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fallbericht

Wien Med Wochenschr (2022) 172:189–194


https://doi.org/10.1007/s10354-022-00917-2

Palliative Care bei über 80-jährigen Patienten mit COVID-19-


Pneumonie auf der Intensivstation – invasive Beatmung
zielführend?
Dagmar Vohla

Eingegangen: 30. April 2021 / Angenommen: 24. Januar 2022 / Online publiziert: 22. März 2022
© Der/die Autor(en) 2022

Zusammenfassung Mit dem Auftreten des neuartigen case report it is discussed if validated scores can sup-
SARS-CoV-2-Virus im Februar 2020 und der damit as- port the decision between intubating patients or pro-
soziierten COVID-19-Viruspneumonie kam es zu einer viding best supportive care.
Vielzahl schwer erkrankter Patienten auf den Inten-
sivstationen. Gerade zu Beginn der Pandemie zeigte Keywords COVID-19 · Geriatric intensive care ·
sich eine hohe Mortalität insbesondere der intubier- Intubation · Best supportive care scores
ten Patienten. Auch wenn sich durch gewonnene Er-
fahrungswerte in der Beatmung der schwer kranken
Patienten die Mortalitätsrate senken ließ, beträgt sie Das Auftreten des neuartigen SARS-CoV-2-RNA-Virus
in der Patientengruppe der über 80-Jährigen weiter- zu Beginn des Jahres 2020 hat auch die Intensiv-
hin 80 %. Anhand des vorgestellten Patientenbeispiels medizin vor neue Herausforderungen gestellt. Die
wird erörtert, inwieweit validierte Scores unterstützen, intensivmedizinisch zu betreuenden Patienten, 3 %
eine Entscheidung bezüglich einer möglichen Intuba- der an COVID-19 Erkrankten, zeichnen sich durch re-
tion vs. Best Supportive Care zu finden. spiratorische Insuffizienz mit bilateraler Pneumonie
im Sinne eines Acute-Respiratory-Distress-Syndroms
Schlüsselwörter COVID-19 · Geriatrische (ARDS) aus [1]. Beim Großteil dieser Patienten be-
Intensivmedizin · Intubation · Best Supportive Care steht bereits früh Sauerstoffbedarf. Um den zehnten
Scores Tag nach Symptombeginn kommt es meist zu einer
nochmaligen deutlichen respiratorischen Verschlech-
Palliative care for patients over 80 years old with terung.
COVID-19 pneumonia on the intensive care Charakteristisch bei dieser Viruspneumonie ist ei-
unit—Is invasive ventilation effective? ne in den Blutgasen deutlich sichtbar gemessene
Hypoxämie bei oft fehlender Dyspnoesymptomatik
Summary In February 2020 a new virus named-SARS- [1]. Bei insuffizienter Beatmung durch eine „high
CoV-2 emerged. As a result many patients suffered flow nasal cannula“ (HFNC) oder eine non-invasive
from COVID-19-associated pneumonia and were in Ventilation(NIV)-Maske ist eine Intubation notwen-
need of hospitalization in an intensive care unit (ICU). dig. Im Vergleich zu Krankheitsverläufen bei bak-
Especially at the beginning of this pandemic the mor- teriellen Pneumonien ist die COVID-19-Pneumonie
tality among intubated patients was very high. With durch eine lange Intubationsdauer mit hohem Be-
ongoing experience in how to handle COVID-19-asso- atmungsaufwand gekennzeichnet [1]. Dies stellt bei
ciated respiratory insufficiency the mortality rate was bereits verminderten körperlichen Ressourcen wie
reduced but is still high among older patients. In this hohem Alter und Vorerkrankungen ein entscheiden-
des Problem dar. Ein positives Outcome ist durch
D. Vohla () diese Faktoren deutlich reduziert.
3. Medizinische Abteilung, Krankenhaus Hietzing, Wien, Auffällig zeigt sich nach unserer Erfahrung die Not-
Österreich wendigkeit hoher Sedierungsdosen. Um die Bauchla-
Paracelsus Medical University, Salzburg, Österreich gerung, welche zu einer besseren Oxygenierung führt,
dagmar.vohla@stud.pmu.ac.at zu gewährleisten, werden die Patienten zusätzlich re-

