Erzählung, an der Idee, dass Technik und Werkzeuge Men­
schen gestatten, ihre Projekte fest in der Hand zu halten, Objekten ihren
Willen aufzuzwingen (vgl. Latour 1993a). Er fügte auch den Gefahien der
Technik etwas hinzu: Er addierte die GefahI zu ignorieren, wie viel
Menschlichkeit durch die vermittelnde Rolle der Technik ausgetauscht
wird - und er fügte die Gefahr hinzu, die Funktion, Genealogie und Ge­
schichte jener sozio-technischen Verwicklungen (denen ich mich nun zu­
wenden werde) zu ignorieren, die unser politisches Leben und unsere zer­
brechliche Menschlichkeit konstruieren.
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG j 499

Abbildung 5: Neue Positionierung des Humanismus

Materialismus: Soziologismus: V,
C
LU OJ
--,
objektive Eigenschaften der Subjekte prägen gestalt­
m Materie durchbrechen endlich loser Materie Formen
0 die soziale und mentale Trägheit und Kategorien ein

Anti-Humanismus: Humanismus:
Mittel sind zu Zielen Mittel sind nur Vermittler
ohne Ziele geworden menschlicher Ziele

Symmetrie:
Aktanten mischen die Eigenschaften
durch Überkreuzung neu

'III
1
'1
j1

Soziologie
I' ,
1
,

1
111

In »2001: Odyssee im Weltraum« bietet uns Stanley Kubrick einen moder­


lj
nen Mythos an, der so mächtig wie der von Daedalus ist. Nichtidentifizierte I'
il
außerirdische Wesen haben auf die urzeitliche Erde eine riesige Black Box
[1
geschickt, einen Monolithen, den eine Gruppe schreiender Affen nun vor­
I'
sichtig erforscht. Der Film zeigt nicht, welche Eigenschaften die Box hat

!1
(außer ihrer Schwärze - so undurchsichtig wie die Genealogie der Technik,
,
,1

die ich hier auszuloten versuche), aber die Box hat eine mysteriöse Wir­
kung auf die Affen. Kommt das daher, dass sie zum ersten Mal ihre Auf­
1
11.
,1

ili

I
merksamkeit auf ein Objekt konzentrieren, oder durch das, was dieses be­
sondere Objekt beinhaltet? Was auch immer der Fall ist, sie werden erfin­
derisch, machen große Schritte in Richtung auf die Menschlichkeit. Ein 1:

großer Knochen, der beim Wasserloch liegt, wird plötzlich von einem sich 1

schnell entwid<elnden Affen ergriffen, in eine Axt verwandelt und dazu


'111

verwendet, einem feindlichen Primaten den Schädel zu brechen. (Werk­


zeuge und Waffen, Intelligenz und Krieg beginnen alle auf einmal in die­
sem maskulinen Mythos.) Der prometheische Affe, fasziniert von seiner
Erfindung und dem plötzlichen Wechsel des Kriegsglücks, wirft den Kno­
chen in den Himmel; der Knochen wirbelt herum, dann - ganz plötzlich -
wird er zu einer riesigen futuristischen Raumstation, die sich langsam in
den Tiefen des Weltalls um sich selbst dreht. Von Werkzeugen zur Hoch­
technologie - Millionen von Jahren werden in einem schönen Schnitt zu­
sammengefasst.
500 1 BRUNO LATOUR

Wäre die akademische Gelehrsamkeit so effizient wie die Kunst des Films,
könnte ich mit Ihnen Fortschritte im Tempo der Affen in Kubricks Film
erreichen - von einer Gruppe von nur durch soziale Bindungen verknüpf­
ten Primaten zu einer entwickelten Spezies von sozio-technischen Men­
schen, die ihre unterlegenen Brüder, die Nicht-Menschen, zu ihrem sozia­
len Denken zulassen. Aber es käme einem Wunder gleich, dies zuwege zu
bringen, da die soziale Theorie so bar der Artefakte ist wie Kubricks Affen
vor der Ankunft des Monolithen. Wie die Affen werde ich meine Aufmerk­
samkeit präzise auf den Monolithen konzentrieren: Was ist eine Soziologie
der Objekte? Wie sind Objekte dazu gekommen, in das menschliche Kol­
lektiv einzutreten? Durch welche Eintrittspunkte? Wir verstehen nun, dass
Technik als solche nicht existiert, dass es nichts gibt, was wir philosophisch
oder soziologisch als ein Artefakt oder ein Stück Technik definieren kön­
nen. Sicherlich gibt es das Adjektiv »technisch«, das wir in vielen verschie­
denen Situationen - und zu Recht - verwenden. Lassen Sie mich kurz sei­
ne verschiedenen Bedeutungen zusammenfassen.
Zuerst bezeichnet es ein Subprogramm oder eine Reihe verschachtelter
Subprogramme (wie die oben von mir diskutierten). Wenn wir sagen:
»Dies ist ein technisches Problem«, bedeutet dies, dass wir für einen Mo­
ment von der Hauptaufgabe abweichen müssen und dass wir schließlich
unsere normalen Handlungen wieder aufnehmen werden, die der einzige
Fokus sind, der unserer Aufmerksamkeit wert ist. Für einen Augenblick
öffnet sich eine Black Box und wird wieder schwarz, vollkommen unsicht­
bar im Hauptablauf des Handelns.
Zweitens bezeichnet »technisch« die untergeordnete Rolle von Men­
schen, Kompetenzen oder Objekten, die die sekundäre Funktion des An­
wesend-, Unverzichtbar-, jedoch Unsichtbarseins besetzen. Also bezeichnet
es eine spezialisierte und genau umschriebene, in der Hierarchie klar un­
tergeordnete Aufgabe.
Drittens bezeichnet das Adjektiv ein Problem, eine Schwierigkeit, einen
Haken, eine Störung im reibungslosen Funktionieren des Subprogramms,
sodass wir sagen: »Es gibt zuerst ein technisches Problem zu lösen«. Hier
führt uns die Umleitung vielleicht nicht zurück zur Hauptstraße wie bei
der ersten Bedeutung, sondern gefährdet unter Umständen das ursprüng­
liche Ziel zur Gänze. »Technisch« bedeutet nicht länger einen bloßen
Umweg, sondern ein Hindernis, eine Straßensperre. Was ein Mittel hätte
sein sollen, kann vielleicht zu einem Ende werden, zumindest für eine
Weile.
Die vierte Bedeutung trägt dieselbe Unsicherheit darüber, was ein
Zweck und was ein Mittel ist. »Technische Fertigkeiten«, »technisches Per­
sonal« bezeichnen eine einzigartige Fähigkeit, ein Geschick, eine Bega­
bung und auch die Fähigkeit, sich selbst unverzichtbar zu machen, privile­
gierte, obwohl untergeordnete Positionen zu besetzen, die ich - in Anleh­
nung an einen militärischen Begriff - obligatorische Passagepunkte ge-
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 501

nannt habe. Techniker, technische Objekte oder Fertigkeiten gelten sofort


als untergeordnet (da die Hauptaufgabe wieder aufgenommen wird), un­
verzichtbar (da das Ziel ohne sie unerreichbar ist) und in gewisser Weise
kapriziös, mysteriös, unberechenbar (da sie von einigen hoch spezialisier­
ten und kaum bestimmten Kniffen abhängen). Daedalus, der Perverse und
Hephaistos, der hinkende Gott sind gute Illustrationen der Bedeutung von
»technisch«. So hat das Adjektiv eine brauchbare Bedeutung, da es die drei
ersten Typen von Übersetzung bezeichnet, die ich oben definiert habe.
»Technisch« bezeichnet auch eine sehr spezifische Art von Delegation,
von Bewegung, von Verschiebung, die in einer Überkreuzung mit Entitä­
ten besteht, die einen anderen zeitlichen Ablauf, andere Eigenschaften, an­
dere Ontologien haben, und die dazu gebracht werden, dieselbe Bestim­
mung zu teilen, wobei sie einen neuen Aktanten schaffen. Hier wird das
Substantiv oft genauso verwendet wie das Adjektiv, sodass wir von »einer
Kommunikationstechnik«, »einer Technik zum Kochen von Eiern« spre­
chen. In diesem Fall bezeichnet das/ Substantiv nicht ein Ding, sondern ei­
nen modus operandi, eine Verkettung von Handgriffen und Know-how, die
ein erwartetes Ergebnis hervorbringt.
Wir wollen zwei Pipetten vergleichen: die, die Pasteur vor einem Jahr­
hundert benutzte, und die automatische Pipette, die heute verwendet wird
und deren Markenname passenderweise »Pipetrnan« ist. Mit einer tradi­
tionellen Pipette muss ich Mengen präzise abmessen, indem ich sorgfältig
durch das transparente Glas schaue und die Übereinstimmung zwischen
dem Flüssigkeitsstand und der kleinen geeichten, in das Glas gravierten
Skala überprüfe. Also brauche ich jedes Mal, wenn ich die Pasteur-Pipette
in die Flüssigkeit tauche, besondere Sorgfalt, bevor ich sie in ein anderes
Gefäß ablasse. Die Eichung der Pipette ist jetzt standardisiert, sodass ich
mich auf die eingravierte Skala verlassen kann. Die Fertigkeiten, die die
neue Pipette von mir verlangt, sind deutlich andere. Beim »Pipetrnan«
brauche ich nur zweimal mit meinem Daumen auf die Spitze des Instru­
ments zu drücken - ein Mal, um Flüssigkeit aufzunehmen, und dann, um
sie wieder abzulassen - und die Knöpfe an der Spitze zu drehen, um die
Menge festzulegen, die ich mit jedem Eintauchen aufnehmen will. Mein
Punkt beim Vergleich dieser beiden Pipetten ist, dass, obwohl sie beide
Fertigkeiten erfordern, die Verteilung dieser anders ist.9 Mit der Pasteur­
Pipette brauche ich ein hohes Maß an Koordination und Kontrolle bei je­
dem neuen Eintauchen; mit der neuen Pipette kann ich mich zumindest
für diesen Handgriff auf Kraft verlassen (wenn ich einmal die Knöpfe ge-

9 1 Steven W. Allison, ein Molekularbiologe an der Comell University, wies


mich darauf hin, dass es tatsächlich eine Menge Kompetenz erfordert, den Sauger
zu drücken und wieder loszulassen. Der wirkliche Unterschied besteht ihm zufolge
in der Präzision, die mit der neuen Pipette erreicht werden kann, die eine Stufe prä­
ziser ist als jene von Pasteur.
502 1 BRUNO LATOUR

dreht habe). Die neue Pipette ist selbst kompetent - das Handlungspro­
gramm wird nun zwischen einer höher kompetenten Pipette und einem
relativ geringer kompetenten menschlichen Pipettenbenutzer geteilt.
Technische Fertigkeit ist nicht etwas, das man direkt untersuchen
kann. Wir können nur ihre Verbreitung unter verschiedenen Typen von
Aktanten beobachten. Man könnte z.B. nicht nur das Aufnehmen von
Flüssigkeit automatisieren, sondern auch die Abgabe; in biologischen La­
boratorien existieren jetzt viele Pipettenroboter. Die Gesamtsumme der Ak­
tivität- meine Beziehung zur Pasteur-Pipette verglichen mit meiner Be­
ziehung zu einem Pipettenroboter - wird beibehalten oder erhöht; ihre
Verteilung jedoch ist modifiziert worden. Gut ausgebildete Techniker wer­
den überflüssig, ungelernte Arbeiter werden eingestellt; hoch technisierte
Firmen werden geschaffen, um Roboter zu produzieren, wo bis vor kurzem
noch einfache Werkstätten genügt hatten. Wie Marx vor langer Zeit gezeigt
hatte, sprechen wir über Verschiebung, Konflikte, Ersetzen, Verlust von,
Zugewinn an und erneutem Erwerb von Fertigkeiten, niemals über ein
bloßes >Ding<, wenn wir über etwas Technisches sprechen. Technische
Fertigkeit ist nicht ausschließlich im Besitz von Menschen und wird nur
zögernd den Nicht-Menschen gewährt. Fertigkeiten treten vielmehr im Um­
feld der Transaktion auf; sie sind Eigenschaften der Gruppierung; sie zir­
kulieren oder werden unter menschlichen und nicht-menschlichen Techni­
kern umverteilt, wobei sie diese zum Handeln befähigen und dazu autori­
sieren.
Wir müssen dann erwägen, wer durch welche Art von Handeln mobili­
siert wird. Unser erster Schritt ist der, die Faltung der Zeit zu suchen, die
eine Eigenschaft technischen Handelns ist. Wenn ich einmal die geeichte
Pasteur-Pipette gekauft habe, dann kann ich mit meiner spezialisierten
Aufgabe fortfahren. Wenn ich einmal die Knöpfe an der automatischen Pi­
pette gedreht habe, dann kann ich auf eine weniger spezialisierte Aufgabe
zurückfallen. Der Sprecher kann sich entfernen. Sogar meine eigene vor­
herige Handlung ist mir nun fremd, obwohl sie noch in einer neuen Ge­
stalt anwesend ist. Durch meinen produktiven Umweg, meine Investition,
ist eine relative Irreversibilität eingesetzt worden.
Wir müssen aber auch die Rolle der ökonomischen Vermittlung in der
Faltung von Zeit und Raum erkennen. Pasteur hätte seine Pipette beim ört­
lichen Glasbläser anfertigen lassen können. Ich kann keine automatische
Pipette herstellen, einen Pipettenroboter schon gar nicht. Was bedeutet,
dass ich beim zweimaligen Drücken eines Instruments mit meinem Dau­
men einen langen Umweg durch den Herstellungsprozess nehme. Natür­
lich ist der Umweg unsichtbar- außer als ein Posten auf einer langen Liste
von Artikeln, die ich mit Forschungsgeldern bestelle-, es sei denn, eine
Krise, entweder in meinem Budget oder in der Pipette, taucht auf oder ich
verlege mein Labor nach Afrika oder Bosnien, in welchen Fällen ich fest­
stellen werde, dass zusätzlich zu der einfachen Aufgabe, zweimal mit dem
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 503

Daumen zu drücken, Pipettieren außerdem noch erfordert, dass ich die


Verlässlichkeit einer immensen Reihe anderer Aktanten sicherstelle. Die
Thematik, die als »Arbeitsteilung« bekannt ist, darf in keinem Fall von der
Frage, was technisch ist, getrennt werden.10
Wenn man jemals mit einem Objekt konfrontiert wird, dann mit ei­
nem, das nicht der Anfang, sondern das Ende eines langen Prozesses sich
stark ausbreitender Vermittler ist, eines Prozesses, in dem alle relevanten
Subprogramme, ineinander geschachtelt, sich in einer >einfachen< Aufgabe
begegnen (z.B. dem Pipettieren). Statt im Königreich der Legenden, in dem
Subjekte auf Objekte treffen, findet man sich für gewöhnlich im Bereich
der juristischen Person, der »personne morale« oder »artificial person«
wieder, die auch als Körperschaft, als »corporate body« bezeichnet werden
kann. Drei außerordentliche Begriffe! Als würde die Person moralisch, in­
dem sie kollektiv wird, oder kollektiv, indem sie künstlich wird, oder als
würde sie zum Plural, indem man das angelsächsische Wort »body« durch
sein lateinisches Synonym »corpus« verdoppelt. Ein »body corporate« ist
das, wozu die Pipette und ich in meinem Beispiel geworden sind. Wir sind
eine Objekt-Institution. Der Punkt klingt trivial, wenn man ihn asymme­
trisch anwendet. »Natürlich,« könnte man sagen, »muss ein Stück Technik
von einem menschlichen Subjekt, einem absichtsvollen Agenten, ergriffen
und aktiviert werden.« Aber mir geht es um Symmetrie: Was für das »Ob­
jekt« gilt - die Pipette existiert nicht allein -, ist sogar noch zutreffender
für das »Subjekt«. Es hat keinen Sinn, von Menschen zu sagen, sie existier­
ten (d.h., sie handelten) als Menschen, ohne in eine Austauschbeziehung
zu treten mit dem, was sie zur Existenz autorisiert und befähigt. Eine zu­
rückgelassene Pipette ist ein bloßes Stück Materie, aber was wäre ein zu­
rückgelassener Pipettenbenutzer? Ein Mensch, ja (eine Pipette ist nur ein
Artefakt unter vielen anderen), aber nicht ein Molekularbiologe. Zweckge­
richtetes Handeln und Intentionalität mögen nicht Eigenschaften von Ob­
jekten sein, aber sie sind auch keine Eigenschaften von Menschen. Sie sind
die Eigenschaften von Institutionen, von Dispositiven (dispositifs). Nur
Körperschaften sind in der Lage, die Verbreitung von Vermittlern aufzu­
fangen, ihren Ausdruck zu regulieren, ihre Fertigkeiten umzuverteilen,
Black Boxes zu schließen und zu schwärzen. »Boeing 747« fliegen nicht,
Fluggesellschaften fliegen.
Objekte, die einfach als Objekte existieren, abgeschlossen, nicht Teil ei­
nes kollektiven Lebens, sind unbekannt, in der Erde begraben. Reale Ob­
jekte sind immer Teile von Institutionen, zitternd in ihrem gemischten
Zustand als Vermittler, die weit entfernte Länder und Menschen mobilisie­
ren, bereit, zu Personen und Dingen zu werden, nicht wissend, ob sie aus

10 1 Das klassische Werk von Emile Durkheim (r893, r984) erwähnt Technik
und Artefakte aber überhaupt nicht.
504 1 BRUNO LATOUR

einem oder mehreren zusammengesetzt sind, aus einer Black Box, die für
eines zählt, oder für ein Labyrinth, das eine Vielzahl in sich birgt. Deshalb
kann die Technikphilosophie nicht sehr weit gehen: Ein Objekt ist ein Sub­
jekt, das nur die Soziologie studieren kann - eine Soziologie aber, die be­
reit ist, sowohl mit nicht-menschlichen als auch mit menschlichen Aktan­
ten umzugehen.

Abbildung 6: Der Eintrittspunkt der Nicht-Menschen in das Kollektiv

Überkreuzung
Crossover

KOLLEKTIV
COLLECTIVE
Übersetzung
Verschiebung Translation
Displacement

In dem neu auftretenden Paradigma (Abb. 6) ersetzen wir das belastete


Wort Gesellschaft durch den Begriff Kollektiv - definiert als ein Austausch
von menschlichen und nicht-menschlichen Eigenschaften innerhalb einer
Körperschaft. Indem wir den Dualismus verlassen, ist unsere Absicht
nicht, die sehr unterschiedlichen Eigenarten der verschiedenen Mitglieder
des Kollektivs zu leugnen. Worum das neue Paradigma sich kümmert, sind
die Schritte, durch die jedes gegebene Kollektiv sein soziales Gewebe auf
andere Entitäten ausweitet. Zuerst gibt es die Übersetzung, das Mittel,
durch das wir in eine andere Materie Eigenschaften unserer Sozialordnung
inskribieren; als nächstes die Überkreuzung (crossover), die aus dem Aus­
tausch von Eigenschaften zwischen Menschen und Nicht-Menschen be­
steht; drittens die Rekrutierung (enrolment), durch die ein Nicht-Mensch da­
zu gebracht, manipuliert oder verführt wird, ins Kollektiv einzutreten; vier­
tens die Mobilisierung (mobilization) von Nicht-Menschen innerhalb des
Kollektivs, die frische, unerwartete Ressourcen einbringen, was in seltsa­
men neuen Hybriden resultiert, und schließlich die Verschiebung (displace­
ment), die Richtung, die das Kollektiv nimmt, wenn seine Form, seine
Ausdehnung und Zusammensetzung geändert worden sind.
Das neue Paradigma bietet eine Basis für den Vergleich von Kollekti­
ven, ein Vergleich, der von der Demographie (sozusagen von ihrem Maß­
stab) vollkommen unabhängig ist. Was wir Wissenschaftsforscher alle in
den letzten r5 Jahren getan haben, ist die Unterscheidung zwischen anti-
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 505

ken Techniken (die poiesis der Handwerker) und modernen Techniken


(großformatig, unmenschlich, dominierend) umzustoßen.
Die Unterscheidung war nie mehr als ein Vorurteil. Es gibt eine außer­
ordentliche Kontinuität, die Historiker und Technikphilosophen in zu­
nehmendem Maße lesbar gemacht haben, zwischen Atomkraftwerken, Ra­
ketenleitsystemen, Computerchipdesigns oder Untergrundbahnautoma­
tion und der antiken Mischung von Gesellschaft und Materie, die Ethno­
graphen und Archäologen seit Generationen in den Kulturen Neuguineas,
des alten England oder des Burgund des 16. Jahrhunderts erforscht haben
(vgl. z.B. MacKenzie 1990; Bijker/Law 1992; Bijker/Hughes/Pinch 1987).
Der Unterschied zwischen einem antiken oder >primitiven< Kollektiv
und einem modernen oder >fortgeschrittenen< ist nicht, dass das Erste eine
reiche Mischung aus sozialer und technischer Kultur manifestiert, wäh­
rend das Letztere eine Technik bar jeglicher Bindung an die Sozialordnung
offen legt. Der Unterschied ist eher, dass das Letztgenannte mit einem fei­
ner gewobenen sozialen Gewebe als das Erstgenannte mehr Elemente über­
setzt, sie einer Überkreuzung unterzieht, sie rekrutiert und auch Elemente
mobilisiert, die enger miteinander verbunden sind. Die Beziehung zwi­
schen der Größe von Kollektiven und der Anzahl von Nicht-Menschen, die
in ihre Mitte rekrutiert werden, ist wesentlich. Man findet natürlich längere
Handlungsketten in >modernen< Kollektiven, eine große Anzahl von mit­
einander verbundenen Nicht-Menschen (Maschinen, Roboter, Geräte), aber
man darf die Größe der Märkte, die Anzahl der Personen in ihrem Um­
kreis, den Umfang der Mobilisierung nicht übersehen: Mehr Objekte, ja,
aber auch viel mehr Subjekte. Jene, die versucht haben, diese beiden Arten
von Kollektiven zu unterscheiden, indem sie der modernen Technik Objek­
tivität und der geringer technisierten poiesis Subjektivität zuwiesen, irrten
sich gründlich. Objekte und Subjekte werden gleichzeitig hergestellt und
eine steigende Zahl von Subjekten ist direkt mit der Anzahl von in ein Kol­
lektiv eingemischten und eingebundenen Objekten verbunden. Das Adjek­
tiv »modern« beschreibt nicht eine zunehmende Distanz zwischen Gesell­
schaft und Technik oder ihre Entfremdung, sondern eine vertiefte Intimi­
tät, eine komplexe Verflechtung zwischen den beiden: nicht homo faber,
noch nicht einmal homo faber fabricatus, sondern homo faber socialis (vgl. La­
tour 1993b).
Ethnographen beschreiben die komplexen Beziehungen, die von jeder
technischen Handlung in traditionellen Kulturen impliziert werden, den
langen und vermittelten Zugang zur Materie, den diese Beziehungen an­
nehmen, das komplexe Muster von Mythen und Riten, das notwendig ist,
um das einfachste Beil oder den simpelsten Topf zu produzieren, als ob ei­
ne Vielfalt von Umgangsformen und religiösen Sitten notwendig wären,
damit Menschen mit Nicht-Menschen interagieren." Aber haben wir denn

11 1 Ein neueres Beispiel findet man bei Lemonnier (1993).


506 1 BRUNO LATOUR

heute unvermittelten Zugang zur bloßen Materie? Mangelt es unserem


Umgang mit der Natur an Riten, Mythen und Protokollen? Wenn man das
glauben würde, ignorierte man die meisten Ergebnisse der modernen Wis­
senschafts- und Technikforschung. Wie vermittelt, kompliziert, vorsichtig,
manieriert, sogar barock ist der Zugriff jedes Stückes von Technik auf Ma­
terie? Wie viele Wissenschaften - das funktionale Äquivalent von Riten -
sind notwendig, um Artefakte für die Sozialisierung vorzubereiten? Wie
viele Personen, Handwerke und Institutionen müssen zum Enrolment für
nur einen Nicht-Menschen am richtigen Platz sein! Die Zeit ist für Ethno­
graphen gekommen, unsere Biotechnologie, künstliche Intelligenz, Mikro­
chips, Stahlproduktion usw. zu beschreiben - die Bruderschaft von antiken
und modernen Kollektiven wird dann sofort offenkundig. Was in den alten
Kollektiven als symbolisch erscheint, wird in den neuen wörtlich genom­
men; in Kontexten, in denen früher ein paar Dutzend Leute gebraucht
wurden, werden nun tausende mobilisiert; wo einst Abkürzungen möglich
waren, sind nun viel längere Handlungsketten nötig. Nicht weniger, son­
• 1
dern mehr und kompliziertere Bräuche und Protokolle, nicht weniger
111
111
Vermittlungen sondern mehr, viel mehr.
11 »Aramis«, eine automatisierte Untergrundbahn im Süden von Paris, ist
1
ein Musterbeispiel dessen, was ich meine - ein schnittiges Stück Materie,
das das menschliche Subjekt (den Passagier) konfrontiert, bereit an Bord
zu gehen.12 »Aramis« hat keinen Fahrer. Der einzige im System verblie­
bene Mensch, der Kontrolleur, kann im Fall des Versagens der Automatik
durch Fernbedienung übernehmen. Der einzige >Fahrer< ist einer der
sechs Bordcomputer. »Aramis« ist ein Zug ohne Schienen und kann nach
Belieben wenden wie ein Auto. Der Passagier hat nichts zu tun, nicht ein­
mal, sich für die Route zu seinem Bestimmungsort zu entscheiden. »Ara­
mis« macht alles. In anderen Worten: der ideale Frankenstein-Mythos: ein
machtloser Mensch, der in einen automatisierten Zug steigt, weit entfernt
von traditionellen Techniken und ihrem reichen sozio-technischen Mix.
Vor ein paar Jahren jedoch, im Juli 1985, wurde das von Ethnographen
und Archäologen nie Gesehene sichtbar: eine Technik, bevor sie ein Objekt
oder eine Institution wird, eine Technik, die noch ein Projekt ist. »Aramis«
war ein maßstabgetreues Modell, wenig mehr als eine Skizze. Um seine
gutartige und futuristische Form versammelt waren Würdenträger, Spre­
cher für miteinander im Konflikt stehende Wahlkreise. Ein Foto dieser Zeit
zeigt den Direktor von RATP, dem Pariser Rapid-Transit-System, ein in
»Aramis« - das Symbol der Modernisierung - verliebter Kommunist (ob­
wohl seine eigenen Techniker der Machbarkeit des Systems extrem skep­
tisch gegenüberstehen); dann der Präsident und der Vizepräsident der Re-

12 1 Zu diesem Beispiel vgl. das Buch »Aramis« von Latour (Originalversion


1992b und in englischer Übersetzung 1996). Für eine kürzere Darstellung vgl. La­
tour (1993c: 372-398).
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 507

gion Ile-de-France, zwei Männer rechts des politischen Spektrums ohne


besondere Interessen an »Aramis« als Symbol für irgend etwas (alles, was
sie wollen, ist ein Transportsystem, Punkt, um den Süden von Paris wieder
fließen zu lassen); dann Charles Fiterman, Transportminister, ein weiterer
Kommunist - einer der drei Kommunisten in der ersten Regierung von
Präsident Mitterand (Fiterman ist ebenfalls auf Modernisierung konzent­
riert, auf Hochtechnologie; ihm fehlt jedoch der Sachverstand, um die
Machbarkeit des maßstabgetreuen Modells zu evaluieren und er ist sowie­
so gerade dabei, die Regierung zu verlassen); und schließlich Jean-Luc La­
gadere, das extravagante Symbol des französischen Hightech-Kapitalis­
mus und der Erbauer von »Aramis«, stark involviert in staatliche Techno­
kratie, jedoch zutiefst skeptisch über die Zukunftsaussichten für den tech­
nischen Erfolg von »Aramis« (er würde eine einfachere automatisierte Un­
tergrundbahn wie VAL in Lille bevorzugen, ist jedoch gezwungen, das mit
offenen Armen willkommen zu heißen, was Fiterman, der Minister, und
Claude Quin, der Direktor von RATP, als das französische Symbol der Mo­
dernisierung betrachten). Zwei Jahre lang haben die Würdenträger das
Projekt diskutiert, das seit 15 Jahren in Planung war. Sie haben sich ver­
sammelt, um denVertrag über den letzten industriellen Test von »Aramis«
zu unterzeichnen.
Wenn man ein Projekt betrachtet, bevor es ein Objekt ist, sieht man
nicht nur die Personen, die es bewohnen, sondern auch die Übersetzun­
gen, die sie bewirken wollen: fünf Sprecher, fünfVersionen von »Aramis«,
die in einem maßstabgetreuen Modell zusammenlaufen, dessen Aufgabe
es ist, ihre Ideen über das politisch Wertvolle, technisch Umsetzbare, Effi­
ziente, Zweckdienliche und Profitable zu versöhnen. Aber was ist mit dem
Technikmythos, der frankensteinschen Autonomie von Design? Lagardere,
Industriekapitän, will eine halbtraditionelle Untergrundbahn wie die VAL,
ist aber gezwungen, seine Ingenieure zu diesem hoch elaborierten System
zu zwingen, um die Kommunisten zufrieden zu stellen, die über einen
möglichen Streik der Fahrergewerkschaft gegen die Automatisierung be­
sorgt sind und deshalb ein System wollen, das sich so stark wie möglich
von einer Untergrundbahn unterscheidet. »Aramis« schluckt die wider­
sprüchlichen Wünsche aller Beteiligten, absorbiert sie und verknotet sich,
widerspricht sich selbst und wird labyrinthisch.
»Aramis« hat nicht genug existiert. Technische Systeme haben viele
Zwischengrade von Realisierung. Nicht lange bevor es Jacques Chirac, den
früheren Premierminister transportierte, war »Aramis« noch eine Baustelle
im Süden von Paris; drei oder vier Jahre später ein Heim für Mittellose,
dann eine schnittige Kabine im Transportmuseum. »Aramis« hörte auf zu
existieren. Nicht ein echter Passagier stieg jemals ein. Von einem Projekt
wurde es kein Objekt, sondern Fiktion. Und selbst wenn es an einem
Punkt als Transportsystem existiert hätte, wäre »Aramis« kein Objekt, son­
dern eine Institution gewesen, eine Körperschaft einschließlich Passagie-
508 1 BRUNO LATOUR

ren, Ingenieuren, Kontrolleuren und vieler Nicht-Menschen, alle sicher in


»Black Boxes« verwahrt. Die Moral dieser Geschichte ist nicht, dass je fort­
schrittlicher Technik wird, desto weniger haben die Leute damit zu tun
(oder desto weniger Leute haben damit zu tun). Im Gegenteil: Um sich von
Fiktion zum Projekt, vom Projekt zum Versuch und vom Versuch zum
Transportsystem zu bewegen, sind sogar immer mehr Leute nötig. Weil so
viele »Aramis« verließen, begann es zu verschwinden und wechselte den
Kurs: vom Versuch zum Projekt, vom Projekt zur Fiktion und von der Fik­
tion zur Utopie, der Utopie eines Personal-Rapid-Transits, den einige ame­
rikanische Städte, die glückselig unwissend über das Schicksal von »Ara­
mis« sind, nun wieder aufnehmen.

