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1 So Stefan Murr im Interview mit Boehringer / Hagelüken: Ministerpräsident.
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(wie zum Beispiel Kaavya Viswanathan 2006, Helene Hegemann 2010) oder
journalistischer Zeitnotplagiate als zuverlässiger Einrichtungsgegenstand des
feuilletonistischen wie literaturbetrieblichen Haushalts. 2 Neben periodisch
wiederkehrenden Debatten um Herkunft des Prätextes, um die Motivation des
Plagiierenden, um Reaktionen und Kompensationsforderungen der Plagiierten
und schließlich um die Wiederherstellung der (literarischen) Ordnung werden
hier ebenso regelmäßig vergangene Fälle und ›kanonische Plagiatoren‹ – in
Deutschland zum Beispiel Goethe, Mann oder Brecht, im anglo-amerikanischen
Raum Milton, Wordsworth oder Nabokov – benannt. Es werden also nicht nur
Autorinnen, sondern ebenso Plagiatorinnen in die Tradition Vorgängiger einge-
reiht und damit als Teil des Gesamtbetriebs historisiert.
In der feuilletonistischen Auswertung, die den Formeln des öffentlichkeits-
wirksamen Skandals folgt und die das Plagiat als Pathogen, also als abnormes
Indiz innerhalb eines ansonsten gesund geheißenen Produktionsorganismus
begreift, spielt die Metaphorik des umschriebenen Umstandes eine signifikante
Rolle, die an dieser Stelle zur Feindbildetablierung postmoderner Plagiatsprak-
tiken kurz skizziert werden soll. 3
Innerhalb dieser Bildsprache sind zwei maßgebliche Richtungen zu identi-
fizieren, die sich zum einen an legalen, zum anderen an medizinisch-
pathologischen Diskursen orientieren. Das legale Sprechen befindet über die
›Tat‹, die als Diebstahl, Betrug, Menschenraub (nach Martial), oder bei Nick
Groom sogar als Mord definiert wird. 4 Weiterhin bestimmt es über Klägerin-
nen/Opfer, Beklagte/Täterinnen, Beweise und deren Art der Anführung, Zeu-
ginnen und Mittäterinnen. 5 Dieses Sprechen soll zusammengenommen zu einer
möglichst abschließenden Urteilsfindung führen, transportiert hierbei juris-
tisch-normative Prinzipien bezüglich geistigen Eigentums und verbindet diese
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2 Vgl. z. B. Luscombe: Is Maureen Dowd Guilty; Clark: Unoriginal Sin.
3 Zur literarischen Skandalisierung vgl. u. a. Burkhardt: Medienskandale, S. 184–205; Laden-
thin: Literatur als Skandal, S. 19–23; Moritz: Wer treibt die Sau durchs Dorf, S. 54–60.
4 Zur Konzeption als Betrug vgl. z. B. Goschler: Dünne Bretter; zur Mordmetaphorik vgl.
Groom: Forger’s Shadow, S. 27.
5 Bezogen auf die Art der Anführung sei an dieser Stelle auf die im Zuge der Guttenberg-
Plagiatsaffäre entstandene Plattform GuttenPlag Wiki verwiesen, die sich als Forum »kollekti-
ver Plagiatsdokumentation« versteht und in der Folge Epigonen wie das VroniPlag (zu den
Dissertationen von u. a. Veronica Saß, Silvana Koch-Mehrin und Georgios Chatzimarkakis) her-
vorgebracht hat (vgl. http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/Gutten-Plag_Wiki). Diese kol-
lektiven Beweisführungen durch professionelle und amateurhafte Leserinnen dienten im
erstgenannten Fall ebenso der offiziellen Untersuchung unredlicher wissenschaftlicher Metho-
den und können hierin als Katalysatoren des Plagiats als öffentliches Narrativ, wie ich es im
Folgenden erläutere, verstanden werden.
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mit dem amateurhaft öffentlichen, und darin ethischen Verdikt eines Vergehens
gegen die erwähnten guten Sitten individueller Autorschaft.
