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Arthur Schnitzlers Drama und Skandalstück Reigen1, erschienen 1903 in Wien und
uraufgeführt 1920 in Berlin, nimmt heute die Stellung eines Klassikers der Wiener
Moderne ein. Dieser Aufsatz wird die Darstellung der Frauenfiguren in dem Stück
beleuchten, und damit verbunden auch die Darstellung der Beziehung von Mann und
Frau. Bei der Analyse wird nicht chronologisch, sondern thematisch vorgegangen.
Den Ausgangspunkt der Analyse bildet die Szene zwischen den Eheleuten, da sich
in diesem Dialog gut die bürgerlichen Moralvorstellungen in Bezug auf Ehe und
Sexualität herausarbeiten lassen. Es ist dieser bürgerliche Moralkodex, der von
Schnitzler kritisiert und als scheinheilig entlarvt wird. So wird er im Stück auch
durchweg von allen Personen gebrochen. Dieser Bruch, der zum Zeitpunkt der
Erstaufführung den eigentlichen Skandal darstellte, da er die Verlogenheit und
Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft demonstrierte, ist aus heutiger Sicht
weniger aufregend. Spannend bleibt jedoch Schnitzlers Darstellung der Frauen und
deren Kategorisierung in bestimmte soziale Typen. Da bei einer Betrachtung aller
Frauentypen der Rahmen des Essays gesprengt würde, werde ich mich neben der
bürgerlichen Ehefrau, auf das süße Mädel und die Schauspielerin beschränken.
Schnitzlers Reigen weist eine offene Form auf, die mit den Regeln klassischer
Dramenpoetik bricht. Anstelle einer steigenden Handlung mit erregendem Moment,
der Peripetie, dem retardierenden Moment und dem komischen oder tragischen
Schluss, haben wir eine Handlung, die sich im wahrsten Sinne des Wortes im Kreis
dreht: Die erste Szene beginnt mit der Dirne Leocadia und dem Soldaten, die letzte
Szene endet mit eben genau dieser Prostituierten, dieses Mal allerdings in
Begleitung des Grafen. Der Reigen schließt sich somit und verbindet ironischerweise
die höchste, gesellschaftliche Schicht in Person des Adeligen mit der niedrigsten
Schicht, der der einfache Soldat angehört. Als Bindeglied dient die Prostituierte
Leocadia. Neben dieser Verbindung von Anfang und Ende weist das Drama eine
auffällige Wiederholungsstruktur auf. Jeder einzelnen Szene liegt als innerem
Zentrum die systematische Wiederholung des Geschlechtsakts zu Grunde, der
jedoch durch Gedankenstriche nur indirekt dargestellt wird.
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Schnitzler, Arthur: Reigen. Zehn Dialoge, Stuttgart: Reclam 2002.
Die Mittelstellung2 der Szene zwischen Ehemann und bürgerlicher Ehefrau weist
dieser ihre Wichtigkeit zu. In dem Gespräch zwischen den Ehepartnern zeigt sich,
welchen Gesetzen die eheliche und einzige offiziell legitimierte Liebesbeziehung
folgt. So sind sexuelle Unerfahrenheit, Reinheit, Tugendhaftigkeit und die
Verleugnung sexuellen Interesses offenbar wichtige Elemente des weiblichen
Verhaltenskodexes. Auf die Aussage ihres Mannes, dass es der Ehe doch gut täte,
sogenannte „Freundschaftsphasen“ sexueller Entbehrung zu pflegen, wagt die
Ehefrau den Einwand „Wenn es aber… bei mir anders wäre“ (Reigen 45)
anzubringen. Diese Bemerkung wird von dem Mann sofort kategorisch mit einem „Es
ist bei dir nicht anders“ (Reigen 45) abgeschmettert. Gleich darauf kommt der Mann
dann in aller Freimut auf seine vorehelichen, sexuellen Erfahrungen zu sprechen,
was für die Frau undenkbar wäre, und betont die angeblichen Vorteile, die Frauen im
Gegensatz zu Männern bezüglich der Ehe haben: „Ihr tretet uns rein und …
wenigstens bis zu einem gewissen Grade unwissend entgegen, und darum habt ihr
eigentlich einen viel klareren Blick für das Wesen der Liebe als wir. (…) Denn wir
sind ganz verwirrt und unsicher geworden durch die vielfachen Erlebnisse.“ (Reigen
45) Die Idealisierung der Frau dient an dieser Stelle in erster Linie als ein Instrument
ihrer Unterdrückung - diese Strategie wird in den Worten des Mannes sehr deutlich.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs kommt der Mann dann auf die Verwerflichkeit
aller Formen außerehelicher Sexualität zu sprechen, deren Kenntnis in seinem
Verständnis allerdings ein trauriges Privileg der Männer darstellt (Reigen 46). Im
Kontext dieser Szene, der der Ehebruch der Frau mit dem jungen Herrn vorausgeht
und dem der Ehebruch des Mannes mit dem süßen Mädel folgt, werden die Worte
des Ehemannes allerdings zur reinen Satire. Der Gegensatz zwischen Reden und
Tun, um den es Schnitzler in seinem Drama geht, wird in der moralisierenden
Rhetorik des Mannes vorgeführt. Die Tatsache, dass er seine Moralpredigt an seine
Frau richtet, die, wie er selbst, solide Erfahrungen in Sachen Ehebruch hat, trägt zur
weiteren Ironisierung der Szene bei. Nach dem Motto „Alle tun es, aber keiner gibt es
zu“, führt Schnitzler den bürgerlichen Moralkodex ad absurdum.