Das neue Paradigma ist nicht unproblematisch. Um Menschen und


Nicht-Menschen innerhalb von Kollektiven interagieren zu sehen, Objekte
als Institutionen zu definieren, Subjekte und Objekte in einem korporati­
ven Körper zu verschmelzen, müssen wir wissen, was ein Kollektiv, eine
Institution, eine Körperschaft ist. Die Schwierigkeit ist, dass wir uns nicht
darauf verlassen können, wie die Sozialtheorie diese definiert, da für viele
Soziologen eine Sozialordnung die Quelle der Erklärung ist und nicht das,
was erklärt werden muss. Diese Soziologen beginnen mit der Darstellung
sozialer Phänomene, langwährender sozialer Kontexte, globaler Institutio­
nen, umfassender Kulturen; dann fahren sie mit dem fort, was sie für ihre
wichtige empirische Aufgabe halten, nämlich Entwicklungen und Trans­
formationen zu verfolgen. Für sie steht fest, dass soziale Ordnung existiert.
Die Frage, wie soziale Ordnung auftritt, ist der politischen Philosophie
überlassen, der vorwissenschaftlichen Vergangenheit, aus der Durkheims
Nachkommen entkommen sind. Wir sind, wie die Stiertänzer von Minos,
auf den Hörnern eines Dilemmas. Sozialtheorie ist der Weg jenseits der
Grenzen der Technikphilosophie, aber Sozialtheoretiker erzählen uns, dass
die Emergenz der Sozialordnung nichts als ein philosophischer Mythos sei.
Die Definition des sozialen Kontextes durch die Sozialwissenschaften ist
wenig hilfreich, da sie nicht die Rolle der Nicht-Menschen beinhaltet. Was
Sozialwissenschaftler die Gesellschaft nennen, repräsentiert die Hälfte des
dualistischen Paradigmas, das über Bord geworfen werden sollte. Eine
»Gesellschaft« ist nicht dasselbe wie das »Kollektiv«, wie ich zu definieren
versuche. Um also technische Vermittlung verstehen zu können, müssen
1 '
wir auch einen großen Teil der Sozialtheorie neu definieren und dabei,
fürchte ich, viele philosophische Fragen zu ihr zurückholen, die sie zu
schnell loszuwerden versucht hat.

Glücklicherweise wird unsere Aufgabe durch eine radikale Bewegung in


der Soziologie erleichtert, deren wirkliche Bedeutung und Einwirkung in
der Erforschung von Technik noch deutlich gemacht werden muss, und die
ziemlich schrecklich »Ethnomethodologie« genannt wird. Diese Bewegung
1,

i
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG / 509

nimmt die harmlose Annahme ernst, dass Menschen die Gesellschaft kon­
struieren. Sozialordnung, so argumentieren die Ethnomethodologiker, ist
nicht gegeben, sondern das Resultat einer andauernden Praxis, durch die
die Akteure im Verlauf ihrer Interaktion ad-hoc-Regeln erarbeiten, um ihre
Aktivitäten zu koordinieren. Die Akteure erhalten natürlich Hilfe durch
Präzedenzen, aber diese Präzedenzen genügen nicht aus sich selbst, um
Verhalten zu verursachen, und sie werden übersetzt, rekrutiert, rekonfigu­
riert, (in Teilen) erfunden, um im Hinblick auf die Verschiebung und un­
erwartete Umstände zu genügen. Wir erarbeiten kollektiv ein auftretendes
und historisches Ereignis, das von keinem Teilnehmenden geplant wurde,
und das durch das vor dem Ereignis Geschehene oder das, was anderswo
geschieht, nicht erldärbar ist. Alles hängt von den lokalen und praktischen
Interaktionen ab, in die wir uns im Augenblick einbringen.
Die Theorie erscheint im Hinblick auf die Behauptungen, die die meis­
ten vernünftigen Soziologen und Historiker z.B. über unsere gegenwärti­
gen Umstände machen würden, absurd: Es existiert ein Kontext im großen
Maßstab, der mein Schreiben und Ihr Lesen dieses Artikels erklärt, unser
Wissen, was ein akademischer Artikel ist, was eine Fachzeitschrift macht,
welche Rolle Intellektuelle in Amerika und Frankreich spielen. Der ver­
nünftige Soziologe erzählt dem radikalen, dass der Agent höchstens lokale
Einstellungen in einem seit langem und weit entfernt etablierten Kontext
vornehmen kann. So verlaufen die Debatten zwischen Ethnomethodologie
und dem Hauptstrom der Soziologie seit 30 Jahren und der noch länger
andauernde Disput zwischen Handeln und Struktur.
Das neue Paradigma, das ich zur Erforschung von Technik vorschlage,
umgeht diese Dispute. Geben wir zu, dass die Ethnomethodologen Recht
haben, dass nur lokale Interaktionen existieren, die auf der Stelle eine So­
zialordnung produzieren. Und geben wir zu, dass der Hauptstrom der So­
ziologie Recht hat, dass ferne Handlungen transportiert werden können,
um auf lokale Interaktionen zu wirken. Wie können diese Positionen ver­
söhnt werden? Eine Handlung in der fernen Vergangenheit, an einem weit
entfernten Ort, von nun abwesenden Akteuren, kann unter der Bedingung,
dass sie verschoben, übersetzt, delegiert oder auf andere Typen von Aktan­
ten, die ich hier Nicht-Menschen nenne, verlagert wird, noch anwesend
sein. Mein Textverarbeitungssystem, Ihre Ausgabe von »Common Know­
ledge« der Oxford University Press, die »International Postal Union«, alle
von diesen organisieren, formen und limitieren unsere Interaktionen. Ihre
Existenz zu vergessen - ihre seltsame Art des Abwesend- und Anwesend­
seins -, wäre ein großer Fehler. Wenn wir sagen, dass »wir« hier Anwe­
senden in unsere lokalen Interaktionen engagiert sind, muss die Summe
aller Zusammengerufenen all die anderen personae einschließen, die zu­
vor nach unten verschoben worden sind. »Wir« ist keine einfache synopti­
sche und kohärente Kategorie. Die Idee einer gegenwärtigen und lokalen
Interaktion wird von einer immensen Menge von Nicht-Menschen unter-
510 1 BRUNO LATOUR

graben, von denen jeder durch seine eigenen Verschiebungen in der Zeit,
im Raum und in Aktantenrollen bestimmt ist.
Aus der Schlussfolgerung, dass wir in unseren Interaktionen nicht al­
lein sind, jedoch die Existenz einer umfassenden Gesellschaft zu folgern,
wäre ein ebenso großer Fehler, da dies uns verpflichten würde, die Auf­
merksamkeit von der Mikro- auf die Makro-Ebene zu verschieben, so als
existierte die Makro-Ebene und wäre aus anderen Dingen geschaffen, aus
einer anderen Materie gemacht als die gegenwärtige lokale Interaktion. Der
Disput über die entsprechenden Rollen von Handeln und Struktur, von
»Habitus« und »Feld« (um Bourdieus Formulierung zu verwenden), von
Mikro-Interaktion zum Makro-Sozialkontext enthüllt durch sein eigenes
Versagen die Präsenz/Absenz technischer Vermittlung. Natürlich haben
die Ethnomethodologen Recht, die traditionelle Soziologie mit ihrer phan­
tasievollen Makro-Ebene zu kritisieren, sie haben jedoch Unrecht zu
schließen, dass es so etwas wie eine absolute lokale Interaktion gibt. Keine
menschliche Beziehung existiert in einem Rahmen, der hinsichtlich Raum,
Zeit und Aktanten homogen ist. Der Fehler, den die traditionelle Soziologie
macht, ist jedoch genauso groß, wenn sie zu fragen vergisst, wie ein Unter­
schied des Maßstabs erreicht wird, wie Macht ausgeübt wird, wie Unum­
kehrbarkeit eingeführt und Rollen und Funktionen verteilt werden. Alles in
der Definition der Makro-Sozialordnung kann auf das Enrolment von
Nicht-Menschen zurückgeführt werden, d.h. auf technische Vermittlung.
Sogar der einfache Effekt der Dauer, der lang anhaltenden sozialen Kraft,
kann ohne die Dauerhaftigkeit von Nicht-Menschen, zu denen menschliche
lokale Interaktionen verschoben worden sind, nicht erhalten werden.
Die Sozialtheorie von Technik korrigiert die Soziologie zugleich mit der
Reparatur der Schwächen der Ethnomethodologie. Gesellschaft ist das Er­
gebnis lokaler Konstruktion, aber wir sind auf der Baustelle nicht allein, da
wir dort auch die vielen Nicht-Menschen mobilisieren, durch die die Ord­
nung von Raum und Zeit umgebildet worden ist. Menschlich zu sein er­
fordert, mit Nicht-Menschen zu teilen. Die Sozialtheorie mag bei der Auf­
gabe zu definieren, was menschlich ist, besser sein als die Philosophie,
jedoch nur wenn und insofern sie soziale Komplexität erklärt, die Erfin­
dung von Werkzeugen und das plötzliche Auftreten der Black Box. Ich
denke noch immer an Stanley Kubrick, an seinen gewagten Schnitt, der ei­
nen herumwirbelnden Tomahawk in eine stille Weltraumstation verwan­
delte, die sich langsam in den Tiefen des Alls dreht, aber ich würde natür­
lich gern auf einen Appell an einen außerirdischen Wohltäter verzichten.
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG j 5II

Genealogie13

Elf Uhr morgens: Clairborne sitzt in der Nähe von Niva, schaut sich wach­
sam um. Bevor Clairborne eine Bewegung machen kann, kommt Crook an,
sehr nervös. Sowohl Clairborne als auch Crook wollen Niva gefallen, aber
Clairborne ist ihr alter Freund. Crook ist gerade in der Gruppe angekom­
men und ist so unberechenbar, dass ihm niemand traut. Clairborne bewegt
sich auf Niva zu, aber das hält Crook nicht ab, der fortfährt, näher zu rü­
cken. Die Spannung steigt. Niva ist zwischen widersprüchlichen Empfin­
dungen gefangen; sie möchte fliehen, ist aber dennoch darüber beunru­
higt, Crook allein so nah zu sein. Sie entscheidet sich dafür, neben Clair­
borne zu bleiben, was die sicherere Option zu sein scheint. Die anderen
beobachten sorgsam, um zu sehen, was geschehen wird. Sharman passt
besonders gut auf, da das Ergebnis ihn betreffen könnte. Crook springt auf
Clairborne zu, aber statt wegzulaufen, greift Clairborne Nivas Kind. Das
Kind hält sich vertrauensvoll an seinem großen Freund fest. Plötzlich ver­
schiebt sich die Handlung, als hätte Clairbome einen Schutzschild um sich
selbst und Niva errichtet. Frustriert, jedoch keinen weiteren Schritt auf sie
zu wagend, wendet sich Crook anderem zu, um seine Frustration anderswo
abzureagieren. Wie er vermutet hatte, wird Sharman zur Zielscheibe von
Crooks Aggression. Die zwei laufen davon, während sie Drohungen aus­
tauschen und die kleine Gruppe um Niva entspannt sich. Clairborne
schmiegt sich näher an Niva; das Kind kuschelt sich in ihren Schoß. Nun
hat Sharman das Problem. Es ist n:05 Uhr.
Dieser Ausschnitt einer Seifenoper stammt nicht aus »Dallas« oder ir­
gendeinem anderen Programm, mit dem die Amerikaner die Fernsehgerä­
te in der ganzen Welt erobern, sondern aus Shirley Strums Studie über Pa­
viane in Kenia. Ich möchte den dritten Teil dieser Diskussion nicht mit ei­
nem technischen Mythos wie dem von Daedalus oder dem aus Kubricks
»2001« beginnen, sondern mit dieser exemplarischen Studie einer nicht­
technischen, jedoch hoch komplexen Gesellschaft. Diese Gruppe Paviane,
»Pump-House« genannt, die das Glück hatte, 20 Jahre lang von Strum er­
forscht zu werden, bietet die beste Grundlinie, den besten Richtpunkt, um
festzustellen, was wir mit Techniken meinen, da sie, obwohl das soziale
und politische Manövrieren der Paviane - im Gegensatz zu Schimpansen -
komplex ist, zumindest in der Wildnis ohne jegliche Werkzeuge und Arte­
fakte auskommt. '4

13 1 Eine frühere Version des folgenden Abschnitts ist in einer Sonderausgabe


des »American Behavioral Scientist« erschienen, vgl. Latour (1994: 791-808).
14 I Die obige Passage über das Verhalten der Paviane basiert auf einer Unterhal­
tung mit Shirley Strum aus dem Jahr 1994. Vgl. auch Strum (1987), Latour/Strum
(1986: 169-187), Strum/Latour (1987= 783-802). Der Abschnitt dieses Artikels mit
512 1 BRUNO LATOUR

Was haben menschliche Kollektive, was diese sozial komplexen Paviane


nicht besitzen? Technische Vermittlung - die wir nun zusammenfassen
können: Technische Handlung ist eine Form von Delegation, die uns er­
laubt, während Interaktionen anderswo, früher, von anderen Aktanten ge­
machte Schritte zu mobilisieren. Es ist die Anwesenheit des Vergangenen
und Entfernten, die Anwesenheit nicht-menschlicher Charaktere, die uns
genau von Interaktionen (was wir sofort mit unseren bescheidenen sozia­
len Kompetenzen tun können) befreit. Dass wir keine machiavellischen
Paviane sind, verdanken wir technischer Handlung. Das zu sagen bringt
jedoch keine Homofaber-Mythologie mit sich: Technik gewährt keine Art
von privilegiertem, unvermittelten, unsozialisiertem Zugang zu objektiver
Materie und natürlichen Kräften. »Objekte«, »Materie«, »Kraft« und »Na­
tur« sind sehr spät gekommen und können nicht als Ausgangspunkte ver­
wendet werden. Die traditionelle Definition von Technik als das Aufzwin­
gen einer bewusst geplanten Form auf formlose Materie sollte durch eine
Sicht der Technik - eine zutreffendere Sicht - als die Sozialisation von
Nicht-Menschen ersetzt werden.
Die wichtigste Konsequenz der Kritik am Homofaber-Mythos ist, dass
wir, wenn wir durch technische Delegation Eigenschaften mit Nicht-Men­
schen austauschen, in eine komplexe Transaktion eintreten, die >moderne<
ebenso wie traditionelle Kollektive betrifft. In einem modernen Kollektiv, in
dem die Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen so intim,
die Transaktionen so zahlreich, die Vermittlungen so verschlungen sind,
macht es keinen plausiblen Sinn, Artefakt, Körperschaft und Subjekt zu
unterscheiden. Um einerseits diese Symmetrie zwischen Menschen und
Nicht-Menschen und andererseits die Kontinuität zwischen traditionellen
und modernen Kollektiven zu erklären, muss die Sozialtheorie modifiziert
werden. Es ist ein Gemeinplatz kritischer Theorie zu sagen, Technik sei
sozial, weil sie sozial konstruiert worden ist. Aber diese Erklärung ist sinn­
los, wenn die Bedeutungen von Vermittlung und sozial nicht präzisiert wor­
den sind. Zu sagen, soziale Beziehungen seien in Technik >inskribiert<, so­
dass wir einem Artefakt gegenüber in Wirklichkeit mit sozialen Beziehun­
gen konfrontiert sind, ist eine Tautologie - eine ziemlich unplausible
obendrein. Wenn Artefakte soziale Beziehungen sind, warum muss die
Gesellschaft sich durch sie vermittelt inskribieren? Wieso sich nicht direkt
inskribieren, da die Artefakte ja nicht zählen? Indem sie sich durch das
Medium der Artefakte ausdrücken, verstecken sich Herrschaft und Aus­
schluss hinter der Gestalt von natürlichen und objektiven Kräften: Die kri­
tische Theorie setzt also eine Tautologie ein - soziale Beziehungen sind
nichts als soziale Beziehungen-, dann fügt sie eine Verschwörungstheorie
hinzu - die Gesellschaft versteckt sich hinter dem Fetisch der Technik.

dem Titel »Genealogie« ist eine Fortsetzung unserer gemeinschaftlichen Arbeit. Vgl.
Bijker/Law (1992), Latour (199p), MacKenzie (1990).
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 513

Aber Techniken sind nicht Fetische, sie sind unberechenbar, nicht Mit­
tel, sondern Vermittler, Mittel und Zweck zur selben Zeit; deshalb wirken
sie sich auf das soziale Gewebe aus. Die kritische Theorie ist unfähig zu
erklären, wieso Artefakte in den Strom unserer Beziehungen eintreten,
weshalb wir so kontinuierlich Nicht-Menschen rekrutieren und sozialisie­
ren. Es ist nicht, um soziale Beziehungen zu spiegeln, zu inskribieren oder
zu verstecken, sondern um sie durch frische und unerwartete Kraftquellen
neu zu gestalten. Die Gesellschaft ist nicht stabil genug, um sich in irgend­
etwas zu inskribieren. Im Gegenteil ist es sogar unmöglich, die meisten
der Eigenschaften dessen, was wir mit sozialer Ordnung meinen - Maß­
stab, Asymmetrie, Dauerhaftigkeit, Macht, Hierarchie, die Verteilung von
Rollen -, überhaupt zu definieren, ohne sozialisierte Nicht-Menschen zu
rekrutieren. Die Gesellschaft ist konstruiert, jedoch nicht sozial konstruiert.
Nur der machiavellische Pavian, Kubricks Affe, konstruiert seine Gesell­
schaft sozial. Menschen haben seit Jahrmillionen ihre sozialen Beziehun­
gen auf andere Aktanten ausgedehnt, mit denen sie viele Eigenschaften
ausgetauscht haben und mit denen sie Kollektive formen.
Aber ist Symmetrie zwischen Menschen und Nicht-Menschen wirklich
möglich? Haben nicht Menschen immer die Initiative? Dieser Einwand des
gesunden Menschenverstands ist nicht allgemeingültig vernünftig, da wir
in den meisten unserer Aktivitäten nicht den Menschen eine ursächliche
Rolle zuordnen. Wissenschaftler z.B. erklären gern, dass nicht sie spre­
chen, sondern dass die Natur durch das Medium des Labors und seiner In­
strumente spräche (oder präziser: schriebe). In anderen Worten erledigt die
Realität den Großteil des Sprechens. Wir finden dasselbe Rätsel in der poli­
tischen Theorie (Hobbes' Souverän agiert, aber das Volk schreibt das
Skript) und auch in der Fiktion (Schriftsteller sagen gern, dass sie von der
Muse oder dem schieren Impuls ihrer Charaktere zum Schreiben gezwun­
gen werden), während viele Historiker und Kritiker an noch eine andere
kollektive Kraft appellieren, für die Schriftsteller die expressive Rolle des
Mediums spielen, die der Gesellschaft oder des Zeitgeistes. Ein zweiter
Blick auf jedwede Aktivität untergräbt die einfache, landläufige Idee, dass
Menschen sprechen und handeln. Jede Aktivität impliziert das Prinzip der
Symmetrie zwischen Menschen und Nicht-Menschen oder bietet zumindest
eine widersprüchliche Mythologie an, die die einzigartige Position der
Menschen anficht. Dieselbe Unsicherheit plagt die Technil<, die menschli­
ches Handeln ist, das damit endet, nicht-menschliches Handeln zu sein.
Die Verantwortung für das Handeln muss geteilt, die Symmetrie wieder
hergestellt, die Menschlichkeit neu beschrieben werden: nicht als die allei­
nige, transzendente Ursache, sondern als der vermittelnde Vermittler.

An dieser Stelle sollte eine detaillierte Fallstudie sozio-technischer Netz­


werke folgen, aber viele solcher Studien sind bereits geschrieben worden
und den meisten ist es nicht gelungen, ihre neue Sozialtheorie zu verdeut-
514 1 BRUNO LATOUR

liehen. Diese Studien werden von den Lesern als Paradebeispiele der ,Sozi­
alkonstruktion< von Technik verstanden. Die Leser erklären sich die in ih­
nen versammelten Beweise mit Bezug auf das dualistische Paradigma, zu
dessen Unterminierung die Studien selbst beitragen. Die hartnäckige Ver­
ehrung der ,Sozialkonstruktion< als Erklärungsmittel scheint von der
Schwierigkeit herzurühren, die verschiedenen Bedeutungen des Schlag­
wortes »sozio-technisch« zu entwirren. Dazu muss man die verschiedenen
Schichten der Bedeutung eine nach der anderen ablösen und eine Genea­
logie ihrer Assoziationen versuchen. Außerdem habe ich, nachdem ich
Jahre lang das dualistische Paradigma in Frage gestellt habe, erkannt, dass
niemand bereit ist, eine willkürliche, aber nützliche Dichotomie wie z.B.
die zwischen Gesellschaft und Technik aufzugeben, wenn sie nicht durch
Kategorien ersetzt wird, die zumindest dieselbe unterscheidende Kraft ha­
ben wie die über Bord geworfene. Wir können den Ausdruck »sozio-tech­
nische Netzwerke« ewig herumschieben, ohne uns hinter das dualistische
Paradigma zu bewegen, das wir überwinden wollen. Um mich vorwärts zu
bewegen, muss ich Sie überzeugen, dass man viel feinere Details unter­
scheiden kann, wenn man das neue Paradigma verwendet, das die Unter­
scheidung zwischen sozialen Akteuren und Objekten verwischt. Dies wie­
derum erfordert, dass ich von den zeitgenössischsten Bedeutungen ausge­
he und mich zu den primitivsten hinab bewege. Jede Bedeutung könnte
vage als sozio-technisch beschrieben werden, aber die Neuheit ist, dass ich
in Zukunft in der Lage sein werde, mit einiger Präzision zu qualifizieren,
welche Art von Eigenschaften auf jeder Bedeutungsebene ausgetauscht
oder erfunden werden.
Für meine gegenwärtige Erzählung habe ich elf verschiedene Schichten
isoliert. Natürlich beanspruche ich weder für diese Definitionen noch für
ihre Sequenzen Plausibilität. Ich möchte einfach nur zeigen, dass die Ty­
rannei der Dichotomie zwischen Menschen und Nicht-Menschen nicht un­
vermeidlich ist, da es möglich ist, einen anderen Mythos zu entwerfen, in
dem sie keine Rolle spielt. Wenn ich Erfolg habe und etwas Freiraum für
Imagination öffne, dann stecken wir nicht ewig bei diesem langweiligen
Hin und Her von Menschen und Nicht-Menschen fest. Es sollte möglich
sein, sich einen Raum vorzustellen, der empirisch erforscht werden kann,
in dem wir den Austausch von Eigenschaften beobachten können, ohne bei
A-priori-Definitionen von Menschlichkeit ansetzen zu müssen.

Politische Ökologie (Ebene 11)

Die elfte Interpretation der Überkreuzung (crossover) - der Austausch von


Eigenschaften - zwischen Menschen und Nicht-Menschen ist am einfachs­
ten zu definieren, weil sie die wortwörtlichste ist. Anwälte, Aktivisten,
Ökologen, Geschäftsleute, politische Philosophen reden nun im Kontext
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 515

unserer ökologischen Krise ernsthaft davon, den Nicht-Menschen eine Art


von Rechten und sogar Vertretung vor Gericht zu gewähren. Vor nicht so
vielen Jahren bedeutete eine Betrachtung des Himmels, über Materie oder
die Natur nachzudenken. Heutzutage sehen wir in eine soziopolitische
Wirrnis hinauf, da die Abnahme der Ozonschicht eine wissenschaftliche
Kontroverse, einen politischen Disput zwischen Nord und Süd und im­
mense strategische Veränderungen in der Industrie zusammenbringt. Die
politische Repräsentation von Nicht-Menschen scheint jetzt nicht nur plau­
sibel, sondern notwendig, während die Idee vor gar nicht so langer Zeit
grotesk oder lächerlich erschienen wäre. Wir verspotteten für gewöhnlich
die primitiven Völker, die sich vorstellten, dass eine Unordnung in der
Gesellschaft, eine Verschmutzung, die natürliche Ordnung bedrohen
könnte. Wir lachen nicht mehr so herzlich, wenn wir uns der Verwendung
eines Sprays enthalten aus Angst, der Himmel könnte uns auf den Kopf
fallen. Wie die Primitiven fürchten wir die Verschmutzung, die von unse­
rer Nachlässigkeit verursacht wird.
Wie alle Überkreuzungen, wie jeder Austausch, vermischt diese Ele­
mente von beiden Seiten, in diesem Fall das politische mit dem wissen­
schaftlichen und dem technologischen. Und die Mischung ist nicht eine
willkürliche Neuordnung. Technik hat uns gelehrt, wie wir riesengroße
Gefüge von Nicht-Menschen handhaben; unser neuester sozio-technischer
Hybrid enthält das, was wir bisher auf unser politisches System angewandt
haben. Der neue Hybrid bleibt ein Nicht-Mensch; er hat aber nicht nur
seinen materiellen und objektiven Charakter verloren, er hat Eigenschaften
des Bürgerseins gewonnen. Er hat beispielsweise das Recht, nicht versklavt
zu werden. Die erste Schicht von Bedeutung - die letzte in der chronologi­
schen Sequenz - ist die der politischen Ökologie oder, in Michel Serres'
Terminus, »der Naturvertrag« (vgl. Serres 1990, 1992). Wir haben wörtlich
- nicht symbolisch wie zuvor - mit dem Planeten, den wir bewohnen,
umzugehen und müssen nun eine Politik der Dinge definieren.

Technik (Ebene 10)

Von einer Überkreuzung von Technik und Politik zu sprechen, weist im


gegenwärtigen Mythos (oder in der Pragmatogonie) nicht auf einen Glau­
ben an eine Unterscheidung zwischen einem materiellen Bereich und ei­
nem sozialen hin. Ich entpacke einfach die elfte Schicht und das, was dort
in die Definitionen von Gesellschaft und Technik hineingepackt wurde.
Wenn ich zur zehnten Schicht hinuntersteige, sehe ich, dass unsere Defini­
tion von Technik selbst auf eine Überkreuzung einer vorherigen Definition
von Gesellschaft und einer besonderen Version dessen, was ein Nicht­
Mensch sein kann, zurückzuführen ist. Zur Illustration: Vor einiger Zeit
stellte sich ein Wissenschaftler im Institut Pasteur vor: »Hallo, ich bin der
Koordinator des Hefe-Chromsoms 11.« Der Hybrid, dessen Hand ich schüt-
516 1 BRUNO LATOUR

telte, war zugleich eine Person (er nannte sich »ich«), eine Körperschaft
(»der Koordinator«) und ein natürliches Phänomen (das Genom, die DNA­
Sequenz von Hefe). Das dualistische Paradigma hilft nicht, diesen Hybri­
den zu verstehen. Platziere den sozialen Aspekt auf die eine und die Hefe­
DNA auf die andere Seite und du wirst nicht nur die Daten verderben,
sondern auch die Gelegenheit zu erfahren, wie ein Genom einer Organisa­
tion bekannt wird und wie eine Organisation in einer DNA-Sequenz auf
einer Festplatte naturalisiert wird.
Wir begegnen hier wiederum einer Überkreuzung, aber sie ist von an­
derer Art und verläuft in eine andere Richtung, obwohl sie auch sozio­
technisch genannt werden könnte. Für den von mir befragten Wissen­
schaftler stellt sich die Frage nicht, der Hefe irgendeine Art von Rechten
oder Bürgerschaft zu gewähren. Für ihn ist Hefe nur eine materielle Enti­
tät. Dennoch ist das Industrielabor, in dem er arbeitet, ein Ort, an dem völ­
lig neue Formen von Arbeitsorganisation vollständig neue Eigenschaften in
Nicht-Menschen zum Vorschein bringen. Hefe wird natürlich bereits seit
Jahrtausenden zur Arbeit einges�tzt, z.B. im alten Braugewerbe, aber nun
arbeitet sie für ein Netzwerk von 30 europäischen Laboratorien, wo ihr Ge­
nom entschlüsselt, humanisiert und sozialisiert wird, als Code, als Buch,
als Handlungsprogramm, kompatibel mit unseren Arten der Kodierung,
des Zählens und Lesens, wobei sie wenig von ihrer materiellen Qualität er­
hält. Sie wird in das Kollektiv absorbiert. Durch Technik- im anglophonen
Sinn als eine Verschmelzung von Wissenschaft, Organisation und Indus­
trie definiert - werden die Formen von Koordination, die durch die >Netz­
werke der Macht< (vgl. unten) erlernt wurden, auf disartikulierte Entitäten
erweitert. Nicht-Menschen werden mit Sprache- wie primitiv auch immer
- ausgestattet, mit Intelligenz, Voraussicht, Selbstkontrolle und Disziplin,
sowohl in großem Maßstab als auch auf intime Art. Sozialität wird mit
Nicht-Menschen in einer fast promiskuitiven Art geteilt. Während in die­
sem Modell (der zehnten Bedeutung von »sozio-technisch«) Automaten
keine Rechte haben, sind sie viel mehr als materielle Entitäten; sie sind
komplexe Organisationen.

