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Schrift

Kulturtechnik zwischen Auge,


Hand und Maschine

Herausgegeben von
Gernot Grube, Werner Kogge
und Sybille Krämer

Wilhelm Fink Verlag


Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

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Bayerische
D
Staatsbibliothek I
ISBN 3-7705-4190-1
© 2005 Wilhelm Fink Verlag, München

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Münchenthek J
www.fink.de
Umschlaggestaltung: Evelyn Ziegler
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn

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Jay David Bolter

DIGITALE SCHRIFT

In vielerlei Hinsicht scheint digitales Schreiben [digital writing] zur vorrangi-


gen Form schriftlicher Kommunikation unserer Zeit geworden zu sein. Inner-
halb einer Generation sind viele Textformen, die bisher nur auf dem Papier
existierten (Briefe, Notizen, technische Berichte usw.), weitgehend in das
elektronische Medium übertragen worden. In Westeuropa und Nordamerika ist
die Schreibmaschine, die über ein Jahrhundert lang eine maßgebende Schreib-
technik darstellte, fast ganz verschwunden. Selbst wenn andere Arten zu
schreiben noch existieren - Notizen zum Beispiel macht man noch immer eher
mit Stift und Papier -, sind solche Praktiken durch die elektronische Schrift
marginalisiert.
Die Begriffe „elektronisch" und „digital" werden auf den folgenden Seiten
synonym für Schreibpraktiken gebraucht, die den Computer und andere digi-
tale Technologien einbeziehen. „Elektronisch" bezieht sich auf die gegenwär-
tige physikalische Technik, während „digital" die Funktionsweise von (ver-
mutlich) allen Computersystemen bezeichnet. Es ist zwar theoretisch möglich,
digitale Systeme mit Hilfe anderer physikalischer Mittel zu realisieren, aber
„digital" und „elektronisch" sind in den heutigen kulturellen Darstellungen der
neuen Medien synonym. Die Tatsache, dass diese beiden Begriffe austausch-
bar sind, ist, wie wir sehen werden, bedeutsam, weil sie uns daran erinnert,
dass diese neue und scheinbar abstrakte Form der Aufzeichnung eine mate-
rielle Basis hat.

Schrift im Ausgang des Buchdruckzeitalters

Obwohl ein großer Teil unserer Schriften im Interesse von Speichemng und
Darstellung in digitaler Form übertragen worden ist, ändert sich dadurch in
mancherlei Hinsicht wenig. Die symbolischen Systeme, mit denen die Druck-
techniken arbeiteten, wurden bisher beibehalten. Die alphabetische Schrift
wird in der Textverarbeitung, in Textdatenbanken, Email und Instant Messa-
ging weiterhin verwendet. Das numerische System ist offensichtlich nicht nur
in der Textverarbeitung, sondern auch in der Tabellenkalkulation und in Ab-
rechnungsprogrammen weiter vertreten. Darüber hinaus wurden auch die bild-
lichen Darstellungen, Fotografien und Grafiken, die in Büchern und Magazi-
nen vorkamen, in digitale Formate übersetzt. Eine zeitgenössische Website
kann zum Beispiel Text, Grafiken und fotografische Bilder in einem Layout
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kombinieren, das mit der grafischen Gestaltung von Zeitschriften des 20. Jahr-
hunderts viel gemeinsam hat.
Obwohl diese Formen der schriftlichen Fixiemng bislang stabil geblieben
sind, haben sich Lese- und Schreibpraktiken grundlegend gewandelt. Ohne
Einbuße irgendeines symbolischen Systems könnte unsere Kultur durchaus
dabei sein, ganze Gmppen oder Arten von Texten zu verlieren. Es ist möglich,
dass sich unsere Gesellschaft derzeit in einer Phase der Auslese von Texten
befindet, ganz analog zu der, die am Übergang von der Schriftrolle zum Ma-
nuskript stattfand, als Texte und Autoren verschwanden, weil sie nicht in die
neuen Repräsentationssysteme übertragen wurden. Viele griechische und la-
teinische Texte heidnischer Autoren sind nicht mehr erhalten, weil sie der frü-
hen christlichen Gemeinschaft, die des Lesens und Schreibens kundig war,
nicht relevant erschienen. Etwas Ähnliches könnte heute geschehen. Viele Bü-
cher aus dem Zeitalter des Buchdmckes (ganz zu schweigen von erhaltenen
Manuskripten) wurden bisher nicht in eine maschinenlesbare Form übertragen.
Es ist auch keineswegs sicher, dass das noch geschehen wird, weil sie nur für
eine relativ kleine Gmppe von Historikern oder Literaturwissenschaftlern
wichtig sind. Natürlich ist es ein Mythos, dass im World Wide Web alles er-
hältlich ist: Das Netz enthält eine Fülle an Informationen, die gegenwärtig kul-
turellen und ökonomischen Wert haben, und ein bemerkenswertes Mosaik aus
Material, das von speziellen Gruppen oder Individuen ins Netz gestellt wurde.
Ob nun die bloße Menge an Information, in Bits gemessen, den Bestand einer
konventionellen Bibliothek übertrifft oder nicht, die Bandbreite an Informatio-
nen ist vermutlich immer noch weniger mannigfaltig. Enthusiasten sagen
voraus, dass eines Tages die digitale Bibliothek universal sein wird, eine Idee,
die zuerst von Hypertext-Autoren wie Vannevar Bush und Ted Nelson formu-
liert wurde. Die Annahme lautet, dass unsere Kultur alle zerfallenden Texte
und Manuskripte retten wird, wenn die Preise für die Digitalisierung von Tex-
ten und Bildern weiterhin sinken. Das mag passieren, aber es kann auch sein,
dass dann, wenn die Digitalisiemng als wirklich preiswert angesehen wird, un-
sere Kultur nicht mehr daran interessiert ist, diese Texte zu erhalten.
Selbst wenn alle älteren, gedmckten Texte schließlich in eine digitale Form
gebracht werden, werden sie dann den Status behalten, den sie in der Vergan-
genheit besaßen? Wer wird sie weiterhin lesen und ihnen nacheifern? Das
Prestige der diversen Arten des Schreibens muss nicht mit ihrer Popularität
korrespondieren. Obwohl zum Beispiel nur wenige Menschen danach streben,
einen Roman zu schreiben und noch weniger tatsächlich einen zustande brin-
gen, erfreut sich der Roman eines recht hohen Ansehens. Gedmckte Bücher
(in der Form von Romanen und originellen Sachbüchern) gelten als die ange-
sehenste Form von Schrift, obwohl in unserer Kultur mehr und mehr Lese-
und Schreibtätigkeiten am Bildschirm stattfinden. Romanschreiber werden im-
mer noch als wichtige „Stimmen" unserer Kultur angesehen: Stimmen des Ge-
wissens oder der Einsicht in unsere kollektive oder individuelle Verfassung,
obwohl sie sich - fast bis auf den letzten Mann (oder die letzte Frau) - stand-
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haft weigern, ihre Arbeit in der neuen digitalen Darstellungsform zu präsentie-


