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Manifeste und Dokumente

zur deutschen Literatur


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J.B. METZLER
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Weimarer Republik

Manifeste und Dokumente zur deutschen


Literatur 1918-1933

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Weimarer Republik

Manifeste und Dokumente zur


deutschen Literatur 1918-1933

Mit einer Einleitung und Kommentaren herausgegeben von


Anton Kaes

METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
J.B.
STUTTGART
Für
Leo Löwenthal

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CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur.


- Stuttgart : Metzler
1918/33. Weimarer Republik /
hrsg.von Anton Kaes. - 1983.
ISBN 3-476-00414-7 kart.
ISBN 3-476-00413-9 Gewebe

NE: Kaes, Anton [Hrsg.]

© J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1983
Satz: Typobauer Filmsatz GmbH, Ostfildern 3
Druck: Gutmann &: Co., Heilbronn
Printed in Germanv
Vorwort

Der vorliegende Band in der Reihe Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur hat die

Aufgabe, den literaturtheoretischen und kulturpolitischen Diskurs in der Zeit der Weimarer
Republik zu erschließen. Anders als der vorausgehende Band über den Expressionismus nimmt
der Band Weimarer Republik seinen Titel nicht aus dem Gebiet der Kunst, sondern aus dem
Bereich der politischen Geschichte. Damit soll angedeutet werden, daß hier weniger die program-
matische Selbstdarstellung einer avantgardistischen Bewegung (etwa der »Neuen Sachlichkeit«) als

vielmehr das Ineinandergreifen von politischer und literarischer Praxis selbst dokumentiert wer-
den soll. Es geht um die Bedingungen, Strategien und Wirkungen des Schreibens in einer Zeit, in

der Politik keinen Lebensbereich unberührt ließ.

In ihrer zeitlichen Begrenzung entspricht die Dokumentation der Q^uer der Weimarer Repu-
blik. Obwohl die Jahre 1918 und 1933 als Yiterdtmimmanente Epochenabgrenzung eine relativ

untergeordnete Rolle spielen - stilgeschichdiche Traditionszusammenhänge mit früheren und


späteren Epochen lassen sich mühelos nachweisen -, haben sich diese Daten dem kollektiven

Gedächtnis als zeithistorische Zäsuren eingeprägt, nicht zuletzt dank der Schriftsteller, die diese

Daten mit Visionen von »Umkehr« und »Neuanfang« bedeutungsmäßig aufgeladen haben. Zu-
gleich signalisieren diese Daten einschneidende Veränderungen des historisch-politischen und
gesellschafdichen Kontextes, in dem Literatur produziert und rezipiert wurde. Die neuen politi-

schen und sozialen Bedingungen der Weimarer Republik haben geistige Prozesse und Energien
freigesetzt, die vorher im Kaiserreich nicht denkbar waren.
Die Weimarer Republik kann als eine Übergangsepoche interpretiert werden, in der traditionelle

Denkweisen aus dem ständischen Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts mit Erfahrungen des
modernen industriellen Massenzeitalters zusammenprallten. Eür die politische wie für die kultu-

relle Sphäre bedeutete dies ein Konfliktpotential, an dem die Weimarer Republik letzdich zerbrach.
Die Gleichzeitigkeit weit divergierender Werthaltungen und Einstellungen war zweifellos auch ein
Hauptfaktor für das epochentypische Gefühl der Unsicherheit und permanenten Krisenstim-
mung, das sich auch in den literarischen Diskussionen niederschlug. Der industrielle und soziale

Modernisierungsprozeß, der sich besonders nach 1924 rapide entfaltete, hat den Schriftstellern

eine Fülle neuer Erfahrungen aufgezwungen, die nach Erklärung und Sinndeutung verlangten.
Folge dieser »Erfahrungsübersättigung« war ein Anschwellen des literaturpraktischen Diskurses.
Eine Flut von Essays, Analysen, Kommentaren, Stellungnahmen, Manifesten, Proklamationen,
Debatten und Appellen überschwemmte den literarischen Markt. Der Schriftsteller wurde in der

Weimarer Republik mehr als je zuvor zur öffendichen Person, die sich unentwegt in Umfragen,
Reden, Interviews und Feuilletonartikeln zur zeitgenössischen Kultur, Gesellschaft und Politik

äußerte. Die für die Weimarer Republik charakteristische Öffnung der Institution Literatur zu
VI Vorwort

einem Forum gesellschaftlicher Auseinandersetzung hat auch den Literaturbegriff verändert:


Literatur wurde Teil der Alltagskommunikation. Deshalb kann sich die vorliegende Dokumenta-
tion auch nicht allein auf dichterische Manifeste und ästhetische Programme beschränken, son-
dern muß von Diskussionszusammenhängen ausgehen, in denen Literatur als gesellschafdiche

Praxis eine Rolle spielt.

Auswahl und Anordnung der Dokumente wurden von der Absicht geleitet, repräsentative

Texte und Zusatztexte so zueinander in Beziehung zu setzen, daß sich aus dem Gesamt der Texte
ein komplexes Modell - gleichsam eine Karte - des literarischen Lebens der Weimarer Republik

abzeichnete. Bei der Auswahl wurden vor allem jene Texte bevorzugt, die auf der imaginären Karte

des diskursiven Terrains der Weimarer Republik als »Knotenpunkte« angesehen werden können,
d. h. solche Texte, die Kontroversen und Debatten auslösten oder sie konzise zusammenfaßten.
Auf dieser »Karte« läßt sich ablesen, welche Aussagen in der Weimarer Öffentlichkeit gemacht

wurden (bzw. gemacht werden konnten), welche Aussagen öffendich verbreitet und diskutiert,

akzeptiert oder zurückgewiesen wurden, und wie die einzelnen Aussagen »zusammenhängen«,
d. h. welche Verbindungslinien (Korrespondenzen, Relationen) sich zwischen ihnen ziehen lassen.

Durch die Plazierung der Texte in ein kommunikatives Netzwerk, in dem sie mit anderen Texten
koexistieren, diese bestätigen oder in Frage stellen, entsteht gleichzeitig auch ein Ensemble von
neuen Beziehungen, die über ihren Entstehungs- und Publikationsort hinausstreben und in jeweils

neue Konstellationen mit dem heutigen Leser treten. So ist der Leser eingeladen, die Epoche auch
auf anderen als den durch die Kapitelüberschriften und die Einleitung vorgezeichneten Wegen zu
erkunden und sozusagen Durchgänge und Passagen zu finden, die quer zu der durch die Gliede-

rung etablierten Richtung liegen. Auf diese Weise können die Dokumente (und die in ihnen aufbe-
wahrten historischen Erfahrungs- und Bewußtseinsformen dieser Zeit) immer wieder neu und
anders zum Sprechen gebracht werden.
Der Versuch, die Physiognomie der Epoche der Weimarer Republik sowohl in ihren zeit- wie
auch problemgeschichdichen Determinanten nachzukonstruieren, hat in der Anordnung der
Texte zu einer Verbindung von historisch-chronologischen und systematisch-sachlichen Prinzipi-
en geführt. Während die einzelnen Kapitel und Unterkapitel von problembezogenen Fragestel-
lungen ausgehen, die ihren Fluchtpunkt in der Gegenwart des Herausgebers haben, sind die
jeweiligen Texte innerhalb der Kapitel chronologisch nach dem Datum ihrer Erstveröffentlichung
geordnet. Der Band gliedert sich in fünf Kapitel, die jeweils größere, in sich relativ geschlossene

Diskussionszusammenhänge des kulturellen Lebens der Weimarer Republik erfassen. So behan-


deln die Texte des 1. Kapitels die Frage nach dem neuen Selbsrverständnis und dem veränderten
Status der Schriftsteller und Intellektuellen in der Republik. Das 2. Kapitel untersucht den Wandel
der literarischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen angesichts neuer technischer Kommu-
nikationsmittel und im Zeichen einer generellen Literaturmüdigkeit. Im 3. Kapitel soll dann der
Funktions- und Formenwandel des literarischen Gattungssystems dokumentiert werden; es geht
dabei um die Anpassung des traditionellen Literaturbegriffs an die neuen Erfahrungen des technisch-
industriellen Zeitalters. Die Texte des 4. Kapitels zeigen im Prisma der literarischen und literatur-

politischen Debatten die Auswirkungen der nationalen Identitätskrise nach dem verlorenen Krieg.

Insofern die Institution Literatur eine Öffenriichkeit bereitstellte, in der in ästhetischer Freiheit
Vorwort VII

nicht nur Erfahrungen, sondern auch Bedürfnisse, Wünsche, Ängste und Visionen - kurz:
emotionale Verarbeitungen der erlebten Wirklichkeit artikuliert werden konnten, liefern die Texte
dieses Kapitels auch Materialien für eine (noch ungeschriebene) Mentalitätsgeschichte der Weima-
rer Republik. Das 5. und letzte Kapitel legt die politischen Opnonen dar, zwischen denen die
Schriftsteller und Intellektuellen im Zeichen der Weltwirtschaftskrise zu wählen hatten. In ihren

Entscheidungen von 1930 zeichnen sich bereits die Umrisse einer Spaltung der deutschen Literatur
nach 1933 (in eine sogenannte »innere« und »äußere« Emigration) und erst recht nach 1945 (in

BRD- und DDR-Literatur) ab.


Die Weimarer Republik war politisch wie literarisch eine kämpferische, aggressive Epoche. Die
Unfähigkeit zum Kompromiß, die im politischen Bereich zu unversöhnlichen, letzdich selbstzerstö-

rerischen Frontenbildungen führte, hat im literaturkritischen Diskurs immer wieder neue Konfronta-
tionen zwischen völkisch-nationalen, bürgerlich-liberalen und sozialistisch-kommunistischen Posi-

tionen hervorgerufen. Versuche, die Weimarer Republik ausschließlich entweder unter sozialistischer

(auf die DDR vorausdeutender) oder auch präfaschistischer (zwangsweise auf Hider zulaufender)
Perspektive zu betrachten, sind unbefriedigend, denn sie verdecken die ideologischen Spannungen
und Konflikte ebenso wie die (trotz aller Belastungen) objektiv bestehenden offenen Möglichkei-
ten dieser Epoche. Es ging deshalb bei der Auswahl der Texte nicht darum, eine von ihrem Ende
her vorgezeichnete Auffassung der Epoche zu illustrieren, sondern es kam darauf an, gerade das
gleichzeitige Neben- und Gegeneinander verschiedener Standpunkte in ihrer prinzipiellen Wider-
sprüchlichkeit hervortreten zu lassen. Zu diesem Zweck werden jedem (im Inhaltsverzeichnis

angeführten) »Haupttext«, soweit möglich und nötig, mehrere »Nebentexte« im Kleindruck


zugeordnet, die den Haupttext jeweils relativieren, d.h. kritisieren, zurückweisen oder ergänzen
sollen.

Das Textmaterial stammt zum größten Teil aus den Literaturbeilagen der überregionalen
bürgerlich-liberalen Tageszeitungen (Frankfurter Zeitung, Berliner Tageblatt, Vossische Zeitung,

Berliner Börsen-Courier) und den zahlreichen politisch-kulturellen Zeitschriften, die Literatur

nicht nur als Ausdruck, sondern als aktiven, handlungsorientierenden Teil gesellschaftlicher

Lebenspraxis verstanden (Die Weltbühne, Das Tagebuch, Die Neue Rundschau). Wichtig waren
auch die spezifisch literarischen Zeitschriften (Die literarische Welt, Die Literatur, Der Querschnitt,

Die Neue Bücherschau) und die Feuilletons sowohl der rechtskonservativen Zeitschriften (Deut-
sches Volkstum, Die Tat, Süddeutsche Monatshefte, Deutsche Rundschau) als auch der linksrevolutio-
nären Presse (Rote Fahne, Der Gegner, Die Front, Die Linkskurve). Neben diesen Hauptquellen

wurden noch zahlreiche andere, für die literaturkritische Diskussion oft überraschend ergiebige

Tageszeitungen und Zeitschriften gesichtet; sie sind hier durch gelegendiche Texte oder Textzitate

vertreten. Auszüge aus Büchern, die in der Weimarer Republik publiziert wurden und die damalige

literarische Situation analysierten oder einen Beitrag zur zeitgenössischen ästhetischen Theoriebil-
dung leisteten, wurden ebenfalls herangezogen. Nicht berücksichtigt wurden in der Regel nachträg-
lich veröffenriichte Memoiren, Tagebücher und Briefwechsel oder unveröffentlichtes Archivmate-
rial. Aus Lizenzgründen mußte auf Texte von Ernst Jünger verzichtet werden; aus Platzgründen

fehlen Ausschnitte aus leicht greifbaren längeren philosophisch-kulturkritischen Abhandlungen


wie von Georg Lukacs, Sigmund Freud, Ernst Bloch, Oswald Spengler und Max Weber, die
VIII Vorwort

eigentlich in die hier herausgearbeiteten Problemzusammenhänge gehörten. Auch die ursprüng-

lich geplante stärkere Einbeziehung von Texten über neue Tendenzen in der Musik, Malerei und
Baukunst fiel den Umfangsbeschränkungen zum Opfer. Da es in dieser Dokumentation um die

Rekonstruktion des öffentlichen literarischen Lebens in der Weimarer Republik geht, können

Autoren wie etwa Hermann Hesse oder Ödön v. Horväth, die sich bewußt (und z.T. mit

polemischer Absicht) vom Literaturbetrieb der Republik fernhielten, auch hier nicht oder nur am
Rande erscheinen.
Alle Darstellungen einer vergangenen Epoche sind unvollständig. So ließe sich ein Bild der

»ungleichzeitigen« Weimarer Kultur entwerfen (und dokumentieren), das im Grunde nicht viel

über die alten Argumentationsmuster aus dem Antimodernismus der Heimatkunstbewegung um


1900 hinausgehen würde. Ein solches »rechtes« Weimar-Bild wäre aber nicht weniger einseitig als

jenes »linke«, das in den bisherigen Dokumentationen zu dieser Epoche vorherrschte. Die vorlie-

gende Dokumentation möchte dagegen versuchen, durch die Montage ideologisch divergierender
Texte jedes einseitige Bild der Weimarer Republik von verschiedenen Seiten her in Frage zu stellen,

um so die unvermeidliche Partialität unseres Verständnisses dieser Epoche selbst zum Thema und
Strukturprinzip zu machen.

Für Hilfe bei der aufwendigen »Text-Archäologie« bin ich den (oft vor mir fliehenden) Bibliothe-
karen am Deutschen Literaturarchiv in Marbach a.N., an den Staatsbibliotheken in Berlin und
München, am Ullstein-Archiv in Berlin, an der Bibliothek der Humboldt-Universität in Berlin (Ost)

und an den Universitätsbibliotheken der University of California in Irvine, Los Angeles und
Berkeley zu Dank verpflichtet. Allen Kollegen und Freunden, mit denen ich die verschiedenen
Entwürfe der Gliederung diskutieren konnte, danke ich ebenfalls herzlich; besonders verpflichtet
bin ich für Hinweise Reinhard Tgahrt (Marbach a.N.), Frank Trommler (Philadelphia), Egon
Schwarz (St. Louis) und meinen Lektoren Bernd Lutz und Uwe Schweikert.
Meinem Freund und Kollegen Leo Löwenthal (Berkeley), der die hier dokumentierte Epoche
selbst erlebt hat und nie müde wurde, mit mir darüber zu sprechen, verdanke ich an persönlichen
Einsichten in die Weimarer Kultur mehr, als ich hier sagen kann. Er verkörpert für mich die
anhaltende Vitalität dieser Epoche in der Gegenwart. Ihm sei das Buch gewidmet.

Berkeley, im November 1982 A. K.


Inhalt

Einleitung

Die Intellektuellen und die Macht XIX


Die Not der geistigen Arbeiter XXIII

Modernisierung: Das Ende der Buchkultur? XXVI


Literatur und Demokratie XXX
Wem gehört die Literatur? XXXIV
Die Wendung gegen die Moderne XXXVIII
Der Rückzug in die Innerlichkeit XLIV

Editorische Notiz LIII

/. Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

1. Die überforderte Revolution

1 Heinrich Mann: Sinn und Idee der Revolution. 1918 3


2 Für das neue Deutschland! [Umfrage]. 1919 6
3 An das deutsche Volk! 1919 10
4 Rudolf Kayser: Die neuen Schlagworte. 1919 11

5 Ludwig Finckh: Der Geist von Berlin. 1919 14


6 Arnold Zweig: Grabrede auf Spartacus. 1919 16
7 W: Revolutionäre Literaten (Zum Hochverratsprozeß Toller). 1919 20
8 Aufruf an das Proletariat. 1919 25
9 Franz Pfemfert: Zum siebenten November. 1919 27

2. Die Schriftsteller und ihr Staat

10 Bernhard Kellermann: Der Schriftsteller und die deutsche Republik. 1919 30


11 Kurt Tucholsky: Wir Negativen. 1919 32
12 Wilhelm Stapel: Das geistige Deutschland und die Republik. 1921 38
13 Alfred Döblm: Der Schriftsteller und der Staat. 1921 40
14 Thomas Mann: Von deutscher Republik. 1922 46
15 Heinrich Mann: Geistiges Gesellschaftskapital. 1924 54
16 Fritz Strich: Der Dichter und der Staat. 1928 56
17 Friedrich Sternthal: Die Ohnmacht der Geistigen in Deutschland. 1929 57
X Inhalt

3. Die soziale Stellung der Schriftsteller in der Republik

18 Kurt Eisner: Der sozialistische Staat und der Künsder. 1919 61


19 Walther Borgius: Zur Sozialisierung des Buchwesens. 1919 63
20 Kurt Tucholsky: Solidarität. 1921 67
21 Alfred Weber: Die Not der geistigen Arbeiter. 1923 71
22 Kurt Kersten: Wirtschaft, Kultur, Intellektuelle. 1923 75
23 Herbert Eulenberg: Unsre Verleger. 1924. 78
24 Fritz Engel: Der Staat und das Schrifttum. 1926 80
25 Gottfried Benn: Neben dem Schriftstellerberuf. 1927 83

4. Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem literarischer Repräsentanz

26 Konrad Haenisch: Warum feiern wir Gerhart Hauptmann? 1922 85


27 Eugen Kalkschmidt: Auch die Literatur. 1925 88
28 [Protest der Gruppe 25 anläßlich der PEN-Klub-Tagung in Berlin]. 1926 89
29 Arnold Hahn: Literatur und Weltgeltung. 1926 92
30 Leo Lania: Die Akademie für Dichtkunst. 1926 94
31 Eine Mahnung der Dichterakademie. 1928 97
32 Friedrich Sternthal: Der Nobelpreis. 1929 97
33 Alfred Kantorowicz: »Tag des Buches«. 1929 99
34 Alfred Döblin: Bilanz der »Dichterakademie«. 1931 101
35 Heinrich Mann: Sektion für Dichtkunst. 1931 107
36 Soll das Goethe-Jahr 1932 gefeiert werden.? [Umfrage]. 1931 109

5. Literarische Erziehung in der Weimarer Republik

37 Rudolf Kayser: Die neuen Dichter in die neue Schule! 1919 112
38 Walther Hofstaetter: Zum Geleit. 1919 114
39 Ernst Troeltsch: Die Revolution in der Wissenschaft. 1921 115
40 Gustav Roethe: Wege der deutschen Philologie. 1923 117
41 Anna Siemsen: Unsere Schullesebücher. 1927 121
42 Walter Schönbrunn: Die Not des Literaturunterrichts in der großstädtischen Schule.
1929 125
43 p.n.: Was wissen unsere Abiturienten von der modernen Literatur? 1930 129
44 Albert Malte Wagner: Wissenschaft, Universität, Literatentum. 1931 131

6. Schriftsteller vor Gericht: Zum Zensurproblem

45 Joseph Roth: Epilog zum Reigenprozeß. 1921 135


46 Heinrich Mann: Letzte Warnung. 1926 139
47 Aufruf gegen das »Schund- und Schmutz«-Gesetz. 1926 141
48 Gegen das Schmutz- und Schundgesetz [Umfrage]. 1926 143
Inhalt XI

49 Kurt Kersten: Gericht über Becher. 1927 145


50 b. B.: Protestversammlungen oder Zuhörer sind überflüssig. 1929 147
51 Aufruf für die Freiheit des Schrifttums! 1931 149
52 Axel Eggebrecht: Wer weiter liest, wird erschossen! 1932 151

53 Kurt Tucholsky: Für Carl von Ossietzky. 1932 154

//. Institution Literatur im Zeitalter der Massenkommunikation

1. Dichtung im technischen Zeitalter: Die neuen Produktionsbedingungen

54 Hermann von Wedderkop: Expressionismus und Wirklichkeit. 1921 159


55 Alfred Döblin: Der Geist des naturalistischen Zeitalters. 1924 162
56 Hans Reiser: Becher, Johannes R.: Hymnen. 1925 166
57 Wilhelm Michel/Gerhart Pohl: Der Weg aus dem Nichts. Ein Briefwechsel. 1925. . . 170
58 Kurt Tucholsky: Interessieren Sie sich für Kunst? 1926 174
59 Klaus Mann: Heute und Morgen. Zur Situation des jungen geistigen Europas.
1927 r 176
60 Lion Feuchtwanger: Von den Wirkungen und Besonderheiten des angelsächsischen
Schriftstellers. 1928 179
61 Frank Matzke: Sachlichkeit. 1930 183
62 Axel Eggebrecht: Zehn Gebote für einen strebsamen jungen radikalen Literaten.

1930 188
63 Siegfried Kracauer: Über den Schriftsteller. 1931 190
64 Ernst Glaeser: Erik Reger. Zu seinem Roman »Union der festen Hand«. 1931 193

2. Der Rundfunk und die neue Öffentlichkeit

65 Otto Alfred Palitzsch: Gefunkte Literatur. 1927 197


66 Ernst Hardt: Funkregie. 1928 201
67 Arno Schirokauer: Kunstpolitik im Rundfunk. 1929 202
68 M. M. Gehrke/Rudolf Arnheim: Das Ende der privaten Sphäre. 1930 206
69 Alfred Döblin: Literatur und Rundfunk. 1930 210
70 Arnolt Bronnen: Literatur und Rundfunk - Das Hörspiel. 1930 214
71 Bert Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. 1932 216

3. »Nicht mehr lesen! Sehen!«: Literatur und die visuellen Medien

72 Adolf Behne: Die Stellung des Publikums zur modernen deutschen Literatur. 1926. 219
73 Fritz Lang: Wege des großen Spielfilms in Deutschland. 1926 222
74 Walter Benjamin: Eine Diskussion über russische Filmkunst und kollektivistische

Kunst überhaupt. 1927 224


XII Inhalt

75 Johannes Molzahn: Nicht mehr lesen! Sehen! 1928 227


76 Warum schreiben Sie keine Filme? [Umfrage]. 1929 230
77 Anon.: Nur der veränderte Autor kann den Film verändern. [Interview mit Alfred
Döblin]. 1930 234
78 Erich Pommer: Dichter und Tonfilm. 1931 236
79 Bertolt Brecht: Die »geldliche Seite« des Dreigroschenprozesses. 1931 237

4. »Kult der Zerstreuung«: Zur unliterarischen Tradition der Massenkultur

80 Hans Siemsen: Bücher-Besprechung. 1923 240


81 Kurt Pinthus: Der amerikanische Film. 1924 243
82 Edlef Koppen: Das Magazin als Zeichen der Zeit. 1925 245
83 Siegfried Kracauer: Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser. 1926. 248
84 Hermann von Wedderkop: Wandlungen des Geschmacks. 1926 252
85 Hans Siemsen: Die Literatur der Nichdeser. 1926 255
86 Yvan Goll: Die Neger erobern Europa. 1926. 256
87 Hermann Kasack: Sport als Lebensgefühl. 1928 259
88 Wolf Zucker: Kunst und Reklame. Zum Weltreklamekongreß in Berlin. 1929 262

5. Die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Amerikanismus

89 Rudolf Kayser: Amerikanismus. 1925 265


90 Stefan Zweig: Die Monotonisieruhg der Welt. 1925 268
91 Friedrich Sieburg: Anbetung von Fahrstühlen. 1926 274
92 Samuel Fischer: Bemerkungen zur Bücherkrise. 1926 276
93 Adolf Halfeld: Amerika und die neue Sachlichkeit. 1928 278
94 Otto Alfred Palitzsch: Die Eroberung von Berlin. 1928 281
95 Felix Stössinger: Die Anglisierung Deutschlands. 1929 284

6. Das demokratisierte Buch: Neue Wege der Literaturvermittlung

96 Thomas Mann: Romane der Welt. Geleitwort. 1927 287


97 Die Best-Seller-Liste der »Literarischen Welt« vom September 1927. 1927 291
98 Hans Ryk: Die »Über«-Lektüre. 1927 293
99 Erich Knauf: Buchgemeinschaften. 1929 294
100 Edmund Starkloff: Was geht auf dem Büchermarkt vor? 1930 297
101 W E.: Der Dichter spricht und singt auf Grammophonplatten. 1929 299
102 Hans Samter: Dichtung im Warenhaus. 1930 300
103 Hermann Kesten: Kritik der Literaturkritik. 1932 302

7. Zweifel an der »Kunst für alle«

104 Rudolf Arnheim: Die Kunst im Volke. 1928 305


Inhalt XIII

105 Das deutsche Volk an seine Dichter. [Umfrage]. 1928 308


106 Carl von Ossietzky: Ketzereien zum Büchertag. 1929 311

///. Die Funktionskrise der »reinen Kunst«: Literarischer Formenwandel und Publikumsbezug

1. Der dokumentarische Impuls: Literarische Formen der »Neuen Sachlichkeit«

107 Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter (Vorwort). 1925 319
108 Leo Lania: Reportage als soziale Funktion. 1926 322
109 Johannes R. Becher: Wirklichkeitsbesessene Dichtung. 1928 325
110 Kurt Pinthus: Männliche Literatur. 1929 328
111 Emil Ludwig: Historie und Dichtung. 1929 335
112 Siegfried Kracauer: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform. 1930 338
113 Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. 1930 341
114 Lion Feuchtwanger: Historischer Roman Roman von heute! 1931
- 343

2. Romanformen und ihr Publikumsbezug

a) Probleme der neuen Frauenliteratur

1 15 Gina Kaus: Die Frau in der modernen Literatur. 1929 346


116 Max Brod: Die Frau und die neue Sachlichkeit. 1929 349
117 Rudolf Braune: Was sie lesen: Drei Stenotypistinnen. 1929 352
118 Alfred Döblin: Das Ewig-Weibliche meldet sich. 1932 355
119 Bernard von Brentano: Keine von uns. 1932 357
120 Alice Rühle-Gerstel: Zurück zur guten alten Zeit? 1933 359

b) Formen der Jugend- und Kinderliteratur

121 Gina Kaus: Wie ein Mädchenbuch aussehen sollte. 1926 361
122 Wolf Zucker: Erich Kästner schreibt em Kinderbuch. 1929 362
123 Wilhelm Fronemann: Neue Jugendliteratur. 1930 363
124 Ernst Bloch: Indianerroman und Fascismus. 1931 365

c) Literatur für viele

125 Hans Sahl: Klassiker der Leihbibliothek. 1926 368


126 Frank Thieß: Vom Abenteurerroman. Über Conrad und London. 1927 369
127 Heinrich Mann: Detektiv-Romane. 1929 371
128 Arnold Zweig: Gibt es einen Zeitungsroman? 1929 372
129 Friedrich Sieburg: »Sekt«. Noten zur mondänen Literatur. 1931 374
XIV Inhalt

3. Die Erzählkrise im weltliterarischen Kontext

130 Otto Flake: Vorwort zum neuen Roman. 1919 376


131 Ernst Robert Curtius: Die Ästhetik Marcel Prousts. 1924 378
132 Oskar Maurus Fontana: Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil. 1926 381
133 Alfred Döblin: »Ulysses« von Joyce. 1928 384
134 Walter Benjamin: Krisis des Romans. 1930 387
135 Alfred Polgar: Hemingway 1929 390
136 Lion Feuchtwanger: Der Roman von heute ist international. 1932 392

4. Die Publikumskrise des Bildungstheaters

137 Yvan Goll: Es gibt kein Drama mehr! 1922 396


138 Robert Musil: Der »Untergang« des Theaters. 1924 397
139 Franz Blei: Bemerkungen zum Theater. 1926 400
140 Stirbt das Drama? [Umfrage]. 1926 403
141 Fritz Sternberg: Der Niedergang des Dramas 409

5. Die Politisierung der Bühne

142 Kurt Tucholsky: Tollers Publikum. 1919 413


143 Erwin Piscator: Über Grundlagen und Aufgaben des proletarischen Theaters.
1920/21 416
144 Hermann Schüller: Proletkult - Proletarisches Theater. 1920/21 419
145 Gertrud Alexander: Proletarischer Sprechchor. 1922 422
146 Leo Lania: Volksbühne oder Vereinstheater? 1927 425
147 Herbert Ihering: Das Theater an der Ruhr. 1927 430
148 Friedrich Wolf: Bühne undLeben. 1929 431
149 Ernst Heilborn: Das Zeitstück. 1931 433
150 Ludwig Marcuse: Kunst schändet nicht. 1932 434

6. Zur Öffentlichkeitskrise der Lyrik

151 Yvan Goll: Hai-Kai. 1926 439


152 Bert Brecht: Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker. 1927 441
153 Oskar Loerke: Kritik und Lyrik. 1927 444
154 Klaus Mann: Anthologie jüngster Lyrik. (Nachwort). 1927 446
155 Erich Kästner: Prosaische Zwischenbemerkung. 1929 448
156 Walther Kiaulehn: Der Tod der Lyrik. 1930 451

7. »Was soll den Arbeitern die Kunst?«: Zum Problem einer proletarischen Literatur

157 John Heartfield/George Grosz: Der Kunstlump. 1919 453


Inhalt XV

158 A. R.: Zur proletarischen Kultur. 1920 458


159 Georg Lukacs: Uart pour l'art und proletarische Dichtung. 1926 460
160 Eine Rundfrage über proletarische Dichtung. 1929 464
161 Erich Steffen: Die Urzelle proletarischer Literatur. 1930 468
162 Otto Biha: Der proletarische Massenroman. 1930 472
163 An alle proletarisch-revolutionären Schriftsteller. An alle Arbeiterkorrespondenten.
1931 474
164 Erik Reger: Nationaldichter der Schwerindustrie. 1931 477
165 Georg Lukacs: Über Willi Bredels Romane. 1931 481

rV. Deutschlandphantasien: Nationalismus und Literatur in der Weimarer Republik

1. Konservative Revolution und die Idee der deutschen Sendung

166 Arthur Moeller van den Brück: Das dritte Reich. 1923 485
167 Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. 1927. . . . 487
168 Leopold Schwarzschild: Heroismus aus Langeweile. [Über Ernst Junger]. 1929. . . . 489
169 Eugen Diederichs: Die neue »Tat«. 1929 495
170 Hans Zehrer: Die Revolution der Intelligenz. 1929 497
171 Rudolf Borchardt: Die Aufgaben der Zeit gegenüber der Literatur. 1929 500
172 Ernst von Salomon: Wir und die Intellektuellen. 1930 503
173 Edgar J. Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung
durch em Neues Reich. 1930 505
174 Wilhelm von Schramm: Berlin als geistiger Kriegsschauplatz. 1931 508
175 Arnolt Bronnen: Deutscher Nationalismus - Deutsches Theater. 1931 511

2. Die Wiederkehr des Krieges in der literarischen Diskussion

176 Axel Eggebrecht: Gespräch mit Remarque. 1929 514


177 Arno Schirokauer: Kriegsmythologie. 1930 517
178 Alfred Kantorowicz: Krieg und Krieger. 1930 520
179 Heinrich Mann: Der Schriftsteller und der Krieg. 1932 523

3. Zur Diskussion über den Antisemitismus in der Literaturkritik

180 Adolf Bartels: Der Kampf der Zeit. 1920 528


181 Börries Freiherr von Münchhausen: Vom Sterbebett der deutschen Seele. 1926. ... 531
182 Franz Blei: Jüdisches. 1927 534
183 Paul Fechter: Kunstbetrieb und Judenfrage. Ein Vortrag. 1931 537
184 Carl von Ossietzky: Antisemiten. 1932 541
XVI Inhalt

4. Die Anfänge der nationalsozialistischen Literaturpolitik

185 Heinz Henkel: Geburt einer neuen Kultur 1930 545


186 Der Kampfbund für deutsche Kultur. 1931 548
187 Joseph Goebbels: Kunst und Politik. [Antwort auf eine Umfrage]. 1931 551
188 Ein Aufruf unserer Dichter und Wissenschafder. Wir stehn zum Volksentscheid!
1931 554
189 Alfred Rosenberg: Kultur und Macht. 1931 556
190 Hanns Johst: Kunst unter dem Nationalsozialismus. 1932 560
191 Bekanntmachung. 1932 563
192 Adolf Hider: Mein Kampf. 1932 564

5. Zur Kritik der Intellektuellen am Nationalsozialismus

193 Ernst Bloch: Hiders Gewalt. 1924 569


194 Ernst Glaeser: Politische Theaterkritik. 1926 573
195 Walter Mehring: Begrüßung Hitlers auf literarischem Gebiet. 1930 576
196 Thomas Mann: Appell an die Vernunft. 1930 579
197 Friedrich Sieburg: Blut und Tinte oder der Trompeter von Säckingen. 1930 582
198 Axel Eggebrecht: Man häh mich für einen Nazi. 1930 586
199 Lion Feuchtwanger: Wie kämpfen wir gegen ein Drittes Reich? 1931 590
200 Heinrich Mann: Die deutsche Entscheidung. 1931 592
201 Ernst Heilborn: Lektüre im dritten Reich. 1932 594
202 Werner Richter: Hitler-Gruß im bayerischen Staatstheater. 1932 596
203 Joseph Roth: Der Kulturbolschewismus. 1932 599

V. Ortsbestimmung der literarischen Intelligenz in der Endphase der Republik

1. Die Schriftsteller und das revolutionäre Proletariat

204 Willy Haas: Wir und die »Radikalen«. 1928 605


205 Kurt Tucholsky: Gebrauchslyrik. 1928 607
206 Johannes R. Becher: Unsere Front. 1929 610
207 Gottfried Benn: Über die Rolle des Schriftstellers in dieser Zeit. 1929 612
208 Alfred Döblin: Katastrophe in einer Linkskurve. 1930 616
209 Walter Mehring: Antwort auf ein kommunisdsches Verhör. 1930 619
210 Walter Benjamin: Linke Melancholie. 1931 623
211 Bela Baläzs: Die Furcht der Intellektuellen vor dem Sozialismus. 1932 626
212 Aufruf des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands. 1932. .. 628
Inhalt XVII

2. Die »freischwebende Intelligenz« zwischen Bewußtseinskrise und Existenznot

213 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. 1929 631


214 Ernst Schneller: Die Kulturkrise und kein Ausweg. 1930 634
215 Programmerklärung der Opposition im Schutzverband Deutscher Schriftsteller.

1931 637
216 Alfred Döblin: Wissen und Verändern! Offene Briefe an einen jungen Menschen.
1931 640
217 Bernard Guillemin: Die Krisis der bürgerlichen Intelligenz. 1932 645
218 Moritz Julius Bonn: Die intellektuelle Jugend. 1932 648

J. Die Absage an die Politik

219 Joseph Roth: Schluß mit der »Neuen Sachlichkeit«! 1930 653
220 Herbert Ihering: Die neue Illusion. 1930 657
221 Willy Haas: Restauration. 1930 659
222 Heinz Liepmann: Das Ende der jungen Generation. 1930 662
223 Rudolf Arnheim: Der ökonomische Tee. 1931 rt 664
224 Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit. 1931 667
225 Ludwig Bauer: Mittelalter. 1932 670
226 Walther Karsch: Flucht aus der Drecklinie. 1932 672

4. Auf dem Weg in die »innere Emigration«

227 Die Kolonne [Vorspruch]. 1929 674


228 Martin Raschke: »Man trägt wieder Erde«. 1931 675
229 Ernst Wiechert: Dichtung und Glaube. 1931 679
230 Martin Raschke: Die verratene Dichtung. 1931 680
231 Werner Bergengruen: Rede über die Aufgabe des Dichters in der Gegenwart.
1932 682
232 Detmar Heinrich Sarnetzki: Die deutsche Literatur in der Krise. 1932 684
233 Günther Eich: Bemerkungen über Lyrik. 1932 686

Interdisziplinäre Arbeitsbibliographie 690

Personenregister 695

Sachregister 707

Quellen-Nachweis 711
,
Einleitung

»Die wahre Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen, ist,

sie in unsere [m] Raum (nicht uns in ihrem) vorzustellen.«


Walter Benjamin, Das Passagen-Werk [1]

Die Intellektuellen und die Macht


Am 17. Januar 1919, zwei Tage vor den ersten demokratischen Wahlen in Deutschland, veröffent-
lichte die sozialdemokratische Parteizeitung Vorwärts eine Umfrage, in der sich Schriftsteller,
Künsder und Wissenschaftler über die Zukunft Deutschlands äußern sollten. Die Umfrage wurde
wie folgt begründet: »Ehe das deutsche Volk die Wahlen zu der Nationalversammlung vornimmt,
haben Männer und Frauen, in denen es die Führer seines geistigen Lebens sieht, ihr Wort erhoben,
um klar und deudich der Nation zu sagen, welches der Sinn der großen Tage ist, in denen sie lebt

und zu welchem Glauben der neue, eben beschrittene Weg sie führt.« (S. 6)'''
Die befragten
Intellektuellen erfüllten in ihren Antworten die Rolle, die ihnen in dieser Umfrage zugeschrieben
wurde: sie sprachen als geistige Führer des Volkes, als Sinndeuter der geschichtlichen Ereignisse
und als Repräsentanten universeller Wahrheit und Gerechtigkeit, kurz (in Michel Foucaults
Terminologie): als »universelle Intellektuelle«. [2] Das hohe Prestige, das die Intellektuellen zu

Beginn der Weimarer Republik zu besitzen schienen, erklärt sich aus ihrem Machtzuwachs
während des Krieges. Ein Großteil der Intellektuellen, der Schriftsteller, Journalisten und Gelehr-
ten, hatte seit 1914 mit Begeisterung die für den Staat wichtige Aufgabe übernommen, den Krieg
ideologisch als unausweichlichen und überfälligen geistigen Kampf zwischen der deutschen
Kultur und der dekadenten westeuropäischen Zivilisation zu deuten. [3] Der Krieg wurde von den
Intellektuellen spiritualisiert und damit legitimiert. Auch für die Kriegsniederlage gelang es den
Intellektuellen, Deutungsschemata bereitzustellen und Sinn zu stiften. Der (kurzfristige) Machtver-
lust der politischen und militärischen Führer bei Kriegsende kam ebenfalls der Stellung der

geistigen Führer zugute. Die militärische Niederlage Deutschlands, so argumentierten die Intellek-

tuellen 1918/19, bot die willkommene Chance, endlich das wahre, d.h. geistige Deutschland an

die Macht zu bringen. Die Weimarer Republik brauchte darüberhinaus offensichdich die Legitimie-

rung durch ihre Schriftsteller in dem Maße, wie sie sich als Kulturstaat in Anknüpfung an das
klassische Weimar Goethes und Schillers verstand. [4] Nicht zu Unrecht erhofften sich die
Schriftsteller und Intellektuellen einen besonderen Platz in dieser Republik.
Sichtbarster Ausdruck dieser Hoffnung ist die Vehemenz, mit der sie die Entstehung der
Republik als revolutionären Umbruch und radikalen Neubeginn interprederten. In ihrer Euphorie

* Die in Klammern gesetzten Seitenangaben beziehen sich auf Seitenzahlen in diesem Band.
XX Einleitung

erschien ihnen der wilhelminische Ordnungsstaat als »ungeistig, steril, reaktionär, intolerant,

dünkelhaft und unfehlbar«. »So wahr es ist,« heißt es 1919 bei Bernhard Kellermann weiter, »daß

nur wenige Völker ähnliche Liebe und ähnliches Verständnis haben für Literatur, eigene und
fremde, wie das deutsche Volk, so wahr ist es, daß in keinem Land die Literatur und alles Geistige

überhaupt mehr mißachtet wurden als im zusammengebrochenen deutschen Obrigkeitsstaat, der

das Volk der >Dichter und Denker< repräsentierte.« (S. 30) Die Entfremdung zwischen den Intellek-

tuellen und dem Staat, zwischen Geist und Macht sollte nunmehr in der Republik überwunden
werden: »Wir gehen endlich mit dem Staate Hand in Hand«, schrieb Heinrich Mann am 17. Januar

1919 als Antwort auf die oben erwähnte Umfrage. Kurt Eisner, der am 7. November 1918 in

München die Räterepublik ausgerufen hatte (und am 21. Februar 1919 einem rechtsterroristischen
Mordanschlag zum Opfer fiel), wollte die Trennung zwischen dem Politischen und Literarischen

überhaupt aufheben: Nicht nur solle der Staat aus Künstlern bestehen, der Staat selbst solle das
»höchste Kunstwerk« sein. (S. 61) Insofern Eisner und seine Nachfolger Ernst Toller und Erich
Mühsam die politische Wirklichkeit selbst als einen zu formenden künsderischen Text betrachte-
ten, ästhetisierten sie diese Wirklichkeit. Die Erneuerung der Welt aus dem Geiste der Literatur

war aber selbst eine literarische Fiktion.

Bereits im Juli 1919 wurde dieser literarisch engagierten Politik der Prozeß gemacht. Ernst Toller
wurde wegen Hochverrats zu fünf Jahren Festungshaft, Erich Mühsam zu 15 Jahren Gefängnis
verurteilt. Der »Überschwang ihres dichterischen Temperaments« und ihre »ethische Gesinnung«
galten nun ironischerweise bei der Verurteilung als mildernde Umstände. Es war ein folgenschwe-

rer Irrtum der Intellektuellen, die ihnen vertraute literarische Öffendichkeit, die sich 1918/19
tatsächlich in schöpferischer Aufbruchstimmung befand, mit der politischen Öffendichkeit, die

nach dem Krieg nichts als Ruhe und Ordnung wollte, zu identifizieren. Diese kurzfristige Gleichset-
zung von literarischer und politischer Öffentlichkeit hatte langfristige Folgen für weite Kreise der

Intellektuellen in der Weimarer Republik: Die plötzliche Einsicht, daß die Mehrheit des Volkes sie

für »Phantasten, Schwärmer und Abenteurer« (S. 14) ansah und durchaus nicht zu einer »Revolu-
tion des Geistes« zu bewegen war, hat die Intellektuellen zutiefst verunsichert. Die verbalen

Aggressionen der spätexpressionistischen und dadaistischen Schriftsteller gegen die ihrer Mei-
nung nach völlig korrupte und selbstgefällige Bürgerklasse sind ein äußeres Zeichen dieser
Verunsicherung.
Die politische Ungewißheit der Revolutionsperiode bewirkte ein rapides Anschwellen von
essayistischer Zweckliteratur, die, zwischen utopischen und apokalyptischen Weltentuäirfen schwan-
kend, die verwirrenden Geschehnisse unter politischen, religiösen oder philosophischen Perspekti-
ven zu verarbeiten suchte. Die plötzliche Flut von Broschüren, Flugblättern, Plakaten, Traktaten,
von Aufrufen und gedruckten Reden bestätigt die Rede von der sogenannten »Literarisierung« der

Revolution. »Überall stehen Menschen«, merkte Döblin 1919 kritisch an, »kleben Plakate an,
drücken sich Aufrufe in die Hand, die der andere befolgen soll.« [5] Diese umfangreiche Sublitera-

tur verstand sich als Medium öffendicher Weltauslegung und als Forum für politische Willensbil-

dung. Indem sie polidsch-moralische Verhaltensnormen und Zielvorstellungen propagierte, wurde


sie selbst Teil der gesellschafdichen Praxis. Dieser die Grenzen autonom-ästhetischer Literatur
überschreitende Diskurs übernahm die Funktion, die aus den Fugen geratene Zeit deutungsmäßig
Einleitung XXI

zu überhöhen und ihr einen über sie hinausgehenden Sinn abzuringen. Ihre meist schon im Titel

angezeigten binären Geschichtskonstruktionen (z.B. Albrecht Wirths Das Auf und Ah der Völker

oder Franz Carl Endres' Vaterland und Menschheit, beide 1920) zeigen das angestrengte, oft

verzweifelte Bemühen, das politische Schicksal Deutschlands auf einer höheren Ebene der Abstrak-
tion zu thematisieren und den (unerwarteten) Ablauf der Ereignisse als zwingend darzustellen. In

ihrer Rolle als »universelle Intellektuelle« boten sie dem Volk Deutungsmuster an, mit deren Hilfe
die sonst unverständliche Welt sinnhaft ausgelegt werden konnte. In eben dieser Fähigkeit zur
Sinndeutung lag der selbstgesetzte Machtanspruch der hitellektuellen. Großangelegte Gedanken-
systeme und Welterklärungsmodelle, die z.T. schon während des Krieges entstanden waren, wie
Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (l.Bd. 1918, 2. Bd. 1923), Thomas Manns
Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) und Hermann Graf von Keyserlings Reisetagebuch eines
Philosophen (1919) sind auf höherer Ebene ebenfalls Ausdruck dieses Bedürfnisses nach System
und sinnhafter Ordnung.
Die 1918/19 im geistigen Bereich herrschende Aufbruchsstimmung, in der »alles« möglich und
machbar schien, entsprach nur sehr bedingt der politischen Wirklichkeit, die dadurch gekennzeich-
net war, daß der Kaiser zwar spektakulär entmachtet wurde, die alten einflußreichen Machteliten

wie Militär und Großindustrie aber unverändert weiterherrschten. Die nid*t einlösbaren Hoffnun-
gen der Intellektuellen auf einen proletarischen Umsturz in Deutschland nach dem Muster der
Russischen Revolution (vgl. S. 27 ff.), der aussichtslose visionäre Traum einer geistigen Revolution
(vgl. S. 10 ff.) und die rückwärtsgewandte Flucht in völkisch-irrationale und anti-westiiche Ideologien
angesichts der öffendichen Erniedrigung Deutschlands im Versailler Friedensvertrag (vgl. S. 14 ff.)
überforderten die Weimarer Republik gleich zu Anfang und verhinderten, daß sich die Intellektuel-
len mit ihr identifizieren wollten. Die kommunistischen ebenso wie die radikalisierten linksliberalen
und die völkisch-national-konservativen Intellektuellen besaßen ihre eigenen, idealisierten (und
sich widersprechenden) Vorstellungsmodelle dessen, was eine deutsche Republik zu leisten hatte,

- und waren schnell desillusioniert vom grauen Alltag dieser Republik. Vor allem widersprach die

parlamentarische Methode des Kompromißdenkens, der Konsensbildung und des Interessenaus-

gleichs der Bereitschaft der Kriegsgeneration zum Außerordendichen und Unbürgerlichen. Gleich-
zeitig erschien die Verbindung von dichterischer Phantasie und Politik, die die Intelligenz zunächst
beflügelt hatte, im Weimarer Staat als exaltiert, als »expressionistisch«, wie es später im Jargon der
20er Jahre abwertend hieß. Öffentliche Legitimierung erfuhr die Republik als Alternative zum
Rätestaat vor allem von etablierten, konservativ-bürgerlichen Intellektuellen der älteren Genera-

tion der Sechzigjährigen wie Gerhart Hauptmann, von vielen als der »geistige König der Republik«
gefeiert, und Friedrich Meinecke, von dem der Ausspruch stammt, er sei im Herzen Monarchist,
aus Vernunft aber Republikaner. Thomas Mann war knapp fünfzig, als er 1922 in Berlin zum
Anlaß von Gerhart Hauptmanns 60. Geburtstag seine folgenreiche Rede Von deutscher Republik
hielt, die den demokratischen Staat aus der deutsch-romantisch-demokratischen Tradition eines
Novalis heraus zu rechtfertigen trachtete. Die Rede, als politisches Ereignis auszugsweise in den
Berliner Tageszeitungen abgedruckt, entfremdete Thomas Mann dem rechten Flügel, der ihn nach
seinen republikfeindlichen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) als einen der ihren betrachtet

hatte, ohne freilich auf die jüngere »expressionistische« Generation der Zwanzig- und Dreißigjähri-
XXII Einleitung

gen (Brecht, Arnolt Bronnen, Erich Kästner, Johannes R. Becher, Ernst Jünger, Willy Haas u.a.m.)
Einfluß zu gewinnen. Für diese Generation war die Unterstützung der Republik durch Vertreter
der Vatergeneration eher ein Grund für Skepsis; für sie hatte sich der neue Staat bereits 1919 durch
seine blutige Niederschlagung der Revolution diskreditiert.

Diese jüngere, gesellschaftskritisch engagierte Generation der Schriftsteller begann sich um die
Mitte der 20er Jahre ihrer Isolierung und Machdosigkeit bewußt zu werden. Sie vereinigten sich im
August 1925 unter dem Namen »Gruppe 1925« zu einer literarischen Gemeinschaft, deren Ziel es
war, »Schriftsteller von Belang« zusammenzuführen, »die mit der geistesrevolutionären Bewegung
unserer Zeit verbunden sind, dies in ihrer Haltung zu Staat und Gesellschaft bekunden und
dokumentieren in Arbeiten auf künsderischem, essayistischem, kritischem, allgemeinwissen-
schafdichem Gebiet. [...] Die Gruppe bezweckt nach außen das endliche Hervortreten einer
Repräsentanz dieser modernen geistesradikalen Bewegung.« (S. 91) Forum dieser bürgerlich-

linksliberalen Schriftstellergruppe, zu der Autoren wie Brecht, Becher, Toller, Hasenclever, aber

auch ältere Autoren wie Döblin gehörten, war die Wochenschrift Die literarische Welt, die von
1925 bis 1933 von Willy Haas, selbst ein Mitglied der »Gruppe 1925«, geleitet wurde und 1926
schon 20000 Abonnenten besaß. Diese Zeitschrift wurde für das literarische Leben der zweiten
Hälfte der Weimarer Republik dadurch einflußreich, daß sie durch ihre offene Form, durch
konstante Leser- und Dichterumfragen, Interviews, Leserbriefe, Wettbewerbe, Bestseller-Listen,
Rezensionen und Essays eine literarische Öffendichkeit zu konstituieren vermochte, in der jüngere

»geistesrevolutionäre« Autoren den Ton angaben. So kritisierten sie z.B. an der deutschen Delega-
tion bei der PEN-Club-Tagung 1926 in Berlin, daß dort die »kriegsgegnerische und junge Dichter-

generation« nicht vertreten sei. Als der Weimarer Staat 1926 seiner Akademie der Künste eine

»Sektion für Dichtkunst« angliederte und als Vertreter der deutschen Dichtkunst neben Thomas

Mann, Hermann Stehr und Arno Holz auch Ludwig Fulda ernannte, veranstaltete die Literarische

Welt eine Leserumfrage darüber, welche Schriftsteller die deutsche Literatur repräsentieren soll-

ten. Der 1865 geborene Ludwig Fulda erhielt dabei nicht eine Stimme. Herr Fulda sei »das Symbol
einer Zeit- und Literaturstimmung, die in Grund und Boden vernichtet werden muß. Ein guter
alter Onkel, ein brauchbarer Vorsitzender eines Kegelvereins hat nicht den deutschen Geist zu
repräsentieren - heute nicht mehr!« (S. 96) Daß diese Frage nach der Repräsentanz der deutschen

Literatur so heftig diskutiert wurde, deutet auf den hohen Stellenwert, den die Literatur in der

Weimarer Republik noch immer besaß.


Die Gründung der Sekdon für Dichtkunst durch den Staat sollte auf die Wichtigkeit der

Literatur im Leben der Nation aufmerksam machen und zugleich eine Instanz von kultureller

Autorität darstellen, die das literarische Leben förderte. Die Eingliederung der Schriftsteller in die

staadiche Kulturbürokratie brachte ihnen aber keinen Machtzuwachs. Ihre Kampagne z.B. für die

Abschaffung antidemokradscher Schullesebücher aus der Kaiserzeit scheiterte, ebenso ihre Inter-

ventionen gegen die verschärften polidschen Zensurgesetze, die zwischen 1926 und 1931 vom
Parlament verabschiedet wurden. So wurde das Hochverratsverfahren, das gegen Johannes R.
Becher bereits 1925 wegen seiner Gedichtsammlung Der Leichnam auf dem Thron und dem
Antikriegsbuch Levisite eingeleitet worden war, erst nach drei Jahren aufgrund eines weltweiten
Protestes eingestellt. Carl von Ossietzky erhielt dagegen 1931 eine Gefängnisstrafe von 18
Einleitung XXIII

Monaten wegen angeblichen Verrats militärischer Geheimnisse in einem Artikel der Weltbühne.

Am Ende der Weimarer Republik waren Dichter und Staat zu offenen Feinden geworden, Geisr
und Macht zu Antipoden.

Die Not der geistigen Arbeiter


Unter diesem Titel hat der Heidelberger Soziologe Alfred Weber 1923 als erster die ökonomi-
schen, sozialen und psychologischen Auswirkungen der Inflation auf die mittelständische Intellek-

tuellenschicht nach dem Ersten Weltkrieg beschrieben. Er wies nach, daß die »geistigen Arbeiter«
- Schriftsteller und Professoren, aber auch Rechtsanwälte und Ärzte -, die zur Ergänzung ihres
unzulänglichen Berufsverdienstes von einem kleinen oder mitderen beweglichen Vermögen in

Form von Ersparnissen oder einer Lebensrente abhängig waren, bereits 1922 ihr Renten vermögen,
und damit ihre ökonomische Basis verloren hatten. »Der Rentenfond ist heute in allen Ländern mit
entwerteter Valuta, voran in Deutschland und Österreich, nicht mehr vorhanden. [. . . ] Zu 99'/,%

expropriiert bezeichnete schon im Sommer [1922] die deutsche Regierung selbst alle diese auf

Rentenvermögen früher ruhenden Schichten.« (S. 72) Insofern die Vermögensbasis den Intellektuel-

len eine Art Freiraum außerhalb des ökonomischen Klassen- und Interessenkampfes gewährt
hatte, woirde mit der Zerstörung ihrer Vermögensbasis auch ihre geistige I^abhängigkeit angegrif-
fen. Vor allem die Schriftsteller empfanden ihre wirtschaftliche Deklassierung als schmerzlichen

Autoritäts- und Machtverlust. Ihre traditionelle Rolle, die sie darin sahen, dem arbeitenden, ins
tägliche Erwerbsleben verstrickten Volke sozusagen von höherer Warte aus die Welt sinnhaft zu
deuten und sie ihrer Kritik zu unterwerfen, war nämlich auch durch den Umstand legitimiert, daß
sie sich aufgrund ihrer Rentenbasis wirtschaftlich über den arbeitenden Klassen ansiedeln konn-
ten. Der Dichter sei durch Inflation nun auf die Stufe des materialistisch ausgerichteten wirtschaftli-

chen Erwerbslebens herabgedrückt worden, schrieb Samuel Saenger, der Herausgeber der Neuen
Rundschau^ 1923 in seiner Rezension der Weberschen Broschüre: »[...] man läuft unstet jeder

Verdienstmöglichkeit nach; Muße als Nährboden für jede Geistbetätigung und für die bildsame

Pflege des Ideellen ist nicht mehr; das Gefühl der gesicherten Altersnahrung, ein Ruhepolster für

den Nervenmenschen, ist entschwunden; und das Gelände ist mit armen, gehetzten, in der Angst
vor dem Gespenst der Notdurft herumirrenden Geschöpfen bedeckt, die dem reinen Dienst am
Geist verloren sind.« (S. 74) Ähnliche Klagen über die Folgen der Inflation für die geistige Existenz
des freien Schriftstellerberufs finden sich in den zahlreichen Umfragen, Analysen und Appellen,
die öffendich die »Not der Dichter« verkündeten. [6] Besonderes Aufsehen erregte im Februar
1921 die gerichdiche Verurteilung des expressionistischen Dramatikers Georg Kaiser zu einem
Jahr Gefängnis wegen Diebstahls. Dem Prozef^bericht der Frankfurter Zeitung wom 16. Februar 1922
zufolge hatte Kaiser erklärt, er sei zum Diebstahl getrieben worden, »um sich so die Möglichkeit

der Fortexistenz und des dichterischen Weiterschaffens zu sichern.« [7] Ein Zeuge berichtete, er
habe sich »persönlich davon überzeugt, daß die Familie Kaiser buchstäblich wochenlang von
Wasser und Brot gelebt habe.« (ebd.)

Die krisenhafte Erschütterung der literarischen Produktionsbedingungen hat eine Umbruchssi-


tuation hervorgerufen, in der die Schriftsteller gezwungen wurden, die materielle Basis ihres

Schreibens selbst zu thematisieren und in Frage zu stellen. So wurden als Reaktion auf die
XXIV Einleitung

wirtschaftliche Existenzbedrohung mehrere Entwürfe für eine Neuordnung literarischer

Produktions- und Vertriebsformen auf sozialisierter Basis öffendich diskutiert. Vor dem Hinter-

grund der Russischen Revolution und den Forderungen der deutschen Revolution von 1918/19
fanden in der Nachkriegszeit vor allem Debatten über die Vor- und Nachteile der Sozialisierung
des Buchgewerbes statt. Am bekanntesten wurde das Sozialisierungsmodell von Walther Borgius,
demzufolge die wissenschaftlichen Verlage in Produktivgenossenschaften zusammengefaßt und die

kommerziellen Leihbibliotheken vergesellschaftet werden sollten. Borgius' Vorschläge stießen auf


Widerstand beim deutschen Buchhandel; sie wurden nie erprobt. Auch der von Kurt Wolff, dem
Verleger expressionistischer Literatur, angekündigte Plan, seinen Verlag zu »sozialisieren«, d.h.
seine Mitarbeiter am Gewinn zu beteiligen, kam nicht zur Ausführung. [8] Impulse der Sozialisie-

rung gingen jedoch in die Gründung der ersten Buchgemeinschaft von 1919 ein. Ziel des
»Volksverbandes der Bücherfreunde« war es, durch Abonnementsystem und Ausschaltung des
Zwischenhandels die Bücher zu verbilligen und »die ins Proletariat hinabgestoßenen Mittelschich-
ten, die früheren Hauptstützen des Bücherkonsums, zu erfassen und ihnen Bücher zu geben, die
sie sonst des hohen Preises wegen entbehren mußten.« (S. 295)
Die wirtschaftliche Unsicherheit förderte den Wunsch nach Organisationen, die private Interes-

sen zusammenfaßten und ihnen dadurch Nachdruck verliehen. Prominente Autoren wie Thomas
Mann, Gerhart Hauptmann, Alfred Döblin, Arnold Zweig und Kurt Tucholsky w^aren in den

20er Jahren aktiv in dem bereits 1909 gegründeten »Schutzverband Deutscher Schriftsteller« tätig,

einer gewerkschaftlichen Berufsorganisation, die ihrer Satzung nach »den Schutz, die Vertretung

und Förderung der wirtschaftlichen, rechtlichen und geistigen Berufsinteressen seiner Mitglieder«

(S. 69) bezwecken sollte. »Wollt Ihr Euch,« schrieb Kurt Tucholsky in seinem Werbeaufruf in der
Weltbühne 1920, »wollt Ihr den deutschen freien Schriftsteller vor dem Untergang bewahren?
Dann tut etwas. Tut euch zusammen, tretet in den Schutzverband Deutscher Schriftsteller ein, und
wirkt in ihm dafür, daß ihr wirtschaftlich besser dasteht als eure Waschfrau.« (S. 70) Tucholskys

wenig subtiler Hinweis auf die drohende Gefahr der Proletarisierung des nicht-organisierten
Dichters ist bezeichnend für die sozialen Abstiegsängste der mittelständischen Intellektuellen-
schicht und erklärt, warum sich der Schutzverband nicht mit den Arbeitergewerkschaften solidari-

sierte. Im Gegenteil: zwischen Intellektuellen und Arbeitern entwickelte sich in den Worten
Wenzel Goldbaums nach 1919 eine »gefährliche Spannung«: »Die geisdgen Arbeiter beneiden die

Handarbeiter um ihre politische Macht, um ihre Lebenshaltung, um ihre Löhne. Und sie hassen die

Handarbeiter, die ihnen eigendich als Brüder erscheinen müßten. Zwischen Hand und Kopf
herrscht in Deutschland eine geradezu unerträgliche Spannung. [. . . ] Dem geistigen Arbeiter fehlt
in seiner Kampfstellung gegen das Ausbeutertum, gegen den Kapitalismus, der vom Zwischenge-
winn dick wird, die Hilfe der Arbeiterbataillone. Den Arbeitern fehlt in ihren Unternehmungen auf
Schritt und Tritt der Intellektuelle. Deutschland kommt wegen dieser Spannung zu keiner seeli-

schen Harmonie. Es ist einer der gewaltigsten Fehler der Sozialdemokratie, daß sie auch nach der
Revolution keine Formel für den geistigen Arbeiter gefunden hat.« [9] Tatsächlich hatte der

Weimarer Staat keine Versuche gemacht, den Forderungen der verarmten Schriftsteller nach
wirtschaftlicher Unterstützung nachzukommen. Immer mehr fühlten sich die Schriftsteller selbst

als Opfer eben jener »seelenlosen« Geldwirtschaft, gegen die sie in ihren Dichtungen ankämpften.
Einleitung XXV

Sie fühlten sich von dem Staat verraten, der sich selbst einerseits bei Dichterfeiern (z.B. 1922 für

Gerhart Hauptmann und für Goethe) als Kulturstaat darstellte (vgl. S. 85 ff.), andererseits aber, wie
sie empfanden, seine Dichter verhungern ließ. Ihr Ressentiment gegen eine Regierung, die sie für

ihre Deklassierung und Pauperisierung verantwortlich machten, war ebenfalls ein Faktor in ihrer

geistigen Delegitimierung der Republik. Selbst ein überzeugter Republikaner wie Heinrich Mann
schrieb 1923 in seinem Essay Das Sterben der geistigen Schicht: »Aus geistigen Arbeitern und
Kulturträgern, die ihr Leben Gott weiß wie fristen, nur nicht mehr oft mit dem, was ihr Beruf wäre,
werden die gefährlichsten Feinde der Republik: unvergleichlich gefährlicher als endassene Offi-

ziere. Denn sie wurden tiefer beleidigt, haben mehr zu rächen, und sind ganz anders befähigt.
Feinde, die sie verachten, unmöglich zu machen.« [10] So verständlich diese Drohgebärde als

Ausdruck der Enttäuschung über die vom Staat sanktionierte ökonomische Entmachtung der
Schriftsteller sein mag, sie reflektiert doch noch einen ungebrochenen Glauben an die Macht der
Intellektuellen als eine universelle geistig-moralische Überwachungsinstanz. Auch der Soziologe
Alfred Weber schrieb den Intellektuellen eine solche Funktion im Staate zu. Obwohl Weber in

seiner Broschüre Die Not der geistigen Arbeiter die Anpassung der Intellektuellen an ökonomische
Interessen verlangt und eine neue Schicht von sogenannten »Arbeitsintellektuellen« (Ingenieure,
Techniker, Rechtsanwälte) heraufkommen sieht, die das RentenintellektH€llentum ablösen wird,
möchte er verhindern, daß der Staat nur noch ein Instrument wirtschafdicher Interessengruppen

wird. »Dem Staate aber«, schreibt Weber 1923, »und vor allem dem heute so schwer um sein

Dasein ringenden, wird dabei zu sagen sein, daß dieses Dasein sicherlich einmal von ihm verspielt

sein wird, wenn er dem Kampf um den Primat des Geistigen über das Ökonomische weiter mit der
halben Lauheit von heute zuschaut. Was hier gekämpft wird, ist in Wahrheit der Kampf um seine
eigene Existenz. Zerfällt der geistige Hintergrund der Allgemeinheit, so wird auch er zerfallen und
die Beute der miteinander ringenden Wirtschaftskräfte werden, über denen dann keine Macht
mehr da ist, die er anrufen kann, um sie zu bändigen. Er wird mit dem Geistigen und den geistigen
Arbeitern und ihrer Stellung in der Allgemeinheit leben oder sterben.« (S. 73) Webers Funkdonsbe-
stimmung der Intellektuellen als Beschützer des Staates vor den Übergriffen der Wirtschaft setzt

eine ökonomische und geistige Unabhängigkeit dieser Intellektuellen voraus, die gerade in der
Inflationszeit erodiert worden ist. Nichtsdestoweniger war die Warnung vor der wachsenden
Übermacht der ökonomischen Interessen im Weimarer Staat gerechtfertigt. Insofern sich nämlich

die Weimarer Republik als Kulturstaat verstand, mußte die Dominanz des Ökonomischen über das
Geistige, die Herrschaft der Wirtschaft über die Kultur als ein offener Widerspruch erscheinen.
Die traumatischen Erfahrungen der Hyperinflation von 1923 wurden schon nach wenigen
Jahren in der Weltwirtschaftskrise von 1929/30 neu aktiviert. Die knapp sechs Jahre relativer
wirtschafdicher Ruhe, in denen auch politisch eine Stabilisierung des demokratischen Systems
eintrat, waren angesichts der neuen ökonomischen Krise schnell vergessen; aus der Sicht von
1929/30 erschien die Weimarer Republik als eine einzige langhinausgezogene Dauerkrise. Die
vernichtende Erkenntnis von 1923, daß der Staat scheinbar absolut machdos den Exzessen der
Wirtschaft ausgeliefert ist, schien sich wieder zu bestätigen. Die Arbeitslosigkeit traf dabei die
deutsche akademische Intelligenz besonders hart. Da sich die Gesamtstudentenzahl von 80000
um 1914 bis zum Jahre 1932 fast verdoppelt hatte, gab es ein Überangebot von Bewerbern für
XXVI Einleitung

geistige Berufe. Schätzungen vom Oktober 1932 sprechen von 40 bis 45000 »Überzähligen und
Arbeitslosen« auf dem akademischen Arbeitsmarkt, für 1935 wurden über 100000 akademische
Arbeitslose vorausgesagt (vgl. S. 651 f.). »Die in einer derart katastrophalen Entwicklung beschlosse-

nen Gefahren«, heißt es im Oktober 1932, »die bedrohlichen Wirkungen nicht nur für den
Einzelnen und seinen Stand, sondern darüber hinaus für alle, denen die Gesittung und Bildungs-
kraft ihres Landes wert ist, sind klar. Und ein zivilisierter Staat darf nicht tun, als wüßte er nichts

davon. Die psychische Situation ist verzweifelt.« (S. 652) Am schlimmsten war die Situation für
Lehramtsbewerber: »Denselben Menschen aber«, schreibt Friedrich Sternthal im März 1932, »die
der Staat in ein Studium hineingedrängt hat, verweigert er jetzt die Mittel zum Studieren oder zur
Ausübung des Berufes. Er zieht also ein Gelehrtenproletariat groß.« (S. 651) Es war ein Gelehrten-
proletariat, das dem demokratischen System als dem vermeindichen Urheber ihrer Misere nur
noch mit Verachtung gegenüberstand.

Modernisierung: Das Ende der Buchkultur?


Welche gesellschafdiche Funktion sollte die Dichtung in einer Zeit erfüllen, die von Technik und
Industrie beherrscht wird? Die Debatten über den Wandel der Bedingungen der literarischen

Produktion und Rezeption in der Weimarer Republik nahmen an Intensität zu, je mehr sich

herausstellte, daß die wichtigsten Impulse in dem beschleunigten Modernisierungsprozeß nicht


von der literarischen, sondern von der technischen Intelligenz ausgingen. Schon 1919 schrieb
Döblin polemisch überspitzt: »Goethe, Shakespeare und tanti tutti sind nur in halb oder ganz
agrarischen Ländern möglich. Wo die Naturwissenschaften und ihre Anwendung in solchem
Frühling stehen, bleibt dem Geistigen nur die Rolle des Lobspenders oder Refraktären. Naturwis-
senschaft und Industrie führen jetzt das Wort desGeistes.« [1 1] Und um Mörike z. B. noch »resdos
schön« finden zu können, meinte Hans Reiser 1925, wird der Leser »das Schnellzugstempo seines
Lebens in das Postkutschentempo umlügen müssen, den Benzingestank dieser Zeit in den Rosen-
duft der andern, und das Börsenhirn in ein märchenhaftes Menschenherz.« (S. 167) Die neuesten

Entwicklungen der Technik, des Verkehrs und der Wirtschaft haben die literarische Intelligenz auf

eine Weise verunsichert, daß sie den Literaturbegriff früherer Zeiten für obsolet erklärte. Der
Avantgarde um Brecht, Feuchtwanger und Döblin galt Deutschlands antiwesdicher, klassisch-
romantischen Kunstgesetzen folgender Sonderweg in der Kultur als Sackgasse. Sie plädierten

stattdessen für den Anschluß Deutschlands an die kulturelle Modernität wesdicher Prägung; sie

waren begierig, Deutschlands kulturelle Ungleichzeitigkeit aufzuheben und seine durch den Krieg
bedingte Isolierung vom Ausland zu durchbrechen. Man wollte unter allen Umständen »modern«,
zeitgemäß und kosmopolitisch wie Amerika, England oder Frankreich sein. Die Massendemokra-
tie der Weimarer Republik bot nun - nicht zuletzt aufgrund des Statusverlustes der kulturtragen-
den bildungsbürgerlichen Schicht in der Inflation - den gesellschafdich-politischen Rahmen,
innerhalb dessen sich auch die Kultur modernisieren und »demokradsieren« konnte.
Besonders die amerikanische Jazzmusik, durch Schallplatten massenhaft verbreitet, wurde im
Deutschland von 1920 zum Zeichen einer modernen, unliterarischen Populärkultur, die mit ihren

hekdschen Rhythmen und unregelmäßigen Synkopen auf der Höhe der Zeit zu stehen schien. Aus
Klaus Manns Perspektive der 30er Jahre war die Jazzmode Ausdruck des kollektiven Bewußtseins
Einleitung XXVII

der Inflationszeit: »Der Dollar steigt: lassen wir uns fallen! Warum sollten wir stabiler sein als

unsere Wahrung? Die deutsche Reichsmark tanzt: wir tanzen mit! Millionen von unterernährten,
lumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und
taumeln dahin im Jazz-Delirium. Der Tanz wird zur Manie, zur idee fixe, zum Kult.[. . . ] Ein

geschlagenes, verarmtes demoralisiertes Volk sucht Vergessen im Tanz«. [12] Das Bedürfnis nach
Zerstreuung und leichter Unterhaluing, das Klaus Mann aus der Lebensunsicherheit der Nachkriegs-
und Inflationszeit herleitet, führte in der Weimarer Republik allgemein zu einer Aufwertung der
unliterarischen Populär- und Massenkultur. Die Buchkultur fand sich nun in Konkurrenz mit den
leichter zugänglichen technischen Massenmedien. So fragte Hans Siemsen 1923 in einem ironisch
Bücher-Besprechung betitelten Aufsatz: »Weshalb schreibt man Kritiken über Bücher? Und nicht

über Grammophonplatten? Mir ist mein Grammophonplatten-Schrank viel interessanter als mein
Bücherschrank. Oft bringe ich mir eine neue Platte mit aus der Stadt. Selten ein neues Buch.«
(S. 240) Und er fährt fort, statt der ihm aufgetragenen Buchbesprechung amerikanische Songs wie
California here I come zu besprechen. Diese provokativ herausgestellte Literaturmüdigkeit liegt

auch dem öffentlichen bekundeten Interesse der Intellektuellen an Massensportveranstaltungen

wie Boxen und Sechstagerennen zugrunde. Nicht nur Zeitungen, auch literarisch anspruchsvolle
Zeitschriften wie Weltbühne und Querschnitt veröffentlichten in der Weirnarer Republik Aufsätze
über Boxkämpfe und Boxer. Der Schwergewichtsmeister Hans Breitensträter, der aus Magdeburg
stammte, aber, wie er von sich sagte, »sehr lange in den Wäldern von Westamerika« [13] gelebt hat,

beschrieb z.B. im Querschnitt von 1922 seinen Mailänder Kampf gegen »Herrn Erminio Spalla« in

simpelster Kindersprache. Auch der Boxer Samson Körner, gefördert von seinem Freund Bert
Brecht, betätigte sich literarisch. Vor allem für die jüngere Generation war Sport (ebenso wie Jazz)
Ausdruck der Sachlichkeit, der Modernität und der Skepsis gegenüber dem Geist. »Überdruß am
Geist«, schrieb Klaus Mann 1927, »geht von rechts bis nach links, keiner von uns, der es nicht erlit-

ten und empfunden hätte.« (S. 177)

Auch der Import amerikanischer Revuen, die Berlin in direkten Kontakt mit dem New Yorker
Broadway und seinem Showbusineß brachten, war Anlaß für die deutschen Intellektuellen, über
das nachlassende Interesse an geistigen Dingen zu reflektieren. Die Begeisterung, mit der etwa die
amerikanische Revuetruppe »Tiller Girls« oder die von Goll bewunderte »Revue Negre« mit
Josephine Baker als Star in Berlin aufgenommen wurde, galt allgemein als epochentypisches
Zeichen für den bevorstehenden Untergang der überlebten abendländischen Geisteskultur. [14]
Die größte Wirkung auf die »Amerikanisierung« der deutschen Kultur übte jedoch das amerika-
nische Kino aus, dessen massenwirksame Unterhallungsprodukte bald nach 1920 den deutschen

Markt zu beherrschen begannen. Besonders die Filme von Charlie Chaplin, Buster Keaton und
Douglas Fairbanks wurden in Deutschland begeistert aufgenommen. Der enge kommunikative
Bezug zum Publikum, der die amerikanischen Filme im Gegensatz zu den deutschen avantgardisti-
schen Filmen auszeichnete, erschien als zeitgemäß, da man der Meinung war, der Film trage gerade
durch seinen Massenappeal den Geist der demokratischen Staatsform in sich. So meinte 1926 der
Kunstkritiker Adolf Behne: »Für uns ist nun das Wichtige, daß der Film von seiner Geburtsstunde

an demokratisch ist. Feine Leute haben ihn mit sicherm Instinkt von Anfang an gemieden, und für

die Ganz-Feinen existiert er heute noch nicht. Es gibt ja noch keine Vorzugs-Kopien auf Edel-
XXVIII

Celluloid mit Goldschnitt, die man sammeln könnte.« (S. 221) Als technisch-industrielles, im
Kollektiv produziertes und rezipiertes Massenprodukt schien der Film in provokativem Gegensatz
zu dem vom schöpferischen Einzelerlebnis bestimmten Kunstwerk zu stehen, dessen Autonomie-
anspruch ohnehin fragwürdig geworden war.
Mehr als ein anderes europäisches Land war Deutschland in den 20er Jahren der amerikani-
schen Massenkultur gegenüber offen; die Vier-Millionen-Stadt Berlin galt als das europäische
Zentrum des amerikanischen Einflusses. Für die Großstadt-Boheme war die Nachahmung gewis-
ser modischer Aspekte des amerikanischen way oflife zunächst vor allem auch antibürgerliche
Provokation, die sich - wie die Programmatik der Dadaisten - gegen die deutsche Kultur der
Innerlichkeit und die ästhetischen Normen der autonomen Kunst richtete. Ein auf dem humanistisch-
idealistischen Wertsystem beruhendes individualistisches Kunstverständnis war in den Material-
schlachten des Ersten Weltkriegs, den Massenbewegungen der und dem Massen-Arbeiterschaft

dem Maße, in dem sich die deutsche Gesellschaft


prozeß der Inflation zweifelhaft geworden. In
nach dem Kriege ökonomisch und sozial nach dem Muster der USA zu »entfeudalisieren« begann,
vollzog sie auch den Übergang zu einer Kultur der großstädtischen industriellen Massengesell-

schaft. Die Übernahme amerikanischer Produktionsmethoden wie Standardisierung, Rationalisie-


rung und Massenproduktion, die ihrerseits zur verstärkten Monopolisierung und Konzernbildung
beitrugen, hatte auch Folgen für die Zusammensetzung der kulturellen Öffendichkeit. Durch die

Inflation wurde der Trend zur Konzernbildung und Massenproduktion noch verstärkt, so daß sich
mehr und mehr Selbständige ohne Produktionsmittel fanden und zum Kleinbürgertum oder
Proletariat herabsanken. Gleichzeitig bildete sich durch den Ausbau der Bürokratie eine schnell
wachsende Schicht von Angestellten heraus. Siegfried Kracauer sprach 1929 von Berlin als der
»Stadt der ausgesprochenen Angestelltenkultur, d.h. einer Kultur, die von Angestellten für Ange-

stellte gemacht und von den meisten Angestellten für eine Kultur gehalten wird«. [15] Dieses neue
traditionslose Massenpublikum war skeptisch gegenüber einem Kulturangebot, das mit Bildung
und Belehrung assoziiert war und Abitur voraussetzte. Es wandte sich daher vor allem den aus
Amerika importierten Produkten der industriellen Massenkultur zu, die den Unterhaltungsbedürf-
nissen dieses Publikums entgegenkamen. Die amerikanische Massenkultur entsprach diesem

neuen Publikum, da sie von ihren Anfängen an anders als die deutsche Kultur den engen
kommunikativen Bezug zum Publikum als ökonomischen Faktor einbezog: Kunst ohne Käufer
war für sie ein Widerspruch. Die deutsche Kultur hatte sich dagegen lange Zeit aufgrund der
Protektion von Adel und Bildungsbürgertum auf einen ästhetischen Freiraum zurückziehen kön-
nen, in dem das ökonomische Grundgesetz von Angebot und Nachfrage weitgehend aufgehoben
war. Durch die Verarmung des Bildungsbürgertums waren jedoch diese Freiräume mehr und mehr
geschrumpft. Damit erschien Kultur nicht mehr (wie noch im 18. und 19. Jahrhundert) aus
lebensweldichen Bezügen ausgegrenzt; sie verlor ihren Autonomiestatus und wurde Teil eines

kulturellen Marktes, der verschiedenartige, meist außerästhetische Bedürfnisse nach Information,

Bildung, Unterhaltung oder Zerstreuung befriedigte.


Im Hinblick auf das Publikum hatte dieser »Kult der Zerstreuung«, wie Siegfried Kracauer die

Massenkultur nannte, einen homogenisierenden Effekt, dem sich auch die Intellektuellen nur
schwer entziehen konnten: »Je mehr sich aber die Menschen als Masse spüren,« schrieb Kracauer
Einleitung XXIX

1926, »umso eher erlangt die Masse auch auf geistigem Gebiet formende Kräfte, deren Finanzie-

rung sich lohnt. [. . . ] sie duldet nicht, daß ihr Reste hingeworfen werden, sondern fordert, daß

man ihr an gedeckten Tischen serviere. Für die sogenannten Bildungsschichten ist daneben
wenig Raum. Sie müssen mitspeisen oder snobistisch abseits sich halten; ihre provinzielle Ab-
schneidung jedenfalls hat ein Ende. Durch ihr Aufgehen in der Masse entsteht das homogene
Weltstadt-Publikum, das vom Bankdirektor bis zum Handlungsgehilfen, von der Diva bis zur
Stenotypistin eines Sinnes ist.« (S. 249) Diese »Wendung zum Massengeschmack« war besonders
auffällig bei der deutschen Rezeption des amerikanischen Films, den Herbert Ihering bereits 1926
den »neue[n] Weltmilitarismus« nannte: »Die Zahl der Menschen, die Filme sieht und keine
Bücher liest, geht in die Millionen. Sie alle werden dem amerikanischen Geschmack unterworfen,
werden gleichgemacht, uniformiert. [. . . ] Der amerikanische Film ist der neue Weltmilitarismus.
Er rückt an. Er ist gefährlicher als der preußische. Er verschlingt nicht Einzelindividuen. Er

verschlingt Völkerindividuen.« [16] Die Angst vor dem kulturellen Amerikanismus, vor der Über-

fremdung und Kolonisierung des Bewußtseins durch die amerikanische Kulturindustrie, die den
literarischen Markt um die Mitte der zwanziger Jahre aufs nachdrücklichste veränderte, war
berechtigt. Je stärker die Massenkultur den ästhetischen Geschmack uniformierte, desto geringer
wurden die Chancen für das individuelle literarische Werk; jedes neue Werk mußte sich in einer

verschärften Konkurrenzsituation gegen eine Vielzahl anderer Werke in anderen, leichter zugängli-
chen Medien durchsetzen, was auch gattungsprägende Konsequenzen hatte: Die Werke eines
Arnolt Bronnen etwa, aber auch die des jungen Brecht, versuchten mit Hilfe von gehäuften
Schockeffekten und publikumswirksamen »Strategien« die Aufmerksamkeit eines kulturübersättig-
ten Publikums auf sich zu lenken. Auf dem Buchmarkt selbst wurde mit neuartigen Reklame- und
Marketingtechniken (z.B. Bestsellerlisten, Literatur auf Schallplatten, »Tag des Buches«) um den
Leser geworben.
Die kommerzielle Verbreitung des Rundfunks ab Herbst 1923 hat den kulturellen Kommunika-
tionsraum nicht nur quantitativ (im Vergleich zum 19. Jahrhundert etwa) um ein vielfaches

erweitert, sondern auch qualitativ verändert. »An drei Millionen Apparaten«, heißt es 1929, »hören
drei Millionen Familien, d.h. zirka neun Millionen Menschen Radio. Die Öffentlichkeit der Kunst
hat einen nicht mehr übersteigbaren Grad erreicht. Die Kunst ist sozialisiert. Aus Privatbesitz ist sie
übergeführt in den Besitz aller.« (S. 202) Dieser Hoffnung auf den Rundfunk als einer genuin

demokratisch-öffentlichen Kunst stand die Befürchtung entgegen, er werde, indem er Hunderttau-


sende von Hörern gleichzeitig demselben Programm aussetzt, einen kulturellen Massengeschmack
fördern, der dem individuellen Ausdruck des künstlerischen Schaffens nur schädlich sein konnte.

Bedrohlich war vor allem, daß der Rundfunk sogar in den privaten Bereich eindrang, denn anders
als das Kino wurde der Rundfunk zu Hause rezipiert. Auch das Fernsehen, das ab 1929 von der
Berliner Reichspost in Versuchssendungen getestet wurde, galt bald als Indiz für das »Ende der
privaten Sphäre« (vgl. S. 206 ff.). Die Regierung erkannte früh das Potential des Rundfunks für

Massenbeeinflussung und Meinungsmanipulation und kontrollierte das Programm mit scharfen


Zensur- und Überwachungsgesetzen, die Tucholsky zufolge bevorzugt bei kritischen Programmen
der politischen Linken angewandt wurden. (S. 213 f.) Nichtsdestoweniger gab der. Rundfunk
zahlreichen Schriftstellern und Intellektuellen - wie später auch nach dem 2. Weltkrieg - Arbeit
XXX Einleitung

und Brot. Bertolt Brecht, Döblin, Bronnen und Walter Benjamin schrieben Hörspiele, Gottfried
Benn, Marieluise Fleißer und Hermann Kasack lasen im Rundfunk aus ihren Werken. Ein Werk
wie Döblins Berlin Alexanderplatz erschien nach seiner Buchpublikation auch in einer jeweils von
Döblin autorisierten Fassung als Hörspielbearbeitung (1930) und als Film (1931 mit Heinrich
George in der Hauptrolle). Die Schriftsteller selbst überschritten die engen Grenzen der durch das
Buch vermittelten Literatur und fügten sich in die Medienkultur der Zeit ein.

Literatur und Demokratie


Wie skeptisch auch immer die literarische Intelligenz dem neuen Staat gegenüberstehen mochte,
die demokratisch-parlamentarische Regierungsform war um 1920 eine Realität, mit der zumin-
dest die linksbürgerlichen Schriftsteller und die sogenannten »Vernunftrepublikaner« sich zu
arrangieren willens waren, wenn auch nicht mit völliger Überzeugung und »mit dem Herzen«.
Ihnen stellte sich vor allem die Frage, ob und auf welche Weise sich Funktion und Form der
Literatur unter den Bedingungen dieses neuen demokratischen Systems verändern müsse, kurz:
was es heißt, »demokratisch« zu schreiben. So geht Alfred Döblin in seinem Essay Der Schriftsteller
und der Staat {1922) davon aus, daß auch »die ungeheure Masse des sogenannten niedrigen Volks«
nunmehr das Recht habe, an der Kultur aktiv teilzunehmen. Der Schriftsteller wird darum »eine
große, ihm angemessene Leistung im Staat vollbringen, wenn er mit diesem zu ihm drängenden
Volk zu fühlen lernt, an ihm lebendig wird und ihre Art aufweckt. Es wird bald die Zeit kommen,
wo wir einfach werden müssen, viel einfacher, verständlicher und darum lebensvoller als wir jetzt

sind.« (S. 44) Mit dieser programmatisch geforderten Ausrichtung der Literatur auf die Lebens-

welt des Lesers sollte der Prozeß des Dichtens selbst entmystifiziert und der Ewigkeitsanspruch
großer Kunst zugunsten der Gebrauchsfunktion zurückgewiesen werden. Literatur sollte nun
zugänglich (statt experimentell und avantgardistisch), wirksam (statt ästhetisch-autonom) und
nüchtern-aufklärerisch (statt expressiv-prophetisch) sein. Der Dichter sollte seinen kulturaristokrati-

schen Ausnahmestatus aufgeben und als Aufklärer im Dienste des Volkes wirken. Ein neuer Typus
von Schriftsteller war gefordert, ein Typus, der in Kracauers Worten »sich nicht dazu berufen fühlt,

dem >Absoluten< zu dienen, sondern seine Aufgabe darin erblickt, sich (und dem großen Publikum)
Rechenschaft abzulegen über unsere aktuelle Situation.« [17]
Diese Funktionsbestimmung des Schriftstellers korrespondierte mit dem gewandelten Status

der Literatur in der Republik. In dem Maße, wie der demokratische Staat die freie Meinungsbil-
dung und -äußerung seiner Bürger als essentiell für den demokratischen Prozeß voraussetzte,
rückte die publizisdsch-essayistische (gegenüber der poedschen) Funktion der Literatur in den
Vordergrund. Je mehr sich die Literatur in der Republik ihrer sozialen Verantwortung bewußt
wurde, desto stärker strebte dem Kunstghetto hinaus; je mehr sie an authentischem Leben in
sie aus
sich aufnahm, desto unwichtiger wurden die herkömmlichen Gattungsgrenzen. Zudem verlangte

das zunehmende Informationsbedürfnis der Zeit eine Gebrauchsliteratur, die bewußt die Tren-
nungslinien zwischen schöner Literatur und Wissenschaft, zwischen Erfindung und Wirklichkeit
verwischte. Romanhafte Sachbücher über technische Erfindungen, Reiseberichte über fremde
Länder und eigene Landstriche (z.B. die literarische Entdeckung des Ruhrgebiets) [18], sozialkriti-

sche Reportageromane (etwa Erik Regers Union der festen Hand), aber auch die einst wegen ihrer
Einleitung XXXI

mangelnden Wissenschaftlichkeit und ihrer liberalen Tendenz heiß umstrittenen historischen


Biographien eines Emil Ludwig sind für die demokratische Gebrauchskunst der Weimarer Repu-
blik charakteristische Ausprägungen desselben Impulses: die Literatur zur Wirklichkeit hin zu

öffnen. [19]

Vor allem wurde nun die Reportage, bis zum Beginn der 20er Jahre eine subliterarische,
journalistische Gattung, als Instrument der objektiven Welterfahrung aufgewertet. »Nichts ist

verblüffender«, schrieb E. E. Kisch im Vorwort zu seinem Buch Der rasende Reporter (1924), »als

die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die

Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit, in der man lebt!« (S. 319)
Trotz des immer wieder beteuerten Objektivitätsanspruchs liegt der Reportage dennoch ein
aufklärerischer Impuls zugrunde, oft verbunden mit Kritik an den gesellschafdichen Verhältnissen

und Institutionen der Republik. So meinte Leo Lania, selbst Verfasser sozialkritischer Reportagen,

das dokumentarische Genre erfülle eine soziale Funktion für das politische System: »[...] beim
Aufbau eines neuen Deutschland sind die Reporter unerläßliche Helfer.« (S. 324) Durch ihre
Hinwendung zur aktuellen politischen und gesellschaftlichen Realität der Republik liefern sie

Materialien, die für das Selbstverständnis der Republik konstitutiv sind; sie halten der Republik

einen Spiegel vor, in dem sie sich selbst wiedererkennen kann. »Undichterische« Themen wie
Technik, Arbeit, Großstadt und Industrie erfahren keine dichterische Überhöhung mehr (wie noch
im Expressionismus), sondern werden »sachlich«, protokollarisch ohne Rhetorik und Symbolik,
mit einfachen Aussagesätzen und alltäglichen Wendungen dargestellt. Wie bemüht diese mnkünst-
lerische< Stilhaltung war, hat Thomas Mann 1928 ironisch in seiner Besprechung der Brennenden

Ruhr, Karl Grünbergs Reportage aus den Kapp-Putschtagen, herausgestellt: »Ich wünsche«,
schreibt er, »weder den Autor noch den Patron [Johannes R. Becher, der der Reportage ein

Vorwort voranstellte; A. K.] zu beleidigen, indem ich feststelle, daß das Buch starke künsderische
Eigenschaften besitzt.« [20]
Der klassisch-romantische Dichtungsbegriff mit seinem, wie es nun hieß, kulturaristokrati-

schen, »undemokratischen« Autonomiestatus war in der Weimarer Republik in Auflösung begrif-


fen. Selbst Thomas Mann stellte 1927 selbstkritisch fest: »Der deutsche Roman großen Stils ist

aristokratisch und innerlich, denn er ist der Entwicklungs- und Bildungsroman Goetheschen
Gepräges. Ob er eben darum Erzählung groi^en Stiles ist, bleibt strittig.« (S. 287) In seiner Apologie
für das der demokratischen Staatsform angemessene »Gutgemacht-Mittlere« und das »auf vorzüg-
liche Art Massengerechte« trat er für den Unterhaltungs- und Abenteuerroman ein - trotz aller

Bedenken: »Etwas wild und demokratisch atmet es her aus dieser Welt abenteuerlicher Moderni-
tät .. . Rümpfen wir nicht esoterisch die Nase! Flüchten wir nicht auf ein Elfenbeintürmchen vor

ihrem pöbelhaft jugendlichen Andrang! [. . . ] Gut denn, tun wir mit! Stellen wir uns an die Spitze!

Helfen wir und machen wir uns nützlich, indem wir zugleich der Zeit dienen und das bestürmte
Niveau verteidigen. [. . . ] Könnte das Massenhafte, das Massengerechte nicht einmal gut sein.^«

(S. 287)
Auch auf dem Gebiet des Dramas fand eine Umorientierung des herkömmlichen Gattungsbe-
griffs statt. So richtete sich Piscators Frage »Was soll uns in einer Welt, in der die wahren
Erschütterungen von der Entdeckung eines neuen Goldfeldes, von der Petroleumproduktion und
XXXII Einleitung

vom Weizenmarkt ausgehen, die Problematik von Halbverrückten?« [21] gegen die expressionisti-
sche Kunstauffassung, derzufolge das autonome heroisch-tragische Individuum im Zentrum
stand. Entscheidend nach Piscator seien aber heute nicht mehr das Individuum, sondern die
geschichdichen, politischen und ökonomischen Mächte - Krieg, Revolution, Inflation und Welt-
wirtschaft - die das Individuum in Wirklichkeit determinieren. In seiner Inszenierung von Alfons

Paquets Roman Fahnen im Mai 1924 wollte Piscator mit Hilfe von faktisch-dokumentarischem

Material (Fotos, Filmausschnitte, projizierte Statistiken und Zitate) dem Zuschauer die Authentizi-
tät der Ereignisse unmittelbar vor Augen führen und die unabhängig vom Willen des Individuums
wirkenden gesellschaftlichen und wirtschafdichen Kräfte veranschaulichen. Wie die individualisie-

rende Tragik fiktiver Figuren der Darstellung übergreifender ökonomischer Zusammenhänge


wich, so trat die künsderische Subjektivität des Autors hinter der Anonymität des Dokuments
zurück. Der Anti-Kunst-Affekt des Dokumentartheaters signalisiert den Funktionswandel der
Kunst, wie ihn Heinrich Mann in seinem Essay Geist und Tat schon 1910 gefordert hatte: Kunst
galt nicht mehr als Ausdruck des Menschlich-Großen, sondern als Waffe in der gesellschaftlichen
Auseinandersetzung. Besonders das sogenannte »Zeittheater«, das aktuelle Probleme der Repu-
blik behandelte, war in der Weimarer Zeit ein Forum für die öffentliche Diskussion gesellschaftli-

cher Konflikte. So griff 1929 Friedrich Wolfs Stück Cyankali aktiv in die zeitgenössischen

Debatten um den Paragraphen 218 ein; das Stück führte zu Demonstrationen und Kundgebungen
für und wider die Abtreibungsgesetzgebung der Regierung. Peter Martin Lampeis sozialkritisches
Zeitstück Revolte im Erziehungshaus leitete 1928 sogar Reformen in Heimen für Jugendliche ein.

In kleinem Umfang bot so das Theater eine Öffendichkeitssphäre, in der die gesellschaftliche
Wirklichkeit der Republik durchleuchtet und mitgestaltet werden konnte.
Der epochengeschichtlich signifikante Umbruch von einer ästhetisch-autonomen »Kunsditera-

tur« zu einer sachlich-kritischen »Gebrauchsliteratur« läßt sich auch in der Diskussion um die

gesellschafdiche Funktion der Lyrik verfolgen. Als Bertolt Brecht 1927 bei einem Lyrikwettbe-

werb der Literarischen Welt als Preisrichter die eingesandten vierhundert Gedichte beurteilen

sollte, wies er alle zurück und prämierte stattdessen ein Gedicht aus einer Radsportzeitung mit
dem Titel He! He! The Iron Man!. Die vierhundert Einsender seien in ihrer »Sentimentalität,

Unechtheit und Weltfremdheit« allesamt Nachahmungen der »>rein< lyrischen Produkte« aus der
Schule eines Rilke (»eines sonst wirklich guten Mannes«), Stefan George und Franz Werfel. »Da
sind ja wieder diese stillen, feinen, verträumten Menschen, empfindsamer Teil einer verbrauchten
Bourgeoisie, mit der ich nichts zu tun haben will.« (S. 442) Das Radsportgedicht zeichne sich
dagegen durch die »Geste der Mitteilung eines Gedankens« und einen »gewissen dokumentari-
schen Wert« aus, denn »gerade Lyrik muß zweifellos etwas sein, was man ohne weiteres auf den
Gebrauchswert untersuchen können muß.« Ebenfalls 1927 erschien Bertolt Brechts Hauspostille,
seine erste große Gedichtsammlung, mit einer vorausgeschickten »Anleitung«, in der dem Leser
(meist parodistische) Hinweise zum »Gebrauch« der Gedichte gegeben werden. Die Verwendung
von lyrischen Zweckformen (Songs, Moritaten, Balladen), die oft forcierte Trivialität und Derbheit
und die bewußt gesetzten Stilbrüche haben die Funktion, die Lyrik zu »entsentimentalisieren« und
sie wieder in direkten Kontakt mit dem Publikum zu bringen. Brecht selbst trug in den frühen
20er Jahren seine Gedichte und Lieder in Münchener Lokalen zur Gitarre von Auch Walter
Einleiaing XXXIII

Mehring, Joachim Ringelnatz und Kurt Tucholsky haben für die damals florierenden Cabarcts und
Unterhaltungsrevuen sogenannte »Gebrauchslyrik« geschrieben und vorgetragen, Erich Kästner
distanzierte sich wie Brecht von den Erlebnis- und Stimmungslyrikern, »denn jene Lyriker mit dem
lockig im Winde wallenden Gehirn diskreditieren die Lyrik persönlich. Sie sind an der irrigen

Ansicht des Publikums schuld, Gedichtelesen sei eine gegenwärtig unpassende Beschäftigung.«

(S. 448) Er selbst begnüge sich mit dem Anspruch, Verse zu schreiben, »die das Publikum lesen und
hören kann, ohne einzuschlafen.« (ebd.)

Mit dem Prozeß der generellen »Entauratisierung« der Literatur in der Weimarer Republik
mußten sich notgedrungen auch die Kriterien für die Beurteilung literarischer Werke wandeln;
ästhetische Normen wurden jetzt soziologischen Kategorien wie Nützlichkeit, Wirksamkeit und
Realitätsnähe untergeordnet. Siegfried Kracauer (in Ornament der Masse, 1926), Walter Benjamin
(in Einbahnstraße, 1928) und Ernst Bloch (in Erbschaft dieser Zeit, 1935) entwickeln eine Kulturkri-
tik, die, moderne semiotische Methoden eines Roland Barthes vorwegnehmend, unscheinbare
Oberflächenphänomene des Alltags auf verborgene sozial- und ideologiegeschichdiche Grund-
strukturen hin interpretiert. In essayistischer, oft aphoristisch zugespitzter Form gewinnen ihre

Analysen den von der Schulästhetik ignorierten, ja verachteten Erscheinungen der Alltagskultur
(Trivial- und Zw^eckliteratur, Kinderbücher, Karl-May-Romane, Film, Schlager, Revuen, Radio
usw.) gesellschaftliche Aussagekraft ab.

Die Theoriebildung der neuen »demokratischen« Gebrauchskunst, zu der Kritiker wie Kracauer
und Benjamin maßgeblich beigetragen haben, fand vor allem in dem Zeitraum zwischen 1923 und
1929, zwischen dem Ende der Inflation und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise statt, d.h. in

einer Zeit der relativen Stabilisierung der Wirtschaft und der politisch-gesellschafdichen Situation.

Die wirtschaftliche Konjunktur dieser Jahre war Voraussetzung für die »Entfeudalisierung«,
Liberalisierung und Modernisierung Deutschlands im gesellschafdichen wie künsderischen Be-
reich. Der große Erfolg der ins Deutsche übersetzten Autobiographie des amerikanischen Autokö-
nigs Henry Fords von 1923 deutet darauf hin, daß damals Hoffnung bestand, der moderne
Kapitalismus und die liberale Demokrade könnten, wie Henry Ford optimisdsch behauptete, zur
Prosperität für jeden führen. Nachdem sich in der Revolution ästhedsche Konzepte für die Lösung
polinscher Konflikte als fruchdos, ja gefährlich erwiesen hatten, war man nun bereit, sich »auf den
Boden der Tatsachen« zu stellen. Der Begriff »neue Sachlichkeit«, den der Kunsthistoriker Georg
Friedrich Hardaub 1923 anläßlich einer Kunstausstellung für den verisdschen Stil in der Kunst
geprägt hat, bezeichnet einen Zustand der Ernüchterung und Entzauberung, der auch der demo-
kradschen Gebrauchsliteratur zugrundeliegt. [22] Im Hinblick auf die deutsche Literatur galt die

Rede von der »neuen Sachlichkeit« als ein resignadves Zeichen der Erschöpfung ästhetisch-

utopischer Programmadk. Gleichzeidg lassen sich aber in der Neuen Sachlichkeit Ansätze zu einer

gelungenen Demokradsierung der Literatur feststellen. Es war eine kurzfrisdge Bewegung, denn
die Grundlagen: wirtschafdiche Konjunktur und polidsche Stabilität wurden durch die Weltwirt-

schaftskrise ab 1929 aufs neue def erschüttert. Die neusachlichen Funktionsbesdmmungen der
Literatur (und damit auch ihre Stoffe und Formen) wurden nach 1930 von ihren ehemaligen

Anhängern als Irrweg zurückgewiesen (vgl. S. 653 ff.). Erst Mitte der sechziger Jahre knüpfte die
deutsche Literatur wieder an das Erbe dieser demokradschen Gebrauchskunst an.
XXXIV Einleitung

Wem gehört die Literatur?


