Sie sind auf Seite 1von 124

BeNeLux €  7,10 Finnland €  9,10 Griechenland €  7,50 Norwegen NOK  97,– Portugal (cont) €  7,20 Slowakei €  7,40 Spanien €  7,40

(cont) €  7,20 Slowakei €  7,40 Spanien €  7,40 Tschechien Kc 220,- Printed


Dänemark dkr 67,95 Frankreich €  7,40 Italien €  7,80 Österreich €  6,80 Schweiz sfr  8,90 Slowenien €  7,20 Spanien / Kanaren €   7,70 Ungarn Ft 3390,- in Germany

BILLIGSTROM

dann abgezockt
Erst angelockt,
Die Saga als
Milliardenserie
»HERR DER RINGE«

Wie Moskaus Agenten in Deutschland operieren


Demokratie?
CANCEL CULTURE
Eine Gefahr für die

Putins Saboteure
DEUTSCHLAND € 6,10
Nr. 35 | 27.8.2022
Genau wie das Heft.
Nur viel mehr drin.
Entdecken Sie mit SPIEGEL+ jetzt die ganze digitale Welt des
SPIEGEL – mit Nachrichten und Hintergründen, Audio-Inhalten und
Videos. Inklusive ist das digitale Magazin und vieles mehr!

Zugriff auf alle S+-Inhalte


Jetzt auf SPIEGEL.de

1 Monat
gratis Der digitale SPIEGEL
freitags ab 13 Uhr

PDF

Alle aktuellen SPIEGEL-


Magazine als PDF

Digitales Archiv mit allen


SPIEGEL-Titeln seit 1947

DER SPIEGEL zum Anhören


und der Podcast SPIEGEL Daily

Kostenlosen Probemonat starten:


abo.spiegel.de/plus1
Das Wissen
HAUSMITTEILUNG
der Besten
Titel | Seite 8

Wladimir Putin führt seinen Krieg gegen den Westen nicht


HC Plambeck / DER SPIEGEL

nur mit Soldaten und Panzern in der Ukraine, sondern auch


mit Spionen und Attentätern in Europa. Seine Leute sollen
etwa in Deutschland Gegner einschüchtern oder ausschalten,
Wahlen manipulieren, geheime Informationen abgreifen. Die
Topagenten werden »Illegale« genannt, sie haben von langer
Hand aufgebaute Tarnidentitäten und werden fürstlich be-
zahlt. Auslands- und Militärgeheimdienst leisten sich nicht
mehr als insgesamt 70 dieser Edelspione. Dem SPIEGEL , den Investigativplattformen Bellingcat
und The Insider sowie der italienischen Tageszeitung »La Repubblica« ist es nun ge­lungen, Mit-
glieder dieser elitären Kaste zu enttarnen, etwa Maria Adela K., angeblich in Peru ­geboren. Ihr
wahrer Name: Olga K., geboren im Süden Russlands. Was ihre Aufgaben waren, wie sie und wei-
tere Spione in Deutschland und anderen Staaten vorgehen, das beschreibt Fidelius Schmid (M.)
zusammen mit Martin Knobbe, Wolf Wiedmann-Schmidt und weiteren Kollegen im Titelstück
dieser Ausgabe. Sie analysieren den konzertierten Angriff der Geheimdienste auf den Westen, den
deutsche Politiker lange Zeit nur halbherzig bekämpften. Schmid: »Nicht einmal jetzt kann sich
die Bundesregierung durchringen, auch nur die Hälfte aller bislang identifizierten russischen Agen-
ten aus dem Land zu werfen.«
Jetzt
neu im
Ukraine | Seite 44
Handel

Anne Gabriel-Jürgens / DER SPIEGEL


SPIEGEL-Redakteurin Alexandra Rojkov erlebte den Kriegsaus-
bruch in der Ukraine und verbrachte seitdem viele Wochen im
Land. Während eines Aufenthalts sah sie in einer Onlinegruppe das
Foto eines Schilds, es stand vor einer Ruine, auf dem Schild vier
Junge Säcke, alte Hüpfer
­Namen mit Todesdatum. Das Schild hatte ein Junge in den Boden Die meisten Vorurteile sind
gerammt, sein Name ist Kolja, sein Vater, seine Mutter, seine beiden
Schwestern wurden in Mariupol getötet. Rojkov suchte den Jungen, falsch. Ein guter Altersmix macht
fand ihn, die beiden sprachen stundenlang über das, was seiner Teams erfolgreicher.
­Familie in der zerstörten Stadt zugestoßen war. Rojkov sah Fotos, Videos und sprach mit weiteren
Leuten, deren Aussagen Koljas Geschichte belegen. »Andere Menschen wären an dem, was er
­erlebt hat, zerbrochen«, sagt Rojkov. »Koljas Stärke hat mich beeindruckt wie wenig zuvor.«
Weitere Themen:
Singles | Seite 38
Strategie
Single zu sein ist nicht immer eine Wahl, manchmal ist es Mehr Erfolg mit einem
Schicksal. Eine Ehe zerbricht, der Partner stirbt, und Mann
Maria Feck / DER SPIEGEL

oder Frau stehen wieder allein da. Wie machen diese Men- zweiten Standbein
schen Urlaub, was erhoffen sie sich von den angeblich schöns-
ten Wochen im Jahr? Diese Fragen stellte sich Redakteurin
Barbara Hardinghaus (l.). Sie sah sich um auf dem Reisemarkt Selbstreflexion
für Singles und nahm an einer Radreise durch die Lünebur-
ger Heide teil, mit Männern und Frauen zwischen 45 und
Was großartige Führungskräfte
70 Jahren, eine der größten Altersgruppen unter den Alleinstehenden. Vier Tage dauerte die Rei- auszeichnet
se, Hardinghaus lernte unter anderem, dass Singlereisen oft von Optimisten gebucht werden: »Die
Teilnehmer hatten alle schon viel hinter sich, aber sie wollen auch noch etwas vor sich haben.«

SPIEGEL SPEZIAL
Vertrieb
Helfen Sie Kunden
Einmal im Jahr widmet der SPIEGEL eine Ausgabe komplett einem gro- YjgX]�Y^Z�9ViZcÁji
ßen Thema. In dem Heft, das am Mittwoch erscheint, geht es um die Ge-
neration der heute 18- bis 30-Jährigen – die System-Sprenger. Wie ist
es, zwischen Pandemie, Krieg in der Ukraine und Klimawandel erwach-
sen zu werden? Da ist Verzweiflung, da gibt es Irrtümer, es ergeben sich
aber auch Chancen: Die Jüngeren können den Älteren Vorbild sein. Jun- manager-
ge Erwachsene engagieren sich vermehrt in Parteien, befreien sich von Nachrichten
Rollenbildern. Das Heft wird Abonnenten zugestellt, am Kiosk wird es Jetzt App
mit weißem Rahmen unter der Marke SPIEGEL SPEZIAL zu finden sein. downloaden

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 3


harvardbusinessmanager.de
INHALT TITEL

8 | Geheimdienste Wie
Russlands Spione im Westen
operieren
DER SPIEGEL 76. Jahrgang | Heft 35 | 27.8.2022

17 | Sicherheit Eine Tochter


Wladimir Putins reiste dutzendfach
unbemerkt nach Deutschland

DEUTSCHLAND

[M] Ole Schleef / DER SPIEGEL; Schoening / ddp, Xander Heinl / Photothek / Getty Images
6 | Leitartikel Gesundheits-
minister Karl Lauterbach scheitert
an seinen eigenen Ansprüchen

20 | Neue Debatte in der Union


um Frauenquote / Kältere Büros
in den Behörden / Die da unten /
So gesehen: Näher beim Volk

24 | Bundesregierung Erste
Zweifel an Olaf Scholz in der SPD

27 | Bayern Horst Seehofers


Tochter kandidiert für die FDP

28 | Karrieren EU-Kommissions-
chefin Ursula von der Leyen fällt
in alte Fehler zurück

30 | Recht Ex-Verfassungsrichter
Andreas Paulus wirft Russland

Hacker, Agenten, Killer im SPIEGEL-Gespräch den Miss-


brauch des Völkerrechts vor

33 | Gesundheit Wie sich


TITEL Wladimir Putins Spione greifen seit Jahren den Westen an. Sie Ärzte in Berliner Impfzentren
infiltrieren Computernetze, spähen, agitieren und sabotieren – aufführten
und morden am helllichten Tag auf deutschem Boden. Warum ist die 34 | Verkehr Kommt die bundes-
Bundesregierung erst so spät aufgewacht? | 8, 17 weite Flatrate für Bus und Bahn?

36 | Eltern Das Schicksal


ukrainischer Leihmütter

38 | Freizeit Eine Singlereise


durch die Lüneburger Heide

REPORTER

42 | Familienalbum / Soll
Nicolas Armer / picture alliance / dpa

man Flüchtlingskinder
zur Einschulung beschenken?
Peter Rigaud / DER SPIEGEL

Marzena Skubatz / laif

43 | Eine Meldung und ihre


Geschichte   Warum Männer
freiwillig Autos anheben

44 | Schicksale Ein 17-Jähriger


verlor in Mariupol seine ganze
Katharina Wagner Maodo Lô Uğur Şahin Familie – wie lebt man weiter
Die Festspielleiterin über Sexis- Der Basketballer, Sohn einer Der Biontech-Chef erklärt, nach einem solchen Verlust?
mus, die Männerdomäne Klassik berühmten Malerin, soll Deutsch- warum es doch dringend einen
und Bayreuths Zukunft | 108 land zum EM-Titel führen. | 86 Omikron-Booster braucht. | 94 51 | Kolumne Leitkultur

4 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
WIRTSCHAF T SPORT

52 | Rechnungshof: Regierung 85 | Serena Williams’ letzte


muss sparen / Eco-Programme ­große Titelchance / Macht
bei Waschmaschinen werden ­Leistungssport abhängig von
kaum genutzt Schmerzmitteln?

54 | Rüstungsindustrie  Der 86 | Karrieren  Der Berliner


Rheinmetall-Konzern ist in Maodo Lô ist Hoffnungs­träger
einen spektakulären Skandal- für die Basketball-EM
deal in Malaysia verwickelt
89 | Märkte  Ex-DFL-Chef

Kay Niet feld / dpa


57 | Entlastung  Eine Studie Christian Seifert über
zeigt, dass die Regierung ­vernachlässigte Sportarten
zuerst den schwächeren Haus-
halten helfen muss
WISSEN Läuft nicht, Kanzler
58 | Energie  Ein Strom- und
Olaf Scholz verliert den Schwung. Seiner Regierung
Gasanbieter lockt mit Festpreis- 90 | Neue Spur zu den Gefalle-
fehlt ein klarer Kurs in der Gaskrise, seine Popularität schwindet,
garantie und erhöht dann nen der Schlacht von Waterloo /
die SPD wird nervös. | 24
­drastisch die Tarife – darf er das? Analyse: Funktioniert Regen­
machen gegen Dürre?
60 | Serie Transformation:
Die neue Unabhängigkeit (X)  92 | Corona  Der Virenkiller Pax-
Europa will endlich unabhängig lovid wird zu wenig verschrieben
werden von chinesischen
­Batterien – doch der Vorsprung 94 | Impfstoffe  Biontech-Chef
ist kaum einzuholen Uğur Şahin über ein Frühwarn­
system gegen neue Virusvarianten
64 | Geldwäsche  Ein Oligarch
konnte offenbar eine 97 | Medizin  Die hoffnungs­
Bank in Liechtenstein kapern volle Geschichte einer deutschen
Verena Müller / DER SPIEGEL

ALS-Patientin

AUSLAND
KULTUR
66 | Israels Vorgehen gegen
­Palästinenser-Organisationen / 102 | Der Krimi »Das Dunkle
Chinas Dürreproblem bleibt« / Neue Musik von Ezra
Furman Sensationelle Rettung einer Patientin
68 | Großbritannien  Der
Die Muskellähmung ALS führt dazu, dass die Betroffenen im eigenen
­ehemalige Labour-Berater 104 | Zeitgeist  Warum wir oft
Körper gefangen sind. Bei einer 18-jährigen Deutschen ist es
­Alastair Campbell und auf irrationale Weise zu vernünf-
nun gelungen, die meist tödlich endende Krankheit zu stoppen. | 97
der ­Ex-Tory-Politiker Rory tigen Entscheidungen kommen
­Stewart im spiegel-Gespräch
über politische Streitkultur 108 | Oper  spiegel-Gespräch
mit Katharina Wagner über
71 | Chile  Der Entwurf einer die Macho-Kultur in der Klassik
neuen Verfassung spaltet das Land
111 | Gastbeitrag  Natan
72 | Ukraine  Die Angriffe S
­ znaider gefällt das Buch »Isidor«
der ukrainischen Armee auf die
­besetzte Krim-Halbinsel 112 | Streaming  Kann das
­treffen Moskau an einem emp- Serien-Spin-off von »Der
findlichen Punkt Herr der Ringe« überzeugen?

74 | Globalisierung  China 114 | Kunst  Eine Schau über


bindet die Staaten des den »Simplicissimus« unter-
Amazon Prime Video

Balkans an sich und nimmt schlägt die NS-Vergangenheit


keine Rücksicht auf die ­einiger Karikaturisten
Natur – die EU sieht zu
115 | Buchkritik  Wie es ist,
mit dem Philosophen Foucault
DEBAT TE LSD zu nehmen Eine Milliarde für ein Märchen
SPIEGEL-TV-Programm | 96  Bestseller | 107 »Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht« ist die teuerste
Impressum, Leserservice | 116
78 | Demokratie  Die Bedrohung Nachrufe | 117  Personalien | 118
Serie aller Zeiten. Dahinter steht mit Amazon ein mächtiger Konzern.
der Meinungsfreiheit Briefe | 120  Hohlspiegel / Rückspiegel | 122 Was bedeutet das für den Streamingmarkt? | 112

Titelfoto [M]: Mikhail Svetlov / Getty Images Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 5


Doctor Strange
LEITARTIKEL  In der Coronapolitik bleibt Minister Karl Lauterbach hinter seinen eigenen Ansprüchen zurück,
während das Gesundheitswesen als Ganzes verwahrlost.

Beim Coronamedikament Paxlovid hat er keine viel


bessere Figur abgegeben. Lauterbach redet sich den Mund
fusslig, damit Ärztinnen und Ärzte das Mittel gegen
schwere Covid-19-Verläufe verschreiben, nur dringt er
nicht durch (siehe Seite 92). Ändert sich nichts, müssen
womöglich Hunderttausende Dosen demnächst vernich-
tet werden.
Bestätigt fühlen sich Weggefährten, die früh vor einem
Minister Lauterbach warnten. Der könne gut aus wis­
senschaftlichen Studien zitieren, diese aber schlecht in
Politik umsetzen. Er sei einer, der alles besser wisse, aber
nicht managen könne. Ein Einzelgänger, der Gruppen-
arbeit hasst.
So einer muss sich jetzt mit Justizminister Marco Busch-
mann von der FDP einigen, der im Sommer selbstver-
ständlich in den Urlaub gefahren ist und gern eine Position
vertritt, die der Lauterbachs entgegen­gesetzt ist. Das alles
Filip Singer / epa

unter einem Kanzler, bei dem sich der Gesundheitsminis-


ter nicht sicher sein kann, ob er ihm den Rücken stärkt
oder ihm in den Rücken fällt, siehe Regierungsflieger.
Der Mediziner Lauterbach ging in die Politik, um das

U
rlaub? Gab’s für Karl Lauterbach diesen Sommer Gesundheitssystem zu verändern. Nun hätte er die Macht
nicht. Während andere am Strand lagen, saß er im dazu, doch er nutzt sie kaum. Die gesetzliche Kranken-
Büro, brütete über einem Siebenpunkteplan und versicherung steht vor einem Rekorddefizit. Lauterbach
kultivierte sein Image als Streber, der findet, dass die Lage lässt als Gegenmittel die Kassenbeiträge erhöhen. Als
viel zu ernst sei, um sich Entspannung zu gönnen. wären die Bürgerinnen und Bürger durch Inflation und
Lange hat dieses Bild verfangen. Zu Beginn der Pan- Energiepreisanstieg nicht schon genug belastet.
demie war Prof. Dr. Karl Lauterbach für viele Menschen Warum zögert Lauterbach so bei Reformen? Mehr
die Stimme der Vernunft. Die Begeisterung über seine Digitalisierung im Gesundheitswesen, weniger Medizin-
Talkshow-Auftritte trug ihn auch gegen Kritiker aus der bürokratie – wirklich vorangetrieben wird das nicht. Je-
eigenen Partei in sein heutiges Amt. der weiß, dass es zu viele kleine Kliniken gibt, die keine
Die Euphorie ist weg. Kaum einer will noch so ver- besonders gute Versorgungsqualität liefern; Lauterbach
nünftig wie Lauterbach sein. Selbst der Kanzler und der hat das früher selbst oft kritisiert. Anstatt die Reform
Wirtschaftsminister saßen am Sonntag ohne Maske im endlich anzugehen, sammelt er weiter Stellungnahmen.
Regierungsflieger, gemeinsam mit Journalisten. Lauter- Derweil jagen sich die Krankenhäuser gegenseitig das
bach wird im Kabinett die Rolle des Doctor Strange zuteil. wenige Personal ab und wissen nicht, wie sie mit den
Selbst an den eigenen Ansprüchen gemessen, ist er steigenden Energiekosten umgehen sollen.
gerade dabei zu scheitern. Aus eigener Schuld: Er hat Was zu tun wäre, weiß Lauterbach genau, theoretisch.
einfach nicht geliefert. Lauterbach hält Corona weiterhin Eine Expertenkommission hat bereits eine erste Empfeh-
für eine Riesengefahr, doch im Kabinett präsentierte er lung abgegeben, die der Minister in ein Gesetz gießen
diese Woche einen Vorschlag für die Weiterentwicklung könnte. Es geht um die Modernisierung kaputtgesparter
des Infektionsschutzgesetzes, der vor allem Verwirrung Kinderstationen. Ein guter Vorschlag. Was machen Sie
erzeugt. daraus, Herr Minister?
Er gilt als Die Länder können beschließen, dass jeder, der ein Es ist nicht so, dass Lauterbach seine Ambitionen
einer, der Restaurant und andere »öffentlich zugängliche Innen- ­verloren hätte. Zu Beginn des Sommers sprach er davon,
alles besser räume« betritt, künftig eine Maske aufsetzen muss. Zu-
gleich gilt: Wer einen frischen Test vorweisen kann, darf
einen »Zwischenspurt« in der Gesundheitspolitik ein­
zulegen und fünf große Reformvorhaben anzugehen. Es
weiß, aber ohne Maske ins Restaurant. Die Ausnahme von dieser treibt ihn um, wenn Menschen an Corona sterben, obwohl
nicht managen Pflicht kann auch auf frisch Geimpfte ausgeweitet wer- dies vermeidbar wäre. So kündigt er immer neue Covid-
den – aber nur für drei Monate. Braucht man künftig also Initiativen an. Und bekommt sie dann nicht durch. Diese
kann: ein ein Impf-Abo, wie manche Medien behaupten? Niederlagen machen ihn zur tragischen Figur.
Einzelgänger, So ganz stimmt das nicht, aber in dieser Gemengelage Er muss begreifen, dass er als Minister nicht daran
den Überblick zu behalten ist ambitioniert. Und wer soll ­gemessen wird, ob er erklärt, wie es richtig ginge. Sondern
der Gruppen- das alles kontrollieren? Lauterbachs Vorschlag klingt nach daran, dass er es macht.
arbeit hasst. Umsetzungschaos. Milena Hassenkamp  n

6 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


Die SPIEGEL-Klimakonferenz

Versorgungssicherheit – Bremse oder


Katalysator für den Klimaschutz?
Deutschland muss sich aus der Abhängigkeit von fossiler
27. September Anmeldung
Energie aus Russland lösen. Aber wie lässt sich die zum kostenlosen
Energieversorgung gewährleisten und gleichzeitig der ab 14 Uhr Livestream:

Klimaschutz voranbringen? Live auf


SPIEGEL.de
Seien Sie dabei, wenn führende Köpfe aus Politik,
Wirtschaft und Wissenschaft über die Energiewende
und Fragen der Versorgungssicherheit diskutieren.

Robert Habeck Klaus Müller Katherina Reiche Matthias Tauber


Vizekanzler und Minister für Präsident der Vorstandsvorsitzende Westenergie Europachef
Wirtschaft & Klimapolitik Bundesnetzagentur und Vorsitzende des Nationalen Boston Consulting Group
Wasserstoffrates der Bundesregierung

Luisa Neubauer Dirk Schmitz Stefan Wintels Steffen Klusmann


Klimaschutzaktivistin Vorstandsvorsitzender Vorstandsvorsitzender Chefredakteur
BlackRock Asset Management der KfW DER SPIEGEL
Deutschland AG

Begleitend zur Konferenz finden Sie auf spiegel.de/klimakonferenz ein umfangreiches


Themenpaket rund um die Jahrhundertherausforderung Klimawandel: Entdecken Sie
unsere Reportagen, Interviews, Podcasts, Videos und Infografiken.

In Kooperation mit Premium-Partner der Klimakonferenz

Bildnachweise: Robert Habeck © BMWK/Dominik Butzmann; Klaus Müller © Bundesnetzagentur; Martina Merz © thyssenkrupp AG;
Matthias Tauber © Boston Consulting Group; Stefan Wintels © KfW Bankengruppe / Alex Habermehl; Luisa Neubauer © Oguz Yilmaz;
Dirk Schmitz © BlackRock; Steffen Klusmann © David Maupile/DER SPIEGEL
TITEL

6
3

Die Agenten
1 | Spionin Chapman  2 | Nato-Stützpunkt in Neapel  3 | US-Flugzeugträger im Golf von Neapel  4 | Agentin K. 
5 | Basis der U. S. Navy in Neapel  6 | K. auf Facebook-Foto

8 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


TITEL

Putins Schattenkrieger
GEHEIMDIENSTE  In einer breit angelegten Offensive greift Russland den Westen an. Hacker infiltrieren
Computer­netze, Eliteagenten spionieren, agitieren und sabotieren, sie schrecken vor Morden nicht
zurück. Lange haben vor allem die Deutschen das Problem ignoriert, nun soll die Abwehr ausgebaut werden.

F
ünf Monate nach ihrem plötz­ de in Moskau ein nagelneuer Audi A3 auf unsere gesamte westliche Gesell­
lichen Verschwinden gab Maria auf ihren Namen zugelassen. schaft«, sagt das Regierungsmitglied
Adela K. ein Lebenszeichen von »Illegale« werden russische Spione eines großen europäischen Staates.
sich. Sie habe versucht, sich vor sich wie K. genannt. Es sind Männer und »Von Wahlbeeinflussungskampa­
selbst zu verstecken, schrieb sie ihren Frauen, die mit aufwendig konstru­ gnen bis zu Hinrichtungsmissionen
Freundinnen und Freunden in einem ierten Lebensläufen über Jahre un­ – Russland behandelt Europa wie sei­
emotionalen Post auf Facebook, aber auffällig im Westen leben, fest inte­ ne Spielwiese«, sagt Marc Polymero­
jetzt müsse sie »die Wahrheit enthül­ griert in die Gesellschaft der Länder, poulos. Er leitete von 2017 bis 2019
ullstein bild

len«: Sie habe Krebs. die sie ausspionieren. die Operationen des US-Geheim­
32 Facebook-Freunde reagierten Zu Dutzenden wurden sie schon dienstes CIA in Europa und Eurasien.
prompt. Sie zeigten sich betroffen, sie zu Sowjetzeiten eingesetzt, die Net­ Mit Warnungen davor sei er in
Logo des FSB:
freuten sich, von ihr zu hören, spra­ Unterdrückung im flix-Serie »The Americans« hat ihnen Deutschland immer wieder »auf tau­
chen ihr Mut zu. Doch kurz darauf Inland, Anschläge ein filmisches Denkmal gesetzt. be Ohren« gestoßen.
tauchte K. wieder ab und ließ ihre im Ausland »Illegale« wie Adela K. gehören »Mit dem russischen Angriffskrieg
Freunde im Ungewissen. zu jenem Netz von Agentinnen und auf die Ukraine hat die Bedrohung
[M] Ole Schleef / DER SPIEGEL; Andrei Gorshkov / Sputnik Kremlin / AP, Eliot Blondet / action press, Salvatore Esposito / picture alliance / Pacific Press, Vincenzo Izzo / ddp

Vieles spricht dafür, dass die Nach­ Agenten, die weltweit für Moskau im durch russische Spionage, Desinfor­
richt mit der Krebserkrankung aus Einsatz sind, um zu schnüffeln, zu mationskampagnen und Cyberangrif­
dem Jahr 2018 erfunden war, wie so sabotieren, sogar um zu morden. Sie fe nochmals eine andere Dimension
vieles im Leben von Maria Adela K. sind die klandestinen Sturmtruppen erhalten«, sagt Bundesinnenministe­
Wie eigentlich alles. Tarnen und Täu­ in einer breit angelegten Offensive rin Nancy Faeser (SPD) heute.
schen gehören wohl zu ihrem Beruf, gegen den Westen. Putins Geheim­ Wie nah der sichtbare und der un­
die vermeintliche Geschäftsfrau ist in dienste beeinflussen politische Par­ sichtbare Krieg beieinanderliegen,
Wahrheit offenbar eine Spionin im teien, manipulieren Wahlen, steuern konnte man am 24. Februar beobach­
Dienste der Russischen Föderation. Telegram-Kanäle und schüren mit ten, dem Tag von Russlands Angriff
Gemeinsame Recherchen des Logo der GRU: Falschinformationen Proteste im auf die Ukraine. Plötzlich fielen mas­
SPIEGEL , der investigativen Plattfor­ Giftattentate und Westen. Sie infiltrieren die Computer­ senhaft Internetverbindungen über
men Bellingcat und The Insider sowie Hackerattacken netze westlicher Regierungen und Satelliten bei Kunden des US-Anbie­
der italienischen Tageszeitung »La hacken sich in hochsensible Anlagen. ters Viasat aus.
Repubblica« legen nahe, dass K. als Das Ziel: Zermürben, Spalten, Ver­ In Deutschland verloren 5800
Agentin des russischen Militärge­ unsichern. Der russische Präsident Windkraftanlagen die Verbindung zu
heimdienstes GRU auf Mitarbeiterin­ Wladimir Putin, einst selbst Offizier ihrer Zentrale, das eigentliche Ziel
nen und Mitarbeiter des Nato-Stütz­ des Geheimdienstes KGB, hat seine der Attacke war indes ein anderer
punkts in Neapel und der dortigen Agentinnen und Agenten so mächtig Viasat-Kunde: das ukrainische Militär
Basis der US-Marine angesetzt war. gemacht wie kaum ein anderer Herr­ und dessen mobile Netzversorgung.
Womöglich sollte K. auch in Deutsch­ scher in der Welt. Die Angreifer waren durch eine
land spionieren. Zehntausende Mitarbeiter des In­ Schwachstelle in die Netzwerkver­
Wie so oft in Spionagefällen fehlt landsdienstes FSB, des Auslands­ waltung des Betreibers vorgedrungen.
Logo des SWR:
der letzte Beweis, doch die Indizien Weltweit im Under­
dienstes SWR und des Militärgeheim­ Von dort hatten sie die Satelliten­
sind erdrückend. K. benutzte Aus­ cover-Einsatz dienstes GRU führen einen Schatten­ modems der Kunden angewiesen,
weise, die offensichtlich aus einer von krieg gegen den Westen, im Ringen ihren Flashspeicher zu überschreiben
der GRU ausgestellten Serie stam­ um Macht und Einfluss, um Rohstof­ – und machten sie damit vorerst un­
men. Sie wollte unter Verwendung fe und Geld. Dieser Krieg dauert be­ brauchbar. Viasat schickte seinen
falscher Angaben die peruanische reits viel länger an als der sichtbare Kunden fast 30 000 neue Geräte.
Staatsbürgerschaft erlangen und Krieg in der Ukraine. Die digitale Schlacht hatte begon­
suchte die Nähe zu Mitarbeitern der Deutschland, die wirtschafts­ nen, bevor die ersten russischen Ra­
beiden Militärstützpunkte – bis sie stärkste Demokratie in Europa, ist keten starteten. EU und USA haben
die Krebserkrankung erfand, um erst eines der wichtigsten Ziele der Rus­ mittlerweile Russland für den Cyber­
einmal abzutauchen. sen. Die Gegenwehr war lange ver­ angriff verantwortlich gemacht. Ziel
Den Recherchen zufolge lautet ihr halten, die Politik wacht nur langsam sei es gewesen, die ukrainischen
richtiger Name Olga Wassiljewna K., aus einem jahrzehntelangen Däm­ Kommandostrukturen während des
geboren im Juni 1982 in der südrus­ merschlaf auf. Einmarsches zu stören.
sischen Provinz. Kurz vor ihrer auf­ »Was hier passiert, ist ein Angriff Was kommt da noch auf Deutsch­
wühlenden Facebook-Nachricht wur­ auf unsere liberalen Demokratien, land zu? Die Frage treibt die Bundes­

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 9


TITEL

regierung um. Sie habe Angst vor Angriffen tionen. Also legte Adela K. eine Bescheini-
auf deutsche Stromnetze, sagte die grüne »Die Männer flogen nur so gung vor, wonach sie am 14. September 1978
Außenministerin Annalena Baerbock im Juli. auf Adela.« in der Gemeinde Cristo Liberador in Callao
Innenministerin Faeser legte jüngst eine neue getauft worden sei.
Marcelle d’Argy Smith, frühere Freundin
Cybersicherheitsagenda vor. Die Befugnisse der Agentin
Als die Behörden dort nachfragten, beka-
auf Bundesebene reichten für die Bedro- men sie eine erstaunliche Antwort: Die Kir-
hungslage nicht aus, warnt ihr Ministerium. chengemeinde sei erst 1987 gegründet wor-
Doch mit der Reaktion auf die russischen den, folglich konnte dort 1978 niemand ge-
Spione ist es ein bisschen wie beim russischen Außenministeriums in Den Haag rekrutierte. tauft worden sein. Die Beamten verweigerten
Gas. Während osteuropäische Staaten, die Den Mann belasteten Geldsorgen und die die Ausstellung eines Ausweises, ein Ermitt-
USA und Großbritannien seit Jahren vor den schwere Krankheit seiner Frau. Er lieferte den lungsverfahren wegen der falschen Angaben
Operationen russischer Dienste warnen, ha- beiden über Jahre Hunderte Dokumente aus wurde eingeleitet. Doch wer sorgt sich in
ben die Regierungen in Berlin, Paris und Rom dem Innenleben der EU und der Nato. 2013 Europa schon um eine Urkundenfälschung in
die Augen vor dem verschlossen, was sich da wurde das Paar zu mehrjährigen Haftstrafen Südamerika?
zusammenbraute. verurteilt, aber schon bald nach Moskau ab- Maria Adela K. tauchte ab 2006 an ver-
Seit dem Fall der Mauer war der Wunsch geschoben. schiedenen Orten in Europa auf, als »führen-
nach Freundschaft mit Russland groß. Nach Mit dem klassischen Agentenmodell ver- de Spezialistin« ohne genauere Spezifikation
den Anschlägen vom 11. September 2001 sucht Russland auch weiterhin, seine Gegner an der staatlichen Universität in Moskau, als
stellte der Bundesnachrichtendienst jahrelang zu infiltrieren. Kürzlich plante der Kreml, Modestudentin in Rom, als Beachgirl in einem
sogar die Gegenspionage ein, also die Auf- einen Spion in eines der höchsten Gerichte nach Angaben einer Augenzeugin »winzigen«
klärung gegnerischer Nachrichtendienste. Es der Welt einzuschleusen: Vor einigen Mona- Bikini auf Malta, als angebliche Studentin in
gab jetzt neue Feinde. 2001 hielt Wladimir ten bewarb sich ein vermeintlich aus Brasilien Paris, mit Wohnsitz im 13. Arrondissement.
Putin im Bundestag eine Rede, für die er stammender Mann beim Internationalen Die französische Botschaft in Moskau hatte
Standing Ovations bekam – obwohl russische Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag. ihr offenbar das erste Visum für den Schen-
Soldaten kurz zuvor die tschetschenische Victor Muller Ferreira, angeblich 1989 in gen-Raum ausgestellt, fortan spann K. weiter
Hauptstadt Grosny in Schutt und Asche gelegt Rio de Janeiro geboren, brachte neben einer an ihrer Legende.
hatten. Westliche Regierungen suchten Putins bewegenden Familiengeschichte ein außer- 2012 heiratete sie einen jungen Mann, der
Nähe, nicht nur wirtschaftlich. ordentlich positives Empfehlungsschreiben gleich drei Pässe besaß: einen russischen,
Nach dem 11. September glaubte man, si- seines Professors an der renommierten Johns- einen ecuadorianischen und einen italieni-
cherheitspolitisch ein gemeinsames Ziel zu Hopkins-Universität mit. Er bekam eine Zu- schen. Im Oktober desselben Jahres gründe-
verfolgen: den Kampf gegen den islamisti- sage für das Praktikum beim IStGH. Muller te sie eine Firma mit Sitz in Paris, es ging unter
schen Terrorismus. Die Spionageabwehr wur- Ferreira plante, Anfang April in die Nieder- anderem um den Handel mit Schmuck, Le-
de vernachlässigt, sie galt als Relikt des Kalten lande zu reisen. derwaren und Wein.
Krieges. Man übersah dabei, dass zwar die Tatsächlich heißt der vorgeblich aufstre- Ihr Mann starb schon 2013 während eines
Sowjetunion untergegangen war, nicht aber bende Experte für internationale Beziehun- Russlandaufenthalts, angeblich an einer Auto-

[M] Ole Schleef / DER SPIEGEL; Schoening / ddp, Mark Reinstein / Shutterstock, Christian Spicker / IMAGO, Sebastian Gollnow / picture alliance / dpa
ihr Geheimdienstapparat. Die Nachlässigkeit gen Sergej Cherkassow und ist ein russischer immunkrankheit. So blieb ihr die italienische
rächte sich wenige Jahre später. Spion, wie der niederländische Auslandsnach- Staatsbürgerschaft vorenthalten. Aber sie be-
Als Erstes erwischte es ein Land, das einst richtendienst AIVD herausfand. Just als die kam eine unbefristete Arbeitserlaubnis.
von den Russen besetzt und in die Sowjet- ersten Berichte über Massaker, Vergewalti- Im Umfeld der Nato und der US-Streit-
union gezwungen worden war. 2007 legten gungen und Folter aus ukrainischen Orten kräfte tauchte K. erstmals 2014 auf. Der Vor-
in Estland russische Hacker die digitale Infra- wie der Kiewer Vorstadt Butscha öffentlich sitzende des größten Lion’s Clubs in Neapel
struktur über Wochen lahm. 2008 flog in dem wurden, hatte Russland offenbar versucht, empfahl sie einem anderen Lion’s Club der
baltischen Staat Herman Simm auf, ein hoch- einen Spitzel in der zentralen Organisation Stadt, dem Monte Nuovo, der von Angehö-
rangiger Beamter des Verteidigungsministe- zu platzieren, die diese Kriegsverbrechen ver- rigen der örtlichen US-Marinebasis und des
riums. Über Jahre hatte er den russischen folgen soll. Allied Joint Forces Command der Nato ge-
Auslandsgeheimdienst SWR mit sensibelsten Wäre der Coup gelungen, hätte Cherkas- tragen wird. Der Klub führt sogar die Insig-
Informationen versorgt. Simm sei »der schäd- sow in Den Haag Beweise manipulieren und nien der Nato in seinem Wappen.
lichste Spion in der Geschichte der Nato«, seine Dienstherrn in Moskau über die Er- Adela K. wurde Sekretärin des Klubs – und
hieß es in einem Geheimbericht der Allianz. mittlungen informieren können. Es kam nicht war nun von potenziellen Informanten um-
2010 flogen Anna Chapman und neun wei- so weit. Cherkassow wurde bei seiner Ein- geben. Offiziell arbeitete sie in ihrem neuen
tere russische Spione in den USA auf. Die reise in die Niederlande erwartet und sofort Laden. Obwohl das Geschäft mit Schmuck
junge Top-Agentin hatte sich Namen und nach Brasilien abgeschoben. und Accessoires nicht sonderlich gut lief,
Staatsbürgerschaft durch die Heirat mit einem Adela K. hingegen wurde bis heute nicht schien K. keine Geldprobleme zu haben. Ihre
Briten verschafft. Die Boulevardpresse taufte verfolgt – obwohl sie beim Aufbau ihrer Tarn- Meldeadressen von damals liegen in einem
sie »Agentin 90-60-90«, weil sie nach ihrer identität einen schweren Fehler machte. der besten Viertel der Stadt, Fotos auf ihren
Enttarnung ihren Körper in Hochglanzzeit- Im August 2005 beantragte sie unter dem Instagram- und Facebook-Profilen offenbaren
schriften präsentierte. Namen Maria Adela K., in das staatliche Per- Aussichten über den Golf von Neapel.
Weniger auffällig verhielt sich das ver- sonenregister Perus eingetragen zu werden. Sie machte bei den Charity-Aktionen der
meintliche Ehepaar Andreas und Heidrun Sie legte eine Geburtsurkunde vor, laut der Lions mit und ging zum jährlichen Nato-Ball.
Anschlag, das für den Auslandsgeheimdienst sie am 1. September 1978 als Tochter eines Mit den Militärs von Nato und US-Marine
SWR aus einem Einfamilienhaus im hessi- deutschen Elternteils in der Küstenprovinz feierte sie ihren Geburtstag. Mit einem US-
schen Michelbach agierte. Auf Veranstaltun- Callao geboren wurde, vor den Toren der Soldaten fing sie eine Liebesbeziehung an.
gen sprachen die beiden Militärs und Ge- peruanischen Hauptstadt Lima. Möglicher- Er ist bis heute davon überzeugt, dass sie sich
schäftsleute, Politiker und Wissenschaftler an, weise wollte sie später die deutsche Staats- weniger für seinen Beruf und sein Land als
der Ehemann hatte zum Schein einen Job bei bürgerschaft beantragen, um unauffällig in für ihn als Mann interessierte.
einer Automobilzulieferfirma angenommen. Deutschland spionieren zu können. Hegte denn niemand Verdacht?
Seinen größten Coup landete das Duo, als Die peruanischen Behörden waren miss- Oberstleutnant Thorsten S, damals in füh-
es einen Beamten des niederländischen trauisch, sie baten um zusätzliche Informa- render Position im Klub, erinnert sich an eine

10 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


TITEL

Die Hacker

1
3
4

Begebenheit. Als der Klub kurz vor K. und Adela K. mit unterschiedlicher ne mit diplomatischer Akkreditierung,
dem finanziellen Aus gestanden habe, Gesichtserkennungssoftware vergli- schätzen westliche Geheimdienste.
habe Adela den Jahresbeitrag für alle chen. Mit sehr hoher Wahrscheinlich- Deren Informanten wissen oft
aus eigener Tasche bezahlt. »Das war keit handelt es sich um ein- und nicht, dass sie es mit russischen Ge-
schon seltsam«, sagt S. dieselbe Person. Auf Fragen des heimdienstlern zu tun haben. Wer
Adelas langjährige Freundin Mar- SPIEGEL antwortete K. nicht. vermutet schon, dass Pawel Rubzow,
celle d’Argy Smith, ehemalige Chef- Adela K. gehört allem Anschein der ehemalige stellvertretende Leiter
redakteurin der britischen »Cosmo- nach zu jenen Agentinnen, für die der des Handels- und Wirtschaftsbüros
politan«, erinnert sich, dass »die russische Staat großen Aufwand be- an der russischen Botschaft, in Wahr-
Männer nur so auf sie flogen«. Immer treibt. Moskau konstruiert für die heit wohl ein Repräsentant des Aus-
wieder habe ihre Freundin sie gebe- Top-Leute komplette Tarnidentitäten landsgeheimdienstes SWR ist? Er wur-
ten, sie »einflussreichen Leuten aus und schickt sie in verschiedene Län- de inzwischen des Landes verwiesen.
Politik und Gesellschaft vorzustel- der der Welt. Dafür, dass sie ihr Le- Wer ahnt schon Böses, wenn man
len«, sagt d’Argy Smith. ben dem Geheimdienst verschreiben, scheinbar zufällig nach einem Raf-
Im Sommer 2018 verschwand werden diese Männer und Frauen tingausflug mit Freunden einem
Adela K. plötzlich aus Neapel und fürstlich bezahlt. Nach SPIEGEL -In- Landsmann beim Fischerfest im bay-
tauchte offenbar als Olga K. wieder formationen unterhalten die Geheim- erischen Schlehdorf begegnet?
in Moskau auf. War das Leben als dienste GRU und SWR insgesamt bis So erging es dem Materialforscher
Agentin zu gefährlich geworden? zu 70 »Illegale«. Es ist eine über- Ilnur N., einem russischen Doktoran-
2020 wurde ein französischer schaubare Anzahl. den der Universität Augsburg. Im
Oberstleutnant auf der Nato-Basis in Eine wichtige Rolle in Russlands Sommer 2019 sprach ihn ein Mann
Neapel als mutmaßlicher russischer Spionagefeldzug spielen Agentinnen auf Russisch an, als er gerade in der
Spion verhaftet. Ob sie mit ihm in und Agenten, die deutlich zahlreicher Schlange an einem Fischstand warte-
Kontakt stand, ist unklar. Ebenso, wel- sind als die »Illegalen«. Sie arbeiten te. Es war Leonid Strukow, offiziell
che Informationen sie an ihre Füh- für Botschaften und Konsulate der 1 | Kernkraftwerk russischer Vizekonsul in München, in
rungsoffiziere in Russland weiterge- Russischen Föderation im Ausland. in Kansas  Wahrheit nach Überzeugung der
geben hatte. Ihre Tätigkeit wird nicht so glorifiziert 2 | FSB-Hacker deutschen Justiz ein SWR-Offizier.
Michail Gawrilow
In Moskau lebt K. seitdem ziem- wie die der Kollegen, doch sie sind 3 | GRU-Mann Dimitri
Er sei öfter in Augsburg, ob man
lich luxuriös, 2021 bestellte sie aus- viele: Insider gehen davon aus, dass Badin  4 | Berserk- sich nicht auf ein Bier treffen könne,
weislich eines Datenleaks des Dienst- der SWR rund 3000 dieser Spione hat, Bear-Mitglied Marat fragte Strukow. Der Angesprochene
leisters Yandex Essen an zwei edle die GRU bis zu 1000. Die meisten Tjukow  5 | Leutnant willigte ein, später fand ein erstes
Pawel Akulow
Moskauer Adressen, mehrmals Sushi, sind als Diplomaten getarnt. Allein in 6 | Cyberkartenspiel
Treffen statt.
einmal Indisch. Der SPIEGEL und Deutschland arbeiteten noch zu Jah- des Verfassungs- Dabei erzählte Strukow nach N.s
seine Partner haben Fotos von Olga resbeginn mehr als 150 russische Spio- schutzes Angaben, er helfe einem Ex-Kollegen

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 11


TITEL

bei einer russischen Bank, die nach Investi- solle er einfach den Bildschirm mit seinem soll er nach Überzeugung der Ermittler den
tionsmöglichkeiten in Weltraumunternehmen Handy abfotografieren. Russen geliefert haben, was er mitbekam. Er
suche. Ob N. aushelfen könne, auch mit Ex- Kurze Zeit später, bei einem weiteren Tref- wurde festgenommen und an Großbritannien
pertise zu neuen Forschungsfeldern im Be- fen in Augsburg, wartete die Polizei auf die ausgeliefert. Laut Medienberichten bestreitet
reich der Luft- und Raumfahrttechnologie? beiden Männer. Das Bundesamt für Verfas- er die Vorwürfe.
N. stimmte zu. Aus öffentlichen Quellen sungsschutz hatte Strukow beschattet, so flog Auch Ralph G. könnte ein politischer Über-
stellte er Dossiers zusammen und nutzte da- auch N. auf. Strukow zeigte seinen Konsulats- zeugungstäter sein. Der Oberstleutnant der
für seinen Archivzugang der Universität, um ausweis, berief sich auf seine diplomatische Reserve steht seit August vor dem Oberlan-
auch an kostenpflichtiges Material zu gelan- Immunität und machte sich aus dem Staub. desgericht Düsseldorf. Laut Anklage soll er
gen. Er lieferte keine sensiblen Informationen, N. wanderte in Untersuchungshaft. Er kam Putins Militärgeheimdienst GRU von spätes-
dennoch erhielt er vom Vizekonsul Geld, mal am Ende mit einer Bewährungsstrafe von tens Oktober 2014 bis März 2020 Informa-
100 Euro, mal 200, später 600 Euro. einem Jahr, den Prozesskosten und einer tionen verschafft haben. Die Bundesanwalt-
Der russische Spion interessierte sich be- wahrscheinlich ruinierten Karriere davon. schaft hält ihn für einen Mann, der aus Sym-
sonders für die europäische Trägerrakete N. war ein nützlicher Idiot für die Russen, pathie für Russland handelte.
»Ariane 6« – auch hier konnte N. helfen. Ir- wie es so viele ihrer Informanten sind. Ande- Seinen mutmaßlichen Führungsoffizier bei
gendwann erzählte der junge Wissenschaftler re helfen den Agentinnen und Agenten aus der GRU hatte G. beim »Ball der Luftwaffe«
von seinen eigenen Forschungen. Es ging da- Eitelkeit oder Geldgier, die wenigsten handeln in Bonn kennengelernt. 1800 Gäste aus Mi-
bei um die Entwicklung eines sogenannten aus politischer Überzeugung. litär, Politik und Wirtschaft waren bei der
Kryostats, eines Behälters, in dem extreme David S. allerdings könnte zu den wenigen prunkvollen Tanzveranstaltung in der Beet-
Niedrigtemperaturen erzeugt werden, um gehören. In seiner Wohnung fanden die Er- hovenhalle zugegen. Die Frauen trugen Ball-
Material für die Raumfahrt zu testen. Strukow mittler später russische Bücher und eine rus- kleider, die Herren Smoking oder Uniform.
schien sich dafür zunächst nicht zu interes- sische Flagge. Er hatte seiner Heimat Groß- Mittendrin: Michail Starow, offenbar nur zur
sieren, bei einem späteren Treffen aber stell- britannien vor Jahren den Rücken gekehrt Tarnung als Luftwaffenattaché an der russi-
te er dann spezifische Fragen zu der komple- und war nach Deutschland gezogen. Er wohn- schen Botschaft in Berlin akkreditiert.
xen Materie. Ob N. nicht Unterlagen zu die- te in Potsdam und arbeitete als Wachmann Wenige Monate nach dem rauschenden

[M] Ole Schleef / DER SPIEGEL; Christof Stache / picture alliance / dpa, Gabriele Thielmann / imageBROKER / mauritius images, David Ducros / ESA / Science Photo Librar y, Meike Wirsel / BILD
sen Forschungen übergeben könne? Notfalls an der britischen Botschaft in Berlin. Von dort Abend besuchte Starow den deutschen Re-
servisten in dessen Haus im nordrhein-west-
fälischen Erkrath. Danach soll G. dem Russen
Die Diplomaten erstmals Insiderinformationen über das deut-
sche Reservistenwesen geliefert haben.
Mehr als ein Dutzend Mal, so haben es die
Ermittlungen der Bundesanwaltschaft erge-
ben, traf sich der Oberstleutnant mit seinem
mutmaßlichen GRU-Führungsoffizier, etwa
in Berlin im Restaurant Dressler, in Kröv an
4 der Mosel – und mehrmals in der russischen
Botschaft in Berlin.
Ralph G. soll den Russen etwa Auszüge
aus dem damals noch unveröffentlichten
Bundeswehr-Weißbuch von 2016 überlassen
haben, das die sicherheitspolitischen Leit­
linien der Bundesregierung festhält und nach
der Krim-Annexion durch Russland grund-
legend überarbeitet worden war. Auch soll
er der GRU Tipps gegeben haben, welche
ranghohen Bundeswehrleute er für russland-
freundlich hielt – damit die Russen ihnen
Avancen machen könnten. Nachdem Starow
Deutschland verlassen hatte, übernahmen
andere den Kontakt.
2018 bekam der Militärische Abschirm-
3 dienst Wind von der Sache. G. machte es den
Ermittlern leicht. Er hatte mit seinen Kon­
taktleuten offen über E-Mail-Adressen bei
1 Web.de und Gmail kommuniziert. In einem
von deutschen Behörden abgehörten Tele-
fonat sagte er über seine Kontakte in der rus-
2 sischen Botschaft, dass diese zum GRU ge-
hörten. Bei einer Vernehmung bestritt er
später gleichwohl, vom Geheimdiensthinter-
grund der Männer gewusst zu haben.
Geld soll G. für seine Dienste angeblich
nicht bekommen haben, aber mehrmals nach
Moskau zu einer Sicherheitskonferenz gereist
sein. Hotel und Flugkosten übernahmen laut
Anklage die Russen. Fragen des SPIEGEL ließ
1 | Zuträger Ilnur N.  2 | Luftwaffenattaché Michail Starow  3 | Reserveoffizier Ralph G. sein Anwalt unbeantwortet. Die russische
4 | Europäische Rakete »Ariane 6« Botschaft spricht von »aus der Luft gegriffe-

12 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


TITEL

nen Spekulationen« zu diesem und anderen


Spionagefällen. Das »in Deutschland geschür-
te Klima der russischen Spionagemanie« sei
Europa im Fadenkreuz Spionage
Mord, Mordversuch, Anschlag
»zutiefst bedauerlich«, teilte ein Sprecher mit. Auswahl mutmaßlicher russischer Hacks oder politische Manipulation
Tatsächlich aber ging die Hilfsbereitschaft Geheimdienstaktionen Umgehung von Embargovorschriften
mancher Deutscher für Putins Russland über
das Liefern von Informationen hinaus. Zwei Großbritannien Dänemark Deutschland Estland
Männer aus Sachsen und Bayern ermöglich- 2006 Ermordung von 2020* Techno- 2011* Spionage 2007 Ausfall digitaler
Alexander Litwinenko logiespionage durch Agentenpaar Infrastruktur
ten Moskau, europäische Exportsanktionen 2018 versuchte durch russischen 2015 Datendiebstahl 2008* Herman
zu umgehen. Sie gehörten – angeblich un- Ermordung von Staatsbürger aus Bundestag Simm, Beamter im
wissentlich – einem klandestinen Beschaf- Sergej Skripal 2019 Tiergarten-Mord Verteidigungs-
2021* Kauf von 2020/21* Beschaffung ministerium
fungsnetzwerk der russischen Geheimdiens- Geheiminformatio- von Technologie
te an, das die deutschen Behörden enttarnen nen von Mitarbeiter Ukraine
Niederlande 2021* Kauf von
der britischen 2014 Destabilisierung
konnten. Botschaft Berlin 2022 Infiltrations-
Informationen über
der Krim
Ariane-6-Rakete
Seit einem Embargo der EU nach der versuch beim 2015/16 Ausfall von
Krim-Annexion war es für Russland schwie- Internationalen Teilen der Stromver-
Strafgerichtshof sorgung
riger geworden, Technologie einzukaufen, die
auch für militärische Zwecke verwendet wer- Polen
2021 manipulierte
den kann. Also gingen Putins Handlanger auf Social-Media-Seiten
geheime Shoppingtour. Im Mittelpunkt stand von Politikern
nach Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft Tschechien
ein Russe namens Sergej K., der etwa auf Mes- 2014 Explosion im
Frankreich
sen und Geschäftsreisen Kontakte zu Firmen 2017 Datendiebstahl bei
Munitionsdepot Vrbětice
in der Bundesrepublik knüpfte. Macron-Wahlkampfteam Montenegro
Moldau
K. fungierte als Generaldirektor eines un- 2016 Putschversuch
2014 Destabilisierung
verfänglich klingenden »Zentrums für wissen-
schaftliche und technische Entwicklung«, Bulgarien
kurz Uric, in Jekaterinburg. Tatsächlich zog 2015 versuchte
Spanien Italien Ermordung von
im Hintergrund wohl der Geheimdienst FSB 2017 Beeinflussung des 2020* mutmaßlicher Emilian Gebrew
die Strippen – und die begehrte Technik lan- katalonischen Unabhängig- Spion auf Nato-Basis Türkei
dete bei staatlichen Rüstungseinrichtungen. keitsreferendums über 2021* Kauf geheimer 2011 Ermordung von
Social Media Nato-Unterlagen drei Tschetschenen
In zwei Prozessen haben sich deutsche Ge-
* Jahr der Enttarnung
richte inzwischen mit dem Netzwerk beschäf- S Quelle: Bellingcat, The Insider, La Repubblica, DER SPIEGEL
Ž

tigt. Der Augsburger Geschäftsmann Alexan-


der Sch. wurde verurteilt, weil er Spezialfräs- üben – und dadurch für Unruhe und Angst im fig dienten sie in Spezialeinheiten des Militärs.
maschinen im Wert von 7,9 Millionen Euro Westen sorgen. Zum Töten verwenden sie Verbindungsdaten aus Telefonaten während
geliefert hatte. Auf den Papieren standen Schusswaffen oder das Nervengift Nowitschok. der Einsätze deuten darauf hin, dass sie bis-
Abnehmer aus der Öl- und Gasindustrie, tat- Zu den mutmaßlichen Opfern des Kom- weilen direkt Anweisungen aus dem Umfeld
sächlich gingen die Hightech-Maschinen an mandos gehört der bulgarische Waffenfabri- des russischen Präsidenten erhalten haben.
die Rüstungsschmiede OKB Novator, die kant Emilian Gebrew, der Gegner Russlands, Wo und wie oft die Mitglieder der Geheim-
unter anderem nuklear bestückbare Iskander- etwa die Ukraine, mit seinen Waffen ausstat- truppe in Europa zuschlugen, ist schwer zu
Marschflugkörper herstellt. tete. Nach einem Abendessen 2015 fühlte er rekonstruieren. GRU-Agenten reisen unter
Vor wenigen Wochen wurde Alexander S. sich unwohl, fiel ins Koma und überlebte den falschem Namen in viele Länder der EU. An
aus Markkleeberg bei Leipzig verurteilt, weil Giftanschlag nur knapp, die Ermittlungen in Touristenvisa kommen sie ohne größere Pro-
er Laborausrüstung nach Jekaterinburg dem Fall dauern bis heute an. bleme, die Kontrollen sind lasch.
verkauft hat, die auch zur Herstellung von Drei Jahre später vergifteten die Eliteagen- 2014, im Jahr der Krim-Annexion, flog
chemischen oder biologischen Waffen benö- ten den ehemaligen russischen Spion Sergej ein Munitionslager in der Tschechischen
tigt wird. Hier wurden die wahren Abnehmer Skripal und dessen Tochter im englischen Repu­blik in die Luft, in dem mutmaßlich auch
ebenfalls verschleiert, um die deutschen Salisbury. Recherchen ergaben, dass sich im Material für die Ukraine gelagert wurde; In-
Behörden auszutricksen. Gegen Putins mut- Umfeld beider Anschlagsorte Mitglieder des dizien deuten auf Putins Elitetruppe hin. In
maßlichen Einkäufer Sergej K. liegt nach Geheimdienstes GRU aufgehalten hatten, al- Montenegro soll die Einheit 29 155 an einem
SPIEGEL -Informationen ein deutscher Haft- lesamt Mitglieder von Einheit 29 155. gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 be-
befehl vor. Die Agenten dieser Einheit sind die Män- teiligt gewesen sein. Die spanische Justiz er-
Auch die angeblich krebskranke Adela K. ner fürs Grobe, ausgebildet für heikle Ope- mittelt, weil GRU-Agenten im Konflikt um
war eng dem Kreml angebunden, das lässt rationen im Ausland wie Sabotage, Umsturz- die Unabhängigkeit Kataloniens mitgemischt
sich über ihre Passdaten belegen. Ihre Aus- aktionen und Attentate. Sie sind zwischen haben sollen, um das Land zu destabilisieren.
weispapiere stammen aus einer Nummern- Ende dreißig und Mitte vierzig, Absolventen Der Inlandsgeheimdienst FSB unterhält
serie, die nach Recherchen des SPIEGEL und angesehener Kaderschmieden und zum größ- ebenfalls eine eigene Killertruppe. Ihr promi-
seiner Partner auch die Mitglieder einer ten Teil kampferfahren, etwa in den Kriegen nentestes Opfer ist der Oppositionspolitiker
streng geheimen Eliteeinheit des Militärge- in Tschetschenien oder in der Ukraine. Häu- Alexej Nawalny, der im August 2020 auf
heimdienstes GRU für ihre Tarnidentitäten einem Flug vom sibirischen Tomsk zusam-
genutzt haben. Allerdings ist die Einheit menbrach. Agenten des FSB hatten ihn nach
29 155, gegründet 2009, weniger für die In- Recherchen von SPIEGEL, Bellingcat und The
formationsbeschaffung vorgesehen, wie sie Insider mit dem Nervenkampfstoff Nowi­
Adela K. offenbar betrieb. Die rund 20 ehe- »Es war ein Fall von tschok vergiftet. Nawalny sitzt seit anderthalb
maligen Soldaten um einen hochdekorierten Staatsterrorismus.« Jahren in russischer Lagerhaft.
Generalmajor sind Putins Killerteam: Sie sol- Der Dienst beschränkt sich längst nicht
len Sprengstoff- und Mordanschläge ver- Kammergericht Berlin zum Tiergartenmord mehr auf russisches Territorium. Zu der Or-

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 13


TITEL

ganisation gehören überdies militärische Spe- auf die Viasat-Satelliten und die ukrainischen Hacker im Kartenspiel des Verfassungsschut-
zialtruppen, etwa die Einheit Vympel, die Verteidigungssysteme war ein kleiner Vor- zes 9 von 10 möglichen Punkten.
heute als Abteilung V im FSB firmiert. Über geschmack darauf. Moskaus Cyberkrieger arbeiten mit unter-
die Ehemaligenorganisation der Einheit be- Seit Kurzem hat die Gruppe sogar Gesich- schiedlichen Methoden. Es gibt die Filigranen,
stellt der FSB nach Recherchen von SPIEGEL ter und eine Postadresse, gegen drei mut­ die Daten entwenden, sie still und leise aus-
und Bellingcat offenbar Auftragsmorde. maßliche Mitglieder von Berserk Bear werten und vielleicht nie veröffentlichen. Es
Vadim Krasikov etwa, der am 23. August hat das US-Justizministerium im März An- gibt die Brachialen, die ihre erbeuteten Daten
2019 im Kleinen Tiergarten in Berlin einen klage erhoben. Sie sollen Mitglieder der offen ins Netz kippen, etwa um Wahlen zu
ehemaligen Tschetschenienkämpfer erschoss, Einheit 71 330 des FSB sein, die als Center 16 beeinflussen, wie im Fall der E-Mails von Hil-
hatte Kontakt zu Vympel und hielt sich mehr- bekannt ist. lary Clintons Demokraten im Jahr 2016. Und
mals auf FSB-Liegenschaften auf. Im Dezem- Die Angreifer hätten es über die Jahre ge- es gibt die Zerstörer, die es auf Sabotage an-
ber 2021 sprach das Kammergericht Berlin zielt auf Steuer- und Kontrollsysteme von legen, wie 2015, als in der Ukraine das Strom-
ihn schuldig, sein Opfer im Auftrag staatlicher Anlagen der kritischen Infrastruktur im Wes- netz ausfiel.
Stellen der Russischen Föderation erschossen ten abgesehen, lautet der Vorwurf der US-Er- Andere Hacker sehen ihre Aufgabe darin,
zu haben. Der gängige Begriff dafür steht mittler. Ziel sei ein dauerhafter Zugang zu Schmutzkampagnen zu fahren, Fake News
wörtlich im Urteil: »Es war ein Fall von den Rechneranlagen gewesen, eine Art Hin- und Desinformation zu verbreiten. Ghost-
Staatsterrorismus.« Die russische Botschaft tertür. In mehr als 17 000 Fällen sei es ihnen writer wird die wichtigste dieser Gruppen
in Berlin bezeichnet das Urteil als »politisch gelungen, ihre Angriffssoftware zu installie- genannt, hinter der nach Überzeugung deut-
motiviert«. ren. »Derlei Zugänge hätten die russische scher Behörden der GRU steckt.
Ein Einzelfall? Regierung in die Lage versetzt, diese Systeme Die Ghostwriter haben es auf deutsche
Es gilt als gesichert, dass FSB-Leute 2015 zu stören oder zu beschädigen«, heißt es in Politikerinnen und Politiker abgesehen. Über
in Istanbul ebenfalls einen ehemaligen Tsche- der Anklage. In einem Kernkraftwerk in Kan- Phishingmails wollen die Hacker unbemerkt

[M] Ole Schleef / DER SPIEGEL; Mika Schmidt / ddp, Olaf Selchow / BILD, Will Oliver / epa / EFE, REUTERS (2), PLF / picture alliance / Captital Pictures, Polizei Berlin, Christoph Soeder / picture alliance / dpa
tschenienkämpfer ermordeten. Im Januar sas waren die Angreifer bereits in die Buch- an private E-Mail-Accounts und Social-Me-
2020 beobachteten deutsche Verfassungs- haltung vorgedrungen. dia-Konten kommen und sie kapern. Rund
schützer den hochrangigen FSB-Agenten Igor Auch deutsche Unternehmen sind im Visier ein Dutzend Abgeordnete im Bundestag und
Egorov dabei, wie er sich in Hamburg mit der russischen Hackertruppe. Das Bundesamt in den Landtagen oder deren Mitarbeiter fie-
einem mutmaßlichen Auftragskiller traf. Eine für Verfassungsschutz warnte 2018 vor einer len nach SPIEGEL-Informationen auf die eher
für März geplante Festnahme scheiterte da­ran, Angriffskampagne der Gruppierung. Tatsäch- plumpen Tricks herein.
dass der ukrainische Geheimdienst Wind von lich entdeckte die EnBW-Tochter Netcom BW Wie hässlich eine Kampagne der Truppe
der Sache bekommen hatte, den Verdacht im verräterische Spuren in den eigenen Netzen, werden kann, zeigte sich in Polen. Dort gelang
Internet veröffentlichte und Egorov nicht die die Ermittler Berserk Bear zuordnen. In- es den Hackern, den Facebookaccount von
mehr nach Deutschland reiste. zwischen hat der Generalbundesanwalt in Marcin Duszek, einem Abgeordneten der
Moskaus Agenten und Spione bedrohen Karlsruhe einen Haftbefehl gegen einen Mann rechtskonservativen PiS-Partei, zu überneh-
nicht nur Kritiker oder Feinde, sie gefährden erwirkt, der in den USA als Hacker des rus- men und kompromittierende Fotos mit dessen
auch die Lebensadern der verhassten west- sischen Geheimdienstes FSB angeklagt ist. angeblicher Sekretärin zu posten. Auch den
lichen Welt. Mit Hackerangriffen und Sabo- Die Angst vor digitalen Schläfern in den Twitteraccount der Politikerin Joanna Boro-
tageattacken. wichtigsten Versorgungsnetzen und Kraft- wiak kaperten die Hacker und beschimpften
»Uns muss bewusst sein, Russland ist in werken ist alt, so groß wie in diesen Tagen unter ihrem Namen Befürworterinnen eines
unseren Netzen«, sagte der Vizepräsident des war sie indes noch nie. Rechts auf Abtreibung als »drogenabhängige
Bundesnachrichtendienstes, Wolfgang Wien, Cyberabwehrexperten des Verfassungs- Prostituierte und Kindermörder«. Auf dem
kürzlich bei einer Sicherheitskonferenz in schutzes in Köln-Chorweiler haben ein Kar- Twitteraccount von Marek Suski, dem Vize-
Potsdam. Seine Leute hätten gute Einblicke tenspiel entwickelt. Es ist ein Quartett mit fraktionschef der regierenden PiS, veröffent-
im Cyberraum – und was sie sähen, sei be- den gefährlichsten staatlichen Hackergruppen lichten die Ghostwriter ein Foto einer Lokal-
unruhigend. »Wir müssen davon ausgehen, der Welt. Die Russen sind dabei mit gleich politikerin – in roten Dessous.
dass auch gegen uns etwas vorbereitet wird«, fünf Karten vertreten. Seit der russischen Invasion posten die
so Wien, »klammheimlich, in den Netzen.« Berserk Bear hat in dem Spiel den Ghostwriter auf gekaperten Accounts bei
Was der BND-Vize da offen aussprach, ist »Schmerzfaktor« 8,5 von 10. Die Gruppe Facebook Lügen über den Krieg. So zeigte ein
der Albtraum deutscher Behörden: Angreifer Fancy Bear, hinter der der russische Militär- Video angeblich ukrainische Soldaten, die aus
nisten sich in sensiblen Bereichen der öffent- geheimdienst GRU steckt, hat den »Gefahren- einem Wald kommen und sich mit schwen-
lichen Infrastruktur ein und installieren index« 9,5 von 10. Im Jahr 2015 hat sie den kender weißer Fahne den Russen ergeben.
Schadcodes. Zu einem beliebigen Zeitpunkt Bundestag attackiert und Daten mehrerer Eine Fälschung, wie Sicherheitsexperten des
können diese aktiviert werden – und die be- Abgeordneter abgegriffen, darunter jene der Meta-Konzerns später öffentlich machten.
fallenen Systeme manipulieren oder zerstö- damaligen Kanzlerin Angela Merkel. Staatliche Hacker, Spione mit Diplomaten-
ren. Sei es die Elektronik in Krankenhäusern, Eine weitere Karte im Quartett zeigt Ve- pass, Killertruppen – Putins verdeckter Angriff
in IT-Systemen von Behörden oder gar Kraft- nomous Bear, besser bekannt als Snake, we- auf den Westen findet auf vielen Ebenen statt.
werken. gen des gewieften Vorgehens der Angreifer, Wie kann sich der Staat dagegen wehren?
Dass es sich dabei nicht um weltfremde die dem russischen FSB zugerechnet werden. Deutschland hat das Problem verschlafen,
Dystopien handelt, zeigt sich an einer Grup- 2018 waren sie in die streng gesicherten die Defizite sind nur schwer aufzuholen, so
pierung, die westliche Sicherheitsforscher und Netze des Auswärtigen Amts eingedrungen. sieht es zumindest der ehemalige CIA-Mann
Behörden Berserk Bear nennen. Die Gruppe In der Kategorie »Fähigkeiten« haben die John Sipher. Sein Urteil über die deutsche
ist weniger prominent als andere russische Spionageabwehr ist vernichtend. »In der Zeit,
Hackertruppen, denn ihre Operationen schei- in der ich mit einer Vielzahl von Diensten
nen weniger spektakulär. Dafür sind sie umso daran gearbeitet habe, russische Subversion
umfangreicher und in den vergangenen Jah-
ren bereits in 135 Ländern aufgefallen. Ge-
»Wir waren unaufmerksam. zu verfolgen und uns dagegen zu verteidigen,
fand ich die deutschen Dienste weniger hilf-
fährlich sind die Hacker deshalb, weil Russ- Jetzt haben wir ein Problem.« reich und fähig als die meisten anderen euro-
land die von ihnen vorbereiteten Zugänge Konstantin von Notz, päischen«, sagt Sipher. »Ich kann mich an
eines Tages global nutzen könnte. Der Angriff Geheimdienstkontrolleur keine ernsthafte Kooperation erinnern.«

14 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


TITEL

Die Killer 3

1 | Tiergarten-Opfer Zelimkhan Khangoshvili  2 | Skripal-Attentäter Ruslan Boschirow  3 | Skripal-Attentäter Alexander Petrow 


4 | Tiergarten-Mörder Vadim Krasikov

»Deutschland hat nach der Wiedervereini­ wöhnlich immer genauso viele Deutsche raus. In der Politik ist das Bewusstsein für die
gung weitestgehend seine Spionageabwehr Das Problem daran nach Schilderung der Gefahr aus Russland seit dem 24. Februar
eingestellt, während andere Länder einfach Bundesregierung: Die deutsche Botschaft in schlagartig gewachsen. Auch weil nach einem
weitergemacht haben wie im Kalten Krieg«, Moskau sei erheblich kleiner als die russische Hackerangriff auf die Parteizentrale der
kritisiert Konstantin von Notz, Grünenabge­ in Berlin. Grünen im Mai und Juni ebenfalls Spuren
ordneter und Chef des Gremiums, das die Andere Staaten wie Großbritannien haben nach Russland führen.
Nachrichtendienste kontrolliert. »Wir waren sich trotzdem schon vor Jahren entschlossen, Im Bundestag haben mehrere Grünen­
unaufmerksam und haben uns nicht um die alle identifizierten Spione aus dem Land zu abgeordnete zuletzt ungewöhnliche Maßnah­
Details gekümmert. Und jetzt haben wir ein werfen. Aus Sicht der Spionageabwehr lebe men ergriffen. Die Außen- und Sicherheits­
fulminantes Sicherheitsproblem.« es sich damit deutlich besser, heißt es nicht politiker und gleich drei Parlamentarische
Die Abhängigkeit von russischem Gas und nur dort. Insgesamt haben europäische Staa­ Staatssekretäre verzichten künftig auf ihre
Öl, die Hoffnung, man würde durch Handel ten seit Beginn des Ukrainekriegs mehr als prestigeträchtigen Büros zur Straße Unter
politischen Wandel fördern, und ein roman­ 400 mutmaßliche russische Spione zurück den Linden. Die Räume seien leicht aus­
tisierender Blick auf Russland haben lange nach Moskau geschickt. zuspähen, erklärte der Verfassungsschutz
verhindert, dass Deutschland hart gegen of­ Beim Bundesamt für Verfassungsschutz den Politikern: Gleich gegenüber liegt die
fensichtliche Angriffe vorging. »Wenn man gewinnt das Thema Spionageabwehr erst seit russische Botschaft. Nun sitzen Kollegen mit
ehrlich ist: Das Russlandthema haben wir wenigen Jahren wieder an Bedeutung. Gab weniger brisanten Arbeitsbereichen in den
total verschlafen«, sagt ein ehemaliger hoch­ es zum Ende des Kalten Krieges noch fast 400 Büros.
rangiger Verfassungsschützer. Beschäftigte in der Fachabteilung, sank die In den Behörden werden dieser Tage Sze­
Der Kurs gegen Russland verschärfte sich Zahl im Laufe der Jahre und erreichte 2014, narien durchgespielt, die vor Kurzem noch
mit dem Hackerangriff auf den Deutschen ausgerechnet als Russland die Krim annek­ undenkbar waren. Es könnte zu einer »ver­
Bundestag und dem Mord im Kleinen Tier­ tierte, ihren Tiefststand seit 1990. Sie hatte stärkten Ausspähung von staatlichen und
garten etwas, mit dem russischen Angriffs­ sich mehr als halbiert – entgegen zahlreichen parlamentarischen Stellen« in Deutschland
krieg nun deutlich. Deutschland wies zuvor Warnungen aus dem Sicherheitsapparat. kommen, wird in einem vertraulichen Papier
nur vereinzelt als Diplomaten akkreditierte Im vergangenen Jahr hat die Behörde 350 aus dem Sicherheitsapparat gewarnt. Im Fo­
mutmaßliche russische Spione aus, zuletzt neue Stellen bewilligt bekommen, unter an­ kus der Russen stünden dabei das Kanzleramt,
waren es 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbei­ derem für die Abwehr fremder Spione. Beim das Auswärtige Amt sowie die Ministerien
ter der russischen Botschaft. Doch man geht Militärischen Abschirmdienst will man eben­ für Wirtschaft, Inneres und Verteidigung,
mit den Ausweisungen sparsam um, aus falls Leute einstellen, längst nicht alle der über außerdem Fachausschüsse des Bundestags.
Sorge, Deutschland selbst könnte in Rus­sland 100 Stellen in der Spionageabwehr sind be­ Überdies halten die Beamtinnen und Beam­
handlungsunfähig werden – die russische setzt. Doch es ist nicht einfach, gute und zu­ ten Sabotageaktionen in Deutschland für
Seite wirft nach solchen Aktionen für ge­ verlässige Leute zu finden. möglich, die sich etwa gegen Waffentrans­

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 15


TITEL

porte in die Ukraine richten könnten. Nicht


auszuschließen sei, dass Russland in Deutsch-
land gezielt Unruhe stiften könnte – etwa
durch die Lieferung von Sprengstoff an Ter-
roristen oder Anschläge unter falscher Flagge.
Wozu russische Spione in Deutschland an-
scheinend noch immer fähig sind, konnte der
Militärische Abschirmdienst kürzlich bei
einer besonders dreisten Aktion beobachten.
Kaum hatten die USA und die Bundesrepu-
blik im Frühjahr verkündet, ukrainische Sol-
daten an westlichen Waffen wie der Panzer-
haubitze 2000 auszubilden, wurden Moskaus
Agenten offenbar aktiv.
Die deutschen Behörden beobachteten
plötzlich verdächtige Autos vor den Militär-
einrichtungen in Grafenwöhr und Idar-Ober-
stein, wo das US-Militär und die Bundeswehr
ukrainische Rekruten trainierten. Womöglich
seien dabei Scanner eingesetzt worden, um
Prämie die Mobilfunkdaten der Ukrainer auszuspä-
hen, heißt es unter Insidern. Auch Minidroh-
zur Wahl nen mit Kameras wurden über den Übungs-
plätzen gesichtet, bevor sie schnell wieder
verschwanden.
Für potenziell gefährdet halten die Behör-
den russische Oppositionelle, die nach
Deutschland geflohen sind. Diese könnten ins
Fadenkreuz von Putins Agenten geraten.
Ebenso desertierte russische Soldaten und
Überläufer aus Militär und Sicherheitsdiens-
€-10-DriversChoice- €-10-Amazon-Gutschein ten, die sich im Krieg nach Deutschland ab-
Tankgutschein setzen könnten. Mordanschläge könnten hier
ein probates Mittel von Putins Schergen sein
– um andere Abweichler abzuschrecken.
Flexibel bleiben. Wie angespannt die Stimmung in den Be-
hörden ist, zeigt ein Vorfall in Berlin. An
einem Abend im August rückten im Westen
Lesen Sie den SPIEGEL, der Stadt Feuerwehr und Polizei an – samt
Spezialisten für biologische und chemische
solange Sie möchten. Kampfstoffe. Die Männer und Frauen in
orangefarbenen Schutzoveralls wirkten wie
aus einem Katastrophenfilm.
Flexibel bleiben. Hintergrund des Einsatzes war die Sorge,
Kurze Laufzeit, monatlich kündbar dass Putins Handlanger es womöglich auf eine
russische Oppositionelle abgesehen hatten.
Über 8 % sparen. Sie ist in Russland zur Staatsfeindin (»aus-
Für nur € 5,60 pro Ausgabe statt € 6,10 im Einzelkauf ländische Agentin«) erklärt worden und war
Kostenloser Versand. vor wenigen Monaten in die Hauptstadt über-
gesiedelt.
Wöchentliche Lieferung frei Haus innerhalb Deutschlands
Als sie nicht zu Hause war, meldete sich
Gutschein gratis. ein Nachbar bei den Behörden: Er habe ge-
€-10-Tank- oder €-10-Amazon-Gutschein zur Wahl hört, dass jemand in der Wohnung der Frau
sei, und russische Stimmen vernommen.
Noch mehr. Dann seien mehrere Personen davongerannt
Inklusive der Beilagen SPIEGEL Bestseller und SPIEGEL Geld und in ein schwarzes Auto gestiegen.
Der Staatsschutz nahm den Hinweis ernst.
Experten untersuchten die Wohnung auf
Sprengmittel und Kampfstoffe. Bei ihren bis-
herigen Analysen haben die Behörden nichts
gefunden, die Suche nach Wanzen steht noch
Einfach jetzt anfordern: aus. Diesmal war es wohl ein Fehlalarm.

abo.spiegel.de/flex Maik Baumgärtner, Floriana Bulfon, Jörg Diehl,


Roman Dobrokhotov, Matthias Gebauer, Christo
Grozev, Roman Höfner, Martin Knobbe, Roman
Lehberger, Ann-Katrin Müller, Frederik Obermaier,
oder telefonisch unter 040 3007-2700 Sven Röbel, Marcel Rosenbach, Fidelius Schmid,
(Bitte Aktionsnummer angeben: SP22-036) Wolf Wiedmann-Schmidt  n

16 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


TITEL

[M] Lina Moreno / DER SPIEGEL; IMAGO (2), M. Balk / picture alliance / dpa, B. Roald / NTB / dpa, P. Widmann / ddp
Putin-Tochter Tichonowa, Ballettchef Selensky, Bodyguard Dmitrij D. (Kreis): »Absolute Anonymität« am Tegernsee

Liebesflüge aus Moskau


SICHERHEIT  Über Jahre reiste Wladimir Putins Tochter zu ihrem Lebensgefährten nach Deutschland,
ohne dass die Behörden etwas davon mitbekamen.
Sogar ihre mutmaßlich bewaffneten Bodyguards konnten unbemerkt durch Bayern fahren.

