Historische Sprachwissenschaft
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben
von
Christa Dürscheid
Andreas Gardt
Oskar Reichmann
Stefan Sonderegger
110
De Gruyter
Historische Sprachwissenschaft
Erkenntnisinteressen,
Grundlagenprobleme,
Desiderate
De Gruyter
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn
ISBN 978-3-11-027312-0
e-ISBN 978-3-11-027330-4
www.degruyter.com
Vorwort
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
Péter Maitz
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft?
Erkenntniswege und Profile einer scientific community im Wandel . . . . . 1
Dieter Cherubim
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Jenŋ Kiss
Sprachwandel: Ursachen und Wirkungen.
Überlegungen zu einem alten Problemkreis der Sprachwissenschaft . 51
Damaris Nübling
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft
und Sprachtypologie – am Beispiel der Phonologie,
der Morphologie und der Pragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Renata Szczepaniak
Lautwandel verstehen.
Vom Nutzen der Typologie von Silben- und Wortsprachen
für die historische und die synchrone germanistische Linguistik . . . . . 85
Anna Molnár
Was Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik
einander zu sagen hätten. Eine Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . 105
Richard J. Watts
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache?
Eine neue Optik auf die Historische Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
VIII
Paul Rössler
Die Grenzen der Grenzen.
Sprachgeschichtsperiodisierung zwischen Forschung und Lehre . . . . 153
Hiroyuki Takada
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Eine sprachbewusstseinsgeschichtliche Annäherung an einen
Schlüsselbegriff zwischen historischer Nähe- und Distanzsprache . . . 169
Stephan Elspaß
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft?
Überlegungen am Beispiel des ,Neuhochdeutschen‘ . . . . . . . . . . . . . . 201
Andreas Gardt
Sprachgeschichte als Kulturgeschichte.
Chancen und Risiken der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Marianne Bakró-Nagy
Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik.
Desiderate und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
Péter Maitz
1. Problemstellung
Dieses Buch handelt von der Historischen Sprachwissenschaft, ihren Er-
kenntnisinteressen, Grundlagenproblemen und Desideraten. Die Frage-
stellungen der einzelnen Beiträge sind dementsprechend zumeist durch
metawissenschaftliche1 Probleme motiviert. Die Autorinnen und Autoren2
reflektieren – in der Regel gestützt durch objektwissenschaftliche Analy-
sen – Möglichkeiten und Grenzen der unterschiedlichen Erkenntniswege,
theoretische und methodologische Grundsatzfragen, nicht zuletzt aber
auch wissenschaftsgeschichtliche, erkenntnistheoretische, wissenssoziolo-
gische Aspekte der Forschung.
Wenn dabei von ‚Historischer Sprachwissenschaft‘ die Rede ist, so
wird der Begriff – den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte Rechnung
tragend und im Gegensatz zu anderen, engeren Auslegungen (vgl. z. B.
Mattheier 1998: 824 oder Polenz 2000: 9) – im weitestmöglichen Sinne
verwendet. Es wird darunter diejenige linguistische Forschung verstanden,
die ihren Gegenstand, die ‚Sprache‘, wie auch immer sie konzeptualisiert
werden mag, als historisch gewachsenes und sich wandelndes Phänomen
begreift und sie im Zusammenhang damit – entweder aus historisch-
synchroner, diachroner oder synchron-variationslinguistischer Perspektive
– auf ihre Geschichte bzw. ihren Wandel hin untersucht, beschreibt und
erklärt.
Eine solche metawissenschaftliche Perspektive auf die Historische
Sprachwissenschaft scheint mindestens aus drei Gründen vielverspre-
chend, vielleicht sogar notwendig zu sein. Zum einen kann die bewusste
und kritische Auseinandersetzung mit den in der alltäglichen Forschungs-
praxis oft unhinterfragt befolgten Forschungsnormen maßgeblich auch
zur Lösung objektwissenschaftlicher Probleme beitragen. Zum anderen
können auf diese Weise ebenso grundlegende theoretische und methodo-
logische Desiderate sichtbar gemacht werden. Und schließlich kann die
Reflexion über die interne Dynamik der Historischen Sprachwissenschaft
auch wissenschaftstheoretisch bzw. epistemologisch relevante Erkenntnis-
se ans Tageslicht fördern, aus denen sich jedoch keineswegs nur für die
Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, sondern durchaus auch für die
Historische Sprachwissenschaft selbst wichtige Konsequenzen ergeben
können. Innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft – als Forschungs-
gebiet wie auch als wissenschaftliche Gemeinschaft – spielten sich nämlich
in den vergangenen Jahrzehnten Entwicklungen ab, die zum einen aus
wissenschaftstheoretischer Sicht bemerkenswert sind, zum anderen aber
auch für den objektwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt innerhalb der
Disziplin gewichtige Konsequenzen haben. Im Folgenden sollen zunächst
– allein schon aus Umfangsgründen in stark vereinfachter und rudimentä-
rer Form – diese Entwicklungen kurz nachgezeichnet werden.3
2. Die Anfänge
Die Geschichte der Historischen Sprachwissenschaft ließe sich in drei
wohlunterschiedene, voneinander recht klar abgrenzbare Phasen einteilen,
wenn man für diese Einteilung zwei Kriterien heranzieht: (a) die Grundla-
genstabilität, d. h. die Konsenshaftigkeit der forschungsleitenden Werte
und Normen sowie (b) die Schärfe der Gruppengrenze, die die wissen-
schaftliche Gemeinschaft von der wissenschaftlichen Außenwelt trennt.
Die erste von diesen drei Phasen umfasst jene Periode, in der die his-
torische Sprachforschung im Grunde noch als die einzig denkbare und
legitime Form der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache gilt. Die-
se Periode, das 19. Jh. also, ist durch eine – zumindest im Vergleich zum
gegenwärtigen Profil der Forschungslandschaft auffallende – relative
Grundlagenstabilität gekennzeichnet. Vor dem Hintergrund eines positi-
vistischen Wissenschaftsverständnisses4 dominieren (radikal) induktivis-
lichen Selbstevidenz des Gegenstandes genügen würde, ohne Hypothesen an das Material
heranzugehen (vgl. Boretzky 1977: 33).
4 Péter Maitz
5 Zwar stammt dieses Zitat bereits aus der dritten, unten näher zu erläuternden wissen-
schaftsgeschichtlichen Phase der Historischen Sprachwissenschaft. Doch seine Grundhal-
tung und seine Aussage stehen eindeutig in der Tradition jener von außen kommenden
Angriffe, die sich spätestens seit dem Auftreten des linguistischen Strukturalismus schon
ab der ersten Hälfte des 20. Jh. – wenn auch zunächst in weniger polemischer Weise –
melden.
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 5
3. Der Umbruch
Die oben beschriebene Situation ändert sich ab den 1970er Jahren grund-
sätzlich. Zu dieser Zeit setzen wissenschaftsinterne und auch wissen-
schaftssoziologische Entwicklungen ein, die bis heute andauern und das
Profil der Historischen Sprachwissenschaft maßgeblich prägen.
Ab dieser Zeit tritt die Historische Sprachwissenschaft aus der stagna-
tiven zweiten Phase ihrer Geschichte in eine progressive, auch die Gegen-
wart mit einschließende dritte. Als progressiv kann diese Phase in zweifa-
cher Hinsicht bezeichnet werden. Zum einen öffnet sich ein bedeutender
Teil der bis dahin für historische Fragestellungen verschlossenen und
vielfach auch feindlichen linguistischen Welt außerhalb der Historischen
Sprachwissenschaft für die Historizität und die Dynamik von Sprache (vgl.
Cherubim 1975: 2f., Boretzky 1977: 11). Zum anderen werden die klas-
sisch-junggrammatischen Grundlagen sprachhistorischer Forschungen –
unter externem Einfluss – auch innerhalb der Historischen Sprachwissen-
schaft selbst immer öfter und stärker in Frage gestellt. Auch die Histo-
rische Sprachwissenschaft selbst öffnet sich also immer mehr für neue
theoretische und methodologische Zugangsweisen. Durch diese beiden
parallelen Entwicklungen wird die scharfe Grenze, die die wissenschaft-
liche Gemeinschaft von der linguistischen Außenwelt bis dahin getrennt
hat, in einem bis dahin nie gesehenem Maße aufgelockert.
Zu dieser immer intensiveren Annäherung einst antagonistisch er-
scheinender Positionen tragen natürlich zahlreiche Faktoren bei. Obwohl
der Zeitraum bzw. die Entwicklungen, von denen hier die Rede ist, bislang
keinen systematischen wissenschaftsgeschichtlichen Analysen unterzogen
worden sind, so sollen manche der wichtigsten Faktoren, die in diesem
Zusammenhang von Belang gewesen sein dürften, zumindest angedeutet
werden.
Von entscheidender Bedeutung ist erstens der Umstand, dass die pro-
gressiven linguistischen Schulen, die die historisch-dynamische Sprachbe-
trachtung in die Defensive gedrängt hatten, besonders ab den 1960er Jah-
ren von verschiedenen Seiten und auf verschiedenen Ebenen heftig
angegriffen wurden. Zum einen ist mehrfach auf die Unhaltbarkeit des
strukturalistischen Postulats homogener Sprachsysteme und der scharfen
Trennung zwischen Synchronie und Diachronie hingewiesen worden (vgl.
z. B. Coseriu 1974, Weinreich/Labov/Herzog 1968 etc.). Im Zuge dessen
kam es auch zur Begründung oppositioneller, dynamischer, die Kluft zwi-
schen Synchronie und Diachronie überbrückender Sprachtheorien, wie
etwa der Soziolinguistik (vgl. etwa Weinreich/Labov/Herzog 1968), der
Natürlichkeitstheorie (vgl. Mayerthaler 1981, Wurzel 1984) oder der
Grammatikalisierungstheorie (vgl. Lehmann 1995). Zum anderen wurden
ab dieser Zeit genauso auch die sprachtheoretischen und methodologi-
schen Grundlagen der Generativen Grammatik heftig angegriffen und es
wurde auch deren wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung angezweifelt.
Besonders ab den 1970er Jahren meldeten sich immer häufiger wissen-
schaftsgeschichtliche Interpretationen (z. B. Anttila 1975, Gray 1976,
Murray 1980), die der gängigen Meinung, wonach Chomskys Auftreten in
der Linguistik eine wissenschaftliche Revolution im Kuhn’schen Sinne
eingeleitet hätte, skeptisch gegenüberstanden. Statt einer chomskyanischen
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 7
Revolution sprachen sie von einem erfolgreichen Putsch, der von einer
militanten Gruppe von Linguisten und begleitet von einer effektiven revo-
lutionären Rhetorik mit dem Ziel der Machtergreifung durchgeführt wur-
de (vgl. Kertész 2009: 397). Auf diese Weise, durch die immer lauter wer-
denden kritischen Stimmen und das Aufkommen von progressiven Kon-
kurrenten kam es dazu, dass die Position bzw. das Prestige der Richtungen
geschwächt wurde, die der Historischen Sprachwissenschaft feindlich
gegenüberstanden.
Zweitens haben diese konkurrierenden Schulen nicht nur die (einsti-
gen) ‚Feinde‘ historisch orientierter Forschungen angegriffen, sondern sie
boten der Historischen Sprachwissenschaft zugleich auch die Möglichkeit
an, an progressive Tendenzen in der Linguistik anzuknüpfen und auf diese
Weise aus der stagnativen Phase herauszukommen. Im Anschluss daran
wurden ab den 1970er und 1980er Jahren (Teil)Disziplinen wie – um hier
nur zwei bis heute prominente von ihnen zu nennen – die Historische
Pragmatik (vgl. z. B. Sitta 1980) und die Historische Soziolinguistik (vgl.
z. B. Romaine 1982) begründet und ausgebaut. Bemerkenswert ist aller-
dings die Tatsache, dass sich diese neuen Richtungen innerhalb der Histo-
rischen Sprachwissenschaft selbstständig, d. h. unabhängig von ihren ahis-
torisch-synchronen Pendants etabliert und institutionalisiert hatten.7 Die
scharfe Grenze zwischen Synchronie und Diachronie, zwischen gegen-
wartsbezogener und historisch orientierter Sprachwissenschaft ist also
bestenfalls sprachtheoretisch und methodologisch, keineswegs aber im
soziologischen bzw. institutionellen Sinne aufgelockert bzw. aufgehoben
worden. Durch die eigenständige Etablierung der Historischen Pragmatik,
Soziolinguistik oder Semantik wurde sie sogar institutionalisiert und damit
weiter verfestigt.
In diesem Sinne hat sich die Gruppengrenze, die die Historische
Sprachwissenschaft von anderen wissenschaftlichen Gemeinschaften in-
nerhalb der Linguistik trennt, zwar ohne Zweifel aufgelockert, sie ist aber
keineswegs verschwunden. Dies ist jedoch zumindest unter soziologi-
schem Aspekt auch nicht verwunderlich. Denn die Aufhebung der Grup-
pengrenze und die Integration einst getrennter wissenschaftlicher Ge-
meinschaften hätten einen verstärkten Konkurrenzkampf als notwendige
Konsequenz gehabt und zugleich auch die institutionelle Autonomie der
Historischen Sprachwissenschaft gefährdet.
7 So haben auch die genannten beiden Disziplinen ihre eigenen Organisationen, Konferen-
zen und Publikationsforen ins Leben gerufen; man denke nur an die Gründung des Journal
of Historical Pragmatics neben dem Journal of Pragmatics, an das Historical Sociolinguistics Network,
die Internet-Zeitschrift Historical Sociolinguistics and Sociohistorical Linguistics oder die Tagungs-
reihe Historische Soziolinguistik des Deutschen.
8 Péter Maitz
sen sein, als es ihnen schnellen Erfolg versprach, indem es erlaubte, „sich
all das immense Wissen, das in hundert Jahren Sprachgeschichtsforschung
zusammengetragen worden war, nicht aneignen zu müssen“ (Schmidt
1988; Hervorhebung im Original).
Neben all den genannten werden sicher auch noch weitere, durch zu-
künftige wissenschaftsgeschichtliche Analysen zu ermittelnde Faktoren
dazu beigetragen haben, dass sich die Historische Sprachwissenschaft ab
den 1970er Jahren sowohl inhaltlich als auch vom Profil der Gemeinschaft
her grundlegend verändert hat. Im Sinne des Gesagten wurde die einst
scharfe Gruppengrenze deutlich aufgelockert und die frühere Grundla-
genstabilität der Forschung wurde durch einen ausgeprägten Pluralismus
abgelöst. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und auch die Gegen-
wart sind von einer nie vorher gesehenen Grundlageninstabilität und Di-
versifikation innerhalb des Faches, von einem Wettbewerb zwischen zahl-
reichen theoretisch und methodologisch divergierenden Forschungsan-
sätzen gekennzeichnet. Induktivistische Zugangsweisen (z. B. Historische
Philologie, junggrammatisch geprägte Historische Grammatik, Sozioprag-
matische Sprachgeschichte) existieren heute neben hypothetisch-deduktiv
ausgerichteten Forschungen (z. B. Grammatikalisierungsforschung, Dia-
chrone Sprachtypologie, Sprachwandeltheorie); systemimmanente (z. B.
strukturalistische, typologische) Beschreibungs- und Erklärungsansätze
neben stark gesellschafts- und kulturorientierten (wie z. B. Historische
Pragmatik und Soziolinguistik); stark interdisziplinär angelegte Ansätze
(z. B. Diskursgeschichte oder Kulturgeschichte der Sprache) neben eher
reduktionistischen (z. B. Historische Grammatik).
Nun können wir aber keineswegs behaupten, dass innerhalb der Histori-
schen Sprachwissenschaft ein unreflektierter und undifferenzierter Um-
gang mit linguistischen Daten herrschen würde. Im Gegenteil scheinen die
methodologischen und empirischen Standards immer strenger – wenn
auch keineswegs unbedingt einheitlich – zu sein. Die Repräsentativität der
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 15
Am Zitat wird deutlich erkennbar, dass hinter der Forderung der Pragma-
tisierung in Wirklichkeit nichts anderes als die Absicht des Bruchs mit der
junggrammatischen Tradition steckt. Die Argumentation erfolgt bereits
aus einer genuin pragmatischen Perspektive, aus der die junggrammati-
schen Forschungskonventionen natürlich als defizitär erscheinen. Die
Pragmatisierung der Sprachgeschichtsforschung wird nicht deswegen be-
fürwortet, weil sie die Beseitigung von Anomalien verspricht, die im Rah-
men der früheren Forschung nicht aus dem Weg geräumt werden konn-
ten. Pragmatische Fragestellungen wurden ja bis dahin gar nicht erst for-
muliert. Die pragmatische Perspektive wird stattdessen insofern als nütz-
18 Péter Maitz
lich dargestellt, als durch sie der viel getadelte junggrammatische Atomis-
mus überwunden werden kann.
In Bezug auf das Konzept der Europäischen Sprachgeschichte tritt
uns im folgenden Zitat eine dezidiert soziologisch orientierte Argumenta-
tion entgegen. Auch in diesem Fall wird von dem neuen Ansatz nicht die
Lösung von bis dahin als unlösbar erscheinenden Problemen erwartet. Im
Zentrum der Argumentation steht die – viel zu oft außer Acht gelassene –
Erkenntnis, dass auch wissenschaftliche Forschung im sozialen Kontext
stattfindet und gesellschaftliche Interessen bedienen muss:
(1) Wenn sich vor allem in der Schule, aber auch an der Universität auf die Dauer
nichts […] hält, was nicht in der Gesellschaft als relevant, wichtig, interessant be-
funden wird, dann verliert die Sprachgeschichtsforschung herkömmlicher einzel-
sprachbezogen-nationaler Ausrichtung in dem Maße ihre gesellschaftliche Be-
gründung, wie sich eine neue […] Identität ‚Europa‘ […] bildet. (2) Wenn man
dem dadurch zu entgehen versucht, dass man die einzelsprachbezogen-nationale
Sprachgeschichtsschreibung ihrer nationalen Komponenten entkleidet, […] dann
ergibt sich vermutlich ein gesellschaftliches Motivationsproblem. Eine maximal
sachlich (was auch immer das heißen mag) aufgezogene Geschichte einer Einzel-
sprache könnte sich als ohne Identifikationspotential entpuppen […]. (3) Man
wird also […] eine Neubegründung der Sprachgeschichtsforschung in dem Sinne
vorzunehmen haben, dass die Einzelsprache aus ihrem europäischen Rahmen
heraus beschrieben wird. (Reichmann 2002: 40)
Und last but not least wird die Unvereinbarkeit des Kuhn’schen Wissen-
schaftsbildes mit der Historischen Sprachwissenschaft auch am Beispiel
der in den vergangenen Jahrzehnten wieder sehr intensiv betriebenen For-
schungen zur Sprachwandeltheorie erkennbar (vgl. Coseriu 1974, Croft
2000, Keller 1990, Labov 1994, 2001, 2010, Wurzel 1988 etc.). Man kann
ja nicht behaupten, dass die Entstehung dieser neueren Sprachwandelthe-
orien von neuen Daten und Entdeckungen herbeigeführt worden wäre,
die frühere Theorien falsifiziert hätten. Umso weniger ist dies der Fall, als
die meisten modernen Sprachwandeltheorien von Forschern aufgestellt
worden sind, die bis dahin zumeist oder ausschließlich außerhalb der His-
torischen Sprachwissenschaft tätig waren. Freilich gibt es auch Ausnah-
men (vgl. etwa Lass 1980), doch insgesamt kann nach Hermann Paul
kaum ein anderer führender Sprachwandeltheoretiker genannt werden, der
selbst mit historischen Daten gearbeitet hätte (oder umgekehrt kaum ein
Sprachhistoriker, der mit einer Sprachwandeltheorie hervorgetreten wäre).
Die wichtigsten Impulse für diese Theorien lieferten also weniger in Ano-
malien wurzelnde Krisen als vielmehr Probleme und Erkenntnisse anderer
linguistischer und extralinguistischer Disziplinen wie z. B. der Soziologie
bzw. der Soziolinguistik (Labov, Croft), der Evolutionsbiologie (Croft)
oder der Wirtschaftswissenschaft (Keller).
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 19
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26 Péter Maitz
1. Einleitung
Die Ausgangsfrage dieses Bandes „Wohin steuert die Historische Sprach-
wissenschaft?“ soll, wie ich glaube, uns vor allem dazu anregen, gemein-
sam darüber nachzudenken, was diese anerkannte Subdisziplin der Allge-
meinen Sprachwissenschaft sein und was sie speziell leisten kann. Über-
zeugend beantworten können wir diese Frage wohl nicht, weil trotz einer
kaum zu überblickenden Literatur seit junggrammatischer Zeit sichere
Prognosen dazu kaum möglich sind.2 Und dies nicht nur, weil „der Geist
weht, wohin er will“, sondern weil wissenschaftliche Entwicklungen kom-
plexen Bedingungen oder Steuerungsfaktoren unterliegen, die man meist
erst post festum dingfest machen oder rekonstruieren kann. Indem aber die-
se Frage in dieser hypostasierenden, aktivischen Form gestellt wird, ver-
anlasst sie uns aber auch, daran zu erinnern, dass wissenschaftliche Diszip-
linen nicht im „luftleeren Raum“ agieren, sondern stets mit bestimmten
Interessenkontexten und Konstellationen verbunden sind, in denen Ge-
genstände entworfen, Untersuchungszwecke formuliert und geeignete
Untersuchungsmethoden dafür entwickelt werden.3 Wir alle wissen ja aus
Erfahrungen, dass es so ‚rational‘ in der Praxis nicht läuft und dass es
meistens mehrere Wege gibt, die uns „nach Rom“ führen.4
1 Der vorliegende Beitrag orientiert sich weitgehend an dem in Debrecen gehaltenen Vor-
trag, fügt aber erläuternde Anmerkungen und aktuelle Hinweise hinzu.
2 Zwar gilt vielfach Jacob Grimm mit seinem Programm einer historischen Grammatik
(1819) als Gründungsheros (vgl. Cherubim 1985), aber erst Hermann Pauls Prinzipien der
Sprachgeschichte (1880) können m. E. als das eigentliche Gründungsdokument der modernen
„Historischen Sprachwissenschaft“ gelten, dem dann am Ende des 19. Jh. allerdings eine
Reihe weiterer „Summen“ (Prinzipienlehren) an die Seite gestellt werden können.
3 Hier darf nur an F. de Saussures bekanntes dictum (1915: 23) erinnert werden: „Bien loin
que l’objet précède le point de vue, on dirait que c’est le point de vue qui crée l’objet“.
4 Hymes (1974) argumentiert daher zu Recht gegen die Vorstellung von „Paradigmawechseln“
(nach Th. S. Kuhn) in der Entwicklung der Sprachwissenschaft. Was meist eher zu beob-
achten ist, sind wechselnde Dominanzen in einem Feld mehrsträngiger Entwicklungen.
30 Dieter Cherubim
Ich selbst habe mich schon länger (Cherubim 1975) mit dieser Teildis-
ziplin und ihren unterschiedlichen Entstehungsbedingungen befasst und
zu verstehen versucht, womit sie sich eigentlich beschäftigt und warum sie
das tut. Angesichts der ja oft apostrophierten Vielfalt sprachhistorischer
Ansätze war und ist das keine leichte Aufgabe, die man in einem Zugriff
bewältigen könnte. Selbst Experten auf diesem Gebiet wie der frühere
Tübinger Linguist Eugenio Coseriu († 2002) oder Wolfgang Ullrich Wur-
zel († 2001) aus Berlin, um nur zwei Namen von Kollegen zu nennen, die
heute nicht mehr mitdiskutieren können, haben sich in immer wieder neu-
en Anläufen an diesem Problem versucht, ohne zu einer endgültigen Lö-
sung zu kommen.5 Aber auch der Romanist Helmut Lüdtke könnte hier
genannt werden, dessen systemtheoretischer Ansatz (Lüdtke 1980) keines-
wegs der letzte dieser Art war, wie gerade wieder aktuelle Diskussionsan-
sätze zeigen, die die breitgefächerte Diskussion unter einem Dach zu-
sammen zu führen und auf ein neues, modernen wissenschaftstheoreti-
schen Ansprüchen genügendes Niveau zu heben versuchen (Zeige 2011).6
Mein eigener Versuch einer Vergewisserung, den ich hier unterneh-
men will und der auf einem Verständnis von Wissenschaftsentwicklung als
Geschichte heterogener Problematisierungen fußt, wird also genau so vor-
läufig bleiben wie andere dieser Art und bedarf ebenso wie diese weiter-
führender Kritik und fördernder Umgestaltung. Dennoch darf man davon
ausgehen, dass es für alle diskutierten Ansätze eine Art Grundlagenprob-
lematik gibt, die es erlaubt, einen Zusammenhang zwischen unterschied-
lich fokussierten Aspekten zu rekonstruieren.7 Dazu will ich folgende
Schritte unternehmen:
Erstens will ich versuchen, mein Verständnis des Sprachwandels als
Konstitutions- bzw. Funktionsprinzip natürlicher Sprachen zu explizieren
und danach fragen, wie dieses Prinzip „in the long run of linguistics“ Be-
rücksichtigung fand. Letzteres kann hier selbstverständlich nur selektiv
und exemplarisch geschehen.
Zweitens will ich einige Überlegungen dazu anstellen, wie der Sprach-
wandel in den Gegenstandsbereich der heutigen Sprachwissenschaft inte-
griert wird bzw. integriert werden kann.
Drittens gehe ich davon aus, dass der Wandel natürlicher Sprachen ein
komplexer Vorgang ist, dessen Untersuchung also eine fruchtbare Opera-
tionalisierung verlangt, die wenigstens ansatzweise skizziert werden soll.
5 Da auf die Menge ihrer Beiträge hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, sei nur
auf zwei immer noch lesenswerte Diskussionsbeiträge hingewiesen: Coseriu (1958) und
Wurzel (1975).
6 Eine neue Zusammenfassung und einen eigenen Ansatz versucht auch Kotin (2005, 2007);
eher populär ist die Darstellung der Evolution von Sprache durch Deutscher (2005).
7 Ähnlich geht jetzt auch Zeige (2011: 1ff.) vor.
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 31
Viertens möchte ich das zentrale Problem der Erklärung des Sprach-
wandels ansprechen, das für mich nur durch Rekurs auf die vielfältigen
Funktionen natürlicher Sprachen zu lösen ist, weil ich diese prinzipiell als
Techniken verstehe, die vor allem der menschlichen „Verständigung“ die-
nen, und ihre Entwicklung keinen Zweck in sich selbst hat, – auch wenn
es bisweilen so aussehen mag.8
8 Mit „Verständigung“ als oberster Funktion natürlicher Sprachen sollen hier nur chiffrenar-
tig alle unterschiedlichen Funktionszuweisungen auf den Punkt gebracht werden, die in der
Linguistik diskutiert wurden. Vgl. etwa Oesterreicher (1979). Grundsätzlich scheinen mir
aber immer noch die drei Bühlerschen Funktionen (Darstellung, Symptom, Appell) ein
fruchtbarer Ausgangspunkt für alle derartigen Bestimmungen zu sein. Ihnen entsprechen
heute die kognitiven, soziokulturellen und pragmatischen Zugriffe in der modernen
Sprachwissenschaft.
9 Vgl. dazu ausführlicher Oesterreicher (2001).
32 Dieter Cherubim
10 Vgl. Humboldt (1830-1835: 418, 431). Auch Anttila (1993) geht bei seinen grundsätzlichen
Überlegungen von einem genetischen Zeichenbegriff aus.
11 In ähnlicher Weise hat Horst Isenberg (1965) zwischen einer „Theorie des Sprachwandels“
und einer „Theorie der Sprachentwicklung“ unterschieden. Vgl. auch dazu Cherubim
(1975: 42f.).
12 Vgl. dazu auch Cherubim (1998), Kotin (2005, 2007).
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 33
13 Dies gilt selbst dann, wenn man Kellers Zurückweisung einer bloßen Alternative von Kau-
salität und Finalität im Sprachwandel akzeptiert, d. h. mit ihm glaubt, dass der Sprachwan-
del weder allein durch außersprachliche Faktoren (z. B. soziale Veränderungen) bedingt
wird noch von den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft für bestimmte Zwecke (z. B. Er-
füllung neuer kommunikativer Bedürfnisse) intendiert wird. Das heißt aber m. E. nicht,
dass finale Motivationen in Prozessen des Sprachwandels keine oder nur eine vernachlässi-
genswerte Funktion haben. Vgl. dazu auch das integrative Modell von Mattheier (1984:
729). Die Schwachstelle in Kellers Theorie des Sprachwandels scheint mir daher das Prob-
lem zu sein, wie es von kommunikativ motivierten Innovationen zu kollektiv akzeptiertem
Wandel kommen kann. Doch vgl. jetzt Keller (2006).
14 Doch vgl. Allen (1948).
34 Dieter Cherubim
15 In Cherubim (1975) habe ich versucht, das durch Hinweise auf wichtige diachronische An-
sätze zu relativieren. Ohnehin blieb das Interesse an Fragen des Sprachwandels in der sog.
Indogermanistik stets virulent.
16 Exemplarisch sei hier nur auf zwei Sammelbände mit wichtigen Arbeiten W. Labovs hin-
gewiesen: Labov (1972a und b).
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 35
17 Da es hier nicht um Vollständigkeit geht, sind weitere Hinweise auf kulturhistorische An-
sätze in der Sprachforschung des 20. Jh. (z. B. die materialistisch begründeten Ansätze der
sowjetischen Psycholinguistik) nicht notwendig.
18 Relativ offen für sprachhistorische Fragestellungen blieb die Beschäftigung mit der Laut-
struktur von Sprachen. Nicht zu vergessen ist ja, dass gerade hier, im sog. diachronischen
Strukturalismus von Roman Jakobson, André Martinet u. a., relativ früh die Verknüpfung
von Entwicklungs- und Strukturkonzeptionen gelang.
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 37
büchern notfalls sogar verzichten konnte.19 Dennoch hat die Nähe zu die-
sen „expandierten“ Sprachbeschreibungen dazu geführt, dass vergessene
Aspekte historischer Sprachforschung wieder aktiviert werden konnten.
Nicht zuletzt die aus der Soziolinguistik erwachsene intensive Sprachkon-
taktforschung hat Anstoß gegeben, sich mit sprachlichen Entwicklungen
wie der Kreolisierung zu beschäftigen, an denen kurzfristige Sprachwan-
delprozesse modellhaft studiert werden können.20
Mein Appell ist jedoch grundsätzlicher und geht in die andere Rich-
tung: Die Historische Linguistik sollte wieder in den Kern der Sprachwis-
senschaft zurückgeholt werden, weil sprachliche Entwicklungen ein zent-
rales Erprobungsfeld moderner Sprachtheorien darstellen.21 Schon Roman
Jakobson hatte in einer aphasiologischen Studie (1960: 49) darauf hinge-
wiesen, dass sich die Sprachwissenschaft, will sie ihren Gegenstand insge-
samt oder spezielle Aspekte desselben wirklich verstehen, „mit allen Sei-
ten“ des Lebens der Sprache („mit der Sprache in ihrer Tätigkeit, mit der
Sprache in ihren Entwicklungstendenzen [drift], mit der Sprache in ihrer
Ontogenese und mit der Sprache im pathologischen Abbau“) befassen
müsse und – dies sei hinzugefügt – sich daran bewähren müsse. Denn die
Erkenntnis struktureller Zusammenhänge in der sprachlichen Systematik,
die heute als Hauptgegenstand der modernen Sprachwissenschaft gilt, be-
darf stets der Rechtfertigung, dass sie auch in anderen Bereichen, z. B. von
Sprachwandel und Sprachentwicklung, funktional angemessen interpre-
tiert werden können. Umgekehrt heißt das aber auch, dass für das Ver-
ständnis des historischen Wandels von Sprachen in der Zeit jede Art von
Sprachdynamik mit zu betrachten ist, unterschiedliche Typen von sprach-
lichen Produktionsfehlern ebenso wie die Erscheinungen sprachlicher
Kreativität, sprachspielerisch und poetisch motivierte Abwandlungen
ebenso wie bewusste Verletzung sprachlicher Regeln zu unterschiedlichen
sprachkritischen oder aufklärerischen Zwecken.22
23 Nicht in diesen Zusammenhang gehört die Sprachursprungsfrage, die auch von Zeige
(2011) mit Recht aus der Diskussion der Struktur des Sprachwandels ausgeklammert wird.
Alle Sprachen, die wir kennen, sind bereits hochentwickelte Techniken kommunikativer
Verständigung, und es gibt auch keine sicheren Kriterien, systematisch und/oder typolo-
gisch „primitivere“ Entwicklungszustände zu bestimmen. Sprachwandel setzt also für un-
sere Erkenntnis immer schon eine Sprache voraus. Interessante „Spekulationen zum An-
fang der Sprache“ lieferte jüngst Wunderlich (2008).
24 Vgl. etwa Vennemann (1983) und zur Anwendung des Konzepts der Natürlichkeit auf den
Sprachwandel Wurzel (1975) und (1988a). Ein traditionelles Konzept ist in diesem Zu-
sammenhang der Begriff der Analogie, der schon beim römischen Grammatiker Varro,
dann aber vor allem im 19. Jh., so auch bei Paul (1880), von großer Bedeutung für die his-
torische Sprachforschung war (Wurzel 1988b).