Debatten über eine zukünftige klassenkämpferische proletarische Literatur fanden in den ersten
Jahren der Weimarer Republik ausschließlich unter linken bürgerlichen Intellektuellen statt, die

durch das Vorbild der Russischen Revolution, durch den Zusammenbruch des Wilhelminischen
Reiches und die allgemeine geistige Aufbruchsstimmung verleitet worden waren, das revolutio-
näre Potential der deutschen Arbeiterbewegung höher einzuschätzen als es in Wirklichkeit war.
Die revolutionäre Theorie ließ die revolutionäre Praxis weit hinter sich. Die immer strategisch
argumentierende KPD fand sich so mehrfach in der Situation, die radikalen, utopisch-idealistischen
Theorieentwürfe der sympathisierenden Intellektuellen zurückzuweisen. Die sogenannte
»Kunsdump-Debatte« von 1920 ist ein Beispiel für diese Spannungen zwischen Partei und Intellek-
tuellen: Als Oskar Kokoschka 1920 nach einer Dresdener Straßenschlacht, bei der nicht nur 35

Arbeiter ums Leben kamen, sondern versehendich auch ein Gemälde von Rubens beschädigt
wurde, in einem offenen Brief den sarkastischen Vorschlag machte, solche »kriegerischen Übun-
gen« in Zukunft auf Schießplätzen öder im Zirkus abzuhalten, um die Meisterwerke der Malerei
nicht weiter zu gefährden, konterten George Grosz und John Heartfield mit einem Pamphlet, in

dem sie Kokoschka einen »Kunsdumpen« nannten und das Bürgertum und vor allem den bürgerli-
chen Künsder beschuldigten, Kultur und Kunst höher als das Leben der im politischen Kampf
gefallenen Arbeiter zu schätzen. »Wir begrüßen es«, schrieben Grosz und Heartfield, »wenn der
offene Kampf zwischen Kapital und Arbeit dort sich abspielt, wo die schändliche Kultur und Kunst
zu Hause ist, die stets dazu diente, den Armen zu knebeln, die den Bourgeois am Sonntag erbaute,
damit er am Montag seinen Fellhandel, seine Ausbeutung umso beruhigter aufnehmen konnte! Es
gibt nur eine Aufgabe: Mit allen Mitteln, mit aller Intelligenz und Konsequenz den Zerfall dieser

Ausbeuterkultur zu beschleunigen. [... ] Wir fordern alle auf, Stellung zu nehmen gegen die

masochistische Ehrfurcht vor historischen Werten, gegen Kultur und Kunst!« (S. 455 f.) Die hier

zum Programm erhobene Kunst- und Traditionsfeindlichkeit, die sowohl der avantgardistischen
Tradition der Berliner Dadaisten wie auch dem aus Rußland kommenden antibürgerlichen Prolet-

kult verpflichtet ist, wurde von der Roten Fahne, dem offiziellen Organ der KPD, entschieden
zurückgewiesen. Gertrud Alexander, Redakteurin am Feuilleton der Roten Fahne, nannte die
kunstzerstörerischen Absichten des Proletkults »Vandalismus« und plädierte stattdessen für eine

kritische Aufarbeitung des kulturellen Erbes des Bürgertums zum Nutzen des Proletariats. »Wollen
Sie, Herr Heartfield und Grosz, das Vertrauen der Arbeiterklasse gewinnen, indem Sie die

>Bourgeois-Kultur< in Bausch und Bogen verdammen und Schätze vernichten, die, vergessen Sie es

nicht, mit den Schweißtropfen der Arbeitenden, der Proletarier erkauft sind? Sollen nun deren
Söhne nicht wenigstens sie genießen dürfen, endlich?« [23] Die Frage nach der Einschätzung der
»Bourgeois-Kultur« beschäfdgte die proletarisch-revolutionäre Literaturtheorie über die Weimarer
Republik hinaus; jüngste Diskussionen in der DDR über die kritische Aneignung des bürgerlichen
Kulturerbes zeigen die Kontinuität dieser Fragestellung. [24]
Die Schriftsteller und Künsder, die sich in den Revolutionstagen spontan mit der Arbeiterklasse
solidarisierten, verkannten meist die empirische Realität der Arbeiterschaft. So heißt es z.B. in

einem Aufruf von 1919 an die »Brüder im Proletariat«, der von bürgerlichen Intellektuellen und
Schriftstellern aus verschiedenen politischen Lagern - Martin Dibelius, Martin Buber, Wilhelm
Einleitung XXXV

Schäfer und Kurt Wolff - unterzeichnet wurde: »Wenn euer gerechter Trotz, euere zukunftsfreu-

dige Unverbrauchtheit sich durchströmen läßt von den Kräften einer innerlich freien und äußerlich
aufrechten Geistigkeit, dann müssen falsche Trennungen von selbst fallen. Dann ist es keine

sinnvolle Frage mehr, ob Bürger oder Proletarier: Tot sind dann die Klassen, frei der Weg zum
freien Volk, Gleiche wir alle und Brüder!« (S. 26) Die expressionistisch-übersteigerte Vision einer

klassenlosen, konfliktfreien Volksgemeinschaft, in der auch die Kluft zwischen Geistes- und
Handarbeitern überwunden sein werde, war letztlich auch Angstreaktion der ökonomisch verunsi-
cherten bürgerlichen Intellektuellen auf die spürbar angewachsene Macht der Arbeiterklasse unter
der sozialdemokratischen Regierung. Die linksradikale Intelligenz betrachtete es als ihre Mission,
dieser neugewonnenen Macht des Proletariats zu ihrem kulturellen Ausdruck zu verhelfen. Die
Anknüpfung an die seit Ende des 19. Jahrhunderts bestehende Tradition der sozialdemokratischen
Arbeiterliteratur wurde dabei aber vermieden, da diese sich zumeist unpolitisch und unrevolutio-
när gab und sich obendrein durch ihre Kriegsbegeisterung diskreditiert hatte. Die Kultur- und
Bildungspolitik der SPD stand der Idee einer eigenständigen proletarisch-revolutionären Kultur
feindlich gegenüber; sie sah ihre Hauptaufgabe vielmehr darin, die bürgerliche Kultur durch
Volksbühnen, Volkshochschulen und Arbeiterbibliotheken auch den Arbeitern zugänglich zu
machen. Die Spaltung der Arbeiterklasse am Ende des Ersten Weltkriegs hat auch zur Spaltung der
Arbeiterliteratur in einen proletarisch-revolutionären und einen sozialdemokratisch-reformistischen
Flügel geführt.

Trotz zahlreicher vereinzelter Vorstöße von Piscator, Franz Jung und anderen bürgerlichen
linksradikalen Intellektuellen, um 1919/20 eine proletarisch-revolutionäre Kultur durchzusetzen,
erfolgte eine systematische Herausbildung einer genuin proletarischen Kultur »von unten her«
nicht vor Mitte der zwanziger Jahre, als mit dem Ende der Ruhrkrise und der Einführung der
Rentenmark die Revolutionsbegeisterung der Nachkriegsjahre verrauscht und die Chancen für

einen spontanen revolutionären Umsturz in die Ferne gerückt waren. Erst im Juli 1925 beschloß
der 10. Parteitag der KPD, die polidsch-propagandistische Kulturarbeit in die Betriebe selbst zu

tragen. Die in der KPD organisierten Arbeiter wurden aufgefordert, als sogenannte »Korrespon-

denten« für die von den kommunistischen Zellen herausgegebenen Betriebszeitungen über Vor-
fälle an ihrem Arbeitsplatz im Betrieb oder in der Fabrik zu berichten. Diese »Arbeiterkorrespon-
denzen« - kurze, stilistisch meist unbeholfene, protokollarisch-dokumentarische Erlebnisberichte,
die in den Parteizeitungen veröffendicht wurden - stellten so eine enge Verbindung zwischen der
Partei und den schreibenden Arbeitern her.

Die Arbeiterkorrespondentenbewegung wurde zu einem der wichtigsten Instrumente kommu-


nistischer Literaturpolitik. Als literarische Selbstdarstellung der organisierten Arbeiterklasse trug

sie zweifellos zur proletarischen Identitätsbildung und zur Stärkung des Klassenbewußtseins bei.

Darüberhinaus führte sie Arbeiter an die Literamr heran: Autoren wie Willi Bredel (sein proletarisch-

revolutionärer Betriebsroman Maschinenfabrik N d^• K erschien 1930), Karl Grünberg {Brennende


Ruhr, 1928) und Hans Marchwitza {Sturm auf Essen, 1930) kamen aus der Arbeiterkorresponden-
tenbewegung. Im Unterschied zu den linksbürgerlichen Autoren, die um die Mitte der zwanziger

Jahre zunehmend über ihre marginale und isolierte Stellung in der Gesellschaft klagten, schrieb der

Arbeiterschriftsteller für Leser, die seinen Erfahrungshorizont und sein Klassenbewußtsein teilten.
XXXVI Einleitung

Die starre Dichotomie von Produktions- und Rezeptionssphäre, von aktivem Gestalten und
passivem Konsumieren, war damit aufgelöst: jeder Leser war aufgerufen, auch Autor zu sein.

Auch das proletarische Theater bemühte sich um eine Öffnung zum Publikum. Sprechchöre
und Agitpropgruppen, proletarische Laienbühnen und Kampfspieltruppen betrieben parteipoliti-

sche Agitation, die meist auch den Zuschauer (etwa durch gemeinsames Absingen der »Internatio-
nalen«) miteinbezog. Die Aufführungen bestanden in der Regel im Stil einer Revue aus Rezitatio-

nen, Songs, Ansprachen an das Publikum, dramatisierten aktuellen Zeitungsnachrichten und


erfundenen, z.T. improvisierten Kurzszenen, in denen der Klassenkampf allegorisch vereinfacht
dargestellt wurde. Diese Agitpropstücke, die vor den Fabriktoren und auf Partei- und Gewerk-
schaftsversammlungen aufgeführt wurden, entstanden meist in Teamarbeit ohne Nennung einzel-
ner Verfasser. Der Abbau des dichterischen Ichs zugunsten der Kollektivproduktion entsprach der

kollektiven Zielsetzung dieser Stücke. Formen dieser kämpferischen, operativ-didaktischen Thea-

terkultur gingen auch in Brechts Lehrstücke von 1929/30 ein.

Am wirkungsvollsten für die massenhafte Verbreitung proletarisch-revolutionärer Ideologie


erwies sich die Kulturarbeit der sogenannten Internationalen Arbeiterhilfe (I. A.H.), einer Organi-
sation, die zunächst (ab 1921) karikative Fiilfsaktionen für streikende, hungernde und verfolgte
Arbeiter in anderen Ländern durchführte, sich aber ab Mitte der 20er Jahre das Ziel setzte, die

deutsche Bevölkerung durch Vorträge, Plakate, Filme, Zeitungen usw. über die Lage der internatio-
nalen Arbeiterbewegung zu informieren. Der Gründer der I.A.H., Willi Münzenberg, ab 1924
Reichstagsabgeordneter der KPD, baute in wenigen Jahren ein multi-mediales Informationsnetz-
werk auf, zu dem ab 1926 auch die »Prometheus Film-Verleih- und Vertriebsgesellschaft« gehörte,
die neben der Propagierung sowjetischer Filme auch eigene proletarische Spielfilme in Auftrag
gab, darunter Piel Jutzis Mutter Krauses Fahrt ins Glück (1929) und Slatan Dudows/Bert Brechts
Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? (1932). Münzenberg hatte schon frühzeitig den politi-

schen Propagandawert der neuen visuellen Medien erkannt und sie seiner massenpolitischen
Kulturarbeit dienstbar gemacht. Indem er seine Propagandatätigkeit auf alle Bereiche der kulturel-

len Produktion, Distribution und Rezeption ausdehnte [25], konstituierte er eine vom bürgerlich-

kapitalistischen Kulturmarkt unabhängige und autarke, aber auch relativ isolierte proletarische

Subkultur. Es war Kultur von klassenbewußten Autoren für klassenbewußte Leser.


Münzenbergs Frage nach der Massenwirksamkeit revolutionärer Literatur wurde in dem Maße
dringlicher, als es galt, der zunehmend aggressiver auftretenden völkisch-nationalsozialistischen

Propagandaliteratur entgegenzuwirken. Die Literatur gehört zu den »wichtigsten Machtmitteln

der herrschenden Klasse«, schrieb O. Biha in der Roten Fahne 1930, denn: »Sie hält Millionenmas-
sen unter ihrem Einfluß und ist mitbestimmend für ihre Entwicklung. Vor allem aber übt die

reaktionäre Schundliteratur einen verheerenden Einfluß auf das Bewußtsein der Massen aus. [. .
.]

Diese Massenromane des klassenlosen Idylls, des Wirtschaftsfriedens unter der Parole: Freie Bahn
dem Tüchtigen, der Geduld und Ordnung, der Vaterlandsliebe und Demut, der Heiligkeit des
Besitzes, sind gefährlicher als die sogenannte große Literatur der Bourgeoisie. Die Partei muß in

ihren Kämpfen um die Masse diese Literatur zurückdrängen.« (S. 472) Er kündigt deshalb die
Fierausgabe des sogenannten »Roten Eine-Mark-Romans« an, der die Wirklichkeit des Arbeiters
nicht mehr romantisch-kitschig durch den Traum von Luxus und privatem Glück verklärt.
Einleitung XXXVII

sondern »die Konflikte der Zeit und die Kämpfe der Massen gestaltet.« (ebd.) Romane wie
Marchwitzas Sturm auf Essen, Klaus Neukrantz' Barrikaden am Wedding und Willi Bredels

Maschinenfabrik N. &K. behandeln in der dokumentarisch-reportagenhaften Form der Arbeiter-

korrespondenzen die proletarische Wirklichkeit in Fabrik und Mietskaserne und beim revolutionä-
ren Kampf. Paradoxerweise war es der von O. Biha als »vollwertige proletarische Literatur«
propagierte rote Massenroman, der Kontroversen über die wahre proletarische Literatur auslöste.

In der Linkskurve, dem Organ des 1928 gegründeten »Bundes proletarisch-revolutionärer Schrift-
steller« (BPRS), wandte sich bereits im März 1930 Josef Lenz, der Leiter der Agitprop-Abteilung

beim Zentralkomitee der KPD, gegen die »Verhimmelung der Arbeiterkorrespondenzen und
Betriebszeitungen« als den sogenannten »Urzellen der proletarischen Literatur« und plädierte für

eine Orientierung der proletarischen Literatur an früherer, auch bürgerlicher, revolutionärer

Literatur. In einer Artikelserie Zur Frage der marxistischen Ästhetik bezeichnete dann Karl August
Wittfogel die »junge proletarisch-revolutionäre Kunst« lediglich als Durchgangsstadium zur forma-

len künsderischen Gestaltung. Und im Oktober 1931 verurteilte Johannes R. Becher, einer der
Mitherausgeber der Linkskurve, die »Schaffung des Eine-Mark-Romans« nicht als »Wendung zur
Massenarbeit«, sondern als »Zurückgebliebenheit« und »Versagen«. [26] Statt der um 1930 gefor-
derten »Wendung zum Betrieb« verlangt er jetzt von der wahren proletarischen Massenliteratur
»Verbundenheit mit dem ganzen proletarischen Alltag.« (ebd.) Bei GeorgLukacs, der als Beauftrag-
ter der Komintern ab 1931 in Berlin weilte, hat sich die Kritik am proletarischen Massenroman,
wie ihn Bredel und Ottwalt repräsentieren, noch weiter verschärft. In mehreren Artikeln der
Linkskurve (April bis Dezember 1932) fordert er von der proletarischen Literatur »Gestaltung« (im

Sinne des bürgerlichen Romans des 19. Jahrhunderts) statt Reportage, Parteilichkeit statt offener

Tendenz, Totalität der Weltsicht und Erfassung des gesellschaftlichen Gesamtprozesses statt der
verengten Perspektive des Proletariers. Lukacs' Wendung gegen die revolutionäre Arbeiterdich-

tung und sein Plädoyer für den »sozialistischen Realismus« entspricht der literarischen Entwick-
lung in der Sowjetunion: Nach der Konsolidierung der Herrschaft Stalins und der Verkündigung
des Sieges des Sozialismus wurde die kämpferische proletarisch-revolutionäre Literaturtheorie
durch den »Sozialistischen Realismus« abgelöst. Äußeres Zeichen dafür war die Auflösung der
sowjetischen Organisation der proletarisch-revolutionären Schriftsteller (RAPP) im Jahre 1932.
Die im BPRS zusammengeschlossenen deutschen Arbeiterdichter wurden durch diese moskau-
treue scharfe Wendung nach rechts überrascht und verunsichert. Als sie sich gegen diese »Kritik

von oben« wehrten, wurden sie von Lukacs als Anhänger der sogenannten »Spontaneitätstheorie
der Literatur« abgekanzelt. Ab 1933 wurde die Auseinandersetzung um den Sozialistischen
Realismus im Exil weitergeführt; die Linkskurve, das Hauptforum dieser Diskussion, hatte ihr

Erscheinen schon im Dezember 1932 eingestellt. Wie schon bei der Erbediskussion läßt sich auch
beim Sozialistischen Realismus eine direkte Linie zu literaturtheoretischen und kulturpolitischen

Debatten in der DDR ziehen.


In dem Maße, wie es sich bei der proletarisch-revolutionären Literaturbewegung um eine

weitgehend von der KP geplante, organisierte und kontrollierte Tätigkeit handelte, waren Diskre-
panzen zwischen der jeweils geforderten und der jeweils existierenden Literatur unvermeidlich.

Die Linkskurve war in den wenigen Jahren ihres Bestehens gefüllt mit programmatischen Erklärun-
XXXVIII Einleitung

gen, Manifesten, Mahnrufen und Rechenschaftsberichten über Geleistetes und noch zu Leisten-

des. Besonders wichtig für die Identitätsbildung einer eigenständigen proletarischen Literatur
waren die überscharfen sektiererischen Abgrenzungen gegenüber den sozialdemokratischen
Arbeiterdichtern und den linksbürgerlich-kritischen Schriftstellern wie Toller, Tucholsky und
Döblin. Die Linkskurve folgte damit dem aus der Rückschau tragisch verfehlten isolationistischen
Kurs der KP, die noch 1932 den Hauptfeind im sogenannten »Sozialfaschismus« der SPD, nicht im
heraufziehenden Faschismus der Nationalsozialisten sah. Der historisch folgenreiche Bruch zwi-
schen linksbürgerlichen und kommunistischen Schriftstellern zeichnete sich bereits 1928/29 ab,
als sich die linksbürgerlichen Intellektuellen angesichts der sich verschärfenden politischen und
wirtschaftlichen Krise für oder gegen die Zusammenarbeit mit der KP zu entscheiden hatten. So
versicherte Kurt Tucholsky 1929 als Vertreter der Weltbühne: »Wir haben niemals beansprucht,
die Führer der Arbeiterklasse zu sein« (S. 609) und Gerhart Pohl, der Herausgeber der linksbürgerli-
chen Zeitschrift Neue Bücherschau bestand auf der, wie er glaubte, für Schriftsteller und Kritiker

notwendigen parteilichen Unabhängigkeit. (S. 614) E. E. Kisch erklärte dagegen, die Zugehörigkeit
zur Partei verhelfe dem Schriftsteller zu einem »lebendigen Zusammenhang mit der aufstrebenden
Klasse«, (ebd.) Anlaß dieses offenen Bruches zwischen linksbürgerlichen und kommunistischen
Autoren war eine positive Besprechung von Benns Prosa durch Max Herrmann-Neiße in der Neuen
Bücherschau von 1929, in der parteipolitisch engagierte Schriftsteller als »literarische Lieferanten

politischer Propagandamaterialien« (ebd.) bezeichnet wurden. Die Abgrenzungsdebatten zwischen


linksliberalen »freischwebenden« und parteigebundenen kommunistischen Intellektuellen ver-

schärften sich ab 1929/30 zu einem offenen Stellungskrieg, vor allem nachdem die parteilich

organisierten Schriftsteller in der Linkskurve ihre eigene Zeitschrift gegründet hatten. Angriffe auf

frühere Mitstreiter waren in der Linkskurve nicht selten. So ging Johannes R. Becher, der führende

Kopf der Linkskurve, mit Döblins politischer Haltung, wie sie sich in seinem Roman Berlin

Alexanderplatz 2Lngeh\ic\\ dokumentiert, besonders hart ins Gericht. Döblin konterte nicht weniger
scharf: »Das ist die zum Lachen armselige literarische Vertretung der deutschen KP: Rote Kinder-
fähnchen über einer Wirklichkeit, die man nicht kennt, der man mit Schmockphrasen aus dem
Wege geht. Wer wundert sich da politisch noch über was?« (S. 617) Die für das Schicksal der
Weimarer Republik schwerwiegende Spaltung der Arbeiterklasse fand in diesen Polemiken zwischen
Hnksbürgerlichen und kommunistischen Autoren ihren Widerhall. Dabei schien nicht mehr
wichtig, was die Literatur zu sagen hatte, sondern wem sie gehörte und wem sie diente.

Die Wendung gegen die Moderne


»Eine Zeit ist immer ein Durcheinander verschiedener Zeitalter«, schrieb Alfred Döblin 1924 in

seinem Essay Der Geist des naturalistischen Zeitalters, »ist große Abschnitte hindurch undurchgo-
ren, schlecht gebacken, trägt Rückstände anderer Kräfte, Keime neuer in sich.« (S. 163) Döblins
Modell des kulturellen Modernisierungsprozesses, das die später (1932) von Ernst Bloch entwik-
kelte These von der »Ungleichzeitigkeit« der deutschen Kultur vorwegnimmt [27], beschreibt den
grundlegenden und immerwiederkehrenden Konflikt zwischen der modernen, d.h. technisch-
industriellen Zeitströmung, »die die Großstädte umbaut, ganze Staaten zu Großstädten macht«,
und der viel älteren Kraft des »Ländlichen«: »Der technische Impuls [. . . ] berührt den ländlichen,
Einleitung XXXIX

sucht ihn zu verdrängen, zum mindesten zu überschatten. Aber das Ländliche hat, wie das
Humanistische und Mönchische, enorme Kraft, eben die des Gewachsenen, auch des Älteren,
Bestehenden, die Schwerkraft der Tradition. Es ist in gewisser Hinsicht für den neuen Impuls
unerreichbar; denn das Ländliche bewegt sich und lebt in einer anderen Sphäre des Gruppentiers.«
(S. 163) Das Ländliche, zu dessen Umkreis Döblin auch das Nationale, Völkisch-Rassistische - »Die
sehr alten Worte Rasse und Blut beschäftigen die Großstädter« (ebd.) - und das Mystische zählt,

läßt sich seiner Theorie zufolge auch in Zeiten der Modernisierung nicht besiegen, nur unterdrük-
ken, verdrängen, beiseite schieben. Diesem Modell nach bestand die Weimarer Kultur aus zwei
Kulturen: einer programmatisch modernen, avantgardistisch-intellektuellen Großstadtkultur und
einer bewußt anti-modernen, thematisch wie stilistisch rückwärtsgewandten, volkstümlich-
völkischen Blut- und Bodenkultur. Aus der Perspektive der sich unterdrückt fühlenden völkisch-

nationalen Kultur befand sich die »offizielle« Literatur der Weimarer Republik in den Händen einer
volksfremden Berliner Clique von wurzellosen Asphaltliteraten, die sich anmaßten, die »deutsche«
Literatur zu repräsentieren. »Der deutsche Schriftsteller verbittet sich Ihre Vertretung«, schrieb

der völkische Schriftsteller Walter Bloem an Heinrich Mann, als dieser 1932 auf dem Amster-
damer Antikriegskongreß im Namen der deutschen Schriftsteller sprach (S. 526).

Der Machtkampf zwischen den beiden Kulturen spaltete auch die Sektion für Dichtkunst an der

Berliner Akademie der Künste. Als im Jahre 1931 die völkischen Schriffsteller Wilhelm Schäfer,

Emil Strauß und Erwin Guido Kolbenheyer demonstrativ aus Protest gegen die Berliner »Litera-
ten« aus der Dichterakademie austraten, nannte Döblin diese Dichter verächtlich »überzeidiche

Fabrikanten von Ewigkeitswerten« und »Orphiker, die die Kunst der Pythia einatmeten«. (S. 102)
Der ins Journalistische und Politische ausgreifende Literaturbegriff der »Modernen« und »Zeitge-
mäßen« kollidierte mit der (Döblin zufolge) unzeitgemäßen »Kunst der Scholle, des sehr platten
Landes«. Die hier auf die Spitze getriebene Arroganz der Großstadt gegenüber der (angeblich)
zurückgebliebenen Provinz bestärkte die Ressentiments der Schriftsteller im Reich gegen die
Berliner »Asphaltliteraten«. »Es ist heute eine für die deutsche Kultur entscheidende Frage«,
schrieb Wilhelm Stapel, der einflußreiche Herausgeber der Zeitschrift Das Deutsche Volkstum,
1930 in seinem Aufsatz Der Geistige und sein Volk, »ob die deutsche Landschaft sich die
Anmaßungen und Frechheiten der Berliner Geistigkeit gefallen läßt.[. . . ] Der Geist des deutschen
Volkes erhebt sich gegen den Geist von Berlin. Die Forderung des Tages lautet: Aufstand der
Landschaft gegen Berlin.« (S. 509 f.) Bereits 1919 hatte der schwäbische Dichter Ludwig Finckh
gefordert: »Dem Geist von Berlin muß ein anderer entgegengestellt werden, der Geist von
Deutschland!« (S. 15) Der Haß auf Berlin als Ort der Industrialisierung, des Kapitalismus und der
wesdich-undeutschen Kultureinflüsse war ein Integrationsfaktor für die antimodernen Ressenti-
ments der Heimatkunstbewegung seit der Jahrhundertwende gewesen und brauchte in der
Weimarer Republik nur neu aktiviert zu werden.
In dem nationalistischen Klima des Ersten Weltkrieges sind Begriffe wie Volkstum, Heimat,

Deutschtum und nationale Volksgemeinschaft politisch und emotional auf eine Weise aufgeladen
worden, daß sogar die militärische Niederlage als Verrat und »Dolchstoß« landfremder und
antideutscher Elemente erklärt werden konnte. In der Weimarer Republik wurde auf der völkisch-
national-konservativen Seite zwischen dem deutschen Volkstum und dem wesriichen, d.h. >undeut-
XL Einleitung

schen< Staatsgebilde der parlamentarischen Demokratie streng unterschieden. So behauptete


Adolf Bartels 1920: »Mit dem Fall des Kaisertums, der Zerstörung des Bismarckschen Verfassungs-
werkes ist für uns der dem deutschen Volksuim entsprechende Staat zugrunde gegangen; was an
seine Stelle getreten ist, ist durchaus kein deutscher Volksstaat, sondern ein kosmopolitisches
Gebilde, das das deutsche Volkstum nur endgültig zugrunde richten kann.« (S. 528) Die politischen
und wirtschaftlichen Probleme, die der Republik aufgrund des vom Kaiserreich angezettelten

Krieges erwuchsen, machten es den Völkischen leicht, den demokratischen Staat als dem deut-
schen Volke unangemessen zu denunzieren. So ist es nur natürlich, daß, auch alle kulturellen

Modernisierungsbestrebungen als »wesdiche« Unterminierung des deutschen Volksmms bekämpft


werden mußten.
Der Begriff »völkisch« - bis in die Nazizeit ein gängiges Schlagwort für antimoderne Vorstel-
lungsinhalte - bezeichnete in der Weimarer Republik die Gebundenheit an Blut und Boden und
implizierte den Glauben an die Überlegenheit der deutschen Rasse über die jüdische. Das in den
Nachkriegsjahren überall herrschende Gefühl der Unsicherheit, Paranoia und Verfolgungsangst
bildete den psychologischen Nährboden, auf dem völkisch-nationalistische und antisemitische
Propagandaliteratur gedeihen konnte. Vor allem der in der Inflation offen zutagetretende Bankrott

des wesdichen Kapitalismus und Materialismus führte zu einem Anschwellen einer vielgelesenen
Massenliteratur, in der die herkömmlichen Werte eines präkapitalistisch-feudalistischen, bäuerH-

chen urdeutschen Volkstums propagiert wurden. Diese völkische Groschenliteratur erfüllte die

Lesebedürfnisse einer großen Masse von verarmten Kleinbürgern, Arbeitern und Bauern, die
durch die Folgen des Krieges und der Inflation verunsichert worden waren und der modernen
industriellen Massengesellschaft fremd und feindlich gegenüberstanden. Die völkische Massenlitera-
tur spiegelte ihnen eine heile, ländlich-archaische, hierarchisch geordnete Welt vor, unberührt von
Großstadt, Technik, Judentum und Geldwirtschaft, angesiedelt in mythischer Geschichtslosigkeit.
Sie schürte die bereits latent vorhandenen Ressentiments sowohl gegen die Übel der kapitalistisch-

liberalen Industriegesellschaft wie auch gegen die sogenannte wertzersetzende »kultur-


bolschewistische Ausländerei« der zeitgenössischen Großstadtliteratur und plädierte für die Rück-
kehr zur Scholle, zum Deutschtum und zur Volksgemeinschaft. Auf diese weit verbreitete und
massenhaft gelesene antidemokratische und antiliberale Literatur, die aus den wirtschaftlichen
Ängsten und den utopischen Sehnsüchten ihrer Leser Kapital zu schlagen wußte, haben sich dann
die NationalsoziaUsten gestützt; sie wurde von ihnen zur »offiziellen« Literatur aufgewertet.

Innerhalb der völkischen Literaturbewegung nahm in der Nachkriegs- und Inflationszeit beson-
ders der Umfang der antisemitischen Massenliteratur zu. Da die wirtschaftlichen Ursachen des
Inflationsprozesses den Betroffenen in der Regel unverständlich blieben, lag es nahe, die Schuld an

der Geldentwertung und der allgemeinen wirtschafdichen Misere einem Sündenbock anzulasten.
Der Haß auf die Juden als die angeblichen Urheber der Inflation, den die völkisch-nationalistische
Presse schürte, schlug angesichts der sich verschlechternden ökonomischen Situation schon 1920
in Vernichtungsphantasien um. So hieß es im Völkischen Beobachter am 10. März 1920: »Es muß
ganze Arbeit gemacht werden. Die Ostjuden müssen unverzüglich hinausgeschafft werden, gegen
alle übrigen Juden muß sofort mit rücksichtslosen Maßnahmen vorgegangen werden. Solche
Maßnahmen wären z.B. Einführung von Judenlisten in jeder Stadt bzw. in jeder Gemeinde,
Einleitung XLI

sofortige Entfernung der Juden aus allen Staatsämtern, Zeitungsbetrieben, Schaubühnen, Licht-
spieltheatern usw. - kurz gesagt - es muß dem Juden jede Möglichkeit genommen werden,
weiterhin seinen unheilvollen Einfluß zu üben. Damit die beschäftigungslosen Semiten nicht
insgeheim wühlen und hetzen können, wären sie in Sammellager zu verbringen. Man wende nicht
ein, daß solche Maßnahmen undurchführbar sind. Das deutsche Volk, das 4 Vi Jahre lang gegen
eine Welt von Feinden siegreich [sie!] gewesen ist, wird jede Stunde trotz allem noch die Kraft
haben, sich von dem jüdischen Gift zu befreien.« [28] Die Vorstellung der völkischen Antisemiten
vom »jüdischen Gift«, das in den gesunden deutschen Volkskörper eingedrungen sei und ihn von
innen heraus zersetze, fand nicht nur in der völkischen Presse und Groschenliteratur massenhafte
Verbreitung, sondern wurde auch in der Nachfolge der antisemitischen Schriften Gobineaus und
Chamberlains in zahlreichen pseudogelehrten Abhandlungen und Debatten öffendich vertreten.

Der Kampf gegen den jüdischen »Antigermanismus« und Internationalismus wurde in der Weima-
rer Republik noch weitgehend in der kulturellen Sphäre ausgetragen. Auf die Beteuerungen der
»literarischen Antisemiten« wie Hans Blüher und Wilhelm Stapel, mit ihren Schriften nicht die

physische Mißhandlung der Juden zu wollen, erwiderte Carl von Ossietzky am 19. Juli 1932: »Die

Herren vergessen den Zeithintergrund und welche Resonanz sie finden können. Heute braucht

sich kein schwachnerviger Skribler selbst zu bemühen. Ein gutgezieltes Wert genügt, um Hände in
Bewegung zu bringen. In dieser Zeit liegt viel Blutgeruch in der Luft. Der literarische Antisemitis-

mus liefert nur die immateriellen Waffen zum Totschlag.« (S. 542)
Die nationale Identitätskrise nach dem verlorenen Krieg und dem als nationale Schmach
empfundenen Versailler Friedensvertrag führte zu einem Wiedererstarken der pessimistischen
Kulturkritik, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert gegen Modernität, Rationalismus und
Materialismus gewandt hatte. Verhieß Julius Langbehn um 1890 in seinem weitrezipierten Buch
Rembrandt als Erzieher ein ganzheidiches, der modernen Fragmentierung entgegengesetztes,

restauratives Lebensideal, so verkündete Moeller van den Brück um 1923 seine Vision von einem
ganzheidichen NationemdtdX. Sein Buch mit dem Titel Das dritte Reich (1923) ersehnt ein
erneuertes, geeintes Deutschland, das sowohl revolutionär (in seinem drängenden Impuls, den

schändlichen Status quo zu ändern und den dekadenten Westen zu besiegen) als auch konservativ-
deutschvölkisch in seiner ideologischen Ausrichtung ist. Die Deutschlandphantasien der »Konser-
vativen Revolution« - auch Hofmannsthals und Ernst Jüngers Entwürfe zählen dazu - entbehren
einer konkreten Analyse des realpolitisch Machbaren; stattdessen ästhetisieren sie die Politik.

Angeekelt von dem parlamentarischen, langweiligen Kompromiß- und Zweckdenken, von dem
chaotischen und kleinlichen Kampf der Partei-und Interessengruppen untereinander, entwarf
Moeller van den Brück die literarische Utopie einer elitär-ständestaadichen, deutschvölkischen
Schicksalsgemeinschaft, in der die Gegensätze zwischen Stämmen, Konfessionen und Klassen
aufgehoben sein sollten. Diese rückwärtsgewandte Vision fungierte als ein durchaus politisch
gemeinter Gegenentwurf zum pluralistischen System der Republik, die 1923, als Das dritte Reich
publiziert wurde, durch Ruhrkrise, Hyperinflation und Hider-Ludendorff-Putsch kurz vor dem
Zusammenbruch stand. Die Konservative Revolution war nicht nur ethisch-ästhetische Reaktion
auf die »Entzauberung der Welt« (Max Weber), auf ihre Rationalisierung, Mechanisierung und
Technisierung, sondern auch Sammelbecken für die junge intellektuelle Kriegsgeneration, die in
XLII Einleitung

zahlreichen, jungkonservativen Zeitschriften (Arminius, Standarte, Der Vormarsch, Die Kommen-


den, Der Ring, Europäische Revue, Der Widerstand und Die Tat) einen neuen Nationalismus
propagierte, der sich von dem deutschtümelnden und antisemitischen Nationalismusbegriff der

Völkischen und Nationalsozialisten programmatisch abhob. Zentral für diesen neuen Nationalis-
mus war dabei das Kriegserlebnis von 1914, als eine geeinte Volksgemeinschaft - selbst Klassenun-
terschiede schienen aufgehoben - heroisch in den Krieg zog. So schrieb Ernst Jünger, der

Hauptvertreter dieses neuen Soldatischen Nationalismus: »Der Krieg ist unser Vater, er hat uns
gezeugt im glühenden Schöße der Kampfgräben als ein neues Geschlecht, und wir erkennen mit
Stolz unsere Herkunft an. Daher sollen unsere Wertungen auch heroische, auch Wertungen von
Kriegern und nicht solche von Krämern sein, die die Welt mit ihrer Elle messen möchten. Wir
wollen nicht das Nützliche, nicht das Praktische und nicht das Angenehme, sondern das Notwen-
dige - das, was das Schicksal will.« [29] Der Appell an das Elementare und Schicksalhafte, an das

Absolute und Mythische ist rebellische Antwort auf die »graue Republik« (Tucholsky) und ihre

prosaische Form der Regierung, die Jünger 1929 wie folgt kommentierte: »Unsere Großväter
durften ihre angesäuerten Ideale verwirklichen, aber dieser Rock war zu billig, zu sehr 48er
Konfektion, um dauerhaft zu sein. Es besteht in der Jugend die Auffassung, daß die Revolution
nachgeholt werden muß.« [30] Die Revolution selbst versteht Jünger in seinem programmatischen
Aufsatz über den »Neuen Nationalismus« als einen mythisch überhöhten Totalaufstand des
Elementaren gegen das Bürgerlich-Moralische, Demokratische und Zivilisatorische: »Wir überlas-
sen die Ansicht, daß es eine Art Revolution gibt, die zugleich die Ordnung unterstützt, allen

Biedermännern. Was hat denn das Elementare mit dem Moralischen zu tun? Dem Elementaren
aber, das uns im Höllenrachen des Krieges seit langen Zeiten zum ersten Male wieder sichtbar

wurde, treiben wir zu. Wir werden nirgends stehen, wo nicht die Stichflamme uns Bahn geschla-
gen, wo nicht der Flammenwerfer die große Säuberung durch das Nichts vollzogen hat. Wer das
Ganze leugnet, der kann nicht aus den Teilen Früchte ziehen. Weil wir die echten, wahren und
unerbitüichen Feinde des Bürgers sind, macht uns seine Verwesung Spaß. Wir aber sind keine

Bürger, wir sind Söhne von Kriegen und Bürgerkriegen, und erst wenn dies alles, dieses Schauspiel
der im Leeren kreisenden Kreise, hinweggefegt ist, wird sich das entfalten können, was noch an
Natur, an Elementarem, an echter Wildheit, an Ursprache, an Fähigkeit zu wirklicher Zeugung mit
Blut und Samen in uns steckt. Dann erst wird die Möglichkeit neuer Formen gegeben sein.« [31]

Jüngers elitäre Verachtung aller bürgerlich-liberalen Wertmaßstäbe zugunsten ungebrochener,


elementarer Natur ist eine ins Extrem getriebene ästhetische Pose, die von Visionen anarchisti-

scher Gewalt, von Untergang und Apokalypse fasziniert ist. Der Krieg, als Instrument der Überwin-
dung der verhaßten bürgerlich-liberalen Zivilisation glorifiziert, bedeutete für ihn auch das Ende
des Rationalismus: »Was unsere Literaten und Intellektuellen darüber zu sagen haben, ist für uns

ohne Belang. Der Krieg ist ein Erlebnis des Blutes, daher ist nur das von Bedeutung, was Männer
über ihn zu sagen haben.« [32] Wie in der bürgerlich-antibürgerlichen Literatur des Symbolismus
und des Lebenskultes (aber auch des Surrealismus) wird bei Jünger der Welt des Bürgertums eine
vitalistisch-irrationale »Ästhetik des Schreckens« [33] entgegengesetzt. Die zunächst in der Phanta-
sie gesellschafdich marginalisierter, elitärer Künsder entworfenen »literarischen« Visionen einer

Welt ohne bürgerlichen Liberalismus, bürgerliche Toleranz und Kompromißbereitschaft haben


Einleitung XLIII

nach 1933 - über die Intentionen dieser Künsder hinausgehend - konkrete Gestalt angenommen.
Jüngers analytisch-modernistischer Antiranonalismus ist allerdings streng von dem programma-
tischen Antiintellektualismus der völkisch-nationalsozialistischen Bewegung abzuheben. Friedrich

Sieburg hat polemisch darauf hingewiesen: »Wenn ich Adolf Hitler wäre«, schrieb er am 30.

November 1930 in der Frankfurter Zeitung, »würde ich allen Leuten, die zum Hakenkreuz beten,

die Abfassung literarischer Werke und überhaupt jegliche Beteiligung am deutschen Literaturtrei-

ben streng untersagen. Blut ist dicker als Tinte, und es ist den Bürgern des Dritten Reiches
angemessener, ihren Landsleuten von heute über den Schädel zu schlagen, als solche Taten in

epischer Form zu beschreiben und sie als das ethische Ideal, das sie zu sein scheinen, der Dichtung
einzuverleiben.« (S. 582) Tatsächlich lag der Massenappeal der Hirierbewegung nicht im geschrie-
benen Wort, sondern in der direkten Aktion: im »Kampf um die Straße« durch SA-Schlägertruppen
(schon ab 1926 wurden mißliebige Theateraufführungen gesprengt, s. S. 573 ff.), im Pomp der
Aufmärsche und Umzüge, im Zeremoniell der Parteitage mit Braunhemden und Militärkapelle
und schließlich in der Suggestionskraft der Hitlerreden. Hirier selbst hatte bereits 1925 in Mein
Kampf eine sowohl wirkungsästhetisch wie werbepsychologisch ausgeklügelte »Theorie« des
gesprochenen Wortes entworfen, die sowohl seine Verachtung der »femininen« Massen als auch
die bewußte Manipulation, die die politische Rede zum theatralischen Auftritt verkommen ließ,

zum Ausdruck bringt. Massenpsychologisch gesehen war der Nationalsozialismus keine Partei,

sondern eine Bewegung, die eben diejenigen Wählermassen auffing, die ihr Vertrauen in das
parlamentarische Parteiensystem verloren hatten. Der vitalistisch-irrationale Aktionismus dieser
Bewegung, der mit öffemlich eingesetzten Terrortaktiken Widerstand von vornherein einschüch-
terte, ließ die öffentlichen Warnungen der Schriftsteller gegen den Faschismus ins Leere laufen.
Thomas Manns rationales Plädoyer für die Sozialdemokratie (S. 579 ff.), Heinrich Manns zweck-
optimistische Hoffnung auf die Vernunft des Bürgertums (S. 592 ff.), Walter Mehrings brillant

satirische Abfertigung von Hiders Schreibstil (S. 576 ff.) und Lion Feucht\\'angers defätistischer

Aufruf von 1931 an die deutschen Schriftsteller, sich aufs Exil vorzubereiten (S. 590 f.): all dies

waren ohnmächtige intellektuelle Reaktionen auf eine antiintellektuelle Massenbewegung.


Eine zentral organisierte nationalsoziaUstische Kulturpolitik nahm erst ab 1929 Gestalt an, als

die ursprünglich von Alfred Rosenberg, Heinrich Himmler und Gregor Strasser gegründete
»Nationalsozialistische Gesellschaft für deutsche Kultur« in den »Kampfbund für deutsche Kul-

tur« umgewandelt wurde. Ziel des sich geschickt überparteilich präsentierenden, heimlich aber

von der NSDAP geleiteten Kampfbundes war es, »inmitten des heutigen Kulturverfalls die Werte
des deutschen Wesens zu verteidigen und jede arteigene Äußerung kulturellen deutschen Lebens
zu fördern.« (S. 549) Das bedeutete gezielte Verfolgungs- und Denunziationskampagnen gegen die
»Abfälle einer Großstadtzivilisation«, wie sich Goebbels 1931 ausdrückte (S. 552) und Kampf
gegen den sogenannten linken »Kulturbolschewismus« in Literatur, Film, Theater und Schule. [34]
Bereits 1930 bestand in Thüringen Gelegenheit, die zukünftige nationalsozialistische Kulturpolitik

in Aktion zu sehen. Dort wurde in den Landtagswahlen vom 8. Dezember 1929 der nationalsoziali-
stische Regierungsabgeordnete Wilhelm Frick zum Innen- und Volksbildungsminister gewählt.
Innerhalb kürzester Zeit und in beständiger Rücksprache mit Hider und der NSDAP hatte er mit

Hilfe von Notverordnungen im »Kampf gegen marxistische Verelendung« sämdiche Beamtenstel-


XLIV Einleitung

len (einschließlich der Polizei) mit Parteigenossen besetzt, Schulen von mißliebigen Lehrern
»gesäubert«, Bücher verboten und Theaterspielpläne überwacht. Aufsehen erregte im Reich sein

im April 1930 veröffentlichtes Kulturprogramm mit dem Titel »Wider die Negerkultur für

deutsches Volkstum«. Ganz im Sinne der nationalsozialistischen Hetzpropaganda polemisierte er


gegen moderne, kosmopolitische Kunst, da sich dort »in steigendem Maße fremdrassige Einflüsse«
geltend machten, die die »sittlichen Kräfte des deutschen Volkstums zu unterwühlen geeignet«
seien. [35] Obwohl Frick bereits nach einem Jahr wegen seiner illegalen Notverordnungen das
Vertrauen entzogen worden ist, demonstrierte das nationalsozialistische Interregnum doch unmiß-
verständlich, daß im Namen des deutschen Nationalismus Kulturterror gegen die »undeutschen«
Linken mit dem (wenn auch passiven) Einverständnis der kulturtragenden bildungsbürgerlichen

Bevölkerung ausgeübt werden konnte. In ihrem fanatisch geführten Kampf gegen den »kulturellen
Niedergang« Deutschlands hatte die NSDAP bereits am 12. März 1930 im Reichstag ein »Gesetz

zum Schutze der Nation« vorgelegt, dessen § 4 lautete: »Wer es unternimmt, deutsches Volkstum
und deutsche Kulturgüter, insbesondere deutsche Sitten und Gebräuche zu verfälschen oder zu
zersetzen oder fremdrassigen Einflüssen auszuliefern, wird wegen Kulturverrats [. . . ] mit Zucht-
haus betraft.« [36] Am 28. Februar 1933, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, diente dieser
Gesetzentwurf als Notverordnung, aufgrund derer kommunistische und staatsfeindliche Schriftstel-

ler und Intellektuelle verhaftet wurden. Vernichtung aller geistigen Opposition war auch das
Motiv der Bücherverbrennungen, die am 10. Mai 1933 in allen deutschen Universitätsstädten
stattfanden und das Ausmaß des kommenden Kulturterrorismus ahnen ließen.

Der Rückzug in die Innerlichkeit

Am 19. April 1930, ein halbes Jahr etwa nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und bereits ein

halbes Jahr vor &tm entscheidenden Wahlerfolg der Nationalsozialisten am 14. September 1930,
prophezeite Herbert Ihering: »Niemand zweifelt daran, daß eine Kulturreaktion heraufzieht,
deren Ausdehnung und Dauer nicht abgeschätzt werden kann. Diese Kulturreaktion kommt nicht
kämpfend. [. . . ] Nein, der Umschwung vollzieht sich allmählich. Unmerkbar ändern sich die

Vorzeichen. Unsichtbar lagern sich die Begriffe um. Es ist nichts anderes, als ein langsamer und
vorsichtiger Klimawechsel.« (S. 657) Unübersehbare Anzeichen dieser »Tendenzwende« waren die
zunehmend stärker hervortretenden selbstkritischen Stimmen, die sich programmatisch von den
modernistischen Strömungen der 20er Jahre distanzierten. »Schluß mit der Neuen Sachlichkeit«

forderte Joseph Roth, ursprünglich einer der eifrigsten Verfechter des neusachlichen Stils, bereits

im Januar 1930. Während im Literaturbetrieb der Zeit Reportageromane, dokumentarische

Theaterstücke und die sogenannte Gebrauchslyrik noch Konjunktur hatten, polemisierte Roth
vehement gegen die opportunistischen Epigonen der dokumentarischen Literatur, gegen die
Kommerzialisierung und Trivialisierung des Kulturlebens und gegen die Politisierung der Literatur.
Der lyrikfeindliche »sachliche« Stil, literarisches Äquivalent zum technisch-industriellen Funktiona-
lismus, wurde um 1930 als undichterisch zurückgewiesen, die sozialkritische Thematik als »bloß
radikale Geste« diskriminiert: »[...] dieses Chaos aus piscatorbegeisterten Börsianern, hysteri-

schen Kunstgewerblerinnen, >radikalen< Boulevardfeuilletonisten, geschäftstüchtigen Theatergrund-


stückschiebern und schlotternden greisen Pressekritikern mit der einen Angst, sie könnten hinter
Einleitung XLV

der >brausenden Jugend<, hinter der >Front der Zeit< zurückbleiben: das alles muß nun bald in die
nächste Abfallgrube versenkt werden.« (S. 660) Diese scharfe Selbstkritik unter dem Titel Restaura-
tion stammt von Willy Haas, dessen Zeitschrift Die literarische Welt selbst wesentlich zur Betrieb-
samkeit der Literaturszene der zwanziger Jahre beigetragen hatte. »Die Zeit der Experimente und
Extreme ist vorüber«, schrieb Heinz Liepmann 1930 (S. 663) und Otto Rombach berichtete 1931

von Verlagen, die »sich nicht mehr getrauen, ihre angenommenen Bücher auf den Markt zu bringen«
und von Theatern, die »Dutzende von Stücken liegenlassen«: »Genau so, wie vor wenigen Jahren
die Politisierung der deutschen Öffendichkeit gefordert wurde, womit die Schulen und Hochschu-
len, Film, Theater und Buch alarmiert wurden, genau so ergeht heute der Ruf nach Entpolitisie-
rung.« [37] Auch Hans Günther versteht in seinem Essay Die Kunst von morgen das Jahr 1930 als

Wendepunkt: »Heute ist das Thema: Die Masse, das Geschrei. Das Ziel: Dokument. Morgen wird
das Thema sein: das Innen, das Ich, die Stille. Das Ziel: Gestaltung.« Und kritisch fügt er hinzu:

»Die Literaten, pfiffig und immer behende, werden sicherlich bald >in Gefühl machen<, wie sie

bisher in Sachlichkeit machten [. . . ]«. [38] Im Mai 1932 spricht dann Walther Karsch bereits von
einer »uneingestandenen Akklimatisierung [der Schriftsteller; A. K.] an den Faschismus« und von
ihrer »Flucht in das Reich der >Innerlichkeit<«. (S. 672 f.)
Der bewußte Rückzug aus der Politik war Ausdruck der Ohnmacht der Intellektuellen gegen-

über wirtschafdichen und politischen Prozessen, die sie weder durchschauen noch beeinflussen
konnten. Die unmittelbaren Folgen der Weltwirtschaftskrise - Massenarbeitslosigkeit und materi-
elle Existenznot auch bei den geistigen Berufen, Abbau alter Privilegien und die reale MarginaHsie-
rung des geistigen Lebens gegenüber dem materiellen - wurden von den Schriftstellern nicht
ökonomisch oder poHtisch, sondern als Symptom einer tieferliegenden Kulturkrise interpre-
tiert. [39] Der Zusammenbruch der Wirtschaft erschien ihnen als Kulmination blind-rationalistischer
Modernisierung und als Ausdruck einer allgemeinen Sinnkrise. Der materielle, technokratische

Geist, der noch in der Stabilisierungsphase als »sachlich« und »modern« gepriesen wurde, galt nun
als der Urheber allen Übels. Je mehr sich die »modernen« Autoren der Neuen Sachlichkeit der
gesellschaftlichen und kulturellen Folgen einer konsequenten, letztlich vor allem großindustriell-

technokratischen Interessen dienenden Modernisierung bewußt wurden, revidierten sie ihre

pro-modernen Positionen und zogen sich allmählich aus dem Bereich der Politik in ein Reich des
Mythos, der Religion, der Natur und der Innerlichkeit zurück. [40]

Mit dem Verlust des Glaubens an eine Veränderbarkeit und Verbesserung der Zustände starben
nach 1929/30 auch die für die Weimarer Republik epochentypischen sozialaufklärerisch-
aktivistischen Impulse ab, jedenfalls in der bürgerlich-liberalen Literatur der nicht parteigebunde-

nen Autoren. (Sowohl die nationalsozialistischen als auch die kommunistischen Autoren reagier-

ten auf die restaurative Kulturkrise dezisionistisch mit verstärkter Agitation). Den herrschenden
Gefühlen der Angst und Verunsicherung entspricht auch das Populärwerden der existenzialisti-

schen Philosophie - Heideggers Sein und Zeit erschGini 1927, Jaspers' Philosophie 1932 - und die
Zunahme kulturpessimistischer Prognosen wie Sigmund Freuds Essay Das Unbehagen in der
Kultur (1929) [41] und Ortega y Gassets Der Aufstand der Massen (1930). •

Im Literarischen setzte sich um 1930 ein im Formalen wie Thematischen rückwärtsgewandter


Traditionalismus durch, der vor allem der Lyrik zugute kam. So sammelten sich um die Zeitschrift
XLVI Einleitung

Die Kolonne, die 1929 in Dresden gegründet wurde, junge Lyriker, darunter auch Autoren wie
Günter Eich, Peter Huchel und Horst Lange, die erst nach dem »Nullpunkt« 1945 zur Prominenz
gelangten. Ihr Programm plädierte für eine Poesie, die sich von der Politik zurückzog und sich
distanzierte von dem »Getriebe der Großstadt« und von der Neuen Sachlichkeit, »die den Dichter
zum Reporter erniedrigte und die Umgebung des proletarischen Menschen als Gefühlsstandard
modernen Dichtens propagierte«. (S. 674) Aus Abneigung gegen alle Formen parteipolitischen

Engagements negierten die jungen Lyriker der Kolonne jeglichen öffendichen Anspruch der
Dichtung und betonten stattdessen polemisch wie Gottfried Benn[42] das gesellschaftliche
Enthobensein ihrer Gedichte. »Der Lyriker entscheidet sich für nichts«, schrieb Günter Eich
1932, »ihn interessiert nur sein Ich, [. . . ] für ihn existiert nur das gemeinschaftslose vereinzelte
Ich.« (S. 687) Die scharfe Trennung zwischen privater und politisch-öffendicher Sphäre, die hier
zum Ausdruck kommt, ist Folge der gesellschafdichen Marginalisierung des Dichters in der

Weimarer Republik. Das Medium der Literatur bot ihm einen Ort freier Innerlichkeit, auch einen
Ort des passiven Widerstands gegen den Industriestaat. Die sozialkritische Reportage wurde nun
zugunsten dichterischer Introspektion zurückgewiesen, die fragwürdig gewordene Fortschritts-
gläubigkeit zugunsten des ewigen Kreislaufs der Natur: »Aber noch immer leben wir von Acker
und Meer«, steht 1929 in der Kolonne, »und die Himmel, sie reichen auch über die Stadt. Noch
immer lebt ein großer Teil der Menschheit in ländlichen Verhältnissen, und es entspringt nicht

müßiger Traditionsfreude, wenn ihm Regen und Kälte wichtiger sind als ein Dynamo, der nie das
Korn reifte«. (S. 674) Die Hinwendung zur Natur und zum Bäuerlich-Ländlichen erfolgte aus

einem antipolitischen und antimodernen Impuls heraus. Besonders die Abwertung der Maschine
(»Dynamo«) gegenüber dem organischen Reifeprozeß zeigt die antitechnische Tendenz dieses
agrar-romantischen Naturgefühls. Die Natur galt als der Bereich, in dem das Gesellschafdiche und
Politische ausgespart war. So schrieb Horst Lange Mitte 1933 bereits rückblickend auf die letzten

Jahre der Weimarer Republik: »Wohin sollte die Jugend sehen, wonach sollte sie sich während des
demokratischen Interregnums, in das ihre Wendung zur Selbständigkeit fiel, richten? Nichts -

außer der Natur: den Zeichen, die die Jahreszeiten auf die Erde schreiben, der unabändedichen
Wiederkehr des Gleichen in der Landschaft schien noch beständig zu sein.« (S. 677)
Die aufgrund der Krisenerfahrung der Großen Depression um sich greifende Fortschrittsskepsis
und Zukunftsangst haben zu einer Aushöhlung des historischen Bewußtseins und einem Wiederer-
starken mythologischer und chrisdicher Denkweisen geführt. Jenseits der im Verfall begriffenen,

allzu vergänglichen zeitgenössischen Werte und Normen hofften die Schriftsteller, neue absolute
Bindungen vorzufinden; Mythos und Religion sollten die Verzweiflung an der Geschichte und die
rationalistische Zersetzung des Lebens überwinden helfen. [43] Aufgabe des Dichters der Gegen-
wart sei es, meinte Werner Bergengruen 1932, sich um »ewige Ordnungen« zu kümmern und um
die »Aufrichtung archetypischer Standbilder«. (S. 682) Ernst Wiechert forderte 1931 gar, der

Dichter müsse »seine Wurzeln in Gott haben«. (S. 679) Indem die Literatur über die Klassen, Stände
und Gruppen hinweg ins Archetypische und Überirdische vorsüeß, konnte sie zum abstrakten

Träger des Allgemein-Menschlichen werden, ohne daß sie in der konkreten polidschen Auseinan-
dersetzung mit dem Nationalsozialismus oder dem Kommunismus Partei ergreifen mußte.
Diesen epochentypischen Hang zum Mythologischen, Archetypischen, Überindividuellen und
Einleitung
^^^^

Zeitlosen [44] haben sich in vulgarisierter Form die Ideologen und Propagandisten des Nationalso-
zialismus zunutze gemacht. Dem Relativismus setzten sie das Elementare, Absolute und Ewige
entgegen, der Bewußtheit des Verstandes die Unbewußtheit des Blutes, der historischen Veränder-
barkeit der gesellschaftlichen Klasse die Unveränderbarkeit der Rasse. Der in der Weimarer

Republik rapide zunehmenden Fraktionierung des politischen und gesellschafdichen Lebens


wurde das Prinzip des unerbitdichen Führers entgegengehalten. Anders als die Kommunisten, die

in ihren Kampagnen nach 1930 auf die »Wirtschaftsmentalität« [45] der Zeit abzielten, haben die

Nationalsozialisten auf solche »materialistischen« Argumente verzichtet und sie durch ethisch-
ästhetische ersetzt. Ihre Mythologisierung und Totalisierung von Begriffen wie Nation, Germanen-
tum, Heimat und Volk haben nicht nur tiefverwurzelte irrationale Bedürfnisse der kleinbürgerli-
chen Volksmassen befriedigt, sie haben es auch verstanden, die individuellen Krisenerfahrungen in

größere Sinnzusammenhänge einzuordnen (vgl. etwa ihre Erklärungsmodelle »Versagen der


demokratischen Ordnung« und »jüdische Verschwörung«).
Die Anfälligkeit großer Teile der deutschen Bevölkerung gegenüber dem faschistischen Gesell-

schaftsideal erklärt sich nicht zuletzt aus der sogenannten »Hungerpsychose«, d.h. aus ihrer
panischen Angst vor dem sozialen Abstieg in den Jahren der Massenarbeitslosigkeit. Die materielle
Überlebensangst war nicht nur mobilisierende Kraft hinter Phänomenen wie Antisemitismus,
Rassismus und Nationalismus, sondern schuf auch paradoxerweise die Voraussetzungen für das
Bedürfnis weiter kleinbürgerlicher und z.T. proletarischer Bevölkerungsschichten nach Bindung
und Unterordnung: »Heute lechzen wir, uns unseres >Ich< zu endedigen«, heißt es 1932, »werden in

die Uniform schon hineingeboren, wir endedigen uns unserer Seele und kriechen in der Masse
unter. [. . . ] Sinn des Daseins ist nicht mehr Glück und Freiheit des Einzelnen, sondern Ballung in

Rasse, Klasse, Staat. So entwickelte sich jenes Geschlecht, das es liebt, in Reih und Glied zu stehen.
Glück bloß im Massenglauben findet.« (S. 620) Der offensichdiche Identitätszerfall, der hier zum
Ausdruck kommt, ist die Voraussetzung für die spätere bedingungslose Unterwerfung des einzel-
nen Subjekts unter den Willen des Führers und der Partei. Die dafür nötige Selbstentfremdung und
Selbstverleugnung (bis hin zum freiwilligen Selbstopfer) waren lange vor Hider in der Weimarer
Republik erkannt und reflektiert worden: Gottfried Benns Abhandlung Das moderne Ich (1920),
Sigmund Freuds Massenpsychologie und Ichanalyse (1921), Georg Lukacs' Geschichte und Klassen-
bewußtsein (1923), Siegfried Kracauers Ornament der Masse {1926), Ortega y Gassets Aufstand der
Massen (1930) und Ernst Jüngers (kürzHch wiederaufgelegte) kulturkritische Abhandlung Der
Arbeiter (1932) setzten sich alle trotz unterschiedlicher wissenschafdicher und ideologischer
Ansätze und Bewertungen mit der Auflösung des autonomen Individuums im Zeitalter der
technischen Zivilisation auseinander. Was vor diesem historischen Horizont die gegenwärtige
Wiederaufnahme der Diskussion über den Tod des Subjekts bei den Strukturalisten und Poststruk-
turalisten zu bedeuten hat, wird erst die Zukunft erweisen.

1 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften V. l (Das Passagen-Werk). Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.
1982,5.273.
2 Michel Foucault hat in einem kürzlich veröffentlichten Gespräch über das heutige Selbstverständnis der

Intellektuellen zwischen zwei Typen von Intellektuellen unterschieden: den sogenannten »universellen
XLVIII Einleitung

Intellektuellen«, die sich im Besitz universeller Wahrheit wähnen und im Namen aller zu sprechen vorgeben
und den sogenannten »spezifischen Intellektuellen«, die als Techniker oder Wissenschaftler lediglich in
ihrem spezifischen Fachgebiet wirken. {Das Verschwinden des universellen Intellektuellen, in: Frankfurter
Rundschau [27. Juni 1981], auch in: Alternative 119 [April 1978]). - Die Machtverschiebung von der
»universellen« (literarischen) zur »spezifischen« (technischen) Intelligenz, die Foucault für die Zeit nach
dem 2. Weltkrieg ansetzt, fand in Deutschland bereits in der Weimarer Republik statt. Vgl. dazu auch
Alfred Webers Aufsatz Die Bedeutung der geistigen Führer in Deutschland (in: Die Neue Rundschau 29
[1918] Bd. 2, S. 1249-1268), der Foucaults Unterscheidung von »universellen« und »spezifischen« Intellek-
vorwegnimmt.
tuellen
3 Vgl. dazu bes. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen. Berlin 1918. Siehe auch Eckart Koester,
Literatur und und Begründungszusammenhänge des publizistischen Engage-
Weltkriegsideologie. Positionen
ments deutscher Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Kronberg/Ts 1977; Klaus Vondung (Hrsg.), Kriegserlebnis.
Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen
1980.
4 So wurde die Nationalversammlung 1919 nicht in die Flauptstadt Berlin, sondern nach Weimar einberufen.
Damit sollte eine Abwendung von der preußisch-militaristischen Tradition, die von Friedrich II über
Bismarck zum Ersten Weltkrieg geführt hatte, signalisiert werden. Gleichzeitig bedeutete der Auszug nach
Weimar eine Flucht vor der revolutionären Arbeiterschaft in Berlin, in dem Anfang 1919 bürgerkriegsähnli-
che Zustände herrschten.
5 Alfred Döblin (unter dem Pseudonym »Linke Poot«), Neue Zeitschriften. In: A. D., Schriften zur Politik und
Gesellschaft. 84 (Erstveröffentlichung 1919). Vgl. auch Fritz Behns Kommentar zum »Fall
Ölten 1972, S.

Toller« 1919: »Mit einem Wort: Alles ist bei uns Literatur geworden. Das ist die Zeittendenz. Es gibt nur
noch literarische Probleme, keine Taten. [. Dem Literarischen opfern wir alle Grundlagen des öffendi-
. . ]

chen und persönlichen Lebens. Das Literarische zerstört unser Ethos, entgöttert die Welt. [. . . ] Literarisch
war die ganze Revolution bisher - es ist kein Zufall, daß sie fast ausschließlich von landfremden und
jüdischen Literaten inszeniert und gehalten wurde.« (S. 23 f. in diesem Band)
6 Vgl. z. B. die Umfrage Die Not der Dichter in: Deutsche Zukunft. Beilage zur Zeitung Die Post [11. Februar
1920) Nr. 97, an der u.a. Oskar Loerke und Alfred Döblin teilnahmen. Vgl. auch Franz Bleis Essay Das
Ende der Künstler. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 1394 (1920), in dem es heißt: »Zum Segen der Kunst
werden in den allernächsten Jahren zehntausende Künstler, Dichter, Schriftsteller eine Krise erleben, die sie
als Künsder nicht überleben werden, zum Segen der im ungeheuerlichsten Maße obstipierten Kunst, die

zuletzt nur mehr Betrieb war, zumal in Deutschland.«


7 W: Der Fall Kaiser. In: Frankfurter Zeitung (16. Februar 1921) Nr. 123. Vgl. dazu auch Carl Sternheim, Die
stehlenden Dichten In: Das Tage-Buch 3 (19. August 1922) H. 33, S. 1160: »Daß deutsche Dichter jetzt
plündern und stehlen, ist bewiesene Tatsache, die den Mann aus dem Juste milieu nicht mit der Wimper
zucken, keinen Reporter hoffen läßt, mit der Nachricht von eines Schriftstellers Straftat einen Hund vom
Ofen zu locken.«
8 Vgl. Wolfram Göbel, Sozialisierungstendenzen expressionistischer Verlage nach dem Ersten Weltkrieg. In:
Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1. Bd. 1976, S. 185.
9 Wenzel Goldbaum, Die gefährliche Spannung. In: Der geistige Arbeiter 1 (Januar 1921) Nr. 1, S. 5.

10 Heinrich Mann, Das Sterben der geistigen Schicht. In: H. M., Sieben Jahre. Chronik der Gedanken und
Vorgänge. Berlin, Wien, Leipzig: Paul Zsolnay Verlag 1929, S. 98.
11 Alfred Döblin (unter dem Pseud. »Linke Poot«), An die Geistlichkeit. In: Die Neue Rundschau 30 (Juli-

Dezember 1919) Bd. 2, S. 1272.


12 Klaus Mann, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Frankfurt a.M. 1952, S. 131 f. Vgl. dazu auch Heinrich
Manns Beschreibung der Berliner Szene {Berlin 192L\n: B.Z. am Mittag [21. November 1921] Nr. 272):
»Nur nicht mehr neue Zumutungen! Schon gar nicht geistige! In unserer Lage können sämdiche Fähigkei-
ten nur ein Ziel haben: vergessen.«
13 Zit. in: Hermann von Wedderkop, Elans Breitensträter. In: Die Weltbühne 17 (22. September 1921) Nr. 38,
S. 297.
14 Vgl. dazu vor allem Siegfried Kracauer, Ornament der Masse. In: S. K., Das Ornament der Masse. Essays.
Frankfurt a.M. 1963, S. 50-63. (Zuerst als zweiteiliger Essay in der Frankfurter Zeitung vom 9. und
10. Juni 1927). Vgl. auch Helmut Lethen, Neue Sachlichkeit 1924-1932. Studien zur Literatur des »Weißen
Einleitung IL

Sozialismus«. Stuttgart 1970, S. 43-45; Reinhard Kloos/Thomas Reuter, Körperbilder. Menschenornamente


in Revuetheater und Revuefilm. Frankfurt a.M. 1980.
15 Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt a.M. 1971, S. 15 (Erstveröf-
fentlichung 1930).
16 Herbert Ihering, V¥A und Buster Keaton. In: H. I., Von Reinhardt bis Brecht. Bd. 2, Berlin (Ost) 1961, S. 509
(Zuerst 6. Januar 1926).
17 Siegfried Kracauer, Über den Schriftsteller. In: Die Neue Rundschau 42 (Juni 1931) H. 6, S. 861.
18 Vgl. Siegfried Kracauers Essay Reisen, nüchtern in: Frankfurter Zeitung (10. Juli 1932) Nr. 510, in dem er
den geographischen Reisebeschreibungen soziologische »Reisebeschreibungen« gegenüberstellt: »Diese
Expeditionen ziehen nicht nach Afrika oder Asien aus, sondern erforschen das von uns bewohnte Terrain;
sie wenden uns nicht den Rücken zu, sondern verfolgen die Aufklärung des gesellschaftlichen Seins, das
unser Tun und Denken bedingt. Kurzum, es handelt sich hier um jene soziologische Literatur, die immer
mehr in Aufnahme zu kommen scheint. Gebieterische Notwendigkeiten treiben sie hervor Einmal hat sich
die gesellschafdiche Wirklichkeit nicht minder wie die geographische gewandelt und zum andern muß im
Interesse ihrer Neugestaltung mit verdoppelter Anstrengung dem Fluchtwillen begegnet werden, der
wieder und wieder von ihr fortschweift und sie in dichten Nebeln zurückläßt. Diese soziologischen
Expeditionen bemühen Nebel zu zerteilen. Und je wagemutiger sie sind, desto deudicher stellt
sich, diese

sich heraus, daß das scheinbar so vertraute Gebiet, in das sie vorstoßen, jedes exotische an Exotik weit
übertrifft. Sie beweisen uns, daß das Nächste zugleich das Fernste ist; sie sind Entdeckungsreisen in der

genauen Bedeutung des Worts.«


19 Zur Aufwertung literaturpragmatischer Genres in der Weimarer Republik vgl. nun Helmut Kreuzer,
Biographie, Reportage, Sachbuch. Zu den zwanziger Jc^ren. In: Benjamin Bennett,
ihrer Geschichte seit
Anton Kaes, William J. Lillyman (Hrsg.), Probleme der Moderne. Studien zur deutschen Literatur von
Nietzsche bis Brecht. Festschrift für Walter Sokel. Tübmgen 1983, S. 431-458.
20 Thomas Mann, Bücherliste. In: Das Tagebuch 9 (1. Dezember 1928) Nr. 48, S. 2085.
21 Erwin Piscator, Brief an »Die Weltbühne«. In: E.P., Schriften Bd. 2, Aufsätze, Reden, Gespräche. Berlin 1968,
S. 43 (Erstveröffentlichung 1928).

22 Zur Begriffsgeschichte der »Neuen Sachlichkeit« vgl. Jost Hermand, Einheit in der Vielheit? Zur Geschichte
des Begriffs »Neue Sachlichkeit«. In: Keith Bullivant (Hrsg.), Das literarische Leben in der Weimarer Republik.
Königstein/Ts. 1978, S. 71-88. Zur Verwendung des Begriffes in der Literaturdiskussion der Weimarer
Republik vgl. Horst Denkler, Die Literaturtheorie der zwanziger Jahre. In: Monatshefte 59 (1967) S. 305-319;
ders., Sache und Stil. Die Theorie der »Neuen Sachlichkeit« und ihre Auswirkungen auf Kunst und Dichtung.
In : Wirkendes Wort 18(1968)S.l 67- 185; Karl Prümm, Neue Sachlichkeit. Anmerkungen zum Gebrauch des
Begriffs in neueren literaturwissenschaftlichen Publikationen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 91
(1972) 606-616; Bernd Witte, Neue Sachlichkeit. Zur Literatur der späten zwanziger Jahre in Deutschland.
S.

In: Etudes Germaniques 21 (1972) S. 92-99; Harald Olbrich, Die »Neue Sachlichkeit« im Widerstreit der
Ideologien und Theorien zur Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. In: Weimarer Beiträge 26 (Dezember
1980) S. 65-76.
23 Gertrud Alexander (unter dem Pseudonym »G.G.L.«), Herrn John Heartfield und George Grosz. In: Rote
Fahne {9. ]um 1920).
24 Zur Kontinuität der DDR-Literaturtheorie seit Mitte der zwanziger Jahre vgl. die vierbändige Dokumenten-
sammlung Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur (1926-1949) Berlin und Weimar 1979. Vgl.
ferner die Einleitung zu Fritz J. Raddatz, Traditionen und Tendenzen. Materialien zur Literatur der DDR.
Wolfram Schlenker, Das »kulturelle Erbe« in der DDR. Gesellschaftliche Entwicklung
Frankfurt a.M. 1976;
und Kulturpolitik 1945-1965. Stuttgart 1977.
25 Münzenbergs Medienkonzern umfaßte eine bebilderte Arbeiter-Massenzeitung, die heute vor allem durch
die brillanten Fotomontagen John Heartfields bekannte Arbeiter-Illustrierte Zeitung (ab 1924), proletari-
sche Boulevardzeitungen {Berlin am Abend, später in Welt am Abend umbenannt; Berlin am Morgen), eine
proletarische Buchgemeinschaft (»Universum-Bücherei für Alle« mit 40000 Abonnenten um 1932) und
einen eigenen Verlag (»Neuer deutscher Verlag«), der sich auf populäre Sachbücher und politische
Broschüren konzentrierte. Da mit dem Anwachsen seiner eigenen illustrierten Blätter und Magazine der
Bereich der Photographie zunehmend wichtiger wurde, organisierte Münzenberg als Pendant zur Arbeiter-
korrespondentenbewegung eine »Arbeiterfotografenbewegung« mit einer eigenen Zeitschrift [Der
Arbeiter-Fotograf).
L Einleitung

26 Johannes R. Becher, Unsere Wendung. Vom Kampf um die Existenz der proletarisch-revolutionären Literatur
zum Kampf um ihre Erweiterung. In: Die Linkskurve 3 (1931) Nr. 10, S. 6. Weitere Dokumente zu dieser
Auseinandersetzung in: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur Bd. 1 (1926-1935). Berlin
(Ost) und Weimar 1979.
27 Vgl. Ernst Bloch, Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik (Mai 1932), in: E. B., Erbschaft dieser Zeit.
Frankfurt a.M. 1977, S. 104: »Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, daß sie
heute zu sehen sind. Damit leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit,
das mischt sichein.« Bloch meint damit die für die moderne deutsche Geschichte spezifische Gleichzeitig-

keitvon kapitalistisch-modernen und mitgeschleppten vorkapitalistisch-»ungleichzeitigen« Produktions-


verhältnissen und Ideologien. Er übt Kritik an den Kommunisten der Weimarer Republik, weil sie die
emotionalen und irrationalen Bedürfnisse der »ungleichzeitigen« Kleinbürger und Bauern nicht ernstge-
nommen haben, so daß die Nationalsozialisten eben diese Ungleichzeitigkeit weiter Schichten der deut-
schen Bevölkerung propagandistisch verwerten konnten. Vgl. dazu auch Ernst Bloch, Gespräch über
Ungleichzeitigkeit. In: Kursbuch 39 (April 1975) S. 1-9.
28 Anon., Macht ganze Arbeit mit den Juden! In: Völkischer Beobachter (10. März 1920) Nr. 20.
29 Ernst Jünger, Der Aufmarsch. In: Die Standarte 1 (15. April 1926) H. 3, S. 55. Vgl. dort auch: »Wir grüßen
das Blut, das die Schlacht nicht ausgebrannt, sondern in Glut und Feuer verwandelt hat! Was dort nicht

zerstört werden konnte, das wird auch allen anderen Kämpfen gewachsen sein. Wir grüßen die Kommen-
den, in denen sich eine größere Tiefe mit der alten Härte verbinden soll! Der Aufmarsch ist im Fluß, bald
werden die Reihen geschlossen sein. Wir grüßen die Toten, deren Geister mahnend und fragend vor
unserem Gewissen stehen. Nein, ihr sollt nicht umsonst gefallen sein! Deutschland, wir grüßen dich!«
(S.54f.)
30 Ernst Jünger, »Nationalismus« und Nationalismus. In: Das Tagebuch 10 (21. September 1929) H. 38,
S. 1555.
31 Ebd., S. 1556. Jüngers Aufsatz wurde in der darauffolgenden Nummer des Tagebuchs (H. 39 vom 28.
September 1928) vom Herausgeber Leopold Schwarzschild unter dem Titel Heroismus aus Langeweile
kritisiert: »Wie soll die Welt aussehen, wenn diese >Aristokratie von morgen und übermorgen< mit

Flammenwerfern die große Säuberung vollzogen haben wird? Wie sieht eine Welt ohne Langeweile, ohne
Wohlanständigkeit, ohne Humanität, ohne Bürgerlichkeit (in diesem Sinne) aus?« (S. 1589).
32 Jünger, Der Aufmarsch, S. 54.
33 Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers
Erühwerk. München und Wien 1978. Vgl. ferner Karl Prümm, Die Literatur des Soldatischen Nationalismus
der 20er fahre. 2 Bde. Kronberg/Ts 1974; Wolfgang Kaempfer, Ernst Jünger. Stuttgart 1981 (Sammlung
Metzler 201).
34 Das Schlagwort vom »Kulturbolschewismus« ging auch in die Regierungserklärung des Kabinetts von
Papen ein (in: Frankfurter Zeitung v 5. Juni 1932, Nn 413/415). Der Begriff wurde dort wie folgt
umschrieben: »Die Nachkriegsregierungen haben geglaubt, durch einen sich ständig steigernden Staatsso-
zialismus die materiellen Sorgen dem Arbeitnehmer wie dem Arbeitgeber in weitem Maße abnehmen zu
können. haben den Staat zu einer Art Wohlfahrtsanstalt zu machen versucht und damit die moralischen
Sie
Kräfte der Nation geschwächt. Sie haben ihm Aufgaben zuerteilt, die er seinem Wesen nach niemals
erfüllen kann. Gerade hierdurch ist die Arbeitslosigkeit noch gesteigert worden. Der hierauf zwangsläufig
folgenden moralischen Zermürbung des deutschen Volks, verschärft durch den unseligen gemeinschafts-
feindlichen Klassenkampf und vergrößert durch den Kulturbolschewismus, der wie ein fressendes Gift die
besten sittlichen Grundlagen der Nation zu vernichten droht, muß in letzter Suinde Einhalt geboten
werden. Zu tief ist schon in alle kulturellen Gebiete des öffentlichen Lebens die Zersetzung atheistisch-
marxistischen Denkens eingedrungen, weil die chrisdichen Kräfte des Staates zu leicht zu Kompromissen
bereit waren. Die Reinheit des öffendichen Lebens kann nicht auf dem Wege der Kompromisse um der
Parität willen gewahrt oder wiederhergestellt werden. Es muß eine klare Entscheidung darüber fallen,
welche Kräfte gewillt sind, das neue Deutschland auf der Grundlage der unveränderlichen Grundsätze der
christlichen Weltanschauung aufbauen zu helfen.«
35 Wilhelm Fricks ministerieller Erlaß vom 5. April 1930 mit dem Titel Wider die Negerkultur für deutsches
Volkstum ist wiederabgedruckt bei Hildegard Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus. Reinbek
1963, S. 169.
Einleitung LI

36 Zit. n. Dietrich Strothmann, Nationalsozialistische Literaturpolitik. Bonn 1960, S. 66.

37 Otto Rombach, Stildämmenmg. In: Die Literatur 33 Quli 1931) Nr. 10, S. 549. Vgl. dort auch: »Die
Erregtheit der Zeitläufte hat sich den Sachlichen erzwungen, den Reporter, während die Dichter im Sinne
des Dienstes am Wort im Hintergrund warten durften bis ihre Zeit wieder kam. Nun stoßen da und dort ein
paar junge Menschen vor, die anscheinend aus Neuland stammen; es ist altes Land, es ist das alte Land aller

und menschlichen Sehnsucht. [.


Dichter, der Phantasie Eine kostbare Zeit, reif für eine Renaissance, mit
. . ]

tausend Lehren der Vergangenheit vor Augen; ein herrlicher Tiefstand. Schon kriselt der Aufstieg. Laßt ihn
uns richtig beginnen.« (S. 550).
38 Hans Günther, Die Kunst von morgen. In: Die Literatur 32 (März 1930) H. 6, S. 370f.
39 Vgl. Frank Trommler, Verfall Weimars oder Verfall der Kultur^ Zum Krisengefühl der Intelligenz um 1 930. In:
Thomas Koebner (Hrsg.), Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und
politischen Publizistik 1930-1933. Frankfurt a.M. 1982, S. 34-53.
40 So ist Adorno rechtzugeben, wenn er in seinem Rückblick auijene Zwanziger Jahre {Merkur [Januar 1962])
schreibt: »Jene Phänomene der Rückbildung, der Neutralisierung, des Kirchhoffriedens, die man gemein-
hin erst dem Druck des nationalsozialistischen Terrors zuschreibt, bildeten sich schon in der Weimarer
Republik, überhaupt in der liberalen kontinental-europäischen Gesellschaft heraus. Die Diktaturen wider-
Mexiko einbrach, sondern wurden von der
fuhren jener Gesellschaft nicht derart von außen, wie Pizarro in
sozialen Dynamik nach dem ersten Weltkrieg gezeitigt und warfen gleichsam ihren Schatten voraus.« (S.
46) Vgl. auch Hans Dieter Schäfer, Zur Periodisierung der deutschen Literatur seit 1930. In: Literaturmaga-
zin 7 (1977) S. 98: »Die Tendenz, in der Kunst Altes und Bewährtes wiederherzustellen, ist kein Ergebnis
der Kulturpolitik Hiders, sondern Produkt ein und derselben geschichdichen Krise, die auch den National-
sozialismus zum Sieg geführt hatte.«
41 Freud erklärte 1929 das für die späte Weimarer Republik zeittypische Ängstgefühl wie folgt: »Die
Schicksalsfrage der ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung
Menschenart scheint mir zu sein,

gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernich-
tungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes
Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte soweit gebracht, daß sie es mit
deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück
ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung.« (Zit. n. Sigmund Freud, Studienaus-
gabe Bd. IX. Frankfurt a.M. 1982, S. 27).
42 Vgl. Benns Dichtungsbegriff um 1930 (Gottfried Benn, Können die Dichter die Welt verändern? In: Die
literarische Welt 6 [1930] Nr. 23, S. 4):

»Aber ich lasse Ihnen ja Ihre Techniker und Krieger, Wissenschaft, Literatur - das ganze freischwebende
Gemecker der Zivilisation, ich fordere für den Dichter nur die Freiheit, sich abzuschließen gegen eine
Zeitgenossenschaft, die zur Hälfte aus enterbten Kleinrentnern und Aufwertungsquerulanten, zur anderen
aus lauter Hertha- und Poseidonschwimmern besteht: er will seine eigenen Wege gehen.
[. . . ] Der Dichter, eingeboren durch Geschick in das Zweideutige des Seins, eingebrochen unter acheronti-
schen Schauern in das Abgründige des Individuellen, indem er es gliedert und bildnerisch klärt, erhebt es
über den brutalen Realismus der Natur, über das blinde und ungebändigte Begehren des Kausaltriebes, über
die gemeine Befangenheit niederer Erkenntnisgrade und schafft eine Gliederung, der die Gesetzmäßigkeit
Das scheint mir die Stellung und die Aufgabe des Dichters gegenüber der Welt. Sie meinen, er solle
eignet.
sie ändern? Aber wie sollte er sie denn ändern - sie schöner machen, aber nach welchem Geschmack?

Besser - aber nach welcher Moral? Tiefer - aber nach dem Maßstab welcher Erkenntnisse?«
43 Siehe dazu die folgenden Werke: Ludwig Klages, Der Geistals Widersacher der Seele. Leipzig 1929-1932;
ders.. Vom Kosmogonischen Eros. Jena 1930; Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Mün-
chen 1930; aber auch Thomas Manns Roman-Tetralogie /osep/? und seine Brüder (entstanden 1926-1943).
Die Geschichten Jaakobs erschienen Berlin 1933, Der junge Joseph Berlin 1934. Vgl. zur Frage des Mythos in
der Weimarer Republik Theodore Ziolkowski, Der Hunger nach dem Mythos. Zur seelischen Gastronomie
der Deutschen in den Zwanziger Jahren. In: Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.) Die sogenannten
Zwanziger Jahre. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1 970, S. 1 69-20 1 ; J. H. W. Rosteutscher, Die Wiederkehr des
Dionysos. Der naturmystische Irrationalismus in Deutschland. Bern 1947; Manfred Frank, Der kommende
Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt a.M. 1982.
LH Einleitung

44 Schon 1921 hatte Ernst Troehsch die zeittypische Aufforderung »Los vom Historismus« als antiaufkläre-
risch kritisiert. Vgl. Dok. 39 und seine Sammlung von Vorträgen in Der Historismus und seine Überwin-
dung. Berlin 1924. Vgl. ferner den Versuch Lothar Köhns, die Weimarer Republik unter dem Aspekt der
>Überwindung des Historismus< zu Überwindung des Historismus. Zu Problemen einer
interpretieren. L. K.,
Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1918 und 1933 (2 Teile). In: Deutsche Vierteljahresschrift 48
(1974) H. 4, S. 704-766 (1. Teil); (1975) H. 1, S. 95-165 (2. TeÜ).
45 Der Begriff stammt von Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer
Versuch auf statistischer Grundlage. Stuttgart 1932.
LIII

Editorische Notiz

Druckvorlage aller Texte ist grundsätzlich der unveränderte Wordaut der Erstveröffentlichung.

Nur offensichdiche Druckfehler in den Textvorlagen wurden berichtigt; idiosynkratische Ortho-


graphie (etwa »filosofisch« in der Neuen Bücherschau) und abweichende Schreibweisen von
Eigennamen wurden dagegen beibehalten.
Hervorhebungen in den Textvorlagen (Sperrung, Kursivsatz, Fettdruck usw.) erscheinen einheit-

lich kursiviert. Die in den Dokumenten erwähnten Werktitel und Titel von Zeitschriften usw.
wurden ebenfalls in Kursivschrift gesetzt. Alle Hervorhebungen stammen von den Autoren.
Kürzungen innerhalb der Dokumente sind durch eckige Klammern mit Auslassungspunkten
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Den einzelnen Texten folgen in der Regel Kommentare, die das Ziel haben, den ausgewählten
Text in einen biographischen und intertextuellen Kommunikationszusammenhang einzufügen.
Danach folgen, soweit nötig, Personen- und Sacherklärungen, die das Verständnis des jeweiligen

Textes erleichtern sollen. Lexikalisch leicht greifbare Information bHeb in der Regel ausgespart.
Das Inhaltsverzeichnis dieses Bandes gibt die Titel der ausgewählten Dokumente in verkürzter

Form wieder. Die genauen bibliographischen Angaben stehen jeweils über dem abgedruckten
Text.
I
/. Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers
in der Republik
I
1. Die überforderte Revolution

1
Heinrich Mann: Sinn und Idee der Revolution. Ansprache im Politischen Rat
geistiger Arbeiter, München. In: Münchner Neueste Nachrichten
(I.Dezember 1918) Nr. 607.

Wie die neue Zeit selbst, mit ihren neuen Einrichtungen und Männern, ist auch diese unsere
Vereinigung [1] ein Erzeugnis der Not. Ein siegreicher Ausgang des Krieges würde eine deutsche
Revolution nie gebracht haben, und noch ein rechtzeitiger Friedensschluß hätte sie verhindert. Alle

sind wir heute Söhne der Niederlage. Ist es nicht aber der Natur gemäß, daß ein unterliegendes
Land von seinen Kindern mehr geliebt wird als ein triumphierendes? Der Triumph enthüllt viel

Unschönes. Zu lange haben wir es an Deutschland enthüllt gesehen. Wif bekennen uns viel lieber
heute zu ihm. Darum sagen wir vor allem, daß wir es von Herzen lieben und daß wir nach unserer
Einsicht und unseren Kräften ihm dienen wollen.
Fern bleibt uns der Wunsch, unseren siegreichen Feinden möge ihr Sieg zum Verhängnis werden,
wie uns selbst jetzt endlich unsere alten Siege. Wir wünschen vielmehr, daß der sittliche Ernst, den
ein vor fünfzig Jahren besiegtes Land [2] dank seiner Niederlage erworben hat, sogar die größte
Gefahr, seinen heutigen Sieg, überdauern möge. Nun aber wollen auch wir selbst den sitdichen
Ernst erwerben. Fühlt nicht zu dieser Stunde mancher, der nie geglaubt hätte dies fühlen zu
müssen, wie sehr wir in dem lange anhaltenden Glanz unserer früheren Siege uns selbst verloren
hatten, und daß wir erst jetzt, auf dieser Wanderung durch Staub und erste Dämmerung, die

Hoffnung haben, uns wieder zu begegnen?


»Seid nicht allzu gerecht!« rief schon Klopstock seinen Deutschen zu; und solch ein Gedanke
war, sitthch gesprochen, der Anfang vom Ende. Wir können nicht gerecht genug sein. Jede Abkehr
von der unbedingten Gerechtigkeit zeitigt schon in der äußeren Welt die ungeheuerlichsten Folgen,
die Vergewaltigung kleiner Provinzen bewirkt noch nach Jahrzehnten den Zusammenbruch
großer Reiche. Viel furchtbarer aber sind die Erschütterungen unserer inneren Welt, sobald wir die
Ungerechtigkeit einmal in sie zugelassen haben. Die Fälschung unseres gesamten Volkscharakters,
Prahlerei, Herausforderung, Lüge und Selbstbetrug als tägliches Brot. Raffgier als einziger Antrieb
zu leben: dies war das Kaiserreich, das wir nun glücklich hinter uns haben. Und dies konnte es nur
sein, weil unter ihm, nach innen wie nach außen, Macht vor Recht ging.
Macht anstatt Recht bedeutet nach außen den Krieg, und bedeutet ihn auch im Innern.
Gerechtigkeit verlangt schon längst eine weitgehende Verwirklichung des Sozialismus. Jetzt soll sie

ihn verwirklichen. Wir sind dabei - sind nicht nur mit unserer Vernunft, auch mit unserem Herzen
dabei. Wir wünschen das materielle Glück unserer Volksgenossen so ehrlich, wie man sein eigenes
4 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

wünscht. mögen es anerkennen, wenn wir zudem noch ihres seelischen Wohles gedenken. Das
Sie

seelische Wohl ist wichtiger: denn das Schicksal der Menschen wird mehr von ihrer Art zu fühlen
und zu denken bestimmt, als durch Wirtschaftsregeln. Denkt gerecht. Bürgerliche! Solltet ihr in

irgend einer gesetzgebenden Versammlung je die Mehrheit haben, ergebt euch dennoch niemals
dem verhängnisvollen Irrtum, ihr könntet die begründeten Ansprüche der SoziaUsten, indem ihr

sie niederstimmt, aus der Welt räumen. Denkt aber auch ihr gerecht, Sozialisten! Wolltet ihr die
Sozialisierung nur eurer zufälligen Macht verdanken, anstatt der Einsicht und dem Gewissen der
Meisten, ihr würdet nichts gewonnen haben. Diktatur, selbst der am weitesten Vorgeschrittenen,
bleibt Diktatur und endet in Katastrophen. Der Mißbrauch der Macht zeigt überall das gleiche

Todesgesicht.
Man gebe doch nicht vor, die Vergesellschaftung noch der letzten menschlichen Tätigkeit sei das
radikalste, das sich tun läßt. Einen Radikalismus gibt es, der alle wirtschaftlichen Umwälzungen
hinter sich läßt. Es ist der Radikalismus des Geistes. Wer den Menschen gerecht will, darf sich nicht

furchten. Der unbedingt Gerechtigkeitliebende wagt sehr viel. Wir sehen einen Mann, der weiter
geht in geistiger Kühnheit als der bedenkenloseste der russischen Diktatoren: es ist jener Wil-

son [3], der allem Drängen der Sieger zum Trotz und unbeirrt von den Versuchungen einer

unerhörten, zum Wahnsinn herausfordernden Machtfülle, auf dem beharrt, was sein Urteil

gerecht nennt.
In diesem Rat, der nur zum Guten raten will, kann niemals, selbst wenn sie ausschweifte,

gerichtet werden über eine deutsche Revolution, deren schlimmste Ausschweifungen noch immer
die Verbrechen des alten Regimentes nicht aufwiegen würden. Nur zu viele Entschuldigungen
haben die revolutionären Fanatiker von heute. Sie werden ihnen geliefert von jenen alldeutschen
Fanatikern, die bis gestern das Wort hatten, und die nur darauf warten, es wieder an sich zu

bringen, um womögHch das Land noch einmal zu entvölkern, noch einmal zu entsittlichen, noch
einmal an den Bettelstab zu bringen. Wo sollten die zur Macht gelangten Revolutionäre denn
Gerechdgkeit erlernt haben? Sie sind unter dem Kaiserreich groß geworden. Sie sagen wohl, sie

dächten nicht daran, ihre Macht freiwilHg herzugeben. Ein kaiserliches Wort. Wer es spricht, hat

noch so gut wie alles zu lernen von den Gesetzen einer wahrhaft befreiten Welt.
Wir sind hier, um dahin mitzuwirken, daß die sitdichen Gesetze der befreiten Welt in die

deutsche Poliük eingeführt werden und sie bestimmen. Wir wollen, daß unsere Republik, bis jetzt

noch ein Zufallsgeschenk der Niederlage, nun auch Republikaner erhalte. Und wir sehen in

Republikanern weder Bürgerliche noch Sozialisten. Dies sind hinfällige Unterscheidungen, wo es

Höheres gilt. Republikaner nennen wir Menschen, denen die Idee über den Nutzen, der Mensch
über die Macht geht. Unter Republikanern kann ein unschuldig Verurteilter Gewissenskämpfe
heraufbeschwören, so ungehemmt, daß sie den Verkehr, den inneren Frieden, sogar die Sicherheit

des Landes bedrohen - und wäre ihre Republik auch nur eine sogenannte Rentnersrepublik. Ein
Kaiserreich aber, selbst ein soziales, wird solche Gewissenskämpfe nie kennen.

Unser Deutschland werde so gerecht, frei und wahr, wie einige von uns es sogar in seinen

dunkelsten Tagen verlangt und erstrebt haben - bestärkt in ihrem Glauben an die Zukunft des
deutschen Geistes durch seine große Vergangenheit. In diesem Lande, komme alles wie es mag,
wird endlich doch der Geist herrschen. Er erobert Deutschland und die Welt; der wirkliche Sieger
Die überforderte Revolution 5

des Weltkrieges ist nur er. Wer ihm widerstände, wäre verloren. Wer ihn aufnimmt, ist allen

gleichberechtigt und verbrüdert. Unsere Versöhnung mit der Welt wird im Namen der uns endlich
wieder mit ihr gemeinsamen, ewigen Gedanken geschehen. Wir geistigen Arbeiter wollen es uns
verdienen, unter den Ersten zu sein, die Deutschland mit der Welt versöhnen.

Heinrich Mann (1871, Lübeck - 1950, Santa Monica/USA), hatte sich schon vor 1918 für die Demokratie und
die aktive Beteiligung der Schriftsteller an der Politik eingesetzt. Vgl. vor allem den für die expressionistischen
»Aktivisten« äußerst einflußreichen Essay Geist und Tat {\9\0) und seinen Zola-Essay (1915), beide wiederab-
gedruckt in der von Heinrich Mann 1919 beim Kurt Wolff Verlag München herausgegebenen Sammlung
politischer Aufsätze und Reden von 1910 bis 1919 mit dem Titel Macht und Mensch. Dieser Band, der die
Widmung »Der deutschen Republik«, enthält auch die hier abgedruckte Ansprache Sinn und Idee der
trägt
Revolution. Heinrich Mann hielt diese Ansprache als Vorsitzender des »Politischen Rats geistiger Arbeiter,
München«. Diese Vereinigung von Intellektuellen aus verschiedenen Berufen war kurz vorher, am 15.
November 1918, mit folgender, von Heinrich Mann verfaßter Erklärung an die Öffendichkeit getreten: »Der
Rat geistiger Arbeiter Münchens, der am 13. November 1918 zum ersten Mal tagte, erklärt, daß jeder Einzelne
seiner Mitglieder in dem durch die Revolution Erreichten einen Fortschritt sieht, der uns der Verwirklichung

unserer Ideen näher bringt. Wir alle sind Demokraten in dem daß wir das Recht, nicht die Macht lieben
Sinn,
und statt der Gewalt, die so lange geherrscht hat, die Menschlichkeit anrufen, wie wir es schon immer taten.
Daher wollen wir helfen, auf dem jetzt gegebenen Grunde des sozialen Volksstaates weiterzubauen. Aus
unserem Rat schließen wir jene aus, die eine zweideutige Gesinnungstüchtigkeit entwickeln.
Wir sind deutsche Demokraten; unser Stolz ist die Überlieferung des Jahres 15„48, unsere Welt ist die des
deutschen Idealismus, nicht die geistige Welt Bismarcks und Treitschkes. Bei all unserem Deutschtum aber sind
wir uns bewoißt, daß die jetzt sich durchringende Idee der Freiheit nicht, wie leichtsinnige Umlerner plötzlich
entdecken, »urdeutsch«, sondern daß sie die leitende Idee unseres Erdteils selbst ist. Die europäische Mensch-
heit lebt von je im Licht dieser Idee, mag es zeitweilig auch verdunkelt gewesen sein. Der Wille Deutschlands
zum Guten, der unter dem Druck der Altdeutschen zu lange zur Ohnmacht verurteilt war, soll jetzt zur Tat
werden. Ehrenpflicht eines jeden sei es, im internationalen Verkehr der geistigen Arbeiter den imperialistischen
Ungeist mit zu vernichten. Das vergessene Gefühl der Brüderlichkeit soll in neuer Kraft erstehen.
Wir sind deutsch, demokratisch und europäisch. Aus alledem ergibt sich unser Wille, dem staadichen Leben
eine allumfassende Gerechtigkeit zu verleihen. Alle sollen sobald als möglich am Staat beteiligt sein. Die Freiheit
soll, sobald es irgend geht, nicht mehr etwas Parteimäßiges und von außen Auferlegtes, sondern allgemein
geübt und erlebt sein. sein. Nur sie kann jene
Die Einberufung der Nationalversammlung soll das nächste Ziel
sozialen Reformen endgültig verwirklichen, die den Arbeitern des Geistes nicht weniger am Herzen liegen als
allen anderen Arbeitern. Die Wähler sollen wissen, daß die Freiheit zu stützen nicht nur ihre Menschenpflicht,
sondern auch Pflicht der Selbsterhaltung ist, weil reaktionäre Wahlen den Umsturz jeder Staatsform und das
Chaos notwendig und unabwendbar nach sich ziehen würden. Wir wollen die Diener des sich bildenden
nationalen Willens sein.
Während der Räteregierung wollen die über ganz Deutschland sich ausbreitenden Räte geistiger Arbeiter
ihre Abgeordneten den Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat entsenden. Alle Gleichgesinnten aus allen
in

geistigen Berufen werden aufgefordert, sich anzuschließen.«


Diese Erklärung wurde von zehn Künsdern und Intellektuellen, darunter dem Schriftsteller Bruno Frank,
unterzeichnet und in den Münchner Neuesten Nachrichten am 15. November 1918 veröffendicht. Heinrich
Mann unterzeichnete in seiner Funktion als Vorsitzender des »Politischen Rats geistiger Arbeiter, München«
auch das Programm des »Politischen Rats geistiger Arbeiter« in Berlin, dem Kurt Hiller vorstand.
Der Zusammenschluß der Intellektuellen zu einem »Politischen Rat geistiger Arbeiter« wurde vor allem in
der der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands nahestehenden Aktion kritisiert. Das
Vgl. Pol Michels,
Verbrechen der Intellektuaille. In: Die Aktion 9 (15. November 1919) H. 45/46, Sp. 752-754; hier S. 754: »Mit
Recht - aber es klingt wie ein Witz aus heutigem Simplizissimus - gründen sie, die winzigen Bourgeois, in
junkerlich gedunsener Überhebung, >Politische (!) Räte (!!) geistiger (!!!) Arbeiter (!!!!)<, wobei doch schon die
Etikette ein widerlicher Nonsens und eine direkt antisoziale Eselei bedeutet.
Die deutschen Intellektuellen - als unmittelbare Helfershelfer die einen, als tobsüchtige Gaffer die übrigen -
waren und sind dienstbeflissen beteiligt an jedem Komplott gegen das tödlich getroffene, werktätige Volk. Sie
6 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

gehen mit ihrer eignen Erbärmlichkeit feil und mit dem Kadaver der von ihnen erdolchten Revolution, die
Leichenfledderer, die ihre >Überzeugung< wechseln wie das Schicksal sein Hemd, die von der Ausnützung des
- Pöbels leben und demnächst doch vielleicht an ihrer bauchblähenden Pöbelverachtung krepieren werden!!«

1 Gemeint ist der »Politische Rat geistiger Arbeiter, München«.


2 Die Anspielung bezieht sich auf Frankreich, das im Krieg von 1870/71 von Deutschland besiegt worden war.
3 Thomas Woodrow Wilson (1856-1924), amerikanischer Präsident von 1913-1921. Sein Friedenspro-
gramm (»Vierzehn Punkte«) vom 8. Januar 1918 empfahl u.a. die Errichtung eines Völkerbündnisses zur
Sicherung des Weltfriedens.

2
Für das neue Deutschland! [Umfrage] In: Der Vorwärts (17. Januar 1919)
Nr. 29/30.

Ehe das deutsche Volk die Wahlen zu der Nationalversammlung [1] vornimmt, haben Männer und
Frauen, in denen es die Führer seines geistigen Lebens sieht, ihr Wort erhoben, um klar und
deutlich der Nation zu sagen, welches der Sinn der großen Tage ist, in denen sie lebt und zu
welchem Glauben der neue, eben beschrittene Weg sie führt.

Die besten Männer und Frauen des Volkes treten mit ihrem Wort für die neue^, soziale Gemein-
schaft ein. Die Nation soll es wissen, daß die Revolution nicht den Zusammenbruch der deutschen
Gesellschaft, sondern den Zusammenbruch eines dem Untergang verfallenen verderblichen gesell-

schaftlichen Systems bedeutet. Sie ist bereit, von dem Glauben an ein neues, edles Leben erfüllt,

anstelle der alten, die Kräfte unseres Volkes niederhaltenden, bureaukratischen Ordnung, die

brüderliche in Gerechtigkeit sie zusammenschließende Volks- und Kulturgemeinschaft zu schaffen.


Aus dem Zeugnis seiner Männer und Frauen aber ersieht das deutsche Volk, zu welchen
Aufgaben es reif geworden ist. Es soll am Anfang einer neuen, ganz neuen Epoche
wissen, daß es
steht - der Epoche des sozialen und kulturschaffenden Aufbaus^ der von dem Glauben an die
Gerechtigkeit und Menschenwürde erfüllt ist.

Nicht alle der Nation lieb gewordenen Meister konnten wir (infolge des schwierigen Postver-
kehrs) bis zur Stunde erreichen. Zu Beginn einer von leuchtenden Ideen erfüllten Zeit aber dürfen
wir sagen: Die Träger des deutschen Kulturbewußtseins sind heute die Träger der sozialen
Sehnsucht des Volkes. Sie stehen mit ihm zusammen, weil hinter seinem dunklen Drange der
Glaube an eine schönere, wahrhaftigere Wirklichkeit steht.

