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Karl Rahner / Schriften zur Theologie

Band XVI
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ER KARL RAHNER
-R23
N f7

SCHRIFTEN
ZUR THEOLOGIE
BAND XVI

HUMANE GESELLSCHAFT
UND KIRCHE VON MORGEN

BEARBEITET VON PAUL IMHOF S]

BENZIGER VERLAG ZÜRICH EINSIEDELN KÖLN


!

Mit kirchlicher Druckerlaubnis


IMPRIMI POTEST
Monachii, die 15 octobris 1983
Prof. Dr. P.Hans Zwiefelhofer S]J
Vic. Praep. Prov. Germ. Sup. S]J

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek


Rahner, Karl:
Schriften zur Theologie / Karl Rahner.
— Zürich; Einsiedeln; Köln: Benziger

NE: Rahner, Karl: [Sammlung]

Bd. 16. Humane Gesellschaft und Kirche von morgen,


bearb. von Paul Imhof. — 1984
ISBN 3 545 22100 8

NE: Imhof, Paul [Bearb.]

Theology |_ibrary
SCHOOL OF TFZOLOGY
AT GLAREMONT
California

Alle Rechte vorbehalten


© Copyright 1984 by Benziger Verlag
Zürich Einsiedeln Köln
Hergestellt im Graphischen Betrieb Benziger Einsiedeln
ISBN 3 545 22100 8
INHALT

Vorwott .

MENSCHLICHE GESELLSCHAFT

Vom irrenden Gewissen . : LT


Dialog und Toleranz als Grande eineren
Gesellschaft. 26
Utopie und Realität. ö 42
Die theologische Dimension de BER ; 37,
Die Frage nach der Zukunft Europas 63

ÖKUMENE

Realistische Möglichkeit der Glaubenseinigung? 93


Konkrete offizielle Schritte auf eine Einigung hin? 110
Ökumenisches Miteinander heute 115

ZUKUNFT DER KIRCHE

Vergessene Anstöße dogmatischer Art des


II. Vatikanischen Konzils. 131
Perspektiven der Pastoral in der Zahl 143
Über die Zukunft der Gemeinden . F 160
Ritenstreit — Neue Aufgaben für die Kirche . 178
Zum Verhältnis von Theologie und Volksreligion 185
Südamerikanische Basisgemeinden in einer europäischen
Kirche? 196
Christlicher Dmmust 206
LEHRE UND LEHRAMT

Offizielle Glaubenslehre der Kirche und faktische


Gläubigkeit des Volkes 287,
Die Theologie und das Römische ee 231
Die unvergängliche Aktualität des Papsttums. 249
Zur Frage des Amtsverständnisses . 278
Buch Gottes — Buch der Menschen 278

FRÖMMIGKEIT

Dimensionen des Martyriums . 295


Eucharistische Anbetung. 300
Herz-Jesu-Verehrung heute 305
Mut zur Marienverehrung ur 321
Zum Verständnis des Wen nscheteee : 336
Zur Theologie der religiösen Bedeutung des Bildes 348
Die Kunst im Horizont von Theologie und
Frömmigkeit 364
Wider den Hexenwahn 373

SAKRAMENTE

Glaube und Sakrament h 387


Fragen der Sakramententheologie 398
Taufe und Tauferneuerung . 406
Zur Situation des Bußsakramentes . 418

Quellennachweis . 438
Namensverzeichnis . 442
Sachregister . 444
VORWORT

Zu diesem 16. Band meiner «Schriften zur Theologie» ist im


Vorwort eigentlich nur das zu sagen, was im Vorwort der
bisherigen Bände stand: Es sind gesammelte Einzelaufsätze
über Fragen, die mir meist von außen gestellt wurden. Die
Behandlung solcher Einzelfragen in der Theologie treibt an
sich sehr rasch in die letzten Fragen der Theologie hinein; wenn
diese dann nicht auch wirklich mitbedacht werden können, ist
ein gewisses Ungenügen bei solchen kleinen Aufsätzen wohl
nicht ganz zu vermeiden. Wenn diese Einzelfragen von außen
herangetragen werden, ist in einem solchen Buch keine wirk-
liche Einheit und Systematik zu erwarten. Dieser Band er-
scheint zur Zeit meines 80. Geburtstages. So drängt sich wieder
die Frage vor, die schon im Vorwort des 14. Bandes berührt
wurde, die Frage, ob dieser Band der letzte sein wird.
Heinrich Fries und ich haben ein kleines Buch über die reale
Möglichkeit einer Einigung der christlichen Kirchen verfaßt
und herausgegeben. Joseph Kardinal Ratzinger qualifiziert,
was wir beide geschrieben haben, als «eine Kunstfigur theolo-
gischer Akrobatik, die leider der Realität nicht standhält», als
Überspringen der Wahrheitsfrage «durch ein paar kirchen-
politische Operationen». Ich hoffe, der Leser der Aufsätze
dieses Bandes komme zu einem gnädigeren Urteil.
Die Bearbeitung und Drucklegung dieses 16. Bandes der
«Schriften zur Theologie»: «Humane Gesellschaft und Kirche
von morgen», hat — wie schon bei den letzten drei Bänden —
mein Mitbruder P. Paul Imhof S] besorgt. Dafür danke ich ihm
wieder herzlich. Beim Fahnenlesen bzw. bei der Registererstel-
lung haben dankenswerterweise Elisabeth Meuser, Rosmarie
und Roswitha Imhof geholfen.

Innsbruck, im Dezember 1983 Karl Rahner


MENSCHLICHE GESELLSCHAFT
VOM GEWISSEN

Gedanken über Freiheit und Würde menschlicher Entscheidung

Trotz vieler notwendiger Einschränkungen ist die Theologie


davon überzeugt, daß sie das letztlich Entscheidende über das
Gewissen auszusagen hat. Dabei weiß sie, daß ihre theologi-
schen Aussagen als solche die gemeinte Wirklichkeit gewisser-
maßen in das Geheimnis hineinleiten, das wir Gott nennen,
womit ihre Aussagen unweigerlich die der religiösen Sprache
wesenhaft zugehörige Indirektheit und Dunkelheit bekommen.

Die Fülle der möglichen und notwendigen Fragestellungen

Um zur Sache zu kommen: Ich kann hier nicht sprechen zu den


Aussagen des Alten Testamentes über das Gewissen unter dem
Stichwort «Herz»; über die theonome Eigenart des Gewissens
schon im Alten Testament; über die Gewissenslehre Jesu, die
auch noch mit dem Begriff des Herzens arbeitet; über die
Einführung des aus der stoischen Popularphilosophie stam-
menden und in der Umgangssprache im ersten Jahrhundert vor
Christus schon eingebürgerten Fachausdrucks für «Gewissen»
(Syneidesis) in das christliche Schrifttum der Paulusbriefe; über
die Umprägung dieses Begriffes durch das frühe Christentum;
über die Lehre vom Gewissen bei den Kirchenvätern (z.B. bei
Tertullian, Origenes, Chrysostomos und besonders bei Augu-
stinus); über die mittelalterliche Theologie vom Gewissen, die
besonders seit dem 12. Jahrhundert in Aufnahme eines Textes
aus Hieronymus von der Synteresis und Conscientia handelte;
über die schon bei Thomas erreichte Erkenntnis der mittelalter-
lichen Theologie, daß auch ein unüberwindlich irriges Gewis-
sen seine Normgültigkeit behalte! ;über die Verteidigung einer

1 S.Th. 1,2 q.19a.5; De ver. q.1ı7a. 4ad2. Vgl. Rudolf Hofmann, Die
Gewissenslehre des Walter von Brügge O.F.M. und die Entwicklung der
Gewissenslehre in der Hochscholastik (Beiträge zur Geschichte der Philosophie
und Theologie des Mittelalters, XXX VI/s-6), Münster 1941, bes. 145-204.

II
Gottbezogenheit des Gewissens gegenüber einem säkularisier-
ten Gewissensbegriff und seiner Tendenz zur Aufstellung einer
sittlichen Autonomie im Gegensatz zur Theonomie des Gewis-
sens; über die Weiterentwicklung des Gewissensbegriffes in
der christlichen Theologie durch neugewonnene Einsichten der
modernen Psychologie und Tiefenpsychologie, Soziologie und
Ethnologie bis hin zu der Anerkennung der Gewissens- und
Religionsfreiheit, wie sie in der katholischen Kirche durch das
II. Vatikanum erreicht wurde. Von alldem also kann ich hier
nicht reden — ohne dadurch zu unterstellen, alle diese Themen
seien für die Theologie vom Gewissen unerheblich.
Ebenso kann vieles hier nicht thematisiert werden, was der
Theologe an sich über die außertheologischen Lehren über das
Gewissen sagen müßte. Es kann hier also z.B. nicht davon
geredet werden, daß das Gewissen nicht durch die Annahme
eingebotener sittlicher Ideen erklärt werden kann. Es kann
.keine ausdrückliche Stellungnahme zu Kants Beschreibung des
Gewissens als eines transzendentalen Vermögens vorgetragen
werden. Wir können nicht ausdrücklich von der Bildung des
Über-Ichs gemäß der Psychologie Freuds sprechen. Es darf
keine ausdrückliche Stellungnahme zu den Überlegungen der
modernen Existentialphilosophie, der Verhaltensforschung,
der Ethnologie, eines biologischen Evolutionismus usw. er-
wartet werden. Es ist aber selbstverständlich, daß die
Theologie sich all den durch die heutigen anthropologischen
Wissenschaften gewonnenen Einsichten nicht verschließt, die
für ein volles Verständnis des mit «Gewissen» Gemeinten
wichtig sind. Natürlich gibt es eine Entwicklung des Gewis-
sens; natürlich ist es mitbedingt durch biologisch vorgegebene
Verhaltungsweisen, für die der Verhaltensforscher Analogien
im Tierreich nachweist; natürlich gibt es eine frühkindliche
Entwicklung des Gewissens mit all den Bedingtheiten und
Vorgegebenheiten einer solchen Entwicklung; natürlich ist die
konkrete Gestaltung des Gewissens durch einzelne Gebote und
Verbote, die sie zum Teil selbst aufstellt, biologisch, gesell-
schaftlich und kulturell mitbedingt; natürlich ist eine reflexe
und verbalisierte Erkenntnis des theonomen Charakters des

rar,
Gewissens innerhalb der Geschichte der prähistorischen
Menschheit, der Kulturen und Zivilisationen und auch der
Individualgeschichte nicht deutlich greifbar; und diese Er-
kenntnis kann auch in der heutigen geistigen Situation nicht
jedermann leicht und schnell nahegebracht werden. Aber, wie
gesagt, von alldem kann und soll hier nicht ausdrücklich
geredet werden, weil wir sonst letztlich das, worum es dem
Theologen bei diesem Thema geht, nicht genügend ausführlich
und deutlich aussprechen können. Ich meine den Bezug des
Gewissens auf Gott.

Ansatz beim irrigen Gewissen

Der Weg einer transzendentalen Reflexion auf das Wesen des


Gewissens als die Unbedingtheit, mit der der Geist seine
Freiheit annimmt, soll diesmal nicht gegangen werden. Ich
erlaube mir, an einer ganz anderen Erwägung anzusetzen, auch
wenn diese zunächst sehr sekundär zu sein scheint. Ich versuche
nachzudenken über die absolute Verbindlichkeit des sogenann-
ten irrigen Gewissens.

Die absolute Verbindlichkeit des Gewissensurteils

Es wird sich bald zeigen, daß man sich terminologisch inadä-


quat und mißverständlich ausdrückt, wenn man von einem
irrigen Gewissen spricht. Aber das ist zunächst nicht so
wichtig.
Eine auch noch so radikal «objektive» Ethik kann real nie
am subjektiven Bewußtsein des Menschen vorbeikommen
wollen; denn die objektiven Normen des Sittlichen und die
objektive Bezogenheit der Freiheit auf Gott, die den sittlichen
Einzelnormen erst ihre letzte Absolutheit verleiht, werden nur
durch die Vermittlung des personalen Gewissensurteils
präsent; mit anderen Worten: Die auch noch so objektiv ge-
dachten und behaupteten Normen des Sittlichen müssen die
se)
Freiheit des Menschen anrufen, um für die Freiheit real
gegeben zu sein und wirksam werden zu können. Sittliche
Normen und Imperative können immer nur als erkannte und
erfaßte wirklich werden; und darum ist ein solches subjektives
Urteil eine letzte Instanz, hinter die £onkret nicht zurückgegan-
gen werden kann. Objektive Normen müssen gerade auch in
ihrer absoluten Verbindlichkeit erfaßt werden, und darum ist
das Gewissensurteil für die Entscheidungen der Freiheit des
Menschen absolut bindend.
Damit ist natürlich keine subjektivistische Willkür des Men-
schen legitimiert. Denn der Mensch hat die Pflicht, nach
Kräften seine Erkenntnis nach der objektiven, ihm vorgegebe-
nen Wirklichkeit auszurichten und sich von ihr normieren zu
lassen; und grundsätzlich erkennt jeder Mensch, der seine
Vernunft zu gebrauchen imstande ist, auch diese Verpflich-
tung, weil er ja gar nicht vermeiden kann, seine Erkenntnis
nach der vorgegebenen, sich ihm aufdrängenden Wirklichkeit
auszurichten. Und so weiß der Mensch mindestens unreflex,
aber wirklich, daß er vor seinen Entscheidungen sich infor-
mieren, sich an der Wirklichkeit des objektiv Sittlichen orien-
tieren muß, daß er nicht einfach willkürlich handeln und sich
selber die Gesetze seines Handelns machen kann, daß er nach
Kräften, nach bestem Wissen mit allen ihm möglichen Anstren-
gungen dem objektiv Sittlichen seinen Gehorsam schuldig ist.
Damit ist klar, daß nicht jedwede Meinung, jedweder Ge-
schmack, jedwedes willkürliche Vorurteil, das ein Mensch hat,
die Würde und das Prädikat eines Gewissensurteils für sich in
Anspruch nehmen kann. Aber dennoch bleibt es wahr: Wenn
ein Mensch in einer bestimmten Situation handeln und sich
entscheiden muß und er im Rahmen der ihm zu Gebote stehen-
den Möglichkeiten die eine Entscheidung gegen die andere,
auch mögliche, nach bestem Wissen und Gewissen (wie wir ja
sagen) als die sein-sollende beurteilt, dann ist dieses Urteil für
ihn absolut bindend, ist ein Gewissensurteil von absoluter
Verpflichtung.
Wir brauchen, nebenbei bemerkt, an diesem Punkt die Frage
nicht ausführlich zu behandeln, was ein Mensch tun muß und

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‚als seine Verpflichtung anzuerkennen hat, wenn er in einer
Entscheidungssituation meint, zu keiner genügenden Einsicht
kommen zu können, welche der beiden angebotenen Ent-
scheidungsmöglichkeiten die richtige sei. Wenn in einer
solchen Situation der Perplexität, des Versagens der sachgebun-
denen Entscheidungsgründe, entschieden werden muß und
eine größere Klarheit sachlicher Art nicht erzielt werden kann,
dann ist zu sagen und auch einsichtig zu machen, daß in einem
solchen Fall die eine und die andere der beiden Möglichkeiten
sittlich gerechtfertigt ist.
Wir gehen im weiteren also davon aus, daß das Urteil in einer
Entscheidungssituation ein Gewissensurteil ist, wenn es dem
urteilenden Subjekt eine absolute Verbindlichkeit auferlegt.

Das irrende Gewissen

Bevor wir ausdrücklicher und genauer fragen, welche Implika-


tionen ein solches Urteil mit sich bringt, das dem Subjekt und
seiner Freiheit eine absolute Verantwortung auferlegt, die auf
niemanden und auf nichts anderes abgewälzt werden kann, ist
nun zu bedenken, daß auch ein solches Gewissensurteil in
einem noch genauer zu bestimmenden Sinn irrig sein kann. Die
Möglichkeit eines irrigen und dennoch bindenden Gewissens-
urteils ist in der christlichen Moraltheologie mindestens bei
Thomas von Aquin anerkannt und hat seine radikalen Konse-
quenzen in den Texten des II. Vatikanums über Gewissens-
freiheit und Religionsfreiheit erbracht. Dieser Erkenntnis-
prozeß der Kirche dauerte lange, weil der Satz von der Mög-
lichkeit eines irrigen Gewissensentscheides nicht so selbstver-
ständlich ist, wie wir es heute vielleicht empfinden, und weil
heute fast jeder geneigt ist, sogar seine beliebige Meinung, die
er gar nicht radikal verantworten will, als Gewissensurteil
auszugeben. Aber die christliche Moraltheologie anerkennt:
Das Urteil eines Menschen über seine konkrete sittliche
Haltung kann irrig und dennoch ein wirkliches, radikales Ge-
wissensurteil sein, das ihn absolut verpflichtet in einer für ihn

15
nicht abwälzbaren Verantwortung, in der das letzte Wesen
radikaler Freiheitsentscheidung realisiert wird. Das ist alles
andere als eine billige Selbstverständlichkeit. Die bloße Tatsa-
che, daß das sittliche Urteil eines Menschen irrig sein, der
objektiven Wertordnung und auch einem wirklichen Selbstver-
ständnis des Subjektes in Wahrheit widersprechen kann, daß
ein Mensch die sachliche Ordnung der Werte — seine Verpflich-
tung gegenüber den anderen und seine wahre Selbstinterpreta-
tion — verfehlen kann, ist natürlich an und für sich eine Selbst-
verständlichkeit, die der öffentliche Alltag und auch die in-
dividuelle Erfahrung immer wieder bezeugen. Wir irren oft,
und zwar eben auch in der Dimension der sittlichen Werte.
Aber daß ein solches irriges Urteil dennoch — wenn natürlich
auch längst nicht immer, so doch in vielen Fällen - ein eigentli-
ches Gewissensurteil bedeutet und diesem Irrenden eine ab-
solute Verpflichtung auferlegt, die hier und jetzt (christlich
formuliert) für ihn ein Gebot Gottes bedeutet, dessen Nichtbe-
folgung ihn vor Gottes Gericht verwerflich machen würde, daß
ein Urteil mit einem Inhalt, der sittlich falsch ist, doch einen
kategorischen Imperativ bedeuten kann, dessen Verletzung den
Täter moralisch böse machen würde, das ist doch keine Selbst-
verständlichkeit.
Man könnte auf verschiedene Weise deutlich machen, warum
das keine Selbstverständlichkeit ist. Man könnte darauf hin-
weisen, daß der sittliche Unwert, auf den sich dieses Urteil
bezieht, ja gar keine sittliche Forderung positiver Art an das
Subjekt richten kann und somit ein wirkliches Gewissensurteil
gar nicht möglich ist. Man könnte sagen, daß ein Gewissensur-
teil, das eine Verpflichtung von Gott her beinhaltet, sich doch
nicht als verpflichtend auf etwas beziehen kann, das Gott
objektiv ablehnt und uns zu verwerfen gebietet. Man könnte
sagen, daß ein sittlicher Unwert im Unterschied zu einem
sittlichen Wert von absoluter Majestät gar nicht jene Ent-
schiedenheit und Unbedingtheit hervorrufen könne, die zu den
Wesenseigentümlichkeiten eines Gewissensurteils gehören.
Und dennoch halten die christliche Moraltheologie und auch
die menschliche und christliche Lebensüberzeugung daran fest,
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daß es solche irrigen Gewissensurteile gibt, obwohl Irrtum und
absolute Verpflichtung schlechthin widersprüchliche Begriffe
zu sein scheinen, die in derselben Wirklichkeit nicht gleich-
zeitig gegeben sein können. «Nicht selten geschieht es, daß das
Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne daß es
dadurch seine Würde verliert», sagt das II. Vatikanum
(Gaudium es spes 16). Wieso aber verliert es seine Würde nicht,
wenn es irrt?

Die Würde des Gewissensurteils

Diese Frage kann doch offenbar nur eine verstehbare Antwort


erhalten, man man sieht, daß der Mensch auch bei einem irrigen
Gewissensurteil immer noch eine Wirklichkeit vollzieht und
erreicht, die die positive Würde und den Verpflichtungscharak-
ter des Gewissensurteils begründet; die Würde und der Ver-
pflichtungscharakter des Gewissensurteils können damit primär
und fundamental gar nicht im kategorialen Einzelgegenstand
(einem bestimmten sittlichen Wert oder Unwert, in der gegebe-
nen oder nicht gegebenen Gültigkeit der konkreten Sache, um
die es sich handelt) liegen, sondern müssen anderswoher
kommen, damit die Begründung der verpflichtenden Würde
eines Gewissensurteils auch noch in einem irrigen Gewissensur-
teil gegeben und erreicht wird. Wieso aber ist dies möglich? Die
Beantwortung dieser Frage führt zurück zur Frage nach dem
eigentlichen Wesen und der Struktur eines Gewissensurteils.
Die absolute Würde und Verpflichtung, die in einem Gewis-
sensurteil angesprochen und angenommen wird, kommt nicht
eigentlich und allein aus der kategorialen Einzelheit des kon-
kreten Wertes als solchen, um den es sich bei einer sittlichen
Entscheidung handelt. Warum sollte ein einzelnes Menschen-
leben, das doch vergänglich ist, als solches für sich einen
absoluten Anspruch auf Respektierung erheben können? Wie
könnte ein einzelner aus seiner kontingenten, recht be-
deutungslosen Wirklichkeit heraus den Anspruch auf absolute
Respektierung seiner Person in Treue und Liebe erheben und
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begründen können? Wie könnten von sich allein her zwei
Personen den Anspruch auf Ehrlichkeit ohne Lüge in ihrer
gegenseitigen Beziehung begründen?
Es gibt gewiß sehr viele Zusammenhänge zwischen den
sachhaften und personalen Wirklichkeiten, aus denen folgt, daß
man sie respektieren müsse, wenn man diese oder jene Wirklich-
keit gelten lassen und erreichen wolle. Wenn man ein friedliches
Zusammenleben mehrerer haben will, müssen natürlich (das ist
einsichtig) gewisse Spielregeln des Verhaltens miteinander ein-
' gehalten werden. Aber solche Einsichten und Forderungen
bleiben hypothetisch. Sie basieren immer auf einer Voraus-
setzung folgender Art: Wenn du deiner Leber nicht schaden
willst, darfst du bei deinem täglichen Trinken ein bestimmtes
Quantum an Alkohol nicht überschreiten. Aber muß ich wollen
(soweit es von mir abhängt), daß die Leber gesund bleibt? Sind
Gesundheit, Friede, eine ganz bestimmte Weise des Glücklich-
seins usw. Werte und Wirklichkeiten, die unbedingt als gültig
anerkannt werden müssen? Es bleibt dabei: Die Welt
kategorialer Einzelwirklichkeiten und Einzelwerte, die auch in
einem Gewissensurteil angezielt werden und darin als absolut
verpflichtend und sein-sollend beurteilt werden, können von
sich selber allein her keine Absolutheit begründen. Wenn es
solche Gewissensurteile dennoch gibt, dann müssen sie die
Eigentümlichkeit absoluter Verpflichtung anderswoher be-
ziehen.
Gibt es eine solche ursprünglichere und allgemeinere Ver-
pflichtungsquelle wirklich, die den kategorialen sittlich bedeut-
samen Einzelwirklichkeiten vorausliegt, dann (das sei gleich
hier gesagt) kann diese Quelle der eigentlichen Würde und
Absolutheit des Sittlichen auch noch in einem irrigen Gewis-
sensurteil anwesend und angezielt sein, weil sich ja der Irrtum
auf die aposteriorischen, kategorialen Einzelwirklichkeiten und
nicht auf diese ihnen vorausliegende eigentliche Begründung
der Absolutheit des Gewissensurteils bezieht. Mit anderen
Worten: Im sachlich richtigen und im irrigen Gewissensurteil
ist trotz der Widersprüchlichkeit der Urteile, soweit sie sich auf
die sittliche Einzelwirklichkeit beziehen, ein und dieselbe ur-

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tümliche sittliche Urwirklichkeit gegeben und bejaht. Das
irrige Gewissensurteil ist nur in bezug auf diese Einzelgegen-
ständlichkeit irrig und nicht in bezug auf die Wirklichkeit, die
dem Gewissensurteil seine absolute Würde und Verbindlichkeit
verleiht. Der Begriff «irriges Gewissen» ist also eine Bezeich-
nung, die der gemeinten Sache inadäquat ist. Es gibt gar keine
schlechthin irrigen Gewissensurteile. Wo und wenn ein solches
; Urteil schlechthin irrig wäre, wäre es gar kein Gewissensurteil,
weil es ja eine absolute Verbindlichkeit gar nicht meinen und
bejahen würde.

Der transzendentale Grund des absoluten Geltens

Aber worin besteht nun die fundamentale Begründung der


Absolutheit des Sittlichen, die dem sachlichen Anspruch der
Einzelwerte und -wirklichkeiten vorausliegt? Das ist durch das
bisher Gesagte noch nicht klar geworden. Um hier weiter-
zukommen, müssen wir auf das zurückgreifen, was schon kurz
angedeutet wurde, bevor wir uns der Problematik des irrigen
Gewissens zugewendet haben.
In jedem Gewissensurteil — und auch im sogenannt irrigen
— wird der fundamentale und unaufhebbare grundsätzliche
Unterschied zwischen Gut und Böse, Sein-sollend und Nicht-
sein-sollend als für das Subjekt unbedingt zu bejahend ausge-
sagt und angenommen — gleichgültig, ob dieser Unterschied
auch für das konkrete aposteriorische Objekt des Handelns
bejaht wird oder nicht. Daß es diesen Unterschied grundsätz-
lich gibt, wird in jedem Gewissensurteil als unaufhebbar und
verpflichtend bejaht. So wie in jedem Urteil das Widerspruchs-
prinzip so sehr als allgemein gültig und nicht überholbar bejaht
wird, daß selbst seine Leugnung es noch einmal bejaht und so
seine transzendentale Notwendigkeit anerkennt, ebenso imp-
liziert ein Gewissensurteil, das sich auf freies Handeln bezieht,
die transzendentale Notwendigkeit des Unterschiedes zwischen
Gut und Böse. Selbst wenn jemand in einem solchen Urteil

29
explizit sagen würde, dieser grundsätzliche Unterschied sei
relativ und könne auch geleugnet oder vernachlässigt werden,
würde er in einem solchen Urteil noch einmal implizit behaup-
ten, dieses sein Urteil sei gültig und allein die absolut richtige
Handlungsnorm für die Freiheit mit Ausschluß jeder anderen.
Es gibt, mit anderen Worten, eine transzendentale Erfahrung
von Freiheit und Verantwortung, die gerade nicht ein Datum
partikulärer Art innerhalb des Bewußtseins sein kann. Die
empirische psychologische Reflexion kann — abstrakt gespro-
chen — jedes Einzeldatum auf ein anderes zurückführen und
könnte so letztlich gar nicht Freiheit und Verantwortung ent-
decken. Es gibt aber eine transzendentale Erfahrung von Sub-
jekthaftigkeit, von Freiheit und Verantwortung, die auch dann
noch gegeben ist, wo man so etwas bezweifelt und als Einzel-
datum raumzeitlich-kategorialer Erfahrung nicht entdecken
kann. Man kann seiner Freiheit und Verantwortung zu ent-
fliehen suchen, indem man sich als Produkt von Fremden, von
Nicht-Ichs interpretiert. Aber eben diese Selbstinterpretation,
die wir vornehmen, ist die Tat des Subjekts als solchem; und
in diesem Falle lehnt es sich ab oder interpretiert seine Freiheit
als Verdammnis zu leerer Willkür von etwas Fremden oder
erreicht sich in solcher Interpretation gar nicht wirklich.
Gerade dann aber handelt man als freies Subjekt und bestätigt
sich als solches in dem sich weginterpretierenden Nein zu sich
selber; man darf den Inhalt dieser Interpretation, also die
Nicht-Freiheit, nicht verwechseln mit dem Tun des Inter-
pretierens, das Gesetzte nicht mit dem Tun des Setzens. Natür-
lich ist dieses sich so unentrinnbar aufgegebene Sich-selbst-
überantwortet-sein der Person immer durch die Begegnung mit
einem kategorialen Objekt vermittelt; aber mit dieser Vermitt-
lung, die nicht identisch ist mit dem transzendentalen Sich-
selbst-überantwortet-sein, wird Freiheit und eigentliche Ver-
antwortung erfahren. Und darin ist das eigentliche Phänomen
des Gewissens gegeben. Es ist der unbedingte Anruf zu sich
selbst, zu seiner Subjekthaftigkeit und Verantwortung, der
Anruf, dessen Annahme zwar in die Freiheit, aber nicht in die
Beliebigkeit des Menschen gestellt wird: Denn auch wenn
20
dieser Anruf durch die Freiheit abgelehnt wird, ereignet sich
darin die unentrinnbare Gegebenheit dieses Anrufes. Dieses
Gewissensphänomen ist also auch dort gegeben, wo sich der
Mensch bezüglich der sachlichen Gebotenheit oder Nicht-Ge-
botenheit einer kategorialen Gegenständlichkeit irrt; und
darum ist dort, wo ein wirkliches Gewissensurteil vorliegt,
dieses in seinem wahren Wesen als absolute Forderung, Freiheit
und Verantwortung anzunehmen, immer noch Serben) auch
wenn es «irrig» ist.

Das Gewissen als Stimme Gottes

Es müßte weiter entfaltet werden, welche Implikationen in


dieser transzendental unausweichlichen Selbstgegebenheit des
Subjekts für sich selber in Freiheit und Verantwortung enthal-
ten sind. Es müßte gezeigt werden, daß eine solche eigentliche
Subjekthaftigkeit des Menschen nur möglich ist durch die
Transzendentalität des Geistes und der Freiheit, die letztlich
unbegrenzt sind, durch eine Offenheit des Subjekts auf das Sein
überhaupt und im ganzen. Es müßte gezeigt werden, daß ohne
eine solche unbegrenzte Transzendentalität das Subjekt gar
nicht wirklich sich selbst gegeben und in Freiheit aufgegeben
sein kann. Es müßte dann deutlich gemacht werden, daß eine
solche unbegrenzte Transzendentalität das besagt, was wir die
offene Verwiesenheit auf das unendliche und unumfaßbare
Geheimnis, auf Gott nennen können, der gewissermaßen
anonym bejaht wird, wo immer die unbegrenzte Transzenden-
talität und damit Freiheit und Verantwortung angenommen
werden. Von da aus wäre dann der theonome Charakter des
Gewissens verständlich zu machen.
Wenn man das Gewissen als die Stimme Gottes interpretiert,
dann ist das im letzten durchaus richtig. Denn das heißt weder,
daß Gott in einer mirakulösen Weise sich kategorial in unseren
Bewußtseinsablauf einschaltet, noch bedeutet es, daß das im
Gewissensurteil gegebene und es zu sich selber vermittelnde
Urteil über eine kategoriale sittliche Einzelwirklichkeit immer
ur
und notwendig richtig sein müsse. Es bedeutet, daß in jedem
Gewissensurteil — selbst in dem irrigen — eine absolute Ver-
pflichtung und Verantwortung der Freiheit sich ereignen, die
das Subjekt nicht selbstzerstörerisch von sich abwälzen kann;
und damit ist eine Bejahung Gottes implizit immer und not-
wendig gegeben.

Die Freiheit des Gewissens

Mit der Ausdeutung des Gewissens als Verwiesenheit auf Gott


läßt sich der Haupttext des II. Vatikanums über das Gewissen
verstehen, auch wenn dieser selbst in einer unmittelbar religi-
ösen Sprache formuliert ist. Dort heißt es: «Im Innern seines
Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht
selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen Stimme
ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlas-
sung des Bösen anruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens
tönt: Tu dies, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz,
das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehor-
chen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden
wird (vgl. Röm 2, 14-16). Das Gewissen ist die verborgenste
Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit
Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist.
Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz,
das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat
(vgl. Mt 22, 37-40; Gal 5, 14). Durch die Treue zum Gewissen
sind die Christen mit den übrigen Menschen verbunden im
Suchen nach der Wahrheit und zur wahrheitsgemäßen Lösung
all der vielen moralischen Probleme, die im Leben der einzelnen
wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen. Je mehr
also das rechte Gewissen sich durchsetzt, desto mehr lassen die
Personen und Gruppen von der blinden Willkür ab und suchen
sich nach den objektiven Normen der Sittlichkeit zu richten.
Nicht selten jedoch geschieht es, daß das Gewissen aus unüber-
windlicher Unkenntnis irrt, ohne daß es dadurch seine Würde

Pa
\

verliert. Das kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch sich
zu wenig darum bemüht, nach dem Wahren und Guten zu
suchen, und das Gewissen durch Gewöhnung an die Sünden
allmählich fast blind wird.» (Gaudium et spes 16) Es ist wohl
unnötig, diesen Text des Konzils noch eigens ausführlich zu
interpretieren.
Auf einige Dinge aber sei aufmerksam gemacht, die sich aus
diesem Verständnis des Wesens des Gewissens ergeben. Dazu
gehört vor allem das, was man heute die Gewissens- und
Religionsfreiheit nennt. Weil im Gewissen eine letzte Subjekt-
haftigkeit des Menschen gegeben ist, die es verbietet, ihn letzt-
lich rein sachlichen Normen und Bestrebungen untertan zu
machen und zu verplanen, muß das Gewissen von allen gesell-
schaftlichen und kirchlichen Instanzen respektiert werden;
denn diese alle dienen zunächst einmal unmittelbar den sachhaf-
ten Strukturen der Wirklichkeit. Gewissens- und Religions-
freiheit darf dabei nicht die Gewissensfreiheit bei anderen ver-
letzten; das wäre — wie man zu formulieren pflegt — eine
Verletzung des Gemeinwohls. Damit sind natürlich weitere
Fragen, wie die von Konfliktfällen zwischen der Freiheit des
Gewissens und dem Gemeinwohl, also letztlich der Freiheit
anderer, gegeben, Probleme, die hier nicht mehr kasuistisch
behandelt werden können. Daß in dieser Beziehung Theorie
und Praxis der Kirche Entwicklungen und Wandlungen durch-
gemacht haben, ist eigentlich nicht verwunderlich.
Die Gesellschaft und auch die Kirche haben weiterhin durch-
aus das Recht und die Pflicht, die einzelnen Gewissen über die
objektiven Sittennormen zu belehren und zu ihrer Beobach-
tung aufzufordern, also über die sachliche Richtigkeit der
kategorialen Vermittlung des Gewissens zu sich selbst; das ist
durchaus verträglich mit einer Respektierung der Gewissens-
freiheit. Aber je komplizierter heute die Situation des Men-
schen und seines Handelns individuell und kollektiv wird, um
so schwieriger wird es, für die konkrete Situation eines Men-
schen genau anzugeben, was hier und jetzt objektiv richtig oder
falsch ist. Die Kirche und auch eine profane Gesellschaft (in der
‚ Verteidigung der menschlichen Grundwerte) können zwar

23
nicht darauf verzichten, Normen von objektiver Sittlichkeit
anzubieten und zu verteidigen; aber mindestens die Kirche
sollte heute den Schwerpunkt ihres Bemühens darauf verlegen,
die eigentlich transzendentale Erfahrung auf Gott hin, die
Erfahrung eigentlich theonomer und gerade so wirklich
autonomer Sittlichkeit im Menschen deutlicher werden zu
lassen.
Es ist gut, ja lebensnotwendig, daß die konkreten Verpflich-
tungen des Alltags für ein erträgliches menschliches Zusam-
menleben befolgt und als sittlich gefordert erkannt werden.
Aber wenn dabei nicht die eigentliche Würde des Gewissens,
die unabwälzbare Verantwortung des einzelnen vor Gott, die
Unmittelbarkeit des Subjekts auf Gott hin realisiert würde,
dann wäre alle nützliche und lebensnotwendige objektive Sitt-
lichkeit und ihre Respektierung im Grunde genommen doch
nur eine sublimere Art von Menschen-Dressur, die vor der
letzten Würde des Menschen und vor Gott keine Geltung hätte.
Einmal etwas überspitzt, aber letztlich doch richtig, könnte
man sagen: Ein in der Dimension kategorialer Sittlichkeit
irriges Gewissensurteil ist wichtiger und wunderbarer als ein
objektiv richtiges «Gewissensurteil» (das aber natürlich letzt-
lich gar kein solches wäre), das die transzendentale, auf Gott
bezogene Dimension weder explizit noch implizit in Freiheit
bejahen würde.
In den Fällen, in denen einer ein wirkliches Gewissensurteil
beim anderen zu präsumieren hat, besteht zwischen beiden eine
Gemeinschaft auf Gott hin, auch wenn in der materialen Inhalt-
lichkeit der beiden Gewissensurteile ein Widerspruch besteht
und eines (oder manchmal vielleicht beide) darum irrig sein
muß. Wenn zwei Gegner dies wirklich realisieren würden,
wenn sie so sich dessen bewußt wären, daß sie vor Gott und
in seiner Gnade eine Bruderschaft haben, die im letzten wich-
tiger ist als die bittere Uneinigkeit in der materialen Inhaltlich-
keit ihrer Gewissensurteile, dann könnte eigentliche und wahre
Toleranz zwischen Gegnern bestehen, die weit über das hinaus-
reicht, was man bürgerlich und liberal Toleranz zu nennen
pflegt. Der bittere Streit, in dem es wahrhaftig um hohe Werte

24
und Güter der Menschen geht und der gewiß nicht in einer
billigen Friedfertigkeit verharmlost werden darf, wäre dennoch
umfaßt von der Weite, dem Licht und dem Frieden, auf die sich
jedes wahrhafte Gewissensurteil ausstreckt, wie bitter immer
auch die Fehde noch sein mag, die wir in einem solchen Fall
gerade um des Gewissens willen bestehen und ertragen müssen.

25
DIALOG UND TOLERANZ ALS GRUNDLAGE
EINER HUMANEN GESELLSCHAFT

Dialog und Toleranz als Grundlage einer humanen Gesell-


schaft, das klingt zunächst etwas problematisch. Wenn man
eine Wirklichkeit als Grundlage einer anderen erklärt, setzt
man wohl meist unwillkürlich voraus, daß man von der
zweiten, zu begründenden Sache eine klare und eindeutige
Vorstellung habe und unter dieser Voraussetzung nachweisen
wolle, daß die erste Wirklichkeit, die von der zweiten deutlich
unterschieden ist, eine unerläßliche Voraussetzung dieser
zweiten Wirklichkeit sei. Aber beim Verständnis des Titels des
Beitrags kann man nicht eigentlich und sicher mit diesem
Vorverständnis arbeiten. Denn wann ist eine Gesellschaft
«human»?
Ein Fürst zur Reformationszeit, der die Untertanen, die nicht
seines Bekenntnisses sein wollten, des Landes verwies, also den
Dialog verweigerte und in Religionssachen Toleranz verwarf,
hätte vermutlich gesagt, nur auf diese Weise sei wirklich in
seinem Land eine humane Gesellschaft zu erreichen und zu
beschützen, weil nur eine solche Gesellschaft wirklich human
sein könne, und zwar in allen Dimensionen, wenn sie nämlich
eine christliche Gesellschaft seines eigenen Bekenntnisses sei,
von dessen Richtigkeit er fest überzeugt sei. Für diesen Fürsten
wäre also Verweigerung eines offenen Dialogs und Intoleranz
gerade die unbedingte Voraussetzung einer humanen Gesell-
schaft gewesen, und wenn man genau zusieht, wird man wohl
sagen müssen, daß alle faschistischen und auch alle sozialisti-
schen Gesellschaftsordnungen radikaler Art derselben grund-
sätzlichen Meinung huldigen, weil sie der Überzeugung sind,
daß letztlich eine weltanschauliche Intoleranz die Vorausset-
zung eines wirklichen Glücks in der Gesellschaft für möglichst
viele, also Voraussetzung eines wahren Humanismus sei.
Deshalb gibt es ja bei ihnen eine ziemlich genau umschriebene
Staats- und Gesellschaftsideologie, die sich nicht nur durch
gedankliche Argumentation, sondern auch durch Zwangsmaß-
26
nahmen intolerant verteidigt, durch Zensur der Druckerzeug-
nisse, durch Amtsenthebungen usw.
Wenn wir also sagen, Dialog und Toleranz seien die Grund-
lage einer humanen Gesellschaft, dann setzen wir gegen die
Meinung oder Überzeugung anderer in der Welt einen Begriff
von humaner Gesellschaft voraus, der eigentlich Dialog und
Toleranz als innere Wesensmerkmale dieser humanen Gesell-
schaft einschließt, so daß der Titel des Beitrags — das sei gleich
und ohne Umschweife eingestanden — eine gewisse Tautologie
enthält: Eine humane Gesellschaft ist nur dort gegeben, wo sie
einen möglichst unbegrenzt toleranten Dialog unter ihren Mit-
gliedern erlaubt, und umgekehrt: Dialog und Toleranz machen
die Eigentümlichkeit einer humanen Gesellschaft aus, ohne die
eine solche gar nicht existieren würde.
An diesem Punkt nun muß auch derjenige, der eine humane
Gesellschaft unbefangen von vornherein als Gesellschaft des
Dialoges und der Toleranz definiert, sich selber eine Frage
stellen und zur Vorsicht mahnen. Die Geschichte der menschli-
chen Gesellschaft macht ja offensichtlich, daß das, was die
Menschen sich unter Dialog und Toleranz vorstellen, gar nicht
immer und zu allen Zeiten genau dasselbe war. Eine griechische
Polis empfand sich als Stätte der Freiheit und des Dialogs und
konnte dabei doch der für sie selbstverständlichen Meinung
sein, eine Wirtschaft ohne Sklaven sei unmöglich, und sie habe
das Recht, einen Sokrates wegen Gottlosigkeit zum Tod zu
verurteilen. Durch alle christlichen Jahrhunderte hindurch
rühmte man die Freiheit des Christenmenschen; und doch, in
welch erschreckendem Maß war die Geschichte des Christen-
tums von unseren Maßstäben her eine Geschichte von In-
toleranz, von Ketzerverfolgung, von Religionskriegen, von
Gewissenszwang durch kirchliche und staatliche Machthaber.

Grenzen von Dialog und Toleranz — Das Gemeinwohl

Aber eben diese für einen Christen und einen Humanisten


gewiß nicht erfreuliche Geschichte mahnt uns, vorsichtig und
bescheiden zu sein. Können denn wir heute einfach bloß zum

27
£

Dialog immer bereit sein? Dürfen wir ihn nie beenden oder
abbrechen, außer wenn sich die Dialogpartner allesamt
schlechthin auf dieselbe Überzeugung geeinigt hätten? Kann
man auf jede Entscheidung im öffentlichen Leben verzichten,
die nicht aus einem durch bloßen Dialog erzeugten Konsens
aller hervorgeht? Wer bestimmt denn letztlich, daß in einem
Dialog nun alles völlig genügend «ausdiskutiert» sei? Wer
formuliert, für alle verbindlich, das Ergebnis eines Dialogs?
Kann ein Dialog überhaupt zu einem aus ihm selber allein
hervorgebrachten Ende kommen? Und weiter: Können wir
immer und in jedem Fall dem anderen gegenüber nur tolerant
sein?
Man sagt sehr oft (auch in modernen kirchlichen Erklärun-
gen, wie im Zweiten Vatikanum), die zu tolerierende Freiheit
jedes einzelnen habe ihre Grenze an dem Gemeinwohl, das
nicht verletzt werden dürfe. Man unternimmt heute den
Versuch, aus dem Begriff des Gemeinwohls Momente heraus-
zuscheiden, die von religiösen Überzeugungen bedingt sind,
‘und man versucht, von dem so säkularisierten Begriff des
Gemeinwohls her Tendenzen zu gesellschaftlichen Religions-
streitigkeiten von vorneherein zu unterbinden. Aber gelingt so
etwas eindeutig und klar? Ist es z.B. sicher und nachweisbar
intolerant, wenn Bundesstaaten in den USA in den öffentlichen
Schulen sich gegen Lehren der Evolution sperren? Verstößt es
bei uns zulande gegen die Toleranz und die Gleichberechtigung
einer atheistischen Weltanschauung, wenn es zwar theologische
Fakultäten an den staatlichen Universitäten gibt, aber keine
Fakultät, die sich eine radikale und atheistische Religionskritik
zur Aufgabe macht?
Aber selbst wenn man sagen würde, es gebe natürlich auch
in einer modernen, fortschrittlichen Gesellschaft noch Reste
von Intoleranz, die noch ausgeräumt werden müssen, so bliebe
immer noch die Frage, was genaugenommen das wahre Ge-
meinwohl sei und wer genau es zu bestimmen habe. Denn auch
in der aufgeklärtesten und tolerantesten Gesellschaft hat gegen
die Willkür des einzelnen immer noch das Gemeinwohl das
Recht und eine Notwendigkeit, sich auch ohne Zustimmung

28
dieses einzelnen gegen seine Übergriffe zur Wehr zu setzen,
also in einem gewissen Sinn intolerant zu sein, wenn man
Intoleranz definieren will als die Setzung einer Situation für die
Freiheit eines anderen ohne dessen Zustimmung. Wenn also
solche Freiheitssituationsbeschränkung in einer Gesellschaft
wegen des Gemeinwohls gar nicht schlechthin unvermeidlich
ist, wenn also in diesem Sinn Intoleranz gar nicht restlos
vermieden werden kann und auch in keiner faktischen Gesell-
schaft, so verschieden sie auch sein mögen, vermieden wird —
wer bestimmt dann das Gemeinwohl, das solche Intoleranz
legitimiert?
Wenn eine Gesellschaft gegeben ist, in der (vielleicht von ein
paar Rechtsbrechern abgesehen) gar keine wirkliche Meinungs-
verschiedenheit darüber besteht, welches das allseitig anerkann-
te Gemeinwohl sei, dann ist diese eben gestellte Frage keine
reale. Wenn aber in einer Gesellschaft auch über fundamentale
Fragen des Gemeinwohls entscheidende Meinungsverschieden-
heiten bestehen, wie bestimmt man dann den Raum von Dialog
und Toleranz und auch dessen Grenze, die ja immer noch
gegeben ist? Sagt man (und zwar gewiß mit einem ganz erhebli-
chen Recht), der reale Begriff des Gemeinwohls sei selber eine
im Wandel der Geschichte stehende Größe und müsse von der
Gesellschaft in einem dauernden Prozeß immer neu bestimmt
werden, dann ist doch mindestens für den Geist und vor allem
für das sittliche Gewissen des einzelnen immer noch die Frage
brennend, nach welchen Maßstäben und in welcher Richtung
er seine verantwortliche Aufgabe bei dieser immer neuen
Bildung des Begriffs des Gemeinwohls und so auch des Begriffs
des real möglichen Dialogs und einer wirklich realen Toleranz
erfüllen solle.
Für welche Toleranz in immer offenem Dialog soll man
kämpfen, wenn man doch nicht einfach schlechthin und ohne
jede Unterscheidung davon überzeugt sein kann, daß jedwede
denkbare Grenze von Dialogbereitschaft und Toleranz ver-
werflich sei? Man kann zum Beispiel moralisch einen Schwan-
gerschaftsabbruch ablehnen und dennoch dialogbereit und
tolerant zugeben, daß eine solche Tat kein Gegenstand des

=
bürgerlichen Strafrechts sein müsse. Man kann vielleicht in
einem Dialog darüber streiten, ob die Beihilfe zu einem klar
gewollten Suizid strafrechtlich verfolgt werden müsse, ob so
etwas vom Gemeinwohl her gefordert werden müsse oder
nicht. Aber es gab doch zum Beispiel Praxen und Normen des
nationalsozialistischen Regimes, die einfach verwerflich sind
und nicht in den Bereich eines toleranten Dialogs unter Gleich-
berechtigten gehören, die sich gegenseitig gleich viel Intel-
ligenz und Humanität zubilligen, auch wenn sie in der kon-
kreten Sachfrage verschiedener Meinung sind.
Wenn es also gar nicht so leicht ist, eindeutig und klar und
für alle einsichtig zu bestimmen, was genau eine mit Recht
geforderte Dialogbereitschaft und Toleranz sei und was viel-
leicht eben doch nicht dazu gehöre, obwohl es von anderen als
unbedingt zum Wesen der Toleranz gehörig erklärt wird, dann
ist es nicht so einfach, eine Scheidung der Menschen in zwei
Gruppen vorzunehmen: in solche, die für Dialog und Toleranz
eintreten, und solche, die es nicht tun. Es wird sogar für eine
nüchterne Betrachtung der menschlichen Wirklichkeit und Ge-
schichte gar nicht unvermeidbar sein, zuzugeben, daß über die
genauere Bestimmung des Wesens eines wahren Humanismus
und so des richtigen Begriffs von Toleranz und Dialogbereit-
schaft immer Meinungsverschiedenheiten bleiben werden.
An diesem etwas resignierend stimmenden Punkt unserer
Überlegungen könnte man natürlich fragen, ob nicht die all-
seitige Anerkennung dieser Situation, also die Bereitschaft zu
möglichst weitgehender Toleranz und zu offen bleibendem
Dialog dasjenige sei, worüber sich alle Menschen einig sein
könnten. Aber über diese Konsequenz werden sich die Men-
schen auch nicht einigen, und es wird nicht wenige geben, die
der Meinung sind, man müsse den anderen unter Umständen
intolerant zu seinem Glück zwingen. Diese Auffassung einer
legitimen Intoleranz ist zweifellos sowohl in den modernen
islamischen Staaten wie auch in den sozialistischen Ländern
gegeben. In beiden wird eine verbindliche Ideologie des Staats
als für alle geltend erklärt und auch dort zu realisieren versucht,
wo der einzelne nicht damit einverstanden ist.

30
Man könnte natürlich von solchen Staatsideologien auch
zwanghaft verbindlicher Art her gegen uns «Westler», die so
etwas ablehnen, einwenden, wir würden ja unsere Toleranz
auch begrenzen durch die Berufung auf ein Gemeinwohl, und
wir würden uns somit von intoleranten Staatsideologien nur
durch die Verschiedenheit unterscheiden, in der auf beiden
Seiten das alle zwingende Gemeinwohl ausgelegt wird. Wenn
wir im toleranteren Westen wiederum dagegen aufklären, unser
Begriff des Gemeinwohls sei eben weiter und toleranter als der
dieser anderen Staatsideologien und darum auch richtiger, weil
die Freiheit (und somit auch die Toleranz) die Präsumtion
gegenüber einem zwanghaft verordneten Gemeinwohl und
allgemeinen Glück habe, dann wird uns dies hier im Westen als
durchaus richtig erscheinen, zumal wir uns ein echtes Gemein-
wohl nur denken können mit einem möglichst großen Maß an
Freiheit der einzelnen, da diese ja selbst ein inneres Moment am
menschlichen Wohl ist.
Aber von der anderen Seite können wir dann wiederum
gefragt werden, ob das von uns angestrebte Maß an Toleranz
nicht doch jenes Gemeinwohl tödlich bedrohe, das alle zu
fordern nicht unterlassen können, so daß in dieser Bedrohung
des Gemeinwohls auch eben diese Freiheit selber faktisch noch
einmal tödlich bedroht werde. Man könnte von dieser anderen
Seite sich fragen lassen, ob dieses Gemeinwohl bei uns durch
eine libertinistische Toleranz so auf reines Funktionieren einer
bloßen Wirtschafts- und Konsumgesellschaft reduziert werde
und selber sich durch die Leere an Humanität echter Art ad
absurdum führe.
Aus all diesen Erwägungen ergibt sich die Problematik des
Begriffs und des Ideals von Toleranz. Toleranz kann nicht
schlechterdings unabhängig vom Gemeinwohl gedacht
werden. Dieses aber stellt eine metaphysische Frage, wie
nämlich dieses Gemeinwohl genauer gedacht und bestimmt
werden muß, stellt eine geschichtliche und gesellschaftspoli-
tische Frage, wie nämlich eine bestimmte Gesellschaft in einer
bestimmten Periode genau den Ausgleich wünscht, der immer
neu gefunden und hergestellt werden muß, zwischen Freiheit
31
des einzelnen und einzelner Gruppen einerseits und der von der
unvermeidlichen Struktur der Gesellschaft her notwendigen
Begrenztheit des Freiheitsraums der einzelnen und der einzel-
nen Gruppen andererseits. Da dieser Ausgleich nicht einfach
ein für allemal getroffen werden kann, sondern selbst in der
wandelnden Geschichte steht, ist schließlich die individuell und
kollektiv existentielle Frage, wie der konkrete Ausgleich in
einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Situation
und Periode in freier Entscheidung getroffen werden solle und
ob diese Gesellschaft wirklich entschlossen auch für die
Zukunft zu dieser Entscheidung über den konkreten Ausgleich
stehen wolle. Wir im Westen mit unserer Geschichte werden,
so hoffe ich, zu der Ordnung «freiheitlicher» Art (wie wir zu
sagen pflegen) entschlossen stehen, auch wenn wir uns darüber
klar sein müssen, daß diese freiheitliche Gesellschaftsordnung
mit der damit gegebenen konkreten Toleranz weiterentwickelt
werden muß und daß Toleranz gar nicht der einzige und für
sich allein absolutsetzbare Maßstab unserer Existenz sein kann.

Toleranz als christliche Forderung

Es soll nun in einem weiteren Gang unserer Überlegungen von


einem ganz anderen Ausgangspunkt her das Wesen der
Toleranz bedacht werden, weil von diesem Ansatzpunkt aus
sowohl eine letzte Christlichkeit wie auch die Radikalität der
Forderung nach Toleranz deutlicher erreicht werden können,
als dies in den bisherigen Überlegungen möglich war. Es sei
im voraus nochmals betont, daß, wenn die Christlichkeit einer
radikalen Toleranzforderung betont werden soll, damit in
keiner Weise gesagt wird, daß die Christenheit und die Kirche
im Lauf ihrer zooojährigen Geschichte die Toleranz, die an und
für sich vom Wesen des christlichen Verständnisses des Men-
schen gefordert ist, auch in der konkreten Geschichte wirklich
immer praktiziert hätten. Natürlich ist in einem erschreckenden
Maß das Gegenteil schr oft und schr lange der Fall gewesen,
auch wenn es wieder selbstverständlich ist, daß ein in der
Geschichte existierendes Wesen sich selber erst langsam einholt

32
und verwirklicht, daß das, was es ist, dem, was es sein soll,
_ immer auch widerspricht. Aber es soll hier weder eine Anklage
noch eine Apologie bezüglich des faktischen Verhältnisses der
Kirchen gegenüber der Toleranz versucht werden.
Wir bedenken vielmehr einfach die Toleranz, die sein soll,
die von einem Grundverständnis der Freiheit des Menschen
gefordert wird, und zwar von jenem Selbstverständnis des
Menschen her, das gleichzeitig das Christliche und das jedem
Menschen Zugängliche ist. Da wir in einem kurzen Beitrag
natürlich nicht eine metaphysische und christliche An-
thropologie entwerfen können, gehen wir hier und jetzt von
einer Einsicht aus, die wohl Gemeingut jedes echten Humanis-
mus ist oder sein sollte und zu der auch das Christentum und
die Kirchen sich in einem langen Prozeß des Geistes, als vom
Christentum selbst her geboten, durchgerungen haben. Wir
meinen die Einsicht, daß auch das unüberwindlich irrige Ge-
wissen für den Menschen eine unbedingte sittliche Forderung
bedeutet, der er vor sich und vor Gott unbedingten Gehorsam
schuldet und darin von niemandem gehindert werden darf, so
daß von daher eine Forderung nach Toleranz entsteht, die alle
bloßen Nützlichkeitserwägungen über Frieden und bequeme
Koexistenz verschiedener Menschen und Meinungen in einer
Gesellschaft hinter sich läßt.

Das irrige Gewissen

Wenn wir von der Einsicht ausgehen wollen, daß auch das
unüberwindlich irrige Gewissen für den Menschen eine unbe-
dingte sittliche Pflicht und Forderung aufstellt, der er vor sich
und vor Gott einen unbedingten Gehorsam schuldet, dann ist
es für uns in diesem Augenblick unserer Überlegungen an sich
noch keine Frage, wie der absolute Spruch des Gewissens
metaphysisch und theologisch genauer zu deuten sei. Wir
fragen also hier nicht eigentlich, ob und wie eine unbedingte
sittliche Verpflichtung genauer zu deuten sei, ob man bei einem
kategorischen Imperativ der Pflicht als einem letzten Datum
der menschlichen Existenz und Freiheit stehenbleibe, ob man

33
diese Verpflichtung von einem vorausgehenden Wissen über
Gott und seinen Willen her erkläre, oder ob einem gerade von
der Unbedingtheit der sittlichen Pflicht her aufgehe, was mit
Gott gemeint sei. Als christlicher Theologe freilich darf ich hier
voraussetzen, daß die Unbedingtheit einer sittlichen Pflicht
etwas mit dem zu tun habe, den wir Gott nennen, ohne hier den
Versuch auch noch machen zu müssen, diesen Zusammenhang
zu verdeutlichen. Wir gehen jedenfalls von der Voraussetzung
aus, daß es so etwas wie eine absolute Verpflichtung innerhalb
der menschlichen Existenz gibt, die nicht psychologisch oder
utilitaristisch oder soziologisch aufgelöst werden kann.
Wenn nun diese letzte Unbedingtheit des Spruchs des Gewis-
sens diesem auch dann zuerkannt wird, wenn es objektiv irrt,
dann muß natürlich zunächst klar sein, daß nicht jedwede
Meinung, jedweder Geschmack, jedwedes willkürliche Vorur-
teil, das ein Mensch hat und das er wenigstens unreflex doch
auch in seiner Unverantwortbarkeit erfaßt, die Würde und das
Prädikat eines Gewissensurteils für sich in Anspruch nehmen
kann, zumal ja bei einer solchen unverbindlichen Meinung man
gar nicht mit dem letzten unerbittlichen Ernst und dem vollen
Einsatz seiner Existenz urteilt. Aber dennoch bleibt es wahr:
Wenn ein Mensch in einer bestimmten Situation handeln und
sich entscheiden muß und er im Rahmen der ihm zu Gebote
stehenden Möglichkeiten nach bestem Wissen und Gewissen
(wie wir sagen) eine Entscheidung als die wahre und sittlich
richtige gegenüber einer anderen, an sich auch realisierbaren,
beurteilt, dann ist dieses Urteil für ihn bindend, ist ein Gewis-
sensurteil von absoluter Verpflichtung.
Nun wird man nach Ausweis der alltäglichen Erfahrung nicht
bestreiten können, daß ein solches Urteil sachlich, das heißt
gemessen an den objektiven Normen des Sittlichen, irrig sein
kann. Und dennoch kann ein solches Urteil, das sachlich irrig ist,
ein wirkliches Gewissensurteil sein, das für den Urteilenden
absolut bindend ist. Dieser Satz von der Möglichkeit eines
irrigen und doch den Urteilenden absolut bindenden Ge-
wissensurteils ist - wenn auch nur langsam mit all den darin
implizierten Konsequenzen - in der christlichen Moraltheologie

34
grundsätzlich mindestens seit Thomas von Aquin allgemein
anerkannt und hat die radikalen Konsequenzen für,die Gewis-
sensfreiheit und Religionsfreiheit in einem langsamen Erkennt-
nisprozeß der Kirche erbracht, wie im Zweiten Vatikanischen
Konzil deutlich geworden ist.
Der Satz von der Möglichkeit einer Entscheidung eines
Menschen, die aus der innersten Mitte seiner Existenz kommt
und ein Spruch des Gewissens von absoluter Verbindlichkeit
ist, obwohl sie irrig ist, ist nicht so selbstverständlich, wie wir
heute vielleicht empfinden, weil heute jeder nur zu sehr geneigt
ist, seine beliebige Meinung, die er gar nicht radikal verantwor-
ten will, als Gewissensurteil auszugeben. Aber die christliche
Moraltheologie anerkennt heute, und zwar bezüglich a//er mög-
lichen Gegenstände eines solchen Urteils, eine solche Möglich-
keit. Das heißt aber (nochmals gesagt): Ein Urteil eines Men-
schen über seine konkrete sittliche Haltung und Entscheidung
kann irrig und dennoch ein wirkliches, radikales Gewissensur-
teil sein, das ihn absolut verpflichtet in einer nicht abwälzbaren
Verantwortung, in der das letzte Wesen radikaler Freiheitsent-
scheidung realisiert wird.
Das ist wirklich keine billige Selbstverständlichkeit. Der
öffentliche Alltag und auch die individuelle Erfahrung be-
zeugen uns, daß wir oft irren, und zwar auch in der Dimension
der sittlichen Werte. Daß nun ein solches Urteil dennoch ein
eigentliches Gewissensurteil sein kann von absoluter Verpflich-
tung, dessen Nichtbefolgung den Menschen auch vor Gottes
Gericht verwerflich machen würde, ihn böse sein ließe, das ist
keine Selbstverständlichkeit. Dennoch halten die christliche
Moraltheologie und auch die menschliche und christliche
Lebensüberzeugung daran fest, daß es solche irrigen und doch
absolut verpflichtenden Gewissensurteile in der konkreten
Situation eines Menschen geben könne, obwohl Irrtum und
absolute Verpflichtung schlechthin widersprüchliche Begriffe
zu sein scheinen. «Nicht selten geschieht es», sagt das jüngste
Konzil, «daß das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis
irrt, ohne daß es dadurch seine Würde verliert.»!
1 «Gaudium et Spes», 16.

35
1% ,

1}

An sich müßte man nun genauer erklären, warum und wie


trotz eines solchen Irrtums im unmittelbaren Gegenstand des
sittlichen Urteils diesem Urteil dennoch eine absolute Ver-
pflichtung zukommen könne. Wir müssen auf diese Erklärung
hier verzichten und sagen nur, daß sich eben eine letzte sittliche
- Entscheidung, in der ein Mensch seinen letzten Willen zum
schlechthin Guten und seine letzte Behauptung als Freiheits-
subjekt realisiert, auch zu sich selber vermitteln kann durch
einen kategorialen Gegenstand solcher Entscheidung, der ob-
jektiv an sich und für sich genommen nicht legitim ist.

Anerkennung der Würde der Freiheit

Worauf es uns nun für unser Thema ankommt, ist dies: Was
wir im normalen Leben als Toleranz ansprechen, ist nicht nur
eine Maxime eines friedlichen Zusammenlebens, in welchem
Menschen verschiedener Meinungen und Bestrebungen, ohne
sich gegenseitig physisch zu zerstören, miteinander auskom-
men, sondern ist die Respektierung des Freiheitsraums eines
anderen für seine Gewissensentscheidung, die für ihn auch
dann noch absolut verpflichtend sein kann, wenn der andere
urteilt, und zwar vielleicht mit sachlichem Recht, daß sie irrig
sei. Weil und insofern eine Gewissensentscheidung absolut
verpflichtend sein kann, auch wenn sie sachlich irrig ist, be-
deutet sie einen absoluten (was nicht heißt: unendlichen) Wert,
der unbedingt von einem anderen respektiert werden muß.
Auf dem Konzil haben manche, die die Lehre des Konzils
von der Religionsfreiheit bekämpften, erklärt, daß der Irrtum
kein Recht habe. Die Verteidiger der Religionsfreiheit entgeg-
neten mit Recht: Der Irrtum an sich hat kein Recht, aber die
Irrenden. Und das ist wahr. Denn in einem solchen, wenn auch
gegenständlich irrigen, Gewissensurteil ist immer noch die
Würde des Gewissens, die Würde der Freiheit und der unab-
wälzbaren, von niemandem anderen vertretbaren Verantwor-
tung jedes einzelnen für sich gegeben, die Würde, die von
jedem anderen respektiert werden muß. Darum aber ist
36
Toleranz nicht bloß eine Spielregel nüchtern vernünftiger
Leute, um miteinander auszukommen, sondern die Anerken-
nung der absoluten Würde der Freiheit und der Personalität des
Menschen, die auch noch in seiner irrigen Gewissensent-
scheidung gegeben ist, die aber geleugnet und verneint würde,
wenn sie zugunsten einer bloß sachhaften Richtigkeit einer
Erkenntnis und eines Handelns hintangesetzt würde. Gerade
weil ein Gewissensurteil nicht einfach verwechselt werden darf
mit beliebig oberflächlicher Meinung, aber doch als solches bei
Irrtum gegeben sein kann, war ein Reflexionsprozeß auch
innerhalb des Christentums durch Jahrhunderte hindurch not-
wendig, um die letzten Konsequenzen aus der zu respektieren-
den Würde auch eines irrigen Gewissens für das praktische
Verhalten der Menschen untereinander zu ziehen, um zu erken-
nen, daß Toleranz etwas mit dem letzten Wesen des Menschen
als Freiheitssubjekt zu tun hat, daß Toleranz auch dort zu üben
ist, wo sie einem nicht abgezwungen wird durch die physische
Macht des Gegners, daß Toleranz auch zu üben ist, wo einen
niemand hindern könnte, intolerant zu sein, ja auch dort, wo
man absolut überzeugt ist, für das Richtige und selbst für das
dem Gegner Segensreiche einzutreten, wenn die Intoleranz den
Freiheitsraum des anderen aufheben oder ungerecht einengen
würde, in dem allein er der sein kann, der er sein will und muß:
der Freie, dessen Wirklichkeit, soweit dies möglich, seine
eigene Tat ist. Toleranz, so verstanden, entspringt jenem
Selbstverständnis des Menschen, das in gleicher Weise abend-
ländisch human, genuin christlich und so ist, wie wir es als das
Selbstverständnis aller Menschen wünschen.

Toleranz und Intoleranz

Hier nun aber beginnt erst das eigentliche Problem der


Toleranz. Erinnern wir uns an das, was im ersten Teil unserer
Überlegungen gesagt wurde. Dort war die Toleranz von vorn-
herein ein wenn auch noch so berechtigtes und gefordertes, so
doch begrenztes Gut, das seine Grenze an dem Gemeinwohl
der anderen findet. Das Gemeinwohl erlaubt nicht, daß alles bei

37
jedem toleriert wird. Diese Toleranz hat ihre Grenzen, und
daran wird auch durch die Einsicht nichts geändert, daß im
Gemeinwohl das Recht des einen durch das gleichberechtigte
Recht des anderen oder der anderen begrenzt wird. Im zweiten
Teil unserer Überlegungen war die Toleranz die Anerkennung
des Freiheitsraums, den ein Freiheitssubjekt, um es selber sein
zu können, von seiner Würde her verlangt und der als solcher
von sich aus eben nicht gerade dort aufhört, wo des anderen
Freiheitsraum beginnt, sondern an sich unbegrenzt ist.
Eine so verstandene Toleranz beschwört notwendigerweise
Konflikte herauf, weil sie einen Freiheitsraum für den einen
postuliert, der von der Freiheit eines anderen schon besetzt ist
oder besetzt sein kann. Denn eben die realen Freiheitsräume der
vielen Freiheitssubjekte sind nicht voneinander geschieden,
sondern koexistieren ineinander. Und es ist nicht so, daß von
vornherein der eine Freiheitsraum aller in friedlicher und
selbstverständlicher Übereinkunft so unter die Freiheitssub-
jekte aufgeteilt werden könnte, daß kein Konflikt entsteht, daß
keine Freiheit mehr an Raum für sich verlangt als den, den der
andere von vornherein nicht für sich beansprucht. Die Freiheit,
die in der Toleranz des zweiten Teils unserer Überlegungen
gewährt werden soll, ist konfliktgeladen; es werden ihr durch
das Gemeinwohl, eben der Freiheit der anderen, Grenzen
gesetzt, die sie sich selber von sich allein her nicht setzen würde.
Die Toleranz, die sich vom Gemeinwohl her Grenzen setzen
läßt, ist intolerant gegen die Toleranz, die das Freiheitssubjekt
von sich her als ihr unbegrenztes Recht fordert. Auch wenn
man durchaus betonen kann, daß ein Freiheitssubjekt von sich
selber her sich Wesensnormen setzt und so nicht einfach
schlechthin grenzenlose Subjektivität sein will und kann, so
wird es dennoch grundsätzlich in tausend Fällen von sich her
Verwirklichungen suchen, die ihm faktisch von den anderen
her unmöglich gemacht werden durch deren intolerante Wirk-
lichkeit, die schon im voraus zu jedem bösen und ungerechten
Willen die Möglichkeiten anderer beschneidet. Die Wirklich-
keit ist nicht so, daß alles von vornherein und immer har-
monisch zusammenpaßt.

38
Was hier gemeint ist, wurde eben sehr abstrakt gesagt, damit
die unerbittliche Schwierigkeit, um die es sich hier handelt,
nicht zu rasch und billig versöhnt werde. Der Mensch muß im
privaten und im gesellschaftlichen Leben oft intolerant dem
einen gegenüber sein, um tolerant den Raum der Freiheit des
anderen zu gewähren und zu schützen. Diese bittere Notwen-
digkeit bestimmt die Existenz und das Leben der Menschen
mit, auch wenn sie sich dies oft verhehlen und scheinbar das
Kunststück fertigbringen, durch das jeder nur frei ist und doch
keines anderen Freiheit beeinträchtigt.
Diese Unvermeidlichkeit, durch die die Toleranz immer
auch, um zu sein, ein Stück Intoleranz notwendig macht und
es wirklich Intoleranz gibt, die die Bedingung freigebender
Toleranz ist, hat nun aber überdies die weitere Bitterkeit an
sich, daß es kein eindeutiges und einsichtig handhabbares
Prinzip von vornherein gibt, nach dem die genaue Dosierung,
von Toleranz und Intoleranz, von Toleranz für den einen durch
Intoleranz gegenüber dem anderen und umgekehrt ein für
allemal bestimmt werden könnte. Wer könnte ein solches
Prinzip einleuchtend aufstellen? Ist die ganze Menschheitsge-
schichte mit ihren immer neuen Konflikten zwischen Freiheit
und Zwang, mit ihren immer neuen Versuchen, möglichst viel
Freiheit und möglichst wenig Zwang zu haben, nicht ein immer
neuer Beweis dafür, daß es ein solches, alle Konflikte von
vornherein versöhnendes und konkret handhabbares Prinzip
nicht gibt?
Zwar kann man von dem zweiten Teil unserer Überlegungen
her ganz gewiß die Maxime ableiten, daß möglichst viel
Freiheit und Freiheitsraum und möglichst wenig einschrän-
kende und intolerante Zwänge sein sollen. Aber was bedeutet
«möglichst viel - möglichst wenig», wenn doch das eine sein
soll und das andere, das wirklich nicht Freiheit ist, doch sein
muß, damit Freiheit sein kann? Es gibt ein solches Prinzip
nicht. Gäbe es ein solches, würde die Geschichte stillstehen und
aufgehoben sein. Weder ein Sozialismus, der vom Gemeinwohl
aller her eindeutig die Freiheitsräume aller eingrenzen und
miteinander versöhnen will, noch ein absoluter Liberalismus,

2
der allen alle Freiheit geben will, kann ein solches Prinzip sein.
Wir bleiben unweigerlich in der Geschichte, in der die konkrete
Koexistenz von Freiheit und Notwendigkeit immer neu und
immer wieder anders bestimmt werden wird. Aber wenn diese
Situation auch nicht aufgehoben werden kann, so ist doch eines
möglich und von den Überlegungen des zweiten Teiles dieses
Beitrags her human und christlich legitim und sollte für uns
auch in Zukunft ein verpflichtender Imperativ sein.

Vorrang der Freiheit

Die Präsumtion steht für die Freiheit; es kann unvermeidliche


Notwendigkeiten, Zwänge und Begrenzungen der Freiheit
geben, aber sie haben sich letztlich vor dem Tribunal der
Freiheit zu rechtfertigen und nicht umgekehrt. Dazu kann ein
Mensch entschlossen sein. Ob er es ist, ob er diese Maxime
nicht nur den anderen zumutet und sie in seiner eigenen
Haltung und Handlung verrät, das läßt sich vielleicht am ein-
fachsten durch die Antwort auf die Frage feststellen: Bist du
wirklich bereit, dem anderen auch dann noch tolerant Freiheit
zu gewähren, soweit das nur ohne Unrecht anderen gegenüber
möglich ist, wenn du anderer Überzeugung bist und die Macht
hast, den anderen an der Verwirklichung seiner Überzeugung
zu hindern? Hast du die Bereitschaft und die Geduld, soweit
es nur möglich ist, in einem Dialog immer neu zu erkunden und
zu erfahren, wie der andere (oder eine andere gesellschaftliche
Gruppe) sein und sich verstehen will?
Die ehrliche Antwort auf diese Frage in einem echten Ja
könnte das konkrete Anzeichen dafür sein, ob solche Toleranz
und Dialogbereitschaft vorhanden sind. Aber da auch diese
Frage mit einem bedingenden «So weit es nur möglich ist»
versehen war, entzieht sich die Beurteilung der Ehrlichkeit der
Antwort auf diese Frage im allerletzten doch wieder hinein in
die Einsamkeit des Gewissens des einzelnen, das nur von Gott
gerichtet werden kann, sosehr natürlich auch davor weithin
dialogisch und argumentativ überlegt werden kann und soll, ob

40
eine solche Antwort auf diese Frage wirklich ehrlich war. Von
da aus darf sich der Theologe den Satz erlauben, daß jeder einst
auch vor dem Gericht Gottes darüber gerichtet werden wird,
ob er seinen Nächsten individuell und kollektiv die Freiheit
wirklich zugestanden hat, die sein ureigenstes und unveräußer-
liches Recht ist, ob er tolerant in diesem Sinn und dialogbereit
gewesen ist.

41
UTOPIE UND REALITÄT

Christliche Lebens- und Weltgestaltung zwischen Anspruch und


Wirklichkeit

Die Kombination der beiden Worte «Utopie» und «Realität»


soll auf einen grundlegenden Dualismus in der menschlichen
Existenz aufmerksam machen. Schon biologisch ist der Mensch
strukturiert zwischen unten und oben, zwischen innen und
außen. Seine personale Wirklichkeit geht von einer durch Ver-
gangenheit bewirkten Gegenwart auf eine noch ausständige
Zukunft hin. Er erkennt aus der Erfahrung vorgegebener
Wirklichkeiten grundsätzliche Normen seines Handelns, und er
mißt an solchen Prinzipien Wert und Unwert seiner Wirklich-
keit. Er spricht von seiner Erde und blickt zu einem Himmel
empor. Er möchte ein nüchterner Realist und ein schöpferisch
nach Höherem greifender Mensch sein. Ob er zufrieden oder
unzufrieden ist, in beiden Fällen mißt er seine Wirklichkeit an
Maßstäben, die von dieser Wirklichkeit unterschieden werden.
Glück und Unglück, Erfolg und Mißerfolg, Leben und Tod,
Wahrheit und Irrtum und tausend ähnliche Dualismen ver-
raten, daß der Mensch nicht einfach in einer schlechthinnigen
Identität mit sich selber lebt, sondern in unzähligen Hinsichten
als eine Einheit des Verschieden-Bleibenden existiert; schon
insofern ist es nicht verwunderlich, wenn die beiden Wörter
«Utopie» und «Wirklichkeit» nebeneinandergestellt und so in
ihrer Unterschiedenheit und gegenseitigen Bezogenheit emp-
funden werden.