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 39
25 Dennoch wird diese Möglichkeit häufig noch als „Haupteinfallstor“ für den Sprachwandel
angesehen; vgl. Baron (1977), Cherubim (1980: 33ff.).
26 Reiches Material zu affektiv begründeten und anderen sprachlichen Abweichungen findet
man in der sprachpsychologischen Literatur der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts, z. B.
Havers (1931).
27 Ich lasse hierbei undiskutiert, inwieweit die Systematisierung von Sprachen durch universa-
le Prinzipien und/oder durch einzelsprachliche Organisation (Parametrisierung) bestimmt
ist.
40 Dieter Cherubim
28 Vgl. auch Fritz (1998). Am Beispiel der Entwicklung von lexikalischen Bezeichnungen
(Nominationen) für Sehhilfen (Brillen) im Deutschen habe ich selbst (Cherubim 2001) ver-
sucht, eine solche sprachsystematische Integration exemplarisch zu verdeutlichen. – Eine
Art Kreislaufmodell der systematischen Integration (endogener Sprachwandel) sieht Lüdt-
ke (1980: 10) vor: Ein außersprachlich gedachter Sachverhalt muss mit einem vorgegebe-
nen lexikalischen Repertoire erfasst und auf bestimmte semantaktische Konzepte abgebil-
det werden; diese müssen wiederum gebenenen morphosyntaktischen Verkettungen
genügen, bevor sie schließlich in lautliche Repräsentationen überführt werden. Der Kreis-
lauf kann z. B. dann dadurch zustande kommen, dass im Sprachgebrauch Veränderungen
bestimmter Art (z. B. Klitisierung, Abnutzungen, Vereinfachungen, Umdeutungen) auf die
lautlichen Repräsentationen einwirken, so dass rückwirkend Unklarheiten auf den anderen
Ebenen entstehen, die wieder korrigiert werden müssen.
29 Vor allem E. Coseriu (1970) ist auf diese Schichtung des Sprachwandels mit interessanten
Beispielen eingegangen.
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 41
30 Vgl. auch Handbücher und Konferenzberichte wie Boretzky (1977), Davis (1990), zu neue-
ren Diskussionen auch Davis/Iverson (1993).
31 Ein schönes Beispiel etwa bei Spitzer (1943: 418); aber auch Saussure (1915: 202ff.).
32 Gerade für das Deutsche ist nicht nur der direkte (kommunikative), sondern auch der indi-
rekte (kulturelle) Kontakt mit anderen Sprachen wichtig gewesen, z. B. in Form von litera-
rischen Vorbildern, Übersetzungen etc.
42 Dieter Cherubim
36 Labov (1965: 91): „[…] that linguistic change cannot be explained by arguments drawn
from purely internal relations within the system, even if external, sociolinguistic relations
are recognized as additional conditioning factors. In the mechanism of linguistic changes
which we have observed, the two sets of relations are interlocked in a systematic way“.
37 Die Reihenfolge der Phasen wird hier bereits gegenüber dem oben (4.) Gesagten etwas
verändert.
38 Mit der Bezeichnung Spannungen soll hier nicht nur die bekannte Dynamik struktureller
Systeme, wie sie vor allem André Martinet (z. B. Martinet 1952) herausgearbeitet hat, son-
dern auch das weite Feld „sprachlicher Antinomien“ angesprochen werden, die für die
sowjetische Soziolinguistik Motor von Sprachentwicklungen sein können. Vgl. Girke/Jachnow
(1974: 97ff.).
39 Vgl. das oben bereits genannte Beispiel der Entwicklung des Umlauts im Deutschen (Son-
deregger 1979: 297ff.). Integrationen auch dieser Art kommen aber nicht mechanisch zu-
stande, sondern müssen über imitative und kommunikative Prozesse bewerkstelligt wer-
den.
44 Dieter Cherubim
SPRACHGEBRAUCH
INTERAKTION
VARIATION
Filter 1:
Integration in
Sprachsystem/-architektur
INNOVATION
Filter 2:
Soziale Diffusion/
kulturelle Interpretation
SPRACHWANDEL
40 Vgl. jetzt den aktuellen Versuch von Zeige (2011), N. Luhmanns Theorie der sozialen Sys-
teme als Modell für die Erklärung des Sprachwandels als selbstgesteuerte (autopoetische)
Reorganisation von Sprache in kommunikativen Prozessen zu nutzen.
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 45
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50 Dieter Cherubim
Jenŋ Kiss
2. Begriffsinterpretationen
Für das, was unter (der) Sprache zu verstehen sei, existieren enger und
weiter gefasste Interpretationen. Die reduktionistische Interpretation ist
m. E. nicht akzeptabel. Die Tatsache beispielsweise, dass die Lexik kein
der Syntax ähnelndes, auf hohem Abstraktionsniveau beschreibbares Teil-
system bildet, ist kein hinreichender Grund, sie aus der Sprache auszu-
schließen. Konsequenterweise betrachte ich Sprache deshalb als integrales,
organisch zusammengehöriges Ganzes der zur Rede benötigten konkreten
Elemente und abstrakten Regeln.
Darüber hinaus bestehen auch Unterschiede in der Beurteilung der
Frage der Geschlossenheit bzw. Autonomie des sprachlichen Systems. Die
Vertreter der strukturalen und formalen Richtungen halten dieses auto-
nom, die Vertreter der funktionalen Richtung tun dies nicht. So vertritt
z. B. Langacker (1987: 2f.) die Auffassung, dass die Grammatik gar keine
autonome Repräsentationsebene darstelle. Vielmehr bildeten Lexikon,
Morphologie und Syntax ein Kontinuum symbolischer Strukturen, die
sich lediglich in verschiedenen Parametern voneinander unterscheiden,
aber nur willkürlich in autonome Komponenten untergliedert werden
können. Kertész (2000) argumentiert im Sinne einer holistischen Grund-
auffassung, dass sich die Kognition überhaupt nicht in autonome Teilsys-
teme aufteilen lasse. Dies würde einerseits bedeuten, dass das Sprachwis-
sen viel eher aus der allgemeinen (nonverbalen) Intelligenz abzuleiten
wäre als aus einer spezifischen sprachlichen Fähigkeit, die eventuell sogar
Sprachwandel: Ursachen und Wirkungen 53
keinen Sprachgebrauch geben. Umgekehrt ist jede Sprache eine tote Spra-
che, wenn ihr die Sprecher fehlen – wie nun einmal auch mit Ball kein
Ballspiel zustande kommen kann, wenn die Spieler fehlen. Die Entwick-
lung des Sprachwissens und des Wissens von der Welt vollzieht sich – im
Zuge der sozial-kognitiven Entwicklung – parallel. Das genaue Verstehen
der Diskurse setzt über die Sprachkenntnis hinaus auch die Kenntnis sozi-
aler Schemata voraus.
Wie wir wissen, ist auch die sprachliche Tätigkeit ein organischer Teil der
Gemeinschaftstätigkeit des Menschen. Und sein Leben, seine Tätigkeit
(zur Erinnerung: der Mensch ist ein biologisches und gesellschaftliches
Wesen zugleich) werden auch vom biologischen Prinzip der Selbst-
regulation (Homöostase) im Gleichgewicht gehalten (vgl. Borhidi 2009).
Dieses ist biologisch kodiert. Es ist ein Axiom, dass die kommunikative
Wirksamkeit die Voraussetzung der gesellschaftlichen Existenz ist. Cha-
rakteristisch für das Sprachverhalten des Menschen ist deshalb das trieb-
hafte (intuitive) Streben nach Sicherung des kommunikativen Erfolgs bzw.
nach Beibehaltung eines wirksamen Zustandes des sprachlichen Mittei-
lungsverfahrens, d. h. der wechselseitige Zwang gegenseitigen Verstehens
und Verstandenwerdens. Die kommunikative Wirksamkeit ist jedoch nicht
nur die Voraussetzung der gesellschaftlichen, sondern mutatis mutandis
auch der höherwertigen biologischen Existenz. Ähnliche Beobachtungen
finden sich in neueren Studien von Ethologen in Bezug auf die Tierwelt
(Csányi 2006: 393).
Der Begriff der Homöostase wird indes nicht nur in der Biologie,
sondern auch in der Kybernetik verwendet. In der Kybernetik wird darun-
58 Jenŋ Kiss
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Sprachwandel: Ursachen und Wirkungen 61
veau, sie schätzen es auch, was sich an ihrer generell hohen Leistungsbe-
reitschaft, an anspruchsvollen Diskussionen und guten Haus- und Ab-
schlussarbeiten zeigt. Auch wird immer wieder von Lehramtsstudierenden
die Absicht geäußert, vermehrt sprachhistorische Einheiten in den Unter-
richt einbringen zu wollen: Sprachgeschichte wird als wichtig begriffen.
Themen, die sich besonders für Lehramtsstudierende eignen und daher in
den universitären Unterrichtskanon gehören, sind die Onomastik (vorran-
gig, doch keineswegs zwingend, die Anthroponomastik), die sog. Zwei-
felsfall-Linguistik, die nach dem Hintergrund aktueller Schwankungsfälle
fragt und dabei nicht selten auf (schon im Frühnhd. fußenden) Sprach-
wandel stößt, die Phraseologie, aber auch Veranstaltungen zur Grammati-
kalisierung, zum Sprachwandel prinzipiell, zur historischen Graphematik,
Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik. Ein Motor
sprachlichen Wandels besteht in der Tatsache, dass jede sprachliche Ebe-
ne sich nach spezifischen Optimierungsprinzipien wandelt und dabei an-
dere Ebenen beeinträchtigen kann. Einen solchen Antagonismus werden
wir mit dem Beispiel des phonologischen und des morphologischen Wan-
dels kennenlernen (vgl. Abschnitt 2 und 3). Die Historische Linguistik
braucht sich also nicht zu verstecken oder zu rechtfertigen, wenn sie le-
bensnah vermittelt wird.
Eine weitere Bereicherung und – buchstäblich – Horizonterweiterung
erfährt die Historische Sprachwissenschaft durch die Wahrnehmung der
Sprachtypologie, so wie umgekehrt die Sprachtypologie durchaus und
zunehmend an sprachhistorischen Erkenntnissen interessiert ist, auch
wenn sie (die Typologie) – oft zwangsläufig – strikt synchron-vergleichend
verfährt und dabei meist – für Philologen oft schwer erträglich – sehr
grobrastrig vorgeht. Dennoch tun sich interessante Verbindungen auf.
Croft (2003) spricht im Zusammenhang diachroner Forschung von einer
„dynamicization of typology“ (232ff., vgl. auch Ineichen 1991: 123ff.).
Rekonstruierte Systeme (z. B. Lautsysteme) können angesichts der Kennt-
nis sprachtypologischer Verbreitungen als mehr oder weniger plausibel
bewertet werden. Umgekehrt kann die Historische Sprachwissenschaft,
indem sie genau die Dynamik sprachlicher Veränderung erforscht, z. B.
zeigen, welche Merkmale bei einem typologischen Wandel früher/später
ab- oder aufgebaut werden, wie die Implikationen zwischen den Merkma-
len beschaffen sind, welche typologischen Merkmale eher hart oder weich
sind, kurz: in welcher Sukzession sich ein Sprachtyp auf- oder abbaut.
Ich möchte, um konkret zu werden, drei Beispiele für den produkti-
ven Dialog zwischen Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypolo-
gie liefern: 1. Den phonologisch-typologischen Wandel des Deutschen
von einer Silben- zu einer Wortsprache, 2. die frühnhd. ‚Justierung‘ der
Abfolge grammatischer Kategorien am Verb gemäß der universellen Rele-
66 Damaris Nübling
Tab. 1: Abhängigkeit von Null- und -s-Fuge von der morphologischen Komplexität
des Erstglieds (nach Kürschner 2003)
radigmisch auf, allen voran alle die (und das sind die meisten), die auf
feminine Erstglieder folgen (Abfahrt-s-zeit): Hier wäre es unsinnig, von
Flexiven zu sprechen.
Wie in Nübling/Szczepaniak (2008, 2009) gezeigt, ist die Fugenset-
zung prosodisch-phonologisch gesteuert: Anhand einer großen Korpus-
untersuchung kamen wir zu dem Ergebnis, dass in dem Maße, in dem das
Erstglied von dem für das Deutsche geltenden phonologischen Wortideal
des einfüßigen Trochäus mit Reduktionssilbe (Typ Mutt[ǁ], Kann[NJ]) ab-
weicht, das Erstglied mit -s- verfugt wird. Das heißt: Je phonologisch
‚schlechter‘ das Erstglied und je schwieriger damit seine Wortgrenzen
perzipierbar sind, desto eher wird sein rechter Wortrand markiert (ver-
fugt), vgl. Abb. 1. Die s-Fuge ist damit ein Signal schlechter phonologi-
scher Wortqualität. Umgekehrt werden Trochäen mit Reduktionssilbe am
seltensten s-verfugt. Dies geschieht nur dann, wenn es sich um deverbale
Nomina handelt, d. h. um solche, die mit Infinitiven homophon und da-
her mit diesen verwechselbar wären: Wissen-s-bestand, Glücken-s-bedingung,
Verhalten-s-weise.
phonologische
Wortqualität:
schlecht gut
Beruf-s-wunsch, Anruf-Ø-beantworter,
Berufung-s-zusage Weckruf-Ø-funktion
Fremdwörter
und Stabilisierung der Wortgröße zum Trochäus ab mhd. Zeit sowie mit
dem Abbau der Geminaten zur gleichen Zeit. Dazu gehört auch die Pho-
nologisierung der Umlautprodukte, die Entstehung ambisilbischer Kon-
sonanten, die frühnhd. Dehnung in offener Tonsilbe – bis hin zu Konso-
nantenepenthesen, die nunmehr das genaue Gegenteil einer CV-
Optimierung bewirken, nämlich die rechte Wortrandverstärkung: mhd.
ieman > nhd. jemand, saf > Saft, obez > obst, mâne > Mond etc. Die Worträn-
der werden außerdem (vorne) durch die Aspiration anlautender prävokali-
scher Plosive, durch die Entstehung des Glottisverschlusses und (hinten)
durch die Auslautneutralisierung, durch die heute massenhaft ent-
stehenden silbischen Nasale und Liquide sowie die Verletzung der Sonori-
tätshierarchie durch extrasilbische Konsonanten in Aus-, aber auch An-
lautclustern profiliert: [Ǵt]adt, O[pst].
Genau hierein fügen sich die Fugenelemente, und zwar nicht nur, in-
dem sie die geringe wortphonologische Qualität des Erstglieds signalisie-
ren, sondern indem sie sozusagen aktiv zusätzlich zur Verschlechterung
eben dieses Wortauslauts beitragen durch die Verstärkung des rechten
Wortrands: Wie auch schon Wegener (2006) anhand monosyllabischer
Erstglieder festgestellt hat, tritt das frikative Fugen-s besonders dann gerne
an das Erstglied an, wenn es Extrasyllabizität erzeugt, d. h. wenn es kon-
sonantisch stärkeren Lauten (also Plosiven) folgt: Ort-s-zeit, Wirt-s-haus,
auch Geburt-s-tag, Abfahrt-s-zeit, Ankunft-s-zeit, Meisterschaft-s-favorit, Mehrheit-
s-meinung, Kind-s-kopf, Verbund-s-lösung, Geduld-s-faden. Überall hier erweitert
das Fugen-s nicht einfach nur den Konsonantencluster, sondern es ver-
schlechtert ihn durch die Verletzung des kontinuierlichen Zuwachses an
konsonantischer Stärke. Nicht zufällig, so muss man schlussfolgern, hat
von den sechs Fugenelementen ausgerechnet -s- das Rennen gemacht.
Eine Option wäre gewesen, mit dem einstigen Allomorph -es- zu alternie-
ren und damit Trochäen zu erzeugen (was -n- und -en- leisten). Genau
dieser Weg wurde nicht eingeschlagen, da typologisch schon eine andere
Richtung eingeschlagen war: Der heutige wortsprachliche Ausbau besteht
darin, den rechten Wortrand auszubauen, komplexer zu machen. Nur
wenn man diese typologische Drift des Deutschen kennt, versteht man
das heutige Fugenverhalten mit all seinen Schwankungsfällen, die von
nichts anderem als gegenwärtig sich vollziehendem Sprachwandel zeugen.
Diese prosodisch-phonologische Typologie von Silben- versus Ak-
zent- bzw. Wortsprachen wurde schon länger beschrieben und von Auer
(2001) präzisiert und weiterentwickelt. Mit der Arbeit von Szczepaniak
(2007) wurde sie erstmals sprachgeschichtlich nutz- und fruchtbar ge-
macht bzw., in den Worten von Croft, dynamisiert. Auf diese Weise lässt
sich ermitteln, wie im Einzelnen der (ahd.) silben- bzw. (fnhd.) wort-
sprachliche Ausbau (aber auch der silbensprachliche Abbau im Mhd.)
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 71
abläuft, welche Merkmale es genau sind, die früher auftreten und welche
erst später. Schließlich zeigt sich, dass der wortsprachliche Ausbau nur
anfänglich in der Vernachlässigung und Verschlechterung der Silbe be-
steht und später zu ganz anderen Maßnahmen greift. Es existiert in der
deutschen Sprachgeschichte übrigens kein einziger phonologischer Wan-
del, der sich nicht in diese typologische Drift einfügte. So erfahren alle
über Generationen hinweg auswendig gelernten und kaum verstandenen
phonologischen Prozesse eine übergreifende Einordnung und Erklärung –
und dies gilt auch für manchen aktuellen Zweifelsfall.
Numerus und Person sind weniger relevant, da sie nur die Aktanten der
Handlung bezeichnen, die die Aktion zwar ausführen, sie jedoch nicht in
ihrer Beschaffenheit modifizieren. Außerdem wird der Aktant üblicher-
weise durch ein nominales oder pronominales Subjekt ausgedrückt, wes-
halb Bybee hier von sog. „agreement categories“ (Bybee 1985: 28) spricht.
Demgegenüber modifizieren andere Kategorien durchaus die Verbalhand-
lung selbst: So bezieht sich Aspekt (der heute nicht mehr flexivisch reali-
siert wird) auf ihren internen Verlauf, indem er verschiedene Phasen fo-
kussiert (inchoativ/ingressiv, durativ, resultativ/perfektiv etc.). Anders
Tempus, dem zwar auch ein hoher Relevanzgrad zukommt, das aber die
durch das Verb bezeichnete Handlung nur extern temporal situiert, sie als
solche jedoch intakt lässt: Die Handlung wird nur in verschiedene Zeitstu-
fen transponiert. Modus bezeichnet im weitesten Sinn die Haltung des
Sprechers zum Sachverhalt, d. h. zur gesamten Proposition; sie verändert
nicht die Semantik des Verbs, sondern macht Aussagen über den Faktizi-
tätsgrad der Proposition, wie ihn der Sprecher einschätzt, oder zur Quelle,
aus der sein das Wissen bezieht. Im Imperativ fordert der Sprecher zum
Vollzug der Handlung auf.
Allerdings werden diese (und die hier nicht genannten) unterschiedlich
relevanten Informationen in den Sprachen der Welt keineswegs alle flexi-
visch ausgedrückt. Hier ist das sog. Allgemeingültigkeitsprinzip (generality) zu
berücksichtigen, das einen möglichst geringen semantischen Gehalt der
Kategorie vorsieht, um sie damit umso kompatibler für die Verbbedeu-
tung zu machen:
However, generality distinguishes inflectional from all the rest. Inflectional cate-
gories are more general – have a wider range of applicability with predictable
meaning – than lexical, derivational, or periphrastic categories. Thus generality is
a necessary defining feature of inflection (Bybee et al. 1994: 22).
Damit ergibt sich für das Deutsche eine Relevanzskala wie in Abb. 2
(S. 73). Wenn der Relevanz- oder der Allgemeingültigkeitsgrad zu hoch ist,
wird – je nachdem – die betreffende Kategorie über andere formale Ver-
fahren kodiert (lexikalisch, derivationell, syntaktisch).
Der dritte Faktor, der dieses Funktions-Form-Verhältnis maßgeblich
steuert, ist die Tokenfrequenz, die sich a) in die lexikalische und b) in die
kategorielle oder grammatische Frequenz aufspaltet: a) geben als Verblexem
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 73
+ Relevanz - Relevanz
- Allgemeingültigkeit + Allgemeingültigkeit
fusionierender Ausdruck
mehr Allomorphie
Abb. 2: Die Flexionskategorien des Verbs im Deutschen nach Relevanz- bzw. Allgemeingültig-
keitsgrad und ihr Bezug zu Fusion und Allomorphie
Abb. 3 (S. 74) liefert ein Beispiel dafür und zeigt, dass das Tempusmor-
phem in einem selteneren Verb (wie beben) additiv markiert wird (wenn-
gleich das Dentalsuffix der hohen Relevanz von Tempus wegen in direkte
Nachbarschaft zum Stamm tritt), während frequente Verben (wie geben)
die Tempusinformation (trotz gleichen Relevanzgrads) direkt in den lexi-
kalischen Stamm integrieren (Ablaut), hier also echte Fusion (Wurzelflexi-
on) zulassen.
Die wenig relevante Person/Numerus-Endung steht dagegen bei bei-
den Verbformen in der Peripherie. Insgesamt ist gabst deutlich kürzer als
bebtest, was dem Prinzip formaler Kürze bei Hochfrequenz entspricht. Der
nach den langen Phasen phonologischen Wandels einsetzende morpholo-
gische Wandel bestätigt auf fast vorbildhafte Weise die Gültigkeit dieser
drei Prinzipien: Im Frühnhd. werden die minderrelevanten Kategorien
(Person, Numerus) geschwächt und die relevanten (Modus, Tempus) ge-
stärkt, im Einzelnen abhängig von den konkreten Frequenzen. Abb. 4
(S. 74) zeigt das gesamte Bild, das hier nur auszugsweise behandelt werden
kann (vgl. eingehend Nübling/Dammel 2004).
74 Damaris Nübling
Relevanz Relevanz
Stärkung, Profilierung
TEMPUS
MODUS
ASPEKT NUMERUS
PERSON
Schwächung, Nivellierung
+relevant -relevant
Im Folgenden wird aus diesem Komplex nur 1.) die Schwächung von Per-
son sowie 2.) die Stärkung von Tempus herausgegriffen.
1.) Schwächung/Nivellierung von Person, hier nur am Beispiel der
2.Sg.: Der blind wirkende phonologische Umlaut hat zu morphologischen
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 75
Tab. 2: Schwächung von Person durch Reduktion von Allomorphie: die 2. Person Singular
‘2.Sg.ތ
Flexionsklasse/
st. Vb./ Präteritopräs./
Kategorien- sonst
Ind.Prät. Ind.Präs.
kombination
Allomorphe im {Pl.-AL, UL + -e} {-t} {-st}
Mhd. (du) bünde (du) wilt (du) gibst
Neben dieser ‚passiven‘ Stärkung von Tempus durch Rückzug von Nume-
rus aus dem Ablautverfahren erfährt die Tempuskategorie weitere, ‚aktive‘
Profilierungen, z. B. durch die Fragmentierung des Ablautsystems, die
umgekehrt als Tempusallomorphiezuwachs zu bewerten ist und von der
Stärke der Tempuskategorie zeugt. Hinzu kommt die hohe lexikalische
Frequenz, die auch heute noch den ca. 150 verbleibenden starken Verben
zukommt, nachdem minderfrequente in die schwache Klasse abgewandert
sind (Augst 1975). Wie es im Einzelnen zur Entstehung von heute über
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 77
(dieselben) (dieselben)
Sie Sie
er/sie er/sie ihr
ir Ihr ihr er/sie Sie
du du Du du du du
Ahd.- frühes 19.
Germ. 17. Jh. 18. Jh. Nhd. Std.
Fnhd. Jh.
Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Stufe 4 Stufe 5 Stufe 6
und soziale Faktoren, die für die mehr oder weniger starke Verbreitung
sprachlicher Erscheinungen in den Sprachen der Welt verantwortlich sind.
Auch hierzu erfolgt derzeit viel Wissenszuwachs, der von der Historischen
Sprachwissenschaft zur Kenntnis genommen werden sollte – so wie um-
gekehrt die Historische Sprachwissenschaft zu dieser Diskussion beitragen
kann, indem sie wertvolle Daten und Befunde zum Wandel liefert. Umso
bedauerlicher ist es, dass selbst jüngst erschienene Einführungen in die
deutsche Sprachgeschichte die typologische Forschung ignorieren. Man
sollte sie zumindest als alternative Erklärungsangebote neben andere stel-
len und es den Lesern selbst überlassen, was sie für plausibel halten. Zu-
mindest sollte man ihnen den Weg in diese Richtung, die weit mehr ver-
spricht als nur nach Sprachkontaktszenarien oder dem Einfluss gesell-
schaftlicher Veränderungen auf die Sprache zu suchen, nicht verbauen.
Literatur
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Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 83
Lautwandel verstehen.
Vom Nutzen der Typologie von Silben- und
Wortsprachen für die historische und die synchrone
germanistische Linguistik
gieforschung und in der universitären Lehre von der Deskription auf die
Explanation verlagern kann. Mit diesem typologischen Ansatz, der in Ab-
schnitt 2 präsentiert wird, erfahren die bisher zusammenhanglos behandel-
ten Lautwandelphänomene des Deutschen eine übergreifende Erklärung,
die eine typologische Drift vom silbensprachlichen Althochdeutschen
zum wortsprachlichen Neuhochdeutschen aufdeckt (s. Abschnitt 3). Die
Stärkung des phonologischen Wortes, d. h. die Hervorhebung von Sinn-
einheiten erweist sich dabei als ein zentrales Sprachwandelprinzip im
Deutschen. Mit dieser typologischen Drift können auch Veränderungen in
anderen Teilbereichen der Grammatik erklärt werden. So sind u. a. die
heutige Variation des starken Genitivs (Fluges vs. Flugs) und die wachsende
Produktivität der s-Fuge auf die zunehmende Relevanz des phonologi-
schen Wortes zurückzuführen (s. Abschnitt 4). Weitet man den Blick auf
den gesamten germanischen Sprachzweig aus, werden gegensätzliche ty-
pologische Entwicklungen sichtbar (s. Abschnitt 5): Im Gegensatz zur
wortsprachlichen Entwicklung des Neuhochdeutschen weisen das Schwei-
zerdeutsche, besonders das Walserdeutsche, aber auch das Luxemburgi-
sche deutlich mehr silbensprachliche Züge auf (Szczepaniak 2007b, c,
2010a). Im Nordgermanischen ist der wortsprachlichen Tendenz des Dä-
nischen die Silbensprachlichkeit des Schwedischen gegenüberzustellen
(Nübling/Schrambke 2004).1
1 Die hohe theoretische und praktische Attraktivität dieser Typologie wurde auf dem vom
29.–31. März 2009 am Freiburg Institute of Advanced Studies (FRIAS) abgehaltenen Workshop
über „Phonological Typology of Syllable and Word Languages in Theory and Practice“
unter Beweis gestellt (s. http://www.frias.uni-freiburg.de/lang_and_lit/veranstaltungen/
phonological-work-lili). In den Beiträgen wurden diachrone und synchrone Phänomene in
verschiedenen, auch nicht-indoeuropäischen Sprachen typologisch untersucht.
Lautwandel verstehen 87
Ƴs Ƴw
ha ben
Abb. 1: Das phonologische Wort als Bezugsdomäne für phonologische Prozesse
und Regeln am Bespiel der nhd. Distribution des Hauchlauts h
SILBENSPRACHE WORTSPRACHE
Klassifikations-
(leichte Aussprache) (Markierung morphologischer
parameter
Struktur)
Silbenstruktur einfach (Ideal: CV-Silbe) komplex und hochvariabel
Vokalismus/
symmetrisch asymmetrisch
Konsonantismus
auf bestimmte Wortpositionen
Quantität in allen Silben gegeben
(meist betonte Silben) beschränkt
- kein Wortakzent, musikalischer - dynamischer Wortakzent
Wortakzent Wortakzent, Phrasenakzent
- phonetisch schwach realisiert - phonetisch deutlich realisiert
phonetische und
phonologische silbenbezogen und -optimierend wortbezogen und -optimierend
Prozesse
symmetrischer asymmetrischer
Vokalismus im ƹ ƹ Vokalismus im
Althochdeutschen Neuhochdeutschen
F F
Ƴs Ƴw Ƴs Ƴw
i u i u i u
e o e o e o e
a a a Reduktions-
Vollvokale Vollvokale Vollvokale vokale
Ƴ Ƴ Ƴ Ƴ
vorahd. fa ris ahd. fe ris
>
3 Ähnliche Phänomene fanden auch in der westgermanischen Vorstufe statt, vgl. die west-
germanische Hebung e > i vor i, i֒ und u (germ. *nemis > westgerm. *nimis > nhd. (du)
nimmst, aber (wir) nehmen) und die westgermanische Senkung i > e und u > o vor a, e und o
(germ. *wulfaz > westgerm. *wolf ‘Wolf’). Im Gegensatz zu den Hebungen und Senkungen
im Westgermanischen bestand der althochdeutsche Umlaut in der Palatalisierung (Frontie-
rung) des Tonvokals.
Lautwandel verstehen 91
Affrikate auftrat, s. (2c). Dies zeigt, dass die Domäne des phonologischen
Wortes im Althochdeutschen eine geringe Rolle spielte: Der wortinitiale
Konsonant veränderte sich zwar nicht in Abhängigkeit vom voraus-
gehenden Laut, doch wurde der Wortanfang nicht durch einen völlig an-
deren Konsonanten markiert, d. h. nicht hervorgehoben.
Die Bedeutung des phonologischen Wortes nahm vom Alt- zum Mittel-
hochdeutschen kontinuierlich zu. Seine Struktur erfuhr eine deutliche
Hervorhebung bereits durch die sog. Nebensilbenabschwächung. Der
qualitative Abbau der Vokale führte zur Entwicklung von Reduktions-
silben in unbetonter Position, wodurch die betonte Stammsilbe an Promi-
nenz gewann. Im Anschluss an die Nebensilbenabschwächung sorgten
Synkopen und Apokopen für die Regulierung der Größe des phonologi-
schen Wortes, so dass seit dem Mittelhochdeutschen das trochäische Ideal
gilt (s. Eisenberg 1991).
Das qualitative Gefälle zwischen betonten und unbetonten Silben
wurde durch die Phonologisierung der Umlautvokale vergrößert, da diese
den betonten Vokalismus noch weiter anreicherten (vgl. Abb. 5). Die
wortphonologische Regulierung zeitigte Konsequenzen nicht nur auf der
phonologischen, sondern auch auf der morphologischen Ebene (s. Ab-
schnitt 4).
Ƴs Ƴw
uȿ
DZ
wachsende
(des) Krugs
s
Stärke
[kDZuȿks]
k k
Mhd. Nhd.
Zweigliedrige Cluster 31 45
Dreigliedrige Cluster 12 62
Viergliedrige Cluster – 33
Fünfgliedrige Cluster – 3
Zur Optimierung des phonologischen Wortes führte auch die sog. Deh-
nung in offener Silbe, die auf die betonte Wortposition beschränkt war.
Im Zuge dieser Entwicklung wurde die leichte Tonsilbe eliminiert, z. B.
mhd. lë.ben (kurz) > (f)nhd. l [eȿ].ben. Seitdem ist die betonte Silbe im Deut-
schen obligatorisch schwer. Die Dehnung erhöhte den Unterschied zwi-
schen betonten und unbetonten Vokalen, da zum qualitativen Kontrast
(Vollvokale vs. Reduktionsvokale) der quantitative hinzutrat. Der Silben-
rand der Tonsilbe hat seitdem eine obligatorische postvokalische Position.
Becker (1998: 77) spricht von der Kernsilbe mit einer immer zu besetzen-
den Implosion.
Das Neuhochdeutsche verfügt über ein stark profiliertes phonologi-
sches Wort, was zur Markierung der morphologischen Struktur beiträgt
und somit die Dekodierung des Redeflusses erleichtert.
Die Wahl des kurzen oder langen Genitivs ist von der phonologischen
Struktur der Basis abhängig, wobei zum einen die Größe des phonologi-
schen Wortes und seine interne phonologische Komplexität und zum an-
deren die Komplexität des wortfinalen Konsonantenclusters und der
Stärkegrad des finalen Konsonanten ausschlaggebend sind (Szczepa-
niak 2010b).
Im Mittelhochdeutschen setzte die Tendenz zur Regulierung der pho-
nologischen Wortgröße ein, die in Apokopen und Synkopen ihren Aus-
druck fand (s. Abschnitt 3.2). Seitdem stellt der Trochäus die ideale Wort-
größe im Deutschen dar. Im Zuge der Vokaltilgung in drei- und mehr-
silbigen Wortformen entwickelte sich die nicht-silbische Genitivvariante
-s, z. B. mhd. [fateres]ƹ > [faters]ƹ. In diesem phonologischen Kontext ist die
kurze Genitivvariante heute obligatorisch. Sie garantiert den Erhalt der
optimalen Wortgröße. Eine korpuslinguistische Untersuchung der heuti-
gen Distribution des s-Genitivs in Szczepaniak (2010b) gibt Hinweise da-
rauf, dass für seine diachrone Durchsetzung die Größe der Basis und ihre
phonologische Komplexität ausschlaggebend waren (s. Abb. 6). So tritt
die kurze Genitivendung heute obligatorisch an Derivate mit unbetontem
Suffix wie Lehrer, die ähnlich wie zweisilbige Simplizia (Vater, Abend ) ein
einfaches (einfüßiges und zweisilbiges) phonologisches Wort bilden, z. B.
