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Herausgegeben von
Gernot Grube, Werner Kogge
und Sybille Krämer
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe
und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung
einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung
und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien.
soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.
Bayerische
D
Staatsbibliothek I
ISBN 3-7705-4190-1
© 2005 Wilhelm Fink Verlag, München
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Münchenthek J
www.fink.de
Umschlaggestaltung: Evelyn Ziegler
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn
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Jay David Bolter
DIGITALE SCHRIFT
Obwohl ein großer Teil unserer Schriften im Interesse von Speichemng und
Darstellung in digitaler Form übertragen worden ist, ändert sich dadurch in
mancherlei Hinsicht wenig. Die symbolischen Systeme, mit denen die Druck-
techniken arbeiteten, wurden bisher beibehalten. Die alphabetische Schrift
wird in der Textverarbeitung, in Textdatenbanken, Email und Instant Messa-
ging weiterhin verwendet. Das numerische System ist offensichtlich nicht nur
in der Textverarbeitung, sondern auch in der Tabellenkalkulation und in Ab-
rechnungsprogrammen weiter vertreten. Darüber hinaus wurden auch die bild-
lichen Darstellungen, Fotografien und Grafiken, die in Büchern und Magazi-
nen vorkamen, in digitale Formate übersetzt. Eine zeitgenössische Website
kann zum Beispiel Text, Grafiken und fotografische Bilder in einem Layout
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kombinieren, das mit der grafischen Gestaltung von Zeitschriften des 20. Jahr-
hunderts viel gemeinsam hat.
Obwohl diese Formen der schriftlichen Fixiemng bislang stabil geblieben
sind, haben sich Lese- und Schreibpraktiken grundlegend gewandelt. Ohne
Einbuße irgendeines symbolischen Systems könnte unsere Kultur durchaus
dabei sein, ganze Gmppen oder Arten von Texten zu verlieren. Es ist möglich,
dass sich unsere Gesellschaft derzeit in einer Phase der Auslese von Texten
befindet, ganz analog zu der, die am Übergang von der Schriftrolle zum Ma-
nuskript stattfand, als Texte und Autoren verschwanden, weil sie nicht in die
neuen Repräsentationssysteme übertragen wurden. Viele griechische und la-
teinische Texte heidnischer Autoren sind nicht mehr erhalten, weil sie der frü-
hen christlichen Gemeinschaft, die des Lesens und Schreibens kundig war,
nicht relevant erschienen. Etwas Ähnliches könnte heute geschehen. Viele Bü-
cher aus dem Zeitalter des Buchdmckes (ganz zu schweigen von erhaltenen
Manuskripten) wurden bisher nicht in eine maschinenlesbare Form übertragen.
Es ist auch keineswegs sicher, dass das noch geschehen wird, weil sie nur für
eine relativ kleine Gmppe von Historikern oder Literaturwissenschaftlern
wichtig sind. Natürlich ist es ein Mythos, dass im World Wide Web alles er-
hältlich ist: Das Netz enthält eine Fülle an Informationen, die gegenwärtig kul-
turellen und ökonomischen Wert haben, und ein bemerkenswertes Mosaik aus
Material, das von speziellen Gruppen oder Individuen ins Netz gestellt wurde.
Ob nun die bloße Menge an Information, in Bits gemessen, den Bestand einer
konventionellen Bibliothek übertrifft oder nicht, die Bandbreite an Informatio-
nen ist vermutlich immer noch weniger mannigfaltig. Enthusiasten sagen
voraus, dass eines Tages die digitale Bibliothek universal sein wird, eine Idee,
die zuerst von Hypertext-Autoren wie Vannevar Bush und Ted Nelson formu-
liert wurde. Die Annahme lautet, dass unsere Kultur alle zerfallenden Texte
und Manuskripte retten wird, wenn die Preise für die Digitalisierung von Tex-
ten und Bildern weiterhin sinken. Das mag passieren, aber es kann auch sein,
dass dann, wenn die Digitalisiemng als wirklich preiswert angesehen wird, un-
sere Kultur nicht mehr daran interessiert ist, diese Texte zu erhalten.