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laxiert. Das Sedierungsregime kann wiederum beson- bation kam es zu einer Besserungstendenz bezüglich
ders bei älteren Patienten vermehrt zum Auftreten ei- der Beatmungseinstellungen, sodass mit dem Wea-
nes Delirs, einer verzögerten Aufwachreaktion und ei- ning begonnen wurde. Allerdings zeigte sich nach Be-
ner Critical-Illness-Neuropathie führen [2]. In einer endigung der Sedierung keine adäquate Aufwachre-
hohen Zahl der Fälle ist aufgrund der langen Intu- aktion des Patienten. Es erfolgte eine Computertomo-
bationsdauer und des oftmals schwierigen Weanings graphie des Schädels mit Angiographie der Hirnge-
eine Tracheotomie notwendig. fäße, in dem sich kein Hinweis auf eine Ischämie oder
Bei ausreichendem Vorhandensein intensivmedizi- Blutung zeigte. Auch in dem in weiterer Folge durch-
nischer Betten auf unserer internistischen Intensivsta- geführten Elektroenzephalogramm und einer krania-
tion, die seit Beginn der Pandemie im März 2020 mit len Magnetresonanztomographie wurde kein ursäch-
ca. 170 Patienten fast ausschließlich COVID-19-Pati- lich fassbares Korrelat für die verminderte Vigilanz ge-
enten betreut hat, bestand bisher keine Notwendigkeit funden.
einer aktiven Triage von Patienten. Folglich wurde von Da sowohl aufgrund der bestehenden Beatmungs-
einer Intubation nur bei ausdrücklichem Wunsch des einstellung und der neurologischen Situation eine Ex-
Patienten und ausgeprägter Multimorbidität Abstand tubation nicht möglich war, erfolgte eine Tracheoto-
genommen. mie.
Infektionen mit COVID-19 führen bei Patienten im Medikamentös wurde die Behandlung sowohl ei-
hohen Alter auch bei wenigen Vorerkrankungen zu ei- nes hypoaktiven Delirs als auch einer Critical-Illness-
nem oft tödlichen Verlauf. Hinzu kommt, dass sich Myopathie/Polyneuropathie initiiert.
in Studien zeigt, dass bereits ein Alter von > 75 Jah- Im weiteren Verlauf kam es undulierend zu ei-
ren bei invasiv beatmeten Patienten einen unabhän- ner minimalen Vigilanzbesserung mit Augenöffnung
gigen Risikofaktor für ein schlechtes Outcome dar- und Blickfolge. Intermittierend konnte für ein paar
stellt [3]. Somit stellt sich die Frage, ob eine Intubati- Stunden die Beatmung auf HFNC umgestellt wer-
on bei nahezu 100 % Mortalität bei über 80-Jährigen den, jedoch musste der Patient nach respiratorischer
mit COVID-19-Pneumonie und vorbestehenden Ko- Erschöpfung wieder an die Beatmungsmaschine ge-
morbiditäten eine zielführende Therapie darstellt. In nommen werden. Da sich in den 2 darauffolgenden
diesem Zusammenhang gibt es die Überlegung des Wochen bei protrahiertem Verlauf und beginnendem
Einsatzes von Scores, die eine Aussagekraft bezüglich Multiorganversagen unter Ausschöpfung der intensiv-