Als Beispiel soll an dieser Stelle ein Fall kurz erläutert werden, der in den
letzten Jahren zu den am besten ausgeleuchteten zählen kann. 2010 galt die 17-
jährige Helene Hegemann ob ihrer Jugend, ihrer adoleszent-abgeklärten Be-
obachtung urbaner Erlebniswelten (»Furor der Beschreibung« 6) im Debut Axo-
lotl Roadkill (»großer Coming-of-age-Roman der Nullerjahre« 7) und ihres bereits
vorhandenen Halbruhms als Regisseurin und Tochter des Dramaturgen Carl
Hegemann als literarisches Fräuleinwunderkind. Nach der Entlarvung des Pla-
giats und der gewissenhaften Beweisführung in zahlreichen Blogs und im ana-
logen Feuilleton konnte ihr schwerer Diebstahl geistigen Eigentums – als hypo-
thetische Urheberrechtsverletzung – sowie der Tatbestand der arglistigen Täu-
schung der Öffentlichkeit – als Vergehen an den guten literarischen Sitten –
nachgewiesen werden. Hierzu wurden noch lebende Geschädigte wie der Autor
Airen in den Zeugenstand gerufen, Nebenklägerinnen und Anwältinnen veröf-
fentlichten ihre Plädoyers und Ersatzforderungen 8 und die Motivsuche (unter
anderem Geltungsdrang, Ignoranz, billige Provokation) führte in die Untiefen
›rechtmäßiger‹ Remix-Kulturparallelwelten im Theater und in der Musik. 9 Die
Schuld, über die nach weniger als einer Woche befunden werden konnte, wurde
von der Autorin und Ullstein als sie vertretenden Verlag trotz fehlender Reuebe-
zeugung gesühnt, indem die folgenden Auflagen des Romans ein halbherziges
Nachwort mit Quellennachweisen enthielten. Der legale Diskurs äußerte sich
somit in der nachvollziehbaren Abfolge schauprozesshafter Elemente, die durch
die Überführung der Täterin und erfüllte Forderungen nach Gerechtigkeit zum
Abschluss gebracht wurden.
In Ergänzung zu diesen aus der Gesetzessprache informierten Kategorien
bedenkt der medizinische Diskurs in der Beschreibung des Plagiats die ›Tat‹ mit
pathologischem Vokabular: So kommt es durch die illegitime Aneignung frem-
den, originären Materials anderer Autorpersonen zu einer ›Bastardisierung‹
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6 Dieckmann: Nicht gesellschaftsfähig?
7 Delius: Mir zerfallen die Worte im Mund.
8 Neben zahlreichen Expertenmeinungen zum ›Fall Hegemann‹ soll hier stellvertretend für
die affirmative Ehrenrettung zeitgenössischer Literaturproduktion die sogenannte ›Leipziger
Erklärung‹ stehen, in der etablierte Autorinnen wie Günter Grass, Martin Walser, Christa Wolf
und Sybille Lewitscharoff die Verurteilung jeglichen Plagiats forderten und gegen die Verun-
glimpfung der Kunst als Verfälschung mobilisierten. Vgl. hierzu z. B. Bartels: Grass, Wolf &
Co.; Schramm: Abrechnung mit Helene Hegemann; Bruck: Urheberstreit.
9 Zur Verteidigungshaltung bezüglich der Parallelen zu anderen Kunstformen und Medien
vgl. Hegemann / Bublitz: Axolotl Roadkill.
