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Péter Maitz (Hrsg.

Historische Sprachwissenschaft
Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben
von
Christa Dürscheid
Andreas Gardt
Oskar Reichmann
Stefan Sonderegger

110

De Gruyter
Historische Sprachwissenschaft
Erkenntnisinteressen,
Grundlagenprobleme,
Desiderate

Herausgegeben von Péter Maitz

De Gruyter
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn

ISBN 978-3-11-027312-0
e-ISBN 978-3-11-027330-4

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data


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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi-
bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston

Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen


∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany

www.degruyter.com
Vorwort

Der vorliegende Band enthält ausgewählte Beiträge eines Humboldt-Kol-


legs, das unter dem Titel Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? im
September 2009 an der Universität Debrecen (Ungarn) veranstaltet wurde.
Das Ziel des Kollegs war es, die erkenntnisleitenden Forschungsnormen
der Historischen Sprachwissenschaft zu reflektieren und gemeinsam über
Standort, Gegenwart und Zukunft des Faches nachzudenken.
Ein weiteres wichtiges Anliegen der Veranstaltung war die kritische
Auseinandersetzung mit der theoretischen und methodologischen Vielfalt
der Historischen Sprachwissenschaft und mit der sich aus dieser Vielfalt
ergebenden, sehr stark ausgeprägten Grundlageninstabilität des Faches.
Die Absicht, durch die einzelnen Beiträge des Bandes diese Vielfalt der
Disziplin abzubilden, erklärt nicht nur, warum die Beiträge zum Teil
grundverschiedene und nicht selten unverträgliche sprachtheoretische und
methodologische Positionen vertreten, sondern auch, warum auf eine re-
daktionelle Vereinheitlichung und gegenseitige inhaltliche Abstimmung
der einzelnen Texte bewusst verzichtet wurde.
An dieser Stelle sei der Alexander von Humboldt-Stiftung gedankt,
ohne deren großzügige Unterstützung weder die Veranstaltung des Kol-
legs noch die Publikation dieses Sammelbandes möglich gewesen wäre.
Dank gebührt darüber hinaus der Leitung der Universität Debrecen, die
die Räumlichkeiten der Universität zur Verfügung gestellt hat sowie dem
einstigen Ministerium für Bildung und Kultur der Republik Ungarn für die
Übernahme eines Teils der Organisationskosten. Herzlich danke ich
schließlich den Herausgebern der Reihe Studia Linguistica Germanica für die
Aufnahme des Bandes in die Reihe sowie Claudia Greul (Graz/Pécs), Se-
bastian Bopp, ganz besonders aber Konstantin Niehaus und Simon Pickl
(alle Augsburg) für die Übernahme eines Großteils der Lektorierungs- und
Korrekturarbeiten.

Münster, im Dezember 2011 Péter Maitz


Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

Péter Maitz
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft?
Erkenntniswege und Profile einer scientific community im Wandel . . . . . 1

Dieter Cherubim
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Jenŋ Kiss
Sprachwandel: Ursachen und Wirkungen.
Überlegungen zu einem alten Problemkreis der Sprachwissenschaft . 51

Damaris Nübling
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft
und Sprachtypologie – am Beispiel der Phonologie,
der Morphologie und der Pragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

Renata Szczepaniak
Lautwandel verstehen.
Vom Nutzen der Typologie von Silben- und Wortsprachen
für die historische und die synchrone germanistische Linguistik . . . . . 85

Anna Molnár
Was Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik
einander zu sagen hätten. Eine Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . 105

Richard J. Watts
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache?
Eine neue Optik auf die Historische Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
VIII

Paul Rössler
Die Grenzen der Grenzen.
Sprachgeschichtsperiodisierung zwischen Forschung und Lehre . . . . 153

Hiroyuki Takada
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Eine sprachbewusstseinsgeschichtliche Annäherung an einen
Schlüsselbegriff zwischen historischer Nähe- und Distanzsprache . . . 169

Stephan Elspaß
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft?
Überlegungen am Beispiel des ,Neuhochdeutschen‘ . . . . . . . . . . . . . . 201

Noah Bubenhofer / Joachim Scharloth


Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte:
Korpusgeleitete Zugänge zur Sprache der 68er-Bewegung . . . . . . . . . 227

Noah Bubenhofer / Juliane Schröter


Die Alpen.
Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse . . . . . 263

Andreas Gardt
Sprachgeschichte als Kulturgeschichte.
Chancen und Risiken der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Marianne Bakró-Nagy
Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik.
Desiderate und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
Péter Maitz

Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft?


Erkenntniswege und Profile einer scientific community
im Wandel

1. Problemstellung
Dieses Buch handelt von der Historischen Sprachwissenschaft, ihren Er-
kenntnisinteressen, Grundlagenproblemen und Desideraten. Die Frage-
stellungen der einzelnen Beiträge sind dementsprechend zumeist durch
metawissenschaftliche1 Probleme motiviert. Die Autorinnen und Autoren2
reflektieren – in der Regel gestützt durch objektwissenschaftliche Analy-
sen – Möglichkeiten und Grenzen der unterschiedlichen Erkenntniswege,
theoretische und methodologische Grundsatzfragen, nicht zuletzt aber
auch wissenschaftsgeschichtliche, erkenntnistheoretische, wissenssoziolo-
gische Aspekte der Forschung.
Wenn dabei von ‚Historischer Sprachwissenschaft‘ die Rede ist, so
wird der Begriff – den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte Rechnung
tragend und im Gegensatz zu anderen, engeren Auslegungen (vgl. z. B.
Mattheier 1998: 824 oder Polenz 2000: 9) – im weitestmöglichen Sinne
verwendet. Es wird darunter diejenige linguistische Forschung verstanden,
die ihren Gegenstand, die ‚Sprache‘, wie auch immer sie konzeptualisiert
werden mag, als historisch gewachsenes und sich wandelndes Phänomen
begreift und sie im Zusammenhang damit – entweder aus historisch-
synchroner, diachroner oder synchron-variationslinguistischer Perspektive
– auf ihre Geschichte bzw. ihren Wandel hin untersucht, beschreibt und
erklärt.
Eine solche metawissenschaftliche Perspektive auf die Historische
Sprachwissenschaft scheint mindestens aus drei Gründen vielverspre-

1 Unter ‚Metawissenschaft‘ wird – im Gegensatz zu ‚Objektwissenschaft‘ – eine Wissen-


schaft verstanden, deren Gegenstand selbst eine Wissenschaft ist.
2 Aus platzökonomischen Gründen verwende ich im Folgenden bei Bezeichnungen für Per-
sonen nur das generische Maskulinum.
2 Péter Maitz

chend, vielleicht sogar notwendig zu sein. Zum einen kann die bewusste
und kritische Auseinandersetzung mit den in der alltäglichen Forschungs-
praxis oft unhinterfragt befolgten Forschungsnormen maßgeblich auch
zur Lösung objektwissenschaftlicher Probleme beitragen. Zum anderen
können auf diese Weise ebenso grundlegende theoretische und methodo-
logische Desiderate sichtbar gemacht werden. Und schließlich kann die
Reflexion über die interne Dynamik der Historischen Sprachwissenschaft
auch wissenschaftstheoretisch bzw. epistemologisch relevante Erkenntnis-
se ans Tageslicht fördern, aus denen sich jedoch keineswegs nur für die
Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, sondern durchaus auch für die
Historische Sprachwissenschaft selbst wichtige Konsequenzen ergeben
können. Innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft – als Forschungs-
gebiet wie auch als wissenschaftliche Gemeinschaft – spielten sich nämlich
in den vergangenen Jahrzehnten Entwicklungen ab, die zum einen aus
wissenschaftstheoretischer Sicht bemerkenswert sind, zum anderen aber
auch für den objektwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt innerhalb der
Disziplin gewichtige Konsequenzen haben. Im Folgenden sollen zunächst
– allein schon aus Umfangsgründen in stark vereinfachter und rudimentä-
rer Form – diese Entwicklungen kurz nachgezeichnet werden.3

2. Die Anfänge
Die Geschichte der Historischen Sprachwissenschaft ließe sich in drei
wohlunterschiedene, voneinander recht klar abgrenzbare Phasen einteilen,
wenn man für diese Einteilung zwei Kriterien heranzieht: (a) die Grundla-
genstabilität, d. h. die Konsenshaftigkeit der forschungsleitenden Werte
und Normen sowie (b) die Schärfe der Gruppengrenze, die die wissen-
schaftliche Gemeinschaft von der wissenschaftlichen Außenwelt trennt.
Die erste von diesen drei Phasen umfasst jene Periode, in der die his-
torische Sprachforschung im Grunde noch als die einzig denkbare und
legitime Form der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache gilt. Die-
se Periode, das 19. Jh. also, ist durch eine – zumindest im Vergleich zum
gegenwärtigen Profil der Forschungslandschaft auffallende – relative
Grundlagenstabilität gekennzeichnet. Vor dem Hintergrund eines positi-
vistischen Wissenschaftsverständnisses4 dominieren (radikal) induktivis-

3 Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf Maitz (i. Vorb.).


4 Der (auch) im Kontext der Historischen Sprachwissenschaft stark negativ geladene und
zumeist als pauschales Schimpfwort verwendete Terminus ‚Positivismus‘ wird hier selbst-
verständlich im wertneutralen Sinne verwendet. Darunter wird die Abneigung gegen eine
explizite Theoriebildung verstanden, die Auffassung also, dass es angesichts der vermeint-
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 3

tisch betriebene Forschungen zum germanischen Altertum und zur älteren


deutschen Sprachgeschichte. Es handelt sich also um eine kumulative For-
schungsphase mit allgemein anerkannten und konsenshaft befolgten (his-
torisch-komparatistischen und später junggrammatischen) Forschungs-
normen. Die weitgehende Dominanz der zeitgenössischen Historischen
Sprachwissenschaft innerhalb der Linguistik, die starke interne Kohäsion
der wissenschaftlichen Gemeinschaft und die Autorität ihrer Vertreter
machen es möglich, dass konkurrierende Erkenntniswege und wissen-
schaftliche Leistungen vielfach abgelehnt oder einfach ignoriert werden
und bestenfalls ein Schattendasein führen können. Dieser Situation, d. h.
der starken Machtposition und Verschlossenheit der zeitgenössischen His-
torischen Sprachwissenschaft fällt u. a. auch Humboldts Schaffen zum
Opfer. Humboldts Schüler, Heymann Steinthal stellt fest:
Humboldt hat als Sprachforscher auf keinen seiner älteren oder jüngeren Zeitge-
nossen in spezifischer Weise, d. h. durch die ihm eigenthümlich angehörenden,
von ihm geschaffenen Ideen eingewirkt. Er hat wohl von den Schlegels, den
Grimms, den Bopps gelernt, sie aber von ihm durchaus nicht. (zit. nach Arens
1974: 205)

Und nach einer eingehenden Analyse des zeitgenössischen Rezensionswe-


sens sieht auch Storost (1985) diese Behauptung bestätigt, indem er kon-
statiert:
[D]ie sprachphilosophischen Gedankengänge Humboldts werden in keiner Weise
nachvollzogen, mitgedacht, mitgeteilt, kommentiert, kritisiert oder auch nur an-
gedeutet. (Storost 1985: 323)

Diese erste, progressive Phase der Geschichte der Historischen Sprach-


wissenschaft ist also durch eine relative Grundlagenstabilität in der For-
schung und eine die linguistische Forschungslandschaft dominierende
scientific community mit scharfer Gruppengrenze und starker interner Kohä-
sion gekennzeichnet. Grundlegend abweichende Positionen werden – wie
der Fall von Humboldt oder später von Georg von der Gabelentz zeigt –
nicht akzeptiert. Die historisch-philologische Arbeitsweise ist und bleibt
zunächst weitgehend dominant, sowohl ahistorische als auch hypothe-
tisch-deduktive bzw. sprachphilosophische Herangehensweisen werden
vielfach als inadäquat und spekulativ abgestempelt und bewusst unter-
drückt (vgl. Schmidt 1985: 169f.).
Nach diesem progressiven ersten Abschnitt bricht ab der ersten Hälfte
des 20. Jh. eine zweite, stagnative Phase ein. Durch das Aufkommen und

lichen Selbstevidenz des Gegenstandes genügen würde, ohne Hypothesen an das Material
heranzugehen (vgl. Boretzky 1977: 33).
4 Péter Maitz

die Verbreitung ahistorischer Forschungsrichtungen in der Linguistik wird


die Historische Sprachwissenschaft nunmehr in eine Art Defensive ge-
drängt. Zumindest gilt dies für den Status und das Prestige historischer
Forschungen. Während es im 19. Jh. noch die Historische Sprachwissen-
schaft war, die Humboldts sprachphilosophisches Werk als spekulativ
abstempeln und ahistorische Forschungen an die Peripherie der Linguistik
drängen konnte, so hat sich diese Situation im Laufe des 20. Jh. umge-
kehrt. Zunächst vom Strukturalismus und später von der Generativen
Grammatik wurde die Position der Historischen Sprachwissenschaft zu-
tiefst erschüttert; es wurde die linguistische Relevanz historischer Be-
schreibungen und genetischer Erklärungen grundsätzlich in Frage gestellt
und der gesamten historischen Sprachforschung ein erhebliches Theorie-
defizit vorgeworfen. Die veränderten Prestigeverhältnisse zeigt in sehr
transparenter Weise folgendes Zitat:
Es genügt nicht, das Ohr an die Daten zu legen, bzw. die Daten allein sind
stumm. [...] Es darf als Verdienst der Generativen Grammatik betrachtet werden,
daß sie die Problematik der reinen (in der traditionellen historischen Sprachwis-
senschaft nicht unüblichen) Datenhuberei erneut thematisiert hat. Viele histori-
sche Linguisten erschöpft die (gewiß notwendige, unverzichtbare und ermüden-
de) Dateneinfuhr dermaßen, daß sie vor der eigentlichen (interpretativ-theoreti-
schen) Arbeit aufhören. Die Sensitiveren unter ihnen haben seit der Generativen
Grammatik wenigstens ein schlechtes Gewissen. (Mayerthaler 1998: 530)5

In wissenschaftssoziologischer Hinsicht ist es jedoch bemerkenswert, dass


die – nach wie vor strikt philologisch orientierte – Historische Sprachwis-
senschaft trotz ihres Prestigeverlusts zunächst noch ihre starke institutio-
nelle Position beibehalten kann. Germanistische Lehrstühle sind zumeist
auch noch in den Nachkriegsjahrzehnten der ungeteilten, historisch orien-
tierten germanischen Philologie (der „älteren deutschen Sprache und Lite-
ratur“) gewidmet. Und ebenfalls erst in dieser Zeit, in den 1960er und
1970er Jahren, kommt es zur Gründung der ersten germanistischen Fach-
zeitschriften, die bereits der ‚modernen‘, nicht mehr der philologisch-
historischen Tradition verpflichteten Linguistik ein Forum bieten sollen.
Was den Inhalt und vor allem die sprachtheoretischen und for-
schungsmethodologischen Grundlagen der historischen Sprachforschung
betrifft, so ändert sich zunächst ebenfalls nicht viel. Die auch für die erste,
progressive wissenschaftsgeschichtliche Phase kennzeichnende Grundla-

5 Zwar stammt dieses Zitat bereits aus der dritten, unten näher zu erläuternden wissen-
schaftsgeschichtlichen Phase der Historischen Sprachwissenschaft. Doch seine Grundhal-
tung und seine Aussage stehen eindeutig in der Tradition jener von außen kommenden
Angriffe, die sich spätestens seit dem Auftreten des linguistischen Strukturalismus schon
ab der ersten Hälfte des 20. Jh. – wenn auch zunächst in weniger polemischer Weise –
melden.
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 5

genstabilität bleibt erhalten.6 Die Historische Sprachwissenschaft beharrt


auf den Forschungsnormen, die aus dem 19. Jh. ererbt worden sind. Fra-
gestellungen und Forschungsmethoden folgen weitgehend der junggram-
matischen Tradition, sie bleiben über Generationen hinweg „relativ kon-
stant und unbestritten“ (Gardt/Mattheier/Reichmann 1995: VII). Zur Er-
haltung dieser Grundlagenstabilität trägt selbstverständlich auch die in-
zwischen ausgesprochen feindselig gewordene Umgebung maßgeblich bei.
Die Vertreter der neu aufkommenden, zumeist strikt ahistorischen For-
schungsrichtungen fordern die Historische Sprachwissenschaft, wie das
obige Zitat zeigt, vielfach auf eine ausgesprochen provokative und aggres-
sive Weise heraus. Diese äußere Bedrohung sowie die scheinbare Unver-
söhnlichkeit der historisch-junggrammatischen Arbeitsweise mit den neu-
en Forschungsansätzen führen dazu, dass sich die Historische Sprach-
wissenschaft – nach wie vor – nach außen verschließt, was sie sich auf-
grund ihrer starken und gefestigten institutionellen Einbettung (zunächst
noch) leisten kann.
Zusammenfassend kann man also in dieser zweiten wissenschaftsge-
schichtlichen Phase der Historischen Sprachwissenschaft – ähnlich zur
ersten – von einer institutionell gefestigten und ihre Machtposition zu-
nächst bewahrenden scientific community sprechen. Ihre starke interne Orga-
nisation und ihre scharfe Gruppengrenze bleiben im Grunde ebenso be-
stehen wie die Grundlagenstabilität der Forschungspraxis, und zwar trotz
des Umstands, dass die historisch-philologischen Analyseverfahren – im
Gegensatz zur ersten Phase – einen nicht unerheblichen Prestigeverlust
erfahren und von außen grundsätzlich in Frage gestellt werden.

3. Der Umbruch
Die oben beschriebene Situation ändert sich ab den 1970er Jahren grund-
sätzlich. Zu dieser Zeit setzen wissenschaftsinterne und auch wissen-
schaftssoziologische Entwicklungen ein, die bis heute andauern und das
Profil der Historischen Sprachwissenschaft maßgeblich prägen.
Ab dieser Zeit tritt die Historische Sprachwissenschaft aus der stagna-
tiven zweiten Phase ihrer Geschichte in eine progressive, auch die Gegen-

6 Freilich melden sich konkurrierende Forschungsansätze auch in dieser Phase. So etwa –


um nur ein einziges Beispiel zu nennen – die Prager Strukturalisten, die mit dem Begriff
der ‚dynamischen Synchronie‘ und dem Prinzip der ‚strukturellen Diachronie‘ die Saus-
sure’sche Kluft zwischen synchroner und diachroner Sprachwissenschaft zu überbrücken
versuchen und u. a. die Historische Phonologie begründen (Jakobson 1931). Doch derarti-
ge Ansätze gefährden (zunächst) keineswegs das Prestige und die Dominanz der junggram-
matischen Arbeitsweise innerhalb der scientific community.
6 Péter Maitz

wart mit einschließende dritte. Als progressiv kann diese Phase in zweifa-
cher Hinsicht bezeichnet werden. Zum einen öffnet sich ein bedeutender
Teil der bis dahin für historische Fragestellungen verschlossenen und
vielfach auch feindlichen linguistischen Welt außerhalb der Historischen
Sprachwissenschaft für die Historizität und die Dynamik von Sprache (vgl.
Cherubim 1975: 2f., Boretzky 1977: 11). Zum anderen werden die klas-
sisch-junggrammatischen Grundlagen sprachhistorischer Forschungen –
unter externem Einfluss – auch innerhalb der Historischen Sprachwissen-
schaft selbst immer öfter und stärker in Frage gestellt. Auch die Histo-
rische Sprachwissenschaft selbst öffnet sich also immer mehr für neue
theoretische und methodologische Zugangsweisen. Durch diese beiden
parallelen Entwicklungen wird die scharfe Grenze, die die wissenschaft-
liche Gemeinschaft von der linguistischen Außenwelt bis dahin getrennt
hat, in einem bis dahin nie gesehenem Maße aufgelockert.
Zu dieser immer intensiveren Annäherung einst antagonistisch er-
scheinender Positionen tragen natürlich zahlreiche Faktoren bei. Obwohl
der Zeitraum bzw. die Entwicklungen, von denen hier die Rede ist, bislang
keinen systematischen wissenschaftsgeschichtlichen Analysen unterzogen
worden sind, so sollen manche der wichtigsten Faktoren, die in diesem
Zusammenhang von Belang gewesen sein dürften, zumindest angedeutet
werden.
Von entscheidender Bedeutung ist erstens der Umstand, dass die pro-
gressiven linguistischen Schulen, die die historisch-dynamische Sprachbe-
trachtung in die Defensive gedrängt hatten, besonders ab den 1960er Jah-
ren von verschiedenen Seiten und auf verschiedenen Ebenen heftig
angegriffen wurden. Zum einen ist mehrfach auf die Unhaltbarkeit des
strukturalistischen Postulats homogener Sprachsysteme und der scharfen
Trennung zwischen Synchronie und Diachronie hingewiesen worden (vgl.
z. B. Coseriu 1974, Weinreich/Labov/Herzog 1968 etc.). Im Zuge dessen
kam es auch zur Begründung oppositioneller, dynamischer, die Kluft zwi-
schen Synchronie und Diachronie überbrückender Sprachtheorien, wie
etwa der Soziolinguistik (vgl. etwa Weinreich/Labov/Herzog 1968), der
Natürlichkeitstheorie (vgl. Mayerthaler 1981, Wurzel 1984) oder der
Grammatikalisierungstheorie (vgl. Lehmann 1995). Zum anderen wurden
ab dieser Zeit genauso auch die sprachtheoretischen und methodologi-
schen Grundlagen der Generativen Grammatik heftig angegriffen und es
wurde auch deren wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung angezweifelt.
Besonders ab den 1970er Jahren meldeten sich immer häufiger wissen-
schaftsgeschichtliche Interpretationen (z. B. Anttila 1975, Gray 1976,
Murray 1980), die der gängigen Meinung, wonach Chomskys Auftreten in
der Linguistik eine wissenschaftliche Revolution im Kuhn’schen Sinne
eingeleitet hätte, skeptisch gegenüberstanden. Statt einer chomskyanischen
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 7

Revolution sprachen sie von einem erfolgreichen Putsch, der von einer
militanten Gruppe von Linguisten und begleitet von einer effektiven revo-
lutionären Rhetorik mit dem Ziel der Machtergreifung durchgeführt wur-
de (vgl. Kertész 2009: 397). Auf diese Weise, durch die immer lauter wer-
denden kritischen Stimmen und das Aufkommen von progressiven Kon-
kurrenten kam es dazu, dass die Position bzw. das Prestige der Richtungen
geschwächt wurde, die der Historischen Sprachwissenschaft feindlich
gegenüberstanden.
Zweitens haben diese konkurrierenden Schulen nicht nur die (einsti-
gen) ‚Feinde‘ historisch orientierter Forschungen angegriffen, sondern sie
boten der Historischen Sprachwissenschaft zugleich auch die Möglichkeit
an, an progressive Tendenzen in der Linguistik anzuknüpfen und auf diese
Weise aus der stagnativen Phase herauszukommen. Im Anschluss daran
wurden ab den 1970er und 1980er Jahren (Teil)Disziplinen wie – um hier
nur zwei bis heute prominente von ihnen zu nennen – die Historische
Pragmatik (vgl. z. B. Sitta 1980) und die Historische Soziolinguistik (vgl.
z. B. Romaine 1982) begründet und ausgebaut. Bemerkenswert ist aller-
dings die Tatsache, dass sich diese neuen Richtungen innerhalb der Histo-
rischen Sprachwissenschaft selbstständig, d. h. unabhängig von ihren ahis-
torisch-synchronen Pendants etabliert und institutionalisiert hatten.7 Die
scharfe Grenze zwischen Synchronie und Diachronie, zwischen gegen-
wartsbezogener und historisch orientierter Sprachwissenschaft ist also
bestenfalls sprachtheoretisch und methodologisch, keineswegs aber im
soziologischen bzw. institutionellen Sinne aufgelockert bzw. aufgehoben
worden. Durch die eigenständige Etablierung der Historischen Pragmatik,
Soziolinguistik oder Semantik wurde sie sogar institutionalisiert und damit
weiter verfestigt.
In diesem Sinne hat sich die Gruppengrenze, die die Historische
Sprachwissenschaft von anderen wissenschaftlichen Gemeinschaften in-
nerhalb der Linguistik trennt, zwar ohne Zweifel aufgelockert, sie ist aber
keineswegs verschwunden. Dies ist jedoch zumindest unter soziologi-
schem Aspekt auch nicht verwunderlich. Denn die Aufhebung der Grup-
pengrenze und die Integration einst getrennter wissenschaftlicher Ge-
meinschaften hätten einen verstärkten Konkurrenzkampf als notwendige
Konsequenz gehabt und zugleich auch die institutionelle Autonomie der
Historischen Sprachwissenschaft gefährdet.

7 So haben auch die genannten beiden Disziplinen ihre eigenen Organisationen, Konferen-
zen und Publikationsforen ins Leben gerufen; man denke nur an die Gründung des Journal
of Historical Pragmatics neben dem Journal of Pragmatics, an das Historical Sociolinguistics Network,
die Internet-Zeitschrift Historical Sociolinguistics and Sociohistorical Linguistics oder die Tagungs-
reihe Historische Soziolinguistik des Deutschen.
8 Péter Maitz

Konvergenz und Integration – wie auch Divergenz – sind in der For-


schungspraxis oder zwischen wissenschaftlichen Gemeinschaften aber
keineswegs rein rationale Phänomene. In derartigen Dynamiken spielen
oft auch psychologische Faktoren eine entscheidende Rolle (vgl. Kuhn
1976, Barnes/Bloor/Henry 1996). So war zur Öffnung der Historischen
Sprachwissenschaft drittens auch die Entstehung und Verbreitung eines
Krisenbewusstseins notwendig, das die Öffnung der Disziplin für neue
Zugangsweisen als notwendig, zumindest aber als vorteilhaft erscheinen
ließ. Dass dieses Krisenbewusstsein tatsächlich und zwar schon über einen
längeren Zeitraum hinweg vorhanden war, belegt folgendes Zitat:
Beschäftigt man sich in neuerer Zeit mit der Sprachgeschichte des Deutschen, so
gehört es fast schon zum guten Ton, ein Lamento abzustimmen über den Verfall
sprachhistorischer Traditionen in der Wissenschaftsgeschichte der Linguistik,
über die Lückenhaftigkeit des Gegenstandsspektrums der Sprachgeschichte und
über fehlende methodologische Konzepte. Während Sonderegger noch zurück-
haltend von der ‚Problematik der deutschen Sprachgeschichtsschreibung‘ spricht,
werden von Cherubim und anderen lange Listen von Desideraten und For-
schungslücken zusammengestellt. (Mattheier 1995: 1)

Die Erneuerung einer Disziplin, die Veränderung der Forschungsnormen


innerhalb einer wissenschaftlichen Gemeinschaft kann nur erfolgen, wenn
die Mitglieder dieser Gemeinschaft auch individuell an der Erneuerung
und der Übernahme der neuen Normen interessiert sind. Als vierter Fak-
tor muss auch die Rolle dieser individuellen Ebene erwähnt und damit
also danach gefragt werden, inwiefern die Öffnung etwa in Richtung der
Soziolinguistik, der Pragmatik oder der Sprachtypologie auch für den ein-
zelnen Forscher als verheißungsvoll erscheinen konnte. Zum einen darf
nicht übersehen werden, dass es sich bei all den genannten Forschungs-
richtungen um progressive Schulen handelt, die – auch außerhalb der
Historischen Sprachwissenschaft – als prestigevoll und neuartig genug
galten, um die neueren Forschungsgenerationen anzuziehen. Zum anderen
waren sie offen genug, um diesen Forschergenerationen zahlreiche als re-
levant anerkannte ungelöste Probleme zu bieten, nicht zuletzt allein schon
dadurch, dass sie auch für historische bzw. diachrone Fragestellungen of-
fen waren. Somit haben sie über beide grundlegenden Eigenschaften ver-
fügt, die nach Kuhn (1976: 25) Kandidaten für wissenschaftliche Paradig-
men auszeichnen. Und drittens dürfte auch in unserem Zusammenhang
noch ein weiterer Faktor von Belang gewesen sein, den Schmidt (1988) im
Kontext der Etablierung des Strukturalismus in Deutschland erwähnt. Die
neuen Forschergenerationen dürften demnach auch insofern am Bruch
mit der philologisch-junggrammatischen Forschungstradition und an dem
Anschluss an gruppenexterne, neue Forschungsnormen interessiert gewe-
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 9

sen sein, als es ihnen schnellen Erfolg versprach, indem es erlaubte, „sich
all das immense Wissen, das in hundert Jahren Sprachgeschichtsforschung
zusammengetragen worden war, nicht aneignen zu müssen“ (Schmidt
1988; Hervorhebung im Original).
Neben all den genannten werden sicher auch noch weitere, durch zu-
künftige wissenschaftsgeschichtliche Analysen zu ermittelnde Faktoren
dazu beigetragen haben, dass sich die Historische Sprachwissenschaft ab
den 1970er Jahren sowohl inhaltlich als auch vom Profil der Gemeinschaft
her grundlegend verändert hat. Im Sinne des Gesagten wurde die einst
scharfe Gruppengrenze deutlich aufgelockert und die frühere Grundla-
genstabilität der Forschung wurde durch einen ausgeprägten Pluralismus
abgelöst. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und auch die Gegen-
wart sind von einer nie vorher gesehenen Grundlageninstabilität und Di-
versifikation innerhalb des Faches, von einem Wettbewerb zwischen zahl-
reichen theoretisch und methodologisch divergierenden Forschungsan-
sätzen gekennzeichnet. Induktivistische Zugangsweisen (z. B. Historische
Philologie, junggrammatisch geprägte Historische Grammatik, Sozioprag-
matische Sprachgeschichte) existieren heute neben hypothetisch-deduktiv
ausgerichteten Forschungen (z. B. Grammatikalisierungsforschung, Dia-
chrone Sprachtypologie, Sprachwandeltheorie); systemimmanente (z. B.
strukturalistische, typologische) Beschreibungs- und Erklärungsansätze
neben stark gesellschafts- und kulturorientierten (wie z. B. Historische
Pragmatik und Soziolinguistik); stark interdisziplinär angelegte Ansätze
(z. B. Diskursgeschichte oder Kulturgeschichte der Sprache) neben eher
reduktionistischen (z. B. Historische Grammatik).

4. Paradigmen in der Historischen Sprachwissenschaft?


Die theoretischen und methodologischen Grundlagen und somit auch die
Gegenstände vieler dieser neueren Forschungsrichtungen divergieren in
dem Maße, dass es auf den ersten Blick gar nicht überrascht, wenn mehre-
re Forscher bereits von unterschiedlichen wissenschaftlichen Paradigmen
innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft sprechen: Reichmann
(1998: 6) vom historisch-genetischen Paradigma, Ágel (1999: 180) vom
Grammatikalisierungsparadigma, Scharloth (2005) vom soziopragmati-
schen Paradigma, Greule (2005: 19) sogar vom Forschungsparadigma
„Kanzleisprachen“ – und die Reihe ließe sich weiter fortsetzen. Es ist al-
lerdings kaum zu übersehen, dass der Begriff ‚Paradigma‘ hier von ver-
schiedenen Autoren zum Teil mit unterschiedlicher Intension verwendet
wird. In vielen dieser Fälle handelt es sich um eine – auch außerhalb der
Linguistik weit verbreitete – theorieneutrale Verwendung, so dass mit
10 Péter Maitz

‚Paradigma‘ nichts weiter als ein relativ klar abgrenzbarer Forschungsan-


satz bzw. eine wissenschaftliche Schule gemeint wird. In anderen Fällen
geschieht die Verwendung des Begriffs ‚Paradigma‘ bereits unter expliziter
Bezugnahme auf Thomas S. Kuhns Wissenschaftstheorie (Kuhn 1976), in
der ja der Begriff eine zentrale Rolle spielt.
Besonders diese zweite, Kuhn’sche Verwendungsweise scheint auf-
grund ihrer gewichtigen Implikationen interessant und einer kritischen
Überprüfung wert zu sein. Gibt es tatsächlich mehrere verschiedene wis-
senschaftliche Paradigmen innerhalb der Historischen Sprachwissen-
schaft? Haben sich in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich wissen-
schaftliche Revolutionen innerhalb des Fachs abgespielt? Haben die neuen
Paradigmen tatsächlich die alten abgelöst, wie es nach Kuhn bei wissen-
schaftlichen Revolutionen geschieht? Oder handelt es sich vielleicht eher
nur um eine unreflektierte, vulgarisierende Begriffsverwendung, die vor
allem Legitimationszwecken dient? Diese Vermutung liegt nahe, und zwar
aus mehreren Gründen.
Erstens ist es bemerkenswert, dass (auch) in der Historischen Sprach-
wissenschaft auffallend häufig von Paradigmen die Rede ist, ohne dass
durch entsprechende wissenschaftsgeschichtliche Analysen auch nur in
einem einzigen Fall und auch nur annähernd plausibel nachgewiesen wor-
den wäre, dass die als Paradigmen etikettierten Theorien wirklich über die-
jenigen Eigenschaften verfügen, über die sie verfügen müssen, wenn es
sich bei ihnen um wissenschaftliche Paradigmen handelt. Zweitens haben
wissenschaftsgeschichtliche Analysen der vergangenen Jahrzehnte mehr-
fach und überzeugend gezeigt, dass die Kriterien für wissenschaftliche Re-
volutionen bzw. Paradigmen im Kuhn’schen Sinne nicht einmal beim lin-
guistischen Strukturalismus und der Generativen Grammatik erfüllt sind
(vgl. z. B. Kertész/Rákosi/Bódog 2006, Percival 1976, 1977, 1981, New-
meyer 1986 etc.). Und wenn selbst diese – zweifelsfrei einmalig einfluss-
reichen – Schulen nicht als Paradigmen ausgewiesen werden können, so
ist es zumindest fraglich, inwiefern innerhalb der Historischen Sprachwis-
senschaft von Paradigmen und Revolutionen die Rede sein kann.
Allem Anschein nach haben wir es also auch innerhalb der Histori-
schen Sprachwissenschaft zunächst einfach damit zu tun, was – in unter-
schiedlichen Kontexten – auch von Fehér (1984: 299), Kertész (2010:
151f.) oder Lakoff (1989: 966) konstatiert wird. Damit nämlich, dass der
Terminus ‚Paradigma‘ aus soziologischen Gründen, nämlich zu Legitima-
tionszwecken verwendet wird, um die (vermeintliche oder wirkliche) Ori-
ginalität einer Theorie betonen und die Reife der Disziplin unter Beweis
stellen zu können. Disziplinen, die über keine wissenschaftlichen Paradig-
men verfügen, werden ja von Kuhn als wissenschaftlich unreif eingestuft
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 11

– und Kuhn selbst ordnet die meisten Sozial- und Geisteswissenschaften


tatsächlich als unreif ein (vgl. Kuhn 1976: 30, 35).
Kuhns Wissenschaftstheorie ist – wie oben bereits angedeutet – zur
Interpretation von anderen Segmenten der Wissenschaftsgeschichte der
Linguistik bereits angewendet worden. Für die Historische Sprachwissen-
schaft wurde sie jedoch bislang noch nicht fruchtbar gemacht. Eine philo-
logisch gestützte wissenschaftsgeschichtliche Analyse der jüngeren Ent-
wicklungen innerhalb der Disziplin im Lichte der Kuhn’schen Paradig-
menlehre wäre jedoch aus mehrfacher Hinsicht ein lohnendes Unterfan-
gen. Zum einen natürlich insofern, als eine solche Analyse zu einem diffe-
renzierteren Bild über Natur und Hintergründe des Erkenntnisfortschritts
innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft verhelfen könnte. Und
zum anderen auch insofern, als auf diese Weise erneut getestet werden
könnte, ob Kuhns Wissenschaftstheorie, die ja am Beispiel der Naturwis-
senschaften ausgearbeitet wurde, auf die Linguistik überhaupt anwendbar
ist.
Eine solche Analyse kann hier natürlich nicht geleistet werden. Im
Folgenden soll es dennoch versucht werden, Kuhns wissenschaftstheore-
tischen Ansatz auf die Historische Sprachwissenschaft zu projizieren, um
wenigstens manche Besonderheiten in der Forschungsentwicklung der
letzten Jahrzehnte beleuchten zu können.

5. Besonderheiten der Forschungsentwicklung


Nach Kuhn ist für die normalwissenschaftliche Phase einer reifen Wissen-
schaft die Existenz und Akzeptanz eines einzigen vorherrschenden Para-
digmas kennzeichnend. Dieses Paradigma wird von der wissenschaftlichen
Gemeinschaft allgemein anerkannt und befolgt. Auf die Historische
Sprachwissenschaft bezogen könnte daraus – im Lichte der Ausführungen
in den vorangehenden Abschnitten – Mehrfaches folgen. Zum einen, dass
sich die Disziplin immer noch in einer unreifen, vorparadigmatischen Pha-
se befindet. Dafür spricht jedenfalls die gegenwärtige Grundlageninstabili-
tät innerhalb des Fachs: Statt einer einzigen vorherrschenden Theorie ha-
ben wir es mit einer Vielzahl von konkurrierenden und oft auch
inkompatiblen Ansichten über die theoretischen und methodologischen
Grundlagen der Forschung zu tun. Es gibt keine allgemein gültigen und
von allen geteilten Ansichten darüber, was und wie beschrieben und er-
klärt werden sollte. Es gibt also keine einhellig akzeptierten methodologi-
schen und theoretischen Standards, so dass es mehrfach und immer wie-
der vorkommt, dass einzelne Forscher das Fachgebiet von Grund auf neu
zu entwickeln versuchen (vgl. Kuhn 1976: 28). Verschiedene Forscher
12 Péter Maitz

untersuchen zum Teil grundverschiedene Aspekte des Gegenstandsbe-


reichs und liefern zum Teil Beschreibungen und Erklärungen, die nicht
zusammengeführt bzw. aufeinander bezogen werden können (man vgl.
etwa die Resultate der diachronen Sprachtypologie mit denen der Histori-
schen Diskursanalyse, so etwa die Beiträge von Renata Szczepaniak und
Noah Bubenhofer/Juliane Schröter in diesem Band). Und da dieser Plura-
lismus bzw. diese Grundlageninstabilität infolge der Entwicklungen der
vergangenen Jahrzehnte nur zugenommen hat, könnte man sogar zum
Schluss gelangen, dass die Historische Sprachwissenschaft noch nie so
weit vom Zustand der Reife entfernt war, wie sie es heute ist.
Ebenfalls als Zeichen der Unreife könnte der Umstand gedeutet wer-
den, dass es gegenwärtig keine Sprachtheorie und auch keine Forschungs-
methodologie innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft gibt, die
allein vorherrschend wäre und nach ihrem Aufkommen die anderen, bis
dahin herrschenden Ansichten verdrängt und abgelöst hätte. Hätte die
Historische Sprachwissenschaft den Zustand der Reife erreicht und jemals
ein Paradigma erworben, so hätte dies zur Folge haben müssen, dass die
konkurrierenden Ansichten mit der Übernahme des neuen Paradigmas
allmählich untergehen. Ein wichtiges Kennzeichen für dieses reife Stadi-
um müsste weiters sein, dass fundamentale Neuerungen unterdrückt wer-
den, da sie die Grundposition des Paradigmas und seiner Vertreter er-
schüttern könnten (Kuhn 1976: 20). All dies ist aber im Falle der Histori-
schen Sprachwissenschaft – wie auch die Beiträge des vorliegenden Ban-
des eindrucksvoll zeigen – nicht gegeben. Die gegenwärtige Forschungssi-
tuation ist zwar von einem Konkurrenzkampf zwischen zahlreichen An-
sätzen gekennzeichnet. Doch kann man – trotz der oft deutlich erkennba-
ren gegenseitigen Abneigungen – nicht behaupten, dass sie einander feind-
lich gegenüberstehen würden. Abweichende Positionen werden wenn
schon nicht begrüßt, zumindest gegenseitig toleriert, so dass es gegenwär-
tig wohl kaum möglich wäre, einen Ansatz zu identifizieren, der als mögli-
cher Paradigmakandidat zu Lasten der anderen allmählich die Oberhand
gewinnen würde.
Ähnlich problematisch wäre die Identifizierung von paradigmatischen
Werken in der Geschichte der Disziplin. Wissenschaftliche Revolutionen
bzw. Paradigmen sind nämlich nach Kuhn immer an bestimmte Werke
gebunden, die „für nachfolgende Generationen von Fachleuten die aner-
kannten Probleme und Methoden eines Forschungsgebiets […] bestim-
men“ (Kuhn 1976: 25). Sie verändern die Disziplin grundsätzlich und
dienen zugleich als Vorbilder, „aus denen fest gefügte Traditionen wissen-
schaftlicher Forschung erwachsen“ (ebd.). Selbst wenn natürlich mehrere
sehr einflussreiche Leistungen in der Geschichte der Historischen Sprach-
wissenschaft genannt werden könnten, ist es zu bezweifeln, dass es jemals
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 13

ein allgemein anerkanntes, vorbildhaftes Werk unter ihnen gegeben hat,


das die Disziplin – in der Art wie dies etwa Newtons Principia in der Phy-
sik getan hat (vgl. ebd.) – grundlegend umgestaltet hätte. Nicht einmal für
Hermann Pauls Prinzipien der Sprachgeschichte (Paul 1995) lässt sich dies be-
haupten, obwohl es nach seinem Erscheinen im Jahre 1880 längere Zeit
hindurch tatsächlich als kanonisches Werk galt. Zum einen darf nicht
übersehen werden, dass es keineswegs die erste bedeutende Arbeit der
Junggrammatiker war. Bereits in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre sind
grundlegende junggrammatische Arbeiten u. a. von Brugmann, Osthoff,
Leskien und Sievers entstanden (vgl. z. B. Leskien 1876, Sievers 1876).
Zum anderen kann von einer fundamentalen Veränderung der Disziplin
auch insofern nicht die Rede sein, als die Junggrammatiker sowohl von
ihrem Untersuchungsgegenstand als auch von ihrer naturwissenschaftli-
chen Orientierung her in der Tradition der historisch-vergleichenden
Sprachwissenschaft standen (vgl. Gardt 1999: 278ff.).
Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob die Historische
Sprachwissenschaft den Zustand der Reife im Kuhn’schen Sinne erlangt
hat, ist es schließlich auch aufschlussreich, einen Blick auf die gängigen
Lehrbücher des Fachs zu werfen. Hat nämlich eine Disziplin den Zustand
der Reife erreicht und ein Paradigma erworben, so wird dieses Paradigma
– d. h. das anerkannte Theoriegebäude zusammen mit erfolgreichen An-
wendungen – zur Ausbildung der zukünftigen Forschergenerationen in
Lehrbüchern dargestellt (vgl. Kuhn 1976: 25). Nun sind aber die Einfüh-
rungen in die Historische Sprachwissenschaft von ihrem Inhalt her alles
andere als einheitlich. Vielmehr spiegeln sie die oben beschriebene Grund-
lageninstabilität wider, die für die Disziplin in ihrem gegenwärtigen Zu-
stand charakteristisch ist. Vergleicht man etwa Schmidt (2007), Polenz
(2009) oder Nübling et al. (2010), so wird man schnell feststellen können,
dass sie jeweils unterschiedliche Bilder über die Disziplin zeigen – sowohl
hinsichtlich des Forschungsgegenstandes als auch in Bezug auf die Me-
thodologie der Forschung wie auch hinsichtlich des Erklärungsanspruchs
und des präferierten Erklärungstyps. In diesem Sinne kann man also fest-
stellen, dass die gegenwärtigen Lehrbücher der Historischen Sprachwis-
senschaft die zukünftigen Forschergenerationen in jeweils unterschiedli-
che Forschungspraxen einführen – eine Situation, die für reife Wissen-
schaften eher als untypisch zu gelten hat.
Aber selbst wenn die heutige Situation an vielen Punkten die Merkmale
von unreifen Wissenschaften, d. h. von vorparadigmatischen Forschungs-
phasen trägt, kann man dennoch keineswegs behaupten, dass die Histori-
sche Sprachwissenschaft – anderen Bereichen der Linguistik ähnlich (vgl.
Kertész/Rákosi/Bódog 2006: 438) – eine unreife Disziplin im
14 Péter Maitz

Kuhn’schen Sinne wäre. Dagegen sprechen jedenfalls mehrere Argumen-


te, von denen hier nur einige angedeutet werden können.
Zum einen hat die Historische Sprachwissenschaft eine relativ hohe
Stufe der Professionalisierung erreicht. Die Forschungen werden immer
esoterischer, so dass der Laie in den meisten Fällen nicht mehr hoffen
darf, „den Fortschritt durch das Lesen der Originalberichte der Fachleute
verfolgen zu können“ (Kuhn 1976: 35). Zum anderen sind die Grundla-
gen der einzelnen etablierten Forschungsrichtungen in Hand- und Lehr-
büchern dargestellt, so dass sich die Forscher auf subtile und esoterische
Aspekte der untersuchten Phänomene konzentrieren können und nicht
gezwungen sind, in Ermangelung von Konventionen ihr Fach jedes Mal
von Grund auf neu zu entwickeln (ebd. 28, 34). Dies hat zur Folge, dass
das Buch als Publikationsform immer mehr auf Hand- und Lehrbücher
beschränkt ist, während die Forschungsresultate zu den einzelnen relevan-
ten Teilproblemen – wie in reifen Wissenschaften üblich – zumeist in
Form von kürzeren Aufsätzen in Zeitschriften und Sammelbänden er-
scheinen. Forschungsmonographien gehen in den meisten Fällen auch in
der Historischen Sprachwissenschaft auf Qualifikationsschriften zurück,
bei denen die Buchform jedoch konventionell festgelegt ist und erwartet
wird. Die Bedeutung von Aufsätzen nimmt aber – wie auch in anderen
Bereichen der Linguistik (vgl. Kabatek 2009: 46f.) – generell und immer
mehr zu. Drittens ist die Historische Sprachwissenschaft institutionell sehr
stark und fest eingebettet: Es sind ihr eigene Lehrstühle gewidmet, sie hat
ihre eigenen internationalen Publikationsforen und Fachvereinigungen
und das Fach ist auch in universitären Lehrplänen fest verankert. Ein sol-
cher Institutionalisierungsgrad ist jedoch nach Kuhn (1976: 33f.) nur bei
Wissenschaften erwartbar, die ihr erstes Paradigma bereits erworben und
somit den Zustand der Reife erreicht haben. Und schließlich scheint unter
den von Kuhn genannten Reifekriterien auch der Umgang mit linguisti-
schen Daten einer kurzen Reflexion wert zu sein. Kuhn schreibt diesbe-
züglich Folgendes:
Beim Fehlen eines Paradigmas oder eines Kandidaten für ein Paradigma scheinen
alle Tatsachen […] gleichermaßen relevant zu sein. Folglich ist das Zusammen-
tragen von Fakten in der Frühzeit eine Tätigkeit, die weit mehr dem Zufall unter-
liegt als die, welche die darauf folgende wissenschaftliche Entwicklung kenn-
zeichnet. (Kuhn 1976: 30)

Nun können wir aber keineswegs behaupten, dass innerhalb der Histori-
schen Sprachwissenschaft ein unreflektierter und undifferenzierter Um-
gang mit linguistischen Daten herrschen würde. Im Gegenteil scheinen die
methodologischen und empirischen Standards immer strenger – wenn
auch keineswegs unbedingt einheitlich – zu sein. Die Repräsentativität der
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 15

Daten und die empirische Adäquatheit der Beschreibungen und Erklärun-


gen wird stärker denn je gefordert und reflektiert, wie dies etwa die Beiträ-
ge in Lobenstein-Reichmann/Reichmann (2003) oder auch die Texte von
Stephan Elspaß, Anna Molnár, Damaris Nübling und Richard J. Watts in
diesem Band eindeutig zeigen. Dieser bewusste und reflektierte Umgang
mit linguistischen Daten ist zweifelsfrei im Kontext des Aufschwungs der
Korpuslinguistik sowie als Folge bzw. als Teil derjenigen intensiven Aus-
einandersetzung mit der Beschaffenheit linguistischer Daten und Evidenz
zu sehen, die innerhalb der Linguistik (vgl. Kertész/Rákosi 2008) und
dabei auch innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft (vgl. Fischer
2004, Jacobs/Jucker 1995, Lehmann 2004, Nagy C. 2008 etc.) in den ver-
gangenen Jahren stattgefunden hat.
Im Sinne des Gesagten scheinen also die Merkmale der gegenwärtig
durch eine ausgeprägte Grundlageninstabilität gekennzeichneten Histori-
schen Sprachwissenschaft weder mit der Kuhn’schen Konzeption von
reifen Disziplinen vereinbar zu sein, noch erfüllen sie die Kriterien von
unreifen Wissenschaften. Der Ausweg aus diesem Dilemma kann – im
Einklang mit Percival (1976), Oesterreicher (1979: 53f.) und Kertész/Rá-
kosi/Bódog (2006) – die Einsicht sein, dass Kuhns Modell, seine Unter-
scheidung zwischen reifen und unreifen Wissenschaften, viel zu starr ist,
als dass sie auf die Linguistik und darin auf die Historische Sprachwissen-
schaft anwendbar wäre. Dieser Befund steht zwar mit Kuhns eigener Cha-
rakterisierung der Sozial- bzw. Geisteswissenschaften als unreife Diszipli-
nen im Widerspruch. Doch er ist insofern nicht unbedingt verwunderlich,
als Kuhns Augenmerk ausschließlich auf die Naturwissenschaften gerich-
tet war. In seinem Buch hat er weder die Linguistik, noch andere geistes-
bzw. sozialwissenschaftliche Disziplinen eingehend analysiert, so dass sein
Werk letztlich die Frage offen ließ, ob die Lehre von der Struktur wissen-
schaftlicher Revolutionen auf diese Wissenschaften überhaupt angewendet
werden kann.
Von den Eigenheiten, die auf die Unvereinbarkeit der Kuhn’schen
Lehre mit der internen Dynamik der Historischen Sprachwissenschaft hin-
deuten, soll hier zum Schluss noch eine weitere kurz angedeutet werden.
Es handelt sich um die Frage, durch welche Faktoren die Entstehung von
grundlegenden Neuerungen, d. h. die Begründung und Etablierung von
neuen Forschungsansätzen in der Disziplin ausgelöst wurde bzw. wird.
Dies ist ein Punkt, an dem eine weitere Besonderheit in der jüngeren For-
schungsentwicklung erkennbar wird.
Kuhn vertritt bezüglich dieser Frage die Grundthese, dass das Auftre-
ten von konkurrierenden Forschungsweisen, die die Grundlagen der bis
dahin herrschenden Forschungspraxis in Frage stellen, letztlich auf Ano-
malien zurückgeführt werden kann. Damit sind Entdeckungen oder neu-
16 Péter Maitz

artige Tatsachen gemeint, die im Rahmen der alltäglichen Forschungspra-


xis auftauchen, die aber mit den Mitteln, die die wissenschaftliche Ge-
meinschaft als adäquat anerkennt und benutzt, nicht beschrieben und er-
klärt werden können. In dem Maße, wie die Zahl solcher Anomalien
wächst und der Misserfolg der Versuche zur Behebung dieser Anomalien
bewusst wird, kommt es zur Entstehung und Verbreitung eines Krisenbe-
wusstseins innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Das Vertrauen
zu den bis dahin kollektiv anerkannten Überzeugungen, Methoden und
Begriffen schwindet immer mehr (vgl. Kuhn 1976: 11, 65ff.). In diesem
Klima kommt es dann zur Formulierung von Neuansätzen, die, wenn sie
Erfolg versprechend und neuartig genug sind, auch von anderen Mitglie-
dern der Gemeinschaft übernommen werden.
Wirft man einen Blick auf die Historische Sprachwissenschaft, so wird
man recht schnell feststellen müssen, dass diese Beschreibung bestenfalls
zum geringeren Teil auf die Entwicklungen innerhalb der Disziplin zu-
trifft. Fundamentale Neuerungen, d. h. voneinander relativ unabhängige
und inkompatible Ansätze gibt es und gab es – wie gesagt – nicht wenige.
Doch solche unter ihnen, deren Entstehung durch solche Anomalien in
der alltäglichen Forschungspraxis ausgelöst worden wäre, können kaum
genannt werden. Ein Beispiel hierfür könnte immerhin der von Vimos
Ágel jüngst vorgeschlagene Ansatz einer dynamischen Grammatik (vgl.
Ágel 2001, 2003, 2005) sein. Dessen Entwurf wurde – wie in Ágel (2003:
1) berichtet wird – in direkter Weise durch die Absicht motiviert, eine
konkrete Forschungsaufgabe, nämlich die Erarbeitung einer neuhochdeut-
schen Sprachstufengrammatik, zu lösen:
Als künftiger Autor der „Neuhochdeutschen Grammatik“ in der „Sammlung kur-
zer Grammatiken germanischer Dialekte“ ist man doppelt in die Zange genom-
men. Denn einerseits hat man die Verpflichtung und auch den Willen, eine ehr-
würdige Tradition historischer Grammatikforschung würdig fortzusetzen. An-
dererseits muss man auch den theoretischen Anforderungen genügen, die an Ge-
genwartsgrammatiken gestellt werden. Schließlich mündet ja die eigene histori-
sche Beschreibung unmittelbar in die Beschreibung der Gegenwartssprache.
(Ágel 2003: 1)

Hier handelt es sich also tatsächlich um ein Forschungsproblem, das sich


in eine Reihe von weiteren Problemen fügt, die sich im Rahmen einer an-
erkannten Forschungstradition stellen und von der wissenschaftlichen Ge-
meinschaft als relevant anerkannt werden. Bei der Lösung dieses Prob-
lems traten aber Anomalien, d. h. in diesem Forschungsrahmen nicht zu
lösende Probleme auf, die letztlich zur Ablehnung der bis dahin befolgten
Forschungsnormen und zur Erarbeitung von radikal abweichenden For-
schungsgrundlagen führten (vgl. dazu auch Molnár, in diesem Band).
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 17

Doch dieser Weg scheint keineswegs der übliche zu sein. Vielmehr


werden neue, konkurrierende Sichtweisen – besonders in der jüngeren
Forschungsgeschichte – zumeist von außen, durch den interdisziplinären
Austausch mit anderen linguistischen und extralinguistischen Disziplinen,
herangetragen. Es sind also weit weniger die im Rahmen der gängigen
Forschungspraxis auftauchenden Anomalien als vielmehr soziologische
Motive und nicht zuletzt natürlich die persönlichen Interessen der For-
scher, die die Entwicklungsdynamik innerhalb der Forschung prägen. Als
herausgegriffenes Beispiel hierfür soll an dieser Stelle der Entstehungs-
kontext von lediglich zwei jüngeren Ansätzen, nämlich der Pragmatischen
Sprachgeschichte (vgl. z. B. Sitta 1980, Cherubim 1998), sowie der Euro-
päischen Sprachgeschichte (vgl. z. B. Reichmann 2001, 2002, Mattheier
2010) kurz erwähnt werden.
Die Forderung zur Pragmatisierung der Sprachgeschichtsschreibung
ist innerhalb der Germanistik ab den 1980er Jahren immer häufiger und
prägnanter formuliert worden. Doch den Anlass dazu gab nicht etwa das
Versagen der bis dahin weitgehend vorherrschenden philologisch-jung-
grammatischen Forschungstradition. In diesem Rahmen wird ja auch bis
heute weiter gearbeitet. Vielmehr ging es – wie in Abschnitt 3 ausgeführt –
darum, durch den Anschluss an progressive Forschungsrichtungen außer-
halb des Fachs, in diesem Fall eben an die Pragmatik, die Historische
Sprachwissenschaft zu erneuern und auch in den Augen der linguistischen
Außenwelt wieder salonfähig zu machen. Hierzu ein Zitat aus einer Podi-
umsdiskussion, die unter dem bezeichnenden Titel Was soll Gegenstand der
Sprachgeschichtsforschung sein? im Rahmen eines Symposions im Jahre 1992
veranstaltet wurde:
Systemgeschichte soll zum Gesellschaftlichen hin funktionalisiert werden, um zu
vermeiden, daß lediglich lautliche oder morphologische Systeme „rekonstruiert“
bzw. „hypostasiert“ werden, „die mit dem Handeln von Menschen oft herzlich
wenig zu tun haben“ (D. Cherubim). (Reichmann et al. 1995: 455)

Am Zitat wird deutlich erkennbar, dass hinter der Forderung der Pragma-
tisierung in Wirklichkeit nichts anderes als die Absicht des Bruchs mit der
junggrammatischen Tradition steckt. Die Argumentation erfolgt bereits
aus einer genuin pragmatischen Perspektive, aus der die junggrammati-
schen Forschungskonventionen natürlich als defizitär erscheinen. Die
Pragmatisierung der Sprachgeschichtsforschung wird nicht deswegen be-
fürwortet, weil sie die Beseitigung von Anomalien verspricht, die im Rah-
men der früheren Forschung nicht aus dem Weg geräumt werden konn-
ten. Pragmatische Fragestellungen wurden ja bis dahin gar nicht erst for-
muliert. Die pragmatische Perspektive wird stattdessen insofern als nütz-
18 Péter Maitz

lich dargestellt, als durch sie der viel getadelte junggrammatische Atomis-
mus überwunden werden kann.
In Bezug auf das Konzept der Europäischen Sprachgeschichte tritt
uns im folgenden Zitat eine dezidiert soziologisch orientierte Argumenta-
tion entgegen. Auch in diesem Fall wird von dem neuen Ansatz nicht die
Lösung von bis dahin als unlösbar erscheinenden Problemen erwartet. Im
Zentrum der Argumentation steht die – viel zu oft außer Acht gelassene –
Erkenntnis, dass auch wissenschaftliche Forschung im sozialen Kontext
stattfindet und gesellschaftliche Interessen bedienen muss:
(1) Wenn sich vor allem in der Schule, aber auch an der Universität auf die Dauer
nichts […] hält, was nicht in der Gesellschaft als relevant, wichtig, interessant be-
funden wird, dann verliert die Sprachgeschichtsforschung herkömmlicher einzel-
sprachbezogen-nationaler Ausrichtung in dem Maße ihre gesellschaftliche Be-
gründung, wie sich eine neue […] Identität ‚Europa‘ […] bildet. (2) Wenn man
dem dadurch zu entgehen versucht, dass man die einzelsprachbezogen-nationale
Sprachgeschichtsschreibung ihrer nationalen Komponenten entkleidet, […] dann
ergibt sich vermutlich ein gesellschaftliches Motivationsproblem. Eine maximal
sachlich (was auch immer das heißen mag) aufgezogene Geschichte einer Einzel-
sprache könnte sich als ohne Identifikationspotential entpuppen […]. (3) Man
wird also […] eine Neubegründung der Sprachgeschichtsforschung in dem Sinne
vorzunehmen haben, dass die Einzelsprache aus ihrem europäischen Rahmen
heraus beschrieben wird. (Reichmann 2002: 40)

Und last but not least wird die Unvereinbarkeit des Kuhn’schen Wissen-
schaftsbildes mit der Historischen Sprachwissenschaft auch am Beispiel
der in den vergangenen Jahrzehnten wieder sehr intensiv betriebenen For-
schungen zur Sprachwandeltheorie erkennbar (vgl. Coseriu 1974, Croft
2000, Keller 1990, Labov 1994, 2001, 2010, Wurzel 1988 etc.). Man kann
ja nicht behaupten, dass die Entstehung dieser neueren Sprachwandelthe-
orien von neuen Daten und Entdeckungen herbeigeführt worden wäre,
die frühere Theorien falsifiziert hätten. Umso weniger ist dies der Fall, als
die meisten modernen Sprachwandeltheorien von Forschern aufgestellt
worden sind, die bis dahin zumeist oder ausschließlich außerhalb der His-
torischen Sprachwissenschaft tätig waren. Freilich gibt es auch Ausnah-
men (vgl. etwa Lass 1980), doch insgesamt kann nach Hermann Paul
kaum ein anderer führender Sprachwandeltheoretiker genannt werden, der
selbst mit historischen Daten gearbeitet hätte (oder umgekehrt kaum ein
Sprachhistoriker, der mit einer Sprachwandeltheorie hervorgetreten wäre).
Die wichtigsten Impulse für diese Theorien lieferten also weniger in Ano-
malien wurzelnde Krisen als vielmehr Probleme und Erkenntnisse anderer
linguistischer und extralinguistischer Disziplinen wie z. B. der Soziologie
bzw. der Soziolinguistik (Labov, Croft), der Evolutionsbiologie (Croft)
oder der Wirtschaftswissenschaft (Keller).
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 19

Zusammengefasst kann also festgestellt werden, dass Kuhns Wissen-


schaftstheorie allem Anschein nach nicht in der Lage ist, all diejenigen
Entwicklungen zu erklären, die sich im Laufe der Geschichte der Histori-
schen Sprachwissenschaft abgespielt haben. Aber auch – und ganz beson-
ders – die heutige Situation der Historischen Sprachwissenschaft zeichnet
sich durch Eigenheiten aus, die sich vom von Kuhn gezeichneten Bild der
Naturwissenschaften aber auch vom früheren Profil der Disziplin an vie-
len Punkten grundsätzlich unterscheiden. Wohin die geschilderten Ent-
wicklungen der vergangenen Jahrzehnte führen werden, lässt sich kaum
voraussagen. Auf der einen Seite hat es den Anschein, dass die Diversifi-
kation und auf diese Weise die Grundlageninstabilität innerhalb des Fachs
immer mehr zunimmt, da ältere Ansätze neben den neueren stets beste-
hen bleiben. Auf der anderen Seite führt aber der interdisziplinäre Aus-
tausch zur gleichen Zeit auch zu theoretischen und methodologischen
Annäherungen und Konvergenzen, sowohl zwischen einzelnen For-
schungsrichtungen innerhalb der Disziplin als auch zwischen der Histori-
schen Sprachwissenschaft und anderen Disziplinen innerhalb wie außer-
halb der Linguistik. Diese intensive und vielfältige Dynamik der letzten
Jahrzehnte deutet zum einen auf eine in der Geschichte des Fachs wohl
nie vorher vorhandene Vitalität hin. Zum anderen zeugt sie davon, dass
die Historische Sprachwissenschaft ihre einstige periphere Stellung inner-
halb der Linguistik verlassen hat und heute eindeutig zu den progressiven
und innovativen Disziplinen innerhalb der Linguistik gehört.

6. Zu den Beiträgen des Bandes


All diese Entwicklungen und Merkmale werden auch von den Beiträgen
dieses Sammelbandes widerspiegelt. Sie vermögen zwar kein repräsentati-
ves Bild über sämtliche Gegenstände, Methoden und Theorien innerhalb
des Fachs zu geben. Durch ihre zumeist selbstreflexive Ausrichtung und
ihre kritische Perspektive zeigen sie aber zahlreiche zentrale Entwick-
lungstendenzen, Desiderate und Zukunftsperspektiven des Fachs auf. Sie
vertreten die verschiedensten Forschungsrichtungen: die Sprachwandel-
theorie, die Diachrone Sprachtypologie und die Historische Grammatiko-
graphie; weiters die Grammatikalisierungsforschung, die Historisch-ver-
gleichende Sprachwissenschaft, die Sprachgeschichtsschreibung, dabei
u. a. die kulturhistorisch orientierte Sprachgeschichte sowie – innerhalb
der Soziopragmatischen Sprachgeschichte – die Sprachgebrauchsgeschich-
te, die Sprachbewusstseinsgeschichte und die Historische Pragmatik. Da-
mit decken sie zwar keineswegs das gesamte Forschungsspektrum inner-
halb des Fachs ab, auf jeden Fall wird aber an ihnen diejenige Vielfalt an
20 Péter Maitz

Gegenständen, Methoden und Theorien erkennbar, die für die Disziplin


heute charakteristisch ist. Die meisten Beiträge sind aus einer germanisti-
schen Perspektive heraus entstanden. Je ein Beitrag gewährt aber auch
einen Einblick in einschlägige Probleme und Fragestellungen innerhalb
der Anglistik (Richard J. Watts) und der Finnougristik (Marianne Bakró-
Nagy).
An den Fragestellungen, methodologischen Herangehensweisen und
theoretischen Orientierungen der einzelnen Aufsätze werden auch die
vielfältigen interdisziplinären Beziehungen sichtbar, die die Historische
Sprachwissenschaft von heute maßgeblich prägen. Ohne Vollständigkeits-
anspruch kann in diesem Zusammenhang unter den linguistischen Teildis-
ziplinen vor allem die Soziolinguistik (u. a. Elspaß, Takada, Watts), die
Korpuslinguistik (Bubenhofer/Scharloth, Bubenhofer/Schröter, Elspaß),
die Kognitive Linguistik (Watts, Kiss) oder die Sprachtypologie (Nübling,
Szczepaniak) genannt werden; von den Wissenschaftsbereichen außerhalb
der Linguistik wiederum u. a. die Kulturwissenschaft (Gardt), die Biologie
(Kiss), die Mentalitätsgeschichte oder die discourse studies (Bubenhofer/
Schröter).
In mehreren Beiträgen wird für den Abbau von (Teil)Disziplinen-
grenzen und die gegenseitige Annäherung von einst relativ autonomen
und einander kaum wahrnehmenden linguistischen Forschungsgebieten
argumentiert. So plädiert etwa Anna Molnár für mehr Austausch und ge-
genseitige Offenheit zwischen Grammatikalisierungsforschung und Histo-
rischer Grammatikographie; Renata Szczepaniak für die Anwendung
sprachtypologischer Beschreibungs- und Erklärungsinstrumentarien in der
Historischen Phonologie; Marianne Bakró-Nagy für die Einbeziehung von
Erkenntnissen der Allgemeinen Sprachwissenschaft (u. a. der Sprachtypo-
logie, der Grammatikalisierungsforschung oder der Laborphonologie)
auch in etymologischen Forschungen; und Noah Bubenhofer/Joachim
Scharloth für den Anschluss der (historischen) Stilanalyse an Methoden
der Korpuspragmatik.
Auf der anderen Seite wird man aber an den Fragestellungen, metho-
dologischen Reflexionen und nicht zuletzt natürlich an den kritischen,
explizit oder implizit wertenden Äußerungen der Autoren auch die Kon-
kurrenzen, Inkompatibilitäten und gegenseitige Abneigungen erkennen
können, die – nicht selten unüberwindbar erscheinende – Trennlinien zwi-
schen den einzelnen Forschungsrichtungen signalisieren. Auf der einen
Seite plädiert etwa Damaris Nübling aus einer typologischen Perspektive
heraus – ähnlich zu Anna Molnár – für problemorientiertes Denken und
somit gegen eine isolierte Behandlung der einzelnen sprachhistorischen
Epochen. Auf der anderen Seite geht Paul Rössler gerade der Frage nach,
wie eine möglichst empirisch adäquate und sprachgeschichtsdidaktisch
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? 21

vorteilhafte Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte aussehen


könnte. In ähnlicher Weise argumentiert Stephan Elspaß – im Einklang
mit Dieter Cherubim, Jenő Kiss und Richard J. Watts – dagegen, in steri-
len, in sich geschlossenen Sprachsystemen zu denken und bei Sprachwan-
delerklärungen den sozialen Kontext, d. h. die außersprachlichen Bedin-
gungsfaktoren des Sprachgebrauchs gänzlich auszublenden. Auf der
anderen Seite spricht sich aber Damaris Nübling entschieden für eine
sprachtypologische Orientierung und damit für systemimmanente und
prinzipiengesteuerte Erklärungen aus, da diese Richtung ihrer Ansicht
nach „weit mehr verspricht als nur nach Sprachkontaktszenarien oder
dem Einfluss gesellschaftlicher Veränderungen auf die Sprache zu su-
chen“. Und während sie sich – zusammen mit Renata Szczepaniak – für
eine sprachtypologisch orientierte Historische Linguistik einsetzt und
deren Nutzen an mehreren Beispielen auch veranschaulicht, widmet sich
Stephan Elspaß in seinem Beitrag u. a. gerade auch der Frage, ob und
inwieweit die zwangsläufigen Idealisierungen und Abstraktionen in der
typologischen Arbeitsweise vertretbar und die zugrunde gelegten Daten –
im Sinne von Ágel (2001: 139) – empirisch viabel seien.8
Generell lässt sich sagen, dass in den meisten Beiträgen des Bandes
verschiedene Elemente der gegenwärtigen Forschungspraxis kritisch re-
flektiert und nicht selten sogar grundsätzlich in Frage gestellt werden. So
kritisiert etwa Richard J. Watts den gegenwärtig immer noch viel zu ver-
engten, selektiven und teleologischen Blick auf die Sprachgeschichte, der
zu einem bedeutenden Teil der metaphorischen Struktur des wissenschaft-
lichen Diskurses bzw. einer Reihe von ideologisch generierten und diskur-
siv verfestigten Sprachmythen verschuldet ist. Die Beiträge von Noah
Bubenhofer/Juliane Schröter, Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth und
Stephan Elspaß können u. a. auch als ein Plädoyer für eine korpus-
linguistische Neuorientierung in sprachhistorischen Forschungen gelesen
werden. Und Anna Molnár weist in ihrem Aufsatz – im Einklang mit Ágel
(2005) – auf die Unzulänglichkeit der Beschreibungskategorien wie auch
der Anlage historischer Grammatiken hin, die ihrerseits u. a. die Integrati-
on von relevanten Erkenntnissen der Grammatikalisierungsforschung in
die Historische Grammatikographie verhindern.
Diese sind nur einige herausgegriffene Kritikpunkte und Forderungen,
die neben den vielen anderen auf Schwachstellen bzw. aktuelle und mög-
licherweise die zukünftige Forschung prägende Entwicklungstendenzen
hindeuten. An ihnen wird nicht zuletzt erkennbar, dass der besonders ab
den 1980er Jahren einen enormen Aufschwung genommene Erneue-
rungsprozess innerhalb des Fachs bis heute andauert und keineswegs zu

8 Zu dieser Frage vgl. auch die Ausführungen in Oesterreicher (2001: 1573ff.).


22 Péter Maitz

einem konsenshaften Abschluss gekommen ist. Die Entstehung eines


einzigen einheitlichen, von der wissenschaftlichen Gemeinschaft allgemein
anerkannten Paradigmas im Kuhn’schen Sinne ist in der näheren Zukunft
allem Anschein nach nicht zu erwarten. Dies kann aber nur solange als ne-
gatives Zeichen gedeutet werden, solange man verkrampft am
Kuhn’schen Wissenschaftsbild festhält und damit stillschweigend auch die
Annahme akzeptiert, dass auch die Geisteswissenschaften nach dem von
Kuhn über die Naturwissenschaften gezeichneten Bild zu funktionieren
haben. Ist dies aber nicht der Fall, so kann die Vielfalt der Erkenntniswege
umgekehrt gerade als Vorteil, u. a. als Zeichen der Vitalität und der Inno-
vativität der Disziplin gesehen werden. Auf jeden Fall gilt aber, diesen
Pluralismus und diese Grundlageninstabilität sowohl unter epistemologi-
schem als auch unter soziologischem Aspekt zu reflektieren und bewusst
zu steuern. Es bleibt zu wünschen, dass die Aufsätze dieses Sammelban-
des zu einer solchen bewussten und reflektierten Auseinandersetzung mit
den Grundlagen der Forschung anspornen und somit auch zum objekt-
wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt in der Historischen Sprachwis-
senschaft beitragen mögen.

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28 Péter Maitz
Dieter Cherubim

Verstehen wir den Sprachwandel richtig?1

1. Einleitung
Die Ausgangsfrage dieses Bandes „Wohin steuert die Historische Sprach-
wissenschaft?“ soll, wie ich glaube, uns vor allem dazu anregen, gemein-
sam darüber nachzudenken, was diese anerkannte Subdisziplin der Allge-
meinen Sprachwissenschaft sein und was sie speziell leisten kann. Über-
zeugend beantworten können wir diese Frage wohl nicht, weil trotz einer
kaum zu überblickenden Literatur seit junggrammatischer Zeit sichere
Prognosen dazu kaum möglich sind.2 Und dies nicht nur, weil „der Geist
weht, wohin er will“, sondern weil wissenschaftliche Entwicklungen kom-
plexen Bedingungen oder Steuerungsfaktoren unterliegen, die man meist
erst post festum dingfest machen oder rekonstruieren kann. Indem aber die-
se Frage in dieser hypostasierenden, aktivischen Form gestellt wird, ver-
anlasst sie uns aber auch, daran zu erinnern, dass wissenschaftliche Diszip-
linen nicht im „luftleeren Raum“ agieren, sondern stets mit bestimmten
Interessenkontexten und Konstellationen verbunden sind, in denen Ge-
genstände entworfen, Untersuchungszwecke formuliert und geeignete
Untersuchungsmethoden dafür entwickelt werden.3 Wir alle wissen ja aus
Erfahrungen, dass es so ‚rational‘ in der Praxis nicht läuft und dass es
meistens mehrere Wege gibt, die uns „nach Rom“ führen.4

1 Der vorliegende Beitrag orientiert sich weitgehend an dem in Debrecen gehaltenen Vor-
trag, fügt aber erläuternde Anmerkungen und aktuelle Hinweise hinzu.
2 Zwar gilt vielfach Jacob Grimm mit seinem Programm einer historischen Grammatik
(1819) als Gründungsheros (vgl. Cherubim 1985), aber erst Hermann Pauls Prinzipien der
Sprachgeschichte (1880) können m. E. als das eigentliche Gründungsdokument der modernen
„Historischen Sprachwissenschaft“ gelten, dem dann am Ende des 19. Jh. allerdings eine
Reihe weiterer „Summen“ (Prinzipienlehren) an die Seite gestellt werden können.
3 Hier darf nur an F. de Saussures bekanntes dictum (1915: 23) erinnert werden: „Bien loin
que l’objet précède le point de vue, on dirait que c’est le point de vue qui crée l’objet“.
4 Hymes (1974) argumentiert daher zu Recht gegen die Vorstellung von „Paradigmawechseln“
(nach Th. S. Kuhn) in der Entwicklung der Sprachwissenschaft. Was meist eher zu beob-
achten ist, sind wechselnde Dominanzen in einem Feld mehrsträngiger Entwicklungen.
30 Dieter Cherubim

Ich selbst habe mich schon länger (Cherubim 1975) mit dieser Teildis-
ziplin und ihren unterschiedlichen Entstehungsbedingungen befasst und
zu verstehen versucht, womit sie sich eigentlich beschäftigt und warum sie
das tut. Angesichts der ja oft apostrophierten Vielfalt sprachhistorischer
Ansätze war und ist das keine leichte Aufgabe, die man in einem Zugriff
bewältigen könnte. Selbst Experten auf diesem Gebiet wie der frühere
Tübinger Linguist Eugenio Coseriu († 2002) oder Wolfgang Ullrich Wur-
zel († 2001) aus Berlin, um nur zwei Namen von Kollegen zu nennen, die
heute nicht mehr mitdiskutieren können, haben sich in immer wieder neu-
en Anläufen an diesem Problem versucht, ohne zu einer endgültigen Lö-
sung zu kommen.5 Aber auch der Romanist Helmut Lüdtke könnte hier
genannt werden, dessen systemtheoretischer Ansatz (Lüdtke 1980) keines-
wegs der letzte dieser Art war, wie gerade wieder aktuelle Diskussionsan-
sätze zeigen, die die breitgefächerte Diskussion unter einem Dach zu-
sammen zu führen und auf ein neues, modernen wissenschaftstheoreti-
schen Ansprüchen genügendes Niveau zu heben versuchen (Zeige 2011).6
Mein eigener Versuch einer Vergewisserung, den ich hier unterneh-
men will und der auf einem Verständnis von Wissenschaftsentwicklung als
Geschichte heterogener Problematisierungen fußt, wird also genau so vor-
läufig bleiben wie andere dieser Art und bedarf ebenso wie diese weiter-
führender Kritik und fördernder Umgestaltung. Dennoch darf man davon
ausgehen, dass es für alle diskutierten Ansätze eine Art Grundlagenprob-
lematik gibt, die es erlaubt, einen Zusammenhang zwischen unterschied-
lich fokussierten Aspekten zu rekonstruieren.7 Dazu will ich folgende
Schritte unternehmen:
Erstens will ich versuchen, mein Verständnis des Sprachwandels als
Konstitutions- bzw. Funktionsprinzip natürlicher Sprachen zu explizieren
und danach fragen, wie dieses Prinzip „in the long run of linguistics“ Be-
rücksichtigung fand. Letzteres kann hier selbstverständlich nur selektiv
und exemplarisch geschehen.
Zweitens will ich einige Überlegungen dazu anstellen, wie der Sprach-
wandel in den Gegenstandsbereich der heutigen Sprachwissenschaft inte-
griert wird bzw. integriert werden kann.
Drittens gehe ich davon aus, dass der Wandel natürlicher Sprachen ein
komplexer Vorgang ist, dessen Untersuchung also eine fruchtbare Opera-
tionalisierung verlangt, die wenigstens ansatzweise skizziert werden soll.

5 Da auf die Menge ihrer Beiträge hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, sei nur
auf zwei immer noch lesenswerte Diskussionsbeiträge hingewiesen: Coseriu (1958) und
Wurzel (1975).
6 Eine neue Zusammenfassung und einen eigenen Ansatz versucht auch Kotin (2005, 2007);
eher populär ist die Darstellung der Evolution von Sprache durch Deutscher (2005).
7 Ähnlich geht jetzt auch Zeige (2011: 1ff.) vor.
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 31

Viertens möchte ich das zentrale Problem der Erklärung des Sprach-
wandels ansprechen, das für mich nur durch Rekurs auf die vielfältigen
Funktionen natürlicher Sprachen zu lösen ist, weil ich diese prinzipiell als
Techniken verstehe, die vor allem der menschlichen „Verständigung“ die-
nen, und ihre Entwicklung keinen Zweck in sich selbst hat, – auch wenn
es bisweilen so aussehen mag.8

2. Sprachwandel als Konstitutions-


und Funktionsprinzip der Sprache
Ich gehe davon aus, dass natürliche Sprachen verstanden werden können
als historisch entwickelte, semiotische Techniken menschlicher Verständi-
gung über die „Welt“, mit der wir es zu tun haben. Nicht zuletzt mit ihrer
Hilfe konstruieren wir fortwährend die Wirklichkeiten, in denen wir leben,
uns zurechtfinden müssen und unsere Interessen persönlicher oder sozia-
ler Art verfolgen können. Techniken: das meint systematisch organisierte
und habitualisierte Fertigkeiten, die wir uns in sozialen Zusammenhängen
(Spracherwerb, Sprachsozialisation) aneignen und immer wieder in kom-
munikativen Akten überprüfen, festigen oder verändern. Dabei werden
diese Techniken kulturell überformt (z. B. verschriftlicht, standardisiert),
so dass sie ihren Benutzern nicht nur als Ausdruck ihrer Identität oder Le-
bensform bewusst, sondern auch in ihren historischen Dimensionen zu-
gänglich werden können.
Die Historizität natürlicher Sprachen bezieht sich jedoch nicht nur auf
die Tatsache, dass sie alle eine Vergangenheit haben, die mehr oder weni-
ger stark bis in die Gegenwart fortwirkt (Cherubim 2012), sondern auch
auf die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Veränderung und Reproduktion in
Gegenwart und Zukunft. In ihr kommen Sprachverschiedenheit, Sprach-
variation und Sprachwandel ebenso wie Spracherwerb und Sprachge-
brauch sinnvoll zusammen.9 Insofern ist der Wandel von Sprachen weder
eine bloße Akzidenz ihrer Systematik, noch eine pathologische Abwei-
chung ihres Funktionierens, sondern ein konstitutives Moment, das ihren
sinnvollen Gebrauch fortlaufend gewährleist. Wilhelm von Humboldts

8 Mit „Verständigung“ als oberster Funktion natürlicher Sprachen sollen hier nur chiffrenar-
tig alle unterschiedlichen Funktionszuweisungen auf den Punkt gebracht werden, die in der
Linguistik diskutiert wurden. Vgl. etwa Oesterreicher (1979). Grundsätzlich scheinen mir
aber immer noch die drei Bühlerschen Funktionen (Darstellung, Symptom, Appell) ein
fruchtbarer Ausgangspunkt für alle derartigen Bestimmungen zu sein. Ihnen entsprechen
heute die kognitiven, soziokulturellen und pragmatischen Zugriffe in der modernen
Sprachwissenschaft.
9 Vgl. dazu ausführlicher Oesterreicher (2001).
32 Dieter Cherubim

„genetische Definition“ von Sprache10 weist also schon in die richtige


Richtung, müsste aber sicher noch weiter „ausbuchstabiert“ werden.
Wie in jeder Wissenschaft, die es mit komplexen Gegenständen zu tun
hat, kann es daher auch in der Sprachwissenschaft zu Arbeitsteilungen
kommen, die eine sinnvolle Konzentration ermöglichen, spezifischen In-
teressen gerecht werden und sogar eine eigene Logik entwickeln können.
Die Historische Sprachwissenschaft beschäftigt sich, darüber dürfte Kon-
sens bestehen, zentral mit dem Problem des Sprachwandels, seinen Bedin-
gungen, Verlaufsformen und Konsequenzen im sprachlichen wie im au-
ßersprachlichen Bereich. Selbstverständlich kann man diesen Arbeitsbe-
reich, z. B. aus methodischen Gründen, auch enger schneiden. Dies ist
z. B. der Fall, wenn heute nur von Historischer Grammatik statt von Histori-
scher Sprachwissenschaft gesprochen wird und erstere für letztere stehen
soll.11 Man sollte sich aber im Klaren darüber sein, dass man so Idealisie-
rungen des Gegenstandes vornimmt, die legitimiert werden müssen.
Unter Sprachwandel verstehe ich eine Menge oder einen Zusammen-
hang von Veränderungen der Sprachtechnik, die deren System und Ver-
wendung betreffen sowie nachhaltig sind, d. h. von den folgenden Gene-
rationen übernommen (Neuerung) oder nicht übernommen (Verlust)
werden. Dazu gehört auch die Repräsentanz dieser Sprachtechnik im Be-
wusstsein ihrer Sprecher sowie ihre Verteilung auf unterschiedliche soziale
Verhältnisse. Sprachwandel ist so stets mit Einstellungswandel und Wan-
del der sozialen Funktion sprachlicher Phänomene verbunden. Schon F.
de Saussures geht in seinen Vorlesungen von drei konstitutiven Faktoren
des Sprachwandels aus. Denn die Veränderbarkeit (mutabilité) sprachlicher
Zeichen, die für ihn zu den Grundtatsachen der Sprache gehört, verdankt
sich dem Zusammenwirken von drei Faktoren (1915: 112f.): dem System
der Sprache (langue), der Zeit (temps) und der Sprachgemeinschaft (masse
parlante). Aus dem Zusammenspiel der drei Faktoren ergibt sich so auch,
wie Saussure es gefasst hat (1915: 108ff.), das paradoxe Verhältnis von
Kontinuität und Diskontinuität in den natürlichen Sprachen.12 Helmut
Lüdtke (1980: 4) hat in diesem Zusammenhang von der „Staffettenkonti-
nuität“ natürlicher Sprachen gesprochen, die, solange sie „leben“, in kom-
plexen Prozessen der Wiederaneignung von Generation zu Generation
weitergegeben werden.

10 Vgl. Humboldt (1830-1835: 418, 431). Auch Anttila (1993) geht bei seinen grundsätzlichen
Überlegungen von einem genetischen Zeichenbegriff aus.
11 In ähnlicher Weise hat Horst Isenberg (1965) zwischen einer „Theorie des Sprachwandels“
und einer „Theorie der Sprachentwicklung“ unterschieden. Vgl. auch dazu Cherubim
(1975: 42f.).
12 Vgl. dazu auch Cherubim (1998), Kotin (2005, 2007).
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 33

Zum Sprachwandel als Konstitutions- bzw. Funktionsprinzip natürli-


cher Sprachen gehört weiterhin, dass er, wenn auch immer nur in Gren-
zen, von uns selbst wahrgenommen, reflektiert und produktiv, z. B. im In-
teresse der Wiederaneignung älterer Sprachzustände (Philologie) oder
einer Sprachkultivierung (Stilistik, Sprachkritik), verarbeitet werden kann.
Die Vorstellung, er ereigne sich nur „hinter dem Rücken“ der Sprachsub-
jekte, gleichsam per Anschub durch eine unsichtbare Hand (Keller 1990),
erscheint mir von daher unzureichend oder sogar unangemessen.13 Ange-
sichts dieser Evidenz des Sprachwandels im Sprachleben wie in unserer
Wahrnehmung erscheint es erstaunlich, dass sich die Sprachwissenschaft
in ihrer Entwicklung relativ wenig bzw. erst in neuerer Zeit intensiver da-
mit befasst hat. Ich greife nur einige besonders interessante Positionen
heraus.
Für die antiken Grammatiker, denen es primär um die „Richtigkeit“
der Sprache ging (Siebenborn 1976), war das kein sonderlich wichtiges
Thema;14 anders für die Textphilologie, die sich z. B. in Alexandria mit
älteren Texten oder der Erklärung veralteten Wortguts (Etymologie) aus-
einandersetzen musste. In M. Terentius Varros leider nur fragmentarisch
erhaltenen Schrift De lingua Latina (1. Jh. v. Chr.) finden wir bereits An-
sätze zu allgemeineren Überlegungen zum Sprachwandel, die durch wei-
teres antikes Material (Glossen, Kommentare etc.) angereichert werden
können (Schröter 1960). Motiviert durch den biblischen Mythos von der
Sprachentstehung (Genesis) und Sprachdifferenzierung (Turmbau zu Ba-
bel) erörterte dann der italienische Dichter Dante in seiner poetologischen
Programmschrift De vulgari eloquentia (um 1300) auch sprachhistorische
Aspekte und verknüpfte sie mit sprachsoziologischen Beobachtungen. In
den dadurch angestoßenen späteren Sprachdiskussionen der italienischen
Renaissance (Hall 1936, Read 1977) wird das Thema des Sprachwandels
bereits ausgiebiger behandelt. Dennoch bleibt diese Behandlung noch
lange spekulativ, was auch für die darauf folgenden kulturhistorischen Be-
mühungen des Barock (z. B. J. G. Schottelius, J. G. von Eccard) und sogar
die sensualistischen Sprachtheorien des 18. Jh. (Condillac, J. G. Herder, J.

13 Dies gilt selbst dann, wenn man Kellers Zurückweisung einer bloßen Alternative von Kau-
salität und Finalität im Sprachwandel akzeptiert, d. h. mit ihm glaubt, dass der Sprachwan-
del weder allein durch außersprachliche Faktoren (z. B. soziale Veränderungen) bedingt
wird noch von den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft für bestimmte Zwecke (z. B. Er-
füllung neuer kommunikativer Bedürfnisse) intendiert wird. Das heißt aber m. E. nicht,
dass finale Motivationen in Prozessen des Sprachwandels keine oder nur eine vernachlässi-
genswerte Funktion haben. Vgl. dazu auch das integrative Modell von Mattheier (1984:
729). Die Schwachstelle in Kellers Theorie des Sprachwandels scheint mir daher das Prob-
lem zu sein, wie es von kommunikativ motivierten Innovationen zu kollektiv akzeptiertem
Wandel kommen kann. Doch vgl. jetzt Keller (2006).
14 Doch vgl. Allen (1948).
34 Dieter Cherubim

Ch. Adelung) noch gilt. Erst die großen sprachvergleichenden Untersu-


chungen des 19. Jh. (W. v. Humboldt, F. Bopp, A. F. Pott u. a.) lieferten
dann eine hinreichende Materialbasis, um auf dieser Basis anspruchsvolle-
re theoretische Modelle (Prinzipienlehren) entwickeln zu können. Her-
mann Pauls (1880) herausragender Versuch einer theoretischen Neube-
gründung der Sprachwissenschaft als historische Kulturwissenschaft blieb
jedoch relativ wirkungslos angesichts der Tatsache, dass sich die dominan-
ten Strömungen des Strukturalismus im neuen 20. Jh. vor allem am neuen
synchronischen „Paradigma“ orientierten.
Auch wenn das Thema „Sprachwandel“ so wenigstens optisch für ei-
nige Zeit in den Hintergrund trat, war es für die moderne Sprachwissen-
schaft keineswegs „verloren“,15 sondern konnte in anderen Konstella-
tionen wieder neu belebt werden. Das geschah jedoch erst nach dem
2. Weltkrieg, vor allem im Kontext von dialektologischen Forschungen, in
den USA, wobei die Revision früherer Ansätze, besonders auch Hermann
Pauls, zu einem Programm empirischer sprachhistorischer Forschung ver-
dichtet wurde, das sich später in großen Stadtstudien bewähren sollte. Es
waren die Jiddisten Uriel Weinreich, William Labov und Marvin I. Herzog,
die mit ihrem Beitrag Empirical Foundations for a Theory of Language Change
(1968) diese Wende einleiteten, und vor allem Labovs Arbeiten waren in
Folge wegweisend.16 Das Hauptverdienst dieses Neuansatzes war jedoch,
zentrale Probleme einer Theorie des Sprachwandels formuliert zu haben,
die auch heute noch die Diskussion bestimmen.
In Anlehnung an diese bahnbrechende Studie von Weinrich, Labov
und Herzog (1968) habe ich selbst (Cherubim 2003: 233) einige Problem-
stellungen formuliert, die m. E. für jeden Entwurf einer Theorie des
Sprachwandels heute eine explorative Funktion übernehmen könnten:
(1) das Konstitutionsproblem des Sprachwandels: Was ist Sprachwandel?
Welcher Begriff von Sprachwandel erweist sich – für bestimmte Fragestel-
lungen oder Untersuchungsinteressen – als fruchtbar? Wie lässt sich der
Begriff des Sprachwandels sprachtheoretisch oder empirisch begründen?
(2) das Beobachtungsproblem des Sprachwandels: Woran kann man
Sprachwandel festmachen? Welche Bedingungen sollen für den erfolgrei-
chen Vollzug von Sprachwandel gelten? Wie kann man ihn, wenn er – aus
unterschiedlichen Gründen – nicht direkt erkennbar ist, rekonstruieren?
Kann man ihn experimentell untersuchen?

15 In Cherubim (1975) habe ich versucht, das durch Hinweise auf wichtige diachronische An-
sätze zu relativieren. Ohnehin blieb das Interesse an Fragen des Sprachwandels in der sog.
Indogermanistik stets virulent.
16 Exemplarisch sei hier nur auf zwei Sammelbände mit wichtigen Arbeiten W. Labovs hin-
gewiesen: Labov (1972a und b).
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 35

(3) das Beschreibungsproblem des Sprachwandels: Wie kann man Sprach-


wandel in seinen verschiedenen Phasen (Motivation, Innovation, systema-
tische Integration, Diffusion, Konsequenzen/Nachwirkungen) bzw. in
seinem Verlauf (Prozessierung) mit seinen sozialen und sprachreflexiven
Verarbeitungen modellieren?
(4) das Erklärungsproblem des Sprachwandels: Wie kann man den
Sprachwandel auf bestimmte (generelle/spezifische) Motivationen, Bedin-
gungen oder sogar Ursachen zurückführen? Mit welchen (inner- oder
außersprachlichen) Funktionen, Zwecken oder Leistungen lässt sich der
Wandel von Sprachen verknüpfen? Kann man auf der Basis universaler
oder einzelsprachlicher Prinzipien Sprachwandel prognostizieren?
Im Folgenden wird es darum gehen, einige dieser Fragen, besonders
(3) und (4), weiter zu entwickeln.