F
ür die Frau aus Russland war ein »Supe- sammen mit Passagierdaten, Passkopien und Das ist nicht nur als unfreundlicher Akt zu
rior Doppelzimmer« in einem der ex- internen E-Mails aus dem russischen Sicher- werten, sondern macht auch klar, wie wenig
klusivsten Hotels Münchens reserviert. heitsapparat legen diese Dokumente nahe, der Kreml Deutschlands Kontroll- und Sicher-
Das Mandarin Oriental hat fünf Sterne, eine dass Wladimir Putins Tochter in den vergan- heitsinteressen berücksichtigte.
mondäne Rooftop-Bar und rühmt sich, ein genen Jahren mehr als 20-mal nach Deutsch- Alarmierend ist auch, dass den deutschen
»luxuriöses Refugium« von »zeitloser Ele- land eingereist ist – unbemerkt von deutschen Nachrichtendiensten so gut wie alle Reisen
ganz« zu sein. Damit bietet das Haus ein Am- Behörden. Stets an ihrer Seite: mutmaßlich des Putin-Trosses verborgen geblieben sind.
biente, in dem sich sogar die Tochter des bewaffnete Personenschützer der russischen »Dabei hätten wir das eigentlich schon ganz
mächtigsten Mannes Russlands wohl­fühlen Präsidentengarde FSO. gerne gewusst«, bekennt inzwischen ein hoch-
kann. Die Reisefreudigkeit der Putin-Tochter und rangiger Beamter.
In der Nacht vom 22. Dezember 2016, es ihrer Entourage wirft erhebliche diploma­ John Sipher, Ex-Leiter der Russlandope-
war von Donnerstag auf Freitag, logierte tische und sicherheitspolitische Fragen auf. rationen des US-Geheimdienstes CIA, ist
­Katerina Tichonowa offenbar im Mandarin ­Allen internationalen Gepflogenheiten zum ­wenig überrascht: »Alle Nachrichtendienste
Oriental. So geht es aus Buchungsunterlagen Trotz hielten die Russen es nicht für nötig, arbeiten auf Geheiß ihrer politischen Füh-
hervor, die dem SPIEGEL und dem russischen die Bundesregierung über die Touren Ticho- rung«, sagt er. »Die Russlandpolitik der deut-
Investigativportal »IStories« vorliegen. Zu- nowas und ihrer Leibwächter zu informieren. schen Regierung war immer: keine Welle

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 17


TITEL

machen. Niemand wollte offenbar


genauer hinschauen, weil das eine un-
»Wir haben lichen Töchter öffentlich genannt.
Nur so viel verriet er in Interviews:
bevorstand, vier FSO-Personenschüt-
zer sollten Tichonowa begleiten.
erwünschte Konfrontation mit Mos- keine Sie lebten in Russland, sprächen drei ­Misstrauisch wurden die Behörden,
kau bedeutet hätte. Warum sollte da
jemand Putins Tochter unter die Lupe
­Strategien Fremdsprachen, er sei sehr stolz auf
sie. Vielfliegerin Tichonowa, die jün-
weil die Reisedokumente ihrer Leib-
wächter Unstimmigkeiten aufwiesen.
nehmen?« entwickelt, gere der beiden, soll ein Institut für Einer hatte ein EU-weit gültiges Tou-
Die Informationslücke der D­ ienste
fügt sich in ein Gesamtbild: Viele Jah-
den russi- Innovation und Nachwuchsförderung
an der staatlichen Moskauer Univer-
ristenvisum beantragt, was einfach
war, aber verboten. Der Mann kam ja
re lang interessierte sich in Deutsch- schen Agen- sität leiten. nicht als Urlauber, sondern in dienst-
land kaum jemand für die Aktivitäten
einflussreicher Russinnen und Rus-
ten etwas Im Zuge dieser Recherche spra-
chen Reporterinnen und Reporter
licher Mission.
Ein anderer Leibwächter besaß
sen. Welche Immobilien sie kauften entgegenzu- von SPIEGEL und »IStories« mit et­ gleich zwei Diplomatenpässe. Der
oder mit wem sie Geschäfte machten,
galt gemeinhin als Privatsache. Der
setzen.« lichen Hoteliers, Rezeptionistinnen
und Portiers – etwa aus dem Hotel
Name war auf beiden Ausweisen iden-
tisch, doch die Geburtsdaten unter-
Sebastian Fiedler,
laxe Umgang rächt sich nun. Es ist SPD-Innenexperte
Leeberghof am Tegernsee. Die Suiten, schieden sich. Die Deutschen fragten
schwer, Sanktionen gegen Putins Hel- in denen auch Putins Tochter über- sich, ob das ein Trick war. Jonglierte
fershelfer durchzusetzen. Ihre Netz- nachtet haben soll, tragen Namen wie der Bodyguard mit zwei Identitäten,
werke sind für Behörden kaum zu »Sissi’s Loge« und »Herzog’s Resi- weil er zugleich spionieren sollte?
durchdringen. denz« und kosten rund 300 Euro pro Doch eine Aufklärungsoperation
Katerina Tichonowa, 35, und ihre Nacht. Der Inhaber des Hauses be- im Januar 2020 ergab lediglich, dass
Begleiter jedenfalls zog es verlässlich tont, all seine Gäste genössen »ab- Tichonowa in schweren Limousinen
dorthin, wo auch sonst russisches solute Anonymität«. in Bayern herumkutschiert wurde.
Geld auf bajuwarische Gastlichkeit Vielleicht war es ihr Vertrauen in Immerhin: Als einen der Personen-
trifft. So buchten sie sich offenbar in die deutsche Verschwiegenheit, viel- schützer konnten Experten den FSO-
der Münchner Innenstadt und am leicht auch nur Bequemlichkeit – Mann Alexey S. identifizieren, offen-
­Tegernsee ein. jedenfalls gab sich Katerina Tichono- bar Kommandoführer. Begleitet wur-
Einiges deutet etwa darauf hin, wa offenbar keinerlei Mühe, ihre de er von Dmitrij D., Alexander K.
dass Tichonowa und ihr Kind samt Reisen nach München zu tarnen. Sie und einem weiteren Russen. Deutsche
Begleittruppe im Dezember 2019 in flog unter ihrem echten Namen, aus- Stellen ordnen auch diese Männer der
die bayerischen Alpen reisten. Laut gestattet mit einem von Italien erteil- Präsidentengarde zu – womöglich
Unterlagen kam die Russin mit dem ten EU-Visum mit der Nummer weil D. und K. im Moskauer Eisho-
Aeroflot-Flug SU2594 nach Mün- ITA031 963 667. ckeyklub Feniks spielen. Auf dessen
chen. Ihre damals zweijährige­ Bei der Einreise dürfte sie den Website heißt es, die Mitglieder seien
Tochter wurde wohl schon drei Tage Bundespolizisten am Flughafen ihren »aktive und in der Reserve befindliche
zuvor im Privatjet von Air Hamburg Pass samt Visum gezeigt haben und Mitarbeiter« des FSO. Dass Dmitrij
­gebracht. Ein Bodyguard des FSO durchgewinkt worden sein – de­ D. direkten Kontakt zur russischen
­reservierte sich am Tegernsee ein tailliert rekonstruieren lässt sich das Führung hat, zeigt auch ein Pressefoto
Zimmer. nicht. Einreisedaten werden in aus dem Jahr 2015. In dunklem Anzug
Es war kein langer Ausflug. Schon Deutschland prinzipiell nicht erfasst. steht er neben Wladimir Putin, der
nach etwa einer Woche kehrte Ticho- Es existiert wohl auch kein Vermerk gerade ein Interview gibt.
nowa nach Moskau zurück. Ein an- zu Tichonowas Übertritt auf deut- Die Polizei erreichten diese Er-
derer Personenschützer kam offenbar sches Staatsgebiet. Aufgabe der Bun- kenntnisse allerdings nie. Dabei ­hätte
extra aus Russland nach Bayern, um despolizei ist es, illegale Grenzüber- es für die bayerischen Ordnungshüter
sie zurück in die Heimat zu eskor­ tritte zu verhindern und Gesuchte zu wichtig sein können, über Tichono-
tieren. Und so ging es munter hin stellen – und nicht, Meldung über was Reisen Bescheid zu wissen. Einer-
und her. einreisende Promis oder Politiker­ seits um die ausländischen Gäste zu
Der Grund für ihre Reiselust ist familien zu machen. schützen, andererseits die eigene Be-
vermutlich der Mann, mit dem Ticho- Geht es um Aktivitäten ausländi- völkerung. »Tichonowa hätte leicht
nowa schon länger eine Beziehung scher Agenten in Deutschland, dann zum Ziel von Attacken werden kön-
führte: Igor Selensky, 53. Der russi- ist vor allem die nicht sehr große Ab- nen, ohne dass die Beamten die Di-
sche Künstler, nicht mit dem gleich- teilung für Spionageabwehr im Bun- mension eines solchen Angriffs hätten
namigen ukrainischen Präsidenten desamt für Verfassungsschutz zustän- einschätzen können«, sagt ein Staats-
verwandt, war bis April dieses Jahres dig. Ihr Auftrag ist eng gefasst: Sie schützer. Es wäre zudem politisch
Chef des Bayerischen Staatsballetts soll Ausspähversuche fremder Mäch- interessant gewesen, weitere Reisen
und ist mutmaßlich Vater von Ticho- te entdecken und möglichst verhin- nachrichtendienstlich aufzuklären.
nowas heute vierjähriger Tochter. dern. Spione der russischen Geheim- Allerdings gebe es in Deutschland
Auch eine Kopie von Selenskys 2013 dienste GRU, FSB und SWR stehen »kein geordnetes Verfahren«, um An-
ausgestelltem russischen Pass befin- dabei im Fokus. Mitarbeiter der Prä- gehörige ausländischer Potentaten zu
det sich in dem Dokumentensatz, sidentengarde FSO spielen kaum beobachten.
wahrscheinlich weil Tichonowas Bo- eine Rolle. »Wir haben wirklich ge- Eigentlich hätte Moskau die Trips
dyguard für Selensky Flüge buchte. nug mit echten Agenten zu tun«, sagt des Tichonowa-Trosses den deut-
Im Mai enthüllten der SPIEGEL und ein leitender Beamter. schen Behörden melden müssen, da-
»IStories« die Beziehung Tichonowas Es dauerte daher lange, bis die mit die Leibwächter Pistolen hätten
zu Selensky. deutschen Sicherheitsbehörden von tragen dürfen. Doch das geschah für
Informationen über seine Familie einer Reise Tichonowas erfuhren – keine der Reisen. Es sei also wahr-
hütet Wladimir Putin wie ein Staats- Kopien der und selbst das war Zufall. Im Herbst scheinlich wiederholt gegen das deut-
geheimnis. Bis heute hat er nicht ein- ­Reisepässe: Tricksen 2019 bekamen sie mit, dass ein Trip sche Waffenrecht verstoßen worden,
mal die Namen seiner beiden ehe­ und täuschen von Putins Tochter nach München heißt es in Berlin. Dass die russischen

18 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


TITEL

Prinzessin der Lüfte


Flugbuchungen* Katerina Tichonowas von Februar 2016 bis Februar 2020 FASZINATION
ERDE
Sankt Petersburg

MOSKAU

London

von rund
300 Buchungen* gingen Simferopol
47 ab oder nach Flug-
hafen München Sotschi
* bei denen Abflugort und Ziel bekannt sind
S Grafik


Bodyguards in Deutschland unbewaffnet wa- wurde er in den Aufsichtsrat des nationalen


ren, halten alle Fachleute für ausgeschlossen. Kulturerbe-Fonds berufen. Seine Nähe zum
»Da schlappen bewaffnete Personenschüt- Regime war kein Geheimnis – und bis Kriegs-
zer der russischen Präsidentengarde unbe- beginn auch kein Problem.
merkt durch Bayern, und niemanden interes- Doch die Lustreisen des Tichonowa-­
siert es«, kritisiert der SPD-Innenexperte und Trosses führten nicht nur nach Bayern. Laut
Bundestagsabgeordnete Sebastian Fiedler. Buchungen besuchten Putins Tochter und ihre
Der Fall sei »ein illustres Beispiel« dafür, Entourage weitere beliebte Ziele des inter-
»dass wir in den vergangenen Jahrzehnten nationalen Jetsets: Granada, Mailand, Lon-
keine Strategien entwickelt haben, den rus- don, Bologna, Kitzbühel.
sischen Agenten und ihren Aktivitäten etwas Offen ist hingegen, wer das bezahlte. Allein
entgegenzusetzen. Wir können so nicht wei- die Übernachtungen aus den Jahren 2018 bis
termachen.« Einem Regime, das in Europa 2020 in Bayern kosteten etwa 50 000 Euro.
einen Angriffskrieg entfache, müsse Deutsch- Hinzu kommen mehr als 300 Flüge, die sich 288 Seiten, durchgehend vierfarbig,
land »mit einem deutlichen Aufwuchs opera- in den geleakten Daten finden. Meist Trips gebunden � 24,00 €
tiver Fähigkeiten der Sicherheitsbehörden mit der russischen Aeroflot, manchmal in Pri-
entgegentreten«. vatjets. Dabei wettert der russische Präsident
Roderich Kiesewetter, Außenexperte der öffentlich gern gegen den angeblich dekaden-
CDU im Bundestag, fordert indes ein Ende ten Westen. Der Kreml wollte sich auf An-
der »liberalen Visapolitik« Russland gegen- frage nicht zu den Reisen Tichonowas äußern. Qualmende Vulkane,
über. Tichonowas Reisen zeigten, dass »drin- Katerina Tichonowa und Igor Selen­sky ließen einsame Wüsten,
gend ein Politikwechsel erforderlich« sei. Anfragen ebenfalls unbeantwortet. traumhafte Atolle
»Die Schengenstaaten sollten bis auf Weiteres Zu den Kuriositäten dieser Geschichte
keinerlei Touristenvisa für Russen mehr aus- ­gehört, dass in den Daten ein falscher Pass und pulsierende Metropolen:
stellen«, so Kiesewetter. Es seien ohnehin vor ­Tichonowas auftaucht, ausgestellt auf den Über 50 faszinierende
allem Putins Getreue oder Profiteure seiner Namen Ekaterina Kusnezowa. Es ist offen- Aufnahmen aus dem All und
Herrschaft, die noch in den Westen flögen. sichtlich ein Tarnname, den die deutschen
»Ein Visabann ist deshalb nicht bloß eine mo- Behörden nicht kannten. Der Pass mit Ticho- die spannenden Geschichten
ralische Frage, sondern eine Frage unseres nowas richtigem Namen wiederum nennt ein dahinter präsentiert
Sicherheitsinteresses.« anderes Geburtsdatum und einen anderen dieses Buch, basierend auf der
Tichonowas Touren nach München began- Geburtsort, als in europäischen Datenbanken
nen spätestens 2015, wie die Flugdaten zei- für sie hinterlegt sind. Unklar ist, was dieses beliebten SPIEGEL-Kolumne
gen. Im Jahr darauf wurde Igor Selensky – Versteckspiel soll. »Das Satellitenbild
zuvor einer der erfolgreichsten Balletttänzer Womöglich könnten für Katerina Ticho- der Woche«.
Russlands – als Direktor des Bayerischen nowa solche Techniken des Tricksens und
Staatsballetts berufen. In dieser Zeit soll sich Täuschens künftig wichtiger werden. Inzwi-
Tichonowa von ihrem Ehemann, dem Oligar­ schen hat die Europäische Union etliche Per-
chensohn Kirill Schamalow, getrennt haben. sonen aus dem Umfeld Putins sanktioniert
Wer sich am Bayerischen Staatsballett um- und Einreisesperren verhängt. Seit Anfang
hört, erfährt schnell, dass Selensky in Russ- April ist auch Tichonowa betroffen – die Frau,
land mächtige Freunde hat. Lange bevor er die Bayern doch so liebt.
im Frühjahr 2022 in die Kritik geriet, weil er
Maria Christoph, Jörg Diehl, Roman Höfner,
sich nicht von dem Angriffskrieg distanzierte, ­Ferdinand Kuchlmayr, ­Roman Lehberger,
hatte er sich auf der annektierten Krim selbst- Frederik Obermaier, Bastian Obermayer,
bewusst neben Wladimir Putin gezeigt. Auch Fidelius Schmid  n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 19


www.dva.de
DEUTSCHLAND

Daniel Jüptner / 7aktuell.de


Wettstreit der Feuerwerker: Trockenheit und Ukrainekrieg zum Trotz trafen sich in Ostfildern bei Stuttgart treue Fans der Pyrotechnik zum Festival
»Flammende Sterne«. Teams aus mehreren Staaten konkurrierten darum, wer die eindrücklichste Choreografie in den Himmel brennt.
Es gewann eine Mannschaft aus Neapel. Solche Festivals und Feuerwerke insgesamt stehen seit Jahren in der Kritik, in Stuttgart etwa wegen
der Feinstaubbelastung zum Jahreswechsel. An mehreren Orten wurden im Sommer 2022 Feuerwerke abgesagt.

Habeck schert bei IT-Projekt aus


INFR ASTRUKTUR  Mehrere Bundesbehörden sollen als Vorreiter ihren IT-Betrieb modernisieren – das grün
geführte Wirtschaftsministerium hat das Mammutprojekt vorerst auf Eis gelegt.

D ie Bundesregierung will kommende Woche auf der Klausur


des Bundeskabinetts in Meseberg ihre Digitalstrategie ver­
abschieden, enthalten ist auch ein Versprechen in eigener
Sache: Man treibe die Modernisierung der Bundes-IT weiter voran,
liarden Euro explodierten, setzte der Haushaltsausschuss einen
Neustart durch.
In einer »ersten Welle« sollten demnach neben dem Wirtschafts­
ministerium das Bundeskanzleramt und das Verkehrsministerium
heißt es im aktuellen Entwurf. Doch ausgerechnet das Ministerium bei der Modernisierung vorangehen und als Vorbilder fungieren.
für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) von Vizekanzler Robert Entsprechend fatal könnte das Signal aus dem Hause Habeck wir­
Habeck (Grüne) hat bereits begonnene Vorarbeiten abgebrochen – ken. Das BMWK bestätigt, dass man die IT-Betriebskonsolidierung
ein weiterer Rückschlag für das Krisenprojekt. Das Mega-Update »zunächst für 12 Monate vorübergehend ausgesetzt« habe, und
für Ministerien und Behörden (»IT-Konsolidierung Bund«) läuft ­begründet das mit der »verschärften IT-Sicherheitslage«. Für Aus­
schon seit 2015 und war ursprünglich auf zehn Jahre angelegt. Ge­ wirkungen auf das Gesamtprojekt sehe man »keine Anhaltspunk­
plant ist, den IT-Wildwuchs zu beheben – etwa durch einheitliche te«. Verärgerte Projektverantwortliche halten das jedoch für
Computerarbeitsplätze für Mitarbeiter der Bundes­verwaltung einen Vorwand: Die erhöhte Gefährdungslage wegen des Ukraine­
und durch eine Konzentration auf wenige Rechen­­zentren. Als die kriegs gelte schließlich auch für Kanzleramt und Verkehrsressort,
Kosten für das Vorhaben von knapp einer auf mehr als drei Mil­ die weiterhin modernisierten. ROM, GT

20 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


Freiwillig Tempo 130 oder Bus und Bahn zu nutzen.
DIE DA UNTEN
Der Ministerpräsident von

Heul leise, Party-Sanna!


ENERGIE  Aufgrund der Gas­ Sachsen-Anhalt, Reiner Hase­
krise planen nahezu alle Lan­ loff (CDU), ist sogar freiwillig
desverwaltungen, in ihren Bü­ langsamer unterwegs. »Minis­
ros weniger zu heizen und teil­ terpräsident Haseloff fährt seit
weise das Warmwasser abzu­ Kurzem nur noch mit Tempo Von Anna Clauß Nicht ihre Partybilder, son­
stellen. Das ergab eine Abfrage 130 über die Autobahn«, so ein dern die Mitleidsnummer
des SPIEGEL . Ausnahmen sol­
len dann nur noch für Kitas,
Schulen, Krankenhäuser oder
Pflegeheime gelten. Neun Lan­
Sprecher der Staatskanzlei in
Magdeburg. Mehrere Länder­
chefs betonen, sich auch ohne
Tempolimit spritsparend fahren
S anna Marin tanzt. San­
na Marin umarmt einen
Sänger. Sanna Marin
posiert vor der Kamera.
­hätte Marin der Öffentlichkeit
besser vorenthalten. Sie
wisse, dass ihre »europäischen
Freunde in Kiew« noch här­
desregierungen prüfen, ob sich zu lassen. Baden-Württemberg, ­Jeden Tag scheint ein wacke­ tere Zeiten erlebten, sagte
Dienststellen zusammenlegen das mit bis zu 20 Prozent Ein­ liger Videoschnipsel aufzu­ sie am Mittwoch. Stimmt, also
oder zeitweise schließen lassen, sparung das ambitionierteste tauchen, der die finnische warum stellt sie diesen Ver­
beispielsweise durch zusätzli­ Ziel vorgibt, sowie Hamburg Ministerpräsidentin in Party­ gleich überhaupt an?
che Brückentage oder über die wollen die Nutzung von Aufzü­ pose zeigt. Zum Skandal Ihre Klage ist wohlfeil.
Weihnachtsfeiertage. In meh­ gen in der Verwaltung ein­ taugt keiner der geleakten Politikerinnen sollen aufgrund
reren Ländern werden Beschäf­ schränken. Die Hansestadt ver­ Schnappschüsse. ihrer Arbeit und nicht gemäß
tigte zudem angewiesen, bietet Mitarbeitenden außer­ Im Gegenteil: Mit jedem ihrer Freizeitaktivität be­
Dienstreisen möglichst durch dem private Ventilatoren und neuen Feierfoto wächst offen­ urteilt werden? Warum hat
Videokonferenzen zu ersetzen Heizlüfter im Büro. TOM bar die Zahl ihrer Fans. Viel­ Marin dann vor einigen
leicht kenne ich zu wenig ­Wochen Bilder von sich beim
Leute, die auf Oppositions­ Besuch eines Rockfestivals
Feiern mit der DKP über die parlamentarische bänken in Helsinki sitzen in Jeansshorts veröffentlichen
Arbeit der Fraktion Die Linke und finden, die 36-jährige So­ lassen? »Die coolste Regie­
LINKE  Die Linksfraktion be­ zu informieren.« Auf dem zialdemokratin vernachlässi­
teiligt sich in diesem Jahr nicht »UZ«-Fest am 27. August tritt ge ihre Amtsgeschäfte. Meine Nicht ihre Partybilder,
mehr am Fest der Zeitung etwa die Band Banda Bassotti Bezugsgruppe auf Twitter
»Unsere Zeit« (»UZ«), des Zen­ auf, deren Manager von »befrei­ jedenfalls quillt über vor
sondern ihre Mit­
tralorgans der Deutschen ten Gebieten in der Volksrepu­ Solidaritätsbekundungen und leidsnummer hätte sie
­Kommunistischen Partei (DKP). blik Lugansk« sprach. Die Band Jubelarien: Auch Spitzenpoli­ der Öffentlichkeit
In vergangenen Legislaturpe­
rioden war die Linke dort mit
fuhr laut »UZ« mehrfach in
den Donbass, um den »antifa­
tikerinnen hätten ein Recht
auf Feierabend! Ihre Privat­
besser vorenthalten.
einem Stand vertreten. Nun schis­tischen Kampf« gegen das sphäre gehöre respektiert! rungschefin Europas«, jubel­
habe man sich entschieden, die »nationalistische Regime« in Wie schön, dass es junge Leute ten damals viele im Netz. Ma­
Präsenz auf Festen insgesamt Kiew zu unterstützen. Teilneh­ in Regierungsverantwortung rin scheint es gefallen zu ha­
zu reduzieren, so eine Spreche­ men wird laut Programm auch gebe, deren Hüftschwung ben. Mir ist jedenfalls nicht
rin. Wie viel Geld über mögli­ die Linkenabgeordnete Sevim noch nicht von der Last der bekannt, dass sie sich darüber
che Standgebühren an die DKP Dagdelen. Laut Fraktion könne Verantwortung erdrückt wird! beschwert hätte.
floss, beantwortete sie nicht. man ihr dazu »von Rechts we­ So sah ich es bis Mittwoch Besonders ärgerlich ist,
»Der Zweck dieser Stände be­ gen keine Vorgaben machen«. auch, dem Tag, an dem viele dass Marin mit ihrer Jamme­
steht darin, Menschen, die der­ Dagdelen erklärt, es sei »in der des Leids in der Ukraine rei jene konservativen Kno­
artige Feste in Deutschland Demokratie üblich, dass Man­ ­gedachten, die von Russland chen bestätigt, die schon im­
und Europa besuchen und an datsträger auch bei anderen Par­ genau sechs Monate zuvor mer wussten, dass Frauen
linker Politik interessiert sind, teien eingeladen werden«. TIL überfallen worden war. in Führungspositionen nicht
Plötzlich war die lustige tough genug seien. Echte
Marin weg. Und es kam die Männer, so hieß es unter den
Marin des Jammerns. Den echten Männern meiner Fa­
Nachgezählt Tränen nahe und mit zittern­ milie früher, können nicht
der Stimme klagte sie, dass nur viel trinken, sondern am
Berufspendler in Deutschland 2021 die vergangene Woche ziem­ nächsten Tag klaglos am
19,6 Mio. Arbeitnehmer 3,6 Mio. lich schwierig gewesen sei. Arbeitsplatz erscheinen. Das
wohnen nicht am Arbeitsort. Das sind wohnen mehr als Nicht nur für die Ukraine, gilt im Jahr 2022 längst auch
knapp 60 Prozent der sozialversicherungs- 50 Kilometer vom
pflichtig Beschäftigten. Arbeitsort entfernt.
sondern auch für Sanna Marin. für echte Frauen. Und na­
Sie wünsche sich, dass türlich ebenso für finnische
Menschen Politiker eher nach Regierungschefinnen.
München ihrer Arbeit als nach ihren Marin sagte am Mittwoch,
kürzeste
die Großstädte 399.900 Freizeitaktivitäten beurteilten. sie habe während ihrer Amts­
mit den meisten + 9,5 %
Arbeitswege*
Einpendlern
Sie sei nur ein Mensch. Sie zeit keinen einzigen Tag
Stadt Wolfsburg vermisse »manchmal Freude, Arbeit verpasst. Wunderbar.
(Niedersachsen)
9,2 km Berlin Licht und Spaß inmitten die­ Sie muss sich für nichts recht­
326.900 Frankfurt ser dunklen Zeiten«. Ich dach­ fertigen! Deshalb sollte sie
längste Arbeitswege* + 12,4 % am Main
Landkreis Ludwigslust-Parchim ggü. Hamburg 384.800 te: Heul leise, Party-Sanna. es auch nicht weinerlich tun.
(Mecklenburg-Vorpommern) 2016 355.500 + 9,4%
27,9 km + 5,2 %
An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
* Durchschnittswerte auf Landkreisebene für die Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort
von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am 30. Juni 2021 Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quelle: BBSR
€

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 21


CHAPPATTES WELT Chefin unter Verdacht
SACHSEN-ANHALT In der Affä-
re um eine mögliche Überwa-
chung von Mitarbeitern gibt es
weitere Vorwürfe gegen die
Bürgermeisterin von Salzwedel.
Demnach verpflichtete die par-
teilose Politikerin Sabine Blümel
im November alle Beschäftigten,
Außentermine in ihren Outlook-
Kalender einzutragen. Zugleich
erhielten Vorgesetzte »eine ent-
sprechende Sichtmöglichkeit«,
wie es in einer internen Mail
heißt. Die Verwaltungschefin
konnte somit offenbar die Ter-
minkalender einsehen. Blümel
soll auch eine Technik beauf-
tragt haben, mit der sie sich in
Telefonate der Stadtverwaltung
hätte einklinken können. Zu­­
dem ordnete sie an, alle E-Mails
von Stadtratsmitgliedern, Orts-
bürgermeistern, sachkundigen
Bürgern und Aufsichtsbehörden
automatisch an sie weiterleiten
zu lassen. Die Polizei ermittelt
wegen Verletzung der Vertrau-
lichkeit des Wortes und des Ab-
Ärger mit der Quote Die Frauenunion wolle »nicht bekannt. Die Frauenunion hat fangens von Daten. Zudem ha-
wahrhaben«, dass dann Quoten derweil ihr Konzept »Für mehr ben sich die Kommunalaufsicht
UNION  Obwohl die CDU-Spit- für »Migranten, Homosexuelle, frauenpolitische Belange in der und der Landesdatenschutzbe-
ze einen Kompromiss bei Frau- Queers oder Eltern« folgen Außen-, Sicherheits- und Ent- auftragte eingeschaltet. Blümel
enquote und Parität gefunden würden. »Dann wird auch die wicklungspolitik« eingespeist – weist Vorwürfe, sie habe die Be-
hat, dürfte es dazu heftige De- CDU zur Ständevertretung.« es wurde von der Antragskom- schäftigten überwachen wollen,
batten auf dem Parteitag im Ihn stört auch, dass im Entwurf mission einstimmig empfohlen. zurück. Selbstverständlich gebe
September geben. So will der der Grundwertecharta nun Der in der CDU als Reizwort es »organisatorischen Bedarf,
Historiker Andreas Rödder, von »Gleichstellung« statt von empfundene Begriff der »femi- Außentermine zu koordinieren
­Leiter der CDU-Grundwerte- »Gleichberechtigung« die Rede nistischen Außenpolitik« wird und zu dokumentieren«, heißt
kommission, gegen die Pläne sei. Aus der CDU-Zentrale hieß bewusst vermieden. Merz hatte es in einer Stellungnahme. Die
sprechen. »Die Parität ist ein es, Rödder sei kein Delegierter sich dazu erst spöttisch einge­ Bürgermeisterin habe auch nie
Geschäftsmodell für Frauen, die und habe kein Rederecht. Sein lassen, später aber eingeräumt, eine Abhöreinrichtung in Auf-
schon in der CDU sind, aber Hinweis, Parteichef Friedrich dass weibliche Perspektiven trag gegeben und die Funktion
kein Instrument, um neue Frau- Merz habe ihn zu einer Rede er- »einen Platz in der Außenpoli- umgehend abschalten lassen, als
en zu gewinnen«, sagt Rödder. mutigt, war der Pressestelle un- tik« haben sollten. AMA, FLO sie davon erfahren habe. MXW

Näher beim
Nach harscher Kritik an den rend der Reise viertelstündlich kentragen anzumahnen, wenn
­laxen Maskenregeln auf einem Antigen-Selbsttests durch­ sie keine aufs Maul wollen.

Volk
Regierungsflug nach Kanada führen, gilt allerdings als über- 5. Wenn der »Kontrollauti«
hat sich die Ampelkoalition auf zogen. Nach harten Verhand- (Koalitionsspott für Karl Lau-
neue Maßnahmen zum Infek- lungen steht jetzt der Ampel- terbach) nicht da ist, dürfen
tionsschutz auf Kanzler- und kompromiss: alle Masken abgenommen und
SO GESEHEN  Neue Ministerreisen geeinigt. Zu- 1. Auf allen Regierungsflügen locker an einem Ohr baumelnd
Maskenregeln für nächst hatte Bundesaußen­ gilt Maskenpflicht. verfügbar gehalten werden.
Regierungsreisen ministerin Annalena Baerbock 2. 13 Prozent der Mitreisenden Mit dieser Praxis, sagte ein
als Reaktion auf das PR-Desas- können ihre Nase unbedeckt Regierungssprecher am Don-
ter im Alleingang eine rigorose lassen (sogenannte Halbmaske). nerstag in Berlin, trete die
Verschärfung für ihre jüngste 3. Weitere 3 Prozent tragen Bundesregierung nachdrück-
Reise nach Marokko angeord- keine Maske, starren die ganze lich dem Eindruck entgegen,
net. Ihre Vorgabe, nach der Reise über ins Leere und tun für »die da oben« gälten ande-
an Bord nur Mitreisende zuge- so, als wäre nichts. re Regeln als für Normalbürger.
lassen werden, die PCR-getes- 4. Den restlichen, maskentra- »Ab jetzt«, so der Sprecher,
tet sind, einen Ganzkörper- genden Reisenden wird davon »ist es bei uns genau so wie in
Schutzanzug tragen und wäh- abgeraten, das korrekte Mas- jedem Zug.« Stefan Kuzmany

22 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


Basis fordert Gehör Partei nicht sichtbar.« Neben
Annalena Baerbock und Robert
GRÜNE  Die Kommunikations­ Habeck sind vor allem die Spit­
beraterin Svenja Borgschulte zen aus Partei und Fraktion
soll neues Mitglied im Partei­ ­sowie prominente Europa- und
rat der Grünen werden. In dem Landesgrüne vertreten. Borg­
16-köpfigen Gremium will die schulte betreut die Öffentlich­
36-jährige Berlinerin der Basis keitsarbeit der Organisation
mehr Gehör verschaffen. »Im Adopt a Revolution, die sich für
Parteirat sitzen lauter Grüne syrische Oppositionelle ein­
mit Rang und Namen, aber setzt. Bei den Grünen steht sie
kaum Basismitglieder«, so Borg­ der Arbeitsgemeinschaft Mi­gra­

Maria Feck / DER SPIEGEL


schulte. »Gerade jetzt, in Regie­ tion und Flucht vor. Da die
rungszeiten, kommt es darauf ­Kandidatur von Basisgruppen
an, urgrüne Positionen klar he­ der Partei unterstützt wird, gilt
rauszustellen. Sonst sind wir als Borgschultes Wahl als sicher. KOR

»Eiszeit überstehen«
»Mit Grillzange und
in den Meldeketten führten
dazu, dass wertvolle Zeit

Handschuhen«
Dietmar Nietan, zur Eindämmung der Kata­
58 (SPD), Polen- strophe verstrich.
Beauftragter SPIEGEL: Polens Umweltminis­
der Bundes­ terin behauptete, in Deutsch­
DIE AUGENZEUGIN  Gabriele Mahr kontrolliert
Metodi Popow / IMAGO

regierung, wirft land kursierten Fake News.


der polnischen Sind das antideutsche Reflexe? Biomülltonnen im Landkreis Stade.
PiS-Regierung Nietan: Das war kein Reflex, Sie sucht nach Dingen, die nicht hineingehören –
antideutsche sondern antideutsche Politik.
Politik vor. Wenn man Jarosław Kaczyński,
eine pädagogische Maßnahme.
dem Chef der PiS-Partei, ge­
SPIEGEL: Herr Nietan, was ist fallen will, dann schadet es ge­ »Vor drei Jahren beschwerten tens schon Strafe genug. Wir
derzeit stärker vergiftet: wiss nicht, gegen Deutschland sich die Verwertungsbetriebe hoffen auf einen Lerneffekt:
die Oder oder das deutsch-­ zu agitieren. von Bioabfall bei uns: Die dass die Menschen sich mit
polnische Verhältnis? SPIEGEL: Was erwarten Sie im Qualität des Mülls im Land­ Mülltrennung befassen, damit
Nietan: In ökologischer Hinsicht Kampf gegen das Fischsterben? kreis sei so schlecht gewor­ ihre Tonnen auch weiterhin
die Oder. Aber auch die deutsch- Nietan: Alle sind erschrocken den. Da haben wir zum ers­ abgeholt werden. Oft ist das
polnischen Beziehungen sind über die schlimme Katastrophe. ten Mal stichprobenartig Problem sicherlich Unwissen:
in keinem guten Zustand. Um die Zusammenarbeit zum ­ei­nige Tonnen gesichtet. Seit Vielen ist nicht bewusst, dass
SPIEGEL: Was ist das Problem? Schutz der Oder mache ich mir Juni sind wir nun in Zweier­ etwa Kleintierstreu, Kohle
Nietan: Viele Polinnen und für die Zukunft weniger Sorgen. teams unterwegs, mit Grill­ und Asche nicht in den Bio­
Polen sind enttäuscht darüber, Mittlerweile arbeiten hier die zange und Handschuhen. abfall gehören. Einige benut­
dass Deutschland nicht auf deutschen und polnischen Stel­ Die Leute schmeißen alles zen die Biotonne aber als
Polen gehört hat. Wir haben len eng zusammen. Aber Mögliche in den Bioabfall. ­zusätzlichen Restmüllbehälter,
die Warnungen vor Putin eben­ mit Blick beispielsweise auf Am häufigsten finden wir aus Bequemlichkeit.
so ignoriert wie jene vor dem eine ­engere Zusammenarbeit in Kunststoff, etwa verpackte Für uns fühlt es sich nicht
Bau von Nord Stream 2. Diese Nato und EU oder auch bei Lebensmittel oder Bioabfälle, so an, als würden wir jeman­
berechtigte Enttäuschung der Gasverteilung im Winter die dann in Plastiktüten dem hinterherschnüffeln.
wird von der regierenden PiS- hoffe ich, dass nicht erst Schlim­ ­weggeworfen werden. Das Wir machen das ja nicht ohne
Partei systematisch für anti­ mes passieren muss, ehe man Skurrilste, was wir je raus­ Grund: Die Bioabfälle sollen
deutsche Propaganda miss­ sich zusammenrauft. gefischt haben, waren zwei wieder in den natürlichen
braucht. Die PiS bestreitet ihren SPIEGEL: Die Regierung ver­ tote Schlangen. Wer die Kreislauf eingeführt werden
innerpolnischen Kulturkampf sucht, Justiz und Presse unter ­entsorgt hat, konnten wir können. Bei uns im Kreis
nach dem Motto: Wer mit ihre Kontrolle zu bringen. Ist da nicht mehr ermitteln. ­Stade landet der Kompost aus
Deutschland zusammenarbei­ ein gutes Verhältnis möglich? Wenn wir in einer Tonne dem Biomüll später auf den
ten will, ist ein vaterlandsloser Nietan: Ganz klar: ja. Insbeson­ besonders viel finden, was Feldern, da wollen wir kein
Geselle. Diese Propaganda dere in der Zivilgesellschaft nicht hineingehört, hängen Mikroplastik haben. In drei
­belastet das deutsch-polnische arbeiten viele Menschen inten­ wir einen Zettel dran. Für den Jahren gilt außerdem die neue
Verhältnis sehr. siv an der deutsch-polnischen Bürger ist dort aufgelistet, was Bioabfallverordnung: Der
SPIEGEL: Rührt die schlechte Freundschaft. Sie bilden wichti­ in die Biotonne darf und was Kontrollwert für Fremdstoffe
Abstimmung im Oder-Krisen­ ge Brücken, die helfen werden, nicht. Und der Müllwerker in den Bioabfällen darf nur
management daher? die derzeitige diplomatische weiß, dass er sie stehen lassen noch ein Prozent betragen.
Nietan: Ich kann mir vorstellen, Eiszeit zu überstehen. Aber ma­ soll. Schwere Fälle können Ist der Anteil zu hoch, können
dass ein solches Klima polni­ chen wir uns nichts vor: Der an­ wir als Ordnungswidrigkeit die Verwerter den Müll zu­
sche Beamtinnen und Beamte dauernde politische Streit hin­ anzeigen, aber das haben wir rückweisen. Dann müssten
nicht gerade zusätzlich zu einer terlässt Spuren, die Empathie noch nie gemacht. Dass der wir als Landkreis sehen, wo
engen Zusammenarbeit mit füreinander bröckelt. Wir müs­ Müll zwei Wochen lang nicht wir damit bleiben.«
deutschen Beamtinnen und sen aufpassen, dass keine Mau­ mitgenommen wird, ist meis­ Aufgezeichnet von Johanna Jürgens
Beamten ermuntert. Missstände er des Misstrauens entsteht. KOR

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 23


DEUTSCHLAND

Oh, wie schön war Kanada


BUNDESREGIERUNG  Olaf Scholz kommt nicht aus dem Dauertief. Die Gaskrise schadet seiner Popularität,
seine Glaubwürdigkeit leidet. In der SPD beginnt es zu rumoren, die Geschlossenheit bröckelt.

Janine Schmitz / photothek / IMAGO

Bundeskanzler Scholz: Es läuft so gut wie nichts

24 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


DEUTSCHLAND

W »Das war ein kommunikati-


enn es so etwas wie die Komfortzone kraten hier nervös. Noch liegt die SPD von
des Olaf Scholz gibt, dann ist sie Stephan Weil vorn, doch den Sog nach unten
knapp zehn Millionen Quadratkilo- ves Desaster. Und inhaltlich spürt man auch hier. Die Sorge vor dem
meter groß, hat 37 Millionen Einwohner, ent-
hält Grizzlybären, und es wird dort im Win-
ist die Gasumlage unge- Machtverlust wächst.
Das tapsige Krisenmanagement der Re-
ter ziemlich kalt. Die Rede ist von Kanada. recht und der falsche Weg.« gierung Scholz ist im Kino sofort Thema.
Scholz war dort zu Beginn der Woche Erik von Malottki, SPD-Abgeordneter Frage: Hätte die Koalition nicht die Höhe der
unterwegs, von Sonntag bis Dienstag. Es Gasumlage und die Mehrwertsteuersenkung
dürfte lange her sein, dass er so viel Lob und als Paket verkünden können, also Belastung
Zuneigung bekommen hat. »Ich bin sehr und Entlastung im selben Moment?
glücklich, meinen Freund Bundeskanzler »Das hätte man tun können«, sagt Küh-
Scholz hier begrüßen zu dürfen«, sagte Pre- nert. »Wir lernen laufend dazu.« Kommuni-
mier Justin Trudeau bei einer gemeinsamen Einkommensmillionären. Die Idee hätte von kativ, sagt der Generalsekretär, sei das »nicht
Pressekonferenz in Montreal. »Vielen Dank, der FDP stammen können. optimal gewesen«.
dass du hier bist, Olaf!« Seitdem knirscht es bei den Sozialdemo- Mach es besser, Olaf – du kannst es doch
Scholz verteidige eisern »die Demokratie kraten. »Eine unnötig ineffiziente Herange- eigentlich. So in etwa hören sich viele Sozial-
in Europa und in der ganzen Welt, und dafür hensweise« nennt SPD-Vorstandsmitglied demokraten in diesen Tagen an, auch nam-
danken wir«, sagte Trudeau abends bei einem Gustav Horn die jüngsten Entscheidungen. hafte.
Dinner in Toronto. Scholz beweise Führungs- Die Regierung habe die Gasumlage der Frak- Den meisten Genossen ist bewusst, wie
stärke. tion »einfach vorgesetzt – und das ohne so- viel sie Scholz zu verdanken haben – mit
Freundschaft, Führungsstärke, Dankbar- zialen Ausgleich«, klagt der Bundestagsabge- seinem Wahlsieg im vergangenen Jahr hat er
keit, es waren die Stichwörter, die Scholz in ordnete Erik von Malottki. »Das war ein die Partei vor einem Fall ins Bodenlose be-
Kanada immer wieder hörte, in Reden, Gruß- kommunikatives Desaster. Und inhaltlich ist wahrt. Doch die Fehler sind zu offensichtlich,
worten, bei Pressekonferenzen. Es war wie die Gasumlage sowieso ungerecht und der der Kanzler ist nicht länger sakrosankt. Küh-
ein warmer Regen, der sich über den deut- völlig falsche Weg.« nerts vorsichtige Kritik ist ein Versuch, der
schen Bundeskanzler ergoss. Es muss ihm Was man Scholz zugute halten muss: Die Basis zu signalisieren: Wir hören euch, wir
sehr gutgetan haben. Wucht, die Dramatik der Krise waren kaum sehen eure Sorgen.
Denn so wie in Kanada wird Scholz zu absehbar. Entscheidungen müssen teils Hals Andere Spitzengenossen wirken in diesen
Hause nicht gesehen. Im Gegenteil, hier läuft über Kopf getroffen werden, da kann schon Tagen wie gelähmt. Wo ist Parteichefin Sas-
so gut wie nichts. Die Regierung schwimmt, mal was durchrutschen. Aber die Gaskrise kia Esken? Wo ihr Co-Vorsitzender Lars
ihr fehlt ein klarer Kurs. Die eigene Partei ist berührt den Kern seiner Kanzlerschaft, es Klingbeil? Als sich kürzlich einzelne Sozial-
unruhig. Scholz’ Popularität schwindet. In geht um Gerechtigkeit, um die gesellschaft- demokraten über die Steuerpläne von Chris-
der Kanzlerfrage der Meinungsforscher von liche Balance. Die fehlende Linie hat das Ver- tian Lindner echauffierten, meldete sich
Civey hat ihn mittlerweile sogar Friedrich trauen seiner Anhänger bereits erschüttert, Klingbeil zu Wort – und lobte den FDP-­
Merz überholt. Friedrich Merz. Ernsthaft am Ende könnte ihn das sogar die Wieder- Finanzminister für seine »konstruktiven«
jetzt. wahl kosten. Manche in der Partei fragen Vorschläge.
Eigentlich wollte Scholz das Land erneu- sich mittlerweile, ob der Kanzler das ver- Die Partei wirkt uneins. Zum Entlastungs-
ern, stattdessen ist er dauernd damit beschäf- standen hat. paket gibt es mittlerweile so viele Vorschläge
tigt, seinen eigenen Ruf zu retten, sich zu Sonntagabend, ein Kino in Lüneburg, aus den Reihen der SPD, dass man leicht den
verteidigen, zu rechtfertigen. Ständig muss SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert ist nach Überblick verlieren kann. Vom Wohngeld
er gegensteuern, sich des Vorwurfs erwehren, Niedersachsen gekommen. Sieben Wochen über Einmalzahlungen und Energiezuschüs-
er tue zu wenig für die Ukraine, für die Bür- vor der Landtagswahl sind die Sozialdemo- se bis zu Nachfolgelösungen für das 9-Euro-
ger. Scholz muss Eseleien erklären, Fehler Ticket ist so ziemlich alles dabei. Sachsens
ausbügeln. SPD-Wirtschaftsminister Martin Dulig drängt
Gegner und Medien durchwühlen seine Gewählt ist gewählt auf einen Gaspreisdeckel, die »Parlamen­
E-Mails, um ihm in der Cum-ex-Affäre Lügen tarische Linke« will gezielte Entlastungen.
»Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag
nachweisen zu können. Potsdamer Nachbarn Bundestagswahl wäre?«, Angaben in Prozent
»Wir brauchen jetzt schleunigst einen Plan,
fanden im Hausmüll vertrauliche Papiere, die wie wir die Menschen entlasten, die es bitter
der Kanzler dort offensichtlich entsorgt hat- CDU/CSU Grüne SPD AfD FDP nötig haben«, fordert deren Sprecherin Wieb-
te. Neulich verpasste er es, Palästinenser- ke Esdar.
Linke
präsident Mahmoud Abbas zu widerspre- Ähnlich kakofonisch präsentiert sich die
chen, als der im Kanzleramt neben ihm von 28 Partei in der Ukrainepolitik. Vergangenes
50 israelischen »Holocausts« fantasierte. Wochenende forderten drei Ampelpolitiker
Permanenter Ärger, größtenteils selbst ver- in einem SPIEGEL -Gastbeitrag mehr Waffen
schuldet, auch auf der Kanadareise. Von der 20 für Kiew, unter ihnen der SPD-Bundestags-
19
blieb vor allem hängen, dass Scholz mit sei- abgeordnete Kristian Klinck, interner Spitz-
ner Entourage im Regierungsflieger ohne name: Colonel. Keine zwei Wochen später
Maske unterwegs war. haben nun linke SPD-Politiker, darunter Ab-
Die Preise explodieren, bei den Lebens- 10 geordnete aus dem Bundestag, dem Europa-
mitteln, bei der Energie, das Land wartet auf parlament und den Ländern, einen Appell
weitere Entlastungen, aber der Kanzler zö- 5 verfasst, der dem SPIEGEL vorliegt, Titel:
gert. Beschlossen wurde bislang nur, dass die »Die Waffen müssen schweigen!«. Die For-
0
Gasumlage, die Kunden von Oktober an zah- derungen haben es in sich: umfassende Frie-
Oktober Januar April Juli
len müssen, über eine geringere Mehrwert- 2021 2022 densverhandlungen, China als möglicher
steuer auf Gas abgefedert werden soll. Das Vermittler. Und mit der russischen Regierung
S Quelle: Civey-Umfrage für den SPIEGEL; Befragungszeit-
kommt nicht etwa zielgerichtet Geringver- räume: je sieben Tage, jüngster Befragungszeitraum vom 18. solle ein »Modus Vivendi« gefunden werden.
dienern und der Mittelschicht zugute, son- bis 25. August; Stichprobengröße: mindestens 10.000 Befragte;
die statistische Ungenauigkeit der Umfrage liegt bei bis zu 2,5
Nicht nur die eigene Partei sitzt dem
dern auch hochprofitablen Unternehmen und Prozentpunkten; an 100 fehlende Prozent: »eine andere Partei« Bundeskanzler im Nacken, auch in der Ko-

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 25


DEUTSCHLAND

Problem. Vielleicht ist Scholz’ Um- Bürgern schon vor Wochen in Aus-
feld ein bisschen zu eingeschworen. sicht gestellt hat, ist so etwas wie der
Zu diesem Umfeld gehören unter große, der ultimative Praxistest für
anderen Kanzleramtschef Wolfgang dieses Wort: Respekt.
Schmidt und Regierungssprecher Stef- Respekt wird sich jetzt an Konto-
fen Hebestreit, die beiden begleiteten ständen bemessen.
Scholz schon, als er noch Erster Ham- Sollte das Paket zu mager ausfal-
burger Bürgermeister war. Vor allem len, wird der Frust riesig sein – und
Schmidt konnte schon immer wort- zwar nicht nur bei denen, die ohne-
reich erklären, warum der Chef mal hin schon an die AfD verloren sind.
wieder alles richtig gemacht habe und Es werden sich dann Menschen von
sämtliche Kritiker entweder böswillig der SPD abwenden, die sie vor knapp
oder beschränkt seien. Doch in letzter einem Jahr noch gewählt haben. Weil
Zeit wirkt es, als hätten Scholz und sein sie Scholz glaubten. Verliert er ihr
Umfeld sich regelrecht eingemauert. Vertrauen, wird er von Respekt erst
Alle gegen uns, wir gegen alle. Das mal nicht mehr reden müssen.
ist in der Politik oft der Punkt, an Mehrmals schon hat er das Land

Reto Klar / FUNKE Foto Ser vices


dem es bedenklich wird. Wer immer überrascht mit wuchtigen Vorschlä-
recht hat, muss nichts mehr verän- gen. In der Coronakrise waren es die
dern, verbessern. »Bazooka« und die Milliardenhilfen,
Scholz hat im vergangenen Jahr ein Ende Februar die Zeitenwende und
kleines und zugleich großes Wort zum das Paket für die Bundeswehr. Viel-
Leitmotiv seines Wahlkampfs ge- leicht plant er ja wieder so ein Ding,
macht: Respekt. Es ging ihm um den hoffen sie in der SPD.
alition ist es schwierig. Vor allem mit SPD-Generalsekretär Umgang mit Menschen, die auch in Scholz und sein Umfeld versu-
der FDP. Kühnert*: Der Kanzler der SPD oft gönnerhaft als »kleine chen, Zuversicht zu verbreiten. Wir
ist nicht länger
Weil Scholz ohne die Liberalen sakrosankt – seine Leute« beschrieben wurden, um Frau- kriegen da was Gutes hin, erzählen
nicht Kanzler geworden wäre, muss Fehler sind en, die beim Discounter an der Kasse seine Vertrauten, auch mit der FDP.
er permanent Rücksicht auf sie neh- zu offensichtlich sitzen, Männer, die Gabelstapler fah- Und dann kommt ja irgendwann auch
men und Vorstöße durchgehen las- ren, um Pflegerinnen, Gleisbauer. Um noch das Bürgergeld, der neue Min-
sen, die seine Leute auf die Palme diejenigen, die nicht studiert haben, destlohn wird greifen. Der Winter
bringen. Der Tankrabatt ist ein Bei- deren Perspektive in den großen poli- mag zwar kalt werden, auch in deut-
spiel, die Mehrwertsteuersenkung tischen Debatten oft untergeht. schen Wohnzimmern, aber werden
ein anderes. Das lässt ihn führungs- Scholz überarbeitete damit einen die Bürger sich dann nicht am Kanz-
schwach wirken. Aber Scholz braucht Die wichtigen Teil des sozialdemokrati- ler mit der ruhigen Hand ausrichten?
den kleinsten Koalitionspartner. Kanzlerfrage schen Glaubensbekenntnisses, das Dagegen spricht: Bald beginnen
Das Verhältnis zur FDP könnte sogenannte Aufstiegsversprechen, die Etatverhandlungen für 2023. Die
zum Dauerproblem seiner Kanzler- »Welcher dieser wonach jeder und jede es durch Bil- FDP will sparen, SPD und Grüne
schaft werden. »Extrem schädlich« sei Politiker ist am besten dung nach oben schaffen kann. Die wollen mehr Geld ausgeben. Es dro-
als Bundeskanzler
das mit der Gasumlage gelaufen, geeignet?«, Angaben SPD war immer stolz darauf, vielen hen neue Kämpfe, Enttäuschungen.
sagt der Abgeordnete Malottki dem in Prozent Arbeiterkindern den Weg an die Uni- Die Erwartungen an den Kanzler sind
SPIEGEL. »Die sozialdemokratische versitäten geebnet zu haben – doch riesig. Wie soll er sie erfüllen?
Robert Habeck, Grüne
Handschrift muss klarer erkennbar Scholz fand schon lange, damit qua- Noch mal zurück nach Kanada.
sein«, fordert die Parteilinke Esdar. 23 lifiziere man zugleich diejenigen ab, Am Dienstag, kurz vor der Rückrei-
Und Juso-Chefin Jessica Rosenthal Friedrich Merz, CDU die diesen Weg nicht gehen, die keine se, flog Scholz von Toronto nach Ste-
dringt auf einen härteren Umgang mit 17 Hochschule besuchen. Damit wollte phenville, einem Nest in Neufund-
dem Finanzminister. »Christian Lind- Olaf Scholz, SPD er Schluss machen. land. Dort wehen starke Winde, des-
ner muss von seinem falschen Kurs 13 Der Kanzler ist der Überzeugung, halb sollen Windräder aufgestellt
abgebracht werden«, sagt Rosenthal. dass er der SPD mit seinem Respekt- werden, mit deren Energie wiederum
Markus Söder, CSU
»In eine Krise kann man nicht hinein- Motiv eine Idee für das 21. Jahrhun- grüner Wasserstoff produziert wer-
sparen. Für diese klar erkennbare so- 13 dert gegeben hat - eine Nummer klei- den könnte, der dann irgendwann in
ziale Politik sind alle auf Bundesebene Annalena Baerbock, ner macht er es ja selten. Das Pro­ Deutschland ankommt. So die Idee.
gefordert – Kanzler, Fraktion, Partei.« Grüne blem: Er hat sich und der SPD damit Es war noch einmal ein Wohlfühl-
Andere hoffen darauf, dass der 7 eine gewaltige Fallhöhe geschaffen. termin, wieder mit Trudeau, es ging
Kanzler sein Team umbaut, sich neue Christian Lindner, FDP Das Wort Respekt lässt sich jetzt um Aufbruch, Zukunft. Aber bei der
Leute holt und damit neue Inspira- 3 auch gegen ihn verwenden, wenn es Einfahrt auf das Hafengelände von
tion. Aber will er das überhaupt? Janine Wissler, Linke
um sein Verhalten geht, etwa den Stephenville kam Scholz’ Kolonne
Scholz konnte sich in den vergan- maskenlosen Flug nach Kanada. an einer Gruppe Protestierer vorbei,
1
genen Jahren auf etwas stützen, das Rechtlich mag der in Ordnung gewe- sie hielten Schilder hoch und brüll-
für erfolgreiche Politikerinnen und Karl Lauterbach, SPD sen sein, aber das Signal war: Für uns ten. Es ging gegen Windräder, aber
Politiker überlebensnotwendig ist: 0 hier oben gelten andere Regeln. irgendwie auch um Corona.
ein festes, eingeschworenes Umfeld. Das ist die stilistische Dimension. Die Menschen wirkten ziemlich
Die Leute um ihn herum haben ihn S Quelle: Civey-Umfrage für Wichtiger ist die politische. Wie viel wütend, sie waren laut. Für Olaf
dahin gebracht, wo er ist – doch was den SPIEGEL vom 23. bis 24. Geld ist das Wort Respekt dem Kanz- Scholz kann es sich angefühlt haben
August; Stichprobengröße:
lange eine Stärke war, wird nun zum 5003 Befragte; die statis- ler wert, was tut die Koalition, um wie ein Vorgeschmack auf Deutsch-
tische Ungenauigkeit der
Umfrage liegt bei bis zu steigende Preise auszugleichen oder land in den nächsten Wochen.
* Unter der Willy-Brandt-Statue in der Berli-
2,5 Prozentpunkten; an 100
fehlende Prozent: »weiß
jedenfalls abzufedern? Das dritte Kevin Hagen, Christoph Hickmann,
ner Parteizentrale. nicht / keiner der Genannten« Entlastungspaket, das Scholz den Veit Medick, Christian Teevs  n

26 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


DEUTSCHLAND

dann so etwas wie eine kleine baye- das Feld überlässt, ist unwahrschein-
rische Polit-Dynastie. lich – auch wenn bayerische FDP-Grö-
Als Susanne Seehofer im April 2021 ßen wie Landtagsvizepräsident Wolf-
FDP-Mitglied wurde, sprach sie im gang Heubisch genau dafür werben.

Urbayerisches
Interview mit der »Münchner Abend- Er rät seinen Parteikollegen nach-
zeitung« noch davon, zunächst an drücklich dazu, Seehofers Tochter in
der Basis »in den Diskurs gehen« zu einem guten Wahlkreis aufzustellen:

Prinzip
wollen. Doch vor wenigen Wochen »Wir brauchen Frauen wie sie: selbst-
wurde »die Seehoferin«, wie manche bewusst, empathisch, meinungsstark,
Liberale sie ehrfürchtig nennen, zur bodenständig, beschäftigt bei einem
stellvertretenden Vorsitzenden der internationalen Arbeitgeber.«
FDP München gewählt – mit 90 Pro- Nach einem BWL-Studium in Re-
PARTEIEN  Horst Seehofers Tochter könnte zent der Stimmen. Seitdem wird sie gensburg und Ingolstadt stieg Susanne
als Zugpferd für den Landtagswahl- Seehofer bei BMW ein, arbeitete für
nächstes Jahr in den Bayerischen Landtag kampf im kommenden Jahr gehandelt. den Automobilkonzern unter anderem
einziehen – für die FDP. Noch hält sie sich bedeckt, zu­ im Silicon Valley und in China. Derzeit
mindest öffentlich. »Über eine Kandi­ beschäftigt sie sich in der Münchner
datur als FDP-Direktkandidatin ent- BMW-Zentrale mit den Themen Elek-

I
m Sommer vergangenen Jahres scheide ich im September«, sagt sie. tromobilität und Nachhaltigkeit.
bekam Horst Seehofer von seiner Zunächst werde sie dann »natürlich Die FDP-Fraktion im Bayerischen
Tochter Susanne ein Foto ge- meine Parteifreundinnen und -freun- Landtag besteht aktuell aus elf Mit-
schickt. Seehofer, damals noch Bun- de informieren«. Das allerdings klingt, gliedern, zehn davon sind Männer, die
desinnenminister, verstand die Bot- als hätte sie sich bereits entschieden. Hälfe davon im fortgeschrittenen Alter
schaft sofort, erzählt sie. In nur knapp drei Jahren vom – und sowohl Heubisch (76) als auch
Das Bild zeigte seine Tochter mit ­einfachen Mitglied zur Landtagsab- Helmut Markwort (85) und Albert
Peter Rigaud

mehreren FDP-Politikern auf einem geordneten – es wäre ein ziemlicher Duin (68) haben bereits ihre erneute
Sommerempfang der Liberalen in Ritt. Und es ist längst nicht ausge- Kandidatur fürs Maximilianeum be-
München. Susanne Seehofer war in CSU-Ehrenvor­ macht, dass er gelingt. kannt gegeben. Als Managerin und
die FDP eingetreten. Bereits Monate sitzender Seehofer Bei der Landtagswahl 2018 schaff- Mutter wäre Susanne Seehofer ein
zuvor. ten die Liberalen mit 5,2 Prozent der »Lottogewinn« für die Liberalen, so
»Willst du dir das wirklich antun?«, Stimmen nur knapp den Einzug ins drückt es ein neidisches CSU-Mitglied
fragte der Vater per SMS zurück. Parlament. Das Wahlsystem ist zu- aus. Mit ihrem Nachnamen wäre
Ja, sie wollte. dem kompliziert, die Erststimmen außerdem eine überdurchschnittliche
Aber warum eigentlich? unterlegener Kandidatinnen und Medienpräsenz garantiert – zahlreiche
Susanne Seehofer, 31, hat einen Kandidaten verfallen nicht. Susanne Redaktionen dürften sich für die Fra-
guten Job, sie hat seit 2020 eine Toch- Seehofer müsste also, um überhaupt ge interessieren, wie sich Horst See-
ter – was treibt sie in die Politik, was einen der FDP-Sitze im Maximilia- hofers Tochter im Wahlkampf schlägt.
zur FDP? Zumal sie an ihrem Vater neum zu ergattern, möglichst in Sie wäre nicht das erste Kind
studieren konnte, was die Politik mit einem Münchner Wahlbezirk mit eines prominenten CSU-Politikers,
Menschen macht, dass sie vieles an- ­großem FDP-Wählerpotenzial direkt das Karriere in einer anderen Partei
dere im Leben überdecken kann. kandidieren – und sich zuvor inner- macht. Die Tochter der langjährigen
Es sei leicht, über Politiker zu Liberale Seehofer (r.), halb der Partei gegen andere Bewer- stellvertretenden CSU-Chefin Bar­
Parteifreunde*:
schimpfen, sagt sie, »ich habe das­ Überdurchschnittliche
berinnen und Bewerber durchsetzen. bara Stamm, Claudia Stamm, saß
­jahrelang hautnah mitbekommen«. Medienpräsenz Dass jemand in der FDP freiwillig mehrere Jahre für die Grünen im Bay-
Doch statt sich nur zu beschweren, garantiert der Tochter des früheren CSU-Chefs erischen Landtag. Der Sohn des frü-
was einem alles nicht passe, könne heren bayerischen CSU-Ministerprä-
man in einer Demokratie zum Glück sidenten Max Streibl, Florian Streibl,
selbst mit anpacken. Das wolle sie tun. ist derzeit Fraktionschef der Freien
Warum aber in der FDP und nicht Wähler im Bayerischen Landtag.
in der CSU, deren Vorsitzender ihr Auch die uneheliche Tochter des ak-
Vater von 2008 bis 2019 war? War tuellen CSU-Vorsitzenden und Minis-
ihr das Christsoziale nicht schon in terpräsidenten Markus Söder kann sich
die Wiege gelegt? eines Tages den Wechsel in die Politik
»Mich begeistert das urbayerische vorstellen. Gloria-Sophie Burkandt
Prinzip: Leben und leben lassen«, arbeitet als Model, hat aber offenbar
sagt Susanne Seehofer. »Für mich das Denken in Superlativen vom Vater
­verkörpert das keine Partei so sehr geerbt. In einem Interview mit der Zeit-
wie die FDP. Wir sind eine lebendige schrift »Bunte Quarterly« sagte sie vor
und eine debattierfreudige Partei, in einiger Zeit: »Ich bin in der Jungen
der nicht nur irgendwelche Vorlagen Union. Aber vielleicht gründe ich
abgenickt werden.« ­später auch mal meine eigene Partei.«
Im kommenden Jahr könnte Su- Wer weiß, vielleicht treffen dann
Susanne.Seehofer / Instagram

sanne Seehofer für diese Partei sogar in der bayerischen Landespolitik zwei
in den Bayerischen Landtag einzie- Frauen aufeinander, deren Väter sich
hen – aus Familie Seehofer würde bereits in herzlicher Abneigung ver-
bunden waren. Horst Seehofer hätte
* Landtagsvizepräsident Wolfgang Heubisch, sicherlich seine Freude daran.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing. Anna Clauß  n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 27


DEUTSCHLAND

sie auf Dauer das Gesicht Europas sein kann,


so wie in der Anfangsphase des Krieges. Da-
für müsste sie sich ändern, ihre Neigung zur
Selbstdarstellung und zum Pathos mäßigen.

Die Einzelkämpferin
Aber kann sie sich nach so vielen Jahren in
der Politik noch einmal neu erfinden?
Björn Seibert kommt die paar Meter vom
Kommissionsgebäude ins Café herüberge­
laufen, er trägt graue Turnschuhe zum blauen
KARRIEREN  Die entschiedene Reaktion der EU auf den Krieg gegen Anzug. Sie sind ein Überbleibsel aus seiner
Zeit in den USA, wo Männer und Frauen sich
die Ukraine ist Ursula von der Leyens Verdienst. Doch die Kommissions- erst im Büro in unbequeme »dress shoes«
präsidentin fällt in alte Fehler zurück. In Brüssel wächst der Unmut. zwängen. Seibert hat irgendwann die Turn-
schuhe einfach anbehalten.
Seibert ist Stabschef und seit vielen Jahren

U
rsula von der Leyen steht in einer Men- nach Kiew, um »ein deutliches Zeichen der der engste Berater und Mitarbeiter von der
schenmenge auf der Grand Place in Unterstützung für die Ukrainer« zu setzen. Leyens. Ihm vertraut sie nahezu blind, in der
Brüssel, sie hält mit vielen Dutzend an- Olaf Scholz überlegte lange, ob er überhaupt Ukrainekrise hat sich das ausgezahlt.
deren Menschen eine 30 Meter lange ukraini- fahren sollte. Das US-Magazin »Time« wid- Er hat an diversen amerikanischen Elite-
sche Flagge in der Hand. Die Präsidentin der mete »Europas Maklerin der Macht« eine universitäten studiert und gelehrt, er hat enge
EU-Kommission ist zum Gedenken an die Titelgeschichte. Kontakte in die US-Regierung. Mit Daleep
Opfer des russischen Kriegs gegen die Ukraine Ausnahmezustand konnte von der Leyen Singh, dem damaligen stellvertretenden Si-
auf den zentralen Platz der belgischen Haupt- schon immer – schwierig war es meist im poli- cherheitsberater Joe Bidens, telefonierte Sei-
stadt gekommen. Die barocken Gebäude bil- tischen Alltag, wenn die Mühen der Ebene bert vor Kriegsbeginn zum Teil mehrmals
den eine prächtige Kulisse für ihren Auftritt. anstanden. So ist es auch jetzt wieder. Nach täglich. Er überzeugte von der Leyen Anfang
Die Sonne strahlt, die Menge singt ukrai- einem halben Jahr Krieg treten die Schwächen des Jahres davon, die US-Geheimdienstinfor-
nische Lieder, einige Frauen weinen. Von der ihres Führungsstils zutage. mationen über einen bevorstehenden russi-
Leyen lächelt. Sie trägt die Farben der Ukrai- Mittlerweile werden Risse in der Einheit schen Angriff ernst zu nehmen.
ne, eine blaue Bluse zum gelben Blazer. Ein der EU sichtbar. Ungarns Ministerpräsident Welche Rolle von der Leyen für die Ame-
paar Selfies noch, dann geht sie wortlos in Viktor Orbán hat als Erster die gemeinsame rikaner spielte, zeigte sich kurz nach Kriegs-
Richtung ihres Dienstwagens. Nach einer Linie beim Thema Sanktionen verlassen, und beginn in Warschau bei einem virtuellen
Viertelstunde ist die Inszenierung beendet. die bulgarische Regierung hat in dieser Woche Nato-Gipfel. Dort wartete sie mit den ost-
Man ist sich hinterher nicht ganz sicher, angekündigt, mit Moskau über Gaslieferun- europäischen Staatschefs in einem abhör­
worum es bei dem Auftritt am vergangenen gen zu verhandeln. Einen von der Kommis- sicheren Konferenzraum auf den Beginn des
Mittwoch eigentlich ging. Um die Ukraine sion ausgearbeiteten Notfallplan für den Fall, Meetings, als eine Nachricht über das Video-
oder um von der Leyen. dass im Winter das Gas ausgeht, haben die system lief, das Washington mit seinen Part-
Nach ihrem Amtsantritt vor gut zweiein- Mitgliedstaaten in zentralen Punkten abge- nern verbindet: Die Präsidentin der EU-Kom-
halb Jahren suchte die Kommissionschefin lehnt. Dafür ist von der Leyen nicht allein mission möge bitte im Weißen Haus anrufen.
nach ihrer Rolle, ihrem Projekt. Sie versuch- verantwortlich, aber sie hat dazu beigetragen. Joe Biden habe vor Beginn der Videokonfe-
te es mit dem Thema Klimawandel, mit dem Auch bei anderen Themen hakt es. Das renz noch einige Einzelheiten mit »Ursula«
ambitionierten Plan einer klimaneutralen EU, von ihr angestoßene Ölembargo gegen Russ- klären wollen, hieß es später.
doch sie blieb umstritten. Seit dem russischen land ist eher ein Problem für die EU als für In Washington mag von der Leyen hoch
Überfall auf die Ukraine ist die Kritik an ihr Wladimir Putin. Und schaffen es die Euro­päer im Kurs stehen, in Brüssel wird sie nach wie
leiser geworden. Plötzlich machte sie vieles wirklich, ihre CO2-Emissionen bis 2030 um vor deutlich kritischer gesehen. Sie gilt als
richtig, während andere falschlagen. 55 Prozent zu senken, wie von der Leyen es notorisch misstrauisch und verschlossen
Die Invasion überraschte viele europäische propagiert? Fraglich. gegenüber Leuten, die nicht zu ihrem engsten
Regierungen, aber nicht die Kommissions- Auf einer Pressekonferenz kurz vor dem Umfeld gehören. Sie delegiert wenig, zieht
chefin. Von der Leyen hatte bereits Wochen Sommerurlaub wirkte von der Leyen er- alle wichtigen Entscheidungen – und viele
zuvor Sanktionen gegen Russland konzipie- schöpft. Das Lächeln, das sie sonst wie auf nicht so wichtige – an sich. Das hat schon in
ren lassen, sie war vorbereitet. Knopfdruck an- und abschaltet, blieb diesmal Berlin nicht gut funktioniert.
Schon am Tag vor Kriegsbeginn konnte nur angedeutet. Er habe die Präsidentin noch In Brüssel ist es noch schwieriger. Das In-
die EU das erste Strafpaket gegen Moskau nie so müde erlebt, sagt einer, der unmittelbar stitutionengefüge in der EU ist kompliziert,
beschließen, zwei weitere folgten innerhalb davor in der Runde der Kommissarinnen und bei vielen Entscheidungen reden 705 Parla-
einer Woche. Es war eine Leistung, die nur Kommissare mit ihr zusammensaß. mentsabgeordnete, 27 Staats- oder Regie-
wenige den sonst notorisch zerstrittenen Am Montag ist die Brüsseler Sommerpau- rungschefs und außer der Präsidentin noch
Europäern zugetraut hätten. se vorbei, von der Leyen nimmt offiziell wie- 26 weitere Kommissionsmitglieder mit. Ein
In der größten Herausforderung ihrer der ihre Dienstgeschäfte auf. Die Frage ist, ob solches Gebilde lässt sich nicht mit einer klei-
Amtszeit schien die Kommissionspräsidentin nen Gruppe enger Vertrauter führen.
zu sich zu finden. Die Koordination der Sank- »Ihr Ton ist verbindlicher als der von Jean-
tionen mit den Amerikanern übernahmen Claude Juncker«, sagt ein EU-Beamter, der
nicht der deutsche Bundeskanzler oder der auch den Vorgänger schon erlebt hat. »Dafür
französische Präsident, das übernahm von der hat Juncker seinen Kommissaren den Frei-
Leyen persönlich. Mittlerweile lächelt nie- »Wenn es darauf ankommt, raum gelassen, viele Entscheidungen selbst
mand mehr über ihre Ankündigung, sie wolle
eine »geopolitische« Kommission führen.
biegt Frau von der Leyen oft zu treffen. Von der Leyen will alles selbst ent-
scheiden.«
Selbst ihr Hang zur großen Geste wirkte falsch ab.« Die Frage, wie die EU Demokratie und
plötzlich nicht mehr unpassend. Von der Leyen Rasmus Andresen, Chef der deutschen Rechtsstaatlichkeit in den eigenen Reihen
reiste in den ersten Kriegsmonaten zweimal Grünen in Europa schützen kann, hat von der Leyen früh an sich

28 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


DEUTSCHLAND

Auch in der Sanktionspolitik, in der es


a­ nfangs so gut lief, gibt es Rückschläge. Mit
Pathos hatte die Kommissionschefin Anfang
Mai einen Importbann auf russisches Öl
­angekündigt – ohne die Idee mit den am
stärksten betroffenen Osteuropäern zu be-
sprechen. Deutschland und Frankreich hatten
grundsätzlich Zustimmung signalisiert, das
reichte ihr.
Dabei hatte Orbán schon früh klarge-
macht, dass ein Ölembargo für ihn nicht in-
frage komme. Er sperrte sich, am Ende kam
das kümmerliche Fragment eines Boykotts
heraus: Russisches Öl fließt weiter durch Pipe-
lines nach Europa und wird mit europäischen
Schiffen nach Asien gebracht.
Von der Leyens Hang zu großen Worten
ist ein Erbe ihrer Berliner Zeit. Ihre Reden
klingen meist, als kommentierte sie einen
weltgeschichtlichen Wendepunkt, auch wenn
es nur um die Zukunft der Modeindustrie
geht. Mitunter kann das heikel werden.
So sagte sie in der Anfangsphase des Krie-
ges nach einem Telefonat mit dem ukraini-
schen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu
einem möglichen EU-Beitritt der Ukraine:
»Sie sind einer von uns, und wir wollen sie
drinhaben.« Danach stimmten alle Mitglied-
staaten zu, Kiew im Rekordtempo den Status
eines Beitrittskandidaten zu verleihen.
Doch die Hoffnung auf einen raschen Bei-
tritt, die von der Leyen in Kiew geweckt hat,
dürfte sich nicht erfüllen, dazu sind die struk-
turellen Probleme des Landes zu groß. Die
Enttäuschung ist programmiert – und könnte
das Land von der EU entfremden, so wie es
in der Türkei oder auf dem Balkan zu beob-
achten ist.
Ankündigungen sind nicht von der Leyens
Dana Lixenberg / TIME Magazine

Problem – die Umsetzung ist es. »Sie geht auf


uns zu, sie sagt oft die richtigen Sachen«, so
Rasmus Andresen, Chef der deutschen Grü-
nen im Europäischen Parlament. »Aber wenn
es darauf ankommt, biegt Frau von der Leyen
oft falsch ab. Wir haben nicht den Eindruck,
dass wir ihr vertrauen können.«
Kommissionschefin von der Leyen: Ausnahmezustand kann sie gut
Im Kern ist von der Leyen eine Einzel-
gezogen. »Wir werden es nicht zulassen, dass Die Alleingänge der Kommissionspräsi- kämpferin geblieben. Allerdings hat sie früh
unsere gemeinsamen Werte aufs Spiel gesetzt dentin haben mitunter fatale Konsequenzen. gelernt, dass man ohne politische Netzwerke
werden. Die Kommission wird handeln«, sag- Vor der Sommerpause ließ sie gegen den mächtige Fürsprecher benötigt. In Berlin hat
te sie vor einem knappen Jahr im Europa- Willen der zuständigen Kommissare den Angela Merkel sie gefördert und geschützt.
parlament. ­polnischen Wiederaufbauplan billigen, eine In Brüssel achtet sie darauf, vor allem den
Doch am Ende verklagte das Parlament Voraussetzung für Milliardenzahlungen französischen Präsidenten Emmanuel Macron
die Kommission wegen Untätigkeit, weil von aus dem Coronafonds der EU. Sie reiste per- nicht zu verärgern. Ihm verdankt sie ihr Amt,
der Leyen den neu geschaffenen Rechtsstaats- sönlich nach Warschau, um den Erfolg zu Macron hatte sie als Kommissionspräsidentin
mechanismus nicht einsetzen wollte, bevor feiern. vorgeschlagen. Dass die Atomkraft gegen hef-
der Europäische Gerichtshof (EuGH) über Doch die Sache ging nach hinten los. Das tige Proteste in den Katalog für klimafreund-
dessen Rechtmäßigkeit entschieden hatte. Parlament drohte von der Leyen mit einem liche Investitionen der EU, der sogenannten
Selbst nach der EuGH-Entscheidung zögerte Misstrauensvotum, Kommissionsvizepräsi- Taxonomie, aufgenommen wurde, war vor
sie, den Mechanismus gegen Orbán anzuwen- dentin Věra Jourová erklärte, Polen erfülle allem eine Geste in Richtung Frankreich. Die
den, der nach Überzeugung vieler in Brüssel die Voraussetzungen für die Auszahlung des Franzosen produzieren einen Großteil ihres
mit EU-Geldern ein System von Korruption Geldes nicht. Die Mittel bleiben eingefroren. Stroms mit Kernreaktoren. Aber wird man
und Günstlingswirtschaft aufgebaut hat. Durch ihr Vorpreschen hat es sich von der unter den Fittichen von anderen zur prägen-
Von der Leyen scheut die Konfrontation Leyen nun mit allen verdorben: mit dem Par- den Gestalt der EU?
mit den Mitgliedstaaten, um eine Blockade zu lament, mit ihren eigenen Kommissaren und Eher nicht. Womöglich hat von der Leyen
verhindern – aber zugleich, um ihre Macht- mit den Polen. Die regierende PiS-Partei mittlerweile ohnehin ein anderes, konkretes
position nicht zu gefährden. Die hängt auch drohte, Warschau werde sich um eine Abbe- Ziel im Blick: eine zweite Amtszeit ab 2024.
vom Goodwill der nationalen Regierungen ab. rufung von der Leyens bemühen. Ralf Neukirch  n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 29


DEUTSCHLAND

Jörg Müller / DER SPIEGEL


»Putin missbraucht das Völkerrecht«
SPIEGEL-GESPRÄCH  Wen scheren Paragrafen, wenn Bomben fallen? Ex-Verfassungsrichter
Andreas Paulus glaubt fest daran, dass es ohne Recht keinen Frieden geben kann – und mahnt auch
die Ukraine, sich an die Regeln des Kriegs zu halten.