Die nachfolgenden Sätze wurden in den letzten Tagen geschrieben. Wir bringen sie nach der
alphabetischen Reihenfolge der Autoren. Auch die Männer sollen gehört werden, welche der
sozialen Bewegung gegenüber gewisse Bedenken äußern. Wir stehen am Anfang. Für gar viele

mag es schwer sein, in der Verwirrung der Tage die neue Ordnung zu sehen, in die das Leben der
Menschen hineinführt. Dr. A. Metzger. [2]
Die überforderte Revolution 7

Gerhart Hauptmann [3]:

Unsere Erneuerung hat sich in der Erschöpfung vollzogen. Unsere Macht war innerlich so sehr in

Schwäche übergegangen, daß sie in sich zusammenbrach. Aber sogleich sproß das Neue zwischen
Ruinen. Das Neue ist jung und ganz anders wie das Alte. Wehe jedem, der heute nichts anderes
weiß, als Urvaterhausrat unter Staub und Trümmern hervorzusuchen! Wehe einem Nationaltyp,
der nichts weiter als die Rumpelkammer solchen Urväterhausrates darstellte mit den alten
ausgeleierten politischen Gassenhauern und Akteuren. Entweder es schwebt das glaubensstarke
Bekenntnis zum Neuen über einer kommenden Ratsversammlung der deutschen Stämme, in der
unsere deutsch-österreichischen Brüder nicht fehlen dürfen, oder lasciate ogni speranza! [4]

Ihr, die ihr an eine deutsche Auferstehung glaubt, denkt doch nicht, daß wir früher einig waren,

weil wir von Kaiser und Reich sprachen: Wir waren zerrissen, zerklüftet, zerborsten unter dem
glänzenden Einheitslack. Suchen wir nicht nur ängstlich die alte sogenannte Einheit. Ihr gleißender
Schein ist vorüber. Sie genügt für das neue Deutschland nicht. Seien wir einig im Neuen und
suchen wir eine neue. Einheit, die enger, inniger und redlicher ist. O Gott! Wie vergeblich hoffe ich,
und doch ist es mir ganz unmöglich, mich, so lange ich lebe, von dieser Hoffnung zu trennen.
Sucht das Kleinod der Einheit, ihr Deutschen! Die Kleiderfetzen der Germania wurden bisher nur
von einer Agraffe zusammengehalten. Ihr spracht von Einheit, ihr hattet sie nicht. Diese Einheit

muß entdeckt, gefühlt, ergründet, erkannt, erlebt, erfunden und in einem Schmelzprozeß allgemei-
ner Begeisterung geboren werden. Wehe über den Jammer unserer jämmerlichen Parteiungen! Wo
ein Franzose und ein »boche« sich umarmen, da schlagen einander zwei Deutsche verschiedener
Parteien, im Diesseits und Jenseits fremd und unversöhnlich, ins Angesicht. Laßt euch versöhnen,
versöhnt euch endlich, ihr zahllosen feindlichen Brüder! Solange die Bauleute streiten, entsteht

kein Bau. Schweigend und in Ahnung eines höchsten vorhandenen Planes muß Stein auf Stein

vermauert werden. Zum erstenmal ist der deutsche Genius ganz auf sich selbst gestellt, um sein

Land, sein Haus, seinen Tempel aufzurichten. Das ist zu verstehen als ein weltgeschichtlicher
Augenblick, dem deutsche Jahrhunderte in wechselvollen Geschicken entgegenreiften. Laßt uns
alle seiner würdig sein!

Arno Holz [5]:

Die Zuversicht, daß die Revolution - vorausgesetzt, daß unser Volk nicht unter der Fuchtel
irgendeiner abermaligen Gewaltherrschaft gerät - für seine Geistigen keinen Zusammenbruch,
sondern den Anfang eines neuen sozialen Aufbaues bedeutet, teile ich.

Ricarda Huch [6]:


Der übertriebene Individualismus muß durch den Sozialismus ausgeglichen werden. Auf diesem
Wege liegt unsere Zukunft. Aus neuer freiwilliger Gemeinsamkeit wird einst wieder kräftiges
individuelles Leben erblühen.
Heinrich Mann [7]:
Die geistige Erneuerung Deutschlands, unsere natürliche Aufgabe, wird uns durch die Revolution
erleichtert. Wir gehen endlich mit dem Staate Hand in Hand.
:

8 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Thomas Mann [8]:


Es wäre sicher falsch, in der Revolution nichts als Zusammenbruch und Zersetzung zu sehen. Die

deutsche Niederlage ist etwas höchst Paradoxes, sie ist keine Niederlage wie eine andere, ist es so

wenig, wie der Krieg, den sie beendete, ein Krieg war wie ein anderer. Täuscht mich nicht alles, so
ist die Nation, der diese unvergleichliche Niederlage zuteil wurde, nicht nur nicht eine gebrochene

Nation, sondern sie fühlt sich auch heute noch, wie 1914, von den Kräften der Zukunft getragen.
Es ist kein Zweifel (und auch wer dem Marxismus als Dogma und Weltanschauung keineswegs
huldigt, kann es nicht bezweifeln), daß dem sozialen Gedanken die politische Zukunft, und zwar in
nationaler wie internationaler Beziehung, gehört. Die westlichen Bourgeoisieen werden sich ihres

Triumphes nicht lange zu erfreuen haben. Einmal den Völkern ins Gewissen geschoben, wird die

soziale Idee nicht ruhen, bis sie verwirklicht ist, soweit eine Idee sich im Menschlichen verwirkli-
chen läßt. Der deutschen Staatsmoral aber am längsten vertraut. Der soziale Volksstaat, wie
ist sie

er sich jetzt bei uns befestigen will, lag durchaus auf dem Wege deutscher Entwicklung. Gewiß ist

mir aber auch, daß gerade in Deutschland der soziale oder sozialistische Staat ohne einen
Einschlag bürgerlichen Geistes nicht lebens- und leistungsfähig sein würde. Denn dieser Geist, der

mit imperiahstischem Bourgeoistum gar nichts zu tun hat, ist einfach der Geist deutscher Gesit-

tung. Die reine Arbeiter-Republik, die Diktatur des Proletariats, das wäre die Barbarei.

, Ernst Troeltsch [9]


Die Revolution hat einen Prozeß gewaltsam in die Hand genommen, der als Ergebnis des
langjährigen Krieges, seiner Güterzerstörung und Vermögensverschiebung unausbleibHch war
und der mit der immer deutlicher werdenden Unmöglichkeit eines Sieges gewaltig anschwoll: die

Demokratisierung und die Sozialisierung, d. h. die gleichmäßige Beteiligung aller an der Bildung
des Staatswillens und die sorgfältige Organisation einer aus dem Weltverkehr zurückgedrängten
Wirtschaft, die ohnedies die angepreßten Volksmassen nicht ernähren könnte. Diese Reform war
nach langen und bitteren Hemmungen im Gange; da hat die Niederlage und die mit ihr verbun-

dene Militärrevolution alles zertrümmert und das Chaos geschaffen. Aber gerade in dieser Lage
muß jeder Versuchung zur Verzweiflung mannhaft widerstanden werden. Nur wer sich selbst

aufgibt, ist verloren. Großes ist zertrümmert, und ein bei allen, in der letzten Zeit sehr gesteigerten,
Mängeln glorreicher Staat und eine ruhmreiche Armee ist zerbrochen. Aber ein Volk von solcher
Größe, psychischer und geistiger Leistungsfähigkeit, Arbeitsamkeit und Erziehung kann nicht
zugrunde gehen. Es muß die ungeheure Arbeit leisten, sich aus sich selbst politisch, wirtschafdich
und geistig neu zu organisieren und sich eine neue, der neuen Lage entsprechende Armee zu
schaffen, die den Neubau deckt und nach außen und innen schirmt. Unter dieser Voraussetzung ist
eine mächtige Entfaltung von Kraft und Größe möglich, an der jeder mitarbeiten kann und muß.
Das soll uns mit dem Gefühl einer großen Verantwortung und mit der Kraft einer alles dransetzen-
den Leistung erfüllen. Die Männer des deutschen Geistes und der deutschen Kunst werden
schwierige Lebensbedingungen haben, aber auch die große Aufgabe, durch gesunde und geläu-
terte Leistungdem deutschen Geiste nach innen und nach außen wieder eine führende Stellung zu
verschaffen. Wenn nicht Behagen, sondern Größe der Aufgabe dem Leben Wert gibt, so hat unser

zukünftiges Leben den größten Wert. Aus dem Leiden muß Reinheit und Größe der Gesinnung
Die überforderte Revolution 9

geboren werden, und der Glaube an Gott und die Menschen muß uns dessen gewiß machen, daß
reine Gesinnung nicht vergeblich arbeiten wird. In dieser Gewißheit können und sollen wir leben
und hoffen, ohne sie gibt es nur ein dumpfes Hinleben und Warten auf den Tod, wo dann
kräftigere und gläubigere Generationen später das Werk der Wiedergeburt verrichten müßten.

Weitere, z.T. auf einen Satz beschränkte Stellungnahmen zu dieser Umfrage kamen von Richard Dehmel,
Paul Ernst (»Ich halte den sozialistischen Aufbau Deutschlands für möglich, wenn geeignete Männer an der
Spitze stehen.«), Julius Hart, Carl Hauptmann (»Der Weg ist jetzt frei, den neuen Staat des ßrudertums und
Gewissens zu bauen.«), Felix Holländer, Käthe Kollwitz, Julius Meier-Graefe, Alexander Moissi, Gabriele
Reuter, Bruno Wille u.a.

1 Die Wahl zur Nationalversammlung fand am 19. Januar 1919 statt. Das Ergebnis der Wahl war ein

eindeutiger Sieg der drei Parteien, die schon seit 1917 für den Gedanken der Parlamentarisierung Deutsch-
lands eingetreten waren. 76,1 Prozent der Wählerstimmen entfielen auf die folgenden Parteien: die Sozialde-
mokratische Partei (37,9 Prozent), die Chrisdiche Volkspartei (Zentrum) (19,7 Prozent) und auf die Deutsche
Demokratische Partei (18,5 Prozent). Über drei Viertel der deutschen Wähler bekannten sich damit 1919 zur
parlamentarischen Demokratie. Die durch die Spartakisten radikalisierte Unabhängige Sozialdemokratische
Partei (USP) unterlag der SPD mit nur 7,6 Prozent aller Stimmen überraschend hoch. Die rechts stehende
Deutschnationale Volkspartei, die sich als Sammelpartei aller »nationalen« Kräfte verstand, erhielt dagegen
10,3 Prozent der Wählerstimmen.
2 A. Metzger: Keine Angaben zu ermitteln.
3 Zu Gerhart Hauptmann s, Kommentar zu Dok. Nr. 26. v«,

4 Eigd. »lascite ogni speranza, voi ch'entrate«: »Laßt jede Hoffnung hinter euch, ihr, die ihr eintretet«. Letzter
Vers der Inschrift über der Höllenpforte in Dantes Göttlicher Komödie.
5 Arno Holz (1863, Rastenburg/Ostpreußen - 1929, Berlin). Ab 1881 Redakteur und freier Schriftsteller in
Berlin. In der Nachfolge Zolas Begründer und Theoretiker des programmatischen Naturalismus in den

frühen 90er Jahren.


6 Ricarda Huch
(1864, Braunschweig - 1947, Schönberg im Taunus), stammte aus gebildeter Patrizierfamilie.
und Philosophiestudium und Promotion als eine der ersten Frauen. Neuromantische Erzählerin
Literatur-
und Lyrikerin, auch Verfasserin von Geschichtsromanen und Biographien.
7 Zu Heinrich Mann vgl. den Kommentar zu Dok. Nr. 1.
8 Zu Thomas Mann vgl. den Kommentar zu Dok. Nr. 14.
9 Ernst Troeltsch (1865, Haunstetten b. Augsburg - 1923, Berlin). Arztsohn, studierte evangelische
Theologie. Ab 1915 Professor für Religionsphilosophie in Berlin. Hinwendung zur Politik während des
Weltkriegs. Wurde vor allem durch seine weitverbreitete Rede Die Ideen von 1914 bekannt (veröffendicht in
der Neuen Rundschau 27 [1916] und wiederabgedruckt in seiner Aufsatzsammlung Deutscher Geist und
Westeuropa [1925 hrsg. v. Hans Baron]). Schrieb die sogenannten Spectatorhriefe. Aufsätze über die deutsche
Revolution und die Weltpolitik, 1918-1922. Wurde 1922 Staatssekretär im preußischen Kultusministerium.
Bildete mit Hans Delbrück und Friedrich Meinecke einen Kreis, aus dem die Deutsche Demokratische Partei
entstand. Auch Arbeiten zur Kulturphilosophie und -geschichte: Der Historismus und seine Überwindung
(1923).
10 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

3
An das deutsche Volk! In: Der Geist der neuen Volksgemeinschaft.
Eine Denkschrift für das deutsche Volk. Hrsg. v. der Zentrale für
Heimatdienst. Berlin: S. Fischer 1919, S. 3-4.

Die revolutionäre Bewegung der Gesellschaft und des gegenwärtigen Gewissens gibt das Recht zu
sagen: daß das Leben der Menschen in eine neue Ordnung hineinführt, daß alle zukünftigen
Dinge, gleichgültig ob sie religiöser, kultureller oder wirtschaftlicher Art sind, in die Tiefe einer

neuen europäischen Gesinnung hineingestellt sein werden. Nichts ist wesentlicher, als uns von

dem Irrtum zu erlösen, daß es sich bei der Revolution um die nackte Gebärde eines von
katastrophalem Unglück heimgesuchten, vom Hunger entnervten Geschlechtes handle, das den
Zusammenbruch und nur diesen wolle.

Es ist notwendig zu erkennen, wohin der Weg führt, nach dem der Glaube der Menschen
drängt: den Sinn zu begreifen, der hinter der Leidenschaft der aufgelösten Ordnung steht. In den
Nöten des Zusammenbruchs beschränkt sich die gegenwärtige Epoche auf die Erkenntnis der

sozialen und wirtschaftlichen Forderungen. Aber die Neuordnung der Dinge wird tiefer reichen.

Die Revolution ist in ihrer erfüllten Bedeutung die Revolution der Meinungen über alles, was
zwischen dem Menschen und dem Menschen liegt. Sie ist eine Revolution des Geistes. Und darum
sei es gesagt: die wirtschafdichen und sozialen Forderungen sind mit den kulturellen Forderungen
notwendig verbunden. Die Stellungnahme kulturellen Fragen gegenüber ist gegenwärtig von
ebenso grundsätzlicher Bedeutung wie etwa die Bearbeitung sozialer Reformen. Denn die Reform
wird keine Früchte tragen, wenn sie nicht eine Reform an Haupt und Gliedern bedeutet, wenn
keine kulturpolitischen Taten geschehen, welche das Volk an den Geist heranerziehen, der

übergreifend hinter allen Aufgaben der Gegenwart steht, gleichgültig ob sie religiöser, intellektuel-

ler oder wirtschaftlicher Art sind.

Die Revolution wird das Große vollbringen: den Geist und das Volk mit der Politik zu versöh-
nen. Es wird zusammengehen, was in den vergangenen Epochen in der Anarchie der Klassen und
Individuen auseinanderfiel. Die Literatur, die Wissenschaft und die Kunst werden aus ihrer
peripheren Isoliertheit heraustreten. Denn hinter ihnen steht, in der ihrem Eigenleben gemäßen
Ausdrucksform, die gleiche Leidenschaft, welche das Wesen der revolutionären Bewegung erfüllt.

Die Revolution ist der Anfang eines neuen Menschen. Sie ist der Anfang der Gemeinschaft des
Volkes.

Diese Denkschrift für das deutsche Volk wurde von der am 1. März 1918 - also noch unter monarchischer
Herrschaft - gegründeten »Zentrale für Heimatdienst« herausgegeben. In der ersten Nachkriegszeit war sie
vor allem ein Aufklärungsinstrument der Reichsregierung bei der Vorbereitung der Nationalversammlung und
der neuen Reichsverfassung. Die Denkschrift enthält neben der anonym verfaßten Vorrede An das deutsche
Volk! Aufsätze u. a. von Max Scheler
und Kultur auf dem Boden der neuen Ordnung), Karl Korsch {Die
{Politik

Politik im neuen Deutschland), Peter Behrens {Reform der künstlerischen Erziehung, Kasimir Edschmid {Die

Literatur und die soziale Bewegung und Arnold Zweig {Das Theater im Volksstaat). Diese Aufsätze sollten der
Intention der »Zentrale für Heimatdienst« zufolge »dazu beitragen, dem deutschen Volke die Möglichkeit zu
bieten, zu einer Stellungnahme den kulturpolitischen Aufgaben der Gegenwart gegenüber zu gelangen. Sie
Die überforderte Revolution 11

wollen zu den volkserzieherischen Aufgaben beitragen. Der Weg zu der neuen Ordnung führt über die
Erkenntnis der moralischen und geistigen Triebkräfte, in denen die gegenwärtige Bewegung lebt, und über eine
den sozialen und wirtschaftlichen
Kulturpolitik, welche, sich auf diese Erkenntnis stützend, gleichlaufend mit
Reformen ihre Maßnahmen trifft. Die Aufsätze sind unabhängig von jedem Parteiinteresse geschrieben.
Möchten sie die Erkenntnis fördern, daß es heute in der Not und in der Einsamkeit des Volkes nicht genüge,
Parteipolitiker zu sein, sondern daß es gelte, den Weg zu beschreiten, der das nach der Gemeinschaft
verlangende Volk zu dem freudeerfüllten Dasein führt.« (S. 4)

4
Rudolf Kay ser: Die neuen Schlagworte. In: Die Neue Rundschau 30 (1919)
Bd. 1, S. 640.

Der Krieg, als potenzierter Ungeist, bescherte uns neue Triumphe seines alten Mittels, um Barbarei
und Leere zu verdecken: des Schlagworts. Alle blutigen Wirklichkeiten des Schützengrabens

versuchte man durch die lärmenden Worte der militärischen Sieger zu überschreien. Der Ausgang
zeigte, mit welchem Erfolg. -^

Diese Schlagworte waren ein Ende. Sie waren die Trümmer einiger einst glänzenden Ideale; die

Schalen einer vermoderten Frucht; letzter, verhallender Ton. Das neue Zeitalter, in allen Instinkten
und Begriffen der schroffe Gegensatz zum Vergangenen, aber fängt mit dem Schlagwort an. Statt
die neue Gesinnung auszubauen und für sie zu werben, statt sie alle Bezirke des Lebens und des

Geistes durchdringen zu lassen, um sie am Schluß auch in allgemeinen Worten ausdrücken zu


können, beginnt man am Ende; mit dem Punkt, genauer: dem Ausrufungszeichen. Worte wie
Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Brudertum! alle diese ekstatischen Schreie unserer geliebten neuen

Humanität - wie können sie uns schädigen, wenn ihnen nicht feste Gedanken und praktische
Taten vorangehen. Fangen wir von vorne an: mit dem Erlebnis und dem Denken; denen folgen die

Taten und die Verwirklichung; erst dann kommt das Schlagwort. Wir lachten über jene Hinterwelt-
1er und Kriegsgewinnler, die ihre gut annexionistische Gesinnung täglich an Hindenburg telegra-

phierten. Heute werden die Beschwörungsformeln und Telegramme an Rolland [1] und Bar-

busse [2] gesandt, die wir herzlich verehren. Doch was sie melden, sind wieder Schlagworte,
diesmal aber noch durch keine Taten gerechtfertigt.
Fangen wir wirklich von vorne an. Das Schlagwort wird uns noch früh genug ereilen.

Rudolf Kayser (1889, Parchim/Mecklenburg - 1964, New York) Studium der Literatur und Philosophie, nach
Promotion (1914) Lehrer und Journalist in Berlin. 1924-1933 Herausgeber der Neuen Rundschau beim
S. Fischer-Verlag Berlin. Emigration 1933 nach Holland, 1935 nach New York; seit 1941 amerikanischer
Staatsbürger. Germanistikprofessor an der Brandeis University.
Kaysers Artikel ist charakteristisch für die Haltung der Neuen Rundschau, der Zeitschrift des gebildeten
Bürgertums, gegenüber der Revolution. In einem späteren Artikel von 1919 verschärfte Kayser seine Kritik an
den deutschen Schriftstellern. {Zu dieser Revolution. In: Die Neue Rundschau 30 (1919) Bd. 2, S. 1372-1378,
hier S.1376-1378): »Jene flinken deutschen Literaten, die heute die proletarische Diktatur fordern, stehen
zumeist unter einem doppelten Fluch: der Traditionslosigkeit und dem Komödiantentum. Angeekelt von
einem nur noch profitsüchtigen Liberalismus, der seine alten geistigen Kräfte schamlos verleugnete, hatten sie
12 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

jeden Anschluß an das öffentliche Leben verloren. Die starke Politisierung, die sich seit fast einem Jahrzehnt im
deutschen Geiste vollzieht, zwingt aber Stellung zu nehmen zu den immer dringlicher werdenden Umweltpro-
blemen.Nur wenige fanden den Mut, aus ethischer Besinnung heraus Politik zu treiben. Die anderen halten
Ausschau nach radikalen Gebärden, weil nur diese sie über die eigene Haltlosigkeit, Armut und Unkenntnis
hinwegtäuschen.
So treten sie für Forderungen ein, deren materialistisch-psychologische Herkunft wir kennen. Es muß aber
gerade das Wesen einer geistigen Politik sein, von allen Fragen der Bedürfnisse und Psychologie abzusehen,
unbedingt zu sein, nur den Forderungen der Vernunft zu folgen. Diese Forderungen gehen weder aus Glück

noch aus Leid hervor, sondern allein aus den kühlen Notwendigkeiten des Denkens. Niemals können die
Kategorien einer technisch-ökonomischen Politik Geltungswert für jene beanspruchen, die den Radikalismus
des Geistes verfechten. Er macht bei der Revolutionierung des Staates nicht halt, sondern will die Revolutionie-
rung des Menschen. Aber diese Besinnung auf den Menschen (eigentlich der Inhalt jeder wahren Revolution)
ist eine zu stille und langsame Angelegenheit, um jene zu fesseln, die durchaus blenden und Rollen spielen

wollen. [. . .
]

Wir brauchen den endgültigen Bruch mit der psychologischen und materialistischen Weltauffassung. Die
heute noch bewußt oder unbewußt ihr folgen, sind deshalb viel eher Ausläufer der alten wie Vorläufer der
neuen Welt. Erst wenn die Unfruchtbarkeit der zur Bildungslast gewordenen alten Kultur fühlbar geworden ist
(ein Zustand, der scheinbar noch nicht erreicht ist), die Sehnsucht nach einer neuen als religiöse Begeisterung

die Seelen durchglüht, vollzieht sich jene wirkliche Revolution, die einen neuen Menschentypus schafft und
durch ihn auch neue Lebensgewohnheiten in Wirtschaft und Staat.«
Vgl. auch Stefan Zweigs Aufrufzur Geduld i^m: Das Tage-Buch 1 [10. Januar 1920], H. 1, S. 7-10, hier S. 7 f.):
»Zu den siebenhundertundfünfzig Aufrufen und Manifesten des letzten Jahres noch einen (den niemand zu
unterschreiben braucht): Aufruf zur Geduld!
Einen Aufruf gegen die Aufrufe, gegen die voreilige Zusammenrottung zusammenhangloser Menschen,
die, um irgend etwas zu beschleunigen, was sie dumpf wünschen, sich zu Gruppen vereinen, die unter gleichem
Wort wahllose Verschiedenheit der Begriffe einhürden. Nie war geistig die Neigung zum Herdentrieb bei den
Intellektuellen stärker als in diesen Jahren, die Neigung, sich durch Masse zu verstärken, durch Echo - das doch
nur bewegte Luft bleibt, so laut es auch dröhnt - statt durch innere Intensität. Die rasende, die krankhafte
Angst, irgendwo bei einer Bewegung nicht dabei zu sein, einen Anschluß zu versäumen, hat ein Midäufertum
erzeugt, so kläglich, so klein, so geistig werdos, so moralisch nichtig wie alle Uniformität. Kaum ist der Krieg
zusammen, um, jeder, Deutschland der Welt zu erklären, kaum ist das Wort
da, so rotten sich die Entlegensten
Expressionismus erfunden, so deutet und deutelt jeder kleine Schreiber, jeder Maler, jeder Dozent und
Schullehrer sein höchst unpersönliches Sein in das neue Wort hinein. Kaum hängt die rote Wolke des
Bolschewismus am Himmel, so schreibt jeder sein Broschürchen, alles bündelt sich hastig zu geistigen, zu
handwerklichen Sowjets. Und kaum ist der Krieg zu Ende, so entdecken sie plötzlich alle ein neues Feld, die
Völkerversöhnung, die Internationale des Geistes, und flöten Rolland an und Barbusse.«

1 Romain Rolland (1866-1944), französischer Dichter, setzte sich während des Kriegs publizistisch für
Völkerverständigung und Pazifismus ein und wurde deswegen von den nationalistischen Kreisen sowohl in
Deutschland als auch in Frankreich angegriffen. Er hielt die bolschewistische Revolution als Schritt zu einer
Erneuerung Europas im Sinne einer übervölkischen Gemeinschaft. Vgl. Wilhelm Herzog, An die geistige
Internationale. Aufruf an Komain Rolland. In: Die Republik 1 (3. Dezember 1918) Nr. 1, S. 1: »Erst jetzt, am
21. Tage der deutschen Revolution, kann ich befreiten Herzens Worte an Sie richten. Das durch harte
Unterdrücker versklavte und gefesselte Deutschland ist aufgestanden. Die Orgie der Machtanbetung ist
beendet. Der sich frech als Übermensch brüstende Typus des mittelalterlichen Gewaltpolitikers ist mit
Schimpf davongejagt.
Wir atmen auf. Deutschland ist wieder ehrlich gemacht. [. Organisieren wir endlich die Armee des
. . ]

Geistes. Und vereinigen wir uns mit den Proletarierheeren. Die bisher Verfemten, Verbotenen oder Eingekerker-
ten werden unsere Führer sein müssen. Schon beginnt die Welt, die Ideologen von gestern als Realpolitiker
von morgen zu erkennen.
Aber wieviel an geistiger Vorbereitung ist noch nötig! Wieviel Legenden gilt es zu zerstören, wieviele Gebiete
sind aufzuklären, wieviele Gehirne sind zu reinigen, wieviel Schutt ist abzutragen! Und wie wenig ist bisher
geschehen! Kaum daß mit den Aufräumungsarbeiten begonnen wurde.«
Die überforderte Revolution 13

Henri Barbusse (1873-1935), französischer Schriftsteller, schrieb den anti-militaristischen Kriegsroman Le


Feu (1916, dt. 1918) und gründete mit Victor Cyril die Gruppe »Clarte« als eine »Liga der Solidarität der
Geistigen für den Sieg der Internationalität«. Deutscher Vertreter des Gründungskomitees war der Elsäßer
Rene Schickele. Die Statuten der »Clarte« sind in Schickeies Zeitschrift Die weißen Blätter 6 (Dezember
1919) H. 12, S. 573-576 abgedruckt. Später unterstützte die Clarte den linksrevolutionären Flügel der
Surrealisten (Aragon, Breton, Eluard u.a.). Barbusse schrieb mit anderen französischen Intellektuellen und
Schriftstellern im Pariser Popidaire einen Aufruf an die »geistigen Kämpfer aller Länder«, in dem er für die
Versöhnung der Völker eintrat. Heinrich Mann antwortete ihm im Auftrag des »Politischen Rats geistiger
Arbeiter«: An Henri Barbusse und seine Freunde. In: Berliner Tageblatt {\ 5 . März 1919) Nr. 111: »Ihr Aufruf
erlaubt es auch uns, Sie als Gleichgesinnte anzusprechen. Müssen wir zuerst dem Verdacht zuvorkommen,
als sei es nicht aufrichtige Bereitschaft unserer Herzen, sondern nur die Nodage unseres Landes, die uns Ihre
hingestreckte Hand ergreifen läßt? Den Verdacht entkräftet unsere besondere Stellung im Kriege, den wir
niemals gebilligt haben, unsere schon damals dokumentierte Opposition gegen das kaiserliche System. Vor
allem aber werden wir beglaubigt durch die ganze Tätigkeit unseres Verbandes, die einzig darauf gerichtet
ist,bei uns zu Hause die Geister zu revolutionieren, die Idee der Gerechtigkeit zur herrschenden zu machen,
und zu werben für ehrliche Menschenliebe, die künftige Kriege ausschließt.
Unsere eigenen, längst gehegten Gedanken antworten also den Ihren. Auch wir wünschen die Internationale
des Geistes, eine Vereinigung der geistigen Kämpfer aller Länder. Die sittigende Kraft der Vernunft soll, dank
dem Zusammenwirken aller Geistigen, das Leben der Völker erfüllen. Wir sollen die niedrigen oder
törichten Beweggründe aller internationalen Feindschaften bloßlegen, sollen nachweisen und zur Geltung
bringen die tiefe Gemeinsamkeit in der Geistesart und den seelischen Neigungen aller unserer Völker Wir
sollen die Überzeugung ausbreiten, daß keine unserer geistigen Kulturen ohne die anderen bestehen kann,
und daß ein Land, das sich abschließt und überhebt, seinem Sturz entgegengehtT
Da uns zuerst die Hand gereicht haben, dürfen wir unsern Glauben bekennen, daß
es Franzosen sind, die
die endgültige Versöhnung unserer beiden Länder von besonderer Wichtigkeit, die Zusamnienarbeit
Deutschlands und Frankreichs entscheidend für die Zunahme des Guten in der Welt sei. Wir konnten uns
nicht verstehen, so lange die Formen und der Inhalt des nationalen Lebens verschieden bei euch und bei uns
waren. In Zukunft werden sie einander näher kommen, denn auch wir sind von jetzt ab eine Demokratie.
Wir sind es, man verkenne das nicht, auch wenn vorerst noch manche Reste des alten uns in unser neues
Zeitalter hinein begleiten. Wie die französische Republik in den vergangenen Jahrzehnten, wird auch die
deutsche kämpfend und sich reinigend ihren Namen sich erst verdienen; und unser gemeinsamer Kampf um
mehr Gerechtigkeit und ein höheres Menschentum wird der Kern alles erhofften Glückes der Erde sein.
Wir schlagen vor, daß als Anfang des Bundes der Geistigen aller Völker zunächst die gleichgerichteten
Geister Deutschlands und Frankreichs sich verbünden zur Errichtung einer Internationale der Menschlichkeit.«
Vgl. auch Hugo von Hofmannsthals Antwort auf den Aufruf von Henri Barbusse in: Der Friede 3
(14. Februar 1919) Nr. 56, S. 78-79: »Eure Worte kommen langerwartet und sie sind stark und kommen zur
rechten Stunde. Wir nehmen begierig ihren Gehalt auf und fühlen das Vertrauengebende wie vom Druck
einer männlichen aufrichtigen Hand [. . .]« (S. 78).
Vgl. weiterhin Kasimir Edschmids Aufruf an die revolutionäre französische geistige Jugend. In: Das Tribunal 1
(August/September 1919) H. 8/9, S. 95-97: »Geehrte Herren, meine Kameraden! Die Grenzen fallen, es ist
Zeit, sich zu vereinigen. Es gibt gegen den Haß nur einen Kampf, er ist uns gemeinsam. Es gibt nur eine
Gesinnung: gerecht zu sein. Es gibt nur eine Taktik: unsere Absicht deudich zu machen. Wir senden Ihnen
den Gruß, wir wissen, er wird nicht ohne Echo sein. In dem Sumpf der Haßwürfe offizieller Institute,
Zeitungen, Persönlichkeiten wird unsere Stimme, neben der einiger Pazifisten und Sozialisten, die einzige
sein, die, sich vereinigend, hinüber und herüber Kameradschaft und Willen bezeigen wird, uns, die Welt, die

Menschen weiterzubringen. Aus keiner nationalistischen Trompete kommt unser Ruf, dennoch schallt er
metallischer, mehr aus Gold und Helle, über die Vogesen. Keine Schlagworte, keine Lüge donnert um uns.
Was gesagt, gedacht wird, ist einfach Menschliches. Es ist das Natürliche und das Gute. Weiter nichts. Wir
lieben Eure Arbeit, Euren Geist. Manche Stimme ruft uns dasselbe entgegen. Noch genügt das nicht. Es
heißt, die Tat daraus heben. Zögert nicht. Fangen wir an. Keine Weltgeschichte hat, wo alles bei den
Menschen versagte, nötiger gehabt, daß die Gutwollenden, die mit den Herzen, deren Kammern von Europa
gefüllt, sich zu den Karrees der wahren Schlachten des Geistes, den Fahnen der trefflichen Absicht, zur

Marseillaise der inneren Freiheit und der schönen Ideen der Menschheit bekennen. Keine Minute darf
14 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

vergehen, keine Zeile darf geschrieben, kein Satz fürder gesagt werden, in dem nicht die geistigen Führer der
Nationen sagen, daß sie Liebe wollen, nicht Haß, Aufbau, nicht Gekämpf. Ausgleich, nicht Revanche. Nur
so kommt das Zentrum der Wirkung zu Stande, nur so erhält Europa wahrhaft ein großes immer heftiger
schlagendes Herz.« (S. 95)

5
Ludwig Finckh: Der Geist von Berlin. In: Schwäbischer Merkur
(10. Januar 1919) Nr. 14.

Berlin, ehemalige Reichshauptstadt, Sitz der Kriegsgesellschaften und Lager der sich befehdenden
Regierungen, ist nun ein Sinnbild geworden. Einst Sinnbild der Kraft und des Glanzes, jetzt des
Zerfalls. Es geht dort drunter und drüber, die Gewehre gehen von selber los, die Wölfe sind zu
Hirten gemacht.
Eine kleine Minderheit in Berlin hält das deutsche Volk in Atem. Was wollen sie? Im Grunde
nichts anderes, als was die Pazifisten, die Kosmopoliten wollen: Weltverbrüderung. Der Heiland
war ihr vornehmer Bruder. Er wollte es durch Liebe. Aber sie wollen es durch Gewalttat, durch
Umsturz, durch Mord und Totschlag; und darum sind sie soweit von ihm entfernt wie der gefallene
Engel Satan vom Himmel. Es sind, ganz milde ausgedrückt, Phantasten, Schwärmer und Abenteu-
rer; aber sie sind auf einem falschen Wege, sie leben in einem Irrwahn, und unter ihrem Mantel
läuft mit, was das Licht zu scheuen hat. Sie werden es nie erreichen. Sie wollen alle Regierungen
der Welt stürzen, um auf Erden ein einziges Volk von Brüdern zu machen. Wunderschön! Nur
schade, daß es wieder der Deutsche sein muß, der auf den Leim gekrochen ist, der aus seiner Haut
Hicken für die anderen schneiden läßt. Die Franzosen, die Engländer, die ItaUener lachen sich ins
Fäustchen; fällt ihnen gar nicht ein, mitzumachen und edelmütig international zu sein. Die Spuren

locken nicht. Die dummen Deutschen werden sich schon alleine auffressen.

Diesen gegenüber aber stehen die Sozialdemokraten, die Regierung. Sie wollen keine Gewalttat.
Aber auch sie sind keine Heilande. Mit Abscheu schauen sie auf ihre Sprößlinge und Abkömm-
linge, die ungeratenen Söhne, die ihnen an den Wurzeln nagen. Ihre Lehre verlangt Achtung vor
jeder anderen Meinung, und schlägt sie dadurch in Fesseln. Gebunden an Händen und Füßen
müssen sie zusehen, wie die Meute sie umtobt. Es rächt sich an ihnen der Umsturz. Deutschland sei
auf deiner Hut! Der Geist von Berlin ist ein Ungeist. In den Nationalwahlen wird das ausgeschla-
fene Bürgertum siegen, wie es in Baden geschehen ist, und wird die Züge wieder ins Gleise

bringen. Man könnte sich Deutschland ganz gut als Republik mit einem bewährten Fürsten als

Präsidenten an der Spitze denken - Württemberg mit dem König, Baden mit dem Prinzen Max -
und man wüßte sich dabei eins mit einem führenden württ. sozialdemokratischen Blatt, das diesen
Gedanken schon vor Jahren ausgesprochen hat. Man könnte sich auch eine Sammlung aller

königstreuen Elemente - und bis zum 9. Nov 1918 war der Deutsche, vor allem der Schwabe,
königstreu, er hat erst im Verlauf der Revolution sein republikanisches Herz entdeckt - ich sage,

man könnte sich auch eine Sammlung aller königstreuen Elemente mit Hinneigung zum Fort-

schritt bis in die Nähe der Sozialdemokratie denken unter dem Namen Nationaldemokratie, um an
Die überforderte Revolution 15

Unschuldigen begangenes Unrecht zu sühnen und das verblendete Volk von seinem Irrwahn zu
heilen. Die gefallenen Engel aber werden es zu verhüten suchen, heute wie morgen, mit Gewalt,
durch Mord und Totschlag, denn sie kennen kein Gesetz. Was dann? hi Gottesnamen, man muß sie
in ihre Grenzen zurückweisen und endlich Rechenschaft fordern. Dazu gehört aber Macht, nicht
Ohnmacht.
Dem Vaterland ist nicht mit einer Volkswehr gedient, die bloß noch eine Verzerrung ist, die über
ihre eigenen Horden nicht Meister wird, geschweige denn über äußere Feinde. Eine Truppe, die

noch etwas wert sein soll, muß eiserne Disziplin haben; kein tüchtiger Offizier wird sich dazu

hergeben, Truppen ohne Gehorsam und Aufopferungsfähigkeit zu befehligen. Die Garde von
heute aber tritt beiseite, sobald die Gewalttat ihr Haupt erhebt, sie öffnet die Pforten, die sie

schließen und beschützen sollte. Sie ist keinen Schuß Pulver wert. Das ist der Geist von Berlin. Wo
eine große Masse ist, da wird er lebendig. Denn der Rabiate, der Schreier, der Verführer, der Mann
der wüsten Worte hat Recht in der Masse. In Württemberg, wie in anderen Staaten haben die
Revolution zwei Fabriken gemacht, an der Spitze viel stammesfremde, unschwäbische Elemente,
die über die Verfassung Schwabens nach Gutdünken schalteten. Waren sie dazu berufen? Sie, die

vorwiegend aus Reklamierten bestanden, und in Sicherheit vor dem Feinde große Summen Geldes
verdienten? Hieß das nicht vielmehr, den Soldaten an der Front in den Rücken gefallen? Um 4
Wochen zu früh! 4 Wochen Geduld, so ständen wir heute anders da! Denn das weiß ich und weiß
jeder, der noch gesunden Sinnes ist, im tiefsten Grunde seines Herzens: daß die Entente Unrecht

hat, weniger Recht als wir, obwohl wir besiegt sind, besiegt durch den inneren Feind: Siegfried von
Hagen erschlagen.

Wie der Bauer in seinem Dorfe nicht über seine Gemarkung hinausblickt, selbstsüchtig wird
und Kirchturmspolitik treibt, so ist der Berliner in seinen vier Wänden gefangen, diktiert und gibt
den Ton an, und meint, sein Horizont sei der deutsche. Aber Berlin ist nicht Deutschland. Berlin ist

nicht einmal Preußen. Es gibt viele gute Preußen, die nichts davon wissen wollen. Wir in Süd-
deutschland machen das nicht mehr mit. Wir wollen ein Reich haben. Aber Berlin hat in diesen
Tagen das Recht verwirkt, die Reichshauptstadt zu sein und uns zu repräsentieren, es hat sich der

Führung unwürdig gezeigt. Wir müssen einen Strich machen zwischen ihm und uns, und es

seinem Schicksal und seinen Händeln überlassen. In Berlin hat eine Republik für sich Platz. Das
neue Reich muß eine neue Hauptstadt h2ihen; nicht in einer anderen Großstadt, nicht in einer Stadt,

die sich bloßgestellt hat, wo in kurzem die alten Zustände wieder herrschen. Wie in vergangenen
Zeiten Fürsten aus dem Machtspruch ihres Willens Höfe ansiedelten und blühende Gemeinwesen
aus dem Boden sprossen ließen - und wer wollte sie vermissen, Karlsruhe, Ludwigsburg, Potsdam,
Kassel? Auch die Fürsten haben manchmal etwas geleistet, das unvergänglich ist - so ist heute der
Gedanke aufgetaucht, eine Städtegründung zu machen. Ich begrüße ihn. Irgendwo im Herzen von
Deutschland, in einem Wald, auf einer Heide sollen die neuen Gebäude erstehen, die eine bessere

Reichsleitung bewohne. Der Geist des Reichs muß sich erneuern. Nach festen Plänen werde
gebaut, Behörden, Sammlungen, landwirtschaftliche Güter finden ihre Stätte - Fabriken sollen nur
in beschränktem Umfang geduldet sein, als Musteranstalten, wie alle anderen Betriebe.
Dem Geist von Berlin muß ein anderer entgegengestellt werden, der Geist von Deutschland!
16 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Ludwig Finckh (1876, Reudingen - 1964, Gaienhofen/Bodensee). Studium von Jura und Medizin; ab 1905
am Bodensee. Im 1. Weltkrieg Lazarettarzt. Seine Gedichte und Romane
Arzt und Schriftsteller bei Radolfszell
sind der schwäbischen Landschaft und der deutschen Geschichte verbunden.

6
Arnold Zweig: Grabrede auf Spartacus. In: Die Weltbühne 15
(23. Januar 1919), Nr. 4, S. 75-78.

Der Gedanke, die Leidenschaft des Geistes, die Idee sind stets in der Minorität. Das Leben,
irrational und von sich selbst besessen, läßt sich von ihnen bestenfalls einengen, manchmal
schulen, kaum im Ablauf beirren, nur mit äußerstem Widerwillen leiten. Um das Leitende zu
werden, um über das Leben dennoch zu siegen, bedarf es der Opfer menschHcher Wesen; und
antipodisch zur Gewalt, siegt die Idee, indem sie ihre eigenen Träger opfert. Nicht legt sie fremde
in Gräber und erwartet daraus ihr Heil, wie die feige, schändliche, ewig unfruchtbare Gewalt: ihre
eigenen Söhne und Tochter gibt sie dahin, im Tausche für ihr Edelstes gewinnt sie das Leben.

Mit diesem Aspekt erheben wir uns über das Lähmende der Trauer und die Vergeblichkeit der

Klage. Denn es ist über Nacht gekommen, daß Karl Liebknecht [1] und Rosa Luxemburg [2], der
Stiefsohn und die echte Tochter der Idee, dahingegangen sind; und während wir glaubten, daß nur
Spartacus geendet habe, ein Bastard aus Idee und Gewalt, die Kinder des Geistes aber in einer

heilsamen und treibenden Machdosigkeit ihre eingeborene Bahn weiter kreisen würden, sind auch
sie selbst in die leiblose Gestalt eingegangen, die ihnen eigentHch gemäß ist, und in der sie wirken
werden bis zum jüngsten Tage, nach dem ihnen eingeborenen Gesetz. Ja, sind sie nicht eigentlich

zu diesem Gesetze jetzt erst zurückgekehrt? Haben sie es nicht verlassen, als sie »Spartacus«

wurden?
Die Leidenschaft des Geistes, gerichtet auf eine Vermenschlichung, Reinigung und Heiligung
des irdischen Lebens, und hoffnungslos in der Minderheit, strebt unaufhörlich danach, Schöpfer
zu werden und greifbar- tätig zu wirken, zu formen, zu gestalten, was mit dem Auge des Geistes
sie

sieht: die Kameradschaft der Menschen. Die Seelen der Menschen muß sie erfassen; in dieser
reinen Sphäre des vorgelebten Beispiels, zur Nachfolge aufreizend, muß sie sich vollenden. Aber
verzweifelnd ob der Langsamkeit dieses Weges, toll vor Ungeduld über die zähe und widerspän-
stige Natur des Menschen, sieht sie nach Hilfe um: und in diesem Augenblick naht sich ihr die

Verführung - ihr naht sich die Gewalt, ihr Antipode, ihr Gegengeist und Gegenungeist, ihr
Versucher und beständiger Feind, und zeigt ihr das Mittel, welches ihr, der reifen Erkenntnis,
legitim zukomme: sie habe das Recht, die Menschen vorwärtszupeitschen, aus der allgemeinen
Katastrophe der Gewalttaten durch noch ein wenig Gewalttat mehr wenigstens die Grundlinien
bessern Lebens zu retten, herv^orzuzwingen. Dieser hohe Zweck heilige selbst die Gewalt - sagt die
Gewalt. Was sie nicht sagt, ist dies: daß durch solches Mittel die Idee sich selbst aufgibt und an ihr

Widerspiel überantwortet. Aber der teuflische Versucher hat die Logik für sich, die selbst schon
eine Versuchung ist: und der Träger der Idee erliegt nur dann nicht, wenn er ein Genie ist, ganz
unbewegbar um sein Zentrum versammelt und wie nachtwandelnd sicher jenes Mittels, das ihm
Die Überfordertc Revolution 17
(
gemäß ist (und das doch wieder ein ganz winziges Tröpfchen Gewalt enthält, aber seelisch
verteilter Gewalt, die wie das Eisen im Blute gelöst ist): der Erziehung durch das Beispiel.
Weder Rosa Luxemburg noch Karl Liebknecht waren dies Genie; alles Geniale fehlte ihnen

völlig. Dennoch trugen sie die Idee und nur sie. Ohne Rücksicht auf sich selbst, ohne jede Furcht
vor der Gewalt schrien sie gegen das Gesetz an, das den Menschen gegen den Menschen
bewaffnet, um andern Menschen Machtzuwachs zu erzwingen. Unvergeßlich wird Karl Lieb-
knechts Gestalt werden, das ist gewiß; aber nicht der siegreiche Agitator auf dem Dach des mit
Maschinengewehren drohenden Lastautos, sondern der krampfgeschüttelte Abgeordnete auf
dem Rednerpult des Reichstages wird unsterblich sein: er, der umtobt vom Geschrei und der
Raserei des bürgerlichen Gesindels ihnen den Protest und die Wahrheit ins Gesicht schrie, daß sie

Exponenten des kriegsgewinnlerischen Kapitals seien und nichts andres; Exponenten des Getrei-
des, der Kartoffel, der Baumwolle, des Zuckers, des Stickstoffs, des Stahls, der Kohle und der
Zeitung - der Einzige, der den Mut hatte, zu protestieren, und den sie niederschrien, rasend über

ihre Ohnmacht gegen diesen Menschen, der dort stand und schrie. Aus Eitelkeit dastand und
schrie, heult noch heute die Presse; als ob das von der Wahrheit des Protestes das Mindeste

wegnähme. Damals war Liebknecht der Heros des in der Infanterie-, der Batteriestellung ohnmäch-
tig rasenden gemeinen Mannes, und sein Name, seine Forderungen sta«den in den Briefen der
Frauen, die so etwas zu schreiben wagten. Und als dann die Wut des Bürgers mit seiner Klugheit
durchging, als die vorsichtige Erwägung, man solle keinen Märtyrer schaffen, vor dem Ingrimm
verstummen mußte, diese verhaßte Figur unter allen Umständen zu beseitigen, schweigen, ver-

schwinden zu machen: da sprach, nach dem letzten der beiden Urteile, der gemeine Soldat nicht
mehr von ihm, aber er dachte an ihn umso inbrünstiger, je hoffnungloser er den Krieg und die
große Zeit ohne Ende vor sich sah, und der einzige Abschluß des höllischen Daseins ein Granat-
splitter blieb, machte. Manchmal, wenn man ganz unter sich zu sein gewiß war,
der gründlich d. u.

raunte man dann von dem Kameraden, den zwar Dreck, Nässe und Feuer, Läuse, Erschöp-
ihm,
fung und der stete Alarm verschonten, der aber umso schlimmer von den Klauen derselben Bestie
gepeinigt woirde, die einen selbst weg hatte: dem Militarismus, dessen schärfste Form das Zucht-

haus hieß. Er hungere; er sei krank; er werde nie wieder herauskommen: dies sei der Zweck der
Übung . . . Nun, er kam heraus, er stand, die rote Fahne neben sich, aller Hemmung bar auf dem
Balkon des Königlichen Schlosses zu Berlin - eine, aber doch eine wilde und selige Minute der
Entschädigung für furchtbare Monate. Wir wissen, was ein Geistiger im Zuchthause leiden mag;
und mit vor Verachtung unbewegtem Gesicht lesen wir, daß nur pathologische Eitelkeit Karl

Liebknecht in die Zimmer Wilhelms des Zweiten getrieben haben könne.


Weniger sichtbar als Individuum, unvergeßlich als Typus, steht die Gestalt Rosa Luxemburgs in
diesen Tagen. Sie war, sie ist die jüdische Revolutionäre des Ostens, die bis in jede Fiber antimilitari-

stische, der Gewalt feindliche, schließlich selbst der Gewalt verfallene, ein Leben lang kämpfende
Trägerin der Idee. Jüdinnen dieser Art, geweiht in ihrer Besessenheit und ganz rein in ihrem
Wollen, haben den Zarismus gestürzt; sie haben die Nagaika [3] des Kosaken verlacht, sie haben
die Gewehre der Soldaten nicht zu sehen und die Splitter der von ihnen selbst bereiteten und
geschleuderten Bombe nicht zu fürchten geruht; sie sind gradeaus gegangen wie der logische

Gedanke, dem sie sich verschrieben, und sie haben überall im Sterben noch Denjenigen verachtet,
.

18 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

der sie zu töten, aber nicht zu widerlegen vermochte. Jael und Judith sind ihre legendären
Schwestern; aber Rosa Luxemburg mag diese Schwestern die sich ihres Körpers bedienen mußten,
um den Gewaltmenschen zu töten, verachtet haben, denn in ihr hämmerte der Gedanke, das wilde,
fleischlose, über Wirklichkeit und Opportunität gradeaus ins Unbedingte zielende Wort. Diese
Jüdinnen, die das Volk, das sie hervorbrachte, um der direkten Tat für die Menschheit willen
verließen, mögen in romanischen Ländern überflüssig sein, wo die Logik und der Wille zur
radikalen Hingabe in der eingeborenen Rasse selbst Fleisch wird; den weichern und unschlüssigen
Völkern des Nordens und Ostens haben sie Unheil und Heil gebracht: Frauen und darum weniger
von Hemmungen gehalten, Jüdinnen und darum der gerechtern Gestaltung dieses Daseins ver-

schrieben, rastlos und von Ungeduld geschüttelt, ohne Wissen von den besondern Wegen und
Zielen des russischen oder deutschen Volksgeistes, haben sie den Ideen der Revolution gelebt, und
ihnen sind sie gestorben. Wir sind sicher, daß die Fäuste der Bürger oder die Kolben, die sie töteten,
umso wilder zuschlugen, weil sie eine Jüdin war, unheimlich fremd wie ein Kobold der Bedürfnislo-
sigkeit, des Opfermuts, der Häßlichkeit und Radikalität - uns aber teuer, weil sie unsres Geistes voll
war und ein tapferer Soldat im Kampfe der Menschheit.
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg: neben den Toten des Dezembers und des Januars liegen

ihre Leichen im Grundbau der deutschen Republik, der sozialistischen Freiheit. Sie wird Großes zu
leisten haben, um dieser Toten wert zu sein. Vergeßt den Irrweg, den sie vor ihrem Ende gingen,
und gedenket ihrer als Dessen, was sie waren: Urheber der deutschen Revolution, heilige Werk-
zeuge des Schicksals, Hebel einer neuen Zeit. Ihr werdet viel zu tun haben, damit es eine bessere
Zeit sei als die alte, die für sich mit Gewalt Millionen von Leichen auftürmte und doch keinen
Bestand hatte. Möge Triumph heulen, wer immer wolle; mögen Diejenigen, denen diese Beiden

Feindschaft und Haß geschworen hatten, laut oder leise die anonymen Kugeln und Fäuste preisen,
die ihnen diese Gegner aus dem ungewissen Wege geräumt haben: wir wissen, daß sie, umleuchtet
von der dunkeln Glorie ihrer Sendung, in der Sphäre dieser Zeit weiter hausen, geistig und
geisterhaft, rastlos gepeitscht vom Schicksalswind, Söhne des Feuers, welches jeden Winter

bekämpft, und das von sich singt:

Ja! ich weiß, woher ich stamme:


Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr' ich mich . .

Licht wird alles, was ich fasse,

Kohle alles, was ich lasse:

Flamme bin ich sicherlich. [4]

Arnold Zweig (1887, Glogau - 1968, Berlin-Ost), Sohn eines Sattlers, Studium der Literaturwissenschaft und
Nationalökonomie, Teilnahme am Krieg in Serbien und Frankreich. 1919-1923 freier Schriftsteller am
Starnberger See. Dann Übersiedlung nach Berlin. Redaktion der Jüdischen Rundschau. Emigration 1933 nach
Palästina.1948 Rückkehr nach Berlin. 1950-53 Präsident der Ostberliner Deutschen Akademie der Künste.
Umfangreiches erzählerisches, dramatisches und essayistisches Werk, das mit der Novelle Vorfrühling 1909
beginnt. Seine wichtigsten Werke der 20er Jahre: Der Streit um den Sergeanten Grischa {1927) Junge Frau von
1914 (1931), und die Essaybände Caliban {1927), Juden auf der deutschen Bühne (1927), Bilanz der deutschen
Judenheit 1933 (1934).
Die überforderte Revolution 19

Der Spartakusbund war eine nach dem Sklaven Spartacus, dem Führer des großen römischen Sklavenaufstands
73-71 V. Chr. benannte radikalsozialistische Bewegung, die aus pazifistischer Perspektive ab 1917 gegen die
SPD-Politik kämpfte und für die Errichtung einer Räterepublik in Deutschland nach sowjetischem Muster
agitierte. 1919 entstand daraus die Kommunistische Partei Deutschlands. Rosa Luxemburg und Karl Lieb-

knecht waren die geistigen Führer des Spartakusbundes. Zu dessen Selbstverständnis vgl. das Manifest Was will
der Spartakusbund?, das am H.Dezember 1918 in der Roten Fahne (am I.Februar auch in der Aktion)
abgedruckt ist. Die für das Verständnis des Zweigschen Essays relevanten Passagen dieses mehrseitigen
Manifests lauten: »Der Spartakusbund ist keine Partei, die über der Arbeitermasse oder durch die Arbeiter-
masse zur Herrschaft gelangen Der Spartakusbund ist nur der zielbewußte Teil des Proletariats, der die
will.

ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichdichen Aufgaben hinweist, der in
jedem Einzelstadium der Revolution das sozialistische Endziel und in allen nationalen Fragen die Interessen der
proletarischen Weltrevolution vertritt.

Der Spartakusbund lehnt es ab, mit Handlangern der Bourgeoisie, mit den Scheidemann-Ebert, die Regie-
rungsgewalt zu teilen, weil er in einer solchen Zusammenwirkung einen Verrat an den Grundsätzen des
Sozialismus, eine Stärkung der Gegenrevolution und eine Lähmung der Revolution erblickt.
Der Spartakusbund wird es auch ablehnen, zur Macht zu gelangen, nur weil sich die Scheidemann-Ebert
abgewirtschaftet und die Unabhängigen durch die Zusammenarbeit mit ihnen in eine Sackgasse geraten sind.
Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideuti-
gen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in ganz Deutschland, nie anders als kraft ihrer
bewußten Zustimmung zu den Aussichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes.
Die proletarische Revolution kann sich nur stufenweise, Schritt für Schritt, auf dem Golgathaweg eigener
bitterer Erfahrungen, durch Niederlagen und Siege, zur vollen Klarheit und Reifejjurchringen.
Der Sieg des Spartakusbundes steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Revolution: er ist identisch mit
dem Siege der großen Millionenmassen des sozialistischen Proletariats.
Auf, Proletarier! Zum Kampf! Es gilt eine Welt zu erobern und gegen eine Welt anzukämpfen. In diesem
letzten Klassenkampf der Weltgeschichte um die höchsten Ziele der Menschheit gilt dem Feinde das Wort:
Daumen Auge und Knie auf die Brust!«
aufs
Wilhelm Herzog (1884-1960), ein radikaler Verfechter des Rätegedankens und der Spartakusbewegung,
distanzierte sich bezeichnenderweise von den terroristischen Anklängen des Spartakusmanifests (in: Die
Republik 1 vom 15. Dezember 1918, Nr. 13, S. 1) wie folgt: »Diese Revolutionäre wollen keinen Terror. Sie
wollen nicht durch Gewalt wirken. Sie bedürfen dieser Kampfmittel nicht, weil sie keine persönliche Feind-
schaft kennen, sondern Einrichtungen bekämpfen. Weil sie weder Naivlinge noch Illusionäre sind. Sondern
Vernunftmenschen, deren Gerechtigkeitssinn und Sozialismus revolutionär wirken muß, was auch immer an
Gewalt sich ihnen entgegenstellen mag. Die Leuchtkraft dieses Manifestes ist unverkennbar. Was ihm fehlt,
was ihm - infolge der scharfen Zuspitzung der heute noch vorhandenen wirtschaftlichen Gegensätze -
vielleicht fehlen muß, ist jene Milde, jene tolstoische Menschlichkeit, die den Revolutionär, der seines Sieges
gewiß ist, nie verlassen soll. Und der außerordentliche Wert dieses Aufrufs wird gemindert durch den fast

wilhelminischen Imperativ, der den Schluß verunziert: >Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust.<
Abgesehen davon, daß dieses Wort, daß dem Feinde gelten soll, Spartakus' eigenen Grundsätzen wider-
einem Menschen den Daumen aufs Auge und die Knie auf die Brust drücken. Nicht
spricht, wir wollen niemals
etwa, weil wir zu feig, zu schonungsvoll, zu zag mit unseren Feinden umzugehen beabsichtigen, sondern weil
wir Gewaltanwendung verachten und sie - vor allem - für kein Argument halten. Wir wollen die Avantgarde
jener sein, die durch Vernunft den Sieg des Rechts zu erzwingen suchen. Unbekümmert um den Haß,
Verachtung, Verkennung, denen eine solche Betätigung ausgesetzt ist. Wir wollen anfeuern und antreiben. Um
dieMenschheit aus den selbstgeschmiedeten Fesseln zu befreien, um sie aus dem Mittelalter herauszuführen
und ihr nach so viel Qual und Demütigungen, nach so viel Not und Entbehrungen, gegen ihre Ausbeuter und
Bedrücker zu helfen. Um ihr endlich gesicherte Stätten der Arbeit und nach so viel düsterem Elend wieder
Genuß und ein bißchen Freude zu schaffen. Wir wollen die Verjüngung der Menschheit, Dazu ist notwendig,
daß die alte abstirbt. Um also bauen zu können, müssen wir erst niederreißen.«

1 Karl Liebknecht (1871 - ermordet am 15. Januar 1919), nach Jurastudium Rechtsanwalt, ab 1900 politisch
aktiv. Wurde am I.Mai 1916 nach einer Antikriegskundgebung verhaftet und verurteilt. Nach seiner
Freilassung in der Novemberrevolution wurde er Mitbegründer und Führer des Spartakusbundes. Schrieb
20 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

neben agitatorischer Publizistik auch Gedichte (veröffendicht in der Sammlung Wir sind die rote Garde, hrsg.
von E. Zenker, Leipzig 1 959) und Briefe aus dem Felde. Berlin 1919. Gesammelte Reden und Schriften. Berlin
1958 ff.
2 Rosa Luxemburg (1871 - ermordet am 15. Januar 1915), geboren in Polen, studierte nach der Flucht aus
Polen Nationalökonomie in Zürich (Dr. jur.), danach Übersiedlung nach Deutschland. Mehrmals kurzfristig
im Gefängnis wegen antimilitaristischer Agitation. Schrieb z.T. im Gefängnis zahlreiche Beiträge zur
wissenschafdichen Theorie des Marxismus und zur Kritik an der Sozialdemokrade. Sie übersetzte auch
Kampflieder des polnischen Proletariats ins Deutsche und schrieb Artikel über literarische Fragen. Setzte
sich in der deutschen Arbeiterbewegung für die Aufnahme der russischen realistischen Literatur des
Posthume Veröffendichungen: Briefe auf dem Gefängnis (1922); Die Russische Revolu-
19. Jahrhunderts ein.
tion (1922); Ausgewählte Reden und Schriften (2 Bde) 1951.
3 Nagaika: die aus Lederriemen geflochtene Kosakenpeitsche.
4 Das Gedicht ist der vollständig abgedruckte Text des Gedichts Ecce Homo von Friedrich Nietzsche (in: Die
fröhliche Wissenschaft).

7
W.: Revolutionäre Literaten. (Zum Hochverratsprozeß Toller),
In: Frankfurter Zeitung (18. Juli 1919) Nr. 523.

Die aufgeregte Sorge um das Leben Ernst Tollers, die weite revolutionäre Kreise des In- und
Auslandes und die Gefolgschaft von protestfreudigen Literaten zu zahlreichen schwungvollen
Kundgebungen veranlaßt hatte, hat sich, wie vorauszusehen war, als mindestens übertrieben
herausgestellt. [1] Der jugendliche Field der Münchener Räterepublik, das Oberhaupt ihrer Regie-
rung und der Höchstkommandierende der Roten Armee, ist in dem FJochverratsprozeß vor dem
Standgericht mit dem gesetzlichen Strafminimum von fünf Jahren Festung davongekommen.
Das Gebot der Gerechtigkeit erfordert, bei dieser Gelegenheit einmal festzustellen, daß die
Münchener Standgerichte, deren Existenz wir darum durchaus nicht etwa rechtfertigen möchten,

sich im allgemeinen als besser als ihr Ruf erwiesen haben. Abgesehen von dem Fall des russischen
Bolschewisten Levine [2] , in dessen Person das Standgericht das Prinzip des blutigen Terrorismus
zu treffen suchte, ist nicht ein einziges Todesurteil ergangen, und selbst die Zuchthausstrafe wurde
nur in zwei Fällen verhängt, in denen den Angeklagten Ehrlosigkeit der Gesinnung zur Last gelegt
wurde. Bei dem einen der beiden handelte es sich um den Rechtsanwalt Wadler [3] den das Gericht ,

als den Typus jener üblen Sorte politischer Streber und Geschäftemacher brandmarken wollte, die

sich - im Kriege noch Vertreter alldeutscher Scharfmacherinteressen - nach der Revolution den
Arbeitern als Führer aufdrängten. In den zahllosen übrigen Prozessen haben die Standgerichte
selbst gegen die mit der Waffe am Aufruhr Beteiligten unter Anerkennung ihrer ehrenhaften

Gesinnung lediglich Festungsstrafen ausgesprochen. Arbeiter werden auf Festung geschickt,


wohin früher höchstens Duellanten und besonders bevorzugte Majestätsbeleidiger kamen! Immer-
hin doch ein Wandel im Walten der deutschen Justiz! Zwar muß das Ausmaß der Freiheitsberau-
bung im Rahmen der Festungsstrafen recht ungleich, fast willkürlich erscheinen. Es ist nicht

einzusehen, warum z.B. über Mühsam [4], dem in der Räterepublik gewiß nicht die Bedeutung
eines Toller zukam, mit der FJöchststrafe von 15 Jahren ein dreimal härteres Urteil als über diesen
gefällt wurde.
Die überforderte Revolution 21

Im Grunde sind Mühsam wie Toller revolutionäre Naturen gleicher Art, beide erfüllt von dem
Überschwang ihres dichterischen Temperaments, beide als Politiker ohne Urteil und Halt und so
zum Unheil geschaffen. Dem Bohemien-Poeten Erich Mühsam sind im Kriege ein paar Revoluti-

onslieder gelungen, die unstreitig zum Besten gehören, was die deutsche Revolutionslyrik hervor-
gebracht hat. Sie erinnern im Rhythmus und Pathos an Herwegh [5] Aber wie Erich Mühsams .

dichterische Leistung im ganzen weit zurückbleibt hinter dem hohen Flug dieser »eisernen Lerche«
der 48er Revolution, deren schmetternde Weisen das deutsche Volk in helle Begeisterung ver-
setzte, so reicht auch die politische Gesamterscheinung Mühsams nicht entfernt an die Georg
Herweghs heran. Hat schon der gefeierte Freiheitssänger sich seiner politischen Rolle nicht

gewachsen gezeigt, so ist Mühsam, an den großen Maßstäben der Gegenwart gemessen, im Guten
wie im Schlechten nur dessen zwerghafter Epigone geblieben.
Toller steht unzweifelhaft kulturell und geistig über Mühsam. Er ist ein Jünger Kurt Eisners [6],

ihm an ursprünglicher dichterischer Begabung entschieden überlegen, aber ohne das tiefe Wissen
dieses streitbaren Kopfes und ohne den Wirklichkeitssinn, der jenem bis zu einem gewissen Grade
eigen war. Eisners politische Persönlichkeit ist stark umstritten, die seines Schülers Toller aber liegt

jetzt schon in ihren Grundzügen klar zu Tage. Das durchaus von Wohlwollen diktierte Gutachten
eines menschenkundigen Beobachters vom Range Max Webers [7] hat sir^uf die Formel gebracht:
»Absolute Lauterkeit der Absichten, gepaart mit ungewöhnlicher Weltfremdheit und Unkenntnis
der politischen und wirtschaftlichen Realitäten.« Solche Weltfremdheit und Unkenntnis pflegt

vielfach mit Idealismus verwechselt oder entschuldigt zu werden. In der Tat war in der Verhand-
lung gegen Toller außerordentlich viel von den Idealen des Angeklagten die Rede, merkwürdiger-
weise nur wenig von dem einen Ideal, um dessentwillen ihm der Prozeß gemacht wurde. Von
Tollers innerem Verhälmis zur Räterepublik hörte man so gut wie nichts. Es schien fast vergessen
zu sein, mit welcher Leidenschaftlichkeit sich Toller als Leiter der Räteregierung und Höchstkom-
mandierender der Roten Armee für diese Idee eingesetzt hatte, sodaß noch lange nachdem ihm
selber ihre Unhaltbarkeit zum Bewußtsein gekommen war, unzählige arme Menschen für ihre

Verwirklichung begeistert in den Tod gegangen sind. Auch als er in seinem Schlußwort [8] von der
Revolution sprach, die siegreich weiter durch die Welt schreite, vermied der Vorkämpfer der
bayerischen Räterepublik, im Gegensatz zu dem in dieser Beziehung aufrichtigeren Mühsam, ein
Bekenntnis zum Ideal dieser Staatsform. Umsomehr mußte es auffallen, daß einer seiner Verteidi-
ger es für angebracht hielt, zu betonen, der Angeklagte sei nicht so sehr der Treiber als vielmehr der
Hintertreiber der Räterepublik gewesen. Einige Tage, bevor er sich selbst in Sicherheit brachte,

forderte Toller in einem schwülstigen Tagesbefehl die Rote Garde auf, bis zum letzten Blutstropfen
den Kampf auszuhalten. Sein Verteidiger Hugo Haase[9] sagt, das sei ein taktischer Trick
gewesen, damit die Roten Soldaten keinen Verdacht schöpfen sollten, weil ihr Führer gerade dabei
war, mit den Regierungstruppen zu verhandeln. Manche werden finden, daß ein solches Verhalten
eine verzweifelte Verwandtschaft mit der berüchtigten Taktik des Herrn Schneppenhorst[10]
aufweise, über die sich Toller und sein Anhang moralisch so entrüsteten. Viele werden der Ansicht
sein, daß solche und ähnliche Widersprüche sich nicht ganz einwandfrei in das Bild des Charakters
fügen, der von den Verteidigern und zahlreichen Zeugen so überschwenglich verherrlicht wurde.
Und doch braucht dieser Zwiespalt der Eindrücke noch nicht der Überzeugung Abbruch zu tun.
22 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

daß der jugendliche Enthusiast Toller in jedem Augenblick tatsächlich von dem ehrlichen Bestre-
ben durchdrungen war, den unheilvollen Gang der Entwicklung zum Bessern zu lenken. Man
kann in den Verzerrungen, die das Bild seiner Erscheinung erfährt, deutlich die Reflexe der

Bühnenbeleuchtung erkennen, in die sich der Held der bayerischen Revolutionstragödie zu stellen
beliebte. Die Rücksicht auf die theatralische Wirkung besdmmte auch unbewußt in jedem Mo-
ment die Gesten und Posen des von den Geistern der Kulissenwelt beherrschten jungen Dramati-
kers. Seine Rolle war der Ausfluß eines exaltierten Gemütes, dessen psychopathische Veranlagung
nach Sachverständigenurteil kaum einem Zweifel unterliegt.

Auf den vom Mühsam und Toller und einer Reihe geistig verwandter problematischer Naturen

geschaffenen schwankenden Grundlagen erhob sich die bayrische Räterepublik, die so viel Unheil
über das Land gebracht hat. Dafß solche Führer in den Arbeitermassen Gefolgschaft finden
konnten, ist nur aus der Verwirrung der Geister zu erklären, die die Not und die Verzweiflung der
Zeit angerichtet hat. Max Weber sprach im Gerichtssaal von Revolutionen, deren Zweck es sei,

daß die Intellektuellen ihren Mund Spazierengehen lassen, und deren Lasten dann das Proletariat

20 bis 30 Jahre auf seinem Rücken zu tragen habe. Die Einsicht in diese Zusammenhänge scheint

schon jetzt bei der Münchener Arbeiterschaft zu dämmern. In einer Betrachtung des neuen
unabhängigen Organs Der Kampf heißt es zum Mühsamprozeß, es sei eine unglaubliche Schwä-
che der Revolution gewesen, daß es einem Manne wie Mühsam möglich war, in der Arbeiterbewe-
gung überhaupt eine Rolle zu spielen. Heute jedenfalls sei er für die soziale Revolution in den
Augen der Arbeiter erledigt. Man könne nicht glauben, daß die Regierung unter allen Umständen
Märtyrer aus Leuten machen wolle, »die bei den Arbeitern ohnehin unten durch sind«. - So spricht
das Blatt der Münchener Unabhängigen von Opfern der Standgerichte. Das ist der Dank an Führer,
denen die Massen nun einmal niemals vertrauen werden.
Toller mag dieses Schicksal empfunden haben, als er durch seine Verteidiger mehrfach andeuten
ließ, daß er nicht ins politische Leben zurückkehren werde.

Ernst Toller (1893, Samotschin/Posen - 1939, New York, durch Selbstmord), Sohn eines Kaufmanns.
Gymnasium und Studium der Rechte, meldete sich 1914 in München als Kriegsfreiwilliger. 1916 als kriegsun-
tauglich aus dem Kriegsdienst entlassen, smdierte er in München und Heidelberg. Bekanntschaft mit Max
Weber, Richard Dehmel, Gustav Landauer und vor allem mit Kurt Eisner, dem er nach München folgt. Beim
Januarstreik der Münchener Munitionsarbeiter verteilte er Flugblätter mit Szenen aus seinem Stück Die
Wandlung 2Ln die Streikenden. Nach der Ermordung Eisners am 21. Febr. 1919 fällt ihm der Vorsitz der USPD
und später die Stelle des ersten Vorsitzenden im Zentralrat der bayerischen Arbeiter-, Bauern- und Soldaten-
räte zu. Wurde gegen seinen Willen zum Kommandanten der Roten Garde gewählt und stürmte mit seinen
Truppen das von den Regierungstruppen besetzte Dachau. Wurde steckbrieflich gesucht und am 4. Juni in
einem Versteck gefunden und verhaftet. In einem öffendichen Standgerichtsverfahren wurde er wegen
Hochverrats am 16. Juli 1919 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt.
Der abgedruckte Artikel schließt die Berichterstattung der Frankfurter Zeitung vom Hochverratsprozeß
Toller ab. Prozeßberichte - mit »W« signiert - erschienen am 15. Juli 1919 (Nr. 515 und 616), am 16. Juli 1919
(Nr. 5 1 8) und am 1 7. Juli 1919 (Nr. 520 und 521 ). Am 1 6. Juli wurden u. a. Tollers Verdienste als Dramatiker vor

Gericht verhandelt. Dazu heißt es: »Die drei folgenden Zeugen Geheimrat Martersteig, Schriftsteller Max Halbe
und Björn Björnson aufwerten sich über ein dramatisches Werk Tollers, das er von 1917 auf 1918 schrieb.
Geheimrat Martersteig meint, daß sich in diesem Falle der Held des Stückes von der seines Autors nicht
trennen lasse. Danach sei Toller ein von starker Sittlichkeit durchpulster Mensch, der bis zu den letzten
Konsequenzen aufrichtig sagt, was er unter dem Erlebnis dieser Zeit gefühlt habe. Das Werk gipfelt in dem
<

Die überforderte Revolution 23

Entschluß, sich hinzugeben an die Bewegung unserer Tage und als Märtyrer das Kreuz auf sich zu nehmen.
Max Halbe sieht in Toller nach der Lektüre des Dramas einen Menschen von ethischer Reinheit, der am Leben
leide und am Leid der Menschen schwer trage. Björnson bestätigt die Eindrücke der beiden vorhergehenden
Zeugen und stellt Toller nach diesem Wort als Dramatiker noch über Fritz von Unruh.

Professor Max Weber, der Toller von der Heidelberger Universität her kennt, bezeichnet ihn als einen
Menschen von ganz lauterem Charakter, der aber ohne Verantwortungsgefühl handelte, wenn auch aus reiner
Gesinnungsethik heraus. Er habe den Eindruck eines jungen Mannes gemacht, der hochgradig labil war und
dabei über die Gedanken und Probleme unserer Zeit eine noch möglichst verworrene Anschauung hatte.
Ohne es selbst zu wissen, habe er sich meist nur an die hysterischen Instinkte der Masse gewandt, wobei er
gefühlsmäßig weiter getragen wurde, als seiner eigenen Absicht entsprach. Allen politischen Realitäten
gegenüber war er weltfremd.
Unter den weiteren Zeugen, die im wesentlichen der Entlastung des Angeklagten dienen, bekundet einer,

daß Toller mitihm am Tage des Geiselmordes ins Luitpoldgymnasium ging und dort noch sechs Geiseln aus
dem Keller befreite. - Thomas Mann und Carl Hauptmann bestätigen in schriftlichen Gutachten das literarische
Urteil über Toller, das von den vorhergehenden Zeugen dargelegt worden war. - \n einem Brief des Ministers
Wolfgang Heine an die Verteidigung heißt es: >Die ganze Politik, die die bayerische Regierung seit dem
November 1918 geführt hat, war geeignet, die Grenzen zu verwischen, die zwischen einer legalen Staatsord-
nung und einem Zustand gewaltsamer Untergrabung und Zerstörung gezogen werden muß. Diese Politik zeigt
keinen Willen zu einer Neuordnung, sondern war ein Umsturz in Permanenz, ein Herabgleiten von einer Stufe
zur andern bis zur Räterepublik und der Tyrannei der Roten Garde. Eine derartige politische Entwicklung
mußte in einem jungen, politisch unreifen Kopf, in einer Dichterseele, Verwirrung anrichten und das Gefühl
für Pflicht, Ordnung und Arbeit vernichten. Toller ist kaum persönlich verantw^ortlich zu machen, wenn er
auch in seinem überstiegenen Idealismus sich berechtigt hielt, die Verfassung, die niemals rechdich Leben
gewonnen hatte, weiter revolutionär umzugestalten. Die Schuld, daß es so weit gekommen ist, liegt an ganz
anderen Stellen.

Die Verhandlung dauert fort.«

Das als relativ milde empfundene Urteil im Fall Toller - weil ihm »ehrlose Gesinnung nicht zu Last gelegt
werden kann«, wie es in der Urteilsbegründung hieß - wurde von nationalistischen Kreisen heftig angegriffen.
Vgl. Fritz Behn, Ethos. In: E B., Freiheit. Politische Randbemerkungen. München 1920, S. 9-13, hier: S. 12f.:
»Wenn ein gewöhnlicher deutscher Staatsbürger, der kein ostjüdischer landfremder Revolutionär ist, im Affekt
oder in Not nur einen Mitmenschen totschlägt oder Beihelfer zum Totschlag ist, ist er ein Verbrecher, wird er zu
jahrelanger Zuchthausstrafe verurteilt. Wenn ein Offizier oder Soldat seine Truppe verläßt, wenn es zum Sturm
geht, ist er ein Lump und wird erschossen. Wenn Herr Toller in frivolem Ehrgeiz mit Überlegung das Leben
tausender von Bürgern gefährdet und dann ausreißt und sich versteckt, wird er mit fünfjähriger Festungshaft
bestraft (und hoffendich durch Amnestie schon in einem halben Jahre wieder freigelassen). Bisher war
Festungshaft eine ehrenhafte Strafe, aber Toller ist ja auch ehrenhaft, denn das Gericht betont, daß er nicht
ehrlos ist.

Es mir im Grunde gleichgültig, was Herrn Toller geschieht, ob er


ist lebt oder nicht, eingesperrt ist oder nicht
- aber Deutschland ist mir noch nicht ganz gleichgiltig.
Und nun komme ich zum Wichtigen.
Sind wir Deutschen denn wirklich innerlich so tief gesunken in unseren Empfindungen, die man früher die

heiligsten nannte, daß wir gar keine Unterscheidung mehr kennen zwischen Ehre und Unehre, Ethos und
Verbrechen? Ist es eine Begriffsverwirrung, die uns erfaßt, ist es Feigheit vor den )Massen< und ihren Phrasen,
die uns offen oder heimlich alle terrorisieren? Haben wir gar kein gesundes Urteil mehr - von gesunden
Empfindungen gar nicht zu reden?
Nein, alles bei uns ist zur Konjunktur geworden, zur öden Begrifflichkeit, die man umstellen kann, je

nachdem der Wind weht und die augenblickliche Opportunität es verlangt - seien es Geschäfte, seien es
Meinungen, das ist alles dasselbe. Ausgestorben sind Überzeugungen, Charakter und Mut.
Mit einem Wort: Alles ist bei uns Literatur geworden.
Das ist die Zeittendenz. Es gibt nur noch literarische Probleme, keine Taten. Es gibt nur noch Analysen und
psychologische Probleme - kein recht oder unrecht, kein gut oder schlecht - kein >Hier stehe ich, ich kann nicht
anders<, kein Mut der Überzeugung. Nur Gerechtigkeitsduselei, kein Gerechtigkeitssinn, d.h.: Es Allen recht
24 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

machen und dabei dem Recht ins Gesicht schlagen, alles zur Wahrheit machen und dabei die Wahrheit zur
Lüge machen. Literarisch wurden unsere Aktionen, Urteile, Kunst, Rechtsgefühl, Patriotismus, Politik.
Darum haben wir kein Vaterland mehr, keinen Charakter, keinen Glauben und kein Recht, keine Ordnung
und keine Arbeit.
Dem Literarischen opfern wir alle Grundlagen des öffendichen und persönlichen Lebens. Das Literarische
zerstört unser Ethos, entgöttert die Welt. Wir stehen in einer Wüste, verödet sind wir selbst. Der Literat nennt
das alles Menschlichkeit und Freiheit.
Literarisch war die ganze Revolution bisher - es ist kein Zufall, daß sie fast ausschließlich von landfremden
und jüdischen Literaten insceniert und gehalten wurde.
Aus Literatismus werden wir schließlich noch das wenige Wertvolle an Deutschmm verlieren, was uns aus
dem Chaos der Zeiten übrig blieb.
Aber Herr Toller ist ethisch, seine Taten voller Ethos werden wohl unser Deutschland überdauern.«

1 Da Levine, der Führer der kommunistischen Räterepublik, zum Tode verurteilt und am 5. Juni 1919
hingerichtet wurde, woirde auch im Falle Toller ein Todesurteil befürchtet.
2 Eugen Levine (1883-1919) wurde am 14. Mai 1919 in seinem Versteck in München entdeckt und verhaftet
und am 3. Juni von einem Standgericht wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Nach der Bestätigung des
Urteils durch den bayrischen Ministerrat wurde er am 5. Juni hingerichtet. Vgl. die Dokumentation bei
Rosa Meyer-Levine. Levine. Leben und Tod eines Revolutionärs. Erinnerungen. Mit einem dokumentari-
schen Anhang. München 1972.
3 Dr. Arnold Wadler, Mitglied (Wohnungskommissar) der Bayrischen Räteregierung, wurde zu sieben Jahren
Zuchthaus verurteilt.
4 Erich Mühsam (geb. 1878; 1934 im KZ Oranienburg infolge von Mißhandlungen gestorben). Ab 1901
freier Schriftsteller und Theaterkritiker. Herausgeber von Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit von 1911 bis

1919. Nahm 1918 an der bayrischen Revolution teil und wurde 1919 Mitglied des Zentralrats der
Bayrischen Räterepublik. Im gleichen Jahr zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt; war sechs Jahre im
Gefängnis. Vgl. seine autobiographische Darstellung der Entstehung der bayrischen Räterepublik 1918/19
Von Eisner bis Levine. Persönlicher Rechenschaftsbericht über die Revolutionsereignisse in München vom
in:

7.November 1918 bis zum 13. Aptil 1919. Berlin-Britz: FANAL-Verlag Erich Mühsam 1929. Eine
Sammlung seiner Bänkellieder und Revolutionsgedichte erschien 1968 unter dem Titel: War einmal ein
Revoluzzer.
5 Georg Herwegh (1817-1875), schrieb politische Gedichte und revolutionäre Lieder im Zusammenhang
mit der Revolution von 1848.
6 Kurt Eisner (1867-1919), ab 1917 Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokraten, war wegen seiner
Teilnahme am Streik der Rüstungsarbeiter im Januar 1918 bis zum Oktober 1918 in Haft. Er rief als Führer
der USPD am 7. November 1918 in München die Räterepublik aus und wurde bayrischer Ministerpräsi-
dent an der Spitze einer Regierung der Unabhängigen und der Mehrheitssozialisten. Toller traf Eisner erst

im Dezember 1917 in Berlin.Im November 1918 wurde Toller zum 2. Vorsitzenden des Vollzugsrats der
Bayrischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Nach Eisners Ermordung fiel die Führungsaufgabe dem
geistesverwandten Ernst Toller zu. Toller sprach am 24. Februar 1929 bei einer Eisner-Gedenkfeier in
Der Sozialismus und die Jugend.
Berlin über Kurt Eisner:
7 Neben dem Sozialwissenschaftler Max Weber gaben noch Thomas Mann, Max Halbe, Carl Hauptmann
und Björn Björnson Gutachten über den Fall Toller ab. Zudem wurden Tollers Gedichte und sein im
Manuskript vorliegendes Drama Die Wandlung herangezogen, um die ethische Grundhaltung des Ange-
klagten unter Beweis zu stellen.
8 Tollers Schlußwort vor dem Standgericht wurde in der Weltbühne 15 (2. Juli 1929) Nr. 27, S. 15-17
abgedruckt. Darin heißt es: »Die Revolution gleicht einem Gefäß, erfüllt mit dem pulsierenden Herzschlag
der Millionen arbeitender Menschen. Und nicht eher wird der revolutionäre Geist tot sein, als bis die
Herzen dieser Menschen aufgehört haben zu schlagen. Wir, die wir die Verhältnisse kennen, versprechen
dem werktätigen Volke kein Paradies. Wir wissen ganz genau, dais die nächsten Jahrzehnte uns entsetzliche
wirtschaftliche Zustände bringen werden, daß es der angestrengtesten Arbeit und des Verantwortlichkeits-
gefühls jedes Einzelnen bedarf, um diese Zustände zu beheben. Aber wir wissen auch, daß, wenn wir über
diese Zeit hinweggekommen sind, die kommenden Generationen ernten werden.
Die überforderte Revolution 25

Diese Revolution wird auch nicht haltmachen vor den veralteten Parteischablonen, auch nicht vor den
Staaten in ihrer heutigen Form. An Stelle dieser Staaten wird die Weltgemeinschaft aufgerichtet werden,
äußerlich gebunden durch ein Minimum von Gewalt, innerlich gebunden durch den Geist der Achtung vor
jedem einzelnen, durch den Geist des sozialen Verantwordichkcitsgefühls, durch den Geist der Liebe.
Man sagt von der Revolution, es handle sich um eine Lohnbewegung des Proletariats und will damit die
Revolution herabsetzen. Meine Herren Richter! Wenn Sie einmal zu den Arbeitern gehen und dort das
Elend sehen, dann werden Sie verstehen, warum diese Menschen vor allen Dingen ihre materielle Notdurft
befriedigen müssen. Aber in diesen Menschen ist auch ein tiefes Sehnen nach Kunst und Kultur, ein tiefes
Ringen um geistige Befreiung. Dieser Prozeß hat begonnen, und er wird nicht niedergehalten werden durch
Bajonette und Standgerichte der vereinigten kapitalistischen Regierungen der ganzen Welt.
Meine Herren! Ich bin überzeugt, daß Sie von Ihrem Standpunkt aus nach bestem Recht und Gewissen das
Urteil sprechen. Aber nach meinen Anschauungen müssen Sie mir zugestehen, daß ich dieses Urteil nicht
als ein Urteil des Rechts, sondern als ein Urteil der Macht hinnehmen werde.« (S. 16 f.)

9 Hugo Haase, 1918 als Führer der USPD Mitglied im Rat der Volksbeauftragen und dann der Weimarer
Nationalversammlung, starb am 17. November 1919 in Berlin an den Folgen eines politisch motivierten
Mordanschlages. Seine Verteidigungsrede im Prozeß Toller findet sich als Appendix in: Stefan Großmann,

Der Hochverräter Ernst Toller Die Geschichte eines Prozesses. Berlin: Ernst Rowohlt, 1919, S. 30-36.
10 Der bayerische Minister Ernst Schneppenhorst hatte zunächst den Anschein gegeben, der Räterepublik
freundlich gegenüberzustehen, während er in Wirklichkeit gegen die Räteidee wirkte.

8
Aufruf an das Proletariat. In: Die Tat 11 (November 1919) H. 8, S. 613-615.

Arbeiter! Hinter uns hegt der Zusammenbruch, und wir stehen im Chaos. - Der Zusammenbruch
mußte kommen, da die Grundlage jedes Gemeinlebens zerstört war: die Gemeinschaft. Ein
Gemeinleben kann nur gegründet sein auf dem engsten Zusammenwirken der Arbeit um die
äußeren Lebensbedingungen und der Arbeit um den inneren Lebensgehalt. Der Zusammenbruch
mußte kommen, da die Kluft zwischen diesen beiden Arbeiten sich immer mehr vertiefte.

Voneinander losgerissen, sind beide gleich losgerissen von ihrer Lebenswurzel, der Gemeinschaft.
Nur vereint können sie wieder Wurzel fassen: nur aus ihrer Vereinigung kann eine edlere Kultur, als
Gemeingut aller, wieder erwachsen. - Dies aber ist nicht möglich im Rahmen der alten kapitalisti-

schen Gesellschaftsordnung und mit den Mitteln des bestehenden politischen Betriebes. Politik im
herkömmlichen Sinne, die alten Parteien und ihre Programme haben ausgespielt. Heute gilt nur
Eines: Bekenntnis zu denen, die gleichen Zieles sind.

Brüder im Proletariat!

In dieser Gesinnung kommen wir zu euch und bekennen uns zu euch und unserer gemeinsamen
Aufgabe. Wir, die bisher einigermaßen in Freiheit von der Notarbeit des äußeren Lebens uns der
Geistespflege widmen konnten, kommen zu denen, die unter dem Zwange der Notarbeit um eine
reiche, freie innere Entwicklung betrogen wurden. Die Verächter der Masse, die Feinde des
Proletariats, die Gegner eueres Aufstieges sagen: Die Bewegung des Proletariats ist ungeistig, sie ist

nur eine verkappte sozialkapitalistische Bewegung für hohe Löhne, für Schlendrian und allgemei-
nen Zerfall; der Bauch ist der Gott dieser Bewegung. - An die Geistigen des Proletariats, an die

Denkenden, Entflammten, die für die Sache des werktätigen Volkes sorgen, kämpfen und arbei-
26 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

ten, wenden wir uns mit der Frage: Wollt ihr es zulassen, daß diese Worte des Hochmutes recht
behalten?
Wir wissen es anders; wir wissen, daß euere Bewegung nicht krasser Materialismus im Sinne
einer vergangenen Epoche ist, so wenig wie die großen Denker und Führer der Masse ungeistig
und imverantwortlich waren, von Plato bis Marx, von Proudhon bis Landauer, von Bebel bis zu den
Führern der russischen freien Gewerkschaften, die die wahren Träger der großen Sozialisierung in

Rußland geworden sind. - Ein großes Ziel schwebt vor allen, von dem leider die Mehrheit des
Bürgertums von heute nichts ahnt und nichts wissen will, ein Ziel der höchsten Menschlichkeit,
des Friedens und der Güte.
Unzählige Männer des kämpfenden Proletariats haben diesem Ziel in langer, geduldiger Schu-
lung ihres Willens gedient, haben ihm begeistert ihr persönliches Behagen, ja ihr Leben geopfert.
Wir erkennen das Geistige dieses Kampfes als einen Teil des großen Befreiungskampfes der
Menschheit; wir haben - und hatten schon immer - jeder auf seine Weise den Kampf gegen
Dummheit und Trägheit aufgenommen; wir erleben die jetzige Revolution in tiefster Seele und
erklären: Wir stehen ganz, ohne Rückhalt, auf euerer Seite.

Nichts von niederen wie höheren Gütern soll unser sein, wenn nicht für jeden im Volk der Weg
zu solchen Gütern frei ist; nichts von Lasten euch aufgebürdet werden, woran wir nicht ehrlich
mittragen. Wir erblicken in den Spaltungen der wirtschaftlichen Klassen und der poUtischen
Parteien die steilsten Mauern, die Seele und Seele, Geist und Geist voneinander trennen. Gemein-
sam wollen wir dafür streiten, daß sie stürzen! Nicht eher ruhen, bis auf dem ganzen Erdkreis von
den Mauern, die Haß und Blindheit errichtet haben, kein Stein mehr auf dem andern ist!

Wir führen diesen Kampf nicht mit, den Waffen der Gewalt. Wir glauben nicht an die Gewalt.

Gewalt weckt nur Gegengewalt, zerstört den Grund der Gemeinschaft, ertötet die Freiheit. Selbst

rechtiiche Gewalt, die auch den Gewalthabenden bindet, schafft nicht Freiheit und Gemeinschaft.
Sie gibt nur die Möglichkeit, daß wir in treuem Füreinanderarbeiten uns selbst wahre Freiheit

schaffen. Unser Kampf darf allein der des Geistes um den Geist sein. Werdet ihr durch die Gewalt
in die Gewalt mit hineingerissen, so richten wir nicht; aber wir warnen. - Ihr kämpft um die
Diktatur, weil ihr um euer Recht fürchtet? Was habt ihr zu fürchten, wenn ihr euer Bestes nicht

aufgebt, eueren sieghaften Glauben an Freiheit und Recht, an das Heil aller?

Einig müssen wir sein: Euer Hunger nach dem Wissen um ihre
Freiheit muß sich vereinen mit

geistigen Voraussetzungen, mit dem reinen Willen der Wahrheit und des Rechts. Dann kommen

wir zur lebendigen, schaffenden Tatgemeinschaft, dann sind wir die Macht! - Wenn euer gerechter
Trotz, euere zukunftsfreudige Unverbrauchtheit sich durchströmen läßt von den Kräften einer
innerlich freien und äußerlich aufrechten Geistigkeit, dann müssen falsche Trennungen von selbst

fallen. Dann ist es keine sinnvolle Frage mehr, ob Bürger oder Proletarier: Tot sind dann die
Klassen, frei der Weg zum freien Volk, Gleiche wir alle und Brüder!

Arbeiter!

Wir sind wenige, aber wir reden für die vielen, die zum gleichen Ziele streben, ohne bisher den Mut
des Bekenntnisses gefunden zu haben. Wir bieten euch die Hand zur Kampfgemeinschaft dieses

schwersten und edelsten Krieges: schlagt ein, und der Sieg ist unser!
Die überforderte Revolution 27

Der Aufruf wurde unterzeichnet u.a. von den Universitätsprofessoren Martin Dibelius, Willy Hellpach, Paul
Natorp, ferner Martin Buber, Hermann Herrigel, Alfons Paquet, Wilhelm Schäfer und dem Verleger Kurt
Wolff.
Vgl. auch den skeptischeren Artikel von Hans Natonek Kultur und Proletariat ehen(ii\\s in Die Tat 1 1 (August
1919) H. 5, S.382-385, hier S. 384: »Nun erheben die geistigen Führer des Proletariats den Ruf, der wie Alarm
klingt: Bringetden proletarischen Massen die Kulturwerte, schaffet ihnen die Möglichkeiten, zu einem
geistigen Leben zu gelangen! Nun soll in kürzester Frist nachgeholt werden, was durch die Schuld einer
jahrhundertelangen Entwicklung versäumt wurde. Fast sieht es so aus, als sollte die sozialistische Arbeiter-
schaft durch eine Kultur-, Bildungs- und Veredlungsmaschinerie hindurchgepeitscht werden, um das Ver-
säumte raschest einzuholen. Mit einem Feuereifer sind die sozialistischen Schulreformer und Volksbildner
nach dem 9. November an die Arbeit gegangen. Der Sturm der Erziehungsprogramme und kulturrevolutionä-
ren Manifeste weht auch heute noch fast unvermindert fort. Doch auch für das Proletariat ist kein >Nürnberger

Trichten gewachsen. Was dem Bürgertum in jahrhundertelangem, ruhigem und gesichertem Kulturbesitz in
Fleisch und Blut übergegangen ist - man nenne es Kulturgefühl, Bildung, Geschmack, geistige Regsamkeit
oder wie immer -, kann man nicht mit einem Schlage erobern, wie etwa die politische Macht. Aus dieser
Überlegenheit der bürgerlichen Kultur ist aber keine andere Folgerung zu ziehen als die, das Unrecht, das dem
Proletariat in vergangenen Epochen zugefügt wurde, schleunigst gutzumachen.
Dieses Gefühl beseelt wohl auch die meisten Geistigen des Bürgertums, soweit sie sozialistisch fühlen. Aber
man sollte sich darüber im klaren sein, daß all dem respektablen Eifer, der von Intellektuellen des Proletariats
wie des Bürgertums aufgeboten wird, die proletarische Masse geistig zu durchsäuern, von dieser selbst
eigendich eine befremdlich geringe Beachmng und Empfänglichkeit entgegengebrachtwird. Möglich, daß
dieses Bild durch die Massen des und Kleinstbürgertums noch verschärft wird, das eine ganz erstaunli-
Klein-
che, oft geradezu abstoßende Indifferenz, Interesse- und Verständnislosigkeit in geistigen und künsderischen
Fragen an den Tag legt und in primitiven Lebens- oder gesteigerten Luxusbedürfnissen und einer kärglichen
und leicht zu befriedigenden Amüsier- und Zerstreuungssucht dahinvegetiert. Aber auch wenn man vom
Kleinbürgertum absieht, bleibt bestehen, daß sich im Proletariat ein großer Wille, ein seelenhafter Trieb, zu
geistigen und kulturellen Werten zu gelangen, bei weitem nicht mit der gleichen Heftigkeit regt, wie etwa der
(sicherlich auch berechtigte) Drang nach den äußeren, materiellen, zivilisatorischen Gütern.«

9
Franz Pfemfert: Zum siebenten November. In: Die Aktion 9
(15. November 1919) H. 45/46, Sp. 733.

»Welt lag in Banden, Christ ist erstanden«, - alljährlich einmal, seit Jahrhunderten, grölte eine
Gesellschaftsklasse, deren Tagewerk Lüge, Verleumdung, Habsucht, Raub, Betrug, Tyrannei,
Menschenausbeutung und Menschenmord ist, diese Worte in die Dezemberluft. »Friede auf
Erden« flötete eine Clique, die zu Geschäftszwecken Kriege inszenierte, die gleichmütig Millionen
Proletarier schlachten ließ und aus Leichenhaufen Profite zu machen wußte. »Dein Reich komme«
plapperten Parasiten, deren Reich der Geldschrank ist. Und die Mühseligen und Beladenen, denen
der Nazarener seine utopische Lehre predigte, wurden auf Grund dieser »Heilslehre« auf das

Jenseits verwiesen, wenn sie zu murren wagten. Mit allen Mitteln der Verlogenheit und der Gewalt
verstanden die herrschenden Klassen dafür zu wirken, daß die Rebellenworte des ersten Christen
zu Waffen wurden gegen Ungeduld der Enterbten. Im Namen des »Heilands« wurden die
Bethäuser den Bankhäusern dienstbar gemacht. Die Welt blieb in den Banden der Geldwechsler.
Bis zum siebenten November 1917.
.

28 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Den siebenten November 1917 hat eine neue, eine helle Epoche der Menschheit begonnen. Den
7. November 1917 wurde Wirklichkeit, was, seit Jahrtausenden, nur dumpfer Traum der Geknechte-
ten war, wurde Tat, was, seit 70 Jahren, Wissenschaft, begründete und klare Notwendigkeit war:
Rußlands Arbeiter und Bauern legten den Grundstein zum kommunistischen Weltgebäude,
Rußlands Proletarier haben, vor zwei Jahren, das Himmelreich heruntergeholt auf die feste Erde.

Nie ist, soweit wir die Menschheitsgeschichte zurückverfolgen können, Edleres, Erhabeneres,
Heiligeres begonnen worden auf diesem Planeten. Der 7. November 1917 bedeutet: Schöpfungs-

beginn einer neuen Welt, in der es nicht Ausbeuter noch Ausgebeutete gibt, in der die Arbeit befreit
und geehrt ist.

Und wie ist das Geschlecht, das diesen kühnen Tag miterleben durfte, das teilhaben soll an dem
gewaltigen Werden?
Schamerfüllt muß ich sagen: erbärmHch klein!

Rußlands Heldenproletarier kämpfen und leiden seit zwei Jahren für das Weltproletariat. Das
internationale Kapitalistengesindel läßt seine Soldknechte anrennen gegen Sowjetrußland, wohl
wissend: die Ausbeuterherrlichkeit ist vorbei, wenn die Ausgebeuteten allüberall ihre Pflicht tun

werden. Wieder und wieder glaubt die bürgerliche und die sozialpatriotische Journaille jubeln zu
dürfen: »Das Ende eines Wahns.« Und die rote Arbeiterarmee, rings von Feinden umdrängt,
kämpft und leidet und siegt und - wartet. Wartet auf das Erwachen des Weltproletariats, dessen

Sache verloren wäre mit dem Untergange Sowjetrußlands. Wartet seit zwei Jahren . .

Zur Rezeption und Wirkung der Russischen Revolution in Deutschland vgl. auch das 1919 im Kurt Wolff
Verlag Leipzig veröffentlichte Buch Alfons Paquets Der Geist der russischen Revolution, das drei Reden
vereinigt: Der Geist der russischen Revolution (S. 1-29), Das revolutionäre Rußland und die Deutschen (S. 30-68)

und Die russische Revolution als tragisches Ereignis (S. 69-109). Nachrichten über die kulturellen Umwälzun-
gen in Rußland vermittelten auch die zahlreichen Reiseberichte. Vgl. u.a. Franz Jungs Reise in Rußland {1920),
Arthur Holitschers Drei Monate in Sowjetrußland (1921) und Max Bartheis Die Reise nach Rußland (1921).
Paquet selbst veröffentlichte folgende Berichte über die Russische Revolution: Aus dem bolschewistischen
Rußland. Frankfurt a.M.: Frankfurter Societäts-Druckerei (=Zur deutschen Revoludon 4) 1919; /m kommuni-
stischen Rußland. Briefe aus Moskau. ]Qnx. Diederichs 1919.
Vgl. auch die Dokumentation Deutsche Schriftsteller über ihr Verhältnis zur Oktoberrevolution und zur
Sowjetunion in: Aktionen-Bekenntnisse-Perspektiven. Berichte und Dokumente vom Kampf um die Freiheit des
literarischen Schaffens in der Weimarer Republik. Hrsg. v. Friedrich Albrecht u.a. Berlin und Weimar: Aufbau-
Verlag 1966, S. 469-535.
Vgl. ferner den satirischen Kommentar von Karl Kraus über Die Auswirkungen und Folgen der russischen
Revolution für die Weltkultur. Em Briefwechsel. In: Die Fackel 26 (Dezember 1924) Nr. 668-675, S. 80-81:

»Berlin, 24. September 1924.

Sehr geehrter Herr Kraus!

Im Auftrage der Redaktion der wöchentlich erscheinenden Moskauer illustrierten Krassnaja Niva, der verbrei-
von Lunatscharsky (Kommissär für Volksaufklärung) und Stekloff (Redak-
tetsten literarischen Zeitschrift, die
teur*der Zeitung Iswestija) redigiert wird, wenden wir uns in folgender Angelegenheit an Sie.
Die Krassnaja Niva hat zum Jahrestag der Oktoberrevolution eine Enquete unter den hervorragendsten
Persönlichkeiten auf dem Gebiete der Kunst und Literatur unternommen, um auf diesem Wege festzustellen,

was die russische Oktoberrevolution 1917 für die Weltkultur geleistet hat. Die Frage ist:
Welcher Art sind Ihrer Auffassung nach die Auswirkungen und Folgen der russischen Revolution 1917 für
die Weltkultur?
Wir erlauben uns, Sie höfl. zu bitten, an der Enquete teilnehmen zu wollen und Ihre werte Antwort - zehn bis
Die überforderte Revolution 29

zwanzig Druckzeilen - wenn möglich mit Ihrem Bild und Autogramm, das gleichzeitig veröffentlicht wird, bis

spätestens 10. Oktober an unser Büro einzusenden.


Indem wir Ihnen im Voraus herzlich danken, hoffen wir sehr bald im Besitze ihrer w. Antwort zu sein, und
zeichnen

hochachtungsvoll

Vertreter der Iswestija und Krassnaja Niva


J. Gakin

Wien, 4. Oktober 1924.

Sehr geehrter Herr Gakin!

Die Auswirkungen und Folgen der russischen Revolution für die Weltkultur bestehen meiner Auffassung nach
darin, daß die hervorragendsten Vertreter auf dem Gebiete der Kunst und Literatur von den Vertretern der
russischen Revolution aufgefordert werden, in zehn bis zwanzig Druckzeilen, wenn möglich mit ihrem Bild
und Autogramm, das gleichzeitig veröffendicht wird, also ganz im Geiste des vorrevolutionären Journalismus
ihre Auffassung von den Auswirkungen und Folgen der russischen Revolution für die Weltkultur bekanntzuge-
ben, was sich manchmal tatsächlich in vorgeschriebenen zehn bis zwanzig Druckzeilen durchführen läßt.