3. Zur Integration des Sprachwandels


in den Gegenstandsbereich der Linguistik
Die Entwicklung der strukturellen Linguistik im 20. Jh. brachte es mit
sich, dass die Historische Sprachwissenschaft, die noch im Jahrhundert
zuvor das Feld beherrscht hatte, weithin zugunsten einer ahistorischen
Sprachforschung zurücktrat oder aus dem Blick zu geraten schien. Dieses
mangelnde Interesse an der Historizität der Einzelsprachen war unter-
schiedlich begründet: Dazu trugen neben der ohnehin verbreiteten, star-
ken Orientierung an den eher konservativen geschriebenen und standardi-
sierten Sprachen (vgl. Lüdtke 1987), wie sie ja in Schule und Fremdspra-
chenunterricht vorrangig vermittelt wurden, auch moderne Modellierun-
gen des Gegenstandes Sprache bei, die aus klassischen oder neuen Struk-
turwissenschaften (Logik, Mathematik, Informationstheorie, Kybernetik)
stammten und wenig Platz für historische Fragestellungen zu bieten schie-
nen. Und sie ersetzten die älteren Modelle, die den Naturwissenschaften
des 19. Jh. (Physiologie, Biologie, Geowissenschaften) nahe standen und
besonders dem Entwicklungsgedanken verpflichtet waren (vgl. auch Be-
chert 1988). Übergänge zwischen beiden Arten der Modellierung lassen
sich etwa an der Nutzung des Organismuskonzepts festmachen, das für
Hermann Paul und den Schüler der Junggrammatiker, F. de Saussure,
noch attraktiv war, dann aber zugunsten des Struktur- und Systembegriffs
aufgegeben wurde (Rensch 1967). Länger erhalten blieb freilich noch die
Redeweise vom „Leben der Sprachen“, die ebenfalls ihre Wurzeln im
19. Jh. hatte, nun aber nur noch metaphorische Funktionen (z. B. in
sprachkritischen Debatten) erfüllte.
36 Dieter Cherubim

Noch ältere kulturhistorische Konzeptionen, wie wir sie aus dem


18. Jh. (z. B. von Herder oder Adelung) kennen und die vor allem nach
außersprachlichen Motivationen (Sach-, Mentalitäts- oder Sozialgeschich-
te) für Sprachentwicklungen gefragt hatten, traten ebenfalls hinter den do-
minanten und überwiegend synchronischen Strukturanalysen moderner
Linguistik zurück oder beschränkten sich auf anscheinend periphere Be-
reiche wie die Wörter-und-Sachenforschung, Etymologie und Onomasio-
logie. Dass sie aber keineswegs ganz verschwanden und heute sogar wie-
der belebt werden konnten, zeigen nicht zuletzt aktuelle romanistische Be-
mühungen, sie mit neuen kognitiven Fragestellungen zu verknüpfen und
dadurch weiter zu entwickeln (Blank/Koch 2003).17
Im Zentrum der älteren sprachhistorischen Forschung stand häufig
die Lexik der Sprachen. Die moderne Linguistik hat sich jedoch wieder
stärker der Grammatik zugewandt. Auch dies trug dazu bei, dass sprach-
historische Aspekte vielfach zurück gedrängt oder einfach ausgeblendet
wurden. Denn da Grammatik, speziell Grammatik im engeren Sinne von
Syntax, der Organisationsbereich von Sprachen ist, der Sprachveränderun-
gen weniger offen ist als die Lexik, schien auch weniger Bedarf an sprach-
historischen Fragestellungen zu existieren, zumal sie für die Ermittlung
des Systemcharakters von Sprachen, die auf dem Programm stand, eher
„störend“ wirken mussten. Traditionelle Wortgeschichte und strukturelle
Grammatik standen nun unvermittelt nebeneinander oder traten sogar in
Widerspruch zueinander. Das hat sich jedoch inzwischen verändert: His-
torische Grammatiken haben heute wieder eine neue Attraktivität bekom-
men, und Brückenschläge zwischen Lexik und Grammatik sind vielfach
(z. B. in der Wortbildungsforschung und der Beschäftigung mit den sog.
Grammatikalisierungen) möglich.18
Eine Konsequenz des offensichtlichen Rückgangs sprachhistorischer
Interessen war auch, dass manchmal die entsprechende Disziplin „Histori-
sche Sprachwissenschaft“ aus dem Kernbereich der allgemeinen Sprach-
wissenschaft herausgenommen wurde und lediglich den Status einer sog.
Bindestrichlinguistik analog zu Sozio-, Psycho- oder Pragmalinguistik
(z. B. Geier 1998: 162) erhielt, auf die man in Einführungs- oder Hand-

17 Da es hier nicht um Vollständigkeit geht, sind weitere Hinweise auf kulturhistorische An-
sätze in der Sprachforschung des 20. Jh. (z. B. die materialistisch begründeten Ansätze der
sowjetischen Psycholinguistik) nicht notwendig.
18 Relativ offen für sprachhistorische Fragestellungen blieb die Beschäftigung mit der Laut-
struktur von Sprachen. Nicht zu vergessen ist ja, dass gerade hier, im sog. diachronischen
Strukturalismus von Roman Jakobson, André Martinet u. a., relativ früh die Verknüpfung
von Entwicklungs- und Strukturkonzeptionen gelang.
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 37

büchern notfalls sogar verzichten konnte.19 Dennoch hat die Nähe zu die-
sen „expandierten“ Sprachbeschreibungen dazu geführt, dass vergessene
Aspekte historischer Sprachforschung wieder aktiviert werden konnten.
Nicht zuletzt die aus der Soziolinguistik erwachsene intensive Sprachkon-
taktforschung hat Anstoß gegeben, sich mit sprachlichen Entwicklungen
wie der Kreolisierung zu beschäftigen, an denen kurzfristige Sprachwan-
delprozesse modellhaft studiert werden können.20
Mein Appell ist jedoch grundsätzlicher und geht in die andere Rich-
tung: Die Historische Linguistik sollte wieder in den Kern der Sprachwis-
senschaft zurückgeholt werden, weil sprachliche Entwicklungen ein zent-
rales Erprobungsfeld moderner Sprachtheorien darstellen.21 Schon Roman
Jakobson hatte in einer aphasiologischen Studie (1960: 49) darauf hinge-
wiesen, dass sich die Sprachwissenschaft, will sie ihren Gegenstand insge-
samt oder spezielle Aspekte desselben wirklich verstehen, „mit allen Sei-
ten“ des Lebens der Sprache („mit der Sprache in ihrer Tätigkeit, mit der
Sprache in ihren Entwicklungstendenzen [drift], mit der Sprache in ihrer
Ontogenese und mit der Sprache im pathologischen Abbau“) befassen
müsse und – dies sei hinzugefügt – sich daran bewähren müsse. Denn die
Erkenntnis struktureller Zusammenhänge in der sprachlichen Systematik,
die heute als Hauptgegenstand der modernen Sprachwissenschaft gilt, be-
darf stets der Rechtfertigung, dass sie auch in anderen Bereichen, z. B. von
Sprachwandel und Sprachentwicklung, funktional angemessen interpre-
tiert werden können. Umgekehrt heißt das aber auch, dass für das Ver-
ständnis des historischen Wandels von Sprachen in der Zeit jede Art von
Sprachdynamik mit zu betrachten ist, unterschiedliche Typen von sprach-
lichen Produktionsfehlern ebenso wie die Erscheinungen sprachlicher
Kreativität, sprachspielerisch und poetisch motivierte Abwandlungen
ebenso wie bewusste Verletzung sprachlicher Regeln zu unterschiedlichen
sprachkritischen oder aufklärerischen Zwecken.22

19 Auch W. P. Lehmanns einschlägiger Artikel im Lexikon der Germanistischen Linguistik


(1980) bedient sich des Labels „Historiolinguistik“, präsentiert aber eindrucksvoll die ganze
Breite sprachhistorischer Ansätze traditioneller wie moderner Art.
20 Freilich darf in diesem Zusammenhang an den Romanisten Hugo Schuchardt erinnert wer-
den, der sich schon am Ende des 19. Jh. intensiver mit den Phänomenen Sprachmischung
und Kreolisierung befasst hatte. – Auch andere Bindestrichlinguistiken sind inzwischen er-
folgreich historisiert worden, vgl. z. B. Kilian (2005).
21 Sprachwandel als „Fenster“ zur Sprachtheorie ist eine Vorstellung, die auch schon Ki-
parski (1968: 241) artikulierte.
22 In Cherubim (1980) habe ich bereits eine ähnliche Position vertreten. In der Tendenz ent-
spricht das durchaus dem Versuch von Hans Sperber (1914), so etwas wie eine „dynamo-
logische Betrachtung des Sprachlebens“ zu etablieren.
38 Dieter Cherubim

4. Zur Operationalisierung des Sprachwandels


Der Sprachwandel ist, wenn man darunter mehr verstehen will als den
Übergang zwischen zwei Zuständen A und A' (wobei eine Zeitdifferenz t2
> t1 und ein zu bestimmendes Kontinuitätsverhältnis A ~ A' vorausge-
setzt wird), ein hochkomplexer Vorgang, dessen Umsetzung (Prozessuali-
sierung) man sich in mehreren Schritten vorstellen kann. Dafür hat bereits
Coseriu (1958) eine Art Ablaufmuster vorgeschlagen, das heute weiter zu
entwickeln ist. Ich gehe dabei insgesamt von fünf Schritten aus:23
1. Motivation des Sprachwandels: Sie lässt sich meist erst post festum fest-
stellen, zumal die Komplexität und Funktionsvielfalt natürlicher Sprachen
so groß ist, dass alles Mögliche (z. B. Defekte, Asymmetrien oder Un-
gleichgewichtigkeiten im Sprachsystem, Ausspracheschwierigkeiten durch
Lautwandel, Einwirkung von Fremdsprachen, fehlende Bedeutungsdiffe-
renzierungen oder Wortlücken, affektive Verstärkungen, neu auftretende
Kommunikationsbedürfnisse, sozialer Wandel) Sprachwandel auslösen
kann, aber nicht muss. Von kausalen oder finalen „Ursachen“ kann jedoch
hier nicht gesprochen werden (Keller 1990). Aber auch Voraussagen im
Sinne von Präferenzen, die durch Natürlichkeitsprinzipien o. Ä. begründ-
bar sind, bleiben problematisch.24
2. Innovation des Sprachwandels: Auch die Einführung von sprachli-
chen Neuerungen durch Einzelne, Gruppen oder Institutionen basiert auf
einer nahezu unerschöpflichen Kreativität, die aber immer nur beschränkt
genutzt werden kann und die auch nicht regellos erfolgt, um keine kom-
munikativen Abrisse oder kontraproduktiven Effekte zu erzeugen (Che-
rubim 1980). Innovationen sind also gleichsam Angebote oder potentielle
Möglichkeiten zum Sprachwandel, die sicher in den meisten Fällen nicht
zum Zuge kommen oder sich durchsetzen können. Grundsätzlich kann
davon ausgegangen werden, dass solche Angebote in vielen Bereichen be-
ständig produziert werden, ohne dass aber damit Sprachveränderungsab-
sichten verbunden sind. Schon für Hermann Paul (1880: 34) waren z. B.

23 Nicht in diesen Zusammenhang gehört die Sprachursprungsfrage, die auch von Zeige
(2011) mit Recht aus der Diskussion der Struktur des Sprachwandels ausgeklammert wird.
Alle Sprachen, die wir kennen, sind bereits hochentwickelte Techniken kommunikativer
Verständigung, und es gibt auch keine sicheren Kriterien, systematisch und/oder typolo-
gisch „primitivere“ Entwicklungszustände zu bestimmen. Sprachwandel setzt also für un-
sere Erkenntnis immer schon eine Sprache voraus. Interessante „Spekulationen zum An-
fang der Sprache“ lieferte jüngst Wunderlich (2008).
24 Vgl. etwa Vennemann (1983) und zur Anwendung des Konzepts der Natürlichkeit auf den
Sprachwandel Wurzel (1975) und (1988a). Ein traditionelles Konzept ist in diesem Zu-
sammenhang der Begriff der Analogie, der schon beim römischen Grammatiker Varro,
dann aber vor allem im 19. Jh., so auch bei Paul (1880), von großer Bedeutung für die his-
torische Sprachforschung war (Wurzel 1988b).
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 39

„die Vorgänge bei der Spracherlernung von der allerhöchsten Wichtigkeit


für die Erklärung der Veränderung des Sprachusus“, obwohl hier, wo es ja
primär um Einpassung geht, die Chance, etwas nachhaltig zu verändern,
eher gering sein dürfte.25 Das gilt auch für die zahllosen Abwandlungen,
die spontan im alltäglichen Sprechen, besonders auch in Sprachkontaktsi-
tuationen produziert, aber in den meisten Fällen nicht wahrgenommen
oder weiter verarbeitet werden. Selbst intendierte und reflektierte Abwei-
chungen im poetischen, politischen, satirischen oder wissenschaftlichen
Sprachspielen führen, wie schon lange bemerkt wurde, nur in seltenen
Fällen dazu, dass daraus Optionen für Sprachveränderungen entstehen.26
3. Diffusion des Sprachwandels: Sprache ist wesentlich ein soziales Phä-
nomen: Sie wird nur im sozialen Kontext erworben, primär dort immer
wieder rekonstruiert und kann ebenso nur in Prozessen sozialer Interak-
tion verändert werden. Das schließt weder den individuellen Sprachge-
brauch noch eine quasi-autonome Dynamik sprachlicher Systematisierung
aus, die gleichsam unterhalb des Bereichs sozialer Wahrnehmung und be-
wusster Verarbeitung bleiben kann. Um sprachliche Innovationen wirklich
durchzusetzen, müssen jedoch Prozesse in Gang gesetzt werden, die wir
aus anderen sozialen Bereichen (Schmidt 1976) kennen und die mit Be-
wertungen verbunden sind, wie sie vor allem von William Labov in vielen
seiner Arbeiten (z. B. Labov 1965, vgl. auch Trudgill 1974) beschrieben
wurden. Erst wenn mehr oder weniger spontan entstandene Varianten,
Neubildungen etc. (Innovationen) einen bestimmten Status erhalten, den
auch andere Sprachbenutzer oder Sprachbenutzergruppen akzeptieren
und mit einem bestimmten Nutzen oder kommunikativem Wert verbin-
den können, entsteht tatsächlich Wandel, der eine bestimmte Richtung
annimmt.
4. Integration des Sprachwandels: Sprachen als semiotische Techniken
sind systematisch organisiert. Soll der Sprachwandel erfolgreich sein, muss
er sich dieser Systematisierung einfügen.27 Die Systematik natürlicher
Sprachen fungiert daher als eine Art Filter, der ihre Funktionsfähigkeit auf
den verschiedenen Ebenen gewährleisten und damit auch die Richtung
des Sprachwandels steuern kann. Das erklärt auch, dass Ansätze zum
Sprachwandel stecken bleiben oder nicht zum Zuge kommen können.
Und dadurch wird ebenfalls verhindert, dass es bei allzu starken Verände-

25 Dennoch wird diese Möglichkeit häufig noch als „Haupteinfallstor“ für den Sprachwandel
angesehen; vgl. Baron (1977), Cherubim (1980: 33ff.).
26 Reiches Material zu affektiv begründeten und anderen sprachlichen Abweichungen findet
man in der sprachpsychologischen Literatur der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts, z. B.
Havers (1931).
27 Ich lasse hierbei undiskutiert, inwieweit die Systematisierung von Sprachen durch universa-
le Prinzipien und/oder durch einzelsprachliche Organisation (Parametrisierung) bestimmt
ist.
40 Dieter Cherubim

rungen zu kommunikativen Abrissen zwischen den Sprachgenerationen


kommt. Im Kern sind alle Sprachen, wenn auch in unterschiedlicher Wei-
se, in drei Modulen organisiert: Lexik (Thematisierung), Grammatik (Kon-
struktion) und Pragmatik (Kontextualisierung). Zwischen ihnen gibt es
verschiedene dynamische Übergänge (Schnittstellen), die im Deutschen
etwa durch Phänomene der Wortbildung, Wortklassenzuordnung, Phra-
seologie, Pronominalisierung oder Vertextung repräsentiert werden. Dazu
kommt die Organisation der Sprachtechnik im Bereich medialer (pho-
nisch-graphischer) Vermittlung. Alle diese Module können bei erfolgrei-
chem Sprachwandel mittelfristig zusammenwirken, auch wenn der Wandel
zunächst auf einer Ebene beginnt. Stefan Sondereggers (1979: 297ff.)
Schilderung der Langzeitentwicklung des deutschen Umlautsystems ist ein
schönes Beispiel dafür, der Ein- und Ausbau des Artikelsystems seit dem
Althochdeutschen ein anderes. Lexikalische Differenzierungen (z. B. im
Bereich von Tierbezeichnungen) haben meist auch morphologische und
syntaktische Folgen, und die Kontextualisierung solcher Erscheinungen
im Sprachgebrauch (z. B. in Form von Affektbesetzung, Verteilung auf
unterschiedliche Situationstypen, Varietäten oder Wissensvoraussetzun-
gen) lässt meist auch nicht lange auf sich warten.28
5. Konsequenzen des Sprachwandels: Die durch Sprachwandel erzeugten
Kettenreaktionen innerhalb der Sprachsystematik können auch zu weiter-
reichenden Veränderungen führen, die die Qualität der jeweiligen Sprache
grundsätzlich betreffen.29 Für das Deutsche bekannt sind etwa der noch
im Gang befindliche Umbau des morphologischen Teilsystems (synthe-
tisch > analytisch), wodurch auch die Zuordnung zu den flektierenden
Sprachen zunehmend in Frage gestellt wird. Auch der Kontakt mit ande-
ren Sprachen kann typverändernd wirken. So ist innerhalb der histori-
schen Syntax des Deutschen lange der Umfang und die Art des lateini-
schen Einflusses diskutiert worden, zumal dieser qua Übersetzung und
Schulgrammatik bis in die Neuzeit nachwirkte. Wie das Beispiel des Engli-

28 Vgl. auch Fritz (1998). Am Beispiel der Entwicklung von lexikalischen Bezeichnungen
(Nominationen) für Sehhilfen (Brillen) im Deutschen habe ich selbst (Cherubim 2001) ver-
sucht, eine solche sprachsystematische Integration exemplarisch zu verdeutlichen. – Eine
Art Kreislaufmodell der systematischen Integration (endogener Sprachwandel) sieht Lüdt-
ke (1980: 10) vor: Ein außersprachlich gedachter Sachverhalt muss mit einem vorgegebe-
nen lexikalischen Repertoire erfasst und auf bestimmte semantaktische Konzepte abgebil-
det werden; diese müssen wiederum gebenenen morphosyntaktischen Verkettungen
genügen, bevor sie schließlich in lautliche Repräsentationen überführt werden. Der Kreis-
lauf kann z. B. dann dadurch zustande kommen, dass im Sprachgebrauch Veränderungen
bestimmter Art (z. B. Klitisierung, Abnutzungen, Vereinfachungen, Umdeutungen) auf die
lautlichen Repräsentationen einwirken, so dass rückwirkend Unklarheiten auf den anderen
Ebenen entstehen, die wieder korrigiert werden müssen.
29 Vor allem E. Coseriu (1970) ist auf diese Schichtung des Sprachwandels mit interessanten
Beispielen eingegangen.
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 41

schen zeigt, konnte der zwangsweise Sprachkontakt mit den romanisierten


Normannen nach Hastings (1066) auch zur Herausbildung einer anderen
Ausbildung und Schichtung von Varietäten (Superstratbildung, Diglossie)
führen, die durch die jüngere Entwicklung des Englischen wiederum
nachhaltig verändert oder beseitigt wurden. Besonders erscheinen hier
auch Veränderungen kognitiv-semantischer Art, die den Charakter einer
Sprache nachhaltig verändern: So argumentiert z. B. Schirmer (1972) an-
hand von lexikalischem Material des 17. und 18. Jh. für einen Subjektivie-
rungsschub (Psychologisierung) relativ zu der vorangegangenen Wort-
schatzentwicklung des Deutschen.

5. Zur Erklärung des Sprachwandels


Der Versuch, Erklärungen für den Sprachwandel zu finden, hat die Histo-
rische Sprachwissenschaft früher und heute sicher am meisten beschäftigt,
und es ist auch viel Energie darauf verwendet worden, diese Problemstel-
lung selbst immer wieder zu rekonstruieren (Paul 1880, Spitzer 1943,
Coseriu 1958, Weinreich/Labov/Herzog 1968, Lüdtke 1980, Keller 1990,
Zeige 2011).30 Oft hat man sich auf einzelne Bedingungen oder „Ursa-
chen“ konzentriert und sie zu verallgemeinern versucht: Neben heute
kaum noch diskutierten anthropologischen und biologischen Vorausset-
zungen (der Mensch als ein prinzipiell der Veränderung unterworfenes
Lebewesen) oder der Wirkung von Geographie und Klima31 wurden gerne
der Kontakt zwischen verschiedenen Sprachen,32 Änderungen in der So-
zialstruktur von Sprachgemeinschaften, materielle (z. B. technisch-wissen-
schaftliche Neuerungen), fachliche (horizontale oder vertikale) Ausdiffe-
renzierung von Wissensbereichen und andere „exogene“ Faktoren zur Er-
klärung des Sprachwandels herangezogen. Ihnen wurden im Rahmen mo-
derner, strukturalistischer Ansätze „endogene“ Faktoren der Sprachstruktur
(z. B. Lücken, Asymmetrien, Ungleichgewichte, Defekte im Sprachsystem)
gegenüber gestellt, die wiederum durch eine dritte Gruppe von psychi-
schen oder mentalen Einflussgrößen funktional kontrolliert und gesteuert
werden sollten: Anpassungs- und Ausgleichstendenzen, Streben nach Op-
timierung, Expressivität, Spielfreude etc., aber jeweils auch gegenteilige

30 Vgl. auch Handbücher und Konferenzberichte wie Boretzky (1977), Davis (1990), zu neue-
ren Diskussionen auch Davis/Iverson (1993).
31 Ein schönes Beispiel etwa bei Spitzer (1943: 418); aber auch Saussure (1915: 202ff.).
32 Gerade für das Deutsche ist nicht nur der direkte (kommunikative), sondern auch der indi-
rekte (kulturelle) Kontakt mit anderen Sprachen wichtig gewesen, z. B. in Form von litera-
rischen Vorbildern, Übersetzungen etc.
42 Dieter Cherubim

Bestrebungen wie Dissimilation, Neutralisierung, Konservatismus etc.33


Dazu kamen kulturelle Faktoren, deren Einfluss ebenfalls nicht zu bestrei-
ten war: Verschriftlichung, Normierung, Terminologisierung, Standardisie-
rungen, Sprachkritik, politische Instrumentalisierung und Ähnliches.34
Keiner dieser vielen, verschiedenartigen Faktoren des Sprachwandels35
erweist sich jedoch als notwendige oder gar hinreichende Bedingung, we-
der für die Auslösung, noch für die Durchführung des Sprachwandels,
taugt also nicht dazu, den Sprachwandel prinzipiell zu erklären, obwohl sie
einzeln oder im Verbund (Malkiel 1967) durchaus wirksam sein können.
E. Coseriu (1958) hat deswegen zu Recht zwischen der rationalen (prinzi-
piellen), der allgemeinen und der historischen (speziellen) Erklärung des
Sprachwandels unterschieden. Für ihn resultiert der Wandel von Sprachen
letztlich aus der „freien“ schöpferischen Sprachtätigkeit von Menschen:
eine sicher zu stark idealisierende Annahme, die die Zweckgebundenheit
sprachlichen Handelns ebenso wie die soziale, durch Kommunikation und
Interaktion vermittelte Kontrolle natürlicher Sprachen, wie es gerade
durch W. Labov (1965) und andere in letzter Zeit konkretisiert werden
konnte, bei weitem unterschätzt. Dennoch wird man dem Sprachgebrauch
selbst die entscheidende Rolle auch beim Wandel von Sprachen zuweisen:
„Ce n’est pas un paradoxe de dire qu’ une langue change parce qu’elle
fonctionne“ (Martinet 1974: 103). Hier kann erst zur Wirkung gebracht
werden, was von „außen“, z. B. durch soziale Veränderungen, funktionale
Zwecke, kommunikative Bedürfnisse oder mentale Verarbeitungen (Be-
wertungen, Einstellungen), oder von „innen“, durch sprachstrukturelle
Gegebenheiten und Mechanismen, motiviert erscheint, danach aber erst
durch unterschiedliche selektive Prozesse sowohl sprachsystematischer
wie soziokommunikativer Art in direktionalen Sprachwandel überführt
werden kann.
Es kommt also darauf an, Sprachwandel im Prozess seiner Umsetzung
zu erfassen und zu erklären, was weit über die Untersuchung einzelner
Interaktionen hinausgeht, die bestenfalls, z. B. durch den Umgang mit
sprachlichen Varianten, Abweichungen, Missverständnissen, Zweifelsfäl-
len, metasprachlichen Korrekturen o. Ä., Indizien für den Wandel von
Sprachen sichtbar machen oder modellhafte Konstruktionen dafür be-
gründen können (vgl. Littlewood 1977). Dabei ist davon auszugehen, dass
gerade die systematischen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Fak-
33 Einige interessante Beispiele, vor allem aus der Entwicklung der romanischen Sprachen,
aber auch mit Bezug auf die (damalige) deutsche Gegenwartssprache, finden sich bei Spit-
zer (1943), dem es besonders um den Faktor der Expressivität geht.
34 Einige dieser vermittelnden Faktoren diskutiert Vachek (1962).
35 Es ist ebenfalls davon auszugehen, dass für den Wandel auf den verschiedenen Ebenen
von Sprachen (Lautwandel, lexikalischer oder grammatischer Wandel) unterschiedliche
Veränderungsbedingungen relevant sind (so auch schon Spitzer 1943).
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 43

toren des Sprachwandels sichtbar gemacht werden müssen,36 die metho-


disch begründete Isolierung einzelner (z. B. struktureller oder sozialer) Be-
dingungen hingegen problematisch ist, weil sie ein unangemessenes Bild
von sprachhistorischen Vorgängen vermitteln, wie wir sie auch selbst
(z. B. in Prozessen der Jargonisierung, des politisch-semantischen Wandels
oder bei Grammatikalisierungen) erfahren können.
Ein schematisches Bild von den Phasen des Sprachwandels im Pro-
zess seiner Entstehung, Integration und Durchsetzung soll das folgende
Modell liefern (vgl. Abb. 1), das aber noch weiterführender Explikationen
und Problematisierungen bedarf:37 Dynamische, d. h. auf Veränderungen
gerichtete Anforderungen von außen (exogene Faktoren) und „Spannungen“
innerhalb der vorgegebenen Systematik von Sprachen (endogene Faktoren)38
begründen (motivieren) im Sprachgebrauch Variationen. Werden diese bzw.
eine Auswahl davon innerhalb einer Gemeinschaft in die Sprachsystematik
und Spracharchitektur (1. Filter) eingepasst (integriert),39 entstehen Innovati-
onen. Dadurch dass diese weiter verarbeitet (2. Filter), d. h. sozial verbreitet
(Diffusion) und kulturell interpretiert (Bewertung) werden, kommt es zum
Sprachwandel, der wiederum zu weiteren gerichteten Veränderungen in
unterschiedlichen (sprachlichen und außersprachlichen) Bereichen Anlass
geben kann. Systematische Rekonstruktion von Sprachwandel und seinen
Folgen, wie es die Historische Sprachwissenschaft anstrebt, muss also zu
verstehen versuchen, wie dieser Wandel durch Aussteuerung unterschied-
licher Kontexte und Funktionen in kommunikativen Prozessen zustande
kommt. Man wird sich also bemühen müssen, so stellte bereits Theo
Luckmann (1969: 1064) fest, „die Ursachen des Wandels in kommunikati-
ven Vorgängen aufzudecken, in denen sich ja Sprache, Kultur und Sozial-
struktur gemeinsam fortwährend und konkret aktualisieren“. – Angesichts

36 Labov (1965: 91): „[…] that linguistic change cannot be explained by arguments drawn
from purely internal relations within the system, even if external, sociolinguistic relations
are recognized as additional conditioning factors. In the mechanism of linguistic changes
which we have observed, the two sets of relations are interlocked in a systematic way“.
37 Die Reihenfolge der Phasen wird hier bereits gegenüber dem oben (4.) Gesagten etwas
verändert.
38 Mit der Bezeichnung Spannungen soll hier nicht nur die bekannte Dynamik struktureller
Systeme, wie sie vor allem André Martinet (z. B. Martinet 1952) herausgearbeitet hat, son-
dern auch das weite Feld „sprachlicher Antinomien“ angesprochen werden, die für die
sowjetische Soziolinguistik Motor von Sprachentwicklungen sein können. Vgl. Girke/Jachnow
(1974: 97ff.).
39 Vgl. das oben bereits genannte Beispiel der Entwicklung des Umlauts im Deutschen (Son-
deregger 1979: 297ff.). Integrationen auch dieser Art kommen aber nicht mechanisch zu-
stande, sondern müssen über imitative und kommunikative Prozesse bewerkstelligt wer-
den.
44 Dieter Cherubim

der Lückenhaftigkeit des historischen Materials, selbst aus jüngeren Epo-


chen, wahrlich keine ganz einfache Aufgabe!40

Dynamische Anforderun- Interne Spannungen


MOTIVATION
gen von außen der sprachlichen
(Kontext) Systematik
(exogene Faktoren) (endogene Faktoren)

SPRACHGEBRAUCH

INTERAKTION

VARIATION

Filter 1:
Integration in
Sprachsystem/-architektur

INNOVATION

Filter 2:
Soziale Diffusion/
kulturelle Interpretation

SPRACHWANDEL

Abb. 1: Phasenmodell des Sprachwandels

40 Vgl. jetzt den aktuellen Versuch von Zeige (2011), N. Luhmanns Theorie der sozialen Sys-
teme als Modell für die Erklärung des Sprachwandels als selbstgesteuerte (autopoetische)
Reorganisation von Sprache in kommunikativen Prozessen zu nutzen.
Verstehen wir den Sprachwandel richtig? 45

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50 Dieter Cherubim
Jenŋ Kiss

Sprachwandel: Ursachen und Wirkungen –


Überlegungen zu einem alten Problemkreis der
Sprachwissenschaft

1. Sprachwandel – etwas Unsystematisches?

Die grundlegendste und zugleich am heftigsten umstrittene Frage in der


Sprachwandelforschung ist die nach den Gründen für sprachlichen Wan-
del. Unstrittig ist, dass „der Sprachwandel und alle damit zusammen-
hängenden Probleme nach wie vor zu den faszinierendsten Themen gehö-
ren, die die Sprachwissenschaft zu bieten hat“ (Viereck 1977: 288). Doch
daran, wie Sprachwandel zu erklären ist, scheiden sich seit jeher die
Geister. Fest steht, dass die These eines unsystematischen Charakters der
einzelnen Sprachwandelphänomene (Koppelmann 1956: 227) nicht akzep-
tiert werden kann. Diese Phänomene haben ganz bestimmte Gründe, und
ebendiese gilt es nach meiner Auffassung in den Blick zu nehmen.
Es ist in der Sprachgeschichtsforschung eine alte Frage, auf welche
Weise und in welchem Maß Sprachwandel von außersprachlichen Fakto-
ren abhängt. Es ist eine weit verbreitete Meinung, dass sich ein Einfluss
soziokultureller Faktoren nur in Bezug auf den Wortbestand, nicht jedoch
in Bezug auf das Sprachsystem feststellen lasse. Dahingegen möchte ich in
meinem Vortrag ausdrücklich den Zusammenhang der drei Faktoren
Sprache, Sprachgebrauch und Sprecher (Mensch) thematisieren. Im Fokus
sollen dabei keine konkreten Sprachwandelphänomene stehen, sondern
ein allgemeingültiges sprachlichen Wandel induzierendes Ursachensystem.
Ich schicke voraus, dass mein Vortrag eher als eine Skizze denn als eine
detaillierte Ausarbeitung zu betrachten ist.
Dabei habe ich zwei Hauptausgangspunkte, nämlich erstens, dass die
Sprecher sowohl biologische als auch gesellschaftliche Wesen sind; und
zweitens, dass der Sprachgebrauch sowohl sprachsystematisch als auch
soziokulturell eingebettet ist. In meinem Vortrag plädiere ich dafür, in die
52 Jenŋ Kiss

Erforschung der Gründe für Sprachwandel das Faktum einzubeziehen,


dass im Leben des Menschen auch der Selbstregulierungsmechanismus
(Homöostase) eine Rolle spielt. Nach diesem Prinzip steht jeder lebende
Organismus in ständiger Wechselwirkung mit seiner Umgebung und wan-
delt sich laufend in einer Art und Weise, die es ihm erlaubt, seinen inneren
Gleichgewichtszustand und seine organischen Funktionen aufrechtzuhal-
ten. Es handelt sich dabei um die Erscheinung der erneuernden Bewah-
rung und bewahrenden Erneuerung, die auch die Sprachwissenschaftler
gut aus dem Leben der Sprache kennen. Mit anderen Worten deuten die
Erkenntnisse aus der Evolutionsforschung darauf hin, dass die auch für
den Menschen typische, biologisch kodierte dynamische Anpassung, die
sogenannte adaptive Dynamik (Pásztor et al. 2009: 1434), als ein an
Sprachwandelprozessen beteiligter allgemeiner Mechanismus anzunehmen
ist. Dahinter steht letztlich die Auffassung, dass zwischen dem Menschen
als biologischem Wesen und dem Menschen als gesellschaftlichem Wesen
ein fließender Übergang besteht (Pléh 1999: 80).

2. Begriffsinterpretationen
Für das, was unter (der) Sprache zu verstehen sei, existieren enger und
weiter gefasste Interpretationen. Die reduktionistische Interpretation ist
m. E. nicht akzeptabel. Die Tatsache beispielsweise, dass die Lexik kein
der Syntax ähnelndes, auf hohem Abstraktionsniveau beschreibbares Teil-
system bildet, ist kein hinreichender Grund, sie aus der Sprache auszu-
schließen. Konsequenterweise betrachte ich Sprache deshalb als integrales,
organisch zusammengehöriges Ganzes der zur Rede benötigten konkreten
Elemente und abstrakten Regeln.
Darüber hinaus bestehen auch Unterschiede in der Beurteilung der
Frage der Geschlossenheit bzw. Autonomie des sprachlichen Systems. Die
Vertreter der strukturalen und formalen Richtungen halten dieses auto-
nom, die Vertreter der funktionalen Richtung tun dies nicht. So vertritt
z. B. Langacker (1987: 2f.) die Auffassung, dass die Grammatik gar keine
autonome Repräsentationsebene darstelle. Vielmehr bildeten Lexikon,
Morphologie und Syntax ein Kontinuum symbolischer Strukturen, die
sich lediglich in verschiedenen Parametern voneinander unterscheiden,
aber nur willkürlich in autonome Komponenten untergliedert werden
können. Kertész (2000) argumentiert im Sinne einer holistischen Grund-
auffassung, dass sich die Kognition überhaupt nicht in autonome Teilsys-
teme aufteilen lasse. Dies würde einerseits bedeuten, dass das Sprachwis-
sen viel eher aus der allgemeinen (nonverbalen) Intelligenz abzuleiten
wäre als aus einer spezifischen sprachlichen Fähigkeit, die eventuell sogar
Sprachwandel: Ursachen und Wirkungen 53

von den sonstigen mentalen Fähigkeiten unabhängig ist. Zweitens bedeu-


tete dies, dass auch zwischen sprachlichem Wissen und Weltwissen nicht
scharf differenziert werden könnte. Und schließlich drittens, dass das
nicht auf ein autonomes System zurückführbare Sprachwissen selbst nicht
weiter in autonome Teilsysteme aufzugliedern ist (ebd., 215). Aus der
Sicht des Sprachhistorikers ist die Sprache ein offenes, dynamisches Sys-
tem und als solches – und nur als solches – fähig, zu jeder Zeit die sich
wandelnden sprachlichen Mitteilungsbedürfnisse der sich ständig wan-
delnden Sprechergemeinschaft zu befriedigen. Mit dem gesellschaftlichen
Wandel ändern sich auch die Mitteilungsbedürfnisse der Sprecher, sodass
auch die Sprache ständig gezwungen ist, sich anzupassen, und zwar durch
die Sprecher, die ihren Sprachgebrauch ändern. Für den Sprachhistoriker
kann die Sprache demnach kein idealisiertes Ganzes sein, sondern eine
komplexe Menge von miteinander meist in Wechselwirkung stehenden
historischen, territorialen bzw. gesellschaftlichen und funktionalen Varie-
täten.
Es liegt auf der Hand, dass Modifizierungen der Sprache (gleich wel-
cher Art) nur im Rahmen der Sprechhandlung durch die daran beteiligten
Sprecher vor sich gehen und gefestigt werden können, innerhalb der
Grenzen der ‚verbindlichen‘ Strukturbedingungen der Sprache (Herman
2001: 402). Nach Lüdtke (1979) ist Sprachwandel ein gemeinsames, unwil-
lentliches und unbewusstes Produkt. Die Hauptrolle spielt dabei der Spre-
cher, also der Mensch, der die Sprache in einer konkreten Situation be-
nutzt: Er wählt Kode und Stilregister und schöpft aus den Varianten der
ihm zu Verfügung stehenden Kodes; zugleich sind ihm aber auch die
Hände gebunden, weil er nur das und dieses nur so sprachlich zum Aus-
druck bringen kann, was ihm der zur Verfügung stehende Kode gestattet
(ebd., 27). Menschliche Mitteilungen sind immer soziozentrisch und the-
menorientiert. All das sind Umstände, die Sprachwandelforscher nicht
außer Acht lassen dürfen.
Die beiden radikalsten Formen von Sprachwandel sind die Geburt
und das Aussterben von Sprachen. Wir wissen nicht, wie die menschliche
Sprache entstanden ist, auch nicht, ob durch Monogenese oder Polygene-
se (vgl. Fedor et al. 2010: 545). Aber wir wissen, dass, nachdem sie ent-
standen war, neue Sprachen in den allermeisten Fällen durch dialektale
Sonderentwicklungen, teilweise infolge sprachlicher Kontaktwirkungen
entstanden sind. Auch das Aussterben von Sprachen ist in der großen
Mehrzahl der Fälle auf gesellschaftliche Ursachen, seltener auf Naturkata-
strophen und Kriege zurückzuführen. Sowohl Sprachgeburt als auch
Sprachtod gehen also auf außersprachliche Ursachen zurück.
54 Jenŋ Kiss

3. Sprachwandel als Prozess


In seiner Prozesshaftigkeit betrachtet besteht der Sprachwandel in der
Veränderung einer Sprache, die sich in Abhängigkeit von den sich verän-
dernden Mitteilungsbedürfnissen der Sprecher und den Gegebenheiten
des jeweiligen Sprachsystems im Sprachgebrauch verwirklicht. Eine Be-
gleiterscheinung bzw. Folge dieses Prozesses ist, dass im Sprachgebrauch
einer Sprechergruppe und damit im Sprachwissen ihrer Mitglieder sprach-
liche Funktionen, Regeln oder Formen erscheinen, die von der bisherigen
Sprachpraxis und dem bisherigen Sprachwissen abweichen. Um Sprach-
wandel nachzuweisen, werden demnach empirische Daten aus der alltägli-
chen, spontanen Sprachpraxis benötigt; die sprachliche Wirklichkeit bietet
unwiderlegbare Evidenz.
Sprachwandel ist ein verschlungener, unüberschaubarer und kompli-
zierter Prozess mit vielen Faktoren, der auch die ständige und gleichzeitige
Zu- und Abnahme aller lebenden Sprachen umfasst. Das Leben der Spra-
chen ist folglich keine geradlinige Entwicklung, kein teleologisch bestimm-
ter Vervollkommnungsprozess. Dementsprechend umfasst Sprachwandel
zwei Prozesse mit entgegengesetztem Vorzeichen, nämlich einerseits Aus-
bau/Differenzierung und andererseits Abbau/Reduzierung. Welcher von
beiden die größere Rolle spielt, entscheiden ausschließlich außersprachli-
che Faktoren (vgl. z. B. Benkŋ 1988, Braun 1998, Chambers et al. 2002,
Coseriu 1974, Polenz 1991).
In diesem Zusammenhang taucht die Frage auf, ob sich die Sprachen
‚vom Komplizierten zum Einfachen‘ oder ‚vom Einfachen zum Kom-
plizierten‘ entwickeln. Hutterer (1976: 22f.) meinte, so gestellt sei diese
Frage irrelevant. Entscheidend sei einzig, dass eine Sprache kommunikativ
‚adäquatȧ sein, also den Bedürfnissen der Sprecher maximal entsprechen
und sich in dieser Funktion vervollkommnen müsse.
Welche sind nun die allgemeinen Charakteristika des Sprachwandels?
Es sollen dafür fünf Punkte angeführt werden:

1. Sprachwandel ist in jeder lebenden Sprache wirksam.


2. Er entsteht nur im Sprachgebrauch. (Tote Sprachen ändern sich
nicht.)
3. Er hängt eng mit der Sprachvariabilität zusammen und schafft diese
zugleich auch neu.
4. Er ist aus der Sicht des Sprachsystems ein doppelter, in sich selbst
gegensätzlicher Prozess: Er ist sowohl konvergent als auch divergent,
d. h. er geht sowohl den Weg der Vereinheitlichung als auch den der
Absonderung/Differenzierung.
Sprachwandel: Ursachen und Wirkungen 55

Auch hinsichtlich der Normenbildung wirkt er in entgegengesetzte


Richtungen: Er produziert sowohl Innovationen als auch Archaismen.
5. Er ist spontan oder künstlich.

Der Sprachgebrauch ist stets in einem Sprach- bzw. Regelsystem veran-


kert. Dementsprechend verläuft auch der Sprachwandel nicht ‚chaotisch‘,
sondern hat Gründe, die im Sprachgebrauch bzw. Sprachsystem zu su-
chen sind. Was lässt den Sprachwandel möglich (und nötig) werden? Ei-
nerseits ist dies die innersprachliche Variation, andererseits die Bevorzu-
gung bestimmter Varianten durch die Sprecher, die von biologischen,
psychischen und soziokulturellen Faktoren gelenkt wird (wir erinnern uns:
der Mensch ist ein biopsychosoziales Wesen). Deshalb ist für die Untersu-
chung des Sprachwandels sowohl die Untersuchung der Variabilität im
Sprachgebrauch als auch die Untersuchung der Art und Weise, wie die
Sprecher aus den ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln
bzw. Varianten auswählen, von großer Wichtigkeit.
Ein Axiom ist, dass in der Sprache nur dann etwas geschieht, wenn mit
der Sprache etwas geschieht. Wann geschieht mit der Sprache etwas? Die
Antwort ist: Wenn sie gebraucht wird. Das bedeutet, wenn Sprecher die
Sprache in einer konkreten Situation zur Befriedigung aktueller sprachli-
cher Ausdrucksbedürfnisse benutzen. Aber die Sprache verändert sich
nicht deshalb, um ihre sprachliche Kommunikations-, Mitteilungs- und
Benennungsfunktion zu erfüllen, sondern weil sie diese erfüllt. Diese
Funktionen resultieren aber nicht aus dem Sprachsystem, sondern aus den
Bedürfnissen und Notwendigkeiten menschlicher Gemeinschaften. Denn
‚die Sprachen‘ selber können nicht kommunizieren und brauchen keine
begriffliche Kodierung, um sich auf Dinge in der Welt beziehen zu kön-
nen. Auch Sprachkontaktphänomene sind streng genommen die Folge des
Kontakts der Sprecher verschiedener Sprachen. Sie können sogar dann
zustande kommen, wenn die Sprecher die Sprache des anderen nicht ver-
stehen (so würde das ungarische Wort vigéc nicht das bedeuten, was es be-
deutet, nämlich ‘Hausierer’ und ‘Vertreter’, wenn die ungarischen Sprecher
den deutschen Ausdruck wie geht’s verstanden hätten).
Wann immer jemand etwas ausspricht oder niederschreibt, tut er dies,
indem er aus dem ihm zur Verfügung stehenden Bestand sprachlicher
Mittel auswählt, und zwar entsprechend seinen jeweiligen Mitteilungs-
bedürfnissen und seinem im weiteren Sinne verstandenen Sprachwissen.
Festzuhalten bleibt also, dass der Sprachgebrauch stets sowohl in das
Sprachsystem und als auch in die menschliche(n) Gemeinschaft(en) und
deren Tätigkeiten eingebettet ist (d. i. die ‚doppelte Einbettung‘ des
Sprachgebrauchs). Wie ohne einen Ball kein Ballspiel zustanden kommen
kann (selbst wenn Spieler vorhanden sind), so kann es ohne die Sprache
56 Jenŋ Kiss

keinen Sprachgebrauch geben. Umgekehrt ist jede Sprache eine tote Spra-
che, wenn ihr die Sprecher fehlen – wie nun einmal auch mit Ball kein
Ballspiel zustande kommen kann, wenn die Spieler fehlen. Die Entwick-
lung des Sprachwissens und des Wissens von der Welt vollzieht sich – im
Zuge der sozial-kognitiven Entwicklung – parallel. Das genaue Verstehen
der Diskurse setzt über die Sprachkenntnis hinaus auch die Kenntnis sozi-
aler Schemata voraus.

4. Regelnde Faktoren und Mechanismen im Sprachwandel


Die Sprachwissenschaft beschäftigt nicht nur die Frage, zu welchem
Zweck die Menschen die Sprache gebrauchen, sondern auch, auf der
Grundlage welcher Kenntnisse, welchen Wissens sie dies tun (können).
Dieses Wissen setzt sich aus drei verschiedenen Arten von Wissen zu-
sammen: Erstens der Sprachkompetenz, d. h. der Fähigkeit, grammatische
(im weiteren Sinne) Sätze zu verstehen und zu bilden. Zweitens der prag-
matischen Kompetenz, d. h. der Kenntnis der Normen des der jeweiligen
Kommunikationssituation entsprechenden, zielführenden, wirksamen
Sprachgebrauchs. Und drittens schließlich unser allgemeines (metasprach-
liches) Wissen über die Sprache. Diese drei Wissensbereiche sind nicht
gleich wichtig und weisen auch nicht die gleiche Wandelbarkeit auf: Das
Fundament unseres Sprachwissens bildet unsere Sprachkompetenz, die
sich nach dem Ende des kindlichen Spracherwerbs kaum mehr verändert.
Dagegen unterliegt unsere pragmatische Kompetenz (im besten Fall) le-
benslangen Veränderungen, nämlich immer dann, wenn (sich verändern-
de) situative bzw. soziokulturelle Faktoren eine Anpassung erforderlich
machen. Es gibt keine zwei Menschen (nicht einmal eineiige Zwillinge),
deren Lebenserfahrung gleich wären, aber selbstverständlich unterschei-
den sich die Menschen auch in der Art und Weise, wie sie Informationen
kognitiv verarbeiten. Wir verändern uns ständig – deshalb wird in der
Entwicklungspsychologie inzwischen die sogenannte Life-span-Perspekti-
ve verfolgt, wonach die menschliche Entwicklung eben nicht mit der Ado-
leszenz zu einem Abschluss kommt – und damit ändert sich auch unsere
Position, die wir in den Sprechergemeinschaften einnehmen. Die Folge all
dessen ist eine laufende Modifizierung unseres Sprachgebrauchs. Damit
sind wir auf eine außerhalb des Sprachsystems zu verortende, biologisch
und soziokulturell bestimmte Gruppe von Gründen für Sprachwandel
gestoßen.
Bekanntlich nennt die Fachliteratur als sichere, wahrscheinliche oder
zumindest mögliche Erklärung für Sprachwandel zahlreiche innersprachli-
che (systematische) und außersprachliche Gründe, wie z. B. Analogie oder
Sprachwandel: Ursachen und Wirkungen 57

Systemzwang, Homonymenfurcht, Ökonomiestreben, Sprechtempover-


änderung, innere und äußere Sprachkontakte, Kommunikations- und Be-
zeichnungserfordernisse usw. Die allgemeine Meinung besagt, dass das
Bedürfnis nach wirkungsvoller Kommunikation die Redundanz steigert,
während das Streben nach einer ökonomischen Ausdrucksweise diese ver-
ringert, bzw. dass im Zusammenspiel dieser drei Faktoren die Redundanz
die ausgleichende Rolle einnimmt (vgl. Korhonen 1969; zuletzt Csúcs
2008: 139).
Rufen wir uns nun die Grundfragen der allgemeinen Theorie des
Sprachwandels ins Gedächtnis (vgl. Herman 1967: 1550).

1. Gibt es einen Mechanismus des Wandels der Sprachstruktur in der


Sprache selbst, der für alle Sprachen verallgemeinert werden kann?
Die Antwort lautet: Ja. Denn wenn es universale Sprachsytem-
erscheinungen gibt, dann müssen logischerweise auch Sprachwandel-
universalien (im strukturellen Sinne) existieren (Lüdtke 1979: 19).
2. Wenn es einen allgemeinen Mechanismus gibt, bietet dieser dann be-
reits eine hinreichende Erklärung für sämtliche Sprachstruktur-
veränderungen? Darauf können wir unserer gegenwärtigen Kenntnis
nach mit Nein antworten.
3. Wenn es keinen allgemeinen Mechanismus gibt, dann müssen wir un-
tersuchen, in welcher Weise die von außerhalb der Sprachstruktur
kommenden Einflüsse die Modifizierung der Sprache beeinflussen.

Wie wir wissen, ist auch die sprachliche Tätigkeit ein organischer Teil der
Gemeinschaftstätigkeit des Menschen. Und sein Leben, seine Tätigkeit
(zur Erinnerung: der Mensch ist ein biologisches und gesellschaftliches
Wesen zugleich) werden auch vom biologischen Prinzip der Selbst-
regulation (Homöostase) im Gleichgewicht gehalten (vgl. Borhidi 2009).
Dieses ist biologisch kodiert. Es ist ein Axiom, dass die kommunikative
Wirksamkeit die Voraussetzung der gesellschaftlichen Existenz ist. Cha-
rakteristisch für das Sprachverhalten des Menschen ist deshalb das trieb-
hafte (intuitive) Streben nach Sicherung des kommunikativen Erfolgs bzw.
nach Beibehaltung eines wirksamen Zustandes des sprachlichen Mittei-
lungsverfahrens, d. h. der wechselseitige Zwang gegenseitigen Verstehens
und Verstandenwerdens. Die kommunikative Wirksamkeit ist jedoch nicht
nur die Voraussetzung der gesellschaftlichen, sondern mutatis mutandis
auch der höherwertigen biologischen Existenz. Ähnliche Beobachtungen
finden sich in neueren Studien von Ethologen in Bezug auf die Tierwelt
(Csányi 2006: 393).
Der Begriff der Homöostase wird indes nicht nur in der Biologie,
sondern auch in der Kybernetik verwendet. In der Kybernetik wird darun-
58 Jenŋ Kiss

ter verstanden, dass die organischen Regulierungssysteme dafür sorgen,


dass einzelne physiologische Mengen zwischen erlaubten Grenzen bleiben
bzw. einen optimalen Wert annehmen können. Es wird angenommen,
dass diese in Lebewesen und in der Technik auftretenden Regulationspro-
zesse gemeinsame Züge haben.
Herman (1983: 726) ist der Meinung, dass die Sprache als ein in sich
nicht völlig konsistentes, in verschiedener Hinsicht offenes System anzu-
sehen sei und deshalb Spannungen, Gleichgewichtsstörungen zwischen
ihren Elementen und Teilsystemen zustande bringt, die sie danach wiede-
rum selbst mit Hilfe ihrer Korrektions- bzw. Kompensationsmechanis-
men korrigiert. Nach Baľczerowski (2008: 131) „nehmen in unserer
sprachlichen Existenz irgendwelche konsolidierenden und regelnden Fak-
toren teil, doch ist deren Natur unbekannt“. Ich glaube, dass die erwähn-
ten ‚Mechanismen‘ bzw. ‚konsolidierenden und regelnden Faktoren‘ mit
dem allgemeinen Gesetz des bereits erwähnten Prinzips der adaptiven
Dynamik zusammenhängen.

5. Gegen die einseitige Dekontextualisierung in der


Sprachwandelforschung
Eine wichtige Grundfrage bei der Untersuchung des Sprachwandels ist,
wie wir „beim Verständnis der Verbindungsweise des inneren – inner-
sprachlichen – Voraussetzungssystems der Veränderungen mit dem äuße-
ren Faktorensystem“ weiter kommen können (Herman 2001: 402). Ich
verweise auf Martinets Formulierung (gegen die Übertreibungen und die
Einseitigkeit des frühen Strukturalismus), dass in der Erforschung des
Sprachwandels die „anatomische“ (d. i. zur Systematik gehörige) Analyse
auch durch die „physiologische“ Untersuchung (d. i. der mit der sprachli-
chen Tätigkeit zusammenhängenden Faktoren) ergänzt werden müsse
(Antal 1984: 35). Auch Gadamer verurteilt in seiner auf Heidegger ge-
stützten Kritik das Verständnis der Sprache als bloßes Instrument. Seine
philosophisch-hermeneutischen Gedanken (vgl. Fehér 2004: 66) bestäti-
gen die oben dargestellte (soziolinguistische) Auffassung des doppelten
Eingebettetseins der Sprache bzw. des Sprachgebrauchs. Seit der soge-
nannten pragmatischen Wende in der Sprachwissenschaft sind auch in der
Sprachgeschichtsforschung neue Ansätze und Teildisziplinen (Historische
Pragmatik, Historische Soziolinguistik, Soziopragmatische Sprachge-
schichte, Europäische Sprachgeschichte, Diskursgeschichte) entstanden.
Auch kognitionspsychologische und hermeneutische Positionen wei-
sen in diese Richtung, indem sie beide – entgegen der chomskyanischen
Auffassung – die Sprache im Zusammenhang der allgemeinen menschli-
Sprachwandel: Ursachen und Wirkungen 59

chen Erkenntnis betrachten und zwischen dem Sprach- und Weltwissen


keine scharfe Grenzlinie ziehen. Somit gilt, dass die wissenschaftliche For-
schung „nach den modernistischen, die Immanenz der Struktur verkün-
denden, dekontextualisierenden Bestrebungen des 20. Jahrhunderts im 21.
Jahrhundert als eine ihrer wichtigen Aufgaben haben [kann], dass sie […]
wieder vereint, was zusammengehört, d. h. die Erscheinungen nicht in
sich selbst, sondern in ihrem Verhältnis zueinander und zu ihrem Unter-
stützungsmedium zu verstehen versucht“ (Imrényi 2009: 50, vgl. auch
Maitz 2000).

6. Mensch, Sprache, Sprachgebrauch und Sprachwandel –


eine Kette zusammengehöriger Entitäten
Die obigen Gedankengänge können – in einige Thesensätze kompri-
miert – folgendermaßen zusammengefasst werden:

1. Der Mensch ist ein natürliches (biologisches) und zugleich gesell-


schaftliches (soziales) Wesen.
2. Der Mensch bzw. die menschliche Kultur und die Sprache bedin-
gen sich gegenseitig: Das Eine ist nicht möglich ohne das Andere.
3. Die Sprache ist ein offenes und dynamisches System. Der Be-
stand an sprachlichen Zeichen und die die Zeichenbenutzung er-
möglichenden und zugleich determinierenden Regeln müssen als
ein organisch zusammengehörendes Ganzes betrachtet werden.
4. Die gesamte Natur folgt dem biologischen Prinzip der Anpas-
sung. Vor diesem Hintergrund gibt es auch die Überlegung, die
Darwin‫ތ‬sche Theorie der natürlichen Selektion mit Hilfe des Be-
griffs der adaptiven Dynamik neu zu formulieren (vgl. Borhidi
2009: 1434). Der den dynamischen Anpassungsprozess regulie-
rende Mechanismus ist der der Homöostase bzw. inneren Selbst-
regulierung.
5. Die spezifische Eigenschaft des Sprachgebrauchs ist sein doppel-
tes Eingebettetsein: Er ist immer an ein Sprachsystem und zu-
gleich an Menschen bzw. eine Gemeinschaft gebunden.
6. Sprachwandel kommt nur beim Sprachgebrauch zustande.
7. Das jeweilige Sprachsystem ist einerseits offen für Wandel, legt
zugleich aber auch die Art und Weise fest, in der dieser erfolgen
kann.
8. Die eigentliche Ursache (der ‚Anstoß‘, der ‚Zündfunken‘) des
Sprachwandels ist in der sprachlichen Tätigkeit des biopsychoso-
zial determinierten Menschen zu suchen. Will man die Ursachen
60 Jenŋ Kiss

des Sprachwandels untersuchen, so dürfen folglich die außer-


sprachlichen Faktoren, die den Menschen in der Art und Weise,
wie er Sprache gebraucht, direkt oder indirekt beeinflussen, nicht
unberücksichtigt bleiben. Die für die Natur, also auch die für das
Leben des Menschen und sein (sprachliches) Handeln typische
adaptive Dynamik darf nicht außer Acht gelassen werden.

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62 Jenŋ Kiss

Schuchardt-Symposium 1977 in Graz. Vorträge und Aufsätze. Wien:


Österreichische Akademie der Wissenschaften, 275–291.
Damaris Nübling

Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer


Sprachwissenschaft und Sprachtypologie – am
Beispiel der Phonologie, der Morphologie und der
Pragmatik

1. Wohin sollte die Historische Sprachwissenschaft auch


steuern?
Die Historische Sprachwissenschaft war (allzu) lange Zeit ein Ableger der
Mediävistik und weniger der Linguistik. Entsprechend bestand (und be-
steht immer noch) an vielen Universitäten das primäre Ziel der Histori-
schen Sprachwissenschaft darin, den Studierenden die Kompetenz für die
Übersetzung ahd. und mhd. Texte zu vermitteln. Hinzu kam (kommt) das
relativ zusammenhangslose Auswendiglernen eines ganzen Katalogs an
Lautgesetzen sowie einiger Flexionsregeln – auch dies primär zu Zwecken
der richtigen Übersetzung. Am Ende einer solchen Ausbildung bestand
die Herausforderung schriftlicher und mündlicher Examensprüfungen da-
rin, ältere Textpassagen zu übersetzen sowie ein paar Gesetze aus dem
Katalog der Laut- und Flexionsregeln auf ausgewählte Wortbeispiele anzu-
wenden, Langvokale zu identifizieren und die eine oder andere Ablautrei-
he zu bestimmen. Warum-Fragen wurden kaum gestellt.
Das im Kontext des Übersetzens aufkeimende Interesse etwa an Ge-
setzen morphologischen oder semantischen Wandels (unterschiedliche
Wortbedeutungen sind ja allgegenwärtig) wurde mit wenigen Sätzen be-
dient, doch selten zu einem eigenen Thema gemacht. Das Gros der
sprachhistorischen Einführungen – selbst solche neuesten Datums – ver-
harrt ungerührt in diesem Stadium althergebrachter Gemütlichkeit. Un-
mittelbar erkennbar ist dies an der traditionellen Einteilung in ‚Das Alt-
hochdeutsche‘, ‚das Mittelhochdeutsche‘ und ‚das Frühneuhochdeutsche‘.
Immer noch arbeitet man sich durch diese hermetischen Blöcke, bei de-
nen die thematischen Fäden immer wieder abreißen, um 100 Seiten später
– wenn überhaupt – wieder aufgenommen zu werden. Phänomenbezogen
64 Damaris Nübling

Denkende wurden (und werden) systematisch entmutigt, sich mit der


Entwicklung solcher ‚Fäden‘, z. B. des Umlauts, der Entstehung und Ent-
wicklung des Ablautsystems, der Verschriftung etc., zu befassen und wo-
möglich nach der Ratio dahinter zu fragen. Dabei liefert die schriftlich
bezeugte Geschichte der deutschen Sprache den unschätzbaren Vorteil
beträchtlicher diachroner Tiefe: 1200 Jahre (vergleichsweise) reich belegter
Sprachzeugnisse bilden eine solide Basis für Einsichten in die Prinzipien
des Sprachwandels und seine bedingenden Faktoren.
Indessen hat sich mittlerweile einiges verändert: Endlich sind Projekte
zur Aufbereitung, Verfügbarmachung und Annotierung historischer Kor-
pora gestartet, die bald präzise und repräsentativ(er)e Aussagen zu sprach-
geschichtlichen Abläufen erlauben und so manches bisherige Wissen kor-
rigieren werden. Nichtannotierte Korpora sind schon seit längerer Zeit
digital verfügbar (vgl. das Projekt Titus an der Universität Frankfurt:
http://titus.uni-frankfurt.de). ‚Regionale Sprachgeschichtsforschung‘ ist
ein weiteres Stichwort der konsequenten Umsetzung dessen, was man
zwar wusste, doch zu wenig berücksichtigt hat: Die diatopische Vielfalt
des Deutschen seit Beginn seiner Überlieferung und die schon frühe Ei-
genständigkeit der Dialekte. Weitere Differenzierungen werden nun dia-
chron untersucht, z. B. Soziolekte, Fachsprachen, externe wie interne
Sprachkontakte. Die Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsforschung wird auf
die Diachronie ausgeweitet. Auch wurden weitere, bisher stark vernachläs-
sigte sprachliche Domänen (neben der Phonologie und Morphologie)
diachron erschlossen, was neuere Untersuchungen zur Wortbildung, zur
Syntax, zur Pragmatik, zum graphematischen Wandel zeigen.
Den m. E. entscheidenden Impuls für den Anschluss der Historischen
Sprachwissenschaft an linguistische Fragestellungen und Theorien hat die
Grammatikalisierungsforschung seit den 1980er Jahren erbracht. Seitdem
erfährt die Sprachgeschichte ein bisher nicht dagewesenes Interesse ver-
schiedener linguistischer Disziplinen. Deutlich wurde dabei aber auch: Es
bedarf umfassender Kenntnisse sowohl der sprachhistorischen Daten als
auch der Theorie(n). Das eine schließt also das andere nicht aus, beides er-
gänzt sich und ist gleichermaßen erforderlich, um echte Erkenntnisfort-
schritte zu erzielen. Dies bedeutet für die universitäre Lehre: Was früher
Examenswissen war, ist heute Grundstudiumswissen. Wo früher die
sprachgeschichtliche Ausbildung geendet hat, bildet sie heute Ausgangs-
punkt für weiterführende, spannende Fragen. Soviel zu dem häufig zu
vernehmenden Eindruck, dass die sprachhistorische Ausbildung früher
besser und fundierter war. Aus eigener Erfahrung füge ich hinzu: Sie war
außerdem langweilig, Vieles hat sich wiederholt, der Blick auf das Ganze
hat gefehlt. Die neue Erfahrung lehrt: Die Studierenden akzeptieren trotz
heutzutage deutlich größerer Arbeitsbelastung nicht nur ein höheres Ni-
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 65

veau, sie schätzen es auch, was sich an ihrer generell hohen Leistungsbe-
reitschaft, an anspruchsvollen Diskussionen und guten Haus- und Ab-
schlussarbeiten zeigt. Auch wird immer wieder von Lehramtsstudierenden
die Absicht geäußert, vermehrt sprachhistorische Einheiten in den Unter-
richt einbringen zu wollen: Sprachgeschichte wird als wichtig begriffen.
Themen, die sich besonders für Lehramtsstudierende eignen und daher in
den universitären Unterrichtskanon gehören, sind die Onomastik (vorran-
gig, doch keineswegs zwingend, die Anthroponomastik), die sog. Zwei-
felsfall-Linguistik, die nach dem Hintergrund aktueller Schwankungsfälle
fragt und dabei nicht selten auf (schon im Frühnhd. fußenden) Sprach-
wandel stößt, die Phraseologie, aber auch Veranstaltungen zur Grammati-
kalisierung, zum Sprachwandel prinzipiell, zur historischen Graphematik,
Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik. Ein Motor
sprachlichen Wandels besteht in der Tatsache, dass jede sprachliche Ebe-
ne sich nach spezifischen Optimierungsprinzipien wandelt und dabei an-
dere Ebenen beeinträchtigen kann. Einen solchen Antagonismus werden
wir mit dem Beispiel des phonologischen und des morphologischen Wan-
dels kennenlernen (vgl. Abschnitt 2 und 3). Die Historische Linguistik
braucht sich also nicht zu verstecken oder zu rechtfertigen, wenn sie le-
bensnah vermittelt wird.
Eine weitere Bereicherung und – buchstäblich – Horizonterweiterung
erfährt die Historische Sprachwissenschaft durch die Wahrnehmung der
Sprachtypologie, so wie umgekehrt die Sprachtypologie durchaus und
zunehmend an sprachhistorischen Erkenntnissen interessiert ist, auch
wenn sie (die Typologie) – oft zwangsläufig – strikt synchron-vergleichend
verfährt und dabei meist – für Philologen oft schwer erträglich – sehr
grobrastrig vorgeht. Dennoch tun sich interessante Verbindungen auf.
Croft (2003) spricht im Zusammenhang diachroner Forschung von einer
„dynamicization of typology“ (232ff., vgl. auch Ineichen 1991: 123ff.).
Rekonstruierte Systeme (z. B. Lautsysteme) können angesichts der Kennt-
nis sprachtypologischer Verbreitungen als mehr oder weniger plausibel
bewertet werden. Umgekehrt kann die Historische Sprachwissenschaft,
indem sie genau die Dynamik sprachlicher Veränderung erforscht, z. B.
zeigen, welche Merkmale bei einem typologischen Wandel früher/später
ab- oder aufgebaut werden, wie die Implikationen zwischen den Merkma-
len beschaffen sind, welche typologischen Merkmale eher hart oder weich
sind, kurz: in welcher Sukzession sich ein Sprachtyp auf- oder abbaut.
Ich möchte, um konkret zu werden, drei Beispiele für den produkti-
ven Dialog zwischen Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypolo-
gie liefern: 1. Den phonologisch-typologischen Wandel des Deutschen
von einer Silben- zu einer Wortsprache, 2. die frühnhd. ‚Justierung‘ der
Abfolge grammatischer Kategorien am Verb gemäß der universellen Rele-
66 Damaris Nübling

vanzskala, und 3. die Entwicklung unseres Höflichkeitssystems am Bei-


spiel der Anredepronomen. Weder liefere ich Neues noch kann ich ins
Detail gehen. Es geht hier nur darum, für die gegenseitige Wahrnehmung
und Zusammenarbeit linguistischer Disziplinen zu werben.

2. Präteritum(s?)schwund, Subjekt(s?)pronomen und


Merkmal(s?)analyse: Der phonologisch-typologische Wandel des
Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache – am
Beispiel heute schwankender Fugenelemente
Heutige Zweifels- oder Schwankungsfälle, die nach der Definition von
Klein (2003, 2009) von erwachsenen Muttersprachlern bemerkt und re-
flektiert werden, können in gewisser Hinsicht mit Beben verglichen wer-
den: Es finden (die Menschen stark verunsichernde und beunruhigende)
Verwerfungen statt, die auf Verschiebungen tiefliegender tektonischer
Platten zurückgehen. Was sich mit welchem Tempo wohin verschiebt und
weshalb, ist nicht sichtbar.
Einer der größten und bei Sprachberatungsstellen am häufigsten
nachgefragten Zweifelsfälle bildet die s- vs. Null- oder Nichtverfugung
von Komposita wie in der Überschrift genannt, doch ließen sich diese
Beispiele mühelos vervielfachen: Sie gehen in die Hunderte. Einige weitere
Beispiele: Interessen(s?)bekundung, Respekt(s?)person, Denkmal(s?)pflege, Lehr-
amt(s?)kandidat, Seminar(s?)arbeit, Antrag(s?)formular, Erbschaft(s?)steuer. Allein
in der linguistischen Fachterminologie gibt es mehr als ein Dutzend sol-
cher Fälle.
Man hat lange nach den Gründen für diese Unsicherheit der s-
Verfugung gesucht (die bei diesem Prozess auf Kosten der Nullfuge zu-
nimmt) und kam dabei auf so abwegige Erklärungen, dass es einfach bes-
ser klinge, wenn da ein -s- stünde (dies wurde nicht nur von Bastian Sick
vertreten) bzw. dass das Wort leichter mit -s- aussprechbar sei (Busch/
Stenschke 2007: 87). Letzteres kann leicht zurückgewiesen werden: Jedes
-s- im Wortauslaut führt zu einem phonologischen Komplexitätszuwachs
– und genau hierin besteht die eigentliche Begründung für das -s-, aller-
dings von ganz anderer Seite her argumentierend (s. u.).
Zunächst seien die beiden bekanntesten Begründungen für die Set-
zung der s-Fuge referiert, die morphologischer Natur sind.
Erstens: Es gibt sog. schließende Suffixe, d. h. solche, die keine weite-
re Derivation erlauben. Dies gilt für -ung, -sal, -in, -ion, -ling, bedingt auch
für -schaft und -heit (Aronoff/Fuhrhop 2002), vgl. Liebling, aber *lieblinglich,
*Lieblingin etc. Solche Suffixe werden durch die s-Fuge für die Kompositi-
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 67

on geöffnet: Liebling-s-essen. Allerdings erfasst dieses Prinzip der Öffnung


morphologisch schließender Suffixe für die Komposition nur einen klei-
nen (den obigen) Ausschnitt der Fugenvorkommen.
Zweitens: Je morphologisch komplexer das Erstglied sei, desto eher
werde dieses verfugt (Henzen 1965, Ortner et al. 1991, Fuhrhop 1996,
1998). Damit diene die s-Fuge der Segmentierung morphologisch beson-
ders komplexer Wörter. Tatsächlich deuten zahlreiche Kompositapaare
vom Typ Hofmauer, aber Friedhof-s-mauer, Kaufpreis, aber Verkauf-s-preis,
Fahrtzeit, aber Abfahrt-s-zeit darauf hin. Allerdings hat Kürschner (2003) bei
einer Korpusanalyse festgestellt, dass morphologisch besonders komplexe
Erstglieder, nämlich solche, die selbst ein Kompositum bilden, aus dieser
Komplexitätsregel ausscheren (Tab. 1).

Tab. 1: Abhängigkeit von Null- und -s-Fuge von der morphologischen Komplexität
des Erstglieds (nach Kürschner 2003)

Fugenelement alle Komposita mit


Komposita polymorphemischen Erstgliedern

Erstglied ist Erstglied ist derivationell


Kompositum komplex

Null Ø 58% 66% 29%

-s- 25% 27% 67,5%

Werden im Schnitt alle Komposita zu 58% nullverfugt und zu 25% s-


verfugt (die s-Fuge ist das häufigste von insgesamt sechs Fugenelementen),
so ändert sich dies kaum, wenn das Erstglied seinerseits ein Kompositum
bildet. Beispiele: Bilderbuch-Ø-wetter und Rückruf-Ø-aktion. Nur dann, wenn
die morphologische Komplexität auf Derivation basiert, schnellt die s-
Verfugungsrate von 25% auf 67,5% hoch (Beruf-s-wunsch, Absicht-s-
erklärung). Also kann es sich nur um eine spezifische Form morphologi-
scher Komplexität handeln, die die s-Fugensetzung begünstigt.
Eine weitere morphologische Begründung, nämlich die, dass es sich
bei der s-Fuge um Genitivflexive handle, muss angesichts zu vieler Ge-
genbeispiele verworfen werden: Weder handelt es sich bei einem Freundes-
kreis um den *‘Kreis eines Freundes‫ ތ‬noch bei dem Lieblingsessen um das
*‘Essen des/eines Lieblings‫ތ‬. Schließlich treten die meisten s-Fugen unpa-
68 Damaris Nübling

radigmisch auf, allen voran alle die (und das sind die meisten), die auf
feminine Erstglieder folgen (Abfahrt-s-zeit): Hier wäre es unsinnig, von
Flexiven zu sprechen.
Wie in Nübling/Szczepaniak (2008, 2009) gezeigt, ist die Fugenset-
zung prosodisch-phonologisch gesteuert: Anhand einer großen Korpus-
untersuchung kamen wir zu dem Ergebnis, dass in dem Maße, in dem das
Erstglied von dem für das Deutsche geltenden phonologischen Wortideal
des einfüßigen Trochäus mit Reduktionssilbe (Typ Mutt[ǁ], Kann[NJ]) ab-
weicht, das Erstglied mit -s- verfugt wird. Das heißt: Je phonologisch
‚schlechter‘ das Erstglied und je schwieriger damit seine Wortgrenzen
perzipierbar sind, desto eher wird sein rechter Wortrand markiert (ver-
fugt), vgl. Abb. 1. Die s-Fuge ist damit ein Signal schlechter phonologi-
scher Wortqualität. Umgekehrt werden Trochäen mit Reduktionssilbe am
seltensten s-verfugt. Dies geschieht nur dann, wenn es sich um deverbale
Nomina handelt, d. h. um solche, die mit Infinitiven homophon und da-
her mit diesen verwechselbar wären: Wissen-s-bestand, Glücken-s-bedingung,
Verhalten-s-weise.

phonologische
Wortqualität:
schlecht gut

Produktivität der s-Fuge:


stark … viele Zweifelsfälle … schwach

Derivate mit unbeton- Derivate mit betontem


tem Präfix oder Suffix Präfix/ Komposita:

Beruf-s-wunsch, Anruf-Ø-beantworter,

Berufung-s-zusage Weckruf-Ø-funktion

Fremdwörter

Station-s-ärztin Respekt-s?-person Präteritum-s?-schwund

Abb. 1: Die Abhängigkeit der s-Fugensetzung von der phonologischen Wortqualität


des Erstglieds
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 69

Diese auf die Wortqualität bezogene phonologische Regel erklärt z. B.,


weshalb besonders viele s-verfugte Erstglieder Fremdwörter sind. Regel-
mäßig werden finalbetonte auf -ität und -ion (aber auch viele andere) ver-
fugt, denn diese divergieren durch Mehrfüßigkeit, Vollvokale in unbeton-
ten Silben und Nicht-Initialakzente am stärksten vom Erbwortschatz (zu
Näherem vgl. Nübling/Szczepaniak 2009). Doch auch die bisher morpho-
logisch (partiell) begründeten Sachverhalte werden phonologisch besser
erfasst und erklärt: Die morphologisch schließenden Suffixe sind nichts
anderes als nebenbetonte Suffixe mit Vollvokal (im Fall von -ung sogar
unbetont mit Vollvokal), d. h. Hybride, deren Zugehörigkeit zum Erst-
glied durch die s-Setzung unterstrichen wird. Schließlich erzeugen auch die
derivationell komplexen Erstglieder (im Unterschied zu den kompositio-
nell komplexen) phonologische Komplexität, indem gerade die unbeton-
ten Präfixe für nichttrochäische und (hinten) schwa-lose Strukturen sor-
gen, daher Rufmord, aber Berúf-s-wunsch, Kaufpreis, aber Verkáuf-s-preis.
Dieser Typus wird zu über 80% verfugt und generiert damit eher wenige
Zweifelsfälle. Nur zu 36% verfugt und eine Quelle von Zweifelsfällen sind
die Erstglieder mit betontem Präfix bzw. grundsätzlich solche Bildungen,
die zwar trochäisch strukturiert sind, aber hinten keine Reduktionsvokale
enthalten: Merkmal(s?)analyse, Denkmal(s?)pflege, Antrag(s?)formular. Auch
auffällig viele Fremdwort-Erstglieder befinden sich unter den Zweifels-
fällen.
Was haben diese Befunde mit der Typologie zu tun? Sehr viel, denn,
um im Bild zu bleiben, bildet sie die tektonischen Platten darunter. Wie
der Beitrag von Renata Szczepaniak in diesem Band zeigt, hat das Deut-
sche einen tiefgreifenden phonologischen Wandel von einer ahd. Silben-
zu einer nhd. Wortsprache durchlaufen – und fährt auch heute noch fort,
die Wortsprachlichkeit auszubauen (vgl. ausführlich Szczepaniak 2007 und
einführend Szczepaniak 2008: 11–41). Während die phonologischen Pro-
zesse des Althochdeutschen (und Westgermanischen) allesamt auf eine
Optimierung der universell gültigen Idealsilbe CV hinauslaufen (westgerm.
Konsonantengemination, ahd. i-Umlaute, ahd. Vokalharmonien epentheti-
scher Vokale, Vorkommen von Vokal- und Konsonantenepenthesen,
Assimilationen, Notkersches Anlautgesetz) oder zumindest silbenbezogen
verlaufen (die gesamte 2. Lautverschiebung), vollzieht sich zum Mhd. hin
in vielerlei Hinsicht eine Verschlechterung der Silbenstruktur (Endsilben-
abschwächung, Aufspaltung/Asymmetrisierung des Haupt- und Neben-
tonvokalismus, Syn- und Apokopen, Entstehung komplexer Konsonan-
tengruppen) und gleichzeitig, besonders zum (Früh-)Nhd. hin, ein Aufbau
an Wortsprachlichkeit, d. h. die phonologischen Prozesse profilieren zu-
nehmend die Informationseinheit Wort (oder Morphem) und/oder wäh-
len es zu ihrer Bezugsdomäne. Dies beginnt zunächst mit der Regulierung
70 Damaris Nübling

und Stabilisierung der Wortgröße zum Trochäus ab mhd. Zeit sowie mit
dem Abbau der Geminaten zur gleichen Zeit. Dazu gehört auch die Pho-
nologisierung der Umlautprodukte, die Entstehung ambisilbischer Kon-
sonanten, die frühnhd. Dehnung in offener Tonsilbe – bis hin zu Konso-
nantenepenthesen, die nunmehr das genaue Gegenteil einer CV-
Optimierung bewirken, nämlich die rechte Wortrandverstärkung: mhd.
ieman > nhd. jemand, saf > Saft, obez > obst, mâne > Mond etc. Die Worträn-
der werden außerdem (vorne) durch die Aspiration anlautender prävokali-
scher Plosive, durch die Entstehung des Glottisverschlusses und (hinten)
durch die Auslautneutralisierung, durch die heute massenhaft ent-
stehenden silbischen Nasale und Liquide sowie die Verletzung der Sonori-
tätshierarchie durch extrasilbische Konsonanten in Aus-, aber auch An-
lautclustern profiliert: [Ǵt]adt, O[pst].
Genau hierein fügen sich die Fugenelemente, und zwar nicht nur, in-
dem sie die geringe wortphonologische Qualität des Erstglieds signalisie-
ren, sondern indem sie sozusagen aktiv zusätzlich zur Verschlechterung
eben dieses Wortauslauts beitragen durch die Verstärkung des rechten
Wortrands: Wie auch schon Wegener (2006) anhand monosyllabischer
Erstglieder festgestellt hat, tritt das frikative Fugen-s besonders dann gerne
an das Erstglied an, wenn es Extrasyllabizität erzeugt, d. h. wenn es kon-
sonantisch stärkeren Lauten (also Plosiven) folgt: Ort-s-zeit, Wirt-s-haus,
auch Geburt-s-tag, Abfahrt-s-zeit, Ankunft-s-zeit, Meisterschaft-s-favorit, Mehrheit-
s-meinung, Kind-s-kopf, Verbund-s-lösung, Geduld-s-faden. Überall hier erweitert
das Fugen-s nicht einfach nur den Konsonantencluster, sondern es ver-
schlechtert ihn durch die Verletzung des kontinuierlichen Zuwachses an
konsonantischer Stärke. Nicht zufällig, so muss man schlussfolgern, hat
von den sechs Fugenelementen ausgerechnet -s- das Rennen gemacht.
Eine Option wäre gewesen, mit dem einstigen Allomorph -es- zu alternie-
ren und damit Trochäen zu erzeugen (was -n- und -en- leisten). Genau
dieser Weg wurde nicht eingeschlagen, da typologisch schon eine andere
Richtung eingeschlagen war: Der heutige wortsprachliche Ausbau besteht
darin, den rechten Wortrand auszubauen, komplexer zu machen. Nur
wenn man diese typologische Drift des Deutschen kennt, versteht man
das heutige Fugenverhalten mit all seinen Schwankungsfällen, die von
nichts anderem als gegenwärtig sich vollziehendem Sprachwandel zeugen.
Diese prosodisch-phonologische Typologie von Silben- versus Ak-
zent- bzw. Wortsprachen wurde schon länger beschrieben und von Auer
(2001) präzisiert und weiterentwickelt. Mit der Arbeit von Szczepaniak
(2007) wurde sie erstmals sprachgeschichtlich nutz- und fruchtbar ge-
macht bzw., in den Worten von Croft, dynamisiert. Auf diese Weise lässt
sich ermitteln, wie im Einzelnen der (ahd.) silben- bzw. (fnhd.) wort-
sprachliche Ausbau (aber auch der silbensprachliche Abbau im Mhd.)
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 71

abläuft, welche Merkmale es genau sind, die früher auftreten und welche
erst später. Schließlich zeigt sich, dass der wortsprachliche Ausbau nur
anfänglich in der Vernachlässigung und Verschlechterung der Silbe be-
steht und später zu ganz anderen Maßnahmen greift. Es existiert in der
deutschen Sprachgeschichte übrigens kein einziger phonologischer Wan-
del, der sich nicht in diese typologische Drift einfügte. So erfahren alle
über Generationen hinweg auswendig gelernten und kaum verstandenen
phonologischen Prozesse eine übergreifende Einordnung und Erklärung –
und dies gilt auch für manchen aktuellen Zweifelsfall.

3. Die frühnhd. ‚Justierung‘ der Abfolge grammatischer


Kategorien am Verb gemäß der universellen Relevanzskala
Die deutsche Sprachgeschichte ist, wie der vorige Abschnitt gezeigt hat,
viele Jahrhunderte lang von phonologischem Wandel dominiert gewesen.
Phonologischer Wandel folgt anderen Gesetzen als morphologischer
Wandel. Es nimmt daher wenig wunder, dass diese phonologischen Pro-
zesse destruktive Auswirkungen auf die Morphologie hatten. Erst nach
mhd. Zeit beginnt die Morphologie, sich zu reorganisieren und die Folgen
des Lautwandels zu ‚reparieren‘. Nach welchen Prinzipien dies erfolgt,
erweist ein Blick auf die verbalflexionsmorphologische Typologie, wie sie
von Bybee (1985) anhand des synchronen Vergleichs von 50 verschiede-
nen (weder areal noch ‚genetisch‘ zusammengehörigen) Sprachen erarbei-
tet wurde. Ihre daraus abgeleitete Relevanzskala verbaler Kategorien er-
fährt eine zuvor ungeahnte Bestätigung durch die Diachronie des
Deutschen: Streng relevanzgesteuert treten bei diesem im Frühnhd. statt-
findenden morphologischen Umbau kategorielle Stärkungen relevanter
(Tempus, Modus) sowie Schwächungen weniger relevanter Kategorien
(Numerus, Person) ein. Dabei erweist sich die sog. Tempusprofilierung bis
heute als das flexionsmorphologische Leitmotiv des deutschen Verbs.
Bybee selbst hat in ihrem Beitrag von 1994 „Morphological universals and
change“ ihre synchron-typologisch gewonnenen Befunde auf die Diachro-
nie bezogen, wenngleich nicht auf die deutsche und wenig detailliert. Dies
soll im Folgenden getan werden (vgl. ausführlich Nübling/Dammel 2004).
Bei der typologischen Untersuchung erwiesen sich als die weltweit
häufigsten Verbalkategorien Person, Numerus, Modus, Tempus, Aspekt,
Diathese und Valenz. Das Deutsche realisiert nur die ersten vier flexi-
visch, weswegen wir uns nur auf diese beschränken. Die formale Abfolge
dieser vier Kategorien am Verb folgt zuvörderst dem sog. Relevanzprinzip,
womit sog. diagrammatischer Ikonismus entsteht:
72 Damaris Nübling

A meaning element is relevant to another meaning element if the semantic content of


the first directly affects or modifies the semantic content of the second. If two meaning ele-
ments are, by their content, highly relevant to one another, then it is predicted
that they may have lexical or inflectional expression, but if they are irrelevant to
one another, then their combination will be restricted to syntactic expression.
(Bybee 1985: 13; Hervorhebungen im Original)

Numerus und Person sind weniger relevant, da sie nur die Aktanten der
Handlung bezeichnen, die die Aktion zwar ausführen, sie jedoch nicht in
ihrer Beschaffenheit modifizieren. Außerdem wird der Aktant üblicher-
weise durch ein nominales oder pronominales Subjekt ausgedrückt, wes-
halb Bybee hier von sog. „agreement categories“ (Bybee 1985: 28) spricht.
Demgegenüber modifizieren andere Kategorien durchaus die Verbalhand-
lung selbst: So bezieht sich Aspekt (der heute nicht mehr flexivisch reali-
siert wird) auf ihren internen Verlauf, indem er verschiedene Phasen fo-
kussiert (inchoativ/ingressiv, durativ, resultativ/perfektiv etc.). Anders
Tempus, dem zwar auch ein hoher Relevanzgrad zukommt, das aber die
durch das Verb bezeichnete Handlung nur extern temporal situiert, sie als
solche jedoch intakt lässt: Die Handlung wird nur in verschiedene Zeitstu-
fen transponiert. Modus bezeichnet im weitesten Sinn die Haltung des
Sprechers zum Sachverhalt, d. h. zur gesamten Proposition; sie verändert
nicht die Semantik des Verbs, sondern macht Aussagen über den Faktizi-
tätsgrad der Proposition, wie ihn der Sprecher einschätzt, oder zur Quelle,
aus der sein das Wissen bezieht. Im Imperativ fordert der Sprecher zum
Vollzug der Handlung auf.
Allerdings werden diese (und die hier nicht genannten) unterschiedlich
relevanten Informationen in den Sprachen der Welt keineswegs alle flexi-
visch ausgedrückt. Hier ist das sog. Allgemeingültigkeitsprinzip (generality) zu
berücksichtigen, das einen möglichst geringen semantischen Gehalt der
Kategorie vorsieht, um sie damit umso kompatibler für die Verbbedeu-
tung zu machen:
However, generality distinguishes inflectional from all the rest. Inflectional cate-
gories are more general – have a wider range of applicability with predictable
meaning – than lexical, derivational, or periphrastic categories. Thus generality is
a necessary defining feature of inflection (Bybee et al. 1994: 22).

Damit ergibt sich für das Deutsche eine Relevanzskala wie in Abb. 2
(S. 73). Wenn der Relevanz- oder der Allgemeingültigkeitsgrad zu hoch ist,
wird – je nachdem – die betreffende Kategorie über andere formale Ver-
fahren kodiert (lexikalisch, derivationell, syntaktisch).
Der dritte Faktor, der dieses Funktions-Form-Verhältnis maßgeblich
steuert, ist die Tokenfrequenz, die sich a) in die lexikalische und b) in die
kategorielle oder grammatische Frequenz aufspaltet: a) geben als Verblexem
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 73

kommt bedeutend häufiger vor als beben; b) grammatische Katego-


rien(kombinationen) werden unterschiedlich häufig aktiviert: So ist die
3.Sg.Präs. viel häufiger als die 2.Pl.Prät. (zu diesen Frequenzen vgl.
Tomczyk-Popiľska 1987). Hohe Tokenfrequenz wirkt auf den Ausdruck
grammatischer Kategorien prinzipiell fusionierend (komprimierend), d. h.
sie sorgt, unabhängig vom Relevanzgrad, für Linksverschiebungen auf der
Skala in Abb. 2.

Tempus Numerus Modus Person

+ Relevanz - Relevanz

- Allgemeingültigkeit + Allgemeingültigkeit

fusionierender Ausdruck

mehr Allomorphie

Abb. 2: Die Flexionskategorien des Verbs im Deutschen nach Relevanz- bzw. Allgemeingültig-
keitsgrad und ihr Bezug zu Fusion und Allomorphie

Abb. 3 (S. 74) liefert ein Beispiel dafür und zeigt, dass das Tempusmor-
phem in einem selteneren Verb (wie beben) additiv markiert wird (wenn-
gleich das Dentalsuffix der hohen Relevanz von Tempus wegen in direkte
Nachbarschaft zum Stamm tritt), während frequente Verben (wie geben)
die Tempusinformation (trotz gleichen Relevanzgrads) direkt in den lexi-
kalischen Stamm integrieren (Ablaut), hier also echte Fusion (Wurzelflexi-
on) zulassen.
Die wenig relevante Person/Numerus-Endung steht dagegen bei bei-
den Verbformen in der Peripherie. Insgesamt ist gabst deutlich kürzer als
bebtest, was dem Prinzip formaler Kürze bei Hochfrequenz entspricht. Der
nach den langen Phasen phonologischen Wandels einsetzende morpholo-
gische Wandel bestätigt auf fast vorbildhafte Weise die Gültigkeit dieser
drei Prinzipien: Im Frühnhd. werden die minderrelevanten Kategorien
(Person, Numerus) geschwächt und die relevanten (Modus, Tempus) ge-
stärkt, im Einzelnen abhängig von den konkreten Frequenzen. Abb. 4
(S. 74) zeigt das gesamte Bild, das hier nur auszugsweise behandelt werden
kann (vgl. eingehend Nübling/Dammel 2004).
74 Damaris Nübling

schwache Verben: beben starke Verben: geben

(geringe lexikal. Frequenz) (hohe lexikal. Frequenz)

Relevanz Relevanz

‘beben‫‘ ތ‬Prät.‫‘ ތ‬2.Sg.‫ތ‬ ‘geben‫‘ ތ‬Prät.‫‘ ތ‬2.Sg.‫ތ‬

beb – t – est gab – st

Abb. 3: Frequenzbedingte Markierungsunterschiede beim Präteritum von beben und geben

Stärkung, Profilierung

TEMPUS

MODUS

ASPEKT NUMERUS

PERSON

Schwächung, Nivellierung

+relevant -relevant

17. Jh.–heute < 14.–16. Jh. < 13. Jh.

Abb. 4: Übersicht über relevanzgesteuerte Stärkungen und Schwächungen verbaler Kategorien


im Deutschen

Im Folgenden wird aus diesem Komplex nur 1.) die Schwächung von Per-
son sowie 2.) die Stärkung von Tempus herausgegriffen.
1.) Schwächung/Nivellierung von Person, hier nur am Beispiel der
2.Sg.: Der blind wirkende phonologische Umlaut hat zu morphologischen
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 75

Verzerrungen geführt. So hat die ahd. Endung -i der 2.Sg.Prät. starker


Verben den Stammvokal umgelautet: ahd. bundi > b[y]ndi > mhd. bünde
‘bandst‫ތ‬. Aus phonologischer Perspektive handelt es sich um eine regres-
sive Fernassimilation, die die Silbennuklei artikulatorisch einander annä-
hert, während aus morphologischer Perspektive diese Person/Numerus-
Information in die Wurzel gelangt – und dort auch verbleibt, nachdem der
Umlaut im Mhd. phonologisiert war. Damit hat eine wenig relevante Ka-
tegorie einen formal-fusionierenden Ausdruck erlangt, wie dies nur hoch-
relevanten Kategorien gebührt. Darüber hinaus hatte die 2.Sg.Prät. einen
vom Sg.-Paradigma abweichenden Ablaut. Zum Flexiv der 2.Sg. gab es
noch zwei weitere Allomorphe, -t im Präsens von Präteritopräsentia (du
wilt) und -st sonst. Schon im frühen Frühnhd. wird der Umlaut aus der
2.Sg.Prät. beseitigt, dabei auch noch die Ablautstufe des Präteritum Singu-
lar übernommen und außerdem das häufigste Allomorph -st: du bünde > du
band(e)st. Damit war die Personenkategorie aus dem Stamm beseitigt. Im
späteren Frühnhd. wird die t-Endung der Präteritopräsentia – ganz der
lexikalischen Frequenz dieser Verben folgend – durch nun uniformes -st
ersetzt: du wilt > du willst. Dies zeigt Tab. 2 (S. 76). Auch der Grad an Al-
lomorphie ist relevanzabhängig: Bei hoher Kategorienrelevanz leisten sich
die Sprachen viel, bei geringer wenig Allomorphie (vgl. Abb. 2). Auch
diesbezüglich hat eine ‚Justierung‘ des Personenausdrucks stattgefunden.
2.) Stärkung/Profilierung von Tempus: Durch die Entwicklung von
mhd. bünde > fnhd. band(e)st wird – zunächst – Numerus gestärkt insofern,
als nun Ablautstufe 2 für den Singular zuständig ist (band/bandest/band)
und Ablautstufe 3 ausschließlich den Plural (bunden/bundet/bunden). Die
Numerusstärkung (vgl. den gestrichelten Pfeil von Person zu Numerus in
Abb. 4) bestand jedoch nur vorübergehend, wie Tab. 3 (S. 76) zusammen-
fasst: Der präteritale Numerusausgleich, die wohl größte morphologische
Umwälzung im Frühnhd., vernichtet bald wieder diese wurzelinterne (ab-
lautende) Numerusopposition, und zwar zugunsten von Tempus. In dem
Moment, in dem der Ablaut sich aus dem Numerus (im Prät.) zurückzieht,
ist es einzig und allein noch die relevante Tempuskategorie, die von die-
sem salienten, wurzelinternen Ausdrucksverfahren Gebrauch macht: Der
Rückzug von Numerus aus der Verbwurzel dient (‚passiv‘) der Stärkung
von Tempus (vgl. den gestrichelten Pfeil von Numerus zu Tempus in
Abb. 4). Weitere Faktoren, die den präteritalen Numerusausgleich begüns-
tigt haben, werden in Nübling (1998) diskutiert; hierzu gehört u. a. der
sich im Frühnhd. anbahnende Präteritumschwund, der eine rückläufige
Kategorienfrequenz und damit den Abbau morphologischer Differen-
zierungen bewirkt.
76 Damaris Nübling

Tab. 2: Schwächung von Person durch Reduktion von Allomorphie: die 2. Person Singular

‘2.Sg.‫ތ‬
Flexionsklasse/
st. Vb./ Präteritopräs./
Kategorien- sonst
Ind.Prät. Ind.Präs.
kombination
Allomorphe im {Pl.-AL, UL + -e} {-t} {-st}
Mhd. (du) bünde (du) wilt (du) gibst

uniformes Morphem {-st}


im Nhd. du bandst, willst, gibst

Tab. 3: Von der Personennivellierung zur Numerusprofilierung –


und von der Numerusnivellierung zur Tempusprofilierung

Prät.Ind. Mhd. Frühnhd. Nhd.


1. bant band band
Sg. 2. bünd-e band-est band-est
3. bant band band
1. bund-en bund-en band-en
Pl. 2. bund-et bund-et band-et
3. bund-en bund-en band-en
kein klares Personennivellierung > Numerusnivellierung
System Numerusprofilierung (prät. Numerusausgleich)
(Plural relativ (Numerusablaut): > Tempusprofilierung:
homogen) band vs. bunden binden vs. band vs.
gebunden

Neben dieser ‚passiven‘ Stärkung von Tempus durch Rückzug von Nume-
rus aus dem Ablautverfahren erfährt die Tempuskategorie weitere, ‚aktive‘
Profilierungen, z. B. durch die Fragmentierung des Ablautsystems, die
umgekehrt als Tempusallomorphiezuwachs zu bewerten ist und von der
Stärke der Tempuskategorie zeugt. Hinzu kommt die hohe lexikalische
Frequenz, die auch heute noch den ca. 150 verbleibenden starken Verben
zukommt, nachdem minderfrequente in die schwache Klasse abgewandert
sind (Augst 1975). Wie es im Einzelnen zur Entstehung von heute über
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 77

40 Ablautalternanzen aus dem mhd. Siebenreihensystem kam, hat sowohl


a) morphologische als auch b) phonologische Gründe. Zu jedem nur ein
Beispiel: a) Dass werden – wurde – geworden heute ein (extrem tokenfrequen-
ter) Einzelgänger ist, liegt (unter anderem) an der anderen Ausgleichsrich-
tung, die dieses Verb beim präteritalen Numerusausgleich gewählt hat:
Während üblicherweise die 2. Stufe (die einstige Prät.Sg.-Stufe) generali-
siert wurde (vgl. werfen – warf – geworfen), hat dieses Verb zur 3. Stufe (dem
Prät.Pl.) gegriffen. b) Auch kommen – kam – gekommen ist heute ein (extrem
tokenfrequenter) Einzelgänger, der auf die singuläre Assimilation von ahd.
queman > mhd. komen zurückgeht (progressive Labialisierung von e>o
durch [w]). Bei quellen ist dies beispielsweise nicht eingetreten (zu solchen
Irregularisierungsstrategien vgl. Nübling 2000).
Im Gegensatz zu Bybee (1994), auch Bybee et al. (1994), die in ihrem
diachronen Ansatz die Genese von relevanzgesteuerter Morphologie über
Grammatikalisierungen verfolgt, also neu entstehende, junge Morphologie
zum Thema hat, zeigt das Beispiel der deutschen Sprachgeschichte, dass
sich auch längst vorhandene, d. h. alte, doch ‚verzerrte‘ Morphologie reor-
ganisieren kann – und dies exakt dem Relevanzprinzip folgend: Es gibt
m. W. keinen morphologischen Wandel im (Früh-)Nhd., der dieses Prin-
zip konterkariert. Dies gilt auch für die Nominalmorphologie. Überdies
hat sich auch gezeigt, wie Schwächungen der einen Kategorie Stärkungen
einer anderen bewirken können, d. h. es besteht komplexe Interaktivität
zwischen den Kategorien und ihren Markern. Solche nur über die dia-
chrone Forschung zu gewinnenden Beobachtungen und Einsichten be-
reichern die typologische Forschung.