ren.
Diese Divergenz ist einer der faszinierenden Aspekte der heutigen Schrift-
kultur. Obwohl die gedmckte Form für bestimmte Arten des Schreibens wei-
terhin hoch angesehen ist, ist sie nicht die einzige und vielleicht nicht einmal
die vorherrschende Form der Veröffentlichung. Wir leben in einer Zeit, die als
die „Spätzeit des Buchdruckes" bezeichnet werden könnte.' Das heißt nicht,
dass Druckschriften unmittelbar vom Verschwinden bedroht sind, oder dass
gedmcktes Material zahlenmäßig abnimmt. Manche Arten von Literatur
(Thriller, Liebesromane und Romane, die Filme nacherzählen) sind äußerst
beliebt. Für medizinische und persönliche Ratgeber und Leitfäden gilt das so-
gar noch mehr. Gleichzeitig nehmen andere Arten gedmckter Schriften tat-
sächlich ab: Wissenschaftliche Monografien, besonders geisteswissenschaftli-
che, verkaufen sich so schlecht, dass es selbst für subventionierte Universitäts-
verlage schwierig ist, sie weiterhin zu veröffentlichen. Hoch angesehene Ro-
manschreiber verkaufen im Vergleich zur Trivialliteratur relativ wenige
Exemplare. Jedenfalls ist der Buchdruck in dem Sinne in seiner „Spätphase",
dass sein Anspmch, der wichtigste Träger von Informationen zu sein, inzwi-
schen in Frage gestellt ist. Der Computer wird mittlerweile als die Zukunft der
Schrift betrachtet und der Druck als rückständig, und es stellt sich die Frage,
welche der traditionellen Formen des Dmckes erhalten bleiben werden. Es
mag sein, dass hoch angesehene Ausdrucksformen - wie die belesene Öffent-
lichkeit behauptet - weiterhin in gedmckter Form existieren werden, vielleicht
aus Gründen der Bequemlichkeit und Mobilität gemeinsam mit Zeitungen und
Magazinen. Aber die Tatsache, dass so viel Information in eine digitale Form
übertragen worden ist, wird diesen literarischen Ausdrucksformen in der Spät-
zeit des Buchdmckes eine stärker esoterische Qualität verleihen. Diese For-
men werden als veraltete, relativ stabile Denkmäler früherer kultureller Prakti-
ken erscheinen: Das ist zum Beispiel die Position, die im Vergleich zu Film
und Femsehen heute vom Theater eingenommen wird.
Unterdessen mag, wie diese Anthologie zeigt, die enthusiastische Aneig-
nung digitaler Techniken durch unsere Kultur eine weiter gefasste Definition
von Schrift durch Theoretiker und die Öffentlichkeit nach sich ziehen. Die
Einleitung dieser Aufsatzsammlung situiert Schrift entlang der Achsen „Spra-
che und Bild" und „ikonische Präsenz und mechanischer Prozess". Diese
Achsen deuten den Einfluss digitaler Techniken bereits an. Auch wenn es
schon im 20. Jahrhundert durchaus Interesse an einer weiter gefassten Defini-
tion der Schrift gab, die Bilder ebenso wie alphabetische Texte umfasst und
den mechanischen oder operativen Status der Schrift erkundet, wird die digi-
tale Technik sicher die Bereitschaft zu einer umfassenderen Definition weiter
fordern. Gleichzeitig ist aber unklar, wie weit die Millionen, die das Schreiben

1 Bolter, Jay David, Writing Space: Computer. Hypertext, and the Remediation ofPrint, Mah-
wah/New Jersey, 2001.
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praktizieren, heute in Bezug auf eine weiter gefasste Definition von Schrift
gehen würden. Sie könnten es sehr wohl vorziehen, ihre digitalen Praktiken als
etwas anderes als Schreiben zu verstehen.