Der Dualismus von Utopie und Realität

Aber was ist Utopie? Was ist hier damit gemeint? Was ist
Realität? Welche ist hier gemeint? Und was haben alle die damit
gegebenen Begriffe und Fragen mit christlicher Lebens- und
Weltgestaltung zu tun? «Anspruch und Wirklichkeit» im Un-
42
tertitel dieses Aufsatzes sollen — der Einfachheit halber — im
selben Sinn wie Utopie und Realität verstanden werden, so daß
also das Thema nach der christlichen Lebens- und Weltgestal-
tung fragt, insofern diese zwischen Utopie und Wirklichkeit
‚gestellt ist.
Was nun meint hier Utopie? Dieses ursprünglich von
Thomas Morus, dem Lordkanzler und Heiligen, erfundene
Wort soll sich hier nicht auf alles das beziehen, was noch nicht
verwirklicht ist, aber vom Menschen angestrebt wird, obgleich
seine Verwirklichung schwierig und ungewiß oder sogar un-
wahrscheinlich ist. Unter Utopie werden hier — wenn vielleicht
auch mit einer gewissen definitorischen Eigenmächtigkeit — die
Ziele und Aufgaben des Menschen verstanden, die er nicht nur
verwirklichen oder anstreben Aann, sondern auch »uß, die aber
als Aufgabe und Pflicht noch unverwirklicht vor ihm liegen
und dabei den Eindruck machen, den Menschen zu überfordern
und faktisch ewig unverwirklicht zu bleiben.
Utopien in diesem Sinn sind dem Menschen fast unzählige
zugemutet. Der Mensch wünscht sich eine biologische und
wirtschaftliche Gesichertheit und fühlt sich in seiner biologi-
schen und wirtschaftlichen Existenz bedroht und unsicher. Er
will Wissen, d.h. die vorgegebene Wirklichkeit geordnet in ein
strukturiertes Bewußtsein aufnehmen, und er erkennt, daß ihm
dies faktisch nur in bescheidenstem Maß gelingt; ja, er erkennt,
daß das Verhältnis zwischen der angebotenen Wirklichkeit und
dem davon faktisch Angeeigneten immer einseitiger wird;
denn die angebotenen und im menschlichen Gesamtbewußtsein
bereitgestellten Wissensmengen wachsen rascher für den einzel-
nen als das mögliche Tempo ihrer Aneignung durch den einzel-
nen. Der Mensch mutet sich die Forderung einer Gerechtigkeit
und Liebe dem anderen gegenüber zu und erfährt gleichzeitig
seinen scheinbar alles durchdringenden und vergiftenden
Egoismus. Der Mensch wird seine metaphysische Bedürftig-
keit, sein ahnendes Wissen von Gott nicht los, und er möchte
zugleich, sich gegen Gott gereizt wehrend, lieber auf der Erde
bleiben, die er aus eigener Kraft und zu eigenem Gebrauch, auf
sich selbst bezogen erforscht und ausnützt. Der Mensch will

43
i

sich selbst-verwirklichen (wie man heute sagt) und scheitert


immer wieder; der Lebensentwurf bleibt unausgeführt. Der
Mensch stellt höchste Anforderungen an seine Umgebung, an
seine Gesellschaft, er kämpft für eine bessere, ideale Gestaltung
seiner Gesellschaft; und die neue Gestaltung, die anders ist als
die frühere, ist ebenso wie die frühere ein enttäuschendes
Gebilde aus Vorläufigkeit, Voreiligkeit und den unvorherge-
sehenen Folgen dessen, was man angestrebt hatte. Ich brauche
die Schilderung des Dualismus zwischen Utopie und Realität
nicht fortzusetzen. Sie ist jedem im eigenen Leben und in der
Gesellschaft profaner und kirchlicher Art ein nur zu bekannter
und erlittener Zustand.

Die idealistische und die realistische Auflösung des Gegensatzes

Bekannt sind auch die vielen falschen Weisen, die praktiziert


werden, um mit dieser Grundsituation des menschlichen
Lebens fertig zu werden. Auch sie seien nur eben angedeutet.
Da ist erstens der Idealist, der mit der Wirklichkeit nicht zu
Rande kommt und darum in den geträumten Himmel seiner
Ideale zu fliehen versucht. Unzählige Weisen und Methoden
eines solchen falschen Idealismus, den wir — Sünder, wie wir
sie sind — ein Stück weit alle praktizieren, könnten genannt
werden. Da ist der, der aus dem öffentlichen Leben aussteigen
will, der mit der Politik sich die Hände nicht schmutzig machen
will, der sich ein stilles Reich privaten Glücks, der Muße, des
bloß Ästhetischen, des reinen Gedankens errichten will. Da
sind der Snob, der Nostalgiker und Romantiker, der Mann der
Devise «odi profanum vulgus et arceo» (die berlinernde Über-
setzung des Horaz-Verses lautet: «Ich hasse die Kanaille und
halt sie mir vom Balge.»); da ist der christliche Idealist, dessen
Hauptbeschäftigung das Leiden an seiner Kirche ist; da ist der,
der des alten Reiches Größe und Herrlichkeit nachtrauert; da
ist der, der die Erbärmlichkeit und Schäbigkeit seiner Mitmen-
schen durchschaut hat (meist außer seiner eigenen, oder wenn
er sich selbst entlarvt, dann wird dies noch einmal genossen als

44
die sublimste Weise des Idealismus und der Wahrheit). Allen.
diesen und vielen anderen Arten des Idealismus ist gemeinsam,
_ daß sie das Gegebene innerhalb der menschlichen Wirklichkeit
ausdrücklich oder in ihrem faktischen Verhalten implizit als
hoffnungslos ungenügend und erbärmlich finden. Der Idealist in
diesem Sinne ist letztlich der Mensch, für den seine «Ideale»
nicht einmal im Keim und verborgen in der Realität enthalten
sind, sondern als bloßes, verwerfendes Gericht über der soge-
nannten Realität schweben. Diese Haltung braucht, wie gesagt,
nicht in eine Theorie hinein objektiviert zu sein. Sie ist faktisch
dort gegeben, wo man an der sogenannten Realität nur noch
leiden kann; wo man allem Schmerzlichen aus dem Weg zu
gehen sucht wie ein Herzkranker, der Aufregungen von vorn-
herein vermeidet; wo man sich über sein Versagen in der
Wirklichkeit des Lebens mit seinen geliebten Idealen tröstet;
wo man bewußt oder instinktiv die Nischen und Windschatten
der Gegenwart und Gesellschaft aufsucht, in denen man mög-
lichst unbehelligt bleibt; wo man alles besser weiß als die
anderen, die Politiker und die Kirchenführer, die für den
schäbigen Alltag verantwortlich sind.
Die zweite Weise, in der man falsch mit der angedeuteten
Grundsituation des Menschen und deren Dualismus fertig zu
werden sucht, ist die des sogenannten Realisten. Er ist stolz auf
seine Nüchternheit, mit der er die Schäbigkeit des Lebens und
der Menschen zu durchschauen meint, ohne sich darüber auf-
zuregen. Er ist ein moralischer Darwinist, der es für selbstver-
ständlich erachtet, daß das Leben unter den Menschen ein
Kampf ums Dasein ist, in dem sich der Härtere kaltblütig
durchzusetzen vermag. Er betrachtet kaltblütig die idealen
Reden, welche die anderen, die politischen Sonntagsredner und
die Pfarrer auf den Kanzeln, halten, als wirklichkeitsfremden
Dunst, den die anderen — aber nicht er selber — brauchen als
Analgetikum (Schmerzmittel) in der Misere des Lebens. Er hält
sich an massive Genüsse des Daseins — wobei natürlich die
Bestimmung eines möglichst zuträglichen Maßes wichtig ist.
Er empfindet — wenn er noch irgendwie von ferne mit Gott
rechnet — seinen Lebenserfolg als die Konkretheit des göttli-

45
chen Segens, der ihm mit Recht gewährt wird. Er ist ein
erbitterter, von keinen Zweifeln geplagter Verteidiger der ge-
sellschaftlichen Ordnung, die die beste Gewähr für seine eigene
vorteilhafte Situation bietet, wobei natürlich auch zu bemerken
ist, daß es solche Realisten uneingestandenermaßen auch in der
Kirche gibt.

Fragmente einer christlichen Antwort

Im Blick auf diesen letztlich im Wesen des Menschen unaufheb-


bar begründeten Dualismus und im Blick auf die von daher
möglichen, wenn auch nicht berechtigten falschen Haltungen
des Menschen soll etwas über «christliche Lebens- und Weltge-
staltung zwischen Anspruch und Wirklichkeit» gesagt werden;
dabei ist es von vornherein selbstverständlich, daß keine prakti-
schen Rezepte geboten werden können, und daß, was gesagt
werden kann, hier nur in etwas willkürlich ausgewählten Frag-
menten vorgetragen wird. Es handelt sich ja nicht um eine
Anweisung für eine partikuläre Aufgabe und Zielsetzung, für
die man konkrete Rezepte geben muß, sondern um das Eine
und Ganze des menschlichen Selbstvollzuges und Selbstver-
ständnisses; dafür kann keine Position außerhalb seiner selbst
bezogen werden, von der aus es wie von einem äußeren Koor-
dinatensystem her bestimmt werden könnte. Und wenn so das
ganze, alles umfassende, in die Unbegreiflichkeit Gottes hinein
sich verlierende Dasein des Menschen angerufen werden soll,
dann kann dies selbstverständlich nur in etwas willkürlich
ausgewählten Fragmenten geschehen.

Ernst-machen mit der Utopie Gottes

Man kann das christliche Daseinsverständnis mutig und ehrlich


definieren als die Überzeugung, daß das utopisch Anmutende
die wahre Wirklichkeit sei und daß deshalb die sogenannte
Realität durchschaut werden müsse als das höchst Bedingte, als

46
das Vorläufige, als das, was den minderen Wirklichkeitsgrad
hat, auch wenn wir es nicht mit einer östlichen Mystik für bloß
unwirklichen Schein halten dürfen. Dies ist eigentlich selbst-
verständlich, besser: es müßte allmählich durch eine lange
christliche Lebenserfahrung hindurch selbstverständlich
werden. Wir sagen doch: Es gibt den unendlichen, absoluten,
von der Welt unterschiedenen Ewigen Gott; wir bewegen uns
auf ihn zu; die Freiheitsgeschichte mündet unerbittlich in die
Unmittelbarkeit dieses Gottes selbst, den wir als das erlösende,
vergebende und befreiende Gericht erhoffen. Gleichzeitig aber
macht der christliche Glaube kein Hehl daraus, daß dieser unser
Gott in unzugänglichem Licht wohnt und in alle Ewigkeit —
auch in der Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht, ja
gerade da — das unbegreifliche Geheimnis bleibt in seinem
Wesen und in den Verfügungen seiner eigenen Freiheit. Der
christliche Glaube mutet uns gerade von daher aber auch zu, daß
wir die Welt und unsere innerweltliche Aufgabe mit all deren
banalen, scheinbar immer wieder verwesenden Einzelheiten so
radikal ernst nehmen, daß wir sie, soweit sie unserer uns uner-
bittlich angelasteten Freiheit entspringen, vor Gott selbst ver-
antworten müssen und so unser Heil in Furcht und Zittern (wie
Paulus sagt) zu wirken haben. Für die wahre, uns unerbittlich
abverlangte Grundstruktur unseres Daseins in Freiheit ist Gott
nicht nur irgendeine beliebige oder sogar zweifelhafte Einzel-
heit am Rande unserer Existenz, die man auch bescheiden und
skeptisch auf sich beruhen lassen könnte, sondern er ist die alles
durchdringende, alles ordnende, alles auf sich von uns weg
konzentrierende Wirklichkeit; und gerade so als unbegreifliche
Wirklichkeit stellt er auch alles andere, was uns näher liegt, in
Frage, relativiert und impft es mit ihrer eigenen Unbegreiflich-
keit.
Sind wir Christen also nicht diejenigen, welche die Utopie,
über die wir gar nicht verfügen können — weder im Denken
noch in der Tat -, Gott nennen und sie für die eigentliche und
wahre Wirklichkeit halten? Sind wir Christen nicht diejenigen,
die den utopischen Himmel nicht bloß als einen zusätzlichen
Trost betrachten, den man sich — warum auch nicht — schließ-
47
lich gefallen läßt, sondern den in die Rechnung der Erde und
unseres sogenannten realen Lebens einzukalkulieren man von
sich unerbittlich fordert? Natürlich soll man einen Glauben
verkünden, der die Erde liebt. Natürlich kann man, richtig
verstanden, die Aufgaben dieser Erde nicht ernst genug
nehmen; natürlich soll man die Schönheit der Erde, die Größe
des Menschen und den Glanz der Liebe hymnisch preisen. Aber
es bleibt dabei, daß der Gott, auf den wir uns hinbewegen, für
den wir da sind, vor dem wir Rechenschaft zu geben haben,
noch einmal ganz anders, ganz verschieden ist von den soge-
nannten «realen» Wirklichkeiten, mit denen unsere sogenannte
realistische Empirie zu tun hat; und dieser Gott darf nicht zu
dem Glanz allein herabgewürdigt werden, mit dem wir unsere
eigene Wirklichkeit verherrlichen oder wenigstens ein wenig
tröstlicher zu machen suchen. Letztlich sind wir nach christli-
cher Grundüberzeugung für Gott da; er ist eben in seiner
souveränen Absolutheit und Herrlichkeit nicht allein der
zusätzliche Posten, der das Budget unseres Lebens auszuglei-
chen hat. Erst wenn wir Gott in seiner unbezüglichen Absolut-
heit anzubeten entschlossen sind; erst wenn wir ihn sogar in
einem uns scheinbar restlos überfordernden Wagnis zu lieben
versuchen; erst wenn wir verstummend vor seiner Unbegreif-
lichkeit kapitulieren und diese Kapitulation der Erkenntnis und
des Lebens als das Ereignis letzter Freiheit und ewigen Heiles
annehmen — erst dann fangen wir an, Christen zu sein. Und
dann sind wir doch die Menschen einer heiligen Utopie und
nicht die Menschen eines sogenannten Realismus und sind so
gerade davon überzeugt, daß wir in einem solchen Denken und
Leben die wirkliche Wirklichkeit ergreifen, während wir die
andere, sogenannte Wirklichkeit als das bloß Vermittelnde, als
das Vorläufige, ja von der sogenannten Utopie schon insge-
heim Erfüllte und Erlöste verstehen und leben.
Die Frage unseres Themas nach einem «Zwischen» der
christlichen Existenz zwischen Utopie und Wirklichkeit stellt
uns also, genau genommen, vor die unerbittliche Frage:
Bringen wir es in unserem Leben fertig, das, was als ferne
Utopie uns zunächst sehr unwirklich, sehr unkalkulierbar und

48
unhandlich erscheint, als die wahre Wirklichkeit zu denken und
zu leben, der gegenüber das unwirklich wird, was «man» als
- die selbstverständliche feste Realität betrachtet? Haben wir
Christen den Mut zu dieser Umkehr der Maßstäbe bezüglich
dessen, was als wirklich zu gelten hat? Bringen wir den Mut
auf, uns (biblisch gesprochen) als Pilger, als Fremdlinge zu
empfinden in einer Welt, die höchstens noch an Gräbern oder
von den Kanzeln herunter die Rede von Gott erlaubt, sonst
aber eine solche Rede von Gott und dem Ewigen Leben als
Peinlichkeit empfindet, die für die Idealisten zu massiv und für
die Realisten zu utopisch klingt?
Macht sich Gott und der Glaube an das Ewige Leben
konkret im Alltag bei uns bemerkbar, oder ist diese Wirklich-
keit für uns nur ein Gegenstand frommer Andacht am Sonntag,
während unsere Moral des Alltags sich von der eines Atheisten
nicht wirklich unterscheidet? Es ist schon so: Das «Zwischen»
der Dualität von Utopie und Realität, Anspruch und Wirklich-
keit bedeutet in Wahrheit, daß wir die profanen, heidnischen
Maßstäbe, nach denen wir die Realität beurteilen, umkehren
müssen und der Anspruch der sogenannten Utopie für uns das
Wirklichste sein muß.

Die bleibende Spannung zwischen Erfüllung und Unerfüllbarkeit


aushalten

Was das eben Gesagte für uns wirklich bedeutet, wird erst klar,
wenn wir bedenken, daß diese Spannung zwischen Utopie und
Realität, Anspruch und Wirklichkeit nicht schon durch die
Bejahung eines theoretischen Satzes bezüglich dieser Spannung
angenommen ist. Es handelt sich letztlich nicht darum, daß wir
Christen jenseits eines bloßen Idealismus und eines sogenann-
ten Realismus die bleibende Spannung zwischen Anspruch und
Wirklichkeit, zwischen Himmel und Erde /beoretisch bejahen.
Es ist nicht so, daß wir durch eine solche theoretische Bejahung
schon das richtige Verhältnis zu dieser Spannung haben. Man
kann theoretisch ein Christ sein und dennoch unreflektiert in
der Praxis des Lebens nach der einen Seite des Idealismus oder
49
nach der anderen Seite des sogenannten Realismus diese
unserer Freiheit aufgegebene Spannung im konkreten Alltag
verraten. Ja, wir sind sogar, solange die Geschichte unserer
Freiheit nicht vollendet ist, immer unterwegs, immer Pilger
und so immer diejenigen, die bis zu einem gewissen Grad die
Einheit in Verschiedenheit, die mit dieser Spannung gegeben
ist, verletzen; wir sind diejenigen, die sich halbherzig dem
radikalen Anspruch, der Gott heißt, entziehen, die nicht wahr-
haben wollen, daß wir diesen absoluten Anspruch Gottes
immer durch eine Treue zu unserer irdischen Aufgabe beant-
worten müssen. Wenn gesagt wird, daß wir Gott aus ganzem
Herzen und aus allen Kräften lieben müssen, und wenn wir
gleichzeitig uns als Sünder zu bekennen haben, dann ist damit
doch gegeben, daß wir immer hinter der vollen Erfüllung des
absoluten Anspruches zurückbleiben, daß wir die sogenannte
nahe Wirklichkeit unserer Existenz entweder idealistisch als
Vermittlung der Erfüllung des absoluten Anspruches nicht
ernst genug nehmen oder sie — weil «realistisch» ihre Synthese
mit dem absoluten Anspruch Gottes leugnend — in falscher
Weise ernst nehmen. Faktisch sind wir alle Halbherzige, denen
es nie ganz gelingt, die richtige Position zwischen Anspruch
und sogenannter Wirklichkeit einzunehmen. Wir sind immer
die, die zwischen der Gefahr, unser Herz an einen bloß ideali-
stisch erträumten Himmel zu verlieren, und der Gefahr, gottlos
die Erde allein zu lieben, hin und her schwanken. Ja, es wird
uns gesagt — durch die christliche Botschaft -, daß wir uns nicht
einmal mit einer reflexen Sicherheit eindeutig sagen können,
welche Position wir genan innerhalb dieser Spannung einnehmen.
Wir sind geheißen, diese Frage, wie es mit uns im allerletzten
bestellt ist, ob wir ein gutes oder schlechtes Gewissen haben
können, noch einmal schweigend, wenn auch hoffend, dem
alleinigen Gerichte Gottes zu überlassen. Wir kommen von
einem Anfang, den wir nicht selber gesetzt haben; wir pilgern
einen Weg, dessen Ende von der Unbegreiflichkeit des Wesens
und der Freiheit Gottes verschlungen wird; wir sind ausge-
spannt zwischen Himmel und Erde und haben weder das Recht
noch die Möglichkeit, auf eines davon zu verzichten; das eine

5o
ist nicht das andere, und dennoch ist eines nicht ohne das
andere zu haben; und wir wissen nie mit einer letzten Sicher-
heit, wie sich unsere ursprüngliche Freiheit zu dieser unaus-
weichlichen Situation unserer Existenz verhält; wir haben
unseren Anfang anzunehmen, unsere letzte Liebe dem An-
spruch und dem Ende, die Gott heißen, zu schenken und selbst
die Tatsache, ob wir es wirklich tun, noch einmal hoffend Gott
selber anzuvertrauen. Die christliche Existenz kann keines von
all diesen Daten auslassen. Das ist ihre Größe, ihre radikale
Schwierigkeit und ihre letzte einfache Selbstverständlichkeit,
weil außerhalb ihrer gar nichts ist, das sie in Frage stellen
könnte.

In Hoffnung auf Gott leben

Die sachgemäß richtige und heilschaffende Annahme des in


diesem Leben nie aufhebbaren Dualismus zwischen Anspruch
und sogenannter Wirklichkeit heißt in normaler christlicher
Terminologie «von Gottes Gnade getragene Hoffnung»; sie
ist eine der drei Grundhaltungen, durch die sich der Mensch
in das richtige Verhältnis zu Gott bringt. Daß man diese
heilschaffende Annahme der bleibenden Spannung zwischen
Anspruch und sogenannter Wirklichkeit christlich «Hoff-
nung» nennen kann, ist eigentlich selbstverständlich. Der
Christ steht ja nicht unter einem beliebig von ihm selbst be-
stimmbaren Anspruch. Die absolute Wirklichkeit Gottes in
Unmittelbarkeit ist sein verpflichtendes Ziel, ohne das er sein
Wesen und seine Bestimmung, die ihm unweigerlich zugemutet
sind, verfehlen würde. Der Mensch hat nicht das Recht, mit
einer Erfüllung seines Wesens sich zufriedenzugeben, die gerin-
ger als der absolute Gott in sich selber wäre. Er hat nicht das
Recht, in seiner eigenen Endlichkeit, die ihm vertraut bliebe
und die er letztlich selber beherrschen könnte, zu verbleiben.
Er muß Gott selbst zu seiner Hoffnung, zu seiner absoluten
Hoffnung machen. Dieser Gott, der ewig unbegreifliche, kann
mit seinem Wesen und seiner Freiheit nicht in ein ihm überge-
ordnetes Koordinatensystem eingeordnet werden; daher hat
JR
diese hoffende Bewegung auf Gott hin notwendig den Charak-
ter einer maßlosen Überforderung; sie kann überhaupt nur
bestanden werden, weil Gott selbst durch seine eigene Wirk-
lichkeit dieses Bestehen der Überforderung trägt. Insofern
kann man ruhig sagen, die christliche Hoffnung sei eine Utopie,
weil sie ja sich nur als möglich und sinnvoll ausweisen läßt
durch den Gott selbst, den wir nicht begreifen und manipulieren
können.
Diese Annahme eines unaufhebbaren Dualismus zwischen
Anspruch und Wirklichkeit hat aber, wenn sie christlich ver-
standen wird, einen in einem wahren Sinn utopischen Charak-
ter nicht nur von dem Ziel, auf das sich die Hoffnung hinbe-
wegt, sondern auch von dem Ausgangspunkt dieser Bewegung
her. Der uns zugemutete Dualismus zwischen Anspruch und
sogenannter Wirklichkeit verlangt von uns ja nicht nur, daß
wir nach dem Gott ausgreifen, der keine einzelne vorfindliche
Gegenständlichkeit ist unter den sogenannten Wirklichkeiten,
mit denen wir es alltäglich zu tun haben; sondern diese über
alles Angebbare hinausgreifende Hoffnung darf, christlich
gesehen, die sogenannte Wirklichkeit nicht einfach in ihrem
wesenlosen Scheine hinter sich zurücklassen; sie muß sie in
dieser hoffenden Bewegung mitnehmen, muß sie vollziehen als
Vermittlung der eigenen Unbedingtheit auf Gott hin, ohne
diese Vermittlung mit Gott selbst zu identifizieren. Die soge-
nannten Wirklichkeiten bleiben in ihrer Verschiedenheit, ihrer
Vorläufigkeit und der Unmöglichkeit, sie untereinander zu
reiner Harmonie zu vereinen. Und dennoch schaffen sie gerade
dadurch, daß sie in ihrer Endlichkeit, Bedingtheit und Wider-
sprüchlichkeit untereinander ausgehalten und angenommen
werden, die Möglichkeit, Gott als den einzig absoluten Flucht-
punkt der Bewegung der Hoffnung wirklich anzunehmen.
Gott wird gehofft, wenn die irdischen Wirklichkeiten in Treue
als vorläufige, vergängliche, zerbrechliche angenommen
werden, ohne bei ihnen einen letzten Halt und ein endgültiges
Ziel finden zu wollen. Hoffnung geht immer weiter und nimmt
in einer geheimnisvoll verwandelnden Weise immer das mit, an
dem sie scheinbar nur gelassen vorbeigeht.

NZ
In der wachsenden Ratlosigkeit das Ankommen des Geheimnisses
Gottes bestehen

Aber wenn wir so die unmittelbare sogenannte Wirklichkeit in.


_ Treue als Vermittlung unserer absoluten Hoffnung zu bestehen
suchen, dann bleibt dennoch diese sogenannte Wirklichkeit so,
wie sie eben ist und uns auferlegt bleibt. Sie ist undurch-
schaubar, sie ist unvollendbar, alle Harmonien und Synthesen
zerbrechen immer wieder. All das steigert sich heute in einem
früher nicht vorstellbaren Maß und wird immer intensiver.
Immer mehr an Wirklichkeit wird der Macht der Menschen
überliefert; doch wird darum die Undurchschaubarkeit und
Unvollendbarkeit der Wirklichkeit nicht geringer, sondern
immer mehr zu etwas, in das wir eingeflochten sind mit
eigenem Tun und eigener Freiheit; damit erhält diese Undurch-
schaubarkeit und Unvollendbarkeit der Wirklichkeit eine Bit-
terkeit, die es früher nur in geringem Maß im Dasein des
Menschen gegeben hatte. Seien wir doch ehrlich: Wir werden
immer ratloser. Wir sind zwar gezwungen, individuell und
kollektiv Entscheidungen zu treffen, und können uns nicht
feige vor dieser Notwendigkeit drücken. Aber die Vorausset-
zungen dieser Entscheidungen werden für uns selber immer
undurchsichtiger. Je mehr die Wissenschaften von der Natur
und vom Menschen wachsen und immer mehr Material der
Erkenntnis als Voraussetzung unserer Entscheidungen an-
schleppen, um so undurchsichtiger wird unsere Entscheidungs-
situation; denn uns wird für diese Entscheidungen eine Unzahl
von Möglichkeiten und von Gesichtspunkten angeboten, unter
denen wir uns nicht mehr zurechtfinden. Nur die Einfältigen
und Dummen wissen heute noch genau, was individuell oder
kollektiv zu tun ist. Früher hat die Natur, ohne uns zu fragen
oder ohne daß wir es merkten, den Großteil dessen schon als
Schicksal auferlegt oder für unsere Entscheidung vorprogram-
miert, was unser Leben ausmachte. Und darum gab es mehr,
das selbstverständlich war, als es heute für uns der Fall ist.
Mühsam tastend und halb blind bewegen wir uns auf unserer
Lebensbahn individuell und kollektiv weiter.

53
Die Annahme, das Eingeständnis und das Aushalten solcher
Ratlosigkeit gehören zur christlichen Aufgabe; diese muß
nüchtern und ohne idealistische Vernebelungen heute von uns
geleistet werden. Für den Christen ist die Ratlosigkeit in seinem
Leben im allerletzten doch nur das konkrete Ankommen des
heiligen Mysteriums, das wir Gott nennen. Unsere Ratlosigkeit
darf uns im letzten nicht verwundern. Wo wir nur immer
können, sollen wir sie zu verscheuchen, aufzuklären versuchen.
Aber wir besiegen sie auch bei tapfer entschlossenem Kampf
letztlich nie, sie bleibt und überwältigt den einzelnen in seinem
Leben. Die Frage ist nur, ob sie von uns verstanden wird als
das Zu-sich-Kommen der letzten Absurdität des Daseins oder
als das konkrete Ankommen des Geheimnisses, das wir als
unsere rettende, vergebende und vollendende, absolute
Zukunft annehmen. Letztlich gibt es nur diese Alternative, die
einzige, vor der wir gewiß nicht ausweichen können.
Freilich kann die Option für die eine oder die andere Alter-
native, die unser Leben auf Endgültigkeit hin vornimmt, noch
einmal seltsam verschleiert und zweideutig werden. Die schein-
bar sich selbstverständlich gebärdende ruhige Hoffnung auf das
Ewige Leben kann in Wahrheit der Schleier über einer soge-
nannten realistischen Lebenshaltung sein, die sich in falscher
Nüchternheit und Bescheidenheit mit dem kärglichen Glück
dieses Lebens begnügt. Und der leidenschaftliche, scheinbar
verzweifelte Protest gegen die Absurdität unserer Existenz
kann die Weise sein, in der allein eine letzte, durch keine
Einzelwirklichkeit zu befriedigende Hoffnung auf eine unend-
liche Vollendung sich realisieren kann.
Trotz allem Nachhall eines Triumphgeschreis einer Mensch-
heit, die meinte, unmittelbar an der Grenze ihrer selbstgeschaf-
fenen Vollendung angekommen zu sein, überfällt uns heute das
Gefühl, nicht recht weiterzuwissen, die Erfahrung eines immer
schneller werdenden Verschleißes aller Ideale, die auf den
Märkten des Lebens angepriesen werden, eine schreckliche
Dissonanz der Stimmen, die tausend Dinge gleichzeitig als
unbedingt und rasch zu verwirklichend anpreisen, eine uner-
bittlich sich ausbreitende Hoffnungslosigkeit, vor der alle auch

54
heute noch vertretenen alten und neuen Menschheitsideale und
Zukunftsprogramme sich ein wenig kümmerlich zeigen und
wenig Durchschlagskraft zu haben scheinen.
In dieser Situation dürfen wir Christen gewiß nicht aufge-
ben, müssen wir nüchtern weiter tun, was die Zeit und der
Alltag uns abverlangen, und haben nicht einmal das Recht,
nichts mehr für diese Geschichte und Gesellschaft an innerwelt-
lichem Erfolg zu hoffen. Wir Christen wissen, daß wir im
letzten die Zeit unserer Heilsgeschichte nicht selber beliebig
aussuchen dürfen und können. Und darum haben wir keinen
Grund, so zu tun, als ob es uns heute als Menschen und als
Christen besonders fröhlich zumute wäre. Wir leben nun
einmal, so meine ich, wenn wir ehrlich sind, in einer winter-
lichen Zeit — winterlich in Gesellschaft und Kirche. Wir brau-
chen es uns gar nicht selber oder der Kirche zum Vorwurf und
zum Zeichen unseres Versagens zu machen, wenn es uns nicht
gelingt, diese unsere winterliche Zeit wegzuzaubern. Wir haben
gewiß immer wieder Grund, von uns mehr zu fordern, als wir
tatsächlich leisten. Aber wir brauchen uns auch nicht zu über-
fordern, uns selbst nicht, die Politiker nicht und die Kirchen-
führer nicht; wir brauchen nicht so zu tun, als ob mit ein
bißchen mehr Mut und gutem Willen unsere individuelle und
kollektive Situation in eitel Lust und Freude verwandelt
werden könnte. Eine solche Überforderung wäre das Zeichen
dafür, daß wir nicht auf Gott, sondern auf uns selbst unsere
Hoffnung setzen.
Wenn die Situation, in der wir heute weltweit sehr winterlich
zu leben haben, uns auferlegt und bleibend ist, dann haben wir,
wenn wir gelassen und mutig das Unsere getan haben, das
Recht, diese Situation zu erleben als geheimnisvollen Einbruch
des Ewigen Geheimnisses Gottes, bei dem wir ankommen
können und ankommen müssen. Erfolglosigkeit, Enttäu-
schung und Untergänge soll sich ein Christ nicht durch selt-
same ideologische Versüßungen zu ersparen suchen, die in der
Gesellschaft und auch in der Kirche feilgeboten werden. Aber
er kann diese Untergänge eben doch glaubend, hoffend, liebend
als Aufgang des unbegreiflichen Gottes annehmen, der um so
„2
\

wirklicher kommt, je schrecklicher und hoffnungsloser seine


Ankunft zu sein scheint.

Der Ernstfall des Todes

Das eben Gesagte soll nun noch etwas konkretisiert werden —


selbst auf die Gefahr hin, daß solche Rede als pietistische und
privatistische Innerlichkeit verdächtigt wird, die nur noch von
einer altmodischen Theologie zu verteidigen gewagt werden
kann. Sosehr der Mensch - jeder einzelne von uns — vor Gottes
Gericht zu verantworten hat, ob er seine politische Aufgabe
erfüllt hat, ob er den Nächsten liebt, ihm Freiheit gewährt und
Gerechtigkeit angedeihen läßt, und sosehr dieses unser immer
auch «politisches» Leben einmal verklärt in unsere Ewigkeit
eingesammelt werden wird, wenn es gerecht gelebt wurde,
sosehr ist dennoch jeder von uns einer, dessen Leben sich
unerbittlich auf die Einsamkeit des Todes hinbewegt, der uns
nicht uns selber abnimmt durch Auflösung, sondern uns mit
unserer Freiheitsgeschichte endgültig überantwortet. Dieser
Tod muß einsam im Angesicht Gottes bestanden werden. Und
darin wird sich für jeden von uns je einmalig und endgültig
offenbaren, ob wir die Spannung zwischen Auftrag und soge-
nannter Realität in unserem Leben ausgehalten haben, ob wir
dieser Spannung weder in einem Pseudoidealismus noch in
einem Pseudorealismus davongelaufen sind, ob wir uns immer
aufs neue bemüht haben, diese Spannung zwischen Anspruch
und Wirklichkeit immer mehr auf jenen Punkt hin zu überwin-
den, an dem der Ertrag unserer Wirklichkeit eingebracht wird,
an dem wir selber in der von Gott her geschenkten, überbieten-
den Erfüllung unseres Auftrages mit dem Ewigen Gott in
seiner unendlichen, heiligen, unbegreiflichen Herrlichkeit zu
einer seligen Einheit zusammengekommen sein werden.
DIE THEOLOGISCHE DIMENSION DES
FRIEDENS

Der Frieden ist eine schr komplexe Wirklichkeit, und darum


ist auch die Frage nach dem Frieden eine sehr vielfältige Frage.
Ich möchte hier von einer theologischen Dimension des Frie-
dens sprechen. Es gibt an und für sich viele theologische
Dimensionen des Friedens, denn alle komplexen Wirklich-
keiten, die den menschlichen Frieden in der Familie, in der
Nachbarschaft, im Staat, in der internationalen Völkergemein-
schaft ausmachen, grenzen — jede auf ihre eigene Art - an Gott,
und so ist die theologische Dimension des Friedens an sich
selbst noch ‚einmal sehr vielfältig. Aber ich suche eine be-
stimmte solche Dimension deutlich zu machen, auf die ich mich
beschränke.
Nennen wir das Gegenteil des Friedens in einer einfachen
Kurzbezeichnung «Streit», dann können wir fragen: Wodurch
entsteht Streit? Darauf ist folgende Antwort zu geben. Streit
unter den Menschen setzt zunächst einmal voraus, daß die
verschiedenen Wirklichkeiten, Eigentümlichkeiten und
Dimensionen, aus denen der Mensch, seine Umwelt und die
Gemeinschaft der Menschen sich zusammensetzen, nicht von
vornherein reibungslos zusammenpassen. Das ist an und für
sich nicht besonders verwunderlich. Die Wirklichkeiten ge-
schöpflicher und somit endlicher Art sind nun einmal in dieser
von Gott geschaffenen Welt nicht einfach in einer Harmonie,
in der von vornherein jede einzelne Wirklichkeit zu jeder
anderen paßt. Vielleicht ist das nicht bloß durch die Endlichkeit
der Welt und jeder Einzelwirklichkeit für sich und durch die
Geschichtlichkeit der Welt zu erklären, aber jedenfalls ist es so,
und wir haben diese Tatsache einfach demütig und nüchtern
hinzunehmen: Die Wirklichkeiten der verschiedenen Art fügen
sich — zumindest für das menschliche Verständnis — nicht zu
einer einfachen und klaren Harmonie zusammen.

J7
Vernünftige Ausgleiche und Kompromisse

Unter dieser Voraussetzung entsteht dann Streit unter den


Menschen, wenn sie sich untereinander über die erst noch zu
bewerkstelligende Zusammenfügung dieser, nicht einfach von
vornherein schon harmonisierten Einzelwirklichkeiten der
menschlichen Existenz nicht einigen können. Jeder Mensch
vertritt gewissermaßen das Recht und die Eigenart einer be-
stimmten Wirklichkeit und ist nicht bereit, davon etwas ab-
zugeben zugunsten einer anderen Einzelwirklichkeit innerhalb
der menschlichen Existenz, die auch ihre Ansprüche stellt. Es
gibt z.B. nur einen begrenzten Reichtum; jeder will ein
größeres Stück davon in Anspruch nehmen. Die Harmonie des
Ganzen soll und muß unter gewissen Opfern, die einzelnen
Wirklichkeiten auferlegt werden müssen, hergestellt werden,
und die Menschen können sich nicht darüber einigen, wo und
von wem solche Opfer, solche Abstriche und Verzichte gefor-
dert werden sollen. Und damit ist dann der Streit unter den
Menschen gegeben.
Nun ist es an und für sich verständlich, daß fast jeder solche
Streit unter den Menschen bei Vernunft, ein wenig Bescheiden-
heit und Friedfertigkeit beigelegt werden könnte. Man muß
nur vernünftig zusehen, wo in welchem Ausmaß bestimmte
Verzichte zugemutet werden könnten, damit ein Ausgleich
zwischen den verschiedenen Ansprüchen der unterschiedlichen
Wirklichkeiten erzielt werden kann. Im großen und ganzen —
so könnte man sagen — lassen sich alle Streitigkeiten überwin-
den; Frieden in den einzelnen Bereichen des Menschen und
seiner Gesellschaft könnte hergestellt werden, wenn jeder zu
solchen vernünftigen und grundsätzlich einsehbaren Verzich-
ten, Einschränkungen und Abstrichen an Ansprüchen bereit
wäre. Alle Friedensbemühungen zielen im Grunde genommen
auf einen solchen Ausgleich zwischen den Ansprüchen der
einzelnen und einzelner Menschengruppen. Friede wird im
allgemeinen durch vernünftigen Ausgleich und Kompromisse
hergestellt.

58
Das Reich der unbedingten Freiheit

Aber wenn man genauer zusieht, ist es doch in vielen Fällen


solcher Friedlosigkeit und des Versuches der Beilegung von
Streitigkeiten im menschlichen Leben nicht so einfach. Es gibt
eben in vielleicht vielen Fällen - vielleicht in allen einigermaßen
wichtigen Streitfällen — den Umstand, daß die eine oder die
andere Partei in einem solchen Streit bei einem für den Frieden
unerläßlichen Verzicht und Abstrich auf etwas verzichten muß,
für das sie nicht eigentlich in einer im menschlichen Bereich
greifbaren Weise entlohnt oder entschädigt wird. Sehr oft wird
man zwar sagen können, daß bei solchen, den Frieden her-
beiführenden Kompromissen alle Teile besser im Frieden weg-
kommen, als wenn eine Partei versuchen würde, ohne Abstri-
che ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse allein durchzudrük-
ken — in einem Handelskrieg oder in einem modernen Krieg
mit Atomwaffen werden gewiß alle Teile schlechter wegkom-
men, als wenn sie sich auf einen vernünftigen Kompromiß
geeinigt hätten, in dem jede Partei eines Streites auf gewisse
Vorteile hätte verzichten müssen —, aber es gibt (wie gesagt,
zumindest in manchen Fällen oder vielleicht sogar in der Tiefe
aller ernsthaften Konflikte) auch Situationen, in denen der
Friede nur durch einen Verzicht auf der einen oder auf der
anderen oder auf beiden Seiten möglich ist, der unbelohnt
bleibt, ja, der sogar von der anderen Seite ohne Dank als
selbstverständlich hingenommen wird. Wie würde die durch
die Treulosigkeit ihres Gatten in der Mitte ihrer Existenz
getroffene Frau belohnt werden, wenn sie um ihrer Kinder
willen doch auf eine Scheidung verzichtet? Wird ein Politiker,
der in einem parteipolitischen Streit bei der Wahrheit bleibt,
der bereit ist, einen Fehler einzugestehen, um ehrlich zu
bleiben, der die Rechte seines Gegners ebenso achtet wie seine
eigenen, immer durch die Achtung und die Dankbarkeit seines
Volkes belohnt, oder wird er nicht ausdrücklich oder insge-
heim als der Dumme belächelt, der seinen Vorteil nicht wahren
kann? Es gibt nun einmal im menschlichen Leben solche Situa-
tionen, in denen von dem einen oder dem anderen der Streiten-

3)
den Opfer und Verzicht verlangt werden, die nicht mehr wirk-
lich und greifbar durch den unmittelbaren Frieden in sich selbst
genügend und einsichtig belohnt werden. Die Rechnungen des
Lebens gehen auch in bezug auf den Frieden nie durch mensch-
lich ausgleichbare Posten allein genau und glatt auf.
An dieser Stelle tut sich nun eine religiöse Dimension des
Friedens auf, von der wir hier sprechen wollen. Letztlich kann
man gar nicht auf Dinge, die für die eigene Existenz und die
eigene Selbstverwirklichung radikal bedeutsam sind oder in
Freiheit als solche aufgefaßt werden, einfach verzichten, wenn
man sich nicht selbst zerstören will (was man letztlich gar nicht
wollen kann), ohne daß der Anspruch erhoben wird, daß dieser
Verzicht auf andere Weise kompensiert wird. Aber wodurch
wird ein solcher Verzicht ersetzt, wenn diese Kompensation
doch innerhalb der üblichen Erfahrung gar nicht ausgewiesen
werden kann? Es gibt genug Fälle, in denen man sich in einem
Streit erbittert und gar nicht unsinnig fragen kann, warum man
denn selber gerade der Dumme sein soll, der zahlen muß, damit
Friede werde. In solchen Fällen nun kann ein Mensch die
Größe und die innere Freiheit, um solche Verzichte schweigend
und unbelohnt zu erbringen, nur haben, wenn er auf jene
Wirklichkeit und Erfüllung hin offen ist, die wir Gott nennen.
Man könnte fast definitorisch sagen: Gott ist die eigentliche,
umfassende und alles tragende Möglichkeit des Friedens,
dessen Möglichkeit und Sinnhaftigkeit durch die Einzelwirk-
lichkeiten nicht mehr ausgewiesen werden kann, aus denen sich
die menschliche Wirklichkeit zusammensetzt. Nur der kann
letztlich friedfertig sein, der der glaubenden Überzeugung ist,
daß es eine letzte, unangreifbare, von Menschen gar nicht
zerstörbare Sinnerfüllung der menschlichen Existenz gibt, die
wir eben Gott nennen. Wer an Gott glaubt, der hat es gar nicht
notwendig, in einer letzten Erbitterung und Absolutsetzung
jedwede irdische Wirklichkeit und einzelne Sinnhaftigkeit so zu
verteidigen, daß er sie auch bei einem radikalen Streit unter
Menschen aufzugeben nicht bereit wäre. Nur wer auf Gott und
seine eigene Verwirklichung von Gott her offen ist, braucht
sich nicht dort noch einmal zu einem absoluten Konflikt zu

60
entschließen, wo an sich ein Verzicht zugemutet wird um des
Friedens willen, ein Verzicht, der ihm Werte nimmt, die sehr
groß und bedeutsam für ihn sind. Die Frage nach den Voraus-
setzungen des Friedens weist also in eine religiöse Dimension
hinein. Wenn es jemand fertigbringt, um des Friedens willen
ohne Dank und Anerkennung auf sehr erhebliche Werte und
Güter zu verzichten — sogar unter Umständen darauf verzich-
tet, nicht einmal durch das Gefühl der Selbstlosigkeit belohnt
zu werden -, der ist im Grunde genommen, ob er es weiß oder
es sich nicht ausdrücklich zu sagen vermag, in das Reich der
unbedingten Freiheit, der Gnade Gottes geraten.

Sich nicht alles gefallen lassen

Wenn so durch eine Dimension religiöser Art auf Gott ver-


wiesen wird als Bedingung der Möglichkeit eines Friedens
durch Verzicht, der sich für den einen oder den anderen nicht
mehr durch einen ihn belohnenden Vorteil lohnt, dann soll
damit selbstverständlich nicht gesagt werden, daß mit diesem
Rezept jedweder Streit beigelegt werden soll. Es gibt Mächtige
und Herrschende zu allen Zeiten, die um des ihnen vorteilhaf-
ten Friedens willen andere zu Verzicht, zu Ruhe, zu Beschei-
denheit ermahnen. Solche Leute wollen die Religion egoistisch
zum Opium des Volkes machen; sie empfehlen ihren Nächsten
Demut, Bescheidenheit, Opferbereitschaft, schweigenden Ver-
zicht, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Wer wirklich eine
letzte, innere Offenheit auf Gott hin hat, in dem er eine letzte
unüberbietbare Legitimation richtigen Tuns findet, der kann
unter Umständen auch streiten, kann kämpfen, kann einen
Krieg riskieren, dessen günstiger Ausgang für ihn selber nicht
ohne weiteres berechenbar ist. Wer Gott zu seinem Verbün-
deten hat, braucht sich nicht alles gefallen zu lassen, weil er im
allerletzten dort, wo er von Gott her legitimiert ist, gar nicht
in einem solchen Streit untergehen kann.
Was nun im konkreten einzelnen Falle zu tun ist, ob man um
legitimer, irdischer Wirklichkeiten willen kämpft und streitet,
61
oder ob man von Gott her verzichtet um des Friedens willen,
das läßt sich aus solchen allgemeinen Überlegungen nicht ab-
leiten. Der auf Gott hin Freie kann unter Umständen einen
Konflikt wagen oder ihn vermeiden, und zwar von seinem
einen und selben letzten Verhältnis zu Gott her. Jedenfalls aber
gibt es im Bereich der irdischen Empirie eine nicht mehr
eindeutig belohnte Friedfertigkeit, die ein Mensch nur fertig-
bringt, wenn er auf Gott hin offen ist. Damit ist natürlich auch
gesagt, daß ein Mensch solcher Friedfertigkeit auch dann auf
Gott hin offen ist, wenn er dieses nicht ausdrücklich sich selber
sagen kann.

62
' DIE FRAGE NACH DER ZUKUNFT EUROPAS

Im folgenden sollen zunächst einige Vorüberlegungen vorge-


tragen werden, die man — wenn vielleicht auch etwas unbe-
scheiden - solche aus einer Philosophie und einer Theologie der
Geschichte nennen kann. Natürlich überschreitet es die Mög-
lichkeiten eines solchen Aufsatzes weit, eine Geschichtsphiloso-
phie und Geschichtstheologie mit all ihren vielen und dunklen
Themen vorzutragen oder als bekannt vorauszusetzen und
dann auf unsere Frage nach der Zukunft Europas anzuwenden.
Es ist hier gar nicht mehr möglich, als in einer unvermeidlich
etwas willkürlichen Auswahl diese und jene Überlegungen aus
dieser Philosophie und Theologie vorzutragen, die die Berech-
tigung der Frage nach der Zukunft Europas etwas verständli-
cher machen können, als wenn man die Frage unmittelbar nur
von einer empirischen Gegenwartsanalyse her stellen würde. Es
sei bei dieser Fragestellung erlaubt, diese Überlegungen ohne
genaue und deutliche Unterscheidung zwischen Geschichts-
Philosophie und Geschichtszheologie vorzutragen.

Die Zukunft und die Frage nach dem Ganzen

Die Frage, die uns nun beschäftigen soll, könnte man vielleicht
vorläufig so formulieren: Gibt es über eine allgemeine histori-
sche Neugierde, die unwillkürlich auch ein wenig über die
Gegenwart hinaus an Möglichkeiten der Zukunft denkt, und
über einen positivistischen Pragmatismus, der im Stil der
Politiker und der Futurologen nach einer absehbaren Zukunft
der Welt und so Europas fragt, hinaus Überlegungen, die Sinn
und Notwendigkeit, nach der Zukunft Europas zu fragen, als
berechtigt erkennen lassen? Daß eine solche Frage nicht von
vornherein selbstverständlich berechtigt ist, leuchtet wohl dem
skeptischen Menschen von heute verhältnismäßig leicht ein. Er
wird sich fragen, ob «Europa» nicht — trotz einer ‘gewissen
geographischen Abgrenzung von anderen Gebieten der Erde,

63
trotz einer gewissen Einheit seiner Geschichte gegenüber
anderen Geschichtsabläufen, trotz einer bei allen Verschieden-
heiten doch gegebenen Einheit der «Kultur» im Unterschied
zu anderen Kulturen, trotz eines gemeinsamen biologischen
(ethnischen) Substrates, trotz EG usw. — einen Gegenstand zu
bezeichnen versucht, der sich, wenn man ihn genauer betrach-
tet, vor dem Betrachter auflöst - einerseits in die Schicksale der
einzelnen und andererseits in ein Geflecht von Ursachen und
Wirkungen, das eben doch bei allen künstlich wirkenden Ab-
grenzungen mit dem Ganzen der Menschheitsgeschichte iden-
tisch ist oder langsam identisch wird.
Der skeptische Mensch von heute wird weiter fragen, ob
man eigentlich über die konkrete Zukunft Europas und der
Welt wirklich im voraus auch nur einigermaßen eindeutige
Aussagen machen könne, oder ob wir über die allernächste
Zukunft hinaus und über prognostizierbare Entwicklungen
einzelner Wirklichkeiten der Gesellschaft und Geschichte (be-
sonders technischer Art) hinaus von der Zukunft im Grunde
nichts wissen und nichts wissen können.
Der skeptische Mensch von heute wird fragen, ob man denn
über den «Sinn» der Zukunft der Menschen im allgemeinen
und Europas im besonderen ernsthaft überhaupt etwas aus-
sagen könne. Er wird den Eindruck haben, daß man natürlich
zwischen Wirklichkeiten seiner Geschichte und seiner Gesell-
schaft dartikuläre Sinnzusammenhänge feststellen kann, die da
und dort auch so etwas wie eine Entwicklung zu Höherem und
Besserem, zu Sein-sollendem bedeuten, daß aber solche par-
tikulär bleibenden Erfahrungen (wie kleine Sinninseln in einem
Meer von Unverstandenem und Undurchschaubarem) keinen
greifbaren Sinn des Ganzen und im Grunde auch keitie
Normen, wie es weitergehen so//, für uns hergeben. Dies weder
für den «Sinn» der Menschheitsgeschichte im ganzen noch für
Europa im besonderen.
Der skeptische Mensch von heute wird schließlich zwar
meist noch einige moralische Normen im Bereich seines
privaten Lebens und seiner unmittelbaren Umgebung anerken-
nen, er wird aber nur zu leicht daran zweifeln, ob sich Normen

64
sittlicher Art als verbindlich für die große Geschichte und
Politik angeben lassen, ob im Ernst über die Anerkennung der
sogenannten «Sachzwänge» im Biologischen und Wirtschaft-
lichen hinaus Normen, Ideale und Richtlinien dafür angegeben
werden können, wie Europa sich für die Zukunft mindestens
einmal selbst verstehen und wollen solle. Die Frage nach der
Zukunft Europas scheint also im voraus zu allen skeptischen
Erfahrungen in unserer Gegenwart im einzelnen eine dunkle
Frage zu sein.
Weil diese Frage im letzten nicht eine partikuläre,
«regionale» Frage innerhalb des Ganzen, des einzelnen Men-
schen und innerhalb des Ganzen seiner Welt ist, sondern eben
dieses Ganze selbst betrifft, ist diese Frage im allerletzten (trotz
der notwendigerweise zu mobilisierenden Einzelwissenschaf-
ten und Einzelerfahrungen der Menschen) eine Frage der Meta-
physik, des Glaubens, der Entscheidung; und diese schenken
nur demjenigen eine Begründung, der sich vertrauensvoll auf
die Eigenart dieser Erkenntnis einläßt, in welcher der ganze
Mensch mit der Ganzheit seiner Wirklichkeit befaßt ist. Denn
alle diese Entscheidungen über die Zukunft Europas, nach
denen zu fragen ist, betreffen direkt oder indirekt das Schicksal
des ganzen einzelnen Menschen der Völker Europas als ganze
und bei der heutigen Einheit der Weltgeschichte auch die
Gesamtheit der Menschheit. Solche Fragen aber sind letztlich
nicht mehr Fragen nach diesem oder jenem einzelnen im
Gesamt der Wirklichkeit, das für sich allein erkannt und even-
tuell verändert werden kann, sondern Fragen nach dem Ganzen
der Welt. Solche Fragen aber können auch darum nur von
einem Vorverständnis über das Ganze der Wirklichkeit her
gestellt und beantwortet werden. Sie sind gewissermaßen nicht
Fragen nach einem einzelnen Punkt in einem Koordinatensy-
stem, sondern Fragen nach dem Koordinatensystem als solchem
und ganzem — und damit Fragen einer metaphysischen An-
thropologie und des glaubenden Selbstverständnisses des Men-
schen und darüber hinaus solche, die nicht durch eine abstrakte
Theorie allein beantwortet werden können, sondern gerade,
um «rational» und verantwortungsvoll beantwortet werden zu

65
können, nur in Einheit mit einer freien Entscheidung, mit
einem Bekenntnis, mit einem Moment der Praxis beantwortet
werden können. Es wäre nämlich ein Mißverständnis der
menschlichen Existenz, würde man meinen, daß die letzten
Klarheiten und Sicherheiten in einer abstrakten Wissenschaft-
lichkeit allein, in einer Enthaltung von einer existentiellen
Entscheidung zu erreichen seien.

Zur Realität Europas

Wir versuchen nun, über die einzelnen Elemente dieser unserer


Frage nachzudenken, und zwar in der eben angedeuteten
Weise, die in etwa gegenüber der Geschichtswissenschaft und
gegenüber einer empirischen Gegenwartsanalyse apriorisch ist.
Die erste Frage, die wir uns stellen, ist die: Kann man
überhaupt damit rechnen, daß Europa «eine Realität» ist, über
die man im Ernst letztgewichtige Aussagen bezüglich ihrer
Gegenwart und Zukunft machen kann? Die Frage selber ist
schon undeutlich und muß zunächst erklärt werden. Wenn ein
christlicher Metaphysiker und Theologe über einen einzelnen
Menschen eine Aussage macht, dann ist er (zumindest bis zur
Aufklärung einschließlich) davon überzeugt, daß dieser ein-
zelne Mensch eine bleibende Gültigkeit, Endgültigkeit in sei-
nem Wesen und in seiner Freiheitsgeschichte hat, «unsterb-
lich» ist, sich und den bleibenden Ertrag seiner Geschichte
(trotz aller notwendigen Verwandlung) in eine Endgültigkeit
vor Gott einbringt. Dies ist auch heute noch die Überzeugung
des Christen, wenigstens von seinem Glauben her. In diesem
Sinn hat der Mensch mindestens als einzelner eine absolute
Bedeutung, ein absolutes Gewicht. Er läßt sich letztlich nicht
in Einzelelemente auflösen und somit als solcher aufheben.
Von daher kann man nun als christlicher Metaphysiker und
Theologe fragen, ob eine solche absolute Sinnhaftigkeit und
Gewichtigkeit auch kollektiven Einheiten von Menschen
zukommen könne oder ob solche (eine gesellschaftliche
Gruppe, ein Volk, eine Geschichtsepoche, eine Kultur usw.)
66
nur zu jenen unvermeidlichen, aber bloß vorläufigen Erschei-
nungen gehören, innerhalb derer und in deren bloßer Zeitlich-
keit ein Mensch seine eigene Freiheitsgeschichte betreiben
muß, Erscheinungen, die sich aber auflösen, sobald der eigent-
liche Sinn und Ertrag der Geschichte in der Endgültigkeit der
einzelnen Menschen vor Gott erreicht ist. Wenn man im Ernst
sich zur Überzeugung (oder Hoffnung) bekennt, daß menschli-
chen Kollektiven (mindestens in analoger Weise) eine solche
absolute Gewichtigkeit zukommen kann wie nach christlicher
Überzeugung dem einzelnen Menschen, dann kann man auch
zu fragen wagen, ob «Europa» zu solchen kollektiven Größen
von ewiger Bedeutung gehöre (was natürlich nicht bedeutet,
daß dieses Europa sicher zeitlich so lange existiert wie die
Menschheit überhaupt, sondern meint, daß dieses Europa als
solches sich in die Endgültigkeit der vollendeten Geschichte
einbringt, wie der einzelne Mensch dies tut, auch wenn er nur
ein zeitlich sehr begrenztes Dasein hat).
Die Frage nach einer solchen Gewichtigkeit kollektiver
menschlicher Wirklichkeiten im allgemeinen und eventuell
Europas im besonderen mag einem Menschen von der Banalität
seines Alltags her als Frage sinnloser Spekulation und Leere
erscheinen. Aber ist es nicht dort, wo geschichtliche Ent-
scheidungen für ein solches Kollektiv, also z.B. über Europa,
gefällt werden, von fundamentaler Bedeutsamkeit, ob diese
Entscheidungen unter der Perspektive eines solchen absoluten
Sinnes oder unter der verhohlenen und unter dem Pathos der
Tagespolitiker verbrämten Überzeugung getroffen werden,
daß letztlich alles in eine letzte Leere abstürzt oder höchstens
noch im isolierten Einzelgeschick eine Gültigkeit bewahrt?
Man kann auch diese Frage als unrealistisch und überzogen
beiseite lassen — es bleibt dennoch für den Christen die Über-
zeugung, daß z.B. ein Staatsmann seine Entscheidung als kon-
kreter Mensch vor dem ewigen Gericht Gottes zu verantwor-
ten hat und daß darum die Frage offenbleibt, ob er nicht nur
seine «Haltung», in der er seine polititsche Entscheidung
gefällt hat, sondern auch ihr reales Ergebnis in der Geschichte
vor das Gericht Gottes bringt. Gibt es also geschichtlich kol-

67
5 ED

lektive Größen von einer Bedeutung, die der der einzelnen


Freiheitssubjekte in irgendeiner (natürlich begrifflich schwer zu
bestimmenden) Weise gleichwertig, wenn natürlich auch von
dieser verschieden ist? Wenn man diese Frage positiv beant-
worten kann, dann kann man weiterfragen, ob dies gerade auch
für die kollektive Größe «Europa» gelten könne, weil natür-
lich nicht jede kollektive Größe beliebiger Art die gleiche
ewige Gewichtigkeit hat.

Die Bedentsamkeit kollektiver Wirklichkeiten

Die so gestellte Frage kann natürlich letztlich nur im Zusam-


menhang einer Existentialontologie des Menschen beantwortet
werden, davon aber kann hier höchstens noch eine kleine
Andeutung vorgetragen werden. In der Geschichte der An-
thropologie herrscht ein ewiger Streit zwischen der Auffas-
sung, daß jeder Mensch letztlich ein absolutes Individuum, ein
letztlich radikal einsames Freiheitssubjekt ist und alle seine
«sozialen» Dimensionen (von seiner biologischen Abhängig-
keit bis hin zu den höchsten und sublimsten Gebilden seiner
Gesellschaftlichkeit) doch nur verstanden werden dürfen als
untergeordnete Bedingungen der Möglichkeit, ein solcher je
einmaliger Mensch in Freiheit zu sein, und der Auffassung, daß
der einzelne im Grunde doch lediglich nicht nur faktisch ein
Glied eines Kollektives ist, sondern auch »ur als solches sein
und verstanden werden kann, und daß der einzelne nur deshalb
ist, damit das Kollektiv sein kann (gleichgültig, wie dieses
selber genauer sein soll). Vermutlich (mehr soll hier nicht zu
behaupten gewagt werden) haben wir es bei der Individualität
und der Gesellschaftlichkeit des Menschen mit zwei ontologi-
schen Bestimmungen des Menschen zu tun, die nicht unabhän-
gig voneinander gegeben sein können, von denen aber auch die
eine nicht auf die andere (als bloßes Teilmoment oder als bloße
Bedingung der Möglichkeit usw.) zurückgeführt werden kann,
zwei Grundbestimmungen des Menschen, deren Einheit und
Differenz gleichursprünglich sind und in dieser Differenz in
68
Einheit und Einheit in Differenz letztlich auf das Mysterium
des einen Gottes verweisen, in dessen transzendenter Einheit
die Möglichkeit von Einheit in Unterschiedenheit so begründet
ist, daß die Verschiedenen nicht in sich selbst aufeinander
zurückgeführt werden können und doch eine wahre Einheit
bilden. (Es ist selbstverständlich, daß diese innerhalb des Endli-
chen unübersteigbare Dialektik von Einheit und Verschieden-
heit je nach den einzelnen Seinsstufen und je nach dem
pluralen Aufbau eines einzelnen in sich nochmals sehr ver-
schieden gedacht werden muß.)
Setzen wir so einmal (man könnte beinahe sagen: in meta-
physischer Kühnheit) voraus, daß Individualität und Sozialität
des Menschen gleichursprüngliche und nicht adäquat aufein-
ander zurückführbare Bestimmungen des einen Menschen sind,
dann ist schon grundsätzlich zu sagen, daß, wenn der Mensch
überhaupt eine absolute, ewige Gewichtigkeit und Gültigkeit
hat, diese auch letztlich seiner Sozialität zukommen muß, daß
also menschliche Kollektive eine gleichwertige (wenn auch
andersartige) Gültigkeit und Endgültigkeit vor Gott haben,
wie sie dem Menschen als einzelnem Freiheitssubjekt in einer
ernsthaften Anthropologie und im christlichen Glauben zuge-
sprochen werden.
Von der christlichen Glaubensgeschichte her ist eine solche
Bedeutsamkeit auch kollektiver Wirklichkeiten des Menschen
eigentlich fast selbstverständlich. In dieser Offenbarungs- und
Glaubensgeschichte (alttestamentlicher und neutestamentlicher
Art) ist eine fast erschreckende Entwicklung geschehen, die für
den christlichen Glauben eigentlich nur unter der Vorausset-
zung bewältigt werden kann, daß die darin sich thematisch
ablösenden Überzeugungen letztlich doch nur zusammen das
eine Ganze des christlichen Verständnisses vom Menschen
bilden und die Phasen dieser Geschichte sich nicht gegenseitig
auslöschen. Im Alten Testament schloß Gott einen Bund mit
einem Volk, nicht eigentlich mit einzelnen. Es ist hier an dieser
Stelle unerheblich, ob Gott diesen Adressaten, Israel, bevor-
zugend aus einer Menge von Völkern allen erwählt hat oder
ob nicht ein analoges Verhältnis Gottes zu allen anderen

69
Völkern angenommen werden kann — wenn auch dieses Ver-
hältnis in Israel ausdrücklicher erfaßt und zur Grundlage der
Volkheit Israels gemacht wurde. Jedenfalls ist hier ein V’o/& der
Adressat göttlichen Handelns. Der einzelne ist nur wichtig,
wenn und insofern er sich eingliedert in das richtige Handeln
dieses Volkes aus seinem Bund mit Gott heraus. Der einzelne
empfindet sich (was sein ausdrückliches und reflexes Bewußt-
sein angeht) genügend bestätigt und von Gott angenommen,
wenn dieses Volk seine Existenz und sein gehorsames Verhält-
nis zu dem Bundesgott bewahrt. Zumindest tritt durch lange
Jahrhunderte der israelitischen Glaubensgeschichte die Frage
nach der ewigen Einzelbedeutung des Individuums hinter die
Bedeutung des Volkes vor Gott zurück.
Im Neuen Testament ist nach einer noch zur Geschichte
Israels gehörenden Vorgeschichte der speziell christlichen An-
thropologie die Betrachtung des Menschen umgekehrt. Zwar
wird auch von der Missionierung der Völker gesprochen, und
ähnliche alttestamentliche Perspektiven auf kollektive Größen
verschwinden nicht einfach, zumal die Kirche als eine ent-
scheidende Heilsgröße ja auch ein Kollektiv ist; aber der ein-
zelne und sein Heil stehen jetzt deutlich im Vordergrund. Jeder
einzelne entscheidet in Freiheit über sein Heil und wird einmal
mit einer unabwälzbaren Verantwortung als einzelner vor dem
Gericht Gottes stehen. Man wird nun nicht sagen dürfen, daß
diese beiden Auffassungen sich gegenseitig ausschließen und
ein neutestamentlicher «Individualismus» (wenn man so sagen
darf) im Christentum die allein gültige Größe ist, die für eine
Deutung der Geschichte ernsthaft in Frage kommt. Die alt-
testamentliche Theologie bleibt auch gültig: Sie erkennt
«Völker» als Subjekte der Heilsgeschichte (die sich innerhalb
der profanen Geschichte ereignet) an. Es wird von ihren
Engeln gesprochen, über sie wird der Name Gottes angerufen,
der ein Gott aller Völker ist, und diesen Völkern wird das
Evangelium Jesu gepredigt. Man kann also schwerlich die
Heilsgeschichte dieser «Völker» (und damit ihre profane Ge-
schichte) einfach in die der einzelnen Menschen aus diesen
Völkern auflösen, sowenig die Profangeschichte der Völker in

70
das bloße wirre Durcheinander von Einzelgeschichten aufge-
löst werden kann, die sich zwar gegenseitig bedingen, aber
darüber hinaus nicht noch einmal ein einziges und ganzes
Sinngebilde bilden. Wir Christen sprechen vom ewigen
«Reich» Gottes, von der ewigen Gemeinschaft der Heiligen
bei Gott. Wenn wir uns in dieser Endgültigkeit der Geschichte
bei Gott nicht nur eine Ordnung hierarchischer Art von Einzel-
wesen denken wollen, die bloß nach einem formalen sittlichen
Maßstab geordnet sind, dann muß in diesem ewigen Reich der
Endgültigkeit der Freiheit auch die Individualität einzelner
überindividueller Kollektivgeschichten der Völker gerettet
und erkennbar sein. Wie die Vielfalt der Geschichte solcher
kollektiver Größen in das endgültige Reich der Freiheit ein-
ziehen kann, das geht wohl über unsere jetzige Vorstellungs-
kraft hinaus. Es muß aber möglich sein, wenn die Geschichte,
um überhaupt einen nicht untergehenden Sinn zu haben, selber
zur Endgültigkeit Gottes gelangen soll und nicht nur gewisser-
maßen einen farblos gewordenen Ertrag von Moralität oder
eine bloß äußerliche Summe von je einzelnen, isoliert bleiben-
den Freiheitssubjekten aus sich entlassen soll, die ihre ge-
schichtlich kollektive Einheit gar nicht in die Endgültigkeit der
Geschichte mitnehmen. Wir dürfen also die Idee wagen, daß
auch kollektive Größen der Geschichte als solche in den end-
gültigen Ertrag der Geschichte eingehen und bleiben und von
da aus gar nicht bloß Größen einer nur zerrinnenden Zeit sind.

Europa als Teil des endgültigen Ertrages der Geschichte

An diesem Punkt erhebt sich die Frage, ob Europa zu diesen


geschichtlichen Größen gehöre, denen man eine absolute,
ewige Bedeutung zuerkennen kann, so daß die Frage nach der
Zukunft Europas von daher ihr letztes Recht und Gewicht
erhält.
Zunächst muß gesagt werden, daß die positive Beantwor-
tung dieser Frage nicht die Behauptung einschließt, Europa
müsse als geschichtliche und nicht bloß geographische Größe
für immer («bis zum Ende der Zeiten») eine nennenswerte
71
|

geschichtliche Größe bleiben. Die traditionelle christliche


Lehre schreibt zwar dem Volk Israel (von der Lehre des
Römerbriefes her) auch als geschichtliche Wirklichkeit eine
Dauer bis zum Ende der Menschheitsgeschichte überhaupt zu;
wir brauchen uns hier aber nicht mit der Frage zu beschäftigen,
ob diese Vorstellung ein glaubensmäßig verpflichtender Inhalt
der christlichen Geschichtstheologie ist oder nur eine Plausi-
bilität hatte, weil für die Menschen früherer Zeiten räumlich
und vor allem zeitlich sehr kleine und überschaubare Größen
zusammen die Geschichte der Menschheit bildeten und man
sich die Gesamtgeschichte der Menschheit bis zu ihrem Ende
als zeitlich sehr kurz vorstellte — so konnte man sich leicht.
denken, daß ein einzelnes Volk bis zum Ende der ganzen
Weltzeit bestehe, auch wenn man gleichzeitig die Erfahrung
vom Untergang ganzer Völker hatte. Jedenfalls aber impliziert
die These von einer Ewigkeitsbedeutung Europas vor Gott
‚nicht schon die Überzeugung, daß Europa als kollektiv ge-
schichtliche Größe in einem irgendwie mit heute vergleich-
baren Maße über seine räumliche Wirklichkeit hinaus immer
geschichtlich bedeutsam sein müsse. Auch wenn Europa in
diesem Sinne aus der Geschichte der Menschheit als eine be-
deutsame Größe «verschwinden» würde, könnte es dennoch
wie andere untergegangene Völker zu jenen geschichtlichen
Größen gehören, die real (in und durch die gerettete Endgül-
tigkeit ihrer Menschen) vor Gott gültig bleiben.
Mit einer solchen Fragestellung ist natürlich auch die Frage
gestellt, warum und wie Europa durch den /nhalt seiner Ge-
schichte eine immer gültig bleibende kollektive Individualität
im endgültigen Ertrag der Gesamtgeschichte sein und bleiben
könne. Diese Frage kann natürlich hier nicht ausführlich be-
handelt werden.
Die geschichtliche Bedeutsamkeit Europas als solche inner-
halb eines vor Gott endgültig werdenden Gesamtsinnes der
Geschichte überhaupt ist einerseits durch die Eigenart und Be-
deutsamkeit seiner profanen Geschichte in sich und für die
ganze Menschheit (eine Bedeutsamkeit, die «anonym» auch ein
heilsgeschichtliches Gewicht hat) und andererseits durch den
72
i

eigentümlichen Beitrag konstituiert, den Europa in seiner


eigentlichen Glaubensgeschichte und expliziten Heilsgeschich-
te erbrachte und erbringt, einen Beitrag, der eine Eigentümlich-
keit im Vergleich zur Glaubens- und Heilsgeschichte anderer
Völker hat und gerade dadurch auch für diese bedeutsam ist.
Wenn wir die «ewige» Bedeutung und Gültigkeit Europas
gerade von seiner heilsgeschichtlichen Funktion und Leistung
her zu begründen suchen, dann heißt das natürlich nicht, daß
wir Europa nur wegen seiner ausdrücklich glaubens- und heils-
geschichtlichen Leistung eine solche ewige Bedeutung zuerken-
nen. Es ist lediglich gemeint, daß sie sich von daher am leichte-
sten erfassen läßt. Da diese heils- und glaubensgeschichtliche
Leistung konkret nur in Einheit mit der profanen und inner-
weltlich humanen Leistung Europas vollbracht werden konnte
und sich überdies vieles an sich gnadenhaft Christliche anonym
in der Profangeschichte ereignet, ist grundsätzlich dieser
Profangeschichte der Völker Europas in ihrer Einheit schon
eine Ewigkeitsbedeutung zuerkannt, wenn Europa eine spezi-
fische und einmalige Aufgabe und Leistung in der Heils- und
Glaubensgeschichte der Welt zugesprochen wird.
Wir brauchen uns an dieser Stelle nicht mit der Frage zu
beschäftigen, ob und wie «Europa» vom «Abendland» unter-
schieden werden müsse oder nicht, wie genau seine Herkunft
aus der Geschichte Israels und aus der griechisch-römisch-
byzantinischen Kultur in sein Wesen einbegriffen werden
müsse. Alle diese und ähnliche Fragen können hier nicht
thematisch behandelt werden.
Auch wenn der Begriff «Europa» nicht jedwede denkbare
Eindeutigkeit hat, so kann doch unbedingt gesagt werden, daß
Europa in der Einheit und trotz der Vielfalt der Völker eine
heilsgeschichtliche Größe ist, die durchaus eine Analogheit
aufweist mit dem eigentümlichen Wesen, das die christliche
Geschichtstheologie dem Volke Israel zuerkennt. Wir sagen
«Analogheit», weil wir natürlich hier nicht die Frage beant-
worten wollen, wie weit die angezielte Ähnlichkeit geht und
wie weit trotz dieser Ähnlichkeit ein wesentlicher heilsge-
schichtstheologischer Unterschied zwischen Israel und Europa

73
besteht. Es braucht hier auch nicht untersucht zu werden, ob
der «Bund» Gottes mit Israel eine so einmalige Größe in der
Heilsgeschichte der Gesamtmenschheit ist, daß der Charakter
eines «Bundesvolkes» allen anderen Völkern schlechthin ab-
erkannt werden müsse, oder ob der einmalige Charakter des
Bundes Gottes mit Israel nur die Einmaligkeit bedeutet, in der
sich Gott in seiner freien Liebe jedem Volk in je einmaliger
Weise zuwendet. Es soll auch hier nicht verdunkelt werden,
daß der Christus aller Völker in der konkreten Einmaligkeit,
die jedem Ereignis in der Geschichte zukommt, aus dem Volke
Israel und aus keinem anderen stammt. Aber wenn es trotz
allem universalen, jeden Raum und jede Zeit umfassenden
Heilswillen Gottes, durch den sich Gott in Selbstmitteilung zur
innersten Entelechie der ganzen Welt und zu ihrem letzten Ziel
macht, eine wirkliche Heilsgeschichte gibt, dann hat doch Europa
faktisch eine ähnliche Funktion für das Heil der ganzen Welt
gehabt, wie es Israel zukam.
Das Heil der Welt für seine ganze Geschichte nach Jesus
Christus ging — ausgehend von Israel - von Europa aus. Die
gesamtgeschichtliche Bedeutung aller Völker hat selbst noch
einmal eine Geschichte, in der die Völker nicht einfach gleich-
zeitig ihren entscheidenden Beitrag für die Gesamtgeschichte
leisten. Und so ist es nicht für andere Völker in Asien und
Afrika eine Herabminderung und Verdemütigung ihrer ge-
schichtlichen Berufung in sich, wenn man schlicht und nüch-
tern feststellt, daß Europa trotz allem verwerflichen Kolonialis-
mus eine ihm allein zukommende Bedeutsamkeit für alle
Völker gehabt hat. Man kann mit Johannes sagen, daß alle
Völker berufen sind, Gott im Geist und in der Wahrheit überall
anzubeten, und sie brauchen das nicht im eigentlichen Sinne
gerade in Jerusalem zu tun; aber dennoch bleibt es wahr, daß
das Heil aller Welt in seiner Leibhaftigkeit und Ausdrücklich-
keit eine Geschichte hat und durch Europa hindurch in ge-
schichtlicher, «kirchlicher», «worthafter» Greifbarkeit zu den
anderen Völkern kam und kommt, analog wie das Heil von
Israel ausging. Diese geschichtliche Einmaligkeit Europas in-
nerhalb der Heilsgeschichte berechtigt durchaus, Europa als

74
eines jener auch eschatologisch immer vor Gott gültigen
Völker zu betrachten, wie sie in einer Geschichtstheologie
vorkommen müssen, die nicht einseitig individualistisch ist. Es
ist selbstverständlich, daß diese heilsgeschichtliche Bedeutung
‚Europas zudem eine Bedeutsamkeit und Eigenart in der Ge-
samtgeschichte der Menschheit einschließt, die auch profan-
historisch sichtbar gemacht werden kann.
Gewiß (wie bald ausführlich gesagt werden wird) bleibt die
Zukunft der Menschheit für uns heute so gut wie unbekannt.
Und darum kann man natürlich nicht wissen, welche beson-
deren Beiträge Europa und andere Völker für die zukünftige
Gesamtgeschichte der Menschheit noch leisten werden, zumal
es weithin unmöglich bleibt, den faktischen Ablauf der Ge-
schichte in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ge-
schichtsphilosophisch so verständlich zu machen, daß die ein-
zelnen Etappen und die Beiträge der einzelnen Völker dazu
durchsichtig und einsichtig für das Ganze der Geschichte
werden. Dennoch können gewisse Eigenbeiträge Europas für
die Gesamtgeschichte namhaft gemacht werden, die als seinsol-
lend und mit Recht als «Fortschritt» in der Menschheitsge-
schichte verstanden werden. Die Vereinheitlichung der vorher
weithin regional voneinander getrennten Einzelgeschichten der
Völker und Kulturen in eine einzige Menschheitsgeschichte, in
der jeder von allen abhängt, ist doch von Europa ausgegangen,
und damit ist von Europa her dieser so eine Größe gewordenen
Geschichte vieles eingestiftet worden, was die Gesamtmensch-
heit als ihr eigenes angenommen hat und was doch von Europa
ausging. Damit ist nicht nur die rationaltechnische Zivilisation
gemeint, sondern auch höhere menschliche Werte der Kultur
und der menschlichen Gesellschaftlichkeit. Doch davon muß
in den folgenden Kapiteln gesprochen werden. Jedenfalls aber
bedeutet die heilsgeschichtliche Funktion Europas, die den
profan-menschlichen Beitrag Europas zur Menschheitsge-
schichte voraussetzt und einschließt, eine Wirklichkeit und
Bedeutsamkeit Europas, die nicht der Beliebigkeit des einzel-
nen unterworfen ist. Europa ist mindestens für eine Geschichts-
theologie eine Realität und eine Forderung.