Hochachmngsvoll
Karl Kraus«.
2. Die Schriftsteller und ihr Staat

10
Bernhard Kellermann: Der Schriftsteller und die deutsche Republik.
In: An alle Künstler! Berlin 1919, S. 12-16.

Was der Schriftsteller und Dichter von einem Staatswesen, dem er Interesse entgegenbringen

kann, zu fordern das Recht hat, läßt sich in drei Worten ausdrücken: Freiheit, Würdigung,
Interessenschutz. Dies sind seine selbstverständlichen Forderungen. Läßt der Staat sie unbeachtet,

so wird der Schriftsteller diesem Staat seine Zuneigung versagen und dies um so entschiedener
und vollständiger, als er seinem Wesen nach in Wahrheit staatsfeindlich, staatenlos und internatio-

nal ist und sein Vaterland, das Land der Vernunft und der Schönheit, weder Grenzpfähle noch
Flaggen kennt.
Das niedergebrochene, kapitalistische und imperiaUstische Deutschland mit seiner Beamten-
und Polizeiverwaltung vermochte im Herzen des Schriftstellers keine Liebe zu erwecken. Ungei-
stig, steril, reaktionär, intolerant, dünkelhaft und unfehlbar (die übrigen Großstaaten sind nicht viel
besser!) widersprach es in allen seinen Zügen dem Wesen des Schriftstellers, das im Tiefsten
revolutionär und anarchistisch, kritisch und schrankenlos ist, sobald es Größe besitzt. Mehr und
mehr und immer verhängnisvoller wurde der Schriftsteller dem Staat entfremdet. Seine Ziele

waren völlig andere. Der Geist, den das alte Deutschland und seine hohen und höchsten Funktio-
näre und Repräsentanten ausatmeten, dieser armselige Geist, gemischt aus Banalität, Unbildung

und Brutalität, stieß zurück. Jene herrschende Kaste, die sich der Gewalt über Deutschland
bemächtigt hatte, hatte längst jeden wahrhaften Zusammenhang mit dem kulturellen und geisti-

gen Deutschland verloren. Eine Gesellschaftsklasse indessen, die sich die politische Führung eines
Landes anmaßt, ohne auch seine kulturelle Führung auszuüben, trägt das Zeichen des Untergan-
ges auf der Stirn. Und sie trug es - weithin sichtbar.

So wahr es ist, daß nur wenige Völker ähnliche Liebe und ähnliches Verständnis haben für

Literatur, eigene und fremde, wie das deutsche Volk, so wahr ist es, daß in keinem Lande die

Literatur und alles Geistige überhaupt mehr mißachtet vmrden als im zusammengebrochenen
deutschen Obrigkeitsstaat, der das Volk der »Dichter und Denker« repräsentierte.
Dieser alte Staat tat für Literatur und Schriftsteller - nichts! Weniger als das! Weit davon entfernt
die Forderungen nach Freiheit, Würdigung und Interessenschutz zu erfüllen, bot er Unfreiheit,

Mißachtung und geringen Schutz der Interessen.

Der Schriftsteller schrieb mit gebundener Hand. Broschüren, Novellen, Romane wurden
kurzerhand verboten, die Aufführung von Dramen untersagt. Wer das »zulässige Maß« von Kritik
überschritt, wanderte ins Gefängnis. Eine aufrichtige Kritik, die aus den heiligen Quellen der
Leidenschaft entsprang, mußte, sollte sie ihrer Überzeugung Ausdruck geben und Wirkung
gewährleisten, den engen »zulässigen« Rahmen sprengen. Jene Kritik aber die mit eingeschüchter-
ter Stimme auf die Schwächen des alten Systems hinwies, fand nicht die geringste Beachtung und
Die Schriftsteller und ihr Staat 31

prallte wirkungslos ab an der Unfehlbarkeit und dem vermessenen Dünkel. Krone und Militär
waren dazu sakrosankt - so sah die berühmte Pressefreiheit im alten Deutschland aus.
Der alte Staat versagte dem zeitgenössischen Schriftsteller jegliche Würdigung. Die Literatur hat
bis heute keinen Sitz in der Akademie! [1] Ausländische Körperschaften und Universitäten haben
unseren großen Dichtern und Schriftstellern Ehrungen widerfahren lassen, das alte offizielle

Deutschland hatte für sie nichts übrig. Die Mittelmäßigkeit allein stand bei ihm in Gunst.
Unterstützte der alte Staat die Bemühungen, die besten Erzeugnisse unserer Literatur dem Aus-
lande, das ein völlig entstelltes Bild von unserer modernen Dichtung besitzt, in Übersetzungen
zugänglich zu machen? Stellte er seine Theater den jungen Dramatikern zur Verfügung? Er kam
gar nicht auf den Gedanken. Ein Dichter wie Heinrich Heine konnte bis heute in Deutschland kein
Denkmal haben!
Nach all dem ist es nicht zu verwundern, daß ein solcher Staat nicht den tausendsten Teil von
dem für die Literatur ausgab, was er für die Litzen und Kinkerlitzen seiner Paradearmee jährlich

zum Fenster hinauswarf. Er gab in Wahrheit nicht einen Pfennig dafür aus. Es gab weder
Reisestipendien noch Ehrensolde noch Ehrenpensionen. Alles war der privaten Initiative überlas-
sen. Mit unzulänglichen Gesetzen hat der Staat die wirtschaftlichen Interessen der Schriftsteller

geschützt, die noch heute der frechsten Ausbeutung ausgeliefert sind. *-*

Der alte Staat ist dahin. Mit tragischem Eifer grub er sich das eigene Grab. Er unterdrückte und
verwarf Kritik und Inspiraüonen seiner besten Gehirne und geriet mehr und mehr auf die Bahn
eines politischen und militärischen Dilettantismus, dessen Ziel das Verhängnis ist. Er verdrängte
den Schriftsteller, der seine Weltanschauung nicht opferte, vom Forum der Öffentlichkeit, versagte
ihm die Achtung und schädigte unendlich die geistige Repräsentation des Reiches. Er isolierte sich

selbst vom lebendigen Geist und der lebendigen Seele des Volkes und starb daran.
Voll Zuversicht und Hoffnung, beseelt vom Wunsche zur Mitarbeit, betritt der Schriftsteller, frei
nach jahrhundertelanger Knebelung, die Schwelle der deutschen Republik. Von ihr erwartet er die

Erfüllung seiner Forderungen nach Freiheit, Achtung, Interessenschutz. Er fordert völlige Freiheit

des Wortes und Werkes, Gewissen und Selbstkritik seien sein einziger Zensor; er fordert Würdi-
gung seines Werkes und seines Wirkens seitens des Staates; er fordert weitgehenden Schutz seiner
materiellen Interessen, gründliche Revision der Verlagsgesetze und Urheberrechte. Er fordert

Bürgschaften für die Freiheit des Wortes auch in Zeiten politischer Krisen und für den Fall eventueller
Kriege. Es muß betont werden, daß ihm mit einer Verfälschung seiner Forderungen nach dem
Muster der wesdichen Demokratien und der Vereinigten Staaten nicht gedient wäre!
Wie kein anderer ist er, der Schriftsteller, berufen zur Mitarbeit am Neuaufbau des Reiches und
an seiner notwendigen geistigen Erneuerung. In allen Fragen, die Wohl und Wehe des Staates und
des Volkes betreffen, soll seine Stimme gehört werden. Seine Kritik sei ebenso unerbittlich wie
seine Inspiration fruchtbar.

Freudig wird er der neuen Republik und ihren Führern dienen, wenn sie Kraft und Willen haben,
das deutsche Volk mit neuen Hoffnungen zu erfüllen, für neue Ideale zu entflammen und Zielen
entgegen zu führen, die über das Wohl des deutschen Volkes hinaus das Wohl aller Völker
bedeuten.
Revolutionär in seinem innersten Wesen, fordert der Schriftsteller die Verewigung der Revolu-
tion im geistigen Sinne.
32 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Bernhard Kellermann (1879, Fürth - 1951, Potsdam), Sohn eines Beamten. Studium an der TH München, dann
Germanistik und Malerei. Korrespondent des Berliner Tageblatts, langjährige Reisen durch Europa, Asien und
Amerika. Wurde durch den gesellschaftskritischen technisch-utopischen Roman Der Tunnel (1913) bekannt.
1920 erschien der kritische Revolutionsroman Der 9. November, der 1933 öffentlich verbrannt wurde. Weitere
Romane Kellermanns aus den 20er Jahren behandeln den Krieg und die Probleme der modernen
Industriegesellschaft.

Die Broschüre An alle Künstler!, in der Kellermanns Aufsatz abgedruckt ist, enthielt ferner Aufrufe und Essays
von Johannes R. Becher, Ludwig Meidner, Walter Hasenclever, Kurt Eisner, Konrad Haenisch, K. E. Meurer
und Paul Zech. Max Pechsteins Forderungen in seinem Essay Was wir wollen sind charakteristisch für den
utopischen Ton all dieser Beiträge: »Wir erhoffen durch die sozialistische Republik nicht nur eine Gesundung
der Kunstverhältnisse, sondern auch das Entstehen einer einheitlichen Kunstepoche für unsere Zeit. Auf der
Basis des von allen bildenden Künsdern je nach Art verschieden zu erlernenden Handwerks soll uns die
Morgenröte der Einheit >Volk und Kunst< erglänzen. Nicht mehr soll es nur in der Hauptsache Söhnen
vermögender Müßiggänger möglich sein, die Kunst als eine interessante, standesgemäße Beschäftigung zu
betrachten. Im Gegenteil muß den Söhnen des Volks die Möglichkeit geboten werden, durch das Handwerk
weiter zu schreiten zur Kunst. Kunst ist keine Spielerei, sondern Pflicht dem Volke gegenüber. Sie ist eine
öffentliche Angelegenheit. [. Die Revolution hat uns die Freiheit gebracht, jahrelange Wünsche zu äußern
. . ]

und zu verwirklichen. Pflichtgefühl lehrt uns, daß wir die Arbeit für uns selbst auch selbst tun müssen. Wir
wollen es und tun es auch ohne persönliche Absichten, das Auge rein auf das ideelle Ziel gerichtet:
>Verwirklichung unseres Zeitgefühls zu einer Weltanschauung<.
Das Reich der schaffenden Phantasie ersetzt uns die veralteten Dogmen der verschiedenen Religionen,
bringt uns Gott im Schaffen näher, als es die auf Befriedigung kindlicher natürlicher Phantasie gerichtete
katholische Religion (siehe Schutzpatron für Feuer, Wasser, sonstige Not) oder die sich an die Vernunft
wendende evangelische Religion tun könnte.
Darum ist kein leerer Ruf der Schrei: >Die Kunst dem Volke !< Unser Wollen ist untadelig, nicht auf
persönliches Machtverlangen gegründet. Also wird es uns auch gelingen, unserer Zeit den verlorengegange-
nen ideellen Geist einzuhauchen. Sind wir auch arm an Gütern, so doch reich an Begeisterung, Opferfähigkeit,
Glauben für unser Volk.
Die soziale Republik gebe uns Vertrauen, Freiheit haben wir, und bald blühen aus trockener Scholle Blumen
zu ihrer Ehre.« (S. 19-21)

1 Der preußischen Akademie der Künste zu Berlin wurde erst 1926 eine »Sektion für Dichtkunst« angeglie-
dert. Vgl. Dok. Nr. 30.

11
Kurt Tucholsky: Wir Negativen, In: Die Weltbühne 15(13. März 1919)
Nr. 12, S. 279-285.

Wie ist er hier so sanft und zärdich! Wohlseyn will er, und ruhi-
gen Genuß und sanfte Freuden, für sich, für andere. Es ist das
Thema des Anakreon. So lockt und schmeichelt er sich selbst
ins Leben hinein. Ist er aber darin, dann zieht die Qual das Ver-
brechen und das Verbrechen die Qual herbei: Greuel und Venvü-
stung füllen den Schauplatz. Es ist das Thema des Aischylos.
(Schopenhauer)

Es wird uns Mitarbeitern der Weltbühne der Vorwurf gemacht, wir sagten zu allem Nein und seien
nicht positiv genug. Wir lehnten ab und kritisierten nur und beschmutzten gar das eigene deutsche
Nest. Und bekämpften - und das sei das Schlimmste - Haß mit Haß, Gewalt mit Gewalt, Faust mit
Faust.
Die Schriftsteller und ihr Staat 33

Es sind eigentlich immer dieselben Leute, die in diesem Blatt zu Worte kommen, und es mag
einmal gesagt werden, wie sehr wir alle innerlich zusammenstimmen, obwohl wir uns kaum
kennen. Es existieren Nummern dieser Zeitschrift, die in einer langen Redaktionssitzung entstan-

den zu sein scheinen, und doch hat der Herausgeber mutterseelenallein gewaltet. Es scheint mir
also der Vorwurf, wir seien negativ, geistig unabhängig und von einander nicht beeinflußte Männer
zu treffen. Aber sind wirs? Sind wirs denn wirklich?
Ich will einmal die Schubladen unsres deutschen Schrankes aufmachen und sehen, was darinnen
liegt.

Die Revolution. Wenn Revolution nur Zusammenbruch bedeutet, dann war es eine; aber man
darf nicht erwarten, daß die Trümmer anders aussehen als das alte Gebäude. Wir haben Mißerfolg
gehabt und Hunger, und die Verantwordichen sind davongelaufen. Und da stand das Volk: die
alten Fahnen hatten sie ihm heruntergerissen, aber es hatte keine neue.

Der Bürger. Das ist - wie oft wurde das mißverstanden! - eine geistige Klassifizierung, man ist

Bürger durch Anlage, nicht durch Geburt und am allerwenigsten durch Beruf. Dieses deutsche

Bürgertum ist ganz und gar antidemokratisch, dergleichen gibt es wohl kaum in einem andern
Lande, und das ist der Kernpunkt alles Elends. Es ist ja nicht wahr, daß sie in der Zeit vor dem
Kriege unterdrückt worden sind, es war ihnen tiefstes Bedürfnis, emp.przublicken, mit treuen

Hundeaugen, sich zurechtstoßen zu lassen und die starke Hand des götdichen Vormunds zu
fühlen! Heute ist er nicht mehr da, und fröstelnd vermissen sie etwas. Die Zensur ist in Fortfall

gekommen, brav beten sie die alten Sprüchlein weiter, ängsdich plappernd, als ob nichts geschehen
sei. Sie kennen zwischen patriarchalischer Herrschaft und einem ins Räuberhafte entarteten
Bolschewismus keine Mitte, denn sie sind unfrei. Sie nehmen alles hin, wenn man sie nur verdienen
läßt. Und dazu sollen wir Ja sagen?

Der Offizier. Wir haben hier nachgewiesen [1], warum und inwiefern der deutsche Offizier im
Kriege versagt hat, und was er an seinen Leuten gesündigt. Es geht ja nicht um den Stand - Angriffe
gegen eine Kollektivität sind immer ungerecht -: es geht um den schlechten Geist, der den Stand
beseelte und der sich tief in das Bürgertum hineingefressen hatte. Der Leutnant und seine - sagen

wir immerhin: Geistigkeit war ein deutsches Ideal, und der Reserve-Offizier brauchte keine lange
Zeit, in die Uniform hineinzuwachsen. Es war die infernalische Lust, den Nebenmenschen
ungestraft zu treten, es war die deutsche Lust, im Dienst mehr zu scheinen, als man im Privadeben
ist, das Vergnügen, sich vor seiner Frau, vor seiner Geliebten aufzuspielen, und unten krümmte
sich ein Mensch. Eine gewisse Pflichterfüllung des Offiziers (und sein Geist saß auch in vielen

untern Chargen) soll nicht geleugnet werden, aber sie geschah oft nur auf der Basis der Übersätti-

gung und der übelsten Raffgier. Die jungen Herren, denen ich im Kriege hinter die Karten gucken
konnte, machten keinen hervorragenden Eindruck. Aber es geht ja nicht um die Einzelnen, und
wie soll je eine Besserung kommen, wenn wir es jetzt nicht sagen! Jetzt, denn später hat es keinen

Sinn mehr; jetzt, denn später, wenn das neue Heer aufgebaut ist, wäre es überflüssig, noch einmal
die Sünden des alten Regimes aufzublättern. Und es muß den Deutschen eingehämmert werden,
daß das niemals wiederkommen darf, und es muß Allen gesagt werden, denn es waren ja nicht die

Sünden gewisser reaktionärer Kreise, sondern Alle, Alle taten mit! Das Soldatenelend - und mit
ihm das Elend aller »Untergebenen« in Deutschland - war keine Angelegenheit der politischen
34 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Überzeugung: es war eine der mangelnden Kultur. Die übelsten Instikte wurden in entfesselten

Bürgern wachgerufen, gab ihnen der Staat die Machtfülle eines »Vorgesetzten« in die Hand. Sie hat

ihnen nicht gebührt. Und dazu sollen wir Ja sagen?

Der Beamte. Was haltet Ihr von einer Verwaltung, bei der der Angestellte wichtiger ist als die

Maßnahmen, und Maßnahme wichtiger als die Sache.^ Wie knarrte der Apparat und machte
die

sich imponierend breit! Was war das für ein Gespreize mit den Ämtern und den Ämtchen! Welche

Wonne, wenn Einer verfügen konnte! Von allen andern Dienststellen - und es gab ja so viele -
wurde er unterdrückt: jetzt durfte er auch einmal! Und die Sache selbst ersoff in Verordnungen
und Erlassen, die kleinen Kabalen und Reibereien in den Ämtern füllten Menschenleben aus, und
der Steuerzahler war wehrlos gegen sein eigenes Werk. Und dazu sollen wir Ja sagen?

Der Politiker. Politik kann man in diesem Lande definieren als die Durchsetzung wirtschafdicher
Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung. Die Politik war bei uns eine Sache des Sitzfleisches, nicht des

Geistes. Sie wurde in Bezirksvereinen abgehaspelt und durchgehechelt, und gegen den Arbeiter
standen alle Andern zusammen. Vergessen war der Geist, auf dessen Grundlage man zu Vorschlä-
gen und Gesetzen kam, vergessen die Gesinnung, die, Antrieb und Motiv in einem, erst verständ-
hch und erklärbar machte, was man wollte. Der Diplomat alter Schule hatte abgewirtschaftet, »er

besitzt keinen modernen Geist«, sagten die Leute; nun sollte der Kaufmann an seine Stelle treten.

Aber Der besitzt ihn auch nicht. Eine wilde Überschätzung des Wirtschafdichen hob an. Feudale
und Händler raufen sich um den Einfluß im Staat, der in Wirklichkeit ihnen Beiden unter der
Führung der Geistigen zukommen sollte. Und dazu sollen wir Ja sagen?

Daß der Bürger zetert, dem anständige Politik nichts ist als Geschäftsstörung, nimmt uns nicht

wunder. Daß Geistige gegen uns eifern, schon mehr. Wozu führen denn letzten Endes die
Erkenntnisse des Geistes, wenn man nicht ein Mal von den Höhen der Weisheit herunterklettert,

ihre Ergebnisse auf das tägliche Leben anwendet und das zu formen versucht nach ihrem
Ebenbilde? Nichts ist bei uns peinlicher und verhaßter als konkret gewordene Geistigkeit. Alles
darfst du: die gefährlichsten Forderungen aufstellen, in abstracto, Bücherrevolutionen machen,
den lieben Gott absetzen - aber die Steuergesetzgebung, die machen sie doch lieber allein. Sie

haben eine unendlich feine Witterung und den zuverlässigsten Instinkt gegen Alles, was ihre trübe
Geschäftigkeit stören kann, ihr Mißtrauen ist unsäglich, ihre Abneigung unüberwindbar. Sie

riechen förmlich, ob sich deine Liebe und dein Haß mit ihrem Kolonialwarenladen verträgt, und
tun sies nicht: dann Gnade dir Gott!

Hier steht Wille gegen Willen. Kein Resultat, kein Ziel auf dieser Erde wird nach dem logisch

geführten Beweis ex argumentis gewonnen. Überall steht das Ziel, gefühlsmäßig geliebt, vorher
fest, die Argumente folgen, als Entschuldigung für den Geist, als Gesellschaftsspiel für den
Intellekt. Noch niemals hat Einer den Andern mit Gründen überzeugt. Hier steht Wille gegen
Willen: wir sind uns über die Ziele mit allen anständig Gesinnten einig - ich glaube, was an uns
bekämpft wird, ist nicht der Kampf: es ist die Taktik.

Aber wie sollen wir gegen kurzstirnige Tölpel und eisenharte Bauernknechte anders aufkom-
men als mit Knüppeln? Das ist seit Jahrhunderten das große Elend und der Jammer dieses Landes
gewesen: daß man vermeint hat, der eindeutigen Kraft mit der bohrenden Geistigkeit beikommen
zu können. Wenn wir Andern - die wir hinter die Dinge gesehen haben, die wir glauben, daß die
Die Schriftsteller und ihr Staat 35

Welt, so wie sie ist, nicht das letzte Ziel für Menschen sein kann - keinen Exekutor unsrer geistigen

Gesinnung haben, so sind wir verdammt, ewig und auch fürderhin unter Fleischergesellen zu
leben, und uns bleiben die Bücher und die Tinte und das Papier, worauf wir uns ergehen dürfen.
Das ist so unendlich unfruchtbar, zu glauben, man könne die negative Tätigkeit des Niederreißens

entbehren, wenn man aufbauen will. Seien wir konkret. Eine Naumannsche Rede [2] in Weimar
verpflichtet zu garnichts: der Beschluß irgendeines Gemeindekollegiums zeigt uns den Bürger in

seiner Nacktheit.

Der unbedingten Solidarität aller Geldverdiener muß die ebenso unbedingte Solidarität der

Geistigen gegenüber stehen. Es geht nicht an, daß man feixenden Bürgern das Schauspiel eines
Kampfes liefert, aus dem sie nur und ausschießlich heraushören: dürfen wir weiter schachern,
oder dürfen wir es nicht? Dürfen wir weiter in Cliquen und Klüngeln schieben, oder dürfen wir es
nicht? Nur Das wird gehört, und keine metaphysische Wahrheit und kein kritizistischer Irrtum.

Ist schon Alles vergessen? Gleiten wir schon wieder in den behaglichen Trott hinüber, in dem
Ruhe die erste und letzte Pflicht ist? Schon regt sich allerorten der fade Spruch: »Es wird nicht so

schlimm gewesen sein.« »Ihr Herr Gemahl ist an Lungenentzündung gestorben?« sagte jener
Mann, »na, es wird nicht so schlimm gewesen sein!«

Es ist so schlimm gewesen. Und man mache ja nicht wieder den Vex§uch, zu behaupten, die

»Pionierarbeit des deutschen Kaufmanns« werde uns »schon herausreißen«! Wir sind in der ganzen
Welt blamiert, weil wir unsre besten Kräfte tief im Land versteckt und unsre minderwertigen
hinausgeschickt haben. Aber schon regen sich die Stimmen, die dem Deutschen einzureden
versuchen, es werde, wenn er nur billige Ware liefere, sich Alles einrenken lassen. Das wollen wir
nicht! Wir wollen nicht mehr benutzt sein, weil unsre jungen Leute im Ausland alle Andern
unterboten haben, und weil man bei uns schuftete, aber nicht arbeitete. Wir wollen geachtet
werden um unsrer selbst willen.
Und damit wir in der Welt geachtet werden, müssen wir zunächst zu Haus gründlich rein

machen. Beschmutzen wir unser eigenes Nest? Aber einen Augiasstall kann man nicht beschmut-
zen, und es ist widersinnig, sich auf das zerfallene Dach einer alten Scheune zu stellen und da oben
die Naüonalhymne ertönen zu lassen.

Wir sollen positive Vorschläge machen. Aber alle positiven Vorschläge nützen nichts, wenn
nicht die rechte Redlichkeit das Land durchzieht. Die Reformen, die wir meinen, sind nicht mit
Vorschriften zu erfüllen, und auch nicht mit neuen Reichsämtern, von denen sich heute Jeder für

sein Fach das Heil erhofft. Wir glauben nicht, daß es genügt, eine große Karthotek und ein

vielköpfiges Personal aufzubauen und damit sein Gebiet zu bearbeiten. Wir glauben, daß das
Wesentliche auf der Welt hinter den Dingen sitzt, und daß eine anständige Gesinnung mit jeder,

auch mit der schlechtesten, Vorschrift fertig wird und sie gut handhabt. Ohne sie aber ist nichts

getan.

Was wir brauchen, ist diese anständige Gesinnung.

Wir können noch nicht Ja sagen. Wir können nicht einen Sinn stärken, der über den Menschen die

Menschlichkeit vergißt. Wir können nicht ein Volk darin bestärken, seine Pflicht nur dann zu tun,
wenn jedem Arbeitenden ein Popanz von Ehre aufgebaut wird, der sachlicher Arbeit nur im Wege
ist. Wir können nicht zu einem Volk Ja sagen, das, noch heute, in einer Verfassung ist, die, wäre der
36 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Krieg zufälligerweise glücklich ausgegangen, das Schlimmste hätte befürchten lassen. Wir können
nicht zu einem Land Ja sagen, das von Kollektivitäten besessen ist, und dem die Korporation weit

über dem Individuum steht. Kollektivitäten sind nur ein Hilfsmittel für die Einzelnen. Wir können
nicht Ja zu Denen sagen, deren Früchte die junge Generation darstellt: ein laues und flaues

Geschlecht, angesteckt von dem kindischen Machthunger nach innen und der Gleichgültigkeit
nach außen, den Bars mehr zugetan als der Bravour, von unsäglicher Verachtung für allen Sturm
und Drang, den man zurzeit nicht mehr trägt, ohne Flamme und ohne Schwung, ohne Haß und
ohne Liebe. Wir sollen laufen, aber unsre Schenkel sind mit Schnüren gefesselt. Wir können noch
nicht Ja sagen.

Leute, bar jedes Verständnisses für den Willen, der über die Tagesinteressen hinausheben will -

man nennt das hier zulande: Realpolitiker - bekämpfen uns, weil wir im Kompromiß kein Heil
sehen, weil wir in neuen Abzeichen und neuen Aktenstücken kein Heil sehen. Wir wissen wohl,
daß man Ideale nicht verwirklichen kann, aber wir wissen auch, daß nichts auf der Welt ohne die

Flamme des Ideals geschehen ist, geändert ist, gewirkt wurde. Und - das eben scheint unsern

Gegnern eine Gefahr und ist auch eine - wir glauben nicht, daß die Flamme des Ideals nur

dekorativ am Sternenhimmel zu leuchten hat, sondern sie muß hinieden brennen: brennen in den
Kellerwinkeln,wo die Asseln hausen, und brennen auf den Palastdächern der Reichen, brennen in
den Kirchen, wo man die alten Wunder rationalistisch verrät, und brennen bei den Wechslern, die
aus ihrer Bude einen Tempel gemacht haben.
Wir können noch nicht Ja sagen. Wir wissen nur das Eine: es soll mit eisernem Besen jetzt,

gerade jetzt und heute ausgekehrt werden, was in Deutschland faul und vom Übel war und ist. Wir
kommen nicht damit weiter, daß wir den Kopf in ein schwarz-weiß-rotes Tuch stecken und
ängsdich flüstern: Später, mein Bester, später! nur jetzt kein Aufsehen!

Jetzt.

Es ist lächerlich, einer jungen Bewegung von vier Monaten vorzuwerfen, sie habe nicht dasselbe
Positive geleistet wie eine Tradition von dreihundert Jahren. Das wissen wir.

Wir stehen vor einem Deutschland voll unerhörter Korruption, voll Schiebern und Schleichern,

voll dreimalhunderttausend Teufeln, von denen jeder das Recht in Anspruch nimmt, für seine

schwarze Person von der Revolution unangetastet zu bleiben. Wir meinen aber ihn und grade ihn
und nur ihn.

Und wir haben die Möglichkeit, zu wählen: bekämpfen wir ihn mit der Liebe, bekämpfen wir
ihn mit Haß? Wir wollen kämpfen mit Haß aus Haß gegen jeden Burschen, der sich
Liebe. Mit

erkühnt hat, das Blut seiner Landsleute zu trinken, wie man Wein trinkt, um damit auf seine
Gesundheit und die seiner Freunde anzustoßen. Mit Haß gegen einen Klüngel, dem übermäßig
erraffter Besitz und das Elend der Heimarbeiter gottgewollt erscheint, der von erkauften Professo-

ren beweisen läßt, daß dem so sein muß, und der auf gebeugten Rücken vegetierender Menschen
freundliche Idyllen feiert. Wir kämpfen allerdings mit Haß. Aber wir kämpfen aus Liebe für die

Unterdrückten, die nicht immer notwendigerweise Proletarier sein müssen, und wir lieben in den
Menschen den Gedanken an die Menschheit.

Negativ? Viereinhalbjahre haben wir das fürchterliche Ja gehört, das Alles gut hieß, was frecher
Dünkel auszuführen befahl. Wie war die Welt so lieblich! Wie klappte Alles, wie waren Alle
Die Schriftsteller und ihr Staat 37

d'accord, ein Herz und keine Seele, wie bewegte sich die künstlich hergerichtete Landschaft mit
den uniformierten Puppen darin zum Preise unsrer Herren! Es war das Thema des Anakreon. Und
mit donnerndem Krachen ist das zusammengebrochen, was man früher für eisern gehalten hatte,

und was nicht einmal Gußeisen war, die Generale fangen an, sich zu rechtfertigen, obgleich sie es

garnicht nötig hätten, keiner will es gewesen sein, und die Revolutionäre, die zu spät kamen und zu
früh gebremst wurden, werden beschuldigt, das Elend herbeigeführt zu haben, an dem doch
Generationen gewirkt hatten. Negativ? Blut und Elend und Wunden und zertretenes Menschen-
tum - es soll wenigstens nicht umsonst gewesen sein. Laßt uns auch weiterhin Nein sagen, wenn es
not tut! Es ist das Thema des Aischylos.

Kurt Tucholsky (1890, Berlin - 1935, b. Göteborg/Schweden durch Selbstmord). Schrieb unter vier Pseudony-

men: Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel. Kaufmannssohn, Gymnasium. 1914 Dr. jun,
dann Kriegsdienst im Osten. Ab 1913 Mitarbeiter der Schaubühne (ab 1918 Weltbühne), ab April 1924
Korrespondent in Paris. 1926 nach Siegfried Jacobsohns Tod für ein Jahr Herausgeber der Weltbühne. 1929
Emigration nach Schweden. 1933 Ausbürgerung und Bücherverbrennung. Umfangreiches Werk als Essayist,
Feuilletonist, sadrischer Lyriker, Kridker und Erzähler {Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte, 1912; Schloß
Gripsholm, 1931). Gab 1929 das aus kommenderten Bildern bestehende, politisch satirische und gesellschafts-
kridsche Buch Deutschland, Deutschland über alles heraus, das von den Nadonalisten scharf zurückgewiesen
wurde und Tucholsky in deren Sicht zum Vertreter des sogenannten »And-Germanismus« machte.
Die polidsche Wochenschrift Die Weltbühne ist ab 1918 die Fortführung der Theaterzeitschrift Die Schau-
bühne, die Siegfried Jacobsohn 1905 gegründet hatte. Zu der Umwandlung der Zeitschrift in ein politisches
Organ schrieb Jacobsohn bereits am 16. Januar 1919 in der Weltbühne (Nr. 3, S. 72):
»Man hat es, weiß Gott, nicht leicht mit euch. Wenn ich, anno dazumal, auf der >Schaubühne< das Theater
betrachtete, so rieft Ihr: Snob! Aesthet! Kunstjüngeling! Politik muß man machen! Und wenn ich jetzt die
Ereignisse auf der Weltbühne für nicht ganz nebensächlich erachte, so kommandiert Ihr mich auf den alten
Parkettplatz zurück. Meine Lieben: jetzt muß man wirklich Polidk machen! Jetzt hat der Geist zu verhüten, daß
seine Todfeinde wieder ans Ruder kommen. Schon rühren sie sich ringsum und verkünden, es sei früher
schließlich gar nicht so schlimm gewesen, und man solle natürlich revoltieren, aber nicht grade bei ihnen. Aber
grade bei ihnen! Was an meinem Teil liegt, so will ich, bei der grauenhaften Vergeßlichkeit des genus homo,
unablässig auf die Verbrecher weisen, die uns in diesen Jammer gebracht haben, seien sie Offiziere oder
Großfabrikanten, Diplomaten oder Beamte, Zeitungsschreiber oder Agrarier, Lakaien oder Blaublüder. Mit
ihnen ist der laubiütige Bourgeois schuldig, der sich wedelnd alles gefallen ließ. Wie ihm heut davor bangt, daß
sich etwas ändert! Wie er die Entscheidung hinausgeschoben sehen will, von der Revoludon bis zur Nadonal-
versammlung, von der Konsdmante bis zum Dauerparlament, vom Plenum bis zu legislatorischen Ausschüs-
sen! Wie er feige und hinterhältig ist! Wie er gehauen zu werden verdient, daß die Wolle aus seiner Schlafmütze
fliegt! Und da gibt es Leute, die mir lange Briefe zu schreiben Zeit und Bedürfnis haben, voll von Vorwürfen,

daß ich mir meiner >Lebensaufgabe nicht mehr bewußt zu sein scheinen als welche darin bestehe, Theaterkrid-
ken zu verfassen und um diese nichts als Theaterardkel zu gruppieren. Wie heißt es in Ihrer hochgeschätzten
Epistel? >Ich möchte sehr ungern daran glauben, daß Sie, dem der Krieg zum Glück nicht viel anhaben konnte,
durch die Revoludon in einen Zustand seelischer Erschlaffung geraten sind und für nichts mehr Interesse
aufbringen als für polidsche Ideale. Wenn Ihr von meiner seelischen Erschlaffung keine andern Zeugnisse
<

habt, als daß ich schlechte Stücke und Aufführungen, die mir ehedem einige Seiten wert waren, an dieser
Wende, nach solchem Kampfe, vor solchem Kampfe in zehn bis zwanzig Zeilen erledige! Schade um die
einundzwanzigste Zeile. Die neue Verfassung, die wir erhalten sollen, und die uns die bitter nödge Freiheit
gewährleistet, scheint mir immerhin wichdger als alles schlechte Theater der Residenz und die Vorbedingung
für alles gute. Dals Ihr dies nicht begreift, ist für mich kein Grund, mich auf eure Entwicklungsstufe
zurückzuschrauben. Verschont mich!«

1 Tucholsky bezieht sich auf seine Ardkelserie über den deutschen Offizier, die in der Weltbühne in sechs
Folgen vom 9. Januar 1919 bis zum 20. Februar 1919 erschienen war.
38 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

2 Friedrich Naumann (1860-1919) Politiker und berühmter Redner, der bereits 1896 den »Nationalsozialen
Verein« mit dem Ziel gegründet hatte, Staat und Wirtschaft demokratisch umzugestalten. Mitglied des
Reichstags 1907-1918. Im November 1918 Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei.

12
Wilhelm Stapel: Das geistige Deutschland und die Republik. In: Deutsches
Volkstum (1921) H. 4, S. 101-106; hier: S. 101-102, 103, 104-105, 106.

Was hat mich bei der Umwälzung am neunten November verhindert, mich - wie sagt man doch?
- auf den Boden der neuen Tatsachen zu stellen? Und was treibt mich, je üppiger die neuen
Tatsachen aus dem alten zerbröckelnden Bauschutt aufwuchern, mit innerer Folgerichtigkeit in
immer stärkeren Unwillen gegen den »neuen Frühling«, und gibt mir Grund, ihn für wurzelfaul zu
halten?

Zunächst muß ich auf zwei mitwirkende seelische Hemmungen hinweisen. Als nach der
Verkündigung der Republik die sozialdemokratische Partei zur Gesetze bestimmenden und Ämter
spendenden Macht geworden war, bekannten sich plötzlich zu ihr eine Menge von Beamten und
allerlei bewegliche Nutznießer des öffentlichen Wesens, die mit Hilfe der Sozialdemokratie ihre
»Reformideen« an den Mann zu bringen und just in dieser Zeit den Fortschritt der Menschheit zu
fördern hofften - eine wenig angenehme Gesellschaft. Mit solchen bereitwilligen Zeitgenossen

auch nur scheinbar in einer Reihe zu stehn, geht mir wider den Geschmack. Je mehr von dieser Art
in Ämter und Würden einrückten, um so tiefer sank meine Achtung vor den Ämtern und Würden,
die für ein Partei-Bekenntnis feil sind, und damit vor dem Staate, wie er ist. Ich begreife nicht, daß

der Nepotismus politischer Parteien ein Fortschritt sei über den Nepotismus etwa des Korpssmden-
tentums oder bestimmter Familien. Die Träger des republikanischen Gedankens wollten offenbar
in Eile alles »mit dem neuen Geist erfüllen«, möglichst bis zum nächsten Wahlkampf - die
Hetzpeitschen der Demagogie, die von allen Seiten her knallten, ließen es nicht anders zu. Darum
führte man nicht und entwickelte nicht, sondern griff auf {Ideen und Menschen), schaffte ab und
führte ein, ohne je an das Wesentliche zu kommen. Wer aber Sinn für das Wesentliche hat, hält sich

von dieser schwindligen Unruhe fern. Man muß die Wunder-Dokterei der Republik sich austoben
lassen. Einmal wird ja die Zeit kommen, wo die Junker, die Alldeutschen, die Pfaffen und ähnliche
Butzemänner des Wahlkampfes wirklich nicht mehr schuld sein können an den Unzulänglichkei-
ten der »neuen Zeit«. Glaubt man, daß die Menschen, die aus solchen Gründen »nicht mitma-

chen«, nur »rückständig« seien? Daß es Leute seien, die nur aus schwerfälligen Pietätsgefühlen
nicht loskommen können vom gewohnten Alten? Dann täuscht man sich. Es sind gerade solche
Menschen unter ihnen, die ein besonders lebhaftes Empfinden haben für Werte wie Treue,
Stetigkeit, Würde, Zurückhaltung, also für die Werte, die für den Aufbau festgefügter Staaten
unerläßlich sind.

Eine andre Stimmung des »Degoüts« am Wesen der deutschen Republik wird nicht so sehr von
Die Schriftsteller und ihr Staat 39

den Mitläufern als von den Führern selbst verschuldet. Die Führer der Republik des neunten
November sind allesamt im Parteileben groß und klug geworden. Daher fehlt ihnen die Fähigkeit,
andre Menschen als die ihres Kreises von innen heraus zu verstehn: sie halten die andern für

dumm, unaufgeklärt, irregeführt. Welch eine Fülle psychologischer Fehler entspringt daraus!

[. . . ] Ich bin überzeugt: aus dem Hin-und-Her der Parteien wird der »neue Staat« niemals
geboren, so wenig jemals ein Staat aus dem Parteibetrieb geboren ist. Ein Staat entsteht nur durch
Männer, deren Wille der Ausdruck der echten und dauernden (nicht der launischen und künstlich

gemachten) Sehnsucht einer natürlichen Gemeinschaft ist. Nicht die englische Revolution hat den
neuen englischen Staat geschaffen, sondern Cromwell. Nicht die französische Revolution hat den
neuen französischen Staat geschaffen, sondern Napoleon. Nicht die Revolution von 1848 hat den
kleindeutschen Staat zustande gebracht, sondern Bismarck. Sie, meine Herren Minister der neuen
deutschen Republik, können sicherlich eine brave und untertänige englische Sklavenkolonie
organisieren, aber Sie werden niemals den geschichtsnotwendig kommenden neuen großdeut-
schen Staat aufbauen, jenen Staat, der von Kolmar und Straßburg bis hinunter nach Riga, von
Flensburg bis hinauf nach Wien und Innsbruck reichen wird, und welcher der Fiort der Freiheit

sein wird aller annoch geknechteten Völker der Erde. Darum legen wir Ihrer Tätigkeit keinen

höheren Wert bei, als sie eben für das Leben von Tag zu Tag hat; unser Herz ist anderswo. Es macht
uns auch nichts, wenn man über die deutschen »Träumer« lacht und wohlwollend den »Romanti-
ker« mitgelten läßt. Es ist das Schicksal des dritten Bruders, daß er von den beiden älteren und
klügeren Brüdern verlacht wird. Der Dritte aber kennt sehr wohl den Unterschied zwischen bloßen
Wunschträumen und Ahnungen kommender Wirklichkeiten. Aus diesem Ahnen heraus wendet
er sich ab von den Führern, die nur die Tagesgeschäfte zu besorgen geschickt sind, und richtet seine
Seele auf die, welche die Zukunft in sich tragen. Parteietiketten wie »reaktionär« und »fortschritt-

lich« bleiben weit hinter diesen Wertungen.

Das Überindividuelle, das Irrationale, das Unmittelbare und Ewig-Geheimnisvolle des Lebens
zeltet wieder unter uns. Wir entdecken Werte, von denen wir in vorigen Zeiten nicht auch nur die
Ahnung hatten. All dem steht in der Sozialdemokratie eine höchst bourgeoise Verstandesnüchtern-
heit breit und schwergewichtig gegenüber. »Achtung! Keine Allotria treiben! Immer brav das
marxistische Glaubensbekenntnis auswendig lernen! Sonst kommt ihr nicht mit in den Himmel
auf Erden! All die dummen Redensarten, die wir nicht verstehn, sind bloß heimtückische reaktio-

näre Erfindungen!« Ach, was fragt Gott nach euerer Verständigkeit! Sabotiert den Religionsunter-
richt, ersetzt die kirchliche Einsegnung durch parteireine »Jugendweihen«, remst in Volkshoch-
schulen eine pädagogisch zurechtgeschusterte Volkswirtschaftslehre in die Köpfe - der Geist
wehet, von wannen er will, und ihr seid schon längst das dürre Holz von gestern! Ihr habt das
geistige Werden um euch herum verachtet, weil ihr im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein
vermeintet; so habt ihr zwar brauchbare Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre hervorgebracht,
aber - was sonst? Es geht euch wie allen, die ebenso gedacht und gehandelt haben. Die, welche
vom Rauschen des neuen Geistes etwas verspüren, gehen teils zu den Kommunisten hinüber, teils

in die geistigen Bewegungen, die rechts von euch die Dämme der alten Dogmatik zerbrochen
haben und über euch hinausfluten in eine Zukunft, die eure Gedanken nicht begreifen können.
40 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Nein, es ist belanglos, ob man für oder gegen die derzeitige Republik ist. Sie ist eine

Übergangserscheinung. Aus Weltkrieg und Revolution wird ein ganz andrer deutscher Staat
geboren werden, wir stehen noch immer mitten inne in dem ungeheuren Geschehen, das im Juli
1914 anhob, das Ende ist noch nicht abzusehn. Der wirklich politische Mensch legt auf Wahl-
kämpfe und Parlamentsdebatten, auf Pariser und Londoner Zusammenkünfte nicht mehr Wert,
als für den Tag nun einmal nötig ist. Er weiß, wo die politische Zukunft wächst. Eines Tages wird
der ganze Plunder der Parteirepublik von uns fallen und das neue Reich wird dastehn, kraftvoll und
jugendschön, alle deutschen Stämme umfassend, frei unter freien Völkern, und es wird blühen in

den Ordnungen, die aus seiner eigenen Natur erwachsen. Vielleicht erleben es noch etliche von
uns. Leisten aber wird es das heranwachsende Geschlecht. Gebe uns Gott in Gnaden, daß wir, vom
Berge die blauende Zukunft erschauend, diesem geweihten Geschlechte Stirne und Herzen
freimachen vom Wust vergangener Begriffe, auf daß es froh und fest in seinem Deutschtum stehen
und hören kann auf die Schicksalssprache des Ewigen.

Kein Franzose und kein Engländer vermag das göttliche Schicksal zu hindern. Und der wackere
republikanische Demokrat kann es höchstens eine ganz kurze Zeit aufhalten.

Wilhelm Stapel (1882, Calbe/Altmark - 1954, Hamburg), Sohn eines Uhrmachers. Promotion in Kunstge-
schichte 1910/11. 1912/16 Redakteur des Kunstwarts, der Zeitschrift des konservativen Dürerbundes. Von
Januar 1919 bis 1938 Herausgeber des Deutschen Volkstums in Hamburg. Umfangreiches Werk als politischer
Publizist. In den zwanziger Jahren zahlreiche Aufsätze und Broschüren völkischer und andsemiüscher Prägung.

(Vgl. dazu Dok. Nr. 184).


Die Monatszeitschrift Deutsches Volkstum ist 1917 aus der Theaterzeitschrift Bühne und We/f hervorgegan-
gen und wurde von Stapel als bewußt nicht-literarische Zeitschrift der »Konservativen Revolution« geführt. Im
1. Aprilheft 1933 nimmt Stapel für sich in Anspruch, durch seine Zeitschrift an der »naüonalen Revolution«

mitgewirkt zu haben.
Stapels Essay ist als »Offener Brief« an den preußischen Kultusminister Konrad Haenisch gerichtet als

Antwort auf dessen publizistische Bemühungen, das geistige Deutschland zur Republik zu überreden. Vgl.
Konrad Haenisch, Sozialdemokratische Kulturpolitik (Berlin 1918/19), Kulturpolitische Aufgaben (Berlin 1919),
Neue Bahnen der Kulturpolitik. Aus der Reformpraxis der deutschen Republik (Stuttgart und Berlin 1921).

13
Alfred Döblin: Der Schriftstellerund der Staat. In: Die Glocke 7
(16. Mai 1921) Nr. 7, S. 177-182 und (23. Mai 1921) Nr 8, S. 207- 211.

Es ist dieser Tage m einem Wiener Verlag ein kleines Buch erschienen: Der Krüppel, Tagebuchblät-
ter und Aufzeichnungen aus dem Nachlasse N. R.s, ausgewählt und herausgegeben von Stefan
Tafler. In diesen Aufzeichnungen berichtet ein Mann von sich, der mit 13 Jahren durch Sturz vom
Fahrrad seine linke Hand verlor, der dann zunehmend von diesem Unglück überwältigt wurde.
Immer stärker stellt sich, wie die Tagebuchblätter erkennen lassen, sein ganzes Seelenleben auf den
Defekt ein. Er wird nicht müde, seine Gedanken auf diesen toten Punkt hinzuführen. Das Leiden,
erst grob organisch, wächst parasitär ins Innere. Es entwickelt sich der schwere spezifische
Seelenzustand des Krüppels. N. R. kommt einmal zu dem Satz: Mein jetziger Gesamtzustand
Die Schriftsteller und ihr Staat 41

verhält sich zur Amputation meiner Hand wie Paralyse zur luetischen Infektion. Er trägt, wie er

sagt, an sich ein Stück Tod. Sein Vater hat ihm das Radfahren verboten. Am Tage, als dann das
Unglück passierte, trat, stürzte der Vater in sein Zimmer, brüllte, beschimpfte ihn. Auch die Mutter
haderte mit ihm. Er fing an, seine nächste Umgebung zu hassen, sich abzuschließen, untätig, mit
sich selbst zerfallend, nur zu Exzessen sich erhebend, verbringt er Jahre. Die Tagebuchblätter
lassen erkennen, daß er dann zuletzt in ein hilfloses Hin und Her, in die Wellen einer auftauchen-
den und schließlich überschwemmenden Depression geriet. Er endete, 30 Jahre alt, 1919 in Linz
durch Selbstmord.
Als ich dieses Buch durchflog und wieder zu der vorangegangenen Überlegung »der Schriftstel-

ler im Staat« zurückkehrte, war mir klar, daß ich nach einem Gleichnis für die Stellung des

deutschen Schriftstellers im Staat nicht lange suchen brauchte. So wie dieser Krüppel, der, wenn er
wollte, gar kein Krüppel wäre, so unsicher, schwächlich, oft mit wilden Gebärden, aber immer
wieder hilflos, bitter steht der deutsche Schriftsteller im Staat, vegetiert er im Staat, gering
geachtet, fast mißachtet, selbst ohne Gefühl von eigener Würde.
Wir werden vollkommen klar darüber sein, welche Rolle der deutsche Schriftsteller im Staat

spielt, wenn wir zwei Daten nebeneinander halten. Bei der Niederwerfung des Boxeraufstandes
marschierten die europäischen Truppen durch Tsingtau. Die chinesische Bevölkerung ließ sich die
einzelnen Formationen und Rangstufen demonstrieren: es gab Grinsen und Achselzucken beim
Anblick der Uniformen, der Soldaten und der hohen Offiziere auf den schönen Pferden. Dann
kam ein Mann hinten beim Gepäck, er fuhr in einem kleinen zweirädrigen Wagen, ein gewöhnli-
cher Zivilist. Als man ihnen diesen wies und sagte, dies sei ein Schreiber, ein Schriftsteller, ein

Literat, traten sie achtungsvoll zurück, schwangen grüßend die Hände, verneigten sich. Dieses
China hat seine ungeheure, eigentlich beispiellose und im Grunde auch jetzt noch unerschütterte
Stabilität dadurch erlangt, daß in langen Jahrhunderten die Dynastien in großer Ehrfurcht vor dem
Volk, den 100 Familien, an sich zogen, was an Geistigkeit im Volk lebte und selber in dieser

Geistigkeit lebten. Die literarische Allgemeinbildung, welche den Schriftsteller in höchster Ach-
tung erscheinen ließ, war der Ausgangspunkt und der Mutterboden für jede Fachbildung, sei sie

politischer, verwaltungstechnischer, juristischer oder strategischer Art. Immer war der Geist, der
sich in den besten und maßgebenden Schriftstellern äußerte, zugleich der Geist des Staates, und er
war lebendig in der Regierung.
Neben diese Beobachtung setzte ich die zweite. Sie ist aus Deutschland. Ich brauche keine
Schilderung geben. Was ein Schriftsteller im deutschen Staat bedeutet, wie er geachtet wurde,

dafür nenne ich nur Gerhart Hauptmann, einen wirklichen und menschlichen Dichter. Man
erwäge, wie sein Geist lebendig war in der Regierung, unter der er die größte Zeit seines Lebens
verbrachte, welches Ansehen er zur selben Zeit, wo das Ausland ihm den Nobelpreis gab [1], im
offiziellen preußischen und deutschen Staat genoß. Und so, als belanglos erachtet, mißachtet die
nicht kleine Zahl anderer starker Schriftsteller und Menge tüchtiger Literaten.
die große

Ich muß einen Blick auf den Weg werfen: wie das gekommen ist. Ein Schriftsteller, ein Dichter
ist nichts Isoliertes im Staat. In Deutschland entstammen die Schriftsteller in ihrer überwiegenden
Zahl der Mittelschicht des Bürgertums; die untere Schicht, das Proletariat, war bisher durch seine

wirtschaftliche Lage von der Teilnahme an der Bildung ausgeschlossen. Dieses Bürgertum hatte
42 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

kräftige eigene lebensfähige Ideale, die ihm Würde und Selbstachtung gaben, bis um 1848. Nach
den Schlägen von 1848 gab es eine jahrzehntelange schwere Übergangszeit für das deutsche
Bürgertum. Die schwerste Verletzung erlitt es 1870/71. Damals wurde es von allen Zweifeln und
jeder Unsicherheit befreit. Die blendenden ästhetischen Ideale der höheren Schicht, der Sieger-

schicht, drangen machtvoll auf das Bürgertum ein. Plötzlich war man seelisch exproprnert. Man
nahm, ohne zu ahnen, was man tat, die Herrenideale als eigene auf.

Die Warnrufe Friedrich Nietzsches aus dieser Zeit sind bekannt, auch daß sie vergeblich waren.
Unaufhaltsam vollzog sich die Infiltration des Bürgertums mit den Idealen der regierenden
Oberschicht; das Bürgertum erwies sich als vorzügliches Medium für den Transport und die

Weiterbildung dieser Vorstellungen. Und im selben Maße, wie es sich fähig erwies für diese

Aufgabe, sank der deutsche Schriftsteller, sank in seiner Produktivität, sank aufs Sichtbarste in

seiner Stellung im Staat.Was in den Jahren bis 1880 an der deutschen Mittelschicht geschehen war,
wurde am schärfsten an ihm deutlich, dem Träger der Geistigkeit dieser Schicht. In Gustav
Freytag [2] war noch ein gewisser Stolz und Bodenständigkeit erkennriich; später konnte man nur
noch Einflüsse vom Ausland übernehmen, die eigentliche Literatur, die Ismen setzen ein und
werden widerstandslos aufgenommen; formale ästhetische Entwicklungen, kernloser Prunk.
So mußte es kommen, nachdem die Schicht, der man entstammte, seelenlos geworden war,
nachdem man nur von fremden Blut lebte. Diese Entseelung, dieses Helotentum der Mittelschicht
war es, was nur wenige kräftige Einzelexemplare im Literarischen erstehen ließ. Dem Schriftsteller
im ganzen mußte Geringschätzung im Staat garantiert sein.

Es kam in Deutschland zu dem Typus eines Schriftstellers, eines vielbeschäftigten, viel tätigen,

modernen, aber im Staat wie im Volkskörper ziemlich bedeutungslosen Elements. Dazu Lyriker,

Epiker, Dramatiker, einzeln, zusammenhanglos unter sich, ohne Zusammenhang mit dem Volk
und dem Staat. Und alle krampfhaften Bemühungen, diesen Schriftsteller, diesen Typus zuletzt

Hals über Kopf zu politisieren, mußten ja fehlschlagen. Erst muß der Boden wieder wachsen, auf
dem er stehen kann. Übrigens ist die Lebendigkeit eines Schriftstellers, seine Aktivität und die

Politisierung des Schriftstellers zweierlei. Ich werde niemals von der mechanischen Politisierung

des Schriftstellers sprechen, sondern wie er im Staat auf seine ureigene Art lebendig und so
politisch sein kann.

Jetzt steht Deutschland im Zeichen der bürgerlichen Republik. Ein gewaltiger Teil der Einflüsse

ist gefallen, die zur Aushöhlung der Mittel- und Unterschichten des Volkes führten.

Es ist in Deutschland nach Fortfall dieser Einflüsse zu einer höchst eigentümlichen Situation
gekommen, einer Situation, der sich die ganze Aufmerksamkeit der Geistigen in Deutschland,
besonders der Schriftsteller, zuwenden muß. Deutschland befindet sich in einem Zustand, den

man nur mit einem Traumzustand vergleichen kann. Dinge, die längst nicht mehr real sind,

entfalten ganz unwahrscheinliche psychische Wirkungen, frische Eindrücke klingen an und


werden verschlungen; man macht exzessive Bewegungen nach irgend einem Ziel, das als Ideal

erscheint, alles wechselt überaus rasch. Das Durcheinander, das Schwere, Mühselige des Zustan-
des wird jedem, der in diesem Staat lebt, fühlbar Aber nicht nur die Schwere. Denn dieses ist ein

Zwischenzustand, den die Volksmassen durchleben. Es ist schon die Wirkung der eingetretenen
Befreiung, des Fortfalls der alten Faszination. Man will langsam wieder auf eigenen Boden treten.
Die Schriftsteller und ihr Staat 43

So wie niedergedrücktes Getreide sich wieder aufrichtet, erheben sich im ganzen Volk die
ungenutzten Kräfte, es will noch ungeregelt die Vitalität heraus, die hier verheimlicht war. Überall

treten die Menschen zu Verbänden zusammen, besprechen ihre Sachen, bilden Selbstverwaltungs-

körper. Und während oben noch die alten Ideologien flottieren und ihren Schaum schlagen,

ändern sich die Menschen, ihr Verhältnis zueinander, es gruppiert sich alles langsam um. Und
langsam wird die angebahnte Bewegung größere und größere Kreise ziehen und wird sich bis in

das Persönlichkeitsgefühl, bis in die Sittlichkeit hinein umgestaltend auswirken. Dies ist der
Augenblick des Schriftstellers. Wenn in diesem Augenblick der Schriftsteller nicht lebendig wird,

wird er nie lebendig werden. Seine Degradation ist aufgehoben, die weitere Degradation ist seine

eigene Schuld. Groß ist die Aufgabe, die der Schriftsteller in diesem sich neu gestaltenden Staat hat,
ein Optimum von Wirkensbedingungen ist ihm gegeben. Wächst er an ihnen nicht hoch, erringt er
jetzt nicht [3] im Staat eine neue Würde, ist er zerschmettert, und wir werden nie einen deutschen

Schriftsteller sehen.

Was wird gefordert vom Schriftsteller in diesem Augenblick? Ein Nichts und ein Alles: Verant-

wortlichkeit. Man kann erklären, daß schwere wirtschaftliche Not den Schriftsteller hindert, die

Würde zu erringen, die ihm im Volksleben zusteht als Verbreiter von Erkenntnissen und Anregun-
gen, als Beieber sittlicher Antriebe. Diese schweren Dinge dürfen nicht so schwer sein, daß er mit

ihnen nicht fertig wird. Jedes Tier kämpft um sein Leben, das Leben des Schriftstellers aber ist sem
Geist. Wer das nicht fühlt, ist nicht oder noch nicht Schriftsteller. Wer die wärmere Häuslichkeit,
den größeren Prunk über den harten Geist setzt, hat mit uns nichts zu mn. Wer nicht den Kampf
gegen die grobe wirtschaftliche Unterjochung des Geistes führt, für den Geist, der auch der des
Staates ist, steht unter dem Tier. Der Schriftsteller mit Verantwortung steht in seiner Empfindung
zum Volk, das seins ist, so, wie einmal einer von ihnen zu einer Frau stand, von der er sagte: Du
warst mir in vergangenen Tagen so Schwester, Mutter, Kind und Braut. So zart wie zu einem Kind,
fürsorglich und ehrfürchtig wie zu einer Mutter, liebevoll und dabei entschlossen führend wie ein

Mann. Die Verantwortlichkeit, die man von einem deutschen Schriftsteller in diesen Jahren
verlangen muß, die kritisch für ihn wie für den Staat sind, hat ihn zu jeder erdenklichen Strenge
gegen sich zu zwingen. Seine Leidenschaft ist da. Aber die Leidenschaft des Schriftstellers steht im
Dienst seiner Erkenntnis. Es gibt Stimmen, die sagen, es sei aussichtslos für den Geistigen, er
könne nichts von Belang leisten im Staat, allmächtig seien die großen Triebkräfte der Industrie,
Technik, des Handels. Gegen sie komme keine noch so hohe Idee auf; der Schriftsteller und
Dichter wird bald Lakei, Putz, Tafelaufsatz bei den Festen der Parvenüs sein. Seien die Schriftsteller
gewarnt vor diesen Stimmen. Sie reden vielleicht wahr von der vergangenen Periode, wir aber von
der gegenwärtigen und zukünftigen. Industrie, Technik und Handel sind stark, sie sind aber nicht
befähigt, den Staat zu bauen oder gar die Menschheit zu erhalten und zu fördern. Ein Staat, der sich

führungslos den elementaren Kräften der Industrie und Technik übergibt, rast über kurz und lang
wie ein scheugewordenes Gespann über den Weg und wird an einem Stein zerschmettern. Es gibt
aber noch eine elementare Kraft in dem Menschen neben der Kraft, die Industrie und Technik
entwickelt hat, das ist die: Zusammenhalten mit dem Menschen, die Gemeinschaft zu pflegen, die
sittlichen Triebe als unvergleichlich wichtig fühlen. Und diese Kraft ist stärker, elementarer und
früher als irgendeine andere. Sie ist es und keine andere, die das eigendiche Wesen des Menschen
44 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

ausmacht. Und das ist unser Gebiet, das Gebiet der verantwortlichen Menschen und der Verbreiter
des Wissens.
Mögen die Schriftsteller sich nicht entmutigen lassen. Mögen sie wissen, welche großen

Aufgaben sie gerade im jetzigen Staat erwarten. Man kann aber sagen, daß ein erheblicher Teil der

krampfhaften inneren Bewegungen Deutschlands auf das Schuldkonto eines hilflosen und fieber-

haft verwirrten Geistes zu schieben sind. Statt Einsichten werden in diesem Lande Suggestiworstel-
lungen auf Suggestiworstellungen in die Welt geschleudert und von den Schriftstellern verbreitet,

für alles Mögliche findet man immer neue Formen und Lösungen, wütende Kämpfe entstehen um
Banalitäten, so daß schon mancher resigniert und stöhnt: die Tölpelei sei zu groß, die Deutschen
seien gar nicht reif für staatliche Freiheit. In dieser Zeit der ersten freiheitlichen Bewegungen mit
ihrem Wust von Programmen, ihren tausenderlei Begierden und Verranntheiten, ihrer kindlichen
Dogmatik haben die Schriftsteller aufs schärfste an sich zu halten und zu wissen, welch feines und
gefährliches Instrument sie in der Sprache besitzen. Schon in ruhiger Zeit beobachtet der Schrift-
steller, daß etwas fatal Eigenwilliges in den Worten steckt: man glaubt zu schreiben und man wird
geschrieben; der Schriftsteller hat ständig auf der Hut zu sein, um sich der Sprache gegenüber zu
behaupten, muß mit ihr wie ein Tierbändiger umgehen. Ganz gefährUch ist es in erregten Jahren,

wenn der Schriftsteller die Fassung über sich verliert, sein Instrument nicht beherrscht, selber den
Suggestiworstellungen unterliegt, die mit schlechten, unklaren Worten zusammenhängen. Und
diese Niederlage des Schriftstellers, dies Versagen vor den Worten, vor den eigenen Worten ist jetzt

hundertfach zu beobachten. Diese Niederlage setzt den Schriftsteller jedem kleinen Mann gleich,

der sich durch gebrüllte Straßenreden zu Exzessen hinreißen läßt.

Besonders die Dichter, Epiker und Dramatiker möchte ich darauf hinweisen, daß die Verhält-
nisse es bisher mit sich brachten, daß sie wesendich für eine einseitig zusammengesetzte gesell-

schaftliche Schicht, im Grunde immer dieselben Menschen produzierten. Es liegt jetzt anders.

Man muß wissen, daß die ungeheure Masse des sogenannten niedrigen Volks nunmehr teilneh-

men will und muß. Nicht bloß die Sorgen, Leidenschaften, Versuchungen und Verderbtheiten der
einen Schicht mögen in Zukunft Gegenstände des darstellenden Schriftstellers sein. Er wird eine
große, ihm angemessene Leistung im Staat vollbringen, wenn er mit diesem zu ihm drängenden
Volk zu fühlen lernt, an ihm lebendig wird und ihre Art aufweckt. Es wird bald die Zeit kommen,
wo wir einfach werden müssen, viel einfacher, verständlicher und darum lebensvoller als wir jetzt

sind.

Nunmehr will ich von der Haltung sprechen, die der Staat seinen Schriftstellern gegenüber
einzunehmen hat. Wir wissen, die europäischen Staaten haben kein ausreichendes Gefühl dafür,

was verantwordiche Schriftsteller ihm bedeuten und noch einmal bedeuten werden. Die Staaten
müssen wissen, daß alle Industrien und aller Umfang des Handels nicht den Untergang von
Völkern aufhalten, wenn der Geist aus diesen Völkern genommen ist. Ja, man kann den Gedanken
nicht unterdrücken, daß der sehr starke Wert, der auf das Wirtschaftliche von Staatswegen gelegt
wird, das abenteuerliche Vordrängen von Industrie und Technik schon ein Nachlaß, ein Sinken der

staatsbildenden Kraft anzeigen, eine Anämie des Staates. Die Schriftsteller und die Dichter, als die

Bewahrer und Anfacher des Feuers der Völker sind vom Staat auf das Sorgfälrigste zu behüten. Ich
Die Schriftsteller und ihr Staat 45

habe nicht von der wirtschaftlichen Fürsorge zu reden, die dem Schriftsteller den ökonomischen
Kampf erleichtern soll, die seinen Sturz in den Abgrund des Mammonismus verhindern soll.
Dies ist im Augenblick ein großes Kapitel, erfordert besondere Sprecher. Ich will zeigen, welche
geistige Verpflichtung der Staat gegen den Schriftsteller hat.

Der noch jetzt herrschende Zustand ist besonders in Deutschland unerträglich und fast

unglaublich. Es kann als notorisch unterstellt werden, daß die deutschen Staatsmänner, Verwal-

tungbeamten, Juristen bis auf geringe Ausnahmen dem deutschen Bildungswesen, insbesondere
der lebenden Bildung, fremd gegenüberstehen, wie einstmals, so heute. Man wird bei den
Männern, die den deutschen Staat repräsentieren, - von dem alten Reich weiß man es mit vollster

Sicherheit, - vergeblich nach einer sie durchströmenden, von ihnen ständig gefühlten Universalbil-
dung suchen. Ja, die Vertreter der früheren Epoche haben beinahe einen Stolz darin gesehen,
nichts von uns zu wissen, und Goethe und Schiller waren nur Angelegenheiten, mit denen sich ihre

Tochter befaßten. Und so schwebt noch heute die große Bildung des deutschen Volkes frei und
unlokalisiert im Staate herum, und was unsere großen Kulturellen geleistet haben, tritt bei den
Staatsträgern nicht oder fast nicht in Erscheinung. Der Dichter soll sich nicht politisieren, aber der
Staat muß sich, das haben wir zu fordern, in stärkstem Maße humanisieren und kultivieren. Dies ist
er sich schuldig, die Jugend ist darauf zu erziehen. Dies ist der Staat den Schriftstellern schuldig,
wenn sie nicht ganz ins Leere arbeiten und verkommen sollen.

Was verlangen wir vom Schriftsteller in seiner Stellung zum Staat: Verantwortlichkeit, Über-
sicht, Ruhe. Diese werden ihm eine neue Würde im Staat erringen. Was verlangen wir vom Staat in
seiner geistigen Haltung zum Schriftsteller: Teilnahme am Kulturleben, Einsicht in die Entwick-
lung des neuen Verantwortlichkeitsgefühls, freier Spielraum den geistigen Kräften, Achtung vor
den Leistungen der verantwortungsbewußten Schriftsteller.

Und dies ist der Kern dessen, was ich sagte: Inmitten des Dröhnens der Fabriken, inmitten der
Schaufenster, welche die Menschen reizen und beunruhigen, inmitten des politischen Zanks
wollte ich, ohne Resignation, vielmehr voller Hoffnung, die Schriftsteller ansprechen. Sie möchten
nicht teilnehmen an der Erregtheit und Verzweiflung dieser Zeit. Die alten Vorzüge der Geistigen
mögen ihnen in jedem Augenblick zur Seite stehen, ihre unverwelkbare Kenntnis um die wirkli-

chen ideellen Lebensgüter, diese Lebensgüter, die einmal wieder als Fixstern auch unseres verwirr-
ten Abendlandes erscheinen werden. Diese Kenntnis wird die Schriftsteller zu strengster Selbster-

ziehung verpflichten. Der Staat wird ihr Leben aufnehmen. Und sie werden die Würde im Staat

erlangen, die ihrem Wirken um die menschliche Kultur gebührt. -

Alfred Döblin (1878, Stettin - 1957,Emmendingen) Sohn einer Kaufmannsfamilie. Medizinstudium, Dr. med.
1905. Ab 1911 und Kassenarzt in Berlin. Mitarbeit an Herwarth Waldens expressionistischer
Nervenspezialist
Zeitschrift Der Sturm. Ab 1915 Militärarzt. Zahlreiche politische und zeitkritische Beiträge in der Neuen
Rundschau unter dem Pseudonym »Linke Poot«; die Beiträge erschienen 1921 gesammelt unter dem Titel Der
deutsche Maskenball bei S. Fischen Kurzfristig 1919/1920 Redakteur bei der Neuen Rundschau. Wird 1920
Vorstandsmitglied im »Schutzverband Deutscher Schriftsteller« (SDS). Mitarbeit an zahlreichen Tageszeitun-
gen. Polenreise 1924. Begegnung mit Brecht 1925. Aktive Teilnahme am literarischen Leben der Republik bis
zur Flucht 1933 durch Vorträge, Lesungen, öffendiche Diskussionen, Rezensionen, Funkarbeiten, Aufrufe und
durch gewerkschaftliche Arbeit im »Schutzverband deutscher Schriftsteller«.
46 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Der abgedruckte Text wurde am 7. Mai 1921 als Vortrag auf einer Tagung des »Schutzverbandes Deutscher
Schriftsteller« gehalten.

1 Gerhart Hauptmann hatte 1912 den Nobelpreis erhalten.

2 Gustav Frey tag (1816-1895) Erzähler, Dramatiker und politischer Essayist (war Abgeordneter im Norddeut-
schen Reichstag 1867/70). Wurde durch seinen dreibändigen zeitdokumentarischen Roman SollundHaben
(1855) berühmt. In seinem Romanzyklus Die Ahnen (1872/81 in 6 Bänden) erzähh er die deutsche
Geschichte von der Völkerwanderung bis zur 48er Revolution.
3 Die im Original fälschlicherweise fehlende Negation wurde hier eingefügt.

14
Thomas Mann: Von deutscher Republik. Aus einem Vortrag.
In: Berliner Tageblatt (17. Oktober 1922) Nr. 469.

Thomas Mann hatte sich nach dem Sturze des Kaiserreiches zu einer in höherem Sinne, nicht im
Parteisinne, konservativen Weltanschauung bekannt und schien der Demokratie und der Repu-
blik kühl gegenüber zu stehen. [1] Jetzt hat er in einem Vortrag, über den hier berichtet wurde, ein

Bekenntnis zur Republik abgelegt. Er betont dabei, daß er auch weiter ein Konservativer bleibe -
aber »nicht im Dienste des Vergangenen und der Reaktion, sondern in dem der Zukunft«. Und
da er seinen Vortrag, den er Gerhart Hauptmann widmet, und in dem er eine außerordentlich

schöne Wertung Hauptmanns gibt, an die deutsche Jugend, und zwar an die antirepublikanisch
gesinnte, richtet, so stellt er sich das unmutige Scharren und die unfreundlichen Zurufe dieser
jugendlichen Zuhörer vor, und er sucht diejenigen, die ihn einen Abtrünnigen nennen, zu
überzeugen und zu gewinnen. In dem mit anmutiger Feinheit gestalteten Gruß an Gerhart
Hauptmann sagt er, daß die Demokratie »des Landes geistige Spitzen, nach Wegfall der dynastisch-
feudalen, der Nation sichtbarer macht«, und daß »das unmittelbare Ansehen des Schriftstellers

im republikanischen Staate steigt - ebenso wie seine Verantworriichkeit«. Da Thomas Mann


selbst unbestreitbar zu den geistigen Spitzen der Nation gehört, ist es außerordentiich erfreulich,

ihn jetzt unter denen zu sehen, die dem neuen Staate Verständnis, Liebe und ehrliche Mitarbeit

werben wollen, und es ist uns eine besondere Genugtuung aus seinem Vortrag das hier folgende
Bruchstück wiedergeben zu können. Die Redaktion.

Die Republik . . . wie gefällt euch das Wort in meinem Munde? Übel - bestimmten Geräuschen
nach zu urteilen, die man wohl leider als Scharren zu deuten genötigt ist. Und doch ist mir jenes

Wort, anders als den meisten von euch, von jung auf vertraut und geläufig. Meine Heimat war ein

republikanischer Bundesstaat des Reiches, wie diejenigen, aus denen es heute durchaus besteht.
Dennoch war ich niemals ein Republikaner vom Verrina-Stamm [2], kein Mann der lehrhaften

Tugendstarre, kein Revolutionär dieses Sinnes, ihr wißt es. »Diejenigen«, sagte und sage ich mit

Novalis, »die in unsern Tagen gegen Fürsten als solche deklamieren und nirgends Heil statuieren,

als in der neuen französischen Manier, auch die Republik nur unter der repräsentativen Form
erkennen und apodiktisch behaupten, daß nur da Republik sei, wo es Primär- und Wahlversamm-
lungen, Direktorium und Räte, Munizipalitäten und Freiheitsbäume gäbe, die sind armselige
Die Schriftsteller und ihr Staat 47

Philister, leer an Geist und Arm und Herzen, Buchstabier, die ihre Seichtigkeit und innerliche Blöße
hinter den bunten Fahnen der triumphierenden Mode, unter der imposanten Maske des Kosmopoli-
tismus zu verstecken suchen, und die Gegner, wie die Obskuranten, verdienen, damit der Frosch-
und Mäusekrieg vollkommen versinnlicht werde.« [3] - So spricht ein Romantiker. Denn das
Niveau deutscher Romantik, möge es gewiß ein anderes sein, als das der politischen Aufklärung,
ist eben darum auch so hoch über allem Obskurantentum, daß, da echte Opposition nur auf
gleicher Ebene möglich ist, schon dessen Gegnerschaft von hier aus als letzte Schande empfunden
wird. Obskurantismus, mit seinem politischen Namen Reaktion geheißen, ist Roheit - sentimen-
tale Roheit, insofern sie, sich selbst betrügend, ihre brutale und unvernünftige Physiognomie
»unter der imposanten Maske« des Gemütes, der Germanentreue etwa, zu verstecken sucht; und
sentimentale Roheit verdient so wenig den edlen und geisteszarten Namen der Romantik, daß der
eingefleischteste Romantiker für den vorübergehenden Notfall zum politischen Aufklärer werden
könnte, um behilflich zu sein, so unverschämte Ansprüche ihr kräftigst zu verwehren. Wenn
sentimentaler Obskurantismus sich zum Terror organisiert und das Land durch ekelhafte und
hirnverbrannte Mordtaten schändet, dann ist der Eintritt solchen Notfalles nicht länger zu
leugnen, und die Stille, die sich, wie ich feststelle, bei dieser Anspielung im Saale verbreitet - ich

weiß, junge Leute, was ich, der fürchten muß, aus geistigem Freiheitsbedürfnis dem Obskuranten-
tum Waffen geliefert zu haben [4] - was, sage ich, gerade ich dieser jetzt herrschenden Stille

schuldig bin.
Mein Vorsatz ist, ich sage es offen heraus, euch, sofern das nötig ist, für die Republik zu
gewinnen und für das, was Demokratie genannt wird, und was ich Humanität nenne, aus
Abneigung gegen die humbughaften Nebengeräusche, die jenem anderen Worte anhaften (einer

Abneigung, die ich mit euch teile) - dafür zu werben bei euch im Angesicht dieses Mannes und
Dichters hier [5] vor mir, dessen echte Popularität auf der würdigsten Vereinigung volkhafter und
menschheidicher Elemente beruht. Denn ich möchte, daß das deutsche Antlitz, jetzt leidvoll

verzerrt und entstellt, dem seinen wieder gliche - diesem Künstlerhaupt, das so viele Züge
aufweist des Bildes hoher Biederkeit, das sich für uns mit dem deutschen Namen verbindet.

Wie eigentümlich und menschlich regelwidrig liegen bei uns zu Lande heute die Dinge!
»Republik«, schrieb Novalis, »ist das Fluidum deferens der Jugend. Wo junge Leute sind, da ist

Republik.« [6] Und ist es nicht wahr, daß Freiheitsdurst, Liebe zur Veränderung, hochherziger
Revolutionsdrang immer ein natürliches Vorrecht der Jugend gewesen ist, hier wie anderwärts?

Unserem Smdentenmm, unserer Burschenschaft fehlt es ja keineswegs an demokratischer Überliefe-

rung. Es gab Zeiten, wo das Nationale und das Monarchisch-Dynastische, weit entfernt, in der
Idee zusammenzufallen, vielmehr in unversöhnlicher Opposition zueinander standen; wo Patriotis-
mus und Republik nicht nur keinen Gegensatz bildeten, sondern als ein und dieselbe Sache

erschienen, und wo alle Leidenschaft edlerer Jugend zu ihr, der Sache des Vaterlandes und der
Freiheit stand. Heute scheint die Jugend, scheinen wenigstens lebenswichtige Teile unserer Jugend

gegen die Republik zu ewigem Haß verschworen, ohne Erinnerung daran, was einst sein konnte, -
denn schon eine solche Erinnerung müßte auf die Unbedingtheit dieses Hasses leise einschrän-

kend wirken. »Völlig andere Umstände«, werdet ihr mir antworten, »waren das damals; wir jungen
Menschen aber sind uns im Wandel der Zeiten treu geblieben, und brüderlich erkennen wir uns
48 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

wieder in den Märtyrern von damals, den hochherzigen Opfern der Demagogenverfolgungen. Die
Geschichte v^iederholt sich nicht, und unser Haß ist Leben.« - Das ist er wahrscheinlich nicht, muß
ich erwidern, und nur zu wahr ist, daß die Geschichte sich nicht wiederholt, daß es höchst
lebenswidrig sein kann, in historischen Analogien zu denken und zu fühlen! Mir graut zuweilen
vor den Irrtumsgefahren solchen Spiels: denn ein Spiel von Knaben ist es möglicherweise, heute

die geheime militärische Wiederherstellung Preußens nach Jena und Tilsit [7] zu kopieren, - und
wie, wenn in unseren Tagen die Republik, indem sie notgedrungen eure monarchistischen
Geheimorganisationen aushebt, die Wahrheit und das Leben für sich hätte, wie ihr sie einst für

euch hattet gegen die Spitzel und Häscher der Reaktion?


»Was ist eigendich Alt? was Jung?« fragt Novalis. »Jung«, antwortet er, »wo die Zukunft
vorwaltet; Alt, wo die Vergangenheit die Übermacht hat.« [8] - Leben wir denn in der verkehrten
Welt? Jugend ist heute die hitzige Parteigängerin der Vergangenheit, und auf mechanische Restaura-
tion des Alten ist all ihr Sinnen gerichtet. Demagogenverfolgungen? Ja, um solche möchte es sich

handeln bei der hinlänglich unbeholfenen Selbstverteidigung eines Neuen, das selbstverständlich
das wahre und echte Neue noch nicht sein kann, sondern nur die notdürftig allgemeinste

Vorbedingung und Grundlage dazu: denn was wäre Demagogentum, wenn nicht der platte Trick,
das gegenwärtige äußere und innere Elend des Landes zur Verherrlichung des Abgewirtschafteten
auszunutzen, ohne übrigens im mindesten Mittel und Wege zu wissen, wie denn die vormalige
Pracht wieder herzustellen sei, noch auch nur für den verlassenen Thron, um den man sich

schützend schart, einen Prätendenten aufweisen zu können.


Es ist löblich, ist ein Zeichen von Geist, äußere Tatsachen zu bekämpfen, sofern sie mit den
inneren nicht übereinstimmen und also zwar Wirklichkeit, aber nicht Wahrheit sind. Es ist dagegen
absurd und nichts weiter, Tatsachen zu leugnen und sich im Wirklichen nicht ausprägen lassen zu
wollen, die es für jedermann innerlich sind, auch für die Leugner und Opponenten. Smdenten-
schaft! Bürgertum, eingesprenkelt in die Reihen der akademischen Jugend! Die Republik, die

Demokratie sind heute solche inneren Tatsachen, sind es für uns alle, jeden einzelnen, und sie

leugnen heißt lügen. Mächte, geweiht von Historie, ausgestattet mit so zwingender Autorität
ererbten Ruhmeszaubers, daß es menschlich war, sie bestehen und gewähren zu lassen, auch als

ihre Entartung ins banal TheatraUsche längst jede Pietät in Verlegenheit setzte, thronten über uns
bis vor kurzem, und sie waren der Staat, in ihrer Hand lag er, er war ihre Sache, - die sie offenbar

nicht mehr gut machten, während wir, abgewandt die unsrige, die Sache der Nation und der
Kultur, möglichst gut zu machen suchten. Ja, eine Scheidung des nationalen und des staadichen
Lebens hatte sich hergestellt, wie sie in dieser Schärfe und Vollständigkeit niemals statthaft sein

kann und sich an beiden Teilen rächen muß. Wir widmeten uns dem Gewerbefleiß, der Kunst, dem
absoluten Gedanken - ich will nicht sagen: mit Gemütsruhe, denn unsere politische Enthaltsam-
keit war zu fatalistischen Wesens, als daß sie eigendich Vertrauen zu nennen gewesen wäre; aber
die Miene gab sie uns doch, als wüßten wir die staadichen Dinge in den besten Händen, - während
wir schon gar nichts davon hätten wissen müssen, um nicht zu wissen, daß sie in sehr zweifelhaften
lagen. Das war menschlich, wie alles gekommen war, ich wiederhole es. Aber es ist vorbei. Jene

Mächte sind nicht mehr. Das Schicksal hat sie - wir wollen nicht triumphierend rufen: »hinwegge-

fegt«, wir wollen sachlich aussprechen: es hat sie beseitigt, sie sind nicht mehr über uns, werden es.
.

Die Schriftsteller und ihr Staat 49

nach allem, was geschehen, auch nie wieder sein, und der Staat, ob wir wollten oder nicht, - er ist

uns zugefallen. In unsere Hände ist er gelegt, in die jedes einzelnen; er ist unsere Sache geworden,

die wir gut zu machen haben, und das eben ist die Republik, - etwas anderes ist sie nicht . .

Faßt endlich Vertrauen, - ein allgemeines Vertrauen, das für den Anfang nur im Fahrenlassen des
Vorurteils zu bestehen braucht, als sei deutsche Republik ein Popanz und Widersinn, als müsse sie

das sein, was Novalis als »verwaltende und charakterisierende fremde Kraft« bestimmt, nämlich
Schwäche! . . . Um was geht der Streit der Parteien? Nun, um das Wohl des Staates. Nicht kommt
es darauf an, daß eine Partei gute Fahrt hat, sondern daß der Staat sie hat; und wenn jede Partei

klüglich den Wind benutzt, mit dem die andere segelt, so werden sie alle gut segeln, das heißt die
Republik wird gut segeln, - was zu erreichen war. Darum ist anzuraten, daß auch die »Republika-
ner« bedacht seien, den »Monarchisten« den Wind aus den Segeln zu nehmen: den nationalen
nämlich, und sie nicht allein damit segeln lassen, - nicht ihnen allein das Wort lassen sollten sie,

wenn es um Ehre und Schande geht, um Liebe und auch Munde um Zorn; das Lied aus dem
nehmen sollten sie ihnen, wie eben herzUch und schlau der Vater Ebert getan in seinem Erlaß zum
Verfassungstage, worin er den Völkischen das »Deutschland über alles« aus dem Munde nahm
und erklärte, es sei gar nicht ihr Lied, es sei mindestens ebenso sehr das seine, und nunmehr
stimme er es an aus gewölbter Brust. Das ist ein neuer Sängerstreit, der um dies Lied, und ein

vortrefflicher Streit! Denn selbstverständlich werden auch die Nationalisten nicht aufhören wol-

len, es zu singen, und wenn denn also alle unisono »Deutschland, Deutschland über alles« singen,

so wkd das ganz einfach die Republik und ihre Wohlfahrt mit vollen Segeln sein.

Diese Männer an der Spitze des Staates, - sind es denn Ungleichartige, feindwiUige Fremde, mit
denen es keine Verständigung über das Erste und Letzte gäbe, und die euch von der Republik
ausschließen wollten? Ach, sie wären froh genug, wenn ihr kämet, ihnen zu helfen, und es sind
deutsche Menschen, webend in der Sphäre unserer Sprache, geborgen, wie ihr, in deutschen
Überlieferungen und Denkgesetzen. Einige von ihnen kenne ich; der Vater Ebert [9] zum Beispiel

ist mir bekannt. Ein grundangenehmer Mann, bescheiden-würdig, nicht ohne Schalkheit, gelassen
und menschlich fest. In seinem schwarzen Röcklein sah ich ihn ein paarmal, das begabte und
unwahrscheinlich hoch verschlagene Glückskind, ein Bürger unter Bürgern, bei Fesdichkeiten
ruhig-freundlich sein hohes Amt darstellen; und da ich auch dem verwichenen Großherrn [10],
einem dekorativen Talent ohne Zweifel, bei solchem Geschäft das ein oder andere Mal hatte
zusehen können, so gewann ich die Einsicht, für die ich Teilnehmer werben möchte, daß
Demokratie etwas Deutscheres sein kann als imperiale Galaoper. Kinder, Mitbürger, es ist besser

jetzt, - die Hand aufs Herz, uns ist im Grunde wohler, bei allem Elend, aller äußeren Unwürde, als

zu den Glanzzeiten, da jenes Talent Deutschland repräsentierte. Das war amüsant, aber es war eine
Verlegenheit, - wir bissen uns lächelnd auf die Lippen, wenn wir hinblickten, wir sahen uns nach
den Mienen der anderen um in Europa, wir suchten darin zu lesen, daß sie uns nicht für das
Lustspiel verantwortlich machten, was sie aber doch taten; wir wollten hoffen, daß sie zwischen
Deutschland und seiner Repräsentation unterschieden, wozu sie von weitem schwer imstande
waren, - und wandten uns den kulturellen Dingen wieder zu, melancholisch durchdrungen von
der Gottgewolltheit des Hergebrachten, des beziehungslosen Auseinanderfallens von politischem
und nationalem Leben. Einheitskultur! Dämmert uns heute nicht, in allem Jammer, die Möglich-
50 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

keit der Harmonie? Ist nicht Republik nur ein Name für das volkstümliche Glück der Einheit von
Staat und Kultur?
Was ihr mir jetzt versetzen werdet, weiß ich genau. Ihr werdet sagen: Nein doch! Das eben nicht!
Der deutsche Geist - was hat er zu schaffen mit Demokratie, Republik, Sozialismus, Marxismus
gar? Dieser, Wirtschaftsmaterialismus mit seinem schnöden Gerede vom »ideologischen Über-
bau«, Gerumpel aus dem neunzehnten Jahrhundert, wurde nachgerade zum Kinderspott. Sein
Unglück, wenn er zur Verwirklichung in der Stunde gedeiht, die seiner geistigen Erledigung folgt!

Und steht es mit den anderen Herrlichkeiten, für die du deutsche Jugend befremdlicherweise zur
Begeisterung entzünden möchtest, nicht ebenso? Siehst du die Sterne über uns? Kennst und ehrst
du unsere Götter? Weißt von den Kündern deutscher Zukunft? Goethe und Nietzsche waren wohl
und George sind am Ende gar demokratische Geister, deiner schnurrigen
Liberale? Hölderlin

Meinung nach? - Nein, das nicht. Freilich, freilich, da seid ihr im Rechte. Liebe Freunde, wie
betreten ich bin. Ich habe nicht an Goethe und Nietzsche, Hölderlin und George gedacht. Oder
habe ich etwa im stillen dennoch ihrer gedacht, und frage ich mich nur, ob es absurder ist, der
Republik das Wort zu reden in ihrem Namen, als die Restauration zu predigen um ihretwillen! Ja,
ich will mir zu helfen suchen in meiner großen Betretenheit, indem ich dies frage. Ich will weiter

gehen und die Frage aufwerfen, ob wir nicht alle (ich auch! ich auch!) die Widerstände unterschätzt
haben, welche die alten staadichen Mächte der Verwirklichung deutscher Schönheit entgegensetz-
ten; ob nicht die neue Menschlichkeit, deren Propheten jene Geister sind, und die euch im
sehnsüchtig stolzen Sinn liegt, wenn ihr über Demokratie die Achseln zuckt, auf ihrem Boden, auf
dem Boden der Republik, glücklichere Möglichkeiten der Verlebendigung finden mag, als auf dem
Grunde des alten Staates ...

Thomas Mann hielt diesen Vortrag am 13. Oktober 1922 zur Feier von Gerhart Hauptmanns 60. Geburtstag
vor Studenten in der Berliner Beethovenhalle. Die Rede wurde gewertet und von den
als politisches Ereignis

Tageszeitungen wie dem Berliner Tageblatt und der Frankfurter Zeitung (15. Oktober 1922, Nr. 735) auf der
ersten Seite auszugsweise veröffentlicht. Thomas Mann entsprach mit diesem öffentlichen Bekenntnis zur
Republik auch einem Wunsch des Reichsinnenministeriums. Ansätze zu Thomas Manns Wandel seines
Demokratiebegriffs zeichnen sich schon in seinem Vortrag Goethe und Tolstoi und dem am 16. April 1922 in
der Frankfurter Ze/fwwg veröffentlichten Brief über Hans Reisigers Whitman-Werk ab. Dort setzte er zum ersten
Mal Demokratie mit Humanität gleich. Seine Rede (vollständig abgedruckt in: Die Neue Rundschau 33 [1922]
Bd. 2, S. 1072-1 106) richtet sich hauptsächlich an die republikfeindliche deutsche Jugend, deren Mißfallensäu-
ßerungen von Thomas Mann anscheinend bereits antizipiert wurden (vgl. den ersten Satz in dem abgedruckten
Ausschnitt!).
Die positive Einstellung zur Demokratie, wie sie Thomas Mann in dieser Rede vertrat, wurde von der

nationalen Presse als »Umfall« gebrandmarkt. Nur vier Jahre zuvor hatte Thomas Mann in seiner Abhandlung
Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) die Demokratie als »an und für sich etwas Undeutsches, Widerdeut-
sches« kritisiert. Nach der Veröffentlichung der Rede Von deutscher Republik wurde Thomas Mann von der
rechten Presse als »Verräter am Deutschtum« angegriffen. »Sie haben Ihr Deutschtum an die Zeit verraten«,
schrieb Hanns Johst in einem »offenen Brief an Thomas Mann« [Hamburger Nachrichten vom 1. Dezember
1922), »an den Kompromiß, an die politische Praxis. Das aber dünkt mich eines Dichters eheste Absage an
seinen ewigen Beruf.«
Wilhelm Stapels Kommentar zu Thomas Manns Rede Von deutscher Republik, der im Deutschen Volkstum
1923 (1. Heft) unter dem Titel: Warum Thomas Mann uns nicht überredet (S. 35-37) erschien, kann stellvertre-
tend für die Kritik der Rechten an der Demokratiekonzeption Thomas Manns gelten: »Auch eine Republik
bedarf schließlich des Glorienscheines. Woher aber soll die mühselige und beladene deutsche Republik, deren
Verteidiger den Ruhm, die Ehre, die Würde, den Glanz, die Macht, den Stolz als etwas Abscheuliches
Die Schriftsteller und ihr Staat 51

nehmen? Stolz auf Kargheit, Hunger und Nüchternheit wie das alte Preußen? Aber dann
verlästern, Glorie
müßte man auf den lieben Luxus, auf die neu entdeckte, nicht ohne Wonne genossene Seligkeit der Welt
verzichten. Und außerdem macht man sich bei der Mehrzahl der Menschen unbeliebt, wenn man ihnen
zumutet, solche Ideale zu haben. Man hat eine andere, klügere Glorie ausfindig gemacht: den Dichterruhm.
Deutschland, die Republik der Dichter! Es soll der Sänger mit dem Präsidenten gehn. Und aller guten Geister
sind drei.
Der erste Geist, der - nicht ohne hiitiative des alten klugen Verlegers S. Fischer - auf der republikanischen
Menschheit Höhn wandelte, war Gerhart Hauptmann, Sechs Monate lang feierte er zu Ehren der Republik
Geburtstag. Die Welt hallte wider: aus Amerika fliegt uns ein Prospekt zu: Hauptmann: >since Goethe the
greatest writer in Germany<. Lewisohn hat ihn ins Amerikanische übersetzt. Oh!
Der zweitgrößte >German writer since Goethe< ist - das wird Alfred Kerr, der größte deutsche Kritiker since
Börne, auf seinen Eid nehmen - Thomas der Kultivierte. Noch kann er nicht seinen sechzigsten Geburtstag in
den Dienst der guten Sache Aber mit einem Vortrag, poliert wie seine Fingernägel und sanft wie seine
stellen.

Krawatte, tritt er vor die Rampe und - muß mit Seelenschmerz den Mangel der deutschen Jugend an Politesse
erleben. Jünglinge, nicht diese 'Ione!<
Etwas mehr Temperament scheint wünschenswert. Da tritt als Dritter Fritz von Unruh als Skalde der
Republik aus den Kulissen hervor und hält auch einen Vortrag. Die entsprechenden Zeitungen setzen mit der
Leitartikel-Claque ein.
Beachtenswert ist der Reklamestreik des Vorwärts. Als Thomas Mann auftrat, winkte er im Feuilleton kurz
ab: >Wer unbeirrt diesem Vortrage folgte, muß aussprechen, daß anfangs vor allem eine bedenklich große
Eitelkeit des Redenden verletzte.< Der Vorwärts hat zu nahe an der Rampe gesessen und den Parfüm gerochen.
Die Dichter alle drei haben sichviele Mühe gegeben, aber sie haben nicht einertQedanken zustande gebracht,

der Festungswert für die Republik hätte. Thomas Manns Vortrag ist bei S. Fischer gedruckt worden. Wir lesen
ihn in aller Ruhe und erstaunen, daß ein so kultivierter Mensch einen Vortrag hält, wenn er nur Wünsche, aber
nicht einen einzigen Gedanken hat. Überzeugen kann man nur durch Gründe, und Gründe müssen gedacht
sein. Sogar zum bloßen Überreden gehört immerhin ein Gedanke und sei es ein falscher. Thomas Manns

Vortrag ist nicht zu erörtern, denn er ist - abgesehen von der guten Form - gedankenlos. Wir können nichts tun
als ihm sagen, worüber sich Gedanken zu machen nützlich ist, wenn man als Promachos der Republik auftreten

will.

Erstens. Wenn damals, als die Throne stürzten und die Heere zurückfluteten, ein Republikaner dagewesen
wäre, den nicht nur ein marxistisches Schreibtischideal oder gar nur die Sorge darum, daß >alles einigermaßen
glatt abgeht<, bewegt hätte, sondern der von blutwarmer Liebe um das ewige, nicht bloß empirische deutsche
Volk wäre getrieben worden, so hätte er Österreich, Deutschböhmen, Tirol in der Republik zusammengefaßt
und hätte den großdeutschen Gedanken durchgetrotzt. Wenn aber Rußland und Deutschland Schulter an
Schulter nicht stark genug und die Feinde nicht müde genug gewesen wären, so hätte die Republik doch durch
den Versuch ein hinreißendes Ziel aufgestellt und Ruhm gewonnen. Statt dessen hat sie ängstlich die Schuld
des deutschen Volkes unterschrieben und ängsdich die >nationalen Regungen< unterdrückt. Der Ängsdiche
begeistert nicht, sondern nur der Kühne.
Zweitens. Als die Millionen Krieger heimkehrten. Fremde in eine fremde Welt, da hat man sie sich ins

Spießbürgerdasein, in die Sofabehaglichkeit, ins Tretrad des täglichen Geldverdienens wieder einbürgern
lassen. Das war, aufs Individuum gesehn, menschlich, aufs Volk gesehn, unmenschlich. Nun sitzt das deutsche
Volk eng gepreßt in seinen Städten und zittert dem Augenblick, da es nicht mehr der Schmutzkonkurrent
vor
auf dem Weltmarkt sein darf. Zittert vor dem kommenden Hunger. Wäre im Winter 1918/19 ein großer
Republikaner dagewesen, der die Massen, die das Leben im Freien gewöhnt waren, in landwirtschaftliche
Kolonnen formiert und die Hundertschaften auf die Güter des Ostens geführt und unter der Führung erlesener
junger Bauern in einem Sommer zu Landwirten ausgebildet hätte, und hätte er die neuen Bauern - ohne
Rücksicht auf Staatsgrenzen, unter dem Rechte der Revolution - nach Osten und Südosten getrieben, ihnen
Land genommen und sie angesiedelt: die Republik hätte eine Bauerngarde, und das deutsche Volk hätte die
sichere Bürgschaft einer großen Zukunft. Nun aber haben wir statt der Bauern ein wissenschaftliches
Proletariat. Hunderttausende von Schokolade-, Zigaretten-, Likörbereitern und -Verkäufern, und belagerte

Wohnungsämter. Die Republik hat ein Volk, das nicht Raum hat zu wohnen und in der Engigkeit und
Bangigkeit des Lebens erstickt.
Drittens. Die RepubHk hat erlaubt, daß der Luxus sich breit mache. Die >Freiheit< fing damit an, daß auf den
52 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Bühnen parfümierte Sexualienstücke aufgeführt wurden, daß auf allen Bahnhöfen der >Junggeselle<, der
>Reigen<, >Ich und die Großstadt< dem freien Volk aufgedrängt wurden, daß in allen Gassen neue Dielen, Bars
und Likörstuben, an allen Straßenecken Zigarettenläden entstanden. Die Schaufenster wurden mit lächerlich-
stem Luxus überfüllt. Luxusautomobile tobten in Deutschland umher wie niemals in seiner üppigsten
wirtschaftlichen Blüte. Unter all dem geil aufwuchernden Luxus aber kämpfte das deutsche Volk den
zermürbenden Kampf der Verarmung. Der Gegensatz zwischen reich und arm ist in den beiden Jahrtausenden,
da es ein deutsches Volk gibt, nie so furchtbar gewesen wie in dieser >demokratischen< Republik. Ware ein
echter Republikaner dagewesen, der mit harter Hand den Luxus und den Sexualienbetrieb unterdrückt hätte -
so daß Deutschland kein luxuriöser Salon für prassende Ausländer geworden wäre -, der eine karge, strenge
Volkssitte, wie sie dem Charakter des Deutschen entspricht durchgeführt hätte, der durch die Macht der Sitte
die Wirtschaft in den Dienst des Volksganzen gezwungen hätte, so hätte die Republik einen Grund, stolz zu
sein. Sie hätte Anziehungskraft für alle harten, festen Arbeiter. Wie die Schöpfung Friedrichs des Großen einst

Stein, Scharnhorst, Gneisenau, Fichte angezogen hat. Nun aber hat sie nur Anziehungskraft für Genüßlinge.
Also: die Republik ist auf die Angst eines Zusammenbrechenden gegründet, nicht auf seinen Stolz und
Trotz. Sie Akkommodation ohne Tragik. Sie ist die Republik des Luxus, nicht die der Kargheit und Strenge.
ist

Die beiden ersten Mängel sind nicht zu beseitigen. Geburtsfehler. Der dritte Fehler wäre zu beseitigen, aber -
woher die Kourage nehmen?
Wir haben zwar eine >Republik<, aber die echten Rupublikaner darin stehn mit Scham und Zorn bei Seite;
denn der echte Republikaner hat eine stolze und große Seele. So hat es uns das alte Rom gelehrt,, so Kant und
Schiller und Fichte. Republikanertum ist nicht eine Verfassungsfrage, sondern eine seelische Frage. Friedrich
der Große war ein Republikaner, Erzberger nicht.
Und nun locken Sie, Thomas Mann: Steht w/c/?? abseits! Helft die Dinge bessern! Aber der Mechanismus des
Staates ist in der entscheidenden Stunde verpfuscht worden. Es ist unmöglich, mit diesem politischen
Mechanismus Besseres zu schaffen. Anders gesagt: Die Wurzel ist böse, darum kann aus ihr kein herrlicher
Baum, keine gute Frucht wachsen. Man kann die Wurzel nur ausroden und den Baum der wahren Freiheit an
die Stelle pflanzen.
Einen wirklichen Republikaner werden Sie mit den süßesten Tonen nicht in Ihre ängstliche Genießerrepu-
blik hinüberlocken, Thomas Mann.«
Der Rechten auch nicht unbemerkt, daß Thomas Mann bei der Neuherausgabe der Betrachtungen den
blieb
Text um schwer haltbare Seiten« (Th. Mann) - insgesamt 38 Seiten - gekürzt hatte, um den Text an
»einige
seine neue Position, wie sie sich in der Rede von deutscher Republik von 1922 spiegelt, anzugleichen. Arthur
Hübscher wies anläßlich der erneuten Herausgabe des Textes innerhalb der Gesammelten Werke in seinem
Aufsatz Metamorphosen . . . Die >Betrachtungen eines Unpolitischem einst und jetzt (in: Münchener Neueste
Nachrichten vom 23. August 1927) auf die Kürzungen hin. Thomas Manns Erwiderung erfolgte in dem Essay
Kultur und Sozialismus in den Preußischen Jahrbüchern (April 1928) Bd. 212, H. 1, S. 24-32. Er bestreitet darin,
daß durch die Kürzung »eine >antidemokratische unter der Hand in einen >demokratischen
Streitschrift<

Traktat< umgefälscht worden sei.« Die Kontroverse zwischen Thomas Mann und der »schwer-patriodschen
Presse« (Th. Mann) zog weitere Kreise. In einem Offenen Brief an Thomas Mann stellte Arthur Hübscher alle
später gestrichenen Sätze und Partien der ursprünglichen'Betrachtungen zusammen. {Süddeutsche Monatshefte
25 [1928] S. 697-706; dort auch Thomas Manns Replik darauf [Ebd., S. 769-771]). Paul Cossmann, der
Herausgeber der Süddeutschen Monatshefte veröffentlichte daraufhin die von Thomas Mann an Hübscher
gerichteten - und nicht zur Veröffendichung geschriebenen - Privatbriefe (ebd. S. 838-844). Der Streit um
Thomas Manns Konversion zur Demokrade um 1922, der nicht nur die »schwer-patriodsche Presse«, sondern
auch die liberalen Blätter ergriff, wurde in der Broschüre Der Streit um Thomas Manns Betrachtungen (im
Verlag der »Süddeutschen Monatshefte« in München erschienen) dokumendert. Vgl. auch Ernst Keller, Der
unpolitische Deutsche. Eine Studie zu den »Betrachtungen eines Unpolitischen« von Thomas Mann. Bern 1965,
S. 130ff.
Vgl. auch Aufsatz Deutschland und die Demokratie, der in der Wiener
Thomas Manns weniger bekannten
Neuen Freien Presse am 15. 21732) erschien und Gedanken aus seinem Essay Goethe und
März 1925 (Nr.
Tolstoi weiterführt: »Die Schwierigkeiten zu unterschätzen, die sich der Einordnung Deutschlands in die
Weltdemokratie entgegenstellen, haben wir bei alldem um so weniger Veranlassung, als sie uns nicht nur von
außen her, sondern in unserem eigenen Innern zu schaffen machen. Das Unternehmen, die großen Bildner
unseres nadonalen Wesens, die Goethe, Schopenhauer, Nietzsche aus Gründen polidscher Nützlichkeit ins
Die Schriftsteller und ihr Staat 53

Demokratisch-Liberale zu stilisieren, wäre zum Scheitern verdammt; mit Nützlichkeit gerade, mit mtilitari-

scher Aufklärung< hat ihr Erziehertum sehr wenig zu schaffen; der deutsche Idealismus war von je etwas
anderes als und die Kritik Kants hat auf die Grundfesten der Vernunftreligion des achtzehnten
diese,
Jahrhunderts eine zermalmende Wirkung geübt. Er war es aber auch, der uns Deutschen die geistige
Möglichkeit verlieh, zwischen >reiner< und >praktischer< Vernunft zu unterscheiden, und der als Inbegriff aller
Postulate der praktischen Vernunft den >Kategorischen Imperativ< vor uns aufrichtete, den Pflichtgedanken,
den Lebensbefehl. Ja, indem seine gesetzgeberische Weisheit die Grenzen der Vernunft kritisch absteckte, hat
sie an eben diesen Grenzen die Fahne des Lebens aufgepflanzt und es als die soldatische Schuldigkeit des

Menschen proklamiert, unter ihr Dienst zu tun. Dienst am Leben aber, zu dem wir Deutschen immer wahrhaft
bereit waren, ist heute Dienst an der Demokratie, ohne die Europa des Todes ist, und die Expansionsfähigkeit

der deutschen Seele über das Nichts-als-Deutsche hinaus, dies Vermächtnis großen Deutschtums, das immer
ein Überdeutschtum war, wird uns zu solchem Dienste geschickt machen.
Es wird kein Dienst von Besiegten und Unterworfenen an fremden Ideen, es wird, so hoffen wir, eine
Bereicherung und Vertiefung dieser Ideen durch unseren Beitrag sein. Es ist nur eine Oberflächenunwahr-
scheinlichkeit,daß der Geist Nietzsches die ideologische Grundlage bilden könne einer deutschen Demokra-
tie. Ist Demokratie zur Vorbedingung erklärt hat eines neuen Adels, den wir, nach dem Wort
er es nicht, der die
seines Schülers Stephan George, micht von Schild und Krone< herführen sollen, und ist er nicht der nachchrisdi-
che und neuantikische Sänger einer neuen Heiligung der Erde und des Menschen, der Prophet eines neuen
Bundes von Erde und Mensch? Was aber wäre Demokratie im höchsten Sinne, wenn nicht dieser neue Bund?
Nietzsche, der Überwinder Wagners, der Überwinder der Romantik, ist zugleich Begründer einer romanti-
schen Renaissance, die eine Neuerfüllung unseres Bildes der Antike mit geheimnis- und blutvollem Leben
bedeutet. Demokratie aber ist nur der moderne politische Name für den älteren, klassizistischen Begriff der
Humanität - dieses Hochbegriffes, der zwei Welten, die antike und die christliche, zugleich überwölbt. Der
Prophetie Nietzsches verdanken wir einen erfrischten, religiös vertieften Blick auf diese Synthese. Er hat uns
das >Dritte Reich< darin zu erkennen gelehrt, ein Reich der Verleiblichung des Geistes und der Vergeistigung des
Fleisches, das Reich des >Übermenschen<, das er schlechthin das des Menschen
nennen mögen, das Reich
hätte
der Humanität, dessen Idee seit Jahrzehnten über den Rand der Welt emporgestiegen
ist und ihre Strahlen

schon weit über die bedürftigen Länder der Menschen wirft. Einigen wir Deutschen uns mit den Völkern in
Ost und West dahin, dies Reich - oder doch die Vorkehrungen dazu - mit dem Namen der Demokratie zu
benennen: und wir werden zu den hingehendsten, ja zu den berufensten unter den Arbeitern an ihrer
Verwirklichung zählen.«

1 Bezieht sich auf Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918).


2 Anspielung auf Fiescos Gegenspieler Verrina, den »verschworenen Republikaner«, in Friedrich Schillers

»republikanischem Trauerspiel« Die Verschwörung des Fiesco zu Genua (1783).