Formen digitaler Einschreibung

Bestimmte digitale Formen sind genau deshalb weithin akzeptiert, weil sie die
traditionellen Annahmen über die Natur der Schrift, die durch den Dmck oder
auch schon durch handschriftliche Techniken, die dem Druck lange voraus-
gingen, verdinglicht wurde, nicht in Frage stellen. Insbesondere Textverarbei-
tung erleichtert die Vorbereitung von Schriftdokumenten für den Dmck und
erlaubt es dem Autor, ein Dokument im Speicher des Computers zu editieren,
bevor die endgültige Version gedruckt wird. Das gedmckte Dokument wird
als die legitime Schriftform angesehen und das Textverarbeitungsdokument
orientiert sich an den Zwängen dieser Form - vor allem hält es sich an die
lineare Abfolge der Worte und Absätze. Damit ist letzteres selbst für die tradi-
tionellsten Schriftkulturen [writing communities] akzeptabel geworden. Email
ist eine neue Form, die Charakteristika des geschriebenen Briefes, der Büro-
notizen, des Telegramms und sogar der telefonischen Konversation vereint.
Mögen auch einige Schreiber den informellen oder den minderwertigen Stil
von Emails beklagen, selbst sie würden die Email als eine Textform begreifen.
Die Millionen Emails, die (selbst wenn man Spams nicht mitzählt) täglich
durch das Netz reisen, bezeugen die Beliebtheit dieser neuen Form. Für die
meisten an der Universität und in der Verwaltung besteht digitales Schreiben
in Textverarbeitung und Email. In diesen Zusammenhängen machen die meis-
ten nur minimalen Gebrauch von allem, das keinen ASCII-Text darstellt. Sie
fügen kaum Grafiken in ihre Dokumente ein, außer vielleicht, wenn sie ein
Präsentationsprogramm für Kongressbeiträge benutzen.
Für eine kleinere (aber sehr wichtige) Gruppiemng ist der Computer zu
einem unentbehrlichen Instrument für mathematisches Schreiben [mathemati-
cal writing] geworden. Mathematische Formeln für den Bildschirm oder den
Dmck zu formatieren ist nur ein spezieller Aspekt von Textverarbeitung. Weil
aber die Mathematik auf diskreten Symbolsystemen bemht, mit denen sich
nach Maßgabe formaler Regeln operieren lässt, kann der Computer mit diesen
Systemen arbeiten. Er kann algebraische und geometrische Formen und selbst
Differentialgleichungen vereinfachen oder lösen. Programme für algebraische
Verfahren und für die visuelle Darstellung von Daten finden in der professio-
nellen Forschung ebenso Anwendung wie in der Lehre. Anders gesagt: Diese
Schriftform ist nicht einfach eine Darstellung bereits bekannter Prinzipien; sie
kann neue Einsichten in mathematische Strukturen fordern. Für statistische
Programme und verschiedene Formen von Simulation, die in den Natur- und
Sozialwissenschaften gebraucht werden, gilt selbstverständlich das Gleiche.
Digitale Enthusiasten benutzen den Begriff „Simulation" derart vage, dass er
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zum Synonym für Computerspiele oder für fast jedes Programm werden kann,
das dem Nutzer eine scheinbar kohärente visuelle oder verbale Erfahrung lie-
fert. In einem strengeren Sinne macht eine Computersimulation ein mathema-
tisches Modell nutzbar, das ein physisches oder soziales System beschreibt.
Solche Simulationen stellen ein anerkanntes Hilfsmittel für mathematisches
Schreiben dar. Dieser Aspekt elektronischer Schrift ist wichtig, aber vielen
Nutzem von Textverarbeitungsprogrammen und anderen konventionellen
Formen nicht bekannt. Er steht in Zusammenhang mit der „Kode-These" der
elektronischen Schrift, die ich weiter unten diskutieren werde.
Mathematische Schrift im Computer ist die älteste Form; die Maschinen
wurden in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts für diese Art symboli-
scher Verfahren erfunden. In den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahr-
hunderts waren Textverarbeitung und Email die dominanten, oder zumindest
die am weitesten verbreiteten Formen. Heute wird digitale Technik jedoch als
„multimedial" vermarktet und wahrgenommen, ohne dass notwendigerweise
Bezug auf Schrift genommen wird. Multimediale Anwendungen sind Produkte
einer Konvergenz verschiedener Technologien, einschließlich des Desktop
Computers, des digitalen Telefons, der digitalen Kamera und der Videoka-
mera. Einige Unternehmen vermarkten den Heimcomputer nun als ein Me-
dien-Kontrollsystem, das digitalisierte Bilder, Videos oder Ton aus einer Viel-
zahl von Quellen zusammenführt. All das könnte als eine neue Form von
Schrift angesehen werden, in der die semantischen Einheiten die verschiede-
nen Ton- und Video-Clips darstellen. Es gibt jedoch keinerlei Anzeichen da-
für, dass die große Gruppe der Nutzer ihre Aktivitäten in diesen Begriffen ver-
steht - so wenig, wie die frühere Generation von Fotografen Fotografie als
eine Form der Schrift ansah. Stattdessen scheinen die Millionen Nutzer, die
Tondateien herunterladen und brennen oder digitale Videos von ihren Kame-
ras auf die Festplatte laden, diese neuen Formen in Analogie zu Fotos zu be-
greifen: Sie glauben, dass sie eine Technik benutzen, die ihnen ikonische Re-
präsentationen von Teilen der Welt verschafft.
Die Situation ist vielleicht ambivalenter, wenn Texte und Bilder in einem
medialen Raum kombiniert werden, wie es in den meisten Websites der Fall
ist. Websites zu kreieren und zu besuchen ist mittlerweile die häufigste Form
multimedialer Produktion und Konsumtion. Obwohl weitaus mehr Menschen
Websites besuchen, als sich eigene aufzubauen, ist die Kreation von Websites
zu einer gebräuchlichen kulturellen Praktik geworden. Im 20. Jahrhundert
hatte das grafische Design für den Buchdruck stets eine ambivalente Bezie-
hung zur konventionellen Schrift und diese Beziehung wiederholt sich nun im
Netz. Nach über einem Jahrhundert des Grafikdesigns für den Buchdruck ist
unsere Kultur bereits geneigt, Text und Bild als eine Botschaft wahrzuneh-
men. Der weit verbreitete Gebrauch des Netzes sorgt für eine ständige Wie-
derholung dieser Botschaft und zwingt so manchen, der keinerlei Übung in
traditionellem Buchdmckdesign oder Interesse daran hat, rudimentäres Netz-
design zu entwerfen, das abstrakte und bildlich grafische Elemente enthält.
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Selbst dieser kurze Abriss gegenwärtiger digitaler Praktiken zeigt, dass es


verschiedene Lesarten davon gibt, wie der Computer als Schreibtechnik funk-
tioniert. Ist der Computer eine neue Art Buch, eine neue Art Kamera oder nur
eine neue Art Rechenmaschine? Repräsentiert er die Welt oder reproduziert er
die Welt? Die Debatte über die kulturelle Bedeutung des Computers hält an,
während digitale Techniken sich weiterentwickeln und verändern. Bevor bei-
spielsweise in den späten Achtzigern und Neunzigern in großem Stil Compu-
tergrafiken eingeführt wurden, wirkte der Computer auf viele einfach nur wie
eine bessere Art Schreibmaschine und deshalb wie ein Schreibgerät. Mittler-
weile neigen mehr Leute dazu, den Computer (in Verbindung mit dem Inter-
net) als eine sich entwickelnde, wenn auch noch unreife Form von Femsehen
auf Bestellung anzusehen. Während der Computer in seiner Fähigkeit, beweg-
te Bilder zu präsentieren, dem Femsehen immer ähnlicher wird, bestätigt sich
der Glaube der traditionellen Literaturszene, dass er das Buch nicht ersetzen
wird.