des Outcomes dieser Patienten haben und die bei der medizinischen Maßnahmen keine Besserung zeigte,
Entscheidungsfindung unterstützen können. wurde schließlich nach Beschluss im intensivmedi-
zinischen Team eine palliative Behandlungsstrategie
Patientenbeispiel eingeschlagen. Der Patient verstarb am 41. Tag nach
Aufnahme auf der Intensivstation und 57 Tage nach
Zur Aufnahme auf die Normalstation kam Herr M., 79- Infektionsbeginn.
jährig, zu Hause mit der Ehefrau selbstständig lebend.
Als Vorerkrankung bestand ein nicht insulinpflichtiger COVID-19 und Intubation
Diabetes mellitus Typ 2.
Herr M. wurde mittels PCR-Test positiv auf SARS- Den Erfahrungen nach und auf Basis zahlreicher Stu-
CoV-2 getestet mit initialen Symptomen einer Diarrhö dien, die in der Zeit der ersten Welle erfolgten, wird in
und Müdigkeit. Aufgrund einer Erhöhung des D-Di- der Zwischenzeit versucht, die respiratorische Insuf-
mer wurde bereits auf der Notfallabteilung zum Aus- fizienz möglichst lange mittels HFNC und NIV-Beat-
schluss einer Pulmonalembolie eine Computertomo- mung zu behandeln und eine Intubation, wenn mög-
graphie des Thorax durchgeführt, in der sich Verän- lich, zu vermeiden [1]. Als Leitlinie zur sofortigen Intu-
derungen im Sinne einer Viruspneumonie zeigten. bation gelten eine schwere Hypoxämie bei paO2/FiO2
Bei steigendem Sauerstoffbedarf kam es nach 5 Ta- < 100 mm Hg, in Erwägung sollte eine Intubation ge-
gen zur Transferierung auf die Lungenabteilung (In- zogen werden bei paO2/FiO2 < 150 mm Hg und Atem-
termediale Care) zur weiteren Therapie mit HFNC frequenzen > 30/min [4].
und in weiterer Folge mit „continuous positive airway Verschiedene Studien zeigten unterschiedliche
pressure“ (CPAP). Im Verlauf-Thoraxröntgen zeigte Empfehlungen bezüglich einer frühzeitigen oder ei-
sich eine Dichtezunahme der pneumonischen Infil- ner verzögerten Intubation [4, 5]. Die Determinante
trate. Sechs Tage später kam es zu einer weiteren für das Outcome scheinen die Schwere und der Fort-
Verschlechterung, und eine ausreichende Oxygenie- schritt der Erkrankung zu sein. In Bezug auf Letzteres
rung mittels HFNC/CPAP konnte nicht mehr erreicht ist es wichtig, nicht außer Acht zu lassen, dass es durch
werden, sodass Herr M. am 15. Tag nach COVID-Sym- eine bereits mehrere Tage bestehende nichtinvasive
ptombeginn auf die Intensivstation verlegt wurde. Es Beatmung zu einer respiratorischen Erschöpfung v. a.
erfolgte nach Aufnahme die rasche Intubation mit der Atemmuskulatur kommen kann. Seitens man-
Bauchlagerung. cher Patienten besteht allerdings eine erstaunliche
Bei steigendem Procalcitonin wurde eine antimi- Symptomlosigkeit („happy Hypoxia“). Die Erschöp-
krobielle Therapie initiiert. Ab dem 8. Tag nach Intu- fung macht sich nach erfolgter Intubation durch eine