Paulus, Jahrgang 1968, war Richter Paulus: Dass gegen Recht verstoßen Paulus: Im Kosovo etwa schritt die
des Bundesverfassungsgerichts, seine wird, weiß man als Jurist natürlich. Nato gegen einen Gewaltherrscher
Amtszeit endete im Juni. Er hat seit Das Strafrecht existiert ja auch weiter, ein, der das Selbstbestimmungsrecht
2006 einen Lehrstuhl für Öffentliches wenn ein Mord passiert. Aber was in der Kosovaren verletzte, im Irak ging
Recht, insbesondere Völkerrecht an der Ukraine passiert, ist schon ein tie- es den USA und ihren Partnern auch
der Universität Göttingen. Zuvor war fer Einschnitt. Weil der Krieg von um verbotene Waffen. Wie tragfähig
er an der Ludwig-Maximilians-Uni- einem Land ausgeht, mit dem wir so solche Rechtfertigungen sind, ist eine
versität München tätig – und unter- vielfältige Beziehungen haben. Und andere Frage. Aber es ging jedenfalls
richtete auch die heutigen SPIEGEL - – das ist die völkerrechtliche Seite – nicht darum, sich einen anderen Staat
Redakteure Dietmar Hipp und Mar- weil dieses Land ein ständiges Mitglied einzuverleiben oder ihn zu vernichten.
kus Verbeet. Sie trafen ihn in Hamburg des Weltsicherheitsrats ist und er- SPIEGEL: Wladimir Putin hat ver-
zum Gespräch. laubterweise Atomwaffen besitzt. Da- sucht, den Angriff zu rechtfertigen:
mit hat Russland eine besondere Ver- Die Ukraine strebe nach Nuklearwaf-
SPIEGEL: Herr Paulus, vor rund 25 Jah­ pflichtung für das Gesamtsystem … fen, besitze Biowaffenlabore, bom-
ren saßen wir als Studenten in Ihren SPIEGEL: … die es verletzt. bardiere Zivilisten und werde von
Seminaren zum Völkerrecht. Damals Paulus: Ja, in spektakulärer Weise. In Nazis regiert.
schienen uns viele Diskussionen eher anderen Fällen, in denen gegen das Jurist Paulus: Paulus: Das sind Scheinargumente,
theoretisch, jetzt sehen wir einen Gewaltverbot verstoßen wurde, gab »Ein Friedensvertrag so hat dies auch die Deutsche Gesell-
Angriffskrieg in einem Nachbar­ es zumindest den ernsthaften Versuch wäre das letzte schaft für Internationales Recht, in
Glied in einer Kette,
land der EU. Ist das auch für Sie ein einer Erklärung. die mit einer Waffen- der die deutschen Völkerrechtspro-
Praxisschock? SPIEGEL: Welche meinen Sie? ruhe beginnt« fessorinnen und -professoren vertre-

30 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


DEUTSCHLAND

ten sind, in einer Resolution einmütig erklärt.


Putin missbraucht das Völkerrecht.
»Eine bittere Erfahrung zu territorialen Kompromissen bereit ist.
Ein Friedensvertrag würde ja auch von der
SPIEGEL: Was aber, wenn Putin und sein aus der Völkerbundzeit Akzep­tanz leben.
Außenminister Sergej Lawrow übers Völker­
recht nur lachen?
vor 100 Jahren: SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
Paulus: Eine unterlegene Partei hat immer
Paulus: Ich weiß nicht, ob ihnen das Lachen Das Recht braucht einen viele Möglichkeiten, einen Vertrag zu sabo­
nicht inzwischen vergangen ist und sie von
der Vehemenz der Reaktionen überrascht
bewaffneten Arm.« tieren. Daher braucht es Vertrauen. Das ist
nicht anders als im Zivilprozess, da sagen mir
sind. Aus völkerrechtlicher Sicht ist wichtig, manche Kollegen: Wenn ich einen Anspruch
dass das System überhaupt reagiert. Das ist gegen einen säumigen Zahler vollstrecken
nicht selbstverständlich, wir hatten sehr wohl muss, habe ich mein Geld schon fast verloren.
Situationen in den vergangenen 20 Jahren, Mitglied des Sicherheitsrats nicht auf die Spit­ Und dieses Vertrauen wird sich, davon bin
in denen man das Gefühl hatte: Niemanden ze treiben will. Eben um das System nicht zu ich überzeugt, nicht ohne völkerrechtliche
stört es. Und das ist wirklich gefährlich. zerstören, das wie so oft Normatives und Grundlage herstellen lassen.
SPIEGEL: Was meinen Sie? Machtpolitisches in Einklang bringen muss. SPIEGEL: Vom Zustand wechselseitigen Ver­
Paulus: Da kann einem vieles einfallen, was Das ist auch eine bittere Erfahrung aus der trauens sind wir weit entfernt.
völkerrechtlich problematisch war, etwa eini­ Völkerbundzeit vor 100 Jahren: Das Recht Paulus: Ja klar. Wie wir ihn erreichen können,
ge Antiterroreinsätze … braucht einen bewaffneten Arm. weiß noch keiner. Ein Friedensvertrag wäre
SPIEGEL: … auch die Tötung des Al-Qaida- SPIEGEL: In Ihrer Abschiedsrede als Verfas­ das letzte Glied in einer Kette, die mit einer
Anführers Aiman al-Sawahiri durch die USA sungsrichter haben Sie gesagt: »Frieden ist Waffenruhe beginnt.
per Drohne Ende Juli? ohne Völkerrecht nicht denkbar.« Mit Völker­ SPIEGEL: Hat der Westen zuvor Fehleinschät­
Paulus: Da ist die rechtliche Einordnung recht derzeit aber auch nicht. zungen begangen? Ihr Doktorvater – und
schwierig und hängt von vielen Punkten ab. Paulus: Genau das ist das Problem. Deswegen unser Professor – war der Völkerrechtler Bru­
Unter anderem davon, ob und wie das völker­ sagen Militärfachleute ja, dass weiterge­ no Simma, später Richter am Internationalen
rechtliche Selbstverteidigungsrecht gegen­ kämpft werden muss, bis ein Zustand ent­ Gerichtshof. Er hat vor acht Jahren, nach der
über nicht staatlichen Akteuren wie Terroris­ steht, in dem ein Friedensvertrag möglich ist. Annexion der Krim durch Russland, in einem
ten eintritt und ob man das Verhältnis von Den gibt es übrigens im Völkerrecht nur unter SPIEGEL -Interview gesagt: Die Ukraine sei
al-Qaida zu den USA als kriegsähnlich be­ bestimmten Voraussetzungen. Auf die unter­ politisch schlicht nicht so frei wie andere Staa­
werten kann, sodass Teilnehmer an Kampf­ legene Partei darf zum Beispiel nicht zu viel ten – der Westen habe bei Putin damals den
handlungen wie Soldaten im bewaffneten Druck ausgeübt werden. Das ist eine Diskus­ Eindruck erweckt, man wolle ein Kernstück
Konflikt getötet werden können. sion, die wir aus der deutschen Geschichte der damaligen Sowjetunion unter westlichen
SPIEGEL: Scheren sich die mächtigen Staaten nur zu gut kennen. Einfluss bringen, und sei zu forsch vorgegan­
denn wirklich um solche juristischen Fragen? SPIEGEL: Sie meinen den Ersten Weltkrieg? gen. Sehen Sie das auch so?
Man kann den Eindruck haben: Das Völker­ Paulus: Ja, wobei Historiker und Historike­ Paulus: Ich weiß nicht, ob er damals so ver­
recht wird beachtet, solange es passt – und rinnen uns heute sagen: So belastend war der standen werden wollte.
sonst halt nicht. Versailler Vertrag gar nicht, aber er hat die SPIEGEL: Sie sehen es anders?
Paulus: Ist das innerhalb eines Staats so viel politische Atmosphäre in Deutschland dauer­ Paulus: Nach der Nato-Akte Ende der Neun­
anders? Wenn sie sich nicht an Regeln halten, haft vergiftet. Völkerrechtlich jedenfalls gibt zigerjahre und auch in der Anfangszeit Putins
sind die Menschen gut darin, Ausreden zu fin­ es einen Friedensvertrag nur unter bestimm­ waren diese Proteste jedenfalls nicht zu hö­
den, das gilt national wie international. Wich­ ten Mindestbedingungen. Und anders als ren. Und man hat ja 2008 nicht zuletzt auf
tig ist, dass so etwas nicht folgenlos bleibt. manche offenbar glauben, können nicht deutsches Insistieren hin der Ukraine und
SPIEGEL: Ist gegen einen Aggressor wie Russ­ wir mit Russland verhandeln und irgendwel­ Georgien den Weg in die Nato erst mal ver­
land denn etwas auszurichten? che ukrainischen Territorien verschenken. sperrt. Das zeigt, dass man sich dieser Ab­
Paulus: Schauen Sie sich die Geschichte seit Die Ukraine muss selbst entscheiden, ob sie wägungen bewusst war.
Hiroshima an: Man kann nicht sagen, dass
Atomwaffenmächte alle bewaffneten Kon­
flikte gewonnen hätten. Und auch im Ukra­
inekrieg kann man nicht behaupten, dass
ständige Mitglieder des Sicherheitsrats außer­
halb des Rechts stünden. So hat der Inter­
nationale Gerichtshof die sofortige Suspen­
dierung der russischen Kampfhandlungen
angeordnet.
SPIEGEL: Russland kann eine Resolution des
Sicherheitsrats blockieren – und hat es auch
schon getan. Müsste man dieses Vetorecht in
eigenen Angelegenheiten kippen?
Paulus: Eine Initiative der nicht allzu gro­
ßen Macht Liechtenstein hat jetzt immerhin
dazu geführt, dass nach dem Veto eine außer­
Alexander Ermochenko / REUTERS

ordentliche Sitzung der Generalversammlung


stattfinden soll, auf der die Vetomacht sich
äußert und darauf die Generalversammlung
reagieren kann.
SPIEGEL: Dennoch bleibt das Veto bestehen,
egal was die Generalversammlung macht.
Paulus: Ja, das stimmt. Da spielt eine Rolle,
dass man den Konflikt mit einem ständigen Russischer Panzer im ukrainischen Popasna: »Staatliche Souveränität verletzt«

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 31


DEUTSCHLAND

daten – ist offensichtlich. Man muss jede Si-


tuation einzeln prüfen, nicht umsonst sind
derzeit in der Ukraine Ermittler des Inter-
nationalen Strafgerichtshofs unterwegs. Und
für den Angreifer wie den Verteidiger gilt im
Krieg dasselbe Recht. Präsident Selenskyj
hat nach dem in vielerlei Hinsicht unglück-
lichen Bericht von Amnesty International
sinngemäß gesagt: Wir dürfen nicht densel-
ben Regeln unterworfen sein wie die andere
Seite. Aber wenn man im humanitären Völ-
kerrecht die Kriegsschuld einbezöge, dann
käme man nicht zu Ergebnissen, die beide
Seiten akzeptieren könnten.
SPIEGEL: In dem Bericht wirft Amnesty dem
ukrainischen Militär vor, Zivilisten zu gefähr-
den, was Kiew zurückweist. Wie beurteilen
Sie das?
Paulus: Es kommt auf die konkreten Situatio-

Scherl / SZ Photo
nen an, die ich nicht beurteilen kann. Generell
sagen die Regeln, dass Gefährdungen der Zi-
vilisten und der zivilen Infrastruktur zu ver-
Friedenskonferenz von Versailles 1919: »Die politische Atmosphäre vergiftet« meiden sind und, vor allem, geschützte Per-
sonen oder Objekte nicht als Schutzschilde
SPIEGEL: Hätte der Westen nicht trotzdem SPIEGEL: Bleibt als letztes Argument von benutzt werden dürfen. Aber das heißt nicht,
mehr Rücksicht auf Russland nehmen und Außenminister Sergej Lawrow: Russland hat dass man Wohngebiete nicht verteidigen darf.
etwa einen Nato-Beitritt der Ukraine aus- die Ukraine gar nicht angegriffen. Was sagen Genauso wenig ist es verboten, Schulen oder
schließen sollen – anders als etwa Bundes- Sie dazu? Krankenhäuser als Armeeunterkünfte zu nut-
kanzler Olaf Scholz, der bei seinem Besuch Paulus: Sie erwarten nicht ernsthaft eine Ant- zen, wenn sie nicht mehr als solche genutzt
in Moskau, kurz vor dem russischen Angriff, wort auf diese Frage, oder? werden. Und irgendwo müssen ja auch die
nur erklärte, das stehe auf absehbare Zeit SPIEGEL: Nach neuerer russischer Lesart tobt Verteidiger nächtigen. Das humanitäre Völ-
nicht zur Debatte? in der Ukraine ein Bürgerkrieg, und Russland kerrecht ist selten so gestaltet, dass es militä-
Paulus: Russland hat eine solche Lösung ja ist lediglich einer Seite beigesprungen. rische Notwendigkeiten gänzlich ignoriert.
nicht mal versucht, sondern im Dezember ein Paulus: Selbst wenn es so wäre, hätte Russ- SPIEGEL: Aber im Einzelfall ist das wahnsinnig
Ultimatum gestellt, dass die Nato keine neu- land die staatliche Souveränität der Ukraine schwierig zu beurteilen.
en Mitglieder aufnimmt, und war danach mit militärischer Gewalt verletzt. Paulus: Deswegen beziehen gut organisierte
nicht verhandlungsbereit. So kann man nicht SPIEGEL: Jeder Völkerrechtsstudent lernt Militärs Völkerrechtler in die Entscheidungen
mit den USA und der Nato umgehen. Gewalt recht schnell: Neben dem Recht zum Krieg ein, was angegriffen wird und was nicht.
– also der Angriffskrieg – war gerade nicht gibt es das Recht im Krieg. Zuweilen stößt es SPIEGEL: Wirklich?
das letzte Mittel in der Auseinandersetzung, aber auf ein gewisses Unverständnis, dass die Paulus: Ja, das ist Teil des verzweifelten Ver-
sondern praktisch das erste. Ukraine – das Opfer – sich an Regeln halten suchs der Zivilisierung des Nicht-Zivilisier-
SPIEGEL: Lassen Sie uns noch mal auf die rus- soll. Erklären Sie es bitte noch mal. baren – also des Kriegs.
sische Argumentation blicken: Russland hat Paulus: Das Recht im Krieg ist sozusagen die SPIEGEL: Könnten Sie sich eine solche Rolle
kurz vor Beginn des Kriegs die selbst ernann- letzte Bastion der Humanität. Man schiebt vorstellen?
ten Republiken Donezk und Luhansk an- die Frage der Kriegsschuld ganz weit weg, Paulus: Es ist eine wichtige Aufgabe. Insofern:
erkannt. Was bedeutet das völkerrechtlich? gerade weil diese oft unklarer ist als im jetzi- ja.
Paulus: Nichts, die staatliche Selbstständigkeit gen Konflikt, und stellt bestimmte Mindest- SPIEGEL: Auf Ihrer Abschiedsfeier im Verfas-
scheitert an vielen Voraussetzungen. regeln zu humanitären Zwecken auf. Etwa sungsgericht haben Sie zwei Stücke ukraini-
SPIEGEL: Die Ukraine durfte also sehr wohl diejenigen zu schützen, die nicht oder nicht scher Komponisten spielen lassen. Warum?
die Separatisten dort bekämpfen? mehr an Kampfhandlungen teilnehmen. Paulus: Weil wir in einer Situation sind, in der
Paulus: Grundsätzlich ja, soweit sie nicht SPIEGEL: Sehen Sie systematische Kriegsver- dem ukrainischen Volk die eigene kulturelle
durch humanitäres Völkerrecht und die Mins- brechen in der Ukraine? Existenz abgesprochen wird.
ker Abkommen daran gehindert ist. Paulus: Den Eindruck muss man wohl haben, SPIEGEL: Sie wirkten den Tränen nahe. Wo­ran
SPIEGEL: Und wenn man annähme, dass die jedenfalls aufseiten Russlands. Manches – haben Sie gedacht?
Ukraine dieses Abkommen verletzt hätte: wie das Zurschaustellen der Leichen von Sol- Paulus: In welch verzweifelter Situation vie-
Durfte Russland dann angreifen? le Ukrainerinnen und Ukrainer sein müssen.
Paulus: Nein, es führt kein Weg von einer Die Infrastruktur wird zerstört, es kommen
Verletzung des Minsker Abkommens – die viele Menschen zu Schaden. Der Krieg hat
noch zu beweisen wäre – zum Gebrauch mili­ kurzfristig schreckliche Auswirkungen und
tärischer Gewalt. langfristig auch.
SPIEGEL: Das alles klingt nach Stoff für eine SPIEGEL: Sie gehen nun an die Universität
Völkerrechtsklausur. Würden Sie darin ab- zurück. Werden Sie mit Ihren Studierenden
Jörg Müller / DER SPIEGEL

weichende Meinungen zulassen? den Ukrainekrieg behandeln?


Paulus: Für eine Klausur ist mir der Fall zu Paulus: Ja, natürlich: Der russisch-ukrainische
eindeutig. Der russische Angriff ist völker- Krieg zeigt die Aktualität und Bedeutung völ-
rechtswidrig. Punkt. kerrechtlicher Fragen. So traurig das ist.
SPIEGEL: Herr Paulus, wir danken Ihnen für
* Markus Verbeet und Dietmar Hipp in Hamburg. Paulus (M.), SPIEGEL-Redakteure* dieses Gespräch.  n

32 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


DEUTSCHLAND

eine Ärztin in einem Heim »einen weigert wurde, habe er einen Wut-
Bewohner weglassen, um sich erst ausbruch bekommen.
einmal selbst zu impfen«. Unflätiges Verhalten gehörte of-
Auch gegen medizinische Stan- fenbar zum Alltag. Am 25. Januar

Mit zittrigen
dards wurde verstoßen – etwa am beschwerte sich eine pharmazeutisch-
17. Februar in einem Team, das Be- technische Assistentin über einen
wohner eines Pflegeheims impfen soll- Arzt, der in einem mobilen Impfteam

Händen
te. Die Heimleitung habe gesehen, wie unterwegs war. Der Mediziner sei
der Doktor »eine voll aufgezogene »extrem unhöflich, besonders Frauen
Spritze fallen lies, und diese dann an gegenüber«. Schon beim morgend-
einem Patienten verimpfte«, heißt es lichen Coronatest habe sich der Kol-
in der Dokumentation der KV – also lege vorgedrängelt und sich vorzeitig
GESUNDHEIT  Üppige Honorare trotz nachdem die eigentlich sterile Kanüle seine zweite Impfung besorgt.
abgesagter Dienste, unfähige Ärzte, Ausfällig­ auf dem Boden gelegen hatte. Der In der Beschwerdeliste taucht auch
Arzt habe »zittrige Hände« gehabt. der Hinweis auf ein »auffälliges
keiten – interne Unterlagen der Kassen­- In anderen Fällen waren Ärzte Dienstbuchungsverhalten« mancher
ärztlichen Vereinigung zeigen, welche Zustände offenbar nicht voll einsatzfähig. Ein Mediziner auf. Bereits im vergangenen
in den Berliner Impfzentren herrschten. Kollege »wirkte alkoholisiert«, an- Jahr berichtete der SPIEGEL , dass sich
dere zeigten Koordinationsschwie- Ärzte untereinander die lukrativen
rigkeiten. Manchen Diensthabenden Dienste zuschanzten. 720 Euro gab es

I
m März vergangenen Jahres, fehlte eine deutsche Approbation für eine Sechsstundenschicht.
zwei Monate nach dem Start der oder die nötige Erfahrung – mit Fol- Die Mediziner wurden oft selbst
Impfaktion in Berlin, zogen die gen für die Impfwilligen. Einmal dann bezahlt, wenn ihr Einsatz aus-
Organisatoren eine erste Bilanz. wollte ein junger Kollege eine hoch fiel. Wurde ein Dienst ein bis zwei
»Dass alles so toll funktioniert, hätte betagte Frau impfen. Wegen der Wochen vorher abgesagt, gab es eine
ich mir damals, Mitte November, »sehr geringen Schultermuskulatur« Ausfallentschädigung von 300 Euro,
nicht träumen lassen«, sagte der habe er den »Humerusknochen« ge- für Absagen bis zu 48 Stunden vorher
CDU-Politiker Mario Czaja, Präsi- troffen, heißt es in dem Bericht. erhielten Ärzte 500 Euro – und unter
dent des Berliner Roten Kreuzes, im »Dies führte zu einer kompletten Re- 48 Stunden das volle Honorar. Ins-
Mitgliedermagazin der Kassenärzt- traktion der Kanüle und Spritze.« gesamt wurden 4626 Dienste bis zu
lichen Vereinigung (KV) Berlin. Der Der junge Arzt habe dann gefragt, zwei Wochen vorher abgesagt – das
dortige KV-Chef Burkhard Ruppert welche Muskelpartie nun für die In- geht aus einer Liste der KV Berlin
zeigte sich ebenfalls zufrieden: »Ich jektion »noch infrage käme«. Er hat- hervor, die dem SPIEGEL vorliegt.
denke, dass wir ein sehr gutes Beispiel te bislang nur während eines Prakti- Die Kosten für die Ausfallhonorare

4626
abgegeben haben.« kums geimpft. dürften damit bei mindestens zwei
Was Ruppert nicht sagte: Schon Am 5. Februar gab es im Impfzen- Millionen Euro gelegen haben.
damals gab es Hinweise auf teils trum im Erika-Heß-Eisstadion Ärger Die KV Berlin bestätigte die
­massives Fehlverhalten einzelner mit einem Arzt, der »deutliche Zei- Dienstabsagen und Beschwerden. Die
Ärztinnen und Ärzte in den mobilen Dienste chen einer Altersdemenz« aufwies. Vorfälle müssten, so eine Sprecherin,
Impfteams und Impfzentren der Er habe seine Kleidung nach der An- »auch vor dem Hintergrund der
Hauptstadt. Dem SPIEGEL liegt eine
­wurden ab­­­ kunft auf drei Spinde verteilt und sie ­Herausforderungen der damaligen
interne Liste der KV Berlin vor, in der gesagt nach Dienstschluss nicht wiederge- ­Si­tuation gesehen werden«, bei rund
von Januar bis November 2021 rund und trotzdem funden. Am wichtigsten sei ihm die 4800 Impfärzten sei die Beschwerde-
150 Fälle dokumentiert wurden. eigene Impfung gewesen. Als diese quote mit drei Prozent gering. Je nach
Demnach ignorierten Mediziner Vor- vergütet. ihm mit Verweis auf die Regeln ver- Fall seien die Kollegen ermahnt oder
schriften, beschimpften Kollegen und vom Dienst ausgeschlossen worden.
Patienten oder bevorzugten Angehö- Lediglich sieben Prozent der Diens-
rige bei der Impfung. te seien abgesagt worden – das sei
Keine Frage, dank der Impfzentren »eine geringe Quote bei den He­
und mobilen Teams konnten viele rausfor­derungen und dem öffentlichen
Bundesbürger in kurzer Zeit gegen Anspruch der damaligen Zeit«, so die
das Coronavirus geschützt werden. KV. Gerade anfangs sei das aufgrund
Aber die Freude ȟber jede Kollegin der wechselnden Zeit- und Impfmen-
und jeden Kollegen«, die der Vor- genvorgaben häufiger passiert. Wegen
stand der KV im Dezember 2020 ver- »des erheblichen organisatorischen
kündete, währte nicht lange. Aufwands« habe man die Ärztinnen
Bereits am 2. Januar gab es laut und Ärzte dann entschädigt.
der internen Dokumentation die ers- Doch manchen genügte selbst
Bernd von Jutrczenka / picture alliance / dpa

te Beschwerde. Eine Ärztin in einem die großzügige Vergütung nicht. Am


mobilen Impfteam habe »32 privat 25. Januar 2021 klagte eine Ärztin bei
Personen geimpft, ohne Rücksprache einem Einsatz in einem Pflegeheim
mit der Einsatzleitung«. Solche Fälle vor Zeugen: Das dauere alles zu lan-
traten im Laufe der Monate regel­ ge, sie habe noch andere Termine und
mäßig auf. Immer wieder heißt es in verdiene »zu wenig Geld«. In der Be-
der Auflistung: »Hat seine Frau in der schwerdeliste der KV wurde ihr Ein-
Einrichtung geimpft«, »hat ihren satz mit den Worten kommentiert:
Sohn geimpft«, »soll ihren Bruder ge- Impfkabinen im Flughafen Tegel »Ein absolutes Fehlverhalten!«
impft haben«. Am 21. Januar wollte Christoph Schult  n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 33


DEUTSCHLAND

Was bei der Evaluation heraus-


kommen wird, kann Ackermann
schon heute sagen. Knapp die Hälfte
der Befragten haben kein Interesse
am 9-Euro-Ticket; die meisten, weil
sie keinen Anlass sehen, den ÖPNV
zu benutzen, oder weil sie einfach
gern Auto fahren. 21 Prozent besaßen
bereits ein Abonnement ihres lokalen
oder regionalen Verkehrsunterneh-
mens, sie profitierten vom enormen
Preisnachlass.
Es bleiben 27 Prozent: Sie kauften
das Ticket, weil es frisch angeboten
wurde; die meisten waren Gelegen-
heitsnutzer, die ab und zu einen Ein-

Gordon Welters / DER SPIEGEL


zelfahrschein lösen. Jeder Fünfte von
ihnen war ein echter Neukunde oder
eine Neukundin. »Sie wollten mehr-
heitlich den ÖPNV mal ausprobie-
ren«, so hat Ackermann aus den Ant-
worten gelernt.
Pendler in Regionalzug in Berlin: »Der Kunde will keine Kopfschmerzen am Fahrscheinautomaten«
Allerdings erfuhr er auch, dass
knapp 20 Prozent der Abonnenten in
diesem Sommer seltener fahren: »Da
wählte die eine oder der andere offen-

»Das Reden muss enden«


bar lieber das Homeoffice, aus Sorge
vor überfüllten Bussen oder Bahnen.«
In der Tat nutzten viele Menschen
die Chance, für neun Euro die Ver-
wandtschaft in einer entfernteren
VERKEHR  Drei Monate lang konnten die Menschen zum Stadt zu besuchen oder das Wochen-
ende an der Nordsee zu verbringen.
Superbilligtarif mit Bahn und Bus fahren. Die Verkehrsbetriebe haben »Das war für etliche mit schmalem
erforscht, wie das 9-Euro-Ticket die Mobilität verändert Geldbeutel ein Stück soziale Teilha-
hat – und fordern eine bundesweite Flatrate für den Nahverkehr. be«, sagt Frank Fligge vom Dortmun-
der Verkehrsträger DSW21. Vor allem
Neukunden waren sehr stark in den

E
in knappes Vierteljahr lang sind dig, ist damit zufrieden. Es gibt sie Regionalzügen zu finden. Die Erzäh-
die Bürger und Bürgerinnen also doch, die Autofahrer, die ihren lung, dass die Rabattaktion vor allem
kreuz und quer durch Stadt und Wagen neuerdings mal stehen lassen für touristische Reisen genutzt wor-
Land gefahren, mit Bussen, Bahnen, und sich mit den Öffentlichen fort- den sei, mag Ackermann aus den
Zügen. Zur Arbeit, zum Einkaufen, zur bewegen. In den ersten 9-Euro-Wo- Daten aber nicht erkennen.
Oma, zum Baden an die Ostsee – alles chen war das umstritten, etliche Ins- »15 Prozent der Fahrten wären
zum Schnäppchenpreis, für neun Euro titute und Universitäten sorgten für ohne das 9-Euro-Ticket nicht unter-
im Monat, also fast zum Nulltarif. Schlagzeilen, mit Studien von unter- nommen worden«, sagt er. Im Juni
Und nun liegen die mehr als 30 schiedlicher Qualität. seien diese »induzierten Mehrfahr-
Millionen Nutzer und Nutzerinnen Die Zahlen, mit denen Ackermann ten« vielfach auf das Konto von Aus-
des 9-Euro-Tickets bei Till Acker- jetzt operiert, haben zwei etablierte flüglern gegangen. Im Juli und August
mann, bildlich gesprochen, auf dem Marktforschungsfirmen ermittelt. Sie sei deren Anteil dann niedriger ge-
Seziertisch. Der promovierte Inge- wählen jede Woche 6000 Menschen worden. Die Mehrfahrten hätten sich
nieur erhält seit Beginn dieses größ- repräsentativ aus und befragen sie. inzwischen in den Alltag verlagert:
ten Experiments, das sich die Bun- 6000 – das ist für Demoskopen eine Arbeitsstelle, Arztbesuch, Shopping.
desrepublik für ihren Öffentlichen große Menge. Der Bund und die Län- Bereits im Juni stellte die Hambur-
Personennahverkehr jemals geleistet der finanzieren die bundesweite Er- ger Hochbahn fest, dass der pande-
Florian Gaer tner / picture alliance / photothek

hat, wöchentlich neue Zahlen über hebung des VDV, schließlich ver- miebedingte Blues der vergangenen
das Mobilitätsverhalten der Deut- sprach Bundesverkehrsminister Vol- zwei Jahre offenbar vom 9-Euro-Ti-
schen. Vorige Woche hat Ackermann ker Wissing (FDP) bei der Verkün- cket weggeweht wurde. Vorstandschef
die Monate Juni, Juli und die erste dung des 9-Euro-Tickets eine »genaue Henrik Falk hatte sich monatelang
Augustwoche frisch aufbereitet, 73 Evaluation«. Die Rabattaktion sollte gefragt, ob man wieder die Vor-Coro-
Folien mit bunten Diagrammen. Auf ja nicht nur die inflationsgebeutelten na-Auslastung erreichen werde. Ein
Blatt 51 steht: »10 % aller 9-Euro- Bürger entlasten, sie sollte auch für Fünftel der Passagiere fehlte, aber das
Ticket-Fahrten wären ohne das Ti- den ÖPNV werben und Lehren für Sonderangebot ließ die Zahlen im Nu
cket mit dem Auto unternommen die Zukunft ermöglichen. Immerhin auf die 2019er-Werte hochschnellen.
worden.« hat sich die Politik zum Ziel gesetzt, Früher habe er gedacht, der Preis spie-
Ackermann, im Verband Deut- dass sich bis 2030 die Zahl der Fahr- Haltestelle le keine Rolle, sagt Falk. »Er tut es
scher Verkehrsunternehmen (VDV) gäste im Personennahverkehr ver- im sächsischen sehr wohl, das ist mein größtes Lear-
für »Business Development« zustän- doppeln soll. Vierkirchen ning aus den drei Monaten.«

34 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


DEUTSCHLAND

Was folgt aus all diesen Erkenntnissen, So ist der politische Diskurs kurz vor dem Vor Kurzem hat Wissing mit dem Haupt-
Zahlen, Säulendiagrammen? Was bedeutet Verfallsdatum des 9-Euro-Tickets ziemlich ver- geschäftsführer des VDV telefoniert. Oliver
das Verhalten der Menschen für die klima- worren, ein Nachfolgeprodukt nicht in Sicht. Wolff, ein durch diverse Jobs in Verbänden
politisch so bedeutende Mobilitätswende? Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und Behörden gestählter Jurist, hatte vor al-
Die Marktforscher fragten auch nach der will möglichst wenig Geld herausrücken. Ge- lem, so erzählt er es, eine Botschaft: »Warten
täglichen Nutzung von Verkehrsmitteln. Und feilscht wird um Milliarden, zwei, drei, gern Sie bitte mit der Evaluation und folgenden
weil sie den Einfluss der 9-Euro-Tickets mes- auch mehr. Viele Landesverkehrsminister se- Entscheidungen nicht bis November!« Die
sen wollten, erkundigten sie sich nach den hen das Momentum schwinden, vor allem die Verkehrsbetriebe, von den massiv gestiegenen
Gewohnheiten im Monat zuvor, also im Mai. grünen Ressortchefs verlangen eine »nationa- Energiekosten gebeutelt, bräuchten einen Zu-
Das Resultat: Die tägliche Nutzung des Autos le Kraftanstrengung«, mit einem günstigen kunftsplan. Und Zeit zur Vorbereitung.
ging im Juni von 43 auf 39 Prozent zurück – Abo, einem erweiterten Angebot, finanziert Damit der Verkehrsminister es auch
und bei den öffentlichen Verkehrsmitteln ent- über einen Abbau von Steuervorteilen für schriftlich hat, schickte Wolff am 18. August
sprechend nach oben (siehe Grafik). »Das ist Dienstwagennutzer. In dieser Melange erweckt einen vierseitigen Brandbrief hinterher. Ei­
spürbar, ein echter Effekt«, sagt Ackermann. Verkehrsminister Wissing den Eindruck, er gentlich sieht er sich ja als »fachlichen Be-
Wahrscheinlich wird dieser Trend den würde mehr Fortschritt wagen wollen, als sein gleiter«. Aber von der Lethargie, dem Zeit-
1. September nicht überdauern. Deshalb sind Porsche fahrender Parteichef ihm zubilligt. spiel der Bundesregierung ist Wolff nur ge-
zwei Fragen wichtig: Wie viel darf ein ÖPNV- nervt. »Welche Erkenntnisse wollen wir denn
Abo kosten, damit es von einer großen Anzahl noch, um die überfälligen Dinge zu tun?«,
an Bürgern und Bürgerinnen gekauft wird? Verkehrsberuhigung fragt er sich. »Das Reden muss nun enden,
Und was hat die Menschen abgehalten, die nachdem über Dekaden nicht richtig inves-
das Schnäppchen verweigert haben? »Wie häufig haben Sie Ihren PKW/Ihr Motor- tiert worden ist – es muss gehandelt werden.«
rad vor (Mai) und während (Juni/Juli) des
Die Antworten haben den VDV nicht über- 9-Euro-Tickets genutzt?«, Angaben in Prozent Wolff würde gern einen simplen Tarif zu-
rascht, der Verband und seine mehr als 600 sätzlich zu den bestehenden einführen, am
Mitgliedsunternehmen kennen ihre Schwä- fast täglich mindestens einmal die Woche besten länderübergreifend gültig: »Der Kunde
chen: umständliche Verbindungen (33 Prozent), mindestens einmal im Monat gar nicht will einfach keine Kopfschmerzen am Fahr-
zu seltene Abfahrten/geringe Taktung (23 Pro- scheinautomaten und ÖPNV überall nutzen.«
Mai 43 24 10 21
zent), zu lange Fahrzeiten, zu viele Verspätun- Einen Dumpingpreis brauche dieses Abo nicht.
gen oder Störungen (jeweils 21 Prozent). Juni 39 26 13 21 »Wer nutzt denn so ein Ticket, wer reist viel
In Metropolen wie Berlin oder Hamburg, Juli 39 26 12 22
bundesweit? Der Hartz-IV-Empfänger oder
wo alle paar Minuten eine U-Bahn heran- die Verkäuferin sind in ihrem Sprengel unter-
rauscht, sind die Zahlen deutlich niedriger. wegs, fahren einmal in Urlaub und besuchen
Aber die Bundesrepublik, das ist vor allem »Hätten Sie diese ÖPNV-Fahrt im Juli auch einmal die Verwandtschaft«, so Wolff.
verdammt viel Land: ausgedünnte Regionen ohne das 9-Euro-Ticket unternommen?«* Im Juli hat der VDV-Manager sich vom
mit stillgelegten Gleisen, mit Haltestellen, an Nein, ich hätte die Fahrt nicht unternommen.
Hamburger-Hochbahn-Chef inspirieren las-
denen nur viermal am Tag ein Bus vorbei- Ja, ich hätte ein anderes Verkehrsmittel sen. Henrik Falk glaubt, dass ein Einheits­
kommt. benutzt. Ja, ich wäre trotzdem mit dem ticket schon aus Komfortgründen folgen müs-
Im rein ländlichen Raum fand das 9-Euro- ÖPNV gefahren. se. Bei 69 Euro pro Monat, hat Falk ausrech-
Ticket keinen reißenden Absatz. Rund 60 nen lassen, sei eine Finanzierung machbar –
Prozent der Menschen dachten nicht mal an 16 18 64 wenn Bund und Länder mitspielen und je-
einen Erwerb. Wo kein Bus hält, nützt kein weils knapp eine Milliarde Euro beisteuern.
Fahrschein. 44 Prozent der Dorfbewohner »Mit welchem Fahrzeug hätten Sie diese Wolff hat die Zahl aufgenommen und als
fordern eine höhere Taktung. ÖPNV-Fahrt dann unternommen?«* Vorschlag des VDV platziert. Mit einem
In Schleswig-Holstein hat sich Arne Beck Auto oder Motorrad 69-Euro-Ticket für alle Busse, Bahnen und
zum Ziel gesetzt, dass jeder Ort mindestens 57 Regionalzüge, dazu bundesweit nutzbar, kä-
einmal pro Stunde erreichbar ist. Der Ge- ICE/IC bzw. einem anderen Fernverkehrszug men fast alle Pendler und Dauerkunden güns-
schäftsführer des Verkehrsverbunds Nah.SH 16 tiger weg als bisher. Es wäre kein Superbillig-
will ein Angebot schaffen, »das zumindest Abo, aber ein attraktives Angebot. »Hinter
Fahrrad, E-Scooter oder E-Bike
den Dritt- oder Zweitwagen verzichtbar den Flatrate-Gedanken dürfen wir nicht mehr
14
macht«. Als zentralen Bestandteil sieht Beck zurückfallen«, fordert Falk.
On-Demand-Systeme, »also Kleinbusse oder andere Das sieht, mit sicherem Instinkt für den
Taxis, die nur dann fahren, wenn sie auch 12 populistischen Move, auch der bayerische
jemand nutzen möchte«. Ministerpräsident Markus Söder so. Als an-
Franz Löffler, Landrat im bayerischen »In welchem Gebiet fanden die Fahrten mit dere Parteien und Verbraucherverbände sich
Cham, hat Wissings 2,5 Milliarden Euro teu- dem 9-Euro-Ticket statt?«** mit Vorschlägen von 29 bis 49 Euro pro Mo-
re Rabattaktion deshalb früh für »ein falsches nat mühten, schlug der CSU-Chef das
Instrument« gehalten: »Ich hätte das Geld sowohl im Gebiet meines lokalen Verkehrs- 365-Euro-Jahresticket vor. Ein Euro pro Tag,
verbunds als auch woanders ausschließlich
hundertmal lieber in die Infrastruktur ge- simpler geht es nicht.
woanders ausschließlich im Gebiet meines
steckt, in Rufbussysteme und Bestellverkehr.« Verkehrsverbunds
Simpel, aber dumm. »Das Tödliche am
Ähnlich schroff war die Reaktion des Deut- 365-Euro-Ticket ist, dass sie darin keine Dy-
schen Landkreistages, als manche Politiker, Juni 21 5 73 namisierung anlegen können«, warnt Wolff,
nicht wenige in Berlin lebend, eine Verlänge- das Jahr habe nun mal immer 365 Tage. Was
rung des 9-Euro-Tickets forderten. »Die Juli 23 5 70 macht der Verkehrsbetrieb, wenn die Infla-
ÖPNV-Tarife sind nicht zu teuer und bedürfen KW 31 27 4 68 tion zuschlägt?
auch in der aktuellen Situation keiner zusätz- In Wien, wo sie erst das Angebot erweitert
lichen Subvention«, erklärte Landkreistags- S Quellen: Forsa und RC für VDV; Befragungszeitraum: Juni, und dann die 365-Euro-Flatrate eingeführt
Juli, erste Augustwoche; Teilnehmer: bis zu 27.212;
präsident Reinhard Sager. Man brauche viel- an 100 fehlende Prozent: »weiß nicht/keine Angabe»; haben, leidet man seit acht Jahren an dem
mehr jeden Euro für Ausbau und Verbesse- * nur Teilnehmer, die ein 9-Euro-Ticket besitzen oder Abo und Problem.
Fahrt im ÖPNV unternommen haben ** nur Käufer, keine
rung des Angebots. Abonnenten Alfred Weinzierl  n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 35


DEUTSCHLAND

Offenbar floriert das Geschäft trotz des


Kriegs. In einem Werbevideo der Agentur
sagt der ärztliche Direktor: »Wir haben unter
Sirenengeheul gearbeitet. Wir haben die Räu­

Zurück in den Krieg


me im Keller den Arztpraxen angepasst. Die
Klinik hat funktioniert, sie funktioniert und
wird funktionieren.« Paare müssten dem­
nächst allerdings wohl zwei bis drei Jahre
warten, heißt es auf der Website.
ELTERN  Putins Feldzug trifft auch ukrainische Leihmütter und deutsche Vom Krieg in der Ukraine, sagt Laura Mül­
ler, habe sie am 24. Februar von ihrer Mutter
Paare. Ein gefährliches Hin und Her kann entstehen – wie der erfahren: »Sie hat mich morgens aus dem Bett
Fall einer Frau zeigt, die nach Deutschland floh, aber nicht hierblieb. geklingelt.« Sie habe den Fernseher einge­
schaltet, die Bilder von Rauch und Trümmern
gesehen, Menschen, die in vollgepackten

L
aura Müller beugt sich über Mila und schon, dass das eigene Baby in einem Bunker Autos das Land verlassen. »Ich dachte: Das
verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. geboren werde? In einem Land, in dem Bom­ darf nicht wahr sein, was ist jetzt mit unserer
»Mein Semmelbrösel«, sagt sie und gibt ben fallen? Tochter?« Sie erkundigte sich bei der Agentur,
ihrer Tochter einen Nasenkuss. Mila gluckst. Als Laura und Mike Müller sich vor zwei wie es der Leihmutter gehe, und erhielt die
Sie liegt auf dem Sofa und strampelt sich mit Jahren für eine Leihmutterschaft entschieden, Handynummer von Marija Kosak. »Wir ha­
ihren schmalen Füßen aus einem gestreiften war der Krieg noch in weiter Ferne. Laura ben uns sofort gut verstanden«, sagt Laura
Tuch. Mila ist wenige Wochen alt, etwa 57 Zen­ Müller hatte mit Ende zwanzig nach einer Müller. Sie habe erfahren, dass es Marija Ko­
timeter groß, 4500 Gramm schwer und im schweren Krebserkrankung ihre Eierstöcke sak, die allein mit ihrer Tochter Nadia lebt,
Bauch einer anderen Frau herangewachsen. und die Gebärmutter verloren. »Ich habe ta­ so weit gut gehe.
Die Eizelle stammte von einer Spenderin, der gelang geheult«, sagt Laura Müller. »Keine In den kommenden Wochen gab es für
Samen von Lauras Mann Mike. Kinder bekommen zu können war der größte Mike und Laura Müller kaum ein anderes The­
Nach deutschem Recht dürfte es das Mäd­ Schmerz.« Noch während der Chemotherapie ma als den Krieg, an manchen Tagen ertrugen
chen gar nicht geben. habe sie sich im Netz über die Möglichkeit sie die Nachrichten aus der Ukraine nicht und
Ärzte dürfen in Deutschland keine Leih­ einer Leihmutterschaft informiert. schalteten den Fernseher aus, so erzählen sie
mutterschaft herbeiführen, wer Embryonen Adoption sei schnell vom Tisch gewesen. es. »Ich bin mit den Gedanken an den Krieg
einsetzt, macht sich strafbar. Jedes Jahr er­ »Eine Bekannte, die bei einem Pflegedienst eingeschlafen und wieder aufgewacht«, sagt
füllen sich deshalb 70 bis 120 Paare in arbeitet, meinte, wir hätten kaum Chancen, Laura Müller. Die ersten Nächte habe die
Deutschland den Kinderwunsch in der Ukrai­ ein Baby zu adoptieren«, sagt Mike Müller. hochschwangere Leihmutter mit ihrer Tochter
ne – so wie Laura und Mike Müller, die eigent­ Die Konkurrenz um Adoptivkinder ist groß. in einem Keller verbracht, dann sei wenige
lich anders heißen. Zum Schutz des Kindes »Wir wollten junge Eltern sein«, sagt Laura Kilometer entfernt eine Bombe eingeschlagen.
und der Leihmutter sind die Familiennamen Müller. Etliche Jahre warten mit ungewissem Die Fensterscheiben seien zersprungen, die
in dieser Geschichte nicht die realen. Ausgang? Das sei nicht infrage gekommen. Tür sei aus den Angeln gerissen geworden.
Der Krieg in der Ukraine wirft ein Schlag­ Sie wählten die ukrainische Leihmutteragen­ Marija Kosak sei daraufhin mit ihrer Toch­
licht auf die dortige Babyindustrie. Neugebo­ tur BioTexCom. Die einzige Klinik der Welt, ter geflohen. Laura Müller kontaktierte die
rene kommen in Bunkern zur Welt, Eltern die hundertprozentige Ergebnisse garantiere Agentur und schlug vor, die beiden bei sich
aus Europa, China und den USA müssen in – so heißt es auf der englischsprachigen Web­ in Deutschland aufzunehmen. »Ihre Idee ist
umkämpfte Gebiete reisen, um sie abzuholen. site. Ein Motto der Agentur lautet: »Es gibt alles andere als gut«, antwortet eine Mitarbei­
Leihmüttern hingegen wird es mitunter keine absolute Unfruchtbarkeit.« terin von BioTexCom wenige Minuten später.
schwer gemacht, das Land zu verlassen. Ver­ Laura und Mike Müller wählten das Stan­ Es würden »enorm riesige Strafen« drohen.
traglich haben sie sich oft verpflichtet, das dardpaket für knapp 40 000 Euro, etwa die Sie vermutete juristische Probleme. Das
Kind in der Ukraine zu gebären. Hälfte davon bekommt ihre Leihmutter. Für Paar, so die Mitarbeiterin, würde das Baby
»Da ist eine bedenkliche Situation entstan­ knapp 65 000 Euro, das VIP-Paket, hätten sie nicht zugesprochen bekommen, sollte es außer­
den«, sagt der Hamburger Familienrechts­ auch das Geschlecht des Kindes auswählen halb der Ukraine geboren werden. Die Leih­
anwalt Marko Oldenburger. Seit Jahren vertritt und vor Ort eine »Babybetreuung rund um mutter müsse »jetzt in die Ukraine zurück«.
er Eltern, die sich für eine Leihmutterschaft die Uhr« erhalten. Die Anordnung komme vom Chefarzt, heißt
entschieden haben. Er wisse von Leihmüttern, es in der Nachricht, die dem SPIEGEL vorliegt.
die nach Deutschland geflohen, aber auf Die Mitarbeiterin lehnte auch den Vorschlag
Wunsch der Agenturen und auch aus Sorge ab, Marija Kosak wenige Wochen vor der Ge­
vor juristischen Konsequenzen ins Kriegsland burt in ein westliches Grenzgebiet der Ukraine
zurückgekehrt seien – wie die Leihmutter, die zu bringen. Auf Anfrage schreibt BioTexCom,
Laura Müllers Baby ausgetragen hat. juristisch könne die Geburt in anderen Ländern
Der SPIEGEL hat mehrere Gespräche mit sehr problematisch werden, das Personal sei
Laura und Mike Müller geführt. Die Repor­ »maximal« bemüht, die Leihmütter, das Kind
terinnen konnten Schriftverkehr einsehen, und die genetischen Eltern abzusichern.
der zeigt, wie die Agentur Druck auf die Fa­ Wenige Tage nach der Nachricht der Agen­
milie ausübte. Die Leihmutter, die hier Mari­ tur kamen die schwangere Marija Kosak und
ja Kosak heißen soll, möchte anonym bleiben ihre Tochter Nadia in Deutschland bei Laura
und nicht mit dem SPIEGEL sprechen. und Mike Müller an. Sie zogen ins Kinder­
Roman Baluk / AP

»Die Agentur hat Leihmütter wissentlich in zimmer. Das Kinderbett, sagt Mike Müller,
Gefahr gebracht«, sagt Mike Müller. »Wenn in habe er gegen ein Doppelbett ausgetauscht.
einem Land Krieg ist und die Infrastruktur Marija Kosak habe ihnen gezeigt, wie man
zusammenbricht, finde ich es falsch, den Leih­ Borschtsch kocht, sie seien gemeinsam Eis
müttern zu sagen: Bleibt dort.« Wer wolle Ukrainische Grenzschützerin bei Krakowez essen gegangen, hat Untersuchungen des

36 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


DEUTSCHLAND

All diese Probleme gäbe es nicht, wenn


Leihmutterschaft in Deutschland für Medizi­
ner unter bestimmten Bedingungen erlaubt
wäre. An dem Verbot wird sich hierzulande
wohl nichts ändern; im Koalitionsvertrag ha­
ben die Ampelparteien nur angekündigt, die
Möglichkeit einer »altruistischen Leihmutter­
schaft« zu prüfen, bei der kein Lohn fließt.
In Deutschland ist schätzungsweise jede
zehnte Person im Alter von 20 bis 50 unge­
wollt kinderlos, das zeigte vor wenigen Jahren
eine repräsentative Untersuchung im Auftrag
des Bundesministeriums für Familie, Senio­
ren, Frauen und Jugend. Leihmutterschaft ist
für manche die einzige Chance auf ein leib­
liches Kind. Die Gegner der Leihmutterschaft
bezeichnen den Embryonentransfer aller­
dings als ethisch fragwürdig oder befürchten,
dass Leihmütter aus finanzieller Not Kinder
für Dritte austragen.
Laura und Mike Müller stiegen vor einigen
Wochen in ihr Auto und fuhren etwa 2000 Kilo­
meter in die Zentralukraine, vorbei an Schüt­
zengräben und Panzern. Ein kleiner Storch
baumelte als Talisman im Wagen, im Koffer­
raum hatten sie 60 Liter Sprit für die Rück­
fahrt in Kanistern dabei. Mehrere Tage ver­

Marina Rosa Weigl / DER SPIEGEL


brachten sie im Land, warteten auf die Geburt.
»Der ständige Luftalarm hat mich nervös ge­
macht«, sagt Laura Müller. »Irgendwann ge­
wöhnst du dich daran«, sagt Mike Müller.
Kurz nach Marija Kosaks Entlassung aus
der Klinik übergab sie ihnen das Neugebore­
ne im Auto. Das Wiedersehen sei herzlich
gewesen, sagt Laura Müller. »Wir haben uns
Baby Mila in den Händen der Eltern Müller: »Ich hatte Herzrasen«
zur Begrüßung umarmt.« Marija Kosak habe
­ abys beim Frauenarzt organisiert. »Wir hät­
B Auf Anfrage des SPIEGEL schreibt das Aus­ ihr die Tasche mit dem Baby auf den Schoß
ten uns keine bessere Bauchmama vorstellen wärtige Amt, die Wunschmutter könne über geschoben. »Ich habe sie die ganze Fahrt lang
können«, sagt Laura Müller. eine Adoption die elterliche Sorge erlangen, angesehen, ich war so glücklich«, sagt Laura
Aber die Aufforderung der Klinik, wieder ganz gleich, ob das Kind in der Ukraine oder Müller. »Die Klinikmitarbeiter haben sich vor
in die Ukraine zu reisen, habe allen im Nacken in Deutschland zur Welt gekommen sei. Der Ort gut um alles gekümmert«, sagt Mike. Mila
gesessen. Per Vertrag verpflichten sich Leih­ Vater kann die Vaterschaft beim Jugendamt sei noch einmal von Ärzten gewogen, gemes­
mütter, das Kind in der Ukraine zur Welt zu oder einem Notar anerkennen lassen. sen und untersucht worden.
bringen. Was, wenn die Agentur das Geld Familienrechtsanwalt Marko Oldenburger Die Familie konnte endlich ausreisen, aller­
nicht an Marija Kosak auszahlt oder es tat­ bezeichnet die juristischen Sorgen von Agen­ dings ohne einen Pass für Mila. Normalerwei­
sächlich rechtliche Probleme mit der Anerken­ turen wie BioTexCom als konstruiert. »Die se stellt die deutsche Botschaft in der ­Ukra­ine
nung der Elternschaft gibt? »Marija hatte Agenturen haben den Eltern kommuniziert, Papiere aus – nicht aber im Krieg. Die ukrai­
Angst hierzubleiben«, sagt Laura Müller. Die die Leihmütter könnten sich strafbar machen, nische Grenze konnten Laura und Mike Mül­
Ukrainerin reiste zurück in ihre Heimat. wenn sie das Kind außerhalb der Ukraine zur ler problemlos passieren. Die rumänische
Auch BioTexCom verweist auf Anfrage Welt bringen.« Viele Argumente seien dabei Grenze zu Ungarn, erinnert sich Laura Müller,
darauf, dass Leihmütter sich verpflichten, zur gefallen – von möglichen Schadensersatzan­ erreichten sie am Abend. Der Grenzbeamte
Geburt »an vorbestimmten Orten« zu sein. sprüchen über Strafzahlungen bis hin zur habe die ukrainische Geburtsurkunde studiert.
In Kriegszeiten, so die Agentur, trügen sie Kindesentführung. Dabei sei in Deutschland Ob Laura oder Mike Müller aus der Ukraine
»selbstverständlich« keine Verantwortung für nur das Einsetzen eines Embryos strafbar, kämen? Als beide verneinten, habe er gestutzt.
die Verletzung dieses Punkts. nicht die Geburt des Kindes. »Mike hat dann im Internet die Übersetzung
Seit Kriegsbeginn seien bis Mitte Juli »Die Eltern wollen, dass Leihmütter und für Leihmutterschaft gesucht«, sagt Laura
140 Babys geboren worden. Fünf Leihmütter Kinder in Sicherheit sind«, sagt der Anwalt. Müller. »Ich hatte Herzrasen.«
hätten das Land verlassen. Es gebe erste Pro­ Mehrere Paare, die er vertritt, hätten der Der Mann sei mit dem Dokument im
bleme: In Polen habe eine Familie den Vertrag Leihmutter angeboten, kostenlos bei ihnen Grenzhäuschen verschwunden und habe spä­
gekündigt und einer Leihmutter nach der Ge­ einzuziehen. Er vertrete zwei Familien, ter mit einer Traube Grenzbeamter diskutiert.
burt des Kindes ihren Lohn nicht ausgezahlt. bei denen die Leihmütter die Kinder in »Wir haben die ganze Grenze blockiert«, sagt
Der Fall beschäftige nun die polnische Justiz. Deutschland bereits zur Welt gebracht hätten. Mike Müller. »Ich war erleichtert, als er uns
Man wisse auch von einer Leihmutter, die in Auch die Sorgen der Agenturen, die Wunsch­ endlich die Geburtsurkunde zurückgegeben
Deutschland geblieben sei. Man könne sich eltern könnten bei einer Geburt in Deutsch­ hat«, sagt Laura Müller. Der Grenzbeamte
nur schwer vorstellen, wie die Anerkennung land Schadensersatz fordern, hält er für habe den beiden eine gute Reise gewünscht.
der Elternschaft ablaufen werde. weit hergeholt. »Es geht den Agenturen Laura Müller sagt: »Lieber Gott, danke, da
In Deutschland gilt diejenige Frau als Mut­ um die Kontrolle der Abwicklung«, sagt waren wir endlich durch.«
ter, die das Kind gebiert – also die Leihmutter. ­Oldenburger. Katrin Langhans, Juliane Löffler  n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 37


DEUTSCHLAND

»Glücklich sein ist scheiße schwer«

Maria Feck / DER SPIEGEL


Radlergruppe im Totengrund bei Wilsede

FREIZEIT  Manche suchen die neue Liebe, andere nur neue Kontakte. Welche Wünsche kann ein Urlaub
­erfüllen? Eine Singlereise mit dem Fahrrad durch die Lüneburger Heide. Von Barbara Hardinghaus

D
ie Erwartungen seien meist groß, manch- aussehen, wie man sich in Deutschland den Sie sind sich im Internet begegnet, sie schrei-
mal zu groß, sagt Ralph Benecke, 61, Wilden Westen vorstellt. Auf dem Tisch ab- ben täglich, eigentlich stündlich.
Mitinhaber von Sunwave-Reisen, einem gezählte Sektgläser, Sektflaschen, Orangensaft. Die Männer und Frauen stoßen an, »auf
Anbieter für Singletouren in Hamburg. Auf der Zu denen, die sich kennenlernen sollen, eine gute Zeit«. Vier Tage werden sie zusam-
anderen Seite sei die Dankbarkeit manchmal gehören: Dietmar, 59, er arbeitet in einer men verbringen, drei Touren durch die Lü-
unglaublich. Die Leute würden rauswollen und Bank, ein »Kein Ding«-Typ, so antwortet er neburger Heide mit den Fahrrädern machen,
besonders jetzt, nach der harten Corona­zeit, gern. Er hat vier Kinder, war 20 Jahre lang sie zahlen knapp 600 Euro für die Reise.
wollten sie nicht mehr allein sein. verheiratet. Sie haben eine Corona-geprägte Zeit hin-
Benecke spricht von »großen Wünschen«, Waltraud, 60, Verwaltungsfachangestellte ter sich, Lockdown, Quarantäne, Abstand
die es bei den Leuten gebe, von »Sehnsucht«. in einem Krankenhaus, fühlt sich »neugierig, halten. Sie schieben sich vor dem Buffet am
Seine Singlereisen führen von Deutschland erwartungsvoll«. Sie ist »die Starke«, so Brokkoli entlang, reichen einander Löffel, sit-
aus nach Mauritius, Kanada, Kuba, aber auch ­nennen Freunde sie. Sie hat eine Tochter, war zen eng, reden. Die Leute wollen wieder zu-
durchs eigene Land, an den Bodensee, den 17 Jahre lang mit deren Vater zusammen, bis er sammen sein.
Rhein, an die Ostsee. sagte: Ihm sei die Liebe abhandengekommen. »Mein Mann hatte Krebs.«
Eine Reise beginnt Mitte Juni: mit dem Dann Elke, 55, frisch getrennt seit ein paar »Ich bin ja nie allein gefahren.«
Fahrrad durch die Lüneburger Heide, vier Monaten, nach 23 Ehejahren. Sie ist Erziehe- »Ich saß irgendwann nur noch vor dem
Tage, fünf Nächte, gebucht haben sechs Frau- rin, sie könne gut allein leben, sie betont das. Computer.«
en und acht Männer zwischen 45 und 70 Jah- »Passt schon«, das sagt sie immer. Dietmar hat schon Erfahrung mit Single-
ren. Wie viel Erfüllung finden die Wünsche? Rainer, 68. Er hatte mal ein Autohaus. Er reisen, seine erste war 2019 nach Rügen, dann
Was kann ein Urlaub ihnen geben? war dreimal verheiratet und würde es auch Tirol, dann Madeira. Einmal hatte er eine Frau
Ein Hotel in einem Park an einer Land- noch mal tun. aus Berlin gemocht, sie waren noch drei Mo-
straße kurz vor Soltau, Stille, nur die Vögel Als Stephan, der Reiseleiter, das Hotel nate zusammen und sich dann einig, dass es
zwitschern. Das Kennenlernen ist um 18.30 zeigt, Pool, Sauna, Kegelbahn, kommt Rainer doch keinen Sinn macht.
Uhr am Tipi-Zelt. Es ist hoch und aus Holz- rüber, lehnt sich vor und flüstert: »Nun habe Dietmar sitzt bei »Passt schon«-Elke, vor
stämmen mit beigefarbenem Tuch, es soll ich gerade letzte Woche eine kennengelernt.« ihm ein Pils. Allein wegfahren? Er will mor-

38 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


DEUTSCHLAND

gens nicht ohne jemanden am Frühstückstisch


sitzen. Auch Elke stellt sich das schwierig vor.
Sie möchte ihre nicht mehr vom Sofa hoch. Da wurde sie
sauer und hat gebucht.
Andreas, 62, kurzes, graues Haar, Gold- Macken behalten dürfen Rainer mit den Rückspiegeln ist es immer
kette, arbeitet im Einwohnermeldeamt und
hat sich lange gar nicht getraut zu buchen.
und ­trotzdem mit noch zu langsam. Wolfgang mit den Späßen
fährt hinten. Man kann sich zurückfallen las-
Seine Frau hat ihn vor sieben Jahren verlas- jemandem alt werden. sen oder aufschließen. Teil der Gruppe sein
sen. Sie fing damals an, Sätze zu sagen wie: oder nicht.
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist.« Dann In der Nacht geht die Musik im Hotel
war sie weg. Gefahrene Kilometer 19,75. Zurückgeleg- noch lange. Eine Hochzeit, ein junges
Er war sechs Wochen lang krankgeschrie- te Höhenmeter: 124. Paar, ein Anfang. Weiße Schirme, violettes
ben, mittlerweile gehe es. Er habe den Single- Lothar liest und heftet das GPS-Gerät zu- Licht, ­Blumenkleider und die Gipsy Kings,
treff in Göttingen, habe eine Tochter, die ihn rück an den Klett am Rucksackriemen. ­»Vo­lare«. Fliegen. Durch das in blau gemalte
zu dieser Reise überredet habe, mit den Wor- Flirtfaktor: nicht so leicht zu berechnen Blau.
ten: »Och Papa, die kommen doch alle mit wie Höhenmeter. Aber niedrig. Vor 30 Jahren waren die Deutschen im
dem gleichen Ziel.« Es geht weiter, Wolfgang, 45, der Jürgen Schnitt mit 27 verheiratet. Heute sind sie es
Er wünsche sich wieder eine Frau. Er put- von der Lippe mag, macht das Schluss­- mit 33. Und wer mit 40 keine Ehe geschlossen
ze Bäder und Fenster, er mache Frühstück. licht. Er ist der Typ, der sich kümmert. »Ob hat, tut es vielleicht nie: Nur 22 Prozent der
Aber er könne nicht gut allein leben. Heide oder Haiti«, sagt er und grinst Männer und 17 Prozent der Frauen, ergab
Manche, die als Singles unterwegs sind, breit. eine Studie aus dem Jahr 2020, haben ihre
hatten schon mal mit jemandem ein gemein- Zu sehen gibt es eine Heidekönigin aus aktuelle Partnerschaft mit 40 oder später be-
sames Haus, eine gemeinsame Wohnung, an- Bronze, eine der größten Sonnenuhren gonnen.
dere träumten immer davon. Wieder andere Deutschlands und in der Osterheide, hinter Ein blauer Sommermorgen, 10.30 Uhr, in
Träume sind kleiner, wie beispielsweise nicht Schneverdingen, eine Bank mit graviertem Soltau ist Markt. Waltraud, die Starke, schlen-
allein beim Essen zu sein. Ob die Träume Schild: »Goldene Hochzeit – Erika und Hel- dert neben Andreas, den seine Tochter ge-
zusammenpassen? mut Gand«. schickt hat, sie reden.
Der nächste Morgen, der erste Stopp auf Als ob der Mensch praktisch immer min- Andreas sagt aber später im Park, ihm ge-
einer von Schilf umwachsenen Holzbrücke, destens zu zweit vorkomme, so sieht es im falle ja Elke.
ein Vogel schreit. Alltag aus und im Urlaub erst recht, beim Und Waltraud sagt, es sei halt nicht leicht.
Elke wollte auf jeden Fall in Deutschland ­Spaziergang im Park, auf dem Weg ins Kino, Ihre Tochter, 22, lebt noch bei ihr. Waltraud
bleiben und nicht fliegen, damit sie jederzeit im Restaurant, im Hotel. Doppelzimmer ist redet immer von »wir«, »wir« essen dann,
wieder abreisen könne. normal, Einzelzimmer kostet extra. »wir« kommen vom Sport.
Dietmar trägt Fahrradhandschuhe und Aber wer so denkt, sieht an den mehr als Die Liebe war abhandengekommen, aber
Bergsteigerstiefel, für alles gerüstet. 18 Millionen Alleinstehenden in Deutschland nur bei ihm, nicht bei ihr. Anders als in dem
Lothar, 68, der gern Bananenweizen trinkt, vorbei. Über 5 Millionen sind zwischen Gedicht von Erich Kästner, wo zweien zu-
steht etwas abseits. An seinem Rucksack 45 und 65 Jahre alt, verwitwet, ledig geblie- sammen auffällt, dass ihre Liebe verloren ging
klemmt ein GPS-Gerät, im Rucksacknetz eine ben oder geschieden, was bei 40 Prozent ­aller »wie andern Leuten ein Stock oder Hut«. Das
Landkarte. Er kauft immer Landkarten, er Ehen in Deutschland passiert. Manche sind Kind war anderthalb, als es bei Waltraud ge-
hat sie, als seine Frau noch lebte, auf dem verheiratet und auf eine Art trotzdem allein- schah. Der Mann hatte sich immer weiter
Tisch ausgebreitet und die Stellen, an denen stehend. zurückgezogen. Für sie war es weiterhin ihr
sie mit den Rädern abbiegen würden, vor je- So ist das bei Ella, 67, und Gaby, 60. Ellas Mann.
der Tour ins Gerät eingegeben. Dass er hier Mann läuft kaum noch, und sie reden nicht Einen anderen, Werner hieß er, hat sie spä-
ist, liegt an dem Moment, als er zu Hause saß, mehr viel am Küchentisch nach 43 Ehejahren. ter in einem Onlineportal kennengelernt, es
irgendwas zum zehnten Mal las und das Ge- Gabys Mann hat seine Kfz-Werkstatt im März hielt fast fünf Jahre. Online, sagt sie, mache
fühl hatte, dass die Decke auf ihn runterkam. verpachtet und verkraftet das nicht. Er kommt sie nicht mehr. Ziehe sie runter. Man müsse
Wer bei Google »Singlereisen« eingibt, will sich dauernd verkaufen. Sie möchte ihre
vielleicht einfach nicht komisch angeguckt ­Macken behalten dürfen und trotzdem mit
werden, weil er nicht zu zweit ist. Oder will jemandem alt werden.
flirten. Oder Liebe finden. Sie haben viel hinter sich, aber sie wollen
Seine Erwartung? »Keine«, sagt Lothar. auch noch etwas vor sich haben.
»Spaß zu haben«, sagt Elke. »Einfach glücklich sein, oder?«, sagt Ella,
»Die Heide kennenzulernen«, sagt Diet- die seit 43 Jahren verheiratet ist. »Aber das
mar. ist scheiße schwer.«
Dietmar und Elke reden jetzt, über die »Keine faulen Kompromisse mehr«, sagt
Kinder. »Kein Ding«-Dietmar, dem zweimal schon
Rainer fährt heran und sagt: »Nur alte Leu- das Herz gebrochen wurde. Lieber ohne Frau
te hier.« Ihm sei das Tempo zu lahm. Er fah- alt werden als mit der falschen, sagt er. Älter
re sonst mit dem E-Bike 25 Kilometer pro werden und Kompromisse machen, bei man-
Stunde. 3600 Euro hat sein Rad gekostet, chen schließt sich das aus.
Speziallenker, zwei Spiegel, Korb, er hat sein Und dann gibt es ja noch Rainer hinter
eigenes kleines Cockpit gebaut mit einer Han- seinem Cockpit, dessen Theorien weniger
dyhalterung, in der sein Telefon steckt, darauf theoretisch sind.
läuft sein Radiosender, hr4, Schlager. Was ist Glück?
Maria Feck / DER SPIEGEL

»Schnulzen«, sagt Gaby. »Dass ich mir keine Gedanken mehr ma-
Rainer hat Arthrose und Bandscheibe und chen muss, um nichts«, sagt er.
das Radfahren erst vor zwei Jahren begonnen. Er hat das Autohaus längst verpachtet und
Ein neues Hobby mit 66. Er lenkt das Rad die Häuser vermietet. Seine Ehen dauerten
vorbei an einem Spielplatz, Minigolfplatz, elf Jahre, drei Monate, sechs Jahre. Er hat
Weltladen. Halt an einer Kirche. Single Waltraud beim Frühstück drei Kinder von drei Frauen. »Und?«, fragt

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 39


DEUTSCHLAND

Andreas, der sich wieder eine Frau wünscht,


hofft, in kein Loch zu fallen. Er werde auf
dem Rückweg noch mal im Outlet anhalten,
am Mittwoch zum Singletreff gehen und am
Donnerstag zum Biertreff. Er steht da, ganz
ernst und auch ein bisschen traurig, und sagt
noch: »Dass man nicht gleich wieder so allein
ist.«
In der Kirche St. Nicolai, der kleinsten der
drei Hauptkirchen von Lüneburg, sind die
Fenster bunt, violett, grün, rot. GPS-Lothar
steht am Eingang, er fotografiert eine alte
Wetterfahne mit dem Heiligen Nikolaus. Der
stehe für Barmherzigkeit, Liebe und Gerech-
tigkeit, sagt er. »Wer weiß, wozu es noch gut
ist.«
Er wird die Daten dieser drei Touren auf
Maria Feck / DER SPIEGEL