Materialität und digitale Schrift

Kritiker, denen es dämm geht, das gedmckte Buch gegen den Ansturm digi-
taler Techniken zu verteidigen, bemfen sich oft auf das Argument der Stoff-
lichkeit. Sie argumentieren, dass der physische Kontakt mit dem Buch wichtig
ist, insbesondere für die ästhetische Erfahrung von Belletristik. Im Gegensatz
dazu, so behaupten die Kritiker, entkörperlicht der Computer den Text, spei-
chert ihn in der Form unsichtbarer Bits und Bytes von Informationen und bil-
det ihn auf einer Bildschirmoberfläche wieder ab. Darüber hinaus ist das
Buch, anders als der Computer, beweglich und man kann ohne Mühe etwas
nachschlagen. (Dieses letzte Argument verliert an Überzeugungskraft, je
leichter Laptops sich transportieren lassen und je umfassender sie werden,
auch wenn es noch immer leichter und bequemer ist, ein Buch mit Seiten zu
benutzen, wenn man eine Arbeit von Anfang bis Ende lesen möchte.)
Dennoch haftet der besonderen Berufung auf die Stofflichkeit des gedruck-
ten Buches etwas Ironisches an, weil lange Zeit behauptet wurde, dass der
Buchdruck zur Entmaterialisiemng der Schrift beigetragen habe. Die tech-
nischen Erfordernisse der Druckerpresse und des ökonomischen Systems, das
um den Buchdruck hemm entstand, trennte den Autor von den Handwerkern,
die den Text herstellten. Das gedmckte Buch wurde im Vergleich zum mittel-
alterlichen Manuskript ein einheitliches, industrielles Produkt. (Weil es hand-
gemacht ist, ist jedes Manuskript einzigartig und sein ästhetischer Reiz ist so-
wohl taktiler als auch visueller Natur.) Im 18. und 19. Jahrhundert bestätigten
Gesetze über Urheberrecht und intellektuelles Eigentum schließlich die kultu-
relle Überzeugung, dass die Worte des Autors ihm selbst gehören, unabhängig
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von ihrer jeweiligen Verkörperung in einer bestimmten gedmckten Edition.2


Sollte der Computer uns tatsächlich darin bestärken, den Text als eine ab-
strakte Anordnung von Symbolen zu begreifen, so würde er nur eine Logik der
Repräsentation bestätigen, der schon in der Ära des Buchdrucks Autoren und
Herausgeber anhingen.
Auf der anderen Seite widersprechen einige Medientheoretiker der Idee,
dass der Computer oder irgendeine frühere Technik dahingehend wirkt, Ge-
schriebenes zu entmaterialisieren. Sie meinen, dass der Computer uns, indem
er die materielle Ausdmcksform von Schrift ändert, daran erinnert, dass es
notwendig ist, die Materialität, die jede Schrifttechnik schafft, zu erforschen.
Unser digitales Zeitalter bietet uns die Gelegenheit, über die materiellen Qua-
litäten jedes Textes nachzudenken, einschließlich der neuen digitalen Texte.
Eine bedeutende Vertreterin jener Richtung der Literaturwissenschaft, die sich
mit der Materialität von Texten befasst, ist N. Katherine Hayles, die die Textur
verschiedener digitaler Schriften erforscht hat, indem sie deren Materialität
mit Büchern von Künstlern des 20. Jahrhunderts verglichen hat.1 Die auf die
Materialität von Medien ausgerichtete Medienwissenschaft kann als die Fort-
setzung der Arbeiten von Medientheoretikem wie Benjamin, McLuhan, Flus-
ser, Chartier und Kittler angesehen werden, deren verschiedene Perspektiven
uns die Materialität von Schrift sowohl auf individueller als auch auf kollekti-
ver Ebene vor Augen geführt haben. Jede Schrifttechnik bietet besondere visu-
elle, fühlbare und technische Mittel, die von den einzelnen Autoren auf kreati-
ve Weise eingesetzt werden, und jede Technik ist insgesamt durch besondere
Bedingungen der Produktion und Konsumtion gekennzeichnet. Digitale
Schrift ist auf diesen beiden Ebenen materiell. Sie ist durch Muster der Pro-
duktion und Konsumtion charakterisiert, die in gewisser Weise denen des
Buchdrucks ähneln, in anderer Hinsicht aber etwas mit Femsehen und Radio
gemein haben. Digitales Schreiben und Lesen stellen ebenso (das ist offen-
sichtlich) visuelle und taktile Erfahrungen für den Autor/Designer und den Le-
ser/Benutzer dar. Computerbildschirm und Tastatur sprechen unsere Sinne ge-
nauso an wie das gedmckte Buch, wenn auch nicht unbedingt in den gleichen
Proportionen von Sichtbarkeit, Hörbarkeit und Tastbarkeit wie ein gedmcktes
Buch oder ein Manuskript.