4. Die Entwicklung des deutschen Höflichkeitssystems am


Beispiel der Anredepronomen
Ein Musterbeispiel für die Synthese allgemein-sprachtypologischer Er-
kenntnisse mit konkret-sprachgeschichtlichem Wandel liefert Simon
(2003a) mit der Untersuchung Für eine grammatische Kategorie ‚Respekt‘ im
Deutschen. Synchronie, Diachronie und Typologie der deutschen Anredepronomina
(vgl. auch Simon 1997 und 2003b). Wieder können wir nur einen Aspekt
herausgreifen, der speziell die Entwicklung des deutschen Anredeprono-
minalsystems betrifft und es erstmals überzeugend erklärt. Der Verlauf ist
in Tab. 4 (S. 78) zusammengefasst: Ein im Germanischen vermutlich ein-
stufiges Adressatensystem entwickelt sich nach und nach zu einem mehr-
stufigen, bis hin zu einem fünfstufigen im frühen Nhd. Heute ist mit der
Opposition du/Sie ein zweistufiges System erreicht. Dass immer mehr
Höflichkeitsstufen hinzukamen, wird erstens mit dem inflationären Ge-
78 Damaris Nübling

brauch bisheriger Höflichkeitsformen begründet, zweitens mit gesell-


schaftlichem Wandel (Ständegesellschaft), der sich direkt im Anredesys-
tem abbildet, und drittens mit Sprachkontakt v. a. zum Lateinischen (vos)
und Französischen (vous), der besonders für das Ihrzen ab dem Ahd. ver-
antwortlich gemacht wird (vgl. z. B. Besch 1996, 2003).

Tab. 4: Diachronie der pronominalen Anrede einer Einzelperson


(aus Dammel 2008 nach Simon 2003a)

(dieselben) (dieselben)
Sie Sie
er/sie er/sie ihr
ir Ihr ihr er/sie Sie

du du Du du du du
Ahd.- frühes 19.
Germ. 17. Jh. 18. Jh. Nhd. Std.
Fnhd. Jh.
Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Stufe 4 Stufe 5 Stufe 6

Sprachkontakt wird allzu oft sogar für die Erklärung grammatischen


Wandels herangezogen (dass er an lexikalischem Wandel beteiligt ist, ist
unbestritten), wahrscheinlich weil eine solche Erklärung einfach und auch
für Laien intuitiv zugänglich ist und weil man immer Kontaktszenarien
findet, wenn man sich Mühe gibt. So wird der lange Zeit favorisierte und
in vielen Einführungen immer noch nachzulesende Einfluss der lateini-
schen auf die deutsche Syntax nach und nach überzeugend zurückgewie-
sen. Dies dürfte weitgehend auch für unser Anredesystem gelten, wenn-
gleich eine zumindest katalysatorische Wirkung des romanischen auf das
deutsche System nicht auszuschließen ist. Mit dem typologischen Blick
macht Simon (2003a) jedoch plausibel, dass die formal pluralische Anrede
an Einzelpersonen auch ohne romanischen Kontakteinfluss entstanden
sein kann: „[D]ie höfliche Pluralanrede [ist] innerhalb der Sprachen der
Welt dermaßen weit verbreitet, dass unmöglich in allen Fällen von einer
Beeinflussung durch das Alte Rom ausgegangen werden kann“ (104).
Besonders die weiteren Ausbaustufen (er/sie im Sg. und Sie im Pl.), bei
denen romanischer Kontakteinfluss versagt, legen es nahe, dass es sich um
eigenständige und typologisch gut beobachtbare Entwicklungen handelt,
die genau diese Implikationskette voraussetzen. Sie basieren auf dem be-
kannten face- bzw. Höflichkeitsmodell von Brown/Levinson (1987), das
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 79

zwischen einem a) positive face und einem b) negative face unterscheidet: a)


positive face: Das Gegenüber wird erhöht, erfährt Lob, Bestätigung und offe-
ne Wertschätzung (vgl. Allerdurchlauchtigster Fürst!), was sich auch in der Plu-
ralisierung seiner Anrede manifestieren kann, d. h. die Wichtigkeit der Per-
son wird durch ihre Vervielfachung ikonisiert; b) negative face: Der Adressat
möchte nicht beeinträchtigt und zu nichts genötigt werden, daher lautet hier
die Devise: ‚give options!‘. Indirektheit ist hier die sprachliche Konsequenz,
etwa die Imperativvermeidung bei Aufforderungen, der Gebrauch unper-
sönlicher Konstruktionen, häufiger Konjunktivgebrauch (ich hätte gern ein
Brot – mitgedacht: wenn es Ihnen nichts ausmacht), Abschwächungen, Entschul-
digungen etc. Das Ihrzen wird meist als positive Höflichkeitsstrategie inter-
pretiert (Erhöhung der Wertigkeit des Adressaten, Machtmetapher), es kann
aber auch als negative gedeutet werden, indem dem Adressaten die Option
gegeben wird, „sich in eine größere Gruppe zurückzuziehen und dadurch
unmittelbare Reaktionsverantwortung zu verweigern“ (Simon 2003a, 105).
Favorisiert man letztere Deutung, so fügt sich dies gut in das auf Indirekt-
heit basierende, d.h. negativen Strategien folgende Gesamtbild der kategori-
ellen Verschiebungen (vgl. auch Head 1978): Je eher man den Blick vom
Gegenüber abwendet, je weniger man es fixiert – und dies gilt gleicherma-
ßen für sprachliche Strategien –, desto höflicher behandelt man es. Dies
bedeutet: Das Gegenüber wird sprachlich möglichst diffus und vage erfasst.
Die Numerusverschiebung Sg.>Pl. lässt es in einer Menschenmenge ver-
schwinden. Was nun im 17. Jh. mit der er/sie-Anrede folgt, ist die komplette
Blickabwendung, nach Simon (2003a) die „Verabwesendung“ des Gegen-
übers: Man tut so, als spräche man über eine dritte Person, die ja nicht ein-
mal im Raum anwesend und damit sichtbar zu sein braucht. Der Numerus-
folgt also eine sog. Personenverschiebung von 2.Person > 3.Person. Im 18.
Jh. steigert sich das Verfahren noch einmal, indem die Numerus- mit der
Personenverschiebung kombiniert wird: Sie (mit Pl.-Kongruenz). Gleichzei-
tig (aber davon unabhängig) tauscht die ihr- mit der er/sie-Anrede den Platz:
er/sie wird zur sog. Dienstbotenanrede degradiert, während ihr sich darüber
setzt. Auch dies lässt sich mit dem Blickabwendungskonzept motivieren:
Setzt die er/sie-Anrede immerhin die Wahrnehmung des natürlichen Ge-
schlechts voraus, so abstrahiert die pluralische Sie-Anrede davon, d. h. das
Gegenüber wird immer vager, es verschwindet immer mehr. Somit ist die
Entwicklung des deutschen Anredesystems ein Paradebeispiel für die suk-
zessive zunehmende Indirektheit, basierend auf dem Konzept der negativen
Höflichkeit. Eine andere Reihenfolge als die eingetretene ist nicht denkbar.
Indem das Deutsche – trotz vielfachen Sprachkontakts – diesen eigenstän-
digen Weg gewählt hat – es gibt nicht viele Sprachen, die so weit gegangen
sind –, bedarf auch die Begründung der ersten Ausbaustufe der ihr-Anrede
80 Damaris Nübling

nicht zwingend des Sprachkontakts (für weitere Argumente dagegen


vgl. Simon 2003a).
Für viele weitere, faszinierende Beobachtungen, auch zu anderen Spra-
chen und Kulturen, sowie zu neuen Perspektiven und Erklärungen hinsicht-
lich der deutschen Sprachgeschichte ist die genannte Monografie sehr zu
empfehlen: Ohne diesen typologischen Blick über den Tellerrand bliebe
unser Wissen beschränkt.

5. Fazit und Ausblick


Die drei Beispiele aus der historischen Phonologie, Morphologie und
Pragmatik haben gezeigt, dass man sich neuer Erkenntnis- und Erklä-
rungsmöglichkeiten beraubt, wenn man den Blick nicht über den Teller-
rand der eigenen Sprach(geschicht)e richtet. Schon der Vergleich dicht
verwandter Sprachen und Sprachgeschichten wie der germanischen er-
weist schnell, dass es viele Möglichkeiten gibt, bei ähnlichen Vorausset-
zungen unterschiedliche Wege einzuschlagen, und dass dies nicht immer
nur dem Sprachkontakt geschuldet sein kann. So haben sich die nordger-
manischen Sprachen Schwedisch und Norwegisch silbensprachlich orga-
nisiert, während Englisch, Dänisch und Deutsch wortsprachlich ausgebaut
haben – mit jeweils unterschiedlichen Strategien, aber – aus typologischer
Perspektive – in die gleiche Richtung gehend. Es wird der Forschung der
nächsten Jahre vorbehalten sein, die zahlreichen Strategien wortsprachli-
chen Ausbaus zu dokumentieren und zu systematisieren. Auch aus ver-
balmorphologischer Perspektive haben die germanischen Sprachen zwar
unterschiedliche Systeme ausgebildet, doch folgen sie – mit jeweils eige-
nen konkreten Umsetzungen – dem typologisch gewonnenen Relevanz-
prinzip. So kultiviert z. B. das schwedische Verbalsystem einen anderen
Ausschnitt aus der Relevanzskala, indem es die niedrigrelevanten Katego-
rien Person und Numerus, ja sogar Modus komplett abgebaut, doch den
(hochrelevanten) Aspekt – neben dem Tempus – ausgebaut hat (hierzu
vgl. Schmuck 2010). Auch die sehr verschiedenen Adressatensysteme in
der Germania wären es wert, in ihrer Genese typologisch verglichen zu
werden; selbstverständlich sind Dialekte gleichermaßen einzubeziehen
(vgl. zum Bairischen und Niederdt. Simon 2003a, zum Afrikaans Simon
2010).
Wichtig ist bei alledem: Es geht nicht um die Erfüllung typologischer
Muster um ihrer selbst willen, und noch weniger geht es um die Bestü-
ckung abstrakter Theorien durch die selektive Auswahl historischer Daten.
Ausgangspunkt sind einzig die sprachhistorischen Daten und Befunde.
Letztlich sind es universell geltende kognitive, aber auch anthropologische
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 81

und soziale Faktoren, die für die mehr oder weniger starke Verbreitung
sprachlicher Erscheinungen in den Sprachen der Welt verantwortlich sind.
Auch hierzu erfolgt derzeit viel Wissenszuwachs, der von der Historischen
Sprachwissenschaft zur Kenntnis genommen werden sollte – so wie um-
gekehrt die Historische Sprachwissenschaft zu dieser Diskussion beitragen
kann, indem sie wertvolle Daten und Befunde zum Wandel liefert. Umso
bedauerlicher ist es, dass selbst jüngst erschienene Einführungen in die
deutsche Sprachgeschichte die typologische Forschung ignorieren. Man
sollte sie zumindest als alternative Erklärungsangebote neben andere stel-
len und es den Lesern selbst überlassen, was sie für plausibel halten. Zu-
mindest sollte man ihnen den Weg in diese Richtung, die weit mehr ver-
spricht als nur nach Sprachkontaktszenarien oder dem Einfluss gesell-
schaftlicher Veränderungen auf die Sprache zu suchen, nicht verbauen.

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84 Damaris Nübling
Renata Szczepaniak

Lautwandel verstehen.
Vom Nutzen der Typologie von Silben- und
Wortsprachen für die historische und die synchrone
germanistische Linguistik

1. Historische Phonologie als Unterrichts-


und Untersuchungsgegenstand
Historische Phonologie gehört zu den zentralen und traditionsreichsten
Bereichen der Historischen Sprachwissenschaft; dies galt schon für das
19. Jh., als die Historische Sprachwissenschaft entstand. Allerdings be-
schränkt sich die Vermittlung der historischen Lautlehre, die größtenteils
schon von Wilhelm Braune und Hermann Paul entwickelt und in späteren
Auflagen bearbeitet und erweitert wurde, bis in die heutige Zeit hinein auf
die (bestenfalls chronologische) Aufzählung einiger Lautgesetze, wie etwa
der i-Umlaut, die zweite Lautverschiebung, die Nebensilbenabschwächung
sowie Apokopen und Synkopen. An Erklärungen wurde nicht viel gebo-
ten, sieht man von einigen wenigen strukturalistischen Erklärungsansätzen
wie der Erkenntnis von Schub- und Sogwirkungen ab. Während in ande-
ren Bereichen der Historischen Sprachwissenschaft durchaus typologische
Analyseinstrumentarien zur Interpretation des morphologischen oder syn-
taktischen Wandels angewandt wurden – etwa um die zunehmende Ten-
denz zur Klammerbildung oder den graduellen Übergang von der freien
zur festen Wortstellung zu erklären –, sind übergreifende Erklärungsan-
sätze in der Lautlehre bisher Fehlanzeige gewesen. Man hat sich mit er-
staunlich wenig begnügt, die reine Deskription reichte.
Erfreulicherweise bietet die aktuelle phonologische Forschung moder-
ne Paradigmen, die neues Licht auf die historische Lautlehre werfen und
ihr einen wichtigen Status zuweisen. In diesem Beitrag wird am Beispiel
der relativ jungen, von Auer (1993, 2001) entwickelten phonologischen
Typologie von Silben- und Wortsprachen diskutiert, wie man mit Hilfe ty-
pologischer Ansätze den Schwerpunkt in der sprachhistorischen Phonolo-
86 Renata Szczepaniak

gieforschung und in der universitären Lehre von der Deskription auf die
Explanation verlagern kann. Mit diesem typologischen Ansatz, der in Ab-
schnitt 2 präsentiert wird, erfahren die bisher zusammenhanglos behandel-
ten Lautwandelphänomene des Deutschen eine übergreifende Erklärung,
die eine typologische Drift vom silbensprachlichen Althochdeutschen
zum wortsprachlichen Neuhochdeutschen aufdeckt (s. Abschnitt 3). Die
Stärkung des phonologischen Wortes, d. h. die Hervorhebung von Sinn-
einheiten erweist sich dabei als ein zentrales Sprachwandelprinzip im
Deutschen. Mit dieser typologischen Drift können auch Veränderungen in
anderen Teilbereichen der Grammatik erklärt werden. So sind u. a. die
heutige Variation des starken Genitivs (Fluges vs. Flugs) und die wachsende
Produktivität der s-Fuge auf die zunehmende Relevanz des phonologi-
schen Wortes zurückzuführen (s. Abschnitt 4). Weitet man den Blick auf
den gesamten germanischen Sprachzweig aus, werden gegensätzliche ty-
pologische Entwicklungen sichtbar (s. Abschnitt 5): Im Gegensatz zur
wortsprachlichen Entwicklung des Neuhochdeutschen weisen das Schwei-
zerdeutsche, besonders das Walserdeutsche, aber auch das Luxemburgi-
sche deutlich mehr silbensprachliche Züge auf (Szczepaniak 2007b, c,
2010a). Im Nordgermanischen ist der wortsprachlichen Tendenz des Dä-
nischen die Silbensprachlichkeit des Schwedischen gegenüberzustellen
(Nübling/Schrambke 2004).1

2. Die Typologie von Silben- und Wortsprachen


Die Typologie von Silben- und Wortsprachen basiert auf der Beobach-
tung, dass sich phonologische Regeln und Prozesse auf verschiedene Do-
mänen wie Silbe, Wort oder Phrase beziehen können (Nespor/Vogel
2007). Weiterhin beobachtet Auer (1994), dass die phonologische Silbe
keine universale Bezugsdomäne für phonologische Regeln und Prozesse
ist. Interessanterweise treten in der Geschichte des Deutschen zunehmend
das phonologische Wort und der phonologische Fuß als Konkurrenzdo-
mänen auf, d. h. immer wichtiger wird die Position der Silbe im Wort oder
im Fuß (Szczepaniak 2007a). Seit dem Mittelhochdeutschen beziehen sich
immer mehr phonologische Prozesse auf diese Domänen, so dass sich
beispielsweise die heutige Distribution des Hauchlautes h nicht unter

1 Die hohe theoretische und praktische Attraktivität dieser Typologie wurde auf dem vom
29.–31. März 2009 am Freiburg Institute of Advanced Studies (FRIAS) abgehaltenen Workshop
über „Phonological Typology of Syllable and Word Languages in Theory and Practice“
unter Beweis gestellt (s. http://www.frias.uni-freiburg.de/lang_and_lit/veranstaltungen/
phonological-work-lili). In den Beiträgen wurden diachrone und synchrone Phänomene in
verschiedenen, auch nicht-indoeuropäischen Sprachen typologisch untersucht.
Lautwandel verstehen 87

Bezug auf die phonologische Silbe adäquat beschreiben lässt, da h nicht im


Anfangsrand jeder Silbe stehen kann. Das Auftreten von h ist nicht sil-
ben-, sondern wortbezogen, da es auf die Stammsilbe beschränkt ist, die
gewöhnlich am Anfang eines (einfüßigen) phonologischen Wortes steht
wie in haben [[ȷhaȿ.bƞn]F]ƹ.2

Ƴs Ƴw

ha ben
Abb. 1: Das phonologische Wort als Bezugsdomäne für phonologische Prozesse
und Regeln am Bespiel der nhd. Distribution des Hauchlauts h

Die kontrastiv-typologische Untersuchung von Auer (1993) zeigt, dass ne-


ben der Silbe das phonologische Wort als zentrale phonologische Domäne
fungieren kann. Abhängig davon, welche der beiden Hauptdomänen, die
Silbe oder das Wort, in den Vordergrund tritt, werden zwei Sprachtypen
unterschieden: die Silbensprache und die Wortsprache. Die einzelnen
Sprachen stehen einem der beiden Typen unterschiedlich nahe. Sie kön-
nen sich auch im Laufe ihrer Geschichte typologisch umorientieren, was
auf die Entwicklung des Deutschen zutrifft (s. Abschnitt 3).
Tab. 1 fasst die wichtigsten typologischen Kriterien zusammen. In Sil-
bensprachen beziehen sich die Regeln und Prozesse auf die Silbe und ihre
optimale Struktur. Dagegen kumulieren Wortsprachen Regeln und Pro-
zesse, die das phonologische Wort exponieren. Silbensprachen haben eine
einfache Silbenstruktur, die von der Position im Wort unabhängig ist.
Deshalb ist für eine Silbensprache eine Symmetrie zwischen dem betonten
und dem unbetonten Vokalismus und Konsonantismus charakteristisch.
Diese betrifft auch die qualitativen und quantitativen Eigenschaften der
Phoneme. Das phonologische Wort bleibt auf diese Weise ‚unsichtbar‘.
Sogar der Wortakzent kann fehlen, oder er wird nur schwach realisiert. Im
Gegensatz dazu kann man in Wortsprachen sehr komplexe Silben beob-
achten. Die wortpositionsabhängige Ausdifferenzierung sowohl der Sil-
benstruktur als auch des Vokal- und Konsonanteninventars profilieren das
phonologische Wort, das auch durch einen dynamischen, phonetisch
deutlich realisierten Wortakzent markiert wird.

2 Für weitere Details s. Wiese (1996: 60), Szczepaniak (2007a: 303ff.).


88 Renata Szczepaniak

Tab. 1: Typologische Kriterien für Silben- und Wortsprachen

SILBENSPRACHE WORTSPRACHE
Klassifikations-
(leichte Aussprache) (Markierung morphologischer
parameter
Struktur)
Silbenstruktur einfach (Ideal: CV-Silbe) komplex und hochvariabel
Vokalismus/
symmetrisch asymmetrisch
Konsonantismus
auf bestimmte Wortpositionen
Quantität in allen Silben gegeben
(meist betonte Silben) beschränkt
- kein Wortakzent, musikalischer - dynamischer Wortakzent
Wortakzent Wortakzent, Phrasenakzent
- phonetisch schwach realisiert - phonetisch deutlich realisiert
phonetische und
phonologische silbenbezogen und -optimierend wortbezogen und -optimierend
Prozesse

In Silbensprachen bestehen Äußerungen aus Reihungen von optimalen,


leicht aussprechbaren und gleichgeformten Silben − dies garantiert eine
leichte Aussprache. Diesen Typus repräsentiert u. a. das Spanische, in dem
die CV-Silbe mit ca. 60 % den mit Abstand frequentesten Silbentyp dar-
stellt (Dauer 1983, Lloyd/Schnitzer 1968, Szczepaniak 2009). Im Spani-
schen können sogar ganze Sätze aus CV-Silben bestehen: La semana pasada
se fue rápida ‘Die letzte Woche verging schnell’. In Wortsprachen wie dem
heutigen Deutsch hingegen werden Verletzungen der Silbenstruktur und
wortbezogene Differenzierungen im Silbenbau dazu genutzt, das phono-
logische Wort und damit die morphologische Information hervorzuheben.
Zu solchen wortphonologischen Strategien gehört der Schwa-Vokal, der
ausschließlich in unbetonten (meist Flexions- oder Derivations-)Silben
auftritt, während betonte Stammsilben immer Vollvokale enthalten, z. B.
Ta.ge [taȿ.gƞ].

3. Lautwandel verstehen: Der lange Weg des Deutschen


von einer Silben- zu einer Wortsprache
Betrachtet man die Geschichte des Deutschen aus dieser typologischen
Perspektive, erfahren sämtliche phonologischen Prozesse eine übergrei-
fende Erklärung. Ihre chronologische Abfolge erweist sich als prinzipien-
gesteuert; sie weist auf einen konsequenten Ausbau wortphonologischer
Strategien hin, die den phonologisch-typologischen Wandel vom silben-
sprachlichen Althochdeutschen zum wortsprachlichen Neuhochdeutschen
Lautwandel verstehen 89

sichtbar werden lassen. Diese Drift wird im Folgenden an ausgewählten


Prozessen aufgezeigt (eine detaillierte Darstellung bietet Szczepaniak
2007a). Der typologische Umbruch vollzieht sich während des Übergangs
vom Alt- zum Mittelhochdeutschen, so dass im Frühneuhochdeutschen
bereits die Phase der wortsprachlichen Verstärkung eintritt. Das heutige
Deutsch verfügt über eine ganze Reihe von phonologischen Prozessen
und Regeln, die sich auf das phonologische Wort beziehen. Zur Hervor-
hebung des Wortes wird auch die Silbenstruktur genutzt; beispielsweise
nehmen Silben mit konsonantischem Nukleus nur die unbetonte Position
im Wort ein, z. B. [bmʆ] in oben [ȷoȿ.bmʆ].

3.1 Das silbensprachliche Althochdeutsche:


Der i-Umlaut und die zweite Lautverschiebung

Der silbensprachliche Charakter des Althochdeutschen lässt sich an den


Prozessen aufzeigen, die im universitären Unterricht einen zentralen Platz
einnehmen. Dies sind der althochdeutsche Umlaut und die zweite Laut-
verschiebung.
Die Betrachtung des Umlauts sollte von der Beobachtung ausgehen,
dass das Vokalsystem des Althochdeutschen im Gegensatz zum heutigen
keine akzent-/wortbezogene Ausdifferenzierung aufwies. So kamen Voll-
vokale (ähnlich wie im heutigen Spanisch) sowohl in betonten als auch in
unbetonten Silben gleichermaßen vor, z. B. bina ‘Biene’, himil ‘Himmel’
oder erda ‘Erde’. Dies trug dazu bei, dass alle Silben innerhalb eines Wor-
tes qualitativ gleichwertig waren, während im heutigen Deutsch mit Hilfe
der Vokalqualität die Wortstruktur hervorgehoben wird.

symmetrischer asymmetrischer
Vokalismus im ƹ ƹ Vokalismus im
Althochdeutschen Neuhochdeutschen
F F

Ƴs Ƴw Ƴs Ƴw
i u i u i u
e o e o e o e
a a a Reduktions-
Vollvokale Vollvokale Vollvokale vokale

Abb. 2: Vokalqualität und Wortstruktur im Althochdeutschen und im Neuhochdeutschen


90 Renata Szczepaniak

Da die althochdeutschen Vokale in betonten und unbetonten Silben quali-


tativ gleichwertig waren, unterlagen sie gleichermaßen assimilatorischen
Prozessen. So war der Umlaut ein Prozess, in dem sich der unbetonte i-
Vokal in silbischer und nicht-silbischer Position, d. h. als vokalischer Sil-
bengipfel oder als Halbvokal i֒ fernassimilatorisch auf den ihm vorausge-
henden nicht-palatalen Tonvokal auswirkte (Braune 2004: 55).3 Es kam
zur Frontierung des Tonvokals, wodurch die Silbenkette ähnlicher wurde,
z. B. vorahd. faris > ahd. feris > nhd. fährst.

Ƴ Ƴ Ƴ Ƴ
vorahd. fa ris ahd. fe ris
>

Abb. 3: Der althochdeutsche i-Umlaut als Vereinheitlichung der Silbenkette

Der i-Umlaut ist einer von vielen fernassimilatorischen Prozessen, denen


die althochdeutschen Vokale unterworfen waren. Weniger bekannt sind
vokalharmonische Anpassungen der althochdeutschen Sprossvokale, die
schon durch ihr Auftreten die Silbenstruktur optimierten, z. B. ahd. wurm
> wurum ‘Wurm’ oder berg > bereg ‘Berg’ (Reutercrona 1920). Qualitativ
vereinheitlicht wurden auch die Mittelsilbenvokale, die meist die phonolo-
gischen Merkmale der Endsilbenvokale kopierten, z. B. wuntar ‘Wunder’ −
wuntoro (Gen. Pl.) (s. Wilmanns 1911: 384, Becker 2000, Szczepa-
niak 2007a, b).

(1) Vokalharmonien im Althochdeutschen


(a) Sprossvokale (progressive Assimilation)
ahd. wurm > wurum ‘Wurm, Schlange’
ahd. berg > bereg ‘Berg’
(b) Mittelsilbenvokale (regressive Assimilation)
ahd. wuntar ‘Wunder’ – wuntoro (Gen. Pl.)
ahd. wolkan ‘Wolke’ – wolkono (Gen. Pl.)

3 Ähnliche Phänomene fanden auch in der westgermanischen Vorstufe statt, vgl. die west-
germanische Hebung e > i vor i, i֒ und u (germ. *nemis > westgerm. *nimis > nhd. (du)
nimmst, aber (wir) nehmen) und die westgermanische Senkung i > e und u > o vor a, e und o
(germ. *wulfaz > westgerm. *wolf ‘Wolf’). Im Gegensatz zu den Hebungen und Senkungen
im Westgermanischen bestand der althochdeutsche Umlaut in der Palatalisierung (Frontie-
rung) des Tonvokals.
Lautwandel verstehen 91

All diese vokalischen Prozesse waren Ausdruck der althochdeutschen Sil-


bensprachlichkeit. Sie optimierten die Silbenstruktur und führten dazu,
dass benachbarte Silben einander ähnlicher wurden.4
Die silbensprachliche Tendenz des Althochdeutschen ist auch im kon-
sonantischen Bereich deutlich zu sehen. Sie steuerte u. a. die Distribution
der Produkte der zweiten Lautverschiebung sowie ihre diatopischen
Durchsetzungsgrade, bekannt als der Rheinische Fächer (s. dazu Nübling
et al. 2010: 26ff.). Der silbenbezogene Charakter der zweiten Lautver-
schiebung wird im Folgenden an der Tenuesverschiebung vorgestellt, dem
auch im universitären Unterricht die meiste Beachtung geschenkt wird.
Die Tenuesverschiebung umfasst Schwächungsprozesse, denen die ger-
manischen Plosive p, t und k unterlagen.
In Tab. 2 werden die Schwächungsprodukte unter Berücksichtigung
der Verschiebungskontexte aufgelistet und mit unverschobenen Formen
im Englischen kontrastiert. Im Anschluss wird eine silbenphonologische
Analyse vorgeschlagen.

Tab. 2: Tenuesverschiebung im Althochdeutschen


AFFRIKATEN FRIKATIVE
1) nach Konsonant 2) in Geminate 3) am Wortanfang nach Vokal
engl. ahd. engl. ahd. engl. ahd. engl. ahd.
help hëlpfan apple apful path pfad open offan
heart hërȃa sit siȃȃan ten ȃehan water waȃȃar
work wërk wake wecken corn korn make maƷƷŇn
(obd. wërch) (obd. wechen) (obd. chorn)

Wie Abb. 4 (S. 92) zeigt, können grundsätzlich zwei Schwächungsgrade


unterschieden werden: Die Affrikaten pf, ts und (im Altalemannischen) kƷ
repräsentieren einen geringeren Schwächungsgrad als die Frikative f(f), ȃ(ȃ)
und Ʒ(Ʒ) (s. Sonderegger 2003).
Die Schwächungsgrade korrelieren v. a. mit artikulatorischen Gege-
benheiten, da der pulmonische Luftstrom mit unterschiedlicher Intensität
im Mundraum behindert wird. Vom Konsonantischen Stärkegrad ist die
Position der Laute in der Silbe abhängig. Laute mit hohem Konsonanti-
schem Stärkegrad stehen in der Peripherie der Silbe. Zum Silbenzentrum
hin wächst hingegen der Sonoritätsgrad der Laute, weswegen Vokale (die
sonorsten Laute) gewöhnlich den Silbengipfel bilden, vgl. krank [kDZaČk].
Die Silbenstruktur ist dabei umso besser, je größer die Sonoritäts- bzw.

4 Die althochdeutschen Vokalfernassimilationen trugen dazu bei, die Unterschiede zwischen


den Silben einzuebnen. Ihr Geltungsbereich war jedoch durch die Domäne des phonologi-
schen Wortes oder der klitischen Gruppe eingegrenzt, vgl. ahd. gibetŇs ir > gibetis ir (von
gibetŇn ‘beten, bitten’). Dadurch signalisierten ähnliche Silben ex negativo die Wortgrenzen
oder die Grenzen klitischer Gruppen.
92 Renata Szczepaniak

Stärkeunterschiede zwischen benachbarten Lauten sind (zu den Silbenprä-


ferenzgesetzen s. Vennemann 1986).5

höchste Sonorität höchste Konsonantische Stärke

Vokale Liquide Nasale Frikative Affrikaten Plosive


r, l f(f), ȃ(ȃ), Ʒ(Ʒ) ࣴpf, ௬ts, ௬kƷ p, t, k
Affrizierung
Frikativierung

Abb. 4: Die Konsonantische Stärke der Produkte der Tenuesverschiebung

Die Distribution der althochdeutschen Verschiebungsprodukte war sil-


benbezogen, was hier am Beispiel von p expliziert wird: Folgte der Plosiv
einem Konsonanten (meist Liquid oder Nasal), war nur eine Affrizierung
möglich, s. (2a). Auf diese Weise ist der Sonoritäts- bzw. Stärkeunter-
schied nur geringfügig verringert worden. In einer Geminate wurde nur
der zweite Teil geschwächt: p.p > p.pf, so blieb der Silbenkontakt unverän-
dert. Dies bedeutet, dass zwei gewöhnlich unterschiedene Kontexte, die
nach Konsonant und in Geminate (s. (2a)), silbenphonologisch zusam-
mengefasst werden können. Nur nach einem Vokal konnte der Plosiv bis
zu einem Frikativ geschwächt werden. So wurde ein ausreichender Stärke-
unterschied gewahrt (s. (2b)).

(2) Die silbenphonologische Analyse der Tenuesverschiebung


(a) Affrikaten (postkonsonantisch)
vorahd. *hel.pan > ahd. hel.pfan
vorahd. *dorp > ahd. dorpf
vorahd. *ap.pla > ahd. ap.pful
(b) Frikative (postvokalisch)
vorahd. *skip > ahd. skif(f)
vorahd. *o.pa.na > ahd. of.fan
(c) Ausnahme (Affrikaten am Wortanfang)
vorahd. *plegana > ahd. pflegan

Nur im Wortanlaut gab es keine Variation, so dass in den oberdeutschen


Dialekten (mit Ausnahme des Altalemannischen) in dieser Position eine

5 Vennemann (1986) beschreibt die silbischen Präferenzgesetze am Beispiel der historischen


Phonologie der romanischen (Silben-)Sprachen. Die Relevanz der Präferenzgesetze in der
Geschichte des Deutschen ist viel geringer und trifft v. a. auf die Entwicklungen im Alt-
hochdeutschen zu.
Lautwandel verstehen 93

Affrikate auftrat, s. (2c). Dies zeigt, dass die Domäne des phonologischen
Wortes im Althochdeutschen eine geringe Rolle spielte: Der wortinitiale
Konsonant veränderte sich zwar nicht in Abhängigkeit vom voraus-
gehenden Laut, doch wurde der Wortanfang nicht durch einen völlig an-
deren Konsonanten markiert, d. h. nicht hervorgehoben.

3.2 Der typologische Umbruch im Mittelhochdeutschen:


Nebensilbenabschwächung, Vokaltilgung und
die Phonologisierung der Umlautvokale

Die Bedeutung des phonologischen Wortes nahm vom Alt- zum Mittel-
hochdeutschen kontinuierlich zu. Seine Struktur erfuhr eine deutliche
Hervorhebung bereits durch die sog. Nebensilbenabschwächung. Der
qualitative Abbau der Vokale führte zur Entwicklung von Reduktions-
silben in unbetonter Position, wodurch die betonte Stammsilbe an Promi-
nenz gewann. Im Anschluss an die Nebensilbenabschwächung sorgten
Synkopen und Apokopen für die Regulierung der Größe des phonologi-
schen Wortes, so dass seit dem Mittelhochdeutschen das trochäische Ideal
gilt (s. Eisenberg 1991).
Das qualitative Gefälle zwischen betonten und unbetonten Silben
wurde durch die Phonologisierung der Umlautvokale vergrößert, da diese
den betonten Vokalismus noch weiter anreicherten (vgl. Abb. 5). Die
wortphonologische Regulierung zeitigte Konsequenzen nicht nur auf der
phonologischen, sondern auch auf der morphologischen Ebene (s. Ab-
schnitt 4).

Ƴs Ƴw

·e, ü, ä, ö, æ, œ , iu, öu, üe, [NJ]


a, ë, i, o, u, Ć, ē, ĩ, Ň, ş, ie, ei, uo, ou

Abb. 5: Ausdifferenzierung des betonten und unbetonten Vokalismus im Mittelhochdeutschen


94 Renata Szczepaniak

3.3 Die Stärkung der Wortsprachlichkeit im Frühneuhochdeutschen:


Dehnung in offener Tonsilbe und Konsonantenepenthese

Während Apokopen und Synkopen im Mittelhochdeutschen noch silben-


bezogenen Beschränkungen unterworfen waren − die Tilgung war nur
nach Liquiden und Nasalen möglich −, wurden diese im Frühneuhoch-
deutschen nach und nach aufgegeben (s. Paul 1998: 81, Wilmanns 1911:
356). Indem der unbetonte Vokal im Frühneuhochdeutschen ungeachtet
der silbischen Outputstruktur getilgt werden konnte, entwickelten sich in
wortfinaler Position extrasilbische Konsonanten, d. h. Konsonanten, de-
ren Konsonantische Stärke geringer war als die des linksstehenden Lautes,
z. B. s in Krugs (< mhd. kruges) oder st in gibst (< mhd. gibest). Da extrasilbi-
sche Konsonanten seit dem Frühneuhochdeutschen nur wortfinal auftre-
ten, signalisieren sie deutlich den rechten Wortrand und sind damit wort-
optimierend.
Konsonantische

uȿ
DZ
wachsende

(des) Krugs
s
Stärke

[kDZuȿks]
k k

Abb. 6: Extrasilbische Konsonanten als Marker des rechten Wortrands

Im Zuge der Vokaltilgungen nahm im Frühneuhochdeutschen auch die


Komplexität der Konsonantencluster zu (Werner 1978):

Tab. 3: Wachsende Komplexität der Konsonantencluster vom Mittel- zum Neuhochdeutschen

Mhd. Nhd.
Zweigliedrige Cluster 31 45
Dreigliedrige Cluster 12 62
Viergliedrige Cluster – 33
Fünfgliedrige Cluster – 3

Zusätzlich wurde die phonologische Wortgestalt (und damit die morpho-


logische Struktur) durch die frühneuhochdeutsche Konsonantenepenthese
exponiert, s. (3). An das Wortende traten verstärkend v. a. dentale Plosive
an (s. Moser 1951). Sie erhöhten die Konsonantische Stärke am rechten
Rand eines phonologischen Wortes. In phonologisch komplexen Wörtern,
Lautwandel verstehen 95

z. B. [orden]ƹ[lîch]ƹ, wurde durch den epenthetischen Konsonanten die in-


terne morphologische Struktur verdeutlicht {ordent}{lich}.

(3) Frühneuhochdeutsche Konsonantenepenthese


(a) am absoluten Wortende
mhd. mâne > (f)nhd. Mond
mhd. obeȃ > (f)nhd. Obst
(b) an der phonologischen Wortgrenze
mhd. ordenlîch > (f)nhd. ordentlich
mhd. gelëgenlîch > (f)nhd. gelegentlich

Zur Optimierung des phonologischen Wortes führte auch die sog. Deh-
nung in offener Silbe, die auf die betonte Wortposition beschränkt war.
Im Zuge dieser Entwicklung wurde die leichte Tonsilbe eliminiert, z. B.
mhd. lë.ben (kurz) > (f)nhd. l [eȿ].ben. Seitdem ist die betonte Silbe im Deut-
schen obligatorisch schwer. Die Dehnung erhöhte den Unterschied zwi-
schen betonten und unbetonten Vokalen, da zum qualitativen Kontrast
(Vollvokale vs. Reduktionsvokale) der quantitative hinzutrat. Der Silben-
rand der Tonsilbe hat seitdem eine obligatorische postvokalische Position.
Becker (1998: 77) spricht von der Kernsilbe mit einer immer zu besetzen-
den Implosion.
Das Neuhochdeutsche verfügt über ein stark profiliertes phonologi-
sches Wort, was zur Markierung der morphologischen Struktur beiträgt
und somit die Dekodierung des Redeflusses erleichtert.

4. Konsequenzen der zunehmenden Profilierung


des phonologischen Wortes für die Morphologie
am Beispiel der Genitivvariation
Der Nutzen dieser phonologisch-typologischen Analyse ist vielfältig und
weitreichend. So zog die wortphonologische Stärkungstendenz Verände-
rungen auf anderen Sprachebenen, z. B. in der Morphologie, nach sich.
Viele Zweifelsfälle im heutigen Deutsch können erst unter Berück-
sichtigung der diachron zunehmenden Bedeutung des phonologischen
Wortes zufriedenstellend erklärt werden. Im Folgenden wird gezeigt, dass
die heutige Variation des starken Genitivs (des Fluges vs. des Flugs) auf die
diachron zunehmende Relevanz des phonologischen Wortes zurückzufüh-
ren ist. Auch das diachrone Verhalten der s-Fuge und die heutige Varia-
tion der s-Verfugung (Antragformular vs. Antragsformular) ist wortphonolo-
96 Renata Szczepaniak

gisch bedingt (s. Nübling/Szczepaniak 2008, 2009, 2011 und Nübling in


diesem Band).
Im heutigen Deutsch stehen für Maskulina und Neutra zwei Formen
des starken Genitivs zur Verfügung, wobei die Distribution zwischen frei-
er, gradueller und Nullvariation oszilliert:

(4) Genitivvariation im Neuhochdeutschen


(a) Nullvariation (nach zweisilbigen Simplizia, Suffigie-
rungen)
des Vaters, des Abends
des Reichtums, des Lehrlings
(b) graduelle Variation (-s überwiegt nach Derivaten (v. a.)
mit betontem Präfix; -es überwiegt nach einsilbigen Sim-
plizia auf Plosive und Affrikaten)
des Ursprungs, des Antrags
des Kindes, des Weges
(c) freie Variation (nach einsilbigen Simplizia auf Nasal oder
Frikativ)
des Traums/des Traumes, des Kaufes/des Kaufs

Die Wahl des kurzen oder langen Genitivs ist von der phonologischen
Struktur der Basis abhängig, wobei zum einen die Größe des phonologi-
schen Wortes und seine interne phonologische Komplexität und zum an-
deren die Komplexität des wortfinalen Konsonantenclusters und der
Stärkegrad des finalen Konsonanten ausschlaggebend sind (Szczepa-
niak 2010b).
Im Mittelhochdeutschen setzte die Tendenz zur Regulierung der pho-
nologischen Wortgröße ein, die in Apokopen und Synkopen ihren Aus-
druck fand (s. Abschnitt 3.2). Seitdem stellt der Trochäus die ideale Wort-
größe im Deutschen dar. Im Zuge der Vokaltilgung in drei- und mehr-
silbigen Wortformen entwickelte sich die nicht-silbische Genitivvariante
-s, z. B. mhd. [fateres]ƹ > [faters]ƹ. In diesem phonologischen Kontext ist die
kurze Genitivvariante heute obligatorisch. Sie garantiert den Erhalt der
optimalen Wortgröße. Eine korpuslinguistische Untersuchung der heuti-
gen Distribution des s-Genitivs in Szczepaniak (2010b) gibt Hinweise da-
rauf, dass für seine diachrone Durchsetzung die Größe der Basis und ihre
phonologische Komplexität ausschlaggebend waren (s. Abb. 6). So tritt
die kurze Genitivendung heute obligatorisch an Derivate mit unbetontem
Suffix wie Lehrer, die ähnlich wie zweisilbige Simplizia (Vater, Abend ) ein
einfaches (einfüßiges und zweisilbiges) phonologisches Wort bilden, z. B.
[ȷleȿ.DZǁ(s)]ƹ. Dies spricht dafür, dass es der Umfang des phonologischen
Lautwandel verstehen 97

Wortes ist und nicht die morphologische Struktur, die über die Genitiv-
form entscheidet.
Obligatorisch ist die s-Endung auch nach Derivaten mit betontem
Suffix (Reichtum). Hier tritt die Genitivendung an das phonologische Wort
[tuȿm]ƹ, das immer unter Nebenton in Kombination mit einem anderen,
hauptbetonten phonologischen Wort auftritt. Solche wortwertigen Deriva-
tionssuffixe verlieren im Zuge ihrer weiteren Entwicklung allmählich den
phonologischen Wortstatus. Sie werden enttont und unterliegen dabei der
Vokalreduktion. So existiert bereits eine Variante mit ungespanntem
Vokal [tǻm]. Der Umfang der gesamten Suffigierung war ausschlaggebend
für die Durchsetzung der kurzen Genitivendung.
In Derivaten mit betontem Präfix (z. B. Anstand) und in Komposita
(z. B. Kontostand) handelt es sich ebenfalls um komplexe Wörter. Die Geni-
tivendung tritt hier jedoch an ein phonologisches Wort (z. B. [Ǵtant]ƹ), das
auch allein auftreten kann. Umso interessanter ist die Tatsache, dass die
kurze Genitivendung bei Derivaten mit betontem Präfix (Typ Anstand)
deutlich häufiger gewählt wird als bei Komposita, s. Tab. 4.
Die Häufigkeit der s-Endung bei Komposita wurde in Szczepaniak
(2010b) an ausgewählten Beispielen ermittelt. So oszilliert die relative Fre-
quenz von -s nach Komposita mit Werk als Zweitglied zwischen 0,43 und
0,86, während sie nach dem Simplex Kampf nur den Wert von 0,39 er-
reicht. Die Auswertung der Häufigkeit von -s nach dem Simplex Stand,
nach Derivaten mit -stand und nach Komposita mit Stand als Zweitglied
zeigt, dass die Tendenz zur kurzen Endung bei Komposita geringer ist als
bei Derivaten mit betontem Präfix. Die lange Genitivendung wird tenden-
ziell dann gewählt, wenn das letzte phonologische (einsiblige) Wort sehr
salient und prosodisch stabil ist, also v. a. in (transparenten) Komposita.
In solchen Fällen dient die es-Endung zum prosodischen Aufbau von die-
sem phonologischen Wort zum Trochäus, z.B. Konto+standes.

Tab. 4: Relative Frequenz der kurzen Genitivendung


Morphologische Struktur Phonologische Relative Frequenz
Struktur der kurzen
Genitivendung
Simplex (Stand ): [[Ƴ]F]ƹ 0,06
Derivate mit unbetontem Präfix (Bestand ): [<Ƴ>[Ƴ]F]ƹ 0,11
Komposita (darunter Kontostand ): [[Ƴ]ƹ[Ƴ]ƹ]ƹ 0,28
Derivate mit betontem Präfix (Aufstand ): [[Ƴ]ƹ[Ƴ]ƹ]ƹ 0,37

Derivate mit unbetontem Präfix (Typ: Erfolg, Bestand ) bestehen aus einem
phonologischen Wort mit einer abweichenden Struktur: unbetonte + be-
tonte Silbe. Die heutige Variation mit einer nur leichten Tendenz zur kur-
98 Renata Szczepaniak

zen Genitivendung hat ebenfalls prosodische Gründe: Die lange Genitiv-


endung ist nicht so stark dispräferiert wie bei Derivaten mit betontem Prä-
fix, weil sie zur Bildung eines trochäischen Betonungsmusters beiträgt
(Erfólges). Die relative Frequenz der kurzen Genitivendung beträgt hier nur
0,67, während sie nach Derivaten mit betontem Präfix, bestehend aus zwei
phonologischen Wörtern, den Wert von 0,78 erreicht (s. Szczepaniak
2010b).

Tab. 5: Phonologische Struktur und die Genitivvariation im Neuhochdeutschen


Morphologische Struktur Beispiel relative phonologische Struktur -es
Frequenz
Einsilbiges Simplex: Stand 0,37 [[Ƴ]F]ƹ
Derivate mit unbetontem Präfix: Bestand 0,67 [<Ƴ>[Ƴ]F]ƹ
Komposita: Kontostand k. A. [[Ƴ]ƹ[Ƴ]ƹ]ƹ
Derivate mit betontem Präfix: Aufstand 0,78 [[Ƴ]ƹ[Ƴ]ƹ]ƹ
Derivate mit betontem Suffix: Reichtum oblig. [[Ƴ]ƹ[Ƴ]ƹ]ƹ
Derivate mit unbetontem Suffix: Lehrer oblig.
[[ƳƳ]F]ƹ
Zweisilbige Simplizia: Vater oblig. -s

Über die Genitivform entscheidet jedoch nicht nur die phonologische


Größe und Komplexität der Basis, sondern auch die Qualität und Quan-
tität des konsonantischen Wortauslauts. Dieses Variationskriterium geht
ebenfalls auf die mittel-/frühneuhochdeutsche Zeit zurück, in der die sil-
benphonologischen Beschränkungen der Vokaltilgungen im Zuge der
wortsprachlichen Entwicklung stufenweise abgebaut wurden: Zunächst
konnte der Vokal nur nach Liquiden und Nasalen getilgt werden (mhd.
spiles > spils); erst im Frühneuhochdeutschen war die Vokaltilgung nach
Frikativen und Plosiven möglich (mhd. kruges > (fr)nhd. Krugs) (s. Ab-
schnitt 3.2). Die graduelle Durchsetzung der kurzen Genitivendung deckt
sich mit ihrer heutigen Frequenz. Wie Tab. 6 (S. 99) zeigt, ist die kurze
Genitivendung nach einsilbigen Simplizia auf Liquid vorherrschend,
während ihr Anteil nach Nasalen geringer ist und mit steigender Konso-
nantischer Stärke des finalen Konsonanten sukzessive weiter sinkt (Ge-
naueres s. bei Szczepaniak 2010b). Die lange Endung garantiert bessere
Aussprechbarkeit nach Affrikaten und nach der st-Gruppe. Darüber hin-
aus ermöglicht nur die lange Endung die konsonantische Realisierung des
basisauslautenden r durch Resilbifizierung: Haa.res.
Ähnliche sonoritätsbezogene Frequenzunterschiede bestehen auch bei
Derivaten mit unbetontem Präfix, deren durchschnittliche relative Fre-
quenz 0,67 beträgt. Während nach auslautenden Plosiven freie Variation
zwischen kurzer und langer Endung konstatiert werden kann (0,57), über-
Lautwandel verstehen 99

wiegt die kurze Endung deutlich nach auslautenden Nasalen (0,9) und Li-
quiden (0,96).

Tab. 6: Relative Frequenz der kurzen Genitivendung und der Stärkegrad des Basisauslauts

Relative Frequenz der Beispiel Finaler

Konsonantische
kurzen Genitivendung Konsonant
0,74 (des Pfahls) [l]

wachsende
0,60 (des Lärms) Nasale

Stärke
0,44 (des Kochs) Frikative
0,21 (des Bett(e)s) Plosive
0,21 (des Haar(e)s) [ǁ/DZ]
0,11 (des Kampf(e)s) Affrikaten
0,11 (des Dienst(e)s) [st]

Zusätzlich sinkt die Wahrscheinlichkeit einer kurzen Genitivendung mit


zunehmender Komplexität des finalen Konsonantenclusters, wobei hier
gilt, dass, je umfangreicher die Konsonantengruppe, desto höher die Kon-
sonantische Stärke des auslautenden Konsonanten ist:

Tab. 7: Genitivvariation und die Komplexität des finalen Konsonantenclusters


Anzahl der basisfinalen Konsonanten Relative Frequenz der kurzen Genitivendung
ein Konsonant 0,42 (des Huhns)
zwei Konsonanten 0,29 (des Pferd(e)s)
drei Konsonanten 0,09 (des Obst(e)s)

5. Typologische Unterschiede innerhalb der Germania


Der ausgeprägte wortsprachliche Charakter des (Standard-)Deutschen tritt
noch deutlicher hervor, wenn man es mit anderen, eng verwandten Spra-
chen oder den deutschen Dialekten kontrastiert. Obwohl die Typologie
der Silben- und Wortsprachen relativ jung ist, liegt bereits eine Reihe von
aussagekräftigen Studien vor, die auf tiefgreifende typologische Unter-
schiede hinweisen. Diese erlauben generell die Annahme, dass das Stan-
darddeutsche einen besonders hohen Wortsprachlichkeitsgrad erreicht
hat, während sowohl Dialekte als auch die umgangssprachliche Sprechlage
einige silbenphonologische Optimierungen aufweisen. Gesicherte Er-
kenntnisse liegen mit Nübling/Schrambke (2004) zu alemannischen Dia-
lekten vor, in denen sich ein typologisches Nord-/Südgefälle abzeichnet:
So wird beispielsweise der Definitartikel d im Nordalemannischen vor
100 Renata Szczepaniak

einem vokalisch anlautenden Wort (ags ‘Achse’, Anna, Uni) mit Ver-
schlusslösung und in neuester Zeit sogar mit einem intervenierenden
Knacklaut realisiert (älter d ags, d ana, d uni, jünger d ȅags, d ȅana, d ȅuni), wo-
durch die morphologische Grenze verdeutlich wird. Im Südalemannischen
wird hingegen durch die Resilbifizierung die silbische Struktur optimiert:
takzʂ, tanȿa, tuni.
Die bei diesem und weiteren Phänomenen zu beobachtende, von
Norden nach Süden zunehmende Silbensprachlichkeit weist darauf hin,
dass im Südalemannischen (darunter das Schweizer- und auch das Walser-
deutsche aus Issime) die silbensprachliche Tendenz diachron seit dem Alt-
hochdeutschen nicht nachgelassen hat. Die typologische Kontinuität des
Schweizerdeutschen äußert sich u. a. in den konsonantischen Assimila-
tionen, die zur Verwischung der Wortgrenzen führen. Ähnliche aus-
spracheerleichternde Prozesse sind aus dem Althochdeutschen bekannt
(s. Szczepaniak 2007b):

Tab. 8: Parallelen zwischen den wortübergreifenden Assimilationen


im Althochdeutschen und im heutigen Schweizerdeutschen
Althochdeutsch Heutiges Schweizerdeutsch
_m]ƹ[[lab] _m]ƹ[[lab]
ahd. hŇhunberg > hŇmberg ‘hohes Gebirge’ alem. [pa‫ޝ‬mfa‫ޝ‬r‫‘ ]ۑ‬bahnfahren’
_n]ƹ[[kor] _n]ƹ[[kor]
ahd. harmscara > haranskara ‘Bestrafung’ (nur in tautosyllabischen Clustern, z. B.
chunt ‘kommt’, frönd ‘fremd’)
_Ņ]ƹ[[hint] _Ņ]ƹ[[hint]
ahd. boumgarto > boungarto ‘Obstgarten’ alem. [w‫ܭ‬ƾ ܵun‫‘ ]ݕ‬wann kommst (du)?’
_p/b]ƹ[[lab] _p/b]ƹ[[lab]
ahd. erdberi > erbper ‘Erdbeere’ alem. ärbäbe ‘Erdbeben’
_k/g]ƹ[[hint] _k/g]ƹ[[hint]
ahd. râtgebo > râgebo ‘Ratgeber’ alem. [haƾkk‫ܭ‬lt] ‘Handgelt’

Offensichtlich werden silbensprachliche Charakteristika an der südlichen


Peripherie der Germania, möglicherweise unter verstärkendem Einfluss
des Sprachkontakts mit der silbensprachlichen Romania, beibehalten.
Auch der walserdeutsche Inseldialekt von Issime (Aostatal) hat phonologi-
sche Regeln der vokalischen Fernassimilation konserviert und sogar ausge-
baut (Szczepaniak 2007c). So galt im Althochdeutschen eine Beschrän-
kung der vokalharmonischen Anpassung des Mittelvokals an den Endvo-
kal auf dreisilbige Wortformen, z.B. ahd. bittar ‘bitter’ − bitteres (Gen. Sg.
Mask. st. Fl.), aber bitteremo (Dat. Sg. Mask. st. Fl.), nicht *bittoromo. Diese
Beschränkung wird im Walserdeutschen von Issime aufgegeben, z. B.
buttilji ‘Fläschchen’ − buttiljunu oder sogar buttuljunu (Dat. Pl.).
Auch das mit dem Deutschen eng verwandte Luxemburgische weist
mehr silbensprachliche Phänomene als das Deutsche auf (Szczepaniak
Lautwandel verstehen 101

2010b). Zu den prominentesten Beispielen gehört die sog. n-Regel, die Re-
silbifizierungs- und Tilgungsprozesse eines wortauslautenden n umfasst
(s. Gilles 1999, 2006). Generell wird der n-haltige Wortauslaut nur in arti-
kulatorisch günstiger Umgebung erhalten: Vor vokalischem Anlaut des
Folgewortes kommt es zur Resilbifizierung, z. B. gudden Auto [gu.dƞ.nau.to]
‘gutes Auto’. Lautet das Folgewort auf einen Dental oder h an, entsteht an
der Wortgrenze ein leicht aussprechbarer Konsonantencluster, weswegen
n erhalten bleibt: gudden Dag [gu.dƞn.daȿx] ‘guter Tag’. Vor anderen Konso-
nanten wird der Nasal getilgt, z. B. gudde_ Wäin [gu.dƞ.væǛn] ‘guter Wein’.
Auf die konservierende Wirkung des Sprachkontakts können silben-
sprachliche Elemente auch in dem an der Grenze zur Romania gesproche-
nen Flämischen zurückgeführt werden. So zeigt Noske (2007), dass das
Flämische im Gegensatz zum Standardniederländischen deutlich mehr sil-
bensprachliche Züge bewahrt hat. Beispielsweise finden im Flämischen
viele Resilbifizierungen statt, während im Standardniederländischen die
morphologische Grenze mit dem Knacklaut gestärkt wird, z. B. on+eens
‘uneins’ fläm. [Dž.neȿns] vs. ndl. [Džn.ȅeȿns].
Darüber hinaus bestehen im nordgermanischen Zweig u. a. tiefgrei-
fende typologische Unterschiede zwischen dem wortsprachlichen Däni-
schen und dem deutlich silbensprachlicheren Schwedischen (Nübling/
Schrambke 2004). So gibt es im Schwedischen Konsonantenassimilatio-
nen, die sowohl im Wort (Wortsandhi) als auch an Wortgrenzen stattfin-
den, z. B. [rs] > [dz] univer[dz]itet ‘Universität’ (Wortsandhi) und för tre år sedan
[oȿdzen] ‘vor drei Jahren’ (Satzsandhi). Das Schwedische verfügt über drei
unbetonte Vollvokale [a], [ǻ] und [e], während das Dänische, ähnlich dem
Deutschen, nur noch [ƞ] kennt, vgl. dän. ryge [ȷDZyȿƞ] vs. schwed. ryka [ryȿka]
‘rauchen’.

6. Zusammenfassung
Der typologische Ansatz von Silben- und Wortsprachen bereichert die lin-
guistische Forschung und Lehre in vielerlei Hinsicht. Zum einen macht
seine explanative Kraft die historische Phonologie zum attraktiven Unter-
richtsgegenstand. Erst aus dieser Perspektive erfahren die bisher zusam-
menhanglos behandelten Lautwandelprozesse eine übergreifende Erklä-
rung. Zum anderen führt die typologische Analyse des Lautwandels im
Deutschen zur Aufdeckung eines zentralen Sprachwandelprinzips: In der
Geschichte des Deutschen treten phonologische Prozesse auf, die das
phonologische Wort nach und nach immer deutlicher hervorheben und
optimieren, meist auf Kosten der phonologischen Silbe. Damit wandelt
sich das Deutsche von einer Silben- zu einer Wortsprache.
102 Renata Szczepaniak

Die Tendenz zur Hervorhebung des phonologischen Wortes zieht


Veränderungen in anderen Bereichen der Grammatik nach sich. So kann
die heutige Variation zwischen kurzer und langer Genitivendung auf die
typologische Drift vom silben- zum wortsprachlichen Pol zurückgeführt
werden. Die Entwicklung der kurzen Genitivendung geht auf die seit dem
Mittelhochdeutschen gültige Tendenz zur Regulierung der Wortgröße (auf
den Trochäus) zurück. Ihre Durchsetzung wurde zum einen durch die
phonologische Wortgröße und -struktur gesteuert, so dass umfangreiche
phonologische Wörter heute eher die kurze Endung nehmen als einsilbige
Simplizia. Zum anderen war die allmähliche Aufgabe der silbenphonologi-
schen Beschränkungen für die heutige Korrelation zwischen der Frequenz
der kurzen Endung und der Qualität und Quantität der basisfinalen Kon-
sonanz verantwortlich.
Die phonologischen Unterschiede zwischen dem (Standard-)Deut-
schen und seinen Dialekten sowie zwischen den germanischen Sprachen
können ebenfalls auf silben- bzw. wortoptimierende Tendenzen zurückge-
führt werden. So kultivieren Dialekte und Sprachen an der Grenze zwi-
schen Romania und Germania mehr silbensprachliche Elemente als das
Standarddeutsche.
In diesem Bereich besteht ein großer Bedarf nach weiterer Forschung,
die sich auch der Frage widmen sollte, welche system- und gebrauchslin-
guistischen Faktoren den typologischen Wandel steuern. Es ist nicht aus-
zuschließen, dass in der entscheidenden frühneuhochdeutschen Phase der
wortsprachlichen Stärkung die schriftsprachlichen Vereinheitlichungs-
tendenzen mit hineinwirkten.

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Anna Molnár

Was Grammatikalisierungsforschung und


Historische Grammatik einander zu sagen hätten.
Eine Bestandsaufnahme

1. Problemstellung
Die beiden im Titel miteinander in Verbindung gesetzten Begriffe würden
einen Hardcore-Grammatikalisierungsforscher wohl etwas stutzig machen,
da die Fragestellungen der klassischen Grammatikalisierungsforschung
vorrangig sprachtheoretisch und universalgrammatisch ausgerichtet und
von der traditionsreichen historischen Grammatikschreibung weit entfernt
sind. Der Konjunktiv des Verbs wiederum deutet darauf hin, dass der
Austausch der Forschungserfahrungen und -ergebnisse zwischen diesen
beiden Disziplinen heute noch nicht Wirklichkeit ist. Dabei bietet sich, so
denke ich, die Verbindung der beiden Forschungsfelder geradezu an –
und zwar aus drei Gründen:
(a) Grammatikalisierung steht an der Schnittstelle zwischen Syn-
chronie und Diachronie. Sie verläuft durch die Zeit und ist/sollte
somit ein historisch belegbarer Prozess sein.
(b) Grammatikalisierung ist ein spezieller Sprachwandelprozess, der
von der Lexik in die Grammatik führt. Lexeme, die der Grammati-
kalisierung unterliegen, verlieren stufenweise ihre Autonomie und
werden immer mehr den Restriktionen der Grammatik unter-
geordnet.
(c) Grammatikalisierung geht oft auch mit Wortartenwechsel einher.
Die Wortarten bilden die Grundkategorien der Grammatiken, so
auch von Grammatiken historischer Sprachstufen.
Obwohl die Anschlussmöglichkeiten auf der Hand liegen, so lässt sich
dennoch eine fehlende Interaktion zwischen der Grammatikalisierungsfor-
schung und der Historischen Sprachwissenschaft bzw. Grammatik kon-
statieren.
Die Ursachen für die gegenseitige Nichtbeachtung liegen in den unter-
schiedlichen Forschungsinteressen und in dem unterschiedlichen metho-
106 Anna Molnár

dischen Herangehen. Die Grammatikalisierungstheorie ist eine attraktive


und elegante Theorie für die Rekonstruktion und Erklärung bestimmter
Sprachwandelphänomene, wohingegen historische Grammatiken das
statische und – mehr oder weniger – idealisierte grammatische System
einer Sprachstufe beschreiben wollen. Die in den Sprachstufengram-
matiken dargestellten Wortarten können allerdings auch die Ergebnisse
von Grammatikalisierungen sein, wie z. B. die deutschen Präpositionen
(z. B. infolge, anhand) oder Konjunktionen (z. B. weil). Während also die
Grammatikalisierungsforschung an der logischen Ableitbarkeit der sekun-
dären Wortart von der primären und an der Aufdeckung der Regel-
mechanismen des Wandels interessiert ist, Erklärungen anstrebt, liegt das
Ziel der historischen Grammatiken in der Deskription des Sprachsystems,
der systematischen Darstellung der klassischen Wortarten und deren
Formveränderungen. Grammatikalisierungsbeschreibungen zeigen die
Übergänge von einer Kategorie in eine andere auf, historische Gramma-
tiken gehen von festen, tradierten Kategorisierungen von Wörtern aus.
Entsprechend ihren verschiedenen Forschungsinteressen unterscheiden
sich die beiden Disziplinen auch in der Methodologie, derer sie sich bedie-
nen. Das methodische Vorgehen in der Grammatikalisierungsforschung
ist deduktiv, d. h. den Ausgangspunkt bildet eine Theorie, die es durch die
Sprachdaten zu verifizieren/falsifizieren gilt. Die Grammatik einer histori-
schen Sprachstufe dagegen wird abstrahiert aus den einzelnen, schriftlich
überlieferten Sprachdaten, die Rekonstruktion des Systems erfolgt durch
Induktion. Die beiden daraus resultierenden verschiedenen Sprachbeschrei-
bungen können stichwortartig wie folgt zusammengefasst und einander
gegenübergestellt werden:

Tab. 1: Grundlagenunterschiede zwischen Historischer Grammatikographie


und Grammatikalisierungsforschung

Historische Grammatikalisierungs-
Grammatikographie forschung
Sprach-
statisch dynamisch
auffassung
Beschreibung des Aufdeckung der
Ziel idealisierten Sprach- Regelmechanismen des
systems einer Periode Sprachwandelprozesses
Methodologie induktiv deduktiv
Leitprinzip deskriptiv explanativ
Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik 107

Diese gravierenden Unterschiede dürften erklären, warum Themen und


Fragestellungen, die für die Grammatikalisierungsforschung relevant sind,
in den historischen Grammatiken keine Rolle spielen.
Die folgende Analyse setzt sich zum Ziel, anhand einiger Beispiele, die
aus der einschlägigen Forschungsliteratur herausgegriffenen wurden, auf
versäumte oder mögliche Verbindungen der beiden Forschungsfelder hin-
zuweisen. Im Abschnitt 2 wird zunächst die gegenwärtige Forschungssitu-
ation aus dem Blickwinkel der Grammatikalisierungsforschung geschil-
dert. Darauf folgt im Abschnitt 3 die Formulierung von Desideraten und
möglichen Forschungsperspektiven sowohl für die Grammatikalisierungs-
forschung als auch für die Historische Grammatikographie des Deut-
schen. Im Abschnitt 4 wird schließlich für ein erweitertes und dynami-
sches Grammatikverständnis plädiert.

2. Die Forschungssituation heute im Einzelnen


2.1 Grammatikalisierungsforschung ahistorisch

Im Falle der ahistorisch betriebenen Grammatikalisierungsforschung geht


man von der Beobachtung der sog. synchronen Variation der Verwendungs-
weisen (lexikalisch/grammatisch) aus, durch logische Schlussfolgerung stellt
man eine Ableitungsbeziehung zwischen den Elementen der Variation her
und weist das Phänomen anhand theoretisch bereits festgelegter Para-
meter als Grammatikalisierung aus. Die meisten Fallstudien in der frühen
Phase der Grammatikalisierungsforschung (d. i. in den 1990er Jahren) ent-
standen so – wohl auch aus Begeisterung über die theoretische Eleganz
dieses Ansatzes. Zur Illustration dieser Position diene hier eine Äußerung
von Christian Lehmann, dem theoretischen Grundsteinleger der Gramma-
tikalisierungsforschung. In einem frühen Aufsatz über Grammatikalisie-
rungsphänomene im Gegenwartsdeutsch (Lehmann 1991) weist er einige
als Nonstandardformen eingestufte Phänomene der deutschen Gegen-
wartssprache (wie brauchen als Modalverb oder die Subordination mit V2-
Stellung) als Grammatikalisierungsphänomene aus – und liefert nebenbei
auch eine methodische Selbstreflexion:
Not being a Germanist, I am not in the best position to write on grammaticaliza-
tion in German. […] There is also the methodological difficulty of chronology.
Historical linguists and philologists are used to working through the relevant cor-
pus in order to ascertain the earliest occurence of a given phenomenon and to
trace its tradition. I have not been able to do this. All I can say is that, except where stated
otherwise, the phenomena treated have aroused my attention during the past ten years or so as
things that were not formerly in the language. Many of them are not in the grammars.
108 Anna Molnár

[…] There it is shown that some of the nonstandard features of contemporary


German have been in the language since the Old High German stage. Even a
phenomenon that has been spreading only since very recently does not need to
have been invented very recently. It is quite possible that it can be found in earli-
er literature, and such earlier occurences may or may not be the source of the re-
cent development. (Lehmann 1991: 494f., Hervorhebung A. M.)

Das Zitat zeigt die Haltung des Theoretikers, der es – anders als histori-
sche Linguisten oder auch Philologen – nicht für seine Aufgabe hält, dem
Grammatikalisierungsprozess auch in historischer Hinsicht auf die Spur
zu gehen.ͳ Diese Haltung ist symptomatisch für die Zeit der Etablierung
der Grammatikalisierungstheorie. Für unser Thema ist sie aber nicht –
bzw. wenn überhaupt, dann nur wegen der möglichen Attitüde des Gram-
matikalisierungsforschers – relevant, weshalb an dieser Stelle auf eine
weitere Kommentierung verzichtet werden soll.

2.2 Historische Variationen auf ein Thema: Modalverben

Hilfs- und Modalverben (besonders die epistemisch verwendeten Modal-


verben) gelten als das am häufigsten bearbeitete Thema in der Grammati-
kalisierungsforschung überhaupt, aber auch in der gegenwärtigen Germa-
nistik werden die Modalverben des Deutschen aus unterschiedlichen For-
schungsperspektiven bearbeitet. Fritz (1997) schilderte eine semantische
Entwicklungsgeschichte der Modalverben, Diewald (1999) stellte ihre
Grammatikalisierung und Polyfunktionalität dar; die Korrelation von
Form und Funktion bei den Modalverben wurde in dem Tübinger Modal-
verbprojekt Modalität und Modalverben im Deutschen aufgedeckt (vgl. Müller/
Reis 2001). Keine dieser Arbeiten will und kann auf die Erschließung der
historischen Dimension der Modalverbfunktionen verzichten, wenn sie
dabei auch methodisch unterschiedlich vorgehen mögen. Besonders auf-
fällig ist dieser Unterschied in den bereits genannten Arbeiten von Fritz
(1997) und Diewald (1999), die damals innerhalb von zwei Jahren erschie-
nen sind.
Fritz’ Abhandlung ist theoretisch dem evolutionären Prinzip verpflichtet,
wonach die historische Entwicklung durch den neuen Gebrauch von alten
Mitteln vorangetrieben wird (Fritz 1997: 2). Die Untersuchung rechnet

1 Lehmann denkt heute über die Frage der historischen Datierung bei Grammatikalisie-
rungsbeschreibungen anders. In der Datendiskussion, die zurzeit im Rahmen der theoreti-
schen Linguistik läuft, vertritt er einen markanten Standpunkt des Empirismus (vgl. Leh-
mann 2004a: 187ff.). So verlangt er eine empirische Evidenz in der Grammatikalisierung,
zu der folgende Konstellation von Daten notwendig ist: zwei historische Stufen einer Spra-
che L, die ältere L1 und die jüngere L2 (vgl. Lehmann 2004b: 155ff.).
Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik 109

von vornherein mit der Vielfalt der Verwendungsweisen der Modalverben,


von denen zentrale Typen hervorgehoben werden; die Modalverbge-
schichte wird daher als „Veränderung ganzer Konstellationen von Ver-
wendungsweisen“ dargestellt (Fritz 1997: 26). Den Ausgangspunkt der
Untersuchung bilden also die unterschiedlichen Verwendungsweisen, d. h.
der vielfältige Sprachgebrauch, der keine einheitliche semantische Ent-
wicklung, sondern unterschiedliche Entwicklungstypen zur Folge hat. Fritz ar-
beitet induktiv, d. h. er geht von den Sprachdaten aus und versucht, eine
Typologie der semantischen Entwicklung zu geben.
Anders konzipiert ist die Monographie Die Modalverben im Deutschen.
Grammatikalisierung und Polyfunktionalität von Diewald (1999). Im Gegensatz
zu Fritz verfolgt Diewald keine historische Fragestellung; sie will stattdes-
sen eine Darstellung des heutigen Modalverbsystems mit seinen lexikali-
schen und grammatischen Funktionen bieten und geht dabei von der
plausiblen Annahme aus, dass die grammatischen Funktionen jüngere
Entwicklungen darstellen und Grammatikalisierungsprozessen zu verdan-
ken sind. Der Grammatikalisierungsansatz liefert hier also den Erklärungs-
rahmen für die Polyfunktionalität der Modalverben, es wird gezeigt, wie die
verschiedenen Verwendungsweisen mit verschiedenen Grammatikalisie-
rungsgraden korrelieren. Diewald wählt eine deduktive Vorgehensweise, sie
testet die Theorie an empirischen Sprachdaten. In Verbindung mit einer
Korpusauswertung ermöglicht der Grammatikalisierungsansatz die Er-
schließung jener Kontextfaktoren, die die einzelnen Phasen der Gramma-
tikalisierung prägen. Der semantische Wandel von der lexikalischen Voll-
verbfunktion hin zur grammatischen Funktion der Faktizitätsbewertung
wird auf diese Weise in Korrelation mit deutlichen strukturellen Verände-
rungen im Kontext geschildert (vgl. Abb. 1, S. 110). Dieses Dreiphasenmo-
dell wird dann konkretisiert auf die Grammatikalisierung der sechs deut-
schen Modalverben, wie Abb. 2 (S. 111) zeigt.
Ein großer Vorteil dieses Dreiphasenmodells der Grammatikalisierung
besteht darin, dass die Kriterien des Prozesses bzw. die semantischen
Kontextmerkmale der Phasen so allgemein formuliert sind – semantische
und strukturelle Vorbedingungen, Auslösung der Grammatikalisierung,
Reorganisation und Differenzierung, kritischer Kontext, isolierender Kon-
text –, dass dieses Modell nicht nur bei der Rekonstruktion der verschie-
denen Modalverbfunktionen, sondern auch bei der Beschreibung anderer
Grammatikalisierungsfälle Anwendung finden kann.
110 Anna Molnár

Abb. 1: Phasen der Grammatikalisierung der Modalverben im Überblick (Diewald 1999: 384)

So verschieden die Ansätze und die Forschungsergebnisse zur Heraus-


bildung der epistemischen Verwendung der Modalverben auch sind – sie
könnten dennoch eine angemessene Grundlage auch für die systematische
historische Darstellung dieser polyfunktionalen Wortart liefern. Während
jedoch in den Grammatiken der Gegenwartssprache den Modalverben
zumeist ein ganzes Kapitel gewidmet ist, fehlt diese Wortart bzw. Katego-
Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik 111

rie in den historischen Grammatiken völlig. Auf eine mögliche Ursache


weist Diewald hin:
Die Polyfunktionalität der Modalverben steht also allen Versuchen einer strikten
Kategorisierung im Wege: Die Modalverben sind interkategorial. Diese Interkate-
gorialität ist jedoch nicht Ausdruck einer zufällig eingetretenen Störung der Ord-
nung des Sprachsystems, sondern ein Fall von Divergenz, also das erwartbare Re-
sultat eines historischen Grammatikalisierungsprozesses bei gleichzeitigem Wei-
terbestehen weniger grammatikalisierter, lexikalischer Gebrauchsweisen. (Diewald
1999: 4)

Abb. 2: Die Phasen der Grammatikalisierung bei den sechs Modalverben (Diewald 1999: 430)

Trotz dieser Schwierigkeiten ist es schwer akzeptabel, dass eine Wortart


mit so hoher Gebrauchsfrequenz, die noch dazu gründlich erforscht ist, in
den historischen Grammatiken nicht präsent ist. Diese Grammatiken sind
nach der junggrammatischen Tradition so aufgebaut, dass sie eine Laut-
lehre, eine Flexionsmorphologie und Syntax beinhalten. Nach dieser
Konzeption kommen die Modalverben höchstens unter den Präterito-Prä-
sentien vor. Diese Situation weist auf eine der Unzulänglichkeiten der tra-
ditionellen Grammatikschreibung historischer Sprachstufen hin, wo man
– unter anderem – mit der angeführten Interkategorialität nichts anfangen
kann. Wie auch dieser konkrete Fall zeigt, wird im Lichte der Ergebnisse
der modernen Forschungen und so auch der Grammatikalisierungsfor-
schung die Ausarbeitung einer neuen Konzeption der historischen Gram-
matikschreibung immer dringender (s. dazu ausführlicher Abschnitt 3.2).
112 Anna Molnár

2.3 Grammatikalisierungsbeschreibungen mit Daten


aus zweiter Hand – und die möglichen Konsequenzen

Grammatikalisierungsforscher kommen meistens nicht aus der histori-


schen Linguistik. Damit sind diejenigen, die eine historisch adäquate Er-
klärung anstreben und präsentieren wollen, bei der historischen Doku-
mentierung ihrer Thesen auf Daten aus zweiter Hand angewiesen. Die
fehlende historisch-philologische Forschungspraxis bzw. die mangelnde
sprachhistorische Kompetenz kann aber die wissenschaftliche Leistung
beeinträchtigen und sogar zu Fehlinterpretationen führen. Dies war bei-
spielsweise der Fall in einem Beitrag eines Sammelbandes zur Grammati-
kalisierung im Deutschen (Wegener 2005). In dem Aufsatz wird die
Entstehung der deutschen Pluralmarker -e, -en und -er geschildert, die
durch morphologische Reanalyse von alten Stammbildungssuffixen zu
Pluralsuffixen geworden sind. Die Grammatikalisierung verläuft nach
dieser Interpretation von einem weniger grammatischen (Derivationsfor-
mativ) zu einem stärker grammatischen Element (Flexionssuffix). Die
Verfasserin meint die Grammatikalisierung durch phonologische Reduk-
tion und semantisches Ausbleichen zu bestätigen. Als phonologische Re-
duktion wird die Nebensilbenabschwächung angeführt, von der aber in
mittelhochdeutscher Zeit (fast) alle, also auch nichtgrammatikalisierte
Nebensilben – und nicht nur die der Pluralsuffixe! – erfasst sind. Dieses
Argument ist also ein schwacher Beweis für die mit Grammatikalisierung
meistens einhergehende phonologische Reduktion. Aber auch von dieser
Schwachstelle abgesehen ist es methodisch symptomatisch, dass die ger-
manistischen Nachschlagewerke und Sprachstufengrammatiken in der
sonst imponierenden Bibliographie unterrepräsentiert sind. Bei der
sprachhistorischen Beweisführung argumentiert die Verfasserin vielmehr
mit Thesen der Klassiker der Grammatikalisierungstheorie wie Lehmann
(1995), Traugott (2001) u. a.
Die Ignorierung der germanistischen Fachliteratur beeinflusst dem-
entsprechend auch die Handhabung der Daten. Beispielsweise wird Ger-
manisches mehrfach für indoeuropäisch gehalten (vgl. Wegener 2005: 91,
92, 97), wie an folgender Stelle:
Unser erstes Beispiel, das Suffix -ir der indoeuropäischen [sic!] kleinen Klasse von
Neutra hatte zusammen mit dem Genus kollektive Bedeutung.
Indoeuropäisch [sic!]
Nom. Sg. hrind Pl. hrind-ir-u
‚Rind‘-COLL-NUM/CAS ‚Rind(erherde)‘
(Wegener 2005: 97)
Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik 113

Diese Prämissen beeinflussen natürlich die ganze Argumentation und das


Ergebnis, wonach deutsche Pluralmarker ihren Ursprung in indoeuropäi-
schen (!) Derivationssuffixen hätten. Im Gegensatz dazu wissen wir, dass
die Numerusprofilierung des Deutschen mit flexivischen Mitteln erst seit
frühneuhochdeutscher Zeit in ausgeprägter Form vorhanden ist (vgl.
Reichmann/Wegera 1993: 164), im Alt- und Mittelhochdeutschen zeigt sie
nur erste Ansätze (vgl. Braune/Reiffenstein 2004: 181; Paul 2007: 184).

2.4 Grammatikalisierung mit historischer Evidenz.


Beispiel: Modalpartikeln

Im Optimalfall werden zum Testen von Grammatikalisierungsannahmen


historische Korpusuntersuchungen vorgenommen; auch die Orientierung
des Forschers in der authentischen Fachliteratur ist gesichert.
Dass die Korpusbasiertheit, d. h. die Konfrontation der Grammatika-
lisierungstheorie mit eigens recherchierten historischen Sprachdaten er-
tragreich sein kann, wird immer öfter auch in der Grammatikalisierungs-
forschung erkannt. Als Paradebeispiel dafür könnte die Darstellung der
Genese der Modalpartikeln gelten. Auf diesem Forschungsfeld haben
Hentschel (1986), Abraham (1990) und Meibauer (1994) Pionierarbeit ge-
leistet, aber auch Burkhardt (1994) und Simon (1996) haben zur Geschich-
te der Modalpartikeln mit Hilfe von Korpusauswertungen Wertvolles bei-
getragen. Der Untersuchung an historischem Material verdanken wir z. B.
die Erkenntnis über die Korrelation zwischen topologischem Mittelfeld
und der Herausbildung der Wortart Modalpartikel (Abraham 1990), die
inzwischen zum konstitutiven Merkmal dieser Wortart geworden ist. Auch
in meiner eigenen Forschungspraxis im Bereich der Modalpartikelgenese
(vgl. Molnár 2002) wurde ich durch die Korpusrecherche zu neuen Ein-
sichten inspiriert, die manche Annahmen über die Grammatikalisierung zu
Modalpartikeln modifizierten, ergänzten oder zu neuen Hypothesen über
den möglichen Verlauf führten. So forderten Untersuchungen an frühneu-
hochdeutschen Texten Korrekturen an der Datierung des Prozesses, und
nur die Korpusarbeit ermöglichte die Einbeziehung gewisser Kontextfak-
toren und Kollokationen, die bei der Grammatikalisierung des Spender-
lexems zur Modalpartikel eine Rolle gespielt haben. Während beispiels-
weise die Grammatikalisierungsliteratur keine plausible Erklärung für die
Herausbildung der vermutungsanzeigenden Modalpartikel wohl (bzw. den
semantischen Wandel des bestätigenden Adverbs wohl zu dem Hypo-
thesenfunktor wohl ) findet, können Recherchen in Texten des 16. Jh. zei-
gen, dass die hypothetische Bedeutungskomponente wahrscheinlich der
häufigen Kollokation mit weiteren Hypothesenanzeigern wie den episte-
114 Anna Molnár

misch verwendeten Modalverben mögen und werden zu verdanken ist, mit


denen wohl in frühneuhochdeutschen Texten mehr als zweimal so häufig
vorkommt als selbständig. Die Auswertung einer vergleichbaren Zahl von
Belegen in einem gegenwartssprachlichen Korpus (Mannheimer Wendekor-
pus) ergab, dass diese Kollokation in der Gegenwartssprache nicht mehr
so ausgeprägt ist: Selbständig kommt wohl mehr als doppelt so häufig vor
als mit den Vermutung signalisierenden Modalverben können evtl. dürfen.
Diese Daten lassen die Annahme zu, dass wohl die hypothetische Bedeu-
tung wahrscheinlich dem vermutungsanzeigenden Modalverb mögen ab-
gewonnen hat und nun auch in selbständiger Verwendung Hypothese zu
signalisieren fähig ist. Die Annahme des durch die Kontextfaktoren moti-
vierten semantischen Wandels gibt – selbst wenn sie durch weitere Unter-
suchungen widerlegt werden sollte – eine der sprachlichen Realität ange-
messenere Erklärung für die Grammatikalisierung zu dem Hypothesen-
funktor wohl, als dies logisch-spekulative Ableitungen tun.

3. Bilanz und Konsequenzen


Die aus der aktuellen Forschungsliteratur herausgegriffenen Fälle sollten
illustrieren, dass die Kooperation zwischen linguistischer Theoriebildung
und historischer Grammatik alles andere als zufriedenstellend ist. Der
erste Schritt, dieser Situation Abhilfe zu verschaffen, besteht in der Sensi-
bilisierung der Beteiligten. Im zweiten Schritt könnten dann die Konse-
quenzen gezogen, d. h. die einschlägigen Ergebnisse gegenseitig integriert
werden. Aus meiner Sicht wären folgende Konsequenzen zu ziehen.

3.1 Die Konsequenzen für die Grammatikalisierungsforschung

Da der theoretische Rahmen der Grammatikalisierung inzwischen in gro-


ßen Zügen ausgearbeitet ist, gilt es nun, ihre Thesen an sprachhistorischen
Fakten und Korpora zu testen und damit zu verifizieren, falsifizieren oder
modifizieren. Zwar nicht so sehr in theoretischen Werken, aber umso
mehr in Fallstudien zur Grammatikalisierung ist die Belegung der aufge-
stellten Thesen mit historischen Daten notwendig. Dazu ist es allerdings
unerlässlich, dass der Forscher erstens mit den historischen Daten kompe-
tent umgehen kann und zweitens über die Geschichte des untersuchten
Phänomens in einschlägigen Werken, so z. B. in historischen Gramma-
tiken, nachschlägt.
Diese Forderungen stehen im Einklang mit einer methodologischen
Empfehlung in der neueren germanistischen Sprachwissenschaft (Ágel
Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik 115

2001), wonach die Beschreibung und Erklärung gegenwartssprachlich be-


obachteter Phänomene auch sprachhistorisch adäquat, d. h. der sprach-
historischen Beschreibung des Phänomens angemessen, sein soll. Ágel
nennt diese methodologische Forderung das Prinzip der Viabilität (Ágel
2001: 319). Eine Möglichkeit für viable Beschreibungen und Erklärungen
bestimmter Sprachphänomene könnte gerade die Grammatikalisierungs-
forschung liefern, die ja die synchrone Sichtweise mit der diachronen ver-
bindet.
Außerdem kann eine gewisse Bewandertheit in der Sprachgeschichte
den Grammatikalisierungsforscher auch davor schützen, gewisse als
normwidrig empfundene Phänomene der Gegenwartssprache als neu-
zeitliche Grammatikalisierungsfälle zu interpretieren, obwohl sie, wie ein
Blick in die Sprachgeschichte beweist, gar keine Neuentwicklungen sind.
Auf eine Erscheinung dieser Art macht Freywald (2008) aufmerksam. Sie
zeigt – wenngleich sie damit nicht auf den Prozess der Grammatikalisie-
rung abzielt – am Beispiel der Interpretation von weil- und dass-Sätzen mit
Verbzweitstellung die Gefahren einer ahistorischen Herangehensweise
auf:
Zeitliche Einordnungen zur Entstehung der weil-V2-Konstruktion, wie „in der
letzten Dekade“ (Zifonun et al. 1997, S. 465), „seit einiger Zeit“ (Uhmann 1998,
S. 92), „in jüngster Zeit“ (Helbig 2003, S. 6) fallen exakt mit dem Einsetzen einer
breiteren linguistischen Diskussion dieses Phänomens zusammen. Dagegen
haben historisch orientierte, wie die von Eroms (1980), Selting (1999) oder Elspaß
(2005), gezeigt, dass die historische Kontinuität der Verbstellungsvarianz nach
Kausalkonjunktionen seit dem Alt- und Mittelhochdeutschen keine unplausible
Annahme ist. […] Möglicherweise haben wir es bei dass mit V2 jedoch nicht mit
einer gänzlich neuen Entwicklung zu tun, sondern lediglich mit einer quantitativen
Zunahme der dass-V2-Konstruktionen. (Freywald 2008: 278f., Hervorhebungen
A. M.)

Diese und ähnliche Feststellungen geben zu Bedenken, ob sich nicht


manche Grammatikalisierungsbeschreibungen sogar erübrigen, da das als
normwidrig und als neuzeitliche Grammatikalisierung interpretierte Phä-
nomen bereits für die historischen Perioden belegt ist oder in der – nicht
überlieferten – Sprechsprache dieser Perioden vorhanden gewesen sein
könnte.

3.2 Die Konsequenzen für die Historische


Grammatikographie des Deutschen

Die Ergebnisse der Grammatikalisierungsforschung erweisen sich für die


historische Grammatikographie in mehrfacher Hinsicht als relevant, geben
116 Anna Molnár

gleichzeitig aber auch die Art und Weise der Grammatikschreibung zu


bedenken.
Ihre Relevanz ist im Prinzip schon dadurch gegeben, dass die im
Grammatikalisierungsprozess entstehenden sprachlichen Einheiten nicht
mehr lexikalische, sondern grammatische Inhalte bezeichnen – neue, dann
grammatische Funktionen übernehmen und nach dem Abschluss dieses
Prozesses als grammatische Kategorien gelten. Grammatische Kategorien
und grammatische Inhalte gehören aber eindeutig zum Inventar der
Grammatik, so auch der historischen Grammatik.
Andererseits stellt die Grammatikalisierungsforschung die Schreiber
traditioneller Grammatiken aufgrund der – ohnehin schon komplizierten
– Wortartenproblematik vor schier unüberwindbare Schwierigkeiten,
schließlich sollen diese Entscheidungen über die Kategorisierung von
Wortarten treffen (wobei sie der traditionellen Einteilung und der Anlage
klassischer Grammatiken folgen). Die Ergebnisse der Grammatikalisie-
rungsforschung deuten allerdings darauf hin, dass die Grenzen zwischen
Lexik und Grammatik fließend sind und Grammatikalisierungsphänomene
eher ein Kontinuum von Wortarten zeigen, womit sie die Statizität des
grammatischen Systems und die Adäquatheit diskreter grammatischer
Kategorien in Frage stellen. Aus der Sicht des Grammatikalisierungsfor-
schers erscheint daher das Konzept einer emergent grammar (Hopper 1987)
angemessener als die festen Kategorien traditioneller historischer Gram-
matiken. Solange aber die Grammatiken sich der traditionellen Kategori-
sierung von Wortarten bedienen und nach der traditionellen Anlage (Laut-
lehre, Flexionsmorphologie, Syntax) konzipiert werden, sind diese zwei
Sichtweisen inkompatibel und Grammatikalisierungsphänomene können
in die Sprachstufengrammatiken kaum integriert werden.
Das komplizierte Problem Wortarten und Grammatikalisierung wurde
bereits 2003 auf einem Siegener Kolloquium thematisiert. In einer etwas
zugespitzten Formulierung äußerte man sich dazu folgenderweise:
Traut man der zusehends sich einbürgernden Rede von der „Grammatikalisie-
rung“, so scheint der elementare Gegensatz von Grammatik und Lexikon in der
Sprachwissenschaft viel von seiner Schärfe zu verlieren. Was heute als „Gramma-
tik“ imponiert, das wirkt weniger fremd und eigenständig, wenn es als diachron
transformierte, kontextgeneralisierte und semantisch verdünnte Lexik reinterpre-
tiert werden kann. (Knobloch/Schaeder 2005: V)

Entgegen dieser übertriebenen Kritik des Einflusses der Grammatikalisie-


rungsforschung auf die Grammatikauffassung könnten manche Ergeb-
nisse der Grammatikalisierungsforschung für die historischen Grammati-
ken durchaus gewinnbringend sein. So haben die Grammatikalisierungs-
forschung und die Historische Semantik z. B. die Genese bestimmter
Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik 117

sprachlicher Mittel der epistemischen Modalität (wie etwa die epistemisch


verwendeten Modalverben und Modalpartikeln) erschlossen und jene
syntaktischen und Kontextfaktoren aufgedeckt, in denen sie auftreten und
die eine Unterscheidung von ihren Homonymen ermöglichen. Auch der
ungefähre Zeitpunkt, zu dem die schon eindeutig grammatikalisierten For-
men in den Texten in größerer Frequenz zum Vorschein kommen, wurde
bestimmt. Für die Datierung der epistemisch verwendeten Modalverben
geben sowohl Diewald (1999: 430; s. oben Abb. 2) als auch Fritz (1997:
13) eine tabellarische Übersicht; aus beiden geht hervor, dass die Episte-
mifizierung – eine Ausnahme bildet mögen, das bereits althochdeutsch in
dieser Funktion belegt ist (vgl. Fritz 1997: 13) – nicht vor dem 16. Jh.
eingetreten ist. In Bezug auf die Modalpartikeln hat Burkhardt (1994: 140)
eine entsprechende Tabelle vorgelegt; auch hier wird ersichtlich, dass – bis
auf denn und doch – die bereits althochdeutsch belegt sind, das Auftreten
der Modalpartikeln in die Zeit zwischen dem 16. und 19. Jh. fällt. Die
neueren Forschungen haben also die konstitutiven Merkmale und die Um-
stände der Entstehung dieser Wortarten bzw. der neuen Funktionen be-
reits etablierter Wortarten aufgedeckt; diese Ergebnisse könnten in die be-
treffenden historischen Grammatiken eingehen. Von zeitlicher Bedeutung
ist in Bezug auf die oben erwähnten epistemischen Ausdrucksmittel neben
der althochdeutschen vor allem auch die frühneuhochdeutsche und die
neuhochdeutsche Grammatik, in diesen Perioden wird die Epistemifizie-
rung intensiv (vgl. dazu Ágel 1999). Eine neuhochdeutsche Sprachstufen-
grammatik liegt noch nicht vor, die Frühneuhochdeutsche Grammatik von
Reichmann/Wegera (1993) ist im Grunde genommen noch der traditio-
nellen Konzeption historischer Grammatiken verpflichtet und integriert
diese neuen, grammatikalisierten Funktionen nicht in die Beschreibung
des Sprachsystems. Neben konzeptionellen Gründen spielte dabei auch
eine Rolle, dass zum Erscheinungszeitpunkt der Frühneuhochdeutschen Gram-
matik die Ergebnisse der neueren Forschungen noch nicht publiziert
waren. Für eine Neubearbeitung dieser Grammatik wären aber die gram-
matikalisierten Modalpartikeln und die epistemischen Modalverben äu-
ßerst relevant, da sie gerade in den Texten der frühneuhochdeutschen Pe-
riode als neue sprachliche Mittel sichtbar werden.
Ein solches Vorhaben zur Integration der neuesten Forschungsergeb-
nisse verlangt allerdings die Veränderung des Grammatikbegriffs und auch
der Anlage historischer Grammatiken, damit sie den neuen Kategorisie-
rungen gerecht werden. Nur ein neues Grammatikverständnis ermöglicht die
Unterbringung von Grammatikalisierungsphänomenen in Grammatiken
der Gegenwartssprache und auch der historischen Sprachstufen. In der
neueren Diskussion über die Historische Grammatikschreibung (Loben-
stein-Reichmann/Reichmann 2003) sind zwei Stichwörter gefallen, die für
118 Anna Molnár

zukünftige Grammatikschreiber ausschlaggebend und für das hier behan-


delte Thema relevant sind: Die Bezeichnung problemorientierte Grammatik,
geprägt von Reichmann (2003), und die Konzeption der dynamischen, d. h.
panchronischen und panmedialen, Grammatik von Ágel (2003, 2005). In
dem Dilemma der Grammatiktypen gilt Reichmanns problemorientierte
Grammatik als der Gegensatz zu der sog. Ergebnisgrammatik. Der Unter-
schied zwischen den beiden liegt in der „Gewichtung von historisch-
grammatischen Fragen einerseits und Problembezug anderseits“ (Reich-
mann 2003: XII). Die bisherigen, der junggrammatischen Tradition fol-
genden historischen Grammatiken des Deutschen sind in diesem Sinne
Ergebnisgrammatiken, sie beschreiben das (idealisierte) Sprachsystem der
jeweiligen Periode als Ergebnis einer Entwicklung, nach den Sprachrängen
geordnet und in den überlieferten, festen Kategorien. Eine problemorientierte
historische Grammatik dagegen sollte verschiedene grammatische Probleme
fokussieren, z. B. die Ausdrucksmöglichkeiten bestimmter grammatischer
Inhalte (Temporalität, Modalität, Aspektualität) oder grammatikinterne
Veränderungen (wie z. B. Klitisierung, Auxiliarisierung, Grammatikalisie-
rung usw.). In einer solchen Grammatik ist es vorstellbar, dass man bei-
spielsweise auf dem Problemfeld Modalität auch der Signalisierung der
Sprechereinstellungen ein Kapitel widmet, und in einem solchen Kapitel
könnten Ausdrucksmittel wie epistemische Modalverben oder Modalparti-
keln des Deutschen behandelt werden, soweit diese Problematik für die
jeweilige historische Periode relevant ist.
Die angeführten epistemischen Ausdrucksmittel deuten noch auf ein
weiteres Desiderat Historischer Grammatikschreibung hin: Einstellungsmar-
ker und sprechsprachliche Ausdrucksformen wie epistemisch verwendete Modal-
verben und Modalpartikeln, Diskurspartikeln sowie andere pragmatisch
motivierte Ausdrucksmittel, deren Genese von der Grammatikalisierungs-
forschung bereits rekonstruiert wurde, fehlen in den historischen Gram-
matiken völlig. Diese Außerachtlassung pragmatisch motivierter Sprach-
formen steht im Zeichen einer grammatikographischen Tradition, die
nach der sog. pragmatischen Wende kaum noch haltbar ist. Auch diesem
Mangel Historischer Grammatikschreibung will die von Ágel geprägte
dynamische Grammatiktheorie (2003, 2005), auch in anderer Hinsicht eine
willkommene Neukonzeption der Grammatikschreibung, abhelfen. Dort
wird die Forderung nach einer panchronischen und panmedialen Grammatik
gestellt:
In der Geschichte der Sprachwissenschaft wurde die Wortartenproblematik
bekanntlich unter zahlreichen Perspektiven zu einem sinnvollen Untersuchungs-
objekt gemacht. […] Doch es fehlen zwei bedeutende Perspektivierungen, die zahlreiche
grammatische Probleme, darunter auch die Wortartenproblematik, in ein neues Licht rücken
könnten:
Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik 119

1. die Perspektive eines nicht synchronizistischen, sondern gleichermaßen gegen-


warts- wie geschichtsbezogenen ‚panchronischen‘ Grammatikverständnisses und
2. die Perspektive eines nicht skriptizistischen, sondern das jeweilige historische
Beziehungsgefüge von Mündlichkeit und Schriftlichkeit reflektieren wollenden
‚panmedialen‘ Grammatikverständnisses.
[…] Unser grammatiktheoretischer Apparat ist funktional der Analyse und Bes-
chreibung von Synchronien – genauer: von verschriftlichten Gegenwartssprachen
– angepasst. Ein ‚panchronisches‘ Kategoriensystem existiert erst in Ansätzen. (Ágel 2005:
96; Hervorhebungen A. M.).