7
Der Heilswille Gottes zu Europa

Das eben Gesagte kann vielleicht noch etwas genauer präzisiert


werden. Wenn Europa für die Gesamtmenschheit heilsge-
schichtlich und darin auch ein Stück weit profangeschichtlich
eine Funktion und Bedeutung analog wie Israel hat, dann darf
— ebenso analog — von Europa das ausgesagt werden, was die
christliche Geschichtstheologie mit Paulus von Israel sagt:
Gottes Verheißungen sind ohne Reue und werden nicht
zurückgenommen. Das muß, wie schon gesagt, nicht notwen-
dig heißen, daß für alle kommenden Zeiten Europa eine be-
deutsame geschichtliche Größe sein wird. Aber es bedeutet
wohl sicher, daß Europa einen letztlich doch poszziven Beitrag
für die endgültige Realität und Bedeutung der Gesamtgeschich-
te vor Gott erbringt oder erbracht hat. Das ist nicht selbstver-
ständlich. Wenn man all die geschichtlichen Sinnlosigkeiten
und Fürchterlichkeiten bedenkt, die nach vernünftigem Ermes-
sen und auch von einem christlichen Gewissen her die Ge-
schichte Europas erfüllt haben, dann ist es nicht selbstverständ-
lich — genausowenig wie bei der doch auch von Schuld und
Nein gegen Gott erfüllten Geschichte Israels —, daß diese
Geschichte Europas nicht nur auch diese und jene positiven
Folgen erbracht hat, sondern als eine von Gott gerettet zu
werden verdient, so wie in der Offenbarung — man könnte
beinahe sagen: wider Erwarten — Gott ein positives Urteil
endgültiger Art über Israel spricht. Der Christ hat zwar das
Recht einer nicht mehr theoretisierbaren Hoffnung auf einen
endgültigen positiven Sinn der Freiheitsgeschichte im ganzen,
aber von daher allein könnte er sich ja noch nicht die Hoffnung
und Erlaubnis zusprechen, letztlich auch bestimmte partikuläre
Größen und Geschichtsabfolgen positiv zu werten. Wenn er
dies aber von der Schrift her bezüglich Israel kann und muß,
hat er wohl, ohne sich damit auch innerweltliche Prognosen zu
erlauben, das Recht, davon überzeugt zu sein, daß Gott Europa
als solchem gegenüber einen reuelosen und wirksamen Heils-
willen hegt. Das ist alles gar nicht selbstverständlich, darf aber
von einem Christen gesagt werden.

76
Damit ist dem Europäer mit Recht ein Selbstgefühl und ein _
gewisser Stolz zugebilligt. Das hat mit einem überheblichen
Vergleich gegenüber anderen Völkern und Kulturen nichts zu
tun. Es bedeutet aber, daß der Europäer davon überzeugt sein
kann, daß Europa heilsgeschichtlich und darin auch profange-
schichtlich eine im letzten positive Bedeutung für die Gesamt-
geschichte gehabt hat und noch hat, die vor Gott gültig ist. Es
bedeutet, daß bei aller Unberechenbarkeit der weiteren
Zukunft der Welt und Gesamtgeschichte der Europäer keinen
Grund hat, einfach zu resignieren.

Europa als Ergebnis einer Freiheitsgeschichte

Europa in dem Sinn der Realität und der Bedeutsamkeit, die


wir ihm eben zuerkannt haben, ist ja nicht eine bloß sachhafte
Gegebenheit, sondern das Ergebnis einer Freiheitsgeschichte
von konkreten Menschen, die in Freiheit dieses Europa trotz
aller vielfältigen Notwendigkeiten und Zwänge geschaffen
haben. Und so stellt sich unausweichlich die Frage, wie die
Freiheit der konkreten Menschen, die Europa bilden, sich zu
diesem Europa und seiner Zukunft verhalten müsse. Zu dieser
Frage sollen nun einige Überlegungen vorgetragen werden,
auch wenn sie vielfach nur Fragen und Vermutungen bedeuten
und gewiß nur eine etwas willkürliche Auswahl aus solchen
möglichen Fragen sind.
Wenn Europa auch die durch die Freiheit früherer Zeiten
gesetzte Wirklichkeit ist, und wenn man voraussetzen darf, daß
diese Freiheitsgeschichte nicht einfach schon völlig abgeschlos-
sen ist, sondern weitergeht, dann ist die Frage nach der
Zukunft Europas zwar nicht nur, aber auch eine Frage, die an
die Freiheit und Verantwortung der konkreten Menschen ge-
stellt ist, die heute und morgen dieses Europa bilden.
Von dieser Freiheit und Verantwortung für Europa muß
zunächst gesagt werden, daß diese Zukunft Europas im letzten
nicht sicher vorausgesagt werden kann. Zunächst ist.dieser Satz
gewiß eine Binsenwahrheit. Wer wollte eine genaue und umfas-

77
sende Antwort wagen, wenn er gefragt würde, wie es im Jahre
2200 mit Europa bestellt sein werde? Aber es muß gesagt
werden, daß eine konkrete Zukunftsprognose, durch die man
jetzt schon wüßte, was einst sein wird, grundsätzlich unmöglich
ist. Natürlich gibt es Futurologie, Untersuchungen darüber,
wie sich vermutlich von den heute greifbaren Gegebenheiten
und den damit gegebenen Zwängen aus die Zukunft der Welt
und auch Europas im besonderen gestalten wird. Es wird bald
zu sagen sein, daß solche Bemühungen, auf die Zukunft vor-
auszublicken, eine Aufgabe sind, der sich der Mensch nicht
entziehen darf. Aber zunächst einmal muß betont werden, daß
trotz aller Prognosen und aller Bemühungen, vorauszudenken,
die Zukunft immer eine letztlich unbekannte Größe bleiben
wird. Und zwar grundsätzlich! Soschr die konkrete Geschichte
in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft eine letztlich unauf-
lösbare Einheit von Notwendigkeit und Freiheit ist, so ist eben
die Situation des Menschen in all seinen Dimensionen auch
durch Freiheit mitbestimmt. Diese Freiheit ist aber nicht nur
die Exekution des Notwendigen und Voraussehbaren, sondern
trägt immer auch ein Moment des Kreativen in sich, das nicht
aus einem früher Gegebenen eindeutig abgeleitet werden kann,
ist Wahl und Entscheidung.
Die These, daß der Mensch bei allen Zwängen und Notwen-
digkeiten, denen er immer unterliegt, doch ein Wesen der
Freiheit ist, kann natürlich hier nicht weiter begründet werden.
Es kann hier auch nicht weiter dargelegt werden, wo und wie
innerhalb der menschlichen Existenz Freiheit konkret gegeben
ist, wie sie sich einer eindeutigen Festlegung durch die mensch-
liche Reflexion immer auch entzieht, wie das der Reflexion
unmittelbar Gegebene immer schon eine reflex nicht auflösbare
Synthese von Notwendigkeit und Freiheit ist, wie darum
immer die Möglichkeit bestehen bleibt, dieses konkret Gege-
bene als notwendig zu erklären. Dennoch ist daran festzuhal-
ten, daß die Freiheit nicht bloß ein metaempirisches Postulat
hinter einer objektiven Welt von bloßer Notwendigkeit ist, die
die Freiheit des Subjektes nur verbergen würde, wenn es diese
überhaupt gibt, sondern sich mindestens für das der Geschichte
78
sich konfrontierende Subjekt, das seine eigene Freiheit und
Verantwortung erfährt, auch irgendwie immer in der Ge-
schichte selber zur Erscheinung bringt. Wenn Freiheit aber,
wie gesagt, nicht nur die formal bleibende Motorik der Ver-
nunft ist, Praxis nicht bloß Konsequenz der Theorie (und deren
Defekten) ist, sondern auch immer das Neue und Unerwartete
schafft, wenn mehrere Möglichkeiten für die Freiheit nicht
einfach objektive Vorgegebenheiten sind, sondern letztlich erst
im Akt der schöpferischen Freiheit zur Gegebenheit kommen,
dann ist die Geschichte immer auch die Ankunft des Unableit-
baren und so Gang in eine unbekannte Zukunft. Dazu kommt,
daß, selbst wenn man die Geschichte als die bloße Abwicklung
notwendiger Ursachenzusammenhänge auffassen würde, die
Zukunft letztlich doch nicht berechenbar wäre, weil eine
absolut umfassende und genaue Kenntnis der Gesamtwirklich-
keit, welche die Voraussetzung auch dann einer eindeutigen
Prognose wäre, einem Erkenntnisvermögen des Menschen, der
selber nur ein Teil dieser Gesamtwirklichkeit ist, nicht erreich-
bar ist, ganz abgesehen von der Frage, wieweit im subatomaren
Bereich so etwas wie Indeterminismus gedacht werden kann.

Unberechenbarkeit der Zukunft

Ist so der Gang in die Zukunft immer auch ein Gang in die
dunkle Unberechenbarkeit dieser Zukunft und kann ein verant-
wortliches Handeln sich diese Situation nicht einfach verheh-
len, indem es sich in oberflächlicher Naivität mit den hellen
Voraussehbarkeiten der allernächsten Zukunft begnügt, dann
bedeutet diese dunkle Situation für den Handelnden auch eine
Forderung nach bestimmten «Tugenden», ohne die dieser
Gang in eine dunkle Zukunft nicht würdig und der Sache
gemäß vollbracht werden kann. Gehandelt werden muß darum
mit dem Mut zum Risiko, mit der Entschlossenheit, nicht nur
das Selbstverständliche und Alterprobte zu wagen, mit einem
« Tutiorismus» des Wagnisses, der damit rechnet, daß die heile
Zukunft, über die man nicht einfach verfügen kann, nur er-

79
reichbar ist mit der Bereitschaft, das alte Erprobte nicht einfach
in einem bequemen Konservativismus zur obersten Norm des
Handelns zu machen.
Das «Prinzip der Hoffnung» — im Unterschied zum bloßen
Verlaß auf das Sichere — gehört zum Wesen der Freiheit, die
ihr Wagnis annimmt. All das gehört auch zu jener Freiheit als
Gang in das Dunkle, wenn es sich um die Zukunft Europas
handelt. Von diesem Prinzip allein her läßt sich natürlich nicht
demonstrieren, welche der konkurrierenden Geschichtsmächte
Europas die richtige und eine gute Zukunft Europas ver-
heißende Parole vertritt. Aber alle solche konkurrierenden
Mächte im Konzert Europas müßten sich immer fragen lassen,
ob sie sich ernsthaft zum Mut bekennen, auch eine dunkle
Zukunft zu wagen, ob sie der Zukunft als solcher ihr eigenes
Recht zu lassen entschlossen sind.

Futurologie

Ist für den Menschen, der sich seiner Verantwortung für die
Zukunft Europas bewußt ist, diese Zukunft immer auch
wesentlich - vom Wesen der Freiheit selber her — eine dunkle
und durch rationale Überlegungen und Untersuchungen nie
adäquat aufhellbare Zukunft, so bedeutet dies natürlich nicht,
daß Voraussicht, Planung der Zukunft nicht unbedingt vom
Menschen geforderte Aufgabe wären. Der Mensch kann und
muß seine Zukunft planen. Er muß immer wieder fragen: Wie
geht es weiter, wie kann es und wie soll es weitergehen? Dies
ist nicht nur im Wesen des Menschen als freien Geschichtssub-
jektes gegeben, sondern hat heute Dringlichkeit und größere
Möglichkeiten. Futurologie im genaueren Sinn dieses Wortes,
wie diese heute möglich ist, hat es früher nicht gegeben und war
früher in einem größeren Umfang unmöglich. Heute ist der
Mensch als Freiheitssubjekt in dieser Hinsicht in eine neue
Phase der Geschichte eingetreten. Er ist sich selber in einer
Weise und in einem Umfang aufgegeben, wie dies früher bei
all den Zukunftsplanungen, die es natürlich auch früher gab,
80
.

gar nicht möglich war. Der Futurologie heute ist die gesamte
Erde in sehr vielen Zusammenhängen und dem gegenseitigen
Bedingungsverhältnis sehr vieler ihrer Teile präsent, während
der Mensch früher nur kleine Ausschnitte der Gesamtwirklich-
keit der Erde überblicken konnte und somit alle Geschichts-
philosophie und Geschichtstheologie die Gesamtmenschheit
als solche nur als formales Postulat, als «Idee» vor sich hatte.
Die Futurologie aber kann sich heute fragen, wie groß die
Menschheit voraussichtlich in 100 Jahren sein wird; sie kann
die Quantität der Resourcen für das biologische Weiterleben
der Menschheit in der Zukunft in etwa schon vorauskal-
kulieren; sie kann nicht nur wie früher durch Zufall auf neue
und größere Lebensmöglichkeiten stoßen, sondern die Suche
nach solchen planmäßig organisieren. In solcher Hinsicht und
vielen anderen ist die Zukunft des Menschen in ganz neuer
Weise dem Menschen selber und seiner aktiven Planung aufge-
geben. Er ist auch heute und in Zukunft nie der absolute
Schöpfer seiner selbst; seine Kreativität hat immer von ihm
selber unabhängige Voraussetzungen und innere und äußere
Grenzen ihres Vollzuges, aber dennoch ist der Mensch heute
in einem früher nicht denkbaren Umfang der Planer und
Schöpfer seiner selbst geworden, auch wenn heute die Erfah-
tung der inneren und äußeren Grenzen solchen Schöpfertums
wieder deutlicher und bitterer wird. Diese Futurologie, in der
sich der Mensch in einem früher nicht denkbaren Umfang
selber gestalten kann, bedeutet für ihn auch eine ganz neue
Verantwortung. Er kann sich nicht bloß weithin selber planen,
er muß es auch. Diese rationale und technische Vorausplanung
seiner Umwelt und sogar seiner Mitwelt und seiner eigenen
biologischen Verfassung ist für das menschliche Freiheitssub-
jekt eine Pflicht, der es sich nicht entziehen darf, die es nicht
ablehnen darf in einem nostalgischen Verlangen nach vergan-
genen Zeiten, in denen alles einfacher und selbstverständlicher
war. Das alles gilt dann auch von den Menschen, die für die
Zukunft Europas verantwortlich sind.

81
Mut zum Wagnis und zur Planung

Es ist für den Europäer, der sich für die Zukunft Europas
verantwortlich weiß, nicht leicht, beide Verpflichtungen, von
denen wir gesprochen haben, gleichzeitig und in Einheit zu
erfüllen: den Mut zum Wagnis einer letztlich nicht vorauskal-
kulierbaren, sondern in schöpferischer Freiheit zu schaffenden
Zukunft und die nüchtern rationale Planung. Wenn beides
zusammen vom Europäer gefordert wird, dann hat er natürlich
auch die Pflicht zu einer grundsätzlichen Reflexion auf diese
Verschiedenheit der Erkenntnisquellen und der Kriterien für
eine solche Futurologie. Da diese Zukunft Europas, die die
Einheit der beiden genannten Haltungen und Aufgaben
fordert, nicht von einem einzelnen oder wenigen Auserwähl-
ten, sondern letztlich von allen Europäern getan werden muß,
steht natürlich (letztlich wie in allen Zeiten, aber doch immer
neu) die Frage an, wie dieses reale kollektive Freiheitssubjekt
aus vielen einzelnen die Zukunft Europas finden kann. Von
daher müßte verständlich werden, daß die Frage nach der
richtigen Struktur des kollektiven Subjektes, das die Zukunft
Europas prägt und entscheidet, letztlich nicht nur durch allge-
meine abstrakte Kriterien demokratischer Gleichberechtigung
usw. entschieden werden kann, sondern daß dabei Überlegun-
gen darüber einbezogen werden müssen, wie dieses Subjekt,
das Europa will und dessen Zukunft entscheidet, aussehen
muß, damit es für diese Aufgabe geeignet ist. Das durchschnitt-
liche Verständnis von der Legitimation einer demokratischen
Gesellschaft und eines parlamentarisch regierten Staates geht
doch vielleicht zu einseitig und ein wenig naiv von der Über-
zeugung aus, daß die politischen Entscheidungen nicht letztlich
Entscheidungen kreativer Freiheit seien, sondern bloß die
Resultate einer Synthese von immer und überall geltenden
(letztlich moralischen) Prinzipien («Menschenrechte» usw.)
und den gegebenen und wissenschaftlich und demoskopisch
feststellbaren «Sachzwängen» usw. Politische Entscheidungen
sind das oder sollen es gewiß sein; sie sind aber immer auch
mehr, nämlich wirklich Entscheidungen einer kollektiven
82
Freiheit. Diese aber fordern immer aufs neue, daß das Subjekt
solcher Entscheidungen so gestaltet ist, daß es wirklich zu
solchen Entscheidungen fähig ist.

Geschichtliche und zukünftige Identität Europas in einer


Weltgesellschaft

Die Frage nach der Zukunft Europas ist gewiß die Frage nach
einer wirklichen Zukunft, die im Bestehen zukünftiger ge-
schichtlicher Situationen in Freiheit getan werden muß. Aber
dies ist von vornherein und notwendig auch die Aufgabe der
Bewahrung einer letzten Identität dieses Europas mit seiner
vergangenen Geschichte; ohne eine solche Bewahrung hätte
dieses Europa in der Zukunft zwar vielleicht noch den Namen
und die geographische Örtlichkeit von früher, wäre aber im
Grunde gar nicht Europa. Das beinhaltet die grundsätzliche
geschichtsphilosophische Frage, ob mit dem Bleiben von in der
Vergangenheit einmal geschichtlich realisierten Werten
Europas in der Zukunft gerechnet werden kann oder ob diese
Werte in ihrer spezifisch europäischen Eigentümlichkeit unver-
meidlich und unerbittlich in der Zukunft verschwinden
müssen, weil diese Zukunft einer globalen Weltzivilisation
gehört, die mehr oder weniger überall in der Welt die gleiche
ist. Es handelt sich bei dieser Frage letztlich nicht um das
Weiterbestehen sogenannter Kulturgüter und geschichtlicher
«Denkmäler» als Relikte früherer Zeiten, die ja, wenn Europa
nicht einfach physisch ausgelöscht wird, in irgendeinem
Umfang weiterbestehen werden; es handelt sich auch nicht um
eine Prognose darüber, ob Europa in seiner Zukunft faktisch
die ihm spezifischen Kulturwerte bewahren wird. Es handelt
sich vielmehr um die der Prognose des faktisch Zukünftigen
vorausliegende Frage, ob es überhaupt möglich und denkbar
ist, daß eine bestimmte regionale Kultur in der Weltzivilisation,
die schon Gegenwart ist und die Zukunft für sich zu haben
scheint, ihre ihr spezifischen Eigentümlichkeiten und Werte
überhaupt bewahren Aann. Natürlich werden solche spezifi-
schen Eigentümlichkeiten und Werte einer bestimmten Kultur

83
in der Zukunft einer solchen Weltzivilisation von universaler
Interdependenz aller geschichtlichen Räume, von einer allge-
meinen Interkommunikation, eines gemeinsamen Besitzes allen
rationalen und technischen Wissens nicht einfach noch so sein
können, wie sie einst wurden und waren. Die Frage ist, ob sie
überhaupt noch weiter bestehen können oder ob sich die Ge-
samtgeschichte der Menschheit unerbittlich auf einen Punkt hin
bewegt, an dem die Völker und Menschen sich noch durch ihre
Hautfarbe und ihren bevorzugten Wohnort unterschieden, aber
nicht mehr durch das, was früher einmal die großen Kulturen
voneinander unterschied. Es braucht nicht bezweifelt zu
werden, daß wir heute praktisch noch weit von einem solchen
_ Zustand einer radikalen Homogenisierung der Kulturen zu
einer allen gemeinsamen (amerikanischen oder russischen oder
chinesischen?) Lebensweise entfernt sind. Es ist auch nicht zu
bezweifeln, daß faktisch wohl bei allen größeren Kulturna-
tionen, ja darüber weit hinaus, neben allen Homogenisierungs-
tendenzen auch ein Wille gegeben ist (noch gegeben ist), die
Eigentümlichkeiten der eigenen Kultur in die Zukunft der
Menschheit so einzubringen, daß sie bei aller friedlichen Koexi-
stenz und allem kulturellen Austausch voneinander unter-
schieden bestehen bleiben. Die Frage ist aber, ob eine solche
Tendenz weiterhin nur ein nostalgisch retardierendes Moment
in der Geschichte sein kann oder ob ein solcher Wille, (in
unserem Falle) Europa seine kulturelle Eigenart zu bewahren
und in eine fernere Zukunft der Gesamtmenschheit einzubrin-
gen, eine sinnvolle Aufgabe, ein Recht und eine Pflicht
Europas sein kann. Die Frage ist, ob der Wille, mit sich und
seiner früheren Geschichte und der darin realisierten Eigen-
tümlichkeit des Menschseins identisch zu bleiben und so real
in der künftigen Geschichte zu existieren, grundsätzlich vor
dem geschichtlichen und politischen Gewissen Europas ge-
rechtfertigt werden kann. Nochmals: Es wird nicht gefragt, ob
Europa im Ernst diesen Willen hat und wie weit er sich in der
Zukunft faktisch durchsetzt. Es wird nur gefragt, ob ein
solcher Wille in die Zukunft hinein überhaupt hier und jetzt
sinnvoll ist. Das ist nicht einfach selbstverständlich.

84
Kulturen können sterben und untergehen; solches hat sich
schon oft ereignet, auch wenn es dabei dann immer auch Erben
solcher gestorbener Kulturen gegeben hat. Wenn aber ein
solcher Tod möglich ist, dann kann doch grundsätzlich gefragt
werden, ob nicht die größte und tapferste Tat einer solchen
dem Tod geweihten Kultur darin bestünde, diesen Tod als nahe
bevorstehend zu sehen und gelassen anzunehmen, ähnlich wie
es dem einzelnen Menschen im unvermeidlich andrängenden
_ Sterben geboten ist. Es könnte ja sein, daß in einer solchen
Situation einer sterbenden Kultur nur die Oberflächlichen und
Dummen so sich gebärden, als habe ihre Geschichte noch eine
echte Zukunft, während die Weisen und Tapferen bewußt auf
einen solchen Kulturspektakel verzichten (so ähnlich wie Be-
nedikt das sterbende Rom floh und ein Eremit in Subiaco
wurde — und so und nicht anders der «Patron» des Abendlan-
des). Andererseits hat ein Christ von seiner Geschichts-
theologie her die Überzeugung, daß auch grundsätzlich die
Möglichkeit des Bleibens von nicht immer und überall gegebe-
nen, sondern spezifischen Kulturwerten in eine nach vorn nicht
abzuschließende Zukunft hinein gegeben ist. Sein Glaube ist ja
zumindest davon überzeugt, daß ein ausdrückliches Christen-
tum trotz seines partikulär geschichtlichen Ursprungs immer
weiterbestehen wird, wenn auch ein Christ nicht im voraus
wissen kann, welche Bedeutsamkeit dieses Christentum inner-
halb der empirischen Geschichte im Vergleich zu den übrigen
geschichtlichen Mächten und Wirklichkeiten in späteren Zeiten
haben wird, und wenn auch der Christ nicht im voraus wissen
kann, wie genau dieses geschichtlich herkünftig Bleibende in
der Zukunft gestaltet sein wird. Aber wenn z.B. die Heilige
Schrift, die immer die Grundlage des Christentums bleiben
wird, auch in Zukunft ihren partikulären Ursprung an sich
tragen und so doch für die Zukunft bedeutsam bleiben wird,
dann kann ein Christ nicht daran zweifeln, daß nicht jede
bestimmte geschichtliche Eigentümlichkeit einfach darum
schon wieder untergehen wird, weil sie einmal geschichtlich
geworden ist. Mit dieser geschichtstheologischen Begründung
der hier gemeinten Überzeugung soll nicht gesagt werden, daß

85
sie nicht auch eine Einsicht sein könnte, die auch in einer
Geschichtsphilosophie in Zusammenhang mit der Betrachtung
der faktischen Geschichte gewonnen werden könnte. Es sollte
nur eine Überlegung für diese Überzeugung vorgetragen
werden, die für einen christlichen Humanisten vielleicht am
einfachsten und überzeugendsten ist.

Untergang oder Zukunft Europas?

Hinsichtlich einer Bewahrung einer Identität Europas in der


künftigen Geschichte steht der europäische Christ also, grund-
sätzlich und abstrakt gesehen, vor zwei Möglichkeiten, mit
denen er rechnen muß und von denen er keine von vornherein
ausschließen kann: Europa kann als eigenständige und eigenar-
tige kulturelle Wirklichkeit untergehen in eine es eigentlich
aufhebende Weltzivilisation hinein, oder es kann (grundsätz-
lich) als es selber auch in Zukunft bleiben. Die Frage ist, ob die
eine oder die andere abstrakt gedachte Möglichkeit die reale
Möglichkeit ist, mit der im Ernst bei geschichtlichen Ent-
scheidungen gerechnet werden muß. Vermutlich wird man
sagen müssen, daß sich die reflektierende geschichtliche Ver-
nunft heute nicht klar und eindeutig in dieser Frage entscheiden
kann, die Zukunft Europas in dieser Hinsicht also ungewiß
bleibt. Nach dem früher Gesagten ist eine solche Situation nicht
verwunderlich, weil sie zum Grundwesen der geschichtlichen
Freiheit gehört. Diese Ungewißheit ist kein Freibrief für Resi-
gnation. Sie ist die Möglichkeit, sich für das eine, das auch nicht
von vornherein als unmöglich erkannt werden kann, in Freiheit
zu entscheiden, d.h. mit dem Willen zu leben, auch in der
Zukunft Europa als solches nicht aufzugeben, sondern es in
seiner Eigentümlichkeit zu bewahren in die Zukunft der Welt
hinein. Wenn, ganz allgemein gesagt, die Verwirklichung des
Menschseins nicht die Hervorbringung eines allgemeinen und
überall gleichen Menschen ist, sondern die verstehende und
liebende Einheit vieler Menschen, die in der Pluralität ihrer
Eigenarten zusammen den Menschen darstellen, dann kann der
Wille, Europa auch in der geschichtlich gewordenen Eigen-
86
tümlichkeit seiner Werte und Eigenarten für die Zukunft zu
bewahren, nicht von vornherein als Utopie oder als letztlich
sinnloser Egoismus verdächtigt werden, der sich weigert,
einfach in einer gleichförmigen und homogenisierten Welt-
zivilisation unterzugehen. Die Frage, die gestellt wurde, ver-
wandelt sich so von der Rationalität weg zu einem Postulat an
die Freiheit, sich zu einem Kampf zu entschließen, dessen
Ausgang unsicher ist.
Der Christ freilich kann sich auf jeden Fall noch den von
seiner Geschichtstheologie her durchaus legitimen Trost zu-
sprechen, daß ein Stück Europa auch in seiner geschichtlichen
Eigenart insofern weiterbestehen wird, als das Christentum in
der Welt nicht untergehen wird, es aber trotz und in seiner
Universalität für alle Menschen seinen geschichtlichen Ur-
sprung und darüber hinaus seine geschichtliche Vermitteltheit
nie verleugnen darf, sondern immer neu realisieren muß; und
diese geschah nun einmal durch Europa. Denn dieser Glaube,
den der europäische Christ als Glaube in aller Welt (wenn
vielleicht auch nicht als Glaube der Welt überhaupt) erwartet,
ist der Glaube, der seinen Anfang immer aufs neue einholen
muß, einen Anfang, der im Abendland und in dessen eigenen
Ursprüngen geschah. Dieses Christentum der Zukunft in aller
Welt mag sich (hoffentlich!) sehr anders als das europäische
Christentum darbieten, weil es in ganz anderen Kulturen und
in der künftigen einen Weltzivilisation inkulturiert sein wird;
es wird dennoch auch immer seine geschichtliche Herkunft als
eine seiner Eigentümlichkeiten bewahren, in allen künftigen
Zeiten immer noch von Europa künden, weil auch das Chri-
stentum künftiger Zeiten in anderen Ländern nicht einfach eine
abstrakte Idee sein wird, sondern eine Wirklichkeit, die eine
Geschichte hat und diese bewahrt.

Werte und Normen Europas

Damit soll natürlich nicht gesagt werden, daß nur spezifisch


christliche Eigentümlichkeiten der europäischen Kultur in die
Zukunft weitergetragen und auch für die übrige Welt bedeut-

87
r

sam sein sollen. Es gibt gewiß sehr viele andere hohe menschli-
che Werte und Eigentümlichkeiten, die gerade in Europa Ge-
schichte geworden sind und wert sind zu bleiben, und zwar
auch als bedeutsam für die übrige Welt. An diesem Punkt
unserer Überlegungen muß dann notwendig die Frage noch
einmal verdeutlicht werden, ob diese europäischen Werte nur
Aussicht haben, zu bleiben und für die übrige Welt bedeutsam
zu sein, indem sie sich gewissermaßen wandeln in allgemeine,
für alle Menschen gleichermaßen verstehbare und realisierbare
Werte, oder ob sie wirklich in der Zukunft noch eine euro-
päische Eigentümlichkeit bewahren können und gerade so auch
für die übrige Welt bedeutsam werden. Es besteht ja kein
Zweifel, daß sich gewisse Werte und Lebensnormen, die in der
europäischen Geschichte reflex ausdrücklich und greifbar ge-
worden sind, so weiterentwickelten und universalisierten, daß
sie unmittelbar auch Werte und Normen in anderen Kulturen
und Gesellschaften über Europa hinaus geworden sind. Man
denke z.B. an alle Ideale und Ziele, die mit den Worten « Allge-
meine Menschenrechte», «Demokratie», «Emanzipation der
Frau» usw. angezielt werden. So könnte man denken, daß
Zukunft und Aufgabe Europas hinsichtlich dieser mensch-
lichen Werte nur bedeutet, daß diese — geschichtlich gesehen
— im Ursprung europäischen Werte nun in ihrer allgemein
menschlichen Bedeutsamkeit für Europa und die übrige Welt
gültig bleiben. So ähnlich wie eine mathematische Wissenschaft
höheren Grades und Ranges geschichtlich zunächst in Europa
entstanden ist, dann aber — wenigstens auf den ersten Blick —
überall gleich verstanden und gültig geworden ist und ihre
einmalige europäische Herkunft verloren zu haben scheint.
Dennoch wird man sagen können und deswegen auch anzu-
streben das Recht haben, daß in den einzelnen Kulturen, deren
Pluralismus auch in einer allen gemeinsamen Weltzivilisation
bestehen bleiben soll, auch diese allgemeinmenschlichen Werte
noch einmal eine je den einzelnen Kulturen eigentümliche
Ausprägung behalten und gerade je in dieser Eigentümlichkeit
auch noch einmal für die anderen Kulturen wichtig und bedeut-
sam sind. So wie im engeren Kreis personaler Beziehungen

88
unter Menschen jeder in seiner Eigenart, die der andere nicht hat,
dennoch für den anderen als Anreiz zur weiteren Entwicklung,
als kritische Distanz usw. wichtig ist und so sich alle Glieder
eines solchen Kreises gerade in ihrer jeweiligen Eigenaus-
prägung des Gemeinmenschlichen annehmen und bejahen, so
könnten und sollten auch in der Völkerfamilie und in der
Weltkultur die einzelnen Kulturen und Völker das Gemein-
menschliche in einer bestimmten, je eigenen Ausprägung real
werden lassen und gerade dadurch — und nicht nur durch eine
formale und abstrakte Verwirklichung des Menschlichen in
größtmöglicher Homogenität — den anderen Völkern und Kul-
turen dienen.
Natürlich bedeutet die Verschiedenheit der Ausprägung des
Gemeinmenschlichen auch immer eine Gefahr gegenseitigen
Unverständnisses und echter Konflikte, wie sie heute überall
in der Welt - trotz der Berufung auf die höchsten menschlichen
Werte und Prinzipien aller Menschen — zu beobachten sind.
Aber es kann dennoch kein Ziel sein, die Menschen möglichst
zu uniformieren, um solche Konflikte von vornherein zu ver-
meiden. Die hier gemeinte Problematik der immer neu zu
suchenden Versöhnung zwischen dem allgemein Menschlichen
und seinen verschiedenen Ausprägungen ist in unzähligen
Fällen zu beobachten. Man denke z.B. an den immer wieder
neu ausbrechenden Konflikt in den kommunistischen Ländern
über das richtige Verhältnis der gemeinkommunistischen Prin-
zipienlehre und der verschiedenen Gestaltung dieses Gemein-
kommunistischen in den verschiedenen Ländern. All das
Gesagte gilt nun auch für Europa. Es soll seine eigene Aus-
prägung des Gemeinmenschlichen in allen Dimensionen einer
Kultur bewahren und gerade so — und nicht durch eine
Aufgabe des Eigenen — für die gesamte Kultur und Zukunft
der Menschheit einen unersetzlichen Beitrag leisten.
Der Unterschied zwischen dem allgemein Menschlichen als
solchem und seiner konkreten Ausprägung in einer bestimmten
Kultur ist in vielen Fällen nur schwer zu erfassen. Dies aus
vielen Gründen. Ein Träger eines so an sich gültigen Allge-
meinen kann überheblich seine konkrete Ausprägung und Ver-

89
wirklichung dieses Allgemeinen zu diesem Allgemeinen als
solchem rechnen und so für alle verbindlich erklären. Ebenso
kann umgekehrt eine allgemeine Gültigkeit eines solchen All-
gemeinen übersehen oder abgelehnt werden mit der Berufung
darauf, daß es an einer bestimmten, historisch kontingenten
Stelle der Geschichte in Erscheinung getreten ist und darum
nicht allgemein gültig sein könne. Es ist auch durchaus
möglich, daß eine an sich nicht allgemein gültige Ausprägung
des wahrhaft Allgemeinen dennoch auch von anderen über-
nommen wird bei einem gegenseitigen Austausch solcher
Werte und Lebensstile, in dem ja nicht nur das nur Allgemein-
gültige gehandelt wird.

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Wenn nun einige Überlegungen angestellt werden sollen über


die Möglichkeiten, die in den ökumenischen Einheitsbe-
strebungen gegeben, aber noch nicht realisiert sind, dann muß
ich gleich zu Beginn betonen, daß meine Erwägungen schr auf
eigene Rechnung und Gefahr unternommen werden und viel-
leicht sowohl von evangelischer wie auch von katholischer
Seite bestritten werden können.
Aber wenn die ökumenischen Bestrebungen trotz aller Be-
teuerungen auf allen Seiten, sie müßten und könnten weiterge-
hen, zu stagnieren scheinen, dann muß es doch erlaubt sein,
Vorschläge zu machen, selbst wenn sie kühn oder sogar ver-
zweifelt erscheinen. Wenn es sich nämlich nicht bloß um ein-
zelne kleine Schritte zu einer größeren Annäherung der Kir-
chen handeln soll, die natürlich in keiner Weise geringgeschätzt
werden dürfen, sondern auf das Ziel einer wirklichen Einheit
der großen christlichen Kirchen hin gearbeitet wird, dann
scheint doch ein solches Ziel in einer nahezu unerreichbaren
Ferne zu liegen, so daß Bemühungen, dieses Ziel zu erreichen,
hoffnungslos zu stagnieren scheinen. Wenn man aber doch die
Bemühungen um dieses Ziel selber - und nicht nur um auch
sehr lobenswerte Annäherungen allein — dennoch ernsthaft für
möglich halten muß, weil alle Christen ein Gebot dieser Einheit
von ihrem gemeinsamen Herrn haben und absolut ernst
nehmen müssen, dann sind doch auch neue und fast utopisch
scheinende Vorschläge, wie man weiterkommen könnte, nicht
von vornherein als ketzerisch oder irreal abzulehnen.
Bei den Überlegungen, die ich hier vorlegen möchte, geht
es um die dogmatische Seite des ökumenischen Problems. Die
Probleme kirchenrechtlicher und vor allem praktischer Art
bleiben also hier außer Betracht. Damit ist natürlich nicht
unterstellt, daß diese beiden anderen Seiten unseres Problems
nicht ebenso wichtig seien wie die eigentlich theologische Seite.

93
Man müßte sich gewiß über die kirchenrechtliche Seite des
ökumenischen Problems viel mehr Gedanken machen, weil die
eine Kirche der Zukunft selbstverständlich nicht durch eine
einfache Vereinnahmung der evangelischen oder orthodoxen
Großkirchen in die römisch-katholische Kirche, so wie sie im
lateinischen Westen rechtlich verfaßt ist, erreicht werden kann.
Und selbstverständlich sind auch noch große Hindernisse im
praktischen Leben der Kirchen, in ihren Mentalitäten des
Alltags, in ihren unreflektierten Stimmungen und Lebensge-
wohnheiten usw. zu überwinden, wenn sich die Christen aller
bisher getrennten Kirchen unbefangen als Brüder und Schwe-
stern in der einen Kirche empfinden sollen, auch wenn die eine
Kirche der Zukunft selbstverständlich für einen großen
Pluralismus in solcher christlicher Lebenspraxis Raum haben
muß. Aber, wie gesagt, wir bedenken in diesen Überlegungen
nur die dogmatische Seite des ökumenischen Problems, die
Frage also, wie die eine Kirche der Zukunft denselben christli-
chen Glauben haben und bekennen könnte.

Grundthese zur dogmatischen Seite des ökumenischen Problems

Die Grundthese hinsichtlich dieser Frage, die ich vortragen


möchte, geht dahin, daß sich die geistesgeschichtliche Gegen-
wart der Menschen von heute gegenüber früheren Zeiten so
verändert hat, daß — wenn sich auch nicht die eigentliche
Substanz des christlichen Glaubens und das, was die bisherigen
Kirchen als zu dieser ihrer Glaubenssubstanz rechneten, geän-
dert haben kann oder aufgegeben werden muß — aber die
Weise, wie dieses Glaubensverständnis der bisherigen Kirchen
in die eine Glaubenskirche der Zukunft eingebracht werden
kann und muß, schr von derjenigen Weise abweichen kann, in
der allein man sich diese Glaubenseinheit bisher in den Kon-
troversen zwischen den Kirchen und Konfessionen denken
konnte.
Diese Grundthese läßt sich nur verständlich machen, wenn
man etwas weiter ausholen darf zur Verdeutlichung der geistes-

94
politischen Situation, in der die Menschen heute und so auch
die Kirchen leben. Wenn diese geistespolitische Situation, in
der der Mensch leben kann, verdeutlicht werden soll, wenn die
Unterschiede solcher Situationen im Lauf der Geschichte ver-
ständlich gemacht werden sollen, wenn unsere heutige Situa-
tion abgegrenzt werden soll von der, in der alle Kontroversen
um die Kircheneinheit sich bisher abspielten und die teilweise
natürlich bis in die von uns selbst erlebte Gegenwart hineinrei-
chen, dann ist es selbstverständlich, daß solche Kennzeichnun-
gen dieser Situationen in ihrem Unterschied unweigerlich ver-
einfacht ausfallen müssen, daß Unterschiede deutlicher als das
Bleibende und Gemeinsame in diesen Situationen herausgear-
beitet werden, so daß man natürlich sehr leicht Einwände
gegen eine solche Schilderung erheben kann.
Aber ich meine, das, was diesbezüglich vorgetragen werden
soll, sei im Ganzen doch richtig und habe ein entscheidendes
Gewicht für die Frage, in welcher Weise heute eine Glaubens-
einheit gedacht und allein gefordert werden könne.

Die heutige geistespolitische Situation

Wie ist heute unsere geistespolitische Situation, in der der


christliche Glaube ausgesagt werden muß, im Vergleich zu der
geistespolitischen Situation des Abendlandes, in der die Kir-
chenspaltungen sich ereigneten?
Dieser Unterschied soll hier simpel und primitiv ausgesagt
werden: Früher war das geistige Material (wenn ich so sagen
darf), mit dem die Menschen arbeiteten, relativ begrenzt und
übersichtlich. Daher kam es, daß man zwar in vielen Dingen,
besonders weltanschaulicher Art, verschiedener Meinung war,
aber doch selbstverständlich voraussetzte und voraussetzen
konnte, daß man verstand und verstanden wurde, wenn man
miteinander redete und Kontroversen führte. Das Begriffs-
material, mit dem man arbeitete und stritt, war relativ leicht zu
übersehen, und zumindest die Theologen auf allen Seiten
konnten voraussetzen, daß sie dieses Material und die mit ihm

95
/
t
\

überhaupt aussagbaren Probleme übersahen und sich ihren


Gegnern, die mit demselben, schr begrenzten Begriffsmaterial
und Erfahrungsschatz arbeiteten, verständlich machen
konnten. Man setzte auf allen Seiten darum voraus, daß man
klar wußte, worüber man sprach. Es ist dabei gleichgültig, ob
dieses gemeinsame Selbstverständnis «objektiv» richtig war
oder ob auch in diesen früheren Zeiten die Kontroversen aus
einem unreflektierten Unterschied von letzten Haltungen,
Grundvoraussetzungen usw. erwuchsen. Man hatte dieses
Selbstverständnis. Die Katholiken z.B. sagten, daß es sieben
Sakramente gebe, die Protestanten bestritten dies, beide aber
setzten voraus, daß sie sich selber und die Gegner verstanden
und nicht aneinander vorbeiredeten.
Dieses gemeinsame Selbstverständnis, diese Homogenität
der Sprach- und Denkebene, auf der sich auch die Gegner
bewegten, kam natürlich aus einer — wenigstens im großen und
ganzen vorhandenen — Einheit der Kultur und der Gemeinsam-
keit von Erfahrungen, die man in einem begrenzten und relativ
übersichtlichen Umfang hatte. Man stritt sich als Brüder dersel-
ben Familie. Was in einer solchen Zeit überhaupt gewußt
werden konnte, das konnte auch ein einzelner, wenigstens ein
einzelner Gebildeter und Gelehrter, wissen. Wenn es von
vielen, den Ungebildeten, dem Volk, nicht gewußt wurde,
dann war dies von vornherein unerheblich; diese vielen Unge-
bildeten waren von vornherein dazu verurteilt, im Streit der
Gebildeten und Gelehrten den Mund zu halten und den An-
sichten zu folgen, die die Obrigkeiten und der Clan der Gelehr-
ten in ihrem jeweiligen Lebensraum bejahten.
Die Weltanschauung einer früheren Kulturperiode war,
soweit sie überhaupt reflex ins Wort gebracht werden konnte,
relativ übersichtlich und einfach oder wurde es nach kurzen
Krisenperioden zwischen geistigen Epochen wieder. Eine
solche Weltanschauung bezog sich auf einen geographisch und
geschichtlich begrenzten Bereich und war schon von daher
übersichtlich und auch bei Kontroversen relativ einfach zu
handhaben. Man spielte im geistigen Bereich, wenn ich so
sagen darf, mit einer begrenzten Zahl von Bällen und konnte
96
l

darum dieses Spiel, auch wenn es in Meinungsverschieden-


heiten bestand, virtuos spielen. Man konnte jeweils für sich der
Überzeugung sein, genau zu wissen, welche Überzeugungen
man selber hatte und welches die Überzeugungen der Gegner
waren, die man ablehnte.
Heute hat sich diese nur sehr primitiv gekennzeichnete Situa-
tion von früher, von den früheren Zeiten konfessioneller Spal-
tungen, sehr erheblich verändert, so daß es vielleicht sogar
erlaubt ist, von einem nicht nur quantitativen, sondern sogar
von einem qualitativen Umbruch zu sprechen, auch wenn diese
Veränderung geschichtlich langsam entstand und erst in
unseren gegenwärtigen Zeiten für jedermann deutlich gewor-
den ist.
Heute weiß man unendlich viel, und darum wird (so paradox
das scheinen mag) der einzelne, auch der sehr gebildete und
gelehrte einzelne, im Vergleich zu dem heute grundsätzlich
aktuell verfügbaren Wissen immer dümmer. Die Bücher, die es
gibt, werden immer zahlreicher, und es gibt niemanden mehr,
der sie alle lesen kann. Man kann immer größeren Computern
immer mehr eingeben und von ihnen abrufen. Aber trotz aller
immer anstrebbarer und teilweise auch erreichbarer Synthesen,
in denen eine bisher unbeherrschbare Menge von Einzelwissen
für einen einzelnen wieder erreichbar und beherrschbar wird,
ist der so computermäßig speicherbare Wissensstoff für den
einzelnen nicht mehr übersehbar und beherrschbar.
Man wird als einzelner immer dümmer; man muß sich immer
mehr auf das von einem selber nicht mehr durchschaubare und
nachkontrollierbare Wissen der anderen verlassen. Gerade die
Gescheitesten und wirklich Gebildeten merken, daß sie in allen
Dimensionen des menschlichen Lebens in gewisser Hinsicht
immer dümmer werden, sich immer mehr auf andere verlassen
müssen. Es gibt immer mehr Experten für unzählige Fragen
theoretischer und praktischer Art, die jeweils den anderen so
gegenübertreten wie in früheren Zeiten die Obrigkeiten und
die Gelehrten dem dummen Volk, aber diese Experten ver-
stehen sich untereinander selber nur sehr schwer oder gar nicht
und bilden so einen völlig dissonanten Chor von Stimmen, die

97
den anderen ihre Erkenntnisse und Lebensmaximen beibringen
wollen. Der Konsens in einer Gesellschaft hat überall in der
Welt die Tendenz, sich von der Einstimmigkeit gleicher
Grundüberzeugungen weg auf einen Konsens zu reduzieren,
der nur noch in der Selbigkeit von materiellen Voraussetzun-
gen und Bedürfnissen besteht. Das kommt letztlich daher, daß
die Menge des aktuell Wißbaren so ungeheuer gewachsen ist,
daß es sich nicht mehr synthetisieren läßt in der einfachen
Weise, wie es in früheren Zeiten möglich war.
Die Grenzen zwischen den sogenannten Gebildeten und den
Ungebildeten sind darum gegenüber früher höchst undeutlich
geworden. Es gibt heute nicht mehr eigentlich Gebildete und
Ungebildete, sondern alle sind heute in irgendeiner bestimmten
Hinsicht gebildet und darum gleichzeitig in anderen Hinsichten
höchst unwissend. Der Universalgelehrte ist ausgestorben.

Konsequenzen für die ökumenische Frage

Zunächst einmal ist diese angedeutete Situation auch für die


Theologie mitbestimmend. Auch hier weiß man ungeheuer viel
im Vergleich zu früheren Zeiten, zuviel, als daß der einzelne
Theologe und erst recht der einzelne Christ im Vergleich zu
diesem aktuell gegebenen Gesamtwissen der Theologie nicht
immer dümmer würde. Der Exeget kann heute nicht mehr
zugleich so sehr ein Systematiker sein, wie es in der Systematik
selbst gefordert wird. Der Dogmengeschichtler belächelt mit
einem gewissen Recht den systematischen Theologen, der mit
viel weniger Bällen spielt, als ihm die Dogmengeschichte
eigentlich anbieten könnte. Die Exegese ist eine so sublime, mit
den verschiedensten Methoden arbeitende Wissenschaft gewor-
den, daß selbst der einzelne Exeget nur noch ein kleines Stück
seiner eigenen Wissenschaft zu beherrschen sich einbilden
kann. Natürlich gibt es immer noch in der Theologie Leute, die
so etwas wie die Funktion eines theologischen Universalgelehr-
ten anstreben und vielleicht sogar anstreben müssen, wenn sie
z.B. zu den wenigen gehören müssen, die in der römischen
98
Glaubenskongregation über die Rechtgläubigkeit anderer
Theologen zu wachen und zu befinden haben.
Es wird immer fraglicher, ob und wieweit eine solche
theologische Universalgelehrtheit in einem einzelnen noch er-
reichbar ist, zumal ja in solchen Dingen der Geisteswissenschaf-
ten die Technisierung des heutigen Wissenschaftsbetriebs
wenig nützen kann. Auch die Theologen wissen immer mehr
und können sich gerade darum immer weniger verstehen. Der
einzelne Theologe kann immer weniger mit Sicherheit wissen,
ob er auch den anderen Theologen verstanden hat, weil ja
dieser andere vermutlich nur richtig verstanden werden kann,
wenn man auch seine Voraussetzungen miteinkalkuliert, die
einem aber eben im eigenen Kopf nicht mehr erreichbar sind.
Natürlich gibt es unter den Theologen und den Amtsträgern
in der Kirche sehr viele, die diese heutige Situation der
Theologie nicht wahrhaben wollen, sie verdrängen und noch
aus der Situation früherer Zeiten zu denken und zu arbeiten
suchen. Natürlich tun sie dies sogar mit einem grundsätzlichen
Recht, da man ja immer die anderen verstehen und sich sogar _
das Recht ihrer Beurteilung auf wahr und irrig nicht grundsätz-
lich absprechen darf. Aber die heutige Situation, die qualitativ
von der früheren verschieden ist, ist doch gegeben und muß
nüchtern und ehrlich gesehen werden.
Bevor wir unmittelbar fragen, welche Konsequenzen sich
aus dieser nur angedeuteten Situation für die eigentlich
ökumenische Frage ergeben, ist noch kurz eine erkenntnis-
theoretische Frage zu behandeln. Wenn ein Mensch sich eines
zustimmenden Urteils über einen (sicher oder möglicherweise)
wahren Satz enthält, irrt er nicht. Diese Selbstverständlichkeit
gilt nicht nur, wenn der Betreffende diesen Satz gar nicht kennt
oder ihn nicht versteht; er kann auch vor diesen Satz reflex
gestellt sein, seinen Sinn einigermaßen verstehen und doch
sittlich berechtigte Gründe haben, sich einer Zustimmung zu
ihm zu enthalten. Diese Gründe brauchen nicht notwendig in
der inneren sachlichen Schwierigkeit des Satzes gelegen sein,
sie können auch anderer Art sein: Der Satz kann z.B. für die
existentielle Situation des Betreffenden unwichtig sein; die

99
Mühe, ihn in seinem Wahrheitsanspruch zu prüfen vor der
Zustimmung, kann für den Betreffenden unverhältnismäßig
groß sein; der Satz, der an sich richtig ist, kann in einer einem
selbst unzugänglichen Begrifflichkeit, in einem fremden Ver-
ständnisfeld vorgetragen werden und so selber nur schwer
zugänglich sein. In solchen und ähnlichen Fällen wird man
nicht sagen können, ein bestimmter Satz fordere von einem
solchen Menschen schon deshalb allein eine positive und aus-
drückliche Zustimmung, weil er mit der Wahrheit dieses Satzes
rechnen müsse. Er kann ihn unter Umständen respektvoll auf
sich beruhen lassen, ohne seine sittliche Pflicht, der Wahrheit
die Ehre zu geben, zu verletzen.
Was vom einzelnen gilt, kann selbstverständlich auch von
größeren Gruppen von Menschen gesagt werden. Auch bei
solchen kann ein existentielles Desinteresse an bestimmten
Sätzen, auch wenn sie nicht positiv bestritten werden und mit
ihrer Richtigkeit zu rechnen ist, aus anderen Gründen legitim
sein.
Was so im allgemeinen gesagt wurde, gilt nun auch für die
einzelnen Sätze eines Glaubensbekenntnisses und für die Men-
schen der Kirche. Daß die Kirchen (auch die katholische) das
eben Gesagte in ihrer Praxis mindestens stillschweigend anneh-
men, scheint mir evident zu sein. Wenn ein Christ getauft ist,
in seiner Kirche lebt und ihr Leben in einem gewissen Umfang
mitvollzieht, betrachtet diese Kirche diesen Christen als
legitimes Glied in der kirchlichen Einheit; sie untersucht nicht
genauer, welche Glaubenssätze genauerhin ausdrücklich im
Bewußtsein dieses Mitglieds stehen, wieweit er genau über das
gesamte Dogma dieser Kirche unterrichtet ist; sie forscht nicht
nach, ob er ein ausdrückliches positives Verhältnis zu bestimm-
ten Sätzen hat, die sie vorträgt und vielleicht auch in bestimm-
ten geschichtlichen Situationen ihres Lebens ausdrücklich pro-
klamiert. Sie ist zufrieden, wenn sich einerseits aus der kirchli-
chen Praxis dieses Menschen ergibt, daß er doch offenbar —
wenn vielleicht auch nur sehr global und rudimentär — ein
positiv bejahendes Verhältnis zu den Grunddogmen, zu den
letzten Fundamenten in der Hierarchie der Glaubenswahr-

IOoo
heiten hat und auf der andern Seite keinen ausdrücklichen und
dezidierten Widerspruch innerlich oder öffentlich erhebt gegen
Sätze, die diese Kirche als an sich objektiv zu ihrem eigentli-
chen Glauben gehörend erklärt. Sie weiß, daß vieles im in-
dividuellen Bewußtsein der meisten ihrer Glieder an religiösen
und profanen Vorstellungen gegeben ist, was objektiv nicht
zusammenpaßt. Sie weiß, daß selbst dort, wo eines ihrer
Glieder zustimmend einen von ihr formulierten Satz wiederholt
und aussagt, auch für sie selbst noch längst keine absolute
Gewißheit darüber gegeben ist, daß dieser Gläubige bei diesem
Satz, den er wiederholt, wirklich das denkt, das versteht und
dem zustimmt, was die Kirche selber mit diesem Satz sagen
will.
Alle Kirchen, auch die katholische, sind damit zufrieden, daß
ihre Glieder in einer menschlichen, rechtlichen, liturgischen
Einheit als Getaufte und kirchlich Mitlebende gegeben sind
und somit die Grundsubstanz des christlichen Bekenntnisses
mitvollziehen (wenigstens darf und muß dies für den Bereich
der Öffentlichkeit der Kirche, in der sie lebt, präsumiert
werden), ohne von jedem Mitglied eine ausdrückliche Zustim-
mung zu jedem einzelnen Satz zu fordern, den sie selbst zu
ihrem verbindlichen Bekenntnis rechnet. Diese erkenntnis-
theoretische, in etwa minimalistische Toleranz ist gar nicht
vermeidbar, und sie ist auch in den Kirchen legitim.

Die Einheit der Kirchen

Unter dieser Voraussetzung und im Blick auf die oben skiz-


zierte geistespolitische Situation von heute im Gegensatz zu
früher darf nun wohl gesagt werden:
Vom dogmatischen Standpunkt aus und in bezug auf den
Glauben der Kirche wäre eine Einheit der jetzt noch getrennten
Kirchen denkbar, wenn keine Kirche erklärt, ein von einer
anderen Kirche als für sie absolut verbindlicher Satz sei positiv
und absolut mit dem eigenen Glaubensverständnis unverein-
bar. Solange solche Diskrepanzen bestanden oder bestehen, ist
IOI
u

natürlich eine Einheit im Glauben unter den Kirchen nicht


denkbar. Aber bestehen auch heute noch solche Diskrepanzen?
Ich möchte dies bezweifeln. Die theologischen Beratungen
unter den Theologen der verschiedenen Konfessionen haben
doch in den letzten Jahrzehnten zu Ergebnissen geführt, die
von den Kirchenleitungen noch gar nicht genügend zur Kennt-
nis genommen wurden. Es ist gewiß nicht so, daß die
Theologen der verschiedenen Konfessionen und Kirchen, die
ernsthaft als Repräsentanten des Glaubensbewußtseins ihrer
jeweiligen Kirche betrachtet werden können (was ja nicht von
jedwedem gilt, der Theologie als Religionswissenschaft be-
treibt), schon in allen dogmatischen Fragen zu einer positiven
Übereinstimmung untereinander gekommen sind. Aber gibt es
heute noch viele ernsthafte Theologen, die einen Satz eines
Theologen anderer Konfession, den dieser für seine Kirche als
absolut verbindlich erklärt, für schlechthin unvereinbar mit
dem eigenen Glauben, den er als für sein Heil entscheidend
bekennt, erklären?
Die Theologen sind sich in manchen kontrovers-theologi-
schen Fragen gewiß noch nicht positiv schlechthin einig. Aber
die Situation ihrer Gespräche hat sich doch gegenüber der
Reformationszeit fundamental geändert. Früher stand man sich
mit Positionen gegenüber, die jeweils von der anderen Seite als
mit der Grundsubstanz des Christentums objektiv schlechthin
unvereinbar erklärt wurden, so daß der anderen Seite eine
Heilsmöglichkeit nur noch — wenn überhaupt — zugebilligt
wurde, weil aus irgendwelchen seltsamen subjektiven Gründen
der andere für seine falsche und eigentlich bei gutem Willen als
falsch erkennbare Lehre doch nicht verantwortlich war. Heute
stehen sich die Theologen mit ihren vielleicht positiv noch
nicht ganz zu vereinbarenden Sätzen anders gegenüber als
früher. Auf beiden Seiten rechnet man damit, daß nicht nur eine
geheimnisvolle Subjektivität jeweils den anderen vor Gott und
vor der Wahrheit des Evangeliums entschuldigt, sondern auch
daß} die beiderseitigen Sätze, jeweils weiterentwickelt und in
einem größeren Zusammenhang verstanden, sich gar nicht
wirklich kontradiktorisch widersprechen, auch wenn man noch

102
nicht positiv deutlich sieht, daß sie bei einer solchen umfassen-
deren Interpretation positiv übereinstimmen.
In einer solchen neuen Situation ist, so meine ich, eine
genügende Glaubenseinheit unter den Kirchen schon herstell-
bar. Der evangelische Christ bräuchte zwar nicht schon jetzt
eine glaubensmäßige und positive Zustimmung zu manchen
Sätzen geben, die der Katholik als glaubensverbindlich betrach-
tet. Er braucht sie aber auch nicht positiv zu verwerfen, weil
er — wie sich wohl aus der geschichtlichen Entwicklung und in
der heutigen geistespolitischen Situation herausgestellt hat —
nicht sagen kann, daß diese spezifisch katholischen Sätze von
ihm nur unter einer glaubenszerstörenden Verleugnung dessen
bejaht werden können, was er mit Recht zur Substanz seines
eigenen Glaubens rechnet. Eine solche Enthaltung eines Urteils
über solche Sätze beinhaltet ja auch nicht die Überzeugung, er
müsse sich doch mit seinem Glaubensbewußtsein langsam
einfach auf die Position hinbewegen, wie sie jetzt in diesen
katholischen Sätzen ausgesagt ist. Denn dieser evangelische
Christ kann durchaus voraussetzen, daß (hoffentlich) diese
katholischen Sätze in der weiteren Geschichte des Glaubensbe-
wußtseins der Kirche eine solche Verdeutlichung und Inter-
pretation finden, die ihm dann auch eine positive Zustimmung
erlauben, die ihm heute noch nicht möglich ist, ohne daß er sie
deshalb frontal zu verwerfen sich verpflichtet fühlen muß.
Und umgekehrt, so meine ich, kann sich das Amt der ka-
tholischen Kirche bei einer Kircheneinigung mit einer solchen
Glaubensposition zufriedengeben, in der gemeinsam die eigent-
lichen Grundwahrheiten der christlichen Offenbarung aus-
drücklich bejaht werden, aber eine positive Zustimmung nicht
zu allen Sätzen für die Einigung verlangt wird, die im histori-
schen Prozeß des Glaubensbewußtseins der römisch-katholi-
schen Kirche als mit der göttlichen Offenbarung objektiv
gegeben erfaßt werden. Umgekehrt werden doch die or-
thodoxen und evangelischen Kirchen bereit sein können, sich
des Urteils (als eines Glaubensinhaltes) zu enthalten, daß
spezifisch römisch-katholische Glaubenssätze mit der Offen-
barung Gottes und der Wahrheit des Evangeliums schlechter-
103
\

dings unvereinbar seien, wie man dies in den Zeiten der


Glaubensspaltung getan hat.
Bei einer solchen existentiell erkenntnis-theoretischen Toleranz, ın
der nicht das ausdrücklich und explizit Gelehrte als radikal Wider-
sprüchliches zusammengezwängt wird, aber ein Freiheitsraum für das
noch nicht positiv Vereinbarte, aber in Hoffnung als vereinbar Aner-
kannte gewährt wird, ist, so meine ich, unter dogmatischen Gesichts-
‚punkten eine Einheit der Kirchen schon heute möglich.!
Dieser Satz mag kühn, utopisch und vielleicht sogar dog-
matisch anfechtbar erscheinen. Aber wenn man eine Kir-
cheneinigung in der heutigen geistespolitischen Situation nicht
für schlechthin unmöglich halten will — was einem doch gewiß
von den Grundüberzeugungen des Christentums und der
Kirche verboten ist —, dann muß man sich doch wohl sagen,
daß in der geistigen Situation von heute eine andere Einigung
im Glauben als die eben vorgeschlagene gar nicht möglich ist,
diese also legitim sein muß.

Alternative Einheits- Vorstellungen

Man stelle sich einmal eine idealere und radikalere Glaubensein-


heit der Kirchen vor, wie sie wohl bei den ökumenischen
Gesprächen immer noch als selbstverständliches Ziel vor-
schwebt, und frage sich dann, wie diese Einigung real durchge-
führt konkret aussehen würde. Würden sich dann in der
heutigen geistespolitischen Situation die Theologen nicht
immer noch streiten? Würden diejenigen Formulierungen des
Glaubens, auf die man sich ausdrücklich als allgemein verbind-
lich geeinigt hätte, nicht doch noch sehr verschieden inter-
pretiert werden — eben von den verschiedenen Verständnis-
horizonten her und mit den verschiedenen Terminologien, die
in dieser pluralistischen Geisteswelt immer noch und unüber-

! Vgl.dazu neuerdings den wichtigen Beitrag von H.Fries, K.Rahner,


Einigung der Kirchen — reale Möglichkeit (Quaestiones Disputatae, 100),
Freiburg i.Br. 1983. Dieses Buch enthält acht entscheidende Thesen zur
ökumenischen Situation. Ist die Zeit für die Einheit der Kirchen da?

104
windlich gegeben wären? Würden sich für gewisse Lehren
nicht konkret die einzelnen Gläubigen und große Gruppen von
ihnen — von der Begrenztheit ihrer existentiellen Situation her
— für uninteressiert erklären und faktisch doch stillschweigend
jene Enthaltung von einer positiven Zustimmung zu solchen
Lehren praktizieren, die in dieser idealeren Glaubenseinheit
vermieden werden soll, die aber in unserem eigenen Vorschlag
als legitim anerkannt wird?
Ich meine: Entweder erklärt man die Glaubenseinheit zu
einem konkret unerreichbaren Ideal, zu dem man nur mit
Lippenbekenntnissen steht, oder man strebt nach einer reali-
stisch denkbaren Glaubenseinheit, die man dann auch als
legitim anerkennen und theologisch verständlich machen soll.
Noch einmal anders ausgedrückt: Die Glaubenseinheit, die
faktisch in der katholischen Kirche besteht und legitim sein
muß, ist eine andere Glaubenseinheit als die, wie man sie in der
theoretischen Ekklesiologie stillschweigend wie selbstver-
ständlich voraussetzt und die als (explizite oder wenigstens
implizite) positive Zustimmung zu all dem verstanden wird,
was kirchenamtlich als glaubensverbindliche Lehre vorge-
tragen wird.
Da sich aber die konkret verwirklichte Glaubenseinheit auch
innerhalb der katholischen Kirche von dieser theoretisch po-
stulierten Glaubenseinheit unterscheidet und doch legitim ist
und in dieser Legitimität auch explizit anerkannt werden sollte,
muß man auch für die Glaubenseinheit in der künftigen einen
Kirche nicht mehr fordern als die faktisch in der katholischen
Kirche bestehende Glaubenseinheit und diese auch ausdrück-
lich als genügend und legitim anerkennen. Natürlich müßte
diese Konzeption der Glaubenseinheit auch von den or-
thodoxen und evangelischen Kirchen als genügend anerkannt
werden. Aber das müßte doch keine Schwierigkeit bedeuten,
weil man sich ja in diesen Kirchen noch viel handgreiflicher
heute schon mit dieser Glaubenseinheit zufriedengibt, wie wir
sie für die eine Kirche der Zukunft für genügend erachten.
Gefordert ist in dieser Hinsicht eigentlich nur, .daß diese
anderen Kirchen eine explizite Glaubenslehre in der katholi-
105
schen Kirche nicht positiv als mit der Grundsubstanz ihres
Christentums unvereinbar verwerfen.
Ich meine aber, die Entwicklung des kirchlichen Bewußt-
seins in allen Kirchen sei mittlerweile so weit fortgeschritten,
daß dies möglich ist. Natürlich gewiß nicht bei jedem einzelnen
dieser Christen und bei jedem einzelnen Theologen in diesen
Kirchen. Aber man kann doch annehmen, daß ein Großteil
dieser Christen und Theologen in den anderen Kirchen ein
absolutes Glaubensanathem gegen solche spezifisch römisch-
katholischen Glaubenslehren nicht mehr sprechen wird, die
Kirchenleitungen in diesen Kirchen dies also auch nicht mehr
tun müssen. Unter dieser Voraussetzung muß, so will mir
scheinen, auch eine positive Glaubenszustimmung von diesen
Kirchen zu solchen spezifisch römisch-katholischen Glaubens-
lehren nicht gefordert werden und kann doch eine genügende
Glaubenseinheit unter allen hergestellt werden, die die Grund-
substanz des Christentums im Bekenntnis des dreieinigen
Gottes und Jesu als unseres Herrn und Erlösers glaubend
erfassen und getauft sind. Die Grundthese, die ich vorzutragen
wagte, geht also dahin, daß in der heutigen geistespolitischen
Situation gar keine größere als die vorgeschlagene Glaubens-
einheit möglich ist, sie also legitim sein muß, wenn man nicht
auf eine solche Einheit der Kirchen im Glauben trotz aller
gegenteiligen Beteuerungen verzichten will.

Noch ungelöste Fragen

Natürlich wären, auch wenn man diese Theorie annimmt, für


eine wirkliche Einheit der Kirchen noch schr viele schwierige
Überlegungen anzustellen und viele Probleme zu lösen. Man
hat sich ja auf allen Seiten noch kaum konkrete Vorstellungen
darüber gemacht, wie die Kirche der Zukunft kirchenrechtlich
aussehen muß, damit eine Kircheneinheit eine reale Möglich-
keit sein kann. Denn selbstverständlich kann nicht daran
gedacht werden, daß die evangelischen und orthodoxen
Kirchen sich einfach in die römisch-katholische Kirche hinein
106
auflösen und daß dabei die römisch-katholische Kirche einfach
so bleibt, wie sie bisher kirchenrechtlich — z.B. bezüglich der
konkreten Funktionen der römischen Kurie, der Bischofser-
nennungen, der Liturgie usw. — war.
Natürlich müßte weiter darüber nachgedacht werden, wie
konkret auch diese gewissermaßen vorsichtigere und diskretere
Glaubenseinheit in der Kirche der Zukunft bewahrt und gelebt
werden könne. Denn auch in der Zukunft sind dafür gewiß
bestimmte rechtliche Strukturen notwendig. Denn auch heute
gibt es in evangelischen Kirchen Deutschlands grundsätzlich
die Möglichkeit eines Lehrzuchtverfahrens, was zeigt, daß es
selbstverständlich auch in der Kirche der Zukunft deutliche
und greifbare Möglichkeiten geben muß, mit denen sich die
Kirche der Zukunft gegen ernsthafte Bedrohungen ihrer
Glaubenssubstanz zur Wehr setzen und sich von fundamen-
talen Häresien abgrenzen kann, die natürlich auch in der
Zukunft möglich sind. Aber die konkreten rechtlichen Weisen,
in denen der Glaube der Kirche sich aussagt und verteidigt,
müssen nicht genau so gestaltet sein, wie es heute in der
römisch-katholischen Kirche der Fall ist.
Die Kirche der Zukunft wird selbst bei dieser Glaubensein-
heit, die notwendig, aber auch genügend ist, einen größeren
Pluralismus im Recht der einzelnen Teilkirchen, in deren Litur-
gie, Theologie, im konkreten christlichen Leben aufweisen, als
dies bisher in der römisch-katholischen Kirche rechtens war.
Zwar kann diesbezüglich die römisch-katholische Kirche aus
ihrem Verhältnis zu den schon mit ihr unierten kleinen Kirchen
des Ostens einiges lernen und übernehmen, was für diesen
legitimen Pluralismus in der Kirche der Zukunft nützlich und
vorbildlich sein kann. Aber dieser Pluralismus in der Kirche
der Zukunft wird gewiß größer sein dürfen, als wir römische
Katholiken ihn schon gewohnt sind, zumal der durch die
unierten Ostkirchen grundsätzlich bei uns schon als legitim
anerkannte Pluralismus sich praktisch im Bewußtsein dieser
westlichen Christen und auch der römischen Kurie nicht erheb-
lich auswirkt.
Im besonderen müßte natürlich theoretisch und praktisch
107
weiter darüber nachgedacht werden, wie für die ganze Kirche,
in die dann auch die orthodoxen und evangelischen Teilkirchen
eingefügt sind, eine konkrete, in der Praxis gegebene Anerken-
nung der Funktion des Petrusamtes in der Kirche vereinbar
werden kann mit dem Umstand, daß diese orthodoxen und:
evangelischen Teilkirchen die dogmatische Lehre des Ersten
Vatikanums zwar nicht als glaubenswidrig positiv verwerfen,
aber doch auch nicht schon positiv und ausdrücklich in ihr
eigenes Glaubensverständnis aufgenommen haben. In dieser
Frage wäre natürlich das heikelste Problem darin gelegen, daß
man dem Römischen Stuhl nicht verbieten könnte, auch in
Zukunft jene Lehrvollmacht auszuüben, die ihm das Erste
Vatikanische Konzil zuerkennt. Aber wenn das römische
Papsttum ausdrücklich für die Fälle, wo es eventuell auch in der
Zukunft eine Kathedralentscheidung fällen will, eine Verfah-
rensweise als für sich verpflichtend anerkennen würde, die
praktisch auch ohne eigentliches Konzil eine solche Ent-
scheidung auf die Zustimmung des Gesamtepiskopats aller
Teilkirchen gründen würde, dann wäre wohl auch dieses
heikelste Problem lösbar, ohne daß die orthodoxen oder evan-
gelischen Teilkirchen in der Kirche der Zukunft den Eindruck
haben müßten, jedwede Anerkennung des Petrusamtes würde
diese Kirchen von vornherein so sehr einer Lehrautorität Roms
ausliefern, daß die Gefahr bestünde, ihr eigenes Glaubensbe-
wußtsein könnte durch die Ausübung der päpstlichen Lehr-
autorität vergewaltigt werden.

Bedeutung der ökumenischen Bemühungen

Auch wenn man gewillt wäre, diese vorgeschlagene Grund-


these grundsätzlich anzunehmen, wäre natürlich dennoch der
Weg zur Einheit aller christlichen Kirchen weit — nicht nur aus
den eben angedeuteten Gründen. Die Kirchen müßten sich
auch gerade in ihrer Praxis und realen Mentalität noch viel
mehr als bisher aneinander gewöhnen, damit eine unmittelbar
greifbare Einheit wirklich denkbar und durchführbar wird.
108
Insofern haben alle die kleinen und großen ökumenischen
Bemühungen ihre große Bedeutung. Selbst wenn sie mit einer
gewissen Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit einer wirklichen
Einheit der Kirchen getan werden, Bayses sie uns doch dieser
Einheit näher.
Die Christen der verschiedenen Konfessionen kommen sich
durch solche Bemühungen doch immer näher; sie lernen sich
wirklich kennen, erfahren greifbar ihre jetzt schon gegebene
Einheit in der Grundsubstanz des christlichen Glaubens;
Fremdheit und Gleichgültigkeit im Verhältnis der Konfes-
sionen zueinander werden immer mehr abgebaut. Und so kann
doch dann der Tag langsam heraufkommen, an dem sich die
Kirchen konkret fragen können: Haben wir nicht doch densel-
ben christlichen Glauben, und können wir ihn nicht in einer
genügenden Einheit miteinander bekennen, ohne das
Glaubensgewissen der bisher getrennten Kirchen zu überla-
sten?
Schließlich meine ich, daß — wenn man die auch in der Kirche
der Zukunft notwendige und berechtigte Verschiedenheit der
Teilkirchen und die berechtigte Toleranz in Glaubensfragen in
Anschlag bringt und diese Kirche der Zukunft dann mit
unserer heutigen Situation der Kirchen vergleicht — diese
heutige ökumenische Situation gar nicht so schlecht ist, wie
man vielleicht zunächst meinen könnte. Wenn die Teilkirchen
der einen Kirche der Zukunft in ihrem Leben sehr erhebliche
Verschiedenheiten aufweisen, dann ist unsere heutige kirchli-
che Situation schon jetzt von der einen Kirche der Zukunft mit
einer großen Verschiedenheit ihrer Teile gar nicht so weit
entfernt, wie wir es vielleicht noch empfinden. Bei diesem
ökumenischen Sich-Näherkommen kann es ja auch passieren,
daß man plötzlich merkt, daß man sich schon viel nähergekom-
men ist, als man denkt und den Kirchen zutraut.