Digitale Schrift als universelle Repräsentation

Historiker der Schrift beschäftigen sich häufig mit der Frage, ob und wann ein
bestimmtes Darstellungssystem die Grenze zwischen Bildhaftigkeit und arbi-
trärem Zeichen überschreitet, die als die Differenz zwischen einer Vorstufe
von Schrift und „wahrer" Schrift betrachtet werden kann. In dem Mischsystem

2 Rose, Mark, Authors and Owners, Cambridge/Mass., 1995.


3 Hayles, N. Katherine, Writing Machines, Cambridge/Mass., 2002.
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der ägyptischen Hieroglyphen haben einige Elemente beispielsweise eine bild-


liche Ähnlichkeit (zurück)behalten, während andere ausschließlich für phone-
tische Werte verwendet wurden. Im griechischen Alphabet und verwandten al-
phabetischen Systemen wurde die bildliche Ähnlichkeit ganz aufgegeben.
Digitale Technik kann all diese früheren Schriftsysteme, bildhafte und arbiträ-
re, umfassen und sie kann Audio-, Einzelbild- und Videoformen aufnehmen.
Der Computer ist als Medium vermutlich in der Lage, alle anderen Medien zu
ersetzen, wie Alan Kay und Adele Goldberg bereits in den Siebzigern
erkannten, als sie schrieben:
Obwohl Digitalcomputer ursprünglich für arithmetische Berechnungen entwor-
fen wurden, hat ihre Fähigkeit, die Einzelheiten jedes deskriptiven Modells zu si-
mulieren, zur Folge, dass der Computer, als Medium betrachtet, auch jedes an-
dere Medium sein kann, vorausgesetzt, dass die Einbettungs- und Darstellungs-
methoden ausreichend entwickelt sind.4
Offenbar kann der Computer also sowohl Kamera als auch Buch sein, indem
er dasselbe zugrunde liegende Repräsentationssystem (Bits) und eine verein-
heitlichte Form der Darstellung (Pixel auf einem Bildschirm) verwendet. Die
Vorstellung vom Universalmedium ist ein verbreiteter Bestandteil unserer kul-
turellen Deutung des Computers. Sie steht hinter dem Begriff „Konvergenz",
mit dem manchmal zum Ausdmck gebracht werden soll, dass alle elektroni-
schen Techniken sich vereinen, um uns mit einer einzigen Form von Kommu-
nikation und Repräsentation zu versorgen. Tatsächlich aber gibt es kaum
Gründe für die Annahme, dass die digitale Technik alle anderen Medien erset-
zen wird. Obwohl digitale Technik unsere Medienökonomie allmählich be-
herrscht, kann es durchaus Nischen geben, in denen andere Medien und Dar-
stellungsweisen auf unbegrenzte Zeit weiter existieren. Vielleicht wird ge-
dmckte (Roman-)Literatur solch eine Nische sein, oder das handschriftliche
Notizbuch, oder das Ölgemälde oder das so genannte „akustische" Musikin-
strument. Das Überleben wird in jedem Fall ebenso von kulturellen Vorlieben
wie von den ökonomischen Bedingungen der jeweiligen Nische abhängen.
Die universalistische Sicht ist auch nicht in der Lage, die Materialität frühe-
rer Medien angemessen zu berücksichtigen. Obwohl es stimmt, dass ein hoch
auflösendes Digitalbild die visuelle Erfahrung beim Betrachten eines Gemäl-
des weitgehend (und vielleicht sogar ganz) erfassen kann, war die Materialität
von Ölfarbe und Leinwand offensichtlich unabdingbar, um das Gemälde zu
schaffen. Eine Medienökonomie, in der alle Repräsentation digital ist, wird
uns nicht weiterhin alle Kunst- und Darstellungsformen aller vergangenen Me-
dien zeigen. Sie wird stattdessen ihre eigene Kunst hervorbringen, die auf
ihrer eigenen Darstellungspraxis bemht, auch wenn diese teilweise in der Fä-
higkeit besteht, frühere Medien und Formen zu „simulieren".

4 Kay, Alan, Adele Goldberg, „Personal Dynamic Media", in: IEEE Computer, 3/10/1977
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Wenn sich die Auffassung vom Computer als dem einzigen Medium durch-
setzt, dann wird er dazu verwendet werden, alle früheren schriftlichen und
bildlichen Formen (Abbildungen, Filme usw.) zu speichern. Es bleibt aber die
Frage, ob man den Computer in erster Linie als eine neue Art Buch (das auch
Bilder speichern kann) oder als eine neue Art Kamera (die zufällig auch Texte
speichern kann) auffassen wird. Man könnte sagen, die Antwort hängt davon
ab, ob wir mehr Gewicht auf die Bits oder auf die Pixel legen. Die Bits, binäre
Einheiten von Information, sind jene arbiträren Elemente, deren logische Ma-
nipulation die Buchstaben eines alphabetischen Textes oder die diskreten Ele-
mente eines Bildes konstituiert. Pixel sind Bits, die speziell dazu entwickelt
wurden, Licht- oder Farbpunkte auf dem Bildschirm wiederzugeben. Der Um-
gang mit Pixeln (beispielsweise in nicht-linearen Videoschnittprogrammen)
wird für gewöhnlich nicht als Schreiben verstanden, ebenso wenig wie das Be-
trachten des fertigen Videos als Lesen aufgefasst wird. Auch wenn die Idee
des Computers als Universalmedium weitgehend akzeptiert ist, garantiert das
keineswegs, dass der Computer auch weiterhin überwiegend als ein Schrift-
system verstanden wird.
Einige Universalisten meinen, dass das besondere Vermögen des Compu-
ters eher in der Reproduktion als in der Repräsentation der Welt besteht. Ihnen
zufolge findet die digitale Technik ihren vollkommensten Ausdruck in der
virtuellen Realität. Bereits in den Achtzigern hat Jaron Lanier, dessen Firma
virtuelle Realität populär gemacht hat, von seiner Vision eines „Zeitalters der
post-symbolischen Kommunikation" gesprochen. In Laniers Entwurf kommu-
nizieren Menschen in einer gemeinsamen virtuellen Realität, ohne auf arbi-
träre Symbole angewiesen zu sein, weil sie ausschließlich ostensive Definitio-
nen verwenden. Sie müssten ihre Ideen nicht länger repräsentieren, sondern
könnten sie einander innerhalb der Grenzen der virtuellen Welt zeigen. Auch
wenn man zugibt, dass Laniers Vision eine frühe und extreme Haltung dar-
stellte, lebt die Idee von der virtuellen Realität als einer totalen und nahtlosen
Wahmehmungsumgebung in den populären Vorstellungen als Utopie und
Dystopie fort. Die utopische Variante ist das Holodeck aus der Serie „Star
Trek", das Benutzem ermöglicht, sich zu Unterhaltungszwecken an jeden be-
liebigen Ort der Vergangenheit zu versetzen, sei er fiktional oder real. Die
dystopische Sicht findet sich in der Welt von „Matrix" wieder, in der die ge-
samte menschliche Bevölkemng ihr ganzes Leben in einer virtuellen Realität
verbringt, während sie unter der Kontrolle intelligenter Maschinen steht.