In einer panchronisch konzipierten Grammatik, die in dem System auch den


Wandel reflektiert und dadurch den historischen Bezug des jeweiligen
grammatischen Phänomens herstellt, können Phänomene der Grammati-
kalisierung sehr wohl ihren Platz finden. Die panmediale Grundlage einer
solchen Grammatik wiederum würde dafür sorgen, dass auch Phänomene
der Mündlichkeit Eingang in die grammatische Beschreibung finden. Da-
für erforderlich sind allerdings „ganz neue Analyse- und Beschreibungska-
tegorien“ (Ágel 2005: 98), die noch zu schaffen sind und die als Grundlage
für eine neu strukturierte Darstellung des grammatischen Systems gelten
können.
Was unser Grammatikverständnis betrifft, meldet sich die Notwendig-
keit eines Umdenkens an jeder Ecke der linguistischen Forschung. Die am
meisten artikulierte Forderung ist die nach der Einbeziehung gesprochen-
sprachlicher Phänomene in die linguistische Forschung. Als erster Ansatz
zur Integration und Kodifizierung der Grammatik der gesprochenen Spra-
che in die Grammatik der Gegenwartssprache gilt das Kapitel Grammatik
der gesprochenen Sprache (Fiehler 2005) in der neu bearbeiteten 7. Auflage der
Duden-Grammatik (Duden 2005). Diese wurde um eine Grammatik des
Textes und eine Grammatik der gesprochenen Sprache erweitert/vervoll-
ständigt. Allerdings wird der Forscher auch auf dem Gebiet der gespro-
chenen Sprache mit dem Problem der adäquaten Beschreibungskategorien
konfrontiert, weil ein „Kategoriensystem, das […] funktional auf die
gesprochene Sprache zugeschnitten wäre, im Moment nur in Grundzügen
existiert“, wie auch Fiehler (2005: 1178) bekennt. Das Anliegen der Ver-
fasser von Gegenwartsgrammatiken, die Mündlichkeit in die grammatische
Beschreibung zu integrieren, könnte – wenn auch mit Einschränkungen –
einen Anstoß geben für die Historische Grammatikographie. Natürlich ist
es wegen der fehlenden Dokumentiertheit schwieriger, die Sprechsprache
früherer Perioden zu erforschen; dennoch ermöglichen die Ausweitung
der Textgrundlage und die Auswertung neuer Textsorten Rückschlüsse
auf die gesprochene Sprache in früheren Perioden.
Wie deutlich geworden ist, gibt die Grammatikalisierungsforschung
auch Anlass zum Nachdenken über die konzeptionellen Fragen der Histo-
120 Anna Molnár

rischen Grammatikschreibung. Grammatikalisierungsphänomene setzen


ein neues, dynamisches Grammatikverständnis voraus, das auch mit Über-
gangsphänomenen zwischen Lexik und Grammatik etwas anzufangen
weiß und die scharfe Grenze zwischen synchroner und diachroner Sprach-
beschreibung aufhebt. Diewald (2008: 1), die auch eine Neuinterpretation
der grammatischen Bedeutung und der Grammatik vorgelegt hat, plädiert
sogar für einen „grammatikalisierungsaffinen Grammatikbegriff“.

4. Fazit
Die Fragestellung dieses Beitrags wurde inspiriert durch die Beobachtung,
dass die neueren Forschungserträge der theoretischen Lingusitik und da-
mit der Grammatikalisierungsforschung nicht in die historische Sprachbe-
schreibung und Grammatikographie des Deutschen eingehen – und um-
gekehrt auch die Grammatikalisierungsforschung nicht in ausreichendem
Maße von den Forschungserträgen der Historischen Grammatikographie
Gebrauch macht. Die Gründe für die gegenseitige Nichtakzeptanz liegen
(a) in der unterschiedlichen Sprachauffassung und (b) in der unterschied-
lichen Forschungsmethodologie.
Aus der in diesem Beitrag präsentierten – und wohl noch mit weiteren
Daten und Aspekten zu ergänzenden – Bestandsaufnahme über die gegen-
wärtige Situation ergeben sich aber bereits Konsequenzen, die für beide
Bereiche aufschlussreich sind.

Für die Grammatikalisierungsforschung gilt:


(a) Die Thesen der Grammatikalisierungstheorie sollten an sprachhis-
torischen Belegen getestet werden, die Erklärungen und Ablei-
tungen konkreter Grammatikalisierungsfälle sprachhistorisch ad-
äquat sein.
(b) Der Grammatikalisierungsforscher soll genügend sprachhistori-
sche Kompetenz aufweisen.

Für die Historische Grammatikographie gilt:


(a) Sie ist im Grunde bis heute der junggrammatischen Tradition
verhaftet – mit traditioneller Anlage, statischer Sprachauffassung
und scharf voneinander getrennten Kategorien. Diese Darstel-
lungsweise ist nicht geeignet, um Grammatikalisierungsphäno-
mene, die ja gerade die sprachlichen Übergänge verkörpern, zu
integrieren.
(b) Behoben werden können diese traditionellen Mängel nur durch
einen weiter gefassten Grammatikbegriff und eine Neukon-
Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik 121

zeption der Historischen Grammatikographie. Diese Neukon-


zeption soll
– auf einer dynamischen Sprachauffassung beruhen;
– nicht nur ergebnis-, sondern auch problemorientiert sein;
– außerdem – soweit es die Beleglage ermöglicht – auch die
Sprachformen der Mündlichkeit und
– pragmatisch motivierte Ausdrucksformen wie z. B. die
der Sprechereinstellung in die Grammatik integrieren.
– Zu einer so konzipierten historischen Beschreibung des
Sprachsystems sollen neue, adäquate Beschreibungskate-
gorien ausgearbeitet werden.

Im Lichte dieser Erwartungen sollten die Forschenden beider Disziplinen


mehr Offenheit gegenüber den Ergebnissen der jeweils anderen zeigen.
Der reflektierte Austausch zwischen Grammatikalisierungsforschung und
Historischer Grammatikschreibung würde nämlich viel dazu beitragen,
dass die Historische Grammatikographie problemorientierter und theorie-
freundlicher, die Grammatikalisierungsforschung auf diachroner Ebene
authentischer betrieben wird. Die Ergebnisse der Grammatikalisierungs-
forschung können zusammen mit weiteren Erkenntnissen der theore-
tischen Linguistik die theoretische Bereicherung und die längst aktuelle
konzeptionelle Erneuerung der historischen Sprachbeschreibung fördern.

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124 Anna Molnár


Richard J. Watts

Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache?


Eine neue Optik auf die Historische Linguistik

1. Eine Anekdote aus der englischen Sprachgeschichte


Ich fange diesen Beitrag mit einer kurzen ‚Anekdote‘ aus der englischen
Sprachgeschichte an. Die Entstehung des altenglischen Epos Beowulf wird
üblicherweise irgendwo zwischen dem 8. und dem 10. Jh. datiert.1 Es wird
auch traditionell angenommen, dass das bestehende Manuskript mehrmals
abgeschrieben wurde, in verschiedenen dialektalen Varietäten des Alteng-
lischen. Diese Annahme, oder eher Spekulation, stellt die kanonische
‚Wahrheit‘ der Entstehung des Beowulf dar, obwohl es jedem Forscher
während der ganzen Rezeptionsgeschichte seit dem 17. Jh. bewusst war,
dass es nur ein Manuskript (im Manuskriptkodex Cotton Vitellius A xv)
gab. Anglisten hatten sogar großes Glück, dass beim Brand im Ashburton
House gegen Ende Oktober 1731 Cotton Vitellius A xv auf den Rasen hi-
nausgeworfen wurde, immer noch intakt trotz leichter bis mittelschwerer
Brandschäden an allen Rändern. Seit dem Aufkeimen des regen Interesses
am Beowulf nach John Mitchell Kembles Übersetzung im Jahre 1837 ist
aber allgemein angenommen worden, dass das gerettete Manuskript den
Endpunkt einer Reihe von Beowulf-Manuskripten darstellt. In der Zwi-
schenzeit sind aber keine weiteren Exemplare zum Vorschein gekommen,
und Kers (1957) Datierung von altenglischen Manuskripten stellt eine re-
lativ breite Zeitspanne von 50 Jahren (von 975 bis 1025) als mögliche Ent-
stehungszeit des Beowulf-Manuskriptes in Cotton Vitellius A xv fest. Die
‚Geschichte‘ der langen Überlieferung des Beowulf wurde aber in den Ka-
non der philologischen Beschreibung der Geschichte des Englischen auf-
genommen, ohne ernsthaft hinterfragt zu werden, bis Kiernan (1981) eine

1 Manche sind sogar bis ins 7. Jh. zurückgegangen, andere hingegen – mit etwas größerer
Vorsicht – haben das 9. Jh. als Entstehungspunkt bestimmt. Bisher hat niemand außer
Kington-Oliphant (1878) die kühne These gewagt, den Entstehungspunkt des Beowulf im
5. Jh. zu bestimmen: „The old Epic, written on the mainland, sets before us the doughty
deeds of an Englishman, before his tribe had come to Britain.“
126 Richard J. Watts

peinlich genaue Untersuchung des Manuskripts unternahm und damit den


Kanon selber in Frage stellte. Es soll hier auf die Einzelheiten von Kiern-
ans Analyse verzichtet werden (vgl. hierzu Watts 2011, Kap. 2). Im Gro-
ßen und Ganzen aber schlug er die auch von mir verfochtene Gegenthese
vor,

1. dass das Manuskript das einzige war,


2. dass der ältere der beiden Schreiber, B, das Beowulf-Manuskript als sein
höchst persönliches ‚Projekt‘ behandelte, und
3. dass Schreiber B mindestens die Geschichte von Beowulfs Heimkehr
nach seinen Abenteuern in Dänemark selber schrieb, um die Ge-
schichte des jungen Beowulfs am Hof des dänischen Königs Hrothgar
mit der Geschichte des vom älteren Beowulf verlorenen Kampfes ge-
gen den Drachen zu verbinden.2

Verfechter einer früheren Datierung des Beowulf-Epos bleiben aber hart-


näckig (vgl. die Beiträge in Chase 1997), was, im Lichte der neuen kodiko-
logischen und paläographischen Beweisstücke, die Kiernan und andere
Forscher gegen die These der frühen Datierung aufgeführt haben, unwei-
gerlich zu den folgenden drei Fragen führt:

1. Wie ist es möglich, dass die Argumente für eine spätere Datierung des
Beowulf am Anfang des 11. Jh. immer noch abgelehnt werden?
2. Was geht durch die Akzeptanz dieser durchaus plausiblen Erklärung
verloren?
3. Was sind die Konsequenzen für die Zukunft der Geschichte der engli-
schen Sprache, wenn neue, gut fundierte Thesen in philologischen
Kreisen nicht angenommen werden?

Im vorliegenden Beitrag wird die These aufgestellt, dass in der Anglistik


die Sprachgeschichte eine spezifisch englische ist, die aus einer allgemeinen
Theorie der Geschichte von sprachlichen Varietäten, also einer Auffas-
sung der Spachgeschichte als permanente Wandlung eines jeweiligen
Sprachsystems, so gut wie nichts gemeinsam hat. Im Gegenteil strebt sich
eine solche Sprachgeschichte teleologisch nach einer vollständig homoge-
nen Sprache, die es in Wirklichkeit nie geben kann. Falls aber an dieser
Stelle der Eindruck erweckt wird, dass es sich hier nur um die englische

2 Der Kern dieses Arguments beruht in der jetzt fast sicheren Tatsache, dass Folio 179 des
Manuskripts ein Palimpsest ist, der vom Schreiber B ca. 10 Jahre nach der ersten Nieder-
schrift angefertigt wurde (für Einzelheiten vgl. Kiernan (1996) und Watts (2010: Kapitel 2;
vgl. auch Westphalen 1967).
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 127

Sprachgeschichte handelt, sei auf zwei aktuelle Forschungsansätze kurz


hingewiesen. Das folgende Zitat stammt von Klaus J. Mattheier (2010):
The concept of a ‘national language history’ has dominated the view of what his-
torical linguistics should be concerned with in relation to virtually all European
languages, and continues to do so today. The theoretical starting point of this
view – which at the very least needs to be seriously questioned – is the thesis that
the ‘standard’ language is the genuine teleological goal of any historical language
development. And the path trodden by a speech community in developing a
standard language, a unifying language, a literary language, at the same time repre-
sents the central content of language history. Most German language histories,
but also the histories of other languages, are constructed along these lines. They
represent a section of the historical journey, or even the whole journey, of a lan-
guage towards a normed and unified standard form. (Mattheier 2010: 353f.)

In ihrer Analyse der heutigen Destandardisierungsprozesse im isiXhosa,


einer südafrikanischen indigenen Sprache, klassifizert Deumert jede
Sprachstandardisierung nach Beck/Willms (2004) als eine „zombie cate-
gory“:
Beck [(2002: 24)] takes the zombie category seriously as a heuristic and lists three
defining principles: (a) territorial bias (methodological nationalism), (b) collective
bias, and (c) teleological bias (‘west is best’ as the guiding principle of moderniza-
tion, as opposed to seeing social development as open-ended). Standard lan-
guages with their close association to nation states, collective (national, class)
identities and teleological histories provide a close fit. And like other zombie cat-
egories the standard language haunts the minds of speakers (and those linguists
who believe in languages as unitary, well-defined and countable objects) […].
(Deumert 2010: 259)

Mit dem Ausdruck „Zombie“-Kategorie versteht Deumert einen sozialen


Begriff, der immer noch benutzt wird, aber dessen ursprünglicher Sinn
schon längst verloren gegangen ist.3 Antworten auf die oben offengelasse-
nen Fragen zum Thema Beowulf werden am Schluss dieses Beitrags gege-
ben und sie legen Zeugnis davon ab, dass der Widerstand gegen neue
Interpretationen der Entstehungsgeschichte des Epos einen Teil der
„Zombie“-Kategorie „Standardenglisch“ darstellt.
Im 2. Abschnitt wird die Entstehung der modernen Auffassung der
Geschichtswissenschaft im frühen 19. Jh. mit der Entstehung der moder-
nen Sprachwissenschaft verglichen. Daraus wird klar, dass die Anfänge
der modernen Sprachwissenschaft als Teil der dominanten Auffassung der

3 Der Begriff wird immer noch benutzt, entweder aus nostalgischen Hoffnungen, den Inhalt
des Begriffs auf irgendeine Art wieder herzustellen oder einfach weil die Benutzer nicht ge-
merkt haben, dass sich der soziale (hier soziolinguistische) Kontext, in dem der Begriff
entstanden ist, jetzt wesentlich geändert hat.
128 Richard J. Watts

Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jh. zu verstehen ist.


Der 3. Abschnitt bietet aus dem breiten Spektrum der Kognitiven Linguis-
tik eine kurze Zusammenfassung der Theorie der konzeptuellen Meta-
phern (CMT) und der Theorie des „cognitive blending“ (CBT) an, um die
verblüffenden Ähnlichkeiten bei der Konzeptualisierung des Begriffs „Na-
tionalstaat“ und Sprache aufzuzeigen. Anhand der konzeptuellen Meta-
phorisierung werden Aussagen über Sprache generiert, die als der Stoff
von Sprachmythen dienen. Im 4. Abschnitt wird gezeigt, dass Sprachmy-
then dann benutzt werden, um dominante, hegemoniale Diskurse über
Sprache und Sprachgeschichte zu bilden, die bis heute maßgeblich an der
Steuerung von kanonischen Auffassungen der Geschichte verschiedener
Sprachen beteiligt sind. In diesem Abschnitt wird diese These an einigen
Ausschnitten aus Büchern kritisch belegt, die in der letzten Hälfte des
19. Jh. die Geschichte des Englischen behandeln. Der Abschnitt schließt
mit dem Argument, dass solche hegemoniale Sprachdiskurse zu Archiven
(oder Diskursarchiven) im Sinne von Foucault werden können, die das,
was in der Historischen Linguistik gesagt werden darf, geregelt wird. Der
5. Abschnitt kehrt zur CBT zurück, um zu beweisen, dass menschliche
Sprache mit ihrer ganzen Heterogeneität, Variabilität und Kreativität im
Zentrum der Historischen Linguistik anstelle des Begriffs „Sprache X“
stehen soll. Ich schließe im 6. Abschnitt mit einem neuen, eher etwas sub-
versiven Ansatz zur Erforschung des geschichtlichen Aspekts der
menschlichen Sprache. Es wird dort argumentiert, dass historische Lingu-
isten eine Pflicht haben, die Diskursarchive, in denen sie arbeiten, genauer
zu hinterfragen, und die Verbindung des Nationalstaats mit der Stan-
dardsprache als überholt, wenn nicht gerade gefährlich, zu beurteilen.

2. Die Entstehung der Disziplin


„Geschichtswissenschaft“ im frühen 19. Jahrhundert
und ihre Beziehung zur „Sprachwissenschaft“
Es ist wohl allgemein bekannt, dass die Anfänge der Linguistik als moder-
ne, wissenschaftliche Disziplin am Anfang des 19. Jh. in Arbeiten von
Franz Bopp, Jacob und Wilhelm Grimm, Rasmus Rask, Friedrich Schle-
gel, Georges Cuvier u. a. m. (vgl. Lehmann 1992) liegen. Während dieser
Zeit sind aber auch die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft
anzusetzen, und es war wohl kein Zufall, dass sich beide Wissenschaften
im frühen 19. Jh. gegenseitig beeinflussten. Verknüpfendes Element bei
dieser gegenseitigen Beeinflussung war das Aufkeimen des Begriffs des
Nationalstaates, wie aus Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nati-
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 129

on (1808) ersichtlich wird. Fichte bezog sich geschichtlich auf ein idealisiertes
Bild des Heiligen Römischen Reichs und sprachlich auf die postulierte Rein-
heit der deutschen Sprache, um für die Schaffung eines geeinten deut-
schen Nationalstaates zu plädieren.
Kernpunkt des Nationalstaatenbegriffs war das Streben nach Homo-
genität, das einen teleologischen Endpunkt der Vollkommenheit als Ziel
der Gesellschaft setzte. Wie aber Hegel bemerkte, wäre der Endpunkt der
Geschichte auf eine Zusammenschmelzung der gegensätzlichen Weltan-
schauungen und Lebensformen auf eine bestimmte Lebensform gerichtet,
die gewaltsame Konflikte überwinden soll. Das Streben nach der Voll-
kommenheit eines Nationalstaates müsste aber unweigerlich in Konflikten
mit anderen enden, daher das Paradoxon des Begriffs „Nationalstaat“.
Ziel des Nationalstaates war also das Erreichen einer homogenen politi-
schen Organisation in einem homogen fassbaren Territorium. Als ge-
wünschte Werkzeuge zum Erreichen dieses Ziels wurden eine homogene
und legitimierte Nationalsprache und eine homogene Staatsreligion postu-
liert, mittels derer eine „wahre“, homogene Geschichte des Staates errich-
tet werden sollte.
Vom historischen und sprachwissenschaftlichen Standpunkt her gese-
hen gilt es aber aus unserer heutigen Sicht folgende Fragen zu beantwor-
ten:
(1) Was bedeutet in diesem Kontext eine homogene Geschichte?
(2) Was bedeutet eine Sprache?
(3) Was bedeutet eine Nationalsprache?
(4) Was bedeutet eine homogene Nationalsprache?
Allgemeines Ziel dieses Beitrags ist es, die Fragen (2–4) zu beantworten,
die zur „Zombie“-Kategorie „Nationalsprache“ oder „Standardsprache“
gehören. Um an den Kern der ersten Frage zu gelangen, beziehe ich mich
auf einen der bekanntesten und produktivsten französischen Historiker
der ersten Hälfte des 19. Jh., Jules Michelet. In den Jahren zwischen 1820
und 1823 schrieb Michelet als junger Mann eine Art Tagebuch, in dem er
seine Reisen durch Europa und seine Ideen und Eindrücke aufschrieb.
Nach seinem Tod im Jahre 1874 ließ seine Witwe diese Schriften nicht
freigeben, und sie konnten erst 1959 von Paul Viallaneix veröffentlicht
werden. Auf S. 293 steht Folgendes:4
Der individuelle Mensch erscheint einen Augenblick lang, bindet sich am gemeinsa-
men Denken und stirbt; aber die Spezies, die nicht stirbt, sammelt die endlose
Frucht seines vergänglichen Daseins. Auf diese Weise einigt eine immense Kette
von Entdeckungen und guten Taten alle Zeitalter. Währenddem Generationen

4 Ich habe den Text ins Deutsche übersetzt und trage die volle Verantwortung für irgend-
welche Fehler.
130 Richard J. Watts

verschwinden und Rassen aussterben, lebt der gemeinsame Gedanke weiter. Immer der
gleiche, immer größer und immer in tausend verschiedenen Formen enthält dieser
Gedanke die Identität der Menschheit, wie Gedächtnis und Bewusstsein die Identität des Indi-
viduums enthalten. (Michelet 1959: 293; meine Hervorhebungen)

Das vergängliche Individuum wird in der Spezies „Mensch“ enthalten. Es


„bindet sich am gemeinsamen Denken“, das als „Frucht“ einer endlosen
Kette von vergänglichen Dasein konzipiert wird. Michelet stellt sich vor,
dass der gemeinsame Gedanke „immer der gleiche“ bleibt und dass die
Identität der ganzen Menschheit im gemeinsamen Gedanken wie die Iden-
tität jedes einzelnen Menschen in seinem Gedächtnis und Bewusstsein
enthalten ist. Der individuelle Mensch erinnert sich aber nur an die Ereig-
nisse seines Lebens.
Michelets Auffassung der Geschichte zielt also auf die Verkörperung
des gemeinsamen Gedankens der Menschheit, um dem individuellen Men-
schen ein erweitertes Bewusstsein dessen zu erschaffen, was vor seinem
eigenen Leben geschehen war. Und in diesem Sinne wird der gemeinsame
Gedanke zum Überbegriff, den Michelet in seinen späteren Schriften als
den französischen Nationalstaat versteht. Kippur fasst diese Entwicklung
wie folgt zusammen:
As Michelet moved towards writing the history of France, so, too, did his unit of
historical discourse narrow from humanity to France. […] the progress of hu-
manity became virtually synonymous with the course of modern French history.
(Kippur 1981: 43)

Kippur beschreibt Michelets Auffassung des höchsten Lebensziels jedes


individuellen Menschen in den Ecrits de jeunesse als die Pflicht
[…] to unify himself not only with his own historical epoch, but with all past his-
tory. Since personal knowledge and worth derived from fulfilling this duty, mo-
rality itself became dependent upon the degree of harmony each individual
achieved with the history of humanity. […] Isolated men, removed from the
heartbeat of humanity, were without history, without meaning, and probably
without morality. (Kippur 1981: 31)

Für Michelet waren die Regeln und Gesetze der Geschichte buchstäblich
in Sprachen, Gewohnheiten und Ideen verkörpert und hatten dadurch das
Wesen und die universelle Natur der Nationalstaaten bestimmt. Ähnliche
Gedanken sind in Edward Gibbons The History of the Decline and Fall of the
Roman Empire, vol. 1 (1776) und Mme. de Staëls De l’Allemagne (1813) zu
finden. Was bei Michelet auffällt, ist eine Metaphorik, die konzeptuell be-
gründet ist und einer im 19. und 20. Jh. durchdringenden, kognitiven
Konzeptualisierung des Nationalstaates wie auch der Sprache zugrunde
liegt. Eine Sprache/ein Nationalstaat wird nicht mit nur einem menschli-
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 131

chen Körper, sondern auch mit einem Menschen schlechthin mit all sei-
nen geistigen und moralischen Eigenschaften verglichen und, weil eine
konzeptuelle Metapher fürs Verständnis des Abstrakten wesentlich ist,
auch genau so verstanden. Die Metapher wird somit zur Wirklichkeit. Der
Begriff „konzeptuelle Metapher“ und die im 19. wie auch im 20. Jh. ge-
bräuchlichen konzeptuellen Metaphern für eine Sprache/einen National-
staat werden im folgenden Abschnitt dargelegt.

3. Kognitive Metaphern des Nationalstaates und der Sprache


Um abstrakte Begriffe zu konzeptualisieren, sind wir gezwungen, auf fun-
damentale körperliche Erfahrungen zurückzugreifen, die wir in der ersten
vorsprachlichen Phase unseres Lebens gemacht haben. Aus unseren ersten
Erfahrungen mit dem eigenen Körper und dem jeweiligen physikalischen
Kontext, in dem wir uns befinden, bilden wir sogenannte „Image- und
Aktionsschemata“, Aktionsrahmen und Handlungsskripte als Teile un-
serer Kognition, die selbstverständlich durch ständige Kontakte zu ande-
ren Menschen sozial und kulturell gesteuert sind. Erst nach Erwerb der
menschlichen Sprache sind wir in der Lage, Konzeptualisierungen von ab-
strakten Begriffen zu konstruieren und diese werden nochmals vom
Sprachgebrauch anderer Menschen gesteuert. Weil diese Konzeptualisie-
rungen auf den schon gespeicherten Netzwerken unserer Kognition und
dem Filtereffekt der jeweiligen Sprache beruhen, wird hier von „konzeptu-
ellen Metaphern“ gesprochen.
In den späten 70er und frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts
wurde von Forschern wie George Lakoff, Mark Johnson, Mark Turner,
Zoltán Kövecses, Rafael Núñez u. a. m. die Theorie der konzeptuellen
Metaphern (Cognitive Metaphor Theory/CMT) entwickelt, die einen neu-
en philosophischen Blick auf Prozesse des Wissens und Verstehens im
Gegensatz zu rationalistisch-essentialistischen Erklärungen bietet. Um sol-
che metaphorischen Prozesse besser zu schildern, wende ich mich auch
einem etwas später von Gilles Fauconnier und Mark Turner (2002) entwi-
ckelten Ansatz in der Kognitiven Linguistik zu, der „Cognitive Blending
Theory“ (CBT). Der zugrundeliegende Begriff der CBT ist der des „men-
tal space“ (‚mentaler Raum‘), den Fauconnier und Turner wie folgt be-
schreiben:
Mental spaces are small conceptual packets constructed as we think and talk, for
purposes of local understanding and action […]. [They] are connected to long-
term schematic knowledge called “frames” […]. Mental spaces are very partial.
They contain elements and are typically structured by frames. They are intercon-
nected, and can be modified as thought and discourse unfold. Mental spaces can
132 Richard J. Watts

be used generally to model dynamic mappings in thought and language. (Faucon-


nier/Turner 2002: 40)

Mentale Räume werden im Verlauf der entstehenden sozialen Interaktion


konstruiert und verwendet, worauf sie normalerweise nachher gelöscht
werden. Einige aber werden ins Langzeitgedächtnis hinübergetragen, wo
sie in bestehende Netzwerke eingefügt werden. Ein solcher Transfer be-
dingt immer eine gewisse Reorganisation der vorhandenen Schemata,
Rahmen und Aktionsskripte. Sie werden also mit anderen schon vorhan-
denen Konzepten zusammengeschmolzen (‚blended‘). Folgende zwei
Punkte sind hier zu bemerken:

1. Mentale Räume im Verstehensprozess, der in winzigen Bruchteilen


von Sekunden stattfindet, bleiben fast immer unterhalb der Bewusst-
seinsschwelle, wie ebenfalls die schon vorhandenen Rahmen und
Skripten, aus denen Elemente beim Verstehensprozess herangezogen
werden.
2. Linguistische Äußerungen schaffen auch mentale Räume, die verstan-
den werden müssen.

Da abstrakte, in linguistischen Äußerungen erscheinende Begriffe durch


den Prozess des „blending“ begriffen werden, handelt es sich zunächst um
Verschnitte (‚blends‘), die bereits gespeicherte Begriffe aus den Rahmen
und Skripten der Kognition in einen leeren mentalen Raum projizieren.
Greifen wir nun den Begriff des „Nationalstaates“ auf, so ergibt sich eine
Projektion aus mindestens zwei verschiedenen Rahmen, aus demjenigen
des Menschen und demjenigen eines Behälters (vgl. die Hervorhebungen,
die beim obigen Zitat aus Michelets Ecrits de Jeunesse gemacht wurden). Der
leere mentale Raum wird durch die metaphorische Projektion aus diesen
schon gespeicherten Rahmen gefüllt, so dass jede Äußerung, die den abs-
trakten Begriff enthält, den Inhalt der metaphorischen Projektion im Ver-
schnitt anregt. Die Bedeutung eines Begriffs wie „Nationalstaat“ oder
„Sprache“ wird also aus diesem Verschnitt konstruiert. Dies kann darge-
stellt werden wie folgt:
Abb. 1 (S. 133) stellt zwei verwandte Prozesse dar: X die Entstehung
einer kognitiven Metapher als Verständnis der vom Lexem Nationalstaat
angeregten Bedeutung und deren Einbettung als kognitiver Rahmen im
Langzeitgedächtnis; Y der Prozess des Verstehens, wenn das Lexem Nati-
onalstaat im diskursiven Kontext verwendet wird. Der zu konzeptualisie-
rende Begriff wird in den Verschnitt projiziert wie auch gewisse Eigen-
schaften des „Mensch-Seins“ (aber sicher nicht alle) aus dem kognitiven
Rahmen MENSCH. Im Verschnitt (‚blended space‘) bedeutet der Kasten
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 133

einen neu konstruierten mentalen Raum, der in der jeweiligen interaktiven


Situation operationalisiert werden kann5 und/oder gespeichert und einge-
bettet wird im Langzeitgedächtnis. Bei Michelet finden wir eine zweite
Stufe der konzeptuellen Metapher, in der eine schon vorhandene konzep-
tuelle Metapher DER MENSCH IST EIN BEHÄLTER auch in den Verschnitt
projiziert wird.


● x (wo x = der neu zu
Nationalstaat ● konzeptualisierende
Begriff „Nationalstaat“)

Mentaler Raum 2: neu zu


Mentaler Raum 1:  definierender Begriff
Äußerung 

●x
 ● MENSCH
KOGNITIVER RAHMEN: ● DER NATIONALSTAAT
MENSCH ● IST EIN MENSCH


Mentaler Raum 3 = Verschnitt


KOGNITIVER RAHMEN: kognitive Metapher
NATIONALSTAAT ●

Abb. 1: Konstruktion der kognitiven Metapher DER NATIONALSTAAT IST EIN MENSCH
und eines neuen kognitiven Rahmens NATIONALSTAAT

Wenn konzeptuelle Metaphern wie diese im soziokommunikativen, dis-


kursiven Kontext aktiviert werden, führen sie fast automatisch zu einer
großen Vielfalt von Aussagen, die für den Benutzer als „wahr“ gelten. Im
Falle des Begriffs NATIONALSTAAT sind folgende durchaus möglich:

<ein Nationalstaat wird geboren> <ein Nationalstaat stirbt>


<ein Nationalstaat erreicht Reife> <ein Nationalstaat hat einen Charak-
ter>
<ein Nationstaat kann von sich aus handeln>
<ein Nationalstaat gewinnt/verliert Würde>
usw.6

5 Fauconnier und Turner (2002) bezeichnen diesen Prozess als „running the blend“.
6 Es darf hier daran erinnert werden, dass Ronald Reagan in den 80er Jahren des letzten
Jahrhunderts den Begriff „Schurkenstaat“ gebrauchte, der im Diskurs von George W.
Bush im jetzigen Jahrzehnt als Bezeichnung von Nationalstaaten wie Nordkorea, Irak und
Iran wieder erschien.
134 Richard J. Watts

Bezeichnenderweise werden ähnliche konzeptuelle Metaphern verwendet,


um den abstrakten Begriff „Sprache“ zu konzeptualisieren, so dass eine
Fülle von Aussagen aus dem kognitiven Rahmen MENSCH auch hier zu
finden ist:

<Sprache X wird geboren> <Sprache X stirbt>


<Sprache X ist schön> <Sprache X ist würdig>
<Sprache X ist krank> <Sprache X ist barbarisch>
<Sprache X ist primitiv> <Sprache X ist legitim>
<Sprache X ist höflich> <Sprache X ist wieder auferstanden>
usw.

Drei Einschränkungen müssen aber an dieser Stelle gemacht werden. Ers-


tens: Wie im letzten Abschnitt erwähnt, werden der konzeptuellen Meta-
pher der Sprache ebenso häufig geistig/moralische wie auch körperliche
Eigenschaften des Menschen entnommen und in Aussagen verwendet.
Zweitens, einige menschliche Eigenschaften werden kaum in Verbindung
mit Sprachen gebracht, so dass Aussagen wie „Sprache X ist unterernährt“
oder „Sprache X ist blond“ kaum anzutreffen sind. Die dritte Einschrän-
kung ist für die Weiterentwicklung des hier aufgeführten Arguments von
eminenter Bedeutung, d. h. die Rede ist immer von einer Sprache und nie
von Sprache an sich (m. a. W. menschlicher Sprache). Dies ist eine Konse-
quenz der engen Verbindung zwischen der Konzeptualisierung eines Na-
tionalstaates und derjenigen einer Nationalsprache, wie aus Michelets
Werk ganz klar ersichtlich wird. Dieser dritte Punkt wird den Rest dieses
Beitrags ganz klar bestimmen.
Bevor die Verknüpfungen zwischen konzeptuellen Metaphern und da-
raus entstehenden Aussagen auf der einen Seite und der diskursiven Ent-
stehung von Sprachmythen (und auch Mythen des Nationalstaates) auf
der anderen zur Sprache kommen, sollen hier drei weitere konzeptuelle
Metaphern kurz aufgeführt werden, die im 19. Jh. als Grundlage für die
Bildung von Sprachmythen verwendet wurden. Es sind dies die Metapher
der Sprache als Mitglied einer Familie – SPRACHE X IST MITGLIED EINER
SPRACHFAMILIE –, die natürlich direkt aus der Metapher SPRACHE X IST
EIN MENSCH abgeleitet wird, die Metapher der Sprache als eine Pflanze –
SPRACHE X IST EINE PFLANZE – und die Metapher der Sprache als eine
geologische Formation – SPRACHE X IST EINE GEOLOGISCHE FORMA-
TION.
Aus der ersten Metapher entstehen Aussagen wie:

– <Sprachen sind verwandt/nicht verwandt>


– <Sprache X gehört einem genealogischen Stammbaum>
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 135

– <Sprache X erbt Merkmale von Sprache Y>


– <Sprache X ist die Mutter von Sprache Y>
usw.

Die zweite konzeptuelle Metapher ergibt Aussagen wie die folgenden:

– <Sprache X blüht auf>


– <Sprache X ist gestutzt worden>
– <Sprache X entspringt dem gleichen Keim wie Sprache Y>
usw.

Aussagen wie die folgenden könnten mindestens im 19. Jh. aus der dritten
konzeptuellen Metapher erscheinen:

– <Sprache X ist aus dem gleichen Sediment entstanden wie


SpracheY>
– < Merkmal z in Sprache X ist das Fossil aus einem früheren Zeitalter>
usw.

Im Falle dieser metaphorischen Quelle für Aussagen über Sprachen muss


klar festgehalten werden, dass diese Metapher aus anderen konzeptuellen
Metaphern konstruiert ist, im 19. Jh. infolge des regen Interesses an der
Geologie entstand und heutzutage kaum aufzufinden wäre.

4. Sprachmythen und ihre Verwendung


beim Aufbau von hegemonialen Diskursen
über die englische Standardsprache
Die aus konzeptuellen Metaphern stammenden Aussagen werden diskur-
siv verwendet und liefern somit den potentiellen Inhalt von narrativen
Texten.7 Genau an dieser Stelle setzt die Wichtigkeit des Mythosbegriffs
ein. Das griechische Wort ƬƽƨƯƲ bedeutet ‚Geschichte‘ und bezieht sich auf
das menschliche Bedürfnis, Gegenstände, Ereignisse, Glauben und Erklä-
rungen narrativ ins Leben zu rufen. In der heutigen Welt fristet das deut-
sche Lexem Mythos eine Art zweifelhafter Existenz. Wenn von „Mythen“
die Rede ist, besteht eine Tendenz, sie mit Unwahrheiten gleichzusetzen,

7 Der Begriff „Text“ an dieser Stelle soll möglichst breit verstanden werden. Dazu gehören
nicht nur diskursive Sequenzen in der Form von schriftlicher Sprache, sondern auch
mündliche Sequenzen wie auch Kommunikationsbeiträge aus einer ganzen Reihe von se-
miotischen Systemen: Musik, Gesten, Zeichnen, Malerei, Mimik, u. a. m.
136 Richard J. Watts

obwohl man sich davor hüten sollte, sie als bewusste Lügen zu verstehen.
Sie sind in ihrem Wesen fiktive Artefakte, die einen größeren oder kleine-
ren Kern von Wahrheit besitzen, und sie werden nicht mit der Absicht
erzählt, den Zuhörer irrezuführen.
Mythen sind die narrativen Erklärungen, an die eine Gemeinschaft
glaubt und glauben muss, um die Komplexität der Welt zu verstehen, in
der sie lebt, und sie werden nicht selten als Teil einer langen kulturellen
Tradition geehrt. Ähnlich wie im Falle von bekannten Volkstraditionen ist
es kaum möglich, einen Urerzähler zu identifizieren, was dazu führt, dass
ein Mythos nicht als persönliches, individuelles Narrativ verstanden wer-
den kann. Im Gegenteil wird er jedem Mitglied einer Gemeinschaft sozial
im Laufe der Interaktion mit anderen und kulturell durch eine institutio-
nelle Überlieferung von Generation zu Generation weitergereicht. Im
Laufe dieser Überlieferung wird der Mythos zum „Eigentum“ der Ge-
meinschaft, indem er wiederholt durch Zuhören, Aufnehmen und Nach-
erzählen in sozialen Institutionen wie Familie, Schule, Kirche, Medien,
Politik, u. a. m. legitimiert wird. Auf diese Art und Weise können Mythen
auch zu wichtigen Bestandteilen von dominanten Diskursen werden. Kog-
nitiv gesehen liefern sie eine narrative, kulturelle Einbettung von Glauben,
die es einem ermöglichen, eine feste Basis zu konstruieren, worauf Iden-
titätsakte in entstehender sozialer Praxis ausgeführt werden können. Der
Hauptgrund für das Weiterexistieren von Mythen kann somit wie folgt
erklärt werden: „[they] fulfil a vital function in explaining, justifying and
ratifying present behaviour by the narrated events of the past“ (Watts
2000: 33).
Das Zweifeln an einem Mythos kann als ketzerischer Akt verstanden
werden, da die „objektive“ Wahrheit eines Mythos letzten Endes nicht re-
levant ist, solange an ihn als Bestandteil einer Gemeinschaft fest geglaubt
wird.
Sprachmythen sind also im Laufe der Zeit in einer Gemeinschaft ent-
standene und verbreitete Geschichten
[…] about the structure of language and/or the functional uses to which language
is put. […] The beliefs have formed part of [a] community’s overall set of beliefs
and the life-styles that have evolved on the basis of those beliefs for so long that
their origins seem to have been obscured or forgotten. They are thus sociocultur-
ally reproduced as constituting a set of “true” precepts in what appears to the
community to be a logically coherent system. (Watts 1999: 68)

Wenn solche Mythen in die diskursiven Glaubensstrukturen einer Ge-


meinschaft aufgenommen werden und damit als eine „objektiv“ wahre Er-
klärungsgrundlage für sprachliche Angelegenheiten gelten, die durch die
sozialen Institutionen der Gemeinschaft verbreitet werden, werden sie zu
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 137

wichtigen Bausteinen eines hegemonialen Diskurses über die Sprachvarie-


tät(en) der Gemeinschaft. Die Hauptthese dieses Beitrags besteht darin,
dass die Verschmelzung der Sprachwissenschaft und der Geschichtswis-
senschaft während der ersten Hälfte des 19. Jh. durch die Konzeptualisie-
rung des Begriffs „Nationalstaat“ zu einem solchen hegemonialen Diskurs
führte. Ziel dieses Diskurses war es, einen homogenen Nationalstaat
durch eine legitimierte, homogene Nationalsprache zu konstruieren. Um
die Homogenität der Nationalsprache zu erreichen, mussten Prozesse der
Standardisierung rigoros durchgeführt und alle anderen Sprachvarietäten
strikt ausgeschlossen werden. Dieses Ziel hatte aber einen ganz wichtigen
und von den staatlichen Institutionen immer wieder verleugneten Haken:
Sprachen leben von der Heterogenität und vom Wandel und können nie
in der Homogenität oder einer vermeintlichen Perfektion existieren.
Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts werden jetzt einige Ausschnitte
aus englischen Fachbüchern zu den Themen „englische Sprache“ und
„Geschichte der englischen Sprache“ in der zweiten Hälfte des 19. Jh. vor-
gestellt und kritisch kommentiert. Angefangen wird mit einem einflussrei-
chen kleinen Buch von Richard Chevenix Trench mit dem Titel English
Past and Present: Eight Lectures (1855). Auf S. 11 beschäftigt sich Trench mit
dem Verschwinden des Konjunktiv Präsens aus dem Englischen:
One who now says, “If he call, tell him I am out” … is seeking to detain a mood,
or rather the sign of a mood, which the language is determined to get rid of. (Trench
1855: 11)8

Die ‚Geschichte‘, die Trench an dieser Stelle erfindet, um die archaische


Natur des Konjunktiv Präsens im Englischen zu unterstreichen, betrifft
einen Sprecher, der den Konjunktiv-Modus unbedingt behalten will und
eine personifizierte Sprache, die die feste Absicht hat, diese Struktur ver-
schwinden zu lassen. Grundlage der Geschichte ist die konzeptuelle Me-
tapher DIE SPRACHE ENGLISCH IST EIN MENSCH, und die aus dieser Me-
tapher entstandenen Aussagen sind <eine Sprache ist ein potentieller
Agent> und <eine Sprache ist kreativ>. Der Mythos, der hier durch-
schimmert, ist „der Mythos der legitimen Sprache“ (vgl. Watts 2011,
Kap. 9), der aus dem „Mythos der höflichen Sprache“ im 18. Jh. transfor-
miert worden ist und jetzt als Teil des hegemonialen Diskurses der Stan-
dardsprache oder der Nationalsprache dient.9

8 Sämtliche in Kursivschrift gedruckten Sequenzen in den restlichen Zitaten dieses Ab-


schnitts sind meine Hervorhebungen.
9 In Tat und Wahrheit aber existiert diese Konstruktion immer noch in bestimmten Dialek-
ten und erfährt momentan ein regelrechtes Comeback in der „Standardsprache“ (vgl. Auer
2008 und 2009).
138 Richard J. Watts

Aussagen aus der konzeptuellen Metapher SPRACHE X IST MITGLIED


EINER SPRACHFAMILIE bilden den Grundstein für die folgende kleine Ge-
schichte von Trench (1855):
When we call to mind the near affinity between English and German, which, if
not sisters, are at any rate first cousins, it is remarkable that almost since the day when
they parted company, each to fulfil its own destiny, there has been little further commerce in the
way of giving and taking between them. (Trench 1855: 136)

Hier werden „Englisch“ und „Deutsch“ – natürlich die Standardvarietäten


der beiden Sprachen – als „Cousinen ersten Grades“ benannt, und sie sind
beide weiblich. Dazu scheint Trench es zu bedauern, dass er sie nicht
Schwestern nennen kann. Weil sie Menschen sind, müssen sie ihre Le-
benswege alleine gehen und können miteinander handeln – obwohl sie
dies nicht allzu häufig gemacht haben.
Um Aussagen aus der konzeptuellen Metapher SPRACHE X IST EINE
PFLANZE zu belegen, wird an dieser Stelle auf drei weitere Ausschnitte aus
Trench (1855) kurz hingewiesen:
One branch of the speakers of a language engrafts on the old stock numerous words
which the other does not in the same way make its own […]. (Trench 1855: 50)

Our own is, of course, a living language still. It is therefore gaining and losing. It
is a tree in which the vital sap is circulating yet […]. (Trench 1855: 85)

It is true that there happened here what will happen in every attempt to transplant
on a large scale the words of one language into another. (Trench 1855: 98)

Und schließlich, bevor einige Zitate aus dem Werk anderer Autoren aufge-
führt werden, wollte ich der Leserin/dem Leser dieses köstliche Zitat
nicht vorenthalten:
Its [die Genitivform des Personalpronomens it] is, in fact, a parvenu, which has forced
itself into good society at last, but not with the good will of those who in the end had
no choice but to admit it. (Trench 1855: 149)

In dieser Geschichte handelt es sich um eine Sprache (Englisch), die als


„parvenu“ alles unternimmt, um in der guten Gesellschaft akzeptiert zu
werden. Trenchs Humor enthält an dieser Stelle mehr als einen Kern der
geschichtlichen Wahrheit und deutet darüber hinaus auf die klassenspezi-
fischen Unterschiede zwischen der legitimen Standardsprache der gebilde-
ten Sozialschichten im frühviktorianischen England (der sogenannten
„refined language“, die nur an den „public schools“ erworben werden
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 139

konnte) und allen anderen Varietäten des Englisch (der sogenannten „vul-
gar language“ der ungebildeten Klassen der Gesellschaft10).
Die konzeptuelle Metapher SPRACHE X IST EINE GEOLOGISCHE FOR-
MATION, die nach dem 19. Jh. kaum anzutreffen ist, kann sicherlich nicht
auf Image- und Aktionsschemata, Aktionsrahmen und Handlungsskripte
zurückgeführt werden, sondern sie stellt eine Projektion von einem kogni-
tiv eingebetteten semantischen Rahmen dar, der von Geologen bei der
Konzeptualisierung ihrer Disziplin konstruiert wurde. Trotzdem haben
sich viele englischsprachige Sprachwissenschaftler in Großbritannien und
den USA dieser Konzeptualisierung der Sprache bedient. Die Geschichte
des Englischen wurde als eine historische Anhäufung von Gesteinsschich-
ten oder als Schichten von Bodensatz gesehen, in denen Fossilien oder
Skeletten zu finden waren. Als Beispiel dient das folgende Zitat aus Arthur
Champneys’ History of English (1893), in dem er den unausgesprochenen
Buchstaben <e> als „fossil“ bezeichnet:
First of all, the differences in spelling may be briefly dismissed. Enough has been
said before on the use of I where we now use J, on the difference of principle in
the use of U and V, and about the final E, which is now a kind of fossil in the lan-
guage. (Champneys 1893: 327)

Oliver Farrar Emerson in seinem History of the English Language (1894) pro-
jiziert die konzeptuelle Metapher nicht nur auf die Sprache sondern auch
auf soziale Unterschiede, indem er die Sprache als eine Anhäufung von
Schichten analog zu gesellschaftlichen Schichten konzeptualisiert und sich
damit nochmals auf die klassenspezifischen Unterschiede zwischen der le-
gitimen Sprache Standardenglisch an der Oberfläche und allen anderen
Varietäten tiefer unten bezieht:
Moreover, in addition to these linguistic areas representing the words actually
used by individuals or by classes of society, there are in the same linguistic area
what may be called language strata, overlying one another and differing from one another.
(Emerson 1894: 115)

Ein früheres Beispiel dieser konzeptuellen Metapher für die Sprachge-


schichte wird in einer sehr bildlich konstruierten Erzählung aus Henry

10 Die „ungebildeten“ Schichten bestanden aus all denen, die nur „schooled“ und nicht
„educated“ waren und die im politischen System das Wahlrecht nicht ausüben durften.
Der „Mythos der legitimen Sprache“ war also schon seit den 1790er Jahren in Großbritan-
nien der treibende Motor eines durch und durch politisierten hegemonialen Sprachdiskur-
ses, der auf der einen Seite die Standardsprache zum Symbol des Nationalstaates emporsti-
lisierte, während er auf der anderen Seite all denen, die dieser Sprache nicht mächtig waren,
den Zugang zu den politischen und gesellschaftlichen Prozessen des Staates verweigerte
(vgl. Smith 1989; Watts 2010: Kap. 8 und 9).
140 Richard J. Watts

Welsfords On the Origins and Ramifications of the English Language (1845) dar-
gestellt:
The Sanskrit may be regarded as the pure fountainhead: the streams which flowed from
it remained long in a troubled state from the turbulence of the middle ages, till,
having found a more spacious and secure channel, they have gradually deposited the dregs
of the Frankish, the Anglo-Saxon, the Cimbric, and the Celtic and reappeared in
the beautiful languages of Montesquieu and Racine, of Goete [sic.] and Schiller,
of Byron and Scott. (Welsford 1845: 259)

Er fängt mit Sanskrit an, das er als „pure fountainhead“ der späteren indo-
europäischen Sprachen beschreibt. Durch die Wirren des Mittelalters flie-
ßen aus dieser Quelle stammende Bächer und Flüsse, die „dregs“11 abset-
zen. Diese „dregs“ haben sich im Laufe der Zeit zu „the beautiful langu-
ages“ Französisch, Deutsch und Englisch entwickelt. Dabei bezieht er
sich auf bekannte Literaten und damit auf die jeweilige standardisierte
Schriftsprache. Die Botschaft ist klar: Die Geschichte der Sprache ist die
Geschichte der legitimen Standardsprache, die hier sogar als Kulturspra-
che hochstilisiert wird.
Im dominanten Diskurs über die englische Sprache in der zweiten
Hälfte des 19. Jh. und durch weite Strecken des 20. Jh. können viele ähnli-
che Zitate gefunden werden, in denen mindestens drei der vier im 19. Jh.
üblichen konzeptuellen Metaphern (1. SPRACHE X IST EIN MENSCH, 2.
SPRACHE X IST MITGLIED EINER SPRACHFAMILIE und 3. SPRACHE X IST
EINE PFLANZE) zum Vorschein kommen. Die erste und weitaus häufigste
Metapher wird auch auf den abstrakten Begriff des „Nationalstaates“ pro-
jiziert, während die dritte seit mindestens dem 16. Jh. als wichtiger Teil des
englischen Kolonialdiskurses dient. Als Beleg für diese Feststellung zitiere
ich aus einem bedeutenden Text des 16. Jh. von Richard Stanihurst (A
Treatise Containing a Plain and Perfect Description of Ireland (1577).
Während der Herrschaft von Elizabeth I gab es in der südlichen Pro-
vinz Irlands, Munster, zwei wichtige, vom Earl von Desmond durchge-
führte Aufstände gegen die englische Krone, der erste von 1569 bis 1573
und der zweite von 1579 bis 1581. Seit den Kilkenny Statuten im 14. Jh.
waren die Beziehungen zwischen den im kleinen Gebiet um Dublin her-
um12 eingekesselten Engländern und den gälisch-sprechenden Iren immer
äußerst gespannt gewesen und der Sprachdiskurs der Engländer enthielt
immer wieder Forderungen, irisches Territorium durch die Einführung
der englischen Sprache und die Errichtung von Plantagen zu pazifizieren.
Nach dem ersten Desmond-Aufstand wurde beschlagnahmtes Land in

11 Das englische Lexem dregs kann entweder im geologischen Sinn als ‚Bodensatz‘ oder aber
im moralisch-gesellschaftlichen Sinn als ‚Abschaum‘ verstanden werden.
12 „The English Pale“ oder „the Pale of Dublin“.
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 141

Munster an Engländer geschenkt, die bereit waren, den Boden zu bepflan-


zen. Zwei bekannte Empfänger von Land in Munster waren Sir Walter
Raleigh und der Dichter Edmund Spenser. Stanihurst war ein protestanti-
scher Anglo-Ire aus Dublin, der genau zur Zeit der ersten Plantagen nach
dem ersten Desmond-Aufstand sein Plain and Perfect Description of Ireland
schrieb. Folgender Ausschnitt aus diesem Text enthält eine Fülle von Aus-
sagen aus der konzeptuellen Metapher SPRACHE X IST EINE PFLANZE wie
auch Aussagen aus einer eng damit verwandten Metapher EIN LAND IST
EINE PLANTAGE:

And truly, so long as these impaled dwellers did sunder themselves as well in land
as in language from the Irish: rudeness was day by day in the country supplanted,
civility engrafted, good laws established, loyalty observed, rebellion suppressed, and
in fine the cornerstone of a young England was like to shoot in Ireland. But when
their posterity became not altogether so wary in keeping, as their ancestors were
valiant in conquering, the Irish language was free denizened in the English pale:
this canker took such deep root, as the body that before was whole and sound, was
by little and little festered, and in manner wholy [sic] putrified. (1577, in Crowley
2000: 32)

Was hier zu lesen ist, sind die Anfänge eines kolonialen Diskurses, durch
den die Metapher der Plantage buchstäblich sowie metaphorisch zur Be-
rechtigung und Beschönigung der kolonialen Hegemonie und Ausbeutung
in Irland, Nordamerika und anderswo auf der Welt benutzt wurde.
Der Diskurs über die Geschichte der englischen Sprache entwickelte
sich also zu einem wichtigen Element im politisch dominanten Diskurs
des Nationalstaates und des Kolonialismus, der aufgrund bestimmter
Sprachmythen und der Verstrickung der Sprachwissenschaft mit der Ge-
schichtswissenschaft vom ausgehenden 18. Jh. bis weit ins 20. Jh. konstru-
iert wurde. Somit entstand aus diesem Komplex von eng verstrickten Dis-
kursen ein Archiv im Sinne von Foucault. Foucault (1969: 170) beschreibt
ein Archiv (das ich „Diskusarchiv“ nennen werde) als
[…] la loi de ce qui peut être dit, le système qui régit l’apparition des énoncés
comme événements singuliers.

[(…) das Gesetz, das bestimmt, was gesagt werden kann, das System der Erschei-
nungsform von Äußerungen als einzelne Vorkommnisse.]

Die Wichtigkeit des Begriffs „Archiv“ für Foucaults archäologischen An-


satz wird im folgenden Zitat klar:
La mise à jour, jamais achevée, jamais totalement acquise de l’archive, forme
l’horizon général auquel apparient la description des formations discursives,
l’analyse des positivités […]. Le droit des mots […] autorise donc à donner à ces
142 Richard J. Watts

recherches le titre d’archéologie. Ce terme n’incite à la quête d’aucun commen-


cement; il n’apparente l’analyse à aucune fouille ou sondage géologique. Il désigne
le thème général d’une description qui interroge le déjà-dit au niveau de son exis-
tence […]. L’archéologie décrit les discours comme des pratiques spécifiées dans
l’élément de l’archive. (Foucault 1969: 136)

[Die Aktualisierung des Archivs – nie abgeschlossen und nie ganz erworben –
bildet den allgemeinen Hintergrund, gegen den die Beschreibung von diskursiven
Formationen und die Analyse von Positivitäten angepasst werden […]. Das Ge-
setz des Wortes […] berechtigt also den Gebrauch des Begriffs „Archäologie“ für
diese Forschung. Der Terminus regt uns nicht an, einen Anfang zu suchen; er
gleicht keiner Ausgrabung und auch keiner geologischen Untersuchung. Er skiz-
ziert das allgemeine Thema einer Beschreibung, die das in Frage stellt, was schon
gesagt wurde auf der Ebene seiner Existenz […] „Archäologie“ beschreibt Dis-
kurse als spezifische Praxen in der Grundeinheit des Archivs.]

Mit „positivité“ meint Foucault das, was die besondere Einheitlichkeit des
Diskurses über die Zeit seiner Dominanz charakterisiert. Die „Positivität“
eines Diskurses ist also das Gesetz über das, was gesagt werden darf,
m. a. W. sie wird vom Archiv gesteuert, worin der Diskurs enthalten ist.
Mit dem Zerfall des Archivs des Nationalstaates und der Nationalsprache
droht der ganze Diskurs der Homogenität und der Standardisierung zu
einer „Zombie“-Kategorie zu werden. Grund für diesen Zerfall und die
damit verbundene Unfähigkeit zu begreifen (oder begreifen zu wollen),
dass der soziolinguistische Kontext, in dem der Begriff entstanden ist, sich
wesentlich geändert hat, ist nach Deumert die Tatsache, dass
[…] the standard language haunts the minds of speakers (and those linguists who
believe in languages as unitary, well-defined and countable objects). (Deumert
2010: 259)

In diesem Punkt stimme ich mit Deumert vollständig überein, und diese
Zustimmung beruht auf der Überzeugung, dass der Fokus in der histori-
schen wie auch in der Theoretischen Linguistik viel zu stark auf Sprachen
statt auf die menschliche Sprachfähigkeit gesetzt wurde. Wie man im
Standardenglischen so schön sagt, „the cart has been put too often before
the horse“. Dies wird das Thema des folgenden Abschnitts sein.

5. „Replacing the horse before the cart“


Im Jahre 1968 wurde ein wichtiger Beitrag zur Historischen Linguistik von
Weinreich, Labov und Herzog mit dem Titel „Empirical foundations for a
theory of language change“ in einem von Lehmann und Malkiel herausge-
gebenen Sammelband veröffentlicht. Dieser Beitrag ist seither zu einem
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 143

Klassiker der Historischen Soziolinguistik geworden. Als Hauptthema des


langen Artikels wurden die theoretischen und methodologischen Ansätze
diskutiert, die bei der Untersuchung des Sprachwandels berücksichtigt
werden müssten. Darüber hinaus ist der Beitrag als eine frühe, implizite
Anerkennung der Existenz eines archetypischen „Mythos der Homogeni-
tät“ zu betrachten.
Weinreich et al. gehen von der folgenden Prämisse aus: Jeder Versuch,
eine Theorie des Sprachwandels zu entwickeln, ist von vornherein beein-
trächtigt, wenn die Theorie auf einer strukturalistischen oder einer genera-
tivistischen Auffassung der Sprache beruht. Dies wird an einer Stelle ganz
explizit ausgedrückt:
[…] structural theories of language, so fruitful in synchronic investigation, have
saddled historical linguistics with [four basic paradoxes] which have not been ful-
ly overcome. (Weinreich et al. 1968: 98)

Im Rahmen des hiesigen Beitrags sind die ersten drei Paradoxa wichtig:

1. das Paradoxon der Sprache als homogenes System,


2. das Paradoxon, dass jeder Sprachwandel von einem homogenen sprachlichen
Zustand zum nächsten führt,
3. das Paradoxon, dass dieser Ansatz es dem Forscher nicht erlaubt, die
von Weinreich et al. postulierte ordentliche Differentiation (‚orderly diffe-
rentiation‘) im System der menschlichen Sprache zu erklären.

Das erste Paradoxon ist bereits im vorhergehenden Abschnitt zur Sprache


gekommen. Wird die menschliche Sprache als die kognitive Fähigkeit je-
des Menschen betrachtet, eine sehr große Menge linguistischer Konstruk-
tionen (phonologische, morphologische, syntaktische, semantische) zu er-
werben, zu speichern und zu gebrauchen, so ist diese Fähigkeit sicherlich
systematisch. Aber die gleiche Sprachfähigkeit muss allen Sprachbenut-
zern auch ermöglichen, das System je nach den Bedürfnissen des jeweili-
gen sozialen Kontexts zu manipulieren. Genau dies wird unter dem Be-
griff „ordentliche Differentiation“ verstanden. Sprachliche Homogenität
aber impliziert eine Gesetzmäßigkeit, die dem Prinzip der „ordentlichen
Differentiation“ widerspricht und darin liegt das Paradoxon.
Das zweite Paradoxon ergibt sich aus dem ersten. Auch wenn eine
Sprache ein homogenes System wäre, so wird sie von Leuten aus verschie-
denen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen gesprochen. Mit anderen
Worten, ein homogener Zustand einer Sprache folgt nicht auf den vorher-
gehenden. Es wird immer Variabilität in der Gruppe und im individuellen
Sprecher geben, so dass die neue, aus dem Wandel entstehende Konstruk-
tion immer mit älteren Formen koexistieren und sich überlappen wird.
144 Richard J. Watts

Diese beiden Parodoxa führen zum dritten, indem eine Beharrung auf
Homogenität eine Analyse dieser Überlappungen automatisch ausschließt.
Die menschliche Sprachfähigkeit ermöglicht den Gebrauch einer
Sprachvarietät, die in ständiger sozialer Interaktion mit anderen Mitglie-
dern der gleichen sozialen Gruppe oder Gemeinschaft erworben wird, um
die physischen, sozialen und mentalen Welten des Individuums in Ein-
klang mit den Welten anderer zu bringen. Sie bietet eine unendliche Zahl
von Gelegenheiten, die mentalen Welten des Individuums zu vergrößern
und auszudehnen. Gemäß Cumming/Ono (1997: 132) wird in diesem so-
zio-kognitiven Prozess „the actual production of syntax […] locally man-
aged“, und ihre „Regeln“ werden zur „construction of particular speakers”
(Bex 2008: 222). In diesem Sinne „grammars are ‘emergent’ at the mo-
ment of utterance“ (Bex 2008: 224).
Man stelle sich eine kleine, abgelegene Gemeinschaft vor (wie etwa
diejenige auf Tristan da Cunha, die von Schreier 2003 beschrieben wird).
Die linguistischen Konstruktionen, die die Mitglieder dieser Gemeinschaft
erwerben, um Bedeutungen anzuregen und auszuhandeln, werden auto-
matisch verwendet. Es gibt keine „Fehler“‚ nur verfehlte Bedeutungen.
Zum Zwecke der Koexistenz, der Zusammenarbeit und manchmal auch
ab und zu der Austragung von Konflikten ist es völlig belanglos zu fragen,
wie die Mitglieder der Gemeinschaft ihre Sprachvarietät benennen. Es ge-
nügt, wenn die linguistischen Konstruktionen in Instanzen sozialer Praxis
verwendet werden können. Dies gibt also unweigerlich Anlass zu den fol-
genden zwei Fragen:

1. Warum ist es wichtig, in solchen Situationen auf das homogene Sys-


tem einer Sprache oder Sprachvarietät zu beharren?
2. Ist es nicht viel wichtiger, wenn die Sprecher die potentielle Heteroge-
nität dieser Sprache/Sprachvarietät voll ausnutzen können?

Das erste Paradoxon liegt also in der Hypostasierung von individuellen


Sprachen, d. h. in der Suche nach homogenen Sprachsystemen statt in der
Erforschung der sozio-kognitiven Mechanismen, die die Entstehung von
Grammatiken in der Produktion von Äußerungen befähigen. Weinreich
et al. sind der Meinung, dass jedes Sprachsystem Homogenität und Hete-
rogenität gleichzeitig aufweist, aber sie sind sich auch bewusst, dass darin
ein Paradoxon besteht. Aus diesem Grunde kritisieren sie Versuche, ein
vollständig homogenes Sprachsystem zu konstruieren, als „needlessly un-
realistic“ und als „a step backwards“.
Im dritten Abschnitt dieses Beitrags skizzierte ich einen sozio-kogni-
tiven Ansatz zum Erforschen der menschlichen Sprache, in dem die
Sprachfähigkeit aus anderen kognitiven Fähigkeiten stammt und mit ihnen
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 145

eng verbunden ist, dies im Gegensatz zum generativen Verständnis der


Sprache als ein unabhängiges Modul der Kognition. Trotzdem müssen wir
uns die Frage stellen, warum immer noch von Sprachen und Sprachvarie-
täten die Rede ist. Nur wenn diese Frage adäquat beantwortet ist, wird es
wieder möglich sein, das Pferd vor den Wagen zu spannen, die soziale Ka-
tegorie der Standardisierung als „Zombie-Kategorie“ zu entpuppen und
eine neue Optik auf die Historische Sprachwissenschaft zu wagen.
Zunächst muss festgestellt werden, dass alle Menschen ein grundle-
gendes Bedürfnis spüren, als ratifizierte Mitglieder einer sozialen Gruppe
oder sogar mehreren sozialen Gruppen zu funktionieren. Um dies zu er-
reichen, sind alle Menschen unweigerlich genötigt, diejenigen linguisti-
schen Konstruktionen zu erwerben, die andere in der Gruppe benutzen.
Der Schritt von der menschlichen Sprachfähigkeit zu einer „Sprache“
kann also als kognitiver Verschnitt (‚blend‘) verstanden werden:

● x (wo x = der neu zu


Englisch ● konzeptualiserende
Begriff „Englisch“)

Mentaler Raum 2: neu zu definierender


Mentaler Raum 1: Begriff
Äußerung

●x
● [immer wieder wiederkehrende
KOGNITIVER RAHMEN 1: linguistische Konstruktionen u.
SOZIALE PRAXIS ● daraus konstruierte Bedeutungen]

● [linguistische Konstruktionen u.
daraus konstruierte Bedeutungen
bilden Teil einer Gruppen-
KOGNITIVER RAHMEN 2: identität]
EIGENSCHAFTEN DER
SOZIALEN GRUPPE ●

Mentaler Raum 3 = Verschnitt


des aus KG 1 und KG 2
relevanten Wissens

NEUER KOGNITIVER RAHMEN 3:


DIE ENGLISCHE SPRACHE

weitere Wissenselemente, die im Laufe der Zeit aus anderen kognitiven Rahmen in diesen
hineinprojiziert werden

Abb. 2: Entstehung eines neuen kognitiven Rahmens SPRACHE X aus dem mehrmaligen
und immer wieder neu angereicherten Operieren des Verschnitts
146 Richard J. Watts

Abb. 2 stellt den Prozess der Herausbildung eines neuen kognitiven


Rahmens SPRACHE X (hier Englisch) aus den immer wieder in Instanzen
sozialer Praxis neu stattfindenden Vorkommen von Lexemen und linguis-
tischen Konstruktionen dar, die sich irgendwie auf ein in sich geschlosse-
nes Sprachsystem beziehen. Die linguistischen Konstruktionen, die wir
selber benutzen, zusammen mit der bewussten oder unbewussten Wahr-
nehmung, dass andere in der Gruppe diese Konstruktionen auch benut-
zen, werden in einen kognitiven Verschnitt hineinprojiziert, der irgend-
wann ins Langzeitgedächtnis als kognitiver Rahmen transferiert wird (vgl.
die Bildung von konzeptuellen Metaphern in Abschnitt 3). So verstanden
ist der Begriff „eine Sprache“ nichts anderes als eine frühe konzeptuelle
Metapher und der kognitive Rahmen „Sprache X“ wird durch eine zusätz-
liche konzeptuelle Metapher SPRACHE X IST DIE SPRACHE/DIE EIGEN-
SCHAFT/ DAS EIGENTUM VON GRUPPE X angereichert. Durch die späte-
re Bildung der konzeptuellen Metapher SPRACHE X IST EIN MENSCH wer-
den dann weitere Bedeutungskomponenten in den kognitiven Rahmen
projiziert. So gesehen ist der Schritt von der Sprachfähigkeit zur Konzep-
tualisierung einer Sprache nichts anderes als die Bildung einer konzeptuel-
len Metapher, die von allen Mitgliedern der sozialen Gruppe vollzogen
worden ist.
Wenn diese Theorie des kognitiven Herauskristallisierens des Begriffs
„Sprache X“ plausibel ist, überrascht es nicht, dass die „Wahrheit“ der
Existenz von Sprachen allgemein angenommen wird. Es ist auch nicht
erstaunlich, wenn die Gruppe (oder Gruppen), die, ihrer Wahrnehmung
nach, die Sprache X verwendet, gemeinsame Geschichten (Mythen) erfin-
det, um die Existenz der Sprache zu erklären, zu rechtfertigen und damit
zu ratifizieren. Sprachmythen entstehen also aus dem fast archetypischen
„Mythos der linguistischen Homogenität“ und sie bieten ein probates Mit-
tel, die eigene Gruppe von anderen Gruppen abzugrenzen.
Im Prozess der Sprachstandardisierung entsteht im Laufe der Zeit eine
Varietät als die mythische, homogene Varietät oder die „Kultursprache“;
in vielen Fällen wird sogar eine Varietät dazu „erkoren“. Dieser Prozess
führt fast unweigerlich dazu, dass anderen Varietäten soziokulturelle Gül-
tigkeit abgesprochen wird. Viel schlimmer aber ist die Tatsache, dass die
Variabilität und Heterogenität der menschlichen Sprache im Bestreben ge-
leugnet wird, die Sprache aus einer Sprache zu machen, d. h. im Bestreben,
die einzig gültige, legitime Sprache der Gruppe (und nachher des Natio-
nalstaates) zu konstruieren. Legitimität wird dann in Homogenität und
Immutabilität verwandelt. Die mythische Konstruktion der Sprache führt
zu negativen Wertvorstellungen anderer Sprachen oder Sprachvarietäten
und auch derer, die der Sprache nicht mächtig sind. Mit anderen Worten
fungiert sie als Prozess des Othering.
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 147

6. Historische Linguistik, quo vadis?


Im Titel dieses Beitrags wird eine neue Optik auf die Historische Linguis-
tik versprochen und es ist wohl an der Zeit, dieses Versprechen einzulö-
sen. Im Sinne von Mattheier (2010) und Deumert (2010) ist es nicht län-
ger möglich, auf die theoretischen und methodologischen Prinzipien von
Weinreich et al. (1968) zu verzichten und weiterhin auf die Geschichte
einer Sprache zu beharren, wenn diese Sprache (im Falle des hiesigen Bei-
trags Englisch) als die einzig legitime Varietät betrachtet wird. Dies führt
zu einer Betrachtungsweise des Sprachwandels, die ich als „funnel vision“
(‚Trichter-Perspektive‘) bezeichne (vgl. Watts 2011, Kap. 12), in der indivi-
duelle Sprachgeschichten als Geschichten der nationalen Standardspra-
chen zu Kosten aller anderen Varietäten konstruiert werden. Die Trichter-
Perspektive kann in der folgenden Abbildung metaphorisch als die Pro-
duktion eines edlen Sprach-Weins konzeptualisiert werden, die nach einer
jahrhundertelangen Gärungs-, Beimischungs-, Anreicherungs- und Lage-
rungszeit zustande kommt:

Abb. 3: Die Trichter-Perspektive einer Sprachgeschichte


148 Richard J. Watts

Da es sich hier um „die englische Sprache“ handelt, dauerte dieser


Prozess seit dem 5. Jh. Grundtraube der Weinsorte waren Varietäten des
Angelsächsischen,13 und die Beimischungen waren im Laufe der langen
Gärungs- und Anreicherungszeit Varietäten des Altnordischen, normanni-
sche Varietäten des Altfranzösischen und viele andere Traubensorten. Im
Trichter hatte diese Mischung am Anfang des 18. Jahrhunderts den engen
Hals erreicht und konnte sorgfältig in die Flasche hineingefiltert werden.
Was diese Konzeptualisierung sabotiert, ist die Tatsache, dass der Trichter
ziemlich löchrig war und viele Sprachsorten gar nie in den engen Hals hi-
neinflossen, sondern irgendwo neben der Flasche landeten. Dazu gab es
auch einen Filter von Metaphern, Mythen und Diskursen vom früheren
19. Jh. bis ins späte 20. Jh., der alle Unreinheiten herausfilterte. Man kann
sich dies wie in Abb. 4 vorstellen.

Abb. 4: Die Trichter-Perspektive der Geschichte des „Englischen“


mit dem löchrigen Trichter und dem Diskursfilter

Eine Konzeptualisierung der englischen Sprachgeschichte wie in


Abb. 4 zeigt, wie wenig Inhalt die Flasche wirklich haben kann. Sie macht
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? 149

es auch klar, dass andere Varietäten des „Englischen“ sträflich vernachläs-


sigt worden sind und sie erleichtert die Auffassung, dass Standardisierung
tatsächlich eine „Zombie“-Kategorie ist. Dabei sollte aber nicht vergessen
werden, dass die Standardsprache durchaus eine Berechtigung hat. Sie ist
letzten Endes auch eine Varietät der jeweiligen Sprache, aber sie verdient
einen anderen Forschungsansatz als den bisher üblichen. Gehen wir aber
davon aus, dass die menschliche Sprachfähigkeit vor dem Herauskristalli-
sieren von einzelnen Sprachvarietäten steht, so werden wir kaum Gelegen-
heit haben, solche Kommunikationsprozesse entstehender sozialer Praxis
in vergangenen Zeiten zu beobachten. Historische Linguisten sind dazu
gezwungen, mit schriftlichen Quellen zu arbeiten und diese sind auch sel-
ten in genügender Menge vorhanden. Trotz all dieser Schwierigkeiten soll-
ten sich historische Linguisten aber immer die Reihenfolge „menschliche
Sprachfähigkeit Ⱥ einzelne Sprachvarietäten“ als grundlegendes Prinzip
ihrer Forschungstätigkeit ans Herz legen.
Die wichtigste Erkenntnis für den historischen Linguisten des Engli-
schen liegt aber im Diskursfilter, der über dem Schluss des engen Trich-
terhalses gesetzt wurde. Er besteht aus Sprachmythen, die in dominante,
gesellschaftspolitische, klassenspezifische Diskurse über die englische
Sprache gewoben sind. Eine wichtige Aufgabe für die Historische Linguis-
tik der Zukunft soll es also sein, in jedem Fall, wo eine Verquickung des
Nationalstaates und einer Standardsprache zum Vorschein kommt, eine
genaue Untersuchung der Quellen dieser Mythen und der sozio-kulturel-
len Prozesse, durch die sie zu mächtigen Sprachdiskursen geworden sind,
zu unternehmen. Für den Laien ist die Standardsprache eine ‚Realität‘, die
aus einem immer noch lebendigen Diskursarchiv produziert wird. Sie ist
keine „Zombie“-Kategorie. Dem Linguisten obliegt es, den Beweis zu er-
bringen, dass die Kategorie, wenn auch nicht ganz leer, trotzdem mit ei-
nem ganz anderen Inhalt gefüllt werden sollte.
Zurück zum Beowulf. Am Anfang dieses Beitrags wurden drei Fragen
aufgestellt:
– Wie ist es möglich, dass die Argumente für eine spätere Datierung
des Beowulf am Anfang des 11. Jh. immer noch abgelehnt werden?
– Was geht durch die Akzeptanz dieser durchaus plausiblen Erklä-
rung verloren?
– Was sind die Konsequenzen für die Zukunft der Geschichte der
englischen Sprache, wenn neue, gut fundierte Thesen in philologi-
schen Kreisen nicht angenommen werden?
Es ist jetzt auch an der Zeit, diese Fragen zu beantworten. Die Rezeption
des Epos von 1837 bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts war der-
art mit der Suche nach einer Quelle des „Englischtums“ und der Berech-
tigung des theoretischen Konstrukts des englischen Nationalstaates be-
150 Richard J. Watts

schäftigt, dass zwei starke Mythen entstanden, der „Mythos der uralten
Sprache“ und der „Mythos der ungebrochenen Tradition des Englischen“.
Bei der Verschmelzung der Standardisierung mit der Idee des National-
staats wurden diese Mythen zu Wahrheiten und sie wurden operationali-
siert, um einen hegemonialen Sprachdiskurs zu gestalten, in dem Englisch
eine längere Geschichte als jede andere europäische Sprache erhielt. Eine
Datierung im frühen 11. Jh. hätte dieses Vorhaben hingegen erheblich
gestört, beispielsweise durch die Tatsache, dass das Hildebrandslied bis ins
9. Jh. datiert ist. Die zweite und dritte Frage wurden durch diesen Beitrag
– hoffentlich – schon beantwortet.

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Paul Rössler

Die Grenzen der Grenzen.


Sprachgeschichtsperiodisierung zwischen Forschung
und Lehre

1. Aktuelle Periodisierungsvorschläge
Rund um die zeitliche und kriterielle Einordnung des Neuhochdeutschen
ist die Periodisierungsdebatte in der germanistischen Sprachgeschichtsfor-
schung in den letzten Jahren neu entbrannt.1 Dabei geht es vor allem um
die Bewertung dessen, was vielfach in der Forschung und vor allem in der
akademischen Lehre als Gegenwartssprache bezeichnet wird, innerhalb (oder
außerhalb) des Neuhochdeutschen und darum, nach welchen sprachsys-
teminternen und sprachgebrauchsinternen sowie sprachexternen Merkma-
len eine Epochenbegrenzung gerechtfertigt erscheint. Bär (2000: 29–32)
setzt mit der Mitte des 20. Jh. eine vom Neuhochdeutschen begrifflich
und vor allem nach außersprachlichen Merkmalen zu trennende Sprach-
epoche an und schlägt den Terminus „E-Hochdeutsch“ vor. Er begründet
die Wahl der Variable E mit einer seit ca. 1950 „[…] in vielen Bereichen
egalitären, engagierten und emanzipierten Gesellschaft“ (Bär 2000: 31), die ein
durch die elektronische Kommunikation und durch den Einfluss des Engli-
schen geprägtes Deutsch im Kontext der europäischen Einigung spreche. Für
Ernst (2007) ist der Einfluss der Sprachnormen seit dem späten 19. Jh.
salient. Er plädiert für den Begriff „Normdeutsch“ ab etwa 1875, weil
[m]it der Herausbildung einer kodifizierten Norm im Deutschen […] sich die
sprachlichen Varietäten [verlagern], und dies bleibt nicht ohne Folge für die dia-
chrone Linguistik. So könnte man sagen, dass mit einer deutschen Norm andere
Beschreibungskriterien als die der historischen Dialektologie angewandt werden
müssen, es also zu einem ‚Paradigmenwechsel‘ kommt. (Ernst 2007: 68)

1 Vgl. Bär (2000), Hupka (2001), Ernst (2007), Schmidt (2007), Elspaß (2008), Rössler
(2008).
154 Paul Rössler

Elspaß (2008: 4, 13) beurteilt Bärs und Ernsts Periodisierungsvorschläge


kritisch. In seiner Datierung ähnlich wie Bär (2000), in Terminologie und
Begründung dafür aber deutlich different, plädiert Elspaß (2008: 2, 3) für
eine Umbenennung der seit Wilhelm Scherer tradierten Epoche des Neu-
hochdeutschen in „Mittelneuhochdeutsch“, die um 1950 vom Gegen-
wartsdeutsch abgelöst werde. Für die Periodengrenzen von ca. 1650 bis
ca. 1950 sei
[…] ein sachgerechter und für sprachhistorische Untersuchungen beschreibbarer
Zeitraum erfasst sowie mit „Mittelneuhochdeutsch“ eine zutreffende, griffige und
in bisherige Benennungsschemata sich einfügende Bezeichnung für diese Periode
gefunden. (Elspaß 2008: 16)

2. Ontik und Hermeneutik


So unterschiedlich die Periodisierungsvorschläge im Einzelnen sind, so
besteht doch Konsens darin, dass „[j]ede Sprachperiodisierung und jede
Epoche […] ein Konstrukt“ (Elspaß 2008: 16) ist. Diejenigen, die über
Sprachepochengrenzen und -merkmale debattieren und diese so gleicher-
maßen konstruieren, eint ein philosophisch-hermeneutisches Geschichts-
verständnis, das sich von einer positivistischen Vorstellung einer ‚objekti-
ven‘ Historizität abhebt. Gerade die Tatsache, dass innerhalb weniger
Jahre über dasselbe Objekt Sprache vom 19. bis 21. Jahrhundert so differente
Interpretationen vorliegen, beweist den konstruktivistischen Charakter der
Sprachgeschichtsperiodisierung. Sprachgeschichtsforschung kann hier als
Teil der Geschichtsforschung aufgefasst werden. Sprachgeschichtsfor-
schung ist aber auch gleichzeitig Teil der Geschichte:
Das Verstehen von Geschichte gehört selbst zur Geschichte dank der Wirkung
von Tradition; jedes Verstehen kann das zu Verstehende verändern, gehört zu
seiner Wirkungsgeschichte. Das Objekt ‚Geschichte‘ ist nicht positivistisch vor-
gegeben, sondern konstituiert sich aus Verstehen (Gadamer [1958]) und aus Er-
kenntnisinteressen (Habermas 1968). (von Polenz 1991: 19–20)

Freilich darf dieser philosophisch-hermeneutische Geschichtsbegriff nicht


zu einem beliebigen Geschichtsrelativismus führen. Im sprachhistorischen
Zusammenhang bedeutet dies, dass Sprache in ihrer Historizität objektiv,
d. h. als Objekt durchaus faktisch ist. Ihre Interpretation, d. h. die (subjek-
tive) Deutung ist es nicht. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir uns
nie anders als interpretierend dem Objekt der historischen Sprache nähern
Sprachperiodisierung zwischen Forschung und Lehre 155

können. Die Herausforderung für Sprachhistoriker2 ist es, sich nicht nur
auf die Beschreibung dessen zu konzentrieren, was sich nicht mehr ändert,
also auf die sprachhistorischen Gegebenheiten, sondern darüber hinaus zu
reflektieren, wie das Gegebene in den Griff zu bekommen ist. Paradox ist,
dass, obwohl es feststeht, das historische Objekt Sprache schwer greifbar
ist.
Die Sprache, mit der sich die Sprachhistoriker beschäftigen, ist Ge-
schichte im doppelten Sinne: unveränderlich, weil vergangen, in ihrer onti-
schen Dimension; veränderbar, weil Konstrukt, in ihrer hermeneutischen
Dimension. Als narratives Dispositiv wird sie von ihrem Ende her erzählt.
Als solches hat Sprache auch Anfang, Mitte, dramatische Brüche usw. Sie
hat einen Verlauf. Die Akteure, also die Sprecher (und Schreiber) in der
Geschichte, nehmen die Kapitel der Sprachgeschichte kaum bis gar nicht
wahr.3 Das darf nicht überraschen, existieren diese Kapitel ontisch doch
gar nicht. Erst nachträglich werden sie von den Sprachhistorikern, gleich-
sam den Erzählern dieser Geschichte, gesetzt.
Ordnen und zuordnen bedeutet für Sprachhistoriker, wie sie die sich
ständig verändernde Sprache in zeitliche Abschnitte gliedern können.
Ordnen und Zuordnen in einem zeitbezüglichen Koordinatensystem ist
Periodisieren. Wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich ist dabei nicht un-
bedingt diejenige Erzählung der Sprachgeschichte am erfolgreichsten, die
in ihrer Kapitelgliederung, d. h. in ihrer Periodisierung der sprach-
geschichtlichen Ontik am nächsten kommt.
Hermeneutisch muss die Periodisierungsgeschichte klar von der
Sprachgeschichte selbst unterschieden werden, so wie die Geschichte der
Periodisierungen von den Periodisierungsvorschlägen zu trennen ist. Wäh-
rend die Sprachgeschichte eo ipso als abgeschlossenes, ontisches datum
statisch ist, dynamisiert sich die Erzählung davon immer wieder von Neu-
em, werden doch Periodisierungen immer wieder mit unterschiedlichen
Gewichtungen vorgenommen.
Die Vertreter der sprachhistorischen Zunft stehen dabei vor einem
Paradoxon: Einerseits nimmt in den letzten Jahrzehnten allgemein das
Bedürfnis nach Taxonomierung und Hierarchisierung aller Lebens- und
Wissensbereiche zu. Selbst die institutionelle Sprachwissenschaft kann
sich diesem Trend nicht entziehen, wie die (von Sprachwissenschaftlern

2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die Nennung beider Ge-
schlechter verzichtet. Gemeint sind aber natürlich stets Sprachhistoriker und Sprachhisto-
rikerinnen, Forscher und Forscherinnen, Linguisten und Linguistinnen etc.
3 Über die begriffliche und inhaltliche Differenzierung von Intentionalität, Planung und Be-
wusstsein sprachlichen Wandels in Bezug auf einzelne Sprecher vgl. Keller (2003: 25–29).
156 Paul Rössler

initiierte) Wahl der Wörter und Unwörter des Jahres4 und die zahllosen
Uni-Rankings zeigen. Kaum ein Institut, das nicht, wenn es in einem Ran-
king gut abschneidet, dieses auch auf Pinnwänden und in den Gängen mit
gewissem Stolz herzeigt und damit nicht nur sich selbst, sondern auch das
betreffende Ranking legitimiert. Alle Rankings sind dem Bedürfnis nach
Ordnung im Chaos geschuldet, die immer ein Prinzip voraussetzt: Ver-
gleichbarkeit. Der Vergleich ist ein der Wissenschaft seit je vertrautes
Verfahren. Besonders in der empirischen Wissenschaftstradition stellen
Erkennen, Ordnen und Zuordnen basale methodische Werkzeuge dar.
Die omnipräsente Kanonisierung in Form von Rankings scheint insofern
eine Spielart der Verwissenschaftlichung des Alltags zu sein.5 Die meisten
Kanonisierungen sind allerdings popularisierte Versionen wissenschaftli-
cher Forschung. Die nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit kann so Gefahr
laufen, einen falschen, simplifizierten Eindruck wissenschaftlicher Arbeit
und Methodik zu erhalten und dementsprechend der Komplexität von
Sachverhalten und Problemen nicht adäquate Lösungen zu erwarten. An-
dererseits – um auf das erwähnte Paradoxon zurückzukommen – führt die
omnipräsente und Vergleichbarkeit voraussetzende Kanonisierung dazu,
dass auch schwer bis Unvergleichbares miteinander verglichen wird.

3. Das Dilemma der Kriterienwahl


Sprachhistoriker sind mit dieser Inkommensurabilität konfrontiert, wenn
sie Sprachgeschichte periodisieren und dabei bestimmte, aus ihrer Sicht
für die Sprachepoche charakteristische Kriterien wählen. Die vor allem
seit Beginn des 19. Jh. bis heute geführte Periodisierungsdebatte zur deut-
schen Sprachgeschichte ist geprägt von sprachwandeltheoretischen Positi-
onen, die entweder auf innersprachlichen oder außersprachlichen Krite-
rien oder meist auf einer Mischung von beiden fußen.
Reichmann (1992: 196) listet an für die Periodisierung besonders rele-
vanten außersprachlichen Kriterien folgende auf: den sozialen Status der
Träger der einzelnen Varietäten, die jeweils führende Dynastie, Religion,
Bildungsgeschichte, relevante Erfindungen und geistesgeschichtliche Wen-

4 So sind in der Jury des ‚Österreichischen Worts des Jahres‘ ausschließlich Mitglieder philo-
logischer Institute der Universität Graz vertreten, vgl. http://www-oedt.kfunigraz.ac.at/
oewort/0Allgem/Jury/jury.htm. Deutschlands jeweiliges ‚Wort des Jahres‘ wird durch den
Hauptvorstand und die Mitarbeiter der Gesellschaft für deutsche Sprache gewählt. Dabei
handelt es sich großteils ebenfalls um Linguisten mit universitärem Hintergrund, vgl.
http://www.gfds.de/wir-ueber-uns/hauptvorstand/.
5 Zur Kanonisierung im germanistischen Kontext allgemein vgl. Struger (2008), zur Ran-
king-Liste als Kanon vgl. Schacherreiter (2008).
Sprachperiodisierung zwischen Forschung und Lehre 157

depunkte. Roelcke (1995: 338) fasst die außersprachlichen Kriterien mit


den Stichwörtern Medien, Kultur, Sprachreflexion, Gesellschaftsgeschich-
te, Sprachträger, Herrschaftsgeschichte, einzelne Personen und einzelne
historische Ereignisse zusammen. Diese Liste kann je nach Epoche und
gesellschaftlicher Entwicklung erweitert werden und stellt kein geschlos-
senes Kriterienbündel dar. An innersprachlichen Kriterien für die Periodi-
sierung finden sich Varietäten, Lautung, Schreibung, Morphologie, Syntax,
Wortschatz, Text, Textüberlieferung, Stil, Verbreitung, System, Interfe-
renz und die Entwicklungsgeschwindigkeit (Roelcke 1995: 338). Hupka
(2001: 877–878), Schmidt (2007: 17) und Elspaß (2008: 4–6) weisen auf
die Notwendigkeit einer weiteren Unterteilung der innersprachlichen Kri-
terien hin, indem sie zwischen sprachstrukturellen und sprachgebrauchs-
orientierten Faktoren mit unterschiedlichen Benennungen differenzieren.
So betont z. B. Elspaß:
Sprachstrukturelle Entwicklungen allein stellen kein hinreichendes Kriterium für
Periodengrenzen dar, weil hier nicht mit abruptem Sprachwandel zu rechnen ist.
Im Gegenteil, für die Grammatik etwa zeigt sich gerade in konzeptionell mündli-
cher Hinsicht immer deutlicher eine ausgesprochene historische Kontinuität. […]
Im Zuge der pragmatischen Wende, die mit Verspätung auch die Sprachge-
schichtsforschung erreichte, […] sind soziolinguistische und pragmalinguistische
Kriterien in die Diskussion gebracht worden. Hier handelt es sich also wieder um
(inner)sprachliche Kriterien, allerdings eben nicht um sprachstrukturell relevante.
Vielmehr zielen solche Kriterien direkt auf Sprachgebrauchsgeschichte, Sprach-
mentalitätsgeschichte bzw. in einem weiteren Sinn auf Sprachgeschichte als Kul-
turgeschichte. (Elspaß 2008: 5)

Welche außersprachlichen, sprachstrukturellen oder sprachgebrauchsori-


entierten Kriterien ein Sprachhistoriker auswählt, hängt nicht nur vom
sprachwandeltheoretischen Standpunkt ab, der explizit vertreten wird
oder, wie meist im 18. und 19. Jh., implizit mitgedacht ist, ohne benannt
zu werden, sondern die Kriterienauswahl bestimmt auch wesentlich Be-
nennungen und Datierungen der Sprachperioden (vgl. Cherubim 1975: 7–
51). Wie schon am Beispiel der sog. Gegenwartssprache und am Neu-
hochdeutschen eingangs gezeigt, können diese sich sehr voneinander un-
terscheiden.
158 Paul Rössler

4. Die Entdeckung des Frühneuhochdeutschen


Der vorliegende Beitrag konzentriert sich nicht auf den zeitlichen End-
rand des Neuhochdeutschen, sondern auf dessen Anfang und somit auf
die germanistische Debatte im 19. Jh. um das Frühneuhochdeutsche als
eigenständige Sprachperiode.6 Am Anfang des Jahrhunderts ging Jacob
Grimm in der ersten Auflage der Deutschen Grammatik von einer Dreiglie-
derung der deutschen Sprachgeschichte in Althochdeutsch, Mittelhoch-
deutsch und Neuhochdeutsch aus. Schon in der zweiten Auflage wenige
Jahre danach (1822) relativiert er seine ursprüngliche Trias:
Zwischen meiner darstellung des mittel- und neuhochdeutschen wird eine lücke
empfindlich seyn; mannigfaltige übergänge und abstufungen hätten sich aus den
schriften des vierzehnten so wie der drei folgenden jahrhunderte sammeln und
erläutern laßen […]. (Grimm 1822: 10)

Dennoch sieht Grimm die Phase zwischen der mittelhochdeutschen und


der neuhochdeutschen Periode als Übergang und nicht als eigenständige
Periode an. Der Zeit vom 14. bis zum 17. Jh. gibt erst einige Jahrzehnte
später Wilhelm Scherer einen eigenen Namen. Er nennt sie „Uebergangs-
oder frühneuhochdeutsche Zeit“ (Scherer 1890: 12) und etabliert sie als
eigenständige Epoche zwischen dem Mittelhochdeutschen und dem Neu-
hochdeutschen. Scherer betont mit der Namengebung aber auch die Nähe
des Frühneuhochdeutschen zum Neuhochdeutschen hinsichtlich der Pe-
riodisierungskriterien. Trotz der unterschiedlichen sprachwandeltheoreti-
schen Auffassungen und der unterschiedlichen Gewichtung des Frühneu-
hochdeutschen verbindet Grimm und Scherer die Ablehnung einer
Begrenzung sprachgeschichtlicher Perioden oder Übergangsphasen durch
punktuelle Datierungen. Grimm beschränkt sich darauf, die Sprachperio-
den in Jahrhunderten anzugeben. Scherer datiert aus praktisch-
methodischen Gründen dennoch punktuell und nennt einzelne Jahreszah-
len (vgl. Grimm 1822: 10–16, Scherer 1890: 10).