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deutlich verlängerte Rekompensationszeit der respi- Tab. 1 4C Mortality Score für COVID-19
ratorischen Situation bemerkbar. Variablen 4C Mortality Score for
Eine Reduktion der Beatmungseinstellungen ist COVID-19
langwierig, sodass nach einer ca. 14-tägigen Intubati- Alter
on eine Tracheotomie erfolgt [4]. < 50 –
Unabhängig von der Pandemie zeigt sich in den 50–59 +2
letzten Jahren ein Anstieg der über 80-jährigen Patien- 60–69 +4
ten auf den Intensivstationen mit einem Prozentsatz 70–79 +6
zwischen 15 und 30 % weltweit [6]. Auch bei ande- > 80 +7
ren intensivpflichtigen Krankheitsbildern besteht die Geschlecht
Überlegung, wie sinnvoll eine intensivmedizinische
weiblich –
Behandlung in diesem Alter noch ist. Es kann fest-
männlich +1
gehalten werden, dass unabhängig vom Alter für die
Anzahl an Komorbiditäten 0, +1, +2
Entscheidung zur Aufnahme oder Ablehnung einer in- Komorbiditäten inkludieren chronische Herzer-
tensivmedizinischen Maßnahme weitere Faktoren wie krankungen, chronische Lungenerkrankungen
der funktionale Aktivitätszustand, der Schweregrad (Asthma bronchiale nicht inkludiert), chronisch
der Organdysfunktion, die Prognose der Erkrankung renale Insuffizienz (GFR ≤ 30), leichte bis schwere
Lebererkrankungen, chronisch neurologische Er-
und der Grad an Komorbiditäten mit berücksichtigt krankungen, Bindegewbserkrankungen, Diabetes
werden sollten [6]. mellitus (Diät, OAD oder Insulin), HIV oder AIDS,
Physiologisch zeigt sich mit zunehmendem Alter und maligne Erkrankungen
aufgrund der Abnahme der kognitiven Funktionsre- Atemfrequenz/min < 20 0
serven mit Reduktion der Hirnmasse und der zere- 20–29 +1
bralen Perfusion die Gefahr einer beschleunigten Ent- ≥ 30 +2
wicklung eines Delirs. Periphere Sauerstoffsättigung bei ≥ 92 % 0
In Bezug auf die Lunge besteht eine verminderte Raumluft < 92 % +2
physiologische Reserve, ebenso der Atempumpe und Glasgow Coma Scale 15 0
der Atemwegsabwehr mit einem erhöhten Risiko für
< 15 +1
Atemwegskomplikationen.
BUN < 19,6 mg/dL 0
Auch bei den restlichen Organsystemen (kardiovas-
≥ 19,6 to +1
kulär, renal, gastrointestinal, endokrin) besteht eine ≤ 39,2 mg/dL
altersbedingte Verringerung der Funktionsreserve mit
erhöhter Gefahr eines Organversagens [6]. > 39,2 mg/dL +2
C-reaktives Protein < 50 mg/L 0
Scores 50–99 mg/L +1
≥ 100 mg/L +2
Eine Unterscheidung in Scores, die eine allgemeine
GFR Glomeruläre Filtrationsrate, OAD orale Antidiabetika, BUN Blut-Harnstoff-
Aussage über das Outcome der Patienten nach inten- Stickstoff
sivmedizinischen Behandlungen voraussagen, und in
Scores, die sich spezifisch auf eine Erkrankung be-
ziehen, ist gegeben. In Bezug auf COVID-19 vermehrt gig von der Grunderkrankung bestehen und es zu Ver-
Anwendung findet der CURB-65-Score, spezifiziert als änderungen in der Blutgerinnung kommt, wodurch
A-DROP, für COVID-19, der APACHE II-Score als Vor- sich eine erhöhte Mortalität bei intensivmedizinischer
hersage der Spitalsmortalität und der 4C-Mortality- Behandlung vorhersagen lässt [6].
Score (Tab. 1; [7]). Auf Intensivstationen in Öster- Die bereits für COVID-19 erwähnten Scores erfas-
reich wird der SAP III-Score verwendet, ähnlich zum sen wie folgt:
APACHE II-Score. CURB-65: Zur klinischen Einschätzung des Schwe-
Bei älteren Patienten macht es Sinn unabhän- regrades einer ambulant erworbenen Pneumonie mit
gig vom chronologischen Alter mittels Scores eine den Parametern: Verwirrtheit („confusion“), Harn-
Einschätzung bezüglich der Funktionalität zu be- stoff-Stickstoff (Urea-N), Atemfrequenz („respiratory
kommen, da eine erhöhte Einschränkung mit der rate“), Blutdruck und Alter > 65 Jahre.
Mortalitätsrate korreliert [6]. Zur Verwendung kann APACHE II: Ist ein auf der Intensivstation verwen-
die Instrumental Activities of Daily Living(IADL)-Skala deter Score, um eine Aussage über die Schwere einer
(Tab. 2) herangezogen werden, welche 8 zentrale Ak- Erkrankung zu machen. Es werden 3 verschiedene An-
tivitäten des täglichen Lebens erfasst, und die Clinical teile, der „acute physiology score“, die „age points“
Frailty Scale (Tab. 3), bei der durch entsprechende und die „chronic health points“ berücksichtigt. In Stu-
Fragen eine bestehende Hilfsbedürftigkeit in alltäg- dien zeigte er sich im Vergleich zum CURB-65 und
lichen Situationen beurteilt wird. Dies ist insofern dem Sepsis-related Organ Failure Assessment(SOFA)-
relevant, da im Rahmen des Frailty-Syndroms bereits Score, der zur Beurteilung des Zustandes und des Aus-
kontinuierliche inflammatorische Prozesse unabhän- maßes der Organschädigung bei Sepsis auf der Inten-