[ȷleȿ.DZǁ(s)]ƹ. Dies spricht dafür, dass es der Umfang des phonologischen
Lautwandel verstehen 97
Wortes ist und nicht die morphologische Struktur, die über die Genitiv-
form entscheidet.
Obligatorisch ist die s-Endung auch nach Derivaten mit betontem
Suffix (Reichtum). Hier tritt die Genitivendung an das phonologische Wort
[tuȿm]ƹ, das immer unter Nebenton in Kombination mit einem anderen,
hauptbetonten phonologischen Wort auftritt. Solche wortwertigen Deriva-
tionssuffixe verlieren im Zuge ihrer weiteren Entwicklung allmählich den
phonologischen Wortstatus. Sie werden enttont und unterliegen dabei der
Vokalreduktion. So existiert bereits eine Variante mit ungespanntem
Vokal [tǻm]. Der Umfang der gesamten Suffigierung war ausschlaggebend
für die Durchsetzung der kurzen Genitivendung.
In Derivaten mit betontem Präfix (z. B. Anstand) und in Komposita
(z. B. Kontostand) handelt es sich ebenfalls um komplexe Wörter. Die Geni-
tivendung tritt hier jedoch an ein phonologisches Wort (z. B. [Ǵtant]ƹ), das
auch allein auftreten kann. Umso interessanter ist die Tatsache, dass die
kurze Genitivendung bei Derivaten mit betontem Präfix (Typ Anstand)
deutlich häufiger gewählt wird als bei Komposita, s. Tab. 4.
Die Häufigkeit der s-Endung bei Komposita wurde in Szczepaniak
(2010b) an ausgewählten Beispielen ermittelt. So oszilliert die relative Fre-
quenz von -s nach Komposita mit Werk als Zweitglied zwischen 0,43 und
0,86, während sie nach dem Simplex Kampf nur den Wert von 0,39 er-
reicht. Die Auswertung der Häufigkeit von -s nach dem Simplex Stand,
nach Derivaten mit -stand und nach Komposita mit Stand als Zweitglied
zeigt, dass die Tendenz zur kurzen Endung bei Komposita geringer ist als
bei Derivaten mit betontem Präfix. Die lange Genitivendung wird tenden-
ziell dann gewählt, wenn das letzte phonologische (einsiblige) Wort sehr
salient und prosodisch stabil ist, also v. a. in (transparenten) Komposita.
In solchen Fällen dient die es-Endung zum prosodischen Aufbau von die-
sem phonologischen Wort zum Trochäus, z.B. Konto+standes.
Derivate mit unbetontem Präfix (Typ: Erfolg, Bestand ) bestehen aus einem
phonologischen Wort mit einer abweichenden Struktur: unbetonte + be-
tonte Silbe. Die heutige Variation mit einer nur leichten Tendenz zur kur-
98 Renata Szczepaniak
wiegt die kurze Endung deutlich nach auslautenden Nasalen (0,9) und Li-
quiden (0,96).
Tab. 6: Relative Frequenz der kurzen Genitivendung und der Stärkegrad des Basisauslauts
Konsonantische
kurzen Genitivendung Konsonant
0,74 (des Pfahls) [l]
wachsende
0,60 (des Lärms) Nasale
Stärke
0,44 (des Kochs) Frikative
0,21 (des Bett(e)s) Plosive
0,21 (des Haar(e)s) [ǁ/DZ]
0,11 (des Kampf(e)s) Affrikaten
0,11 (des Dienst(e)s) [st]
einem vokalisch anlautenden Wort (ags ‘Achse’, Anna, Uni) mit Ver-
schlusslösung und in neuester Zeit sogar mit einem intervenierenden
Knacklaut realisiert (älter d ags, d ana, d uni, jünger d ȅags, d ȅana, d ȅuni), wo-
durch die morphologische Grenze verdeutlich wird. Im Südalemannischen
wird hingegen durch die Resilbifizierung die silbische Struktur optimiert:
takzʂ, tanȿa, tuni.
Die bei diesem und weiteren Phänomenen zu beobachtende, von
Norden nach Süden zunehmende Silbensprachlichkeit weist darauf hin,
dass im Südalemannischen (darunter das Schweizer- und auch das Walser-
deutsche aus Issime) die silbensprachliche Tendenz diachron seit dem Alt-
hochdeutschen nicht nachgelassen hat. Die typologische Kontinuität des
Schweizerdeutschen äußert sich u. a. in den konsonantischen Assimila-
tionen, die zur Verwischung der Wortgrenzen führen. Ähnliche aus-
spracheerleichternde Prozesse sind aus dem Althochdeutschen bekannt
(s. Szczepaniak 2007b):
2010b). Zu den prominentesten Beispielen gehört die sog. n-Regel, die Re-
silbifizierungs- und Tilgungsprozesse eines wortauslautenden n umfasst
(s. Gilles 1999, 2006). Generell wird der n-haltige Wortauslaut nur in arti-
kulatorisch günstiger Umgebung erhalten: Vor vokalischem Anlaut des
Folgewortes kommt es zur Resilbifizierung, z. B. gudden Auto [gu.dƞ.nau.to]
‘gutes Auto’. Lautet das Folgewort auf einen Dental oder h an, entsteht an
der Wortgrenze ein leicht aussprechbarer Konsonantencluster, weswegen
n erhalten bleibt: gudden Dag [gu.dƞn.daȿx] ‘guter Tag’. Vor anderen Konso-
nanten wird der Nasal getilgt, z. B. gudde_ Wäin [gu.dƞ.væǛn] ‘guter Wein’.
Auf die konservierende Wirkung des Sprachkontakts können silben-
sprachliche Elemente auch in dem an der Grenze zur Romania gesproche-
nen Flämischen zurückgeführt werden. So zeigt Noske (2007), dass das
Flämische im Gegensatz zum Standardniederländischen deutlich mehr sil-
bensprachliche Züge bewahrt hat. Beispielsweise finden im Flämischen
viele Resilbifizierungen statt, während im Standardniederländischen die
morphologische Grenze mit dem Knacklaut gestärkt wird, z. B. on+eens
‘uneins’ fläm. [Dž.neȿns] vs. ndl. [Džn.ȅeȿns].
Darüber hinaus bestehen im nordgermanischen Zweig u. a. tiefgrei-
fende typologische Unterschiede zwischen dem wortsprachlichen Däni-
schen und dem deutlich silbensprachlicheren Schwedischen (Nübling/
Schrambke 2004). So gibt es im Schwedischen Konsonantenassimilatio-
nen, die sowohl im Wort (Wortsandhi) als auch an Wortgrenzen stattfin-
den, z. B. [rs] > [dz] univer[dz]itet ‘Universität’ (Wortsandhi) und för tre år sedan
[oȿdzen] ‘vor drei Jahren’ (Satzsandhi). Das Schwedische verfügt über drei
unbetonte Vollvokale [a], [ǻ] und [e], während das Dänische, ähnlich dem
Deutschen, nur noch [ƞ] kennt, vgl. dän. ryge [ȷDZyȿƞ] vs. schwed. ryka [ryȿka]
‘rauchen’.
6. Zusammenfassung
Der typologische Ansatz von Silben- und Wortsprachen bereichert die lin-
guistische Forschung und Lehre in vielerlei Hinsicht. Zum einen macht
seine explanative Kraft die historische Phonologie zum attraktiven Unter-
richtsgegenstand. Erst aus dieser Perspektive erfahren die bisher zusam-
menhanglos behandelten Lautwandelprozesse eine übergreifende Erklä-
rung. Zum anderen führt die typologische Analyse des Lautwandels im
Deutschen zur Aufdeckung eines zentralen Sprachwandelprinzips: In der
Geschichte des Deutschen treten phonologische Prozesse auf, die das
phonologische Wort nach und nach immer deutlicher hervorheben und
optimieren, meist auf Kosten der phonologischen Silbe. Damit wandelt
sich das Deutsche von einer Silben- zu einer Wortsprache.
102 Renata Szczepaniak
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1399.
Lautwandel verstehen 103
1. Problemstellung
Die beiden im Titel miteinander in Verbindung gesetzten Begriffe würden
einen Hardcore-Grammatikalisierungsforscher wohl etwas stutzig machen,
da die Fragestellungen der klassischen Grammatikalisierungsforschung
vorrangig sprachtheoretisch und universalgrammatisch ausgerichtet und
von der traditionsreichen historischen Grammatikschreibung weit entfernt
sind. Der Konjunktiv des Verbs wiederum deutet darauf hin, dass der
Austausch der Forschungserfahrungen und -ergebnisse zwischen diesen
beiden Disziplinen heute noch nicht Wirklichkeit ist. Dabei bietet sich, so
denke ich, die Verbindung der beiden Forschungsfelder geradezu an –
und zwar aus drei Gründen:
(a) Grammatikalisierung steht an der Schnittstelle zwischen Syn-
chronie und Diachronie. Sie verläuft durch die Zeit und ist/sollte
somit ein historisch belegbarer Prozess sein.
(b) Grammatikalisierung ist ein spezieller Sprachwandelprozess, der
von der Lexik in die Grammatik führt. Lexeme, die der Grammati-
kalisierung unterliegen, verlieren stufenweise ihre Autonomie und
werden immer mehr den Restriktionen der Grammatik unter-
geordnet.
(c) Grammatikalisierung geht oft auch mit Wortartenwechsel einher.
Die Wortarten bilden die Grundkategorien der Grammatiken, so
auch von Grammatiken historischer Sprachstufen.
Obwohl die Anschlussmöglichkeiten auf der Hand liegen, so lässt sich
dennoch eine fehlende Interaktion zwischen der Grammatikalisierungsfor-
schung und der Historischen Sprachwissenschaft bzw. Grammatik kon-
statieren.
Die Ursachen für die gegenseitige Nichtbeachtung liegen in den unter-
schiedlichen Forschungsinteressen und in dem unterschiedlichen metho-
106 Anna Molnár
Historische Grammatikalisierungs-
Grammatikographie forschung
Sprach-
statisch dynamisch
auffassung
Beschreibung des Aufdeckung der
Ziel idealisierten Sprach- Regelmechanismen des
systems einer Periode Sprachwandelprozesses
Methodologie induktiv deduktiv
Leitprinzip deskriptiv explanativ
Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik 107
Das Zitat zeigt die Haltung des Theoretikers, der es – anders als histori-
sche Linguisten oder auch Philologen – nicht für seine Aufgabe hält, dem
Grammatikalisierungsprozess auch in historischer Hinsicht auf die Spur
zu gehen.ͳ Diese Haltung ist symptomatisch für die Zeit der Etablierung
der Grammatikalisierungstheorie. Für unser Thema ist sie aber nicht –
bzw. wenn überhaupt, dann nur wegen der möglichen Attitüde des Gram-
matikalisierungsforschers – relevant, weshalb an dieser Stelle auf eine
weitere Kommentierung verzichtet werden soll.
1 Lehmann denkt heute über die Frage der historischen Datierung bei Grammatikalisie-
rungsbeschreibungen anders. In der Datendiskussion, die zurzeit im Rahmen der theoreti-
schen Linguistik läuft, vertritt er einen markanten Standpunkt des Empirismus (vgl. Leh-
mann 2004a: 187ff.). So verlangt er eine empirische Evidenz in der Grammatikalisierung,
zu der folgende Konstellation von Daten notwendig ist: zwei historische Stufen einer Spra-
che L, die ältere L1 und die jüngere L2 (vgl. Lehmann 2004b: 155ff.).
Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik 109
Abb. 1: Phasen der Grammatikalisierung der Modalverben im Überblick (Diewald 1999: 384)
Abb. 2: Die Phasen der Grammatikalisierung bei den sechs Modalverben (Diewald 1999: 430)
4. Fazit
Die Fragestellung dieses Beitrags wurde inspiriert durch die Beobachtung,
dass die neueren Forschungserträge der theoretischen Lingusitik und da-
mit der Grammatikalisierungsforschung nicht in die historische Sprachbe-
schreibung und Grammatikographie des Deutschen eingehen – und um-
gekehrt auch die Grammatikalisierungsforschung nicht in ausreichendem
Maße von den Forschungserträgen der Historischen Grammatikographie
Gebrauch macht. Die Gründe für die gegenseitige Nichtakzeptanz liegen
(a) in der unterschiedlichen Sprachauffassung und (b) in der unterschied-
lichen Forschungsmethodologie.
Aus der in diesem Beitrag präsentierten – und wohl noch mit weiteren
Daten und Aspekten zu ergänzenden – Bestandsaufnahme über die gegen-
wärtige Situation ergeben sich aber bereits Konsequenzen, die für beide
Bereiche aufschlussreich sind.
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122 Anna Molnár
Richard J. Watts
1 Manche sind sogar bis ins 7. Jh. zurückgegangen, andere hingegen – mit etwas größerer
Vorsicht – haben das 9. Jh. als Entstehungspunkt bestimmt. Bisher hat niemand außer
Kington-Oliphant (1878) die kühne These gewagt, den Entstehungspunkt des Beowulf im
5. Jh. zu bestimmen: „The old Epic, written on the mainland, sets before us the doughty
deeds of an Englishman, before his tribe had come to Britain.“
126 Richard J. Watts
1. Wie ist es möglich, dass die Argumente für eine spätere Datierung des
Beowulf am Anfang des 11. Jh. immer noch abgelehnt werden?
2. Was geht durch die Akzeptanz dieser durchaus plausiblen Erklärung
verloren?
3. Was sind die Konsequenzen für die Zukunft der Geschichte der engli-
schen Sprache, wenn neue, gut fundierte Thesen in philologischen
Kreisen nicht angenommen werden?
2 Der Kern dieses Arguments beruht in der jetzt fast sicheren Tatsache, dass Folio 179 des
Manuskripts ein Palimpsest ist, der vom Schreiber B ca. 10 Jahre nach der ersten Nieder-
schrift angefertigt wurde (für Einzelheiten vgl. Kiernan (1996) und Watts (2010: Kapitel 2;
vgl. auch Westphalen 1967).
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 127
3 Der Begriff wird immer noch benutzt, entweder aus nostalgischen Hoffnungen, den Inhalt
des Begriffs auf irgendeine Art wieder herzustellen oder einfach weil die Benutzer nicht ge-
merkt haben, dass sich der soziale (hier soziolinguistische) Kontext, in dem der Begriff
entstanden ist, jetzt wesentlich geändert hat.
128 Richard J. Watts
on (1808) ersichtlich wird. Fichte bezog sich geschichtlich auf ein idealisiertes
Bild des Heiligen Römischen Reichs und sprachlich auf die postulierte Rein-
heit der deutschen Sprache, um für die Schaffung eines geeinten deut-
schen Nationalstaates zu plädieren.
Kernpunkt des Nationalstaatenbegriffs war das Streben nach Homo-
genität, das einen teleologischen Endpunkt der Vollkommenheit als Ziel
der Gesellschaft setzte. Wie aber Hegel bemerkte, wäre der Endpunkt der
Geschichte auf eine Zusammenschmelzung der gegensätzlichen Weltan-
schauungen und Lebensformen auf eine bestimmte Lebensform gerichtet,
die gewaltsame Konflikte überwinden soll. Das Streben nach der Voll-
kommenheit eines Nationalstaates müsste aber unweigerlich in Konflikten
mit anderen enden, daher das Paradoxon des Begriffs „Nationalstaat“.
Ziel des Nationalstaates war also das Erreichen einer homogenen politi-
schen Organisation in einem homogen fassbaren Territorium. Als ge-
wünschte Werkzeuge zum Erreichen dieses Ziels wurden eine homogene
und legitimierte Nationalsprache und eine homogene Staatsreligion postu-
liert, mittels derer eine „wahre“, homogene Geschichte des Staates errich-
tet werden sollte.
Vom historischen und sprachwissenschaftlichen Standpunkt her gese-
hen gilt es aber aus unserer heutigen Sicht folgende Fragen zu beantwor-
ten:
(1) Was bedeutet in diesem Kontext eine homogene Geschichte?
(2) Was bedeutet eine Sprache?
(3) Was bedeutet eine Nationalsprache?
(4) Was bedeutet eine homogene Nationalsprache?
Allgemeines Ziel dieses Beitrags ist es, die Fragen (2–4) zu beantworten,
die zur „Zombie“-Kategorie „Nationalsprache“ oder „Standardsprache“
gehören. Um an den Kern der ersten Frage zu gelangen, beziehe ich mich
auf einen der bekanntesten und produktivsten französischen Historiker
der ersten Hälfte des 19. Jh., Jules Michelet. In den Jahren zwischen 1820
und 1823 schrieb Michelet als junger Mann eine Art Tagebuch, in dem er
seine Reisen durch Europa und seine Ideen und Eindrücke aufschrieb.
Nach seinem Tod im Jahre 1874 ließ seine Witwe diese Schriften nicht
freigeben, und sie konnten erst 1959 von Paul Viallaneix veröffentlicht
werden. Auf S. 293 steht Folgendes:4
Der individuelle Mensch erscheint einen Augenblick lang, bindet sich am gemeinsa-
men Denken und stirbt; aber die Spezies, die nicht stirbt, sammelt die endlose
Frucht seines vergänglichen Daseins. Auf diese Weise einigt eine immense Kette
von Entdeckungen und guten Taten alle Zeitalter. Währenddem Generationen
4 Ich habe den Text ins Deutsche übersetzt und trage die volle Verantwortung für irgend-
welche Fehler.
130 Richard J. Watts
verschwinden und Rassen aussterben, lebt der gemeinsame Gedanke weiter. Immer der
gleiche, immer größer und immer in tausend verschiedenen Formen enthält dieser
Gedanke die Identität der Menschheit, wie Gedächtnis und Bewusstsein die Identität des Indi-
viduums enthalten. (Michelet 1959: 293; meine Hervorhebungen)
Für Michelet waren die Regeln und Gesetze der Geschichte buchstäblich
in Sprachen, Gewohnheiten und Ideen verkörpert und hatten dadurch das
Wesen und die universelle Natur der Nationalstaaten bestimmt. Ähnliche
Gedanken sind in Edward Gibbons The History of the Decline and Fall of the
Roman Empire, vol. 1 (1776) und Mme. de Staëls De l’Allemagne (1813) zu
finden. Was bei Michelet auffällt, ist eine Metaphorik, die konzeptuell be-
gründet ist und einer im 19. und 20. Jh. durchdringenden, kognitiven
Konzeptualisierung des Nationalstaates wie auch der Sprache zugrunde
liegt. Eine Sprache/ein Nationalstaat wird nicht mit nur einem menschli-
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 131
chen Körper, sondern auch mit einem Menschen schlechthin mit all sei-
nen geistigen und moralischen Eigenschaften verglichen und, weil eine
konzeptuelle Metapher fürs Verständnis des Abstrakten wesentlich ist,
auch genau so verstanden. Die Metapher wird somit zur Wirklichkeit. Der
Begriff „konzeptuelle Metapher“ und die im 19. wie auch im 20. Jh. ge-
bräuchlichen konzeptuellen Metaphern für eine Sprache/einen National-
staat werden im folgenden Abschnitt dargelegt.
● x (wo x = der neu zu
Nationalstaat ● konzeptualisierende
Begriff „Nationalstaat“)
●x
● MENSCH
KOGNITIVER RAHMEN: ● DER NATIONALSTAAT
MENSCH ● IST EIN MENSCH
Abb. 1: Konstruktion der kognitiven Metapher DER NATIONALSTAAT IST EIN MENSCH
und eines neuen kognitiven Rahmens NATIONALSTAAT
5 Fauconnier und Turner (2002) bezeichnen diesen Prozess als „running the blend“.
6 Es darf hier daran erinnert werden, dass Ronald Reagan in den 80er Jahren des letzten
Jahrhunderts den Begriff „Schurkenstaat“ gebrauchte, der im Diskurs von George W.
Bush im jetzigen Jahrzehnt als Bezeichnung von Nationalstaaten wie Nordkorea, Irak und
Iran wieder erschien.
134 Richard J. Watts
Aussagen wie die folgenden könnten mindestens im 19. Jh. aus der dritten
konzeptuellen Metapher erscheinen:
7 Der Begriff „Text“ an dieser Stelle soll möglichst breit verstanden werden. Dazu gehören
nicht nur diskursive Sequenzen in der Form von schriftlicher Sprache, sondern auch
mündliche Sequenzen wie auch Kommunikationsbeiträge aus einer ganzen Reihe von se-
miotischen Systemen: Musik, Gesten, Zeichnen, Malerei, Mimik, u. a. m.
136 Richard J. Watts
obwohl man sich davor hüten sollte, sie als bewusste Lügen zu verstehen.
Sie sind in ihrem Wesen fiktive Artefakte, die einen größeren oder kleine-
ren Kern von Wahrheit besitzen, und sie werden nicht mit der Absicht
erzählt, den Zuhörer irrezuführen.
Mythen sind die narrativen Erklärungen, an die eine Gemeinschaft
glaubt und glauben muss, um die Komplexität der Welt zu verstehen, in
der sie lebt, und sie werden nicht selten als Teil einer langen kulturellen
Tradition geehrt. Ähnlich wie im Falle von bekannten Volkstraditionen ist
es kaum möglich, einen Urerzähler zu identifizieren, was dazu führt, dass
ein Mythos nicht als persönliches, individuelles Narrativ verstanden wer-
den kann. Im Gegenteil wird er jedem Mitglied einer Gemeinschaft sozial
im Laufe der Interaktion mit anderen und kulturell durch eine institutio-
nelle Überlieferung von Generation zu Generation weitergereicht. Im
Laufe dieser Überlieferung wird der Mythos zum „Eigentum“ der Ge-
meinschaft, indem er wiederholt durch Zuhören, Aufnehmen und Nach-
erzählen in sozialen Institutionen wie Familie, Schule, Kirche, Medien,
Politik, u. a. m. legitimiert wird. Auf diese Art und Weise können Mythen
auch zu wichtigen Bestandteilen von dominanten Diskursen werden. Kog-
nitiv gesehen liefern sie eine narrative, kulturelle Einbettung von Glauben,
die es einem ermöglichen, eine feste Basis zu konstruieren, worauf Iden-
titätsakte in entstehender sozialer Praxis ausgeführt werden können. Der
Hauptgrund für das Weiterexistieren von Mythen kann somit wie folgt
erklärt werden: „[they] fulfil a vital function in explaining, justifying and
ratifying present behaviour by the narrated events of the past“ (Watts
2000: 33).
Das Zweifeln an einem Mythos kann als ketzerischer Akt verstanden
werden, da die „objektive“ Wahrheit eines Mythos letzten Endes nicht re-
levant ist, solange an ihn als Bestandteil einer Gemeinschaft fest geglaubt
wird.
Sprachmythen sind also im Laufe der Zeit in einer Gemeinschaft ent-
standene und verbreitete Geschichten
[…] about the structure of language and/or the functional uses to which language
is put. […] The beliefs have formed part of [a] community’s overall set of beliefs
and the life-styles that have evolved on the basis of those beliefs for so long that
their origins seem to have been obscured or forgotten. They are thus sociocultur-
ally reproduced as constituting a set of “true” precepts in what appears to the
community to be a logically coherent system. (Watts 1999: 68)
Our own is, of course, a living language still. It is therefore gaining and losing. It
is a tree in which the vital sap is circulating yet […]. (Trench 1855: 85)
It is true that there happened here what will happen in every attempt to transplant
on a large scale the words of one language into another. (Trench 1855: 98)
Und schließlich, bevor einige Zitate aus dem Werk anderer Autoren aufge-
führt werden, wollte ich der Leserin/dem Leser dieses köstliche Zitat
nicht vorenthalten:
Its [die Genitivform des Personalpronomens it] is, in fact, a parvenu, which has forced
itself into good society at last, but not with the good will of those who in the end had
no choice but to admit it. (Trench 1855: 149)
konnte) und allen anderen Varietäten des Englisch (der sogenannten „vul-
gar language“ der ungebildeten Klassen der Gesellschaft10).
Die konzeptuelle Metapher SPRACHE X IST EINE GEOLOGISCHE FOR-
MATION, die nach dem 19. Jh. kaum anzutreffen ist, kann sicherlich nicht
auf Image- und Aktionsschemata, Aktionsrahmen und Handlungsskripte
zurückgeführt werden, sondern sie stellt eine Projektion von einem kogni-
tiv eingebetteten semantischen Rahmen dar, der von Geologen bei der
Konzeptualisierung ihrer Disziplin konstruiert wurde. Trotzdem haben
sich viele englischsprachige Sprachwissenschaftler in Großbritannien und
den USA dieser Konzeptualisierung der Sprache bedient. Die Geschichte
des Englischen wurde als eine historische Anhäufung von Gesteinsschich-
ten oder als Schichten von Bodensatz gesehen, in denen Fossilien oder
Skeletten zu finden waren. Als Beispiel dient das folgende Zitat aus Arthur
Champneys’ History of English (1893), in dem er den unausgesprochenen
Buchstaben <e> als „fossil“ bezeichnet:
First of all, the differences in spelling may be briefly dismissed. Enough has been
said before on the use of I where we now use J, on the difference of principle in
the use of U and V, and about the final E, which is now a kind of fossil in the lan-
guage. (Champneys 1893: 327)
Oliver Farrar Emerson in seinem History of the English Language (1894) pro-
jiziert die konzeptuelle Metapher nicht nur auf die Sprache sondern auch
auf soziale Unterschiede, indem er die Sprache als eine Anhäufung von
Schichten analog zu gesellschaftlichen Schichten konzeptualisiert und sich
damit nochmals auf die klassenspezifischen Unterschiede zwischen der le-
gitimen Sprache Standardenglisch an der Oberfläche und allen anderen
Varietäten tiefer unten bezieht:
Moreover, in addition to these linguistic areas representing the words actually
used by individuals or by classes of society, there are in the same linguistic area
what may be called language strata, overlying one another and differing from one another.
(Emerson 1894: 115)
10 Die „ungebildeten“ Schichten bestanden aus all denen, die nur „schooled“ und nicht
„educated“ waren und die im politischen System das Wahlrecht nicht ausüben durften.
Der „Mythos der legitimen Sprache“ war also schon seit den 1790er Jahren in Großbritan-
nien der treibende Motor eines durch und durch politisierten hegemonialen Sprachdiskur-
ses, der auf der einen Seite die Standardsprache zum Symbol des Nationalstaates emporsti-
lisierte, während er auf der anderen Seite all denen, die dieser Sprache nicht mächtig waren,
den Zugang zu den politischen und gesellschaftlichen Prozessen des Staates verweigerte
(vgl. Smith 1989; Watts 2010: Kap. 8 und 9).
140 Richard J. Watts
Welsfords On the Origins and Ramifications of the English Language (1845) dar-
gestellt:
The Sanskrit may be regarded as the pure fountainhead: the streams which flowed from
it remained long in a troubled state from the turbulence of the middle ages, till,
having found a more spacious and secure channel, they have gradually deposited the dregs
of the Frankish, the Anglo-Saxon, the Cimbric, and the Celtic and reappeared in
the beautiful languages of Montesquieu and Racine, of Goete [sic.] and Schiller,
of Byron and Scott. (Welsford 1845: 259)
Er fängt mit Sanskrit an, das er als „pure fountainhead“ der späteren indo-
europäischen Sprachen beschreibt. Durch die Wirren des Mittelalters flie-
ßen aus dieser Quelle stammende Bächer und Flüsse, die „dregs“11 abset-
zen. Diese „dregs“ haben sich im Laufe der Zeit zu „the beautiful langu-
ages“ Französisch, Deutsch und Englisch entwickelt. Dabei bezieht er
sich auf bekannte Literaten und damit auf die jeweilige standardisierte
Schriftsprache. Die Botschaft ist klar: Die Geschichte der Sprache ist die
Geschichte der legitimen Standardsprache, die hier sogar als Kulturspra-
che hochstilisiert wird.
Im dominanten Diskurs über die englische Sprache in der zweiten
Hälfte des 19. Jh. und durch weite Strecken des 20. Jh. können viele ähnli-
che Zitate gefunden werden, in denen mindestens drei der vier im 19. Jh.
üblichen konzeptuellen Metaphern (1. SPRACHE X IST EIN MENSCH, 2.
SPRACHE X IST MITGLIED EINER SPRACHFAMILIE und 3. SPRACHE X IST
EINE PFLANZE) zum Vorschein kommen. Die erste und weitaus häufigste
Metapher wird auch auf den abstrakten Begriff des „Nationalstaates“ pro-
jiziert, während die dritte seit mindestens dem 16. Jh. als wichtiger Teil des
englischen Kolonialdiskurses dient. Als Beleg für diese Feststellung zitiere
ich aus einem bedeutenden Text des 16. Jh. von Richard Stanihurst (A
Treatise Containing a Plain and Perfect Description of Ireland (1577).
Während der Herrschaft von Elizabeth I gab es in der südlichen Pro-
vinz Irlands, Munster, zwei wichtige, vom Earl von Desmond durchge-
führte Aufstände gegen die englische Krone, der erste von 1569 bis 1573
und der zweite von 1579 bis 1581. Seit den Kilkenny Statuten im 14. Jh.
waren die Beziehungen zwischen den im kleinen Gebiet um Dublin her-
um12 eingekesselten Engländern und den gälisch-sprechenden Iren immer
äußerst gespannt gewesen und der Sprachdiskurs der Engländer enthielt
immer wieder Forderungen, irisches Territorium durch die Einführung
der englischen Sprache und die Errichtung von Plantagen zu pazifizieren.
Nach dem ersten Desmond-Aufstand wurde beschlagnahmtes Land in
11 Das englische Lexem dregs kann entweder im geologischen Sinn als ‚Bodensatz‘ oder aber
im moralisch-gesellschaftlichen Sinn als ‚Abschaum‘ verstanden werden.
12 „The English Pale“ oder „the Pale of Dublin“.
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 141
And truly, so long as these impaled dwellers did sunder themselves as well in land
as in language from the Irish: rudeness was day by day in the country supplanted,
civility engrafted, good laws established, loyalty observed, rebellion suppressed, and
in fine the cornerstone of a young England was like to shoot in Ireland. But when
their posterity became not altogether so wary in keeping, as their ancestors were
valiant in conquering, the Irish language was free denizened in the English pale:
this canker took such deep root, as the body that before was whole and sound, was
by little and little festered, and in manner wholy [sic] putrified. (1577, in Crowley
2000: 32)
Was hier zu lesen ist, sind die Anfänge eines kolonialen Diskurses, durch
den die Metapher der Plantage buchstäblich sowie metaphorisch zur Be-
rechtigung und Beschönigung der kolonialen Hegemonie und Ausbeutung
in Irland, Nordamerika und anderswo auf der Welt benutzt wurde.
Der Diskurs über die Geschichte der englischen Sprache entwickelte
sich also zu einem wichtigen Element im politisch dominanten Diskurs
des Nationalstaates und des Kolonialismus, der aufgrund bestimmter
Sprachmythen und der Verstrickung der Sprachwissenschaft mit der Ge-
schichtswissenschaft vom ausgehenden 18. Jh. bis weit ins 20. Jh. konstru-
iert wurde. Somit entstand aus diesem Komplex von eng verstrickten Dis-
kursen ein Archiv im Sinne von Foucault. Foucault (1969: 170) beschreibt
ein Archiv (das ich „Diskusarchiv“ nennen werde) als
[…] la loi de ce qui peut être dit, le système qui régit l’apparition des énoncés
comme événements singuliers.
[(…) das Gesetz, das bestimmt, was gesagt werden kann, das System der Erschei-
nungsform von Äußerungen als einzelne Vorkommnisse.]
[Die Aktualisierung des Archivs – nie abgeschlossen und nie ganz erworben –
bildet den allgemeinen Hintergrund, gegen den die Beschreibung von diskursiven
Formationen und die Analyse von Positivitäten angepasst werden […]. Das Ge-
setz des Wortes […] berechtigt also den Gebrauch des Begriffs „Archäologie“ für
diese Forschung. Der Terminus regt uns nicht an, einen Anfang zu suchen; er
gleicht keiner Ausgrabung und auch keiner geologischen Untersuchung. Er skiz-
ziert das allgemeine Thema einer Beschreibung, die das in Frage stellt, was schon
gesagt wurde auf der Ebene seiner Existenz […] „Archäologie“ beschreibt Dis-
kurse als spezifische Praxen in der Grundeinheit des Archivs.]
Mit „positivité“ meint Foucault das, was die besondere Einheitlichkeit des
Diskurses über die Zeit seiner Dominanz charakterisiert. Die „Positivität“
eines Diskurses ist also das Gesetz über das, was gesagt werden darf,
m. a. W. sie wird vom Archiv gesteuert, worin der Diskurs enthalten ist.