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vormals reinen Materials, das nun als inzestuöses Gebilde existiert, da die Pla-
giatorin kanonischen Text sozusagen aufbricht, infiziert und die zugefügte
Wunde nachträglich verunreinigt. In Kombination dieser beiden Analogien zur
Beschreibung unrechtmäßiger Aneignung und deren Verschleierung befindet
Nick Groom deshalb Folgendes: »imagined as despotic – contagious, sickening,
unnatural, and terminal […] [p]lagiarism is a bastard offspring, an illegitimate
child that enacts a primal crime: patricide (murdering its origin) followed by
incest (breeding monsters out of its own flesh)«. 10 Das Plagiat im zeitgenössi-
schen Literaturbetrieb gestaltet sich in der metaphorischen Auseinandersetzung
somit als maximal zu verwünschende Verfasstheit von Text, die mit Tabus wie
Vatermord und Inzest als ultimativer Perversion belegt ist. 11
Neben diesen Beschreibungsebenen von Seiten der Betroffenen und deren
Advokatinnen gestaltet sich die kultur- und literaturwissenschaftliche Diskus-
sion des geistigen Diebstahls respektive Vatermords weitaus nüchterner. Der
prozesshaften Abfolge der vom juristischen Diskurs beeinflussten Elemente
folgend klassifiziert Philipp Theisohn den Tatbestand ›Plagiat‹ in seiner »unori-
ginelle[n] Literaturgeschichte« als Narrativ und bestimmt als dem Phänomen
zugrundeliegende Struktur eine sogenannte »Plagiatserzählung«. 12 Diese gene-
riere in ihrer nachweisbaren Kohärenz einen Plot, der einem bestimmten Er-
zählschema, also einer sequenziellen und kausalen Struktur, folgt – der Krimi-
nalerzählung darin nicht unähnlich. 13
Dieses öffentliche Narrativ14 finde in jedem neuen aufgedeckten Fall Ver-
wendung und perpetuiere darin zwei zentrale soziokulturelle Funktionen des
Erzählten: Zum einen wird die Praxis illegitimer Textaneignung als Instrument
der Exklusion aus dem etablierten Literaturbetrieb gebraucht, an dem die Plagi-
atorin als Diebin und Vatermörderin gerne teilhaben möchte – das verschleierte
Plagiat erschüttert grundlegend also etablierte Annahmen und Funktionalisie-
rungen von individueller Autorin und originärer Textidentität. Zum anderen
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10 Groom: Forger’s Shadow, S. 27.
11 Andere Konnotationen verlegen sich auf das Plagiat als Parasit, der von der Leistungsfä-
higkeit seiner Wirtin ohne Gegenleistung wie bei einer Symbiose profitiert und diese dabei
schwächt oder tötet. Michel Serres zum Beispiel begreift in seinem Parasit (1980) diese Lebens-
form im übertragenen Sinn als das Kommunikationssystem missbrauchendes und subvertie-
rendes Element (wobei das System bei ihm durch Missbrauch und Subversion allerdings posi-
tiv beeindruckt wird). Vgl. Serres: Parasit, S. 13.
12 Theisohn: Plagiat, S. 14.
13 Vgl. ebd., S. 16.
14 Dem Plagiat als Erzählung geht die Annahme voraus, dass ein Plagiat, das niemand be-
merkt ja noch keines ist (vgl. Theisohn: Plagiat, S. 3). Erst durch das Entdecken der unzulässi-
gen Aneignung geistigen Materials anderer wird das Narrativ in Gang gebracht.
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dient das Plagiat innerhalb dieser Annahmen als Korrektiv, indem es als exklu-
diertes Element die Gültigkeit von Individualität und Werkautonomie ex nega-
tivo erst bestätigt. Das Plagiat als Erzählung wird somit als oppositionales Mo-
ment gegenüber tradierten Autorschaftsfigurationen, wie sie der Literaturbe-
trieb mit konzipiert und kapitalisiert, verstanden und weist dabei sowohl Quali-
täten der Durchbrechung als auch der Wiederherstellung von Ordnung auf.
Als zweiter Teil dieser Vorrede, die bisher das Reden über ›herkömmliches‹
Plagiat in seiner bildsprachlichen und narrativen Beschreibung zum Thema
hatte, sollen vor der Einführung absichtsvoller Plagiatspraktiken, wie sie sich in
postmodern-experimentellen Texten manifestieren, die im Kontext herkömmli-
cher Plagiate gedachten literaturbetriebswirtschaftlichen Autorfigurationen
und die Definitionen von realem, das heißt biografischem Autor, Autorsubjekt
und Autorfunktion, wie ich sie für die vorliegende Analyse konzipiere, vorge-
stellt werden.