Die Kode-These

Universalisten heben die Fähigkeit des Computers hervor, alle Informationen


als Bits oder Pixel zu repräsentieren, während für andere die Schlüsselqualität
des Computers darin besteht, diese Informationseinheiten bearbeiten zu kön-
nen. Die Interaktion des Benutzers mit dem Computer wird über verschiedene
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Schichten von Hardware und Software vermittelt. Der Benutzer sieht auf dem
Bildschirm Pixel, die von einer Software bereitgestellt werden, die darüber
entscheidet, was der Benutzer sieht. Der Kode ist wesentlich, während Ton
und Bilder, von denen abhängt, wie der Benutzer das Programm erlebt, sekun-
där sind. Von diesem Standpunkt aus begründet der Computer eine radikal
neue Technik des Schreibens: Programmieren ist das wahre digitale Schrei-
ben. Die Merkmale der digitalen Schrift leiten sich von der Fähigkeit des
Computers ab, den Kode in einer Weise auszuführen, die dynamisch und un-
abhängig vom menschlichen Autor des Kodes ist. Der Computer kann sogar
seinen eigenen Kode schreiben. Für die Anhänger der Kode-These sind es
diese Fähigkeiten, die den Computer zu einem einzigartig potenten Schreib-
system werden lassen. Anhänger der Kode-These neigen dazu, den Begriff der
Simulation zu verallgemeinem. Die Fähigkeit des Computers, zu simulieren,
etwas entsprechend den vorgefassten Regeln eines Modells selbständig auszu-
führen, wird als Kern dieses Schriftparadigmas erkannt.
Die vorgebliche Autonomie des Computerkodes hat einige dazu gebracht,
die Vorstellung von Autorschaft neu zu definieren. Janet Murray behauptet
zum Beispiel, dass der Computer eine neue Art von „prozeduraler" Autor-
schaft darstellt.- Der menschliche Autor/Programmierer schreibt einen Kode,
der die Konturen und die Grenzen des Systems definiert, und es ist der Com-
puter, der diese Konturen dann entsprechend den spezifischen Eingaben und
Reaktionen des Benutzers/Lesers ausfüllt. Das System kann so komplex wer-
den, dass der Autor/Programmierer nicht länger das Verhalten in allen Situa-
tionen vorhersagen kann. Die Urheberschaft teilen sich dann der menschliche
Autor, der Computerkode und der Benutzer/Leser. In der radikalsten Version
der Kode-These droht der Text als Kode selbsttätig zu werden, sich vom Autor
abzulösen und in solipsistischer Manier die Rollen von Autor, Text und Be-
nutzer/Leser zu übernehmen. Computerspiele sind der populärste kulturelle
Ausdmck dieses Paradigmas der prozeduralen Autorschaft und einige dieser
Spiele sind innerhalb ihres winzigen Universums eigenbestimmt tätig. Es gibt
zum Beispiel American-Football oder Baseball-Spiele, die so eingestellt wer-
den können, dass sie die Spielergebnisse aller Mannschaften für eine ganze
Saison durchspielen bzw. simulieren - und das ohne jede Beteiligung des
menschlichen Spielers.
Einige Theoretiker und Praktiker der neuen Medien glauben, dass die
gegenwärtige Generation von Computerspielen den ersten Schritt in Richtung
interaktiver narrativer Welten darstellt. In zukünftigen Spielwelten wird es den
menschlichen Spielern möglich sein, mit autonomen Charakteren zu interagie-
ren und an einer Geschichte mitzuwirken, die einen unwiderstehlichen Span-
nungsbogen besitzt. Computerwissenschaftler und Entwickler neuer Medien
arbeiten daran, „Erzählmaschinen" und intelligente Agenten zu konstmieren,

5 Murray, Janet H.. Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace, New
York, 1997.
DIGITALE SCHRIFT 463

um solche interaktiven Welten möglich zu machen. Auf einer fortlaufenden


Reihe von Konferenzen (wie zum Beispiel TIDSE und DIGRA in Europa und
Nordamerika) wird nach einer neuen Art von Schrift geforscht, die für digitale
Spiele und interaktive Erzählungen benötigt wird.
Gleichzeitig gibt es viele Designer und Künstler aus der digitalen Szene, die
die Kode-These ablehnen, insbesondere weil sie dazu führen kann, den Com-
puter als ein autonomes und geschlossenes Darstellungssystem zu begreifen.
Viele lehnen die Vorstellung ab, dass der Kode primär und die visuelle bzw.
sensorische Erfahrung des Benutzers sekundär ist. Beispielsweise setzen Ex-
perten für die Mensch-Computer-Interaktion den Schwerpunkt nicht auf den
Kode selbst, sondern auf die Erfahrung des menschlichen Benutzers, der eine
bestimmte Aufgabe erfüllen will.6
Darüber hinaus gibt es unzählige Künstler, die an Institutionen wie dem
Zentrum für Kunst und Medientechnologie, der Ars Electronica und der
Kunstgalerie der SIGGRAPH Konferenzen arbeiten und ihre Werke ausstel-
len.7 Diese vielgestaltige Szene von Praktikern hat sehr unterschiedliche Sicht-
weisen auf digitale Repräsentation. Man darf aber wohl feststellen, dass sich
alle ihre Arbeiten auf die Erfahrung des Benutzers/ Betrachters konzentrieren;
der eigentliche Kode kann dafür von Bedeutung sein, muss es aber nicht. Da-
bei darf die Autonomie des Kodes beeinträchtigt werden und manchmal wird
der Künstler oder Performer bewusst in den Ablauf des Systems eingreifen.