5. 300 – Scherer revisited


Dass Scherers Modell insbesondere in lehrorientierten Sprachgeschichten
bis heute übernommen wird, liegt vermutlich gerade darin, dass er konkre-
te Jahreszahlen nennt und vor allem darin, dass diese zu einer leicht merk-
baren Periodisierung in Epochen von jeweils 300 Jahren führt. Auch

6 Im Kontext der Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte als Phänomen der Kanon-
bildung wurden Teile dieses Beitrags bereits in Rössler (2008) veröffentlicht.
Sprachperiodisierung zwischen Forschung und Lehre 159

Elspaß (2008) greift Scherers Modell mit dessen lernpragmatischem Vor-


teil auf: „Man kann sich diese Einteilung deshalb gut merken, weil sie
jeweils 300 Jahre in eine Sprachperiode fasst“ (Elspaß 2008: 2). Dieser auf
das mnemotechnisch günstige Gleichmaß der Sprachperioden gerichtete
Fokus führt folgerichtig zu einer Neubestimmung des Neuhochdeutschen
um 1950. Elspaß (2008: 2–3) plädiert mit vor allem sprachgebrauchsinter-
nen und sprachexternen Argumenten für eine Umbenennung des Neu-
hochdeutschen in „Mittelneuhochdeutsch“ und ab etwa 1950 in „Gegen-
wartsdeutsch“, während Ernst (2007) die Scherer’sche Periodisierung der
300-Jahr-Schritte aufbricht und dem Primat der (Jahres-)Zahl grundsätz-
lich skeptisch gegenübersteht:
Man darf nicht zuerst eine Grenze festlegen und dann nach ihrer Begründung
fragen, sondern muss die umgekehrte Methode wählen: Zuerst müssen die
sprachlichen Fakten sondiert und beurteilt werden, und erst dann kann über eine
Epocheneinteilung diskutiert werden. (Ernst 2007: 61)

Gemeinsam ist Ernst (2007), Elspaß (2008) sowie allen Periodisierungs-


vorschlägen der jüngeren Zeit nach dem pragmatic turn in der Linguistik der
geschärfte Blick auf sprachexterne sowie sprachgebrauchsinterne Kriterien
gegenüber dem Scherer’schen Modell, das sprachsystemintern geprägt ist.
Die auf „soziopragmatische[n] Theorien des Sprachwandels“ (Polenz
1991: 28) fußenden jüngeren Periodisierungsvorschläge ähneln – trotz der
oben gezeigten Debatten – in der akademischen Lehre überraschender-
weise meist sehr jenen Scherers. Obwohl manche Forscher wie z. B. Wolf
(1989) in dieser überraschenden Datierungsähnlichkeit trotz unterschiedli-
cher Merkmalausrichtung nur ein Scheinproblem sehen, weil „[…] die
sprachexternen historischen Phänomene […] eben nur indirekt mit der
Sprachgeschichte zusammen[hängen], [a]ndererseits […] die Sprache als
System nicht für sich, sondern für die Menschen einer Sprachge-
meinschaft [existiert]“ (Wolf 1989: 122), bleibt ein methodisches Problem
bestehen.
Die kriterienkombinierten Periodisierungsvorschläge müssen nämlich
ihre Periodisierungen nach den einzelnen Kriterien dieser Kombination
abgleichen. Die Grenzen einer Periode, definiert durch ein innersprachli-
ches Kriterium, müssen keineswegs mit jenen eines außersprachlichen
oder sprachgebrauchsorientierten Kriteriums übereinstimmen. Auch in-
nerhalb innersprachlicher Kriterien kann es zu großen Unterschieden in
den Periodengrenzen kommen. Diese Schieflage in kriterienkombinierten
Periodisierungen führt vor allem bei lehrorientierten Sprachgeschichten
dazu, die Datierungen aufgrund der Einzelkriterien in der Synopsis der
Periodisierung nicht mehr oder zumindest nicht gebührend zu berücksich-
tigen. Anstatt dessen greift man auf Bewährtes, d. h. in der Periodisie-
160 Paul Rössler

rungsliteratur bereits Etabliertes zurück und passt an die Scherer’sche


Gliederung an:
Angesichts der genannten Unsicherheit hinsichtlich der einzelnen Kriterien und
Merkmale ist es kaum verwunderlich, daß ein solcher Abgleich in der Regel weni-
ger sprachgeschichtlichen Gegebenheiten als vielmehr periodisierungs-
geschichtlichen Vorgaben folgt. (Roelcke 1995: 482)

6. Ein neuer Vorschlag zur Periodisierung:


das ‚Dachfonds‘-Prinzip
Ein Abgleich anderer Art wird im Folgenden vorgeschlagen. Dieser unter-
scheidet sich von den bisherigen Periodisierungsvorschlägen insofern, als
er sich auf einen neuen methodischen Zugang beschränkt und keine kon-
krete Datierung vorschlägt. Diese könnte allerdings ohne Weiteres aus der
Methode deduziert werden. Gleichzeitig bedient sich dieser methodische
Vorschlag der bereits vorhandenen Periodisierungsmodelle. Betont sei,
dass sich die hier vorgestellte Methode ausschließlich für lehrinduzierte
Sprachgeschichten eignet und keineswegs die Bemühungen um eine Peri-
odisierung der deutschen Sprachgeschichte auf der Basis einzelmerkmal-
orientierter Forschungen ersetzen kann.
Es geht um eine Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte nach
einer Art ‚Dachfonds-Prinzip‘. Der Terminus Dachfonds stammt aus dem
Finanzwesen (vgl. Weber 2004: 53, 127). Bei einem Dachfonds bzw. engl.
fund of funds handelt es sich um einen speziellen Typ eines Investment-
fonds, der das Geld des Anlegers in Anteilen von mehreren Investment-
fonds veranlagt. Dabei stehen den Fondsmanagern alle Investmentfonds
offen, die nicht selbst Dachfonds sind, um sog. Kaskadeneffekte zu ver-
meiden.
Durch die Dachfonds-Konstruktion kann der Fondsmanager des Dachfonds die
einzelnen abzudeckenden Marktsegmente mit den jeweils attraktivsten Fonds be-
legen. In dieser Weise kann praktisch jedes Rendite-Risiko-Profil dargestellt wer-
den. Für den Investor besteht der Vorteil in einem breit diversifizierten und aktiv
gemanagten Portfolio. Dabei kann nicht nur über einzelne Wertpapiere gestreut
werden, sondern auch über verschiedene Fondsmanager und Fondsgesellschaf-
ten. Wichtig für diesen Diversifikationsaspekt ist allerdings einerseits die Unab-
hängigkeit des Dachfondsmanagements, sodass sicher gestellt ist, dass nicht ver-
stärkt Fonds eines bestimmten Hauses berücksichtigt werden. (Wilske 2010)

Die breite Diversifikation des Dachfonds kann dazu genutzt werden, das
Investitionsrisiko gegenüber einer Investition in nur einen Fonds zu ver-
ringern. Das Fondsprinzip selbst beruht schon auf der Verteilung von
Sprachperiodisierung zwischen Forschung und Lehre 161

Investitionsrisiken, weil ein Fonds schon unterschiedliche Anlageformen


in sich vereint. Ein Dachfonds bietet den Vorteil, mögliche Verluste ein-
zelner Fonds, ganz zu schweigen von Aktien innerhalb eines Fonds, abzu-
federn und durch die Renditen der anderen Fonds auszugleichen. Er hat
aber auch den Nachteil, sehr hohe Gewinne einzelner Aktien oder Fonds
durch die breite Diversifikation ebenfalls auszugleichen und damit die
Gesamtrendite zu verringern.
Das Diversifikationsprinzip des Dachfonds auf die lehrorientierten
sprachgeschichtlichen Periodisierungen zu übertragen bedeutet, die Pe-
riodisierungsvorschläge zur deutschen Sprachgeschichte als Fonds zu
betrachten. Die Periodisierungen entsprechen insofern schon dem Fonds-
prinzip, als sie bereits basierend auf einer Auswahl von sprachgeschicht-
lichen Kriterien eine Periodisierung vornehmen. Das ‚Investitionsrisiko‘,
im übertragenen Sinne also die Nähe zur sprachgeschichtlichen Ontik, ist
in der einzelnen Interpretation, d. h. in der einzelnen Publikation, relativ
hoch. Manche davon erzielen hohe Gewinne, sind also mit ihren In-
terpretationen und darauf aufbauenden Periodisierungsvorschlägen sehr
nahe an den sprachhistorischen Gegebenheiten. Andere hingegen machen
Verlust, weisen also einen hohen Grad an Fehlinterpretation auf. Die
jeweilige sprachtheoretische Position wird die Meinung über Nähe und
Distanz zur sprachhistorischen Ontik bestimmen. Die Schlussfolgerung
über den Wert einer Periodisierung wird so immer durch die Brille der
vertretenen sprachhistorischen Theorie gefiltert. Wenn man nun die ri-
sikobehafteten Periodisierungsvorschläge einzelner Forscher übereinander
legt, somit die Zahl der Periodisierungen maximiert und ihren Durch-
schnittswert errechnet, minimiert man das Risiko einer krassen Fehlein-
schätzung der Periodisierung. Die teilweise sehr unterschiedlichen Zugän-
ge zur Periodisierung könnten mit dem ‚Dachfonds‘-Prinzip ausgeglichen
werden, indem auf einer methodischen Metaebene eine möglichst große
Zahl an außersprachlichen, systeminternen und Sprachgebrauchskriterien
zur Periodisierung miteinbezogen wird. Zwar führt diese Meta-Periodisie-
rung nicht zwangsläufig zur größten Übereinstimmung mit den sprach-
historischen Gegebenheiten, sie minimiert aber die Gefahr der Fehlein-
schätzung in der Periodisierung. Die hier vorgeschlagene Periodisierungs-
methode der deutschen Sprachgeschichte auf der Basis der vorliegenden
Periodisierungen hätte zwei Vorteile: 1. Sie ist im Arbeitsaufwand bewäl-
tigbar, wenn man sie mit einem neuen Großprojekt vergleicht, das wieder
beginnend von der Interpretation der sprachhistorischen Gegebenheiten
selbst ausgehen müsste. 2. Sie könnte einen konkreten Periodisierungsvor-
schlag liefern, der nicht dem annalistischen Prinzip der 300-Jahr-Schritte
folgt, wie dies die meisten bisherigen lehrorientierten Periodisierungen
162 Paul Rössler

tun, sondern sie könnte ohne großen Aufwand die Ergebnisse spezieller
Forschungen zur Periodisierung miteinbeziehen.
Die vorgeschlagene Periodisierungsmethode eignet sich vor allem für
den lehrorientierten Bereich, weil sie zu konkreten Jahreszahlen bzw. zu-
mindest angenäherten Jahreswerten und auch konkreten Begrenzungen
von Übergangszeiträumen führt. Das ist mnemotechnisch leicht verwert-
bar und damit in der universitären Lehre des Grundstudiums gut umsetz-
bar. Die gesammelten Periodisierungsvorschläge von Roelcke (1995) wür-
den sich als Arbeitsgrundlage gut eignen. Selbstverständlich erspart diese
Methode nicht die weitere Erforschung der sprachhistorischen Gegeben-
heiten in den unterschiedlichen Subsystemen und die Erforschung der
historischen Gegebenheiten, die auf die Sprachsystem- und Sprachge-
brauchsgeschichte einwirken. Dass dieser Erkenntnisgewinn stets pro-
zesshaft ist im Gegensatz zur sprachlichen Ontik, die – wenn historisch –
abgeschlossen und als solche unveränderbar ist, versteht sich von selbst.

7. Periodisierung und Institution


Als hermeneutische Methode erscheint die Periodisierung der Sprach-
geschichte janusköpfig. Periodisierung ist auf Beschreibungsverfahren
sprachgeschichtlicher Gegebenheiten angewiesen, die ihrerseits in einer
hermeneutischen Tradition stehen. Indem sie auf Daten, die von der je-
weiligen hermeneutischen Vorgehensweise abhängig sind, aufbauen muss,
ist sie Objekt im hermeneutischen Prozess. Periodisierung wird aber nicht
nur gestaltet, sondern sie gestaltet Wissen selbst. In diesem Sinne ist sie
Subjekt, weil sie als Interpretationsverfahren ein hermeneutisches Kon-
strukt darstellt, das nicht mit der sprachhistorischen Ontik per se zu ver-
wechseln ist. Auf diesen konstruktivistischen Charakter der Periodisierung
haben schon Schmidt (1969), Sonderegger (1979) und Schildt (1990) hin-
gewiesen. Besonders Wolf (1971) hebt dieses konstruktivistische Moment
in der Hermeneutik der Periodisierung hervor:
Jede Periodisierung ist ein künstliches Gebilde, das von der Wissenschaft als ein
Akt ‚intellektueller Selbsterhaltung‘ geschaffen wird. Das gilt auch für die zeitliche
Gliederung, die Aufteilung der Gesamtentwicklung in gewisse, in sich abge-
schlossene Abschnitte lebender Sprachen […]. (Wolf 1971: 79)

Die Periodisierung als künstliches Gebilde wirft nun sowohl hermeneuti-


sche als auch wissenschaftssoziologische Fragen auf: Wessen Interpretati-
on sprachhistorischer Ontik ist stringenter im Vergleich zu anderen und
warum? Wessen Schlussfolgerungen für die Periodisierung sind konsisten-
ter als die anderer? Wessen Interpretation der Sprachgeschichte wird wa-
Sprachperiodisierung zwischen Forschung und Lehre 163

rum intensiv rezipiert und warum fallen die Periodisierungen anderer


durch den Rost sprachwissenschaftlicher Rezeptionsgeschichte?
Konkret bezogen auf die Periodisierung der deutschen Sprachge-
schichte stellt sich die Frage, warum das immerhin 120 Jahre alte Modell
Scherers die sprachhistorische Rezeption bis heute prägt und warum al-
ternative Periodisierungsmodelle, die in Details und Schwerpunktsetzun-
gen auf bestimmte sprachliche Subsysteme ganz andere Ergebnisse her-
vorbringen, dennoch um Akkordanz mit dem Scherer‫ތ‬schen Modell
bemüht sind? Kommt es hier trotz der forschungsgeschichtlich jüngeren
Ergebnisse in der Beschreibung der sprachhistorischen Ontik und deren
Interpretation in der Periodisierung, die eine konsequente Induktion aus
den Ergebnissen sein sollte, zu einer stillen Anpassung an das Scherer’sche
Modell? Ist diese stille Anpassung nicht nur Folge der intensiven Rezepti-
on Scherers, sondern darüber hinaus Emanat einer längst etablierten insti-
tutionellen Gliederung des Faches, die auf der Scherer’schen Periodisie-
rung beruht? Die Dynamik wissenschaftssoziologischer Prozesse lässt sich
hier daran erkennen, dass ein hermeneutisches Konstrukt bei – aus unter-
schiedlichen Gründen – erfolgreicher und intensiver Rezeption wissen-
schaftliche Institutionen generiert, die zur Bewahrung ihrer selbst tendie-
ren, selbst wenn neuere Hermeneutiken ältere widerlegen. Der herme-
neutischen Dynamik steht die institutionelle Statik gegenüber.
Periodisierungen generieren in diesem Sinne nicht nur sprachge-
schichtliche Epochen und ihre Grenzen, sie generieren auch sprachwis-
senschaftliche Teilbereiche selbst und die Institutionen, die diese verwal-
ten. Schließlich sind es mitunter die Periodisierungen, die die Grundlage
der Unterscheidung verschiedener funktionaler, wirtschaftlicher und
rechtlicher Einheiten im Hochschulbetrieb bilden.
Die zentrale Frage des vorliegenden Tagungsbandes, wohin die Histo-
rische Sprachwissenschaft steuert, sollte nicht nur als eine Frage nach
neuen Forschungsmethoden und -bereichen verstanden werden, sondern
ebenso als eine nach der institutionellen Verankerung bzw. Neuorientie-
rung im Forschungs- und Lehrbereich. Der Status der Historischen
Sprachwissenschaft innerhalb der nationalen Philologien mag sehr unter-
schiedlich sein. Die Historische Linguistik innerhalb der Germanistik ist
hier freilich nur ein Beispiel; ein Beispiel allerdings, das in Bezug auf die
institutionelle Verankerung im Lehrbetrieb im Rahmen des Bologna-
Prozesses wenig optimistisch stimmt.7

7 So wurde im Rahmen der Umstellung des alten vierjährigen Magisterstudiums auf das neue
dreijährige Bachelorstudium in vielen Studienplänen der Anteil von Lehrveranstaltungen
mit sprachhistorischem Inhalt auf unterschiedliche Art verringert: an der Germanistik der
Universität Wien z. B. dadurch, dass in der Studieneingangsphase keine parallelen Konver-
satorien mit überschaubaren Kursteilnehmerzahlen mehr abgehalten werden, sondern eine
164 Paul Rössler

Die Germanistikinstitute an den deutschsprachigen Universitäten wei-


sen derzeit meist eine institutionelle Dreigliederung in neuere Sprachwis-
senschaft, neuere Literaturwissenschaft sowie ältere Sprach- und Litera-
turwissenschaft (Mediävistik) auf. Ein akkurater Blick lässt hier terminolo-
gische und institutionelle Unschärfen erkennen: Die Adjektive neuere und
ältere setzen verknappend und zugleich falsch das Forschungsobjekt mit
dem Forschungsstand in eins. Eine neuere Sprachwissenschaft, die sich
mit den älteren Perioden der deutschen Sprachgeschichte beschäftigte,
gäbe es gemäß diesem terminologischen Zusammenfall gar nicht. Proble-
matisch sind auch die Adjektive in ihrer komparativen Verwendung. Sie
euphemisieren nicht wie etwa bei der Rede von „unseren älteren Mitbür-
gern“ und sie steigern nicht. Eine ‚neue‘ Sprachwissenschaft existiert we-
der terminologisch noch institutionell, genauso wenig wie eine ‚alte‘. Der
Komparativ ermöglicht hier, die definitorische Abgrenzung zu umgehen.
In der Literaturwissenschaft ist dies nicht so gravierend, weil man sich
weitgehend einig ist, dass die ältere Literatur mit dem Mittelalter endet
und die neuere unmittelbar danach beginnt.
In der Sprachwissenschaft fehlt dieser Konsens. Unklar ist schon, ob
sich jemand, der ‚neuere‘ Sprachwissenschaft treibt, ausschließlich mit der
Sprache des 20. Jh. beschäftigt oder gar nur mit der Gegenwartssprache,
bei der ebenfalls unklar bleibt, wann sie genau beginnt.8 Unklar bleibt aber
auch, wie weit die ältere Sprachwissenschaft reicht. Zwar besteht Konsens
darüber, dass das Althochdeutsche und das Mittelhochdeutsche zur älte-
ren Sprachwissenschaft gehören, aber eine konsensuelle Zuordnung des
Frühneuhochdeutschen fehlt. Hinter der Vagheit des adjektivischen
Komparativs scheint sich eine institutionelle Absicht zu verbergen, die das
Frühneuhochdeutsche in der universitären Lehre zum Appendix des Mit-
telhochdeutschen degradiert. Das Althochdeutsche ist von diesen Erosio-
nen der universitären Lehrarchitektur ebenfalls hochgradig betroffen. Der
institutionellen Vernachlässigung im Lehrangebot steht die Intensivierung
in der Forschung besonders hinsichtlich des Frühneuhochdeutschen und
des Neuhochdeutschen des 19. Jh. in den letzten Jahren gegenüber. Hier
hat der pragmatic turn auch in der Historiolinguistik wenn nicht zu einem
Paradigmenwechsel, so zu einer Paradigmenerweiterung der Frühneu-

einführende Massenvorlesung. Die Betreuungsqualität des/r einzelnen Studierenden ver-


schlechtert sich dadurch zwangsläufig zugunsten geringeren Finanzierungsaufwands. Im
bayerischen Bildungssystem gibt es Überlegungen, die Sprachgeschichte aus dem Prüfungs-
kanon der Staatsexamen zu nehmen, was zur Folge hätte, dass angehende Gymnasial- und
Realschullehrer für diesen Teilbereich der Sprachwissenschaft weniger Fachkompetenz
hätten und à la longue Sprachgeschichte aus den Lehrplänen der Mittelschulen fiele.
8 Vgl. Abschnitt 1 ‚Aktuelle Periodisierungsvorschläge‘.
Sprachperiodisierung zwischen Forschung und Lehre 165

hochdeutschforschung und der Forschung zum Neuhochdeutschen des


19. Jh. geführt.
Das Auseinanderdriften von Forschung und Lehre in der Historiolin-
guistik suspendiert auch das Humboldt‫ތ‬sche Hochschulparadigma der
Verbindung von Forschung und Lehre. Zum Schluss sei eine pathetische
Metapher erlaubt: Darüber, dass die Historische Sprachwissenschaft als
Forschungsschiff in neue, teils noch unbekannte Meere steuert und dabei,
wie schon zu Humboldts Zeit, mit neuen Erkenntnissen immer wieder
heimkehren wird, besteht wohl kein Zweifel. Dass die Historische
Sprachwissenschaft als Lehr- und Unterrichtsschiff angesichts der institu-
tionellen Untiefen und Riffe des Bolognamodells auf Grund zu gehen
droht, sollte jedoch zu denken geben.

Literatur
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Standortbestimmung. In: Eichhoff-Cyrus, Karin M./Hoberg, Rudolf
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166 Paul Rössler

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bis zur Gegenwart. Band 1: Einführung – Grundbegriffe – Deutsch in
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Struger, Jürgen (Hrsg.) (2008): Der Kanon – Perspektiven, Erweiterung
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Sprachperiodisierung zwischen Forschung und Lehre 167

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Wolf, Norbert Richard (1989): Zur Periodisierung der deutschen Sprach-
geschichte. Eine Notiz. In: Heimann, Sabine et al. (Hrsg.): Soziokultu-
relle Kontexte zur Sprach- und Literaturentwicklung. Festschrift für
Rudolf Große zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Heinz, 121–127.
168 Paul Rössler
Hiroyuki Takada

‚Umgangssprache‘
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Eine sprachbewusstseinsgeschichtliche Annäherung
an einen Schlüsselbegriff zwischen historischer
Nähe- und Distanzsprache1

1. Zielsetzung
Die Sprachgeschichte konstituiert sich nach Gardt (1996) aus drei Grö-
ßen, „der Geschichte des Sprachsystems, der Geschichte der Sprachver-
wendung [...] und der Geschichte der Reflexion über Sprache“ (Gardt
1996: 92). Indem man sprachreflexive Äußerungen unter dem Begriff
Sprachbewusstsein als „Sammelbezeichnung für die Gesamtheit des meta-
sprachlichen Wissens“ (Scharloth 2005: 19) zusammenfasst, lässt sich be-
haupten, dass jede sprachgeschichtliche Fragestellung eine sprachbewusst-
seinsgeschichtliche Perspektive einschließt. Das Erkenntnisinteresse der
vorliegenden Arbeit konzentriert sich auf die Korrelation von Sprachge-
schichte und Sprachbewusstsein in Bezug auf die Herausbildung des Kon-
zepts von „Umgangssprache“ in der zweiten Hälfte des 18. Jh.
Der Begriff der Umgangssprache ist heute recht schillernd. Es fehlt
„noch immer an einer hinreichend präzisen Gegenstandsbestimmung,
ganz zu schweigen von Gesamtdarstellungen deutscher Umgangsspra-
che(n) in system- und soziolinguistischer Hinsicht“ (Munske 1983: 1002).
Wir haben „keinen einheitlichen Begriff ‚Umgangssprache‘“ (Bichel 1973:
55f., 378). Analog zum Begriff Satz, der „bis tief in die Wissenschaften
hinein undefiniert“ bleibt (Bühler 1965: 356), ist Umgangssprache mit dem
2
Terminus von Karl Bühler ein „synchytisch“ angelegter Begriff (vgl. Bi-
chel 1973: 377). Nach Paul (2002: 1051, vgl. auch Henne 1988) lassen

1 Für die Durchsicht meines Manuskripts sowie wertvolle Hinweise danke ich Herrn
Prof. Dr. Helmut Henne, Herrn Prof. Dr. Stephan Elspaß, Herrn Prof. Dr. Jörg Kilian,
Herrn Prof. Dr. Joachim Scharloth und Herrn Prof. Dr. Johannes Schwitalla herzlich.
2 Eine Umschreibung des Terminus „synchytisch“ ist: „nach einer mehrfachen, d. h. nicht
nur von einem einzigen Gesichtspunkt aus bestimmten Ähnlichkeit“ (Bühler 1965: 222).
170 Hiroyuki Takada

sich folgende Bedeutungen von Umgangssprache anführen: „gesprochene


Version der deutschen Gemeinsprache“, „sprachliche Existenzformen
zwischen Hochsprache und Mundart mit regionaler Geltung“, „gemein-
sprachlicher Wortschatz unterhalb der gehobenen und ‚normalen‘ und
oberhalb der saloppen Stilschicht“, „landschaftliche oder regionale Kenn-
zeichnung der Wörter, die keine überlandschaftliche Form (z. B. Rotkohl
und Blaukraut) haben“ und „unterschiedliche Einzelsprachen und/oder
Dialekte überbrückende Existenzform, die als öffentliches Kommunikati-
onsmittel (z. B. dem Zweck einheitlicher Verwaltung) dient oder Mittel
sozialer Distanz ist.“ Es gibt sogar recht widersprüchliche Begriffsfassun-
gen: Umgangssprache als „Sprache der guten Gesellschaft oder der Gebil-
deten“ gegenüber Umgangssprache als „ungebildeter, nicht gesellschafts-
fähiger Sprache“ (vgl. Bichel 1973: 378).
Die vorliegende Arbeit formuliert die Hypothese, dass die Bezeich-
nung Umgangssprache schon in ihrer Entstehungszeit, also in der zweiten
Hälfte des 18. Jh., auf aspektverschiedene bis gegenteilige Begriffe ver-
weist, die mittels des Modells von medialer und konzeptioneller Münd-
lichkeit und Schriftlichkeit bzw. von Nähe- und Distanzsprache von
Koch/Oesterreicher (1985, 1994, 2007) als eine Entwicklung von media-
len und konzeptionellen Übergängen und Verschiebungen anschaulich
darzustellen ist. „Die Frage der Gewichtung von Schreib- und Rede-
sprachgeschichte“ (Polenz 1995: 45) wäre vor diesem Hintergrund neu zu
diskutieren.

2. Das Nähe-Distanz-Modell von Koch/Oesterreicher


Zuerst soll das Nähe-Distanz-Modell von Koch/Oesterreicher umrissen
werden, das wir unserer Analyse zugrunde legen. Zur Klärung der Begriff-
lichkeit von ‚gesprochen‘ und ‚geschrieben‘ machen Koch/Oesterreicher
(1985) eine doppelte Unterscheidung, indem sie einerseits in Bezug auf
das Medium dichotomisch den phonischen und graphischen Kode und anderer-
seits hinsichtlich der Konzeption sprachlicher Äußerungen „idealtypisch“
(Koch/Oesterreicher 1985: 17) die Polarität von gesprochen und geschrieben
erkennen, die „für ein Kontinuum von Konzeptionsmöglichkeiten mit
zahlreichen Abstufungen steht“ (ebd.). Medium und Konzeption stehen
also voneinander unabhängig. Die beiden konzeptionellen Extrempole
werden in Koch/Oesterericher (1985) als „Sprache der Nähe“ und „Spra-
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 171

che der Distanz“ und in Koch/Oesterreicher (1994) als „konzeptionell


3
mündlich (Nähe)“ und „konzeptionell schriftlich (Distanz)“ bezeichnet:

graphisch

konzeptionell c e h i konzeptionell
mündlich schriftlich
(Nähe) a b d f g (Distanz)

phonisch

(a = familiäres Gespräch, b = Telefongespräch, c = Privatbrief, d = Vorstellungsgespräch,


e = Zeitungsinterview, f = Predigt, g = wissenschaftlicher Vortrag, h = Leitartikel,
i = Gesetzestext)

Abb. 1: Schematische Anordnung verschiedener Äußerungsformen im Feld medialer und


konzeptioneller Mündlichkeit/Schriftlichkeit nach Koch/Oesterreicher (1994: 588)

Der Grad der Nähe- oder Distanzsprache von Äußerungen lässt sich
durch die unterschiedlichen Werte der Parameter bestimmen. Die Autoren
machen sich „die metaphorische Potenz der Wörter ‚Nähe‘ und ,Distanz‘
zunutze, um die Kombinationen von Parameterwerten als ganze zu er-
fassen“ (Koch/Oesterreicher 2007: 351). Die Parameterwerte ‚Dialogizi-
tät‘ (vs. ‚Monologizität‘), ‚Vertrautheit der Kommunikationspartner‘ (vs.
‚Fremdheit der Kommunikationspartner‘), ‚freie Themenentwicklung‘ (vs.
‚Themenfixierung‘), ‚Privatheit‘ (vs. Öffentlichkeit‘), ‚Spontaneität‘ (vs.
‚Reflektiertheit‘), ‚starke emotionale Beteiligung‘ (vs. ,geringe emotionale
Beteiligung‘) usw. charakterisieren den Pol ‚Nähe‘.
Koch/Oesterreicher (1994, 2007) versuchen, anhand des folgenden
Schemas (vgl. Abb. 2) den konzeptionellen Gesichtspunkt in die Modellie-
rung des Varietätenraums zu integrieren (Abb. 2, S. 172). Diatopisch stark
markierte Elemente können „sekundär als diastratisch niedrig, tertiär auch
als diaphasisch niedrig und schließlich sogar als nähesprachlich funktionie-
ren“ (Koch/Oesterreicher 2007: 356). So ist die Verwendung diastratisch
und diaphasisch als niedrig markierter Ausdrücke „im Bereich der auf
Formalität, Prestige usw. angelegten konzeptionellen Schriftlichkeit nicht
opportun. Zugeschnitten auf distanzsprachliche Kommunikation ist somit

3 Koch/Oesterreicher (2007: 351) nennen die Pole ,kommunikative Nähe‘ und ,kommunika-
tive Distanz‘.
172 Hiroyuki Takada

eine minimal diatopisch markierte und diastratisch/diaphasisch als hoch


markierte Varietät: die ‚Schriftsprache‘.“ (Koch/Oesterreicher 1994: 595).
Es gibt sprachliche Formen, die sich nicht auf diatopische, diastratische
oder diaphasische Parameter beziehen, sondern direkt an das Nähe-Dis-
tanz-Kontinuum angeschlossen werden (1b)“ (Koch/Oesterreicher 2007:
356) müssen: z. B. der Verlust des ,passé simple‘ in der französischen, der
unbestimmte Artikel ’n, ’ne in der deutschen und Formen wie I’m oder I’ve
in der englischen Nähesprache.

Nähe 1a
universal Distanz
nicht-
1b markiert
STATUS
‚Nähe‘ ‚Distanz‘ DIASYSTE-
MATISCHE
2 MARKIE-
einzel- niedrig Diaphasik hoch
RUNG
sprachlich-
kontingent 3
niedrig Diastratik hoch markiert

4
stark Diatopik schwach

Abb. 2: Varietätenraum oder Dimension der Sprachvariation (Koch/Oesterreicher 2007: 355)

In Anlehnung an die Bezeichnung „Nähe-“ und „Distanzbereich“ für


die gesamte linke und rechte Hälfte des Nähe-Distanz-Kontinuums in
Koch/Oesterreicher (2007: 356) soll in den folgenden Abschnitten bei der
Analyse der historischen Nähe- und Distanzsprachlichkeit der Anschau-
lichkeit halber das folgende Schema benutzt werden:

Tab. 1: Schema zur Darstellung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Medium und Konzept

konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch

B) phonisch

Zu beachten ist dabei, dass die doppelte Wellenlinie zwischen den beiden
Bereichen die (eigentlich) nicht dichotomisch darzustellende Natur dieses
Variationsspektrums darstellt. Zur Beschreibung der Übergänge zwischen
Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Medium und Konzeption schlagen
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 173

Oesterreicher (1993) und Koch/Oesterreicher (1994) eine weitere begriff-


4
liche Differenzierung vor: Sie unterscheiden zwischen Verlautlichung und
Verschriftung als mediale Umsetzungen „vom phonischen ins graphische
Medium“ einerseits und Vermündlichung und Verschriftlichung als konzeptio-
nelle Verschiebungen in Richtung Schriftlichkeit andererseits (vgl. Koch/
Oesterreicher 1994: 587). Die Ersteren werden als „mediale Transkodie-
rungen“ und die Letzteren als „konzeptionelle Transpositionen“ bezeich-
net (vgl. Oesterreicher 1993: 283). Diese Differenzierungen lassen sich in
unserem Schema folgendermaßen abbilden:

Tab. 2: Mediale und konzeptionelle Übergänge

konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
iv)
A) graphisch
i) iii) 㻌 i)
ii) iv) 㻌 ii)
B) phonisch
iii)
mediale Transkodierungen: i) A Ⱥ B: Verlautlichung, ii) B Ⱥ A: Verschriftung
konzeptionelle Transpositionen: iii) I Ⱥ II: Verschriftlichung, iv) IIȺ I: Vermündlichung

3. Umgangssprache und Sprache in der Komödie und im Brief


3.1 Von der „altages Rede“ zur „Sprache des Umganges“

Der deutsche Grammatiker des 17. Jh. Justus Georg Schottelius weist da-
rauf hin, dass die Griechen und Römer zwischen der „altages Rede“ und
der „Sprache selbst“ unterschieden:
Es haben so wol die Griechen als Römer einen Unterscheid gemacht/ in sermo-
nem vulgarem seu vernaculum, & inter linguam Latinaem & Atticam, unter der
gemeinen altages Rede/ und unter der Sprache selbst. (Schottelius 1663: 144).

Schottelius setzt das Hochdeutsche mit der deutschen Sprache selbst


gleich: „Die gemeine altages Rede“5 werde ihrerseits „nach jedes Landes

4 Diese Differenzierung ist zuerst von Peter Koch in seiner Habilitationsschrift im Jahre
1987 eingeführt worden (vgl. dazu Schlieben-Lange 1997).
5 Neben der zitierten Stelle wird von der (Vorstufe der) Zusammensetzung altages Rede in
Schottelius 1663 auf S. 168 zweimal Gebrauch gemacht. Sonst finden sich auch verwandte
Formulierungen wie altages Geschwätze (S. 168), Altagesbrauch (S. 3), altages Gebrauch (S. 144,
168), altägliche Gewonheit (S. 5, 10, 148) und altäglicher Gebrauch (S. 17).
174 Hiroyuki Takada

Mundart verändert und verzogen“ (Schottelius 1663: 145). Der Grammati-


ker möchte die Verfälschungen in der „gemeinen altages Rede“ beseitigen,
indem er dem Hochdeutschen die Grundrichtigkeit oder „vera fundamenta“
(Schottelius 1663: 174) vermittelt (vgl. dazu ausführlicher Takada 1998:
29ff.). Als „dreyerlei Haubtuhrsachen/ wordurch der Abgang/ und die
Enderungen jeder Sprache zugeschehen pflegt“ (Schottelius 1663: 166),
nennt Schottelius den „Ablauf und Hingang der Zeiten selbst“ (ebd.), „die
Vermischung und Vermengung der Völker und Einwohner“ (ebd.) und
die befreite unacht/ unbedacht und unbetrachtete Ungewisheit der gemeinen Re-
de/ die sich fast in jeder Stat und jedem Lande mit der Zeit verzeucht/ und nach
aller Beliebung des Pöbels zu Enderungen kömt. (Schottelius 1663: 166)

Von diesen drei Hauptursachen der sprachlichen Veränderung habe die


dritte, nämlich die Unachtsamkeit der Menschen, „der Teutschen Sprache
wol den grössesten Schaden und Widerstand“ (Schottelius 1663: 167) ge-
tan.
In der Zeit von 1550 bis 1700 entsteht „eine immer tiefere Entfrem-
dung zwischen der Sprache der Schriftwerke und der gesprochenen Spra-
che“ (Admoni 1990: 176; vgl. auch Gessinger 1980: 104). Es herrscht im
17. Jh. der periodisch komplizierte „verschachtelte ‚Stil der Barock-Ge-
lehrten‘“ (Betten 1987: 75).6 Im Verlauf des Normierungsprozesses im
17. Jh. fällt „der mündliche, umgangssprachliche und regional gefärbte
Sprachgebrauch der sozialen Abwertung“ (Gessinger 1980: 100) anheim.
Bis Mitte des 18. Jh. gilt die Rede des Alltags deshalb als eine sozial herab-
zusetzende sprachliche Erscheinungsform. Statt „affektierter Verschro-
benheit“ (Betten 1987: 75) wird dann allerdings in der Aufklärungszeit das
natürliche, verständliche Schreiben zum Stilideal (vgl. Takada 2007). Die
beiden Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched und Christian
Fürchtegott Gellert, die 1751 von der Sprache des Umgang(e)s sprechen, hul-
digen dem „Stilideal der klaren Kürze“ (Betten 1987: 75). Das Interesse an
der Sprache des Umgang(e)s bei den beiden Professoren stammt aus dem Be-
kenntnis zum natürlichen Sprachstil, der „ohne rhetorischen Schmuck und
Künstlichkeit leicht fließend und in knappen, klaren Sätzen verlaufen soll“
(Eggers 1977: 65).7

6 Hinter dem Gebrauch der die Grenze der Verständlichkeit überschreitenden Einklamme-
rung langer Nebensätze erkannte Johann Bödiker (1690) ein soziolinguistisches Motiv: Je
komplizierter der Satzbau sei, desto höher im Rang befindet sich der Schreiber. „Solche
Schreib-Art verstellt nur unsere Sprache/ und kömmet von Leuten her/ die auß Hoheit ih-
rer Sinnen es also düster machen/ und meynen/ darinn bestehe die Zier der Deutschen
Sprachen“ (Bödiker 1690: 245); vgl. dazu Takada (1998: 228ff.) und Takada (2007: 25ff.).
7 Lessing bemerkt in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1769), 24. November: „Bey einer ge-
suchten, kostbaren, schwülstigen Sprache kann niemals Empfindung seyn. Sie zeigt von
keiner Empfindung, und kann keine hervorbringen. Aber wohl verträgt sie sich mit den
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 175

3.2 Sprache in der Komödie: Gottsched

Wenn Gottsched in seiner Schrift Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751)


die „tägliche Sprache des Umganges“ erwähnt, meint er „lauter lächerliche
und lustige Sachen“ in der Komödie, „wovon man in der gemeinen Spra-
che zu reden gewohnt ist.“ Bei Gottsched heißt es nämlich:
Es muß also eine Komödie eine ganz natürliche Schreibart haben. [...] Diejenigen
machen es also nicht gut, die sich in ihren Komödien, nach dem bösen Muster
der heutigen Franzosen, einer gekünstelten, und durchgehends sinnreichen
Schreibart bedienen. Ein so gedrechselter Ausdruck ist der täglichen Sprache des
Umganges gar nicht ähnlich, und stellet also ein Stück aus einer andern Welt vor.
(Gottsched 1751: 652)

Die Sprache des Umganges, die Gottsched mit der „gemeinen Sprache“ iden-
tifiziert, wird von ihm als Stilisierungsmittel in der Komödie aufgefasst;
nur als solche interessiert die Größe Sprache des Umganges den Literaturthe-
oretiker hier. Dieser Sachverhalt lässt sich in der Anwendung des Nähe-
Distanz-Modells folgendermaßen beschreiben: Die Sprache des Umganges,
die im phonischen Medium im Nähebereich liegt, will Gottsched wegen
der „natürlichen Schreibart“ durch Verschriftung medial transkodieren:

Tab. 3: Sprache des Umganges bei Gottsched (1751)

konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch (Sprache in —
der Komödie)
*)
B) phonisch Sprache des Umganges —
*) Verschriftung

Dies entspricht der allgemeinen Bemerkung von Koch/Oesterreicher


(2007), dass wegen der „Erwartungshaltung der Rezipienten“ nähesprach-
liche Varietäten „allenfalls in Komödien, jedoch nie in Tragödien vorkom-
men“ (Koch/Oesterreicher 2007: 359), in dem Sinne, dass es „im Bereich
der ästhetisch-literarischen Schriftlichkeit auch Gattungen gibt, in denen
aus parodistischen, humoristischen oder naturalistisch-mimetischen Ziel-
setzungen konzeptionelle Mündlichkeit qua Nähesprache zitatartig ange-
führt oder imitiert“ (Oesterreicher 1993: 277) wird. In diesem Fall kann

simpelsten, gemeinsten, plattesten Worten und Redensarten“ (Lessing 1769: 51f.). Im Fol-
genden stammen die Unterstreichungen in Zitaten vom Verfasser.
176 Hiroyuki Takada

man von „hergestellte[r] Mündlichkeit“ (Oesterreicher 1993: 278) spre-


chen.
Die Bestimmung der „Sprache des Umganges“ als Sprache in der Ko-
mödie findet sich auch in der Folgezeit. In der anonymen deutschen
Übersetzung des kunsttheoretischen Werkes von Jean-Baptiste Dubos
Réflections critìque sur la poésie et sur la peinture (1719) heißt es 1761: „Quin-
tilian sagt, die komischen Schauspieler ahmten die gewöhnliche Sprache
des Umganges zwar in etwas nach; sie wichen aber doch auch bis auf ei-
nen gewissen Grad davon ab“ (Dubos 1761: 119). Christian Felix Weiße
schreibt 1765 ebenfalls:
Deutschland hat noch keinen so großen Ueberfluß an guten Trauerspielen [...];
man kennt weder die große, noch die kleine Welt, weder den Hof noch das ge-
meine Leben, weder die Sprache des Umgangs, noch die Sprache der Leiden-
schaften genug. (Weiße 1765: Bl. )( 2rf.)

Verhältnismäßig bald wird der Ausdruck Sprache des Umganges zu Umgangs-


sprache univerbiert: Der Professor für Dichtkunst in Königsberg Johann
Gotthelf Lindner erwähnt nämlich 1768 in seinem Lehrbuch der schönen
Wissenschaften, insonderheit der Prose und Poesie die Umgangssprache im Kon-
text der Sprache in der Komödie:
Um rein und richtig zu schreiben, meide man I. Barbarismen oder fremde aus-
ländische Wörter und Bettlerlumpen aus fremden Sprachen. [...] Unsere Mutter-
sprache ist nicht arm, und verdient nicht jenen Schimpf. Zur reinen Sprache hilft
mit das Lesen guter Uebersetzungen, Komödien und unanstößiger Romanen die
beiden letzteren besonders zur Umgangssprache. (Lindner 1768: 65f.)

Johann Georg Sulzer macht 1771 in seinem Hauptwerk Allgemeine Theorie


der Schönen Künste, das als erste Enzyklopädie in deutscher Sprache gilt,
vom Ausdruck Sprache des Umgangs einmal Gebrauch, und zwar in Bezug
auf die Dramaturgie. Unter dem Artikel „Idiotismen (Redende Kunst)“
wird erklärt:
Man wird in den gelobtesten französischen Trauerspielen die Helden des Al-
terthums ofte die Sprache eines französischen Hoffmannes reden hören, und auf
unsrer deutschen Schaubühne höret man nur gar zu ofte vornehmere und gemei-
nere Personen eine Sprache reden, die von der Sprache des Umganges der gerin-
gern, oder vornehmern Welt, völlig verschieden, und die eigentlich die Sprache
der Schriftsteller ist. (Sulzer 1771: 557)

In den oben genannten Fällen geht es um die Sprache im gewöhnlichen


Leben, deren stilistische Nachahmung der Darstellung lustiger Sachen in
Komödien dienen sollte. Allerdings: Es handelte sich um die Sprache im
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 177

gewöhnlichen Leben von Bürgern, mithin Gebildeten, nicht aber um die


Sprache des „Pöbels“.

3.3 Sprache im Brief: Gellert

Die Briefkultur des 18. Jh. gilt als „Folge eines gesellschaftlichen Individu-
alisierungs- und Subjektivierungsprozesses, der von den ‚neuen bürgerli-
chen Schichten‘ getragen wird und die ständische Gesellschaftsordnung
auflöst“ (Vellusig 2000: 153). In demselben Jahr, 1751, in dem Gottsched
von der Sprache des Umganges spricht, macht Gellert in seiner Schrift Briefe,
nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen auch von
dieser Bezeichnung Gebrauch. Dieses Buch ist „von geradezu epochema-
chender Bedeutung“ (Merkel 1961: 411) für die Entwicklung einer guten,
verständlichen Gebrauchsprosa, indem es sich gegen das umständliche
kanzlistische (also distanzsprachliche) Briefmuster „wie gegen die sinnrei-
chen Scherze des galanten Stils“ (Vellusig 2000: 83) richtet. Der Autor
verlangt vom Brief eine Annäherung an das Gespräch bzw. die „Sprache
des Umgangs“, wobei er bemerkt, ein Brief sei „kein ordentliches Ge-
spräch; es wird also in einem Briefe nicht alles erlaubt seyn, was im Um-
gange erlaubt ist“ (Gellert 1751: 111). Es handelt sich hier um die „gebil-
dete Natürlichkeit und Als-Ob-Natürlichkeit“ (Nickisch 1969: 175f.). Der
Brief solle „eine freye Nachahmung des guten Gesprächs“ (Gellert 1751:
111) sein. Das Stilideal von Gellert zielt auf „die ‚dialogische Vergegen-
wärtigung‘ der Interaktion im einsamen Monolog des Schreibens“ (Vellu-
sig 2000: 88). Der Autor fährt fort:
Allein wer sieht nicht, daß wir im Briefschreiben in viele Fehler verfallen würden,
wenn wir ohne Unterscheid die Sprache des Umgangs nachahmen wollten? Uns-
re Schreibart würde oft sehr unverständlich und schmutzig, oder gezwungen,
platt, weitläuftig und gemein werden, wenn wir ohne Ausnahme von bürgerlichen
und häuslichen Angelegenheiten in Briefen so reden wollten, wie die Niedrigen,
oder die Vornehmen, im gemeinen Leben davon zu sprechen pflegen. Hier geht
also der Brief von dem Gespräche ab. (Gellert 1751: 112)

Wenn Gellert in diesem Zitat von der Gefahr der Unverständlichkeit,


Plattheit und Weitläufigkeit spricht, kann es sich – nach unserer Interpre-
tation – um den der Nähesprache zuzuordnenden kommunikativen Para-
meter „Spontaneität“8 handeln. Zu bemerken ist auch, dass der Gel-

8 Gellert lehnt bereits in seinen Gedanken von einem guten deutschen Briefe (1742) „alle bisherigen
Anweisungs- und Regelbücher ab, weil sie mit aller Gewalt gekünstelt schreiben lehren
wollen“ (Nikisch 1969: 158). In Gellert (1742) heißt es: Wenn das Briefschreiben „nichts
anders ist, als was ich ihm [einem anderen] mündlich sagen würde“ (Gellert 1742: 99), so
178 Hiroyuki Takada

lert’sche Begriff der Sprache des Umgangs prinzipiell von sozialer Abwer-
tung befreit zu sein scheint, weil „Fehler“ nicht nur in der mündlichen
Sprache der „Niedrigen“, sondern auch der „Vornehmen“ vorausgesetzt
sind. Insofern ein Brief „die Stelle einer mündlichen Rede“ (Gellert 1751:
111) vertrete, „muß er sich der Art zu denken und zu reden, die in Ge-
sprächen herrscht, mehr nähern, als einer sorgfältigen und geputzten
Schreibart“ (ebd.). Der Ausdruck „der Art, die in Gesprächen herrscht,
mehr nähern“ weist implizit auf das Kontinuum zwischen den Extrempo-
len Mündlichkeit und Schriftlichkeit hin. Die Formulierung „eine sorgfältige
Schreibart“ deutet die „Reflektiertheit“ (im Gegensatz zur „Spontaneität“)
als einen der kommunikativen Parameter der Distanzsprache an. In einem
freundschaftlichen Brief sei nach Gellert z. B. die Formulierung „‚Sie
können versichert seyn, daß ich Ihnen eben diesen Gefallen bey andern
Gelegenheiten erzeigen werde.‘ […] nicht die vertrauliche Sprache eines
Freundes“ (Gellert 1751: 131) und deshalb „zu matt“ (ebd.), also – in
unserer Terminologie – nicht nähesprachlich; der Autor rät den Lesern:
„Sagen Sie ihm mehr. Sprechen Sie lieber in der Sprache des Umgangs:
‚Ich will Ihnen alles wieder zu gefallen thun, wenn Sie mir diese Freude
machen.‘“ (ebd.).
Wenn wir Gellerts Formulierungen auf der Folie des Nähe-Distanz-
Modells nun so auslegen, dass die Sprache des Briefs trotz ihrer medialen
Schriftlichkeit dem Pol „konzeptioneller Mündlichkeit“ näher stehen solle
als einer „sorgfältigen“ Schreibart, dann geht es um die zweckmäßige
Transkodierung vom phonischen zum schriftlichen Medium, also die
mediale Verschriftung innerhalb des Nähebereichs, mit dem Vorbehalt,
dass man „das Natürliche nicht bis zum Ekelhaften treiben“ (Gellert 1751:
113) dürfe:

Tab. 4: Sprache des Umganges bei Gellert (1751)

konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch (Sprache im Brief) —
*)
B) phonisch Sprache des Umganges —
*) Verschriftung

„würden wir freylich sehr nachlässig, sehr unordentlich, überflüssig und unzierlich schrei-
ben müssen“ (ebd.); „Viele vermengen freylich eine nachlässige Schreibart mit einer leich-
ten, und reden in ihren Briefen so schmutzig, so gemein, als ob ein Brief die Freyheit hätte,
einem unordentlichen Caffeegespräche völlig ähnlich zu seyn“ (Gellert 1742: 103).
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 179

4. Umgangssprache und Büchersprache


4.1 Umgangssprache als Gegenstück zu Büchersprache:
Garve, Adelung und Gedike

Der Philosoph Christian Garve spricht 1773 in seiner Vorlesung von der
Sprache des Umgangs und der Sprache der Bücher:
Diese Unart [= Verwendung von Fremdwörtern] hat indessen an den meisten
Orten schon ziemlich nachgelassen; man bedienet sich schon weit mehr, als vor-
dem, der Ausdrücke der Muttersprache: und wo diese noch nicht gewöhnlich
sind, da hat der Schriftsteller das Recht, sie gewöhnlich zu machen. Er bildet,
wenn er nur sonst vortrefflich ist, die Sprache des Umgangs, wie die Sprache der
Bücher; und schreibt der Nation vor, wie sie reden soll, wenn er ihr nicht nach-
schreiben kann, wie sie wirklich reden. (Garve 1773: 17f.)

Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass hier „die Sprache des Umgangs“
dem Begriff der „Sprache der Bücher“ entgegengesetzt ist. Indem der
Distanzbereich (im graphischen Kode) eine bündige Benennung be-
kommt, wird die Sprache der Umgangssprache als Nähesprache (im pho-
nischen Kode) profiliert.
Bei Johann Christoph Adelung können wir dieses Begriffspaar von
Nähe- und Distanzsprache seiner Unterscheidung von der „Sprechart des
(gemeinen Lebens und) vertraulichen Umganges“ einerseits und „Bücher-
sprache“ andererseits zuordnen, wie sie sich im Vorwort zu seinem Ver-
such eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen
Mundart (1774) als „Sprechart des (gemeinen Lebens und) vertraulichen
Umganges“ findet:
Allein, da sich diese [= meine Vorgänger] nur auf die Büchersprache ihrer Zeit
eingeschränket, und auch diese nicht einmal erschöpfet haben, [...] so sahe ich
mich in die sehr unangenehme und abschreckende Nothwendigkeit versetzet, die
Wörter aus tausend Schriften allerley Art, aus den verschiedenen Lebensarten
und in dem täglichen Umgange selbst aufzusuchen, um den Reichthum unserer
Sprache auf eine vollständigere Art darzustellen, als bisher geschehen ist. (Ade-
lung 1774: Bl. Vf.)

Eines der vornehmsten Bedürfnisse schien mir die Bemerkung der Würde. [...]
Ich habe zu dem Ende fünf Classen angenommen; 1. die höhere oder erhabene
Schreibart; 2. die edle; 3. die Sprechart des gemeinen Lebens und vertraulichen
Umganges; 4. die niedrige, und 5. die ganz pöbelhafte. [...] (Adelung 1774:
Bl. XIV)

In diesem Rahmen stellt die dritte Kategorie, die Sprechart des gemeinen Le-
bens und vertraulichen Umganges, die (phonische) Sprache des Umganges dar.
180 Hiroyuki Takada

Adelung beschreibt seine Lemmata grundsätzlich mit diesen Kategorien:


„Bursch [...] ein Wort, welches nur in der gemeinen und vertraulichen
Sprechart üblich ist“ (Adelung 1774: 1144); „bezechen [...] im vertraulichen
Umgange für betrinken“ (Adelung 1774: 896) und „Ende [...] Mit solchen
Leuten ist des Redens immer kein Ende. [...] Doch gehören die letzten Redens-
arten mit den Zeitwörtern seyn und werden nur in die vertrauliche Sprache
des Umganges“ (Adelung 1774: 1163).9
Der Pädagoge Friedrich Gedike benutzt 1777 in seiner Übersetzung
Pindars Olympische Siegshymnen die Komposition Umgangssprache, gepaart mit
der Bezeichnung Büchersprache. In der Vorrede bemerkt der Übersetzer:
Allein zum Uebersetzen gehört auch Kenntnis der Sprache, in die er übersetzt;
Kenntnis ihrer Härte und Biegsamkeit, ihrer Kraft und Mattheit; er muß wißen,
was verträgt meine Sprache, was nicht? was ist erhaben darin, was niedrig? was
geht allenfalls in der Umgangssprache an, aber nicht in der Büchersprache? und
in dieser weiter, welche Ausdrükke und Wortstellungen sind dem Prosaisten, wel-
che dem Poeten eigen? (Gedike 1777: Bl. C3r)

1779 erwähnt Gedike dann in einem Aufsatz die Umgangssprache im sprach-


puristischen Kontext: „Durch sie [die Sprachmischung] sind eine Menge
französischer Wörter vornehmlich in unsre Umgangssprache gekommen“
(Gedike 1779: 397). Auch an einer anderen Stelle spricht Gedike von der
Umgangssprache: „Ueberall, vornehmlich in der Umgangssprache, sich
mit alten Wörtern behängen, ist Narrheit, oder wenigstens Ziererei“ (Ge-
dike 1779: 413).
Die bisher geschilderte Version des Begriffs von Sprache des Umgang(e)s
bzw. Umgangssprache – eines Begriffs, der den phonischen Nähebereich be-
setzt und eventuell als sein Gegenstück die Büchersprache im graphischen
Distanzbereich hat – sei insgesamt als UMGANGSSPRACHE 1 bezeich-
net. Dieser Prototyp UMGANGSSPRACHE 1 kann dann folgenderma-
ßen veranschaulicht werden:

Tab. 5: UMGANGSSPRACHE 1: Nähebereich, phonisch (IB)

konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch — (Büchersprache)

B) phonisch Umgangssprache —

9 Zur „vertraulichen Sprechart“ bei Adelung vgl. näher Takada (2004).


‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 181

Gottsched (1751): Sprache des Umganges; Gellert (1751): Sprache des Umganges
Garve (1773): Sprache des Umgangs vs. Sprache der Bücher
Adelung (1774): Sprechart des vertraulichen Umganges vs. Büchersprache
Gedike (1777), Anonym (1778): Umgangssprache vs. Büchersprache

Wenn das Kompositum Umgangssprache 1792 in der Ausschreibung der


Preisschrift zum Thema ‚Sprachreinheit‘ unter dem Namen der Königlich-
Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin erscheint und da-
durch sozusagen öffentliche Anerkennung findet, geht es um den Proto-
typ UMGANGSSPRACHE 1:
Die Akademie wünscht, daß vornämlich die in Werken des Geschmacks und in
der Umgangssprache am häufigsten vorkommenden ausländischen Wörter, fer-
ner diejenigen, welche psychologische und moralische Begriffe und gesellschaft-
liche Verhältnisse bezeichnen, zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wer-
de. (Akademie 1792: 617)

Hier ist die Formulierung „in Werken des Geschmacks“ als „in der Bü-
cher- bzw. Literatursprache“ zu verstehen.

Exkurs: Umgangssprache als


fremdsprachendidaktischer Gegenstand
Gedike beginnt 1781, Lesebücher für den Elementarunterricht der neue-
ren Sprachen Italienisch, Französisch und English herauszugeben. Damit
erfährt der Begriff von Umgangssprache eine fremdsprachdidaktische Inte-
ressenerweiterung: Es gibt mehrere Umgangssprachen je nach der Natio-
nalsprache: „englische“, „französische“, „deutsche“ Umgangssprache. Ein
Rezensent zum Englischen Lesebuch für Anfänger, nebst Wörterbuch und Sprach-
lehre (1795) von Gedike fasst den Gegenstand des Lesebuchs als „engli-
sche Umgangssprache“ auf:
Fabeln, Erzählungen, Anekdoten und Briefe wechseln hier mit einander ab; auch
empfängt der Anfänger eine Probe der englischen Umgangssprache, und wird
folglich durch dieses wohl gewählte Lesebuch vorbereitet, jedes andere prosai-
sche Werk mit leichterer Mühe verstehen zu können. [...] Unstreitig wird dieses
Product eben den Beyfall erhalten, welchen die zum Elementarunterricht für die
lateinische, griechische und französische Sprache von eben diesem Vf. herausge-
gebenen Lesebücher gefunden haben. (Mylius 1795: 426f.)

Auch in einer anderen anonymen Rezension zum Englischen Formelbuch,


oder praktische Anleitung auf eine leichte Art englisch sprechen und schreiben zu lernen
182 Hiroyuki Takada

(1800) von Johann Heinrich Ernst Nachersberg geht es terminologisch


um die Umgangssprache:
Das englische Formelbuch liefert eine beträchtliche Anzahl Redensarten, die in
der Umgangssprache vorkommen, mit deren Erklärung in der deutschen Um-
gangssprache, doch mit Bemerkung ihres buchstäblichen Sinnes, z. B. hold your
tongue, schweigt. (Haltet eure Zunge!) mind your own business, bekümmert euch um
eure Sachen (beobachtet euer eignes Geschäfft)! Never mind it, laßt es gut seyn (nie
bemerkt es)! There is a appearance of war, es läßt sich zum Kriege an (dort ist (es ist
da) ein Anschein zum Kriege). (Anonym 1800: 472)

Es gibt einen pädagogisch-kommunikativen Paradigmenwechsel zuguns-


ten der neueren Sprachen, in dem die internationale weiträumige Kom-
munikation im 19. Jh. als eine der neuen sozio-kommunikativen Bedin-
gungen einer sich modernisierenden Gesellschaft notwendig geworden ist
(vgl. Mattheier 2000: 1962). Anfang des 19. Jh. erscheint denn auch eine
Reihe von Gesprächsbüchern, deren Ziel die Vermittlung von umgangs-
sprachlicher Kompetenz in einer Fremdsprache ist. Dabei handelt es sich
um die „gewöhnliche“ Nähesprache, also den Typ UMGANGSSPRA-
CHE 1, was z. B. einem Ausschnitt aus dem Vorwort eines anonymen
Gesprächsbuchs Dialogues English and German for the use of both nations von
1802 zu ersehen ist:
Es gibt zwar eine Menge Bücher, welche uns die Erlernung dieser Sprache er-
leichtern, aber wenige lehren uns die gesellschaftliche Sprache; und man weiß
doch, daß die einfachste, so wie die sicherste Art, eine lebende Sprache zu erler-
nen, diese ist, zuerst die Umgangssprache zu studieren.[...] In diesen Gesprächen
hat man den Ton der feinen Gesellschaft, so wie die gewöhnliche Umgangsspra-
che, auf allerley Gegenstände angewandt, die der tägliche Stoff der Unterhaltung
sind. (Anonym 1802: iii–iv)

4.2 Umgangssprache als Mischung von Büchersprache und Dialekt: Moritz

Die hochdeutsche Schriftsprache ist Ende des 18. Jh. in der gebildeten
Sozialschicht so sehr verbreitet, dass man hier auch in der mündlichen
Kommunikation schriftnahe – distanzsprachliche – Performanz anstrebt.
Das obersächsische sprachliche Vorbild wird „durch das Vorbild der
schriftnahen Aussprache des Niederdeutschen abgelöst“ (Faulstich 2008:
53). Es zeichnet sich (bereits um 1760) eine Verschiebung des kulturellen
Zentrums vom Gebiet um Leipzig und Dresden in den Raum Berlin ab.
Der Hannoveraner Karl Philipp Moritz merkt 1781 als Gymnasiallehrer in
Berlin in seiner Schrift Ueber den märkischen Dialekt an, dass die Sprache „in
der gesellschaftlichen Unterredung“ (Moritz 1781: 5) der Gebildeten in
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 183

Berlin (noch) nicht frei von mundartlichen Elementen ist. Moritz meint,
ganz Deutschland habe mit Stillschweigen eingewilligt, „beinahe einerlei
Sprache zu schreiben, und läßt sich doch, im Reden, die ausgelassenen
Freiheiten“ (Moritz 1781: 4). Moritz behauptet deshalb, es sei „höchst-
nothwendig“, „daß wenigstens der verfeinerte Theil der Nation den
mündlichen Ausdruck, seiner Schreibart so nahe, wie möglich“ (Moritz
1781: 5) bringe.
Bei gebildeten Sprechern, die im Alltag in der Regel ihre Mundart
nicht aufgeben, wird damals „die durch die Verbreitung der hochsprachli-
chen Norm eingeführte Zweisprachigkeit“ (Gessinger 1980: 100) beob-
achtet.10 In der zweiten Hälfte des 18. Jh. kommt es bei den mittleren und
höheren Schichten des städtischen Bürgertums, die sich des Gegensatzes
zwischen den Dialekten und der Schriftsprache bewusst werden, zur
„Ausbildung einer vermittelnden Umgangssprache“ (Wiesinger 2000:
1933). In der (Berliner) Umgangssprache etwa meint Moritz als Nicht-Ber-
liner („ein gebohrner Niedersachse“: Moritz 1781: 14) sehr deutlich den
Mischcharakter zwischen Hochdeutsch und Mundart herausfinden zu
können. In seiner Erörterung entwickelt Moritz ein „Dreischichtenmo-
dell“ (Schmidt 1995: 70) von Büchersprache, Umgangssprache und Dialekt:
Jemehr der Dialekt, oder die gemeine Volkssprache, in einer Provinz, von der
verfeinerten oder Büchersprache, verschieden ist, desto besser ist es für die letz-
tere, desto reiner und richtiger wird dieselbe gesprochen, weil dasienige, was sich,
aus dem Dialekt, in dieselbe einmischen könnte, viel zu auffallend seyn würde, als
daß man es nicht sogleich, als fehlerhaft, aus derselben wieder verwerfen sollte.
[...] In Niedersachsen betrachtet man das Hochdeutsche und Plattdeutsche als
zweierlei Sprachen. [...]; hier [= in Berlin] hingegen fließt beides beständig inei-
nander, weil der hiesige Dialekt mit der verfeinerten Sprache eine größere Aehn-
lichkeit hat [...]. Wie sich das gemeine Volk verschiedener halb hochdeutscher
Wörter bedienet, so gebraucht der verfeinerte Theil wiederum manche halbplatt-
deutsche Wörter in seiner Umgangssprache, als z. B. ohch, lohffen, u.s.w., welches
aus dem plattdeutschen ohk und lohpen, in die hiesige Mundart übergeformt ist.
(Moritz 1781: 15ff.)

Moritz bemerkt etwa zu dem Ausdruck es duht mich lehd (statt es tut mir leid ):
Dieser einzige Ausdruck ist, an sich, schon ein Bild der ganzen märkischen
Mundart, welche aus korruptem Plattdeutsch und Hochdeutsch zusammenge-
schmolzen, und mit Sprachfehlern durchwebt ist. Und einer solchen Mundart
bedienet sich selbst der verfeinerte Theil, der Nation, noch so häufig, in seiner

10 Dieser Begriff entspricht der Definition von Umgangssprache als Erscheinung „sprachli-
chen Kontakts in einer Diglossie-Situation zwischen einer Standardsprache als H-Varietät
[= High-Varietät] und damit verwandten Dialekten als L-Varietäten [= Low-Varietäten]“
(Munske 1983: 1005).
184 Hiroyuki Takada

Umgangssprache, da man sie doch aus allen öffentlichen Vorträgen, mit Recht,
schon verbannet hat.“ (Moritz 1781: 17)

Er identifiziert darüber hinaus – gewissermaßen auf ‚horizontaler‘ Ebene


– Dialektmischungs- bzw. -konvergenzerscheinungen zwischen obersäch-
sischen und niedersächsischen Dialekten, wenn er „eine sonderbare Mi-
schung von beiden“ (Moritz 1781: 14) feststellt.
Der Begriff von Umgangssprache als Mischform zwischen Büchersprache
und Dialekt bzw. als Verschriftlichung vom Dialekt und Verlautlichung/
Vermündlichung der Büchersprache sei UMGANGSSPRACHE 2 ge-
nannt. Während die UMGANGSSPRACHE 1 sich relativ zur Schriftsprache
definieren lässt, kommt es bei der UMGANGSSPRACHE 2 auf deren
Abgrenzung von Büchersprache und Dialekt an. Der Typ UMGANGS-
SPRACHE 2 lässt sich somit wie folgt illustrieren:

Tab. 6: UMGANGSSPRACHE 2: Nähebereich, phonisch (IB),


Umgangssprache als Mischung von Büchersprache und Dialekt

konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch — **)
Büchersprache

B) phonisch Dialekt
*)
Umgangssprache —
*) Verschriftlichung
Umgangssprache bei Moritz (1781) **) Verlautlichung + Vermündlichung

Die konzeptionelle Verschriftlichung im Nähebereich in Tab. 6 kann als


die Folge der „Vertikalisierung des Varietätenspektrums“ (Reichmann
1988: 176) seit dem 17. Jh. bezeichnet werden, die „gleichzeitig zu stärke-
rer Distanzsprachlichkeit“ (Hennig 2007: 3) führt.

5. Verschriftung der Umgangssprache


5.1 Schriftsprache als verschriftete Gesellschaftssprache: Adelung

In seinem Magazin für die Deutsche Sprache (1782/1783/1784) thematisiert


Adelung die Frage „Was ist Hochdeutsch?“.11 Nach seinen Erörterungen
ist jede Schriftsprache „allemahl die Mundart der blühendsten und ausge-
bildetsten Provinz oder Stadt, wo der gute Geschmack am meisten und

11 Zu diesem Themenkreis vgl. Henne (2006a) und Scharloth (2005: 222ff.).


‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 185

allgemeinsten verbreitet ist“ (Adelung 1782, 1. Band, 1. Stück: 25f.). Ade-


lung erklärt somit die Entstehung der deutschen Schriftsprache aus der
„Mundart“ (im Sinne von mündlicher Sprache) bzw. der mündlichen „ge-
sellschaftlichen Sprache“ der oberen Klassen im südlichen Sachsen:12
Wenn die Provinz der deutschen Schriftsprache nicht Obersachsen sei,
so muß eine andere Provinz angegeben und von derselben bewiesen werden, daß
die gesellschaftliche Sprache ihrer obern Classen bey allen Eigenheiten einzeler
[sic!] Personen, und bey allen Nachlässigkeiten des mündlichen Ausdruckes doch
im Ganzen eben dieselben Analogien befolget, welche in der Schriftsprache herr-
schen.“ (Adelung 1783, 1. Band, 4. Stück: 87).

Die Komposition Gesellschaftssprache begegnet uns in diesem Magazin häu-


fig: Die in Obersachsen ausgebildete Sprache sei „die Schrift- und feinere
Gesellschaftssprache für ganz Niederdeutschland“ (Adelung 1782, 1. Teil,
1. Stück: 23) geworden, so dass „vernünftige Niedersachsen ihre höhere
Gesellschaftssprache für keine andere als die Meißnische halten“ (Adelung
1783, 2. Band, 1. Stück: 21). Wie die Zwillingsformel „Schrift- und Gesell-
schaftssprache“ in obigem Zitat bestätigt, steht die Schriftsprache für den
schriftlichen Wert im Distanzbereich und die Gesellschaftssprache für den
phonischen Wert im Distanzbereich. Zu beachten ist dabei, dass nach der
Adelung’schen Auffassung vom Hochdeutschen die Gesellschaftssprache
weniger für die mündliche Form der Schriftsprache zu halten ist, als viel-
mehr die Schriftsprache für die schriftliche bzw. „verschriftete“ Form der
Gesellschaftssprache; die Schriftsprache sei aus der Gesellschaftssprache
der oberen Klassen in Obersachsen entstanden.13 Die Sprache, „deren
sich ein Volk in Schriften bedienet, ist weder ihrem Ursprunge, noch ihrer
Ausbildung nach, ein Werk der Schriftsteller, sondern sie ist allemahl die
gesellschaftliche Sprache der obern Classen der ausgebildetsten Provinz“
(Adelung 1784, 2. Band, 4. Stück: 139). Dieser Begriff von Umgangsspra-
che im Distanzbereich gegenüber der Schriftsprache als verschrifteter Um-
gangssprache soll als UMGANGSSPRACHE 3 bezeichnet werden:

12 Diese Position von Adelung ist „zu seiner Zeit schon anachronistisch“ (Orgeldinger 1999:
165); in mancher Hinsicht weicht das Obersächsische bereits „von der hochdeutschen
Norm ab“ (Orgeldinger 1999: 165). Mit den Worten von Henne (2001: 167): „Mit seiner
eigenwilligen Theorie der hochdeutschen Mundart rief Adelung in der Mehrzahl solche
Kritiker auf den Plan, die sein unter ‚hochdeutschen‘ Prämissen entstandenes Werk ab-
lehnten; in der Minderzahl waren die, die ihm begeistert zustimmten.“
13 Adelung stellt sich die Sprache „ausschließlich als real existierend und aktual praktiziert“
(Orgeldinger 1999: 210) bzw. „nur in der Kommunikation entstehend und sich entwi-
ckelnd“ (ebd.) vor. Adelung, der dabei „nicht zwischen Entstehung, Entwicklung und Aus-
bildung differenziert und Kommunikation sehr eng auffaßt“ (ebd.), lässt nur die gespro-
chene Sprache „als im sozialen Konnex verankerte, in intensivem Kontakt gepflegte Spra-
che gelten“ (ebd.).
186 Hiroyuki Takada

Tab. 7: UMGANGSSPRACHE 3: Distanzbereich, phonisch (IIB),


Schriftsprache als verschriftete Umgangssprache

konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch — Schriftsprache

(Sprechart des vertrau- Gesellschaftssprache *)


B) phonisch lichen Umgangs) (als Umgangssprache)
*) Verschriftung
Gesellschaftssprache bei Adelung (1782/1783/1784)

Hier taucht aber eine terminologische Frage auf: Können wir die Bezeich-
nung Gesellschaftssprache bei Adelung (1782/1783/1784) als identisch mit
der – in der vorliegenden Arbeit bis jetzt erörterten – Benennung Um-
gangssprache betrachten? In einer Rezension zur Schrift Adelungs Ueber den
deutschen Styl (1785) versucht Gedike 1787, die Adelung’sche These zum
Hochdeutschen zu widerlegen, wobei er seinerseits die Bezeichnung Ge-
sellschaftssprache bei Adelung mit dem Wort Umgangssprache umschreibt:
Daß diese [= lauter niederdeutsche und oberdeutsche Ausdrücke] nicht durch die
Schriftsteller autorisirt, und in die Schriftsprache mit aufgenommen sind, scheint
ein Beweis mehr zu seyn, daß die deutsche Schriftsprache durch Schriftsteller,
und nicht durch die hochdeutsche Umgangssprache ausgesondert und gebildet
sey. (Gedike 1787: 9)

Dies verweist darauf, dass der Terminus Gesellschaftssprache bei Adelung der
Umgangssprache gleichkommt. Adelung will aber anscheinend ungern von
der Bezeichnung Umgangssprache Gebrauch machen. In seiner späteren
Entwicklung benutzt Adelung nur einmal den Terminus Umgangssprache
(vgl. Henne 1988: 815), und zwar im Vorwort zu seinem Auszug aus dem
grammatisch=kritischen Wörterbuche der Hochdeutschen Mundart (1793):
Ich habe aus dem großen Reichthume von Wörtern nur die nothwendigsten und
gangbarsten ausgehoben, d. i. solche, welche in der gewöhnlichen Schrift= und
Umgangssprache der Hochdeutschen vorkommen. (Adelung 1793: Bl. )( 4r)

Wenn wir daran denken, dass das Substantiv Gesellschaftssprache bei Ade-
lung fast immer das Adjektiv höher oder feiner vor sich hat (die höhere Gesell-
schaftssprache, die feinere Gesellschaftssprache),14 ist der Gebrauch des Adjektivs

14 Im Magazin (1782/1783/1784) kommt das Kompositum Gesellschaftssprache zwölfmal vor,


wovon es in neun Fällen von den Adjektiven höher und feiner modifiziert ist: die feinere Gesell-
schaftssprache (1. Bd., 1. St.: 10); die höhere Gesellschaftssprache (1. Bd., 2. St.: 82; 2. Bd., 1. St.:
15; 2. Bd., 2. St.: 47); ihre höhere Gesellschaftssprache (2. Bd., 1. St.: 21); die höhere Chur=Sächsische
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 187

gewöhnlich vor dem Wort Umgangssprache in obigem Beleg auffällig.15 Der


Gegensatz von höherer Gesellschaftssprache vs. gewöhnlicher Umgangssprache lässt
sich dann als der von „Umgangssprache (phonische Größe) im Distanzbe-
reich“ vs. „Umgangssprache (phonische Größe) im Nähebereich“ verste-
hen. Adelung will nämlich das Wort Umgang für den Nähebereich vorbe-
halten wissen. Während er in seiner Diskussion um das Hochdeutsche, in
der es sich um den Distanzbereich handelt, ausschließlich von Gesellschafts-
sprache (als dem phonischen Distanzbereich) spricht, verwendet er in sei-
nem grammatisch-kritischen Wörterbuch (1. Auflage: 1774–1786; 2. Auflage:
1793–1801) den Ausdruck Sprechart des vertraulichen Umgangs, wenn der
phonische Nähebereich benannt werden soll:16 Im ersten Fall handelt es
sich um den Typ UMGANGSSPRACHE 3 und im letzteren um den Typ
UMGANGSSPRACHE 1 (s. oben 4.1.).
In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass es
durchaus die Auffassung gibt, nach der man zwar mit der Bezeichnung
Umgangssprache den phonischen Distanzbereich benennt, die Schriftsprache
aber nicht als verschriftete Umgangssprache versteht. Das ist z. B. der Fall,
wenn Gedicke 1794 in seinem Vortrag Ueber Deutsche Dialekte auf den
Reichtum der Mundart zu sprechen kommt und dabei die „hochdeutsche
Umgangssprache“ erwähnt:
Unsere hochdeutsche Umgangssprache ist in der That noch zu wenig geschmei-
dig. Sie hat etwas Schwerfälliges, Steifes, und, so zu sagen, Periodisches. Aber das
Periodische fehlt gerade dem Plattdeutschen, das aber eben dadurch für die Um-
gangssprache desto geschmeidiger ist. (Gedike 1794: 319f.)

Gesellschaftssprache (2. Bd., 1. St.: 16); die Schrift= und höhere Gesellschaftssprache (1. Bd., 1. St.:
12); unsere höhere Schrift= und Gesellschaftssprache (1. Bd., 1. St.: 25); die Schrift= und feinere Gesell-
schaftssprache (1. Bd., 1. St.: 23). Sonst haben die Belege in der Deutschen Sprachlehre für Schu-
len (1801) das Adjektiv höher: die bisherige Schrift= und höhere Gesellschaftssprache (Adelung 1801:
529) und zur Schrift= und höhern Gesellschaftssprache (Adelung 1801: 538). Vgl. auch die Belege
in Ueber den deutschen Styl (1785) in Anmerkung 16.
15 Einen Gegenbeleg finden wir im Magazin (2. Bd., 1. St.: 143), wo es heißt: „Ich habe [...]
das Pronomen Identatis der nehmliche für eines der niedrigsten und verwerflichsten Wör-
ter in der Sprache erklärt, so sehr es auch selbst guten Schriftstellern aus der Gesellschafts-
sprache des gemeinen Lebens anklebt“ (ebd.). Hier will Adelung mit diesem Ausdruck an-
scheinend die weniger höhere Gesellschaftssprache, also die Sprechart des gemeinen Lebens bezeich-
nen.
16 In der Abhandlung Ueber den deutschen Styl (1785) kommt das Wort Gesellschaftssprache vier-
mal vor: „daß die Römische Sprache noch so viele Jahrhunderte nicht allein die Schrift-
sprache, sondern selbst die höhere Gesellschaftssprache blieb“ (Adelung 1785, Teil 1: 46);
„so, daß sie nicht allein Deutschlands Schriftsprache, sondern auch nach und nach die hö-
here Gesellschaftssprache für ganz Nieder=Sachsen ward“ (Adelung 1785, Teil 1: 51); „so
daß sie in dieser ihrer innern Vorzüge wegen Deutschlands Schrift= und höhere Gesell-
schaftssprache werden können“ (Adelung 1785, Teil 1: 72); „Zwar fing man in den Chur-
sächsischen Landen sehr frühe an, die verbesserte Schrift= und Gesellschafts=Sprache
auch in die Kanzelleyen einzuführen“ (Adelung 1785, 2. Teil: 83).
188 Hiroyuki Takada

Dieses Verständnis soll als UMGANGSSPRACHE 3a bezeichnet werden:

Tab. 8: UMGANGSSPRACHE 3a: Distanzbereich, phonisch (IIB)

konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch — Schriftsprache

hochdeutsche
B) phonisch — Umgangssprache

5.2 Schriftliche Umgangssprache: Gedike

Gedike erörtert 1796 in einer öffentlichen Versammlung der Berlinischen


Akademie der Wissenschaften das Thema der Anredeformen im Deut-
schen. Beim Begriff von Umgangssprache in dieser Vorlesung handelt es sich
um den Nähebereich, der vom Titulieren verschont bleiben solle:
Vernünftiger Weise sollten die Amtstitel nur bei Ausübung der Amtsverrichtun-
gen gebraucht werden: aber unsre Umgangssprache wird eben dadurch unendlich
steif, daß diese Amtstitel unaufhörlich statt des einfachen Sie bald im männlichen,
bald im weiblichen Geschlecht uns die Ohren betäuben. (Gedike 1796: 307)

Bemerkenswert beim Gebrauch des Terminus Umgangssprache in diesem


Vortrag ist, dass Gedike damit auch an den graphischen Bereich denkt,
wenn er sagt:
Glücklich würde ich mich übrigens schätzen, wenn dieser Versuch [= meine Un-
tersuchung] etwas dazu beitrüge, unsrer mündlichen und schriftlichen Umgangs-
sprache allmälig mehr Einfachheit, Würde und Natürlichkeit zu verschaffen.
(Gedike 1796: 279f.)

Die Formulierung zeugt davon, dass es mediale Doppelseitigkeit ist, die


dem Pädagogen vorschwebt. An einer anderen Stelle, an der es auf die
Mündlichkeit und Schriftlichkeit ankommt, umschreibt Gedike die münd-
liche und „schriftliche“ Umgangssprache mit der „mündlichen Konversa-
tionssprache“17 und „schriftlichen Unterhaltungs- und Geschäftsprache“:

17 Vgl. die Bedeutung ‚Umgang‘, die das französische Wort conversation hat. Nach Linke
(1996: 135) gab es spätestens am Ende des 18. Jh. zwei Lesarten des Wortes Konversation:
einerseits ‚Umgang‘ und andererseits ‚Gespräch‘. Campe (1811) benutzt das Wort Conversa-
tionssprache als Umschreibung von Umgangssprache: „die Sprache des gemeinen Lebens, deren
man sich im gesellschaftlichen Umgang bedienet (Conversationssprache)“ (Campe 1811,
Bd. 5: 75, dazu vgl. unten Abschnitt 6).
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 189

Ist indessen gleich jene schleppende Form [= das Pronomen dieselben] auf der
mündlichen Konversationssprache verdrängt, so verunstaltet und lähmt sie doch
desto häufiger unsere schriftliche Unterhaltungs- und Geschäftssprache. (Gedike
1796: 309)

Mit der Bezeichnung mündliche und schriftliche Umgangssprache meint Gedike –


nach unserer Interpretation – die Unterscheidung von „Konversation“
und „Korrespondenz“ (vgl. die Unterteilung von Dialog in medial phoni-
sches „Gespräch“ und medial graphische „Korrespondenz“ in Kilian
2005: 5, 56). Das Modell der Umgangssprache als die Größe im graphi-
schen und phonischen Distanzbereich nennen wir UMGANGSSPRA-
CHE 4. Sie ist folgendermaßen zu veranschaulichen:

Tab. 9: UMGANGSSPRACHE 4: Distanzbereich, graphisch UND phonisch (IIA und IIB)

konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
schriftliche
A) graphisch — Umgangssprache
mündliche
B) phonisch — Umgangssprache

mündliche und schriftliche Umgangssprache bei Gedike (1796)

6. Nebeneinander der Modelle von Umgangssprache bei Campe


Im Wörterbuch der Deutschen Sprache (1807/1808/1809/1810/1811/1813)
von Joachim Heinrich Campe wird das Wort Umgangssprache zum ersten
Mal lemmatisiert:18
Die Umgangssprache (Umgangsprache), o. Mz. die Sprache des gemeinen Le-
bens, deren man sich im gesellschaftlichen Umgange bedienet (Conversations-
sprache). ‚Da sie nebenbei beweiset, wie sehr in der Umgangssprache der Römer
griechische Wörter und Phrasen (Redarten) gewurzelt hatten.‘ Kolbe. (Campe
1811, Band 5: 75)

18 Von der Durchsetzung des Wortes Umgangssprache um diese Zeit zeugt z. B. die Tatsache,
dass der Überarbeiter des Buches Ueber den Umgang mit Menschen von Knigge an einer von
ihm vermehrten Stelle diese Bezeichnung benutzt, die eigentlich im Original (1788) über-
haupt nicht vorkommt: „Dabei darf die gesellschaftliche Bildung nicht vernachlässigt wer-
den. Bringt man junge Leute zu spät in die Gesellschaft der Erwachsenen, so leiden sie an
unheilbarer Blödigkeit und Ungelenkigkeit, und werden der Umgangssprache nie mächtig“
(Knigge 1818: 262f.).
190 Hiroyuki Takada

Trotz dieser Definition ist das Verständnis von Umgangssprache, das Campe
in seinem Wörterbuch dokumentiert, aber in der Tat nicht eindeutig.
Wenn wir die Belege dieses Terminus in seinem Wörterbuch genau analysie-
ren, erkennen wir, dass der Lexikograph die Umgangssprache am umfas-
sendsten auffasst.
Nach unserer Zählung kommt der Terminus Umgangssprache im Wörter-
buch 67-mal vor: 16-mal im 1. Band (im „Vorbericht“ 7-mal und unter
Stichwörtern 9-mal), 2-mal im 2. Band, je 1-mal im 3. und 4. Band, 2-mal
im 5. Band und 45-mal im Ergänzungsband (14-mal in „Grundsätze, Re-
geln und Grenzen der Verdeutschung“ und 31-mal unter Stichwörtern). In
den Belegen, in denen Campe von der „allgemeinen (Deutschen) Schrift-
und Umgangssprache“ spricht, wird mit Umgangssprache der phonische
Distanzbereich (im Gegensatz zum graphischen Distanzbereich Schriftspra-
che) benannt:
In allen [Landschaften], ohne Ausnahme, wird in allgemeinen nur landschaftli-
ches Deutsch geredet, aus welchem die gebildeten Menschen und die Schriftstel-
ler aller Gegenden das Beste, Edelste und Sprachrichtigste für die allgemeine
Deutsche Umgangs= und Schriftsprache ausgehoben haben und noch immer
auszuheben rechtmäßig fortfahren. (Campe 1807, Band 1: Bl. VIII)

[...] entscheidet sich die von einigen streitig gemachte Frage: ob und in wiefern
auch die Mundarten und die verwandten Sprachen zu den echten Sprachquellen
für unsere sogenannte Hochdeutsche, d. i. allgemeindeutsche Sprache, gerechnet
zu werden verdienen, schon von selbst. Die Antwort nämlich ist: allerdings! aber
nur in sofern, als die Mundarten etwas enthalten, welches der allgemeinen Deut-
schen Sprachähnlichkeit gemäß und deßwegen werth ist, in die allgemeine
Schrift= und Umgangssprache der Deutschen, die man unpaßlich genug die
Hochdeutsche genannt hat, aufgenommen zu werden. (Campe 1813, Ergän-
zungsband: 37)

Bei diesem Verständnis von Umgangssprache gilt das Modell UMGANGS-


SPRACHE 3a (Tab. 10, S. 191; vgl. auch Tab. 8). Der Gebrauch der kom-
parativischen Adjektive feiner, besser und höher als Modifikationen zum Sub-
stantiv Umgangssprache in folgenden Zitaten legt aber die Möglichkeit nahe,
dass Campe in der Tat den Begriff von Umgangssprache im Gegensatz
zum Distanzbereich auch dem Nähebereich zuspricht:
Unsere Quellen also sind: die feinere Umgangssprache in allen Deutschen Län-
dern, und alle in der Gemeinsprache geschriebene Deutsche Werke, von den äl-
testen Denkmählern unserer Schriftsprache an, bis auf die neuesten Schriften,
welche die letzte Büchermesse geliefert hat. (Campe 1807, Band 1: Bl. VIII)

Niedrige Wörter, die ans Pöbelhafte grenzen, und deren man sich daher, sowol in
der Schriftsprache, selbst in der untern, als auch ja in der bessern Umgangsspra-
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 191

che, enthalten sollte; die aber dennoch in Bühnenstücken, wie im gemeinen Le-
ben, wiewol nur in dem Munde ungebildeter Personen, vorkommen; z. B. Freß-
sack, Lausekerl, Rotznase u.s.w. (Campe 1807, Band 1: Bl. X)

[...] und man wird künftig erröthen, eine eingebildete Unthulichkeit vorzuschüt-
zen, wenn von der Reinigung unserer höhern Bücher= und Umgangssprache die
Rede ist. (Campe 1813, Ergänzungsband: 31)

Tab. 10: UMGANGSSPRACHE 3a bei Campe: Distanzbereich, phonisch (IIB)

konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch — Schriftsprache

feinere/bessere/höhere
B) phonisch — Umgangssprache

Es gibt zudem „vertraute[n]“ (Campe 1813, Ergänzungsband: 127), „leich-


te und scherzende“ (Campe 1813, Ergänzungsband: 149) und „verderb-
te[n]“ (Campe 1807, Band 1: 46) Umgangssprache:
Belvedere [...] Daß dieses Wort [= Belvedere] nicht für die höhere Schreibart passe,
versteht sich wol ganz von selbst; aber warum es in der Umgangssprache, so wie
auch in der leichten, besonders scherzenden Umgangssprache, nicht eben so gut,
als Vergiß=mein=nicht, Spring=ins=Feld [...] und ähnliche scherzhafte Zusammenset-
zungen, Platz finden sollte, sehe ich auch heute nicht ein. (Campe 1813, Ergän-
zungsband: 148)

Réndez-vous [...] Mit diesen Ausdrücken werden wir in der ernsteren und höhern
Schreibart überall ausreichen. Für die scherzende Schreibart und für die leichte
Umgangssprache (aber auch nur für diese) habe ich den nachahmenden Aus-
druck, Stell=dich=ein, wie Vergiß=mein=nicht, Spring=ins=Feld u. dgl. gebildet, vorzu-
schlagen gewagt. (Campe 1813, Ergänzungsband: 527)

Sonst steht der Terminus Umgangssprache häufig neben dem Begriff „leich-
te, niedrige Schreibart“ und wird diesem praktisch (fast) gleichgesetzt:
Der Gedankenblitz [...] Für die Umgangssprache und die leichte Schreibart hat eben
dieser Sprachforscher das Wort Stegereifer (s. d.) empfohlen. (Campe 1808, Band 2:
247f.)

Niedrige, aber deswegen noch nicht verwerfliche Wörter, weil sie in der geringern
(scherzenden, spottenden, launigen) Schreibart, und in der Umgangssprache
brauchbar sind; z. B. Schnickschnack, von Lessing; beschlabbern, von Göthe ge-
braucht. (Campe 1807, Band 1: Bl. XXI)
192 Hiroyuki Takada

Deshalb können wir annehmen, dass Campe mit Umgangssprache auch den
phonischen Nähebereich angibt, wobei das Modell UMGANGSSPRA-
CHE 1 (vgl. auch Tab. 5) gültig ist.

Tab. 11: UMGANGSSPRACHE 1 bei Campe: Nähebereich, phonisch (IB)

konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial
A) graphisch — (Schriftsprache)

B) phonisch Umgangssprache —

Es begegnet uns außerdem eine interessante Stelle, an der Campe die Um-
gangssprache als einen der „Theile der menschlichen Kenntnisse und
Geistesbeschäftigungen“ (Campe 1813, Ergänzungsband: 34) bezeichnet,
die „offenbar zu derjenigen Aufhellung und Bildung des menschlichen
Verstandes“ (ebd.) gehören, „welche allen Menschen in allen Ständen zu
wünschen wäre“ (ebd.):
Die Umgangs= und Geschäftssprache, nicht bloß sofern sie in mündlichen Un-
terredungen, sondern auch in Briefen, schriftlichen Verhandlungen und Volks-
schriften aller Art, z. B. in Schauspielen, Geschichtsbüchern, Geschichtsdichtun-
gen (Romanen), Zeitungen u. s. w. gebraucht wird. Wie mancherlei Unbequem-
lichkeiten und Nachtheile durch die Reinigung dieses Theils unsers Sprachschat-
zes vermieden werden könnten, und wie sehr die ganze Volksausbildung dadurch
befördert und beschleunigt werden würde, springt jedem darüber Nachdenken-
den sogleich von selbst ins Auge. (Campe 1813, Ergänzungsband: 34)

Analog zu der Erwähnung von „mündlicher und schriftlicher Umgangs-


sprache“ in Gedike (1796; vgl. oben 5.2.) erkennt Campe hier die mündli-
che und schriftliche Umgangssprache (und Geschäftssprache) an. Dieses
Verständnis haben wir als UMGANGSSPRACHE 4 (vgl. Tab. 9) model-
liert (Tab. 12, S. 193).
Blackshire-Belay (1992) meint, „daß sich Campe auch nicht ganz dar-
über im Klaren war, was er unter ‚Umgangssprache‘ verstehen sollte“
(Blackshire-Belay 1992: 85). Dieses begriffliche Durcheinander bei Campe
können wir nunmehr als das Nebeneinander von drei verschiedenen Um-
gangssprach-Modellen, d. h. UMGANGSSPRACHE 1, 3a und 4 verstehen,
die von seinen Vorgängern – sei es explizit oder implizit – geprägt worden
waren. In diesem Sinne kann Campe als Kompilator des Verständnisses
vom Umgangssprache seit Gottsched und Gellert bewertet werden.
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 193

Tab. 12: UMGANGSSPRACHE 4 bei Campe: Distanzbereich,


graphisch UND phonisch (IIA und IIB)

konzeptionell
I) Nähebereich II) Distanzbereich
medial

A) graphisch Umgangssprache

B) phonisch — Umgangssprache

7. Schluss

Warum kommen Wort und Begriff Umgangssprache in der zweiten Hälfte


des 18. Jh. auf? Im großen Rahmen der Aufklärungszeit stellt die Sprache
für das aufklärerische Denken einerseits ein Instrument, andererseits ein
Objekt der Untersuchung dar. Als veränderter sprachgeschichtlicher Kon-
text lässt sich bestimmen, dass erst in der zweiten Hälfte des 18. Jh. die
hochdeutsche Schriftsprache ostmitteldeutsch-norddeutscher Prägung
auch im Süden verbreitet19 und deshalb die Schriftsprache als Gegenpol zur
Mundart im allgemeinen Sprachbewusstsein fixiert war. Zur Genese des
sprachreflexiv-metasprachlichen Wissens über Umgangssprache gibt es zwei
Aspekte. Zum einen die ‚Sprachwirklichkeit‘, in dem Sinne, dass die Er-
scheinung Umgangssprache, und zwar regionale Umgangssprachen, keine Illusion,
sondern durchaus eine allgemeine Sprachwirklichkeit darstellt. Zum ande-
ren soll die ‚Mehrdimensionalität‘ der Umgangssprache genannt werden.
Elspaß (2000) weist in seiner Arbeit zum Ripuarischen vom 17. bis 19. Jh.
auf die Existenz der Umgangssprache als einer der „Spielarten der gespro-
chenen Sprache [...] spätestens für das 19. Jh.“ (Elspaß 2000: 265) hin und
betont den Mischcharakter der Umgangssprache. Das Spektrum dieser
Zwischenform reicht „von einem durch standardsprachliche Einflüsse
‚aufgeweichten‘ Dialekt bis zu einer standardnahen Sprechsprache mit
regionalen Indikatoren“ (ebd.). Es entwickelt sich insgesamt die „innere
Mehrsprachigkeit des Deutschen“ (Henne 2006b: 351) bzw. „das Neben-,
Über- und Miteinander unterschiedlicher Existenzformen innerhalb einer
Nationalsprache“ (ebd.). Die Flexibilität, die der „häufige Wechsel zwi-
schen öffentlichen, halböffentlichen und privaten Situationen dem einzel-
nen abverlangt, dürfte die Ausformung einer Umgangssprache im Sinn

19 In den Jahren von 1725 bis 1760 kommt es „zur Ausbildung und allgemeinen Durchset-
zung einer literatursprachlichen Norm, indem der Süden, zunächst um 1730 die Schweiz,
dann 1750 Österreich und zuletzt 1760 Bayern“ (Wiesinger 2000: 1933) die ostmittel-
deutsch-norddeutsche Form der Schriftsprache aufgreift.
194 Hiroyuki Takada

einer sozialen Ausgleichssprache“ (Linke 1996: 52) erforderlich gemacht


haben. Die Genese der metasprachlichen Erkenntnis über die Umgangs-
sprache könnte dann gerade dieses allzu weite mediale und konzeptionelle
Spektrum im Nähe- und Distanzbereich bzw. seine schwere Erfassbarkeit
sein, die die Neugierde der Gelehrten erweckte. Gerade deswegen wurde
das Wort Umgang, das seinerseits schillernd ist, mit Recht und mit Erfolg
zur Bezeichnung dieser Erscheinung gewählt. Die Umschreibungen der
einen Teilbedeutung („der Umgang mit Leuten“) vom Substantiv Umgang
im zeitgenössischen New and complete dictionary of the German Language for
Englishmen according to the German Dictionary of Mr. J. C. Adelung von Kütt-
ner/Nicholson (1805/1809/1813) bringt dieses Schillernde auf sehr an-
schauliche Weise zum Ausdruck; dort wird es umschrieben mit den engli-
schen Wörtern converse, conversation, commerce, intercourse, connexion, intelligence,
friendship, acquaintance, familiarity with others (Küttner/Nicholson 1813,
3. Band: 392). Das ist zugleich der Grund dafür, dass der Terminus Um-
gangssprache noch heute lebendig ist, und zwar in der langen Tradition des
„diffusen“ (Henne 1988: 824) bzw. „aspekt-synchytischen“ (Bühler 1965:
361) Begriffs ‚Umgangssprache‘ seit deren Geburt im Sprachbewusstsein
in der zweiten Hälfte des 18. Jh.