Die »Rede über den Autor« 15 innerhalb des gegenwärtigen Literaturbetriebs,
der im Folgenden die Debatte um absichtsvolles postmodernes Plagiat kontex-
tualisiert, findet sich an der Schnittstelle ökonomisch gesteuerter literarischer
Öffentlichkeit und dadurch informierter soziokultureller Belegungen der Entität
›Autorin‹ in Produktion, Distribution und Rezeption literarischen Materials. Was
die reale, biografische Autorin betrifft, wird hierin eine eklektische Gemengela-
ge historischer Autorschaftskonzepte sichtbar, die den individuell kreativen
(individuell-imaginativ), stilistisch fortschrittlichen (formästhetisch-innovativ),
handwerklich versierten (methodisch-imitativ) und kanonisch kategorisierba-
ren (historisch-imitativ) Künstlerinnentypus miteinander verquickt: So gilt zum
Beispiel der US-amerikanische Pulitzer Prize-Träger Richard Ford als Vertreter
des dirty realism, der in der Südstaatentradition William Faulkners stehe und
das sprachökonomische Schreiben Ernest Hemingways nachempfinde, dabei
postmodernes Sprachspiel mit der Beobachtung männlicher Subjektivität zu
verbinden vermag und auf Buchrückseiten als nachdenklicher Chronist mit
hoher Denkerstirn und in handgestützter Pose abgebildet ist. 16 Ford verbindet
als zeitgenössischer Autor also Traditionsverbundenheit, etablierte wie auch
innovative Formästhetik, Zeitgeistsensibilität, soziales Abstraktionsvermögen
und nicht zuletzt phänotypischen Habitus – Elemente, die ihn als öffentliche
Künstlerperson figurieren und kommodifizieren.
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15 Vgl. Jannidis / Lauer u. a.: Rede.
16 Vgl. Lyons: Interview Richard Ford; Bonetti: An Interview, S. 79; Armengol: Gendering
Men, S. 86; Paul: Forget the Hemingway Comparisons, S. vii.
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17 Zu ergänzen wären diese Agentinnen literaturbetrieblichen Schaffens durch Literaturge-
sellschaften, Stiftungen und Ereignisse wie Buchmessen, Medienverhandlungen (zum Beispiel
Film- und Hörbuchadaptionen) oder Literaturpreise.
18 Vgl. Grau: Ästhetisches Engineering.
19 Jannidis hat in der Rückkehr des Autors (»Der Autor in Gesellschaft und Geschichte«,
S. 297–301) als die drei maßgeblich definierenden »Rolle[n] des Autors für die Bedeutungskon-
stitution« (S. 297) im sozialen Gefüge ›Eigentum‹, ›Verantwortung‹ und ›Gedächt-
nis/Geschichte‹ benannt. Die von mir angeführten Differenzierungen orientieren sich gleich-
ermaßen an seiner Kategorisierung wie an der Michel Foucaults in „Was ist ein Autor?“ (1969).
20 Beide nationalen Ausprägungen begründen sich im positiven Recht, das Besitz qua Her-
kunft oder Leistung anerkennt und verteidigt bzw. die Nichteinhaltung zur Grundlage einer
weitläufigen Ahndung macht. Das angloamerikanische Copyright stützt sich hier auf das com-
mon law und wurde zuvorderst in der US Constitution verankert, um den Fortschritt von Wis-
senschaft und nützlichen Künsten zu fördern (vgl. 1787, Art. 1 Abs. 8); im deutschen Rechts-
kreis steht vor allem eine Sicherung des Verhältnisses zwischen Urheberin und Werk mittels
Individualleistung und »eigenpersönlicher Prägung« (UrhG, §2 Abs. 2) im Mittelpunkt. Vgl. zu
diesen jeweiligen juristischen Besonderheiten v. a. Lutz: Grundriss; Goldstein / Hugenholtz:
International Copyright.
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21 An dieser Stelle sind zwei Phänomene des 20. Jahrhunderts zu nennen, die eine graduelle
Intensivierung – manche meinen Eskalation – dieser Rechte veranschaulichen: zum einen die
kontinuierliche Verlängerung der Nutzungsdauer einer Texteinheit, die sich im Laufe des 20.
Jahrhunderts auf bis zu aktuell 70 Jahre nach dem tatsächlichen Tod der realen Autorin aus-
geweitet hat (quantitative Erweiterung des Schutzes geistigen Eigentums); zum anderen die
rigorose Verschärfung und Ausführung urheberrechtlicher Interessen mittels supranationaler
Vereinigungen wie dem DMCA (Digital Millenium Copyright Act, seit 1998) oder der EG-
Urheberrechtsrichtlinie (seit 2001), die neben den Verantwortlichkeiten unterschiedlicher
Vertriebswege (z. B. über Internetdienstleister) auch die Art des erlaubten Nutzungsspielrau-
mes (Fair Use, Zitatrecht u. ä.) regulieren (qualitative Intensivierung).