Elektronische Präsenz

Für Vertreter der Kode-These besteht das Wesen der Computerschrift in der
algorithmischen Repräsentation. Die Darstellung, die der Benutzer sieht, wird
durch den zugmnde liegenden Kode getragen und letztlich auch gerechtfertigt.
Der Kode selbst ist eine Form von Schrift, deren Bedeutung per Definition
transparent ist, da Programmiersprachen nicht im Geringsten zweideutig sein
dürfen, wenn sie ausführbar sein sollen. Zumindest für die Anhänger dieser
These halten Transparenz und Präsenz dank der Elektronik wieder Einzug in
die Schrift, Jahrzehnte nachdem die Poststrukturalisten meinten, den Logo-
zentrismus in der Schrift dekonstruiert zu haben. Der Glaube an das ultimative
Ziel einer transparenten Repräsentation taucht an überraschenden Stellen wie-
der auf. Unter Forschen und Entwicklern interaktiver Erzählungen stellt zum
Beispiel die Idee einer autonomen Spielwelt wirklich einen Wunsch nach
einer bestimmten Form von Präsenz dar. Innerhalb dieser Welt wäre jedes Er-

6 Vgl. Dourish, Paul, Where the Action Is: The Foundations of Embodied Interaction, Cam-
bridge/Mass., 2001.
7 Bolter. Jay David, Diane Gromala, Windows and Minors: Interaction Design, Digital Art,
and the Myth ofTransparency, Cambridge/Mass., 2003.
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eignis und das Verhalten jeder Person durch den zugmnde liegenden Kode er-
klärt und verifiziert.
Tatsächlich steckt in dem, was Castells als Netzwerkgesellschaft8 be-
schreibt, ein starker Glaube an Transparenz. Das Internet und das World Wide
Web sollen nach dem Prinzip des freien Informationsflusses funktionieren,
auch wenn dieser Fluss in Wirklichkeit durch Technik und auch durch Ideolo-
gie gebremst werden kann. So versuchen zum Beispiel Regierungen die Ver-
breitung von Informationen zu behindern, die ihre ideologische Macht über
die Bürger bedrohen, und Unternehmen bemühen sich, Informationen zurück-
zuhalten, die eine Gefahr für ihre Bilanzen bedeuten, falls sie an die Öffent-
lichkeit geraten. Obwohl Castells diese Hemmnisse anerkennt, bewirkt der In-
formationsfluss durch das globale Netzwerk seiner Meinung nach eine soziale
und ökonomische Revolution. Das Problem besteht nicht in der Lesbarkeit der
Informationen selbst, sondern in ihrem Missbrauch.
Dieser Begriff von Transparenz ist von digitalen Künstlern in Frage gestellt
worden. Zu diesem Zweck haben sie digitale Arbeiten geschaffen, die nicht als
transparente Darstellungen einer tiefer liegenden Realität gelesen werden kön-
nen. Diese Werke sind oft hybrid, Kombinationen von verschiedenen Daten-
typen und Datenquellen: zum Beispiel Suchmaschinen für das Web, die
Bruchstücke von Seiten wieder auffinden und zustellen, oder Seiten, die der
Benutzer scheinbar nicht gesucht hat. Viele digitale Installationen stellen
Videokameras auf den Benutzer ein und inkorporieren das Bild des Betrach-
ters selbst in das Werk. Solche Arbeiten funktionieren als Spiegel, manchmal
ebenso wörtlich wie metaphorisch, um in Zweifel zu ziehen, dass digitale
Technik ein transparentes Fenster zur Datenwelt sein kann. Sie bieten stattdes-
sen eine Erfahrung an, die reflexiv und selbstbezüglich ist, die den Betrachter
selbst in das Werk einschreibt und ihn dazu zwingt, über die Bedingungen
nachzudenken, unter denen das Werk bedeutungsvoll ist.** In vielen Fällen stel-
len diese digitalen Künstler an das neue Medium Fragen, die Avantgarde-
Künstler bereits seit Jahrzehnten in anderen medialen Formen gestellt haben.
Ihre Arbeiten ermöglichen dem Benutzer eine Unmittelbarkeit der Erfahrung,
aber keine Transparenz der Darstellung.
Die Szene der digitalen Kunst ist verhältnismäßig klein, wenn man sie mit
den Millionen und Abermillionen von Endnutzem vergleicht, die digitale Me-
dientechnik verwenden. Doch die Techniken, die diese Szene verwendet, um
ihre hybriden Arbeiten zu erstellen - Techniken wie die Digitalisierang von
Video, Ton und digitalen Bildern und deren jeweilige Bearbeitung - werden
tatsächlich häufig auch von den Konsumenten gebraucht, um ihre eigenen
Musikbibliotheken, Photoalben oder Homevideos zu erstellen. Obwohl die
Mehrzahl der Konsumenten in der digitalen Kultur die Vorstellung von Trans-
parenz zu akzeptieren scheint, die in dem Ausdmck vom „freien Informations-

8 Castells, Manuel, The Rise ofthe Network Society, Oxford, 2000.


9 Bolter, Jay David, Diane Gromala. Windows and Mirrors, a.a.O.
DIGITALE SCHRIFT 465

fluss" enthalten ist, sind es gerade diese Nutzer, die in ihren Heimcomputem
den Informationsfluss unablässig verkomplizieren. Sie praktizieren eine Art
von elektronischer Einschreibung, die hybrid und reflexiv ist und doch führt
diese Praxis nicht notwendigerweise dazu, ihre Überzeugung zu erschüttern,
dass das digitale Netzwerk als ein transparenter Kommunikationskanal arbei-
ten kann.