3 Das Zitat stammt aus Novalis' Aphorismensammlung Glauben und Liebe oder Der König und die Königin.
In: Novalis, Schriften 2. Bd. Hrsg. v. Richard Samuel. Stuttgart: Kohlhammer 1960, S. 490 f.
4 Siehe Anm. 1.

5 Gemeint ist Gerhart Hauptmann, zu dessen 60. Geburtstag dieser Vortrag verlesen wurde. Vgl. auch Dok.
Nr. 26.
6 Das Zitat findet sich in Novalis' Politischen Aphorismen Nr. 58. In: Novalis, Schriften, 2. Bd. Hrsg. v Richard
Samuel. Stuttgart: Kohlhammer 1960, S. 501.
7 Anspielung auf den Neubau des preußischen Heeres durch Scharnhorst nach den Niederlagen der
preußischen Armee gegen Napoleon bei Jena und Auerstädt und dem für den preußischen Staat verlustrei-
chen Tilsiter Frieden von 1807.
8 Das stammt aus Novalis' Das allgemeine Brouillon: Materialien zur Enzyklopädistik. In: Novalis,
Zitat
von Richard Samuel. Stuttgart: Kohlhammer 1960, S. 258 (Nr. 97).
Schriften 3. Bd., Hrsg.
9 Friedrich Ebert (1871-1925), Sattlermeister, Schriftleiter, Mitglied des Reichstags, 1913-19 Vorsitzender
der SPD. Wurde am 9. November 1918 Reichskanzler. Am 11. Februar 1919 wurde er von der Weimarer
Nationalversammlung zum vorläufigen Reichspräsidenten gewählt, 1922 verlängerte der Reichstag die
Amtszeit bis 30. Juni 1925.
10 Anspielung auf Otto von Bismarck (1815-1898), der 19Jahre lang (von 1871 bis 1890) Reichskanzler und
preußischer Ministerpräsident war.
54 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

15
Heinrich Mann: Geistiges Gesellschaftskapital. In: Berliner Börsen-Courier
(25. Dezember 1924) Nr. 605.

Eine Gesellschaft gibt es natürlich jetzt wie immer. Jetzt ist sie anders angeordnet, arbeitet anders,
hat andere Zwecke als noch vor zehn Jahren. Reichtum und Bildung sind wieder einmal weit
auseinandergerückt, was freilich öfter vorgekommen ist. Jetzt aber hat der Reichtum eine ganz
andere öffendiche Bedeutung als früher und führt weiter, die Bildung eine viel geringere und führt
zu nichts. Das bedeutet einfach, daß die Zwecke dieser Gesellschaft es so verlangen.
Sie will eine mündige, selbstdenkende, selbsttätige Gesellschaft sein, nicht mehr abgelenkt von
Kräften, auf die sie ohne Einfluß war. Was sollte ihr nun die Geistesbildung der Vorkriegszeit, jene

»Kultur«, die ein Vorrecht war, im Munde geführt von wenigen tausend snobistischen »Kulturträ-

gern«, die sie niemanden mitteilten? Jene Kultur hat die Politisierung der Nation nicht begünstigt,
eher mit verhindert, sie war ihrer Demokratisierung entgegen. Damit ist sie gerichtet.

Statt ihrer wird jetzt praktisches Denken erworben. Die Massen lernen aus Not, Erfolgen,

Enttäuschungen, aus ihren Erfahrungen von Jahr zu Jahr, von Wahl zu Wahl, wer ihnen hilft oder
sie noch mehr hineinreitet, welche Personengruppe, welche Sache und Meinung sich bewährt.
Alles muß durchgemacht und verdaut werden. Das so verdiente Gesellschaftskapital an Intelligenz
wird höher als vorher sein. Ob hoch genug, um die Gesellschaft an großen Geisteswerken zu
beteiligen? Die Kultur einer Gesellschaft verlangt nicht notwendig Geist. Er ist in der Welt vorerst
in Abnahme begriffen, während Kultur immer weiter macht. Auch unsere wirtschaftliche und
soziale Umschichtung hat vor allem reines Geistesleben verschlungen. Alles das wurde verschlun-
gen, was nicht volksgemäß oder besonders fest in ÜberUeferungen begründet war. Sport blieb

natürlich üblich und nahm zu. Musik blieb auch. Literatur war in Deutschland seit langer Zeit

keine durchaus natürliche Funktion, wenn sie es überhaupt je war. Sie brauchte Unterstützung und
besondere Kennerschaft, daher jene Snobs. Die sind fort, die Literatur mag zusehen, wird die
heranwachsende Demokratie jemals von ihr Gebrauch machen? Dann wird sie es aber nicht aus

Eitelkeit tun, nicht aus Bildungsmanie, nicht aus Langeweile. Sie wird eine Literatur nur tragen und
großmachen, die ihre eigene Sache ist, eine Literatur aus der Zeit für die Lebenden. »Überzeitli-

ches«, auf Ewigkeit Bedachtes ist aussichtslos; man unterlasse doch. Unzeitgemäßheit und er-

schwerte Zugänglichkeit als Vorzug anzupreisen. Ein Faust kommt nie mehr. Tragödien von
zeitentrückter Allgemeinheit sind unwahrscheinlich und wären unwirksam in einer so bedingten,

an Tag und Wirklichkeit so fest gebundenen Gesellschaft.

Fachmännische Vorurteile zugunsten erhabener und wurzelloser Kunstgebilde führen einzig


dahin, daß alle Welt dauernd bei literarischer Barbarei verharrt, unentwegt in die »gewaltigste

Revue« läuft und sonst nichts wissen will. Beteiligung an der Demokratie in der Literatur ist

möglich. Sie war verwirklicht in Frankreich, durch die große Romanreihe des 19. Jahrhunderts.
Alle diese Romane hängen zusammen, sie bilden die vollständige Soziologie ihrer Zeit, lebende

Soziologie, Kritik als Leben, Erkenntnis, die sich abspielt und jedermann packt. Vergeistigung des

Alltags. Je wirklicher und geistiger in dem Werk die Zeit ist, um so länger dauert es. Dauer ist gleich
Zeitgemäßheit in Gestalt großer Kunst. Nur solch eine Verewigung kann eine Demokratie sich
Die Schriftsteller und ihr Staat 55

geben; auch die neue deutsche muß es versuchen. Sonst bleibt es für Rasse und große Öffentlich-
keit bei der »gewaltigsten Revue« in jeder Preislage. Massen aber, die vollwertige Zeitdenkmale
kennen würden, statt Blendwerks der Sinne, wären merklich gefördert im Verständnis ihrer
eigenen schweren Erlebnisse. Ihr Leben, Sterben und Erwerben wäre gesammelt, durchleuchtet, es
ergäbe ein Bild, wenn nicht gar Gedanken. Vollwertige Zeitdenkmale könnten helfen, aus Massen
die menschhch bewußte Gesamtheit zu machen.
Frage an die Zukunft: Wird Kultur wieder Geist haben? Jene französischen Romane sind dafür

wohl kein fortwirkender Beweis; die Demokratie, auf die sie hinzielten, waren bürgerlich begrenzt,
uns scheint sie harmlos. Wir rechnen mit bisher unbekannten Massen und Abenteuern. Aber
Beispiel waren jene Romane. Es sollte in Deutschland erkannt werden.
Auch der französische Unterricht sollte nicht eingeschränkt, sondern erweitert werden. Wenn
das Französische weder die Handels- noch die Diplomatensprache wäre, ist es doch die Sprache

jener modernen Literatur, die uns das lebende Beispiel gibt, auch Demokratie könne auf hoher
Ebene spielen und in der Welt des Geistes ihr Bild haben.
Dieser Essay war Heinrich Manns Beitrag zu einer Umfrage Publikum und Gesellschaft im Berliner Börsen-
Courier \om 25. Dezember 1924 (Nr. 605), die wie folgt eingeleitet wurde: »Gibt es noch eine Gesellschaft?
Gibt es im Zusammenhang damit noch ein >Publikum<, eine Kultur, eine Gemeinschaft Aufnehmender? Wir
haben diese Frage an geistig Hervorbringende, an Künstler, an Männer des Sokrifttums und des Theaters
gerichtet. Viele haben geantwortet. Jeder äußert sich über die Gesellschaft; nicht einer im Namen der
Gesellschaft. Es hat also die Gesellschaft selbst nicht geantwortet. Weil sie nicht vorhanden ist? Sicherlich gilt

das für >die< Gesellschaft: wäre sie, sie hätte durch den Mund der Anrwortgeber, einiger von ihnen, gesprochen.
Tatsächlich denkt jeder, der das Wort >Gesellschaft< braucht, an etwas anderes dabei; was nicht der Fall wäre,
wenn wir eine Gesellschaft hätten. Da somit der einzelne Beobachter auf seine Gedanken über mögliche oder
tatsächliche Gemeinschaftsformen, statt auf das Selbstverständliche eines überlieferten Zugehörigkeitsgefühls
angewiesen ist, meint der eine das Volk und den Staat, der andere diesen oder jenen Bildungskreis, und die
meisten sprechen vom >Publikum<; vielerlei Publikum.
Der Gesamteindruck ist: In Deutschland wenigstens konnte weder >die< noch eine Gesellschaft in den
Wirren der letzten zehn Jahre zertrümmert werden, weil es schon vorher keine gab. Krieg und Revoludon
änderten im Grund wenig an einer Entwicklung, deren Epochenatem viel länger ist als das, was uns plötzliche
Wandlung scheint. Und noch eines ist kennzeichnend. Die Optimisten sprechen nur von einzelnen Ansätzen,
die unter sich nicht zusammenhängen; das Bild einer noch irgendwie als Gesamtheit gedachten, wenn auch
untergehenden Gesellschaft erscheint nur bei den Pessimisten. Es scheint, daß der nicht verzweifelnde
Betrachter heute nur Bausteine sieht; und daß in der Tat die Bausteine wesendicher sind als das Gebäude.«
An der Umfrage beteiligten sich u.a. Thomas Mann, Hermann Bahr, Georg Kaiser, Paul Kornfeld, Oskar
Loerke, Hermann Ungar, Fritz Strich, Ernst Rowohlt, Gustav Kiepenheuer, Frank Warschauer, Victor Bar-
nowsky, Gustav Härtung und Richard Weichert. Arthur Holitschers prophedsche Antwort lautete: »Haben wir
eine Gesellschaft? Nein!! Infolgedessen haben wir auch kein Publikum. Publikum ist die Quintessenz, die
kulturelle Oberschicht einer Gesellschaftund wo diese fehlt, fehlen die primitivsten Voraussetzungen für das
Gebilde: Publikum. Wir haben heute eine durch Leidenschaften und Insdnkte: Herrschsucht, Ausbeutungs-
trieb, Konkurrenz, zerrissene, in tausend Fetzen zerflatternde, nur lose durch Sensadonsgier, Sucht nach

Genuß der leicht erreichbaren Dinge des täglichen Lebens oberflächlich und notdürftig zusammengeklebte
>Gemeinschaft< der Klassen, des Volkskörpers. Zweifellos reift eine weltgeschichriiche Krise, die diesem
Zustand ein jähes Ende bereiten wird. Schon erkennen wir von weitem, riechen sozusagen die Gasschwaden
der bevorstehenden Apokalypse. Diese verwesende Gesellschaft wird den Kräften, die sie vollends in ihre
Bestandteile auflösen wollen, durch moralische Grundsubstanz keinen Widerstand entgegenzusetzen haben.
Vielleicht wird sich aus unverbrauchten Elementen der barbarischen Völker, die Europa in der Weltherrschaft
ablösen werden, eine Menscheneinheit herausbilden, die die Form einer Zukunftskultur schaffen kann.
Vielleicht gebiert die Weltkatastrophe einen neuen Gottesbegriff. Unsere Zeit hat den ihren vernichtet, vertan,
verloren. Mag sie versinken, es ist nicht schade um sie.«
56 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

16
Der Dichter und der Staat. In: E S., Dichtung und Zivilisation.
Fritz Strich:
München: Meyer und Jessen 1928, S. 219-248; hier: S. 1\9-11\.

Es ist ja zunächst ein seltsames Verhältnis, das zwischen der Dichtung und dem heutigen,
modernen Staat besteht. Dieser Staat scheint dem Dichter nicht günstig, ja, er scheint ihm feindlich
gesinnt zu sein. Er wittert in der Dichtung eine Gefahr für sich selbst. Wenn der heutige Staat die
Dichtung fördert, so ist es auffallend häufig gerade eine werdose, tendenziöse oder spießbürgerli-
che Dichtung; und er fördert sie aus seinen politisch tendenziösen Gründen, die nicht das Wesen
der Dichtung treffen. Bald suchen Staatstheater durch ein verstaubtes Repertoire eine konservative
Gesinnung zu erhalten, bald nach dem alten Rezepte Metternichs die aufgeregten Gemüter durch
harmlose Unterhaltung abzulenken und zu beruhigen. Wie viel wahrhafte und lebendige Dichtung
aber findet hierbei keinen Raum. Den Dichtern zu geben, was sie zur nackten Existenz benötigen,
dazu hat der Staat keine Mittel. Wenn einmal ein wirklicher Dichter, wie Gerhart Hauptmann, von
Staats wegen gefeiert wurde, wie wir es vor einigen Jahren bei seinem 60. Geburtstag erlebten, so
geschah auch dies wohl mehr aus Gründen der politischen Repräsentation nach innen und nach
außen hin und nicht aus einem zärtlichen Gefühl des Staates für den Dichter. Derselbe Gerhart
Hauptmann aber sah sich innerlich genötigt, als er vom Staate in die neu gegründete Akademie der
Dichter berufen wurde, den Ruf des Staates abzulehnen. War es nur dies, daß er empfand, in

Deutschland, wo sich alles gegen geistige Normierung und Zusammenfassung auflehnt, sei solche
Gründung fehl am Platz? oder: die Dichtkunst sei so wenig lehrbar und zu übertragen, daß der
Dichterakademiker nichts als ein leerer Klang und Name bleiben würde? War es nicht mehr wohl
das Gefühl, der Dichter gerade dürfe sich nicht dem Staat, dem modernen Staat, verschreiben, weil
zwischen ihnen ein Abgrund klaffe und es mit seiner dichterischen Sendung gerade nicht verträg-

lich sei, das Amt zu übernehmen, mit dem der Staat vielleicht nur, klug berechnend, die drohende
Gefahr der Dichtung bannen will?

Genug: auch die Dichter umgekehrt sind dem heutigen Staate nicht günstig gesinnt. Man wird
kein häufigeres Motiv in der modernen Dichtung finden, als die revolutionäre Auflehnung gegen
den Staat und den Aufruf, ihn zu überwinden.
Welches aber sind die Gründe solchen feindlichen Verhältnisses? Es ist nicht schwer zu sagen.

Der moderne Staat: er ist zunächst ein Zweckverband, eine Wirtschaftsvereinigung, eine Interes-
sengemeinschaft und also ein Förderer absoluter Zweckmäßigkeit und Nutzbarkeit. Jeder soll in

ihm nur Rad der Maschine sein. Was nicht unmittelbar diesen nützlichen Zweck in ihm nachwei-
sen kann, steht außerhalb seines Interesses. Der Dichter aber ist im Sinne des modernen Staates
zwecklos, weil er nicht Rad dieser Maschine zu sein vermag.
Dies freilich würde erst eine Gleichgültigkeit des Staates gegenüber dem Dichter und noch keine
Feindschaft begründen. Aber in dem uniformierenden, auf allgemeine Norm bedachten Staat ist

der dichterische Genius als solcher wirklich eine Gefahr. Er nimmt ein eigenes Gesetz und Maß für
sich in Anspruch, was doch der Staat nicht dulden kann. Man denke an jenes groteske aber doch
seltsam bedeutungsvolle Schauspiel, welches einer der bekanntesten Dichter unserer Zeit vor dem
Gericht aufführte, als er des Diebstahls angeklagt war. [1] Seine Selbstverteidigung war diese: er sei
Die Schrittsteller und ihr Staat 57

als maßlos großer Mensch mit keinem bürgerlichen Maß zu messen; als Dichter stehe er über dem
Gesetz; als Genius habe er das Recht, sich das von fremdem Eigentum zu verschaffen, was ihm zur
freien Schöpfung seiner Werke notwendiges Bedürfnis sei.

Die Dichtung selber urteilt und entscheidet ja auch wirklich nach ihren eigenen Maßen und
Gesetzen. Wie oft wird in der Dichtung nicht der Mord verherrlicht, die freie Liebe gepriesen, die

Revolution verklärt. Der Dichter nimmt leidenschaftlich die Partei des Menschen gegen den
Staatsbürger, und seine Gesetze sind nicht die des Staates, sondern die ungeschriebenen und
ewigen des Himmels. So kann denn die Dichtung den Staatsbürger nur allzu leicht verwirren und
verführen und die Verachtung von Gesetz und Sitte zeugen. Der utopische und ideale Geist der
Dichtung endlich ist sehr geeignet, Unzufriedenheit zu wecken. Der Traum einer goldenen Zeit, ob
in Vergangenheit oder Zukunft, liegt immer irgendwo im Hintergrund der Dichtung. Es war ein

Irrtum des Aktivismus, daß er die Dichtung darum verwarf, weil sie durch ihre scheinhafte

Verwirklichung der idealen Forderung den realen Verwirklichungsdrang des Menschen einschlä-
fere und so die Ankunft einer goldenen Zeit verhindere. In Wahrheit ist die Dichtung gerade, alle

Dichtung, der gefährlichste Maßstab für die gegebene soziale Wirklichkeit und Gegenwart; und
Tassos Traum von einem dichterischen Leben, der ihn in tragischen Konflikt mit aller gegenwärti-

gen Gemeinschaft bringt, ist ewiger Dichtertraum. [. . .


] ^
Fritz Strich (1882, Königsberg - 1963, Bern) Literaturhistoriker. Professur in München und Bern. Wurde durch
sein Werk Deutsche Klassik und Romantik (1922) bekannt.

1 Gemeint ist Georg Kaiser, der 1921 wegen Diebstahls von Teppichen eine mehrmonatige Gefängnisstrafe
verbüßen mußte. Kaisers Verteidigungsrede vor Gericht Georg Kaisers Gesajmnelten
ist abgedruckt in

Werken (Bd. 4, S. 562), hrsg. von Walther Huder. Zum damals


»Fall Kaiser« vgl. auch denviel beachteten
Prozeßbericht in der Frankfurter Zeitung vom 16. Februar 1921 Nr. 122 und Nr. 123. Vgl. ferner Carl
Sternheims Kommentar dazu: Die stehlenden Dichter, in: Das Tage-Buch 3 (19. August 1922) H. 33,
S. 1160-1161.

17
Friedrich Sternthal: Die Ohnmacht der Geistigen in Deutschland.
In: Die literarische Welt 5 (19. April 1929) Nr. 16, S. 1-2.
»Verflucht sei, wer nach falschem Rat
xMit überfrechem Mut
Das, was der Korse-Franke tat.

Nun als ein Deutscher tut!

Er fühle spät, er fühle früh.


Es sei ein dauernd Recht;
Ihm geh' es trotz Gewalt und Müh',
Ihm und den Semen, schlecht!"
(Goethe, Epimenides)

»Ich sage dir, es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum
ärmÜchen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was

selbst unter Wilden göttlich rein sich erhält, das treiben diese
allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt . .

(Hölderlin, Hyperion)
58 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

»Alle großen Kulturverbrechen von vier Jahrhunderten haben sie


auf dem Gewissen! . . . Und immer aus dem gleichen Grunde, aus
ihrer innerlichsten Feigheit vor der Realität, die auch die Feigheit
vor der Wahrheit ist, aus ihrer bei ihnen Instinkt gewordenen
Unwahrhaftigkeit, aus >Idealismus<.«
(Nietzsche, Ecce homo)

So haben Goethe, Fiölderlin, Nietzsche den Deutschen geflucht, nicht etwa in einem gelegentli-

chen Ausbruch des Unmuts, sondern an wohldurchdachten, entscheidenden Stellen ihres Werkes.
Eine derartige Verdammung des eigenen Volkes durch seine Größten scheint ohne Beispiel in der
Geschichte. Man müßte denn bis auf Dantes Fluch gegen Italien zurückgehen, um auch nur
annähernd Ähnliches zu finden. Auf diese furchtbaren Anklagen folgt kein Echo. Goethe verbirgt
sich unter dem Eispanzer der Resignation; Fiölderlin und Nietzsche sinken in die Nacht des
Wahnsinns.
Von der anderen Seite her: Friedrich der Große schreibt sein Pamphlet gegen die deutsche

Literatur, das war damals Klopstock, Lessing, Wieland, Herder, Goethe, der junge Schiller.

Bismarck wußte von Schopenhauer nur, daß er ein unangenehmer Tischgenosse war, wenn sie

beide im »Schwanen« zu Frankfurt tafelten, für Richard Wagner hatte der Kanzler kein Verständ-

nis, von Nietzsche kannte er noch nicht einmal den Namen, und über Fiölderlins Hyperion wurde
in der Familie Bismarck gelacht. Schiller und Wagner konnten populär werden, aber nicht gerade

durch das, was wirklich groß an ihnen war. Goethe wurde als Marmorfigur kanonisiert und bis ans
Ende des 19. Jahrhunderts mißverstanden. Die anderen großen Denker, Dichter, Künstler blieben
kalt bestaunt oder mißtrauisch beäugt und wurden, wenn sie recht lange tot waren, bestenfalls

Respektspersonen. Ausnahme sind nur die Musiker.

Dieses Mißverhältnis zwischen Denkern, Dichtern, Künstlern auf der einen, den Politikern und
dem Volk auf der anderen Seite - ohne Beispiel in jedem anderen Volke - gilt nicht nur für die

Größten.
Vergebens hat Goethe seinen Fluch über Militarismus und Nationalismus ausgesprochen.
Vergebens hat er vor dem »barbarischen Zeitalter« gewarnt, das nach seinem Tode kommen
werde. Die einzige Wirkung war, daß Goethe selbst bis auf den heutigen Tag für »unnational« gilt

bei den Ewiggestrigen. Das deutsche Volk in seiner Masse hat sich von jeher den reinen Verwal-
tungsmenschen und Geschäftspolitikern und den sturen Gewalthabern unterworfen. Alle, die in

Deutschland wirklich geistig-schöpferisch arbeiten und nicht bloß mit scheinwissenschaftlichen


Wahrheiten oder abgestorbener Kunst sich quälen, sind stets ohne Macht gewesen, mit einziger

Ausnahme der Musiker, die aber - von Richard Wagner abgesehen - auf die Macht keinen Wert
gelegt haben. Die Sucht, jede Mißachtung oder Vernachläsigung geistiger Dinge, ja: den Mangel
geistiger oder künsderischer Tradition zu bemänteln, ist in Deutschland zu einem System raffinier-

ter Verlogenheit ausgebildet. Was hat man um Friedrich Wilhelms III. Mitschuld
nicht alles getan,

an der Katastrophe Fieinrich von Kleists zu beschönigen; was nicht alles aufgeboten, um die
lederne Verständnislosigkeit Wilhelms I. für das gesamte geistige Leben seiner Zeit zu erklären
und zu entschuldigen. Schon die Kritik an diesen unwürdigen Tatsachen ist in Deutschland
verpönt. Und das Alles, obwohl der Deutsche sich nicht etwa feindlich zum Geist stellt. Aber
Die Schriftsteller und ihr Staat 59

geistige Arbeit, künstlerisches Schaffen sind hierzulande ein Beruf unter vielen anderen. Die
grauenvolle Spezialisierung und Mechanisierung, die Hölderlin vorausgesehen hat, verhindert jede

bessere Einsicht; und die Manie, das zufällig Seiende zu rechtfertigen, dazu die Unterw^erfung
unter jede gerade vorhandene Gewalt gelten als Tugend. Deshalb erkennt man hier den geistig

Schaffenden nicht das Recht zu, sichtbarlich die Repräsentanz des Volkes zu sein. Und was der

Deutsche nicht rechtfertigen kann, das bejaht er nicht.

»Gerechtigkeit! Bemühung und Phantom der Deutschen.« (Goethe.) In der großartigsten No-
velle der ganzen Welditeratur, im Michael Kohlhaas, steht dieser Wesenszug der Deutschen
aufgezeichnet: die erhabene Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit, der inbrünstige Glaube, daß
Recht Recht bleiben muß. Weil er sein Recht nicht erreichen kann, wird Michael Kohlhaas zum
Verbrecher. Seine Geschichte enthält die Tragödie des Deutschen überhaupt. Er weiß nicht, will

nicht wissen, daß das Recht nur ein Korrektiv der Macht ist, und die Macht ist für ihn mit Gewalt
identisch. Er kennt nur entweder Gerechtigkeit oder blinde Gewalt. Derselbe Kleist, der die
Geschichte des armen Kohlhaas erzählte, schrie: »Schlagt sie tot, das Weltgericht fragt euch nach
den Gründen nicht.« Maßlose Verehrung der Gewalt und maßlose Verehrung der Gerechtigkeit,
(so sehr, daß das Volk im Falle individuellen Unrechts stumpf bleibt). Beides kommt aus der
»innerlichsten Feigheit vor der ReaHtät«. Die Tatsache, daß man durch Gewalt Alles erreichen,
aber gar nichts bewahren kann, ist dem Deutschen unvorstellbar. Deshalb hat man sich hier stets

gegen Macchiavell und Spinoza gewehrt und die läppischsten Anstrengungen gemacht, Nietzsche
ins Protestantische umzubiegen.
Macht steht jenseits von Recht und Gewalt. Die Gewalt schafft nur - zunächst sinnlose -
Tatbestände. Recht ist lediglich ein Korrektiv der Macht. Die Macht aber ist ein Symbol; sie

repräsentiert, ganz wördich: sie vergegenwärtigt etwas, sie stellt etwas dar. Dasselbe gilt vom
Künsder, Dichter, Denker, dem geistig schöpferischen Menschen überhaupt. Zum Symbol hat der
Deutsche keinen Zugang und keine Ahnung davon, daß nur das Gleichnishafte wirklich ist.

Um diesen Typen eine öffentiich anerkannte Wirksamkeit oder einen Einfluß zuzugestehen,

dazu müßte der Deutsche erst glauben, daß sie einen höheren Wert darstellen. Das kann der
Deutsche aber nicht glauben, weil er nicht sieht (andere Völker wissen aus Instinkt um den Wert
ihrer höchsten Typen), daß diese Typen etwas darstellen, etwas verkörpern. Und so haben wir die
hoffnungslose Zerspaltung dieses reich begabten deutschen Volkes in die geistig Schöpferischen
auf der einen und in die Gewalt- und Geschäftsmenschen auf der anderen Seite. Es gibt keine
Brücke zwischen beiden Parteien in diesem Lande. Als Carducci [1] in Bologna zu Grabe getragen
wurde, standen auf den Baikonen aller Häuser, an denen der Leichenzug vorbeikommen mußte,
die schönen Bologneserinnen in Trauerkleidern und warfen Blumen auf den Sarg. »Sie hatten

vielleicht keine Zeile von ihm gelesen«, erzählt Marinetti [2], »sie wußten nur: er war ein großer

Dichter, und das hieß für sie: ein großer Liebender.« Man muß
man müsse in Deutsch-
fürchten,

land erst einmal erklären, was denn eigentlich ein großer Liebender repräsentiere. Wenn man diese
Geschichte von Carduccis Leichenbegängnis in Deutschland erzählt, so bekommt man (außerhalb
eines engen Kreises der Literatur) nur ein verlegenes Lächeln oder ein unverschämtes Grinsen als

Antwort.
Nie werden hier Frauen auf den Baikonen stehen und Blumen auf den Sarg des Dichters werfen.
60 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Nie werden hier Politiker einen Künstler, Dichter, Philosophen ernst nehmen, wenn er nicht
zufällig Millionär ist. Was könnten den Politikern, den Militärs, den Geschäftsmännern, den
Frauen Menschen bedeuten, deren Dasein Repräsentanz, deren Werk Symbol und deren Element
die Phantasie ist?

Friedrich Sternthal (Lebensdaten nicht ermittelbar), von 1925 bis 1932 zahlreiche Aufsätze und Buchbespre-
chungen in der Literarischen Welt.

1 Giosue Carducci (1835-1907), berühmtester Lyriker Italiens in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1906
Nobelpreis.
2 E T. Marinetti (1876-1944), Italienischer Dichter und Begründer des Futurismus.
3. Die soziale Stellung der Schriftsteller in der Republik

18
Kurt Eisner: Der sozialistische Staat und der Künstler. In: Die Republik 2
(17. Januar 1919) Nr. 17, S. 1-2; hier: S. 1.

Es gehört zu den deutschen Absonderlichkeiten, daß Politik etwas ganz Besonderes, daß Regieren
eigendich eine juristische Tätigkeit ist. Ich glaube, es war Bismarck, der gemeint hat, daß Regieren
eine Kunst wäre, und ich glaube allerdings: Regieren ist genau so eine Kunst, wie Bildermalen oder
Streichquartette komponieren. Der Gegenstand dieser politischen Kunst, der Stoff, an dem diese

politische Kunst sich bewähren soll, ist die Gesellschaft, der Staat, die Menschen. Deshalb möchte
ich glauben, daß ein wirklicher Staatsmann, eine wirkliche Regierung- zu niemand ein stärkeres

inneres Verhältnis haben sollte, als zu den Künsriern, seinen Berufsgenossen. Ich bin mir darüber

nicht im mindesten im Zweifel, ein deutscher Staatsmann, der im Verdachte steht, ein Gedicht
machen zu können, ist hinreichend verdächtig, von Politik keine Ahnung zu haben.
Aber das ist ein deutsches Reservatrecht, das daraus entstand, daß, ich glaube, seit den Zeiten
des seligen Humboldt [1] überhaupt in Deutschland keine Künsdernatur jemals in der Regierung
gewesen ist, vielleicht mit Ausnahme des reaktionär künsderisch begabten Otto Bismarck [2].

Und nun die Frage, was kann der Staat für die Kunst und was kann er für die Künsder tun? Wenn
das Verhältnis von Staat und Kunst so ist, wie ich eben angedeutet habe, so hat der Staat vor allen

Dingen die Pflicht - die Regierung des Staates meine ich - selbst der Inbegriff aller Kultur zu sein,

die im gegenwärtigen Zeitalter vereinigt ist. Eine Regierung, die selbst in diesem Geiste Inbegriff
der Kultur ist, fördert dadurch die Kunst an und für sich. Je höher die Staatsleitung geistig steht,

desto höher wird auch das Niveau der Kunst sein. So sehe ich gar keinen Gegensatz, sondern nur
das innerste inrimste Verhältnis zwischen Staat und Kunst. Unser klassisches Zeitalter flüchtete
aus dem Reiche der unmöglichen Politik in das Reich des Schönen. Daß Freiheit nur im Reiche des
Schönen gedeihen könnte und nicht in der Welt, war ein Dogma, ein Dogma verzweifelter

Resignation.

In der heutigen Zeit und in der Zukunft scheint es mir, als ob diese Flucht in das Reich des

Schönen nicht mehr notwendig sein sollte, daß die Kunst nicht mehr ein Asyl für Verzweifelte am
Leben sein soll, sondern daß das Lehen selbst ein Kunstwerk sein müßte und der Staat das höchste
Kunstwerk.
Jedesmal, wenn bisher in einem Parlament von künsderischen Angelegenheiten geredet worden
ist, so war das wohl für die Künsder ein Motiv mehr, sich von der Politik und dem Parlamentaris-
mus abzuwenden und verächdich über dieses Banausentum zu reden. Es gab eine gewisse
Richtung in der Politik und in den Parteien, die hatte ein höchst einfaches Kriterium, um zu
62 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

entscheiden, was Kunst und was Schund sei. Wenn in der Kunst etwa Erotik enthalten war,
erotische Dinge frei und offen erörtert worden sind, so war das ein höchst billiges und zweckbeque-
mes Erkennungszeichen, um festzustellen, das sei Schundliteratur. Das war ein Mangel an künstle-
rischem Vermögen und an Unterscheidungs-, an Urteilskraft. Aber man sieht, wie niederdrückend
und wie verstört die Staatsgewalt auf die freie Betätigung der Kunst wirken kann, wenn die
Staatsgewalt in die Fesseln einer vergangenen Epoche eingezwängt ist. Die Kunst kann nur
gedeihen in vollkommener Freiheit. Ich habe neulich in einer Versammlung von Künstlern gesagt:

Der Künstler muß als Künstler Anarchist sein und als soziales Mitglied, als ein auf die Befriedigung
der Lebensnotdurft angewiesener Bürger Sozialist. Der Staat kann dem Künstler nichts anderes

raten, als daß er frei und unabhängig seinem innersten Triebe folgt, und das ist die größte

Förderung, die der Staat der Kunst angedeihen lassen kann: daß er dem Künstler die vollkommene
Freiheit seiner künstlerischen Betätigung gibt. Ihre Sorge und ihre berechtigte Sorge ist, daß der
Künstler leben könne, daß er wirtschaftlich zu existieren vermöge.

Was wir tun können, ist die Kunst zu fördern dadurch, daß der Staat selbst aus Künstlern besteht,
daß er Freiheit läßt, und ich sehe auch nicht ein, warum nicht der Staat Künstlern auf den

verschiedensten Gebieten durch wirtschaftliche Unterstützung die Freiheit ihrer Betätigung geben

soll, ebenso wie etwa ein Literaturhistoriker, der an der Universität sitzt und dessen ganze Tätigkeit
auf der Ausschlachtung verhungerter Künsder beruht, ein reicher und hochgeehrter Mann wird.

Es ist ja auch in dieser Hinsicht eine Umkehrung aller vernünftigen Begriffe. Der Produzent, der
ist der Verachtete, der ist der Paria, der irgendwo in der Tiefe leben kann, der Dichter, der
Schriftsteller, der Musiker. Wenn aber ein Professor über diese Leute kommt und sie exzerpiert und
einige Bemerkungen dazu macht, ist er eine Leuchte der Wissenschaft, die geschützt werden muß.
Ich glaube, daß der zukünftige sozialistische und demokratische Staat darin Wandel schaffen soll.

Warum soll ein solcher Staat einem Künstler von dem Range eines Arno Holz [3], den ich einmal
hier an dieser Stelle erwähnen möchte, der seit Jahren mit ungeheurer Energie, ohne irgendeine
Konzession zu machen, für seine künstlerischen Ideale lebt, nicht ebenso die Existenz ermögli-
chen, als Künsder wie dem Mann, der Vorträge an der Universität über diesen Arno Holz hält?

Das ist ein Problem, das der Staat lösen kann. Ob das nun nach französischem Muster durch eine
Akademie geschehen soll, will ich nicht entscheiden; denn auch die Akademie hat sich nicht

bewährt. Daß aber der Staat anerkannten Künstlern die Existenzsicherheit geben kann, daß er
ihnen genau so Gehalt zahlen kann wie irgend einem Untersuchungsrichter, das scheint mir
durchaus möglich zu sein.

Dies ist die Niederschrift einer Rede, die Kurt Eisner am 3. Januar 1919 im »Provisorischen Nationalrat des
Volksstaates Bayern« gehalten hatte. Die Künsderdebatte, in der auch Ernst Toller sprach, wurde durch einen
Antrag »betreffend Besserung der Lage künsderischen Berufe« veranlaßt. Vgl. den (gekürzten) stenogra-
aller

phischen Bericht der Versammlung Wolfgang Frühwald und John M. Spalek (Hrsg.): Der Fall Toller.
in:

Kommentar und Materialien. München- Wien 1979, S. 46-52. Dort auch die einleitenden Sätze Eisners: »Die
Tatsache, daß zum ersten Mal in einem deutschen Padament [...], zum ersten Mal seit 1848, über Kunst von
Künsdern gesprochen wird, ist ein Ehrenzeugnis für diese provisorische revolutionäre Nationalversammlung.«
(S. 47) Ermutigt durch die Initiative der Münchener »Künsderrepublik« hatte sich z.B. die bayerische Schrift-
Die soziale Stellung der Schriftsteller in der Republik 63

stellerin Lena Christ in einem Brief an den Zentralrat um finanzielle Unterstützung beworben. (Dokumentiert
m Fall Toller, S.52i.)

1 Wilhelm von Humboldt (1767-1835), Philologe, Sprachphilosoph und Übersetzer, war 1802-1808 preußi-
scher Resident beim Vatikan in Rom und 1 809- 1819 Leiter des preußischen Kultus- und Unterrichtswesens
im Innenministerium.
2 Otto von Bismarck (1815-1898), ab 1862 preußischer Ministerpräsident, verfaßte in seinen letzten Jahren
seine Gedanken und Erinnerungen (2 Bände 1894, 3. Band erst 1921).
3 Arno Holz (1863-1929), Begründer und bedeutender Autor des konsequenten Naturalismus in der Nach-
folge Zolas. Arbeitete an seiner experimentellen Gedichtsammlung Phantasus ab 1913 bis zu seinem Tod.
Ausgaben des »Phantasus«: 1913, 1916, 1924/25, 1929.

19
Walther Borgius: Zur Sozialisierung des Buchwesens. Berlin: Verlag Neues
Vaterland, 1919, S. 3-4, 15-17.

Wenn man das wesentliche Merkmal der Sozialisierung in der Überführung sachlicher Produk-
tionsmittel - Grundstücke, Fabriken, Maschinen usw. - aus privatem Eigentum in öffendiches sieht

und den Zweck der Sozialisierung in der Beseitigung der Ausbeutung der an jenen Produktionsmit-
teln beschäftigten Arbeiter durch deren Eigentümer, so erscheint die Sozialisierung auf das
Buchgewerbe überhaupt nicht anwendbar. Denn einerseits besteht bei diesem - das ja nur
Handelsgewerbe, nicht Fabrikation ist (auch als Verlagsbuchhandel, denn die mechanische Herstel-
lung des gedruckten Buches erfolgt ja im Prinzip durch besonderen, außerhalb des Buchhandels
stehenden Druckereibetrieb) - kein Besitz an sachlichen Produktionsmitteln. Andererseits kann
man eben deshalb auch nicht von »ausgebeuteten Arbeitern« sprechen. Denn das geringfügige
Kontor- bzw. Ladenpersonal kommt ja unter diesem Gesichtspunkt nicht in Frage; die Autoren
aber stehen zwar rein äußerlich betrachtet in einem ähnlichen formellen Verhältnis zum Verleger,

wie in anderen Verlagsindustrien die sogenannten »Heimarbeiter«; sachlich aber ist das wirtschaft-
liche Verhältnis zwischen beiden Gruppen ein so vollständig verschiedenes, daß eine ernstliche
Parallele nicht besteht:

Der Verfasser eines wissenschaftlichen Werkes, eines Romans oder sonstigen Buches ist in der
Regel nicht, wie etwa der Heimarbeiter der Thüringer Spielwarenindustrie, berufsmäßiger, ge-
schweige denn von dem Verleger ständig mit bestimmten Arbeiten in festem Lohnverhältnis
beschäftigter Bücherschreiber, sondern verfaßt das betreffende Werk neben seiner sonstigen

hauptberuflichen Erwerbstätigkeit als Hochschullehrer, Arzt, Jurist, Journalist oder dergleichen.


Er ist mit dem Absatz desselben auch nicht auf einen ihn ständig beschäftigenden Verleger
angewiesen, sondern kann es Hunderten von Verlagsfirmen des Deutschen Reiches anbieten;
während umgekehrt das von ihm geschriebene Buch, das auch keinem Auftrage des Verlegers,

sondern meist eigener Initiative des Autors entspringt, stets ein Sonderwerk für sich, somit in

strengem Sinne ohne Konkurrenz ist, im Gegensatz zu der vom eigendichen Heimarbeiter stets

erzeugten gleichartigen Massenware.


Demgemäß gestaltet sich auch die Bezahlung des Autors nach anderen Grundsätzen wie die der
64 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

eigendichen industriellen Heimarbeiter: Wahrend diese einen festen, meist auf das Niveau des
elementarsten Existenzminimums gedrückten Stücklohn erhalten, unterliegt das Honorar des
Autors in jedem einzelnen Falle besonderer Vereinbarung und fällt je nach dem Wert des Buches
und dem Renommee des Autors äußerst verschieden aus: Einerseits kommt es vielfach vor, daß ein
Autor bei Ungewißheit des finanziellen Ergebnisses sein Buch ganz honorarfrei dem Verleger
überläßt, um nur seine Gedanken an die breite Öffentlichkeit zu bringen; anderseits erzielen
beliebte bzw. autoritative Autoren oft genug auch Honorare, die sich mit dem Einkommen
kapitalistischer Gewerbetreibender durchaus messen können. [. . .
]

Wenn wir also an das Buchgewerbe mit der Frage herantreten, ob sich hier eine Sozialisierung
des bisherigen privatkapitalistischen Betriebes befürworten läßt, so geschieht das von einem ganz
anderen Gesichtspunkte aus: Es läßt sich nämlich nicht bezweifeln, daß das allgemeine Kulturinter-
esse, wie es sich im Buchwesen niederschlägt, bei der heutigen kapitalistischen Organisadon dieses
Zweiges durchaus nicht gut fährt; die Prüfung erscheint daher wohl berechtigt, ob nicht vielleicht

eine sozialistische Organisation den geistigen Interessen des geistigen Lebens besser gerecht

werden könnte. [. . .
]

^ie kann eine Sozialisierung des Buchverlags erfolgend

Selbstverständlich nicht durch Verstaatlichung. Dagegen spräche - abgesehen von anderen be-

triebstechnischen und volkswirtschaftlichen Bedenken - schon die eine Erwägung, daß man einen
derartigen Machtorganismus, wie den Staat, der in zahlreichen, literarischer Behandlung unterwor-

fenen Fragen selbst Partei ist, nicht zum Richter über die Veröffendichung oder Nichtveröffendi-

chung von Druckwerken machen dürfte. Selbst wenn man von der Einsicht, daß Menschen nun
einmal Menschen bleiben und menschliche Mängel behalten, absähe und den leitenden Organen
künftiger demokratischer Staaten die denkbar größte Duldsamkeit und Gerechtigkeit beimessen
wolle, läßt sich doch nicht verkennen, daß auch das subjektiv vorurteilsloseste Gemüt in seinem
Urteil über den inneren Wert und die Absatzaussichten eines Druckwerkes unvermerkt stark den
Eindrücken unterliegen muß, die es nach seinen persönlichen Ansichten und Neigungen als

Buchkonsument von dem Manuskript empfängt. Man wird schwerlich voraussetzen können, daß
Funküonäre, die von dem preußischen Kultusministerium nach seiner heutigen Leitung ressortie-

ren, den buchhändlerischen Wert etwa einer Sammlung von Morgenandachten aus der Feder eines
Konsistoriakates oder eines Werkes wie H. St. Chamberlains Grundlagen des 19. Jahrhunderts

ebenso zutreffend beurteilen könnten, wie ein mit der Mentalität und Verbreitung der als Käufer
hierfür in Betracht kommenden Schichten vertrauter privater Unternehmer.
Aber die »Verstaadichung« - d.h. der durch Gesetz geschaffene Monopolbetrieb öffendich-
rechdicher Zwangsorganisaüonen (Staat, Gemeinde, Provinz, Staatenbund) - ist nicht nur nicht die

einzige, sondern sogar durchaus nicht die erstrebenswerteste Form der Sozialisierung. Denn
einerseits bringt jede Monopolisierung eine Erschlaffung der Inidative zu technischem und
organisatorischem Fortschritt mit sich, andrerseits liegt in der Verquickung polidscher Zwangsor-
ganisadon und wirtschafdicher Betriebsorganisadon eine gewaltige Verleitung zu fiskalischer
Ausbeutung des letzteren. Kulturell überlegen ist ihr die Form der Produktivgenossenschaft [1].
Die soziale Stellung der Schriftsteller in der Republik 65

Diese hat bekanntlich früher auch eine große Rolle in der sozialistischen Literatur gespielt (Buchez,
Louis Blanc, Lassalle), hat sich aber als isolierte Wirtschaftsform in der Praxis als unmöglich
erwiesen: Die Aufbringung des erforderlichen Betriebskapitals, die Leitung des Betriebes und die
Regelung des Mitgliederbestandes bilden Schwierigkeiten, an denen einschlägige praktische Versu-
che immer wieder scheiterten. Dagegen erscheint sie als die gegebene Betriebsform des Sozialis-

mus überall da, wo sie sich auf vorausgegangener Organisation der Konsumenten aufbauen kann,
also in der Doppelform einer Konsum-Produktiv-Genossenschaft.
Bei den heutigen Erörterungen, welche Industriezweige (bzw. welche Betriebe innerhalb dersel-
ben) »sozialisierungsreif« seien, untersucht man fehlerhafterweise meist nur die relativ nebensächli-
che Frage, ob die Kartellierung bereits soweit fortgeschritten sei, daß ohnehin ein faktisches

Monopol bestände, bzw. ob die Betriebskonzentration bereits so weit fortgeschritten sei, daß sich
leicht eine Zusammenfassung der relativ wenigen Großbetriebe durchführen ließe. Das sind aber
verhältnismäßig äußerliche Gesichtspunkte. Das ausschlaggebende Moment, welches eine private
Leitung des Betriebes durch ein der Konkurrenz ausgesetztes, Profit suchendes kaufmännisches
Unternehmertum notwendig macht, ist die chaotische, unorganisierte Gestaltung des Absatzes.

Sie zwingt - im Gegensatz zu der mittelalterlich-handwerklichen Produktion auf Bestellung und


nach Maß - zu spekulativer Massenproduktion für den unbekannten, ejist zu erobernden, ja evtl.

erst zu schaffenden Markt und erfordert daher die Initiative eines mit kaufmännischem Spürsinn
für Absatzmöglichkeiten und Reklametalent begabten Unternehmers, der bereit ist, in der Hoff-
nung auf große Gewinne sein Kapital riskierend »in Wetten und Wagen« sein Glück zu erjagen.

Erst in dem Maße, wie Menge und Art des Absatzes von vornherein durch Erfahrung und Statistik
festgelegt ist, wird auch die Leitung des Betriebes durch den kaufmännischen Unternehmer
überflüssig und damit die Sozialisierung möglich. Jede Sozialisierung der Produktion hat Organisie-

rung des Konsums zur Voraussetzung. [. . .


]

Borgius' Broschüre ist ein Sonderdruck aus Wege und Ziele der Sozialisierung, dem Protokoll der Verhandlun-
gen der L Sozialistischen Wirtschaftskonferenz des »Bundes Neues Vaterland« vom 27. Dezember 1918 bis

I.Januar 1919 in Charlottenburg.


Das von Borgius vorgeschlagene Sozialisierungsmodell in sogenannten Produktivgenossenschaften sollte

zunächst auf den wissenschaftlichen Verlag beschränkt bleiben, da nur dort eine voraussehbare und durch
Subskription verpflichtbare Käuferschicht gegeben sei. Im Hinblick auf den belletristischen Verlag schreibt er

(S. 35 f.): »Werfen wir nun noch einen kurzen Blick auf die andere große Hälfte des Buchhandels: die
Belletristik.

Bei ihren Werken liegt die Sache offensichtlich ganz anders: Zunächst haben wir nicht, wie bei der
wissenschaftlichen Literatur, einen übersehbaren, organisatorisch zusammengefaßten Abnehmerkreis; als
Leser von Romanen und Novellen, sowie sonstiger Unterhaltungslektüre kommt das ganze Volk in Frage - als

Leser, aber deshalbnoch nicht als Käufer. Das ist nämlich der andere große Unterschied in der Marktgestaltung
wissenschaftlicher und schöngeistiger Literatur: Wer für ein wissenschaftliches Buch ernsdich interessiert ist,
wird in der Regel auch geneigt sein, es zu dauerndem Besitz zu erwerben; denn er bedarf dessen als
Nachschlagewerk, will diese und jene Partien des Buches wiederholt lesen, durchdenken, mit anderer Literatur
vergleichen, möchte auch am Rande seine kritischen Bemerkungen machen, kurz er bleibt zu dem Buche in
einem dauernden inneren Verhältnis. Ganz anders bei der schöngeistigen und Unterhaltungs-Literatur. Freilich
den Faust, Heines Buch der Lieder, Wilhelm Busch's humorisdsche Dichtungen und dergl. hat man auch gern
als eigenen Besitz im Hause, um sich jederzeit ihrem Zauber hingeben zu können, wenn es die Stimmung

heischt. Aber die große Masse der erzählenden Literatur wird mit einmaligem Lesen konsumiert und ihr
äußerer Leib, das Buch, steht dann als toter Schmuck im Bücherschrank, wird wohl höchst selten noch ein
66 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

zweites Mal gelesen werden, bestenfalls noch einmal herausgenommen, um einem guten Freunde geliehen zu
werden.
Aus dieser Eigenart der belletristischen Literatur erklärt sich zwanglos die immer wiederholte Klage der
Verleger, daß die Deutschen (in Wahrheit keineswegs bloß sie, sondern auf diesem Felde alle Völker) so
schlechte Bücherkäufer seien und sich hundertmal Heber einen neuen Roman von irgendeinem Bekannten
endiehen, als daß paar Mark daran wendeten, ihn zu kaufen. Nicht banausischer Geiz ist es, was
sie selbst die

hierin zutage tritt, sondern ein wohlberechtigter ökonomischer Sinn, der den normalen Menschen abschreckt,
etwas anzukaufen, dessen Besitz ihn nach einmaliger Nutznießung zwecklos belastet.«
Deshalb sollten, so argumentiert Borgius im weiteren, zunächst die kommerziellen Leihbibliotheken und die
Bahnhofsbuchhandlungen verstaadicht werden. Borgius' Vorschläge stießen auf Widerstand im offiziellen
Organ des Buchhandels: Vgl. Otto Riebike, Gedanken zur Sozialisierung des Buchhandels. In: Börsenblatt für
den Deutschen Buchhandel 86 (19. September 1919) Nr. 204, S. 817-820, und Erwin Ackerknecht, Zur
Sozialisierung des Buchwesens. In: ebd., (24. September 1919, Nr. 208, S. 835-838), wo es über Borgius u.a.
heißt: »Der Verfasser folgt dem Beispiel einiger Sozialisierungsfanatiker, die dem privatkapitalistischen System
mit dem Hinweise auf einige schreiende Mißstände den Todesstoß zu versetzen wähnen.« (S. 836) Vgl. auch
Albert Hellwig, Zur Frage der Sozialisierung des Buchhandels. In: Preußische Jahrbücher 181 (Juli 1920)
S. 54-66. Die Debatte um die Sozialisierung der Instimtion Literatur konzentrierte sich auf die Jahre 1919/1920.
Hans Friedrich forderte in seinem Artikel Die Sozialisierung des dichterischen Schaffens (in: Das literarische Echo
21 [I.Mai 1919] H. 15, Sp. 908-913) den neuen Sfja^auf, die Werke seiner Schriftsteller zu kaufen, um sie von
dem Zwang zu befreien, aus wirtschaftlichen Gründen nur »marktgängige Waren« liefern zu müssen: »Die
notwendigen Gelder werden sich unschwer schaffen lassen, wenn die ungeheuren Summen für die Kriegsrü-
stungen wegfallen. [. . . ] Der neue den Wehen
Weltwende errungene Weitsichtig-
Staat zeige seine in bitterer
keit und mache aus dem bisher grollend abseits stehenden Dichter einen Staatsbürger! Aber Staatsbürger ist

nicht mehr nur Steuerzahler. Der alte lateinische Spruch Do, ut des - ich gebe, damit du gibst - trete auch hier
in seine Rechte! Dann wird ein Schandfleck ausgetilgt, den der alte Staat hinterlassen hat. Dann wird auch der

Dichter, der das Kampf- und Haßwort >Bourgeois< geprägt und der bürgerlichen Gesellschaft oft genug
entgegengeschleudert hat, sich überzeugt geistiger Arbeiter nennen und seine Kraft freudig hingeben für das
Wohl des neuen Staates, in dem er nicht mehr ein entrechteter Fremdling, sondern ein vollwertiger Bürger ist.«
(S.913)
Selbst die konservative Zeitschrift Deutsches Volkstum bringt im Juni 1919 Hans Natoneks Artikel Sozialisie-
rung und Kultur (H. 6, S. 180-184), der wie folgt beginnt: »Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß der
Gedanke der Sozialisierung auch jene Gebiete ergriffen hat, deren Zusammenfassung wir als Kultur bezeich-
nen. Die Bildung von Kulturräten mit stark kultursozialisierenden Tendenzen, der Wille zur Verstaadichung
der Bühne, die Künsder-, Schauspieler- und andere Berufsausschüsse, die Sitz und Summe in der Leitung der
Institute fordern, an denen sie Symptome. Darum wird sicherlich das
mitarbeiten, sind sehr bezeichnende
kulturelle Leben durch die Sozialisierung viel weniger überrascht und erschüttert werden, als die Wirtschaft.
Denn die Kultur ist ihrem Wesen nach bereits eine sozialisierte Form des Lebens, und der Kulturbesitz ist - so
die Volksbühne, die Volkshochschule, die öffendichen Bibliotheken und Sammlungen, die Schulen - zu gutem
Teil bereits sozialisiert, d. h. verstaadicht und vergesellschaftet. Dennoch bleibt noch viel zu mn übrig, wenn

man dem geistigen Leben höchste Ziele setzt: die schaffenden Kräfte von jeder Hemmung und Beeinträchn-
gung zu befreien und den kulturellen Besitz allen Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Bei den
Erneuerungsbestrebungen auf kulturellem Gebiete wird die Bekämpfung des privatunternehmerischen, rein
kapitalistischen Übergewichts eine der Hauptaufgaben bilden. Der Kultursozialismus will den geistigen
Menschen befreien und den Massen den Weg zum Geiste erleichtern. Er ist das Ziel; der wirtschaftliche
Sozialismus das Mittel und der Helfer.« Er plädiert für eine Sozialisierung im weitesten Sinne: nicht nur durch
Übernahme der Kultureinrichtungen durch Künsder- und Betriebsräte, sondern durch die Überführung der
Kultur in den Besitz der Allgemeinheit durch möglichste Ausschaltung privatkapitalisdscher Interessen.
Besonders intensiv wurde über die Sozialisierung des Theaters diskudert. Vgl. dazu Max Epstein, Sozialisie-
rung des Theaters. In: Die Weltbühne 14 (19. Dezember 1918) Nr. 51, S. 580-584: »Um es gleich zu sagen: die
Vergesellschaftung des Theaters ist möglich. Sie ist ebenso gut möglich wie die jedes andern wirtschaftlichen
Betriebes. Aber auch nur insoweit, wie der Betrieb ein wirtschaftlicher ist und sich in den Rahmen einer
nichtsozialisüschen Weltwirtschaft fügt. Sozialisierung im eigendichen Sinne gibt es für die Kunst nicht, weil
das Produküonsmittel geisdge Kraft ist, deren Erzeugung andern Bedingungen unterliegt als körperliche
.

Die soziale Stellung der Schriftsteller in der Republik 67

Substanz. Soweit aber das Resultat der geistigen Arbeit sich in einen wirtschaftlichen Wert umsetzen muß, ist

eine begrenzte Vergesellschaftung angängig. Sie ist grade ftir das Theater vom Standpunkt der Leistung und
der sozialen Gerechtigkeit angemessener und wünschenswerter als bei jedem andern Betrieb. [...]« (S. 580)
Vgl. auch Julius Bab, Sozialismus und Theater. In: September 1919) H. 1, S. 1-4; Erich
Die Volksbühne (1.

Koehrer, Das Theater im Volksstaat. In: Die Glocke ^{X.Mirz 1919) H. 48, S. 1513-1520; Ferdinand Gregori,
Das Theater und die Revolution. In: Der Kunstwart ?>?> (Oktober 1919) H. 1, S. 13-19; K. St., Sozialisierung als
geistige Vergewaltigung. In: Der Türmer 1\ (September 1919) H. 15, S. 532-534. Dort heißt es (S. 532): »Daß
sich hinter dem Freiheitsgerede der meisten Sozialisierungsapostel der gierigste Machthunger verbirgt, dürfte
allmählich immer weiteren Kreisen klar geworden sein. Der Versuch einer solchen Vergewaltigung jedes
Andersstrebenden oder aus irgend einem Grunde Unbequemen, von einer Schamlosigkeit, zu der das verlä-
sterte alteRegime kein Seitenstück bietet, ist der soeben abgeschlossene Vertrag zwischen dem Deutschen
Bühnenverein, dem Verband deutscher Bühnenschriftsteller und der Vereinigung der Bühnenverleger. Darin ist
vereinbart worden, daß die Bühnenleiter in Zukunft nur noch Werke von Verfassern und Vertonern aufführen
dürfen, die dem Verband deutscher Bühnenschriftsteller angehören und ihre Werke durch die Vereinigung der
Bühnenverleger vertreiben lassen. Andererseits dürfen diese nur Verträge mit Bühnen abschließen, die dem
Deutschen Bühnenverein angehören.«
Der von Kurt Wolff 1919 angekündigte und weit publizierte Plan, seinen Verlag zu »sozialisieren« (d.h.
seinen Verlag am Gewinn zu beteiligen) kam nicht zur Ausführung. Vgl. dazu: Wolfram Göbel: Sozialisierungs-
tendenzen expressionistischer Verlage nach dem Ersten Weltkrieg. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte
der deutschen Literatur. Bd. 1 (1976), S. Wilhelm Moufangs Buch Die
178-200. Bereits 1921 hieß es in

gegenwärtige Lage des deutschen Buchwesens (München-Berlin-Leipzig: J. Schweitzer) S. 47: »Schon bald nach

der Novemberrevolution wurden alle möglichen Vorschläge zu Neuerungen ifft Buchhandel gemacht. Die
einen verlangten Verstaatlichung des Sortimentsbuchhandels, andere wollten die einzelnen Verlage sozialisie-
ren oder in die Hände von Autoren überführen, zumindest aber die Autoren in den Betriebsräten vertreten
wissen. Das Meiste von den damals aufgetauchten Vorschlägen wird heute längst nicht mehr verfochten.«

1 Bei einer Produktivgenossenschaft handelt es sich um eine besondere Form der Gewinnbeteiligung, bei der
die Arbeiter neben ihrem Lohn auch am Unternehmergewinn teilnehmen.

20
Kurt Tucholsky: Solidarität. In: Der Schriftsteller 8 (Januar 1921) H. 1/2,
S. 5-7.

Wenn die Hutmacher heute einen Streik beginnen; so haben sie die Aussicht, ihn siegreich zu

beenden - durch ihre Solidarität. Wenn die Setzer einer großen Zeitung ihre Lohnforderungen
erhöhen, so wird ihr Streikbeschluß, einmal gefaßt, den Unternehmer zu Verhandlungen zwingen,
denn die Setzer sind solidarisch. Wenn aber die geistigen Arbeiter einen Streik inszenierten . .

ach! sie fangen gar keinen an.

Das Gefühl der Solidarität unter geistigen Arbeitern ist nicht vorhanden. Die Sache liegt heute

so, daß jeder, aber ausnahmslos jeder Schriftsteller seinen Kollegen literarisch wertet und danach
mit ihm verkehrt: er tadelt oder lobt ihn, er nimmt ihn für voll oder tut ihn verächdich ab. Aber
weiß er denn nicht, daß die geistige Arbeit mit dem Augenblick, wo sie das stille Studierzimmer
verläßt und auf dem Markt gehandelt wird, Ware ist, Ware, und weiter nichts als Ware? Das weiß er
nicht, und das will er auch nicht wissen.
Der geistige Arbeiter glaubt, ein Künsder müsse allein stehen. Und nun lehnt er ab, mit seinen
68 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Nachbarleuten, die neben ihm schaffen, zusammenzugehen, weil das seiner nicht würdig sei. Ist es

das wirklich nicht?


Die bekannt elenden Verhältnisse, die den Schriftsteller umgeben, sind nur zu erklären aus der
übergroßen Leichtigkeit, mit der der Unternehmer den Einzelnen aushöhlen kann. Der kann sich ja
nicht wehren - und die andern helfen ihm nicht. Der ist ja nur Einer - und Einer ist gezwungen, das
Honorar zu schlucken, das man ihm vorwirft, die Bedingungen anzunehmen, die man ihm stellt -

ein braves Hampelmännchen in der Hand des geschickten Kaufmanns.


Gibt es dagegen kein Mittel? Es gibt eines.
Dieses Mittel ist die absolute Solidarität der geistigen Arbeiter. Man muß das Epitethon
»absolut« hinzusetzen, weil ja in der Tat bei uns die eigentümlichsten Verhältnisse auf diesem
Gebiete herrschen. Jeder nämlich erkennt die Forderungen, die alle unsere Organisationen stellen,

gern an - nur . . . »Nur«, sagt er, »für mich - also mit mir ist das so eine Sache - sehen Sie - ich kann
da nicht - -« Und jeder ist ein Ausnahmefall, und jeder ist etwas ganz Besonders, und jeder kann
nicht und möchte und ist leider verhindert.

Hier ist eine Aufgabe - hier ist ein Weg - hier ist eine Hilfe. Das Erste, was den Arbeitern einen
wirtschaftlichen Kampf überhaupt erst ermöglichte, war das Gefühl für Solidarität. Der Streikbre-

cher ist ein Schuft - dieser Satz stand ehern fest. Und es gab keine Ausnahmen. Bei uns?
Ich besinne mich, daß in einer Redakdonskonferenz einer aufstand und sagte: »Wer den
Beschlüssen unseres Ausschusses zuwiderhandelt, sollte geächtet werden!« - Und es erhob sich
ein andrer und sprach also: »Geächtet . . . meine Herren Kollegen ... ist das nicht ein etwas hartes
Wort? Wir sind doch Künstlernaturen . .

Nein, sie ächten nicht, diese Künsdernaturen. Merkwürdig, wie sie nur künsderisch in Honorar-
angelegenheiten empfinden - aus ihren Werken spricht so häufig der Merkantilist . . . Nein, sie

ächten nicht.

Ja, es fällt gradezu auf, wenn einmal einer von uns Korpsgeist bezeigt. Die Münchner Zeitschrift
Zeit im Bild zankte sich eines Tages mit W. Fred [1] - unsere Organisadon [2] nahm sich Freds an,

und ich zog daraufhin alle meine Beiträge zurück. Die Redakdon war baß erstaunt: »Sie werden
doch nicht«, hieß es in ihrem Brief, »für Herrn Fred die Kastanien aus dem Feuer holen. . . .« Und:
gebildete Menschen tun derlei nicht! Diese Melodie tönt durch alle die zartgemeinten Lieder eines
Unternehmertums, das instinkdv fühlt, von woher ihm die größte aller Gefahren droht: von der
Solidarität der geistigen Arbeiter.

Wie steht es denn um uns? Nehmen wir doch einmal an, die gesamte Redakdon eines
Pressekonzerns träte in den Streik. Heute stehen die Sessel leer - morgen sind sie alle besetzt - das

Haus würde gestürmt werden von Streikbrechern. Alle, alle kämen gelaufen: Professoren und
»freie« Schriftsteller und Dilettanten und Stellungslose und Gott weiß wer. Und die streikenden

Redakteure würden auf der Straße verrecken.


Zwei Gefahren bedrohen den wirtschafdichen Aufschwung unseres Berufs auf das ärgste: der

Dilettant - und wir selbst. Wir selbst sind uns die größte Gefahr - wir selbst bewirken, daß der

Unternehmer unserer zwölf für ein Dutzend hält - wir selbst sind schuld daran, daß wir alle gar so
leicht zu ersetzen und gar so billig zu haben sind.
Es sind immer dieselben traurigen Erscheinungen: der zu Ruhm und Geld gekommene Dichter,
Die soziale Stellung der Schriftsteller in der Republik 69

der geschmeichelt den Aufforderungen der Redaktionen nachkommt, ohne sich jemals seiner
Kollegen anzunehmen; der Dilettant, der noch Geld dazugibt, wenn er nur gedruckt wird; der

Zeilenschinder, der schreiben muß, weil ihm der Hunger im Nacken sitzt. Und wir andern -?
Wir sollten nicht länger zusehen. Wir haben nun täglich aus der Arbeit anderer Organisationen

lernen können, wie die Arbeit und ihre moralische Wertung gar nichts mit dem zu tun hat, was sie

darstellt, wenn sie Ware geworden ist. Wir singen nicht mehr, wie der Vogel singt, der in den

Zweigen wohnet. Denn die Angelegenheit hat ein doppeltes Gesicht: wer bei der Arbeit an das
Publikum und an sein Honorar denkt, ist ein Schmierer. Wer aber beim Vertrieb nicht an sein
Honorar denkt, ist ein Dummkopf.
Diese Anschauungen nutzen nichts, wenn ihr sie nicht in unsere Organisationen hineintragt.
Wirkt! Tut euch zusammen! Schärft die Gewissen! Seht das Ziel: eine große Gewerkschaft, ein
Bund, der den Markt beherrscht! Wir wollen nicht tyrannisieren - wir wollen für uns menschen-
mögliche Lebensbedingungen schaffen, unter denen sich arbeiten läßt. Der Unternehmer sei

gezwungen, nur organisierte geistige Arbeiter einzustellen - so rotten wir den Dilettanten aus. Und
zwingen wir uns, einer für alle und alle für einen zu stehen - so rotten wir den Ausbeuter aus.

Eine Provinzzeitung hat vor kurzem einen Mann gesucht, der den Leitartikel zu schreiben hatte

und den lokalen Dienst versehen und nachts telephonieren und Kritiken verfassen mußte - dafür
sollte er ein Vierteljahr umsonst arbeiten - in der Gaunersprache nennt man das »volontieren« -
und dann wurde ihm ein Gehalt von einhundertfünfzig Mark monatlich zugesagt. Jammert ihr?

Zieht ihr einen bitteren Mund? Es ist an uns allen, das zu verhindern. Es gibt keine Ausnahmen -
glaubt einer im törichten Übermut, ohne den Stand wirtschaftlich arbeiten zu können, dann stoßt
ihn aus - sei es, wer es sei. Wir können keine Primadonnen brauchen - dazu ist die Zeit zu hart.

Und wir werden Erfolg haben, wenn wir uns zusammenschließen, jeder, jeder, jeder - und wenn
uns das Standesinteresse über alles Persönliche geht. Denn einzig das wäre Solidarität.

Tucholsky spricht hier als Vertreter des »Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller« (SDS), dessen Schriftführer
er von 1920-1921 war. Der 1909 in Berlin gegründete SDS wurde in der Weimarer Republik die mitglieder-
stärkste und einflußreichste schriftstellerische Berufsorganisation. (Gründungsmitglied war der spätere Präsi-

dent der Bundesrepublik, Theodor Heuss). 1932 zählte der SDS 2800 Mitglieder. Seiner Satzung nach
bezweckte der Verband »den Schutz, die Vertretung und Förderung der wirtschaftlichen, rechtlichen und
geistigen Berufsinteressen seiner Mitglieder« (vgl. Satzung des SDS in: Der Schriftsteller 15 [1928] Nr. 4,
S. 40-45). Zahlreiche Schriftsteller unterstützten den SDS: Bernhard Kellermann war 1921, Döblin 1924 und
Arnold Zweig 1 929 Erster Vorsitzender, Heinrich Mann war 1 929 2. Vorsitzender des SDS. Thomas Mann war
von 1928-1933 Erster Vorsitzender des SDS Gau Bayern. Hauptmann und Thomas Mann haben dem SDS
auch finanzielle Mittel zugeschossen.
Das Selbstverständnis des Schutzverbands und seiner Mitglieder in den zwanziger Jahren läßt sich an Arnold
Zweigs Artikel Werbung für den Schutzverband, abgedruckt in dem SDS-Organ Der Schriftsteller (16. Jg., März
1929, Nr. 3, S. 2-6), ablesen: »Welchen Weg auch immer die geistige Leistung heute nimmt, sie trifft auf
organisierte Umstände. Die Zeitungen, die Verleger, die Sortimenter und in den Buchgemeinschaften selbst die
Bücherkäufer bilden heute einen klaren aktiven Staat im allgemeinen Staate der wirtschaftlichen Reibungen. Es
reiben sich große Schollen aneinander, und der Schriftsteller, der als Einzelner zwischen sie gerät, wird immer
der Zerriebene sein. Den berechtigten Forderungen der organisierten Buchbinder, Buchdrucker oder Sortimen-
ter wird er nur seine eigene Organisanon entgegensetzen können, oder ein unendliches Quantum Leidensfähig-

keit und Energie seinem Talente abringen müssen, um seinem Schicksal standzuhalten. [. Indem wir unsere . . ]

Posiüon durch Verbindung stärken, dienen wir der Allgemeinheit und dem Geiste besser als wenn unsere
einsame Würde und unsere Leidenschaft zur Formung uns einkapselt in uns selbst. Denn, wenn wir aussterben,
70 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

sei es verkümmernd in der. Not oder aufgehend in der Organisation einer Zeitung, verstümmeln wir die
Gesellschaft, die gegenwärtige wie die zukünftige. Wir sind ihr Auge, wir ihre Hand, und wenn wir verstum-
men, hat sie keine Zunge mehr. Eurer Verantwortung bewußt, deutsche geht in den S.D.S.!«
Schriftsteller,

(S.3,6)
Vgl. auch Kurt Tucholsky: Schriftsteller. In: Die Weltbühne 16 (10. Juli 1920) Nr. 24, S. 691-696; hier

S.694-695: »Ich gehöre zu den Leuten, die glauben, daß das Ende des Künsders noch nicht das Schlimmste
wäre, weil ich glaube, daß für die kommende Zeit Kunst nicht das wichtigste Ding sein wird. Aber ich meine,
daß es kulturschädlich ist, wenn Der verschwindet, der unabhängig und desinteressiert den Leuten die
Wahrheit sagen kann. man sich heutzutage schon garnicht mehr, weil Pfenniggeschäfte nicht
Schriftsteller kauft

lohnen. Heute kauft man dem ganzen an ihnen hängenden Publikum und mit der
Zeitungen. Zeitungen mit
Setzerei und der Druckerei und der Falzerei und, richtig, auch mit dem Redaktionsstab. Einer der Herren geht?
Aber wir bekommen fünf neue.
Wir wissen Alle, was das bedeutet. Wir wissen, daß die Presse in Deutschland nicht in dem Sinne korrupt ist,
daß sie für einen Betrag von zehntausend Mark einen Angriff liefert. Aber wir wissen doch auch Alle, daß ein
großes Blatt eine Interessensphäre vertritt, die nicht ganz unabhängig vom wirtschaftlichen Standpunkt des
Inseratengeschäftes ist und sein kann. (Ein witziger Berliner Journalist pflegt zu sagen: >Die Unabhängigkeit des
Inseratenteils ist garantiert.<) Und es ist natürlich sehr wichtig, zu kontrollieren, wer hinter einer solchen
Zeitungsmacht steckt. Aber es ist noch wichtiger, die Existenz von Schriftstellern zu ermöglichen, die von gar
keiner abhängen.
Der Schriftsteller außerhalb der Partei und außerhalb eines Pressekonzerns
ist, im Gegensatz zu diesen

Institutionen, erst der rechte und wahre Förderer der Kultur. Er und nur er kann, unbeschwert von allen
Rücksichten und ohne Manöver des Taktes, Das sagen, was zu sagen so oft bitter not tut. Er und nur er hat,
wenn er ein rechter Kerl ist. Keinen zu fürchten. Der Typ ist heute am Verhungern.
Ob von diesem Staat etwas zu erwarten ist, weiß ich nicht. Daß von dieser Gesellschaftsform nichts zu
erwarten ist, scheint mir sicher. Wenn der Schriftsteller sich nicht sein Recht erkämpft, bekommt ers nie. Der

Weg dorthin geht nur über den gewerkschaftlichen Zusammenschluß aller deutschen Schriftsteller mit klaren
und festen Tarifverträgen. Der Tarif regelt nicht den Geist - er regelt den Verschleiß der Ware. Und wenn Einer
beim Verkauf mit Idealen kommt, dann ist das Geschäft faul, und wir werden betrogen. Wir werden betrogen.
Wir lassen uns betrügen.
Der Schutzverband Deutscher Schriftsteller kann allein nichts tun, auch wenn er wollte. Wenn Ihr euch nicht
Alle zusammenschließt, wenn Ihr nicht Alle so viel Solidaritätsgefühl für einander aufbringt, wenn Ihr nicht
Alle Den einen Schuft nennt, der den Streik bricht - heute traut Ihr euch noch nicht einmal, zu streiken, weil
Ihrs garnicht könnt -, wenn Ihr nicht zusammenhaltet: dann ist es mit dem freien Schriftsteller aus.
Man sollte Not zwänge den Stand zur Erkenntnis seiner Lage. Aber so groß ist
glauben, die wirtschaftliche
die Macht anerzogener und gewohnter Laschheit, daß kaum Einer muckt, und daß sie so stolz, erhobenen
Hauptes, und voll von Idealen, wie es gebildeten deutschen Männern gebührt, wirtschaftlich verkommen.
Wollt Ihr euch, wollt Ihr den deutschen freien Schriftsteller vor dem Untergang bewahren? Dann mt etwas.
Tut euch zusammen, tretet in den Schutzverband Deutscher Schriftsteller ein, und wirkt in ihm dafür, daß Ihr
wirtschaftlich besser dasteht als eure Waschfrau. Gebt nicht nach, bevor Ihrs erreicht habt!«

1 W. Fred (eigtl. Alfred Wechsler) 1879-1922, freier Schriftsteller um die Jahrhundertwende; Verfasser der
Broschüre Literaturals Ware. Bemerkungen über die Wertung schriftstellerischer Arbeit. Hrsg. vom Schutzver-
band Deutscher Schriftstellen Berlin 1911.
2 Gemeint ist der »Schutzverband Deutscher Schriftsteller«.
Die soziale Stellung der Schriftsteller in der Republik 71

21
Alfred Weber: Die Not der geistigen Arbeiter. München und Leipzig:
Duncker & Humblot, 1923, S. 13-17, 20, 31-32

[...]

Das moderne Intellektuellentum. ist wirtschaftlich-sozial fast durchgängig Rentenintellek-


tuellentum. Es sitzt auf einem kleinen oder mitderen beweglichen Vermögen, in seiner großen
breiten Masse nicht so, daß ihm Beruf und Verdienst erspart bliebe, doch derart, daß dieses
Vermögen im ganzen einen Teil des Hintergrundes bildet, der es ermöglicht, die lange Vorbildungs-

und dann auch Karenzzeit bis zum Vollverdienst aus geistiger Tätigkeit zu überwinden. Indem das
Vermögen später den Vollverdienst ergänzt, ist es gleichzeitig die Freiheitsunterlage dieser Schicht

gegenüber der Tyrannei der Stellung oder der Aufgabe, in die man eintritt. Es ist die Basis, auf der

die Berufe, an die wir denken, wenn wir heute von der Not der geistigen Arbeiter sprechen, erst in
ihrer heutigen Gestalt zur gegenwärtigen Gliederung und breiten Ausdehnung herausgewachsen
sind. Ihr Schicksal ist ein Teil des Problems des Rentenintellektuellentums oder richtiger: das

Schicksal des Rentenintellektuellentums enthält einen guten Teil des heutigen Problems der Not
der geistigen Arbeit.
Jedenfalls war die auf dieser Art der Eingliederung beruhende Intellektuellenschicht in der
Zersetzung, die der Hochkapitalismus vermöge seiner alles durchdringenden Ökonomisierung
sonst in das Geistige trug, noch die fast einzige, leidlich unabhängige Insel außerhalb der Klassen-

und Interessengegensätze, ein Asyl der überökonomischen Ideen- und Gedankengänge, die

verblieben. Niemals wäre sozialreformatorische und sozialistische Kritik des Kapitalismus als

dauernde Geistesströmung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts möglich gewesen ohne ihre

Existenz; die Arbeiter wären wahrscheinlich führerlos gewesen. Und noch heute läßt sich weitge-

hend eine eigenartige Symbiose zwischen Rentenunterlage und einem häufig sogar ganz extremen
ökonomisch- und politisch-kritischem Radikalismus feststellen. Der kommunistisch oder radikal-

sozialistisch gestimmte Rentenintellektuelle war ja in der Revolution bei uns ein »Typus«. Aber
ganz allgemein gesprochen: Das Rentenintellektuellentum im ganzen bildete gleichzeitig, auch
trotz aller inneren Gegensätze, immer noch eine Art von geistiger Einheit, auf die sich die geistige

und künsderische Produktion in der allgemeinen Auflösung als auf ihr erstes und wesendichstes
Publikum beziehen konnte: eine Welt, die durch ihre mehr oder weniger geschlossene Stellung-

nahme sogar, wenn sie in gewissen zeitgeschichdichen Momenten aus ihrer Anonymität einmal
hervortrat, als ideelle Kollektivität noch wirken konnte. Ich fasse das Zusammentreten der
sozialpolitisch-interessierten deutschen Kreise zum Verein für Sozialpolitik [1] im Jahre 1872 als

ein solches gemeinsames Hervortreten der Intellektuellen auf. Die Dreyfusaffäre Frankreichs [2] ist

in keiner anderen Weise zu begreifen als so und das zeitgeschichdich größte Beispiel dafür.

Man wird an dieser Art von Eingliederung vieles aussetzen können. Sie führte in vielen Teilen

dieser so eigenartig vom ökonomischen Ertrag der eigenen Arbeit ganz oder teilweise freigesetzten
geistigen Kreise, vor allem in großen Teilen des Schriftsteller- und Künsdertums, zu starker

Lebensunverbundenheit, Boheme-Verhalten und Literatentum, zu einer Lebensattitüde, die uns in

Deutschland am klarsten bei dem Worte »Schwabing« vorschwebt. Als es sich um praktisches
72 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Handeln der deutschen Geistigen in unserem Zusammenbruch handelte, hat dieser Teil von ihnen
in noch schwererem Maße durch eine wirklichkeitsfremde Verstiegenheit versagt als in den Zeiten
vorher der andere, der sich den »Gegebenheiten« leider allzu nachgiebig gefügt hatte. Trotz allem
aber, trotz aller schweren Mitschuld unserer Intellektuellen an unserem deutschen Schicksal, war,
allgemein gesprochen, bei dieser Art der vermögensunterbauten sozialen Eingliederung der
geistigen Arbeit doch vor allem eine breite und sichere Freiheitsbasis für Idee und ideelles Sein

vorhanden, von deren Schicksal man vor allem auszugehen hat, wenn man den richtigen Eingang

in das Gesamtschicksal der geistigen Berufe nach dem Kriege finden will.

Man muß sich dabei, um dies heutige Schicksal richtig zu sehen, klar machen: der Vermögens-
hintergrund, der, wie ich sagte, regulärer Weise Vorbildungs- und Karenzzeit bis zum Vollverdienst
überwinden half und Freiheitsfond war, wirkte auch auf die übrige ökonomische Eingliederung,
d. h. den Vollverdienst. Es ward Gewohnheit, auch diesen Vollverdienst mit Rücksicht auf ihn zu
gestalten, hier mehr, dort weniger, zum Teil bis zu der Konsequenz, daß das Arbeitseinkommen
beinahe nur wie ein Zuschuß zur Vermögensposition erschien. Von »Stars« abgesehen, wieviel

Schriftsteller lebten vor dem Kriege allein von ihrem Honorar, wieviel Künstler von ihrer Gage,
dem Verkaufsertrag der Werke, wieviel Ärzte und Rechtsanwälte, die sich gleichzeitig geistigen
Interessen widmeten, nur von ihren Berufseinnahmen? [. . .
]

Das momentane Schicksal der geistigen Arbeit, das wir nun wohl in seinen einzelnen Elementen
und ihrem beinahe tragischen Ineinandergreifen überblicken können? Es bedeutet das Hinausge-
schleudertwerden aus dieser bisherigen gesellschaftlichen Eingliederung: Zertrümmerung des
Vermögenshintergrunds, Zurückbleiben des Soziallohns unendlich weit noch hinter der schon
vorher durch den Vermögenshintergrund herabgedrückten Höhe, Verkümmerung und Abster-

ben der allgemeinen Organe, auf deren Fortbestand und kräftiges Leben sie in ihrer gegenwärtigen
Verarmung mehr als je angewiesen wäre. Man muß das im einzelnen betrachten, so sehr das
Einzelne im Zahlenausdruck durch die immer noch rapid fordaufende Entwicklung jeden Augen-

blick überholt wird und nur gewissermaßen chronometrischen Messungswert des Abstiegs hat.

Der Rentenfond ist heute in allen Ländern mit entwerteter Valuta, voran in Deutschland und
Österreich, nicht mehr vorhanden. Die Entwertung aller in Geld ausgedrückten Forderungsvermö-
gen hat ihn aufgefressen; Vermögensabgabe, Kapitalsertrags- und sonstige Steuern, die gerade die
leicht erfaßbaren Objekte rücksichtslos und vollständig ergriffen, haben das übrige getan. Zu
99y2% expropriiert bezeichnete schon im Sommer die deutsche Regierung selbst alle diese auf

Rentenvermögen früher ruhenden Schichten. Das bewegliche Kapitalvermögen, sagte schon

damals der deutsche Vertreter vor der Reparationskommission in Paris mit Recht, ist grob
quantitativ gesprochen in Deutschland nicht mehr mitzuzählen. Wie heute erst bei noch viel

stärker entwerteter Valuta! - Es ist interessant, daß in den Sieger- und neutralen Ländern, wenn
auch schwächere Ansätze zu Ähnlichem vorliegen. [. . .
]

Dieser katastrophale Zusammenbruch ist nicht für alle geistigen Berufe ganz der gleiche. Es gibt
Persönlichkeiten, die durch große Attraktion darüber bleiben. Es sind auf der anderen Seite

besonders freie Berufe da, wo die Sache heute, den Durchschnitt angesehen, noch schlimmer steht.
Die Daten dafür ließen sich zu Bergen häufen. Für den Durchschnitt ist das Gesagte leider durch

die ganze Breite der geistigen Berufe typisch. Ihr Arbeitsverdienst ist heute durchgängig so, daß er
Die soziale Stellung der Schriftsteller in der Republik 73

nach dem Wegfall der früher noch vorhandenen Vermögensbasis nicht bloß ihre einstige soziale
Lebenshaltung nicht mehr zuläßt, sondern einfach auch die Generationsfortsetzung des Geistigen
in ihren Reihen im ganzen nicht mehr erlaubt. [. . .
]

Wir brauchen für den neuen Typ der Geistesarbeiter zunächst als regelmäßigen Ursprung und
als Hintergrund, aus dem er normalerweise wächst, in dem er sein erstes Publikum und seine
unmittelbare geistige Korrelation findet, eine geistige Schicht, die von schwerer manueller und
überhaupt auch geistesfremder Arbeit frei ist, eine Art Ersatz also der alten Bildungsschicht. Was
wir uns in dieser Form als neuen, das Rentenintellektuellentum ersetzenden Mutterboden der
geistigen Rezeptivität und Produktivität für die Zukunft vorstellen können, kann nur eine Art von
Mittelschicht sein, die aus den heutigen Verhältnissen tatsächlich schon entsteht. Und schauen wir
um, so stoßen wir neben den Spitzenteilen vergeistigter Handarbeit und den sich immer mehr
ausbreitenden Elementen geistiger Durchführungs- und Ausführungsarbeit, den Angestellten-,
Privatbeamtenschichten usw. vor allem auf die Schichten derjenigen produktiven geistigen Arbeit,
die, weil in den regelmäßigen gesellschaftlichen, vor allem den praktisch wirtschaftlichen Mecha-
nismus mit unmittelbaren Nutzeffekten eingeflochten, im ganzen, wie wir sahen, durch die
heutigen Verhältnisse weniger gefährdet ist, wenn sie auch zum Teil heute starke Krisen durch-
macht. Wir stoßen auf die Schichten der Ingenieure, Techniker, Rechtsanwälte, Ärzte und ähnliche
praktisch geistige Berufe. Sie alle werden künftig so gut wie reine »Arbeitsschichten« sein; aber sie

werden sich erhalten, weil sie unentbehrlich sind. Sie vor allem sind die unzerstörbare Basis der

künftigen Eingliederung des Geistigen. Aus ihnen und den anderen noch im Geistigen lebenden
gesellschaftlichen Elementen, muß ohne Vermögenshintergrund fortan der Teil der geistigen
Arbeit herauswachsen, dessen Werte praktisch unerrechenbar ^ luftig, unmeßbar sind, also der der

Gelehrten, Schriftsteller, Künstler und auch höheren Beamten, der Teil des Arbeitsintellektuellen-

tums, dessen Existenz und künftige Art Problem ist.

Dem Staate aber, und vor allem dem heute so schwer um sein Dasein ringenden, wird dabei zu
sagen sein, daß dieses Dasein sicherlich einmal von ihm verspielt sein wird, wenn er dem Kampf
um den Primat des Geistigen über das Ökonomische weiter mit der halben Lauheit von heute
zuschaut. Was hier gekämpft wird, ist in Wahrheit der Kampf um seine eigene Existenz. Zerfällt der
geistige Hintergrund der Allgemeinheit, so wird auch er zerfallen und die Beute der miteinander
ringenden Wirtschaftskräfte werden, über denen dann keine Macht mehr da ist, die er anrufen

kann, um sie zu bändigen. Er wird mit dem Geistigen und den geistigen Arbeitern und ihrer

Stellung in der Allgemeinheit leben oder sterben.

Die Wirtschaftskräfte endlich? Auch ihr Funktionieren ist, wenn sie sich nicht letztlich selber

durch ihre Interessengegensätze auffressen und zerstören wollen, nur in einem über ihnen stehen-
den geistigen Rahmen, eben dem eines von anderen als bloß ökonomischen Kräften getragenen
Staats gesichert. Sind sie klug, so helfen auch sie der neuen geistigen Generation und mit ihr dem
Staat. Sie dürfen das freilich nur so tun, daß sie dabei die Grundbedingung alles Geistigen
respektieren, seine Freiheit. Die Kritik an ihnen selber, die sie dabei in Kauf nehmen, ist in

Wirklichkeit auch ihnen selbst nur nützlich. Sie ist letztlich nichts anderes als eine Reinigung der
Atmosphäre, im Effekt im wesendichen das Überführen von Vorgängen, die sich sonst turbulent
vollziehen müßten, in ruhige Bahnen.
74 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Primat des Geistigen über das Ökonomische, Rettung des heutigen Staates, Sanierung und
richtige Eingliederung des WirtschaftHchen und Herausbildung eines neuen Typs der Bildungsträ-
ger, das alles sind demnach nur verschiedene Seiten einer und derselben Frage. Indem wir aus der
Not der geistigen Arbeiter von heute einen Ausweg suchen, handelt es sich in Wahrheit um einen
Ausweg aus der Not des Geistigen selber, die heute unsere eigentliche und tiefste Krankheit ist.

Alfred Weber (1868, Erfurt - 1958, Heidelberg), jüngerer Bruder von Max Weber, Soziologe und Volkswirt-
schaftler, Professor in Heidelberg seit 1907. Schrieb u.a. Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa
(1925), Kulturgeschichte als Kultursoziologie (1935).

AlfredWeber leitet seine 1922 entstandene, 1923 veröffentlichte vierzigseidge Abhandlung mit folgender
Vorbemerkung ein: »Dieser Vortrag wurde in etwas kürzerer Form auf der Jubiläumsversammlung des Vereins
für Sozialpolitik am 21. September dieses Jahres gehalten. Die deutsche Katastrophe ist seitdem mit Riesen-
schritten weitergegangen; - die Tragik der geistigen Arbeiter folgt ihr wie ihr immer größer werdender
Schatten. In diesem Schatten steht das, was hier gesagt ist. Er kann das große Problem nur andeuten, nicht
erschöpfen. Da aber die Problematik des Geistigen und seiner Existenzbedingungen eins der wenigen Dinge ist,
dessen Beeinflussung wir Deutschen von unserem Dasein vielleicht noch teilweise in der Hand haben, so
wohl, mit diesen Erörterungen auch gesondert vor die Öffentlichkeit zu treten.« (S. 3)
rechtfertigt es sich
Der 152. Band der Schriften des »Vereins für Sozialpolitik« (München und Leipzig: Duncker Humblot &
1922) ist dem Problem der »geistigen Arbeiter« gewidmet. Der Band, der von Ludwig Sinzheimer herausgege-
ben wurde, umfaßt folgende Themen: Über die Lage der freien Schriftsteller seit der Gründung des Deutschen
Reiches (Max Teichmann), Die Fachvereine des freien deutschen Schriftstellertums (Bruno Rauecker), Die
Bezahlung des wissenschaftlichen Schriftstellers (Ludwig Feuchtwanger) und Die Sozialisierung des Literaturverla-
ges (Leopold von Wiese).
Samuel Saenger stimmt Alfred Webers Darstellung der »Not der geistigen Arbeiter« in seiner Rezension (in:
Die neue Rundschau 34 [1923] H. 1, S. 276-278) zu: »Unter den Mitgliedern der freien Berufe, den Ärzten,

Schriftstellern, Journalisten, Schauspielern, sind Doppelberufe beinahe schon die Regel; man läuft unstet jeder
Verdienstmöglichkeit nach; Muße als Nährboden für jede Geistbetätigung und für die bildsame Pflege des
Ideellen ist nicht mehr; das Gefühl der gesicherten Altersnahrung, ein Ruhepolster für den Nervenmenschen,
ist entschwunden; und das Gelände ist mit armen, gehetzten, in der Angst vor dem Gespenst der Notdurft
herumirrenden Geschöpfen bedeckt, die dem reinen Dienst am Geist verloren sind. Das im Tempelbezirk der
Universitäten horstende Intellektuellentum ist durch den Zusammenbruch des ancien regime, dem es in bösem
Mißverstand seiner Funktionen unkritisch dienerte, von Ressentiments zerfressen, auf ein karges, unfrei
machendes Lebensminimum herabgedrückt und sitzt noch fast gänzlich im Gefängnis einer bankrotten
Ideologie, mit der es eine geistig und politisch schwer organisierbare Jugend zu füttern sucht. Und das höhere
Beamtentum, aus deren Mitte dem geistigen Leben immerhin viele wertvolle Kräfte zuströmten, trotz aller
Bureaukratisierung und trotz überwachen Amtsehrgeizes musischen Dingen noch nicht völlig abgewandt, hat
sich mit einem Viertel seines Vorkriegseinkommens zu begnügen und ist, nach Verlust des früheren Rentenzu-
schusses, von allen Verjüngungsquellen des Geistes abgedrängt. Unter solchen Urnständen muß sich das
Schicksal des geistigen Schaffens, wo es nicht unmittelbar zweckdienlich ist und sich für Technik und
Ökonomie nutzen läßt, wahrhaft tragisch gestalten; und es ist zu fürchten, daß mit den fluchwürdigen Seiten
des Bildungs- und Gdstbetriebes zugleich auch die kulturelle Mission des Geistes abstirbt.«
Vgl. auch Alfred Webers früheren Aufsatz Die Bedeutung der geistigen Führer in Deutschland. In: Die Neue
Rundschau 29 (1918) Bd. 2, S. 1249-1268: »Es lohnt den Versuch, die geistigen Wandlungen in Deutschland
an der Rolle der geistigen Führer deudich zu machen. In ihrem Schicksal muß sich etwas widerspiegeln von
unserem geistigen Gesamtschicksal. Nicht nur die Wellen, die heraufschlagen zu ihnen und sich zu ihren
Äußerungen verdichten, sondern umgekehrt gerade die Wellen, die von ihnen auszugehen vermögen, die
Bedeutung, die sie in der Zeit zu gewinnen vermochten, das allgemeine Gesicht, das die Führer selbst besaßen
und besitzen, muß ein Zeugnis sein für das, was wir waren und sind. Wir wollen unser geistiges Sein einmal von
dieser konkreten Seite, von der Seite seiner Verdichtung in der Stellung der geistig führenden Kräfte betrachten.
Es ist gar keine Frage, daß die Bedeutung der Menschen dieser Art und damit auch das Gewicht der von
ihnen vertretenen geistigen Güter bei uns in Deutschland in den letzten hundert Jahren in geradezu unerhörter
Die soziale Stellung der Schriftsteller in der Republik 75

Weise gesunken ist; man möchte sagen wie in einer Katastrophe zusammengebrochen, wenn nicht das
Merkwürdige wäre, daß der Gewichtsverlust nicht plötzlich, sondern gewissermaßen schrittweise und beinah
systematisch geschehen ist.« (S. 1249)

1 Der Verein für Socialpolitik wurde 1872 als eine Vereinigung von Wirtschaftswissenschaftlern und Vertre-
tern der Wirtschaft gegründet; Mitgründer und leitendes Mitglied war der Volkswirtschaftler Gustav von
Schmoller. Der Verein für Socialpolitik, der bis 1936 bestand, trat durch seine Schriftenreihe an die
Öffendichkeit.
2 Durch das öffendiche Engagement Zolas und linker Intellektueller wurde das Verfahren des 1894 fälschlich
wegen Landesverrats verurteilten französischen Offiziers Alfred Dreyfus wiederaufgenommen; Dreyfus
wurde 1899 begnadigt und später freigesprochen. Die sogenannte »Dreyfusaffäre« war Anstoß für den
Zusammenschluß der Linken in Frankreich.

22
Kurt Kersten: Wirtschaft, Kultur, Intellektuelle. In: Die Weltbühne 19
(13. Dezember 1923) Nr. 50, S. 583-585.

L
Die »Wirtschaft« regiert. Und die deutsche Kultur, soweit sie überhaupt bestanden hat, geht zu
Grunde. Die »Wirtschaft« hat, wie ein fürchterliches Raubtier, aufgefressen, was nur in ihrem
Bereich lag; sie hat Truste, Syndikate im Inland, im Ausland gegründet; sie hat sich den Staatsappa-

rat gefügig gemacht; sie hat die äußere Politik bestimmt; sie ist die treibende Kraft der Gegenrevolu-

tion; sie hat mit Hilfe von Staatskrediten, die sie mit Lumpenpapier zurückzahlte, die Werke
betriebsfähiger als je zuvor gemacht; sie unterhält mit denselben Geldern einen gewaltigen

illegalen Heeresverband, der bereit ist, auf ihren Wink zu marschieren. Nicht zuletzt hat dieser
selbe Aasgeier Zeitungen, Druckereien, Verlage, wissenschafdiche Institute an sich gerissen und
hält in seinem Solde Gelehrte, Schriftsteller, Künstler Filmgesellschaften stehen in engster Verbin-
dung zur Großindustrie, für sie in der breitesten Masse Propaganda zu machen. Wer sich nicht der

»Wirtschaft« unterwirft, hat nur zwei Wege: entweder rettungslos allmählich zu Grunde zu gehen
oder sich zur revolutionären Partei zu schlagen.

Die deutschen Intellektuellen stammen aus der Mittelschicht, aus diesem eigentümlichen
deutschen Mittelstand, einem Anhängsel der Großbourgeoisie, das vom alten Staat gern als ein

Gegengewicht gegen diese Großbourgeoisie ausgespielt wurde und zugleich einen Prellbock
gegen das Proletariat spielen wollte. Diese Mittelschicht ist aufgerieben - ökonomisch und geistig.
Die Stütze des alten Staates, die Monarchie, der sie lakaienhaft ergeben war, ist verschwunden. Die
Großbourgeoisie legt keinen Wert auf Kultur: sie regiert mit der rohen Gewalt; sie anerkennt nur
das Ertragreiche; sie läßt dem Intellektuellen nur so weit Spielraum, wie sie seine Kenntnisse grade
braucht, um aus einem guten Geschäft ein besseres Geschäft zu machen. Die ökonomische Lage
dieser mittelständischen Intelligenz ist durch die Geldverhältnisse völlig ruiniert. Die Dinge sind
bekannt. Nicht erkannt ist aber - und grade von der Intelligenz -: daß die Großbourgeoisie am
76 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

ökonomischen Ruin des Mittelstands schuld ist; daß der Vermögensschwund der kleinen Leute
sich zu Gunsten der großen Leute vollzogen hat; daß - infolge dieses ökonomischen Ruins - die

Mittelschichten vor der Alternative standen, entweder im Bewußtsein ihrer Proletarisierung sich
aufrichtig auf die Seite des Proletariats zu schlagen oder sich ganz ergeben in die Arme jener Leute
zu flüchten, die sie in Wahrheit ruiniert haben.
Die Intellektuellen, die schon früher - eben als Angehörige keiner eignen Klasse, sondern eines
Anhängsels - sich nur zu rasch zu Lakaien der Monarchie erniedrigen ließen, ergaben sich jenen
Leuten, die sie bezahlten. So kam es, daß dieser enteignete Mittelstand, alle diese »Ehemaligen«,
diese Ruinen, diese Zusammengebrochenen, diese Offiziere, Studenten, Ingenieure sich in den
Dienst jener Leute begaben, die die »Wirtschaft« regierten. Es hat sich eine Abenteurersippe
herausgebildet - wir kennen diese Typen aus Prozessen, Attentaten, wir wissen, wo sie sitzen, wo
sie mächtig sind, wir wissen, wo sie morden, wen sie morden, wir wissen, wo sie gnädige Richter
finden, wir wissen, wem sie dienen, wofür sie zu haben sind. Sie sind unsre Feinde, sie sind die

Landsknechte, die Zuhälter unsres ärgsten Feindes, sie wollen uns vernichten, um sich wieder eine
alte Stellung zurückzuerobern, an die niemals zu denken ist: und wir haben die Aufgabe, sie zu

zertreten, wenn wir nicht zertreten werden wollen.

III.

Ein geringerer Teil der Intellektuellen sah sich mit dem Verlust seiner ökonomischen Basis völlig
zur Passivität verurteilt und fand keinen Ausweg. Er war im Kern anständig; er war nur in der
Ideologie schwach, befangen, romantisch; er war und ist ratlos. Er findet sich nicht zurecht, und er
hungert sich langsam zu Grunde. Es sind nicht die Schlechtesten. Aber sie haben keine Zukunft.
Sie wollen nicht zugeben, daß sie proletarisiert sind, und sie können nicht der »Wirtschaft« dienen,
sie lavieren und sie kommen zu keinem Ende, sie sind kaum noch produktiv, und ihre Bücher
werden auch nicht gekauft, ihre Verleger können und wollen nichts für sie tun, Zeitungen haben
keinen Raum für sie, und wenn sie Raum haben, so zahlen sie erbärmlich, Zeitschriften gibt es nur
noch wenige in Deutschland, Theater spielen nur Werke, die irgend Aussicht auf sensationelle
Erfolge haben, Maler haben kaum Mittel für die Leinwand, auf der ihre Welt entstehen soll; es gibt

keine junge Literatur - mit der Generation, die heut um die 32 ist, bricht die Entwicklung ab. Die
Älteren leben von Einkünften aus Artikeln in ausländischen Blättern - das ist ein Geschäft, aber das

ist keine kulturelle Entwicklung mehr, und das hat erst recht keinen Zusammenhang mehr mit der
Nation, mit der Klasse, mit der ganzen Bewegung eines Landes. Die Kultur der Bourgeoisie ist tot;
sie lebt noch schwach vom Luxus, sie macht Geschäfte, sie ist nicht mehr produktiv Und die

Bourgeoisie hat ja auch gar kein Verlangen mehr nach der Kultur. Sie braucht die »Wirtschaft«, sie

braucht das Geschäft, den Ruin der Mark, die Unterwerfung der arbeitenden Klasse. Sie lebt von
der Abhängigkeit der . . . Andern. Und weil sie von Andern lebt, ist sie im Grunde nicht
schöpferisch.