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genden Jahrzehnten sichtbare wie unsichtbare Kriege vor allem im Kontext des
Kalten Krieges mit der Sowjetunion lieferte. Das atomare Wettrüsten, antikom-
munistische Propaganda während der McCarthy-Ära ( Second Red Scare), die
unamerikanische Aktivitäten geißelte, Studentenproteste als Reaktion auf den
als unrechtmäßig wahrgenommenen und als aussichtslos verstandenen Viet-
namkrieg sowie etliche einzelereignisabhängige Nationaltraumata wie die At-
tentate auf John F. Kennedy (1963), Martin Luther King (1968) und Robert F.
Kennedy (1968) stellten Erfahrungen bereit, die in einer rasant wachsenden
Medien- und Wohlstandsgesellschaft wie den USA als uniform verkraftbar ver-
mittelt wurden; das Misstrauen gegenüber den ›großen Erzählungen‹ – Lyotards
integrierenden Metadiskursen –, auf deren Basis ideologisch-politische Ent-
scheidungen getroffen wurden, und die Erkenntnis durchgängiger Fragmentari-
sierung und Dissoziation als tatsächliche Erfahrungsqualität legten jedoch eine
grundsätzliche Täuschung dieser uniformen Realitätswahrnehmung nahe.
Für die postmoderne Literatur stellten sich seit Mitte der 1960er Jahre Her-
ausforderungen ein, die dieser Erfahrungswelt in thematischer und vor allem
formalästhetischer Hinsicht zu begegnen suchten. Hierfür spielte die funda-
mentale Kritik an einer Sprache, die ein uniformes Erleben und Beschreiben
ermöglichen sollte und darin über die Fiktionalität und das Nicht-Authentische
des Realen hinwegtäuschte, eine besondere Rolle. Dieses Interesse an den Ver-
fasstheiten und ideologischen Potenzialen linguistischer Codes und literari-
scher Fiktion als narrativem Komplex und Verstärker der kritisierten Realitäts-
maschinerie äußerte sich in spezifischen Phänomenen wie Intertextualität und
Metafiktionalität, die die Adressierung, Thematisierung und Kritik versprach-
lichter Erfahrung in den Mittelpunkt stellte. Literatur, die sich als Repräsentati-
onsinstrument und damit als realistische Abbildungsmöglichkeit der außertex-
tuellen Welt verstand, galt Vertreterinnen metafiktionaler Verfahrensweisen
wie der New Fiction als Verleugnung tatsächlich innovativer Schreibweisen: »It
will most certainly not be in the mode of an easy, facile, positive literature writ-
ten in an industrial high-tech prose, it will not be a literature which has sold out
to the Spectacle whose rich territory it wants to enter by any means, by com-
promise or by prostitution«,22 wie Federman im Gegensatz zu realistischer, line-
arer (»easy, facile«) und affirmativer Prosa (»positive«) fordert:
The kind of literature we need now is the kind that will systematically erode and dissipate
the setting of the Spectacle, frustrate the expectation of its positive beginning, middle,
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22 Federman: The Real Begins Where the Spectacle Ends.
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and end, and cheap resolution. This kind of writing will be at the same time frugal and
denuded, but rhetorically complex, so that it can seize the world in a new way. 23
Die Forderung nach einem »new way« meint offensichtlich nicht das schriftstel-
lerische Schaffen aus dem Nichts heraus, versteht die Autorin nicht als altera
dea, das schöpferische Genie, dem innovative Imagination und Originalität
nachgesagt wird. In zweierlei Hinsicht – zum einen destruktiv-chaotisch (»sys-
tematically erode and dissipate«), zum anderen nüchtern-unsentimental (»fru-
gal and denuded«) – soll hier gegen die minderwertige Auseinandersetzung
und Auflösung (»cheap resolution«) angeschrieben werden, und das mit Mit-
teln, die so vielschichtig und beziehungsreich geartet sind (»rhetorically com-
plex«), dass sie sich einer einfachen Kategorisierung entziehen. Die von Feder-
man geforderte komplexe Handhabe, die sich nicht einer klaren Schreibanweis-
ung hingibt, äußert sich nun gerade in Hinblick auf Intertextualität und Meta-
fiktion in Form von illegitimer Aneignung fremden Textmaterials.