Quellen
Adelung, Johann Christoph (1774/1775/1777/1780/1786): Versuch eines
vollständigen grammatisch=kritischen Wörterbuches Der Hochdeut-
schen Mundart. 5 Teile. Leipzig.
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200 Hiroyuki Takada


Stephan Elspaß

Wohin steuern Korpora


die Historische Sprachwissenschaft?
Überlegungen am Beispiel des ,Neuhochdeutschen‘

1. Einleitung
Die Leitfrage der Debrecener Tagung, „Wohin steuert die Historische
Sprachwissenschaft?“, dessen Beiträge dieser Band versammelt, verstehe
ich so, dass wir nicht nur konstatieren, wohin die Historische Sprachwis-
senschaft steuert, sondern dass wir darüber hinaus zu ermitteln versuchen,
warum sie in durchaus verschiedene Richtungen steuert, und vielleicht
auch sagen, wohin sie unserer Meinung nach steuern sollte – oder viel-
leicht auch nicht (oder nicht mehr) steuern sollte.
Zu Beginn sei ein kleiner Exkurs gestattet. In einem Gastbeitrag für
die Süddeutsche Zeitung beschäftigte sich der Volkswirtschaftler Thomas
Lux (2009) mit der Frage, warum Ökonomen die Wirtschaftskrise der
vergangenen Jahre nicht vorhergesehen hatten. Seine Kurzantwort lautete:
„Weil ihre Theorien auf Annahmen fußen, die fern der Realität sind“.
Weiter führte er aus:
Die [bestehenden ökonomischen] Modelle sahen drohende Fehlentwicklungen
nicht, weil sie sie auf Grund ihrer Konstruktion nicht sehen konnten. Hierfür gibt
es zwei Gründe: zum einen die fest verankerte, aber nicht wirklich wissenschaft-
lich fundierte Ansicht, dass Stabilität und Effizienz in die Finanzmärkte quasi
eingebaut seien. Und zum anderen die sehr weitgehende Vernachlässigung von
Wechselwirkungen zwischen wirtschaftlichen Akteuren. (Lux 2009)

Die erste Fehlkonstruktion der Ökonomielehren gehe „zurück auf ideali-


sierte Modelle einfacher Wirtschaftskreisläufe“. Nach diesen Modellen
hätten auch Praktiker wie der ehemalige amerikanische Zentralbankchef
Alan Greenspan Entscheidungen getroffen, die jede Form der Regulie-
rung von Finanzmärkten ablehnten. (Bekanntlich hat sich Greenspan in-
zwischen für seine Geldpolitik und deren Folgen sogar entschuldigt.)
202 Stephan Elspaß

Die zweite Fehlkonstruktion in der herkömmlichen Wirtschaftstheorie


bestehe darin, dass sie „[i]m Bestreben, möglichst genau das Handeln
einzelner Haushalte oder Unternehmen abzubilden, […] zunehmend alle
Arten von Wechselwirkungen zwischen Akteuren ausgeblendet“ habe; sie
reduziere das Wirtschaftsgeschehen
auf die Betrachtung sogenannter „repräsentativer Akteure“: Ein Unternehmen
steht dann für die gesamte Volkswirtschaft, ein typischer Investor für den gesam-
ten Kapitalmarkt. […] So wird es grundsätzlich unmöglich, ungewollte Konse-
quenzen der Entscheidungen vieler Einzelner zu untersuchen.
(ebd.; Hervorhebung im Original)

Diese offenen Worte eines Wissenschaftlers über seine eigene Disziplin


sind recht erstaunlich, insbesondere wenn man bedenkt, dass diese regel-
mäßig hochdotierte Preise für Leistungen vergibt, die der Menschheit
großen Nutzen erwiesen haben, darunter den „Nobelpreis“ für Wirt-
schaftswissenschaften.
Die Reihe möglicher Parallelbezüge zur Historischen Sprachwissen-
schaft soll nun nicht mit der Frage beginnen, warum die Historische
Sprachwissenschaft nicht den ,gegenwärtigen Sprachverfall‘ vorhergesehen
hat. Ich denke, wir sind uns einig, dass wir diese Diskussion in anderen
Foren zu führen haben (was wir aber auch nicht versäumen dürfen!). Aber
man kann sich ja durchaus die Frage stellen, warum es etwa der internati-
onalen sprachhistorischen Forschung in zwei Jahrhunderten – mit insge-
samt durchaus erheblichem personellen und materiellen Aufwand – nicht
gelungen ist, eine weithin anerkannte Sprachwandeltheorie vorzulegen, die
nicht nur die Sprachwandelprozesse der Vergangenheit zu beschreiben
und zu erklären imstande ist, sondern auch zukünftige Entwicklungen
voraussagen kann.
Einen Teil der Antwort wird man in der Geschichte und der wissen-
schaftssoziologischen Struktur unseres Fachs finden können. Sicher gibt
es auch in unserer Disziplin Denkkollektive, die von bestimmten Vorden-
kern geprägt sind und die jeweils über eine oder gar mehrere Generatio-
nen hinweg bestimmte Teilaspekte der Sprachgeschichte mit einer festge-
legten Methodik untersuchen. Damit binden sie natürlich auch Kräfte
bzw. behindern sogar innovative Ideen und Verfahren, wenn diese z. B.
für nicht en vogue erklärt werden, weil sie manchen Vordenkern nicht in
den Kram passen und es deshalb keine personelle, finanzielle und persön-
liche Unterstützung gibt etc.
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 203

Nun soll man die Erfolge und Fortschritte der Forschung auch nicht
kleinreden. Aber gewisse kritische Fragen wird man stellen dürfen. Dies
will ich mir heute erlauben (eine habe ich schon gestellt) und gleich hinzu-
fügen, dass ich nicht auf alle Fragen eine Antwort zu geben weiß. Ich gehe
im Folgenden von zwei Thesen aus, die durch den SZ-Beitrag inspiriert
sind:

1. Die Sprachgeschichtsforschung geht immer noch zu sehr von ideali-


sierten Modellen einfacher Sprachveränderungsprozesse in geschlos-
senen Systemen aus.
2. Die Sprachgeschichtsforschung vernachlässigt immer noch weitge-
hend die Wechselwirkungen zwischen den Sprachakteuren und be-
stimmten gesellschaftlichen Faktoren. (Für die neuhochdeutschen
Sprachperioden muss man noch hinzufügen: Die Forschung hat sich
zu sehr auf das vermeintliche Wirken einiger herausgehobener Per-
sönlichkeiten konzentriert – und viel zu wenig überprüft, was diese
denn nun tatsächlich bewirkt haben. Man kann deshalb hinsichtlich
der oben gestellten Frage nach einer Sprachwandeltheorie, die Vor-
aussagen zu machen imstande ist, auch durchaus die Meinung vertre-
ten, dass ein solches Vorhaben von vornherein zum Scheitern verur-
teilt, weil Sprache eben ein soziales System ist, vgl. Knoop 1995: 24f.)

Dies sind nun recht allgemeine Thesen, die ich am Beispiel der Forschung
zum Neuhochdeutschen auf Fragen konzentrieren möchte, die die bisher
zugrunde gelegten Korpora betreffen: Welche Korpora standen der For-
schung bisher zur Verfügung? Inwieweit ist die Entstehung und Zusam-
mensetzung dieser Korpora in der Forschung reflektiert worden – gerade
in Bezug auf die Fragen, welche Sprachakteure unter welchen gesellschaft-
lichen Rahmenbedingungen und zu welchen Zwecken berücksichtigt wur-
den und welchen Zugang sie überhaupt zur Schrift hatten?
Ich nehme vorweg, dass in Bezug auf den Großteil der Forschung
zum Neuhochdeutschen eine Korpusmisere zu konstatieren ist. Und aus
diesem Befund ergibt sich konsequenterweise die Forderung nach einer
Entwicklung von mehr und von differenzierteren Korpora für diese
Sprachstufen.1 An drei Fallbeispielen aus der Syntax, der Morphologie und
der Phonologie des Neuhochdeutschen will ich dann zu zeigen versuchen,
in welch gravierender Weise die Korpusauswahl die Ergebnisse der For-
schung – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – zu steuern vermögen.2

1 Unter ,Neuhochdeutsch‘ verstehe ich das Früh-, das Mittel- und das Spätneuhochdeut-
sche/Gegenwartsdeutsche (vgl. Elspaß 2008).
2 Die ersten beiden Fallbeispiele sind ausführlicher in Elspaß (2005a: 254–275, 348–354)
behandelt.
204 Stephan Elspaß

2. Problemfälle des Neuhochdeutschen


2.1 Altes tun und neue am-Fügungen

Zur Illustration des ersten Problemfalls lade ich zu einem kleinen Gedan-
kenspiel ein. Stellen wir uns eine Sprachforscherin3 des 17. Jh. vor, die mit
dem Wissen der heutigen Sprachwandelforschung ausgestattet wäre. Sie
würde dann annehmen, dass das Deutsche auf dem Weg von einer synthe-
tischen zu einer analytischen Sprache sei.
Nun kennt die Forscherin aus dem Sprachgebrauch seiner Zeit etwa
die analytischen tun-Fügungen, mit denen sich neben progressiven auch
habituelle Sachverhalte u. a. vortrefflich ausdrücken lassen:4

progressiv: ja wir tun jetzt äh äh dran Arbeiten


tut ihr grad essen?

habituell: ihr werdets euch wohl nicht gedacht haben daß ich Wa-
schen thu aber in Amerika darf man sich nicht schämen
wenn mann arbeitet (Brief Anna-Maria Schano aus Korb-
Steinreinach b. Waiblingen von 1850)

doch sie brauchten den Doctor der that mehrere Tage 2


mal den Tag ihn besuchen (Brief Bernd Farwick aus
Neerlage bei Bad Bentheim vom März 1867)

„Der eine häkelt, der andere strickt: Ich tu gern basteln“,


verrät Ida Pois. (Niederösterreichische Nachrichten,
03.04.2007, S. 66)

Durch ihre analytische Struktur ermöglichen die tun-Konstruktionen auch


Verbalklammern. Deren Entstehung und zunehmende Regularisierung hat
unsere Forscherin im 17. Jh. schon seit einiger Zeit, vor allem in ge-
druckten Texten, beobachtet.
Offenbar passt sich diese Fügung syntaktisch wie auch funktional
ganz wunderbar in das System des Deutschen bzw. der Varietäten des
Deutschen der Zeit ein. Ob sich irgendwann aus dem tun ein Flexions-

3 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die generischen Doppelfor-
men verzichtet und stattdessen – um beide Geschlechter zu beteiligen – auf Abwechslung
gesetzt. Für die Belege aus dem Korpus hingegen wurde stets differenziert, um diese Meta-
daten nicht verloren gehen zu lassen.
4 Die zwei ersten Beispielsätze nach den Belegen in Schwitalla (2006: 133ff.); die drei schrift-
sprachlichen Belege aus Elspaß (2005a: 264) und Brinckmann/Bubenhofer (2011).
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 205

morphem bildet, ähnlich wie im Fall des Präterital-Suffixes (wie der For-
scher aus der Geschichte des Voralthochdeutschen zu wissen meint), sei
dahingestellt.
Wie aber sollte die Forscherin des 17. Jh. mit ihrem Wissen um die
reine Lehre der systematischen Veränderungen des Deutschen ahnen
können, dass das Deutsche drei Jahrhunderte später eine standardisierte
Kultursprache ist, in deren Standardvarietät solche tun-Fügungen so ver-
pönt sind, dass sie dort im Geschriebenen praktisch nicht mehr auftau-
chen (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, etwa bei Spitzenstellung
des Vollverbs, z. B. Lesen tu ich schon lang nicht mehr.)? Erst recht stellt sich
die Frage, wie sie die verschiedenen Stadien der späteren Stigmatisierungs-
geschichte der tun-Fügung, wie sie von Nils Langer (2001) ausführlich
beschrieben wurde, hätte voraussehen können.5
Denn, wie gesagt, die tun-Fügung passt sich sowohl syntaktisch als
auch funktional gut in das System des Deutschen ein – und zwar so gut,
dass sie in allen Dialekten und vielerorts auch bis in die standardnahen
Varietäten hinein bis heute gebraucht wird.6
Es gibt eine andere verbale Konstruktion im Deutschen, mit der im
Grunde genau das Gegenteil passiert ist, nämlich die am-Konstruktion: Sie
ist inzwischen im Standard akzeptiert (zumindest nach dem Standard der
Duden-Grammatik 2009: Rd.nr. 594).7 Woher aber kommt sie? Im ,Sys-

5 Hier nur die wichtigsten Stationen nach metasprachlichen Quellen (Darstellung nach
Langer 2011: 176ff., dort auch Zitatnachweise): Vor der Mitte des 17. Jh. war die tun-
Fügung selten negativ konnotiert. In Kommentaren bis ca. 1680 wird sie aus stilistischen
Gründen zunächst für den Gebrauch in der Literatursprache (Zesen u. a.), dann auch für
die Kanzleisprache (Stieler u. a.) abgelehnt. Auch eine angebliche semantische Redundanz
des Auxiliars tun wurde in diesen Zusammenhängen betont. Von norddeutschen Gramma-
tikern wird die Fügung am Ende des 17. Jh. / Beginn des 18. Jh. als ,süddeutsch‘ markiert.
Nach 1740 kamen soziolinguistische Bewertungen von (zumindest sprachhistoriogra-
phisch) wichtigen Sprachakteuren hinzu: Für Aichinger gehörte die tun-Fügung zum
Sprachgebrauch der „gemeinen Leute“; für Gottsched war sie so „lächerlich“, dass sie
„kaum [noch] unter Handwerksburschen und in altväterlichen Reichstädten“ gelte; Ade-
lung rechnete sie zu den „niedrigen Hoch- und Oberdeutschen Mundarten“, die im Hoch-
deutschen „überaus niedrig und widerwärtig“ klinge. Campe siedelte ihren Gebrauch „im
gemeinen Leben“ an, wo sie „aber in den meisten Fällen überflüssig und schleppend, folg-
lich verwerfend“ sei, es sei denn, es solle „dem Vortrage absichtlich ein niedrig alterthümli-
ches Ansehen gegeben werden“. Adelung und Campe folgend, bezeichnete Heyse die tun-
Fügung als „landsch[aftlich] gem[ein]“ und als „ein überflüssiges Hülfswort“. Ab den
Schulgrammatiken des 19. Jh. gilt sie endgültig als schlechtes oder falsches Deutsch in der
Schrift- und später in der Standardsprache.
6 Insbesondere in den md. Gebieten und den obd. Gebieten Deutschlands und Österreichs
(s. auch Schwitalla 2006: 147f.). Die geographische Verbreitung zeigen die entsprechenden
Karten des „Atlas zur deutschen Alltagssprache“ (vgl. http://www.atlas-alltagssprache/
runde_3/f08b-c/) und eine neue Karte aus dem Projekt ‚Deutsch heute‘ des IDS in
Brinckmann/Bubenhofer (2011).
7 Hoffmann (2011) schreibt: „Sie sollte allgemein akzeptiert sein.“
206 Stephan Elspaß

tem‘ des Neuhochdeutschen vor dem 19. Jahrhundert taucht sie gar nicht
auf. Sie ist aber auch nicht vom Himmel gefallen, sondern tatsächlich ,von
unten‘ bzw. ,vom Rand‘, nämlich aus regional begrenzten Dialektgebieten
im Westen des deutschsprachigen Raums, an die schriftsprachliche Ober-
fläche gekommen. Die am-Konstruktion ist auch ein gutes Beispiel für
,Sprachwandel von unten‘ im Sinne William Labovs (1975: 328). Demzu-
folge geht der Sprachwandel zunächst durch die weitgehend unbewusste
Übernahme einer dialektalen Form durch Sprachakteure in ihre Schrift-
und Standardsprache vonstatten, dann – im Sprachkontakt – durch die
weitgehend unbewusste Übernahme durch Sprachakteure aus Regionen,
zu deren Dialekten die Form nicht gehört. Die erstaunliche areale Aus-
breitung der am-Konstruktion innerhalb eines Jahrhunderts lässt sich da-
her in der Alltagssprache besonders gut verfolgen: In alltagssprachlichen
Texten (und wenigen literarischen Texten) des 19. Jh. ist sie nur im Wes-
ten und Südwesten des deutschsprachigen Gebiets nachzuweisen; in der
heutigen Alltagssprache ist sie – bis auf einige Gebiete im Osten Deutsch-
lands und Österreichs – fast im gesamten deutschsprachigen Raum üblich
(s. Abb. 1).
Wenn man nun grammatischen Formen so etwas wie Karrieren zu-
schreiben wollte, dann müsste man die am-Konstruktion an vorderer Stelle
nennen.8 Wie kam es dazu? Meine – inzwischen nicht mehr ganz taufri-
sche (Elspaß 2005a: 274f., 2005b: 83) – Hypothese ist, dass zumindest
zwischen der Stigmatisierungsgeschichte der tun-Fügung und dem In-
Gebrauch-Kommen der am-Konstruktion ein Zusammenhang besteht.
Denn die am-Konstruktion leistet Ähnliches wie die tun-Fügung – zumin-
dest, was den grammatischen Ausdruck der Progressivität, aber auch der
Habitualität betrifft:

progressiv: er war im einen neügegrabenen Bierkeller am Arbeiten


und einen alter Steinere Wand fiel um und traf ihm zu
Tode (Brief Bernd Farwick aus Neelage bei Bentheim
vom 12. Juli 1868)

habituell: wir sind hir im Steinbruch am Arbeiten ich und Golt-


schmid (Brief Matthias Dorgathen aus Mühlheim/Ruhr
vom 15. Mai 1881)

8 Die Karriere der am-Konstruktion ist aber sicher kein Einzelfall, s. etwa die Verbreitung
des (deutschen) Modalverbs müssen in den slawischen Sprachen (vgl. Hansen 2000).
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 207

Abb. 1: Ausbreitung des am-Progressivs in der Gegenwartssprache (Quelle: AdA, Rd. 2)

Was machen nun Sprachakteure, die Habitualität und Progressivität einer


Handlung gern zum Ausdruck bringen möchten, denen aber entweder
rein lexikalische Mittel zu umständlich sind (Er war gerade im Begriff, in einem
neugegrabenen Bierkeller zu arbeiten, als …; Wir arbeiten hier jetzt dauerhaft im
Steinbruch, … o. ä.) oder denen man eingebläut hat, auf keinen Fall die tun-
Fügung zu benutzen, da sie sich ,dumm‘ oder ,wie Kinderdeutsch‘ anhöre?
Ich denke, sie würden durchaus zu einer (noch) nicht stigmatisierten
grammatischen Form greifen, die Ähnliches ausdrücken kann, also z. B.
zur am-Konstruktion. Für diese Hypothese spricht nicht zuletzt die annä-
hernd komplementäre regionale Verteilung: Die tun-Fügung wird heute
sprechsprachlich noch vor allem in den Gebieten verwendet, in denen die
am-Konstruktion noch nicht üblich ist.9
Fassen wir zusammen: Eine grammatikalisierte Form A (die tun-
Fügung) wird in einer bestimmten Varietät weniger verwendet. An ihre
Stelle tritt eine Form B (die am-Konstruktion), die allmählich grammatika-
lisiert wird (vgl. Diewald 1997: 105). Diese Veränderung in Bewegung
gebracht haben nicht ‚sprachinterne‘ Verwerfungen, Asymmetrien etc.
Verantwortlich dafür war vielmehr ein klarer Einfluss von ‚außen‘, näm-
lich die Stigmatisierung der tun-Fügung durch Grammatiker und Stillehrer
in mittelneuhochdeutscher Zeit.

9 Vgl. die in Anm. 6 genannten Karten.


208 Stephan Elspaß

Zählt dies bereits zur ,externen Sprachgeschichte‘, mit der sich


Sprachwissenschaftler besser nicht abgeben sollten, wenn sie in Teilen
ihres Fachs ernst genommen werden wollen? Vielleicht haben so viele
Sprachhistoriker eine nähere Beschäftigung mit den neuhochdeutschen
Sprachperioden schon deshalb gescheut, weil sich dort neben den natürli-
chen und/oder ökonomischen Sprachentwicklungen immer wieder solche
Querschläger finden. Wie dem auch sei: Diese sind Teil unserer Sprachge-
schichte und – im Sinne meiner ersten These – in idealisierten Modellen
einfacher Sprachveränderungsprozesse in geschlossenen Systemen nicht
viabel beschreib- und erklärbar (nach dem Viabilitätsprinzip von Ágel
2001: 319f.). Im Sinne der zweiten These kommen wir in diesem Fall nicht
weiter, wenn wir die Sprachakteure und die Wechselwirkungen zwischen
den verschiedenen Akteuren unberücksichtigt lassen. Wenn wir hier ge-
genstandsadäquat etwas erklären wollen, dann müssen wir Sprachge-
schichte eben auch als Sprachgebrauchsgeschichte, als Sprachkontaktge-
schichte, als Sprachmentalitätsgeschichte, als Historische Soziolinguistik
usw. behandeln, und vor allem müssen wir uns – so wie es Rudi Keller
getan hat – öfter einmal fragen, was denn die Akteure des Sprachmarkts
so alles umtreibt, wenn sie sprachliche Handlungen vollziehen und welche
„ungewollte[n] Konsequenzen der Entscheidungen vieler Einzelner“ (Lux
2009, s. o. Abschn. 1) daraus entstehen können.
Was bedeutet dies nun mit Blick auf die Forderung nach einer stärke-
ren Entwicklung und Arbeit mit Korpora des Neuhochdeutschen? Sichtet
man die Sprachgeschichten und -grammatiken, so findet man, was die
beiden erwähnten Konstruktionen betrifft, eine große Lücke. Nach den
Angaben in den Handbüchern dürfte es sie etwa in Texten des 19. Jh.
eigentlich gar nicht geben. Selbst in der für das Neuhochdeutsche noch
zuverlässigsten Sprachgeschichte, der von Peter von Polenz, ist die tun-
Fügung im 3. Band (19. und 20. Jh.) kein Thema mehr. Im 2. Band wird
sie noch für das 18. Jh. gebucht, aber nach dieser Darstellung käme sie
„fast nur in volkstümlichen Textsorten im Oberdt.“ vor (von Polenz
1994: 263). Und die am-Konstruktion? Sie taucht überhaupt nur im letzten
Band der von Polenz’schen Sprachgeschichte auf, und dort auch nur mit
dem Verweis auf verschiedene Verlaufsformen und mit dem knappen
Befund, die am-Konstruktionen würden „in letzter Zeit immer üblicher“
(von Polenz 1999: 352).
Dies ist nun nicht von Polenz anzulasten, der mit seiner dreibändigen
Sprachgeschichte des Deutschen vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart
(von Polenz 1994–2000) und seinem Fokus auf einer soziopragmatischen
Sprachgeschichte etwas Herausragendes geleistet hat – was freilich im
Wesentlichen nur möglich war, indem er sich auf bereits vorhandene For-
schungsergebnisse stützte. Umso wichtiger ist daher die Erarbeitung von
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 209

weiteren Textkorpora der neuhochdeutschen Sprachperioden, denn was


diese Perioden angeht, muss man – wie schon oben vorausgeschickt –
geradezu von einer Korpusmisere sprechen. Dass dies auch schon für das
Frühneuhochdeutsche gilt, ist aus den gegenwärtigen Plänen für ein neues
frühneuhochdeutsches Korpus zu erschließen.10 Noch mehr gilt die Fest-
stellung einer Korpusmisere aber, wie ich meine, für die Zeit, die ich das
Mittelneuhochdeutsche nenne, also für die Zeit von ca. 1650 bis ca. 1950.
Es ist mir unverständlich, dass es noch keine Pläne für ein nach verschie-
denen Textsorten und Regionen differenziertes Korpus des Mittelneu-
hochdeutschen gibt – so, wie es für die älteren Sprachstufen offenbar
selbstverständlich war. Angesichts der enormen Erweiterung des Textsor-
tenspektrums in der Neuzeit ist es schon sehr verwunderlich, dass sich
bisher weder die Historische Sprachwissenschaft noch die Forschung zum
Gegenwartsdeutschen, die ja u. a. auch aktuelle Entwicklungstendenzen in
der Gegenwartssprache erklären will, um den Aufbau eines entsprechend
differenzierten Korpus für die mittelneuhochdeutsche Sprachperiode
gekümmert hat. Ich bin davon überzeugt, dass es sehr wohl lohnt, weiter-
hin Textkorpora areal zu differenzieren11 – selbst noch in der Gegenwart,
wo es bis in die Standardsprache hinein nationale und regionale Variation
auch in der Grammatik gibt (vgl. Dürscheid/Elspaß/Ziegler 2011; zur
Forderung einer stärkeren Berücksichtigung der Regionen in der Sprach-
geschichte etwa Berthele et al. 2003).
Von daher ist das als Nähegrammatik konzipierte Kasseler Projekt zur
neuhochdeutschen Grammatik (Ágel/Hennig 2006) ein wohlbegründetes
Vorhaben. Dass gerade für die neue Zeit bis zur Gegenwart eine stärkere
Konzentration auf nähesprachliche Texte Not tut und dass wir noch stär-
ker die Unterschiede zwischen Nähe- und Schriftsprachlichkeit von Kor-
pora zu beachten haben, wird am dritten Fallbeispiel näher zu erläutern
sein (2.3). Mit dem Fall des Dativ-e (2.2) bleiben wir jedoch zunächst noch
im 19. Jh., und hier geht es um ein besonderes korpuslinguistisches Prob-
lem, nämlich die Rolle von distanzsprachlichen Versatzstücken in nähe-
sprachlichen Texten.

10 Vgl. http://www.germanistik.uni-halle.de/forschung/altgermanistik/referenzkorpus_
fruehneuhochdeutsc/.
11 Dies ist auch noch im „GerManC project: A representative historical corpus of German
1650-1800“ geschehen, vgl. http://www.llc.manchester.ac.uk/research/projects/germanc/
papers/.
210 Stephan Elspaß

2.2 Der Fall des Dativ-e

Die Entwicklung des Dativ-e vom Mittelhochdeutschen bis zur Ge-


genwart verlief nicht gleichmäßig und ist gewiss nicht nur mit
,innersprachlichen‘ Faktoren zu erklären (vgl. Habermann 1997). Während
im Mittelhochdeutschen noch weitgehend eine Markierung des Dativ
Singular von starken Maskulina und Neutra durch das Flexiv -e erfolgte,
wurde es im Frühneuhochdeutschen in Regionen wie dem Oberdeutschen
und dem Westmitteldeutschen fast vollständig apokopiert; die grammati-
sche Information verlagerte sich auf Artikelformen und Pronominal- oder
Adjektivendungen. In der Folgezeit wurde das Dativ-e – vom Ostmittel-
deutschen ausgehend – in geschriebenen Texten allerdings restituiert, was
zu morphosyntaktischer Redundanz führte (von Polenz 1994: 254). Dass
das Dativ-e an der Wende zum 19. Jh. als schriftsprachlicher Default-Fall
galt und die Schulgrammatiken des 19. Jh. auf der Setzung des Dativ-e
beharrten, geht – soweit wir heute wissen – im Wesentlichen auf den
normativen Einfluss Gottscheds und Adelungs zurück; für die restitutive
Entwicklung in der im Frühneuhochdeutschen entstehenden neuhoch-
deutschen Schriftsprache läge somit ein Fall des ,Sprachwandels von oben‘
vor.
Nun zeigten Erhebungen in Werken von Schriftstellern des 19. Jh. ein
äußerst uneinheitliches Bild (vgl. Schieb 1981: 160f.). Schon Otto Be-
haghels Zählungen (1900: 273) förderten das Ergebnis zutage, dass „die
neuhochdeutsche Schriftsprache in keinem Augenblick ihres Daseins eine
feste Regel für die Bildung des Dativs der Einzahl besessen hat, und daß
auch noch heute sich keine Einheit herausgebildet hat“. Diese „geradezu
verwirrende Mannigfaltigkeit“ (ebd.) schrieb Behaghel insbesondere den
Schriftstellern zu, die sich in ihren Werken an der Schriftsprache orientier-
ten und nicht an der Alltagssprache. Offenbar sah Behaghel für die All-
tagssprache des 19. Jh. die e-Apokopierung als weitgehend durchgesetzt,
und dies würde man auch für das geschriebene Alltagsdeutsch des 19. Jh.
erwarten. In ihrer Untersuchung zur „Privaten Schriftlichkeit kleiner Leu-
te“ kam Isa Schikorsky (1990) jedoch zu einem anderen Befund: Durch-
schnittlich 64% der von ihr ausgezählten Dativ-Singular-Formen von
Maskulina und Neutra in ihrem Korpus waren durch -e markiert. Aus
diesem zunächst doch recht überraschenden Ergebnis folgerte Schikorsky,
dass
die Autoren bei der Verwendung des Dativs ganz wesentlich den schriftsprachli-
chen Konventionen folgten und nicht, wie aufgrund der situativen Textmerkmale
durchaus möglich gewesen wäre, dem mündlichen Gebrauch entsprechend auf
das Dativ-e verzichteten. (ebd.: 264f.)
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 211

War das Dativ-e im geschriebenen Deutsch des 19. Jh. nun dominant oder
nicht? Diese Frage hängt freilich eng damit zusammen, a) welche Korpora
man heranzieht und b) welche Fälle von Dativ-e man eigentlich zählt. Im
Fall des Dativ-e lohnt – im Sinne von a) – zum einen wieder die Unter-
scheidung von nähe- und distanzsprachlichen Texten. Darüber hinaus
habe ich dafür plädiert (vgl. Elspaß 2005: 152ff.), bei der Untersuchung
historischer Textkorpora so weit wie möglich ,formelhafte‘ und ,kreative‘
Sprache zu differenzieren. ,Formelhafte Sprache‘ zielt – in der Terminolo-
gie von Helmuth Feilke (1996: 313) – auf die idiomatische Prägung von
Sprache, die auch, aber eben nicht zentral Idiome umfasst und wesentlich
für Sprache ist. Idiomatisch geprägte bzw. formelhafte Sprache besteht
gewissermaßen aus lexikalischen bzw. äußerungswertigen Versatzstücken,
die Sprachakteure mitsamt alten oder neuen grammatischen Formen re-
produzieren. Bekanntlich führen schon idiomatische Phraseologismen
verschiedenes sprachhistorisches ,Geröll‘ mit sich (vgl. Graser 2008:
189ff.), z. B. erstarrte Genitivkonstruktionen (guten Mutes sein, des Kaisers
Bart, wes Geistes Kind jmd. ist etc.), unflektierte Adjektivattribute (eitel Freude,
auf gut Glück, sich bei jmd. lieb Kind machen etc.), apokopierte Formen (in Reih
und Glied, seit eh und je etc.), aber eben auch alte Dativ-e-Formen, wie nach
Hause gehen, zu Buche schlagen oder in aller Munde sein.12 In Privatbriefen des
19. Jh. fallen neben solchen ,semantischen Prägungen‘ auch ganze Passa-
gen auf, die formelhaft geprägt sind, stilistisch gehoben wirken (und auch
so intendiert sind) und gerade in ihrer Dativ-e-Verwendung (vgl. auf dem
Bildnisse, im Grabe im folgenden Auszug) stark mit Passagen kontrastieren,
in denen alltägliche Begebenheiten geschildert werden und die (regional
übliche) Apokopierungen enthalten (vgl. Woch, Wasch):

[...] ach ich weinte heiße Thränen ist es den wahr liebste Eltern daß
dieser holde Engel dieses liebe Kind nicht mehr unter Euch ist ach
wie oft habe ich ihm auf dem Bildnisse angesehen. [...] wenn ich den
Anton noch einmal sehen würde aber jetzt sein Leib er modert schon
im Grabe aber seine Seele ist aufgefahren in den Himmel wo er als
schöner Engel sitzt und für uns bittet. [...] wir waschen alle Woch
einmal und zwar am Montag bis Mittag sind wir fertig die Mutter soll
außer Sorgen sein meine Wasch ist sehr reinlich gewaschen und ge-
bückelt und genäht und geflickt ich habe wenig zerrissenes. [...]
(Brief Barbara Rueß aus Beuren bei Pfaffenhofen a. d. Roth vom
August 1868)

12 Für die Gegenwartssprache stellt Konopka (2011) fest: „Das Dativ-e ist im Bereich von
bestimmten (mehr oder weniger festen) Wortverbindungen zu Hause.“
212 Stephan Elspaß

Darüber hinaus erscheinen Dativ-e-Verwendungen gehäuft in formelhaf-


ten Wendungen an Briefanfängen oder überleitenden Passagen:

Liebe Geschwister!
Am 17. d. erhielten wir die trauriche Nachricht. daß unser lieber, guter
Vater von seinen langen, schweren Leiden dennoch durch den Tod
erlöst wurde. Wie freuten, wir uns, als wir in dem Briefe vorher ersa-
hen, daß er wieder, nach so langer Zeit, aufstehen konnte
(Brief Otto Schwabe aus Bürgel, Thüringen vom 27. April 1890)

Wie ich in dem Briefe vernommen habe ist der Grünwald nach
[euch] da ich denk er wird sich recht Gelde ersparen und dann schrei-
ben ein Gruß an seine Frau.
(Brief Barbara Rueß aus Beuren bei Pfaffenhofen a. d. Roth vom
August 1868)

Im Sinne von Frage b) oben habe ich in einer Stichprobe 90 Briefe meines
Korpus auf ihre Dativ-e-Verwendungen hin untersucht und zwei Zählun-
gen durchgeführt: Die erste berücksichtigt alle Dativ-Fälle starker Sub-
stantive im Maskulinum und Neutrum, in der zweiten wurden die phra-
seologisch gebundenen Dative ausgenommen.

Tab. 1: Endungen im Dat. Sg. ,starker‘ Substantive (mask./neutr.)


(nach Elspaß 2005, S. 351, Tab. 30, u. S. 353, Tab. 31)

-e im Dat. Sg. m/n -∅ im Dat. Sg. m/n

gesamt 129 54,4% 108 45,6%

ohne phraseologisch 61 36,1% 108 63,9%


gebundene Fälle

Im Ergebnis (vgl. Tab. 1) erweist sich zum einen, dass alle phraseologisch
gebundenen Dative eine e-Markierung aufwiesen. Zum anderen zeigt sich
eine klare Diskrepanz zwischen dem Anteil von e-Markierungen an der
Gesamtzahl der Dat.-Sg.-Verwendungen starker Maskulina/Neutra auf
der einen Seite und deren Anteil an der Gesamtzahl abzüglich der phrase-
ologisch gebundenen Fälle auf der anderen Seite. Rechnet man also die
Dativ-e-Vorkommen in formelhafter Sprache heraus, kommt man zu ei-
nem dem Befund von Schikorsky völlig entgegenstehenden Ergebnis:
Zwei Drittel der in Rede stehenden Dative sind flexivisch nicht markiert,
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 213

ein Drittel ist markiert.13 Selbst da, wo rhythmische Gründe eigentlich für
das Setzen eines Dativ-e sprechen, wird es oft nicht gesetzt:

Hir will ich Euch die Welltgeschichte von Amerika beschreiben in


dem Jahr 1860
(Brief Ludwig Wilhelm Müller aus Massenheim bei Bad Vilbel vom 8.
Januar 1865)

im Fall du nach Ulm kommen solltest so sey so gut u gehe auch zu


meiner Schwägerin
(Brief Johann Jakob Schwarz aus Blaubeuren bei Ulm vom 13. Juli
1856)

Wenn man also Dativ-e-Fälle ausklammert, die in Versatzstücken formel-


hafter Sprache gewissermaßen ,nur reproduziert‘ wurden, dann lautet der
flexionsmorphologische Befund für das Briefkorpus eindeutig, dass das
Dativ-e in dieser nähesprachlichen Textsorte des 19. Jh. nicht mehr domi-
nant und nicht mehr produktiv war. Und da sich progressive Formen eher
in nähe- als in distanzsprachlichen Texten zeigen, kann für das geschrie-
bene Deutsch im 19. Jh. festgehalten werden, dass sich auch hier die län-
gerfristige Entwicklungstendenz des Dativ-e-Abbaus fortsetzte. Wenn es
nicht so wäre, hätte man in der Tat Schwierigkeiten, den weiteren
Schwund des Dativ-e im 20. Jh. bis zu seinem fast völligen Fehlen in der
Gegenwartssprache zu erklären.

2.3 Von der ,althochdeutschen Silbensprache‘ zur ,neuhochdeutschen


Wortsprache‘

Mit dem dritten Beispiel komme ich zu einem Fall (möglichen) phonologi-
schen Wandels. Seit einigen Jahren liegt ein Arbeitsbuch zur „Historischen
Sprachwissenschaft des Deutschen“ (Nübling et al. 2006) vor, das – an-
ders als etwa die meisten einbändigen Sprachgeschichten des Deutschen –
eine „Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels“ gibt.
Die Kernhypothese des Kapitels zum phonologischen Wandel des
Deutschen ist, dass sich das Deutsche von einer Silben- zu einer Wort-

13 Ein Anteil von einem Drittel e-Markierungen ist für ,geschriebene Alltagssprache‘ immer
noch hoch. Er lässt sich so begründen, dass die dem Korpus zugrunde liegenden Briefe re-
lativ nähesprachlich sind, aber eben nicht die prototypischen Nähesprachen des 19. Jh.,
nämlich die Dialekte, repräsentieren. Die Menschen des 19. Jh. verschrifteten nicht Dialek-
te, sondern schrieben in einer Schriftsprache, die sie in der Schule gelernt hatten.
214 Stephan Elspaß

sprache entwickelt habe. Das Kapitel stützt sich dabei im Wesentlichen


auf die Dissertation „Der phonologisch-typologische Wandel des Deut-
schen von einer Silben- zu einer Wortsprache“ von Renata Szczepaniak
(2007).
Ich möchte im Folgenden einige kritische Fragen aufwerfen, die zent-
ral auf das Problem der Korpora zielen, die hier den Vergleichen von
phonologischen Systemen wie dem ,des Althochdeutschen‘ und ,des Neu-
hochdeutschen‘ zugrunde liegen. Die Bedenken will ich zu illustrieren
versuchen an einer Teilhypothese, nämlich der (angeblichen) „Verschlech-
terung der Silbenstruktur“ durch Konsonantencluster. Ich bin zunächst
über folgende Stelle gestolpert:
4) Nicht zu übersehen ist auch die sehr einfache Silbenstruktur im Ahd: Höchs-
tens zwei Konsonanten treten nebeneinander auf. Ein Blick auf nhd. Wörter ver-
rät hingegen schnell, dass mehrgliedrige Konsonantenfolgen hier keine Seltenheit
sind. Sowohl in Simplizia wie Hengst, Kämpfe, Sprache, schimpfst als auch in Kompo-
sita wie Sandstrand, Farbstift finden sich umfangreiche Konsonantencluster.
5) Ein geübtes Auge findet im angeführten ahd. Text auch einen epenthetischen
Vokal (Sprossvokal), nämlich in <pereg> ‘Berg’. Dieser eingeschobene Vokal er-
leichtert die Aussprache, weil er die Silbenstruktur noch weiter optimiert […].
(Szczepaniak in Nübling et al. 2006: 23; ähnlich in Szczepaniak 2007: 2f.)

Nun hat das neuhochdeutsche Wort Sprache im Onset sicher genauso viele
Konsonanten wie das althochdeutsche sprĆhha, und man könnte fragen, ob
der ,eingeschobene‘ Vokal in pereg also darauf hindeuten soll, dass die
Silbenstruktur vor dem Althochdeutschen schlechter war (was übrigens
das sichere Wissen voraussetzt, dass er erst im Althochdeutschen einge-
schoben wurde).14 Wie steht es aber mit der Aussage, dass „mehrgliedrige
Konsonantenfolgen“ im Neuhochdeutschen „keine Seltenheit“ seien?
Schon intuitiv möchte man meinen, dass etwa Cluster wie in schimpfst die
absolute Ausnahme sind (auch wenn sie zu den Standard-Lehrbuch-
beispielen für maximale Konsonantencluster in der Silbenkoda des Stan-
darddeutschen gehören). Darüber hinaus hatte ich gerade an meinen all-
tagssprachlichen Briefen des 19. Jh. die punktuelle Beobachtung gemacht,
dass – im Gegensatz zu distanzsprachlichen Texten der Zeit – eine Ver-
einfachung von Konsonantenclustern in der Koda auch verschriftet wur-
de. So kommt es zu Schreibungen wie

hälst, außerordenlich, hoffenlich, öffenlich, vollens, Lanßleute, nir-


gens, allenhalben15

14 Vgl. schon die Kritik von Wolf (2008: 441f.).


15 Diese Beispiele in Elspaß (2005: 443f.). Die folgenden sind weitere Belege aus dem dort
zugrunde gelegten Korpus.
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 215

Mathes wen Du Dier die Nase abschneitest verschimpfs Du Dier


Dein Gesicht (Brief Matthias Leclerc aus Vallendar vom 2. Oktober
1864)

es ist hir schon so heiß wie es zu Hause selbs im August nicht wird
mehr wird es mich freuen wenn ich von euch selbs einen Brief be-
kommen werde (Briefe Matthias Dorgathen aus Mühlheim/Ruhr vom
15. und 26. Mai 1881)

Doch was machs Du und die lieben Kinder seid Ihr Alle noch gut zu-
frieden (Brief Karl Ludwig Lehmann aus Havelberg vom 7. Septem-
ber 1863)

Du schreibs es gefällt dir nicht ganz gut in Amerika (Brief Peter Kirst
aus Züsch bei Trier vom 4. September 1981)

Eine „Tendenz zur Vereinfachung von Konsonantenclustern“ sah auch


Schmidt (2002: 339) in Beispielen von Superlativbildungen wie erregenst,
berüchtigst16, meistbegünstigst.
Am folgenreichsten für die Reduzierung von Konsonantenclustern in
der Koda ist die seit dem Mittelhochdeutschen auftretende Apokopierung
finaler Dentale. Für das Frühneuhochdeutsche wird etwa die d/t-Apokope
interessanterweise z. T. für genau dieselben Lautumgebungen beschrieben,
in denen auch t-Epenthese stattfand, z. B. nach ch wie in nich, rech (vs. dicht,
frecht, nachtbar, sprichtwort), nach n wie in tausen, mon (vs. mond, nebent, öffentlich
u. a.) oder nach g wie in klag, sag (vs. predigt, willigt), und auch schon zur
Vermeidung von Mehrfachkonsonanz in Wortbildungen, z. B. lichmesse,
leichfertig, gedächnis, wilbret, langraf, fasnacht (vgl. Reichmann/Wegera 1993: §
L 47, 4). Dabei muss die t-Epenthese im Frühneuhochdeutschen übrigens
nicht immer als Stärkung der morphologischen Struktur oder als ,wort-
optimierend‘ gesehen werden; sie wird ja – im Gegenteil – auch gerade im
Sinne einer „Ausspracheerleichterung“ interpretiert (vgl. ebd.). Schrift-
sprachlich wird auslautendes t im Neuhochdeutschen (wie im Neunieder-
ländischen) beibehalten; „diese allgemeine Resistenz bedeutet jedoch
nicht, dass keine umgangssprachliche t-Tilgung im Deutschen möglich
wäre“ (Maitz/Tronka 2009: 191).17 So zeigen etwa Daten aus dem aktuel-

16 Wenn man übrigens das Wort berüchtigtste in eine beliebige Internetsuchmaschine eingibt,
wird man mindestens genauso viele Treffer für die orthographisch falsche wie für die or-
thographisch richtige Schreibung finden.
17 Das gilt auch für andere Positionen von t in Konsonantenclustern, vgl. schon eine entspre-
chende Feststellung von Paul (1916: 326): „Verstummt, aber in der Schreibung beibehalten
ist t vor st in du hältst, fichtst, flichtst“.
216 Stephan Elspaß

len Projekt „Sprachvariation in Norddeutschland (SiN)“, dass in nähe-


sprachlichen Redesorten (Familiengesprächen) in 58,3% aller Fälle
(N=20.232), in denen schriftsprachlich -t steht, apokopiert wird; bei fre-
quenten Wörtern wie nicht, ist, selbst oder sonst sowie in Verbformen der 2.
Pers. Sg. ist t-lose Aussprache dort die Normalaussprache.18
Diese Vereinfachungen – vor allem durch Dentalausfall – führen
meist zu nur noch zwei- bis dreigliedrigen Konsonantenclustern. Selbst
ein Wort mit komplex erscheinender Koda wie schimpfst reduziert sich
dadurch auf nur noch drei Konsonanten im Endrand. (Dies wäre etwa
auch bei mir die ganz normale Aussprache: [ǴǛǢfs].)
Eine andere Form der Vermeidung von Konsonantenclustern ist die
Einfügung von Sprossvokalen, die es heute nicht nur in Dialekten, son-
dern regional auch in der standardnahen gesprochenen Sprache ganz regu-
lär gibt. In Regionalsprachen des Westens etwa ist die Aussprache von
Einsilblern mit Sonorant und folgendem Frikativ wie Milch, fünf, Senf, Ralf
mit Hilfe eines epenthetischen (oder alten?) Vokals erleichtert: Milich, fünef,
Senef, Ralef usw. (Auer 1997).
Hier stellen sich die nächsten Fragen: Warum werden hier offensicht-
lich nicht die Wörter, sondern die Silben gestärkt? Wenn die Drift des
Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache anhalten würde (was
hat sie eigentlich ausgelöst, und gibt es da ein Ende?), dann wären solche
– durchaus nicht marginalen – silbenfreundlichen Gegenbeispiele zur
Stärkung der ,Wortgrenzen‘ zumindest erklärungsbedürftig. Deuten diese
Belege aus nähesprachlichen Texten und Registern auf eine Gegentendenz
zur Konsonantenverclusterung, oder können sie gar als Indikatoren für
eine clustervermeidende Kontinuität in der gesprochenen (Nähe-) Sprache
interpretiert werden?
Von diesen Beobachtungen zu den Verhältnissen in nähesprachlichen
Text- und Redesorten ausgehend muss schließlich die grundsätzliche Fra-
ge gestellt werden, welche Korpora miteinander verglichen werden, wenn
von ,der althochdeutschen Silbensprache‘ und ,der neuhochdeutschen
Wortsprache‘ die Rede ist. Als Beispieltexte dienen in der erwähnten Ein-
führung der erste Teil des Wessobrunner Gebets und dessen neuhoch-
deutsche Übersetzung. Sind diese beiden Texte – die ja offensichtlich
exemplarisch für Ausschnitte des althochdeutschen und des neuhochdeut-
schen Korpus stehen sollen – in Bezug auf die Silbenstruktur des gespro-
chenen Deutsch überhaupt miteinander vergleichbar? Hier sind aufgrund
eines grundsätzlichen Unterschieds der Texte, denen die verglichenen
phonologischen Systeme zugrunde liegen, starke Zweifel anzumelden: Im

18 Dazu sowie zu den Steuerungsfaktoren für die t-Apokope s. Elmentaler (2011: 66ff.); vgl.
auch schon Meinhold (1973: 109f.).
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 217

Fall ,des Althochdeutschen‘ liegt nämlich medial Geschriebenes vor, das


nach dem gesprochenen Wort geformt wurde, gewissermaßen eine Trans-
literation, eine Verschriftung gesprochener althochdeutscher Dialekte. Im
Fall ,des Neuhochdeutschen‘ haben wir es dagegen mit einer idealisierten,
homogenisierten Standardaussprache nach der Schrift zu tun, und zwar
einer verschriftlichten Varietät, auf der die phonologische Beschreibung be-
ruht.
(Stellen wir unserer Sprachforscherin des 17. Jh. kurz einen Sprachfor-
scher des 16. Jh. an die Seite: Wie hätte dieser ahnen sollen, dass sich ein
Jahrhundert später die hochdeutschen gegen die niederdeutschen Schreib-
sprachen durchsetzen würden und sich die Norddeutschen in den darauf-
folgenden Jahrhunderten für den Verlust ihrer Schreibsprachen dadurch
,revanchieren‘ sollten, dass sie eine Orthoepie nach einer möglichst gra-
phemgetreuen Aussprache des Schriftdeutschen festlegen würden, das
auch für sie ganz klar eine Distanzsprache war?)
Wie weit Nähe- und Distanzsprache im Althochdeutschen auseinan-
derlagen, ist heute schwer zu sagen. Man kann aber sehr gut dafür argu-
mentieren, dass die uns überlieferten althochdeutschen Texte prinzipiell
nähesprachlich sind, weil der Distanzbereich durch eine ganz andere Spra-
che, nämlich Latein, ausgefüllt war (vgl. Koch 2010: 162ff., Ernst/Elspaß
2011: 254ff.). Dagegen dient unsere heutige Standardvarietät wohl nur
einem kleinen Teil der Sprachteilnehmer und -teilnehmerinnen als Sprache
der Nähe.
Wie sehen denn die Silbenstrukturen aus, wenn man auch für das
Neuhochdeutsche (genauer: die Gegenwartssprache) tatsächlich Verschrif-
tungen gesprochener Sprache zugrunde legte? Die Grundüberlegung ist
dabei, dass man, um die phonologische Struktur des Althochdeutschen
mit der phonologischen Struktur des Neuhochdeutschen vergleichen zu
können, für das Neuhochdeutsche ein Korpus heranziehen müsste, das
sich nicht an der Schreibung oder den Aussprachenormen der Ausspra-
chewörterbücher orientiert, sondern an der Transliteration bzw. Tran-
skription gesprochener Sprache des Deutschen. Dies sei nur einmal am
Beispiel der schon erwähnten Komplexität der Silbenendränder beleuch-
tet. Wir haben – wieder stichprobenartig – die Struktur der Silbenendrän-
der von 1.750 Silben aus gesprochenen und transkribierten Texten von
vier Sprechern des Deutschen ausgezählt (vgl. Tab. 2). Die Transkripte
stammen aus den „Proben deutscher Umgangssprache“ von Margret
Sperlbaum (1975). Alle vier Sprachproben stammen von Sprechern aus
dem norddt. Raum, für den man ja davon ausgeht, dass dort besonders
schriftnah ausgesprochen wird.
218 Stephan Elspaß

Tab. 2: Komplexität von Silbenendrändern in Sprachproben aus Sperlbaum (1975)

mit silb.
Silbenen- 1-fach 2-fach 3-fach Silben
offen Konson.
drand: besetzt besetzt besetzt insgesamt
1-fach bes.
Sprecher
S. 72 121 244 55 22 1
443
(Braun- 27,31% 55,08% 12,42% 4,97% 0,23%
schweig)

Sprecherin
S. 76 65 140 9 29 0
243
(Braun- 26,75% 57,61% 0,04% 0,09% 0,00%
schweig)

Sprecherin
164 262 9 32 1
S. 80 468
35,04% 55,98% 1,92% 6,84% 0,21%
(Hannover)

Sprecherin
165 306 42 74 9
S. 84 596
27,68% 51,34% 0,07% 12,42% 0,02%
(Göttingen)

Es handelt sich hier, wie gesagt, nur um vier Stichproben. Und es ist klar,
dass man noch weiter nach Types und Tokens differenzieren könnte, dass
man noch mehr Sprecher – auch aus anderen Gebieten – hinzuziehen
müsste etc. Aber eines wird doch mit einem Blick auf diese wenigen Er-
gebnisse bereits schnell deutlich: Wenn eine Silbe im gesprochenen Ge-
genwartsdeutschen geschlossen ist, dann mehrheitlich mit einfach besetz-
ter Koda; wie im Althochdeutschen können auch zweigliedrig besetzte
Silbenendränder vorkommen, und dreigliedrig besetzte Endränder sind im
Neuhochdeutschen eben nicht „keine Seltenheit“ (Szczepaniak in Nübling
et al. 2006: 23), sondern sehr wohl eine Seltenheit. Vier- oder gar fünf-
gliedrige Koda schließlich gibt es wohl nur in der Explizitlautung von
Ausspracheschulen oder Lehrbuchbeispielen. Wenn die Komplexität der
Silbenendränder im Althochdeutschen und im Neuhochdeutschen ein
Argument für den Wandel von der Silben- zur Wortsprache sein soll, dann
ist dies wohl nicht das beste Argument.
Alles in allem stellt sich der Eindruck ein, dass die Teilhypothese von
der Verschlechterung der Silbenränder nur dann trägt, wenn idealisierte
und homogenisierte phonologische Systeme eines eher nähesprachlichen
Althochdeutschen und einer eher distanzsprachlichen Standardvarietät des
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 219

Neuhochdeutschen miteinander verglichen werden. Gerade die Wechsel-


wirkungen zwischen phonologischem und graphematischem Wandel seit
dem Frühneuhochdeutschen scheinen bei diesem Vergleich wenig Be-
rücksichtigung zu finden: „Das Zeitalter des morphologischen Prinzips
[…] korreliert […] mit dem wortsprachlichen Ausbau des Deutschen.“
heißt es in Nübling et al. (2006: 182). Müsste es nicht eher folgenderma-
ßen heißen?
Das Morphemkonstanzprinzip konsolidierte die strukturelle Stabilität des Worts
auf graphischer Ebene und optimierte so die Sinnerfassung beim Lesen. Denn das
Wort hat in der Schriftsprache eine ganz andere Prominenz als im Gesprochenen.
Und wenn im Standarddeutschen die Aussprache der Schrift folgt und die Expli-
zitlautung Maßstab für die phonologische Beschreibung des Neuhochdeutschen
ist, kommt am Ende auch auf phonologischer Ebene eine ,Wortsprache‘ heraus.

Die Bedenken, die hier vorgetragen werden, zielen also im Kern auf die
dem Vergleich zugrunde liegenden Korpusdaten – genauer: auf die man-
gelnde Vergleichbarkeit der Korpora. Zunächst einmal stammen die Da-
ten, auf die sich die Hypothese stützt, aus Grammatiken; sie sind also
allenfalls vermittelte empirische Daten. Man müsste im Grunde genom-
men zunächst deren Datenbasis, deren Quellenauswahl, die Auffassung
der Grammatikschreiber von ,dem Althochdeutschen‘, ihre Kriterien für
die Aussonderung von ,Schreibfehlern‘19 etc. einer Prüfung unterziehen.
Somit haben wir auf der einen Seite eine althochdeutsche Grammatik, der
Angaben über die Silbenstrukturen des Althochdeutschen entnommen
werden, wobei das Althochdeutsche, das dort beschrieben wird, eben auf
der Grundlage von Transliterationen gesprochener Dialekte konstruiert
ist, die in keiner Weise standardisiert waren. Auf der anderen Seite werden
als Vergleichsstück Silbenstrukturen herangezogen, die auf der Grundlage
einer idealisierten Aussprachenorm nach der Schrift einer Standardsprache
beschrieben werden. Ich meine, beides ist nicht vergleichbar. Und wenn es
doch verglichen wird, so ist das Ergebnis wenig erstaunlich. Tatsächlich
müsste man zumindest für diesen Wandel – oder besser: Unterschied –
keine typologische Drift bemühen, sondern die Entstehung der neuhoch-
deutschen Standardsprache in Rechnung stellen, die ja vor allem mit so-
genannten ,sprachexternen‘ Faktoren zu tun hat (wie auch die anderen
beiden Fallbeispiele zeigten).
Nicht sehr überraschend ist dann übrigens auch die Feststellung, dass
das Schweizerdeutsche und das Luxemburgische (also eben keine bzw.
noch nicht standardisierten Sprachen!) im Gegensatz zum standardisierten
Neuhochdeutschen Silbensprachen seien und das Schweizerdeutsche so-

19 Vgl. kritisch dazu etwa Ernst/Glaser (2009: 1002).


220 Stephan Elspaß

gar eine typologische Kontinuität zum Althochdeutschen aufweise


(Szczepaniak 2007: 317ff. und in diesem Band). Sicherlich ließe sich dann
auch für andere Dialekte schnell nachweisen, dass sie im Vergleich zur
Explizitlautung des Standarddeutschen eine eher silbensprachliche Struk-
tur haben. Interessanter erscheint mir da allerdings die Frage, warum eini-
ge Dialekte des Deutschen ,silbensprachlichere Züge‘ aufweisen als andere
(vgl. Nübling/Schrambke 2004). Soweit ich sehe, werden dafür bisher im
Wesentlichen Einflüsse des Kontakts mit Sprachen geltend gemacht, die
noch silbensprachlicher (weil, wie im Beispiel des Italienischen, nicht ak-
zentzählend) sind.

3. Fazit
Ich will zum Schluss auf die von mir leicht modifizierte Ausgangsfrage
dieses Bands zurückkommen und meine Plädoyers noch einmal bündeln:
Mein Beitrag versteht sich zunächst als Plädoyer für mehr korpusgelei-
tete als ,korpusgestützte‘ Ansätze in der Historischen Sprachwissenschaft.
Dies sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein – wenn sich Theo-
rien nicht ihre eigenen Wirklichkeiten schaffen wollen (vgl. König 2000).
Voraussetzung für korpusgeleitete Studien sind freilich gute Korpora.
Man könnte nun meinen, dass es für die älteren Sprachstufen, gerade für
das Althochdeutsche, nicht mehr allzu viel Neues zu entdecken gäbe.
Doch gerade Arbeiten zu althochdeutschen Glossen (besonders Grif-
felglossen) haben in letzter Zeit noch einmal – buchstäblich – vor Augen
geführt, dass dort durchaus noch nicht alles zutage gefördert ist (vgl. z. B.
Ernst/Glaser 2009). Für die neuhochdeutschen Sprachperioden stelle ich
die Forderung nach besseren und differenzierteren Korpora besonders
entschieden und nachdrücklich. Es ist im Grunde skandalös zu nennen,
dass die wahre ,Explosion‘ der Schriftproduktion und die Entstehung
eines vielfältigen Textsortenspektrums in der Neuzeit, die beide nicht
zuletzt mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Zahl der Schreiber
sowie Leser massiv zugenommen hat – dass also all dies außer Acht gelas-
sen wird, weil man etwa vorempirische Auffassungen, dass zu ,dem Neu-
hochdeutschen‘ das Wichtigste schon geschrieben sei, ungeprüft über-
nimmt und tradiert. (Ein Blick in einige der in letzter Zeit erschienenen
kurzen Sprachgeschichten des Deutschen, denen man z. T. auch vorwer-
fen kann, dass sie nur noch das kunstvolle Übernehmen und Anders-
Formulieren kultivieren, bestätigt diesen Eindruck.) Ich habe in meinem
Beitrag an drei Fallbeispielen aufzuzeigen versucht, dass eine Vernachläs-
sigung der Korpusfrage zu lückenhaften oder auch inadäquaten Beschrei-
bungen bzw. Erklärungen für die Entwicklung sprachlicher Phänomene
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? 221

führen kann. Anders gesagt: Korpora können auch in eine bestimmte


Richtung steuern.
Stärker differenziert werden sollte daher in Korpora historischer Spra-
che sowohl nach Regionen als auch nach Textsorten (konzeptioneller)
mündlicher und schriftlicher Sprache. (Dazu gehört auch die Differenzie-
rung zwischen handgeschriebenen und gedruckten Texten.) Vilmos Ágel
(2003: 11ff.) hat m. E. in überzeugender Weise dargestellt, dass in der
Neuzeit ein „oral-konnektionistisch geprägte[s] kontextgrammatisches Den-
ken“ allmählich von einem literalisiert-kognitiviert geprägten „symbol-
grammatischen“ Denken überlagert wurde; bisherige sprachhistorische
Beschreibungen sind nun – vor allem für die Neuzeit – im Wesentlichen
von einem „skriptizistischen“ und teleologischen Blick geleitet. Dieser
wiederum gründet auf verschiedenen Sprachideologien (Standardspra-
chenideologie, Homogenismus u. a.), die seit dem 19. Jh. die Historische
Sprachwissenschaft dominieren. Vor diesem Hintergrund wird deutlich,
dass handgeschriebene nähesprachliche Texte, die den statuierten Normen
von Schriftsprachen weniger unterliegen als distanzsprachliche Drucktex-
te, i. d. R. progressivere Formen zeigen. Gerade das macht Texte wie Pri-
vatbriefe, Tagebücher und andere ,Ego-Dokumente‘ nicht nur für die
Historische Soziolinguistik, sondern auch für die Sprachwandelforschung
so wertvoll (vgl. Elspaß i. Dr.).
Schließlich plädiere ich auch für eine stärkere Berücksichtigung der
Sprachakteure und der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Akteu-
ren und Gruppen von Akteuren in sprachhistorischen Analysen. Dabei
hilft uns die moderne pragma-, sozio- und variationslinguistische For-
schung, indem sie uns recht genau zeigt, welche Prozesse in sprachlicher
Interaktion ablaufen und welche insbesondere zu Sprachwandel führen.
Wir sollten darüber hinaus alles tun – und dies ist für die jüngeren Zeiten
sehr viel eher möglich als für die älteren –, um so viel wie möglich über
die historischen Akteure, die Schreiber bestimmter Texte, ihre Adressaten
und Adressatinnen, ihre Herkunft, über die sozialen und pragmatischen
Umstände der Entstehung dieser Texte (inklusive der schriftsprachlichen
Vorbilder und Muster) herauszufinden.
So wenig, wie es ,das Althochdeutsche‘ oder ,das Neuhochdeutsche‘
gibt, gibt es auch nicht ,die Historische Sprachwissenschaft‘. Sie ist eine
sehr heterogene Teildisziplin der Linguistik, die sich weder auf einen be-
stimmten Kurs bringen lässt noch jemals auf einen solchen bringen lassen
darf. Man wird als Forscher aufgrund eigener Interessenlagen, Überzeu-
gungen, vorhandener Kapazitäten oder auch in Anbetracht vorherrschen-
der oder als ,modern‘ apostrophierter Paradigmen nicht umhin können,
sich auf Ansätze zu konzentrieren, die etwa eher sprachinterne oder eher
sprachexterne Faktoren des Sprachwandels in den Vordergrund rücken
222 Stephan Elspaß

(vgl. dazu etwa Reiffenstein 1990 oder Milroy 1997). Für das Neuhoch-
deutsche ist eine Ausklammerung der ,äußeren‘ Sprachgeschichte jedoch
aufgrund der Standardisierungsgeschichte schlichtweg undenkbar, wenn
man ein realistischeres Bild dieser Sprachstufe(n) zeichnen will. Und gute
Korpora werden allemal benötigt, um – korpusgeleitet – Hypothesen zum
Sprachwandel in tauglicher Weise testen zu können.

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226 Stephan Elspaß
Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

Stil als Kategorie der soziopragmatischen


Sprachgeschichte: Korpusgeleitete Zugänge
zur Sprache der 68er-Bewegung

1. Soziale kommunikative Stile und soziopragmatische


Sprachgeschichte
1.1 ‚Stil‘ als Desiderat der soziopragmatischen Sprachgeschichte

Während die soziopragmatische Sprachgeschichte für gewöhnlich analyti-


sche Begriffe aus anderen (Teil-)Disziplinen schnell in ihr konzeptuelles
Repertoire integriert – und dies häufig sogar schneller als die synchron
interessierte Soziolinguistik –, ist sie dem Begriff des kommunikativen
sozialen Stils gegenüber erstaunlich resistent geblieben. Und dies, obwohl
der Begriff in der Ethnographie der Kommunikation, der Gesprächslingu-
istik und Konversationsanalyse in den vergangenen 30 Jahren eine rasante
Karriere gemacht und sich zu einem ihrer Schlüsselbegriffe entwickelt hat.
Über die pragmatische (Sandig 1986) und konversationelle Stilistik (Tan-
nen 1995), die interaktionale Soziolinguistik (Gumperz 1982; Selting und
Hinnenkamp 1989) und die Soziostilistik (Kallmeyer 1994) ist das Stilkon-
zept als speech style, Gesprächsstil oder kommunikativer sozialer Stil zur zentra-
len Kategorie der ethnografisch-interaktionsanalytischen Linguistik avan-
ciert. In der Sprachgeschichte hingegen findet bestenfalls der Stilbegriff
der Textlinguistik Verwendung.
Es liegt nahe, das geringe Interesse am Stilkonzept auf die Quellenlage
zurückzuführen. Die Sprachgeschichte, so könnte man mutmaßen, verfügt
nicht über die erforderlichen Daten, um eine ethnographisch gesättigte
interaktionsanalytische Forschung zu betreiben. Die Entwicklung der
Historischen Pragmatik zu einer veritablen Teildisziplin der soziopragma-
tischen Sprachgeschichte mit umfangreicher Forschungstätigkeit wider-
spricht jedoch dieser Vermutung. Gemessen an ihren fundierenden pro-
grammatischen Schriften (Fritz 1994, Fritz 1995, Jacobs/Jucker 1995,
228 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

Rehbock 2001 und Jucker/Fritz/Lebsanft 1999) hat die Historische


Pragmatik den Anspruch, weite Bereiche der Geschichte gesprochener
Sprache zu rekonstruieren: die Historizität von Sprechakten, den Wandel
von Konversationsmaximen, den Wandel von Dialog- bzw. Kommunika-
tionsformen und die Geschichte verbaler und nonverbaler Ausdrucksele-
mente der verbalen Interaktion. Insbesondere der Wandel von Mustern
der verbalen Interaktion, der gedeutet wird als Wandel soziokommunika-
tiver Ausdrucksbedürfnisse, wird dabei ins Zentrum des Interesses gerückt
(vgl. Fritz/Jucker 2000, Rehbock 2001 sowie Kilian 2002 und Kilian
2005). Es ist evident, dass Teile historisch-pragmatischer Forschung das
Potenzial haben, mit dem Begriff des Stils als Analysekategorie zu arbei-
ten, als da wären die Geschichte kommunikativer Praktiken, der das
Hauptinteresse der Historischen Pragmatik zu gelten scheint, oder auch
die Forschung zum Wandel verbaler und nonverbaler Ausdruckselemente.
Die Betrachtung der Sprachgeschichte durch die konzeptuelle Brille des
Stilbegriffs ist insofern interessant, als das Stilkonzept – wie die folgenden
Ausführungen zeigen – soziokulturelle, kontextuelle und im engeren Sinne
sprachliche Phänomene in einen gemeinsamen Deutungshorizont einord-
net, der für ein reicheres Verständnis der Sprach- und Kulturgeschichte
hilfreich ist.

1.2 Zum Begriff des ‚Stils‘

‚Stil‘ ist ein Begriff im Schnittpunkt zahlreicher Wissenschaften: in


Kunstwissenschaft, Literaturwissenschaft, Soziologie, Psychologie und
weiteren Disziplinen, darunter auch der Linguistik, ist der Stilbegriff ein
analytisches Konzept, mit dem die spezifische Art und Weise der Durch-
führung von Handlungen oder der Ergebnisse von Handlungen in den
Blick genommen werden.
Viele Definitionen stimmen grundsätzlich darin überein, dass sie Stil
als eine (Aus-)Wahl bestimmter Elemente aus einer Menge quasi-syno-
nymer Ausdrucksmöglichkeiten aus dem gesamtgesellschaftlichen Zei-
chenrepertoire bestimmen.
Diese (Aus-)Wahl hat soziale Signifikanz insofern, als sie die Identitä-
ten der Träger von Stilen mitkonstituiert, Interpretationsrahmen transpor-
tiert und handlungsleitende Kontexte generiert.1 Stil ist ein holistisches
Konzept, weil es den Gebrauch von Zeichen unterschiedlicher Materiali-
tät, Medialität und Komplexität als Ausdruck eines allen einzelnen Wahlen
zugrunde liegenden gemeinsamen ästhetischen Schemas deutet und so

1 Vgl. die unterschiedlichen Definitionen bei Heinemann (2009: 1612).


Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 229

gewissermaßen eine tiefensemantische Homologie zwischen den unter-


schiedlichen Zeichen behauptet.
Für einen Stilbegriff, der fruchtbar für eine soziopragmatische Sprach-
geschichte ist, scheint uns der Anschluss an das soziologische Lebensstil-
konzept einerseits und das Stilkonzept der interaktionalen Linguistik und
Textlinguistik andererseits sinnvoll.

1.2.1 Das Lebensstilkonzept

Das Lebensstilkonzept ist seit den 1980er Jahren zum zentralen Konzept
nicht nur der deutschsprachigen Ungleichheitsforschung in der Soziologie
avanciert und hat Konzepte wie das der Klasse oder Schicht weitgehend
verdrängt (vgl. Nassehi 1998: 56f.). Diese Entwicklung korrespondiert mit
einem Wandel in der Selbstdefinition der in modernen Gesellschaften
lebenden Menschen. Sie bestimmen ihre eigene soziale Lage verstärkt über
ihre Lebensweise und immer weniger über die Selbst- oder Fremdzu-
schreibung zu einer sozialen Schicht (vgl. Hradil 2001: 46). Entscheidende
Anregungen für diesen Paradigmenwechsel erhielt die Ungleichheitsfor-
schung dabei aus der französischen Kultursoziologie Pierre Bourdieus.
Ihm zufolge erwerben die Mitglieder einer Gesellschaft im Laufe ihrer
Sozialisation ein System dauerhafter Dispositionen, die als „Erzeugungs-
und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen“ (Bourdieu
1993: 98) fungieren. Sie steuern, welche Verhaltensweisen einem Men-
schen als angemessen, welche Meinungen als akzeptabel, welche symboli-
schen Formen als geschmackvoll und welche Wissensbestände als erstre-
benswert gelten. Dieses evaluative System nennt Bourdieu den Habitus.
Geleitet von diesem wähle der Mensch aus der Reihe ihm in seiner Kultur
zur Verfügung stehender Handlungsmöglichkeiten aus und ‚entscheidet‘
sich so für einen bestimmten Lebensstil. Dabei sind in Bourdieus Theorie
die objektiven ökonomischen Möglichkeiten der entscheidende Faktor,
der die dispositive Prägung während der Sozialisation beeinflusst:

Die charakteristischen Strukturen einer bestimmten Klasse von Daseinsbedin-


gungen sind es nämlich, die über die ökonomische und soziale Notwendigkeit
[…] die Strukturen des Habitus erzeugen, welche wiederum zur Grundlage der
Wahrnehmung und Beurteilung aller späteren Erfahrung werden. (Bourdieu
1993: 101)

Auch wenn in der deutschsprachigen Lebensstilforschung die objektiven


ökonomischen Bedingungen eine weitaus geringere Rolle spielen, sind
230 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

Bourdieus Überlegungen dennoch auch hier grundlegend für eine kultur-


soziologische Analyse sozialer Milieus.

1.2.2 Stilkonzepte in Textlinguistik und interaktionaler Linguistik

Auch in der Linguistik wird Stil als ein Set miteinander auftretender Phä-
nomene aufgefasst, die insgesamt als Indikator für soziale oder kulturelle
Bedeutung fungieren. Etwa definiert Auer (1989: 29) Stil als „Menge in-
terpretierter, kookkurrierender sprachlicher und/oder nichtsprachlicher
Merkmale, die (Gruppen/Rollen von) Personen, Textsorten, Medien etc.
zugeschrieben werden“. Den Stilkonzepten der Linguistik ist zudem ge-
meinsam, dass sie Stil als eine Dimension von Äußerungen ansehen, die
die Interpretation seitens des Rezipienten steuert, ohne zur (sprachlichen)
Primärstruktur der Äußerung zu gehören. Stil ist damit eine Art pragmati-
sche Zusatzinformation.2 Diese Bestimmung trifft auf die Textlinguistik
gleichermaßen zu wie auf die interaktionale Linguistik.
In Letzterer wurde der Terminus der Sozialstilistik der Kommunikati-
on geprägt. Im Gegensatz zum Konzept des Lebensstils, dem eine dauer-
hafte Disposition zur Wahl bestimmter expressiver Formen zugrunde
liegt, und der auch mittels nicht-transitorischer Zeichen konstituiert wird,
werden kommunikative soziale Stile aus dem kommunikativen Handeln
heraus konstruiert. Der Terminus Stil bezeichnet hier die interaktive und
daher sozial bedeutsame Art und Weise der Handlungsdurchführung. Stile
sind Zeichenensembles mit indexikalischem Wert, denn sie signalisieren,
wie das Handeln zu interpretieren ist. Sie verweisen auf Interpretations-
rahmen, die bei der Kategorisierung und Typisierung von Handlung, Kon-
text und Interaktionspartner zur Anwendung kommen (vgl. Selting 1997:
12). Sprecher verfügen über ein mehr oder weniger großes Repertoire
kommunikativer sozialer Stile, aus dem sie je nach Situation oder kommu-
nikativem Bedürfnis wählen können. In Sprechstilen sind Phänomene aus
so unterschiedlichen linguistischen Subsystemen wie Rhetorik, Lexiko-
Semantik, Syntax, Phonetik-Phonologie und Prosodie gebündelt. Den-
noch werden sie von Rezipienten holistisch, d. h. ganzheitlich wahrge-
nommen und funktional interpretiert. D. h. das sprachliche Merkmals-
bündel wird intuitiv als Index für einen Interpretationsrahmen aufgefasst
(vgl. Selting 1997: 14).

2 Vgl. hierzu Fix (1987: 133). Fix (1996: 310) deÀniert, dabei Sandig (1995: 28) zuspitzend:
„Funktion von Stil wäre also, kurzgefaßt, ein ‚Was‘ durch ein ‚Wie‘ im Hinblick auf ein
‚Wozu‘ auszudrücken“. Vgl. zudem Heinemann (2009: 1616).
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 231

1.3 ‚Stil‘ in der soziopragmatischen Sprachgeschichte

Angesichts der Quellenlage und der Erkenntnisinteressen der sozioprag-


matischen Sprachgeschichte ist es problematisch, Stil radikalpragmatisch
als ausschließlich situationsgebundenen Kontextualisierungshinweis aufzu-
fassen, der als Interpretationsressource bei der Analyse von Einzelgesprä-
chen dienen kann. Weil die soziopragmatische Sprachgeschichte nur inso-
fern an der sozialen und kulturellen Signifikanz sprachlichen Handelns
interessiert ist, als dieser eine Typik zugeschrieben werden kann, scheint
uns ein Stilkonzept sinnvoll, das zwar das einzelne Gesprächs- bzw.
Textexemplar als Grundeinheit der Stilrekonstruktion auffasst, das unter
Stil aber die Menge in mehreren Exemplaren der gleichen Produzenten-
gruppe/des gleichen Mediums/der gleichen Textsorte gemeinsam auftre-
tender Muster versteht. Wir schlagen daher vor, ‚Stil‘ als rekurrente sozio-
kulturell signifikante Form der Handlungsdurchführung zu verstehen. Wir
halten es zudem im Sinne der soziopragmatischen Sprachgeschichte für
sinnvoll, sprachlich-kommunikative Stile mit Lebensstilen zu korrelieren
statt mit traditionell soziolinguistischen Kategorien. Im vorliegenden Auf-
satz wollen wir dies anhand einer Analyse von Lebens- und Kommunika-
tionsstilen innerhalb der deutschen 68er-Bewegung illustrieren.
Um rekurrente sprachliche Muster, die sich als soziokulturell signifi-
kante Formen der Handlungsdurchführung deuten lassen, zu identifizie-
ren, scheint uns ein Anschluss der (historischen) Stilanalyse an Methoden
der Korpuspragmatik sinnvoll. Im Folgenden wollen wir zeigen, inwiefern
die datengeleitete vergleichende Korpusanalyse eine geeignete Methode
zur Rekonstruktion von Stilen sein kann.

2. Korpuslinguistik und Stilanalyse


2.1 Korpuspragmatik

Die Korpuslinguistik ist eine zentrale Methode der Linguistik. Sie wird
dazu benutzt, für fast alle Bereiche sprachwissenschaftlicher Forschung
Daten zu konservieren, zu strukturieren und gezielt zu analysieren. War
die Korpuslinguistik zunächst vor allem eine zentrale Methode der Lexi-
ko- und Grammatikographie, ist sie inzwischen auch aus dem Methoden-
repertoire von Sozio- und Gesprächslinguistik, von Pragma- und Diskurs-
linguistik nicht mehr wegzudenken. Während die Korpuslinguistik in der
systemorientierten Linguistik die Funktion hat, wiederkehrende Muster
des Sprachgebrauchs zu identifizieren, die dann als Regularitäten oder
Gebrauchsnormen gedeutet werden, werden in den kultur- und sozialwis-
232 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

senschaftlich interessierten Zweigen der Linguistik rekurrente sprachliche


Muster mit kulturellen oder sozialen Phänomenen in Zusammenhang
gebracht, je nach sprachtheoretischer Haltung werden sie entweder als
deren Symptom oder als diese (mit-)konstituierend gedeutet. Wir wollen
im Folgenden solche Ansätze als korpuspragmatisch bezeichnen.
Die Korpuspragmatik deutet signifikant häufig auftretende sprachliche
Muster in Korpora als Ausdruck von rekurrenten Sprachhandlungen der
Autorinnen und Autoren der im Korpus enthaltenen Texte bzw. der sie
autorisierenden Institutionen und Gruppen. Auf den ersten Blick er-
scheint es widersinnig, ausgerechnet mit dem Mittel der Korpuslinguistik
pragmalinguistische Forschung betreiben zu wollen. Schließlich wird in
der Linguistik die Pragmatik gerade als jene Disziplin beschrieben, die
über das an der sprachlichen Oberfläche Zugängliche hinausgreift und in
die Rekonstruktion von kommunikativem Sinn mit einbezieht. So be-
zeichnen zentrale Kategorien der traditionellen Pragmatik wie Illokution,
Implikatur oder Präsupposition gerade solche linguistischen Konstrukte,
die nicht an der sprachlichen Oberfläche identifizierbar sind – oder zu-
mindest nicht vollständig. An diesem Punkt wird klar, dass die Korpu-
spragmatik etwas anderes ist als die Fortsetzung der traditionellen Pragma-
tik mit korpuslinguistischen Methoden. Sie bedient sich anderer
Kategorien und anderer Strategien der (Re-)Konstruktion pragmatischer
Bedeutungen. Sie ist neueren Einsichten der Pragmatik verpflichtet, nach
denen sich pragmatische Informationen nicht nur auf der Ebene von
Sprechakten oder aktualen Texten manifestieren, sondern zeichenhaft
manifest sind „im pragmatischen Mehrwert oder Gebrauchswert von
Einheiten aller sprachlicher Strukturbereiche“ (Feilke 2000: 78). Sie sucht
nach pragmatischen Spuren an der (inzwischen rehabilitierten3) sprachli-
chen Oberfläche, nach Mustern, in die sich ein Gebrauchswert einge-
schrieben hat.

2.2 Stil als Kookkurrenz: datengeleitete Korpusanalyse

Zwar gilt die Korpuslinguistik als keine Subdisziplin der Linguistik son-
dern als eine Methode, aber korpuslinguistisches Arbeiten folgt einer eige-
nen Logik und generiert einen Denkstil, der viele Bereiche der Sprachwis-
senschaft nachhaltig verändert. Am ehesten der Vorstellung von Korpus-
linguistik als einer Methode entspricht das corpus-based-Paradigma. Digitale
Korpora dienen demnach der Überprüfung von Forschungshypothesen.
Die Hypothesen, die unabhängig von der Analyse des Korpus entwickelt

3 Vgl. den Sammelband Feilke/Linke (2009).


Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 233

wurden, formulieren Annahmen über interpretative Konstrukte, die mit-


tels bereits bewährter interpretativer linguistischer Analysekategorien an
einem Korpus überprüft werden sollen.
Diesem deduktiven Vorgehen steht die Möglichkeit eines induktiven
Vorgehens zur Seite, das die Grundlage des corpus-driven-Paradigma bildet.
Digitale Korpora sind hier nicht nur „Belegsammlungen oder Zettelkästen
in elektronischer Form“, sondern ermöglichen eine eigene „korpuslinguis-
tische Perspektive“ (Perkuhn/Belica 2006: 2). Statt eine Hypothese mit
vorher festgelegten Analysekategorien zu überprüfen, werden in einem
Korpus sämtliche Muster berechnet, die sich bei der Anwendung vorher
festgelegter Algorithmen ergeben. Diese Muster werden im Anschluss
kategorisiert. Damit geraten häufig Evidenzen in den Fokus, die entweder
quer zu den vorher existierenden Erwartungen stehen und die Grundlage
für neue Hypothesen sind, oder im besten Fall sogar solche Evidenzen,
die die Bildung neuer interpretativer linguistischer Analysekategorien nahe
legen.4 Es ist dieses Potenzial datengeleiteter Analysen, das es erlaubt, der
Korpuslinguistik über eine empirische Methode hinaus den Status eines
Denkstils zuzuschreiben. Denn das Ernstnehmen empirischer Widerstän-
digkeiten, die sich mit traditionellen linguistischen Kategorien nicht be-
schreiben lassen, birgt die Möglichkeit eines neuen Zugangs zu Sprache
und den Kategorien ihrer Beschreibung.
Für die Stilanalyse ist die datengeleitete Korpusanalyse insofern eine
interessante Methode, als sie einen objektiveren Zugang zu den sprachli-
chen Daten ermöglicht. Kommunikative Stile sind aufgrund der Tatsache,
dass sie für gewöhnlich aus Elementen unterschiedlicher Sprachränge
bestehen, nämlich einerseits sehr komplex. Andererseits ist die Konstatie-
rung der Kookkurrenz der betreffenden Elemente und ihrer Rekurrenz
nur schwer transparent zu machen und ist oft auf den Verweis auf intuiti-
ve Einsichten bei der Lektüre angewiesen. Dagegen ermöglicht es die
datengeleitete Korpusanalyse, sämtliche Muster zu berechnen, die sich in
einem Korpus finden. Bestandteil eines Musters können dabei theoretisch
alle Wortformen und annotierten Einheiten des Korpus werden. Aus der
Verteilung dieser Muster im Korpus lassen sich dann Rückschlüsse darauf
ziehen, welche Muster stilrelevant im Sinne eines signifikant häufigen
gemeinsamen Auftretens sind.

4 Vgl. für eine ausführliche Diskussion von corpus-based und corpus-driven-Ansätzen Bubenho-
fer (2009: 99ff.). Das corpus-driven-Paradigma war bereits bei Sinclair (1991) angedacht und
wird bei Tognini-Bonelli (2001: 65ff.) explizit gemacht. Im deutschsprachigen Raum ver-
folgen z. B. Arbeiten von Kathrin Steyer (Steyer 2004, Steyer/Lauer 2007, Steyer/Brunner
2009) dieses Paradigma, die auf Konzepten und Methoden von Cyril Belica, Rainer Per-
kuhn, Holger Keibel und Marc Kupietz fußen (vgl. Belica 1996, Belica 2001, Perkuhn/Beli-
ca 2006).
234 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

Zwar verzichtet das datengeleitete Paradigma auf das Formulieren von


Hypothesen und auf eine Festlegung auf bestimmte Analysekategorien, es
ist jedoch offensichtlich, dass auch beim datengeleiteten Verfahren vor-
gängiges Wissen in den Forschungsprozess einfließt, und zwar:

1. durch die Wahl der Korpora,


2. hinsichtlich der Gestaltung der Algorithmen zur Musterberechnung,
3. bei der Festlegung dessen, was als linguistische Untersuchungseinheit
(token) gelten soll, und
4. bei der Festlegung dessen, welche Einheitentypen eigentlich als po-
tenzieller Bestandteil eines Musters aufgefasst werden sollen. Schließ-
lich ist
5. auch das Kategorisieren der Daten im Anschluss an die Musterbe-
rechnung ein interpretativer Prozess, der zwar durch statistische Ver-
fahren teilweise objektiviert werden kann; dennoch ist die Menge der
Daten meist so umfangreich, dass eine weitere Reduzierung und Ge-
wichtung im Sinne des Forschungsinteresses vorgenommen werden
muss (vgl. McEnery/Xiao/Tono 2006: 8-11).

Es ist für die Qualität einer datengeleiteten Analyse entscheidend, sich


über das eingebrachte Vorwissen im Sinne der Forschungsfrage Rechen-
schaft abzulegen und nach möglichst objektiven Kriterien für jede der
getroffenen Entscheidungen zu suchen.

2.3 Stil als Musterdifferenz: Korpusvergleich

Schon aus theoretischen Erwägungen heraus ist der Text die grundlegende
Analyseeinheit der Stilanalyse. Fix (2009: 1312) erklärt die Wechselbezie-
hung von Stil und Text wie folgt:
Die Betrachtung von Musterhaftigkeit im Stil ist von der Musterhaftigkeit der
Texte nicht zu trennen. Dies bedeutet einerseits, dass es Stil nur im Textzusam-
menhang gibt und sprachliche Mittel außerhalb des Textes stilistisch nicht einge-
ordnet werden können, und andererseits, dass die reale Existenz eines
Textexemplars auch vom Vorhandensein eines einheitlichen Stils abhängt. Ohne
diesen sind Textmusterbezogenheit und Textualität eines Textes nicht zu erken-
nen. (Fix 2009: 1312, vgl. auch Fix 2005)

Wenn sich Stil in der Selektion einer Variante von paradigmatischen Al-
ternativen ausdrückt,5 dann können diese Alternativen durch Stilvergleiche

5 Hockett (1958: 556) formuliert diesen Gedanken anschaulich wie folgt: „Roughly speaking,
two utterances in the same language which convey approximately the same information,
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 235

sichtbar gemacht werden. So schlägt Fix (1991) auch das Verfahren des
Vergleichs vor, um Elemente eines Stils in Texten zu erfassen. Denn die
Kombination von „Wie“ und „Wozu“ zeige sich im Unikalen des Textes
erst im Vergleich mit dem Überindividuellen. Jeder Text ist unikal, verfügt
jedoch über einen Stil, der sich an überindividuellen Erfahrungen orien-
tiert. Durch den Vergleich des Textes mit einem „individuellen Kon-
strukt“ (Fix 1991: 142), das sich aus der Lektüreerfahrung ergibt, kann das
Überindividuelle des Textes erfasst werden (vgl. auch Fix 1991: 145).
In automatisierten Verfahren wird das individuelle Konstrukt, das sich
bei Fix aus der Lektüreerfahrung ergibt und das als Maß für die Abwei-
chung bzw. Kohärenz eines Textes mit seinen Co-Texten dient, durch die
Berechnung der Verteilung aller in einem Korpus enthaltenen Muster
ersetzt. Die Lektüreerfahrung wird damit also durch ein statistisches Maß
objektiviert. Unsere operationale Definition von Stil lautet daher: Stil ist in
korpuslinguistischer Perspektive eine Menge sprachlicher Muster, durch
die sich eine Menge an Texten durch eine andere Menge von Texten signi-
fikant unterscheidet.
Das von Fix beschriebene Verfahren der intuitiven Bestimmung von
Stil ist in datengeleiteter Perspektive einer sehr komplexen Clusteranalyse
vergleichbar, in der alle in einem Korpus vorkommenden Muster Variab-
len sind, die potentiell zur Gruppierung der Texte des Korpus in mehr
oder weniger diskrete Gruppen beitragen. Unsere Methode zur Identifizie-
rung sprachlicher Muster mit stilistischer Ladung ist im Hinblick auf die
benötigte Rechenleistung zwar geringer, aber dennoch anspruchsvoll. Zur
Identifizierung stilistisch relevanter Muster schlagen wir die Methode des
datengeleiteten Korpusvergleichs vor: Für in pragmatischer Hinsicht je
kohärente Korpora werden jeweils datengeleitet Sprachgebrauchsmuster
berechnet; im Anschluss wird anhand von Signifikanztests geprüft, welche
der errechneten Muster typisch für die jeweiligen Korpora sind. Da die
Korpora sich im Hinblick auf bestimmte außersprachliche Merkmale un-
terscheiden, können jene Muster, die für ein Korpus signifikant sind, als
Ausdruck jener außersprachlichen Merkmale gedeutet werden, durch die
sich das betreffende Korpus von den Vergleichskorpora unterscheidet.
Anders als bei einer Clusteranalyse geben wir also die Gruppierung der
Texte vor, beziehen aber ebenso wie in der Clusteranalyse sämtliche Mus-
ter beider Korpora als Variablen in die Analyse ein.
Es ist offensichtlich, dass der Wahl der Korpora bei unserer Methode
zentrale Bedeutung zukommt. Die Korpora sollten stets so gewählt sein,
dass ausschließlich die durch die Forschungsfrage vorgegebene Variable

but which are different in their linguistic structure, can be said to differ in style: ,He came
soon‘ and ,He arrived prematurely‘.“
236 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

variiert. So haben wir beispielsweise linguistische Indikatoren politisch


extremistischer Schreibstile anhand von Korpora berechnet, die im Hin-
blick auf außersprachliche Merkmale wie die Entstehungszeit der Texte
(eine Legislaturperiode), die Textsorte (Pressemitteilung der Bundespar-
tei), die intendierten Adressaten (Medienöffentlichkeit) und die Textinten-
tion (Stellungnahmen zu aktuellen politischen Fragen, Hinweis auf Veran-
staltungen) übereinstimmten. Das einzige unterscheidende Merkmal war
die Zugehörigkeit einer Partei zu einer Gliederungseinheit des politischen
Spektrums.6

2.4 Komplexe n-Gramm-Analyse als Methode der Stilanalyse

Es gibt eine Tradition quantitativer Verfahren der Stilanalyse, bei der for-
male Aspekte wie Silbenzahl pro Wort, Wort- und Satzlängen, Wortfol-
gen, Satzgliedtypen, Wortklassen und generell lexikalisches Material be-
rücksichtigt werden (vgl. Spillner 2009: 1758f.). Auch auf morphologischer
Ebene, z. B. was die Wortbildung betrifft, finden sich messbare formale
Aspekte (vgl. Handler 2009). Grundlage sind Korpusvergleiche zwischen
dem stilistisch zu untersuchenden Text und einem repräsentativen Ver-
gleichskorpus, um Frequenzen der genannten formalen Phänomene mit-
einander vergleichen zu können.7
Solche quantitative Analysen formaler Besonderheiten eines Textes
haben den Nachteil, viele stilbestimmende Ebenen zu ignorieren und vor
allem das Zusammenspiel mehrerer Faktoren zu wenig zu berücksichtigen.
Dennoch knüpfen wir an die Idee an, messbare linguistische Elemente als
grundlegende Analyseeinheiten zu wählen und mit statistischen Verfahren
zu eruieren, welche Kombinationen von Einheiten für einen Text oder ein
Korpus in Kontrast zu Vergleichskorpora typisch sind.
Wir halten es dabei nicht für sinnvoll, einen Purismus der Oberfläche
zu praktizieren. Die von unserer Forschergruppe semtracks entwickelte
Stilanalyse bezieht Oberflächenphänomene auf der Ebene der Wortfor-
men und Satzzeichen ebenso mit ein, wie weitergehend interpretative
linguistische Kategorien. Zudem erscheint uns eine Beschränkung auf
Unigramme, d. h. auf Muster, die nur aus einem Element bestehen, nicht
sinnvoll, da bei Unigrammanalysen die Kontextspezifik der Verwendung
von Lexemen nicht berücksichtigt wird. Die Gefahr, dass der pragmati-
sche Wert eines Wortgebrauchs nicht erfasst wird, ist bei diesem Verfah-

6 Zu den Ergebnissen vgl. Ebling et al. (2011).


7 Vgl. dazu auch Arbeiten im Rahmen der ‚Corpus Stylistics‘, z. B. von Semino/Short (2004),
Hoover (2007).
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 237

ren besonders groß. Unser Vorgehen lässt sich vielmehr als komplexe n-
Gramm-Analyse beschreiben.
n-Gramme sind Einheiten, die aus n Elementen bestehen. Normaler-
weise werden n-Gramme als Folge von Wortformen verstanden. Im Rah-
men einer n-Gramm-Analyse werden alle im Korpus vorkommenden n-
Gramme berechnet, wobei bestimmte Parameter wie Länge der Mehrwor-
teinheit (aus zwei, drei oder mehr Wörtern bestehend) oder Spannweite
(sind Lücken zwischen den Wörtern erlaubt?) festgelegt werden (vgl. Bu-
benhofer 2009: 149ff.). Die von unserer Forschergruppe entwickelte n-
Gramm-Analyse betrachtet jedoch nicht nur Wortformen als Einheiten,
sondern auch weitere interpretative linguistische Kategorien. Dies können
zum einen Elemente sein, die sich auf die Tokenebene beziehen und die
Wortform funktional oder semantisch deuten (als Repräsentant einer
Wortart oder als Teil einer semantischen Klasse); zum anderen aber auch
Elemente, die über die Tokenebene hinausgreifen, etwa das Tempus oder
die Modalität einer Äußerung (direkte vs. indirekte Rede).
Welche Elemente in die Analyse miteinbezogen werden, hängt einer-
seits von der jeweiligen Forschungsfrage ab, andererseits forschungsprak-
tisch auch davon, welche Ressourcen für die Annotation des Korpus zur
Verfügung stehen. Bei standardsprachlichen Korpora können Lemma-
und Wortarteninformationen durch Tagger wie den TreeTagger leicht und
effizient annotiert werden. Eine Wortformenfolge wie Ich glaube, dass hat
dann in einem XML-annotierten Korpus etwa folgende Form:

<w pos="PPER" lemma="ich">Ich</w>


<w pos="VVFIN" lemma="glauben">glaube</w>
<w pos="$," lemma=",">,</w>
<w pos="KOUS" lemma="dass">dass</w>

Berechnet man nun beispielsweise Tetragramme, die nicht nur die Wort-
formen, sondern auch Lemmata und Wortarteninformationen als weitere
Elemente mit einbeziehen, dann ergeben sich bei drei Dimensionen 34=81
Vier-Einheiten-Kombinationsmöglichkeiten:

Ich glaube , dass


ICH GLAUBEN , DASS
PPER glaube , dass
PPER GLAUBEN, dass
Ich VVFIN , dass
Ich glaube , KOUS
PPER VVFIN , dass

238 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

Jedes der Tetragramme, das sich in einem der beiden Korpora findet,
kann nun als eine Variable aufgefasst werden, durch die sich die beiden
Korpora potenziell stilistisch unterscheiden. Es ist dann eine stilistisch
relevante Variable, wenn sie in einem der beiden Korpora signifikant häu-
figer vorkommt als im Vergleichskorpus. Zur Berechnung der Signifikanz
des Frequenzunterschieds benutzen wir den Log-Likelihood-Test (Man-
ning/Schütze 2002, 174).
Durch die freie Verfügbarkeit von Taggern hat die eben skizzierte Be-
rechnungsmethode das Potenzial, als eine Art Standardmethode der
Stilanalyse zu gelten. Reichere Ergebnisse sind freilich zu erwarten, wenn
zusätzliche Elemente in die n-Gramm-Analyse einbezogen werden. Diese
können einerseits wissensbasiert generiert werden, z. B. die Valenz von
Verben anhand von Valenzlexika oder die Zugehörigkeit eines Lexems zu
einem Wortfeld anhand der Bestimmungen von Dornseiff (2004), ande-
rerseits können aber auch anhand datengeleiteter Analysen selbstständig
relevante Kategorien aufgespürt und definiert werden. Insbesondere auf
der Tokenebene ist dieses Verfahren in effizienter Weise durchführbar.
Der einfachste Zugang zu linguistischen Spezifika der Teilkorpora auf
der Tokenebene ist die Berechnung von typischen Lexemen. Es werden
dabei für zwei Teilkorpora jeweils Frequenzlisten aller vorkommenden
Lexeme berechnet. In vielen Fällen ist es sinnvoll, Listen gesondert nach
den Wortarteninformationen zu berechnen. Anschließend wird pro Le-
xem die Vorkommenshäufigkeit in den beiden Teilkorpora verglichen und
die Signifikanz des Frequenzunterschieds berechnet. Das Resultat sind
nach Signifikanzwert geordnete Listen von Lexemen, die jeweils für das
eine Teilkorpus im Vergleich zum anderen Teilkorpus typisch sind.
In einem weiteren Schritt können die typischsten Lexeme in sog.
Wortwolken visualisiert werden, wobei die Typik des Lexems durch die
Größe des abgebildeten Lexems dargestellt wird. Dies erlaubt einen ra-
schen Überblick über die lexikalische Spezifik der Teilkorpora. Dieses
Hilfsmittel kann dazu eingesetzt werden, weitere semantische oder funkti-
onale Wortklassen zu identifizieren, die im Anschluss im Korpus annotiert
werden.8 Auf diese Weise kann die Klassenzugehörigkeit eines Tokens
bzw. die jeweilige Dimension der Klasse, die das Token repräsentiert, zum
Element von n-Grammen und somit zu einem Bestandteil des Stils wer-
den.
Diese recht abstrakte Darstellung unserer Methode der Stilanalyse soll
im Folgenden anhand einer exemplarischen Analyse zu unterschiedlichen

8 Vgl. für Beispiele Bubenhofer et al. (2009), Bubenhofer/Klimke/Scharloth (2009) und


Bubenhofer/Scharloth (im Druck).
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 239

kommunikativen sozialen Stilen während der 68er-Bewegung illustriert


werden.