109
KONKRETE OFFIZIELLE SCHRITTE AUF EINE
EINIGUNG HIN?

Wenn auch noch nicht alle eigentlich theologischen Fragen in


allseitigem Einverständnis beantwortet sind, die unter den
christlichen Bekenntnissen und Kirchen als kontrovers-
theologisch gelten, so darf man doch wohl den Eindruck
haben, daß eine Einigung der Kirchen heute vor allem eine
Sache der Kirchenleitungen geworden ist. Diese Kirchenleitun-
gen können sich heute nicht mehr darauf berufen, daß die
Theologen noch nicht einig seien und sie selber also über
freundliche Worte von ökumenischer Gesinnung hinaus vor-
läufig nichts zu tun hätten. Können aber diese Kirchenleitun-
gen wirklich etwas Greifbares schon heute tun? Ich möchte zu
dieser Frage in bezug auf die Römisch-Katholische Kirche
etwas zu sagen versuchen. Bei solchen Taten der katholischen
Kirchenleitung wäre ein Doppeltes denkbar.
Einmal könnten konkrete Probleme interkonfessioneller
Art, die unmittelbar in der heutigen Seelsorge gegeben sind,
neu bedacht und mutig gelöst werden. Die evangelischen
Kirchen Deutschlands haben ja Wünsche solcher Art an die
katholische Kirche in Deutschland gerichtet, ohne schon eine
greifbare und ermutigende Antwort erhalten zu haben.
Könnten nicht in der Frage der Interkommunion neue Abma-
chungen getroffen werden, die von katholischer Seite bisher
nicht gewagt worden sind? Könnte ein katholischer Christ, der
mit einem evangelischen Christen verheiratet ist, nicht ab und
zu durch eine Teilnahme an einem evangelischen Sonntags-
Gottesdienst seine «Sonntagspflicht» erfüllen? Könnte bei der
Erziehung der Kinder solcher «Mischehen» nicht eine größere
und großzügigere Zusammenarbeit zwischen den Kirchen ver-
einbart werden? Könnten nicht solche Weisen der Zusammen-
arbeit im Religionsunterricht gefunden werden (wenn ein
solcher Unterricht heute praktisch, wenn überhaupt etwas,
Verständnis und Praxis nur der fundamentalsten christlichen
Überzeugungen vermitteln kann), die den beiden Konfessionen
IIo
gemeinsam sind? Eine möglichst ökumenische Antwort auf
diese praktischen Fragen der Seelsorge beider Kirchen steht an
und müßte gefunden werden. Es mag durchaus bei der Beant-
wortung solcher Fragen für die katholische Theologie Grenzen
geben, die nicht überschritten werden können, obwohl die
andere Seite dies wünscht und für möglich hält; daß diese
Grenzen aber in Theorie und Praxis auf katholischer Seite
wirklich schon erreicht sind, ökumenisch also einstweilen in
solchen Fragen nicht weiterzukommen sei, das müßte erst
bewiesen werden und scheint mir unwahrscheinlich zu sein.
Es gibt darüber hinaus eine Menge von Fragen des Selbst-
verständnisses der Kirche, des Kirchenrechtes, auch der kir-
chenrechtlichen Praxis, die ökumenisch von großer Bedeutung
sind und die von katholischer Seite ganz anders beantwortet
werden könnten, als es faktisch geschieht. In solchen Einzel-
fragen sollte man die Beantwortung nicht auf den künftigen
Zeitpunkt einer Kircheneinigung verschieben, sondern sie
Stück für Stück beantworten, womöglich in amtlich ausdrück-
licher Weise, als Teilangebote für die künftige ganze Kir-
cheneinheit. Man sollte solche Möglichkeiten nicht nur in allge-
meinsten und vagen Grundsatzerklärungen oder in unverbind-
lichen Aussagen von Theologen wahrnehmen, sondern in kir-
chenamtlichen Einzelerklärungen festlegen und so auch den
wirklichen entschlossenen Willen, ökumenisch weiterzukom-
men, glaubwürdig machen.
Warum sollte der Heilige Stuhl nicht jetzt schon, Stück für
Stück, erklären, welche Möglichkeiten einer wirklichen Einheit
der Kirchen er sehe und zuzugestehen bereit sei, ohne daß die
evangelischen Kirchen einfach in Theorie und Praxis von der
lateinischen Kirche des Westens uniform vereinnahmt würden?
Welche rechtlichen Weisen der Findung und Ernennung eines
Bischofs sind denkbar, die einerseits mit dem katholischen
Kirchendogma vereinbar sind und eher auf evangelischer Seite
in Theorie und Praxis angenommen werden könnten, und die
andererseits doch erheblich von der vom heutigen Römischen
Recht vorgeschriebenen Weise abweichen? Wenn auf dem
Konzil die Bischöfe der Unierten des Nahen Ostens erklärten,

114
sie seien sofort zum Rücktritt von ihrem Amt bereit, wenn die
orthodoxen Kirchen sich mit Rom einigen würden, könnte
dann nicht eine solche Regelung von Rom amtlich und ver-
bindlich als Grundsatz aufgestellt werden? Solche partiellen,
aber verbindlich festgelegten Einigungen wären auch auf dem
Gebiet der eigentlichen Dogmatik möglich. Wäre zum Beispiel
nicht eine lehramtliche Erklärung über den Opfercharakter der
Messe denkbar, welche die evangelischen Bedenken, es handle
sich in der Messe um eine Wiederholung und nicht nur um eine
Gegenwärtigsetzung des einen Kreuzopfers, ausräumen
würde? Könnte nicht noch deutlicher als im Trienter Konzil
lehramtlich klargemacht werden, daß alles rechtfertigende
Handeln des Menschen von der freien, uneinklagbaren
Gnadentat Gottes an uns getragen ist und alle gute Freiheitstat
des Menschen in Ablehnung eines primitiven Synergismus
selber noch einmal Gnade Gottes ist? Könnte nicht lehramtlich
deutlich gemacht werden, daß eine päpstliche Kathedralent-
scheidung ohne Konzil von der Sache her die Ausnahme in
besonderen Fällen ist und eine solche, selbst wenn sie erfolgt,
grundsätzlich und erst recht bei den heute gegebenen Möglich-
keiten der weltweiten Kommunikation und der Wahrheitsfin-
dung in der Kirche in einer Weise geschehen wird, die diese
Entscheidung praktisch doch zu einer Konzilsentscheidung
macht, weil die Gesamtkirche eben doch mitgewirkt hat, so daß
die evangelischen Christen bei einer Anerkennung des
I. Vatikanums heute und in Zukunft eben doch keine sie überra-
schenden und überfordernden Entscheidungen des Papstes
fürchten müssen? Wäre es eigentlich nicht leicht, auch kirchen-
lehramtlich eine Sakramentenlehre vorzutragen, die für einen
Menschen von heute keinen Verdacht auf Magie und Zauberei
mehr erregen kann? Wäre es nicht möglich, die für einen
sakramentalen Ehewillen erforderlichen Momente eines
Ehekonsenses so zu umschreiben, daß man das heute sicher oft
gegebene Fehlen eines sakramentalen Ehewillens bei bürgerli-
chen Eheschlüssen deutlicher und einfacher greifen kann?
Damit sollen nur ein paar Beispiele angedeutet sein, neben
vielen anderen, die es gewiß gibt und hier ungenannt bleiben.
LT2
Der Dialog der Theologen in den letzten Jahrzehnten zwi-
schen den christlichen Konfessionen sollte kirchenamtlich in
seinen Ergebnissen Stück für Stück festgeschrieben werden,
sonst hat der theologische interkonfessionelle Dialog nicht den
Erfolg, den er haben könnte, sonst wird viel geredet und am
Ende bleibt ein wirklich in den Kirchen als solchen greifbares
Ergebnis aus. Die Bedeutung einer Bewußtseinsbildung, die
mehr in einem gegenseitigen Vertrauen besteht und auf eine
praktische Interkommunion hinzielt, soll nicht unterschätzt
werden. Aber zu einer wirklichen Kircheneinigung kommt
dieses allgemeine Bewußtsein eben doch nur, wenn es sich auch
in konkreten dogmatischen Einzelaussagen objektivieren kann.
Solche aber müßten nicht bloß in immer wieder wechselnden
und von theologischen Moden beeinflußten Gesprächen unter
den Theologen ausgesagt werden, sondern auch lehramtliche
Feststellungen werden. Die katholische Kirche besitzt doch ein
Lehramt, das auch außerhalb eigentlich definitorischer Ent-
scheidung zu authentischen Aussagen fähig ist. Es sollte auch
heute den Mut haben, von seinen Möglichkeiten Gebrauch zu
machen. Dieser Gebrauch sollte nicht bloß in Warnungen und
Abgrenzungen bestehen, die dann auch noch wenig ökumeni-
sches Fingerspitzengefühl aufweisen, sondern sie sollten positiv
ökumenische Schritte auf eine Einigung hin festlegen. Wenn
das Lehramt zum Beispiel in Enzykliken nicht nur abgrenzt,
sondern auch positiv die christliche Wahrheit aussagt, dann
kann man nicht von vornherein der Meinung sein, die
Glaubenskongregation habe nur eine überwachende Funktion,
die sich in der Verwerfung heterodoxer oder gefährlicher Sätze
äußert. Die Glaubenskongregation könnte in Zusammenarbeit
mit dem Einheitssekretariat durchaus auch positive Lehren
vortragen, die Ergebnisse partieller interkonfessioneller Theo-
logengespräche beinhalten. Nur dann könnte man auch kon-
kret abschätzen, was schon dogmatisch erreicht ist und was zu
einer dogmatischen Einheit noch fehlt.!

! Vgl. dazu: H. Fries, Das Petrusamt im anglikanisch-katholischen Dialog,


in: StdZ 200 (1982) 723-738. Dieser Beitrag wurde im Einvernehmen mit
K. Rahner verfaßt.

113
Natürlich sollte es, meine ich, auch auf evangelischer Seite
etwas geben, das dem ähnlich ist, was der katholischen Seite
hier zugemutet wird. Warum sollte nicht auf evangelischer
Seite erklärt werden, daß man die reine Gnade Gottes in Jesus
Christus nicht verraten hat, wenn man die Rechtfertigungslehre
von Trient annimmt? Aber hier beginnt die alte Schwierigkeit.
Wer kann verbindlich für andere evangelische Christen spre-
chen?
Ich meine, die ökumenischen Bestrebungen müßten allmäh-
lich konkretere Ergebnisse zeitigen. Interkonfessionelle Kom-
missionen und Besprechungen, Arbeitspapiere privater
Gruppen ohne amtliche Verbindlichkeit sind noch nicht die
konkreten Ergebnisse, die heute allmählich fällig sind.

114
ÖKUMENISCHES MITEINANDER HEUTE

Im folgenden möchte ich ein paar einfache Überlegungen vor-


tragen zu der Frage: Was müssen hier und jetzt — also zu einem
Zeitpunkt, an dem das letzte Ziel aller ökumenischen Be-
mühungen noch nicht erreicht ist — die Christen und ihre
Kirchen tun, damit sie diesem Ziel näherkommen und eine
gewisse Stagnation, Resignation und Verdrossenheit überwin-
den, die heute den Fortgang der ökumenischen Arbeit zu
hindern scheinen?
Bei dem Versuch einer Antwort auf diese Frage ist es selbst-
verständlich, daß nur ein paar Fragmente einer solchen
Antwort vorgetragen werden können, daß wir diese Fragmente
nicht so sehr als Forderungen an die Kirchenleitungen hüben
und drüben formulieren, sondern solche aufzustellen suchen,
die uns selber, die christlichen Normalverbraucher also,
angehen.

Radikalisierung auf Jesus Christus hin

Das erste und eigentlich Wichtigste, was da wohl zu sagen ist,


ist die Aufforderung an alle Christen in allen Kirchen und
Konfessionen, besser, intensiver, radikaler Christen zu werden.
Das Christentum ist in seiner eigentlichen Substanz ja nicht eine
Theorie samt einer wohltemperierten Lebensweise, die man,
ein für allemal überliefert, angenommen hat und jetzt eben
weiter bekennt und weiter betreibt. Das wirkliche Christentum
ist Geist und Leben, die Bereitschaft, sich überfordern zu
lassen, der immer neue Aufbruch, die Pilgerschaft, die die
endgültige Heimat noch nicht gefunden hat, die Bereitschaft,
immer neue Erfahrungen zu machen. Es wäre schon von daher
widersinnig und unchristlich, wollten die christlichen Konfes-
sionen und Kirchen einfach bloß konservativ in ihrem über-
lieferten status quo beharren. Sie können ihr legitimes Erbe nur
in die Zukunft hinein bewahren, wenn sie bereit sind, sich zu
ändern. Das bedeutet aber letztlich trotz aller gebotenen Aus-

115
einandersetzung mit der eigenen Zeit nicht Beliebigkeit, nicht
willkürliche Übernahme modischer Tendenzen von außen,
sondern immer neue und radikale Rückbesinnung auf die inner-
ste Glaubenswirklichkeit, welche die Kirchen und die Christen
bezeugen müssen. Die Christen müssen christlicher werden,
dann kommen sie sich von selber näher. Nicht eine liberalisti-
sche Verwässerung des Christentums in einen Allerwelts-
Humanismus hinein ist darum geboten.
Alles, was seit der Aufklärung in der Theologie und im
Weltverständnis aller an Wahrem, Richtigem, für uns heute
Selbstverständlichem in der westlichen Welt entstanden ist, hat
in den Kirchen ein Recht auf eine unbefangene Anerkennung.
Aber es hat sich gezeigt und zeigt sich immer deutlicher, daß
dies alles ein radikal gläubiges Christentum nicht bedrohen und
in Frage stellen muß, daß Naturwissenschaften, kritische Ge-
schichtswissenschaften, historisch-kritische Exegese und über
all das hinaus ein modernes Welt- und Lebensgefühl durchaus
eine echte Einheit mit einem wirklich gläubigen Christsein
eingehen können. Und darum ist in allen Kirchen ein leben-
diges, immer neu und intensiv von der Wurzel des Glaubens
her gelebtes Christentum eine heute durchaus mögliche und für
die ökumenische Sache notwendige Aufgabe. Wir können zwar
nicht einfach mit einem willkürlichen Dekret die alten kon-
trovers-theologischen Probleme zwischen den christlichen
Kirchen abschaffen und für gegenstandslos erklären, aber diese
alle erhielten andere Aspekte und Gewichtungen, erhielten die
Möglichkeit, neu ausgesagt und bewältigt zu werden, gemein-
sam beantwortet zu werden, wenn sie heute bedacht würden
innerhalb der gemeinsamen Aufgabe der Kirchen und der
Christen, das ursprüngliche, echte, im guten Sinne orthodoxe
Christentum in einer echten Begegnung mit den gemeinsamen
Fragen unserer Zeit neu zu denken und zu leben.
Ist uns Christen das Bekenntnis zur letzten, realen Unbegreif-
lichkeit, in die wir ausgesetzt sind und die wir Gott nennen,
nicht gemeinsam? Getrauen wir uns nicht alle in einer Kühn-
heit, die nicht in uns selber ihr Recht hat, diese Unbegreiflich-
keit und Unverfügbarkeit, die wir Gott nennen, anzureden, mit

116
ihr zu tun zu haben, uns selbst ihr anzuvertrauen in der Über-
zeugung, daß wir in ihr geborgen sind, angenommen werden,
im Abgrund unseres Todes bei ihr selber ankommen, von ihr
freigesprochen werden, indem sie sich selbst uns zuspricht?
Und sind wir nicht die, die solches Ungeheuerliche — Glaube
genannt — wagen, indem wir auf Jesus und den Abgrund seines
Kreuzestodes blicken, ihn darin als den Geretteten bekennen
und uns von daher die unüberwindliche Überzeugung geben
lassen, daß auch wir, ohne vernichtet zu werden, selig bei dem
ankommen, den Jesus seinen Vater nannte und dem er sich in
letzter Gottverlassenheit bedingungslos übergab? Sind wir
nicht gemeinsam die, die so von Jesus das erste und das letzte
und unüberholbare Wort sich haben sagen lassen, in dem Gott
selbst sich uns als unser Ziel und Ende, als unser Gericht und
unsere Versöhnung zusagt? Sind wir nicht gemeinsam getauft
auf dieses letzte Wort Gottes in Jesus, so daß wir — ob wir
wollen oder nicht — durch die Taufe schon eine letzte Einheit
im Geist und in der Greifbarkeit gesellschaftlichen Zeugnisses
haben? Wenn wir diese Wirklichkeiten neu bedenken und
radikaler leben, muß auch eine Einheit in Glaube und Bekennt-
nis langsam und unerbittlich wachsen, die über die schon
gegebene Einheit hinaus jene Glaubensgemeinschaft hervor-
bringt, welche die ökumenische Bewegung sucht.
Von einem Christentum, das von seiner innersten Mitte her
gelebt wird, kann ganz gewiß auch eine Einheit in reflexeren
und in etwa sekundäreren Glaubenslehren gefunden werden, in
denen die Kirchen heute noch meinen, noch nicht eins zu sein,
oder es kann deutlich werden, daß die scheinbar kontroversen
Aussagen der verschiedenen Kirchen sich eigentlich nicht ge-
genseitig aufheben und verneinen, sondern die unausschöpf-
bare Fülle der christlichen Wirklichkeit von verschiedenen
Gesichtspunkten aus zu verdeutlichen suchen. In der Be-
mühung, die Theologien der Kirchen zu einer Konvergenz zu
bringen, hat es in den letzten Jahrzehnten in den christlichen
Theologien sehr beachtliche Erfolge gegeben. Es gibt heute
schon in fast allen Großkirchen — wenn auch nicht am Rande
der vielen Denominationen — Theologen, die der Meinung
117
sind, heute gäbe es keine kontrovers-theologischen Meinungs-
verschiedenheiten mehr, die wirklich #irchen-trennend sein
müßten; Theologen, die meinen, die Kirchenleitungen hätten
nun die Pflicht, aus dieser Situation die entsprechenden Konse-
quenzen zu ziehen und nicht Spaltungen kirchenrechtlich und
organisatorisch aufrechtzuerhalten, die es theologisch gar nicht
mehr gibt. Die Meinung solcher Theologen mag etwas zu
optimistisch sein und den Ereignissen vorauseilen. Sie zeigt
aber, daß eine Rückbesinnung auf die letzte Substanz des Chri-
stentums innerhalb einer mutigen Begegnung mit der Welt von
heute und die Revision der alten kontrovers-theologischen
Probleme von daher ökumenisch von größter Bedeutung und
durchaus erfolgversprechend sein können.
Voraussetzung ist natürlich, daß die Kirchenleitungen nicht
nur eine Verantwortung vor der Vergangenheit ihrer Kirchen
empfinden, sondern noch mehr vor ihrer Zukunft. Vorausset-
zung ist, daß solches Christentum von heute nicht nur
theoretisch gedacht, sondern praktisch gelebt wird. Daran fehlt
es natürlich am meisten. Wenn die Christen ihre Wahrheit nicht
nur dächten, sondern lebten, auf Orthopraxie so bedacht wären
wie auf Orthodoxie; wenn diese Orthopraxie aber nicht nur
Gesellschaftskritik und gesellschaftliche Veränderung besagen
würde — obwohl auch darin ein schreckliches Defizit bundes-
bürgerlichen Konservativismus festzustellen ist —, sondern An-
betung Gottes im Geist und in der Wahrheit realisieren würde,
weil wir für Gott und letztlich er nicht für uns da ist, dann
würden sie sich, meine ich, bald über die kontrovers-theologi-
schen Fragen einigen können, die nun einmal, ob wir wollen
oder nicht, zweitrangiger geworden sind als zur Zeit der Refor-
mation. Zweitrangig, nicht weil sie dies in ihrer letzten Tiefe
wären - Gnade und Rechtfertigung sind in sich nicht zweitran-
gig —, sondern weil wir solche Themen heute notwendig auch
unter Aspekten und Voraussetzungen allgemein erkenntnis-
theoretischer Art und im Kontext noch fundamentalerer Art
sehen müssen, so daß die Antwort unvermeidlich differenzier-
ter ausfällt und dann leichter konvergieren kann als in früheren
Zeiten.

118
Keine dritte Konfession

Eine zweite Maxime, die heute bei ökumenischen Bestrebungen


wichtig ist, könnte so formuliert werden: Es ist sinnlos und,
genauer besehen, für die ökumenische Arbeit auf die Dauer
schädlich, wenn praktische ökumenische Unternehmungen
übereilt so geführt werden, daß so etwas wie eine dritte Konfes-
sion neben den beiden christlichen Kirchen bei uns entsteht.
Ökumenische Gottesdienste sind gut; Christen können auch
heute schon bei den verschiedensten Unternehmungen ein-
trächtig, zusammenarbeiten; ich habe selber nichts dagegen,
wenn ein Ehepaar aus beiden Konfessionen, wenn ihr Gewis-
sen und ihre Liebe sie drängen, gemeinsam den Gottesdienst
und eventuell dieselbe Abendmahlfeier besuchen. Aber Ge-
meinsames, das die noch bestehenden glaubensmäßigen Dif-
ferenzen und die Verschiedenheit der kirchenrechtlichen Struk-
turen einfach überspringt und nicht wahrhaben will, führt nicht
zu einer Einheit der Christenheit, sondern — weil in beiden
Kirchen der Großteil der Christen bei solchen Unternehmun-
gen gar nicht mitmachen wird — zu einer neuen Spaltung, zu
einer Art dritter Konfession. Es gibt dann evangelische Chri-
sten, katholische Christen und unbedachte Ökumeniker, die
fälschlicherweise meinen, das Christentum, das sie persönlich
realisieren, sei selbstverständlich das ganze wirkliche Christen-
tum und genüge als Basis der Einheit. Diese Selbstbeurteilung
solcher Ökumeniker mag heute durchaus verständlich sein,
letztlich aber ist sie eine Selbstüberschätzung und Mißachtung
der christlichen Vergangenheit und der Glaubensüberzeugung
früherer Zeiten, die wir nicht um einer zu billigen Einheit
willen aufgeben dürfen, sondern gerade in die wahre und volle
Einheit der Kirche der Zukunft einbringen müssen.
Es ist zwar nur zu wahr, daß alle Kirchen viel historischen
Ballast abwerfen müssen, wenn man die künftige Einheit wirk-
lich ernsthaft will; man muß sich — bei allem Respekt vor den
kirchlichen Amtsleitungen - erschreckt und beunruhigt fragen,
ob sie wirklich genügend ökumenische Entschlossenheit und
Wagemut haben, aber man kann die Einheit nicht herstellen
119
, « i ar * f

durch Gleichgültigkeit gegenüber der Glaubensüberzeugung


früherer Zeiten und durch eine Einigung auf einen christlichen
Minimalbestand des Glaubens, von dem man nicht mehr recht
weiß, ob er noch spezifisch christlich ist; man kann die
legitimen Kirchenleitungen und ihre Anordnungen nicht
einfach liegenlassen und ohne sie eine Einheit praktizieren, die
nur eine neue Spaltung wäre. Einheit muß a//e Christen grund-
sätzlich miteinbeziehen wollen, auch die, die in einer tradi-
tionelleren Weise sich mit dem Bestand der überlieferten Kon-
fessionen und Kirchen identifizieren; Einheit muß it? dem,
nicht gegen das Amt realisiert werden. Ein Weg zu solcher
Einheit mag länger und schwieriger sein; aber die Bildung des
Bewußtseins in den Kirchen, die eine echte Einheit in der
Zukunft realisieren und tragen kann, darf nicht die Sache eines
letztlich doch modischen Liberalismus sein, sondern muß echte
Glaubensgeschichte bedeuten. Das ist sehr schwierig und erfor-
dert viel Geduld. Dies darf gewiß nicht bei Amtsträgern oder
sonstigen bequemen Christen zur theologischen Rechtfer-
tigung dafür dienen, nichts zu tun und die Einheit der Kirchen
von vornherein auf den Tag der Ewigkeit zu vertagen. Aber
wenn die ökumenische Bewegung konkret zur Bildung einer
dritten Konfession führen würde, hätte sie ihr Ziel verfehlt und
Spaltung statt Einheit hervorgerufen.

Wider den Konfessionalismus

Eine dritte Maxime für den heutigen Ökumenismus ließe sich


vielleicht so formulieren: Gibt es nicht Hindernisse der
Einheit, die in Wahrheit nur Einbildungen eines engen Konfes-
sionalismus sind? Es mag schon so gewesen sein, daß bis in die
jüngste Zeit hinein die römischen Prälaten sich faktisch eine
Einheit der römisch-katholischen Kirche und der evangeli-
schen Kirche in Deutschland nur dergestalt vorstellen konnten,
daß die evangelischen Christen gewissermaßen in einer massen-
haften Einzelkonversion zur katholischen Kirche zurückkehr-
ten und dann schlechthin in derselben Weise wie die bisherigen
120
Katholiken von Rom aus regiert würden. Vereinigung der
Kirchen des Westens (für den Osten wurde ein wenig anders
gedacht) konnte man sich in Rom, soweit man überhaupt etwas
genauer dachte, nur durch eine Selbstaufgabe der andern
Kirchen zugunsten der römischen Kirche denken, die selber
dabei so bleiben würde, wie sie bisher war und sich nur zahlen-
mäßig vergrößern würde. Ich weiß nicht, ob sich ein dezidiert
reformierter Christ in Genf nicht die katholische Kirche der
Zukunft, wenn diese mit seiner Kirche eine Einheit gefunden
hätte, so vorstellen müßte wie seine eigenen Kirchen: nüchtern
und bildlos, Orte des Wortes und nicht des Sakraments. Solche
Vorstellungen der künftigen Einheit, die unreflex auf beiden
Seiten früher wohl geherrscht haben und auch heute nicht
verschwunden sind, sind Hindernisse der Einheit, die aber vom
wahren christlichen Glauben her Phantome sind.
Einheit bedeutet ja in Wahrheit nicht Einerleiheit; das
Phantom der Einerleiheit ist ein großes Hindernis für die
ökumenischen Bestrebungen. Mir will scheinen, daß Rom
bisher nicht klar, eindeutig und in greifbaren Einzelheiten
erklärt hat, auf was alles Rom unbeschadet seines Glaubens
verzichten könnte und verzichten würde um einer Einheit
willen. Ich weiß nicht, ob nicht ein analoges Entgegenkommen
in mancher Hinsicht auf evangelischer Seite möglich wäre.
Wenn die katholische Kirche in ihrem Kirchenrecht schon jetzt
das Nebeneinanderbestehen mehrerer Jurisdiktionen auf dem-
selben Territorium kennt, dann kann es für sie nicht von
vornherein schlechterdings wesenswidrig sein zu denken, daß
auf demselben Territorium mehrere Teilkirchen verschiedenen
historischen Ursprungs existieren, die verschieden bleiben und
"doch eins sind in dem, was der Glaube und die Liebe an echter
Einheit wirklich verlangen. Wir haben zum Beispiel in der
katholischen Kirche in Deutschland eine eigene Jurisdiktion
der Ukrainer mit eigener Hierarchie und Liturgie, die dennoch
mit Rom in Einheit und Frieden lebt. Warum sollte es zum
Beispiel in Hessen nicht eine Diözese der «alten» Katholiken
mit Mainz als Bischofssitz geben können und daneben eine
unierte hessische Kirche, die ihre geschichtliche Herkunft und

12%
ihre guten Traditionen von der Reformation her hat? Ein
bißchen schöpferische Phantasie und Freiheit des Geistes sind
natürlich notwendig, um sich für die Zukunft so etwas vorstel-
len zu können. Aber könnten solche Tugenden nicht uns Chri-
sten von heute und morgen abverlangt werden? Natürlich
müßten der Wille zur Einheit und diese Einheit der Kirchen
konkretisiert und abgesichert werden durch vielfältige kirchen-
rechtliche Normen und Gesetze. Aber so etwas ist möglich; die
Schaffung einer solchen, verschiedene Kirchen übergreifenden
Einheit muß indes auf keinen Fall bedeuten, daß die eine
Kirche von nun an, ohne sich selber zu verändern, über die
andern dominiert, sie einfach absorbiert. Man könnte sogar,
meine ich, in diesem Zusammenhang darüber nachdenken, ob
eine natürlich notwendige Einheit des Glaubens nicht nur einen
sehr erheblichen Pluralismus in den Theologien der einzelnen
Teilkirchen zuläßt, sondern auch eine Verschiedenheit des Stel-
lenwertes, der in den einzelnen Teilkirchen wirklichen
Glaubenslehren zuerkannt wird. Müßte zum Beispiel die
unierte hessische Landeskirche auch ausdrücklich ein Fest
Mariä Himmelfahrt feiern, oder könnte auf so etwas verzichtet
werden? Im Verhältnis Roms zu den unierten Teilkirchen des
Nahen Ostens sind eigentlich viele größere und kleinere
Paradigmen für die verschiedenen Weisen gegeben, in denen
eine Teilkirche mit Rom uniert sein kann, Weisen, die sehr
voneinander differieren. Wegen einer regionalen, geographi-
schen Unterschiedenheit zwischen West und Ost in der katholi-
schen Kirche hat man offenbar in Rom keine unüberwindlichen
Hindernisse einer Einheit gesehen. Bei den christlichen
Kirchen des Westens ist zwar dieses Auseinander räumlicher
Art dieser Kirchen nicht gegeben. Aber es ist nicht einzusehen,
daß die Verschiedenheit in der geschichtlichen Entwicklung
dieser Kirchen des Westens nicht ebensoviel Recht zu einer
bleibenden Verschiedenheit dieser Kirchen geben könnte.

T:2r2
Kennenlernen der andern Konfession

Eine vierte Maxime könnte lauten: Lernt einander wirklich


kennen! Diese Maxime klingt wie eine bare Selbstverständlich-
keit. Jeder Christ jedweder Konfession gibt standesamtlich
seine Konfession kund; er sieht an den Straßen die Kirchen
anderer Konfessionen; er weiß, daß diese anderen Konfes-
sionen Gemeinschaften von Christen sind mit derselben Taufe,
die auch er empfangen hat, Gemeinschaften mit ähnlichen
kirchlichen Strukturen wie denen, die er in seiner eigenen
Kirche erlebt; wenn ihm in seinem Erfahrungskreis eine Ehe
begegnet, die man Mischehe zu nennen pflegt, entstehen per-
sönliche und kirchenrechtliche Probleme, durch die er deutli-
cher mit dem Pluralismus christlicher Bekenntnisse und Kon-
fessionen konfrontiert wird usw. Man könnte meinen, daß die
eben genannte vierte Maxime zwar eine notwendige V orausset-
zung aller ökumenischen Bestrebungen sei, aber doch eine
solche, die im großen und ganzen längst und überall erfüllt
werde. Das ist aber in Wirklichkeit nicht der Fall. Es ist auch
heute noch so, daß man von den anderen Kirchen neben seiner
eigenen nur das weiß, was davon unmittelbar in der profanen
Öffentlichkeit in Erscheinung tritt und was darum für die
eigentliche christliche Existenz nicht sonderlich belangvoll ist.
Gerade der für seine Kirche engagierte Christ weiß über dieses
eigentlich profan bleibende Wissen über die anderen Kirchen
hinaus von diesen anderen Kirchen wenig oder nichts. Er lebt
im sakralen Bereich seiner eigenen Kirche, er hat (hoffentlich)
Kontakt mit den Pfarrern seiner Kirche; wenn er nicht beruf-
lich Theologe ist, wird ihm seine religiöse Literatur mehr oder
weniger nur von seiner eigenen Kirche geliefert - Ausnahmen,
gerade in jüngster Zeit, gerne zugegeben - usw. Kurz und gut:
Wenn man genauer hinschaut, weiß gerade ein im Leben seiner
eigenen Kirche engagierter Christ wenig von dem eigentlich
religiösen und christlichen Leben der anderen Kirchen. Das
muß nicht einfachhin als tadelnswert empfunden werden, weil
ein geschichtlich bedingter Standort einmal zum Leben jedes
Menschen gehört. Aber heute sollten wir doch unsere Kenntnis
123
und Frfahrung vom Leben unserer Mitchristen in den anderen
Kirchen erweitern. Es handelt sich dabei nicht so sehr um die
Mehrung theoretischer Kenntnisse über die anderen Kirchen
und ihre Bekenntnisse, sondern um eine lebendige Erfahrung
des konkreten Christenlebens dieser anderen Christen; sonst
wird die eigentliche Kluft zwischen den Konfessionen heute,
die das Haupthindernis für die Einheit der Christen bildet,
nicht überwunden werden. Denn sie besteht nicht so sehr im
Unterschied kontrovers-theologischer Meinungen aus der Ver-
gangenheit, sondern im Gefühl der Fremdheit des anderen
religiösen Lebensstils, im Unvermögen, dieses andere Leben
spontan und unbefangen mitvollziehen zu können. Solche
Fremdheit kann unter dem Gesichtspunkt eigentlich theologi-
scher und glaubensmäßiger Problematik völlig unerheblich
sein; sie behindert praktisch aber mehr als alle Meinungsver-
schiedenheiten der Theologen aus der Reformationszeit. Viele
evangelische Christen werden das katholische Kreuzzeichen
oder eine Maiandacht der Katholiken für unzumutbar halten.
Ein Katholik empfindet vielleicht den Gebetsvortrag des evan-
gelischen Pfarrers als pathetisch und salbungsvoll. Solche und
tausend ähnliche Unterschiede in der Lebenspraxis der Kirchen
haben theologisch an sich kein Gewicht, hemmen aber die
Arbeit auf das Ziel aller ökumenischen Bestrebungen hin. Wir
müssen da alle noch viel lernen und noch viel mehr ein lebens-
praktisches Verständnis für die Weise erwerben, in der die
Christen anderer Kirchen ihr Christentum leben.
Es ist gut, aber es genügt noch nicht, wenn in den letzten
Jahrzehnten das gemeinsame Liedgut aller christlichen Kirchen
bei uns gewachsen ist, wenn auf den Katholikentagen und den
evangelischen Kirchentagen der eine oder andere Redner einer
anderen Kirche auftritt, wenn in Fragen zwischen Kirchen
einerseits und Staat und profaner Öffentlichkeit andererseits die
Kirchen eine gemeinsame Stellungnahme finden usw. Das
Gefühl der Fremdheit und gegenseitiger Gleichgültigkeit muß
noch viel mehr an der Basis, bei den einzelnen Christen im
Alltag überwunden werden. Es ist gar nicht leicht zu sagen, wie
man das machen soll, weil man da nicht viel mit amtlichen

124
N ‘ N \ j
k .

Anordnungen arbeiten kann. Wer in der Kirche einer Konfes-


sion für die eigenen Leute predigt, sollte doch gewissermaßen
mit einem Ohr selber mitzuhören versuchen, ob das, was er
sagt, grundsätzlich auch bei den Christen einer anderen Konfes-
sion ankommen könnte oder nur als letztlich unchtristlich ver-
standen würde. Ähnliches müßte eigentlich gelten für die, die
einen Gottesdienst für die eigene Kirche liturgisch zu gestalten
haben: Auch sie müßten sich mit einem inneren Empfinden
immer wieder fragen, ob ihr Gottesdienst konkret auch einem
Christen einer anderen Konfession zumutbar wäre. Gemein-
same ökumenische Gottesdienste sollten daher nicht als Pflicht-
übungen eines ökumenisch guten Willens absolviert werden,
sondern demütig-mutige Versuche sein, Gott wirklich im Geist
und in der Wahrheit mit Jesus zusammen anzubeten, es ge-
meinsam besser zu machen, als man es allein fertigbringt.
Hat man schon mutig und unbefangen genug die Möglich-
keiten gemeinsamer Gottesdienste dort zu überlegen versucht,
wo wegen Priestermangel oder aus anderen Gründen ein Got-
tesdienst der eigenen Kirche nicht möglich ist? Kann ein Christ
nicht sinnvoll auch die Kirche einer anderen Konfession zum
Ort seines privaten Gebetes und stiller Einkehr machen?
Würde es etwas schaden, wenn im Gemeindesaal einer Pfarrei
nicht nur das eigene Bistumsblatt, sondern auch religiöse
Tagesliteratur der anderen Kirchen aufliegen würde? Ist man
nicht noch viel zu «vorsichtig» und zurückhaltend, wenn es
sich um die Erfüllung von Aufgaben handelt, die im Bereich
der profanen Gesellschaft den Kirchen gemeinsam sind? Ist
man bei sogenannten Mischehen oder in der Frage, in welcher
Kirche ein Kind getauft werden soll, nicht auch heute mehr auf
genaue Grenzziehungen als auf Einheit bedacht? Ökumenische
Gemeinsamkeit praktischer Art, wie sie zum Beispiel in der
Aktion 365 betrieben wird, hat doch im durchschnittlichen
Leben der Kirchen zu wenig Profil. Man kann nicht eins
werden, wenn man sich nicht versteht; man kann sich nicht
verstehen, wenn man sich nicht kennt; man kann sich nicht
kennenlernen, wenn man aus Mißtrauen oder Gleichgültigkeit
die Kontakte nicht pflegt, durch die allein man sich kennenler-

125
nen kann, um dann schließlich zu entdecken, daß wir alle
Christen sind, die in der einen großen und umfassenden Kirche
Jesu Christi leben können, in der Kirche, die aus ihrem eigenen
Wesen heraus und nicht als bloße Konzession eine Fülle von
regional und geschichtlich bedingten Teilkirchen in sich
umfaßt, weil nur so die Fülle Christi in der Welt offenbar
werden kann.

Die vorhandene Einheit

Eine letzte Maxime: Um zur Einheit der Christen zu gelangen,


die uns aufgegeben ist, müssen wir uns auch der Einheit freuen,
die uns Gott schon immer geschenkt hat. Sind wir nicht alle
auf den Namen des dreifaltigen Gottes getauft? Suchen wir
nicht alle aus der vergebenden Gnade Gottes zu leben, die uns
ohne irgendein Verdienst oder Anspruch von unserer Seite
zuteil geworden ist? Lesen wir nicht alle im Wort der beiden
Testamente das Wort Gottes selbst, das uns richtet und be-
gnadigt? Feiern wir nicht alle, so gut wir es eben können, das
Gedächtnis des Todes Jesu, bis die verwandelnde Kraft dieses
Todes einst ganz offenbar werden und die Geschichte beenden
wird? Suchen wir nicht alle unseren eigenen Tod in die Unbe-
greiflichkeit Gottes und unseres eigenen Lebens hinein mit dem
Gekreuzigten auf uns zu nehmen? Sind wir Christen nicht
heute alle davon überzeugt, daß wir im Kampf um Gerechtig-
keit und Freiheit in der Welt eine ungeheure Aufgabe haben,
die wir noch nicht gelöst haben? Gibt es nicht also unter den
Christen schon eine Einheit, die uns schon geschenkt ist?
Es ist also nicht so, daß uns Christen untereinander eben-
soviel an weltanschaulichen Überzeugungen und Lebensstilen
trennte, wie uns solches von anderen politischen, gesellschaftli-
chen und kulturellen Gruppen in der Welt unterscheidet — so
wahr es auch bleiben mag, daß die Einheit, die uns Christen alle
schon verbindet, von uns noch nicht zum Segen der ganzen
Welt voll ausgewertet wird. Wir haben schon eine uns von
Gott selbst geschenkte Einheit untereinander, die uns Christen
mit tiefer Dankbarkeit und Freude erfüllen müßte. Wir müßten

126
dabei bedenken, daß auch die ökumenische Einheit, die als
unsere eigene Aufgabe noch vor uns liegt, einen schr erhebli-
chen Pluralismus auch in der einen Kirche gar nicht aufheben
könnte und dürfte, daß ein solcher Pluralismus auch in einer
geeinten Kirche aller Christen immer noch eine Last und An-
fechtung bedeuten würde, daß man auch in einer geeinten
Kirche gegenseitig Unverständnis, Antagonismus und anderes
ertragen müßte, daß auch eine geeinte Kirche innerhalb der
Geschichte die selige Einheit des vollendeten Reiches Gottes
nicht vorwegnehmen könnte. Rechnet man aber dies demütig
und nüchtern ein, weiß man, daß auch eine mögliche und
gebotene Einheit der Christen hienieden das Reich des ewigen
Friedens nicht schon vorwegnehmen kann, rechnet man weiter-
hin in einem von Gott her kommenden Optimismus ein, daß
Gottes Gnade selbst aus Schuld und Versagen der Menschen
noch einmal Gutes gewinnt und auf krummen Linien gerade
schreiben kann, durch Spaltung eine Fülle des Christentums
bewirken kann, die faktisch durch Einheit nicht erzielt werden
könnte, dann darf man sich unbefangen und dankbar der
Einheit freuen, die Gott unzerstörbar den Christen schon ge-
schenkt hat. Diese Freude darf nicht zur Entschuldigung einer
resignierten Stagnation der Ökumenischen Bemühungen
führen. Aber wer bei dieser Arbeit das Seine tut, auch wenn es
klein und bescheiden ist, der darf sich dankbar im Ruhm der
mächtigen Gnade Gottes wirklich über die Einheit freuen, die
Gott uns Christen schon geschenkt hat.

127
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ZUKUNFT DER KIRCHE
VERGESSENE ANSTÖSSE DOGMATISCHER
ART DES ZWEITEN VATIKANISCHEN
KONZILS

Bei diesem Thema werde ich mich von vornherein auf dogmati-
sche Themen beschränken. Alle an sich größeren und weiterrei-
chenden Anstöße für die Verkündigung, Pastoral und Strategie
einer jetzt Weltkirche gewordenen Kirche auf diesem Konzil,
das ja ein pastorales sein wollte und war, bleiben also unberück-
sichtigt. Wenn von «Anstößen» die Rede sein soll, dann ist
damit gemeint, daß es sich nicht so sehr um die Darstellung und
Interpretation ausdrücklicher und unmittelbar greifbarer
Lehren dogmatischer Art des Konzils handelt, sondern um
Aussagen des Konzils, die eher einen Anfang, eine Anregung
und Aufforderung zu weiterer dogmatischer Überlegung und
Arbeit darstellen. Beim meisten, was gesagt werden wird, kann
also nicht eine klare und eindeutige, nicht bezweifelbare Lehre
des Konzils vorgetragen werden; es kann nur auf Aussagen des
Konzils hingewiesen werden, bei denen der Theologe auf neue
Fragen gestoßen wird, über die er weiter nachdenken sollte,
weil diese Fragen auch für die Verkündigung des Glaubens für
heute und morgen wichtig sind, aber noch eine ausstehende
klare Antwort vermissen lassen, die in der Theologie der
Kirche allgemein akzeptiert wäre. Wenn die Überschrift von
«vergessenen» Anstößen spricht, so ist damit natürlich nicht
gemeint, daß erst hier und gerade von mir allein solche Anstöße
bedacht werden, was natürlich ein Unsinn wäre, sondern daß
sie m.E. doch im allgemeinen in der katholischen Theologie
von heute noch nicht eine wirklich genügende Beachtung und
Bearbeitung finden. Die einzelnen Fragen, die ich nennen
werde, erschöpfen, wie von vornherein betont werden muß, die
Gesamtheit solcher möglichen Anstöße in keiner Weise. Es
werden wichtigere und weniger wichtige Anstöße in beliebiger
Reihenfolge dargestellt. Ich will mit einer Frage beginnen, die
in sich nicht unwichtig ist und gleichzeitig die formale Methode
unserer Überlegungen verdeutlichen kann.
131
Atheismus und persönliche Schuld

Als ich vor so Jahren Theologie studierte, war es eine uns


jungen Theologen vorgetragene Lehre, die nicht bezweifelt
werden durfte, daß ein positiver Atheismus auf längere Zeit in
einem Menschen nicht ohne seine persönliche schwere Schuld
existieren könne. Welche Konsequenzen eine solche Lehre
eigentlich für das Verhältnis eines katholischen Christen zu
einem Atheisten in seiner Umgebung haben müßte, wenn sie
im Leben wirklich praktiziert würde, braucht wohl hier nicht
lange erklärt zu werden. Für diese Lehre war die Existenz
Gottes so einleuchtend und rational nachweisbar und der
Begriff Gott im Satz, daß er existiert, so selbstverständlich, daß
nur ein Bösewicht (bei genügender, normaler Intelligenz und
auf längere Zeit hin) nicht von der Existenz Gottes überzeugt
sein konnte. Wir müßten somit nach dieser Lehre heute davon
überzeugt sein, von unzähligen Bösewichten umgeben zu sein,
und wir müßten daraus für die Praxis unsere Konsequenzen
ziehen.
Von dieser Lehre war auf dem Konzil überhaupt nicht die
Rede, nicht einmal bei den konservativsten Bischöfen und
Theologen, auch in dem Kontext der konziliaren Beratungen
und Aussagen nicht, wo man hätte erwarten müssen, daß auf
diese traditionelle Lehre mindestens hätte reflektiert werden
müssen. Das Konzil sagt, ohne daß es darüber zu ernsthaften
Diskussionen gekommen ist: «Die Göttliche Vorsehung ver-
weigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne
Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes
gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein
rechtes Leben zu führen sich bemühen.» (Lumen Gentium 16)
Das Konzil sagt, daß alle Menschen guten Willens, in deren
Herzen die Gnade unsichtbar wirkt, dem österlichen Geheim-
nis in einer Gott bekannten Weise verbunden sind (Gaudium
et Spes 22). Ich glaube, daß vor 100 Jahren kaum katholische
Theologen zu finden gewesen wären, die diese und auch
weitere Sätze des Konzils über den Atheismus und die Athei-
sten zu sagen gewagt hätten. Für die Spießbürger von heute in
132
der westlichen Welt mögen solche Sätze wie eine bare Selbst-
, verständlichkeit klingen. Für eine Kirche, die gelegen oder
ungelegen der göttlichen Offenbarung und ihrer Überlieferung
eisern treu sein will und ist, sind solche Sätze Marksteine in der
Geschichte ihres Glaubensbewußtseins, hinter die dieser
Glaube nicht mehr zurückgehen wird. Ein positiver Atheismus
ist immer noch in der Sache schlechthin falsch und existentiell
eine ungeheure Gefahr; er kann aber nicht einfach und
schlechthin in seiner konkreten Realität im Bewußtsein der
Menschen mit tödlicher Schuld vor Gott identifiziert werden,
die von Gott her nur mit einem Nein der Verdammnis beant-
wortet werden kann. Die Kirche rechnet auch (nicht nur!) mit
einem unschuldigen Atheismus, zumindest was den einzelnen
konkreten Menschen in seiner individuellen Heilsgeschichte
angeht; sie muß also auch — auch, sage ich — mit einer positiven
“ Heilsbedeutung des Atheismus rechnen. Die Kirche wird
dennoch für ihre Wahrheit gegen den Unglauben der heutigen
Welt unerbittlich kämpfen, aber sie hat mit den genannten
Sätzen einen Punkt in der Geschichte ihres Glaubensbewußt-
seins erreicht, der so nicht immer schon gegeben war, und sie
hat eine Position für sich deutlich gemacht, von der aus ein
wirklich liebender Dialog mit allen in der Welt geführt werden
kann.
Wenn man das Gesagte bedenkt, so wird zunächst einmal
deutlich, daß, formal gesehen, in der Lehre des Konzils auf
solche dramatischen Fragen geachtet werden muß, die nur in
Ansätzen oder durch Auslassungen und Übergehungen ange-
deutet sind, doch von größter Wichtigkeit sein können. Und
zweitens sind solche Andeutungen ein Anstoß für die
Theologie, die weiterdenken muß. Denn die genannte milde
Toleranz des Konzils, das auch den Atheisten als einzelnen ihre
Unschuld vor Gott nicht aberkennt, bedeutet ja nicht, daß jetzt
alles in dieser Sache klar und friedlich und liberal gelöst sei;
sondern jetzt entsteht für den Theologen eine bedrängend
schwierige Frage, über die er nachdenken muß. Er kann ja
nicht in einem billigen Liberalismus damit rechnen, daß es
Menschen gibt, die einfach und schlechthin dauernd unschuldig

233
an Gott in Unkenntnis Gottes vorbeileben, obwohl sie zum
Gebrauch der Vernunft und zur Möglichkeit sittlicher Ent-
scheidungen gelangt sind, und doch selig werden und in die
Unmittelbarkeit zu Gott im ewigen Leben gelangen. Es stellt
. sich also die Frage, ob diesen schuldlosen Atheisten - wenn und
wo es solche gibt, was ja eigentlich bei der geistesgeschichtli-
chen und geistespolitischen Situation von heute und morgen
im Ernst nicht bezweifelt werden kann — dennoch ein heilschaf-
fendes und Glauben ermöglichendes Wissen von Gott zuge-
schrieben werden kann und muß, das wirklich gegeben ist,
auch wenn es hinter dem expliziten verbalen Atheismus im
Vordergrund ihres Bewußtseins versteckt ist. Die Frage nach
einem anonymen Theismus ist also gestellt, auch wenn nicht
wenige Theologen das Wort «anonym» in dieser Frage verab-
scheuen. Es kommt nicht auf das Wort, sondern auf die Sache
an, die durch die Aussage des Konzils angemeldet ist. Damit
sind auch weitere allgemeinere Fragen der Anthropologie in
der Theologie aufgegeben. Das menschliche Bewußtsein muß
bezüglich seiner Erkenntnisse und Freiheitsentscheidungen
mehr Dimensionen, mehr Vordergründe und Hintergründe,
mehr Verbalisiertes und Nicht-Verbalisiertes, mehr Zugelas-
senes und mehr Verdrängtes enthalten können, als die tradi-
tionelle Schultheologie ausdrücklich wußte. Wo ist die
Theologie, die über diesen Denkanstoß des Konzils ausdrück-
lich genug nachdenkt und (das ist ebenso wichtig) der Verkün-
digung und der Pastoral des Alltags die Ergebnisse weitergibt?

Verhältnis von Lehr- und Jurisdiktionsprimat des Papstes zur


Vollmacht des Gesamtepiskopates

Ein zweiter Denkanstoß sei genannt: die Frage nach dem


genaueren Verhältnis in Theorie und Praxis zwischen dem
universalen Lehr- und Jurisdiktionsprimat des Papstes und
derselben Vollmacht, die den Gesamtepiskopat mit und unter
dem Papst, aber so auch wirklich dem Gesamtepiskopat als
solchem zukommt. Bekannt ist, daß hinsichtlich dieses Gesamt-

134
episkopates als des höchsten und wirklichen Trägers aller
Grundvollmachten in der Kirche sakramentaler und gesell-
schaftsrechtlicher Art das Konzil eine Aussage gemacht hat, die
bisher konziliar so nicht ausgesprochen war und relativ inten-
sive Diskussionen auf dem Konzil hervorrief, obwohl sie sach-
lich eigentlich nicht über das hinausging, was auch die
Theologen des I. Vatikanums ausdrücklich wußten und sagten.
Bekannt ist auch, mit welcher ängstlichen Skrupulosität Papst
Paul VI. darüber wachte, daß durch diese Aussage über Wesen
und Funktion des Gesamtepiskopates die Lehre des
I. Vatikanums über den höchsten und universalen Jurisdik-
tionsprimat des Papstes und seine Lehrvollmacht nicht verdun-
kelt werde. Diese beiden Aussagen des Konzils stehen nun
gleichberechtigt und gültig nebeneinander. Aber die Frage, wie
sich diese beiden Subjekte höchster Vollmacht in der Kirche
genauer zueinander verhalten, bleibt im II. Vatikanum unbe-
antwortet und ist ein fordernder Anstoß für die künftige
Theologie, obwohl man einerseits einsehen kann, daß diese
Frage für das konkrete Leben der Kirche von großer Be-
deutung ist, und andererseits anscheinend nicht behaupten
kann, daß die Beantwortung dieser Frage für die Theologen,
Kanonisten und Amtsträger in der Kirche als sehr beun-
ruhigend und schwer gilt.
Man kann zwar sagen, es könne natürlich in einer einen
Gesellschaft nicht zwei verschiedene Subjekte der höchsten und
universalen Vollmacht in dieser Gesellschaft geben, weil das die
Einheit einer solchen Gesellschaft aufheben würde, dies sei aber
in unserem Falle ja darum gar nicht gegeben, weil der Gesamt-
episkopat ein solcher Träger höchster Vollmacht nur mit und
unter dem Papst sei, also von einer adäquaten Unterscheidung
zweier Subjekte derselben höchsten Vollmacht in derselben
Gesellschaft gar nicht die Rede sein könne. Das ist richtig,
beseitigt aber weder für die Theorie noch für die Praxis der
Kirche das Problem, das die beiden Aussagen der Theologie
und der Kanonistik stellen. Zunächst müßte man, um eine
wirkliche Versöhnung dieser beiden Aussagen deutlich zu
machen, meiner Meinung nach auch betonen, daß auch dann,

135
wenn der Papst für sich allein in Lehre und Gesetz handelt, er
als Haupt des Gesamtepiskopates seine Vollmachten ausübt.
Denn sonst würde eben doch der Gesamtepiskopat, insofern er
eben nicht mit dem Papst identisch ist, zu einer beratenden
. Behörde in der Gesamtkirche als solcher degradiert. Die Voll-
macht des Papstes muß immer und überall — auch wenn er
«allein handelt» (was natürlich unbestritten ist) — integriert
sein in die Vollmacht des Gesamtepiskopates, so wie umge-
kehrt diese nicht ohne die einzigartige Vollmacht des Papstes
gedacht werden kann. Aber auch wenn daran spekulativ festge-
halten wird, ist das Problem für die Praxis und die Theorie der
Praxis noch nicht gelöst. Die grundsätzlichen und praktischen
Schwierigkeiten, die mit den nachkonziliaren Bischofssynoden
in Rom aufgetreten sind, sind ja bekannt.
Zwar wollte Papst Paul VI. diese Bischofssynoden einrichten
und immer wieder abhalten, um der Lehre und dem Geist des
Konzils über den Gesamtepiskopat Geltung zu gewähren. Es
ist auch noch nicht weiter verwunderlich, daß der Papst dieser
Bischofssynode nicht einfach das Recht und die Vollmacht
eines Konzils in Theorie oder Praxis zuerkennen wollte. Die
bisherigen Bischofssynoden waren somit auch nur Tagungen
einer beratenden Körperschaft, der gegenüber der Papst sich
— mindestens in der Dimension der rechtlichen Entscheidung
— alle Vollmachten seines Primates wahrte und vorbehielt. Auf
einem Konzil sind die Bischöfe mit dem Papst selber «judices»
und nicht nur Berater. Das sollten sie auf diesen Bischofs-
synoden nicht sein, sind es auch nicht gewesen, und daß sie nur
Berater waren, wurde in diesen Synoden immer wieder sehr
deutlich demonstriert. Aber wenn dem so war und ist, bleibt
eben die ekklesiologische Frage offen, ob der Gesamtepiskopat
hinsichtlich der ihm vom Konzil zuerkannten höchsten und
universalen Vollmacht in der Kirche nur und allein auf einem
Konzil in Aktion treten kann oder ob es auch andere Weisen
der Aktualisierung dieser Vollmacht des Gesamtepiskopates als
solchem geben kann und wie, wenn ja, solche anderen Weisen
in der konkreten Praxis der Kirche aussehen könnten und
vielleicht sollten.

136
J
Wenn so etwas von vornherein unmöglich wäre, dann wäre
konkret eben doch nur der Papst allein der Träger der höchsten
Gewalten in der Kirche, zumal ja die Einberufung eines
Konzils gänzlich von der Entscheidung des Papstes abhängt;
von daher schon ist also die Lehre des Konzils vom Gesamt-
episkopat als Subjekt der höchsten Gewalten in der Kirche
nicht leicht verständlich. Wie schon gesagt, haben die Bischofs-
synoden nur eine beratende Funktion für die Regierung der
Kirche durch den Papst, wie durch das neue Kirchenrecht fast
ein wenig penetrant eingeschärft wird. Diese Bischofssynoden
können daher als bescheidener Beitrag zu einer gewissen
größeren Demokratisierung betrachtet werden; man kann sich
aber auf sie nicht berufen, um die Bedeutung und Realisierung
der Lehre des Konzils vom Gesamtepiskopat deutlich zu
machen.
Das Konzil stellt also eine theologische Aufgabe, die es selbst
nicht einlöst: in Theorie und Praxis deutlich zu machen, daß
und wie der Gesamtepiskopat die Kirche regiert. Theoretisch
mag man zwar auf diese Frage antworten, eben dieses tue der
Gesamtepiskopat durch den Papst, der als Haupt und Re-
präsentant des Gesamtepiskopates seine ihm eigenen Vollmach-
ten ausübt. Aber damit ist doch wohl die gestellte Frage noch
nicht genügend beantwortet, sondern bleibt immer noch eine
erst einzulösende Aufgabe. Denn in der Praxis ist ja nicht
allzuviel davon zu bemerken, daß der Papst gerade a/s Haupt
und Repräsentant des Gesamtepiskopates seine Vollmachten
ausübt, obwohl das denkbar ist, auch wenn er dabei nicht als
der vom (ohne ihn ja gar nicht gegebenen) Gesamtepiskopat
Bevollmächtigte verstanden werden darf. Es ist wohl nicht
notwendig, durch konkrete Beispiele zu verdeutlichen, daß die
römische Kirchenregierung praktisch nicht gerade transparent
ihre Vollmachten in einer Rückkoppelung an den Gesamtepis-
kopat ausübt, obwohl eine solche durchaus als in ihrem Wesen
gegeben behauptet werden kann — auch wenn dies in der
bisherigen traditionellen Ekklesiologie nicht gerade deutlich
gesehen wird und eben fast nur implizit gegeben ist durch die
genannte Lehre des Konzils vom Gesamtepiskopat.

157
Wenn wir so behaupten, daß in der Lehre des Konzils von
zwei (wenn auch nur inadäquat unterschiedenen) Subjekten der
höchsten Vollmachten in der Kirche der Theologie eine
Aufgabe und ein Anstoß zu weiterer Arbeit gegeben sind, dann
meine ich nicht so schr, daß eine theoretische Lösung dieses
Problems von schlechthinniger Durchsichtigkeit gefunden
werden kann. Es gibt nun einmal im Recht Probleme in der
Koexistenz von mehreren Rechten, Probleme, die die Hoff-
nung verbieten, es könnten solche Rechte durchsichtig in einer
klaren höheren Synthese aufgehoben werden. (Mir scheint z.B.
die Koexistenz der Einheit einer Gesellschaft und der For-
derung der Teilung der Gewalten ein solches Problem zu sein,
das innerhalb des klar umschriebenen Rechtes nicht mehr völlig
gelöst werden kann, sondern aus dem Rechtsbereich weg in die
Praxis, die Geschichte, in die Liebe und Demut verweist.)
Wenn mit einer solchen Unbewältigbarkeit theoretischer Art in
dieser Frage zu rechnen ist, so ist dadurch die gesuchte Aufgabe
noch nicht aus der Welt geschafft. Man müßte in Ekklesiologie
und Kanonistik zunächst einmal eben diese theoretische Unauf-
arbeitbarkeit dieser Frage deutlich herausarbeiten und daraus
Konsequenzen ziehen, und man müßte für die Praxis darüber
nachdenken, wie dort die Bedeutung des Gesamtepiskopates
innerhalb und außerhalb der päpstlichen Regierung eben doch
mehr zur Geltung gebracht werden kann, wie der Papst z.B.
iure humano mindestens oft und praktisch der Bischofssynode
ein Votum deliberativum einräumen könnte und sollte, was ja
auch das neue Kirchenrecht für möglich hält, oder wie z.B. die
Begrenzung der Vollmachten des einzelnen Bischofs, der ja im
Namen Christi und nicht des Papstes seine Diözese leitet,
möglichst gering gehalten werden kann, damit auch der Ein-
druck vermieden werde, die einzelnen Bischöfe seien bloß
regionale Vertreter des Papstes, die ihre Aufgabe und Voll-
macht nur von ihm delegiert erhalten. Daß die damit gegebene
theologische und kanonistische Aufgabe von größter ökumeni-
scher Bedeutung ist, braucht nicht lange erläutert zu werden.
Man denke nur an die Frage der Bischofsbestellungen in der
Kirche, die doch vom Wesen der Kirche her gar nicht nur
138
durch eine freie Wahl von seiten des Papstes getätigt werden
können, sondern auch in anderer Weise geschehen können und
partikulär rechtlich geschehen, was ja auch der neue Codex
(can. 304$ ı) zugibt, auch wenn dieses Zugeständnis bemer-
kenswerterweise fast nachträglich noch in den Codex eingefügt
wurde.

Universalität des Heiles

Ein weiterer Punkt, der im Zusammenhang unseres Themas zu


behandeln ist, den ich aber hier nicht mehr ausführlich darzu-
stellen brauche, ist die im Konzil deutlich gewordene Hoff-
nung eines wirklich universalen Heiles der ganzen Welt und das
letztlich von daher kommende neue Verhältnis zu den anderen
christlichen Kirchen und Gemeinschaften und auch zu den
nicht-christlichen Weltreligionen. Denn das Konzil präsumiert
im Unterschied zu früheren Zeiten von dieser universalen
Heilshoffnung her die bona fides, eine positiv sittliche Haltung,
eine gnadenhafte Gerechtfertigtheit bei allen Menschen, wenn
es diese auch nicht als bei allen gegeben behauptet. Diese erst
eigentlich im Konzil irreversibel gewordene «Weltanschau-
ung» der Kirche bedeutet natürlich eine Menge von neuen
theologischen Anstößen, die sich eigentlich von selbst ergeben
und gar nicht im einzelnen verdeutlicht werden müssen.
Diese universale Hoffnung gehört heute für uns zur Gestalt
der Torheit des Kreuzes, die uns Christen von heute abverlangt
wird; sie ist ja für einen nüchternen Realisten trotz aller Hoff-
nung auf Fortschritt und Friede und alternatives Leben nach
Röm 4,18 eine Hoffnung wider alle Hoffnung. Gewiß letztlich
die Hoffnung des ewigen Lebens. Aber für alle. Zu dieser
universalen Hoffnung sind wir durch das Konzil ermutigt.
«Nüchterne und realistische» Menschen werden sich mit
solcher Hoffnung schwer tun, weil alle erlebten Fortschritte
auch Fortschritte grausamer Gewalt und hoffnungslosen Ster-

1 Vgl. dazu: K. Rahner, Schriften zur Theologie XIV: In Sorge um die


Kirche, 311-317.

159
bens sind. Aber für uns Christen ist diese Hoffnung geboten.
Wir dürfen nicht mehr wie unsere christlichen Vorfahren kalt-
blütig damit rechnen und uns darüber theoretisch sicher
wähnen, daß das endgültige und bleibende Resultat der Weltge-
schichte zum größten Teil in einer ewigen Hölle besteht. Diese
universale Hoffnung ist auch eine Last, weil sie schwer ist und
uns gerade nicht davon dispensiert (sonst würden wir sie ver-
raten), dafür zu arbeiten, daß wir auch empirisch an unserer
Gesellschaft und Geschichte nicht verzweifeln müssen. Die
universale Hoffnung ist ein Geschenk des Konzils, das bleibt.
Als Trost und Aufruf.
Sind damit nicht auch Aufgaben gegeben, mit denen die
Theologie noch längst nicht fertig geworden ist? Kann die
Gnade bei dem vom Konzil gelehrten universalen und überall
wirksamen Heilswillen Gottes noch wie ein raum-zeitlich be-
grenztes Ereignis gedacht werden, das, einfach von außen und
oben bewirkt, nur manchmal — wenn auch immer wieder — in
der im übrigen profan und natürlich bleibenden Geschichte
gegeben ist? Wie ist das furchtbare Böse in der Welt zu inter-
pretieren — ohne es zu verharmlosen -, so daß die Lehre vom
universalen und eschatologisch irreversibel bleibenden und
wirksamen Gnadenwillen Gottes nicht bloß ein verbales
Theorem bleibt, das in der realen Geschichte doch immer von
der Bosheit der Menschen widerlegt wird? Wie kann es einen
wirklichen, heilschaffenden Offenbarungsglauben geben, auch
dort, wohin die verbale Offenbarung des Alten und Neuen
Testamentes nicht hingedrungen ist? Kann man sich my-
thologisch zur Beantwortung dieser Frage noch naiv auf die
paradiesische Uroffenbarung berufen? Kann man die Millionen
Jahre der Heilsgeschichte, mit der wir rechnen müssen und die
eine Glaubensgeschichte sein soll, nur allein dadurch verständ-
lich machen, daß man sich den Zwischenraum zwischen dem
Anfang der Menschheit und Moses, den Zwischenraum von
Millionen Jahren nur vage durch eine göttliche Providenz
ausgefüllt denkt und nicht erklärt, wie darin wirkliche Offen-
barung und Offenbarungsglaube möglich sind? Darf man sich
wie das Konzil allein mit der Auskunft begnügen, es gebe eben
140
Heilswege, die Gott allein kennt? Wie ist genauerhin die Ab-
. solutheit des Christentums mit der Erkenntnis einer positiven
Heilsbedeutung der nicht-christlichen Religionen zu versöh-
nen? Warum darf man nicht-katholische Gemeinschaften ent-
gegen der Tendenz, die noch unter Pius XII. herrschte, doch
Kirchen nennen? Was bedeutet es genauerhin, wenn das Konzil
sagt (Lumen Gentium 8), daß die Kirche Jesu in der römisch-
katholischen Kirche verwirklicht ist («subsistit»), dabei aber
doch eine absolute Identifikation durch ein «ist» («esse»)
vermeidet. Solche und viele andere Anstöße und Fragen, die
hier nicht mehr ausdrücklich genannt werden können, sind uns
mit dieser universalen Heilshoffnung, die alle Menschen, alle
christlichen Gemeinschaften und alle nicht-christlichen Reli-
gionen umfaßt, aufgegeben, damit allmählich deutlicher wer-
den kann, wieso Christus wirksam für alle gestorben und die
Kirche das universale Sakrament des Heiles der ganzen Welt
1st.

Aufgaben für die systematische T’heologie

An sich gäbe es noch viele andere dogmatische Anstöße und


Fragen für eine Theologie, die noch nicht aufgearbeitet sind.
Welche Theologie der Freiheit steht z.B. eigentlich hinter der
Erklärung über die Religionsfreiheit? Welche theologischen
Aufgaben von fast unübersehbarer Weite stellt uns die pa-
storale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute,
«Gaudium et Spes»? Was hat es auf sich, daß das Konzil gegen
die Meinung fast aller Theologen nach dem Trienter Konzil im
Bußsakrament auch eine Versöhnung mit der Kirche gegeben
sieht? Wie ist heute nach der Konstitution über die göttliche
Offenbarung die Inspiration der Schrift und die Kanonbildung
und deren Erkenntnis zu denken, wenn in dieser Konstitution
die menschlichen Verfasser der Schrift als wirklich eigenstän-
dige Autoren und nicht bloß als Aufschreiber eines göttlichen
Diktates zu verstehen sind? Diese und viele andere solcher
Anstöße dogmatischer Art im Konzil können hier nicht mehr
bedacht werden. Wenn sich heute eine Müdigkeit und Resigna-

141
tion in der systematischen Theologie auszubreiten scheinen,
dann ist das Konzil daran gewiß nicht schuld. Es gibt genügend
halbvergessene Fragen, die das Konzil der systematischen
Theologie stellt. Und nur wenn sie mutig angepackt und beant-
wortet werden, kann auch die Verkündigung der göttlichen
Offenbarung durch die Kirche in unserer eigenen Zeit so sein,
wie sie sein muß und sein kann, damit wir das Unsere dafür tun,
so daß Gottes Wort gehört und Gottes Gnade wirksam und
verherrlicht werde.

142
PERSPEKTIVEN DER PASTORAL IN DER
ZUKUNFT

Ein pastoral-strategischer Plan der Weltkirche

Im folgenden sollen einige Überlegungen formuliert werden


bezüglich der Notwendigkeit der Entdeckung eines pastoral-
strategischen Planes der Weltkirche als solcher. Natürlich
meine ich nicht, daß dieser Plan von mir entdeckt und entwik-
kelt werden oder gar hier in diesem kurzen Aufsatz vorge-
tragen werden könnte. Ich meine ja gerade, daß es diesen
pastoral-strategischen Plan der Weltkirche als solchen noch gar
nicht gibt, er also selbstverständlich von mir hier nicht entwik-
kelt werden kann. Ich meine aber, man sollte in der Kirche
allmählich sehen, daß ein solcher Plan, eine solche globale
Strategie der Weltkirche als solcher als Postulat der Zeit der
Weltkirche als solcher gesehen und entwickelt werden sollte.
Dabei kann hier letztlich die Frage offenbleiben, wer der kon-
krete Träger der Entwicklung eines solchen Planes sein könne,
ob dieser Träger einfach der Gesamtepiskopat mit und unter
dem Papst oder die Gesamtheit der Pastoraltheologen in der
Welt, die sich dieses Themas auch bewußt werden, oder eine
zu schaffende römische Sonderinstitution sein solle oder ob
schließlich eine solche Strategie aus dem Zusammenwirken all
dieser genannten Träger entstehen solle.
Wenn ich sage, das Bewußtsein für diese Aufgabe sei eigent-
lich in der Kirche noch kaum gegeben, so urteile ich natürlich
nicht über das, was im pastoraltheologischen Bewußtsein der
Männer vorgeht, die eine unmittelbare Verantwortung für die
Gesamtkirche haben, noch will ich leugnen, daß es Ansätze
greifbarer Art für die hier postulierte Planung einer pastoral-
theologischen Strategie der Weltkirche als solcher gibt, die
etwa in den Arbeiten von Walbert Bühlmann sichtbar wird. Ich
meine nur, daß es in einer genügenden reflexen Deutlichkeit
und Selbstverständlichkeit dieses Thema in der Kirche und
auch in Rom, und zwar in institutioneller Greifbarkeit, nicht
gibt.

143
Was hier in einem schüchternen Versuch gesagt wird, hat
nur die Absicht, ein klein wenig zur Weckung des Bewußtseins
beizutragen, daß es eine Aufgabe der Kirche in ihrer Pastoral-
theologie und pastoralen Planung wäre, ein solches ausdrückli-
ches Konzept für ihre pastorale Aufgabe als Weltkirche zu
entwickeln.

Pastorale Strategie und Bischofssynode

Man könnte ja sagen, daß mit der Einrichtung der Bischofs-


synode durch Paul VI. eine solche Aufgabe gesehen und in
Angriff genommen worden ist. Wenn dies der Fall ist, dann
will ich Ziel und erreichte Ergebnisse dieser Bischofssynoden
wahrhaftig nicht in ihrer Bedeutung unterschätzen und ver-
kleinern. Aber ich meine, diese Synode hat bisher darüber
nachgedacht, was die einzelnen Lokalkirchen und ihre Bischöfe
je als solche einzelne zu tun haben, und zwar in der Erfüllung
ihrer unmittelbaren Gegenwartsaufgaben. Ich frage mich, ob
in diesen Bischofssynoden die Kirche als Welrkirche und als
eine ganze mit genügender Ausdrücklichkeit über ihre pastorale
Strategie als die der einen und ganzen Kirche, und zwar für eine
eigentliche Zukunft, nachgedacht hat. Selbst wer diese Frage
uneingeschränkt bejahen zu können glaubt, muß darum ja noch
nichts gegen die hier tätige Absicht haben, Notwendigkeit und
Möglichkeit einer solchen pastoralen Strategie der Weltkirche
als solcher zu bedenken und für diese Planung, die es früher
nicht gegeben hat und nicht geben konnte, ein geeignetes
Subjekt zu wünschen. Ob dieses Subjekt identisch sein soll mit
dem Gesamtepiskopat oder der Bischofssynode oder einem zu
diesem Zweck gebildeten besonderen römischen Gremium, das
ist dann eine letztlich zweitrangige Frage, die verhältnismäßig
leicht theoretisch und praktisch beantwortet werden könnte,
wenn einmal im Gesamtbewußtsein der Kirche deutlich die
Überzeugung lebendig wäre, daß heute die Findung eines pa-
storal-strategischen Planes der Weltkirche als solcher notwen-
dig wäre. Über Wesen und Notwendigkeit eines solchen Planes
soll also hier und jetzt noch ein wenig nachgedacht werden.

144
Pastorale Strategie und römische Zentralregierung

Vielleicht ist aber doch noch zu dem eben Gesagten eine


weitere zusätzliche Vorbemerkung angebracht. Man könnte
nämlich der Meinung sein, daß diese geforderte Weltstrategie
der Weltkirche schon gesucht und ausgeführt werde durch die
verschiedenen Dikasterien der römischen Zentralregierung der
Kirche. Es gibt eine römische Kongregation für die Evange-
lisierung der Völker (also einen Generalstab der Missionen),
eine Kongregation für die Ostkirchen, eine für die Bischöfe, für
den Klerus, für die Disziplin der Sakramente und die Liturgie,
für die Ordensleute und Säkularinstitute, für das katholische
Unterrichtswesen usw.; es gibt ein Staatssekretariat. Man
könnte also denken, daß alle diese römischen Behörden weit-
sichtig sind, sich nicht nur über das unmittelbar hier und jetzt
Erforderliche innerhalb ihrer Aufgabenbereiche Gedanken
machen, sondern fragend und wägend in die ferne Zukunft
schauen und so zusammen eben doch den gesamtstrategischen
Plan der pastoralen Aufgaben der Weltkirche haben und
weiterentwickeln. Wenn und insofern solches Wirklichkeit ist,
soll es nicht geringgeschätzt werden. Aber man kann doch mit
einer gewissen Skepsis fragen, ob dieser Plan in genügender
Weise in Rom besteht und entwickelt wird. Denn zunächst
einmal wäre er dann das verborgene Geheimnis der römischen
Zentralregierung. Man müßte aber doch in der Gesamtkirche
von ihm wissen, denn er kann ja letztlich nur gut entworfen
werden, wenn die ganze Kirche ihre Erfahrung darin einbringt.
Ich glaube aber nicht, daß ein Mitglied der Bischofssynode
schon einmal etwas von einem solchen Grundkonzept der
pastoralen Strategie der Weltkirche als solcher gehört hat.
Weiter kann man sich fragen, ob die historisch sehr zufällige
Entwicklung und Einteilung der römischen Dikasterien, die
auch heute trotz der Kurienreform Pauls VI. gegeben ist, ein
schlagkräftiges und durchsichtiges Instrument für die Findung
und Ausführung eines solchen Planes zur Verfügung stellt.
Man kann sich fragen, ob die einzelnen Dikasterien.in ihrer
traditionellen Isolation voneinander geeignet sind, einen ge-

145
ER

meinsamen Plan zu haben und an seiner Verwirklichung


zusammenzuarbeiten. Die Kompetenzschwierigkeiten, die zwi-
schen dem Staatssekretariat und den einzelnen Kongregationen
und Sekretariaten bestehen, zeigen, daß eine ideale Gliederung
und eine darauf basierende Zusammenarbeit aufgrund eines
einen und durchdachten strategischen Planes wohl noch ein
Desiderat ist. Und schließlich: Selbst wenn es in Rom schon all
das in relativ idealer Weise geben sollte, dann wäre es immer
noch nicht verboten, bei einer solchen Aufgabe bescheiden
mitzudenken.