Die untersuchten Plagiatspraktiken, die offensiv zum Beispiel als playgia-
rism und Critifiction konzeptualisiert werden, stellen in dieser Hinsicht sozusa-
gen eine Radikalisierung intertextuellen Schreibens dar. In der teilweise wort-
wörtlichen Übernahme des Textmaterials anderer Autorinnen und damit einer
als homogen definierten Textidentität und auktorialen Individualität werden
gerade diese zementierten Vorstellungen aufgebrochen, in einer im Text selbst
unartikulierten Vermischung relativiert und sie erfahren aufgrund des als Tabu
inszenierten Umstandes ›Plagiat‹ eine breite Öffentlichkeit. Diese dem Großteil
der Beispiele gemeinsame Strategie ist mit Blick auf das zweitgenannte Phäno-
men der Metafiktionalität durch drei Aspekte geprägt: erstens lassen sich Anlei-
hen an poststrukturalistische und dekonstruktivistische Theoreme der Sprach-
philosophie und Textkritik finden; zweitens kommt es zu einer Verquickung
literaturtheoretischer, sprachkritischer und narrativer Elemente; drittens identi-
fiziere ich eine Positionierung von Literatur als Schnittfläche der Infragestel-
lung von Realismusorientierung, das heißt von Formen der Repräsentation und
des Ausdrucks und von gesellschaftspolitischer Strahlkraft bezüglich historisch
gewordener, ideologisch informierter und darin überkommener Autorschaftsfi-
gurationen und Textfiktionen.
Was das offensichtliche Verhandeln sprachkritischer Positionen der 1960er
und 70er betrifft, sind hier stellvertretend ›Klassiker‹ autorsubjektnegierender,
oder zumindest stark relativierender, Richtungen zu nennen wie der ›Tod des
Autors‹ mit seiner schnell etablierten »Breitenwirkung als marktschreierische
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23 Federman. The Real Begins Where the Spectacle Ends.
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24 Eibl: ›Autor‹ als biologische Disposition, S. 47.
25 Derrida: Einige Statements und Binsenwahrheiten, S. 47.
26 Dass diese experimentelle Verquickung von Theorie, Kritik und Fiktion sich auf der Gat-
tungsebene des Romans abspielt sei wiederum der Herausforderung realistischer Modi ge-
schuldet, die seit dem 19. Jahrhundert mit der prosaischen Langform zusammenfallen und die
lineare Narration als bestmögliche Form nutzen. Vgl. hierzu Scholes: On Realism and Genre, S.
269; Baumgarten: From Realism to Expressionism, S. 414–416.
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schaffene Synthese aus Theorie, Kritik und Fiktion, mit den Kompetenzen der
Analyse, Interpretation, Erklärung und Neuverhandlung von Erfahrung, Reali-
tät und Text. Ähnlich der Metafiktion erzeugt diese Literatur ihre eigene Kritik;
jedoch entstehen Kritik und theoretische Selbstreflexion nicht nur als Effekt des
neuen literarischen Schreibens, sondern sie sind in dieser offenen Variante
plagiatorischen Schreibens bereits in das Narrativ eingeschrieben und entheben
dieses einer einfachen Verhandlung von Mimesis und Diegese.
Ähnlich den Charakteristika postmoderner Metafiktion – Thematisierung
der eigenen Fiktionalität und Literarizität, Offenlegung fiktionaler Mittel und
Effekte und die Betonung einer Orientierung der Leserin innerhalb der Wirren
der innertextuellen Welt 27 – gilt für viele postmoderne Plagiarismen Selbstrefe-
rentialität als wichtiges Element in der Grenzüberschreibung von Theorie, Kritik
und Fiktion. Literarischer Selbstbezug bietet hierbei neben der beschriebenen
Gleichschaltung die geforderte Möglichkeit, das naturalisierte, da ansonsten
bereits abgeschlossene, Schreibprodukt nicht nur selbst zu thematisieren, son-
dern in einer ›Prozessmimesis‹ (»mimesis of process« 28) eine Alternative vorzu-
stellen. Zum einen geht es hierbei um die Nachahmung des Entstehungsprozes-
ses von Fiktion, und damit auch von Literaturtheorie und -kritik, die dem
klassifizierten Produkt Roman, Gedicht, Essay und der kommodifizierbaren
Einheit Buch (oder Datei) ihre Endgültigkeit und Statik nimmt. Zum anderen
verweist diese Art der Mimesis auf die Nachvollziehbarkeit des Dekodierens
sprachlicher Zeichen durch die Leserin: »The novel no longer seeks just to pro-
vide an order and meaning to be recognized by the reader. It now demands that
he be conscious of the work, the actual construction, that he too is undertaking,
for it is the reader who, in Ingarden’s terms, ›concretizes‹ the work of art and
gives it life«.29
Die Leserverantwortlichkeit der Metafiktion, den Prozess der Bedeutungs-
zuschreibung nicht nur nachzuverfolgen, sondern in der Dekodierung aktiv mit-
zubestimmen, erhält für die Plagiarismen postmoderner Prägung besondere
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27 Vgl. hierzu Linda Hutcheons Untersuchung Narcissistic Narrative (1991), in der sie zentrale
Argumente der Metafiktion benennt: »parallels drawn by self-conscious texts themselves
between the acts of writing and reading, that of the subsequent paradox of the reader (drawn
into yet out of the text), [and] that of the responsibility of freedom demanded of the reader« (S.