3. Das GerMov-Korpus
Die Untersuchungen werden anhand des GerMov-Korpus, einem Korpus
zur gesprochenen und geschriebenen Sprache der 68er-Bewegung durch-
geführt. Das Korpus wurde im Rahmen einer umfangreichen Studie zum
Einfluss von 68er-Bewegung und Alternativmilieu auf die Kommunikati-
onsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland erstellt (vgl. Scharloth
2010). Bei der Erstellung des Korpus und seiner Subkorpora waren zu-
nächst außersprachliche Gesichtspunkte, in einem zweiten Schritt textlin-
guistische Überlegungen leitend.

3.1 Kriterien bei der Korpuserstellung

3.1.1 Lebensstile innerhalb der 68er-Bewegung

Im Rahmen unserer exemplarischen Studie interessiert uns die Frage nach


dem Zusammenhang von milieuspezifischen Lebensstilen innerhalb der
68er-Bewegung und den Kommunikationsstilen in milieuspezifisch defi-
nierten Korpora.
Das Korpus sollte es daher u. a. erlauben, unterschiedliche Stile der
verbalen face-to-face-Interaktion innerhalb der 68er-Bewegung zu rekon-
struieren. Dabei wurde ausgehend von der Forschung zum Kleidungsver-
halten (vgl. Grob 1985) und zur medialen Vermittlung expressiver For-
men des Protests (vgl. Fahlenbrach 2002) von einer lebensstilistischen
Dualität innerhalb der Bewegung ausgegangen, die ihre Wurzeln auch in
konkurrierenden Ideologien hatte.9
Auf der einen Seite standen die Träger eines intellektuell-avantgardisti-
schen Stils. Bei ihnen handelte es sich um Angehörige unterschiedlicher
sozialer Gruppen, die während der 68er-Bewegung aber intensiv koope-
rierten: zum einen die Studierenden, vornehmlich solche, die in linken
Studentenverbänden organisiert waren, zum anderen Linksintellektuelle,
die in Politik, Universität, Verwaltung oder im kulturellen Sektor bereits
Karriere gemacht hatten und sich beispielsweise in Republikanischen
Clubs zusammenfanden. Sie pflegten einen auf symbolische Distinktion
zunächst weitgehend verzichtenden Lebensstil, trugen Anzug oder Frei-

9 Vgl. zu der folgenden groben Skizze ausführlicher Kapitel 3 in Scharloth (2011).


240 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

zeitkleidung (Hemd und Pullovern, Jacket und Cordhose) und praktizier-


ten Lebensformen wie andere Bürger ihrer Berufsgruppen. Nur in einem
Bereich legten sie Wert auf Unterscheidung: Sie inszenierten sich als intel-
lektuelle Informations- und Diskussionselite. Auf der anderen Seite stan-
den die Träger eines hedonistischen Selbstverwirklichungsstils, der in
Kommunen und Subkulturen geprägt wurde. Sie entdeckten den eigenen
Körper als zentrales Medium des expressiven Protestes, griffen – ähnlich
den amerikanischen Hippies – tief in den Fundus von Kostümverleihen
und Second-Hand-Läden, spielten mit Nacktheit und Schmuck, ließen
sich Bärte und Haare wachsen und praktizierten eine ostentativ informelle
Körpersprache. Sie verschmolzen antibürgerliche symbolische Formen
mit denen jugendlicher Populärkultur zu einem sich als individualistisch
verstehenden, lustbetonten Lebensstil: Die Revolution sollte bei jedem
Einzelnen beginnen und vor allem Spaß machen. Während die intellektu-
ellen Avantgarden das Ziel der 68er-Bewegung in einer Umwälzung der
Besitz- und Produktionsverhältnisse sahen, begriffen die hedonistischen
Kommunarden also die Bewegung als Chance für die Entwicklung und
Praktizierung neuer Lebensformen, die eine gesellschaftliche Veränderung
zwangsläufig mit sich bringen würde. Die Träger dieser Lebensstile for-
mierten im Verlaufe der 68er-Bewegung bis weit in die 70er Jahre hinein
bestehende soziale Milieus.

3.1.2 Textauswahl

Um zu überprüfen, ob mit den unterschiedlichen Lebensstilen der Ange-


hörigen der 68er-Bewegung auch unterschiedliche Kommunikationsstile
korrespondieren, war es also nötig, Texte nach dem Kriterium der Milieu-
zugehörigkeit ihrer Produzentinnen und Produzenten zu sammeln. Neben
dem Kriterium der Milieuzugehörigkeit war das Kriterium der Medialität
bzw. das davon abgeleitete Kriterium der Textsorte von zentraler Bedeu-
tung.
Da anhand des Korpus Stile der verbalen face-to-face-Interaktion re-
konstruiert werden sollten, wurde gezielt nach solchen Texten gesucht, die
als Repräsentationen gesprochener Sprache gelten können. Um ein mög-
lichst hohes Maß an Homogenität zu erreichen, wurde zudem das Kriteri-
um der Kommunikationssituation berücksichtigt. Da davon ausgegangen
werden kann, dass es in stilistisch heterogenen Gruppen trotz Distinkti-
onsbedürfnis zu stilistischen Akkommodationen in der Kommunikation
kommt, sollten nur solche Kommunikationssituationen berücksichtigt
werden, in denen Kommunikationspartner des gleichen Milieus miteinan-
der kommunizieren.
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 241

Die Kriterien der Milieuzugehörigkeit der Textproduzenten, der Me-


dialität/Textsorte und der Kommunikationssituation setzten der Textaus-
wahl sehr enge Grenzen. Die einzige Textsorte, für die hinsichtlich aller
Kriterien eine hinreichende Menge an Texten gefunden werden konnte,
waren Tonbandprotokolle. Insgesamt konnten 29 Tonbandprotokolle aus
den Jahren 1967 bis 1969 in Archiven und zeitgenössischen Buch- und
Zeitschriftenpublikationen gefunden werden, davon stammen 21 aus dem
hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu, 8 aus dem linksintellektuellen
Milieu. Leider standen die Tonbandaufzeichnungen der in das Korpus
aufgenommenen Gespräche nicht mehr zur Verfügung, sondern lediglich
ihre Abschriften. Da die Transkriptionen von unterschiedlichen Händen
stammen, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie einheitlich
und miteinander in jeder Hinsicht vergleichbar sind. So variiert beispiels-
weise der Umgang mit überlappenden Turns oder nichtstandardsprachli-
chen Ausdrucksmitteln stark. Bei einigen Protokollen wurden auch die
Sprecherinnen und Sprecher der einzelnen Turns nicht identifiziert, was
interaktionale Analysen erheblich erschwert. Aus diesen Gründen ist das
GerMov-Tonbandprotokollekorpus nicht mit Korpora zur gesprochenen
Sprache des gegenwärtigen Deutsch vergleichbar.
Mit dem GerMov-Korpus sollten neben der Frage nach der kommu-
nikationsstilistischen Vielfalt weitere offene Fragen zur Kommunikations-
geschichte beantwortet werden. Ein zentrales Anliegen war beispielsweise
die Überprüfung der Hypothese, nach der die 68er-Bewegung gescheitert
sei, weil ihre wichtigsten Gruppen sich eines zu komplizierten Kommuni-
kationsstils bedient hätten. Sprachgebrauch sollte also in Relation zu dem
außersprachlichen Kriterium des Verhältnisses von Äußerndem und Ad-
ressaten gesetzt werden. Zudem sollte untersucht werden, ob sich Kom-
munikationsstile im Verlauf der 68er-Bewegung veränderten. Für das
zweite Subkorpus waren also die Gruppenspezifik der Texte, ihre Adressaten
und ihre Entstehungszeit zentrale außersprachliche Kriterien bei der Kor-
puserstellung. Für die Beantwortung der genannten Forschungsfragen
schien es zudem sinnvoll, ein im Hinblick auf die Textsorte möglichst ho-
mogenes Teilkorpus zu erstellen, um ein möglichst hohes Maß an Ver-
gleichbarkeit zu gewährleisten. Denn die Unterschiede in autoren-, adres-
saten- oder zeitspezifischen Teilkorpora dieses Subkorpus können nur
dann als Unterschiede im Sprachgebrauch unterschiedlicher Autoren ge-
genüber unterschiedlichen Adressatengruppen oder als typisch für eine
bestimmte Phase der 68er-Bewegung gelten, wenn andere Variablen wie
etwa die Textsorte als Ursache für die Differenzen im Sprachgebrauch
ausscheiden. Eine Textsorte der Massenkommunikation, die eine zumeist
eindeutige Adressatenzuordnung nach den für die 68er-Bewegung grund-
legenden Adressatengruppen (Angehörige der Bewegung, Studierende
242 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

allgemein, Bevölkerung, Medienöffentlichkeit) erlaubt, ist das Flugblatt.


Die Beschränkung auf Flugblätter ließ sich zudem dadurch rechtfertigen,
dass Flugblätter in der 68er-Bewegung ein zentrales Medium zur Herstel-
lung von Gegenöffentlichkeit waren und daher davon ausgegangen wer-
den kann, dass sich in ihnen auch die Besonderheiten des Sprachge-
brauchs verdichtet haben.

3.2 Das GerMov-Korpus und seine Subkorpora

Ausgehend von den skizzierten Fragestellungen und orientiert an den


genannten Kriterien der Textauswahl gliedert sich das GerMov-Korpus in
zwei Subkorpora: ein Subkorpus, das ausschließlich Tonbandprotokolle
der 68er-Bewegung enthält, und ein Subkorpus mit Flugblättern. Das
Tonbandprotokollekorpus enthält 29 Protokolle mit 59.879 laufenden
Wortformen. Tab. 1 zeigt die milieuspezifische Verteilung von Texten und
Frequenzen.

Tab. 1: Übersicht über das GerMov-Tonbandprotokollekorpus

Milieu Anzahl Anzahl


Texte Wortformen
Hedonistisches 21 27.736
Selbstverwirklichungsmilieu
Linksintellektuelles Milieu 8 32.143

Das Flugblattkorpus enthält 508 Texte mit 213.010 laufenden Wortfor-


men. Tab. 2 zeigt die Verteilung der Texte auf die verschiedenen Positio-
nen des politischen Spektrums.
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 243

Tab. 2: Übersicht über das GerMov-Flugblattkorpus

Politisches Spektrum Anzahl Wortformen Anzahl Texte


Radikale Linke 272 128.537
Alte Linke 1 318
Spirituelle Linke 2 646
Gemäßigte Linke 157 56.543
Linksliberal 9 4.297
Liberal 16 7.411
Linkskritisch 25 7.604
Konservativ 15 4.983
Rechtskonservativ 4 1.240
Rechtsextrem 2 421
kann nicht zugeord. werden 4 1.010

Für die vorliegende Studie wird das Flugblattkorpus dazu herangezogen,


um die Ergebnisse der Analyse des Tonbandprotokollekorpus zu validie-
ren. Hierfür ist eine Filterung der Texte nötig: Da das Tonbandprotokol-
lekorpus ausschließlich Gespräche der radikalen Linken enthält, muss das
Flugblattkorpus entsprechend gefiltert werden. Um ein möglichst hohes
Maß an Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden in das Untersuchungs-
korpus nur Flugblätter jener Gruppierungen aufgenommen, die eindeutig
einem der beiden im Tonbandprotokollekorpus repräsentierten Milieus
zugeordnet werden können. Für den intellektuell-avantgardistischen Stil
sind dies die Flugblätter des SDS, der spontaneistisch-antiautoritären Stu-
dentengruppen und des Republikanischen Clubs, insgesamt 109 Flugblät-
ter mit 57.803 laufenden Wortformen. Das Teilkorpus von Flugblättern
aus Kommunen und Subkultur ist dagegen mit 42 Texten und 13.703
Wortformen deutlich kleiner.
244 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

Tab. 3: Übersicht über die Größe der Teilkorpora

Tonbandprotokolle Flugblätter
Hedonistisches 27.736 13.703
Selbstverwirklichungs- (21 Protokolle) (42 Texte)
milieu
Linksintellektuelles Milieu 32.143 57.803
(8 Protokolle) (109 Texte)

3.3 Annotation

Das GerMov-Korpus wurde – wie oben beschrieben – mit Hilfe des


TreeTaggers (Schmid 1994) tokenisiert, mit Wortarten-Informationen
annotiert und lemmatisiert. Beim verwendeten Tagset handelt es sich um
das Stuttgart-Tübingen-Tagset (STTS) (Schiller et al. 1995). Darüber hin-
aus wurden die folgenden Kategorien auf der Token-Ebene annotiert:

a. Kommunikationsverben: Da es sich beim Tonbandprotokollekorpus


um ein Korpus der gesprochenen Sprache handelt, kann angenom-
men werden, dass Frequenz und Art des Gebrauchs von Kommuni-
kationsverben stilrelevant sind. Kommunikationsverben wurden ge-
mäß der von Harras et al. (2004) vorgeschlagenen Kategorisierung als
KOMMVERB annotiert.
b. Intensivierer/Gradpartikeln: Intensivierer kodieren Emotionen und
den Grad von Überzeugungen, bzw. der Rigorosität, mit der sie ver-
treten werden. Sie können in unterschiedliche Klassen eingeteilt wer-
den (vgl. Os 1989, Biedermann 1969, Bierwisch 1987). Als stilrelevant
erscheinen uns einerseits die Intensivierer des absoluten (z. B. absolut,
gänzlich, grundlegend, gründlich) und des extrem hohen Intensivierungs-
bereichs (z. B. höchst, äußerst, zutiefst), die wir als GRAD_HOCH im
Korpus annotiert haben; andererseits die des gemäßigten (z. B. ziem-
lich, recht, einigermaßen), des abschwächenden (z.B. verhältnismäßig, relativ,
eher) und des minimalen (z. B. wenig, kaum, schwerlich) Intensivierungs-
bereichs, die wir als GRAD_RELATIV annotiert haben.
c. Schlagwörter der neuen Linken: Vergleicht man das Tonbandproto-
kollekorpus mit einem Gegenwartskorpus politischer Diskussionen
aus einem Onlineforum10 im Hinblick auf das Vorkommen von No-

10 Es handelt sich um ein Korpus, das aus sämtlichen thematischen Strängen des Schweizer
Online-Diskussionsforums polittalk.ch aus den Jahren 2005-2008 besteht und rund
630.000 laufende Wortformen umfasst.
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 245

men, so zeigt sich (vgl. Abb. 1), dass im GerMov-Korpus vergleichs-


weise viele Nomen verwendet werden, die aus dem Bereich Marxis-
mus/Neue Linke kommen. Es kann daher davon ausgegangen wer-
den, dass Frequenz und Art und Weise des Gebrauchs von
Schlagwörtern der Neuen Linken stilrelevant sind. Zur genaueren Be-
stimmung dessen, was als Schlagwörter der Neuen Linken gelten
kann, wurden die Lemmata aus zeitgenössischen Wörterbüchern zur
Sprache der Neuen Linken (vgl. Weigt 1968, Hofmeier 1968, Koplin
1968 und von Weiss 1974) ausgewertet und als SCHLAG annotiert.
Innerhalb dieser Gruppe von Wörtern wurden solche, die sich als
Kampfvokabular klassifizieren ließen, zusätzlich als KAMPF anno-
tiert.

Abb. 1
246 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

4. Kommunikationsstile in der 68er-Bewegung in


korpuslinguistischer Perspektive
4.1 Berechnungsparameter

Da uns aufgrund der Lemmaanalysen über die Annotation von ideologi-


schen Schlagwörtern hinaus keine inhaltlichen Aspekte des Korpus stilre-
levant erschienen, haben wir uns dafür entschieden, bei der folgenden
komplexen n-Gramm-Analyse auf der Dimension Wortform nur Funkti-
onswörter und Satzzeichen zu berücksichtigen und Lemmata als Dimen-
sion gänzlich wegzulassen. Auf der Ebene der Wortarteninformationen
gab es hingegen keine Restriktionen. Berechnet wurden Pentagramme
ohne Leerstellen, die auch satzübergreifend sein konnten. Die Mindestfre-
quenz für ein n-Gramm durfte in der Summe beider Korpora nicht kleiner
als 4 sein.

4.2 Ergebnis der Analyse des Tonbandprotokollekorpus

Für das Kommunekorpus (hedonistisches Selbstverwirklichungsmilieu)


wurden 355.899 Pentagrammtoken berechnet, von denen 307 signifikant
waren, für das Linksintellektuellenkorpus (linksintellektuelles Milieu)
286.290, von denen 1.459 signifikant waren. Es ist an dieser Stelle aus
Platzgründen nicht möglich, die Analyse vollständig auszuführen. Wir
beschränken uns daher auf eine Analyse der auffälligsten Muster und Mus-
tertypen. Tab. 4 zeigt die 20 nicht-inklusiven Muster mit den höchsten
Signifikanzwerten des Subkorpus Hedonistisches Selbstverwirklichungs-
milieu des GerMov-Tonbandprotokollekorpus.
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 247

Tab. 4: Typische sprachliche Muster im Teilkorpus Hedonistisches Selbstverwirklichungsmilieu des


GerMov-Tonbandprotokollekorpus

Frequenz Links-
Muster LLR p
Kommunen intellektuelle
, PDS VVFIN PPER ADV 11 0 12.99 0.0001
, dann VVFIN PPER ADV 11 0 12.99 0.0001
, PPER VAFIN ADV 14 1 10.79 0.0005
ADV
$. ADV , KOUS PPER 10 0 11.80 0.0003
ADV , PPER VAFIN 10 0 11.80 0.0003
ADV
, ADV VMFIN PPER 10 0 11.80 0.0003
ADV
, PPER VVFIN ADV , 10 0 11.80 0.0003
, KOUS PPER PRF ADV 10 0 11.80 0.0003
ADV , PDS VAFIN ADV 9 0 10.62 0.0005
, ADV VVFIN PPER 19 4 7.64 0.0031
ADV
$. PPER VVFIN ADV 8 0 9.44 0.0010
nicht
, KON PDS VAFIN ADV 8 0 9.44 0.0010
ADV VMFIN PPER ADV 8 0 9.44 0.0010
ADV
PDS VVFIN PPER ADV 8 0 9.44 0.0010
ADV
, ich VVFIN ADV , 8 0 9.44 0.0010
KON PPER VAFIN ADV 8 0 9.44 0.0010
ADV
, PPER VVFIN ADV nicht 8 0 9.44 0.0010
, KON PDS VAFIN ADV 8 0 9.44 0.0010
, KON KOUS PPER ADV 13 2 6.80 0.0051
, PDS VAFIN ADV ADV 13 2 6.80 0.0051

Es finden sich auffällig viele Muster, die substituierende Demonstrativ-


pronomen (PDS) enthalten, was auf eine hohe Dichte an anaphorischen
Verweisen schließen lässt. Das substituierende Demonstrativpronomen
kann gefolgt von einem Vollverb am Anfang eines Gliedsatzes...
248 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

, PDS VVFIN PPER ADV , das weiß ich auch


LLR: 12.99, p: 0.0001 , das weißt du auch
, das finde ich so
, das tun wir auch
, den brauchen wir auf

... oder am Satzanfang stehen...


$. PDS VVFIN PPER ADV . Das finde ich ein
LLR: 6.797, p: 0.0051 . Die kennen wir doch
. Das hat er schon
. Das machen wir immer
? Das weiß ich nicht

... oder gefolgt von einem Hilfsverb am Anfang eines Gliedsatzes ...
, PDS VAFIN ADV ADV , das war gar nicht
LLR: 6.797, p: 0.0051 , das ist wie so
, das ist ja wieder
, das ist ja nicht
, der ist doch schon

... bzw. nach einer Konjunktion am Anfang eines Satzes.


$. KON PDS VAFIN ADV . Und das war sowieso
LLR: 9.44, p: 0.001 . Und das war also
. Aber die sind noch
. Aber das war so
. Und die war damals

Häufig finden sie sich auch nach vom Tagger als Adverbien klassifizierten
Diskurspartikeln, offenbar häufig am Beginn eines Turns.
$. ADV $, PDS VAFIN . Hier , das ist
LLR: 7.72, p: 0.003 . Ja , das ist
. Also , die ist
. Nein , das ist
? Ja , das sind

Im Korpus mit Protokollen des hedonistischen Selbstverwirklichungsmili-


eus sind also Muster mit anaphorischen Verweisen signifikant, die als ein
Indikator für konzeptionell mündlichen Stil gedeutet werden können. Im
Vergleich dazu findet sich in der Menge signifikanter Muster im Korpus
mit Protokollen des linksintellektuellen Milieus lediglich ein Muster, das
ein substituierendes Demonstrativpronomen enthält:
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 249

PDS $, was PPER ADV das , was wir bisher


LLR: 6.463, p: 0.0062 das , was ich vor
dessen , was Sie bis

Das Pronomen verweist hier nicht auf vorher Gesagtes, sondern wird
durch einen anschließenden Relativsatz erläutert. Die kontextsensitive
Analyse zeigt also, dass die Verwendung substituierender Demonstrativ-
pronomen in diesem Subkorpus eine andere Funktion hat, als im Subkor-
pus mit Texten des hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieus.
Ebenfalls als Indikator für konzeptionelle Mündlichkeit kann die Rea-
lisierung einer konditionalen Relation mit der Konjunktion dann gelten, die
ebenfalls ein signifikantes Mustern des Kommune-Subkorpus ist. In kon-
zeptionell schriftlichen Texten wäre eher zu erwarten, dass die konditiona-
le Relation durch Verberststellung im nachgestellten Hauptsatz realisiert
würde. Die Konjunktion dann wird sowohl in Verbindung mit Voll- und
Hilfsverben ...
, dann VVFIN PPER ADV , dann liegt es doch
LLR: 12.99, p: 0.0001 , dann hätten wir auch
, dann gehen wir jetzt
, dann würden wir quasi
, dann wird sie vielleicht

... als auch mit Modalverben signifikant häufiger verwendet.


, dann VMFIN PPER ADV , dann wollte sie gar
LLR: 8.26, p: 0.0021 , dann können sie auch
, dann können wir ja
, dann kann ich nur
, dann kannst du noch

Auffällig sind zudem zahlreiche Muster mit einer hohen ADV-Dichte.


Unter ADV subsumiert der TreeTagger Adverbien im engeren Sinn, aber
auch Partikeln, insbesondere Modal-, Abtönungs-, Grad- und Fokusparti-
keln. Zur Illustration sei das folgende Muster mit einigen seiner Realisie-
rungen im Korpus angeführt:
, PPER VAFIN ADV ADV , wir sind zwar nicht
LLR: 10.79, p: 0.0005 , es ist doch nur
, es ist ja auch
, es wäre doch schon
, es ist also so

Während sich in den 1.459 signifikanten Mustern des Linksintellektuellen-


Subkorpus gerade einmal 20 finden, in denen zwei Adverbien nach einan-
250 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

der auftreten, sind es beim Kommunen-Subkorpus rund dreimal so viele


bei 307 signifikanten Mustern. Auch die häufige Verwendung von ADV-
Clustern kann als Mündlichkeitsindikator gedeutet werden, die häufige
Verwendung von Abtönungs- und Modalpartikeln darüber hinaus als
Indikator eines auf Verständigung abzielenden Kommunikationsstils, in
dem allzu klare Festlegungen auf einen Standpunkt vermieden werden.
Diese Deutung kann auch mit der Tatsache fundiert werden, dass nur im
Kommunekorpus Muster mit Kommunikationsverben wie das folgende
signifikant häufig auftreten.
ADV VVINF_KOMMVERB , auch sagen , damit ich
KOUS PPER noch sagen , daß es
LLR: 7.08, p: 0.0043 nur sagen , daß du
nur sagen , daß sie
nur sagen , daß ich

Ein weiterer Mündlichkeitsindikator in den Kommuneprotokollen sind


Satzanschlüsse mit Konjunktionen, insbesondere mit der Konjunktion
und. Zwar finden sich hierfür keine Belege in den 20 Mustern mit der
höchsten Signifikanz, dennoch lassen sich insgesamt vier Muster wie das
Folgende identifizieren:
$. Und KOUS ich ADV . Und als ich dann
LLR: 5.9, p: 0.0087 . Und wenn ich jetzt
. Und da ich also
. Und als ich hier
. Und als ich dort

Dass Stilanalysen erst durch den Vergleich an Profil gewinnen, dafür ist
Tab. 5, die die 20 nicht-inklusiven Muster mit den höchsten Signifikanz-
werten des Subkorpus linksintellektuelles Milieu des GerMov-Tonband-
protokollekorpus enthält, ein eindrucksvoller Beleg.
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 251

Tab. 5: Typische sprachliche Muster im Teilkorpus Linksintellektuelles Milieu des GerMov-


Tonbandprotokollekorpus

Frequenz Links-
Muster LLR p
Kommunen intellektuelle
NN APPR ART ADJA NN 2 70 97.19 <0.0001
ART NN ART ADJA NN 1 61 89.51 <0.0001
APPR ART NN ART NN 10 65 57.93 <0.0001
ART ADJA NN ART NN 3 49 59.78 <0.0001
ADJA NN APPR ART NN 7 48 43.89 <0.0001
APPR ART NN ART ADJA 0 28 45.24 <0.0001
NN ART NN APPR ART 0 27 43.63 <0.0001
ART NN APPR ART ADJA 1 29 39.27 <0.0001
APPR ART ADJA NN ART 0 26 42.01 <0.0001
ADJA NN ART ADJA NN 1 27 36.18 <0.0001
ADJA NN APPR ART ADJA 1 27 36.18 <0.0001
ART ADJA NN APPR ART 6 35 29.50 <0.0001
ADV APPR ART NN ART 0 22 35.55 <0.0001
ART NN ART NN APPR 2 26 29.96 <0.0001
NN ART NN ART NN 2 25 28.50 <0.0001
ART NN und ART NN 1 22 28.50 <0.0001
APPR ART NN , PRELS 5 30 25.67 <0.0001
ART ADJA NN ART ADJA 0 19 30.70 <0.0001
ART NN ART NN ART 1 21 26.98 <0.0001
, KOUS ART NN ART 4 26 23.17 <0.0001

Sie zeigt fast ausschließlich Muster, die Nominal- und Präpositionalphra-


sencluster repräsentieren. Das Muster mit der höchsten Spezifik repräsen-
tiert eine Folge von Nominal- und Präpositionalgruppe:
NN APPR ART ADJA NN SDS in der ersten Hälfte
LLR: 97.19, p: <0.0001 Kommilitonen in den anderen Fakultäten
Veränderungen auf einer institutionellen Ebene
Mittelforderung für den autonomen Bereich
Rückfall auf den status quo

Fast immer ist dabei bei einer Folge von Nominalgruppen die zweite
durch ein Genitivattribut realisiert, wie das folgende Musters illustriert:
ART ADJA NN ART NN den status quo der Ordinarienprivilegien
252 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

LLR: 59.87, p: <0.0001 der drittelparitätischen Zusammensetzung der


Seminarversammlung
die konkrete Umorganisation des Studiums
die materiellen Ressourcen des Instituts
ein großer Teil der Kommilitonen

Ein weiteres Muster mit hoher Spezifik besteht sogar aus drei aufeinander
folgenden Präpositional- und/oder Nominalgruppen:
NN ART NN ART NN Form des Studentenproteste der Hochschulre-
LLR: 28.5, p: <0.0001 volte
Willen der Mehrheit der Hochschullehrer
Teilen des SDS das Prinzip
Rest des Semesters die Tätigkeit
Situation der Handelnden den Aktionsmöglich-
keiten

Der Grad der Spezifik und die Frequenz dieser Mustertypen verweist auf
eine grundlegende stilistische Differenz zwischen den beiden Korpora.
Während das Korpus der Kommuneprotokolle durch konzeptionelle
Mündlichkeit geprägt ist, scheint das Korpus im linksintellektuellen Milieu
eher von Mustern durchwirkt, die gewöhnlich als Indikatoren für Nomi-
nalstil beschrieben werden. Hierfür lassen sich weitere Belege anführen.
So finden sich im Korpus mit Protokollen aus dem linksintellektuellen
Milieu auch häufiger Muster, die auf eine hohe Frequenz passivischer
Formulierungen schließen lassen. Beispielsweise Muster im Perfekt ...
NN VVPP VVPP VAFIN $. Universität lahmgelegt worden wäre .
LLR: 6.46, p: 0.0062 Pferdestall angezündet worden ist .
Weg fotografiert worden sind .
Presse rezipiert worden ist ?
Qualität erreicht worden ist .

... oder im Präteritum oder Präsens ...


ADJA NN VVPP VVFIN , bürgerlichen Presse benutzt werden ,
LLR: 6.62, p: 0.0056 solche Entwicklungen verhindert werden ,
individuellen Psychoterrors verkündet wird ,
in Justizfragen mitgearbeitet wurde ,
kleinen Gruppen gemacht wird ,

... oder mit Modalverben:


NN VVPP VVINF VMFIN $. Lehrbetrieb ausgesetzt werden muß .
LLR: 14.54, p: <0.0001 Konsens erzielt werden kann .
Verbindlichkeit geführt werden soll .
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 253

Modelle durchgesetzt werden können .


Studentenrat verhandelt werden können .

Schließlich lassen sich im Linksintellektuellenkorpus 18 signifikante Mus-


ter mit dem Pronomen es und 4 mit dem unpersönlichen Pronomen man
identifizieren, während das Kommunekorpus lediglich 4 signifikante Mus-
ter mit es und keines mit man enthält.
Die Analyse im Hinblick auf Schlagwörter der Neuen Linken ergibt
ebenfalls ein eindeutiges Bild: Für das Kommunekorpus sind keine Muster
mit Schlagwörtern stilprägend, im Linksintellektuellenkorpus finden sich
hingegen 37 signifikante Muster mit Schlagwort-Nomen ...
, KOUS ART , daß der objektive Prozeß
ADJA_SCHLAG NN , ob die objektive Lage
LLR: 8.07, p: 0.0023 , daß der kommunistische Mensch
, wo die objektiven Bedingungen
, daß die objektive Lage

... oder Adjektiven:


NN_SCHLAG APPR ART NN Tendenzen in der Dynamik des
ART Erfahrung mit der Instituierung eines
LLR: 8.07, p: 0.0023 Technokraten mit der Differenzierung der
Studenten bei der Durchsetzung der
Widerstand gegen das Vorgehen der

So verdichtet sich für das Korpus mit Protokollen aus dem linksintellektu-
ellen Milieu das Bild von einem nominalen szientistischen Stil, der sich
allerdings durch einige Spezifika vom wissenschaftlichen Diskurs unter-
scheidet.
An erster Stelle ist hier die Verwendung von Kampfvokabular zu nen-
nen. So lassen sich im Linksintellektuellenkorpus 14 signifikante Muster,
die Schlagwörter enthalten, auf die Verwendung von Kampfvokabular
zurückführen, etwa wie im Fall des folgenden Musters:
ART NN_KAMPF APPR ART der Angriff bei der Polizei
NN die Auseinandersetzung auf dem Tegeler
LLR: 16.16, p: <0.0001 den Aktionen vor dem Landgericht
die Aktion vor dem Landgericht
den Auseinandersetzungen in der Osnabrücker

Daneben ist eine relativ starke normative Prägung der Protokolle zu er-
kennen, was an der Zahl von signifikanten Mustern mit Modalverben
ablesbar ist. Solche Muster sind etwa Satzanfänge mit einem Personalpro-
nomen und einem Modalverb ...
254 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

VAFIN . PPER VMFIN ADV ist . Wir dürfen nicht


LLR: 8.08, p: 0,024 sind . Wir müssen also
sind . Wir müssen dahin
war . Wir müssen jetzt
ist . Es könnte aber

... oder Konstatierungen eines Imperativs mit müssen nach einem Hecken-
ausdruck:
Ich VVFIN , PPER VMFIN Ich finde , wir müssen
LLR: 6.46, p: 0.006 Ich meine , wir müssen
Ich glaube , wir müssen

Insgesamt zeigt die Analyse der Ergebnisse des datengeleiteten Korpus-


vergleichs erhebliche Differenzen zwischen den beiden untersuchten Sub-
korpora des GerMov-Korpus, die auch insofern als stilistische Unter-
schiede interpretiert werden können, als sich unterschiedliche
Mustertypen mehr oder weniger kohärent unter ein Deutungsschema
(etwa Nominalstil, konzeptionelle Mündlichkeit) subsumieren ließen.

4.3 Validierung durch das Flugblattkorpus

Können die rekonstruierten Stile nun auch im Flugblattkorpus nachgewie-


sen werden und lassen sich die Untersuchungsergebnisse so validieren?
Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir analog zur komplexen n-
Gramm-Analyse zum Tonbandprotokollekorpus eine Analyse des nach
Milieus gefilterten Flugblattkorpus durchgeführt. Für das Kommunekor-
pus (hedonistisches Selbstverwirklichungsmilieu) wurden 114.090 Penta-
grammtoken berechnet, von denen 351 signifikant waren, für das Linksin-
tellektuellenkorpus (linksintellektuelles Milieu) 384.212, von denen 175
signifikant waren.11
Im Anschluss an die n-Gramm-Analyse haben wir berechnet, wie viel
Prozent der signifikanten Muster sich auch in der Analyse zum Tonband-
protokollekorpus als signifikant für das jeweilige Korpus erwiesen hatten.
Dabei wurde die jeweils kleinste Menge typischer n-Gramme als Berech-
nungsbasis gewählt. Während die Korpora des linksintellektuellen Milieus
16 % Übereinstimmung im Hinblick auf signifikante Muster zeigten (28

11 Wie die im Vergleich zur Tonbandprotokollekorpus-Analyse geringere Anzahl signifikanter


Muster zeigt, sind die stilistischen Unterschiede beim Flugblattkorpus nicht so prägnant.
Allerdings ist die geringe Zahl signifikanter Muster auch der geringen Korpusgröße, insbe-
sondere bei den Flugblättern aus dem hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu, ge-
schuldet.
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte 255

gemeinsame Muster), waren es gerade einmal zwei Muster (0,007 %), die
beim hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu übereinstimmten. Die
konzeptionelle Mündlichkeit blieb beim Wechsel in ein anderes Medium
nicht in gleicher Weise erhalten. Betrachtet man hingegen die im Folgen-
den aufgelisteten übereinstimmenden Muster von Flugblatt- und Ton-
bandprotokollekorpus aus dem linksintellektuellen Milieu, so zeigt sich,
dass die Indikatoren für Nominalstil im Mündlichen wie im Schriftlichen
stilprägend sind:

ADJA NN APPR ART ADJA


ADJA NN APPR ART NN
ADJA NN ART ADJA NN
APPR ART ADJA ADJA NN
APPR ART ADJA NN APPR
APPR ART ADJA NN KON
APPR ART NN APPR NN
APPR ART NN ART NN
APPR ART NN von NN
APPR NN APPR ART NN
ART ADJA KON ADJA NN
ART ADJA NN APPR ART
ART ADJA NN APPR NN
ART ADJA NN ART NN
ART NN APPR ART ADJA
ART NN ART ADJA NN
ART NN ART NN $,
ART NN ART NN ,
ART NN ART NN APPR
ART NN ART NN ART
NN $, PRELS ART NN
NN , PRELS ART NN
NN APPR ART ADJA NN
NN APPR ART NN ART
NN ART ADJA NN ART
NN ART NN ART ADJA
NN ART NN ART NN
in ART NN ART NN

Eine genauere Analyse jener Muster, die im Flugblattkorpus für das hedo-
nistische Selbstverwirklichungsmilieu signifikant sind, lässt aber auch hier
Indikatoren erkennen, die sich im Sinne der rekonstruierten stilistischen
Dimension der konzeptionellen Mündlichkeit deuten lassen – sie haben
jedoch eine andere sprachliche Form.
256 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth

5. Fazit
Die Stilanalyse zu den milieuspezifischen Kommunikationsstilen während
der 68er-Bewegung konnte hier nur skizzenhaft durchgeführt werden. Sie
belegt aber dennoch das große Potenzial der vorgestellten Methode, die
Kategorie Stil über eine subjektive Leseerfahrung hinaus messbar zu ma-
chen. Die Methode des Korpusvergleichs von im Hinblick auf außer-
sprachliche Kriterien gezielt variierenden Korpora stellt sicher, dass die
errechneten Muster eine pragmatische Ladung haben. Sie zeigt auch, dass
die Zusammenstellung ausgewogener Korpora eine entscheidende Grund-
lage für valide Ergebnisse ist. Dies bedarf einer gründlichen Kenntnis der
Ergebnisse sozial- und kulturgeschichtlicher Forschung. Sind die Bedin-
gungen für einen datengeleiteten Korpusvergleich erfüllt, kann das Stil-
konzept eine wertvolle Ergänzung des kategorialen Rüstzeugs der sozio-
pragmatischen Sprachgeschichte sein.

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262 Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth
Noah Bubenhofer/Juliane Schröter

Die Alpen.
Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik –
Kulturanalyse

Wenn Titans erster Strahl der Gipfel Schnee vergüldet


Und sein verklärter Blick die Nebel unterdrückt,
So wird, was die Natur am prächtigsten gebildet,
Mit immer neuer Lust von einem Berg erblickt;
Durch den zerfahrnen Dunst von einer dünnen Wolke
Eröffnet sich zugleich der Schauplatz einer Welt,
Ein weiter Aufenthalt von mehr als einem Volke
Zeigt alles auf einmal, was sein Bezirk enthält;
Ein sanfter Schwindel schließt die allzuschwachen Augen,
Die den zu breiten Kreis nicht durchzustrahlen taugen.

Albrecht von Hallers Gedicht Die Alpen, aus dem diese Strophe stammt
(Haller 1729/1882: 34), gilt als Paradebeispiel für die idealisierende Dar-
stellung des alpinen Raumes,1 die sich im 18. Jh. durchsetzt. Nachdem die
Alpen seit der Antike zwar nicht nur, jedoch vorwiegend als abstoßendes,
grauenerregendes geographisches Gebiet in der Literatur präsentiert wor-
den sind,2 wird im 18. Jh. eine positive Sicht auf die Alpen dominant,3 eine
Bewunderung, die in neuartige ästhetische, zivilisationskritisch-politische,
aber auch naturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit den Alpen in-
tegriert ist.4 Hallers Gedicht, das die neue Faszination durch die Alpen

1 Vgl. Weiss (1933: 21, 31f., 83), Woŭniakowski (1987: 247f.), Raymond (1993: 12ff.), Strem-
low (1998: 66ff.), Hentschel (2002b: 45), Hackl (2004: 59).
2 Vgl. Weiss (1933: 50f.), Woŭniakowski (1987: 224), Bätzing (2003: 13), Raymond (1993:
61), Stremlow (1998: 6, 40), Hackl (2004: 23).
3 Vgl. Weiss (1933: 49, 145f.), Woŭniakowski (1987: 216), Bätzing (2003: 14), Raymond
(1993: 1, 72), Stremlow (1998: 274f.). Hackl (2004: 25) weist darauf hin, dass man „im Hu-
manismus und in der Renaissance nach und nach die Alpen anders wahrzunehmen“ be-
gann, so dass es „zu einem lange anhaltenden Nebeneinander von Abwertung und vor-
sichtiger Bewunderung kam“. Ähnliches beobachtet Bätzing (2003: 14). Mathieu (2005)
diskutiert die bisherige Periodisierung der dominierenden Sicht auf die Alpen ausführlich.
4 Vgl. Bätzing (2003: 14, 17), Raymond (1993: 1f.), Stremlow (1998: 52, 59, 62), Gisi (2000:
92), Stockinger (2000: 162), Hackl (2004: 30, 33).
264 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter

nicht nur widerspiegelt, sondern auch entscheidend inspiriert hat,5 veran-


schaulicht, wie sehr die Alpen nicht nur eine geologische Formation, son-
dern auch ein kulturelles Konstrukt sind: Kollektive habituelle Perspekti-
vierungen der Alpen und der Bewegung in den Alpen wandeln sich; das
Gebirge und das Sich-Bewegen in ihm werden historisch unterschiedlich
wahrgenommen und erlebt, reflektiert, bewertet und behandelt – z. B.
piktoral oder diskursiv. Da historische Texte, die sich mit den Alpen be-
schäftigen, Rückschlüsse auf die entsprechenden kollektiven habituellen
Perspektivierungen erlauben und, wie sich in zahlreichen Studien gezeigt
hat,6 für derartige mentalitätsgeschichtliche bzw. kulturanalytische Frage-
stellungen ergiebige Quellen bilden, gehen wir in diesem Beitrag am Bei-
spiel just solcher Texte aus dem 19. und 20. Jh., nämlich am Beispiel des
Jahrbuchs des Schweizer Alpenclub und seines publizistischen Nachfolgers Die
Alpen. Monatsschrift des Schweizer Alpenclub, einer Frage der Methodik der His-
torischen Sprachwissenschaft nach: der Frage, was die Korpuslinguistik
zur Erforschung von Sprachgebrauchsgeschichte aus einem kulturanalyti-
schen Interesse heraus beitragen kann.

1. Methodische Prämissen
Unsere exemplarische Untersuchung alpiner Texte zum Zwecke eines
methodischen Erkenntnisgewinns geht von zwei zusammengehörigen
Prämissen aus. Beide Annahmen sind keineswegs neu: Sie sind, wenn
auch teilweise etwas anders formuliert, innerhalb der Sprachwissenschaft
in den letzten Jahren vor allem in Publikationen zur linguistischen Dis-
kursanalyse oder Diskurslinguistik ,nach Foucault‘7 anzutreffen und fin-
den sich im Kern ex- oder implizit ebenso in literaturwissenschaftlichen
Untersuchungen literarischer Berg- oder Alpendarstellungen, die ein – wie
wir es nennen würden – kulturanalytisch-mentalitätsgeschichtliches Inte-
resse verfolgen.8
Wir gehen erstens davon aus, dass Sprachgebrauchsmuster in Äuße-
rungen zu einem bestimmten Thema (z. B. den Alpen) die diesbezügliche
Mentalität der gesellschaftlichen Gruppen (etwa der Mitglieder des

5 Vgl. Weiss (1933: 21, 31f., 83), Woŭniakowski (1987: 244, 248), Raymond (1993: 13f.),
Stremlow (1998: 62f., 72), Hentschel (2002b: 47f.), Hackl (2004: 211).
6 Für neuere Monographien und Sammelbände vgl. etwa Raymond (1993), Günther (1998),
Stremlow (1998), Hentschel (2002a), Hackl (2004), Mathieu/Boscani Leoni (2005). Für
eine ältere umfangreichere Arbeit vgl. exemplarisch Weiss (1933).
7 Vgl. z. B. Hermanns (1995: 91), Böke (2005: 218), Gardt (2007: 30), Wengeler (2007: 184).
8 Vgl. exemplarisch Raymond (1993: 120), Stremlow (1998: 13, 16), Hackl (2004: 15, 18,
21f.).
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 265

Schweizer Alpenclubs) reflektieren können, in denen sich die Muster zei-


gen.9 Zweitens sind wir der Auffassung, dass Sprachgebrauchsmuster in
Äußerungen zu einem bestimmten Thema in der Lage sind, die diesbezüg-
liche Mentalität der sozialen Gruppierungen zu beeinflussen, in denen sich
die Muster finden.10 Kurz: Es wird unterstellt, dass Sprachgebrauchs-
muster und Mentalitäten in einem Verhältnis der wechselseitigen Beein-
flussung stehen. Mit Mentalität sind dabei im Anschluss an Fritz Her-
manns, der sich innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft um das
Konzept theoretisch besonders bemüht hat,11 die habituellen Wahrneh-
mungsweisen und Konzeptualisierungen, Überzeugungen, Wertungen und
anderen affektiven Haltungen sowie Verhaltensdispositionen gemeint,
welche die Mitglieder einer sozialen Gruppe teilen. Demgegenüber lässt
sich ein Sprachgebrauchsmuster im Verständnis dieses Beitrags dann erken-
nen, wenn sich mehrere (tatsächlich gemachte) sprachliche Äußerungen
im Hinblick auf eine Besonderheit gleichen oder weitgehend ähneln.12
Solche Besonderheiten können freilich auf verschiedenen sprachlichen
Ebenen liegen, unterschiedlich komplex sein und unterschiedliche Evi-
denzgrade aufweisen, also mehr oder weniger unmittelbar sinnlich wahr-
nehmbar sein: So kann es sich etwa um ein einzelnes Morphem oder
Lexem, ein sprachliches Bild (eine Metapher, Metonymie etc.), eine Kollo-
kation oder andere Mehrworteinheit, eine wie auch immer geartete syntak-
tische Konstruktion, eine Aussage (eine Proposition), eine Implikation
oder Präsupposition und bei schriftlichen Äußerungen gleichfalls um ein
typographisches Merkmal handeln, um nur einige Möglichkeiten zu
nennen.
Auf das Gesagte aufbauend nehmen wir an, dass die Relevanz eines
einzelnen Sprachgebrauchsmusters für mentalitätsgeschichtliche Fragestel-
lungen vorrangig von zwei Größen abhängt: zum einen von der relativen
Frequenz bzw. von der statistischen Signifikanz des Musters im jeweiligen
Untersuchungskorpus im Vergleich zum gewählten Referenzkorpus, zum
anderen – bei komplexeren Mustern – von der Intensität des Musters,

9 Die Reflexion ist allerdings nicht als zwangsläufige 1:1-Abbildung zu denken; welche Art
der Reflexion genau zu vermuten ist, lässt sich nur im Einzelfall durch quellenkritische
Überlegungen eruieren.
10 Hier gilt Entsprechendes: Wie man sich den Einfluss im Detail vorzustellen hat, kann
allein unter Bezug auf die gewählten Quellen ermittelt werden.
11 In einem Aufsatz von 1995 definiert Hermanns: „Eine Mentalität im Sinne der Mentalitäts-
geschichte ist [...]: 1) die Gesamtheit von 2) Gewohnheiten bzw. Dispositionen 3) des
Denkens und 4) des Fühlens und 5) des Wollens oder Sollens in 6) sozialen Gruppen“
(Hermanns 1995: 77).
12 Für eine umfassendere Diskussion des Musterbegriffs, die allerdings zu einer etwas abwei-
chenden Bestimmung führt, vgl. Bubenhofer (2009: 18ff.).
266 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter

d. h. davon, wie ausgeprägt es sich durchschnittlich zeigt, ob es im Nor-


malfall voll ausgeprägt ist oder sich meist nur in Ansätzen abzeichnet.

2. Korpuslinguistisches Potenzial
Zwei Aspekte unserer Definition von Sprachgebrauchsmuster oben erweisen
sich als besonders fruchtbar für eine korpuslinguistische Herangehens-
weise:

1. Sprachliche Muster lassen sich ableiten aus mehreren sprachlichen Äu-


ßerungen, die sich im Hinblick auf eine Besonderheit gleichen oder
weitgehend ähneln.
2. Sprachgebrauchsmuster sind erkennbar an tatsächlich gemachten Äußerun-
gen, denen eine Besonderheit gemeinsam ist.

Zunächst zum zweiten Aspekt: Es mag inzwischen trivial klingen, aber es


ist (neben anderen empirischen Methoden) die Korpuslinguistik, die den
Forderungen der pragmatischen Wende, Sprachgebrauch und Kontext
ernst zu nehmen, am besten entsprechen kann. Korpuslinguistik ist – zu-
nächst jedenfalls – Sprachgebrauchsanalyse, mit der, analog empirischen
sozialwissenschaftlichen Verfahren, Thesen über eine Datengrundlage ge-
wonnen und überprüft werden können.
Dieser Aspekt gewinnt allerdings erst in Kombination mit dem oben
erstgenannten Aspekt eine besondere Relevanz für kulturanalytische Stu-
dien: Muster, die in irgendeiner Form auf der Textoberfläche zu fassen
sind, können mit automatischen Verfahren erkannt werden.13 Oder umge-
kehrt formuliert: Korpuslinguistisch zählbare Phänomene haben das Po-
tenzial, sprachliche Muster zu sein. Doch nicht ihre pure Frequenz ist aus-
schlaggebend: Mit statistischen Methoden ist es möglich, die Verteilung
von zählbaren Phänomenen darauf hin zu überprüfen, ob sie unerwartet
häufig oder selten in bestimmten Ausschnitten von Sprachgebrauch auf-
treten, also relativ zu anderen Textdaten oder relativ zu erwarteten Häu-
figkeiten signifikant öfter vorkommen.
Damit wird deutlich, dass digitale Korpora nicht nur „Belegsammlun-
gen oder Zettelkästen in elektronischer Form“ sind, sondern eine eigene

13 Natürlich ist kein sprachliches Element ‚einfach so‘ auf der Textoberfläche fassbar. Bereits
die Tokenisierung entscheidet darüber, wo eine Wortgrenze liegt. Und weitere Annotatio-
nen wie Wortart- und Lemmainformationen basieren auf linguistischer Interpretation.
Trotzdem handelt es sich für ein Computerprogramm bei einem annotierten Text um ein
Datum, dessen Elemente einfach erfassbar und deren Verteilung im Korpus oder deren
Korrelationen miteinander berechnet werden können.
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 267

„korpuslinguistische Perspektive“ (Perkuhn/Belica 2006: 2) ermöglichen.


Einerseits können Thesen anhand einer ‚Stichprobe‘ aus dem Sprachge-
brauch empirisch überprüft werden. Dieses deduktive Vorgehen (Prüfen
einer Hypothese) kann andererseits aber ergänzt werden durch induktive
Verfahren der Datenanalyse, um neue Hypothesen über Regel- oder Unre-
gelmäßigkeiten im Sprachgebrauch zu gewinnen. Gerade die neuere Kor-
puslinguistik, die statt corpus based (korpusbasiert) auch corpus driven (kor-
pusgesteuert) vorgeht, ermöglicht dies. Bei diesen induktiven Verfahren
steht nicht ein bestimmtes Phänomen (ein Lexem, eine Kollokation, ein
grammatisches Phänomen etc.) am Anfang der Recherche, sondern ein
Typ von Phänomen, wie z. B. alle Mehrworteinheiten, die in einem Kor-
pus häufig auftreten. Bei der Recherche werden alle möglichen Mehrwort-
einheiten automatisch aus dem Korpus extrahiert und anschließend wird
mit statistischen Signifikanztests geprüft, welche Mehrworteinheiten im
Verhältnis zum Referenzkorpus signifikant häufig vorkommen. Damit
geraten im besten Fall Evidenzen in den Fokus, die quer zu den vorher
existierenden Erwartungen stehen und die Grundlage für neue Hypo-
thesen sind.14
Die Forschung zu Kollokationen, n-Grammen, Multi-Word-Units,
Mehrworteinheiten etc. hat verschiedene Methoden entwickelt, um ma-
schinell signifikant häufig vorkommende Kombinationen von Wörtern
aus Korpora zu extrahieren.15 Diese Methoden gehen normalerweise von
Mehrworteinheiten aus, die aus laufenden, d. h. bestimmten Wortformen
oder Lemmata bestehen. Der hohe Berg und der hohe Gipfel wären demnach
zwei unterschiedliche Mehrworteinheiten. Damit man die beiden Mehr-
worteinheiten jedoch einem abstrakteren Muster subsumieren kann, muss
die Einheit als der hohe NOMEN aufgefasst werden, indem Wortart-Infor-
mationen einbezogen werden. Mit der von der Forschergruppe semtracks
entwickelten Matrixanalyse lassen sich u. a. solche Einheiten, komplexe n-
Gramme, berechnen.16 In der vorliegenden Untersuchung verwenden wir
zwei Komponenten der Matrixanalyse:

14 Vgl. für eine ausführliche Diskussion von corpus-based- und corpus-driven-Ansätzen Bubenho-
fer (2009: 99ff.). Das corpus-driven-Paradigma war bereits bei Sinclair (1991) angedacht und
wird bei Tognini-Bonelli (2001: 65ff.) explizit gemacht. Im deutschsprachigen Raum ver-
folgen z. B. Arbeiten von Kathrin Steyer (Steyer 2004, Steyer/Lauer 2007, Steyer/Brunner
2009) dieses Paradigma, die auf Konzepten und Methoden von Cyril Belica und Rainer
Perkuhn fußen (Belica 1996, Belica 2001–2007, Perkuhn/Belica 2006).
15 Vgl. für eine ausführliche Darstellung dieser Termini und Methoden Bubenhofer (2009:
111ff.) bzw. Manning/Schütze (2002: 151, 192ff.).
16 Detailliertere Beschreibungen der semtracks-Matrixanalyse finden sich in Bubenhofer/
Scharloth in diesem Band, Bubenhofer et al. (2009), Bubenhofer/Scharloth (2010) und
Scharloth/Bubenhofer (2012).
268 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter

1. Berechnung der Einzellexeme, die im Vergleich von zwei Teilkorpora


jeweils für das eine Teilkorpus typisch sind, also signifikant häufiger
vorkommen. Die Einzellexeme werden gesondert nach Wortarten be-
rechnet.
2. Berechnung von pro Teilkorpus typischen komplexen n-Grammen,
wobei ein n-Gramm aus bis zu vier Elementen bestehen kann. Als
Elemente eines n-Gramms kommen Wortform, Lemma oder Wortart
in Frage.

3. Schreiben über die Berge: Die SAC-Jahrbücher


3.1 Einordnung der Jahrbücher

Der Schweizer Alpenclub (SAC) wurde 1863 kurz nach dem British
Alpine Club gegründet und entwickelte sich, ähnlich wie die anderen
Alpenvereine, von einem kleinen Zirkel von Bergsteigern zu einem gro-
ßen Dienstleistungsverein für breite Schichten von Bergbegeisterten. Von
1864 bis heute gibt es die kontinuierliche Publikationsreihe Jahrbuch des
Schweizer Alpenclub, später Die Alpen, in der über die Tätigkeiten der Club-
mitglieder und andere Themen im Bereich Berge, Bergsport, Natur und
Kultur im alpinen Raum berichtet wird.17
Das Projekt „Text+Berg digital“ an der Universität Zürich setzte sich
zum Ziel, diese Publikationsreihe komplett zu digitalisieren und als Kor-
pus aufzubereiten.18 Inzwischen umfasst das Korpus die Bände von 1864
bis 2009 und weist etwa 35 Mio. Wörter auf, was etwa 87.000 Buchseiten
entspricht.19
Die Publikationsreihe ist für diachrone Untersuchungen besonders in-
teressant, da sie lückenlos über knapp 150 Jahre besteht und bezüglich der
vorkommenden Themen und Textsorten – etwa Tourenberichten, biogra-
phischen Artikeln, philosophischen Essays, Protokollen und Finanzbe-
richten des Vereins – relativ homogen ist.

17 Die Beiträge zum Jahrbuch des Schweizer Alpenclub und zu den Alpen betreffen nicht nur die
Alpen, sondern auch andere Gebirge. In den untersuchten Jahrgängen (s. u.) dominiert die
Beschäftigung mit den Alpen jedoch stark.
18 Informationen zum Projekt sind auf der Website http://www.textberg.ch verfügbar. Fer-
ner informieren Volk et al. (2009) und Volk et al. (2010) über computerlinguistische Hin-
tergründe des Projekts.
19 Vgl. Bubenhofer et al. (2011).
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 269

Wir arbeiten im Folgenden mit zwei Teilkorpora:

– Korpus A: 1880 bis 1899


3.463.496 laufende Wortformen, 200.670 Sätze
– Korpus B: 1930 bis 1949
2.915.548 laufende Wortformen, 158.946 Sätze

Das ganze Korpus steht in einer XML-Version zur Verfügung, in der Ar-
tikelgrenzen und Metainformationen erfasst und zudem Wortarten- und
Lemma-Informationen annotiert sind.20 Die Texte wurden mittels OCR-
Software maschinell erkannt, was jedoch kein fehlerfreier Prozess ist. Die
Texte wurden vollständig mit halbautomatischen Methoden und teilweise
zusätzlich manuell korrigiert, trotzdem ist mit Erkennungsfehlern zu rech-
nen. Sie sollten bei den großen Textmengen jedoch nicht ins Gewicht
fallen.

3.2 Quantitative Ergebnisse

Im Folgenden präsentieren wir zunächst einige induktiv, dann einige de-


duktiv gewonnene Sprachgebrauchsmuster der beiden Korpora im Ver-
gleich.

3.2.1 Berechnung typischer Einzellexeme

Den korpuslinguistisch einfachsten Zugang zu sprachlichen Spezifika der


Teilkorpora bietet die Berechnung von typischen Lexemen. Es wurden für
die beiden Teilkorpora A (1880–1899) und B (1930–1949) die frequentes-
ten Lexeme berechnet, gesondert nach Wortarten. Anschließend wurden
pro Lexem die Frequenzen in den beiden Teilkorpora verglichen und die
Signifikanz des Frequenzunterschieds mittels eines Chi-Quadrat-Tests
(Manning/Schütze 2002: 169) berechnet. Resultat sind nach Signifikanz-
wert geordnete Listen von Lexemen, die jeweils für das eine Teilkorpus im
Vergleich zum anderen Teilkorpus typisch sind. Tab. 1 und 2 zeigen eine
Reihe von Nomen, die für Korpus A bzw. B typisch sind, wobei die ur-
sprünglichen Listen manuell gefiltert wurden. Bereinigt wurden die Listen
zunächst um geographische Namen. Gestrichen wurden darüber hinaus

20 Das Korpus wurde mit Hilfe des „TreeTaggers“ (Schmid 1994) und den standardmäßig
verfügbaren deutschen Trainingsdaten, die auf dem STTS-Tagset (Schiller et al. 1995) be-
ruhen, annotiert.
270 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter

Lexeme, die aufgrund einer Veränderung ihrer üblichen Schreibweise nur


in einem Teilkorpus frequent sind (z.B. Theil im ersten Teilkorpus, Tal im
zweiten).21

Tab. 1: Typische Nomen für Korpus A (1880–1899)


Typische Nomen für Frequenz Frequenz Chi-Quadrat Signifikanz-
Korpus A (1880–1899) Korpus A Korpus B niveau
Führer 3257 1118 673,201509 < 0,000001
Besteigung 1711 658 285,389676 < 0,000001
Clubisten 302 6 229,457789 < 0,000001
Clubgenossen 262 3 204,744092 < 0,000001
Ersteigung 567 141 179,764807 < 0,000001
Clubgebiet 213 1 170,054135 < 0,000001
Itinerar 156 4 115,319422 < 0,000001
Marsch 314 122 50,638900 < 0,000001
Spaziergang 164 42 49,626989 < 0,000001
Flasche 218 71 48,163745 < 0,000001
Rutschpartie 73 5 45,497797 < 0,000001
Sitte 182 69 30,564658 < 0,000001
Zickzack 80 18 27,119179 < 0,000001
Kletterpartie 54 7 26,438330 < 0,000001
Gedeihen 51 6 26,067803 < 0,000001
Studie|Studium 142 53 24,442495 < 0,000001
Streifereien 43 5 21,880201 < 0,00001
Ehre 152 62 21,704996 < 0,00001
Aufsatz 187 84 21,061200 < 0,00001
Trümmer 155 68 18,507408 < 0,0001
Nachtlager 85 31 15,006402 < 0,001
Erkundigung 36 8 11,768932 < 0,001
Reisebericht 38 9 11,712468 < 0,001
Zeitangabe 29 5 11,450376 < 0,001
Annahme 126 62 10,585080 < 0,01
Tüchtigkeit 33 8 9,794717 < 0,01
Patient 35 9 9,781773 < 0,01
Beobachtung 387 250 8,437358 < 0,01
Wein 195 118 6,538549 < 0,05
Großartigkeit 69 35 5,005672 < 0,05

21 Die kompletten Wortlisten sind online unter http://www.textberg.ch/BubenhoferSchroeter


einsehbar.
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 271

Tab. 2: Typische Nomen für Korpus B (1930–1949)


Typische Nomen für Frequenz Frequenz Chi-Quadrat Signifikanz-
Korpus B (1930–1949) Korpus B Korpus A niveau
Ski 855 14 997,254112 < 0,000001
Kamerad 587 85 484,3004 < 0,000001
Haken 381 14 419,714061 < 0,000001
Lawine 990 451 325,063173 < 0,000001
Wind 876 366 325,057169 < 0,000001
Überhang 315 35 283,937988 < 0,000001
Skifahrer 235 1 281,29615 < 0,000001
Seillänge 241 7 270,174354 < 0,000001
Leben 995 522 258,01822 < 0,000001
Alpinist 308 49 243,493314 < 0,000001
Bergsteiger 911 472 241,62539 < 0,000001
Seele 345 87 210,143942 < 0,000001
Erlebnis 283 55 202,754192 < 0,000001
Steigeisen 311 90 169,908982 < 0,000001
Gedanke 538 258 162,52999 < 0,000001
Herz 542 277 146,93418 < 0,000001
Körper 408 177 143,171659 < 0,000001
Erleben 114 0 136,854875 < 0,000001
Stille 242 76 122,634041 < 0,000001
Freude 583 348 115,488911 < 0,000001
Natur 701 459 110,340537 < 0,000001
Schönheit 489 282 104,473663 < 0,000001
Luft 779 540 104,12611 < 0,000001
Wunder 179 48 103,447846 < 0,000001
Gefühl 400 212 101,205308 < 0,000001
Sehnsucht 147 32 97,904279 < 0,000001
Bergführer 172 62 75,403023 < 0,000001
Liebe 242 114 74,695673 < 0,000001
Glück 425 267 74,257974 < 0,000001
Geheimnis 119 30 71,568327 < 0,000001
Freund 721 548 70,569937 < 0,000001
Einsamkeit 158 60 65,154005 < 0,000001
Heimat 242 130 59,345192 < 0,000001
Bergkamerad 50 0 58,791175 < 0,000001
Schicksal 145 61 52,417974 < 0,000001
Mut 150 71 45,595184 < 0,000001
Empfinden 45 6 36,699215 < 0,000001
Teufel 67 19 36,192695 < 0,000001
Menschlein 35 2 34,71598 < 0,000001
Romantik 43 8 30,196114 < 0,000001
Erfüllung 96 46 28,283201 < 0,000001
Unendlichkeit 31 3 27,389938 < 0,000001
Gott 257 191 26,966442 < 0,000001
Gemüt 64 26 23,65319 < 0,00001
Glaube 89 48 21,151712 < 0,00001
Instinkt 27 6 16,567719 < 0,0001
Zuversicht 57 30 13,908443 < 0,001
272 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter

Die Tabellen sind nach Signifikanz geordnet: Je weiter oben ein Nomen
steht, desto stärker weicht dessen relative Frequenz im einen Korpus im
Vergleich zum anderen ab. Weiter sind die absoluten Frequenzen und der
relative Frequenzunterschied (Chi-Quadrat) angegeben, damit zwischen
Lexemen unterschieden werden kann, die zwar in beiden Teilkorpora vor-
kommen, jedoch einen signifikanten Frequenzunterschied aufweisen, und
Lexemen, die nur im einen oder anderen Korpus vorkommen.
Im Kontrast zur früheren Phase fallen bei der Epoche 1930–1949 so-
fort eine Reihe von Lexemen aus dem Wortschatz des Seelenlebens und
der Gefühle auf: Seele, Erlebnis, Herz, Erleben, Freude, Gefühl, Sehnsucht, Liebe,
Glück, Einsamkeit, Mut, Empfinden, Gemüt etc. In Lexemen wie Leben, Schön-
heit, Wunder, Geheimnis, Menschlein, Romantik, Erfüllung, Unendlichkeit, Gott
und Glaube scheint ein religiös-romantisches Verhältnis des Menschen zur
Natur anzuklingen. Personenbezeichnungen wie Kamerad, Freund und Berg-
kamerad betonen die soziale Verbundenheit und Gemeinschaft der Alpi-
nisten. Ski, Haken, Lawine, Überhang, Seillänge oder Steigeisen verweisen auf
neue Fortbewegungsarten, Betätigungsfelder und Techniken bei Berg-
touren. In der früheren Epoche verwendete Lexeme wie Itinerar, Studie
bzw. Studium, Erkundigung, Reisebericht, Zeitangabe, Annahme und Beobachtung
lassen andere, explorativere Formen des Alpinismus vermuten. Auffallend
ist auch, dass Führer und Clubist stark zurückgegangen sind und Alpinist,
Bergsteiger und Bergführer zugenommen haben. Dies könnte auf veränderte
Funktionen, Selbst- und Fremdbilder der Akteure zurückgeführt werden.
Bei den anderen Wortarten zeigen sich keine derart großen Auffällig-
keiten, mit Ausnahme der Personal-, Possessiv- und Reflexivpronomen:
Generell werden im neueren Korpus signifikant mehr von diesen Prono-
men verwendet, 31 statt 25 pro 1000 Wortformen, wofür sich mehr Deu-
tungen anbieten als für die Frequenzunterschiede bei einzelnen Pronomen
(vgl. Tab. 3 und 4).

Tab. 3: Typische Personalpronomen für Korpus A (1880–1899)


Typische Personal-/ Frequenz Frequenz Chi-Quadrat Signifikanz-
Possessiv-/Reflexiv- Korpus A Korpus B niveau
pronomen (Lemmata)
für Korpus A (1880–
1899)
einander 389 122 149,133345 < 0,000001
er|es|sie 18134 16881 120,239664 < 0,000001
unsre 400 185 86,880306 < 0,000001
sein 9436 8818 54,608671 < 0,000001
ich 18948 18358 52,294356 < 0,000001
unser 7018 6753 21,201135 < 0,00001
unsrige 22 5 10,106986 < 0,01
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 273

Tab. 4: Typische Personalpronomen für Korpus B (1930–1949)


Typische Personal-/ Frequenz Frequenz Chi-Quadrat Signifikanz-
Possessiv-/Reflexiv- Korpus B Korpus A niveau
pronomen (Lemmata)
für Korpus B (1930–
1949)
dein 462 133 168,920728 < 0,000001
Sie|sie|sie 2033 1435 82,273185 < 0,000001
du 3834 3116 50,375869 < 0,000001
wir 39191 36302 37,795680 < 0,000001
euer 77 16 36,477550 < 0,000001
Ihr|ihr 348 209 29,191389 < 0,000001

3.2.2 Berechnung typischer komplexer n-Gramme

Die oben beschriebene, von der semtracks-Forschergruppe entwickelte Me-


thode zur Berechnung von typischen komplexen n-Grammen22 führt zu
Listen von gut 70.000 Mustern im Korpus A und 80.000 Mustern im Kor-
pus B. Viele der Muster sind sich sehr ähnlich, und die Listen können des-
halb bei entsprechender Sortierung rasch durchgearbeitet werden. Trotz-
dem ist die Auswahl der Muster ein Schritt, der kaum objektivierbar ist,
und sie widerspiegelt deshalb Forschungsfragen und Ausgangshypothesen
im Kopf des Forschers. Wir können an dieser Stelle auch nur einen klei-
nen Teil der Muster mit signifikanten Frequenzunterschieden zwischen
den Teilkorpora behandeln.
Auffallend im älteren Korpus A sind Zeitangaben (vgl. Tab. 5). Natür-
lich spielen Zeitangaben auch im jüngeren Korpus B eine Rolle, sie sind
jedoch im Korpus A signifikant frequenter. Ebenfalls typisch sind Phra-
sen, die der Wegbeschreibung dienen und Wege charakterisieren. Die für
das ältere Korpus typische Bezeichnung Führer (vgl. Tab. 1 oben) taucht
auch in den n-Grammen wieder auf und wird als Funktionsbezeichnung
vor Namen verwendet. Weiter fällt eine Häufung von akademischen Ti-
teln auf, die Personennamen (meist den Autorennamen) vorangestellt
sind. Alleine der Titel Dr. wird in Korpus A 923 Mal verwendet, in Kor-
pus B nur 185 Mal pro Mio. Wortformen.

22 Vgl. Bubenhofer/Scharloth in diesem Band, Bubenhofer et al. (2009), Bubenhofer/Schar-


loth (2010) und Scharloth/Bubenhofer (2012).
274 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter

Tab. 5: Auswahl komplexer n-Gramme, die für das Korpus A (1880–1899) typisch sind
Typische komplexe Beispiele Kategorie
n-Gramme für Korpus A
(1880–1899)
ADJA23 Stunde ADJA (NN) halben Stunde angenehmer Steigung Zeitangaben
halbe Stunde steilen Anstieges
halbe Stunde langem Zeitaufwand
halben Stunde weiteren Weges
halbe Stunde langer
ADV APPR CARD NN schon um 9 Uhr 30 Zeitangaben
CARD circa um 1 Uhr 30
selbst um 12 Uhr 10
ADV APPR CARD Uhr bereits um vier Uhr
Endlich gegen 9 Uhr
ADV erreichten PPER ART endlich erreichten wir den Aaresattel Zeitangaben
NN (Bald) nachher erreichten wir den
Guggistafel
Nun erreichten wir das Gebiet (des
Kalkfelsens)
VVFIN APPR CARD Uhr stiegen um 12 Uhr Zeitangaben
erreichten um 2 Uhr
verließen um 3 Uhr
an der ADJA NN des an der linken Seite des Wegbeschreibung
an der rechten Seite des
an der anderen Seite des
an der breiten Wand des
APPR ART Nähe ART NN in der Nähe des Gipfels Wegbeschreibung
in der Nähe der Grenze
in der Nähe des Muttensees
ADJA Weg APPR ART NN alten Weg über den Feegletscher Wegbeschreibung
anderen Weg auf das Gabelhorn
ausgetretenen Weg durch den
Moränenschutt
APPR ART Führer NE NE mit den Führern Alois Pinggera Gebrauch Führer
neben dem Führer Alphons
Supersaxo
Dr. NE NE Dr. Emil Burckhardt Akademische Titel
APPR Prof. Dr. NE NE von Prof. Dr. K. Schulz
von Prof. Dr. G. Meyer

Während für Korpus A Zahlen in Form von Uhrzeiten typisch waren,


sind es in Korpus B Zahlen, die Höhen oder Höhenunterschiede angeben.
Weiter fallen viele Muster auf, die man einem ‚erzählenden Stil‘ zuordnen

23 Vgl. für die Abkürzungen der Wortarten das STTS-Tagset (Schiller et al. 1995). Die oben
genannten Tags sind: ADJA (attributives Adjektiv); ADJD (adverbiales oder prädikatives
Adjektiv); ADV (Adverb); APPR (Präposition, Zirkumposition links); ART (Artikel);
CARD (Kardinalzahl); KOUS (unterordnende Konjunktion mit Satz); KOKOM (Ver-
gleichskonjunktion); NN (Nomen); NE (Eigennamen); PPER (irreflexives Personalprono-
men); PPOSAT (attribuierendes Possesivpronomen); VVFIN (finites Vollverb).
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 275

könnte. Eine weitere Klasse von Mustern formuliert subjektive Urteile


und Affekte, wobei Lexeme erscheinen, die bereits oben als dem Wort-
schatz des Seelenlebens und der Gefühle zugehörig identifiziert wurden.

Tabelle 6: Auswahl komplexer n-Gramme, die für das Korpus B (1930–1949) typisch sind
Typische komplexe Beispiele Kategorie
n-Gramme für Korpus B
(1930–1949)
CARD NN ADJA NN 7700 m hohem Gipfel Höhen(unter-
5400 m hohen Sasirpass schieds)angaben
3000 m hohe Nordwestflanke
ADV KOKOM CARD Meter mehr als 1000 Meter Höhen(unter-
mehr als hundert Meter schieds)angaben
dann VVFIN ART NN dann kündete die Gipfelglocke Erzählender Stil
dann geschieht das Wunder
dann VVFIN ART ADJA dann folgt ein heikler
dann VVFIN PPER auf dann standen wir auf (dem kühnen
Gipfel)
KOUS PPER APPR ART Wie ich in den Riss einstieg Erzählender Stil
NN VVFIN als wir in der Gabel anlangten
Bevor wir in das Couloir
hinübersteigen
KOUS PPER ART NN während wir der Hütte zustrebten
VVFIN während wir die Steigeisen ablegten
Als wir die Passhöhe erreichten
ADV VVFIN ART ADJA Draussen erwachte ein neuer Tag. Erzählender Stil
NN . Dann kam ein trüber Tag.
Nun naht das schwierigste Stück.
ADV VVFIN PPER VVINF So lasst uns eilen Erzählender Stil
jetzt heisst es handeln
Schönheit ART NN Schönheit der/unserer Berge/ Formulierung von
Schönheit PPOSAT NN Heimat/Alpen/Natur/Landschaft/ Urteilen/Affekten
ADJA Schönheit Landschaftliche/besondere/grenzen- Formulierung von
lose/verborgene/unendliche/wilde/ Urteilen/Affekten
natürliche/winterliche/einzigartige/
alpine/überwältigende/eigenartige/
unsagbare/grosse Schönheit
ADJA Bewunderung ästhetischen/hohen/ehrfürchtigen Formulierung von
Bewunderung Urteilen/Affekten
ADJA Empfinden feinem/wahrsten/schweizerischen
Empfinden
ADJA Enttäuschung grosse/bittere/gewisser/schwere
Enttäuschung
276 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter

3.2.3 Berechnung von Intensivierern

Da subjektive Einschätzungen im neueren Korpus eine wichtige Rolle zu


spielen scheinen, bietet sich eine Anschlussanalyse an: Für die Aufde-
ckung von semantischen Tendenzen oder Schwerpunkten in einem Kor-
pus hat sich die Suche nach zu semantischen Kategorien zusammenge-
fassten Lexemen bewährt. Ein Beispiel ist die Kategorie der Intensivierer
(völlig, möglichst, kaum etc.), die wiederum in unterschiedliche Klassen einge-
teilt werden.24 Intensivierer könnten als Indikatoren für subjektive Ein-
schätzungen bzw. den Grad der Rigorosität, mit der sie gegeben werden,
verstanden werden. Besonders interessant sind hier die Intensivierer des
„absoluten“ und des „extrem hohen Intensivierungsbereichs“ (Os 1989:
134ff.). Zum absoluten Intensivierungsbereich zählen nach Os Ausdrücke
wie:
absolut, gänzlich, grundlegend, gründlich, komplett, rein, restlos, schlechterdings, total,
überhaupt, unbedingt, voll, vollständig, von Grund auf, durchweg, fundamental, grundsätzlich
etc.

Zum extrem hohen Intensivierungsbereich zählen vor allem Wörter, die


die Superlativform aufweisen, und Adjektive, die von sich aus einen ho-
hen Grad der Intensivierung beinhalten:
höchst, äußerst, zutiefst, aufs höchste, (nicht) im Geringsten, im höchsten Maße, allerbest,
möglichst, schärfstens, sehnlichst, hervorragend, großartig, wunderbar, ungemein, irrsinnig,
unheimlich, kolossal, sagenhaft, fabelhaft, traumhaft, zauberhaft, schrecklich, unvorstellbar,
unsäglich, unbeschreiblich etc.

Wie Abb. 1 zeigt, werden insgesamt im älteren Korpus etwas mehr Inten-
sivierer verwendet als im jüngeren. Dies geht allerdings nur auf den Ge-
brauch von Intensivierern der hohen und gemäßigten Gradstufe zurück.
In den anderen Graduierungsbereichen werden im jüngeren Korpus mehr
Intensivierer verwendet. Die Frequenzunterschiede sind für die Bereiche
absolut, extrem hoch und hoch mit p < 0,001 hochsignifikant, für den Bereich
approximativ mit p < 0,05 signifikant.
Die unterschiedlichen Frequenzen der Intensivierer lassen sich nicht
leicht deuten. Man könnte aber die verstärkte Verwendung von Intensivie-
rern im absoluten und extrem hohen Graduierungsbereich als weiteres,
wenn auch schwaches Indiz dafür ansehen, dass persönliche Einschätzun-
gen im jüngeren Korpus von besonderer Bedeutung sind.

24 Vgl. Biedermann (1969), Bierwisch (1987), Os (1989).


Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 277

18
16
14
Frequenz pro 1000 Tokens

12
10 Korpus A

8 Korpus B
6
4
2
0

Abb. 1: Verwendung von Intensivierern in Korpus A (1880–1899) und B (1930–1949);


*** = p < 0,001 (hochsignifikant), * = p < 0,05 (signifikant)

3.3 Kulturanalytische Deutung

Inwieweit können die korpuslinguistisch ermittelten Sprachgebrauchsmus-


ter der beiden Teilkorpora nun kulturanalytisch genutzt werden, d. h. in-
wiefern kann aus ihrem Wandel auf mentalitäre Veränderungen innerhalb
des Untersuchungszeitraums von 1880 bis 1949 geschlossen werden?25 Bei
der Präsentation der quantitativen Ergebnisse wurden diese bereits vor-
sichtig und versuchsweise als Indizien für kollektive habituelle Perspekti-
vierungen der alpinen Bergwelt und der Bewegung in ihr gedeutet. Die im
vorigen Abschnitt gelieferten Interpretationsansätze lassen sich zu zwei
umfassenderen Thesen bündeln und zuspitzen. Dass sie in dieser Weise

25 Der Schluss von den Sprachgebrauchsmustern auf kollektive habituelle Perspektivierungen


erscheint bei den gewählten Quellen als relativ unproblematisch: Anders als bei deutschen
Autoren dieses Zeitraums ist z. B. nicht davon auszugehen, dass die Verfasser der SAC-
Jahrbücher die Äußerung ihrer Wahrnehmungsweisen, Überzeugungen, Wertungen usw.
im Hinblick auf eine politische Ideologie selbst zensiert haben oder dass diese fremdzen-
siert worden sind. Anzunehmen sind allenfalls redaktionelle Eingriffe.
278 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter

zusammen- und weitergeführt werden können, bestätigt ihre Angemessen-


heit ex post.
These 1: Bergsteigen-/wandern wird für SAC-Mitglieder von einer ob-
jektiven Erkundung ungewöhnlicher äußerer Gegebenheiten zunehmend
zu einem subjektiven Erlebnis ungewohnter äußerer Umstände.26
Zur Stützung dieser Annahme lassen sich neben den signifikant fre-
quenten Lemmata, die auf einen explorativen, an seiner Erfassung interes-
sierten Umgang mit dem Gebirge hinweisen (Studium, Beobachtung etc.), die
typischen n-Gramme, die zur Beschreibung von räumlichen Verhältnissen
und Wegen genutzt werden (z. B. an der linken Seite des), als Sprachge-
brauchsmuster aus Teilkorpus A (1880–1899) anführen. Für die These
sprechen aus Teilkorpus B (1930–1949) die auffällige Präsenz von Ele-
menten des Seelen- und Gefühlswortschatzes (Erlebnis, Freude usw.), die
Häufung von Signalwörtern für eine religiös-romantische Perspektive auf
die Natur (etwa Romantik, Unendlichkeit oder Gott ), die verstärkte Themati-
sierung situativ bedingter zwischenmenschlicher Verbundenheit durch
Nomen wie Kamerad oder Gefährte und die extensivere Nutzung von be-
stimmten Pronomen (dein, du, wir u. a.). Auch die in dieser Zeit musterhaf-
ten n-Gramme des ,erzählenden Stils‘ (dann kündete die Gipfelglocke u. dgl.)
sowie der persönlichen Urteile und Affekte (einzigartige Schönheit u. Ä.) wie
auch die hohe Frequenz der Intensivierer im absoluten und extrem hohen
Graduierungsbereich machen die Annahme einer fortschreitend subjekti-
veren Reflexion der in den Bergen gewonnenen Erfahrungen plausibel.
Einige dieser korpuslinguistischen Ergebnisse sprechen zudem für
folgende These 2: Bergsteigen/-wandern wird für SAC-Mitglieder von
einer bildungsbürgerlich fundierten Freizeitwissenschaft zunehmend zu ei-
nem professionell betriebenen Extremsport.27 Diese zweite mentalitäts-
geschichtliche These hängt nicht nur mit der ersten zusammen; die verän-
derte Sicht des alpinen Bergsteigens bzw. -wanderns, die sie beschreibt, ist
selbstverständlich gleichfalls aufs Engste mit Aspekten der sogenannten

26 Vergleichbar damit beobachtet Stremlow (1998: 278f., vgl. 265), in „Magazinen einzelner
Aktivsportarten“ des späten 20. Jh., dass die „Landschaft der Alpen“ dort „zur Steigerung
des Ich-Erlebnisses funktionalisiert“ werde. Dass die „postmoderne Freizeitgesellschaft“
die Alpen als „Sportgerät zur Auslösung von körperlichen Erlebnissen“ auffasst, bemerkt
auch Bätzing (2003: 19, vgl. 18).
27 Günther (1998: 13, vgl. auch 161), die sich in ihrer Studie des „bürgerlichen Alpinismus
(1870–1930)“ stark auf die Schriften des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins
(DÖAV) stützt, spricht dementsprechend davon, dass „der Entdeckeralpinismus [um die
Jahrhundertwende] vom Schwierigkeitsalpinismus abgelöst wird“. Zur bildungsbürger-
lichen und naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Alpenvereine im 19. Jh. vgl. Günther
(1998: 48, 50f.), Hackl (2004: 38). Bezüglich der Zunahme sportlicher Interessen an den
Alpen vgl. Günther (1998: 151), Stremlow (1998: 142).
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 279

,Realgeschichte‘, etwa mit der weitgehend abgeschlossenen Ersterkundung


alpinen Terrains28 und dem Aufkommen des Skifahrens,29 verbunden.
Glaubwürdigkeit erlangt die zweite These vor allem durch die im älte-
ren Korpus A so frequenten Zeitangaben (wie erreichten um 2 Uhr) zur
möglichst genauen Deskription gewählter Routen in wenig exakt kartogra-
phiertem Gelände30 wie auch durch die musterhafte Anführung von Per-
sonentiteln, insbesondere akademischen (etwa neben dem Führer Alphons
Supersaxo, von Prof. Dr. G. Meyer). Muster des Teilkorpus B, aus welchen
sich die zweite These ableiten lässt, sind demgegenüber die regelmäßig
auftretenden Nomen, die auf neue Fortbewegungsarten und avancierte
Techniken referieren (Ski, Steigeisen etc.), die zahlreichen Personenbezeich-
nungen, die auf eine fortgeschrittene Erschließung der Alpen und eine
entsprechende Rollendifferenzierung (wie diejenige zwischen Alpinisten
und anderen) hinweisen, sowie die leistungsorientierte Fixierung auf Hö-
hen (z. B. 7700 m hohem Gipfel ).
Obwohl eine ganze Reihe von korpuslinguistisch ermittelten Sprach-
gebrauchsmustern die beiden vorgestellten mentalitätsgeschichtlichen An-
nahmen empirisch fundieren, werden diese noch überzeugender, wenn
man komplexe Sprachgebrauchsmuster hinzuzieht, die bei einer traditio-
nellen, analog-qualitativen Auswertung der Teilkorpora ins Auge springen.
Solche weiter greifenden Muster umfassen teilweise einfachere korpus-
linguistisch gefundene Muster und geben dadurch auch zu erkennen, in
welches sprachliche Umfeld diese wiederkehrend integriert sind. So sticht
etwa im älteren Korpus hervor, dass die Tourenberichte nicht nur viele
Zeitangaben, sondern auch diverse weitere quantitative Angaben enthal-
ten, was immer wieder zu einer Verdichtung von Messungsergebnissen
führt, wie die folgenden drei Beispiele illustrieren:
[1] Wir hielten uns möglichst hoch auf der nördlichen, nach Süden fallenden Sei-
te von Vaplona, gewannen das kleine Tobel, das gegen den Punkt 2547 m an-
steigt, wateten durch dasselbe hinaus und erreichten den genannten Punkt um
8 Uhr 45 Min. Hier sahen wir etwa 200 m unter uns den Schottensee mit Schnee
und Eis bedeckt. Schottenseefurke wäre vielleicht, der Wildseefurke (2515 m) entspre-
chend, der passendste Name für diese Scharte zwischen den Punkten 2647 m
und 2650 m. Wir blieben nicht lange hier, sondern stiegen bald wieder links auf,
theils über Schnee, theils über Verrucanotrümmer, und betraten den Gipfelpunkt
2650 m um 9 Uhr 15 Min. Es ging ein schwacher Windzug, und das Thermo-
meter zeigte auf –2º C. (Jahrbuch 1888–1889: 62)

28 Zum Zeitpunkt und zu den Auswirkungen der weitgehenden Erschlossenheit der Alpen
vgl. Günther (1998: 161), Stremlow (1998: 130).
29 Vgl. Bätzing (2003: 145), Stremlow (1998: 130f., 184).
30 Dazu, dass eine ausgereifte alpine Führer- und Kartenliteratur in der zweiten Hälfte des
19. Jh. noch fehlt bzw. erst entsteht, vgl. Günther (1998: 50), Hackl (2004: 25).
280 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter

[2] Um 11 Uhr 40 Min. waren wir oben auf der Cima di Rosso, hatten somit für
eine Strecke von 240 m bei ca. 51° Steigung eine halbe Stunde gebraucht. (Jahr-
buch 1893–1894: 161)

[3] Die Höhe des Col Lombard (auf der Karte nicht angegeben) beträgt nach
meiner Messung 3100 m (Prof. Schulz fand 3090). Um 8½ Uhr wagen wir den
Aufbruch. Zwei Couloirs führen in die Höhe; wir verfolgen, wie die Herren
Schulz und Genossen, dasjenige zur Linken und gelangen ohne sonderliche
Schwierigkeiten auf den großen Grat, den die Aiguille d’Arves nach Südosten
entsendet. Um 9 Uhr 40 Min. sind wir in der Scharte. (Jahrbuch 1890–1891: 168)

Solche Akkumulationen von Messungsresultaten machen sowohl die Fo-


kussierung auf die Objektwelt im älteren Korpus als auch dessen wissen-
schaftliche Orientierung evident. Ein komplexeres Muster, das im neueren
Teilkorpus unübersehbar ist, besteht hingegen in der Schilderung bergstei-
gerischer Schwierigkeiten und ihrer Überwindung, die nicht selten techni-
sche Hilfsmittel nennt und insofern ebenfalls ein weniger komplexes kor-
puslinguistisch gewonnenes Muster enthält:
[1] [N]ochmal wird angegriffen. Und endlich gelingt es mir, für die linke Hand
ganz oben einen guten Griff zu schaffen. Die Rechte bohrt sich mit dem Eisbeil
in der ersehnten Rampe ein Loch, der rechte Fuss steigt nochmal nach, und ich
sehe über den Rand, indessen der Körper schwer nach aussen hängt. Sich ganz
auf die rechte Hand verlassend, fährt die linke blitzschnell weit über den Rand in
den Firn, ein Ruck, und ich liege verschnaufend auf dem Bauch, während die
Füsse in der Luft baumeln. (Die Alpen 1932: 10)

[2] Das einzige, was bleibt: über die plattige Flanke die obere Scharte mit Hilfe
der Seilenden gewinnen. Von hier aus können wir das Seil wieder in freier Luft
strecken und entwirren. So gut es mir mein labiles Gleichgewicht erlaubt, werfe
ich mein Gewicht an ein Seilende; doch es tut keinen Wank. (Die Alpen 1944:
295)

[3] Fest sauge ich mich am Fels, hangele und spreize in die senkrechte Wand hi-
naus, 10, 20 m weit. Der Riss hört auf. Ich halte mich mit einer Hand am winzi-
gen Griff und schlage einen Haken. Die Füsse haben nur die Adhäsion der Klet-
terschuhe. Dann schnappt der Karabiner. (Die Alpen 1936: 405)

Derartige Darstellungen der versuchten oder gelungenen akrobatischen


Bewältigung körperlicher Herausforderungen zeigen, wie sehr die persön-
liche Auseinandersetzung mit Grenzsituationen und das Interesse an phy-
sischen Leistungen auf höchstem Niveau die Reflexion der Bergwelt be-
stimmen.
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 281

4. Methodisches Fazit
Im Anschluss an unsere punktuelle Untersuchung des Jahrbuchs des Schwei-
zer Alpenclub und seines publizistischen Nachfolgers Die Alpen lässt sich
der mögliche Beitrag der Korpuslinguistik zur Erforschung von Sprachge-
brauchsgeschichte aus einem kulturanalytisch-mentalitätsgeschichtlichen
Interesse heraus folgendermaßen einschätzen:

1. Nutzt man korpuslinguistische Methoden zur induktiven Analyse von


Sprachdaten, lassen sich Veränderungen von Sprachgebrauchsmus-
tern aufspüren, anhand derer mentalitätsgeschichtliche Hypothesen
entwickelt werden können. Damit ermöglicht die Korpuslinguistik
eine ‚Lektüre‘ des Korpus, die dem traditionellen möglichst unvorein-
genommenen Lesen der Quellen vor der Hypothesenbildung ver-
gleichbar ist.
2. Setzt man korpuslinguistische Verfahren deduktiv ein, können Ver-
mutungen über Wandlungen von Sprachgebrauchsmustern überprüft
werden, welche die bereits aufgestellten Hypothesen stützen. Die
Korpuslinguistik erlaubt also gleichfalls ein ‚Studium‘ des Korpus,
welches der althergebrachten hermeneutischen Auseinandersetzung
mit den Quellen nach der Hypothesenbildung entspricht.