Das Wesen der digitalen Schrift

Wir haben eine Anzahl mehrdeutiger, sich sogar gegenseitig ausschließender


Ansichten über den Status von digitaler Technik in unserer gegenwärtigen
Kultur ausfindig gemacht. Wir haben gesehen, dass Bildungstraditionalisten
der Technik vorwerfen, das Schreiben zu entmaterialisieren, weil sie die Tinte
auf dem Papier mit den unsichtbaren Bewegungen von Elektronen vertauscht.
Doch einige Theoretiker meinen, dass digitale Technik ebenfalls materiell ist,
auch wenn sich unsere Interaktionen mit dem Computer von den Interaktionen
mit Druckschriften oder der Handschrift unterscheiden. Wir haben das Argu-
ment betrachtet, dass der Computer ein Universalmedium ist: dass digitale
Technik benutzt werden kann, um Einschreibungen aller anderen bisherigen
Medien zu speichern und zu bearbeiten - sowohl bildliche Medien wie die
Fotografie als auch das alphabetische System von Dmck- und Handschrift.
Doch auf der anderen Seite bedeutet die Idee, dass irgendein Medium alle an-
deren ersetzen könnte, sowohl die physische als auch die kulturelle Eigenart
jedes Mediums außer Acht zu lassen. Die eigentümliche Qualität des Compu-
ters, eine symbolverarbeitende Maschine zu sein, hat dazu geführt, dass einige
Theoretiker Computerprogrammierang als eine einzigartige Schreibweise auf-
fassen, deren wesentliches Merkmal in dem prozeduralen Charakter des Com-
puters zu begreifen ist. Da der Kode aber in der Maschine verborgen ist, ver-
nachlässigt diese Betrachtungsweise das Interface und damit die unmittelbare
Erfahrung des Benutzers. Andere - vor allem (das überrascht kaum) Entwick-
ler von Interfaces und digitale Künstler - behaupten wiederum, dass der wich-
tigste Aspekt der digitalen Repräsentation in der Interaktion von Computer
und Benutzer in einer physischen und sozialen Umwelt besteht. Schließlich
gibt es den anhaltenden Glauben an die Transparenz und Eindeutigkeit der
elektronischen Repräsentation und Kommunikation, den die digitalen Künstler
mit ihren Praktiken zu untergraben versucht haben. Diese widerstreitenden
Perspektiven auf das digitale Medium und auf die Möglichkeiten von digitaler
Schrift könnten durch die folgenden binären Oppositionen zusammengefasst
werden:
466 JAY DAVID BOLTER

immateriell materiell
universal partikular / konkret
prozedural erfahrungsvermittelt
transparent selbst-reflexiv
Diese beiden Spalten teilen die komplexe Welt der Theorien über digitale Me-
dien und Praktiken nicht in zwei säuberlich getrennte Lager. Viele Medien-
theoretiker vertreten Ansichten, die Elemente aus beiden Spalten kombinieren.
Es ist nichtsdestotrotz verlockend, die linke Spalte als modern und die rechte
als postmodem zu kennzeichnen.
Essentialismus und sogar ein technologischer Determinismus sind in unse-
ren Reaktionen auf die digitale Technik noch immer stark vertreten. Viele be-
haupten, dass der Computer als ein Medium über einige wesentliche Eigen-
schaften verfügt, die festlegen, wie die passende Darstellungspraxis auszuse-
hen hat. Doch während der Essentialismus in der Rhetorik über die neuen Me-
dien vorherrschend ist, legen die Praktiken der professionellen Entwickler und
sogar der Kreis der allgemeinen Benutzer gerade das Gegenteil nahe: dass die
digitale Technologie unterbestimmt und formbar ist, offen für eine Vielzahl
unterschiedlicher und unvorhersehbarer Verwendungen. Obwohl von vielen
Lippenbekenntnisse für Reinheit und Einfachheit gegeben werden, überwiegt
in der Praxis doch ein Geist der Bricolage und der Bereitschaft, hybride For-
men zu schaffen.
Vermutlich wird man nicht alle diese Formen als Schrift auffassen. Wir ha-
ben zu Beginn bemerkt, dass im Ausgang des Buchdrackzeitalters eine erwei-
terte Definition von Schrift nötig zu werden schien. Aber vielleicht weitet die
Vielzahl an digitalen Formen und hybriden Kombinationen die Definition von
Schrift bis an ihren Bmchpunkt aus. In diesem Fall werden sich die verschie-
denen Gruppen von Beteiligten - traditionelle Schriftsteller, Computerwissen-
schaftler, Theoretiker und Entwickler neuer Medien, allgemeine Benutzer -
vielleicht nie darüber einigen können, was Schrift im digitalen Zeitalter aus-
macht. Das eine überdauernde Merkmal des digitalen Mediums könnte seine
kulturelle Ambivalenz sein.
(Übersetzt von Anne Enderwitz und Jan Wöpking)

Literatur

Bolter, Jay David, Writing Space: Computer. Hypertext, and the Remediation ofPrint,
Mahwah/New Jersey, 2001.
Bolter, Jay David, Diane Gromala, Windows and Mirrors: Interaction Design. Digital
Art. and the Myth ofTransparency, Cambridge/Mass., 2003.
Castells, Manuel, 77;e Rise ofthe Network Society, Oxford, 2000.
Dourish, Paul, Where the Action Is: The Foundations of Embodied Interaction, Cam-
bridge/Mass., 2001.
DIGITALE SCHRIFT 467

Hayles, N. Katherine, Writing Machines, Cambridge/Mass., 2002.


Kay, Alan, Adele Goldberg, „Personal Dynamic Media", in: IEEE Computer, 3/10/
1977.
Murray, Janet H„ Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace,
New York, 1997.
Rose, Mark, Authors and Owners, Cambridge/Mass., 1995.

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