IV
Das Kapital, die »Wirtschaft« ist nicht schöpferisch. Sie sitzt da wie eine alte, reichgewordene
Hure. Sie hat gerafft, gerafft und gerafft. Und sie ist sich selbst nicht mehr ein Problem, obschon ihr

Dasein höchst problematisch ist. Sie glaubt zu Allem berechtigt zu sein, nur weil sie eben die Mittel
Die soziale Stellung der Schriftsteller in der Republik 77

hat; aber sie hat kein Recht auf die Mittel, sie hat sie gar nicht geschaffen, sie hat sie gestohlen. Und
sie glaubt es nicht. Die »Wirtschaft« hat keine Idee über sich, sie hat kein Ethos, sie ist keine Welt,

sie ist höchstens ein Gebilde, eine Karikatur, sie lebt dank der Anarchie - die ist allenfalls ihr

einziger Sinn. Und ihre Absicht ist immer wieder nur Gewalt, sie ist ein einziger Mißbrauch, und sie
treibt nur Mißbrauch. Wir wollen diesen Mißbrauch ausrotten - diese Aufforderung ist wörtlich zu
nehmen.
Die »Wirtschaft« hat Konflikte mit Andern - aber nicht mit sich selbst, sie merkt nicht, daß sie im
Widerspruch lebt. Seit sechs Jahren versucht sie. Schlag auf Schlag sich zu drücken, seit sechs

Jahren versucht sie, ihren Raub in Sicherheit zu bringen, es mißlingt ihr Schlag auf Schlag. Sie
kommt nicht zur Ruhe, sie kommt nicht zum Genuß. Und sie merkt es nicht. Sie weiß überhaupt
nichts von sich. Es kommt auch nichts aus ihr heraus. Sie wächst wie ein Aas im Unrat, sie stinkt, sie

gebiert nicht. Sie hat keine Kultur. Und sie erzeugt keine schöpferischen Kräfte. Manchmal hat sie

schon etwas von einem Golem, sie scheint fürchterlich, sie scheint grauenhaft zu nachtwandeln,

aber sie kann ja nicht allein leben - was ist denn das Leben ohne die Lebewesen!
Sie ist längst nicht mehr im Angriff, zuweilen trügt der Schein, sie hat ja gar keine Methode, sie

hat kaum ein Ziel, ein politisches »Ideal«, sie will verdienen. Sie braucht Werkzeuge, Geschöpfe
und keine Schöpfer. Hier wächst nichts mehr. _

V.

Es hat seinen Grund, warum bei solcher Konstitution die Kultur samt ihren Trägern im Morast
verreckt. Die deutschen Intellektuellen waren ja nie radikal oder revolutionär, sie standen in

Opposition, aber in einer sehr getreuen. Sie waren wirtschaftlich gebunden an das Kapital, aber sie

waren ihm nicht gefährlich. Deshalb ließ man sie gewähren. Deshalb ließ man sie segnen, wen sie

wollten. Man ließ sie auch fluchen. Ich weiß außer Harden [1] nicht einen deutschen Intellektuel-
len, der vor dem Kriege wegen einer Überzeugung eingesperrt worden wäre. Prozesse gabs wegen
Beleidigung oder Verbreitung unsittlicher Schriften. Sonst waren die Intellektuellen brav wie die
Schafe. Sie haben ihr Los - es ist hart, aber wahr - verdient.

VI.

Das Kapital ist nicht mehr schöpferisch, die Intellektuellen sind zu Angestellten geworden, oder
sie sind verzweifelt. Eine verschwindende Minderheit kämpft in den Reihen des Proletariats, wohin
sie gehört. Der ganze furchtbare Niederbruch der Intelligenz reicht nicht von heute her, er steht im
engen Zusammenhang mit dem Niedergang der ganzen bourgeoisen Klasse, der Auflösung des
Mittelstandes, der Ideenlosigkeit dieser ganzen Welt. Und dieser Zusammenbruch ist im Grunde
auch nicht ein Mal so bedauerlich, er ist nur eine Bestätigung des historischen Materialismus.
Die Intellektuellen werden zugrunde gehen wie die ganze bürgerliche Welt. Sie können erst
wieder erscheinen in einer ganz andern Form menschlichen Zusammenlebens, sie werden dort
sehr eng verbunden sein mit der werktätigen Masse, aus ihr werden sie hervorgehen; sie werden
dort kein Luxus, sondern lebendiger Ausdruck innern Lebens sein.
Laßt uns hoffen.
78 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Kurt Kersten (1891, Weiheiden b. Kassel - 1962, New York), Romanschriftsteller und Publizist, Dr. phil.,
Mitarbeiter u.a. der Weltbühne und der Literarischen Welt. Emigration 1934. Herausgeber des Sammelwerks
Das heutige Rußland (1923).

1 Maximilian Harden (1861-1927), politisch-satirischer Journalist und Literaturkritiker, Herausgeber der


Wochenschrift Die Zukunft von 1892 bis 1922. Polemischer Gegner der militaristischen Politik Wilhelms II
und der Hohenzollern. Wurde dreimal zu Festungshaft wegen »Majestätsbeleidigung« verurteilt. 1922
überlebte er ein gegen ihn verübtes Attentat eines nationalistischen Terroristen.

23
Herbert Eulenberg: Unsre Verleger. In: Die Weltbühne 20 (10. Januar 1924)
Nr. 2, S. 48-49.

Es herrscht wohl unter sämtlichen Beteiligten keine Meinungsverschiedenheit darüber, daß sich
von allen Unternehmern in Deutschland nach dem Kriege die Verleger das Tollste an Ausbeutung

geleistet haben. Wenn unter den skrupellosen Herrschaften, die nach unsrer militärischen Nieder-
lage noch unsern wirtschaftlichen Ruf zu Grabe getragen haben, eine Höchstleistung zu erbringen

war: unsre Verleger haben sie geschafft. Die wenigen großen Ausnahmen durchleuchten diese
trübe Zeit wie ein paar Sterne eine düstere, wolkenüberjagte Novembernacht.

[...I
Wozu sind die Dichter denn in der Welt da, als um zu Objekten der kaufmännischen Ausnutzung
gemacht zu werden? Ich nehme ein Beispiel: mich selbst, weil ich es am besten beurteilen kann. Ich
habe an die dreißig Bücher geschrieben. Einige von ihnen gehen recht gut. Haben es sogar auf fast

hundert Auflagen gebracht. Nun wohl, ich bin bereit, eidesstattlich folgendes zu erhärten: Ich habe
seit dem ersten Tag des Jahres 1923 für alle diese Bücher an jedem Monatsersten von meinen
deutschen Verlegern weniger, viel weniger Geld erhalten, als ich für ein einziges Buch bekomme,
das ich mit einer persönlichen Widmung in jedem Monat einem amerikanischen Maecen zu-
schicke. Er zahlt mir nämlich einen einzigen vollen Dollar dafür. Also ich empfange, als ein leidlich

geachteter und anerkannter deutscher Dichter von fast fünfzig Jahren, für meine ganze Lebensar-
beit von den Verlegern meiner Bücher seit Anfang 1923 im Monat nicht ganz vier Goldmark. Wers
nicht glaubt, der kann sich jederzeit an Hand meiner Abrechnungen davon überzeugen. Ich bin
jeden Sonntag zu sprechen. Soll man noch einen Kommentar zu diesen laut redenden Zahlen
hinzufügen? Wie mag es erst weniger bekannten Schriftstellern, wie unsern Anfängern ergehen?
Mit einer Kälte, einer Stumpfsinnigkeit ohne gleichen sieht der deutsche Verlegerstand seine

Geister zugrunde gehen. Wenn er selber nur notdürftig seinen »Betrieb« aufrechterhalten kann.

Aber da muß irgendwo etwas nicht stimmen, etwas höchst faul sein im Staate Deutschland,
wenn ich persönlich, zum Kaufmann geboren wie Hamlet zum Herkules, mit einem einzigen Buch
mir in einem Monat mehr verdienen kann, als meine sämdichen höchst geschickten Verleger es in

der gleichen Zeitspanne für mehr als dreißig meiner Werke fertig bringen. Vielleicht kann mich
irgendein geschäftstüchtiger Geist darüber aufklären, wo diese faule Stelle sein mag. Sie stinkt

allmählich zum Himmel. Können wir Schriftsteller uns nicht endlich selber helfen? Aber nicht mit
Die soziale Stellung der Schriftsteller in der Republik 79

selber unterstützungsbedürftigen Schutzverbänden noch mit langweiligen Kommissionen, die

dem Reichskanzler Denkschriften zur Verscharrung überreichen, sondern, indem wir, wie die
römische Plebs in ihrer höchsten Not, zwei oder drei Volkstribunen erwählen, die unsre Sache
vertreten. Starke Einzelpersönlichkeiten werden immer noch mehr ausrichten als schönredende
Ausschüsse. Aber vielleicht können bei diesen Verlegern nur noch Sturmtrupps etwas erzielen?

Herbert Eulenberg (1876, Köln-Mülheim - 1949, Kaiserswerth a. Rh.), Dr. jur. Seit 1909 freier Schriftsteller.
Freund Gerhart Hauptmanns und Thomas Manns. Wurde um die Jahrhundertwende durch seine neuromanü-
schen Tragödien bekannt. Schrieb auch Erzählungen, Gedichte, Biographien.

Eulenbergs scharfe Attacke gegen seine Verleger führte zu einer längeren Debatte in der Weltbühne. Es
antworteten Fritz Th. Cohn (17. Januar 1924) Nr. 3, S. 78-80, Bruno Cassirer (24. Januar 1924) Nr. 4, S. 123 f.,
Kurt Wolff (31. Januar 1924) Nr. 5, S. 133-137, Gustav Kiepenheuer 105-108 und
(24. Januar 1924) Nr. 4, S.

Arthur Eloesser (13. März 1924) Nr. 11, S. 334-338. Eulenbergs Schlußwort erschien am 27. März 1924,
Nr. 13, S. 404-406.
Ebenfalls in der Weltbühne \on 1924 wurde die Auseinandersetzung zwischen Carl Sternheim und seinem
Verleger Kurt Wolff veröffentlicht. Provoziert durch die von Eulenberg angestachelte Debatte sah er sich
veranlaßt, Kopien seiner Briefe an Kurt Wolff zu veröffentlichen, um »dem verwaschenen Gewäsch von Seiten
meiner schriftstellernden Berufsgenossen und der Verleger, Dokumente aus der Wirklichkeit endlich entgegen-
zusetzen.« [Briefe an meinen Verleger. In: Die Weltbühne 20 (6. März 1924) Nr. 10, S. 303-304):

"^
»28. 10. 23.
Ein Mißverständnis nennen Sie diesem ganzen Jahr 0,75 Goldmark für die Produktion von
es, daß Sie mir in

zwanzig glorreichen Dichterjahren bezahlt haben, ein Mißverständnis, daß Sie sich weigern, Ihre Pflichten aus
Verträgen zu erfüllen, ein Mißverständnis, daß Sie meine Bücher nicht neu drucken? Sie würden es auch ein
Mißverständnis nennen, hätte ich nicht, wovon leben, und Sie sähen meinen durch Sie verhungerten Leichnam
mit dem Bedauern: ein Mißverständnis!
Ich aber glaube, daß Ihre jahrelange Beschäftigung mit Literatur das große Mißverständnis ist, bei dem Sie

zwar Ihr Leben finden, bei dem aber den, der sich mit Ihnen einläßt, trotz großer und größter Erfolge die völlige
Verarmung trifft.

Was wollen Sie eigentlich und worüber sollen wir uns unterhalten, nachdem Sie esjahre hindurch ablehnten,
mich wenigstens wie einen Fabrikarbeiter zu entlöhnen, nachdem Sie Ihre strikten vertraglichen Verpflichtun-
gen zynisch nicht erfüllten, und nachdem Sie es ablehnten, die Bücher eines großen Dichters, dessen
Ihnennahestehen Sie nie verdient haben, obwohl Sie sie anerkennen, zu drucken.
Ich denke nicht daran, in absehbarer Zeit nach diesem fauligen Schlupfwinkel München, den Sie sich als

Verlagsort aussuchten, zu kommen, um da wieder von dieser zeitgenössischen Mentalität gequält zu werden,
die mein Leben an sich schon um Jahre verkürzt.

16.11.23.
Vergessen Sie nicht, daß Ihr Verhalten gegen mich historisch gerichtet werden wird, und Sie ins Licht
kommen müssen, ein noch fürchterlicherer Mensch als Julius Campe gewesen zu sein. Schlagen Sie in Ihren
Büchern nach, welche Honorare Sie mir seit Jahren gezahlt haben, und Sie werden erröten müssen. Sehen Sie
nach, was Sie propagandistisch für mich taten, und Sie müssen sich totschießen!
Sie haben keine faire Geste, keine gentlemanlike Haltung dem Dichter gegenüber, mit dem zusammen
genannt zu werden, für Sie Ehre bedeutet, gemacht, haben mich mit Einwänden halb tot geärgert, an klaren
Rechten und Verträgen gedeutelt, haben alles, nur nicht die unzweideutige Haltung, die Sie fingieren,
bewiesen.
Indem ich hinzufüge, daß, nachdem der Verleger meinen im letzten Brief offen gelassenen Ausweg, sich zu
erschießen, nicht eingeschlagen hat, unser Verkehr, durch gerichtliche Klagen begleitet, weitergeht, betone ich
ausdrücklich, daß meine Schreiben an meine übrigen Verleger kaum anders lauten und auch nicht eher anders
lauten werden, bis das bücherkaufende Publikum, denn nur das kann ändern, seinen Büchereinkauf bis zu dem
Augenblick einstellt, wo ihm von Seiten des schaffenden Dichters versichert wurde, der deutsche Verleger sei
sich seiner Verantwortung und Distanz zum bloßen Margarinehändler wieder bewußt geworden.«
80 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Kurt Wolff verteidigt sich In Sachen Sternheim (in: Die Weltbühne 20 [15. Mai 1924] Nr. 20, S. 661-664),

indem er »ein solches Maß


von Hysterie und Ekelhaftigkeit« zurückweist.
1925 erschien in dem unbekannten Züricher Lago-Verlag eine 38-seitige Broschüre von Else Lasker-Schüler
mit dem Titel Ich räume auf! Meine Anklage gegen meine Verleger Der Angriff ist vor allem gegen ihren Verleger
:

Bruno Cassirer gerichtet. Franz Blei satirisiert die gehäuften Klagen der Schriftsteller gegen ihre Verleger in
seinem Aufsatz Mein Verleger betrügt mich (in: Das Tage-Buch 5 [2. Februar 1924] H. 5, S. 146-148).

24
Fritz Engel: Der Staat und das Schrifttum. In: Der Schriftsteller 13
(Februar 1926) Nr 1, S. 3-4.

Nicht ohne Freude man vor einigen Tagen, daß der Staat Preußen den bildenden Künstiern eine
las

Stiftung von einer halben Million gemacht hat. Auch diese Summe kann in ihrem Zinsergebnis nur
einen Teil der großen Not stillen, dennoch ist die Schenkung, für die in erster Reihe dem
Geheimrat Watzold[l] im Kultusministerium Dank geschuldet w^ird, mehr als eine noble Geste.
Sie ist mehr als eine jener imaginären Fiuldigungen, wie sie bei fesdichen Gelegenheiten vom Staat
der edlen- und götdichen Kunst toastend und prostend dargebracht werden. Sie ist eine Leistung

und ein Opfer.

Ein kleiner Nebengedanke, nichts anderes, schleicht sich ein: wie wir Deutschen auf dem
Gebiete der Kunstförderung noch immer Einzelstaaterei treiben, wie die Bayern die Künsder
zwischen den blauweißen Pfählen unterstützen, und nun die Preußen die ihrigen, und wie es
danach den Anschein gewinnt, als ob es eine bayerische Kunst gäbe und eine preußische, so die
Reihe der »Länder« um und um. Als man das Reich ins Leben rief, als man es nach 1918
neugründete, blieben in Kunstdingen die morschen Reservatgrenzen erhalten, und der preußische
Adler und der bayerische Löwe sitzen weiter in getrennten Käfigen.

Das nebenbei. Nur wieder als eine quereile allemande; ihre Erledigung können wir schließlich
abwarten. Auf den Fingern, dicht auf dem Fierzen brennt uns eine andere Frage. Was tut der Staat
für das Schrifttum? Der bildenden Kunst gibt er 500000 Mark; er gibt ihr gelegendich Aufträge,

ebenso wie dieKommunen. Er gibt ihr auch einen Sitz im Reichswirtschaftsrat. Dort wird sie von
dem sehr tüchtigen Leiter des Wirtschaftsverbandes deutscher Künsder vertreten.
Was also tut der Staat für die Mitbürger, die sich der deutschen Literatur und damit der
deutschen Sache und der deutschen Zukunft widmen? Die einen tun es leise, die anderen durchs
Megaphon. Die einen milde, die anderen hart verneinend. Die einen schwärmen weitabgewandt in
ihr Inneres, die anderen greifen in den Kampf des Tages ein. Aber alle schließlich, wie sehr sie auch
zugleich sich selber Geltung schaffen wollen, pflegen doch ein Ideal, und aus so vielen und noch so
gegensätzlichen Idealen setzt sich zu guter Letzt die Entwicklung der Zeit zusammen, niemals im
Stillstand. Die Entwicklung zu pflegen, nicht nur die Aufgaben der nächsten Stunde, ist die

Fiauptaufgabe eines Staates, der sich nach einer scheinglänzenden Epoche aus den Tiefen der
Verzweiflung emporrecken will. Er muß alles tun, um das Talent zu pflegen; einmal, indem er es
Die soziale Stellung der Schriftsteller in der Republik 81

nicht verfolgt, auch wenn es gelegentlich über die Schnur haut; dann, indem er es von den gröbsten
Sorgen befreit. Der Wunsch zu helfen, muß größer sein als die Furcht, daß sich auch die
Talentlosigkeit an den Tisch drängen könnte. Daß sie vorhanden ist und sich sogar besonders laut

gebärdet, ist unbestritten. Auch bei den bildenden Künstlern. Und sie haben eine halbe Million
bekommen.
Für das Schrifttum verfügt das Kultusministerium alljährlich über 3000 Mark. Dreitausend
Mark! Es mag noch Fonds geben, auch Reichsfonds, aus denen gelegentlich etwas fließt. Aber der
preußische Staat schätzt sich zu einer Steuer für die Wohlfahrt des Schrifttums in Höhe von 3000
Mark ein. Das ist jämmerlich, unwürdig und grauenvoll. Es deutet beim Landtag wie beim
Finanzministerium auf eine vollkommene Ahnungslosigkeit ebenso gegenüber der Pflicht des
Staates wie gegenüber der Verelendung des Schrifttums.
Man hört gelegentlich: die Schriftsteller verständen sich schon selber zu helfen. Sie seien agiler

als die bildende Künstlerschaft; sie wüßten in ihrem Interesse das Instrument der Sprache, die
Schrift, des Drucks besser anzuwenden. Es ist nicht wahr. Die Quellen, aus denen man früher

einige Tropfen Linderung schöpfen konnte, sind versiegt. Der alte Reichtum ist zum großen Teil

verschwunden, der neue auch. Die Inflationszeiten, so greulich sie waren, zeigten auch für diese
Dinge eine leichte Hand. Es gab Großschieber, die sich halb unbewußtiür ihre Sünden einen
Ablaßzettel kauften und fromme Werke taten. Man nahm ihnen ab, was man konnte. In der Hand
des aufatmenden Empfängers verlor ihr Geld den schlechten Geruch. Das ist vorbei. Damals, wenn
die Hungergesichter der Poeten auftauchten, wenn die Schriftler kamen mit zerfransten Hosen,

konnte man noch etwas für sie tun. Jetzt nichts. Man tröstet sie aufbessere Zeiten und kommt sich
verlogen und hartherzig dabei vor. Der Herr Finanzminister erkundige sich bei den Kennern: bei
den Leitern der Uterarischen Stiftungen, bei den Körperschaften des Schrifttums, bei Redakteuren.

Es ist ein qualvoller Zustand.

Hier muß etwas geschehen, der Staat muß aus seiner stiefväterlichen Gesinnung zur väterlichen
gelangen. Er selbst hat sich das Vorbild in der Stiftung für die bildende Kunst gegeben. Mit der
Bewilligung jener respektablen Summe, aber auch in den Ausführungsbestimmungen. Auch bei

der Förderung des Schrifttums muß Vorsorge getroffen werden, daß die Qualität berücksichtigt
wird. Auch für das Schrifttum, das jetzt in allzuviele Vereine und Vereinchen zersplittert ist, muß
ein Gremium geschaffen werden von Männern, die einen vorurteilslosen Überblick über das
Ganze haben, die das gewerbsmäßige Parasitentum kennen und fernhalten und das unterstützungs-
werte Talent herausfinden und daseinsberechtigt machen.

Fritz Engel (1867, Breslau - 1935, Berlin), Lyriker, Theaterkritiker und Schriftleiter des Berliner Tageblatts.
Schrieb bereits 1910 den Aufsatz Die soziale Lage der deutschen Schriftsteller (in: Das Blauhuch 5, Nr. 8, Berlin

1910, S. 179 f). Die Klage über die mangelnde Unterstützung der Schriftsteller durch den Staat wurde nicht in

allen Lagern geteilt. In der konservativen Münchener Zeitschrift Der Bücherwurm plädierte Franz Thierfelder
(1896-1963) bewußt gegen eine staatliche Unterstützung {Dichten: Berufung oder Beruf In: Der Bücher-
wurm 13 [1927/28] H. 2, S. 33-35, hier S. 33 f.): »Seit einiger Zeit ist unter gewissen deutschen Literaten ein
geradezu unwürdiges Winseln an der Tagesordnung, die Nation kümmere sich zu wenig um ihre Propheten
und Geistesführer, sie führe sie nicht auf, lasse sie verhungern und habe das Mäzenatentum früherer Zeiten
vergessen, ohne das nun einmal Kunst und Wissenschaften nicht blühen könnten. Dieselben Herren, die sich
nicht lustig genug darüber machen können, wenn der biedere Spießbürger bei jeder Gelegenheit nach Polizei
und Staat ruft, schreien in mehr oder weniger edler Bescheidenheit nach der Fürsorge der Regierung, wenn sie
82 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

keine Verleger finden oder ihre Feuilletons ergebnislos aus den Schriftleitungen auf ihren Schreibtisch zurück-
flattern. Den Gedanken, daß womöglich ihre unzureichende Leistung die Ursache ihres Mißerfolges sein
könnte, weisen sie mit stolzer Gebärde zurück; und wenn die Offenbarungen ihres Genies nicht von selbst dazu
führen, daß jeden Tag die harten Taler in der Tasche klimpern, so liegt das eben an der Beschränktheit der
zeitgenössischen Böoüer und sonstigen Mitmenschen, vor allem aber an dem verantwortungslosen Vater Staat,
der daumendrehend zusieht, wie seine hoffnungsvollsten Sprößlinge in der schamlosen Fronarbeit des Tages
zugrunde gehen.
Anmaßung einer Klasse von Menschen, die mit konjunkturgewinnlerischer Schlauheit anstelle der
Diese
Berufung zum Dichter dem staadich ausgehaltenen Dichterberufe die öffendiche Anerkennung verschaffen
möchten, muß einmal laut und rücksichtslos an den Pranger gestellt werden. Die Versuchung, Namen zu
nennen, kann aus Gründen menschlichen Taktgefühls um so leichter bezwungen werden, als jedem, der die
deutsche Presse einigermaßen aufmerksam liest, die Literaten nur allzubekannt sind, die mit fataler Regelmäßig-
keit als Klageweiber aus der Flut ihrer Mittelmäf^igkeit auftauchen und dem deutschen Volke den Spiegel
vorzuhalten sich für berechtigt erachten. Wenn heute unser literarisches Leben ein so sinnverwirrendes,
zwiespältigesund letzten Endes unerfreuliches Bild bietet, wenn es mit Händen zu greifen ist, daß sich das Gute
der echten Dichter nur schwer und mehr zufällig durchsetzt, das Mittelmäßige der Berufspoeten herrscht und
der freche Schund der Geschäftsliteraten die ahnungslose, ihrem eigenen Urteile nicht mehr trauende Menge
unter das kaudinische Joch zwingt, so verdanken wir das nicht allein, aber sicherlich nicht zuletzt der
lawinenartig-anschwellenden Überproduktion. Unserem Volke wäre mehr damit gedient, wenn die Hälfte
seiner Literaten ausgemerzt, als wenn ein Viertel durch staatliche Fürsorge in ungehemmter Zeugekraft
erhalten würde. Das klingt vielleicht brutal und kulturfeindlich - in Wirklichkeit aber ist es genau das
Gegenteil. Die poetische Kraft eines Genies bedarf des Widerstandes auf allen Gebiete des Lebens zu ihrer
Entfesselung; an ihm hat sie sich zu erproben und entweder zu siegen oder - noch im Tode triumphierend
unterzugehen. Das ist die Tragik des Genies, die nicht durch irgendwelche Zufälligkeiten des äußeren Erlebens,
sondern durchaus schicksalhaft bedingt bleibt. Wer im Dichter Menschen, der
nichts anderes sieht als einen
sich fortwährend mit seiner Umwelt auseinandersetzen muß, um
Kunstwerke zu schaffen, sondern
nicht
einfach einen ihm von Gott verliehenen Drange gehorchend, der kann jedenfalls nicht wollen, daß ihm die
Möglichkeiten zu seinen gewaltigsten Endadungen mit tantenhafter Vorsicht aus dem Wege geräumt werden.
Und sind die Widerstände größer als er; nun also, dann mag er an seiner eigenen Explosion zugrunde gehen; ist
er ein wirkliches Genie, so wird er es gar nicht anders wollen und wie ein geblendeter Nachtfalter solange in das
Licht der Kerze schießen, bis er verbrannt zu Boden fällt. Solchen Menschen den samtbezogenen Sessel der
Akademie anzubieten, erscheint ebenso komisch, wie der Versuch, ihnen den Genuß einer jährlichen Leibrente
zu verschaffen; die Rolle eines lebenden Buddha wird ihnen lächerlich, das ästhetische Geschwätz des der
täglichen Misere überhobenen Pfründners unwürdig erscheinen. Freilich, Dichter von diesem Schlage finden
sich auch kaum unter denen, die ihre Kunst zum Berufe, und zwar zu einem möglichst einträglichen machen
möchten.« (S. 33 f.)

Vgl. dazu Walter Weichardts Offenen Brief an Dr. F. Thierfelder (in: Der Bücherwurm 13 [1927/28] H. 4,

S. 115-117), der Thierfelders Polemik gegen die »winselnden Literaten« zurückweist.

1 Wilhelm Wätzold (1880-1945), Kunsthistoriker, Professor, Direktor der Staadichen Museen in Berlin.
Die soziale Stellung der Schriftsteller in der Republik 83

25
Gottfried Benn: Neben dem Schriftstellerberuf. In: Die literarische Welt 3
(23. September 1927) Nr. 38, S. 3-4.

Hohenzollern oder Republik, das ist Jacke wie Hose. Günther, Hölderlin, Heine, Nietzsche,
Kleist, Rilke oder die Lasker-Schüler - der Staat hat nie etwas für die Kunst getan. Kein Staat.

Phidias starb im Kerker an Gift, sein Denunziant erhielt vom Volk Steuerfreiheit. Vergil, Dante,

Petrarca, die Verbannten, unter Cäsaren oder Demokratien. Der Staat, immer bereit zu dem
Geschwätz, daß die Nation sich aus inneren Kräften erneuere, hat der Kunst gegenüber keine
andere Geste als die, die vom Fehlgriff lebt. Er beruft eine Akademie: zwei oder drei Konzessions-

lose, die unübersehbar sind, aber dann die Masse der Schieber, die flüssigen Epiker, die Rülpser des
Anekdotenschleims, die psychologischen Stauer von Mittelstandsvorfällen. Schund und Schmutz,
nicht harmlos erotisch, aber produktiv verderbt. Der Staat, der das Wild durch Jagdgesetze schützt
und den Nachvmchs der Wälder durch Gatter und Forstakademien, der Irre und Psychopathen
hochzieht, Eheberatungsstellen und Geschlechtskrankheitsfürsorgen gratis serviert, immer hoch
die Düngerprobleme, die Beamtenbezüge und die Bullenauktionen -: der Staat und die Kommune
immer nur auf den Knien vor einer - theoretisch wie in bezug auf ihre Verwirklichung gleich
fragwoirdigen - vegetativ-agrarischen Züchtungsideologie.

Wer sagt, es sei kein Geld da, der irrt. Ich las kürzlich im Handelsteil einer bürgerlichen Zeitung,
der preußische Staat hat im Jahr 1925 35 Millionen ausgeworfen zur Belebung der Stettiner
Werftindustrie. Die Werften wurden nicht belebt, keine Planke wurde gebaut, aber die 35 Millio-
nen gingen gewiß ihren Weg und belebten mancherlei. Wann aber hätte er einen Dichter mit
tausend Mark belebt? Oder wie ist es z.B. mit den Zahlungen für die Staatstheater.^ Wie sieht der

Etat, wie die Kunstleistung eines Staatstheaters aus? Zweiundzwanzig Schöne mit Dauerverträgen
und noch mehr männliche Bretterbetreter, damit Charleys Tante und das Weiße Rößl monatelang
dem preußischen Volke nahegebracht wird; an der Spitze Intendanten und Regisseure, die
nebenberuflich Filme in ihre Tasche drehen; Kapellmeister mit ihren langjährigen enormen Verträ-
gen, fortwährend auf Gastspielen zu ihrem eigenen Ruhm und für ihr eigenes Bankkonto; Stars,

fünftausend Mark Fixum monatlich in Berlin und die Hälfte des Jahres auf privaten Tourneen -:

Intendanten, Regisseure, Tenöre, Kapellmeister, also Bearbeiter, Vermittler, geistig-wirtschaftlich

betrachtet: Ausbeuter, Produktive dritter, vierter Hand - die erhält der Staat mit großem Train.

Oder wie steht es mit der Wissenschaft, insonderheit dieser smarten Biologie? Für jeden Spaltpilz

ein Forschungsinstitut, für jede Rattenkreuzung eine Domäne. Dahinein diese Forscher, die ewig
die Epoche in Atem halten und dauernd Marksteine errichten und nach einem Quinquennium ist

alles Kaff. Hundertundfünfzig Jahre bebten sie und ihre Welt in einem Gesetzmäßigkeitsparoxys-
mus, und nun kommt ein anderer, dänischer Physiker[l], Nobelpreisträger und sagt, daß der
molekulare Einzelvorgang wahrscheinlich überhaupt nicht durch Gesetze kausal bestimmt werden
kann. Das ist das Versagen des Gedankens der Naturgesetze überhaupt. Das ist das Fiasko. Aber
die Forscher beziehen ihre Gehälter weiter, als ob man von vornherein angenommen hätte, daß sie

nur Unfug produzieren, und wer sie attackierte, dem würden sie Lessing zitieren, daß es sich nicht
84 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

um Erkenntnis handle, sondern um den Kampf um die Erkennmis - ach, wie sie alle kämpfen auf
ihren Lehrstühlen, bei ihren Witwenpensionen, auf ihren bankettdurchwürzten Kongressen und
die Ministerialräte mit Festreden immer oben an! Mögen sie es tun, aber wenn der § 142 der
deutschen Reichsverfassung lautet: »Die Kunst und die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. Der

Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil« - so sollte der zweite Satz lieber heißen:
er gewährt nicht ihnen Schutz, sondern ihren Surrogaten, da sie der Industrie Anregungen und den
Ministern ihre Redensarten liefern.

In seiner Erwiderung auf Benns Artikel schrieb Frank Thieß {Der Staat und die Künstler. Eine Antwort an
Gottfried Benn, in: Die literarische Welt?) [7. Oktober 1927] Nr. 40, S. 7-8) über das Verhältnis von Staat und

Künstler: »Es liegt in der Natur des Staates wie in der Natur des Künstlertums, daß sie nie in ein fruchtbares
Verhältnis zueinander kommen können. Wer dies erwartet, ist ein Tor, wer es erzwingen will, ein Don Quixote.
Es ist nicht zu erzwingen, und scheinbare Amalgamierungen von Staat und Künstlern, wie sie etwa unsere

Akademie der Dichtkunst oder die Museen darstellen, sind sehr demonstrative Beispiele dafür, daß es nicht
geht.
Nein, der Staat hat für die lebendige Kunst und ihre Vertreter in des Wortes genauer Bedeutung kein Organ.
Er hat es nie gehabt und wird es nie haben, denn Staat und Künstler bleiben in Ewigkeit die regulierenden Pole
des kulturellen Lebens, sie können in heftige (und dadurch indirekt fruchtbare) Spannung zueinander treten,
aber sie berühren sich nicht. Wo sie sich aber scheinbar berühren, da ist entweder die Kunst Schwindel, oder
hinter der staatlichen Akdon steht nicht der Staat, sondern eine aristokratische Macht, ein einzelner, ein
kunstverständiger Fürst, ein kunstliebender Minister (Ära Haenisch). In diesem Falle ist der Staat ausführendes
Organ doch eben nur so lange, als dieser Wille die Macht zum Dirigieren hat. Ich
eines dirigierenden Willens,
bin froh, daß Gottfried Benn die groteske Opern- und Staatstheaterwirtschaft wirksam attackiert hat, denn hier
glaubt der gemütvolle Staatsbürger ja im Ernst, daß die Regierung aus reiner Liebe zu den Musen jährlich
Millionen den hehren Künsten Musik und Schauspiel zuweist.« (S. 7)

1 Gemeint ist der Physiker Niels Bohr, der 1922 den Nobelpreis für seine Verdienste um die Entwicklung der
Atomtheorie erhielt.
4. Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem literarischer Repräsentanz

26
Konrad Haenisch: Warum feiern wir Gerhart Hauptmann?
In: Die Volksbühne}, (1922) H. 2, S. 34-36; hier: S. 34-35.

Angesichts der Hauptmann-Feiern, die in diesen Monaten überall in Deutschland veranstaltet


werden, fragt sich vielleicht mancher, ob w^ir denn in Tagen wie den heutigen überhaupt das innere
Recht zu solchen Feiern haben; ob in diesen Tagen furchtbarster wirtschaftlicher Bedrängnisse,
Tagen, in denen das allgemeine Chaos über uns hereinzubrechen droht, nicht auch der letzte Nerv
angespannt werden müsse zur Überwindung wenigstens der drängendsten Tagesnöte, und ob
deshalb nicht Dichterfeiern eine unverantwordiche Ablenkung von degi bedeuten, was heute
allein nottut? So sehr ich solche Zweifelsfragen verstehe, so entschieden möchte ich doch sagen: Ja,
man d^r/^Flauptmann-Feiern veranstalten! Man darf Hauptmann auch heute, man darf, man soll

sogar, ihn gerade heute feiern! Denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein, und hätten alle die

Mühen und Sorgen dieser bangen Stunden keinen anderen Sinn als den, uns nur das elende
Bißchen unserer nackten materiellen Existenz zu sichern, dann hätten sie im Grunde genommen
überhaupt keinen Sinn, und das Leben wäre nicht mehr wert, gelebt zu werden. Gerade in den
Tagen wie den heutigen müssen wir die Augen erheben zu denen, die uns Führer und Wegweiser
sind ins Land des Geistes und der Seele.

Man hat die Hauptmann-Feiern dieses Jahres einen Personenkulms genannt, der eines Volksstaa-
tes und der insbesondere der sozialistischen Arbeiterschaft unwürdig sei. Nun - ganz gewiß ist die

Kultur eines Volkes oder gar die Kultur der Menschheit nun und nimmermehr das Werk einzelner,
und stünden sie noch so hoch. Sie ist das Ergebnis des Zusammenwirkens von ungezählten und
ungenannten Millionen fleißiger Arbeiter des Hirns und der Hand, und niemand hat die Abhängig-
keit auch des Genies von der Gesamtheit seines Volkes stets freudiger und dankbarer anerkannt,
als gerade Gerhart Hauptmann. Am schönsten wohl in seiner Breslauer Rathausrede vom 2. August
d.J.[l] Auf der anderen Seite bleibt es deshalb nicht weniger wahr, daß große Männer der
menschlichen Kultur neue Ziele und Wege zu weisen, daß sie das Kulturleben ihrer Nation und der
anderen Völker außerordendich zu bereichern und zu befruchten vermögen, wie sich umgekehrt
in ihnen das tiefste Streben und Sehnen der Zeit wie in einem Brennspiegel zusammenfaßt. Und
solch einer ist Gerhart Hauptmann.
Auch das alte Deutschland hat seine großen Männer gefeiert. Nur daß diese »großen Männer«
sich in der Zeit der großen Prüfung, als aller Schein verblich und nur das Echte blieb, nur allzu oft
als sehr kleine Menschen erwiesen. Und am kleinsten zeigten sich die, die man ein Menschenalter
lang am lautesten gepriesen hatte. Dann aber: es waren fast nur Helden des Schwertes, die das alte
86 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Deutschland feierte, von Ziethen und Blücher angefangen über Moltke und Roon hinweg bis zu

Hmdenburg und Ludendorff [2] Solche Männer können uns


. nicht Führer sein in das neue Land,

das wir mit der Seele suchen. Ist es wahr, daß uns die Genesung aus dem schweren Siechtum dieser
Tage letzten Endes nur von innen heraus kommen kann, daß also die ganze Frage des deutschen
Wiederaufstiegs schließlich hinausläuft auf die große sittliche und geistige Erziehungsfrage - und
es ist wahr -, dann können uns auch nur Helden des Geistes Wegbahner ins Neuland sein. Statt

Kaisertagen, Feldherrnfesten und Gedenkfeiern an Schlachtensiege wird das neue Deutschland


seine großen Goethe-Tage haben, seine Mozart-Feste und Beethoven-Feiern, seine Wagner-Wochen,
seine Fichte-Feste und seine Lassalle-Feiern. Und auch seine Gerhart-Hauptmann-Tage! [. .
.]

Konrad Haenisch (1876, Greifswald - 1925, Wiesbaden), Redakteur sozialdemokratischer Zeitungen.


1918-1921 preußischer Kultusminister, 1923-25 Regierungspräsident in Wiesbaden.

Die Feierlichkeiten zu Gerhart Hauptmanns 60. Geburtstag am 15. November 1922 zogen sich über Monate
hin. Er wurde München, Hamburg, Bremen und Wien geehrt und die Breslauer Festspiele und die
in

Frankfurter Goethewoche standen in seinem Zeichen. Dazu kamen zahlreiche Umfragen in Zeitschriften und
Zeimngen. In der von Felix Holländer im Auftrag der »Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger«
herausgegebenen Festschrift zum 60. Geburtstag Gerhart Hauptmanns (Berlin 1922) wurde er von Freunden
und Bewunderern, u.a. auch vom Reichspräsidenten Friedrich Ebert und Reichskanzler Joseph Wirth als der
geistige Repräsentant der Republik beglückwünscht. So schrieb Joseph Wirth z.B.: »Deutschland muß
dankbar sein, daß es in dieser Zeit wirtschaftlicher und geistiger Not einen so großen Sohn wie Gerhart
Hauptmann sein eigen nennen darf. Unser Volk kann stolz sein auf ihn, der nicht als Günsding von Zeitströ-
mungen, sondern Widerständen und Hemmungen zum Trotz sich durchgesetzt hat - durch seine große Kunst
und durch die Unbeugsamkeit seiner Seele. Was Gerhart Hauptmann in seinen Dramen und Romanen
geschildert hat, ist, auf eine Formel gebracht: der deutsche Mensch, hi den dunklen Tagen, in denen wir leben,
können deshalb seine Werke eine Schule der Selbsterkenntnis, eine Quelle des Trostes, ein Ausgangspunkt für
eine neue große Hoffnung auf die Zukunft unseres Volkes sein.«
Und Heinrich Mann (ebd.): »Hauptmann spricht im Ausland für die Nation. Vom Ausland ergehen Aufrufe,
ja Hilferufe an Deutschland durch Hauptmann. Er waltet neben dem politischen Reichshaupt als Präsident des

Herzens, das dies Reich hat. Man hat desgleichen in Deuschland nicht gesehen, und in Europa nicht seit Hugo.
Die Republik weiß sich bestätigt und erhoben von ihrem erwählten Dichter. Sie wird sich, zunächst um
seinetwillen, hoffentlich mit dem literarischen Geist erfüllen, dessen die voraufgegangene Epoche entriet. Erst
literarischer Geist wird die Republik von innen beleben, ins Leben gestellt, wie sie ist, durch äußere Gewalten.
Wenn die Schüler der Staatsschulen mit Werken Hauptmanns ausgezeichnet werden, tut die Republik nach
ihrer Sendung. Denn gesündere, sittlichere, schönere Vorstellungsreihen erstehen in den Geistern durch
Hauptmann als durch Bismarck oder durch Wilhelm den Zweiten. Jeder schuldet ihm heute die Lobrede, die
die, deren Geist mit Worten gestaltet wie der seine. Sie können nur stolz auf
das Herz spricht: vor allen anderen
ihn sein. Siekönnen ihn nur lieben.«
Die Umfrage der Zeitschrift der Hamburger Kammerspiele Der Freihafen (1922, H. 3) mit dem Titel Wie
denken Sie über Gerhart Hautmann f enthielt auch kritische Stimmen. Iwan Goll schrieb »Gerhart Hauptmann:
mir unbekannt«, Kurt Schwitters bezeichnet ihn als »Durchschnittsbegabung« und Erich Mühsam meinte:
»Gerhart Hauptmann ist sehr zu seinem Unglück der repräsentative Dichter des Deutschlands der Gegen-
wart«. Die bitterste Anklage kam von Carl Sternheim. »[. .] was bedeutet, eines an Zahl immerhin großen
.

Volkes repräsentativer Dichter zu sein? Nach der Popularität, die Gerhart Hauptmann in Deutschland genießt,
kann es nur bedeuten, daß der den Vorsitz im Parnaß hat, der der prägnanteste mittlere Ausdruck all dessen ist,

das dieses heutige Deutschland und seine bürgerlichen Machthaber trotz aller erlebten Katastrophen auf
eigentümliche Art mit vollen Kneipen und Theatersälen prosperieren Des vollendeten Assimilationsprin-
läßt.

zips nämlich, das nicht nur politisch sondern auch wirtschafdich und
ohne eigene Seinsweise charakter-
geistig
los nur stets den besten Anschluß an augenblickliche Konjunktur sucht, ohne eigenen Start und eigenes Ziel
mit flüssig verwässerten Begriffen in der Luft schwebt, ohne Behauptung eines eigenen Wesendichen natürlich
stets Recht behält.
Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem literarischer Repräsentanz 87

Mit anderen Worten: in Gerhart Hauptmann ist nie, was ich von jedem Führer eines Volkes voraussetze, die
biszum Fanatismus und zur Besessenheit verteidigte und durchgedrückte eigene Gesinnung deutlich gewor-
den, und darum in seinen Helden auch nicht deren eigener wie immer gearteter unwandelbarer Charakter.
Lebens und in keiner Situation seiner Dramen ist dem, was bürgerlich gefällt,
Bei keiner Gelegenheit seines
gegenüber, das, was aus eines Menschen oder Volks besonderer Voraussetzung notwendig und darum über
alles verehrenswert ist, von seiner nur dazu verpflichteten Begabung in Schutz genommen und mit seiner Hilfe

zu öffendicher Anerkennung gebracht worden. (Wie etwa der Geizige, Tartüff, Misanthrop von Moliere,
Lessings preußischer Offizier von Tellheim und die durch einen liederlichen Despoten geschändete Emilia
Galotti.) Sondern unaufhörlich hat er, was seit einem Jahrhundert bürgerlicher Mentalität vernünftig, schön
und gut, d.i. angenehm, erscheint, einen abominablen Krieg sogar talentvoll verherrlicht, an dem er sich
körperlich und geistig zwar nicht beteiligend, wie an allem Aktuellen und in Nachfrage Stehenden doch
solchen Anteil genommen hat.:

>Komm, wir wollen sterben gehen


in das Feld, wo Rosse stampfen,
wo die Donnerbüchsen stehen
und sich tote Fäuste krampfen.

Lebe wohl, mein junges Weib,


und du Säugling in der Wiegen,
denn ich darf mit trägem Leib
nicht daheim bei euch verUegen.

Diesen Leib, den halt ich hin _


Flintenkugeln und Granaten:
Eh ich nicht durchlöchert bin,
kann der Feldzug nicht geraten !<

An seinen Repräsentanten wirst du ein Volk erkennen. Das deutsche von 1922 an Henny Porten und Gerhart
Hauptmann, ohne in einer Zeile seines umfangreichen Werks jenen wirklichen Deutschen, die rechts oder
der,
links in großen Massen national oder mitmenschlich besessen sind, letzthin je einen Fingerzeig zu Dingen, die
jenseits des bloß Gefälligen oder nur Nützlichen stehen, gegeben zu haben, an seinem sechzigsten Geburtstag,
der übrigens bei keinem Menschen ein Besonderes ist, sich so ausgiebig feiern ließ, wie nur ein durch Geschäfte
Reichgewordener seinem Leib viel zu üppige und häufige Feste gibt, die durch nichts begründet erscheinen.«

(S. 12-13)
Auch Pfemferts Aktton (12. Jg. vom 15. August 1922, Nr. 31/32, Sp. 429-440) griff Hauptmann voller
Aggressivität an als »Kaiser-Wilhelm-Verherrlicher und Kriegscoupletschreiber, der als Dichter längst kre-
pierte.« Vgl. ferner Ernst Heilborns Aufsatz Die Gerhart Hauptmann-Festspiele, in: Frankfurter Zeitung
(21.August 1922) Nr. 585: »Die Frage ist nicht, ob Hauptmann der große Dichter sei, nach dem die Sehnsucht
eines Volkes zu allen Zeiten ruft. Die Gewißheit ist: der Mann und sein Werk sind derart, daß alle geistig
Suchenden des heutigen Deutschlands sich und irgend eine Erfüllung stummer Sehnsucht bei ihm finden
können. Und daß er darum berufen ist, ein Wort der Sammlung auszugeben.
Wir feiern Gerhart Hauptmann als - ein Symbol. Wir sind uns bewußt, nur zum Teil ist die Kraft in ihm, zur
andern Hälfte muß sie in uns selber sein. Wird sie aber entbunden, so kann sie auf lange und hellere Tage hinaus
wirksam werden.«

1 Hauptmanns Breslauer Rede trug den Titel Deutschland-Vaterland. Darin hieß es u.a.: »Jede persönliche
Ehrung muß weit zurücktreten hinter die Idee, die in zum Ausdruck kommen
diesen Breslauer Festtagen
soll. In beredter Weise hat sich diese Idee durch den Mund des ersten Mannes unserem geeinten, neuen,
in

großen Deutschen Reiche, durch den Mund anderer hoher Reichsbeamter, durch den Mund des Herrn
Oberbürgermeisters kundgetan. Nichts anderes als Deutschland selbst ist diese Idee, die unsere Seele, unsere
Worte, unsere Handlungen durchdringt und beflügelt. Und jede Seele, jedes Wort, jede Handlung ist halb, ja
weniger als halb, die von dieser Idee nicht durchdrungen und getragen ist.

Deutschlandals Idee, das ist Deutschlands Kraft. Je mehr einzelne Teile unserer gewaltigen Volksgemein-

von dieser Idee berührt und durchdrungen sind, um so mehr wird das Ganze ein Ganzes sein. Darum
schaft
kommt es am Ende darauf an, die entferntesten Siedlungen des Reiches immer wieder damit zu durchdrin-
88 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

gen. Nicht in einer sterilen, äußerlichen Art, sondern in einer warmen und lebendigen Art, die dem
Einzelnen und dem Ganzen den gemeinsamen Reichtum zum Bewußtsein bringt.
zuletzt
Sein währendes Leben empfängt ein Körper allein durch den Geist. Die Aufgabe ist und wird immer sein,
wenn ein Volkstum wachsen und verharren soll, für seine Beseelung Sorge zu tragen.« (In: Sämtliche Werke
Bd. VI, hrg. von H.-E. Hass, Frankfurt 1963, S. 752).
2 Hans Joachim von Zieten (1699-1786), preußischer Reitergeneral unter Friedrich dem Großen; Gerhard
Leberecht von Blücher (1742-1819), preußischer Feldmarschall zur Zeit der Freiheitskriege; Helmuth Graf
von Moltke (1800-1891), preußischer Generalfeldmarschall; Albrecht Graf von Roon (1803-1879), preußi-
scher Generalfeldmarschall und Kriegsminister; Paul von Beneckendorff und von Hindenburg (1847-1934),
Generalfeldmarschall im 1. Weltkrieg; Erich Ludendorff (1865-1937), Generalstabschef Hindenburgs.

27
Eugen Kalkschmidt: Auch die Literatur. In: Deutsches Volkstum
(August 1925) H. 8, S. 633-634.

Der erste große Empfang beim Reichspräsidenten war, wie die Blätter melden, ein Ereignis für
Berlin. Alles war vertreten, Politik, Wirtschaft, Heer und Marine, Wissenschaft, Presse und
Literatur. Jawohl, auch die Literatur^ verkörpert durch die ehrwürdigen Erscheinungen der Herren
Sudermann [1] und Fulda [2]. Sonstige Namen finde ich nicht genannt, und so werden sie wohl die
einzigen gewesen sein, die der Berichterstatter seinem Volke mit der Aussicht auf Einverständnis

glaubte vorsetzen zu dürfen. Sudermann und Fulda als Vertreter deutschen Schrifttums beim
Präsidenten der Republik - der Kasus macht mich lachen.

Denn es erhebt sich die Frage: was haben diese beiden betriebsamen Theatedieferanten von
vorgestern eigentlich mit dem heutigen deutschen Schrifttum gemein?
Mein Berliner Gewährsmann ist nicht so unkundig, wie er scheint. Er weiß meinen Einwand zu
schätzen. Er gibt zu: nun ja, diese beiden - Dichter, wenn man so sagen darf, sind wohl allerdings
freilich ein wenig abgestanden. Kein Zweifel, es gibt bessere als sie. Aber wo sind diese besseren

Repräsentanten aufzutreiben - in Berlin? Zudem: die beiden Herren stehen an der Spitze irgendei-
nes Autorenverbandes, sie sind also Vertrauensleute ihrer Berufsgenossen, sie wohnen in Berlin,

sie sind zur Hand, wenn man sie braucht. Der Pressechef des Reichspräsidenten brauchte nur auf
den Knopf zu drücken, und schon zogen sie den Frack an, mit Orden und Ehrenzeichen. Er steht

ihnen gut, sie wissen ihn zu tragen von alters her, sie sind wirklich ganz repräsentable Leute.

Schließlich kann niemand leugnen, daß sie auch allerhand geschrieben haben; sowie, daß über sie

sehr viel geschrieben worden ist. Sie sind bekannt im ganzen Reiche, sie sind berühmt - jawohl,
widersprechen Sie nicht, - sie sind es, ob mit oder ohne Grund, steht hier nicht zur Entscheidung,

könnte auch der alte Feldmarschall gar nicht entscheiden. So geht er halt auch zu ihnen, schüttelt
ihnen die Hand, spricht ein paar Worte und erweist damit als erster Diener des Staates dem
deutschen Schrifttum seine schuldige Reverenz. Was wollen Sie dagegen viel einwenden? Ist es

denn nicht überall das gleiche? Wird nicht überall mit Wasser gekocht? Sind nicht überall

dekorative Versatzstücke nötig? Und war es früher in der Wilhelminischen Ära mit ihren Begas,
Werner, Lauff, Ganghofer[3] und wie sie alle heißen, denn besser?
. .

Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem literarischer Repräsentanz 89

Nein, ich muß bekümmert zugestehen: das war es nicht. Aber ich erinnere mich, von glaubwürdi-
gen Zeugen gehört zu haben: die Republik stelle das wahre Verdienst nicht länger unter den

Scheffel, sondern befördere es ganz automatisch dorthin, wohin es gehört. Demnach seien vom
9. November 1918 ab Gerhart Hauptmann, Thomas Mann und Fritz von Unruh zu Nationaldich-
tern erklärt. - War denn keiner von ihnen aufzutreiben? Unser Gerhart präsentiert seinen Goethe-
kopf doch gar gern. Schließlich sind mir diese drei immer noch lieber als jene beiden.

Mein Gewährsmann aber, der kundige Weltmann, winkt ab. Nich zu machen, sagt er. Gerhart
badet in Rapallo, Thomas Mann geht in Bogenhausen mit seinem Hund spazieren, und Unruh
umschlingt die Millionen von Frankfurt aus. Sie sind alle beschäftigt und kommen nur, wenn die

Republik in Gefahr ist, oder sonstwie gefeiert werden soll. Dann reden sie wie gedruckt. Aber bei
Hindenburg ist doch keine Gefahr. Und da genügen Sudermann und Fulda vollauf.

Ich merke, daß ich in diesem Rennen nicht mitkomme, und sage nur noch: schön, liebe Leute,

präsentiert und repräsentiert so viel ihr wollt. Nur bitte dann: lokal und geistig begrenzt. Funkt
nicht in die erstaunte Mitwelt hinaus: als Vertreter der deutschen Literatur traten usw., sondern

sagt schlecht und recht: auch die Manufaktur des Berliner Geistes, verkörpert in den ehrwürdigen
Erscheinungen der bekannten Firma Sudermann & Fulda, belebte die fesdich geschmückten
Räume beim Reichspräsidenten . .

Eugen Kalkschmidt (1874, Memel - 1962, München). Freier Schriftsteller und Autor zahlreicher Biographien.

1 Hermann Sudermann (1857-1928), populärer Erzähler und Dramatiker des Naturalismus, schrieb seine
Hauptwerke in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts.
2 Ludwig Fulda (1862-1939). Erfolgreicher Lustspieldichter und Übersetzer aus der Zeit um die Jahrhundert-
wende.
3 Reinhold Begas (1831-1911), Bildhauer, bekannt durch seine Denkmäler und Büsten; Anton von Werner
(1843-1915), Maler des Kaiserreichs, berühmt durch seine Schlachtengemälde; Joseph von Lauff (1855-1933),
Dramadker und Erzähler historischer (Hohenzollern) und heimatlicher Stoffe; Ludwig Ganghofer (1855-
1920), populärer bayerischer Schriftsteller von Heimatromanen.

28
[Protest der Gruppe 25 anläßlich der PEN-Klub-Tagung in Berlin]
In: Die literarische Welt! (14. Mai 1926) Nr. 20, S. 1-2.

Eine Berliner Mittagszeitung hat der Ankündigung, daß eine Internadonale Tagung des PEN-Klubs
nächstens in Berlin stattfinden soll, die Bemerkung angeknüpft, daß dem PEN-Klub die ersten

deutschen und ausländischen Schriftsteller angehören. Die Schriftstellergemeinschaft »Gruppe


1925«, der folgende Schriftsteller angehören: Johannes R. Becher, Ernst Blaß, Ernst Bloch, Bert
Brecht, Max Brod, Friedrich Burschell, Alfred Döblin, Albert Ehrenstein, Oskar Maurus Fontana,
Leonhard Frank, Manfred Georg, George Groß, Bernard Guillemin, Willy Haas, Walter von
Hollander, Walter Hasenclever, Hermann Kasack, Kurt Kersten, Klabund, Rudolf Leonhard,

Ferdinand Lion, Ludwig Marcuse, Walter Mehring, Robert Musil, Eugen Ortner, Alfons Paquet,
Erwin Piscator, Joseph Roth, Ernst Toller, Eduard Trautner, Adrien Turel, Kurt Tucholsky, Her-
90 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

mann Ungar, Paul Westheim, Alfred Wolfenstein widerspricht dieser Behauptung siusdrücldich und
nachdrücklich.
Es mag sein, daß den ausländischen Gruppen des PEN-Klubs die ersten ausländischen Schrift-

steller angehören; es ist nicht richtig, daß der deutschen Gruppe die ersten deutschen Schriftsteller

angehören. Die Zusammensetzung des deutschen PEN-Klubs ist völlig willkürlich von einer
Clique von Schriftstellern, über deren Wert man verschiedener Meinung sein kann, vorgenommen
worden. Es gehört ihr, mit einer einzigen Ausnahme, die auch nicht als endgültig angesehen

werden kann, keiner der namhaften und beachtenswerten jungen Schriftsteller an. Einer, dessen
Aufnahme von bestimmter Seite dringend gewoinscht wurde, wurde nicht aufgenommen, als er

sich außerstande erklärte, den Jahresbeitrag zu bezahlen; und zwar einer, der in der gesamten
Öffendichkeit aller Richtungen ganz besondere Hochschätzung genießt. Wir jüngeren Schriftstel-

ler, die wir uns in der Gruppe 1925 zusammengeschlossen haben, müssen also dagegen protestie-
ren, daß der willkürlich und einseitig zusammengesetzte PEN-Klub die Vertretung der deutschen
Schriftsteller dem Auslande gegenüber usurpiert.

Dieser Protest wurde von Willy Haas, dem Herausgeber der Literarischen Welt, als Teil seines Kommentars zur
Tagung des PEN-Clubs in Berlin vom 16. zum 19. Mai 1926 abgedruckt {Meine Meinung, in: Die literarische
Welt! [14. Mai 1926] Nr. 20, S. 2). In seinem Kommentar heißt es: »Vor mir liegt die Mitghederliste der
Deutschen Gruppe des PEN-Klubs. Rund hundert Namen. Darunter große, berühmte Namen. Dichter,
Publizisten, denen man vieles zu verdanken hat. Zweifellos.
Wenn ich mir aber diese Liste ordentlich vornehme, Name für Name, und mich zum Schluß frage: >Bietet die
Majorität der deutschen Sektion dieser internationalen literarischen Verständigungsgruppe eine ganz sichere
Gewähr dafür, daß sie allen nationalistischen Verhetzungsversuchen, allen Lockungen des gesellschaftlichen
und staatsoffizösen Opportunismus, allen ästhetischen Reizen eines lebensentfremdeten, literatenhaften
Pseudokonservatismus, der den Teufeln der nationalistischen Reaktion die Tore sperrangelweit öffnet - bietet
diese Majorität eine sichere Gewähr dafür, daß sie allen und versteckten Feinden der geistigen
diesen offenen
Verständigung einen beharrlichen und festen Widerstand entgegensetzen wird.^< - dann gibt es darauf nur eine

Antwort: Nein, sie bietet Gewähr dafür. Das muß


keine zum Empfange der hohen Herrschaften erst mal klipp
und Damit wir uns nicht mißverstehen.
klar gesagt werden. .] [. .

Noch deutlicher als die Liste der Geladenen und Eingeschriebenen spricht die Praxis dieser Auslese selbst -
d.h. ein kurzer Überblick über jene, die nicht geladen wurden, obgleich ihnen ihr literarisches Ansehen
unbedingt ein Recht darauf gäbe. Hier, in dieser Liste der Übergangenen, ruht das wahre, unterirdische
Programm des deutschen Klubs, diese Ablehnung einer ganzen Geistesrichtung trägt einen wahrhaft prinzipiel-
len Charakter, sie ist vielleicht das einzig Prinzipielle und Kompromißlose in dem Klub-Programm, und sie
spricht jedenfalls viel, viel lauter als alle Reden, die man bei dieser Tagung halten wird.
Denn ausgeschlossen, prinzipiell und ganz kompromißlos ausgeschlossen ist vor allem die radikale literari-
sche Jugend. Gut, Herr Fulda hält literarisch nichts von ihr - das ist seine Sache und beruht ja auf Gegenseitig-
keit. Aber darüber kann doch nicht der geringste Zweifel herrschen, daß sie, gerade sie eine unbedingt sichere
daß ihre Gesinnung in dieser Hinsicht todsicher ist,
Stütze für eine internationale geistige Verständigung bietet,
ja, daß sie geradezu den Großen Generalstab einer solchen Verständigungsarbeit bildet, sie, in deren Reihen

sich fast alle Jenen befinden, die schon während des Krieges, wenn auch ohne Bankett und Toast und Smoking
und Frack, für die Sabotierung des Hasses gekämpft haben.
Charakteristisch in diesem Zusammenhang ist der Protest einer jungen literarischen Gruppe, >Gruppe 1 925<,
der auch der Herausgeber dieses Blattes und Verfasser dieses Artikels angehört. Er weiß sich frei von
Cliquengeist, wenn er diesen Protest hier veröffendicht. [. .
.]

Seien wir aufrichtig. Seien auch Sie aufrichtig, meine Damen und Herren! Sie möchten sich ihr Gläschen
Sekt, das Ihnen von Herzen gegönnt ist, nicht gerne durch unsere rauhere Ausdrucksweise stören lassen. Und
wir - alle ehrlichen Herzen, die hinter Ihren Frackhemden schlagen, in Ehren! - wir halten von dieser Art
Verständigung< nicht viel. Damit ist die Sache reinlich erledigt.
Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem literarischer Repräsentanz 91

Wenn unser Blatt den deutschen PEN-Klub heute ehrt, so geschieht das, weil man die Idee immer ehren
muß: auch wenn sie sich, höchst unpassend, in Frack und Abendkleid wirft; - doppelt unpassend in dieser Zeit
der Not und Arbeitslosigkeit, in der das Gros der deutschen Schriftsteller am Verhungern ist.«
Diesem Kommentar folgte eine Umfrage Was erwarten Sie von der Berliner Tagung des PEN-Clubsf (Ebd.,
S. 2), in der Brecht, Döblin, Walter Mehring u.a. Stellung nahmen, so z.B. Brecht: »Ich glaube, daß die Tagung

des Berliner PEN-Klubs unter dem Zeichen der Festessen stehen wird. Über das, was die alten Leute erreichen
könnten, habe ich gar nicht erst nachgedacht. Sie haben so bewußt alles Junge ausgeschlossen, daß diese
Tagung, jedenfalls was die deutsche Gruppe anbetrifft, absolut hoffnungslos überflüssig und schädlich ist.« Und
Döblin: »Ich erwarte von der Tagung des PEN-Klubs gar nichts. Die deutsche Gruppe führt die Öffendichkeit
des In- und Auslandes irre. Sie ist absolut nicht die Vertreterin der deutschen Geistigkeit, sondern sie ist eine
Clique. - Es ist die Clique des Herrn Fulda. Die kriegsgegnerische und junge Dichtergeneration ist nicht
vertreten.«

1 Zur Entstehung des PEN-Clubs vgl, den Bericht von Karl Federn, dem 2. Vorsitzenden der deutschen Gruppe
(1. Vorsitzender war Ludwig Fulda) in: Die literarische Weltl (14. Mai 1926) Nr. 20, S. 1: »Vom 16. zum

19. Mai findet in Berlin ein internationaler Schriftsteller- Kongreß statt, der Kongreß der PEN-Klubs. Schon
das Wort >Klub< sagt, daß es sich um eine gesellige oder gesellschaftliche Vereinigung und Zusammenkunft
handelt, die ihre besondere Bedeutung wesentlich dadurch hat, daß sie international ist. Gerade die in
geistigen Berufen tätigen Menschen - nicht alle, aber doch sehr viele - haben, vielleicht weil sie durch ihre
Phantasie und die Sprache fortgerissen wurden, dem Haß, der im Kriege und nach dem Kriege Europa
zerriß und die Welt teilte, besonders stark Ausdruck gegeben. Wir wollen unseren Beruf als Schriftsteller
nicht überschätzen; aber fraglos ist, daß wir, die wir die Sprache mehr als andere beherrschen, in ihr ein
Werkzeug haben, auf die Zeit, auf die Völker Einfluß zu üben. Darum faßte dne englische Schriftstellerin,
Mrs. Dawson Scott, den Gedanken, die Schriftsteller aller Länder einander wieder zu nähern, und sie
gründete den PEN-Klub, so genannt nach den drei Hauptgruppen: Poets, Essayists, Novellists. Der Klub
sollte international sein, Gruppen in allen Ländern sollten sich der englischen angliedern. Mrs. Scott und ihre

Freunde legten eine Reihe von Grundsätzen fest: der PEN-Klub sollte sich von aller Politik fernhalten, Berufs-
und Standesfragen unerörtert lassen, er sollte lediglich dem freundschafdichen Verkehr und dem geistigen
Austausch von Nation zu Nation dienen; die Gruppen in den einzelnen Ländern sollten durchaus selbstän-
dig sein, sich ihr eigenes Statut geben, die Form ihrer Leitung, ihrer Zusammenkünfte, ihres öffendichen
Auftretens nach Belieben regeln, aber untereinander in steter Fühlung bleiben, so sehr - und das ist vielleicht
die wichtigste Bestimmung -, daß wer Mitglied einer Gruppe ist, dadurch Mitglied des ganzen PEN-Klubs
wird und in der Gruppe jeden Landes, in das er kommt, freundliche Aufnahme findet.«
2 »Gruppe 25« war eine im August 1925 in Berlin gegründete Vereinigung von etwa zwanzig linksliberalen
jungen Schriftstellern. Am 26. Februar 1926 erschien in der Literarischen Welt (Nr. 9, S. 6), dessen Herausge-
ber Willy Haas selbst Mitglied war, die Gründungsanzeige der Gruppe:
»Die unterzeichneten Schriftsteller haben sich zu einer Gruppe zusammengeschlossen, die den Namen
>Gruppe 1925, Schriftstellergemeinschaft< trägt.

Die >Gruppe< sammelt um sich Schriftsteller von Belang, die mit der geistesrevolutionären Bewegung unserer
Zeit verbunden sind, dies in ihrer Haltung zu Staat und Gesellschaft bekunden und dokumentieren in

Arbeiten auf künsderischem, essayistischem, kritischem, allgemeinwissenschafdichem Gebiet.


Die >Gruppe< will nach innen diese Schriftsteller aus ihrer Isolierung heben und durch den kameradschaft-

lichen Zusammeschluß fördern und stärken. Die >Gruppe< bezweckt nach außen das endliche Hervortreten
einer Repräsentanz dieser modernen geistesradikalen Bewegung. Die >Gruppe< erweist ihr Leben in regelmä-
ßigen Zusammenkünften und in Stellungnahme zu Dingen, die ihr wichtig erscheinen,
gez.: Johannes R. Becher, Ernst Blaß, Friedrich Burschell, Alfred Döblin, Albert Ehrenstein, Manfred Georg,
Bernard Guillemin, Willy Haas, Walter Hasenclever, Walter von Hollander, Hermann Kasack, Kurt Kersten,
Klabund, Rudolf Leonhard, Ludwig Marcuse, Eugen Ortner, Joseph Roth, Hans Siemsen, Ernst Toller,
Eduard Trautner, Adrien Turel, Hermann Ungar, Paul Westheim, Alfred Wolfenstein.« Diese Anzeige
erschien im gleichen Wortlaut auch in der Welt am Abend vom 15. Februar 1926, Nr. 38 und in der Roten
Fahne \om 2. März 1926 Nr. 51. Vgl. jetzt dazu: Klaus-Peter Hinze, Gruppe 1925. Notizen und Dokumente.
In: DVjS 54 (1980), H. 2, S. 334-346 und Klaus Petersen, Die »Gruppe 1925«. Geschichte und Soziologie
einer Schriftstellervereinigung. Heidelberg 1981 (Reihe Siegen Bd. 34).
92 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

29
Arnold Hahn: Literatur und Weltgeltung. In: Das Tage-Buch 7
(20. März 1926) H. 12, S. 451-454.

Gäbe es ein literarisches Parlament in Deutschland, ein Parlament der Schriftsteller, so wäre seine
erste und wichtigste Aufgabe die Schaffung einer Kommission, die über diese Frage zu beraten

hätte! Warum findet das deutsche schöngeistige Schrifttum so wenig Resonanz in der außerdeut-
schen Welt? Warum Uefert gerade der deutsche Schriftsteller so wenig weltgängige Ware? Ist das
»Deutsche« die Ursache, eine komplizierte, schwerverständliche, starre Wesensart, ein Maschinen-
teil von so ungebräuchlichen Abmessungen, Bohrungen und Schraubenwindungen, daß es in die

normalisierten Gehirnmaschinen der andern Weltbewohner nicht eingesetzt werden kann? Oder
ist es der deutsche Schriftsteller? Der Mann, der den allmenschlichen Rohstoff seines Landes nicht
zu allmenschlicher Ware verarbeiten kann?
Victor Auburtin durchsucht einen Madrider Altbücherwagen. Französische, englische Bücher
in Fülle. Ein einziges obskures deutsches Büchlein. In Frankreich, in Italien, in Amerika, in

Rußland, in der Tschechoslowakei gibt es Bibliotheken der Wehliteramr, die etwa unseren Reclam-
büchern entsprechen, internationale Sammlungen zeitgenössischer Romane und Dramen. Man
wird in diesen Weltbüchereien nur ganz spärlich deutsche Namen eingestreut finden. Meistens nur
die deutschen Klassiker. Seit hundert Jahren scheint die deutsche Literatur für die Welt stumm zu
sein. Im Orient, am Balkan, in allen jenen Ländern, in denen Kontakt mit dem Westen gesucht
wird, sind in den Fiänden der mondänen Frauen, der weltsuchenden Männer, französische,
engHsche und russische Romane, meist in der Originalsprache. Der deutsche Roman ist ungekannt
und - ungesucht.
Man könnte nun sagen, daß weder »das Deutsche«, noch der Schriftsteller Schuld an dieser
Erscheinung trage, daß vielmehr geschichthche und geographische Bedingtheiten hier die
entscheidende Rolle spielen. Deutschland, in die Mitte Europas eingeklammert, ohne Weltküste,
ohne alle Kolonien, in ewigem Kampfe um Einheit und Geltung, habe einfach keinen literarischen
Auslauf gehabt und habe ihn noch immer nicht. Aber warum hatte das »barbarische, halbasiati-

sche« Rußland diesen Auslauf? Warum die kleinen skandinavischen Länder? Und seltsam! Warum
ging der Weg in die Welt, besonders der skandinavischen Länder, gerade immer über Deutschland,
warum wurden diese Literaturen gerade in Deutschland erst zur Weltgeltung großgebrütet?
Warum gelang es nie mit bodenständigen deutschen Werken? Man muß doch wohl Geographie
und Geschichte bei dieser Betrachtung ausschalten.

Aber nun kommt eine ganz verwirrende Tatsache. Ich habe vor kurzem bedeutende deutsche
Forscher, Wissenschaftler verschiedenster Gebiete, über ihr Verhältnis zur modernen deutschen
Literatur befragt und die Gespräche in der Literarischen W^/f veröffendicht.[l] Der Mediziner

Geheimrat His, der Photochemiker Geheimrat Miethe, ja selbst der Altphilologe v Wilamowitz-

Möllendorf gaben übereinstimmend die Antwort, daß die außerdeutsche Literatur eine größere
Resonanz in ihnen auslöst als die deutsche, v Wilamowitz-Möllendorf schrieb wördich:

»Vielleicht ist es ein Symptom, daß ich vorziehe, englische, amerikanische, skandinavische

Bücher zu lesen, nicht nur, weil ich gerne fremde Sprachen lese, sondern auch, weil diese mir etwas
Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem literarischer Repräsentanz 93

sagen.« Diese hervorragend, geistigen, deutschen Menschen (mag man sich zum »Wissenschaft-

ler« stellen wie man will) stimmen also vollkommen in den großen Welttenor ein. Hier kann es gar
nicht das spezifisch »Deutsche« sein, was Mitschwingen und Wirkung verhindert. Es sind ja

deutsche Gehirne, deutsche Milieumenschen. Es muß entweder das spezifisch »Literarisch-


Deutsche« sein, eine ungünstige, veraltete, überholte Fabrikationsmethode, oder - es ist der
deutsche Schriftsteller selbst.

Die Entscheidung darüber, die Aufdeckung der tiefsten Ursachen, die Vorschläge zur Heilung
müßte besagte Kommission besagten literarischen Parlamentes übernehmen. Der Verfasser fühlt

sich nicht dazu berufen. Er will nur noch eine kurze Betrachtung über die Folgen der Tatsache, daß
die deutsche Literatur nicht weltgängig ist, anstellen.

Die Hauptfolge ist: daß der deutsche Mensch in der großen, weiten Welt ungekannt ist. Die Welt
ist in den französischen, englischen, russischen, skandinavischen Seelen heimisch, hat beim Lesen
der Schriften dieser Menschen durch die Hostie des Buches wie durch Brot und Wein ein Teil ihres

Wesens und Blutes in das eigene einverleibt. Wie durch die Bibel alle Christen die Wesensmöglich-
keit des alttestamentarischen Juden, die Humanisten durch Plato, Sophokles und die anderen die
Wesensmöglichkeit des alten Hellenen in sich tragen. Die Seele erhält durch diese Lektüre
gleichsam die Transmutationsfähigkeit in die Seelenanordnung anderer Volker. Es ist so, als ob
man Jugendjahre in einem fremden Lande verbracht hätte, von fremdem Klima, von fremdem
Pulsschlag mitgebildet worden wäre. Es ist mehr als bloßes Verstehen, es ist ein Hineinwachsen.
Das Unterbewußtsein hat den neuen Lebensrhythmus aufgenommen, man kann im Traum und im
Fieber zum Franzosen, Engländer, Russen werden. Gorki, Dostojewski, Tolstoi haben wohl der
Welt keine Definition Rußlands und des russischen Menschen gegeben, aber über die ganze Welt
hin gibt es jetzt Menschen, in denen das russische Land mit Gutshöfen und Strömen, in denen das
russische Seelenbild sich leicht und willig nachformt und auf leisen Anruf auftaucht.
Und da ist wohl der Grund zu suchen, warum die Nationen in der Welt so leicht verstanden, der
Deutsche so ganz unverstanden ist. Und hier ist der Punkt, wo der Zusammenhang zwischen
Literatur und Weltgeltung sichtbar wird, wo es sich zeigt, daß die Literatur nicht bloß ein

politisches Imponderabile, sondern durchaus ein vollgewichtiges Ponderabile ist. Das Sichkennen
spielt in der modernen Politik der Völker eine gewaltige Rolle, noch gewaltiger das Sicheinfühlen-
können. Werden doch Volksbewegungen geradezu durch Literatur gemacht - durch die Presse.
Mag der Weltkrieg auch zum größten Teil seine Ursachen in ökonomischen und machtpolitischen
Faktoren haben, sicher ist, daß eine seiner Ursachen, sein Anw^achsen zum Kriege der Welt gegen
Deutschland in der absoluten Unkenntnis des deutschen Wesens lag, daß die verlogenste und
dümmste Propaganda gegen Deutschland daraus ihre Möglichkeiten zog Es gab eben schon vor
.

dem Weltkrieg eine literarische Entente der »Feindländer«. Deutschland hatte nicht die literarische
Kraft, den Anschluß an diese Entente zu erreichen. Dadurch daß die Welt die deutsche Dichmng

nur bis zu den Klassikern, vielleicht erst bis zu Heine, andererseits den wissenschaftiichen,
technischen, kommerziellen, militärischen Elan des neuen Deutschlands kannte, wurde sie aus der
Diskrepanz dieser beiden Phänomene zur Bildung eines falschen Bildes verführt, zur Annahme
eines Ideale heuchelnden, im Grunde aber realistischen, herrschsüchtigen Deutschen, eines
verdammenswerten, auszurottenden Hunnen. Viel hat sich bis heute an diesem Bilde nicht
geändert. -
94 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Nicht gar zu lange ist es her, daß die Völker erkannt haben, wie politisch wichtig die Verbreitung
der Kenntnis ihres Wesens ist. Die Völkerpropaganda ist eigentlich erst seit dem Weltkriege ein
Instrument der Politik geworden. Zeitungen werden aufgekauft, andere in fremder Sprache in

fremden Ländern herausgegeben. In den Ministerien gibt es Zentralstellen für die Außenpropa-
ganda. Es handelt sich durchaus nicht bloß um den Fremdenverkehr. Daß aber die schöne Literatur,
das Buch, das Drama, das schöngeistige Essay, das Grundelement dieser gewünschten Außenwir-
kung ist, scheint man noch nicht erkannt zu haben. Kein Zeitungsartikel wird je eine fremde Seele

dauernd formen, die Fremden, die auf Tage oder gar Wochen ins Land kommen, werden es kaum
berührt wieder verlassen. Eine weit- und tiefschauende Regierung müßte erkennen, daß sie vor
allem dem literarischen Erzeugnis die ganze kinetische Energie ihrer Propaganda zuführen müßte.
Sie dürfte das deutsche Buch nicht sich selbst überlassen. Das beste Buch bedarf heute des
Vorspanns der Propaganda. Aber auch die deutschen Schriftsteller müßten sich ihrer weltpoliti-

schen Bedeumng bewußt werden und gründlich untersuchen, wie sie den Isolationsring, der sie

zur Zeit umgibt, sprengen könnten. Sie müßten sehen, wie sie im besten literarischen Sinne

Männer von Welt werden, wie sie Hemmendes, Altes, Einseitiges, Verbohrtes abwerfen könnten.
Sie sollten die Mühen und Experimente, die Resonanz der Welt zu finden, nicht hochmütig und
mitleidig dem deutschen Film überlassen.

Arnold Hahn (1881, Kolautschen/CSR - 1963, London). Dr. phil. Freier Schriftsteller und Journalist. Mitarbei-
ter des Prager Tagblatts und anderer deutschsprachiger Zeitungen in der Tschechoslowakei. 1939 Emigration
nach England.

1 Hahn bezieht sich auf die Reihe von Interviews mit dem Titel Männer der Wissenschaft über moderne
Literaturprobleme. In: Die literarische Welt! (15. Januar 1926) Nr. 3, S. If.

30
Leo Lania: Die Akademie für Dichtkunst In: Die literarische Welt!
(16. April 1926) Nr. 16, S. 3.

[. . .] Weiß Gott, die deutschen Behörden haben bisher nicht gerade viel Verständnis für Literatur

und Künste geoffenbart - das ist aber schließlich, scheint's, die Eigenschaft sämdicher Behörden
und Regierungen sämdicher Kaiserreiche und Republiken, und so haben wir in Deutschland uns
lediglich auf den Wunsch beschränkt: haben die hohen Behörden so wenig Interesse für das

Hungern und Sterben der Dichter und Künstler, so mögen sie doch ihre Interesselosigkeit auch auf
das Schaffen der Dichter ausdehnen, das gerade von den deutschen Behörden einer so gestrengen
Prüfung unterzogen wird. Gegen die Not der Schriftsteller und Dichter wurde weiterhin nichts

Ernstes unternommen - ihr Schaffen und Wirken weiterhin in immer drückendere Fesseln

geschlagen.
Und nun kommt das neue Projekt: Berlin soll mit einer Akademie der Dichtkunst beglückt
werden - pardon: nur mit einer Sektion der Dichtkunst, die der Akademie der Künste angegliedert
Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem literarischer Repräsentanz 95

werden soll. Das Vorbild der »Academie fran^^aise« soll kopiert werden. Aber ein grundlegender

Unterschied wird außer acht gelassen: Die französische Akademie umfaßt keineswegs nur Dichter,
sondern alle Künstler, deren Material die Sprache ist: Philosophen, Redner, Essayisten; das ist kein

Zufall, denn ihre vornehmste und wichtigste Aufgabe ist ihre Arbeit auf dem Gebiet der französi-

immerhin etwas Was dennoch gegen einzuwenden -


schen Sprache, worin sie geleistet hat. sie ist

die Verknöcherung, der Bürokratismus der Institution, ihr Widerstand gegen jede neue Richtung -
das mag man bei Anatole France nachlesen und in der Tatsache illustriert sehen, daß fast keiner der

Großen der französischen Literatur bei Lebzeiten Mitglied der Akademie geworden ist.

Bei der zu gründenden deutschen Akademie wird - wie aus den bisherigen Meldungen
hervorgeht - der Bürokratismus besonders üppige Blüten treiben. Wie groß der Kreis der

ordentlichen Mitglieder der neuen Akademie sein und aus welcher Auslese er hervorgehen soll,

wird noch nicht mitgeteilt. Wir hören nur, daß diese Mitglieder »drei Dichter« auf drei Jahre wählen
sollen »unter Vorbehalt der Bestätigung des Ministers«. Diesen drei Dichtern - warum gerade drei?
- werden noch zwei vom Minister zu ernennende Literaturgelehrte, der zweite ständige Sekretär

der Akademie und ein rechtskundiges Mitglied beigegeben: so soll die »Senatssektion für Dicht-

kunst« bestellt sein. Kritiker, Essayisten, philosophische Schriftsteller zählen - weil sie doch keine
»Dichter« sind - nicht mit. Die Literaturgelehrten - das Wort allein weckt Alpdruck. Und die

Aufgaben, die der Dichtakademie zugewiesen werden? »Erstattung dervom Minister verlangten,
die Dichtkunst betreffenden Gutachten, Vorschläge für Pflege des künsderischen Schrifttums,

Ausschreibung von Wettbewerben und Entscheidung über Vergebung von Preisen und Stipendien
auf dem Gebiete der Dichtkunst, Veranstaltung von Vorträgen . .
.« Alles recht schön und gut. Aber
welcher Geist wird diese Akademie und ihre Arbeit erfüllen?
Das Statut und die Art, in der die Akademie ins Leben tritt - keine Schöpfung eines überragen-

den Geistes, kein Organ der Dichter, nur eine von hoher Obrigkeit eingesetzte Institution - lassen

SchHmmes befürchten.

Leo Lania (eigtl. Lazar Hermann) (1896, Charkow - 1961, München). Sohn eines Medizinprofessors. Studium
in Wien. Offizier in der österreichischen Armee während des 1. Weltkriegs. Journalist und Dramaturg in Wien

und Berlin. Zusammenarbeit mit Piscator und Max Reinhardt. Mitarbeit u.a. an der Welthühne und der
Literarischen Welt. 1933 Emigration nach Paris, 1934 England, 1941 USA, 1945 Rückkehr nach Deutschland.

Gleichzeitig mit dieser Ankündigung veröffentlichte die Literarische Welt eine Umfrage mit folgender Begrün-
dung: »Der preußische Kultusminister hat die Angliederung einer >Sektion für Dichtkunst< an die Akademie der
Künste zu Berlin angeordnet. Wer hineinkommt, ist in diesem Augenblick noch unbekannt. Daß für die
dichterische Jugend dabei nicht viel dem Vorwurf der Voreiligkeit zu
herausschaut, darf man, ohne sich mit
belasten,wohl im Vorhinein als feststehend betrachten. Die paar Menschen, für die die Beschäftigung mit der
zeitgenössischen Literatur immerhin auch heute noch ein Lebensbedürfnis ist, werden nicht gefragt werden.
Aber vielleicht herrscht doch in behördlichen Kreisen der gute Wille, wohlgemeinte und wohlfundicrte
Ratschläge zu beachten. Herrscht er nicht - um so schlimmer für jene: Dann möge das, was wir hier
unternehmen wollen, als ein Dokument dieser Zeit, dieser Republik gelten.
Nämlich:
Wir haben heute rund 20000 regelmäßige Leser. Von diesen Zwanzigtausend ist mit Bestimmtheit anzuneh-
men, daß ihnen Fragen der Literatur ernste Probleme bedeuten. Zwanzigtausend Menschen, denen Literatur-
prohleme wichtig sind: das bedeutet in der heutigen Zeit, im heutigen Deutschland schon etwas. Ihre Stimme
wenn nicht etwas faul ist im
dürfte, Staate, nicht überhört werden. Wenn alle unsere Leser mittun wollten, so
wären wir zusammen eine Macht.
96 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Wir fragen nun unsere Leser:


Welche Dichter gehören in diese Sektion für Dichtkunst der Akademie?

Wir bitten alle unsere Leser um der guten Sache willen, sich an dieser allgemeinen Enquete zu beteiligen.«
Das Ergebnis der Abstimmung - eine Art Popularitätstest! - wurde am 2L Mai 1926 in der Literarischen Welt
veröffendicht (Nr. 21/22, S. 1): »Über 100 Stimmen erhielten folgende 27 Dichter und Schriftsteller: Thomas
Mann (1421), Franz Werfel (682), Gerhart Hauptmann (594), Rudolf Borchardt (461), Stefan George (450),
Alfred Döblin (402), Rainer Maria Rilke (384), Hermann Hesse (362), Albrecht Schaeffer (323), Fritz v. Unruh
(320), Heinrich Mann (311), Ricarda Huch (309), Jakob Wassermann (304), Leonhard Frank (302), Georg
Kaiser (273), Stefan Zweig (261), Ernst Toller (247), Arno Holz (174), Hugo v. Hofmannsthal (169), Klabund
(162), Alfred Kerr (132), Frank Thieß (130), Ernst Barlach (122), Bert Brecht (120), Amok Bronnen (118),
Friedrich Gundolf (103), Oskar Loerke (101).«
Zu Mitgliedern der neuen »Sektion für Dichtkunst« wurden von Kultusminister C. H. Becker die folgenden
Dichter - alle mit Ausnahme von Thomas Mann in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts geboren - berufen:
Gerhart Hauptmann (1862-1946; Hauptmann lehnte überraschenderweise die Wahl zuerst ab; er trat der
Sektion erst im Januar 1928 bei), Thomas Mann (1875-1955), Hermann Stehr (1864-1940), Arno Holz
(1863-1929) und Ludwig Fulda (1863-1929). Stefan George lehnte die Berufung ab. Zur Wahl Fuldas, der bei
der Umfrage der Literarischen Welt keine einzige Stimme erhalten hatte, vgl. den Kommentar von Willy Haas
[Meine Meinung. In: Literarische Welt! (21. Mai 1926) Nr. 21/22, S. 2): »Wo es etwas Literarisches zu
repräsentieren gibt, dem In- und Ausland gegenüber: da steht, aus einem rätselhaften Nebel von gesellschaftli-
chen Verbindungen und offiziellen Protektionen auftauchend, ausgerechnet dieser miserabelste Reimer der
gesamten deutschen Literatur auf dem Podium. Damit müßte nun doch endlich einmal Schluß gemacht
werden! Herr Fulda als Dichter existiert nicht; Herr Fulda als Privatperson ist sicher unantastbar; aber Herr
Fulda als repräsentative Gesamterscheinung ist das Symbol einer Zeit- und Literaturstimmung, die in Grund
und Boden vernichtet werden muß. Ein guter alter Onkel, ein brauchbarer Vorsitzender eines Kegelvereins hat
nicht den deutschen Geist zu repräsentieren - heute nicht mehr! Damit ist es ein für allemal vorbei! Das möge
sich das Kultursministerium, das durch diese Ernennung die ganze Institution von vorneherein auf das
schwerste kompromittiert hat, gesagt sein lassen.«
Die Gründungsmitglieder wählten am 27. Oktober 1926 die folgenden Mitglieder hinzu: a) Berliner
Mitglieder: Georg Kaiser, Bernhard Kellerrnann, Oskar Loerke, Walter von Molo, Eduard Stucken, Hermann
Sudermann (nimmt die Wahl nicht an), b) Auswärtige Mitglieder: Hermann Bahr, Hermann Hesse, Hugo von
Hofmannsthal (lehnt ab), Ricarda Huch, Erwin Guido Kolbenheyer, Heinrich Mann, Josef Ponten, Rainer
Maria Rilke (lehnt ab), Wilhelm Schäfer, Rene Schickele, Wilhelm Schmidtbonn, Arthur Schnitzler, Wilhelm
von Scholz, Karl Schönherr, Emil Strauss, Jakob Wassermann und Franz Werfel. 1928 erst kamen Alfred Döblin
und Fritz v. Unruh hinzu, 1932 Gottfried Benn, Ina Seidel und Rudolf G. Binding. Brecht etwa oder Musil waren
nie Mitglieder.
Die Gründung einer »Sektion für Dichtkunst« an der Akademie der Künste stieß auf der »rechten« Seite von
Anfang an auf Kritik. So schrieb z.B. Erich Schlaikjer in der Zeitschrift Der Hellweg 6 (9. Juni 1926) Nn 23,
S. 39 1 »Während Deutschland in der politischen Gewalt der Feinde ist, so daß der preußische Staat allen Anlaß
:

hätte, zunächst an seine eigne Wiedererrichtung zu denken, überrascht er die Welt durch den sonderbaren
Einfall, eine poetische Akademie zu errichten. Man denkt unwillkürlich an einen Geschäftsmann, der zahlungs-
unfähig geworden ist, der sich aber trotzdem eine kostspielige Gemäldesammlung zusammenkauft, um den
inneren Verfall nach außen nicht sichtbar werden zu lassen.
Ich höre den Einwand, daß zu einer Wiedererrichtung des deutschen Staates auch eine Wiedererrichtung
der deutschen Seele gehöre und daß der peußische Staat also durch die Errichtung einer Akademie letzten
Endes an einer Neuschöpfung Preußens arbeite. Ich möchte gern daran glauben, aber die Tatsachen der
Wirklichkeit stehen mit dieser Annahme in einem so entsetzlichen Widerspruch, daß sie schlechterdings nicht
gehalten werden kann. [. . .] Fassen wir alles zusammen, so vergiftet jede Akademie die kulturelle Entwicklung
durch ihre Abhängigkeit vom Zeitgemäßen und von politischen Motiven, die in der ästhetischen Wertschät-
zung keine Rolle spielen dürfen, und darum überwiegt der Schaden, den eine Akademie der Dichtkunst stiftet,
unter allen Umständen den geringen Nutzen, der etwa von ihr ausgehen könnte. Sollte darum der preußische
Plan daran scheitern, daß auch andere Leute als Hauptmann die Ernennung einfach ablehnen, so würden wir
meinen, in diesem Mißerfolg der Akademie einen Erfolg der Kunst erblicken zu müssen.«
Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem Hterarischer Repräsentanz 97

31
Eine Mahnung der Dichterakademie. In: Berliner Börsen-Courier
(15. November 1928) Nr. 537.

Der Amtliche Preußische Pressedienst veröffendicht eine Kundgebung des Vorsitzenden der
Sektion für Dichtkunst bei der Preußischen Akademie der Künste Walter v. Molo [1]:
»Wir fühlen uns verpflichtet, die Öffentlichkeit auf die Gefahr hinzuweisen, die unsere Kultur
durch die täglich wachsende Gleichgültigkeit gegen dichterische Werke in der Wurzel ihres Lebens

bedroht. Viele einzelne warnen und mahnen, ohne das Gehör des Volkes zu finden. Jetzt, in später

Schicksalsstunde, erhebt unsere Sektion als die sichtbare Vertreterin der gesamten deutschen

Dichtung ihre Stimme. Sie klagt nicht an - dazu ist die Lage unserer Kunst und aller Künste viel zu
ernst; sie verurteilt nicht, denn Erschlaffung und Entfremdung liegen wie eine Krankheit über dem
Lande. Nachdrücklich aber ruft sie noch einmal zur Umkehr auf.

Wir wenden uns an die Heranwachsenden wie an die Alternden, wir wenden uns an die

berufenen Vermittler des dichterischen Werkes. Ohne kleinliche Bemäkelung modischer und
geschäftlicher Zeiterscheinungen auf dem Gebiet der Literatur machen wir darauf aufmerksam,
daß bei weiterer Ausbreitung der Gleichgültigkeit die schöpferischen Geister immer seltener

werden müssen, und daß es vielleicht zu spät sein wird, wenn man*^inst nach ihnen wieder
verlangt. Der Verzicht breiter Massen auf die Dichtkunst beraubt Gegenwart und Zukunft nicht
nur eines wichtigen Erziehungsmittels, sondern der mächtigsten Versöhnerin der in sich und
untereinander getrennten Völker.

1 Walter von Molo (1880, Sternberg/Mähren - 1958, Hechendorf b. Murnau), stammt aus altem schwäbi-
schen Adelsgeschlecht. Studium an der Technischen Hochschule in Wien und München. 1904-1913 als

Oberingenieur beim Patentamt in Wien. Ab 1915 freier Schriftsteller in Berlin. Wurde vor allem durch seinen
vierbändigen Schiller-Roman (1912-1916) bekannt. Daneben Dramen und Reden {Deutsch sein heißt
Mensch sein, 1915), Romanbiographien, Novellen und Gedichte. In der Weimarer Republik sehr aktiv in der
Kulturpolitik: 1926 Wahl in die Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, 1928-1930 ihr
Präsident; Mitbegründer des Pen-Clubs, Präsident des »Schutzverbandes deutscher Schriftsteller«. Schrieb

1918-1922 seinen dreibändigen patriotischen Fridericus-Roman, der 1921, 1933 und 1937 verfilmt worden
ist. 1931 erschien sein Roman Ein Deutscher ohne Deutschland. Ab 1933 lebt er zurückgezogen in
Oberbayern, von den Nationalsozialisten mehrfach als Liberaler und Pazifist angegriffen. Als Vertreter der
»Inneren Emigration« fordert er 1945 Thomas Mann in einem offenen Brief zur Rückkehr nach Deutschland
auf.

32
Friedrich Sternthal: Der Nobelpreis. In: Die literarische Welt 5
(22. November 1929) Nr. 47, S. 1.

Thomas Mann hat den Nobelpreis für Literatur erhalten. Zum ersten Male seit siebzehn Jahren ist
wieder ein Deutscher der höchsten literarischen Ehrung teilhaftig geworden. Wenn wir den Sinn
dieser skandinavischen Geste richtig verstehen, so gilt sie sowohl der Persönlichkeit als dem Werke
Thomas Manns und darüber hinaus dem deutschen Volke, in dem er wurzelt.
98 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Thomas Mann ist einer der Wenigen, einer der Letzten, die durch Dasein und Wirken noch eine
Verbindung mit dem alten deutschen Humanismus haben. Welch kostbares humanistisches Erbe
ist von Thomas Mann für die Zukunft aufbewahrt worden! Eben dieses Aroma des Humanismus
hat wohl den Werken Thomas Manns Weltgeltnjng verschafft -, eine Geltung, die sich nun in

Gestalt des Nobelpreises sozusagen materialisiert hat.

Es ist sehr schwer, denen, die heute zwanzig Jahre alt sind, zu erklären, was uns vor fünfzehn
oder zwanzig Jahren entzückt hat bei jedem neuen Werke, das Thomas Mann in die Welt
hinaussandte. Es ist nicht allein der Humanismus gewesen, mit dem bis zum Jahre 1911 eine breite

Schicht der deutschen Intellektuellen durch den Dichter verbunden gewesen ist. Es war vor allem
die Vermählung von Skepsis und Humanismus in dem Gefäß der kostbar geschliffenen deutschen
Sprache. Es war, um es kurz zu sagen, der romanische Tropfen in einem deutschen Trank. Wir
können nicht wissen, ob das Ausland, dem Dichter Thomas Mann den Nobelpreis übergab,
als es

gewußt hat, welch eminentes Werk der Erziehung Thomas Mann mit dieser Verkündung von
Skepsis und Humanismus an seinem deutschen Volke vollbracht hat. Wenn heute das geistige

Deutschland nach den furchtbaren Jahren der Verirrung und Verwirrung bestrebt ist, sich dem
übernationalen Geist Europas wieder einzuordnen, und wenn dieses Bemühen von den andern
Völkern Europas als ein Linderungsmittel auch /^r^r Schmerzen empfunden wird, so darf man den
Anteil Thomas Manns an diesem Gesundungsprozeß nicht vergessen. Man darf um so weniger

vergessen, als es dem Dichter nicht leicht geworden ist, aus den Erschütterungen der Weltkriegs-
zeit zu sich selbst zurückzufinden. Auch das Ausland hat Grund zur Dankbarkeit.
Thomas Mann gehört zu den wenigen Deutschen, die ein Stück unserer deutschen Tradition
verkörpern. Er ist unter den Heutigen der Einzige, der in seiner Person die Überlieferung der
Klassik und der Romantik vereinigt. Er ist auch der Einzige, der Konservativismus und Aufklärung
zugleich darstellt. Er ist der Erasmus unserer Tage, und deshalb hat er wie Erasmus als einer der
wenigen Deutschen Weltgeltung gewonnen.

Thomas Mann erhielt am 13. November 1929 den Nobelpreis hauptsächlich für seinen bereits 1901 veröffent-
lichten Roman Buddenbrooks, der 1929 in einer billigen Volksausgabe erschienen war. In Heinrich Manns
Kommentar über den Nobelpreis (in: Berliner Tageblatt vom 13. November 1929, Nr. 537) wird dagegen
bewußt Thomas Manns spätere demokratische Entwicklung hervorgehoben: »Wenn sein Werk in der Welt
gerühmt wird, trifft der Ruhm wirklich zugleich ein Volk mit und soll es treffen. Darum muß jedes seiner neuen
Werke sowohl das Wesen dieses Volkes als auch das Schicksal einer der Stunden dieses Volkes wiedergeben.
Buddenbrooks zeigten erst das heimatliche Bürgerhaus, sein Glück, seine Gefahren. Die Betrachtungen eines
Unpolitischen entstanden schon aus den mitgefühlten Gefahrenund dem miterlebten Glück der ganzen Nation
in ihren ist der Roman Der
schwersten Tagen. Ein deutsches Lehrbuch der persönlichen Enrv\icklung aber
Zauberberg. Er vor allem kennzeichnet einen langen, verantwortungsvollen Weg, den Weg Thomas Manns
vom Bürgersohn, der Erinnerungen an ein Haus in Lübeck schrieb, bis zum Meister, der für sein Volk spricht.«
Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem literarischer Repräsentanz 99

33
Alfred Kantorowicz: »Tag des Buches«. In: Die Neue Rundschau 40 (1929)
Bd. 1, S. 716-717.

Aus Grau in Grau blickt uns Goethes Gesicht mit sorgenvoll gerunzelter Stirn entgegen, beküm-
mert, aber nicht ohne Wohlwollen. Ihm ist zuteil geworden, auf dem Plakat »Das Buch« zu
propagieren. Man hat sich Gedanken gemacht, was wohl unter der Firma »Buch« popularisiert

werden soll. Ganz gewiß wollte niemand für »Prinzeß Übermut« werbend bemüht sein. Was aber

wollte man denn? Wollte man die deutsche Literatur ehren? Die deutsche Wissenschaft? Die

deutsche Philosophie? Alsdann . . . Was aber ist das, »das Buch«?


Es ist nicht Nörgelsucht, nicht Negationswut, wenn das gefragt wird. Es ist ein sehr positiv

gewollter Einwand gegen das Abstrakte, Quallige, Zerfließende solch »neutraler« Begriffe. Was in

der Politik gerade noch möglich sein mag, ist im Bezirk geistiger Wertschaffung verloren: die
umfassende Kompromißformel (»das Buch«). Die Neutralität der Kulturpropaganda war absolut
und unfruchtbar.
Vielleicht, weil es überhaupt problematisch bleibt: Kultur und Propaganda zu einem Begriff zu
binden. Hier komplizierte sich die Situation noch, weil man die »ideale Forderung« mit geschäftli-

chen Notwendigkeiten zur Kongruenz bringen wollte. Eine Kulturleistuhg kann man repräsentie-

ren, vielleicht kann man auch auf dem Umwege über die Repräsentation Propaganda für gewisse
Kulturbezirke machen, eben für Literatur, für Kunst, für Wissenschaft (für gute Bücher - nicht für
»das Buch«). Erst recht kann man propagandistisch für Institutionen, wie Verlag und Sortimenter,

tätig sein. Die propagandistischen Methoden müßten allerdings sehr unterschieden voneinander
sein. Miteinander verkuppelt unter der Deckformel »Tag des Buches« kommen sich ideelle und
kommerzielle Notschreie gegenseitig ins Gehege.
Kulturpropaganda! Die Franzosen können das besser. Sie haben die herrliche Naivität, da ein
Volksfest zu veranstalten, wo wir Deutsche uns zu anspruchsvoll literarischer Matinee versammeln
vnirden. Im vorigen Jahre um diese Zeit haben sie eine Centenarfeier der französischen Romantik
veranstaltet. Im größten Pariser Theater, im Trocadero, sprachen vor vieltausend Menschen
Heinrich Mann [1], Blasco Ibanez [2] und Herriot [3] zum Preise der französischen Literatur; mit

Jubel nahmen die Pariser die Glorifizierung ihrer Dichter mit für sich in Anspruch; alle waren
zufrieden miteinander. Man tauschte gefällige Komplimente mit den Kulturnationen der Welt aus
und fand sich gegenseitig »gentil«; alle waren zufrieden miteinander. Wir können das nicht. Denn
wir sind selbstkritisch bis zur Selbstzerfleischung, wir sind gar nicht zufrieden mit uns selbst. Und
weil wir unsicher sind und selbstkritisch, so wird es, versuchen wir einmal zu repräsentieren,
tönender Schwall und Fanfare nach außen und Gezänk nach innen. Uns geht es ums Leben, wo
andere, glücklichere Nationen selbstzufrieden (bis zur Selbstgefälligkeit) mit schönen Worten
spielen.

