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Ruediger Lautmann
Universität Bremen
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All content following this page was uploaded by Ruediger Lautmann on 03 June 2014.
All das „Theater um das Theater“, der geläufige Aufreger im Feuilleton – davon soll jetzt nicht
die Rede sein; also nichts über die kleinen und größeren Aufstände um Intendantenwechsel,
Stückabsagen, Haushaltsengpässe, Schließungen usw. Wer das Theater liebt, dem kann gar
nicht genug darüber geredet werden. Soziologen indessen gehen eher selten ins Theater. Sie
bestaunen bloß die rätselhafte Scheinwelt und ziehen Parallelen. Unter den Autoren dieses
Bandes haben wir sogar einen Soziologieprofessor, der „Dramatologische Anthropologie“ zu
seinen Arbeitsschwerpunkten zählt. Mein Beitrag nun will die aktuelle Entwicklung in einer
der ältesten Kulturinstitutionen der Menschheit betrachten. Heute vollzieht sich hier unüber-
sehbar eine Spielart der „Selbstthematisierung“ (Alois Hahn). Die Überschrift meint einen
genitivus objectivus: Der Trend zur Theatralisierung hat das Theater ergriffen.
Theater, Theatralität, Theatralisierung – alles das Gleiche? Nein, einige Unterschiede fal-
len ins Gewicht. Zum Theater rechnen, über das gewohnte Schauspiel hinaus, heute auch
diejenigen Produktionen der Oper, bei denen die szenische Erscheinung mit ebenso großer
Sorgfalt erarbeitet wird wie die gesanglich-orchestrale Seite, sodass Dramaturgie, Regie und
Bühnenbild mit dem Schauspiel gleichgezogen haben (Musiktheater). Beim Ballett huldi-
gen nicht mehr allzu viele Kompagnien der klassischen Choreographie des 18. bis 20. Jahr-
hunderts; in der Mehrzahl widmet sich die Sparte einem mit Sprache durchsetzten Bewe-
gungsvokabular, nach dem Vorbild des Tanztheaters der Pina Bausch. Die Grenzen zwischen
Sprech-, Musik- und Tanztheater verfließen häufig. Dadurch verzeichnet der Theaterbegriff
einen Inhaltszuwachs, und die Theaterinstitution hat in den drei letzten Jahrzehnten ihren
Ereignisraum stark erweitert.
Hahn verwendet das Konzept »Selbstthematisierung« in zahlreichen kultur-, politik- und religionssoziologischen
Veröffentlichungen.
Rüdiger Lautmann
Nun ist das vorhandene Kunst-Theater weder für Theatralisierung prädestiniert noch da-
gegen gefeit. Theatralität, als ein Idealtypus, eröffnet eine der immer gegebenen Grundopti-
onen menschlichen Handelns. (An dieser Stelle nun etwa auf Erving Goffman hinzuweisen
wäre allzu vordergründig und einengend; dieser Autor benutzt nur das Vokabular und zeigt
daran die handlungstheoretischen Möglichkeiten jener Grundoption auf.)
Vorab muss man sich vergegenwärtigen, worin Theater besteht – was die theatralen Elemente
eines Mediums sind, die wir voraussetzen müssen, ohne bereits von Theatralisierung zu spre-
chen. Historisch und interkulturell tritt Theater in so vielen Formen auf, dass eine brauchbare
Definition hier gar nicht erst versucht wird, sondern der zuständigen Wissenschaft überlassen
bleibt. Aus der Beobachterposition bedeutet Theater Schaulust, wenn man es mit einem ein-
zigen Wort umschreiben will. Theatral geht es zu, „wo immer etwas oder jemand bewusst
exponiert oder angeschaut wird“ (Warstat 2005: 358). Kurz: das Zeigen und Beobachten,
innerhalb derselben Situation.
Also keine ‚Theatralik’, das sind „übertriebene, überdeutliche, auf große Wirkungen kal-
kulierte Darstellungsweisen“ (ebda.), und auch sonst keine Schmähkritik, als würden ernste
Dinge an die Oberflächlichkeit verraten. Diesen pejorativen Klang, der das Wort in der All-
tagssprache begleitet, muss man hier vergessen. Gewarnt hätte man bereits von dem auf das
lateinische persona (Maske) zurückgehenden Begriff der Person sein können, die uns doch
gerne als Inbegriff des Identischen, Eigentlichen, Richtigen usw. erscheint. Tatsächlich bin
ich niemals bloß Ich-selber, sondern immer auch das Bild, das ich von mir entwerfe und das
mein Gegenüber von mir wahrnimmt – untrennbar von dem, was ich bin. Das Theatrale ist
der Existenz des Individuums eingeschrieben.
Wir haben es mit einem geradezu anthropologisch verankerten Grundzug zu tun, der von
Helmuth Plessner als »exzentrische Positionalität« analysiert wurde und darauf abhebt, dass
der Mensch nicht eins mit der Natur ist. Doch erst in den letzten Jahren entdeckte man, dass
theatrales Handeln auf allen gesellschaftlichen Feldern angetroffen wird, in Politik, Wirt-
schaft, Wissenschaft, Familie usw. Hierzu gäbe es eine soziologische Forschungstradition
aufzuarbeiten, von Georg Simmel bis Richard Sennett.
Mit dem Begriff der Theatralen wird ein sozialer Tatbestand aufgerufen: „Theatralität
konstituiert Gesellschaft, Gesellschaft Theater“, lautet die griffige Formel von Andreas Kotte
(2002). Gemeint ist: Interaktive Darstellungen im Lebensalltag stiften den gesellschaftlichen
Zusammenhalt; dieser wiederum bringt eine Institution wie das Theater hervor, von dem
dann Impulse an die Gesellschaft ausgehen. Die Theaterwissenschaft – früher einmal das
klassische Orchideenfach, für das sich nur ganz wenige interessierten – verzeichnete hiermit
einen Bedeutungsaufschwung und riss die Grenze zur Soziologie ein. Dort allerdings hält
man sich mit Ausflügen zurück, kommentiert herablassend den »dramatologischen« Theorie-
ansatz und überlässt das spannende Feld den Medien- und Kulturwissenschaften.
Prominenter noch ist heute das Konzept der Aufführung (performance), das – neben
unzähligen anderen Begriffsfassungen – als Kern von Theatralität verwendet werden kann.
Theatralisierung des Theaters
Zusammen mit den Elementen der Inszenierung, der Korporalität und der Wahrnehmung
konstituiert Performance die theatrale Situation. Davon einmal unterschieden, dann wieder
austauschbar verwendet, wird der schillernde Begriff der Performativität. Und noch anders
wird Theatralität erfasst, wenn sie als ein „Gefüge von Wahrnehmung, Bewegung und Spra-
che als Faktoren kultureller Energie“ bezeichnet wird (Schramm 2005: 49).
1.2 Theatralisierung
Theatralisierung hebt den Prozesscharakter theatraler Situationen hervor. Wie werden die
Aufführungen zustande gebracht? Wer ist darstellend, inszenierend und wahrnehmend be-
teiligt? Ferner, in einer Makroperspektive: Wie werden in der heutigen Lebenswelt die poli-
tischen, wirtschaftlichen, kulturellen und intimen Praktiken aufgeführt und rezipiert? Welche
Unterschiede sind historisch und interkulturell zu verzeichnen?
Die Theatralisierung beginnt, wenn uns an einer Aufführung die nicht textgebundenen
Merkmale beeindrucken. Die Zutaten auf der Bühne, zumal wenn sie ein Übergewicht zum
Text gewinnen, betreiben die Theatralisierung. (Streng genommen handelt es sich auch bei
solchen Aufführungen bloß um eine »Vertheaterung«, sit venia verbo.)