Netzwerke der Macht (Ebene 9)

Organisationen sind jedoch nicht rein sozial, weil sie selbst neun vorange­
gangene Überkreuzungen von Menschen und Nicht-Menschen rekapitulie­
ren. Alfred Chandler und Thomas Hughes haben jeder die Interpenetra­
tion von technischen und sozialen Faktoren in dem, was Chandler die
»globale Korporation« und Hughes die »Netzwerke der Macht« nennt, ver­
folgt (vgl. Chandler 1990; Hughes 1983). Hier wäre wieder der Ausdruck
»sozio-technische Wirrnis« passend und man könnte das dualistische Pa­
radigma durch das >nahtlose Netz< technischer und sozialer Faktoren er­
setzen, das von Hughes so schön beschrieben wird. Aber der Punkt meiner
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 517

kleinen Genealogie ist es auch, innerhalb des nahtlosen Netzes Eigenschaf­


ten zu identifizieren, die von der sozialen Welt entliehen wurden, um
Nicht-Menschen zu sozialisieren, und umgekehrt: die von den Nicht-Men­
schen entliehen wurden, um die soziale Sphäre zu naturalisieren und aus­
zuweiten. Für jede Bedeutungsschicht geschieht, was auch immer ge­
schieht, als ob wir im Kontakt mit einer Seite ontologische Eigenschaften
erlernen würden, die dann in die andere Seite reimportiert werden, wobei
neue, vollkommen unerwartete Wirkungen erzeugt werden (Abb. 7).

Abbildung J: Fünf aufeinander folgende Bedeutungen


des Sozio-Technischen

Zustand der sozialen Zustand der nichtmenschlichen


Beziehungen Beziehungen

Megamaschine
7.Ebene Überkreuzung

--
Industrie
Gesellschaft der Nichtmenschen, 8.Ebene
Automaten, Maschinen
-�
Netzwerke der Macht Bildung großangelegter
9.Ebene Organisationen mit Nichtmenschen

--
Technologien
Nichtmenschen als Organisationen 10.Ebene
Neumischen intimer Eigenschaften

-�
Politische Ökologie Nichtmenschen mit Rechten
11.Ebene Politik der Dinge

Die Ausdehnung der Netzwerke der Macht in der Stromindustrie, der Te­
lekommunikation, im Transport ist unmöglich vorstellbar ohne eine mas­
sive Mobilisierung von materiellen Entitäten. Hughes' Buch ist für Tech­
nikstudenten exemplarisch, weil es zeigt, wie eine technische Erfindung
(elektrisches Licht) zur Etablierung (durch Edison) einer Korporation vor­
her nie da gewesenen Ausmaßes führte, wobei ihr Ausmaß in direkter Be­
ziehung zu den physischen Eigenschaften der elektrischen Netzwerke
stand. Nicht dass Hughes in irgendeiner Weise von einer Infrastruktur
518 1 BRUNO LATOUR

spricht, die Veränderungen in einer Superstruktur auslöst; seine Netzwer­


ke der Macht sind im Gegenteil vollkommene Hybriden, jedoch Hybriden
einer besonderen Art - sie leihen ihre nicht-menschlichen Qualitäten an
zuvor schwache, lokale und verstreute korporative Körper aus. Die Verwal­
tung großer Mengen von Elektronen, Kunden, Kraftwerken, Niederlassun­
gen, Messgeräten und Verteilzentralen nimmt den formalen und universel­
len Charakter von wissenschaftlichen Gesetzen an.
Diese neunte Bedeutungsschicht ähnelt der elften, mit der wir begon­
nen haben, da in beiden Fällen die Überkreuzung von nicht-menschlichen
zu korporativen Körpern erfolgt. (Was man mit Elektronen machen kann,
kann man auch mit Wählern machen.) Aber die Intimität der Menschen
und Nicht-Menschen ist weniger offensichtlich in Netzwerken der Macht
als in der politischen Ökologie. Edison, Bell und Ford mobilisierten Entitä­
ten, die wie Materie aussahen, die nichtsozial schien, während politische
Ökologie das Schicksal der bereits sozialisierten Nicht-Menschen, so eng
mit uns verbunden, dass sie durch Bestimmung ihrer legalen Rechte ge­
schützt werden müssen, involviert.

Industrie (Ebene 8)

Sogar Technikphilosophen und -soziologen tendieren dazu, sich vorzustel­


len, dass es keine Schwierigkeit gäbe, materielle .Entitäten zu definieren,
weil sie objektiv, unproblematisch, aus Kräften, Elementen, Atomen zu­
sammengesetzt sind. Nur das Soziale, der menschliche Bereich, ist schwie­
rig zu interpretieren, wie wir oft glauben, weil er auf komplexe Weise his­
torisch ist. Aber immer, wenn wir von Materie sprechen, betrachten wir
wirklich, wie ich hier versuchen werde zu zeigen, ein Paket vorheriger
Überkreuzungen zwischen sozialen und natürlichen Elementen, sodass die
von uns für primitiv und rein gehaltenen Begriffe in Wirklichkeit spätere
und gemischte sind. Wir haben bereits gesehen, dass Materie von Schicht
zu Schicht stark variiert - Materie in der Schicht, die ich »politische Ökolo­
gie« nannte, unterscheidet sich von den in den »Technik« und »Netzwerke
der Macht« genannten Schichten. Weit davon entfernt, primitiv, unverän­
derlich und ahistorisch zu sein, hat Materie eine komplexe Genealogie.
Die außerordentliche Leistung des von mir »Industrie« Genannten ist
es, auf die Materie eine weitere Eigenschaft auszudehnen, an die wir im­
mer als ausschließlich sozial, als ein Vermögen, sich mit anderen seiner
Art zu verbinden, denken. Nicht-Menschen haben diese Fähigkeit, wenn sie
Teil eines Gefüges von Aktanten sind, die wir eine Maschine nennen: ein
mit einer gewissen Autonomie ausgestatteter Automat, der Gesetzmäßig­
keiten unterworfen ist, die mit Instrumenten und Berechnungsverfahren
gemessen werden können. Von Werkzeugen, die menschliche Arbeiter in
den Händen halten, verlief die Verschiebung historischerweise zu Gefügen
von Maschinen, wo Werkzeuge sich aufeinander beziehen und dabei ein
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 519

massives Aufgebot von Arbeits- und Materialbeziehungen in Fabriken


schaffen, das Marx als ebenso viele Höllenkreise beschrieb. Das Paradoxon
auf dieser Stufe von Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Men­
schen ist, dass sie mit >Entfremdung< und >Entmenschlichung< bezeichnet
worden ist, als wäre es das erste Mal, dass arme und ausgebeutete mensch­
liche Schwäche mit einer allmächtigen, objektiven Kraft konfrontiert wür­
de. Nicht-Menschen jedoch in einem Gefüge von Maschinen, von Gesetzen
regiert, kontrolliert von Instrumenten, zusammenzubringen, bedeutet, ih­
nen eine Art sozialen Lebens zuzugestehen. Tatsächlich besteht das mo­
dernistische Projekt in der Schaffung dieses besonderen Hybrides: ein fab­
rizierter Nicht-Mensch, der nichts von den Eigenschaften der Gesellschaft
und Politik hat und dennoch die Gesellschaft umso effektiver aufbaut, weil
er von der Menschheit vollkommen entfremdet scheint (vgl. Latour 1993a).
Diese berühmte formlose Materie, im 18. und 19. Jahrhundert so leiden­
schaftlich gefeiert, die da ist, um durch die Genialität des Mannes - jedoch
nicht der Frau - geformt und gestaltet zu werden, ist nur eine von vielen
Arten, Nicht-Menschen zu sozialisieren. Sie sind in einem solchen Ausmaß
sozialisiert worden, dass sie nun das Vermögen haben, ein eigenes Gefüge,
einen Automaten zu erschaffen, der andere Automaten gleichsam mit vol­
ler Autonomie kontrolliert und überwacht, antreibt und einschaltet. Die
»Megamaschine« (vgl. unten) ist auf Nicht-Menschen ausgedehnt worden.
Nur weil wir keine Anthropologie unserer modernen Welt haben, kön­
nen wir die seltsame und hybride Qualität der Materie übersehen, wie sie
von der Industrie angeeignet und eingesetzt wird. Wir nehmen das Materi­
elle als mechanistisch an und vergessen dabei, dass das Mechanische die
eine Hälfte der modernen Definition von Gesellschaft ist. Eine Gesellschaft
von Maschinen? Ja, die achte Bedeutung des Wortes »sozio-technisch«,
obwohl sie eine unproblematische Industrie zu bezeichnen scheint, in der
Materie durch eine Maschinerie dominiert wird, ist die seltsamste sozio­
technische Verstrickung. Materie ist nicht etwas Vorgegebenes, sondern
eine jüngere historische Schöpfung.

Die Megamaschine (Ebene 7)

Aber woher kommt Industrie? Sie ist weder etwas Vorgegebenes noch die
plötzliche Entdeckung der objektiven Gesetze der Materie durch den Kapi­
talismus. Wir müssen uns ihre Genealogie durch frühere und ursprüngli­
chere Bedeutungen des Begriffs »sozio-technisch« vorstellen. Lewis Mum­
ford hat den faszinierenden Vorschlag gemacht, dass die »Megamaschine«
- die Organisation großer Menschenmengen über Befehlsketten, ausge­
klügelte Planung und Buchführung- einen Wandel der Größenverhältnis­
se repräsentiert, der vollzogen werden musste, bevor Räder und Getriebe
entwickelt werden konnten (vgl. Mumford 1966). Ab einem bestimmten
Punkt in der Geschichte wurden menschliche Interaktionen durch eine
520 1 BRUNO LATOUR

große, stratifizierte, externalisierte, politische Körperschaft organisiert, die


die vielen verschachtelten Subprogramme des Handelns kontrolliert, in­
dem sie eine Anzahl von ,intellektuellen Techniken< (hauptsächlich
Schreiben und Rechnen) einsetzt. Sobald sie einige - jedoch nicht alle -
dieser Subprogramme durch Nicht-Menschen ersetzt hatte, wurden Ma­
schinerie und Fabriken geboren. Die Nicht-Menschen treten in dieser
Sichtweise einer Organisation bei, die bereits existiert, und übernehmen
eine Rolle, die seit Jahrhunderten von gehorsamen menschlichen Dienern,
die in die imperiale Megamaschine eingebunden waren, geprobt wurde.
In dieser siebten Episode wurde die Masse von Nicht-Menschen, die
durch eine internalisierte Ökologie - ich werde diesen Ausdruck in Kürze
definieren - in Städten versammelt worden ist, für die Bildung von Impe­
rien eingesetzt. Mumfords Hypothese ist, gelinde ausgedrückt, anfechtbar,
wenn unser Diskussionskontext die Technikgeschichte ist; die Hypothese
ergibt jedoch im Kontext meiner Genealogie durchaus Sinn. Bevor es mög­
lich ist, Handlung an Nicht-Menschen zu delegieren und Nicht-Menschen
miteinander in einem Automaten zu verbinden, muss es zunächst möglich
sein, eine Anzahl von Subprogrammen des Handelns zu verschachteln,
ohne den Überblick zu verlieren. Mumford würde sagen, dass Manage­
ment der Expansion materieller Technik vorausgeht. Eher in der Logik
meiner Erzählung könnte man sagen, dass immer, wenn wir etwas über
das Management von Menschen lernen, wir das Wissen auf Nicht-Men­
schen übertragen und sie mit immer mehr organisatorischen Eigenschaf­
ten ausstatten. Die Episoden mit gerader Nummerierung, die ich so weit
beschrieben habe, folgen diesem Muster: Die Industrie verschiebt das in
der imperialen Maschine über Menschen gelernte Management auf
Nicht-Menschen, so wie Technik das durch Netzwerke der Macht erlernte
groß angelegte Management auf Nicht-Menschen verschiebt. In den Episo­
den mit ungerader Nummerierung wirkt der entgegengesetzte Prozess.
Was von Nicht-Menschen erlernt worden ist, wird wieder importiert, um
Menschen neu zu konfigurieren.

Internalisierte Ökologie (Ebene 6)

Im Kontext der Schicht sieben scheint die Megamaschine eine reine und
glatte, endgültige Form zu sein, die gänzlich aus sozialen Beziehungen be­
steht; wenn wir aber die Schicht sechs erreichen und untersuchen, was der
Megamaschine zugrunde liegt, finden wir die erstaunlichste Ausweitung
sozialer Beziehungen auf Nicht-Menschen: Landwirtschaft und die Domes­
tizierung von Tieren. Die intensive Sozialisierung, Umerziehung und Neu­
konfiguration von Pflanzen und Tieren - so intensiv, dass sie ihre Form,
Funktion und oft auch die genetische Beschaffenheit verändern - bezeich­
ne ich mit dem Begriff »internalisierte Ökologie«. Wie bei unseren ande­
ren Episoden mit gerader Nummerierung kann die Domestizierung nicht
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 521

als plötzlicher Zugang zu einem objektiven materiellen Bereich beschrie­


ben werden, der jenseits des Sozialen existiert. Um Tiere, Pflanzen, Prote­
ine im emergenten Kollektiv zu rekrutieren, muss man sie zuerst mit den
für ihre Integration notwendigen sozialen Eigenschaften ausstatten. Diese
Verschiebung von Eigenschaften resultiert in einer von Menschen gemach­
ten Landschaft der Gesellschaft (Dörfer oder Städte), die das vollständig
verändert, was bis jetzt mit sozialem und materiellem Leben bezeichnet
wurde. Indem wir die Schicht sechs beschreiben, können wir von urbanem
Leben, Imperien und Organisationen sprechen, jedoch weder von Gesell­
schaft und/oder Technik, noch von symbolischer Repräsentation und/oder
Infrastruktur. Die Veränderungen auf dieser Ebene sind so tief greifend,
dass wir den Boden der Geschichte verlassen und jenen der Vorgeschichte
oder Mythologie betreten.

Gesellschaft (Ebene 5)

Was ist eine Gesellschaft- der Anfang aller sozialen Erklärungen, das Vor­
gegebene der Sozialwissenschaft? Wenn meine Pragmatogonie nur annä­
hernd überzeugend ist, kann »Gesellschaft« nicht Teil unserer Terminolo­
gie sein, da der Begriff selbst gemacht, >sozial konstruiert< werden musste,
wie die irreführende Bezeichnung lautet. In der Durkheim'schen Interpre­
tation ist Gesellschaft jedoch tatsächlich etwas Letztgültiges: Sie geht indi­
vidueller Handlung voraus, dauert viel länger als jede Interaktion, domi­
niert unser Leben- sie ist, wohin wir hineingeboren sind, wo wir leben und
sterben. Sie ist externalisiert, verdinglicht, realer als wir selbst und daher
auch der Ursprung aller Religion und jedes religiösen Rituals, die - für
Durkheim - nichts anderes sind als die Wiederkehr dessen, was durch Fi­
guration und Mythos an individuellen Interaktionen transzendent ist.
Und doch wird Gesellschaft selbst durch solche alltäglichen Interaktio­
nen konstruiert. Wie fortgeschritten, differenziert und diszipliniert die Ge­
sellschaft auch sein mag, wir reparieren noch immer das soziale Gewebe
mit unserem eigenen, immanenten Wissen und unseren eigenen Metho­
den. Durkheim mag Recht haben, Garfinkel jedoch auch. Vielleicht ist die
Lösung, entsprechend der generativen Prinzipien meiner Genealogie, jene,
nach Nicht-Menschen zu suchen (das Prinzip: Suche nach Nicht-Menschen,
wenn das Auftreten eines sozialen Charakteristikums unerklärlich ist;
schau dir den Stand sozialer Beziehungen an, wenn ein neuer und uner­
klärlicher Objekttyp das Kollektiv betritt). Was Durkheim als die Wirkung
einer Sozialordnung sui generis missverstand, ist die Folge des Einwirkens
von Technik auf unsere sozialen Beziehungen. Von Techniken lernten wir,
was es heißt, zu überdauern und sich auszudehnen, eine Rolle zu über­
nehmen und eine Funktion zu erfüllen. Indem wir diese Kompetenz in die
Definition von Gesellschaft reimportierten, lehrten wir uns selbst, sie zu
verdinglichen, Gesellschaft unabhängig von flüchtigen Interaktionen Dau-
522 1 BRUNO LATOUR

erhaftigkeit zu verleihen. Wir lernten sogar, wie man an Gesellschaft die


Aufgabe delegiert, uns Rollen und Funktionen zuzuweisen. Mit anderen
Worten: Die Gesellschaft existiert, aber sie ist nicht sozial konstruiert.
Nicht-Menschen breiten sich im Hinterhof der Sozialtheorie aus.

Techniken (Ebene 4)

Auf dieser Stufe unserer spekulativen Genealogie können wir nicht länger
von Menschen, von anatomisch modernen Menschen sprechen, sondern
nur von sozialen Frühmenschen. Jetzt sind wir in der Lage, »Techniken«
mit einiger Präzision zu definieren. Techniken, so lernen wir von den Ar­
chäologen, sind artikulierte Subprogramme für Handlungen, die (in der
Zeit) überdauern und sich (im Raum) ausdehnen. Techniken implizieren
nicht Gesellschaft (den spät entwickelten Hybriden), sondern eine semiso­
ziale Organisation, die Nicht-Menschen aus sehr verschiedenen Zeiten, Or­
ten und Materialien zusammenbringt. Pfeil und Bogen, ein Speer, ein
Hammer, ein Netz, ein Kleidungsstück, sind aus Teilen und Stücken zu­
sammengesetzt, die eine Rekombination von Sequenzen aus Zeit und
Raum erfordern, die keine Beziehung zu ihrem natürlichen Umfeld mehr
haben. Techniken sind das, was Werkzeugen und nicht-menschlichen Ak­
tanten geschieht, wenn sie durch eine Organisation verarbeitet werden, die
sie extrahiert, neu kombiniert und sozialisiert. Sogar die einfachsten Tech­
niken sind sozio-technisch; selbst auf dieser primitiven Bedeutungsschicht
sind Organisationsformen nicht trennbar von technischen Handgriffen.

Soziale Komplikation (Ebene 3)

Aber welche Organisationsform kann diese Rekombinationen erklären?


Man muss sich in Erinnerung rufen, dass es auf dieser Stufe keine Gesell­
sc:haft gibt, keinen umfassenden Rahmen, keinen Rollen- und Funktions­
verteiler, nur Interaktionen zwischen Frühmenschen. Shirley Strum und
ich nennen diese dritte Schicht »soziale Komplikation« (vgl. Strum/Latour
1987). Komplexe Interaktionen werden hier von für diesen Zweck rekru­
tierten Nicht-Menschen markiert und befolgt. Wieso? Nicht-Menschen
stabilisieren soziale Verhandlungen. Nicht-Menschen sind gleichermaßen
formbar und dauerhaft; sie können sehr schnell geformt werden, aber
wenn sie einmal geformt worden sind, halten sie länger als die Interaktion,
die sie formte. Soziale Interaktionen sind extrem labil und vergänglich.
Genauer gesagt sind sie entweder verhandelbar, aber kurzlebig, oder, wenn
sie z.B. in einer genetischen Beschaffenheit kodiert sind, extrem dauerhaft,
jedoch schwierig neu auszuhandeln. Durch den Einbezug von Nicht-Men­
schen wird der Widerspruch zwischen Dauerhaftigkeit und Verhandelbar­
keit aufgelöst. Es wird möglich, Interaktionen zu folgen (oder sie in »Black
Boxes« zu bewahren), hoch komplizierte Aufgaben neu zu kombinieren,
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG j 523

Subprogramme ineinander zu verschachteln. Was komplexe soziale Tiere


unmöglich vollbringen konnten, wird den Frühmenschen möglich, die
Werkzeuge verwenden, nicht um Nahrung zu erhalten, sondern um das
soziale Umfeld zu fixieren, zu markieren, zu materialisieren und zu kon­
trollieren. Obwohl nur aus Interaktionen bestehend, wird der soziale Be­
reich sichtbar und erhält durch die Rekrutierung von Nicht-Menschen -
von Werkzeugen - ein gewisses Maß an Dauerhaftigkeit.

Der Basiswerkzeugkasten (Ebene 2)

Die Werkzeuge selbst, woher sie auch kommen mögen, sind seit hunder­
ten von Jahrtausenden unsere einzigen Zeugen. Viele Archäologen gehen
von der Annahme aus, dass der »Basiswerkzeugkasten« (wie ich es nenne)
und Technik direkt durch eine Evolution von Werkzeugen zu zusammen­
gesetzten Werkzeugen verbunden sind. Es gibt aber keine direkte Linie
vom Feuerstein zum Atomkraftwerk. Weiter gibt es keine direkte Linie -
obwohl viele Sozialtheoretiker annehmen, dass es eine gäbe - von sozialen
Komplikationen zur Gesellschaft, zu Megamaschinen und Netzwerken.
Schließlich gibt es keine zwei parallelen Geschichten, eine Geschichte der
technischen Infrastruktur und eine Geschichte des sozialen Überbaus,
sondern nur eine einzige sozio-technische Geschichte.
Was ist dann ein Werkzeug? Die Ausdehnung sozialer Kompetenzen
auf Nicht-Menschen. Machiavellistische Affen sowie jene Affen, die zu Be­
ginn dieses Abschnitts vorgestellt wurden, besitzen im Hinblick auf Tech­
nik nicht viel, aber können (wie Hans Kummer gezeigt hat) durch komple­
xe Strategien, mit denen sie einander manipulieren und modifizieren, so­
ziale Werkzeuge erfinden (vgl. Kummer 1993). Wenn man den Frühmen­
schen meiner eigenen Mythologie dieselbe Art von sozialer Komplexität
zugesteht, darf man auch annehmen, dass sie durch Verschiebung dieser
Kompetenz auf Nicht-Menschen Werkzeuge erzeugen können, indem sie
einen Stein als einen sozialen Partner behandeln, ihn modifizieren, und
damit auf einen zweiten Stein einwirken. Frühmenschliche Werkzeuge, im
Gegensatz zu den Ad-hoc-Geräten anderer Primaten, stellen die Auswei­
tung einer Kompetenz dar, die im Bereich sozialer Interaktion erprobt
wurde.

Soziale Komplexität (Ebene 1)

Wir haben schließlich die Ebene von Clairbome, Niva und Crook, den ma­
chiavellistischen Primaten erreicht. Hier engagieren sie sich in Garfinkel' -
sehen Interaktionen, um eine stets in Auflösung begriffene Sozialordnung
zu reparieren. Sie manipulieren einander, um in Gruppen zu überleben,
jede Gruppe von Artgenossen in einem Zustand ständiger gegenseitiger
Einmischung. Wir nennen diesen Zustand, diese Ebene, »soziale Kample-
524 1 BRUNO LATOUR

xität« (vgl. Strum/Latour 1987). Ich werde es der umfangreichen Literatur


der Primatologie überlassen zu zeigen, dass diese Stufe nicht freier vom
Kontakt mit Werkzeugen und Technik ist als jede der späteren Stufen.
Stattdessen werde ich die gesamte Genealogie, diese scheinbar dialektische
Historie, die sich nicht auf dialektische Bewegung verlässt, noch einmal be­
trachten. Es ist wesentlich zu wiederholen, dass der Widerspruch zwischen
Objekt und Subjekt nicht der Antrieb des Plots ist. Sogar wenn die von mir
ausgeführte spekulative Theorie vollkommen falsch ist, bietet sie zumin­
dest die Möglichkeit, sich eine genealogische Alternative zum dualistischen
Paradigma vorzustellen. Wir sind nicht für immer in einem langweiligen
Hin und Her zwischen Subjekten und Objekten oder Symbolen und Mate­
rie gefangen. Wir sind nicht begrenzt auf »nicht nur/sondern auch«-Erklä­
rungen. Mein kleiner Ursprungsmythos zeigt die Unmöglichkeit eines Ar­
tefakts ohne soziale Beziehungen und demonstriert die Unmöglichkeit, so­
ziale Strukturen zu definieren, ohne dabei die bedeutende Rolle der
Nicht-Menschen in ihnen zu berücksichtigen.
Zweitens - und noch wichtiger - demonstriert die Genealogie, dass es
falsch ist, wie so viele zu behaupten, dass wir, wenn wir einmal die Dicho­
tomie zwischen Gesellschaft und Technik verlassen haben, mit einem
nahtlosen Gewebe konfrontiert werden, in dem alles mit allem irgendwie
zusammenhängt.
Im Gegensatz dazu können die Eigenschaften von Menschen und
Nicht-Menschen nicht willkürlich ausgetauscht werden. Es gibt nicht nur
eine Reihenfolge im Austausch von Eigenschaften, sondern für jede von
mir abgetragene Schicht wird die Bedeutung des Wortes sozio-technisch ge­
klärt, indem man den Austausch betrachtet: Was ist von Nicht-Menschen
gelernt und in die soziale Sphäre reimportiert worden, was wurde im sozia­
len Bereich erprobt und zu den Nicht-Menschen zurück exportiert? Nicht­
Menschen haben auch eine Geschichte. Sie sind nicht materielle Objekte
oder Zwänge. Sozio-technisch I unterscheidet sich von sozio-technisch 6,
7, 8 oder 11. Durch das Hinzufügen von Nummerierungen sind wir in der
Lage, die Bedeutungen eines Begriffs zu qualifizieren, der bis jetzt hoff­
nungslos wirr war. Anstelle der großen vertikalen Dichotomie zwischen
Gesellschaft und Technik ist ein ganzes Spektrum an horizontalen Unter­
scheidungen zwischen sehr unterschiedlichen Bedeutungen sozio-techni­
scher Hybriden denkbar (und tatsächlich auch verfügbar). Es ist möglich,
unseren Kuchen zu behalten und zu essen - Monisten zu sein und gleich­
wohl Unterscheidungen zu treffen.
Damit soll nicht gesagt sein, dass der alte Dualismus, das vorherige Pa­
radigma, nichts zu sagen hatte. Wir müssen tatsächlich zwischen den Zu­
ständen sozialer und nicht-menschlicher Beziehungen abwechseln, doch
das ist nicht dasselbe wie zwischen Menschlichkeit und Objektivität zu
wechseln. Der Fehler des dualistischen Paradigmas liegt in seiner Defini­
tion menschlicher Natur. Sogar die menschliche Gestalt (unsere Körper) ist
ÜBER TECHNISCHE VERMITTLUNG 1 525

Abbildung 8: Eine mythische Alternative zum dualistischen Paradigma


Zustand sozialer Überkreuzung Zustand nicht-menschlicher
Beziehungen Beziehungen

1. Soziale Komplexität soziale Werkzeuge

Formbarkeit Basiswerkzeugkasten 2.
Haltbarkeit V

3. Soziale Komplexität Artikulation


' -
Externalisierung Techniken 4.
-
5. Gesellschaft Domestizierung
,,
Verdinglichung Internalisierte Ökologie 6.
I

7. Megamaschine Management im
I großen Maßstab

Automat Industrie 8.
I

9. Netzwerke der Macht Ausdehnung


' Reartik ulation
-
Objekte Technologien 10.
Institutionen

11. Politische Ökologie Politik der Natur


I

>GESELLSCHAFT< ,TECHNIK<

zu großen Teilen aus sozio-technischen Aushandlungen und Artefakten


aufgebaut. Menschlichkeit und Technik als polar zu denken bedeutet, sich
die Menschlichkeit wegzuwünschen: Wir sind sozio-technische Tiere und
jede menschliche Interaktion ist sozio-technisch. Wir sind niemals auf so­
ziale Bindungen beschränkt. Wir werden niemals mit Objekten konfron­
tiert. Das letzte Diagramm (Abb. 8) bringt die Menschlichkeit wieder dort­
hin, wohin wir gehören - in den Bereich der Überkreuzung, in die mitt­
lere Spalte, zur Möglichkeit, zwischen Vermittlern zu vermitteln.
Auf jeder der elf Stufen habe ich eine zunehmend große Anzahl an
526 1 BRUNO LATOUR

Menschen verfolgt, die sich mit einer zunehmend großen Anzahl an


Nicht-Menschen mischt bis zu dem Punkt, an dem heute der gesamte Pla­
net in die Entwicklung von Politik, Recht und bald, wie ich annehme, Mo­
ral involviert ist. Die Illusion der Modeme war es zu glauben, dass, je mehr
wir wachsen, desto entfernter Objektivität und Subjektivität würden, wo­
durch eine von unserer Vergangenheit radikal verschiedene Zukunft ge­
schaffen würde. Nach dem Paradigmenwechsel in unserem Verständnis
von Wissenschaft und Technik wissen wir jetzt, dass das niemals der Fall
sein wird, dass das auch niemals der Fall war. Objektivität und Subjektivität
sind nicht entgegengesetzt, sie wachsen zusammen und zwar irreversibel.
Die Herausforderung für unsere Philosophie, Sozialtheorie und Moral ist
es, politische Institutionen zu erfinden, die diese ganze Geschichte, diese
gewaltige Spiralbewegung, diese Bestimmung und dieses Schicksal auf­
fangen können. Zumindest hoffe ich, Sie überzeugt zu haben, dass - wenn
wir unserer Herausforderung begegnen müssen - dies nicht geschieht, in­
dem wir Artefakte als Dinge betrachten. Sie verdienen etwas Besseres. Sie
verdienen es, in unserer intellektuellen Kultur als voll anerkannte soziale
Akteure aufgenommen zu werden.
Vermitteln Sie unsere Handlungen?
Nein, sie sind wir.