Mit dem Zerfall des Archivs des Nationalstaates und der Nationalsprache
droht der ganze Diskurs der Homogenität und der Standardisierung zu
einer „Zombie“-Kategorie zu werden. Grund für diesen Zerfall und die
damit verbundene Unfähigkeit zu begreifen (oder begreifen zu wollen),
dass der soziolinguistische Kontext, in dem der Begriff entstanden ist, sich
wesentlich geändert hat, ist nach Deumert die Tatsache, dass
[…] the standard language haunts the minds of speakers (and those linguists who
believe in languages as unitary, well-defined and countable objects). (Deumert
2010: 259)
In diesem Punkt stimme ich mit Deumert vollständig überein, und diese
Zustimmung beruht auf der Überzeugung, dass der Fokus in der histori-
schen wie auch in der Theoretischen Linguistik viel zu stark auf Sprachen
statt auf die menschliche Sprachfähigkeit gesetzt wurde. Wie man im
Standardenglischen so schön sagt, „the cart has been put too often before
the horse“. Dies wird das Thema des folgenden Abschnitts sein.
Im Rahmen des hiesigen Beitrags sind die ersten drei Paradoxa wichtig:
Diese beiden Parodoxa führen zum dritten, indem eine Beharrung auf
Homogenität eine Analyse dieser Überlappungen automatisch ausschließt.
Die menschliche Sprachfähigkeit ermöglicht den Gebrauch einer
Sprachvarietät, die in ständiger sozialer Interaktion mit anderen Mitglie-
dern der gleichen sozialen Gruppe oder Gemeinschaft erworben wird, um
die physischen, sozialen und mentalen Welten des Individuums in Ein-
klang mit den Welten anderer zu bringen. Sie bietet eine unendliche Zahl
von Gelegenheiten, die mentalen Welten des Individuums zu vergrößern
und auszudehnen. Gemäß Cumming/Ono (1997: 132) wird in diesem so-
zio-kognitiven Prozess „the actual production of syntax […] locally man-
aged“, und ihre „Regeln“ werden zur „construction of particular speakers”
(Bex 2008: 222). In diesem Sinne „grammars are ‘emergent’ at the mo-
ment of utterance“ (Bex 2008: 224).
Man stelle sich eine kleine, abgelegene Gemeinschaft vor (wie etwa
diejenige auf Tristan da Cunha, die von Schreier 2003 beschrieben wird).
Die linguistischen Konstruktionen, die die Mitglieder dieser Gemeinschaft
erwerben, um Bedeutungen anzuregen und auszuhandeln, werden auto-
matisch verwendet. Es gibt keine „Fehler“‚ nur verfehlte Bedeutungen.
Zum Zwecke der Koexistenz, der Zusammenarbeit und manchmal auch
ab und zu der Austragung von Konflikten ist es völlig belanglos zu fragen,
wie die Mitglieder der Gemeinschaft ihre Sprachvarietät benennen. Es ge-
nügt, wenn die linguistischen Konstruktionen in Instanzen sozialer Praxis
verwendet werden können. Dies gibt also unweigerlich Anlass zu den fol-
genden zwei Fragen:
●x
● [immer wieder wiederkehrende
KOGNITIVER RAHMEN 1: linguistische Konstruktionen u.
SOZIALE PRAXIS ● daraus konstruierte Bedeutungen]
● [linguistische Konstruktionen u.
daraus konstruierte Bedeutungen
bilden Teil einer Gruppen-
KOGNITIVER RAHMEN 2: identität]
EIGENSCHAFTEN DER
SOZIALEN GRUPPE ●
weitere Wissenselemente, die im Laufe der Zeit aus anderen kognitiven Rahmen in diesen
hineinprojiziert werden
Abb. 2: Entstehung eines neuen kognitiven Rahmens SPRACHE X aus dem mehrmaligen
und immer wieder neu angereicherten Operieren des Verschnitts
146 Richard J. Watts
schäftigt, dass zwei starke Mythen entstanden, der „Mythos der uralten
Sprache“ und der „Mythos der ungebrochenen Tradition des Englischen“.
Bei der Verschmelzung der Standardisierung mit der Idee des National-
staats wurden diese Mythen zu Wahrheiten und sie wurden operationali-
siert, um einen hegemonialen Sprachdiskurs zu gestalten, in dem Englisch
eine längere Geschichte als jede andere europäische Sprache erhielt. Eine
Datierung im frühen 11. Jh. hätte dieses Vorhaben hingegen erheblich
gestört, beispielsweise durch die Tatsache, dass das Hildebrandslied bis ins
9. Jh. datiert ist. Die zweite und dritte Frage wurden durch diesen Beitrag
– hoffentlich – schon beantwortet.
Literatur
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trigger of the inflectional subjunctive. In: Locher, Miriam/Strässler,
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language teaching. In: Locher, Miriam/Strässler, Jürg (eds.): Standards
and Norms in the English Language. Berlin/New York: de Gruyter,
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Champneys, Arthur (1893): History of English: A Sketch of the Origin
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van Dijk, Teun A. (ed.): Discourse as Structure and Process. Vol-
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Deumert, Ana (2010): Imbodela zamakhumsha – Reflections on standard-
ization and destandardization. In: Multilingua 29.3/4, 243–264.
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 151
1. Aktuelle Periodisierungsvorschläge
Rund um die zeitliche und kriterielle Einordnung des Neuhochdeutschen
ist die Periodisierungsdebatte in der germanistischen Sprachgeschichtsfor-
schung in den letzten Jahren neu entbrannt.1 Dabei geht es vor allem um
die Bewertung dessen, was vielfach in der Forschung und vor allem in der
akademischen Lehre als Gegenwartssprache bezeichnet wird, innerhalb (oder
außerhalb) des Neuhochdeutschen und darum, nach welchen sprachsys-
teminternen und sprachgebrauchsinternen sowie sprachexternen Merkma-
len eine Epochenbegrenzung gerechtfertigt erscheint. Bär (2000: 29–32)
setzt mit der Mitte des 20. Jh. eine vom Neuhochdeutschen begrifflich
und vor allem nach außersprachlichen Merkmalen zu trennende Sprach-
epoche an und schlägt den Terminus „E-Hochdeutsch“ vor. Er begründet
die Wahl der Variable E mit einer seit ca. 1950 „[…] in vielen Bereichen
egalitären, engagierten und emanzipierten Gesellschaft“ (Bär 2000: 31), die ein
durch die elektronische Kommunikation und durch den Einfluss des Engli-
schen geprägtes Deutsch im Kontext der europäischen Einigung spreche. Für
Ernst (2007) ist der Einfluss der Sprachnormen seit dem späten 19. Jh.
salient. Er plädiert für den Begriff „Normdeutsch“ ab etwa 1875, weil
[m]it der Herausbildung einer kodifizierten Norm im Deutschen […] sich die
sprachlichen Varietäten [verlagern], und dies bleibt nicht ohne Folge für die dia-
chrone Linguistik. So könnte man sagen, dass mit einer deutschen Norm andere
Beschreibungskriterien als die der historischen Dialektologie angewandt werden
müssen, es also zu einem ‚Paradigmenwechsel‘ kommt. (Ernst 2007: 68)
1 Vgl. Bär (2000), Hupka (2001), Ernst (2007), Schmidt (2007), Elspaß (2008), Rössler
(2008).
154 Paul Rössler
können. Die Herausforderung für Sprachhistoriker2 ist es, sich nicht nur
auf die Beschreibung dessen zu konzentrieren, was sich nicht mehr ändert,
also auf die sprachhistorischen Gegebenheiten, sondern darüber hinaus zu
reflektieren, wie das Gegebene in den Griff zu bekommen ist. Paradox ist,
dass, obwohl es feststeht, das historische Objekt Sprache schwer greifbar
ist.
Die Sprache, mit der sich die Sprachhistoriker beschäftigen, ist Ge-
schichte im doppelten Sinne: unveränderlich, weil vergangen, in ihrer onti-
schen Dimension; veränderbar, weil Konstrukt, in ihrer hermeneutischen
Dimension. Als narratives Dispositiv wird sie von ihrem Ende her erzählt.
Als solches hat Sprache auch Anfang, Mitte, dramatische Brüche usw. Sie
hat einen Verlauf. Die Akteure, also die Sprecher (und Schreiber) in der
Geschichte, nehmen die Kapitel der Sprachgeschichte kaum bis gar nicht
wahr.3 Das darf nicht überraschen, existieren diese Kapitel ontisch doch
gar nicht. Erst nachträglich werden sie von den Sprachhistorikern, gleich-
sam den Erzählern dieser Geschichte, gesetzt.
Ordnen und zuordnen bedeutet für Sprachhistoriker, wie sie die sich
ständig verändernde Sprache in zeitliche Abschnitte gliedern können.
Ordnen und Zuordnen in einem zeitbezüglichen Koordinatensystem ist
Periodisieren. Wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich ist dabei nicht un-
bedingt diejenige Erzählung der Sprachgeschichte am erfolgreichsten, die
in ihrer Kapitelgliederung, d. h. in ihrer Periodisierung der sprach-
geschichtlichen Ontik am nächsten kommt.
Hermeneutisch muss die Periodisierungsgeschichte klar von der
Sprachgeschichte selbst unterschieden werden, so wie die Geschichte der
Periodisierungen von den Periodisierungsvorschlägen zu trennen ist. Wäh-
rend die Sprachgeschichte eo ipso als abgeschlossenes, ontisches datum
statisch ist, dynamisiert sich die Erzählung davon immer wieder von Neu-
em, werden doch Periodisierungen immer wieder mit unterschiedlichen
Gewichtungen vorgenommen.
Die Vertreter der sprachhistorischen Zunft stehen dabei vor einem
Paradoxon: Einerseits nimmt in den letzten Jahrzehnten allgemein das
Bedürfnis nach Taxonomierung und Hierarchisierung aller Lebens- und
Wissensbereiche zu. Selbst die institutionelle Sprachwissenschaft kann
sich diesem Trend nicht entziehen, wie die (von Sprachwissenschaftlern
2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die Nennung beider Ge-
schlechter verzichtet. Gemeint sind aber natürlich stets Sprachhistoriker und Sprachhisto-
rikerinnen, Forscher und Forscherinnen, Linguisten und Linguistinnen etc.
3 Über die begriffliche und inhaltliche Differenzierung von Intentionalität, Planung und Be-
wusstsein sprachlichen Wandels in Bezug auf einzelne Sprecher vgl. Keller (2003: 25–29).
156 Paul Rössler
initiierte) Wahl der Wörter und Unwörter des Jahres4 und die zahllosen
Uni-Rankings zeigen. Kaum ein Institut, das nicht, wenn es in einem Ran-
king gut abschneidet, dieses auch auf Pinnwänden und in den Gängen mit
gewissem Stolz herzeigt und damit nicht nur sich selbst, sondern auch das
betreffende Ranking legitimiert. Alle Rankings sind dem Bedürfnis nach
Ordnung im Chaos geschuldet, die immer ein Prinzip voraussetzt: Ver-
gleichbarkeit. Der Vergleich ist ein der Wissenschaft seit je vertrautes
Verfahren. Besonders in der empirischen Wissenschaftstradition stellen
Erkennen, Ordnen und Zuordnen basale methodische Werkzeuge dar.
Die omnipräsente Kanonisierung in Form von Rankings scheint insofern
eine Spielart der Verwissenschaftlichung des Alltags zu sein.5 Die meisten
Kanonisierungen sind allerdings popularisierte Versionen wissenschaftli-
cher Forschung. Die nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit kann so Gefahr
laufen, einen falschen, simplifizierten Eindruck wissenschaftlicher Arbeit
und Methodik zu erhalten und dementsprechend der Komplexität von
Sachverhalten und Problemen nicht adäquate Lösungen zu erwarten. An-
dererseits – um auf das erwähnte Paradoxon zurückzukommen – führt die
omnipräsente und Vergleichbarkeit voraussetzende Kanonisierung dazu,
dass auch schwer bis Unvergleichbares miteinander verglichen wird.
4 So sind in der Jury des ‚Österreichischen Worts des Jahres‘ ausschließlich Mitglieder philo-
logischer Institute der Universität Graz vertreten, vgl. http://www-oedt.kfunigraz.ac.at/
oewort/0Allgem/Jury/jury.htm. Deutschlands jeweiliges ‚Wort des Jahres‘ wird durch den
Hauptvorstand und die Mitarbeiter der Gesellschaft für deutsche Sprache gewählt. Dabei
handelt es sich großteils ebenfalls um Linguisten mit universitärem Hintergrund, vgl.
http://www.gfds.de/wir-ueber-uns/hauptvorstand/.
5 Zur Kanonisierung im germanistischen Kontext allgemein vgl. Struger (2008), zur Ran-
king-Liste als Kanon vgl. Schacherreiter (2008).
Sprachperiodisierung zwischen Forschung und Lehre 157
6 Im Kontext der Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte als Phänomen der Kanon-
bildung wurden Teile dieses Beitrags bereits in Rössler (2008) veröffentlicht.
Sprachperiodisierung zwischen Forschung und Lehre 159
Die breite Diversifikation des Dachfonds kann dazu genutzt werden, das
Investitionsrisiko gegenüber einer Investition in nur einen Fonds zu ver-
ringern. Das Fondsprinzip selbst beruht schon auf der Verteilung von
Sprachperiodisierung zwischen Forschung und Lehre 161
tun, sondern sie könnte ohne großen Aufwand die Ergebnisse spezieller
Forschungen zur Periodisierung miteinbeziehen.
Die vorgeschlagene Periodisierungsmethode eignet sich vor allem für
den lehrorientierten Bereich, weil sie zu konkreten Jahreszahlen bzw. zu-
mindest angenäherten Jahreswerten und auch konkreten Begrenzungen
von Übergangszeiträumen führt. Das ist mnemotechnisch leicht verwert-
bar und damit in der universitären Lehre des Grundstudiums gut umsetz-
bar. Die gesammelten Periodisierungsvorschläge von Roelcke (1995) wür-
den sich als Arbeitsgrundlage gut eignen. Selbstverständlich erspart diese
Methode nicht die weitere Erforschung der sprachhistorischen Gegeben-
heiten in den unterschiedlichen Subsystemen und die Erforschung der
historischen Gegebenheiten, die auf die Sprachsystem- und Sprachge-
brauchsgeschichte einwirken. Dass dieser Erkenntnisgewinn stets pro-
zesshaft ist im Gegensatz zur sprachlichen Ontik, die – wenn historisch –
abgeschlossen und als solche unveränderbar ist, versteht sich von selbst.
7 So wurde im Rahmen der Umstellung des alten vierjährigen Magisterstudiums auf das neue
dreijährige Bachelorstudium in vielen Studienplänen der Anteil von Lehrveranstaltungen
mit sprachhistorischem Inhalt auf unterschiedliche Art verringert: an der Germanistik der
Universität Wien z. B. dadurch, dass in der Studieneingangsphase keine parallelen Konver-
satorien mit überschaubaren Kursteilnehmerzahlen mehr abgehalten werden, sondern eine
164 Paul Rössler
Literatur
Bär, Jochen A. (2000): Deutsch im Jahr 2000. Eine sprachhistorische
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166 Paul Rössler
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relle Kontexte zur Sprach- und Literaturentwicklung. Festschrift für
Rudolf Große zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Heinz, 121–127.
168 Paul Rössler
Hiroyuki Takada
‚Umgangssprache‘
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Eine sprachbewusstseinsgeschichtliche Annäherung
an einen Schlüsselbegriff zwischen historischer
Nähe- und Distanzsprache1
1. Zielsetzung
Die Sprachgeschichte konstituiert sich nach Gardt (1996) aus drei Grö-
ßen, „der Geschichte des Sprachsystems, der Geschichte der Sprachver-
wendung [...] und der Geschichte der Reflexion über Sprache“ (Gardt
1996: 92). Indem man sprachreflexive Äußerungen unter dem Begriff
Sprachbewusstsein als „Sammelbezeichnung für die Gesamtheit des meta-
sprachlichen Wissens“ (Scharloth 2005: 19) zusammenfasst, lässt sich be-
haupten, dass jede sprachgeschichtliche Fragestellung eine sprachbewusst-
seinsgeschichtliche Perspektive einschließt. Das Erkenntnisinteresse der
vorliegenden Arbeit konzentriert sich auf die Korrelation von Sprachge-
schichte und Sprachbewusstsein in Bezug auf die Herausbildung des Kon-
zepts von „Umgangssprache“ in der zweiten Hälfte des 18. Jh.
Der Begriff der Umgangssprache ist heute recht schillernd. Es fehlt
„noch immer an einer hinreichend präzisen Gegenstandsbestimmung,
ganz zu schweigen von Gesamtdarstellungen deutscher Umgangsspra-
che(n) in system- und soziolinguistischer Hinsicht“ (Munske 1983: 1002).
Wir haben „keinen einheitlichen Begriff ‚Umgangssprache‘“ (Bichel 1973:
55f., 378). Analog zum Begriff Satz, der „bis tief in die Wissenschaften
hinein undefiniert“ bleibt (Bühler 1965: 356), ist Umgangssprache mit dem
2
Terminus von Karl Bühler ein „synchytisch“ angelegter Begriff (vgl. Bi-
chel 1973: 377). Nach Paul (2002: 1051, vgl. auch Henne 1988) lassen
1 Für die Durchsicht meines Manuskripts sowie wertvolle Hinweise danke ich Herrn
Prof. Dr. Helmut Henne, Herrn Prof. Dr. Stephan Elspaß, Herrn Prof. Dr. Jörg Kilian,
Herrn Prof. Dr. Joachim Scharloth und Herrn Prof. Dr. Johannes Schwitalla herzlich.
2 Eine Umschreibung des Terminus „synchytisch“ ist: „nach einer mehrfachen, d. h. nicht
nur von einem einzigen Gesichtspunkt aus bestimmten Ähnlichkeit“ (Bühler 1965: 222).
170 Hiroyuki Takada
graphisch
konzeptionell c e h i konzeptionell
mündlich schriftlich
(Nähe) a b d f g (Distanz)
phonisch
Der Grad der Nähe- oder Distanzsprache von Äußerungen lässt sich
durch die unterschiedlichen Werte der Parameter bestimmen. Die Autoren
machen sich „die metaphorische Potenz der Wörter ‚Nähe‘ und ,Distanz‘
zunutze, um die Kombinationen von Parameterwerten als ganze zu er-
fassen“ (Koch/Oesterreicher 2007: 351). Die Parameterwerte ‚Dialogizi-
tät‘ (vs. ‚Monologizität‘), ‚Vertrautheit der Kommunikationspartner‘ (vs.
‚Fremdheit der Kommunikationspartner‘), ‚freie Themenentwicklung‘ (vs.
‚Themenfixierung‘), ‚Privatheit‘ (vs. Öffentlichkeit‘), ‚Spontaneität‘ (vs.
‚Reflektiertheit‘), ‚starke emotionale Beteiligung‘ (vs. ,geringe emotionale
Beteiligung‘) usw. charakterisieren den Pol ‚Nähe‘.
Koch/Oesterreicher (1994, 2007) versuchen, anhand des folgenden
Schemas (vgl. Abb. 2) den konzeptionellen Gesichtspunkt in die Modellie-
rung des Varietätenraums zu integrieren (Abb. 2, S. 172). Diatopisch stark
markierte Elemente können „sekundär als diastratisch niedrig, tertiär auch
als diaphasisch niedrig und schließlich sogar als nähesprachlich funktionie-
ren“ (Koch/Oesterreicher 2007: 356). So ist die Verwendung diastratisch
und diaphasisch als niedrig markierter Ausdrücke „im Bereich der auf
Formalität, Prestige usw. angelegten konzeptionellen Schriftlichkeit nicht
opportun. Zugeschnitten auf distanzsprachliche Kommunikation ist somit
3 Koch/Oesterreicher (2007: 351) nennen die Pole ,kommunikative Nähe‘ und ,kommunika-
tive Distanz‘.
172 Hiroyuki Takada
Nähe 1a
universal Distanz
nicht-
1b markiert
STATUS
‚Nähe‘ ‚Distanz‘ DIASYSTE-
MATISCHE
2 MARKIE-
einzel- niedrig Diaphasik hoch
RUNG
sprachlich-
kontingent 3
niedrig Diastratik hoch markiert
4
stark Diatopik schwach
Tab. 1: Schema zur Darstellung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Medium und Konzept
konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch
B) phonisch
Zu beachten ist dabei, dass die doppelte Wellenlinie zwischen den beiden
Bereichen die (eigentlich) nicht dichotomisch darzustellende Natur dieses
Variationsspektrums darstellt. Zur Beschreibung der Übergänge zwischen
Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Medium und Konzeption schlagen
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 173
konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
iv)
A) graphisch
i) iii) 㻌 i)
ii) iv) 㻌 ii)
B) phonisch
iii)
mediale Transkodierungen: i) A Ⱥ B: Verlautlichung, ii) B Ⱥ A: Verschriftung
konzeptionelle Transpositionen: iii) I Ⱥ II: Verschriftlichung, iv) IIȺ I: Vermündlichung
Der deutsche Grammatiker des 17. Jh. Justus Georg Schottelius weist da-
rauf hin, dass die Griechen und Römer zwischen der „altages Rede“ und
der „Sprache selbst“ unterschieden:
Es haben so wol die Griechen als Römer einen Unterscheid gemacht/ in sermo-
nem vulgarem seu vernaculum, & inter linguam Latinaem & Atticam, unter der
gemeinen altages Rede/ und unter der Sprache selbst. (Schottelius 1663: 144).
4 Diese Differenzierung ist zuerst von Peter Koch in seiner Habilitationsschrift im Jahre
1987 eingeführt worden (vgl. dazu Schlieben-Lange 1997).
5 Neben der zitierten Stelle wird von der (Vorstufe der) Zusammensetzung altages Rede in
Schottelius 1663 auf S. 168 zweimal Gebrauch gemacht. Sonst finden sich auch verwandte
Formulierungen wie altages Geschwätze (S. 168), Altagesbrauch (S. 3), altages Gebrauch (S. 144,
168), altägliche Gewonheit (S. 5, 10, 148) und altäglicher Gebrauch (S. 17).
174 Hiroyuki Takada
6 Hinter dem Gebrauch der die Grenze der Verständlichkeit überschreitenden Einklamme-
rung langer Nebensätze erkannte Johann Bödiker (1690) ein soziolinguistisches Motiv: Je
komplizierter der Satzbau sei, desto höher im Rang befindet sich der Schreiber. „Solche
Schreib-Art verstellt nur unsere Sprache/ und kömmet von Leuten her/ die auß Hoheit ih-
rer Sinnen es also düster machen/ und meynen/ darinn bestehe die Zier der Deutschen
Sprachen“ (Bödiker 1690: 245); vgl. dazu Takada (1998: 228ff.) und Takada (2007: 25ff.).
7 Lessing bemerkt in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1769), 24. November: „Bey einer ge-
suchten, kostbaren, schwülstigen Sprache kann niemals Empfindung seyn. Sie zeigt von
keiner Empfindung, und kann keine hervorbringen. Aber wohl verträgt sie sich mit den
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 175
Die Sprache des Umganges, die Gottsched mit der „gemeinen Sprache“ iden-
tifiziert, wird von ihm als Stilisierungsmittel in der Komödie aufgefasst;
nur als solche interessiert die Größe Sprache des Umganges den Literaturthe-
oretiker hier. Dieser Sachverhalt lässt sich in der Anwendung des Nähe-
Distanz-Modells folgendermaßen beschreiben: Die Sprache des Umganges,
die im phonischen Medium im Nähebereich liegt, will Gottsched wegen
der „natürlichen Schreibart“ durch Verschriftung medial transkodieren:
konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch (Sprache in —
der Komödie)
*)
B) phonisch Sprache des Umganges —
*) Verschriftung
simpelsten, gemeinsten, plattesten Worten und Redensarten“ (Lessing 1769: 51f.). Im Fol-
genden stammen die Unterstreichungen in Zitaten vom Verfasser.
176 Hiroyuki Takada
Die Briefkultur des 18. Jh. gilt als „Folge eines gesellschaftlichen Individu-
alisierungs- und Subjektivierungsprozesses, der von den ‚neuen bürgerli-
chen Schichten‘ getragen wird und die ständische Gesellschaftsordnung
auflöst“ (Vellusig 2000: 153). In demselben Jahr, 1751, in dem Gottsched
von der Sprache des Umganges spricht, macht Gellert in seiner Schrift Briefe,
nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen auch von
dieser Bezeichnung Gebrauch. Dieses Buch ist „von geradezu epochema-
chender Bedeutung“ (Merkel 1961: 411) für die Entwicklung einer guten,
verständlichen Gebrauchsprosa, indem es sich gegen das umständliche
kanzlistische (also distanzsprachliche) Briefmuster „wie gegen die sinnrei-
chen Scherze des galanten Stils“ (Vellusig 2000: 83) richtet. Der Autor
verlangt vom Brief eine Annäherung an das Gespräch bzw. die „Sprache
des Umgangs“, wobei er bemerkt, ein Brief sei „kein ordentliches Ge-
spräch; es wird also in einem Briefe nicht alles erlaubt seyn, was im Um-
gange erlaubt ist“ (Gellert 1751: 111). Es handelt sich hier um die „gebil-
dete Natürlichkeit und Als-Ob-Natürlichkeit“ (Nickisch 1969: 175f.). Der
Brief solle „eine freye Nachahmung des guten Gesprächs“ (Gellert 1751:
111) sein. Das Stilideal von Gellert zielt auf „die ‚dialogische Vergegen-
wärtigung‘ der Interaktion im einsamen Monolog des Schreibens“ (Vellu-
sig 2000: 88). Der Autor fährt fort:
Allein wer sieht nicht, daß wir im Briefschreiben in viele Fehler verfallen würden,
wenn wir ohne Unterscheid die Sprache des Umgangs nachahmen wollten? Uns-
re Schreibart würde oft sehr unverständlich und schmutzig, oder gezwungen,
platt, weitläuftig und gemein werden, wenn wir ohne Ausnahme von bürgerlichen
und häuslichen Angelegenheiten in Briefen so reden wollten, wie die Niedrigen,
oder die Vornehmen, im gemeinen Leben davon zu sprechen pflegen. Hier geht
also der Brief von dem Gespräche ab. (Gellert 1751: 112)
8 Gellert lehnt bereits in seinen Gedanken von einem guten deutschen Briefe (1742) „alle bisherigen
Anweisungs- und Regelbücher ab, weil sie mit aller Gewalt gekünstelt schreiben lehren
wollen“ (Nikisch 1969: 158). In Gellert (1742) heißt es: Wenn das Briefschreiben „nichts
anders ist, als was ich ihm [einem anderen] mündlich sagen würde“ (Gellert 1742: 99), so
178 Hiroyuki Takada
lert’sche Begriff der Sprache des Umgangs prinzipiell von sozialer Abwer-
tung befreit zu sein scheint, weil „Fehler“ nicht nur in der mündlichen
Sprache der „Niedrigen“, sondern auch der „Vornehmen“ vorausgesetzt
sind. Insofern ein Brief „die Stelle einer mündlichen Rede“ (Gellert 1751:
111) vertrete, „muß er sich der Art zu denken und zu reden, die in Ge-
sprächen herrscht, mehr nähern, als einer sorgfältigen und geputzten
Schreibart“ (ebd.). Der Ausdruck „der Art, die in Gesprächen herrscht,
mehr nähern“ weist implizit auf das Kontinuum zwischen den Extrempo-
len Mündlichkeit und Schriftlichkeit hin. Die Formulierung „eine sorgfältige
Schreibart“ deutet die „Reflektiertheit“ (im Gegensatz zur „Spontaneität“)
als einen der kommunikativen Parameter der Distanzsprache an. In einem
freundschaftlichen Brief sei nach Gellert z. B. die Formulierung „‚Sie
können versichert seyn, daß ich Ihnen eben diesen Gefallen bey andern
Gelegenheiten erzeigen werde.‘ […] nicht die vertrauliche Sprache eines
Freundes“ (Gellert 1751: 131) und deshalb „zu matt“ (ebd.), also – in
unserer Terminologie – nicht nähesprachlich; der Autor rät den Lesern:
„Sagen Sie ihm mehr. Sprechen Sie lieber in der Sprache des Umgangs:
‚Ich will Ihnen alles wieder zu gefallen thun, wenn Sie mir diese Freude
machen.‘“ (ebd.).
Wenn wir Gellerts Formulierungen auf der Folie des Nähe-Distanz-
Modells nun so auslegen, dass die Sprache des Briefs trotz ihrer medialen
Schriftlichkeit dem Pol „konzeptioneller Mündlichkeit“ näher stehen solle
als einer „sorgfältigen“ Schreibart, dann geht es um die zweckmäßige
Transkodierung vom phonischen zum schriftlichen Medium, also die
mediale Verschriftung innerhalb des Nähebereichs, mit dem Vorbehalt,
dass man „das Natürliche nicht bis zum Ekelhaften treiben“ (Gellert 1751:
113) dürfe:
konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch (Sprache im Brief) —
*)
B) phonisch Sprache des Umganges —
*) Verschriftung
„würden wir freylich sehr nachlässig, sehr unordentlich, überflüssig und unzierlich schrei-
ben müssen“ (ebd.); „Viele vermengen freylich eine nachlässige Schreibart mit einer leich-
ten, und reden in ihren Briefen so schmutzig, so gemein, als ob ein Brief die Freyheit hätte,
einem unordentlichen Caffeegespräche völlig ähnlich zu seyn“ (Gellert 1742: 103).
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 179
Der Philosoph Christian Garve spricht 1773 in seiner Vorlesung von der
Sprache des Umgangs und der Sprache der Bücher:
Diese Unart [= Verwendung von Fremdwörtern] hat indessen an den meisten
Orten schon ziemlich nachgelassen; man bedienet sich schon weit mehr, als vor-
dem, der Ausdrücke der Muttersprache: und wo diese noch nicht gewöhnlich
sind, da hat der Schriftsteller das Recht, sie gewöhnlich zu machen. Er bildet,
wenn er nur sonst vortrefflich ist, die Sprache des Umgangs, wie die Sprache der
Bücher; und schreibt der Nation vor, wie sie reden soll, wenn er ihr nicht nach-
schreiben kann, wie sie wirklich reden. (Garve 1773: 17f.)
Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass hier „die Sprache des Umgangs“
dem Begriff der „Sprache der Bücher“ entgegengesetzt ist. Indem der
Distanzbereich (im graphischen Kode) eine bündige Benennung be-
kommt, wird die Sprache der Umgangssprache als Nähesprache (im pho-
nischen Kode) profiliert.
Bei Johann Christoph Adelung können wir dieses Begriffspaar von
Nähe- und Distanzsprache seiner Unterscheidung von der „Sprechart des
(gemeinen Lebens und) vertraulichen Umganges“ einerseits und „Bücher-
sprache“ andererseits zuordnen, wie sie sich im Vorwort zu seinem Ver-
such eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen
Mundart (1774) als „Sprechart des (gemeinen Lebens und) vertraulichen
Umganges“ findet:
Allein, da sich diese [= meine Vorgänger] nur auf die Büchersprache ihrer Zeit
eingeschränket, und auch diese nicht einmal erschöpfet haben, [...] so sahe ich
mich in die sehr unangenehme und abschreckende Nothwendigkeit versetzet, die
Wörter aus tausend Schriften allerley Art, aus den verschiedenen Lebensarten
und in dem täglichen Umgange selbst aufzusuchen, um den Reichthum unserer
Sprache auf eine vollständigere Art darzustellen, als bisher geschehen ist. (Ade-
lung 1774: Bl. Vf.)
Eines der vornehmsten Bedürfnisse schien mir die Bemerkung der Würde. [...]
Ich habe zu dem Ende fünf Classen angenommen; 1. die höhere oder erhabene
Schreibart; 2. die edle; 3. die Sprechart des gemeinen Lebens und vertraulichen
Umganges; 4. die niedrige, und 5. die ganz pöbelhafte. [...] (Adelung 1774:
Bl. XIV)
In diesem Rahmen stellt die dritte Kategorie, die Sprechart des gemeinen Le-
bens und vertraulichen Umganges, die (phonische) Sprache des Umganges dar.
180 Hiroyuki Takada
konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch — (Büchersprache)
B) phonisch Umgangssprache —
Gottsched (1751): Sprache des Umganges; Gellert (1751): Sprache des Umganges
Garve (1773): Sprache des Umgangs vs. Sprache der Bücher
Adelung (1774): Sprechart des vertraulichen Umganges vs. Büchersprache
Gedike (1777), Anonym (1778): Umgangssprache vs. Büchersprache
Hier ist die Formulierung „in Werken des Geschmacks“ als „in der Bü-
cher- bzw. Literatursprache“ zu verstehen.
Die hochdeutsche Schriftsprache ist Ende des 18. Jh. in der gebildeten
Sozialschicht so sehr verbreitet, dass man hier auch in der mündlichen
Kommunikation schriftnahe – distanzsprachliche – Performanz anstrebt.
Das obersächsische sprachliche Vorbild wird „durch das Vorbild der
schriftnahen Aussprache des Niederdeutschen abgelöst“ (Faulstich 2008:
53). Es zeichnet sich (bereits um 1760) eine Verschiebung des kulturellen
Zentrums vom Gebiet um Leipzig und Dresden in den Raum Berlin ab.