Auch in den anderen Künsten wird heftig theatralisiert. Für die Literatur denke man an
die zahllosen und oft gut besuchten Autorenlesungen (bei der »litCologne« füllen einzelne
Autoren große Säle), an die Literaturshows im Fernsehen (MRR, Heidenreich & Cons.), an
die Dramatisierung großer Romane, an die Flut der Hörbücher. Für den Musikbetrieb, für die
Ausstellungen der bildenden Kunst, für Film- und Videokunst lassen sich verwandte Ten-
denzen ausmachen (gelegentlich geschmäht als ‚Trend zur Eventkultur’).
In einem speziellen Sinne, in den letzten Jahren interdisziplinär bewährt, lässt sich Theat-
ralität entlang von vier Gesichtspunkten untersuchen (Fischer-Lichte 1998: 86):
1. Performance, auch: Aufführung (die Darstellung von Körper und Stimme vor anwesen-
den Zuschauern)
2. Inszenierung (die Art der Zeichenverwendung)
3. Körperlichkeit (bezogen auf die Physis der Darsteller sowie alle Materialien)
4. Wahrnehmung (durch die Zuschauer)
Die vier Kategorien sind wenig trennscharf definiert, ihr Verhältnis zueinander ungeklärt (Nr.
1 scheint übergeordnet zu Nrn. 2 bis 4 zu sein). Sie zu explizieren verspricht wenig Erkennt-
nisgewinn, zumal mehrere divergente Fachsprachen zu berücksichtigen wären. Anstatt nun
jene Kategorien weiter zu erläutern, seien sie sogleich auf das Phänomen einer Theatralisie-
rung von Theater angewandt.
1. Bezüglich der Kategorie Performance hat eine Innovation stattgefunden, die den
Schauspieler vom Rollenträger zum »Performer« beförderte. Nicht die Figur wird auf die
Bretter gestellt, ja es wird gar keine Rolle gespielt. Vielmehr folgt der Darsteller vollständig
dem, „was als Impuls aus seinem Inneren auf die Handlungen einer Rolle reagiert (…); er
ist in Kontakt mit seinem Zentrum und fähig, sich frei mit anderen in Beziehung zu setzen“
(Schechner 1973/2005: 330). Diesem Schauspieler sollte es gleichgültig sein, wie er aus-
sieht.
Rüdiger Lautmann
Pointiert formuliert es Schechner (1973 /2005: 335): „Die Arbeit des Performers beginnt
und endet beim Körper. Wenn ich über Seele, Verstand, Gefühle oder Psyche spreche, meine
ich immer Dimensionen des Körpers. Der Körper ist ein Organismus von endloser Anpas-
sungsfähigkeit. Ein Knie kann denken, ein Finger lachen, ein Bauch weinen, ein Gehirn lau-
fen und ein Gesäß kann zuhören.“ Für Trainingszwecke beginnt Schechner in der Körpermit-
te – bei den Eingeweiden. Danach folgt die Arbeit mit Wirbelsäule, Gliedmaßen und Gesicht,
mit dem Atmen usw. Mag sich das anfangs noch als bloßes Postulat gelesen haben – heute ist
es in vielen Aufführungen zu besichtigen. Die Programmschrift von Richard Schechner wird
hier so ausführlich zitiert, weil allenthalben auf sie Bezug genommen wird.
Die Spieler werden also nicht hinter einer Maske verschwinden und nicht in ihrer Rol-
le aufgehen. Naturalismus und Psychologie sind verabschiedet. (Ein wenig erinnert das an
die Wende in der soziologischen Rollentheorie um 1970, als die Sozialphänomenologie die
sozialpsychologische Perspektive von Erwartungsdruck usw. überwand.) „Theatrale Logik
besteht aus dem Tun, Zeigen, Verkörpern, Singen, Tanzen, Spielen. Das sind die Ressourcen,
auf die ein Performer zurückgreift, wenn er eine Rolle vorbereitet. Was für eine ‚Psycholo-
gie’ sich auch immer in einer Rolle zeigen wird, es wird die Psychologie des Performers sein,
sein eigenes, persönliches Sein.“ (Schechner 1973/2005: 355)
2. Inszenierung. Beispielsweise das Spektrum von Darstellungsweisen hat sich enorm
erweitert. Die heute auf der Bühne geübten Praktiken können in ein Kontinuum mit den Ex-
trempunkten Schauspielen vs. Nicht-Schauspielen eingeordnet werden. Beim Nicht-Schau-
spielen unternimmt der Darsteller nichts, um etwas vorzutäuschen (so ist es oft in Tanz-
stücken). Beim anderen Extrem wird im Übermaß gemimt – alles das, was auf der Bühne
wahrzunehmen ist, wird dem Als-ob des Darstellens unterworfen. Heute hat man im Theater
stets gewärtig zu sein, dass das Tun der Darsteller sich nicht weit vom Pol des Nicht-Schau-
spielens entfernt, dass ihr Tun nicht eindeutig einem einzigen Typus des Kontinuums zuzu-
ordnen ist – dass sie »aus ihrer Rolle heraustreten«, wie man früher gesagt hätte.
3. Körperlichkeit. Das Konzept der Theatralität setzt den Körper als zentrale kulturtheo-
retische Kategorie ein. Der Körper generiert kulturelle Ereignisse und weist ihre Bedeutung
vor (Klein 2005 : 80). Diese Einschätzung korrespondiert mit den Grundideen von N. Elias,
E. Goffman und P. Bourdieu, gilt aber in der Soziologie immer noch als etwas gewöhnungs-
bedürftig. Das Theater verzichtet nur ausnahmsweise auf die Präsentation des materiellen
Spielerkörpers, und wenn, um am Grenzfall dessen Unentbehrlichkeit zu demonstrieren
– durch seine momentane Abwesenheit wird nur umso stärker auf den Körper hingewiesen.
4. Wahrnehmung. Die Theateraufführung benötigt nicht nur ein irgendwie präsentes Pu-
blikum, wie unablässig betont worden ist. Vielmehr kommt es genau auf die Weise an, in
der Zuschauer die Aufführung wahrnehmen. Die Perzeptionsarten werden nicht individuell
bestimmt, sondern sind typologisch vorgegeben. Für den New Yorker Theaterwissenschaftler
und Regisseur Michael Kirby existiert Theater nur innerhalb eines deutlich gesetzten Refe-
renzrahmens, der zwischen Darstellern und Zuschauern ausgehandelt wird. „Theater ist kein
quasi natürlicher, unkontrolliert,spontan und zufällig stattfindender Vorgang, sondern setzt
entsprechende Intentionen der beteiligten Akteure und Zuschauer voraus. (…) Der Refe-
Für die Begriffe und Erläuterungen dazu vgl. Kirby 1987/2005 sowie Lehmann 1999: 242 f.
Theatralisierung des Theaters
renzrahmen, der Voraussetzung für Theater ist, wird also gemeinsam durch Schauspieler und
Zuschauer konstruiert.“ (Roselt 2005: 359) Schon Erving Goffman unterschied verschiedene
Rahmen, in denen sich die Erfahrung einer Theatervorstellung organisiert (1977: 143-164).
Mit dieser Begrifflichkeit lässt sich das aktuelle Geschehen im Kunsttheater kultursozi-
ologisch untersuchen. Denn im Konzept der Theatralisierung vereinen sich kunst- und so-
zialwissenschaftliche Überlegungen zu einem allgemeinen Interpretationsmodell für Kultur,
wie es das interdisziplinäre Forschungsprogramm der DFG von 1996 versprach und – unter
Teilnahme mehrerer Soziologen – auch verwirklicht hat. Man verwechsle also die folgenden
Überlegungen nicht mit einer an der Ästhetik interessierten Analyse. Vielmehr versuche ich,
die vorfindliche Bühnenwirklichkeit faktenorientiert zu beschreiben. Allerdings eignet sich
»Theatralisierung« als analytische Klammer dann nur noch sehr bedingt, wenn der Begriff zu
weit geöffnet wird, dass er beliebig wird.