Selbst wenn alle älteren, gedmckten Texte schließlich in eine digitale Form
gebracht werden, werden sie dann den Status behalten, den sie in der Vergan-
genheit besaßen? Wer wird sie weiterhin lesen und ihnen nacheifern? Das
Prestige der diversen Arten des Schreibens muss nicht mit ihrer Popularität
korrespondieren. Obwohl zum Beispiel nur wenige Menschen danach streben,
einen Roman zu schreiben und noch weniger tatsächlich einen zustande brin-
gen, erfreut sich der Roman eines recht hohen Ansehens. Gedmckte Bücher
(in der Form von Romanen und originellen Sachbüchern) gelten als die ange-
sehenste Form von Schrift, obwohl in unserer Kultur mehr und mehr Lese-
und Schreibtätigkeiten am Bildschirm stattfinden. Romanschreiber werden im-
mer noch als wichtige „Stimmen" unserer Kultur angesehen: Stimmen des Ge-
wissens oder der Einsicht in unsere kollektive oder individuelle Verfassung,
obwohl sie sich - fast bis auf den letzten Mann (oder die letzte Frau) - stand-
DIGITALE SCHRIFT 455
1 Bolter, Jay David, Writing Space: Computer. Hypertext, and the Remediation ofPrint, Mah-
wah/New Jersey, 2001.
456 JAY DAVID BOLTER
praktizieren, heute in Bezug auf eine weiter gefasste Definition von Schrift
gehen würden. Sie könnten es sehr wohl vorziehen, ihre digitalen Praktiken als
etwas anderes als Schreiben zu verstehen.
Bestimmte digitale Formen sind genau deshalb weithin akzeptiert, weil sie die
traditionellen Annahmen über die Natur der Schrift, die durch den Dmck oder
auch schon durch handschriftliche Techniken, die dem Druck lange voraus-
gingen, verdinglicht wurde, nicht in Frage stellen. Insbesondere Textverarbei-
tung erleichtert die Vorbereitung von Schriftdokumenten für den Dmck und
erlaubt es dem Autor, ein Dokument im Speicher des Computers zu editieren,
bevor die endgültige Version gedruckt wird. Das gedmckte Dokument wird
als die legitime Schriftform angesehen und das Textverarbeitungsdokument
orientiert sich an den Zwängen dieser Form - vor allem hält es sich an die
lineare Abfolge der Worte und Absätze. Damit ist letzteres selbst für die tradi-
tionellsten Schriftkulturen [writing communities] akzeptabel geworden. Email
ist eine neue Form, die Charakteristika des geschriebenen Briefes, der Büro-
notizen, des Telegramms und sogar der telefonischen Konversation vereint.
Mögen auch einige Schreiber den informellen oder den minderwertigen Stil
von Emails beklagen, selbst sie würden die Email als eine Textform begreifen.
Die Millionen Emails, die (selbst wenn man Spams nicht mitzählt) täglich
durch das Netz reisen, bezeugen die Beliebtheit dieser neuen Form. Für die
meisten an der Universität und in der Verwaltung besteht digitales Schreiben
in Textverarbeitung und Email. In diesen Zusammenhängen machen die meis-
ten nur minimalen Gebrauch von allem, das keinen ASCII-Text darstellt. Sie
fügen kaum Grafiken in ihre Dokumente ein, außer vielleicht, wenn sie ein
Präsentationsprogramm für Kongressbeiträge benutzen.
Für eine kleinere (aber sehr wichtige) Gruppiemng ist der Computer zu
einem unentbehrlichen Instrument für mathematisches Schreiben [mathemati-
cal writing] geworden. Mathematische Formeln für den Bildschirm oder den
Dmck zu formatieren ist nur ein spezieller Aspekt von Textverarbeitung. Weil
aber die Mathematik auf diskreten Symbolsystemen bemht, mit denen sich
nach Maßgabe formaler Regeln operieren lässt, kann der Computer mit diesen
Systemen arbeiten. Er kann algebraische und geometrische Formen und selbst
Differentialgleichungen vereinfachen oder lösen. Programme für algebraische
Verfahren und für die visuelle Darstellung von Daten finden in der professio-
nellen Forschung ebenso Anwendung wie in der Lehre. Anders gesagt: Diese
Schriftform ist nicht einfach eine Darstellung bereits bekannter Prinzipien; sie
kann neue Einsichten in mathematische Strukturen fordern. Für statistische
Programme und verschiedene Formen von Simulation, die in den Natur- und
Sozialwissenschaften gebraucht werden, gilt selbstverständlich das Gleiche.