Der Hannoveraner Karl Philipp Moritz merkt 1781 als Gymnasiallehrer in
Berlin in seiner Schrift Ueber den märkischen Dialekt an, dass die Sprache „in
der gesellschaftlichen Unterredung“ (Moritz 1781: 5) der Gebildeten in
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 183
Berlin (noch) nicht frei von mundartlichen Elementen ist. Moritz meint,
ganz Deutschland habe mit Stillschweigen eingewilligt, „beinahe einerlei
Sprache zu schreiben, und läßt sich doch, im Reden, die ausgelassenen
Freiheiten“ (Moritz 1781: 4). Moritz behauptet deshalb, es sei „höchst-
nothwendig“, „daß wenigstens der verfeinerte Theil der Nation den
mündlichen Ausdruck, seiner Schreibart so nahe, wie möglich“ (Moritz
1781: 5) bringe.
Bei gebildeten Sprechern, die im Alltag in der Regel ihre Mundart
nicht aufgeben, wird damals „die durch die Verbreitung der hochsprachli-
chen Norm eingeführte Zweisprachigkeit“ (Gessinger 1980: 100) beob-
achtet.10 In der zweiten Hälfte des 18. Jh. kommt es bei den mittleren und
höheren Schichten des städtischen Bürgertums, die sich des Gegensatzes
zwischen den Dialekten und der Schriftsprache bewusst werden, zur
„Ausbildung einer vermittelnden Umgangssprache“ (Wiesinger 2000:
1933). In der (Berliner) Umgangssprache etwa meint Moritz als Nicht-Ber-
liner („ein gebohrner Niedersachse“: Moritz 1781: 14) sehr deutlich den
Mischcharakter zwischen Hochdeutsch und Mundart herausfinden zu
können. In seiner Erörterung entwickelt Moritz ein „Dreischichtenmo-
dell“ (Schmidt 1995: 70) von Büchersprache, Umgangssprache und Dialekt:
Jemehr der Dialekt, oder die gemeine Volkssprache, in einer Provinz, von der
verfeinerten oder Büchersprache, verschieden ist, desto besser ist es für die letz-
tere, desto reiner und richtiger wird dieselbe gesprochen, weil dasienige, was sich,
aus dem Dialekt, in dieselbe einmischen könnte, viel zu auffallend seyn würde, als
daß man es nicht sogleich, als fehlerhaft, aus derselben wieder verwerfen sollte.
[...] In Niedersachsen betrachtet man das Hochdeutsche und Plattdeutsche als
zweierlei Sprachen. [...]; hier [= in Berlin] hingegen fließt beides beständig inei-
nander, weil der hiesige Dialekt mit der verfeinerten Sprache eine größere Aehn-
lichkeit hat [...]. Wie sich das gemeine Volk verschiedener halb hochdeutscher
Wörter bedienet, so gebraucht der verfeinerte Theil wiederum manche halbplatt-
deutsche Wörter in seiner Umgangssprache, als z. B. ohch, lohffen, u.s.w., welches
aus dem plattdeutschen ohk und lohpen, in die hiesige Mundart übergeformt ist.
(Moritz 1781: 15ff.)
Moritz bemerkt etwa zu dem Ausdruck es duht mich lehd (statt es tut mir leid ):
Dieser einzige Ausdruck ist, an sich, schon ein Bild der ganzen märkischen
Mundart, welche aus korruptem Plattdeutsch und Hochdeutsch zusammenge-
schmolzen, und mit Sprachfehlern durchwebt ist. Und einer solchen Mundart
bedienet sich selbst der verfeinerte Theil, der Nation, noch so häufig, in seiner
10 Dieser Begriff entspricht der Definition von Umgangssprache als Erscheinung „sprachli-
chen Kontakts in einer Diglossie-Situation zwischen einer Standardsprache als H-Varietät
[= High-Varietät] und damit verwandten Dialekten als L-Varietäten [= Low-Varietäten]“
(Munske 1983: 1005).
184 Hiroyuki Takada
Umgangssprache, da man sie doch aus allen öffentlichen Vorträgen, mit Recht,
schon verbannet hat.“ (Moritz 1781: 17)
konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch — **)
Büchersprache
B) phonisch Dialekt
*)
Umgangssprache —
*) Verschriftlichung
Umgangssprache bei Moritz (1781) **) Verlautlichung + Vermündlichung
12 Diese Position von Adelung ist „zu seiner Zeit schon anachronistisch“ (Orgeldinger 1999:
165); in mancher Hinsicht weicht das Obersächsische bereits „von der hochdeutschen
Norm ab“ (Orgeldinger 1999: 165). Mit den Worten von Henne (2001: 167): „Mit seiner
eigenwilligen Theorie der hochdeutschen Mundart rief Adelung in der Mehrzahl solche
Kritiker auf den Plan, die sein unter ‚hochdeutschen‘ Prämissen entstandenes Werk ab-
lehnten; in der Minderzahl waren die, die ihm begeistert zustimmten.“
13 Adelung stellt sich die Sprache „ausschließlich als real existierend und aktual praktiziert“
(Orgeldinger 1999: 210) bzw. „nur in der Kommunikation entstehend und sich entwi-
ckelnd“ (ebd.) vor. Adelung, der dabei „nicht zwischen Entstehung, Entwicklung und Aus-
bildung differenziert und Kommunikation sehr eng auffaßt“ (ebd.), lässt nur die gespro-
chene Sprache „als im sozialen Konnex verankerte, in intensivem Kontakt gepflegte Spra-
che gelten“ (ebd.).
186 Hiroyuki Takada
konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch — Schriftsprache
Hier taucht aber eine terminologische Frage auf: Können wir die Bezeich-
nung Gesellschaftssprache bei Adelung (1782/1783/1784) als identisch mit
der – in der vorliegenden Arbeit bis jetzt erörterten – Benennung Um-
gangssprache betrachten? In einer Rezension zur Schrift Adelungs Ueber den
deutschen Styl (1785) versucht Gedike 1787, die Adelung’sche These zum
Hochdeutschen zu widerlegen, wobei er seinerseits die Bezeichnung Ge-
sellschaftssprache bei Adelung mit dem Wort Umgangssprache umschreibt:
Daß diese [= lauter niederdeutsche und oberdeutsche Ausdrücke] nicht durch die
Schriftsteller autorisirt, und in die Schriftsprache mit aufgenommen sind, scheint
ein Beweis mehr zu seyn, daß die deutsche Schriftsprache durch Schriftsteller,
und nicht durch die hochdeutsche Umgangssprache ausgesondert und gebildet
sey. (Gedike 1787: 9)
Dies verweist darauf, dass der Terminus Gesellschaftssprache bei Adelung der
Umgangssprache gleichkommt. Adelung will aber anscheinend ungern von
der Bezeichnung Umgangssprache Gebrauch machen. In seiner späteren
Entwicklung benutzt Adelung nur einmal den Terminus Umgangssprache
(vgl. Henne 1988: 815), und zwar im Vorwort zu seinem Auszug aus dem
grammatisch=kritischen Wörterbuche der Hochdeutschen Mundart (1793):
Ich habe aus dem großen Reichthume von Wörtern nur die nothwendigsten und
gangbarsten ausgehoben, d. i. solche, welche in der gewöhnlichen Schrift= und
Umgangssprache der Hochdeutschen vorkommen. (Adelung 1793: Bl. )( 4r)
Wenn wir daran denken, dass das Substantiv Gesellschaftssprache bei Ade-
lung fast immer das Adjektiv höher oder feiner vor sich hat (die höhere Gesell-
schaftssprache, die feinere Gesellschaftssprache),14 ist der Gebrauch des Adjektivs
Gesellschaftssprache (2. Bd., 1. St.: 16); die Schrift= und höhere Gesellschaftssprache (1. Bd., 1. St.:
12); unsere höhere Schrift= und Gesellschaftssprache (1. Bd., 1. St.: 25); die Schrift= und feinere Gesell-
schaftssprache (1. Bd., 1. St.: 23). Sonst haben die Belege in der Deutschen Sprachlehre für Schu-
len (1801) das Adjektiv höher: die bisherige Schrift= und höhere Gesellschaftssprache (Adelung 1801:
529) und zur Schrift= und höhern Gesellschaftssprache (Adelung 1801: 538). Vgl. auch die Belege
in Ueber den deutschen Styl (1785) in Anmerkung 16.
15 Einen Gegenbeleg finden wir im Magazin (2. Bd., 1. St.: 143), wo es heißt: „Ich habe [...]
das Pronomen Identatis der nehmliche für eines der niedrigsten und verwerflichsten Wör-
ter in der Sprache erklärt, so sehr es auch selbst guten Schriftstellern aus der Gesellschafts-
sprache des gemeinen Lebens anklebt“ (ebd.). Hier will Adelung mit diesem Ausdruck an-
scheinend die weniger höhere Gesellschaftssprache, also die Sprechart des gemeinen Lebens bezeich-
nen.
16 In der Abhandlung Ueber den deutschen Styl (1785) kommt das Wort Gesellschaftssprache vier-
mal vor: „daß die Römische Sprache noch so viele Jahrhunderte nicht allein die Schrift-
sprache, sondern selbst die höhere Gesellschaftssprache blieb“ (Adelung 1785, Teil 1: 46);
„so, daß sie nicht allein Deutschlands Schriftsprache, sondern auch nach und nach die hö-
here Gesellschaftssprache für ganz Nieder=Sachsen ward“ (Adelung 1785, Teil 1: 51); „so
daß sie in dieser ihrer innern Vorzüge wegen Deutschlands Schrift= und höhere Gesell-
schaftssprache werden können“ (Adelung 1785, Teil 1: 72); „Zwar fing man in den Chur-
sächsischen Landen sehr frühe an, die verbesserte Schrift= und Gesellschafts=Sprache
auch in die Kanzelleyen einzuführen“ (Adelung 1785, 2. Teil: 83).
188 Hiroyuki Takada
konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch — Schriftsprache
hochdeutsche
B) phonisch — Umgangssprache
17 Vgl. die Bedeutung ‚Umgang‘, die das französische Wort conversation hat. Nach Linke
(1996: 135) gab es spätestens am Ende des 18. Jh. zwei Lesarten des Wortes Konversation:
einerseits ‚Umgang‘ und andererseits ‚Gespräch‘. Campe (1811) benutzt das Wort Conversa-
tionssprache als Umschreibung von Umgangssprache: „die Sprache des gemeinen Lebens, deren
man sich im gesellschaftlichen Umgang bedienet (Conversationssprache)“ (Campe 1811,
Bd. 5: 75, dazu vgl. unten Abschnitt 6).
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 189
Ist indessen gleich jene schleppende Form [= das Pronomen dieselben] auf der
mündlichen Konversationssprache verdrängt, so verunstaltet und lähmt sie doch
desto häufiger unsere schriftliche Unterhaltungs- und Geschäftssprache. (Gedike
1796: 309)
konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
schriftliche
A) graphisch — Umgangssprache
mündliche
B) phonisch — Umgangssprache
18 Von der Durchsetzung des Wortes Umgangssprache um diese Zeit zeugt z. B. die Tatsache,
dass der Überarbeiter des Buches Ueber den Umgang mit Menschen von Knigge an einer von
ihm vermehrten Stelle diese Bezeichnung benutzt, die eigentlich im Original (1788) über-
haupt nicht vorkommt: „Dabei darf die gesellschaftliche Bildung nicht vernachlässigt wer-
den. Bringt man junge Leute zu spät in die Gesellschaft der Erwachsenen, so leiden sie an
unheilbarer Blödigkeit und Ungelenkigkeit, und werden der Umgangssprache nie mächtig“
(Knigge 1818: 262f.).
190 Hiroyuki Takada
Trotz dieser Definition ist das Verständnis von Umgangssprache, das Campe
in seinem Wörterbuch dokumentiert, aber in der Tat nicht eindeutig.
Wenn wir die Belege dieses Terminus in seinem Wörterbuch genau analysie-
ren, erkennen wir, dass der Lexikograph die Umgangssprache am umfas-
sendsten auffasst.
Nach unserer Zählung kommt der Terminus Umgangssprache im Wörter-
buch 67-mal vor: 16-mal im 1. Band (im „Vorbericht“ 7-mal und unter
Stichwörtern 9-mal), 2-mal im 2. Band, je 1-mal im 3. und 4. Band, 2-mal
im 5. Band und 45-mal im Ergänzungsband (14-mal in „Grundsätze, Re-
geln und Grenzen der Verdeutschung“ und 31-mal unter Stichwörtern). In
den Belegen, in denen Campe von der „allgemeinen (Deutschen) Schrift-
und Umgangssprache“ spricht, wird mit Umgangssprache der phonische
Distanzbereich (im Gegensatz zum graphischen Distanzbereich Schriftspra-
che) benannt:
In allen [Landschaften], ohne Ausnahme, wird in allgemeinen nur landschaftli-
ches Deutsch geredet, aus welchem die gebildeten Menschen und die Schriftstel-
ler aller Gegenden das Beste, Edelste und Sprachrichtigste für die allgemeine
Deutsche Umgangs= und Schriftsprache ausgehoben haben und noch immer
auszuheben rechtmäßig fortfahren. (Campe 1807, Band 1: Bl. VIII)
[...] entscheidet sich die von einigen streitig gemachte Frage: ob und in wiefern
auch die Mundarten und die verwandten Sprachen zu den echten Sprachquellen
für unsere sogenannte Hochdeutsche, d. i. allgemeindeutsche Sprache, gerechnet
zu werden verdienen, schon von selbst. Die Antwort nämlich ist: allerdings! aber
nur in sofern, als die Mundarten etwas enthalten, welches der allgemeinen Deut-
schen Sprachähnlichkeit gemäß und deßwegen werth ist, in die allgemeine
Schrift= und Umgangssprache der Deutschen, die man unpaßlich genug die
Hochdeutsche genannt hat, aufgenommen zu werden. (Campe 1813, Ergän-
zungsband: 37)
Niedrige Wörter, die ans Pöbelhafte grenzen, und deren man sich daher, sowol in
der Schriftsprache, selbst in der untern, als auch ja in der bessern Umgangsspra-
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 191
che, enthalten sollte; die aber dennoch in Bühnenstücken, wie im gemeinen Le-
ben, wiewol nur in dem Munde ungebildeter Personen, vorkommen; z. B. Freß-
sack, Lausekerl, Rotznase u.s.w. (Campe 1807, Band 1: Bl. X)
[...] und man wird künftig erröthen, eine eingebildete Unthulichkeit vorzuschüt-
zen, wenn von der Reinigung unserer höhern Bücher= und Umgangssprache die
Rede ist. (Campe 1813, Ergänzungsband: 31)
konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch — Schriftsprache
feinere/bessere/höhere
B) phonisch — Umgangssprache
Réndez-vous [...] Mit diesen Ausdrücken werden wir in der ernsteren und höhern
Schreibart überall ausreichen. Für die scherzende Schreibart und für die leichte
Umgangssprache (aber auch nur für diese) habe ich den nachahmenden Aus-
druck, Stell=dich=ein, wie Vergiß=mein=nicht, Spring=ins=Feld u. dgl. gebildet, vorzu-
schlagen gewagt. (Campe 1813, Ergänzungsband: 527)
Sonst steht der Terminus Umgangssprache häufig neben dem Begriff „leich-
te, niedrige Schreibart“ und wird diesem praktisch (fast) gleichgesetzt:
Der Gedankenblitz [...] Für die Umgangssprache und die leichte Schreibart hat eben
dieser Sprachforscher das Wort Stegereifer (s. d.) empfohlen. (Campe 1808, Band 2:
247f.)
Niedrige, aber deswegen noch nicht verwerfliche Wörter, weil sie in der geringern
(scherzenden, spottenden, launigen) Schreibart, und in der Umgangssprache
brauchbar sind; z. B. Schnickschnack, von Lessing; beschlabbern, von Göthe ge-
braucht. (Campe 1807, Band 1: Bl. XXI)
192 Hiroyuki Takada
Deshalb können wir annehmen, dass Campe mit Umgangssprache auch den
phonischen Nähebereich angibt, wobei das Modell UMGANGSSPRA-
CHE 1 (vgl. auch Tab. 5) gültig ist.
konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch — (Schriftsprache)
B) phonisch Umgangssprache —
Es begegnet uns außerdem eine interessante Stelle, an der Campe die Um-
gangssprache als einen der „Theile der menschlichen Kenntnisse und
Geistesbeschäftigungen“ (Campe 1813, Ergänzungsband: 34) bezeichnet,
die „offenbar zu derjenigen Aufhellung und Bildung des menschlichen
Verstandes“ (ebd.) gehören, „welche allen Menschen in allen Ständen zu
wünschen wäre“ (ebd.):
Die Umgangs= und Geschäftssprache, nicht bloß sofern sie in mündlichen Un-
terredungen, sondern auch in Briefen, schriftlichen Verhandlungen und Volks-
schriften aller Art, z. B. in Schauspielen, Geschichtsbüchern, Geschichtsdichtun-
gen (Romanen), Zeitungen u. s. w. gebraucht wird. Wie mancherlei Unbequem-
lichkeiten und Nachtheile durch die Reinigung dieses Theils unsers Sprachschat-
zes vermieden werden könnten, und wie sehr die ganze Volksausbildung dadurch
befördert und beschleunigt werden würde, springt jedem darüber Nachdenken-
den sogleich von selbst ins Auge. (Campe 1813, Ergänzungsband: 34)
konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
—
A) graphisch Umgangssprache
B) phonisch — Umgangssprache
7. Schluss
19 In den Jahren von 1725 bis 1760 kommt es „zur Ausbildung und allgemeinen Durchset-
zung einer literatursprachlichen Norm, indem der Süden, zunächst um 1730 die Schweiz,
dann 1750 Österreich und zuletzt 1760 Bayern“ (Wiesinger 2000: 1933) die ostmittel-
deutsch-norddeutsche Form der Schriftsprache aufgreift.
194 Hiroyuki Takada
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196 Hiroyuki Takada
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‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 197
Stephan Elspaß
1. Einleitung
Die Leitfrage der Debrecener Tagung, „Wohin steuert die Historische
Sprachwissenschaft?“, dessen Beiträge dieser Band versammelt, verstehe
ich so, dass wir nicht nur konstatieren, wohin die Historische Sprachwis-
senschaft steuert, sondern dass wir darüber hinaus zu ermitteln versuchen,
warum sie in durchaus verschiedene Richtungen steuert, und vielleicht
auch sagen, wohin sie unserer Meinung nach steuern sollte – oder viel-
leicht auch nicht (oder nicht mehr) steuern sollte.
Zu Beginn sei ein kleiner Exkurs gestattet. In einem Gastbeitrag für
die Süddeutsche Zeitung beschäftigte sich der Volkswirtschaftler Thomas
Lux (2009) mit der Frage, warum Ökonomen die Wirtschaftskrise der
vergangenen Jahre nicht vorhergesehen hatten. Seine Kurzantwort lautete:
„Weil ihre Theorien auf Annahmen fußen, die fern der Realität sind“.
Weiter führte er aus:
Die [bestehenden ökonomischen] Modelle sahen drohende Fehlentwicklungen
nicht, weil sie sie auf Grund ihrer Konstruktion nicht sehen konnten. Hierfür gibt
es zwei Gründe: zum einen die fest verankerte, aber nicht wirklich wissenschaft-
lich fundierte Ansicht, dass Stabilität und Effizienz in die Finanzmärkte quasi
eingebaut seien. Und zum anderen die sehr weitgehende Vernachlässigung von
Wechselwirkungen zwischen wirtschaftlichen Akteuren. (Lux 2009)
Nun soll man die Erfolge und Fortschritte der Forschung auch nicht
kleinreden. Aber gewisse kritische Fragen wird man stellen dürfen. Dies
will ich mir heute erlauben (eine habe ich schon gestellt) und gleich hinzu-
fügen, dass ich nicht auf alle Fragen eine Antwort zu geben weiß. Ich gehe
im Folgenden von zwei Thesen aus, die durch den SZ-Beitrag inspiriert
sind:
Dies sind nun recht allgemeine Thesen, die ich am Beispiel der Forschung
zum Neuhochdeutschen auf Fragen konzentrieren möchte, die die bisher
zugrunde gelegten Korpora betreffen: Welche Korpora standen der For-
schung bisher zur Verfügung? Inwieweit ist die Entstehung und Zusam-
mensetzung dieser Korpora in der Forschung reflektiert worden – gerade
in Bezug auf die Fragen, welche Sprachakteure unter welchen gesellschaft-
lichen Rahmenbedingungen und zu welchen Zwecken berücksichtigt wur-
den und welchen Zugang sie überhaupt zur Schrift hatten?
Ich nehme vorweg, dass in Bezug auf den Großteil der Forschung
zum Neuhochdeutschen eine Korpusmisere zu konstatieren ist. Und aus
diesem Befund ergibt sich konsequenterweise die Forderung nach einer
Entwicklung von mehr und von differenzierteren Korpora für diese
Sprachstufen.1 An drei Fallbeispielen aus der Syntax, der Morphologie und
der Phonologie des Neuhochdeutschen will ich dann zu zeigen versuchen,
in welch gravierender Weise die Korpusauswahl die Ergebnisse der For-
schung – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – zu steuern vermögen.2
1 Unter ,Neuhochdeutsch‘ verstehe ich das Früh-, das Mittel- und das Spätneuhochdeut-
sche/Gegenwartsdeutsche (vgl. Elspaß 2008).
2 Die ersten beiden Fallbeispiele sind ausführlicher in Elspaß (2005a: 254–275, 348–354)
behandelt.
204 Stephan Elspaß
Zur Illustration des ersten Problemfalls lade ich zu einem kleinen Gedan-
kenspiel ein. Stellen wir uns eine Sprachforscherin3 des 17. Jh. vor, die mit
dem Wissen der heutigen Sprachwandelforschung ausgestattet wäre. Sie
würde dann annehmen, dass das Deutsche auf dem Weg von einer synthe-
tischen zu einer analytischen Sprache sei.
Nun kennt die Forscherin aus dem Sprachgebrauch seiner Zeit etwa
die analytischen tun-Fügungen, mit denen sich neben progressiven auch
habituelle Sachverhalte u. a. vortrefflich ausdrücken lassen:4
habituell: ihr werdets euch wohl nicht gedacht haben daß ich Wa-
schen thu aber in Amerika darf man sich nicht schämen
wenn mann arbeitet (Brief Anna-Maria Schano aus Korb-
Steinreinach b. Waiblingen von 1850)
3 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die generischen Doppelfor-
men verzichtet und stattdessen – um beide Geschlechter zu beteiligen – auf Abwechslung
gesetzt. Für die Belege aus dem Korpus hingegen wurde stets differenziert, um diese Meta-
daten nicht verloren gehen zu lassen.
4 Die zwei ersten Beispielsätze nach den Belegen in Schwitalla (2006: 133ff.); die drei schrift-
sprachlichen Belege aus Elspaß (2005a: 264) und Brinckmann/Bubenhofer (2011).
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 205
morphem bildet, ähnlich wie im Fall des Präterital-Suffixes (wie der For-
scher aus der Geschichte des Voralthochdeutschen zu wissen meint), sei
dahingestellt.
Wie aber sollte die Forscherin des 17. Jh. mit ihrem Wissen um die
reine Lehre der systematischen Veränderungen des Deutschen ahnen
können, dass das Deutsche drei Jahrhunderte später eine standardisierte
Kultursprache ist, in deren Standardvarietät solche tun-Fügungen so ver-
pönt sind, dass sie dort im Geschriebenen praktisch nicht mehr auftau-
chen (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, etwa bei Spitzenstellung
des Vollverbs, z. B. Lesen tu ich schon lang nicht mehr.)? Erst recht stellt sich
die Frage, wie sie die verschiedenen Stadien der späteren Stigmatisierungs-
geschichte der tun-Fügung, wie sie von Nils Langer (2001) ausführlich
beschrieben wurde, hätte voraussehen können.5
Denn, wie gesagt, die tun-Fügung passt sich sowohl syntaktisch als
auch funktional gut in das System des Deutschen ein – und zwar so gut,
dass sie in allen Dialekten und vielerorts auch bis in die standardnahen
Varietäten hinein bis heute gebraucht wird.6
Es gibt eine andere verbale Konstruktion im Deutschen, mit der im
Grunde genau das Gegenteil passiert ist, nämlich die am-Konstruktion: Sie
ist inzwischen im Standard akzeptiert (zumindest nach dem Standard der
Duden-Grammatik 2009: Rd.nr. 594).7 Woher aber kommt sie? Im ,Sys-
5 Hier nur die wichtigsten Stationen nach metasprachlichen Quellen (Darstellung nach
Langer 2011: 176ff., dort auch Zitatnachweise): Vor der Mitte des 17. Jh. war die tun-
Fügung selten negativ konnotiert. In Kommentaren bis ca. 1680 wird sie aus stilistischen
Gründen zunächst für den Gebrauch in der Literatursprache (Zesen u. a.), dann auch für
die Kanzleisprache (Stieler u. a.) abgelehnt. Auch eine angebliche semantische Redundanz
des Auxiliars tun wurde in diesen Zusammenhängen betont. Von norddeutschen Gramma-
tikern wird die Fügung am Ende des 17. Jh. / Beginn des 18. Jh. als ,süddeutsch‘ markiert.
Nach 1740 kamen soziolinguistische Bewertungen von (zumindest sprachhistoriogra-
phisch) wichtigen Sprachakteuren hinzu: Für Aichinger gehörte die tun-Fügung zum
Sprachgebrauch der „gemeinen Leute“; für Gottsched war sie so „lächerlich“, dass sie
„kaum [noch] unter Handwerksburschen und in altväterlichen Reichstädten“ gelte; Ade-
lung rechnete sie zu den „niedrigen Hoch- und Oberdeutschen Mundarten“, die im Hoch-
deutschen „überaus niedrig und widerwärtig“ klinge. Campe siedelte ihren Gebrauch „im
gemeinen Leben“ an, wo sie „aber in den meisten Fällen überflüssig und schleppend, folg-
lich verwerfend“ sei, es sei denn, es solle „dem Vortrage absichtlich ein niedrig alterthümli-
ches Ansehen gegeben werden“. Adelung und Campe folgend, bezeichnete Heyse die tun-
Fügung als „landsch[aftlich] gem[ein]“ und als „ein überflüssiges Hülfswort“. Ab den
Schulgrammatiken des 19. Jh. gilt sie endgültig als schlechtes oder falsches Deutsch in der
Schrift- und später in der Standardsprache.
6 Insbesondere in den md. Gebieten und den obd. Gebieten Deutschlands und Österreichs
(s. auch Schwitalla 2006: 147f.). Die geographische Verbreitung zeigen die entsprechenden
Karten des „Atlas zur deutschen Alltagssprache“ (vgl. http://www.atlas-alltagssprache/
runde_3/f08b-c/) und eine neue Karte aus dem Projekt ‚Deutsch heute‘ des IDS in
Brinckmann/Bubenhofer (2011).
7 Hoffmann (2011) schreibt: „Sie sollte allgemein akzeptiert sein.“
206 Stephan Elspaß
tem‘ des Neuhochdeutschen vor dem 19. Jahrhundert taucht sie gar nicht
auf. Sie ist aber auch nicht vom Himmel gefallen, sondern tatsächlich ,von
unten‘ bzw. ,vom Rand‘, nämlich aus regional begrenzten Dialektgebieten
im Westen des deutschsprachigen Raums, an die schriftsprachliche Ober-
fläche gekommen. Die am-Konstruktion ist auch ein gutes Beispiel für
,Sprachwandel von unten‘ im Sinne William Labovs (1975: 328). Demzu-
folge geht der Sprachwandel zunächst durch die weitgehend unbewusste
Übernahme einer dialektalen Form durch Sprachakteure in ihre Schrift-
und Standardsprache vonstatten, dann – im Sprachkontakt – durch die
weitgehend unbewusste Übernahme durch Sprachakteure aus Regionen,
zu deren Dialekten die Form nicht gehört. Die erstaunliche areale Aus-
breitung der am-Konstruktion innerhalb eines Jahrhunderts lässt sich da-
her in der Alltagssprache besonders gut verfolgen: In alltagssprachlichen
Texten (und wenigen literarischen Texten) des 19. Jh. ist sie nur im Wes-
ten und Südwesten des deutschsprachigen Gebiets nachzuweisen; in der
heutigen Alltagssprache ist sie – bis auf einige Gebiete im Osten Deutsch-
lands und Österreichs – fast im gesamten deutschsprachigen Raum üblich
(s. Abb. 1).
Wenn man nun grammatischen Formen so etwas wie Karrieren zu-
schreiben wollte, dann müsste man die am-Konstruktion an vorderer Stelle
nennen.8 Wie kam es dazu? Meine – inzwischen nicht mehr ganz taufri-
sche (Elspaß 2005a: 274f., 2005b: 83) – Hypothese ist, dass zumindest
zwischen der Stigmatisierungsgeschichte der tun-Fügung und dem In-
Gebrauch-Kommen der am-Konstruktion ein Zusammenhang besteht.
Denn die am-Konstruktion leistet Ähnliches wie die tun-Fügung – zumin-
dest, was den grammatischen Ausdruck der Progressivität, aber auch der
Habitualität betrifft:
8 Die Karriere der am-Konstruktion ist aber sicher kein Einzelfall, s. etwa die Verbreitung
des (deutschen) Modalverbs müssen in den slawischen Sprachen (vgl. Hansen 2000).
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 207
10 Vgl. http://www.germanistik.uni-halle.de/forschung/altgermanistik/referenzkorpus_
fruehneuhochdeutsc/.
11 Dies ist auch noch im „GerManC project: A representative historical corpus of German
1650-1800“ geschehen, vgl. http://www.llc.manchester.ac.uk/research/projects/germanc/
papers/.
210 Stephan Elspaß
War das Dativ-e im geschriebenen Deutsch des 19. Jh. nun dominant oder
nicht? Diese Frage hängt freilich eng damit zusammen, a) welche Korpora
man heranzieht und b) welche Fälle von Dativ-e man eigentlich zählt. Im
Fall des Dativ-e lohnt – im Sinne von a) – zum einen wieder die Unter-
scheidung von nähe- und distanzsprachlichen Texten. Darüber hinaus
habe ich dafür plädiert (vgl. Elspaß 2005: 152ff.), bei der Untersuchung
historischer Textkorpora so weit wie möglich ,formelhafte‘ und ,kreative‘
Sprache zu differenzieren. ,Formelhafte Sprache‘ zielt – in der Terminolo-
gie von Helmuth Feilke (1996: 313) – auf die idiomatische Prägung von
Sprache, die auch, aber eben nicht zentral Idiome umfasst und wesentlich
für Sprache ist. Idiomatisch geprägte bzw. formelhafte Sprache besteht
gewissermaßen aus lexikalischen bzw. äußerungswertigen Versatzstücken,
die Sprachakteure mitsamt alten oder neuen grammatischen Formen re-
produzieren. Bekanntlich führen schon idiomatische Phraseologismen
verschiedenes sprachhistorisches ,Geröll‘ mit sich (vgl. Graser 2008:
189ff.), z. B. erstarrte Genitivkonstruktionen (guten Mutes sein, des Kaisers
Bart, wes Geistes Kind jmd. ist etc.), unflektierte Adjektivattribute (eitel Freude,
auf gut Glück, sich bei jmd. lieb Kind machen etc.), apokopierte Formen (in Reih
und Glied, seit eh und je etc.), aber eben auch alte Dativ-e-Formen, wie nach
Hause gehen, zu Buche schlagen oder in aller Munde sein.12 In Privatbriefen des
19. Jh. fallen neben solchen ,semantischen Prägungen‘ auch ganze Passa-
gen auf, die formelhaft geprägt sind, stilistisch gehoben wirken (und auch
so intendiert sind) und gerade in ihrer Dativ-e-Verwendung (vgl. auf dem
Bildnisse, im Grabe im folgenden Auszug) stark mit Passagen kontrastieren,
in denen alltägliche Begebenheiten geschildert werden und die (regional
übliche) Apokopierungen enthalten (vgl. Woch, Wasch):
[...] ach ich weinte heiße Thränen ist es den wahr liebste Eltern daß
dieser holde Engel dieses liebe Kind nicht mehr unter Euch ist ach
wie oft habe ich ihm auf dem Bildnisse angesehen. [...] wenn ich den
Anton noch einmal sehen würde aber jetzt sein Leib er modert schon
im Grabe aber seine Seele ist aufgefahren in den Himmel wo er als
schöner Engel sitzt und für uns bittet. [...] wir waschen alle Woch
einmal und zwar am Montag bis Mittag sind wir fertig die Mutter soll
außer Sorgen sein meine Wasch ist sehr reinlich gewaschen und ge-
bückelt und genäht und geflickt ich habe wenig zerrissenes. [...]
(Brief Barbara Rueß aus Beuren bei Pfaffenhofen a. d. Roth vom
August 1868)
12 Für die Gegenwartssprache stellt Konopka (2011) fest: „Das Dativ-e ist im Bereich von
bestimmten (mehr oder weniger festen) Wortverbindungen zu Hause.“
212 Stephan Elspaß
Liebe Geschwister!
Am 17. d. erhielten wir die trauriche Nachricht. daß unser lieber, guter
Vater von seinen langen, schweren Leiden dennoch durch den Tod
erlöst wurde. Wie freuten, wir uns, als wir in dem Briefe vorher ersa-
hen, daß er wieder, nach so langer Zeit, aufstehen konnte
(Brief Otto Schwabe aus Bürgel, Thüringen vom 27. April 1890)
Wie ich in dem Briefe vernommen habe ist der Grünwald nach
[euch] da ich denk er wird sich recht Gelde ersparen und dann schrei-
ben ein Gruß an seine Frau.