Maria Feck / DER SPIEGEL


seinen PC überspielen und mit einem Spezial-
programm die Wege darstellen, einen Hinter-
grund wählen, und diese Wege wieder und
wieder betrachten. Das Programm heißt:
»QuoVadis«.
Alleinstehende bei Umtrunk im Brauhaus, Teilnehmer Lothar: »Wer weiß, wozu es noch gut ist«
Seine längste Beziehung dauerte 16 Jahre,
es war die letzte, mit Ilona. »Pass gut auf dich
er. Im Sinne von: Was ist schon dabei? Sagt: Mittags gibt’s zum Essen im Gasthaus auf«, hatte sie immer zu ihm gesagt. Sie­
»Alles oder nichts.« Sagt: »Ich lebe!« einen Heideschnaps dazu. Es regnet. wollte mit ihm alt werden, sie wollte, dass er
Weiter zu »Breidings Garten«, nicht weit Wolfgang sagt, er habe es mal probiert und 80 wird.
vom Zentrum von Soltau entfernt, ein sei allein in den Urlaub geflogen, im Mai nach Sie wurde 65, und zwischen der Diagnose
­tiefgrüner Park, zehn Hektar groß. Sie um- Mallorca. Die Mahlzeiten gingen noch, fand und dem Ende lagen nur sechs Monate. Das
laufen den großen Teich, bleiben stehen am er, der Tag auch, er konnte sich beschäftigen, war im Februar.
Ufer und fotografieren: einander. An Tag aber der Abend, sagt er, sei schwer gewesen. Wenn Lothar wieder zu Hause ist, wird er
zwei der Reise sind sie schon etwas weniger Er lag im Zimmer und sah fern, während er die Mülleimer von der Straße holen, die Blu-
allein. von draußen die Stimmen der anderen hörte. men gießen und zum Grab gehen.
Mittags steht die Sonne steil, und Lothar Sie stehen im Parkhaus, nach Lüneburg Das Leben ist nicht planbar wie eine Sun-
liest vom GPS: 12,7 gefahrene Kilometer. Hal- sind sie in Autos gefahren, die Muskeln sind wave-Reise, und wenn es das wäre, würde
be Strecke. schlapp, die Stimmung auch. Gestern war der man es wollen?
Sie fühlt sich für manche anstrengender an letzte Abend. Die Hoffnung war da. Das alte Lothar wollte, dass er ein paar nette Leute
als sie war, nach mehr Leistung. Wie sich ein Leben wartet. trifft, die vielleicht ein ähnliches Problem ha-
Erlebnis anfühlt, »kein Ding« oder großes Dietmar wird am Tag darauf in sein Auto ben wie er. Auf normalen Gruppenreisen, bei
Drama, das ist ja relativ. Was für den einen steigen und nach Hause fahren, er wird sei- denen alle mitfahren, würde er zwischen Ehe-
unerträglich erscheint, steckt ein anderer weg. nem Sohn helfen, der einen Altbau gekauft hat. paaren sitzen und das noch nicht aushalten.
Wenn man Glück hat, findet man jemanden, In Kontakt bleiben mit den anderen? Mit 400 Kilometer, so lange wird er an diesem
der dieselben Dinge unerträglich findet wie jemandem? »So bilateral?«, fragt er in köl- Tag noch im Auto sitzen, seine nächste Etap-
man selbst. scher Melodie. »Ich glaube, eher nicht.« pe. Er will weitermachen und darauf warten,
Im Outlet von Soltau: Schubkarren mit Die Paarbilanz dieser Reise: null. Aber dass es besser wird.
Blumen bepflanzt. »Stürmen wir mal ins vielleicht hat sie ein Paar gerettet: Gaby, die Die Kinder kommen, die Enkel kommen,
­Getümmel«, sagt Andreas zu Elke und hält sauer war und einfach gebucht hatte, sagt, ihr sie gehen wieder. Er fährt mit seinem Bruder
den Blick in ihre Richtung. Elke biegt ab in Mann habe sie jeden Tag angerufen. zu einem »Frank-Zappa-Festival« in Bad Do-
den Nike-Shop, ohne ihn. Cockpit-Rainer wartet weiter darauf, dass beran und fliegt im September mit dem
Am nächsten Tag hat Lothar den Rucksack er mal wieder so richtig geflasht ist von einer Tauchklub auf die Kanareninsel El Hierro.
für zwei gepackt, weil er das immer so ge- Frau, und er direkt weiß: Das ist sie! In vier Er will die Hoffnung auf die Liebe nicht
macht hat. Sie wollen die große Runde fahren, Tagen trifft er die Frau aus dem Internet zum aufgeben.
57 Kilometer, sie wollen auf den Gipfel, den ersten Date, sie wollen am Rhein spazieren Stephan, der Reiseleiter, der 43 ist und
Wilseder Berg und in den Totengrund. Es soll gehen »und sich den Rest erzählen«. auch Single, kommt mit seiner Ordnertasche
Regen geben. Waltraud sagt im Innenhof vom Lünebur- auch an den Frühstückstisch. In vier Wochen
Rainer steht jetzt schon da in Vollmontur, ger Rathaus zwischen roten und weißen Ro- führt er wieder so eine Reise durch die Heide,
lange Hose, Wetterjacke, und sagt: »Ich mach sen, sie freue sich auf zu Hause, auf das da sind die Leute jünger, ab 35, das ist besser
mal wieder Musik.« Abendessen mit ihrer Tochter. Sie hat den für das, was er sich noch wünscht.
Sie steigen auf, die E-Bikes stehen auf Lebenspartner nicht gefunden, aber vielleicht Er wird bis dahin weiter zu Famila gehen
»Tour«, Pferdekoppeln, Strohballen, an der Freundinnen. und zum Bar-Hopping in Hamburg, wo er in
Luhe-Quelle stehen sie als große Gruppe. Sie Kneipen weiter nach seinem Glück suchen
fahren wieder in einen Wald, den Brunausee wird.
entlang, bis eine der Frauen Rainer bittet, das
Radio auszustellen. Sie könne sich nicht kon-
Das Leben ist nicht »Ich bin dann weg«, sagt Cockpit-Rainer,
der sich verabschiedet. Und auch Ella steht
zentrieren. Sie möge keine Schlager. planbar. Und auf, sagt »danke, dass ihr da wart«, winkt in
Sie fahren stumm weiter. »Gut«, sagt Rai-
ner nach einer Weile, »man weiß auch nie,
wenn es das wäre: die Runde, bevor sie abfährt, um sich zu Hau-
se wieder zu ihrem Mann an den Tisch zu
was bei ihr gerade los ist.« Wollte man das? setzen. n

40 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


Jetzt neu
im Handel

Digital lesen mit auf manager-magazin.de/plus


SOLIDARITÄT
REPORTER
»Soll man Flüchtlings-
kinder zur Ein-
schulung beschenken,
Frau Poelchau?«
SPIEGEL: Tausende ukrainische
Kinder werden gerade in
Deutschland eingeschult. Ist es
eine gute Idee, sie zu beschen-
ken, damit sie sich nicht als
Außenseiter fühlen?
Poelchau: Eine sehr gute Idee.
Beschenken Sie sie großzügig
mit Interesse und Offenheit.
SPIEGEL: Die zukünftige Klasse
eines ukrainischen Erstklässlers
wollte zusammenlegen, um
einen Marken-Schulranzen zu
kaufen.
Poelchau: Ich habe von einem
ähnlichen Versuch gehört. Die
Mutter hat das abgelehnt. Ich
vermute, sie hat gespürt: besser,
mein Sohn hat einen Ranzen
vom Roten Kreuz, als dass er je-
den Tag etwas herumträgt, was
die anderen für ihn zusammen-
gesammelt haben.
SPIEGEL: Aber viele der Geflüch-
teten haben materiell nicht viel.
Privat

Poelchau: Sie müssen mit ihren


Familien von Hartz-IV-Sätzen

Sonder-Pädagogik, 1954
leben. Wie viele andere Fami-
lien übrigens auch. Der Reflex
liegt nahe, eine richtig gute
Schultasche zu spendieren. Für
die Empfänger ist das aber
FAMILIENALBUM Christian D. Seifert, 78, aus Schleswig manchmal beklemmend.
SPIEGEL: Auch wenn die Leute

A uf dem Foto ist mein Vater Günther zu


sehen, auf seiner DKW 350, im Juli 1954.
Das Bild zeigt ihn kurz vor dem Start
unserer ersten Familienreise nach dem Krieg in
unsere Eltern, die mit Tempo 90 unterwegs wa-
ren. Wir winkten wie verrückt, aber sie sahen uns
nicht, so schnell waren wir vorbei. In Lörrach
krachte uns eine Ente in die Seite. Da direkt an der
freiwillig und gern geben?
Poelchau: Man kennt das beim
Thema Trinkgeld. Gibt jemand
unangemessen viel, dann zeigt
die Schweiz. Immer, wenn ich das Bild sehe, muss Straßenkreuzung ein Krankenhaus war, konnte er nicht nur, dass er ein netter
ich lachen. Damals war ich 10 Jahre alt, mein mein Bruder sofort behandelt und wieder entlas- Kerl ist, sondern auch, dass er
Bruder war 17, und wir wohnten in Hannover. sen werden – mit dickem Kopfverband. mit Geld um sich werfen kann,
Meine Eltern, Jahrgang 1904 und 1909, waren Nach schönen Ferientagen in der Schweiz ging auf das andere gut aufpassen
abenteuerlustige Leute, sie glaubten an uns und es wieder zurück. Dieses Mal kamen wir beide müssen.
hatten trotz des Krieges ihr Vertrauen in die so schnell voran, dass wir nach zwei Tagen schon SPIEGEL: Geldbeutel zu, Herz
Menschen nicht verloren. Jetzt wollten sie uns in Hannover waren, wir hatten unsere Eltern um auf also. Reicht das?
»die Welt zeigen« und die Schwester meines 48 Stunden abgehängt. Falls wir uns abends nicht Poelchau: Nein. Tun Sie heim-
Vaters in Zürich besuchen. Aber mit Zeltgepäck treffen sollten, hatten wir vereinbart, dass meine lich Gutes statt vor den Augen
und zwei Kindern auf einem Motorrad? Schwester in Hannover angerufen würde. Das anderer. Geben Sie ruhig Geld
Mein Vater hatte eine Idee: Unsere Eltern wür- machten meine Eltern dann natürlich auch, und aus. Und seien Sie dann richtig
den per Motorrad fahren und wir Kinder per so konnten sie in den nächsten beiden Tagen be- stolz auf sich. Bringen Sie Ihre
Anhalter. Mein Bruder und ich waren hellauf be- ruhigt ihre weitere Heimreise gestalten. gut erhaltenen Kleider zum Ro-
geistert. Wir hatten für den Abend immer einen Ich bin, bis ich erwachsen war, gern per An- ten Kreuz, spenden Sie für die
Treffpunkt ausgemacht. Und es klappte, ganz halter gefahren und habe später auch Anhalter Klassenkasse, geben Sie Mar-
ohne Handy. Am ersten Tag trafen wir uns in Bad mitgenommen. Es war ein tolles Abenteuer. ken-Ranzen, wenn eine Organi-
Nauheim und schlugen dort unser Zelt auf, am Mein Vater war Lehrer, und das war seine Art der sation darum bittet. FHU
zweiten Tag in Straßburg, am dritten Tag in Pädagogik. Ich bin meinen Eltern heute noch
Waldshut, und am vierten Tag waren wir dann in dankbar, dass sie uns diese Reise zugetraut haben. Nina Poelchau, 60, ist Gesprächs-
Zürich. Wir hatten einen Riesenspaß und haben Aufgezeichnet von Frauke Hunfeld und Traumatherapeutin in
viel erlebt. In Frankfurt nahm uns ein amerikani- Oberschwaben, sie arbeitet für
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre
scher Offizier in seinem Chevrolet mit, und Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an: die Caritas mit ukrainischen
wir überholten auf der Autobahn mit Tempo 140 familienalbum@spiegel.de Geflüchteten.

42 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


an als Firmeninhaber und hauptberuf-
lich starker Mann.

Weight Watchers
Er hob ein Auto mit 380 Kilo-
gramm Zusatzgewicht an.
Er zog einen acht Tonnen schwe-
ren Lastwagen.
Er reckte eine 87 Kilo schwere
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Steine schultern, Autos anheben, Hantel einarmig sechsmal nach oben.
Lastwagen ziehen – ein Besuch beim stärksten Mann Deutschlands Er stemmte einen 180 Kilo schwe-
ren Baumstamm.
Er brachte mit einem Seil einen

R Die Muskel-
ad der Schmerzen« heißt ein Zwingende Frage: Warum macht 8,5 Tonnen schweren Traktor voran.
Disziplinierungsinstrument man das? Er stellte einen 420 Kilo schweren
im Film »Conan der Barbar«. Mögliche Antwort: Weil man’s kann. pakete beim Reifen fünfmal auf und warf ihn um.
Sklaven werden daran gekettet, sie Dennis Kohlruss, 34, gelernter Ein- Bodybuilding Er schleppte mit dem Schulterjoch
müssen ein Mahlwerk vorantreiben,
bis sie an Erschöpfung dahinsie-
zelhandelskaufmann, Heavy-Metal-
Fan, sitzt da als menschlicher Berg,
sind für 400 Kilo über 20 Meter in knapp
18 Sekunden.
chen. Conan, der Barbar, wird daran überlegt kurz und bietet eine Erklä- ihn »totes Er musste dann gar nicht mehr
stark. rung an. Wenn das Gewicht dann weg Fleisch«. antreten, um Steinkugeln auf einem
»Conan’s Wheel« soll an das Gerät ist, sagt er, sei der Körper »so unglaub- Podest abzulegen, er hatte da schon
in Arnold Schwarzeneggers Barba- lich leicht«. Man begibt sich also un- gewonnen.
renfilm erinnern. Es steht in einem ters Joch, um danach aufzuatmen. Mit den Baumstämmen hält er den
Gewerbegebiet bei Rastatt und gehört Er hat es früher mit Fußball pro- deutschen Rekord von 200 Kilo, es
der Firma Eisenbär, einer Gesellschaft biert und dann mit Skateboard, aber waren aber nur 180 nötig. Mit den
bürgerlichen Rechts. Sie besteht aus ein Skateboard kann schnell brechen, Reifen lief es nicht richtig gut. Er hat-
dem stärksten Mann Deutschlands wenn einer mit 90 Kilo drauf steht. te sich vorher beim Autoheben einen
und einem Mann fürs Büro. 90 Kilogramm, das ist lange her. Brustmuskel leicht gezerrt.
Es gibt Menschen, die freiwillig Jetzt sind es 175. Autos heben. Reifen umwerfen. Ist
Lastwagen ziehen, Baumstämme in Ohne Wacken wäre das vielleicht das eigentlich nützlich? Kann man
die Luft stemmen oder zentner- nicht passiert. Mit Anfang zwanzig, das brauchen, im wirklichen Leben?
schwere Steinkugeln auf ihre Schulter erzählt er, sei er auf dem Festival Es seien, so sieht es Kohlruss, »ur-
wuchten. Man möchte Näheres wis- gewesen, im Beiprogramm liefen in- sprüngliche Bewegungen« im Men-
sen. Ein paar Tage nachdem in Gera offizielle Scottish Highland Games. schenleben. Schwere Sachen tragen,
der stärkste Mann Deutschlands ge- Man musste beispielsweise Gewichte hochheben oder ziehen – das taten
kürt worden ist, fährt man hin, sieht in die Höhe über eine Stange werfen. die Menschen ständig früher, und
draußen vor einer Halle Conan’s Er warf, mit fünf, sechs Bier im Blut, heute muss ja immer noch die Bier-
Wheel, drinnen an der Wand ein fünf so erinnert er sich, und gewann. kiste ins Auto. Oder der Kaminofen
Meter hohes Bärengesicht und unter Die Highland Games waren rusti- auf den Hänger, womit man Bau-
dem Bären eine Frau, die sich an kal, aber doch an der Leichtathletik marktkunden beeindrucken kann.
einer 50 Kilogramm schweren Stein- orientiert. Der Nachteil: »Ich bin Kann er ein Auto weglupfen, wenn
kugel zu schaffen macht. Die Kugel nicht leicht.« es blöd in der Einfahrt parkt?
soll auf die Schulter der Frau. Die Ein Strongman muss nicht leicht Bei einem Polo zum Beispiel ginge
Frau ist silberblond, stämmig, aber sein. es. Aber er würde es nicht machen.
kein Muskelberg, und etwa 1,65 Me- Als er im vergangenen Jahr zum Warum nicht?
Kohlruss beim
ter groß. ersten Mal deutscher Meister wurde, Traktorenziehen,
»Einfach so? Ohne Aufwärmen?«
Man überlegt, ob der stärkste arbeitete er noch im Baumarkt. Die- Screenshot von der Hinter Kohlruss läuft jetzt ein Ath-
Mann wohl mehr Obelix oder mehr ses Jahr trat er zur Titelverteidigung Website Bnn.de. let vorbei, der rechts und links je ein
Schwarzenegger sein wird. Gestell mit 120 Kilo Gewicht trägt,
Und dann sitzt er da auf einer Han- schnellstmöglich mit seiner Last die
telbank und ist beides nicht. Halle entlangwuselt und die Gestelle
Ist nicht Obelix, er braucht keinen dann fallen lässt. »Farmer’s Walk«
Kompagnon, um sich zu erklären. Ist heißt das, und man überlegt, wann
nicht Schwarzenegger, weil er von man wohl Bauern so herumlaufen
Bodybuilding nichts hält. Die Muskel- sah. Außerdem denkt man Aua! und
pakete, mit denen da posiert wird, ob das alles gesund sein kann.
sind für ihn »totes Fleisch«. Ein »Ja!« kommt von Kohlruss
Dennis Kohlruss hat Oberarme, und dass es gut wäre, wenn alle das
die so dick sind wie bei anderen machen würden, ein bisschen wenigs-
Leuten die Schenkel, und einen be- tens. Das ist seine Überzeugung.
eindruckenden Bauch. Er setzt sie durch. Man findet sich
Bodo Schackow / dpa

Die Silberblonde trägt jetzt ein mit wieder zwischen diesen Gestellen,
Gewichten beschwertes Gestell auf rechts 20 Kilo, links 20 Kilo, und ver-
den Schultern und eilt damit durch sagt.
die Halle. »Yoke Race« heißt die Dis- Am nächsten Tag dann hat man
ziplin. Yoke heißt Joch. Es ist das, was Rückenschmerzen und fragt sich, ob
ein Ochse früher auf dem Feld ertrug. man weniger auf Männer mit starken
»Strongman« heißt der Sport. Muskeln hören sollte oder mehr.
Oder »Strongwoman«. Barbara Supp n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 43


REPORTER

Der letzte Zeuge


SCHICKSALE  Kolja war gerade 17 Jahre alt geworden, als russische Truppen seine Heimatstadt Mariupol
­bombardierten. Seine Eltern und seine beiden Schwestern starben –
nur Kolja überlebte. Nun fragt er sich: Hätte er seine Familie retten können? Von Alexandra Rojkov

K
olja liegt in einem Keller. Unter ihm Der Einzige, der noch lebt, ist Kolja. Ein Kind, Am 24. Februar, einem Donnerstag, wacht
nackte Erde, darauf etwas Styropor dem der Krieg alles nahm: sein Zuhause, seine Kolja auf, um zur Schule zu gehen. Er liegt
gegen die Kälte. Die Wände schimmeln, Familie, seine Zukunft, sogar die Vergangenheit. noch im Bett, da hört er im Halbschlaf, wie
die Luft ist eisig und feucht. Kolja trägt zwei Er besitzt nichts mehr außer einer Jeans und seine Mutter den Mädchen im Nebenzimmer
Hosen übereinander, zwei Pullover, zwei Paar Wollsocken, die seine Mutter gestrickt hat. Kol- eröffnet: Der Unterricht fällt aus. Putin hat
Socken, eine Mütze, er ist in eine Decke ge- jas Kleidung, seine Papiere, die Menschen, die der Ukraine den Krieg erklärt.
hüllt, so wird er sich später erinnern. Trotz- er liebt – das alles liegt unter den Trümmern von Viele Menschen in Mariupol wähnen sich
dem friert er. Es ist März in Mariupol, und Mariupol. So wie Zehntausende, die Russland trotzdem in Sicherheit. Angeblich will Putin
die Temperaturen fallen unter null. bei seinem Feldzug gegen die Ukraine tötete. mit dem Angriff die russischsprachige Bevöl-
Es gibt keinen Strom mehr und kein Was- Wenige Tage nach dem Einmarsch im Feb- kerung schützen, und kaum eine ukrainische
ser. Keine Sicherheit. Kaum Essen. Die russi- ruar kappt die russische Armee die Verbindung Stadt ist russischer als Mariupol. Mehr als
sche Armee hat die Stadt umzingelt, nun hun- der Stadt zur Außenwelt. Das Netz bricht zu- 90 Prozent der Bewohner sprechen im All-
gert sie die Bevölkerung aus. Flugzeuge lassen sammen, es ist kein Zufall. Die Welt soll nicht tag Putins Muttersprache. Viele fühlen sich
Bomben regnen, Kolja hört sie im Keller. Ein sehen, was in Mariupol geschieht. Bis heute Russland näher als der Ukraine. Auch Koljas
Pfeifen, danach ein gewaltiger Donner. Die gibt es kaum Bilder von dort, und jene, die es Eltern gehören dazu. Sie wuchsen in der So-
Wände zittern, als läge er in einem Karten- gibt, bezeichnet Russland als Propaganda. Aber wjetunion auf, sie reden mit ihren Kindern
haus, das jederzeit zusammenfallen und ihn Kolja hat gesehen, was in ­Mariupol passiert ist. russisch, aus der Politik halten sie sich heraus.
begraben könnte. Vor Kurzem traf ein Ge- Er kann davon erzählen, ohne zu zögern oder Ihr einziger Wunsch ist ein bescheidenes, sor-
schoss das Nachbarhaus, ein Mann starb. Sie zu stocken, so deutlich und klar, wie es nur genfreies Leben. Ob unter russischer oder
haben ihn im Gemüsebeet beerdigt, weiter jemand vermag, dem nichts geblieben ist außer unter ukrainischer Flagge, kümmert sie da-
trauten sie sich nicht wegen der Kämpfe. seiner Geschichte. Um sie zu überprüfen, hat mals kaum.
Im Keller neben Kolja liegt seine Schwes- der SPIEGEL mit Koljas ehemaligen Nachbarn In den ersten Stunden des Krieges kaufen
ter Polina, 11 Jahre alt. Sie schmiegt sich an und Freunden gesprochen. Videos und Satel- Koljas Eltern – ihr Nachname soll nicht ge-
ihren Vater Wladimir, einen schmalen, erns- litenaufnahmen belegen die Zerstörung seines nannt werden, um Koljas Identität zu schüt-
ten Mann. Polina ist das jüngste der drei Kin- Elternhauses. Von seiner Familie aber kann nur zen – Lebensmittel, aber sie fliehen nicht. Sie
der. Warja, 14, liegt zu Koljas Füßen. Daneben noch Kolja berichten. Er sagt, er sei es ihr schul- wüssten auch nicht, wohin: Sie sind einfache
ihre Mutter Natalia, deren Körperfülle sie dig. Wenn er sie schon nicht retten konnte, soll Leute, ohne Verwandte oder Beziehungen ins
wärmt. Zwischen ihnen Kolja, gerade 17 Jah- die Welt wenigstens wissen, wie sie ­starb. Ausland. Kolja hat die Ukraine vor dem Krieg
re alt geworden. Er ist nicht gläubig, aber in nie verlassen. Die Familie beschließt, den rus-
diesem Moment betet er. Im Geist, so erzählt Meine Familie stammt aus Mariupol, aber ich sischen Angriff auszusitzen wie ein Gewitter.
er es, spricht er immer wieder denselben Satz: bin in Donezk geboren, am 19. Dezember, dem Während Kolja und seine Eltern in den
Alles wird gut, wir werden durchkommen. Tag des heiligen Nikolai. Meine Eltern haben wenigen offenen Supermärkten anstehen,
Aber eigentlich glaubt er ihn selbst nicht. Kol- mich nach ihm benannt: Kolja. Sie mussten zieht die russische Armee einen Ring um Ma-
ja ist sicher, dass er in Mariupol sterben wird. neun Jahre auf ein Kind warten. Als auch noch riupol. Schon in den ersten Stunden beschießt
Und mit ihm seine Familie. meine Schwestern kamen, war es für sie das Putins Militär Wohnhäuser und eine Schule.
Vor dem Februar 2022 war Kolja ein Teen- größte Glück. Trotzdem bleiben drei Viertel der Bewohner
ager, der seine Liebe für Metallica entdeckt Papa war Arbeiter in der Stahlfabrik, in der Stadt. Sie vertrauen ihrem »Bruder-
hatte und davon träumte, als Beamter das Mama Buchhalterin. Sie haben geschuftet wie volk«, das vorgibt, sie zu schützen.
starre ukrainische Schulsystem zu verändern. die Sklaven. 23 000 Hrywnja verdienten sie Koljas Familie verschanzt sich in ihrem
Seine Schwestern Polina und Warja mochten zusammen, ungefähr 600 Euro. Es reichte für Haus, einem einstöckigen Bau in einer ruhi-
Volkstänze und malten gern. Den Eltern Wla- ein kleines Haus. Warja und ich teilten uns ein gen Seitenstraße. Die Eltern holen Spiele für
dimir und Natalia, beide 47 Jahre alt, fehlte Zimmer, Polina schlief bei Mama. Für Papa die Kinder hervor, Wladimir, der Vater, schaut
manchmal die Energie für drei Kinder. Doch gab es im Wohnzimmer ein Sofa. Er war im im Fernsehen »Der Herr der Ringe«. Noch
nach vielen Konflikten in der Pubertät begann Schichtdienst und musste oft nachts arbeiten. sind die Einschläge fern, noch können sie sich
Kolja, sich ihnen anzunähern. Immer war er müde. Papa und ich stritten we- einreden, dass der Krieg sie nicht betrifft. Kol-
Heute, sechs Monate nach Beginn des rus- gen Kleinigkeiten, zum Beispiel weil ich mehr ja blättert in Büchern, für die er sonst wegen
sischen Angriffskriegs, sind sie tot. Polina und im Haushalt helfen sollte als meine Schwestern. der Schule keine Zeit hatte.
Anne Gabriel-Jürgens / DER SPIEGEL

Warja, Mädchen mit langen Zöpfen und ho- Heute denke ich: was für ein Quatsch.
hen Wangenknochen, wurden wohl im Keller Aber zum Schluss, würde ich sagen, war In den ersten Tagen des Krieges hatten wir
ihres Hauses von Schutt erschlagen. Wladimir, die Beziehung in unserer Familie ideal. Alle sogar noch Onlineunterricht. Draußen knall-
der Vater, starb in der Wohnung, vielleicht Probleme schienen sich aufzulösen. Vielleicht te es, aber die Lehrerin redete davon, dass wir
war er nach oben gegangen, um Luft zu auch, weil ich erwachsener geworden war, unsere Hausaufgaben machen ­sollten. Alle
schnappen. Die Leiche der Mutter ist bis heu- ernster. Ich konnte meine Eltern und meine glaubten, dass die ukrainische Armee Mariu-
te nicht gefunden worden, vermutlich wurde Schwestern besser verstehen. Unser Leben hat- pol halten würde. Dass es nur eine Frage der
sie bei der Explosion zerfetzt. te gerade begonnen. Zeit sei, bis alles wieder normal wird.

44 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


REPORTER

»Ich hörte die Explosionen und fragte mich: Warum war ich
überhaupt auf der Welt? Habe ich jemals etwas erreicht,
damit man sich an mich erinnert? Oder wird es, wenn ich
jetzt umkomme, sein, als hätte es mich nie gegeben?«
Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 45
REPORTER

Eines Abends sah ich mir zusammen mit von Pilz, für eine Familie ist kaum Platz. Aber
meiner Freundin Vika »Star Wars« an, jeder er dämpft die Geräusche der Bomben, die nun
an seinem Rechner. Vika und ich kennen uns wie ein Teppich auf die Stadt fallen.
aus der Schule, wir sind seit zwei Jahren ein
Paar. Ihre Familie blieb auch in Mariupol, wir Bei jedem Einschlag wackelte das Haus. Staub
wohnten nur zehn Minuten voneinander ent- legte sich auf mein Gesicht. Früher habe ich
fernt. Besuche waren nicht möglich, aber wir mich geschämt, meinen Eltern nahezukom-
teilten bei Skype unseren Bildschirm und sa- men, aber jetzt wollte ich so eng bei ihnen sein,
hen gemeinsam fern. Plötzlich fror das Bild wie es geht. Ich habe mich abwechselnd an
ein, der Ton stotterte. Ich sagte: Vika, ich höre Papas und Mamas Schulter gedrückt, ihnen
dich nicht mehr. Dann knallte es draußen, im gesagt, dass ich sie liebe.
Himmel flogen Funken. Der Strom verschwand. Jeden Tag war ich bereit zu sterben – auch
wenn ich nicht verstehen konnte, wofür. Ich
Die Russen kappen in den ersten Kriegs­ lag im Keller, hörte die Explosionen und frag-
wochen mehr als ein Dutzend Elektrizitäts­ te mich: Warum war ich überhaupt auf der
leitungen. Danach wärmt nur das nackte Feu­ Welt? Habe ich jemals etwas erreicht, damit
er, das viele auf ihren Balkonen entzünden. man sich an mich erinnert? Oder wird es,
Spätestens jetzt erkennen die Bewohner von wenn ich jetzt umkomme, sein, als hätte es
Mariupol, dass Russland sie getäuscht hat. mich nie gegeben?
Aber es ist zu spät. Der Weg aus der Stadt ist
vermint und versperrt. Kolja, ein Kind von 17 Jahren, sagt diese Sät­
Schwestern Polina, Warja mit Mutter Natalia ze mit der Ernsthaftigkeit eines Erwachsenen.
Es wurde eisig zu Hause. Wir haben vier Pullover Während der stundenlangen Gespräche mit
übereinander getragen und uns zusätzlich in dem SPIEGEL weint er kein einziges Mal – er
Decken gewickelt. Es half nichts, es war immer klingt nicht einmal anklagend. Er erzählt ein­
kalt. Und dann, als wir dachten, es könne nicht fach, was ihm geschehen ist, und manchmal
schlimmer werden, verschwand das Wasser. An- wirkt es, als wunderte er sich, dass es jeman­
fangs tröpfelte es noch aus der Leitung. Irgend- den interessiert.
wann kam gar nichts mehr. Damit begann die In der zweiten Märzwoche, so erinnert sich
Apokalypse, ich kann es nicht anders beschrei- Kolja, wird das Nachbarhaus von einem russi­
ben. Wir lebten wie die Wilden. Wir konnten uns schen Geschoss getroffen. Dann weitere Häuser
nicht mehr waschen, statt einer Toilette benutz- in der Straße. Wenn die Ziegel durch die Hitze
ten wir einen Eimer oder Plastiktüten. Um Was- der Explosionen platzen, dringt das Geräusch
ser zu holen, mussten wir das Haus verlassen bis in den Keller. Als Kolja in einer ruhigen Se­
und den Berg hinauf­gehen, dort gab es eine kunde auf die Straße tritt, sieht der Asphalt vor
Quelle. Der Weg war gefährlich und das Wasser seiner Tür aus wie umgegraben. Auch Koljas
schmutzig. Wir haben es über dem Feuer abge- Haus beugt sich langsam dem Krieg. Eine Druck­
kocht. Trotzdem schmeckte es schrecklich. welle beschädigt das Dach, die Fenster bersten.
Der Kronleuchter im Wohnzimmer fällt her­
Anfangs wohnt die Familie noch im Haus: El­ unter, zusammen mit einem Teil der Decke.
tern und Kinder schlafen in ihren Betten und Einmal ist die E
­ xplosion so stark, dass Teile der
essen an ihrem Tisch. Obwohl sich das Grollen Küchenwände die Kellerluke unter sich begra­
des Krieges nähert, weigert der Vater sich, den ben. Nur mit Glück kann die Familie sich frei­
Keller als Schutzraum herzurichten. Jedes Fa­ schaufeln. Es gibt in Mariupol kaum Suchtrupps
milienmitglied begegnet der Bedrohung an­ Schild mit Daten von Koljas Familie mehr: Wer verschüttet ist – und das sind ­viele –,
ders. Koljas Vater Wladimir mit stoischer Ver­ wird in den seltensten Fällen gerettet. Menschen
drängung, seine Mutter Natalia mit Sorge um sterben in ihren Kellern, in ihren Wohnzim­
ihre Kinder. Polina, die Jüngste, befällt eine mern, in einer Schule und im Theater, in dem
nervöse Hysterie: Anstatt zu weinen, lacht sie Hunderte Menschen Zuflucht ­suchen.
sich ständig schlapp. Kolja dagegen zittert un­ Wladimir, Koljas Vater, drückt sich Tag und
kontrolliert, seine Hände und Beine folgen ihm Nacht an die hinterste Kellerwand und starrt
nicht mehr. Nachts kann er kaum schlafen, aus ins Leere. Koljas Mutter kann die Kinder nicht
Angst, den Morgen nicht zu erleben. mehr beruhigen. Einmal will sie ihrem Sohn
Dann trifft zum ersten Mal ein Geschoss ihr über die Wange streichen, ihm zuflüstern,
Viertel. Kreischend fliegt es über das Haus, dass alles gut wird – doch als Kolja die Hand
bevor es mit einem Knall auf sein Ziel fällt. Der seiner Mutter spürt, fährt er zusammen. Na­
Boden vibriert wie bei einem Erdbeben, auch talias Haut ist kratzig wie Sandpapier, auf­
Kolja spürt es. Nach dem Angriff ziehen sie geschürft von den Trümmern. Sie bemerkt
doch in den Keller, der kaum 1,70 Meter hoch seine Abwehr und bricht in Tränen aus: »Ist
ist. Normalerweise lagern sie hier eingemach­ es meine Schuld, dass unser Haus zerbombt
te Gurken und Tomaten, Vorräte für den Win­ wurde?«, schluchzt sie. Dann weinen sie ge­
ter. Nun wird es ihr Lebensraum. In der Gara­ meinsam, Mutter und Sohn, beide hilflos und
ge finden sie Styroporplatten, gekauft, um das ausgeliefert. Dieser Moment brennt sich Kol­
Haus zu dämmen. Sie legen sie auf die Erde, ja ins Gedächtnis ein, er erinnert sich noch
darauf alle Decken, die sie entbehren können. Monate später an jedes Detail.
Privat (4)

Nach oben gehen sie nur noch, um Wasser zu Als der Beschuss der Russen etwas nach­
holen oder auf dem Feuer zu kochen. Kolja lässt, nimmt Kolja seinen Mut zusammen.
hasst den Keller: Die Wände sind überzogen Mutter Natalia, Vater Wladimir vor dem Krieg Seit zwei Wochen hat er nichts von seiner

46 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


REPORTER

Freundin Vika gehört, er weiß nicht mal, ob


sie noch lebt. Er beschließt, die zehn Minuten
zu ihrem Haus zu überwinden, um zu sehen,
wie es ihr geht.
Koljas Zuhause, gelegen in einer ruhigen
Wohngegend, schien ihm zu Beginn des
­Krieges besonders sicher zu sein. Vika da-
gegen lebt in einem 14-stöckigen Gebäude,
von weither sichtbar – ein ideales Ziel für die
russische Armee. Doch als er bei Vika an-
kommt, ist das Haus fast unversehrt.
Natürlich hat auch hier niemand die Ga-
rantie zu überleben. Auch hier werden Men-
schen im Hof begraben, auch hier geht den
Bewohnern das Essen zur Neige. Aber viel-
leicht, denkt Kolja, wäre es eine Erleichte-
rung, wenn er für einige Zeit bei Vika wohn-
te. Seine Familie hätte mehr Platz im Keller
und eine Person weniger, die die Vorräte leert.
Vikas Eltern sind einver­standen.

Als ich nach Hause zurückkam, sagte ich: Mama, Kolja in der Ruine seines Elternhauses: »Ich rief, aber niemand antwortete«
ich werde wahrscheinlich zu Vika umziehen. Wir
haben uns ja im Keller total gedrängt. Sie stimm- der Tür von Vikas Wohnung, eine Männer- te ich da sein, damit sie sich keine Sorgen ma-
te zu. Ich packte ein paar Sachen, dann wollte stimme verlangt in harschem Russisch: »Auf- chen müssen.
ich mich verabschieden. Ich weiß nicht mehr, machen! Überprüfung!« Vor der Schwelle Es war nicht leicht, allein in dem Haus zu
was meine Schwester ­Polina in dem Moment stehen Putins Soldaten. Sie durchsuchen die leben. Das Gas war inzwischen ausgegangen.
machte, aber Warja saß im Keller und weinte. Zimmer und drohen, die Männer mitzuneh- Ich musste auf dem Feuer kochen, aber ich
Sie war immer stark gewesen, aber jetzt konnte men. Kolja ist ihnen zu jung, Vikas Vater zu- hatte das noch nie gemacht. Zum Glück half
sie nicht mehr. Ich strich ihr über den Kopf und fällig unterwegs, um Lebensmittel zu suchen. mir ein Nachbar. Einige Stockwerke über Vika
versuchte, sie zu trösten: Wir werden es schaffen, Die Russen durchkämmen alle Etagen, auf wohnte eine Familie, die in Mariupol geblie-
alles wird gut. Bitte weine nicht. einer fallen Schüsse. Später werden zwei Lei- ben war, der Mann hieß auch Kolja. Einer
Als ich schon fast aus der Tür war, drehte chen auf die Straße getragen, so berichtet es seiner Söhne entdeckte mich auf dem Balkon,
ich mich noch einmal zu meinem Vater um. Kolja ein Nachbar. als ich versuchte, mir etwas zu essen zu ma-
Ich sagte: Papa, ich gehe jetzt. Er war seit Ta- Die russische Armee kontrolliert nun Vikas chen. Er erklärte mir, wie das geht, später ga-
gen in einem Schockzustand, er lag auf dem Viertel, der Beschuss verlagert sich gen Süd- ben sie mir auch Lebensmittel.
Boden und atmete schwer. Papa setzte sich westen. Dort leistet das Asow-Regiment, Ma- Eines Nachts, es war der 24. März, träum-
auf, sah mich an und sagte: »Na, dann geh.« riupols wichtigstes Bataillon, noch immer te ich von meinen Eltern. Ich sah meinen
Es war das letzte Mal, dass ich meine Familie Widerstand. Die Kämpfer haben sich in die ­Vater, wie er im Hof unseres Hauses stand. Er
lebend gesehen habe. örtliche Stahlfabrik zurückgezogen, ganz in hatte keine Arme mehr, als hätte sie jemand
der Nähe lebt Koljas Familie. Wenn er aus abgehackt. Ich schrie: »Papa, Papa, was ha-
Am 10. März zieht Kolja von seinem Eltern- dem Fenster schaut, sieht er, wie russische ben sie mit dir gemacht?« Dann wachte ich
haus in die Wohnung seiner Freundin Vika. Panzer betankt werden und dann losfahren auf. Ich wusste nicht, was der Traum be­deutet.
Inzwischen tobt die dritte Woche des russi- in Richtung seines Elternhauses. Kolja sagt,
schen Angriffskriegs. Das erste Massengrab in er habe sich gefühlt wie ein Verräter. Als hät- Am nächsten Tag bittet Kolja eine Nachbarin,
Mariupol wird ausgehoben. Am 13. März mel- te er seine Familie im Stich gelassen. ihn zum Haus seiner Eltern zu ­begleiten. Es
det die Stadtverwaltung, die letzten Wasser- Auch deshalb beschließt er, in Mariupol zu ist wegen der Kämpfe lebens­ge­fährlich, aber
und Lebensmittelvorräte seien aufgebraucht. bleiben, als Vika und ihre Eltern die Stadt er möchte sehen, wie es seiner ­Familie geht.
Vikas Familie hat vorgesorgt. Sie lagert Nu- verlassen. Seitdem Russland große Teile der Inzwischen kennen alle verbliebenen Bewoh-
deln und Grütze, sogar die Gasflasche in der Gegend hält, gibt es einen Zugang auf die ner den Jungen, der a­ llein im vierten Stock
Küche ist noch gefüllt. Auch hier hört Kolja die Krim. Am 21. März steigt seine Freundin ins haust. Die Nachbarin, eine gläubige Christin,
Einschläge, aber wenigstens kauert er nicht Auto und fährt los. Kolja bleibt allein in ihrer erklärt sich bereit, in einer Feuerpause mit
mehr im engen Keller, sondern in einem fenster- Wohnung zurück. Kolja zu gehen. Sie sprechen ein letztes Ge-
losen Flur, dem sichersten Ort in der Wohnung. bet, dann laufen sie los.
Vika, heute 16 Jahre alt, wirkt quirlig und Als alle fort waren, bin ich in Tränen ausge- Sie gehen in Richtung des Prospekts der
übersprudelnd, Kolja ernst und gefasst. Aber brochen. Ich dachte: Was mache ich jetzt? Metallurgen, einer zentralen Allee, die im
sie mögen beide Nirvana und Astrologie, tra- Wäre es besser gewesen mitzufahren? Aber Frieden begrünt war und voller Leuchtrekla-
gen dunkle Klamotten und haben einen Hang ich wollte warten, bis meine Eltern auftau- me. Nun sind Häuser zerschossen, Bäume
zur Mystik. Sie vertreiben sich die Zeit, indem chen. Ich war sicher, dass sie irgendwann umgestürzt, Straßenlaternen liegen kreuz und
sie über den Krieg diskutieren: Wie hoch ist kommen, um mich zu holen. Und dann woll- quer. Kein Mensch ist zu sehen. Die ersten
die Chance, dass Russland gewinnt? Aus Jux Straßen in Koljas Viertel machen ihm Hoff-
befragen Vika und Kolja ihre Tarotkarten. Vika nung: Die Häuser sind angeschlagen, aber
zieht das Bild eines Mannes, der auf einem nicht zerstört. Er schleicht an Minen vorbei,
Hügel steht, seinen Blick gerichtet auf ein Meer die die Armee auf dem Weg hinterlassen
voller Schiffe. Sie schließen daraus, dass eine »Ich wollte warten, bis meine hat. Schließlich steht er vor dem Tor zu sei-
Flotte kommen wird, um Mariupol zu retten.
In Wahrheit fällt Mariupol Stadtteil für
Eltern auftauchen. Ich nem Haus.
Im ersten Moment denkt er: alles wie im-
Stadtteil. Mitte März klopft es plötzlich an war sicher, dass sie kommen.« mer. Dann schaut er noch einmal hin – und

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 47


REPORTER

­ aren, als es getroffen wurde. Dass sie zum


w
Beispiel in die Kirche gegangen sind, um zu
beten. Aber ich musste erkennen, dass das un-
wahrscheinlich war. Wenn Papa sich im Haus
befand, dann waren Mama und meine
Schwestern auch dort. Ich habe eingesehen,
dass wir sie nicht lebend finden. Und dass wir
aufhören müssen, nach ihnen zu graben, da-
mit wir nicht auch noch sterben. Ich wünschte,
ich wäre früher gekommen und hätte sie zu
mir geholt. Ich hätte sie retten können. Ich
fühlte mich so schuldig.

Ein einziges Mal kehrt Kolja danach zu sei­

Anne Gabriel-Jürgens / DER SPIEGEL


nem Elternhaus zurück. Er hat ein selbst ge­
basteltes Schild dabei: ein Pflock, gebrochen
aus der Tür eines verlassenen Kindergartens,
dazu ein Stück Holz, das er gefunden hat. Mit
einem schwarzen Filzstift schreibt er darauf
die Namen seiner Familie: Wladimir. Natalia.
Warja. Polina. Geboren zwischen 1974 und
Überlebender Kolja mit Band: »Was dachten Papa und Mama bei der Explosion?« 2010. Gestorben am 17. März 2022.
Mit einem Ziegelstein hämmert Kolja das
erkennt, dass sein Elternhaus nicht mehr tallstangen gegen den Beton stemmen. Es Schild vor der Ruine in den Boden, als Signal
steht. Wo einst das Esszimmer war, türmen klappt nicht, nur ein Bagger könnte die Trüm­ an die Russen, die inzwischen auch diesen
sich meterhohe Steinbrocken, die Erde ist auf­ mer heben. Und Bagger, die nach Verschüt­ Stadtteil übernommen haben. Bald werden
gewühlt wie ein Feld. Ziegel liegen auf Holz teten graben, gibt es in Mariupol schon lange sie beginnen, den Schutt abzutragen, und sie
auf Erde auf Möbelteilen. Koljas Zuhause, der nicht mehr. sollen wissen, dass unter dem Beton noch
Ort, an dem er sein ganzes Leben verbracht Auch die Videos der Rettungsaktion sind Menschen liegen. Kolja hofft, dass sie die Kör­
hat, sieht aus, als hätte es jemand durch einen eine Rarität. In Mariupol, wo es keinen Strom per seiner Familie ausgraben und beerdigen.
Fleischwolf gedreht. gibt, bleiben die meisten Mobiltelefone Aber wahrscheinlich, denkt er damals, wer­
schwarz. Aber ein Nachbar in Vikas Wohn­ den sie sie wegwerfen wie Müll.
Ich schaute auf die Ruine und verstand nicht, haus handelt mit Elektronik und besitzt Nachdem Kolja das Schild aufgestellt hat,
was passiert war. Ich rief nach Mama, nach ­deshalb ein Solarpaneel. Er lädt damit regel­ sieht er noch einmal seinen Vater, der zwi­
Papa, nach meinen Schwestern. Ich lief um mäßig sein Telefon auf und filmt das Gesche­ schen den Trümmern liegt. Inzwischen
das Haus herum und suchte nach der hen um sein Haus. Dutzende Aufnahmen scheint die Sonne über der Stadt, der Frühling
­Kellerluke, ich wollte mich durch die Trümmer dokumentieren die russische Belagerung. Auf naht. Die Verwesung hat eingesetzt, Kolja
zu ihnen zwängen. Aber es ging nicht, es war einer sieht man Kolja, wie er in den Trüm­ kann sie riechen. Er steigt über die Brocken
zu eng. mern seines Elternhauses steht, das Gesicht seines ­Elternhauses, auf der Suche nach et­
Plötzlich sagte die Nachbarin: »Kolja, starr vor Schock. Während er und die Nach­ was, mit dem er den Vater zudecken kann.
schau, da ist ein Kleidungsstück oder ein Spiel- barn versuchen, zum Keller vorzudringen, Zwischen dem Schutt findet er eine grüne
zeug. Was ist das?« Ich schaute hin, es sah knallt es über ihnen. Daunenjacke, die seiner Schwester Warja ge­
wirklich aus wie Kleidung, vielleicht mit Fell- hörte. Es gibt ein Video davon: Kolja hat sei­
besatz. Ich kam näher und erkannte: Das war Ich wusste nicht, was ich tun soll. Ich ­wollte nen Nachbarn gebeten, die Einschlagstelle
Papa. Er lag mit dem Gesicht nach unten, der nach meiner Mutter und meinen Schwestern aufzunehmen. Er will nicht, dass jemand
­größte Teil seines Körpers war verschüttet. Nur suchen, aber ich dachte: Wenn wir hier länger später behaupten kann, er hätte sein Unglück
seine Hände und sein Kopf ragten heraus. Sei- bleiben, dann bringe ich uns alle um. Und erfunden. Man sieht, wie Kolja die Jacke über
ne Augen waren zugekniffen, seine Nase ge- selbst wenn wir es zum Keller schaffen, ist die den Körper seines Vaters wirft. Dann sucht
brochen. Er sah aus, als wäre er um Jahrzehn- Chance, dass Mama, Polina und Warja noch er in den Trümmern ein zweites Kleidungs­
te gealtert. leben, gering. Die Leute in den anderen Häu- stück und legt es über Wladimirs Kopf. Da­
Ich begann, mit den Händen nach ihm zu sern sagten, die Rakete sei am 17. März bei nach verlässt er die Ruine und geht davon,
graben. Ich war sicher: Wenn ich es schaffe, uns eingeschlagen. Das lag mehr als eine vielleicht für immer.
ihn rauszuholen, dann steht er auf und läuft ­Woche zurück. Warum musste Koljas Familie sterben?
los. Aber dann berührte ich ihn mit den Fin- Ich quetschte mich mit einer Taschenlampe Laut dem Völkerrecht sind Zivilisten im
gern, und sein Körper war ganz kalt und hart. durch die Trümmer, fast bis zum Keller. Die Krieg besonders geschützt. Aber Russlands
Mein Papa fühlte sich nicht mehr an wie ein Luke stand etwas offen. Ich rief, aber niemand Armee war kein Preis zu hoch, um Mariupol
Mensch, sondern wie ein Sack Erde. antwortete. Ich sah, dass im Kellereingang zu erobern. Die Soldaten beschossen Wohn­
Ich fiel aus der Realität. Ich schrie, ich wein- Ziegel lagen. Menschen sah ich nicht. viertel und Krankenhäuser, Fluchtrouten
te. Ich brüllte, dass ich ihn liebe. Dass es mir Kurz hatte ich die Hoffnung, dass Mama und Schutzorte. Die Bewohner von Mariupol
leidtut, weil ich mich nicht richtig verabschie- und die Mädchen vielleicht nicht im Haus sollten sich nirgendwo sicher fühlen. Es
det habe. Weil ich wirklich dachte, dass dieser sah aus wie Chaos, aber es war die kalku­
Krieg uns nicht trifft. lierte Hölle.
Eine Hölle, in der Kolja nun allein zurück­
In den Tagen danach versucht Kolja, seine bleibt. Seine Familie ist tot, seine Heimatstadt
Familie freizuschaufeln, Nachbarn unterstüt­ »Ich wünschte, ich wäre zerstört. Ein Jugendlicher, allein in einer
zen ihn dabei. Ein Helfer hat die Rettungs­
versuche mit dem Handy aufgenommen: Man
früher gekommen. ­Katastrophe. Drei Tage verbringt er in Vikas
Wohnung. Er weint, schlägt mit den Fäusten
sieht, wie Menschen sich mit Spaten und Me­ Ich fühlte mich so schuldig.« auf den Boden, schüttelt sich – so beschreibt

48 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


REPORTER

er es. Es gibt noch immer keinen Strom, kein Wehrdienst leisten und gegen ihr eigenes
Wasser, kaum Lebensmittel. Ohne Hilfe, das In russischer Hand UKRAINE
Land kämpfen, die Ukraine.
weiß Kolja, kann er nicht überleben. Kolja weiß das, er verfolgt jede Meldung
Seine Rettung sind die Nachbarn, die Vormarsch russischer Truppen aus der Stadt. Auf dem einzigen Tisch in sei-
­einige Stockwerke über ihm wohnen. Der Anfang März nem Zimmer steht ein Laptop, der fast immer
Familienvater, Koljas Namensvetter, schlägt wird Mariupol die Nachrichten zeigt. Es gelingt ihm, die Be-
vor: Komm zu uns. Wir kümmern uns von russischen richte nicht zu nah an sich heranzulassen. Men-
um dich. Truppen schen, die ein Trauma erfahren haben, kapseln
umstellt. MARIUPOL
das Erlebte danach oft ab, vielleicht erklärt
Sein Sohn hatte mir einmal geholfen, Feuer Asow- sich so Koljas Gefasstheit. Es gibt ihn zweimal:
zu machen, und seine Frau erklärte mir, wie Stahlwerk Es gibt den Kolja, der nachts wach liegt und
man Nudeln kocht. Ansonsten kannte ich die Manhusch Seit Mitte Mai ist an den Tod denkt. Und den, der versucht, nach
Familie kaum. Aber der Mann sagte sofort: die Stadt vollständig vorn zu blicken, um nicht zu zerbrechen.
»Du hast keinen Vater mehr, also werde ich eingenommen. Kolja geht nun in eine Sprachschule, sechs
wie dein Vater sein. Wir lassen dich nicht al- S Quelle: Institute for the Study of War and Critical
Stunden am Tag. Er hat sich eine Gitarre be-
lein.« Er und seine Kinder waren dabei, als sorgt, der Verkäufer gab ihm Rabatt, als er

Threats Project
wir versuchten, meine Familie auszugraben. hörte, dass Kolja Ukrainer ist. Er verbringt
Es waren die schlimmsten Momente meines dass ihn die Vergangenheit mitreißt. Er nennt seine Freizeit mit Hausaufgaben und mit der
Lebens, und sie haben sie mit mir erlebt. Das es »aus der Wirklichkeit fallen«. Er sieht dann Bürokratie seines neuen Landes. Und mit
hat uns einander nähergebracht. Mir blieb nicht mehr die Wiese vor seinem Haus oder Vika, seiner Freundin, die gegen alle Regeln
auch keine Wahl: Ich hatte niemanden, ich den blauen Himmel, sondern die Ruinen von der Wahrscheinlichkeit wieder bei ihm ist.
konnte nirgendwohin zurück. Mariupol. Am schlimmsten, sagt Kolja, sei es, Er ruft sie an, kurz bevor er Mariupol ver-
Im April wurde in Vikas Viertel nicht mehr wenn er nachts wach liege. Er starrt dann an lässt. Er sagt ihr, dass er am Leben ist und dass
gekämpft, aber alles war zerstört. Niemand die Decke über seinem Stockbett, und vor er sie liebt – dann bricht die Verbindung ab.
wusste, ob die Zivilisation in einem Monat seinen Augen wird der Raum zu dem Keller, Das nächste Mal telefonieren sie, als Kolja West-
zurückkehren würde oder in einem Jahr. Die in dem seine Familie starb. europa erreicht. Vika und ihre Eltern leben zu
Familie, die mich aufgenommen hatte, ent- dem Zeitpunkt auf der Krim, aber bleiben wol-
schloss sich deshalb, Mariupol zu verlassen. Ich vermisse vor allem Papa, vielleicht weil len sie dort nicht. Am Telefon bittet Kolja seine
Sie hatte einige Kanister Benzin auf Vorrat ich ihn tot gesehen habe. Ich erinnere mich, Freundin, zu ihm zu kommen. Vika ist einver-
und zwei Autos, die zwar von Schrapnellen wie er gelacht hat und wie ich ihn umarmte. standen. Ende Mai fallen sie sich am Bahnhof
durchlöchert waren, aber noch fahrtüchtig. Er war ganz warm und weich. Später, als ich in die Arme, auch davon gibt es ein Video.
Am 18. April brachen wir auf. ihn fand, war er so kalt. Vika wohnt nun mit ihrer Mutter in einem
Was haben Papa, Mama und meine Hotel, das für Flüchtlinge aus der Ukraine an-
Die Häuser, die vor ihrem Autofenster vorbei- Schwestern im Moment der Explosion ge- gemietet wurde. Es liegt nur wenige Straßen
ziehen, sehen aus wie nach dem Untergang dacht? Hatten sie Zeit zu erkennen, dass dies von Koljas Unterkunft entfernt. Sie besuchen
der Welt. Ganze Stadtteile kokeln, Autos sind ihr Ende war? Spürten sie Furcht? Ich stelle dieselbe Sprachschule, sie verbringen jeden Tag
zerschossen und umgedreht. Kolja erinnert mir vor, wie es gewesen wäre, bei ihnen zu zusammen. Gemeinsam mit anderen Flücht-
sich an eine »Atmosphäre des Todes«, an Mi- sein. Dann bekomme ich Angst. lingskindern haben sie eine Band gegründet,
nen, die kreuz und quer auf der Fahrbahn das örtliche Jugendhaus stellt die Instrumente.
liegen. An seine Angst, die Flucht nicht zu Seit dem 20. Mai ist Mariupol vollständig Wenn Kolja dort auf der Bühne steht, lächelt er
überleben. Aber sie schaffen es bis zur Front- unter russischer Kontrolle. Noch immer gibt zwischen den Songs. Er neckt Vika, wenn sie,
linie, der Grenze zwischen den von Russland es an vielen Orten kein Wasser, Bewohner die neuerdings Schlagzeug spielt, den Takt nicht
besetzten Gebieten und der Ukraine. füllen ihre Eimer in Pfützen. Tote werden hält. An den Abenden fahren sie manchmal mit
In dem Ort Manhusch steht die Familie nicht von Suchtrupps geborgen, sondern von Rädern, die sie auf dem Sperrmüll gefunden
eine Woche lang in einer Autoschlange aus Freiwilligen, die im Gegenzug Essen erhalten. haben, zu McDonald’s und essen Pommes.
Flüchtenden: Hunderte warten darauf, dass Einige junge Männer müssen neuerdings Kolja hat für die Zukunft zwei Wünsche.
russische Soldaten ihre Wagen kontrollieren. Er will Dolmetscher werden und eine Woh-
Als es so weit ist, werden viele Männer nung mieten, mit Vika zusammenziehen, sie
­mitgenommen, aber Kolja und seine Nach- heiraten. Er will seine Familie stolz machen,
barn haben Glück. Weil sie neben der ukrai- auch wenn sie das nicht mehr erlebt. Der
nischen auch die russische Staatsbürgerschaft ­zweite Wunsch handelt von Mariupol. Irgend-
besitzen, winken die Soldaten sie durch. wann möchte Kolja dort wieder am Meer spa-
­Kolja, das Kind auf der Rückbank, bleibt zieren gehen. Er möchte seinen Kindern zei-
­unbeachtet. gen, wo er gelebt hat und wo ihre Großeltern
An den Rest der Reise erinnert er sich in starben. Er will seine Heimatstadt in Frieden
Bruchstücken. Er weiß nur, dass er Anfang sehen und in ukrainischer Hand.
Mai in einem Land ankommt, von dem er Kolja weiß, dass dieser Moment wohl nie
noch nie gehört hat: Es ist grün und ruhig und kommen wird. Es gibt Gerüchte, dass Russ-
umgeben von Bergen. Wo genau sich Kolja land die Annexion der Stadt plant, sie wäre
Anne Gabriel-Jürgens / DER SPIEGEL

befindet, soll nicht beschrieben werden, um dann für Kolja ­unerreichbar. In den Straßen
ihn nicht auffindbar zu machen. hängen schon Plakate mit der Aufschrift
Im Juli 2022 lebt Kolja in einer Flüchtlings- »Russland ist hier für immer«.
unterkunft, sechs Menschen teilen sich weni- Ein Verwandter, der noch in der Stadt aus-
ge Quadratmeter. Die Familie, mit der er aus harrt, schrieb Kolja kürzlich, Helfer hätten
Mariupol floh, wohnt mit ihm dort. Es ist eng, die Leichen seines Vaters und seiner Schwes-
aber Kolja ist froh, nicht allein zu sein. Die tern geborgen. Sie liegen nun in einem
Gespräche mit seinen Rettern halten ihn in Massen­grab. Kolja hofft, dass er sie irgend-
der Gegenwart, wie ein Anker, der verhindert, Nachbar Kolja wann suchen und beerdigen kann. n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 49


Kostenlos mit
WiWo+

WiWo Coach

Fragen Sie
unsere
Expert innen
Geldanlage, Vorsorge, Recht, Steuern, Karriere –
neben den preisgekrönten Recherchen der Redaktion
liefern nun auch ausgewählte Expert:Innen Antworten
auf Ihre ganz konkreten Fragen.
Probieren Sie es aus.

Jetzt Antworten bekommen:


wiwo.de/coach
REPORTER

Prenzlauer Berger. Sie besuchten gern


Kita-Elternabende, Workshops und
Paartherapeuten. Der Mann mit der
schwarzen Krawatte war ihr Medizin­
mann. Er hieß Robert.

Unter Menschenaffen
Diese Leute? Dieser Menschen­
schlag?
Ein paar Tage später erklärte Uwe
Tellkamp bei einer Buchvorstellung
von Thilo Sarrazin: »Die SPD vertritt
LEITKULTUR  Alexander Osang möchte nicht zusammen mit Robert Habeck die Interessen eines woken, Latte
in eine Museumsvitrine gestellt werden. macchiato süffelnden Prenzlauer-
Berg-Prekariats.« Die SPD steckt also
auch mit in unserem Sack, auf den

A
nfang des Sommers saß ich in Soziologen und Autoren einschlagen.
meinem Wohnzimmer und er­ Mein Vater, der aus Dresden
klärte einem Filmteam, was in stammte wie Tellkamp, sagte gern,
den letzten 30 Jahren mit Berlin pas­ man erkenne den Sachsen in Berlin,
siert war. Ich hatte den Regisseur auf wenn man ihn frage, wo das Sowjeti­
dem Holzmarkt kennengelernt, einer sche Ehrenmal stehe. Der Sachse be­
wilden Oase zwischen Apartment­ tont Treptow falsch. Die Politologin
blöcken am Ufer der Spree. Ich hatte aus dem SPIEGEL-Text stammt aus
da behauptet, Berlin verkaufe sich in Aachen, der Soziologe hat in Tübin­
der Welt immer noch als Stadt der gen und München studiert. Ich habe
unbegrenzten Möglichkeiten, obwohl im Schulgarten an der Greifswalder
es längst aufgeteilt sei. Damit sollte Straße Beete bepflanzt, ich habe im
ich es in eine mehrteilige Fernseh­ Pumpwerk in der Erich-Weinert-Stra­
dokumentation schaffen. Der Regis­ ße Filter gereinigt, ich bin mit dem
Alexander Osang / DER SPIEGEL

seur wirkte nett, und ich dachte: Wer Schlitten die Todesbahn vom Trüm­
soll es denn sonst machen, wenn nicht merberg heruntergefahren, ich habe
die Berliner? zehn Jahre lang die 30. Oberschule
Der Regisseur sagte, es sei wichtig, Prenzlauer Berg besucht, einige Mit­
dass die Dreharbeiten bei mir zu Hau­ schüler mussten kein Milchgeld be­
se im Prenzlauer Berg stattfänden, um zahlen, weil sie aus kinderreichen
etwas von meinem Umfeld zu zeigen. Familien kamen.
Als die Filmleute da waren, fingen sie Provinz in einer Wohngruppe im Dreharbeiten im Ich bin noch da. Und unten auf der
allerdings sofort an, meine Wohnung Prenzlauer Berg aufbrachen. Es war Prenzlauer Berg Straße treffe ich immer mal jeman­
umzudekorieren. Irgendwann saß ich oft schwer zu ertragen, aber am Ende den, der auch noch da ist. Marion,
auf einem Stuhl, der aus der Küche he­ waren es meine Nachbarn. Menschen Maxim, Stephan, Robert, Knut, Yvi,
rangeschafft worden war. Kamera lief. wie ich. Jetzt beginnen Experten, aus Lutz, Petra, Carsten, Milan, Joana,
Ich erzählte, dass ich nicht mitbe­ großer Entfernung meinen Stadtbe­ Flake, Jutta, Thomas, Traudl und
kommen hatte, wie Ost-Berlin in den zirk und mich zu erklären. selbst den großen OL, der seit Jahren
Neunzigerjahren verkauft wurde, Vergangene Woche las ich in einem in seinen Cartoons zeigt, wie ihn der
weil ich zu sehr damit beschäftigt war, SPIEGEL-Text, wie eine Politologin Prenzlauer Berg nervt. Wir sind nicht
zu verstehen, was mit mir passierte. und ein Soziologe erklärten, dass Ro­ alle ausgestorben.
Ich zog nach New York, und als ich bert Habeck »exakt die Erwartungen Leider haben die Filmleute längst
nach acht Jahren wiederkam, war eines akademisch-grün-linken Milieus abgebaut, der Sommer ist vorbei. Es
Berlin Regierungssitz und der Stadt­ zum Beispiel vom Prenzlauer Berg in ist zu spät. Ich weiß noch, wie mich
bezirk, in dem ich groß geworden war, Berlin bediene«. Das Gespräch fand der Regisseur nach Eberhard Diepgen
kaum wiederzuerkennen. Im Lebens­ in München statt, weder Habeck noch fragte, der mal Regierender Bürger­
mittelladen an der Ecke lagen die ein Bewohner vom Prenzlauer Berg meister war. Ich erzählte, dass ich
»FAZ« und die »Süddeutsche Zei­ saßen mit am Tisch. Die Politologin Diepgen irgendwann in den Neun­
tung«, und ich fragte den Händler, ob und der Soziologe bastelten sich eine zigerjahren morgens um fünf in einem
ich nicht auch die »New York Times« kleine Welt zusammen und stellten Hotel in Barcelona aus dem Bett klin­
bekommen könnte. Klar, sagte der. sie mit ihren Figuren voll. gelte, um ihn zu bitten, mich mit in
Nun gab es auch die »Times« in der »Dieser Menschenschlag«, stand den gut bewachten Olympiapark zu
Bötzowstraße. Ich war Teil einer Ver­ da, »ist die ewige Selbstbefragung nehmen, wo sich Berlin um die Olym­
änderung, die ich beklagte. ­gewohnt.« Und: »Habeck ist der ge­ Experten, die pischen Spiele bewarb. Diepgen war
In der »Zeit« machte sich ein einst
zugezogener Westler, der inzwischen
borene Mann für diese Leute.«
Wenn Robert Habeck bei uns als
sich weit verschlafen, aber nicht verwundert.
Er schleuste mich später in seinem
wieder im Westen lebte, über den Zu­ Bürgermeister kandidiert hätte, hätte weg befinden, Tross mit in die Veranstaltung. Ich
stand des Stadtbezirks lustig, den zu­ ich ihn sicher gewählt, aber ich will beginnen, wollte damit wahrscheinlich nur er­
gezogene Westler herbeigeführt hat­ nicht mit ihm in die Vitrine eines klären, wie klein Berlin eigentlich ist.
ten. Westler der ersten Generation deutschen Naturkundemuseums ge­ meinen Der Kameramann sah auf. Er frag­
beklagten sich über Westler der zwei­ stellt werden. Gleich neben dem aus­ ­Stadtbezirk te sein Team: »Sagt mal, glänzt der?«
ten Generation. Anke Stelling be­ gestopften Berliner Gorilla Bobby. Alle sahen mich an, dann kam je­
schrieb in Romanen, wie ihre Kind­ Lauter Menschenaffen. Im nächsten und mich mand und wischte mich ein bisschen
heitskonflikte aus der schwäbischen Schaukasten sehen Sie ein paar zu ­erklären. ab. Wie ein Ausstellungsstück. n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 51


WIRTSCHAFT

Janine Schmitz / photothek / IMAGO


Lindner

Harsche Kritik an neuer Finanzaufsicht


KRIMINALITÄT  Bundesfinanzminister Christian Lindner stößt bei seinen Plänen für eine neue Finanzpolizei
weiter auf Widerstand. Ein namhafter Experte hat »eine ganz große Lücke« identifiziert: die Steuerkriminalität.

D ie Pläne von Finanzminister Chris-


tian Lindner (FDP) zur bes­seren
­Bekämpfung von Geldwäsche stoßen
weiter auf heftige Kritik. Lindners Plan
hatte diese Woche s­ eine Überlegungen zur
Geldwäschebekämpfung vorgestellt. Er
will die zersplitterten Zuständigkeiten unter
dem Dach einer neuen Bundesbehörde
Lindners Pläne waren nach der Bekannt-
gabe auf ein gemischtes Echo gestoßen. Wäh­
rend Landespolitiker von CDU und Grünen
sie begrüßten, hält Bayerns Finanzminister
habe »eine ganz große Lücke«, sagt Ger- bündeln. Zudem soll ein neues Bundes­ Albert Füracker (CSU) die neue Bundesbe-
hard Schick, Vorstand und Gründer von finanzkriminalamt mit Ermittlungsbefugnis- hörde für unnötig. Lindners Plan sieht vor,
»Finanzwende«, einem Verein, der sich die sen aus­gestattet werden. Schick unterstellt neben dem neuen Bundesfinanzkriminal-
Reform der Finanzmärkte zum Ziel gesetzt dem Finanzminister, er habe die Steuer­ amt auch die Finanzpolizei FIU in die neue
hat: Der Minister klammere den großen kriminalität bei seinen Reformüberlegun- Dach­organisation zu integrieren. Sie ist da-
­Bereich der Steuerkriminalität aus, und das gen aus falscher Rücksichtnahme absicht- rauf spezialisiert, mit Computer­programmen
sei »völlig unverständlich«. Der Cum-ex- lich ausgelassen: »Ich halte die Lücke in aus Verdachtsmeldungen die relevanten
Skandal, bei dem es um Steuerbetrug im Lindners Plan nicht für Zufall.« Sie zeige, ­herauszufiltern. Als dritte Säule der neuen
großen Stil ging, habe eklatante Kontroll- »dass der FDP-Chef auf diesem Auge blind Bundesbehörde soll eine neue Aufsichts­
mängel in diesem Bereich offenbart. ist«. Dabei gehe es ­nämlich »um Kriminali- behörde installiert werden, die den Nicht­
»Für organisierte Steuerkriminalität tät mit weißem Kragen, um manche Banker finanzsektor kontrolliert. Darunter fallen
braucht es endlich eine zuständige und or- und Unternehmer, um Konzerne und ihre etwa der Immobiliensektor, die Glücksspiel-
dentlich ausgestat­tete Ermittlungsbehörde Helfer in Steuerkanzleien und Wirtschafts- branche und Juweliere. In diesen Branchen
auf ­Bundesebene«, fordert Schick. Lindner prüfungsgesellschaften«. wird besonders viel Geld gewaschen. REI

52 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


Eurowings ignoriert Waschmaschinen zu energiesparend erfolgen. Hoch-
gerechnet auf alle Geräte würde
häufig Maskenpflicht selten im Eco-Modus Deutschland so 1,5 Milliarden
LUF TFAHRT  Bei einem Ableger ENERGIE  Deutschland lässt Kilowattstunden (KWh) Strom
der Lufthansa-Tochter Euro- nach Erkenntnissen der Firma pro Jahr sparen. »So viel Strom
wings kommt es auf Flügen von Miele hohe Stromsparpotenzia- produziert das Atomkraftwerk
und nach Deutschland offenbar le bei Hausgeräten liegen. Dem- Isar 2 in eineinhalb Monaten«,
immer wieder zu Verstößen nach laufen Waschmaschinen sagt Miele-Nachhaltigkeitschef

Ruper t Oberhäuser / Alamy / mauritius images


gegen das Infektionsschutz­ in weniger als fünf Prozent aller Christoph Wendker. Seit gut
gesetz. So trägt die Crew bei Durchgänge im sogenannten zehn Jahren müssen neu ver-
Flügen von Eurowings Europe Eco-Modus, Spülmaschinen zu kaufte Wasch- und Spülmaschi-
nach SPIEGEL-Informationen weniger als 30 Prozent. Miele nen in der EU Eco-Programme
häufiger keine Maske, auch beruft sich auf Daten, die Hun- anbieten. In dem Modus benö-
­Passagiere werden oft nicht derttausende vernetzte Haus­ tigt eine Basis-Waschmaschine
­ermahnt, eine Schutzmaske zu geräte pseudonymisiert übertra- laut Miele etwa 0,9 KWh Strom
tragen. Begründet wird das im gen. Der Hersteller geht davon pro Durchgang, während ver-
Alltag damit, dass das Flugzeug Eurowings-Jet aus, dass der Anteil der Eco- gleichbare Baumwollprogram-
beispielsweise in Österreich Waschgänge ohne Probleme um me 1,4 KWh verschlingen. Spar-
­registriert sei und daher die 30 Prozentpunkte steigen könn- programme dauern aber länger,
Maskenpflicht nicht gelte. Das dern Deutschlands« das Thema te, bei Spülmaschinen könnte und nicht jede Wäsche lässt sich
stimmt jedoch nicht: Das für die Crews »sehr unüber- gar jeder zweite Durchgang im Eco-Modus reinigen. BEM
­Gesetz gilt für alle Abflüge aus sichtlich« geworden sei. So sei
Deutschland und Flüge nach insbesondere Eurowings Europe
Deutschland, unabhängig vom außerhalb Deutschlands unter-
Ort der Registrierung der Ma- wegs, und viele Crews seien an
schine. Die Regel schreibt vor, Auslandsbasen stationiert. Man
dass ein Mund-Nasen-Schutz weise Passagiere bei Buchung
getragen werden muss. Von sowie vor Abflug auf die Mas-
Herbst an soll sogar eine FFP2- kenpflicht hin. Wie der SPIEGEL
Maske verpflichtend sein. Euro- bereits berichtet hat, kam es

Rober t Fishman / ecomedia / IMAGO


wings sagt dazu, dass durch auch bei der Lufthansa-Tochter
»Lockerungen der Masken- Swiss zu Verstößen gegen die
pflicht in vielen Nachbarlän- Maskenpflicht. MUM

US-Kaufprämie birgt schaft stärken – etwa durch Miele-Produktion


den gesteigerten Absatz von
Risiken für deutsche ­E-Fahrzeugen und den Aufbau
in Gütersloh

Autohersteller der Infrastruktur. Eine Kauf­


prämie von bis zu 7500 Dollar Wohnungslose oft fallbehandlung oder bei einer
INDUSTRIE  Die geplante pro Fahrzeug knüpft die US-­ starken Verschlimmerung von
­ -Auto-Offensive der US-Regie-
E Regierung an Bedingungen: Der ohne Versicherung Erkrankungen in Anspruch,
rung stellt deutsche Hersteller Fahrzeugpreis darf maximal ARMUT  Menschen ohne eigene warnt der Bericht. Tatsächlich
kurzfristig vor größere Heraus- bei 55 000 Dollar liegen. Damit Wohnung haben häufig nur gab nur ein knappes Viertel der
forderungen, ergab eine Ana­ ­fallen etwa der Porsche Taycan ­eingeschränkten Zugang zum Personen ohne Krankenversi-
lyse der Unternehmensberatung oder der Mercedes EQE aus der Gesundheitssystem. Das geht cherung an, im zurückliegenden
BCG. Mit dem »Inflation Re- Förderung heraus. Außerdem aus dem Statistikbericht der Halbjahr Kontakt zu einem
duction Act« wollen die USA müssen zentrale Teile der Wert- Bundesarbeitsgemeinschaft Arzt oder einer Ärztin gehabt
die amerikanische Binnenwirt- schöpfung in den USA erfolgen, Wohnungslosenhilfe (BAG W) zu haben; unter allen von den
etwa die Produktion. Auch hervor. Demnach hatte 2020 Diensten der Wohnungslosen-
VW-Elektroauto ­Batteriekomponenten sollen knapp ein Sechstel der Woh- hilfe Betreuten waren es mit
ID.4 in den USA ­zunehmend aus den Vereinigten nungslosen keinerlei Kranken- 65 Prozent hingegen knapp
Staaten oder aus Partnerlän- versicherung. In der Gesamt­ zwei Drittel. Die BAG W for-
dern wie Kanada oder Mexiko bevölkerung hingegen liegt dert unter anderem den Ausbau
stammen. »In den kommenden der Anteil der Menschen ohne sogenannter Clearingstellen,
Jahren werden deutsche Her- Krankenversicherung bei die Menschen ohne Kranken-
steller ihre Lieferketten noch we­niger als 0,1 Prozent. Vier versicherung oder mit unge­
Br yan Derballa / The New York Times / Redux / laif

stärker regionalisieren müssen«, ­Prozent der Wohnungslosen klärtem Status unterstützen und
sagt BCG-Experte Albert Waas. verfügten dem Bericht zufolge Zugang zum Gesundheits­system
»Langfristig werden sie dann nur über einen eingeschränkten er­möglichen. Als wohnungslos
vom E-Auto-Boom in den USA Versicherungsschutz, bei 14 gilt, wer keinen vertraglich
profitieren.« Der Anteil von Prozent war der Status unge- ­abgesicherten Wohnraum hat.
Elektroautos und Plug-in-Hyb- klärt, lediglich zwei Drittel wa- Überwiegend leben die Betrof-
riden an Neufahrzeugen werde ren uneingeschränkt versichert. fenen bei Partnern und Freun-
dank des Gesetzes bis 2030 auf Das hat gravierende Auswir- den oder sind in Unterkünften
mehr als 50 Prozent steigen – kungen: Wer nicht krankenver- untergebracht. Nur knapp ein
von weniger als 10 Prozent im sichert sei, nehme medizinische Fünftel lebt ohne Unterkunft
vergangenen Jahr. SH Versorgung meist erst zur Not- auf der Straße. FDI

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 53


WIRTSCHAFT

Potemkinsche Schiffe
RÜSTUNGSINDUSTRIE  Die Milliardenausgaben der Bundeswehr könnten dem Waffenkonzern
Rheinmetall neuen Schwung verleihen, doch ein Skandalgeschäft in Malaysia
droht den Ruf schon wieder zu ruinieren. Es offenbart die schmutzige Seite der Branche.