Unter den Theaterinteressierten – Machern, Kritikern, Besuchern – sind die Vorgänge
und Veränderungen heftig umstritten. Diese Meinungs- und Bewertungskonflikte spielen
sich auf der Geschmacksebene ab: Hat mir das gefallen oder lehne ich es ab? Woran es fehlt,
ist eine empirisch informierte Analyse, die nicht den Daumen nach oben oder unten kehren
will. Schlagwörter wie »Regietheater« oder gar Polemiken wie »Blut- und Hodentheater«
eignen sich nicht im Entferntesten zur Interpretation, ja nicht einmal zur Begründung von
Geschmacksurteilen.
Der vage Begriff »Regietheater« bezeichnet ganz unzulänglich, was auf den tonange-
benden Bühnen in Deutschland geschehen ist (und sich nicht rückgängig machen lassen
wird). Das Geschimpfe gegen das Regietheater versucht eine einzige Position im Produkti-
onsprozess, womöglich gar die inszenierende Person verantwortlich zu machen, nach dem
Prinzip Haltet-den-Dieb. Es ist aber keineswegs „die Regie“, der wir die Veränderungen zu-
zuschreiben haben, sondern eine mächtige Kulturströmung der Gegenwart. Für das Geschäft
der Bewertung ist zu sagen: Es gibt gutes und schlechtes Regietheater
Denn es existieren in allen Sparten, vom Avantgarde- bis zum orthodoxen Stil, unter-
schiedlich qualitätshaltige Inszenierungen, sofern der Besucher nicht von vornherein fest-
gelegt ist, d.h. anhand von Namen oder Einzelmerkmalen präjudiziert ist. Der soziologische
Blick – empirisch, analytisch, distanziert – will den ästhetischen Streit nicht schlichten, doch
vermag er ihn zu versachlichen. Kein leichtes Unterfangen im Reich der Künste, dem das
soziologische Instrumentarium oft inadäquat ist. Entzauberung und Rationalisierung können
hier nicht das letzte Ziel sein; gefragt ist ein Verständnis jenseits blinder Wertungswut.
Eine Möglichkeit dazu besteht darin, den Geschmacksstreit um das Gegenwartstheater
selbst zum Gegenstand empirischer Forschung zu machen. Wer vertritt die Positionen? Wie
Siehe die materialreiche Reihe „Theatralität“ mit sieben Bänden (2000 bis 2005, hrsgg. v. E. Fischer-Lichte,
Tübingen: Francke).
Zur empirischen Grundlage dieses Beitrags ist zu bemerken: Ich beabsichtige keinen Literaturbericht (das The-
ma der Theatralisierung wurde bezüglich des Theaters noch gar nicht explizit behandelt), sondern eine Analyse
der Erfahrungen, die ich im und über das Theater gesammelt habe. Meine Behauptungen stützen sich zum einen
auf den regelmäßigen Besuch von Aufführungen (ein- bis zweimal saisonwöchentlich seit langem), zum anderen
auf die intensive Lektüre von Aufführungsberichten in den Feuilletons der Zeitungen sowie in den Theater-
zeitschriften. In Deutschland fällt es erstaunlich leicht, ein Bild vom Zustand des Theaters zu bekommen, so
zahlreich und vielfältig sind die Zugänge und Quellen. Aus dieser Vorform ‚beobachtender Teilnahme’ bzw.
‚Inhaltsanalyse’ entstehen zwar keine Daten i.e.S., wohl aber ein Fundus an Informationen.
10 Rüdiger Lautmann
wird im Ablehnungsfalle reagiert – mit Rückzug, Protest oder Weiterbesuchen? Gibt es Sur-
rogate für Enttäuschungen im Hochkulturtheater? Mit wem wird über Theaterfragen kommu-
niziert, wie verändern sich die Urteile, schichtet sich das Publikum um, lässt sich die ominöse
Verjüngung bewerkstelligen usw. Damit beschafft Sozialforschung eine Menge planungsre-
levanter Informationen, die zumindest in den Intendantenbüros und Kulturberatungsfirmen
zur Kenntnis genommen werden. Die Kunstproduzenten allerdings verweigern sich heute
einer unmittelbaren Orientierung am Markt. (Ungeklärt ist die Frage, wie weit Nachfrage,
Preise, Fernseh- und Filmangebote das Handeln von Theaterakteuren mittelbar beeinflussen.
Die kommerzielle Unterhaltungsindustrie zieht zweifellos viele begabte Kräfte vom Theater
ab.)
In den genannten vier Kategorien von Theatralität fehlt jede Bezugnahme auf das gespielte
Stück. Allenfalls die zu spielenden ‚Rollen’ werden erwähnt – und ihre Bedeutung relati-
viert. Der Theaterbesuch orientierte sich früher an dem angekündigten Drama (‚Ich war in
Hamlet’), heute zunehmend an der Aufführung (‚Ich gehe zu Castorf’). Die Pointierung soll
eine unübersehbare Tendenz hervorheben. Theatralisierung bezeichnet den Prozess, in des-
sen Verlauf die theatralen Momente in einer Interaktion die Oberhand über die Werkmomente
gewinnen. Das bearbeitete Werk tritt gegenüber dem dramatischen Verlauf in den Hinter-
grund.
In einer Aufführung lassen sich zwei Wahrnehmungsebenen unterscheiden: erstens das,
was als Stück, Handlung, Botschaft usw. zu sehen ist; zweitens die Art der Präsentation durch
Schauspieler, Bühnenbild, Musik usw. In arger Verkürzung: das Was und das Wie. Hier das
Dargestellte, dort die Darstellung. Hier das Kommunikat, dort die Kommunikation. Bei sol-
chen allzu vertrauten Gegenüberstellungen muss man allerdings aufpassen, nicht bei einer
Vereinfachung à la Inhalt-vs.-Form zu landen.
In der Theaterwirklichkeit hat es dieses Nebeneinander immer unproblematisch gegeben.
Drama und Schauspieler trafen aufeinander. Solange der Stücktext unbestrittenes Überge-
wicht genoss und die ‚Umsetzung’ als sekundär erschien, war die Priorität nicht umkämpft.
Doch gingen die Leute immer schon wegen des scheinbar minoren Teils ins Theater: Sie
wollten das Spiel genießen, nicht (nur) den Text mitbekommen. Der ‚gelernte’ Besucher las
sogar vorher den Text, um sich dann auf das Spiel konzentrieren zu können. Im herkömm-
lichen Theater (heute als »Stadttheater« verschrien) hielten sich die beiden Erlebnisebenen
im Gleichgewicht. Als Klammer fungierte die Idee, dass die vorgegebene Figur aus dem
Dramentext die Darstellungsweise zu lenken habe. Somit ging eine Literaturanalyse der
Einstudierung voraus. Inszenierung und Spielweise sollten hinter dem Eindruck der vorge-
führten Figur verschwinden. Dass Othello schwarz geschminkt war, verstand sich nicht nur
von selbst, sondern sollte auch vergessen gemacht werden. Das höchste Lob aus Laienmund
Karl Heinz Reuband recherchiert in einer Reihe von Befragungen konsequent im Publikum, darunter auch über
die Akzeptanz moderner Operninszenierungen (Reuband 2006) und über die Offenheit zur intellektuellen Aus-
einandersetzung – differenzierend je nach Theaterbranche (Reuband/Mishkis 2005).
Theatralisierung des Theaters 11
Die durch Theatralisierung gestellten Fragen sind nun an das Theater der Gegenwart zu rich-
ten. Inwieweit nimmt es die mächtige Strömung auf? Worin bestehen die Symptome? Ver-
ändert es sich dadurch? Beeinflusst es auch den Fortgang der allgemeinen Theatralisierung?
Kommt es vielleicht zu gegenläufigen Effekten? Es liegt zugleich nahe und fern, Prozesse
der Theatralität an deren Urszene zu studieren. Den einen mag so etwas als pleonastisch
erscheinen, andere hingegen – Anhänger der Systemtheorie etwa – werden es für geradezu
selbstverständlich halten.