(Brief Barbara Rueß aus Beuren bei Pfaffenhofen a. d. Roth vom
August 1868)
Im Sinne von Frage b) oben habe ich in einer Stichprobe 90 Briefe meines
Korpus auf ihre Dativ-e-Verwendungen hin untersucht und zwei Zählun-
gen durchgeführt: Die erste berücksichtigt alle Dativ-Fälle starker Sub-
stantive im Maskulinum und Neutrum, in der zweiten wurden die phra-
seologisch gebundenen Dative ausgenommen.
Im Ergebnis (vgl. Tab. 1) erweist sich zum einen, dass alle phraseologisch
gebundenen Dative eine e-Markierung aufwiesen. Zum anderen zeigt sich
eine klare Diskrepanz zwischen dem Anteil von e-Markierungen an der
Gesamtzahl der Dat.-Sg.-Verwendungen starker Maskulina/Neutra auf
der einen Seite und deren Anteil an der Gesamtzahl abzüglich der phrase-
ologisch gebundenen Fälle auf der anderen Seite. Rechnet man also die
Dativ-e-Vorkommen in formelhafter Sprache heraus, kommt man zu ei-
nem dem Befund von Schikorsky völlig entgegenstehenden Ergebnis:
Zwei Drittel der in Rede stehenden Dative sind flexivisch nicht markiert,
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 213
ein Drittel ist markiert.13 Selbst da, wo rhythmische Gründe eigentlich für
das Setzen eines Dativ-e sprechen, wird es oft nicht gesetzt:
Mit dem dritten Beispiel komme ich zu einem Fall (möglichen) phonologi-
schen Wandels. Seit einigen Jahren liegt ein Arbeitsbuch zur „Historischen
Sprachwissenschaft des Deutschen“ (Nübling et al. 2006) vor, das – an-
ders als etwa die meisten einbändigen Sprachgeschichten des Deutschen –
eine „Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels“ gibt.
Die Kernhypothese des Kapitels zum phonologischen Wandel des
Deutschen ist, dass sich das Deutsche von einer Silben- zu einer Wort-
13 Ein Anteil von einem Drittel e-Markierungen ist für ,geschriebene Alltagssprache‘ immer
noch hoch. Er lässt sich so begründen, dass die dem Korpus zugrunde liegenden Briefe re-
lativ nähesprachlich sind, aber eben nicht die prototypischen Nähesprachen des 19. Jh.,
nämlich die Dialekte, repräsentieren. Die Menschen des 19. Jh. verschrifteten nicht Dialek-
te, sondern schrieben in einer Schriftsprache, die sie in der Schule gelernt hatten.
214 Stephan Elspaß
Nun hat das neuhochdeutsche Wort Sprache im Onset sicher genauso viele
Konsonanten wie das althochdeutsche sprĆhha, und man könnte fragen, ob
der ,eingeschobene‘ Vokal in pereg also darauf hindeuten soll, dass die
Silbenstruktur vor dem Althochdeutschen schlechter war (was übrigens
das sichere Wissen voraussetzt, dass er erst im Althochdeutschen einge-
schoben wurde).14 Wie steht es aber mit der Aussage, dass „mehrgliedrige
Konsonantenfolgen“ im Neuhochdeutschen „keine Seltenheit“ seien?
Schon intuitiv möchte man meinen, dass etwa Cluster wie in schimpfst die
absolute Ausnahme sind (auch wenn sie zu den Standard-Lehrbuch-
beispielen für maximale Konsonantencluster in der Silbenkoda des Stan-
darddeutschen gehören). Darüber hinaus hatte ich gerade an meinen all-
tagssprachlichen Briefen des 19. Jh. die punktuelle Beobachtung gemacht,
dass – im Gegensatz zu distanzsprachlichen Texten der Zeit – eine Ver-
einfachung von Konsonantenclustern in der Koda auch verschriftet wur-
de. So kommt es zu Schreibungen wie
es ist hir schon so heiß wie es zu Hause selbs im August nicht wird
mehr wird es mich freuen wenn ich von euch selbs einen Brief be-
kommen werde (Briefe Matthias Dorgathen aus Mühlheim/Ruhr vom
15. und 26. Mai 1881)
Doch was machs Du und die lieben Kinder seid Ihr Alle noch gut zu-
frieden (Brief Karl Ludwig Lehmann aus Havelberg vom 7. Septem-
ber 1863)
Du schreibs es gefällt dir nicht ganz gut in Amerika (Brief Peter Kirst
aus Züsch bei Trier vom 4. September 1981)
16 Wenn man übrigens das Wort berüchtigtste in eine beliebige Internetsuchmaschine eingibt,
wird man mindestens genauso viele Treffer für die orthographisch falsche wie für die or-
thographisch richtige Schreibung finden.
17 Das gilt auch für andere Positionen von t in Konsonantenclustern, vgl. schon eine entspre-
chende Feststellung von Paul (1916: 326): „Verstummt, aber in der Schreibung beibehalten
ist t vor st in du hältst, fichtst, flichtst“.
216 Stephan Elspaß
18 Dazu sowie zu den Steuerungsfaktoren für die t-Apokope s. Elmentaler (2011: 66ff.); vgl.
auch schon Meinhold (1973: 109f.).
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 217
mit silb.
Silbenen- 1-fach 2-fach 3-fach Silben
offen Konson.
drand: besetzt besetzt besetzt insgesamt
1-fach bes.
Sprecher
S. 72 121 244 55 22 1
443
(Braun- 27,31% 55,08% 12,42% 4,97% 0,23%
schweig)
Sprecherin
S. 76 65 140 9 29 0
243
(Braun- 26,75% 57,61% 0,04% 0,09% 0,00%
schweig)
Sprecherin
164 262 9 32 1
S. 80 468
35,04% 55,98% 1,92% 6,84% 0,21%
(Hannover)
Sprecherin
165 306 42 74 9
S. 84 596
27,68% 51,34% 0,07% 12,42% 0,02%
(Göttingen)
Es handelt sich hier, wie gesagt, nur um vier Stichproben. Und es ist klar,
dass man noch weiter nach Types und Tokens differenzieren könnte, dass
man noch mehr Sprecher – auch aus anderen Gebieten – hinzuziehen
müsste etc. Aber eines wird doch mit einem Blick auf diese wenigen Er-
gebnisse bereits schnell deutlich: Wenn eine Silbe im gesprochenen Ge-
genwartsdeutschen geschlossen ist, dann mehrheitlich mit einfach besetz-
ter Koda; wie im Althochdeutschen können auch zweigliedrig besetzte
Silbenendränder vorkommen, und dreigliedrig besetzte Endränder sind im
Neuhochdeutschen eben nicht „keine Seltenheit“ (Szczepaniak in Nübling
et al. 2006: 23), sondern sehr wohl eine Seltenheit. Vier- oder gar fünf-
gliedrige Koda schließlich gibt es wohl nur in der Explizitlautung von
Ausspracheschulen oder Lehrbuchbeispielen. Wenn die Komplexität der
Silbenendränder im Althochdeutschen und im Neuhochdeutschen ein
Argument für den Wandel von der Silben- zur Wortsprache sein soll, dann
ist dies wohl nicht das beste Argument.
Alles in allem stellt sich der Eindruck ein, dass die Teilhypothese von
der Verschlechterung der Silbenränder nur dann trägt, wenn idealisierte
und homogenisierte phonologische Systeme eines eher nähesprachlichen
Althochdeutschen und einer eher distanzsprachlichen Standardvarietät des
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 219
Die Bedenken, die hier vorgetragen werden, zielen also im Kern auf die
dem Vergleich zugrunde liegenden Korpusdaten – genauer: auf die man-
gelnde Vergleichbarkeit der Korpora. Zunächst einmal stammen die Da-
ten, auf die sich die Hypothese stützt, aus Grammatiken; sie sind also
allenfalls vermittelte empirische Daten. Man müsste im Grunde genom-
men zunächst deren Datenbasis, deren Quellenauswahl, die Auffassung
der Grammatikschreiber von ,dem Althochdeutschen‘, ihre Kriterien für
die Aussonderung von ,Schreibfehlern‘19 etc. einer Prüfung unterziehen.
Somit haben wir auf der einen Seite eine althochdeutsche Grammatik, der
Angaben über die Silbenstrukturen des Althochdeutschen entnommen
werden, wobei das Althochdeutsche, das dort beschrieben wird, eben auf
der Grundlage von Transliterationen gesprochener Dialekte konstruiert
ist, die in keiner Weise standardisiert waren. Auf der anderen Seite werden
als Vergleichsstück Silbenstrukturen herangezogen, die auf der Grundlage
einer idealisierten Aussprachenorm nach der Schrift einer Standardsprache
beschrieben werden. Ich meine, beides ist nicht vergleichbar. Und wenn es
doch verglichen wird, so ist das Ergebnis wenig erstaunlich. Tatsächlich
müsste man zumindest für diesen Wandel – oder besser: Unterschied –
keine typologische Drift bemühen, sondern die Entstehung der neuhoch-
deutschen Standardsprache in Rechnung stellen, die ja vor allem mit so-
genannten ,sprachexternen‘ Faktoren zu tun hat (wie auch die anderen
beiden Fallbeispiele zeigten).
Nicht sehr überraschend ist dann übrigens auch die Feststellung, dass
das Schweizerdeutsche und das Luxemburgische (also eben keine bzw.
noch nicht standardisierten Sprachen!) im Gegensatz zum standardisierten
Neuhochdeutschen Silbensprachen seien und das Schweizerdeutsche so-
3. Fazit
Ich will zum Schluss auf die von mir leicht modifizierte Ausgangsfrage
dieses Bands zurückkommen und meine Plädoyers noch einmal bündeln:
Mein Beitrag versteht sich zunächst als Plädoyer für mehr korpusgelei-
tete als ,korpusgestützte‘ Ansätze in der Historischen Sprachwissenschaft.
Dies sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein – wenn sich Theo-
rien nicht ihre eigenen Wirklichkeiten schaffen wollen (vgl. König 2000).
Voraussetzung für korpusgeleitete Studien sind freilich gute Korpora.
Man könnte nun meinen, dass es für die älteren Sprachstufen, gerade für
das Althochdeutsche, nicht mehr allzu viel Neues zu entdecken gäbe.
Doch gerade Arbeiten zu althochdeutschen Glossen (besonders Grif-
felglossen) haben in letzter Zeit noch einmal – buchstäblich – vor Augen
geführt, dass dort durchaus noch nicht alles zutage gefördert ist (vgl. z. B.
Ernst/Glaser 2009). Für die neuhochdeutschen Sprachperioden stelle ich
die Forderung nach besseren und differenzierteren Korpora besonders
entschieden und nachdrücklich. Es ist im Grunde skandalös zu nennen,
dass die wahre ,Explosion‘ der Schriftproduktion und die Entstehung
eines vielfältigen Textsortenspektrums in der Neuzeit, die beide nicht
zuletzt mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Zahl der Schreiber
sowie Leser massiv zugenommen hat – dass also all dies außer Acht gelas-
sen wird, weil man etwa vorempirische Auffassungen, dass zu ,dem Neu-
hochdeutschen‘ das Wichtigste schon geschrieben sei, ungeprüft über-
nimmt und tradiert. (Ein Blick in einige der in letzter Zeit erschienenen
kurzen Sprachgeschichten des Deutschen, denen man z. T. auch vorwer-
fen kann, dass sie nur noch das kunstvolle Übernehmen und Anders-
Formulieren kultivieren, bestätigt diesen Eindruck.) Ich habe in meinem
Beitrag an drei Fallbeispielen aufzuzeigen versucht, dass eine Vernachläs-
sigung der Korpusfrage zu lückenhaften oder auch inadäquaten Beschrei-
bungen bzw. Erklärungen für die Entwicklung sprachlicher Phänomene
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 221
(vgl. dazu etwa Reiffenstein 1990 oder Milroy 1997). Für das Neuhoch-
deutsche ist eine Ausklammerung der ,äußeren‘ Sprachgeschichte jedoch
aufgrund der Standardisierungsgeschichte schlichtweg undenkbar, wenn
man ein realistischeres Bild dieser Sprachstufe(n) zeichnen will. Und gute
Korpora werden allemal benötigt, um – korpusgeleitet – Hypothesen zum
Sprachwandel in tauglicher Weise testen zu können.
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Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 225
Das Lebensstilkonzept ist seit den 1980er Jahren zum zentralen Konzept
nicht nur der deutschsprachigen Ungleichheitsforschung in der Soziologie
avanciert und hat Konzepte wie das der Klasse oder Schicht weitgehend
verdrängt (vgl. Nassehi 1998: 56f.). Diese Entwicklung korrespondiert mit
einem Wandel in der Selbstdefinition der in modernen Gesellschaften
lebenden Menschen. Sie bestimmen ihre eigene soziale Lage verstärkt über
ihre Lebensweise und immer weniger über die Selbst- oder Fremdzu-
schreibung zu einer sozialen Schicht (vgl. Hradil 2001: 46). Entscheidende
Anregungen für diesen Paradigmenwechsel erhielt die Ungleichheitsfor-
schung dabei aus der französischen Kultursoziologie Pierre Bourdieus.
Ihm zufolge erwerben die Mitglieder einer Gesellschaft im Laufe ihrer
Sozialisation ein System dauerhafter Dispositionen, die als „Erzeugungs-
und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen“ (Bourdieu
1993: 98) fungieren. Sie steuern, welche Verhaltensweisen einem Men-
schen als angemessen, welche Meinungen als akzeptabel, welche symboli-
schen Formen als geschmackvoll und welche Wissensbestände als erstre-
benswert gelten. Dieses evaluative System nennt Bourdieu den Habitus.
Geleitet von diesem wähle der Mensch aus der Reihe ihm in seiner Kultur
zur Verfügung stehender Handlungsmöglichkeiten aus und ‚entscheidet‘
sich so für einen bestimmten Lebensstil. Dabei sind in Bourdieus Theorie
die objektiven ökonomischen Möglichkeiten der entscheidende Faktor,
der die dispositive Prägung während der Sozialisation beeinflusst:
Auch in der Linguistik wird Stil als ein Set miteinander auftretender Phä-
nomene aufgefasst, die insgesamt als Indikator für soziale oder kulturelle
Bedeutung fungieren. Etwa definiert Auer (1989: 29) Stil als „Menge in-
terpretierter, kookkurrierender sprachlicher und/oder nichtsprachlicher
Merkmale, die (Gruppen/Rollen von) Personen, Textsorten, Medien etc.
zugeschrieben werden“. Den Stilkonzepten der Linguistik ist zudem ge-
meinsam, dass sie Stil als eine Dimension von Äußerungen ansehen, die
die Interpretation seitens des Rezipienten steuert, ohne zur (sprachlichen)
Primärstruktur der Äußerung zu gehören. Stil ist damit eine Art pragmati-
sche Zusatzinformation.2 Diese Bestimmung trifft auf die Textlinguistik
gleichermaßen zu wie auf die interaktionale Linguistik.
In Letzterer wurde der Terminus der Sozialstilistik der Kommunikati-
on geprägt. Im Gegensatz zum Konzept des Lebensstils, dem eine dauer-
hafte Disposition zur Wahl bestimmter expressiver Formen zugrunde
liegt, und der auch mittels nicht-transitorischer Zeichen konstituiert wird,
werden kommunikative soziale Stile aus dem kommunikativen Handeln
heraus konstruiert. Der Terminus Stil bezeichnet hier die interaktive und
daher sozial bedeutsame Art und Weise der Handlungsdurchführung. Stile
sind Zeichenensembles mit indexikalischem Wert, denn sie signalisieren,
wie das Handeln zu interpretieren ist. Sie verweisen auf Interpretations-
rahmen, die bei der Kategorisierung und Typisierung von Handlung, Kon-
text und Interaktionspartner zur Anwendung kommen (vgl. Selting 1997:
12). Sprecher verfügen über ein mehr oder weniger großes Repertoire
kommunikativer sozialer Stile, aus dem sie je nach Situation oder kommu-
nikativem Bedürfnis wählen können. In Sprechstilen sind Phänomene aus
so unterschiedlichen linguistischen Subsystemen wie Rhetorik, Lexiko-
Semantik, Syntax, Phonetik-Phonologie und Prosodie gebündelt. Den-
noch werden sie von Rezipienten holistisch, d. h. ganzheitlich wahrge-
nommen und funktional interpretiert. D. h. das sprachliche Merkmals-
bündel wird intuitiv als Index für einen Interpretationsrahmen aufgefasst
(vgl. Selting 1997: 14).
2 Vgl. hierzu Fix (1987: 133). Fix (1996: 310) deÀniert, dabei Sandig (1995: 28) zuspitzend:
„Funktion von Stil wäre also, kurzgefaßt, ein ‚Was‘ durch ein ‚Wie‘ im Hinblick auf ein
‚Wozu‘ auszudrücken“. Vgl. zudem Heinemann (2009: 1616).
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 231
Die Korpuslinguistik ist eine zentrale Methode der Linguistik. Sie wird
dazu benutzt, für fast alle Bereiche sprachwissenschaftlicher Forschung
Daten zu konservieren, zu strukturieren und gezielt zu analysieren. War
die Korpuslinguistik zunächst vor allem eine zentrale Methode der Lexi-
ko- und Grammatikographie, ist sie inzwischen auch aus dem Methoden-
repertoire von Sozio- und Gesprächslinguistik, von Pragma- und Diskurs-
linguistik nicht mehr wegzudenken. Während die Korpuslinguistik in der
systemorientierten Linguistik die Funktion hat, wiederkehrende Muster
des Sprachgebrauchs zu identifizieren, die dann als Regularitäten oder
Gebrauchsnormen gedeutet werden, werden in den kultur- und sozialwis-
232 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth
Zwar gilt die Korpuslinguistik als keine Subdisziplin der Linguistik son-
dern als eine Methode, aber korpuslinguistisches Arbeiten folgt einer eige-
nen Logik und generiert einen Denkstil, der viele Bereiche der Sprachwis-
senschaft nachhaltig verändert. Am ehesten der Vorstellung von Korpus-
linguistik als einer Methode entspricht das corpus-based-Paradigma. Digitale
Korpora dienen demnach der Überprüfung von Forschungshypothesen.
Die Hypothesen, die unabhängig von der Analyse des Korpus entwickelt
4 Vgl. für eine ausführliche Diskussion von corpus-based und corpus-driven-Ansätzen Bubenho-
fer (2009: 99ff.). Das corpus-driven-Paradigma war bereits bei Sinclair (1991) angedacht und
wird bei Tognini-Bonelli (2001: 65ff.) explizit gemacht. Im deutschsprachigen Raum ver-
folgen z. B. Arbeiten von Kathrin Steyer (Steyer 2004, Steyer/Lauer 2007, Steyer/Brunner
2009) dieses Paradigma, die auf Konzepten und Methoden von Cyril Belica, Rainer Per-
kuhn, Holger Keibel und Marc Kupietz fußen (vgl. Belica 1996, Belica 2001, Perkuhn/Beli-
ca 2006).
234 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth
Schon aus theoretischen Erwägungen heraus ist der Text die grundlegende
Analyseeinheit der Stilanalyse. Fix (2009: 1312) erklärt die Wechselbezie-
hung von Stil und Text wie folgt:
Die Betrachtung von Musterhaftigkeit im Stil ist von der Musterhaftigkeit der
Texte nicht zu trennen. Dies bedeutet einerseits, dass es Stil nur im Textzusam-
menhang gibt und sprachliche Mittel außerhalb des Textes stilistisch nicht einge-
ordnet werden können, und andererseits, dass die reale Existenz eines
Textexemplars auch vom Vorhandensein eines einheitlichen Stils abhängt. Ohne
diesen sind Textmusterbezogenheit und Textualität eines Textes nicht zu erken-
nen. (Fix 2009: 1312, vgl. auch Fix 2005)
Wenn sich Stil in der Selektion einer Variante von paradigmatischen Al-
ternativen ausdrückt,5 dann können diese Alternativen durch Stilvergleiche
5 Hockett (1958: 556) formuliert diesen Gedanken anschaulich wie folgt: „Roughly speaking,
two utterances in the same language which convey approximately the same information,
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 235
sichtbar gemacht werden. So schlägt Fix (1991) auch das Verfahren des
Vergleichs vor, um Elemente eines Stils in Texten zu erfassen. Denn die
Kombination von „Wie“ und „Wozu“ zeige sich im Unikalen des Textes
erst im Vergleich mit dem Überindividuellen. Jeder Text ist unikal, verfügt
jedoch über einen Stil, der sich an überindividuellen Erfahrungen orien-
tiert. Durch den Vergleich des Textes mit einem „individuellen Kon-
strukt“ (Fix 1991: 142), das sich aus der Lektüreerfahrung ergibt, kann das
Überindividuelle des Textes erfasst werden (vgl. auch Fix 1991: 145).
In automatisierten Verfahren wird das individuelle Konstrukt, das sich
bei Fix aus der Lektüreerfahrung ergibt und das als Maß für die Abwei-
chung bzw. Kohärenz eines Textes mit seinen Co-Texten dient, durch die
Berechnung der Verteilung aller in einem Korpus enthaltenen Muster
ersetzt. Die Lektüreerfahrung wird damit also durch ein statistisches Maß
objektiviert. Unsere operationale Definition von Stil lautet daher: Stil ist in
korpuslinguistischer Perspektive eine Menge sprachlicher Muster, durch
die sich eine Menge an Texten durch eine andere Menge von Texten signi-
fikant unterscheidet.
Das von Fix beschriebene Verfahren der intuitiven Bestimmung von
Stil ist in datengeleiteter Perspektive einer sehr komplexen Clusteranalyse
vergleichbar, in der alle in einem Korpus vorkommenden Muster Variab-
len sind, die potentiell zur Gruppierung der Texte des Korpus in mehr
oder weniger diskrete Gruppen beitragen. Unsere Methode zur Identifizie-
rung sprachlicher Muster mit stilistischer Ladung ist im Hinblick auf die
benötigte Rechenleistung zwar geringer, aber dennoch anspruchsvoll. Zur
Identifizierung stilistisch relevanter Muster schlagen wir die Methode des
datengeleiteten Korpusvergleichs vor: Für in pragmatischer Hinsicht je
kohärente Korpora werden jeweils datengeleitet Sprachgebrauchsmuster
berechnet; im Anschluss wird anhand von Signifikanztests geprüft, welche
der errechneten Muster typisch für die jeweiligen Korpora sind. Da die
Korpora sich im Hinblick auf bestimmte außersprachliche Merkmale un-
terscheiden, können jene Muster, die für ein Korpus signifikant sind, als
Ausdruck jener außersprachlichen Merkmale gedeutet werden, durch die
sich das betreffende Korpus von den Vergleichskorpora unterscheidet.
Anders als bei einer Clusteranalyse geben wir also die Gruppierung der
Texte vor, beziehen aber ebenso wie in der Clusteranalyse sämtliche Mus-
ter beider Korpora als Variablen in die Analyse ein.
Es ist offensichtlich, dass der Wahl der Korpora bei unserer Methode
zentrale Bedeutung zukommt. Die Korpora sollten stets so gewählt sein,
dass ausschließlich die durch die Forschungsfrage vorgegebene Variable
but which are different in their linguistic structure, can be said to differ in style: ,He came
soon‘ and ,He arrived prematurely‘.“
236 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth
Es gibt eine Tradition quantitativer Verfahren der Stilanalyse, bei der for-
male Aspekte wie Silbenzahl pro Wort, Wort- und Satzlängen, Wortfol-
gen, Satzgliedtypen, Wortklassen und generell lexikalisches Material be-
rücksichtigt werden (vgl. Spillner 2009: 1758f.). Auch auf morphologischer
Ebene, z. B. was die Wortbildung betrifft, finden sich messbare formale
Aspekte (vgl. Handler 2009). Grundlage sind Korpusvergleiche zwischen
dem stilistisch zu untersuchenden Text und einem repräsentativen Ver-
gleichskorpus, um Frequenzen der genannten formalen Phänomene mit-
einander vergleichen zu können.7
Solche quantitative Analysen formaler Besonderheiten eines Textes
haben den Nachteil, viele stilbestimmende Ebenen zu ignorieren und vor
allem das Zusammenspiel mehrerer Faktoren zu wenig zu berücksichtigen.
Dennoch knüpfen wir an die Idee an, messbare linguistische Elemente als
grundlegende Analyseeinheiten zu wählen und mit statistischen Verfahren
zu eruieren, welche Kombinationen von Einheiten für einen Text oder ein
Korpus in Kontrast zu Vergleichskorpora typisch sind.
Wir halten es dabei nicht für sinnvoll, einen Purismus der Oberfläche
zu praktizieren. Die von unserer Forschergruppe semtracks entwickelte
Stilanalyse bezieht Oberflächenphänomene auf der Ebene der Wortfor-
men und Satzzeichen ebenso mit ein, wie weitergehend interpretative
linguistische Kategorien. Zudem erscheint uns eine Beschränkung auf
Unigramme, d. h. auf Muster, die nur aus einem Element bestehen, nicht
sinnvoll, da bei Unigrammanalysen die Kontextspezifik der Verwendung
von Lexemen nicht berücksichtigt wird. Die Gefahr, dass der pragmati-
sche Wert eines Wortgebrauchs nicht erfasst wird, ist bei diesem Verfah-
ren besonders groß. Unser Vorgehen lässt sich vielmehr als komplexe n-
Gramm-Analyse beschreiben.
n-Gramme sind Einheiten, die aus n Elementen bestehen. Normaler-
weise werden n-Gramme als Folge von Wortformen verstanden. Im Rah-
men einer n-Gramm-Analyse werden alle im Korpus vorkommenden n-
Gramme berechnet, wobei bestimmte Parameter wie Länge der Mehrwor-
teinheit (aus zwei, drei oder mehr Wörtern bestehend) oder Spannweite
(sind Lücken zwischen den Wörtern erlaubt?) festgelegt werden (vgl. Bu-
benhofer 2009: 149ff.). Die von unserer Forschergruppe entwickelte n-
Gramm-Analyse betrachtet jedoch nicht nur Wortformen als Einheiten,
sondern auch weitere interpretative linguistische Kategorien. Dies können
zum einen Elemente sein, die sich auf die Tokenebene beziehen und die
Wortform funktional oder semantisch deuten (als Repräsentant einer
Wortart oder als Teil einer semantischen Klasse); zum anderen aber auch
Elemente, die über die Tokenebene hinausgreifen, etwa das Tempus oder
die Modalität einer Äußerung (direkte vs. indirekte Rede).
Welche Elemente in die Analyse miteinbezogen werden, hängt einer-
seits von der jeweiligen Forschungsfrage ab, andererseits forschungsprak-
tisch auch davon, welche Ressourcen für die Annotation des Korpus zur
Verfügung stehen. Bei standardsprachlichen Korpora können Lemma-
und Wortarteninformationen durch Tagger wie den TreeTagger leicht und
effizient annotiert werden. Eine Wortformenfolge wie Ich glaube, dass hat
dann in einem XML-annotierten Korpus etwa folgende Form:
Berechnet man nun beispielsweise Tetragramme, die nicht nur die Wort-
formen, sondern auch Lemmata und Wortarteninformationen als weitere
Elemente mit einbeziehen, dann ergeben sich bei drei Dimensionen 34=81
Vier-Einheiten-Kombinationsmöglichkeiten:
Jedes der Tetragramme, das sich in einem der beiden Korpora findet,
kann nun als eine Variable aufgefasst werden, durch die sich die beiden
Korpora potenziell stilistisch unterscheiden. Es ist dann eine stilistisch
relevante Variable, wenn sie in einem der beiden Korpora signifikant häu-
figer vorkommt als im Vergleichskorpus. Zur Berechnung der Signifikanz
des Frequenzunterschieds benutzen wir den Log-Likelihood-Test (Man-
ning/Schütze 2002, 174).
Durch die freie Verfügbarkeit von Taggern hat die eben skizzierte Be-
rechnungsmethode das Potenzial, als eine Art Standardmethode der
Stilanalyse zu gelten. Reichere Ergebnisse sind freilich zu erwarten, wenn
zusätzliche Elemente in die n-Gramm-Analyse einbezogen werden. Diese
können einerseits wissensbasiert generiert werden, z. B. die Valenz von
Verben anhand von Valenzlexika oder die Zugehörigkeit eines Lexems zu
einem Wortfeld anhand der Bestimmungen von Dornseiff (2004), ande-
rerseits können aber auch anhand datengeleiteter Analysen selbstständig
relevante Kategorien aufgespürt und definiert werden. Insbesondere auf
der Tokenebene ist dieses Verfahren in effizienter Weise durchführbar.
Der einfachste Zugang zu linguistischen Spezifika der Teilkorpora auf
der Tokenebene ist die Berechnung von typischen Lexemen. Es werden
dabei für zwei Teilkorpora jeweils Frequenzlisten aller vorkommenden
Lexeme berechnet. In vielen Fällen ist es sinnvoll, Listen gesondert nach
den Wortarteninformationen zu berechnen. Anschließend wird pro Le-
xem die Vorkommenshäufigkeit in den beiden Teilkorpora verglichen und
die Signifikanz des Frequenzunterschieds berechnet. Das Resultat sind
nach Signifikanzwert geordnete Listen von Lexemen, die jeweils für das
eine Teilkorpus im Vergleich zum anderen Teilkorpus typisch sind.
In einem weiteren Schritt können die typischsten Lexeme in sog.
Wortwolken visualisiert werden, wobei die Typik des Lexems durch die
Größe des abgebildeten Lexems dargestellt wird. Dies erlaubt einen ra-
schen Überblick über die lexikalische Spezifik der Teilkorpora. Dieses
Hilfsmittel kann dazu eingesetzt werden, weitere semantische oder funkti-
onale Wortklassen zu identifizieren, die im Anschluss im Korpus annotiert
werden.8 Auf diese Weise kann die Klassenzugehörigkeit eines Tokens
bzw. die jeweilige Dimension der Klasse, die das Token repräsentiert, zum
Element von n-Grammen und somit zu einem Bestandteil des Stils wer-
den.
Diese recht abstrakte Darstellung unserer Methode der Stilanalyse soll
im Folgenden anhand einer exemplarischen Analyse zu unterschiedlichen
3. Das GerMov-Korpus
Die Untersuchungen werden anhand des GerMov-Korpus, einem Korpus
zur gesprochenen und geschriebenen Sprache der 68er-Bewegung durch-
geführt. Das Korpus wurde im Rahmen einer umfangreichen Studie zum
Einfluss von 68er-Bewegung und Alternativmilieu auf die Kommunikati-
onsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland erstellt (vgl. Scharloth
2010). Bei der Erstellung des Korpus und seiner Subkorpora waren zu-
nächst außersprachliche Gesichtspunkte, in einem zweiten Schritt textlin-
guistische Überlegungen leitend.
3.1.2 Textauswahl
Tonbandprotokolle Flugblätter
Hedonistisches 27.736 13.703
Selbstverwirklichungs- (21 Protokolle) (42 Texte)
milieu
Linksintellektuelles Milieu 32.143 57.803
(8 Protokolle) (109 Texte)
3.3 Annotation
10 Es handelt sich um ein Korpus, das aus sämtlichen thematischen Strängen des Schweizer
Online-Diskussionsforums polittalk.ch aus den Jahren 2005-2008 besteht und rund
630.000 laufende Wortformen umfasst.
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 245
Abb. 1
246 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth
Frequenz Links-
Muster LLR p
Kommunen intellektuelle
, PDS VVFIN PPER ADV 11 0 12.99 0.0001
, dann VVFIN PPER ADV 11 0 12.99 0.0001
, PPER VAFIN ADV 14 1 10.79 0.0005
ADV
$. ADV , KOUS PPER 10 0 11.80 0.0003
ADV , PPER VAFIN 10 0 11.80 0.0003
ADV
, ADV VMFIN PPER 10 0 11.80 0.0003
ADV
, PPER VVFIN ADV , 10 0 11.80 0.0003
, KOUS PPER PRF ADV 10 0 11.80 0.0003
ADV , PDS VAFIN ADV 9 0 10.62 0.0005
, ADV VVFIN PPER 19 4 7.64 0.0031
ADV
$. PPER VVFIN ADV 8 0 9.44 0.0010
nicht
, KON PDS VAFIN ADV 8 0 9.44 0.0010
ADV VMFIN PPER ADV 8 0 9.44 0.0010
ADV
PDS VVFIN PPER ADV 8 0 9.44 0.0010
ADV
, ich VVFIN ADV , 8 0 9.44 0.0010
KON PPER VAFIN ADV 8 0 9.44 0.0010
ADV
, PPER VVFIN ADV nicht 8 0 9.44 0.0010
, KON PDS VAFIN ADV 8 0 9.44 0.0010
, KON KOUS PPER ADV 13 2 6.80 0.0051
, PDS VAFIN ADV ADV 13 2 6.80 0.0051
... oder gefolgt von einem Hilfsverb am Anfang eines Gliedsatzes ...