36). Vgl. außerdem Currie: Metafiction; Waugh: Metafiction.
28 Hutcheon: Narcissistic Narrative, S. 36. In ihrem zweiten Kapitel zu Narcissistic Narrative
legt Linda Hutcheon den Unterschied zwischen »mimesis of process« und »mimesis of pro-
duct«, also der realitätsbezogenen Abbildungsweise einer für abgeschlossen gehaltenen Reali-
tätskonstellation, dar. Vgl. hierzu ebd., S. 36–47.
29 Ebd., S. 39.
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Is it possible for these writers to escape the generalized recuperation that is taking place in
the marketplace of books? […] Is it possible for fiction to escape the way publicity and ad-
vertising ingest and digest culture? Is it possible for fiction to survive the hypnosis of mar-
keting, the sweet boredom of consensus, the cellophane wrapping of thinking, the com-
mercialization of desire? 31
Literatur wird also in ihrer Gänze als verseucht von lähmender Werbung, gefor-
derter Uniformität und unvermeidlicher Kommodifikation verstanden, die sich
in der Folge Kultur einverleiben (»ingest«) und verdauen (»digest«).
Zusammenfassend lässt sich für plagiatorische Praktiken in postmodernen
US-amerikanischen Romanen sagen, dass sie als Strategien der provokativen
Herausforderung des gemachten, im Sinne eines übereingekommenen Regel-
werks für das Literatursystem hinsichtlich seiner kultivierten Vorgaben zu Pro-
duktion, Distribution, Rezeption, Kritik, Valorisierung, Nachhaltigkeit und
Kanonisierung einer abgeschlossenen Texteinheit zwischen zwei Buchdeckeln
gelten. Programmatischer Plagiarismus steht in einer Korrelation literarischer
Praxis als Subversion eines an Realismus und Individuation orientierten Schrei-
bens und literaturtheoretischen Überlegungen der Sprachkritik der 1960er Jah-
re. Somit muss die Strategie noch vor der Differenzierung in ihre praktizierten
Varianten als Infragestellung an Realismus orientierter Literaturproduktion und
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30 Zu dieser Wortwahl vgl. Hutcheon: Narcissistic Narrative, S. 40.
31 Federman: The Real Begins Where the Spectacle Ends.
320 | Mirjam Horn
3.1 Textkorruption
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32 Der Aspekt der Autormultiplikation erfährt aufgrund des Fokus auf Autorschaft eine aus-
führlichere Analyse als der Aspekt der Textkorruption.
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3.2 Autormultiplikation
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33 Eibl: ›Autor‹ als biologische Disposition, S. 59. Vgl. ebenfalls Foucault: Was ist ein Autor?,
S. 211-216.
34 Derrida: Grammatologie, S. 274. Andere Übersetzungen betonen, dass der Ursprungsfas-
sung nähere »Es gibt nichts außerhalb des Textes« bzw. »There is no outside-text« (vgl. Derri-
da: Of Grammatology, S. 158).
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35 Acker: Empire, S. 12.
36 In McCaffery: The Artists of Hell, S. 218.
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37 Ginsberg: Howl, S. 9; Acker: Empire, S. 145.
38 Vgl. Broich / Pfister: Intertextualität, S. 41–44.
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39 Zur autobiografischen und generationenbestimmten Interpretation von »Howl« vgl. z. B.