Meine Bestandsaufnahme wird einige Tendenzen herausheben und zuspitzen. Generali-
sierungen verbieten sich, denn es bestehen viele Arten von Theatern und Aufführungsprak-
tiken nebeneinander, auch im selben Haus. Mein Zeitraster »früher – heute« ist zugegeben
sehr vage. Sicher ist nur, dass es keinen fixierten Anfangspunkt des hier konstatierten Wan-
dels gibt.
12 Rüdiger Lautmann
Das Theater will nicht mehr so sehr ein Ort sein, wo ein Stück Text auf die Bühne kommt.
Im Mittelpunkt der Theaterarbeit steht vielmehr die Aufführung als solche, die Performance.
Immer noch benötigt man Dramentexte, aber im Grenzfall geht es auch ohne. Damit wird die
Tendenz »vom Werk zur Performanz« konsequent realisiert.
»Strichfassungen« gab es immer schon, sie wurden in der Dramaturgie hergestellt. Beim
Vortrag auf der Bühne ändert sich der Text. Mehr denn je gelten heute die Vorlagen als
»unvollständig«; ihr Wortlaut wird bearbeitet, verändert, erweitert. Wurde der Text früher
„eingestrichen“, um die zumutbare Aufführungsdauer nicht zu überschreiten, dient er heute
als Ausgangspunkt, um die eigene „Fassung“ zu destillieren. Eine Spielvorlage wird neu
aufgebaut, wobei Zutaten aus anderen (oft theaterfremden) Texten, Aktualisierungen, Kraft-
worte usw. hineingemixt werden.
Der Text dient als Ausgangs- und nicht mehr als Zielpunkt der Inszenierung. Er wird als
»Material« behandelt, d.h. als ein Rohstoff, der zu bearbeiten ist, um Gestalt zu erlangen. Im
Prinzip war es ja nie anders gewesen, nur war es nicht aufgefallen, weil der Arbeitsprozess
– eben die Theatralisierung – sich nicht so in den Vordergrund der Aufmerksamkeit gescho-
ben hat. Heute will der Kenner von einer Neuinszenierung zuerst wissen: Wie haben sie das
gemacht, welche Interpretation erfuhr der Klassiker usw. Die früher primäre Frage nach der
theatralen Wirkung ist in den Hintergrund getreten.
Zu studieren ist dies an den Inszenierungen der Stücke des William Shakespeare, deren
Wiedergabe großen Schwankungen unterliegt (womit sich ihr Klassikercharakter bestätigt).
In der Anglistik wird seit einiger Zeit die soziologische Konzeption von Erving Goffman her-
angezogen, um wesentliche Partien des Dramenwerks zu interpretieren, beginnend mit der
von Shakespeare häufig verwendeten Form von Rollenspiel, Spiel-im-Spiel usw. (zunächst
bei Dietrich Schwanitz, in großer Ausführlichkeit bei Roland Weidle 2002). Indem sich die
dramaturgische Analyse des Theatralitätsansatzes bedient und Neues in den alten Texten ent-
deckt, passt sie sich vielleicht nur an die Sicht- und Lebensweise der Spätmoderne an. Man
darf vermuten, dass auch auf diesem literaturtheoretischen Wege die reflexive Theatralisie-
rung in die Praxis einsickert.
Die Literatursoziologie konzentriert sich auf den lesenden Menschen und trennt die Gen-
res höchst säuberlich. Man analysiert beispielsweise Romane für sich (wie in Kron/Schimank
2004, teilweise auch in Bourdieus „literarischem Feld“, vgl. 1999). Gedichte fallen bereits in
eine andere Kategorie, Dramentexte in eine noch andere. Nur »Unspielbares« und überlange
»Lesestücke« haben eine Chance, literatursoziologisch gewürdigt zu werden. Das Theater
hingegen behandelt die vorgefundenen Texte als Vorlage für etwas anderes als die Lektüre,
und dieses Andere kann nur die Aufführung sein.
Eine Illusion, der darstellende Mensch da vorne auf der Bühne sei die dargestellte Figur,
wird nicht mehr vermittelt. Bis in die 1960er Jahre beherrschte Konversation die Bühne,
Theatralisierung des Theaters 13
aufgeführt wurden sprachmächtige und (-lastige) Stücke. An Schauspielern wurde die Fä-
higkeit zur Rezitation gerühmt (Will Quadflieg und Maria Becker etwa reisten so durch die
Lande). Ist es heute mit der Hegemonie des Buches vorbei, wird die uralte Herrschaft der
Audiovisualität wiederbelebt, wie Hartmut Böhme meint? Möglicherweise aber erledigt die
Digitalisierung gleich all diese Dimensionen auf einen Schlag, möglicherweise leben sie alle
miteinander fort.
Manchen mag es noch als ein ehernes Gesetz des Theaters erscheinen: „Auch der moder-
ne Schauspieler, der einen anderen repräsentiert, bleibt Träger einer Maske“ (Soeffner 2005:
52 und 92). Doch genau dies wird im Zuge der Metatheatralisierung durchbrochen. Spieler,
Darsteller und Figur, Mensch und Maskenträger verschwimmen.
Die Schlagwörter, mit denen das Herkömmliche abgelehnt wird, lauten »historistisches«,
»naturalistisches« und »psychologisches« Theater. Bereits B. Brecht hatte mit der »Verfrem-
dung« dagegen angekämpft, nur in seinen Modellinszenierungen das nicht publikumsab-
schreckend spüren lassen. Auch bestand der V-Effekt nicht in der Reflexion über das Thea-
ter, sondern in einer politisch-kritischen Haltung gegenüber dem dargestellten Vorgang. Die
Spieler »zeigen« nicht auf ihr Theater, sondern auf gesellschaftliche Verhältnisse. Gleich-
wohl erzeugte das Berliner Ensemble eine unmittelbare Anteilnahme an den thematisierten
Problemen – Krieg, Ungleichheit, Faschismus – und rief emotionale Erschütterung hervor.
Im theatralisierten Theater von heute sind sowohl historisch präzise Rekonstruktionen als
auch die Einfühlung der Beteiligten (Spieler wie Zuschauer) verpönt. Eine als natürlich er-
scheinende Genauigkeit gelingt besser in den Bildmedien. Und Emotionen werden öffentlich
verhandelt – wie in der geläufigen Frage »wie fühlst du dich?«. Die Tyrannei der Intimität, im
19. Jahrhundert noch von der Bühne her gefördert (Sennett 1983: 52ff., 202ff.), wird durch
die Selbstreflexion unterwandert.
Gleichwohl moniert man gelegentlich die „Aufhebung aller ‚Grenzen des Natürlichen’ in
Schauspiel und Artistik“. Auch dieser Kritiker weiß, dass Theater ‚künstlich’ ist und nicht
‚natürlich’. Aber die Geschmackskonvention kannte Grenzen, die neuerdings überschritten
werden. Der Mensch ist von Natur aus ein homo ludens. „Ein Spieler ist er gerade auch dort,
wo seine feinsten und humansten Möglichkeiten sich entfalten: wo die Kultur entsteht.“ (Flit-
ner 1994: 232) Im Prozess der Theatralisierung steigert sich das natürlich Künstliche zum
künstlich Künstlichen.
So betrachten die Zuschauer heute nicht mehr Charaktere und Schicksale, genießen nicht
mehr die hochliterarischen Texte. Sondern sie sehen eine vielschichtige Aktion, in der auch
schöne Sprache und interessante Figuren vorkommen – vor allem aber die künstlerische und
intellektuelle Ausschmückung animiert.
Hartmut Böhme, Das Theater der Kulturwissenschaften. In: Der Tagesspiegel, 30. Dezember 2002. 25.
Martin Halter in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. März 2007. 36.