Zwei die Situation der Kirche heute charakterisierende Tatsachen

Wenn zunächst über Wesen und Notwendigkeit der pastoral-


strategischen Planung der Aufgabe der Weltkirche als solcher
im allgemeinen und grundsätzlich nachgedacht werden soll,
dann muß von zwei Überlegungen ausgegangen werden, die
sich auf zwei Tatsachen beziehen, die es nicht immer schon
gegeben hat, die aber heute die Situation der Kirche charak-
terisieren und in ihrem Zusammentreffen Möglichkeit, Wesen
und Notwendigkeit eines solchen pastoral-strategischen Planes
der Weltkirche als solcher und des Trägers eines solchen Planes
verständlich machen. Es gibt heute erstens eine We/rkirche, und
es gibt — wenigstens in Ansätzen — zweitens eine profane
Weltstrategie für die Zukunft. Beides zusammen macht Wesen
und Notwendigkeit des pastoral-strategischen Planes der Welt-
kirche als solcher verständlich.

Es gibt heute eine Weltkirche

Das Christentum war mit seiner Heilsbotschaft natürlich immer


für die ganze Menschheit bestimmt, potentiell also immer
schon Weltkirche. Aber aktuell war die Kirche weder als juden-
christliche noch als Kirche der römisch-hellenistischen Kultur
und des Abendlandes Weltkirche im aktuellen Sinn. Und als sie

146
im 16. Jahrhundert im Zuge des europäischen Imperialismus
und Kolonialismus ihren Gang in die ganze Welt und zu allen
. Völkern antrat, war, wenn auch unvermeidlich, das Ergebnis
der neuzeitlichen Missionsarbeit der Kirche doch zunächst nur
ein in alle Welt exportiertes abendländisches Christentum. Die
Kirche blieb aktuell eine abendländische Kirche mit Exporten
in alle Welt. Heute, wie es kirchenamtlich im II. Vatikanischen
Konzil greifbar geworden ist, beginnt die Kirche, aktuell Welt-
kirche als solche zu werden. Überall gibt es einen einheimischen
Episkopat und Klerus. Die Autonomie und Eigenständigkeit
der großen Regionalkirchen wurde auf dem letzten Konzil
grundsätzlich anerkannt. Überall, wenn auch in verschiedener
Intensität, sind Ansätze für die den verschiedenen Kultur-
kreisen entsprechenden Theologien gegeben. Überall ist wenig-
stens grundsätzlich als Pflicht der Kirche die Inkulturation des
Christentums in die verschiedenen Kulturen anerkannt. Schon
beginnen, wenn auch nur sehr schüchtern, die früheren Mis-
sionskirchen, ihren positiven und aktiven Beitrag für das Leben
der Gesamtkirche zu erbringen. Überall beobachtet man
Schwierigkeiten und Lösungsversuche für die Frage, wie die
Einheit der Kirche konkret mit einem legitimen Pluralismus
der Teilkirchen vereinbart werden kann, so daß sich die Kirche
wirklich als Weltkirche vollzieht und darstellt.
Diese neue Aktualität der Kirche als Weltkirche ist faktisch
— wenn auch nicht in ihrem eigentlichsten Wesen — bedingt
durch eine neu-gewordene Einheit der Menschheit und durch
die damit gegebene und notwendige globale Einheit des gesell-
schaftlichen Handelns und Planens dieser so eins-gewordenen
Menschheit. Früher waren Geschick und Geschichte der einzel-
nen Völker und Gruppen der Menschheit durch Niemandsland
getrennt; Wirklichkeit und Geschichte Preußens in der Zeit des
Großen Kurfürsten waren praktisch und konkret unabhängig
von der Wirklichkeit und Geschichte Thailands zur selben Zeit.
Heute hängt alles mit allem zusammen. Leben und Geschick
jeder Region der Erde sind sehr entschieden und greifbar
mitbestimmt durch alles, was sonstwo in der Welt geschieht.
Darum hat es Weltkriege gegeben, die vorher gar nicht

147
3
\

möglich waren; darum gibt es eine UNO und Supergroßmäch-


te, deren Einfluß- und Machtsphären zusammen mit unserer
Erde identisch sind. Die menschliche Geschichte bildet heute
eine Einheit; die Menschheit ist nicht nur von ihrem Ursprung
her und als nachträglich gebildeter Begriff in unseren Köpfen
eine Einheit, sondern dies ist unmittelbar greifbare Realität.

Die Menschheit beginnt ihre Zukunft zu planen

Gleichzeitig und in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis


ist diese Menschheit eine reflex ihre Zukunft planende und
planen müssende Menschheit geworden. Während früher die
Zukunft ein sich mehr oder weniger ungeplant und unreflex
einstellendes Resultat dessen war, was den Menschen als passiv
erlittenes Geschick von der Natur her zustieß und was sie selber
in ihrer Gegenwart tun konnten, ohne weit vorausplanen zu
wollen und zu können, ist jetzt ein Bewußtseinsstadium der
Gesamtmenschheit eingetreten oder wenigstens am Kommen,
für das die Zukunft die Ausführung eines Zukunftsplanes ist
und so die Welt, die Natur nicht so sehr der vorgegebene und
selbstverständlich hingenommene Lebensraum des Menschen
ist, sondern nur das Material für einen Lebensraum, den sich
der Mensch selber planend erbaut. Darum gibt es Kunststoffe,
die in der Natur selber gar nicht vorkommen, Erschließung
von Energien, die sich dem Menschen gar nicht von selbst
anbieten, usw. Natürlich ist diese globale Planung der Mensch-
heitszukunft noch in den ersten Anfängen, weil sich so etwas
wie eine irgendwie friedliche Weltregierung erst noch heraus-
bilden muß. Natürlich hat eine solche Planung notwendig ihre
Grenzen, schon weil für einen totalen Universalcomputer der
rationalen Weltplanung gar kein Subjekt vorhanden wäre, das
die Resultate dieses Computers entgegennehmen könnte, von
allen anderen Grenzen abgesehen. Natürlich hat diese rationale
Weltplanung ihre ungeheuren Gefahren einer Selbstzerstörung
der Menschheit in den verschiedensten Weisen, deren Anfänge
wir heute schon beobachten können: atomare Vernichtung;

148
u }

Überbevölkerung mit all ihren Folgen; Zerstörung der immer


notwendig bleibenden natürlichen Voraussetzungen des
. menschlichen Lebens; psychische Gefahren für das Gesamtbe-
wußtsein der Menschheit, die wir noch kaum ahnen. Aber das
alles ändert eben doch nichts daran, daß die Menschheit im
Begriffe ist, ein eines, aktives, seine Zukunft planendes und
planen müssendes Subjekt zu werden.
Der Gedanke, die Menschheit könne in ein naiveres, unre-
flexeres Bewußtseins- und Handlungsstadium zurückkehren,
ist eine nostalgische Utopie, deren Verwirklichung ja durch
eine Auslöschung eines Großteils der Menschheit bezahlt
werden müßte. Die Menschheit ist in das Stadium einer Selbst-
planung reflexer, rationaler Art eingetreten; mindestens der
Anfang dieser Selbstplanung ist greifbar. Marxistischer Sozia-
lismus mag auf weitere Sicht eine Mode sein, die bald überholt
wird; das ändert nichts daran, daß jener Individualismus, den
sich das Abendland bei einer geringen Bevölkerungsdichte
früherer Zeiten leisten konnte, ebenso eine Lebensweise der
Vergangenheit sein wird, und die Menschheit überall neue und
höhere Formen der Sozialisierung finden müssen wird. Die
Aufgabe einer globalen politischen Planung steht vor uns, für
die die UNO nur ein bescheidener Anfang sein kann; sie zielt
auf eine Art Weltregierung hin (bei allem hoffentlich bleiben-
den Pluralismus der Völker und der Kulturen), die schon vor
hundert Jahren ein neuscholastischer Rechtsphilosoph aus
naturrechtlichen Gründen gefordert hatte. Man wird eine
biogenetische Steuerung und Veränderung vielleicht praktisch
nicht entwickeln können und ethisch nicht verantworten
dürfen; daß aber die biologische Existenz der Menschen
dennoch irgendwie — und nicht nur durch eine gezielte Brem-
sung des Bevölkerungswachstums — geplant und gesteuert
werden wird und werden muß, ist dadurch noch lange nicht
einfach ausgeschlossen. Daß in Zukunft Verwaltung und Ver-
mehrung und Schutz der Voraussetzungen menschlichen
Lebens in der Natur rational und global geplant werden
müssen, ist auch selbstverständlich. Alle diese einzelnen Be-
strebungen und Planungen sind nur anfanghafte Anzeichen

149
dafür, daß das Gesamtbewußtsein der Menschheit langsam in
das Stadium einer reflexen Planung der Menschheit selbst ein-
tritt. Und nun: Die Kirche ist (wenigstens anfanghaft) aktuelle
Weltkirche geworden, und zwar in einem Stadium der Mensch-
heit, in dem diese langsam das planend aktive Subjekt ihrer
Selbstverwirklichung wird. In einer solchen Situation eines
neuen theoretischen und praktischen Bewußtseins der Mensch-
heit muß darum die Kirche sich und ihre Zukunft in einer
neuen Weise planen.

Plan und Freiheit

Es muß eine globale, aktive pastoral-strategische Planung der Weltkir-


che als solcher geben. Bevor wir diese These noch etwas kon-
kretisieren wollen, ist natürlich ein Vorbehalt anzumelden
gegen diese unsere Grundthese, ein Vorbehalt freilich, der sich
aus dem Wesen kreatürlicher, also grundsätzlich nie absoluter
Freiheit ergibt. Es ist zunächst klar, daß die aktive Selbst-
planung der Menschheit als profane Größe grundsätzlich nie
vollendbar ist. Die Planenden bleiben immer auch die Verfüg-
ten, die Zukunft ist immer auch die Ankunft des Überraschen-
den. Da wir sogar in der höchsten Freiheit immer auch mit
einem vorgegebenen Material handeln, dieses Material aber nie
restlos durchschaubar ist, entspringen aus ihm trotz aller
Planung immer wieder unvorhergesehene Überraschungen,
schon im voraus dazu, daß die Freiheit selbst per definitionem
immer auch noch einmal ihren eigenen Plänen souverän mit
ungeplanten Entscheidungen gegenübersteht. Erst recht wird
alle Planung der Kirche, alle ekklesiale Futurologie grundsätz-
lich unvollendbar sein, die Kirche auf unberechnete Zukünfte
hin ihren Weg gehen müssen. Ja, man wird darüber hinaus
sogar sagen müssen, daß die Kirche die Gemeinschaft der
Menschen ist, die das Unplanbare als ihr Heil erwarten, die
Unbegreiflichkeit Gottes in der Ankunft seines Reiches als ihre
Seligkeit entgegennehmen und das Wachsein für diese unbere-
chenbare Zukunft in der Menschheit gerade für eine fundamen-
150
tale Aufgabe der Kirche halten. Die Kirche ist in der Welt das
Sakrament der ungeplanten Zukunft, weil diese Zukunft die
ewige Unbegreiflichkeit Gottes selber ist. Aber für die Freiheit
des Menschen und für die Aufgabe der Kirche ist damit nicht
jegliche Planung abgeschafft. Der Mensch kann den seligen
‚ Himmel über sich offen sehen, wenn alles, was er gebaut hat,
über ihm zerbricht; aber dennoch muß er vorsehen, planen, das
Haus seines Lebens hier immer neu und immer besser zu bauen
versuchen. Und die auf die Ankunft der Unbegreiflichkeit
Gottes hoffend ausschauende Kirche muß immer auch eine
Kirche gesellschaftlicher Gefügtheit, eine Kirche der Ordnung,
der aktiven Missionierung, des Rechtes und also auch der
menschlichen Planung sein. Das war sie grundsätzlich immer,
sie muß es aber heute unter den Voraussetzungen der einsge-
wordenen Welt, der globalen Menschheitsplanung, der ra-
tionalen Futurologie als die eine Weltkirche sein.

Aufgaben der Weltkirche

Daß hier noch Aufgaben anstehen, die noch kaum gesehen


sind, die gelöst werden müssen, für deren Lösung vielleicht
ganze neue, neustrukturierte Träger in der Kirche gefunden
werden müssen, dafür sollen nun noch einige Hinweise
gegeben werden, auch wenn sie weder Anspruch auf Sy-
stematik noch auf Allseitigkeit erheben.

Bildung eines neuen Glaubensbewußtseins

So meine ich — um ein erstes Beispiel einer Strategie der Welt-


kirche als solcher zu nennen —, es müßte eine eingehende Re-
flexion und Planung bezüglich des kirchlichen Bewußtseins,
des konkreten Glaubensbewußtseins der Kirche unternommen
werden. Die Differenz zwischen dem, was amtlich als Glaube
der Kirche gelehrt wird, und dem, was faktisch von dem
Großteil des Kirchenvolkes geglaubt wird, ist aus den ver-
151
schiedensten Gründen, die hier jetzt nicht analysiert werden
können, außerordentlich viel größer geworden, als das früher
der Fall war. Auch wenn es in der Kirche keine Steuerung des
kollektiven Bewußtseins wie in den totalitären Staaten geben
soll und geben kann, so ist der heute erforderliche Zusammen-
hang zwischen der kirchenamtlichen Lehre und dem faktischen
Glauben an der Basis nicht mehr in genügender Weise mit den
Mitteln zu verwirklichen, die früher dazu ausreichten. Heute
genügen eben die Glaubenskongregation in ihrer heutigen
Verfassung, die Enzykliken, die Ansprachen des Papstes in den
traditionellen Formulierungen, die Hirtenbriefe mit ihrem
traditionellen Tonfall und Inhalt, die übliche Predigt von den
Kanzeln, die inhaltlich meist binnenkatholisch ist und viel zu
wenig oder zu schüchtern das Ohr der Ungläubigen oder der -
Randkatholiken sucht, die Katechismen, die auch heute noch
ebenso binnenchristlich sind wie früher, nicht mehr, um die
wunderbare Botschaft des Christentums an die faktischen Men-
‚ schen heranzutragen und so auch jene Kluft zu verkleinern
zwischen dem amtlichen Glauben der Kirche und dem, was an
christlicher Überzeugung wirklich in den Köpfen der Christen
und im mehr oder minder sachlich richtigen Wissen der Nicht-
katholiken vorhanden ist.
Wie eine solche neue Bildung und Steuerung des faktischen
Glaubensbewußtseins geplant und organisiert werden könnte,
wie genauer der Träger solcher Planung gedacht werden
müßte, wie die Belehrung der Menschen heute von einem
immer wirkungsloser werdenden bloßen Bestehen auf der
kirchlichen Lehrautorität wegkommen kann zu einer Beleh-
rung, die von der inneren Herrlichkeit der Sache selbst her
überzeugt, usw. — das alles sind Fragen, die ich letztlich auch
nicht zu beantworten weiß, die sich aber aufdrängen und im
Rahmen einer solchen pastoralen Weltstrategie der Kirche be-
antwortet werden müßten. Bei dieser Aufgabe sind viele
theologische Einzelsachprobleme gegeben. Bei ihrer Beantwor-
tung aber kann das kirchliche Lehramt nicht einfach passiv auf
die Antwort der Theologen warten, sondern muß aktiv mithel-
fen und mitorganisieren, daß solche Fragen wirklich gesehen
152
und nach Kräften behandelt werden. Ich habe neulich einmal
gefragt, warum es denn keine päpstliche Enzyklika über den
Atheismus von heute gebe; ich wundere mich immer noch
darüber, daß päpstliche Enzykliken (natürlich wahr) über die
Inkarnation des ewigen Wortes handeln, ohne dabei den leise-
sten Versuch zu unternehmen, dem Ungläubigen von heute,
dem eine solche Lehre als bare Absurdität erscheint, einen
Zugang zu dieser fundamentalen Lehre des Christentums zu
ebnen. (Vor ein paar Jahren sagte mir ein Mitglied der
Glaubenskongregation, das Lehramt habe nur darüber zu
wachen, daß die christliche Lehre nicht verfälscht oder gemin-
dert werde, die positive Interpretation und Apologetik dieser
Lehre seien Sache der Theologen.) So geht es heute nicht. Die
heute notwendige Apologetik und Interpretation der christli-
chen Glaubenslehre durch die Theologen müßten vom Amt
ermutigt und befördert werden; eventuell müßte das Amt doch
wenigstens die Theologen auf unbearbeitete Fragen aufmerk-
sam machen. Deren gibt es sehr viele; aber mir scheint, daß das
Amt dies meist noch später merkt als die Theologen. Stecken
z.B. hinter der erschreckenden Abnahme der Beichtfrequenz
nicht theologische Fragen vielfältiger Art, die vom Amt und
den Theologen fast alle liegengelassen werden?
An einem bestimmten Punkt wird — so meine ich — deutlich,
was eben allgemein gesagt wurde: Ich vermute, daß in der alten
Kirche damals ein Mensch wußte, was er zu glauben hatte,
wenn er das Apostolische Glaubensbekenntnis (mindestens
zusammen mit einer doch sehr kurzen Erklärung) hörte. Ich
vermute, daß trotz aller normativen Bedeutung, die dieses
Bekenntnis hat und auch in Zukunft haben wird, ein Mensch
von heute nichts oder fast nichts versteht, wenn ich ihm dieses
Bekenntnis vorsage, auch nicht, wenn ich es ihm kurz zu
erklären versuche. Er fragt mich doch schon, was er sich unter
Gott eigentlich vorstellen solle, wenn er doch nicht im caelum
empyreum wohne, sondern in zweihundert Millionen Lichtjah-
ren von uns entfernt auch noch am Werke sei, wenn es ihn
gebe. Wo sind (der Sache nach) die neuen heutigen Kurzfor-
meln des Glaubens, mit Hilfe derer auch ein Ungläubiger von

13
heute wenigstens richtig verstehen kann, was die Christen wirk-
lich glauben?
Eine Wissenschaftspolitik in der systematischen und prakti-
schen Theologie müßte unbefangen und mutig auf eine Welt-
läufigkeit allgemeiner Art in der Theologie und in der Verkün-
digung hinarbeiten. Gewiß kann und darf das Christentum in
Theorie und Praxis seinen geschichtlich partikulären Ursprung
nicht verleugnen. Überall in der Welt und in allen ihren Kul-
turen darf man auch in Zukunft merken, daß es aus Palästina
herkommt und durch die abendländische Kultur hindurchge-
gangen ist. Aber wenn und weil das Christentum nun einmal
Weltreligion werden soll — also auch Religion der Völker und
Kulturen, für die der Mittelmeerraum und das Abendland eben
nicht die Ursprungsorte ihres Wesens und ihrer Geschichte
sind —, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als weltläufig zu
werden, d.h. in Theorie und Praxis geschichtlich blasser zu
werden, geschichtliche Herkünfte, soweit sie nicht sein eigentli-
ches Wesen mitbedingen, ruhig in eine bloße geschichtliche
Gewesenheit zurücktreten zu lassen. Man wird sich fragen
müssen, wie eine Theorie und Praxis des Christentums aus-
sehen werden, wenn in der Welt außerhalb des Abendlandes
Elemente seiner geschichtlichen Herkunft und Bedingtheit in
so ferne Vergangenheiten zurückweichen, wie etwa schon bei
uns heute selbst die jüdische Theologie zur Zeit Jesu unbe-
kannt und gleichgültig geworden ist. Solche Veränderungen
werden unweigerlich kommen; man sollte sie aber heute schon
als Aufgabe einer reflexen Wissenschaftspolitik in der sy-
stematischen und praktischen Theologie zu sehen lernen.

Gesamtkirche und Partikularkirchen

Ein anderer, wichtiger Fragenkomplex für eine wirklich


globale Strategie der Kirche liegt in dem immer noch dunkel
gebliebenen Verhältnis zwischen der Gesamtkirche und den
großen regionalen Partikularkirchen. Das I. Vatikanische
Konzil hat zwar feierlich erklärt, daß die Teilkirchen nicht nur
Verwaltungsbezirke der einen homogen strukturierten Ge-

154
samtkirche seien, die sich bloß durch ein paar höchst sekundäre
Nebensächlichkeiten unterscheiden könnten, aber im großen
und ganzen (wenn wir von den kleinen unierten Kirchen des
Nahen Ostens absehen) ist es bei der Aussage dieses allge-
meinen Prinzips geblieben. In Rom strebt man immer noch
nach einem möglichst homogenen Kirchenrecht für die ganze
Kirche; die Liturgien sind eben bisher faktisch doch nur die
Übersetzungen der römischen Liturgie. Man kann sich natür-
lich immer darauf berufen, daß die Einheit der Kirche diese und
jene Einheitlichkeiten in der Gesamtkirche notwendig mache.
Aber so kann man billig das Prinzip der Eigenständigkeit und
Differenziertheit der großen Regionalkirchen sabotieren und
zu einem bloßen Lippenbekenntnis machen. Welche Eigenstän-
digkeit und Initiativen konkreter, greifbarer Art hat Rom wirk-
lich den Kirchen in Südamerika oder Indonesien eingeräumt?
Natürlich sind die Konsequenzen aus dem dialektischen Ver-
hältnis von Gesamtkirche und Partikularkirchen praktisch
nicht leicht zu entwickeln. Aber wo ist die Instanz, die solche
Probleme mutig und unter Mitarbeit der Gesamtkirche prin-
zipiell durchdenkt und dafür sorgt, daß solche Konsequenzen
realisiert werden?

Die Weltverantwortung der Kirche

Die Kirche hat sich im II. Vatikanischen Konzil ausdrücklich


und laut zu ihrer Weltverantwortung, zu ihrer Verantwortung
für Friede und Gerechtigkeit in der Welt bekannt. Sie hat auch
in dieser Hinsicht in den letzten Jahrzehnten gewiß nicht wenig
getan, auch wenn nicht weniges, was vom höchsten Amt in der
Kirche diesbezüglich erklärt und getan wurde, unten wieder
durch Trägheit oder stillschweigenden Widerstand sabotiert
wurde. Aber könnte man sich nicht in der Christenheit diesbe-
züglich noch mehr und vor allem Konkreteres denken? Hat die
Kirche heute den Mut, auch konkretere Forderungen für
soziale Veränderungen, für den Frieden und für Abrüstung zu
erheben, auch wenn dann solche auf Ablehnung innerhalb der
Kirche selbst, vor allem bei den Politikern, stoßen? Gibt es in

155
Rom eine Stelle, die wirklich systematisch, genau — und nicht
nur von dem löblichen Wohlwollen dieser oder jener Amts-
träger getragen — alle diese Fragen gründlich studiert und
wirklich mutig auf konkrete Lösungen hin vorantreibt? Natür-
lich gibt es in Rom Leute, die sich mit solchen Fragen beschäf-
tigen, die den Heiligen Stuhl auf allen möglichen Kongressen
und Versammlungen vertreten, aber ein einheitlicher, mutiger,
aktiver Repräsentant dieser ganzen Weltverantwortung der
Kirche ist doch für den Normalchristen in der Welt in Rom
nicht deutlich zu sehen. Ja, es scheint, daß der Mut hinsichtlich
dieser Aufgabe in Rom trotz der Weltreisen des Papstes eher .
abnimmt als zunimmt und man in Rom cher ängstlich und
nervös ist und eher in die Sakristei zurückpfeift, wenn die
Christen in der Welt aktiv ihre gesellschaftskritische Aufgabe
wahrzunehmen versuchen.

Die Diasporasituation der Christen

Eine weitere Aufgabe (natürlich neben vielen anderen unge-


nannten) scheint mir dieses nicht recht greifbare «Subjekt»
einer globalen Pastoralstrategie der Weltkirche als solcher zu
haben. Ich möchte diese Aufgabe das Problem der globalen
Diasporasituation der Kirche nennen. Praktisch arbeitet die
Kirche meist doch unter der stillschweigenden Voraussetzung,
es gäbe noch ein mehr oder weniger intaktes homogenes ka-
tholisches Christentum gesellschaftlicher Art, wie es bis ins
20. Jahrhundert hinein der Fall war und es auch heute vielleicht
noch in Polen ist. Da war z.B. die Ehe unter zwei Katholiken
das Selbstverständliche, und man konnte eine Mischehe als den
seltenen, nur vorsichtig geduldeten Ausnahmefall behandeln;
da konnte man leicht katholische Standesvereine bilden, ka-
tholische Schulen urgieren, das kulturelle Leben in Kunst,
Literatur und Geselligkeit noch weitgehend unter katholischer
Leitung binnenkirchlich durchzuführen versuchen. Heute ist
das eigentlich fast nirgends mehr der Fall. Die Christen leben
überall so sehr in der Diaspora, daß die dezidiert und allseitig
katholisch lebenden Menschen selbst in kirchenamtlich be-
156
f

treuten Gruppen oft nur eine bescheidene Minderheit bilden.


Diese Situation, die nicht nur in den sogenannten Missionen,
sondern auch in den traditionell christlichen Völkern gegeben
ist, hat, so meine ich, noch nicht eine wirklich systematische,
mutige, theologische und pastoral-theologische Reflexion in
der Kirche gefunden. Diese Diaspora-Katholiken überall reden
ja die Sprache ihrer Umgebung, die heidnisch ist. Wie muß
dann die religiöse Sprache der Kirche sein, damit sie wirklich
verstanden werden kann? Welches sind heute die Selbstver-
ständlichkeiten existentieller Art, von denen man ausgehen
muß, wenn man das Christentum verständlich und glaubwür-
dig machen will? Wenn in der alten Kirche eine Moral mit
Sklaverei geduldet wurde, wie sie die normale Bevölkerung
praktizierte, welches sind dann heute die objektiv vielleicht
moralisch bedenklichen oder falschen «Selbstverständlich-
keiten», über die die Kirche stillschweigend (aber heute mit
reflexer Bewußtheit) hinwegsehen könnte, ohne ihre Kraft
durch erfolglos bleibende Proteste zu verbrauchen?
Kann sie heute noch so ohne weiteres wie früher
präsumieren, daß außerhalb und sogar innerhalb der Kirche bei
sogenannten Ehen jener Ehewille am Anfang steht, der als
Voraussetzung für eine wirklich unauflösliche Ehe notwendig
ist? Müssen für eine konkrete kirchliche Bemühung um die
Sittlichkeit nicht die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen
der verschiedenen Kulturkreise mehr und unbefangener be-
rücksichtigt und einkalkuliert werden als früher, da die abend-
ländisch-christliche Moral unbefangen und unverändert in die
Missionsländer exportiert wurde? Was nützt es, so hat neulich
ein südamerikanischer Bischof gefragt, wenn die Kirche in
einem Land harmlos den Lobpreis der Ehe anstimmt, in dem
die Mehrzahl der Kinder unchelich geboren werden? An
welchen konkreten Fronten des moralischen Kampfes (und
eben nicht an allen zugleich) müßte die Kirche eindeutig und
entschieden kämpfen, um der heidnischen Welt Größe und
Würde der christlichen Ethik zu bezeugen? Wenn nun einmal
die christliche Moral auch heute, wie in allen Zeiten der Kirche,
gewisse Schwerpunkte setzt und setzen darf, ohne andere Prin-

157
zipien deshalb abzuschaffen oder zu leugnen, dann könnte es
ja z.B. so sein, daß die Verwerfung einer irrsinnig werdenden
Aufrüstung für das moralische Durchschnittsbewußtsein der
profanisierten Welt ein wichtigeres Merkmal der christlichen
Moral ist als die Ablehnung der Pille. Solche Verschiebungen
in den moralischen Akzentsetzungen hat es natürlich immer
gegeben. (Die Päpste zur Zeit Ludwigs XIV. haben sich sicher
keine grauen Haare über die unmoralische Kriegspolitik dieses
Königs wachsen lassen, ohne daß man dies diesen Päpsten
übelnehmen sollte.) Aber heute sollten und könnten vielleicht
solche Akzentverschiebungen doch auch in einer pastoralen
Globalstrategie geplant werden. Wenn man diese Diaspora-
situation nicht nur irgendwie sieht, um sie zu verdrängen, muß
man dann in unseren Landen immer noch mit tausend Mitteln
und Auskünften daran festhalten, daß die Seelsorge überall
möglichst gleichmäßig verteilt sei, oder sollte die Kirche eher
danach streben, in einer profanisierten Welt wie in einer Wüste
blühende Oasen zu entwickeln, auch wenn dann diese gleich-
mäßig dünne und wenig attraktive Präsenz der Kirche nicht
mehr überall gegeben ist? Auf jeden Fall sind einer notwen-
digen pastoralen Globalstrategie durch die überall gegebene
Diasporasituation Aufgaben gestellt, die noch längst nicht
deutlich genug gesehen und erfüllt sind.

‚Abkehr von einer bürgerlichen Kirche

Man spricht heute schon nicht mehr ganz selten von einer
Abkehr von einem bürgerlichen Christentum, von einer
Service-Kirche. Es ist hier natürlich nicht möglich, zu ent-
scheiden, was an einer solchen Forderung richtig ist, was heute
diesbezüglich geschehen kann, was Programm für eine fernere
Zukunft ist, was richtige oder vielleicht unangebrachte Über-
tragung von Modellen anderer Länder und Kulturen auf unsere
Verhältnisse ist, was bloße Utopie, die gerade in der Entwick-
lung der profanen Gesellschaft in der Zukunft nicht realisierbar
ist. Aber sicherlich steckt in dieser Forderung eine wichtige
und richtige Zukunftsperspektive, die gesehen, reflektiert und

158
geplant werden müßte. Wenn z.B. die Kirche in Zukunft
wirklich noch am Zölibat festhalten will, dann sind damit aber
auch implizit sehr tiefgreifende Wandlungen in der Kirche in
anderen Hinsichten mitgegeben, die vielleicht von der heutigen
Amtskirche gar nicht deutlich gesehen und noch weniger
eigentlich angestrebt werden, die aber unerbittlich kommen
werden, wenn die Kirche nicht gleichzeitig zu einer kleinen
Sekte zusammenschrumpfen soll. Die Laienschaft wird zwangs-
läufig eine größere Selbständigkeit, Macht und Bedeutung
bekommen, als sie jetzt hat; weithin werden die Laien in Basis-
gemeinden Träger des Selbstvollzugs der Kirche werden. Als
normaler rechtgläubiger Christ wird man natürlich überzeugt
erwarten, daß die Kirche der Zukunft immer noch die Kirche
des alten und vollen christlichen Glaubens auch mit jenen
gesellschaftlichen Strukturen sein wird, die ihr heutiger Glaube
als göttliches, unabschaffbares Recht erklärt. Aber im Jahr 2200
wird die Kirche dennoch in ihrem empirischen Erscheinungs-
bild ganz anders aussehen und aussehen müssen, als wir es
heute gewohnt sind. Ist dieses künftige Erscheinungsbild nur
und allein etwas, das ungefragt und unbedacht auf die Kirche
zukommen wird, das nur in kleinen Schritten ohne große
Voraussicht und jeweils von der Gegenwartssituation stück-
weise abgetrotzt «passieren» wird, so wie die Kirche des mit-
telalterlichen Feudalismus auf die Kirche der Väterzeit folgte,
oder muß es beim heutigen Stand des kollektiven menschlichen
Bewußtseins auch — wenn auch nicht in erster Linie — eine
Aufgabe der Kirche sein, dieses künftige Erscheinungsbild der
Kirche nach Kräften vorauszuahnen und vorauszupl/anen? Kann
und muß es nicht in der Kirche eine weiter als bisher voraus-
schauende globale Strategie der Seelsorge geben? Das scheint
mir eine echte, nicht deutlich genug geschene Frage für die
heutige Kirche zu sein.

159
ÜBER DIE ZUKUNFT DER GEMEINDEN

Es soll etwas gesagt werden über die Zukunft der christlichen


Gemeinden, die wir gewöhnlich doch praktisch mit unseren
Pfarreien identifizieren. Es soll dabei aber, weil nicht für die
nächsten fünf Jahre etwas prophezeit, sondern weiter in die
Zukunft geblickt werden soll, an einem ganz anderen Punkt
angefangen werden, als man zunächst erwarten sollte, und
darum muß um etwas Geduld gebeten werden.
Seit zweitausend Jahren gibt es schon Christentum; dennoch
steht der größere Teil der Menschheit immer noch nicht in
stärkerem Maß im eigentlichen Einflußbereich der Kirche oder
ist gar christlich. Wenn ich einen Christen frage, ob diese
Völker missioniert werden, sie zum (Christentum bekehrt
werden müssen, dann wird ein wirklich gläubiger Christ sagen:
selbstverständlich. Auch wenn diese nicht-christlichen Men-
schen, so wird er sagen, durch eine geheime Gnade Gottes und
auf Wegen, die — wie das Konzil sagt — Gott allein kennt, auch
zur ewigen Seligkeit kommen werden, wenn sie nicht in einer
ganz entscheidenden Weise endgültig gegen ihr Gewissen ge-
handelt haben, so sollen doch, so sagt dieser Christ, alle Men-
schen Christen werden. Da hat er ganz recht. Aber es bleibt
dann die Frage, wie Gott es denn in seiner Vorsehung, die alles
in ihrer Macht hat, zulassen kann, daß nach 2000 Jahren immer
noch der größere Teil der Menschheit außerhalb des Christen-
tums lebt. Für diese seltsame Tatsache muß Gott doch einen
Grund haben. Wir können natürlich sagen, daß diese Gründe
in der unbegreiflichen Verfügung Gottes verborgen sind und
deswegen in stillschweigender Ergebung angebetet werden
muß. Aber wir können uns trotzdem einige Gedanken über
solche Gründe machen.

Eine christliche Welt?

Nehmen wir einmal einen Augenblick an, das Christentum sei


über die ganze Welt verbreitet, überall seien nur christliche
Völker mit einer sogar christlichen Öffentlichkeit, mit Kirchen,

160
“mit Bischöfen, die überall geachtet sind, mit einem Papst, der
in aller Welt mit großer Begeisterung empfangen wird. Auch
dann wäre eigentlich die Situation des einzelnen Menschen
immer noch die eines geheimnisvollen radikalen Kampfes zwi-
schen Licht und Finsternis, zwischen Gott und dem Bösen,
zwischen der Entscheidung für Gott und das Ewige Leben und
der Entscheidung für eine endgültige Verlorenheit. Mit
anderen Worten: Die Welt wäre bei all ihrer äußeren, löblichen
und wünschenswerten Christlichkeit immer noch eine Welt, in
der Finsternis und Licht miteinander ringen in einem Kampf,
dessen Ausgang wir nach rein menschlichen Maßstäben gar
nicht voraussagen könnten.
Wenn Gott den einzelnen bis zu seinem Lebensende in einem
Kampf beläßt zwischen Gut und Böse, dann müssen wir das
auch übertragen auf die äußere greifbare Geschichte. Darin
muß in einer gesellschaftlichen Weise dieser Kampf nach dem
Willen Gottes offenbar sein und darf nicht bloß in der Inner--
lichkeit des einzelnen Individuums verborgen bleiben. Selbst
wenn wir also annehmen würden, daß einmal die ganze
Menschheit in einem äußeren Sinne christianisiert wäre, würde
sich in einem gewissen Sinne doch gar nicht so viel ändern. Es
müßten immer noch in der Öffentlichkeit antichristliche
Mächte vorhanden sein, es bliebe auch in der Öffentlichkeit, in
der Geschichte, in der Politik, in der Kunst ein bleibender
Kampf für und gegen Christus. So scheint es gewollt zu sein:
Gott hat für die Menschheit eine freie Entscheidung gewollt,
und zwar eben nicht bloß in der Innerlichkeit des einzelnen
Menschen, sondern auch in der Öffentlichkeit der Geschichte.
Wenn wir das einmal voraussetzen (auch wenn wir nicht
voraussehen können, wie sich das konkret darbieten würde in
einer Menschheit, die öffentlich überall christlich wäre), dann
verstehen wir von vornherein, daß in einer solchen Situation
die wirklichen Christen doch immer (zumindest dem äußeren
Anschein der Geschichte nach) eine Minderheit wären. Sie
müßten auch in einer solchen idealen Zukunft, wie sie sich
vielleicht Päpste und Bischöfe denken und wünschen, immer
noch ein angefochtener Teil der Menschheit sein, der nicht nur,

161
wie gesagt, im Inneren der einzelnen moralischen Ent-
scheidung, sondern auch in der Öffentlichkeit angefochten,
bekämpft, bestritten würde. Mit anderen Worten: Die eigentli-
chen Christen können gar nicht ernstlich erwarten, daß sie in
einer homogen-christlichen Welt leben.

Oasen in einer nicht-christlichen Welt

Setzen wir das alles einmal voraus, und fragen wir uns, wie man
sich die nähere Zukunft einer christlichen Gemeinde wohl
denken soll. Da ist zunächst zu sagen, daß es nicht sicher ist,
daß es in unserem sogenannten christlichen Europa auf die
Dauer «flächendeckende» Gemeinden geben kann, die das
profane Territorium eines Landes, eines Staates eindeutig ab-
decken. Dieser Satz will kein Ideal für die Zukunft verkünden,
sondern nur eine nüchtern-realistische Vermutung darüber aus-
sprechen, wie es wohl faktisch werden wird. Für mehr wird es
einfach zuwenig Priester geben. Wir können natürlich hoffen,
daß die Zahl der Priester wieder etwas zunimmt, aber in einer
Bevölkerung, in der nur ı0 bis 15 % der Menschen tatsächlich
«praktizierende» — wie man sagt — Christen sind, kann man
nicht erwarten, daß diese 15 % praktizierender Christen so viele
Priester stellen können, daß die priesterlichen Bedürfnisse der
anderen 85 % gedeckt werden könnten. Wir werden also Ge-
meinden haben, die nur eine Minorität in der Gesamtbevöl-
kerung ausmachen werden, denn es ist realistisch nicht wahr-
scheinlich, daß diese europäische säkularisierte Welt in abseh-
barer Zeit wieder ausdrücklich und praktizierend christlich sein
wird. Mit anderen Worten: Wir werden kleine Gemeinden mit
wenigen Priestern haben. So wird es vermutlich auf die Dauer
gar nicht möglich sein, daß diese Gemeinden im Stil von
profanen Polizeirevieren mit ihren wenigen Priestern unmittel-
bar und direkt die Gesamtbevölkerung, die Entchristlichten
werden erreichen können. Ich meine, daß deshalb sich die
künftigen Gemeinden, auch die sogenannten Pfarrgemeinden,
nicht mehr so unmittelbar und direkt wie bisher in einer ad-

162
I

ministrativen Weise verantwortlich fühlen können für die Ge-


samtbevölkerung eines Landes. Wenn man heute einen Pfarrer.
fragt: «Wie viele Seelen hast Du in Deiner Pfarrei?» dann sagt
er zum Beispiel:«10 000», und meint damit, daß vielleicht 1500
davon praktizierende Christen sind und er sich aber auch für
die anderen 8500 unmittelbar verantwortlich fühlen müsse. So
kann es wohl in absehbarer Zeit nicht mehr weitergehen. Es
ist nicht unchristlich und unkatholisch, wenn man damit
rechnet, daß in den nächsten Zeiten (in Jahrzehnten gerechnet)
die christlichen Gemeinden so etwas wie Oasen in einer nicht-
christlichen Welt sein werden. Diese Gemeinden der Zukunft
sollen sich natürlich nicht in ein Schneckenhaus, in ein Getto
zurückziehen; sie sollen durchaus missionarisch sein; sie sollen
— wir werden davon noch zu sprechen haben — das Christentum
wirklich attraktiv repräsentieren. Aber diese einzelnen Gemein-
den brauchen sich nicht als der kümmerliche Rest einer Ge-
meinde empfinden, zu der eigentlich schr viel mehr, über
fünfmal mehr, an Leuten gehören sollten. Das gilt dann auch
für die Pfarrer, die Seelsorger, die Vorsteher und Leiter einer
solchen Gemeinde. Wenn man einmal — nicht aus Pessimismus
und nicht aus Faulheit, sondern in einer nüchternen Analyse
der Situation der Christen in der heutigen westlichen Welt —
von der Vorstellung loskommt, daß die christliche Pfarrge-
meinde so konstruiert und verwaltet werden müsse, daß sie
flächendeckend mit der nächsten Pfarrei zusammenstößt und
alle Mitglieder dieser Pfarreien identisch empfinden müßte mit
der Gesamtbevölkerung, dann hat man in unserem Land nur
die Situation, die für die Kirche in der Welt als Ganzer von
vornherein zu erwarten ist. Überall haben wir sonst in der Welt
Gebiete, in denen die Christenheit, katholischer oder nicht-
katholischer Art, nur Minoritäten und nur Oasen bilden. Wenn
sich nun diese Situation auf Europa überträgt und der Schein
einer allgemeinen — auch öffentlichen — Verchristlichung dieses
Europa aufhört, dann ergibt sich nur, was von der Situation
der Kirche in der Welt grundsätzlich von ihrem Wesen und von
der Freiheitssituation der Menschen, und zwar auch in der
Öffentlichkeit, zu erwarten ist.

163
Auf daß das Heil Gottes sichtbar wird

So kann man dann durchaus von der einzelnen Gemeinde


sagen, was das II. Vatikanische Konzil als Formulierung des
eigenen Selbstverständnisses der Gesamtkirche in der Welt
gesagt hat: Sie ist das Sakrament des Heiles der Welt. Was heißt
das? Sie ist das von Gott gewollte, geschichtlich greifbare
Zeichen dafür, daß Gott die Welt als Ganze liebt, machtvoll aus
seiner Liebe nicht entläßt und auf Wegen, die wir nicht kennen,
zu ihrer seligen Vollendung führen will. Dafür ist die Kirche
das große sakramentale Zeichen. Das Zeichen ist nie einfach
identisch mit den Bezeichneten; die Kirche ist das Zeichen für
das Heil der Welt — und das Heil erstreckt sich natürlich weit
über dieses sakramentale Zeichen hinaus.
Diese Vorstellung vom Wesen der Kirche können wir auch
auf eine einzelne Gemeinde anwenden, so wie sie bei uns ist
oder zu werden beginnt. Diese Gemeinde ist eine christliche
Oase in einer Welt, die im geheimen immer noch von Gottes
Gnade erfüllt ist, die sich aber — äußerlich, gesellschaftlich
gesehen — schr profan, schr heidnisch ausnimmt. Darin ist die
Gemeinde das sichtbare Heilszeichen, das Gott in dieser
scheinbar so gottlosen Welt aufgerichtet hat. Gott sagt durch
diese Gemeinde: Hier in dieser Welt bin ich und bleibe ich mit
meiner Gnade; ich erfülle im geheimen die letzten Tiefen des
Menschen, ich entlasse ihn nicht aus der Liebe, die ich, der
ewige Gott, zu meinem eingeborenen, menschgewordenen
Sohn habe. Dafür ist die einzelne christliche Gemeinde in ihrer
Umgebung das sakramentale Zeichen. Das Zeichen ist ver-
schieden vom Bezeichneten, nämlich dem stillen, verborgenen
‚Heilswillen Gottes in aller profanen Welt. Gott wollte ein
Zeichen, weil er als der Gott der Menschwerdung, als der Gott
der Sichtbarkeit nicht nur die letzte geheime Lebendigkeit der
Welt sein wollte, sondern diese seine universale Liebe auch in
der Geschichte offenbar werden lassen wollte. Und zwar so,
daß das Heil, das Gott aller Welt anbietet, auch in seiner
letzten, eindeutig christlichen Ausdrücklichkeit in Erschei-
nung trete.

164
f

An diesem Punkt könnte ein Christ vielleicht sagen: Wenn


das richtig ist, dann kann ich mir selber die Sache auch einfa-
cher machen. Ich schlage mich zu dieser Welt, die — nach dem,
was wir eben gesagt haben — ja auch nicht außerhalb des
Heilswillen Gottes lebt und auch außerhalb der Sichtbarkeit der
Kirche ihr Heil erreichen kann. Also schenke ich mir eine
ausdrückliche Christlichkeit mit all den damit und nur damit
gegebenen Verpflichtungen eines Gottesdienstbesuches, eines
Sakramentenempfanges, einer Betreutheit durch kirchenamtli-
che Instanzen usw. So aber darf ein Christ nicht reden. Warum?
Weil er von der ausdrücklichen Gnade Gottes in Jesus Christus
und in der Kirche erreicht ist — anders als viele andere Men-
schen, obwohl wir natürlich eine genaue Grenze zwischen
diesen und jenen nicht ziehen können. Aber dieser Christ, der
ausdrücklich Jesus Christus und seiner Kirche begegnet ist,
darf nun nicht sagen: «Ich suche mein Heil außerhalb dieser
ausdrücklichen Chtristlichkeit in Beziehung zu und Glaube an
Jesus Christus in seiner Kirche, mit ihren Sakramenten usw.»
Wenn er so in dieser seiner, von Gott ihm verfügten Situation
reden würde, würde er damit auch das eigentliche Heil selbst
ablehnen. Mit anderen Worten: Aus dieser Konzeption einer
christlichen Gemeinde als sakramentalem Zeichen des Heiles
für die Welt um diese oasenhafte Gemeinde herum ergibt sich
in keiner Weise, daß der Christ gleichsam aus diesem Zeichen,
zu dem er selber gehört, ausbrechen und sich zu der anonymen
Menschheit schlagen dürfte, für die Gottes Heilswille auf ge-
heimnisvolle Weise — wenn auch immer noch wegen Christus
— wirksam ist.

Befreit zur Mission

Nun ist es Zeit zu zeigen, daß diese so verstandene, oasenhafte


Gemeinde, die sich von vornherein aus dem Wesen des Chri-
stentums heraus über ihre Minderheitssituation gar nicht
wundert, dennoch das Gebot eines missionarischen _Wirkens
hat und es gerade so, bei Annahme dieser Minderheitssituation,

165
viel unbefangener und freier erfüllen kann. Es ist ja zunächst
einmal klar, daß diese Gemeinde als Zeichen des Heiles für die
anderen dafür sorgen muß, daß diese Gemeinde, die das
Zeichen ist, nicht untergeht, nicht verschwindet. Die sichtbare
Greifbarkeit des Heiles der Welt, bezogen auf Jesus Christus
und Kirche genannt, muß bis zum Ende der Zeiten in der Welt
gegeben sein. Wie groß und mächtig dieses Zeichen prozentual
zur Gesamtheit der übrigen Menschheit ist, darüber können
wir nichts ausmachen, aber auf jeden Fall muß dieses Zeichen
weiterexistieren.
Wenn ein Mensch seine eigene Berufung zu dieser Ausdrück-
lichkeit des Heiles als eines Zeichens für andere kennt und von’
seiner gesellschaftlichen Verantwortung, von seiner Nächsten-
liebe nicht absehen kann, dann muß er zumindest erst einmal
dafür sorgen, daß diese Gemeinde lebendig bleibt, wächst und
neue Mitglieder aus dem sie umgebenden Heidentum heraus
gewinnt. Wenn ein Mensch nicht nur wortlos anonym und der
eigenen Wirklichkeit selber nicht recht bewußt von der Gnade
Gottes umfangen ist, sondern weiß, daß er wirklich das von
Gott geliebte Kind Gottes ist; wenn ein Mensch reflex
realisiert, daß er zu einem unendlich ewigen Leben in der
Unmittelbarkeit Gottes berufen ist, dann muß er das auch
anderen sagen. Er muß von diesem ausdrücklich zu ihm als ihm
selbst gekommenen Glück anderen mitteilen wollen, so daß
von ihm aus eben dieses Heilszeichen der Welt, Kirche
genannt, bleibt, wächst und immer mehr Menschen gewinnt,
die auch ausdrücklich zu dieser innersten Begnadigung gekom-
men sind. Eine Gemeinde, die nicht notwendigerweise von der
Vorstellung gequält wird, daß in ihr nur ıs % ihrer Glieder
praktizieren, eine Gemeinde, die sich zunächst einmal der Zahl
ihrer wirklichen, lebendigen Gemeindemitglieder erfreut, hat
eine größere Chance für einen missionarischen Geist als eine
Gemeinde, in der von vornherein wie ein Krebsgeschwür das
drückende Gefühl grassiert, sie sei in Wirklichkeit gar nicht
das, was sie sein sollte, weil ja 85 % ihrer Mitglieder abständig
sind. Eine solche Gemeinde wie die erstgenannte kann von
dieser glaubensmäßig gegebenen Selbsteinschätzung her, das
166
sakramentale Zeichen des Heiles für die zu sein, die noch gar
nicht eigentlich und lebendig zu ihr gehören, viel unbefangener
und lebendiger missionarisch sein.

Die Aufgabe des Priesters

Ich habe früher einmal gesagt, daß ein Priester oder ein Bischof
gefragt werden sollte, wie viele neue Christen er in seinem
sogenannt christlichen und in Wirklichkeit unchristlichen
Gebiet gewonnen hat. Er sollte darauf mehr Gewicht legen als
auf die Frage, wie viele «noch» zu seiner Gemeinde oder zu
seiner Diözese gehören. Diese Frage öffnet auch ein Verständ-
nis für die eigentümliche Aufgabe eines Priesters als Gemein-
deleiter in einer Pfarrei der Zukunft. Er ist gewissermaßen
durch seine Existenz, sein Tun und sein Wort die lebendige,
glaubende, hoffende, liebende Vertretung der Botschaft
Gottes. Dafür sucht er wenigstens ein paar Menschen zu gewin-
nen. Von dieser Eigentümlichkeit eines (dürfen wir das einmal
so sagen) spirituellen Gurus aus sollte ein Priester in der
Zukunft sein Amt auffassen. Er ist nicht in erster Linie der-
jenige, der dafür zu sorgen hat, daß alle, die im Grund genom-
men dafür kein Verständnis haben, getauft werden und sa-
kramental die Ehe schließen; er ist nicht der, der statistisch in
besonders genauer Weise berechnen muß, wieviel Prozent
seiner sogenannten Pfarrangehörigen nun faktisch Ostern
feiern; er ist nicht der, der ängstlich dafür sorgen muß, daß er
auch bei einer Beerdigung noch mitziehen darf. Er ist der, der,
erfüllt von einem seligmachenden Glauben an Jesus Christus,
den Gekreuzigten und Auferstandenen, im Gefühl seiner
eigenen Befreitheit und Erlöstheit, im Glauben an das ewige
Leben möglichst vielen (aber wievielen ist sekundär!) diese
seine eigene innere Erlöstheit und Befreitheit mitteilen will.
Natürlich auch durch die Sakramente, durch die Feier des
Herrenmahles; aber all das muß umfaßt sein von der Verkün-
digung der befreienden, erlösenden, rettenden Gnade Gottes.
Ein Pfarrer dieser Art wird eine innere Beziehung zur soge-
167
ge

nannten Basisgemeinde haben. Ich kann jetzt nicht auf die


soziologischen Fragen eingehen, wieweit sich auch in einer
gewünschten Zukunft Basisgemeinden und Pfarrgemeinden
einfach decken werden. Es kann sein, daß auch innerhalb einer
großartig lebendigen Pfarrgemeinde es immer noch Basisge-
meinden als Untergruppen einer solchen Pfarre gibt und viel-
leicht sogar geben muß. Aber jedenfalls müßte von einem
solchen Pfarrer her durch sein lebendiges Zeugnis die Pfarrge-
meinde selber den Charakter einer Basisgemeinde bekommen.

Basisgemeinden und Veränderungen

Menschen, die sich in der letzten Liebe Gottes treffen, müssen


doch auch sonst miteinander in Verbindung stehen, und die
Liebe, die der Heilige Geist zu Gott und zum Nächsten eingibt,
muß sich praktisch und konkret in einer echten Gemeinde der
gegenseitigen Liebe und Hilfe manifestieren. Der Priester, der
so von dieser innersten christlichen Lebendigkeit her mis-
sioniert, wendet sich dann von selbst an eine solche Basisge-
meinde, die seine Pfarrei ist, die missionarisch ist und eigentlich
unbefangen — auf Gott vertrauend — mit der Tatsache fertig
wird, daß sie in der großen weltlichen Gesellschaft nur eine
Minderheit ist, allerdings die Minderheit, die der Welt als
ganzer das Heil Gottes verheißt und anbietet.
Von da aus lassen sich noch viele Einzelfragen beantworten.
Zunächst einmal wird natürlich eine solche Basisgemeinde mit
ihrem Priester («Spiritual» könnte man beinahe sagen) an der
Spitze auch Verständnis für ökumenische Aufgaben und Ziele
haben. Es handelt sich ja bei dieser Basisgemeinde um Men-
schen, die aus der innersten Mitte ihrer Berührtheit von Gott
(man könnte beinahe sagen: ihrer gnadenhaften Mystik mitten
im Alltag) heraus leben und eine Gemeinschaft bilden wollen.
Bei einer solchen Gemeinde kann es dann auch gar nicht anders
sein, als daß konfessionelle Unterschiede zwar nicht einfach
beiseite gewischt werden können (gleichsam eine dritte Konfes-
sion gegründet werden könnte), aber daß von dieser ursprüng-
168
% ‘

lichen Christlichkeit aus die konfessionellen Unterschiede so


sekundär werden, daß wirklich die Aussicht besteht, daß sie
überwunden werden. Ob ein Pfarrer ein Meßgewand anhat
oder einen Talar wie ein evangelischer Pfarrer, oder ob man
sehr oft und begeistert nach Rom pilgert oder das Petrusamt
in der Kirche etwas kühler an seiner ihm wirklich in der
Hierarchie der Wahrheiten zukommenden Stelle respektiert,
das sind dann alles Fragen, bei denen von diesen charismatisch
belebten Basisgemeinden her durchaus eine Lösung auf eine
wirkliche Einheit der Kirchen hin erwartet werden kann.
Von einer solchen Basisgemeinde her verändert sich dann
das Verhältnis zwischen Priester und Laien. Nicht so, daß das
Amt in der Kirche abgeschafft werden könnte oder sollte; nicht
so, als ob es in einer notwendigerweise strukturierten, ge-
gliederten Gemeinde nicht verschiedene Ämter und Aufgaben
geben könnte und müßte, deren Verteilung in brüderlichem
Respekt und Liebe von den einzelnen respektiert werden muß.
Aber in einer solchen Gemeinde hat im Grunde genommen
jeder seine Funktion. Da gibt es die Funktion einer Gemein-
deleitung, die sich besonders ausdrückt in der Leitung der
eucharistischen Mahlgemeinschaft. Da gibt es aber genauso
unerläßlich und notwendig andere Funktionen in der Gemein-
de. Der Pfarrer soll selbstverständlich nicht einfach der Funk-
tionär eines kirchlichen Ritualismus werden, im Gegenteil, er
soll von seinem Amt als Gemeindeleiter her durchaus eine
Verantwortung spüren, exemplarisch, lebendig, radikal seinen
Brüdern und Schwestern in der Gemeinde das Christentum zu
bezeugen durch sein eigenes Leben. Es wird aber trotzdem eine
gewisse Differenz zwischen amtlicher Funktion in einer be-
stimmten Gemeinde und dem letzten Sinn einer solchen Ge-
meinde geben.

Das Bild vom Schachklub

Ich will das zunächst in einem Beispiel erläutern, obwohl dieses


Beispiel schon öfters (z.B. von Gisbert Greshake) attackiert
worden ist. In einem Schachklub kommt es letztlich darauf an,
169
daß die einzelnen Mitglieder des Schachklubs gut oder sogar
hervorragend Schach spielen. Das ist die Aufgabe, der Sinn
eines Schachklubs. Trotzdem muß es in einem solchen Schach-
klub auch einen Vorstand, einen Kassier usw. geben, der die
äußeren Voraussetzungen für das gute Schachspielen schafft.
Es ist durchaus wünschenswert, daß der Vorstand des Schach-
vereins auch etwas vom Schach-Spielen selbst versteht, viel-
leicht auch ein sehr guter Schachspieler ist; denn dann kann er
viel besser beurteilen, wie ein solcher Schachklub organisiert
werden muß. Aber es ist auch durchaus möglich, daß ein
solcher Schachvereinsvorstand nicht gerade der idealste
Schachspieler ist, sondern Vereinsmitglieder hat, die sehr viel
besser Schach spielen können. So etwas, meine ich, gibt es auch
in der Kirche Gottes. Die Heiligen sind die besten Schach-
spieler im Schachklub der Kirche Gottes; die Vereinsvorstän-
de, also der Papst und die Bischöfe, sollten natürlich auch
möglichst heilig sein, aber man darf es ihnen nicht übelnehmen
— und das wurde auch in der Kirche im Grunde genommen
immer anerkannt —, wenn sie weniger Heiligkeit, also weniger
christliche Ausstrahlungskraft, weniger radikales Christentum
in ihrem eigenen Leben verwirklichen als die großen Heiligen
der Kirche. Ich darf nicht den Vereinsvorstand im Schachklub
einfach deswegen schon in seiner Funktion absetzen, weil er in
einem Schachspiel mit einem anderen Vereinsmitglied die
Partie verloren hat. Insofern kann und darf man auch die Leiter
der «Gesellschaftlichkeit» der Kirche nicht einfach überfor-
dern, als ob sie notwendig, und zwar als Bedingung ihrer
Amtsvollmachten, auch die idealsten Christen sein müßten. Ein
Bischof kann — so möchte ich sagen — religiös unter Umständen
weniger spirituelle Substanz haben als sein Autochauffeur, der
ein bescheidener, selbstloser Christ ist, der im Dienste der
Kirche unter Verzicht auf alle möglichen weltlichen Vorteile
seinem Bischof dient. Aber deswegen braucht der Chauffeur
nun nicht den Bischof von seinem Bischofssitz zu verdrängen.
Umgekehrt sollten natürlich der Priester, der Pfarrer, der
Bischof, auch der Ordensmann, die ja alle ganz bestimmte
Funktionen und Aufgaben haben, sich immer wieder aufs neue
170
sagen, daß sie auch ihr eigentliches Amt als solches auf die
Dauer und im ganzen nur gut verwalten können, wenn sie auch
radikal selber Christen zu sein sich bemühen.

Nene Ämter in der Kirche

Die Kirche hat ferner zwar eine gesellschaftliche Struktur, von


der sie überzeugt ist, daß sie bleibend zu ihrem Wesen gehört;
sie ist davon überzeugt, daß es Diakone, Priester und Bischöfe
in der Kirche gibt und geben muß, auch in der Zukunft. Damit
ist aber zweierlei nicht gegeben:
Erstens einmal ist die genauere, in einer bestimmten ge-
schichtlichen und gesellschaftlichen Situation geforderte
Aufgabe dieser drei bleibenden hierarchischen Ämter noch
nicht gegeben. Es könnte z.B. einmal sein (Franz Xaver Kauf-
mann hat darauf hingewiesen), daß eine Kirche der Zukunft
viel kleinere Bistümer haben müßte, weil sie in der Zukunft
sehr viel mehr von der persönlichen Christlichkeit ihrer Amts-
träger getragen werden muß, als das früher notwendig war.
Auch das Amtspriestertum in der Kirche hat sehr viele Auf-
gaben im Lauf der Zeit übernommen, die nicht notwendig zu
seinem Wesen als eucharistische Gemeindeleitung gehören,
und hat diese anderen Aufgaben unter Umständen wieder abge-
stoßen. Die genaue Inhaltlichkeit dieser drei hierarchischen
Ämter braucht nicht notwendigerweise in der Zukunft genau
die zu sein, die wir gewohnt sind.
Zweitens bedeutet diese bleibende hierarchische Struktur in
der Kirche nicht, daß alle von der Kirche als eigentlicher
amtlicher Gesellschaft zu erfüllenden Aufgaben Aufgaben
gerade dieser drei Ämter sind und bleiben. Wo ist z.B. bei einer
solchen dreifachen hierarchischen Struktur deutlich, daß es
Lehrer in der Kirche geben müsse? Natürlich kann man sagen,
der Bischof sei auch der amtliche autoritative Lehrer innerhalb
seines Bistums. Aber damit ist nicht ausgeschlossen, daß es die
Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit in der Kirche geben
kann, ein ausdrückliches Amt der Lehrer in der Kirche zu

171
! , T

schaffen, das zu diesen drei hierarchischen Ämtern hinzutritt.


Die Kirche muß Caritas üben, nicht nur in der privaten Subjek-
tivität des einzelnen, der Almosen gibt, sondern auch als
Kirche. Es muß also so etwas wie einen Diakon im Sinn der
Apostelgeschichte (6, 2f) geben. Daß dieses Amt oder diese
Aufgabe einfach von Priestern, Caritasdirektoren oder von
Pfarrern oder auch von den jetzt wieder geweiht werdenden
Diakonen allein in genügender Weise ausgeübt und vollzogen
werden könne, ist doch sicher eine offene Frage. Es kann
durchaus außerdem das Amt kirchenamtlicher Caritas geben.
Es könnte vielleicht das Amt eines Kritikers gesellschaftlicher
Mißstände in der profanen Gesellschaft geben oder das Amt
eines von ausdrücklich kirchlich-christlichen Gesichtspunkten
aus arbeitenden Erziehers, Psychotherapeuten usw. Alle diese
Beispiele sollen gar nichts anderes als einigermaßen verständ-
lich machen, daß es neben der dreifachen hierarchischen Struk-
tur der Kirche durchaus andere, neue amtliche Aufgaben in der
Kirche geben könne, die von den drei hierarchisch bleibenden
Ämtern her respektiert werden müssen und denen von diesen
hierarchischen Ämtern eine Selbstverantwortung und Freiheit
eingeräumt werden müßte; Aufgaben und Ämter in der
Kirche, die nicht einfach unter der beliebigen Botmäßigkeit des
Pfarrers oder eines einzelnen Bischofs stehen müßten; Ämter,
die ausdrücklich von der Hierarchie anerkannt werden müßten
als gesellschaftlich und geschichtlich hier und jetzt erforderli-
che Ausgliederung des letztlich einen Amtes in der Kirche.
Damit ist nicht gesagt, daß er einzelne Laie als solcher und
einzelne Gruppierungen von christlichen Laien als solche keine
Bedeutung in der Kirche als solcher hätten. Nein, die Kirche
lebt nicht nur — und nicht einmal in allererster Linie - vom Amt
und von den Ausgliederungen und Differenzierungen des einen
Amtes in der Kirche; die Kirche lebt als Volk Gottes, das in
der Geschichte pilgert, von den Menschen der Kirche im
ganzen. Und dort, wo ein Christ seine christliche Aufgabe als
Mensch in der Familie und in der profanen Öffentlichkeit aus
einer letzten christlichen Motivation heraus wahrnimmt, da lebt
die Kirche und entscheidet vielleicht sehr oft in viel wichtige-

172
“r 1 r N N 2 ]

. ren Dingen, als sie dem Amt in der Kirche unmittelbar zu gäng-
lich sind. Es hat früher nicht umsonst heilige Könige gegeben,
und es wäre verkehrt, die Heiligen nur in der Stille klausurier-
ter Klöster finden zu sollen. Die Heilige Teresa von Avila hat
bedauert, daß in ihrer Zeit die Frauen so wenig zu sagen hatten,
und auch die Kleine Therese hat aus ihrem missionarischen
Drang für das Heil der Welt, eben weil es— wie sie sagte — nicht
anders ging, im Herzen der Kirche als beschauliche Karmelitin
ihre missionarische Aufgabe zu erfüllen gesucht. Jedenfalls
haben die Christen in der Kirche sowohl auf die Kirche wie
auch auf die Welt, auf die profane Öffentlichkeit, auf die
Gesellschaft hin Aufgaben, die sie als Träger der Kirche wahr-
nehmen müssen.

Priester auf Zeit

Es gäbe natürlich dazu noch viele andere Fragen, die ins Detail
gehen. Man könnte z.B. fragen, ob es wirklich mit dem sa-
kramentalen Charakter des Priestertums unvereinbar wäre,
wenn die Kirche ein selbstverständlicheres Ausscheiden aus
dem Priesteramt, ein Ausscheiden, das den Betreffenden nicht
moralisch disqualifiziert, ins Auge fassen würde. Man könnte
fragen, ob eine solche Einrichtung einer Art Priestertum auf
Zeit nicht erst recht wieder psychologisch und gesellschaftlich
zu einem Abbau des Priestertums führen würde. Darüber
müßte man nachdenken und vielleicht auch Erfahrungen zu
sammeln versuchen. Aber ganz abstrakt und im allgemeinen
gesagt, glaube ich nicht, daß der sogenannte bleibende sa-
kramentale Charakter des Priestertums, der nach der Lehre des
Trienter Konzils unverlierbar ist, grundsätzlich und von vorn-
herein ein Priestertum auf Zeit schlechterdings dogmatisch
unmöglich machen müßte. Die Kirche laisiert ja Priester, und
es ist nicht einzusehen, warum der Grund einer solchen
Laisierung im Auge der Kirche, ganz abgesehen jetzt vom
einzelnen selber, nur in einer moralischen Verfehlung des Be-
treffenden bestehen könnte. Dann könnte nämlich überlegt

219
werden, ob nicht durch ein richtig verstandenes Priestertum auf
Zeit mehr junge Menschen eine priesterliche Berufung entdek-
ken könnten, junge Menschen, die heute nicht wagen, das
Priestertum zu übernehmen, weil sie sich eine lebenslange
Verpflichtung nicht zutrauen.

Weihe der Frau

Weiter ist natürlich die Frage — meiner unmaßgeblichen


Meinung nach — immer noch offen, ob auch unter ganz anderen
gesellschaftlichen und (fast) anthropologischen Situationen,
wie sie in unserer heute männerherrschaftlichen Gesellschaft
gegeben sind, eine Weihe der Frau wirklich dogmatisch un-
möglich ist. Die Glaubenskongregation hat das zwar erklärt;
und wir können — nüchtern bedacht — nicht damit rechnen, daß
in absehbarer Zeit die Kirche diese Erklärung zurücknimmt
und die römisch-katholische Kirche daraus Konsequenzen
zieht. Aber diese Erklärung der Glaubenskongregation ist kein
unfehlbares Dogma und steht darum in einer Geschichtlichkeit,
die auch noch eine Revision dieser Erklärung möglich machen
könnte. Es gibt ja viel fundamentalere Erklärungen des kirchli-
chen Lehramtes, die im Lauf der Zeit revidiert und praktisch
zurückgenommen worden sind. Die Erklärung z.B. -— um ein
x-beliebiges Beispiel zu nennen — der Bibelkommission unter
Pius X., daß Mose in einem ganz wörtlichen Sinn der Verfasser
des ganzen Pentateuchs sei, war mindestens genauso autoritativ
gemeint wie die Erklärung der Nichtweihbarkeit der Frau, und
diese Erklärung der Bibelkommission war doch nach 60 Jahren
überholt und gilt nicht mehr. Ob das überhaupt hinsichtlich der
Weihbarkeit der Frau möglich ist, ob es einmal geschehen wird,
wie lange das noch dauern wird, bis es geschehen kann —
darüber kann man natürlich keine eindeutigen Aussagen
machen. Es gibt sicherlich sehr viel Leute in Nordamerika und
auch zum Teil bei uns in Europa, die es als eine Dis-
kriminierung der Frau empfinden, daß sie nicht Priester werden
kann. Aber man soll da auch nicht übertreiben. Wenn man an

174
das Beispiel vom Schachklub zurückdenkt, dann könnte man
sagen - bildlich gesprochen -, es sei für die Frau doch letztlich
entscheidend wichtiger, daß sie gut Schach spielt, das heißt, daß
sie in radikalster Weise — was ihr niemand verwehrt — das
Christentum selbst als die Religion Jesu Christi, des Gekreuzig-
ten und Auferstandenen, als die Religion der Freiheit und der
Liebe in ihrem Leben realisiert, als daß sie — also auch im
«Schachklub» — als Pfarrer und als Priester oder als Bischof ein
Amt in der Kirche innehat. Gemessen an der eigentlichsten
Aufgabe des Christentums ist ja doch diese Frage der Zulas-
sung zu einem Amt in der gesellschaftlichen Dimension der
Kirche sekundär gegenüber der Frage, wie eine Frau heute
selbständig in der Gesellschaft - man könnte sagen: eman-
zipiert — und trotzdem fraulich ihr Christentum leben könne.

Die Fernsten werden zu den Nächsten

In der Zeit, in der die Welt eine einzige globale Größe wird als
Menschheit, in der das Schicksal eines jeden von allen abhängt,
in einer Zeit, in der die einzelnen Gesellschaften und Staaten
nicht mehr durch geschichtliche Leerräume voneinander ge-
trennt.sind, sondern von der Frage, wie es Südamerika im
nächsten halben Jahrhundert gehen wird, auch die Frage, wie
es uns hier gehen wird, abhängt und umgekehrt natürlich auch
- in einer solchen Zeit gehören, wenn wir so sagen dürfen, auch
die Fernsten noch zu den Nächsten. Vor tausend Jahren konnte
es einem Christen in Europa, abgeseehen von seiner Bedroht-
heit durch die Türken, praktisch gleichgültig sein, wie es in
Indien oder Ostasien zugeht. Einfach deshalb, weil er dafür gar
keine Möglichkeiten der Veränderung hatte und deswegen die
Forderung christlicher Nächstenliebe keine konkrete Be-
deutung für seine abstrakte Beziehung zu den Menschen in
Ostasien oder Indien hatte. Heute ist das ganz anders. Alle die
Fragen, die uns von «Global 2000» heute aufgegeben werden,
alle Fragen über die Benützung und Schonung der Lebens-
voraussetzungen der Menschheit, alle Fragen des interna-

273
tionalen Friedens, alle Fragen der Entwicklung der Dritten
Welt usw., sind heute unmittelbare Fragen der Verantwortung
des einzelnen Christen und auch der einzelnen Gemeinden.
Eine Pfarrei von heute oder morgen müßte ein realistisch
sich auswirkendes Verhältnis zu einer Pfarrei in Nigeria haben.
Die Fragen der Abrüstung, des Friedens in der Welt, der Hilfe
für die Dritte Welt, die Fragen, die die heutigen sogenannten
«Grünen» aufwerfen (wenn vielleicht auch manchmal in einer
zu emotionalen und naiven Weise), sind Fragen, die heute an
die Verantwortung des einzelnen Christen und der christlichen
Gemeinden gerichtet sind. Wieviel der einzelne da tun kann,
ist noch einmal eine andere Frage. Aber daß einer gar nichts
tun könne, das ist vielleicht für irgendeinen armen Bettler an
einem Straßenrand richtig (der aber mindestens noch für die
Dritte Welt beten kann), aber für den normalen Christen sind
das Fragen, bei denen er wirklich mindestens dafür sorgen
sollte, daß seine Vertretungen in größeren gesellschaftlichen
Organisationen, z.B. in Parteien und im Staat, ihre diesbezügli-
che Verpflichtung und Verantwortung wahrnehmen. Wie viele
Christen gibt es, die bei ihren Parteien schon einmal dagegen
protestiert haben, daß nicht einmal ı % des Sozialproduktes
bei uns für die Dritte Welt freigemacht wird? Wie viele Chri-
sten haben schon einmal effektiv ihren Parteien gegenüber
erklärt, daß sie auf ı % ihres Gehaltes verzichten würden? (In
Berlin gibt es einige Universitätsprofessoren, die effektiv auf
einen nicht unbeträchtlichen Prozentsatz ihre Gehaltes verzich-
ten, damit gewisse Professuren nicht vom Staat, der sparen
muß, gestrichen werden. Mir hat eine bedeutende deutsche
Pädagogin, die schon in Pension ist, gesagt, sie müsse, wenn
sie ehrlich ist, zugeben, daß sie noch anständig und gut leben
könnte, wenn ihre Pension 10 % geringer wäre, und sie sei von
sich aus auch durchaus zu einer solchen Kürzung bereit. Wenn
die Bundesrepublik Deutschland Beamte hätte, die alle zu einer
Kürzung von einigen Prozenten ihres Gehalts bereit wären,
dann wäre ein großer Teil der finanziellen Misere beseitigt.)
Warum gibt es so wenige Christen, die zu so etwas bereit sind
und diese Bereitschaft nicht in der Tiefe ihres Herzens verber-
176
j

gen, sondern auch öffentlich kundtun? Man sollte alle diese


Dinge offener und kritischer und mit größerer Bereitschaft,
etwas zu ändern, betrachten, als das praktisch geschieht.

Eine Gemeinde des Gebetes

Sosehr eine Gemeinde nicht nur eine Servicestation sein darf


für die Befriedigung individualistischer Bedürfnisse der Fröm-
migkeit und der Heilssorge des einzelnen für sich selber,
sondern eine gesellschaftspolitische und gesellschaftskritische
Verantwortung hat und sosehr man auch in einer Predigt
davon hören muß (auch wenn umgekehrt ein horizontalistisch
denkender Kaplan auch etwas von Gott, dem ewigen Leben,
dem Glauben und der Hoffnung der Ewigkeit sagen muß),
sosehr darf eine wirklich christliche Gemeinde nicht nur ein
gesellschaftspolitischer Zusammenschluß für die Gerechtigkeit
in der Welt sein, sondern muß auch eine Gemeinde sein, die auf
Gott ausgerichtet ist, eine Gemeinde der Anbetung Gottes,
kurz: eine Gemeinde des Gebetes. Und wenn eine Gemeinde
sich darin nicht mehr zusammenfinden könnte, und zwar in
einem Gebet, das nicht einfach nur die legalistische Erfüllung
ritualistischer Forderungen ist, sondern Gebet im Geist und in
der Wahrheit, Gebet einer — durch alle irdischen Dinge hin-
durch - radikalen Hoffnung auf das ewige Leben Gottes, dann
würde eine solche Gemeinde aufhören, eine christliche Ge-
meinde zu sein. Es gibt sicherlich Gebetsvereinigungen, Ge-
betsgottesdienste, die einen etwas privateren, intimeren
Charakter haben dürfen und sogar sollen als der kirchenamtli-
che Pfarrgottesdienst. Aber auch ein solcher Gottesdienst muß
in einer — möchte ich sagen — schöpferischen Phantasie religi-
öser Innerlichkeit so nach außen hin gestaltet werden, daß da
wirklich persönlich, lebendig aus der innersten Mitte des
Herzens heraus gebetet werden kann. Da muß gesungen
werden, weil hier Menschen in einer freien Lebendigkeit Gott
preisen wollen.

177
RITENSTREIT - NEUE AUFGABEN FÜR DIE
KIRCHE

Einen Ritenstreit, wie er vor einigen Jahrhunderten in der


Kirche ausgetragen und wie er eigentlich erst unter Pius XI.
beigelegt wurde, gibt es heute nicht mehr. Es gibt keine fest
umrissenen Weisen der Inkulturation des Christentums und des
kirchlichen Lebens in fremde Kulturen mehr, die von den einen
als nützlich und notwendig verteidigt werden und von den
andern als mit dem Christentum schlechterdings unvereinbar
verworfen werden. In diesem primitiven Sinn gibt es also heute
keinen Ritenstreit mehr. Die eigentliche Frage aber, um die es
damals ging, stellt sich auch heute noch, radikaler denn je.
Dafür gibt es zwei Gründe. Einmal ist das Christentum eine
Weltreligion geworden, die Kirche hat real begonnen, eine
Weltkirche zu sein. Die Frage, wie das Christentum und die
Kirche in all den Kulturkreisen, die es auf der Welt gibt,
verständlich gemacht werden kann, ist darum weltweit eine
dringende Frage geworden. Etwas Zweites kommt hinzu:
Während bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die westeuropäi-
sche und nordamerikanische Kultur in der ganzen Welt vor-
herrschte mit der selbstbewußten Absicht, die eigene Kultur
und den eigenen Lebensstil nützlicherweise zum Segen aller
Menschen in aller Welt zu verbreiten, ist jetzt diese kulturelle
Vorherrschaft des Westens zu Ende gegangen. Es ist nicht zu.
leugnen, daß früher auch die kirchliche Mission zu einem guten
Teil von dieser Vorherrschaft des abendländischen Wesens
getragen war. Heute, wo diese Plausibilität europäischen
Lebensstils nicht mehr gegeben ist, ist die Frage der Inkultura-
tion des Christentums in andere Völker und andere Kultur-
kreise schwieriger geworden.