Wir können nicht repräsentieren. Lähmung lag über der Feier im Reichstag, die den »Tag des
Buches« einleiten sollte. Einige, wenige Spitzen der Regierung erwiesen dem »Buch« Reverenz.
Säuerlichen Gesichtes sagte der Mann, der mit Recht oder Unrecht für das Schmutz- und
Schundgesetz verantwortlich gemacht wird [4], ein frostiges Begrüßungssprüchlein. Es woirde erst
100 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

lebendig, als unter Führung Johannes R. Bechers [5] junge Kommunisten zu toben begannen. Ihre

Schlagworte waren von kümmerlicher Primitivität, aber die Liste der verbotenen Bücher, die sie als

Flugblätter von den Tribünen herabwarfen, war immerhin ein Argument, wert, am »Tag des
Buches« diskutiert zu werden. Aber davon sprach niemand. Es wurden von verschiedenen
Rednern programmatische Leitsprüche zum unprogrammatischen Werbetag beigesteuert. Es

wurde viel Kluges vorgetragen. Auch die Phrase kam zu ihrem Recht, aber sie blieb kalt, leiden-

schaftslos, ohne Werbekraft. Es war wie bei einer Beerdigung: Feierlichkeit ohne Fesdichkeit. Es

zündete nichts.
Es ist schwer für uns Deutsche zu repräsenüeren. Wir haben die Leistung für uns, aber die

Liebenswürdigkeit gegen uns.

Alfred Kantorowicz (1899, Berlin - 1979, Hamburg). Soldat im 1. Weltkrieg. Studierte Germanistik und
Rechtswissenschaft; wurde Journalist und Feuilletonredakteur verschiedener Zeitungen, 1928 als Kulturkorre-
spondent der Vossischen Zeitungin Paris. Ab 1929 als Literatur- und Theaterkritiker in Berlin. 1931 Eintritt in

die KPD. 1933 Flucht nach Frankreich. Aktiv in der antifaschistischen Bewegung. Von 1941-1946 in New
York. 1946 Rückkehr nach Deutschland. Seine Zeitschrift Ost und West, 1947 gegründet, wurde von der SED
1949 liquidiert. Dann Professor an der Humboldt-Universität, ab Sommer 1957 in Westdeutschland. Umfang-
reiches essayistisches, erzählerisches und autobiographisches Werk.

Der hier abgedruckte Aufsatz bezieht sich auf den vom Reichstag anberaumten »Tag des Buches«, der zum
ersten Mal am 22. März 1929, dem Todestag Goethes, stattfand. In der Literarischen Welt vom 22. März 1929

setzten sich mehrere Artikel dem »Tag des Buches« auseinander. So schrieb Wieland Herzfelde, der
kritisch mit
Besitzer des sozialistischen Malik-Verlages{Zum Tag des Buches. In: Die literarische Welt 5 {11. März 1929)
Nr. 12, S. 5): »Margareten- und Kornblumentag, Muttertag, Volkstrauertag, billiger Bananentag - warum nicht
auch Tag des Buches<? Welcher Ministerialrat, Syndikus oder ehrgeizige Provinzvorstand mag wohl auf die
Idee gekommen sein, mit 24 Stunden Tamtam gegen den Geschmack der Nachkriegszeit anzukämpfen? [. . .
]

Es glaubt natürlich niemand ernsthaft, daß die Jahreseinnahme auch nur eines Autors, Verlegers oder
Sortimenters um auch nur 1 Prozent infolge dieses 24-Stunden-Buch-Rennens steigen wird.
Bleibt also die Phrase. Und die lautet: Auf, deutsches Volk, werde wieder, was du warst, ein Volk der Dichter
und Denker (die Bibel, Goethe und Nietzsche im Tornister)! Zurück zur alten Petroleumlampen-Kultur, hoch
Germaniens Idealismus, nieder mit dem Materialismus Und weiter heißt die Phrase: Jenseits aller Klassenge-
!<

gensätze und Tagesstreitigkeiten gibt es, soweit die deutsche Zunge klingt, ein teures Gemeinsames für Hoch
und Niedrig, für Alt und Jung: das deutsche Buch, den deutschen Geist!<
In Wirklichkeit wollen die Regisseure dieses Tages keinerlei Gemeinsames. Denn gerade jene um die
>Volkheit< besorgten Herren, die dauernd über die >seelische Zerrissenheit der Nation< jammern, sind die
bittersten Gegner der Überwindung und Abschaffung der ökonomischen und damit auch der geistigen
Gegensätze, die Deutschland, wie jedes andere kapitalistische Land, beherrschen. Und die glattrasierten
Propagandisten, die den Appell der Vollbarte mit gewohnter Betriebsamkeit zum Anlaß nehmen, das Defizit
ihrerFirma zu vergrößern, besorgen, so modern sie sich vorkommen, lediglich Reklame für die gute, alte Zeit,
diebekanndich von gewissen Kreisen nicht oft genug gefeiert werden kann. Der Tag des Buches< ist ein Feiertag
und soll, wie alle Feiertage, die bittere Wahrheit der Werktage vergessen machen: daß in unserer Welt der
Wenigen Tag die Nacht der Vielen ist.«
Vgl. auch die verschiedenen Reden und Aufsätze zum Tag des Buches, die im Börsenblatt für den Deutschen
Buchhandel im Februar/März 1929 abgedruckt wurden, u. a. von Walter v. Molo, Die kulturelle Bedeutung des
dichterischen Buches in der heutigen Zeit, Leo Weismantel, Buch und Volk, Eugen Diederichs, Die Krisis des
deutschen Buches und ders.. Die heutige geistige Krisis und das Buch. - Vgl. ferner den kritischen (nicht
gezeichneten) Artikel Für die ewig reifere Jugend. Anmerkungen zu dem erstmalig für den 22. März 1929
geplanten Tag des Buches<, in: Frankfurter Zeitung (12. März 1929) Nr. 189: »Dies ist die Voraussetzung:
Deutschland sei schwach, sei niedergeschlagen, sei mit der Beraubung von materiellen Gütern zugleich um
seinen geistigen Besitzstand bedroht. Das Äußeriiche, wofür Kino und Rundfunk zuweilen gefähdiches
Symptom sei, verdränge, verschütte die innere Kraft. Schlagworte wie Amerikanismus, Schlagergier gipfeln,
Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem literarischer Repräsentanz 101

wenn das Paradox gestattet sei, in der berühmten und nun schon seit zehn Jahren hergeleiteten Phrase von der
Verflachung der detitschen Kultur. Immer noch fühlt man sich verpflichtet, wenn man die deutsche Öffendich-
keit anredet, mit einem jämmerlichen Klagen anzufangen, anstatt hart, kalt und unbestechlich zur Gegenwart
zu halten. Immer noch dröhnt hohl und falsch wie aus der Schulzeit vergangener Tage das Wort von
Deutschlands tiefster Erniedrigung aus den Bratenröcken; wo längst Millionen mitten in einer anstrengenden,
furchtbaren und großartigen Gegenwart von 1929 stehen, kokettiert man dem
fatalen Jahr von 1806 und
mit
meint nichts anderes als den Stuck und die Schnurrbartbinden aus der Zeit vor jenem August 1914. Wann
endlich wird man es satt sein, sich Deutschland vorsabbern zu lassen, als sei es ein bankerottierendes, stickiges

Vorstadtcafe und bestenfalls eine Amüsierbude? Und wann endlich wird man darauf verzichten, sich den
Respekt vor dem eigenen Volk vorzurechnen durch die fatale Siegesallee der Dichter und Denker und
kompletten Klassikerausgaben?
Es wird nicht gelesen, in Deutschland? Aber das ist ja gar nicht wahr, der ist ja beinahe ein Lügner, wer das
behauptet. In keinem Land wird so viel an Büchern produziert wie bei uns. Die Auflagen der jungen Literatur
übersteigen jedesMaß, das man früher an Bucherfolge legte, und die Leiter der Volksbibliotheken können sich
des Andrangs gar nicht erwehren. Neue Schichten, die früher niemals zum Buch gegriffen haben, vereinigen
sich in den Buchgemeinschaften, und die Lesegier war niemals größer Da heben sie jammernd die Hände
hoch: Aber kein Buch lebt länger als ein Jahr Sie konsumieren ja nur den Stoff, die Lesegierigen, und wo bleibt
die Erbauung an dem guten alten Buch? >Die Wiedererstarkung der Besinnlichkeit und der Hingabe an das
Schöne ?< Ja, es ist richtig, sie wollen, die neuen Leser des neuen Deutschland, zunächst den einem
Stoff, in

ungeheuren Hunger den Stoff der ganzen Welt. Aber gesetzt, man sei angesichts dieses lebendigen und fast
naturhaften Lesehungers zur Frage berechngt: Was wird gelesen f, so bleibt doch der Zweifel erlaubt, ob die
Veranstalter des genialen >Tag des Buches< legitimiert seien, diese Frage zu stellen.«

1 Die Kundgebung im Pariser Trocadero fand zu Ehren Victor Hugos am 16. Dezember 192"^ statt. Heinrich
Mann trug seinen Victor-Hugo-Essay vor
2 Vicente Blasco Ibanez (1867-1928), einer der erfolgreichsten spanischen Romanschriftsteller seiner Zeit.
3 Edouard Herriot (1872-1957), französischer Politiker, Parteiftihrer der Sozialisten, 1924 25 und 1932
Ministerpräsident.
4 Gemeint ist vermudich Wilhelm Külz (1875-1948), Mitglied des Reichstags (1920-32) und 1926/27
Reichsinnenminister Das Schmutz- und Schundgesetz wurde 1926 verabschiedet (s. Dok. Xr. 46-48).
5 Zu Johannes R. Becher s. Dok. Nr 109 und 206.

34
Alfred Döblin: Bilanz der »Dichterakademie«. In: Vossische Zeitung
(25.Januar 1931)Nr.21.

Dieser Tage haben, nach Hermann Hesse [1], drei Mitglieder die Sektion verlassen: Schäferei,
Emil Strauß [3], Kolbenheyer[4]. Die Zeitungen haben darüber nach irgendwelchen aphoristi-
schen Informationen berichtet; es ist zweckmäßig, wenn sich emmal ein Mitglied der Seknon im
Zusammenhang äußert.

Die Gründung der Sektion für Dichtkunst durch den früheren Minister Dr. Becker war und ist

bestimmt eine gute und notwendige Idee. Malerei und Musik waren m einer Akademie der Künste
vertreten, es war längst fällig, daß man an das »Wort« dachte. Aber wie? Was wollte man mit der
Vertremng des »Wortes«, und zweitens: was oder wen meinte man mit einer Vertretung des
»Wortes« in der Akademie?
Zunächst also: man ging aus von der vorhandenen Akademie der Künste, es fehlte die Wort-

kunst. Damit war man - scheinbar - ohne weiteres zur Beantwortung der zweiten Frage gekom-
102 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

men: nämlich Vertretung des Wortes in der Akademie der Künste heißt natürlich »Bildung einer
Sektion für Dichtkunst«. Das war und erwies sich im Folgenden als eine überglatte, rein formalisti-
sche Komplettierung der bestehenden Akademie der Künste, und es bedeutete eine undurch-
dachte, unkritische, dazu zeitfremde Isolierung eines einzelnen Komplexes geistiger Leistungen

aus dem ganzen großen sprachgebundenen und nicht fachwissenschaftlichen Komplex. Man
glaubte, ganz unhistorisch, eine »Dichtkunst« isolieren zu können, und sterilisierte sie dadurch,
und ebenso solche Institution der »Dichtkünstler«, die sich jetzt auf olympische Hoheit und
Beckmesserei beschränken konnten. Was war das für ein Begriff der Dichtkunst? Jener Begriff, der
einen von einem Gott inspirierten Dichter jenseits von Zeit und Raum kennt, den überzeitlichen

Fabrikanten von Ewigkeitswerten. Das war eine gefährliche Festlegung. Sah man sich diese

überzeitlichen Herrschaften näher an und ihre vom Himmel gefallenen Produkte, so erwies sich,

daß sie sehr mit der Zeit und mit dem Raum verbunden waren, - aber altertümliche, altertümelnde
Produkte als spezifische Ewigkeitsprodukte deklarierten, also das Jahr 1930 war häßliche, prosaische
Zeidichkeit, das Jahr 1500 und 1200 dagegen bot dichterische Ewigkeit. Warum eigenriich? Was
macht Kunst unserer Zeit so kläglich, so armselig prosaisch, und Kunst, sagen wir präziser

Kunstimitation, von 1500 und 1200 so großartig? Nur ein kleiner Irrtum, ein bißchen Mangel an
Kritik und Beobachtung und eine Ängstlichkeit. Ja, hinter diesem lieben kleinen Irrtum steckt

allerhand, man sieht es schon, großartig gesprochen: Weltanschauung, kleinartig und exakt eine
persönliche und politische Haltung (teils ungewußt, teils uneingestanden). Furcht oder Protest
gegen das Heute, vielleicht gegen einiges von heute, wir sprechen bald davon, es kam so sachte

heraus.

Es wurden also nur »Dichter« in die Sektion gewählt, und es wurden nicht hineingewählt Leute,
die, ohne Fachwissenschaftler zu seih, geistige bedeutende Haltung prästierten in sprachlichen

Kundgebungen. Es sonderten sich ab zu einer Sektion für Dichtkunst Orphiker, die den Dunst der
Pythia einatmeten, und draußen blieben bloß vernünftige Leute. Aber die Trennung war ganz
falsch und unwahr, denn die scheinbaren Orphiker arbeiteten und theoretisierten auch gewaltig,
benutzten ihren Kopf, soweit sie ihn besaßen, sogar als Lyriker dachten sie, und atmeten nur sehr
manchmal den Dunst der Pythia, - und die bloß vernünftigen Leute draußen hatten sehr gute
»Einfälle« und äußerten sich oft sprachHch in einer Form, die es gut, sehr gut mit der der besten

Akademiker aufnehmen konnte.


Schauerliche, echt zivilisatorische Degradation des »Denkens«, schauerliche Zerschneidung der

geistigen Kräfte in eine seelisch-produktive, dichtende und eine geistig vernünftige, die in den

Polen vorhanden war, die man aber niemals hätte sanktionieren dürfen. Grade die grundsätzliche
Einheit und Zusammengehörigkeit hätte man festlegen müssen.

Die Trennung war aber ärgerlich, denn man machte sie in einer Zeit, die grade die entschlossene
Verbindung der beiden Gruppen, sagen wir der »Dichter« mit den »Denkern«, etwa den Essayi-
sten, nötig hätte. Im alten Staat war kein Platz für Dichtung und Schriftstellerei gewesen; im neuen
Staat, der keine militärische und dynastische Legitimität besaß, war enorm wichtig die geistige
Mitarbeit zur Schaffung einer neuen Legitimität, und darin lag der gute Einfall dieser Sektion - und
was tat man, man sanktionierte zwei, drei Dutzend Einzeldichter, möglichst arrivierte, vielleicht

noch möglichst abseitige, und grade die notwendige Verbindung mit der allgemeinen heutigen
Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem literarischer Repräsentanz 103

Geistigkeit verhinderte man. Ich finde, mit der bloßen Ernennung von zwei, drei Dutzend
Einzelpersonen, Dichtern von Dramen, Romanen und Gedichten, hat der neu gründende Staat
etwas zu wenig und zu zahm an sich gedacht. Der Gründung der Sektion hätte eine Klarlegung des
allgemeinen Begriffs »Dichtkunst« vorausgehen müssen, eine Klarlegung im heutigen lebendigen,
umfassenden Sinn, der auch der Sinn der gründenden Instanzen wäre.
Und wie nun der Staat zu wenig und zu zahm an sich dachte, nicht im neuen und richtigen Geist

den Begriff Dichtkunst definierte, so dachte er auch zu wenig an die nun aufgestellte Sektion. Ja,

das sollten nun dreißig Leute sein, private, möglichst götdich inspirierte Einzelpersönlichkeiten,

und das waren sie - nämlich dreißig Leute, die nebeneinander saßen, zu einem kleinen Teil gern in

den schönen Sitzungssaal am Pariser Platz kamen, und einer kannte den andern kaum, und was
man sollte und wollte, das wußte keiner. Sie sehen, der Fehler im Grundriß, nein, der Mangel eines

Grundrisses offenbart Mann machen


sich. Dreißig keine Sektion, jeder lumpige Verein hat eine

Absicht, wir hatten bloß den schönen Raum und den unschönen Namen. Es heißt zwar in unserem
Statut, wir haben die Dichtkunst zu fördern; aber ich sagte ja, man nahm einen entarteten Begriff

der Dichtkunst, man hatte keinen Willen, man definierte falsch.


Und so geschah - einiges, man soll es nicht schlecht machen, aber nichts Richtiges, Wichtiges,
Durchschlagendes, Folgenreiches. Wir konnten einige Vorlesungen in der Akademie veranstalten,
- es ist kein Einwand, daß andere Institutionen das auch machten, wir ließen eben Leute lesen, die

uns paßten - es stiegen die Vorlesungen in der Universität in einer vorzüglichen und durchaus
festzuhaltenden Verbindung mit dem germanistischen Seminar -, ein literarischer Preis wurde
einmal verteilt, Werbebeihilfen wurden vorbereitet. Das war einiges. Aber es befriedigte nieman-
den von uns. Jeder einzelne fühlte - den fehlenden Grundriß. Wir waren nicht »wir«.
Wir kamen monatlich oder zweimonadich zu Sitzungen zusammen, aber »wir« waren erstens

natürlich nur die in Berlin wohnhaften, zweitens meist nur fünf oder sechs davon. Zu den
jährlichen Hauptversammlungen erschienen dann die Auswärtigen, und in irgendeiner Weise kam
dabei das allgemeine Mißbehagen über die fatale Situation zum Ausdruck. Das ist, wie wenn ein
Kind krank ist, und es weiß nichts davon und schimpft über dies und dies und ärgert sich über alles
und jedes. Wir Berliner quälten uns und suchten zu denken und zu machen, was wir konnten, aber
schon in uns lagen Bremsen, natürlich, wir saßen ja bloß Person neben Person und jeder betete
seinen Reim her; zum Staunen, daß da überhaupt ein einziger Schritt möglich wurde. Die
Auswärtigen, wie sie nun ankamen, hatten es dann mit uns und mit Berlin überhaupt zu tun. Es
meldete sich an der Provinzialismus, Heimatkunst, Kunst der Scholle, des sehr platten Landes, ein
altes romantisches Ideal und redete aus orphisch dunkler Tiefe - uns an, protestierte gegen Berlin,
wo Betrieb um des Betriebes willen herrscht, und riet, ganz repräsentativ zu verharren, völlig zu
schweigen. Bei einigen verband sich dies mit wohlbekannten aggressiven Tonen, das zweite Wort
war »deutsch«, »Volkstum«; die geforderte Definition des »Deutschen«, von andern Urdeutschen
gefordert, blieb aber aus; die orphische Tiefe gab nicht mehr her. Einige saßen bloß und warteten
auf den Sinn der Sektion. Wir debattierten über den Namen der Sektion, über ihre mögliche
Absicht, das ging über ein paar Sitzungen, wir stritten, wir erregten uns, es konnte sich nichts

ergeben. Wir wollten Schulausgaben machen, wen sollte man nehmen, alle, es konnte sich nichts
ergeben. Dreißig Mann saßen über Abgründen, die Brücken, die wir paar Arbeiter schlugen.
104 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

wurden immer wieder zerbrochen oder zerfielen. Einen Vorsitzenden, »Präsidenten« wählen, hatte
keinen Sinn - von der Plackerei abgesehen, wer sollte was repräsentieren?

Zuletzt also - trat erst Hesse aus, der war ein Eigenbröder und wollte überhaupt von nichts

wissen. Dann setzte sich ein kleiner Klub Auswärtiger zusammen, Kolbenheyer führte da, sie

wollten Einfluß - ach Gott, den hätten sie gern haben können, sie wollten Macht, wo nichts zu

machen war, es war eine ganze Groteske, sie legten uns Berlinern eine Geschäftsordnung vor; die

sollte uns den Mund verbinden (ja, wir redeten doch schon gar nichts; wir sahen schon klarer, sie

dachten da hinten in der Tschechoslowakei, was wir hier für schreckliche Dinge in dem Sündenba-
bel ausheckten zum Schaden des total platten Landes). Wir ließen uns konziliant den Mund
verbinden, nachher wurde uns die Luft zu knapp, wir baten um etwas Erleichterung, aber das
deutsche Volkstum bestand auf unserm Erstickungstod, und als wir, unterstützt von den allernam-
haftesten Nichtdeutschtümlern, Zetermordio schrien, und die hohe Behörde herbeilief und uns
Strick und Bürde abnahm, zogen sie ab; sie protestierten, mit Recht, sie hatten es schriftlich in der

Tasche, daß wir vor die Hunde gehen sollten. - Ein Angriff, aber doch nur ein Symptom für das

Ganze.
Die Situation der »Dichterakademie« ist unhaltbar. Sie hat keinen Plan, kein Ziel, keinen

Grundriß - sie hat keinen einzigen offiziellen Pfennig, sie lebt von einem privaten kleinen Fonds,
den Minister Becker für sie gesammelt hatte; nicht einmal ihr Sekretär wird aus einer anerkannten
Position honoriert.

Wege: Erstens, die Sektion fallen zu lassen. Es wäre schade. Literatur, Schrifttum, Drama, Epos,
Lyrik haben so viel Recht auf staatliche Beachtung und Repräsentation wie Musik, Malerei,
Architektur.

Zweitens: eine bloß repräsentative Abteilung der Akademie. Also, man läßt alles wie bisher,

Sitzungen und Beratungen fallen weg, keinerlei Aktionen, dies ist ein Orden, dessen Mitglieder
sich vielleicht jährlich einmal zu einem Festessen versammeln. Ein Sekretär ist überflüssig, ebenso
Geldsubvention. Einwand: es ist gut, wenn die Literatur beim Staat eine anerkannte wirkende

Vertretung hat, für soziale und ideelle Interessen des Schrifttums. Freilich würden drei bis fünf

Vertrauenspersonen genügen. Also mögliche Lösung: eine bloß repräsentative Genossenschaft,


und ein Senat, der arbeitet. Diese Lösung ist möglich und gut, sie ist die nächsdiegende, und die
bisherige Entwicklung führt auf diesen Weg.
Dritte radikale Lösung: im Anschluß an die zur Zeit begonnene Statutenberatung zum Zwecke
einer Reform der gesamten Akademie der Künste Generaldebatte über die literarische Sektion,

und zwar in der interessierten Öffentlichkeit und innerhalb der beauftragten Stellen der Statuten-
kommission. Man muß heraus aus den Stuben, die Sache geht entweder alle an oder sie geht keinen
an. Zum Plan einer neuen Sektion habe ich zu sagen, als völlige persönliche Meinung und
Diskussionsbemerkung:
Die Sektion faßt in sich eine gewählte Gruppe von ca. 20 bis 30 Personen, die wichtige, an die
Sprache gebundene Leistungen auf geistigem, nicht fachwissenschafdichem, Gebiet aufweisen.
Entscheidend also ist »geistige Leistung«, wir haben eine Sektion für allgemeine geistige

Leistungen, auf welchem Gebiet auch immer, vor uns, keine Bindung an das dramatische, epische,
lyrische Rollenfach, keine »ästhetische« Sektion, die alte Ästhetik ist als formalistisch unfruchtbar

erkannt und völlig tot und erledigt.


Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem literarischer Repräsentanz 105

Es werden also neben geistig wichtigen »Dichtern« auch »Schriftsteller« gewählt. Eine gute
Mischung ist nötig angesichts der Neigung der Dichter, sich orphisch zu verkrümeln.

Diese neue Sektion muß ein Leistungskörper sein, undihre Konstitution muß darauf gerichtet

sein. Das heißt: der Staat, der sich dieses Organ schafft, muß wissen, was er will, und die Institution
muß ganz allgemein und prinzipiell gewillt sein, den Geist dieses Staates bilden zu helfen. Das
bestimmt die »Wichtigkeit« der Leistung. Ein entscheidendes Kapitel. Den Katzen müssen Schellen

umgehängt werden, und andererseits, nach Nietzsche: zu neuen Dingen muß Musik gemacht
werden. Zweifeln wir nicht, daß, wenn Diktaturen kommen, sie hier ganz robust verfahren werden.
Der wilhelminische Staat wußte, warum er keine Dichtersektion haben wollte. Der neue Staat ist

hier und anderswo halb und ohne Willen. Man kann und muß loyal und offenherzig vorgehen,
alles Doktrinäre wäre verkehrt, aber ein Leistungskörper, der auch Bremsen enthalten kann,
besteht aus Leistungselementen, die Nutzkraft produzieren. Sieht man nicht in Deutschland,

wohin man kommt mit der Furcht vor der Gesinnung! Die anderen haben sie, und eines Tages

werden diese anderen den andern nicht erlauben, noch irgendeine Gesinnung zu haben.
Diese loyal, weitherzig und klug eingerichtete Sektion hat als oberste Aufgabe, nein als elemen-

tarste: Schutz der Geistesfreiheit. Sie wehrt jeden Angriff auf die Geistesfreiheit ab und unterstützt
nichts, was die Geistesfreiheit einschränken will. Sie läßt sich von keinem Diktaturgelüste mißbrau-
chen. Sie schützt nichts, was ihr an den Hals will und nennt die Barbarei Bairbarei. Sie muß Organ,
aber auch - wie im alten China - Zensur des Staates sein.
Die Sektion ist in Sachen der Schule und Erziehung so wichtig wie die geistlichen Instanzen. Der
Beamtenkörper der Lehrerschaft und die politische ministerielle Instanz sind nicht die allein

maßgebenden - neben der kirchlichen - auf dem ungeheuer wichtigen Gebiet von Schule und
Erziehung. Die lebende, verantwortliche Geistigkeit wird mit eingeschaltet, als weltliche Instanz

neben der kirchlichen.


Es kommen die sozialen Aufgaben, Winke und Hinweise für die Pflege der Geistigkeit, Schutz

ihrer materiellen Basis, - ideell Kräftigung des Einflusses eines geistigen Willens im ökonomistisch
verödeten Staat.

Solche Sektion, denke ich, hätte einen Sinn. Ich habe, neben meiner privaten Meinungsäuße-
rung, mit dieser Niederschrift im wesentlichen vor, eine öffentliche Diskussion der Interessierten

herbeizuführen.

Döblins »Bilanz« nach dem Austritt Hesses und der Völkischen löste eine neuerliche Diskussion über Sinn und
Status einer deutschen Dichterakademie aus. Besonders die landschaftsgebundenen und nationalen Kreise
mußten sich durch Döblins abfällige Bemerkungen über das »total platte Land« provoziert fühlen. In der
Berliner Börsenzeitung vom 28. Januar 1931 (Nr. 23) griff Wilhelm Westecker unter dem Titel Wider die
Literatenakademie Döblins Aufsatz scharf an: »Alfred Döblin, der seine Federn so gewaltig gegen die vom
>platten Lande< sträubt, womit er nicht etwa die deutschen Bauern (was auch schon eine unerhörte Herausforde-
rung wäre), sondern so weltoffene, deutsche Dichter wie Kolbenheyer und Wilhelm Schäfer meint, steht gegen
die deutsche Seele, auch wenn er dafür eintritt, daß die Dichterakademie >den Geist dieses Staates bilden helfen<
muß.
Denn dieser Staat, den Döblin meint, ist nicht die deutsche Nation gleich welcher Staatsform, sondern die
Republik, die nur zufällig deutsch ist und im übrigen auf der >allgemeinen heutigen Geistigkeit< basiert.
>Allgemeine heunge Geistigkeit<? Was ist das? Döblin definiert es nicht näher, aber sie ist jedenfalls mit dem
>neuen Staat< identisch und sie will mit >Provinzialismus, Heimatkunst, Kunst der Scholle, des sehr platten
106 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Landes< - er sagt ausdrücklich sehr platt - der Kolbenheyer, Schäfer, Strauß nichts zu tun haben. Das ist ein
>altes romantisches Ideah. Der >neue Staat< soll sich dafür eine Dichtersektion halten, die aus >Leistungselemen-

ten besteht, die Nutzkraft produzieren<. Eine Sektion zum Schutz der Republik. Herrlich, herrlich! >Diese loyal,
weitherzig - weitherzig! Dabei soll die >Wichtigkeit< der Leistung für den Geist dieses Staates (nicht des Staates)
entscheidend für die Aufnahme in die Sektion sein - und klug eingerichtete (klug ist natürlich am wichtigsten)
Sektion hat als oberste Aufgabe, nein als Nur fünf Zeilen weiter aber
elementarste: Schutz der Geistesfreiheit.<
heißt es schon: >Sie muß Organ, aber auch Zensur des Staates sein.< Diesem Satz könnte man zustimmen, wenn

dieser Staat als Nation lebendig begriffen wäre, aberwas Döblin von der Nation hält, geht aus seinen
hochmütigen, verächtlichen Bemerkungen über die aus >orphisch dunklen Tiefen< redenden Dichter und über
die >vom sehr platten Lande< hervor, wozu wohl drei Viertel wenn nicht fünf Sechstel der jetzigen Mitglieder
gehören.
Auch in Döblin rumort die Angst vor einer nationalsozialistischen Diktatur. Sie raubte ihm, wie so vielen
Verbindung mit den lebendigen Strömungen des Volkes haben - denn es ist kein Zweifel,
Literaten, die keine
daß in dem schnellen Anwachsen des Nationalsozialismus weniger Diktaturgelüste brodeln, als die Sehnsucht
nach nationaler Erneuerung zum Ausdruck kommt - völlig die Besinnung. Er läßt sich dadurch zu den
höhnisch verächdichen Bemerkungen hinreißen, die seine geistige Integrität erschüttern und auch die Idee
selbst seiner Akademie preisgeben. Soll die Akademie immer nach der jeweiligen Parlamentsmehrheit neu
zusammengesetzt werden? Oder will Döblin der nationalsoziaUstischen Diktatur nur mit der Diktatur einer
kleinen demokratischen Gruppe zuvorkommen? Hier werden die übelsten polidschen Instinkte, die mit
Schmähungen arbeiten statt mit geistigen Argumenten, in geistige Bezirke eingeführt. Daß sie von einem Autor
wie Döblin eingeführt werden, ist sehr traurig.«

1 Hermann Hesse, der im Grunde von Anfang an der Dichterakademie ablehnend gegenüberstand, erklärte

am 10. November 1930 seinen Austritt. Anlaß war der implizite Vorwurf der Passivität.
2 Wilhelm Schäfer (1868-1952) begründete seinen Austritt in seinem Aufsatz Der mißglückte Versuch einer
deutschen Dichterakademie (in: Die literarische Welt 7 [30. Januar 1931] Nr. 5, S. 1, 8).

3 Emil Strauß (1866-1960), Romanschriftsteller und Dramatiker aus dem Schwäbischen. Wilhelm Stapel
nahm in seiner Antwort an Döblin [Dichter- oder Literaten-Akademie, in: Deutsches Volkstum [1931] H. 3,

S. 235-238) Emil Strauß als Beispiel für einen »Dichter« (S. 236): »Sie, Alfred Döblin haben mit Ihrem Berlin
Alexanderplatz ein zeitwichtiges Werk geschaffen. Ich will die Bedeutung dieses Buches nicht herabsetzen.
Aber werden zugeben, daß Sie nie etwas machen können, was im Rang dem Schleier Emil Straußens
Sie
gleich käme. Die Geschichte vom Schleier Wird noch >leben<, wenn sie mit all Ihren Werken nur noch Material
für germanistische Seminare sind. Wenn man von der >Überzeidichkeit< der Dichtung spricht, so handelt es
sich also nicht, wie Sie meinen, um die Mystik des >total platten Landes<, sondern um einen Rangunterschied,
den empfinden zu können zur Bildung gehört. Sollten Sie nicht imstande sein, den Rangunterschied
zwischen dem Schleierund allem, was Sie (schätzenswerterweise) geschrieben haben, zu erkennen, so bliebe
nichts übrig, als einen Defekt bei Ihnen festzustellen und Ihre Vorschläge als die eines Unzuständigen
unbeachtet zu lassen. Aber ich nehme das nicht an.«
4 Erwin Guido Kolbenheyer (1878-1962), ab 1919 freier Schriftsteller in Tübingen, ab 1932 in München.
Bekannt durch seine mystisch-dunkle Gedankenlyrik und seine historischen Romane aus der Zeit der
deutschen Mystik. Auch er begründete seinen Austritt öffendich. Vgl. die ausführliche Dokumentation Die
Sektion der Dichter an der Berliner Akademie. In: Süddeutsche Monatshefte 1^ (April 1931) H. 7, S. 519-530.
Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem literarischer Repräsentanz 107

35
Heinrich Mann: Sektion für Dichtkunst. In: Vossische Zeitung
(15. Februar 1931) Nr. 39.

Einige von uns haben sagen wollen: Sektion für Literatur. Vorläufig scheint die Mehrheit für den

alten Namen zu sein. Je mehr praktische Erfolge wir haben werden, um so deutlicher wird sich, für
uns wie für die Welt, herausstellen, daß wir ein Vollzugsorgan der gesamten geistigen Kultur, nicht
nur die Vertretung gewisser Teile des Schaffens sind. Einige Dichter, deren jeder seinen Roman
oder sein Stück schreibt, können zur akademischen Sektion erst werden durch ein gemeinsames
Wirken im Staat und in der Öffentlichkeit. Man empfände sonst ihr Zusammensitzen mit Recht als
eine Privatangelegenheit.

Wie können wir versuchen, zu wirken? Wir haben uns darüber jetzt zweifelsfrei entschieden.

Wir wollen die Geistesfreiheit verteidigen, was einigermaßen notwendig geworden ist und es

immer mehr zu werden verspricht. Weiter wollen wir die geistige Formung des heranwachsenden
Geschlechts beeinflussen durch Mitwirkung an den in Frage kommenden Lehrbüchern. Auch
beanspruchen wir, gehört zu werden bei gesetzgeberischen Maßnahmen, wenn sie die Literatur
und das Theater betreffen; und wir bestehen darauf, amdiche Sachverständige zu sein in Prozessen,
die eben um diese Gegenstände gehen. Das ist einstweilen unser PrograRlm.

Bemerkenswert ist, daß wir es nicht früher beschlossen haben und es früher auch gar nicht
beschließen konnten. In Hinsicht der Geistesfreiheit haben wir früher in einzelnen Fällen wohl
versucht, geschlossen gegen gewisse Verbote oder Verfolgungen literarischer Werke aufzutreten.

Es gelang uns nicht immer, wir waren nicht einig. Unsere neuen grundsätzlichen Beschlüsse
erlauben die bestimmte Hoffnung, daß wir es künftig sein werden. Vor allem aber verbieten sie uns,

untätig zu bleiben. Wir haben das verfolgte Werk zu prüfen und uns zu entscheiden.
Es kommt auf Entschlußkraft an in einer Zeit, die alles andere eher hat. Wenn unsere Sektion ein
Beispiel festen Willens gäbe, hätte sie allein dadurch die Berechtigung ihres Daseins erwiesen.

Unsere Entschlußkraft könnte eines Tages so weit gehen, daß wir die Schulbücher von allem
reinigen, was der Jugend schadet: veraltete Geschichtsauffassung, Irrtümer über andere Völker

und über die Erlebnisse des unseren. Wohlverstanden, so weit sind wir noch nicht. Keine deutsche
Versammlung, auch die unsere nicht, wird heute über diese Dinge zu einer einmütigen Meinung
gelangen. Der Beschluß liegt dennoch vor, einzugreifen, - es wird sich finden, wie. Von einer

Gemeinschaft, die einzig und allein intellektuell begründet ist, wird niemals ernsdich zu befürchten
sein, sie könnte stärkere Beweggründe kennen als die Gerechtigkeit und als die Wahrheit.
Bis hierher waren wir mit uns selbst allein. Aber unsere Handlungsfreiheit reicht in fast allem,

was wir vorhaben, nur bis zum Beschluß. Um irgend etwas durchzuführen, brauchen wir das
Zusammenwirken mit dem Preußischen Kultusministerium. Ohne das Einverständnis dieses
Ministeriums für Kultus, Unterricht und Volksbildung werden wir kein Lesebuch überprüfen, und
ohne seine Vermittlung werden wir erst recht nicht als gerichdiche Sachverständige berufen

werden oder an Gesetzen mitarbeiten. Unser Glück ist, daß grade das Preußische Kultusministe-
rium unsere Sektion ins Leben gerufen hat. Offenbar ist es daher an ihrer erfolgreichen Tätigkeit

mit seinem eigenen Nutzen beteiligt. Dem Ministerium muß es lieber sein, daß wir etwas leisten.
108 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

als wenn wir nur dasäßen und allenfalls Proteste erließen. Es wird die Sektion, mit der es schon
durch den Akt ihrer Gründung verbunden ist, nicht gern der Unfruchtbarkeit verfallen sehen.

Andererseits nimmt der eine oder andere unter uns Anstoß an der Abhängigkeit der Sektion
vom Ministerium. Unleugbar besteht sie auch. Die Statuten der Akademie werden unter Mitwir-
kung unserer Vertreter im Ministerium beschlossen, und wir können keine Geschäftsordnung
einführen, die nicht übereinstimmt mit den Statuten. Zu erwidern wäre nur, daß es genau so für die
beiden anderen Sektionen liegt und doch haben sie sich bewähren können in der langen Zeit seit

Gründung der Akademie. Warum sollte es, unter denselben Bedingungen, nicht auch uns gelin-
gen? Auch wir sind eine staatliche Gründung: nicht die alleinstehende »Dichterakademie«, wie

immer noch geschrieben wird, sondern die dritte und jüngste Sektion der Preußischen Akademie
der Künste. Der Staat, der den bildenden Künsten und der Musik schon längst ihre amtliche
Vertretung eingerichtet hat, erinnert sich eines Tages der Kunst des Wortes, und daß auch sie seiner

Geltung etwas hinzufügen kann, wenn er die ihre vermehrt.

Dies tat der preußische Staat dankenswerter Weise zu einer Zeit, da das Ansehen der geistigen
Leistung nicht grade im Steigen begriffen ist. Der Gewinn für uns beginnt damit, daß wir am Pariser
Platz in das Haus einer alten Überlieferung einziehen. Es wird sehr namhaft werden, wenn es uns
gelingen sollte, auf Grund unserer amtlichen Bindung dem Wort einen Zuwachs von welthcher
Macht zu verschaffen.

Auf keinen Fall ist die Wahl des Vorsitzenden so zu verstehen, als habe die Sektion sich für eine

bestimmte geistige Richtung entschieden. Zeitungen, die mich mißbilligen, irren dennoch, wenn
sie meinen, das Ausscheiden jener drei Mitglieder und meine Wahl seien ein Sieg der »Asphaldite-
ratur«. Das war nicht die Absicht der Sektion, - oder sie verstände unter »Asphaltliteratur« das,

was jene Blätter eigendich auch sagen wollten: Schriftsteller, die nur sich selbst und der europäi-
schen Geistigkeit verantwortlich sind. Diesen Vorzug aber nehmen alle Mitglieder der Sektion mit

Recht für sich in Anspruch.

Heinrich Mann war auf der außerordentlichen Hauptversammlung der Sektion für Dichtkunst am 27. Januar
1931 (also dem Austritt der Völkischen - s. vorhergehenden Text) einstimmig zum Vorsitzenden der
kurz nach
Sektion gewählt worden. Vgl. auch Heinrich Manns erweiterte Fassung des Artikels unter dem Titel Die
Akademie in dem Sammelband Das öffentliche Leben. Berlin 1932.
Weitere Dokumente zur Geschichte der Sektion für Dichtkunst (u. a. unveröffentlichte Sitzungsberichte,
Anträge, Briefe) in: Inge Jens, Dichter zwischen rechts und links. München 1971, vor allem S. 219-293.
Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem Hterarischer Repräsentanz 109

36
Soll das Goethe-Jahr 1932 gefeiert werden? [Umfrage].
In: Die literarische Wfe/^7 (18. September 1931) Nr. 38, S. 1-2, 7-8.

Jakob Wassermann:
Der Gedanke einer Goethe-Feier erscheint mir in der Tat manchmal so absurd, als wenn in

einem Chikagoer Schlachthaus plötzlich ein Tierapostel aufträte, um mit heiliger Inbrunst das
Ochsenevangelium zu predigen. Eine solche universale Figur »feiern«, das hieße doch, daß man
sich in seiner Sprache, die eine universale ist, zu verständigen vermöchte. Das hieße doch, Vernunft
und Humanität als Kategorien des Lebens anerkennen. Das setzte doch voraus, daß man der
übermächtigen Gestalt gedient hätte oder zu dienen wünschte. Da müßte doch ein gebietendes

Wort sein, ein merkbarer Einfluß. Aber es wird nur, wieder und wieder, zu total unverpflichtenden

Worten kommen, die wie dürre Blätter über das verwüstete Feld unserer Existenz hinfegen

werden, gejagt vom Orkan des Hasses und der Angst und dann tot auf einem Haufen liegend -
Zeitungspapier. Was soll Gottesdienst in einer Welt, die keinen Gott mehr will und keinen zu
brauchen vorgibt? Der bloße Ritus würde zur Grimasse, die Lobpreisung zur Lüge. Da ziehe ich

jene selbstgenügsamen Aufrichtigen vor, die vor ihren kleinen nagelneueo-Fetischen Kotau machen
und uns, die wir noch ein Erbgut hüten zu müssen glauben, mit Verachtung traktieren. Was sich

geziemt, ist Schweigen. Es sollte, von einem Völkerbund-Kunstwart etwa, eine Notverordnung
ausgehen, die Schweigen befiehlt. Er, Goethe, kann noch ein paar Jahrhunderte warten. Er hat Zeit.
Er lächelt ja nur der heuchlerischen Bemühung.

Wilhelm Schäfer:
Wir haben Unglück mit Goethe: als wir im August 1849 seinen hundertsten Geburtstag hätten
feiern können, war der Traum der Paulskirche zu Ende; Deutschland hatte andere Sorgen als eine

Dichterfeier. Und heute sieht es nicht aus, als ob das Jahr 1932 seinem hundertsten Todestag
freundlicher begegnen würde; wir werden bestimmt auch diesmal andere Sorgen haben, und fast

scheint es, als sollte bis dahin wieder einmal ein Traum zu Ende sein.

Aber daß unser Mund am 22. März 1932 von ihm schweigen soll, diese Botschaft klingt mir

merkwöirdig: als sollten wir den deutschen Gedanken endgültig aufgeben, und gar noch aus
Ressentiment?
Natürlich kann Goethe für den Aufstand der Massen kein Fahnenträger sein; aber nach Bildung
hat noch kein Pöbel aufbegehrt. Und daß nicht alle Festredner »auf der Höhe der Zeit« stehen
werden, ist kein ausreichender Grund, die Fahnen einzurollen, wenn es dem im Fi3ws? volkstümlich-

sten deutschen Dichter gilt. Überdies pflegte die Exzellenz am Frauenplan nichts übler aufzuneh-
men, als wenn sich ihr jemand anbiedern wollte; eben dies würden wir durch ein uns nicht

zustehendes »eisiges Schweigen« am 22. März 1932 versuchen. Und schließlich - sollte nicht aus

der falschesten Beschäftigung mit Goethe noch ein Körnchen Segen aufgehen können?

Emil Ludwig:
Ich schlage vor, am Gedenktag eine Auswahl Goethischer Aussprüche über die Deutschen in

allen deutschen Blättern, Universitäten, Schulen, Parlamenten, Vereinen durch den Zwang einer
110 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Notverordnung zu publizieren. Hiervon könnten die Deutschen eben jetzt mehr lernen als durch

alle die Festreden, in denen sie sich nach einem hundertjährigen Mißverständnis in ihm zu spiegeln

Waagen werden.

Thomas Mann:
Wie wäre es, wenn man das Schweigen über Goethe, das Sie anregen, auch auf den Entschluß
ausdehnte, über ihn zu schweigen? Offenbar wäre das nicht nach Ihrem Sinn. Sie stellen das
Schweigen zur Diskussion. Sie eröffnen damit die Diskussion über Goethe.
Verzeihen Sie, aber ich kann Ihren Vorschlag nicht ernst nehmen, so vortrefflich Sie ihn
begründen. Die Welt schickt sich an, das Fest zu begehen. Das Theätre Francais will den Faust
spielen. Die Columbia-Universität in New York hat Gerhart Hauptmann zum Redner bestellt und
wird ihm ihren Ehrendoktor verleihen. Er wird prächtig aussehen in der Robe. Die Commission
permanente des lettres et des arts beim Völkerbunde wird Frühjahr 1932 ihre Sitzungen in
Frankfurt am Main abhalten, und die erste davon soll ausschließlich und feierlich dem Gedächmis
Goethes gewidmet sein. Und Deutschland soll sich in düster- vieldeutiges Schweigen hüllen? Es

geht nicht. Es ist nicht tunlich. Wir würden unsere Ungeheuerlichkeit auf die Spitze treiben. So gut

und schlecht es gehen möge, müssen wir uns schließHch als gesittete Menschen benehmen.
[. . . ] Keine anderen Sorgen? Ja, ein Volk wie das deutsche hat, laut oder leise immer auch noch
andere Sorgen, als die der Wirtschaftskrise entstammenden. Zum Beispiel bin ich fest überzeugt,
daß es noch heute die Sorge teilt, die dem zu Feiernden seiner ausdrücklichen Erklärung nach
einzig am Herzen lag: die Sorge um Kultur oder Barbarei. Hier wäre ein Gesichtspunkt, unter dem
das Fest zu begehen wäre. Ein anderer wäre das Thema von Größe und Gesittung, das Phänomen
des naturgesegneten Geistes, des urbanen Genies - höchst wichtig, ergiebig und lehrreich für die
Deutschen.
Genug, ich bin gegen das Schweigen, aber Sie werden mir zugeben, daß ich es kaum gebrochen
habe. Man wird viel dummes Zeug in den Kauf nehmen müssen, viel Phrase, leeres, unbefugtes
Sichgütlichtun und plumpe Tendenzstilisierung. Auch viel Prätension natürlich, die, ohne im

geringsten an seiner Substanz teilzuhaben, sich zu ihm aufrecken wird, um recht von oben herab zu
uns sprechen zu dürfen - wie könnte es anders sein. Und doch, wenn ich die Macht hätte, ich

würde den Deutschen nicht verbieten, ein paar Wochen lang von Goethe zu reden.

Die Umfrage wurde von Willy Haas wie folgt eingeleitet: »Da an mehreren offiziellen und offiziösen Stellen mit
der größten Selbstverständlichkeit bereits das >Goethe-Jahr< vorbereitet wird, als ob es unbedingt sein müßte,
schien es uns geraten, zunächst einmal zu bremsen, einen AugenWick des Insichgehens und der grundsätzli-
chen ruhigen Überlegung einzuschieben, und eine Debatte über die Notwendigkeit und Legitimation dieser
geplanten Feiern überhaupt anzuregen.«
In einem einleitenden Essay argumentierte Haas, daß heute von Goethes Erbschaft - »verschwindende

Ausnahmen abgerechnet - im Leben seiner Nation nichts zu spüren« sei (S. 1). Weiter heißt es dort: »Soll
Goethe im jähre 1932 überhaupt gefeiert werden?
Ohnehin zur äußersten Sparsamkeit gezwungen und verpflichtet, um die Inflation zu vermeiden, wäre es am
Ende für uns alle das Beste, wenn wir auch der drohenden Phraseninflation von 1932 rechtzeitig, und nicht erst,
wie die Reichsbank, in der allerletzten Minute, begegneten. Es wäre vielleicht die einzige ehrenhafte, reinliche
Geste, die uns angesichts dieser kritischen Jubiläumstage möglich ist; und also ein wahrhafter Akt nationaler
Selbsthilfe in schwerster Verlegenheit, ohne weiteres einzustellen in das allgemeine Programm der nationalen
Selbsthilfe.«
Braucht der Staat die Dichter? Zum Problem hterarischer Repräsentanz 111

Es antworteten auch Rudolf Alexander Schröder, Paul Ernst, Rudolf Pannwitz und die Professoren Herbert
Cysarz, Karl Voßler und Oskar Walzel. Einen zusammenfassenden Essay schreibt Willy Haas {Kulturabbau und
Goethe-Jahr. In: Die literarische Welt? [9. Widersprüche nochmals
Oktober 1931] Nr. 41, S. 1-2). Er stellt die

verstärkt heraus: »Es scheint uns unmöglich, lächerlich und völlig absurd, daß etwa ein Ministerium für
Volksbildung mit einer Hand die Schulen, öffendichen Bibliotheken, Krankenhäuser und Museen abbaut, und
mit der anderen Hand Goethe-Feiern inszeniert, so daß tatsächlich die rechte Hand nicht wissen darf, was die
linke tut. Es scheint uns unmöglich und absurd, den besten jungen Stamm des Deutschtums, den Junglehrer-
stamm, dem erzwungenen Müßiggang und den damit verbundenen, fast unbesiegbaren Gefahren der morali-
schen und geistigen Verwahrlosung von Millionen junger arbeitsloser Proletarier preiszugeben (- die der
Herausgeber, einem Industriedorf wohnend, besser kennt als mancher Andere -), und auf der anderen Seite
in

offiziöse Goethe-Reden zu schwingen. Wir sagen es noch einmal, und wir fordern alle jene auf, die das
Unmögliche und Beschämende einer solchen Situation wie wir fühlen, unsere propagandistische Stoßkraft
durch öffentliche Zustimmung zu verstärken: das darf und soll nicht geschehen!
Unser Aufruf hat sich gegen die Inszenierung von Goethe-Feiern gewendet. Er hat sich keineswegs dagegen
gewendet, im Goethe-Jahr 1932 ein Bekenntnis zu Goethe durch eine Tat, also ohne große Worte, abzulegen.
Das ist der Weg, der einzig mögliche Weg, der den öffentlichen Stellen nahezulegen wäre [...].
Ein solches Anzeichen wäre es z.B., wenn in Regierungskreisen die deutsche Kultur nicht einfach als das
wehrlose Opfer des nodeidenden Industrie-, Bank- und Agrarkapitals betrachtet würde. Ein solches Anzeichen
wäre es, wenn unsere Regierungen einmal freundlichst zur Kenntnis nehmen wollten, daß die junge deutsche

Dichtung - und übrigens nicht nur die junge - am Verhungern ist, körperlich, und also auch geistig. Ein solches
Anzeichen wäre es, wenn die deutsche Kindererziehung, und damit die moralische Zukunft unseres Volkes,
ohne Rücksicht auf die Krise sichergestellt würde - was für pleitegegangene Banken und Industrieunterneh-
mungen möglich war, sollte doch auch für den Stolz des deutschen Volkes, seine Schule, möglich sein! Man
wird es ja erleben, welcher Zukunft wir entgegengehen mit vor dem Bankerott geretteten Banken und einem
bankerotten Schulwesen!«
einem weiteren Artikel zum Goethe-Jahr wies Haas die Versuche der Rechten, der Linken, der Republika-
In
ner, der Nationalen und der katholischen Mitte zurück, Goethe
als den ihren zu beschlagnahmen. {»Denn er

war unser«. Eine Anleitung zu Goethe-Feiern. In: Die literarische Welt 8 [4. März 1932] Nr. 10, S. 1-2). Vgl.
weiterhin: Willy Haas: Es ist hundert Jahre her. In: Die literarische Welt 8 (3. Juni 1932) Nr. 23, S. 1-2; Rudolf
Pannwitz: Goethes hundertster Todestag. In: Die literarische Welt 8 (22. März 1932) Nr. 13 (Sondernummer
zum Goethe-Tag), S. 1-2.
Aus völkischer Perspektive wurde Goethe als Deutscher gefeiert. Vgl. Adolf Bartels, Das Goethe-Jahr 1932.
Goethe und der Nationalsozialismus. In: Deutsches Schrifttum 24 (Januar 1932) Nr. 1, S. 1-2: »Man wird es in
jüdischen und judengenössischen Kreisen bestreiten, daß der moderne Nationalsozialismus auch mit Goethe
zusammenhängt, aber der Beweis ist zu liefern. Goethe war nicht bloß seinem Wesen nach ausgesprochener
Deutscher - wie hätte er sonst der größte deutsche Dichter werden können? -, er hat sich auch jedesmal, wenn
es darauf ankam, zum Deutschtum bekannt. Und ebenso hatte er auch seinen Volksgenossen gegenüber die
Gesinnung, die wir heute als sozialistisch bezeichnen - sie liegt ja übrigens schon in der richtigen Stellung zum
eigenen Volkstum beschlossen. Was man über die Goethefeier des bevorstehenden Jahres 1932, das Goethes
hundertsten Todestag bringt, bisher verkündet hat, trägt alles stark >universalistischen< Charakter: man will in

Goethe vor allem den Weltdichter und >Humanisten< feiern, mit dem Nebengedanken natürlich, daß an der
Feier dann recht viele >Undeutsche< und Ausländer teilnehmen werden.« - Vgl. ferner Hanns Johst, Auflilick zu
Goethe. In: Völkischer Beobachter {11. März 1932) Nr. 82.
Die Linkskurve hrdidiiQ 1932 ein »Goethe-Sonderheft« heraus, an dem u.a. K. A. Wittfogel {Goethe->Vt\tv<}
S. 1-10) und Georg Lukacs {Der faschisierte Goethe, S. 33-40) mitarbeiteten. LuLacs untersuchte in seinem
Essay faschistische Tendenzen in der Sekundärliteratur zu Goethe: »Wenn wir gleich eingangs hervorheben,
daß Goethe in der Jubiläumsliteratur den Bedürfnissen des Faschismus entsprechend zurechtinterpretiert wird,
so bedeutet dies keineswegs, daß nunmehr die ganze deutsche Goetheliteratur unserer Tage ein einheidiches
Nazigepräge hätte. Dieselbe Einheit (und dieselben Gegensätze), die sich sonst ökonomisch, politisch und
ideologisch zwischen den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie zeigen, kommen auch in der Auslegung,
in dem Zurechtstutzen und Verfälschen Goethes zur Geltung. Und viele grundlegenden Tendenzen dieses
Zurechtstutzens sind bereits in der Goetheliteratur der Vorkriegszeit ideologisch vorgearbeitet.« (S. 33)
5. Literarische Erziehung in der Weimarer Republik

37
Rudolf Kayser: Die neuen Dichter in die neue Schule!
In: Das Ziel. Jahrbücher fiir geistige Politik?) (1919) S. 151-153.

Die Revolution, von der wir wünschen, daß sie mehr als eine Summe politischer und sozialer

Reformen sei, nämlich geistige Bewegung, muß auch die Schule ergreifen. Denn hier und hier

allein gibt es die Möglichkeit, in die formal geänderte Welt einen neuen Menschentypus zu stellen.

Daß Gesetze, Einrichtungen, Ordnungen sich wandeln, neue Machthaber an die Stelle der alten
treten, wem könnte das »Revolution« bedeuten, wenn nicht in ihnen auch eine neue Menschheit
zum Ausdruck käme. Die alte war versklavt unter Gewohnheiten, Besitz, Lieblosigkeit und
Mechanik. Die neue will die Befreiung von den letzten Resten einer zertrümmerten »Bildungs«-
Welt, das mutige Bekenntnis zum Geist.

Deshalb muß die Schule von Grund aus geändert, aus einer behördlichen Einrichtung die geistig
gerichtete Schulgemeinde werden. Wesendich aber ist, daß ein neues Lehrergeschlecht vor die

Schüler tritt: das die Verantwortung über die Pflicht, den Geist über das Wissen, die Liebe über die
Autorität, den Menschen über den Beamten stellt.

Ein solcher Lehrer würde in der Deutsch-Smnde zu seinen Primanern etwa sprechen:
Liebe Kameraden!
Wir haben eine Reihe wertvoller Dichtungen miteinander gelesen. Wir taten tiefe Blicke in die

Probleme des Lebens und des Geistes, genossen Schönheiten und den götdichen Rausch der
Schöpfung. Bei alledem ward Ihr Wissen bereichert. Sie erfuhren Tatsächliches der Geistesge-
schichte, das Fluten und Verebben der Ideen, die Dichter und ihre Geschichte. Aber wir hüteten
uns, bei den »Tatsachen« stehen zu bleiben, sie zu toten Objekten des Lernens zu machen. In der

Lebendigkeit der Dichter suchten wir weniger »Wissen«, die blassen Konstruktionen auf Oberflä-
chen, als die Zusammenhänge zwischen Gedanken und Kunst, Leben und Geist, Mensch und
Ewigkeit. Deshalb ließen wir uns die Heiterkeit und Freiheit unserer Gemeinschaft nicht rauben.
Wenn die Worte der Dichter uns im Innersten trafen und abseitige Fragen aufwarfen, so folgten wir
ihnen und wagten uns unbekümmert selbst in die Reiche der Ethik und Metaphysik.
Lassen Sie mich gestehen, daß diese Augenblicke für mich die schönsten der Unterrichtsstunden
waren. Ihre jungen Gesichter glühten, ihre Blicke flammten. Dann gehörte ich ganz zu Ihnen, saß in
Ihrer Mitte und erlebte die allbekannten Probleme wie zum ersten Male.
In solchen Augenblicken kam es oft vor, daß wir auf Fragen besonderer Aktualität stießen.

Denken Sie doch nur daran, wie kürzlich unser Freund E. bei der Iphigenie-Lektüre fragte:

Beschäftigen sich unsere heutigen Dichter und Denker nicht mehr mit dem Humanitäts-Ideal? Ich
Literarische Erziehung in der Weimarer Republik 113

hatte Ihnen von Goethe, Herder, Schiller und Humboldt gesprochen. Nun erzählte ich Ihnen von
den östlichen Christen Dostojewski und Tolstoi, von unserem jungen Franz Werfel . . . Damals
bedauerten wir sehr, daß eine engstirnige Behörde verbot, uns mit lebenden Dichtern zu beschäfti-

gen. Wir mußten uns den Lehrplänen fügen; jedem Verstoß antwortete geheimrätliches Stirnrunzeln.

Warum sollten wir nur tote Dichter lesen? Die Geheimräte antworteten: weil nur unsere

Klassiker in vollkommener Form sittliche Werte bieten; weil die Schüler nur mit den wissenschaft-
lich feststehenden Tatsachen geschichtlicher Forschung bekannt gemacht werden sollen; weil
unsere Gegenwart dekadent und zu keiner großen Schöpfung fähig sei.

Daher wurden Sie in den Vergangenheiten erzogen und in der Verachtung alles Heutigen (mit
Ausnahme des Nationalen und der Kriegsereignisse). Daher kommt es, daß Sie über die Revoluti-
onskriege Ludwigs XIV. besser Bescheid wissen als über den Krieg von 1914 und unsre Revolu-
tion; daß Sie wohl Klopstock und Lessing kennen, von den neuen Dichtern aber weniger als der
routinierte Verkäufer in einem Buchladen.
Doch nun sind die alten Mächte zerstört. Die Revolution, weher Ausklang der alten Zeit, öffnet
eine frischere Zukunft. Wer sollte sich mehr nach ihr sehnen als Sie, die wie jede Jugend die
kommende Zeit schon in sich tragen? Sie wird auch die Schule ändern und die Gegenwart in sie

einströmen lassen. Wir werden ihre Probleme erkennen und lösen helfen. Liegt es nicht im Wesen
der Erziehung, daß die Schüler vor allem in den Geist ihrer Zeit eingeführt werden? Die Schüler
von heute sind ja die Öffentlichkeit von morgen.
Lassen wir also neben den Großen der Vergangenheit auch die Dichter der Gegenwart spre-
chen. Die neuen Dichter in die neue Schule! Mögen sie vor der Ewigkeit nicht bestehen - was
kümmert es uns, ihre Zeitgenossen. Die Gesinnung, die sie verkünden, die Leidenschaft, die sie

bewegt, sind ja auch unsere. Wo könnte der Jüngling Hasenclever [1] stärkeren Wiederhall finden
als bei Jünglingen? Das sittliche Pathos Werfeis [2], Leonhard Franks [3] politische Leidenschaft als
bei betrogenen Kriegsidealisten?

Schon mit Nietzsche, Ibsen und Strindberg kam ein neues Zeitalter Europas. Dann kamen viele
Öden und der Weltkrieg. Seien wir, die Zeugen der Revolution, Erben jener Großen und ihre
Vollbringer. Der Novembersturm hat auch Schüler und Studenten emporgerissen. Hören Sie auf
die Führer, Dichter und Denker, die schweigen müssen^ wenn Sie sich ihnen verschließen.

Diesem Artikel von Rudolf Kayser (s. Kommentar zu Dok. Nr. 4) fügte Kurt Hiller in seiner Eigenschaft als
Herausgeber des Ziel-Jahrbuchs folgende kleingedruckte Anmerkung hinzu: »Kayser hat recht. Wedekind ist
dem jungen Kopf adäquater als das Nibelungenlied, Karl Kraus gibt ihm mehr als Lessing. Zum Teufel auch mit
dem muffigen Passeismus unsres schuloffiziellen Litteraturbetriebs! Aber: uns wurden die Alten auf der Schule
verekelt, . . . sollen dem kommenden Geschlecht auch noch die Neuen verekelt werden? Soll ihm die letzte
Zuflucht der bedrängten Seele geraubt sein? Die neuen Dichter in die neue Schule - gewiß. Aber erst einmal:
die alten Pauker aus der alten!«

1 Walter Hasenclever (1890-1940) wurde vor allem durch sein Drama Der Sohn bekannt, das 1916 uraufge-
Thematik des Generationskonflikts, der Rebellion gegen Autorität, der Menschheits-
führt wurde. Mit seiner
verbrüderung und der ekstatischen Selbsterhöhung schien es den Zeitgenossen als ein »typisches« Stück des
Expressionismus.
2 Franz Werfeis (1890-1945) großer Erfolg in der Zeit des Expressionismus war die Gedichtsammlung Der
Weltfreund {I9n/\9m).
3 Leonhard Frank (1882-1961) veröffentlichte seine Novellensammlung mit dem programmatischen Titel
Der Mensch ist gut am Ende des Krieges.
114 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

38
Walther Hofstaetter: Zum Geleit. In: Zeitschrift für den
deutschen Unterricht33 (1919) 1./2. Heft, S. 1-2.

In schwerster Zeit rüste ich dies erste Heft des neuen Jahrgangs; Größtes, das uns lieb und teuer
war, ist zusammengebrochen und ihm wird auch auf dem Gebiete der Erziehung und des
Unterrichts viel folgen. Aber es gilt jetzt, nicht bange und nicht müde zu werden, die Treue müssen
wir unserm Volke jetzt erst recht halten und mitarbeiten an seinem Wiederaufbau.
Uns Lehrern der Deutschkunde fällt dabei eine ganz besondere Aufgabe zu: das Bewußtsein
vom Werte unseres Volkes gilt es wach zu halten und immer wieder zu wecken. Wenn wir unsere
Jugend immer wieder hineinführen in das Werden unseres Volkes, unseres Wesens - nicht in

einseitig geschichtlicher Betrachtung, sondern stets im Blick auf unsere Zeit, deren Verständnis es

gilt -, wenn wir der Jugend zeigen, wie tiefe Geister ihm auf allen Gebieten gedient und uns ein
unverlierbares, großes Erbe hinterlassen haben, wenn wir ihr aber auch zeigen, wie zu allen Zeiten
hemmende, zerstörende Kräfte tätig waren, die unser Bestes bedrohten: die innere Selbständigkeit

und Tiefe des Gefühls, dann muß aus diesem Unterricht ein Geschlecht erwachsen, das ohne
falsche Überhebung, doch in ernstem Stolz und in festem Glauben an Deutschlands Zukunft das
Erbe der Väter übernimmt. Nie, so scheint mir, hatte der deutsche Unterricht eine so große
Aufgabe, nie galt es so sehr, das Innerliche zu betonen, wie jetzt. Und wenn Deutschkunde heißt, all
dem Werden und Wachsen in der Vergangenheit nachzuspüren, das uns die Gegenwart besser
verstehen lehrt, dann wird sie gerade jetzt vornehmHch wirken müssen, jetzt, da der Druck der
Verhältnisse den Blick für die großen Zusammenhänge zu lähmen droht.

Und noch eine besondere Aufgabe erwächst dem deutschen Unterricht gerade jetzt. Er ist von
jeher das Band zwischen Volks- und höherer Schule gewesen, in der Arbeit für ihn haben sich die
Lehrer aller Gattungen zusammengefunden und sich gegenseitig viel anregen können - er wird bei
der Neuordnung des Schulwesens erst recht der Grund und Eckpfeiler aller Schule werden
müssen. Wir haben immer daran festgehalten, daß die Aufgabe des deutschen Unterrichts für alle

Schulen gleich und daß nur Ausmaß und Vertiefung verschieden seien; das wird nun noch klarer
herausgearbeitet werden müssen, damit der deutsche Unterricht aller Schulgattungen ein einheitli-

ches Ganzes werde.


Dazu wird es noch vieler Arbeit bedürfen. Gerade für die höheren Schulen wird sich der
deutsche Unterricht noch viel strenger auf seine Aufgabe besinnen müssen, wie es an der

Volksschule schon zum großen Teil geschehen ist und weiter durchgeführt wird. Er wird alles

auszuscheiden haben, was ihm von andern Fächern aufgepackt worden ist (wie vieles treibt der

Sprachunterricht, wie vieles enthalten die Lesebücher nur um anderer Fächer willen); er wird die
Gesetze seiner Betrachtung ausschließlich dem deutschen Gut - der deutschen Sprache, derl
deutschen Literatur, der deutschen Kunst - entnehmen müssen. Andernteils wird er seinen Blick
auf (2//^ Äußerungen des deutschen Geistes richten müssen - nicht nur auf Sprache und Literatur -,

damit er wirklich ein Gesamtbild des deutschen Wesens anbahne. Geben kann er das Gesamtbild
nicht, aber den Weg zu zeigen vermag er, so klar, daß ihn jeder weitergehen kann, dem es ehrlich

am Verständnis seines Volkes liegt.


Literarische Erziehung in der Weimarer Republik 115

Und mehr noch als bisher wird gerade dem deutschen Unterricht die Pflege der PersönHchkeit
zufallen - mancherlei Kräfte, die bisher an ihr arbeiteten, werden ausgeschaltet oder zurückge-
drängt werden -, um so treuer muß nun der deutsche Unterricht diese Aufgabe durchführen.
Noch läßt sich nicht alles übersehen, was uns an Neuem erwachsen wird, aber eins ist gewiß, die
Aufgaben gerade des deutschen Unterrichts werden an innerer Bedeutung immer noch zunehmen.
Das ist unser Glück, denn die Arbeit daran wird uns wieder aufrichten aus der tiefen Nacht des
Kummers, in der wir jetzt mit unserm Volke stehen. Das ist aber auch unser Stolz: vor andern sind
wir berufen, wieder aufzubauen und an der Zukunft unseres Volkes zu arbeiten.

Walther Hofstaetter (keine Daten ermittelbar), Dr. phil., und


Studienrat in Dresden. Einflußreicher Pädagoge
Propagator eines völkisch orientierten Deutschunterrichts den Höheren Schulen. Bereits 1916 hatte er ein
in

Lesebuch mit dem Titel Deutschkunde. Ein Buch von deutscher Art und Kunst herausgegeben; 1925 erschien
die von ihm zusammen mit Friedrich Panzer edierte Aufsatzsammlung Grundzüge der Deutschkunde (Leipzig
und Berlin bei B. G. Teubner).
Das Fach »Deutschkunde« möchte dem Vorwort dieses Buches zufolge »nach Möglichkeit alle Auswirkun-
gen unseres völkischen Seins darstellen und die Bedingungen aufzeigen, unter denen es erwuchs und abrollte:
die natürliche Beschaffenheit des Bodens, auf dem unser Volk sich bildete und ausbreitete, die Kreise des
Blutes, der Rasse, der Volksgemeinschaften, aus denen es sich löste und zusammenwuchs, die Formen und
Schöpfungen seines staadichen, rechdichen, wirtschaftlichen, technischen Lebens und die Gestaltung seiner
politischen Entwicklung, dazu alle seine geistigen Äußerungen, wie sie in seiner Sprache und ihren künsderi-
schen Schöpfungen, in seiner bildenden Kunst und Musik, seinem Glauben und ?^iner Sage, seiner Weltan-
schauung und Wissenschaft, seinen Erziehungseinrichtungen und seiner Sitte im weitesten Sinne des Wortes in
Erscheinung treten.

Die vorliegenden Grundzüge wollen den Versuch machen, diese verschiedenen Bereiche unseres nationalen
Lebens mit ihrem Wesen und ihrer Entwicklung unter dem einheidichen Gesichtspunkte deutschkundlicher
Betrachtung zu schildern. Das heißt, ihre Darstellung setzt sich als Ziel, unter bewußter Zurückstellung des
Einmaligen, Zufälligen, nur geschichdich Interessanten überall tunlichst dasjenige herauszuarbeiten, was für
das Wesen deutscher Art und ihre Entfaltung bedeutsam gewesen ist, was in die Gegenwart hinein lebendig
fortdauert, was für die Erkenntnis und Wertung unseres nationalen Lebens von heute und seine bewußte
Gestaltung zu wissen nottut.« (S. V)

39
Ernst Troeltsch: Die Revolution in der Wissenschaft.
In: Schmollers Jahrbuches (1921) H. 4, S. 65-94; hier: S. 66-67.

In der Tat auch auf dem Gebiete des Geistes und der Wissenschaft, ist eine volle Revolution
eingetreten, und zwar längst schon vor dem Kriege. Heute, wo es sich darum handelt, die bisher
auf das Bürgertum wesendich zugeschnittenen Bildungsideale einem weiteren Kreise zugänglich
zu machen und sie für eine nationale Einheitsbildung gründlich umzuwandeln, kommt das vor
allem in der pädagogischen Revolution zum Ausdruck, bei der dann natürlich noch allerhand
andere Motive mitspielen. Auf dem Gebiete der Wissenschaft und des grundsätzlichen Weltgefüh-
les war sie bei der Elite längst im Gange. Und nimmt man sie von dieser Seite, wo die Komplikation
mit Standesinteressen und -idealen des Lehrertums sowie mit politisch-sozial begründeten Plänen
der nationalen Einheitsbildung wegfällt, da erscheint sie als eine ganz von innen heraus erwachsene
Umwälzung des wissenschafdichen Denkens und des Bildungsideals selbst. Los vom Naturalismus
116 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

und dem damit fast identischen IntellektuaUsmus, aber auch los vom Historismus und dem damit
identischen Spezialistentum und Relativismus des verknöcherten akademischen Wissensbetrie-
bes: das sind die bekanntesten Schlagworte. Die Ziele, worauf dieses Ganze geht, Vereinfachung

und Konzentration, Lebendigkeit und Ursprünglichkeit, künsderischer Geist und Sinn für Symbo-
le, Befreiung von der Konvention und Hingabe an starke Persönlichkeiten, zeigen dann nun
freilich, daß diese geistige Revolution von der politisch-sozialen recht verschieden ist und, wie sie

unabhängig von ihr entstanden ist, so im Grunde auch andere Ziele will. Sie hat einen Zug zu
Dogma und Autorität, zu persönlicher Aristokratie und künsderischer Vornehmheit. Es gehört zu
der großen Ironie der Zeit, daß, wie der sogenannte Expressionismus sich für die Revoluüons-
kunst der Massen hält, so dieser Gefühlsumschwung sich gern für die Pädagogik einer sozialistischen
Massen- und Nationalbildung hält. »Das Übermenschentum aller«, so hörte ich einmal in einer
Diskussion dieses Ideal etwas naiv bezeichnen. Bei den eigendichen Trägern des Umschwungs
aber ist von solchen Täuschungen und Assoziationen keine Rede. Sie sind sich des stark aristokrati-

schen, im Grunde von Nietzsche angeregten Charakters der Bildungsrevolution ganz bewußt und
sehen ihre sozialen Ideale ganz wo anders als in der modernen Massendemokratie. Sie suchen sie

in Piatons Politeia oder im sogenannten Mittelalter.

[. . . ] die »Revolution der Wissenschaft« ist in Wahrheit der Beginn der großen Weltreaktion
gegen die demokratische und sozialistische Aufklärung, gegen die rationale Selbstherrlichkeit der
das Dasein hemmungslos organisierenden Vernunft und das dabei vorausgesetzte Dogma der
Gleichheit und Verständigkeit der Menschen. Es ist wie damals, als Novalis von Edmund Burke
meinte, er habe ein höchst revolutionäres Buch gegen die Revolution geschrieben. Auch diese

Bücher [1] alle sind im Grunde »revolutionäre Bücher gegen die Revolution«. Es ist neue Romantik
und hängt mit der alten trotz tiefer Unterschiede eng und tatsächlich zusammen. Auch das Ringen
zwischen ästhetisch paganisierender Antichristlichkeit und katholisierender, Gesetz und Norm
suchender Chrisriichkeit kehrt in ihr wieder. Das Religionsproblem Europas liegt auf ihrem Grund,
während die Revolutionsaufklärung es überwunden zu haben meint. Wie die alte Romantik ein

Moment in der großen Weltreaktion gegen die Ideologien und praktischen Umwälzungen der
französischen Revolution war, so ist die neue ein solches in der totsicher bevorstehenden Weltreak-
tion gegen die heutige Aufklärungsrevolution und ihre sozialistisch-rationalistischen Dogmen.
Wie die alte Romantik und die aus ihr geborene historische Weltanschauung sehr viel geistreicher

war als die Aufklärungsphilosophie, so ist es auch die neue. Aber wie die alte wesendich
kontemplativ und aristokratisch und dadurch gegen die Aktivität der Revolution im Nachteil war,
so wird es auch mit der neuen sein. Sie wird keine bleibende Restauration herbeiführen, sondern
den ehernen Felsen der ökonomisch-sozialen Verhältnisse stehen lassen müssen. Aber sie wird die
herrschenden Ideologien und Lebensgefühle doch tief verändern, und vieles, was heute als

offizielle Weisheit gilt, wird uns in Bälde sehr schal und öde anmuten. Die herkömmliche
Wissenschaft der bloßen Routine und der Konventionen aber wird heute wie damals langsam
versinken und mit ihren festen exakten Gehalten und Methoden in die neue Denkweise eingehen.
Wer nicht an die im Schwang befindlichen Marxistischen oder Rousseauschen Doktrinen denkt,
sondern an die gewaltigen Industriekonzentrationen und Arbeiterorganisationen sowie an die
Umbildung der politischen Weltiage, der wird natürlich nur die Ohnmacht einer solchen Roman-
Literarische Erziehung in der Weimarer Repuhlik 117

tik sehen. Aber wer die gleichzeitige Bedeutung von Doktrinen und Idealen kennt, der wird den
geistigen Umschwung trotzdem für nichts Gleichgültiges und Wirkungsloses ansehen.

Zur Biographie von Ernst Troeltsch s. Dok. Nr. 2.

1 Troeltschs Essay ist eine Besprechung von Erich von Kahlers Schrift gegen M. Weher: Der Beruf als Wissen-
schaft (Berlin: Bondi 1920) und der Gegenschrift von Artur Salz: Für die Wissenschaft gegen die Gebildeten
unter ihren Verächtern. (München: Dreimasken verlag 1921). Max Webers Schrift Wissenschaft als Beruf,
ursprünglich ein Vortrag vor Studenten der Münchener Universität zur Orienüerung über Berufsfragen,
erschien 1919.

40
Gustav Roethe: Wege der deutschen Philologie. In: G. R.: Deutsche Reden.
Hrsg. V Julius Petersen. Leipzig: Quelle und Meyer o.J. [\9T7], S. 439-456;
hier: S. 454-456. (Gehalten als Rede zum Antritt des Rektorats der
Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. Oktober 1923)

[...]

Für Euch, Hebe Kommilitonen, ists schwere Zeit, für uns Ältere noch schwerere. Wir atmeten in

unserer Jugend reine, frische, herzstärkende deutsche Luft; heute fühlen wir eine Übermacht
drückender fremder Geistesgewalten. Goethe, dem alles Teutonische fern lag, warnte seine lieben

Deutschen doch dringend vor ausländischen Mustern im öffendichen Leben: »Was einem Volk
nützlich, ist dem andern ein Gift.« Und Umgestaltungen, die nicht aus dem innersten Kern der

eignen Nation hervorgehen, haben keinen Erfolg: »sie sind ohne Gott, der sich von Pfuschereien
zurückhält«. Daß unser Volk Katastrophen über Katastrophen überstanden hat, sich immer neu
verjüngend, das läßt uns weiter hoffen. Die deutsche Seele ist nicht tot. Wie lebte sie in der großen
Zeit des Weltkrieges! Sie spricht zu Euch aus unserer Geschichte, aus Sage und Dichtung, aus der
deutschen Musik und der deutschen Landschaft, zumal aus den Gestalten unserer Größten, aus
Luther und Friedrich, aus Goethe und Bismarck, die alle teilhatten an der großen Leidenschaft und
der unermüdlichen Arbeit des Deutschen, die alle den flachen Eudämonismus, was die Menschen
so Glück und Genuß nennen, verachteten, die alle wußten, daß nur der strenge Dienst, die treue

Pflichterfüllung, die fruchtbare Leistung des ganzen Menschen glücklich macht.


Die Wissenschaft ist ernst und schwer; sie verlangt Hingabe und Treue. Mit Schnellpressenge-
schwindigkeit, wie manche törichte Demagogen sichs einbilden oder es lärmend fordern, läßt sie

sich niemandem beibringen, am wenigsten dem Unvorbereiteten. Die beliebte anregende interes-
sante Vorlesung, wöchendich einmal abends, hat mit Wissenschaft wenig zu tun. Dieser naht Ihr

erst, liebe Kommilitonen, durch das eigne Mitringen, naht Ihr um so sicherer, je schärfer Ihr Euch
einsetzt. Lernen ist nicht Spielen. Die wahrhaft »fröhliche Wissenschaft« baut sich nur auf dem
Untergrund der strengen Arbeit auf, die endlich schöpferisch wird. Es gibt nichts Froheres als

diesen Augenblick. In der Seele der Jugend lebt heute besonders heiß der Wunsch, eine neue

deutsche Welt zu schaffen. Das ist recht so. Aber Ihr erreicht sie nur, wenn Ihr in die große Schule
des alten Deutschlands und Preußens geht, die Zukunft aus der Vergangenheit befruchtet. Nur
118 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

ernste Erkenntnis, regsam und mühsam selbst errungen, die Euch nicht als billiges Geschenk in

den Schoß fiel, gibt Euch die Freiheit, die Euch löst von dem Druck unfruchtbarer Masse und
Mode. Der herrschende Zeitgeist, was man so modern nennt, ist immer veraltet, von gestern oder
vorgestern, und führt ein moderndes Scheinleben. Seid frei durch jenen liebenden Ernst unermüdli-
chen Strebens, der im rechten Deutschen das faustische Erbteil ist!

In den schlimmen Tagen, da man überall zweifeln möchte an den guten Geistern unseres Volks,
sind wir akademischen Lehrer, das sollen wir dankbar bekennen, ungewöhnlich gut dran. Die

Jugend der deutschen Hochschulen hat sich wohl bewährt: während wir sonst mit ernster Sorge

auf verwildernde Jugend blicken, denen die wundervolle Volksschule der allgemeinen Wehrpflicht
heute fehlt, dürfen Ihre Lehrer Ihnen im frohen Gefühl guter ehrlicher deutscher Gemeinschaft
ins Auge blicken. Mein Vorgänger Weinhold [1] sah sich damals vor 30 Jahren veranlaßt, die
akademische Jugend sehr ernsthaft vor jenem Banausentum zu warnen, das nur auf die Examens-
forderungen den Blick heftet, und er hat demgegenüber zu dem treuen Fleiße gemahnt, wie er der

idealen Auffassung des akademischen Studiums entspricht. Ich habe nicht den Eindruck, daß diese

Mahnung heute besonders dringlich sei; ich bekenne aus meiner persönlichen Erfahrung, daß mir
kaum je mein engerer Schülerkreis, mein Seminar wissenschaftlich und menschlich so nah
gestanden hat wie gerade jetzt.

Ihr habt es nicht leicht: wie wenigen von Euch ist die sorglos heitere Sammlung gegönnt, mit der
wir Alten in jungen Jahren die Hallen der Wissenschaft betreten durften! Und doch fühlen wir den
kräftigen jugendlichen Hauch der Zukunft, der uns sonst in Deutschland so fremd geworden ist,

durch die deutsche Hochschule wehen. Die Feinde haben unsere deutsche Staatsform, unser
deutsches Heer und sonst alles, was unsere Stärke war, durch 1812 und 1813 [2] gewitzigt, mit
kluger Berechnung zerschlagen! Wir hoffen auf die deutschen Universitäten! Mögen sie berufen
bleiben, den rettenden ideaHstischen Geist in ihrem Schoß zu nähren, den Geist, den einst der

große Rektor des Jahres 1811, der Philosoph des Idealismus, gewaltig verkündete, auch er vom
französischen Feinde überhört, den Geist der freien, schaffenden und sich selbst bildenden

Persönlichkeit, den der geistige Vater dieser Hochschule, Wilhelm von Humboldt, über alles

stellte!

Die deutsche Philologie bekennt sich zum deutschen Worte. Haltet das deutsche Wort in Ehren!
Aber der Faust, der mit dem Evangelium Johannis ringt, verharrt nicht bei dem Wortsinne von
Xoyoq. Goethe, der Freund des Friedens, war doch zugleich der entschlossene Prophet der

schöpferischen Tat. Die Irrlehre, daß die Tat Sünde sei, ob sie sich auch durch Tolstois des Slaven
bedeutenden Namen und durch den Weisheitsmantel indischer Beschaulichkeit decke, mag sie

auch für den Orient taugen: undeutsch ist sie durch und durch. Auch das zukunftsschwere
Träumen des alten Reichs bewährte sich erst dadurch als wahrhaft deutsch, daß »wie der Strahl aus
dem Gewölke, kam aus Gedanken zuletzt geistig und reif die Tat«. Die Wissenschaft der deutschen
Philologie ist berufen, in Euch unserm ganzen Volke aus dem deutschen Worte den deutschen

Geist, den deutschen Gedanken zu künden. Euer, der einst führenden deutschen Jugend, wartet die
große Aufgabe, daß sich krönend, "wie bei unsern Ahnen, aus dem deutschen Gedanken löse die
schaffende deutsche Tat. Das walte Gott!
Literarische Erziehung in der Weimarer Republik 119

Gustav Roethe (1859-1926), ab 1890 Professor der deutschen Literaturwissenschaft in Göttingen, ab 1902 in

Wilhelm Scherers. Seit 1921 Erster Vorsitzender der Goethe-Gesellschaft.


Berlin. Schüler

Aus einem Bericht im Berliner Lokal-Anzeiger \om 29. Oktober 1919 über die Gründungsversammlung des
»Deutschnationalen Lehrerbundes« in Berlin geht hervor, daß Roethe dort als Vertreter der deutsch-nationalen
Hochschullehrerschaft einen Vortrag hielt. Darüber heißt es in dem Bericht: »Er stellte in Aussicht, daß
jedenfalls die deutschnationalen Hochschullehrer gern bereit sein würden, in den neugegründeten Bund
einzutreten. Auf diese Weise würde im Deutschnationalen Lehrerbund zum ersten Male in Deutschland eine
Vereinigung sämtlicher Gruppen der Lehrerschaft von der einklassigen Dorfschule bis hinauf zum Lehrstuhl
der Universität zur Wirklichkeit werden. Scharfe Worte fand er für die Lehrer und Lehrerinnen, die einst sich
hervordrängende Hurrapatrioten waren und plötzlich nach dem 9. November entdeckten, daß sie innerlich

schon immer Sozialdemokraten gewesen seien. Wer Lehrer sein, wer die Jugend führen will, muß sittlich stark
sein! Nie soll die Lehrerschaft Bismarck vergessen. Von ihm soll sie neben vielem anderen die Furchtlosigkeit

lernen. Vor wem denn heute sich fürchten? Die hier versammelten Männer und Frauen haben ja gerade das,
was bestimmte Kreise nicht haben: Treue, Ehre, Fleiß, Gottvertrauen. Eine der Hauptaufgaben des Bundes muß
die sein, dahin zu wirken, daß sich das deutsche Volk nicht gewöhne an die jetzigen Zustände, die unweigerlich
zur Verewigung unserer Versklavung führen müssen, und die man ohne Ausnahme auf die verderblichen
Einflüsse der Demokratie und des Parlamentarismus zurückführen müsse. >Parlamentarismus ist der zum
Prinzip erhobene Dilettantismus. Die Ausführungen des Redners lösten immer wieder begeisterten Beifall
<

aus.«
Vgl. auch den Artikel Kultusministerium von Cläre Meyer-Lugau in: Die Weltbühne 16 (26. August 1920)
Nr. 35, S. 229: »Der Geist der Universität Berlin ist eine Schande für das Reich. Rassenhaß, Klassenhaß,
chauvinistischster Hurrapatriotismus, Antisemitismus, Anrempelung kultiviertester Professoren wie Nicolai
und die Existenz eines Roethe, der eine Vorlesung beginnen darf mit den Worten: >Wir, die wir regiert werden
von Juden und Proleten das alles sieht die Regierung mit ohnmächtiger Toleranz an. Schutzhaft gibts nur
. . . <:

für Edelkommunisten und andre links stehende Männer, standrechtlich werden nur sie erschossen: was rechts
steht, erfreut sich einer Freiheit, wie sie im wilhelminischen Zeitalter schwerlich denkbar gewesen wäre.«

Vgl. ferner Georg Friedrich Nicolai, Reaktion und Universität. In: Die Weltbühne 16 (11. November 1920)
Nr. 46, S. 545-554, hier S. 548-540: » [. ] wer die ruhmvolle Vergangenheit von Deutschlands hohen Schulen
..

wirklich kennt und damit den >Geist< an den deutschen Universitäten von heute vergleicht, muß erschrecken,
zum mindesten erstaunen über das lärmende Bekenntnis zu konservativer Weltanschauung in allen Fragen des
Lebens, von den Trinksitten und dem Paukkomment bis zu den höchsten sozialen und politischen Forderun-
gen! Auch der treueste Freund deutschen Wesens muß resigniert schweigen, wenn er die brutale Intoleranz
sieht, mit der die cives academici die anders denkenden Minoritäten niederschreien; oder auch wohl nieder-

schlagen. Man kann je nach der Universität diese reaktionäre Mehrheit unter den Studenten auf neunzig bis

fünfundneunzig, unter den Professoren auf fünfundneunzig bis hundert Prozent schätzen, darf dabei jedoch
nicht vergessen, daß nur ein verschwindender Bruchteil, vielleicht Einer unter Zehnen, überhaupt politisch
interessiert Der Rest treibt einfach aus Bequemlichkeit in dem jetzt so breiten Fahrwasser der Reaktion,
ist.

leistet zwar royalistischen, imperialistischen und chauvinistischen Machinationen keinen Widerstand, steht

instinktiv dem neuen Deutschland - eben, weil es neu ist - feindlich gegenüber, wird sich aber mit ihm
versöhnen, wenn es erst alt geworden. Der Durchschnitts-Student und -Professor ist eben kein aktives >zoon
Wesen mit sozialer Verpflichtung, sondern nur ein passives, leicht hypnotisierbares >Staatsvieh<
politikon<, kein
und beschränkt sich darauf, zu jener kompakten Majorität zu gehören, die Ibsen so lebenswahr geschildert und
Le Bon so gewissenhaft analysiert hat.
Man braucht also die Gefahr der reaktionären Professoren und ihrer studentischen Gefolgschaft in ihrer
Wirkung auf die Allgemeinheit nicht zu überschätzen. Nur im Interesse der Universität selbst muß man aufs
tiefste bedauern, daß der wissenschaftsfeindliche Geist überwuchert. Wo sind die Zeiten hin, da unsre
Universitäten noch die stärksten Stützen alles geistigen und politischen Fortschritts waren, da man in ihnen
noch mit Recht den Quell der Wiedergeburt Preußens und Deutschlands sehen konnte? Dieselben Korporatio-
nen, die seinerzeit auf den Antrag des Turnvaters Jahn die schwarz-rot-goldenen Farben als erste angenommen
und für dieses Symbol des großen - nicht preußischen und nicht österreichischen - Deutschland mutig und
tapfer gelitten haben, sind heute die ersten, die ihre eignen Farben und eigene Ideale verspotten und ihre Fahne
als >Judenfahne< in den Kot ziehen. Zwar vom Pöbel ist man gewohnt, daß er am Abend >Hosiana< ruft und am
120 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Morgen sein >Kreuzige<! Aber darum brauchten doch die offiziellen Vertreter deutscher Bildung ihren einst auf
dem Wartburgfest jubelnd verkündeten Traum von der deutschen Herrlichkeit nicht zu vergessen und das alte

welterlösende Ideal deutscher Humanität nicht in Blut und Lüge zu ersticken.


Diese schnelle Wandlung wird jedoch bei nüchterner Betrachtung verständlich. Vor hundert Jahren gehörten
Studenten und Professoren noch zur aufsteigenden Volksklasse: als Söhne des bürgerlichen und zum Teil

bäuerlichen Mittelstandes mußten Anerkennung und wirtschaftliche Gleichberechti-


sie sich die gesellschaftliche

gung erst kämpfend erringen. Adel, Offiziere und Beamte spielten noch die führende Rolle im Staat, und die
Wissenschaftler schickten sich grade erst an, ihren Platz am Tische des Lebens einzunehmen; sie erwarteten
noch etwas von der Zukunft und begeisterten sich deshalb für den Fortschritt. Aber heute sitzen sie auf leidlich
bequemen Stühlen, und wenn der Tisch auch nicht Allen gar zu reichlich gedeckt ist, so hatten es doch die
Intellektuellen - und zwar grade die an der Universität amtlich diplomierten - recht gut im alten Deutschen
Reich und konnten zum mindesten hoffen, bei einiger Geschicklichkeit an erste Stellen zu gelangen: in der
wunderbar aufgeblühten Technik und Industrie gab es für sie Gold und Aufsichtsratsstellen, die Kohlenbarone
bauten ihnen Forschungsinstitute, und ein kleiner deutscher Ordinarius konnte sich nicht ganz mit Unrecht ein
großer König dünken - jedenfalls hatte er die beneidenswerteste Professorenstellung der Welt. Sie waren satt
und wußten, daß die drohende Umwälzung ihre Lebenslage nicht verbessern konnte: der deutsche Professor
würde manches von seiner souveränen Macht einbüßen und der deutsche Student die Konkurrenz der neu
aufsteigenden Bevölkerungsschicht zu kosten bekommen. Warum also hätten diese glücklich Arrivierten eine
Änderung ersehnen sollen? Warum hätten sie nicht das Lied Dessen pfeifen sollen, des Brot sie aßen?
An sichgenügte diese einfache Betrachtungsweise, um zu begreifen, warum jene seltenen Idealisten, die für
das Gute um des Guten willen kämpfen, an den Akademien noch seltener sind als sonst in der Welt, und warum
sie dort vor allem seltener sind als vor hundert Jahren: die Universitäten vom Jahre 1820 (als Studenten sich für
die Freiheit begeisterten und gegen das reaktionäre Soldatenregiment und die vom Jahre 1920
protestierten)
(als die Studenten sich umgekehrt für das Soldatenregiment begeisterten und gegen die Freiheit protestierten)
sind darum anders, weil ihr Milieu ein andres ist.

Die geänderten Klasseninteressen erklären viel, aber nicht alles. Jedenfalls sind sich, wenigstens zum Teil, die
Akademiker ebensowenig wie andre Menschen dessen bevyußt, daß sie nur für ihren verschieden aufgehängten
Brotkorb kämpfen, wenn sie sich für Freiheit oder Reaktion begeistern. Der bessere Teil unter ihnen glaubt
heute wie damals an Ideale. Aber infolge der Wandlung der äußern Bedingungen haben sich die Universitäten
auch ihrem innern Wesen nach gewandelt, und die Professoren und Studenten sind heute völlig andre
Menschen: vor hundert Jahren waren die Universitäten der klarste Ausdruck des geistig ringenden Deutsch-
lands - beim Ausbruch des Weltkrieges waren sie ein Organ der an der Macht befindlichen Regierung. Mit
großem Geschick und Erfolg hat der monarchische Staat die einstmals ihm fast gleichgeordnete akademische
Republik in den Kreis seiner Interessen gezogen und dadurch sich subordiniert. Die alma mater wollte nicht
mehr die freie Herrscherin im Gebiete des geistigen Kampfes sein, sondern fühlte sich - das Wort stammt von
einem der freiwilligen Praetorianer selbst - nur noch als >geistige Leibgarde der Hohenzollern<! Diese Selbstein-
schätzung ist bis zu einem gewissen Grade richtig; denn der Geist des Reserve-Offiziers war in den Universitä-
ten so lebendig, daß beispielsvveise Professoren abgelehnt wurden, weil sie in der Satisfaktionsfrage nicht auf
dem Standpunkt der militärischen Ehrengerichte standen.«
Vgl. auch Heinrich Fraenkels Artikel Deutsche Studenten,
in: Die Weltbühne 17 (24. Februar 1921) Nr. 8,

S. 219-224, hier S. 223 f.: »Man kann also zusammenfassend feststellen, daß unsre Dozenten- und Studenten-
schaft - von verschwindenden Ausnahmen abgesehen - eine reaktionäre Einheit von seltener Geschlossenheit
bilden. Was soll da werden? Wie soll das zertrümmerte Deutschland aufgebaut werden von geistigen Führern,
die zwar mit beiden Beinen fest auf dem Boden der gegebenen Tatsachen stehen werden, mit Kopf und Herzen
aber noch fester in den Nebelschwaden einer versunkenen Epoche stecken?
Man kann nicht erwachsene Menschen erziehen; es gibt keine Zange, welche in harte Schädel gehämmerte

und Anschauungen herausziehen könnte! Aber es gibt noch Kinder, deren Köpfe unverbildet,
fest >verankerte<

deren Seelen prägsam sind. Vergesset nicht, daß wichtiger als Kohlenversorgung, Inflationsdämmung und
Preisabbau und viel, viel wichtiger als die nächste Koalition die Erziehung dieser Kinder ist! Vergesset nicht, daß
>wirtschaftlicher Wiederaufbau< illusorisch bleibt, wenn nicht in der kommenden Generation der Geist lebt,

der,von den Schlacken einer versunkenen Epoche, von den Eierschalen menschlicher Kindheit befreit, des
neuen Tages erste Morgenröte erlöster Menschheit weisen kann. Nur, wenn ein aller Schuld entsühntes Volk
das allgemeine Wohl als tätiges Glied vertrauender Menschheit zu fördern vermag - nur dann kann Deutsch-
land genesen!«
Literarische Erziehung in der Weimarer Republik 121

Im April 1926 fand in Weimar eine Tagung deutscher Hochschullehrer statt, die das Ziel hatte, »alle
Elemente der Hochschullehrerschaft, die sich zur neuen Reichsverfassung bekennen, zusammenzuführen«.
Die Referate von Wilhelm Kahl, Friedrich Meinecke und Gustav Radbruch wurden unter dem Titel Die
deutschen Universitäten und der heutige Staat (Tübingen:]. C. B. Mohr 1926) veröffentlicht. In der Einleitung
dazu heißt es: »Ernste Gefahren, die unser nationales, politisches, soziales und akademisches Leben erschüt-
tern, drängen dazu, den Einfluß der verfassungstreuen Hochschullehrer durch wirksam organisierte Gemein-
schaftsarbeit zu steigern.
Allzu stark haben sich die Stimmungen des Mißtrauens und der inneren Abneigung gegen die Neuordnung
unseres Staatslebens in den Kreisen der Hochschullehrer festgesetzt. Allzusehr wirken sie auch auf den Geist
der akademischen Jugend und leiten ihr ehrliches und kräftiges nationales Wollen in ungesunde, ja verderbliche
Bahnen.« (S. 3)

Weitere Literatur dazu in: Jürgen Schwarz, Studenten in der Weimarer Republik. Die deutsche Studentenschaft
in der Zeit von 1918 bis 1923 und ihre Stellung zur Politik. Berlin 1970; Michael H. Kater, Studentenschaft und
Rechtsradikalismus in Deutschland 1918-1 933. Eine sozialgeschichtliche Studie zur Bildungskrise in der Weima-
rer Republik. Hamburg 1975; Ulrich Linse, Hochschulrevolution. Zur Ideologie und Praxis sozialistischer
Studentengruppen während der deutschen Revolutionszeit 1918/19. In: Archiv fiir Sozialgeschichte 14 (1974),
S. 1-114. Vgl. auch Dok. Nr. 215-217.

1 Karl Weinhold (1823-1901), Germanist und Volkskundler in Berlin. Bekannt durch seine Grammatiken für

Mittelhochdeutsch und seine Schriften zur Volkskunde.


2 Bezieht sich auf den deutschen Befreiungskrieg gegen Napoleon, besonders die Völkerschlacht bei Leipzig
im Oktober 1813, in der Preußen neben Österreich und Rußland als Sieger hervorging.

41
Anna Siemsen: Unsere Schullesebücher. In: Sozialistische Monatshefte 4 (1927)
H. 2, S. 116-120; hier: S. 116-117, 118-120.

Kein Zweifel, daß das Schullesebuch die am heftigsten befehdete Erscheinung unseres Schullebens
ist. Aber wie alle unsere Schulkämpfe geht der Streit fast ausschließlich in Fachkreisen hin und her.

Die Öffendichkeit bewahrt dergleichen Fragen gegenüber eine gelangweilte Apathie: Laß sie sich

schon streiten, mich geht's ja, Gott sei Dank, nichts an. Es geht uns aber, soweit wir uns überhaupt

für allgemeine Fragen interessieren, sehr an. Wie jede kulturelle Erscheinung ist unsere Schullek-
türe Symptom sowohl wie Ursache unseres gesellschafdichen Zustands; in Deutschland speziell

jener spezifischen Untertanengesinnung, die scheu an allen Problemen vorbeigleitet, Politik als

etwas Unanständiges perhorresziert und infolge der Unbildung, die aus dieser Gemütsverfassung
resultiert, auf jeden großen Schwindel hereinfällt.

[. . . ] Lebensnähe ist heute nicht möglich, wenn man die Klassengegensätze, die wirtschaftli-

chen Nöte, die gesellschaftlichen Kämpfe unserer Zeit verschleiert und umgeht. Da alle diese

Dinge aber politisch verdächtig sind, erhalten alle unsere Jugendschriften und Lesebücher etwas
merkwürdig Unwirkliches, Unzeitgemäßes. Selbst diejenigen, die etwas von Gegenwartsarbeit
und Arbeitsschicksal erzählen, tun das in einer Art, als ob es sich um ein Märchen oder Abenteuer

handelte. Die ganze reiche Literatur unserer Zeit, die in Lebensbeschreibungen, Erzählungen,

Abhandlungen die wirtschafüichen und damit die gesellschaftlichen Probleme den Kindern in

einer ihnen durchaus faßlichen Art nahebringen könnte, scheint für sie nicht zu existieren. Denn
alles, was über unbestimmte Stimmung und etwas sentimentales Mitgefühl hinausgeht, das gilt den
122 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Fachkreisen und erst recht den Behörden als politisch. Mit Ausnahme natürlich der »nationalen
Belange«.
Das ist wohl das traurigste Kapitel unserer Lesebuchfrage, mit welcher Selbstverständlichkeit

den Kindern, die sonst angeblich zu jung sind, um die schweren Fragen und Kämpfe der Wirklichkeit
kennen zu lernen, gegenseitiges Toten und Rauben als ein angenehmer Sport und die natürlichste

Sache von der Welt dargestellt wird. Schon unsere Heldensagen besorgen das zur Genüge, die
waffenklirrenden Balladen unserer Romantik tun ein weiteres. Und was die Bücher von moderner
Geschichte und staadichen Verhältnissen bringen, das erschöpft sich, soweit es nicht Monarchenle-
gende ist, in Kriegsgeschichten zum Teil der allerblutigsten Art und in einem Nationalismus, der
den Kindern den Eindruck hinterläßt, daß Deutschland allein durch seine Tüchtigkeit und Klug-
heit zum Herrn der Erde berufen sei. Hier erben sich die schlimmsten Traditionen der Kaiserzeit
fort: unter der wohlgefälligen Duldung einer gleichgestimmten Behörde und unter der absoluten
Gleichgültigkeit der Öffendichkeit. [. . .
]

So sehen heute unsere Lesebücher aus: die Hälfte kriegsideologisch-nationalistisch, die Hälfte
unbestimmt, verschwommen, aus Gründen einer unmöglichen und unklaren Neutralität, alle aber
rückwärts gewandt, so daß sie den Kindern ein Deutschland der Wälder, Burgen, kleinen Städte
und friedlichen Dörfer vortäuschen, das in den Bildern Moritz von Schwinds und Ludwig Richters,
aber nicht in der Wirklichkeit vorhanden ist. Das Ergebnis ist beim Volksschüler, daß er dem Leben
und der Literatur gleich fremd gegenübersteht. In den meisten Fällen findet er später überhaupt
nicht mehr ein selbständiges Verhältnis zum Buch. Im Leben muß er sich zurechthelfen, so gut

oder schlecht es geht. Wie selten die Schule ihm auch dabei hilft, darüber sollten wir uns klar sein.

Schlimmer noch steht es um den Schüler in Höheren Schulen, mag er nun männlichen oder
weiblichen Geschlechts sein, dem eine völkische Romantik die Welt verstellt, der vom Hildebrand-
lied bis zur Kleistschen Hermannsschlacht der ewigen Variation des Landsknechtglaubens begeg-
net: »Im Felde, da ist der Mann noch was wert«, und der mit ihm und ohne eine Ahnung von
internationalen Zusammenhängen und gesellschaftlichen Tatsachen dem Stahlhelm und der
sinnlosen Fronde entgegenwächst, in der sich unsere bürgerliche Jugend gefällt.