14 Rüdiger Lautmann
Schauspieler und Rolle ab. Die Handlungen des Schauspielers führen nicht die Handlungen
einer fiktiven Figur vor, sondern dramatisieren den Moment der Darstellung durch den
Schauspieler selbst“ (Roselt 2005: 329). Das Ideal besteht nicht mehr darin, in der Figur
zu verschwinden und ausschließlich diese in den Vordergrund der Darstellung und Wahr-
nehmung zu rücken. Der Schauspieler darf, ja soll, als produzierende Person und Künstler
erkennbar bleiben. Er bringt sich »als Marke« in die Aufführung ein. Weniger abfällig: Das
individuelle Profil der Protagonisten prägt die Produktion und wird zum Gegenstand der
Rezeption. Ähnliches gilt für viele Regisseure und Dirigenten. Nachher mag man dann we-
niger darüber sprechen, wie dem oder der ihr Auftritt, ihre Regie, ihr Dirigat gelungen ist
– sondern darüber, ob der oder die in der erwartbaren Linie ihres Profils agiert haben. Die
Wahrnehmung einer Aufführung fokussiert sich damit auf andere Dimensionen, als man es
in der Zuschauersozialisation früher gelernt hat.
Entfesselt wird eine Kreativität der Darsteller bis an die Grenze der Devianz. So gewin-
nen sie Souveränität gegenüber dem Text und teilweise auch gegenüber der Regie. Die Zu-
schauer sehen das und sind anfangs durchaus davon befremdet. Die Faszination so mancher
Inszenierung seit den 1970ern ging von hier aus – man denke an Othello (Hamburg, 1976).
Peter Zadek, einer der epochemachenden Regisseure der zurückliegenden Jahrzehnte,
schwärmt von „Schauspielern, deren Phantasie nicht abbricht:
„Es sind Schauspieler, mit denen man als Regisseur sozusagen etwas ankurbelt, danach fährt das Auto von
allein. Du musst immer mal ein bisschen Sprit reintun oder auch ein bisschen Öl, aber an sich fährt es von
allein. (…) Ilse Ritters Phantasie bricht 24 Stunden am Tag nicht ab. Manchmal zu meinem Entsetzen. Der
Zustand, in den die Schauspieler, die mich interessieren, dadurch geraten, ist nahe an der Schizophrenie. Es
hat etwas Krankhaftes. Sie kennen zwar den Unterschied zwischen Schauspielerei und Realität noch, aber
nur noch gerade so. Es besteht immer die Gefahr, dass auf der Bühne Dinge passieren, auch Brutalitäten,
die sie nicht mehr unter Kontrolle haben. In frühen Zeiten war es manchmal gefährlich, mit Wildgruber‘
zu arbeiten, weil er ja auch ein großer Mann war. Wenn er anfing, um sich zu schlagen oder jemanden zu
schütteln, war das nicht immer ungefährlich.“ (Zadek 2006: 153ff.).
So wird die Aufführung zur Performance – jenseits des einstudierten Stücks. Das Spiel und
der individuelle Charakter der Spieler machen das Aufregende aus. Im Wege stand bis da-
hin, „dass die Schauspieltechnik sich in erster Linie immer noch darauf konzentriert, dass
der Schauspieler auf der Bühne bestimmte Dinge ausdrücken kann“ (154). Zadek beschreibt
seinen Umgang mit den Darstellern – es ist eine Weise, sie zu einem theatralisierten Spiel zu
bewegen. Zunächst distanziert sich der Regisseur von dem Modell »Schauspieler kommen
mit dem gelernten Text zur Probe, die Regie sagt ihnen, was sie zu tun haben«. Vielmehr
wartet er auf die vorgeführten Spielangebote, erlaubt sogar, dass Darsteller sich den Text
zunächst vollständig soufflieren lassen.
Noch einmal Peter Zadek:
„Mir macht es nichts aus, wenn ein Schauspieler keinen Geschmack hat. Im Gegenteil. Geschmack ist
eine gesellschaftliche Norm. Wenn man ‚geschmackvolles’ Theater sieht, bedeutet das nur, dass sich der
Regisseur nicht gewagt hat, sich über die Stränge von gesellschaftlichen Konventionen hinwegzusetzen.“
(2006: 155)
Theatralisierung des Theaters 15
Zur Performance gehört es, das Publikum zu überrumpeln. Nicht etwa zirzensische Kunststü-
cke bewirken das, sondern Darstellungen, die überraschen. Unerhört muss es sein und über
die Grenzen des Gewohnten gehen.
Wie manche meinen, „dreht sich in der Kunst alles um das im Rahmen von Stilen produzierte
Schöne“ (Kron/Schimank 2004: 7). Doch könnte dies zu einfach gedacht zu sein, bei der Su-
che nach einer ‚Leitdifferenz’. Der reflexive Mechanismus, mit dem das Theater seine Idee
auf sich selber anwendet, negiert den Gestus des Schönen. Die Wonnen einer gemütlichen
Ästhetik werden verworfen, ja Hässlichkeit ist Trumpf.
Daraus folgt die allenthalben zu beobachtende Maßlosigkeit im Umgang mit den Thea-
terzeichen. Der Exzess aufgewandter Bühnenmittel ist zum Erkennungsmerkmal des Neuen
und Eigenen geworden; in ihm schiebt Theater sich in den Vordergrund dessen, was von der
Aufführung wahrzunehmen ist und haften bleibt. Nicht das Stück und seine Botschaft, nicht
die Brillanz der Darsteller prägen den Eindruck, sondern die Heftigkeit der sinnlichen Ef-
fekte: die Lautstärke der Stimmen, Geräusche und Musik; ein minutenlanges Schweigen; zu-
sammenkrachende Bühnenbilder; Wasserbecken auf der Bühne; akrobatische Verrenkungen
der Darsteller; ein Höchsttempo beim Sprechen, welches den Text unverständlich werden
lässt usw. Die Produzenten überbieten sich hierbei in den Mitteln, die aus jeder herkömm-
lichen Ästhetik ausbrechen – und damit die Auseinandersetzung mit dieser Art von Theater
hervorrufen.
Die Darstellung von Gewalt wird nunmehr so realistisch wie nur möglich. Da die Kritik
es mittlerweile rügt, dass manche Aufführungen Hektoliter von Kunstblut vergießen, werden
bald andere Zeichen benutzt werden. Darsteller sind heute sehr sportiv und hochtrainiert,
sodass sie sich tief fallen, über die Bühne jagen und schleudern lassen können.
Nacktheit wird als krasser Effekt (und nicht zur erotischen Erbauung) eingesetzt. Sexuelle
Interaktionen finden (gespielt) statt und werden nicht nur im Text erwähnt. Den Weg hierfür
bahnten um 1990 Performance-Künstler wie Ron Athey und Anita Sprinkle sowie die kata-
lanische Truppe Fura dels baus.
Damit werden absichtsvoll Situationen der Peinlichkeit hergestellt. (Bei Norbert Elias ist
das, im Unterschied zur Scham, die Situation, in der man der Normübertretung eines ande-
ren Anwesenden ansichtig wird und darüber in Verlegenheit gerät.) Jeder muss nun für sich
entscheiden, ob er weiter hin- oder ob er wegsieht, vielleicht hinausgeht, vielleicht eingreift
– die Situation ist offen, nur ausweichen lässt sich ihr nicht mehr, weil sie präsent ist. Solche
Aufführungsmomente erzwingen eine Entscheidung beim Zuschauer.
Die früher so hermetische vierte Wand der Bühne wird nun durchlässig. In vielen Auffüh-
rungen werden die Zuschauer direkt adressiert, wofür nur einige Beispiele genannt seien:
16 Rüdiger Lautmann
3. Selbstthematisierung
Zwar ähnelt Theatralisierung in Manchem dem Vorgang, wenn eine Person die eigene Iden-
tität zum Thema einer Interaktion erhebt; die beiden Prozesse decken sich aber keineswegs.