E
igentlich hat Rheinmetall-Chef zern, so hat er es kurz nach Kriegs- politische Führer, verschwundene
Armin Papperger, 59, genug mit beginn vollmundig angekündet, könne Millionen, gegenseitige Vorwürfe,
der Landesverteidigung zu tun. Ausrüstung im Wert von 42 Milliarden mögliche Klagen – und eine Rhein-
Der CEO des größten deutschen Rüs- Euro bereitstellen – »in kurzer Zeit«. metall-Tochter mitten im Getümmel.
tungsunternehmens will die kaputt- Jetzt aber droht Pappergers Dienst Die Affäre wirft ein Schlaglicht auf
gesparte Bundeswehr mit Gerätschaf- an der Heimatfront von Vorgängen eine Branche, in der Korruption und
ten seines Konzerns wieder flottma- überschattet zu werden, die sich im Untreue zum Geschäftsmodell gehö-
chen; Rheinmetall, so Pappergers fernen Malaysia zutragen. Rheinme- ren. Laut Transparency International
Plan, soll möglichst viel von dem tall ist nach SPIEGEL-Informationen Kriegsschiff der (TI) kontrollieren zwei Drittel aller
100 Milliarden Euro großen Sonder- verstrickt in einen Skandal, der dort LCS-Klasse Parlamente weltweit ihre Verteidi-
im malaysischen
etat abgreifen, den die Bundesregie- für Schlagzeilen sorgt. Es geht um Lumut: Keine der gungsministerien und deren Waffen-
rung nach dem russischen Angriff auf einen Rüstungsdeal, der die Zutaten sechs Bestellungen käufe nicht ausreichend. 70 Prozent
die Ukraine aufgelegt hat. Sein Kon- eines Wirtschaftskrimis hat: korrupte wurde je fertiggestellt hätten nicht vorgesorgt, um Korrup-

Mat Zain / NurPhoto / picture alliance

54 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


WIRTSCHAFT

tion bei Rüstungsimporten zu verhindern. Boustead und DCNS schlossen sich 2010
Besonders verheerend seien die Geschäfts- Waffenmonopoly für den Schiffsdeal erneut zusammen. Und
praktiken in Asien und Afrika. Malaysia wird hier kommt Rheinmetall ins Spiel, genauer:
von TI mit Blick auf Korruption in der Rüs- Europas größte Rüstungskonzerne, die Tochter Contraves. Das Unternehmen im
Umsätze 2021 in Mrd. Dollar
tungsbranche als Hochrisikoland eingestuft. malaysischen Malakka wurde von dem Aus-
Rheinmetall gehört, zumindest in Europa, 1. BAE Systems (Großbritannien) tralier Gordon Hargreave geleitet, einem
zu den großen Produzenten, die Kriegsgerät 25,8 langjährigen Rheinmetall-Mitarbeiter. Con-
in alle Welt verkaufen (siehe Grafik). Seit 2. Leonardo (Italien) traves wurde mit der Ausrüstung der Schiffe
­etlichen Jahren sucht das Unternehmen sein 13,9 beauftragt, sollte ein Kampfsystem von DCNS
Umsatzheil im Ausland, Wachstumspotenzial 3. Airbus*
integrieren und vor allem elektronische Kom-
sah Papperger bei seiner Kommandoüber- 10,9 ponenten selbst liefern oder besorgen.
nahme 2013 vor allem in Asien und im Mitt- Spätestens hier fangen die Ungereimt­
leren Osten. Geschäftlich war das lange Zeit 4. Thales (Frankreich) heiten an. Contraves soll überhaupt nicht das
zwingend logisch, schließlich galt im Heimat- 10,2 87 % des Auftrags- Know-how gehabt haben, das Auftrags- und
bestands entfielen
markt alles Militärische als anrüchig, die In- Ende 2021 auf Nato- Beschaffungswesen für einen Rüstungsauftrag
landsgeschäfte liefen eher schleppend. 9. Rheinmetall (Deutschland) Staaten oder auf dieser Art zu übernehmen, dafür aber als Ve-
»ihnen gleichgestellte
Das hat sich gründlich geändert, seit Russ- 4,8 Partnernationen« hikel für die meisten krummen Machenschaf-
land seine Soldateska ins Gefecht treibt. Die ten bei dem Deal gedient haben. Zu diesem
Renaissance der Wehrbranche ist auch für Rüstungsexporte aus Deutschland Schluss kommt der Untersuchungsbericht
Papperger eine späte Genugtuung. Schon zu in Mrd. Dollar eines malaysischen Wirtschaftsprüfers, den
seinem Amtsantritt gab er die Parole aus, das 3
der Boustead-Konzern 2020 erstellen ließ.
Thema Rüstung in der öffentlichen Debatte Der 150-seitige Report, der dem SPIEGEL vor-
kommunikativ zu entkrampfen. liegt, strotzt vor Vorwürfen gegen die Rhein-
Doch das Waffengeschäft, vor allem mit metall-Tochter Contraves und DCNS.
ausländischen Auftraggebern, ist oft schmut- 2 Die Details klingen abenteuerlich. Bous-
zig, es birgt gewaltige Reputationsrisiken und tead habe sich kurz vor der Auftragsvergabe
sorgt vielfach für juristischen Ärger. Auch bei mit 51 Prozent an Contraves beteiligt, im Ta-
Rheinmetall. So floss in den Nullerjahren gesgeschäft aber so gut wie kein Mitsprache-
1
beim Verkauf des Luftabwehrsystems Asrad recht gehabt – Contraves-CEO Hargreave
Bestechungsgeld nach Griechenland; der Fall, und ein Kollege hätten durchregieren, auf
den Papperger aufzuklären half, kostete Konten zugreifen und sich jeglicher Kontrol-
Rheinmetall 37 Millionen Euro Bußgeld und 0
le entziehen können. Zudem habe Hargreave
Rückzahlung illegaler Gewinne. In Indien 2006 2010 2015 2021
willkürlich hohe Preise für Ausrüstung auf-
wurde der Konzern 2012 für zehn Jahre von gerufen; sie hätten die eigentlichen Einkaufs-
Rüstungsaufträgen ausgeschlossen, weil er Waffenimporte Malaysias, in Mrd. Dollar kosten um rund 180 Millionen Ringgit über-
angeblich korrupte Praktiken angewandt hat- 1,5 troffen, rund 40 Millionen Euro.
te. Das Unternehmen hat die Vorwürfe bis 3,3 Milliarden Ringgit, mehr als ein Drittel
zuletzt zurückgewiesen und ging juristisch 1 des gesamten Orderwerts des Deals, seien an
gegen das Blacklisting vor. Dass Rheinmetall Contraves geflossen – ein Mittelsmann bei
Gesetze gleichwohl eher lax auslegt, bewies Boustead soll für einen steten Strom an Auf-
der Konzern 2018, als er trotz eines Export- trägen gesorgt haben. In einer Mischung von
0
verbots der Bundesregierung weiterhin Mu- Missmanagement und Scheingeschäften sei
2006 2010 2015 2021
nition an Saudi-Arabien lieferte – ein Umweg knapp eine Milliarde Ringgit verschwunden,
* Defense and Space (Deutschland, Frankreich,
über Italien und Südafrika machte es möglich. Spanien und Großbritannien) so der Report, bei Contraves und anderen
Der Malaysia-Fall ist anders gelagert, aber S Quelle: Sipri; Ranking nach Umsatz im Rüstungsbereich Geschäftspartnern von Boustead. Contraves


womöglich nicht weniger heikel für den Her- habe zu wenig Material geliefert – und zudem
steller. 2010 beauftragte die Regierung in Kua- schadhaftes, heißt es in dem Gutachten weiter.
la Lumpur den Boustead-Konzern, der mehr- Bis heute stehen Teile der Ausrüstung unge-
heitlich dem Pensionsfonds der malaysischen nutzt in Lagerhallen herum.
Streitkräfte gehört, mit dem Bau von sechs Für Malaysia ging es bei dem Deal um viel
Kriegsschiffen für die küstennahe Gefechts- Prestige. Premier Razak prahlte im Parla-
führung, sogenannten Littoral Combat Ships mentswahlkampf 2018 mit einem Kriegsschiff
(LCS). Die Kosten veranschlagte die Regie- der LCS-Klasse – allein, was er da vorführte,
rung unter dem schillernden Premier Najib war längst noch nicht fertig, ein Bluff, eine
Razak auf rund neun Milliarden Ringgit, sei- Art potemkinsches Boot.
nerzeit gut zwei Milliarden Euro. Tatsächlich wurde bis heute keines der
Als Boustead-Partner ebenfalls an Bord: sechs Schiffe fertig gebaut – zur See scheinen
Julian Stratenschulte / picture alliance / dpa

das mehrheitlich staatseigene Rüstungsunter- die königlich-malaysischen Seestreitkräfte


nehmen DCNS aus Frankreich, das heute als demnach so bedingt einsatzbereit, wie man
Naval Group firmiert – und bereits 2002 in es der Bundeswehr bisweilen zu Lande nach-
mutmaßlich krumme Geschäfte verwickelt sagt. Auch Frankreichs DCNS-Konzern soll
war mit Razak, seinerzeit noch Verteidigungs- sich bereichert haben, heißt es in dem Bericht.
minister. Bei einem U-Boot-Deal über 1,2 Kurzum: Die europäischen Konzerne hät-
Milliarden Euro soll DCNS eine dreistellige ten sich auf Bousteads Kosten schadlos ge-
Millionensumme an einen Razak-Vertrauten halten, der Pensionsfonds der malaysischen
gezahlt haben, um den Auftrag zu ergattern. Veteranen trage den Schaden. Insbesondere
Die französische Justiz ermittelte, auch gegen die Rheinmetall-Tochter, so die Gutachter in
Razak, einige Manager wurden angeklagt. Rheinmetall-CEO Papperger (r.) ihrem Fazit, habe durch allerlei Tricksereien

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 55


WIRTSCHAFT

sichergestellt. Weltweite Bekanntheit


erlangte Razak, nachdem aufflog,
dass der von ihm gegründete und ge-
leitete Staatsfonds 1MDB mindestens
elf Milliarden Dollar verzockt hatte.
Geisterschiffe, verschwundene
Millionen, drohende Klagen, ein in-
haftierter Ex-Premier, der offenbar
notorisch die Hand aufhält: Rhein-
metalls Malaysia-Problem ist selbst
in der Rüstungsbranche außergewöhn­
lich bizarr. Und der Fall wirft die Fra-
ge auf, warum der Konzern sich nicht

Molly DiSer vio / U.S. Navy / Sipa USA / ddp


längst aus dem Land zurückgezogen
hat. Spätestens nach dem Auffliegen
des 1MDB-Skandals 2016 hätten ihm
Zweifel an der Seriosität ihrer Ge-
schäftspartner kommen müssen.
Jetzt ist es zu spät. Der Skandal
überlagert den Aufbruch, den der
Konzern so gern vermitteln würde.
Das Geschäft wächst wieder – eigent-
lich hätte Rheinmetall solche Deals
für Intransparenz gesorgt und die Verpflichtungen nachgekommen sei, Soldaten der mit zweifelhaften Regierungen nicht
Arbeiter der Forensiker torpediert. schulde die für den Bau der Schiffe malaysischen nötig. Im ersten Halbjahr vervierfach-
Marine bei
Bei Rheinmetall sind sie wegen zuständige Boustead-Tochter BNS – ­L andeübung: te sich Rheinmetalls Nettogewinn, die
dieser Vorwürfe erzürnt. Den Ver- und damit letztlich der malaysische Gescheitertes Prognosen für das Gesamtjahr und
dacht, dass das Konstrukt um Con- Staat – den Deutschen noch etliche Prestigeprojekt darüber hinaus sind rosig. Rheinme-
traves dazu diente, die Veruntreuung Millionen Euro. In der Düsseldorfer talls Aktienkurs hat seit Kriegsbeginn
staatlicher Gelder zu verschleiern, Konzernzentrale kreisen die Gedan- um mehr als 68 Prozent zugelegt.
weist der Konzern »als unzutreffend ken darum, sich das Geld auf dem Und dann steht da noch ein Ritter-
zurück«. Die Vertragskonstruktion Klageweg zu holen. Aus den Liefe- schlag in Aussicht, von dem Rüstungs-
mit weitreichenden Befugnissen für rungen von Contraves hätten sich boss Papperger kaum mehr zu hoffen
Hargreave sei international völlig »finanzielle Forderungen ergeben, die gewagt hat. Die EU-Kommission de-
­üblich, er und sein Kollege seien vom bis heute nicht beglichen sind«. Das finiert in ihrem »Taxonomie«-Regel-
paritätisch besetzten Verwaltungsrat Unternehmen erwäge daher, »diese werk, welche Unternehmen umwelt-
ernannt worden. Auch das »Bank- Forderungen mit rechtlichen Mitteln gerecht und sozial wirtschaften und
mandat« unterliege einer Genehmi- gegen BNS durchzusetzen«, teilt verantwortungsvoll geführt werden
gung dieses Aufsichtsrats. Contraves Rheinmetall dem SPIEGEL mit. – und bei welchen ein Investment
habe seit mehr als 35 Jahren Exper- Zudem seien Unterstellungen ma- wünschenswert ist. Tabak- und Alko-
tise für derartige Aufträge und im Üb- laysischer Politiker, Hargreave habe holproduzenten zählen nicht dazu;
rigen alles geliefert wie bestellt. Es mit veruntreuten Millionen die Flucht ihre Aktien fliegen aus vielen Invest-
handle sich bei der gelieferten Aus- angetreten, an den Haaren herbei- mentfonds, Kapital zu bekommen
rüstung um »besonders wertige An- gezogen – der Mann sei weiterhin bei wird schwerer.
teile«, die teilweise nicht verbaut wor- Rheinmetall beschäftigt, nur mittler- Lange schien auch die Wehrindus-
den seien, weil die Werftarbeiten »nicht weile als Mitglied des Board of Direc- trie zum fragwürdigen Klub der eher
weit genug fortgeschritten« waren. tors bei Contraves. Es gebe keinen Unerwünschten dazuzugehören.
Auch habe Contraves keine Aufträge Anlass für Vermutungen, dass er Geld Noch im Januar gab Papperger zu,
ohne Gegenleistung vergeben. veruntreut habe, andernfalls hätte dass Rheinmetall bei einigen Landes-
Lim Huey Teng / REUTERS

Rheinmetall sieht in dem Report man Untersuchungen eingeleitet. banken wegen der sogenannten ESG-
offenbar kaum mehr als ein Auftrags- Dass Hargreave, der Fragen unbeant- Bedenken von der Kreditvergabe aus-
gutachten der Regierung, schließlich wortet lässt, kürzlich sein LinkedIn- geschlossen sei.
sei Contraves nie gebeten worden, Profil gelöscht hat, findet man bei Doch Russlands Überfall auf die
»Informationen für den von Boustead Rheinmetall offenbar unverdächtig. Ukraine hat ein Umdenken eingelei-
in Auftrag gegebenen Bericht zu lie- Vielleicht treibt den Australier Ex-Premier Razak tet und dem militärischen Sektor ein
fern«. Ein unabhängiger Abschluss- ja schlicht die Sorge um, in der Comeback beschert. Papperger hat
prüfer habe Contraves stets begleitet, Schlammschlacht unterzugehen, die zudem versprochen, mit Rheinmetall
Boustead selbst die Bilanzen abge- derzeit in der malaysischen Politik ins Wasserstoffgeschäft einzusteigen,
zeichnet. Vorwürfe gegen Hargreaves tobt. Tatsächlich zieht der Fall dort um den Konzern bis 2035 klimaneu-
Nachfolgerin an der Contraves-Spit- weite Kreise. Ex-Premier Razak ist tral zu machen und überdies keine
ze, die Anfang 2022 zwischenzeitlich inzwischen inhaftiert, wenn auch »kontroversen« Waffen mehr zu bau-
verhaftet wurde, sollen sich als haltlos nicht wegen des Schiffsdeals. Er en. Ein Rüstungskonzern, fast schon
erwiesen haben. Sie selbst reagierte muss für zwölf Jahre hinter Gitter, reif für die Postkarte.
auf Fragen des SPIEGEL nicht. weil er Bestechungsgelder angenom- Dubiose Geschichten wie jene in
contraves.com

Die Düsseldorfer sehen sich als men hat – nach seiner Abwahl 2018 Malaysia stören in diesem neuen
Sündenbock und die Rollen in dem hatten Ermittler in seinen Privathäu- deutschen Rüstungsidyll bloß.
Wirtschaftskrimi genau andersherum sern Luxusgüter und Bargeld im Wert Tim Bartz, Martin Hesse,
verteilt: Während Contraves seinen von mehr als 270 Millionen Dollar Manager Hargreave Clare Rewcastle Brown n

56 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


WIRTSCHAFT

der Regel ausreichende Rücklagen besitzen,


wird der Preisanstieg die verfügbaren Ein-
kommen in den nächsten Monaten um rund
fünf Prozent schmälern, so die Studie. Bei

»Soziale Verwerfungen
den Geringverdienern dagegen, die schon
heute jeden Cent zweimal umdrehen müssen,
beträgt das Minus bis zu 18 Prozent, im Ein-

größten Ausmaßes«
zelfall noch mehr.
Hinzu kommt, dass der Preisschock Ver-
lierer unter den Verlierern schafft. Während
Hartz-IV-Bezieher die Wohnkosten vom Amt
erstattet bekommen, müssen Arbeitnehmer
ENTLASTUNG  Die Energiepreisexplosion verschärft die soziale Schieflage, häufig selbst sehen, wo sie bleiben. Entspre-
wie eine Studie zeigt. Die bisherigen Pakete funktionieren nicht. chend, so die Studie, stehen Haushalten der
unteren Mittelschicht größere prozentuale
Einschnitte bevor als Niedrigstverdienern.

E
s war ein mutiges Versprechen, das Olaf die Bürger dazu, mehr Energie zu verbrau- Kein Wunder, dass die Regierung schon
Scholz abgab. »You’ll never walk alone«, chen als angemessen. Zudem profitierten oft vor Wochen weitere Programme angekündigt
sagte er in Anlehnung an die Hymne auch gut verdienende Haushalte, die den hat. Nur: Was bislang diskutiert wird, kann
des FC Liverpool, als er sein Programm gegen Schutz des Staates kaum benötigen. die Probleme kaum lösen.
den Preisschub bei Öl und Gas ankündigte. So kommt es, dass die Energiekrise die Die geringere Mehrwertsteuer auf Gas
Und dann versicherte er auf Deutsch: »Wir soziale Schieflage im Land verschärft. Bei den zum Beispiel, die das Ampelbündnis vergan-
bewältigen die schwierigen Zeiten gemein- oberen zehn Prozent aller Haushalte, die in gene Woche auf den Weg gebracht hat, wird
sam, niemand wird alleingelassen.« die Energierechnung der unteren Gehalts-
Gut möglich, dass der Kanzler da zu viel klassen lediglich um 50 bis 150 Euro im Mo-
versprochen hat. Diesen Schluss legt jeden- Erdrückende Gaspreise nat senken. Zu wenig, so die Studie, um die
falls eine Studie nahe, die der Potsdamer Lage auf den unteren Etagen der Verdienst-
­Klimaökonom Ottmar Edenhofer und die Mehrbelastung trotz der Entlastungspakete*, skala spürbar zu verbessern.
in Euro pro Jahr, Durchschnittswerte
Berliner Klimadenkfabrik MCC in diesen Ta- Das gilt auch für den sogenannten Gas-
gen verfasst haben und die dem SPIEGEL vor- 4-Personen- 1-Personen- preisdeckel, wie ihn Sozialdemokraten und
ab vorliegt. Haushalt Haushalt Gewerkschafter fordern. Das Modell sieht
Die Forscher haben nachgerechnet, wie + 3432 vor, allen Haushalten einen Grundbedarf von
die Energiepreise die Deutschen in den nächs- zum Beispiel 6500 Kilowattstunden pro
ten Monaten belasten werden, was die bis- Haushalt und Jahr zum subventionierten
herigen Ampelmaßnahmen gebracht haben + 2169 Preis von acht Cent zu sichern. Was darüber
und was getan werden müsste, um das Ver- hinaus verbraucht wird, würde mit dem
sprechen des Kanzlers einzulösen. Ihre Er- Marktpreis von 27 Cent zu Buche schlagen,
kenntnisse, so viel ist gewiss, werden die oh- + 1169 wie er für den Winter erwartet wird.
+ 837
nehin erregte Entlastungsdebatte zusätzlich Selbst dieses Modell folgt zu sehr dem
befeuern. Prinzip Gießkanne, so die Studie. Während
Liegen die Forscher richtig, müssen die schlechtergestellte Haushalte Einkommens-
angekündigten Hilfen weitaus größer ausfal- Gas andere Gas andere verluste von bis zu 13 Prozent hinnehmen
Energieträger Energieträger
len als bisher gedacht. Sie werden sich kaum müssten, hätten Spitzenverdiener mit Ein-
ohne neue Schulden oder höhere Steuern fi- Mehrbelastung von Haushalten mit Gas- bußen zwischen 4 und 6 Prozent zu rechnen.
nanzieren lassen. Und am besten würde der nutzung*, in Prozent des frei verfügbaren Edenhofer schlägt deshalb ein System vor,
Staat ein neues System staatlicher Direkt- Monats-Einkommens, Durchschnittswerte das sich auf die Bezieher geringer Einkommen
zahlungen einrichten. »Andernfalls drohen ohne Entlastung konzentriert. Haushalte mit Nettoeinkünften
soziale Verwerfungen größten Ausmaßes«, nach Entlastungspaketen I + II von weniger als 3000 Euro monatlich (Ver-
warnt Edenhofer. »Viele Haushalte werden nach Absenkung der Mehrwertsteuer** heiratete: 6000 Euro) bekämen eine steuer-
ihre Heizungs- und Stromrechnungen kaum pflichtige Energieprämie von 80 Euro je Mo-
noch zahlen können.« + 25 % nat und Person. Gaskunden erhielten zusätz-
Ursache sind die stark gestiegenen Preise lich 100 Euro monatlich. Wer spart, wird
+ 20
für Öl und Gas, die sich im Gefolge von Putins belohnt. Wer besser verdient, geht leer aus.
Angriffskrieg vervielfacht haben. Klettern sie + 15 »Das würde sicherstellen, dass Gering- wie
in den nächsten Monaten weiter, wovon die Gutverdiener ähnliche prozentuale Einbußen
meisten Experten ausgehen, müssen sich die + 10 zu verkraften hätten«, sagt Edenhofer.
Bürgerinnen und Bürger auf gewaltige Mehr- Das Konzept würde rund 35 Milliarden
ausgaben einstellen. Nach der Studie wird ein +5 Euro kosten, mehr als die bisherigen Entlas-
Single, der mit Gas heizt, in diesem Winter tungsprogramme. Die schlechte Botschaft ist,
0
2170 Euro mehr für Energie aufzuwenden dass sich solche Summen kaum im regulären
haben als vor der Krise. Bei einer vierköpfigen weniger 1326 1871 2424 3262 Haushalt zusammenkratzen ließen. Der Staat
Familie liegt das Plus bei über 3400 Euro. als 1018 bis bis bis bis müsste neue Schulden machen.
Euro 1603 2137 2783 4079
Zwar hat die Regierung mit Tankrabatt, 1018 1604 2138 2784 4080 Die gute Nachricht dagegen lautet, dass
Heizkostenzuschuss oder höherer Entfer- bis bis bis bis und die Mittel höchstens zwei Jahre lang benötigt
1325 1870 2423 3261 mehr
nungspauschale bereits für Entlastung ge- werden. Schon Ende nächsten Jahres, so sa-
sorgt. Die Maßnahmen hatten indes einen * gegenüber dem langfristigen Energiepreisniveau 2017–2021 gen die Forscher voraus, werde der Gaspreis
** von 19 auf 7 Prozent
grundsätzlichen Konstruktionsfehler: Manche S Quelle: Mercator Research Institute
deutlich sinken.
drückten künstlich die Preise und verführten
 

on Global Commons and Climate Change (MCC) Michael Sauga n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 57


WIRTSCHAFT

ren Energiediscounter-Imperiums. Im ver-


Gewinnverschiebung gangenen Winter hörten Stromio, Grünwelt
Die ExtraEnergie GmbH zahlt hohe Lizenz- und Gas.de von einem Tag auf den nächsten
gebühren für die Nutzung von Software an eine auf, ihre Kunden mit Strom und Gas zu be-
Schwesterfirma in Zypern und so kaum Steuern liefern. Sie beriefen sich auf die Kapriolen an
in Deutschland. In Millionen Euro den Märkten. Hunderttausende Verbraucher
operativer Gewinn Lizenzgebühr mussten zu anderen Anbietern wechseln –
Ertragsteuern und dort teils das Vielfache zahlen. Trotz
68,1 Preisgarantien und bestehender Verträge mit
2017 68,2 den Billigheimern. Deren Eigentümer, der
2,1 dubiose Geschäftsmann Ömer Varol, hatte
79,9 nach SPIEGEL-Recherchen zuvor Hunderte
2018 64,3
3,3
Millionen Euro mit dem Strom- und Gasver-
kauf an deutsche Haushalte verdient.
52,4
2019 45,7 Folgt nun Stromio II? Auch ExtraEnergie,
1,7 Prioenergie, HitEnergie, Extragrün und EVD
34,0 werden von ein und derselben Person gesteu-
2020 30,5 ert: Mordechay Ben-Moshe, 47. Auch »Moti«,
1,0 wie sich der Mann aus Israel nennt, hat mit
Yossi Zeliger

2020 bis 30.9. (kürzeres Geschäftsjahr) seiner Holding Hunderte Millionen Euro Pro-
S Quelle: Unternehmensangaben
fit gemacht. Auch er bricht nun seine Ver-
Geschäftsführer Ben-Moshe: Hunderte Millionen Euro Profit gemacht sprechen mit ähnlich zweifelhaften Behaup-
tungen wie Varol. Und auch sonst sind die
Parallelen auffällig.
Beide Selfmadeunternehmer waren einst
im Call-by-Call-Telefonbusiness aktiv. Beide

Ein Schock per


bauten aus dem Nichts ein Geschäft mit Hun-
derttausenden deutschen Konsumenten auf –
und gerieten wegen fragwürdiger Praktiken

Mail
immer wieder in Konflikt mit Verbraucher-
schützern. Beide haben bereits in Großbri-
tannien Zehntausende Kunden geprellt und
wurden von den deutschen Behörden offen-
bar trotzdem nicht genau genug beobachtet.
ENERGIE  Strom und Gas zu garantierten Niedrigpreisen – Menschen wie Harrybert Blank und seine
Frau müssen das nun ausbaden. Die beiden
so lockte der Energiediscounter ExtraEnergie Verbraucher an. leben in einem 78 Quadratmeter großen
Nun will er seine Tarife trotzdem drastisch erhöhen. Haus. Früher hätten sie rund 1000 Euro pro
Sind die Kunden solchem Treiben machtlos ausgeliefert? Jahr fürs Gas bezahlt, berichtet er. Mit den
höheren Tarifen von Prioenergie und der
­neuen Gasumlage kämen sie auf mehr als

H
arrybert Blank war auf der Suche nach täglich geschockte Verbraucher, die nicht wis- 4000 Euro. Sie haben kurz überlegt, die Preis-
festem Halt in unsicheren Zeiten. Des- sen, wie sie die neuen Preise bezahlen sollen. erhöhung zu schlucken, ehe sie im Winter im
halb setzte sich der Pensionär aus Hinter all den Marken steckt ein Unter- Kalten sitzen. »Aber wahrscheinlich speku-
Kamp-Lintfort im vergangenen Dezember an nehmen: die ExtraEnergie GmbH mit ihrem liert das Unternehmen genau darauf«, sagt
seinen Computer und suchte einen neuen Geschäftsführer Mordechay Maurice Ben- Blank. Er hat Prioenergie zurückgemailt. Und
Gasanbieter. Die Offerte von Prioenergie Moshe. In den Mails an die Kunden heißt es, der Preiserhöhung widersprochen.
schien unschlagbar: 11,31 Cent pro Kilowatt- die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine Die ExtraEnergie-Zentrale liegt im Zen­
stunde Erdgas, 11,65 Euro Grundpreis und auf die Gas- und Strommärkte sowie die »zu- trum von Monheim am Rhein, im vierten
24 Monate Preisfixierung. Zwei Jahre lang sätzlichen staatlichen Eingriffe« seien »außer- Stock eines Bürokomplexes. Auf dem Brief-
keine Tariferhöhungen. Garantiert. gewöhnlich und beispiellos«. Daher müsse kasten neben dem Eingang klebt ein Zettel
Blank klickte »Vertrag jetzt abschließen« man die Preise ändern. mit den Namen von neun Marken und Ge-
an. Ein prima Deal, dachte er. Heute sagt er Und die Garantie? Dazu schreiben die sellschaften, die zum Firmengeflecht gehören.
über die Firma: »Was die sich leisten, da geht ­Anbieter, es gebe eine »Störung der Ge- Jemand hat den Zettel mit Tesafilm ange-
mir die Hutschnur hoch.« schäftsgrundlage«, wie sie Paragraf 313 des bracht. »ExtraHolding« und »ExtraEnergie«
Bis Ende Juli war alles gut. Dann landete Bürgerlichen Gesetzbuchs beschreibe. »Un- steht auf einem Schild an der Türklingel,
eine E-Mail von Prioenergie in Blanks Post- vorhersehbare, schwerwiegende Situationen« ebenfalls aufgeklebt.
eingang. Ab 1. September gebe es eine »Preis- seien entstanden, sodass man die Verträge Oben empfängt ein Mann in einem Polo-
anpassung«, teilte der Versorger mit: 24,13 anpassen dürfe – ungeachtet des Verspre- shirt, der sich als »Verantwortlicher für den
Cent pro Kilowattstunde, 24,63 Euro Grund- chens konstanter Tarife. Bereich Finanzen« vorstellt. Ja, ja, er verste-
preis. Mehr als eine Verdoppelung – trotz Ist das so einfach? Das wäre »ein Damm- he schon, dass die Kunden und die Öffentlich-
Preisgarantie. bruch«, sagt Holger Schneidewindt, Rechts- keit berechtigte Fragen hätten, sagt er, aber
Vielen Kundinnen und Kunden, die Strom experte der Verbraucherzentrale NRW. Käme damit müsse sich der SPIEGEL an die Presse-
oder Gas über die Marken Prioenergie, Extra­ ExtraEnergie vor Gericht mit Paragraf 313 abteilung wenden. Und sein Chef Ben-Mos-
Energie, HitEnergie, ExtraGrün oder Energie­ BGB durch, würden »bald Hunderte Versor- he? Der sei zurzeit nicht da. Ansonsten gebe
Versorgung Deutschland (EVD) beziehen, ger diese Masche durchziehen«. er »keine Auskunft«. Auf Wiedersehen.
geht es ähnlich. Bei der Verbraucherzentrale Das Vorgehen der ExtraEnergie-Gruppe Mehrmals hat die Verbraucherzentrale
in Nordrhein-Westfalen melden sich gerade weckt Erinnerungen an den Fall eines ande- die ExtraEnergie GmbH aufgefordert, eine

58 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


WIRTSCHAFT

Unterlassungserklärung zu den Preis­ davon aber kaum. Fast die komplet­ »Das Unter­ seine Rechnungen nicht mehr bezahl­
erhöhungen abzugeben. Dass das ten operativen Profite führte Extra­ te, entzog die britische Aufsicht dem
Unternehmen von »einer Vielzahl Energie als »Lizenzgebühren« für
nehmen hat Laden 2018 die Lizenz.
von Verbraucher:innen mit Preisga­ eine Kundenabrechnungs- und eine die Angst Nun läuft gegen Ben-Moshe ein
rantien« neue Tarife verlange, sei Preissoftware nach Zypern ab, zur der Menschen Gerichtsverfahren: Die britischen Be­
»unlauter« und »irreführend«, heißt Extra Energy Holding Ltd., die eben­ hörden wollen erwirken, dass »Moti«
es in den Schreiben. Paragraf 313 falls von Ben-Moshe geleitet wird. vor dem verboten wird, als Geschäftsführer im
BGB sei nicht anwendbar. Da Extra­ Die Lizenzeinnahmen werden dort ­Winter aus­ Königreich zu arbeiten.
Energie bislang nicht reagierte, hat
die Verbraucherzentrale am Mitt­
nur mit 2,5 Prozent besteuert.
Mehr als 330 Millionen Euro über­
genutzt.« Harrybert Blank hat auf seine Be­
schwerdemail an Prioenergie bloß
woch beim Landgericht Düsseldorf wies ExtraEnergie so zwischen 2015 eine automatische Antwort erhalten.
eine einstweilige Verfügung gegen das und 2020 an das Schwesterunter­ Es komme »aufgrund der aktuellen
Unternehmen beantragt. nehmen – und das, obwohl die Firma Situation zu Verzögerungen«, er müs­
Konsumentenschützer Schneide­ in Zypern die Software für gerade se sich gedulden. Andere Betroffene
windt sagt, ExtraEnergie habe sich ­einmal 5,8 Millionen Euro gekauft wie Dieter Viefhues aus Worpswede
»bis zuletzt als krisenfest dargestellt, hatte. Wurden so Gewinne beiseite­ haben eine Schlichtungsstelle ein­
um Kunden einzusammeln«. Noch geschafft? geschaltet. ExtraEnergie habe bei
im Juni habe das Unternehmen Kun­ Das gesamte Unternehmens­ ihm eine Preiserhöhung von knapp
den in E-Mails eine »zusätzliche geflecht gehört einer Occidental Trust 300 Prozent errechnet, sagt Viefhues.
Preissicherheit« bestätigt. Obwohl Corporation im karibischen Steuer­ Früher habe er knapp 2000 Euro
die Folgen des Kriegs längst spürbar paradies St. Kitts und Nevis. Nutz­ jährlich bezahlt, ab September will
waren, habe der Anbieter mit ein­ nießer ist eine Stiftung namens der Anbieter fast 5600 Euro von ihm.
schlägigen Slogans geworben. Einer W. C. K. Family Trust. Es liegt nahe, Trotz Preisgarantie bis Ende 2023.
davon: »Die ExtraEnergie schützt Sie dass Ben-Moshe der Begünstigte der »Das sind Wildwestmethoden.«
vor drastischen Preiserhöhungen im Stiftung ist. Eine auf Paragraf 313 gestützte
Energiemarkt!« In Großbritannien versuchten Kündigung von Verträgen sei »nicht
Für Schneidewindt ist die Sache Ben-Moshes Energieanbieter offen­ rechtmäßig«, sagt Miriam Vollmer
klar: Das Unternehmen habe »die bar ebenfalls eine fragwürdige Stra­ von der Kanzlei re|Rechtsanwälte,
Angst der Menschen vor dem Winter tegie. Mit wenig Erfolg: Zwar schlos­ eine der führenden deutschen Exper­
ausgenutzt, um den eigenen Profit zu sen rasch Zehntausende Kunden Ver­ tinnen für Energierecht. »Der Para­
maximieren«. Dazu kommt: Extra­ träge ab, zugleich explodierten bei graf 313 ist nur für Ausnahmesitua­
Energie und Co. hätten ihre Beschaf­ den Verbraucherschützern von Citi­ tionen da, und eine bloße Erhöhung
fungskosten absichern können, etwa zen’s Advice die Beschwerderaten der Einkaufskosten gehört nicht dazu.
am Gas- und Stromterminmarkt. Of­ über den Energieversorger. Die Be­ Wenn Stromanbieter solche Fest­
fenbar ist dies nicht ausreichend ge­ hörden ermittelten, und als der An­ preisverträge abschließen, gehen sie
schehen. Der Verdacht liegt nahe, bieter Extra Energy Supply Limited damit implizit das Risiko ein, dass
dass sich Ben-Moshes Firmen ver­ ihre Kosten steigen. Umgekehrt ver­
zockt haben. Dass sie auf einen Preis­ dienen sie dafür auch umso mehr,
verfall an den Energiebörsen setzten, »Motis« Steuersparmodell wenn die Einkaufspreise fallen.«
darauf, dass der Einkaufspreis weit Richter scheinen dies ebenso zu
Geschäftsführer:
unter dem Garantietarif liegen würde. Mordechay Maurice sehen. So vermerkt das Landgericht
Doch das Gegenteil geschah. Auf W.C.K. Family Trust
Ben-Moshe Düsseldorf in einem laufenden Ver­
SPIEGEL -Anfrage äußern sich Extra­ fahren gegen einen anderen Versor­
Energie und Ben-Moshe nicht zu den Treuhänder für ger, der unter Berufung auf Paragraf
Vorwürfen. 313 fristlos einen Vertrag kündigen
Das Bundesverbraucherschutz­ Occidental Trust Corporation wollte: »Die Entwicklung des Gas­
ministerium beobachte die Lage ge­ St. Kitts & Nevis preises (dürfte –Red.) bereits grund­
nau, teilt eine Sprecherin von Mi­ sätzlich zum originären und alleini­
100 % 100 %
nisterin Steffi Lemke (Grüne) mit. gen Risikobereich des Beklagten zäh­
»Allgemein halten wir eine unverhält­ Glotec Capital Management Extra Energy len.« Der Versorger hätte demnach
nismäßige und einseitige Preiser­ Partners Ltd. Holding Ltd. kein fristloses Kündigungsrecht.
höhung bei Festpreisverträgen in der Zypern Zypern Der Hinweis per Beschluss des Ge­
aktuellen Situation für äußerst prob­ richts an die Parteien ist zwar nicht
lematisch. Das gilt besonders für 100 % verbindlich. Doch dass das Gericht
­Verträge, die zu einem Zeitpunkt ge­ seine Ansicht nach einem solchen Be­
ExtraHolding GmbH
schlossen wurden, zu dem die volati­ schluss noch einmal grundlegend än­
le Preissituation bereits absehbar war.« 100 % dert, ist erfahrungsgemäß selten.
Die ExtraEnergie GmbH präsen­ zahlt
»Wir sitzen alle im selben Boot«,
tiert sich als florierendes Unterneh­ ExtraEnergie GmbH Lizenz- heißt es in den E-Mails, die die Kun­
men. Laut Eigendarstellung soll es Prioenergie, HitEnergie, ExtraEnergie gebühren den von ExtraEnergie, Prioenergie
zeitweise mehr als eine Million Kun­ und Co. im Juli bekamen. Die Lage
100 % 100 %
den versorgt und über eine Milliarde sei so prekär, man müsse nun »auf
Euro pro Jahr umgesetzt haben. ExtraGrün EnergieVersorger gegenseitige Loyalität und Solidari­
Wie aus Firmendokumenten her­ GmbH Deutschland tät« setzen. Über den eigenen Soli­
vorgeht, erwirtschaftete ExtraEnergie ExtraGrün EVD daritätsbeitrag verliert das Unterneh­
zwischen 2015 und 2020 operative men kein Wort.
Gewinne von mehr als 400 Millionen Lukas Eberle, Claus Hecking,
Euro. Der deutsche Fiskus profitierte S Quelle: Handelsregister Roman Höfner, Nicola Naber n


Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 59


WIRTSCHAFT

DIE NEUE
Serie Transformation  Die neue Unabhängigkeit – wirklich selbst versorgen? Wie kommt ein Haus
Teil X: Pandemie und Ukrainekrieg haben sichtbar ohne fossile Energien aus? Ist Autonomie in
gemacht, wie verflochten die Wirtschaft weltweit Europa denkbar? Das SPIEGEL-Wirtschaftsressort
ist – und wie anfällig für Störungen. Viele Nationen, geht diesen Fragen in einer Serie nach und
Unternehmen und selbst private Haushalte streben ­beschreibt, wie viel Autarkie möglich ist – und
nun nach Unabhängigkeit. Aber wer kann sich schon wo sie an Grenzen stößt.
UNABHÄNGIGKEIT

Die Emanzipation der Autobosse


MOBILITÄT  Jahrelang überließ Europa das Geschäft mit Batterien den Asiaten. Nun wollen VW, Opel und
andere aufholen – und investieren Milliarden. Doch mit neuen Fabriken allein ist es nicht getan.

N
och wirkt das alte Opel-Werk Milliarden an Steuergeldern liegen Die Abhängigkeit von weltweiten
in Kaiserslautern wie ein In- bereit. Allein bis 2030 sollen auf dem Lieferketten sei »ein zu großes Risi-
dustriedenkmal. Die Fabrik- Kontinent rund 30 Batteriezellfabri- ko«. Bei seinem Besuch in Kanada
hallen, in denen einst bis zu 6000 ken entstehen. Gebaut und betrieben Anfang der Woche lotete der Kanzler
Menschen arbeiteten, sind so gut wie werden sie von Autobauern wie Stel- Möglichkeiten aus, Batterierohstoffe
leer. Junge Männer und Frauen in lantis oder Volkswagen, von Batterie- künftig verstärkt aus Nordamerika zu
grauem Overall schrauben hier unter spezialisten wie Northvolt aus Schwe- beziehen.
anderem die letzten Dieselmotoren den – aber auch vom Weltmarktfüh- Nur wenige erkannten die Gefahr
zusammen, es riecht nach Schmieröl. rer CATL aus China, der in Thüringen frühzeitig. Der scheidende VW-Chef
Doch in wenigen Monaten soll die eine neue Gigafactory hochzieht, um Herbert Diess, damals noch BMW-
alte Autowelt der neuen weichen. damit BMW und andere Kunden zu Manager, reiste schon Anfang des ver-
Dann machen Bagger und Planier- versorgen. Doch kann Europa sich gangenen Jahrzehnts nach China, um
raupen etwa zwei Drittel der Tradi- mit solchen Offensiven wirklich von ein aufstrebendes Start-up zu besu-
tionsfabrik dem Erdboden gleich. den Asiaten emanzipieren? chen: Der Batteriespezialist CATL
Statt Motoren aus der Verbrenner­ Noch vor wenigen Jahren galten war nur Fachleuten ein Begriff, der
ära werden künftig kompakte, silber- Batterien hierzulande als simple Zu- Umsatz lag bei wenigen Hundert Mil-
ne Päckchen gefertigt, vollgestopft lieferteile. Politik und Industrie glaub- lionen Euro. Heute ist CATL der größ-
mit Rohstoffen und Chemikalien: ten, das Akkugeschäft könne man te Batteriehersteller der Welt – und
Batteriezellen, die Herzstücke der Unterhaltungsriesen wie Panasonic wird an der Börse doppelt so hoch
Elektroautos. aus Japan oder Samsung aus Südko- Vorstandsvorsitzender bewertet wie Volkswagen.
Auf einer Fläche von etwa 48 Fuß- rea überlassen. »Heute wissen wir es Diess in ­Salzgitter Diess bedrängte die Topmanager
bei Grund­steinlegung
ballfeldern plant die Opel-Mutter viel besser«, sagte Bundeskanzler des ersten VW-
deutscher Zulieferer wie Bosch und
Stellantis eine nagelneue Gigafabrik Olaf Scholz (SPD) beim Baustart für Batterie­werks: Sechs Continental, ebenfalls ins Batterie-
gemeinsam mit Mercedes-Benz und ein VW-Batteriewerk in Salzgitter. Zellfabriken bis 2030 geschäft einzusteigen – vergebens.
dem französischen Ölkonzern Total. Der VW-Boss sah sich gezwungen,
2025 wird die Produktion starten. Von selbst Akkus herzustellen. Bis 2030
2030 an, in der finalen Ausbaustufe, will der Konzern gemeinsam mit Part-
sollen dort Batteriezellen für jährlich nern 20 Milliarden Euro investieren,
mindestens eine halbe Million E- sechs Zellfabriken in Europa errich-
Fahrzeuge entstehen. Bundesregie- ten – und damit 20 Milliarden Euro
rung und EU-Kommission unterstüt- Umsatz erwirtschaften.
zen das Projekt mit fast einer halben Die Chancen stehen nicht schlecht,
Milliarde Euro. Zwei weitere Akku- dass aus den Gejagten wieder Jäger
fabriken zieht das Konsortium in Ita- werden. Opel ist dafür das beste
lien und Frankreich hoch – ein Vor- ­Beispiel. Die Marke galt als Auslauf-
bild für ganz Europa, ein »Airbus der modell, manchen gar als Pleitekan­
Batterien«, wie es Frankreichs Präsi- didat. Nach einem radikalen Sparkurs
dent Emmanuel Macron formulierte. des neuen Eigentümers Stellantis ist
Derzeit entsteht in Europa laut zumindest genug Geld da, um in die
EU-Kommission lediglich 1 Prozent Zukunft zu investieren.
der globalen Produktion von Li- Peter Winternheimer, ein stämmi-
Fabrizio Bensch / REUTERS

thium-Ionen-Zellen, in China sind es ger Pfälzer mit markantem Vollbart,


66 Prozent. Die Nachfrage dürfte dra- war mehr als 25 Jahre lang Opelaner.
matisch ansteigen – nicht nur wegen Manch schwere Krise erlebte er mit.
der E-Autos: Die Akkus werden auch Nun soll der 53-jährige ehemalige
für Windparks und Solaranlagen be- Werksleiter als frisch ernannter Vize-
nötigt. präsident des Batteriekonsortiums

60 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


WIRTSCHAFT

vr.de/mitglied

Jetzt
Mitglied
werden

Victoria Lergenmüller,
Weinhaus Lergenmüller GmbH,
Mitglied seit 2020

hö rt m ir,
e Ba n k g e
„Mei n ic h t
ir W e rte n
weil m w ich t ig sin d .“
in E u ro
nur Wir sind Genossenschaftsbanken.
Die Banken, die ihren Mitgliedern gehören.

Deshalb sind wir unseren Mitgliedern und ihren


6OUFSOFINFOT[JFMFO�CFTPOEFST�WFSQ�JDIUFU��6OE�
EBCFJ�HFIU�FT�VN�NFIS�BMT�OVS�VN��OBO[JFMMFO�
Erfolg: um echte Partnerschaft, Offenheit und
Nachhaltigkeit. So beraten wir immer ehrlich und
auf Augenhöhe.

Jetzt
QR-Code
scannen
und mehr
erfahren
Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 61
WIRTSCHAFT

Automotive Cells Company (ACC) die Kai-


serslauterer Motorenfabrik in eine Gigafac-
Kanada soll künftig eine lieferteil wie Scheibenwischerblätter oder
elektrische Fensterheber. Eine eigene Zell-
tory verwandeln. Dafür will er zunächst gut zentrale Rolle bei der produktion im sächsischen Kamenz gab der
2000 Leute einstellen. In seiner neuen Rolle
fühle er sich wie ein Start-up-Unternehmer
­Rohstoffversorgung spielen. Konzern 2015 auf. Mittlerweile haben die
Stuttgarter umgedacht: Entwicklungschef
im Silicon Valley, sagt der Ingenieur. Nur dass Schäfer will »den Zellbedarf für Elektroautos,
sich sein Büro nicht in einem hippen Loft in die wir künftig in Europa produzieren, auch
Kalifornien, sondern in einem zweistöckigen innerhalb Europas decken können«.
Plattenbau in Kaiserslautern befindet. Die wandeln. In Europa, sagt Harbecke, müssten Mercedes-Benz schließt mittlerweile di-
Bürostühle sind abgewetzt, man trinkt Auto- ganze »Batteriecluster« entstehen. rekte Verträge mit Lieferanten ab, beispiels-
matenkaffee aus Plastikbechern. Milch gibt Der Rock-Tech-Chef plant deshalb im weise für Lithium. Zudem sehe man sich ver-
es nicht. Dafür reichlich Visionen. brandenburgischen Guben nahe der polni- stärkt nach Bezugsquellen für Rohmateria­lien
»Unser Ziel ist es, als europäisches Unter- schen Grenze eine Fabrik. Dort soll Lithium, in Europa und Nordamerika um, sagt Schäfer.
nehmen in der globalen Batterietechnologie das aus einer eigenen Mine in Kanada stammt, Mit Rock Tech Lithium ist eine vertiefte Zu-
vorn mit dabei zu sein«, formuliert Wintern- weiterverarbeitet und an Batteriehersteller sammenarbeit geplant.
heimer stolz. In der zweiten Hälfte des Jahr- verkauft werden. Erste Ansätze des erhofften Sowohl Mercedes-Benz als auch Volks-
zehnts will das Konsortium außerdem so­ Clusters zeichnen sich ab: In Grünheide, wagen haben am Dienstag Absichtserklärun-
genannte Feststoffbatterien produzieren. Die knapp anderthalb Autostunden entfernt, pro- gen mit der kanadischen Regierung unter-
neue Zelltechnologie ermöglicht höhere duziert Tesla bereits E-Fahrzeuge, künftig zeichnet. Das Land soll künftig eine zentrale
Reichweiten und kommt ohne entflammbare sollen dort auch Akkus entstehen. In Schwarz- Rolle bei der Versorgung mit Batterierohstof-
Elektrolyte aus. Sie gilt als Chance, den Rück- heide, ebenfalls in Brandenburg, errichtet der fen spielen. Volkswagen plant den Einstieg
stand auf die Asiaten endlich aufzuholen. Chemieriese BASF eine Recyclinganlage für bei kanadischen Minen und Minenbetreibern.
Setzen ACC, Volkswagen und andere Batterien. »Man kann die Batteriezellenpro- Das Streben der Autokonzerne nach re-
Wettbewerber ihre ehrgeizigen Europapläne duktion nicht von heute auf morgen regiona- gionaler Unabhängigkeit entspricht ganz dem
tatsächlich um, ließe sich die Nachfrage auf lisieren«, sagt Harbecke, »aber in zehn Jahren Wunsch der Politik. Die US-Regierung etwa
dem Kontinent damit decken. Zu diesem Er- könnten wir so weit sein.« will Autoproduzenten dazu zwingen, in ihren
gebnis kommt jedenfalls eine Erhebung der Wie weit der Weg zur Unabhängigkeit E-Fahrzeugen zunehmend auf Rohstoffe zu
Unternehmensberatung BCG: Der Bedarf an noch ist, bekommen die Europäer beim Auf- setzen, die aus befreundeten Staaten stam-
Batterien für Leicht- und Schwerfahrzeuge bau ihrer Zellfabriken zu spüren. Selbst beim men. 40 Prozent der Batteriematerialien sol-
werde in Europa 2030 bei rund 860 Gigawatt- Maschinenbau für die Batterieproduktion len dann direkt aus den Vereinigten Staaten
stunden liegen, bei einer angekündigten Ka- sind die Chinesen führend. Anlagen und Aus- kommen oder aus einem Land, mit dem ein
pazität von mehr als 980 Gigawattstunden. rüstungen für die Zellfertigung, bemängelt Freihandelsabkommen besteht – China zählt
Schon jetzt scheint sich Deutschland lang- der scheidende VW-Chef Diess, »kommen nicht dazu. Bis Ende des Jahrzehnts soll die
sam, aber sicher vom Tropf der Chinesen zu heute fast ausschließlich aus Asien«. Merce- Quote auf 80 Prozent steigen.
lösen. 2021 habe Deutschland erstmals mehr des-Benz-Entwicklungsvorstand Markus Auch die EU arbeitet an einem »Raw Ma-
Lithium-Ionen-Batterien aus Europa impor- Schäfer verlangt bereits eine »Initiative der terials Act«, um Rohstoffimporte zu reduzie-
tiert als aus der Volksrepublik, berichtet der Maschinenbauer in Deutschland« mit dem ren. Laut der Gemeinsamen Forschungsstel-
Zentralverband der Elektro- und Digital­ Ziel, dass sie »verstärkt Anlagen für Batterie- le der EU-Kommission sind die Rohstoffvor-
industrie. Von einer Unabhängigkeit ist man fabriken bauen«. kommen in Europa bislang wenig erforscht.
jedoch noch weit entfernt. Mercedes-Benz selbst hat bereits eine er- Bemühungen um einen eigenen Abbau wich-
Bisher werden die Batterien in Europa staunliche Wandlung hinter sich. Noch vor tiger Batteriematerialien beschränken sich
meist lediglich zusammengesetzt, die wert- wenigen Jahren begriff der Autobauer Batte- vor allem auf Portugal, Skandinavien und den
vollen Zellen kommen nach wie vor aus riezellen als »Commodity«, ein simples Zu- Balkan – und werden dort oft durch Büro-
Asien. Und viele der hochgelobten Zellfabri- kratie und Bürgerinitiativen verzögert.
ken existieren bislang nur auf dem Reißbrett. Experten bezweifeln, dass der Kontinent
Konkrete Planungen gibt es laut BCG-Erhe- Abhängig von Asien bald zum potenten Rohstoffproduzenten
bung erst für 420 Gigawattstunden, weniger wird. Der Aufbau einer relevanten Minen-
als die Hälfte des tatsächlichen Bedarfs. Hin- Globale Marktanteile der Batteriehersteller industrie werde viele Milliarden verschlingen
im 1. Halbjahr 2022, in Prozent
zu kommt: Die Produktion in Europa allein und Gerichtsprozesse nach sich ziehen, be-
macht noch nicht autark. Vor allem bleibt der CATL (China) fürchtet Ferdinand Dudenhöffer, Direktor des
Kontinent abhängig von Rohstoffen aus an- 34,8 Center Automotive Research. Einstweilen
deren Weltteilen. Kobalt kommt vor allem LG (Südkorea) liefe die Massenproduktion in China auf
aus dem Kongo, Lithium aus Australien, Chi- 14,4 Hochtouren – ein gewaltiger Kostenvorteil.
le und China. Insbesondere bei der Veredlung BYD (China) Batterie- und Autohersteller, so der For-
der Metalle führt kaum ein Weg an der Volks- 11,8 scher, müssten die begehrten Metalle aus
republik vorbei: Dort finden 58 Prozent der möglichst vielen Lieferländern beziehen, um
Lithium- und fast zwei Drittel der globalen Panasonic (Japan) so die Risiken abzusichern. Das Ziel einer
9,6
Kobaltproduktion statt. völligen Unabhängigkeit von der Volksrepu-
Die deutsche Autoindustrie habe die He- SK On (Südkorea) blik sei jedoch »falsch gesetzt«. Würde Euro-
rausforderungen bei der Batteriezelle noch 6,5 pa seine Rohstoffe nur noch aus sicheren Her-
immer nicht zu 100 Prozent verstanden, sagt Samsung (Südkorea) kunftsländern wie Australien, USA oder Ka-
Dirk Harbecke. Der Chairman des deutsch- 4,9 nada beziehen, entstünde ein »gesplitteter
kanadischen Start-ups Rock Tech Lithium Markt«: mit teuren Zellen aus Europa und
CALB (China)
fordert, dass die Hersteller nicht nur in Bat- Nordamerika – und Billigware aus Asien.
4,1
teriefabriken investieren, sondern auch in die Die Profiteure dieses Szenarios wären die
Rohstoffgewinnung. Oder in sogenannte Kon- Sonstige Chinesen. Sie könnten die Weltmärkte mit
verter, die Rohlithium in hochwertiges, für 13,9 deutlich preiswerteren Elektroautos fluten.
die Autobatterie verwertbares Lithium ver- S Quelle: SNE Research Simon Hage, Martin Hesse n


62 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


Wie viel digital
braucht realer Erfolg?
Gemeinsam finden wir
die Antworten für morgen.
$OV�JU|�WHU�0LWWHOVWDQGV¿QDQ]LHUHU�'HXWVFKODQGV��
KHOIHQ�ZLU�,KQHQ��DXV�GHQ�JUR�HQ�+HUDXVIRUGHUXQJHQ�
GHU�=XNXQIW�QRFK�JU|�HUH�&KDQFHQ�I�U�,KU�8QWHU�
QHKPHQ�]X�PDFKHQ��/DVVHQ�6LH�VLFK�EHUDWHQ���
sparkasse.de/unternehmen
��%H]RJHQ�DXI�GLH�6SDUNDVVHQ�)LQDQ]JUXSSH�

Weil’s um mehr als Geld geht.


WIRTSCHAFT

matisch illegalen Kontoeröffnungen und


Transaktionen« gekommen, zu Verstößen
gegen die »Geldwäscherei-Gesetzgebung«.
Dastmaltchis Anwälte sprechen von einer
»politisch delikaten Konstellation« – gemeint:
Liechtensteins neuer Ruf als Sauberland könn-
te durch den Fall schweren Schaden nehmen.
Wieder mal. Schließlich hatte es schon um
die Jahrtausendwende zwischen Deutschland
und dem 160-Quadratkilometer-Zwergstaat
in den Alpen gekracht. In einem Geheim­
report, der nicht geheim blieb, hatte der Bun-
desnachrichtendienst dem Fürstentum vor-
geworfen, eine der wichtigsten Drehscheiben
für Kapitalverschiebungen aller Art zu sein

Laetitia Vancon / The New York Times / Redux / laif


– legalen und illegalen.
Fürst Hans Adam II. versprach, sein Land
werde suspekte Finanzströme künftig strenger
untersuchen. Was davon zu halten war, zeig-
te sich aber eben 2007, als ein Computerspe-
zialist der fürstlichen LGT Bank die vertrau-
lichen Daten von 4527 Stiftungen verhökerte.
Auch die von Zumwinkel. Der damalige
­Ministerpräsident Otmar Hasler beschied:
Schloss Vaduz Liechtenstein war prima, ist prima und wird
zukünftig noch mehr prima sein. Was aber,
wenn man dem Deloitte-Gutachten vom Mai
2020 glauben darf, immer noch weit entfernt

»Das ist nationale


von prima genug ist.
Der ukrainische Unternehmer und dama-
lige Parlamentsabgeordnete Kostjantyn Zhe-

Identität«
vago hatte die Union Bank 2013 über eine
liechtensteinische Stiftung namens Tremezzo
gekauft. Zhevago – einst vom »Forbes«-Ma-
gazin zum jüngsten Selfmademilliardär Euro-
pas gekürt, heute von der Ukraine zur Fahn-
GELDWÄSCHE  2009 versprach das Fürstenhaus, Liechtenstein dung ausgeschrieben – übernahm sämtliche
Anteile. Später rückte sein Vertrauter Wolf-
werde kein Hafen mehr für Geld aus trüben Quellen sein. ram K., Schweizer Anwalt und Stiftungsrat
Ein vertraulicher Bericht zeigt nun am Fall eines Oligarchen, was der Tremezzo, ins Aufsichtsgremium.
davon zu halten war. Offenbar nicht viel. Offenbar ging es dem Oligarchen darum,
sich eine Hausbank für Zahlungen zu halten,
die bei anderen Geldhäusern wohl nicht

K
laus Zumwinkel. Ein Name, dem steinische Union Bank für undurchsichtige Ge- so leicht durchgegangen wären. Jedenfalls
Deutschlands Steuerfahnder bestimmt schäfte einspannen, Konten einrichten, Gelder richtete die Union Bank ab 2013 binnen
immer noch ein ehrendes Angedenken verschieben, offenbar nach Belieben. 14 Monaten Konten für 16 Firmen ein, die
bewahren. Wer sonst hätte sich mit abschre- Erst als die Bank auch noch in Geschäfte mit Verbindungen zu Zhevago hatten. Und das,
ckendem Beispiel so um die Steuerehrlichkeit dem Pariastaat Venezuela einstieg, griffen die obwohl es sich bei Zhevago »um eine politisch
verdient gemacht wie der ehemalige Post- staatlichen Kontrolleure durch und machten exponierte Person« aus einem Staat handle,
Chef, der mit seinem Schwarzgeld in Liech- sie dicht. Wie es aussieht, ein Exempel an einer der »als stark korruptionsanfällig galt«, so
tenstein aufflog? Minibank; eine Großbank, die offenbar in ähn- Deloitte.
Auch in Vaduz hat sich die Affäre um eine liche Venezuelageschäfte verwickelt war, blieb Zu den neuen Bankkunden gehörte etwa
Steuer-CD der Fürstenbank LGT, auf der unbehelligt. Sieht die Aufsicht im Fürstentum jene Tremezzo Stiftung, die laut Deloitte den
Zumwinkels Name 2008 auftauchte, tief ins also nur hin, wenn sie etwas sehen will? »Lebensstandard« der Magnatenfamilie si-
allgemeine Gedächtnis eingebrannt. Kurz da- Was die Union Bank so alles trieb, beschäf- chern sollte. Eine Maritime Industry Ltd. mit
nach landete das Ländchen bei der OECD auf tigt zurzeit nicht nur die liechtensteinische Sitz im Steuerparadies der Britischen Jung-
einer grauen Liste für Steueroasen, kippte in Staatsanwaltschaft, sondern auch die in Ham- ferninseln kümmerte sich um das Geld für
höchster Not sein Bankgeheimnis für Fahnder burg. Sie hat ein Ermittlungsverfahren eröffnet, die Megajacht »Z«, 65 Meter lang. Und eine
aus dem Ausland, und Alois, der Erbprinz, das ein deutscher Investor mit einer Strafan- Waltham Ltd. in Belize sollte Luxusartikel
versprach: In Vaduz wird künftig eine knall- zeige ausgelöst hat. Der frühere Groß­aktionär heranschaffen und die privaten Kreditkarten
harte Weißgeldstrategie gefahren. Mohammad Hans Dastmaltchi fühlte sich 2019 des Oligarchen ausgleichen. Gerade bei der
Steueroase ade. rigoros aus der Bank gedrängt. Zudem, so Dast- Waltham blickten die Prüfer nur schwer durch
Ein vertraulicher Bericht der Prüfgesell- maltchi, seien ihm 2016, bei seinem Einstieg, – und die Banker vorher angeblich auch nicht.
schaft Deloitte für die staatliche Finanzaufsicht die fragwürdigen Bankgeschäfte mit dem Uk- »Die ungenügende Informationslage der
FMA enthüllt nun allerdings auch eklatante rainer verheimlicht worden. Bank ist umso bedenklicher, als die Waltham
Missstände in der Zeit danach. Von 2013 bis In einem Schreiben an die liechtensteini- Ltd. auch zur Deckung privater Bedürfnisse
2019 konnte demnach ein ukrainischer Oligarch sche Staatsanwaltschaft argumentiert der in stattlichem Umfang beansprucht wurde«,
nahezu unbehelligt von der FMA die liechten- Deutschiraner, in der Bank sei es zu »syste- notierte Deloitte.

64 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


WIRTSCHAFT

Die Union-Banker hatten demnach nicht alle Firmen und Einnahmen in Für an und habe abschließend zu einer

16
kaum eine Ahnung, ob Zhevagos Geld der Ukraine gemeldet, obwohl das Strafe gegen die Bank geführt, nicht
aus sauberen oder schmutzigen Quel­ seine Pflicht als Abgeordneter gewe­ gegen Zhevago. Er habe der Union
len stammte, Schwarz- oder Weißgeld sen wäre. Oder als die ukrainische Bank stets alle geforderten Unterlagen
war. »Die Geschäftsleitung«, so De­
loitte, »verfügte in den Jahren 2013
Staatsanwaltschaft im selben Jahr Er­
mittlungen einleitete, weil eine ande­
Unternehmen fristgemäß geliefert. Und zum Haft­
befehl in der Ukraine: Der sei offenbar
und 2014 nicht über die nötigen Infor­ re von Zhevago beherrschte Bank in »politisch motiviert«, die Ermittlung
mationen, um eine ausreichende Ein­ seiner Heimat 113 Millionen Dollar eröffnete die »zum Stillstand gekommen«.
schätzung der Risiken vorzunehmen.« veruntreut haben sollte. Union Bank Wie auch immer, zur offenbar will­
Interessant für die Prüfer ist auch In Summe vermittelt das nun den fährigen Bank, die bei Deloitte im
ein Netz von Pharmafirmen, die der Eindruck einer gekaperten Bank in Konten, die Vordergrund steht, gesellte sich im
Tycoon kontrollierte – sie waren nun Liechtenstein, die mit Rücksicht auf mit Zhevago Hintergrund eine anscheinend un­
ebenfalls Neukunden der Bank. Über
eine dieser Firmen schrieb ein Union-
ihren Eigentümer die Dinge laufen
ließ. Selbst dann noch, als sie der Fi­
in Verbindung fähige oder unwillige Finanzaufsicht.
»Liechtenstein ist immer noch ein
Banker unverblümt, sie habe ihren nanzaufsicht gemeldet hatte, ab so­ stehen. Land, das Superreichen hilft, legale
Sitz in den Vereinigten Arabischen fort seien »alle Beziehungen« zu Zhe­ und illegale Vermögen zu verste­
Emiraten, um »unnötigen Nachfra­ vago und seiner Gruppe »vollständig cken«, sagt der Korruptionsexperte
gen« ukrainischer Kartellbehörden zu gesperrt und sämtliche Transaktionen Fabio De Masi, der bis 2021 für die
entgehen. Ebenso dezidiert ein ande­ gestoppt«. Das war im Dezember Linke im Bundestag saß. »Das ist na­
rer Bankvermerk: Die Ukrainer soll­ 2019. Laut Deloitte führte die Union tionale Identität, insbesondere die
ten »nicht durchblicken«. Für Deloit­ Bank danach noch elf Gutschriften Intransparenz bei Banken und Stif­
te steht damit fest: »Der Bank war von und Belastungen aus. tungen.« Das Typische für solche
Anfang an evident, dass Kostjantyn Zhevagos Vertrauter in der Bank, Länder sei ein »gewolltes Kontroll­
Zhevago beabsichtigte, Transparenz der Schweizer Anwalt K., gegen den versagen, das heißt, man stattet etwa
zu vermeiden.« So etwas berge ein in Hamburg und Liechtenstein ermit­ die Aufsichtsbehörden so aus, dass sie
»hohes Missbrauchspotenzial«. telt wird, wollte sich nicht zum Inhalt zwar auf dem Papier internationale
Darüber sahen die Banker bei des Deloitte-Berichts äußern. Er ver­ Vereinbarungen erfüllen, aber prak­
ihrem Eigentümer Zhevago offenbar wies auf Anfrage auf Geheimhal­ tisch nichts kontrollieren«.
großzügig hinweg, während die Fi­ tungspflichten. Die Ergebnisse seien Auch Ex-NRW-Finanzminister
nanzaufsicht FMA anscheinend gar aber »aufgearbeitet und erledigt«, die Norbert Walter-Borjans, der einst rei­
nicht erst hinsah. Wie sonst hätte die Vorwürfe im Ermittlungsverfahren henweise CDs mit Steuerdaten kauf­
Bank damit durchkommen können, entbehrten »jeglicher Grundlage«. Es te, sieht sich bestätigt, dass man nun
sich bei Pflichtkontrollen zur Geld­ gebe keine Tatsachengrundlage dafür, mal leider prinzipiell misstrauisch
wäsche mit »oberflächlichen Erklä­ ihn »mit irgendeinem Fehlverhalten bleiben müsse. »Nur weil es in den
rungen« der Zhevago-Seite abspeisen in Verbindung zu bringen«. letzten Jahren keinen Whistleblower
zu lassen, wie Deloitte schrieb? Auch Zhevago sagt zu einzelnen aus Liechtenstein mehr gab, konnte
Damit nicht genug. Bei ihren Lari­ Geldflüssen oder Firmen nichts. Seine man daraus nicht schließen, dass es
fariprüfungen hätten die Banker die finanziellen Verhältnisse seien Privat­ kein Problem mehr gab. Und wir ken­
FMA sogar noch als Feigenblatt be­ sache »und einer öffentlichen Erör­ nen das ja: Zugeständnisse wurden
nutzt. Die Logik: Die FMA habe doch terung entzogen«, ließ ein Medien­ immer nur gemacht, wenn gerade
erlaubt, dass der Oligarch mit seiner anwalt wissen. Allerdings: Aus dem ­etwas aufgeflogen war.«
Stiftung die Bank übernahm. Das Deloitte-Bericht lasse sich »keinerlei Die Finanzmarktaufsicht des Fürs­
Milliardär Zhevago
habe die Union Bank »fälschlicher­ Fehlverhalten« von Zhevago ableiten, (l.): Von der Ukraine
tentums sieht das erwartungsgemäß
weise als Bestätigung« genommen, erst recht keine Straftat. Vielmehr zur Fahndung anders. »Liechtenstein toleriert keine
dass Zhevago auch als Kunde des kreide der Bericht Mängel der Bank ausgeschrieben Geldwäscherei«, und »die Bekämp­
Hauses in Ordnung sei. Das »Risiko fung funktioniert«, heißt es auf
ist vertretbar, da Zhevago schon von ­ PIEGEL-Anfrage. Man habe die glei­
S
der FMA geprüft worden ist«, notier­ chen hohen Standards wie die EU,
te ein Banker. »Die FMA kennt ihn dabei spiele es keine Rolle, welche
auch gut«, ein anderer. Dabei stießen Bank betroffen sei. Auch die FMA
die De­loitte-Prüfer auf reichlich Indi­ wollte den Deloitte-Bericht nicht
zien für mögliche Geldwäsche. So kommentieren, der sei vertraulich.
hatte die Waltham Ltd. einer Klitsche Allerdings bestätigen die Aufseher,
auf dem Balkan Millionen geliehen, dass sie bei der Union Bank erst ein­
offenbar ohne die nötigen Sicherhei­ gegriffen hätten, nachdem sie Anfang
ten. Ob das Geld dort landete oder 2019 auf die Venezuelageschäfte ge­
ganz woanders, blieb für Deloitte ein stoßen waren. Der Hinweis kam von
Rätsel. Zudem monierten die Prüfer: der Bank, offenbar auf Druck des
Evgeniy Maloletka / Bloomberg / Getty Images

»Bei den bislang erfolgten Rückzah­ Großaktionärs Dastmaltchi. Er habe,


lungen hat sich die Bank keinerlei Ge­ so Dastmaltchi, die von ihm vermit­
währ verschafft, dass diese aus legiti­ telten Venezueladeals sicherheitshal­
men Quellen herrühren.« ber überprüfen lassen wollen. Ohne
Insgesamt seien daher »Abklärun­ diese Meldung hätte die FMA von
gen der Bank zu Transaktionen mit den seit Langem laufenden Geschäf­
erhöhtem Risiko als ungenügend zu ten des ukrainischen Oligarchen mit
bezeichnen«, heißt es bei Deloitte. der Union Bank vermutlich gar nichts
Dabei blieb es auch, als 2016 Vorwür­ mitbekommen.
fe gegen Zhevago aufkamen, er habe Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch  n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 65


AUSLAND

Munir uz Zaman / AFP


In einem Flüchtlingslager in Ukhia, Bangladesch, lehnt eine Rohingya-Mutter mit ihrem Baby an einer Bambushütte. Vor fünf Jahren, am 25. August
2017, begann in Myanmar die Vertreibung von rund 700 000 Männern, Frauen und Kindern der muslimischen Minderheit. Obwohl die Vereinten
­Nationen die Gefahr des Völkermords sehen, hat sich die Lage der Rohingya nicht verbessert: Noch immer leben die Staatenlosen zusammengepfercht
in Lagern, eine Rückführung in die Heimat entpuppte sich als faule Ankündigung der seit dem Putsch 2021 noch mächtigeren Militärjunta.