, PDS VAFIN ADV ADV , das war gar nicht
LLR: 6.797, p: 0.0051 , das ist wie so
, das ist ja wieder
, das ist ja nicht
, der ist doch schon
Häufig finden sie sich auch nach vom Tagger als Adverbien klassifizierten
Diskurspartikeln, offenbar häufig am Beginn eines Turns.
$. ADV $, PDS VAFIN . Hier , das ist
LLR: 7.72, p: 0.003 . Ja , das ist
. Also , die ist
. Nein , das ist
? Ja , das sind
Das Pronomen verweist hier nicht auf vorher Gesagtes, sondern wird
durch einen anschließenden Relativsatz erläutert. Die kontextsensitive
Analyse zeigt also, dass die Verwendung substituierender Demonstrativ-
pronomen in diesem Subkorpus eine andere Funktion hat, als im Subkor-
pus mit Texten des hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieus.
Ebenfalls als Indikator für konzeptionelle Mündlichkeit kann die Rea-
lisierung einer konditionalen Relation mit der Konjunktion dann gelten, die
ebenfalls ein signifikantes Mustern des Kommune-Subkorpus ist. In kon-
zeptionell schriftlichen Texten wäre eher zu erwarten, dass die konditiona-
le Relation durch Verberststellung im nachgestellten Hauptsatz realisiert
würde. Die Konjunktion dann wird sowohl in Verbindung mit Voll- und
Hilfsverben ...
, dann VVFIN PPER ADV , dann liegt es doch
LLR: 12.99, p: 0.0001 , dann hätten wir auch
, dann gehen wir jetzt
, dann würden wir quasi
, dann wird sie vielleicht
Dass Stilanalysen erst durch den Vergleich an Profil gewinnen, dafür ist
Tab. 5, die die 20 nicht-inklusiven Muster mit den höchsten Signifikanz-
werten des Subkorpus linksintellektuelles Milieu des GerMov-Tonband-
protokollekorpus enthält, ein eindrucksvoller Beleg.
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 251
Frequenz Links-
Muster LLR p
Kommunen intellektuelle
NN APPR ART ADJA NN 2 70 97.19 <0.0001
ART NN ART ADJA NN 1 61 89.51 <0.0001
APPR ART NN ART NN 10 65 57.93 <0.0001
ART ADJA NN ART NN 3 49 59.78 <0.0001
ADJA NN APPR ART NN 7 48 43.89 <0.0001
APPR ART NN ART ADJA 0 28 45.24 <0.0001
NN ART NN APPR ART 0 27 43.63 <0.0001
ART NN APPR ART ADJA 1 29 39.27 <0.0001
APPR ART ADJA NN ART 0 26 42.01 <0.0001
ADJA NN ART ADJA NN 1 27 36.18 <0.0001
ADJA NN APPR ART ADJA 1 27 36.18 <0.0001
ART ADJA NN APPR ART 6 35 29.50 <0.0001
ADV APPR ART NN ART 0 22 35.55 <0.0001
ART NN ART NN APPR 2 26 29.96 <0.0001
NN ART NN ART NN 2 25 28.50 <0.0001
ART NN und ART NN 1 22 28.50 <0.0001
APPR ART NN , PRELS 5 30 25.67 <0.0001
ART ADJA NN ART ADJA 0 19 30.70 <0.0001
ART NN ART NN ART 1 21 26.98 <0.0001
, KOUS ART NN ART 4 26 23.17 <0.0001
Fast immer ist dabei bei einer Folge von Nominalgruppen die zweite
durch ein Genitivattribut realisiert, wie das folgende Musters illustriert:
ART ADJA NN ART NN den status quo der Ordinarienprivilegien
252 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth
Ein weiteres Muster mit hoher Spezifik besteht sogar aus drei aufeinander
folgenden Präpositional- und/oder Nominalgruppen:
NN ART NN ART NN Form des Studentenproteste der Hochschulre-
LLR: 28.5, p: <0.0001 volte
Willen der Mehrheit der Hochschullehrer
Teilen des SDS das Prinzip
Rest des Semesters die Tätigkeit
Situation der Handelnden den Aktionsmöglich-
keiten
Der Grad der Spezifik und die Frequenz dieser Mustertypen verweist auf
eine grundlegende stilistische Differenz zwischen den beiden Korpora.
Während das Korpus der Kommuneprotokolle durch konzeptionelle
Mündlichkeit geprägt ist, scheint das Korpus im linksintellektuellen Milieu
eher von Mustern durchwirkt, die gewöhnlich als Indikatoren für Nomi-
nalstil beschrieben werden. Hierfür lassen sich weitere Belege anführen.
So finden sich im Korpus mit Protokollen aus dem linksintellektuellen
Milieu auch häufiger Muster, die auf eine hohe Frequenz passivischer
Formulierungen schließen lassen. Beispielsweise Muster im Perfekt ...
NN VVPP VVPP VAFIN $. Universität lahmgelegt worden wäre .
LLR: 6.46, p: 0.0062 Pferdestall angezündet worden ist .
Weg fotografiert worden sind .
Presse rezipiert worden ist ?
Qualität erreicht worden ist .
So verdichtet sich für das Korpus mit Protokollen aus dem linksintellektu-
ellen Milieu das Bild von einem nominalen szientistischen Stil, der sich
allerdings durch einige Spezifika vom wissenschaftlichen Diskurs unter-
scheidet.
An erster Stelle ist hier die Verwendung von Kampfvokabular zu nen-
nen. So lassen sich im Linksintellektuellenkorpus 14 signifikante Muster,
die Schlagwörter enthalten, auf die Verwendung von Kampfvokabular
zurückführen, etwa wie im Fall des folgenden Musters:
ART NN_KAMPF APPR ART der Angriff bei der Polizei
NN die Auseinandersetzung auf dem Tegeler
LLR: 16.16, p: <0.0001 den Aktionen vor dem Landgericht
die Aktion vor dem Landgericht
den Auseinandersetzungen in der Osnabrücker
Daneben ist eine relativ starke normative Prägung der Protokolle zu er-
kennen, was an der Zahl von signifikanten Mustern mit Modalverben
ablesbar ist. Solche Muster sind etwa Satzanfänge mit einem Personalpro-
nomen und einem Modalverb ...
254 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth
... oder Konstatierungen eines Imperativs mit müssen nach einem Hecken-
ausdruck:
Ich VVFIN , PPER VMFIN Ich finde , wir müssen
LLR: 6.46, p: 0.006 Ich meine , wir müssen
Ich glaube , wir müssen
gemeinsame Muster), waren es gerade einmal zwei Muster (0,007 %), die
beim hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu übereinstimmten. Die
konzeptionelle Mündlichkeit blieb beim Wechsel in ein anderes Medium
nicht in gleicher Weise erhalten. Betrachtet man hingegen die im Folgen-
den aufgelisteten übereinstimmenden Muster von Flugblatt- und Ton-
bandprotokollekorpus aus dem linksintellektuellen Milieu, so zeigt sich,
dass die Indikatoren für Nominalstil im Mündlichen wie im Schriftlichen
stilprägend sind:
Eine genauere Analyse jener Muster, die im Flugblattkorpus für das hedo-
nistische Selbstverwirklichungsmilieu signifikant sind, lässt aber auch hier
Indikatoren erkennen, die sich im Sinne der rekonstruierten stilistischen
Dimension der konzeptionellen Mündlichkeit deuten lassen – sie haben
jedoch eine andere sprachliche Form.
256 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth
5. Fazit
Die Stilanalyse zu den milieuspezifischen Kommunikationsstilen während
der 68er-Bewegung konnte hier nur skizzenhaft durchgeführt werden. Sie
belegt aber dennoch das große Potenzial der vorgestellten Methode, die
Kategorie Stil über eine subjektive Leseerfahrung hinaus messbar zu ma-
chen. Die Methode des Korpusvergleichs von im Hinblick auf außer-
sprachliche Kriterien gezielt variierenden Korpora stellt sicher, dass die
errechneten Muster eine pragmatische Ladung haben. Sie zeigt auch, dass
die Zusammenstellung ausgewogener Korpora eine entscheidende Grund-
lage für valide Ergebnisse ist. Dies bedarf einer gründlichen Kenntnis der
Ergebnisse sozial- und kulturgeschichtlicher Forschung. Sind die Bedin-
gungen für einen datengeleiteten Korpusvergleich erfüllt, kann das Stil-
konzept eine wertvolle Ergänzung des kategorialen Rüstzeugs der sozio-
pragmatischen Sprachgeschichte sein.
Literatur
Auer, Peter (1989): Natürlichkeit und Stil. In: Hinnenkamp, Volker/Sel-
ting, Margret (Hrsg.): Stil und Stilisierung. Arbeiten zur interpretativen
Soziolinguistik. Tübingen: Niemeyer, 27–60.
Belica, Cyril (1996): Analysis of temporal changes in corpora. In: Interna-
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Biedermann, Reinhard (1969): Die deutschen Gradadverbien. Heidelberg:
[Dissertation] Universität Heidelberg.
Bierwisch, Manfred (1987): Semantik der Graduierung. Grammatische
und konzeptuelle Aspekte von Dimensionsadjektiven. In: Bierwisch,
Manfred/Lang, Ewald (Hrsg.): Grammatische und konzeptuelle As-
pekte von Dimensionsadjektiven. Berlin: Akademie-Verlag, 91–286.
Bourdieu, Pierre (1993): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft.
Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Bubenhofer, Noah (2006): Einführung in die Korpuslinguistik. Praktische
Grundlagen und Werkzeuge. http://www.bubenhofer.com/
korpuslinguistik/
Bubenhofer, Noah (2009): Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als
Methode der Diskurs- und Kulturanalyse. Berlin/New York: de Gruy-
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Bubenhofer, Noah et al. (Forschergruppe semtracks) (2009): „So etwas
wie eine Botschaft“. Korpuslinguistische Analysen der Bundestagswahl
2009. In: Sprachreport 25.4, 2–10.
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 257
Die Alpen.
Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik –
Kulturanalyse
Albrecht von Hallers Gedicht Die Alpen, aus dem diese Strophe stammt
(Haller 1729/1882: 34), gilt als Paradebeispiel für die idealisierende Dar-
stellung des alpinen Raumes,1 die sich im 18. Jh. durchsetzt. Nachdem die
Alpen seit der Antike zwar nicht nur, jedoch vorwiegend als abstoßendes,
grauenerregendes geographisches Gebiet in der Literatur präsentiert wor-
den sind,2 wird im 18. Jh. eine positive Sicht auf die Alpen dominant,3 eine
Bewunderung, die in neuartige ästhetische, zivilisationskritisch-politische,
aber auch naturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit den Alpen in-
tegriert ist.4 Hallers Gedicht, das die neue Faszination durch die Alpen
1 Vgl. Weiss (1933: 21, 31f., 83), Woŭniakowski (1987: 247f.), Raymond (1993: 12ff.), Strem-
low (1998: 66ff.), Hentschel (2002b: 45), Hackl (2004: 59).
2 Vgl. Weiss (1933: 50f.), Woŭniakowski (1987: 224), Bätzing (2003: 13), Raymond (1993:
61), Stremlow (1998: 6, 40), Hackl (2004: 23).
3 Vgl. Weiss (1933: 49, 145f.), Woŭniakowski (1987: 216), Bätzing (2003: 14), Raymond
(1993: 1, 72), Stremlow (1998: 274f.). Hackl (2004: 25) weist darauf hin, dass man „im Hu-
manismus und in der Renaissance nach und nach die Alpen anders wahrzunehmen“ be-
gann, so dass es „zu einem lange anhaltenden Nebeneinander von Abwertung und vor-
sichtiger Bewunderung kam“. Ähnliches beobachtet Bätzing (2003: 14). Mathieu (2005)
diskutiert die bisherige Periodisierung der dominierenden Sicht auf die Alpen ausführlich.
4 Vgl. Bätzing (2003: 14, 17), Raymond (1993: 1f.), Stremlow (1998: 52, 59, 62), Gisi (2000:
92), Stockinger (2000: 162), Hackl (2004: 30, 33).
264 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter
1. Methodische Prämissen
Unsere exemplarische Untersuchung alpiner Texte zum Zwecke eines
methodischen Erkenntnisgewinns geht von zwei zusammengehörigen
Prämissen aus. Beide Annahmen sind keineswegs neu: Sie sind, wenn
auch teilweise etwas anders formuliert, innerhalb der Sprachwissenschaft
in den letzten Jahren vor allem in Publikationen zur linguistischen Dis-
kursanalyse oder Diskurslinguistik ,nach Foucault‘7 anzutreffen und fin-
den sich im Kern ex- oder implizit ebenso in literaturwissenschaftlichen
Untersuchungen literarischer Berg- oder Alpendarstellungen, die ein – wie
wir es nennen würden – kulturanalytisch-mentalitätsgeschichtliches Inte-
resse verfolgen.8
Wir gehen erstens davon aus, dass Sprachgebrauchsmuster in Äuße-
rungen zu einem bestimmten Thema (z. B. den Alpen) die diesbezügliche
Mentalität der gesellschaftlichen Gruppen (etwa der Mitglieder des
5 Vgl. Weiss (1933: 21, 31f., 83), Woŭniakowski (1987: 244, 248), Raymond (1993: 13f.),
Stremlow (1998: 62f., 72), Hentschel (2002b: 47f.), Hackl (2004: 211).
6 Für neuere Monographien und Sammelbände vgl. etwa Raymond (1993), Günther (1998),
Stremlow (1998), Hentschel (2002a), Hackl (2004), Mathieu/Boscani Leoni (2005). Für
eine ältere umfangreichere Arbeit vgl. exemplarisch Weiss (1933).
7 Vgl. z. B. Hermanns (1995: 91), Böke (2005: 218), Gardt (2007: 30), Wengeler (2007: 184).
8 Vgl. exemplarisch Raymond (1993: 120), Stremlow (1998: 13, 16), Hackl (2004: 15, 18,
21f.).
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 265
9 Die Reflexion ist allerdings nicht als zwangsläufige 1:1-Abbildung zu denken; welche Art
der Reflexion genau zu vermuten ist, lässt sich nur im Einzelfall durch quellenkritische
Überlegungen eruieren.
10 Hier gilt Entsprechendes: Wie man sich den Einfluss im Detail vorzustellen hat, kann
allein unter Bezug auf die gewählten Quellen ermittelt werden.
11 In einem Aufsatz von 1995 definiert Hermanns: „Eine Mentalität im Sinne der Mentalitäts-
geschichte ist [...]: 1) die Gesamtheit von 2) Gewohnheiten bzw. Dispositionen 3) des
Denkens und 4) des Fühlens und 5) des Wollens oder Sollens in 6) sozialen Gruppen“
(Hermanns 1995: 77).
12 Für eine umfassendere Diskussion des Musterbegriffs, die allerdings zu einer etwas abwei-
chenden Bestimmung führt, vgl. Bubenhofer (2009: 18ff.).
266 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter
2. Korpuslinguistisches Potenzial
Zwei Aspekte unserer Definition von Sprachgebrauchsmuster oben erweisen
sich als besonders fruchtbar für eine korpuslinguistische Herangehens-
weise:
13 Natürlich ist kein sprachliches Element ‚einfach so‘ auf der Textoberfläche fassbar. Bereits
die Tokenisierung entscheidet darüber, wo eine Wortgrenze liegt. Und weitere Annotatio-
nen wie Wortart- und Lemmainformationen basieren auf linguistischer Interpretation.
Trotzdem handelt es sich für ein Computerprogramm bei einem annotierten Text um ein
Datum, dessen Elemente einfach erfassbar und deren Verteilung im Korpus oder deren
Korrelationen miteinander berechnet werden können.
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 267
14 Vgl. für eine ausführliche Diskussion von corpus-based- und corpus-driven-Ansätzen Bubenho-
fer (2009: 99ff.). Das corpus-driven-Paradigma war bereits bei Sinclair (1991) angedacht und
wird bei Tognini-Bonelli (2001: 65ff.) explizit gemacht. Im deutschsprachigen Raum ver-
folgen z. B. Arbeiten von Kathrin Steyer (Steyer 2004, Steyer/Lauer 2007, Steyer/Brunner
2009) dieses Paradigma, die auf Konzepten und Methoden von Cyril Belica und Rainer
Perkuhn fußen (Belica 1996, Belica 2001–2007, Perkuhn/Belica 2006).
15 Vgl. für eine ausführliche Darstellung dieser Termini und Methoden Bubenhofer (2009:
111ff.) bzw. Manning/Schütze (2002: 151, 192ff.).
16 Detailliertere Beschreibungen der semtracks-Matrixanalyse finden sich in Bubenhofer/
Scharloth in diesem Band, Bubenhofer et al. (2009), Bubenhofer/Scharloth (2010) und
Scharloth/Bubenhofer (2012).
268 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter
Der Schweizer Alpenclub (SAC) wurde 1863 kurz nach dem British
Alpine Club gegründet und entwickelte sich, ähnlich wie die anderen
Alpenvereine, von einem kleinen Zirkel von Bergsteigern zu einem gro-
ßen Dienstleistungsverein für breite Schichten von Bergbegeisterten. Von
1864 bis heute gibt es die kontinuierliche Publikationsreihe Jahrbuch des
Schweizer Alpenclub, später Die Alpen, in der über die Tätigkeiten der Club-
mitglieder und andere Themen im Bereich Berge, Bergsport, Natur und
Kultur im alpinen Raum berichtet wird.17
Das Projekt „Text+Berg digital“ an der Universität Zürich setzte sich
zum Ziel, diese Publikationsreihe komplett zu digitalisieren und als Kor-
pus aufzubereiten.18 Inzwischen umfasst das Korpus die Bände von 1864
bis 2009 und weist etwa 35 Mio. Wörter auf, was etwa 87.000 Buchseiten
entspricht.19
Die Publikationsreihe ist für diachrone Untersuchungen besonders in-
teressant, da sie lückenlos über knapp 150 Jahre besteht und bezüglich der
vorkommenden Themen und Textsorten – etwa Tourenberichten, biogra-
phischen Artikeln, philosophischen Essays, Protokollen und Finanzbe-
richten des Vereins – relativ homogen ist.
17 Die Beiträge zum Jahrbuch des Schweizer Alpenclub und zu den Alpen betreffen nicht nur die
Alpen, sondern auch andere Gebirge. In den untersuchten Jahrgängen (s. u.) dominiert die
Beschäftigung mit den Alpen jedoch stark.
18 Informationen zum Projekt sind auf der Website http://www.textberg.ch verfügbar. Fer-
ner informieren Volk et al. (2009) und Volk et al. (2010) über computerlinguistische Hin-
tergründe des Projekts.
19 Vgl. Bubenhofer et al. (2011).
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 269
Das ganze Korpus steht in einer XML-Version zur Verfügung, in der Ar-
tikelgrenzen und Metainformationen erfasst und zudem Wortarten- und
Lemma-Informationen annotiert sind.20 Die Texte wurden mittels OCR-
Software maschinell erkannt, was jedoch kein fehlerfreier Prozess ist. Die
Texte wurden vollständig mit halbautomatischen Methoden und teilweise
zusätzlich manuell korrigiert, trotzdem ist mit Erkennungsfehlern zu rech-
nen. Sie sollten bei den großen Textmengen jedoch nicht ins Gewicht
fallen.
20 Das Korpus wurde mit Hilfe des „TreeTaggers“ (Schmid 1994) und den standardmäßig
verfügbaren deutschen Trainingsdaten, die auf dem STTS-Tagset (Schiller et al. 1995) be-
ruhen, annotiert.
270 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter
Die Tabellen sind nach Signifikanz geordnet: Je weiter oben ein Nomen
steht, desto stärker weicht dessen relative Frequenz im einen Korpus im
Vergleich zum anderen ab. Weiter sind die absoluten Frequenzen und der
relative Frequenzunterschied (Chi-Quadrat) angegeben, damit zwischen
Lexemen unterschieden werden kann, die zwar in beiden Teilkorpora vor-
kommen, jedoch einen signifikanten Frequenzunterschied aufweisen, und
Lexemen, die nur im einen oder anderen Korpus vorkommen.
Im Kontrast zur früheren Phase fallen bei der Epoche 1930–1949 so-
fort eine Reihe von Lexemen aus dem Wortschatz des Seelenlebens und
der Gefühle auf: Seele, Erlebnis, Herz, Erleben, Freude, Gefühl, Sehnsucht, Liebe,
Glück, Einsamkeit, Mut, Empfinden, Gemüt etc. In Lexemen wie Leben, Schön-
heit, Wunder, Geheimnis, Menschlein, Romantik, Erfüllung, Unendlichkeit, Gott
und Glaube scheint ein religiös-romantisches Verhältnis des Menschen zur
Natur anzuklingen. Personenbezeichnungen wie Kamerad, Freund und Berg-
kamerad betonen die soziale Verbundenheit und Gemeinschaft der Alpi-
nisten. Ski, Haken, Lawine, Überhang, Seillänge oder Steigeisen verweisen auf
neue Fortbewegungsarten, Betätigungsfelder und Techniken bei Berg-
touren. In der früheren Epoche verwendete Lexeme wie Itinerar, Studie
bzw. Studium, Erkundigung, Reisebericht, Zeitangabe, Annahme und Beobachtung
lassen andere, explorativere Formen des Alpinismus vermuten. Auffallend
ist auch, dass Führer und Clubist stark zurückgegangen sind und Alpinist,
Bergsteiger und Bergführer zugenommen haben. Dies könnte auf veränderte
Funktionen, Selbst- und Fremdbilder der Akteure zurückgeführt werden.
Bei den anderen Wortarten zeigen sich keine derart großen Auffällig-
keiten, mit Ausnahme der Personal-, Possessiv- und Reflexivpronomen:
Generell werden im neueren Korpus signifikant mehr von diesen Prono-
men verwendet, 31 statt 25 pro 1000 Wortformen, wofür sich mehr Deu-
tungen anbieten als für die Frequenzunterschiede bei einzelnen Pronomen
(vgl. Tab. 3 und 4).
Tab. 5: Auswahl komplexer n-Gramme, die für das Korpus A (1880–1899) typisch sind
Typische komplexe Beispiele Kategorie
n-Gramme für Korpus A
(1880–1899)
ADJA23 Stunde ADJA (NN) halben Stunde angenehmer Steigung Zeitangaben
halbe Stunde steilen Anstieges
halbe Stunde langem Zeitaufwand
halben Stunde weiteren Weges
halbe Stunde langer
ADV APPR CARD NN schon um 9 Uhr 30 Zeitangaben
CARD circa um 1 Uhr 30
selbst um 12 Uhr 10
ADV APPR CARD Uhr bereits um vier Uhr
Endlich gegen 9 Uhr
ADV erreichten PPER ART endlich erreichten wir den Aaresattel Zeitangaben
NN (Bald) nachher erreichten wir den
Guggistafel
Nun erreichten wir das Gebiet (des
Kalkfelsens)
VVFIN APPR CARD Uhr stiegen um 12 Uhr Zeitangaben
erreichten um 2 Uhr
verließen um 3 Uhr
an der ADJA NN des an der linken Seite des Wegbeschreibung
an der rechten Seite des
an der anderen Seite des
an der breiten Wand des
APPR ART Nähe ART NN in der Nähe des Gipfels Wegbeschreibung
in der Nähe der Grenze
in der Nähe des Muttensees
ADJA Weg APPR ART NN alten Weg über den Feegletscher Wegbeschreibung
anderen Weg auf das Gabelhorn
ausgetretenen Weg durch den
Moränenschutt
APPR ART Führer NE NE mit den Führern Alois Pinggera Gebrauch Führer
neben dem Führer Alphons
Supersaxo
Dr. NE NE Dr. Emil Burckhardt Akademische Titel
APPR Prof. Dr. NE NE von Prof. Dr. K. Schulz
von Prof. Dr. G. Meyer
23 Vgl. für die Abkürzungen der Wortarten das STTS-Tagset (Schiller et al. 1995). Die oben
genannten Tags sind: ADJA (attributives Adjektiv); ADJD (adverbiales oder prädikatives
Adjektiv); ADV (Adverb); APPR (Präposition, Zirkumposition links); ART (Artikel);
CARD (Kardinalzahl); KOUS (unterordnende Konjunktion mit Satz); KOKOM (Ver-
gleichskonjunktion); NN (Nomen); NE (Eigennamen); PPER (irreflexives Personalprono-
men); PPOSAT (attribuierendes Possesivpronomen); VVFIN (finites Vollverb).
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 275
Tabelle 6: Auswahl komplexer n-Gramme, die für das Korpus B (1930–1949) typisch sind
Typische komplexe Beispiele Kategorie
n-Gramme für Korpus B
(1930–1949)
CARD NN ADJA NN 7700 m hohem Gipfel Höhen(unter-
5400 m hohen Sasirpass schieds)angaben
3000 m hohe Nordwestflanke
ADV KOKOM CARD Meter mehr als 1000 Meter Höhen(unter-
mehr als hundert Meter schieds)angaben
dann VVFIN ART NN dann kündete die Gipfelglocke Erzählender Stil
dann geschieht das Wunder
dann VVFIN ART ADJA dann folgt ein heikler
dann VVFIN PPER auf dann standen wir auf (dem kühnen
Gipfel)
KOUS PPER APPR ART Wie ich in den Riss einstieg Erzählender Stil
NN VVFIN als wir in der Gabel anlangten
Bevor wir in das Couloir
hinübersteigen
KOUS PPER ART NN während wir der Hütte zustrebten
VVFIN während wir die Steigeisen ablegten
Als wir die Passhöhe erreichten
ADV VVFIN ART ADJA Draussen erwachte ein neuer Tag. Erzählender Stil
NN . Dann kam ein trüber Tag.
Nun naht das schwierigste Stück.
ADV VVFIN PPER VVINF So lasst uns eilen Erzählender Stil
jetzt heisst es handeln
Schönheit ART NN Schönheit der/unserer Berge/ Formulierung von
Schönheit PPOSAT NN Heimat/Alpen/Natur/Landschaft/ Urteilen/Affekten
ADJA Schönheit Landschaftliche/besondere/grenzen- Formulierung von
lose/verborgene/unendliche/wilde/ Urteilen/Affekten
natürliche/winterliche/einzigartige/
alpine/überwältigende/eigenartige/
unsagbare/grosse Schönheit
ADJA Bewunderung ästhetischen/hohen/ehrfürchtigen Formulierung von
Bewunderung Urteilen/Affekten
ADJA Empfinden feinem/wahrsten/schweizerischen
Empfinden
ADJA Enttäuschung grosse/bittere/gewisser/schwere
Enttäuschung
276 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter
Wie Abb. 1 zeigt, werden insgesamt im älteren Korpus etwas mehr Inten-
sivierer verwendet als im jüngeren. Dies geht allerdings nur auf den Ge-
brauch von Intensivierern der hohen und gemäßigten Gradstufe zurück.
In den anderen Graduierungsbereichen werden im jüngeren Korpus mehr
Intensivierer verwendet. Die Frequenzunterschiede sind für die Bereiche
absolut, extrem hoch und hoch mit p < 0,001 hochsignifikant, für den Bereich
approximativ mit p < 0,05 signifikant.
Die unterschiedlichen Frequenzen der Intensivierer lassen sich nicht
leicht deuten. Man könnte aber die verstärkte Verwendung von Intensivie-
rern im absoluten und extrem hohen Graduierungsbereich als weiteres,
wenn auch schwaches Indiz dafür ansehen, dass persönliche Einschätzun-
gen im jüngeren Korpus von besonderer Bedeutung sind.
18
16
14
Frequenz pro 1000 Tokens
12
10 Korpus A
8 Korpus B
6
4
2
0
26 Vergleichbar damit beobachtet Stremlow (1998: 278f., vgl. 265), in „Magazinen einzelner
Aktivsportarten“ des späten 20. Jh., dass die „Landschaft der Alpen“ dort „zur Steigerung
des Ich-Erlebnisses funktionalisiert“ werde. Dass die „postmoderne Freizeitgesellschaft“
die Alpen als „Sportgerät zur Auslösung von körperlichen Erlebnissen“ auffasst, bemerkt
auch Bätzing (2003: 19, vgl. 18).
27 Günther (1998: 13, vgl. auch 161), die sich in ihrer Studie des „bürgerlichen Alpinismus
(1870–1930)“ stark auf die Schriften des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins
(DÖAV) stützt, spricht dementsprechend davon, dass „der Entdeckeralpinismus [um die
Jahrhundertwende] vom Schwierigkeitsalpinismus abgelöst wird“. Zur bildungsbürger-
lichen und naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Alpenvereine im 19. Jh. vgl. Günther
(1998: 48, 50f.), Hackl (2004: 38). Bezüglich der Zunahme sportlicher Interessen an den
Alpen vgl. Günther (1998: 151), Stremlow (1998: 142).
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 279
28 Zum Zeitpunkt und zu den Auswirkungen der weitgehenden Erschlossenheit der Alpen
vgl. Günther (1998: 161), Stremlow (1998: 130).
29 Vgl. Bätzing (2003: 145), Stremlow (1998: 130f., 184).
30 Dazu, dass eine ausgereifte alpine Führer- und Kartenliteratur in der zweiten Hälfte des
19. Jh. noch fehlt bzw. erst entsteht, vgl. Günther (1998: 50), Hackl (2004: 25).
280 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter
[2] Um 11 Uhr 40 Min. waren wir oben auf der Cima di Rosso, hatten somit für
eine Strecke von 240 m bei ca. 51° Steigung eine halbe Stunde gebraucht. (Jahr-
buch 1893–1894: 161)
[3] Die Höhe des Col Lombard (auf der Karte nicht angegeben) beträgt nach
meiner Messung 3100 m (Prof. Schulz fand 3090). Um 8½ Uhr wagen wir den
Aufbruch. Zwei Couloirs führen in die Höhe; wir verfolgen, wie die Herren
Schulz und Genossen, dasjenige zur Linken und gelangen ohne sonderliche
Schwierigkeiten auf den großen Grat, den die Aiguille d’Arves nach Südosten
entsendet. Um 9 Uhr 40 Min. sind wir in der Scharte. (Jahrbuch 1890–1891: 168)
[2] Das einzige, was bleibt: über die plattige Flanke die obere Scharte mit Hilfe
der Seilenden gewinnen. Von hier aus können wir das Seil wieder in freier Luft
strecken und entwirren. So gut es mir mein labiles Gleichgewicht erlaubt, werfe
ich mein Gewicht an ein Seilende; doch es tut keinen Wank. (Die Alpen 1944:
295)
[3] Fest sauge ich mich am Fels, hangele und spreize in die senkrechte Wand hi-
naus, 10, 20 m weit. Der Riss hört auf. Ich halte mich mit einer Hand am winzi-
gen Griff und schlage einen Haken. Die Füsse haben nur die Adhäsion der Klet-
terschuhe. Dann schnappt der Karabiner. (Die Alpen 1936: 405)
4. Methodisches Fazit
Im Anschluss an unsere punktuelle Untersuchung des Jahrbuchs des Schwei-
zer Alpenclub und seines publizistischen Nachfolgers Die Alpen lässt sich
der mögliche Beitrag der Korpuslinguistik zur Erforschung von Sprachge-
brauchsgeschichte aus einem kulturanalytisch-mentalitätsgeschichtlichen
Interesse heraus folgendermaßen einschätzen:
31 Für die vorliegende Untersuchung wurden nicht alle bereits verfügbaren Annotationen ge-
nutzt. So könnten z. B. Informationen zur Textgestalt (Titel, Untertitel, Legenden) oder
zur Grammatik (Syntax, Tempusformen etc.) in die Recherchen allgemein oder insbeson-
dere die Berechnung von komplexen n-Grammen integriert werden.
282 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter
Quellen
Bubenhofer, Noah/Volk, Martin/Althaus, Adrian/Jitca, Magdalena/Ban-
gerter, Maya/Sennrich, Rico (2011) (Hrsg.): Text+Berg-Korpus (Re-
lease 145). Digitale Edition des Jahrbuch des SAC 1864–1923 und Die
Alpen 1925–2009. Institut für Computerlinguistik, Universität Zürich.
http://www.textberg.ch
Die Alpen. Monatsschrift des Schweizer Alpenclub 6–25 (1930–1949).
Haller, Albrecht von ([1729]1882): Die Alpen. In: Haller, Albrecht von:
Gedichte. Hrsg. von Ludwig Hirzel. Frauenfeld: Huber, 20–42.
Jahrbuch des Schweizer Alpenclub 16–35 (1880-1881–1899-1900).
Forschungsliteratur
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europäischen Kulturlandschaft. 2., aktualisierte und neu konzipierte
Auflage. München: Beck.
Belica, Cyril/Steyer, Kathrin (2008): Korpusanalytische Zugänge zu
sprachlichem Usus. In: Vachková, Marie (Hrsg.): Beiträge zur bilingu-
alen Lexikographie. Prag: Univerzita Karlova, Filozofická Fakulta, 7–
24.
Belica, Cyril (2001–2007): Kookkurrenzdatenbank CCDB. Eine korpuslin-
guistische Denk- und Experimentierplattform für die Erforschung
und theoretische Begründung von systemisch-strukturellen Eigen-
schaften von Kohäsionsrelationen zwischen den Konstituenten des
284 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter
2 Im Alltag scheint eher ein robuster Realismus vorzuherrschen: Wir gehen davon aus, dass
wir, unbeschadet der Möglichkeit des Irrtums, sehr wohl die Welt in ihrer ontischen Ver-
fasstheit erkennen und beschreiben, objektiv wahre Aussagen über sie formulieren können.