Für den Wandel institutioneller Selbstthematisierungen in der Moderne konstatieren Hahn
und Willems, er könne in vielen Hinsichten auf den Begriff der Theatralität gebracht werden
Theatralisierung des Theaters 17
(Hahn/Willems 1998: 210). Vor allem im Theater muss Theatralisierung den Charakter einer
Selbstthematisierung annehmen – so vielfältig sie sich dann auch äußert.
Den Vorgang Theatralisierung von Theater können wir unter »Reflexivität« verbuchen.
„Schon durch ihre Codierung sind symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien selbst-
referentiell strukturiert“, heißt es bei Niklas Luhmann (1997: 372), und dies ist nur ein tau-
tologischer Satz in seiner Systemtheorie. Von allgemeinerem Interesse ist seine Aussage,
dass Kommunikation stets reflexiv ist, d.h. auf sich selbst angewandt werden kann. So wie
es Forschungen über das Forschen gibt, wie die Liebe geliebt werden kann (und sollte), so
mag Theater sich theatralisieren. Eine solche Reflexivität hat sich erst in der Moderne durch-
gesetzt; mit ihr gewinnt das Medium seine Autonomie und grenzt sich gegenüber anderen
Teilsystemen ab (ebda.: 373). Allerdings sind solche Überlegungen und Setzungen für die
autopoietische Systemtheorie grundlegend, für andere Theorieperspektiven nicht.
Dem Theater eignet von vornherein eine reflexive, selbstbezügliche Form: Es zeigt auf
das, was sich in ihm zeigt (Warstat 2005: 364). Die Zuschauer verstehen das geradezu intui-
tiv und nehmen die gleiche Haltung ein. Wenn sie von einer Aufführung sprechen, hört man
(heute) besonders oft die Wendung »gut gemacht«. Darin spricht sich eine Anerkennung aus,
zugleich aber eine Distanz und die Weigerung, sich mit dem Erlebten zu identifizieren – es
war eben bloß »gut gemacht«, doch was es dem Zuschauer bedeutete, bleibt offen.
Bei Alois Hahn meint Selbstthematisierung das Ansprechen des eigenen Selbst – ist also
für das Individuum gedacht. Passt das auch auf Institutionen? Herbert Willems (1998: 57-60)
bejaht das – mit einem Verweis auf Luhmann und einem Zitat aus dessen frühen Schriften
(nämlich 1972, als ihm Goffman noch wichtig war). Die Theatralisierung findet auf der Büh-
ne als Spiel statt – anders als in den ernsthaften Szenen der Beichte, der Psychotherapie, des
autobiographischen Schreibens und Erzählens. Hier spricht der einzelne Mensch über sich,
etwa in der Beichte, damit seine Biographie generierend (Bohn/Hahn 1999).
Dem ähnelt die Theatralisierung des Theaters nur entfernt; hier wäre eher von einer re-
flexiven Selbstthematisierung zu sprechen: Die Techniken des Selbst werden auf just dieses
angewandt, und nunmehr für eine soziale Institution. Alle genannten Mechanismen gehören
genuin zum Prozess der Modernisierung. Für sie gilt Luhmanns frühe Einsicht (1966), dass
reflexive Mechanismen die Komplexität eines Systems steigern, sodass seine Fassungskraft
den gestiegenen Aufgaben gewachsen ist. Für das Theater bedeutet das: Es ist nicht mehr für
das höfische Vergnügen da oder zur Vermittlung der bürgerlichen Moral. Sondern von der
Bühne her kann eine aktuelle Herausforderung aufgegriffen und das Publikum mobilisiert
werden.
Für die Selbstthematisierung des Theaters stehen verschiedenen Verfahrensweisen bereit.
Auf der Szene befinden sich dann nicht nur Schauspieler in ihren Bühnenfiguren, sondern
Vorgänge des Theaters werden dargestellt. Beispielsweise reden Akteure über ihr Spiel, über
die Inszenierung, über ihre privaten Befindlichkeiten sowie in ‚Publikumsgesprächen’ nach
der Vorstellung über all das auf einmal. Verarbeitet werden diese Teile des Geschehens nicht
durch Schauspielaktion.
Nach der Pause spricht der Hauptdarsteller von der Rampe aus das Publikum an: Hat es Ihnen bisher gefal-
len? – Beifall – Gestern waren die nicht so freundlich. – Gelächter – Sie glauben wohl, ich improvisiere das
jetzt?!– Weiteres Gelächter, und dann geht das Stück weiter (Thalia Hamburg, 21. 4. 2007).
18 Rüdiger Lautmann
Die kleine Szene zeigt, wie das Publikum zum Reflexivwerden eingesetzt werden kann. In
diesem Falle wirkt es geradezu unterhaltend, dass von der Meta- zur Metameta- und schließ-
lich zur Metametametakommunikation aufgestiegen wird.
Selbstthematisierungen sind im Theater – wie in allen gesellschaftlichen Einrichtungen
– nicht neu. Eine klassische Form ist das »Theater auf dem Theater«, wie etwa in Il teatro
comico (C. Goldoni, 1750), Ariadne auf Naxos oder Der nackte Wahnsinn (M. Frayn). Ähn-
lich vertraut ist die Form der »Parodie« (vgl. hierzu ausführlich Roßbach 2006). Hiervon
unterscheidet sich die weit umfassendere Theatralisierung, indem sie sich nicht auf einzelne
Züge der Aufführung, wie den Handlungsort, den Stücktext, beschränkt, sondern sich auf
schlechthin alles erstreckt: die Textvorlage, den Stil des Spielens, die Gestaltung des Büh-
nenraums, den Bezug zum Publikum usw.
Richard Schechner (1973), ein Hauptideengeber des Gegenwartstheaters, machte den Pro-
zess des Aufführens selbst zum Thema. Die aktuelle Erfahrung von Darstellern und Zuschau-
ern wird gesucht und gestaltet. Noch früher formulierten dies A. Artaud und J. Grotowski.
Mögen auch die Anstöße und Theorien aus verschiedenen Ländern kommen – Frankreich,
Polen, USA –, ihre Wirkung blieb dort auf die Avantgardeszene beschränkt. Im deutschspra-
chigen Raum hat der neue Stil es – wenngleich nicht in den breiten Theateralltag – auf alle
großen Bühnen geschafft; er findet seinen Widerhall im gesamten subventionierten Theater.
Die Selbstthematisierung beginnt auf intellektueller Bahn. „Gegenwärtiges Theater ist
(…) in hohem Maße reflexiv, auf die Texte und auf die Aufführungstraditionen bezogen.“ Die
Auseinandersetzung räsoniert aber nicht, sondern „formuliert sich in den Inszenierungen, der
künstlerischen Arbeit“ (Birkenhauer 2006: 179). Zu beachten ist, dass die Theatralisierung
bzw. reflexive Selbstthematisierung des Theaters etwas anderes anpeilt als die geläufige »me-
tadramatische« Perspektive, in der nur über das Drama gesprochen wird.
Mit seiner Selbstthematisierung behauptet das Theater seine Eigenart im Bereich der
Künste, vor allem gegenüber den Konkurrenzmedien Film, Fernsehen und Video, die über-
mächtig zu werden drohen. Zwar mögen auch diese zum Mittel der Selbstthematisierung
greifen, profilieren sich dann aber nur jeweils selber und nicht gegen die alte Mutter Thea-
ter. Selbstthematisierung begleitet in der Moderne die grundlegenden Vorgänge der funktio-
nalen Differenzierung, und dies nicht bloß für Individuen (wie durchgängig bei Alois Hahn
besprochen), sondern auch für Institutionen. Im Zuge seiner Selbstreflexion hebt sich das
Theater von den anderen Darstellungskünsten wieder schärfer ab; von Film oder Fernsehen
geschluckt zu werden steht nun nicht mehr zur Debatte. Es vergewissert sich seiner Identität,
zwischen den Medien floriert die Arbeitsteilung.