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Tab. 2 Instrumental Activities of Daily Living(IADL)-Skala Conclusio


Funktion Punkte
Funktion Benutzt Telefon aus eigener Initiative 1 Die Basis der Therapiezielfindung beruht immer auf
Wählt einige bekannte Nummern 1 dem Patientenwillen und der medizinischen Indikati-
Nimmt ab, wählt aber nicht selbstständig 1 on. Die medizinische Indikation verlangt eine realisti-
Benutzt das Telefon gar nicht mehr 0
sche Nutzenerwartung im Rahmen einer vertretbaren
Schadensabwägung auf Basis des jeweils aktuellen Er-
Einkaufen Kauft selbstständig die meisten Dinge ein 1
kenntnisstandes [6].
Macht wenige Einkäufe 0
Das Herausfinden des Patientenwillens ist in ei-
Benötigt beim Einkaufen Begleitung 0
ner Notsituation nicht immer einfach. Die Deutsche
Kann nicht einkaufen 0 Palliativgesellschaft empfiehlt, bei bereits vorhande-
Kochen Plant und kocht die nötigen Mahlzeiten selbstständig 1 nen Patientenverfügungen die Patienten aufzuklären
Kocht nötige Mahlzeiten nur nach Vorbereitung durch 0 und Zusatzblätter spezifisch für COVID-19 auszufül-
Dritte
len [9]. Patienten, die bereits auf der Normalstation
Kocht selbstständig, hält aber benötigte Diät nicht ein 0 sauerstoffpflichtig sind, sollten bei einsetzender Ver-
Benötigt vorbereitete und servierte Mahlzeiten 0 schlechterung über die weiteren möglichen Schritte
Haushalt Hält Haushalt in Ordnung bzw. benötigt Assistenz bei 1 informiert werden, und der bestehende Patienten-
schweren Arbeiten
wunsch sollte erfasst und dokumentiert werden.
Führt selbstständig kleine Hausarbeiten aus 1 Im vorgestellten Patientenbeispiel hätte sich bei
Kann kleine Hausarbeiten ausführen, aber nicht die 1 einer Evaluierung mittels Scores bei der primären
Wohnung reinhalten
Aufnahme ein Frailty-Score von 2 bis 3 ergeben, was
Benötigt Hilfe in allen Haushaltsverrichtungen 1 einen „Gesund“- bis „Angemessen“-Zustand ergibt.
Kann keine täglichen Arbeiten im Haushalt mehr aus- 0 In einer deutschen Studie mit 308 ICU-Patienten
führen
> 80 Jahre zeigte sich bei einem Wert von 5 („leicht
Wäsche Wäscht sämtliche eigene Wäsche 1
gebrechlich“) ein 30 Tage Mortalitätsrisiko von 31 %
Wäscht kleine Sachen 1 [10]. Der 4C-Mortalitäts-Score ergab ein hohes Risiko,
Gesamte Wäsche muss fremdorganisiert werden 0 schwer an COVID-19 zu erkranken. verbunden mit
Verkehrs- Benutzt unabhängig öffentliche Verkehrsmittel, eigenes 1 einer 30 %igen In-hospital-Mortalität.
mittel Auto
Die Problematik zeigte sich an der bereits langen
Bestellt und benutzt das Taxi, aber keine öffentlichen 1 Hospitalisierung mit 14 Tagen vor dem Intensivauf-