Eine permanente Relativierung unseres Erkenntnisvermögens und der Kategorien unserer
Beschreibung der Welt würde uns sogar der Möglichkeit berauben, den Alltag problemlos
zu bewältigen.
Sprachgeschichte als Kulturgeschichte 291
ben, warum er den Mount Everest besteigen wolle. Die Antwort klingt gut
und evoziert Bilder vom radikal individualistischen Forscher, der auf ei-
nem einsamen Berggipfel in seinem Labor oder Arbeitszimmer sitzt und
dabei ist, ex ovo den neuen Menschen zu erschaffen. Aber wie auch Mallo-
rys Antwort in ihrem imperialen britischen Gestus durchaus charakteris-
tisch für seine Zeit war, sind auch unsere Antworten charakteristisch für
unsere Zeit.
Wenn man nun nach den Gründen für die Diversifizierung in Gegen-
stand, Theorie und Methode in der Historischen Sprachwissenschaft fragt,
gerät man schnell in den Bereich des Spekulativen. Die folgenden Ausfüh-
rungen sind daher nicht als Bericht über sicher Gewusstes zu verstehen,
sondern als Vermutungen. Dass Disziplinen Anregungen ‚von außen‘
erhalten können, ist bekannt. In der auf das Deutsche bezogenen Sprach-
wissenschaft kann man dabei bis weit vor das 19. Jh. zurückgehen. Die
Gründe, wieso es etwa in der späteren Frühen Neuzeit zur Herausbildung
einer deutschsprachigen Grammatiko- und Lexikographie kam, sind ge-
sellschaftlicher Natur. Sie hängen zusammen mit der Veränderung der
politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse, mit dem damit ein-
hergehenden Schwund des Einflusses des Lateinischen, mit der Entste-
hung eines modernen Wissenschaftsbegriffs, der veränderten Medienland-
schaft und anderen Faktoren. Die Orientierung an den Naturwissenschaf-
ten und das sich damit verschiebende Erkenntnisideal wiederum lassen
sich seit den Junggrammatikern als ein maßgeblicher Grund für das spezi-
fische Arbeiten verschiedener Ausprägungen der Sprachwissenschaft ins
Feld führen. Dieser Einfluss der Naturwissenschaften hält bis in die Ge-
genwart an, wie zuletzt das Aufkommen kognitivistischer Ansätze zeigt.
Daneben gibt es Einflüsse eher politischer Natur. So entspricht der
Betonung einer gesamteuropäischen Perspektive in der Politik der letzten
Jahre die Hinwendung zu einer europäischen Perspektive auch in Teilen
der Sprachwissenschaft.3 Dabei sind, jedenfalls in den Geisteswissenschaf-
ten, diese Einflüsse in aller Regel nicht als irgendwie geartete Anweisun-
gen zu verstehen, Forschung in einer bestimmten Wiese und zu einem
bestimmten Thema zu betreiben. Vielmehr liegen Themen aus den unter-
schiedlichsten Gründen sozusagen ‚in der Luft‘, und die Wissenschaft
greift sie – zum Teil sicher unbewusst – auf.
3 Für die Historische Sprachwissenschaft sei hier lediglich auf Konzepte einer europäischen
Sprachgeschichtsschreibung verwiesen (z.B. Reichmann 2002), für die gegenwartsorientier-
te Sprachwissenschaft auf das IDS-Projekt „Grammatik des Deutschen im europäischen
Vergleich“, die europäischen Bemühungen um den Schutz kleinerer Sprachen oder die the-
matische Ausrichtung des Deutschen Germanistentags 2010, „Deutsche Sprache und Lite-
ratur im europäischen Kontext“.
292 Andreas Gardt
4 Ihr sei idealtypisch eine struktur- oder auch systemorientierte Sprachwissenschaft gegenüberge-
stellt. Idealtypisch ist die Gegenüberstellung deshalb, weil auch eine auf das System gerich-
tete Sprachwissenschaft ein letztlich pragmatisches Anliegen verfolgen kann und umge-
kehrt eine pragmatische Sprachwissenschaft sich immer auch auf Systemdaten beziehen
wird.
5 Man denke an die zahlreichen Arbeiten zur Sprache des Nationalsozialismus, in denen sich
Sprachkritik von Gesellschaftskritik kaum trennen lässt, etwa an das auch in der Sprach-
wissenschaft viel zitierte Wörterbuch des Unmenschen (1957) von Dolf Sternberger, Gerhard
Storz und Wilhelm Süskind.
Sprachgeschichte als Kulturgeschichte 293
6 Zu Letzterem wäre als Stichwort z. B. die Konzeption einer „Sprachgeschichte von unten“
zu nennen (Elspaß 2005), zu Ersterem die Einbeziehung der Konzepte von konzeptionel-
ler Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit in die sprachhistorische Arbeit, wie sie z. B. in Vilmos
Ágels Projekt einer Neuhochdeutschen Grammatik begegnet (Ágel/Hennig 2006a, b).
294 Andreas Gardt
Augen hält. Ein Beleg soll hier für viele stehen, die Internetseite der
„Graduate Group in Cultural Studies“ der University of California in Da-
vis:
Die Graduate Group in Cultural Studies an der University of California in Davis bie-
tet einen interdisziplinären Ansatz für das Studium von Kultur und Gesellschaft,
der verdeutlicht, wie Sexualität, Abstammung, Staatsbürgerschaft, Geschlecht
[gender], Nationalität, Klasse und Sprache manifeste Identitäten, soziale Bezie-
hungen und kulturelle Objekte strukturieren. Unser Studiengang […] betont das
Ineinandergreifen der Analyse dieser Faktoren, in Bezug zur Formierung lokaler
Gemeinschaften, zu Transnationalismus, Post-/Neo-Kolonialismus und Globali-
sierung. Der Studiengang bezieht Dozenten aus einem breiten Spektrum von
Disziplinen und wissenschaftlichen Interessen ein und greift so über die Grenzen
der Geisteswissenschaften, Gesellschaftswissenschaften, Rechtswissenschaften,
Agrarwissenschaften und der Umweltforschung hinaus.8
Die metawissenschaftlichen Probleme, d. h. die Theorien und Methoden haben die ob-
jektwissenschaftlichen Probleme, d. h. die Gegenstände, vielfach in den Hintergrund ge-
rückt. […] Im Vordergrund stehen oft nicht mehr objektwissenschaftliche Prob-
leme, die man zu lösen beabsichtigt, sondern die Methoden und Konzepte, die
immer weiter verfeinert und immer wieder neu entworfen werden. Die objektwis-
senschaftlichen Probleme bzw. die Daten sind nicht selten nur noch da, um an
ihnen die Funktionsfähigkeit von neuen Theorien und Methoden zu erproben.
(Maitz 2006: 8, Hervorhebungen im Original)
Das klingt ein wenig nach Endzeitstimmung und so, als würden die hier
gemeinten Wissenschaftler nicht wie wuchtige Dinosaurier, die in die neue
Zeit nicht mehr passen, zugrunde gehen, sondern eher wie Gelehrte, die
auf den weichen Kissen ihrer Professuren in intellektueller Dekadenz
dahinsiechen, in immer dünner werdenden Lüften des Denkens die Welt
aus dem Blick verlieren, um schließlich nur noch mit brechenden Stim-
men Wörter wie „Oralität“ und „Foucault“ zu hauchen. Aber: Fand bei
wissenschaftlichen Umbrüchen nicht zunächst immer eine intensive Theo-
rie- und Methodendiskussion statt, bevor sich die Forschung dann konso-
lidierte und sich wieder vermehrt ‚den Gegenständen‘ zuwandte?
Betrachtet man die Diversifikation in der Historischen Sprachwissen-
schaft schließlich unter einem institutionellen Gesichtspunkt, dann lässt
sich ein weiterer Gedanke anführen. Die Zunahme an Theorien, Metho-
den und Gegenständen der Untersuchung sieht auf den ersten Blick wie
eine Vergrößerung des Fachs aus (und hier kann man vom Fach als Gan-
zem sprechen, da die erwähnte Diversifizierung nicht nur für die Histori-
sche Sprachwissenschaft gilt). Ebenso gut kann man aber eine Reduktion
erkennen. Je stärker interdisziplinär gearbeitet wird, je mehr z. B. Germa-
nisten Fragen nachgehen, die die Themen von Vertretern anderer Philolo-
gien, auch von Historikern und Sozialwissenschaftlern berühren, desto
stärker werden die Geisteswissenschaften institutionell als eine Art ‚Pool‘
wahrgenommen, aus dem heraus sich schon Wissenschaftler finden lassen,
die die anstehenden Fragen behandeln. Ein Wissenschaftler ist dann für
vieles da, und vielleicht bräuchte man insgesamt weniger (und könnte die
frei gewordenen Stellen anderen Wissenschaften zuweisen). Diese Gefahr
wäre in der Tat denkbar. Ein Blick in die aktuellen Curricula der germanis-
tischen Abteilungen amerikanischer Universitäten zeigt die interdisziplinä-
re Entwicklung. So werden in Harvard unter anderem angeboten:9
– „Peter Pan, J.M. Barrie, and the Literary Culture of Childhood“
– „Nazi Cinema: Fantasy Production in the Third Reich“
– „The Ethics of Atheism: Marx, Nietzsche, Freud“.
9 http://isites.harvard.edu/icb/icb.do?keyword=k4326&pageid=icb.page18840 (11.8.2009).
Sprachgeschichte als Kulturgeschichte 297
In Yale:10
– „Confidence Games“, ein Seminar über Fälschungen in Kunst,
Film und Literatur; berücksichtigt werden: Orson Welles, Clifford
Irving, Elmyr d’Hory, Goethe, Schiller, Melville, Thomas Mann,
André Gide, James Frey, Dostoyevsky, Ben Stiller;
– „Theatricality in Film“, berücksichtigt werden Texte von Arn-
heim, Bazin, Bateson, Barthes, Bell, Butler, Cavell, Egginton,
Fried, Mitry; außerdem Filme von von Sternberg, Bergman, Hit-
chcock, Fassbinder, Haneke, Pabst, Wilder, Greenaway, von
Trier, Kiarostami, Kubrick;
– „Narrating Risk and Contingency“, ein Seminar über Literatur
und Wahrscheinlichkeitsphilosophie; berücksichtigt werden Texte
von Defoe, Wieland, Voltaire, Goethe, Schiller, Kleist, E.T.A.
Hofmann, Poe.
Die negative Interpretation dieses Sachverhalts wäre also, dass die ‚Verkul-
turwissenschaftlichung‘ der Geisteswissenschaften letztlich (wohl unbe-
wusster) Ausdruck der Beschneidung ihres universitären Umfangs ist, ge-
tragen von einem utilitaristischen Kosten-Nutzen-Denken, das in der heu-
tigen Zeit den Gewinn der Geisteswissenschaften nicht mehr so erkennt
wie zuvor. Alles Kulturelle wird in einen Topf geworfen, die Disziplinen
nähern sich einander an, verlieren ihre bislang klaren Konturen und büßen
an Präsenz an den Universitäten ein.
Die positive Interpretation wäre freilich, dass die Diversifizierung in
Theorien, Methoden und Gegenständen nun einmal Ausdruck einer sich
wandelnden Wahrnehmung unserer Welt ist. Die neueren Spielarten der
Sprachwissenschaft beantworten eben andere Fragen auf andere Art und
Weise, Fragen, die nicht minder interessant sind als die früheren und viel-
leicht sogar unserer Zeit besonders angemessen.
An diese letzten Sätze möchte ich im Folgenden anknüpfen, um auf
einige Vorzüge einer kulturbezogen arbeitenden Sprachgeschichtsfor-
schung hinzuweisen. Dieser Hinweis ist nicht gegen andere Formen der
Sprachgeschichtsforschung gerichtet, er will lediglich den eigenen Stand-
punkt stark machen.
Da als Begründung für die Beschäftigung mit kulturellen Zusammen-
hängen die Feststellungen „Weil sie mich interessieren“ oder „Weil es sie
gibt“ nicht ausreichen, will ich einen Grund nennen, der über die bereits
angeführten Vermutungen hinausgeht: Eine kulturbezogen arbeitende
Sprachwissenschaft wird dem ontischen Ort der Sprache in besonderer
Weise gerecht, da sie in einer zentralen Funktion von Sprache angelegt ist.
Betrachtet man Äußerungen zu den Funktionen von Sprache in der Ge-
10 http://www.yale.edu/german/courses.html (11.8.2009).
298 Andreas Gardt
Literaturverzeichnis
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Distanz. Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten 1650–2000.
Tübingen: Niemeyer.
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sprechens. In: Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (Hrsg.) (2006), 3–31.
Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (2006b): Praxis des Nähe- und Distanz-
sprechens. In: Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (Hrsg.) (2006), 33-74.
Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in
den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Elspaß, Stephan (2005): Sprachgeschichte von unten. Untersuchungen
zum geschriebenen Alltagsdeutsch im 19. Jahrhundert. Tübingen: Nie-
meyer.
Engelmann, Jan (Hrsg.) (1999): Die kleinen Unterschiede: Der Cultural-
Studies-Reader. Frankfurt: Campus.
Paul Feyerabend (1975): Against Method. Outline of an Anarchistic Theo-
ry of Knowledge. London: New Left Books.
Gardt, Andreas (1995): Die zwei Funktionen von Sprache: kommunikativ
und sprecherzentriert. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 23,
153–171
Geertz, Clifford (1996): Welt in Stücken: Kultur und Politik am Ende des
20. Jahrhunderts. Wien: Passagen.
Lash, Scott (2007): Power after Hegemony: Cultural Studies in Mutation?
In: Theory, Culture, and Society 24.3, 55–78.
300 Andreas Gardt
1. Zielsetzung
Der vorliegende Beitrag soll einen Überblick über jene Forschungsrich-
tungen und -tendenzen geben, die es sich – aus Gründen, die ich aufzei-
gen werde – in den historischen und diachronen Forschungen der Finno-
ugristik in der Zukunft in besonderer Weise zu verfolgen lohnt. Zu
diesem Zweck ist es sinnvoll, auch über die bisher nachweisbaren Ten-
denzen (nicht: die de facto geleistete Arbeit1) zu berichten, um aufzuzeigen,
warum gerade die nachfolgend präsentierten Tendenzen als primär einge-
stuft werden. Auch soll kritisch hinterfragt werden, warum derzeit ein
gewisses Abschwächen in den historischen und diachronen Forschungen
zu verspüren ist – gar nicht so sehr, was die Quantität, sondern vielmehr,
was die Forschungsmethode anbelangt. Voranstellen möchte ich, dass der
vorliegende Beitrag weder nach einer vollständigen Analyse strebt, noch
eine wissenschaftshistorische Darstellung sein will; vielmehr sollen darin
skizzenhaft Informationen über bestimmte Entwicklungen und die mögli-
che Zukunft einer Disziplin vermittelt werden.
Zum Aufbau: In Abschnitt 1 werden zunächst einige grundlegende
Informationen zur soziolinguistischen Situation der uralischen Sprachen
gegeben. Daran schließt sich in Abschnitt 2 eine kurze Zusammenfassung
der Anfänge der historisch-vergleichenden Forschungen und deren Re-
zeption durch die finnougristischen Forschungen des 20. Jh. an. In Ab-
schnitt 3 werden die wichtigsten Ergebnisse dieser Forschungen aufge-
führt, auch wird darauf hingewiesen, wo die Forschungslücken liegen und
warum sie entstanden sind. In Abschnitt 4 werden abschließend einige
Aspekte genannt, die in zukünftigen Forschungen beachtet werden sollen.
1 Aus Platzgründen verzichte ich an dieser Stelle auf ein ausführliches Verzeichnis der ein-
schlägigen Fachliteratur sowie deren Kommentierung.
302 Marianne Bakró-Nagy
2 Die Bezeichnung uralische Sprachen/uralische Sprachfamilie ist ein Dachbegriff für die finno-
ugrischen und samojedischen Sprachen; die sprachwissenschaftliche Disziplin, die sich mit
diesen Sprachen befasst, wird hier, der Tradition entsprechend, Finnougristik genannt. Seit
einigen Jahren werden in der Fachliteratur zur Bezeichnung der uralischen Sprachen ver-
mehrt auch die Eigenbezeichnungen der jeweiligen Sprechergruppen verwendet (z. B. wird für
das Ostjakische die Bezeichnung Chantisch, für das Wogulische die Bezeichnung Mansisch usw.).
Da ich aber in diesem Beitrag vorwiegend auf Fachliteratur verweise, die noch die traditio-
nellen Bezeichnungen verwendet, halte ich mich an diese älteren Bezeichnungen (eine
Ausnahme bilden das Lappische~Samische bzw. das Jurak-Samojedische~Nenzische).
3 Eine Aufzählung der uralischen Sprachen ist leicht erreichbar z. B. unter http://www.
helsinki.fi/~tasalmin/fu.html oder http://www.helsinki.fi/~tasalmin/samoyed.html. Zu
den samischen Sprachen s. Sammallahti (1998), zu den Samojeden s. Janhunen (1998).
4 Zur Orientierung verweise ich hier nur auf eine der vielen möglichen Quellen: http://
www.ethnologue.com/show_family.asp?subid=1109-16.
Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik 303
Mehrheit der Sprecher der uralischen Sprachen stellen aber die Ungarn,
Finnen und Esten, die innerhalb ihrer nationalen Staatsgrenzen leben5.
Was die schriftliche Überlieferung der uralischen Sprachen betrifft,
kann das Ungarische auf die längste Schrifttradition zurückblicken (seit
dem 12. Jh.); die Anfänge der syrjänischen Schriftlichkeit reichen ins
14. Jh. zurück. Die Mehrheit der kleineren uralischen Sprachen verfügte
vor dem 20. Jh. nicht über ein eigenes Schrifttum, sodass der frühere
Sprachzustand der Sprachfamilie nur durch Rekonstruktion erschlossen
werden kann.
Das Maß, in dem einige der in Europa gesprochenen kleineren sami-
schen und ostseefinnischen Sprachen sowie sämtliche uralische Sprachen
in Russland gefährdet sind, ist unterschiedlich. Die Ursachen ihrer Ge-
fährdung waren in den verschiedenen historischen Epochen bzw. je nach
den politischen Verhältnissen anders – und sie sind es teilweise auch heute
noch. Eine der Hauptursachen dieser Situation kann heute für die am
meisten gefährdeten samojedischen und obugrischen Sprachen wie folgt
dargestellt werden (zu ethnischen, sprachlichen und kulturellen Fragen im
Zusammenhang mit den uralischen Sprachen s. z. B. Taagepera 1996,
Fryer-Lallukka 2001 auch mit weiteren Hinweisen):
5 Zu der geographischen Verbreitung der uralischen Sprachen bzw. zu einer Art der Anord-
nung des Stammbaumes vgl. folgende, leicht zugängliche Internetadressen: http://en.
wikipedia.org/wiki/File:Fenno-Ugrian_people.png, http://en.wikipedia.org/wiki/File:
UralicTree.svg. Der Verweis auf diese Quellen bedeutet allerdings nicht, dass ich mit den
Darstellungen völlig einverstanden bin.
304 Marianne Bakró-Nagy
In den frühen Jahrzehnten des 20. Jh. bestand das Hauptanliegen der
sprachwissenschaftlichen Untersuchungen in der Finnougristik darin, den
Ursprung der finnougrischen Sprachen mit junggrammatischen, positivis-
tischen Methoden zu beschreiben. Die Anwendung der jung-
grammatischen Methoden, die junggrammatische ‚Sammeltätigkeit‘, er-
möglichte systematische lauthistorische Forschungen. Da aber die Erfor-
schung der Lautgeschichte die Grundlage der etymologischen
Forschungen bildet – auf den bekannten, im Grunde genommen zirkulä-
ren Zusammenhang zwischen den beiden wird hier nicht eingegangen –,
führte die immer intensivere Beschäftigung mit der Lautgeschichte
schließlich dazu, die frühesten Behauptungen der Etymologie zu überprü-
fen. Dadurch war die Basis für die späteren, groß angelegten etymologi-
schen Wörterbücher der zweiten Hälfte des 20. Jh. geschaffen.7
Ohne Übertreibung kann konstatiert werden, dass die zweite Hälfte
des 20. Jh. bis zu den 1980er Jahren die Blütezeit der sprachwissenschaftli-
chen Forschungen in der Finnougristik war. In diesem Zeitraum erschie-
7 Eine allgemeine Übersicht über die Lexikographie der uralischen Sprachen bis zu den 80er
Jahren des 20. Jh. findet sich in Abandolo (1991), Bakos (1991), Korhonen (1991), Korho-
nen/Schellbach-Kopra (1991) und Raun (1991).
306 Marianne Bakró-Nagy
8 Der wissenschaftshistorische Aufsatz von Wickmann (1988) zeigt die einzelnen Stufen
dieser Entwicklung durch die Auflistung der Werke der einzelnen Forscher.
9 Es fragt sich allerdings, wie weit diese Ergebnisse bekannt geworden sind, und es macht
nachdenklich, dass ein so repräsentativer Sammelband wie der von Philip Baldi (1990) her-
ausgegebene Band Linguistic change and reconstruction methodology jeweils ein aus mehreren Bei-
trägen bestehendes Kapitel den Indianersprachen in Amerika, den afro-asiatischen, den
austronesischen, den australischen, altaischen und natürlich den indoeuropäischen Spra-
chen widmet, die finno-ugrischen Sprachen aber im Band nicht repräsentiert sind. (Ebenso
war die Lage auch in der vorausgegangenen Konferenz, deren Vorträge für den Band bear-
Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik 307
beitet wurden.) Für diesen Umstand ist sicherlich nicht der – mit Recht – hoch geachtete
Herausgeber des Bandes verantwortlich.
10 Für die wissenschaftsgeschichtlichen Hinweise bedanke ich mich bei Enikŋ Szíj.
11 Salminens (2009) Aufsatz über die Geschichte der finnischen Finnougrischen Gesellschaft
(Suomalais-Ugrilainen Seura) und deren russische Beziehungen in der Zeit von 1880 bis zu
den 1940er Jahren beinhaltet wichtige Informationen auch in dieser Hinsicht (s. insbeson-
dere S. 235–242).
12 Die einzige Kontaktmöglichkeit war eigentlich der Besuch des Herzen-Instituts in Lenin-
grad, wo die begabten Vertreter der sibirischen Ureinwohner eine pädagogische Hoch-
schulausbildung absolvieren konnten. Hier konnten die Sammler Muttersprachler als Ge-
währsleute finden und dieser Chance hat man sich auch bedient. Durch diese persönlichen
Kontakte kam es auch dazu, dass manche Gewährsleute zu hervorragenden Ethnographen
oder Sprachwissenschaftlern geworden sind, wie z. B. der Komi Vasilij Iljitsch Lytkin
(1895–1981) oder die Wogulin Evdokiya Ivanovna Rombandeeva (1928–).
308 Marianne Bakró-Nagy
13 Dies kann leicht nachvollzogen werden anhand der Arbeiten von Sinor (1988) und Abon-
dolo (1998), die eine gute Übersicht auch über die wichtigsten Merkmale der uralischen
Sprachen bieten (Abondolo 1998 auch aus historischer Sicht).
310 Marianne Bakró-Nagy
4.2 Exkurs
(1a) ungarisch
vér [we:r]
(1b) ostjakisch
wÖr [wÖr]
wer [wur]
(1c) wogulisch
TJý üwr [ywr]
K LO So wiǔr [wiǔr]
P wƗr [wy:r]
VN LU Ɨr [y:r]
lang ist, in den anderen Formen kurz. Die Lautstruktur der wogulischen
Formen kann wie folgt systematisiert werden:
(C)VCC (C)V:C
üwr [ywr] wƗr [wy:r]
wiγr [wiǔr] Ɨr [y:r]
Abb. 1: Die Lautstruktur der wogulischen Wörter mit der Bedeutung ‘Blut’
könnte für das obige Problem – und für eine Reihe anderer Probleme – in
der Tat eine plausible Erklärung gegeben werden. In unserem Fall könnte
diese Erklärung folgendermaßen lauten: Im Gegensatz zu der obigen Re-
konstruktion könnte auch für das Protowogulische eine Form *wîr ange-
nommen werden, der das *γ als Derivationsmorphem angeschlossen wur-
de. Ins Wortinnere kam es durch Metathese. Dieser Prozess sähe wie folgt
aus:
(2) PFU *wire > POU *wîr > PW *wîr > *wîr+*γSuff > * wîrγ > * wîγr …
Da das Ziel dieses Beitrags nicht darin besteht, die lediglich exemplarische
Ausgangsfrage ausführlich zu bearbeiten, sondern vielmehr darin, vorzu-
stellen, in welche Richtungen die Forschung weitergehen kann, kann ich
hier nur kurz auf die Antworten hinweisen: Die Antworten auf die Fragen
(a)–(c) sind positiv. In Bezug auf die phonetische Erklärung – Frage (d) –
scheint als Antwort plausibel, dass es die phonetischen Eigenschaften der
Etymologische
Rekonstruktion
Vergleichende
Grammatikalisierung
Sprachgeschichte
Lautgeschichte
Wogulische Typologie
Formen
Historische Laborphonologie
Morphologie
Sequenzielle
Veränderungen Phonetik
Die Aufzählung unter 4.1 bezog sich auf die historisch-diachrone Be-
schreibung des grammatischen Systems, obwohl die Erschließung des
Sprachgebrauchs von gleicher Wichtigkeit ist. Dieser Aspekt kann aber
selbst bei den drei ‚großen‘ Sprachen erst in der letzten Zeit beach-
tenswerte Ergebnisse aufweisen (z. B. auf den Gebieten der Historischen
Soziolinguistik und der Historischen Pragmatik); bei den kleineren Spra-
chen fehlen solche Untersuchungen völlig. Diese Situation folgt einerseits
aus der einfachen Tatsache, dass diese Herangehensweisen relativ neu
sind, aber sie hängt andererseits auch damit zusammen, dass zur Samm-
lung und Erschließung der notwendigen Daten bei den kleineren Spra-
chen große Schwierigkeiten überwunden werden müssen. So stimmt es
zwar, dass in der Blütezeit der großen Sammeltätigkeiten die Feldfor-
schung eine große Menge wichtiger Daten aus Tagebüchern und sonstigen
Beschreibungen, Notizen und Briefen usw. über den Sprachgebrauch des
19. Jh. zum Vorschein brachte, doch sind diese Daten mangels einer ziel-
bewussten, systematischen Forschung ziemlich akzidentiell, ihre Authenti-
zität manchmal fraglich. (Dennoch ist die systematische Erschließung
dieser Sammlungen durchaus von Belang.)
Noch etwas anderes sollte im Zusammenhang mit den politischen
Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg unbedingt beachtet werden.
Die hier sozusagen nur aus der ‚Vogelperspektive‘ betrachteten Tenden-
zen und Desiderate referieren vorwiegend auf die Forschungstendenzen
außerhalb Russlands. Darüber aber, welche Arbeiten in Russland (über die
wesentlich später herausgegebenen und auf diese Weise endlich auch in
Europa zugänglich gewordenen Studien hinaus) entstanden sind, kann
kein klares Bild geschaffen werden. Es geht hier nicht nur darum, dass die
Feldforschung für die europäischen Wissenschaftler unmöglich geworden
ist, sondern auch darum, dass sie für die Forscher aus Russland (die in
vielen Fällen finnougrischer Nationalität waren) beschränkt wurde. Es ist
kein Geheimnis mehr, dass die Intellektuellen der russländischen Nationa-
litäten dieser Politik – auch im wörtlichen Sinne – zum Opfer gefallen
sind, jene Intellektuellen beispielsweise, die um die Schaffung der Litera-
tursprachen bemüht waren, z. B. durch die Konzipierung von Schulbü-
chern.17 Erfahrungsgemäß ist eine ganze Reihe dieser Bücher – die aller
Wahrscheinlichkeit nach auch sprachhistorisch besonders wertvolle
grammatische Informationen beinhalteten, da sie von dem Zustand der
Sprachen vor 70–80 Jahren Auskunft gaben – verloren gegangen.
18 S. auch Fußnote 7.
19 Im letzten Jahr begann in Bezug auf die Soziolinguistik das ELDIA-Programm
(vgl. http://www.eldia-project.org), in Bezug auf die obugrischen Sprachen das Ob-
BABEL-Programm, das auch sprachhistorische Module beinhaltet (vgl. http://babel.gwi.
uni-muenchen.de/index.php?navi=about_en&abfrage=overview_en).
316 Marianne Bakró-Nagy
ein). Darüber hinaus spielt freilich die Auffassung eine Rolle, dass die
primäre Aufgabe der Finnougristik immer noch darin bestehe, die mittle-
ren Stufen, d. h. die der Tochtersprachen zu rekonstruieren (wobei die
historisch-vergleichende Methode natürlich unumgänglich ist). Doch es ist
ohne lange Argumentation einzusehen, dass zur Lösung dieser Aufgabe
grundlegende Voraussetzungen noch immer fehlen. Hier sei nur auf die
Problematik der ugrischen oder obugrischen Grundsprache verwiesen:
Die Rekonstruktion kann im Fall Letzterer ohne eine kohärente histori-
sche morphosyntaktische Synthese nicht geleistet werden, und im Fall des
Ugrischen fehlen Erkenntnisse über das Protoungarische, das größtenteils
noch unbekannt ist. Und es ließen sich noch weitere Beispiele anführen.
Seit den 1990er Jahren intensivierte sich die Feldforschung. Dies rühr-
te nicht zuletzt auch daher, dass die Sprecher der kleineren uralischen
Sprachen – aufgrund der veränderten politischen Verhältnisse – nun auch
für ausländische Forscher leichter erreichbar waren. Natürlich hat hier
aber die russländische Finnougristik die unvergleichbar besseren Möglich-
keiten und sie kann letztlich auch gute Ergebnisse aufweisen. Ging es in
den Anfängen der Feldforschung noch darum, Material für eine (mög-
lichst) vollständige Beschreibung der gegebenen Sprachvarietät zu sam-
meln, so erfolgt sie heute eingedenk der Tatsache, dass es bald nichts
mehr zu sammeln geben könnte. Deshalb besitzt die Feldforschung im
Moment eine hohe Dringlichkeit. Und zwar auf die Art und Weise, dass
dabei das System der gesprochenen Sprache zu erschließen ist, d. h. es
wird die Beschreibung der Grammatik und die sprachliche Dokumentati-
on fokussiert; gleichzeitig sind aber auch soziolinguistische Erhebungen
im Gange.
Der Ertrag des forschungsthematischen Wandels kann kaum hoch
genug eingeschätzt werden. Schauen wir uns einmal die synchronen
Sprachbeschreibungen an. Wie bereits gezeigt, wurden zur Zeit der großen
Sammlungen am Ende des 19. Jh. und im 20. Jh. vorwiegend folkloristi-
sche Texte aufgezeichnet. Die Textsorte und die Art und Weise der Auf-
zeichnungen bedingt von vornherein, dass das grammatische Datenmate-
rial, das man aus diesen Texten gewinnen kann, zur Beantwortung von
einer ganzen Reihe von Fragen selbst dann ungeeignet ist, wenn der
Sammler die Gelegenheit hatte, gezielt nach solchen Informationen zu
fragen. Besonders die Chrestomathien, die in der zweiten Hälfte des
20. Jh. erschienen, zeugen von gezielten grammatischen Sammlungen.
Dass die Sprachbeschreibungen mangelhaft geblieben sind, ist leicht ein-
zusehen, wenn man die Chrestomathien aufschlägt oder den schmalen
Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik 317
20 Der Grund dafür ist natürlich auch die Tatsache, dass die syntaktischen Eigenschaften der
stark agglutinierenden uralischen Sprachen oft in den morphologischen Kapiteln behandelt
werden.
21 Die Forderung nach systematischen typologischen Untersuchungen wurde vor ungefähr
fünf Jahren formuliert, vgl. dazu das Uralic Typology Database Project (http://www.
univie.ac.at/urtypol/conf.html). Gleichwohl waren bereits früher einige ausgezeichnete
einschlägige Arbeiten entstanden, s. etwa Korhonen (1996) und Grünthal (2003). Immer
öfter werden auch Diplomarbeiten unter diesem Aspekt geschrieben, was eindeutig zeigt,
dass die manchmal geäußerte Skepsis gegenüber typologischen Beschreibungen keineswegs
allgemein geteilt wird.
22 Besonders erwähnenswert ist die erfreuliche Tatsache, dass das Interesse für etymologische
Forschungen auch nach dem Abschluss der großen etymologischen Arbeiten fortdauert.
318 Marianne Bakró-Nagy
mationen aus zweiter Hand arbeitet, und diese können auch irreführend
sein (die allgemeinen sprachtypologischen Beschreibungen liefern eine
breite Palette falscher finnougrischer Beispiele) und somit die Grundlagen
für falsche Schlussfolgerungen. Andererseits besteht auch die Gefahr, dass
(durchaus richtige) Befunde publiziert werden, die aber in der Finnougris-
tik schon früher formuliert wurden. Die Veröffentlichung der primären
Quellen auf die für die internationale Wissenschaftsgemeinde interpretier-
bare Weise ist ein elementares Interesse aller Beteiligten.
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320 Marianne Bakró-Nagy