Theater – wie andere Künste auch – führt vor, wie die Theatralisierung die interaktiven und
Theatralisierung des Theaters 19
institutionellen Bereiche erfasst hat. Nie aber dupliziert das Theater die gesellschaftlichen
Verhältnisse – es problematisiert sie. Indem es uns die Theatralisierung des Alltags zeigt,
denken wir über sie nach. Wir betrachten auf der Bühne die Fratzen, die uns im wirklichen
Leben viel zu nahe stehen, um sie reflektieren zu können. Darin liegt ein Kern für erneuten
sozialen Wandel.
Das Theater teilt uns etwas über die Lebenswirklichkeit mit, wie das auch Filme, Romane
usf. tun. All den Exzessen an Grausamkeit, Gewalt und Hässlichkeit, die uns auf Bühnen
präsentiertet werden, wird man nicht entgegenhalten können, dass sie keinen Bezug zur ge-
gebenen Wirklichkeit besäßen. Sich von erlebten Zumutungen zu erholen und eine schöne
Welt auszumalen, erbieten sich genügend andere Medien (ob auch innerhalb der Kunst, sei
bezweifelt).
Da das Theater hochsensibel auf alle Wandlungen der äußeren Verhältnisse reagiert und
diese – in seiner Zeichensprache – anzeigt, musste es sich geradezu theatralisieren. Denn wir
leben heute in einer „dramatisierten Gesellschaft“ (Williams 1998: 246). Auch das Bewusst-
sein dramatisiert sich (ebda.: 247).
Der neue Theaterstil gilt weithin als eine Manifestation politischer Überzeugungen. Doch
markiert das Jahr 1968 keineswegs den Wendepunkt; die Wurzeln liegen Jahrzehnte weiter
zurück (Lehmann 1999: 32ff.). Gleichwohl werden meistens genannt „die 1960er Jahre“ für
den Beginn, die frühen 1970er für das Dominantwerden des neuen Trends. Natürlicherweise
brachte die damals junge Generation von Theatermachern die Innovationen auf den Weg.
Das Living Theatre (Judith Malina und Julian Beck, New York) gastierte in Deutschland und
Großbritannien. In Bremen provozierten junge Regisseure, Bühnenbildner und Schauspieler
– allesamt heute gesetzte Altstars – mit revolutionär anmutenden Aufführungen. Heute gilt
das als die Ablösung eines restaurativen Spielstils der ersten Nachkriegszeit.
Politik kann als Faktor und Rahmenbedingung in der Kunstsoziologie sowenig ignoriert
werden wie Ökonomie. Doch erhält sich Kultur eine gewisse Autonomie; sie zappelt nicht
als Marionette an Herrschaftsinteressen. Das Thema »politisches Theater« etablierte sich erst
seit 1970 (die Vorläufer wie B. Brecht und einige Autoren der 1920er Jahre galten bereits als
überholt). Publikationen und Festivals zu »Politik im Theater« wuchsen zu einer eigenstän-
digen Sparte heran und zeigen damit an, dass der künstlerische Wandel nicht primär politik-
generiert sein kann.
»Politisch« zu sein und zu wirken gehört zu den immer wieder erhobenen Ansprüchen
und macht eine heute als selbstverständlich hingenommene Attitüde vieler Theaterleute aus.
Die lenkende Kraft bei der Theatralisierung von Theater dürfte es kaum noch sein. Eine
»Politisierung«, von der zuweilen ebenso polemisch wie unzutreffend gesprochen wird, folgt
als Sekundäreffekt aus den ästhetischen Strategien, beispielsweise das Publikum zu adres-
sieren, Emotionen zu evozieren, Interventionen herauszufordern, ästhetische Belanglosigkeit
zu durchkreuzen usw.
Oft heißt es, das neue (also theatralisierte) Theater grenze sich vom »bürgerlichen Thea-
20 Rüdiger Lautmann
ter« ab. Gemeint mag sein: vom »spießbürgerlichen«, also den Sehgewohnheiten des älteren
Publikumssegments entsprechenden, heute als »gemütlich« verschrienen Stil. Hier regieren
die Wünsche des »Harmonie-« und »Integrationsmilieus« (Schulze 1992). Nur, wie oft gehen
diese Menschen ins Theater? Sie sind schon lange zum Musical und Fernsehen abgewan-
dert.
Bürgerlich muss das alte wie das neue Theater genannt werden. Ästhetische Avantgarden
gedeihen stets innerhalb der Bildungsschichten. Politische Kritik, auch wütender Protest,
gehören dazu, mögen sie sich auch als »Antitheater« bezeichnen und von Staatssubventi-
onen ausgeschlossen werden. Es regiert die alte Unterscheidung zwischen Konformismus
und Bohème, oder auch: zwischen Alltag und Kunst.
4.3 Generationenkonflikt
Einige Indikatoren scheinen für die Annahme zu sprechen, in den ästhetischen Innovationen
drücke sich eine Ablösung der älteren Generationen aus. So waren die Protagonisten des
theatralisierten Theaters in ihren Anfängen stets junge Leute (wobei die Dehnbarkeit des
Jugendbegriffs zu berücksichtigen ist). ‚Jung’ war auch, wer nach 1989 aus der so theater-
aktiven DDR kam und die Fessel des verordneten Realismus abwerfen konnte (zu nennen,
neben anderen: Frank Castorf). Viele Ensembles verfügen heute nur über ein äußerst knappes
Aufgebot an älteren Spielern; selbst Stücke mit Rollen aus zwei, drei Generationen werden
mit den vorhandenen Thirtysomethings besetzt (vor wenigen Jahren noch waren die Spieler
hingegen oft zu alt für ihre Rollen). Deutlich wahrnehmbar buhlen die Theater heute um ein
‚junges’ Publikum und finden es doch nur schwer. Manche Selbsterklärungen avancierter
Theatermacher verraten einige Verächtlichkeit gegenüber den mit dem orthodoxen Bühnen-
stil aufgewachsenen Publikumsteilen, die notwendig im Alter von fünfzig-plus stehen. Aus
diesen Altersgruppen erhebt sich auch lautstarke Kritik.
Die These eines Generationenkonflikts trifft jedoch auch auf gegenläufige Evidenz. Die
meisten Theaterbegeisterten gehören nach wie vor zu den älteren Jahrgängen, die durchaus
auch dem avancierten Stil zujubeln. Warum muss der Geschmack des Publikums weniger
flexibel sein als derjenige der Künstler? Lebensalter allein schützt vor Lernen nicht. Und das
begehrte Jungpublikum verhält sich äußerst reserviert, wenn es angelockt werden soll – Kino
ja, Theater eher nein.
Die Generationszugehörigkeit bleibt ein ernst zu nehmender Faktor, kann aber wohl nur
in Verbindung mit den Dimensionen von Milieu und Kulturmuster erklärungskräftig wer-
den. In der Kulturtheorie von Gerhard Schulze (1992) ist das »Hochkulturschema« das äs-
thetisch höchstrangige und anspruchsvollste in der Gesellschaft vorfindliche Schema, und
der Theaterbesuch gehört hierher. Die Anhänger der Hochkultur sind vielfach differenziert:
nach Milieu und Generation sowie in ihren Vorlieben. In der jüngeren Generation findet ein
anderes Muster mehr Zustimmung: das »Spannungsschema«. In ihm lässt sich der Wunsch
nach Individualität, nach Distanz zu den Eltern und Lehrern sowie nach Geselligkeit leichter
ausleben. Wie mir scheint, nimmt die Theatralisierung des Theaters einige Elemente des
Spannungsschemas auf, ohne das Kunsttheater an die Trivialkultur zu ‚verraten’.