Die Hilfe? Sie ist sehr einfach und liegt sehr nahe, wenn wir uns nur auf die Tatsache besinnen,
daß die Kinder die ihnen gemäße »kindertümliche« Unterhaltung sich sehr wohl selbst, ohne
besondere Unterstützung der Erwachsenen, suchen können; daß unsere Hilfe aber durchaus
notwendig ist, um sie in die ungemein verwickelte und chaotische Gegenwart einzuführen. Dazu
dienen nicht Märchen und Sagen und romantisch verschwimmendes Biedermeiertum, sondern
eine ehrliche Darstellung der europäischen Gesellschaft und ihrer Entwickelung, wie wir sie heute

sehen. Wie die moderne Wirtschaft und Technik wurden, wie die staatlichen und sozialen

Verbände entstanden, wie die europäische Kultur sich aus Barbarei und Aberglauben hervor-
kämpfte, welcher Opfer es bedurfte, bis, nicht ein deutsches Kaiserreich, aber die Gesellschaft von

heute dastand, und welche Gefahren sie bedrohen: das ist nicht nur Inhalt der Geschichte, es ist

ebensosehr Inhalt aller Dichtung. Und dieses große HeldenHed der Arbeit, der Forschung und des
Bekennermuts ist Kindern durchaus verständlich zu machen, verständlicher, will mir scheinen, als

die Brudermorde der Nibelungen und die Menschenfresserrache Wielands des Schmiedes. Es ist

gar nicht schwer von den isländischen Bauerngeschichten bis auf Max Eyths Hinter Pflug und
Literarische Erziehung in der Weimarer Republik 123

Schraubstock [1] und Franz Rehbeins Leben eines Landarbeiters [2] eine Geschichte der Arbeit

zusammenzustellen, eine wahrhafte Dichtung, die dem Sinn des Kindes entspricht, und die
Reisebeschreibungen geben uns jedes wünschenswerte Material, das über Europa hinaus und in

primitive Verhältnisse hinein führt. Es ist nicht schwer aus den alten Dokumenten und aus neuen
Werken eine Geschichte der europäischen Demokratie in zwanglosen Lesestücken zu gestalten.

Thomas Münzer dürfte darin freilich ebensowenig fehlen wie Morus; Seume, Forster und Schubart
so wenig wie die französischen revolutionären Publizisten des 18. Jahrhunderts, wie Dostojewski)

und Tolstoj; Alexander Herzen, Louise Michel, Wjera Eigner [3] gehörten neben die Helden der
deutschen Arbeiterbewegung. Es ist sicher, daß unsere Lesebücher dadurch an Eignung für Kinder
wie an künstlerischem Wert gewinnen werden.
Und die europäische Kultur? Nur der Reichtum ist hier verwirrend, so vielfältig, in den
einfachsten, klarsten, eindringlichsten Formen ist der Kampf des menschlichen Geistes dichterisch
und propagandistisch gestaltet worden. Von den Fabeln des Mittelalters bis zu Tolstojs Volkserzäh-
lungen und Strindbergs Historischen Miniaturen, von Hütten bis Anatole France gibt es keine
Epoche, die nicht auch kindlich faßbaren Ausdruck gewonnen hätte. Wenn wir uns nur zu der
Erkenntnis entschließen, daß die Schullektüre eine internationale Angelegenheit ist. Das wird
heute allerdings schwer zu erreichen sein. Und das schwerste Hindernis-bildet die germanistische
Ausbildung unserer Oberlehrer im Deutschen.
Was den Stoff des Unterrichts angeht, so hing die Volksschule jederzeit von der Höhern Schule
ebenso ab, wie sie methodisch ihre eigenen Wege ging. Diese Abhängigkeit ist ihr nicht gut

bekommen. Seit die Prüfungsordnungen Kenntnis des Alt- und des Mittelhochdeutschen vorschrei-

ben, seit die Germanisten examinierend feststellen sollen, was der Deutschlehrer, der stärkste

Gesinnungsbildner in der Höhern Schule, zu wissen habe, sind germanische Mythologie und
deutsche Folkloristik wichtiger als europäische Kultur. Die Kenntnis der Merseburger Zaubersprü-
che und des Heliand erlaubt und entschuldigt anscheinend die völlige Unkenntnis der europäi-
schen Dichmng und Philosophie der Gegenwart. Es ist ein Jammer, daß die öffendiche Meinung
Deutschlands hartnäckig darauf besteht, solche Dinge zu ignorieren, als langweilige Fachsimpelei

abzulehnen. Ein Entschluß der großen Internationalen Organisationen für Frieden und Verständi-
gung, die Schaffung einer Kommission, die den Reichtum der vorhandenen Stoffe sonderte und
sichtete, ein Schritt beim Völkerbund und bei den Länderregierungen und Parlamenten: es müßte
möglich sein, europäische Lesebücher, europäische Jugendbücher zu schaffen. Wird dieser Ent-
schluß nicht gefaßt, so überlassen wir unsere Jugend einer geistigen Verwahrlosung, und wir
treiben sie in eine nationalistische Enge hinein, die für das spätere Deutschland wieder die Gefahr

der Isolierung bedeutet, also zu Katastrophen drängt.

Anna Siemsen (1882, Mark b. Hamm - 1952, Hamburg). Lehrerin und sozialistische Kultur- und Schulpolitike-
rin. Mitglied der USPD, später der SPD. 1928 Mitglied des Reichstags. Professur für Pädagogik und deutsche
Literatur an der Universität Jena (1932 Berufsverbot). 1933 Emigration in die Schweiz. 1947 Rückkehr nach
Deutschland. Schrieb auch Jugendbücher: Kämpfende Menschheit, 1925; Menschen und Menschenkinder aus
aller Welt 1929.

1921/22 hatte der Berliner Volksschullehrer Oskar Hübner in einer Serie von Aufsätzen unter dem Titel
Bereits
Der Lesebuchskandal im Sozialistischen Erzieher, der Zeitschrift der »Freien Lehrergewerkschaft Deutsch-
124 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

lands«, einen Angriff auf dasLesebuch veröffendicht. Im Vorwort zu seiner aufsehenerregenden Buchpublika-
tion Das Lesebuch der Republik(Berlin/Leipzig 1922) schrieb er über sein Unternehmen: »Die Arbeit üBer-
nahm ich damals in der Hoffnung, dadurch eine Auflehnung der klassenbewußten proletarischen Elternschaft,
zunächst in Berlin, herbeizuführen gegen den Unfug der Verwendung unveränderter und darum heute doch
eigendich ganz unmöglicher Lesebücher aus der wilhelminischen Ära in den Schulen des jungen Volksstaates.
Erreicht habe ich jedoch nichts. Weder hat sich das Proletariat gerührt, noch haben die Schulbehörden - soweit
ich sehen kann - irgendwie im entgegenkommenden Sinne reagiert. Man muß sie also stärker beschwören!
Deshalb übergebe ich die Angelegenheit jetzt in dieser Form der Öffendichkeit >zur weiteren Veranlas-
sung<. [...]« (S. 5) Die Mängel der von ihm analysierten Lesebücher faßt er wie folgt zusammen: »Sie enthalten
unkindliche Darstellungen statt kindertümlicher Stücke. Wie eingehend nachgewiesen, enthalten sie außer-
dem Stoffe, die dem Wesen des freien, entmilitarisierten Volksstaates widersprechen. Sie bringen in den
poetischen Stücken >olle Kamellen< von Leuten wie Friedrich Justus Bermch, Campe, Dinter, Enslin, Krumma-
cher usw., statt die neuere und neueste Dichtung zu bevorzugen. Sie bieten die Stoffe nach unliterarischen
Gesichtspunkten (z. B. Das Kind und Gott, oder, in unserem, dem Nicolaischen Lesebuch und Kapitelüber-
schriften wie: Von Treue und Freundschaft, Vom Vaterlande, Der Frühling und dergleichen) statt sie literarisch,

d. h. zeitlich und nach Verfassern zu ordnen.


Die Hauptsache aber ist: das Lesebuch leitet zur Häppchenkost an, statt die Jugend zu üben und zu
gewöhnen, literarische Ganze, Einzelwerke eines Verfassers, in sich aufzunehmen und dazu Lust zu machen.
Darum hat das Todesstündlein des Lesebuches, theoretisch wenigstens, bereits geschlagen, und alle Konzessio-
nen, die man ihm noch macht, sind in hohem Maße unzweckmäßig.« (S. 41 f.)
Eine Diskussion um die gänzliche Abschaffung des Lesebuchs wurde um diese Zeit auch in der Zeitschrift
]ugendschriften-Warte geführt. Am I.Januar 1922 (29. Jahrgang, H. 1) wurden dort folgende Leitsätze zur
Lesestofffrage veröffendicht:
»1. Das Lesebuch ist nach und nach abzubauen. An seine Stelle treten gute Jugendschriften, Quellenbücher

und diesen gleichzuachtende Schriftwerke. Bei der Auswahl isfauf die Entwicklungsstufe des Kindes und auf
ihre Verwendbarkeit im Unterricht Rücksicht zu nehmen.
2. Mit dem Abbau des Lesebuches ist auf der Oberstufe (6. bis 8. Schuljahr) zu beginnen. Eine Sammlung

guter Gedichte ist den Schülern dieser Stufe dauernd in die Hand zu geben; eine solche kann auch erarbeitet
werden. Die Lesebücher für das 3. bis 5. Schuljahr sind mit Stoffen zu füllen, die literarisch wertvoll sind und die
Kinder auch bei wiederholtem Lesen zu fesseln vermögen. Die Stoffe der Fibelstufe (1. bis 2. Schuljahr) können
den Kindern in Form von Leseblättern auf steifem Karton gegeben werden.
3. Die Kinder aller Stufen sind anzuleiten in Gemeinschaft mit Schule und Elternhaus aus Zeitungen,
Zeitschriften, Heften usw. geist-, gemüt- und charakterbildende Aufsätze, Berichte, Schilderungen, Erzählun-
gen, Dichtungen und Bilder zu sammeln, die dann dem Unterricht fruchtbar zu machen sind.

4. Neben der Klassenlektüre besteht vom 5. Schuljahre ab die Schülerbücherei als Klassenbücherei. Der
Lehrer muß sie als Bildungsmittel für die Klasse auswerten.
5. Arbeitsgemeinschaften und Ausschüsse der Lehrerorganisationen sorgen für Bekanntgabe geeigneter
Lesestoffe und für deren Prüfung nach pädagogischer und psychologischer Eignung.
6. Dem einzelnen Lehrer ist Freiheit zu gewähren, auf allen Klassenstufen zugunsten anderer Lesestoffe auf
das Lesebuch zu verzichten.
7. Die Ausbildung der Lehrer hat Geschichte und Kritik der Jugendschrift mehr als bisher in den Bereich des

Literamrunterrichts aufzunehmen und den Lehrer zu befähigen, einen vom Lesebuch unabhängigen Leseunter-
richt zu erteilen.
8. Handelskammern und Gemeinden haben die literarische Bildung der Jugend in den Schulen finanziell

sicherzustellen.
9. Die Organisation schafft Gelegenheiten, die Lehrerschaft mit den Fragen der literarischen Erziehung
vertraut zu machen.«
Weiterhin sei noch an die vergeblichen Bemühungen der Sektion Dichtkunst an der Akademie der Künste
um die Schaffung eines »republikanischen« Lesebuchs erinnert. Auf die Frage des Berliner Tageblatts nach den
eigendichen Aufgaben der Dichterakademie schrieb dazu Heinrich Mann [Antwort, in: Berliner Tageblatt vom
14. August 1931): »Die Sektion hat gefunden, daß es zu ihren Aufgaben gehört, die deutschen Lesebücher der
preußischen Schulen zu begutachten. Sie tut es im Einverständnis mit dem Unterrichtsministerium. Die
übernommene Arbeit ist verantwortungsvoll wie wenige. Auch erweist sie sich weidäufiger, als sich irgend
Literarische Erziehung in der Weimarer Republik 125

erwarten ließ. Andererseits kann der Öffentlichkeit kaum darüber berichtet werden, bevor Ergebnisse vorlie-
gen. Die Sektion, die ihren Geschäften nachgeht, hat vorerst keine Überraschungen zu bieten. Ich hoffe, daß
dies ihrAnsehen unberührt läßt. Hat man ihr jemals Autorität zugestanden, dann tat man es, indem man sie
angriff.Ebenso wertvoll wird es uns, glaube ich, sein, wenn man uns arbeiten läßt.«
Weitere wichtige Aufsätze zur Lesebuchdiskussion in der Weimarer Republik sind wiederabgedruckt in
Dieter Richters Sammelband Das politische Kinderbuch. Eine aktuelle historische Dokumentation (Darmstadt
und Neuwied 1973). Vgl. dort vor allem die Essays von Edwin Hoernle, Gertrud Alexander und Lu Märten.

1 Max Eyth (1836-1906), Maschinenbauingenieur und Verfasser populärer Erzählungen und Romane. Sein
Buch Hinter Pflug und Schraubstock (1899) enthält humorvolle, z.T. autobiographische Erzählungen und
Skizzen.
2 Franz Rehbein (1867-1909), Arbeiterschriftsteller und Journalist beim Berliner Vorwärts. In dem autobio-
graphischen Das Leben eines Landarbeiters (1911) schildert er aus sozialistischer Sicht das Leben als

Tagelöhner bei ostelbischen Gutsbesitzern im Wilhelminischen Deutschland.


3 Alexander Herzen (1812-1870), russischer Philosoph und revolutionärer Schriftsteller, befreundet mit Karl
Marx gesammelten Werke erschienen 1917-1923; Louise Michel (geb. 1835), französische
in Paris. Seine

Anarchistin, an der Pariser Kommune 1871 beteiligt, nach deren Niederschlagung langjährige Kerkerhaft,
ihre memoires erschienen 1886; Wjera Eigner (1852-1942) war 1881 an der Ermordung Alexanders IL
beteiligt, wurde zum Tod verurteilt, dann begnadigt. Ihre Erinnerungen Nacht über Rußland erschienen in

deutscher Übersetzung 1926.

42
Walter Schönbrunn: Die Not des Literaturunterrichts in der großstädtischen
Schule. In: Die Erziehung 4 Qanuar 1929) H.4, S. 252-259; hier: S. 252-255.

Alle Lehrer leiden unter der Krisis der höheren Schule, keiner so sehr wie der Deutschlehrer. Die
höhere Schule macht nicht nur der Schülerzahl nach eine Inflationskrisis durch, sondern auch in

ihren inneren Werten. Inflationswerte erscheinen erst recht erfreulich, dann aber stellt sich ihr

Goldwert gleich Null heraus. Hoffentlich bricht nicht die »Bildungs«schule als solche ganz
zusammen. Diejenigen Fächer, die sich auf irgendeinen Nützlichkeitswert zurückziehen können,

werden den Wandel scheinbar mitmachen können. Der Deutschunterricht ist, ehrlich zugegeben,

in einer verzweifelten Lage.

Auch die Jüngsten unter uns stammen noch aus der Zeit, wo selbstverständlich die Hauptauf-

gabe des deutschen Unterrichts die Übermittlung der Schätze der deutschen Literatur war. Auch
wenn wir dem neuen Zeitgeist, der erst in den allerletzten Jahren mit Riesenschritten sich
folgerichtig weiter entwickelt, weitgehende Zugeständnisse machen, selbst dann können wir uns
in unserem eigensten Wesen von jener früheren Aufgabe in keiner Weise frei machen. Aber diese
Aufgabe ist im Begriff, unlösbar zu werden.
Natürhch sind es erst mal äußere Umstände, die erschwerend sich dazwischen geschoben
haben. Es ist die viel erörterte Tatsache, daß der Stoff sich so unglaublich vermehrt hat. Kunstge-
schichte und Volkskunde sind ganz neu hinzugekommen. Die Sprechübungen und die Fülle der

stihstischen Übungen nehmen viel Zeit weg. Dramatische Versuche sollen sich hier einschieben.
Vor allem die Methode des Unterrichtsgespräches erfordert verzweifelt viel Raum und führt mit

Notwendigkeit immer wieder mal vom Thema ab. Andererseits haben - viel zu wenig beachtet -
126 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

die Kurzstunden den kümmerlichen Raum von drei oder vier Wochenstunden noch weiter
eingeengt. Die Ausflugstage, der Sport und die Menge der außerschuHschen Betätigungen der
Schüler schmälern ihre Arbeitszeit.
Aber all das könnte der Deutschlehrer in Kauf nehmen, wenn nicht der Versenkung in die

deutsche Literatur ein viel schlimmeres Hindernis sich in den Weg stellen würde. Und das ist der
neue Geist unserer heutigen Jugend. Es ist selbstverständlich, daß er sich noch nicht überall in

gleicher Stärke bemerkbar macht. Besonders in der Provinz leben die Schüler ja oft noch in der
alten Einstellung zur Schule, mit der sie gleichmütig und ohne viel Nachdenken die Aufgaben und
Forderungen hinnehmen, ohne eigenes Interesse, also auch ohne persönliche Einstellung und
darum ohne jeden Protest. Aber unaufhaltsam dringt von den Großstädten aus eine bewußtere

Haltung der Jugend durch, mit bewoißtem Geschmack, der verlangt, berücksichtigt zu werden. Wo
wirklich Arbeitsunterricht nicht bloß Phrase bleibt, sondern in die Tat umgesetzt wird, muß
natürlich Anschauung und Stellungnahme des Schülers selbst immer mehr sich bestimmend in

den Vordergrund schieben.


Das Wesen dieses neuen Geistes ist, daß er vollkommen unromantisch sich gebärdet. Alles

Romantische wird mit Spott und Hohn empfangen oder als völliger Unsinn mehr oder weniger
offen zurückgewiesen. Das Traditionslose unserer Zeit, ihre Traditionsfeindlichkeit kommt dazu
und wirkt in gleichem Sinne. Romantik bedeutet ja im Besonderen Sinn für Tradition.

Je mehr sich unsere höheren Schulen füllen mit den Kindern der unteren Stände - und das wird
ja in nächster Zeit ungeheuer zunehmen - desto mehr wird dieses traditionslose Element anwach-
sen. Aber auch die übrige Schülerschaft geht der Tradition immer mehr verloren. Je moderner
diese Schülerschaft eingestellt ist, je zahlreicher sie aus Familien neuzeitlichen Geistes stammt und
mit je klareren Augen sie selbst die Gegenwart in sich aufnimmt, desto bewußt feindHcher ist sie

gegen Romantik, Sentimentalität, Tradition überhaupt. Unsere Zeit an sich, ihre Baukunst vor
allem beweist es, will jeglichen verbindenden Zusammenhang mit der Vergangenheit zerbrechen,
und besonders die gefühlsmäßige, kleinbürgerÜch-gemütiiche und gemütvolle Einstellung des

vorigen Jahrhunderts findet keinerlei Gnade.


Es gibt nun moderne Deutschlehrer, die diesen Prozeß klar fühlen und ein Heilmittel darin zu
finden glauben, daß man die Jugend von aller fremder Kulmr frei machen müsse. Also hinaus mit
allem Sprachbetrieb, vor allem endgültig Schluß mit der Antike. Führen wir die Jugend ein in die
Welt, die ihres Blutes ist, lassen wir sie aufwachsen in den geistigen Strömungen der alten

deutschen, besonders der mittelalterlichen Kultur. Diese wohlgemeinten Bestrebungen verkennen


das Wesen heutiger Jugend, ihre ganze psychologische Struktur vollkommen. Wie immer kurz vor
einer Katastrophe sind es gerade diese Rettungsversuche, die die Katastrophe nur beschleunigen

helfen. Die Lage ist nämlich in Wahrheit so, daß höchstens auf dem humanistischen Gymnasium es
heutzutage überhaupt noch mögHch ist, diese altdeutschen Werte an die Jugend heranzubringen,

da nur hier noch ein klein wenig die Möglichkeit besteht, in dem Schüler den Sinn für geschichtli-
che Werte, für die großen geistigen Strömungen der Menschheit zu wecken. Und wenn sich eine

Strömung gegen das Gymnasium geltend macht, dann geht sie in Wahrheit gegen jegliche
Literatur und gegen jede geistige Versenkung. Gerade jene Deutschlehrer werden erstaunt sein,

wenn ihr Ziel, das Verschwinden des humanistischen Gymnasiums erreicht werden sollte.
Literarische Erziehung in der Weimarer Republik 127

Andererseits ist es natürlich für einen einzelnen hochbegabten und für seine Ideen begeisterten

Lehrer immer möglich, seine Schüler zur Liebe für die Literatur hinzureißen. Er wird sich einen
Leseabend gründen. Er wird alle die sonstigen Bestrebungen des Deutschunterrichts, die nichts

mit Literatur zu tun haben, nur flüchtig streifen. Er wird bei seinen Schülern allgemeine Anforde-
rungen an ihre häusliche Arbeitskraft stellen. Er wird vor allem selber einen übermenschlichen
Kampf besonders innerhalb der einzelnen Stunden leisten. Aber diesem Kampfe wird keiner von
uns auf die Dauer physisch gewachsen sein. Es sind zu starke Kräfte wider uns.
An sich ist es immer möglich, die gesamte Jugend umzustellen. Aber der Kampf der ganzen Zeit
geht gegen jede literarische Bildung überhaupt.
Es wird nichts übrig bleiben, als verlorene Posten offen und rückhaltlos aufzugeben. Vielleicht ist
dann noch irgend etwas zu retten. Völlig verlorener Posten ist aber eben alles, was irgend
romantischen Beigeschmack hat. Bald nach dem Kriege fing es an, daß die geistig fortgeschrittene-
ren Kreise der Jugend über ein Gedicht von Eichendorff lachten. Aber damals war es mehr ein

Überdruß an diesem leichten Reimgeklingel. Dann folgte die Zeit, wo man mit einer gescheiten
Klasse nicht mehr in eine Ausstellung von Böcklin gehen konnte, weil eine neue starke Kunstströ-
mung durch unser Volk zu dringen begann: Die Zeit des Expressionismus verlangte nach eindring-
lichster Gestaltung stärksten Innenlebens. Immer wandte sich die Einstellung ab von allem bloß
formalen Künsdertum. Es kamen die Jahresarbeiten der wirklich Musikbegabten, die zum Schrek-

ken ihrer Lehrer es wagten, Wagner herunterzureißen. Nur Tristan und Isolde konnte sich noch
behaupten. Damals konnte man freilich noch Kellers Grünen Heinrich lesen. Jetzt kann man das
wirklich nur noch an den Schulen, die recht weit im Hinterlande liegen. Selbst Keller kann ja nicht

seine Herkunft aus einer Zeit kümmerlichsten Spießbürgertums verleugnen. Damit sank zugleich
gerade die Heimatdichmng, auch die bedeutende, als unwesendich zusammen. Der Realismus, im
Grunde ja immer kleinbürgerliche Milieuschilderung, hatte nichts mehr zu sagen. Sie hängt auch

mit spätromantischen Gefühlen zusammen. Wo bleibt da alles, was uns so sehr am Herzen lag?

Reuter und Brinckmann [1], Storm und Raabe?


Es wuchs der aktivistische Geist unserer Jugend. Mit nüchterner Kritik wurden die Erzeugnisse
der Vergangenheit betrachtet. Nur bei einer künsdich schülerhaft gehaltenen Generation kann es

der Lehrer noch wagen, Dramen von Lessing zu lesen. Emilia Galotti wird sonst als Groteske
empfunden. »Das kann unmöglich ernsthaft gemeint sein.« Das Gespreizte, Unwirkliche an
Nathan wirkt wie ein Witz. Man könnte sich freuen über die durchbrechende Ehrlichkeit der
Empfindung, deren Berechtigung kaum mehr zu leugnen ist.

Dazu kommt nun in allerletzter Zeit noch die völlig veränderte Erotik und Sexualauffassung und
im Zusammenhang damit der völlig neue Typus des modernen Mädchens. Auch das untergräbt
das Interesse und das Verständnis besonders der früheren Dichtung, die bislang im Mittelpunkt des
Deutschunterrichts stand. Noch nie wirkte Thekla [2] so lächerlich wie jetzt. Aber auch Luise
Millerin [3] hat Schmerzen, die einfach nur noch resdos komischen Eindruck machen. Die Tragik
der Gretchentragödie ist verblaßt und die Reinheit Hermanns [4] läßt den Gedanken an Verlogen-
heit aufkommen. »Dienen lerne das Weib bei Zeiten nach seiner Bestimmung«, das fordert kaum
noch zum Widerspruch heraus, so unendlich fern steht das. Eine Götterdämmerung bricht über

unsere Uebsten Dichtwerke herein.


128 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Ja, es scheint noch schlimmer zu kommen. Wenn man sich fragt: Stammt diese Ablehnung aus
einer bewußten eigenen positiven Richtung, die eben wie immer in der Kulturentwicklung aus
Selbsterhaltungstrieb einfach das Frühere für eine Weile nicht mehr erträgt, und wie sieht denn nun
diese neue eigene Literaturrichtung aus? Welche Dichtungsform und welcher Dichtungsstoff
entspricht denn nun unserer Zeit des Radios und des Kinos, der kniefreien Röcke, der Sensations-
prozesse, der dachlosen Häuser, der Sportrekordleismngen? Wo ist sie, damit wir sie erst mal mit
der Jugend lesen, um wieder Fühlung mit unserer Jugend zu bekommen? - Dann muß vielleicht

jetzt die Antwort kommen, einer solchen Zeit entspricht nur völlige Abwendung von Buch und
Dichtung und Theater überhaupt. »Müde legt der Europäer das Buch aus der Hand«, hatte
Spengler prophezeit. Nein, nicht müde, aber gleichgültig, achselzuckend, spöttisch lächelnd. Denn
schon im Lesen eines Buches, jedes Buches steckt ein Funken Romantik darin. Vielleicht paßt

gerade noch in unsere Zeit das Buch des exklusiven Kreises, Stefan George [5] - ein in der

geheimnisvollen mystischen Sprache fremdester Völker etwa der Griechen geschriebener geistiger
Schatz - das Buch des Menschen, der, seiner geistigen Überlegenheit bewußt, hochmütig sich
zurückzieht. Dann das Sensationsbuch des schlechten Geschmackes. Aber alles andere ist totgebo-
rene Schöpfung. Der Deutschunterricht befindet sich in einer tragischen Situation. [. . .
]

Waker Schönbrunn (1889, Breslau - ca. 1960), Dr. phil., Germanist und Altphilologe. Seit 1927 Oberstudiendi-
rektor in Berlin. 1933 zurückgestuft zum Studienrat. Ab 1949 Oberstudiendirektor am Katharineum in
Lübeck.

Schönbrunn geht in den folgenden Teilen seines Aufsatzes auf die Hauptaufgabe des modernen Deutschunter-
richts ein: nämlich die praktische Schulung des schriftlichen und mündlichen Ausdrucks und des Denkens mit
dem Ziel, den Schüler zu einem »aktiven, tätigen Menschen« zu machen: »Aus solcher Hauptaufgabe heraus
wird oft nicht die Dichtung, sondern gerade die theoredsche Schrift, der Aufsatz, die Zeitung, die Rede einer
führenden lebenden Persönlichkeit als Hilfsmittel heranzuziehen sein. Besonders Schriften kulturellen Inhalts,
Reden auf großen Tagungen dürfen nicht fehlen.
Wenn also einerseits Umstellung des deutschen Unterrichts aus einem bloß betrachtenden in einen tätigen,
aktivisrischen, Gebot der Zeit ist, so kommt andererseits dort, wo Dichtung in Frage kommt, erst mal nur
moderne Dichtung in Frage. Erst mal muß überhaupt das, was unseres Geistes ist, aufgegriffen werden, und
dann kommt es darauf an, von hier aus, ähnliche Erscheinungen herbeizuziehen oder die Wurzeln für das zu
uns Gehörige in der Vergangenheit zu suchen. Der Weg wird zeitlich genau umgekehrt zu gehen sein als die
Entwicklung der Literatur selbst ihn ging.
Es wird uns also in Prima die Frage beschäftigen, wie sieht denn nun eigentlich unsere Literatur aus. Gibt es
sie? Kann es sie geben? Dabei aber ändert sich Ziel und Sinn dieser und jeder Literamrbetrachtung. Literamr
wird nicht mehr gesucht als Genuß, sondern der Stärkung unseres Seins, d. h. also Literatur wird
als Hilfsmittel

erarbeitet als Kampfmittel im Dasein. Das aber nach den Grundtendenzen unserer Zeit ja noch die einzige
ist

Möglichkeit ihrer Daseinsberechtigung. Dichtung wird Kampfmittel des Einzelnen als Einzelnen und Kampf-
mittel des Einzelnen als Angehörigen einer Klasse. An Stelle der ästherischen Betrachtung tritt die soziologi-
sche, die dann ihrerseits wieder erst zuletzt in defere Erfassung auch der ästhedschen Form mündet. Kulturphi-
losophie tritt anvon Dichtungserklärung. Sie geht den Tendenzen unserer Zeit entsprechend oft in
Stelle

psychologische Betrachtung über. Wenn Dichtung so wieder eine Rolle im Leben der Jugend spielen soll, so
muß diese Jugend erst mal zu der Erkenntnis geführt werden, daß sie in einem solchen Kampfe - sei es
individueller Art, sei es Klassenkampf - steht. Dann wird es leicht sein, an proletarische Jugend, besonders bei
Volkshochschulbestrebungen, heranzukommen. Bei bürgerlicher Jugend wird der Kampf der Jugend als

solcher um ihre Eigenrechte und ihr Sondersein eine größere Rolle spielen. Aber gerade auch sie sollte
heutzutage sich stärker bewußt werden, daß Emtreten für eine bestimmte Dichtung für sie ein wichdges Mittel
der Selbstbehauptung sein kann.« (S. 258)
Literarische Erziehung in der Weimarer Republik 129

Die Frage, ob die zeitgenössische Literatur in den Deutschunterricht einbezogen werden soll, wurde in den
pädagogischen Zeitschriften häufig diskutiert. Vgl. vor allem die Auseinandersetzung in der Zeitschrift für
Deutschkunde um 1931/32. Als Antwort auf einen Aufsatz von K. Steigleder {Die Bedeutung der neueren
Literatur in dem Unterricht der höheren Schule in: Zeitschrift für Deutschkunde A5 [1931] H. 10, S. 638-648)
argumentierte Bernhard Bosch [Das Schrifttum der Gegenwart und die Höhere Schule in: ebd., 46. Jg. [1932]
H. 4, S. 221-231), daß in Steigleders Konzept, »zu viele Literaten - und zu wenig bodenständige Heimat- und
Volksdichtung« berücksichtigt »Wo soll die Jugend höchste Werte finden lernen, wenn nicht in Religion,
sei:

Natur, Heimat, Deutschtum? Darum vermisse ich Dichter wie Billinger, Bertram, Blunck, Burte, Carossa,
R Ernst, Federer, Ginzkey, Gott, P. Grogger, Hesse, Kolbenheyer, Löns, Morgenstern, Polenz, R. Schaumann,
L Seidel, Stehr, E. Strauß, Sturmann, während andere stark vernachlässigt sind wie Rilke, W. Schäfer, George.«
(S. 222)
Vgl. dazu auch Walter Schönbrunn: Kann moderne Dichtung in der Schule gelesen werden"? In: Die Erzie-
hung? (März 1932) H.6, S. 335-349: »Überraschend schnell hat sich die Forderung durchgesetzt, daß der
Literatur der Gegenwart ein größerer Raum im Deutschunterricht unserer Schulen eingeräumt werden müsse.
Noch den Ratschlägen der Richtlinien war die moderne Literatur im wesentlichen den Arbeitsgemeinschaf-
in

ten überlassen worden. Wenn heute modernes Schrifttum im normalen Unterricht vollständig übergangen
wird, so gilt das allgemein als schwere Unterlassungssünde. Es Linn auch als Allgemeingut der Lehrer aller
Richtungen gebucht werden, daß die Zeit für die Behandlung der modernen Dichtung zwar nicht durch
Zurückstellung der klassischen Literatur, aber doch durch eine gewisse Einschränkung dieser gewonnen
werden müsse. Man denkt da vor allem an Ausscheidung so zeitraubender Werke wie etwa Dichtung und
Wahrheit, Wilhelm Meister, des zweiten Teiles des Faust und der großen theoretischen Schriften von Lessing.
Auch die späteren Dramen von Schiller, sogar der Wallenstein werden schon im allgemeinen für entbehrlich
gehalten. Auch die Beschränkung der mittelalterlichen Literatur - besonders unter Verteilung der einzelnen
Geistesgruppen auf verschiedene Altersstufen - stößt kaum noch auf größeren Widerspruch.« (S. 335).

1 Fritz Reuter (1810-1874) und John Brinckmann (1814-1870), niederdeutsche Heimatdichter.


2 Thekla ist der Name der Tochter Wallensteins in Schillers »dramatischem Gedicht« Wallenstein.
3 Luise Millerin heißt die Protagonistin in Schillers bürgerlichem Trauerspiel Kabale und Liehe.
4 Bezieht sich auf Goethes Versepos Hermann und Dorothea.
5 Stefan Georges (1868-1933) fünfzehnbändige Gesamtausgabe der Werke erschien von 1927 bis 1934 bei
Bondi in Berlin. 1928 hatte er Das neue Reich veröffendicht.

43
p. n.: Was wissen unsere Abiturienten von der modernen Literatur?
In: Die literarische Welt 6 (28. November 1930) Nr. 48, S. 9.

Um festzustellen, welches Wissen über Gestalten, Werke, Richtungen und Epochen der deutschen
Literatur die jungen Studenten von der Schule mitbringen, hat der Gießener Literarhistoriker

Prof. Karl Victor im 1. Semester stehende Germanisten einen Fragebogen ausfüllen lassen. Das
Ergebnis der ohne Namenangabe und unter Klausur beantworteten Rundfrage ist, trotzdem oder
gerade weil nur junge Leute befragt wurden, bei denen besondere literarische Neigungen vorauszu-
setzen waren, erschreckend. Für die klassische Literatur zwar befriedigten die Antworten, auch für

die realistische Epoche des 19. Jahrhunderts, für Raabe, Keller, Storm waren sie gut, von den
großen Dichtern der Gegenwart aber wußten nur wenige der Befragten etwas. Die Hälfte nannte
allerdings Gerhart Hauptmann als Vertreter des deutschen Naturalismus, Stefan George jedoch
kannte nicht einmal die Hälfte; nur 5 Prozent konnten ein Gedichtbuch von Rilke angeben, ein
Zehntel nur wußte zu sagen, welcher literarischen Richtung Hofmannsthal angehörte, und nicht
130 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

mehr hatten etwas von ihm gelesen. Die Frage: >Welcher lebende Schriftsteller oder Dichter gefällt

Ihnen am besten ?< beantwortete nur ein Drittel; ein Fünftel nannte Thomas Mann, ein Zehntel

Werfel, andere nannten hier - Raabe, ferner Adolf Bartels [1], Rudolf Herzog [2] und Frank Thieß
Wenn unsere Abiturienten von den Lyrikern unserer Zeit und den besten Dichtern kaum den
[3].

Namen wissen und von ihren Werken fast nichts kennen, so müssen, stellt Victor fest, die
Forderungen, die an den deutschen Unterricht der höheren Schulen zu stellen sind, wenn sie auch
an vielen Anstalten erfüllt werden, doch noch nicht Gemeingut geworden sein.

Zur Stellung der modernen Literatur an den Universitäten vgl. Ernst Robert Curtius, Was nicht lehrbar ist. In:

Berliner Tageblatt (12. Oktober 1930) Nr. 482:


»Für die Psychologie der Nationen ist nichts interessanter als das System der Voraussetzungen, die einer jeden
von ihnen selbstverständlich und darum unbewußt und unausgesprochen sind. Würde man untersuchen,
welche Voraussetzungen für die Deutschen typisch sind, so dürfte eine der vorgefundenen mit Sicherheit
lauten: >Alles, was existiert, soll Gegenstand des Unterrichts sein.< Wir haben ein unbändiges Bedürfnis nach
Schulung und System und wir träumen alle mehr oder weniger bewußt von einer Art Universalschule, in der
alles auf der Welt Vorkommende, von der Kaninchenzucht bis zur Kosmeük gelehrt und wissenschaftlich

vertreten würde. Es ist aber sehr zweifelhaft, ob die moderne Literatur zu den lehrbaren Gegenständen gehört.
Ich glaube, daß hier eine Verwechslung vorliegt. Moderne Literatur ist Ausdrucksform eines Lebensprozesses.
Unter Lebensprozeß verstehe ich eine Form des Geschehens, welche nur in einer einzigen Art sinnvoll erfaßt
werden kann, nämlich in der Form des Mitlebens. Moderne Literatur muß man also lieben und hassen, man
muß sich für sie begeistern und sich über sie entrüsten. Man muß - falls man überhaupt etwas müssen muß -
einen innigen Lebenskontakt mit ihr suchen. Das ist das Beste und Erfreulichste, was einem mit ihr passieren
kann. Gute Vorlesungen über moderne Literatur können selber nur aus solchem Lebenskontakt hervorgehen
und sind naturgemäß Sache des jungen Privatdozenten, dessen Lebensgefühl davon bestimmt wird, daß er
neues zu sagen hat und es nun endlich sagen darf. Ich glaube, daß unsere deutschen Universitäten nicht arm
sind an solchen Vorlesungen und an solchen Dozenten. Als ich vor undenklichen Zeiten in Berlin studierte,
hielt der ausgezeichnete und scharfsinnige Max Hermann Übungen über Hofmannsthal ab. Das war damals

wohl eine kühne Neuerung und wurde mit dankbarer Begeisterung genossen. Seitdem hat sich aber an unseren
Universitäten doch einiges verändert, und ich kann nicht finden, daß die moderne Literatur ungebührlich
zurückgesetzt wird. Sollte das dennoch der Fall sein, so rate ich allen jungen Kommilitonen, aus dieser Situation
eine Tugend zu machen. Man muß es recht herzhaft genießen, wenn akademische Einrichtungen schadhaft
oder mangelhaft sind. Es ist ein schönes Bewußtsein, für das ich vollstes Verständnis habe, wenn man sich
sagen kann: wir kennen und lieben neue Dichter, von denen die Universität nichts weiß. Ich würde das Gefühl
dieses schönen Geheimnisses nicht gern hergeben für eine Pflichtvorlesung über die sämtlichen Werke unserer
jungen Originalgenies.«

1 Adolf Bartels (1862-1945), Heimatdichter mit naüonal-völkischer Tendenz, antisemitischer Literamrhistori-


ker, Mitbegründer der sogenannten »Heimatkunst«.
2 Rudolf Herzog (1869-1943), Unterhaltungsschriftsteller der Jahrhundertwende.
3 Frank Thieß (1890-1977), Romanautor und Essayist.
Literarische Erziehung in der Weimarer Republik 131

44
Albert Malte Wagner: Wissenschaft, Universität, Literatentum. In: Die Tat 23
(November 1931) H.28, S. 657-666; hier: S. 658-665.

[. . .
] Je feindseliger und gleichgültiger sich die Professoren gegenüber allem neuen Wollen im Staat

und im Leben bezeigten, um so leidenschaftlicher und naiver verlangte die Jugend von einer
verwandelten Wissenschaft die Führung zu einer neuen Kultur, deren Grundlage ein neues, von
aller »Vernünftigkeit« freies Leben sein sollte. Je doktrinärer die Universität am Alexandrinertum
festhielt -, das durch den Feuilletonismus des Kollegs als falsch verstandenes Zugeständnis an ein
ebenso falsch verstandenes neues Geschlecht nicht gelockert, sondern betont wurde - um so
hemmungsloser warf sich die Jugend einem Prophetentum in die Arme, das die Geschichte

benutzte, um mit seinen Gundelfingerchen [1] die eigenen Seelenschmerzen aufzusagen.


Die Universität, die Professoren und das, was sie für Wissenschaft ausgaben, waren schuld, daß
an die Stelle ihrer Muskelphilologie das andere, ebenso falsche Extrem trat, die Seelenphilologie,

die an Stelle der angeblich allein »exakten« Forschung die psychologisierte Weltanschauung setzte.
Wissenschaft wurde identisch mit Weltanschauung und ihre Sklavin. Der heroische Mensch
wurde Spiegel einer Seelen-Kultur und Ausdruck einer Problematik, die man künstlich in den

historischen Stoff hineininterpretierte.

Nur ganz wenige dieser »Schau«-Bücher vereinten die Kraft der Gestaltung mit dem Ethos des
wissenschaftlichen Forschers. Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geiste ein Werk, von dem
man hoffte, daß es eine neue Epoche der Literaturgeschichtsschreibung einleiten würde, blieb fast

ohne Nachfolge. Gustav Roethe [2] wurde nicht durch ]acob Burckhardt [3] überwunden,
sondern an die Stelle Roethes trat Emil Ludwig. [4]

Der Feuilletonismus löste das Alexandrinertum ab. Der Mangel an Geist-Reichtum bei den
Fakultäten trieb die Jugend in die Arme des Literaten, der den Geist zwar der Wort-Wirkung
unterwarf, durch den Willen zur Form den Willen zur Sache vergewaltigte, aber eben dadurch
einen Hunger stillte, der riesengroß geworden war durch einen Positivismus, der die Sache nur
deshalb nicht vergewaltigte, weil er sie nicht sah und dem sich die Form, selbst wenn er sie gewollt

hätte, weigern muß, weil seine Sache ohne Form war. Die Wissenschaft der Universität hatte mit
dem Leben nichts mehr zu tun. Kein Wunder daher, daß sich die Jugend von den Literaten ein
»Leben« aufschwatzen ließ, das nichts mehr mit Wissenschaft zu tun hatte.

Die Jugend war wissenschaftsfeindlich, weil Roethe ein Sinnbild für die Wissenschaft geworden
war. Die Jugend wollte den künsderischen Weg, um die Vergangenheit zu verstehen. Die Jugend
wollte das »Leben«, um die Historie zu ertragen. Sie empfand nicht, daß sie von den meisten der
»Lebensphilosophen« [5] betrogen wurde. Sie wollte von der »Forschung« nichts wissen, weil sie

die Professoren, die sie nicht ausübten, für ihre Repräsentanten und die »künstlerischen Darstel-

ler«, die nicht forschten, sondern phantasierten, für Wissenschaftler hielt. Die Jugend hob den
»Literaten« auf den Schild, dessen Herrschaft das geistige Leben der Naüon bestimmte, wie es

früher bestimmt wurde von dem Professor, der das sein durfte, weil er gleichzeitig Bekenner war.
Der Literat? Seit Lessings Siegen über akademisches Bonzentum, das dem geistigen Deutsch-

land, zum erstenmal wieder seit den Tagen des Humanismus, zeigte, was die verlorengegangene
132 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Bindung zwischen Wissenschaft und Literatentum bedeutete, sind alle großen Leistungen der
Folgezeit Ergebnisse dieses Bündnisses.

Alle großen Gelehrten des 19. Jahrhunderts waren groß, weil sie auch große Literaten waren.
Die deutsche Universität konnte höchste Instanz in allen kulturellen Fragen werden, weil nicht
Fächer besetzt, Ämter ersessen, sondern Persönlichkeiten berufen wurden. Persönlichkeiten, die
das empfindlichste Verantwortlichkeitsgefühl des Forschers und weites Wissen verbanden mit der
Leidenschaft des Reformators und der Darstellungskraft des Künstlers. Der letzte große Repräsen-
tant dieser Generation, zugleich alle seine Vorläufer überstrahlend, ist Nietzsche. Äußerlich hat

sich Nietzsche von der Wissenschaft getrennt, als er sein Baseler Lehramt aufgab. Aber auch wenn
wir nicht - durch Ernst Howald [6] - wüßten, daß Nietzsche niemals von der Wissenschaft ganz

losgekommen ist - seine Angriffe gegen sie und ihren »Geist« beweisen, daß sie erfolgten, weil aus

beiden etwas geworden war, was sie von den Generationen trennte, die aus ihnen Wissenschaft

und wissenschaftlichen Geist gemacht hatten. Warum - das sagt das Schicksal des jungen

Nietzsche selbst. Weil Ritschi [7] seine philologischen Arbeiten bewundert, erhält er die Professur

in Basel. Als Die Geburt der Tragödie erscheint, wendet sich der Lehrer von dem »Schüler«, und in
Bonn, der hohen Schule der Philologen, wird Nietzsche als nicht normal, als wissenschafüich tot
erledigt: ein Sinnbild für die Trennung der beiden Funktionen, die vorher vereint waren: von
Wissenschaft und Literatentum. Die Gehurt der Tragödie erschien im Gründungsjahr des neuen
Reichs. Je weiter wir in diesem fortschreiten, um so schärfer tritt die Trennung hervor. Sie bekam
beiden schlecht. Gottsched und Klotz [8] waren wieder da. Die Wissenschaft wurde immer enger,

alexandrinischer, unlebendiger. Das Literatentum immer flacher, feuilletonistischer. Die Wissen-


schaft wurde beamtisiert, das Literatentum zuchdos. Beide: unwahrhaftig.

Die Situation der Universität spiegelt sich in der Situation der Zeit. Von innerer Erneuerung ist

nur wenig mehr die Rede - man empfindet sie fast als Phrase. Als Max Weber vor zehn Jahren von
Wissenschaft als Beruf [9] sprach, als er sich dagegen wehrte, daß man zuviel verlange, wenn man

den akademischen Lehrer als Führer fordere, wurde ihm von der Jugend die Wissenschaft als

Berufung vorgehalten, die zwar durchaus nicht den Professor als Gouvernante wollte, wohl aber
als Bekenner und Träger einer Idee. Ging es damals um um die
die innere Berufung, so heute

äußere der Berufung auf einen Lehrstuhl,um die hier herrschenden Methoden der Fakultäten und
um die Betrachtung der Wege, die zu einer Änderung dieser Methoden führen können, um Kolleg
und Seminar und Examina - die »Studienreform« hat die Reform der Gesinnung erschlagen.
Die Folge dieses Bildungs-Phlegmas. Die Studenten sind da angelangt,
-^
wo die Professoren schon
lange stehen. Sie negieren die Universität, weil sie an ihre Idee nicht mehr glauben, aber sie

benutzen sie. [. .
.]

Die Scherer-Schule [10] tötete den Geist - und war daher einem Staat willkommen, der in der

Universität nicht den Ausdruck eines eigenen geistigen Lebens erblickte - das, je eigener es ist, um
so stärker auch die Staats-Idee fördert, wenn man unter Staat die Gemeinschaft freier Bürger
versteht-, sondern die Pflanzstätte einer vorschriftsmäßigen Gesinnung, einer Vorbereitungsan-

stalt für seine Beamten, die nicht nach ihrer geistigen Spannkraft und Leistung, sondern nach
ihrem (äußerlichen) Wissen, dessen Äußerlichkeit durch Examina legitimiert wurde, und nach
Literarische Erziehung in der Weimarer Republik 133

ihrer Bravheit gewertet wurden. Nirgendwo ging die Unterwerfung der Wissenschaft unter die
Macht reibungsloser vor sich als bei Scherer und seinen Schülern. Sehr begreiflich: da auch Scherer
sich nur auf ein Strebertum stützen konnte, das sich überall da einstellt, wo der Geist fehlt.

Germanisten und Staat begriffen sehr schnell, daß sie aufeinander angewiesen waren, und sie

waren so lange aufeinander angewiesen, bis sie sich gegenseitig zugrunde richteten.

Gegenseitig: denn die Jugend, die von Roethe erzogen wurde, war, weil ohne geistige Ziele,

unfähig, die innere Auflösung des Staates aufzuhalten. Geistige Unabhängigkeit wurde von Roethe
ebenso bestraft, wie der Staat den allein wahren Patriotismus bestrafte: die Kritik an ihm. Bei
Roethe herrschte die wissenschaftliche »Richtung« genau so wie im Staat die politische. Roethe
besetzte die Lehrstühle und tötete dadurch die Wissenschaft, der diese angeblich galten, wie eine

bestimmte Clique die politischen Ämter besetzte, die das Leben des Volkes vergewaltigten. Wie
hier politische Leidenschaft suspekt machte, weil sie dem System widersprach, so war bei Roethe
erledigt, wer aus Leidenschaft zu einer wissenschaftlichen Aufgabe gekommen war, nur da
ergriffen war, wo er mit dem Herzen beteiligt sein konnte. Das schien dem vom Materialwahn
Besessenen schlimmster Dilettantismus. Nur Mediokritäten beugten sich natürlich diesem wissen-
schaftlichen Militarismus.

Die Folge war, daß der Nachwuchs immer miserabler wurde und daß iiran auch nicht mehr von
den bescheidensten Leistungen reden konnte. Vor und hinter den Kulissen wurde geraunt und
geräuspert: aber Roethe hatte die Macht, und er fand Adepten genug, die sich krumm biegen
ließen, um einen Lehrstuhl zu erhalten. Die Geschichte von den Göttinger Sieben [11] war eine
unwahrscheinliche Legende geworden. Die Anerkennung von oben gab Befriedigung, nicht die
freie Leistung und das Bewußtsein, daß man vor sich selber bestehen konnte. Mit kleinlicher
Rachsucht, dem Merkmal jeder Bürokratie, wurde jeder verfolgt, der mehr wollte als nach

Regenwürmern graben. Man hat gelegentlich gesagt, die Universität wäre dadurch korrumpiert

worden, daß zuviel versucht worden sei, den Nachwuchs aus sozial hochgestellten, wenn möglich
adligen Schichten zu erhalten. Aber für die Germanistik stimmt das sicher nicht. Im Gegenteil! Die

Scherer-Schule rekrutierte sich vorwiegend aus dem mittleren und kleineren Bürgertum, aus jenen
Kreisen also, die Vaterlandstreue mit Subordination verwechselten, mit aller Gewalt nach »oben«

wollten und gern ein persönliches Dasein und eine Überzeugung opferten für eine ordendiche
Professur. Form ist aristokratisch, Masse plebejisch. Roethe hielt sich für einen Aristokraten. Aber

wer nur das Material will, den Stoff, also die Masse, ist ein Plebejer, der auch andere nur zu
Plebejern erzieht.

Die Scherer-Schule ist oft angegriffen worden. Auch gegen Gustav Roethe kann man, seitdem er

tot ist, sanfte Einwendungen hören. Aber man soll sich nicht einreden, daß die Erweichung des
Positivismus, die der Expressionismus zweifellos auch in der Sphäre der Literaturgeschichte
hervorgebracht hat, irgend etwas grundsätzlich an der Universitätsphilologie geändert hat.

Albert Malte Wagner (1886, Hamburg - 1962), Dr. phil., Professor. Chefredakteur der Nür^iberger Zeitung.
Literaturwissenschaftliche Arbeiten über Ibsen, Hebbel, Kleist und Lessing. 1931 veröffentlichte er Das
Erwachen des deutschen Geistes.

1 Anspielung auf den dem George-Kreis verbundenen Literaturwissenschaftler, Shakespeare-Übersetzer und


Dichter Friedrich Gundolf (1880-1931), dessen bürgerlicher Name Gundelfinger war. Seine Hauptwerke:
134 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Shakespeare und der deutsche Geist (1911), Goethe (1916), George (1920), Caesar, Geschichte seines Ruhms
(1924), Shakespeare IM. (1928).
2 Zu Gustav Roethe vgl. Dok. 40.
3 Jacob Burckhardt (1818-1897), Schweizer Kultur- und Kunsthistoriker. Hauptwerk über die italienische
Renaissance. Seine pessimistische Kulturkritik beeinflußte u. a. Nietzsche.
4 Zu Emil Ludwig Dok. Nr. 1 1 1 und Albert Malte Wagners eigenen Aufsatz über Ludwig: Der Sieg des
vgl.

Literaten (in: Die Tat 22 [Mai 1930] S. 140-145): »Die Universität, wie die Geschichte wurden geschaffen
von den Menschen mit den großen Leidenschaften. Im neuen Reich trat an die Stelle des Professors, der
Bekenner und Gestalter war, der Beamte, der ein Gesellenstück anfertigte und darauf seine Bestallung als
Meister durch die >feste Anstellung< erwartete und erhielt. >Kurz, unsere Wissenschaft erlebt es, daß
Dilettanten einbrechen und ihre Limonade als edlen Firnewein anpreisen. Sehr richtig. Aber wo war der
<

Firnewein der Wissenschaft.^ Nur weil er nicht da war, konnte das >Literatentum< auf der ganzen Linie
siegen. Der Spezialist, die >Schule<, die >Richtung<, die der Wissenschaft wichtiger waren als die Not der Zeit
und des Volkes, mußten das Überhandnehmen des >Literatentums< fördern, um so mehr, als die >Schule< den
wirklich großen, produktiven Geistigen ihrer eigenen Wissenschaft aus Schulressentiment im Wege stand.
Wenn 1918 kein führendes Wort von den Universitäten gehört - und, was schlimmer ist - auch gar nicht
erwartet wurde, so ist es kein Wunder, wenn der >Literat< die Herrschaft antrat, die hundert Jahre vorher der
Gelehrte hatte, der gleichzeitig Literat war. Von Görres bis Treitschke, von Ernst Moritz Arndt bis Ignaz von
Döllinger,von Fichte bis Strauß, von Friedrich Theodor Vischer bis Paul de Lagarde gab es eine lange Reihe
von Gelehrten, die ebenso sehr Forscher wie Kämpfer und Künsder, also Literaten waren. Noch zur Zeit
der Burckhardt, Hillebrand, Hermann Grimm wäre eine Erscheinung wie Emil Ludwig unmöglich
gewesen: sie hätte es gar nicht gewagt, ihre Manuskripte einem Verleger anzubieten. Aber wenn sich die
Öffentlichkeit jetzt gefangen nehmen läßt von einer Courths-Mahler, die in der Verkleidung von Dahlmann-
Waitz reißerisch einhertänzelt, so liegt das daran, daß auf der Gegenseite die Leistung fehlt und daß ja schon
längst der Feuilletonismus in die Universität selbst als andere Seite des Spezialistentums eingezogen ist.

Feuilletonismus und Alexandrinertum schließen einander nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig.
Spezialist ist man in den >wissenschaftlichen< Veröffendichungen, die nicht von den Gebildeten gelesen,
nur von den Fachgenossen rezensiert werden. Im Kolleg aber, das viele hören, herrscht in manchen
Disziplinen eine Schönrednerei, die den Hörer nicht vor dem >Literatentum< schützt, sondern ihn dafür
empfänglich macht, besonders, da meist der >Geist< der Literaten sehr viel faszinierender ist als der des
Universitätskollegs.« (S. 142)
5 Zu den »Lebensphilosophen« zählen in der Nachfolge von Wilhelm Dilthey und Henri Bergson vor allem
Georg Simmel, Oswald Spengler und Ludwig Klages. In ihrem Kampf gegen den Materialismus, Positivis-
mus und die rationalistische Tradition verwarfen sie kritisch-analytische Forschungsmethoden zugunsten
einer ganzheidichen, rational nicht erfaßbaren Anschauung des »Lebens«.
6 Ernst Howald (1887-1967) war Professor der Altphilologie in Zürich von 1918 bis 1952.
7 Friedrich Wilhelm Ritschl (1806-1876), Altphilologe, Lehrer von Nietzsche.
8 Johann Christoph Gottsched (1700-1766) und Christian Adolf Klotz (1738-1771) stehen hier als Vertreter
einer (angeblich) verflachten, positivistischen Aufklärung.
9 Max Webers Wissenschaft als ß^rw/" erschien 1919.
10 Die Scherer-Schule folgte Wilhelm Scherers (1841 -1886) positivistisch-kausaler Erforschung der Literatur
nach den biographischen Kategorien des Erlebten, Erlernten und Ererbten.
11 »Göttinger Sieben« bezieht sich auf die sieben Professoren an der Universität Göttingen (darunter die
Germanisten Gervinus und Jacob und Wilhelm Grimm), die gegen die Aufhebung der hannoverschen
Verfassung von 1833 durch den König Ernst August von Hannover Einspruch erhoben und deshalb 1937
abgesetzt wurden.
6. Schriftsteller vor Gericht: Zum Zensurproblem

45
Joseph Roth: Epilog zum Reigenprozeß. In: Berliner Börsen-Courier
(16. November 1921) Nr. 537.

Ein Prozeß von sittengeschichtlichem Format und deutscher Gründlichkeit; teilweise heiter in der

Wirkung und vielleicht ernst in den Folgen; als kulturhistorische Erscheinung notwendiger denn
die Aufführung des Reigens.
Der Prozeß zeigte mancherlei: Erstens, daß eine gesetzliche Begriffsbestimmung über »Sittlich-

keit« (insofern sie aus einem Kunstwerk spricht) lächerlich ist. Es gibt keine »normalmenschliche«
Empfindung, die als Grundlage für eine Gesetzesbestimmug über SittftChkeit dienen könnte.
Zweitens: daß das ganze große Gebiet der Kunst einem großen Teil der gebildeten deutschen
Menschheit verschlossen und unverständlich ist; daß Regierungsräte in künsderischen Dingen
Analphabeten sein können. Drittens: daß solche Regierungsräte dem Gericht maßgebend und
sachverständig sind; daß also die Behörden um ein paar Jahrhunderte hinter der Kulturentwick-

lung zurückgeblieben sind.

Alle diese Tatsachen sind uns niemals so deutlich zum Bewußtsein gekommen, wie durch den
Reigen-Vvozt^. Nicht, weil das Werk etwa bedeutend, die Aufführung eine künsderische oder
ethische Tat von historischer Notwendigkeit ist, - sondern, weil der Prozeß einen Abschnitt in der
Entwicklung der deutschen Öffendichkeit beschließen könnte, ist er als Ereignis wichtig.

Sieht man von den muckerischen Argumenten der beruflichen Anstoßnehmer ab; der Tugend-
händler von Geburt und Neigung; der öffentlichen Sittentanten; der politischen Nutznießer und
gewaltsamen Tendenzmacher - so bleiben immerhin einige Einwürfe ehrlich Erbitterter, die mit
jenen Bütteln der Tartuffemoral nicht in einen Brunner [1] zu werfen sind. Diese Ehrlichen halten
dem Dichter die skeptisch-leichte Behandlung menschlicher Heiligtümer vor. Das ironische
Lächeln über Problematisches und Natürlich-Religiöses. Sie tadeln nicht die Wahl des Themas,
sondern seine Behandlung. Das aber macht gerade die Schnitzlersche Eigenart aus; überlegenes
Lächeln bei irdischen Schmerzen; die Dinge zwar nicht vom Standpunkt der Ewigkeit zu betrach-

ten, aber vom Standpunkt der Abseitigkeit; die Weltweisheit eines - gesunden Menschenverstan-
des. Wedekind ringt mit den erotischen Problemen. Schnitzler tut sie ab. Pathetische Menschen
empfinden Schnitzlers Lächeln arrogant. Der Reigen ist ihnen eine Naturlästerung.
Den Sensiblen kann die Aufführug eine Preisgabe keuscher Verschwiegenheiten bedeuten. Alles

Geschlechdiche ist zwar nicht Geheimnis, aber Verschwiegenheit. Es auf die Bühne bringen, heißt
es in die Öffendichkeit zerren und entweihen.
Nur die wirkliche Notwendigkeit einer Reigenaufführung kann sie vor den Sensiblen
. .

136 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

entschuldigen. Wo aber lag diese Notwendigkeit vor? Wie ist der Nachweis zu erbringen, daß das
Stück aus ethischen, nicht aus sensationellen Gründen aufgeführt wurde? Um das Buch lagerte seit
eh und je die Pubertätsneugier der Minderjährigen. Das Geheimnis der »verbotenen Frucht«. Das
waren die Gründe seines Erfolges. Nicht sein Kunstwert. Nicht seine Bedeutung. Es mag ein
reizendes Kunstwerk sein, sagen die Sensiblen, aber es bringt uns keinen Schritt weiter. Was
Schnitzler mit geistreichen Pointen sagt, wissen wir selbst. Ja, er nähert sich dem gefährlichen
Paradox und entfernt sich von der Wahrheit. »Ein Juwel«, mag sein! Aber mußte es aufgeführt

werden? Eine Angelegenheit, bei der sich der Reife amüsiert und nur der Primaner sich aufregt? . .

Ja, nur die Primaner regen sich auf, und die Vorzugschüler unter den Primanern entrüsten sich

und klagen an. Brimner ist der Musterknabe der amtierenden Prima. Er »hetzt«.
Der »Dolus« [2] wäre in der Frage zu suchen: geschah die Aufführung aus ethischen oder
sensadonellen Motiven? Nicht in der Frage: ist sie unsitdich, oder nicht?

Den Vorwurf der Sensadon widerlegen die Persönlichkeiten der Hauptangeklagten; und der
Umstand, daß die Reigen-Auidihrung dezent bis zur Langweiligkeit war.

Eine der häufigsten Fragen im Verlauf des Prozesses war: »Was versucht der Dichter
nachzuweisen?«
Und auf die Anschuldigung einer Zeugin, junge Menschen müßten aus dem Reigen die

Notwendigkeit eines »leichten Lebenswandels« ableiten, weil doch die Selbstverständlichkeit des

Ehebruches und der Sünde durch Anschaulichkeit sozusagen gepredigt werde, warf ein für den
Reigen eintretender Sachverständiger die Frage ein: »Glauben Sie nicht, daß junge Mädchen die

Verwerflichkeit mancher Männer kennen lernen und also gefeit sind gegen Verführung?«
So wird nicht über die ungewollte Wirkung eines Kunstwerks verhandelt, sondern über seinen

didaktischen Zweck.

Mit Gottsched, der den Nützlichkeitszweck der Poesie gepredigt hat, bis zu diesem »Sachverstän-
digen«, ist kaum ein Schritt. Bezeichnend für die Orientiertheit mancher Beteiligter.

Sagte ich, es sei ein Proezß von deutscher Gründlichkeit? - Es ist ein Prozeß des Danebenredens.

Die Mark fällt, die Abrüstungskonferenz tagt, die Weltgeschichte besteht aus lauter Ereigniswir-

beln, - hier wird tagelang an dem »Reigenproblem« vorbeigeredet.

Aber der Mißgriff des Staatsanwalts ist ein paar verlorene Tage wert. Noch nie sah man die

Feigenblattkämpen so hüllen- und hilflos. Es war ein geistiger Nackttanz der Ankläger . .

Eine Inszenierung von Arthur SchnitzlersDrama Der Reigen (1900), die zum ersten Mal die ganze Szenenfolge
auf die Bühne brachte, hatte am
Dezember 1920 Premiere. Nach einem anfänglichen Aufführungsverbot
23.
wegen Unsitdichkeit wurde die Inszenierung am 3. Januar 1921 freigegeben. Nach zahlreichen organisierten
Krawallen und Protestakdonen des deutsch-völkischen »Schutz- und Trutzbündnisses« und des »Deutschen
Offizierhundes«, des »Verbandes deutschnadonaler Soldaten« und des »Volksbunds zur Wahrung von Anstand
und guten Sitten« wurde im Sommer 1921 eine neue Anklage gegen die Inszenierung erhoben, die dann im
November 1921 zum »Reigenprozeß« führte. Angeklagt waren die Direkdon (Gertrud Eysoldt und Maximilian
Sladek), der Regisseur Hubert Reusch und zehn Schauspieler und Schauspielerinnen des »Kleinen Schauspiel-
hauses« wegen »Erregung öffendichen Ärgernisses«. Selbst die Musik wurde für »unzüchtig« erklärt. Als
Sachverständige der Verteidigung fungierten u. a. Max Osborn, Arthur Eloesser, Alfred Kerr, Herbert Ihering,
Gerhart Hauptmann und Ludwig Fulda. Am November 1921 wurden sämtliche Aigeklagten freigesprochen.
18.
Die Zensurdebatte in den frühen Jahren der Weimarer Republik konzentrierte sich auf die Person des
staadichen Gutachters in Zensurfragen, Karl Brunner, Regierungsrat im Wohlfahrts-Ministerium (Zentralstelle
Schriftsteller vor Gericht: Zum Zensurproblem 137

für Prüfung unzüchtiger Darstellungen und Schritten). Die Welthülme veranstaltete als Reaktion auf den
Reigenprozeß ein sechsteiliges Gutachten über Brunner iyom 17. November 1921, Nr. 46, bis zum 22. Dezem-
ber 1921, Nr. 51), an dem sich die folgenden Schriftsteller, Kritiker und Verleger beteiligten: Franz Blei, Paul
Maximilian Harden, Konrad Haenisch, Heinrich Zille, Heinrich Mann, Fritz Mauth-
Cassirer, Alfred Döblin,
Robert Breuer, Otto Flake, Leopold Jessner, Walter Mehring, Alfred Polgar und Arnold Zweig. Die meisten
ner,

Antworten gehen über den unmittelbaren Anlaß hinaus und zeigen das Verhältnis der deutschen Schriftsteller
zu ihrem Staat in den frühen Jahren der Republik. Vgl. die folgende Antwort (in Welthühne 17 [24. November
1921] Nr. 47, S. 521) von Franz Blei:

»Länger als irgendein andres Volk und auch intensiver als ein andres stand dieses deutsche unter dem
Polizeiknüppel der Obrigkeit und duldete ihn. Man prügelte ihm Geschmack, Würde, Freiheit, Haltung aus
Hirn und Seele. Man trieb wahrhaft die Natur mit der Ofengabel aus, diese Natur, von der es beim Dichter
heißt, daß sie trotzdem immer wieder zurückkomme. Sie kommt zurück, aber sie nimmt einen fatalen
heimlichen Weg, den man ihr anmerkt; die Natur verkrüppelt unterwegs und geilt und geifert nun dort, wo
kein Mensch von Würde seiner >Natur< Raum gibt. Kein Zweifel: es gibt Viele unter diesem verprügelten und
darum verheuchelten Volke, die in Daphnis und Chloe nur ihre eigenen schmutzigen Gedanken sehen und bei
der Lektüre widerlich zu feixen beginnen. So weit hat es ja eben ein Jahrhundert der Bevormundung durch die
Behörde gebracht, daß ein großer Teil dieses Volkes aus sexueller Heuchelei heimlich Unzucht treibt mit
Dingen, die keinem würdigen Menschen auch nur im Leisesten auf das Geschlechtliche sich schlagen. Und
solche Verderbung des deutschen Volkes soll weitergehen nach dem Wunsch der Behörden. Eine nichts als
Unsittliches witternde und Alles als unsittlich genießende Schweineherde soll daraus werden. Ist es dann so
weit, so wird allerdings unser Ansehn im Auslande keinen Schaden mehr leiden, denn: wir werden keinerlei
Ansehn mehr genießen.«
Heinrich Mann schrieb (ebd., S. 524f.): »Niemand wird den Schriftstellern helfen, wenn sie selbst sich nicht
helfen. Der Staat hat die dringlichere Sorge um seine Selbsterhaltung. Er sieht nicht hin, wenn ein Brunner sich
herausnimmt, in seiner einzelnen Person Ersatz zu schaffen für die gesamte Einrichtung der Zensur. Die Zensur
ist abgeschafft - aber Brunner ist beamteter Leser, Zuschauer, Angeber, Sachverständiger, alles in einem. Auch
das Ärgernis, das genommen wird, ist er in Person.
Vor allem aber bleibt ein Brunner das überzeugendste Symptom der schändlichen Nichtachtung, unter der
in Deutschland die Literatur dahinlebt: die Literatur als geistiger Organismus, nationaler Lebensfaktor,
öffentliche Macht. Der Reigen-Prozeß, die Möglichkeit allein, daß er stattfindet: unnennbare Schande!
Man mache sich doch klar, um wen es geht, um Schnitzler: einen Derer, die geistig wirkend immer unter uns
waren seit dreißig Jahren, die uns Zeitgenossen an Herz und Sinn mit fortgebildet haben, indem sie sich

fortbildeten. Ohne die Wenigen, die dies vermochten, ist die ganze Zeitgenossenschaft nicht zu denken. Sie
sind Gegebenheit und Bestand, man ist nicht mehr befugt, an sie zu rühren. Da kommt Einer und will, schlicht

und unbefangen. Schnitzler verbieten lassen. Ich weiß heute, am dreizehnten November noch nicht, ob es ihm
gelingt.
Es könnte ihm gelingen, weil in Deutschland - und nur hier - kein Abstand öffendich anerkannt ist zwischen
einem hergelaufenen Polizeiprofessor und selbst den ersten der Dichter. Er darf vor Aller Augen sich mit ihnen
messen, dies ist ihm erlaubt: als Geist, Charakter und als Macht. Die dummen, faulen Gemeinplätze seiner
unverstandenen Moral behalten volle Geltung vor den erlebten Wahrheiten des Dichters. Er spricht und
handelt von gleich zu gleich, soweit er Mensch ist; und das Amt hat er voraus. Es geht also nicht anders -
hierzuland geht es nicht anders: Der Dichter muß staatlicher Professor werden, so gut wie der Brunner. Er muß
Orden bekommen, höhere als der Brunner, und muß eine Akademie hinter sich haben, die keine billigere
Fassade hat als das Amtsgebäude, worin der Brunner sitzt. Die Karriere des Schriftstellers muß festgelegte
Übung sein, der Staat muß genötigt werden, die Geltung der Literatur in Normen zu bringen, wie die Geltung
der bildenden Kunst und der Musik. Nur so ist der Brunner endgültig loszuwerden. Wagt er sich denn an
dekorierte Malprofessoren heran, oder gar an Richard Wagner mit seinen Inzesten?
Der Staat treibe seine Unachtsamkeit nicht zu weit, nicht zu lange. Er ist nicht mehr Derjenige, der sich
ungestraft den Anschein geben kann, als kenne er uns nicht. Er hat es auch früher nicht ungestraft getan. Die
verflossene Monarchie ist am Ende doch nicht nur durch einen Militäraufstand beseitigt worden. Ihre
Beseiügung wurde von langer Hand geistig vorbereitet - durch Autoren, die noch immer zur Stelle sind. In
jeder Republik, sogar in der unfreiwilligsten, sich selbst verhaßtesten, geht ein Teil der Autorität, die vorher in
schlechten Händen war, in bessere Hände über, in die der geistig Wirkenden. Eine Republik, die sich der
138 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Einwirkung des Geistes vermittelst ihres Brunner widersetzt, hat für uns aufgehört, Schonung zu verdienen.
Falls die Schriftsteller infolge organisatorischer Verhinderung es versäumen sollten, dem Reichspräsidenten
Vorschläge zur Anerkennung ihrer Würde und Geltung zu machen: Herr Ebert und die Seinen würden sehr,
sehr klug daran tun, sich an die Schriftsteller zu wenden.«
Die neueingeführte Theaterzensur war auch das Thema einer Umfrage der Zeitschrift Volksbühne um 1921.
Es beteiligten sich u. a. Julius Bab, Leopold Jessner, Alfred Kerr und Kurt Tucholsky. Ernst Toller schrieb dazu
aus der Festung Niederschönenfeld: »Daß die Frage nach Berechtigung der Zensur überhaupt erörtert wird, ist
ein Zeichen für die Tatsache des Fehlens künsterischen Instinkts im Volk,
Die radikale Lösung, also die Lösung bei der Wurzel, wäre die Weckung künstlerischen Wermngsvermö-
gens. Die Erfüllung dieser Forderung muß Aufgabe jeder künftigen soziaUstischen Schule sein.

Kultur ist form- und gestaltgewordene Seele der Gemeinschaft. {Es gibt keine Kultur ohne Gemeinschaft.)
Damit die Gemeinschaft am Theaterleben schaffend mitwirke, ist Bedingung: Überführung der Theater als
Kulturorgane in den Besitz und die Verwaltung der Gemeinschaft. (Wegweisend sind gewisse Volksbühnen und
proletarische Bühnen.)
Das Gemeinschaftstheater wird Ausschüsse (Räte) einsetzen, in denen Vertreter der Hörer, der Theaterlei-
tung, der Schriftsteller jedes eingereichte Drama prüfen. Diese >Zensur< genügt. (Bei Ablehnung eines Dramas
stehe dem Autor das Recht zu, an die Gemeinschaft zu appellieren. Wenn er eine gewisse Anzahl Menschen
nachweist, die sein Stück hören wollen, möge man es >versuchsweise< aufführen.)
Ich lehne jede staatliche Zensureinmischung ab.
Träger staatlicher Zensur sind heute Leute, die den ehrfurchtheischenden Namen >Staatsorgane< tragen.
Hinter dieser >eisernen Maske< stecken verknöcherte Bureaukraten mit engen Stirnen und paragraphenweiten
Horizonten.
Wer staatliche Zensur fordert, muß in der Lage sein, fest umrissene Kriterien anzugeben, die staatlicher
Zensur Berechtigung verleihen könnten. Es lassen sich aber keine solchen Kriterien angeben! Der Reaktionär
wird in einem Drama >Aufhetzung zum Klassenhaß< finden, das für den Sozialisten Pathos der Gerechtigkeit
hat.

Weil ich in einem Drama die Zunft der ^övstnjobber zeichnete, fühlte sich diese Zunft bemüßigt, ihre Presse
Tamtam schlagen zu lassen und chauvinistische Juden auf den Plan zu rufen. Die >berechtigten Gefühle weiter
Kreise< sind verletzt, ein Theaterskandal (der von den Hakenkreuzlern schon viele Wochen vorher trotz
Unkenntnis des Dramas angekündigt war!!) hat stattgefunden, die weiteren öffentlichen und geschlossenen (!)
Aufführungen werden verboten - sagte die bayrische Regierung. Und keine >freiheitliche bürgerliche Zeitung<
legtegegen diese Verletzung des Art. 118 der Reichsverfassung Verwahrung ein. Einzig der Nürnberger
Münchner Regierung in einer gewissen Opposition
Theaterintendant Stuhlfeld hatte, gestützt auf den zur
stehenden Stadtrat, die Schneid (weil das Verbot gesetzwidrig war), weitere geschlossene Aufführungen
anzusetzen und durchzuführen!!
Morgen können die Henker sich über einen Autor beschweren, der das Köpfen nicht sittlich genug
gewürdigt hat. Und die Regierung wird, wenn der Autor eine mißliebige Persönlichkeit ist ... (hier träte die

Festungszensur in Tätigkeit).

Also: Die Frage der Zensur ist noch eine Machtfrage. Die >demokratischen Freiheiten< sind für keine
reaktionäre Regierung tabu. Wird die Freiheit der Kunst den Machthabern unbequem, werden sie Zensur
einführen - trotz aller Proteste der >Literaten von Rang<.« (Volksbühne 1 [März/April 1921] H. 4, S. llOf.)

1 Zur Anspielung auf den Zensur-Gutachter Karl Brunner siehe obenstehenden Kommentar,
2 »Dolus«: in der Rechtswissenschaft »böse Absicht«,
Schriftsteller vor Gericht: Zum Zensurproblem 139

46
Heinrich Mann: Letzte Warnung. In: Berliner Tageblatt

(6. November 1926) Nr. 526.

Das sogenannte »Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften« steht vor

der Verabschiedung. Eine Mehrheit im Reichstag soll bereit sein, es zu beschließen. Diese Mehrheit
besteht nicht durchweg aus Republikanern. Sie wird auch nicht nur von Gegnern der Republik
gebildet. Unter den Gegnern der Republik sind zweifellos Männer, denen überlieferte Kultur
verbietet, die Freiheit geistigen Schaffens anzutasten. Viele Republikaner werden ihrerseits davor
zurückschrecken, die Republik schwächen zu helfen in ihrer innersten Stellung. Denn das tiefste

Recht der Republik steht genau so lange fest, als sie mit den Gedanken der öffendichen Geister
übereinstimmt und sie nicht fürchtet.

Die Anhänger des Gesetzes sind untereinander verschieden, am unbegreiflichsten handeln jene,
die es wörtlich nehmen und wirklich glauben, es könne die Jugend bewahren. Andere verfolgen

doch klare Ziele, sie wollen gewisse Machtstellungen stärken. Sie erkennen den unvergleichlichen
Wert der Erziehung für jeden, der im Staat herrschen will. Sie wissen, daß die Entscheidung
darüber, was im Lande gelesen werden darf, ihnen auf die Dauer alle Köpfe des Landes sichert,

nicht weniger die schon erwachsenen Köpfe als die erst heranwachsenden. Wer dies noch nicht
weiß und jeden wirtschaftlichen Gegenstand für wichtiger hält als diesen kulturellen, wird nicht,

wie er erwartet, in Nebensachen, er wird machtpolitisch im Nachteil sein.

Die Gleichgültigen sind betrogen, die Gutgläubigen nicht weniger. Das beabsichtigte Gesetz nützt
nichts. Es ist untauglich zur Besserung einer armen Jugend, die in Massenquartieren haust und
über alle Laster vom Elend mehr belehrt wird, als die schlechtesten Bücher es könnten. Baut ihr

doch Wohnungen! Versittlicht doch das Leben selbst! Aus Büchern erwirbt jeder nur das, worauf
seine Lebensbedingungen ihn vorbereiten. Dem einen gibt auch das reinste Buch nur Schmutz. Der
andere liest selbst das unwürdigste ohne Schaden.
Wozu das Gesetz? An dieser Stelle hat Karl Bulcke, Schriftsteller und Jurist, bewiesen, daß alles,

was es zu wollen vorgibt, in den gesetzlichen Bestimmungen über den Kolportagebuchhandel


längst enthalten ist.

Wozu das Gesetz? Es soll einen Wunsch der Weimarer Verfassung erfüllen. Dieselbe Verfassung
aber verbürgt Freiheit des geistigen und künsderischen Schaffens. Wenn wirklich zwei Sätze der
Verfassung einander widersprechen, die Republik schuldet es sich, den einfach hochherzigen zu
wählen, nicht den zweideutigen.
Wie immer sie wählt, es wird ihr nie vergessen werden. Alle Organisationen des geistigen

Lebens, die gegen das Gesetz protestiert haben, werden einem Staat, der es rechtzeitig fallen läßt,

die Achtung erwidern. Geistige Arbeiter, die diesem Staat leider noch nichts zu danken hatten,

werden es ihm vergelten, daß er sie verschont, ja, auf ihre Seite tritt.

Handelt er aber gegen sie, nimmt ihnen, den wirtschaftlich Gequältesten, auch noch Recht und
Würde ihres Berufes, stellt sie unter Aufsicht, - weiß dieser Staat dann eigendich, wen er gegen sich

aufbringt? Der Schriftsteller ist Führer jeder Demokratie, auch der unvollständigen. Sein Einfluß
begleitet das öffendiche Geschehen, sonst wäre es Interessen preisgegeben. Er ist unentbehrlich.
140 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Sein Rang steigt mit der Freiheit eines Volkes. Dies und nichts anders besiegelt die Republik
Preußen, wenn sie ihre Akademie der Künste erweitert durch eine Sektion für literarische Kunst. [1]
Die neuen Akademiker haben Auftrag vom Staat, Ansehen und Macht ihres Standes zu vertre-

ten, zu behaupten. Angesichts dessen plant das Reich ein Gesetz, das die Zensur einführt. Es ist

barer Anachronismus, seine Einsichtslosigkeit erschreckt. Wie? Schrift- und Dichtwerke, die

irgendeine dem Geist verfeindete Prüfungsstelle für Schund und Schmutz erklärt, sollen schlank-

weg und insgeheim verboten werden? Der Verfasser nicht gehört, die Öffentlichkeit nicht gefragt?

Vertreter der Kirchen sollen die ersten sein, mitzusprechen in den Zensurbehörden, kein Freund
der Literatur, kein geistig Ausgezeichneter muß dabei sein? Noch mehr, das reaktionärste der
Länder darf verbieten, was ihm mißfällt, dann gilt es für das Reich? So will das Reich selbst?
Das Reich wird sich vmndern. Das Zensurgesetz wird sabotiert werden. Verbotene Schriften
werden öffentlich vorgelesen werden von solchen, die mehr die Bedrückung ihres Gewissens als

das Gefängnis scheuen. Dem Reich, seiner Regierung, seinen Abgeordneten liegt wqW viel daran,
der Welt ein Schauspiel zu geben mit deutschen Gewissenskämpfern, die sich einsperren lassen?
Noch andere Schauspiele bereiten sich von Denn auf der Musterkarte der Länder fände sich
zweifellos auch ein radikales, das seinerseits die rechtsgerichtete Literatur, alles, was drüben sittlich
heißt, frischweg verböte.

Die Parteien würden einander mit Verboten bekämpfen, ihr Haß hätte ausgiebige Nahrung,
denn jetzt wäre es offener Kulturhaß. Das geistige Leben würde freilich leidenschaftlichere

Teilnahme finden als letzthin üblich, aber das Reich sollte hierfür freundlichere Mittel ergreifen als

dieses.

Das Reich mit seiner Oberprüfstelle wird wehrlos sein gegen den selbsterregten Haß. Die
Länder haben ihm schon beim Potemkin [2] nicht alle gehorcht, und welch ein aufgebauschter

Anlaß war der Film, verglichen mit Werten, die künftig in Frage ständen!

Es ist nie gut, nie nützlich, Geisteswerte in Frage zu stellen. Man sollte sie nicht denen ausliefern,
die ohnehin im Verdacht stehen, gerade dort nach Schund und Schmutz zu suchen, wo andere
Wahrheit und Sittlichkeit erblicken. Die deutsche Republik will doch wohl sittlich und wahr sein.

Sie steht aber in Gefahr, sich geistig letzten Endes denen zu unterwerfen, die auch sie selbst im
Grunde für Schund und Schmutz halten.

Das äußerst kontrovers empfundene »Gesetz zur Bewahrung der Jugend von Schund- und Schmutzschrif-
als

ten« wurde vom Reichstag im Dezember 1926 verabschiedet. Obwohl Schmutz- und Schundkampagnen seit
der Jahrhundertwende wiederholt von Literaturpädagogen und Politikern geführt wurden, schien das neue
Gesetz besonders gefährlich, da es keine Definition von »Schmutz und Schund« enthielt und somit - wie die
Mehrzahl der protestierenden Intellektuellen und Schriftsteller glaubte - für eine politische Zensur mißbraucht
werden konnte. Heinrich Mann hatte sich besonders intensiv bemüht, die Gefahren des Schmutz- und
Schundgesetzes aufzuzeigen. Vgl. auch seine Aufsätze: Gegen Zensur, für Sittlichkeit m: Berliner Tageblatt vom.
20. Juli 1926 (Nr. 338), Herr Staatsanwalt in: Berliner Tageblatt vom 31. August 1926 (Nr. 409); Die Jugend
bewahren in: Vossische Zeitung {IG. November 1926) Nr. 560.
Von nationalistischer Seite an den Intellektuellen geübt, die sich gegen die Zensur ausgespro-
wurde Kritik
chen hatten. Vgl. Friedrich Hussong: Die gefesselten Musen. In: Berliner Lokal-Anzeiger wom 28. November 1926
[Nr. 562] »Der näheren Betrachtung wert ist dabei nur der Chor der Intellektuellen, der mit allen Stimmen und
:

aus allen Tonarten Klage ruft über eine angeblich ausbrechende Geistverfolgung, ein drohendes Dichterpog-
rom, über die Unterdrückung aller freien Künste und die Fesselung der Musen.
Fast alle tun das mit aufrichtiger Herzlichkeit; aus Gewohnheit, aus Paragraphenscheu, aus stürm- und
Schriftsteller vor Gericht: Zum Zensurproblem 141

dranghafter Gesinnungstüchtigkeit, aus intellektuellem Aberglauben, aus freigeisternder Philisterei, aus überlie-
ferter Aufgeregtheit, aus demokratischem Sturmgesellentum, aus Republikanertrotz, aus Grünkoller, aus

Despotenhaß, aus Hysterie, aus lyrischer Empfindsamkeit, aus der Gefühlsseligkeit der Boheme, aus gutem
Ton, aus Korpsgeist, aus Herdentrieb. Und alle wirken sie, ohne es zu denken und zu wollen, als Vorspann für
das unsaubere Interesse eines Häufleins von Leuten, die sich selber klüglich im Hintergrund halten, weil sie als

Vorkämpfer für Geist und Kunst und als Ritter der gefesselten Musen sich doch etwas sonderbar ausnehmen
würden.«

1 Zur Gründung der Sektion Dichtkunst an der Akademie der Künste vgl. Dok. Nr. 30.
2 Vgl. zum Potemkin-¥i\m Benjamins Essay darüber (Dok. Nr. 74 und Kommentar). Leo Lanias Aufsatz Zum
Verbot des Potemkin-Films (in: Die literarische Welt! [23. Juli 1926] Nr. 30, S. 2) sieht dieses Verbot im
größeren Zusammenhang: »Hier geht es nicht um den einzelnen Fall des Potemkin. Der ist monatelang in

ganz Deutschland gelaufen, Millionen Menschen haben ihn gesehen, seine Anziehungskraft hätte unter
diesen Umständen ohnehin bald nachgelassen. Wenn die Oberfilmprüfstelle das dringende Bedürfnis
empfand, sich lächerlich zu machen - man kann sie daran nicht hindern. Aber die Gefahr liegt wo anders:
dieses Verbot öffnet der Willkür Tür und Tor. Es ist eine Präjudiz geschaffen, wonach in Zukunft gegen den
klaren Wortlaut des Gesetzes jeder Film, der in der Tendenz der Oberfilmprüfstelle nicht genehm ist, kurzerhand
verboten werden kann: heute ist es ein antimilitaristischer Film, morgen kann ein religiöser oder antireligiöser,

ein republikanischer oder demokratischer Film dasselbe Schicksal teilen, und passieren dürfen nur noch
Liebesgeschichten aus den alten Jahrgängen der Gartenlaube.
Gegen diesen unerhörten Anschlag muß die gesamte Öffentlichkeit ohne Rücksicht auf Partei und Klasse auf
den Plantreten. Mit diesen mittelalterlichen Zensurmethoden der Oberfilmprüfstelle muß endlich aufge-

räumt werden. -^

Es ist höchste Zeit!«

47
Aufruf gegen das »Schund- und Schmutz«-Gesetz. In: Die Rote Fahne
(22. Oktober 1926) Nr. 236.

Wir rufen auf, die Geistesfreiheit in Deutschland zu schützen. Die Regierung hat in aller Stille ein

Gesetz vorbereitet, das vorgibt, die Jugend zu bewahren. Es maskiert sich als Gesetz gegen
Schmutz und Schund.
Hinter dem Gesetz verstecken sich die Feinde von Bildung, Freiheit und Entwicklung.
Sie zeigen ihr gefährliches Gesicht in dem Artikel von der Mitwirkung der Kirchen bei der

Urteilsfindung, von der Allgemeingültigkeit örtlicher Urteile, sie schweigen sich verräterisch
darüber aus, was Schmutz und Schund ist.

Das Gesetz, ungeeignet, die Jugend zu schützen, stellt die Erwachsenen, Leser und Schreibende,
unter die erniedrigende Vormundschaft unverantwordicher Winkelinstanzen.
Wir weisen auf die im Geheimen umgehende Gefahr.
Wir stellen sie der Öffentiichkeit bloß.

Schützt die Freiheit des Gedankens!


Hans Baluschek, Victor Barnowsky, Dr. Siegfried Bernfeld, Joh. R. Becher, Julian Borchardt,

Georg Bernhard, Bert. Brecht, Alfred Döblin, Hermann Duncker, Gertrud Eysoldt, Emil Faktor,

George Groß, Maximilian Harden, Wilhelm Herzog, Arthur Holitscher, Siegfried Jacoby, Herbert
Ihering, Heinrich Eduard Jacob, Georg Kaiser, Egon Erwin Kisch, Alfred Kerr, Georg Kolbe, A. M.
<

142 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Frey, Berta Lask, Hans Land, Emil Lindt, Rudolf Leonhard, Heinrich Mann, Thomas Mann, Alfred
Rieh. Meyer, Carl v. Ossietzky, Alfons Paquet, Erwin Piscator, Gerhard Pohl, Ferdinand Timpe, Dr.

Lutz Weltmann, Max Winkler, Herwarth Waiden, Ignaz Wrobel, Heinrich Zille und viele andere.
Kampfgemeinschaft für Geistesfreiheit. - Deutsche Liga für Menschenrechte. - Vereinigung
linksgerichteter Verleger. - Arbeitsgemeinschaft entschiedener Republikaner. - Kampfbund für

Volksrecht. - Kartell lyrischer Autoren. - Verein sozialistischer Juristen. - Kartellverband für

Arbeitersport und Körperpflege. - Gewerkschaft deutscher Volksschullehrer. - Redaktion der

Literarischen Welt. - Der Sturm. - Gruppe 1925.

Wir fordern Verleger, Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler, Schauspieler, aOe Kopfarbeiter

auf, sich zur Abwehr dieses Gesetzes mit uns zu vereinen. Einzelne und Organisationen, tretet ein

in die Kampfgemeinschaft für Geistesfreiheit.

Bereits am 29. August 1926 war in der Roten Fahne (Nr. 190) ein Aufruf derselben Schriftsteller gegen das
Schund- und Schmutzgesetz erschienen, in dem es u. a. hieß: «Kulturelle, politische und konfessionelle
Gegensätze werden durch dies Gesetz aufs schlimmste verschärft, die Schriftsteller und das lesende Publikum
entmündigt, Verlag und Buchhandel moralisch bevormundet und materiell unübersehbar geschädigt.
Die Unterzeichneten erblicken in dem Gesetzenrv\airf eine ungeheure Gefahr für jedes literarische und
künstlerische Schaffen. >Die angeblich bedrohte Jugend lacht darüber, denn sie weiß in Zeit und Welt viel besser
Bescheid als diejenigen, die dieses Gesetz zur Annahme empfehlen<, wie Thomas Mann hierzu sagt; sie wird
nicht geschützt, sondern die Erw^achsenen: Schriftsteller und Verleger, alle mit der deutschen Kunst und
Literatur Verknüpftenwerden in ihren Grundrechten bedroht. >Die Lex Heinze, gegen die in Deutschland sich
ein solcherSturm erhob, daß der Kaiser zu seinem Kultusminister sagte: Da haben Sie mir eine schöne Suppe
eingebrockt, war harmlos im Vergleich zu dem jetzt geplanten Gesetz.< >Gelangt es zur Annahme, so ist< - nach
Gerhart Hauptmanns öffentlicher Stellungnahme - >ganz einfach die sogenannte schöne Literatur und damit
ihr Urheber vogelfrei und jeder Willkür literarischer Ignoranz preisgegeben.
Die Unterzeichneten erwarten, daß Empfänger dieses Schreibens, die Führer des deutschen Buchhan-
alle

dels, gelegentlich der Anwesenheit auf der Leipziger Messe an Ort und Stelle gemeinsame Schritte unterneh-

men werden, um diesen Anschlag auf die deutsche Geistesfreiheit unmöglich zu machen.«
Die Redaktion der Roten Fahne fügte diesem Aufruf folgenden Kommentar hinzu: »Der Aufruf erscheint uns
lange nicht scharf und entschieden genug formuliert.
Die Buchhändler und Verleger, deren größter Teil bekanntlich zu den Helfershelfern der Reaktion gehört,
werden vielleicht auf diesen Appell hin sich zu einem Protest aufraffen; schließlich wird ja durch dies
Erdrosselungsgesetz auch das Geschäft bedroht. Und diese Gefahr wirkt natürlich auch auf diese Leute.
Den wahren Kampf gegen diese unerhörte Bedrohung der Meinungsfreiheit kann nur eine revolutionäre,
klassenbewoißte Partei führen. Es steht sehr zu befürchten, daß schließHch ein fauler Kompromiß zustande
kommt. Mit aller Deutlichkeit muß gefordert werden, daß ein solches Gesetz auch in abgeschwächter Form
überhaupt nicht in Frage kommt. Auch die Filmzensur sollte nur >Schmutz und Schund< abwehren, heute ist sie
ein ausgesprochenes Werkzeug der politischen Zensur. Ein zweites Zensurgesetz kommt überhaupt nicht in
Frage!«
Schriftsteller vor Gericht: Zum Zensurproblcm 143

48
Gegen das Schmutz- und Schundgesetz. [Umfrage] . In : Der Kulturwille 3
Dezember 1926) Nr. 12, S. 258-9.
(1.

Johannes R. Becher

1.

Die bürgerliche Gesellschaftsordnung, die auf Schmutz, Schmutz und nochmals auf Schmutz
aufgebaut ist, müßte sich selbst aufheben, wollte sie einen wirklichen Kampf gegen »Schund und
Schmutz« durchführen. Die Herrschaften haben es offenbar wieder einmal dringend nötig, die
Moraltrommel zu rühren und die Tugendbolde zu spielen. Schade nur. Die Rolle haben wir oft
genug gesehen. Das bürgerliche Heldenspiel (Frackhemd mit gut eingedecktem Bauch und
himmelwärts klappernder Augenaufschlag) hat in den weitesten Kreisen seine Attraktion einge-
büßt. Die bürgerliche »Charaktermaske« zieht nicht mehr . . ., wir wissen aber auch längst, wozu
Gesetze gut sind, besonders solche, die unter einem von einem gewaltigen sittlichen Pathos
triefenden Tamtam dem Volk offeriert werden: vor allem, um die Arbeiterschaft materiell und
geistig niederzuhalten und noch weiter zu entrechten. Wir haben heute auch Phantasie genug, um
uns recht eindringlich und konkret vorstellen zu können, welcher Gesetzesauslegung ein stockre-
aktionärer Richterapparat fähig ist. Kommentar überflüssig. Herrliche Aussichten für ein Gesetz

gegen »Schund und Schmutz« in einer Republik, wo offene Gesetzesbrüche ebenso wie raffinierte
Gesetzesfälschungen von seiten der Vertreter des Staats und den Vollstreckern der Gesetzesgewalt
an der Tagesordnung sind! . . . Darum: Ihr Ethos, meine Herrschaften, mit dem Sie dieses Gesetz
uns zu würzen versuchen, ist ranzig und schmeckt allzu schmierig, als daß die, die in geistigen

Dingen noch saubere Kost gewohnt sind, daran Geschmack finden könnten.

2.

Schund. Der größte Schund, der heute produziert wird, wo wird er anders verzapft als in

Schundtheatern, Schundkabaretts, Schundkinos?! Schund durch die Bank, kitschiger, sentimenta-


ler, verlogener Schund eure offiziellen Feiern mit ihrem schundigen patriotischen Klamauk,
Schund, billigster Schund ist das beste Geschäft. Wenn man die wirklichen Schundproduzenten
und Schundkonsumenten feststellen würde, o ihr ehrenwerten Kreuzritter gegen den Schund - ihr

müßtet euch selbst die Gurgel umdrehen!


Schmutz. Der größte Schmutz, der heutzutage jedem anständig Gesinnten und noch mit
Geschmacks- und Geruchsnerven Begabten das Leben zu einem schier unerträglichen Ekel macht:
wo ist er anders zu finden als zum Beispiel in dem schmutzigen ausbeuterischen Verhalten einer
gewissen Menschensorte gegenüber der Arbeiterschaft, als in einem schmutzigen Kriegshetzer-
tum, in einer tiefschmutzigen Gesinnung und Praxis den Kriegsopfern gegenüber? Denn schmut-
zig ist vor allem der, der auf Kosten eines anderen lebt und der eine auf dieser Grundlage
aufgebaute Gesellschaftsordnung zu rechtfertigen versucht: Schmutzig ist der Schmarotzer. Schmutz

auf der ganzen Linie, Schund auf der ganzen Linie ... O ihr ehrenwerten Kreuzritter gegen Schund
und Schmutz - - stille, ganz stille!
;

144 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

3.

Darum: Gegen »Schund und Schmutz« kämpfen, heißt gegen die heutige Gesellschaftsordnung

selbst kämpfen, deren Grundlage Blut und Dreck ist, sie zerstören und eine neue Lebensgrundlage
schaffen, deren Zweck die wahrhaft höchste Steigerung und die wahrhaft freieste Entfaltung des

menschhchen Lebens ist. In einer solchen, vom gröbsten Lebensschmutz und von der Lebenslüge
gereinigten Atmosphäre ist auch für »Schund und Schmutz« in der Literatur kein Raum mehr.

Bernard von Brentano

Das bißchen Schmutz und Schund, in dem zu misten unserer Regierung anscheinend Freude
macht, beseitigen zu helfen, werden sich die deutschen Schriftsteller gern angelegen sein lassen.
Wir stellen daher der Regierung fürs erste folgende Werke zur Verfügung:
die den Tatsachen widersprechenden Memoiren ehemaliger Staatsmänner [1] und Generale;
die in einer fremden Sprache geschriebenen Romane und Erzählungen der Herren Stratz,

Herzog [2] und Genossen;


alle Eilme, in denen Friedrich der IL von Preußen das Niveau eines Seekadetten hat [3]

die deutschen Lesebücher unserer Unterrichtsanstalten;


sämtliche Biographien von Kaisern und Königen, solche über Augustus und Alexander den
Großen einbegriffen;

und endlich den von der Regierung selber vorgelegten Entwurf des Gesetzes zum Schutze der
Jugend gegen Schmutz und Schund.
Wir sind überzeugt, daß in einem so gereinigten Vaterland künftighin nur noch gute Bücher
geschrieben werden können, was jeder guten Sache dienlich sein wird und keiner weiteren Gesetze
bedarf.

Klabund

Das geplante Gesetz gegen Schmutz- und Schundliteratur stellt weiter nichts dar als den großange-
legten Versuch der Reaktion, die politische und kulturelle Linke in Deutschland völlig mundtot zu
machen. Der Geist der Freiheit und die Freiheit des Geistes: sie sollen abgewürgt werden unter der
heuchlerischen Maske des »Jugendschutzes«. Wird das Gesetz rechtskräftig, so sind der völligen

Verblödung und Verödung des deutschen Schrifttums keine Grenzen mehr gesetzt, die Verleger

werden das Risiko, boykottierte Literatur zu verlegen, auf die Dauer nicht tragen können, und dem
freiheitlich gesinnten Dichter wird nichts anderes übrig bleiben, als wie in den Zeiten der
finstersten preußischen Reaktion nach den »Freiheitskriegen« mit seinen Werken in die Schweiz,
Deutschösterreich oder Deutschböhmen zu flüchten.
Nieder mit dem Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schmutz und Schund!
Schriftsteller vor Gericht: Zum Zensurproblem 145

Siegfried Jacobsohn

Mit scheint es eines erwachsenen Menschen unwürdig, ernsthaft auf diese ebenso widerlichen wie
lächerlichen Absichten einzugehen. Wenn ein Volk sich gefallen läßt, daß sie ausgeführt werden,
dann soll man es nicht vor einem Schicksal bewahren wollen, das es verdient hat.

1 Gemeint sind vermutlich Erich Ludendorffs Meine Kriegserinnerungen (1919), Hindenburgs Aus meinem
Leben (1920) und Wilhelm des Zweiten Ereignisse und Gestalten meines Lebens 1878-1918 (1922).
2 Rudolf Stratz und Rudolf Herzog: Erfolgreiche Unterhaltungsschriftsteller nationalistischer Romane aus der
Wilhelminischen Zeit.
3 Fridericus-Rex-Filme waren eine vierteilige Serie von äußerst populären Filmen (1921/1922), die unter der
Regie von Arzen v. Czerepy das Leben von Friedrich II. nachzeichneten. Die Titel der vier Teile: Sturm und
Drang, Vater und Sohn, Sanssouci, Schicksalwende.

49
Kurt Kersten: Gericht über Becher. In: Die Neue Bücherschau 5 (1927)
Schrift VI, S. 298-299.

Im Januar wird Johannes R. Becher vor dem Reichsgericht stehen: angeklagt wegen Hochverrats,
Gotteslästerung, Beleidigung des Reichspräsidenten und einer ganzen Reihe weiterer Paragrafen,

die Becher in seinen Büchern verletzt haben soll. Man hat eine Art Einkreisungspolitik getrieben;

zunächst nahm man sich Verleger und Buchhändler vor [1], verurteilte die Verkäufer der Bücher,
obschon gegen sie weder Staatsanwalt noch Polizei, geschweige der Richter etwas unternommen
hatten, zu hohen Freiheitsstrafen. Dann machte man sich an den Dichter selbst. [. . .
]

Wenn die Bücher Bechers die Grundlagen des Staates so sehr erschüttert hätten, daß ihr

Verfasser mit dem Zuchthaus jetzt bedroht wird, müßte man solche Wirkung längst verspürt

haben.
Ach, durch Bücher werden leider keine Revolutionen gemacht, am wenigsten noch durch
Dichtungen. Die Dramen Kleists haben 1813 nicht heraufbeschworen, sie waren nicht einmal auf
der Bühne zu sehen, und ihre Leser zählten nach Hunderten. Die Wechselwirkungen zwischen
Buch und Geschehen sind leider sehr gering.

Revolutionen rühren aus ganz anderen Gründen her. Niedner [2] sollte Verträge zwischen

Arbeitgebern und Arbeitnehmern studieren, oder die Statistiken der Arbeitslosigkeit, oder die
Akten der Gewerbe- und Kaufmannsgerichte, oder die Rubriken »Selbstmorde« in jeder Zeitung,

oder auch seine eigenen Urteile. Die machen auch Revolutionen. Niedner macht Revolutionen. Er
mag sich selbst verklagen. Das Urteil wird vernichtend sein.

Das Gasbuch [3] Bechers ist die visionäre Gestaltung des nahenden Krieges, es schildert seine

Schrecken, seine Folgen. Man könnte Niedners Mut bewundern, er scheint den letzten Krieg nicht
erlebt zu haben, er scheint auch die Literatur über die neuen Erfindungen der Kriegstechnik nicht
zu kennen. Ein so literaturbeflissener Mann, der sich so sehr viel von den Folgen eines Buches
verspricht, müßte diese Literatur eigendich kennen.
146 Öffentlichkeit und Repräsentanz des Schriftstellers in der Republik

Es soll verwehrt sein, diese Schrecken zu schildern, die Menschen zu warnen, die Welt vor
Gas-und Blutsumpf zu bewahren? Fühlt sich das Reichsgericht so sicher? Leben wir in einer

umfriedeten, paradiesischen Welt?


Wir wollen uns nicht aufs Neue mit verbundenen Augen, von einer verdorbenen Presse

betrunken gemacht, in den Abgrund schliddern lassen, wir wollen nicht für Jene sterben, wir
wollen für uns und unsere Freunde leben. Und wir wollen sagen, was uns bedrängt. Wir sind dazu
verpflichtet. Und kein Niedner darf uns zum Schweigen bringen. Wenn es noch etwas wie
Öffentlichkeit in diesem Land gibt - jetzt ist es Zeit, zu lärmen.