62 GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE
Schnell reich werden
– ohne viel
Vor 20 Jahren investieren Millionen Deutsche ihr Geld plötzlich in
Technologiefirmen. Sie träumen von gigantischen Profiten. Aus den vorsichtigen
Deutschen wird ein Volk der Aktionäre. MITTEL AUDIO
B
lickt man im Jahr 2017 auf die
90er-Jahre zurück, sind die
gefühlt eine Galaxie weit ent-
fernt. Wer kann sich noch an
die Zeit erinnern, als das Internet gerade
erst populär wurde? Als nur wenige Men-
schen ein Mobiltelefon hatten – und es
nur zum Telefonieren und für Textnach-
richten benutzten? An die Jahre, in denen
der Computer für viele Firmen nicht nur
zum wichtigsten Arbeitsmittel wurde,
sondern zum einzigen?
In den 90er-Jahren merken viele Men-
schen, dass die neuen Technologien gro-
ße Möglichkeiten bieten. Der Triumph
des Internets öffnet den Blick in eine
neue Welt. Information, Multimedia,
Deutsch perfekt 3 / 2017
Arbeit
Kommunikation, Biotechnologie: Die
der Aktionär, -e , Person, der Begr“ff, -e , Wort
Ideen in diesen Branchen sind grenzen- die Aktien besitzt
]s h¡rrscht … , ≈ Es gibt …
los. Nicht nur im kalifornischen Silicon (die [ktie, -n , Doku-
Valley boomt die Start-up-Szene. Auch ment darüber, dass man die Aufbruchstimmung
einen Teil einer Firma , ≈ Atmosphäre, in der
in Deutschland werden fast täglich neue man die Dynamik neuer
besitzt)
Firmen gegründet. „New Economy“, neue Ideen fühlt
zur•ckblicken
Ökonomie, wird zum zentralen Begriff. Es , ≈ erinnern an die Bœrse, -n , Markt, auf
herrscht Aufbruchstimmung. dem Aktien gekauft und
gefühlt , hier: so, dass verkauft werden
Aber junge, innovative Firmen brau- man meint, etwas ist …
chen viel Geld. Sie sollen sich das Kapital erf¶lgreich
bieten , ≈ anbieten , mit (viel) Erfolg
an der Börse holen können. Und zwar
gr¡nzenlos das Ges¡tz, -e
ohne zuerst zeigen zu müssen, wie erfolg- , hier: sehr viele , schriftliche Regel, die
Foto: picture alliance/dpa
reich sie sind, wie es die Gesetze eigent- die Regierung macht und
die Start-up-Szene engl.
lich vorsehen. Um ihre Ideen realisieren , ≈ alle Personen, die in an der sich alle orientieren
einem Start-up arbeiten müssen
zu können, sollen junge Gründer leich-
ter Kapital bekommen: Das ist die Basis gr•nden , starten vorsehen , hier: ≈ sagen,
was man tun muss
für den Neuen Markt an der Frankfurter
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Eine Übung zu diesem
Text finden Sie auf
Seite 45.
Börse, der für die neue Ökonomie erfun-
den wird. Vorbild ist die US-amerikani-
sche Technologiebörse Nasdaq.
Am 10. März 1997 startet der Handel
an der neuen Plattform. Nur zwei Firmen
sind an diesem Tag im Angebot: die Tele-
kommunikationsfirma Mobilcom und
Bertrandt, ein Ingenieursdienstleister,
der vor allem für die Automobilindustrie
arbeitet. Als der Handel beginnt, ist die
Spekulation mit Aktien in Deutschland
gerade erst populär geworden.
Rückblick. Im November 1996 startet
in Deutschland der bis zu diesem Zeit-
punkt größte Börsengang der Welt: Die
Deutsche Telekom wird zur Aktienge-
sellschaft. So viele Menschen wie mög-
lich sollen ein kleines Stück des früheren
Staatsbetriebes kaufen, so die Idee der
Manager. Die Telekom veranstaltet eine
gigantische Kampagne mit dem populä-
ren Schauspieler Manfred Krug, der im
Fernsehen dafür wirbt, T-Aktien zu kau-
fen. T-Aktie: So einfach ist der Name der
Telekom-Aktie. Und die Deutschen kau-
fen. Viele investieren zum ersten Mal in
ihrem Leben Geld in Aktien. Nach dem
erfolgreichen Start der T-Aktie an der Bör-
se erleben sie, wie ihr Geld in sehr kurzer
Zeit mehr wird.
Die Euphorie, die mit der T-Aktie be-
ginnt, setzt sich von März 1997 an am
Neuen Markt fort. Die Deutschen, tradi-
tionell ein Volk vorsichtiger Kleinsparer,
werden zu einem Volk der Aktionäre.
Internet, Multimedia, Biotech: Bei die-
sen Wörtern denken die Menschen an
Zukunft, Wachstum, hohen Profit. Viele
haben nun vor allem ein Ziel: reich wer-
den – schnell und ohne viel Arbeit.
In Deutschland herrscht Goldgräber-
stimmung. Wo Fernseher hängen – in Ca-
fés, Schaufenstern, Bahnhöfen – bleiben
Menschen stehen, um zu sehen, ob die
Aktienkurse gezeigt werden. In Univer-
sitätsbibliotheken sitzen Studenten am
Computer und handeln an der Börse. Aus
der Finanzmetropole Frankfurt am Main
wird berichtet, dass auch Obdachlose da-
bei gesehen wurden, wie sie den Börsen-
teil der Zeitung lesen.