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136;
Sozialtheorie und die Erforschung
computerisierter Arbeitsumgebungen
BRUNO LATOUR

Zusammenfassung
Dieser Artikel ist eine von einem Ignoranten niedergeschriebene Medita­
tion, der zu verstehen versucht, welche Veränderungen in seinem Feld, der
Sozialtheorie, durch die Entwicklungen der Informationstechnik und die
Analysen von Soziologen, Spezialisten für Arbeitsbeziehungen, von Orga­
nisationen, situierter Kognition usw. stattgefunden haben. Sie geht von
einem einfachen praktischen Beispiel aus und versucht es zu analysieren,
indem sie neuen Konzepten folgt, die sich aus einer Umverteilung
menschlicher und nicht-menschlicher Komponenten aufgrund der Allge­
genwärtigkeit computerisierter Arbeitsumgebungen ergeben. Im Weiteren
werden die von weitaus informierteren Kollegen geleisteten Beiträge zur
Sozialtheorie angeführt und schließlich soll unter Zuhilfenahme eines sehr
schwerfälligen Vokabulars gezeigt werden, wie wir eine durch die Informa­
tionstechnik und ihre Forscher veränderte Sozialtheorie in treffenderer
Terminologie als der der Netzwerke erklären könnten.

Prolog
»Treffen wir uns um 12:30 Uhr am Bahnsteig des Eurotunnels im Bahnhof
Waterloo«, hatte ich Adam von Paris aus am Telefon vorgeschlagen. »Gut,
ich werde dort sein«, stimmte er diesem Quasi-Vertrag mit dem telefoni­
schen Äquivalent eines Handschlags oder einer Unterschrift zu. Ich hätte
ihn bitten können, mir per Fax eine Bestätigung zu schicken, um mich
doppelt zu vergewissern, dass wir uns trotz der einstündigen Zeitdifferenz,
auf der England gegenüber dem >Kontinent< besteht (vermutlich, um sich
530 1 BRUNO LATOUR

den Vereinigten Staaten näher zu fühlen), auf dieselbe Information geei­


nigt hatten. Weil wir aber Freunde und nicht Geschäftspartner sind, bedeu­
tet unser Wort Bindung genug. Während ich im Zug sitze, scheint sich
jedoch die Bedeutung des Satzes, den wir beide vor ein paar Stunden
geäußert haben, zu verlagern. Er schwebt als Angebot eines Handlungspro­
gramms über mir (und wie ich glaube - ohne sicher zu sein - auch über
Adam), das zwei durch die Vornamen »Adam« und »Helene« bezeichneten
Individuen bestimmte Rollen zuweist und sie dazu veranlasst, in einer
durch gewisse Wahrzeichen bestimmten Raum- und Zeitbahn zu zirkulie­
ren- Paris, London, Bahnhof Waterloo (nebenbei bemerkt kein besonders
schönes Etikett, um eine Französin willkommen zu heißen) - und andere
Markierungsarten wie Bahnsteignamen oder -nummern oder Zeiger einer
Uhr, die auf 12:30 Uhr zeigen. (Natürlich habe ich nicht erwähnt, ob damit
am Tag oder in der Nacht gemeint war, weil ich mich auf das implizite
Wissen verließ, was >natürlich< ist und keiner besonderen Erwähnung
mehr bedarf, dessen ich mir aber nun- während ich beunruhigt auf mei­
nem bequemen Platz sitze - doch nicht mehr vollkommen sicher bin.)
Während ich lesend den Kanaltunnel passiere, mache ich gleichzeitig eine
sehr verbreitete Art von Geistreise-Erfahrung durch, denn jetzt gibt es
mindestens zwei Helenes, eine, die hier sitzt, und eine andere, von der das
einvernehmlich bestimmte Handlungsprogramm erwartet, dass sie Adam
an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit- in einer Stunde ab
jetzt trifft (d.h. 20 Minuten, falls die verdammten Briten es geschafft ha­
ben, ihre Verbindung so zu beschleunigen wie die Franzosen). Wenn wir
einander treffen, werde ich nicht nur wieder mit Adam vereint sein, son­
dern der Adam-des-Skripts wird mit dem Adam-aus-Fleisch-und-Blut über­
einstimmen und die Helene-des-Skripts wird Helene-am-Eurotunnel­
Bahnsteig treffen, der- wenn alles gut geht- derselbe Bahnsteig wie der
des Skripts ist. Das sind jedoch alles riskante Zufälle. Der Zug könnte
Verspätung haben - möglich-, Waterloo könnte umgetauft worden sein,
um den Franzosen eine Freude zu machen, und jetzt »Austerlitz« heißen-
ziemlich unwahrscheinlich-, Adam könnte sich verspäten- schon wahr­
scheinlicher. Nur dann, wenn alle Bedingungen glücklich erfüllt sind,
werden wir das über uns schwebende Skript vergessen und uns nach
einem freundschaftlichen Begrüßungskuss in Richtung Nationalgalerie
aufmachen können.

Verschiedene Arten von Delegierten

Was hat diese Anekdote mit natürlicher oder künstlicher Intelligenz,


Informationstechnik und Organisationen zu tun? Eine Menge, wie wir
später sehen werden, nachdem wir ihre verschiedenen Stränge voneinan­
der gelöst und analysiert haben.
SOZIALTHEORIE & ERFORSCHUNG COMPUTERISIERTER ARBEITSUMGEBUNGEN J 53I

Mithilfe des Telefons haben Helene und Adam einander eine Geschichte
über London, Züge, Bahnhöfe, Waterloo und einen Besuch in der Natio­
nalgalerie erzählt, die sich, isoliert betrachtet, nicht von Tagträumen oder
Romanen unterscheidet. Gemeinsam haben sie - einer dem anderen An­
stöße gebend - eine mögliche Welt erfunden, in der sie sich treffen und
wieder Freunde sein konnten (vgl. z.B. Pavel 1986). Im Verlauf der Ge­
schichte delegierten sie ebenfalls »Adam« und »Helene« genannte Charak­
tere, die Handlungen ausführen, sich treffen, reden und einem bestimm­
ten Pfad vor dem Hintergrund von Markierungen namens »London«,
»Waterloo« und »Trafalgar Square« folgen konnten. Indem sie ihrer Ge­
schichte Charaktere verliehen, die ihnen selbst teilweise ähnlich und teil­
weise verschieden von ihnen waren und die innerhalb dieses anderen Refe­
renzrahmens neue und unmögliche Handlungen ausführten, durchlebten
sie eine andere Art von Geistreise-Erfahrung. Wie im Film von Woody
Allen, in dem Bogart das Gespräch des zu unbeholfenen Woody an sich
nimmt, verdoppeln sie sich und fügen ihrem eigenen Selbst eine Reihe von
Klonen hinzu.
Die Geschichte hätte jedoch eine vollkommen andere Wendung ge­
nommen, wenn sie am Telefon beschlossen hätten, dass die Welt, die sie
bislang mit ihren Doppelgängern bevölkert hatten, nicht länger eine mögli­
che Welt sei, sondern dass sie sich stattdessen von nun an an ein Hand­
lungsprogramm, ein Skript, binden wollten, dass Rollen und Bahnen an sie
delegiert.' Sie organisierten eine gemeinsame Reise nach London; dabei
war das Skript eine Art Sendschreiben ihrer zukünftigen Aktivität gewor­
den. Sie mussten nun die ihnen zugeteilten Rollen erfüllen, obwohl sie
noch vor einigen Minuten selbst ihnen ähnelnde Charaktere in einen ande­
ren Raum und eine andere Zeit ausgesandt hatten. Ohne viel an ihrem
materiellen Inhalt zu verändern, hatte die Geschichte, die sie einander
erzählten, die Gestalt einer Organisation angenommen. Sie konnten sie
nach Gutdünken abändern; nachdem sie aber einmal aufgelegt hatten und
keine Möglichkeit mehr bestand, einander noch einmal anzurufen, über­
nahm das Skript und schränkte ihren Handlungsspielraum ein. Helene­
und Adam-in-Fleisch-und-Blut stellen nun die delegierten Charaktere ihrer
eigenen Geschichte dar - der Punkt ist nur, dass es sich nicht länger um
ihre eigene Geschichte handelt.
Die Charaktere in der Geschichte mögen sich ändern. Und weil sie sich
ändern, indem sie z.B. schnelle Verschiebungen nach außen in andere
Zeiten, an andere Orte oder Aktanten vornehmen, erstellen sie viele ver­
schiedene Welten, die einige Minuten zuvor noch nicht einmal in der Vor­
stellung existierten. Charaktere im Skript teilen Rollen, Verabredungen,
Performanzen in einer Ort- und Zeitbahn zu, was ebenfalls etwas Neues

1 1 Vgl. z.B. Taylor (1993) oder das Werk von Barbara Czarniawska über Organi­
sationen als besondere Diskursforrnen.
532 1 BRUNO LATOUR

hervorbringt, obwohl diese Neuheit von anderer Art ist als die der Ge­
schichte. Statt neue Welten zu erschaffen, aktualisiert diese Zuteilung eine
Welt, in der Adam-aus-Fleisch-und-Blut Helene-aus-Fleisch-und-Blut um
12:30 Uhr in London trifft, indem sie Akteure und Funktionen in einer

räumlichen und zeitlichen Bahn verteilt.


Das Skript, das Aktivitäten zuteilt, um eine mögliche Welt zu aktuali­
sieren, ist selbst zu schwach, um seine delegierten Charaktere an sich zu
binden. Um dem Skript die Haltbarkeit eines Quasi-Vertrages zu verleihen,
der sicherstellt, dass Helenes und Adams Persönlichkeiten und Wünsche
stabil genug sind, um die Spanne von Zeit und Ort zu überwinden, bis sie
sich küssen, muss ihm noch Rechtsverbindlichkeit hinzugefügt werden.
Die Charaktere der Geschichte und des Skripts sind nun mit Ketten anein­
ander geschmiedet, die die Grenzen von Raum und Zeit überspannen. Da
sie Freunde sind, müssen sie dieser Bindung nicht durch den Einsatz von
Faxen, Unterschriften, Rechtsvertretern und -anwälten oder Formularen
Nachdruck verleihen. Die Zustimmung am Telefon ist das einzig Notwen­
dige, um die Isotopie aller Charaktere durch Zeit und Raum zu gewährleis­
ten. Helene vertraut Adam; sie erkennt die Aufrichtigkeit seiner Stimme
und den Ton unanfechtbarer Verpflichtung; sein bisheriges Verhalten war
makellos. Freundschaft und Vertrauen genügen, um den Willen ohne
große Deformierungen durch Raum und Zeit zu tragen. Würden die Dinge
jedoch einmal auf unerwünschte Weise ablaufen - würden Züge zusam­
menstoßen, Morde begangen, Helene gekidnapped usw. -, kämen Rechts­
anwälte und Papierkrieg zum Vorschein. Spuren des informellen Quasi­
Vertrages würden bei Telefongesellschaften, Eurotunnel-Computern, ange­
zapften Leitungen usw. verfolgt, um den Beweis anzutreten, dass die bei­
den ein Treffen geplant hatten (Detektive sind sehr gut darin, die unwahr­
scheinlichsten Spuren informellen Austausches und Beweise, die niemand
erwartet hätte, zu finden).
Adam und Helene haben der Geschichte, dem Skript, den Bindungen
des Quasi-Vertrags Referenzen auf Orte und Zeiten wie »Bahnhof Water­
loo« und »Eurotunnel-Bahnsteig« hinzugefügt. Sie bringen diese Aktanten
nicht in ihre Skripts, sondern sie spielen durch eine Form, einen Namen,
eine Beschreibung auf sie an, die keine irgendwie geartete Ähnlichkeit mit
dem haben, worüber sie sprechen, sondern die Informationen darüber
tragen. Mehrere Delegierte stehen.für Bahnhof Waterloo oder London und
zirkulieren auf eine Weise, dass einige in diesem Prozess etablierte Pfade
durch Raum und Zeit jene Formen zu ihren Referenzpunkten zurückver­
binden können.2 Helene, die niemals zuvor im Bahnhof Waterloo war,
wird nicht in der Lage sein, den Bahnhof zu erkennen; sie kann jedoch die
großen Buchstabenzeichen lesen, die in Form eines Schildes über ihrem
Zielgleis hängen: W-A-T-E-R-L-0-0. Sie wird wissen, dass sie am richtigen

2 1 Für ein Beispiel aus einem wissenschaftlichen Feld vgl. Latour (1995).
SOZIALTHEORIE & ERFORSCHUNG COMPUTERISIERTER ARBEITSUMGEBUNGEN 1 533

Ort ist, weil sie die Entsprechung der von ihr niedergeschriebenen Infor­
mation und der großen Zeichen, die sie jetzt durch ihr Fenster sieht, er­
kennt. »Entsprechung« und nicht »Ähnlichkeit« führt sie beide durch die
blinden, referentiellen Ketten. (Adam jedoch, der aus London stammt, wird
diese Etiketten überhaupt keines Blickes würdigen; stattdessen wird er in
alte Routinen zurückfallen und von seiner Wohnung aus durch die Straßen
zum Bahnhof gehen, wobei er gelegentlich seinen Weg ohne nachzuden­
ken anpasst, um einige Straßensperren zu umgehen, und er dabei das ihm
natürlich Erscheinende als nächstes tut. )3
Wer spricht via Telefon? Wer reist nach London? Nicht nur Adam und
Helene. Wenn man eine Unterhaltung von Paris nach London führen
möchte, braucht man dazu entweder eine sehr laute Stimme oder einen
langen Atem und einen sportlichen Körper, um das Laufen und Schwim­
men von einem Punkt zum anderen bewältigen zu können - und eine
Menge Zeit. Möglicherweise wird Helene auf dem Weg durch diese An­
strengungen etwas altem oder sogar ertrinken. Adam, Helene, Elektronen,
Ziffern und Telefongesellschaften erledigen das Sprechen; Helene, die
Züge, die französische Bahngesellschaft SNCF und der Eurotunnel das
Reisen. Millionen von Delegierten übernehmen wiederum die Aufgaben
des Sprechens und Reisens und gewähren, erlauben, gestatten, autorisie­
ren Adams und Helenes Treffen. Nicht das Treffen dieser Helene und
dieses Adams, sondern eines Adams und einer Helene der vielen, statistisch
Erwartbaren, für die Telefone konstruiert, Sitze entworfen und Fahrpreise
und Wochenendtarife erdacht worden sind. Konsumenten werden dabei
auf kleine, fein auf den Markt abgestimmte, durch kluge Ergonomie mit
gemittelten Körpermaßen und Gewichten versehene, sozioprofessionelle
Kategorien reduziert. Für diese Helene bedeuten die Hunderten von Dele­
gierten nichts: Sie steigt nur in den eleganten Zug ein; sie handeln jedoch
alle gleich. In Hinsicht auf den Eurotunnel stellt Helene nur eine von (er­
hofften) Millionen von Passagieren dar - die Eingabe einer Benutzerin an
der Tastatur des Fahrkartenschalters (obwohl die Angestellte im Rahmen
eines von der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit entworfenen Trainings­
programms dazu angehalten wurde, die anonyme Beziehung durch ein
Lächeln zu >personalisieren<).
Die Eisenbahnschienen, Telefonleitungen, Software - sogar der wun­
derschöne Schirm des Eurostar-Bahnhofs Waterloo, die Sitze -, sie alle
sind nicht aus dem Grund verlässlich und stabil, weil sie die Außenwelt
bilden, in der Helenes menschliche Interaktion mit Adam stattfindet,
sondern weil jedes von ihnen von anderen Aktanten, die ein anderes Ti­
ming haben, abhängen.4 Das Silikon der Chips, der Stahl der Kuppel, das

3 1 Zur in einer Organisation angelegten Routine vgl. das klassische Werk von
Suchmann (1987).
4 1 Zum Begriff der technischen Delegierten vgl. Latour (r994a).
534 1 BRUNO LATOUR

geschäumte Plastikmaterial der Sitze haben einen weiten Weg durch Raum
und Zeit hinter sich gebracht und setzen in anderer Anordnung, umarran­
giert und neu verbunden ihre Handlungen fort, wobei sie der flüchtigen
Interaktion, in der zwei junge Leute sich den Bruchteil einer Sekunde lang
am Eurotunnel-Bahnsteig küssen, einen stabilen Hintergrund bieten. Das
Paar kann seine Pläne ändern oder die Reise absagen; die Chips, der Stahl­
rahmen, der Waggon werden - vorausgesetzt, dass Inspektoren, Ingenieu­
re und Wartungsmannschaften sich vorschriftsmäßig um sie kümmern -
überdauern. Der Intersubjektivität ihrer Beziehungen muss die Interobjek­
tivität aller dieser gefalteten Delegierten, von denen sie in so hohem Maße
abhängen, hinzugefügt werden (Latour 1994b).
Wir treffen die Helene-am-Telefon, die wir der Einfachheit halber
»Helene-aus-Fleisch-und-Blut« nennen, dann den nach London fahrenden
Helene-Charakter in der Geschichte, dann die vom Skript delegierte He­
lene, die die von ihr erwartete Rolle erfüllt, dann die mittels Verträgen und
Verbindlichkeiten durch Zeit und Raum stabilisierte Helene, dann die
vielen statistischen, in das System, das Marketing und in Telefongebühren
und Eisenbahngesellschaften inskribierten Helene-ähnlichen Kundinnen
und Konsumentinnen. Eine ganz schöne Menge an Helenes! Bei all denen
sind bis jetzt noch jene unerwähnt geblieben, die Adam erwartet, und die
vielleicht, durch Kristallisierung und Kondensierung aus einer Vielzahl von
Müttern, Körpern, Tieren und Dschinns heraufbeschworen, mehr Ähn­
lichkeit mit Traumidolen haben als mit der schönen, vergänglichen und
unverlässlichen Helene, die in einen roten Mantel gehüllt aus dem Zug
steigt und aus tiefblauen Augen lächelt. Dann gab es die vielen Delegierten,
die hin und zurück durch verschiedene referentielle Ketten reisten, wobei
sie Orten, Aktanten und Zeiten den Übergang in verschiedene Formen
und Darstellungen - und wieder zurück dorthin, woher sie gekommen
waren - erlaubten. Dabei ist noch nicht einmal die Metrologie berücksich­
tigt, die unter großem Aufwand die Verbindung aller Uhren Europas er­
möglicht, sodass die große mechanische des »Big Ben«, oberhalb der
Themse, mit der hochtechnisierten digitalen über dem Bahnsteig und
derjenigen an Adams Handgelenk, auf die er nervös schaut, überein­
stimmt. Steine, Stahl, Software, Türschließer, Schalter und Aufzüge, hun­
derte vdn Ingenieuren, Arbeitern, Designern, Architekten, Büroangestell­
ten und Millionen von anderen Elementen teilen durch ihre fortwährende
Vermittlung die Interaktion des Paares, dass, hie et nunc, nun vereinigt ist.
Ob diese Delegierten an- oder abwesend, still oder bedeutungsvoll sind -
immer beeinflussen sie durch Aktionen des im Voraus Organisierens,
Anzeigens, Erzwingens, Verbietens, Gewährens oder Erlaubens den Zick­
zack-Kurs, dem die beiden Freunde gerade über den weißen Boden der
Eingangshalle des Bahnhofs Waterloo Richtung Ausgang folgen.
SOZIALTHEORIE & ERFORSCHUNG COMPUTERISIERTER ARBEITSUMGEBUNGEN 1 535

In welcher Art von Welt existieren


computerisierte Arbeitsumgebungen?
Die Art von Welt, die ich schwerfällig zu beschreiben versuchte, indem ich
den Delegierungspfaden statt deren Komponenten folgte, ähnelt zwei
anderen, in denen die Computer nach und nach und mit einigem Erfolg
Einzug gehalten haben; gleichzeitig unterscheidet sie sich aber auch in
wesentlichen Merkmalen von ihnen. Die erste betrachtete Menschen als
irrelevant, die zweite versuchte, die Nicht-Menschen so weit wie möglich
auszugrenzen, während die dritte so weit wie möglich und mit allen damit
verbundenen Konsequenzen in erster Linie die Unmöglichkeit verfolgt, das
Menschliche und das Nicht-Menschliche zu positionieren.5
Die erste Welt umfasste effiziente Maschinen, akkurate Fakten und
profitable Märkte, die von nahezu vollständig auf Kalkulationen reduzier­
baren Menschen produziert wurden - bis zu dem Punkt, an dem niemand
mehr eine innerhalb einer menschlichen Maschine gemachte Kalkulation
von einem automatischen Menschen außerhalb seines Körpers unterschei­
den konnte. In einer solchen Welt existieren natürlich auch noch ein paar
Nischen von Unordnung, Leidenschaft, Gefühlen und politischer Aktivität,
aber sie überschreiten die Größe von Nischen nicht, die -wie kleine Teiche
nach einem Sturm - unter der warmen Sonne der Vernunft austrockneten.
Vom Prinzip der universellen Kalkulierbarkeit genährt griffen Träume von
Klarheit um sich, Träume von automatisierten Fabriken, transparenter
Kommunikation, kybernetischer Rückkoppelung, von Robotern, die end­
lich dem bislang körperlosen, von so vielen Philosophen ersonnenen
Konzept der Vernunft Körperlichkeit verliehen (wobei diese Philosophen -
lange vor Chips und Silikon - noch keine Ahnung davon hatten, dass sie
über Computer sprachen, wenn sie das Denken, den Sittenkodex, Gesell­
schaften und die Mathematik zu reformieren suchten6 ). In den 195oern
und 6oern schien das Zusammentreffen von Philosophie, Hirnforschung,
Sozialreformen, Weltmärkten und dem Beginn der Computer-Ära so kraft­
voll zu sein, dass jeder diesen Traum von der absoluten Klarheit teilte (ich
meine jetzt die wenigen, die der Meinung sind, dass sie für alle zählen).
Dennoch sind auch solche Träume von der Klarheit noch Träume, also
verworren und unscharf. Wirrheit schlich sich bald ein, und so genannte
»Softies« machten uns mit einem zweiten Weltbild bekannt. Computer
haben auch Fehlleistungen - oder »Bugs« -, Software-Ingenieure stellen

5 1 Für gewöhnlich gelingt das Romanautoren - wenn sie einmal auf dem
richtigen Weg sind - besser als Sozialtheoretikern, wie man beim Lesen des außer­
ordentlich subtilen Buches von Powers (r995) feststellen kann. Dank an Geff Bow­
ker für diesen und andere Hinweise.
6 1 Dies wird von Gardner (r985) sowie in einigen Artikeln von Phil Agre ver­
deutlicht.
11 '
536 1 BRUNO LATOUR
1

,, 1
1

l' eine ziemlich unberechenbare Gruppe dar, Organisationen sind so brüchig


und unbeständig, dass viele große Systeme zusammenbrechen; menschli­
che Experten scheinen oft etwas in ihren Fingerspitzen zu spüren, das
nicht einfach über eine Tastatur zu vermitteln ist, während Rechtsanwälte
oft über die unheimliche Fähigkeit zu verfügen scheinen, anhand von
Rechtsstreiten und Urheberschutzgesetzen Zugang auf die Software zu
haben. Kunden weigern sich hartnäckig, die Spezifikationen, deren Im­
plementierung sie wünschen, genau zu benennen oder erwarten ständig
Änderungen und neue Features, weil sie an die so lautstark herausposaun­
te Leichtigkeit und Transparenz glauben. Wie in einer Vordergrund-Hin­
tergrund-Verlagerung in der Gestalttheorie kehrte sich das Bild plötzlich
um und Computertechnologien, Expertensysteme und Informationswis­
senschaften erschienen nun als kleine Nischen, winzige Mikrotheorien,
kleine und zerbrechliche Experimente innerhalb .eines menschlichen,
organisatorischen, sozialen und politischen Durcheinanders, das keine
Anzeichen des allmählichen Verblassens zeigte. Statt der Transparenz
wuchs die Undurchsichtigkeit. Alle diese aufeinander gestapelten Black
Boxes innerhalb weicher Organisationen und sich verlagernder Märkte
sorgten sogar für eine noch größere Verwirrung.
Es hieß, die menschliche Dimension sei vergessen worden7; nun sei
das subjektive, absichtsvolle, interaktive menschliche Wesen zurückgekehrt
(Lave 1988 hat eine beeindruckende Studie dazu vorgelegt). Es wurde
argumentiert, dass Organisationen und politische Kräfte berücksichtigt
werden müssten, da sie den Hintergrund und die Logistik der Computer­
systeme geliefert hatten. Wurden wir nun nach dem Triumph der Inge­
nieure in der ersten Welt Zeugen der Rache der Soziologen, Psychologen,
Ethnographen, Hermeneutiker, Managementexperten, Organisationswis­
senschaftler und anderer »Softies«, um uns ein Bild der zweiten zu vermit­
teln?
Ich bin nicht dieser Meinung. Das Feld umfasst bereits bedeutend
mehr als die Verteidigung der Menschlichkeit innerhalb von Mikrochips.
Die Arbeiten von Susan Leigh Star über computerisierte Arbeitsumgebun­
gen (vgl. z.B. Star 1989), von Ed Hutchins über kognitive Anthropologie
(Hutchins 1995), von Lucy Suchman und Charles Goodwin über Koordina­
tion in Arbeitsumgebungen8, von Laurent Thevenot (1994) über bekannte
Vorgehensweisen, ergänzend zu wissenschafts- und sozialgeschichtlichen
Forschungen9 und von Wissenschaftssoziologen wie z.B. John Law, die

7 1 Wenigstens für die allgemeine Öffentlichkeit wird diese Position von Dreyfus
(1992) gut vertreten.
8 1 Vgl. z.B. die großartige Arbeit über kognitive Gruppenarbeit auf einem
ozeanographischen Schiff von Goodwin (r995).
9 1 Unter diesen gilt die von Simon Schaffer vorgelegte Arbeit als besonders mit
SOZIALTHEORIE & ERFORSCHUNG COMPUTERISIERTER ARBEITSUMGEBUNGEN 1 537

sich der Organisation zugewendet haben, deuten auf eine vollständige


Neudefinition der Trennung zwischen den beiden Welten hin. In der
Aussage »Informationswissenschaft und künstliche Intelligenz in mensch­
lichen Organisationen« sind nur die beiden Begriffe »und« und »in« unbe­
schadet davongekommen. Jedes andere Wort hat Umformungen bis zur
Unkenntlichkeit durchgemacht. Weder das Bild der ersten noch das der
zweiten Welt scheint mit diesen Veränderungen umgehen zu können.
Paradoxerweise gibt es noch immer Leute, die die Entwicklung solcher
Terminologie befürworten - oder fürchten -, obwohl ihre Einführung
praktisch zur vollkommenen Auflösung jedes einzelnen Begriffes führte.'0
Nehmen wir z.B. das Menschliche. Natürlich versteht man darunter
nicht länger eine kalkulierende Entität, die einfach in Silikonchips umzu­
wandeln ist. Aber ebenso sicher handelt es sich dabei auch nicht um eine
subjektive, reflexive, intentionale, verkörperte Entität. Ihre Kognition wurde
nicht nur verteilt und neu situiert, sondern auch von vielen intelligenten
Technologien geteilt; das geht so weit, dass die Erforschung eines Men­
schen gleichbedeutend mit der eines Feldes von Kräften und dem Aus­
tausch von Dokumenten, Instrumenten, Ideographien durch ein Kollektiv
gleichermaßen verteilter Einzeleinheiten ist, von denen einige anthropo­
morph aussehen, viele aber nicht. Der Traum der Ingenieure bestand da­
rin, einen Menschen in eine rationale Maschine zu verwandeln, während
der der Humanisten im Gegenzug dazu die Wiedergewinnung eines inten­
tionalen, reflexiven und kohärenten Trägers von Werten umfasste. Das
Ergebnis ist ein ziemlich bizarrer Cyborg, der weder einer Maschine noch
einem Menschen ähnelt.u Die Veränderungen, denen der Intelligenzbe­
griff sich unterziehen musste, sind genauso drastisch. Die Einführung so
vieler intelligenter Technologien - vom Schreiben bis zu Laboratorien, von
Linealen zu Kieseln, von Taschenrechnern zu materiellen Umgebungen -
lässt die bloße Trennung zwischen natürlicher, situierter, stiller und künst­
licher, übertragbarer, nicht verkörperter Intelligenz verschwimmen. Intel­
ligenz scheint nicht länger eine psychologische oder kognitive Eigenschaft
zu sein, sondern eher etwas dem heterogenen Engineering oder einer
Weltkonstruktion Ähnliches, d.h. eine verteilte Fähigkeit, die darin besteht,
Argumentationsfragmente, Geschichten, Handlungsroutinen und Subrou­
tinen zu verbinden, zu assoziieren, zu binden und sie mit vielen Besitzern
zu verknüpfen, wobei manche von ihnen das Aussehen neuronaler Netze,
andere das von Software und Grafiken, wieder andere das von Konversa­
tionen oder Ritualen haben.

denen der Arbeitssoziologen und computerisierten Arbeitsplätze vereinbar, vgl.