Ein Hoch für Biden


­darauf konzentriert, die jüngste Entscheidung des Obersten
­ erichtshofs zur Einschränkung des Abtreibungsrechts zu kriti­
G
sieren – und damit offensichtlich einen Nerv getroffen. Dies
dürfte nun auch anderen demokratischen Kandidaten als Vorbild
ANALYSE   Warum die Midterm-Wahlen für den
für die Midterm-Wahlen dienen. Die Chancen der Partei könnten
US-Präsidenten vielleicht noch nicht verloren sind steigen, im Herbst gegen die Republikaner nicht ganz so kata­
strophal abzuschneiden, wie bislang befürchtet wird.
Vor einigen Wochen sah es noch so aus, als würden US-Präsident Hinzu kommt ein weiterer Pluspunkt für Biden: In Umfragen
Joe Biden und seine Demokraten vom Pech verfolgt. Nun aber geben viele Amerikaner an, dass sie über den Zustand der
erleben sie eine unerwartete Glückssträhne. Erst gelang es Bi- ­Demokratie in den USA besorgt sind. Verursacht werden diese
den, Widerstände unter den Senatoren zu brechen und wich­tige Ängste auch durch die Aussicht auf ein mögliches politisches
Gesetzesvorhaben im Kongress zu verabschieden, wie etwa sein Comeback von Ex-Präsident Donald Trump. Denn Trump ist es
Milliardenpaket zum Klimaschutz. Dann begannen die Benzin- gelungen, für die Midterm-Wahlen in etlichen Bundesstaaten
preise in den USA zu sinken, was für viele Bürger eine gute Kandidaten auf den republikanischen Listen zu platzieren, die
Nachricht ist. Und nun scheint sich auch noch die Stimmung für wie er das Ergebnis der letzten Präsidentenwahl anzweifeln und
den Wahlkampf zu den Midterm-Wahlen aufzuhellen. Im No- für seine Rückkehr ins Weiße Haus bei der Wahl 2024 werben.
vember werden unter anderem die Abgeordneten des Repräsen- Biden und seine Berater könnten bei den Wahlen mit Warnun­
tantenhauses und ein Teil des Senats gewählt. gen vor Trump und vor einem Ende der Demokratie in den
Völlig überraschend hat im Bundesstaat New York der Demo- USA die eigenen Leute motivieren, an die Wahlurnen zu strömen,
krat Pat Ryan eine Nachwahl zum Repräsentantenhaus in um einen politischen Durchmarsch der Republikaner zu ver­
einem hart umkämpften Wahlkreis gegen seinen republikanischen hindern. Der paradoxe Effekt: Je mehr über Trump geredet wird,
Herausforderer gewonnen. Ryan hatte seine Wahlkampagne desto besser ist das für Biden. Roland Nelles

66 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


Fuß in der Tür Deal wäre das größte Übernah- treue aus seiner Partei Fidesz je- Machtfaktor, vor allem finan-
megeschäft in dem Sektor seit den Winkel des Staatsapparats, ziell. Ferner bekäme der ungari-
UNGARN  Die nationalkonser- 30 Jahren. Doch Orbán geht es etwa der Verwaltung, der Mu- sche Ministerpräsident theore-
vative Regierung von Viktor dabei wohl vor allem um seinen seen oder Krankenhäuser, be- tisch Zugriff auf die Kommuni-
Orbán sichert sich Zugriff auf politischen Nutzen: Ganz offen herrschen, sondern auch auf kationsdaten von Millionen
Vodafone Hungary, den zweit- vertritt er die Haltung, wichtige Netzwerke in der Wirtschaft. Ungarn. Vodafone Hungary hat
größten Mobilfunkbetreiber des Wirtschaftsbereiche dürften Der künftige Miteigentümer Posten, Werbemittel und Auf-
Landes. Vodafones Ungarn-­ nicht in die Hände ausländi- 4iG gilt bereits als Orbán-loyal, träge zu vergeben. Damit kann
Geschäft soll für umgerechnet scher Konzerne fallen, sondern da die Firma ihren kometenhaf- Fidesz Tausende Ungarn an
1,8 Milliarden Euro zu 49 Pro- müssten unter ungarischer Kon- ten Aufstieg vor allem Staats- sich binden – und Orbán be­
zent an die Staatsholding Corvi- trolle stehen. Orbán stützt seine aufträgen und Regierungskon- hielte einen Fuß in der Tür zur
nus und zu 51 Prozent an die zunehmend autokratische Herr- takten verdankt. Vodafone wäre Macht, falls er einmal abge-
Privatfirma 4iG übergehen. Der schaft nicht nur darauf, dass Ge- für Orbán also ein zusätzlicher wählt würde. JPU 

»Das sind Akte eines Diktators«


ISR AEL  Der Anwalt Michael Sfard über die Razzien bei
palästinensischen Menschenrechtsorganisationen

Sfard, 50, ist Israeli Sfard: Wenn es um den Konflikt


und Anwalt für mit den Palästinensern geht,
Menschenrechte, dann sind Elemente unserer Re-
er vertritt die von gierungskultur komplett auto­
der Repression ritär. Die Terroreinstufung und
Yanai Yechiel

­betroffene palästi- die Razzien sind Akte eines


nensische Organi- Diktators. Wenn eine Regierung
sation Al-Haq. bereit ist, NGOs, die die Re­
gierung kritisieren, zu unterdrü-
SPIEGEL: Herr Sfard, warum cken, ohne der Öffentlichkeit
stuft Israel palästinensische einen Beweis vorzulegen, dann
Nichtregierungsorganisationen kann man das nicht anders
epa

(NGO) als terroristisch ein? ­verstehen. Spielende Kinder in Jangtse-Nebenfluss


Sfard: Es geht um Israels Kampf SPIEGEL: Europäische Regierun-
gegen die laufende Untersu- gen haben die Razzien kritisiert. Wenn der Jangtse Energie werden durch Wasser-
chung des Internationalen Straf- Reicht das? kraft erzeugt, doch die Pumpen
gerichtshofs in Den Haag auf Sfard: Wir brauchen Taten statt zum Rinnsal wird stehen still, weil die Flüsse aus
mögliche durch Israelis und Pa- nur Worte. Die EU sollte deut- CHINA  Heiße, schwüle Som- dem tibetischen Hochland zum
lästinenser begangene Verbre- lich machen, dass die Beziehun- mer, daran ist man gewöhnt in Teil versiegt sind. Die Behörden
chen. Einige dieser Organisatio- gen zu Israel nicht business as Chongqing, einer Metropole im haben deshalb die Stromversor-
nen haben keinen Hehl daraus usual sind. Sie ist international Westen der Volksrepublik. Ihre gung für Tausende Fabriken
gemacht, dass sie mit ihrer die wichtigste Beschützerin von »drei Backöfen« nennen die eingeschränkt. Bei Toyota oder
Arbeit die Untersuchung in Den Menschenrechtsverteidigern. Chinesen die Städte Wuhan, dem Apple-Produzenten Fox-
Haag unterstützen. Israel aber Wenn die EU scheitert, verliert Nanjing und eben Chongqing. conn musste vorübergehend
will, dass sie scheitert. sie ihre Glaubwürdigkeit. Die Doch die Temperaturen in die- der Betrieb eingestellt werden.
SPIEGEL: Warum führt die Ar- EU unterschätzt überhaupt die sem Jahr sind selbst für das all- Auch im Rest des Landes
mee gerade jetzt Razzien bei Möglichkeiten, die sie gegen- jährlich glühende Chongqing kommt es zu Engpässen, weil
diesen Organisationen durch? über Israel hat. Der Siedlungs- außerordentlich hoch. Mehr als der Strom aus Sichuan fehlt.
Sfard: Die israelische Strategie bau in besetzten Gebieten etwa 40 Grad maßen die Meteo­ In Shanghai etwa, Chinas
hat gerade einen schweren ist eine zentrale Verletzung des rologen und seit Wochen keinen Glitzermetropole, wo der Jang­
Rückschlag erlitten, weil vor Völkerrechts, nicht irgendein Niederschlag. Eine Fläche, so tse ins Meer mündet, ordnete
drei Wochen neun europäische Randvergehen. BOL groß wie Spanien, Frankreich die Stadtverwaltung an, die
Regierungen – die Hauptgeld- und Großbritannien zusammen, abendliche Beleuchtung auszu-
geber dieser Organisationen – ist von der Hitzewelle betroffen. schalten. Das Klima verändert
in einer Stellungnahme die Ter- Der Jangtse, eigentlich der sich, und die Chinesen bekom-
roreinstufung nach eingehender drittgrößte Fluss der Welt, men es zu spüren: Im vergange-
Untersuchung für haltlos erklärt strömt sonst auf einer Breite nen Jahr war es der Starkregen
haben. Auch die EU-Behörde von mehreren Hundert Metern in der Provinz Henan, wo in
zur Betrugsbekämpfung ist zum durch das Stadtgebiet von einer Stunde bis zu 200 Liter
selben Schluss gekommen. Chongqing, im Moment ist er pro Quadratmeter fielen. China
Nicht einmal die USA haben eher ein Rinnsal. In den Regio- ist zu einem Extremwetterland
die israelische Position über- nen flussabwärts drohen des- geworden. Vor der Uno hatte
Atef Safadi / epa

nommen. Und jetzt hat Israel halb gigantische Ernteausfälle. Präsident Xi Jinping angekün-
einfach den Druck erhöht. In der umliegenden Provinz Si- digt, die Volksrepublik werde
SPIEGEL: Handelt so ein solider chuan kommt es zu massiven bis 2060 klimaneutral sein – das
Rechtsstaat? NGO-Büro nach Razzia Stromausfällen: 80 Prozent der könnte zu spät sein. GIE

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 67


AUSLAND

»Wir stecken tief im Sumpf«


SPIEGEL-GESPRÄCH  In zwei Wochen bekommt Großbritannien eine neue Regierungsspitze. Hat das Land Boris
Johnson und den Populismus hinter sich? Von wegen, sagen der Ex-Labour-Stratege Alastair Campbell
und der Konservative Rory Stewart. Ein Gespräch über verlorenen Anstand und die Instagramisierung von Politik.

Anfang September wird 10 Downing Street, geist, der mit seinem Bestehen auf Fairness dass der Kerl ein Lügner und Scharlatan ist.
neben dem Kater Larry, einen neuen Haupt­ und Dialog fast ein wenig aus der Zeit gefallen Aber der Brexit, den er angerichtet hat, wird
mieter haben. Und alles sieht danach aus, dass wirkt. Zusammen bestreiten Campbell und noch immer da sein, auch wenn Johnson
es eine Mieterin sein wird: Die Umfrageinstitu­ Stewart, beide inzwischen parteilos, seit Febru­ schon sehr lange weg ist. Man kann nur hof­
te sind sich einig, dass die etwa 160 000 Tory- ar einen der meistgehörten und klügsten Pod­ fen, dass wenigstens die von ihm demolierten
Mitglieder, die bis Anfang September einen casts im Vereinigten Königreich – »The Rest Prinzipien des öffentlichen Lebens mit der
neuen Partei- und damit auch Regierungschef Is Politics«. Sie sprachen mit SPIEGEL -Korres­ Zeit wieder repariert werden können.
wählen, die amtierende Außenministerin Liz pondent Jörg Schindler per Videoschalte. Stewart: Letzteres bereitet mir die größten
Truss ihrem Rivalen und früheren Schatzkanz­ Sorgen. Boris Johnson hat tatsächlich alle Ge­
ler Rishi Sunak vorziehen werden. Der Aus­ SPIEGEL: Mr Campbell, Mr Stewart, wir nä­ pflogenheiten zerschreddert, mit denen Groß­
nahmezustand, in dem sich das Vereinigte hern uns dem Ende von Boris Johnson als britanniens ungeschriebene Verfassung am
Königreich seit dem Brexit befindet, werde sich britischem Premierminister. Gibt es etwas, Laufen gehalten wurde.
damit um weitere Jahre verlängern, glauben das Sie an ihm vermissen werden? SPIEGEL: Es gibt Leute, die das entschieden
Campbell und Stewart. Der eine war Tony Campbell: Nein. anders sehen, vor allem unter konservativen
Blairs Chefstratege und Co-Architekt von New Stewart: Er ist ein wirklich schrecklicher, mo­ Wählern. Nach einer neuen Umfrage würde
Labour, jener Partei, die um die Jahrtausend­ ralisch verwerflicher Mensch. Ich glaube, es Johnson fast die Hälfte der Stimmen bekom­
wende als forsch und cool galt. Der andere gibt einen direkten Zusammenhang zwischen men, wenn er im derzeitigen Nachfolge­
diente David Cameron und Theresa May als seiner Amoralität und seiner dürftigen Regie­ rennen wieder anträte. Rishi Sunak und Liz
Regierungsmitglied und war einst Hoffnungs­ rungsbilanz. Truss brächten es dann nicht einmal auf ein
träger der Moderaten in einer zerrütteten SPIEGEL: Was wird sein Vermächtnis sein? Viertel der Stimmen. Was ist aus Ihrer frühe­
­Tory-Partei. Unterschiedlicher könnten Camp­ Campbell: Na ja, da muss man wohl den Bre­ ren wertebasierten Law-and-Order-Partei ge­
bell, 65, und Stewart, 49, nicht sein: hier ein xit erwähnen. Das ist zugleich einer der Haupt­ worden, Mr Stewart?
streitlustiger Journalist und Tachelesredner gründe, warum ich ihn wirklich nicht ausste­ Stewart: Es ist in der Tat verblüffend. Ich
von der Linken, dort ein konservativer Fein­ hen kann. Inzwischen sieht nun wirklich jeder, fürchte, wir haben eine derart überprofessio­
nalisierte, übervorsichtige Politik erschaffen,
dass jemand wie Boris die Menschen begeis­
tert, indem er einfach ein bisschen schillern­
der, ein bisschen forscher und ein bisschen
lustiger ist als andere. Ich hatte einst prophe­
zeit, dass er es niemals nach ganz oben schaf­
fen würde. Aber ich habe vollkommen unter­
schätzt, wie sehr die Leute die Geduld mit
dem alten System verloren haben und wie
entschlossen sie sind, eine Handgranate da­
rauf zu werfen.
Campbell: Vergessen wir bitte auch eines
nicht: Gegen Truss und Sunak zu bestehen
ist so schwer nicht. Die beiden sind jetzt nicht
gerade begeisternde Himmelsstürmer.
SPIEGEL: Beide Kandidaten haben sich in den
letzten Wochen nicht viel geschenkt. War die
Schlammschlacht eine direkte Folge der von
Johnson und dem Brexit bewirkten Spaltung
Louise Haywood-Schiefer / Camera Press / laif

des Landes?
Stewart: Es ist ganz wichtig zu verstehen, wie
Parteien im derzeitigen britischen System ihre
Andy Hooper / ANL / Shutterstock

neuen Anführer wählen. Da gibt es interessan­


te Parallelen zu den USA. In der Tory-Partei
machen wir es gerade vor allem jenen leicht,
die an die niedrigsten Instinkte der Menschen
am rechten Rand appellieren. Ohne deren
Stimmen geht nichts, schon gar nicht, seit Bo­
ris den eher linken Flügel seiner Partei radikal
Ex-Labour-Mann Campbell, Ex-Tory Stewart: »Johnson hat alle Gepflogenheiten zerschreddert« gestutzt hat. Dass nicht Abgeordnete, sondern

68 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


Matt Dunham / AP
AUSLAND

Plakat bei
Protestaktion
in London

Parteimitglieder den Anführer bestim­ sucht, ruhig und ausgewogen aufzu­ hat enormen Ehrgeiz, aber ich glaube
men, zeigt, wie fundamental wir das treten. Wir sind an einem Punkt an­ nicht, dass der Rest der Welt sie ernst
Wesen einer parlamentarischen De­ gelangt, wo die Leute revolutio­näre Schwierige nehmen wird. Sie hat, wie Johnson,
mokratie missverstanden haben. Rhetorik und Attacken gegen das Nachfolge weder das intellektuelle noch das
Campbell: Das gilt für Labour genau­ ­Establishment bevorzugen. Und ob­ politische Format für den Job.
so. Es waren links tickende Mitglieder wohl sie seit zehn Jahren in der Regie­ Umfrage unter Tories, SPIEGEL: Kann es sein, dass Sie sie
der Basis, die der Partei im Jahr 2015 rung sitzt, hat Liz Truss es geschafft, in Prozent unterschätzen?
Jeremy Corbyn eingebrockt haben. sich als Radikale zu vermarkten, die »Wer dieser drei wäre
Campbell: Ich habe mit etlichen
Stewart: Dazu kommt, dass die briti­ das System herausfordert. der beste Premier?« Beamten gesprochen, die für sie ge­
schen Parteien scharenweise Mitglie­ Campbell: Neulich bin ich fast vom arbeitet haben, und alle sagen dassel­
Boris Johnson
der verloren haben. Als meine Mutter Stuhl gefallen, als sie im privaten Spar­ be: Sie hört nicht zu, liest ihre Unter­
44
in den Fünfzigerjahren den Tories bei­ tenkanal GB News aufgetreten ist und richtungen nicht, hat keine schlüssi­
trat, hatten die deutlich mehr als eine behauptete, dort prüfe man Fakten Liz Truss gen Ideen. Sie trifft unsinnige Ent­
Million Mitglieder. Heute sind es wohl gewissenhafter als bei der BBC. Sie 24 scheidungen und revidiert sie dann
noch etwas mehr als 150 000, obwohl redet Blödsinn, um sich ihrer Basis wieder. Das war auch während des
es insgesamt mehr Briten gibt. Und ­anzubiedern. Das ist nackter Popu­ Rishi Sunak Duells mit Sunak zu beobachten.
wenn die Zahlen so niedrig sind, wird lismus, genauso wie die Tatsache, dass 23 Aber so kann man kein Land führen.
es eben leichter für Rechtsradikale, sie Johnson bis heute verteidigt und SPIEGEL: Stimmt das, Mr Stewart? Sie
eine Partei wie die Tories zu kapern … sagt, er sei kein Lügner. Und ich glau­ »Wenn diese Kandi- haben unter Liz Truss im Umwelt­
Campbell: … und leichter für Links­ be, Sunak ist davon derart erschro­ daten zur Wahl ministerium gearbeitet – was war Ihr
stünden, wen würden
radikale, eine Partei wie Labour zu cken, dass er selbst angefangen hat, Sie zum Parteichef
Eindruck?
kapern. populistisches Zeug zu versprechen. wählen?« Stewart: Sie war sehr stolz auf ihre
SPIEGEL: Rishi Sunak hat versucht, Wäre er bei seiner Ich-bin-hier-der-Er­ ökonomische Ausbildung und zitiert
Boris Johnson
sich im Nachfolgerennen als einziger wachsene-Haltung geblieben, hätte er gern Bücher von Wirtschaftswissen­
Erwachsener, als ehrliche Haut zu größere Chancen, zu gewinnen. 46 schaftlern. Sie ist gut in Mathe und
präsentieren. Als Sie 2019 gegen Bo­ SPIEGEL: Sie schrieben kürzlich in Liz Truss mag es, ihren Beamten spontane
ris Johnson antraten, haben Sie etwas einer Kolumne, dass man die Wort­ 24 Kopfrechenaufgaben zu stellen. Sie
Ähnliches versucht, Mr Stewart. Wa­ folge »Premierministerin Liz Truss« glaubt fest an radikale Maßnahmen.
rum klappt das nicht mehr? in keiner ernst zu nehmenden Demo­ Rishi Sunak Sie ist ein interessantes Phänomen in
Stewart: Sie haben recht, ich habe das kratie hören sollte. Warum nicht? 23 der Konservativen Partei, weil sie ei­
versucht, und ich bin daran geschei­ Campbell: Weil sie keine ernsthafte nigen traditionellen Teilen des briti­
S Quelle: YouGov-Umfrage
tert. Ich fürchte, man gilt inzwischen Politikerin ist. Sie wird ähnlich popu­ vom 12. bis 17. August unter schen Establishments eine gewisse
als elitärer und pedantischer Vertei­ listisch, polarisierend und wahrheits­ 1089 Mitgliedern der Konserva- Respektlosigkeit entgegenbringt. Sie
tiven Partei; an 100 fehlende
diger des Status quo, wenn man ver­ verbiegend wie Johnson regieren. Sie Prozent: »weiß nicht« wollte ja sogar mal die Monarchie ab­

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 69


AUSLAND

schaffen. Man weiß allerdings nie, ob sie nur


provozieren will oder es wirklich so meint
»Die Menschen wollen einen im Sumpf. Ich bin gerade in Frankreich, und
dort sagen mir Leute: Wenn Großbritannien
oder dann wieder ihre Meinung ändert. Kurz- fröhlichen Krieger, keinen Frankreich wäre, dann wäre auf den Straßen
um: Es ist ziemlich stressig, für sie zu arbeiten.
SPIEGEL: Interessanterweise inszenieren sich
verbissenen Charakter.« aber was los. Ich fürchte, wir sind davon nicht
mehr weit entfernt. Unser Ansehen in der
sowohl Truss als auch Sunak virtuos über so- Rory Stewart Welt ist auch längst nicht mehr, was es mal
ziale Medien. Truss hat sich regelrecht als eine war. Der Schaden ist angerichtet.
Art Thatcher-Wiedergängerin neu erfunden, Stewart: Andererseits ist interessant, dass es
indem sie dauernd Bilder postet, die an die noch vergleichsweise ruhig ist, obwohl wir
»Eiserne Lady« erinnern. Was halten Sie von Facebook und Twitter eine kritische Masse. derart gespalten und uneins sind. Zwischen
dieser Instagramisierung der Politik? Und ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, 2016 und 2019 war vermutlich die aufgeladen-
Stewart: Für mich ist das unglaublich gefähr- wie sehr die neuen Formen des Populismus ste Periode seit dem Englischen Bürgerkrieg
lich. Liz Truss hat sich als Ministerin für inter- durch soziale Medien verstärkt und weiter- im 17. Jahrhundert. Mir scheint, dass aus dem
nationalen Handel die Reputation zugelegt, entwickelt wurden. Brexitthema allmählich die Luft raus geht.
eine Art Frau Überall zu sein. Heute ist sie in SPIEGEL: Zu den Bildinszenierungen kommen Die Leute sorgen sich derzeit offenbar mehr
Japan, morgen in Australien, und jedes Mal dann noch die Slogans, die im Königreich um explodierende Preise.
flattert hinter ihr eine britische Flagge. Meine wirklich inflationär sind: »Take Back Con­ SPIEGEL: Warum scheint die Wahl zwischen
Mutter würde sagen: »Herrschaftszeiten, die- trol«, »Get Brexit Done«, »Build Back Better«, Populisten und Nichtpopulisten eigentlich
se Liz Truss hat Energie, die tut was.« Und »Liz For Leader«, »Ready For Rishi«, »Spend, immer eine zwischen unterhaltsam, aber ver-
als Außenministerin hat das noch zugenom- Spend, Spend«. Wie hat dieser Drei-Wort- logen auf der einen Seite und redlich, aber
men, seither haben die Fotos von ihr fast et- Fetischismus die Politik überrannt? langweilig auf der anderen zu sein? Wie zum
was Empirehaftes. Campbell: Slogans gab es immer. Ich kann Beispiel bei Johnson und Labourchef Keir
SPIEGEL: Was ist daran gefährlich? mich nicht an den von Olaf Scholz erinnern, Starmer. Was spricht gegen einen redlichen
Stewart: Das ist Verherrlichung von Politik aber er hatte sicher auch einen. Der Unter- Entertainer?
per Presseerklärung, nur dass da nichts mehr schied ist: Früher bildeten Slogans die Basis Stewart: Dagegen spricht gar nichts. In der
mit Worten erklärt wird, sondern nur noch für einen größeren Politikentwurf, während Rückschau denke ich, ich hätte viel unterhalt-
mit Bildern. Trump und Johnson kein Problem damit ha- samer, leichtfüßiger und humorvoller sein müs-
Campbell: Um mal zu schildern, wie schnell ben, immer und immer wieder dieselben sen, als ich gegen Johnson antrat. Die Men-
wir dahin gekommen sind: Als Tony Blair Stanzen zu wiederholen, ohne die Leute ir- schen wollen einen fröhlichen Krieger, keinen
Premierminister war, haben wir mit der Idee gendwie mit Inhalten zu behelligen. verbissenen sittenstrengen Charakter. Wir
geflirtet, unseren eigenen Fotografen zu be- Stewart: Alastair hat recht, Slogans an sich müssen in der politischen Mitte Platz für un-
schäftigen. Wir waren häufiger im Weißen sind nichts Neues. Aber jetzt sind wir in einer bekümmerte Anführer schaffen. Bill Clinton
Haus, und da gab es eine ganze Armee von Phase des Hypermarketings. Und je mehr war so jemand, er war lebhaft und unterhalt-
Fotografen. Jeder, der den Präsidenten traf, Politik zu einer Art Werbejingle wird, desto sam und trotzdem moderat und pragmatisch.
bekam sein eigenes Bild im Rahmen zuge- wichtiger werden sie. In Kombination mit Campbell: Ich würde noch Emmanuel Macron
schickt. Wir sind vor etwas Ähnlichem immer immer raffinierteren sozialen Medien und mit erwähnen. Er hat nun schon zweimal in einem
zurückgeschreckt, weil wir dachten, die Öf- einer schrumpfenden Aufmerksamkeitsspan- der politisch schwierigsten Staaten Europas
fentlichkeit würde das für eine gewaltige Ver- ne von Menschen kommt diesen Slogans eine gegen Populisten von ganz links und ganz
schwendung von Steuergeld halten. Und jetzt wachsende Bedeutung zu. Und: Während rechts gewonnen. Er hat Charisma, kann kom-
haben wir Liz Truss, die Instagram-Ministe- früher trotzdem noch über Politikinhalte dis- munizieren und scheint mir relativ anständig
rin. Jemand erzählte mir mal, sie inszeniere kutiert wurde, wird das immer schwieriger. zu sein. Oder schauen wir nach Portugal, Spa-
sich deshalb so, damit keiner genau guckt, SPIEGEL: Großbritannien befindet sich mittler- nien, nach einigen nordischen Staaten. Wir
was sie wirklich macht. Über so etwas jam- weile seit sechs Jahren, seit dem Brexit-Vo- sollten nicht zu deprimiert sein, nur weil die
mern Rory und ich jede Woche in unserem tum, im Ausnahmezustand. Wie lange kann Vereinigten Staaten und das Vereinigte König-
Podcast, weil wir gern mal wieder ernsthafte der anhalten, ohne dass es schwerwiegende reich gerade sehr schwere Zeiten durchma-
Politiker hätten. Aber alles, was Truss tut, Konsequenzen haben wird? chen. Ich halte es sogar für möglich, dass Keir
weist in die gegenteilige Richtung. Campbell: Die haben wir doch schon. Rasen- Starmer – bei allem Frust, den er mit seiner
SPIEGEL: Es gibt allerdings auch längst in de Inflation, galoppierende Lebenshaltungs- technokratischen Art auslöst – bei der nächs-
­anderen Ländern eine ganze Generation von kosten, ein dysfunktionales politisches System ten Wahl punkten wird. Vor allem nach dem
Politikern, die unermüdlich ein nahezu per- und demnächst Liz Truss – wir stecken tief Chaos, das die Tories angerichtet haben.
fektes Image von sich selbst kreieren. Etwa SPIEGEL: Was uns wieder zu Boris Johnson
Annalena Baerbock in Deutschland oder die bringt. Glauben Sie, er wird ähnlich wie sein
estnische Regierungschefin Kaja Kallas. großes Vorbild Winston Churchill irgendwann
Campbell: Eine Politikerin wie Baerbock ein Comeback hinlegen?
musste auch erst mal strampeln, um es als Grü- Stewart: Meine Angst ist, dass er Berlusconi
nen-Vorsitzende in Deutschland ganz nach oder Trump nacheifern und noch weiter an
oben zu schaffen. Und sie sagt und tut wenigs- den populistischen Rand rücken könnte, um
tens ernsthafte Dinge, während es Truss nur sich zurück an die Macht zu wuchten.
um den politischen Stellungskampf geht. Campbell: Ich glaube, dass das gut möglich
Stewart: Es gibt eine enge Verbindung zwi- ist. Wir haben ihn sicher noch nicht zum
schen dem populistischen Zeitalter und den ­letzten Mal gesehen. Er ist ein Narzisst, der
neuen Formen sozialer Medien. Es ist kein sich im Rampenlicht suhlt, er wird Wege
Kirsty Wig gleswor th / AP

Zufall, dass der große Wendepunkt in der glo- ­finden, wieder die Aufmerksamkeit auf sich
balen Politik zwischen 2014 und 2016 kam, zu ziehen. Unsere einzige Hoffnung ist, dass
Andy Rain / epa

als Bolsonaro in Brasilien auftauchte, Modi sein Stern schnell sinken wird, sobald er nicht
in Indien und der IS Mossul einnahm. Später mehr Premierminister ist.
hatten wir das Brexit-Referendum und SPIEGEL: Mr Campbell, Mr Stewart, wir dan-
Trump. In derselben Phase erreichen auch Nachfolgekandidaten Sunak, Truss ken Ihnen für dieses Gespräch. n

70 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


AUSLAND

stünde das Land vor einem »radika- Skepsis hat mit einer Art Geburts-
len Wandel«. Der Staat soll nicht nur fehler zu tun.
die Folgen der Erderwärmung auf- Weil viele Konservative die Wah-

Eine linke
fangen, sondern auch genügend len zum Verfassungskonvent boykot-
Wohnraum zur Verfügung stellen so- tierten, hatten die progres­siven Kräf-
wie öffentliche Bildungs- und Ge- te ein derartiges Über­gewicht, dass

Utopie?
sundheitssysteme entwickeln, die sie in den Augen vieler Kritiker eine
niemanden ausschließen. linke Utopie verfassen konnten, die
Die Hälfte aller öffentlichen Stel- Investoren abschrecken und den Staat
len, heißt es in dem Entwurf, sollten in den Ruin treiben könnte. Zur Ver-
künftig mit Frauen besetzt werden, unsicherung tragen Falschnachrichten
CHILE  Das Land stimmt über eine neue während den indigenen Völkern erst- im Netz bei. So verbreiten die Ver-
­ erfassung ab – wird sie angenommen, wäre das
V mals ein Recht auf eigene Gebiete fassungsgegner, dass Abtreibungen
zugesprochen wird. Gleichzeitig soll künftig bis zum neunten Monat mög-
eine Revolution mit Strahlkraft weit über das Land dezentraler organisiert lich seien oder dass das Vererben von
die eigenen Grenzen hinaus. Doch konservative werden. Anstelle des Senats, tradi- Immobilien nicht mehr möglich sei,
Gegner attackieren das Projekt mit allen Kräften. tionell ein Refugium der alten Elite, weil der Wohnraum angeblich allein
soll es eine Kammer für Vertreter der dem Staat gehören soll.
Regionen geben. Die neue Charta sei Präsident Boric hat zuletzt immer

V
or knapp drei Jahren, als Hun- eine »historische Chance« für Chile, wieder dazu aufgerufen, die Diskus-
derttausende Chilenen über schreibt das Menschenrechtsbüro sion ernsthaft zu führen. Ebenso er-
Wochen gegen die Zustände in der Uno. innert er daran, dass es am 4. Septem-
ihrem Land protestierten, gehörte Sollte sie in Kraft treten, würde sie ber nicht um ihn oder seine Regierung
Jae C. Hong / AP / picture alliance

der frühere Studentenführer Gabriel nicht nur eine dreijährige Diskus- gehe, sondern um die Zukunft Chiles.
Boric zu einem kleinen Kreis von sionsphase abschließen. Es wäre auch Vielen aber fällt es schwer, das eine
Leuten, die dem damaligen Präsiden- ein später Schlusspunkt unter die vom anderen zu trennen. Die anfäng-
ten Sebastián Piñera ein Zugeständnis dunklen Jahre der Militärdiktatur. liche Euphorie nach Boric’ Wahl ist
abrangen. Boric war einer der An- Die aktuelle Verfassung war 1980 längst verflogen. Ein Großteil der Be-
führer auf den Barrikaden, er war unter General Augusto Pinochet ge- völkerung ist unzufrieden mit diesem
überzeugt davon, dass es nur einen schrieben worden und hatte das Land jungen Präsidenten, der die Probleme
Ausweg aus der Krise geben könne: Präsident Boric: Die
auf einen neoliberalen Kurs gesetzt. nicht in den Griff bekommt. Die Wirt-
eine neue Verfassung. Euphorie ist verflogen Ihr Wohlstandsversprechen löste sie schaft kommt nach der Pandemie nur
»Es war nicht einfach«, sagte Bo- jedoch vor allem für eine privilegier- langsam wieder in Gang. Die Inflation
ric, als man ihm Anfang Juli den Ent- te Elite ein. Viele Menschen können ist hoch, die Städte sind noch immer
wurf der neuen Charta überreichte. sich die privaten Schulen und Kran- so unsicher wie vor der Wahl.
Er stand auf einer Bühne im alten kenhäuser heute nicht mehr leisten. Ein Votum gegen die neue Verfas-
Parlamentsgebäude, wo die Mitglieder In ländlichen Regionen bewässern sung wäre auch Boric’ Niederlage.
des Verfassungskonvents in den ver- Großgrundbesitzer ihre Felder aus Nicht ausgeschlossen, dass es dann
gangenen Monaten getagt hatten. In- privatisierten Brunnen, während die wieder zu Unruhen kommt, auch
zwischen ist Boric selbst Präsident, Bewohner der angrenzenden Dörfer wenn die Politologin Dávila glaubt,
ein 36-jähriger, tätowierter Millen­ oft vergebens auf Trinkwasserliefe- dass die Chilenen zu erschöpft sind,
nial, der immer noch nicht ganz in rungen warten. um erneut in Massen zu protestieren.
seine Rolle und die dunklen Anzüge Es ist Konsens in Chile, dass dieses Lehnt das Volk die neue Verfassung
hineingefunden hat. System die soziale Ungleichheit ver- ab, dann bleibt die alte vorerst in
Boric sprach von einem histori- tieft hat, aber es ist unklar, was daraus Kraft. In diesem Fall, hat Boric an-
schen Moment – aber ob die Verfas- folgen soll. Laut jüngsten Umfragen gekündigt, würde es Beratungen da-
sung den Anfang einer neuen Zeit lehnt knapp die Hälfte aller Wahl­ rüber geben, wie man die Arbeit an
markiert, darüber werden am 4. Sep- Verfassungsgegner berechtigten die neue Verfassung ab, einer neuen Charta repräsentativer
in Santiago: Eine
tember 15 Millionen Bürgerinnen und historische Chance die Befürworter kommen auf rund machen könnte. So oder so dürfte der
Bürger entscheiden. Die Abstimmung für Chile 38 Prozent. Einer der Gründe für die Prozess, die knapp 400 Artikel in Ge-
gilt nicht nur in Chile als die wichtigs- setze umzuwandeln, wohl Jahre dau-
te der vergangenen Jahrzehnte. Auch ern – auch weil Boric’ Regierungs-
in anderen Teilen der Welt werden koalition in keiner der beiden Parla-
sich die Blicke auf Santiago richten. mentskammern eine Mehrheit hat.
Denn der Verfassungsentwurf, der Und während Boric die Verfassung
viele Forderungen der Proteste auf- nicht allzu offensiv bewerben darf,
greift, ist weltweit wohl der erste, an weil ihm die Opposition sonst Partei-
dem Frauen und Männer gleichbe- lichkeit vorwirft, halten ihre Anhän-
rechtigt gearbeitet haben. Und er ist ger derzeit Massenlesungen auf öf-
einer der ersten, die in Zeiten des Kli- fentlichen Plätzen ab. Viele ziehen
mawandels entstehen. von Haus zu Haus, um die Unent-
Die Frage ist, ob die als eher kon- schiedenen zu gewinnen. Man kann
servativ geltenden Chilenen bereit nicht sagen, dass die Chilenen das
sind, mehrheitlich für ein Dokument alles nicht interessiert. Das lilafarbe-
Mar tin Bernetti / AFP

zu stimmen, das die »Washington ne Büchlein, das Boric Anfang Juli


Post« kürzlich als ziemlich »woke« überreicht wurde, steht auf den Best-
beschrieb. Sollte es so kommen, sagt sellerlisten inzwischen ganz oben.
die Politologin Mireya Dávila, dann Marian Blasberg n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 71


AUSLAND

strecke. In den mehr als acht Jahren Besetzung


hat der Kreml die Halbinsel zu einer Festung
ausbauen lassen; immer wieder wurde wäh-
rend der Invasion Kriegsgerät per Lastwagen

Revolverdrohnen und
und Bahn auf die Krim gebracht. Und genau
dieses nehmen die Ukrainer nun ins Visier.
Ob Kiews nadelstichartige Angriffe auf der

Kamikazeflieger
Halbinsel eine Verlegenheitsoffensive sind
oder ob sie mittelfristig den Boden für einen
Einmarsch ebnen, ist nicht absehbar. Klar ist,
dass es den Ukrainern nach den harten Kämp-
fen im Donbass an gut ausgebildeten und aus-
UKRAINE  Auf der russisch besetzten Krimhalbinsel explodieren Munitions- gerüsteten Truppen für eine größere Offensive
fehlt. Die kleineren Attacken gegen die Krim
depots, Militäranlagen werden attackiert. Die Anschläge zeigen: Die schicken dagegen eine klare Botschaft nach
ukrainische Armee kann den Gegner an einer empfindlichen Stelle treffen. Moskau: Ihr könnt euch selbst hier nicht mehr
sicher fühlen. Russland wird zwar versuchen,
den Luftraum über der Halbinsel besser abzu-

D
ie Brücke über die Meerenge von nennt. Deshalb musste die Brücke nach der riegeln, aber die Kombination aus hochmo-
Kertsch ist 19 Kilometer lang, steht auf Annexion der Krim 2014 so schnell wie mög- derner Artillerie aus US-Beständen, Drohnen-
fast 600 Pfeilern und ist spätestens seit lich errichtet werden. Den Bauauftrag über- angriffen und Sabotageakten von Partisanen
dieser Woche einem größeren Publikum nahm praktischerweise Putins Jugendfreund, ist wohl auf Dauer schwer zu kontrollieren.
außerhalb der Ukraine bekannt. Zu verdan- der Milliardär Arkadij Rotenberg. Mehr als Die jüngsten Waffenlieferungen interna-
ken hat sie das dem Verteidigungsministerium drei Milliarden Euro kostete die Brücke, sie tionaler Verbündeter dürften der Ukraine zu-
in Kiew, das auf Twitter eine Videomontage verbindet Kertsch auf der russisch besetzten sätzlich helfen. Taiwan hat offenbar granat-
veröffentlichte. Auf dem Clip, der tausend- Krim mit der Halbinsel Taman auf dem rus- werfende Revolverdrohnen geschickt, die
fach geteilt wurde, sind die zwei mächtigen sischen Festland. Die 600 Pfeiler sind im USA wollen weitere panzerbrechende Lenk-
Bögen der Brücke zu sehen; im Vordergrund schlammigen und sandigen Untergrund mit waffen vom Typ Switchblade 600 liefern –
dümpelt ein rosafarbenes Schlauchboot mit rund 7000 Pfählen verankert, die bis zu 105 Kamikazedrohnen. Im Zusammenspiel mit
einem US-Mehrfachraketenwerfer vom Typ Meter tief in den Grund des Schwarzen Mee- Kiews vorhandenem Arsenal könnten sie den
Himars. Darüber der Schriftzug: »Kertsch- res gerammt wurden. Besatzern das Leben schwer machen.
Brücke … wir haben dich im Blick!« Putin eröffnete das Bauwerk gleich zwei- Die russische Führung unternimmt derzeit
Die Montage war eine unverhohlene Dro- mal – das erste Mal überquerte er die Brücke alles, um Bewohner und Touristen zu beru-
hung gegenüber Moskau: Sechs Monate nach im Jahr 2018 am Steuer eines orangefarbenen higen. Mehrere Gesprächspartner auf der
dem Beginn des russischen Angriffskriegs Lastwagens, das zweite Mal im Jahr darauf Krim beteuern gegenüber dem SPIEGEL am
nimmt das ukrainische Militär die strategisch in einer Lok über die fertig gebaute Bahn- Telefon, die Stimmung sei recht gelassen, sie
wichtige Krimbrücke ins Visier. Die Schwarz- trasse. In den Staatsmedien wurden diese Er- hätten keine Angst. Weshalb solle sie sich
meerhalbinsel, zuletzt für die ukrainischen eignisse, wie zuvor die Annexion, als Triumph ­Sorgen machen, fragt eine Vermieterin von
Streitkräfte noch unerreichbar, ist jüngst im- gefeiert: »Die Krim gehört uns«, hieß es stolz. Ferienwohnungen aus Alupka an der Süd-
mer wieder Ziel von Angriffen geworden – Vor allem ältere Russinnen und Russen ver- küste. »Was kommt, können wir ohnehin
russische Munitionsdepots explodierten, min- binden mit der Krim nostalgische Erinnerun- kaum beeinflussen, wir leben von einem Tag
destens neun Militärjets wurden bei einem gen an Sommerurlaube zu Sowjetzeiten, als zum anderen.« Noch würden Touristen auf
Anschlag zerstört, eine Drohne schlug im es noch keine Rolle spielte, dass die Halbinsel die Halbinsel reisen, und das sei gut so.
Marine-Hauptquartier von Sewastopol ein. zur ukrainischen Sowjetrepublik gehörte. Für Eine Mehrheit der Krimbewohner unter-
Inzwischen muss das russische Militär regel- sie ist die Krim ein Sehnsuchtsort geblieben, stützt die Annexion durch Russland. Moskau
mäßig die Flugabwehrsysteme auf der Halb- besungen in vielen Liedern. hat in den vergangenen Jahren mehrere Mil-
insel aktivieren. Jeden Sommer fahren nun Hunderttausen- liarden Euro in Straßen, Energieversorgung
Und jetzt rückt sogar ein größer angelegter de russische Touristen über die Kertsch-Brü- und den Ausbau des Tourismus investiert und
Angriff der Ukrainer auf die Kertsch-Brücke cke im Auto oder mit dem Zug auf die Halb- dafür gesorgt, dass die Renten pünktlich aus-
in den Bereich des Möglichen, sofern Kiew insel – ein Foto mit der Brücke im Hinter- gezahlt werden. Der Inlandsgeheimdienst
Munition mit der nötigen Reichweite erhält. grund gilt als wichtiger Urlaubsschnapp- FSB und die Sicherheitsbehörden greifen hart
Jeder der russischen Verantwortlichen, die schuss. Selbst einen eigenen Film widmete gegen Kritiker des russischen Regimes wie
»das kostbare Land der Krim« besetzen, sol- das Regime dem Bauwerk, Titel der schnul- etwa Krimtataren durch.
le sich daran erinnern, »dass dies nicht das zigen und ziemlich unlustigen Komödie: Und dennoch gibt es auch Zeichen der Be-
Land ist, in dem sie Ruhe finden werden«, »Krim-Brücke. Mit Liebe gemacht«. sorgnis. Der Bürgermeister von Sewastopol,
drohte diese Woche der ukrainische Präsident Für Putin ist die Brücke der Beweis exzel- Michail Raswosschajew, hat gerade angeord-
Wolodymyr Selenskyj auf einer virtuellen lenter russischer Baukunst, zumal in Zeiten net, die Schutzkeller der Hafenstadt besser
Krimkonferenz, zu der sich auch Bundeskanz- westlicher Sanktionen. Zudem dient sie der zu kennzeichnen. Der von den Russen ein-
ler Olaf Scholz und der kanadische Minister- russischen Armee mit der auf der Krim statio- gesetzte Krimchef Sergej Aksjonow ruft über
präsident Justin Trudeau zugeschaltet hatten. nierten Schwarzmeerflotte als Verbindungs- seinen Telegram-Kanal regelmäßig dazu auf,
Vertreter der ukrainischen Führung machen Ruhe zu bewahren. Die staatlichen Medien
seit Wochen klar, dass sie Ziele auf der Krim erklären, die Luftabwehr arbeite effektiv und
für legitim halten. schütze die Menschen. Die Botschaft lautet:
Für viele Ukrainerinnen und Ukrainer keine Panik.
stellt die Kertsch-Brücke ein schmerzhaftes Nahe der Brücke mussten Auch Wladimir, 37 Jahre alt, betont, er
Symbol dar. Mit dem Mammutbauwerk woll-
te Putin das vollenden, was er die »Heimho-
Raketen ukrainische ha­be akut keine Angst. Er lebt in Sewastopol
und arbeitet als freier Videoproducer. Am
lung« der ukrainischen Schwarzmeerhalbinsel ­Drohnen abfangen. Telefon erzählt er, dass er trotzdem den

72 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


AUSLAND

Harte Gegenschläge
Mutmaßliche ukrainische Operationen gegen russische Militärstandorte auf der Krim
Angriffsziele seit russische Militäreinrichtungen russische Luftwaffenstützpunkte
August
UKRAINE
Planet Labs PBC, ICEYE, Twitter / RALee85

Asowsches
Meer

Dschankoj
18. August
Das russische Flugabwehrsystem in Kertsch
Munitions- feuert russischen Medien zufolge auf ukrainische
lager Angreifer. Die dortige Brücke ist von enormer
strategischer Bedeutung – sie verbindet die Krim
KRIM mit Russland.
seit 2014 von Russland annektiert Kertsch

Luftwaffenstützpunkt
Jewpatorija Gwardijske
20. August RUSSLAND
Eine ukrainische Drohne Feodossija
steuert das Hauptquartier
der russischen Marine in Simferopol
Sewastopol an und explo-
diert im Ziel. Es ist bereits der
zweite Angriff dieser Art auf
die Hafenstadt. UKRAINE

Luftwaffenstützpunkt
Belbek
Schwarzes
Sewastopol Meer 9. August
Jalta Mehrere schwere Explosionen zerstören
auf dem Luftwaffenstützpunkt Saky 50 km
S Quellen: Status-6, eigene Recherchen mindestens neun Kampfflugzeuge.


Schutzkeller in seinem Haus überprüft habe, Emil, 35 Jahre alt, ein Verkäufer, unter­ die Dominanz in dem Binnenmeer ein­
für alle Fälle. Wladimir möchte wie alle an­ stützt die Drohnenangriffe der Ukraine. Er schränkt. Die Rolle russischer Schiffe be­
deren Gesprächspartner auf der Krim seinen zählt zur Minderheit jener Krimbewohner, schränkt sich dort aktuell nur noch auf gele­
echten Namen nicht veröffentlicht sehen. Er die auf die »Befreiung« durch die Ukraine gentliche Raketenangriffe auf das Festland.
sagt, er würde sich wünschen, dass seine El­ hoffen, wie er dem SPIEGEL per Chat schreibt: Die Frage ist nun, ob das ukrainische Mi­
tern für eine Weile auf die Familiendatscha »Meine Familie und ich werden nicht weg­ litär in der Lage ist, die Kertsch-Brücke wirk­
in einem der Dörfer ziehen – weit weg von gehen, wir haben einen Keller, Lebensmittel, lich zu zerstören. Für einen Angriff auf die
militärischen Einrichtungen in Sewastopol. Erste-Hilfe-Kästen, Wasser und Treibstoff massive Beton-und-Stahl-Konstruktion, die
Er glaubt, dass die Flugabwehr zwar gut funk­ vorbereitet und bleiben bis zum Ende.« Eini­ rund 300 Kilometer von der Front entfernt
tioniere, aber auf der Krim bald eine ähnliche ge seiner Verwandten glaubten, die Drohnen­ liegt, bräuchte es wohl Raketen größerer
Situation wie in Israel herrschen könnte, das angriffe könnten eine Show des russischen Reichweite – nach bisherigem Stand besitzt
regelmäßig angegriffen wird. Und selbst wenn Militärs sein, nach dem Motto: »Seht her, wie die Ukraine solche Raketen nicht. Kiew ent­
die Krimbrücke attackiert würde, sagt Wladi­ gut wir euch schützen«, ein Event für Touris­ wickelt derzeit die Kurzstreckenrakete Hrim-
mir: »Ich habe lange Jahre ohne diese Brücke ten und Einheimische, die Fotos teilen wür­ 2, die theoretisch so weit fliegen kann, aber
gelebt, ich werde schon einen Weg finden.« den. Emil glaubt dagegen, dass ukrainische wohl noch nicht einsatzbereit ist. Die USA
Gut möglich, dass der Krieg bald bis in die Partisanen für einige der Anschläge auf der oder andere Verbündete könnten zwar Artil­
Ferienorte der Halbinsel vordringt. Zu Beginn Krim verantwortlich seien. leriemunition liefern, die Kertsch erreichen
der ukrainischen Angriffe reagierten vor al­ Abgesehen vom Symbolwert stellen die kann, hatten dies aber bisher ausgeschlossen.
lem Touristen in den ersten Tagen entsetzt Attacken Russlands Truppen vor immer mehr Die Ukraine wird weiterhin versuchen, mit
und filmten aufsteigende Flugabwehrraketen. Probleme. Zu Kriegsbeginn diente die Halb­ Attacken auf der Krim Angst zu schüren.
Die sind nun auf der Halbinsel regelmäßig im insel auch als wichtiger Versorgungsknoten Schon jetzt sind die Schläge ein Problem für
Einsatz – auch in Kertsch nahe der Krimbrü­ für die russische Offensive im Süden, die aus die Logistik des russischen Militärs, das durch
cke mussten russische Raketen offenbar ukra­ Kremlsicht weitaus erfolgreicher verlief als Angriffe auf Munitionsdepots in der Ostukra­
inische Drohnen abfangen. Ein Tourist aus die in Kiew oder im Donbass. Von Sewastopol ine ohnehin strapaziert ist. Eine Explosion
Moskau berichtet dem SPIEGEL , dass er vor aus hielt Moskau zudem die Seeblockade auf­ am Verladepunkt Dschankoj auf der Krim
wenigen Tagen, als er mit dem Zug über die recht. Ein halbes Jahr später ist davon nicht Mitte August unterbricht die Versorgung per
Brücke fuhr, Suchscheinwerfer am Himmel mehr viel übrig. Der Angriff auf die Luftwaf­ Zug nun weiter. Der Nachschub muss jetzt
gesehen habe, während in den ­Waggons das fenbasis Saky beraubte die Schwarzmeerflot­ per Lastwagen an die Front gebracht wer­
Licht abgeschaltet gewesen sei – aus Sicher­ te eines großen Teils ihrer Kampfjets, was den – über einen mehrstündigen Umweg.
heitsgründen, wie es geheißen habe. nach dem Verlust des Flaggschiffs »Moskwa« Oliver Imhof, Sven Petersen, Paul Svensson n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 73


AUSLAND

Die Chinafalle

Elizaveta Galitckaia / Shutterstock


GLOBALISIERUNG  Mit fragwürdigen Großprojekten kettet die Führung in Peking die Staaten des Balkans
an sich. Die Folge: Länder wie Montenegro können ihre Schulden kaum
noch bedienen, Naturschutzgebiete werden zerstört. Und die EU schaut tatenlos dabei zu.

F
ragt man ihn, wie er die Zukunft ke in Bosnien, neue Kohlemeiler in Autobahnbrücke Corporation (CRBC) verklagt. Sechs
sehe, sagt Periša Bošković: Serbien, Brücken, Autobahnen – vie­ in Montenegro: Die Jahre lang hatten dessen Arbeiter
Umwelt scheint
»grau«. Denn grau ist vieles in le Projekte wären ohne die Chinesen keine Rolle zu spielen Tunnel durchs Gestein gebohrt, Fluss­
seinem Leben. Der Staub, der sich auf so nicht möglich. läufe zerstört und ihm einen Teil des
die Obstbäume legt. Der Rasenrest Nur: wie umgehen mit einem Aushubs vor die Füße gekippt. Ein
vor seiner Einfahrt, neben der rund Land, das im Windschatten des einfacher Pensionär gegen ein von der
um die Uhr Laster mit Steinen vorbei­ Ukraine­kriegs immer selbst­bewusster eigenen Regierung hofiertes Milliar­
rumpeln. Und der fünf Meter hohe seine hegemonialen Interessen ver­ denunternehmen – der Plot hätte das
Wall aus Bauschutt, den sie vor ein tritt und politische Solida­rität für sei­ Zeug zu einem Politthriller. Dabei will
paar Jahren in seinen Garten gekippt ne infrastrukturelle Hilfestellung ein­ Bošković lediglich nicht hinnehmen,
haben. fordert? Wie tritt man einer Diktatur dass sein Land und sein Garten zer­
Bošković, pensionierter Polizist gegenüber auf, die aus lauter Leise­ stört werden.
mit raspelkurzen grauen Haaren, hat treterei auch in Deutschland kaum Die chinesische Botschaft in Mon­
sich hier in den Bergen Montenegros jemand so zu nennen wagt? tenegro weist jede Kritik zurück und
ein Ferienhaus gebaut. Ein Refugium
mit Gemüsebeeten und einer kleinen
Schnapsbrennerei im Schuppen. Ein
Die Regierung Montenegros bat
im ­April 2021 die EU, ihr bei der Be­
gleichung des Darlehens zu helfen.
944
Millionen
spricht von einer »Win-win-Situa­
tion«. Dabei sieht es eher danach aus,
als könnte sich das Balkanland mit
Stück Paradies in der Nähe der neuen Aus eigener Kraft könne sie die dem Projekt ruinieren. Gut 30 000
Autobahn, die zum Albtraum wurde, 944 Millionen Dollar für den 41 Kilo­ Dollar zahlende Mautfahrer pro Tag wären
nicht nur zu seinem. meter langen Autobahnabschnitt nötig, um die jährlichen Kreditraten
Mit knapp einer Milliarde Dollar
hat sich Montenegro bei den Bau­
nicht aufbringen. Die EU-Kommis­
sion lehnte ab, man zahle nicht Kre­
muss Monte- tilgen zu können, Verkehrsberech­
nungen gehen von einem Viertel der
herren aus China verschuldet und dite zurück, »die von Dritten ent­ negro für Menge aus. Völlig unklar bleibt, wie
fürchtet nun, die Kreditraten nicht gegengenommen werden«. 41 Kilometer der Rest der Schnellstraße finanziert
mehr tilgen zu können. Nirgendwo in Periša Bošković wählte einen an­ werden soll – im Norden bis zur ser­
Europa hat sich China so reingehängt deren Weg. Er hat den chinesischen an China bischen Grenze und im Süden bis zum
wie auf dem Balkan: Wasserkraftwer­ Konzern Chinese Road and Bridge zahlen. Mittelmeerhafen Bar. Was bisher

74 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


AUSLAND

steht, ist eine »Autobahn ins Nichts«, so der zierung von Fortschritt, als Renaissance alter
Titel eines Dokumentarfilms über das Projekt. Handelsrouten zwischen Asien und Europa.
Ob die Fernstraße jemals fertig wird, ist offen. In Südosteuropa und auf dem Balkan ist
Die Schäden besichtigen kann man indes China besonders aktiv. Mal springt das Land
schon heute, denn der vermeintliche wirt­ in Serbien als Investor für Kohlekraftwerke
schaftliche Aufschwung geht fast immer mit ein, wenn die EU eine Finanzierung ablehnt.
brachialer Naturzerstörung einher. Mal angelt man sich in Kroatien den Auftrag
Irgendwann, so Bošković, seien Verant­ für den Bau einer Riesenbrücke bei Dubrov­
wortliche der nahen Stadt Kolašin gekom­ nik, bei der 85 Prozent der Gelder aus EU-

Nils Klawitter / DER SPIEGEL


men, mit einem Einwilligungsformular. Ganz Fördermitteln stammen. Die klamme griechi­
im Sinne der chinesischen Bauherren sollte sche Regierung erfreuten die Chinesen 2009
er unterschreiben, dass die Halden vor seinem mit der Übernahme des Hafens in Piräus
Haus dem Hochwasserschutz vor dem Flüss­ durch das Staatsunternehmen Cosco Pacific –
chen Drcka dienten. Ein Fünfmeterdeich aus der Hafen stieg danach zu den Top fünf in
Schutt für einen Bach? »Die wollten mit der Europa auf. Wohl als Dank blockierte Grie­
Unterschrift eine quasi illegale Sache rein­ chenland 2018 eine gemeinsame Erklärung Kläger Bošković vor Abraumhalde
waschen«, glaubt Bošković. Die Regierung der EU zur Menschenrechtslage in China.
will sich dazu auf Anfrage nicht äußern. Die Umwelt scheint bei all den Projekten worden. Laster fahren das Ufer entlang, das
CRBC hat auf Fragen nicht reagiert. keine Rolle zu spielen. Auf Luftaufnahmen ist Flusstal ist zum Materiallagerplatz geworden,
Die Sprachlosigkeit hat System. Zwischen zu erkennen, wie sich die neue Autobahn aus »die Baufirmen haben ihre Zementmischer
der Politik und den chinesischen Investoren den Höhen Montenegros als breites, graues im Wasser gesäubert«, so Lazarević.
herrsche »die Omerta«, das Gesetz des Band durch die grünen Berge bis kurz vor die Nach Jahren der Regentschaft von Milo
Schweigens, sagt Dejan Milovac von der Bür­ Hauptstadt Podgorica hinabwälzt. Mehrere Djukanović hatte Montenegro seit vergange­
gerrechtsorganisation MANS. Dutzende An­ Kilometer führt die Trasse an der Tara entlang, nem April zwar einen grünliberalen Minister­
fragen zur Autobahn hat die auf Korruptions­ einem der letzten großen Wildflüsse der Region. präsidenten, der bereits im Fernsehen ein­
recherchen spezialisierte Organisation ge­ Das Flusswasser, sagt Mile Lazarević, sei geräumt hat, dass die ganze Sache mit dem
stellt, aber kaum Antworten bekommen. Die entlang der Brückenbaustellen für die neue Autoput »ziemlich undurchsichtig« sei. Seit
Kommunikation zwischen der Regierung und Autobahn »völlig vermodert«. Lazarević ist vergangener Woche allerdings ist er nach
CRBC, die Ergebnisse der Umweltschutz­ im Bergort Kolašin geboren, wo der Autoput einem verlorenen Misstrauensvotum nur
inspektionen, die Steuervorteile auch für die A 1 endet. Er hat in den USA und der Schweiz noch kommissarisch im Amt – und geändert
lokalen Subunternehmer, darunter Freunde gearbeitet. Zurückgezogen in seine Heimat hat sich laut Lazarević sowieso nichts.
des Präsidenten Milo Djukanović – das alles hat ihn der Strom, in dem er schon Äschen Dabei ist die Tara theoretisch doppelt und
wird als Geheimsache behandelt. »Der Vorteil und Bachforellen geangelt hat, als er fünf Jah­ dreifach gesichert, durch die Unesco und den
ist, dass die Verwüstungen und Ungereimt­ re alt war. An diesem Morgen steht Lazarević Status als Natura-2000-Gebiet etwa. Schutz
heiten so groß sind, dass man sie nicht ver­ am Fuß der Pfeiler der neuen Autobahnbrü­ aber scheint das kaum mehr zu bieten. Die
stecken kann«, sagt Milovac. cke von Kolašin. Zwischen Geröllhaufen und neue Regierung bestätigt schriftlich: Am Ende
Es scheint das neue Kalkül der chinesischen aufgeschichtetem Bruchholz blickt er auf ein der Prüfung durch die Unesco könnte die
Politik zu sein, Länder mit Infrastrukturpro­ kaum zwei Meter breites Rinnsal. »Die Tara »Streichung des Gebiets aus der Liste der
jekten in die Schuldenfalle zu treiben und ist hier quasi ein toter Fluss«, sagt er. Ein sol­ Weltbiosphärenreservate« stehen.
politisch zu konditionieren. Unter dem Label ches Wildwasser brauche Platz zur Entfal­ Ein zugesagtes Gespräch mit dem SPIEGEL
»Neue Seidenstraße« werden die Vorhaben tung, hier jedoch sei das gesamte Flussbett sagt die Umweltministerin kurzfristig ab und
allerdings ganz anders beworben: als Finan­ versetzt und zwischen Abraum gezwängt schickt den Direktor der Umweltschutzbehör­
de vor. Der berichtet vom täglichen Kampf
mit Investoren, erzählt, was er alles zu stop­
Kolonien des Drachen pen versuche – aber dass der Highway auf je­den
Fall zu Ende gebaut werden müsse. N ­ atürlich
Große Bauprojekte mit chinesischer Beteiligung in Balkanstaaten (Auswahl), in Mio. Euro seien Ausgleichsmaßnahmen vorgesehen, auch
SLOWENIEN Modernisierung eine Liste mit Verboten reicht das Ministerium
der Bahnstrecke später nach. Strengstens untersagt sei etwa das
Belgrad–Budapest
Kohlekraftwerke in
1045 Mio. € Entsorgen von Aushub in Flussbetten oder an
Tuzla 722 Ufern und das Waschen von Betonmischern,
Ugljevik 700 Stahlwerk Smederevo
Stanari 350 Stanari Belgrad 1400
-pumpen und anderem Betongerät. Auch der
Kostolac
Tuzla Ugljevik Smederevo
Flusslauf dürfe nicht verändert werden. Da der
Kohlekraftwerk Kostolac
BOSNIEN UND
640
Auftragnehmer nicht alle dieser Verbote ein­
KROATIEN HERZEGOWINA SERBIEN gehalten habe, seien nun »Umweltverantwor­
Sarajevo RUMÄNIEN
Autobahn E763
tungsverfahren« eingeleitet worden, offenbar
Kalinovik 952 BULGARIEN
ein Synonym für Hilflosigkeit.
Während Strafen für den Baukonzern
Wasserkraftwerke CRBC auf sich warten lassen, sind die Ge­
am Fluss Neretva Kolašin Autobahn fahren für Montenegro recht konkret. Allein
MONTE- KOSOVO Miladinovci–Stip
Autobahn die erste Kreditrate von 65 Millionen Euro
NEGRO Podgorica 203
Bar–Boljare
867 Bar im vergangenen Jahr war eine enorme Be­
Autobahn
Skopje Kičevo–Ohrid lastung für das Staatsdefizit, das bei rund vier
NORD- 370 Milliarden Euro liegt. Sollte Montenegro nicht
ALBANIEN MAZEDONIEN mehr zahlen können, müsste es womöglich
100 km
Hoheitseigentum an die chinesische Staats­
bank übertragen, wie es Sri Lanka passiert
S Quellen: GTAI, eigene Recherchen; Karte: OpenStreetMap ist: Bereits 2017 verpachtete der finanziell


Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 75


AUSLAND

angeschlagene Staat einen wichtigen Hafen


an China. Dort legte vor einigen Tagen zum
»Hier droht einer der werde hier sterben«, sagt die 68-Jährige.
Schon zu jugoslawischen Zeiten habe es an
Unmut Indiens ein chinesisches Spionage- ­schönsten und wertvollsten der Neretva Erkundungen für einen Damm
schiff an. In Montenegro wäre der Tiefwasser-
hafen in Bar ein interessantes Objekt. Von
Flusslandschaften Europas gegeben, erinnert sie sich. Aber die seien we-
gen der schwierigen geologischen Bedingun-
dort soll die Autobahn am Ende bis Belgrad der Ökozid, bevor sie gen in der Schlucht abgebrochen worden.
führen, wo die Chinesen aktuell eine Eisen-
bahnverbindung nach Budapest bauen. Nord-
­überhaupt erforscht ist.« »Mit Erdrutschen haben die bis heute zu
kämpfen«, sagt sie. »Einfach und billig«, wie
europäische Häfen wie Rotterdam oder Ham- Ulrich Eichelmann, Naturschutzaktivist sich der Investor das wohl vorgestellt habe,
burg wären dann kaum mehr nötig, um diese »geht das hier nicht«.
Region mit Waren zu beliefern. Mit Protest indes hält sich Sikimić zurück.
»Die EU wird Montenegro da nicht raus- Sie weiß von den glühenden Befürwortern
boxen«, sagt Adnan Huskić, Experte der den südlich von Sarajevo. Dort wird eines des Projekts im nahen Ort Kalinovik. Die chi-
Friedrich Naumann Stiftung für den West- von gut einem Dutzend Wasserkraftprojekten nesischen Manager und Vorarbeiter logieren
balkan. Aber sie täte gut daran, die Balkan- gebaut. Auch hier waren Chinesen als Finan- im Hotel des Bürgermeisters, der gut bekannt
länder stärker in den EU-Markt einzubinden, ziers im Gespräch, bisher allerdings sorgen ist mit dem bosnischen Serbenführer Dodik.
statt sie hinzuhalten und mehr Instabilität und sie nur für die Bauarbeiten: Arbeiter des Am Ortseingang steht ein Ehrenhain mit
EU-Entfremdung zu riskieren. »Die EU muss Staatskonzerns Sinohydro ziehen in fast un- einem Konterfei des Kriegsverbrechers Ratko
hier sichtbarer werden, sonst wird das EU- berührter Natur einen 53 Meter hohen Stau- Mladić, der ganz in der Nähe geboren wurde.
Bashing immer populärer, wie man in Serbien damm hoch. Bei Sikimić schauen an diesem Nachmittag
sieht, das bereits chinesische Überwachungs- Investor ist die serbische EFT-Gruppe, die einige Umweltschützer vorbei. Sieben weite-
technologie erhält.« bereits ein Kohlekraftwerk mithilfe chinesi- re Wasserkraftwerke an der oberen Neretva
China nutzt noch andere Enterhaken in scher Finanzierung baute – eines allerdings, sind in der Genehmigungsphase – laut Minis-
der Region, die Energieversorgung zum Bei- dessen Technik nach Recherchen der NGO terium völlig unproblematisch. Insgesamt
spiel. In Bosnien-Herzegowina sollte das Bankwatch schon veraltet war, als es 2016 den sollen sich an der Neretva und ihren steilen
riesige Kohlekraftwerk Tuzla nach dem Mus- Betrieb aufnahm. Ähnlich fragwürdig, so Nebenflüssen mehr als 70 meist kleinere
ter des Autoputs mit chinesischer Hilfe und Bankwatch, sei das 75 Millionen Euro teure Wasser­kraftwerke aneinanderreihen. Für die
bosnischen Staatsgarantien ausgebaut wer- Wasserkraftprojekt. Eine zuerst durch chine- Stromerzeugung sind sie wenig rentabel, ihr
den. Aktuell liegen die Pläne auf Eis, weil sische Banken geplante Finanzierung sei ge- Schaden für die Umwelt gilt als groß. »Hier
sich das US-Unternehmen General Electric scheitert. China sei wieder ins Spiel gekom- droht einer der schönsten und wertvollsten
aus politischen Gründen aus dem Projekt zu- men, als EFT das Projekt nach dem Tod Flusslandschaften Europas der Ökozid, bevor
rückgezogen hat und die bosnische Regierung zweier bosnischer Arbeiter durch Erdrutsche sie überhaupt erforscht ist«, sagt Ulrich
nicht allein auf die chinesische Alternative set- neu aufgesetzt habe. Die Chinesen wurden Eichelmann von der Wiener NGO River-
zen will. angeheuert, um es zu retten. Seit Sommer watch, die sich seit Jahren für die letzten Wild-
In der Republika Srpska, dem vor allem 2020 leben die asiatischen Arbeiter in Con- flüsse Europas einsetzt.
von bosnischen Serben bewohnten Landes- tainern auf der Baustelle. Beide Unternehmen Er organisiert nun den Widerstand. Mehr
teil, ist die Skepsis gegenüber der EU beson- ließen Fragen unbeantwortet. als 50 Wissenschaftler aus neun europäischen
ders groß. »Europa will uns ja nicht«, sagt Miljana Sikimić’ Haus steht auf einer Fels- Ländern hat er eingeladen, um nachzuweisen,
Petar Djokić bei einem Gespräch in Banja terrasse direkt über der Baustelle. Einen Teil wie groß die Artenvielfalt vor Ort ist. Nachts
Luka. Djokić ist Energieminister der Repu- ihrer Felder musste sie an den Investor ver- legen sich Fledermausspezialisten auf die Lau-
blika. Seit Jahren stockt der Beitrittsprozess. kaufen. Ziegen und Hühner hat sie abge- er. Morgens hat ein Biologe Otterkot gefun-
Er würde die EU ja vorziehen, aber wer einen schafft. Statt auf den grünen Berghang guckt den. Es gibt Bären, Wölfe und vermutlich
so demütige, der müsse verstehen, »dass sie nun auf Lastwagen und Baustellensilos. auch Luchse in den Wäldern der Neretva, ge-
man das Geld von dort nimmt, wo es am Doch wegziehen will sie nicht. »Ich bin hier fundene Tatzenspuren legen das nahe. Auch
­günstigsten ist«, so Djokić. Das sei nun mal geboren, fühle mich als Teil dieser Natur und die seltene Weichmaulforelle ging ins Netz
China, dort werde man »als Partner akzep- der Fischökologen. Jedes Kraftwerk macht
tiert und nicht mit politischen Forderungen ihre Laichplätze schwerer erreichbar, jede
überzogen«. Sedimentschwemme kann ihre Eier ersticken.
Ähnlich gering scheinen die Berührungs- Bald wird es neue Umweltverträglichkeits-
ängste gegenüber Russland zu sein. Mitte Juni prüfungen (UVP) für die nächsten Kraftwer-
erst traf Djokić’ politischer Chef Milorad Do- ke geben. Nun allerdings müssen sie gegen
dik den Kriegsherrn Wladimir Putin in Sankt die Tiefenrecherche von gut 50 Spezialisten
Petersburg. Er dankte für günstige Gaspreise bestehen – und ihre akribischen Aufzeich-
und kam mit dem Projekt einer Gaspipeline nungen. Ein wissenschaftlicher Bericht wird
zurück, die entlang des Flusses Drina verlau- folgen. Damit müssten sich dann auch Inves-
fen soll. Zwar heizt kaum eine Gemeinde mit toren und Behörden auseinandersetzen. »Die
Gas, wie der Energieminister einräumt, doch bisher verbreitete Masche, die nötige UVP
Russland scheint auf dem Balkan nach neuen quasi zu faken, die Biodiversität gar nicht
Absatzmöglichkeiten für seine Energie zu su- wirklich zu untersuchen und dann grünes
chen. Den Vorflur des Ministerbüros schmü- Licht für den Bau zu geben – das wird dann
cken Fotos von Kohlemeilern. Sie sorgen da- kaum mehr möglich sein«, sagt Naturschützer
für, dass die Teilrepublik laut Djokić sogar Eichelmann, der bereits eigene Anwälte in
30 Prozent ihres Stroms exportieren kann. Stellung gebracht hat. Für die vermeintlich
Fabian Weiss / laif

Doch Djokić will künftig mehr grünen Strom grüne Energie könnte es schwer werden. Und
produzieren, auch zum Export. Das sei eine chinesische Investoren könnten die Lust ver-
saubere Sache. lieren: Sich um Artenvielfalt zu kümmern gilt
Wie sauber die Sache wirklich ist, lässt sich nicht als ihre Kernkompetenz.
am Fluss Neretva begutachten, gut zwei Stun- Autoput-Arbeiter aus China Nils Klawitter n

76 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


Dein SPIEGEL  Leseprobe

Was wissen Kinder über die Klimakatastrophe? beginnt, muss ich sichergehen, dass keine Tiere in Gefahr sind.
Die Lethargie der Klimapolitik macht Kinder wütend. Sie wissen: Besonders schön und spannend ist es, Fledermäuse zu finden.
Die Klimakrise ist kein Thema von morgen, sondern von heute – Nachdem ich mir den Baum angeschaut habe, berate ich mich mit
das Existenzielle der Menschheit. Wer schützt die Umwelt? meinen Kollegen. Ihre Aufgabe ist es, dem Baum zu helfen und
In ­»Dein SPIEGEL« erzählen vier Menschen, wie sie sich beruflich ihn wieder sicher zu machen. Morsche Äste werden abgesägt,
für Naturschutz engagieren. In einem großen Quiz können Kinder damit sie nicht auf Straßen oder Spielplätze stürzen. Manchmal
ihr Wissen über Klima und Umweltschutz testen. beschneiden wir auch die Baumkrone. Gefällt werden die Bäume
aber nur im Notfall. Wir versuchen, sie so lange wie möglich am
Leben zu halten. Leider geht es den Bäumen durch den Klima­
Karin Raptis, 42, Baumpflegerin in Berlin wandel und die dadurch bedingte Trockenheit immer schlechter.
Wenn ein Baum im Bezirk Steglitz-Zehlendorf ein Problem hat, Das beunruhigt mich. Bäume sind große, beeindruckende Ge-
schaue ich ihn mir ganz genau an. Mit dem Schonhammer, einem schöpfe, sie ernähren uns, säubern unsere Luft und spenden uns
Hammer mit zwei Plastikkappen, klopfe ich die Rinde ab. Bei Schatten. Vielen Menschen ist nicht bewusst, wie wichtig sie
­einigen Arten kann ich dann hören, ob sich im Baum hohle Stellen für uns sind. Durch meinen Beruf trage ich dazu bei, sie zu erhalten
befinden. Um Öffnungen und Baumhöhlen anzusehen, benutze und zu schützen.
ich das Endoskop. Das ist ein biegsamer Schlauch, an dem eine Quizfrage: Neben der Trockenheit sorgt der Befall mit Borken­
Kamera befestigt ist. Auf einem Display am anderen Ende des käfern dafür, dass immer mehr Bäume sterben. Wie heißt ein
Schlauchs wird das Bild der Kamera angezeigt. So kann ich in das besonders fieser Borkenkäfer?
Innere des Baums schauen, ohne ihn zu beschädigen. Das a) Buchbinder
­Endoskop brauche ich, um nach Eichhörnchen, Fledermäusen b) Buchhändler
oder anderen Tieren zu suchen. Denn bevor die Arbeit am Baum c) Buchdrucker

Neues aus der SPIEGEL-Welt: Die aktuelle »Dein SPIEGEL«-Ausgabe enthält ein großes Quiz
zu Umwelt- und Klimaschutz, mit dem Kinder ihr Wissen testen können.