Digitale Enthusiasten benutzen den Begriff „Simulation" derart vage, dass er
DIGITALE SCHRIFT 457
zum Synonym für Computerspiele oder für fast jedes Programm werden kann,
das dem Nutzer eine scheinbar kohärente visuelle oder verbale Erfahrung lie-
fert. In einem strengeren Sinne macht eine Computersimulation ein mathema-
tisches Modell nutzbar, das ein physisches oder soziales System beschreibt.
Solche Simulationen stellen ein anerkanntes Hilfsmittel für mathematisches
Schreiben dar. Dieser Aspekt elektronischer Schrift ist wichtig, aber vielen
Nutzem von Textverarbeitungsprogrammen und anderen konventionellen
Formen nicht bekannt. Er steht in Zusammenhang mit der „Kode-These" der
elektronischen Schrift, die ich weiter unten diskutieren werde.
Mathematische Schrift im Computer ist die älteste Form; die Maschinen
wurden in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts für diese Art symboli-
scher Verfahren erfunden. In den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahr-
hunderts waren Textverarbeitung und Email die dominanten, oder zumindest
die am weitesten verbreiteten Formen. Heute wird digitale Technik jedoch als
„multimedial" vermarktet und wahrgenommen, ohne dass notwendigerweise
Bezug auf Schrift genommen wird. Multimediale Anwendungen sind Produkte
einer Konvergenz verschiedener Technologien, einschließlich des Desktop
Computers, des digitalen Telefons, der digitalen Kamera und der Videoka-
mera. Einige Unternehmen vermarkten den Heimcomputer nun als ein Me-
dien-Kontrollsystem, das digitalisierte Bilder, Videos oder Ton aus einer Viel-
zahl von Quellen zusammenführt. All das könnte als eine neue Form von
Schrift angesehen werden, in der die semantischen Einheiten die verschiede-
nen Ton- und Video-Clips darstellen. Es gibt jedoch keinerlei Anzeichen da-
für, dass die große Gruppe der Nutzer ihre Aktivitäten in diesen Begriffen ver-
steht - so wenig, wie die frühere Generation von Fotografen Fotografie als
eine Form der Schrift ansah. Stattdessen scheinen die Millionen Nutzer, die
Tondateien herunterladen und brennen oder digitale Videos von ihren Kame-
ras auf die Festplatte laden, diese neuen Formen in Analogie zu Fotos zu be-
greifen: Sie glauben, dass sie eine Technik benutzen, die ihnen ikonische Re-
präsentationen von Teilen der Welt verschafft.
Die Situation ist vielleicht ambivalenter, wenn Texte und Bilder in einem
medialen Raum kombiniert werden, wie es in den meisten Websites der Fall
ist. Websites zu kreieren und zu besuchen ist mittlerweile die häufigste Form
multimedialer Produktion und Konsumtion. Obwohl weitaus mehr Menschen
Websites besuchen, als sich eigene aufzubauen, ist die Kreation von Websites
zu einer gebräuchlichen kulturellen Praktik geworden. Im 20. Jahrhundert
hatte das grafische Design für den Buchdruck stets eine ambivalente Bezie-
hung zur konventionellen Schrift und diese Beziehung wiederholt sich nun im
Netz. Nach über einem Jahrhundert des Grafikdesigns für den Buchdruck ist
unsere Kultur bereits geneigt, Text und Bild als eine Botschaft wahrzuneh-
men. Der weit verbreitete Gebrauch des Netzes sorgt für eine ständige Wie-
derholung dieser Botschaft und zwingt so manchen, der keinerlei Übung in
traditionellem Buchdmckdesign oder Interesse daran hat, rudimentäres Netz-
design zu entwerfen, das abstrakte und bildlich grafische Elemente enthält.