Keine Synthese
Diese Frage tauchte zum ersten Mal zu Riccis Zeiten deutlich
auf, zuvor — etwa beim Übergang der Kirche aus dem römi-
schen Kulturkreis in den germanischen — war sie nicht so

178
lebendig. Heute ist sie brennender denn je und stellt eine
fundamentale Aufgabe der Kirche dar. Wir können uns natür-
lich heute denken — und in kirchlichen Verlautbarungen wird
bis auf den heutigen Tag oft so gedacht —, daß man diese und
jene Elemente, die wir westeuropäischen Christen in der kon-
kreten Gestaltung des christlichen Lebens oder in der For-
mulierung unseres Glaubens gewohnt sind, weglassen, ein
klein wenig verändern könne und dadurch das Christentum
mehr oder minder automatisch in andere Völker inkulturieren
werde. Man stellt sich vor, man müsse heute in China oder in
Japan keine gotischen Kirche mehr bauen und brauche in der
Kirche auch keine Musik zu machen, wie sie in Europa üblich
ist - im Grunde sei das alles ziemlich leicht und einfach. Ich
meine hingegen, daß es schr, sehr schwierig ist. Selbstverständ-
lich sollen auch solche Anpassungen vorgenommen werden,
vielleicht viel intensiver als bisher. Aber so wie zwei Menschen
eine letzte Verschiedenheit voneinander haben, die nicht
einfach in einem höheren Begriff oder einer Synthese aufge-
hoben werden kann, so 'gibt es auch große Individuen von
Kulturen, die sich nicht ohne weiteres durch ein wenig prakti-
sche Angleichung und Adaptation gegenseitig verständlich
machen können. Es ist zunächst ein wirklich profundes
theologisches Problem, ob es überhaupt ein und dieselbe
Kirche in verschiedenen Kulturkreisen geben könne. Wir Chri-
sten und Katholiken sind davon überzeugt.
Die Kirche muß in Kult, Recht und Glauben eine greifbare
Einheit haben. Wie das aber bei gleichzeitiger Respektierung
sehr tiefgreifender Differenzen zwischen den verschiedenen
Kulturen möglich ist, ist eine Frage, die noch nicht gelöst ist.
Heute fragen wir doch nach einem Pluralismus in den
Theologien und erkennen einen solchen an. Wir geben grund-
sätzlich zu — obwohl Rom natürlich immer wieder bremst -,
daß es verschiedene große Regionalkirchen geben kann und
muß, daß es verschiedene Liturgien geben kann, schließlich
und endlich sogar, daß es bei aller letzten Einheit im Kirchen-
recht doch sehr große Unterschiede im Recht der einzelnen
Teilkirchen geben kann.

ne)
Eu

Das neue Kirchenrecht gilt zwar nur für die lateinische


Kirche, diese lateinische Kirche ist aber de facto mit der
römisch-katholisch-westlichen Kirche identisch, die auf dem
ganzen Erdkreis verbreitet ist - von den Ostkirchen im Vor-
deren Orient einmal abgesehen. Im Grunde genommen ist noch
nicht klar, mit welcher Zuversicht, mit welchem Vertrauen, mit
welcher Unbefangenheit die Leitung der einen Kirche den
verschiedenen Teilkirchen Eigentümlichkeit zugestehen kann.
Der eigentliche Ritenstreit steht uns noch bevor. Was werden
die Afrikaner mit ihren Auffassungen von Ehe, Familie und
Stammesgefühl mit unserer westeuropäischen Moral anfangen?
Wieweit ist diese ohne weiteres auf andere Kulturen übertrag-
bar? Wie wird in Ostasien das Ordensleben aussehen, wenn das
Selbstverständnis der Asiaten unbefangen in der Kirche gültig
sein kann? Offenbar werden das Ordensleben, die Tracht,
vielleicht auch die Liturgie ganz anders als bisher aussehen. All
das wird nicht einfach die ein klein wenig adaptierte Überset-
zung unseres Christentums sein, sondern etwas ganz anderes.
Andererseits muß aber die Herkunft des gesamten Christen-
tums und der Offenbarung vom konkreten geschichtlichen
Jesus von Nazaret aufrechterhalten werden, muß die Einheit
der Kirche in einem echten, lebendigen Sinn bejaht werden.
Natürlich wird es auch immer einen Papst geben, wenn viel-
leicht auch mit Bühlmann! gefragt werden muß, ob er nicht
besser auf den Philippinen sein Bistum aufschlagen sollte.

Neue Aufgaben

Wir brauchen diesen neuen, universellen Ritenstreit nicht als


einen häßlichen Streit zu empfinden. Er ist eine Aufgabe, die
auf die Gesamtkirche zukommt. Und hier kann uns, was Mut,
Zuversicht, Hoffnung und Unbefangenheit in der Würdigung

! Vgl. W.Bühlmann, Wenn Gott zu allen Menschen geht. Für eine neue
Erfahrung der Auserwählten, Basel 1981; ders., Alle haben denselben Gott.
Begegnung mit den Menschen und Religionen Asiens, Frankfurt 1978; ders.,
Wo der Glaube lebt. Einblicke in die Lage der Weltkirche, Freiburg i.Br. 1974.

180
fremder Kulturen angeht, Matteo Ricci immer noch ein
Vorbild sein. Anfänge sind schon gemacht: In den Dekreten,
die sich auf die Ostkirche beziehen, ist eine echte Autonomie
und Verschiedenheit regionaler Kirchen als positive Eigentüm-
lichkeit der Kirche anerkannt. Es ist demnach gar kein katholi-
sches Ideal, die Kirche so zu uniformieren und zu homoge-
nisieren, daß es nur noch örtlich verschiedene Verwaltungen
eines kirchlichen Universalstaates gibt. In der ökumenischen
Frage stellt sich das Problem analog. Auch dort werden wir
nicht eine Kirche anstreben können, in der die bisherige
lateinisch-römisch-katholische Kirche die übrigen Kirchen der
Christenheit verschluckt und selber ohne jede innere Verän-
derung durch einen ausschließlich quantitativen Zuwachs zur
Kirche aller Christen wird. Die ökumenische Frage kann si-
cherlich nur — wenn überhaupt — gelöst werden, indem den
übrigen großen christlichen Kirchen ein genuines Recht als
Teilkirchen innerhalb der einen katholischen Kirche zuerkannt
wird.
Wir verfügen zweifelsohne innerhalb der römisch-katholi-
schen Kirche heute schon über eine große Erfahrung mit einem
relativ intensiven Pluralismus. Die lateinamerikanische Kirche
z.B. entwickelt eine Theologie der Befreiung, die vielleicht
nicht unmittelbar auf uns übertragen werden kann. In Deutsch-
land und in Westeuropa gibt es die verschiedensten theologi-
schen Grundströmungen.

Einheit in Christus

Papst Paul VI. hat einmal zu mir gesagt, der Pluralismus in der
Theologie dürfe nicht anarchisch werden. Das ist sicherlich
richtig. Wo aber fängt ein legitimer Pluralismus an, und wo
und wie grenzt er sich gegen einen anarchischen Pluralismus
ab? Diese Frage ist in der Praxis oft ungelöst und ungeklärt,
wenn man sie konkret stellt. So werden auch die Afrikaner
wünschen, allmählich eine afrikanische Theologie zu entwik-
keln. Die Frage wird sein, ob und wie diese ihre Eigentümlich-
181
keit haben und dennoch gleichzeitig eine legitime Theologie
innerhalb der einen Kirche sein kann. Vermutlich wird man
ehrlich zugeben müssen, daß sich diese verschiedenen
Theologien in mancher Hinsicht nicht adäquat verstehen
können. Denn wenn sie das könnten, läge im Grunde schon
wieder eine Synthese zwischen mehreren Theologien vor, und
ein Pluralismus wäre gar nicht mehr gegeben. Es muß also in
der Kirche bezüglich der Einheit des Rechts, der Theologie,
der Liturgie usw. eine Toleranz gelebt werden, in der jeder dem
anderen sagt: Ich verstehe dich im allerletzten nicht hundert-
prozentig, und trotzdem bist du mein Bruder in ein und dersel-
ben Kirche.
Ich glaube, daß diese Toleranz der letztlich nicht adäquat
verstehbaren Andersheit in der Kirche erst noch eingeübt
werden muß. Es dominiert immer noch folgende Einstellung:
Was ich am anderen nicht verstehe, nicht positiv mit meiner
Mentalität erfüllen kann, kann kirchlich nicht legitim sein.
Aber das stimmt eben nicht. Wenn wir uns fragen, wie denn
diese nicht synthetisierbaren Theologien dennoch in der einen
Kirche mit ihrem einen Glauben bestehen können, dann würde
ich meinen: Wir sind eins, weil wir alle getauft sind und uns
auf den einen Jesus als den Mittler unseres Heils beziehen, und
wir sind auch eins, weil wir eine rechtlich und liturgisch verfaß-
te Kommunikation untereinander aufrechterhalten. Mit diesem
Rahmen ist eine Einheit gegeben, in der eine Pluralität von
Mentalitäten zu ertragen ist und positiv gewertet werden kann.
Jeder Mensch begegnet doch dem anderen so, daß ein letzter
Rest von Fremdheit und Unverständlichkeit nicht beseitigt
werden kann. Wenn sich zwei Menschen restlos verstehen
würden, wären sie im Grunde genommen ein und derselbe
geworden, und das wäre nicht nur völlig unwirklich, sondern
auch höchst uninteressant. Zum Menschen gehört, daß er den
anderen annimmt a/s den irgendwie Unverstandenen, a/s den
Fremden, den bis zu einem gewissen Grad Befremdenden. Das
muß auch in der Kirche anerkannt und gelebt werden.

182
Grenzen der Toleranz

Es gibt aber auch den anarchistischen Pluralismus. In dem


Augenblick, in dem sich eine regionale Kirche, die Kirche eines
bestimmten Kulturkreises oder eine bestimmte Theologie
hinter ihrer Eigenart verschanzen und abschließen will und
prinzipiell erklären sollte, eine andere Kirche könne und solle
ihr nichts sagen — in dem Augenblick wäre natürlich eine die
Pluralität bestehen lassende und trotzdem einende Liebe in der
Kirche aufgehoben, der Wille zur Wahrheit in der universalen
Offenbarung Gottes verraten. Es kann sich demnach nicht
darum handeln, daß man sich gegenseitig in einem solchen
Prozeß voneinander trennt. Die Jesuiten und Dominikaner
mußten im ı16., 17. und ı8. Jahrhundert, wenn sie ihrem
eigenen Wesen gerecht werden wollten, unbefangen ihre
Eigentümlichkeit leben und bewahren. Aber zu eben dieser
Eigentümlichkeit gehört nun einmal — und das ist entscheidend
— die liebende Offenheit, das Lernen-wollen vom anderen, das
Sich-austauschen mit anderen, selbst wenn diese zunächst
fremd sind und bis zu einem gewissen Grad auch immer fremd
bleiben. Diese Faustregel ist sehr wichtig. Mit ihr kann man die
Geister unterscheiden. Es ist darauf zu achten, ob die ver-
schiedenen Kirchen in der Welt bei aller Eigenart voneinander
lernen wollen oder ob sie meinen, ihr eigenes Wesen sei radikal
bedroht und werde verfälscht, wenn es in einem unendlichen
Prozeß immer mehr von anderen sich aneignet. Das Eigene
wird letztlich nur durch den Mut zum Fremden bewahrt und
entwickelt.
Die Kirche und die Theologie dürfen nicht so weit gehen,
daß sie aus dem Gefühl einer alles verschwimmen lassenden
Liebe und Toleranz zu allem ja und amen sagen. Wenn ein
Theologe ein altes Dogma nicht nur immer wieder neu zu
durchdenken versucht, sondern einfach frontal leugnet, dann
ist die Grenze erreicht.

7 } \

Die Rolle der Europäer

Daß in der heutigen Ära einer aktuell gewordenen Weltkirche


alle Missionen entweder schon autonome Kirchen geworden
sind, die in der eigenen Kultur wurzeln und von den Ange-
hörigen dieser Völker selber getragen werden oder zumindest
auf dem besten Weg dazu sind, ist eine Selbstverständlichkeit.
Insofern ist es notwendig, daß die Missionare aus Europa und
Nordamerika den Mut haben müssen, rechtzeitig hinter die
einheimischen Priester und Bischöfe ins zweite Glied zu treten.
Ich glaube, daß auch heute noch die nicht-abendländischen
Kirchen froh sind, wenn Europäer und Nordamerikaner in
ihnen mitwirken — untergeordnet und bescheiden, aber auch
lebendig und mutig. Es gibt immer noch sehr viele Dnge, die
das europäische Christentum anderen Kulturen sagen kann. Es
gibt aber selbstverständlich auch das umgekehrte Phänomen:
Die lateinamerikanische Kirche kann uns bezüglich Basisge-
meinden ziemlich viel sagen, und die Kirche Ostasiens könnte
uns ihre von ihr selbst assimilierte und wirklich christlich
gewordene Spiritualität des Ostens vermitteln. Dieser Vorgang
darf sich nicht darauf beschränken, Importe zu tätigen und im
übrigen alles so zu belassen, wie es im Ursprungsland war. Die
heutige Situation erfordert, daß in der eins gewordenen Welt-
menschheit jedes Volk jedes andere missioniert. Wir haben
immer noch das Recht und vielleicht die Pflicht, Missionare in
fremde Länder zu schicken. Nur die Einseitigkeit, die Einbah-
nigkeit missionarischer Bemühungen in der Kirche ist heute
überholt. Not tut ein Austausch, in dem jeder gibt und jeder
empfängt.
ZUM VERHÄLTNIS VON THEOLOGIE UND
VOLKSRELIGION

Es sollen hier einige einleitende und darum sehr allgemeine


Überlegungen vorgetragen werden über das Verhältnis, das
zwischen Volksreligion und Theologie obwaltet. Bei diesen
Überlegungen muß natürlich gleich zu Anfang als Grundten-
denz eingestanden werden, daß die wissenschaftliche
Theologie, um ihrem eigenen Wesen gerecht zu werden, viel
mehr auf die Religion des Volkes reflektierten müßte, als sie
es faktisch zu tun pflegt. Das damit gegebene Thema dieser
Überlegungen ist dennoch sehr dunkel.

Theorie und Praxis

Man könnte natürlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen


Theologie und Volksreligion grundlegend mit einer Erör-
terung des Verhältnisses von Theorie und Praxis zu beantwor-
ten versuchen. Wie immer man das Verhältnis von Theorie und
Praxis genauer bestimmen mag, Theologie würde zur Theorie
zu rechnen sein und Volksreligion zur Praxis, so daß das
allgemeine Verhältnis zwischen Theorie und Praxis dann auch
für das Verhältnis zwischen Theologie und Volksreligion zu
gelten hat. Da man jedoch heute, wenn auch von den ver-
schiedensten Voraussetzungen her, allgemein der Überzeugung
ist oder zu werden beginnt, daß die Praxis nicht einfach die
Exekutive einer unabhängig von ihr gewonnenen Theorie ist,
sondern (mindestens wesentlich auch) die Theorie die Re-
flexion auf die Praxis bedeutet, so wäre von daher vielleicht
schon die Überzeugung zu legitimieren, daß die Theologie als
Theorie und Wissenschaft nicht nur einen Praxisbezug hat,
insofern sie diese normiert, sondern ursprünglich von der
Praxis herkommt, insofern diese die Erkenntnisquelle der wis-
senschaftlichen Theologie ist — oder mindestens eine Quelle
ist —, auch wenn diese wissenschaftliche Reflexion selbst noch

185
einmal ein konstitutives Moment der Praxis, also in unserem
Fall des Volksglaubens, selber ist. Aber diese allgemeinste
wissenschaftliche Grundlage für eine sachgemäße Beantwor-
tung unserer Grundfrage kann hier nicht weiter bedacht
werden.

Theologie und V olksglaube

Eine angemessene Bestimmung des Verhältnisses zwischen


Theologie und Volksglaube ist natürlich nur möglich, wenn
eine genügende Klarheit über die beiden Begriffe Theologie
und Volksglaube je für sich besteht: Hier aber sind außeror-
dentliche Schwierigkeiten gegeben. Schon die Bestimmung des
Begriffes der Theologie bereitet große Schwierigkeiten, die
sich notwendig auch auf das genauere Verständnis des Verhält-
nisses zwischen Theologie und Volksglaube auswirken. Wenn
man in der Unterscheidung zwischen Theologie und Religions-
wissenschaft die Theologie bestimmt als die wissenschaftliche
Reflexion auf den christlichen Glauben, so wie er in den christ-
lichen Kirchen gegeben ist und als vorgegebene und normative
Größe für die Theologie anerkannt wird, dann hat man viel-
leicht eine Begriffsbestimmung der Theologie gegeben, die
unter den christlichen Theologen mehr oder weniger anerkannt
werden dürfte, von denen Theologie nicht einfach in «neu-
trale» Religionswissenschaft hinein eingeebnet wird. Aber
gerade für einen Brückenschlag zwischen Theologie und
Volksglaube ist eine solche Begriffsbestimmung der Theologie
für sich allein noch nicht wirklich brauchbar. Ganz abgesehen
nämlich davon, daß die so vage bestimmte « Theologie» doch
sehr verschiedene Disziplinen (systematische und geschichtli-
che, fundamentaltheologische und dogmatische, theoretische
und praktische) enthält, die ja nicht alle dasselbe Verhältnis zur
Volksreligion haben können, bleiben in dieser Begriffsbestim-
mung viele Fragen offen, die für das Verhältnis der Theologie
zur Volksreligion von größter Bedeutung sind. Welchen
Glauben (der Kirche) setzt die Theologie nach ihrem eigenen
186
Selbstverständnis als den ihr vorgegebenen Gegenstand
voraus? Einfach den in der kanonischen Heiligen Schrift be-
zeugten Glauben? Wenn ja, wie würde sich dann das Verhältnis
der sich so bestimmenden Theologie zur Volksreligion ver-
stehen? Könnte diese Theologie diese Volksreligion als etwas
anderes verstehen als menschliche (religiöse und religions-
soziologische) Objektivationen, die unter das Gericht (der Ver-
werfung und der Vergebung) der Schrift zu stellen sind, und
als sonst nichts? Aber wenn man so dächte und dann in dieser
normativen Schrift selbst als «sola scriptura» doch auch wieder
Volksreligion entdecken würde und man so wieder nach einem
Kanon im Kanon suchen müßte, was dann?
Wenn man den grundsätzlichen Bezug der Theologie auf
den Glauben der Kirche deutlicher und wirksamer unterstrei-
chen wollte, was ist dann für eine Kirche gemeint und wie
bestimmt sich dann das Verhältnis der Theologie zur Volks-
religion? Ist die Kirche einer hierarchischen Verfassung, einer
apostolischen Sukzession, des Amtes mit Lehrvollmacht
gemeint? Wenn Kirche für unsere Frage eindeutig und allein
durch ein Lehramt mit dessen institutionell und legal faßbaren
Vollzügen gemeint wäre, könnte dann das Verhältnis der
Kirche und der Theologie in der Kirche zur Volksreligion
anders denn als schlechthin normative Überordnung der
Kirche des Lehramtes und der von ihm herkommenden
Theologie über die Volksreligion gedacht werden, die, soweit
sie legitim sein will, nichts anderes sein dürfte als die gehorsame
Exekutive der Religion, die das Amt in der Kirche verkündet
und ihre Theologie reflektiert? Wenn aber die Kirche bei aller
Anerkennung ihres institutionellen Charakters und einer
hierarchischen Struktur die Kirche des «Volkes Gottes» ist, die
pilgernde Kirche, in der jeder nicht nur empfängt, sondern
auch gibt und trägt, ist dann nicht «Volksreligion» ein kon-
stitutives Moment dieser Kirche des einen und ganzen Volkes
Gottes, auf dessen Glaube als der eigentlich vorgegebenen
Größe sich die Theologie beziehen muß? Es könnte dann
immer noch innerhalb dieser einen Kirche als des Volkes
Gottes das Amt in der Kirche, kirchenamtliche Lehre, prak-

187
tisch gelebter Glaube, Volksreligion usw. in ihrem Verhältnis
zueinander genauer zu bestimmen sein; eine grundsätzliche
Bedeutung der Volksreligion für die Theologie (und nicht nur
umgekehrt) dürfte dann jedoch eigentlich nicht mehr bestritten
werden. Dieser Überlegung muß später noch weiter nachge-
gangen werden.

Religion des Volkes

Nicht nur von dem Begriff der Theologie als kirchlicher Wis-
senschaft, sondern auch vom Begriff der Volksreligion her ist
ein Brückenschlag sehr schwierig. Was ist mit «Volk» hier
gemeint? Sicher nicht einfach das «Volk Gottes» in seiner
institutionellen Verfaßtheit und Gesamtheit. Denn sonst würde
der Satz: Die Theologie hat eine wesentliche Bezogenheit auf
die Volksreligion, identisch sein mit dem Satz: Die Theologie
hat einen wesentlichen Bezug auf den Glauben der Kirche.
Diesen Satz kann oder könnte nur der bestreiten oder be-
zweifeln, der innerhalb des Glaubens und Glaubenslebens der
ganzen und einen Kirche zwei wesentlich voneinander unter-
scheidbare Wirklichkeiten annimmt: die reine, von oben kom-
mende Offenbarung Gottes, die als solche deutlich und sicher
von allem anderen abhebbar ist, und die menschliche Antwort
darauf, die von der Offenbarung als solcher, vom reinen Wort
Gottes eindeutig unterscheidbar ist und so auch Volksreligion
genannt werden könnte, auch wenn sie vom ganzen Volk
Gottes (als Summe aller Getauften und christlich Lebenden)
praktiziert würde. Da aber eine solche adäquate und eindeutig
festgelegte Unterscheidung zwischen der Offenbarung und
dem die Offenbarung annehmenden und lebenden Glauben
faktisch nicht durchgeführt werden kann, hat ein solcher
Begriff von (christlicher) Volksreligion wenig Sinn und
Nutzen.
Von Volksreligion zu sprechen hat somit wohl dann nur
eine Bedeutung, wenn mit dem Begriff «Volk» ein profan-
soziologisches Element eingeführt wird, so daß nicht von vorn-

188
herein und notwendig jedermann zu diesem Volk gezählt
werden muß, daß es mindestens erhebliche Differenzen in der
Zugehörigkeit zu diesem so verstandenen Volk gibt, daß
dementsprechend die Religion dieses Volkes nicht einfach von
vornherein oder im gleichen Maß die Religion aller in der
Kirche ist, daß endlich dennoch und entscheidend die Religion
des so verstandenen Volkes eine theologische Bedeutung, einen
in etwa wenigstens normativen und kreativen Einfluß auf die
Theologie als solche hat. Sehen wir zu, ob diese Postulate für
eine Volksreligion wenigstens grundsätzlich erfüllbar sind.
Was zunächst die soziologischen Bestimmungen angeht, die im
Begriff «Volk» gegeben sein müssen, so besteht keine grund-
sätzliche Schwierigkeit, auch nicht, wenn solches «Volk» in
der Kirche gegeben sein soll. Ja, für unsere theologische Über-
legung ist es sogar relativ gleichgültig, welche Bestimmungen
genauer namhaft gemacht werden. Das ist eine Sache der Gesell-
schaftswissenschaftler, ob solches «Volk» durch ein niedrige-
res Bildungsniveau, durch den Begriff der Masse, durch seine
wirtschaftliche Situation, durch seine Marginalität in der Ge-
samtgesellschaft, durch die geringe Möglichkeit, sich, sein
Denken und Wollen artikuliert in kulturellen Schöpfungen zu
objektivieren, durch den praktischen Ausschluß von der gesell-
schaftlichen Macht oder sonstwie bestimmt wird. Solche Be-
stimmungen schließen sich gegenseitig nicht notwendig aus; es
ist letztlich doch eine Sache der Terminologie, die festlegt,
welche von solchen denkbaren Bestimmungen im Begriff des
Volkes maßgebend sein soll. Auf jeden Fall aber gibt es solches
so bestimmtes «Volk» auch in der Kirche, weil diese Bestim-
mungen den Menschen auch anhaften und sie charakterisieren,
insofern sie Glieder der Kirche sind und in ihr leben und auch
auf das religöse Leben dieser Menschen Auswirkungen haben.
Es ist ja z.B. selbstverständlich, daß das verschiedene profane
Bildungsniveau auch in der Kirche gegeben ist und sich auf das
religiöse Leben dieser so bildungsmäßig verschiedenen Chri-
sten auswirkt. Es ist (ein anderes Beispiel) durch die Geschichte
nur zu deutlich bestätigt, daß der Unterschied im profanen
Machtpotential der einzelnen sich auch auf deren Stellung in
189
der Kirche auswirkt, obwohl das Evangelium und der Jakobus-
brief davor warnen.
Die Frage kann also eigentlich ernsthaft nur darauf abzielen,
ob das «Volk» in der Kirche (im Unterschied zur Kirche als
Volk Gottes) mit seiner Volksreligion in einem kreativen und
normativen Bezug zur (wissenschaftlichen) Theologie stehen
könne und solle. Es ist klar, daß, wenn diese Frage bejaht
werden soll, auch angegeben werden muß, in welchem ge-
naueren Sinn diese kreative und normative Bedeutung der
Volksreligion für die Theologie der Kirche überhaupt gedacht
werden darf. Denn es ist in einer Offenbarungstreligion, die eine
Initiative des welt- und geschichtsüberlegenen Gottes der Of-
fenbarung kennt, klar, daß Volk und Volksreligion für sich
allein nicht einfach erste und letzte Instanz der Theologie sein
kann.

Offenbarung und Volk

Die eben gestellte Frage scheint positiv zu beantworten zu sein.


Zur Begründung dieses Satzes seien nun noch einige Hinweise
vorgetragen, die freilich nur fragmentarisch sein können.
Zunächst einmal existiert Offenbarung konkret nur als gehörte
und geglaubte Offenbarung. Nun aber ist (und zwar ohne daß
man darum in den Irrtum des Modernismus verfallen muß) der
ursprünglichste Adressat und Träger dieser geglaubten Offen-
barung der Mensch überhaupt, insofern er wegen des allge-
meinen Heilswillens Gottes und der Heilsnotwendigkeit des
eigentlichen Offenbarungsglaubens durch die immer und
überall angebotene Selbstmitteilung Gottes in Gnade schon
immer Adressat von göttlicher Offenbarung ist. Demgegen-
über sind die Offenbarungsträger im engeren Sinne, die «legati
divini», die Propheten zwar die authentischen, objektivieren-
den und verbalisierenden /nterpreten dieser durch die Gnade
immer und überall sich ereignenden Selbstoffenbarung Gottes,
nicht aber ihre ursprünglichsten alleinigen Empfänger, die
etwas mitteilen würden, was ohne diese Mitteilung schlechter-
190
dings nicht gegeben wäre. Die Menschheit als ganze unter dem
übernatürlichen Heilswillen Gottes ist der ursprünglichste
Adressat der göttlichen Offenbarung, sosehr diese ihre Ge-
schichte hat und haben muß, in der sie sich in der Offen-
barungsgeschichte auslegen muß und darin irreversibel wird.
Diese Menschheit als ursprünglichster Adressat von Offen-
barung ist natürlich nicht die bloß nachträgliche Summe von
individualistisch verstandenen einzelnen Menschen, sondern
die immer in gesellschaftlich verfaßten Größen, in Völkern und
Nationen mit ihrer Geschichte existierende Menschheit.
In diesen gesellschaftlich verfaßten Größen, aus denen die
Menschheit als ursprünglichster Träger der Offenbarung gebil-
det ist, findet sich immer auch das «Volk» in dem Sinne, um
den es sich hier handelt. Auch es ist ein Element in dem
ursprünglichsten Träger der Offenbarung. Insofern solches
«Volk» bei aller Differenzierung und gesellschaftlichen Ausge-
staltung seines religiösen Lebens aus den verschiedensten
Gründen doch noch einen größten Unterschied und eine größte
Distanz zu den Dimensionen des menschlichen Lebens hat, die
eine größere Reflexion und deren willkürliche Steuerung vor-
aussetzen, also zur Wissenschaft und zur Theologie insbeson-
dere, kann sogar das «Volk» als der von der Theologie als
reflexem Menschenwerk noch am wenigsten berührte Träger
und Adressat jener ursprünglichsten Offenbarung angesehen
werden, die durch die allgemeine Begnadetheit der Menschen
(wenigstens im Modus des Angebotes) schon gegeben ist.
Wenn die Theologie als menschliche, frei gesteuerte Unterneh-
mung eben all die geschichtlichen Bedingtheiten eines Men-
schenwerkes an sich trägt, so ist der Volksglaube zwar, wie die
Religionsgeschichte zeigt, unabsehbaren Gestalten und De-
pravationen ausgesetzt, er ist aber, weil nicht so willkürlich
gesteuert, doch jener ursprünglichsten Quelle echter
Religiosität und wirklichen Glaubens noch näher, die durch die
überall im Angebot gegebene Selbstmitteilung Gottes kon-
stituiert ist. Der Vorzug, der der Volksreligion gegenüber der
Theologie zuerkannt werden darf, besteht nicht eigentlich in
ihrer größeren, kritisch erzielten Reinheit von Depravationen
191
und Mißdeutungen der urspünglichen Offenbarung, sondern
darin, daß diese Volksreligion immer wieder aufs neue und
unreflex von der ursprünglichen Offenbarung inspiriert und
getragen ist und nicht durch den Raster einer systematischen
und darum verengenden Theologie hindurchgegangen ist, viel-
mehr noch unbefangen mit der letzten Dynamik der Gnade
auch das Menschliche mit all seinen Möglichkeiten annimmt
und realisiert und den Mut hat, in diesem Sinne pagan zu sein.

Kirche und Volk


\
Solches «Volk» kann und darf es auch in der Kirche geben,
wenn diese auch als Gemeinde eines in Christus geschichtlich
irreversibel zu sich selbst gekommenen Glaubens grundsätzlich
am meisten « Theologie» in sich hat und sie eine Kirche ist, zu
deren Konstitutiven das geschriebene Wort der Schrift und die
formulierte Lehre gehören, die immer auch schon Theologie
ist. Aber die Kirche wäre eben doch nicht sie selber, würde sie
nicht gebildet und getragen von Menschen, die von der
gnadenhaften Selbstmitteilung Gottes (als Offenbarung und
nicht nur als Heil) betroffen sind. Und alle Lehre in der Kirche
ist letztlich Auslegung und Objektivierung dieser innersten
Begnadigung der Menschen dieser Kirche — ob nun diese
Auslegung primär als Lehre und Verkündigung oder sekundär
als Theologie zu verstehen ist. Verkündigung und Theologie
appellieren immer notwendig an diese ursprünglichste Offen-
barung, die in der Selbstmitteilung Gottes an die Glieder der
Kirche geschieht. Dort, wo diese Gott offenbarende Selbstmit-
teilung hier und jetzt objektiviert und ins menschliche Wort der
Verkündigung und des reflektierten und gesellschaftlich beleg-
ten Glaubens gebracht werden muß, ist sie immer auch auf das
schon geschehene und von Gott garantierte Zu-sich-gekom-
men-Sein dieser ursprünglichen Offenbarung angewiesen, also
auf die Kirche, ihre Schrift, ihr Lehramt. Das ändert aber nichts
daran, daß dieser kirchlich objektivierte Glaube immer auch

192
angewiesen und rückverwiesen ist auf diese ursprünglichste
Offenbarung, die durch die «Salbung des Geistes» gegeben ist,
in der jeder von Gott selbst belehrt ist.
Dementsprechend sagt das Zweite Vatikanische Konzil im
Kirchendekret (Nr.35), daß Christus sein prophetisches Amt
nicht nur durch die Hierarchie mit ihrem Lehramt ausübe,
sondern auch durch die Laien, die durch den Glaubenssinn
ausgerüstet seien: «Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die
Salbung von dem Heiligen haben (vgl. ı Joh 2,20 u. 27), kann
im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft
macht sich durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen
Volkes dann kund, wenn sie «von den Bischöfen bis zu den
letzten gläubigen Laien» ihre allgemeine Übereinstimmung in
Sachen des Glaubens und der Sitten äußert. Durch jenen
Glaubenssinn nämlich, der vom Geist der Wahrheit geweckt
und genährt wird, hält das Gottesvolk unter der Leitung des
heiligen Lehramtes, in dessen treuer Gefolgschaft es nicht mehr
das Wort von Menschen, sondern wirklich das Wort Gottes
empfängt (vgl. ı Thess 2, 13), den einmal den Heiligen überge-
benen Glauben (vgl. Jud 3) unverlierbar fest. Durch ihn dringt
es mit rechtem Urteil immer tiefer in den Glauben ein und
wendet ihn im Leben voller an.» (Kirchenkonsitution Nr. 12)
Natürlich ist hier in dieser Konzilserklärung das ganze Volk
Gottes, das die Kirche ist, gemeint und nicht bloß das Volk in
der Kirche, das uns hier interessiert. Aber es muß das Gesagte
auch von diesem Volk gelten, weil und insofern es ein Teil des
Volkes ist, das mit der Kirche identisch ist, und weil man das
von der Kirche als Ganzer Gesagte nicht behaupten könnte,
würde man es schlechthin vom größten Teil dieser Kirche, vom
Volk in ihr, verneinen. Natürlich kann man das über den sensus
fidelium vom Konzil Gesagte vom Volk in der Kirche nur
sagen, insofern es ein Teil der Kirche ist und bleibt und in einer
lebendigen Verbindung mit den übrigen Teilen und Ämtern
der Kirche steht. Aber wenn man den zitierten Text des
Konzils genau liest, dann ist deutlich, daß dieser sensus
fidelium zwar in einer unlöslichen Verbindung mit Lehramt,
Schrift usw. stehen muß, aber nicht einfach eine schlechthin

123
von diesen anderen Größen abgeleitete Größe ist. Denn dieser
Glaubenssinn wird hergeleitet von dem Geist der Wahrheit, der
Salbung der Heiligen, die allen gegeben ist.

Volksreligion in der Kirche

Damit wären wir vermutlich an dem Punkt angelangt, an dem


die Reflexion auf die kreative und normative Bedeutung der
Volksreligion in der Kirche beginnen könnte. Die Offenbarung
Gottes, die ursprünglich durch seine Selbstmitteilung an das
Volk Gottes, das die Kirche ist, und so auch an das Volk in der
Kirche geschicht, ist nur gehört, wenn diese Selbstmitteilung
Gottes erfahren und angenommen wird, und zwar nicht als eine
Theorie, sondern ursprünglicher im existentiellen Vollzug des
menschlichen Lebens, zu dem freilich auch — aber eben nicht
nur — das Wort und eine anfängliche Reflexion und Theorie
gehören. Die gehörte und in Verkündigung und — abgeleitet
—in Theologie ausgesagte Offenbarung ist darum immer schon
die durch das konkrete Leben vermittelte Offenbarung. Diese
Vermittlung geschieht in der Kirche auch durch das konkrete
Leben des Volkes in der Kirche. Darum wäre in einer
Theologie des Volksglaubens danach zu fragen, wie gerade
auch durch das religiöse Leben des Volkes in der Kirche die
ursprüngliche Offenbarung Gottes vermittelt und gerade so
erst zu einer gehörten und geglaubten Offenbarung wird. Es
wäre zu fragen, was gerade so und nicht anders sich als Offen-
barung gibt. Es ist ja nicht vorauszusetzen, daß jedwede
menschliche Wirklichkeit (als Leben und Wort) sich für die
Vermittlung von jedwedem Moment der göttlichen Offen-
barung in gleicher Weise eignet. Wenn es überhaupt eine Ge-
schichte nicht nur der Theologie, sondern auch des Glaubens
und der in ihm gegebenen Offenbarung gibt, und wenn diese
Glaubens- und Offenbarungsgeschichte grundsätzlich mitbe-
stimmt und weitergetrieben wird durch alles und jedes, was in
der Geschichte des Menschen überhaupt gegeben ist, dann
kann und muß gefragt werden, welchen Beitrag das Volk in der
194
Kirche durch sich, sein Leben und seine Geschichte zu dieser
Geschichte des Glaubens und der Offenbarung leistete und
leistet. Dabei kann es ja durchaus geschehen, daß die wissen-
schaftliche Theologie in einer bestimmten Zeit diese Beiträge
nicht wahrnimmt, Entwicklungen in der Glaubensgeschichte
des Volkes übersieht und hinter diesen Entwicklungen zurück-
bleibt.
Es bleibt daher die echte und dringliche Frage: Was hat die
Volksreligion der gelehrten Theologie zu sagen? Sie hat etwas
zu sagen, weil diese Volksreligion nicht bloß die
popularisierende Anwendung einer kirchenamtlichen Verkün-
digung und der Theologie ist, sondern weil auch das Volk
(innerhalb der ganzen Kirche) Adressat der ursprünglichen
Offenbarung ist.

195
SÜDAMERIKANISCHE BASISGEMEINDEN IN
EINER EUROPÄISCHEN KIRCHE?

Es sollen hier einige Bemerkungen über die sogenannten Basis-


gemeinden vorgetragen werden. Diese Bemerkungen können
nur sehr allgemein und abstrakt sein. Sie können keine kon-
kreten pastoral-theologischen Rezepte für die Bildung und das
Blühen solcher Basisgemeinden geben.
Was ist eine Basisgemeinde? Was hat sie mit unserer her-
kömmlichen Pfarrgemeinde zu tun? Was können wir von Süd-
amerika lernen? Wo sind die Grenzen zwischen Sektentum und
Gebetsverein?

Was mit Basisgemeinden eigentlich gemeint ist

Erstens könnte man vielleicht sagen: Jede christliche Gemein-


de müßte eine Basisgemeinde sein. Eine solche Basisgemeinde
soll und darf von vornherein nicht als Konkurrenz oder als
Alternative zu einer echten Pfarrei aufgefaßt werden. Überall
dort, wo Christen zu einer Gemeinschaft zusammentreten, zu
einer christlichen Ortsgemeinde, müßten sie zusammenhalten,
sich wirklich in einer echten, greifbaren Weise lieben, einander
helfen in den Nöten, die jeden treffen, füreinander einstehen,
sie müßten sich gegenseitig, wie Paulus sagen würde, erbauen,
d.h. helfen, wirkliche Christen zu sein, die Gott anbeten und
lieben, die auf Jesus Christus und sein Kreuz und seine Aufer-
stehung blicken und in der Kraft dieses Jesus dann ihr eigenes
Leben annehmen, die den Nächsten lieben wie sich selbst, und
zwar nicht nur in Worten und Theorien, sondern in Tat und
Wahrheit. Wenn Christen am selben Ort in dieser Weise eine
christliche Gemeinde bilden, so ist das eine Basisgemeinde, und
selbstverständlich müßte eigentlich jede Pfarrei eine solche
Basisgemeinde sein.
Es ist mit Recht bemerkt worden, daß unsere Gemeinden in
unseren Zeiten und Gegenden nur Ansammlungen von Men-

196

schen sind, die, jeder für sich, ihre religiösen Bedürfnisse von
einem Priester besorgen lassen; das geschieht vielleicht in einer
äußeren Ansammlung von Menschen, die man dann Gottes-
dienst nennt. Aber in einer solchen Pfarrgemeinde bei uns gibt
es eigentlich kaum einen inneren Zusammenhang unter den
Menschen. Sie sind in diesem Sinne eben dann auch keine
Basisgemeinde. Es hat allerdings in unseren Ländern in den
letzten Jahrzehnten oder Jahrhunderten merkwürdige Ersatz-
bildungen für diese Basisgemeinden, die mit einer richtigen
Pfarrei identisch sein müßten, gegeben. Es gab sogenannte
Standesvereine, Gesellenvereine, Müttervereine, Vereine
junger Christen in den verschiedenen Bünden. In solchen Ver-
einigungen gab es sehr oft so etwas, das von ferne doch einer
Basisgemeinde glich. Man kannte sich wirklich, man hielt
zusammen, man suchte in gemeinsamen Überlegungen und
Bestrebungen und organisatorischen Maßnahmen ein christli-
ches Leben gemeinsam zu realisieren. Man traf sich auch auf
gesellschaftlicher Ebene; das religiöse und das profane Leben
durchdrangen sich wenigstens bis zu einem gewissen Grad.
Kurz, diese Standesvereinigungen hatten so etwas, was eigent-
lich in einer Pfarrei verwirklicht werden müßte: das wirkliche,
gemeinsame christliche Leben, in dem jeder nach dem Evange-
lium versucht, auch des anderen Last mitzutragen; wo man
gemeinsam aus einem inneren Gemeinschaftsgefühl heraus
zusammen betet, arbeitet, die Fragen des Lebens zu lösen sucht.
Die Tatsache, daß es früher solche lebendige Standesvereine,
auch unter Umständen studentische Korporationen, Schüler-
vereinigungen gab, zeigt, daß auch die Christen der letzten
Jahrhunderte nicht ganz vergessen hatten, daß eine Pfarrei
eigentlich anders aussehen müßte als eine Stelle, in der ein
kirchenamtlicher Funktionär, Priester genannt, die religiösen
Bedürfnisse der einzelnen je für sich zu erfüllen sucht.
Schon diese schlichte Tatsache zeigt, daß offenbar so etwas
wie Basisgemeinden dasein müßte. Der Christ ist Christ, in-
sofern er auch Bruder seines Nächsten in einer christlichen
Gemeinschaft ist. Sonst fehlt ihm etwas Wesentliches an seinem
Christentum. Gemeinde muß realisiert werden am bestimmten,

197
konkreten Ort, in einem gemeinsamen Leben und darf nicht
bloß die Station sein, in der das Amt in der Kirche den reli-
giösen Bedürfnissen der vereinzelten Menschen Rechnung zu
tragen sucht. Die Christen müssen untereinander Kirche bilden
— natürlich immer auch in Verbindung mit dem Amt, mit den
Trägern eigentlich priesterlicher Funktionen durch einen
amtlich autorisierten Gottesdienst und durch Sakramen-
tenempfang. Aber eben darüber hinaus dadurch, daß sie selber
eine solche Kirche bilden, Kirche am Ort. Wenn sie das aber
tun, realisieren sie das, was mit Basisgemeinde eigentlich
gemeint ist.

Kontakt und Einheit mit den Pfarrgemeinden

Wenn zweitens Basisgemeinde eine Selbstverständlichkeit ist


und jede Pfarrei von einem Verwaltungsbezirk, der vom Amt
in der Kirche betreut wird, zu einer echten Gemeinde in
Glaube, Hoffnung und Liebe, zu einem wirklich pilgernden
Volk in Gemeinschaft werden soll, dann hat das bei uns selbst-
verständlich große Schwierigkeiten. Es ist zunächst einmal zu
sagen, daß wir hier bei uns nicht einfach die Struktur, den Stil,
die Vollzugsweise der Basisgemeinden übernehmen können,
wie sie sich in Lateinamerika gebildet haben und dort die
Hoffnung der einen Kirche und des Christentums sind. Das
Stichwort «Basisgemeinde», das bei uns nun die Gemüter und
die Herzen der Christen .aufruft, ist gewiß zunächst einmal ein
Import aus Lateinamerika. Und somit liegt natürlich die Versu-
chung nahe, es so machen zu wollen, wie es da, besonders in
Brasilien, praktiziert wird. Dort gibt es offenbar zu Tausenden
lebendige Basisgemeinden, die sich von unten bilden — nicht im
Gegensatz zur bischöflichen Amtskirche, sondern aus dem
Bewußtsein heraus, daß, wo Christen wirklich im Glauben an
Jesus Christus und in der Hoffnung leben, sie sich selbstver-
ständlich zu einer wahren Gemeinschaft solchen Glaubens mit
einer Verantwortung für die profane Gesellschaft zusammen-
schließen, Basisgemeinden sein müssen. Das gilt zumal, wenn
198
in jenen lateinamerikanischen Ländern ein großer Priesterman-
gel herrscht und so selbstverständlich nicht jede Gemeinde
ihren Pfarrer haben kann, wie das vor dreißig, vierzig Jahren
bei uns noch selbstverständlich war, wo auch das kleinste Dorf
seine eigene Kirche und seinen eigenen Pfarrer hatte.
Wenn nun aber so Basisgemeinden in Lateinamerika leben-
dig und groß an Zahl geworden sind, dann kann das für uns
in Europa eine Mahnung, ein Ansporn sein, Basisgemeinden
lebendiger Art zu bilden, zumal jetzt auch bei uns Priesterman-
gel herrscht. Aber wie diese Basisgemeinden bei uns konkret
aussehen müssen, das kann man eben nicht einfach aus Latein-
amerika unmittelbar übernehmen. Und zwar vor allem aus zwei
Gründen nicht: Erstens sind die Pfarreien in ihrer Zahl und in
ihrer Organisation, wie sie eben auch heute noch da sind, nicht
einfach zu übergehen. Vieles davon fehlt von vornherein in
Lateinamerika. Darum stehen die Basisgemeinden dort viel
weniger in einer Konkurrenz mit der traditionellen Pfarrstruk-
tur, wie sie bei uns gegeben ist. Natürlich kann es auch bei uns
noch kleine Basisgemeinden geben, die nicht identisch sind mit
einer Pfarrei. Wenn ein Pfarrer religiös uninteressiert und un-
schöpferisch ist, dann haben ganz gewiß unter Umständen —
unter bestimmten Voraussetzungen — Christen durchaus das
Recht, trotz aller letzten Verbindung zur sakramentalen
Kirche, sich zusammenzutun, einander zu helfen, die Heilige
Schrift zu lesen, miteinander zu beten, auch wenn sie vielleicht
bei solchen Bestrebungen wenig Unterstützung und Verständ-
nis bei diesem oder jenem Pfarrer finden, der vielleicht nur der
routinierte Beamte in seiner Kirche ist. Aber trotzdem muß bei
uns eine Basisgemeinde möglichst so gebildet werden und
leben, daß die Pfarrgemeinde selber Basisgemeinde eines ur-
sprünglichen, von unten her verantwortlichen, lebendigen
Christentums wird.
Mit anderen Worten, Basisgemeinden — wenn sie sich bilden
— haben bei uns eine größere und unmittelbar dringlichere
Verantwortung, Kontakt und letztlich Einheit mit den entspre-
chenden Pfarreien und Pfarrern zu suchen und zu finden. Wir
können und dürfen nicht so tun, als ob wir hier in Mitteleuropa

2
wg

.
r

mit Hilfe von Basisgemeinden eine Kirche erbauen könnten


und dürften, die die manchmal etwas arg bürokratische Kirche
der Pfarreien, der Bistümer, der sonst schon gegebenen kirchli-
chen Strukturen links liegen läßt. Solche Bestrebungen
könnten zu nichts anderem führen als zu kleinen sektiererischen
Gebilden, die im Grunde genommen doch wieder rasch abster-
ben würden.

Kein Abklatsch südamerikanischer Gemeinden

Wie ich schon sagte, können unter Umständen Christen, wenn


sie keinen Priester haben oder keinen Priester finden, der
einigermaßen lebendig christlich denkt und wirkt, durchaus
eine kleine christliche Zelle, eine Basisgemeinde bilden. Aber
gerade bei uns dürften solche echten, lobenswerten Bestrebun-
gen nicht korrumpiert werden zu sektiererischen Kleingrup-
pen, die sich abseits der priesterlichen Kirche, der recht-
mäßigen Sakramentenspendung, der bischöflichen Verwaltung
und Administration halten. Das ist vielleicht in anderen
Ländern, z.B. in Lateinamerika, zumindest jetzt noch kein
Problem, aber bei uns wäre es ein Problem, und deswegen
können unsere Basisgemeinden nicht einfach der Abklatsch
südamerikanischer Gemeinden werden. Nicht nur, weil bei uns
eine berechtigte, sinnvolle, immer noch ihre Bedeutung
habende, amtlich strukturierte Kirche besteht, gegen die die
Basisgemeinden dann Konkurrenz machen sollen, sondern
auch noch aus einem zweiten, mehr profan-gesellschaftlichen
Grund: In einer südamerikanischen Gesellschaft, in der es
wenig profane, gesellschaftliche Substrukturen gibt, hat not-
wendigerweise eine echte christliche Gemeinde Aufgaben, die
sie erfüllen soll und mit Recht erfüllen kann, die bei unseren
christlichen Gemeinden so gerade nicht gegeben sind. In
unserer Gesellschaft ist es nun einmal so, daß viele gesellschaft-
liche Aufgaben, die für ein menschenwürdiges Dasein erfüllt
werden müssen, von der profanen Gesellschaft erfüllt werden,
so daß unmittelbar für diese Aufgaben kein Platz in einer

200
christlichen Gemeinde als solcher gegeben ist. Im süd-
amerikanischen Urwald wird es selbstverständlich sein, daß die
Nachbarsfrau die andere Nachbarsfrau, wenn sie krank ist und
das nächste Krankenhaus ein paar hundert Kilometer weit
entfernt ist, pflegt und für die Kinder der kranken Mutter
sorgt. Es ist in einer Gesellschaft, wo es Hungernde oder
vielleicht Verhungernde gibt, für die die profan organisierte
Gesellschaft nicht sorgt, selbstverständlich, daß hier christliche
Nächstenliebe dasein muß, die dafür sorgt, daß diese Menschen
nicht verhungern. Aber in einer Gesellschaft, wo es Arbeits-
losenunterstützung gibt, wo es Sozialrenten usw. gibt, sind
eben viele Funktionen von der profanen Gesellschaft übernom-
men, die nicht auch noch einmal von der christlichen Basisge-
meinde erfüllt zu werden brauchen.
Früher, im Mittelalter, waren ungefähr alle Schulen und alle
Krankenhäuser von kirchlicher Art. Es hat nun keinen Sinn,
wollten die Basisgemeinden heute wieder, um kirchlich echte
Gemeinden zu werden, die Funktionen in Schule und Gesund-
heitswesen zu übernehmen suchen, die heute die profane Ge-
sellschaft übernommen hat und vermutlich besser ausüben
kann, als wenn eine kleine Basisgemeinde sich darin versuchen
wollte. Es kann gewiß heute noch sinnvoll die eine oder andere,
eigentlich christliche Schule in der Trägerschaft eines Ordens
oder einer integrierten Gemeinde geben, aber das ändert nichts
an der Tatsache, daß der größte Teil der Schulen heute eben
vom profanen Staat verwaltet und getragen wird. In solchen
Dingen mittelalterliche Ideale wieder zu beleben, damit die
christlichen Gemeinden Aufgaben haben, das ist eine Utopie,
und nicht einmal eine gute und schöne.

Der Unterschied zu einer Sektengemeinde

Basisgemeinden stehen in unseren Gegenden und Ländern vor


einem ernsthaften Dilemma: Können und sollen sie — damit sie
Gemeinden von konkreter, praktischer Lebendigkeit sein
können — mehr tun, als bloße Gemeinden religiöser Vollzüge

201
im engsten Sinn zu sein? Oder müßten sie, weil sie gar keine
Betätigungsfelder anderer Art finden, nur Gemeinden sein, in
denen ausschließlich gebetet, das Evangelium verkündigt wird
und die Sakramente gespendet werden? Das ist das Dilemma,
vor dem bei uns eine Basisgemeinde steht. Dieses Dilemma
müßte unbedingt zugunsten von Basisgemeinden entschieden
werden, die mehr sind als nur Träger von Gebet, Kult, Sa-
krament und einer theoretischen Verkündigung des Evange-
liums. Ich bin der Meinung, daß eine Basisgemeinde nur Basis-
gemeinde sein kann, wenn sie über das abstrakt und rein
Religiöse hinaus eine Gemeinschaft von Menschen bildet, die
sich wirklich zueinander gehörend fühlen, die irgendwie in
einem wahren Sinn eine Familie, eine Gemeinde, ein Liebes-
bund, eine Einheit von wahrhaft christlich Glaubenden sind.
Diese Gemeinde soll eine Einheit sein, in der christliches
Leben, christliche Liebe nicht nur theoretisch verkündet,
sondern konkret praktiziert wird. Sonst gibt es keine Basisge-
meinden, und sie würden wieder zurückfallen in den Stil der
Pfarreien, wie wir ihn gerade durch Basisgemeinden zu über-
winden suchen. Damit ist das eigentliche Problem der Basisge-
meinden bei uns gegeben.
Gibt es Aufgaben und Vollzüge, die über den engsten Kreis
des abstrakt und theoretisch Religiösen hinausgehen und trotz-
dem nicht von den profanen Gesellschaften, ihren Organen und
Strukturen okkupiert sind? Ich meine, man müßte und könnte
diese Frage mit Ja beantworten. Natürlich braucht und darf
eine solche Basisgemeinde nicht für alle Bedürfnisse, Wünsche,
Bestrebungen, Lebensvollzüge eines Menschen von heute
autark werden wollen. Musik braucht nicht notwendigerweise
nur in dieser Basisgemeinde gemacht zu werden, es kann auch
ruhig einen Konzertbesuch geben, der nicht von einer Basisge-
meinde organisiert ist. Es gibt tausend Dinge einer heutigen
Erwachsenenbildung, die nicht gettohaft von einer Basisge-
meinde geboten werden müssen. Eine Basisgemeinde muß sich
von einer Sektengemeinde in diesen Dingen deutlich unter-
scheiden.
Eine Sekte ist ein religiöses Gebilde, das sich nicht nur von

202
religiösen Großorganisationen aus irgendwelchen Gründen
absetzt, sondern gleichsam autark alles für seine Glieder bieten
will. Da ist man immer und in allen Vollzügen des menschli-
chen Daseins unter sich, da fürchtet man den Windzug des
profanen Lebens, da sucht man im Grunde genommen ein
Ideal, das bis in unsere letzten Jahrzehnte doch sehr stark das
Leben der Kirche und der Frommen geprägt hat. Meine Groß-
mutter ist nicht, wenn sie ihre Romane haben wollte, zu einer
städtischen Bibliothek gegangen und auch nicht in einen
profanen Buchladen, sondern zur Bibliothek des Borromäus-
vereins. Die Bücher, die sie zu Weihnachten verschenkte,
waren auch verzeichnet und angeboten in einem Gabenver-
zeichnis des Borromäusvereins. Ich habe nichts gegen Pfarrbi-
bliotheken; warum soll es sie nicht geben, wenn sie vernünftig
geführt werden und vielleicht auch echten religiösen Bedürfnis-
sen entgegenkommen, die eine heutige profane Bibliothek
nicht erfüllt? Aber das Ideal einer für alle Lebensbereiche und
Lebensvollzüge autarken sektiererischen Gemeinde soll eine
Basisgemeinde von heute und morgen nicht zu verwirklichen
suchen. Das wäre etwas Verkehrtes.

Mehr als ein Gebetsverein

Welche nicht im engsten Sinn religiösen und doch echt


menschlichen und von den sonstigen profanen Vereinigungen
und Vergesellschaftungen nicht erfüllten Bedürfnisse eines
Menschen sind es dann, die als Aufgabe für eine echte Basisge-
meinde in Frage kämen? Natürlich soll eine echte Basisgemein-
de eine Gemeinde des gemeinsamen Gebetes, des gemeinsamen
Lesens und Lernens aus der Heiligen Schrift und eine Gemein-
de der Nächstenliebe sein. Jedoch — sowenig wir die süd-
amerikanischen Basisgemeinden einfach nachahmen können —
sollte eine solche Basisgemeinde bei uns auch mehr sein als bloß
die Anzahl von Christen, die neben ihrem profanen Leben auch
noch ein religiöses Bedürfnis haben und religiöse Vollzüge
suchen. Hier wäre noch viel schöpferische Phantasie zu entwik-
203
keln, um solche Möglichkeiten einer Basisgemeinde heute bei
uns zu entdecken und zu verwirklichen. Man schreit ja überall,
daß die Menschen trotz aller sozialen Absicherungen und Netze
sich vereinsamt fühlen, keinen wahren, lebendigen Kontakt des
Vertrauens, des sich Aufeinander-verlassen-Könnens und der
Liebe finden. Es muß also durchaus heute genügend Aufgaben
für eine Basisgemeinde geben, die nicht bloß ein Gebetsverein
im engsten Sinn sein will.
Es ist gar nicht notwendig, daß ein Christ nur in einer
solchen Basisgemeinde das finden können muß, was die Basis-
gemeinde in schöpferischer Weise realisiert und dem einzelnen
bieten kann. Man kann sich unter Umständen durchaus einen
etwas individualistischer gestimmten Christenmenschen
denken, der sonntags in die Kirche geht, die Sakramente emp-
fängt, für sich privat die Heilige Schrift liest, sonst unter
Umständen theoretisch religiös interessiert ist und auch so dann
mit seinem Leben fertig wird, ohne daß er darum notwendiger-
weise zu einer Basisgemeinde in einem engeren Sinne gehören
müßte. Aber es gibt sicherlich viele Menschen, die eine religi-
öse Verlassenheit, Einsamkeit und Kälte empfinden, die leben-
diger spüren, daß sie mit ihren christlichen Brüdern und
Schwestern zusammen Gott loben und anbeten wollen, die ihr
Herz gewissermaßen auch gegenseitig öffnen für religiöse
Fragen und Probleme. Es gibt sicherlich Menschen, die eben
auch wahre, selbstlose Nächstenliebe in ihrem Leben mit Recht
meinen nicht realisieren zu können, wenn sie nicht in einer in
engerem Sinne christlichen Gemeinde, also Basisgemeinde, auf
den Nächsten zugehen und seine Lasten mittragen.
Es gibt gewiß viele Menschen, die mit Recht der Meinung
sind, daß sie ihre menschlichen und christlichen Pflichten
selbstloser Liebe noch längst nicht durch die Erfüllung jener
Verpflichtungen abgegolten haben, die ihnen heute eine
profane Gesellschaft abverlangt durch Steuern, durch geldliche
Opfer, die vom Roten Kreuz oder von anderen solchen löbli-
chen Unternehmungen ihnen abgebettelt werden. Warum sollte
es nicht - ohne daß nun jeder Christ wieder in einer legalisti-
schen Weise zu all diesen Dingen von oben her verpflichtet
204
Pe, mit dem Leben nee Solche
„*
k
r gewiß heute ihre Aufgaben, man muß sie nur mit den > g

suchen.
CHRISTLICHER PESSIMISMUS?

Was Paulus in 2 Kor 4,8 sagt, soll Leitwort sein für die
folgenden Überlegungen. Zur Schilderung seiner Situation als
Apostel, von deren menschlich-irdischer Seite her, verwendet
Paulus in dialektischer Gegenüberstellung die Worte
änopoduevor AAN obn Edanopoduevoı.
Man kann diese Worte auf die verschiedenste Weise überset-
zen: «Ohne Ausweg, doch nicht am Ende» — «Zweifelnd, aber
nicht verzweifelt» — «Wir wissen nicht, wo aus noch ein, aber
den Weg verlieren wir dennoch nicht» — «Immer wissen wir
nicht weiter, aber wir verzweifeln nicht» — «Ratlos und doch
nicht verzweifelt» — «In Verlegenheit, doch nicht in Verzweif-
lung» — «In Not, aber nicht in Verzweiflung» — «Weglos,
doch nicht ausweglos». Das sind so einige Übersetzungen in
heutigen deutschen Ausgaben des Neuen Testaments. Sie
zeigen, wie schwer die Worte des Apostels übersetzt werden
können. Jedenfalls aber charakterisiert Paulus mit diesen
Worten seine Situation als Apostel; er empfindet diese so
bezeichnete Situation als dauernde Eigentümlichkeit seines
Lebens und nicht nur als vorübergehenden Zustand. Wir
können, ohne dies hier näher begründen zu wollen, sagen, daß
damit auch eine Wesenseigentümlichkeit des christlichen
Lebens immer und überall ausgesagt ist. Der 2. Teil dieser
dialektischen Einheit, die im menschlichen Leben durch das
exaporoumenoi gegeben ist, ist besonders dunkel, weil im selben
Brief 1,8 der Apostel von sich auszusagen scheint, was er 4, 8
von sich verneint. Jedenfalls wird damit deutlich, daß die im
ersten Teil von 4,8 ausgesagte Ausweglosigkeit radikal ernst-
zunehmen ist. Der Christ ist nach Paulus, so könnte man sagen,
der radikale Aporetiker, so daß es eben die Frage ist, wie diese
existentielle Aporetik durch alle Dimensionen des Menschen
hindurch gesehen und anerkannt werden könne, ohne sie abzu-
schaffen, und wie sie dennoch noch einmal umfaßt und erlöst
ist durch eben das, was das Christliche ausmacht. Diese Frage
sei der Gegenstand unserer Überlegungen.
206
Die Grundsituation des Menschen

Wir sind die radikalen Aporetiker in unserer Existenz. Wir


haben weder das Recht noch die Möglichkeit, diese unsere
Situation uns zu verschleiern oder zu meinen, wir könnten sie
in der Dimension unserer Erfahrung abschaffen. Ich darf mir
hier sparen, ausführlich oder gar jammernd auf die alltäglichen
Erfahrungen hinzuweisen, die wir alle machen und uns ratlos
werden lassen. Wir müssen die Natur und ihre Kräfte nach dem
Gebot Gottes am Anfang der Schrift uns untertan machen, und
wenn wir es machen, fangen wir an, sie zu mißbrauchen. Wir
erfinden alle denkbaren gesellschaftlichen Systeme, und jedes
dieser Systeme wird unweigerlich Anlaß und Mittel zu Unge-
rechtigkeit und böser Gewalt. Wir erklären, den Frieden unter
allen Völkern zu suchen, und rüsten zum Krieg, um Frieden
zu haben. Die ganze Geschichte der Menschheit ist ein ewiges
Hin und Her zwischen Individualismus und Kollektivismus,
und nie ist es gelungen, einen dauernden und allen einleuchten-
den Kompromiß zwischen diesen Grundforderungen des Men-
schen zu finden. Worauf es hier ankommt, ist aber die Einsicht,
daß diese Aporetik in der menschlichen Existenz für eine christ-
liche Anthropologie nicht nur ein vorübergehender Zustand
ist, der mit Geduld und schöpferischer Phantasie aus dem
menschlichen Dasein mit der Zeit entfernt werden könnte,
sondern ein bleibendes Existential des Menschen in der Ge-
schichte ist und bleibt, das zwar immer neue geschichtliche
Gestalten seiner selbst hervorbringt, aber in der Geschichte nie
restlos überwunden wird. Das ist ein Wesenszug eines christli-
chen Pessimismus; hier ist es gleichgültig, ob man diesen
Pessimismus durch den Hinweis auf die Kreatürlichkeit des
Menschen und seine Endlichkeit begründet oder Berufung auf
die Erbsünde einlegt oder anderswie die unausrottbare Sündig-
keit zum Argument dieses Pessimismus macht. Man kann zwar
wohl nicht sagen, daß Endlichkeit und Geschichtlichkeit des
Menschen für uns schon verständlich machen, daß die Ge-
schichte nicht reibungslos verlaufen und nie in Sackgassen
geraten könne. Es genügt vielleicht auch zur Rechtfertigung

207
#

dieses christlichen Pessimismus noch nicht allein der Hinweis


auf die Unmöglichkeit einer vollen Synthetisierung aller
menschlichen und von pluralen Erkenntnisquellen sich her-
leitenden Erkenntnissen, so daß die Disparatheit der Erkennt-
nisse auch eine allseitig harmonische Praxis verhindert. Man
kann auch deutlich machen, daß uns eine letzte Einsicht in die
Sinnhaftigkeit des Leides und des Todes verwehrt ist. Aber
trotz allem sagt die christliche Deutung der menschlichen Exi-
stenz, daß die nur zu deutlich und bitter erfahrenen Aporien
der menschlichen Existenz und Geschichte innerhalb dieser
Geschichte selbst grundsätzlich nie ganz und endgültig über-
wunden werden können. Denn eine solche Hoffnung scheitert
an der christlichen Überzeugung, daß das endgültige Reich
Gottes nur im Durchgang durch den Tod erreicht wird, der
selber die letzte und umfassende Aporie der menschlichen
Existenz ist. Die christliche Hoffnung hat gewiß Recht und
Pflicht, in diesen irdisch-empirischen Daseinsraum ein Abbild
und eine Verheißung des Endgültigen hineinzuaktualisieren.
Aber diese Aufgabe ist letztlich eben doch nur die Weise, in der
wir den G/auben an die Vollendung realisieren, die erst Gott gibt
und die er selber ist. .

Aufgabe der christlichen Verkündigung

Der Mensch fürchtet sich vor diesem Pessimismus. Er will ihn


nicht gelten lassen. Er verdrängt ihn. Es ist darum die erste
Aufgabe der christlichen Verkündigung, für diesen Pessimis-
mus einzutreten. Früher hat man gesagt, die christliche Bot-
schaft müsse den Menschen seiner Sündigkeit überführen, die
er nicht eingestehen wolle. Das ist gewiss immer noch eine
Aufgabe des Christentums und der Kirche, und wir können sie
heute mit Recht erweitern, weil wir heute doch immer noch
weitgehend in einer Periode eines euphorischen Fortschritts-
glaubens leben, die janoch längst nicht darum zu Ende ist, weil
man die Situation des Menschen durch die neuesten Erfahrun-
gen pessimistischer beurteilt. Denn diese Beurteilung geht ja im
208
Grunde stillschweigend davon aus, daß es uns viel besser gehen
und das Mißliche unserer Situation im Grunde doch sehr leicht
überwunden werden könnte. Diese Predigt eines christlichen
Pessimismus ist wirklich christlich legitim, weil die christliche
Botschaft davon überzeugt ist, daß ein Großteil des menschli-
chen Leides in der Sünde ihre Ursache hat und so das Einge-
ständnis der Sünde und des Leides letztlich eine Einheit bilden.
Es ist nun gar nicht selbstverständlich, daß die Kirche ge-
nügend gegen die Verdrängung eines christlichen Pessimismus
kämpft. Wie ängstlich war man in der Nazi-Zeit, wenn man den
Vorwurf hörte, das Christentum proklamiere ein «Tal der
Tränen». Obwohl ich selber dabei war, als «Gaudium et spes»
auf dem Konzil erarbeitet wurde, möchte ich nicht bestreiten,
daß auch darin ein zu euphorischer Unterton in der Beurteilung
des Menschen und seiner Situation gegeben ist, wenn auch alles
wahr sein mag, was darin gesagt wird. Diese Konstitution
macht im ganzen doch auch den Eindruck einer Überzeugung,
man müsse nur die Normen dieser Konstitution beachten und
durchführen, und es werde dann mehr oder weniger alles gut
werden. Es ist da zu wenig davon die Rede, daß alles menschli-
che Bemühen bei allem Scharfsinn und bei allem guten Willen
sich doch immer wieder unvermeidlich in Sackgassen verrennt,
daß man sich in sittlichen Fragen, wenn man sich der Wirklich-
keit wirklich ganz stellt, in Dunkelheiten verliert, die von
keinem moralischen Rezept wirklich voll erhellt werden, kurz,
daß, wie die Schrift sagt, die Welt im argen liegt und so trotz
aller Pflicht auf Tod und Leben, dagegen zu kämpfen, so
bleiben wird. Ein gewisser Triumphalismus, dem man auf dem
Konzil absagen wollte, ist geblieben. Die Vorstellung, daß die
konkrete Kirche mit ihrer Botschaft das konkrete Heil und
Glück der Welt in Reinheit sei, wenn sie nur von der un-
gläubigen Welt angenommen werde, ist unterschwellig und oft
auch in kirchlichen Erklärungen des Amtes immer noch vor-
handen und wirksam. Daß die Kirche selber eine Kirche der
Sünder ist, daß sich auch bei ihren wahren und heilsamen
Lehren immer wieder Aporien einstellen, daß auch die Kirche
in letzter Konkretheit nicht weiß, nicht genau, eindeutig und

209
überzeugend weiß, wie man es eigentlich machen müsse, das
ist nicht gerade eine Überzeugung der konkreten Kirche, die
sehr im Vordergrund stünde.

Aufgaben einer Akademie

Auch der Mensch des Christentums ist ein Mensch einer unauf-
hebbaren Aporetik in allen Dimensionen seiner Existenz. Die
Kirche kann und will ihm eigentlich nicht aus dieser Aporetik
heraushelfen. Sie muß ihm sogar helfen, diese seine wahre
Situation allseitiger Aporie einzugestehen, und muß sich selber
hüten, einer letztlich irrealen und unchristlichen Verdrängung
dieses Pessimismus Vorschub zu leisten. Ist damit aber nicht
auch eine erste, wenn auch nicht einzige und letzte Aufgabe
einer katholischen Akademie gegeben? Eine solche Akademie
braucht kein Ort billiger Kassandrarufe zu sein. Schon des-
wegen im allerletzten nicht, weil dieser Pessimismus keine
Legitimation einer faulen und billigen Resignation ist, sondern
die Situation deutet und annimmt, in der realistisch gehandelt,
gekämpft und partielle Siege errungen und partielle Nieder-
lagen nüchtern und tapfer hingenommen werden können. Aber
es ist wirklich eine Aufgabe einer solchen Akademie, für einen
realistischen Pessimismus, für eine Einsicht in die aporetische
Situation des Menschen einzutreten. Müßte sie nicht allen Par-
teien in einer Gesellschaft sagen, daß keine von ihnen ein
eindeutiges Rezept für eine Seligkeit in der Gesellschaft hat,
daß alle Parteien lügen, wenn sie so tun, als ob so etwas möglich
sei, daß es feige und unchristlich ist, wenn Staatsmänner nicht
bereit sind, ihren Irrtum, den sie doch auch begangen haben
können, ehrlich einzugestehen? Müßte eine Akademie nicht ein
Ort sein, wo ehrlich und nüchtern auf die Aporien in der
kirchlichen Botschaft reflektiert wird, wo das Gewissen der
Kirche der Sünder sich artikulieren kann und nicht nur in
kirchlicher Euphorie die Herrlichkeit der Kirche gerühmt
wird? Wenn nun einmal die kirchliche Theologie gar nicht
mehr jene neuscholastische Homogenität aufweisen kann, wie

210
sie in der Pianischen Epoche gelebt wurde, muß dann nicht
wenigstens in einer Akademie so etwas deutlich werden
können? Muß nicht in einer Akademie die Tendenz abgewehrt
werden, die mir heute gegeben zu sein scheint, Einheit in der
Theologie dort vortäuschen zu wollen, wo sie ehrlicherweise
nicht bestehen kann, bloß um eine militante und schlagfertige
Kirche der bösen Welt gegenüber haben zu können? Muß eine
Akademie nicht heute eine Stätte sein, in der für Menschenrech-
te auch in der Kirche selbst eingetreten wird, weil es gar nicht
selbstverständlich ist, daß solche in der Kirche immer und
überall respektiert werden? Nicht alle Unruhe ist vom Bösen,
nicht jeder Zweifel ist zersetzend, nicht jeder Streit ist schlech-
ter als ein Frieden einer Kirchhofsruhe, nicht jedes Aufbegeh-
ren von unten nach oben ist schlecht. Schlecht wäre es, wenn
Amtsträger in der Kirche nie den Mut hätten, einzugestehen,
daß sie trotz bestem Willen und Gewissenhaftigkeit sich geirrt
haben. Mir scheint es z.B. bedauerlich zu sein, daß praktisch
(vielleicht mit einer Ausnahme) die lehramtlichen Fehlgriffe
unter PiusX. und auch später nie offiziell zurückgenommen
worden sind. Eine katholische Akademie sollte durchaus eine
Stätte einer eingestandenen und durchgehaltenen pessimisti-
schen Aporetik in allen Dimensionen des Menschen und der
Kirche sein.
Daß dadurch kein Freibrief gegeben ist für ein ewiges
Meckern über Kirche und Gesellschaft, für die Bestreitung des
Amtes in der Kirche und der Gewalten in der Gesellschaft und
deren legitime Entscheidungen, ist selbstverständlich. Denn
der wahre Aporetiker und Pessimist kann gerade tolerant und
geduldig sein gegenüber einer jetzt bestehenden Situation, weil
er weiß, daß auch eine vielleicht wünschenswerte andere Situa-
tion, für die er ruhig kämpfen kann, auch kein Paradies und
reine Seligkeit wäre. Man braucht nicht einen Papst zu
glorifizieren, um in Frieden und Gehorsam mit ihm zu leben.
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Die Lösung des Apostels Paulus

Wir sind aber mit dem bisher Gesagten noch gar nicht bei der
Frage angekommen, die uns das dialektische Doppelwort des
Apostels stellt. Denn Paulus sagt uns nicht nur, daß wir auch
als Christen in dieser Welt aus unseren Aporien nie herauskom-
men, sie sehen und aushalten müssen, sondern daß wir dabei
trotzdem diejenigen sind, die 0u& exaporoumenoi sind. Man kann
zwar sagen, daß wir Christen eben die auf Gott Hoffenden, die
in aller Not und Angst durch den Geist Gottes Befreiten und
Getrösteten sind, daß das Christentum die Botschaft der
Freude, des Mutes und der tapferen Zuversicht ist. Das alles
ist wahr und bedeutet für uns Christen gewiß die heilige
Aufgabe — für deren Erfüllung wir vor Gottes Gericht Rechen-
schaft geben müssen -, froh, tapfer, zuversichtlich —, auch für
diese unsere Geschichte selbst zu kämpfen und auch durch
unsere brüderliche Gemeinschaft, unsere Selbstlosigkeit,
unsere Bereitschaft zu teilen, unsere Friedfertigkeit usw. eine
Vorahnung des ewigen Reiches Gottes schon in unserer Ge-
schichte zu bewerkstelligen. Aber damit scheint mir das eigent-
liche Problem der Koexistenz der beiden Existentialien des
Menschen, die Paulus zusammenbindet, noch nicht gesehen
und bewältigt zu sein. Wie kann man ein pessimistischer
Aporetiker sein, die Weglosigkeit unserer Existenz sehen und
annehmen, wie kann diese Haltung bleiben und als jetzt un-
überholbar anerkannt werden, und man doch darüber hinaus
sein, wie Paulus erklärt. Heben nicht das eine und das andere
sich wechselseitig auf? Ist der Christ nicht der, der nur, so das
überhaupt ihm möglich wäre, vor der unbesiegbaren Finsternis
des Daseins kapituliert und diese Kapitulation ehrlich einge-
steht? Oder hebt er, wenn er mehr sein will, im Grunde genom-
men siegreich seine aporetische Situation auf, um schon jetzt
der im Grunde bereits triumphierende Sieger über alle Ausweg-
losigkeiten seines Lebens zu sein? Bleibt dem Christen wirklich
die Möglichkeit, weder einfach zu verzweifeln noch in einem
falschen Pseudooptimismus die bittere Ausweglosigkeit seines
Daseins zu verschleiern? Ich meine, diese Frage ist theoretisch

212
nicht leicht zu beantworten, und dennoch hat sie und ihre
Antwort eine an sich grundlegende Bedeutung für das christli-
che Leben, auch wenn diese Frage und ihre Beantwortung
meist nur in der mehr oder weniger unreflektierten Praxis des
Lebens geschieht, und auch wenn die Frage über diese christli-
che Aporetik selbst noch einmal unter deren Gesetz fällt und.
darum für unsere Reflexion gar nicht schlechthin durch-
schaubar beantwortet werden kann.
Die Koexistenz dieser beiden Existentialien, die sich gegen-
seitig nicht aufheben dürfen, liegt offenbar begründet in der
fundamentalen Differenz zwischen einem Wissen, das alle Men-
schen immer und überall aus eigener Macht erreichen können,
und dem Wissen, das nur der Glaubende von Gott allein und
seiner Gnade her empfängt. Weil diese beiden Erkenntnis-
weisen und das je in ihnen Gewußte fundamental nicht ver-
gleichbar sind, ist eine Koexistenz dieser beiden Existentialien
möglich, kann ein Christ sich in der Weglosigkeit seiner Exi-
stenz erfahren und illusionslos annehmen und doch gerade
darin der Befreite, Getröstete und (in gewissem Sinn schon)
Angekommene sein.
Der Christ läßt sich von Gott selbst durch seine Gnade
getrost in den Abgrund der Unbegreiflichkeit Gottes hineinfal-
len und erfährt, daß diese letzte und bleibende Aporetik der
Unbegreiflichkeit Gottes selber seine wahre Vollendung,
Freiheit und vergebende Seligkeit ist. Er erlebt den immer
neuen und in seinem Leben immer radikaler werdenden Sturz
in den Abgrund Gottes als seine radikalste Aporetik; er ist
immer noch daran, diese Finsternis zu erfahren, in einem gewis-
sen Sinn bis in die grausame Absurdität des Todes hinein
immer mehr und immer bitterer, und sieht dabei diese Erfah-
rung bestätigt durch das Schicksal Jesu, und gleichzeitig erfährt
er in einer geheimnisvollen Paradoxie, daß eben diese Erfah-
rung selber, wenn durch Gott selbst zugeschickt, die Erfahrung
der Ankunft Gottes selbst bei ihm ist. Die Aporetik und ihre
Aufgehobenheit durch Gott in seiner Gnade sind nicht eigent-
lich zwei hintereinander kommende Phasen menschlicher FExi-
stenz, wobei die Phase der Aufhebung die Aporetik der Exi-
213
stenz schlechthin aufheben würde, sondern die Aufhebung, das
ouk exaporoumenoi, ist als angenommene und begnadete die
wirkliche Wahrheit der Apotetik selber. Denn wenn es wahr
ist, daß wir einmal Gott schauen, wie er selber ist, unmittelbar
von Angesicht zu Angesicht, und wenn er gerade da gesehen
wird als das namenlose, unumgreifbare Geheimnis, das nur in
Liebe, also in einem letzten Befreitsein von sich selbst, ange-
nommen und ausgehalten werden kann, dann ist gerade die
Vollendung selber, christlich gesehen, der Höhepunkt der
Aporetik der menschlichen Existenz, demgegenüber alle unsere
Aporien, unser Nichtwissen, unsere Enttäuschungen usf. nur
kleine Vorboten und Angelte jener Aporetik sind, die in dem
weglosen Verlieren seiner selbst in Liebe in dem weiselosen
Gott besteht. In der Seligkeit der Annahme des unendlichen
Geheimnisses, also der absoluten Aporie, vergehen alle unsere
partikulären Aporien, Ausweglosigkeiten und Enttäuschun-
gen, und umgekehrt: Wenn wir dieses Ziel unserer Existenz
erwarten und annehmen, sind diese gegenwärtigen Aporien
nicht aufgehoben und abgeschafft, aber umfaßt, und wir sind
befreit, weil sie nicht mehr unsere Herren sind, sondern der
Anlaß und die Vermittlung zu dieser Annahme des unbegreifli-
chen Geheimnisses, das uns sich selber gibt und macht, daß wir
es liebend annehmen.
Innerhalb dieser letzten Erlöstheit und Befreitheit von allen
knechtenden Mächten und Gewalten bleibt die Welt noch so,
wie sie ist: die Aufgabe, die Herausforderung, der Ort des
Kampfes mit seinen Siegen und Niederlagen in einer Folge und
Mischung, über die wir nie eigentlich verfügen können,
sondern sie uns in ihrer eigenen Aporetik zuschicken lassen.
Innerhalb dieser letzten Freiheit und sogar Heiterkeit dessen,
für den Nacht und Tag, Sieg und Untergang nochmals von
einer überwesentlichen Wirklichkeit Gottes, der für uns ist,
umfangen sind, scheint alles beim alten zu bleiben. Wir bleiben
die aporoumenoi. Und selbst, daß wir mehr als solche, also erlöste
und befreite aporoumenoi sind, entzieht sich uns geheimnisvoll
(oft oder immer, ich weiß es nicht) noch einmal. Aber auch
dann und so bleibt es dabei, daß unsere Aporie erlöst ist.