Hyde: On the Poetry, S. 29–32, S. 222–230; und Raskin: American Scream.
40 Ferlinghetti: Horn on Howl, S. 41.
326 | Mirjam Horn
Was passiert nun mit diesem figurierten Autorsubjekt, wenn der kanonisier-
te und darin bekannte und für wert gehaltene Gedichtanfang »I saw the best
minds of my generation…« in einem dystopischen, postmodernen Roman einer
feministischen Autorin auftaucht, deren Schreibpraxis von poststrukturalisti-
schen Annahmen zu Text, Sprache und Subjekt durchzogen ist? Gesetzt dem
Fall, dass die Verse von der Leserin dekodiert und in ihrer aufgebrochenen Tex-
tidentität als fremd erkannt werden – und von diesem rezeptiven Idealfall müs-
sen wir hier wie bei Federman für die Interpretation ausgehen –, wird nicht nur
die vereinfachte Entsprechung ›Autorin = Werk = Autorin‹ irritiert und korrum-
piert,41 sondern das Autorsubjekt des Prätextes multipliziert sich mit den ande-
ren präproduzierenden Subjekten des Romantextes Empire of the Senseless und
löst sich schließlich in der undurchschaubaren Praxis der écriture auf.
Ähnlich der Textkorruption in Federmans Double or Nothing erfährt die pla-
giierte Textpassage im Romangeflecht von 1988 sowohl eine Aktualisierung als
auch eine Revidierung getroffener Interpretationen, vergangener Kontexte und
Bedeutungsgenesen: Das lyrische (bzw. das oft auch als autobiografisch identi-
fizierte) Ich ›sieht‹ nun sowohl die bereits kodifizierte Generation der Beats, die
teilnahmen an einer gemeinsamen Nachkriegserfahrung und zerstört wurden
von der ›Irrsinnigkeit‹ (»madness«) westlicher Gesellschaftszwänge, als auch
die intratextuelle Äußerung (in Empire) des männlichen Protagonisten Thivai,
der mit diesen Zeilen im Unterkapitel »For Those Who Are Alone in Jail / The
Violence of Roses« von CIA-Experimenten der Bewusstseinskontrolle unter
Drogeneinfluss in französischen Bordellen berichtet. Da diese Tests in den Pro-
jekten MK-ULTRA und OMC (Operation Midnight Climax) der 1950er und 60er
Jahre eine nachweisbare historische Entsprechung finden, lädt sich durch die
Verbindung beider eingespeister Texte und Informationen auch Ginsbergs Prä-
text mit weiterer Bedeutung und mit Interpretationsspielraum auf.
Vor dem Hintergrund enteigneten Texts multipliziert sich das konzipierte
Autorsubjekt Allen Ginsberg nun zum einen natürlich mit dem zweiten bekann-
ten Autorsubjekt Kathy Acker, die der Materialeinheit Empire offiziell als Auto-
rin ›vorsteht‹ und in ihrer vorgeblich individuell-originären Erzählung Thivai
die angegebenen Zeilen zuerkennt. Dieses Subjekt wird durch das in den Roman
Ackers übernommene Textversatzstück also gleichzeitig enteignet und sozusa-
gen als übergeordneter Signifikant vom Text als Referenzsystem abgekoppelt
und geht in die ›Autorfiguration‹ 2 mit ein. Diese Potenzierung erhält letztlich
||
41 Das mathematische Symbol der Äquivalenz ist an dieser Stelle als dezidierter Verweis von
der Autorin auf das Werk / des Werkes auf die Autorin zu verstehen und nicht als komplexi-
tätsreduzierende und damit ungenaue Gleichsetzung dieser Elemente.
»Breeding monsters out of its own flesh« | 327
Bibliographie
Acker, Kathy: Great Expectations. New York 1982.
Acker, Kathy: Don Quixote: Which Was a Dream. New York 1986.
Acker, Kathy: Empire of the Senseless. New York 1988.
Armengol, Josep M: »Gendering Men. Re-Visions of Violence as a Test Of Manhood in American
Literature«. In: Atlantis 29 (2007) H. 2, S. 75–92.
Bartels, Gerrit: Grass, Wolf & Co. sorgen sich ums Urheberrecht, 2010.
http://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/grass-wolf-und-co-sorgen-sichums-
urheberrecht/1719662.html (Stand: 31.08.2011).
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