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Kritiker, denen es dämm geht, das gedmckte Buch gegen den Ansturm digi-
taler Techniken zu verteidigen, bemfen sich oft auf das Argument der Stoff-
lichkeit. Sie argumentieren, dass der physische Kontakt mit dem Buch wichtig
ist, insbesondere für die ästhetische Erfahrung von Belletristik. Im Gegensatz
dazu, so behaupten die Kritiker, entkörperlicht der Computer den Text, spei-
chert ihn in der Form unsichtbarer Bits und Bytes von Informationen und bil-
det ihn auf einer Bildschirmoberfläche wieder ab. Darüber hinaus ist das
Buch, anders als der Computer, beweglich und man kann ohne Mühe etwas
nachschlagen. (Dieses letzte Argument verliert an Überzeugungskraft, je
leichter Laptops sich transportieren lassen und je umfassender sie werden,
auch wenn es noch immer leichter und bequemer ist, ein Buch mit Seiten zu
benutzen, wenn man eine Arbeit von Anfang bis Ende lesen möchte.)
Dennoch haftet der besonderen Berufung auf die Stofflichkeit des gedruck-
ten Buches etwas Ironisches an, weil lange Zeit behauptet wurde, dass der
Buchdruck zur Entmaterialisiemng der Schrift beigetragen habe. Die tech-
nischen Erfordernisse der Druckerpresse und des ökonomischen Systems, das
um den Buchdruck hemm entstand, trennte den Autor von den Handwerkern,
die den Text herstellten. Das gedmckte Buch wurde im Vergleich zum mittel-
alterlichen Manuskript ein einheitliches, industrielles Produkt. (Weil es hand-
gemacht ist, ist jedes Manuskript einzigartig und sein ästhetischer Reiz ist so-
wohl taktiler als auch visueller Natur.) Im 18. und 19. Jahrhundert bestätigten
Gesetze über Urheberrecht und intellektuelles Eigentum schließlich die kultu-
relle Überzeugung, dass die Worte des Autors ihm selbst gehören, unabhängig
DIGITALE SCHRIFT 459
Historiker der Schrift beschäftigen sich häufig mit der Frage, ob und wann ein
bestimmtes Darstellungssystem die Grenze zwischen Bildhaftigkeit und arbi-
trärem Zeichen überschreitet, die als die Differenz zwischen einer Vorstufe
von Schrift und „wahrer" Schrift betrachtet werden kann. In dem Mischsystem
4 Kay, Alan, Adele Goldberg, „Personal Dynamic Media", in: IEEE Computer, 3/10/1977
DIGITALE SCHRIFT 461
Wenn sich die Auffassung vom Computer als dem einzigen Medium durch-
setzt, dann wird er dazu verwendet werden, alle früheren schriftlichen und
bildlichen Formen (Abbildungen, Filme usw.) zu speichern. Es bleibt aber die
Frage, ob man den Computer in erster Linie als eine neue Art Buch (das auch
Bilder speichern kann) oder als eine neue Art Kamera (die zufällig auch Texte
speichern kann) auffassen wird. Man könnte sagen, die Antwort hängt davon
ab, ob wir mehr Gewicht auf die Bits oder auf die Pixel legen. Die Bits, binäre
Einheiten von Information, sind jene arbiträren Elemente, deren logische Ma-
nipulation die Buchstaben eines alphabetischen Textes oder die diskreten Ele-
mente eines Bildes konstituiert. Pixel sind Bits, die speziell dazu entwickelt
wurden, Licht- oder Farbpunkte auf dem Bildschirm wiederzugeben. Der Um-
gang mit Pixeln (beispielsweise in nicht-linearen Videoschnittprogrammen)
wird für gewöhnlich nicht als Schreiben verstanden, ebenso wenig wie das Be-
trachten des fertigen Videos als Lesen aufgefasst wird. Auch wenn die Idee
des Computers als Universalmedium weitgehend akzeptiert ist, garantiert das
keineswegs, dass der Computer auch weiterhin überwiegend als ein Schrift-
system verstanden wird.