Verkehrsmittel
enthalt, sodass es innerhalb dieser Zeit zu einer deutli-
Benutzt öffentliche Verkehrsmittel in Begleitung 1
chen Verschlechterung kam und eine Neuevaluierung
In beschränktem Umfang Fahrten im Taxi oder Auto in 0
Begleitung
der Scores ein wesentlich schlechteres Outcome be-
rechnet hätte. Der Frailty-Score wäre zum Zeitpunkt
Benutzt überhaupt keine Verkehrsmittel mehr 0
der Aufnahme auf der Intensiv bei 6 bis 7 gewesen,
Medika- Nimmt Medikamente selbstständig zur richtigen Zeit in 1
mente richtiger Dosierung
ebenso der 4C Mortality-Score mit einem Mortalitäts-
risiko von 60 %.
Nimmt vorbereitete Medikamente korrekt 0
In einer Studie zeigt sich, dass die ärztliche Ent-
Kann Medikamente nicht mehr korrekt einnehmen 0
scheidung bezüglich intensivmedizinischer Maßnah-
Geld- Regelt Geldgeschäfte selbstständig (Budget/ 1
geschäfte Überweisungen/Gang zur Bank)
men meist „intuitiv“ statt „rational“ ist [11]. Der Pa-
tient war zu Beginn in einem für sein Alter sehr guten
Erledigt täglich kleine Ausgaben; benötigt Hilfe bei 1
Bankgeschäften Allgemeinzustand, er wurde intermittierend auf eine
Kann nicht mehr mit Geld umgehen 0 andere IMC zur HFNC und NIV-Beatmung verlegt und
kam dann direkt auf die Intensivstation. Eine Patien-
tenverfügung gab es nicht, die Transferierung erfolg-
sivstation verwendet wird, aussagekräftiger bezüglich te bei akut einsetzender massiver Verschlechterung.
Spitalsmortalität in Bezug auf COVID-19 [8]. Einer der limitierenden Faktoren dürfte die lange In-
4C-Mortalitäts-Score: Erlaubt bereits am Aufnah- tensivpflichtigkeit und protrahierte maschinelle Beat-
metag eine Einschätzung des In-hospital-mortality- mung gewesen sein, die gerade bei älteren Patienten
Risikos mit Unterteilung in niedrig, mittel, hoch und mit ein wichtiges Outcome-Kriterium ist.
sehr hoch mit zusätzlicher Prozentangabe. Es wer- Scores können bei der Entscheidungsfindung ein
den insgesamt 8 Variablen bezüglich Geschlecht, hilfreiches Tool sein, jedoch sollten sie immer in Kom-
Begleiterkrankungen, Atemfrequenz, periphere Sau- bination mit dem Patientenwunsch und v. a. der klini-
erstoffsättigung, Glasgow-Coma-Scale, Harnstoff und schen Einschätzung verwendet werden, wobei das Al-
C-reaktives Protein miteinbezogen. ter nur einen geringen Anteil am prognostischen Teil
der Scores hat und nicht als alleiniger Faktor für ei-
ne Entscheidungsfindung herangezogen werden kann
[12]. Unter diesen Bedingungen können sie als Ein-
bindung nachvollziehbarer Kriterien gemeinsam mit