Theatralisierung des Theaters 21
Die hier als Theatralisierung geschilderten, weit ausgreifenden Stiländerungen blieben nicht
auf Randszenen, Off-Off- und Großstadtbühnen beschränkt. Vielmehr sickern sie allerorten
in den Theateralltag ein, selbst im Boulevard- und Musicalgenre. Die ästhetischen Praktiken,
die seit den 1950er Jahren bei Happenings oder in der Performance- und Aktionskunst aus-
probiert wurden, können auch dort wirkmächtig sein, wo Schauspieler nach wie vor Rollen
verkörpern, Figuren darstellen oder Charaktere nachahmen (Roselt 2005: 358). Sie erhalten
das deutsche Theater als eine der kreativen Stätten in der Kunst. Untersuchenswert wäre die
Frage, ob auch die vom Theater abgeleiteten, heute autonomen Medien Film und Fernsehen
dem Einfluss der Theatralisierung unterliegen.
Der Angstruf vom Theatertod betrifft nur einzelne Standorte, wenn ein Haus geschlossen
oder ein Ensemble aufgelöst wird. Da brechen nur Äste von einem Baum, der weiterhin
gedeiht.
Die innerhalb der Besucherschaft, im Feuilleton sowie unter den Theaterpraktikern äußerst
streitig verhandelte Frage, was das ‚neue’ Theater wert sei, ob man es besuchen oder mei-
den solle, ob man die Protagonisten sowie Adepten des theatralisierten Stils fördern (sprich:
engagieren) oder links liegen lassen solle – all dies belegt die Vitalität einer Institution, die
oftmals fälschlich als bedeutungslos hingestellt wird. Wer ‚das’ avancierte Gegenwartsthea-
ter für belanglos hält, verrät wohl nur den Mangel an eigenem Interesse. Den Austausch von
Publikumssegmenten hält aber jede Kunstrichtung aus, solange sich nicht alle verabschieden.
Jeder Beschwerdebrief, jede Abonnementskündigung, jeder unterlassene Besuch lässt sich
sowohl als Gefahr (für die Bilanz) wie auch als Bestätigung (für den ästhetischen Kurs)
lesen. Die gleiche Ambivalenz kommt einem vor Empörung über die Zumutung kochenden
Premierenpublikum zu: Jede Innovation gilt anfänglich als Devianz, stößt auf Widerstand
und bedarf dessen sogar. Die von der Theatralisierung hervorgerufenen Konflikte stärken das
Theater, ohne dass damit über eine Durchsetzung des neuen Stils bereits entschieden wäre.
Die breite Akzeptanz, die einem Produkt zuteil wird, kann unter spätmodernen Verhältnissen
nur ein Durchgangsstadium sein.
Weil viele Besucher ihr gewohntes Theater nicht wiedererkennen, mag man an eine Entthe-
atralisierung denken. Die Enttäuschten werden entweder ihr Theaterbild ändern oder weg-
bleiben. Oft ist zu hören: Man liebe zwar das Theater, gehe aber seit Jahren nicht mehr hin,
wegen des neuen Stils usw. Nach dem bewährten Schema von A.O. Hirschman lassen sich
die Reaktionen dreifach unterteilen, wenn die Leistungen einer Organisation enttäuschen:
• exit: Die Theater-heute-Häuser werden gemieden.
22 Rüdiger Lautmann
• voice: Der Widerspruch äußert sich in Kopfschütteln, im Buhruf und meldet sich zu
Wort.
• loyalty: Manche bleiben dem Theater treu, obgleich es seine Erscheinungsform ändert.
Denn viele der gewohnten und erwarteten Dienste werden nach wie vor geleistet, viel-
leicht sogar in gesteigertem Maße (z.B. im Bereich der Körperlichkeit).
Will man schon etwas über ‚das’ Publikum aussagen, ohne zu differenzieren, dann dieses: Es
wendet sich nicht ab; es ‚murrt’, aber ‚lernt’. Das so genannte Regietheater wird hingenom-
men (loyalty), sofern außerregieliche Befriedigung geboten wird. Im Falle der Oper ist das
die Musik. Aufschlussreich sind hier die Zuschauerbefragungen von Karl-Heinz Reuband.
Er findet,
„dass die Zuschauer durchaus Vorstellungen darüber haben, wie eine Inszenierung aussehen sollte. Denn
danach gefragt, was für eine Inszenierung sie vorzögen – eine, die in der Zeit der Handlung oder in die
Gegenwart angesiedelt sei –, befürworten die Mehrheit eine Inszenierung in der Zeit der Handlung“.
„Hinsichtlich der Erwartungen, die das Opernpublikum in Köln und Düsseldorf an eine Aufführung rich-
tet, zeigt sich eine Dominanz des musikalischen Erlebens. Die Inszenierung gilt im Vergleich dazu als
sekundär. Gleichwohl gibt es Präferenzen dazu, und diese begünstigen eine Inszenierung in der Zeit der
Handlung. Zugleich scheint das Opernpublikum für Neuerungen offen zu sein, geben sich doch die meisten
Besucher auch mit andersgearteten Inszenierungen zufrieden, die nicht auf der Linie seiner Erwartungen
liegen.“ (Reuband 2006: Teil 6)
Dem Statement ‚Ich bin für alles Neue in der Inszenierung von Theaterstücken aufgeschlos-
sen, auch wenn es mir persönlich nicht gefällt’ stimmten zwei Drittel der befragten Schau-
spielhausbesucher zu (Reuband/Mishkis 2005: Tab. 7). Wer möchte schon einen Geschmack
‚von gestern’ haben?!
Ein nicht unerheblicher Teil des Publikums wendet sich allerdings ab und verzichtet auf
den Besuch des Theaters seiner Stadt (exit). Bei einer Reihe davon dürfte es sich um den
Prozess des Generationswechsels handeln. Ein Protest gegen den aktuellen Inszenierungs-
stil (voice) wird selten vernehmbar. Zum geflügelten Feuilletonwort wurde der Zwischenruf
eines prominenten Politikers in der Thalia-Aufführung von Liliom 2000: „Das ist doch ein
anständiges Stück. Das muss man doch nicht so spielen.“ Proteste artikulieren sich durch
das Verlassen der Vorstellung, lautstark am Ende einer Premiere, relativ kleinlaut in Publi-
kumsgesprächen (wie ich sie eine Zeitlang protokolliert habe) sowie ganz gelegentlich in
Leserbieren an die örtliche Tageszeitung.
In diesem Zusammenhang wird gelegentlich die Frage nach der Legitimation für die ho-
hen Theater- und Opernsubventionen aufgeworfen, und sei es nur indirekt beim Hantieren
mit ‚Auslastungsquoten’. Würde sich eine Produktion an der Nachfrage und Zustimmung des
Theatralisierung des Theaters 23
Publikums ausrichten, ergäbe sich der kommerzielle Mainstream. Die Theaterästhetik befand
sich immer in Bewegung. Wer heute einer vergangenen Stilform nachtrauern möchte, bezieht
sich stets auf eine kurze Epoche, nicht auf eine dauerhafte Einrichtung.
Die Teilautonomie der Sphären Produktion – Rezeption gehört heute zu den Vorausset-
zungen, dass Kunsttheater möglich wird. Durch die Selbstthematisierung erhöht das Theater
seine Unabhängigkeit. Was auf der Bühne gezeigt wird, will nicht dem Staat bzw. politischen
Mehrheiten gefallen. Es sucht nicht nach Mehrheiten, weder im Rat der Stadt noch in der
Wahlbevölkerung. Es will keine Inhalte von »Bildung« in pädagogisch wertvoller Art trans-
portieren. Von religiösen Ritualen hatte sich das Theater schon viel früher abgekoppelt. Die
Selbständigkeit der Kunst (soziologisch: Ausdifferenzierung von Teilsystemen) hat das The-
ater später erreicht als etwa die Romanliteratur, Malerei und Musik. Heute indessen ist sie
irreversibel vollzogen.
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