Die Kurse explodieren. Bald errei-
chen die Zahlen und Summen absurde
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE 63
erf“nden der [ktienkurs, -e
Dimensionen. Der Aktienkurs der Firma , sich etwas absolut , Marktpreis einer Aktie
EM.TV zum Beispiel steigt zwischen Neues überlegen
der/die {bdachlose, -n
1997 und 1999 um mehr als 16 000 Pro- das Vorbild, -er , Person, die keine
zent. Firmengründer und Manager wer- , hier: ideales Beispiel, an Wohnung hat
dem man sich orientiert
den gefeiert wie Popstars. Drei Jahre explodieren , hier: sehr
nach dem Start des Neuen Marktes ha- der H„ndel schnell höher werden
, Kauf und Verkauf
ben mehr als zehn Millionen Deutsche die Dimension, -en
der Ingenieursdienst- , ≈ Größe
Geld an der Börse investiert. Mehr als 300
leister, - , Firma, die
Firmen werden im Jahr 2000 am Neuen der [nleger, - , hier:
technische Beratung von
Person, die Aktien kauft
Markt gehandelt. Ingenieuren anbietet
Auf Deutsch gibt es einen Ausdruck die Vern¢nft , rationales
der Bœrsengang, ¿e
Denken und Tun
für einen schlechten, unlogischen Plan , Aktion, bei der eine
Firma beginnt, an der Börse der Betrug
oder eine naive Hoffnung: Milchmäd- ihre Aktien zu verkaufen , hier: kriminelle Sache,
chenrechnung. Und so haben Finanzex- bei der man absichtlich
die [ktiengesellschaft, -en
perten ein Wort für das, was in dieser falsche Informationen gibt,
, Firma, von der jeder
um Geld zu bekommen
Zeit in Deutschland passiert: Milchmäd- einen Teil besitzt, der sich
eine Aktie der Firma das Gefængnis, -se
chen-Hausse. Die Kurse steigen deshalb
gekauft hat , Gebäude, in das kriminel-
so stark, weil viele Anleger investieren, le Personen geschlossen
der Staatsbetrieb, -e
ohne nachzudenken. Viele wissen gar , Firma, um deren Admi-
werden
nicht, wofür sie eigentlich ihr Geld aus- nistration sich der Staat der Schadensersatz
geben. Businesspläne lesen, Bilanzen prü- kümmert , hier: finanzielle Kom-
pensation für das Verlieren
fen, kritische Fragen stellen? Macht fast w¡rben für … , hier:
des Geldes
versuchen, zu erreichen,
niemand. Die Hoffnung auf das schnelle
dass viele Menschen … risk„nt
Geld ist größer als die Vernunft. , mit sehr großem Risiko
erleben , hier: ≈ als
Am 10. März 2000, genau drei Jahre Erfahrung machen das Geschæft,-e , hier:
nach dem Start, erreicht der Nemax-Index wirtschaftliche Aktivität
s“ch f¶rtsetzen
9631 Punkte, sein Maximum. So viel wird , L aufhören verklagen
er nie wieder wert sein. Ende 2000 sind es der Kleinsparer, -
, ≈ wollen, dass eine Sache
nur noch 2870 Punkte, und es geht weiter in einem Gerichtsprozess
, ≈ Person, die kleine
untersucht wird
nach unten. Geldbeträge spart
(der Ger“chtsprozess, -e
Nach dem Boom kommt der Crash. das W„chstum , ≈ Untersuchung in einer
, hier: Wachsen der offiziellen Institution, ob
Sehr viele Anleger verlieren sehr viel
Wirtschaft jemand eine kriminelle
Geld. Und manche der gerade noch ge-
die G¶ldgräberstimmung Sache gemacht hat)
feierten Manager bekommen Ärger mit , ≈ Atmosphäre, in der der Kleinanleger, -
der Justiz. Zum Beispiel der Chef der Ver- man die Gier der Menschen , Person, die eine Aktienin-
kehrstechnikfirma Comroad: Die Kun- nach großem Profit fühlt vestition mit einem kleinen
den und Aufträge seiner Firma hat es nie (der G¶ldgräber, - Betrag macht
, Person, die nach Gold
gegeben. Wegen Betrugs muss er sieben s“ch beschæftigen m“t
sucht)
, ≈ studieren; untersuchen
Jahre ins Gefängnis. Andere Firmenchefs, (die Gier
wie von EM.TV, müssen Geldstrafen und , ≈ große Lust ohne Tabu
Schadensersatz zahlen. Im Juni 2003 wird nach Geld und Besitz)
der Handel am Neuen Markt beendet. das Schaufenster, -
, Fenster eines Geschäfts,
Und die T-Aktie? Nach dem Start 1996 in dem Waren gezeigt
bietet der Staat auch 1999 und im Boom- werden
jahr 2000 wieder T-Aktien an. Aber auch
die Telekom kommt in die Krise, wegen
riskanter Geschäfte. Viele Anleger ver-
lieren Geld. Wegen Fehlern im Verkaufs-
prospekt des dritten Börsengangs verkla-
gen Kleinanleger die Telekom. Im Jahr
2017 beschäftigt sich die Justiz immer
noch mit der T-Aktie. 17 000 Kleinanleger
hoffen auf Schadensersatz. Barbara Kerbel