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Tab. 3 CSHA – klinische Frailty-Skala [15]


Kategorie Piktogramme Einstufung Beschreibung
1 Sehr fit Robust, aktiv, energisch, gut motiviert und fit: Diese Menschen
trainieren regelmäßig und zählen zur fittesten Gruppe in ihrem
Alter

2 Gut Ohne aktive Erkrankungen, aber weniger fit als Menschen der
Kategorie 1

3 Gut mit behandelten Komorbi- Krankheitssymptome sind im Vergleich zur Kategorie 4 gut kon-
ditäten trolliert

4 Scheinbar vulnerabel Obwohl nicht offensichtlich abhängig von anderen Menschen,


beklagen sie doch, langsam geworden zu sein und Krankheits-
symptome aufzuweisen

5 Leicht gebrechlich („frail“) Mit begrenzter Abhängigkeit von anderen in den instrumentellen
Aktivitäten des täglichen Lebens

6 Mittelgradig gebrechlich Hilfe ist in den instrumentellen und nichtinstrumentellen Aktivitä-


ten des täglichen Lebens nötig

7 Sehr gebrechlich Komplett abhängig von anderen Menschen in den Aktivitäten des
täglichen Lebens oder im Endstadium krank

CSHA Canadian Study on Health and Aging

K Palliative Care bei über 80-jährigen Patienten mit COVID-19-Pneumonie auf der Intensivstation – invasive. . . 193
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der Einschätzung des Schweregrads der Erkrankung Literatur


dienen. Verwendung finden sie v. a. dort, wo auch ei-
ne Ressourcenknappheit besteht und Allokationsent- 1. Neuhold S, Grieb A, Wenisch C. COVID-19: Die ersten
scheidungen notwendig werden [13]. 6 Monate. Intensivnews. 2020;24(4):1–4.
2. Schiemann A, Spies C. Analgesie, Sedierung und Delir in der
Beim hier geschilderten Patientenbeispiel hätten
Intensivmedizin. Intensivmed. 2011;48:135.
sie eine objektive Hilfe zur alternativen Entscheidung 3. Matta A, Siddique Ch, Patarroyo-Aponte G. Timing of in-
einer palliativen Betreuung zum Zeitpunkt der intu- tubation and its implications on outcomes in critically ill
bationspflichtigen respiratorischen Insuffizienz sein patients with Coronavirus disease 2019. Infect Crit Care
können mit Linderung der vorherrschenden Sympto- Explor. 2020;2(10):e262.
me von Dyspnoe, Fieber, Husten, Schwäche und Delir 4. Kluge S, Janssens U, Welte T, et al. S3-Leitlinie – Empfehlun-
mittels Morphin-Perfusor und Midazolam-Perfusor. gen zur stationären Therapie von Patienten mit COVID-19.
2021.
Ein weiterer v. a. sozialpsychologisch bedeutender
5. Flick H, Salzer H, Meilinger M, et al. Stellungnahme der ÖGP
Faktor, der nicht unerwähnt bleiben sollte, ist, dass zum Management von akuten SARS-CoV-2 Infektionen
während einer Pandemie Begleitung und Support der und zum Management von chronischen Lungenerkran-
Angehörigen aufgrund der erhöhten Infektionsgefahr kungen während der SARS-CoV-2 Pandemie. 2020. Stand
nicht möglich sind. Auch ein adäquates Abschiedneh- 06.04.2020.
men durch die Familie kann nicht stattfinden. Hoff- 6. Michels G, Sieber C, Marx G, et al. Geriatrische Intensivme-
nung allerdings besteht derzeit in den verschiedenen dizin. Med Klin Intensivmed Notfallmed. 2020. https://doi.
org/10.1007/s00391-019-01584-6
Impfstoffen gegen eine SARS-CoV2 Infektion, sodass 7. Guohui F, Chao T, Fei Z, et al. Comparison of severity
die vulnerabelsten Menschen vor schwer verlaufen- scores for COVID-19 patients with pneumonia: a retro-
den COVID-19-Infektionen geschützt werden können. spective study. Eur Respir J. 2020. https://doi.org/10.1183/
Wichtig wäre es, vor allem bei vorbestehender 13993003.02113-2020
Multimorbidität eine vorzeitige Abklärung des Pati- 8. Fumagalli C, Rozzini R, Vannini M, et al. Clinical risk
entenwunsches durchzuführen, sodass Patienten, die score to predict in-hospital mortality in COVID-19 patients:
a retrospective cohort study. BMJ Open. 2020;10:e40729.
eine Intubation ablehnen, ausreichend palliativ ver-
https://doi.org/10.1136/bmjopen-2020-040729.
sorgt werden können und für diese Patienten eine 9. Radbruch L, Nehls W, Münch U. COVID-19 – Behandlungs-
Triagesituation vermieden werden kann. ansätze aus palliativmedizinischer Perspektive. Z Palliativ-
med. 2020. https://doi.org/10.1055/a-1193-1621
Funding Open access funding provided by Paracelsus Medical
10. Müßig J, Nia A, Masyuk M, et al. Clinical Frailty Scale
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(CFS) reliably stratifies octogenarians in German ICUs:
Interessenkonflikt D. Vohla gibt an, dass kein Interessen- a multicentre prospective cohort study. BMC Geriatr. 2018.
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11. Nguyen Y, Angus D, Boumendil A. The challenge of admit-
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2021. https://doi.org/10.1038/s41586-021-03426-1
anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter
15. Mende A, Riegel A, Plümer L. Gebrechliche ältere Patienten.
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