Schaffer (1994).
10 1 Wie man beim Lesen von Collins (1990) feststellen kann, der eine fraktale
Grenze wie die bosnische zu patrouillieren versucht.
11 1 Nachzulesen bei Haraway (1992).
538 1 BRUNO LATOUR

Die Artefakte selbst haben sich in einem Ausmaß verändert, dass weder
Ingenieure noch Soziologen sie wieder erkennen würden. Maschinen,
Automatismen und Materialkomponenten waren als asozial und ahisto­
risch gedacht; aus diesem Grund faszinierten sie Ingenieure so sehr, die
davon träumten, an diese das Fleisch und Blut unorganisierter Körper zu
delegieren - und aus dem gleichen Grund beunruhigten sie Sozialwissen­
schaftler und Humanisten mit deren barbarischer Einführung in die zivili­
sierte Welt. Artefakte wiederum haben sich zu aktiven, sozialen, mit einer
Geschichte und einer kollektiven Karriere ausgestatteten Aktanten entwi­
ckelt, die Kompetenzen und Gewährungen untereinander und zwischen
den (mittlerweile vollkommen) umverteilten menschlichen Akteuren
verschieben (Latour 1992). Sie betreten das Kollektiv nicht aus dem Grund,
weil sie die Münder absichtsvoller Menschen verschließen, die Kontrover­
sen sich streitender Wissenschaftler beenden, dem schöpferischen Geist
passive Ressourcen eröffnen oder ein bequemes Gefäß für soziale Werte
darstellen, sondern weil sie Handlungsprogrammen Absichten, Kontrover­
sen, Aktivitäten und Bedeutungen hinzufügen, die ohne sie zu begrenzt
oder eng wären.
Aus politischen Gründen hatte die Wissenschaft einige Jahrhunderte
lang die allgemeinen Entwürfe zur Vorstellung des menschlichen Den­
kens, seiner natürlichen Intelligenz sowie der von Materie und Artefakten
geliefert. Was ist nun von der früheren Vision einer asozialen, ahistori­
schen Wissenschaft übrig geblieben, die über dem kollektiven Gebräu von
Leidenschaften und Politik schwebt? Auch die Wissenschaften wurden bis
zu einem Punkt jenseits der Wiedererkennbarkeit umgestaltet, ohne die
Wirklichkeit und Objektivität einzubüßen, derer sie sich so gebrüstet
hatten. Viele neue Realitäten werden durch referentielle Ketten eingeführt,
die ihrerseits von instabilen Disziplinen innerhalb enger, örtlich begrenz­
ter, kleiner, teurer und blinder Praxis-Netzwerke lanciert werden. Die
Netzwerke etablieren Verbindungen mit vollkommen unerwarteten Entitä­
ten, die von nun an über eine andere Geschichte verfügen und eine andere
Gesellschaft bilden (für ein Beispiel eines solch kompletten Wandels vgl.
Smith/Wise 1989). Clevere Delegierte, verfeinerte Instrumente, winzige
nicht-menschliche Beobachter bevölkern nun diese relativistischen Netz­
werke und beleben Gesellschaft und Geschichte mit neuen Aktanten. Dabei
sind sie auch real und objektiv, wodurch sie nicht als Fremdkörper im
sozialen Gefüge erscheinen, sondern lediglich zu seiner Komplexität und
der Kompliziertheit seiner politischen Repräsentation beitragen.
Wenn die Wissenschaften solchermaßen rekonfiguriert werden, nimmt
auch die Information eine neue Bedeutung an. Eine Form kann nicht
identisch mit dem Inhalt sein, dem sie Form verleiht. Die Worte »Bahnhof
Waterloo« sind genauso wenig der Bahnhof selbst wie eine Landkarte mit
der Landschaft identisch ist, jedoch erlauben sie Helene in Paris, bereits
aus der Entfernung eine Verbindung zwischen Paris und dem Ort ihres
SOZIALTHEORIE & ERFORSCHUNG COMPUTERISIERTER ARBEITSUMGEBUNGEN 1 539

Treffens herzustellen. Damit überbrückt sie zwar nicht die Entfernung, da


nichts auf diese Weise vom Bahnhof zu ihrer Wohnung bewegt werden
könnte - nichts einem Gebäude Ähnliches pflegt sich auf diese Weise
fortzubewegen. Es handelt sich bei diesen Worten aber auch nicht um
konventionelle oder mnemonische Zeichen, die willkürlich für den realen
Bahnhof stehen; stattdessen stellen sie einen Transformer innerhalb einer
langen Kette ähnlicher Transformer dar, die verschiedene Ausdrucksmittel
durchqueren, wobei sie eine Konstante innerhalb der anhaltenden Verlage­
rungen von Delegierten und Übersetzern sind. Wörter werden nie mit der
Welt konfrontiert; sie spiegeln sie nicht und stellen auch keine konventio­
nelle Verbindung zu >ihr< her. Welten können so gestaltet werden, dass
verschiedene Ausdrucksmittel, Wörter inbegriffen, einen referentiellen,
Handlung aus der Entfernung ermöglichenden Pfad in ihnen anlegen.
Information fügt der bestehenden Welt keine virtuelle hinzu; sie ist tief in
ihr verwurzelt, ein Teil von ihr -riskante Pfade, die Entitäten durch den
eigenartigen Zugriff der Referenz miteinander verbinden.
Schließlich sehen auch die Organisationen anders aus, seit ihren örtli­
chen Interaktionen und Aufträgen viele Computer, Datenbanken, Artefakte
und intelligente Technologien, viele Geschichten, Kalkulationszentren und
Informationsverarbeitungsräume - also viel verteilte und situierte Kogniti­
on - hinzugefügt wurden. Man kann nicht mehr eindeutig feststellen, ob
es sich bei einem Computersystem um eine begrenzte Organisationsform
handelt oder ob eine Organisationsform eine erweiterte Form von Compu­
tersystem darstellt. Der Grund dafür liegt nicht -wie im Wunschtraum der
Ingenieure und im Albtraum der Soziologen -in einer nunmehr komplet­
ten Rationalisierung, sondern im Gegenteil darin, dass diese zwei mons­
trösen Hybriden koextensiv sind. Hätte ich statt der Geschichte »Helene
geht nach London, um Adam zu treffen« die Geschichte einer GOTO­
Funktion in der Programmiersprache »Basic« - die einzige Funktion, die
ich kenne, wie ich zu meiner Schande gestehen muss -erzählt, wären wir
auf genauso viele rechtliche, materielle, soziale und referentielle Merkmale
gestoßen. Genauso wie das Vorhaben, Helene zu folgen, uns dazu zwang,
ihre Interaktion mit Adam zu verlassen, um andere Pfade durch andere
Arten von Delegierungen zu betrachten, hätte uns das Verfolgen von Soft­
wareanweisungen von den Chips und Gates weg durch andere heterogene
Pfade geführt.
Wenn ich also alle diese Veränderungen richtig rekapituliere, bedeutet,
»der Informationswissenschaft und der künstlichen Intelligenz in mensch­
lichen Organisationen« zu folgen, nicht mehr länger den Versuch, Rationa­
lität unbegrenzt zu erweitern oder aber ihre Expansion dadurch zu be­
schränken, dass man auf der menschlichen Dimension aller personalen
Interaktion und auf der unreduzierbaren Irrationalität von Arbeitsumge­
bungen besteht. Die Welt, in der Computer erscheinen, verfügt über zu
viele unerwartete Merkmale. Viele von diesen wurden der Sozialtheorie
540 1 BRUNO LATOUR

und Philosophie durch die Versuche, Computersysteme entsprechend der


Politik der Vernunft zu entwickeln, und durch das Versagen dieser Versu­
che offenbart.

Die Fragmente wieder zusammenfügen

Eine weitere Beschreibung der dritten Welt, in die uns die Erforschung
computerisierter Arbeitsumgebungen eingeführt hat, besteht darin zu
behaupten, dass Computersysteme genauso wenig in menschliche Organi­
sationen eingebettet sein können wie menschliche Organisationen in
Computersysteme. »Einbettung« ist keine sehr treffende Metapher zur
Beschreibung der vielen Verlagerungen, die die Definitionen von »Arbeit«,
»Experten«; »Information«, »Kommunikation«, »Computerwesen«, »Si­
mulation« und »Institution« bis zur Unkenntlichkeit modifiziert haben.
Wie kann man diese Verlagerungen nachvollziehen?
Ein Weg, über diese Verlagerungen zu sprechen, ohne die Begriffe
»Struktur« und »Substanz« zu verwenden, ist natürlich, sich zu vergegen­
wärtigen, dass es sich bei unserem Hauptinteresse um Fragmente handelt:
durch Maschinen verteilte Fragmente von Intelligenz, auf Körper verteilte
Maschinenfragmente, Fragmente von in Softwarezeilen umgewandelte
Organisationen, Fragmente von in Institutionen steckenden Codes, Frag­
mente von im virtuellen Raum treibenden Subjekten. Ein Großteil der
Cyborg-Llteratur gleicht einem Appell an die unvermeidliche Fragmentie­
rung von Körpern, Organisationen, Subjekten, Wissenschaft, Artefakten,
Märkten und Geschichten.
Unterscheiden sich Fragmente jedoch so grundlegend von der struktu­
ralistischen Position, die sie verbreiten wollen? Das steht nicht fest. Das
Fragment hat dieselbe differentiale Eigenschaft wie das Element der längst
vergangenen Struktur. Genauso wie ein Element einer Struktur nur durch
seinen Unterschied von einer Reihe austauschbarer Elemente definiert ist,
bekommt ein Fragment seine Bedeutung lediglich aus seiner Position im
Transformationssystem, auf das es sich bezieht. Der einzige Unterschied
zwischen der Konstruktion des Strukturalismus und seiner Dekonstruktion
in Fragmente besteht darin, dass es nicht länger eine Struktur zur Bildung
der Substitutionsreihe gibt. Also stellen Fragmente strukturelle Merkmale
ohne Struktur dar! Dies mag eine Art und Weise sein, die Nachteile des
kritisierten Rationalismus beizubehalten, ohne seine erhellenden Eigen­
schaften zu übernehmen. 12 Wenn wir die Metaphorik der Dekonstruktion

12 1 Wie Serres (1995) es ausdrückt: »Je größer die [Vase], desto zerbrechlicher
wird sie. Wenn man sie zerbricht, ist das einzelne Fragment je widerstandsfähiger,
desto kleiner es ist. Folglich: Wenn man ein Fragment schafft, sucht man Zuflucht
an Orten, Lokalitäten, die widerstandsfähiger sind als globale Konstruktionen. [... ]
SOZIALTHEORIE & ERFORSCHUNG COMPUTERISIERTER ARBEITSUMGEBUNGEN 1 54I

akzeptieren, ist die überall in den postmodernen Schriften vorhandene


Lust an Fragmentierung - unter der Maske der Bescheidenheit - eine Art,
den Modernismus etwas zu verlängern, ohne Gefahr zu laufen, ein großes,
instabiles System zu erschaffen.
Deshalb sprechen wir so oft über Netzwerke (oder besser Rhizome, um 1

die technische Konnotation des Begriffes zu vermeiden).'3 Zuerst einmal


war es eine Möglichkeit - so kraftvoll wie die der Strukturen -, gegen Subs­ ,,!'i

i
tanzen anzugehen. Ein neues Softwarepaket, eine neue Website, ein neuer
l
1

Chip, eine neue Anti-Trust-Politik, ein neues Elektronikforum wird nicht 1]1

als neue Technik oder Arbeitsorganisation, Kultur oder Gesetzgebung


betrachtet, sondern als heterogene Verzweigung eines Rhizoms. Diese
Betrachtungsweise erweist sich als nützlich, weil sie am Anfang keiner
Definition dessen bedarf, was z.B. ein ausgebildeter menschlicher Arbeiter, :II

eine effiziente Organisation, Expertenwissen, ein Roboter oder ein Unter­


nehmen ist. Jedes Element des Netzwerkes wird einfach durch die hetero­ 'lil

gene Reihe seiner Verbindungsglieder definiert. Der Kunde einer Bank­ il


'I

dienstleistung wird auf genau gleiche Weise durch seine Verbindung mit
dem Bankautomaten neu definiert wie die Definition eines »Intel«-Chips
sich durch dessen Verbindung mit einer neuen Software oder einem mili­ 1

tärischen Waffensystem verändert. Expertenwissen wird einfach reforma­ .ili

tiert und rekonfiguriert, wenn es einmal in einem Expertensystem inner­


halb eines Börsen-Management-Softwarepakets niedergeschrieben wurde.
Ein Fuzzy-Logik-Gate, einmal in eine in einer koreanischen Fabrik gefertig­
te Waschmaschine eingebaut, um durch Werbung einen neuen Marktan­
teil zu gewinnen, ist einfach eine weitere heterogene Verbindung, die
Fuzzy-Logik genauso reformatiert wie koreanische Märkte. Substanz be­
deutet Existenz, und Existenz bedeutet Verbindung.
Der zweite Vorteil eines Netzwerkes ist, dass es sich - ob fragmentiert
oder nicht - radikal von einer Struktur unterscheidet, da es Entitäten nicht
anhand der Ersetzbarkeit anderer differentialer Positionen definiert, son­
dern durch eine Reihe unersetzbarer und vollständig spezifischer Verbin­
dungen von Elementen, aus denen es gebildet wird. Statt aus Differentialen
- wenn man der linguistischen Metapher folgen will, die den Strukturalis­
mus zusammengehalten hat - ist ein Netzwerk aus Aktanten aufgebaut,
von denen jeder mit einzigartigen Spezifikationen ausgestattet ist. Dies
erklärt seinen Nutzen für das Nachverfolgen von historischen und lokalen

Die Philosophie der Fragmente bringt die Philosophie des Museums und das
Museum der Philosophie zusammen; dadurch ist sie doppelt konservativ.« (Ebd.:
120)
13 1 Eine neuere Analyse bietet Callon (1992). Das Wort »Rhizom« stammt
natürlich von Deleuze und Guattari (1972, 1983). Dabei ist Deleuze in dieser Hin­
sicht sicher der interessanteste Philosoph, da er immer in seiner dritten Welt gelebt
hat. Für eine ausgezeichnete Präsentation vgl. Zourabichvili (1994).
1111 11
i1 l,]111l']1,:1I
1l:11,i11,,1 1
1,
542 1 BRUNO LATOUR

lri11 :i'1iliilfi111
11 , 1 1 '
Bahnen zu einem Präzisionsgrad, der in der strukturalistischen Literatur

!i.1111:11.'11,1i'1,,i1l.·,1 ·
unbekannt war.'4 In einem Netzwerk stellt jedes Element einen unabhän­

1 . '1 11 '1'
gigen Vermittler und nicht ein Differential am Schnittpunkt einer paradig­
matischen oder syntagmatischen Reihe dar; einen Vermittler, der als
Ereignis definiert ist, das weder vollkommen Ursache noch Wirkung ist.

1 1 ,1!1, ·l'.liI
Rhizome und heterogene Netzwerke sind also machtvolle Mittel, Subs­
1i!!!i tanz und willkürliche Dichotomien zu vermeiden und Strukturen zu
l'.

l ,.ii1l i. lil· l
bekämpfen. Auch wenn sie die Wissenschaftler mit einem gewissen Grad

i 1i
1· 11 11 1,
an Freiheit und Agnostizismus versehen, schränkt ihre ausschließliche
Definition der Entitäten durch deren Verbindungen sie auch wieder ein.

(1 ' '
lt1 1i'!l i 1 I
Ihre Flexibilität stellt gleichermaßen ihren größten Vorteil, aber auch ihren

1 /1 1
größten Nachteil dar. Während sie gegen Strukturen, Substanz und Mora­

l'l
I
lisierung Macht besitzen, versagen sie bei der Bereitstellung von Strate­

1 1. 11 '11
gien, der Urteilsbildung oder der Erklärung stabiler Merkmale. Das Spre­

1 '1 1'!lH1 '·li


chen von Rhizomen erlaubt dem Wissenschaftler, revolutionäre Reden,

l'I[11i 1':i1ll'I1. '


Technikgläubigkeit und Hypes verschiedener Art zu vermeiden, und er­

111 11,.,· !1 !.l;,


laubt das Aufzeigen der normalen Bricolage, die jeder Innovation zugrunde

I 111,1111.:11:1·.;1'1
liegt. Außerdem gestatten sie uns, Fragmente auf sehr freie Art miteinan­
der zu verbinden. Aber genau hier liegt auch die Schwäche der Rhizome:

1 1il\'l1
Sie reagieren auf jede Bewegung - den anklagenden Ton des Kritikers

I 11 .Ji,l.:
inbegriffen - kritisch, bleiben jedoch selbst Werkzeuge der Kritik, die nur

11 1l 1.1: i1'lj1 i';


zur Verteilung, Demontage, Einsetzung und Verbreitung zu gebrauchen
sind. Sie verfügen über eine solch gewaltige Auflösekraft, dass, nachdem

11 11,lf: 'i
sie sich mit der Auflösung der Illusion kritischer Posen beschäftigt haben,

l1I!'11li!': fli:/:1
nicht viel davon übrig bleibt und sie vielleicht sogar in eine irgendwie per­
verse Freude über die Vielfalt, Heterogenität und Fülle der von ihnen so

I,1 1 !1 11'1:,·1i'1',
l
gut eingesetzten Verbindungen verfallen.
1rl,,

.· 1il 11,,:}! 1l11,:i'


Aus diesem Grund muss den Netzwerken noch etwas hinzugefügt
I,,,,,

11 ,
werden, um sie zur Analyse von Verlagerungen verwenden zu können,

1 1 l1 1
ohne sie als eine bloße Vielzahl von Fragmenten zu betrachten; etwas, über

1. ·l1. fl li· 1'


l1,1l'1.'i,11J1;,
das sie in der Praxis verfügten, jedoch nicht explizit - und in der so ge­
nannten Akteur-Netzwerk-Theorie schon gar nicht.'5 Dieser Zusatz kann

1
1111 1 1 1;
natürlich keine Rückkehr zur Substanz oder zu Strukturen bedeuten; auch

!lli·1".111· '·.1'
,!:l,I
kann er keine Bestimmung von Verbindungstypen sein, in denen Entitäten
][1 eingebunden sind, da definitionsgemäß die Anzahl dieser Typen der Viel­

1 11. ' (
:'1l 1 1
zahl der Verbindungen entspricht. Die Kraft von Netzwerken wäre verlo­

'\!.i:Il;'1'(i1,.111,1,
ren, wenn man den unrealisierbaren Traum verfolgen müsste, eine Liste

1·,.1,1!1.,'11I, 1
der erlaubten und der verbotenen oder unmöglichen Verbindungen aufzu-

,1j'i, 1
'",'· l",;..'1i1'1l!', ·. 1111,1'',,..1
1 14 1 Das erklärt außerdem auch die virtuelle Verschmelzung - zumindest in der
wissenschaftlichen Forschung - der Sozialgeschichte mit der Soziologie von Wis­

;:',I1 ' 1i1 [


senschaftlern bei der Arbeit.
15 1 Ich würde diese Kritik auch auf meine eigene Arbeit anwenden (Latour

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1
1988).

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',/. ·'.:'l..'I''il11I1
1
1
SOZIALTHEORIE & ERFORSCHUNG COMPUTERISIERTER ARBEITSUMGEBUNGEN 1 543

stellen. Eine verrückte Sozio-Logik würde dem vorausgegangenen verrück­


ten Traum der Logiker folgen.
Anne-Marie Mol und John Law (1994) haben den nützlichen Begriff
des Fluids zur Benennung dieses Zusatzes, der fest am Stahlrahmen von
Netzwerken haftet und ihnen gleichzeitig Beweglichkeit verleiht, angebo­
ten. Substanz wird nicht alleine durch die Reihe ihrer Verbindungen neu
definiert, sondern auch durch das sich durch sie verteilende Fluid.Michel
Callon (1997, 1999) schlägt vor, den wirtschaftswissenschaftlichen Begriff
des Koordinationsmodus wieder zu verwenden, um nicht das, was sich ober­
oder unterhalb der Netzwerke befindet, sondern das, was ihre Spur legt, zu
verfolgen. Im Prolog und im ersten Teil habe ich - als Vorschlag - ver­
sucht, verschiedene Delegationsregimes einzuführen, um der Aufstellung
einer indefiniten Anzahl von Entitäten und der begrenzten Anzahl von
Arten, in der sie nacheinander greifen, zu folgen. Welcher Begriff auch
immer gewählt wird, er bezeichnet denselben Versuch: die Freiheit der
Rhizome gegen den modernistischen Drang zur Rationalisierung und das
postmodernistische Vergnügen an Fragmenten zu verteidigen, dabei
jedoch gleichzeitig durch Spezifikation der von freien Verbindungen geleg­
ten Bahnen die Begrenzungen von Aktanten-Netzwerken zu überwinden.
Ich habe vielleicht den Einfluss der Informationstechnik auf die Sozial­
theorie und den Revisionsbedarf -µhertrieben. Rationalität, Humanismus,
Strukturen, Fragmente, Netzwerke - alle diese Begriffe sind nützlich bei
der Beschreibung einiger computerisierter Arbeitsumgebungen, mit denen
wir konfrontiert werden. Ich wollte noch eine andere Möglichkeit erfor­
schen: Wenn wir diese Verwirrung von Computerchips, Organisationen,
Subjektivität, Software, rechtlichen Vorgaben, Routinen und Märkten
beschreiben müssten, ohne modernistische oder postmodemistische Be­
griffiichkeiten zu verwenden - wie würden wir vorgehen?

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Zourabichvili, F. (1994): Deleuze, une philosophie de l'evenement, Paris: PUF.
Akteur-Netzwerk-Theorie:

Der Markttest

MICHEL CALLON

Zusammenfassung

Oft wird argumentiert, die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) versage, wenn


sie eine befriedigende Theorie des Akteurs anbieten soll, der ihr zufolge
entweder mit endloser Macht ausgestattet ist oder dem überhaupt jeder
Handlungsspielraum vorenthalten wird. Das Ziel dieses Artikels ist es, zu
zeigen, dass im Fehlen einer Theorie des Akteurs, wenn sie in der Be­
schreibung von Handeln mit der Nicht-Menschen zugeschriebenen Rolle
verbunden wird, genau eine der Stärken der ANT liegt, deren Erhalt von
höchster Wichtigkeit ist. Der Grund dafür ist, dass diese Kombination die
Erklärung der Existenz und der Arbeitsweise wirtschaftlicher Märkte er­
möglicht. Jeder bestimmte Markt ist die Folge von Entwirrung, Rahmung,
Internalisierung und Externalisierung. Die ANT macht es möglich, diese
Operationen und die Emergenz berechnender Agenten zu erklären. Der
homo oeconomicus ist weder eine pure Erfindung noch der blasse Abklatsch
einer realen Person. Er existiert tatsächlich, aber er ist die Konsequenz
eines Prozesses, in dem Wirtschaftswissenschaft eine aktive Rolle spielt.
Die Schlussfolgerung ist, dass die ANT einen der anspruchsvollsten Tests
bestanden hat: den des Marktes.

Bevor wir in eine aktive und positive Kritik der Akteur-Netzwerk-Theorie


(ANT) eintreten, beginne ich damit, einige der durch diesen Ansatz erziel­
ten Resultate hervorzuheben, Resultate, die wir, wie ich glaube, in keiner
Debatte darüber, was der ANT folgen mag, aus den Augen verlieren sollten.
Eine der Unzulänglichkeiten der ANT, die am häufigsten erwähnt wird,
ist die Mangelhaftigkeit der Analyse, die sie im Blick auf den Akteur anbie­
tet. Ich werde diesen Punkt im Folgenden weiter ausfuhren. Bevor jedoch
546 j MICHEL CALLON

Wege vorgeschlagen werden, diese Analyse zu verstärken, möchte ich kurz


an eine Reihe positiver Punkte erinnern, die meiner Meinung nach beibe­
halten werden sollten. Der wichtigste ist, dass die ANT auf keiner stabilen
Theorie des Akteurs basiert; stattdessen nimmt sie die radikale Indetermi­
niertheit des Akteurs an. Die Größe des Akteurs, seine psychologische
Konstitution, die Motivationen hinter seinen Handlungen - keines von
diesen ist vorherbestimmt. In dieser Hinsicht bricht die ANT mit den or­
thodoxeren Strömungen der Sozialwissenschaft. Diese Hypothese (die
Brown und Lee mit politischem Ultra-Liberalismus gleichsetzen, vgl. Lee/
Brown 1994) hat - wie bekannt ist - den Nicht-Menschen die Sozialwis­
senschaften eröffnet. Sie hat sie auch von der sterilen Individualismus-Ho­
lismus-Dichotomie befreit und durch die Verwendung der Idee eines Spre­
chers die Sprache zu einem Effekt der Distribution und nicht zu.einer inhä­
renten Eigenschaft gemacht. Mein Freund John Law entwickelte die Idee
der Distribution und enthüllte ihren Reichtum (Law 1994, 1998, 2001).
Die Indeterminiertheit des Akteurs bringt natürlich eine Reihe von
Schwierigkeiten mit sich. Die ANT ist so tolerant, dass sie am Schluss
einen Akteur präsentiert, der eine anonyme, schlecht definierte, nicht
erkennbare Entität ist. Da alles Handlung ist, kann der ANT-Akteur ab­
wechselnd und wahllos eine Kraft sein, die einbindet und dominiert - oder
im Gegenteil ein Agent ohne Initiative, der anderen gestattet, ihn einzu­
binden. Dieser Aspekt hat sicherlich die meisten negativen Folgen produ­
ziert und zum häufig wiederholten Vorwurf des Relativismus geführt. Eine
andere Weise, diese Kritik zu formulieren, ist die, zu sagen, dass der
Hauptmangel der ANT darin besteht, alles andere als eine Theorie zu sein
- was erklärt, weshalb sie nichts erklären kann!
Was ich in diesem Artikel zeigen möchte, ist, wie die ANT die Kompe­
tenzen der Akteure erklären kann, ohne jedoch ihre grundlegenden Hypo­
thesen zu verleugnen - im Besonderen ohne die Weigerung, eine a-priori­
Definition des Akteurs zu geben oder die Rolle der Nicht-Menschen beim
Handeln in Frage zu stellen.
Um dies zu tun- und um die ANT einem Test zu unterziehen-, werde
ich den Wirtschaftsmarkt analysieren. Der Markt ist eine Institution, die
Menschen und Nicht-Menschen mischt und ihre Beziehungen kontrolliert.
Was die Wirtschaftstheorie beschreibt, ist unter anderem der Kreislauf von
Gütern und die Zuweisung von Ressourcen zwischen menschlichen Agen­
ten. Es wäre beunruhigend, wenn die ANT nichts über den Markt zu sagen
hätte, wenn sie doch besonders dafür erdacht worden war, diese Verwir­
rungen, in die Menschen und Nicht-Menschen gleichermaßen verwickelt
sind, zu beschreiben und zu analysieren. Dennoch ist der Markt eine be­
trächtliche Herausforderung für die ANT, weil er eine strenge Trennung
zwischen dem Zirkulierenden (Güter, die träge, passiv und als Nicht-Men­
schen klassifiziert sind) und menschlichen Agenten einführt, die aktiv und
AKTEUR-NETZWERK-THEORIE: DER MARKTTEST 1 547

in der Lage sind, komplizierte Entscheidungen zu fällen (Produzenten,


Verteiler und Konsumenten). Auf dem Markt - ob wir uns auf echte Märk­
te beziehen oder auf jene der Wirtschaftstheorie - sind die involvierten
Agenten überdies durch sehr spezifische und höchst anspruchsvolle Kom­
petenzen charakterisiert: Sie sind berechnend, kennen und verfolgen ihre
eigenen Interessen, treffen informierte Entscheidungen. Kurz: Der Markt
scheint die Hypothesen der ANT zu untergraben. Die ANT war entwickelt
worden, um Situationen zu analysieren, in denen es schwierig ist, Men­
schen und Nicht-Menschen zu trennen, und in denen die Akteure variable
Formen und Kompetenzen haben. Währenddessen steht der Markt dieser
Situation diametral entgegen: Alles ist abgegrenzt und die Rollen sind
perfekt definiert.
Es stellt sich also die Frage: Hilft die ANT uns überhaupt, Märkte zu
verstehen? Und wie muss sie gegebenenfalls modifiziert werden?