Der Typus des süßen Mädels ist interessant, denn ihr Verhalten erinnert zwar in
gewisser Weise an Prostitution, doch Schnitzler unterscheidet in seinem Stück die
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Es handelt sich um den fünften Dialog.
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Dirne und das süße Mädel klar voneinander. Diese Unterscheidung lässt sich im Text
auch anhand von Räumlichkeiten verdeutlichen. In der Tat gibt sich Schnitzler in
allen Szenen sehr große Mühe, den Ort der jeweiligen Begegnung sozialadäquat zu
gestalten, um so den gesellschaftlichen Status der Personen zu unterstreichen. Das
süße Mädel im sechsten Dialog trifft den verheirateten Mann in einem cabinet
particulier eines Gasthofs. Dieses cabinet, in dem die beiden gemeinsam zu Abend
essen, wird als behaglich und elegant beschrieben. Das Zimmer der Dirne im letzten
Dialog hingegen wird im Nebentext als ärmlich, schmutzig, unordentlich und
geschmacklos eingerichtet beschrieben. Auch im ersten Dialog, wo die Dirne auf den
Soldaten trifft, wird deren gesellschaftlicher Stand durch die Wahl des Ortes
verstärkt. So findet die sexuelle Begegnung hier einfach im Freien am Donauufer
statt. Das ist sicher nicht der Raum, in dem das süße Mädel agieren würde. Das
süße Mädel aus der Vorstadt stammt zwar aus bescheidenen Verhältnissen, doch es
erwartet sich in der Beziehung zu einem gut situierten, älteren Mann einen gewissen
Luxus und nicht nur reinen Sex. Der Aspekt des „Verwöhnt-Werden-Wollens“ wird
von Schnitzler deutlich dargestellt, so wird das süße Mädel zu Beginn der Szene mit
dem Gatten im Nebentext folgendermaßen beschrieben: „sitzt neben ihm auf dem
Sessel und löffelt aus einem Baiser den Oberschaum heraus, den sie mit Behagen
schlürft.“ (Reigen 54) Gute Restaurants, Opernbesuche und andere
Annehmlichkeiten der Oberschicht sind der Preis, den der Gatte dem süßen Mädel
zahlt.
Anders als mit seiner Ehefrau spricht der Mann mit dem süßen Mädel „offen“ über
sexuelle Themen, zumindest ist er an der Zahl ihrer vorangegangenen Liebhaber
interessiert: „Na, sei einmal ehrlich. Wie viele haben den Mund da schon geküßt?“
(Reigen 57) In dem, was sich dieser Frage anschließt, wird dann allerdings wieder
deutlich, dass auch dieses Gespräch, genauso wie jenes in der fünften Szene
zwischen den Eheleuten, auf einem gegenseitigen „Sich-Etwas-Vormachen“ besteht
und das Schnitzlersche Motiv der Verlogenheit erneut aufgreift. So behauptet das
süße Mädel, zwar schon einmal in einem chambre séparée gewesen zu sein, aber
eben nur als Begleiterin einer Freundin und deren Bräutigam. (Reigen 58). Sie
gaukelt dem Gatten somit eine Einmaligkeit der intimen Situation vor, die de facto
nicht gegeben ist. Spätestens in der darauf folgenden siebten Szene, in der das süße
Mädel auf den Dichter trifft, muss dem Leser diese Verlogenheit klar werden, als der
Dichter fragt: „Warst du schon einmal in einem Chambre séparée“ (Reigen 76) und
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das Mädchen wieder genau die gleiche Geschichte von ihrer Freundin und deren
Bräutigam erzählt. Es war kein Geheimnis zu Schnitzlers Zeiten, dass ein süßes
Mädel wechselnde Sexualkontakte hatte, gleichzeitig tut das süße Mädel selbst so,
als sei dies nicht der Fall, um damit dem herrschenden, gesellschaftlichen Dogma
der Treue nicht entgegenzulaufen.
Schnitzlers Drama Reigen kann als Fallstudie der Wiener Gesellschaft des Fin de
Siècle angesehen werden, die die bürgerliche Doppelmoral und den sie
bestimmenden Liebescode thematisiert. Den Frauen des Bürgertums sind in der
Auslebung ihrer Sexualität klare Grenzen gesetzt, während die Schauspielerin über
eine gewisse sexuelle Selbstbestimmung verfügt. Das süße Mädel verfügt über einen
scheinbaren sexuellen Freiraum, doch am Ende wird sie, ähnlich der Dirne oder dem
Stubenmädchen, kaum auf einen Aufstieg in der sozialen Hierarchie hoffen dürfen,
da ihr Verhalten und ihre Herkunft sie für eine legitime, eheliche Verbindung mit
einem gut gestellten, bürgerlichen Mann disqualifizieren.
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Bibliographie
Primärliteratur
Schnitzler, Arthur: Reigen. Zehn Dialoge, Stuttgart: Reclam 2002.
Sekundärliteratur
Sprengel, Peter: „‘Reigen. Zehn Dialoge‘: die ungeschriebenen Regeln der Liebe“, in:
Hee-Ju Kim und Günter Saße (Hg.), Arthur Schnitzler, Dramen und Erzählungen,
Stuttgart: Reclam, 2007, S. 101 – 116.