Einige Universalisten meinen, dass das besondere Vermögen des Compu-
ters eher in der Reproduktion als in der Repräsentation der Welt besteht. Ihnen
zufolge findet die digitale Technik ihren vollkommensten Ausdruck in der
virtuellen Realität. Bereits in den Achtzigern hat Jaron Lanier, dessen Firma
virtuelle Realität populär gemacht hat, von seiner Vision eines „Zeitalters der
post-symbolischen Kommunikation" gesprochen. In Laniers Entwurf kommu-
nizieren Menschen in einer gemeinsamen virtuellen Realität, ohne auf arbi-
träre Symbole angewiesen zu sein, weil sie ausschließlich ostensive Definitio-
nen verwenden. Sie müssten ihre Ideen nicht länger repräsentieren, sondern
könnten sie einander innerhalb der Grenzen der virtuellen Welt zeigen. Auch
wenn man zugibt, dass Laniers Vision eine frühe und extreme Haltung dar-
stellte, lebt die Idee von der virtuellen Realität als einer totalen und nahtlosen
Wahmehmungsumgebung in den populären Vorstellungen als Utopie und
Dystopie fort. Die utopische Variante ist das Holodeck aus der Serie „Star
Trek", das Benutzem ermöglicht, sich zu Unterhaltungszwecken an jeden be-
liebigen Ort der Vergangenheit zu versetzen, sei er fiktional oder real. Die
dystopische Sicht findet sich in der Welt von „Matrix" wieder, in der die ge-
samte menschliche Bevölkemng ihr ganzes Leben in einer virtuellen Realität
verbringt, während sie unter der Kontrolle intelligenter Maschinen steht.
Die Kode-These
Schichten von Hardware und Software vermittelt. Der Benutzer sieht auf dem
Bildschirm Pixel, die von einer Software bereitgestellt werden, die darüber
entscheidet, was der Benutzer sieht. Der Kode ist wesentlich, während Ton
und Bilder, von denen abhängt, wie der Benutzer das Programm erlebt, sekun-
där sind. Von diesem Standpunkt aus begründet der Computer eine radikal
neue Technik des Schreibens: Programmieren ist das wahre digitale Schrei-
ben. Die Merkmale der digitalen Schrift leiten sich von der Fähigkeit des
Computers ab, den Kode in einer Weise auszuführen, die dynamisch und un-
abhängig vom menschlichen Autor des Kodes ist. Der Computer kann sogar
seinen eigenen Kode schreiben. Für die Anhänger der Kode-These sind es
diese Fähigkeiten, die den Computer zu einem einzigartig potenten Schreib-
system werden lassen. Anhänger der Kode-These neigen dazu, den Begriff der
Simulation zu verallgemeinem. Die Fähigkeit des Computers, zu simulieren,
etwas entsprechend den vorgefassten Regeln eines Modells selbständig auszu-
führen, wird als Kern dieses Schriftparadigmas erkannt.
Die vorgebliche Autonomie des Computerkodes hat einige dazu gebracht,
die Vorstellung von Autorschaft neu zu definieren. Janet Murray behauptet
zum Beispiel, dass der Computer eine neue Art von „prozeduraler" Autor-
schaft darstellt.- Der menschliche Autor/Programmierer schreibt einen Kode,
der die Konturen und die Grenzen des Systems definiert, und es ist der Com-
puter, der diese Konturen dann entsprechend den spezifischen Eingaben und
Reaktionen des Benutzers/Lesers ausfüllt. Das System kann so komplex wer-
den, dass der Autor/Programmierer nicht länger das Verhalten in allen Situa-
tionen vorhersagen kann. Die Urheberschaft teilen sich dann der menschliche
Autor, der Computerkode und der Benutzer/Leser. In der radikalsten Version
der Kode-These droht der Text als Kode selbsttätig zu werden, sich vom Autor
abzulösen und in solipsistischer Manier die Rollen von Autor, Text und Be-
nutzer/Leser zu übernehmen. Computerspiele sind der populärste kulturelle
Ausdmck dieses Paradigmas der prozeduralen Autorschaft und einige dieser
Spiele sind innerhalb ihres winzigen Universums eigenbestimmt tätig. Es gibt
zum Beispiel American-Football oder Baseball-Spiele, die so eingestellt wer-
den können, dass sie die Spielergebnisse aller Mannschaften für eine ganze
Saison durchspielen bzw. simulieren - und das ohne jede Beteiligung des
menschlichen Spielers.
Einige Theoretiker und Praktiker der neuen Medien glauben, dass die
gegenwärtige Generation von Computerspielen den ersten Schritt in Richtung
interaktiver narrativer Welten darstellt. In zukünftigen Spielwelten wird es den
menschlichen Spielern möglich sein, mit autonomen Charakteren zu interagie-
ren und an einer Geschichte mitzuwirken, die einen unwiderstehlichen Span-
nungsbogen besitzt. Computerwissenschaftler und Entwickler neuer Medien
arbeiten daran, „Erzählmaschinen" und intelligente Agenten zu konstmieren,
5 Murray, Janet H.. Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace, New
York, 1997.