Der Markt als Netzwerk

Was ist ein Markt? Es gibt zahlreiche Antworten auf diese Frage, aber
Guesneries Definition scheint gut zu unserer Argumentation zu passen
(Guesnerie 1996). Ihm zufolge ist ein Markt eine Einrichtung zur Koordi­
nation, in der a) die Agenten ihre eigenen Interessen verfolgen und zu
diesem Zweck wirtschaftliche Berechnungen ausführen, was als Operation
zur Optimierung und/oder Maximierung betrachtet werden kann; b) die
Agenten allgemein divergierende Interessen haben, die sie dazu führen,
sich zu engagieren, und zwar in c) Transaktionen, die den Konflikt auflö­
sen, indem sie einen Preis definieren. In seinen Worten stellt ein Markt
Käufer und Verkäufer gegenüber und die Preise, die den Konflikt lösen,
sind der Input, aber auch in einem Sinn das Ergebnis der wirtschaftlichen
Berechnung der Agenten.
Dieser Definition kommt das Verdienst zu, das Wesentliche zu beto­
nen. Das ist: die Dezentralisierung der Entscheidungsfindung, die Defini­
tion von Akteuren als berechnende Agenten und Interessenkonflikte, die
eine in Preisen gemessene Äquivalenz herstellen.
Der Punkt, den man dabei im Gedächtnis behalten muss, ist, dass die
Agenten den Austausch wie Fremde betreten und verlassen. Wenn die
Transaktion einmal abgeschlossen ist, sind die Agenten quitt; sie ziehen
sich selbst nur für einen Moment aus der Anonymität und gleiten unmit­
telbar danach wieder dorthin zurück.
Wie diese Definition zeigt, impliziert der Marlct als eine Methode der
Koordination die Existenz von zur Berechnung fähigen Agenten. Dies wird
von Williamson in seiner Diskussion der Idee von Vertrauen bestätigt
(Williamson 1993).
548 J MICHEL GALLON

»Berechnung ist die allgemeine Bedingung, die ich mit dem wirtschaftlichen Ansatz
und der progressiven Ausdehnung in die verbundenen Sozialwissenschaften assozi­
iere.«

Lassen Sie uns diese Hypothese akzeptieren und uns die folgende Frage
stellen: Unter welchen Bedingungen ist Berechnung möglich? Unter wel­
chen Bedingungen treten berechnende Agenten auf?
Um berechnete Verträge zu schreiben und abschließen zu können, d.h.
in den Inhalt von Gütern und ihre Preise zu gehen, brauchen die Agenten
Informationen über die möglichen Zustände der Welt. Genauer bedeutet
das: Damit berechnende Agenten in der Lage sind, Entscheidungen zu
treffen, müssen sie zumindest fähig sein:

eine Liste der möglichen Zustände der Welt zu etablieren;


die Zustände der Welt nach Rängen zu ordnen (was den Präferenzen
der Agenten Inhalt und ein Objekt gibt);
die Handlungen, die die Produktion jedes möglichen Zustandes der
Welt gestatten, zu identifizieren und zu beschreiben.

Wenn also Marktkoordination erfolgreich sein soll, muss es nicht nur be­
rechnende Agenten geben, sondern auch Agenten mit Informationen über
alle möglichen Zustände der Welt, über die Natur der Handlungen, die
unternommen werden können, und über die Konsequenzen dieser ver­
schiedenen Handlungen, wenn diese einmal unternommen worden sind.
Die Marktkoordination trifft auf Probleme, wenn Unsicherheiten über
die Zustände der Welt, über die Natur der Handlungen, die unternommen
werden können und über die erwarteten Konsequenzen dieser Handlun­
gen zunehmen. Die Probleme werden am schlimmsten, wenn die Unsi­
cherheiten sich schlicht und einfach in Ignoranz verwandeln. Nun sind
solche Situationen die Regel und nicht die Ausnahme. Dies ist sogar noch
offensichtlicher, wenn die Unsicherheiten von der Technowissenschaft
erzeugt werden. Die allgemeine Frage ist also die folgende: Wie sind Agen­
ten zur Berechnung fähig, wenn keine stabile Information über die Zu­
kunft existiert (Eymard-Duvernay 1996)?
Um die Möglichkeit von Koordination aufrechtzuerhalten, haben Öko­
nomen verschiedene Möglichkeiten vorgeschlagen, die - wie sie uns versi­
chern - in konlaeten Marktsituationen angewendet werden oder angewen­
det werden sollten. Die >orthodoxeste< Lösung ist die der kontingenten
Verträge. Kontingente Verträge sind revidierbare Verträge; ihre Wiederver­
handlung ist geplant, wobei das Auftreten von vorher spezifizierten Ereig­
nissen in Betracht gezogen wird. Je größer die Unsicherheiten, desto
schwieriger ist es, diesen Ansatz zu verwenden. Er impliziert, dass die
Agenten eine beträchtliche Menge ihrer Zeit damit verbringen, ihre Ver­
träge wieder zu verhandeln, das bedeutet: zu interagieren und Informatio-
AKTEUR-NETZWERK-THEORIE: DER MARKTTEST J 549

nen auszutauschen, sobald sie produziert werden. In diesem Fall ver­


schwindet Marktkoordination als solche, wobei sie Raum für eine ununter­
brochene soziale Interaktion lässt, die viele verschiedene Agenten invol­
viert. So sehr diese Agenten es auch wünschen mögen, können sie nicht
länger Fremde sein; sie sind verstrickt. Ich werde bald zu dieser Idee zu­
rückkehren.
Eine andere Lösung ist die des Fokuspunktes. Hier wird angenommen,
dass Agenten ein gemeinsames Wissen teilen, das ihre Koordination ga­
rantiert. Die Natur dieses Wissens ist höchst variabel. Es kann eine ge­
meinsame Kultur, Regeln, Prozeduren, Routinen oder Konventionen be­
treffen, die die Anpassung und Vorhersagbarkeit von Verhalten garantie­
ren. Die Sozioökonomie hat diese Zwischenrealitäten im Detail erforscht,
um die Koordination des Markthandelns zu erklären. Aber es ist leicht zu
zeigen, dass diese verschiedenen Lösungen an denselben Limitierungen
kranken. Ob wir über eine gemeinsame Kultur oder geteilte Regeln oder
Konventionen sprechen, wir begegnen derselben Hürde: Regeln, Konven­
tionen oder kulturelle Elemente beherrschen das Verhalten nicht vollstän­
dig, da sie nicht reduzierbare Interpretationsspielräume implizieren. Hier
können diese Interpretationsspielräume wieder nur während Interaktio­
nen, Verhandlungen oder Diskussionen eliminiert werden.
Eine dritte und gegenteilige Lösung der Frage der Koordination ist die,
anzunehmen, dass es jenseits des Vertrags und der Regeln eine >primitive<
Realität gibt, ohne die Koordination nicht möglich wäre. Ein Verständnis
dieser letztgültigen Basis ist der Zweck der Idee des sozialen Netzwerkes
(Swedberg 1994) oder, breiter gefasst, die Idee der Einbettung, wie sie
anfänglich von Polanyi (1957) formuliert und später von Granovetter in
zwei kurzen, jedoch einflussreichen Artikeln verfeinert wurde (Granovetter
1973, 1985). Wenn Agenten ihre Entscheidungen berechnen können, dann
deshalb, weil sie in ein Geflecht von Beziehungen und Verbindungen
verstrickt sind; sie müssen sich nicht der Welt öffnen, weil sie ihre Welt
enthalten. Agenten sind Akteur-Welten (Callon 1986).
Es ist hilfreich, sich an diese beiden Artikel zu erinnern, weil sie die
Quelle vieler Fehlinterpretationen waren, die uns davon abhält, sowohl die
Originalität als auch die wahren Begrenzungen von Granovetters Lösung
zu sehen. Seine Lösung liegt in seiner Definition der Idee eines Netzwer­
kes. Granovetter entledigt sich zuerst der klassischen Opposition zwischen
homo sociologicus und homo oeconomicus. Er zeigt überzeugend, dass sie
jenseits ihrer oft behaupteten Unterschiede die Charakteristika gemeinsam
haben, individuelle Agenten mit perfekt stabilisierten Kompetenzen zu
sein. Die Thesen der Über- und Untersozialisation teilen eine gemeinsame
Hypothese: die der Existenz einer in sich selbst eingeschlossenen Person -
homo clausus, um Elias' Ausdruck zu verwenden. Diese Hypothese schließt
jede Lösung des Problems der Koordination in einer Situation von radika­
ler Unsicherheit aus (Elias 1978). Für Granovetter ist die einzig mögliche
550 1 MICHEL GALLON

Lösung die durch das Netzwerk gewährleistete; nicht durch ein Netzwerk,
das Entitäten verbindet, die bereits da sind, sondern ein Netzwerk, das
Ontologien konfiguriert. Die Agenten, ihre Dimensionen und was sie sind
und tun - alles hängt von der Morphologie der Beziehungen ab, in die sie
involviert sind. Eine sehr einfache Variable z.B. wie die Länge des Netz.
werks oder die Anzahl der Verbindungen, die ein Akteur mit verschiede­
nen Netzwerken hat, determiniert, was der Akteur ist, will und tun kann.
Demnach beginnt sich in Granovetters Arbeit eine Theorie des Akteur­
Netzwerkes abzuzeichnen. Wir finden darin die Umkehrbarkeit der Per­
spektiven zwischen Akteur und Netzwerk, genauso wie die variable Geo­
metrie der Identitäten (z.B. Interessen, Projekte, Erwartungen und Präfe­
renzen; vgl. Burt 1993).
Die Konsequenz dieses Ansatzes ist radikal. Was erklärt werden muss,
ist genau das, was wir in der üblichen Beschreibung des Marktes als offen­
sichtlich betrachten: die Existenz berechnender Agenten, die Verträge
unterschreiben.
Der von Granovetter eingeführte Bruch - obgleich er ihn nicht bis zum
Ende verfolgt - liegt in dieser Umkehrung. Was erklärt werden muss, ist
nicht die Tatsache, dass - trotz des Marktes und ihm entgegen - die Inter­
aktion von Person zu Person entwickelt werden muss, um geteilte Infor­
mation zu reproduzieren. Im Gegenteil müssen wir eher die Möglichkeit
dieses raren, künstlichen Zu-spät-Kommenden, gebildet aus Agenten, die
allgemein individuelle, berechnende Menschen sind, einander fremd und
in die Verhandlungen von Verträgen engagiert, erklären. Der Beweis ist der
Fluss, die Zirkulation, die Verbindungen; die Seltenheit ist die Rahmung.
Statt Verbindungen hinzuzufügen (kontingente Verträge, Vertrauen, Re­
geln, Kultur), um die Möglichkeit der Koordination und den Realismus der
Kalkulation zu erklären - wie in den verschiedenen, von Ökonomen vorge­
schlagenen Lösungen -, müssen wir bei der Ausbreitung von Beziehungen
beginnen und fragen, wie weit die Klammerung dieser Verbindungen - die
ich unten >Rahmung< nenne - gehen muss, um Berechnung und Koordi­
nation durch Berechnung zu gestatten.
Wie wir sehen werden, müssen wir, um die Emergenz berechnender
Agenten und einer großen Trennung zwischen Agenten und Gütern zu
erklären, das übersoziale Netzwerk Granovetters weiter ausstatten und
anreichern. Das führt mich zurück zu einigen der Leistungen der ANT.

Rahmung und Entwirrung

In diesem ersten Abschnitt werde ich zeigen: Wenn Berechnungen durch­


geführt und abgeschlossen werden sollen, müssen die in diese Berechnun­
gen involvierten Agenten und Güter entwirrt und gerahmt werden. Kurz:
Man muss eine klare und präzise Abgrenzung zwischen den Beziehungen,
AKTEUR-NETZWERK-THEORIE: DER MARKTTEST 1 551

die die Agenten in Betracht ziehen und die ihren Berechnungen dienen,
auf der einen Seite und der Vielzahl von Beziehungen, die durch die Be­
rechnungen als solche ignoriert werden, auf der anderen Seitevornehmen.
Die ökonomische Theorie hat diese Frage durch die Idee der Äußer­
lichkeit, die die Einführung der allgemeineren Frage der Entwirrung er­
laubt, schon sehr spezifisch angesprochen.
Ökonomen erfanden die Idee der Äußerlichkeit, um alle Verbindungen,
Beziehungen und Effekte zu bezeichnen, die Agenten in ihren Berechnun­
gen nicht in Betracht ziehen, wenn sie in eine Markttransaktion eintreten.
Wenn beispielsweise eine chemische Fabrik den Fluss verschmutzt, in den
sie ihre giftigen Abwässer pumpt, produziert sie eine negative Äußerlich­
keit. Die Interessen von Fischern, Badenden und anderen Benutzern wer­
den verletzt. Um ihre Aktivitäten fortsetzen zu können, werden sie Investi­
tionen tätigen müssen, für die sie keine Entschädigung erhalten. Die
Fabrik berechnet ihre Entscheidungen, ohne die Auswirkungen auf die
Aktivitäten der Fischer in Betracht zu ziehen. Äußerlichkeiten sind nicht
notwendigerweise negativ, sie können auch positiv sein. Man nehme z.B.
den Fall der pharmazeutischen Firma, die ein neues Molekül entwickeln
will. Um sich selbst zu schützen, meldet sie ein Patent an. Indem sie das
jedoch tut, gibt sie Informationen preis, die dadurch für Konkurrenten frei
zugänglich sind und für die Gestaltung ihrer eigenen Forschung und
Entwicklung verwendet werden können.
Diese Beispiele helfen, die folgende Definition von Äußerlichkeiten zu
erklären: A, B und C sind Agenten, die in eine Markttransaktion oder -
allgemeiner - in die Verhandlung eines Vertrags involviert sind. Während
der Transaktion oder der Vertragsverhandlung geben diese Agenten ihren
Präferenzen oder Interessen Ausdruck und fahren damit fort, die verschie­
denen möglichen Entscheidungen zu evaluieren. Die getroffene Entschei­
dung hat positive oder negative Wirkungen, Äußerlichkeiten genannt, auf
eine Reihe von Agenten X, Y und Z (unterschieden von A, B und C), die
nicht in diese Transaktion involviert sind, um sich für ihre Interessen
einzusetzen.
Die Idee der Äußerlichkeiten ist in der Wirtschaftstheorie wesentlich,
weil sie uns befähigt, eine der möglichen Unzulänglichkeiten des Marktes,
eine der Grenzen seiner Wirksamkeit, zu unterstreichen. Sie ist außerdem
sehr nützlich, um die Bedeutung des Ausdrucks »einen Markt konstruie­
ren« zu verstehen. Hier fügen sich die vereinten Vorstellungen von Rah­
mung und überfließen ein.
Granovetter - und an diesem Punkt stimmt er mit der ANT überein -
erinnert uns, dass jede Entität in einem Netzwerk von Beziehungen, in
einem Fluss von Vermittlern, gefangen ist, die zirkulieren, verbinden,
zusammenschließen und Identitäten rekonstituieren (Callon 1991). Was
die Idee der Äußerlichkeit im Negativen zeigt, ist all die Arbeit, die verrich­
tet werden muss, alle Investitionen, die getätigt werden müssen, um Be-
552 J MICHEL CALLON

ziehungen im Netzwerk kalkulierbar zu machen. Dies besteht in ein er


Rahmung der Akteure und ihrer Beziehungen.
Rahmung ist eine Operation, die dazu verwendet wird, individuelle,
voneinander deutlich verschiedene und abgetrennte Agenten zu definieren.
Sie gestattet auch die Definition von Objekten, Gütern und Handelswaren,
die vollkommen identifizierbar sind und nicht nur von anderen Gütern
getrennt werden können, sondern auch von den involvierten Akteuren, z.B.
in ihrer Entwicklung, Produktion, Zirkulation oder in ihrem Gebrauch.
Dank dieser Rahmung kann der Markt existieren, das bedeutet, dass dis­
tinkte Agenten und distinkte Güter ins Spiel gebracht werden können, da
all diese Entitäten voneinander unabhängig, unverbunden und unbefestigt
sind.
Was Ökonomen sagen, wenn sie Äußerlichkeiten erforschen, ist genau,
dass diese Arbeit der Reinigung und Abtrennung, kurz des Rahmens,
niemals vorbei ist und dass es in Wahrheit unmöglich ist, sie zu einem
Schluss zu bringen. Es gibt immer Beziehungen, die sich der Rahmung
widersetzen. Für Beziehungen, die außerhalb des Rahmens bleiben, haben
Ökonomen den Begriff »Äußerlichkeiten« vorbehalten. Letzterer bezeich­
net alles, was die Agenten nicht in Betracht ziehen und was sie befähigt,
ihre Kalkulationen abzuschließen. Man muss jedoch weitergehen. Wenn
die Agenten, nachdem sie Äußerlichkeiten identifiziert haben, unter Ein­
haltung der Voraussagen von Coases berühmtem Theorem beschließen,
die Äußerlichkeiten wieder zu rahmen - mit anderen Worten: die Äußer­
lichkeiten zu internalisieren -, erscheinen andere Äußerlichkeiten. Ich
schlage den Terminus »überfließen« vor, um diese Unmöglichkeit der
totalen Rahmung zu bezeichnen. Jeder Rahmen unterliegt notwendiger­
weise dem überfließen. Durch die Rahmung seiner Eigentumsrechte
durch ein öffentliches Patent produziert eine pharmazeutische Firma Äu­
ßerlichkeiten und schafft ein überfließen. Durch die Purifizierung des von
ihr vermarkteten Produkts erzeugt eine chemische Firma die Nebenpro­
dukte, die ihrer Kontrolle entgehen.
Die Unmöglichkeit, alles überfließen zu eliminieren, hat in Wirklich­
keit eine tiefgehende Ursache, auf die ich an dieser Stelle nur hinweisen
kann (Callon 1998). Um sicherzustellen, dass ein Vertrag nicht gebrochen
wird, um die Handlungen einzugrenzen, die innerhalb des Vertragsrah­
mens unternommen werden können, müssen die betroffenen Agenten
eine ganze Reihe von Elementen mobilisieren: Diese sind, in Leigh Starrs
Worten, Grenzobjekte (Star/Griesemer 1989). Diese Objekte ermöglichen
die Rahmung und Stabilisierung von Handlungen, während sie gleichzei­
tig eine Öffnung zu anderen Welten gewährleisten und so durchlässige
Punkte konstituieren, an denen ein überfließen auftreten kann.
Nehmen wir das einfachste Beispiel, das einer Markttransaktion in
Bezug auf ein Auto. Die Transaktion ist möglich, weil eine rigorose Rah­
mung ausgeführt worden ist. Diese Rahmung hat die Markttransaktion auf
AKTEUR-NETZWERK-THEORIE: DER MARKTTEST 1 553

drei distinkte Komponenten reduziert: den Käufer, den Produzenten/Ver­


käufer und das Auto. Der Käufer und der Verkäufer werden zweifelsfrei
identifiziert, sodass die Eigentumsrechte ausgetauscht werden können.
Was das Auto betrifft, ist es frei von allen Bindungen zu anderen Objekten
oder menschlichen Agenten und kann deshalb den Eigentümer wechseln.
Sogar in diesem extremen und einfachen Fall können nicht alle Verbin­
dungen durchtrennt werden. Etwas geht vom Verkäufer auf den Käufer
über: das Auto, das das Know-how und die Technologie des Herstellers
vermittelt. Alle Eigentumsrechte der Welt können dieses überfließen nicht
verhindern, außer durch Eliminierung der Transaktion selbst. Wenn der
Käufer eine Firma ist, wird Reverse Engineering möglich. Dies ist ein allge­
meiner Punkt, der folgendermaßen ausgedrückt werden kann: Die einfa­
che Tatsache der Rahmung der Transaktion führt zum überfließen, weil es
Objekte oder Entitäten mobilisiert und betrifft, die mit nicht reduzierbarer
Autonomie ausgestattet sind. Vollkommene Rahmung ist ein begriffiicher
Widerspruch.
Das Duo von Rahmung und überfließen legt einen Schritt zur ökono­
mischen Anthropologie und spezifischer zum verstrickten Objekt von
Thomas und den Karrieren der Objekte von Appadurai nahe (1986). Ich
beschränke mich darauf, Thomas' These mit dem Hinweis in Erinnerung
zu rufen, dass sie die These von Appadurai erweitert und verstärkt: Man
wird nicht als Ware geboren, man wird dazu. Thomas gibt auch die beste
Erklärung für diese Rekonfiguration in seiner Diskussion der Unterschei­
dung zwischen Markttransaktion und Geschenk. Seine Argumentation ist
ziemlich komplex und manchmal sogar obskur. Ich glaube jedoch, dass sie
im folgenden Zitat zusammengefasst wird (Thomas 1991):

»Waren werden hier als Objekte, Personen oder Elemente von Personen verstanden,
die in einem Kontext platziert sind, in dem sie Tauschwert besitzen und von dem sie
entfremdet werden können. Die Entfremdung eines Dinges ist seine Abtrennung
von Produzenten, früheren Benutzern oder einem vorherigen Kontext.« (Ebd.: 39)

Der letzte Satz dieses Zitats ist offensichtlich der wichtige. Um eine Markt­
transaktion zu konstruieren, d.h., etwas in eine Ware zu verwandeln, ist es
notwendig, die Bindungen zwischen diesem Ding und anderen Objekten
oder menschlichen Wesen nach und nach zu durchtrennen. Es muss
dekontextualisiert sein, abgetrennt und losgelöst. Das Auto muss, um vom
Produzenten/Verkäufer zum Kunden/Käufer übergehen zu können,
abgelöst werden. Nur wenn das erreicht werden kann, kann die Kalkulation
erfolgen, können der Käufer und der Verkäufer, wenn die Transaktion
einmal abgeschlossen worden ist, auf gleichem Stand stehen. Wenn das
Ding verstrickt bleibt, ist derjenige, der es erhält, niemals auf gleichem
Stand und kann dem Geflecht von Beziehungen nicht entkommen. Die
Rahmung ist niemals zu Ende. Die Schuld kann nicht beglichen werden.
554 1 MICHEL GALLON

Diese Idee der Verstrickung ist sehr nützlich, da sie sowohl theoretisch
als auch praktisch ist. Sie befähigt uns, den Prozess der Kommoditisierung
zu verstehen, der wie der Prozess der Rahmung oder der Ablösung Investi­
tionen und spezifische Handlungen impliziert, um bestimmte Bindungen
zu durchtrennen und andere zu internalisieren. Der Vorteil ist, dass diese
Analyse allgemein anwendbar ist und uns dazu befähigt, dem Risiko des
Essentialismus zu entkommen. Anthropologische Studien über Geld sind
von diesem Blickpunkt her sehr informativ. Geld scheint der Inbegriff der
Ware zu sein; es ist reine Äquivalenz, reine Entwirrung, reine Zirkulation.
Wie jedoch Viviana Zelizer so überzeugend gezeigt hat, sind Agenten
fähig, fortlaufend privates Geld zu produzieren, das Bindungen verkörpert
und vermittelt (Zelizer 1994). Dies ist der Fall bei der Großmutter, die
ihrer Enkelin Silbermünzen gibt, oder bei Supermärkten, die Treuegut­
scheine an ihre Kunden ausgeben. Verwirren und Entwirren sind zwei
gegensätzliche Bewegungen, die erklären, wie wir uns weiter vom Markt­
regime weg oder näher zu ihm hin bewegen. Beide Bewegungen können
auf jede Entität zutreffen. Keine Berechnung ist ohne diese Rahmung
möglich, eine Rahmung, die es ermöglicht, eine klare Liste der Entitäten,
der Weltzustände, von möglichen Handlungen und erwartetem Ergebnis
dieser Handlungen zu gewährleisten.

Rahmung und die Konstruktion


von berechnenden Agenten

Es existieren nur sehr wenige Studien, in denen die Rahmung, die Kalkula­
tion gestattet, analysiert wird. Meines Wissens ist die beste Studie die von
Marie-France Garcia über die Transformation des Marktes für Tafelerdbee­
ren in der französischen Region Sologne (Garcia 1986). Diese Transforma­
tion trat in den frühen 198oer Jahren auf und resultierte in der Konstitu­
tion eines Marktes mit Charakteristika, die denen in Handbüchern der
Politischen Ökonomie beschriebenen entsprechen: die Existenz eines
perfekt qualifizierten Produkts, die Existenz eines klar konstituierten
Angebots und einer ebensolchen Nachfrage und die Organisation von
Transaktionen, die die Etablierung eines austarierten Preises erlauben.
Garcia analysierte alle Investitionen, die zur Produktion der Rahmen
notwendig waren, die die Konstruktion dieses Marktes gestatteten. Zuerst
wurden materielle Investitionen benötigt. Unkoordinierte Transaktionen
zwischen Produzenten und Vermittlern, die in interpersonellen Beziehun­
gen verbunden waren, wurden durch Interaktionen ersetzt, die in einem zu
diesem Zweck errichteten Lagerhaus abgehalten wurden. Die Produzenten
nahmen täglich ihr in Körben verpacktes Produkt dorthin und stellten es
dort in Chargen aus. Jede Charge hatte ein entsprechendes Datenblatt, das
sofort an den Auktionator weitergegeben wurde. Dieser gab die Daten in
AKTEUR-NETZWERK-THEORIE: DER MARKTTEST 1 555

seinen Computer ein und stellte einen Katalog zusammen, der den Käu­
fern ausgehändigt wurde. Produzenten und Transporteure gingen dann in
den Auktionsraum, der so konstruiert war, dass Käufer und Verkäufer sich
nicht gegenseitig sehen konnten, jedoch trotzdem eine klare Sicht auf den
Auktionator und die elektronische Tafel, auf der die Preise angezeigt wur­
den, hatten. Die Ausstellung der Erdbeeren in der Halle und der Katalog
befähigten alle betroffenen Parteien zu präzisen Kenntnissen über das
Angebot sowohl im Hinblick auf die Qualität als auch auf die Quantität.
Zusätzlich hob die Tatsache, dass die verschiedenen Chargen direkt neben­
einander ausgestellt waren, Unterschiede in Qualität und Quantität zwi­
schen den Produzenten hervor. Die Letzteren konnten ihre eigene Produk­
tion mit der ihrer Konkurrenten vergleichen, etwas, das zuvor nicht mög­
lich gewesen war, als die Sammlungen noch lokal gemacht wurden. Wie
Garcia feststellt, »traten die Anbauer, die in persönliche Beziehungen zu
Vermittlern und Transporteuren verwickelt gewesen waren, in unpersönli­
che Beziehungen ein« (Garcia-Parpet 1996).
Alle diese verschiedenen Elemente und Einrichtungen trugen zur
Rahmung von Transaktionen bei, indem sie die Zurückweisung von Be­
ziehungsnetzwerken gestatteten und so eine Arena konstruierten, in der
jede Entität von den anderen getrennt war. Diese Arena schuf einen Raum
von Berechenbarkeit: die Technik degressiven Bietens, das Anzeigen von
Transaktionen auf der elektronischen Tafel, die relative Qualifikation von
Chargen von Erdbeeren auf ihren Datenblättern und die Kenntnisse des
nationalen Marktes - das alles machte die Transaktionen berechenbar. Wie
dieses Beispiel deutlich zeigt, ist der Hauptpunkt nicht der der intrinsi­
schen Kompetenzen des Agenten, sondern der der Ausrüstung und der
Einrichtungen, die ihren oder seinen Handlungen Form verleihen.
Die Wichtigkeit der Einführung solcher Instrumente wird zunehmend
besser dokumentiert. Das ist fraglos ein wesentlicher Beitrag der Wissen­
schaftsstudien. Die Arbeit von Peter Miller hat z.B. die Rolle der Buchhal­
tungsinstrumente in der Konstruktion von zur Berechnung fähigen Agen­
ten hervorgehoben (Miller 1998). Was Garcia deutlich zeigt, sind all die
Einrichtungen- materieller (das Lagerhaus, die nebeneinander ausgestell­
ten Chargen), metrologischer (der Meter) und prozeduraler (degressives
Bieten) Art-, die diesen Instrumenten ihre Macht und ihre Wirkung ver­
leihen.
Außerdem dient Garcias Studie noch dazu, die betreffenden Rollen der
Instrumente der Berechnung, der materiellen Investitionen und der öko­
nomischen Theorie in diesem Prozess der Rahmung und der Konstruktion
von Räumen der Berechenbarkeit zu spezifizieren. In der Konstruktion des
Erdbeermarktes spielte ein junger Berater der regionalen Landwirtschafts­
kammer eine zentrale Rolle. Bemerkenswert daran ist, dass seine Hand­
lung größtenteils durch seine Ausbildung in Wirtschaftswissenschaften
inspiriert war, die er an der Universität erhielt, und durch sein Wissen der
.1

556 1 MICHEL GALLON

neoklassischen Theorie. Das Projekt, das er durch seine Allianzen und


Kompetenzen einzuführen in der Lage war, kann in einem einzigen Satz
zusammengefasst werden: die Konstruktion eines realen Marktes am
reinen Modell perfekten Wettbewerbs, vorgeschlagen in ökonomischen
Handbüchern. Wie Garcia sagt, ist es kein Zufall, dass die ökonomische
Praxis der Erdbeerproduzenten von Sologne mit denen der ökonomischen
Theorie korrespondiert. Diese ökonomische Theorie diente als Referenz­
rahmen, um jedes Element des Marktes zu erschaffen (Präsentation auf
dem Markt in Chargen, die nur über einen kleinen Anteil des Angebots
Rechenschaft ablegen, Klassifikation der Erdbeeren in Begriffen und Krite­
rien, die von der Identität ihrer Produzenten unabhängig sind; die Einheit
von Zeit und Ort, die den Markt vollkommen transparent macht, und
schließlich die Freiheit der Großhändler und Produzenten gleichermaßen,
die nicht zum Kauf oder Verkauf gezwungen sind).
Dieser Fall beleuchtet ein sehr gutes Beispiel, indem er uns befähigt,
die Geburt eines organisierten Marktes zu verfolgen. Vor allem ist er das
reinste und perfekteste Beispiel von Marktorganisation. Der Schluss, der
aus ihm gezogen werden kann, ist extrem simpel, jedoch fundamental: Ja,
der homo oeconomicus existiert, aber er ist keine ahistorische Realität. Er
beschreibt nicht die versteckte Natur des menschlichen Wesens. Er ist das
Resultat eines Konfigurationsprozesses, und die Geschichte des Erdbeer­
marktes zeigt, woraus diese Rahmung besteht. Natürlich mobilisiert er
materielle und metrologische Investitionen, aber wir sollten den essentiel­
len Beitrag der Ökonomie in der Ausführung der Wirtschaft nicht vergessen
(Callon 1998). Die Erforschung dieses Beitrags konstituiert ein großes
Projekt für die Zukunft. Die ANT und - allgemeiner - Wissenschaftsstu­
dien stellen eine unschätzbare Quelle zur Erforschung dieses Beitrags dar.