Die Korpuslinguistik ist demnach ohne Weiteres in der Lage, Antworten


auf kulturanalytische Fragen an die Sprachgebrauchsgeschichte zu geben –
ihre Antworten unterscheiden sich jedoch partiell von denen, die analog-
qualitative Methoden liefern, welche bislang in diesem Bereich der his-
torischen Sprachwissenschaft dominieren: Mit korpuslinguistischen, d. h.
digital-quantitativen Verfahren kommt man bei der Suche nach Mustern
des Sprachgebrauchs und bei der Bestimmung ihrer Relevanz – zumindest
teilweise – zu anderen Ergebnissen:

1. In einem Korpus, das mit Wortart- und Lemmainformationen anno-


tiert ist, sind Muster, die durch wiederkehrende einzelne Morpheme
oder Lexeme, Kollokationen und n-Gramme gebildet werden, prob-
lemlos zu ermitteln.31 Weniger gut oder gar nicht können demgegen-
über Muster im Bereich etwa der sprachlichen Bilder, Propositionen,
Implikationen oder mancher typographischen Merkmale gefunden

31 Für die vorliegende Untersuchung wurden nicht alle bereits verfügbaren Annotationen ge-
nutzt. So könnten z. B. Informationen zur Textgestalt (Titel, Untertitel, Legenden) oder
zur Grammatik (Syntax, Tempusformen etc.) in die Recherchen allgemein oder insbeson-
dere die Berechnung von komplexen n-Grammen integriert werden.
282 Noah Bubenhofer/Juliane Schröter

werden. Hilfreich können korpuslinguistische Recherchemittel aller-


dings zur Auffindung von Textstellen sein, die – etwa aufgrund des
Vorkommens bestimmter Ausdrücke – einem solchen Muster folgen
könnten. Ob dies tatsächlich der Fall ist, lässt sich durch eine Lektüre
der vorselektierten Textstellen vergleichsweise rasch überprüfen.
Generell gilt: Je umfassender das Korpus annotiert ist, desto mehr
Muster sind in ihm zu entdecken. Deshalb ist es sinnvoll, nicht nur
maschinelle Methoden der Annotation einzusetzen, sondern auch
halb-automatische oder manuelle Verfahren zu nutzen. Egal, wie die
Annotationen entstanden sind, lassen sich diese in jedem Fall quanti-
tativ auswerten.
Immer aber sind die Muster, die man mit korpuslinguistischen Mitteln
gewinnt, von ihrem außersprachlichen Kontext getrennt. Aus der kor-
puslinguistischen Untersuchung allein geht zwar hervor, in welchem
unmittelbaren Kotext jede einzelne Ausprägung eines Musters auftritt
(man kann sich jede Realisierung eines Musters in ihrem sprachlichen
Umfeld anzeigen lassen). Kollokations- und n-Gramm-Analysen kön-
nen zudem Auskunft darüber geben, in welchen Kotexten das Muster
normalerweise auftritt, können also Regularitäten im Umfeld seiner
Ausprägungen erfassen. Ein verstehendes, informiertes Lesen kann
jedoch viele weitere (auch außersprachliche) Faktoren mit einbeziehen
und vereinfacht die angemessene kulturanalytische Deutung eines
Musters sehr.
2. Die absolute Frequenz bzw. die statistische Signifikanz eines Musters
– eine Größe, von der seine mentalitätsgeschichtliche Bedeutung we-
sentlich abhängt – lässt sich auch in großen Korpora rasch und genau
bestimmen. Gerade für mentalitätsgeschichtliche Studien, die den
Wandel von habituellen Wahrnehmungsweisen, Überzeugungen, Wer-
tungen bzw. Verhaltensdispositionen einer Gruppe untersuchen und
deshalb in der Regel auf eine größere Zahl serieller Quellen, auf ein
relativ umfangreiches Korpus angewiesen sind, stellt dies einen nicht
zu unterschätzenden Vorteil dar. Allgemein ist jedoch festzuhalten: Je
zeitaufwändiger und fehleranfälliger die Annotation des Korpus ist,
desto stärker wiegt sie die Schnelligkeit und Zuverlässigkeit der Be-
rechnung der Frequenz und Signifikanz von Mustern auf. Zugleich
kann ein weiterer Faktor, der die kulturanalytische Aussagekraft eines
komplexen Musters bedingt, nämlich seine Intensität bzw. sein durch-
schnittlicher Ausprägungsgrad, mit korpuslinguistischen Verfahren
meist nicht erfasst und in Relation zur Frequenz gesetzt werden.
Denn dazu müssten sehr feine Varianten eines komplexen Musters er-
kannt und differenziert werden können.
Die Alpen: Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse 283

Offensichtlich kann die Korpuslinguistik vieles zur Erforschung von


Sprachgebrauchsgeschichte aus einem kulturanalytischen Interesse heraus
beitragen und damit einer Richtung der Historischen Sprachwissenschaft
dienlich sein, die gegenwärtig einen hohen Rang einnimmt und auch zu-
künftig von großer Relevanz zu sein verspricht. In vielen Fällen wird das
methodische Optimum in einer Kombination digital-quantitativer und
analog-qualitativer Methoden liegen. Ob und inwieweit korpuslingu-
istische Verfahren in kulturanalytische Untersuchungen der Sprachge-
brauchsgeschichte einbezogen werden können, hängt zum gegenwärtigen
Zeitpunkt allerdings nicht unwesentlich davon ab, welche historischen
Sprachdaten bereits als Korpora verfügbar sind oder welche Ressourcen
dem jeweiligen Forschungsprojekt für die Digitalisierung solcher Daten
und ihre anschließende Aufbereitung zur Verfügung stehen.

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Andreas Gardt

Sprachgeschichte als Kulturgeschichte.


Chancen und Risiken der Forschung

Der Herausgeber des Sammelbandes hat in seinem Konzept einige sehr


grundlegende Fragen an die Historische Sprachwissenschaft gestellt. Ich
halte diese Fragen für ausgesprochen relevant im Hinblick auf die Zukunft
der Disziplin. Im Folgenden werde ich einige der Punkte aufgreifen und
dabei auch einen weiteren Text von Péter Maitz berücksichtigen.1
Im Konzept des Sammelbandes werden an „Forschungsinteressen“
der aktuellen Sprachgeschichtsforschung genannt (Maitz in diesem
Band: 9):
– „Induktivistische Zugangsweisen (z. B. Historische Philologie,
junggrammatisch geprägte Historische Grammatik, Soziopragma-
tische Sprachgeschichte)“
– „hypothetisch-deduktiv ausgerichtet[e] Forschungen (z. B. Gram-
matikalisierungsforschung, Diachrone Sprachtypologie, Sprach-
wandeltheorie)“
– „systemimmanente (z. B. strukturalistische, typologische) Be-
schreibungs- und Erklärungsansätze“
– „stark gesellschafts- und kulturorientiert[e] [Beschreibungs- und
Erklärungsansätze, A. G.] (wie z. B. Historische Pragmatik und
Soziolinguistik)“
– „stark interdisziplinär angelegte Ansätze (z. B. Diskursgeschichte
oder Kulturgeschichte der Sprache)“
– „reduktionistisch[e] [Ansätze, A. G.] (z. B. Historische Gramma-
tik).“
Der Herausgeber spricht von einem „ausgeprägten Pluralismus“ und von
„Grundlageninstabilität“ (Maitz in diesem Band: 9). Er fragt nach den
Gründen für diese Entwicklung, nach ihren Folgen und danach, ob diese
Diversifizierung möglicherweise für die Sprachwissenschaft, ja sogar für
die Geisteswissenschaften insgesamt symptomatisch ist.
1 Es handelt sich um das im Internet veröffentlichte Exposé des Forschungsprojekts „(Me-
ta)Sprachgeschichte. Wissenschaftstheoretische Analysen zur Geschichte, Gegenwart und
Zukunft der deutschen Sprachgeschichtsschreibung“ (Maitz 2006).
290 Andreas Gardt

Im Exposé zu seinem Forschungsprojekt stellt Péter Maitz die er-


wähnten Fragen in einen größeren Zusammenhang. Seine Ausführungen
sind von der Überzeugung getragen, dass Erkenntnisinteressen nicht vom
Gegenstand als solchem diktiert werden, sondern von der wissenschaftli-
chen Gemeinschaft gesetzt werden. Ludwik Flecks Entstehung und Entwick-
lung einer wissenschaftlichen Tatsache (1934) und Robert S. Kuhns The Structure
of Scientific Revolutions (1962) haben diese Einsicht lediglich besonders mar-
kant formuliert. Im Grunde aber liegt sie jedem nicht-positivistischen,
nicht-materialistischen Wissenschaftsverständnis zugrunde, das das wis-
senschaftliche Erkennen nicht als passives Aufsammeln von Fakten be-
trachtet, die wie Steine am Wegesrand des Forschers liegen.
Die Annahme einer Setzung von Erkenntnisinteressen geht zumindest
in den Geisteswissenschaften mit der Überzeugung einher, dass auch die
Ergebnisse der Forschung eine nicht aufhebbare subjektive Komponente
beinhalten. Nicht die Wirklichkeit in ihrer ontischen Objektivität zeigt sich
in unseren Forschungsbefunden, sondern die Wirklichkeit gesehen aus un-
serer Perspektive, oder, pointierter formuliert, die von uns konstruierte
Wirklichkeit. Schon im Rationalismus der Aufklärungszeit und verstärkt
seit der romantischen Sprachtheorie ist diese Perspektivität mit Sprache
verbunden. Der linguistic turn des 20. Jh. spiegelt das ebenso wie die unter-
schiedlichen Spielarten des Konstruktivismus. Ob solche konstruktivisti-
schen Grundüberzeugungen (das Adjektiv soll hier als Überbegriff dienen)
im Alltag des geisteswissenschaftlichen Arbeitens tatsächlich immer prä-
sent sind, ist eine andere Frage.2
Wenn das Gesagte aber der Fall ist, dann kann die Diversifizierung in
der Historischen Sprachwissenschaft nicht im fachlichen Gegenstand
begründet sein, sondern muss sich aus den gewandelten Interessen der
Forscher ergeben. Die Frage „Warum betreibst Du gerade diese und keine
andere Historische Sprachwissenschaft?“ lässt sich aber nicht erschöpfend
mit „Weil sie mich interessiert“ beantworten, da das persönliche Interesse
zwar fraglos eine große Rolle bei der Wahl von Theorie und Methode
spielt, aber auf das Gesamt der Forscher gesehen immer auch Ausdruck
überindividueller, letztlich (wissenschafts)gesellschaftlicher Zusammen-
hänge ist. Auch ließe sich die Frage nach der Wahl des Forschungsgegen-
standes nicht mit „Weil es ihn gibt“ beantworten. Diese Antwort hat der
englische Bergsteiger George Mallory 1924 angeblich auf die Frage gege-

2 Im Alltag scheint eher ein robuster Realismus vorzuherrschen: Wir gehen davon aus, dass
wir, unbeschadet der Möglichkeit des Irrtums, sehr wohl die Welt in ihrer ontischen Ver-
fasstheit erkennen und beschreiben, objektiv wahre Aussagen über sie formulieren können.
Eine permanente Relativierung unseres Erkenntnisvermögens und der Kategorien unserer
Beschreibung der Welt würde uns sogar der Möglichkeit berauben, den Alltag problemlos
zu bewältigen.
Sprachgeschichte als Kulturgeschichte 291

ben, warum er den Mount Everest besteigen wolle. Die Antwort klingt gut
und evoziert Bilder vom radikal individualistischen Forscher, der auf ei-
nem einsamen Berggipfel in seinem Labor oder Arbeitszimmer sitzt und
dabei ist, ex ovo den neuen Menschen zu erschaffen. Aber wie auch Mallo-
rys Antwort in ihrem imperialen britischen Gestus durchaus charakteris-
tisch für seine Zeit war, sind auch unsere Antworten charakteristisch für
unsere Zeit.
Wenn man nun nach den Gründen für die Diversifizierung in Gegen-
stand, Theorie und Methode in der Historischen Sprachwissenschaft fragt,
gerät man schnell in den Bereich des Spekulativen. Die folgenden Ausfüh-
rungen sind daher nicht als Bericht über sicher Gewusstes zu verstehen,
sondern als Vermutungen. Dass Disziplinen Anregungen ‚von außen‘
erhalten können, ist bekannt. In der auf das Deutsche bezogenen Sprach-
wissenschaft kann man dabei bis weit vor das 19. Jh. zurückgehen. Die
Gründe, wieso es etwa in der späteren Frühen Neuzeit zur Herausbildung
einer deutschsprachigen Grammatiko- und Lexikographie kam, sind ge-
sellschaftlicher Natur. Sie hängen zusammen mit der Veränderung der
politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse, mit dem damit ein-
hergehenden Schwund des Einflusses des Lateinischen, mit der Entste-
hung eines modernen Wissenschaftsbegriffs, der veränderten Medienland-
schaft und anderen Faktoren. Die Orientierung an den Naturwissenschaf-
ten und das sich damit verschiebende Erkenntnisideal wiederum lassen
sich seit den Junggrammatikern als ein maßgeblicher Grund für das spezi-
fische Arbeiten verschiedener Ausprägungen der Sprachwissenschaft ins
Feld führen. Dieser Einfluss der Naturwissenschaften hält bis in die Ge-
genwart an, wie zuletzt das Aufkommen kognitivistischer Ansätze zeigt.
Daneben gibt es Einflüsse eher politischer Natur. So entspricht der
Betonung einer gesamteuropäischen Perspektive in der Politik der letzten
Jahre die Hinwendung zu einer europäischen Perspektive auch in Teilen
der Sprachwissenschaft.3 Dabei sind, jedenfalls in den Geisteswissenschaf-
ten, diese Einflüsse in aller Regel nicht als irgendwie geartete Anweisun-
gen zu verstehen, Forschung in einer bestimmten Wiese und zu einem
bestimmten Thema zu betreiben. Vielmehr liegen Themen aus den unter-
schiedlichsten Gründen sozusagen ‚in der Luft‘, und die Wissenschaft
greift sie – zum Teil sicher unbewusst – auf.

3 Für die Historische Sprachwissenschaft sei hier lediglich auf Konzepte einer europäischen
Sprachgeschichtsschreibung verwiesen (z.B. Reichmann 2002), für die gegenwartsorientier-
te Sprachwissenschaft auf das IDS-Projekt „Grammatik des Deutschen im europäischen
Vergleich“, die europäischen Bemühungen um den Schutz kleinerer Sprachen oder die the-
matische Ausrichtung des Deutschen Germanistentags 2010, „Deutsche Sprache und Lite-
ratur im europäischen Kontext“.
292 Andreas Gardt

Charakteristisch für die aktuellen Entwicklungen aber ist die Tatsache,


dass durch die Neuerungen zahlreiche traditionelle Forschungswege nicht
ersetzt, sondern lediglich ergänzt werden, was eben in der erwähnten Viel-
falt der Theorien, Methoden und Gegenstände resultiert. Im Folgenden
möchte ich mich auf eine der Hauptströmungen der Sprachwissenschaft
konzentrieren, die ich, zugegebenermaßen vergröbernd, mit dem Begriff
Pragmatische Sprachwissenschaft (oder auch: Sprachgebrauchswissenschaft) bezeich-
nen möchte.4 Für den Aufschwung, den die Pragmatische Sprachwissen-
schaft mehr oder weniger seit den 60er Jahren des vergangen Jahrhunderts
nahm, möchte ich drei Ursachen nennen. Die Aufzählung erhebt keinen
Anspruch auf Vollständigkeit.
Zum einen scheint in diesem Zusammenhang die Öffnung des Fachs
bzw. der Geisteswissenschaften insgesamt in den gesellschaftlichen Raum
hinein eine Rolle zu spielen. Die Entstehung der Soziolinguistik mag als
Beleg gelten. In Deutschland wurde diese ‚Vergesellschaftung‘ vermutlich
zusätzlich durch den Wunsch befördert, die Entwicklungen, die einzelne
Disziplinen in der Zeit des Nationalsozialismus genommen hatten, kri-
tisch aufzuarbeiten.5
Als ein weiterer Faktor für die Entwicklung der Pragmatischen
Sprachwissenschaft lässt sich aus heutiger Sicht der Poststrukturalismus
nennen. Mit ihm tritt nicht einfach ein neues Paradigma neben ein etab-
liertes, sondern sein Kennzeichen ist ja gerade das Hinterfragen von Ka-
nonbildungen überhaupt. An die Stelle des sicheren analytischen Blicks
auf die (vermeintliche) Mitte des fachlichen Gegenstands tritt die Dekon-
struktion des Gegenstands, tritt das Aufzeigen der Brüche, der Diskonti-
nuitäten seines Zustandekommens, tritt die Relativierung von Wissens-
ordnungen und die Weigerung, vorgegebene Paradigmen zu akzeptieren
und auf ihrer Basis verbindliche Sinnentwürfe zu liefern. Clifford Geertz’
Rede von der Welt in Stücken (Geertz 1996) erfährt hier ihre Umsetzung in
der Forschung. Gelegentlich ist der von Paul Feyerabend in Against Method
(1975) gewählte Slogan „anything goes“ als krasseste Formulierung dieses
Relativismus gesehen worden. Seine radikale, anti-methodologische Hal-
tung hat Feyerabend scharfe Kritik eingebracht, und immer wieder ist ein
Gefühl des Unwohlseins angesichts der theoretischen und methodologi-

4 Ihr sei idealtypisch eine struktur- oder auch systemorientierte Sprachwissenschaft gegenüberge-
stellt. Idealtypisch ist die Gegenüberstellung deshalb, weil auch eine auf das System gerich-
tete Sprachwissenschaft ein letztlich pragmatisches Anliegen verfolgen kann und umge-
kehrt eine pragmatische Sprachwissenschaft sich immer auch auf Systemdaten beziehen
wird.
5 Man denke an die zahlreichen Arbeiten zur Sprache des Nationalsozialismus, in denen sich
Sprachkritik von Gesellschaftskritik kaum trennen lässt, etwa an das auch in der Sprach-
wissenschaft viel zitierte Wörterbuch des Unmenschen (1957) von Dolf Sternberger, Gerhard
Storz und Wilhelm Süskind.
Sprachgeschichte als Kulturgeschichte 293

schen Beliebigkeit, die solche und vergleichbare Haltungen illustrieren,


formuliert worden. Ob dieses Gefühl aber lediglich Unsicherheit ange-
sichts des Schwindens sicher geglaubter wissenschaftlicher Positionen und
Praktiken spiegelt oder vielmehr Ausdruck einer berechtigten Kritik an
einer peripheren und absurden theoretischen Position ist, ist zur Zeit noch
schwer zu entscheiden. In jedem Fall dürfte es kein Zufall sein, dass sol-
che relativistischen Positionen vorwiegend in Gesellschaften Erfolg ha-
ben, die hinsichtlich ihrer Wertesysteme vergleichsweise offen angelegt
sind, keiner eindeutigen ideologischen Prägung unterliegen, sei diese nun
politischer, konfessioneller oder einer anderen Natur. Hier nun bewege
ich mich aber ganz und gar im Spekulativen. Doch ist der Punkt nicht
unwichtig, denn wenn das eben Gesagte zutrifft, dann wäre etwa der Me-
thodenpluralismus, die Diversifizierung in der Historischen Sprachwissen-
schaft, kein „unbeabsichtigt betretener Irrweg“ (wie Péter Maitz (2006: 8)
glaubt), sondern stimmiger Ausdruck unserer gesellschaftlichen Realität.
Natürlich lassen sich Poststrukturalismus und sprachwissenschaftliche
Pragmatik nicht in eins setzen. Auch ist es keineswegs so, dass poststruk-
turalistische Theoretiker zur Pflichtlektüre aller Sprachwissenschaftler ge-
hören. Doch wäre es ja denkbar, dass der poststrukturalistische ‚Zeitgeist‘
in der Sprachwissenschaft immerhin die Wirkung gehabt hat, dass der
Blick auf das Sprachsystem nicht einfach durch den Blick auf die vielfälti-
gen Formen des Sprachgebrauchs ergänzt wurde, sondern dass dieser
neue Blick nun nicht als der eigentlich richtige (und der alte als der fal-
sche) gilt, sondern dass gerade das Nebeneinander der Perspektiven, Gegen-
stände und Methoden als angemessen und akzeptabel gilt.
Dass mittlerweile auch Bereiche in die sprachhistorische Arbeit einbe-
zogen werden, die bislang als weniger forschungsrelevant galten – Maitz
(2006: 6) spricht von einer Verlagerung unter anderem „von der literalen
Sprache und Sprachverwendung zur oralen, von Sprache und Sprachge-
brauch elitärer gesellschaftlicher Formationen zur Sprachlichkeit der unte-
ren Schichten, von prestigevollen Sprachvarietäten zu prestigelosen, stig-
matisierten“6 –, würde jedenfalls sehr in Einklang mit bestimmten Ten-
denzen des Poststrukturalismus stehen. Es wäre eine Bewegung von dem,
was bislang als Zentrum der (Sprach)Geschichte galt, hin zur (vermeintli-
chen) Peripherie. Die Dichotomie von Zentrum und Peripherie begegnet
in zahlreichen neueren kulturwissenschaftlichen Arbeiten, in der Literatur-
wissenschaft sicher ausgeprägter als in der Sprachwissenschaft. Damit wä-
re der dritte Faktor aufgerufen, der die aktuelle Tendenz zur Sprachge-

6 Zu Letzterem wäre als Stichwort z. B. die Konzeption einer „Sprachgeschichte von unten“
zu nennen (Elspaß 2005), zu Ersterem die Einbeziehung der Konzepte von konzeptionel-
ler Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit in die sprachhistorische Arbeit, wie sie z. B. in Vilmos
Ágels Projekt einer Neuhochdeutschen Grammatik begegnet (Ágel/Hennig 2006a, b).
294 Andreas Gardt

brauchsforschung erklären könnte: die Tendenz zu einer kulturwissen-


schaftlichen Orientierung.
Die Bedeutung des Ausdrucks Kulturwissenschaft ist in der aktuellen
Theoriediskussion nicht leicht zu bestimmen. Bezogen auf die Sprachwis-
senschaft könnte man in einem eher allgemeinen Sinne darunter jedes Ar-
beiten verstehen, das sprachliche Phänomene vor einem kulturellen Hin-
tergrund betrachtet, sie also in einen politischen, gesellschaftlichen, philo-
sophischen, religiösen, ökonomischen, technisch-naturwissenschaftlichen,
ästhetischen und alltagsweltlichen Rahmen stellt. In diesem Sinne sind die
Dissertationen, die vor vielen Jahren auf der Basis der Trier’schen Wort-
feldtheorie entstanden sind, ebenso kulturwissenschaftlich wie die zahlrei-
chen soziolinguistischen Arbeiten oder die Untersuchungen des For-
schungsnetzwerks Sprache und Wissen, mit seinen Sektionen Wirtschaft, Me-
dizin und Gesundheitswesen, Kunst – Kunstbetrieb – Kunstgeschichte, Bildung und
Schule, Religion usw.
Eine deutlich weitere Bedeutung hat Kulturwissenschaft, wenn man den
Ausdruck als Übersetzung des englischen cultural studies versteht.7 Die
cultural studies haben sich nach dem 2. Weltkrieg in Großbritannien entwi-
ckelt und sind spätestens seit den 1990er Jahren in der gesamten angel-
sächsischen Welt verbreitet. Sie waren (und sind zu großen Teilen) ideolo-
giekritisch orientiert, lehnen die als elitär empfundene Trennung von
Hochkultur und Subkultur ab, beziehen in ihre Forschungen Spielarten
der Alltagskultur ein, der Medienkultur, befassen sich mit feministischen
und ethnischen Themen, auch mit Problemen gesellschaftlicher Rand-
gruppen. Theoretische Impulse haben sie, nach innerbritischen Anfängen,
unter anderem von Claude Lévi-Strauss, Roland Barthes, Michel Foucault
und Pierre Bourdieu erhalten. Kultur wird in den cultural studies als ein steter
Prozess der Formierung von Gesellschaften, Institutionen und Individuen
verstanden, und die dabei ablaufenden Entwicklungen sind Gegenstand
der Analysen.
An die Stelle eines fest umrissenen Untersuchungsgegenstandes treten
hier Netze von Äußerungen und außersprachlichen Phänomenen unter-
schiedlichster Art. Der Ansatz erscheint plausibel, da das Divergente des
Forschungsgegenstandes der komplexen Einbindung des Menschen in
unterschiedliche kulturelle Zusammenhänge entspricht. Eine Analyse, die
nicht vorwiegend der wissenschaftlichen Disziplin dienen will, sondern
sich an der Realität des Gegenstands orientiert, kann genau so verfahren.
Wem in der aktuellen Situation der germanistischen (historischen)
Sprachwissenschaft bereits Pluralismus und Diversifikation auffällt, dem
mag schwindlig werden, wenn er sich das Arbeiten der cultural studies vor

7 Vgl. etwa Engelmann (1999), Bachmann-Medick (2006), Lash (2007).


Sprachgeschichte als Kulturgeschichte 295

Augen hält. Ein Beleg soll hier für viele stehen, die Internetseite der
„Graduate Group in Cultural Studies“ der University of California in Da-
vis:
Die Graduate Group in Cultural Studies an der University of California in Davis bie-
tet einen interdisziplinären Ansatz für das Studium von Kultur und Gesellschaft,
der verdeutlicht, wie Sexualität, Abstammung, Staatsbürgerschaft, Geschlecht
[gender], Nationalität, Klasse und Sprache manifeste Identitäten, soziale Bezie-
hungen und kulturelle Objekte strukturieren. Unser Studiengang […] betont das
Ineinandergreifen der Analyse dieser Faktoren, in Bezug zur Formierung lokaler
Gemeinschaften, zu Transnationalismus, Post-/Neo-Kolonialismus und Globali-
sierung. Der Studiengang bezieht Dozenten aus einem breiten Spektrum von
Disziplinen und wissenschaftlichen Interessen ein und greift so über die Grenzen
der Geisteswissenschaften, Gesellschaftswissenschaften, Rechtswissenschaften,
Agrarwissenschaften und der Umweltforschung hinaus.8

Eine in diesen Ausmaßen vergleichbare Entwicklung gibt es weder im


deutschsprachigen Raum noch in der germanistischen Sprach- und Litera-
turwissenschaft. Und da diese Ansätze auch vor dem je unterschiedlichen
historischen Hintergrund der betreffenden Länder und Gesellschaften zu
verstehen sind, lassen sie sich nicht einfach auf hiesige Verhältnisse über-
tragen. Allerdings begegnen auch in der germanistischen Sprachge-
schichtsforschung mittlerweile Kategorien wie Mentalitätsgeschichte, Alltags-
geschichte und Diskursgeschichte, und es ist von Wissens- und Diskursformationen
die Rede. Die Arbeit mit diesen Kategorien kann ausgesprochen gewinn-
bringend sein, ist für bestimmte Fragestellungen geradezu zwingend, und
allein die Tatsache, dass die Kategorien manchen zur Zeit vielleicht noch
etwas ungewohnt klingen mögen, spricht nicht gegen sie. Auch Text klang
in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts im Vergleich zu Werk
zunächst ungewohnt. Vielleicht ist es, wie so oft, eine Frage des Maßes
und der Art und Weise des Umgangs mit den Kategorien, die über ihren
Nutzen und ihre Zukunft entscheiden.
Dass neue Ansätze mit einem großen Aufwand an Theoriebildung
und Methodendiskussion einhergehen, ist sicher richtig. Péter Maitz merkt
das kritisch an:

8 „The Graduate Group in Cultural Studies at UC Davis offers an interdisciplinary approach


to the study of culture and society that highlights how sexuality, race, ability, citizenship,
gender, nationality, class and language organize embodied identities, social relations and
cultural objects. Our program […] emphasizes the linked analyses of these factors in rela-
tion to local community formations, transnationalism, (post)(neo)colonialism, and globali-
zation. Drawing on faculty from a wide range of disciplines and intellectual interests, the
program cuts across the humanities, social sciences, the law school, and agricultural and
environmental studies.“ (http://culturalstudies.ucdavis.edu, 10.8.2009)
296 Andreas Gardt

Die metawissenschaftlichen Probleme, d. h. die Theorien und Methoden haben die ob-
jektwissenschaftlichen Probleme, d. h. die Gegenstände, vielfach in den Hintergrund ge-
rückt. […] Im Vordergrund stehen oft nicht mehr objektwissenschaftliche Prob-
leme, die man zu lösen beabsichtigt, sondern die Methoden und Konzepte, die
immer weiter verfeinert und immer wieder neu entworfen werden. Die objektwis-
senschaftlichen Probleme bzw. die Daten sind nicht selten nur noch da, um an
ihnen die Funktionsfähigkeit von neuen Theorien und Methoden zu erproben.
(Maitz 2006: 8, Hervorhebungen im Original)

Das klingt ein wenig nach Endzeitstimmung und so, als würden die hier
gemeinten Wissenschaftler nicht wie wuchtige Dinosaurier, die in die neue
Zeit nicht mehr passen, zugrunde gehen, sondern eher wie Gelehrte, die
auf den weichen Kissen ihrer Professuren in intellektueller Dekadenz
dahinsiechen, in immer dünner werdenden Lüften des Denkens die Welt
aus dem Blick verlieren, um schließlich nur noch mit brechenden Stim-
men Wörter wie „Oralität“ und „Foucault“ zu hauchen. Aber: Fand bei
wissenschaftlichen Umbrüchen nicht zunächst immer eine intensive Theo-
rie- und Methodendiskussion statt, bevor sich die Forschung dann konso-
lidierte und sich wieder vermehrt ‚den Gegenständen‘ zuwandte?
Betrachtet man die Diversifikation in der Historischen Sprachwissen-
schaft schließlich unter einem institutionellen Gesichtspunkt, dann lässt
sich ein weiterer Gedanke anführen. Die Zunahme an Theorien, Metho-
den und Gegenständen der Untersuchung sieht auf den ersten Blick wie
eine Vergrößerung des Fachs aus (und hier kann man vom Fach als Gan-
zem sprechen, da die erwähnte Diversifizierung nicht nur für die Histori-
sche Sprachwissenschaft gilt). Ebenso gut kann man aber eine Reduktion
erkennen. Je stärker interdisziplinär gearbeitet wird, je mehr z. B. Germa-
nisten Fragen nachgehen, die die Themen von Vertretern anderer Philolo-
gien, auch von Historikern und Sozialwissenschaftlern berühren, desto
stärker werden die Geisteswissenschaften institutionell als eine Art ‚Pool‘
wahrgenommen, aus dem heraus sich schon Wissenschaftler finden lassen,
die die anstehenden Fragen behandeln. Ein Wissenschaftler ist dann für
vieles da, und vielleicht bräuchte man insgesamt weniger (und könnte die
frei gewordenen Stellen anderen Wissenschaften zuweisen). Diese Gefahr
wäre in der Tat denkbar. Ein Blick in die aktuellen Curricula der germanis-
tischen Abteilungen amerikanischer Universitäten zeigt die interdisziplinä-
re Entwicklung. So werden in Harvard unter anderem angeboten:9
– „Peter Pan, J.M. Barrie, and the Literary Culture of Childhood“
– „Nazi Cinema: Fantasy Production in the Third Reich“
– „The Ethics of Atheism: Marx, Nietzsche, Freud“.

9 http://isites.harvard.edu/icb/icb.do?keyword=k4326&pageid=icb.page18840 (11.8.2009).
Sprachgeschichte als Kulturgeschichte 297

In Yale:10
– „Confidence Games“, ein Seminar über Fälschungen in Kunst,
Film und Literatur; berücksichtigt werden: Orson Welles, Clifford
Irving, Elmyr d’Hory, Goethe, Schiller, Melville, Thomas Mann,
André Gide, James Frey, Dostoyevsky, Ben Stiller;
– „Theatricality in Film“, berücksichtigt werden Texte von Arn-
heim, Bazin, Bateson, Barthes, Bell, Butler, Cavell, Egginton,
Fried, Mitry; außerdem Filme von von Sternberg, Bergman, Hit-
chcock, Fassbinder, Haneke, Pabst, Wilder, Greenaway, von
Trier, Kiarostami, Kubrick;
– „Narrating Risk and Contingency“, ein Seminar über Literatur
und Wahrscheinlichkeitsphilosophie; berücksichtigt werden Texte
von Defoe, Wieland, Voltaire, Goethe, Schiller, Kleist, E.T.A.
Hofmann, Poe.
Die negative Interpretation dieses Sachverhalts wäre also, dass die ‚Verkul-
turwissenschaftlichung‘ der Geisteswissenschaften letztlich (wohl unbe-
wusster) Ausdruck der Beschneidung ihres universitären Umfangs ist, ge-
tragen von einem utilitaristischen Kosten-Nutzen-Denken, das in der heu-
tigen Zeit den Gewinn der Geisteswissenschaften nicht mehr so erkennt
wie zuvor. Alles Kulturelle wird in einen Topf geworfen, die Disziplinen
nähern sich einander an, verlieren ihre bislang klaren Konturen und büßen
an Präsenz an den Universitäten ein.
Die positive Interpretation wäre freilich, dass die Diversifizierung in
Theorien, Methoden und Gegenständen nun einmal Ausdruck einer sich
wandelnden Wahrnehmung unserer Welt ist. Die neueren Spielarten der
Sprachwissenschaft beantworten eben andere Fragen auf andere Art und
Weise, Fragen, die nicht minder interessant sind als die früheren und viel-
leicht sogar unserer Zeit besonders angemessen.
An diese letzten Sätze möchte ich im Folgenden anknüpfen, um auf
einige Vorzüge einer kulturbezogen arbeitenden Sprachgeschichtsfor-
schung hinzuweisen. Dieser Hinweis ist nicht gegen andere Formen der
Sprachgeschichtsforschung gerichtet, er will lediglich den eigenen Stand-
punkt stark machen.
Da als Begründung für die Beschäftigung mit kulturellen Zusammen-
hängen die Feststellungen „Weil sie mich interessieren“ oder „Weil es sie
gibt“ nicht ausreichen, will ich einen Grund nennen, der über die bereits
angeführten Vermutungen hinausgeht: Eine kulturbezogen arbeitende
Sprachwissenschaft wird dem ontischen Ort der Sprache in besonderer
Weise gerecht, da sie in einer zentralen Funktion von Sprache angelegt ist.
Betrachtet man Äußerungen zu den Funktionen von Sprache in der Ge-

10 http://www.yale.edu/german/courses.html (11.8.2009).
298 Andreas Gardt

schichte der Sprachreflexion, dann werden zumeist zwei Funktionen ge-


nannt: eine kommunikative Funktion und eine sprecherzentrierte.11 Letztere
schließt drei Unterfunktionen ein: eine kognitive Funktion (d. h. eine das
Denken strukturierende Funktion), eine mnemotechnische Funktion (d. h.
eine das Erinnerungsvermögen stützende Funktion) und eine kathartische
Funktion (d. h. eine das Denken und das Empfinden ‚reinigende‘, der
Vergewisserung des Selbst dienende Funktion). Bei weitem am häufigsten
genannt aber wird die kommunikative Funktion von Sprache. Letztlich
findet die Äußerung Platons im Kratylos (388 v. Chr.), wonach die Wörter
Werkzeuge zum Mitteilen und zum Unterscheiden der Dinge sind, ihre
Fortsetzung ungebrochen bis in die Gegenwart hinein. Dabei ist in aller
Regel eine Nachordnung dieser zwei Aspekte zu beobachten: Der Mensch
beschreibt die Dinge zum Zwecke der Kommunikation. Als gesellschaftli-
ches Wesen ist er auf Sprache angewiesen, er gestaltet seine Welt, indem
er kommuniziert; er wählt aus dem Repertoire sprachlicher (grammati-
scher, lexikalischer, textueller) Formen aus, weil er einen Zweck verfolgt,
der jenseits des Sprechens ‚als solchem‘ liegt. Eben das meint die Formu-
lierung John Lockes, Sprache sei „a common Tye of Society“ (Locke
1990, Einleitung), und genau dasselbe meint letztlich der Sprachbegriff der
modernen Pragmatik. Wenn Sprache aber vor allem dazu dient, Welt in
der Kommunikation zu gestalten – und das heißt nichts anderes als unsere
Kultur (bzw. Kulturen) zu gestalten –, dann wird eine Sprachwissenschaft,
die die Formen dieser Gestaltung nachvollzieht, sprachliche Phänomene
also vor dem erwähnten gesellschaftlichen, geistesgeschichtlichen, alltags-
weltlichen usw. Hintergrund betrachtet, so etwas wie dem ‚Wesen der
Sprache‘ in besonderer Weise gerecht.
Wenn dieser Nachvollzug der Gestaltung von Kultur durch Sprache
auch auf den zentralen Ort der Sprache in der Welt und für den Menschen
zugreift, so führt er jedoch in anderer Hinsicht von der Sprache weg. Ge-
meint ist das Sprachsystem, sind die Strukturen der Sprache. Sobald sich
die Konzentration von der Beschreibung des Sprachsystems ‚als solchem‘
auf die Beschreibung der Verwendung von Sprache in diesem oder jenem
Lebensbereich verlagert, greift der historische Sprachwissenschaftler in
Gebiete hinein, die nicht zu seinen genuinen Forschungsgegenständen
gehören, in die Politik, die Religion, die Kunst usw. Zwar bezieht er bei
seinen Analysen selbstverständlich auch Daten des Systems ein, doch
dient ihm dieser Einbezug eben nicht zur Beschreibung des Systems als
solchem. Aber wenn der durch die Forschungsfragen als relevant erkannte
Ort der Sprache nun einmal in unterschiedlichen Bereichen ihrer Verwen-
dung liegt, dann muss sich der Wissenschaftler genau dorthin begeben.

11 Zu dieser Differenzierung mit Quellenbelegen s. Gardt (1995).


Sprachgeschichte als Kulturgeschichte 299

Der mögliche Einwand, darüber werde die Forschung am System ver-


nachlässigt, trägt nicht. Denn eine gebrauchsorientierte Sprachwissen-
schaft wird zum einen ihre Befunde immer aus Daten des Systems herlei-
ten, wird zum anderen, wenn sie nicht nur eine Hilfswissenschaft für an-
dere Disziplinen wie die Geschichtswissenschaft, die Soziologie usw. sein
will, in den von ihr untersuchten Bereichen des Sprachgebrauchs immer
auch auf das Musterhafte dieser Verwendung abheben, das Systematische
eben. Das gilt für alle Ebenen der Sprache, muss dabei auch über die
Ebene des Satzes hinausgehen und die Texte einbeziehen. Auch oberhalb
der Satzebene finden sich Regularitäten der Sprachverwendung, Muster
der Präsentation von Inhalten, der Argumentation usw. Was als Analyse
eines individuellen Verwendungsvorkommens in einem einzelnen Text
beginnt, kann sich rasch zu einer Darstellung mehr oder weniger fester
Verwendungsweisen in ganzen Textsorten, in Ansätzen vielleicht sogar in
ganzen Diskursen entwickeln.

Literaturverzeichnis
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Distanz. Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten 1650–2000.
Tübingen: Niemeyer.
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sprechens. In: Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (Hrsg.) (2006), 3–31.
Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (2006b): Praxis des Nähe- und Distanz-
sprechens. In: Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (Hrsg.) (2006), 33-74.
Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in
den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Elspaß, Stephan (2005): Sprachgeschichte von unten. Untersuchungen
zum geschriebenen Alltagsdeutsch im 19. Jahrhundert. Tübingen: Nie-
meyer.
Engelmann, Jan (Hrsg.) (1999): Die kleinen Unterschiede: Der Cultural-
Studies-Reader. Frankfurt: Campus.
Paul Feyerabend (1975): Against Method. Outline of an Anarchistic Theo-
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Gardt, Andreas (1995): Die zwei Funktionen von Sprache: kommunikativ
und sprecherzentriert. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 23,
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Geertz, Clifford (1996): Welt in Stücken: Kultur und Politik am Ende des
20. Jahrhunderts. Wien: Passagen.
Lash, Scott (2007): Power after Hegemony: Cultural Studies in Mutation?
In: Theory, Culture, and Society 24.3, 55–78.
300 Andreas Gardt

Locke, John (1990): An Essay concerning Human Understanding (1690).


Ed. with a foreword by Peter H. Nidditch. Oxford: Oxford University
Press.
Maitz, Péter (2006): (Meta)Sprachgeschichte. Wissenschaftstheoretische
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Sprachgeschichtsschreibung. http://petermaitz.blogspot.com/p/
publikationsliste.html („VIII. Unpublizierte Texte“).
Reichmann, Oskar (2002): Nationale und europäische Sprachgeschichts-
schreibung. In: Cherubim, Dieter/Jakob, Karlheinz/Linke, Angelika
(Hrsg.): Neue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und so-
zialgeschichtliche Zusammenhänge. Berlin/New York: de Gruyter,
25–42.
Sternberger, Dolf/Storz, Gerhard/Süskind, Wilhelm E. (1957): Aus dem
Wörterbuch des Unmenschen. Hamburg: Claassen.
Marianne Bakró-Nagy

Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik.


Desiderate und Perspektiven

1. Zielsetzung
Der vorliegende Beitrag soll einen Überblick über jene Forschungsrich-
tungen und -tendenzen geben, die es sich – aus Gründen, die ich aufzei-
gen werde – in den historischen und diachronen Forschungen der Finno-
ugristik in der Zukunft in besonderer Weise zu verfolgen lohnt. Zu
diesem Zweck ist es sinnvoll, auch über die bisher nachweisbaren Ten-
denzen (nicht: die de facto geleistete Arbeit1) zu berichten, um aufzuzeigen,
warum gerade die nachfolgend präsentierten Tendenzen als primär einge-
stuft werden. Auch soll kritisch hinterfragt werden, warum derzeit ein
gewisses Abschwächen in den historischen und diachronen Forschungen
zu verspüren ist – gar nicht so sehr, was die Quantität, sondern vielmehr,
was die Forschungsmethode anbelangt. Voranstellen möchte ich, dass der
vorliegende Beitrag weder nach einer vollständigen Analyse strebt, noch
eine wissenschaftshistorische Darstellung sein will; vielmehr sollen darin
skizzenhaft Informationen über bestimmte Entwicklungen und die mögli-
che Zukunft einer Disziplin vermittelt werden.
Zum Aufbau: In Abschnitt 1 werden zunächst einige grundlegende
Informationen zur soziolinguistischen Situation der uralischen Sprachen
gegeben. Daran schließt sich in Abschnitt 2 eine kurze Zusammenfassung
der Anfänge der historisch-vergleichenden Forschungen und deren Re-
zeption durch die finnougristischen Forschungen des 20. Jh. an. In Ab-
schnitt 3 werden die wichtigsten Ergebnisse dieser Forschungen aufge-
führt, auch wird darauf hingewiesen, wo die Forschungslücken liegen und
warum sie entstanden sind. In Abschnitt 4 werden abschließend einige
Aspekte genannt, die in zukünftigen Forschungen beachtet werden sollen.

1 Aus Platzgründen verzichte ich an dieser Stelle auf ein ausführliches Verzeichnis der ein-
schlägigen Fachliteratur sowie deren Kommentierung.
302 Marianne Bakró-Nagy

2. Die uralischen Sprachen zu Beginn des 21. Jh.


Die hier angeführten Daten dienen dazu, den Zustand und die Zugäng-
lichkeit jener Sprachen aufzuzeigen, die von der Finnougristik erforscht
werden. Die uralische Sprachfamilie2 gilt als die größte Sprachfamilie
Nord-Eurasiens. Die genaue Zahl der uralischen Sprachen ist innerhalb
der Finnougristik umstritten. Nach der traditionellen Auffassung rechnet
man mit 18 Sprachen (d. h. nur mit einer einzigen Samisprache, dem Lap-
pischen, und mit sechs samojedischen Sprachen). Werden aber auch jene
Sprachvarietäten mit berücksichtigt, die wegen ihrer zum Teil deutlich
voneinander abweichenden grammatischen Eigentümlichkeiten einer selb-
ständigen Beschreibung bedürfen, dann könnte die Zahl sogar auf über 45
steigen (wenn man z. B. mit 11 samischen und 11–12 samojedischen Vari-
etäten rechnet).3 Auch die genetischen Beziehungen zwischen den einzel-
nen Sprachen bzw. Varietäten sind nicht eindeutig. So kommt es, dass
man je nach Quelle unterschiedliche Zahlen in Kauf nehmen muss und
sogar bei den Stammbaumdarstellungen zeigen sich erhebliche Unter-
schiede.4
Ähnlich ungünstig ist die Datenlage in Bezug auf die Zahl der Spre-
cher der uralischen Sprachen, da sich auf der Grundlage der Volkszäh-
lungsdaten in Russland nur schwer feststellen lässt, wie viele Menschen
tatsächlich eine bestimmte Nationalität haben und wie viele von ihnen die
von ihnen angegebene Muttersprache wirklich noch sprechen. Die un-
gefähre Zahl der Sprecher uralischer Sprachen dürfte sich auf mehr als
23,3 Millionen belaufen. Die zahlenmäßig größten uralischen Sprecher-
gruppen bilden die Sprecher des Ungarischen (ca. 14,5 Mio. Sprecher), des
Finnischen (ca. 6 Mio. Sprecher), der beiden Varietäten des Mordwini-
schen (ca. 1,2 Mio. Sprecher) und des Estnischen (ca. 1,1 Mio. Sprecher).
Die größte Zahl der uralischen Sprachen wird in Russland gesprochen, die

2 Die Bezeichnung uralische Sprachen/uralische Sprachfamilie ist ein Dachbegriff für die finno-
ugrischen und samojedischen Sprachen; die sprachwissenschaftliche Disziplin, die sich mit
diesen Sprachen befasst, wird hier, der Tradition entsprechend, Finnougristik genannt. Seit
einigen Jahren werden in der Fachliteratur zur Bezeichnung der uralischen Sprachen ver-
mehrt auch die Eigenbezeichnungen der jeweiligen Sprechergruppen verwendet (z. B. wird für
das Ostjakische die Bezeichnung Chantisch, für das Wogulische die Bezeichnung Mansisch usw.).
Da ich aber in diesem Beitrag vorwiegend auf Fachliteratur verweise, die noch die traditio-
nellen Bezeichnungen verwendet, halte ich mich an diese älteren Bezeichnungen (eine
Ausnahme bilden das Lappische~Samische bzw. das Jurak-Samojedische~Nenzische).
3 Eine Aufzählung der uralischen Sprachen ist leicht erreichbar z. B. unter http://www.
helsinki.fi/~tasalmin/fu.html oder http://www.helsinki.fi/~tasalmin/samoyed.html. Zu
den samischen Sprachen s. Sammallahti (1998), zu den Samojeden s. Janhunen (1998).
4 Zur Orientierung verweise ich hier nur auf eine der vielen möglichen Quellen: http://
www.ethnologue.com/show_family.asp?subid=1109-16.
Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik 303

Mehrheit der Sprecher der uralischen Sprachen stellen aber die Ungarn,
Finnen und Esten, die innerhalb ihrer nationalen Staatsgrenzen leben5.
Was die schriftliche Überlieferung der uralischen Sprachen betrifft,
kann das Ungarische auf die längste Schrifttradition zurückblicken (seit
dem 12. Jh.); die Anfänge der syrjänischen Schriftlichkeit reichen ins
14. Jh. zurück. Die Mehrheit der kleineren uralischen Sprachen verfügte
vor dem 20. Jh. nicht über ein eigenes Schrifttum, sodass der frühere
Sprachzustand der Sprachfamilie nur durch Rekonstruktion erschlossen
werden kann.
Das Maß, in dem einige der in Europa gesprochenen kleineren sami-
schen und ostseefinnischen Sprachen sowie sämtliche uralische Sprachen
in Russland gefährdet sind, ist unterschiedlich. Die Ursachen ihrer Ge-
fährdung waren in den verschiedenen historischen Epochen bzw. je nach
den politischen Verhältnissen anders – und sie sind es teilweise auch heute
noch. Eine der Hauptursachen dieser Situation kann heute für die am
meisten gefährdeten samojedischen und obugrischen Sprachen wie folgt
dargestellt werden (zu ethnischen, sprachlichen und kulturellen Fragen im
Zusammenhang mit den uralischen Sprachen s. z. B. Taagepera 1996,
Fryer-Lallukka 2001 auch mit weiteren Hinweisen):

– Die Ausbeutung von Bodenschätzen wie Erdgas und Erdöl in Sibirien


verursacht Landschaftsverlust und Umweltverschmutzung. Dadurch
verlieren die dort beheimateten Rentierhalter, Fischer und Jäger ihre
Existenzgrundlage. (Dies ist beispielsweise der Fall bei den Nenzen,
Samen, Ostjaken, Wogulen, Syrjänen usw.).
– Gleichzeitig aber sind diese uransässigen Völker nicht beteiligt an den
Gütern, die der wirtschaftliche Aufschwung in Russland her-
vorgebracht hat, weshalb sie gezwungen sind, ihre traditionelle Le-
bens- und Wirtschaftsweise, ihre Sitten, Kultur und Sprache aufzuge-
ben.

Vor diesem Hintergrund müssen die Erhaltung und Dokumentierung


dieser Sprachen sowie die soziolinguistischen Forschungen – m. a. W.
alles, was der Erhaltung der Sprachen und der Kulturen dieser Sprecher-
gruppen dient – für die Finnougristik eine besonders hohe Relevanz ha-
ben. Dies hat Konsequenzen für die sprachhistorischen Forschungen.

5 Zu der geographischen Verbreitung der uralischen Sprachen bzw. zu einer Art der Anord-
nung des Stammbaumes vgl. folgende, leicht zugängliche Internetadressen: http://en.
wikipedia.org/wiki/File:Fenno-Ugrian_people.png, http://en.wikipedia.org/wiki/File:
UralicTree.svg. Der Verweis auf diese Quellen bedeutet allerdings nicht, dass ich mit den
Darstellungen völlig einverstanden bin.
304 Marianne Bakró-Nagy

3. Die Anfänge historisch-vergleichender Forschungen6


In der Historiographie der Historischen Sprachwissenschaft nimmt das
Jahr 1786 einen besonderen Platz ein: In diesem Jahr hielt Sir William
Jones jenen Vortrag, den man meistens als die Geburtsstunde sowohl der
indoeuropäischen als auch der historisch-vergleichenden Sprachwissen-
schaft feiert – eigentlich zu Unrecht, worauf auch Campbell mehrmals
hingewiesen hat (s. etwa Campbell 1997: 29), denn es ist hinlänglich be-
kannt, dass bereits vor Jones (oder zumindest gleichzeitig mit ihm) Auf-
sätze über die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen indoeuropäischen
Sprachen (z. B. von Marcus Zuerius van Boxhorn [1612–1653]) oder auch
zwischen den Algonkin-Sprachen (z. B. von Jonathan Edwards Jr. [1745–
1826]) erschienen sind. Abgesehen von früheren Schriften von Reisenden,
Historikern oder Chronisten, die über die finnougrischen Völker gelegent-
lich berichteten, muss hier der Name von János Sajnovics (s. Sajnovics
1770) unbedingt erwähnt werden. Nicht nur, um zu zeigen, dass auch die
Ungarn Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet haben, sondern vor al-
lem auch, um zu zeigen, dass die vergleichende Untersuchung der finno-
ugrischen Sprachen eine lange Tradition hat; diese Forschungen sind pa-
rallel zu der Erforschung der indoeuropäischen Sprachen bzw. der India-
nersprachen in Amerika angelaufen. In diesem Zusammenhang soll noch
ein Name genannt werden, nämlich der von Samuel Gyarmathi, dessen
Werk Affinitas linguae Hungaricae cum linguis Fennicae origins grammatice demonst-
rata 1799 erschienen ist. Während Sajnovics nur die Verwandtschaft der
ungarischen und der finnischen Sprache nachzuweisen versucht hatte,
bezog Gyarmathi bereits fast alle uralischen Sprachen in seine ver-
gleichende Untersuchung mit ein. Bereits für Sajnovics und Gyarmathi
stand außer Frage, dass zum Nachweis der Sprachverwandtschaft nicht
allein die lexikalischen, sondern auch die grammatischen Übereinstim-
mungen notwendig sind. Allerdings wurde das Sprachmaterial, an dem die
historisch-vergleichende Methode mit Erfolg angewendet und dadurch die
Sprachverwandtschaft zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, erst seit
der ersten Hälfte des 19. Jh. angesammelt. In der Feldforschung hatten
seit den 1840er Jahren vor allem finnische und ungarische Forscher Pio-
nierarbeit geleistet. Als Verfasser bahnbrechender Arbeiten gelten dabei
der Finne Matthias Alexander Castrén (1813–1852) mit seiner weit ver-
zweigten, großen Sammlung und seinen grammatischen Aufzeichnungen
sowie der Ungar Antal Reguly (1819–1858). Beide haben mehrere Reisen

6 Eine umfassende Wissenschaftsgeschichte der Finnougristik existiert nicht. Dafür gibt es


wertvolle Übersichten über je eine Epoche oder über einschlägige Forschungsergebnisse je
eines Landes, die eine oder mehrere Epochen umfassen, s. z. B. Hajdú (1987), Korhonen
(1986) und Wickman (1988).
Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik 305

nach Ostsibirien bzw. in andere von finnougrischen Völkern bewohnte


Gebiete in Russland unternommen. Ihr Hauptanliegen blieb aber – dem
Zeitgeist entsprechend – stets die Sammlung des Folklorematerials in
möglichst großem Umfang. Obwohl im Laufe ihrer Arbeit auch gramma-
tische Beschreibungen und Wortschatzsammlungen entstanden, die die
Grundlage für Wörterbücher bildeten, war ihre Tätigkeit dennoch nicht
auf die möglichst vollständige Beschreibung des Sprachsystems gerichtet,
sondern bezweckte vielmehr die Sammlung der Sitten und Bräuche, die in
den Folkloretexten zum Vorschein kamen. Beide Forscher verfolgten mit
ihren Reisen das Ziel, den echten Ursprung des Finnischen bzw. Ungari-
schen aufzudecken. Zu dieser Zeit galt die Finnougristik noch als eine
‚einheitliche‘ Wissenschaft, die sich mit den Sprachen und Kulturen der
finnougrischen Völker beschäftigte bzw. die Beziehungen dieser Sprachen
zueinander untersuchte. Erst in dem nächsten Jahrhundert kam es zu
einer allmählichen Differenzierung der sprachwissenschaftlichen, folklo-
ristischen und literarischen Studien.

4. Ergebnisse und Desiderate historischer Forschungen


4.1 Die historische Erforschung der Sprachstruktur

In den frühen Jahrzehnten des 20. Jh. bestand das Hauptanliegen der
sprachwissenschaftlichen Untersuchungen in der Finnougristik darin, den
Ursprung der finnougrischen Sprachen mit junggrammatischen, positivis-
tischen Methoden zu beschreiben. Die Anwendung der jung-
grammatischen Methoden, die junggrammatische ‚Sammeltätigkeit‘, er-
möglichte systematische lauthistorische Forschungen. Da aber die Erfor-
schung der Lautgeschichte die Grundlage der etymologischen
Forschungen bildet – auf den bekannten, im Grunde genommen zirkulä-
ren Zusammenhang zwischen den beiden wird hier nicht eingegangen –,
führte die immer intensivere Beschäftigung mit der Lautgeschichte
schließlich dazu, die frühesten Behauptungen der Etymologie zu überprü-
fen. Dadurch war die Basis für die späteren, groß angelegten etymologi-
schen Wörterbücher der zweiten Hälfte des 20. Jh. geschaffen.7
Ohne Übertreibung kann konstatiert werden, dass die zweite Hälfte
des 20. Jh. bis zu den 1980er Jahren die Blütezeit der sprachwissenschaftli-
chen Forschungen in der Finnougristik war. In diesem Zeitraum erschie-

7 Eine allgemeine Übersicht über die Lexikographie der uralischen Sprachen bis zu den 80er
Jahren des 20. Jh. findet sich in Abandolo (1991), Bakos (1991), Korhonen (1991), Korho-
nen/Schellbach-Kopra (1991) und Raun (1991).
306 Marianne Bakró-Nagy

nen die mit umfangreichen sprachlichen und sachlichen Anmerkungen


versehenen Ausgaben der großen Sammlungen, man arbeitete an den
zwei- bzw. dreisprachigen und etymologischen Wörterbüchern, Chresto-
mathien wurden zusammengestellt und die Zahl der lauthistorischen und
morphologischen Aufsätze stieg stark an. Die Erweiterung und der Wan-
del der Forschungsthematik8 seit Anfang des 20. Jh. zeugen eindeutig von
der allmählichen Veränderung der Forschungsinteressen: Die Schwer-
punkte verlagerten sich von der vergleichenden Sprachgeschichte auf die
historischen und diachronen Forschungen, wobei die historisch-
vergleichenden Untersuchungen auch weiterhin praktiziert werden. Es ist
auch gut zu verfolgen, in welchen Jahrzehnten des 20. Jh. sich das Interes-
se von der Lautgeschichte auf die historische Morphosyntax und auf die
historische Syntax verlagerte. Während im 20. Jh. bis zum Beginn der
1950er Jahre überwiegend lauthistorische Forschungen durchgeführt wur-
den (bis zum Ende des Ersten Weltkrieges sogar beinahe ausschließlich),
galt das Forschungsinteresse seit den 1930er Jahren auch immer mehr
morphologischen Beschreibungen. Syntaktische Analysen hatten bereits in
den 1910er und 1920er Jahren bemerkenswerte Ergebnisse hervorge-
bracht, aber erst seit den 1950er Jahren wurden sie vermehrt in Angriff
genommen. In den Chrestomathien fanden sich natürlich bereits seit den
Anfängen kürzere oder längere historische Anmerkungen. In Bezug auf
die lange Zeit als ausschlaggebend geltenden Arbeiten von Björn Collinder
(1894–1983) lohnt es sich, Wickmann (1988: 818) zu zitieren:

Collinder presented a welcome gift to the students of Uralic linguistics when he


published his handbook in three parts: Fenno-Ugric Vocabulary (1955), which is an
etymological dictionary of the Uralic languages, Survey of the Uralic languages (1957),
and Comparative Grammar of the Uralic languages (1960).

Die immer ausführlicher erschlossenen Lautgeschichten – sei es einer


Einzelsprache, eines sprachlichen Zweiges oder der Grundsprache
selbst – ermöglichten es und machten es zugleich notwendig, die Metho-
den zur inneren Rekonstruktion, vor allem aber die Methoden zur Rekon-
struktion der Grundsprache immer differenzierter zu verwenden,9 d. h.

8 Der wissenschaftshistorische Aufsatz von Wickmann (1988) zeigt die einzelnen Stufen
dieser Entwicklung durch die Auflistung der Werke der einzelnen Forscher.
9 Es fragt sich allerdings, wie weit diese Ergebnisse bekannt geworden sind, und es macht
nachdenklich, dass ein so repräsentativer Sammelband wie der von Philip Baldi (1990) her-
ausgegebene Band Linguistic change and reconstruction methodology jeweils ein aus mehreren Bei-
trägen bestehendes Kapitel den Indianersprachen in Amerika, den afro-asiatischen, den
austronesischen, den australischen, altaischen und natürlich den indoeuropäischen Spra-
chen widmet, die finno-ugrischen Sprachen aber im Band nicht repräsentiert sind. (Ebenso
war die Lage auch in der vorausgegangenen Konferenz, deren Vorträge für den Band bear-
Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik 307

immer ältere Formen und Funktionen retrospektiv zu erschließen. Es ist


kein Zufall, dass in dieser Zeit auch die Lehnwortforschung immer inten-
siver betrieben wurde: Die Ausbreitung der lauthistorischen und der ety-
mologischen Untersuchungen einerseits und das Zugänglichwerden gro-
ßen lexikalischen Materials anderseits ermöglichte nicht nur die lexiko-
logische Bearbeitung der uralischen Sprachen und auch die der
Beziehungen zwischen der Grundsprache und den nicht-uralischen Spra-
chen, sondern auch die Erschließung des Lehnwortaustausches zwischen
den uralischen Einzelsprachen.
Über den Umstand hinaus, dass in dieser Zeit große Sammlungen zu-
gänglich wurden und benutzt werden konnten, trug noch eine außerwis-
senschaftliche Ursache dazu bei, dass die dargestellte Periode zur Blütezeit
der Finnougristik wurde.10 Nach dem Ersten Weltkrieg veränderte sich die
Minderheitenpolitik der Sowjetunion und dadurch wurde sie auch von der
westlichen wissenschaftlichen Welt abgeschirmt.11 Seit der politischen
Wende am Ende der 1910er Jahre bzw. seit Anfang der 1920er Jahre wa-
ren die Möglichkeiten der Feldforschung für Ausländer eingeengt, wenn
nicht sogar unmöglich gemacht worden; die Gebiete, wo uralische Mutter-
sprachler lebten, waren abgeschirmt, der Besuch dieser Gebiete zu For-
schungszwecken war nur mit einer Spezialgenehmigung möglich, aber
auch dann nur selten.12 Anders formuliert: In dieser Situation war man
sozusagen gezwungen, das bereits vorhandene Sprachmaterial auszuwer-
ten und zu verarbeiten.
Was ihre Methodologie anbelangt, gilt, dass die Finnougristik (auch
für die historischen Beschreibungen) des 20. Jh. maßgeblich vom Struktu-
ralismus geprägt wurde. Während z. B. in den lauthistorischen Forschun-
gen bis zum Anfang der 1940er Jahre vorwiegend die historisch-
vergleichende Methode und die philologischen Analysen ausschlaggebend
waren, wurde von den 1940er Jahren an der Einfluss der Prager Schule
wirksam, hauptsächlich unter dem Einfluss der Arbeiten Wolfgang

beitet wurden.) Für diesen Umstand ist sicherlich nicht der – mit Recht – hoch geachtete
Herausgeber des Bandes verantwortlich.
10 Für die wissenschaftsgeschichtlichen Hinweise bedanke ich mich bei Enikŋ Szíj.
11 Salminens (2009) Aufsatz über die Geschichte der finnischen Finnougrischen Gesellschaft
(Suomalais-Ugrilainen Seura) und deren russische Beziehungen in der Zeit von 1880 bis zu
den 1940er Jahren beinhaltet wichtige Informationen auch in dieser Hinsicht (s. insbeson-
dere S. 235–242).
12 Die einzige Kontaktmöglichkeit war eigentlich der Besuch des Herzen-Instituts in Lenin-
grad, wo die begabten Vertreter der sibirischen Ureinwohner eine pädagogische Hoch-
schulausbildung absolvieren konnten. Hier konnten die Sammler Muttersprachler als Ge-
währsleute finden und dieser Chance hat man sich auch bedient. Durch diese persönlichen
Kontakte kam es auch dazu, dass manche Gewährsleute zu hervorragenden Ethnographen
oder Sprachwissenschaftlern geworden sind, wie z. B. der Komi Vasilij Iljitsch Lytkin
(1895–1981) oder die Wogulin Evdokiya Ivanovna Rombandeeva (1928–).
308 Marianne Bakró-Nagy

Steinitz’ (1905–1967). Diese Herangehensweise wurde immer mehr zur


allgemeinen, wenn auch nicht zur ausschließlich verwendeten Methode.
Dies bedeutet, dass die Entwicklungen der Lautsysteme der einzelnen
Sprachen bzw. Sprachzweige bereits als der Wandel von Systemen be-
handelt wurde. Diese Art der Betrachtung setzte sich bei der Beschreibung
des Wandels von morphologischen Systemen und Subsystemen viel lang-
samer durch, so gibt es z. B. mehrere Arbeiten, die bei der Beschreibung
der Geschichte der Derivations- und Flexionsmorpheme Form und Funk-
tion getrennt behandeln. Ein anderes Beispiel: Die erfolgreichen etymolo-
gischen Untersuchungen verlangten die Verwendung der Methode ‚Wör-
ter und Sachen‘, aber die durch Rekonstruktion ermittelten Bedeutungen
der einzelnen Elemente der erschlossenen Wortschätze (des Pro-
touralischen, Protofinnougrischen usw.) zeugen kaum davon, dass man
dabei mindestens die Konsequenzen der Theorie über die semantischen
Felder beachtet hätte. Genauer gesagt hatte man die Tatsache außer Acht
gelassen, dass auch der Wortschatz eine strukturierte Menge mit eigenen
inneren Zusammenhängen darstellt, was bei der Rekonstruktion der Be-
deutungen ausschlaggebend sein kann. Es ist auch aufschlussreich, einige
von den Forschungsgebieten zu nennen, die bis heute völlig unerschlossen
sind – was allein damit erklärt werden kann, dass das Interesse für neue
Trends fehlte. Es wird gezeigt, dass die im Weiteren genannten Desiderate
notwendigerweise eines gewissen theoretischen Rahmens bedürfen, aber
gerade dieser war in der Finnougristik kaum vorhanden. Es würde an
dieser Stelle zu weit führen, den Gründen ausführlich nachzugehen, ein
Grund kann aber doch genannt werden: Wie aus der Wissenschaftsge-
schichte der Finnougristik hervorgeht, gehört diese zu jenen Disziplinen,
in denen von Anfang an die induktive Methodik vorherrschend war, und
nur allmählich meldete sich eine Forschergeneration zu Wort, die mit
einem theoretisch-methodischen Ansatz an die Daten heranging. Anders
formuliert: Auch die traditionsverpflichtete Denkweise, das Festhalten an
der positivistisch-junggrammatischen theoretischen und methodischen
Fundierung (die zwar auch heute noch praktiziert wird, jedoch in immer
geringerem Maße), können Ursachen für das geringere Interesse an neue-
ren Tendenzen bzw. für das Misstrauen diesen gegenüber sein.
Im Bereich der Phonologie fehlen Beschreibungen der sequenziellen
Veränderungen fast völlig (obwohl diese, was ihre Wichtigkeit anbelangt,
mit den Veränderungen in den anderen Teilsystemen gleichrangig sind).
Abgesehen von den großen finnougrischen Sprachen wissen wir sehr
wenig über die Geschichte der metrischen Struktur der uralischen Spra-
chen, weder in dem vorher genannten Zusammenhang noch unabhängig
davon. Auch die Erkenntnisse aus den laborphonologischen Forschungen
fehlen in der Lautgeschichte. Mit nur wenigen Ausnahmen werden auch
Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik 309

die prinzipiellen und methodischen Erfahrungen der Lehnwortphonologie


beim Lehngutaustausch außer Acht gelassen. Und soviel ich weiß, existiert
weder eine Teilstudie noch eine zusammenfassende Darstellung zur Pho-
nologie der uralischen Sprachen aus historisch-typologischer oder syn-
chroner Sicht.
In Bezug auf die Beschreibungen des morphologischen Wandels – dieses
Thema macht i. d. R. den größten Teil jeder zusammenfassenden urali-
schen Sprachgeschichte oder Studie aus13 – fällt auf, dass der Begriff der
Grammatikalisierung völlig fehlt. Obwohl die vielen Arbeiten zur histori-
schen Morphologie eine Menge solcher Prozesse analysieren, gibt es kaum
Aufsätze, die diese Prozesse mit den Begriffen der Grammatikalisierung
beschreiben. So kommt es auch, dass in der äußerst umfangreichen allge-
meinen Fachliteratur zur Grammatikalisierung kaum finnougrische Bei-
spiele vorkommen (bis auf einige, immer wieder angeführte finnische oder
ungarische, evtl. estnische Fälle). Bei der Rekonstruktion der morphologi-
schen Systeme und der Grammatikalisierungspfade werden die Erkennt-
nisse der historischen Typologie kaum verwertet, höchstens implizit.
Die größten Mängel weisen die Darstellungen der historischen Syntax
auf. Die Gründe dafür liegen in der schon beinahe trivialen Tatsache, dass
gerade die syntaktische Rekonstruktion und die Beschreibung des Wan-
dels dieser Konstruktionen in der Sprachgeschichte mit dem größten
Aufwand verbunden sind. In der Finnougristik wurde die allgemeine
Aufmerksamkeit vor ungefähr 30 Jahren durch einige Grammatikalisie-
rungsprozesse auf Fragen der Typologisierung der Wortfolge bzw. auf den
Wortfolgewandel gelenkt (s. Korhonen 1980), aber dies führte nicht zu
einschlägigen Darstellungen.
Obwohl die etymologischen Forschungen im Prinzip genauso viel
Wert auf semantische Fragen legen sollten wie auf lauthistorische (s. Mikola
1976) – diese Forderung setzt logischerweise das Vorhandensein systema-
tischer historisch-semantischer Forschungen voraus – gibt es, abgesehen
von einigen Arbeiten aus jüngster Zeit, nur relativ frühe (dessen ungeach-
tet wertvolle) Arbeiten, die je ein Gebiet des Wortschatzes bearbeiten.
Die Lehnwortforschung kann zwar bedeutende Ergebnisse aufweisen,
aber die weiter eingebettete, kontaktlinguistische Behandlung des Themas
ist in der Finnougristik bis heute ein Desiderat.

13 Dies kann leicht nachvollzogen werden anhand der Arbeiten von Sinor (1988) und Abon-
dolo (1998), die eine gute Übersicht auch über die wichtigsten Merkmale der uralischen
Sprachen bieten (Abondolo 1998 auch aus historischer Sicht).
310 Marianne Bakró-Nagy

4.2 Exkurs

Im Folgenden möchte ich an einem exemplarischen Beispiel illustrieren,


wie man durch den Einsatz moderner Methoden ein recht altes Problem
weiterdenken und lösen kann. Meine Wahl fiel auf ein Problem, das mit
der Rekonstruktion der Grundsprache bzw. der Lautgeschichte – den am
besten ausgearbeiteten Forschungsfeldern der Finnougristik – zusammen-
hängt. An ihm kann aufgezeigt werden, dass man zur Lösung etymologi-
scher Probleme neben den alten auch neue Methoden anwenden kann
und sollte. Darüber hinaus traf ich diese Wahl, weil es dabei um eine der
ältesten beschriebenen finnougrischen Etymologien geht: um das Wort
mit der Bedeutung ‘Blut’; diese Etymologie wurde schon von Sajnovics
(1770: 62, 112) und Gyarmathi (1799: 91, 208, 214, 262) erwähnt.
Zur Etymologie gehören finnische, estnische, ostseefinnische, sami-
sche, mordwinische, tscheremissische, wotjakische und syrjänische Wör-
ter, darüber hinaus auch solche aus den drei ugrischen Sprachen. Im UEW
(576) wird dieses Etymon für die finnougrische Grundsprache als *wire
rekonstruiert (mit der Grundbedeutung ‘Blut’). Die phonologische Prob-
lematik zeigt sich in allen vier Dialektgruppen (südlich, östlich, westlich
und nördlich) des Wogulischen. Zur Illustration werden hier die reprä-
sentativen Formen der drei ugrischen Sprachen vorgestellt:14

(1a) ungarisch
vér [we:r]

(1b) ostjakisch
wÖr [wÖr]
wer [wur]

(1c) wogulisch
TJý üwr [ywr]
K LO So wiǔr [wiǔr]
P wƗr [wy:r]
VN LU Ɨr [y:r]

Es ist gut sichtbar, dass – im Vergleich zum Ungarischen und Ostjaki-


schen – im Wogulischen ein zusätzlicher Konsonant im Wortinneren
vorhanden ist, und es gibt Formen, bei denen der anlautende Konsonant
fehlt. Unterschiede zeigen sich auch in der Quantität der Vokale, da in den
Formen, die nicht auf eine Konsonantenverbindung ausgehen, der Vokal

14 In Klammern stehen die transkribierten Formen mit IPA-Zeichen.


Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik 311

lang ist, in den anderen Formen kurz. Die Lautstruktur der wogulischen
Formen kann wie folgt systematisiert werden:

(C)VCC (C)V:C
üwr [ywr] wƗr [wy:r]
wiγr [wiǔr] Ɨr [y:r]

Abb. 1: Die Lautstruktur der wogulischen Wörter mit der Bedeutung ‘Blut’

Die Vokalqualitäten sind geschlossen und gerundet [y] bzw. ungerundet


[i]. Der anlautende Konsonant ist ein gerundeter Halblaut [w], das zweite
Element der Konsonantenverbindung im Auslaut ist ein gerollter Liquid
[r], davor steht entweder ein gerundeter Halblaut [w] oder ein hinten ge-
bildeter stimmhafter Halblaut [ǔ]15.
Honti (1982: 196) rekonstruiert für das Protoostjakische die Form
*wÖr, für das Protowogulische *wîγljr und für das Protoobugrische (POU)
* wîr. Für uns ist die protowogulische Form (PW) * wîγljr wichtig. Es
würde zu weit führen, an dieser Stelle die Problematik des reduzierten
Schwa-Lautes auszuführen (s. dazu Bakró-Nagy/Fejes 2008), denn für
unsere Beweisführung ist vielmehr der Laut *γ von Bedeutung. Zuvor soll
allerdings noch ein Zitat zur Erklärung der unterschiedlichen Anlaute
angeführt werden: „Urwog. *î ist unter dem Einfluss des anlautenden *w
zu *ü labialisiert worden“ (UEW 576). Zu ergänzen ist, dass der ursprüng-
liche anlautende Konsonant nach diesem Wandel getilgt wurde – genauso
wie in vielen anderen Sprachen vor einem labialisierten Vokal (zur phone-
tischen Erklärung bei anderen finnougrischen Sprachen s. Bakró-Nagy
1995).
Als Weiterentwicklung des rekonstruierten *γ, das als Vorform der
wogulischen dialektalen Formen gilt, konnte in den verschiedenen woguli-
schen Dialekten auch w stehen. Auf diese Weise kann das parallele Vor-
handensein von γ und w erklärt werden. Über den Ursprung des rekon-
struierten Halblautes liest man beispielsweise Folgendes: „Urwog. *γ in
*wîγr (> TJ üwr, So. wiγr) ist ein inetymologischer Laut“ (UEW 576); oder
auch „[…] nach meiner Kenntnis gibt es keine akzeptable Erklärung für
das wog. γ“ (Honti 1999: 121).
Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Aufdeckung der se-
quenziellen Veränderungen noch ein Desiderat der Finnougristik ist, ge-
nauso wie die Laborphonologie und die Anwendung der Ergebnisse aus
der historischen Typologie des Lautwandels. Wäre dem nicht so, dann

15 Es gibt in der Finnougristik keine Übereinstimmung darüber, ob dieser Konsonant als


Frikativ oder als Halblaut eingestuft werden soll. Ich selber halte ihn für einen Halblaut.
312 Marianne Bakró-Nagy

könnte für das obige Problem – und für eine Reihe anderer Probleme – in
der Tat eine plausible Erklärung gegeben werden. In unserem Fall könnte
diese Erklärung folgendermaßen lauten: Im Gegensatz zu der obigen Re-
konstruktion könnte auch für das Protowogulische eine Form *wîr ange-
nommen werden, der das *γ als Derivationsmorphem angeschlossen wur-
de. Ins Wortinnere kam es durch Metathese. Dieser Prozess sähe wie folgt
aus:

(2) PFU *wire > POU *wîr > PW *wîr > *wîr+*γSuff > * wîrγ > * wîγr …

In den Formen, die nicht auf Konsonantenverbindung auslauteten, muss


der ursprüngliche Halblaut bzw. dessen weiterentwickelte Form ebenfalls
vorhanden gewesen sein, aber darauf weisen – wegen weiterer Verände-
rungen – nur die Langvokale hin. Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich, nur
auf die Metathese fokussiert, feststellen, dass diese Rekonstruktion nur
dann annehmbar ist, wenn jedes rekonstruierte Stadium und die Argu-
mentation, durch die sich die einzelnen Glieder ergeben, allgemein, d. h.
von dem konkreten Fall unabhängig, gleichfalls unterstützt werden kann.
Folglich müssen mindestens auf folgende Fragen positive Antworten ge-
funden werden, die die obige Behauptung stützen:

(a) Kann das nominale Derivationsmorphem y in der Geschichte des


Wogulischen nachgewiesen werden?
(b) Kann eine Metathese im Protowogulischen nachgewiesen werden,
die den Typ Liquid/gerollter Liquid + velarer Halblaut beinhaltet?
(c) Kann ein solcher Prozess in natürlichen (nicht rekonstruierten)
Sprachen nachgewiesen werden?
(d) Wenn ja, mit welchen phonetischen Ursachen können diese Ver-
änderungen erklärt werden?
(e) In welche weiteren Zusammenhänge kann der nachzuweisende
Prozess aufgrund der möglichen Antworten auf diese Fragen ge-
stellt werden?16

Da das Ziel dieses Beitrags nicht darin besteht, die lediglich exemplarische
Ausgangsfrage ausführlich zu bearbeiten, sondern vielmehr darin, vorzu-
stellen, in welche Richtungen die Forschung weitergehen kann, kann ich
hier nur kurz auf die Antworten hinweisen: Die Antworten auf die Fragen
(a)–(c) sind positiv. In Bezug auf die phonetische Erklärung – Frage (d) –
scheint als Antwort plausibel, dass es die phonetischen Eigenschaften der

16 Ähnliche Fragen mit weiterführender Fachliteratur werden ausführlich behandelt in Bakró-


Nagy (2006).
Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik 313

am Prozess beteiligten Laute und die Daten der natürlichen Sprachen


wahrscheinlich machen, dass man es hier mit einem Prozess zu tun hat, in
dem die perzeptiven Eigenschaften der Laute bzw. der Lautfolgen (konk-
ret: die gedehnte Artikulation des velaren Halblauts) den Wandel induzie-
ren. Darauf weisen auch die laborphonologischen und typologischen Be-
obachtungen hin. Die Antwort auf Frage (e) kann mehrere Aspekte
beinhalten. Ich verweise hier nur auf die Degrammatikalisierung, bei der
das ursprüngliche Suffix infolge eines unabhängigen Lautwandels zu ei-
nem Teil des Stammes geworden ist, d. h. es hat seine grammatische
Funktion verloren. Die methodische Herangehensweise, mit deren Hilfe
wir eine Antwort auf die Ausgangsfrage zu geben suchten, ist in Abb. 2
graphisch dargestellt. (Mögliche inhaltliche Überlappungen der einzelnen
Methoden sind auf dem Diagramm leider nicht sichtbar.) Jene Methoden,
deren allgemeine Anwendung nicht nur die etymologischen, sondern auch
die lauthistorischen u. a. Untersuchungen fördern würde, wurden hervor-
gehoben.

Etymologische
Rekonstruktion

Vergleichende
Grammatikalisierung
Sprachgeschichte

Lautgeschichte
Wogulische Typologie
Formen

Historische Laborphonologie
Morphologie

Sequenzielle
Veränderungen Phonetik

Abb. 2.: Methodenkomplexität bei der Lösung etymologischer Probleme


314 Marianne Bakró-Nagy

4.3 Sprachgebrauch und sonstige Aspekte

Die Aufzählung unter 4.1 bezog sich auf die historisch-diachrone Be-
schreibung des grammatischen Systems, obwohl die Erschließung des
Sprachgebrauchs von gleicher Wichtigkeit ist. Dieser Aspekt kann aber
selbst bei den drei ‚großen‘ Sprachen erst in der letzten Zeit beach-
tenswerte Ergebnisse aufweisen (z. B. auf den Gebieten der Historischen
Soziolinguistik und der Historischen Pragmatik); bei den kleineren Spra-
chen fehlen solche Untersuchungen völlig. Diese Situation folgt einerseits
aus der einfachen Tatsache, dass diese Herangehensweisen relativ neu
sind, aber sie hängt andererseits auch damit zusammen, dass zur Samm-
lung und Erschließung der notwendigen Daten bei den kleineren Spra-
chen große Schwierigkeiten überwunden werden müssen. So stimmt es
zwar, dass in der Blütezeit der großen Sammeltätigkeiten die Feldfor-
schung eine große Menge wichtiger Daten aus Tagebüchern und sonstigen
Beschreibungen, Notizen und Briefen usw. über den Sprachgebrauch des
19. Jh. zum Vorschein brachte, doch sind diese Daten mangels einer ziel-
bewussten, systematischen Forschung ziemlich akzidentiell, ihre Authenti-
zität manchmal fraglich. (Dennoch ist die systematische Erschließung
dieser Sammlungen durchaus von Belang.)
Noch etwas anderes sollte im Zusammenhang mit den politischen
Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg unbedingt beachtet werden.
Die hier sozusagen nur aus der ‚Vogelperspektive‘ betrachteten Tenden-
zen und Desiderate referieren vorwiegend auf die Forschungstendenzen
außerhalb Russlands. Darüber aber, welche Arbeiten in Russland (über die
wesentlich später herausgegebenen und auf diese Weise endlich auch in
Europa zugänglich gewordenen Studien hinaus) entstanden sind, kann
kein klares Bild geschaffen werden. Es geht hier nicht nur darum, dass die
Feldforschung für die europäischen Wissenschaftler unmöglich geworden
ist, sondern auch darum, dass sie für die Forscher aus Russland (die in
vielen Fällen finnougrischer Nationalität waren) beschränkt wurde. Es ist
kein Geheimnis mehr, dass die Intellektuellen der russländischen Nationa-
litäten dieser Politik – auch im wörtlichen Sinne – zum Opfer gefallen
sind, jene Intellektuellen beispielsweise, die um die Schaffung der Litera-
tursprachen bemüht waren, z. B. durch die Konzipierung von Schulbü-
chern.17 Erfahrungsgemäß ist eine ganze Reihe dieser Bücher – die aller
Wahrscheinlichkeit nach auch sprachhistorisch besonders wertvolle
grammatische Informationen beinhalteten, da sie von dem Zustand der
Sprachen vor 70–80 Jahren Auskunft gaben – verloren gegangen.

17 Zur Liquidierung z. B. der wotjakischen (udmurtischen) Intellektuellen vgl. http://ludens.


elte.hu/~briseis/finnugor/egyestort/udmurt/udmurt.htm, Kozmács (2008: 45) und Taa-
gepera (1999: 281). Letzterer mit weiterführender Literatur.
Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik 315

Aufgrund der dargestellten Situation könnte wahrscheinlich der Ein-


druck entstehen, dass die Kluft zwischen den allgemeinen sprachhisto-
risch-diachronen Forschungen und denen in der Finnougristik immer
größer wird – sowohl, was die Grundprinzipen und die Methoden anbe-
langt, als auch in Bezug auf die Forschungsthematik. Die Folge ist, dass in
der Finnougristik die Antworten auf eine ganze Reihe von Fragen fehlen.
Während also die sprachhistorischen und diachronen Forschungen seit
den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts einen neuen Aufschwung erleb-
ten, neue Herangehensweisen und folglich neue Ergebnisse hervorbrach-
ten (z. B. die Laborphonologie, die Optimalitätstheorie und die Evoluti-
onsphonologie in der Lautgeschichte, die Grammatikalisierungsprozesse
in der Morphosyntax und/oder Semantik und die Diskursanalyse in der
historischen Pragmatik, um hier nur einige zu nennen), erscheinen diese
Trends in der Finnougristik nur ausnahmsweise. Allerdings ist diese Prob-
lematik auch stark sprachenabhängig: Es wäre eine unerfüllbare Aufgabe,
die historische Entwicklung der Diskursmarker in Sprachen ohne Schrift-
tum bzw. in Sprachen, deren aufgezeichnete Belege keine (quasi-
sprechsprachliche) Diskurse beinhalten, untersuchen zu wollen. Fest steht
jedoch, dass man sehr wohl die zu verfolgenden – auch von den Ergeb-
nissen der synchronen Beschreibungen nicht unabhängigen – Forschungs-
richtungen bestimmen kann. Und dies sollte gerade deshalb geschehen,
weil die Finnougristik auf ebendiese Weise jene bemerkenswerten Ergeb-
nisse hervorzubringen imstande ist, mit denen sie zu den allgemeinen
sprachhistorischen Forschungen unserer Tage beitragen kann.18

5. Über die Zukunft


Es stellt sich die Frage, warum der Aufschwung und die neuen Trends der
sprachhistorischen und diachronen Forschungen in der Finnougristik
bislang kein Echo fanden. Eine der naheliegendsten Antworten ist sicher-
lich, dass diese Disziplin eine eigenartige innere Struktur aufweist: Die
internationale Kooperation funktionierte bis zuletzt überhaupt nicht19, die
interpersonellen Beziehungen waren dafür auch kaum ausreichend. Auch
an der Ausbildung und der Förderung des Nachwuchses krankt es (so
nehmen unter anderem die Ausbildungsstätten der Finnougristen in den
verschiedenen akademischen Einrichtungen unterschiedliche Positionen

18 S. auch Fußnote 7.
19 Im letzten Jahr begann in Bezug auf die Soziolinguistik das ELDIA-Programm
(vgl. http://www.eldia-project.org), in Bezug auf die obugrischen Sprachen das Ob-
BABEL-Programm, das auch sprachhistorische Module beinhaltet (vgl. http://babel.gwi.
uni-muenchen.de/index.php?navi=about_en&abfrage=overview_en).
316 Marianne Bakró-Nagy

ein). Darüber hinaus spielt freilich die Auffassung eine Rolle, dass die
primäre Aufgabe der Finnougristik immer noch darin bestehe, die mittle-
ren Stufen, d. h. die der Tochtersprachen zu rekonstruieren (wobei die
historisch-vergleichende Methode natürlich unumgänglich ist). Doch es ist
ohne lange Argumentation einzusehen, dass zur Lösung dieser Aufgabe
grundlegende Voraussetzungen noch immer fehlen. Hier sei nur auf die
Problematik der ugrischen oder obugrischen Grundsprache verwiesen:
Die Rekonstruktion kann im Fall Letzterer ohne eine kohärente histori-
sche morphosyntaktische Synthese nicht geleistet werden, und im Fall des
Ugrischen fehlen Erkenntnisse über das Protoungarische, das größtenteils
noch unbekannt ist. Und es ließen sich noch weitere Beispiele anführen.
Seit den 1990er Jahren intensivierte sich die Feldforschung. Dies rühr-
te nicht zuletzt auch daher, dass die Sprecher der kleineren uralischen
Sprachen – aufgrund der veränderten politischen Verhältnisse – nun auch
für ausländische Forscher leichter erreichbar waren. Natürlich hat hier
aber die russländische Finnougristik die unvergleichbar besseren Möglich-
keiten und sie kann letztlich auch gute Ergebnisse aufweisen. Ging es in
den Anfängen der Feldforschung noch darum, Material für eine (mög-
lichst) vollständige Beschreibung der gegebenen Sprachvarietät zu sam-
meln, so erfolgt sie heute eingedenk der Tatsache, dass es bald nichts
mehr zu sammeln geben könnte. Deshalb besitzt die Feldforschung im
Moment eine hohe Dringlichkeit. Und zwar auf die Art und Weise, dass
dabei das System der gesprochenen Sprache zu erschließen ist, d. h. es
wird die Beschreibung der Grammatik und die sprachliche Dokumentati-
on fokussiert; gleichzeitig sind aber auch soziolinguistische Erhebungen
im Gange.
Der Ertrag des forschungsthematischen Wandels kann kaum hoch
genug eingeschätzt werden. Schauen wir uns einmal die synchronen
Sprachbeschreibungen an. Wie bereits gezeigt, wurden zur Zeit der großen
Sammlungen am Ende des 19. Jh. und im 20. Jh. vorwiegend folkloristi-
sche Texte aufgezeichnet. Die Textsorte und die Art und Weise der Auf-
zeichnungen bedingt von vornherein, dass das grammatische Datenmate-
rial, das man aus diesen Texten gewinnen kann, zur Beantwortung von
einer ganzen Reihe von Fragen selbst dann ungeeignet ist, wenn der
Sammler die Gelegenheit hatte, gezielt nach solchen Informationen zu
fragen. Besonders die Chrestomathien, die in der zweiten Hälfte des
20. Jh. erschienen, zeugen von gezielten grammatischen Sammlungen.
Dass die Sprachbeschreibungen mangelhaft geblieben sind, ist leicht ein-
zusehen, wenn man die Chrestomathien aufschlägt oder den schmalen
Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik 317

syntaktischen Teil anderer grammatischer Beschreibungen anschaut.20


Von den modernen Feldforschungen und Erhebungen ist es mit Recht zu
erwarten, dass sie gültige Informationen aus erster Hand (!) über die un-
tersuchte Sprache beinhalten, die dann als Grundlage für weitere, z. B.
typologische Untersuchungen (die bedauerlicherweise ein Forschungsdes-
iderat der Finnougristik darstellen21) dienen können. Die Erfahrung zeigt
also, dass man sich viel mehr auf synchrone grammatische Darstellungen
konzentriert als auf die Lösung sprachhistorischer Fragen22, und es ist
ebenfalls bemerkenswert, dass man immer häufiger auch syntaktische
Fragen stellt, selbst wenn die Fragestellung nicht von Seiten der Finnoug-
risten kommt.
Im Rahmen dieses Beitrags dürfte es kaum möglich sein, jeden As-
pekt/jedes Gebiet ausführlich zu behandeln, der/das für die sprachhisto-
rischen Untersuchungen in der Zukunft wichtig sind. Deshalb konzentrie-
re ich mich auf einen einzigen Aspekt, der nach meiner Überzeugung der
wichtigste ist. Die Aufgaben der sprachhistorischen Forschungen im 21.
Jh. werden höchstwahrscheinlich in bedeutendem Maße durch die Ge-
fährdung der kleineren uralischen Sprachen bestimmt werden. Dies dürfte
vor allem die sprachliche Dokumentierung vor große Aufgaben stellen, da
die Gefahr droht, dass in der Finnougristik die Objekte der wissenschaftli-
chen Untersuchung verschwinden. Gleichzeitig liefert die Dokumentie-
rung der Sprachen aber auch die Grundlage für die Fixierung synchroner
grammatischer Befunde und kann auf diese Weise Lücken in anderen
Forschungsbereichen füllen. Mit der Gefährdung der Sprachen beschäfti-
gen sich allen voran die Kontakt- und Soziolinguistik, aber sie gibt auch
der Sprachgeschichte Aufgaben. Wie eingangs angesprochen, sind die
Sprecher der kleineren finnougrischen Sprachen meistens zwei- oder drei-
sprachig. Es ist auch bekannt, dass die Globalisierung des 21. Jh. die
symmetrische Zweisprachigkeit nicht fördert, besonders nicht in einem
Land wie Russland, wo es eine starke Tendenz gibt, wieder einen zentrali-
sierten Nationalstaat zu schaffen, in dem der Schutz von Minderheiten

20 Der Grund dafür ist natürlich auch die Tatsache, dass die syntaktischen Eigenschaften der
stark agglutinierenden uralischen Sprachen oft in den morphologischen Kapiteln behandelt
werden.
21 Die Forderung nach systematischen typologischen Untersuchungen wurde vor ungefähr
fünf Jahren formuliert, vgl. dazu das Uralic Typology Database Project (http://www.
univie.ac.at/urtypol/conf.html). Gleichwohl waren bereits früher einige ausgezeichnete
einschlägige Arbeiten entstanden, s. etwa Korhonen (1996) und Grünthal (2003). Immer
öfter werden auch Diplomarbeiten unter diesem Aspekt geschrieben, was eindeutig zeigt,
dass die manchmal geäußerte Skepsis gegenüber typologischen Beschreibungen keineswegs
allgemein geteilt wird.
22 Besonders erwähnenswert ist die erfreuliche Tatsache, dass das Interesse für etymologische
Forschungen auch nach dem Abschluss der großen etymologischen Arbeiten fortdauert.
318 Marianne Bakró-Nagy

keinen großen Stellenwert hat. Die Sprachrevitalisierungstendenzen, die


sporadisch bereits vorhanden sind, sind vielversprechend (dies gilt umso
mehr, als diese Bestrebungen seit den 1990er Jahren parallel zu dem Auf-
schwung der nationalen Identität zum Vorschein traten), aber mangels
umfangreicherer Erfahrungen ist es fraglich, welche Ergebnisse sie brin-
gen werden. Abgesehen davon ist die Finnougristik Untersuchungen der
Zweisprachigkeit sowie umfangreiche soziolinguistische Forschungen bis
heute schuldig geblieben. Nach der Erschließung und Beschreibung des
gegenwärtigen Sprachzustandes kann das Material, das vor 100–150 Jah-
ren gesammelt (und beschrieben) wurde, mit dem heutigen Sprachzustand
verglichen werden. Dabei ist es allerdings unerlässlich, auch einschlägige
soziolinguistische Befunde zu berücksichtigen. (Durch den Beitrag der
Soziolinguistik wird es z. B. erkennbar, welche Sprachkontakte zu welchen
Interferenzphänomen führen konnten usw.) Diese Chance ist besonders
wertvoll für die Forscher einer Disziplin, für die die sprachliche Vergan-
genheit (mangels Sprachbelegen und schriftlicher Dokumentation) früher
‚nur‘ durch Rekonstruktion erreichbar war.
Die Notwendigkeit der Beschreibung des heutigen Sprachzustandes
hat auch einen wissenschaftsethischen Bezug. Auch heute noch betrachtet
die Finnougristik die Varietäten der Sprachgemeinschaften, die sich im
Prozess des Sprachverlustes befinden, mit einem gewissen Bedauern. Die
Sprachzustände vor 100 Jahren werden im Vergleich zu den heutigen als
Zustände der ‚Vollständigkeit‘ dargestellt (wobei die Sammler bereits in
der sogenannten Blütezeit bemerkt hatten, dass die eine oder andere regi-
onale Varietät der einen oder anderen Sprache intensiv oder weniger in-
tensiv ‚russifiziert‘ ist). Diese Haltung ist verständlich in einer Situation, in
der eine Gemeinschaft dazu gezwungen wird, ihre Erstsprache(n) aufzu-
geben. Es muss jedoch klar sein, dass die heutigen gefährdeten Sprachzu-
stände als Sprachsysteme nicht besser und auch nicht schlechter sind als
die vor 100 Jahren, sondern eben anders. Zu der Herausbildung dieser
Sprachsysteme trugen die kontaktinduzierten Veränderungen in hohem
Maße bei (gleich, was im Hintergrund dieser Kontakte stand oder steht).
Die diachrone Sprachwissenschaft hat die Aufgabe, diese Wandelprozesse
sachlich, ohne Wertschätzungen zu beschreiben.
Es gibt noch eine Aufgabe, die allerdings nicht nur für die histori-
schen bzw. diachronen Forschungen gilt, wenngleich sie mit der sprachli-
chen Dokumentierung zusammenhängt. Die Fachsprachen der Finnoug-
ristik waren auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jh. vorwiegend
Deutsch und Russisch. Mit der Verbreitung des Englischen wird in der
Finnougristik die nicht-englischsprachige Fachliteratur vermehrt außer
Acht gelassen, sodass wichtige Forschungsergebnisse oder Fragestellungen
(zunächst) unbeachtet bleiben. Die Konsequenz ist, dass man mit Infor-
Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik 319

mationen aus zweiter Hand arbeitet, und diese können auch irreführend
sein (die allgemeinen sprachtypologischen Beschreibungen liefern eine
breite Palette falscher finnougrischer Beispiele) und somit die Grundlagen
für falsche Schlussfolgerungen. Andererseits besteht auch die Gefahr, dass
(durchaus richtige) Befunde publiziert werden, die aber in der Finnougris-
tik schon früher formuliert wurden. Die Veröffentlichung der primären
Quellen auf die für die internationale Wissenschaftsgemeinde interpretier-
bare Weise ist ein elementares Interesse aller Beteiligten.

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Die Abkürzungen der wogulischen Dialekte

K = wogulischer Dialekt an der Konda


LO = wogulischer Dialekt an der oberen Lozva
LU = wogulischer Dialekt an der unteren Lozva
P = wogulischer Dialekt an der Pelymka
So = wogulischer Dialekt an der Sosva
TJþ = Tavda wogulischer Dialekt in Janyÿkova und þandyri
VN = wogulischer Dialekt von Nord-Vagilsk
322 Marianne Bakró-Nagy
322 Marianne Bakró-Nagy
322 Marianne Bakró-Nagy

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