DIGITALE SCHRIFT 463
Elektronische Präsenz
Für Vertreter der Kode-These besteht das Wesen der Computerschrift in der
algorithmischen Repräsentation. Die Darstellung, die der Benutzer sieht, wird
durch den zugmnde liegenden Kode getragen und letztlich auch gerechtfertigt.
Der Kode selbst ist eine Form von Schrift, deren Bedeutung per Definition
transparent ist, da Programmiersprachen nicht im Geringsten zweideutig sein
dürfen, wenn sie ausführbar sein sollen. Zumindest für die Anhänger dieser
These halten Transparenz und Präsenz dank der Elektronik wieder Einzug in
die Schrift, Jahrzehnte nachdem die Poststrukturalisten meinten, den Logo-
zentrismus in der Schrift dekonstruiert zu haben. Der Glaube an das ultimative
Ziel einer transparenten Repräsentation taucht an überraschenden Stellen wie-
der auf. Unter Forschen und Entwicklern interaktiver Erzählungen stellt zum
Beispiel die Idee einer autonomen Spielwelt wirklich einen Wunsch nach
einer bestimmten Form von Präsenz dar. Innerhalb dieser Welt wäre jedes Er-
6 Vgl. Dourish, Paul, Where the Action Is: The Foundations of Embodied Interaction, Cam-
bridge/Mass., 2001.
7 Bolter. Jay David, Diane Gromala, Windows and Minors: Interaction Design, Digital Art,
and the Myth ofTransparency, Cambridge/Mass., 2003.
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eignis und das Verhalten jeder Person durch den zugmnde liegenden Kode er-
klärt und verifiziert.
Tatsächlich steckt in dem, was Castells als Netzwerkgesellschaft8 be-
schreibt, ein starker Glaube an Transparenz. Das Internet und das World Wide
Web sollen nach dem Prinzip des freien Informationsflusses funktionieren,
auch wenn dieser Fluss in Wirklichkeit durch Technik und auch durch Ideolo-
gie gebremst werden kann. So versuchen zum Beispiel Regierungen die Ver-
breitung von Informationen zu behindern, die ihre ideologische Macht über
die Bürger bedrohen, und Unternehmen bemühen sich, Informationen zurück-
zuhalten, die eine Gefahr für ihre Bilanzen bedeuten, falls sie an die Öffent-
lichkeit geraten. Obwohl Castells diese Hemmnisse anerkennt, bewirkt der In-
formationsfluss durch das globale Netzwerk seiner Meinung nach eine soziale
und ökonomische Revolution. Das Problem besteht nicht in der Lesbarkeit der
Informationen selbst, sondern in ihrem Missbrauch.
Dieser Begriff von Transparenz ist von digitalen Künstlern in Frage gestellt
worden. Zu diesem Zweck haben sie digitale Arbeiten geschaffen, die nicht als
transparente Darstellungen einer tiefer liegenden Realität gelesen werden kön-
nen. Diese Werke sind oft hybrid, Kombinationen von verschiedenen Daten-
typen und Datenquellen: zum Beispiel Suchmaschinen für das Web, die
Bruchstücke von Seiten wieder auffinden und zustellen, oder Seiten, die der
Benutzer scheinbar nicht gesucht hat. Viele digitale Installationen stellen
Videokameras auf den Benutzer ein und inkorporieren das Bild des Betrach-
ters selbst in das Werk. Solche Arbeiten funktionieren als Spiegel, manchmal
ebenso wörtlich wie metaphorisch, um in Zweifel zu ziehen, dass digitale
Technik ein transparentes Fenster zur Datenwelt sein kann. Sie bieten stattdes-
sen eine Erfahrung an, die reflexiv und selbstbezüglich ist, die den Betrachter
selbst in das Werk einschreibt und ihn dazu zwingt, über die Bedingungen
nachzudenken, unter denen das Werk bedeutungsvoll ist.** In vielen Fällen stel-
len diese digitalen Künstler an das neue Medium Fragen, die Avantgarde-
Künstler bereits seit Jahrzehnten in anderen medialen Formen gestellt haben.