Fazit
Was trägt die ANT also zum Verständnis von Wirtschaftsmärkten bei? Im
Ganzen finde ich die Einschätzung positiv und ermutigend. Die ANT befä­
higt uns mehr als die Sozioökonomie oder eine Netzwerkanalyse, wie sie
von Forschem wie Granovetter vorgeschlagen werden, einen Schritt wei­
terzugehen. Märkte sind nicht in Netzwerke eingebettet. Mit anderen
Worten: Es ist nicht eine Frage des Hinzufügens von sozialen, interperso­
nellen oder informellen Beziehungen, um ihre Funktionsweise zu verste­
hen. Ein konkreter Markt ist das Resultat von Operationen der Entwirrung,
Rahmung, Internalisierung und Externalisierung. Um einen Markt zu
verstehen ist es notwendig, zuerst einmal darin übereinzustimmen, das,
was er tut, ernst zu nehmen; das bedeutet, die Konstruktion berechnender
Akteure, die die Sache als erledigt betrachten, wenn die Transaktion einmal
abgeschlossen worden ist. Das bedeutet nicht, dass alles gerahmt und
AKTEUR-NETZWERK-THEORIE: DER MARKTTEST 1 557

internalisiert worden ist und dass keine anderen Beziehungen als die
Marktbeziehungen existieren. Ich habe vorgeschlagen, dass vollkommene
Entwirrung unmöglich ist; Rahmung kann nur funktionieren und überle­
ben, wenn es ein überfließen gibt und Verbindungen noch nicht internali­
siert sind. Aber es ist eine Sache, diese Verbindungen und Beziehungen als
freiwillig und aktiv vom Rahmen der Marktbeziehungen zurückgewiesen
zu sehen, mit dem präzisen Ziel, die Marktbeziehungen lokal und tempo­
rär zu purifizieren; es ist eine andere Sache zu sagen, dass der Markt mög­
lich ist und nur funktioniert, weil diese Beziehungen präsent sind und in
gewissem Sinn das Substrat des Marktaustausches bilden.
Die Metapher der Rahmung und Externalisierung (bei der man nur
jene Beziehungen in Betracht zieht, die es ermöglichen, die Kalkulation
zum Abschluss zu bringen) ist nicht dieselbe wie die der Einbettung und
der sozialen Konstruktion (wobei informelle Beziehungen in Betracht
gezogen werden, um die Möglichkeit einer Kalkulation zu erklären). Im
einen Fall werden die Konfiguration von Marktbeziehungen und der Markt
ernst genommen, während im anderen Fall das gesamte überfließen, das
der Markt nicht verhindern kann, hervorgehoben wird. Im einen Fall glau­
ben wir an den homo oeconomicus, der jedoch variabel, konfiguriert, ge­
rahmt etc. ist - und im anderen Fall denunzieren wir ihn als abstrakte
Erfindung. Die ANT, die Entitäten erlaubt, einander zu definieren und zu
konstruieren, ist zur Beobachtung der Konstruktion des homo oeconomicus
sehr geeignet. Mit ihrem Fokus auf der Rolle der technischen Einrichtun­
gen und wissenschaftlichen Kompetenzen in der Ausführung des Kollek­
tivs betont die ANT die Wichtigkeit der materiellen Instrumente und der
Naturwissenschaft, aber auch die Wichtigkeit der Sozialwissenschaften im
Allgemeinen und der Wirtschaftwissenschaften im Besonderen in der
Ausführung der Wirtschaft.
Eine letzte Bemerkung zum Akteur. Wie ich zuvor bemerkt habe, ist die
ANT oft dafür kritisiert worden, Akteure zu präsentieren, die von ihrem
Streben nach Macht geleitet werden und einzig daran interessiert sind,
Netzwerke und ihren Einfluss auszubreiten. Wir haben wahrscheinlich
gesündigt, obwohl es eine lässliche Sünde war. Was Studien über Märkte,
aber auch über Tauschhandlungen wie auch über andere Konstellationen,
wie z.B. die der politischen Repräsentation, zeigen, ist die Vielzahl mögli­
cher Konfigurationen von Handeln und Akteuren (Hennion 1993). In
einem Netzwerk reiner wissenschaftlicher Mobilisierung ähnelt der Akteur
jenem schrecklichen weißen Mann, der in die Macht verliebt ist und die
Welt um sich herum gruppiert. In einem Marktnetzwerk ist er berechnend,
selbstsüchtig und unpersönlich. Die gute Nachricht ist, dass er oder sie
sich in einem Geschenknetzwerk in Verbindungen und Beziehungen
verstrickt, die er oder sie nicht haben will, aus denen er sich jedoch nicht
selbst befreien kann. Plötzlich ist er großzügig und altruistisch. In politi­
scher Repräsentation streut er Worte und verleiht der Welt Beredsamkeit,
558 1 MICHEL CALLON

was nicht unbedingt unangenehm sein muss. Dies gipfelt in der Aussage,
dass es keine Modell-Akteure gibt. Die Identität des Akteurs und die Hand­
lung hängen genau von diesen Konfigurationen ab, und jede von ihnen
kann nur verstanden werden, wenn wir darin übereinstimmen, den Men­
schen all die Nicht-Menschen an die Seite zu stellen, die ihre Handlungen
erweitern. Genau weil menschliche Handlung nicht nur menschlich ist,
sondern sich auch entfaltet, delegiert und in Netzwerken mit multiplen
Konfigurationen formatiert wird, ist die Vielfalt der Handlungen und
Akteure möglich.
Zu Beginn dieses Artikels war ich bereit, die Akteur-Netzwerk-Theorie
nicht nur zurückzurufen, sondern, wenn möglich, das Modell zu ändern
und einen neuen Bereich einzuführen. Zum Schluss bin ich optimisti­
scher. Kurz: Die ANT hat einen der anspruchsvollsten Tests bestanden,
den des Marktes. Und wenn sie ihn bestanden hat, dann deshalb, weil die
ANT keine Theorie ist. Das gibt ihr sowohl ihre Stärke als auch ihre Anpas­
sungsfähigkeit. Außerdem haben wir nie behauptet, eine Theorie zu schaf­
fen. Im Akronym ANT ist das »T« zu viel (»de trop«). Es ist ein Geschenk
unserer Kollegen. Wir müssen dieser Art von Weihe argwöhnisch gegen­
überstehen, besonders dann, wenn sie die Arbeit unserer besten Freunde
ist. Timeo danaos et dona ferentes: Ich fürchte unsere Kollegen und ihre
Faszination von Theorie.

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Zelizer, V. (1994): The Social Meaning ofMoney, New York: Basic Books.
Über den Rückruf der ANT

BRUNO LA.TOUR

Zusammenfassung

Der Artikel erforscht nacheinander die vier Schwierigkeiten der Akteur­


Netzwerk-Theorie, nämlich die Begriffe »Akteur«, »Netzwerk« und »Theo­
rie« sowie - nicht zu vergessen - den Bindestrich. Er versucht, die Origina­
lität dessen wieder in den Fokus zu rücken, was eher eine Methode ist, die
eigenen weltbildenden Aktivitäten des Akteurs zugänglich zu machen, als
eine alternative Sozialtheorie. Am Schluss skizziert er einen Teil des ver­
bliebenen Potenzials.

Ich beginne damit festzustellen, dass es vier Dinge gibt, die bei der Akteur­
Netzwerk-Theorie problematisch sind: das Wort Akteur, das Wort Netz­
werk, das Wort Theorie und der Bindestrich! Vier Nägel zum Sarg.
Der erste Sargnagel ist, wie ich vermute, das Wort »Netzwerk« (vgl.
dazu auch Law/Hassard 1999). Darin liegt die große Gefahr, wenn man
eine technische Metapher dem allgemeinen Gebrauch etwas voraus ver­
wendet. Nun, da das World Wide Web existiert, glaubt jeder zu verstehen,
was ein Netzwerk ist. Während es vor 20 Jahren noch etwas Frische in dem
Begriff als kritischem Werkzeug gegenüber so unterschiedlichen Ideen wie
Institution, Gesellschaft, Nationalstaat und - allgemeiner - jeder flachen
Oberfläche gab, hat er jegliche Schärfe verloren und ist nun der Lieblings­
begriff all jener, die die Modernisierung modernisieren wollen. »Nieder
mit rigiden Institutionen,« sagen sie alle, »lang leben flexible Netzwerke«.
Welcher Unterschied besteht zwischen dem älteren und dem neuen
Gebrauch? Früher bedeutete das Wort »Netzwerk« noch eindeutig, wie
Deleuzes und Guattaris Begriff »Rhizom«, eine Reihe von Transformatio­
nen - Übersetzungen, Umformungen-, die nicht von irgendeinem tradi­
tionellen Begriff der Sozialtheorie erfasst werden konnten. Mit der neuen
Popularisierung des Wortes Netzwerk bedeutet es nun Transport ohne
562 / BRUNO LATOUR

Deformation, einen unmittelbaren und unvermittelten Zugang zu jeder


Einzelinformation. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir meinten.
Was ich »Doppelklick-Information« nennen möchte, hat das letzte biss­
chen der kritischen Schärfe aus dem Begriff »Netzwerk« genommen. Ich
glaube nicht, dass wir ihn noch verwenden sollten, zumindest nicht, um
die Art von Transformationen und Übersetzungen zu bezeichnen, die wir
erforschen wollen.
Der zweite Nagel, den ich in den Sarg schlagen möchte, ist das Wort
»Akteur« in der Bindestrich-Verbindung mit dem Begriff des »Netzwer­
kes«. Vom Tag I an habe ich mich gegen den Bindestrich ausgesprochen,
da er zwangsläufig Soziologen an das Handeln-Struktur-Klischee erinnern
würde, oder, wie wir im Französischen sagen, an den »pont aux anes« der
Sozialtheorie. Die meisten Missverständnisse über die ANT sind aus dieser
Verbindung der Begriffe hervorgegangen, eine Verbindung, die den tradi­
tionellen Unterscheidungen der Sozialtheorie viel zu ähnlich ist.
Der managementartige, ingenieurhafte, machiavellistische, demiurgi­
sche Charakter der ANT ist viele Male kritisiert worden. Genauer gesagt
haben sich die Kritiken auf ziemlich vorhersehbare Weise zwischen den
beiden, durch Bindestrich verbundenen Polen abgewechselt: Eine Art von
Kritik drehte sich um den Akteur, die andere um das Netzwerk. Die erste
Art der Kritik bezog sich auf den Schumpeter'schen, männlichen, primiti­
ven Gorillacharakter der ANT; die zweite konzentrierte sich stattdessen auf
die durch die ANT vorgeschlagene Auflösung der Menschheit in ein Feld
von Kräften, in dem Moralität, Menschlichkeit und Psychologie fehlten.
Folglich war das Akteur-Netzwerk in zwei Teile gespalten: Demiurgie auf
der einen, der>Tod des Menschen< auf der anderen Seite.
Gleichgültig, wie bereit ich bin, diese Theorie zu kritisieren, glaube ich
immer noch, dass diese beiden analogen Kritiken am Ziel vorbeigehen,
obwohl der bloße Begriff »Akteur-Netzwerk« diese Reaktion nahe legt. Die
ursprüngliche Idee war nicht die, eine Position in der Handeln-Struktur­
Debatte zu besetzen, noch nicht einmal die, diesen Widerspruch zu über­
winden. Widersprüche sollten - meistens und besonders, wenn sie mit der
modernistischen Zwangslage verbunden sind - nicht überwunden, son­
dern einfach ignoriert oder umgangen werden. Ich stimme jedoch zu, dass
der durch einen Bindestrich verbundene Begriff es unmöglich machte, die
versuchte Bypassoperation deutlich zu sehen.
Lassen Sie mich versuchen, die Argumentation neu zu fokussieren. Wir
wollen die Wörter »Akteur« und »Netzwerk« für einen Moment beiseite
lassen und zwei Operationen unsere Aufmerksamkeit schenken, zum
einen der Rahmung und zum anderen dem Zusammeefassen.
Es ist nicht ganz wahr, dass Sozialwissenschaften immer zwischen
Akteur und System, zwischen Handeln und Struktur geschwankt haben. Es
ist vielleicht produktiver zu sagen, dass sie zwischen zwei Typen von glei­
chermaßen mächtigen Unzufriedenheiten geschwankt haben: Wenn sich
ÜBER DEN RÜCKRUF DER ANT i 563

Sozialwissenschaftler auf das konzentrieren, was man die Mikro-Ebene


nennen könnte, das bedeutet Interaktionen von Angesicht zu Angesicht,
lokale Schauplätze, erkennen sie schnell, dass viele Elemente, die dazu
notwendig sind, der Situation Sinn zu verleihen, sich bereits am Platz
befinden oder von weit her kommen; daher der Drang, nach etwas ande­
rem, nach einer anderen Ebene zu suchen und sich auf das zu konzentrie­
ren, was in der Situation nicht direkt sichtbar ist, die Situation jedoch zu
dem gemacht hat, was sie ist. Deshalb ist solchen Begriffen wie Gesell­
schaft, Normen, Werte, Kultur, Struktur, sozialer Kontext so viel Arbeit
gewidmet worden - alles Begriffe, die auf die Bezeichnung dessen abzie­
len, was der Mikro-Interaktion Form gibt. Aber wenn dieses neue Niveau
erreicht worden ist, beginnt eine zweite Art der Unzufriedenheit. Nun 1

1
i

haben die Sozialwissenschaftler das Gefühl, dass etwas fehlt, dass die Abs­
traktion von Begriffen wie Kultur und Struktur, Normen und Werten zu
groß ist und dass man sich durch einen gegensätzlichen Schritt zurück
wieder mit den lokalen Fleisch-und-Blut-Situationen, von denen aus sie
begannen, verbinden muss. Wieder zurück an den örtlichen Schauplätzen
setzt jedoch dasselbe Unwohlsein wieder ein, das sie in die Richtung einer
Suche nach sozialen Strukturen trieb. Sozialwissenschaftler erkennen
schnell, dass die lokale Situation genauso abstrakt ist wie die so genannte
Makro-Situation, aus der sie kamen, und sie möchten sie nun wieder ver­
lassen in Richtung dessen, was die Situation zusammenhält. Und so weiter
ad in.finitum.
Es scheint mir, dass die ANT einfach ein Weg ist, diesen beiden Unzu­
friedenheiten Aufmerksamkeit zu schenken - nicht, sie zu überwinden
oder das Problem zu lösen, sondern ihnen an einen anderen Ort zu folgen
und zu versuchen, die tatsächlichen Bedingungen, die diese beiden gegen­
sätzlichen Enttäuschungen ermöglichen, zu erforschen. Durch die Veror­
tung der den Sozialwissenschaften eigenen Kontroversen könnte die ANT
auf das tatsächliche Phänomen der sozialen Ordnung getroffen sein: Viel­
leicht besitzt das Soziale die bizarre Eigenschaft, überhaupt nicht aus
Akteurschaft und Struktur gemacht, sondern eher eine zirkulierende Entität
zu sein. Die doppelte Unzufriedenheit, die in der Vergangenheit so viel
sozialwissenschaftliche konzeptuelle Agitation ausgelöst hat, würde so zum
Artefakt: das Resultat des Versuchs, eine Bahn, eine Bewegung abzubilden,
indem man Gegensätze zwischen zwei Begriffen - Mikro und Makro,
Individuum und Struktur verwendet, die nichts damit zu tun haben.
Wenn diese Umgehungsstrategie akzeptiert wird, werden vielleicht ein
paar Dinge geklärt: Die ANT konzentriert die Aufmerksamkeit auf eine
Bewegung - eine Bewegung, die die sukzessiven Verschiebungen von
Aufmerksamkeit der unzufriedenen Sozialwissenschaftler gut demonstrie­
ren. Diese Bewegung hat viele spezielle Charakteristika. Das Erste ist die
erneute Beschreibung dessen, was früher als etwas wahrgenommen wurde,
das mit dem Makro-Sozialen zu tun hat. Der Netzwerkpol des Akteur-
564 1 BRUNO LATOUR

Netzwerkes zielt - und das wurde sogar von den härtesten Kritikern der
ANT verstanden - überhaupt nicht ab auf die Bezeichnung einer Gesell­
schaft, des großen Tieres, das den lokalen Interaktionen einen Sinn gibt.
Genauso wenig bezeichnet er ein anonymes Feld von Kräften. Stattdessen
bezieht er sich auf etwas vollkommen anderes, das die Zusammenfassung
von Interaktionen durch verschiedene Arten von Vorrichtungen, Inskrip­
tionen, Formen und Formeln in einem sehr lokalen, sehr praktischen, sehr
kleinen Ort ist. Dies wurde durch die Untersuchungen von Buchhaltung
und Management (Power 1995), durch Organisationsstudien (Czarniaws­
ka-Borges 1997), einige soziolinguistische Studien (Taylor 1993), Panoptika
(oder was ich nun »Oligoptika« nenne, vgl. Latour/Hermant 1998), Wirt­
schaft, die Anthropologie von Märkten und so weiter allgemein bekannt.
Groß bedeutet dabei nicht »wirklich groß« oder »überall« oder »überspan­
nend«, sondern verbunden, blind, lokal, vermittelt, aufeinander bezogen.
Das ist bereits ein wichtiger Beitrag der ANT, da es bedeutet, dass man
nicht von den lokalen Schauplätzen weggeführt wird, wenn man die Struk­
turen des Sozialen erforscht - wie es beim unzufriedenen Sozialwissen­
schaftler der Fall war-, sondern näher zu ihnen rückt.
Die zweite Konsequenz ist weniger gut entwickelt, jedoch genauso
wichtig: Aktantialität ist nicht die Tätigkeit eines Akteurs- mit der Konse­
quenz für die demiurgische Version der ANT-, sondern das, was Aktanten
mit ihren Aktionen, ihrer Subjektivität, ihrer Intentionalität und ihrer Mo­
ralität ausstattet. Wenn man sich an diese zirkulierende Entität anschließt,
wird man teilweise mit Bewusstsein, Subjektivität, Aktorialität usw. ver­
sorgt. Es gibt keinen Grund, zwischen einer Konzeption von Sozialord­
nung, wie sie von einer Gesellschaft gebildet wird, und einer anderen, die
man von der stochastischen Komposition individueller Atome erhält, zu
wechseln. Ein Akteur zu werden ist genauso sehr eine lokale Errungen­
schaft wie die, eine >totale< Struktur zu erhalten. Ich werde in einem Au­
genblick zu diesem Aspekt zurückkommen, aber die Konsequenz ist be­
reits wichtig: Es gibt nichts in besonderer Weise Lokales und nichts beson­
ders Menschliches in einer lokalen, intersubjektiven Begegnung. Ich habe
den Begriff »Interobjektivität« als eine Art, die neue Position des Akteurs
zu formulieren, vorgeschlagen (Latour 1996a).
Die dritte und sehr verwirrende Konsequenz ist, dass wir, wenn wir der
von der ANT erlaubten Bewegung folgen, niemals in einer Verlagerung,
die einem Beobachter gestattet, sich vom Globalen auf das Lokale und
wieder zurückzuzoomen, zu einer Erforschung der Sozialordnung geführt
werden. Im Sozialen gibt es keinen Wechsel des Maßstabes. Es ist sozusa­
gen immer flach und gefaltet, und dies trifft in besonderer Weise auf die
Naturwissenschaften zu, von denen man sagt, dass sie den Kontext, den
Rahmen, die globale Umwelt, in der Gesellschaft situiert sein soll, gewähr­
leisten. Kontexte fließen ebenfalls lokal durch Netzwerke, seien sie Geo­
graphie, Medizin, Statistik, Ökonomie oder sogar Soziologie. Hier hat die
ÜBER DEN RÜCKRUF DER ANT 1 565

ANT die Einsichten der Wissenschaftssoziologie - einschließlich natürlich


der Soziologie der Sozialwissenschaften - so weit wie möglich verwendet:
Wirtschaften erscheinen aus Ökonomien, Gesellschaften aus Soziologien,
Kulturen aus Anthropologien usw. John Law hat Recht, wenn er sagt, dass
die Topologie des Sozialen ziemlich bizarr ist, aber ich glaube nicht, dass
sie fraktal ist. Jeder »locus« kann als rahmend und zusammenfassend
betrachtet werden. Der Begriff »Akteur« ist nicht da, um die Rolle von
Akteurschaft zu übernehmen - und der Begriff »Netzwerk« nicht für die
Rolle von Gesellschaft. Akteur und Netzwerk - wenn wir diese Begriffe
noch gebrauchen wollen - bezeichnen zwei Gesichter desselben Phäno­
mens, wie Wellen und Partikel: das langsame Erkennen, dass das Soziale
eine bestimmte Art von Zirkulation ist, die endlos reisen kann, ohne jemals
entweder auf die Mikro-Ebene - es gibt niemals eine nicht gerahmte Inter­
aktion - oder auf die Makro-Ebene - es gibt nur lokale Zusammenfassun­
gen, die entweder lokale Totalitäten (»Oligoptika«) oder totale Lokalitäten
herstellen - zu treffen.
Der meiner Meinung nach nützlichste Beitrag der ANT ist, das Soziale
von dem, was eine Oberfläche, ein Territorium, eine Provinz der Realität
war, in eine Zirkulation transformiert zu haben. Es ist- da stimme ich zu
- ein größtenteils negativer Beitrag, weil er uns einfach für eine vierte
Konsequenz sensibilisiert hat, die auch die bizarrste ist: Wenn es kein
Heranzoomen von Makro-Strukturen zu Mikro-Interaktionen gibt, wenn
sowohl das Mikro als auch das Makro lokale Effekte des Anschlusses an
zirkulierende Entitäten sind, wenn Kontexte innerhalb enger Leitungen
fließen, bedeutet das, dass viel >Raum< zwischen den kleinen Bahnen des­
sen, was man die lokale Produktion von »Phusigenik«, »Soziogenik« und
»Psychogenik« nennen könnte, existiert.
»Natur«, »Gesellschaft«, »Subjektivität« definieren nicht, wie die Welt
ist, sondern was lokal zirkuliert und wem sich vieles anschließt oder >sub­
skribiert<, so wie wir uns dem Kabelempfang und dem Abwassersystem
anschließen - einschließlich natürlich der Subskription, die uns gestattet,
»wir« und »eine/r« zu sagen. Dieser leere Raum >zwischen< den Netzwer­
ken, diese terra incognita sind die aufregendsten Aspekte der ANT, weil sie
das Ausmaß unserer Ignoranz und die immense, für Wandel offene Reser­
ve zeigen. Der Nutzen, der aus diesem riesigen leeren Raum >zwischen<
den Netzwerkbahnen gezogen werden kann, ist aufgrund einer dritten
Schwierigkeit, die ich nun angehen muss, noch nicht klar.
Der dritte Nagel im Sarg ist das Wort »Theorie«. Wie Mike Lynch vor
einiger Zeit gesagt hat, sollte die ANT in Wirklichkeit »Aktanten-Rhizom­
Ontologie« genannt werden. Aber wer hätte sich für solch eine schreckliche
Ansammlung von Wörtern interessiert - vom Akronym »ARO« ganz zu
schweigen? Dennoch hat Lynch in einem Punkt Recht. Wenn sie eine
Theorie ist, wovon ist sie dann eine Theorie?
Sie war niemals eine Theorie dessen, woraus das Soziale gemacht ist-
566 / BRUNO LATOUR

im Gegensatz zu der Lesart vieler Soziologen, die glaubten, es sei eine


weitere Schule, die das Verhalten sozialer Akteure zu erklären versucht.
Für uns war die ANT einfach eine andere Art, den Einsichten der Ethno­
methodologie treu zu sein: Akteure wissen, was sie tun und wir müssen
von ihnen nicht nur lernen, was sie tun, sondern auch, wie und weshalb sie
es tun. Wir sind es, die Sozialwissenschaftler, denen das Wissen über das,
was sie tun, fehlt, und nicht sie, denen die Erklärung dafür fehlt, weshalb
sie unwissentlich von Kräften außerhalb ihrer selbst, die dem mächtigen
Blick und den Methoden des Sozialwissenschaftlers bekannt sind, manipu­
liert werden. Die ANT ist eine Art, die unglaublichen Prätentionen der
Soziologen, die, um Baumanns kraftvolle Beschreibung zu verwenden
(Baumann 1992), als Gesetzgeber agieren und noch einen anderen Raum
für die interpretative Soziologie öffnen wollen, zu delegitimieren. Weit
davon entfernt, eine Sozialtheorie oder, noch schlimmer, eine Erklärung
dessen, was die Gesellschaft Druck auf Akteure ausüben lässt, zu sein, war
sie bereits seit ihren frühesten Anfängen (Callon/Latour 1981) eine sehr
grobe Methode, von den Akteuren zu lernen, ohne ihnen eine A-priori-De­
finition ihrer weltbildenden Fähigkeiten aufzudrängen. Die lächerliche
Armut des ANT-Vokabulars - Assoziation, Übersetzung, Allianz, obligato­
rischer Passagepunkt usw. - war ein deutliches Signal dafür, dass keines
dieser Wörter das reiche Vokabular der Akteur-Praxis ersetzen konnte,
sondern einfach ein Weg war, systematisch den Ersatz ihrer Soziologie,
ihrer Metaphysik und ihrer Ontologie durch die der Sozialwissenschaftler,
die mit ihnen durch Forschungsprotokolle verbunden waren, zu vermei­
den. Ich verwende die schwerfällige Umschreibung »Forschungsprotokol­
le«, um den besetzten Begriff »Forschungen« zu umgehen, weil man von
ANT-Forschern nicht genau sagen kann, dass sie die anderen Sozialakteure
»erforschen« oder »studieren«.
Ich stimme zu, dass wir nicht immer unserer ursprünglichen Aufgabe
treu waren und dass eine große Menge unseres eigenen Vokabulars unsere
Fähigkeit beeinträchtigt hat, die Akteure ihren eigenen Raum erbauen zu
lassen, wie viele Kritiker freundlicherweise gezeigt haben (Chateauraynaud
1991; Lee/Brown 1994). Diese Schwäche unsererseits bedeutet jedoch
nicht, dass unser Vokabular zu arm war, sondern dass es im Gegenteil
nicht arm genug war und dass es eine viel schwierigere Aufgabe war, als
wir zuerst dachten, einen Raum für die Akteure zu entwerfen, in dem sie
ihre eigenen Kategorien aufstellen konnten - das bezieht sich natürlich auf
die Idee der Aufstellung selbst. Von Anfang an glitt die ANT in eine Art
Rennen, um ihre Grenzen zu überwinden und aus der Liste seiner metho­
dologischen Begriffe jene fallen zu lassen, die es neuen Akteuren (tatsäch­
lich Aktanten) unmöglich machten, die Welt in ihren eigenen Begriffen
unter Verwendung ihrer eigenen Dimensionen und Prüfsteine zu definie­
ren. John Law und Annemarie Mol haben den Begriff »Fluid« verwendet
(Mol/Law 1994), Adrian Cussins das Wort »Prüfungen« (Cussins 1992),
ÜBER DEN RÜCKRUF DER ANT 1 567