214
LEHRE UND LEHRAMT
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OFFIZIELLE GLAUBENSLEHRE DER KIRCHE


UND FAKTISCHE GLÄUBIGKEIT DES VOLKES

Niemand wird leugnen können, daß bezüglich des materialen


Glaubensinhaltes eine erhebliche Differenz besteht zwischen
dem, was kirchenamtlich ausdrücklich als Inhalt dieses
Glaubens gelehrt wird, und dem, was davon im Glaubensbe-
wußtsein des Durchschnitts der Kirchenchristen gewußt und
festhalten wird. Der explizite Glaube des Großteils der Christen
hält — was die fides explicita angeht — viel weniger ausdrücklich
fest, als was in solcher Explizität in der Lehre des kirchlichen
Lehramtes gegeben ist; dieser faktische Glaube ist in einem
nicht unerheblichen Maße von Mißverständnissen durchsetzt;
es wird nicht weniges zu diesem Glauben gerechnet, was in
Wirklichkeit nicht dazu gehört.

Vorbemerkung zur Sachlage

Bei dieser nicht bezweifelbaren Sachlage kann man sich auch


nicht so leicht mit der Auskunft behelfen, dieser faktische
Glaube schließe trotz seiner Dürftigkeit die absolute Glaubens-
zustimmung dazu ein, daß man wenigstens implizit alles
glaube, was die Kirche zu glauben vorstelle. Denn im fakti-
schen Glaubensbewußtsein wird nicht nur bei vielen Christen
diese oder jene Glaubenswahrheit nicht mit einem absoluten
Glaubensassens bejaht, sondern nicht selten gerade auch die
absolute Autorität des kirchlichen Lehramtes (auch bei endgül-
tigen Entscheidungen) nicht wirklich mit einem absoluten
Glaubensassens bejaht, so daß auch der Rekurs auf die fzdes
implicita der durchschnittlichen Gläubigen nicht so einfach
möglich ist, wie man diesen Rekurs sich gewöhnlich zu denken
pflegt.
Man kann zwar annehmen, daß die große Mehrzahl der
Durchschnittschristen hinsichtlich dieses oder jenen fundamen-
talen Glaubensinhaltes einen absoluten Glaubensassens voll-
217
zieht, andere Bewußtseinsinhalte richtiger oder falscher Art nur
so festgehalten werden, daß sie diesen auch vorhandenen ab-
soluten Glaubensassens nicht aufheben und so ein solches Be-
wußtsein doch letztlich ein wahrhaft heilshaft glaubendes ist.
Aber all das ändert eben doch nichts an der angedeuteten
Beschreibung des Glaubensbewußtseins der Durchschnittschri-
sten, weil der Gegenstand des absoluten Glaubensassenses, der
trotz allem gegeben sein mag, gerade nicht die Lehrautorität
der Kirche ist.
Diese Tatsache einer Differenz zwischen dem kirchenamtli-
chen Glaubensinhalt und dem faktischen Glaubensbewußtsein
des Durchschnitts der Gläubigen hat es immer schon gegeben.
Man könnte ruhig sagen, daß schon der Pluralismus der
Theologien im Neuen Testament dafür ein Beleg ist. Man hat
z.B. bei Origenes zwischen verschiedenen Stufen des Glaubens-
verständnisses unterschieden und sich einen theologischen Vers
auf diese Tatsache zu machen gesucht. Von nicht wenigen
christlich Sterbenden erzählt man, wie sie in der Sterbestunde
ihre Zustimmung zum Glauben der Kirche bekannten, also
voraussetzten, daß eine materiale Identität zwischen dem kir-
chenamtlichen Glauben und ihrem eigenen persönlichen
Glaubensbewußtsein nicht einfach selbstverständlich ist und
eventuell eben dann durch diese Beteuerung hergestellt wird.
Man hat sich in der Moraltheologie gefragt, welche Glaubens-
wahrheiten ausdrücklich von allen Christen gewußt und
bekannt werden müßten, also eine erhebliche Differenz zwi-
schen dem kirchenamtlichen Glauben und dem faktischen
Glauben der «rudes» als selbstverständlich vorausgesetzt. Man
hat, nebenbei bemerkt, diese Differenz doch auch wieder durch
die Lehre einzuengen versucht, daß ein positiver Atheismus auf
längere Zeit ohne auch subjektiv schwere Schuld nicht möglich
sei, eine Lehre, die, wie es scheint, durch das //. Vatikanum
stillschweigend aufgegeben worden ist.
Ist auch die Tatsache, um die es sich hier handelt, irgendwie
immer schon gesehen worden, auch wenn die theologische
Reflexion darauf nicht gerade schr intensiv und tiefgreifend
gewesen ist, so ist diese Tatsache doch heute nicht unwesentlich
218
anders als früher geworden. Gerade beim durchschnittlichen
Menschen und Christen von früher, bei denen, die kaum lesen
oder schreiben konnten, bei den « Ungebildeten», war früher
das Glaubensbewußtsein vielleicht fragmentarisch und mangel-
haft, aber es stand nicht im Gegensatz und Widerspruch zu
anderen Meinungen, zu anderen «Weltanschauungen», denn
solche waren im Bewußtsein solcher Menschen gar nicht vor-
handen: «Primitives» Glaubensbewußtsein war im großen und
ganzen nur mit sonstiger Unwissenheit gepaart. Darum konnte
auch in einer feudalen Gesellschaft, in der die Obrigkeit den
Glauben der Untertanen bestimmte, eine gemeinsame
Glaubensüberzeugung aller als selbstverständlich vorausge-
setzt werden und unbefangen von christlichen oder katholi-
schen Völkern gesprochen werden. Heute ist das anders.
Der fragmentarische und unvollkommene Glaube ist heute
in den meisten Köpfen koexistent mit abertausend
Bewußtseinsinhalten, von denen viele — wenigstens so, wie sie
faktisch aufgefaßt werden — logisch im Widerspruch zu den
Glaubensinhalten stehen, gleichgültig, ob dies reflex bewußt ist
oder nicht. Von daher hat die materiale Unvollkommenheit des
faktischen Glaubens eine ganz andere Eigenart als früher, und
die schon erwähnte Bedrohtheit auch der formalen Glaubens-
prinzipien, der formalen Lehrautorität des kirchlichen Lehr-
amtes ist von daher gegeben. Der heutige Glaube ist nicht nur
wie früher durch schlichte Unwissenheit fragmentarisch,
sondern koexistent mit positiv Widersprüchlichem in einer Art
meist unreflektierter Schizoidie. Selbst unter der Vorausset-
zung, daß im Bewußtsein der einzelnen heute keine objektiven
Widersprüche unter den einzelnen Bewußtseinsinhalten und
somit Glaubenssätzen gegeben sind, ist doch jedenfalls nicht
nur eine ungeheure Komplexität dieser Bewußtseinsinhalte
gegeben, sondern sie sind auf jeden Fall nicht positiv miteinan-
der versöhnt; eine solche positive allseitige Versöhntheit aller
Bewußtseinsdaten mit den Glaubensinhalten ist heute für den
einzelnen einfach praktisch gar nicht möglich, auch wenn
glaubensmäßig eine solche grundsätzliche Versöhnbarkeit
selber noch einmal zu den Glaubenssätzen gehört. Von daher
219
also hat die Differenz zwischen dem amtskirchlich allseitigen
Glauben und dem faktischen Glaubensbewußtsein einen sehr
wesentlich anderen Charakter als früher.

Die Verweigerung der Kenntnisnahme


Das erste, was bezüglich dieser Tatsache wohl festzustellen ist,
ist der Umstand, daß diese Tatsache noch nicht genügend von
der Amtskirche und ihrer Theologie zur Kenntnis genommen
und theologisch noch nicht genau genug reflektiert wird.
Natürlich wird, wie schon gesagt, diese Tatsache nicht geleug-
net, und sie ist auch in der Theologie da und dort Gegenstand
einer theologischen (aber nicht umfassenden) Reflexion. Aber
trotz dieses etwas an den Rand des Bewußtseins gedrängten
Wissens um diese Tatsache redet man doch im Amtsjargon von
«den Christen» oder «den Katholiken», wo immer solche
Leute nicht ausdrücklich aus einer christlichen Kirche oder der
katholischen Kirche in bürgerlicher Amtlichkeit ausgetreten
sind oder anderswie ausdrücklich ihren gänzlichen Dissens
vom Christentum kundgetan haben.
«Die Katholiken» sind z.B. gegen die neue Gesetzgebung
über den Schwangerschaftsabbruch. Das «Zentralkomitee»
spricht im Namen «der deutschen Katholiken». Die Religions-
statistiken kennen immer noch mit den Farben ihrer Landkar-
ten Gegenden, die zu mehr als 50% «katholisch» sind. Bei all
diesem in gewisser Hinsicht natürlich harmlosen Sprachge-
brauch wird nicht auf die innere Glaubensverfassung der Men-
schen reflektiert; man kalkuliert das Wissen um die be-
scheidenen Prozentzahlen der «praktizierenden» Katholiken
oder Christen ein; Spanien ist ein katholisches Land, auch wenn
am Sonntag vielleicht nur 10% der Leute in Madrid die Sonn-
tagsmesse besuchen. In theologischen Auseinandersetzungen
(z.B. mit 77. Küng) hüten sich kirchenamtliche Verlautbarun-
gen ängstlich, darauf zu reflektieren, wieviel Prozent der Ka-
tholiken in einer solchen Frage vermutlich der kirchenamtli-
chen Erklärung zustimmen, wieviel Prozent eher der verurteil-
ten Ansicht.

220
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Lehramtliche Verlautbarungen setzen im allgemeinen


schlicht voraus, daß ihre Adressaten hinsichtlich der formalen
Autorität des Lehramtes keine Zweifel haben, und unterlassen
es darum weitgehend, bei diesen «Katholiken» sich um ein
Verständnis für die Entscheidung von der Sache selber her zu
bemühen. (Ein früher sehr gewichtiger römischer Theologe
sagte mir einmal, dieses übliche Vorgehen des Lehramtes sei
durchaus von dem Wesen des Lehramtes her legitim; die
Apologetik der Entscheidung von der Sache selber her gehöre
zur Aufgabe der Theologen und nicht des Lehramtes.) Von
dieser Mentalität her, die immer stillschweigend die theologi-
sche Wohlunterrichtetheit «der» Katholiken voraussetzt und
mehr oder weniger darauf verzichtet, Nichtkatholiken und die
vielen in Wirklichkeit sehr schlecht unterrichteten Katholiken
wirklich anzureden, erklärt es sich, daß große kirchliche Ver-
lautbarungen von Rom wenigstens in ihren eigentlich theologi-
schen Teilen ganz unbefangen eine binnentheologische
Redeweise verwenden, beim Leser Voraussetzungen machen,
die in Wirklichkeit gar nicht gegeben sind, auf eigentlich fun-
damentaltheologische Themen verzichten, die Schrift immer
noch im alten Stil der Zitation von dicta probantia verwenden
usw. — Kurz und gut, die Amtskirche und ihr Lehramt setzen
mehr oder weniger stillschweigend voraus, daß — dort, wo sie
sich auf die Katholiken beziehen — es sich doch um eine relativ
homogene Masse von Menschen handelt, in deren «Weltan-
schauung» eigentlich nur der christliche Glaube und dieser in
einer sehr differenzierten Weise samt einem mehr oder weniger
absoluten Respekt vor der Autorität des kirchlichen Lehramtes
gegeben ist.
Natürlich wird diese Tatsache nicht explizit behauptet;
natürlich gibt es vielfältige Aussagen und Handlungen der
Kirche, in denen implizit eher das Gegenteil vorausgesetzt
wird. Aber im großen und ganzen stimmt die behauptete Tatsa-
che eben doch; die außerordentlich große Differenz zwischen
dem lehramtlichen Glauben und dem faktischen Glaubensbe-
wußtsein der Masse der katholischen Christen wird in Theorie
und Praxis kaum wirklich zur Kenntnis genommen. Hier wäre
221
gewiß ein großes Feld der Reflexion sowohl für die Fundamen-
taltheologie und Dogmatik wie auch für die Pastoraltheologie
gegeben. Auf diese Tatsache hin seien noch ein paar be-
scheidende Reflexionen vorgetragen, auch wenn dies mit der
ängstlichen Vermutung geschieht, den eigentlichen Kern der
Frage noch gar nicht zu erreichen.

Theologisch-positive Wertung der Differenz

Zunächst einmal sollte man, wie mir scheint, diese Differenz


gar nicht nur negativ werten, sie hat auch durchaus eine echte
theologische Positivität. Daß der index systematicus des Denzin-
gers nur sehr selten in den Köpfen der faktischen Christen
existiert, ist zunächst einmal nicht so traurig, wie es manchen
scheinen mag, die in Versuchung sind, heilschaffenden
Glauben mit theologischer Bildung zu identifizieren. Das subtil
differenzierende Wissen um eine Sache kann ihrer existentiellen
Aneignung sogar sehr schädlich sein. Ich wage zu vermuten,
daß auch in den heutigen Katechismen, so modern sie sich auch
geben, immer noch zu viel steht und dabei das Eigentliche und
Letzte, was unbedingt gesagt werden muß, nicht immer leben-
dig und echt «nachvollziehbar» vorgetragen wird. Ferner ist
doch der faktisch in Kopf und Herz gegebene Glaube der
Kirche und nicht eigentlich die kirchenamtliche Lehre unmit-
telbar und in sich selber der Glaube, der die Kirche konstituiert.
Natürlich kann man mit Recht sagen, daß der oft fragmen-
tarische und undifferenzierte Glaube des einzelnen und damit
auch der vielen einzelnen sich auf das Glaubensbewußtsein der
Gesamtkirche bezieht, in dem das große und erleuchtete Ganze
des christlichen Glaubens geglaubt und gelebt wird, in dem
also auch der Glaube der Heiligen und der Glaube der
Glaubensheroen und der Mystiker als wesentliches Moment
dieses Gesamtglaubensbewußtseins der Kirche gegeben ist.
Aber man kann die Kirche nicht einfach nur aus ihren Heiligen
bestehen lassen; der Glaube der durchschnittlichen Christen ist
nun einmal nicht bloß die jämmerliche Skizze des amtlichen
app
Glaubens, sondern ist selber schon, weil ja heilschaffend und
getragen von der Selbstmitteilung Gottes selbst, wirklich auch
der Glaube, den Gottes Gnade hervorbringen und in der
Kirche lebendig haben wollte.
Dieser Glaube darf ja nicht bloß nach seinen verbal objek-
tivierten Inhalten beurteilt werden, sondern ist — auch wenn
seine verbal-begriffliche Objektivation sehr ärmlich und man-
gelhaft ist — immer noch die Tat Gottes am Menschen, die
konstituiert ist durch die Selbstmitteilung Gottes im Heiligen
Geist und insofern auch die sublimste theologische Objektiva-
tion des Glaubens unendlich überragt. Das depositum fidei ist
zunächst und ursprünglich nicht eine Summe menschlich for-
mulierter Sätze, sondern Gottes Geist, der sich unwiderruflich
der Menschheit mitteilt und in den konkreten Menschen den
heilschaffenden Glauben wirkt, den sie wirklich haben. Natür-
lich bewirkt dieser Geist gerade so auch die Gemeinschaft der
Glaubenden, in der die Einheit ihres Glaubens und seine ganze
Fülle sich darin objektivieren und zur reflexen Erscheinung
bringen, was wir als den amtlichen Glauben der institutionellen
Kirche erfassen. Aber das ändert nichts daran, daß es zuerst und
zuletzt auf den im konkreten Christen wirklich vollzogenen
Glauben ankommt und erst dieser im vollen Sinne heilschaf-
fend und Gott selbst mitteilend ist, so armselig und fragmen-
tarisch er auch in seiner begrifflichen Objektivation in den
Köpfen der Menschen sein mag.
Die vom Geist Gottes geschaffene, von seiner Selbstmit-
teilung getragene und auf die Unmittelbarkeit Gottes hin
radikalisierte Transzendenz des Menschen, Glaube genannt, hat
natürlich immer einen Ausgangspunkt in dieser Welt, eine
Vermittlung, einen «Gegenstand» einzelner Art, der geglaubt
wird; aber Art, Konkretheit, Dürftigkeit oder Fülle dieser
Vermittlung zum letztlich selben Heilschaffenden ist unter der
Vorsehung Göttes sehr verschieden, hat selbst eine Geschichte,
bei der offenbar von Gott gar nicht geplant ist, daß im einzel-
nen Glaubenden immer die ganze inhaltliche Fülle dieser Ge-
schichte der Vermittlungen zusammen und auf einmal gegeben
sei — nicht einmal im Glaubenden in der Kirche, in der freilich
223
ein reicheres und differenzierteres Verhältnis zu dem Ganzen
dieser geschichtlichen Vermittlungen möglich ist.

Die normative Bedeutung des V olksglanbens für das Lehramt

Von solchen Überlegungen aus kann ruhig der Satz gewagt


werden: Der reale Glaube in den Menschen der Kirche hat auch
eine normative Bedeutung für den offiziellen Glauben der
Amtskirche. Natürlich hat auch dieser Glaube eine normative
Bedeutung für jenen Glauben. Das wird mit Recht in der
kirchlichen Verkündigung betont. Man kann gewiß nicht
sagen, daß der kirchenlehramtliche Glaube sich einfach nach
einem demoskopisch erhobenen Glauben des faktischen Kir-
chenvolkes zu richten habe. Das wäre auch, abgesehen von der
Sache her, deshalb falsch, weil man diesen Glauben des fakti-
schen Kirchenvolkes mit den üblichen demoskopischen Be-
fragungen gar nicht wirklich erheben kann. Der kirchenamtli-
che Glaube enthält irreversibel gewordene Erkenntnisse der
Glaubensgeschichte der Kirche aus der Vergangenheit, die
auch normativ für das Glaubensbewußtsein der gegenwärtigen
Kirche sind. Die Kirche besitzt ein autoritatives Lehramt, das
grundsätzlich normativ für den Glauben des einzelnen ist, so-
sehr dieses Lehramt in Existenz und Praxis selber eine trotz
aller Wesensidentität dem geschichtlichen Wandel ausgesetzte
Größe ist. Aber damit ist eine Normativität des faktischen
Glaubens für das Lehramt und den kirchenamtlichen Glauben
nicht ausgeschlossen, auch wenn diese «Normativität» von
anderer Wesensart ist als die, die eben dem Lehramt und seinem
kirchenamtlichen Glauben zuerkannt wurde. Es besteht ein
gegenseitiges Bedingungsverhältnis zwischen diesen beiden
Größen, auch wenn diese Gegenseitigkeit keine Gleichheit
bedeutet.
Zunächst einmal ist es ja selbstverständlich, daß — geschicht-
lich gesehen — der kirchenamtliche Glaube in seinem Wachstum
und seiner Ausdifferenzierung vom Wachstum und der Ausdif-
ferenzierung des faktischen Glaubens des Kirchenvolkes ab-

224
” 5 2 5 an

hängig ist, zu dem ja auch die Theologen mit ihrer Arbeit


gehören, auch wenn sich diese Arbeit, wie ja auch der Glaube
der anderen im Kirchenvolk, in einem fortwährenden Dialog
mit der kirchenamtlichen Lehre der Kirche vollzieht. Einmal
etwas boshaft gesagt: Vor der Lehre des Konzils von Florenz
über die Trinität hat es eine entsprechende noch nicht amtlich
abgesegnete Trinitätslehre der Theologen gegeben; die Lehre
von der Siebenzahl der Sakramente oder der Transsubstantia-
tion waren Theologumena, bevor das Lehramt der Kirche
daraus definierte Sätze machte und machen konnte. Das sollte
man bedenken, wenn Päpste in den letzten Jahrzehnten so
geredet haben, als ob die Aufgabe der Theologen nur darin
bestünde, sich apologetisch und explikativ mit den Sätzen des
kirchlichen Lehramtes zu beschäftigen. Wenn man nicht aus
den Theologen eine analoge Sondergruppe in der Kirche
machen will, wie sie die Bischöfe bilden, dann sind die
Theologen Glieder des Kirchenvolkes, die sich zwar auch mit
der schon kirchenamtlich gewordenen Glaubensüberlieferung
beschäftigen — aber eben nicht nur —, dies aber und ihr sonstiges
Geschäft betreiben als religiös besonders interessierte Glieder
des Volkes Gottes mit seiner konkreten «Theologie», so daß
ihre Theologumena eben doch zum faktischen Glaubensbe-
wußtsein des Kirchenvolkes gehören, zumal sie ja auch vom
Lehramt zur Ordnung gerufen werden können.
Mindestens von diesen Elementen des faktischen Glaubens-
bewußtseins des Kirchenvolkes lernt das Lehramt der Kirche
— dies muß es weiterhin leisten. Und wenn dann noch dieses
Lehramt bei diesem Lernen erklärt, die so ergriffene Lehre sei
deshalb verbindlich, weil sie dem faktischen Glauben der
Kirche angehöre und so an der Unfehlbarkeit der glaubenden
Kirche partizipiere, dann hat doch der faktische Glaube der
Kirche nicht nur einen faktischen, sondern auch einen nor-
mativen Einfluß auf den kirchenamtlichen Glauben. Die Gabe
der Unterscheidung zwischen dem, was bloß faktisch im Be-
wußtsein des Kirchenvolkes gegeben ist, und dem, was daran
einen glaubensverbindlichen Charakter hat, mag in letzter
Instanz durchaus eine Prärogative des Amtes in der Kirche sein
225
(als einer institutionell notwendigen Struktur der Kirche als
unbesiegbarer Glaubensgemeinschaft), doch ist eben dieser
faktische und nicht bloß schon amtlich institutionalisiert ver-
mittelte Glaube des Kichenvolkes Quelle und in etwa auch
Norm für den kirchenamtlichen Glauben — sowenig auch
daraus folgt, daß es ursprünglich eine Glaubenskirche gegeben
habe, die nicht schon kirchenamtlich (durch die ersten apostoli-
schen «Zeugen») institutionalisiert gewesen wäre, und es
einmal eine Zeit ohne ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis
(je verschiedener Art) der beiden Größen gegeben habe. Wir
können diese Einsicht auch so formulieren: In der
eschatologi sch n
endgültige und unbesiegli chen Glaubenskir-
che kann es keine Verkündigung geben, die schlechthin keinen
Glaubensgehorsam fände. Und darum ist notwendiger- und
berechtigterweise der geleistete Glaubensgehorsam auch Norm
und Kriterium für die Glaubenspredigt und nicht nur umge-
kehrt.

Die Notwendigkeit der Akzentverschiebung

Sosehr die Normativität des kirchenamtlichen Glaubens für


den faktischen Glauben der Kirche im Glaubensbewußtsein
auch der Menschen der Kirche Bedeutung haben muß, so wird
doch auch umgekehrt das Lehramt in seiner Verkündigung auf
diesen faktischen Glauben der Menschen Rücksicht nehmen
müssen. In einer unreflektierten Weise hat es das ja in irgend-
einem Umfang auch immer getan. Es hat den Segen der Herz-
Jesu-Verehrung gepriesen, nachdem diese von unten her schon
vorhanden war. Solche und ähnliche Beispiele ließen sich un-
zählige anführen. Nur ist heute im Zeitalter einer höheren Re-
flexionsstufe der Menschheit und so auch der Kirche die Frage
zu stellen, ob diese Beeinflussung des Lehramtes durch den
faktischen Glauben der Menschen nicht wenigstens teilweise in
einer reflexeren Art geschehen könnte, die sich mehr auf eine
der Sache gemäße und darum von übrigen demoskopischen
Befragungen verschiedene Umfrage stützt.
226
Solch ein Vorgang müßte gar nicht von vornherein und
immer so etwas wie ein Nachgeben gegenüber modischen
Tendenzen im faktischen Glauben der Menschen sein; es
könnte ja sein, daß die amtliche Verkündigung von oben, ohne
es zu bemerken, schon unter der Auswirkung dieses Glaubens
unten steht, so etwas aber erst deutlich wird, wenn dieser
Glaube unten reflexer erfaßt wird. Hat z.B. die Verkündigung
einer möglichen ewigen Verwerfung des Menschen, der Hölle,
in den letzten Jahrzehnten unter dem Einfluß der allgemeinen
heutigen Mentalität nicht beträchtlich an Lautstärke abgenom-
men? Dabei ist natürlich die Frage der Berechtigung einer
solchen Entwicklung noch einmal etwas ganz anderes und
braucht hier nicht entschieden zu werden. Wie genauer ein
solcher rückläufiger Einfluß des faktischen Glaubens auf das
Lehramt und seine Verkündigung aussehen kann und soll, ist
freilich eine dunkle Frage. Für eine katholische Theologie
kommt gewiß der Widerruf einer eigentlich definierten Lehre
wegen einer faktisch weitverbreiteten Nichtrezeption nicht in
Frage.
Aber damit ist die weitere Frage noch nicht aus der Welt
geschafft, ob diese weitverbreitete Nichtrezeption das Lehramt
nicht veranlassen müßte, seine (auch definierte) Lehre neu zu
durchdenken, in größeren und neuen Zusammenhängen neu zu
formulieren, die unreflex auch bei einer definierten Lehre mög-
licherweise anhaftenden, nicht zum wirklichen Glauben ge-
hörenden Amalgame zu entfernen usw. Im Glaubensbewußt-
sein der Kirche hat es immer wieder Akzentverschiebungen
gegeben: Die Dogmengeschichte ist ein einziges Zeugnis
dafür. Wäre es heute nicht möglich, vorsichtig und bescheiden
im Blick auf den faktischen Glauben der Menschen in der
Kirche solche Akzentverschiebungen bewußt vorzunehmen?
Wenn z.B. die Kirche auch heute noch durchschnittlich den
Eindruck macht, die Verkünderin moralischer Alternativen zu
sein, unter denen der Mensch zu seinem Heil oder Unheil
auswählt, wenn dieser Eindruck faktisch primär ist und alle
Verkündigung der erlösenden Tat Gottes dagegen doch nur als
sekundär empfunden wird, gleichzeitig aber faktisch die reale
227
Heilsangst der Menschen gegenüber früheren Zeiten doch stark
abgenommen hat und der Mensch sich nicht so sehr vor Gott
schuldig empfindet, sondern eher verlangt, Gott müsse sich
wegen seiner von Ihm bewirkten schrecklichen Welt verant-
worten, könnten dann nicht solche Beobachtungen zu sehr
bedeutsamen Akzentverschiebungen in der amtlichen Verkün-
digung führen, ohne daß die Kirche ein bisher verkündigtes
Dogma leugnen müßte?

Kirchlich-theologische Folgen der Anerkennung des V olksglaubens

Daß solche Überlegungen, selbst wenn der wahre Kern der


Frage gar nicht erreicht wäre, für die ökumenischen Bestrebun-
gen eine Bedeutung haben, ist wohl einsichtig. Wenn sich der
faktische Glaube kirchlich gesinnter evangelischer Christen
und der praktizierender Katholiken (abgesehen von ihrem
kirchlichen und liturgischen Tun) heute faktisch kaum unter-
scheiden, dann muß man doch dieser simplen Tatsache in den
ökumenischen Bestrebungen das Gewicht einräumen, das sie
verdient. Gewiß würde bei einer Einigung der katholischen
Kirche mit den reformatorischen Kirchen die katholische
Kirche jene Dogmen nicht zurücknehmen, die ihr von der
anderen Seite bestritten werden. Aber muß sie notwendig
darauf bestehen, daß diese Dogmen in den nun unierten
Kirchen auch ausdrücklich und absolut verbindlich von Amts
wegen gelehrt werden? Das ist doch wirklich eine echte Frage,
wenn man sieht, wie die katholische Kirche über die Nichtak-
zeptation nicht weniger Dogmen bei ihren eigenen Mitgliedern
stillschweigend hinweggeht. Das ist eine Frage, wenn man
sieht, daß das «filioque» nicht überall ausdrücklich im
Glaubensbekenntnis genannt werden muß, wenn man daran
zweifeln kann, daß der Ausgang des Geistes «vom Sohn» und
der «durch den Sohn» wirklich genau dasselbe bedeuten. Das
ist eine Frage, wenn man von der Verschiedenheit der materia-
len Vermittlungen des einen heilschaffenden Glaubens in allen
Phasen der Heilsgeschichte Notiz nimmt.

228
Die geistesgeschichtliche Situation ist heute nun einmal
anders als früher. Früher dachte man mit einfacherem Ent-
weder-Oder und in Sätzen, für die ein absoluter Assens zumin-
dest präsumiert wurde. Heute präsumiert man eher, daß ein
schlichtes Entweder-Oder von vornherein falsch sei, und bejaht
Sätze normalerweise bedingt bis zum immer auch denkbaren
Beweis des Gegenteils. Die heutige Mentalität darf durchaus
nicht verabsolutiert werden, da dies ja nochmals gegen ihr
eigenes Wesen wäre. Aber man kann bei einer doch relativ auch
berechtigten heutigen Mentalität fragen, ob man heute die
Differenzen unter den christlichen Konfessionen im selben Stil
weiterführen müsse, in dem sie unter einer anderen Mentalität
einst formuliert wurden und formuliert werden mußten.
Wird man im Ernst heute noch wie in den Zeiten der Refor-
mation mit einem Entweder-Oder bezüglich der Zahl der Sa-
kramente rechnen müssen? Könnten nicht unter Einkal-
kulierung der heutigen Mentalität die Differenzen um das
I. Vatikanum bereinigt werden? Zum Beispiel, wenn der
Zusammenhang der päpstlichen Entscheidung mit dem
Glauben der ganzen Kirche deutlicher gemacht, wenn die ge-
schichtliche Bedingtheit auch einer päpstlichen Definition un-
befangener und deutlicher ins Bewußtsein gehoben würde usw.
Wenn es eine Eigenständigkeit der großen Regionalkirchen in
der katholischen Kirche gibt, wenn das doch auch eine Eigen-
ständigkeit ihrer Theologien bedeutet, die nicht einfach die
römische Theologie repetieren, dann müßte es doch auch so
etwas bezüglich der wieder mit Rom unierten Kirchen der
Reformation geben können. Was das genauer bedeutet, müßte
natürlich erst geklärt werden. Dabei würde dann zweifellos
auch der faktische Glaube der Menschen in den Kirchen zu
bedenken sein.
Eine letzte Konsequenz aus unseren Überlegungen sei noch
ausdrücklich angemerkt. Jeder wirklich christliche und heil-
schaffende Glaube muß ein Moment eines absoluten Assenses
in sich haben. Dieser Assens hat auch als absoluter (gegenüber
der heilschaffenden und rettenden Unbegreiflichkeit Gottes)
ein aposteriorisches Moment der Vermittlung in sich. Aber,
220
wie wir oben angedeutet haben, dieses aposteriorische Moment
der Vermittlung ist im Lauf der Heilsgeschichte unübersehbar
variabel gewesen. Dieses Moment ist auch nach Ausweis der
empirischen Tatsachen in der katholischen Kirche nicht immer
und überall die infallible Autorität des kirchlichen Lehramtes.
Diese wird oft bezweifelt oder verdrängt, und der Glaubende
hat ganz andere inhaltliche Vermittlungen zu seinem absoluten
Assens zu der rettenden Selbstmitteilung Gottes, etwa das
Christus-Ereignis oder eine unbedingte Hoffnung usw. Darum
müßte die kirchliche Verkündigung sich fragen, welches
konkret in unserer heutigen Zeit das wirksamste und nächst-
liegende Moment einer solchen Vermittlung sein könnte. In der
Verkündigung dürfte heute nicht wahllos einfach alles ge-
predigt werden, was zur ganzen Fülle des Glaubens der Amts-
kirche gehört. Es müßten Akzente gesetzt werden. Und diese
Akzente müßten dort liegen, wo der faktische Glaube oder eine
wirklich reale Glaubensmöglichkeit der Menschen von heute
liegt. Auch von daher hätte der faktische Glaube der Menschen
eine (richtig verstandene) «normative» Bedeutung für den
amtlichen Glauben der Kirche und dessen Verkündigung.
Dieser faktische Glaube muß gewiß nicht das Ende der Ver-
kündigung sein, aber er müßte ihren Ausgangspunkt bilden.
Das ist zwar eine Binsenwahrheit, aber eine sehr wichtige, die
vielfach gar nicht beachtet wird.

230
7

DIE THEOLOGIE UND DAS RÖMISCHE


LEHRAMT

Trotz allem, was in den herkömmlichen Fundamental-


theologien und Ekklesiologien schon gesagt wird, und trotz
vieler Erklärungen des kirchlichen Lehramts vom 19. Jahr-
hundert an bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (und auch
schon jetzt bei Papst Johannes Paul II.) ist das genauere Ver-
hältnis zwischen dem römischen kirchlichen Lehramt und den
Theologen immer noch sehr dunkel. Es ist gewiß nicht damit
zu rechnen, daß dieses Verhältnis so weit geklärt werden
könnte, daß Konflikte zwischen beiden Größen von vorn-
herein ausgeschlossen wären, wenn nur die Regeln dieses Ver-
hältnisses als völlig durchsichtige und leicht anwendbate einge-
halten würden. Ein solcher von vornherein gegebener und
ungetrübter Frieden kann auch durch noch so richtige Normen
und Prinzipien nicht erzielt werden. Es sind auf beiden Seiten
endliche Menschen mit einer gegenseitigen Inkommen-
surabilität des Denkens und Wollens, die auch durch guten
Willen, christliche Tugend und den Beistand des Heiligen
Geistes nicht aufgehoben wird. Aber man darf doch der
Meinung sein, daß gewisse Prinzipien deutlicher als bisher
herausgearbeitet werden könnten, die zu mehr Frieden und
Eintracht beitragen würden.
Das römische Lehramt setzt stillschweigend oder ausdrück-
lich voraus, daß seine Erklärungen bei ein wenig theologischer
Bildung und bei gutem Willen des Hörers ohne weiteres ver-
ständlich seien, und zwar hinsichtlich des Sinns und der
Grenzen einer solchen Erklärung wie auch hinsichtlich des
Grades der Verpflichtung, die das Lehramt selber seiner Er-
klärung zuerkennt; daß ferner durchaus klar sei, daß das
Lehramt den Theologen gegenüber das letzte Wort habe, das
von den Theologen in seiner (relativen) Verbindlichkeit einfach
zu respektieren sei. Meist schwingt bei solchen Erklärungen
mehr oder weniger deutlich die Meinung mit, die Aufgabe der
Theologen sei es eigentlich nur, diese Erklärungen des Lehr-

231
amts zu verteidigen (durch den Nachweis ihrer Herkunft aus
den letzten Offenbarungsquellen) und zu erklären, soweit dies
noch für eine bestimmte geistesgeschichtliche und gesellschaft-
liche Situation notwendig sei.
Die Theologen dagegen bemerken bei solchen Erklärungen
des Lehramts, daß diese (bei allem zugegebenen Beistand des
Geistes der Kirche) auch von Theologen in theologischer
Arbeit verfaßt seien und darum die geschichtliche menschliche
Bedingtheit ihrer konkreten Verfasser an sich trügen, und zwar
oft schr deutlich; auch solche Erklärungen müßten nochmals
in einem vielleicht sehr komplizierten Auslegungsverfahren
hinterfragt werden, weil sie gar nicht so «klar» seien, wie die
Verfasser von ihrem unreflektierten Verstehenshorizont aus
meinen; durch eine solche gar nicht vermeidbare — wenn auch
römischen Theologen oft unangenehme — Interpretation ent-
stünden dann neue Formulierungen, die ebenso richtig seien
wie die bisherigen, aber vielleicht in Rom auf wenig Verständ-
nis stoßen. Die Theologen betonen, es sei gar nicht wahr, daß
ihre Arbeit bei den kirchenamtlichen Erklärungen anfange und
ende; in tausend Fällen seien die kirchenamtlichen Erklärungen
das Ergebnis theologischer Arbeit, die nicht von vornherein
schon amtlich gesteuert worden ist; die Theologie könne und
müsse durchaus vieles fragen, was nicht von vornherein schon
durch amtliche Erklärungen abgedeckt sei, und solche kir-
chenamtlich nicht abgesegnete Theologie könne für die Aner-
kennung des christlichen Glaubens in der Welt und für das
praktische Leben von größter Bedeutung sein. Die Theologen
erklären, daß sie für diese Arbeit einen Raum der Freiheit und
des nicht von vornherein kontrollierten Forschens nötig
haben; man könne solche Arbeit nicht tun, wenn man von
vornherein und immer dem Risiko des Irrtums ausweiche,
wenn man die Theologie uniformieren wolle und einen
legitimen Pluralismus als unmöglich oder gefährlich unterdrük-
ke.
Diese Forderungen des Lehramts und der Theologen brau-
chen sich nicht zu widersprechen. Das Mißliche ist nur, daß
eine praktische Vereinbarkeit dieser Forderungen nicht leicht

232
var J f

HF I

einzusehen und durchzuführen ist und daß jede der beiden


«Parteien» die Forderungen der anderen «Partei» meist nur in
einem leise vorgetragenen Nebensatz zuzugestehen pflegt, im
übrigen aber lautstark die eigenen Maximen vertritt, als obes.
in der Praxis doch nur auf sie allein ankomme.
Wir versuchen ein wenig weiterzukommen, indem wir zu
formulieren versuchen, was die eine Seite der anderen aus-
drücklicher als üblich zugestehen und auch in der Praxis ver-
wirklichen müßte.

Selbstverständnis und Praxis des Lehramts

Die Vertreter des Lehramts müßten im Namen dieses Lehramts


ausdrücklich sagen — und praktizieren —: «Auch wir sind Men-
schen, wenn wir unsere Entscheidungen treffen, Menschen, die
nicht voreilig und voller Vorurteile sein dürfen, aber es unver-
meidlich sind. Wenn wir einmal davon absehen, daß letztver-
bindliche Entscheidungen des Papstes und eines Konzils durch
den Geist der Kirche vor Irrtum bewahrt werden, so können
wir — und auch der Papst — bei unseren Entscheidungen irren
und haben es schon oft bis in unsere Tage getan. Das ist eine
Selbstverständlichkeit, welche die Berechtigung und die Not-
wendigkeit der Funktion eines Lehramts nicht aufhebt. Es ist
unsere Pflicht, unter diesem Risiko zu arbeiten, weil wir auch
dann noch eine Aufgabe und Funktion haben, wenn die Vor-
aussetzungen und Bedingungen letztverbindlicher Ent-
scheidungen nicht gegeben sind, genauso wie ein Arzt nicht
bloß dann Diagnosen stellen kann, wenn er sie mit einer ab-
soluten Sicherheit erbringen kann. Ihr Theologen habt auch
nicht das Recht, von vornherein hochmütig zu unterstellen,
daß unsere Entscheidungen schon darum falsch sind, weil sie
den Meinungen widersprechen, die ihr oder ein guter Teil von
euch bisher vertreten hat.
Aber umgekehtt liegt bei uns eine Aufgabe, um die wir uns
bisher im großen und ganzen gedrückt haben. Wir sollten
nämlich den nicht-absoluten Verbindlichkeitsgrad einer
solchen Erklärung in ihrem Text ausdrücklich anmerken. Ihr

2
Theologen müßt verstehen, daß wir das bisher nicht genügend
getan haben und so den Anschein erweckten, alles, was wir
sagen, habe eine Letztverbindlichkeit fern aller Irrttumsmög-
lichkeit. Zwar wird in jeder Ekklesiologie mit unserer still-
schweigenden Billigung das Gegenteil gesagt, aber meistens
nur da, und das bleibt im Bewußtsein und dem Gewissen der
Gläubigen oft unwirksam. Was die Deutsche Bischofskon-
ferenz in ihrer Königsteiner Erklärung im Jahr 1968 diesbezüg-
lich gesagt hat, fand leider wenig Aufmerksamkeit und Nach-
ahmung. So erwecken amtliche Erklärungen von uns nur zu
leicht den Eindruck, es könne aus Glaubensgründen nicht der
leiseste Zweifel an der Wahrheit unserer Erklärung möglich
sein und geduldet werden. Hier sollten wir unsere Praxis
ändern und nicht nur die jeweilige wahre Verbindlichkeit (ver-
schiedenen Grades natürlich) feststellen, sondern auch den
genaueren Grad und die Relativität dieser Verbindlichkeit. Vor
einigen Jahrzehnten hat das Lehramt auch geboten, im
theologischen Unterricht bei euren Thesen die theologische
Qualifikation ausdrücklich anzumerken. Warum sollten wir
nicht Ähnliches tun, wenn wir lehramtliche Erklärungen erlas-
sen?
Ihr Theologen müßtet aber auch mithelfen, die Vorausset-
zungen dafür zu schaffen, daß wir in Zukunft anders vorgehen
können. Wenn nämlich ihr oder die anderen Gläubigen in
Theorie und Praxis einfach voraussetzt, daß eine nicht-
definitorische, bloß authentische Erklärung im Grund keine
ernsthafte Bedeutung habe, sondern ihr sie milde lächelnd ad
acta legt, dann dürft ihr euch nicht wundern, daß wir bei
unseren Erklärungen so tun, als ob sie irreformabel seien. Ihr
müßt also zur Schaffung eines geistigen Klimas mitwirken, in
dem authentische, wenn auch nicht letztverbindliche Erklärun-
gen wirklich eine Bedeutung in der Kirche haben.

Reaktionen der Theologen auf Maßnahmen des Lehramts

Hier ist natürlich ein Gebiet für sehr unterschiedliche Verhal-


tensweisen, die vom Konzil («Lumen gentium») nicht gut und

234
ehrlich beschrieben worden sind und die auch durch allgemeine
Regeln nicht genau festgelegt werden können. Wann soll ein
Theologe gegen eine solche ja nicht irreformable Erklärung
rasch und ausdrücklich, gewissermaßen frontal Einspruch
erheben? Wann und wie könnte es zum Beruf eines Theologen
gehören, umgekehrt (wofür eigentlich eine Präsumtion besteht)
eine römische Erklärung ausdrücklich zu begründen und zu
verteidigen? Wo könnte ein «Silentium obsequiosum», ein
gehorsames Schweigen, am Platz sein? Wo und wann wäre es
am Platz, eine römische Erklärung mit der gebührenden Sorg-
falt zu untersuchen, zu würdigen, darin zu unterscheiden und
auf diese Weise Korrekturen oder mögliche Interpretationen
anzumelden, die wir in Rom nicht ausdrücklich gesehen haben?
Wo wäre es angezeigt, die Thematik einer solchen römischen
Erklärung in einen bisher von uns nicht reflektierten größeren
Erkenntnishorizont zu stellen und zu kurzsichtige Perspektiven
grundsätzlich zu überholen, so daß wir, die wir ja auch lernen
wollen, verstehen können, daß das von uns eigentlich Gemein-
te auch dann erhalten bleibt, wenn man den unmittelbaren
Wortlaut der Erklärung fallenläßt?
Mit solchen Differenzierungen wollen wir ehrlich und unbe-
fangen rechnen und es nicht von vornherein denen übelneh-
men, die unseren vorläufigen Entscheidungen nicht restlos
zustimmen. Es kann durchaus wünschenswert sein, daß eine
Periode eines «Silentium obsequiosum» nicht zu lange dauert,
bis man zu einer ausdrücklichen Revisionsforderung kommt.
(Der jetzige Papst spricht unbefangen vom Jahwisten, während
wir vor siebzig Jahren mit einem katholischen Exegeten nicht
gerade glimpflich umgegangen wären, der dies zu sagen gewagt
hätte.) Im konkreten Fall gibt es jedoch keine Regeln allge-
meiner und doch leicht handhabbarer Art, um zu beurteilen, ob
eine Reaktion sachgemäß und mit genügendem Respekt vor
dem kirchlichen Lehramt geschieht; bei einem solchen Urteil
könnt ihr und können wir irren, zumal ein solches Urteil auch
eine geistige Ermessensfrage ist. Wir dürfen nicht davon ausge-
hen, daß unsere Reaktionen auf eure Stellungnahmen entweder
über jeden denkbaren Zweifel erhaben sein müssen oder
23)
Ba

ei.

einfach nicht getroffen werden können. Alle müssen nüchtern


damit rechnen, daß in solchen Fällen auch Irrtum und Unge-
rechtigkeit vorkommen.
Wenn wir das nüchtern sehen und zugeben, dann bedeutet
das keinen Freibrief, die Sünden des Hochmuts, der Voreilig-
keit und Selbstgerechtigkeit zu begehen, sondern eine
Mahnung zur schweren Verantwortung, unsere Aufgabe mutig
wahrzunehmen und dabei zugleich selbstkritisch mit Mißgrif-
fen bei uns zu rechnen. Ihr aber müßt als Christen, die ihr sein
wollt, mit Geduld die Last tragen, die euch so vielleicht aufer-
legt wird, ohne daß dies sachgerecht und notwendig wäre.
Abgesetzt oder indiziert zu werden ist gewiß nicht schön, und
ihr könnt euch dagegen mit allen legitimen Mitteln wehren und
auch dafür kämpfen, daß euch diese legitimen Mittel nicht
vorenthalten werden. Aber wenn nichts zu wollen ist, sind auch
Amtsentfernung und ähnliche Maßnahmen ein christliches
Schicksal, genauso wie wenn jemanden eine politische Behörde
oder Krebskrankheit niederstreckt. Es ist nun einmal so, daß
in der Welt und in der Geschichte nicht einfach alles reibungs-
los verläuft, wenn mehrere Subjekte und Instanzen ihren Auf-
gaben nachkommen und ihre Rechte wahrnehmen.
Ihr solltet nicht von vornherein und im allgemeinen das
Recht des päpstlichen oder bischöflichen Amts bestreiten, ad-
ministrative Maßnahmen als Konsequenzen zu lehramtlichen
Entscheidungen zu treffen. Wenn zum Beispiel ein Theologie-
professor im Auftrag des Bischofs Priesteramtskandidaten un-
terrichtet, dann kann und muß (unter Umständen) der Bischof
diesen Auftrag zurücknehmen, wenn er zu dem Urteil kommt,
daß dieser Auftrag nicht in Übereinstimmung mit dem
Glaubensbewußtsein der Kirche ausgeübt wird, für das Papst
und Bischöfe authentischere Sprecher sind als beliebige andere
Leute. Natürlich sollten wir Amtsträger bei solchen Maßnah-
men mit aller Vorsicht und Fairneß vorgehen. Wer von uns
wollte im Ernst behaupten, daß dies immer geschehen sei?
Aber es gibt in der Welt Entscheidungen, die nun einmal zu
gelten haben, auch wenn man weiß, daß sie gegen Wahrheit
und Gerechtigkeit verstoßen können.

236
Letztverbindliche Entscheidungen

- Wir kommen zu jenen Fällen, bei denen eine konziliare oder


päpstliche Letztentscheidung (für diese Welt) vorliegt. Wir
Amtsträger wollen hier und jetzt nicht vom Wesen der
eschatologischen Kirche her begründen, daß es solche letztver-
bindlichen, in menschliche Worte gefaßten Glaubenssätze in
der Kirche geben muß und nicht nur ein letztlich ungreifbares
Stehen in der Wahrheit. Wir wollen nur einige praktischere
Maximen formulieren, die sich halb an uns selbst, halb an euch
richten. Wenn es solche Definitionen gibt, dann ist zunächst
selbstverständlich, daß das Lehramt Theologen nicht dulden
kann, die öffentlich in einem direkten Affront solche Wahr-
heiten des göttlichen und katholischen Glaubens verwerfen.
Wie immer es auch mit der privaten Gläubigkeit des einzelnen
Christen bestellt sein mag, der einzelne Dogmen der Kirche für
sich in einer absoluten Entscheidung verwirft, es ist klar, daß
keiner als kirchlicher Theologe fungieren und gleichzeitig
Dogmen der Kirche öffentlich verwerfen kann. Wo dies der
Fall ist, muß das kirchliche Lehramt eingreifen und diesen
Widerspruch amtlich feststellen, und es hat das grundsätzliche
Recht, administrative Konsequenzen aus dieser Feststellung zu
ziehen.
Aber es sind auch andere Fälle denkbar und konkret
möglich, in denen ein Theologe bestreitet, daß seine Positionen
mit dem kirchlichen Dogma unvereinbar seien, dies aber doch
die Überzeugung des Lehramts ist. In einem solchen Fall kann
natürlich dieser Theologe aufgefordert werden, seine ausdrück-
liche Zustimmung zum definierten Dogma und zu dessen Nor-
mativität für seine eigene Theologie zu erklären.
Wenn wir ihn darüber hinaus auffordern, seine eigenen
Positionen zurückzunehmen («laudabiliter se subiecit»), dann
wird die Sache natürlich kompliziert, wie wir deutlicher als
bisher eingestehen sollten. Was heißt in diesem Fall eine
Zurücknahme solcher Positionen? Heißt dies, daß der betref-
fende Theologe gegen seine bisherige Überzeugung zur Er-
kenntnis gekommen sei, seine Positionen seien mit dem Dogma

237,
unvereinbar, obwohl er bisher das Gegenteil meinte? Woher.
und in welcher Zeitspanne muß er zu dieser neuen Über-
zeugung kommen? Woher haben wir im Amt das Recht, eine
solche Erklärung zu fordern, wo doch selbstverständlich auch
die Möglichkeit besteht, daß wir uns bei der Feststellung einer
solchen Unvereinbarkeit irren, da diese Feststellung ja nicht
zum Inhalt des geoffenbarten Glaubens gehört? Darf ein in
dieser Frage Gemaßregelter sagen, er bejahe das betreffende
Dogma, akzeptiere auch die kirchliche Legitimität seiner For-
mulierungen, nehme die damit gegebene Sprachregelung (die
ja bei einem Dogma gegeben und nicht einfachhin mit seinem
Inhalt identisch ist) für seine eigene Theologie als normativ an,
behalte sich aber darüber hinaus seine theologische Meinungs-
freiheit vor, auch wenn sie von den römischen Instanzen in der
betreffenden Frage nicht sehr gern gesehen wird? Über all diese
Dinge haben wir hier in Rom noch nicht genügend nachge-
dacht und sind darum in Versuchung, euch einfach in einem
altmodisch feudalistischen Stil von früher zu behandeln, und
wir haben uns nicht genau genug überlegt, was wir im Ernst
auch bei eigentlichen Glaubensfragen von euch verlangen
können und was nicht.
Wir in Rom können ja die Gedanken eines Theologen nicht
genau nachprüfen, können nicht feststellen, ob in dem kon-
kreten Bewußtseinskomplex, durch den hindurch er zu glauben
bereit ist, der aber unvermeidlich ein Amalgam aus dogmatisch
richtigen Sätzen und deren notwendig subjektivem Verständnis
ist, die dogmatisch verpflichtende Inhaltlichkeit wirklich vor-
handen ist oder nicht schließlich doch, ohne nachgewiesen
werden zu können, durch eigenmächtige Interpretationen sach-
lich wieder aufgehoben wird. Die Kirche hat überdies in vielen
anderen Belangen schon gelernt, zwischen einer öffentlichen
und einer privaten Dimension beim einzelnen zu unterscheiden
und sich vor Grenzüberschreitungen in die private Sphäre zu
hüten. Das alles müßten wir in Rom genauer bedenken und
Konsequenzen ziehen hinsichtlich dessen, was wir von einem
zensurierten Theologen fair und ehrlich verlangen können. In
dieser Hinsicht sollten wir bessere Formeln finden; sie sollten

238
d
\

nicht mehr wie die Unterwerfungsformeln aus einer feudalisti-


schen Zeit klingen. Wenn in dieser Hinsicht einige grundsätzli-
che Regelungen ausgearbeitet wären, so bräuchte in einem
konkreten Fall ein Theologe nur zu erklären, er akzeptiere diese
allgemeinen Regeln als auf seinen Fall anzuwendende. Das wäre
genug.
Selbst wenn nicht zu erwarten ist, daß noch anhängige Streit-
fragen in der Theologie in absehbarer Zeit durch eigentliche
Definitionen entschieden werden, auch wenn Einverständnis
besteht, daß schon ergangene Definitionen eine bleibende,
indiskutable Verpflichtung für eure theologische Weiterarbeit
bedeuten, auch wenn klar ist, daß frühere Definitionen nicht
durch ein Stillschweigen auf eurer Seite ad acta gelegt werden
können, so müssen wir doch zugestehen, daß solche Defini-
tionen nicht einfach bloß Ausgangs- und Endpunkt eurer
Arbeit sein können, sondern durchaus «hinterfragt» werden
können und müssen; denn ihr Sinn, ihre Abgrenzung von mit-
tradierten, aber mit ihnen nicht identischen Interpretationen,
ihr Verständnis im Zusammenhang des ganzen Glaubens und
innerhalb neuer geistesgeschichtlicher Situationen muß gar
nicht so klar und eindeutig sein, wie es die heutige Verkün-
digung erfordert. Es ist gewiß oft so, daß wir in Rom mit
seinem klerikalen Milieu gar nicht merken, wie notwendig
solche Interpretationen sind, ohne die man, wenigstens außer-
halb Roms, die christliche Botschaft nicht überzeugend verkün-
digen kann.

Neuinterpretation der Dogmen


Darum kann es durchaus vorkommen, ja sogar ein Kriterium
von Gesundheit und Lebenskraft sein, wenn Konflikte ent-
stehen zwischen der Theologie, die wir hier in Rom traditionell
gewohnt sind, und der Theologie, die ihr —- das Dogma inter-
pretierend — betreiben müßt. Bei solchen Versuchen und bei
deren Beurteilung durch uns kann es zu Meinungsverschieden-
heiten, Konflikten und auch zu Irrtümern und Fehlgriffen auf
beiden Seiten kommen. Dann gilt (vorausgesetzt, daß ein

er),
Theologe nicht frontal ein Dogma leugnet) auch bei Interpreta-
tionen des Dogmas all das, was für nicht-definitorische Er-
klärungen des Lehramts gilt, weil der Konflikt nicht zwischen
dem Dogma und seiner Leugnung besteht, sondern zwischen
unserer und eurer Interpretation, bei der beide Seiten nicht
unfehlbar sind.
Dabei sollten wir in Rom uns deutlicher zu Bewußtsein
bringen, daß eine solche interpretierende Arbeit heute sogar in
einem viel größeren Umfang erforderlich wäre, als ihr faktisch
leistet und als unserer theologischen Bequemlichkeit lieb ist.
Wenn heute Grunddogmen des Christentums glaubwürdig
auch in einem nicht traditionell christlichen Milieu verkündigt
werden sollen, dann verlangt dies in einem viel ausgedehnteren
und intensiveren Maß eine Neuinterpretation des Dogmas, als
es eure Theologie schon leistet. Was soll sich ein Durch-
schnittschrist unter drei Personen in Gott vorstellen? (Ich
fürchte, er stellt sich eine Häresie als Glaubenssatz vor!) Wenn
es eine Dogmengeschichte gibt und diese eben noch nicht zu
Ende ist, steht es nun einmal fest, daß die traditionellen For-
mulierungen der klassischen Christologie nicht schlechthin un-
überholbar sind und das damit Gemeinte auch anders ausgesagt
werden kann.
Ich habt gewiß nicht in allen Punkten denkerisch eingeholt,
was mit einer evolutiven Weltkonzeption, mit einer universalen
Heilsgeschichte, mit einer positiven Heilsbedeutung nicht-
christlicher Religionen, mit einer positiven Interpretation der
Spaltungen in der Christenheit, mit der heutigen säkularen
Welt und vielem anderen als eure Aufgabe gegeben ist. Das
Problem eines Pluralismus in der Theologie, der kontinental
verschiedenen Theologien von Afrika, Lateinamerika, Ostasien
kommt noch hinzu. Damit sind Aufgaben gegeben, die euch
klein und bescheiden machen müßten und uns höchstens Wohl-
wollen euch gegenüber gebieten. Wir sollten eher beunruhigt
sein, wenn wir von eurer Theologie nicht beunruhigt werden,
wenn das Dogma mehr als sakrosankte Unberührbarkeit denn
als lebendige Kraft erscheint.
Auch mit einer Definition ist die Geschichte der Wahrheit

240
u

nicht zu Ende. Wir sind in Rom nicht bloß zum Erlaß von
Verurteilungen berufen, sondern müssen dabei unvermeidlich
positive Aussagen machen, also auch theologische Arbeit im
engeren Sinn leisten. Der Papst kann nicht immer seine Enzy-
kliken allein verfassen und sollte es im allgemeinen auch nicht
(schon Bellarmin hat den Papst davor gewarnt, durch private
Theologie seine Entscheidungen vorbereiten zu wollen). Dabei
sind wir in Rom vielmehr auf eure Mitarbeit angewiesen.
Warum führt die Internationale Theologenkommission ein so
kümmerliches Dasein neben der Glaubenskongregation, deren
Chef sich schon ausdrücklich geweigert hat, diesen interna-
tionalen Theologenkreis zur Beratung heranzuziehen? Die
Theologen, die der Glaubenskongregation angehören, müßten -
einen internationalen Ruf haben, und es müßte bekannt sein,
welche von ihnen bei einer bestimmten Entscheidung mitge-
wirkt haben. Man kann doch hoffentlich in der Kirche soviel
Mannesmut erwarten.

Zum Verfahren der Glaubenskongregation

Selbstverständlich müßte die Glaubenskongregation einem


vorgeladenen Theologen die Unterlagen seines Prozesses in
allen dessen Phasen unterbreiten. Noch vor ein paar Jahren
geschah es, daß ein dickes Dossier gegen einen Theologen mit
den verschiedensten brieflichen Denunziationen wie ein Buch
gedruckt wurde und diesem Theologen nicht gezeigt werden
durfte. Erst jüngst wurde der «Relator pro autore», der in
einem solchen Verfahren amtlich bestellte Verteidiger, dem
Angeklagten gegenüber geheimgehalten; er durfte nicht einmal
wissen, wer ihn verteidigen sollte. Solche Geheimnistuerei ist
absurd. Sie muß beseitigt werden. In solchen Dingen verletzt
die römische Behörde Menschenrechte, für die die Kirche ein-
zutreten erklärt.
Ich halte es auch für altmodisch und sachfremd, daß die
Glaubenskongregation ein Verfahren in zwei getrennten
«Kammern» abwickelt: Eine Streitfrage wird zuerst durch die
«Consulta» der Theologen allein beraten; das Ergebnis kommt
241
dann an (zehn) Kardinäle, die allein entscheiden. Natürlich
leitet sich letztlich die Autorität des Lehramts nicht vom
Gewicht der theologischen Argumente und dem Scharfsinn der
Theologen ab, auch wenn das Lehramt die Verpflichtung hat,
sich dieser Mittel mit höchster Energie zu bedienen. Aber
damit ist doch nicht gegeben, daß die höhere «Kammer» der
Kardinäle, die — salva omni reverentia — zum größeren Teil
über ihren altgewohnten Schulsack hinaus nichts von
Theologie verstehen, allein berät und entscheidet, was dann
noch einmal der formalen Autorität des Papstes unterbreitet
wird. Was würde es denn schaden, wenn Theologen und ein
paar wirklich kompetente Kardinäle sich von vornherein
zusammensetzten, auch wenn die Theologen dabei nur eine
beratende Funktion haben? Und noch etwas: Solche Verfahren
müßten rascher abgewickelt werden. Es dürfte einem
Theologen nicht zugemutet werden, jahrelang zitternd zu
warten, bis die römische Bürokratie zu einem Entschluß
kommt. Vorsicht und genaue Prüfung rechtfertigen solche
Verzögerungen nicht. Bei der internationalen Kurie einer Welt-
kirche, die doch Rom sein will, müßte es selbstverständlich
möglich sein, daß das Kolloquium zwischen dem Theologen
und der römischen Behörde in jeder international üblichen
Weltsprache geführt wird.»

Selbstverständnis und Praxis der Theologie

Umgekehrt müßten die Theologen ungefähr folgendes er-


klären: «Zunächst einmal sind wir keine Mafia, in der jeder im
Namen der Theologie und der Theologen reden kann, und wir
fühlen uns auch nicht verpflichtet, von vornherein überall dort
im Namen der Wahrheit und der Freiheit der Theologie los-
zudonnern, wo ein einzelner Theologe mit Rom in Konflikt
kommt. Wir haben durchaus das Recht und die Pflicht, uns
gegen einen anderen Theologen ausdrücklich für Rom zu er-
klären, wenn wir von der Richtigkeit einer römischen Er-
klärung überzeugt sind. Kumpanei ist auch unter Theologen
242
eine widerwärtige Sache. Muß man heute schon sagen, daß ein
Theologe sich nichts vergibt, wenn er für eine römische Ent-
scheidung einsteht?
Kollektive Erklärungen von Theologen sollten von den römi-
schen Instanzen ernst genommen werden. Sie sollten sie nicht
grundsätzlich unbeachtet lassen und nicht meinen, jeder Dialog
mit den Theologen sei gegen das Wesen des römischen Lehr-
amts, weil der «höchste Sitz» keiner richterlichen Instanz auf
dieser Erde mehr untersteht, wie das Kirchenrecht sagt. Trotz-
dem sind solche Erklärungen eine fragwürdige Sache. Praxis
in der Welt und Modernität sind noch keine Argumente durch-
schlagender Art für solche Kollektiverklärungen. Sie nutzen
sich sehr rasch ab. Sie bleiben schnell in Allgemeinheiten
stecken, die von niemandem bestritten werden; Gott und der
Teufel stecken aber im Detail, über das solche Erklärungen oft
billig hinweggehen. Besonders Rufe nach mehr Freiheit in der
Theologie sind verdächtig und unwirksam, wenn nicht klarer
gesagt wird, was damit gemeint ist und was nicht.

Anerkennung des Lehramts

Das erste, was wir von unserer Seite als Theologen zu sagen
haben, ist also die Anerkennung unserer Pflicht gegenüber dem
römischen Lehramt. Selbstverständlich haben wir Theologen
eine eigenständige Funktion und eine pastorale Verantwortung
in der Kirche. Wir sind gewiß nicht bloß die Handlanger des
Lehramts und der kirchlichen Behörden. Aber das Lehramt ist
für uns Theologen eine verbindliche Größe, und wir versehen
unsere Aufgabe innerhalb der hierarchischen, römisch-katholi-
schen Kirche und deren Ordnungen. Diese Aufgabe reicht
gewiß über die bloße apologetische und interpretierende Unter-
stützung des Lehramts hinaus, schon deshalb, weil die Ent-
wicklung des Gesamtglaubensbewußtseins der Kirche nicht
einfach adäquat vom Lehramt gesteuert werden kann. Aber
diese Aufgabe kann nur in einem grundsätzlichen Einverneh-
men mit dem kirchlichen Lehramt wahrgenommen. werden.
Wir Theologen sollten bei den sich rasch ins Uferlose ver-

243
mehrenden Erklärungen über das Verhältnis von Lehramt und
Theologie nicht nur gerade noch in einem Satz dieses Lehramt
formal anerkennen, um dann emphatisch und emotional lang
und breit unsere Freiheit zu reklamieren; wir sollten auch etwas
genauer von dieser Respektierung des Lehramts reden. Es ist
grundsätzlich keine Anmaßung des Lehramts, wenn es uns
zensuriert; so etwas ist auch nicht von vornherein und grund-
sätzlich eine Bedrohung der Freiheit unserer theologischen
Forschung. So fließend und differenziert das Verhältnis zwi-
schen Glaube und Glaubensverkündigung einerseits und wis-
senschaftlicher Theologie andererseits sein mag - eine
Theologie, die zur Verkündigung und zum Glaubensvollzug
in der Kirche keine Beziehung hätte, wäre keine christliche
Theologie mehr, sondern höchstens profane Religionswissen-
schaft. Darum kann es auch keine eindeutig abgrenzbaren
Bezirke und Methoden der wissenschaftlichen Theologie
geben, die schlechterdings außerhalb der Kompetenz des Lehr-
amts lägen.
Man hat schon betont, daß ein Unterschied obwalte zwischen
Veröffentlichungen wissenschaftlicher Fachtheologie und Ver-
öffentlichungen, die sich an ein breites Publikum wenden.
Abgesehen davon, daß heute eine solche Unterscheidung
schwer durchführbar ist, weil die Massenmedien alle über alles
unterrichten, so hat sie doch einen Sinn. und empfiehlt mit
Recht eine größere Toleranz des Lehramts gegenüber der fach-
theologischen Literatur, besonders wenn diese mit der zu wis-
senschaftlichen Forschungen gehörenden Vorläufigkeit und
Bedingtheit denkt und schreibt. Aber solange Theologie nicht
zu bloßer Religionswissenschaft degeneriert, sondern innerhalb
des Glaubensbewußtseins der Kirche lebt und denkt, können
auch wissenschaftliche theologische Veröffentlichungen und
Zeitschriften die Aufsicht des Lehramts nicht grundsätzlich
ablehnen.
Freilich ist nun an die Adresse dieses kirchlichen Lehramts
zu sagen, daß uns Theologen in vieler Hinsicht nicht recht klar
ist, was dieser Respekt des Lehramts und unsere Normiertheit
durch das Lehramt uns konkret abverlangt und was nicht. Daß

244
diese Normiertheit Stufen und Grade verschiedener Art hat,
ergibt sich schon aus der kirchenamtlichen Lehre, daß die
Erklärungen des kirchlichen Lehramts nicht alle den gleichen
Verbindlichkeitsgrad beanspruchen. Damit ist selbstverständ-
lich auch eine Differenzierung in unserer Reaktion auf solche
Erklärungen gegeben. Aber wie diese Differenziertheit konkret
aussehen darf und wie nicht, darüber läßt uns Theologen das
Lehramt doch sehr im unklaren bzw. stellt Normen auf, die in
ihrer Undifferenziertheit entweder falsch sind oder uns nicht
helfen.

Wozu verpflichten lehramtliche Erklärungen?


Wenn zum Beispiel die Aussagen von «Lumen gentium» (Nr.
25) zu dieser Frage schlechthin gälten, wäre der weltweite
Dissens der katholischen Moraltheologen gegen die Enzyklika
«Humanae vitae» ein massiver und globaler Verstoß gegen die
Autorität des Lehramts. Das Lehramt nimmt diesen Verstoß
aber hin und zeigt damit, daß die Norm von «Lumen gentium»
(und vieler anderer ähnlicher Erklärungen der letzten hundert
Jahre) eine legitime Praxis des Verhältnisses zwischen Lehramt
und Theologen nicht differenziert genug wiedergibt. Hätten
die katholischen Exegeten so lange zu den Erklärungen über
ihre Probleme unter Pius X. schweigen dürfen, wie sie es
respektvoll, aber zum Schaden der Glaubensfreudigkeit der
Gebildeten getan haben? Was sollen heutige Moraltheologen
machen bei römischen Erklärungen zur Sexualmoral, die sie für
zu undifferenziert halten? Sollen sie schweigen oder sollen sie
widersprechen, differenzierend interpretieren?
Wenn das Fehlen solcher genauerer Normen aus der
Schwierigkeit der Frage erklärbar ist, dann müssen wir uns
eben selber im Einzelfall mutig und vorsichtig einen Weg
suchen. Wir dürfen nicht bloß vorsichtig sein — vielleicht sogar
nur, damit wir nicht Gefahr laufen, unseren Posten zu verlie-
ren —; wir müssen auch mit Mut etwas riskieren, das heißt
damit rechnen, daß wir von Rom zensuriert werden.
Nur ist damit die Frage nicht einfach beantwortet. Setzen wir
voraus, eine solche Zensurierung eines Theologen oder einer
245
Theologengruppe werde zwar von den Zensurierten mit allem
Respekt und aller Gelehrigkeit aufgenommen, es sei aber gar
nicht ausgemacht, daß die traditionelle Theologie, die normale
bisherige Meinung in der Kirche, auf die sich Rom beruft,
unmittelbar mit einem eindeutigen Dogma identisch ist. Die
formale Autorität des Lehramts ist in einem solchen Fall nicht
irreformabel und hat sich, wie die Geschichte zeigt, schon oft
geirrt. Setzen wir weiter voraus, die Sachargumente des Lehr-
amts überzeugten den betreffenden Theologen trotz aufrich-
tiger Belehrbarkeit nicht und es handle sich um eine nicht
unwichtige Frage, die darum für diesen Theologen auch eine
gewisse Pflicht impliziert, öffentlich für die Wahrheit einzu-
treten, und gleichzeitig natürlich auch das Interesse des Lehr-
amts stärker hervorruft.
Was soll in einem solchen Fall geschehen? Genügt ein
«Silentium obsequiosum»? Darf, muß der Theologe einen
Widerspruch öffentlich anmelden? Wenn ja, wo bleibt dann die
«aufrichtige Anhänglichkeit», die das Konzilsdekret von ihm
verlangt? Wenn der Theologe dabei den inneren Respekt und
die Unterordnung trotz des Widerspruchs in der Einzelfrage
grundsätzlich bewahrt, wie läßt sich dies vom Lehramt feststel-
len? Darf und soll es sich mit dieser allgemeinen Haltung
zufriedengeben und den Widerspruch im einzelnen gelassen
hinnehmen? Wenn man sagt, in einem solchen Fall hätten die
Theologen einfach zu schweigen, dann erhebt sich doch die
gewichtige Frage, wie dann der für das Leben der Kirche und
die Glaubwürdigkeit ihrer Verkündigung notwendige Fort-
schritt der Erkenntnis zustande kommen könne, wo doch das
Lehramt bei einer solchen Erklärung auch irren kann. Wenn
zum Beispiel gegenüber den Bibeldekreten Pius’X. alle
Theologen ihre «aufrichtige Anhänglichkeit» durch ein gehor-
sames Schweigen realisiert hätten, dann könnte der heutige
Papst nicht unbefangen vom Jahwisten sprechen, und in keiner
Einleitung in das Neue Testament dürfte stehen, daß das
Lukasevangelium nach der Zerstörung Jerusalems verfaßt
worden sei.
Ich meine, der Theologe habe nach reiflicher Erwägung das
246
Recht und manchmal sogar die Pflicht, einer Erklärung des
Lehramts zu widersprechen und seinen Widerspruch aufrecht-
zuerhalten. Das Lehramt kann diesen Widerspruch dulden und
sich durch ihn veranlaßt sehen, seine eigene Sachargumentation
zu verbessern, ohne die Freiheit eines Theologen aufzuheben.
Es kann versuchen, Theologen zu gewinnen, die auf seiner
Seite stehen; im übrigen aber soll es in solchen Fällen die Frage,
auf welcher Seite die Wahrheit stehe, dem Fortgang der Kon-
troverse und der künftigen Glaubensgeschichte überlassen.