Weitere Themen im Heft »Dein SPIEGEL« ist das monatliche Nachrichten-­


• In der Münzfabrik: Hier wird das Taschengeld gemacht Magazin für Kinder zwischen 8 und 14 Jahren.
• Auf dem Sprung: Stuntscooter-Fahren ist der JETZT ERHÄLTLICH IM ZEITSCHRIFTENHANDEL, UNTER
Trendsport des Sommers AMAZON.DE/SPIEGEL UND MEINEZEITSCHRIFT.DE.
• Große Entscheidungen: Was ist der 68 SEITEN; 4,70 EURO. AUSGEWÄHLTE TEXTE AUF
Supreme Court der USA? SPIEGEL.DE/DEINSPIEGEL
D E B AT T E D E M O K R AT I E

Ein falsches Wort  Wie eine Ideologie im Namen von


Gleichberechtigung und Antirassismus
die Meinungsfreiheit und die offene Gesellschaft bedroht
Von René Pfister

I
m Juli 2020 beschloss der Bun­ wieso ist es Rassismus, wenn sich treterin eines rechten und reaktio­
destag, der Frage nachzugehen, jemand für die Lebensgeschichte nären Feminismus.
wie rassistisch die Deutschen seiner Mitmenschen interessiert? Dafür genügt manchmal schon
sind. Den Auftrag für den Aufbau Das DeZIM beschäftigt in­ der Satz, nur Menschen mit einer
eines Nationalen Diskriminierungs- zwischen 167 Mitarbeiter, allein die Gebärmutter könnten Frauen
und Rassismusmonitors erhielt Fördermittel des Bundesfamilien­ sein. In fortschrittlichen Kreisen
das Deutsche Zentrum für Integra­ ministeriums belaufen sich im Jahr kommt dies einer Gewalttat gleich.
tions- und Migrationsforschung, 2022 auf 14,6 Millionen Euro. Man Als die Berkeley-Professorin Khiara
kurz ­DeZIM, das im vorigen Jahr sollte davon ausgehen, dass das Bridges im Juli in einer Anhörung
5000 Menschen befragte. Knapp ­Institut einen unvoreingenomme­ im US-Senat zum Thema Abtrei­
die Hälfte gab an, in den vergange­ nen Blick auf die Lage im Land bung immer wieder die Formulie­
nen fünf Jahren einer rassistischen wirft. In dieser ersten großen Studie rung »Menschen mit der Möglich­
Aussage widersprochen zu haben; zum Thema Rassismus in Deutsch­ keit, schwanger zu werden« ge­
weitere 35 Prozent sagten, sie land aber erkennt man die Absicht, brauchte, fragte der republikanische
­könnten sich vorstellen, dies zu tun. den Bürgern finstere Motive zu Senator Josh Hawley: »Sind damit
Ein Drittel ist bereit, an einer unterstellen. So gesehen ist es kein Frauen gemeint?« Bridges’ Antwort:
Demonstration gegen Rassismus Wunder, dass viele Deutsche das Bereits die Richtung von Hawleys
teilzunehmen; 8,5 Prozent haben es Gefühl haben, ihnen werde der Fragen sei transphob und leugne die
bereits getan. Mund verboten, dass sich eine stille Existenz von Transmenschen.
Ein weltoffenes und tolerantes kulturelle Revolution vollziehe, der Das sind Blüten eines überdreh­
Land, das ist das ermutigende Er­ man sich besser nicht in den Weg ten akademischen Betriebs in den
gebnis; ein Land, in dem 90 Pro­ stellt. Sätze, die bis vor Kurzem Vereinigten Staaten, aber die Dog­
zent der Bürger der Meinung sind, noch vollkommen akzeptabel wa­ men der Transbewegung sind längst
dass alle Menschen die gleichen ren, ­gelten plötzlich als skandalös: in Deutschland angekommen. Als
Chancen haben sollten – unabhän­ Als die Literaturkritikerin Elke Hei­ die Hollywoodschauspielerin Ellen
gig von Geschlecht, Herkunft oder denreich im Oktober vergangenen Page im Dezember 2020 bekannt
Hautfarbe. An den Rändern der Jahres in einer Talkshow sagte, sie gab, dass sie trans sei und künftig
Gesellschaft gibt es offenen Rassis­ finde nichts dabei, nicht weiße Men­ Elliot Page heiße, schrieben viele
mus: 8,9 Prozent der Bürger glau­ schen nach ihrer Herkunft zu fra­ Medien in Deutschland: »Aus Ellen
ben, es gäbe Völker, die von Natur gen, fegte ein Sturm der Empörung Page wird Elliot Page.«
aus weniger intelligent seien als an­ über sie hinweg. Der Ravensburger Das war, nach allen journalisti­
dere; eine überwältigende Mehrheit Verlag nimmt das Kinderbuch »Der schen Standards, eine korrekte Mel­
allerdings widerspricht. Warum junge Häuptling Winnetou« aus dung. Ein Mensch, der als biologi­
im Jahr 2015 Hunderttausende dem ­Sortiment, weil es unsensibel sche Frau geboren worden war und
Menschen aus Syrien, Afghanistan sei und Gefühle verletze. mehr als 30 Jahre lang ein Leben
und dem Irak ausgerechnet nach als Frau geführt hatte, erklärt öf­

E
Deutschland wollten? Die Studie ine Revolution, die schwer zu fentlich, dass er transgender sei und
könnte eine Antwort sein. fassen ist. Während Konser­ künftig den Namen eines Mannes
Merkwürdigerweise aber durch­ vative wie der CDU-Vorsit­ tragen werde. Natürlich ist es rich­
zieht die Studie des DeZIM ein zende Friedrich Merz erklären, eine tig, den neuen Namen und das neue
­pessimistischer Ton. Die Autoren linke »Cancel Culture« sei die größ­ Geschlecht zu respektieren. Aber
beklagen, »dass bei der Hälfte der te Bedrohung für die Meinungsfrei­ die Empörung der Aktivisten war
Bevölkerung Reflexe der Abwehr heit, behauptet das progressive deshalb so groß, weil Pages soge­
und eine damit einhergehende Ba­ ­Lager, dies sei nur ein »rechtes Nar­ nannter Deadname noch einmal
Maurice Weiss / OSTKREUZ

gatellisierung von Rassismus zu rativ«, um Fortschritt und Gleich­ veröffentlicht worden war – also
­beobachten sind«. Um diese drasti­ berechtigung zu verhindern. Ande­ der alte Name, der sich tausendfach
sche These zu untermauern, haben rerseits wird selbst vielen fort­ im Internet findet und unter dem
sie den Befragten unter anderem schrittlich eingestellten Menschen Page Kassenschlager wie »Juno«
folgende Aussage vorgelegt: »Es ist langsam unheimlich, wenn sie se­ gedreht hatte. Viele Medien än­
absurd, dass einem Rassismus hen, wie schnell man in Ungnade derten ihre Berichterstattung, auch
Pfister, 48, ist
unterstellt wird, wenn man lediglich Büroleiter des
fallen kann. Alice Schwarzer, lange der SPIEGEL: »In einer früheren
fragt, wo jemand herkommt.« SPIEGEL in Ikone der deutschen Frauenbewe­ Version der Meldung wurde nicht
63,4 Prozent stimmten zu. Aber ­Washington, D. C. gung, gilt vielen inzwischen als Ver­ durchgehend präzise und angemes­

78 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


Illustration: Julius Klemm / DER SPIEGEL

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL


79
D E B AT T E D E M O K R AT I E

sen über das Thema Transidentität


berichtet«, hieß es in einer Kor­
rekturnote. Deadname meint, dass
es eine Grenzüberschreitung sei,
den abgelegten Namen auch nur
aus­zusprechen, weil Page ja nie eine
Frau gewesen sei. Das nennt man
radikalen Konstruktivismus, der,
das ist der Plan der Ampelkoalition,
in Deutschland nun auch unter
­Androhung von Bußgeld durchge­
setzt werden soll.
Das sogenannte Selbstbestim­
mungsgesetz sieht vor, dass ein
Mensch, der sich als Frau definiert,
aber alle äußeren Merkmale eines
Mannes trägt, künftig ohne weitere
Prüfung seinen Geschlechtseintrag
im Pass ändern kann. Eine Trans­
frau kann dann nicht nur alle
Schutzräume für Frauen aufsuchen:
Toiletten, Saunen, Frauenhäuser.
Sondern auch verlangen, dass die
Behörden gegen jeden vorgehen,
der sie als Mann bezeichnet oder
den alten Vornamen erwähnt. Es ist
eine moderne Form des magischen
Denkens – oder, etwas weniger
freundlich ausgedrückt, der Ver­
such, bei den Bürgern mit staatli­
chem Zwang die Weltsicht der
Transcommunity und ihrer Unter­
stützer durchzusetzen. Da ist es
kein Wunder, dass viele Deutsche
im Zweifel lieber den Mund halten.
Eine aktuelle Umfrage des Mei­
nungsforschungsinstituts Civey für
den SPIEGEL ergab, dass 52 Pro­
zent der Deutschen glauben, dass
sie im Alltag Probleme bekommen,
wenn sie ihre Meinung zu kontro­
versen Themen äußern würden;

Illustration: Julius Klemm / DER SPIEGEL


39 Prozent sind nicht dieser Auffa­
sung. Es liegt auf der Hand, dass
eine Demokratie ein ernstes Prob­
lem hat, wenn eine klare Mehrheit
der Bürger nicht mehr offen sagt,
was sie denken.

D
ie Civey-Studie offenbart
einen Trend, der sich auch in
anderen westlichen Ländern der Wahlkabine zu artikulieren, tischen und kapitalistischen Systems
zeigt. Laut einer YouGov-Umfrage wenn sie oder er das Gefühl hat, es sind – und deshalb beschnitten und
aus dem November erklärten 57 nicht offen tun zu können. eingehegt werden müssen. Es sei
Prozent der Briten, dass sie manch­ Wie kommen solche Zahlen zu­ ­ärgerlich, dass viele Menschen, die
mal darauf verzichten, ihre Auffas­ stande? Man kann das geistige Kli­ sich dem Fortschritt verpflichtet
sung zu politischen oder sozialen ma westlicher Gesellschaften nur fühlten, immer noch von der »hel­
Themen zu äußern, weil sie negati­
ve Konsequenzen fürchten. Im
erfassen, wenn man die neue Or­
thodoxie zu verstehen versucht, die
Antirassismus len Fackel« der Meinungsfreiheit
fasziniert seien, klagte Louis
März veröffentlichte die »New York in den vergangenen Jahrzehnten hat sich ­Michael Seidman, Professor an der
Times« eine Erhebung, nach der 55 an amerikanischen Universitäten zu einer Ideo­ Washingtoner Georgetown Uni­
Prozent der Amerikaner im abge­ entwickelt wurde und nun auch den versity, 2018 in einem Aufsatz für
laufenen Jahr schon einmal ge­ Diskurs in Deutschland mitbe­
logie ent­ die »Columbia Law Review«, eines
schwiegen haben, weil sie harsche stimmt. Unter vielen linken Profes­ wickelt, die der renommiertesten juristischen
Kritik oder gar Vergeltung fürchte­ soren hat sich eine radikale Welt­ strengen Fachblätter der westlichen Welt.
ten. Das Problem ist nur, dass die sicht durchgesetzt, nach der die Wer wissen will, warum die
Demokratie jedem die Möglichkeit ­liberale Demokratie und die Mei­ Glaubens­ ­Frage »Wo kommst du her?« eine
lässt, Unmut und Protest anonym in nungsfreiheit Diener eines rassis­ sätzen folgt. Grenzüberschreitung darstellen

80 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


soll, erfährt dies aus den Arbeiten des New in den USA in den vergangenen Jahren zu des Zusammenlebens im Einwanderungs-
Yorker Psychologiepro­fessors Derald Wing einer Ideologie entwickelt, die ebenso land Deutschland zeichnen« und gegen
Sue, der im ­Literaturverzeichnis der De- strengen wie simplen Glaubenssätzen folgt »journalistische Standards« verstießen. Im
ZIM-Studie »Rassistische Realitäten« ange- – und jeden zum Rassisten erklärt, der Jahr 2019 wurden die Talkshows des öffent-
führt wird und den Begriff Mikroaggressio- ­ihnen nicht gehorchen will. »Eine positive lich-rechtlichen Rundfunks »geehrt«, weil
nen mit­geprägt hat. Mikroaggressionen sei- weiße Identität ist nicht möglich«, schreibt sie eine »kostenlose Werbeplattform für
en eine Epidemie, die ihren Ursprung in Robin DiAngelo, eine der einflussreichsten rechtspopulistische Standpunkte« böten
den Sechzigerjahren habe. Damals sei zwar Autorinnen der amerikanischen Antiras­ und ­Feministinnen wie Alice Schwarzer die
durch die Bürgerrechtsbewegung der harte sismusschule, in ihrem Bestseller »White Gelegenheit gäben, »dummes Zeug« zu
und offene Rassismus in den USA zurück- Fragility«, der in der Studie DeZIM-Studie verbreiten, wie es in der Laudatio hieß.
gedrängt ­worden, schreiben Sue und seine als »Forschungsliteratur« aufgeführt wird.

I
Co-Autoren in der Zeitschrift »American »Eine weiße Identität ist inhärent rassis- m Jahr darauf wurde SPIEGEL TV
Psychologist«. Damit sei aber nur Raum ge- tisch; es gibt keine weißen Menschen außer- ­»ausgezeichnet«. Die Reporter Thomas
schaffen worden für eine neue Form der halb des Systems weißer Dominanz.« Heise und Claas Meyer-Heuer gehören
Diskriminierung, die »doppelbödiger und Ibram X. Kendi, einer der prominentes- zu den Journalisten, die seit Jahren zur
nebu­löser« sei. Gerade liberale Weiße seien ten Antirassismusforscher der USA, hat sei- Clankriminalität recherchieren. Es ist eine
dafür ­anfällig, weil sie Werte verinnerlicht ne Bücher zum Teil wie religiöse Anleitun- Arbeit, die Heise Dutzende Drohanrufe aus
hätten, die es nicht zuließen, dass sie ihren gen zur Gewissenserforschung aufgebaut. dem Milieu eingebracht hat. Das hielt die
unterbewussten Rassismus offen auslebten. Danach ist ein Rassist nicht nur ein Mensch, Neuen Deutschen Medienmacher*innen
der glaubt, Menschen anderer Hautfarbe nicht davon ab, die investigative Leistung

S
ue präsentiert in dem Aufsatz eine seien weniger wert. Sondern jeder, der be- des Reporters aus der sicheren Distanz der
Liste von Situationen, in denen sich hauptet, Differenzen zwischen verschiede- staatlich subventionierten Medienkritik
Weiße einer Mikro­aggression schuldig nen Ethnien könnten einen anderen Grund als »stigmatisierend« und »rassistisch« ein-
machen. Darunter fällt der Satz »You speak als Rassismus haben. Der Staat darf, so Ken- zustufen. Die »Goldene Kartoffel« kommt
good English« ebenso wie die Frage an einen di, so lange nicht ruhen, bis alle materiellen im Gewand fachlich begründeter Medien-
asiatischstämmigen Amerikaner, ob er bei Ungleichheiten zwischen den Ethnien einge- kritik daher – aber im Kern geht es darum,
einem mathematischen Problem helfen kön- ebnet sind: »Das einzige Heil­mittel gegen Journalisten und Debatten zu diskreditie-
ne. Dies sei be­leidigend, weil es das Klischee rassistische Diskriminierung ist antirassisti- ren, die dem Verein politisch zweifelhaft er-
bediene, Asiaten seien besonders begabt im sche Diskriminierung.« Kendi fordert einen scheinen. 2021 machten sich die Neuen
Umgang mit Zahlen. Auch die Feststellung, Verfassungszusatz, der die Einführung eines Deutschen Medienmacher*innen gar nicht
dass Amerika ein ethnischer Schmelztiegel »Ministeriums für Antirassismus« in den mehr die Mühe, eine einzelne Redaktion
sei, steht auf dem Index, weil dies den Ver- USA erlauben würde – eine Idee, wie sie so zu kritisieren, sondern verliehen die »Gol-
such darstelle, Minderheiten zu assimilieren. ähnlich auch schon in Deutschland disku- dene Kartoffel« pauschal an die »bürger­
Das Konzept der Mikroaggression kann tiert wurde. Im August 2020 stellte die Bun- lichen Medien« für deren »unsägliche« Be-
man als Anleitung für einen rücksichtsvolle- deskonferenz der ­Migrantenorganisationen richterstattung zum Thema Identitätspoli-
ren Umgang miteinander verstehen. Aber einen Forderungskatalog vor, der einen »ra- tik. »Die Wahnvorstellung, dass Auslän-
es ist auch ein Rezept dafür, die Kommu­ dikalen Paradigmenwechsel« der deutschen der*innen die Diskurshoheit übernehmen,
nikation zwischen Menschen verschiedener Politik verlangt. Dazu gehöre ein »progres- autoritäre Minderheiten Sprechverbote er-
Hautfarbe zu verhindern. Wer erst ein­mal sives Ministerium für die Gestaltung der teilen und linke Aktivist*innen an den
darauf trainiert ist, in jedem noch so Einwanderungs­gesellschaft« sowie Antiras- Schaltstellen der Macht sitzen, könnte man
­harmlosen Satz eine versteckte rassistische sismus als Staatsziel im Grundgesetz. M­i- getrost als neurechtes Geschwafel abtun«,
­Botschaft zu erkennen, wird im Zweifel granten in Deutschland hätten es mit struk- heißt es in der Begründung.
eher schweigen. turellem Rassismus in Behörde, Schulen Es ist keine neue Idee, dass die Meinungs­
Auch in Deutschland führt man seit und der Polizei zu tun: »Mit gut gemeinten freiheit begrenzt werden muss, um einer
­Kurzem den Kampf gegen Diskriminierung Gesten und halbher­zigen Maßnahmen darf progressiven Politik zum Durchbruch zu
unter dem Schlagwort Antirassismus. Mit dieses gesellschaftliche Problem nicht mehr verhelfen. Gerade in linken Zirkeln ist die
der SPD-Politikerin Reem Alabali-Radovan abgespeist werden.« Vorstellung populär, dass der liberale
sitzt erstmals seit der Gründung der Bundes- Rechtsstaat nur Fassade sei, hinter der ein

E
republik eine Beauftragte für Antirassismus s gehört zu den Widersprüchen der patriarchales und rassistisches Unterdrü-
im Bundeskanzleramt. »So wie Fridays for Antirassismusbewegung, dass ihr der ckungssystem lauere. »Unter der Herrschaft
Future ein visionäres Klimaziel vorge­geben Staat als Quelle von »institutionellem der monopolistischen Medien – selber blo-
haben, müsste ein Antirassismuspakt mit Rassismus« zutiefst verdächtig ist; und ihr ße Instrumente ökonomischer und politi-
Gleichstellungszielen bis 2030 for­muliert andererseits der Glaube nahezu grenzenlos scher Macht – wird eine Mentalität erzeugt,
werden, an dem sich die zukünf­tigen Regie- erscheint, mit dem Werkzeugkasten der für die Recht und Unrecht, Wahr und Falsch
rungen messen und monitoren lassen müs- ­Bürokratie eine neue, antirassistische Welt vorherbestimmt sind, wo immer sie die Le-
sen«, schrieb die Migrations­forscherin Naika zu schaffen. Ferda Ataman, die neue Anti- bensinteressen der Gesellschaft berühren«,
Foroutan, eine der Leiterinnen des DeZIM, diskriminierungsbeauftragte der Bundes­ schrieb Herbert Marcuse in seinem 1965
das eine Art Schaltstelle des ­staatlich geför- regierung, war vor ihrer Wahl durch den veröffentlichen Aufsatz mit dem Titel »Re-
derten Antirassismus ­geworden ist. Bundestag Journalistin und Mitgründerin pressive Toleranz«. Marcuse, der während
Natürlich ist es notwendig, dass der Staat der Neuen Deutschen Medienmacher*in- der Nazizeit in die USA emigriert war
gegen Rassismus vorgeht, den es in Deutsch­ nen, eines staatlich mitfinanzierten Vereins, und 1979 in Starnberg starb, glaubte, dass
land auch in seiner brutalsten Form gibt, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, für ­Meinungsfreiheit, die konstitutiv ist für jede
wie die Terroranschläge des NSU und »gute Berichterstattung und vielfältiges Demokratie, unter den Bedingungen des
die Morde von Hanau gezeigt haben. Anti­ Medienpersonal« zu sorgen, wie es in der ­Kapitalismus nichts weiter darstelle als einen
rassismus aber umfasst weit mehr als den Selbstbeschreibung heißt. Der Verein ver- Knüppel in der Hand der Herrschenden.
Kampf gegen Rassismus und das Verspre- leiht seit 2018 jährlich die »Goldene Kartof- »Words That Wound« heißt ein Buch aus
chen, dass der Staat jeden Menschen gleich fel« – einen Negativpreis, mit dem Medien dem Jahr 1993, das prägend wurde für die
zu behandeln hat. Antirassismus hat sich kritisiert werden, die ein »verzerrtes Bild Etablierung einer neuen Ideologie der Emp-

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 81


D E B AT T E D E M O K R AT I E

findlichkeit. Darin plädiert die Juraprofes­ nicht ein Professor wegen einer politisch nicht besser von Menschen mit Gebärmut­
sorin Mari J. Matsuda für ein Zweiklassen­ unachtsamen Äußerung suspendiert, gefeu­ ter oder von Menschen, die Spermien pro­
recht im Namen des Antirassismus. Danach ert oder ausgeladen wird. duzieren?«, fragte Villa im April 2022 in
­können sich allein privilegierte Menschen – Noch sei es nicht so dramatisch wie in einem Gespräch mit der »Zeit«. Ein Kom­
also weiße Amerikaner – der Hassrede den Vereinigten Staaten oder Großbritan­ mentar, der bei Kollegen Kopfschütteln
schuldig machen. Matsudas Idee einer Neu­ nien, sagt Susanne Schröter, Professorin für ­auslöste. »Wenn wir als Soziologen damit
definition der Meinungsfreiheit hallt bis Ethnologie an der Universität Frankfurt. anfangen, die Welt nur noch als Macht­
heute nach. Vor ihrer Wahl zur neuen Anti­ »Aber auch hier gibt es eine Kultur der narrativ zu betrachten, dann leisten wir
diskriminierungsbeauftragten geriet Ferda Unterwerfung und des Stillschweigens. Wer einer gefährlichen Entwicklung Vorschub:
Ataman wegen einer Kolumne in die Kritik, etwas werden will in bestimmten Fächern, dem Glauben, dass es so etwas wie objek­
die sie im Jahr 2020 für den SPIEGEL ge­ muss mit den Wölfen heulen und ansonsten tive Wissenschaft und überprüfbare Fakten
schrieben hatte und in der sie sich fragt, wa­ besser seinen Mund halten. Viele junge nicht mehr gibt«, sagt Stefanie Kley,
rum Deutsche sich angegriffen fühlten, Akademiker gehen, bevor sie eine Profes­ ­So­ziologieprofessorin an der Universität
wenn man sie als »Kartoffel« bezeichnet. sur bekommen, durch eine enorm prekäre Hamburg und Beisitzerin im Vorstand der
»Nimmt man noch Biodeutsche und die alt­ Phase. Sie hangeln sich von Zeitvertrag zu Akademie für Soziologie.
modischen Krauts und Piefkes dazu, sind Zeitvertrag und sind auf Beziehungen an­
die Nachfahren der Teutonen vermutlich gewiesen, um publizieren zu können. Wenn

E
mit den harmlosesten und niedlichsten man da nur ansatzweise einen zweifelhaf­ s wäre ein Fehler, Disziplinen wie Cri­
›Schimpfwörtern‹ versehen, die ein Volk ten Ruf bekommt, weil man eine etwas ab­ tical Race Theory, Gender oder Post­
bekommen kann«, schrieb Ataman. Eine weichende Meinung vertritt, ist die Karriere colonial Studies für akademische
Argumentation ganz im Sinne Matsudas: beendet. Ich finde das dramatisch.« ­Nischenfächer zu halten, die mit dem realen
Die Bezeichnung Kartoffel könne zwar Schröter, die sich selbst als links bezeich­ Leben nichts zu tun haben. Nach dem Streit
­beleidigend sein, aber unter den gegenwär­ net, sitzt wie der konservative Historiker um eine Kolumne von Hengameh Yaghoo­
tigen Bedingungen legitim, weil sie dazu Peter Hoeres im Vorstand des Netzwerks bifarah, in der Polizisten auf den Müll ge­
diene, weißen Deutschen ihren privilegier­ Wissenschaftsfreiheit, das für eine Debat­ wünscht werden, schrieb »taz«-Redakteur
ten Status vor Augen zu führen. tenkultur frei von »moralischer Diskreditie­ Christian Jakob eine scharfsinnige Analyse
rung, sozialer Ausgrenzung oder beruflicher über eine neue Journalistengeneration, die

P
aradoxerweise waren es linke Studen­ Benachteiligung« eintreten will, wie es im ideologisch so gefestigt aus den Universi­
ten, die in den Sechzigerjahren des Gründungsmanifest heißt. Hoeres findet täten komme, dass es selbst alten »taz«-Re­
vergangenen Jahrhunderts das Recht wie Schröter, dass es in Deutschland noch dakteuren unheimlich werde: »Seit etwa
auf freie Rede eingefordert haben, und nun keine amerikanischen Verhältnisse gebe. 2010 hat intersektionales Denken akademi­
ist es das progressive Lager, das es wieder Aber durchaus Anlass zur Sorge: »Seit Max sche Hochkonjunktur. Es verbreitete sich
einschränken will. Meinungsfreiheit war Weber ist es eigentlich Grundkonsens, dass derartig schnell, dass seine AnhängerInnen
immer eine Waffe für den Fortschritt. Es Wissenschaften über das Zustandekommen das selber nicht gemerkt haben. Mit dem
waren die Proteste der Suffragetten, die in von Denkmustern aufklären, diese aber Verweis auf an Identität gekoppelte Exper­
den USA den Boden für die Einführung nicht erzeugen«, sagt er. Doch manche Fä­ tise werden heute Diversity-Quoten einge­
des Frauenwahlrechts im Jahr 1920 bereitet cher würden inzwischen vor allem dazu fordert, die ›ganz neue Perspektiven‹ ein­
­haben. Das Recht von Schwulen und Les­ dienen, Studenten mit einer ganz speziellen bringen sollen. Faktisch sind People of Co­
ben, heiraten zu dürfen, wurde auf beiden Weltsicht auszustatten. lor noch immer überall da deutlich unter­
Seiten des Atlantiks mit dem Argument Weitgehend unbeachtet von der Öffent­ repräsentiert, wo viel Geld verdient und
­erkämpft, der Staat könne Homosexuelle lichkeit hat sich 2017 die Akademie für wichtige Entscheidungen getroffen werden.
nicht zu Bürgern zweiter Klasse stempeln. ­Soziologie gegründet, ein Verband von Gleichzeitig aber sind Unis, Stiftungen, Be­
Nun haben Studenten Zensur und Ein­ ­inzwischen rund 300 empirisch-analytisch ratungsstellen, NGOs, Teile des öffentlichen
schüchterung als Mittel der politischen Aus­ arbeitenden Wissenschaftlern. Im Grün­ Dienstes und viele Medien heute voller jun­
einandersetzung entdeckt und zu Metho­ dungsaufruf heißt es: »In einer Zeit, in der ger AkademikerInnen, die intersektional
den gegriffen, die bisher vor allem vom populistische Bewegungen und Vorstel­ denken. Dies ist vielerorts nicht marginali­
rechten politischen Spektrum angewendet lungen einer nur ›konstruierten‹ Wirklich­ siert, sondern teils längst hegemonial.«
worden waren. keit und ›alternativer Fakten‹ an Boden Die Klage, dass Journalisten zu linkslas­
Im Jahr 2014 häuften sich in den USA ­gewinnen, ist es umso notwendiger, in der tig seien, ist alt, aber nicht unbedingt falsch.
Proteste von Studenten gegen politisch un­ Tradition der wissenschaftlichen Aufklä­ Eine Umfrage unter Volontären der ARD
liebsame Gastredner derart, dass ein Begriff rung nach faktenbasierten, prüfbaren und des Deutschlandradios ergab, dass
dafür die Runde machte: disinvitation und dann auch praktisch verwertbaren Er­ 57 Prozent von ihnen grün wählen würden,
­season. Im Frühjahr jenes Jahres verzichte­ kenntnissen zu streben.« 23 Prozent die Linkspartei und weniger
te Christine Lagarde auf eine Rede vor dem als 5 Prozent die CDU. Als die Umfrage für

D
Smith College in Massachusetts, nachdem ie Akademie für Soziologie versteht Aufsehen sorgte, hieß es gleich, sie sei mit
die damalige Direktorin des Internationalen sich als Alternative zu der mehr Vorsicht zu genießen, schließlich hätte nur
Währungsfonds die Wut von Studentinnen als 100 Jahre alten Deutschen Gesell­ rund die Hälfte der 150 Volontärinnen und
erregt hatte. Lagarde repräsentiere eine schaft für Soziologie, die seit April 2021 Volontäre die Frage nach der politischen
­Organisation, die »imperialistische und pa­ von Paula-Irene Villa Braslavsky geführt Präferenz beantwortet. Allerdings sagte der
triarchale Systeme« gestärkt habe, hieß es wird, einer Professorin für Gender Studies Mainzer Kommunikationswissenschaftler
in einer im Netz veröffentlichten Erklärung. an der Ludwig-Maximilians-Universität Gregor Daschmann dem NDR: »Dass die
Condoleezza Rice, die erste schwarze München. Villa ist eine der führenden Ver­ politische Orientierung der Journalisten
­US-Außenministerin, zog eine Zusage für treterinnen einer Denkschule, die besagt, in Deutschland nicht der politischen Orien­
eine Rede an der Rutgers University zu­ dass das Geschlecht ein Konstrukt sei – tierung der Gesamtbevölkerung entspricht
rück, weil Studenten sie wegen ihrer Rolle weshalb sie es für problematisch hält, Men­ – das kennen wir schon seit 40 Jahren.«
im Irakkrieg für untragbar hielten. In­ schen in Männer und Frauen einzuteilen. Schwierig wird es, wenn Journalisten
zwischen vergeht kaum eine Woche, in der »Warum reden wir im Sinne der Präzision gar kein Problem mehr darin erkennen,

82 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


und sich nie in die politische Schlacht
gestürzt. Aber es ist das eine, sich
für eine politische Sache einzuset­
zen – und das andere, sich von
einer politischen Lobbyorganisation
einspannen zu lassen.

N
ichts sei in diesen Zeiten so
wichtig wie Diversität, heißt
es in Diskussionsrunden über
die Zukunft der Medien. Was aller­
dings nur selten unter die Rubrik
Diversität fällt, ist ein Meinungs­
spektrum, das auch nur annähernd
das der Leser reflektiert. Ein ein­
drückliches Beispiel für die Selbst­
abschottung des Medienbetriebs
ist ein Artikel, den ein Schüler der
58. Lehrredaktion der Deutschen
Journalistenschule (DJS) in einem
Mediendienst veröffentlichte. Die
DJS gehört zu den wichtigsten Aus­
bildungsstätten für Medienleute in
Deutschland.
Der Brief brachte den Unmut
darüber zum Ausdruck, dass sich äl­
tere Journalisten immer noch wei­
gern, eine »gendergerechte Sprache«
zu benutzen. Das Interessante an
dem Text war nicht die Forderung an
sich – sondern die darin ausge­
drückte Gewissheit, dass eine andere
Meinung gar nicht mehr denkbar sei.
Der Text ist im Duktus eines unge­
duldigen Enkels geschrieben, der es
mit seinen starrsinnigen Großeltern
noch ein letztes Mal im Guten ver­
sucht: »Überlegt Euch einmal wirk­
lich, wieso Ihr gegen das Gendern
seid. Habt Ihr Euch genügend mit
dem Thema beschäftigt? Wenn ja,
überzeugen Euch die Argumente
Illustration: Julius Klemm / DER SPIEGEL

nicht oder reagiert Ihr aus Trotz?«


Der Artikel erweckt den Ein­
druck, als wäre die Weigerung, das
Binnen-I zu verwenden oder den
Glottisschlag zu sprechen, eine
Position, die nur noch von ein paar
verstockten Redakteuren auf dem
Weg in die Altersteilzeit verteidigt
wird. Umfragen belegen das Gegen­
Aktivismus zu betreiben. Nach Prinzip der Parteilichkeit zur Tu­ teil: Laut einer Erhebung von Infra­
dem Mord an George Floyd durch gend erhoben wird. test aus dem Mai 2021 lehnen zwei
einen weißen Polizisten im Som­ Was Lowery für die USA forder­ Drittel der Deutschen diese Form
mer 2020 schrieb der schwarze te, hat der »Stern« in Deutschland der »gendergerechten Sprache« ab.
­Pulitzerpreisträger Wesley Lowery geradezu vorbildlich umgesetzt. Nun ist es das Recht eines Kom­
in der »New York Times«, jour­ Im September 2020 veröffentlichte mentators, für eine Minderheiten­
nalistische Objektivität sei ein das Magazin eine Titelgeschichte position zu kämpfen. Andererseits
Konzept, das nicht mehr in die Zeit über den Klimawandel mit der Zeile sollten Journalisten erst einmal
passe. An dessen Stelle müsse »#KeinGradWeiter«, die in Zusam­ Der neue die Realität zur Kenntnis nehmen.
»Moral Clarity« treten, eine ein­ menarbeit mit Fridays for Future Dogmatismus Wie will man seine Leser von mas­
deutige Haltung. Wahrscheinlich entstanden war. Im Editorial schrie­ siven Eingriffen in die Sprache
war Lowery gar nicht bewusst, ben die damaligen Chefredakteure:
von links ist überzeugen, wenn man der Mei­
dass »Moral Clarity« jahrzehnte­ »Was die Klimakrise angeht, ist der im Kern ein nung ist, jede Gegenrede sei Aus­
lang ein Begriff der amerikani­ ›stern‹ nicht länger neutral.« Nun Angriff auf druck einer reaktionären Weltsicht,
schen Rechten war. Aber der Fall wäre es heuchlerisch so zu tun, als die sich selbst disqualifiziert?
zeigt, wie austauschbar Begriffe hätten der »Stern« und auch der den liberalen Viele sagen: Wo bitte liegt denn
werden, wenn im Journalismus das SPIEGEL immer neutral ­berichtet Rechtsstaat. der Schaden? Sie finden es lächerlich,

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 83


D E B AT T E D E M O K R AT I E

wenn über die Schriftstellerin J. K. Autofabrik nur selten zu hören. Die Meinungsfreiheit ist mehr als nur
Rowling ein Shitstorm hinwegrollt, Sprache der Inklusion ist auch ein gesetzlich verbrieftes Recht. Es
als sie anmerkt, dass es für »Men­ ein Mittel, sich über den ungebilde­ braucht eine Kultur, die den offenen
schen, die menstruieren« doch ein ge­ ten Pöbel zu erheben – und ein Dialog fördert und schätzt – an den
läufigeres Wort gebe. Sie machen sich Weg, jene zu verdammen, die leider Universitäten, in den Medien und
darüber lustig, wenn Fridays for Fu­ zu beschäftigt waren, die letzte auch im Internet. Die Angst vor
ture eine weiße Sängerin ausladen, Windung des progressiven Diskur­ dem Shitstorm prägt längst auch die
weil sie Dreadlocks trägt. Aber sind ses mitzubekommen. etablierten Medien. Die meisten

Illustration: Julius Klemm / DER SPIEGEL


das nicht Petitessen? Geht es nicht Für den Aufstieg von Populisten Journalisten, die ich kenne, sind auf
darum, den Kampf gegen Rassismus wie Donald Trump gibt es keine Twitter; alle jüngeren Kollegen sind
aufzunehmen? Gegen die Diskrimi­ einfache Erklärung. Aber eine wich­ mit dem Medium und seinem
nierung von Frauen und Transgen­ tige Rolle spielte, dass die Demo­ ­speziellen Belohnungssystem auf­
der? Und bringt nicht jede Umwäl­ kraten in den USA seit Beginn der gewachsen. Das wiederum hat den
zung notwendigerweise Ungerechtig­ Neunzigerjahre immer mehr den ­Effekt, dass sich die Filterblasen­
keiten und Übertreibungen mit sich, Charakter einer Arbeiterpartei logik des Netzes auf den Journalis­
die man im Namen der höheren Sa­ ­verloren haben. Nichts offenbarte mus überträgt – und Leser und
che akzeptieren muss? Fallen, wo ge­ die Entfremdung von Teilen ihrer ­Zuschauerinnen das Gefühl bekom­
hobelt wird, nicht auch mal Späne?
Ich glaube, es wäre ein fataler
Der demokra­ ­Wählerschaft mehr als das Wort
­Hillary Clintons von den sexis­
men, die Berichterstattung und
Kommentierung sei merkwürdig
Irrtum, den neuen Dogmatismus tische Diskurs tischen und rassistischen »deplo­ uniform. Der neue »New York
von links so zu verniedlichen. Er ist kann auch rables«, den Erbärmlichen, bei Times«-Chefredakteur Joe Kahn
beklagte in einem seiner ersten
im Kern ein Angriff auf die Prin­
zipien des liberalen Rechtsstaats.
von der Emp­ einer Spendengala im September
2016 in New York: Es war nicht nur Interviews, dass seine Kollegen
Die Antwort auf alte Diskriminie­ findlichkeit die offene Verachtung, die Clinton häufig heikle Themen nicht ­
rung kann nicht neue Diskriminie­ der Wohl­ zeigte, sondern die Lacher im Pu­ mehr anfassten, weil sie die Wut
rung sein; der Diskurs wird nicht blikum waren Ausdruck eines heite­ im Netz fürchteten.
dadurch gerechter, indem man ihn meinenden ren Einvernehmens, dass man mit

N
beschneidet. Keine Reform wird erstickt dem vermeintlichen Pöbel in den och haben wir in Deutsch­
auf Dauer Bestand haben, wenn
sie mit den Mitteln der Einschüch­
­werden. »flyover states« im Mittleren Wes­
ten nichts zu tun haben will – wo­
land keine amerikanischen
Verhältnisse. Dennoch: Die
terung durchgesetzt wird. raufhin der sich die Freiheit nahm, AfD ist in den neuen Bundeslän­
Meine These lautet: Linke Identi­ für Donald Trump zu stimmen. dern längst Volkspartei. Umfragen
tätspolitik schadet vor allem der poli­ Demokratie ist im Kern der zeigen, dass sich Bürger sorgen,
tischen Mitte und dem aufgeklärten Streit um das beste Argument und die Grenzen des Sagbaren würden
Lager. Sie hilft einem bestimmten die Fähigkeit zum Kompromiss. sich verengen. Einige AfD-Wähler
politischen Milieu, sich seiner selbst Identitätspolitik ist die Verabsolu­ dürfte man kaum für die Demokra­
und seiner höheren Moral zu verge­ tierung der eigenen Position. Wenn tie zurückgewinnen, und es gibt
wissern. Die Dogmen und Sprach­ darüber hinaus progressive Anlie­ ­Tabus, auch sprachliche, die zu
regelungen in dieser Blase aber sind gen des demokratischen Diskurses Recht bestehen. Aber die Demokra­
so rigide, dass sie auf eine Mehrheit enthoben werden, ist das Ergebnis tie kann nicht dadurch geschützt
der Wählerinnen und Wähler ab­ nicht eine bessere Politik, sondern werden, dass man den offenen Dis­
stoßend wirken – unabhängig von die Aufspaltung der Gesellschaft in kurs erstickt. Nicht jeder Masken­
Geschlecht und Hautfarbe. jene, die sich moralisch im Recht gegner ist ein Wissenschaftsfeind.
fühlen, und in den Rest, der sich Nicht jeder ist transphob, der sagt,

D
ie Verführungskraft des neu­ als rückständig verunglimpft sieht dass nur Frauen Kinder bekommen
en Dogmatismus liegt darin, und sich deswegen Populisten wie können. Nicht jeder ein Rassist,
schwierige Abwägungsfragen Trump oder Björn Höcke zuwen­ der an das Prinzip der Selbstverant­
mit dem Gestus moralischer Empö­ det. Es entsteht eine Gesellschaft, wortung glaubt.
rung vom Tisch zu wischen: Nie die nicht miteinander spricht, Hass und Dogmatismus sind die
wieder Zäune und Mauern in Euro­ ­sondern sich gegenseitig verachtet. Feinde des liberalen Diskurses. Er
pa! Transrechte sind Menschenrech­ kann aber auch von der Empfind­
te! Hass ist keine Meinung! Es sind lichkeit der Wohlmeinenden er­
Sätze, mit denen man eine Talk­ stickt werden. Ich habe ein Buch ge­
show besteht, aber nicht unbedingt Warum wir den produktiven Streit brauchen schrieben, weil in den USA, dem
eine Wahl gewinnt. Kein Wähler René Pfister berichtet seit Sommer 2019 für den SPIEGEL Land, in dem ich gerade lebe, etwas
schätzt es, moralisch belehrt zu aus den USA. In seinem Buch beschreibt er einen Kultur­ verloren geht: ein cooler und lässi­
werden, und ähnlich wie in den kampf, der nicht nur von Donald Trump und den Republi­ ger Freiheitsbegriff, der andere Mei­
USA neigen auch in Deutschland kanern angefeuert wird, sondern auch von einer neuen nungen respektiert und sie nicht als
Arbeiter dazu, in gesellschaftspoliti­ dogmatischen Ideologie der Linken. Er Treibstoff für Empörung benutzt.
schen Fragen eher konservativ zu ­beschreibt, wie ein falsches Wort Figuren wie Trump und Björn Hö­
denken. Wörter und Akronyme wie ­Karrieren beenden kann, wie die Mob- cke sind ein Unglück. Aber wer sie
Latinx, BIPoC (Black, Indigenous Mentalität im Internet die Mei­nungs­ nicht an der Macht sehen will, sollte
and People of Color) oder Geflüch­ freiheit bedroht – in den Vereinigten nicht die Nase über ihre Wähler
tete sollen inklusiv sein, um im Jar­ Staaten, aber auch in Deutschland. rümpfen und sie als »deplorables«
gon des progressiven Milieus zu beschimpfen. Sondern mit ihnen re­
bleiben, aber sie sind eben auch ein René Pfister: »Ein falsches Wort. Wie eine den. Eine Toleranz, die nur das
neue linke Ideologie aus Amerika unsere
Distinktionsmerkmal. Der Glottis­ Meinungs­freiheit bedroht«. Deutsche Verlags-­ eigene politische Weltbild respek­
schlag ist in der Frühschicht einer Anstalt; 254 Seiten; 22 Euro. tiert, ist wertlos und öde.  n

84 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


SPORT

Preisgeld-Ranking
in Millionen Dollar
Grand Slam
Spitzenklasse (Gewinn aller
vier Grand-Slam-
1. Serena Williams
USA
Turniere innerhalb
Tennisspielerinnen eines Jahres) 94,6
mit den meisten
Grand-Slam-Titeln Margaret
Court 2. Venus
US Open Australien, Williams
24 Titel 1960 . . . . . . bis 1973 USA
Wimbledon 42,3
Serena
French Open Williams
USA,
Australian Open 23 Titel 1999 . . . . . . bis 2017 3. Simona
Halep

23
Steffi Rumänien
Graf
Deutschland, 40,1
Serena
22 Titel 1987 . . . . . . bis 1999 Williams
Titel hat Serena Helen Wills 8. Angelique
Williams bei den Moody Kerber
USA,
vier großen Tennis- 19 Titel 1923 . . . . . . bis 1938
Deutschland
turnieren bisher 31,9
gewonnen. Nur Chris

Jason Heidrich / Icon SMI / IMAGO


ein weiterer Titel Evert 17. Steffi
fehlt, um mit der USA,
Graf
18 Titel 1974 . . . . . . bis 1986
Spitzenreiterin Deutschland
Margaret Court Martina 21,9
gleichzuziehen. Navratilova
USA,
S Grafik 18 Titel 1978 . . . . . . bis 1990 Quelle: WTA, Stand: 22. August


Es ist wohl ihre letzte Chance: Bei den US Open, die am Montag beginnen, will die US-amerikanische Tennisspielerin Serena Williams, 40, auf den
letzten Metern ihrer Karriere den 24. Grand-Slam-Titel gewinnen – dann wäre sie gleichauf mit der bisherigen Rekordhalterin Margaret Court.
­Serena Williams, über Jahre hinweg die beste Spielerin der Welt, hatte 2017 ihren letzten großen Triumph gefeiert. Danach folgten die Geburt ihrer
Tochter und vier Grand-Slam-Endspiele – die sie alle verlor. Nun hat sie ihr Karriereende angekündigt. Gelingt ihr der Rekord in der Heimat?

GUT ZU WISSEN Sportarten Vorteile bringen miologische Untersuchung


können, weiß man aus ­relativ klein. »Es ist zudem nur
Macht Leistungssport dem Ausdauerlaufsport. Der
präventive Gebrauch von
eine einzige Studie, weitere
Untersuchungen müssen diese
­abhängig von Schmerzmitteln? Schmerzmitteln, glauben viele,
lässt einen besser durchhalten,
Ergebnisse noch bestätigen«,
sagt Brand. Er halte es zudem
wenn es hart wird«, sagt Brand. für schwierig, die Resultate
Treibt der Leistungssport arten«, sagt Sportwissenschaft­ Der Wissenschaftler weist auf Deutschland zu übertragen.
He­ranwachsende in den Medi­ ler Ralf Brand von der Uni­ aber darauf hin, dass man mit »Es gibt Unterschiede zwi­
kamentenmissbrauch? Eine versität Potsdam. Auch Hand­ den Ergebnissen der US-Studie schen den Sportsystemen.
Studie aus den USA legt diesen ball sei eine kontaktintensive vorsichtig umgehen müsse. Die Wettkampfsport an High­
Verdacht nahe. Forscher der Disziplin, in der Schmerzmittel Stichprobe, 4772 Schülerinnen schools ist sehr leistungssport­
Universität Michigan unter ein Thema seien. »Man knallt und Schüler, sei für eine epide­ orientiert, viele erhoffen
Leitung des Biostatistikers Phi­ oft auf den Boden, holt sich sich Aufstiegschancen, etwa
lip Veliz wollen herausgefun­ Pferdeküsse und Prellungen durch spätere College­
den haben, dass Schülerinnen und will trotzdem irgendwie stipendien«, sagt Brand.
Mike Sandoval / picture alliance / ZUMA Press

und Schüler in Highschools, trainieren. Da scheint der Griff Die US-Stichprobe entspre­
die Kontaktsportarten betrei­ zu solchen Mitteln zuerst mal che daher nicht deutschen Nor­
ben, mit einer fast 50 Prozent naheliegend.« malschülern, sondern eher
höheren Wahrscheinlichkeit Veliz und seine Kolleginnen ­Jugendlichen, die sich Chancen
in den darauffolgenden zehn und Kollegen berichteten auf eine Sportkarriere aus­
Jahren missbräuchlich ver­ ­zudem, dass auch Menschen in malen. Hier sieht Brand auch
schreibungspflichtige Stimu­ kontaktlosen Sportarten höhe­ in Deutschland eine Gefahr:
lanzien nehmen als Menschen, re Missbrauchsraten aufwiesen Je früher solche Präparate ge­
die keinen Sport machen. als solche, die überhaupt nommen würden, »desto
»Football, Lacrosse und ­keinen Sport treiben. »Dass ­anfälliger sind Menschen auch
Ringen sind heftige Sport­ Medikamente auch in anderen Highschool-Footballer später in ihrem Leben«. BKA

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 85


SPORT

KARRIEREN 
Der Antiheld
Maodo Lô, Sohn einer bekannten Künstlerin, ist einer der besten deutschen
Basketballspieler. Er ist weltweit begehrt, könnte das Gesicht dieser
Europameisterschaft werden. Warum er seiner Heimat Berlin treu bleiben will.

Peter Rigaud / DER SPIEGEL

86 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


SPORT

A
Lô, 191 Zentimeter groß, schwarze Haare, nach Kreuzberg. Irgendwann bezog sie dort
kommt gerade vom Training, er bestellt sich ein größeres Atelier, das alte nutzt Sohn Mao-
eine Dorade. Seine Mannschaft hat wenige do inzwischen als Wohnung. Der Vater ver-
Tage zuvor die ersten Halbfinalspiele um die brachte viel Zeit in Westafrika, um Maodo
Meisterschaft gegen Ludwigsburg gewonnen, kümmerte sich ein Freund der Mutter aus
in der ersten Partie kam Lô auf 20, in der ihrer hessischen Heimat.
zweiten nur noch auf 10 Punkte. Er hat in den Es war eine eher unkonventionelle Char-
vergangenen zwei Jahren mehr als 150 Spie- lottenburger Kindheit. Bachs Markenzeichen
le gemacht, Lô spürt, dass er eine Pause sind eine Art Turban und Sonnenbrille, sie
Anderthalb Minuten sind noch zu spielen. braucht. Wenige Wochen später, nachdem trägt sie »abends, nachts, mittags, egal wann«,
Crunchtime nennt man das im Basketball, Alba zum dritten Mal hintereinander Deut- sagte Lô vor zwei Jahren dem Berliner »Ta-
wenn es in der Halle zu knistern beginnt, ein scher Meister geworden ist, wird Lô eine gesspiegel« in einem gemeinsamen Interview
knappes Spiel in seine entscheidende Phase Kurznachricht schicken: »Mein Körper ist am mit seiner Mutter, »als Kind habe ich mich
geht. Und diese Partie droht Alba Berlin nun Ende.« Und: »Überall Schmerzen.« manchmal ein bisschen geschämt, ehrlich
zu verlieren, 80 zu 82 steht es, zu Hause im Der Kellner will beim Verlassen des Lokals ­gesagt«.
ersten Finalspiel um die deutsche Meister- noch schnell ein Selfie mit ihm machen. Kein Lô begann, Basketball zu spielen, weil sein
schaft gegen den Erzrivalen Bayern München. Problem, sagt Lô. Aber warum eigentlich? Bruder Lamine das auf einem Nintendo-­Gerät
»Ich war in Panik«, erinnert sich Alba-Kapi- »Ich bin doch ein kleiner Fisch wie die zockte. Erst warf er auf einen Korb am Hoch-
tän Luke Sikma an diesen Moment im Juni ­Dorade, die ich eben gegessen habe.« bett in der Altbauwohnung, dann draußen
2021. Und dann schreit er Maodo Lô an: »It Dieser Satz, wenn auch ironisch gemeint, auf dem Platz. Da ihn die Großen lange nicht
is your fucking time now!« erzählt viel über ihn. Wer Lô gegenübersitzt, mitspielen ließen, dribbelte der kleine Maodo
Lô erzielt neun Punkte am Stück, Berlin erlebt einen höflichen, etwas schüchternen, am Rande des Feldes. Stunde für Stunde, Tag
gewinnt das Spiel mit 89 zu 86. sehr reflektierten Endzwanziger. Einen, des- für Tag.
Sportlerkarrieren fügen sich aus unzäh­ sen Leben sich hauptsächlich um Basketball Der große Maodo dribbelt und wirft in-
ligen Momenten zusammen. Aber es gibt dreht, dem allerdings bewusst ist, dass es noch zwischen so gut, dass er wie im letzten Spiel
Szenen, die entscheidend sind, in welche weit mehr im Leben gibt als diesen Sport. der diesjährigen Finalrunde gegen Bayern
Richtung sich eine Laufbahn bewegt: Nach Man kann sich mit Lô über Waffengewalt in München am Ende des ersten Viertels über
der spektakulären Einmannshow spielt Mao- den USA genauso unterhalten wie über die den ganzen Platz stürmt, die Gegner mit dem
do Lô den besten Basketball seines Lebens. NBA. Ball wie Slalomstangen umkurvt und dann
Er führt das Nationalteam durch die Qua- Lôs Vater Alioune kommt aus dem Sene- genau mit Ablauf der Zeit punktet. In der
lifikation zu Olympia, absolviert in Tokio ein gal, er betreibt dort eine Farm. Die Eltern Viertelfinalserie gegen Bamberg holte sich Lô
starkes Turnier. Zurück in Berlin, glänzt Lô lernten sich Anfang der Achtzigerjahre auf einmal den Ball in der eigenen Hälfte, drib-
vor allem in der Euroleague, der besten Liga einer Party in West-Berlin kennen. Alioune belte ihn dann – als ob es das normalste der
neben der nordamerikanischen NBA. In Lô studierte an der TU, Elvira Bach hatte ihr Welt wäre – einem Kontrahenten durch die
fast allen relevanten Statistiken taucht der Studium an der Hochschule der Künste schon Beine und schloss erfolgreich ab.
Aufbauspieler dort auf vorderen Plätzen auf, beendet, sie bekamen zwei Kinder, Lamine Lô wirkt auf dem Platz mitunter wie ein
als einziger Deutscher. Die Trefferquote sei- und acht Jahre später Maodo. Elvira Bachs Tänzer, der einem viel schnelleren Rhythmus
ner Dreipunktewürfe beträgt fantastische Atelier lag in Kreuzberg in der Nähe des Ora- folgt als alle anderen.
44,4 Prozent. »Lô hat eine absurd gute Saison nienplatzes, aber hier wollte sie die Kinder Sein Mannschaftskapitän Sikma sagt:
gespielt«, sagt der Basketballkommentator nicht aufwachsen lassen. »Maodo macht manchmal Dinge, da stockt
Michael Körner. Die Familie zog ins bürgerliche Charlotten- einem der Atem.« Alba-Kollege Louis Olinde,
Maodo Lô, 29, ist zurzeit der wohl beste burg, von hier pendelte die Malerin täglich ebenfalls deutscher Nationalspieler, sagt:
deutsche Basketballspieler außerhalb der »Man ist froh, ihn im eigenen Team und nicht
NBA. Wenn in der kommenden Woche die als Gegenspieler zu haben.« Für Basketball-
Europameisterschaft beginnt, gespielt wird experte Stefan Koch ist Lô »das kreativste
auch in Köln und Berlin, soll er die deutsche Element, das wir im Basketball in Deutsch-
Auswahl dirigieren. Deutschland hat eines land haben«.
der besten Nationalteams aller Zeiten. Die Umso bemerkenswerter ist, dass der junge
EM zu Hause soll der Sportart einen Schub Lô in der Hauptstadt lange unter dem Radar
geben, die Schere etwas schließen zu dem der Talentspäher blieb, er war ein Spätzünder.
alles dominierenden Fußball. Vom DBV Charlottenburg, seinem ersten Ver-
Und Lô könnte dabei der Star werden, der ein, kommt er zum Berliner Basketballprojekt
Deutschland zum Titel trägt. Central Hoops, die Trainer der Berliner Aus-
Es ist ein Nachmittag Anfang Juni, Lô hat wahlmannschaften ignorierten ihn genauso
das Restaurant Cassambalis in einer Seiten- wie die der großen Vereine. »Als ich mit dem
straße des Ku’damms für ein erstes Treffen Abi fertig war, hätte ich maximal Regional-
ausgewählt. Die Besitzer begrüßen ihn liga spielen können«, sagt Lô.
freundschaftlich, sprechen ihn auf seine Mut- Stattdessen landete er mit einem Basket-
Mika Volkmann / mauritius images / Alamy

ter an. Elvira Bach, von der zwei kleine Bilder ballstipendium an der Columbia University
in dem mit Kunst vollgestopften Gastraum an in New York City. Columbia ist eine Uni der
der Wand hängen, ist eine berühmte und Ivy-League, akademisch allerhöchste Klasse,
­exzentrische Künstlerin. sportlich eher mittelmäßig. Vier Jahre später
Sie gehörte in den Achtzigern zu den »Jun- hatte Lô einen Bachelor in Soziologie. Der
gen Wilden« der deutschen Malerei, ihre Bil- Deutsche spielte beim NBA-Team Philadel-
der werden weltweit verkauft und ausgestellt. phia 76ers vor, konnte sich aber nicht durch-
»Hundertprozentig gibt es mehr Menschen, setzen, weshalb er sich für ein Angebot aus
die meine Mutter kennen, als mich«, hat Lô Bamberg entschied, damals das beste deut-
einmal gesagt. Basketballprofi Lô sche Team, gespickt mit internationalen

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 87


SPORT

Stars. Zwei Jahre später wechselte Lô


zum neuen Branchenführer Bayern
München.
Dann stirbt sein großer Bruder.
Mit 34 Jahren.
Lamine, der lange sein Vorbild
war. Der ihn, wie Lô sagt, immer be­
schützt hat. Lamine habe ihn und sei­
ne Kumpels schon mit 15 in jeden
Klub Berlins bekommen, weil er alle
in der Szene kannte. Auch seine Mut­
ter hat Elvira Bachs erster Sohn regel­
mäßig auf Partys und Vernissagen
begleitet. Sein plötzlicher Tod im
Sommer 2019 bringt das Leben der
Familie durcheinander.
Lô wechselt von München in die
Hauptstadt. Er verzichtet auf Gehalt,
um nah bei seiner Mutter zu sein. »Ich
wäre damals auch nach Berlin gegan­
gen, wenn Alba in der Kreisklasse
gespielt hätte«, sagt Lô. Lamine läuft

Peter Rigaud / DER SPIEGEL


bis heute bei jedem Spiel mit ihm auf:
Mit Edding schreibt er den Namen
des Bruders auf seine Basketball­
schuhe, vor jeder Partie zieht Lô den
Schriftzug nach. »Das ist mein Weg,
ihn weiter an meinem Leben teil­
haben zu lassen.« Künstlerin Bach mit jeder Sportinteressierte kennt, weil geworden, in ein paar Wochen be­
Dabei lebt Lô ein ganz anderes Maodo-Porträt: er die Dallas Mavericks 2011 zum ginnt die Vorbereitung mit der Natio­
»Hundertprozentig
Leben, als es sein Bruder tat. Der Bas­ gibt es mehr ­Titel führte. Er gilt als einer der bes­ nalmannschaft für die EM, Lô muss
ketballprofi sagt über sich selbst, er Menschen, die ten NBA-Spieler der Geschichte. Vie­ sich fit halten.
habe noch nie geraucht oder Alkohol meine Mutter le Deutsche kennen ihn allerdings vor Über die Saison alle paar Tage
getrunken. kennen als mich« allem aus seinen Werbeclips für eine Bundesliga und Euroleague, dann im
Sein früherer Bamberger Team­ Direktbank. Sommer Qualifikationsrunden und
kollege Fabien Causeur, ein bekann­ Events wie die Europameister­ Turniere mit dem Nationalteam, so
ter französischer Spieler, hat schon schaft sind eine der wenigen Gelegen­ geht das seit Jahren, bis auf zwei
vor Jahren den »Swag« bei Lô aus­ heiten, die Sportart in Deutschland ­Wochen Urlaub mit seiner Freundin
gemacht, eine entspannte Lässigkeit. nach vorn zu bringen. Und Lô könn­ bleibt keine Zeit, sich zu erholen. In
Lô mag Mode, er mag darstellende te diesmal das Gesicht dafür sein. den letzten beiden Partien der Final­
Kunst, er mag Musik, er ist ein über­ Der Neunzigerstar Harnisch hatte serie gegen Bayern konnte er nur mit
ragender Basketballspieler. Aber an­ damals das Angebot für einen promi­ Schmerzmitteln spielen.
ders als sein Nationalmannschafts­ nenten Werbevertrag, er lehnte ab. Er hat Angebote von Spitzenteams
kumpel Dennis Schröder, der seit Maodo Lô hat vor einigen Jahren für aus der Euroleague, auch die NBA,
Jahren in der NBA spielt und schon H&M in einer kleinen Kampagne die stärkste Liga der Welt, ist wieder
deshalb deutlich mehr im Blickpunkt zum Tag der Deutschen Einheit mit­ ein Thema. Andererseits läuft es für
steht, sucht er nicht das Rampenlicht. gemacht. Er war mal auf einer Mo­ ihn bei Alba sportlich so gut wie
Henning Harnisch, der vor 30 Jah­ denschau in Berlin eingeladen, aber nie. Und er will bei seiner Mutter in
ren der Star des deutschen Basket­ bevor es richtig losging, musste er Berlin sein.
balls war und mit der Nationalmann­ zum Training. »Ich hätte schon Bock Es steht der dritte Jahrestag von
schaft 1993 die Europameisterschaft auf Werbung«, sagt er. Es müsse halt Lamines Tod an, zu dem sich die
gewann, ist inzwischen Vizepräsident etwas sein, das zu ihm passe. Was Lô ­Familie am Grab trifft.
von Alba Berlin, zuständig für die nicht will, weiß er genau: sich auf In­ Lô wirkt an diesem Tag sehr ernst.
Nachwuchsförderung und eine Art stagram vermarkten. »Ich will mich Er hadert mit sich: In Berlin blei­
Botschafter des Vereins. Er bewun­ nicht künstlich zeigen«, sagt er. ben oder gehen? In der Hauptstadt
dert Maodo Lô und fragt sich: »Was Der ehemalige Basketballer Har­ könnte Lô Geschichte schreiben, eine
braucht es in einem Land, dass einer nisch, der schon als Profi eine Buch­ Größe sein, die vierte deutsche Meis­
herausragt, der nicht Fußballer ist?« händlerlehre gemacht und später Kul­ terschaft für Alba in Folge gewinnen,
Zum Vergleich: Etwa 208 000 Men­ tur- und Filmwissenschaft studiert mit dem Team in der Euroleague zum
schen spielen in Deutschland Basket­ 1993 war hat, sagt: »Maodo ist cool, aber er ersten Mal die Playoffs erreichen. Das
ball in einem Verein, der Deutsche die ­deutsche macht nicht alles mit. Er hat seine wären ehrgeizige Ziele. Aber ein rich­
Fußball-Bund hat gut sieben ­Millionen
Mitglieder. Nach dem EM-Titel 1993
National- Würde. Vielleicht ist er sogar der
Antiheld.«
tiger Star im Basketball wird nur, wer
es in die NBA schafft und dort erfolg­
gab es einen kurzen Hype, dann mannschaft Ende Juni, ein Treffen beim Italie­ reich ist.
­versank Basketball wieder in der das einzige ner in Kreuzberg. Lô kommt diesmal Nach ein paar Wochen schickt er
­Nische. vom privaten Personal Training, er aus dem Urlaub in Südfrankreich eine
Daran hat auch Dirk Nowitzki we­
Mal Europa- trägt noch Sportklamotten. Alba ist SMS: »Ich bleibe bei Alba.«
nig ändern können, den in den USA meister. wenige Tage zuvor Deutscher Meister Florian Gathmann n

88 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


SPORT

SPIEGEL: Warum nicht?


Seifert: Ein spektakulärer Hackentrick von
Mario Götze im Training bei Eintracht Frank-
furt macht derzeit wahrscheinlich mehr Klicks

»Wir zeigen keine


als andere Ligen an einem Wochenende. Und
genau deshalb zeigen wir keine Hackentricks
von Fußballstars. Dafür gibt es andere Me-

­Hackentricks von Götze«


dien. Wir stellen unsere Sportarten ins Zen-
trum und verkaufen sie nicht als Zugabe oder
Anhängsel des Fußballs.
SPIEGEL: Sie sind seit knapp einem Jahr Auf-
sichtsratsvorsitzender der Deutschen Sport-
MÄRKTE  Der ehemalige DFL-Manager Christian Seifert über die hilfe und beschäftigen sich in diesem Amt mit
­erdrückende Präsenz des Fußballs und Auswege aus der Monokultur der Entwicklung des Spitzensports. Der Bund
investiert Millionen. Welche Initiativen sind
nötig, um die Sportkultur in Deutschland wie-
Seifert, 53, war bis Ende 2021 SPIEGEL: Ihr Geschäftspartner ist der Medien- der vielfältiger zu machen?
Chef der Deutschen Fußball konzern Axel Springer, dessen Sportredak- Seifert: Es braucht mehr prominente Köpfe
firo Spor tphoto / ullstein bild

Liga (DFL), der Vereinigung teure vor allem über Fußball berichten. Wa- und starke Stimmen, die sich in der Öffent-
der Profiklubs. Nun führt er rum sollte sich dieser Status quo verändern? lichkeit für Sport einsetzen. Wir brauchen ein
ein Streamingangebot für Seifert: Wir werden unsere Sportarten nicht klares Bekenntnis zur Leistung, denn nur
Sportübertragungen, das er nur durch aufwendig produzierte Live-Ereig- dann entsteht sportlicher Erfolg, der wiede-
mit dem Medienkonzern nisse am Wochenende präsentieren, sondern rum zu mehr Aufmerksamkeit führt. Und:
Springer entwickelt hat. sie von Montag bis Sonntag stattfinden lassen. Leistung muss besser gewürdigt werden. Wir
Auf einer eigenen Plattform, in sozialen Me- haben Sportlerinnen und Sportler, die bereit
SPIEGEL: Herr Seifert, Sie haben als Chef der dien und bei unseren Kooperationspartnern, sind, ihr Leben dem Sport unterzuordnen.
DFL mehr als 16 Jahre lang die Vermarktung zu denen auch die »Bild«-Zeitung gehört. Dafür sollten sie deutlich mehr gesellschaft-
der Bundesliga vorangetrieben. Inzwischen Darüber hinaus haben wir die ARD als stra- liche und monetäre Anerkennung bekommen,
gleicht Deutschland einer Sportmonokultur. tegischen Partner gewonnen, mit dem ZDF von der sie auch leben können.
Fußball und sonst nichts. Warum ist das Pu- sind wir in guten Gesprächen. Wir werden SPIEGEL: Nach den European Championships
blikum hierzulande so eingefahren? Geschichten produzieren über die Liga, Spie- in München gab es Forderungen nach einer
Seifert: Fußball ist seit dem Gewinn der Welt- ler und Teams und somit das Interesse der deutschen Olympiabewerbung. Warum gilt
meisterschaft 1954 tief in der DNA dieses Anhänger kontinuierlich bedienen. Profifuß- vielen Fans das fragwürdige Spektakel des
Landes verankert. Er bewegt die Massen. In ball ist so groß, weil jeden Tag darüber be- IOCs immer noch als Nonplusultra?
den vergangenen Jahren hat der Profifußball richtet wird. Da wollen wir hin. Seifert: Auch ich bin ein Verfechter von Olym-
zudem durch eine mediale Dauerpräsenz sei- SPIEGEL: Ihr Konzept mag wie ein Aufbau- pischen Spielen in Deutschland und für eine
ne Rolle als Topunterhaltungsformat weiter programm für vernachlässigte Sportarten Bewerbung um die Sommerspiele 2036 in
ausgebaut. Aber ich finde nicht, dass man von wirken. Sie haben die TV-Rechte an fast allen unserem Land. Sport ist ein Kitt für die Ge-
einer Monokultur sprechen kann. Bundesligen für sechs Jahre erworben. Teile sellschaft. Und moderne, nachhaltig organi-
SPIEGEL: Fußball erdrückt alles. Fast jeden der Gelder müssen die Klubs für Nachwuchs- sierte Großereignisse, egal ob eine Handball-
Tag rollt auf irgendeinem Kanal der Ball. arbeit ausgeben. Werden Sie als ehemaliger WM, eine Fußball-EM oder Olympische Spie-
Seifert: Dennoch wurden zuletzt bei den DFL-Mann nicht doch noch dafür sorgen, dass le, können die Werte des Sports hervorragend
European Championships in München zwei auch bei Ihnen bald Fußball läuft? transportieren und lassen Menschen wenigs-
Wochen lang zum Beispiel Turnen, Leicht- Seifert: Das ist auf dieser Plattform ganz be- tens für einige Wochen wieder mehr zusam-
athletik, Beachvolleyball, Tischtennis und wusst nicht eingeplant. menrücken.
Klettern von einem Millionenpublikum ge- SPIEGEL: Die Zahl der Olympiakritiker scheint
feiert. Das zeigt: Die Menschen in Deutsch- größer zu sein als die der Befürworter, deut-
land sind vielseitig sportbegeistert, es geht sche Bewerbungskampagnen scheiterten am
nicht nur um Fußball. Bürgerwillen.
SPIEGEL: Nach Ihrem Rückzug als DFL-Chef Seifert: Angesichts mancher politischer Maß-
haben Sie eine Streamingplattform konzipiert, nahmen frage ich mich schon, warum man
die Sport abseits des Fußballs zeigen soll. Sie ausgerechnet für eine Olympiabewerbung
haben dafür die TV-Rechte der Bundesligen eine Bürgerbefragung braucht. Ich bin der
im Handball, Basketball, Volleyball und Tisch- Meinung, hier sollte es eine klare politische
tennis erworben. Fürchten Sie nicht, angesichts Entscheidung geben, dass wir uns für Spiele
der Dominanz des Fußballs unterzugehen? in Deutschland bewerben. Mir wird viel
Seifert: Grundsätzlich sollte sich kein Sport zu oft auf empörte Twitter-Blasen gehört
in Deutschland mit Fußball vergleichen. Er statt auf ganz normale Menschen, die
hat die größte Bühne. Das wird sich nicht än- nicht bei Twitter sind und sich über Sommer-
dern. Aber: Das Fanpotenzial im Handball, oder Winterspiele in Hamburg, München
Basketball oder Volleyball geht in die Millio- oder in der Rhein-Ruhr-Region freuen
nen und ist seit Jahren sehr stabil. Das Pro­ ­würden. Keine Frage: Kritik am IOC und
Maja Hitij / Getty Images

blem ist, dass diese Sportarten außerhalb der an manchen seiner Entscheidungen der
Kernzielgruppen bisher medial kaum statt- ­Vergangenheit kann man berechtigt üben.
finden. Das wollen wir ändern. Doch anstatt immer nur dagegen zu sein,
­sollten wir in Deutschland zeigen, wie Olym-
* Nach ihrem Sieg über 5000 Meter bei den European pia besser geht.
Championships in der vergangenen Woche in München. Leichtathletin Konstanze Klosterhalfen* Interview: Gerhard Pfeil n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 89


WISSEN

Leon Neal / Getty Images


Einmal im Jahr muss jedes Tier auf die Waage: Eine Pflegerin des Whipsnade-Zoos in Dunstable notiert, wie viel der ausgewachsene Tristanpinguin
wiegt. Die Vermessung von mehr als 10 000 Tieren in Englands größtem Zoo dient der Gesundheitsvorsorge.

Märchen vom Regenmachen


anlagern und schließlich als Regentropfen herabregnen sollen.
Bereits 2008 hatten die Chinesen behauptet, das trockene
­Wetter bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele geschaf­
fen zu haben, indem sie vorher Regenwolken durch »cloud
ANALYSE  China will die Dürre durch Wolkenimpfen
­seeding« künstlich entleert hätten.
bekämpfen – kann das funktionieren? Doch die Erfolgsbilanz ist überschaubar, die wissenschaftliche
Evidenz zweifelhaft. Vor rund vier Jahren legte eine Experten­
China leidet laut Daten des Klimazentrums der chinesischen gruppe einen Bericht vor, den die Weltorganisation für Meteoro­
Wetterbehörde unter der längsten Dürrewelle seit Beginn logie (WMO) in Auftrag gegeben hatte. Das Ergebnis: Nur
der Aufzeichnung im Jahr 1961. Die anhaltende Trockenheit ge­ unter ganz bestimmten Bedingungen können bereits existieren­
fährdet landesweit die Ernten. Landwirtschaftsminister Tang de Wolken mit gewisser Wahrscheinlichkeit zum Abregnen
Renjian will sofort handeln: Die Behörden sollen unter anderem ­gebracht werden – und damit gegebenenfalls die Niederschläge
die Regenmengen erhöhen, indem sie Wolken mit Chemikalien in einer Region leicht erhöhen.
besprühen. Ein solches »cloud seeding« oder »Wolkenimpfen« Als Beispiel wird dafür das gezielte »Abschneien« von Wol­
soll Niederschlag erzeugen. Doch lässt sich Regen wirklich aus ken in Gebirgsgegenden genannt, wodurch sich die Schnee­
den Wolken schießen? auflage verbessern lässt. Aber niemand könne »eine Wolke ma­
Die Idee, Wolken gezielt zum Abregnen zu bringen, gibt es chen oder eine Wolke verjagen«, erklärt Roelof Bruintjes vom
seit den Vierzigerjahren. Wissenschaftler des amerikanischen U. S. National Center for Atmospheric Research und Mitglied
Konzerns General Electric schufen die Grundlagen dafür. Silber­ des WMO-Gremiums. Für die aktuelle Dürre in China dürfte das
iodid wird als feiner Staub mit Raketen oder Flugzeugen in die bedeuten, dass die technische Regenmacherei nur zu sehr ma­
Wolke eingebracht. Dort dienen die Partikel als sogenannte Kon­ geren Ergebnissen führen wird, wenn es denn überhaupt funk­
densationskeime, an denen sich nach und nach Wassermoleküle tioniert. KK

90 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


Leichenschänderei für phosphatreiches Mehl hergestellt wurde, knochen. Aber als Nachfrage und Preise
das man als Dünger verwendete. Nun ­explodierten, schauten manche Lieferanten
die Zuckerindustrie ­haben die Forscher eine weitere Verwen- offenbar nicht mehr so genau hin. Das
GESCHICHTE  Am 18. Juni 1815 erlitt Napo- dungsmöglichkeit aufgespürt: Sie Schlachtfeld von Waterloo war dabei eine
leon Bonaparte bei der Schlacht unweit wurden in der Zuckerindustrie verwendet. willkommene Quelle, bereits 1834 wurde
­Waterloos im heutigen Belgien eine histori- »Der Bedarf an Knochen war in der ein Bericht über illegal gegrabene Felder an
sche Niederlage, mehr als 20 000 Soldaten Region ab den 1830er-Jahren groß, auch den Untersuchungsrichter des Städtchens
kamen um. Wo deren Überreste geblieben aufgrund der boomenden Zuckerrüben­ Nivelles gesandt. JOE
sind, war Archäologen und Historikern fabriken«, so Mitautor Schäfer. Um weißen
­bisher ein Rätsel. Obwohl Ausgräber die Zucker herzu­stellen, musste der einge­
Schlachtfelder erschlossen, fanden Forscher kochte Saft der Zuckerrüben gefiltert wer-
bisher nicht mehr als zwei Skelette. Die His- den. 1811 entdeckte man, das sich mit
toriker Bernard Wilkin, Robin Schäfer und ­granulierter Knochenkohle bessere Ergeb-

Chris van Houts / Cover-Images / IMAGO


der britische Archäologe Tony Pollard wol- nisse erzielen ließen. Auf der Basis von
len dem Verbleib der Gefallenen jetzt auf die ­Rinderknochen wird das Verfahren teils
Spur gekommen sein. Wie sie in einem Be- bis heute angewendet, beispielsweise bei
richt schreiben, der dem SPIEGEL vorliegt, Zuckerherstellern in den USA.
wurde die Totenruhe bereits einige Jahre Die Autoren berichten von einem
nach der Schlacht von Grabräubern gestört, ­Knochenhandel, der damals weit über die
die es auf die Gebeine abgesehen hatten. ­Grenzen Belgiens betrieben wurde. Die Skelett eines
Gefallenen
Pollard hatte bereits in einer anderen in vielen Regionen entstehenden Knochen- in Waterloo
Studie beschrieben, dass aus den Knochen mühlen verwendeten offiziell nur Tier­

»70 Minuten bis zum nächsten


SPIEGEL: Das ist nicht sehr lang. oder Bücher lesen, sind Kinder
Was kann ich dagegen tun? gefesselt. Auch Pausen sind

Wutanfall«
Hind: Wie alle Eltern wissen, wichtig.
kann man Kinder mit Essen SPIEGEL: Kann man Trotzanfäl-
­bestechen. Aber bei mehr als le damit ganz verhindern?
zwei Snacks in einer Stunde Hind: Nein. Jede Minute Unter-
PSYCHOLOGIE  Der britische Mathematiker James Hind,
wird es kontraproduktiv: Die haltung verschafft Ihnen
46, von der Universität Nottingham Trent hat eine Kinder bekommen einen Zu- 30 Sekunden ohne Wutanfall.
Formel aufgestellt, die vorhersagen soll, wie häufig es ckerrausch, oder ihnen wird Ob man Kindern etwas
schlecht. Wenn sie Salziges es- vorsingt oder ein Tablet gibt,
bei Kindern im Auto zu Wutausbrüchen kommt. sen, trinken sie mehr und ­irgendwann erreichen sie
­benötigen mehr Toilettenpau- ihre Frustrationsgrenze. Im
SPIEGEL: Herr Hind, mit ihren Freunden reisen, sind sen. Obst ist besser, aber Auto können sie nicht tun,
Sie haben früher meist entspannter. Fahrten mit man muss vorsichtig damit sein. was sie wollen – herumlaufen
schon kuriose For- Geschwistern nicht so sehr – die Am Ende haben die Kleinen oder Dinge anschauen. Im
David Baird / NTU

meln erfunden – wissen, wie sie sich gegenseitig ihre Erdbeeren über den Auto- ­Flugzeug oder im Zug kann
zum Beispiel eine, auf die Palme bringen können. sitz verschmiert. man zumindest aufstehen
mit der sich die ge- Das kann zu einem kleinen Alb- SPIEGEL: Wenn Essen nur be- und auf die Toilette gehen. Kin-
eignete Strumpfhose traum werden. grenzt hilft, muss eine andere der sind kleine ­Energiebälle,
für jedes Wetter finden lässt. Jetzt SPIEGEL: Wie lange dauert es Lösung her. für sie ist das schwer. Und sie
haben Sie die Quengelformel bis zum ersten Trotzanfall? Hind: Das absolut Beste ist die entscheiden fast nie selbst,
­aufgestellt. Dabei sind Sie Mathe- Hind: Im Schnitt etwa 70 Minu- Aufmerksamkeit der Eltern. ob und wohin sie reisen. Sie
matiker und kein Psychologe. ten. Natürlich kommt es auf das Wenn sich die Eltern mit ihrem ­haben keinerlei Kontrolle
Hind: Ich wünsche mir, dass die Alter an. Kind unterhalten, Spiele spielen über die ­Situation und verste-
Menschen sehen, dass man Ma- hen die Zeitpläne nicht. Des-
thematik auf so ziemlich alles an- halb fragen sie etwa alle halbe
wenden kann. Sie können mei- Stunde: Sind wir schon da?
nen Formeln widersprechen oder SPIEGEL: Sie selbst haben keine
eigene erfinden. Dann müssen Kinder und fahren nicht Auto.
Sie sich damit auseinandersetzen, Haben Sie dennoch einen Tipp,
wie die Dinge in Beziehung ste- wie man Kindern das Gefühl
hen. Und wenn Sie das machen, von Kontrolle geben kann?
habe ich schon viel erreicht! Hind: Sobald mein Bruder als
Christine Singleton / Cavan Images / Getty Images

SPIEGEL: In Ihre Formel sind Kind mit mir im Auto saß, ha-
die Ergebnisse einer Befragung ben wir uns gestritten oder um
von 2000 britischen Eltern ein- die Aufmerksamkeit unserer
geflossen. Was ist das schlimms- ­Eltern konkurriert. Seltsamer-
te Szenario, das es auf einer weise haben wir uns beruhigt,
langen Autofahrt mit Kindern wenn meine sechs Jahre jüngere
geben kann? Schwester mit dabei war: Wir
Hind: Am schlimmsten ist es sollten auf sie aufpassen, das
wohl, wenn man der einzige gab uns eine Aufgabe. Es geht
­Erwachsene ist und ein volles also darum, nicht mehr das hilf-
Auto hat. Wobei: Kinder, die lose Kind zu sein. KKO

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 91


WISSEN

Durchschlagende Wirkung
CORONA  Paxlovid kann schwere Covidverläufe verhindern. Trotzdem weigern sich deutsche Ärzte häufig, ihren
Patienten den Virus-Stopper zu verschreiben. Gesundheitsminister Lauterbach will das nun schnell ändern.