Ihre Arbeiten ermöglichen dem Benutzer eine Unmittelbarkeit der Erfahrung,
aber keine Transparenz der Darstellung.
Die Szene der digitalen Kunst ist verhältnismäßig klein, wenn man sie mit
den Millionen und Abermillionen von Endnutzem vergleicht, die digitale Me-
dientechnik verwenden. Doch die Techniken, die diese Szene verwendet, um
ihre hybriden Arbeiten zu erstellen - Techniken wie die Digitalisierang von
Video, Ton und digitalen Bildern und deren jeweilige Bearbeitung - werden
tatsächlich häufig auch von den Konsumenten gebraucht, um ihre eigenen
Musikbibliotheken, Photoalben oder Homevideos zu erstellen. Obwohl die
Mehrzahl der Konsumenten in der digitalen Kultur die Vorstellung von Trans-
parenz zu akzeptieren scheint, die in dem Ausdmck vom „freien Informations-
fluss" enthalten ist, sind es gerade diese Nutzer, die in ihren Heimcomputem
den Informationsfluss unablässig verkomplizieren. Sie praktizieren eine Art
von elektronischer Einschreibung, die hybrid und reflexiv ist und doch führt
diese Praxis nicht notwendigerweise dazu, ihre Überzeugung zu erschüttern,
dass das digitale Netzwerk als ein transparenter Kommunikationskanal arbei-
ten kann.
immateriell materiell
universal partikular / konkret
prozedural erfahrungsvermittelt
transparent selbst-reflexiv
Diese beiden Spalten teilen die komplexe Welt der Theorien über digitale Me-
dien und Praktiken nicht in zwei säuberlich getrennte Lager. Viele Medien-
theoretiker vertreten Ansichten, die Elemente aus beiden Spalten kombinieren.
Es ist nichtsdestotrotz verlockend, die linke Spalte als modern und die rechte
als postmodem zu kennzeichnen.
Essentialismus und sogar ein technologischer Determinismus sind in unse-
ren Reaktionen auf die digitale Technik noch immer stark vertreten. Viele be-
haupten, dass der Computer als ein Medium über einige wesentliche Eigen-
schaften verfügt, die festlegen, wie die passende Darstellungspraxis auszuse-
hen hat. Doch während der Essentialismus in der Rhetorik über die neuen Me-
dien vorherrschend ist, legen die Praktiken der professionellen Entwickler und
sogar der Kreis der allgemeinen Benutzer gerade das Gegenteil nahe: dass die
digitale Technologie unterbestimmt und formbar ist, offen für eine Vielzahl
unterschiedlicher und unvorhersehbarer Verwendungen. Obwohl von vielen
Lippenbekenntnisse für Reinheit und Einfachheit gegeben werden, überwiegt
in der Praxis doch ein Geist der Bricolage und der Bereitschaft, hybride For-
men zu schaffen.
Vermutlich wird man nicht alle diese Formen als Schrift auffassen. Wir ha-
ben zu Beginn bemerkt, dass im Ausgang des Buchdrackzeitalters eine erwei-
terte Definition von Schrift nötig zu werden schien. Aber vielleicht weitet die
Vielzahl an digitalen Formen und hybriden Kombinationen die Definition von
Schrift bis an ihren Bmchpunkt aus. In diesem Fall werden sich die verschie-
denen Gruppen von Beteiligten - traditionelle Schriftsteller, Computerwissen-
schaftler, Theoretiker und Entwickler neuer Medien, allgemeine Benutzer -
vielleicht nie darüber einigen können, was Schrift im digitalen Zeitalter aus-
macht. Das eine überdauernde Merkmal des digitalen Mediums könnte seine
kulturelle Ambivalenz sein.
(Übersetzt von Anne Enderwitz und Jan Wöpking)
Literatur
Bolter, Jay David, Writing Space: Computer. Hypertext, and the Remediation ofPrint,
Mahwah/New Jersey, 2001.
Bolter, Jay David, Diane Gromala, Windows and Mirrors: Interaction Design. Digital
Art. and the Myth ofTransparency, Cambridge/Mass., 2003.
Castells, Manuel, 77;e Rise ofthe Network Society, Oxford, 2000.
Dourish, Paul, Where the Action Is: The Foundations of Embodied Interaction, Cam-
bridge/Mass., 2001.
DIGITALE SCHRIFT 467