Charis Cussins das Wort »Choreografie« (Cussins 1996). Alle diese Wörter
bezeichnen meiner Ansicht nach, was die Theorie sein sollte und was die
exzessive Verbreitung des »Doppelldick«-Netzwerkes unwiederbringlich
gemacht hat: Es ist eine Theorie, die besagt, dass wir, indem wir den Zirku­
lationen folgen, mehr bekommen können als durch das Definieren von
Entitäten, Essenzen oder Domänen. In diesem Sinne ist die ANT bloß eine
von vielen anti-essentialistischen Bewegungen, die das Ende des Jahrhun­
derts zu charakterisieren scheinen. Sie ist aber auch, wie die Ethnometho­
dologie, einfach eine Möglichkeit für den Sozialwissenschaftler, Zugang zu
Schauplätzen zu bekommen, eine Methode, nicht eine Theorie, eine Art,
von einem Punkt zum nächsten zu reisen, von einem Feld zum nächsten,
nicht eine in anderer, genießbarerer und universalistischerer Sprache
erklärte Interpretation dessen, was Akteure tun.
Ich habe sie oft wegen dieser besonderen Beziehung einer leeren Kon­
struktion, die nichtsdestotrotz streng festgelegt ist, die jedoch kein anderes
Ziel hat, als zu verschwinden, wenn das Bild einmal verlassen ist, um
seinen eigenen Raum einzusetzen, mit perspektivischem Zeichnen vergli­
chen (Latour 1997a). Ich bin mir der Grenzen dieser Metapher bewusst, da
es kaum eine einschränkendere Methode als dreidimensionales perspekti­
visches Zeichnen gibt! Dennoch hat das Bild seine Vorteile: Die ANT er­
klärt niemandem die Form von dem, was gezeichnet werden soll- Kreise
oder Würfel oder Linien -, sondern nur, wie man bei der systematischen
Aufzeichnung der weltbildenden Fähigkeiten der zu dokumentierenden
und zu registrierenden Schauplätze vorgehen soll. In diesem Sinne sind
die Potenziale der ANT noch größtenteils ungenutzt, insbesondere die
politischen Implikationen einer Sozialtheorie, die nicht beanspruchen
würde, das Verhalten und die Beweggründe der Akteure zu erklären, son­
dern nur die Prozeduren zu finden, die Akteure dazu befähigen, ihre Wege
durch die weltbildenden Aktivitäten des jeweils anderen zu finden.
Der vierte und letzte Nagel im Sarg ist der Bindestrich, der die beiden
Wörter »Akteur« und »Netzwerk« sowohl verbindet als auch unterscheidet.
Wie ich oben hingewiesen habe, ist er eine unglückliche Erinnerung an die
Debatte zwischen Handeln und Struktur, in die wir niemals eintreten
wollten. Aber er ist auch ein Platzhalter eines viel größeren Problems,
dessen wir uns nur sehr langsam bewusst geworden sind und dessen
Wirkung in Zukunft spürbar sein wird. Im gleichzeitigen Umgang mit
menschlichen und nicht-menschlichen Akteurschaften rutschten wir unbe­
absichtigt in einen leeren Raum zwischen den vier Hauptanliegen der
modernistischen Denkweise. Wir waren uns dieses Zusammenhangs zu­
erst nicht bewusst, lernten es jedoch auf schmerzhafte Weise, als wir zu
verstehen begannen, dass diejenigen, die am meisten an unserer Arbeit
interessiert sein sollten, nämlich die Sozialwissenschaftler - einschließlich
der Wissenschaftssoziologen-, sich als unsere härtesten Kritiker erwiesen
(Collins/Yearley 1992; Bloor 1998). Ihre soziale Erklärung schien uns nicht
568 J BRUNO LATOUR

stringent zu sein: Die tatsächliche Definition von Gesellschaft war Teil des
Problems, nicht Teil der Lösung. Wie konnte das möglich sein und wie
konnte die Wissenschaftssoziologie so vollkommen verschiedene For­
schungsprogramme auslösen?
Die ANT trieb langsam von einer Wissenschafts- und Techniksoziologie
zu einer Sozialtheorie und weiter zu einer anderen Infragestellung der
Modeme - manchmal komparative, symmetrische oder monistische An­
thropologie genannt (Descola/Palsson 1996). Der Unterschied zwischen
der ANT und der Unmenge an Reflexionen über die Modeme und Post-,
Hyper-, Prä- und Antimodeme war, dass sie alle Komponenten dessen, was
man die modernistische Problematik nennen könnte, simultan in Frage
stellte. Der Grund, weshalb sie sich nicht an eine Theorie der Sozialord­
nung halten konnte, ist, dass die gesamte Gesellschaftstheorie in einen
komplexeren Kampf verstrickt schien, in einen Kampf zur Definition einer
,'
1 epistemologischen Festlegung darüber: (a) wie die Welt außerhalb ohne
menschliche Intervention ist; über (b) ein psychologisches Innen - eine

i
'''I
1
isolierte Subjektivität, die auch noch in der Lage ist, die Welt dort draußen
zu verstehen; (c) eine politische Theorie darüber, wie man die Massen im
Zaum halten kann, ohne dass sie sich durch ihre unbändigen Leidenschaf­
i1J'
II
ten in die soziale Ordnung einmischen und sie zerstören, und schließlich
(d) eine ziemlich verdrängte, jedoch sehr präsente Theologie, die der einzi­
t

ge Weg ist, die Unterschiede und die Verbindungen zwischen diesen drei
anderen Domänen der Realität zu garantieren. Es gibt nicht ein Problem
zu entscheiden, was Gesellschaft ist, ein Zweites zu erklären, wieso es eine
Psychologie gibt, ein Drittes der Definition von Politik und ein Viertes zur
Ergründung der Löschung theologischer Interessen. Stattdessen gibt es
nur eine einzige Problematik, die, gleichgültig, wie verstrickt sie ist, sofort
angegangen werden muss. Um es in einer einfachen Formel zusammen­
zufassen: >dort draußen< Natur, >dort drinnen< Psychologie, >dort unten<
Politik, >dort oben< Theologie. Es ist dieses ganze Paket, das die ANT auf
einmal durch Zufall in Frage stellt.
Es gibt hier nicht genug Raum, um die ganze Frage zu behandeln - ich
habe das an anderer Stelle getan (Latour 1999) -, sondern nur, um auf die
Konsequenzen für eine mögliche Zukunft der ANT hinzuweisen. Die ANT
ist genauso wenig eine Theorie des Sozialen, wie sie eine Theorie des Sub­
jekts, eine Theorie Gottes oder eine Theorie der Natur ist. Sie ist eine Theo­
rie des Raumes oder der in einer nicht-modernen Situation zirkulierenden
Fluide. Welche Art von Verbindung kann zwischen diesen beiden Begrif­
fen hergestellt werden anstelle der einer systematischen, modernistischen
Lösung? Das ist, glaube ich, deutlich die Richtung dessen, was >nach< der
ANT kommt und was viele Sorgen, die in den Beiträgen des Sammelband
»Actor Network Theory and After« (Law/Hassard 1999) geäußert wurden,
auflösen würde.
Lassen Sie uns nicht vergessen, dass das Erste, das wir zirkulieren
ÜBER DEN RÜCKRUF DER ANT 1 569

ließen, Natur und Referenz ist; das ist die >dort draußen<-Box. Ich war
erstaunt zu sehen, dass kaum ein Autor den sozialen Konstruktivismus
und die aktuellen Wissenschaftskriege erwähnte. Die Behandlung des
Kollektivs wissenschaftlicher Realität als Zirkulation von Transformationen
- ist es notwendig, noch einmal zu sagen, dass Referenz das Reale, Soziale
und Narrative gleichzeitig ist? - wird nun, wenn auch nicht als selbstver­
ständlich betrachtet, so doch zumindest deutlich artikuliert. Wenn die ANT
ein Verdienst errungen hat, dann das, Wissenschaftsstudien entwickelt zu
haben, die die Frage der »sozialen Konstruktion« und die »Realisten-Rela­
tivisten«-Debatte vollkommen umgehen. Es ist keine relevante Frage und
war es nie, obwohl sie noch immer viele Leute amüsiert, die weder mit
Wissenschaftsstudien noch mit der ANT vertraut sind. Der Sozialtheorie ist
nun gestattet, so viele Kontaktpunkte, so viele Korrespondenzen mit einer
reichen Realität zu haben, wie es zirkulierende Referenzen gibt. Die ANT
kann sich an Realitäten gütlich tun, ohne sich nur einen einzigen Augen­
blick dafür entschuldigen zu müssen, dass sie nicht an >äußere< Realitäten
glaubt. Im Gegenteil ist sie nun in der Lage zu erklären, warum um alles in
der Welt die Modemisten die bizarre Idee hatten, Realität mach außen< zu
verlegen.
Was ich die »zweite Welle« der Wissenschaftsstudien nenne, hat uns
dieselbe Form von Behandlung für die andere Sphäre - >dort drinnen< -
angeboten (oder bietet sie noch an). Subjektivität, Körperlichkeit ist nicht
mehr eine Eigenschaft von Menschen, von Individuen, intentionalen Sub­
jekten, als es eine Eigenschaft der Natur ist, eine äußere Realität zu sein.
Dieser neue Ansatz ist im Buch »Actor Network Theory and After« (Law/
Hassard 1999) so gut vertreten, dass keine Notwendigkeit besteht, den
Punkt hier weiter zu entwickeln (vgl. Mol 1999). Subjektivität scheint auch
ein zirkulierendes Vermögen zu sein, etwas, was teilweise durch den
Anschluss an bestimmte Praktiken gewonnen oder verloren wird. Made­
leine Akrichs Arbeit, der Beitrag von Emilie Gomart und Antoine Hennion
(Gomart/Hennion 1999), meine Arbeit über Ethnopsychiatrie (Latour
1996b), die Arbeit von Charis Cussins, das Buch von Marc Berg und Anne­
marie Mol (Berg/Mol 1998), alle verteilen subjektive Qualität sozusagen
nach außen - aber das ist natürlich ein vollkommen anderes >Außen<,
nachdem die Epistemologie nun in eine zirkulierende Referenz umgewan­
delt worden ist. Die beiden Bewegungen - die erste und die zweite Welle,
eine über Objektivität, die andere über Subjektivität - sind eng verbunden:
Je mehr wir sozusagen die >äußere< Natur >sozialisiert< haben, umso mehr
>äußere< Objektivität kann der Inhalt unserer Subjektivität erhalten. Es gibt
nun genug Raum für beides.
Was kommt als Nächstes? Ganz klar der >dort untern-Aspekt der mo­
dernistischen Problematik, d.h. politische Theorie, auf die eine kleine, aber
wachsende Anzahl an Arbeiten verweist (vgl. dazu die Arbeit von Dick
Pels). Nicht ein einziges Charakteristikum unserer Definition politischer
570 1 BRUNO LATOUR

Praxis entgeht dem Druck der Epistemologie (>dort draußen<) und der
Psychologie (>dort drinnen<). Wenn wir die Besonderheit einer bestimmten
Art von Zirkulation herauslocken könnten, die die Gesellschaft in eine
solche verwandelt, das heißt, ein Typus von Zirkulation, der das Kollektiv
>sammelt<, hätten wir einen enormen Schritt vorwärts gemacht. Wir hätten
zuletzt die Politik von der Wissenschaft befreit - oder genauer von der
Epistemologie (Latour 1997b) -, ein Ergebnis, das eine ziemliche Errungen­
schaft für Leute darstellt, die noch immer beschuldigt werden, die Wissen­
schaft irreparabel politisiert zu haben. Nach den neuesten Arbeiten in
politischer Ökologie oder in dem, was Isabelle Stengers » Kosmopolitik«
nennt (Stengers 1996, 1997), bin ich ziemlich zuversichtlich, dass das bald
verwirklicht wird. Die politische Relevanz, nach der Akademiker immer
irgendwie verzweifelt suchen, ist ohne einen Standortwechsel der außeror­
dentlichen Originalität politischer Zirkulation nicht zu erreichen.
Was ist mit der halbversteckten Sphäre oben, die als Garantie für den
Rest der modernistischen Systeme verwendet worden ist? Ich weiß, dass
das ein ziemlich riskantes Territorium ist, da, falls es etwas Schlimmeres
gibt, als mit Nichtmenschlichem herumzuspielen, es das ist, Theologie
ernst zu nehmen. Dieser Fokus ist, da stimme ich zu, im Band »Actor
Network Theory and After« (Law/Hassard 1999) überhaupt nicht repräsen­
tiert. Dennoch glaube ich, dass gerade in der Theologie der Begriff der
Zirkulation am lohnendsten ist, genau weil er ein Gewebe von Absurditä­
ten (bzw. was zu einem Gewebe von Absurditäten geworden ist) durch den
Schatten, der durch die Idee einer Wissenschaft und durch die Idee einer
Gesellschaft geworfen wird, schnell erneuert. Moralität, die in den Inge­
nieurträumen der ANT vollkommen abwesend scheint, mag reichlich
vorhanden sein, wenn wir uns die Mühe nehmen, sie auch für einen
bestimmten Typ von Zirkulation zu halten.
Der Punkt, an dem ich schließen möchte, unterscheidet sich in gewis­
ser Weise von dem John Laws. In seinem Beitrag (Law 1999) bittet er uns,
die ANT zu begrenzen und Komplexität und Lokalität ernsthaft und be­
scheiden anzugehen. Es geht ihm wie einigen von uns, die wir irgendwie
erschreckt über das von uns erschaffene Monster sind. Man kann jedoch
nicht mit Ideen machen, was Autohersteller mit schlecht konstruierten
Autos machen: Man kann sie nicht zurückrufen, indem man Anzeigen an
die Besitzer schickt, sie mit verbesserten Maschinen oder Teilen ausstatten
und sie wieder zurückschicken, alles kostenlos. Wenn man sich einmal auf
dieses ungeplante und unergründete Experiment in kollektiver Philosophie
eingelassen hat, gibt es keine Möglichkeit mehr, sich zurückzuziehen und
wieder bescheiden zu sein. Die einzige Lösung ist die, die Viktor Franken­
stein nicht gewählt hat, nämlich die, seine Kreatur nicht ihrem Schicksal zu
überlassen, sondern den ganzen Weg der Entwicklung ihres seltsamen
Potenzials fortzuführen.
Ja, ich glaube, es gibt ein Leben nach der ANT. Wenn wir einmal einen
ÜBER DEN RÜCKRUF DER ANT 1 571

Pflock in das Herz der sicher in ihrem Sarg begrabenen Kreatur getrieben
haben - somit das hinter uns lassen, was an der ANT so falsch war, also
»Akteur«, »Netzwerk«, »Theorie« und nicht zu vergessen der Bindestrich!
-, kann vielleicht eine andere Kreatur auftreten, hell und schön: unsere
zukünftige kollektive Leistung.

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Quellennachweis

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freundlicher Genehmigung von MIT Press.

Madeleine Alcrich und Bruno Latour: Zusammenfassung einer zweckmä­


ßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und nichtmenschlicher
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Original: Akrich, M./Latour, B. (1992): »A Summary of Convenient Voca­
bulary for the Semiotics ofHuman and Non-Human Assemblies«. In: W.E.
Bijker/J. Law (Hg.), Shaping Technology, Building Society. Studies in Socio­
technical Change, Cambridge, Mass.: MIT Press, S. 259-264. Mit freundli­
cher Genehmigung von MIT Press.

Michel Callon: Akteur-Netzwerk-Theorie: Der Markttest.


Original: Callon, M. (1999): »Actor-Network Theory- the Market Test«. In:
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gung von Blackwell Publishing.

Michel Callon: Die Soziologie eines Akteur-Netzwerks: Der Fall des Elek­
trofahrzeugs.
Original: Callon, M. (1986): »The Sociology of an Actor-Network: The Case
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Dynamics of Science and Technology: Sociology of Science in the Real World.
Basingstoke: Macmillan Press, S. 19-34. Mit freundlicher Genehmigung
von Palgrave Macmillan.
574 J QUELLENNACHWEIS

Michel Callon: Die Sozio-Logik der Übersetzung: Auseinandersetzungen


und Verhandlungen zur Bestimmung von Problematischem und Unprob­
lematischem.
Original: Callon, M. (1980): »Struggles and Negotiations to Define What Is
Problematic and What Is Not: The Socio-Logic of Translation«. In: K.D.
Knorr/R. Krohn/R.D. Whitley (Hg.), The Social Process of Scienti.fic Investiga­
tion. Sociology of the Sciences, Bd. IV, Dordrecht/Boston: D. Reidel, S. 197-
219. Mit freundlicher Genehmigung von Springer.

Michel Callon: Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die


Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht.
Original: Callon, M. (1986): »Some Elements of a Sociology of Translati­
on: Domestication ofthe Scallops and the Fishermen of St Brieuc Bay«. In:
J. Law (Hg.), Power, Action and Belief A New Sociology of Knowledge?, Lon­
don: Routledge, S. 196-233, und Callon, M. (1986): »Elements pour une
sociologie de la traduction: la domestication des coquilles St-Jacques et des
marins pecheurs dans la baie de St. Brieuc«. In: L'Annie Sociologique, nu­
mero special La sociologie des Sciences et des Techniques 36, S.169-208. Mit
freundlicher Genehmigung der Sociological Review/Routledge.

Michel Callon: Techno-ökonomische Netzwerke und Irreversibilität.


Original: Callon, M. (1991): »Techno-Economic Networks and Ireversibi­
lity«. In: J. Law (Hg.), A Sociology of Monsters? Essays on Power, Technology
and Domination, London/New York: Routledge, S. 132-161, und Callon, M.
(1991): »Reseaux technico-economiques et irreversibilite«. In: R. Boyer/B.
Chavance/0. Godard (Hg.), Figures de l'irreversibilite en economie, Paris:
Edition de l'EHESS, S.195-230. Mit freundlicher Genehmigung der Socio­
logical Review/Routledge.

Michel Callon und Bruno Latour: Die Demontage des großen Leviathan:
Wie Akteure die Makrostruktur der Realität bestimmen und Soziologen
ihnen dabei helfen.
Original: Callon, M./Latour, B. (1981): »Unscrewing the Big Leviathan:
How Actors Macrostructure Reality and How Sociologists Help Thern to
Do So«. In: K. Knorr/A.V. Cicourel (Hg.), Advances in Social Theory and
Methodology: Toward an Integration of Micro- and Macro-Sociologies, Boston:
Routledge and Kegan Paul, S. 277-303. Mit freundlicher Genehmigung der
Sociological Review /Routledge.

Jim Johnson [Bruno Latour]: Die Vermischung von Menschen und Nicht­
menschen: Die Soziologie eines Türschließers.
Original: Johnson, J. (1988): »Mixing Humans and Nonhumans Together:
The Sociology of a Door-Closer«. In: Social Problems 35/3, S. 298-310. Mit
freundlicher Genehmigung der University ofCalifornia Press.
QUELLENNACHWEIS 1 575

Bruno Latour: Die Macht der Assoziation.


Original: Latour, B. (1986): »Tue Powers of Association«. In: J. Law (Hg.),
Power, Action and Belief A New Sociology of Knowledge?, London: Routledge,
S. 264-280. Mit freundlicher Genehmigung der Sociological Review/Rout­
ledge.

Bruno Latour: Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlich


mobilen Elemente.
Original: Latour, B. (1986): »Visualization and Cognition: Thinking with
Eyes«. In: Knowledge and Society - Studies in the Sociology of Culture Past and
Present 6, S. 1-40, und Latour, B. (1990): »Drawing Things Together«. In:
M. Lynch/S. Woolgar (Hg.), Representation in Scientific Practice, Cambridge,
Mass.: MIT Press, S. 19-68. Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

Bruno Latour: Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den
Angeln heben.
Original: Latour, B. (1983): »Give Me a Laboratory and I Will Raise the
World«. In: K.D. Knorr-Cetina/M.J. Mulkay (Hg.) (1983): Science Observed,
Beverly Hills: Sage, S. 141-170. Mit freundlicher Genehmigung von Sage
Publications Ltd, www. sagepub.co.uk.

Bruno Latour: Sozialtheorie und die Erforschung computerisierter Arbeits­


umgebungen.
Original: Latour, B. (1996): »Social Theory and the Study of Computerized
Work Sites«. In: W.J. Orlikowski/G. Walsham/M.R. Jones/J.I. DeGross
(Hg.), Information Technology and Changes in Organizational Work:, London:
Chapman & Hall, S. 295-307. Mit freundlicher Genehmigung von Sprin­
ger.

Bruno Latour: Technologie ist stabilisierte Gesellschaft.


Original: Latour, B. (1991): »Technology is Society Made Durable«. In: J.
Law (Hg.), A Sociology of Monsters? Essays on Power, Technology and Domina­
tion, London/New York: Routledge, S. 103-131. Mit freundlicher Genehmi­
gung der Sociological Review/Routledge.

Bruno Latour: Über den Rückruf der ANT.


Original: Latour, B. (1999): »On Recalling ANT«. In: J. Law/J. Hassard
(Hg.), Actor Network: Theory and After, Oxford: Blackwell Publishers/The
Sociological Review, S. 15-25. Mit freundlicher Genehmigung von Blackwell
Publishing.
576 1 QUELLENNACHWEIS

Bruno Latour: Über technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und


Genealogie.
Original: Latour, B. (1994): »On Technical Mediation - Philosophy, So­
ciology, Genealogy«. In: Common Knowledge 3/2, S. 29-64. Mit freundlicher
Genehmigung der Duke University Press.

John Law: Monster, Maschinen und soziotechnische Beziehungen.


Original: Law, J. (1991): »Introduction: Monsters, Machines and Sociotech­
nical Relations«. In: J. Law (Hg.), A Sociology of Monsters? Essays on Power,
Technology and Domination, London/New York: Routledge, S. 1-23. Mit
freundlicher Genehmigung der Sociological Review/Routledge.

John Law: Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie: Ordnung, Strategie und


Heterogenität.
Original: Law, J. (1992): »Notes on the Theory of the Actor-Network: Orde­
ring, Strategy and Heterogeneity«. In: Systems Practice 5, S. 379-393- Mit
freundlicher Genehmigung von Springer.

John Law: Technik und heterogenes Engineering: Der Fall der portugiesi­
schen Expansion.
Original: Law, J. (1987): »Technology and Heterogeneous Engineering: The
Case ofthe Portuguese Expansion«. In: W.E. Bijker/T.P. Hughes/T. Pinch
(Hg.), The Social Construction of Technological Systems. New Directions in the
Sociology and History of Technology. Cambridge, Mass.: MIT Press, S. m-
134. Mit freundlicher Genehmigung von MIT Press.

John Law und Michel Callon: Leben und Sterben eines Flugzeugs: Eine
Netzwerkanalyse technischen Wandels.
Original: Law, J./Callon, M. (1994): »The Life and Death of an Aircraft: A
Network Analysis ofTechnical Change«. In: W.E. Bijker/J. Law (Hg.), Sha­
ping Technology, Building Society. Studies in Sociotechnical Change, 2. Aufl.,
Cambridge, Mass.: MIT Press, S. 21-52. Mit freundlicher Genehmigung
von MIT Press.
Autorinnen und Autoren

Madeleine Aloich ist Direktorin des Centre de Sociologie de l'Innovation


(CSI) an der Ecole Nationale Superieure des Mines in Paris und Vor­
standsmitglied der Society for Social Studies of Science (4S). Sie studierte
Ingenieurwissenschaften und promovierte zum Thema der Sozioökonomie
von Innovation. Ihr Arbeitsschwerpunkt in Lehre und Forschung liegt im
Bereich der Techniksoziologie mit speziellem Fokus auf Anwendung. Sie
versucht aufzuzeigen, wie Entwickler, Designer und Initiatoren von techni­
schem Instrumentarium Repräsentationen von Anwendern konstruieren,
für die die Technik gedacht ist, diese Repräsentationen bei der Schaffung
von Technik und Organisation inskribieren und auf diese Weise »Szena­
rien« produzieren, die die möglichen Beziehungen zwischen Anwender
und Technik bestimmen. Die Art und Weise, wie Anwender sich Technik
zu Eigen machen und wie die Technik ihre Beziehung zur Umgebung neu
definiert, wird dabei ebenfalls berücksichtigt. Ihre Arbeiten konzentrieren
sich in den letzten Jahren im Speziellen auf den Themenbereich der Medi­
zin.

Michel Callon ist Professor für Soziologie an der Ecole Nationale Superi­
eure des Mines in Paris, ehemaliger Direktor des Centre de Sociologie de
!'Innovation (CSI, 1982-1994) und ehemaliger Präsident der Society for
Social Studies of Science (4S, 1998-1999). Er hat einen ingenieurwissen­
schaftlichen Hintergrund mit Vertiefungsstudien im Bereich der Wirt­
schaftswissenschaften. Er ist neben Bruno Latour und John Law einer der
>Gründer< der Akteur-Netzwerk-Theorie oder der Soziologie der Überset­
zung. Seine Werke decken ein weites Spektrum an Themen im Schnittstel­
lenbereich von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft ab: Wissenschafts­
und Technikanthropologie, Sozioökonomie von Innovation, Wissenschaft,
Technik und Demokratie, Scientometrics und quantitative Methoden,
Anthropologie der Märkte, Medizin- und Gesundheitssoziologie.
578 1 AUTORINNEN UND AUTOREN

Bruno Latour ist Professor für Soziologie an der Ecole Nationale Superi­
eure des Mines in Paris und Gastprofessor an der London School of Eco­
nomics und an der Historischen Fakultät der Harvard University. Nach
einem Studium der Philosophie und Anthropologie sowie Feldforschungen
in Afrika promovierte er an der Universität Tours. 1979 veröffentlichte er
zusammen mit dem britischen Soziologen Steve Woolgar »Laboratory
Life«, das Ergebnis seiner Feldstudien im kalifornischen Labor des späte­
ren Nobelpreisträgers Roger Guillemin. Dabei konnte Latour unter Ver­
wendung ethnographischer Methoden aufzeigen, welche Rollen rhetori­
sche Strategien und technische Artefakte bei der Konstruktion wissen­
schaftlicher Tatsachen spielen. Mit dem 1987 erschienenen »Science in
Action« weitete Bruno Latour diese Argumentation auf das Gebiet der
Technik aus. Zusammen mit Michel Callon und John Law entwickelte er
die Akteur-Netzwerk-Theorie. Auf Basis dieser Überlegungen schuf er mit
seinem Ansatz einer symmetrischen Anthropologie in den Werken »Wir
sind nie modern gewesen« und »Das Parlament der Dinge« eine Kritik der
modernen Gesellschaft. Seine Interessen liegen an der Schnittstelle von
Soziologie, Geschichte, Technikökonomie, Innovation, Organisation und
der zugrunde liegenden Technikphilosophie. Latour wurde für seine Arbeit
mit verschiedenen Ehrungen ausgezeichnet: Prix Bemal der Society for the
Social Studies of Science (1992), Prix Roberval (1992), Ehrendoktorat
Universität Lund/Schweden, Spinoza Chair der Universität Amsterdam
(Frühlingssemester 2005).

John Law ist Professor und Co-Leiter der Soziologischen Fakultät der Lan­
caster University. Er arbeitete bis 1998 an der Keele University in den
Bereichen Soziologie und Science and Technology Studies (STS). Zwischen
2000 und 2003 war er Direktor des Centre for Science Studies in Lancas­
ter, einem interdisziplinären Forschungszentrum für Soziologie, Women's
Studies, Umwelt, Philosophie und Politk, Linguistik, Geschichte und Ma­
nagement. Ziel war die Schaffung einer neuen Art Cultural Studies of
Science. Seine Hauptaufmerksamkeit gilt komplexen sozialen und techni­
schen Gefügen, und vermehrt auch fluiden Dingen wie Agape, Leiden­
schaft, Ästhetik, Spiritualität, fraktalen Entitäten, Unsichtbarkeiten und
Asymmetrien, die nicht in gängige Vorstellungen wie Netzwerke, Kalku­
lierbarkeit, Vernunft und Rationalität passen, sowie Methoden der Reflexi­
on darüber.
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Herausgeberin und Herausgeber

David Krieger ist Professor an der Universität Luzern und leitet gemein­
sam mit Andrea Belliger das Institut für Kommunikationsforschung in
Luzern. Studien der Philosophie, Theologie und Religionswissenschaft an
der Universität von San Francisco und Promotion an der Universität von
Chicago, Habilitation an der Universität Luzern (Religionswissenschaft mit
Schwerpunkt Kultur und Kommunikation und Kommunikationswissen­
schaft), Mitbegründer und Leiter des Instituts für Kommunikation und
Kultur an der Universität Luzern. Arbeitsschwerpunkte: Kommunikations­
wissenschaft, Systemtheorie, Interkulturelle Kommunikation, Semiotik,
Wissenschaft und Gesellschaft.

Andrea Belliger leitet gemeinsam mit David Krieger das Institut für Kom­
munikationsforschung in Luzern. Sie studierte Theologie, Philosophie und
Geschichte in Luzern, Straßburg und Athen. Assistenzen am Lehrstuhl für
Kirchenrecht und Staatskirchenrecht und am Lehrstuhl für Religionswis­
senschaft in Luzern, 1999 Promotion im Bereich des kanonischen Rechts,
2001 Mitbegründerin des Instituts für Kommunikation und Kultur an der
Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. Seit 2001 Co­
Leitung des Instituts, seit 2003 Leitung des Studienganges Master of
Advanced Studies eLearning und Wissensmanagement. Arbeitsschwerpunk­
te: Kommunikationswissenschaft, Neue Medien, Wissensmanagement,
Wissenschaft und Gesellschaft.

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