Wie Paxlovid gegen


das Coronavirus
wirkt 1
Sars-CoV-2 Das Virus bindet
Spike-Protein sich mit einem
RNA Spike-Protein an
die menschliche
Zelle.

2
RNA
Viruserbmaterial,
die RNA, dringt in
Ribosom die Wirtszelle ein.

3
Körpereigene
Ribosome lesen
die RNA ab, Poly-
peptidketten
entstehen.
Polypeptidkette
4
Protease- Diese Ketten
enzyme werden durch
Proteaseenzyme
des Virus in
einzelne Proteine
geteilt.

5
Paxlovid enthält
Ritonavir und
Nirmatrelvir.

Ritonavir verhindert, Nirmatrelvir blockiert


dass das Medikament die Funktion des viralen
zu schnell abgebaut wird. Proteaseenyzms.

6
Die Ketten
werden nicht
mehr geteilt,
damit fehlen die
Patricia Kühfuss / laif

Protease-
inhibition Bausteine zur
Neubildung von
S Grafik Viren.


D
ie Stimme von Karl Lauterbach klingt gutem Beispiel voranzugehen«, nahm Lauter- »Nach 24 Stunden konnte ich sogar schon
immer noch etwas kratzig. Anfang Au- bach das antivirale Medikament Paxlovid ein, wieder arbeiten.«
gust war der Gesundheits­minister an eine Kombination der Wirkstoffe Nirmatrelvir Auch US-Präsident Joe Biden, der US-Im-
Covid-19 erkrankt, jetzt verrät er am Telefon, und Ritonavir. Insgesamt 30 Tabletten muss- munologe Anthony Fauci und etliche andere
wie schlimm es war. »Am zweiten Tag hatte te er innerhalb von fünf Tagen schlucken. Corona-Experten haben das Medikament
ich mörderische Halsschmerzen«, erzählt er, Wie andere Patienten, die Paxlovid einneh­ schon geschluckt. Doch als Lauterbach auf
»außerdem hohes Fieber und Schüttelfrost.« men, hatte Lauterbach vorübergehend einen Twitter schrieb, dass er Paxlovid nehme, wur-
»Um die Symptome zu verkürzen und metallischen Geschmack im Mund. »Aber die de er mit Kritik überschüttet. Die einen war-
Spätfolgen zu vermeiden und auch um mit Wirkung war durchschlagend«, berichtet er. fen ihm vor, Werbung für ein Medikament zu

92 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


WISSEN

machen. Viele andere waren empört, weil


ihnen selbst das Mittel von ihrem Arzt ver-
»Hilft ein Medikament, Die Fachgruppe »Intensivmedizin Infek-
tiologie Notfallmedizin« beim Berliner Ro-
weigert worden war. Tatsächlich verordnen muss man es einsetzen.« bert Koch-Institut etwa kommt zu dem
viele Ärzte in Deutschland das Medikament Matthias Götte, Biochemiker Schluss, dass eine antivirale Therapie nicht
des Pharmakonzerns Pfizer bislang nur sehr nur bei Ungeimpften angezeigt ist, sondern
zurückhaltend. Bedingt zugelassen ist es seit auch bei vollständig Geimpften mit »komple-
Ende Januar für an Covid erkrankte Erwach- xen Risikofaktoren« in Betracht gezogen wer-
sene, »die keinen zusätzlichen Sauerstoff be- Lauterbach ist angesichts eines weiteren den darf. Die aktuelle Behandlungs-Leitlinie
nötigen und bei denen ein erhöhtes Risiko drohenden Coronawinters entschlossen, die der ärztlichen Fachgesellschaften, nach der
besteht, dass die Krankheit schwerwiegend Verordnung von Paxlovid drastisch auszu- sich viele Hausärzte richten, hingegen sieht
wird«, so die Europäische Arzneimittelagen- weiten. Im Kampf gegen die Pandemie will den Einsatz von Paxlovid nur bei ungeimpften
tur. Das trifft auf einen erheblichen Teil der er antivirale Medikamente zur zweiten Säule Risikopatienten vor – also bei nur wenigen
Infizierten zu. neben der Impfung machen. Menschen.
Eine Million Packungen hat das Gesund- Als erste Maßnahme dürfen Hausärzte das Die Leitlinie, die zuletzt im Februar 2022
heitsministerium vorsorglich eingekauft, nur Medikament ab sofort in ihrer Praxis vorrätig veröffentlicht wurde, also die neueren Stu-
rund 43 000 wurden bislang vom Großhandel haben und direkt an Coronapatienten ab­ diendaten zu Geimpften noch nicht berück-
an die Apotheken ausgeliefert – ein klarer geben. Der Umweg über die Apotheken ist sichtigt, werde im September erneut aktua­
Anhaltspunkt dafür, wie selten das Mittel damit nicht mehr notwendig. Eine Verord- lisiert, sagt Leitlinien-Koordinator Stefan
­verordnet wurde. Anfang nächsten Jahres nung soll zudem mit 15 Euro vergütet werden. Kluge, Direktor der Klinik für Intensiv­
müssen, sofern die Europäische Arzneimittel- Jedes Pflegeheim, so Lauterbach gegen- medizin am Universitätsklinikum Hamburg-­
agentur die erlaubte Haltbarkeitsdauer nicht über dem SPIEGEL , solle neben einem Impf- Eppendorf. Man werde sich die neuen Studien
verlängert, möglicherweise mehrere Hundert- auch einen Paxlovid-Beauftragten ernennen, sehr genau ansehen. Sie seien schwierig zu
tausend Dosen vernichtet werden. der sich um alles Organisatorische kümmert. beurteilen, da es sich um nachträgliche Daten-
»Ich glaube, dass wir durch die viel zu Auch dort soll künftig ein Vorrat des Medi­ bankauswertungen handele. »Wir nehmen
­zurückhaltende Paxlovid-Verordnung gerade kaments gelagert werden dürfen, damit es uns die Stiko als Vorbild«, sagt Kluge, »wir
eine große Chance vertun«, sagt Clemens schnell eingesetzt werden kann. wollen vor allem gründlich sein.«
Wendtner, Infektiologe und Chefarzt an der Mit dem Bundesvorsitzenden des Deut- Andere Mediziner halten das für einen
München Klinik Schwabing. Das Mittel muss schen Hausärzteverbands Ulrich Weigeldt hat Fehler. Zwar ist die Wirksamkeit von Paxlovid
innerhalb der ersten fünf Tage nach Beginn der Gesundheitsminister bereits darüber ge- bei Geimpften bislang nicht so gut belegt wie
der Symptome genommen werden. Die meis- sprochen, was die Verordnung von Paxlovid bei Ungeimpften. »Aber in einer Pandemie
ten der Covid-Patienten, die in seinem Kran- erleichtern könnte. Am Donnerstag schickte kann man nicht immer jahrelang darauf war-
kenhaus stationär behandelt werden müssten, Weigeldt dann ein Rundschreiben an die ten, bis auf höchster Evidenzstufe etwas be-
hätten in diesem Zeitfenster vom Hausarzt Hausärztinnen und Hausärzte, in dem er Pax- legt ist«, sagt Wendtner. Da müsse man zwar
kein Paxlovid erhalten. »Ich denke, dass man lovid ein »sehr wirkungsvolles Medikament« Nutzen und Risiken gegeneinander abwägen,
ihr Leid dadurch oft hätte verhindern kön- nennt und erste Maßnahmen ankündigt. auch eben oft auch aus weniger guter Evidenz
nen«, sagt Wendtner. Und schließlich hat Lauterbach den Coro- Schlüsse ziehen, so wie es in anderen Berei-
Belege für die Wirksamkeit von Paxlovid na-Expertenrat der Bundesregierung beauf- chen der Medizin ja auch geschehe.
gibt es reichlich: In der Zulassungsstudie tragt, ein Gutachten zu Paxlovid und anderen »Wir haben derzeit 88 Covid-Patienten
konnte das Medikament das Risiko für Kran- antiviralen Medikamenten zu erstellen – ins- stationär in der München Klinik«, sagt Wendt-
kenhauseinweisung oder Tod um 89 Prozent besondere zu der Frage, wem diese Medika- ner. 74 davon seien über 65 Jahre alt. »Wenn
verringern – wobei nur ungeimpfte Risiko- mente künftig verordnet werden sollten. man die Daten der neuesten israelischen Stu-
patienten untersucht worden waren. Eine Denn ausgerechnet zu dieser wichtigen Frage die zugrunde legt, müssten rein rechnerisch
zweite Pfizer-Studie, in die auch Geimpfte gibt es derzeit sehr unterschiedliche Ansich- fast drei Viertel davon, also 54 Menschen,
und Patienten mit geringerem Risiko einge- ten, die erheblich zur Verwirrung vieler Ärz- nicht im Krankenhaus liegen, wenn die Haus-
schlossen worden waren, brachte zwar kein te beitragen. ärzte konsequent Paxlovid verordnet hätten.«
signifikantes Ergebnis. Doch inzwischen gibt Am liebsten würde er Paxlovid allen Risiko-
es eine ganze Reihe weiterer Untersuchungen, patienten als Stand-by verordnen dürfen,
die klar darauf hinweisen, dass Paxlovid auch ­sodass das Medikament für den Fall einer
geimpften Risikopatienten helfen kann. ­Erkrankung schon zu Hause bereitliegt.
Eine vor wenigen Tagen von US-Forschern Lauterbach hat bereits eine Vorabversion
veröffentlichte Kohortenstudie an Geimpften der Stellungnahme des Expertenrats vorlie-
zum Beispiel zeigte ein um 45 Prozent nied- gen. »Sie ist sehr gut gemacht«, sagt er. »Ich
rigeres Risiko für Notfallambulanzbesuche, hoffe, dass wir bald vonseiten des Experten-
Krankenhauseinweisungen oder Tod für die- rats der Bundesregierung in Zusammenarbeit
jenigen, die das Medikament bekommen hat- mit den Hausärzten eine Behandlungsemp-
ten. Eine im Juni veröffentlichte Analyse der fehlung aussprechen können, die der Wirk-
Daten von mehr als 180 000 Patienten aus samkeit des Medikaments gerecht wird.«
Israel brachte ein ähnliches Ergebnis. Doch wird Lauterbachs Maßnahmenpaket
Und eine weitere Studie aus Israel an mehr wirklich reichen, um die Verordnung von Pax-
als 100 000 Patienten, die am Mittwoch im lovid im Herbst und Winter anzukurbeln?
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

»New England Journal of Medicine« ver­ Der Tropenmediziner und Hausarzt Florian
öffentlicht wurde, hat ergeben, dass Paxlovid Steiner aus Tarmstedt bei Bremen bleibt skep-
bei über 65-jährigen Covid-Patienten das tisch. »Es gibt da einen Reflex der Ablehnung
­Risiko für einen schweren Verlauf erheblich bei einigen Kollegen, wenn der Gesundheits-
senken kann – egal ob sie geimpft oder un- minister etwas empfiehlt«, sagt er. Manche
geimpft sind. Das Risiko, ins Krankenhaus zu vermuten zum Beispiel, Lauterbach ginge es
müssen, war bei denen, die das Medikament vor allem darum, die vielen vom Gesund-
erhalten hatten, um 73 Prozent gesenkt. Corona-Experte Lauterbach heitsministerium eingekauften Paxlovid-Do-

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 93


WISSEN

sen unters Volk zu bringen, damit sie nicht


zum Ladenhüter werden. Das Rundschreiben
des Hausärzteverbands, so Steiner, sei aber
sehr hilfreich. Er geht davon aus, dass es

»Wir können sehr


­zudem auch bürokratische Hürden sind, die
manche Hausärzte vor einer Verordnung zu­
rückschrecken lassen. Etwa die Vorschrift,

­zeitnah liefern«
eine zweite Patientenakte anzulegen.
Der Hausarzt Marc Hanefeld aus Bremer­
vörde, der Paxlovid einzelnen Patienten ver­
ordnet, sieht ein ähnliches Problem: »Wir
Hausärzte haben alle massiv zu tun.« Wegen
unerwünschter Wirkungen wie Durchfall, IMPFSTOFFE  Biontech-Chef Uğur Şahin, 56, über die Notwendigkeit
Übelkeit oder einer Leberenzymerhöhung
mache er sich weniger Sorgen als wegen der eines Omikron-Boosters, ein neues Frühwarnsystem
vielen Wechselwirkungen von Paxlovid mit für gefährliche Virusvarianten und die besten Ansätze für eine
anderen Medikamenten, so Hanefeld. Da neue Generation von Coronavakzinen
müsse man bei der Verordnung »echt auf­
passen«. Das setze »viel persönliches Engage­
ment« voraus. SPIEGEL: Herr Professor Şahin, Anfang des typ. So eine klinische Prüfung dauert vier bis
Wenn es aber demnächst Daten gebe, dass Jahres haben Sie unter Hochdruck einen an­ fünf Monate.
Paxlovid oder ein anderes antivirales Medika­ gepassten Impfstoff für die Omikron-Varian­ SPIEGEL: Das klingt, als wäre der Druck raus
ment Long Covid verhindern oder bei alten te des Coronavirus entwickelt und viele Mil­ gewesen, nachdem sich Omikron als weniger
Menschen die Selbstständigkeit erhalten kön­ lionen Dosen produziert. Zugelassen ist der gefährlich herausgestellt hatte.
ne, dann würde das »sicher sehr viele Haus­ spezielle Booster noch immer nicht. Hätten Şahin: Ein wesentlicher Faktor war, dass der
ärzte überzeugen«, ist Hanefeld überzeugt. Sie sich die Mühe sparen können? aktuelle Impfstoff auch bei Omikron die
Pfizer plant für seine Studienteilnehmer eine Şahin: Ich halte angepasste Impfstoffe weiter­ Sterblichkeit erheblich senkt und Hospitali­
Nachbeobachtung von bis zu sechs Monaten, hin für sehr sinnvoll. Die Zielstruktur des sierung reduziert. Die Zeit bis zu einem an­
die weitere Erkenntnisse liefern könnte. Impfstoffs, das Spike-Protein, unterscheidet gepassten Vakzin konnte mit Boostern mit
Zur Verunsicherung trägt nicht zuletzt der sich in der Omikron-Variante erheblich vom dem aktuellen Impfstoff überbrückt werden.
»Reboundeffekt« bei: So wie bei US-Präsi­ Wildtyp. Zum einen haben unsere Daten ge­ SPIEGEL: Hat es auch länger gedauert, weil der
dent Joe Biden passiert, können die Corona­ zeigt, dass ein Booster mit einem angepassten Anpassungsprozess für Biontech schwieriger
symptome einige Tage nach dem Absetzen Impfstoff deutlich mehr Antikörper gegen war als zuvor gedacht?
der Therapie zurückkehren. Der Rebound Omikron produziert als der Wildtyp-Impf­ Şahin: Nein, das ging wirklich schnell und ist
ändert zwar nichts an der Wirksamkeit von stoff. Das Immunsystem kann die Variante für uns technologisch keine große Heraus­
Paxlovid, verlängert jedoch möglicherweise also besser abwehren. Zum anderen dürfen forderung mehr. Wir hatten in sechs Wochen
die Isolationszeit und hat viele Ärzte miss­ wir nicht vergessen, dass Omikron bereits erste Dosen für klinische Studien hergestellt
trauisch gemacht. eine partielle Escape-Variante ist. Irgendwann und diese im Januar begonnen. Wir stellen
Ein weiteres Problem: Wenn man einen könnten wir eine Variante haben, die über­ im Labor jede Woche die Spike-Protein-
Patienten nach einem Rebound zum zweiten haupt nicht mehr auf die Antikörper des ur­ Sequenzen für potenziell relevante Varian­
Mal mit Paxlovid behandeln muss, könne sprünglichen Impfstoffs reagiert. Da müssen ten her und haben diesen Prozess für Hun­
das die Entwicklung von Resistenzen gegen wir jetzt vorbauen. derte Versionen durchlaufen lassen. Auch die
das Medikament fördern, befürchtet der SPIEGEL: Wieso hilft dabei ein Omikron-Boos­
­Biochemiker Matthias Götte, der an der ter?
­University of Alberta in Edmonton, Kanada, Şahin: Omikron hat bereits sehr viele Muta­ Dominante Varianten
an antiviralen Medikamenten forscht. Der­ tionen im Spike-Protein, sodass nur einige
zeit seien Resistenzen zwar noch kein Pro­ Bereiche von den Antikörpern eines mit dem Wöchentliche Corona-Infektionen in
Deutschland nach Varianten
blem. Aber In-vitro-Studien hätten bereits Wildtyp-Impfstoff Geimpften noch erkannt
gezeigt, dass sie sich gegen Paxlovid ent­ werden. Das Virus mutiert in hoher Ge­ 1.500.000
wickeln können. schwindigkeit weiter. Wann es so weit sein
Es gebe allerdings einen Ausweg: »Unser wird, dass alle relevanten Positionen mutiert
Ziel muss sein, in Zukunft wie gegen HIV sind und damit vom Wildtyp-Impfstoff nicht
Omikron BA.2
eine Zweifach- oder Dreifachkombination an mehr erkannt werden, ist schwer vorherzu­
antiviralen Medikamenten gegen Covid zu sagen. Aber eher früher als später. Es ist des­ 1.000.000
haben«, sagt Götte. Die Zurückhaltung vieler wegen wichtig, dem Immunsystem bereits
Ärzte in Deutschland bei der Verordnung jetzt möglichst viele dieser mutierten Positio­
von Paxlovid hält er für falsch: »Wenn es ein nen zu zeigen, damit es dazulernt und auch Omikron BA.1
Medikament gibt, das hilft und sicher ist, dann nachkommende Varianten erkennt.
muss man es auch einsetzen.« SPIEGEL: Wenn die wissenschaftlichen Vor­ Omikron
500.000 Delta BA.5
Genauso sehen das die Virologen und Me­ teile so klar sind, wie Sie sagen, warum liegen
diziner, mit denen sich der Gesundheitsmi­ dann mangels Zulassung seit Monaten die
Alpha
nister jüngst auf seiner Amerikareise traf. fertigen Dosen in Tiefkühlschränken?
»Die konnten gar nicht glauben, wie schwer Şahin: Es ist das erste Mal, dass ein adaptier­
Omikron
es in Deutschland ist, an Paxlovid zu kom­ ter Impfstoff zugelassen wird. Die Zulassungs­ 0 BA.4
men«, so Lauterbach. »In den USA kriegt behörden wollten eine ganze Reihe zusätz­
das Mittel jeder verschrieben, der es haben licher klinischer Daten sehen. Etwa ob ein Jan. April Juli Okt. Jan. April Juli
2021 2022
­möchte.« angepasster Impfstoff nur auf Omikron ba­
Veronika Hackenbroch n sieren sollte oder auf Omikron und dem Wild­ S Quellen: RKI, eigene Berechnung; Stand: 17. August

94 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


WISSEN

Produktion können wir sehr schnell das Virus gelernt. Lassen sich mit
anpassen. ­diesem Wissen seine weitere Entwick-
SPIEGEL: Bundesgesundheitsminister lung und damit auch neue Varianten
Karl Lauterbach rechnet für die kom- besser vorhersagen?
mende Woche mit einer Zulassung Şahin: Wir sind tatsächlich weiter­
des Omikron-Boosters. Könnten Sie gekommen. Wir haben ein Frühwarn-
dann sofort liefern? system entwickelt, das mithilfe von
Şahin: Die Auslieferung ist logistisch künstlicher Intelligenz ständig die
aufwendig und bedarf einiger Tage Entwicklung des Virus analysiert. Da-
Vorbereitung. Wir könnten aber sehr bei schauen wir uns jeden Monat
zeitnah liefern, hoffentlich Anfang Zehntausende Sequenzen des Spike-
September. Man muss dazu sagen, Proteins von neuen Varianten an. Wir
dass wir zwei verschiedene Versionen haben so zum Beispiel das Risiko
hergestellt haben: Eine basiert auf durch die Varianten BA.4/5 sehr früh
dem Omikron-Subtyp BA.1. Dazu erkannt.
haben wir der europäischen Behörde SPIEGEL: Können Sie noch ein biss-
EMA alle erforderlichen Daten zur chen genauer erklären, wie dieses
Zulassung eingereicht. Der andere Frühwarninstrument funktioniert?
Impfstoff basiert auf dem derzeit in Şahin: Wir berechnen zunächst, ob
der EU dominanten Subtyp BA.5, da und wie stark neu identifizierte Spike-
reichen wir gerade die letzten Doku- Protein-Sequenzen den aktuellen
mente ein. Dann kann es auch hier Impfschutz umgehen können. Zudem
schnell gehen. Es hängt davon ab, wie nutzen wir neue computergestützte
schnell die EMA prüft. Algorithmen, um zu sehen, wie fit
SPIEGEL: Sie gehen also davon aus, diese Spike-Proteine sind.
dass wir auf den aktuelleren BA.5- SPIEGEL: Was bedeutet fit?
Impfstoff eher einige Wochen als Şahin: Wie effektiv das Spike-Protein
Monate warten müssen? an die Wirtszelle andocken kann, was
Şahin: Ja. die Ansteckbarkeit erhöht. Wir kar-

Ramon Haindl / laif


SPIEGEL: Dann kommen jetzt also fast tieren das genau, kalkulieren für jede
gleichzeitig zwei verschiedene Omi- Sequenz, wie stark sie im Beobach-
kron-Booster. Das ist schon ein biss- tungszeitraum in der Häufigkeit zu-
chen verwirrend. Welchen sollen die nimmt, und erstellen wöchentlich
Menschen nehmen? eine Top-100-Liste der zu beobach-
Şahin: Grundsätzlich ist zwischen den Forscher Şahin logen haben die Besucher aufgerufen, tenden Varianten. Mit diesem Schritt
beiden Impfstoffen kein gewaltiger sich zuvor unbedingt boostern zu las- können wir besser erkennen, welche
Unterschied. Beide haben in Unter- sen. Kann es bis dahin mit einem Virusentwicklungen problematisch
suchungen gezeigt, dass sie im Ver- BA.5-Impfstoff klappen? werden könnten. Für alle Varianten
gleich zum ursprünglichen Impfstoff Şahin: Das liegt nicht in unserer auf dieser Liste erstellen wir auch die
eine klar überlegene Antikörper­ Hand. BA.1 sollte aber bis dahin ver- passenden DNA-Plasmide.
antwort auf Omikron produzieren. fügbar sein. SPIEGEL: Warum sind sie so wichtig?
Gleichzeitig haben wir deutliche SPIEGEL: Gibt es Erkenntnisse aus Şahin: Die Plasmide sind die Vorlage
­Hinweise, dass ein BA.5-Impfstoff Ihren Studien, ob ein Mindestabstand für die mRNA-Herstellung, eine Art
eben noch besser gegen BA.5 wirkt. zur letzten Impfung mit dem Kopiervorgang. Wenn wir diese vor-
Es gibt aber auch Meinungen, dass ­Wildtyp-Vakzin eingehalten wer­den rätig haben, können wir die Herstel-
in einigen Monaten eine Variante sollte? lungszeit für einen neuen potenziel-
auftauchen könnte, die wieder näher Şahin: Das haben wir nicht konkret len Impfstoff noch einmal um zwei
an BA.1 liegt. untersucht. Prinzipiell hatten wir in bis vier Wochen verkürzen.
SPIEGEL: Das ist eine sehr diploma­ unseren Untersuchungen aber einen SPIEGEL: Was sehen Sie aktuell?
tische Antwort. Die amerikanische Abstand von sechs bis acht Monaten Bleibt es bei immer neuen Subtypen
Zulassungsbehörde FDA hat es ein- zur letzten Impfung. Personen, die von Omikron? Oder ist bereits eine
facher gemacht und klar vorgegeben: bisher keine Omikron-Infektion hat- neue potenziell dominante Variante
In den USA wollen wir nur den BA.5- ten, könnten auch mit einem kürze- am Horizont zu erkennen?
Booster. Haben Sie persönlich eine ren Intervall von einer Omikron-­ Şahin: Omikron macht derzeit 99,8
klare Präferenz? adaptierten Impfung profitieren. Ich Pro­zent der Erreger aus und mutiert
Şahin: Ja, ich bin dafür, immer so kann mir vorstellen, dass die EMA stetig. Diese Evolution über neue
nah wie möglich am dominierenden oder die Stiko hierzu eine Empfeh- Sublinien haben wir bei Delta auch
Stamm zu bleiben. So wird es auch lung aussprechen werden. gesehen, sie ist aber bei Omikron viel
bei der Grippe gemacht. Und wir sind SPIEGEL: Wird der Omikron-Booster stärker ausgeprägt. Die Variante wird
mit der mRNA-Technologie in der auch für Kinder zugelassen werden? deswegen nicht leicht zu verdrän­
Lage, die Produktionszeiten auf unter »Mit Omikron Şahin: Zunächst haben wir die Zu- gen sein. Ein ungelöstes Problem ist
drei Monate zu reduzieren.
SPIEGEL: Von Mitte September an fin-
hatten wir lassung ab zwölf Jahren beantragt. Für der zweite Evolutionsmechanismus:
jüngere Kinder stehen wir mit den scheinbar aus dem Nichts auftauchen-
det in München eine Sause statt, die doppelt Glück. Behörden in Kontakt, welche Daten de, stark mutierte Varianten. Die kön-
das Zeug zum Super-Spreader-Event Darauf sollten sie für eine Zulassung benötigen. Hier nen wir nicht vorhersehen, weil sich
hat. Millionen Menschen werden sich kann ich noch keinen Termin nennen. das Virus praktisch neu erfindet.
beim Oktoberfest dicht an dicht in wir nicht noch SPIEGEL: In den vergangenen beiden SPIEGEL: So wie ursprünglich auch
den Bierzelten drängen. Einige Viro- mal setzen.« Jahren hat die Wissenschaft viel über Omikron.

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 95


WISSEN

Şahin: Richtig. Es gibt die Hypothese, dass


SPIEGEL TV Programm sich solche plötzlich auftretenden, stark mu-
tierten Varianten in Menschen mit beeinträch-
tigtem Immunsystem entwickeln. Dort kön-
nen sie sich über Monate schrittweise und
weitgehend ungestört optimieren, bis sie
einen komplett neuen Satz von Escape-Muta­
tionen besitzen, die regional oder sogar global
eine neue Pandemie auslösen können.
SPIEGEL: Das heißt, wir müssen weiter auf
eine jährliche Auffrischungsimpfung für die
jeweils dominante Variante eingestellt sein?
Oder wird es bald eine neue Generation von
Vakzinen geben, die ein breites Varianten-
spektrum abdeckt und dadurch länger hält?
Şahin: Wir testen verschiedene Ansätze für
unsere Next-Generation-Impfstoffe. Zum
einen verbesserte Spike-Designs. Da bin ich

Privat
bisher noch nicht so enthusiastisch wie ande-
Brautpaar Genditzki 2005
re Forscher, weil der Ansatz aus meiner Sicht
die Evolutionsfähigkeit des Sars-Cov-2-Erre-
gers unterschätzt. Spannender finde ich An-
SPIEGEL TV und Fanta Kone haben drei der begehrten sätze für den anderen Abwehrmechanismus
MONTAG, 29. 8., 23.25 – 0.00 UHR, RTL Plätze ergattert und dürfen Sterne­ des Immunsystems, den der T-Zellen.
köchen in Paris oder Lyon über die Schul- SPIEGEL: Der Impfstoff zielt hauptsächlich
Freilassung – spektaku­ ter sehen. In den oft män­nerdominierten darauf, neutralisierende Antikörper gegen
läre Wende im sogenannten Küchen treffen dabei Welten aufeinander: das Virus zu generieren. Die körpereigenen
­»Badewannen-Mord« auf der einen Seite die elitäre Haute T-Zellen sind normalerweise eher die zweite
13 Jahre, 23 Wochen und 6 Tage lang Cuisine, auf der anderen Seite Frauen, die Abwehrlinie des Menschen. Lässt sich dieser
saß Manfred Genditzki hinter Gittern. bislang nur selten die Möglichkeit hat- Mechanismus optimieren?
Jetzt hat das Landgericht München I ten, aus ihrem Milieu herauszukommen. Şahin: Es gibt eine Reihe von Arbeiten, die
seinen Wieder­aufnahmeantrag zugelas- Beide können voneinander lernen. zeigen, dass Menschen das Virus auch ohne
sen und die sofortige Haftentlassung messbare neutralisierende Antikörper los-
angeordnet. Er war zu lebenslanger Haft geworden sind, teilweise sogar asymptoma-
wegen Mordes und vorsätzlicher Körper- tisch. T-Zellen schaffen den Job, das Virus zu
verletzung verurteilt worden, weil er ZDF TERRA X eliminieren, in diesen Fällen scheinbar auch
die 87-jährige Lieselotte K. in ihrer Bade- SONNTAG, 28. 8., 19.30 – 20.15 UHR, ZDF allein. Daran forschen wir mit Nachdruck.
wanne in Rottach-­Egern ertränkt habe. Das Ziel ist ein universeller T-Zell-Impfstoff,
Deutschlandweit wurde der Fall als Abenteuer Freiheit – der sich gegen nicht mutierende Regionen des
»Bade­wannenmord« bekannt. Wie geht Van-Life in Amerika Virus richtet und unabhängig von zukünftig
es einem Mann, dessen jahrelange Nachdem die ehemalige Bundesliga­ zirkulierenden Virusvarianten vor Krankhei-
Haft womöglich ein Justizirrtum war? fußballerin Anne und die Personalberate- ten aller Schweregrade schützen soll.
rin Anna ihren Camper von Bremerhaven SPIEGEL: Werden künftig auch die Zulassungs-
nach Mexiko verschifft haben, beginnt ihr prozesse weniger langwierig sein?
neues Leben ohne Termine oder Ver- Şahin: Das ist wichtig, ja. Wir brauchen nicht
ARTE RE: pflichtungen in dem neun Quadratmeter nur weiter verbesserte Impfstoffe, sondern
MONTAG, 29. 8., 19.40 – 20.15 UHR, ARTE großen Zuhause. Sie haben ihre Jobs auch die Prozesse, um schneller reagieren
gekündigt und die gemeinsame Woh- zu können. Etwa wenn gefährliche Varianten
Sterneküche statt Sozialamt nung aufgelöst, um ihren Traum von außerhalb der Saison auftreten. In den Ge-
– Neustart für grenzenloser Freiheit zu verwirklichen. sprächen mit den Behörden sehen wir, dass
Frauen in Frankreich Von Yucatán durch den Südwesten der es da vorangeht.
In Frankreich bietet das Programm USA bis an die Pazifikküste Kanadas – SPIEGEL: Der Prozess wäre dann ähnlich wie
»Des étoiles et des femmes« Frauen aus auf dieser Reise möchten sie aus der beim Grippeimpfstoff, wo die Anpassung an
benachteiligten Verhältnissen einen gewohnten Umgebung ausbrechen, die aktuell kursierende Variante nicht jedes
Ausbildungsplatz in der Spitzengastrono- andere Kulturen ­kennenlernen und ein- Mal durch eine klinische Studie begleitet und
mie. Ikrame Ait Ahmad, Hayat Abbatouy fach einmal raus aus der Komfortzone. neu zugelassen werden muss?
Şahin: Ich wäre überrascht, wenn wir nicht
spätestens nächstes Jahr eine international
abgestimmte Lösung hätten, ähnlich wie beim
Grippeimpfstoff. Alles andere können wir uns
auch nicht leisten. Mit Omikron hatten wir
doppelt Glück, weil es keine volle Escape-
Variante ist und der vorhandene Impfstoff
einen Auffrischungsimpfschutz bieten konn-
te. Außerdem führt Omikron zu milderen
SPIEGEL TV
SPIEGEL TV

Verläufen als Delta. Darauf sollten wir nicht


noch mal setzen.
Auszubildende Ait Ahmad Touristinnen Anne und Anna in Yucatán Interview: Thomas Schulz n

96 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


WISSEN

Jeder Tag zählt


MEDIZIN  Die Muskellähmung ALS ist eine grausige Krankheit. Sie sperrt die Menschen
ein in den eigenen Körper, tötet sie oft in wenigen Jahren. Und galt als
unheilbar – bis ein Arzt aus New York und ein Mädchen aus Waiblingen aufeinandertrafen.

D
ie Stimme ihrer Tochter Anna hat Son-
ja K. seit einem Jahr nicht mehr gehört.
Damals versagte die Sprechmuskulatur
der heute 18-Jährigen nach einem Luftröhren-
schnitt. Wenn Anna ihrer Familie etwas mit-
teilen möchte, tippt sie Nachrichten in ihr
Smartphone. Verglichen mit dem, was der
jungen Frau zuvor widerfahren war, nimmt
sich das allerdings beinahe erträglich aus.
Anna ist an Amyotropher Lateralsklerose
(ALS) erkrankt. Bei diesem Leiden sterben
im Körper unaufhaltsam jene Nervenzellen
ab, mit denen die Muskeln gesteuert werden.
Die Krankheit gilt als unheilbar.
Anna leidet an einer besonders aggressi-
ven Form. So kam es beinahe einem Todes-
urteil gleich, als im Oktober 2020 diagnosti-
ziert wurde, dass Annas ALS-Erkrankung
durch eine Mutation im sogenannten FUS-
Gen ausgelöst wurde. Die meisten Betroffe-
nen sterben nach kaum mehr als drei Jahren
an Atemversagen. Oder sie erleiden, auch
bedingt durch ihre ermattete Schluckmusku-
latur, eine tödlich verlaufende Lungenent-
zündung.
Bis zum vergangenen Jahr schien für Anna
genau dieser Leidensweg vorgezeichnet: Erst
vermochte sie ihren Kopf nicht mehr aus eige-
ner Kraft zu heben, dann konnte sie nicht
mehr laufen. Schließlich versagte ihre At-
mung, und sie musste über einen Luftröhren-
schnitt künstlich beatmet werden. Aus dieser
Situation, das wussten Annas Eltern, gab es
keinen Ausweg. Weltweit ist kein ALS-Patient
bekannt, der es aus diesem kritischen Stadium
zurückgeschafft hat.
Bestenfalls würde Anna nun für den Rest
ihres mutmaßlich kurzen Lebens nahezu
­regungslos, aber bei klarem Verstand im
Bett vor sich hin vegetieren. Regelmäßig
­gewendet von Pflegern, damit sie nicht wund
liegt. Eingesperrt im eigenen Körper – ein
Albtraum.
Doch ein Jahr später sitzt Anna am Kü-
chentisch im elterlichen Haus im schwäbi-
schen Waiblingen. Sie wirkt zerbrechlich,
Verena Müller / DER SPIEGEL

aber sie kann inzwischen wieder den größten


Teil des Tages selbstständig atmen. Sie ist
­sogar in der Lage, ohne Hilfe mehrere Kilo-
meter am Stück zu gehen.
Anna K. ist vermutlich weltweit die erste
Patientin in der Geschichte dieser entsetz­
ALS-Patientin Anna: »Du sprichst wie Donald Duck« lichen Krankheit, bei der die zunehmende

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 97


WISSEN

Lähmung der Muskulatur gestoppt »Wenn andere Erst das Ergebnis einer geneti- rige betrifft. Doch die auf FUS-Gen-
wurde. Und die inzwischen sogar schen Untersuchung brachte endgül- Mutationen basierende Form trifft
wieder Aussicht auf ein halbwegs Patienten tig Klarheit. »Ich war in der Zeit beim auffällig oft junge Menschen; und sie
normales Leben hat. Der Fall grenzt ähnlich Lungenarzt, und als Mama dann zu verläuft besonders extrem.
an ein medizinisches Wunder. Dabei
deutete nichts auf ein Happy End hin,
­rea­gieren, mir kam, habe ich ihr sofort angese-
hen, dass es ALS ist«, tippt Anna heu-
Ein besonderer Fall veranlasste
Neil Shneider zu einem ungewöhn-
als die Familie ab November 2019 in wäre das ein te in ihr Telefon. Nun machte sich in lichen Versuch. Anfang 2019 erkrank-
ein Chaos nicht enden wollender Durchbruch der Familie Verzweiflung breit. Vater te die 25-jährige Jaci Hermstad aus
Hiobsbotschaften geriet. Uwe sprach mit seinem Vater, einem Iowa an der Variante. Shneider hatte
Das Drama begann damit, dass die in der ALS- ehemaligen Hausarzt aus Rheinland- sie kennengelernt, weil Hermstads
eigentlich sportliche Anna schon Therapie.« Pfalz. Der bestätigte ihm: Bei ALS Zwillingsschwester Alex Jahre zuvor
beim Treppensteigen ins Schnaufen Neil Shneider, besteht kaum Hoffnung. Opfer von FUS-ALS geworden war.
geriet. Noch kurz zuvor surfte sie, Mediziner Aber Annas Opa hörte sich um. Nun wollte er alles daransetzen, we-
spielte Tennis, raste die Skipiste Der Sohn eines alten Freundes arbei- nigstens Jaci zu retten.
­hinunter. Doch nun schnappte sie mit- tet in den USA als Genetiker. Er soll- Die kalifornische Pharmafirma Io-
unter bereits beim Sprechen nach je- te die Lage sondieren, sich nach neu- nis hatte vielversprechende Tests mit
dem zweiten oder dritten Wort nach esten Forschungsergebnissen und einem Wirkstoff durchgeführt, doch
Luft. Mutter Sonja glaubte, ihre Toch- Studien erkundigen. Was er fand, war das Präparat mit dem schmucklosen
ter hätte einen Tick entwickelt und mehr wert als jeder Lottogewinn und Namen ION363 hatte die Marktreife
machte sich zunächst keine großen ähnlich unwahrscheinlich: In New längst nicht erreicht. Shneider erhielt
Sorgen. Auch Vater Uwe hielt das für York City arbeiteten Forscher mit von der zuständigen amerikanischen
eine vorübergehende Marotte. »Du einer winzigen Probandengruppe Food and Drug Administration (FDA)
sprichst wie Donald Duck«, sagte er an jener extrem seltenen FUS-Gen- die Ausnahmegenehmigung, Herm-
zu seiner Tochter. Mutation, die Annas Erkrankung aus- stad mit dem Mittel zu behandeln.
Doch innerhalb kurzer Zeit baute gelöst hatte. Doch im Mai 2020 starb Jaci Herm-
Anna so stark ab, dass ihren Eltern In Deutschland leben bis zu stad aufgrund von Komplikationen,
der Ernst der Lage klar wurde. Eine 8000 Menschen mit ALS. Nur etwa die eine Lungenentzündung verur-
Odyssee durch diverse Arztpraxen zehn Prozent dieser Fälle werden sacht hatten.
und Kliniken begann. Dann, nach durch eine bekannte Genmutation Bei anschließenden Untersuchun-
Monaten der Unklarheit, endlich verursacht. Und nur etwa vier Pro- gen zeigte sich allerdings, dass die
eine erste handfeste Diagnose: Anna zent davon basieren auf Verände­ toxischen Moleküle, die für diese ag-
leide unter einer Myasthenie, einer rungen im FUS-Gen. Wie wahr- gressive ALS-Variante typisch sind,
Störung des Zusammenspiels zwi- scheinlich ist es, irgendwo auf der im Nervengewebe von Hermstad so
schen Nerven und Muskeln. Die Be- Welt einen Experten zu finden, der gut wie nicht mehr nachweisbar wa-
troffenen können mitunter kaum sich mit der FUS-Gen-Mutation be- ren. ION363 hatte den Fortgang der
mehr ihre Augenlider heben. Doch schäftigt? Krankheit also offenbar tatsächlich
die Krankheit ist behandelbar. Der Neurologe Neil Shneider ist gestoppt, nur leider nicht mehr recht-
Nur stellte sich nach einigen Wo- genau dieser Mediziner. Er leitet das zeitig. Der Schaden, den ALS im Kör-
chen heraus, dass Anna nicht auf die ALS-Center an der Columbia Univer- per von Jaci Hermstad angerichtet
Behandlung ansprang. Die Diagnose sity in New York. Obwohl die FUS- hatte, war schon zu groß.
war falsch. Gen-Mutationen im ALS-Spektrum Offiziell zugelassen war ION363
Die Ursachensuche begann von so selten sind, gibt es einen guten noch immer nicht. Doch Shneider
Urlaubsaufnahmen
vorn. Dann eröffnete ein Kinder- von Anna: Beim
Grund, sich mit ihnen besonders zu durfte das Medikament nun unter
neurologe in München den Eltern, Sprechen nach Luft beschäftigen: Eigentlich gilt ALS als dem Namen JaciFUSen einem erwei-
dass für ihre Tochter zwei Diagnosen geschnappt Krankheit, die vor allem über 50-Jäh- terten Probandenkreis von jungen
infrage kämen, von der die eine Betroffenen verabreichen. Just in
­vergleichsweise freundlich zu sein ­diesem Augenblick meldete sich die
schien: Ein gestörter Transport des Familie mit der schwer kranken Anna
Vitamins Riboflavin löse bei Anna aus Deutschland. Und Neil Shneider
womöglich eine Muskelschwäche war schnell offen für die junge Pa­
aus. Die Gabe eines Vitamin-B2-­ tientin aus Baden-Württemberg. Sein
Präparats könnte vermutlich rasch Plan: Er wollte die vielversprechende
helfen. Medizin nach Deutschland einfliegen
Die andere Option war weit lassen, wo sie Anna von einem hie­
­bedrohlicher. Erstmals sprach ein sigen Neurologen gespritzt werden
Arzt aus, dass Anna an ALS erkrankt sollte.
sein könnte. »Ich war felsenfest da- Die FDA gab innerhalb von 14 Ta­
von überzeugt, dass es das Ribo­ gen ihr Einverständnis, dass Anna
flavin-Transportproblem ist«, sagt das Medikament bekommen darf.
Vater Uwe. »Doch die Skepsis in Deutschland
Dann bekam Anna Vi­ta­min B2 war riesengroß«, erinnert sich Annas
und die Familie hörte das Gras wach- Vater Uwe. Überbesorgte Ethikräte
Verena Müller / DER SPIEGEL

sen. Jedes ­winzige Zeichen wurde und Haftungsfragen verhinderten,


als positi­ve Veränderung gedeutet. dass seiner Tochter das Mittel hier-
»Alle bestätigten sich gegenseitig: zulande gespritzt werden konnte.
Es tritt Besserung ein«, erinnert sich Mutter Sonja ist die Verbitterung
Uwe K. »Das war wohl der Placebo­ über die Erfahrung noch immer deut-
effekt.« lich anzumerken. »Ich hatte immer

98 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


WISSEN

Verena Müller / DER SPIEGEL


Privat

Rekonvaleszentin Anna 2021, mit Eltern: Ihr Fall grenzt an ein medizinisches Wunder

die ­Vorstellung: Wenn in Deutschland ein Zudem musste Anna nun über einen Luft- zu vollständig gelähmt. Lediglich über das
Kind todkrank ist, dann wird alles versucht, röhrenschnitt künstlich beatmet werden. Für Zucken eines Muskels in ihrem Mundwinkel
was möglich ist«, sagt sie. »Aber jeder guckt ALS-Patienten bedeutet das bislang, dass ab kann sie noch mit ihren Eltern kommuni­
erst mal: Wo ist meine Zuständigkeit? Wie diesem Zeitpunkt keine Rückkehr zur selbst- zieren. Für die Gabe des Medikaments Jaci-
sind die Haftungs­fragen?« ständigen Atmung mehr möglich ist. Grund FUSen komme Kerstin nicht mehr infrage,
Shneider drängte nun darauf, dass Anna für den Kollaps war eine Lungenentzündung. wurde den Wirths vom kalifornischen Her-
nach New York kommt. Spätestens seit der Anna wurde für zehn Tage in ein künstliches steller Ionis angedeutet. Die Krankheit habe
Erfahrung mit Jaci Hermstad wusste er, dass Koma versetzt. Sie werde ab jetzt rund um schon zu viel Schaden angerichtet, ihr
jeder Tag zählt: »Wir haben keine Zeit zu die Uhr im Bett liegen, ständig angeschlossen ­Zustand werde sich durch das Mittel nicht
verlieren.« Doch er warnte die Familie zu- an ein Beatmungsgerät, erklärte ihnen der bessern.
gleich vor allzu großen Hoffnungen: »Es Oberarzt an einer Stuttgarter Klinik. Doch diese Einschätzung verkennt, wel-
ist nur eine Chance.« Im Dezember 2020 Doch nach dem Zusammenbruch erholte cher Gewinn es wäre, wenn die fatale Läh-
flogen Sonja K. und ihre Tochter Anna in die sich Anna plötzlich sehr schnell wieder. An- mung auch bei Kerstin Wirth gestoppt werden
USA. ders als ihre Ärzte waren ihre Therapeuten könnte. Ihre Eltern wollen unbedingt den ein-
Als Mutter und Tochter Ende Februar 2021 in der Klinik voller Zuversicht. Noch während zig verbliebenen Kommunikationsweg retten,
nach Deutschland zurückkehrten, hatte Anna ihres Aufenthalts konnte sie dank intensiven der ihnen mit ihrer Tochter verblieben ist.
vier Dosen des Medikaments JaciFUSen in- Trainings bereits wieder eine Minute selbst- Dafür darf der Muskel im Mundwinkel nicht
tus. Doch äußerlich wirkte sie desolater denn ständig atmen. auch noch erlahmen. Denn wenn Kerstin gar
je. Als sie aus dem Flugzeug stieg, sei er »to- An Silvester 2021 atmete sie eine Stunde nicht mehr kommunizieren kann, so hat sie
tal geschockt« gewesen, erinnert sich Vater ohne Beatmungsgerät. Sie wurde langsam es verfügt, soll die künstliche Beatmung ab-
Uwe. Seine Tochter konnte den Kopf nicht kräftiger, bald konnte sie wieder selbstständig geschaltet werden.
mehr heben. Sie bekam auch kaum noch ein aufstehen, sogar laufen. In das erstarrte Ge- Für Anna K. kam die Behandlung mit
Wort raus. War womöglich alles umsonst ge- sicht kehrt die Mimik zurück. Inzwischen ­JaciFUSen womöglich im letzten Augenblick.
wesen? muss die Familie nicht mehr das Gras wachsen Sie sei tatsächlich die Einzige gewesen, die
Weil ihr in Deutschland nach wie vor kein hören, denn die Fortschritte sind messbar. Vor immer an die Wirksamkeit des Medikaments
Arzt das Medikament spritzen wollte, fuhr allem aber zeigen die Untersuchungen, dass geglaubt habe, erzählen ihre Eltern. Dass sie
die Familie zu einem Neurologen ins schwei- die Zunahme der verheerenden Muskelläh- zwischenzeitlich nicht verrückt geworden sei,
zerische St. Gallen. Im August 2021 der ab- mung offenbar gestoppt wurde. Ihr Fall sei dafür hätten Freunde gesorgt und Snoopy, ihr
solute Tiefpunkt: Anna kollabierte, sackte im »völlig außergewöhnlich«, meint Neil Shnei- Golden Retriever.
Arm ihrer Mutter weg und musste reanimiert der. »Sollten auch andere Patienten ähnlich In der schlimmsten Zeit war Anna K., bei
werden. auf den Wirkstoff JaciFUSen reagieren, wäre einer Größe von 168 Zentimetern, auf unter
»Eine halbe Stunde war sie ohne selbst- das ein Durchbruch in der ALS-Therapie«, 40 Kilo abgemagert. Inzwischen wiegt sie gut
ständigen Kreislauf. Bis wir sie wieder richtig sagt der Mediziner. 52 Kilo. Ernährt wird sie immer noch über
zurückhatten, sind zweieinhalb Stunden ver- Das weckt Hoffnungen unter den Be­ eine Magensonde. Feste Nahrung kann sie
gangen«, sagt Sonja K. troffenen. Nur was heißt Heilung? Wie der noch nicht schlucken. Doch durch intensives
Die Hiobsbotschaften kamen nun Schlag Fall Anna K. zeigt, lässt sich die Muskel­ Training gewinnt sie zunehmend die Funk-
auf Schlag. Hatte Anna womöglich eine Hirn- lähmung zwar aufhalten. Doch einmal zer- tionen in den Nerven wieder. Sie macht schon
schädigung erlitten, weil die Reanimation so störte M ­ otoneuronen, da sind sich die Pläne für die Zukunft.
lange dauerte? Zudem war sie nun in eine ­Mediziner einig, lassen sich nicht wieder­ In drei oder vier Jahren könnte sie wo-
völlige Starre gefallen, sodass Sonja K. be- herstellen. möglich das Abitur nachholen. Und sie will
fürchtete, ihre Tochter befinde sich im In Leverkusen lebt die 31-jährige Kerstin wieder Tennis spielen und Ski fahren. Ein
­Locked-in – jenem gefürchteten Zustand der Wirth, bei der die ALS vor zehn Jahren aus- anderer Wunsch wird sich wahrscheinlich
völligen Bewegungslosigkeit, der innerhalb brach. Wie Anna K. leidet auch sie an einer schon früher erfüllen.
der ALS-Hölle nochmals eine Verschlimme- Variante, die durch eine Mutation im FUS- Anna hat großen Hunger auf ein Steak.
rung bedeutet. Gen ausgelöst wurde. Kerstin Wirth ist nahe- Frank Thadeusz n

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 99


Wunschprämie für Sie
Jetzt eine neue Leserin oder einen neuen Leser werben
und Ihre Prämie sichern! 

TechniSat DIGITRADIO 370 CD BT Wagenfeld-Tischleuchte WG 24


DAB+/UKW-Stereoradio mit CD-Player, Audiostreaming per Aus vernickeltem Metall, Klarglas und Opalglas.
Bluetooth und USB-Anschluss. Ohne Zuzahlung. Höhe: ca. 36 cm. Zuzahlung: € 199,–.

€ 120,– Prämie €-120-Amazon-Gutschein


Erfüllen Sie sich selbst oder Ihren Lieben einen Über eine Million Bücher sowie DVDs,
besonderen Wunsch! Technikartikel und mehr zur Auswahl.
Schwungliegestuhl »Copa Cabana« Stand-up-Paddle-Surfboard »Explorer«
Aus Eukalyptusholz mit Wendeauflage in zwei Für Stand-up-Paddling, Surfen, Canyoning und mehr.
Farben. Maße: 158 × 69 × 69 cm. Ohne Zuzahlung. Maße: ca. 300 × 76 × 12,7 cm. Zuzahlung: €139,–.

Einfach jetzt bestellen:


abo.spiegel.de/p22
oder telefonisch unter:
040 3007-2700
SP22-101

Le-Creuset-Pfannenset, 2-teilig DER SPIEGEL zum Vorzugspreis


Für alle Herdarten geeignet, mit großen Bratflächen. von nur € 5,60 statt € 6,10 im
Größen: 24 und 28 cm. Ohne Zuzahlung. Einzelkauf.
KULTUR Das Morden geht
weiter
KRIMIS  Man darf zu Recht
skeptisch sein, wenn Schrift­
steller sich des Werks eines ihrer
verstorbenen Vorgänger be­
mächtigen. Warum also war die
Hoffnung groß, dass es Ian Ran­
kin, Schottlands erfolgreichstem
Krimiautor, gelingen würde, aus
einem kaum halb fertigen Ma­
nuskript aus dem Nachlass von
William McIlvanney, Schottlands
einflussreichstem Krimiautor,
­etwas zu schaffen, das lesens­
wert ist? Vielleicht, weil Rankin
als Erbe des 2015 verstorbenen
McIlvanney gilt: Sein Ermittler
Detective ­In­spector John Rebus
basiert auf McIlvanneys Ermitt­
ler Jack Laidlaw. Beide sind
eigenbrötlerisch, hartnäckig,
gerechtigkeits­liebend – und
manchmal allzu selbstgerecht.
Die Handlung von »Das
Dunkle bleibt« ist schnell er­
zählt: Es ist 1972, und eine Rei­
he von Gangsterbanden hat
Glasgow unter sich aufgeteilt.
Doch nach dem Mord an dem
Anwalt einer der Gangs droht
der Frieden brüchig zu werden.
Hier kommt Jack Laidlaw ins
Spiel, der nicht nur die Haupt­
BENJAKON

figur des Romans ist, sondern


Szene aus »In der Natur«
dessen Essenz. Mag Autor Ran­
kin den avancierteren Stil
­McIlvanneys nicht perfekt imi­

Große Kunst, großer Spaß


tieren können, gelingt es ihm
dennoch, eine Zeit literarisch
auferstehen zu lassen, in der
selbst das Verdorbene ein wenig
unschuldiger wirkt. McIlvan­
POP Deichkind melden sich mit neuer Musik und begleitendem Bildmaterial neys Witwe zeigte sich zufrieden
zurück. Darin zu sehen: ein Roboterhund, ein grotesker Rollstuhl und ein Jodler. mit »Das Dunkle bleibt« und
schrieb Rankin, es habe sich an­

S
chon die ersten Sekunden des Videos zur down für die Arbeit an einem neuen Album ge­ gefühlt, als wäre ihr Mann bei
neuen Single stiften diese leicht beschwipste nutzt haben, das im kommenden Februar erschei­ ihr im Zimmer gewesen, als sie
Verwirrung, für die Deichkind inzwischen nen wird: »Neues vom Dauerzustand«. Der Titel den Roman gelesen habe. Ein
berüchtigt sind. Auf offener See steht da ein Mann ist eine Verbeugung vor dem linken Publizisten schöneres Kompliment kann es
mit dunkler Hautfarbe in bajuwarischer Tracht Wolfgang Pohrt und »In der Natur« der unter­ für einen Epigonen kaum geben.
auf einem Paddleboard, stößt einen Jodler aus, haltsame Vorbote. Zu hoppelndem Elektrobeat Schade nur, dass McIlvanney für
der ebenso alpinen wie afrikanischen Ursprungs und zwitschernden Field Recordings führt Kryp­ einen weiteren »Laidlaw«-Roman
sein könnte, und blickt dabei ernst in die Kamera. tik Joe im Unterholz einen Roboterhund brav an lediglich ein paar No­ti­zen hin­
Da hat »In der Natur« noch nicht einmal richtig der Roboterhundeleine aus – und dekons­truiert terlassen hat. Ein Aufeinander­
angefangen. dabei die Sehnsucht nach dem Ursprüng­lichen treffen von Jack Laidlaw und
Die Künstlergruppe um Philipp »Kryptik Joe« und der Waldeinsamkeit: »Da hilft keiner, wenn John Rebus wäre trotzdem
Grütering, Henning »La Perla« Besser und Sebas­ du rufst, du hast lange nicht geduscht und das hier eine reizvolle
tian »Porky« Dürre verbindet seit 1999 Dada mit so nicht gebucht.« Später wird er mit einem gro­ Idee. RED
Diskurs, Slapstick mit Poesie und Hits mit Gesell­ tesken Raupenrollstuhl durchs Gelände rollen
schaftskritik. Auf Konzerten gibt es Konfettikano­ und in der Dunkelheit den Rehen und Füchsen William McIlvan-
ney, Ian Rankin:
nen, Bierduschen und Gummi­bootfahrten über nachstellen. Dazu gibt es eine Passage schmierigs­ »Das Dunkle
die Köpfe des Publikums. Theater, moderne Kunst ter Keyboardkaskaden wie aus den späten Sieb­ bleibt«.
und Unfug fließen hier aufs Berauschendste in­ zigerjahren und visuelle Anspielungen auf »Apo­ Aus dem Eng-
einander. Bedauerlich, dass die für 2020 geplante calypse Now«, »Planet der Affen« – und den lischen von Conny
Lösch. Antje
Tournee der Pandemie zum Opfer fiel. Umso ­Verhandlungstisch von Wladimir Putin. Große Kunstmann; 288
­erfreulicher wiederum, dass Deichkind den Lock­ Kunst, die nebenbei großen Spaß macht. FRA Seiten; 25 Euro.

102 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


Hommage an eine und als Antisemitin berüchtig- reißendes Porträt verfasst. »Nur
ten Muse. Die als Alma Schind- wenige Frauen haben so inten-
Verführerin ler in Wien geborene Alma siv ihr Leben gelebt, so rück-
SACHBÜCHER  Der österreichi- Mahler-Werfel (1879 bis 1964) sichtslos und so selbstbestimmt
sche Schauspieler, Regisseur hat unter anderem Gustav Klimt, wie Alma Mahler-Werfel«,
und Autor Paulus Manker hat Gustav Mahler, Oskar Kokosch- schreibt Manker, macht aber
sich den Ruf erarbeitet, ein be- ka, Walter Gropius und Franz auch ihren ordinären Judenhass
gabter Wüterich und empfind- Werfel verführt und einige die- und andere Schwächen deutlich.
samer Kerl zu sein. Jetzt hat ser Genies auch geheiratet. So zitiert er eine Zeitzeugin
Madame d’Ora / Bauhaus-Archiv, Berlin

er ein Buch über eine geniale Manker, Jahrgang 1958, hat der, mit einer Schmähung der ge-
Künstlergefährtin und ideolo- wie er fand, »zur Kulturnutte alterten Alma: »Sie war gepu-
gisch gruselig verblendete Frau stilisierten« Frau in den Neunzi- dert, geschminkt, parfümiert
geschrieben. »Das große Alma gerjahren ein Theaterspektakel und volltrunken. Diese aufge-
Mahler Album« ist ein Wunder- namens »Alma« gewidmet. quollene Walküre trank wie ein
werk des Schreckens. In kühler, Nun präsentiert er im Buch teils Loch.« HÖB
klar analysierender Sprache be- ­unveröffentlichte Fotografien
Paulus Manker: »Das große Alma
richtet Manker vom Zauber und sowie Tagebuchnotizen der Mahler Album«. Amalthea; 352 Seiten;
Mahler-Witwe Alma 1916 den Ausrastern der berühmten Heldin – und hat dazu ein hin- 37,50 Euro.

Queere Gang gegen den gezupften Akustikgitarren


hinter gemurmelten Versen,
das Patriarchat den sich ständig wiederholenden
MUSIK  Ezra Furmans neues Klavierakkorden und hallen-
Album »All of Us Flames« ist den Drums. Trotzdem erinnern
ein Akt der Selbstermächti- Tracks wie das von Keyboards
gung in Form von Indie-Rock. und Bläsern umhüllte und von
»Ich wollte Songs für bedrohte E-Gitarren begleitete »Point
Gruppen schreiben, insbeson- Me Toward the Real« mehr
dere für die, zu denen ich gehö- an die frühen Soloalben von
re: Transmenschen und Juden«, Lou Reed, den die Musikerin
sagt die US-Sängerin. Auf zwölf einst als »meine liebste schwule

Leonine Filmverleih
Stücken ist das Abweichen von Ikone« bezeichnete. Furmans
der Heteronormativität häufig neues Album bildet den Ab-
ein bitterer und zugleich süßer schluss einer Trilogie, in deren
Triumph: In »Lilac & Black« Entstehungszeit sich vieles in
etwa erzählt Furman von einer ihrem Leben veränderte. Mit
Szene aus »Three Thousand Years of Longing«
queeren Mädchengang, die sich dem Soundtrack zur Serie »Sex
an ihren Unterdrückern rächt. Education« wurde sie in Groß- Episches und Zeit. Diese Reisen in die
»Come Close« handelt von zwei britannien bekannt. Vergange- Vergangenheit, die den Zu-
ins Nichts laufenden sexuel- nes Jahr outete sich Furman als Kammerspiel schauer ins Altertum mitneh-
len Begegnungen und mahnt Transfrau und nimmt mit ihrem KINO  Das Problem dieses Films men, sind zwar visuell auf­
trotzdem: »Be close to the neuen Album nun eine Rolle könnte sein, dass er zwei gera- regend und unterhaltsam, doch
broken-hearted«. Musikalisch ein als Kämpferin gegen das dezu gegensätzliche Genres ver- durch sie geht die Intimität zwi-
inspirieren ließ sich Furman Patriarchat: »Ich habe mir eine einen will: Kammerspiel und schen den beiden Hauptfiguren
von Bob Dylans Alben aus den Welt aus queeren Freunden auf- Fantasy-Epos. Alithea Binnie immer wieder verloren. Dass
Achtzigerjahren. An vielen Stel- gebaut, und es fühlt sich an, als (Tilda Swinton), eine Wissen- sich zwei einsame Seelen durch
len huldigt »All of Us Flames« bildeten wir eine Gang.« BST schaftlerin, die zu einer Konfe- Erzählen, Zuhören und gemein-
renz nach Istanbul gereist ist, sames Fantasieren näherkom-
Furman kauft auf einem Basar eine alte men, dass zwischen ihnen eine
Glasflasche. Als sie in ihrem große Liebe entsteht, bleibt eine
Hotelzimmer versucht, die Fla- Behauptung. Das liegt gewiss
sche zu reinigen, entweicht ein nicht an den beiden Hauptdar-
Geist: der Dschinn (Idris Elba). stellern. Swinton brilliert in der
Nach dem ersten Schreck fängt Rolle der scharfsinnigen, aber
Binnie an, sich mit ihm zu etwas verknöcherten Akademi-
unterhalten. Ein langes, inten­ kerin ebenso wie Elba als um-
sives Zwiegespräch beginnt. triebiger und dennoch schwer-
Doch sobald der Dschinn aus mütiger Flaschengeist. Bis zum
seiner 3000 Jahre andauernden Ende von »Three Thousand
Lebensgeschichte erzählt, lässt ­Years of Longing« wird man den
George Millers Film »Three Eindruck nicht los, dass die bei-
Thousand Years of Longing«, den Figuren irgendwie in zwei
der nach seiner Premiere auf verschiedenen Filmen unter-
dem Festival von Cannes nun in wegs sind. Dieser Spagat mag
Tonje Thilesen

die deutschen Kinos kommt, Regisseur Miller, der mit den


das Hotelzimmer hinter sich »Mad Max«-Filmen berühmt
und springt munter durch Raum wurde, nicht ganz gelingen. LOB

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 103


KU LT U R

Schluss mit dem Hochmut


ZEITGEIST  Coronaleugner, Verschwörungstheoretiker, Klimaskeptiker – für aufgeklärte Menschen
gelten sie allesamt als verrückt. Doch der Neurowissenschaftler
Philipp Sterzer erklärt, wie auch ins Lager der Vernunft oft irrationale Gründe führen.

O
b Coronakrise oder Klimakrise: Immer
scheint es zwei Lager zu geben, ein La-
ger der Vernunft und eins der Unver-
nunft, hier die Normalen, da die Verrückten.
Aber wieso wir uns in welchem Lager ein-
finden, das kann viele Gründe haben.
Darauf macht der Neurowissenschaftler
und Psychiater Philipp Sterzer in einem neuen
Buch aufmerksam, das den vermeintlich Ver-
nünftigen den Hochmut austreibt*.
Sterzer hat sich jahrelang wissenschaftlich
mit Schizophrenie beschäftigt, also mit einer
psychischen Erkrankung, bei der die Betrof-
fenen den Kontakt zur Realität verlieren –
zumindest aus Sicht der anderen. Sie hallu-
zinieren und sind gefangen in Wahnvorstel-
lungen. In seinem Buch verficht Sterzer nun
die These, dass sich jedes Gehirn seine eigene
Welt baut, auch das Gehirn eines gesunden
Menschen.
Als Schüler spielte Sterzer in einer Band,
der Name: Mind Games, Psychospiele. Mit
Freunden tüftelte er an Songs, die unterschied-
liche Wahrnehmungen zuließen, da­runter ein
Stück mit dem Titel »Can You See the Dancing
Gnomes?«. Die Taktart des Songs ließ sich als
Dreiviertel- oder Viervierteltakt wahrnehmen,
je nachdem, ob sich die Zuhörer auf Schlag-
zeuger und Bassist fokussierten oder auf den
Rest der Band. Ganz ähnlich wie bei Kipp­
figuren, jenen Bildern, die das Gehirn auf zwei
Weisen interpretieren kann.
Sterzer ist heute 52, hat in München und
Harvard studiert, war Professor an der Ber-
liner Charité und lehrt nun an der Universität
Basel, aber das Phänomen aus seiner Schul-
zeit fasziniert ihn noch immer. »Menschliche
Wahrnehmung ist kein passiver Vorgang«,
sagt er, »keine bloße Abbildung der Realität.«
Sie ist ein Konstrukt des Gehirns, eine Fan-
tasie, die sich weitgehend mit der Realität
deckt, aber eben nur weitgehend.
Wie kommt jemand auf die Idee, dass es
sich beim Klimawandel um eine gewöhnliche
Temperaturschwankung handelt? Oder dass
Bill Gates die Coronapandemie eingefädelt
hat? Und warum halten Klimaskeptiker und
Coronaleugner an ihren Thesen fest, selbst

* Philipp Sterzer: »Die Illusion der Vernunft. Warum wir


von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein
sollten«. Ullstein; 320 Seiten; 23,99 Euro. Erscheint am
1. September.

104 DER SPIEGEL Nr. 35 / 27.8.2022


KU LT U R

wenn fast alle Fakten gegen sie spre- Irrationalität Im November 2019 hat Sterzer mit jener in den Echokammern und Fil-
chen? Sind sie nur ungebildet? Oder dem Buch begonnen, kurz vor der terblasen des Internets, in denen
auch dumm? Gar verrückt? ist kein Pandemie. Damals interessierte ihn Menschen mit anderen Meinungen
Sterzer gibt in seinem Buch Antwor- Fehler im vor allem, inwiefern sich die wahn- gern als verrückt erklärt würden, wie
ten auf diese und andere Fragen. Aber
er stellt auch die Gegenfrage: Wie kom-
System, haften Überzeugungen schizophrener er schreibt. »Wir teilen Überzeugun-
Patienten von normalen Überzeugun- gen kategorisch ein in normale und
men eigentlich die vermeintlich Ver- ­sondern gen unterscheiden. Sein Ziel war es, verrückte, rationale und irrationale,
nünftigen zu ihren Überzeugungen? system­ Psychosen zu entstigmatisieren. Wer gesunde und kranke.« Das reduziere
Denn wer das Hohelied der Ver- darunter leidet, so seine Botschaft, Komplexität, das festige die eigene
nunft singt, der übersieht allzu gern, relevant. der sei vielleicht verrückt, aber des- Position und letztlich die eigene Iden-
welch »kognitiven Verzerrungen« halb noch lange nicht bescheuert. tität. Aber die menschliche Neigung
sein Denken unterliegt. Weniger vor- Die Pandemie veränderte den Fo- zum Kategorisieren führe auch zu
nehm ließe sich auch sagen: Wie vor- kus seines Buchs. Sterzer störte sich Schwarz-Weiß-Denken und könne
eingenommen er ist. an der Debattenkultur, besonders an Gräben reißen. Sterzer führt hier eine
Klage, die schon viele vor ihm geführt
haben: gesellschaftliche Spaltung,
Polarisierung, Populismus. Aber Ster-
zer geht noch einen Schritt weiter:
Die Kategorisierung von Überzeu-
gungen in normale und verrückte sei
weder theoretisch noch empirisch
haltbar. Die Übergänge seien fließend.
Angesichts der harten öffentlichen
Debatten über die Anti-Corona-Maß-
nahmen fragte Sterzer sich während
des Schreibens mehr und mehr, wie
ganz normale Überzeugungen ent-
stehen – und warum sie anschließend
so verbissen verteidigt werden.
Die Pointe: Er nimmt die wahn-
haften Überzeugungen psychisch
Kranker als Modell dafür. Denn die
sogenannten Normalen kommen viel-
leicht zu vernünftigen Überzeugun-
gen, aber oft auf ebenso irrationale
Art und Weise.
Um seine These zu illustrieren,
denkt sich Sterzer im Buch zwei jun-
ge Fridays-for-Future-Frauen aus, die
beide davon überzeugt sind, dass der
Klimawandel menschengemacht ist:
Hermine und Klara.
Hermine hat ihre Überzeugung
nach umfangreichen Recherchen ge-
wonnen, für Klara hingegen war die
Sache irgendwie immer klar. Den Kli-
›Double Poke in the Eye II‹ von Bruce Nauman / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Foto: Natalie Noller t / ddp

mawandel hält sie für das Ergebnis


»endloser Profitgier« und von »Glo-
balisierungswahn«, eine »gerechte
Strafe« für ein »männlich dominiertes
Wertesystem«, in dem Gewinnmaxi-
mierung über das Wohl der Gemein-
schaft gestellt werde. Außerdem
könnten »all die coolen Leute auf den
Demos« ja kaum irren.
Beide Frauen haben dieselbe
Überzeugung, beide stehen auf der
Seite der Vernunft, würden die meis-
ten SPIEGEL -Leser wohl sagen. Aber
während Hermine strikt vernunftge-
leitet argumentiert und sich auf gute
Gründe stützt, argumentiert Klara
aus einem Bauchgefühl heraus und
aus der Identifikation mit Gleichge-
sinnten.
Installation von
Bruce Nauman,
Sterzer hat seine Freude an solchen
1985 Beispielen. »Wir alle unterliegen einer
Rationalitätsillusion«, sagt er. Men-

Nr. 35 / 27.8.2022 DER SPIEGEL 105


KU LT U R

schen machten sich häufig etwas vor kommt ein starkes Bedürfnis nach nicht, dass Irrationalität gut ist, ich
hinsichtlich des Wissens, das ihren kausalen Erklärungen: Auch wenn sage auch nicht, dass sie schlecht ist,
Überzeugungen zugrunde liegt. Wie nur der Zufall regiert, neigen Men- ich sage einfach nur, dass Irrationali-
kommt es zum Beispiel, dass Grünen- schen zu der Vermutung, dass andere tät normal ist. Sie gehört zu uns und
wähler fast ausnahmslos davon über- Menschen oder Gruppen absichtsvoll unserem Denken dazu.«
zeugt sind, dass der Klimawandel handeln. Wer ständig alles hinterfragen und
menschengemacht ist, dass dies Die Vielzahl der kognitiven Ver- erst mal versuchen würde, die kom-
aber nur 60 Prozent der AfD-Wähler zerrungen könnte darauf hindeuten, plette Datenlage zu eruieren, bevor
glauben? dass Irrationalität kein Fehler im Sys- er zu einer Überzeugung gelangt, der

Heidi Scherm
Nun kann es natürlich sein, dass tem ist, sondern systemrelevant. wäre kaum lebensfähig.
Grünenwähler im Schnitt besser ge- Aber warum eigentlich? Warum Warum aber stehen sich in gesell-
bildet sind als AfD-Wähler, auch dass hat die Evolution die menschliche schaftlichen Debatten oft Sturköpfe
sie über größere intellektuelle Res- Neigung zu kognitiven Verzerrungen »Der Wahn gegenüber?
sourcen verfügen, um die richtigen nicht aussortiert? In einem Versuch legten Forscher
Schlüsse aus den verfügbaren Fakten Manches spricht dafür, dass die stellt Ordnung den Probanden die Fotos von jeweils
zu ziehen. Aber ist es wirklich so, vermeintliche Fehlprogrammierung her in einer zwei Frauen vor – und baten sie, die
dass sich alle Grünen- und AfD-Wäh-
ler ein umfassendes Bild von der wis-
zwar insgesamt zu mehr Fehlern
führt, dafür aber zu weniger Fehlern
chaotisch attraktiveren auszuwählen. Danach
sollten sie ihre Wahl begründen. In-
senschaftlichen Evidenz des mensch- mit hohen Kosten. Es ist das Prinzip erscheinen- teressant ist, was passierte, als die
lichen Beitrags zum Klimawandel Rauchmelder, der besser zu empfind- den Welt.« Forscher die Bilder im Nachhinein
gemacht haben, dass sie also empiri- lich eingestellt ist als zu unempfind- austauschten, also die Wahl manipu-
Philipp Sterzer
sche Daten, mathematische Modelle lich. Besser die Feuerwehr rückt drei-