Toleranz des Lehramts gegenüber der Theologie

Das Lehramt braucht sich das Recht, eine theologische Kon-


troverse mit einer Entscheidung zu beenden, gewiß nicht
nehmen zu lassen. Aber dieses grundsätzliche Recht bedeutet
nicht, daß das Lehramt jedwede Kontroverse beenden müsse,
daß es dazu in jedem Fall sachlich in der Lage sei und daß eine
nicht-definitorische Entscheidung in jedem Fall eine Kon-
troverse so beende, daß eine weitergehende Diskussion über-
haupt nicht mehr möglich wäre. Hier kann das Lehramt durch
administrative Maßnahmen in Einzelfällen die Freiheit der
Theologie unsachlich und ungerecht einengen. Solche Fälle
kamen und kommen immer wieder vor. Ohne auch nur im
entferntesten zu unterstellen, daß jedwede Maßnahme des
Lehramts eo ipso eine illegitime Beschneidung der Freiheit der
Theologen sei, muß ich doch sagen, daß die Zahl der Fälle von
unberechtigter Freiheitsbegrenzung, die ich in meinem Leben
bei anderen Theologen miterlebte, erheblich groß ist, zumal
wenn man bedenkt, daß das Heilige Officium natürlich auch für
Maßnahmen verantwortlich ist, die es bei Ordenstheologen
durch deren Ordensobere durchführen läßt.
Die Toleranz gegenüber Meinungsäußerungen von
Theologen, die nicht-definitorischen Erklärungen des Lehr-
amts widersprechen, wird in den letzten Jahren von Rom schon
weitgehend praktiziert. Ist diese faktische Toleranz nur die
Konsequenz der Umstände, daß nämlich Rom bei der Vielfalt
solcher Fälle nicht mehr «nachkommt», die Konsequenz eines

247
eh a re
3

praktischen Unvermögens, das man am liebsten überwunden


sähe? Oder kommt diese Toleranz aus der Einsicht in ihre
sachliche Berechtigung? Man sollte das Zweite hoffen dür-
fen — und man wäre dann freilich froh, wenn man in Rom das
auch ausdrücklich sagte.
Auch ein bedeutsamer guter Zweck gibt nicht das Recht,
jedwedes Mittel zu seiner Erreichung anzuwenden. Die
Toleranz, die Rom grundsätzlich als seine Pflicht erklären
sollte, darf nicht verletzt werden durch die Versuchung, die
pflichtmäßigen und ehrenwerten Ziele und Aufgaben des Lehr-
amts durch schlechte Mittel zu erreichen, zu denen auch — aus
einem geheimen Mißtrauen gegen die Kraft der Wahrheit - eine
Versagung der für die Theologie notwendigen Freiheit gehört.
Eine tote Orthodoxie ist keine wirkliche Orthodoxie. Die Ein-
räumung legitimer Freiheit für die Theologie geschieht nicht
durch ein paar grundsätzliche Erklärungen, die billig sind,
sondern dort, wo man konkret einem Theologen eine Mei-
nungsäußerung zugesteht, die man sachlich für falsch hält
(dabei aber doch auch irren kann), obwohl man die Macht
hätte, sie zu verhindern.
Der Mächtige lebt in einer dauernden Versuchung, auch das
römische Lehramt, selbst wenn man ihm den guten Glauben
auch dort zubilligt, wo es freie Theologie unnötig behindert.
Die Theologen sollen im konkreten Fall nicht, wie es neuer-
dings oft geschehen ist, mit hochmütigen und lieblosen morali-
schen Vorwürfen reagieren, was auch nicht sehr jesuanisch ist.
Aber bei der Sündigkeit aller Menschen und ihrer Versuchbar-
keit, gegen die auch die Amtsträger in ihrer Amtsführung nicht
von vornherein geschützt sind, ist es durchaus erlaubt, mit
gebührendem Respekt die Amtsträger darauf aufmerksam zu
machen, daß nicht die Freiheit in der Theologie, sondern ihre
(natürlich unter Umständen durchaus notwendige) Einschrän-
kung die erste Beweislast hat. Nochmals: Warum sagt man in
Rom selbst nicht ausdrücklich genug diese Selbstverständlich-
keiten? Hat man Angst? Warum versteht man nicht, daß solche
ausdrücklich anerkannten Prinzipien die Autorität des Lehr-
amts nicht mindern, sondern mehren würden?

248
r% H 1 )

DIE UNVERGÄNGLICHE AKTUALITÄT DES


PAPSTTUMS

Die Wunschvorstellung eines Papstes für die Zukunft soll keine


Kritik an den Päpsten bedeuten, die wir erlebt haben oder
erleben. Aber die Zukunft ist — das einzig Sichere, was wir von
ihr wissen — anders als die Vergangenheit und die Gegenwart.
Wenn man sich nicht nur das bleibende Wesen des Papsttums
in dogmatischer Reflexion vergegenwärtigen will, sondern sich
Gedanken erlaubt über die Zukunft im allgemeinen, dann wird
man als katholischer Christ unwillkürlich sich auch Überlegun-
gen erlauben oder wenigstens vage Vermutungen zulassen, wie
das Papsttum vielleicht aussehen könnte in einer näheren
Zukunft, von der man schon etwas ahnen kann.
Da man mir schon einmal einen Traum über einen Papst der
Zukunft abverlangte!, kam ich wieder ins Träumen. Der
Traum bezog sich auf den Brief, der im folgenden wiedergege-
ben wird. Natürlich sind Träume immer sehr willkürlich und
vage. Selbstverständlich verraten sie vielleicht mehr vom
Träumer als von der geträumten Wirklichkeit. Da ich nicht
einmal in Träumen in die Zukunft sehe, bleibt, was der Papst
schreibt, unvermeidlich sehr abstrakt und sagt nichts über die
konkrete Zukunft, die auch dem Papsttum durch eine uner-
forschliche Vorsehung beschieden sein wird.

Im Vatikan
Lieber Peppino! Rom, den ...

Jetzt ist Dein alter Freund Papst geworden. Wer von uns
beiden hätte das gedacht, als wir in den 60er Jahren miteinander
in Rom studierten. Du wirst erschrocken sein, als Du die

1 Vgl. K. Rahner, Der Traum von der Kirche, in: Schriften zur Theologie
XIV, Zürich 1980, 355 — 367.

249
X

Nachricht hörtest. Ich bin auch erschrocken. Aber es läßt sich


nun nicht mehr ändern, und (ehrlich gesagt) ich sehe einen
kleinen Trost darin, daß wieder ein Italiener Papst geworden
ist. Der Papst ist zwar als Petrus Bischof für die ganze Kirche,
aber er ist doch auch Bischof von Rom in Italien. Früher haben
wir in unserer Ekklesiologie beim Studium nicht herausge-
bracht, ob der Papst auch noch Bischof von Rom oder der
Bischof von Rom Papst ist. Aber jedenfalls ist er Bischof von
Rom, und das darf sich auch in der Person des Papstes auswir-
ken, zumal ich eigentlich finde, daß wir Italiener in den letzten
Jahrhunderten dieses Amt auch nicht schlechter verwaltet
haben, als es Leute aus anderen Nationen getan hätten oder
getan haben, auch wenn die italienische Geschichte des letzten
Jahrhunderts nicht besonders glorreich gewesen ist. (Fürchte
aber nicht, daß ich viel von Italien reden werde, außer eben,
wenn ich zu unseren Landsleuten spreche.) Damit aber ist es
mit dem Trost bei meiner Wahl auch schon zu Ende. Es hat
sicher sehr oft ehrgeizige Päpste gegeben, aber Du wirst mir
zugeben, daß ich nicht zu diesen gehöre. Wenn man nicht nur
auf die Aufgabe, sondern auch auf die Situation blickt, in der
man heute und in nächster Zukunft diese Aufgabe erfüllen
muß, hat man ja auch keinen Grund, ehrgeizig zu sein und nach
einer solchen Aufgabe zu streben. Man kann sie ja nie wirklich
so erfüllen, wie sie erfüllt werden müßte; und in den nächsten
Jahren weniger als je. Peppino, an sich dürfte ich gerade in den
nächsten Monaten eigentlich für den Luxus des Briefschreibens
keine Zeit haben. Aber ich denke wie Giovanni, unter dem wir
groß wurden: «Nimm dich nicht zu ernst.» So mach Dich auf
einen langen Brief Deines alten Freundes gefaßt. Nebenbei: Für
Dich bleibe ich der alte Leone, auch wenn ich jetzt aus
Gründen, die ich Dir nicht erklären muß, Paul VII. genannt
werde. Dieser Brief hat insofern auch einen Sinn, als ich mir
dadurch Gedanken mache, wie ich mir selber dieses Pontifikat
vorstelle. Denn bisher, vor der Wahl, habe ich mir auch als
Kardinal darüber wahrhaftig nie den Kopf zerbrochen. Das
habe ich anderen Kollegen überlassen. Ich schreibe Dir meine
Überlegungen, weil ich von Dir kritische Gegenäußerungen
250
%

erwarte. Peppino, ich beschwöre Dich: Gehöre immer zu


denen, die deutlich, ja grob, immer wieder den Dunst durch-
brechen, mit dem fromm, aber dumm die Menschen, bis zu den
Kardinälen hinauf, durch Lobsprüche einen Papst umgeben.
Vielleicht — ich bin auch ein normaler Mensch, der sich gerne
loben hört — werde ich sauer auf Deine nüchternen Kritiken
reagieren. Aber sie sind Deine Pflicht als Freund und Priester;
rausschmeißen werde ich Dich gewiß nicht, wenn Du zu mir
kommst. Wir können ja auch miteinander essen, denn diesbe-
züglich ist ja schon seit Johannes Paul II. das Hofzeremoniell
ein wenig menschlicher und also vernünftiger geworden. Wenn
ich so ganz am Anfang über meine Aufgabe nachdenke, dann
fällt mir dies und jenes ein, das ich Dir schreiben will, ohne
darum ein Regierungsprogramm zu entwickeln. Ein solches
werde ich mir wohl sogar in meiner ersten Enzyklika schenken,
die ich unvermeidlich bald schreiben oder verfassen lassen
muß.
Zunächst einmal: Ich werde ein Papst sein, wie es sehr viele
schon gegeben hat. Hoffentlich werde ich nicht der schlechteste
(was vielleicht nicht einmal sehr schwer ist). Ich werde also mit
der Überzeugung von der Vollmacht meines Amtes leben und
handeln, die wir als Christen und als junge Theologen gelernt
und uns zu eigen gemacht haben. Das erste Vatikanum z.B. gilt
darum für mich selbstverständlich immer noch. Ich gestehe Dir
aber, daß diese meine Glaubensüberzeugung jetzt, wo ich der
Träger dieser Vollmachten bin, mir ganz unheimlich geworden
ist. Erinnerst Du Dich noch von unserem Studium her, wie
Congar kritisch über die Titel des Papstes schrieb? Ich werde
dafür zu sorgen versuchen, daß bei aller Wahrung des Dogmas
nicht zuviel vom «Stellvertreter Jesu Christi» geredet wird, der
sich ja eigentlich nicht stellvertreten läßt und bei seiner Kirche
und sogar bei ihrem Papst bleibt, ja, gerade in dessen Schwach-
heit machtvoll bleibt. Manches an praktischer Entmy-
thologisierung des Papsttums ist ja schon in den letzten Jahr-
zehnten geschehen. Es gibt keine Tiara mehr, die Sedia Ge-
statoria ist abgeschafft, Gott sei Dank ist die dreifache
Kniebeugung des Besuchers in einer Privataudienz verschwun-
251
den. Es gibt gewiß noch manche Zöpfe im Vatikan, die abge-
schnitten werden können. Vielleicht habe ich wenigstens dabei
ein paar Erfolge. Das ist gar nicht so leicht, weil viele Leute
mit frommem Gemüt dieses traditionelle Hofzeremoniell heiß
lieben. Du erinnerst Dich noch (ich lache), wie ich als Student
gesagt habe, ich möchte einmal einen Papst in weißer Hose
Tennis spielen sehen? So weit wird es wohl bei mir noch nicht
kommen. Und ich weiß natürlich, daß man auch durch die
Kombination des katholischen Dogmas mit einer Analyse der
Gegenwart und ihrer Mentalität allein noch keine konkrete
Vorstellung vom Lebensstil und Regierungsstil eines Papstes
ableiten kann. Ich werde darum gewiß vieles auch so lassen, wie
es historisch eben geworden ist, auch wenn es nicht so selbst-
verständlich mit dem Wesen des Papsttums verbunden ist, wie
viele Traditionalisten es unwillkürlich und unreflex empfinden.
Aber auf der anderen Seite möchte ich auch nicht ein Papst sein,
der zuviel Altmodisches aus der Vergangenheit weiterschleppt.

Der bürokratische Apparat könnte vereinfacht werden

Ich bin z. B. noch lange nicht davon überzeugt, daß der unge-
heure bürokratische Apparat, der in den letzten zwei Jahrhun-
derten sich hier in Rom entwickelt hat, einfach zwingend sich
aus dem Dogma vom Universalprimat des Papstes ableiten läßt.
Wenn der Heilige Geist (hoffentlich) nicht nur dem Papst hilft
(wenn auch leider, wie wir einst gelernt haben, meist nur durch
eine assistentia per se negativa), sondern überall in seiner
Kirche, dann muß doch nicht alles, was von Gutem und
Heiligem und Vernünftigem in der Kirche wachsen will, erst
einmal durch eine römische Behörde abgesegnet sein, bevor es
leben und wachsen kann. Ich meine, der Papst und seine Behör-
den dürften Gottes Vorsehung nachahmen und oft mit einer
assistentia per se negativa arbeiten, d.h. Verkehrtes verhindern,
aber nicht meinen, es dürfe oder könne nur wachsen, was sie
selbst gepflanzt haben.
Ich will überlegen, ob man nicht nur die Priester in den
römischen Behörden verwenden solle, die ı5 Jahre erfolgreiche

252
Tätigkeit in der normalen Seelsorge nachweisen können. Dann
würde sicher weniger von der oft beklagten Arroganz und
Selbstsicherheit vorhanden sein, die die römischen «General-
stäbler» (sprich: Kurienbeamten) gegenüber den «Frontof-
fizieren» (sprich: Bischöfen) an den Tag legen. Was da in Rom
konkret verändert werden kann und muß, weiß ich natürlich
noch nicht genau, auch wenn das franziskanische Ideal meines
Peppinos vom armen und demütigen Papst in der Nachfolge
Jesu mich vermutlich nicht veranlassen wird, aus dem Vatikan
auszuziehen in eine Dachwohnung in Trastevere oder auf die
Philippinen meinen Sitz zu verlegen, wie es in unserer Studen-
tenzeit Bühlmann schon gedacht hatte. Der bürokratische
Apparat der Kurie aber kann gewiß sehr vereinfacht werden,
einfach darum, weil eine Kirche, die nicht mehr die Kirche
Europas mit ein paar Außenbezirken ist, sondern eine Weltkir-
che geworden ist, einfach nicht so zentralistisch wie bisher
«regiert» werden kann. Ich gehöre zu denen, die Verantwor-
tung und Macht gerne anderen überlassen, zu denen, die nicht
alles selber verstehen und selber tun wollen. Was das genau
heißt, das muß sich, wie gesagt, freilich noch herausstellen.
Ich meine, auch ein Papst habe das Recht, ein normaler armer
Mensch, ein angefochten Glaubender, ein einzelner unter vielen
zu sein. Und das auch unbefangen — demütig, wenn Du willst
— merken zu lassen. Wir beide haben einst Papstgeschichte
nüchtern und ehrlich studiert. Peppino, wieviel Schreckliches,
Törichtes, Kurzsichtiges, Rückständiges ist da doch passiert,
auch wenn man dazu immer denken und sagen soll, daß es so
die für uns unbegreifliche Fügung des ewigen Gottes war,
dessen Geheimkämmerer auch der Papst nicht ist. Natürlich
werden wir die Schrecklichkeiten und Dummheiten früherer
Zeiten nicht mehr wiederholen. Aber wie soll ich nicht fürch-
ten, daß ich in meinem Amt nicht andere Dummheiten begehe,
auch bei gutem Willen und ehrlichem Bemühen? Die Men-
schen, und also auch die Päpste, erfüllen doch ihre Aufgaben
immer schlecht, wir wären ja sonst keine armen Sünder und
endlichen Kreaturen, die sich mühsam durch die Finsternis der
Geschichte vorantappen. Aber auch wenn ich keinem meiner
255
Vorgänger oder wenigstens meiner letzten Vorgänger einen
Mangel an Demut und Bescheidenheit unterstelle, so meine ich
doch, daß ein Papst heute und morgen diese kritische Selbstein-
schätzung auch nach außen deutlicher machen dürfe, als dies
bisher üblich war. Die Großen in der Welt- und Kirchenge-
schichte hatten früher offenbar die in gewisser Hinsicht realisti-
sche Vorstellung, daß die Autorität, die sie mit Recht in An-
spruch nahmen, Schaden leide, wenn man vor den «Unter-
tanen» merken lasse, daß man auch nur ein Mensch sei und
Fehler mache. Erst nach seinem Tod durften die Kirchenge-
schichtsschreiber an einem Papst Fehler, Mißgriffe, Rückstän-
digkeiten entdecken. Wenn ich nun aber davon überzeugt bin,
daß ich auch als Papst ein Mensch bleibe und Fehler - vielleicht
sogar massiver Art — machen kann und wohl auch machen
werde, warum sollte ich so etwas nicht auch schon zu meinen
Lebzeiten eingestehen dürfen? Ist die Mentalität der Menschen,
auf die es wirklich ankommt, heute nicht so, daß eine Autorität
gewinnt und nicht Schaden leidet, wenn ihr Träger greifbar
und deutlich mit solchen Möglichkeiten eines armen, sündigen
und unvermeidlich beschränkten Menschen rechnet und dies
auch merken läßt? Vorläufig wenigstens bin ich gewillt, auch
in meiner unmittelbaren Umgebung hörbare Diskussionen
zuzulassen, zuzuhören und unter Umständen auch eines Bes-
seren belehrt zu werden und das nüchtern einzugestehen. Ich
möchte auch als Papst noch etwas dazulernen, und die Leute
sollen ruhig merken, daß der Papst irren kann, Fehler macht,
einseitig informiert ist, falsche Mitarbeiter auswählen kann.
Das alles ist selbstverständlich, und ich glaube, daß kein Papst
neuerer Zeit im Ernst jemals daran gezweifelt hat. Aber warum
sollen solche Selbstverständlichkeiten verborgen und verdeckt
bleiben? Petrus hat sich ja von Paulus ins Angesicht wider-
stehen lassen, und ich nehme an, daß Petrus zugab, Paulus habe
mit seinem Protest recht gehabt. So etwas darf sich doch auch
ein Papst heute erlauben. Ich jedenfalls nehme dieses Recht in
Anspruch und fürchte nicht, dadurch an der Autorität Einbuße
zu erleiden, die in Anspruch zu nehmen mir nun einmal aufer-
legt ist.

254
Pontifikat der Bescheidenheit als Ausgleich

Peppino, ich muß Dir noch etwas anderes sagen. Ich werde
kein großer Papst werden. Dazu fehlt mir zuviel. Das weißt Du
selbst.Wir haben uns früher nichts vorgemacht, aber das
schadet nichts. Ich werde deshalb keine Minderwertigkeits-
komplexe haben, wenn ich neben den großen Päpsten des
20. Jahrhunderts mich recht bescheiden ausnehmen werde. Ich
finde das nämlich providentiell. Mir kommt vor, daß diese
Päpste durch ihre Größe in der Kirche auch eine Wirkung
hervorgebracht haben, die sie vermutlich gar nicht beabsichtig-
ten, die aber ihre bedenklichen Seiten hat und die ich durch
mein weniger bedeutsames Pontifikat ausgleichen werde. Ist es
nicht so? Haben diese großen Päpste nicht unwillkürlich in der
Kirche eine Mentalität erzeugt, die die Funktion des Papstes
überschätzt, die er sowohl vom Dogma wie vom Durchschnitt
der Papstgeschichte her haben muß? Ist es nicht in dieser
Mentalität so, als ob ein Papst der Größte in der Kirche in jeder
Beziehung sein müsse? Eine Instanz, von der alle Impulse in
der Kirche auszugehen haben, ein Lehrer, für den alle Denker
und Theologen daneben nur kleine Handlanger sind, ein
Heiliger und ein Prophet, ein Mensch, der durch seine be-
zaubernde Menschlichkeit alle in seinen Bann zwingt, ein
großer Führer, der sein Jahrhundert prägt und neben dem alle
Staatsmänner und sonstigen weltlichen Größen verblassen, ein
Pontifex, dem sich alle Bischöfe wie kleine Beamte ihrem
König ehrfurchtsvoll nahen, um sein Wort und seine Weisung
gehorsam entgegenzunehmen? Peppino, ein solcher Papst
werde ich nicht werden und halte dies auch gar nicht für nötig.
Ein Papst hat seine ganz genau begrenzte Aufgabe in der
Kirche, begrenzt trotz seiner universellen Jurisdiktion und
seiner Lehrvollmacht nach dem Ersten Vatikanum. Diese Voll-
macht werde ich wahrnehmen. Auch das nur in den Grenzen,
die mir durch die Begrenztheit meines eigenen Wesens vorge-
geben sind. Das, aber auch nicht mehr. Ich werde in der Kirche
nicht der Heiligste sein. Vor Gott bin ich weniger als die
Heiligen, die es auch heute noch in der Kirche gibt, die

25)
schweigenden Beter, die mystisch Verzückten, die in den
Kerkern der Feinde Christi und der Kirche glaubend Unterge-
henden, die selbstlos Liebenden, wie es einst die Teresa von
Kalkutta war, die unbekannten und unbelohnten Helden des
Alltags, der Pflicht und des Verzichtes. Es kann doch kein
Mensch leugnen, daß auch ein Innozenz II. vor Franz von
Assisi verblaßt und die Pius-Päpste der beiden letzten Jahrhun-
derte zurücktreten vor einem Pfarrer von Ars oder der Therese
von Lisieux. Man kann natürlich sagen, es würden so Größen
miteinander verglichen, die inkommensurabel sind. Aber nicht
nur vor Gottes ewigem Gericht, sondern auch im Leben der
Kirche sind solche Menschen wie die Heiligen, auch die großen
Theologen wie ein Thomas von Aquin oder ein Newman,
bedeutsamer als die meisten Päpste, und erst recht als ich es sein
werde. Es gibt in der Kirche viele Charismen, und auch ein
Papst hat nicht alle selber. Wenn man im allerletzten nur die
eigenen Charismen wirklich ganz verstehen kann, muß sich
auch ein Papst sagen, daß er nicht alles, was in der Kirche lebt,
wirklich ganz würdigen kann, daß nur Gott selbst und auch
kein Papst an dem Ort steht, wo alles Gute und Heilige in der
Kirche wie eine vollendete Symphonie erklingt. Und darum
schadet es nichts, wenn durch mein Pontifikat eine gewisse
Korrektur in der Mentalität der frommen Christen eintritt, die
von den Päpsten letztlich zu Unrecht erwarten, was sie von
ihren Heiligen und großen Geistern in der Kirche erhalten
können und vielleicht von sich selber verlangen müßten.
Welcher Christ und vielleicht auch welcher Papst denkt beim
Vaterunser daran, daß er auch das Ende des Papsttums erbittet,
wenn er in ungeduldiger Hoffnung um das Kommen des
Ewigen Reiches Gottes betet? Ein kleiner Papst kann auch
providentiell sein.
Ich gestehe Dir, daß ich mich dennoch für den realen Fort-
schritt in der ökumenischen Frage verantwortlich fühle und
Gottes Gericht fürchte, wenn ich in dieser Sache nicht das
Äußerste tun werde, das mir möglich ist. Im ganzen Jahrhun-
dert, das nun hinter uns liegt, wurde von allen Seiten beteuert,
daß die Kirchen nicht das Recht hätten, in der ökumenischen

256
Aufgabe einfach so weiterzumachen wie seit der Trennung von
Ost und West und seit der Reformation. Man kann sagen, es
sei im letzten halben Jahrhundert und besonders seit dem
Zweiten Vatikanum in der ökumenischen Sache ungeheuer viel
geschehen, und ich will wahrhaftig niemandem da Verdienste
absprechen. Aber man kann auch sagen: Wir sind nicht recht
weitergekommen. Denn die großen Kirchen sind immer noch
voneinander getrennt, und daran ändert letztlich auch die
größer gewordene Nähe unter den Kirchen nichts. Ich frage
mich verzweifelt, ob das so bleiben muß. Natürlich hängt die
Einheit, auf die alle Christen verpflichtet sind, nicht nur von
Rom ab. Aber ich frage mich, ob man hier bei uns nicht mehr
tun könnte, auch wenn man bisher der Überzeugung war, man
habe alles getan, was möglich ist. Ich weiß nicht recht, wie es
weitergehen könnte. Ich bin mir darüber nicht klar, aber ich
werde auch ehrlich sagen, daß ich es nicht bin, und andere
fragen, wo sie neue Möglichkeiten sehen, weiterzukommen.
Ich bin entschlossen zum Mut eines ökumenischen Probabilis-
mus, d.h. ich fühle mich in dieser Frage zu allen Maßnahmen
und Schritten verpflichtet, die mir vorgeschlagen werden,
wenn kein eindeutiges Veto meines Glaubensgewissens gegen
solche Maßnahmen und Schritte besteht. In dieser Frage muß
man hart an die äußerste Grenze des theologisch Möglichen
gehen. Der Tutiorismus des Wagnisses ist geboten. Warum
z.B. sollte man an Einheit des Glaubens mehr verlangen, als
wir faktisch von den Menschen heute innerhalb der römisch-
katholischen Kirche fordern? Warum sollten nicht die hi-
storisch gewachsenen christlichen Kirchen innerhalb der einen
Kirche auf demselben Territorium als Teilkirchen und par-
tikuläre Riten weiterbestehen dürfen? Warum sollte ich nicht
ausdrücklich erklären dürfen, daß ich und die kommenden
Päpste keine Kathedralentscheidung vornehmen werden außer
im deutlichen und transparenten Einvernehmen mit dem Ge-
samtepiskopat der ganzen Kirche, zu der auch die anderen
Kirchen als bestehenbleibende Teilkirchen gehören werden?
Haben Pius IX. und Pius XI. bei solchen Entscheidungen
nicht so gehandelt? Und warum könnte man eine solche Hand-

#)7
lungsweise nicht auch ausdrücklich als gültige Norm betrach-
ten und erklären? Könnte man den Führern der Kirchen der
Reformation nicht ausdrücklich und feierlich zusichern, daß
diese Kirchen in der einen Kirche mindestens soviel Selbstän-
digkeit und eigenes Profil von ihrer Geschichte her behalten
werden, wie es Rom doch den Teilkirchen des Ostens zuge-
steht? Es muß einfach in der ökumenischen Frage weitergehen
können; wenn ich allen Menschen guten Willen und ehrliche
Absichten und Offenheit für den Heiligen Geist zubillige, dann
darf ich einfach nicht der Meinung sein, es sei «einstweilen»
«leider» nichts zu machen.

Intelligente Fachleute statt feierlicher Würdenträger

In den ersten Jahren meines Pontifikats werde ich absichtlich


langsam tun. Der Grund ist der: Zwar bin ich durchaus der
Überzeugung, daß man die Geschichte und das Leben der
Kirche nicht in der Retorte abstrakter Theologie und auch
nicht einmal einer profanen Futurologie vorausprogrammieren
kann.
Aber in dem Zeitalter, in das wir immer deutlicher hineinge-
raten, kann und muß an kirchlicher Futurologie und Program-
mierung der Zukunft der Kirche mehr getan werden, als bisher
üblich war. Ich werde kein ökumenisches Konzil einberufen,
und es ist für mich noch eine offene Frage, ob die Bischofs-
synoden in Rom die geeignete Plattform für das sind, was mir
da vorschwebt. Ich möchte lieber einen Kreis intelligenter
Theologen, Soziologen, Futurologen und Historiker einbe-
rufen; ein solcher Kreis soll einmal mit wirklichem Sachver-
stand und mit Mut und einer gewissen schöpferischen Phan-
tasie zu formulieren versuchen, wie es in der Kirche weiterge-
hen soll, soweit man so etwas eben planen kann. Es sollte so
etwas wie ein pastoralstrategischer Plan für die Weltkirche
entwickelt werden. Eine solche reflex formulierte globale
Strategie der Weltkirche gibt es doch noch nicht. Wenn heute
in der profanen Welt, Gesellschaft und Geschichte das Stadium
eingetreten ist, in dem Geschichte nicht nur in kleinen Schritten
258
improvisiert gemacht und erlitten, sondern Geschichte voraus-
geplant wird, dann muß es doch auch in der Kirche so etwas
geben. Zumal die Kirche jetzt Weltkirche geworden ist und
nicht mehr die ihrer Identität sich naiv erfreuende abendländi-
sche Kirche ist mit missionarischen Exporten in alle Welt und
mit Hilfe des europäischen Kolonialismus. Mir ist selber noch
nicht recht klar, was mir da vorschwebt. Wenn die Menschheit
als profane Größe, und zwar in der früher nicht gegebenen,
aber heute deutlichen Interdependenz aller ihrer Gruppen,
Wirtschaften, geistigen Provinzen usw., in einer früher gar
nicht möglich gewesenen Weise zu sich selber kommt und
kommen muß, um nicht unterzugehen, und so ihre Zukunft in
ganz neuer Weise aktiv in ihre reflexe Verantwortung nehmen
muß, dann gibt es eben für die Weltkirche eine ähnlich neue
Situation. Worin diese genauer besteht, darüber soll dieser
Kreis für eine pastorale Weltstrategie mich und die römischen
Dikasterien unterrichten. Das Kirchenrecht der Gesamtkirche
kann doch nicht mehr einfach auch im z2ı. Jahrhundert noch so
bleiben, wie es 1983 festgelegt wurde. Die Verkündigung der
einen und bleibend gültigen Botschaft des Evangeliums muß
doch in einer Welt einer aufklärerischen Rationalität, einer
technischen Zivilisation, einer globalen Interdependenz aller
Geistesmächte nicht nur einfach anders geschehen wie zu
Beginn des 2o. Jahrhunderts (mit dem Antimodernismus der
Kirche, mit ihrem damaligen Mißtrauen restaurativer Art
gegen tiefgreifende gesellschaftliche und ökonomische Verän-
derungen usw.), sondern sich diese Veränderung auch reflex
bewußt machen. Es muß doch neu und ausdrücklich gefragt
werden, wie die Verantwortung der Kirche für Friede und
Gerechtigkeit genau und konkret realisiert werden muß in
Weisen und Gestalten, die wir vielleicht noch gar nicht kennen,
gegen die wir uns vielleicht sogar sträuben.
Die Liturgie in der Welt muß nicht für alle Zeiten, die
kommen, die bloß in Muttersprachen übersetzte Liturgie Roms
allein sein. Ist die bleibende hierarchische Struktur der Kirche
schon unbefangen versöhnt mit alldem, was man heute an
gesellschaftlichen Strukturen lebt oder wenigstens anstrebt und
239
was auch durchaus ein Recht in der Kirche der Zukunft hat?
Die Botschaft des Christentums wird gewiß die eine und alte
bleiben: daß Gott als solcher selbst sich in Gnade und ewigem
Leben gibt, das und sonst nichts das Ende aller Evolution ist,
und daß dies uns endgültig und irreversibel zugesagt ist in
Jesus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Aber eben diese
Botschaft kann man doch noch ganz anders sagen, unter ganz
andern Gesichtspunkten und neuen Zusammenhängen sehen,
als wir es vor Jahrzehnten an der Gregoriana gelernt haben.
Und das Alte kann in der Sache selbst und nicht nur im modus
dicendi wachsen. Was soll es denn sonst im Ernst heißen, daß
der Geist uns langsam erst in alle Wahrheit einführt? Dieser
«Fortschritt» kann nicht vom Papst erdacht werden; er wird
auch nicht von der Glaubenskongregation erzielt. Aber hier in
Rom kann man dazu ermutigen und kann mutige Versuche
gelten lassen, auch wenn sie nicht immer der Weisheit und
Orthodoxie letzter Schluß sind. Man kann ja auch heute noch
(trotz allem Pluralismus in der Theologie, der heute nicht mehr
abgeschafft werden kann) leicht merken, wo die wirkliche
Substanz des Christentums durch einen törichten oder vor-
lauten Theologen geschädigt wird, und dann eindeutig und
mutig Einhalt gebieten. Denn die Theologen sind auch nicht
die oberste Instanz der Kirche. Ich würde gern einmal eine
Enzyklika schreiben, die merken läßt, daß man die letzten
Wahrheiten der Botschaft Jesu und der Kirche auch noch
anders sagen kann, als wir es von unserem Schulunterricht her
gewohnt waren. Ob ich so etwas einmal fertigbringen werde?
Schwer, weil ja in einer solchen Enzyklika nicht von relativ
sekundären Dingen in der «Hierarchie der Wahrheiten»
geredet werden müßte (was relativ leicht und billig ist),
sondern davon, daß der lebendige Gott existiert (gegen jede
Form des Atheismus, den man aber doch verstehen muß, um
ihn besiegen zu können), daß Gott selbst bei uns angekommen
ist auf dieser Welt und in dieser Geschichte (obwohl die von
Gott verschiedene Wirklichkeit Milliarden von Jahren alt ist),
daß die Erfahrung des Todes immer noch nicht die letzte
Erfahrung ist.

260
"|

Gewiß, wer das Höchste und Letzte verkündigt, darf im


Zweitletzten ein wenig hinterdrein gehen (sonst wäre ja das
ewige Reich der Wahrheit und Liebe schon ganz da), aber das
muß doch nicht bedeuten, daß die Kirche (wie in den letzten
Jahrhunderten seit der Aufklärung) immer mit einer gewissen
klerikalen Muffigkeit und Altväterlichkeit geschlagen sein
muß. Ich fürchte, daß es in Rom (und natürlich auch anderswo)
Leute gibt, die so etwas mit viel ideologischem Tiefsinn
(«Torheit des Kreuzes», wesentliche Ungleichzeitigkeit des
Christentums usw.) zu rechtfertigen versuchen und danach das
Handeln Roms ausrichten wollen. Wir haben es ja seinerzeit mit
Lefebvre erlebt.

Drei Tatsachen sollen vor Augen bleiben

Guter und getreuer Peppino, ich will Dir etwas sagen. Ich
hoffe, daß ich in meinem Pontifikat drei Dinge (natürlich neben
vielen anderen) nicht vergesse: erszens, daß zwei Millionen
Jahre lang die Menschen ohne ein Papsttum den ewigen Gott
suchen mußten und ihn finden konnten. Das ist eine Selbstver-
ständlichkeit, denn das Papsttum ist nur am «Ende der Zeiten»
nach Jesus Christus denkbar. Aber diese Selbstverständlichkeit
ist doch für einen Papst fundamental bedenkenswert. Die alten
Möglichkeiten, Gott zu finden, sind ja — genaugenommen —
durch das Papsttum nicht abgeschafft, sondern gerade über-
höht und radikalisiert. Die Theologen sollten genauer darüber
nachdenken, wie ein Kopfjäger in der Steinzeit, der den Kopf
seines getöteten Gegners anbohrte, mit Gott, dem ewigen
Leben - und dies in Jesus Christus und nicht an diesem vor-
bei —, zu tun haben konnte. Die Theologen sollten es sich nicht
zu billig machen mit dieser Frage durch den Hinweis auf das
Zweite Vatikanum, das von den «Gott allein bekannten
Wegen» für diese Frage spricht. Schließlich werde ja auch ich
nur gerettet auf solchen nur Gott bekannten Wegen und darf
und muß über sie dennoch nachdenken. Und die Menschen von
heute lassen sich von der nur in Jesus Christus allein gegebenen
Heilsmöglichkeit nur dann überzeugen, wenn sie einigermaßen

261
verstehen können, wie diese Möglichkeit auch für die Men-
schen vor Christus gegeben sein kann.
Ich möchte zweitens nie vergessen, daß es auch heute unzäh-
lige Menschen gibt, für die — sogar oft in einer ihr Gewissen
auf Tod und Leben fordernden Weise — dieses Papsttum nicht
existiert: die Milliarde Chinesen, die Menschen, die in Gesell-
schaften leben, in denen der Atheismus Staatsreligion ist, die
einige hundert Millionen Moslems, die Millionen von Christen,
die getauft sind, Jesus Christus als ihren Herrn und Heiland
bekennen und doch vom Papst nichts wissen wollen, die
übrigen Menschen, die wir «Heiden» zu nennen pflegen, die
vielen Katholiken, die faktisch, wenn vielleicht auch nicht
ausdrücklich, kein positives Verhältnis zum Papsttum haben.
Und doch habe ich auch in dieser heilsgeschichtlichen Endzeit,
in der das Papsttum existiert, das Recht und die Pflicht, zu
hoffen und sogar in meinem Verhalten zu präsumieren, daß alle
diese Menschen dennoch den Gott Jesu Christi, in dem alles
lebt und sich bewegt, finden und als ihr ewiges Ziel erreichen.
Wenn dem so ist, dann ist bei aller objektiv gegebenen Ver-
bindlichkeit des Papsttums doch in der Hierarchie der Wahr-
heiten dieses Papsttum nicht das Höchste und nicht das Fun-
damentalste. Es bedeutet eine Wirklichkeit und Wahrheit, die
abgeleiteterweise nur der erreichen kann, der Gott und Jesus
Christus schon gefunden hat, und darum ist es auch möglich,
daß unzählige Menschen, die Gott und darüber hinaus auch
Jesus Christus finden, ohne ihre persönliche Schuld diese Ab-
leitung nicht vollziehen können, ja sogar vielleicht sich davon
überzeugt halten, eine solche Ableitbarkeit des Papsttums aus
ursprünglicherem Glaubensvollzug in ihrer Existenz sei gar
nicht möglich und ihnen verboten. Wie bescheiden, wie vor-
sichtig und milde muß also ein Papst dieser Welt gegenüber-
treten, für die das Papsttum entweder unbekannt ist oder höch-
stens eine seltsame Zufälligkeit in der Geschichte bedeutet.
Ein Drittes muß mein Auftreten als Papst in der Welt mitbe-
stimmen: Der Papst hat die letzte Heilswahrheit, die alle Men-
schen betrifft, vor der Welt zu bezeugen. Aber er darf doch bei
dieser Verkündigung des Evangeliums nicht den Eindruck

262
erwecken, er meine, mit seiner Botschaft seien alle Probleme
gelöst oder lösbar, die die Menschen in ihrem privaten und
öffentlichen Leben bewegen. Ich kann keinem Mann sagen,
welche bestimmte Frau er heiraten soll, obwohl das für diesen
für Zeit und Ewigkeit bedeutsam ist. Wir beide haben in
unserem Studium in den 60er Jahren doch gemerkt, wie viele
Fragen höchst realer und kapitaler Art die Gesellschaftslehre
der Kirche gar nicht eindeutig beantworten kann, sondern sie
der profanen Vernunft und dem Experiment der Geschichte
überlassen muß. Es gibt, obwohl die Menschen mit brennen-
dem Interesse fragen, tausend und abertausend Fragen in den
Geisteswissenschaften, den Naturwissenschaften, den Gesell-
schaftswissenschaften, auf die die Kirche keine Antwort geben
kann. Ich zweifle in keiner Weise daran, daß die christliche
Botschaft von Gott und dem ewigen Leben in Jesus Christus,
wenn sie wirklich ernst verkündet und lebendig angenommen
wird, auch von sehr großer, kreativer Bedeutung für dieses
irdische Leben ist, für den einzelnen und für die Gesellschaft
bei all den Aufgaben, die diese im letzten selber lösen müssen.
Aber das ändert nichts daran, daß auch ein Papst mit seiner
Botschaft der Ewigkeit, wenn es radikal konkret werden muß,
die Welt Gott, seiner unerforschlichen Gnade und der ge-
schichtlichen Freiheit der Menschen anvertrauen muß und
keine Rezepte hat, die man nur möglichst genau ausführen
müßte, damit eitel Friede und Glück in der Welt entsteht.
Papsttum ist bei all seiner Bedeutung für Kirche und Welt
eine partikuläre Größe in einem Konzert und Streit der Welt,
die nur Gott allein durchschaut und lenkt. Das sind natürlich
an sich Selbstverständlichkeiten, die hoffentlich nie ein Papst
bezweifelt hat. Aber ich werde mich ängstlich hüten, in meinem
Gebaren und meinem Reden auch nur von ferne den Eindruck
zu erwecken, ich vergäße jemals diese Selbstverständlichkeiten;
ich werde leise und bescheiden reden. Ich werde, wenn ich die
auch für das konkrete Leben fundamental bedeutsame Wahr-
heit des Evangeliums den Menschen anbiete, sie immer gleich-
zeitig in einem wahren Dialog fragen, wie konkret diese Wahr-
heit in die Wirklichkeit ihres Lebens übersetzt werden könne,

263
was ich ja auch nicht von vornherein und eindeutig wissen
kann.

Christliche Botschaft und profanes Wissen ergänzen sich

Sowenig die Wahrheit des Christentums dem richterlichen


Spruch des profanen Selbstverständnisses des Menschen und
seiner Wissenschaften unterworfen ist, so notwendig ist - um
sich diese christliche Wahrheit wirklich aneignen zu können —
ein dauernder Dialog zwischen den Trägern der christlichen
Botschaft und den Trägern des profanen Selbstverständnisses
des Menschen, ein Dialog, der nie abgeschlossen ist. Gott hat
nun einmal nicht gewollt, daß dieses zweifache Wissen adäquat
in Personalunion in einem einzigen Menschen existiere, und
auch nicht in einem Papst. Und darum muß auch ein Papst,
auch wenn er selbstverständlich seine ihm von der Kirche und
Christus her gegebene Lehrautorität in Anspruch nimmt und
reden muß wie einer, der Macht hat und nicht nur wie die
Schriftgelehrten, dennoch immer auch in einem offenen Dialog
seine Botschaft ausrichten. Ich jedenfalls will versuchen, so zu
reden (und auch zu schweigen), daß das Reden und Schweigen
immer auch bescheiden in die unzählbare Menge derer hinein
geschieht, die dieses Papsttum noch nicht als eine Wirklichkeit
ihres Glaubens anerkennen können, und daß dieses Reden und
Schweigen mit dem Bewußtsein geschicht, daß die wahre Bot-
schaft erst durch einen Dialog ihr volles Wesen erreicht hat,
wenn sie auch in das im Menschen schon gegebene Selbstver-
ständnis aufgenommen ist in einer Synthese, die letztlich nur
Gott und nicht mehr der Papst verwaltet. In dem, was ich eben
anzudeuten versuchte, ist, meine ich, auch der wahre Grund zu
finden, warum die päpstliche Lehrvollmacht jedem Trium-
phalismus abhold sein muß.
Peppino, bei all diesen Vorbehalten, die aber im Grunde zum
eigentlichen Wesen des Papsttums selber gehören, glaube ich
und nehme ich das Papsttum als meine Aufgabe an, wie unser
heiliger katholischer Glaube es uns lehrt. Was ist denn eigent-
lich das wahre Wesen des Papsttums, wie es sich im Wort und

264
Sakrament für die ganze Kirche vollzieht? Wir leben im Ende
der Zeiten, auch wenn dieses Ende uhrzeitlich noch unabsehbar
lang dauern sollte. (Wer weiß, ob es wirklich noch lange dauert,
wo doch die Menschheit jetzt die Möglichkeit eines kollektiven
Selbstmordes erworben hat.) Jedenfalls ist «das Ende der
Zeiten bereits zu uns gekommen, und die Erneuerung der Welt
ist unwiderruflich schon begründet» (ein Wort des Zweiten
Vatikanums, über das die Theologen zu wenig nachdenken).
Diese Unwiderruflichkeit des wahren und seligen Ausgangs der
Weltgeschichte, der in der Mitteilung des absoluten Gottes an
die Kreatur besteht und durch den gekreuzigten und auferstan-
denen Jesus unwiderruflich festgemacht ist, ist doch das, wofür
das Papsttum da ist, was es letztlich und endgültig zu bezeugen
hat, woher es seine Aufgabe und Vollmacht ableitet. Und weil
diese Botschaft nicht mehr in der Welt verstummen kann und
weil diese Botschaft, weil das Kommen des unendlichen und
unbegreiflichen Gottes gar nicht überboten werden kann, also
unüberholbar ist, ist diese erst endzeitliche Botschaft auch die
Verheißung, daß die Pforten des Todes innerhalb dieser
Endzeit das Papsttum nicht überwältigen werden, bis der Herr
kommt, der auch dieses Papsttum beendigen wird. Die Bot-
schaft und der Bote werden bleiben. Darum ist es eine letztlich
doch sekundäre Frage, wie viele Menschen den als legitimen
Boten anerkennen werden, der auf jeden Fall eine Botschaft
ausrichtet, die auch das Heil derer proklamiert, die den Boten
selber nicht meinen anerkennen zu dürfen. Darum, meine ich,
muß mich die Frage der innerweltlich greifbaren Erfolge oder
Mißerfolge des Papsttums innerhalb meines Pontifikats nicht
sonderlich berühren. Mein Pontifikat wird nicht sehr glorreich
werden. Dafür fehlen bei mir selber die Voraussetzungen, und
Gott hat ja nicht die Pflicht, immer und in jedem Fall die
Unzulänglichkeiten derer zu kompensieren, die seine ewige
Botschaft stotternd und unzulänglich, aber wahr, ausrichten.
Peppino, ich meine, was im 14. Kapitel bei Mt von Petrus
erzählt wird, ist für das Papsttum und für mich ebensowichtig
wie die Texte in der Schrift, die man in dieser Sache zu zitieren
pflegt. Ich bin ein Petrus, der über die Wasser ohne Balken auf

265
seinen Herrn zuzugehen versucht, der immer angstvoll zu
versinken meint, den Jesus immer aufs neue an die Hand nimmt
und in das Schiff mitnimmt, das wirklich am Gestade der
Ewigkeit ankommt.
Lieber Peppino, ich muß noch einmal einen neuen Anlauf
nehmen, damit es mir leichter wird, auch wenn der Brief heute
nicht mehr fertig werden sollte. Wenn es heute nicht mehr geht,
mache ich eben morgen weiter. Hör zu: Mein Kopf ist leer, so
wie damals, als wir Examina machen mußten an der Gregoria-
na. Ich muß gestehen, ich weiß eigentlich nicht mehr darüber,
was ein Papst ist, als damals, als wir in der Ekklesiologie die
Lehre vom Papsttum durchnahmen, und natürlich weiß ich
darüber hinaus auch noch das, was ich davon in den letzten
Jahrzehnten praktisch erlebt habe, auch wenn in dieser Erfah-
rung selbst noch einmal ein Problem steckt, mit dem ich nicht
so leicht fertig werde. Ich merke jetzt an mir selber, was das
Zweite Vatikanum vom Papst auch sagt, daß er nämlich keine
neuen Offenbarungen empfängt. Auch wenn dies sehr merklich
der Fall bei mir ist, so hoffe ich freilich doch auf den Beistand
Gottes. Nur macht sich dieser wohl meist nur sehr diskret
geltend, so daß man ihn nur schr schwer von menschlichen
Überlegungen und Antrieben unterscheiden kann. Ich weiß
also vom Papsttum nicht mehr als Du. Aber ich weiß, daß auch
die Lehre vom Papsttum wie alle anderen Glaubenswahrheiten
von all den Dunkelheiten umgeben ist, die ja letztlich auch bei
aller möglichst klaren Begrifflichkeit in das Geheimnis Gottes
münden. Ich weiß, daß auch die Lehre vom Papsttum ihre
Gültigkeit in dieser Weltzeit so bewahrt wie die anderen
Glaubenswahrheiten, obwohl die Aussage über alle diese in
Begriffen und Vorstellungen geschieht, die irgendwie — natür-
lich in verschiedenster Weise — geschichtlich bedingt sind. Ich
weiß, daß vermutlich alle diese Glaubensaussagen und so auch
die über das Papsttum, weil in der Geschichte stehend, immer
mit Amalgamen (wie wir es früher nannten) verbunden sind,
die als nicht zur geoffenbarten Sache selber gehörend erst
später erkannt und dann abgestoßen werden (freilich so, daß
das eigentlich Gemeinte und auch Gesagte dann wieder unter
266
s

anderen geschichtlich bedingten Begriffen und Vorstellungen


ausgesagt wird, deren Bedingtheit man dann nicht, noch nicht
reflektiert).
Erinnerst Du Dich noch, wie wir in alten Zeiten über die
Transsubstantiation, die Trient definierte, spekuliert haben und
uns fragten — ohne an der gemeinten Sache zu zweifeln —, was
man sich denn heute unter der Substanz des Brotes denken
könne, wenn man nicht einmal bei den Atomen und den noch
kleineren Partikeln wisse, wie man sie als partikuläre Substan-
zen denken könne, so wie die alten Väter Trients sich die
Substanz des Brotes oder Weines gedacht hatten. Ich brauche
Dir heute diese Problematik nicht mehr auseinanderzusetzen
oder andere Beispiele aus der Dogmatik anzuführen, an denen
es deutlich wird, wie eine bleibende Glaubenswirklichkeit mit
Begriffen und Vorstellungen ausgesagt wird, deren Pro-
blematik oder Unzulänglichkeit sich erst später herausstellt. Du
kennst genug solcher Beispiele, und wir haben uns damals
schon gesagt, daß man mit dieser Frage nicht so leicht und
einfach, wie es Pius XII. sich dachte, mit der Auskunft fertig
werden kann, es handle sich bei solchen dogmatischen Aus-
sagen immer um Begriffe, deren Sinn und Gültigkeit für jedes
Denken zu allen Zeiten einleuchtend sei.
Und nun, Peppino, frage ich mich plötzlich — viel intensiver
als bisher —, was diese eben nur angedeuteten Selbstverständ-
lichkeiten für Konsequenzen haben, wenn man sie ausdrücklich
auf die Lehre vom Papsttum und. dem universellen Jurisdik-
tionsprimat des Papstes anwendet. Es gibt einen solchen Juris-
diktionsprimat. Davon bin ich überzeugt. Aber was heißt das
ganz genau? Die kirchliche Lehre spricht von einer plena
potestas. Aber was heißt das, und was heißt das nicht? Ich
glaube, es hat nie einen Papst gegeben, der nicht wußte und
praktizierte, daß seine Gewalt auch Grenzen hat. Das ist ja
selbstverständlich. Der Papst kann kein 8. Sakrament kreieren.
Er kann die Ignatius-Briefe nicht in den Kanon aufnehmen
oder eine Epistel aus dem Kanon verweisen, die diesem oder
jenem «strohern» vorkommt. Ich kann Dir, Peppino, nicht
befehlen, Kartäuser zu werden, oder diesem Orden vor-

267
schreiben, einen solchen alten Knaben wie Dich noch auf-
zunehmen. Die volle Vollmacht des Papstes ist zweifellos be-
grenzt. Ich bezweifle zwar nicht, daß ich im gegebenen Fall
auch die Kompetenz der Kompetenz habe (ich brauche Dir
nicht zu erklären, was das ist); aber wenn dieser volle Jurisdik-
tionsprimat seine Grenzen hat vom göttlichen und vom
menschlichen Recht her, und wenn einem Papst sogar aus
sittlichen Gründen etwas selbstverständlich verboten sein kann,
von dem man nicht nachweisen kann, daß es auch außerhalb
seiner rechtlichen Kompetenz liegt, wo sind dann genau die
Grenzen dieses vollen Jurisdiktionsprimats? Ich könnte doch
z.B. wohl gewiß nicht den unierten Ostkirchen eine Bestellung
der Bischöfe in der Art aufzwingen, wie sie in der lateinischen
Kirche üblich geworden ist. Ich könnte doch nicht das Latein
als Kirchensprache auch den Orientalen vorschreiben, so wie
die Moslems in der ganzen Welt den Koran arabisch rezitieren
müssen. Ich kann doch nicht nach freiem Belieben einem
Orden, der sich letztlich durch freien Entschluß seiner Mit-
glieder von unten bildet, jedwede denkbare (an sich vielleicht
vernünftige) Regelung ihres Lebens auferlegen, an die dessen
Mitglieder bei ihrem Eintritt niemals gedacht haben. (Ich kann
den Jesuitenorden — gleichgültig, ob er mir sympathisch ist
oder nicht - nicht zu einem Orden unbeschuhter Priester umge-
stalten.)
Natürlich sind das Selbstverständlichkeiten, die im großen
und ganzen gewiß in der Kirchengeschichte schon deswegen
respektiert wurden, weil ihr Gegenteil einfach undurchführbar
war. Aber das schließt doch nicht aus, daß in konkreten Fällen
ein Papst doch, wenn auch guten Glaubens, die Grenze seiner
Vollmachten überschreitet. Und darum würde ich eigentlich
von unseren Kanonisten gerne genauer erfahren, wie solche
Grenzen nicht nur so ganz im allgemeinen, sondern auch
konkret verlaufen. Solche Grenzen gibt es, wie gesagt, sowohl
bezüglich der Regierung wie auch der Lehrautorität des
Papstes, Grenzen, die faktisch auch verletzt werden können.
Konnte und mußte die Kirche erst unter Pius XI. auf den
Kirchenstaat verzichten? Hat unserem, von uns beiden heißge-
268
liebten Thomas von Aquin der weise Leo XIH. nicht eine
Position und Funktion in der katholischen Theologie zuge-
schrieben, die nun einmal ein einzelner Theologe gar nicht
haben kann? Hat man nicht unter Berufung auf den päpstlichen
Primat in dieser oder jener Sache den Orientalen Normen
aufzuerlegen gesucht, die — schlicht und ehrlich gesehen — zu
solchen Grenzüberschreitungen gehören? Dir fallen gewiß
noch genügend andere Beispiele ein. Ich will solche Grenzüber-
schreitungen nicht begehen. Ich will klar sehen, soweit das
möglich ist, wo solche Grenzen liegen, die ich nicht über-
schreiten darf. Und darum würde ich wünschen, daß die Dog-
matiker und die Kanonisten über diese Frage genauer als bisher
nachdenken. Ich werde ihnen nicht gleich über den Mund
fahren, wenn sie das laut tun und vielleicht selber Grenzüber-
schreitungen ihrer Art sich zuschulden kommen lassen.
In dieser Frage habe ich auch noch eine weitere Sorge, auch
wenn ich mir sagen darf (Gott sei Dank), daß sie in meinem
Pontifikat, das sehr kurz sein wird, nicht viel aktueller werden
wird, als sie jetzt ist. Die Begriffe, mit denen die Aufgaben eines
Papstes in der Regierung der Kirche beschrieben werden,
stammen doch aus unserem eigenen Kultur- und Geschichts-
raum. Und darum ist zu vermuten, daß diese Begriffe, ohne daß
wir es bemerken, mit gewissen Amalgamen verbunden sind, die
gar nicht wirklich zur geoffenbarten Sache selbst gehören, aber
von uns gar nicht reflex ausgeschieden werden können. Daß so
etwas auch praktische Konsequenzen hat, ist selbstverständlich.
Wie ist es nun aber dann, wenn diese Lehre (samt der von ihr
legitimierten Praxis) in andere Kulturkreise übertragen, «in-
kulturiert» werden muß, die einerseits selbstverständlich und
gleichen Rechtes in der Kirche als wirklicher Weltkirche
gegeben sind und andererseits ganz anders denken, empfinden
und leben als wir hier in unserem Westen, der schon längst
aufgehört hat, die Welt zu beherrschen, aber vielleicht nicht so
gerne und leicht eine Herrschaft abgeben will, die er noch im
19. und 2o. Jahrhundert unvermeidlich in der Kirche innehat-
te? Mich beschäftigt diese Frage manchmal, auch wenn sie in
meinem Pontifikat nicht gelöst werden wird.
269
Darüber hinaus quälen mich auch noch andere Fragen, denen
ich in meinem Pontifikat nicht ausweichen kann. Was ich Dir
eben schrieb, bedeutet ganz gewiß eine Verpflichtung zu höch-
ster Vorsicht und Diskretion, wenn ich meine Autorität in
Lehre und Regierung wahrnehmen muß. Solche Vorsicht und
Zurückhaltung bedeuten natürlich nicht, daß ich vor lauter
Vorsicht auf Handeln und Entscheiden verzichten könnte. Ich
muß den Mut zum Handeln haben, selbst wenn damit das
Risiko verbunden ist, Entwicklungen zu inaugurieren, deren
endgültiges Resultat gar nicht abgesehen werden kann, und
Entwicklungen unter Umständen abzubremsen, die sich dann
in der Zukunft doch durchsetzen werden. Das gehört zur Last
der Geschichte, die auch ein Papst nicht abschütteln kann.
Wundert es Dich, wenn ich Dir darum sage, daß ich mich jetzt
schon frage, ob ich bis zu meinem Tod Papst bleiben soll oder
nicht? Ich kann abdanken, wenn ich dies als für die Kirche
nützlicher erkenne und dies will. Aber kann es nicht sein, daß
ich lebend in ein Alter komme, in dem ich zu einer sachlich
nüchternen Erkenntnis dieser Art gar nicht mehr fähig bin und
mich trotzdem niemand absetzen kann? Ein schrecklicher
Gedanke. Oder ist er letztlich sogar tröstlich, weil er klarmacht,
daß Gottes gnädige Vorsehung auch in der Kirche nicht alles
durch die Taten eines weisen und mächtigen Papstes voll-
bringt? Ich warte ab. ’
Ich muß nun endlich Schluß machen. Papier und Zeit sind
zu Ende. Und doch habe ich wohl das meiste nicht gesagt, was
ich Dir, dem alten Freund, eigentlich heute schreiben wollte.
Was geschrieben ist, ist sehr unvollkommen und pro-
blematisch, und ich möchte nicht (ich lache) diesen Brief dem
Heiligen Offizium unterbreiten. Verbrenne den Brief, wenn Du
ihn gelesen hast. Komm bald einmal vorbei. Von Friaul nach
Rom ist es ja nicht so weit. Patet porta et cor magis. Sei
umarmt.

Dein alter Leone, der jetzt Paul VII. genannt wird.


P.S.: Unsere alte Freundin Rosa ist in diesen Tagen gestorben.
Wir beide sind ärmer geworden.
270
ZUR FRAGE DES AMTSVERSTÄNDNISSES

Vor vielen Jahren habe ich eine kleine Abhandlung über Vor-
fragen zu einem ökumenischen Amtsverständnis veröffent-
licht.! Ich habe nicht den Eindruck, daß diese meine Meinungs-
äußerung viel Beachtung gefunden hat. Ich vermute, daß evan-
gelische Ökumeniker eben doch den Eindruck haben, ich hätte
in dieser Abhandlung offene Türen eingerannt in einer um-
ständlichen Bemühung, etwas plausibel zu machen, was ihnen
eine bare Selbstverständlichkeit ist. Ich vermute, daß es einige
katholische Ökumeniker gibt, die mindestens mit der Grund-
tendenz meiner Schrift einverstanden sind, d.h. mit mir die
Überzeugung teilen, daß die bei uns Katholiken traditionelle
Ansicht über die Nichtgültigkeit der Ordination in den evange-
lischen Kirchen (wenigstens im großen und ganzen) und über
die daraus zu ziehenden Folgerungen hinsichtlich der Gültig-
keit des Abendmahls und des Vergebungswotrtes nicht so über
allen Zweifel erhaben ist. Aber im allgemeinen und besonders
in den Verlautbarungen der Amtskirche wurde meine Arbeit
mit höflicher Toleranz durch Schweigen übergangen und
weiterhin der Eindruck erweckt, als sei der alte Dissens über
die sakramentale Gültigkeit der Ämter außerhalb der katholi-
schen und der orthodoxen Kirchen auch in Zukunft eine indis-
kutabel bleibende Gegebenheit. Auf den folgenden Seiten kann
diese Frage nun nicht als ganze und in all ihren vielen Einzel-
problemen neu aufgegriffen werden. Es soll nur skizzenhaft
eine kleine Überlegung vorgetragen werden, die in den ganzen
Fragenkomplex hineingehört.

Zeichenhaftigkeit und Wirksamkeit der Sakramente

Die bei uns Katholiken traditionelle Beurteilung der ökumeni-


schen Amtsfrage geht wie selbstverständlich und fast still-

1 Vgl. dazu: K. Rahner, Schriften zur Theologie XIII: Gott und Offen-
barung, 48-68.

271
\
schweigend von einer Konzeption der Wirksamkeit der Sa-
kramente aus, die mir einerseits wenigstens einseitig zu sein
scheint und andererseits eben doch Konsequenzen für die Äm-
terfrage hat. Die Konzeption der sakramentalen Vollmachten
(der Vollmacht des Vollzugs der Eucharistie, der Firmung, der
Sündenvergebung im Bußsakrament, der Krankensalbung,
auch der Ordination) setzt traditionell eine (schulscholastisch
gesprochen) einseitig effiziente Wirkkausalität der Sakramente
voraus, die letztlich doch das an und für sich bekannte Axiom
wieder vergißt, daß die Sakramente Wirkursache der Gnade
sind, insofern und weil sie diese Gnade zeichenhaft darstellen.
Wenn der die Sakramente spendende Priester die sakramentale
Gnade einfach so, wie man sonst sich eine Wirkursächlichkeit
zu denken pflegt, hervorruft, dann ist es ja selbstverständlich,
daß er die Fähigkeit solcher Wirkursächlichkeit nicht von sich
aus hat, sondern sie erhalten muß, und daß die Mitteilung einer
solchen Fähigkeit an ganz bestimmte Weisen der Mitteilung
gebunden ist, ohne die Mitteilung solcher Gnade und andere
sakramentale Wirkungen (Transsubstantiation usw.) einfach
nicht möglich sind. Bei einer solchen Konzeption spielt die
Zeichenhaftigkeit der Sakramente für das Verständnis ihrer
Wirksamkeit, der sakramentalen Ursächlichkeit keine ent-
scheidende Rolle, sondern ist nur eine zusätzliche Aussage, die
einfach zu der Aussage ihrer gnadenhaften Wirkursächlichkeit
hinzukommt. Genau gesehen müßte man in der traditionell
katholischen Sakramentenlehre sagen: sacramenta significant
gratiam et efficiunt, aber nicht: sacramenta significando ef-
ficiunt gratiam. Nur so, mit diesem zweiten Satz, wäre das
innerste Verständnis der katholischen Sakramentenlehre ausge-
sprochen, das eigentlich in ihr gegeben und doch dann wieder
in weiteren vulgären (dinglich massiven) Vorstellungen vet-
dunkelt wird.
Nun ist aber, um zu sehen, was sich vielleicht von hier aus
über die Ämterfrage ausmachen läßt, deutlicher zu sehen, was
die Sakramente «bezeichnen» (rituell in der gesellschaftlichen
Dimension der Kirche zur raumzeitlichen Erscheinung
bringen). Es wäre verkehrt und würde das Wesen der christlich
272
eschatologischen Heilssituation verdunkeln, wenn man sich
nun dächte, die Sakramente bezeichneten einfach und isoliert
die Gnade allein, die hier und jetzt dem einzelnen Sakramen-
tenempfänger mitgeteilt wird. So würden die Sakramente nur
das von ihnen allererst noch zu Schaffende bezeichnen. Sie sind
aber im voraus dazu und über dies hinaus das gesellschaftliche,
raumzeitliche In-Erscheinung-Treten der erst mit Christus ge-
gebenen, unwiderruflich in die Welt siegreich eingestifteten
Gnade, die sich wegen dieser eschatologischen Unwiderruflich-
keit durch ihr In-Erscheinung-Treten ex opere operato dem
einzelnen und seiner Freiheit konkret anbietet und (normaler-
weise) von diesem angenommen wird. Die Sakramente sind
von ihrem ursprünglichsten Wesen her das In-Erscheinung-
Treten dieser eschatologisch irreversibel gewordenen Gnade
Gottes in Christo. Es ist hier nicht der Platz, diesen Satz
ausführlicher zu erhärten.
Man müßte sonst die Eigentümlichkeit der erst mit Christus
gegebenen Heilssituation beschreiben. Man müßte das
eschatologisch zeichenhafte Wesen der Kirche immer und
überall als sacramentum salutis mundi beschreiben. Man müßte
u.a. klarmachen, daß nur von diesem eschatologisch sakramen-
talen Wesen der Kirche her (ohne magische Vorstellung) wirk-
lich verständlich gemacht werden kann, was die Wirksamkeit
der Sakramente ex opere operato eigentlich bedeutet. Man
müßte heute beim Stand der bibeltheologischen und dogmen-
geschichtlichen Erkenntnisse über das Entstehen der Sa-
kramente, die nicht einfach mit historischer Plausibilität auf
einzelne Einsetzungsworte Jesu zurückgeführt werden können
und doch in aller Wahrheit von ihm herkünftig sein müssen,
zeigen, daß die wirkliche Sakramentalität und Herkünftigkeit
der Sakramente von Christus nur verständlich gemacht werden
können, wenn die Sakramente aufgefaßt werden als Grundakte
der von Jesus herkünftigen Kirche als des wirklichen Grundsa-
kramentes des Heiles der Welt, das die bleibende geschichtliche
Greifbarkeit der Selbstzusage Gottes an die Welt in Christo ist,
als Grundvollzüge der Kirche, in denen sie ihr eigenes Wesen
auf den einzelnen hin aktualisiert. Man müßte zeigen, daß nur

273
so der alte leidige Streit über die Zahl der Sakramente beigelegt
werden kann. Diese, den sakramentalen Einzelvollzügen vor-
ausliegende und diesen Wesen und Wirksamkeit verleihende
Wirklichkeit der Kirche (in deren Einheit unauflösbarer Art
von Wahrheit und Gnade einerseits und deren geschichtlicher
Greifbarkeit andererseits) wird durch die Sakramente ur-
sprünglich «bezeichnet»: significant ecclesiam ut sacramentum
salutis mundi. Die Sakramente bezeichnen zunächst und ur-
sprünglich nicht das von ihnen zu Wirkende, sondern das,
wodurch sie selber bewirkt sind und was sie gerade darum
bezeichnen können, weil sie von ihm, d.h. von der Kirche,
bewirkt sind.

Das In-Erscheinung-Treten des Grundsakramentes Kirche


Wenn wir das eben nur Angedeutete einmal voraussetzen
dürfen, wenn also sakramentale Vorgänge auf die geschichtlich
und gesellschaftlich greifbare und mit dem Heil unlöslich ver-
bundene Erscheinung der Gnade und des Heiles hinweisen als
auf das immer Wirkliche, das ihnen selber Wirklichkeit und
Kraft gibt, dann entsteht doch die Frage, wie genauer diese
raumzeitlich punktförmige Meldung des einen sacramentum
mundi in der Welt gedacht werden muß. Es meldet sich die
Frage, ob nicht solche zeichenhaften Meldungen des In-Er-
scheinung-Tretens des einen Weltsakramentes am einzelnen
Ort und Zeitpunkt sehr gestuft gedacht werden können und
eben nur unter bestimmten Voraussetzungen Sakramente
genannt werden, ohne daß anderen In-Erscheinung-Tretungen
des Weltsakramentes darum eine positive christliche Bedeutung
und Kraft aberkannt werden müßte. Wie ist es im gemeinsamen
Gebet im Namen Jesu? Wie ist es mit den religiösen rituellen
Geschehnissen, die wir Katholiken Sakramentalien zu nennen
pflegen (und die es im Grunde unter anderer Nomenklatur und
theologischer Interpretation eben doch überall in den christli-
chen Kirchen gibt)? Es gibt gewiß und legitim über die «Sa-
krament» genannten Bekundigungen des mit der Kirche gege-
benen Heiles hinaus solche Bekundigungen, die — aus welchen

274
P
ei N
Gründen auch immer — zwar nicht «Sakramente» genannt
werden und werden sollen, aber doch echte Bezeugungen
dieses Grundsakramentes des Heiles, Kirche genannt, sind und
von daher durchaus an der Wirksamkeit des Grundsakramentes
und seiner eigentlich sakramentalen Bezeugung partizipieren.
Solche gesellschaftlich-geschichtlichen, rituellen Verweise
auf das Grundsakrament Kirche, von dem her sie Sinn und
Kraft beziehen, können nicht nur in der verschiedensten Weise
gestuft gedacht werden — je nachdem, wie z.B. die genauere
Inhaltlichkeit dieses Verweises gestaltet ist, je nachdem, um
welches Subjekt der Setzung dieses Zeichens es sich handelt
usw. —; solche Verweise sind auch als legitim anzuerkennen,
konstituieren m.a.W. das geschichtliche In-Erscheinung-
Treten des Grundsakramentes mit, wenn sie inhaltlich in
rechter Weise auf das Grundsakrament verweisen und auf es
Berufung einlegen, und wenn sie in christlich gutem Glauben
gesetzt werden. Mehr kann eigentlich für die Legitimität
solcher Verweise nicht gefordert werden. Die Legitimität des
Verweischarakters solcher Zeichen ist ja nicht dadurch begrün-
det, daß sie das, worauf sie verweisen, erstmals konstituieren,
sondern kommt von der immer schon existierenden Vorgege-
benheit dessen, worauf verwiesen wird: der Kirche als sacra-
mentum salutis mundi und dem Heilswillen Gottes, in dem sich
Gott jedem einzelnen schon immer zugewendet hat. Dazu
kommt, daß die innere gläubige Haltung dessen, der dieses
Zeichen setzt, bis zum Beweis des Gegenteils zu präsumieren
ist und diese Präsumtion für die Gültigkeit eines solchen Ver-
weises genügt, da auch dort in der Kirche, wo zweifellos
gültige Zeichen gesetzt werden, eine solche Präsumtion bezüg-
lich des Vorhandenseins einer «Intention» usw. als genügend
vorausgesetzt wird. Es ist auch in diesem Zusammenhang
deutlich zu sehen, daß es für die Legitimität eines solchen
Verweises nicht von vornherein erforderlich sein kann, daß
dieses Zeichen ausdrücklich innerhalb des rechtlichen Verbun-
des der Römisch-Katholischen Kirche gesetzt wird, weil diese
sonst die Gültigkeit der Ketzertaufe gar nicht anerkennen
könnte.

27
Natürlich kann man solchen Überlegungen entgegenhalten,
daß bei irgendeinem anderen Sakrament aus der Natur der
Sache heraus im Unterschied zur Taufe Bedingungen für ihre
Gültigkeit erforderlich sein können, die eben in Amtshandlun-
gen nicht gegeben seien, die von einem nicht durch die normale
römisch-katholische Ordination Bestellten gesetzt werden.
Aber wenn diese Amtshandlung doch auch dann noch einen
Verweischarakter auf das objektive, im voraus immer gegebene
sacramentum salutis mundi hat, wenn überdies die Setzung
dieses Verweises in christlichem Glauben und heiliger Absicht
geschieht - und zwar in einem kirchengesellschaftlichen Milieu,
in dem die Präsumtion der bona fides der die Verweise Setzen-
den als selbstverständlich vorausgesetzt werden muß -, dann
kann doch der Unterschied zwischen einem für die traditionelle
katholische Theologie gültigen Sakrament und einem derar-
tigen Verweis außerhalb der normalen katholischen Sakramen-
tenordnung nur noch darin bestehen, daß im ersten Falle eine
«normale» sakramentale Zeichensetzung gegeben ist, im
zweiten Falle aber ein solches Verweiszeichen, das außerhalb
der normalen Zeichenregelung steht, so daß es dann nicht
gültiges Sakrament genannt werden kann — falls man ter-
minologisch von vornherein festlegt, man gebe einem solchen
Zeichen nur dann den Namen «Sakrament», wenn es in der
normalen Zeichenordnung zustande kommt. Aber muß man
diese Terminologie als die einzig mögliche betrachten? Und
selbst wenn man dies tut, muß man dann dem gläubig gesetzten
Verweis auf das allgemeine Heilssakrament außerhalb der nor-
malen Ordnung eine Wirkung absprechen? Wäre dann die
normale sakramentale Ordnung nicht der Herr Gottes —
obwohl doch Gott der Herr dieser Ordnung ist, der ihr nicht
untertan sein kann -, wenn ihr selber schuldlos nicht Genüge
getan wird und in einer konkreten Situation nicht Genüge
getan werden kann? Es gibt gewiß existentielle und gnadenhaf-
te Vorkommnisse (z.B. die «Begierdetaufe» impliziter Art
eines Menschen, der mit dem ausdrücklichen Christentum nie
in Berührung gekommen ist), die man nicht «Sakramente»
nennen kann, obwohl sie die Rechtfertigung bewirken oder

276
vertiefen. Aber ist damit sicher und eindeutig schon klar, daß
man jeder Amtshandlung ihre Gültigkeit dann absprechen
müsse, wenn sie von jemandem vorgenommen wird, der nach
katholischen Normen nicht gültig ordiniert ist (obwohl dies im
normalen Fall nach diesen Prinzipien zur Gültigkeit erforder-
lich ist), wenn doch diese Zeichen alle (auch die normalen) ihre
Kraft von der ihnen vorausliegenden, immer gegebenen
eschatologischen Heilssituation, Kirche genannt, haben und
diese Situation (im exhibitiven Wort) auch dort bezeugt wird,
wo dies nicht in der normalen Weise geschieht und geschehen
kann, die an sich mit Recht von der Römisch-Katholischen
Kirche gefordert wird? Ist das Recht der Römisch-Katholi-
schen Kirche, Normen der Gültigkeit der sakramentalen
Zeichen zu setzen, so apodiktisch, daß dieses Recht auch die
Möglichkeit von Ausnahmen ausschließen kann?
Das sind Fragen, für die hier nur ein paar wenige Gesichts-
punkte angedeutet werden sollten und die hier wirklich nur
Fragen sind, ohne eine eindeutige Antwort. Bei der ganzen
Überlegung war natürlich stillschweigende Voraussetzung, die
vom evangelischen Theologen natürlich nicht geteilt wird, daß
die Frage der Ämteranerkennung usw. hier von einem katholi-
schen Ausgangspunkt her gestellt wird, die katholische Sa-
kramentenspendung also als die normale vorausgesetzt und
unter dieser Voraussetzung gefragt wird, ob nicht-katholische
Sakramentenspendung (Abendmahl usw.) auch dort und dann
noch als gültig anerkannt werden kann, wo sie die Normen der
katholisch normalen Sakramentenspendung nicht einhält. Ein
evangelischer Theologe wird natürlich diese Voraussetzung
unserer Überlegungen von vornherein ablehnen und Amts-
handlungen in seiner Kirche gar nicht wirklich vor die Frage
stellen wollen, ob sie nach römischen Normen gültig sind oder
nicht. Aber auch ein solcher Theologe kann sich für die Frage
interessieren, ob nicht doch auch die katholische Sakramenten-
lehre zu einer Anerkennung der Ämter und der Amtsvollzüge
in den evangelischen Kirchen (über die Taufe hinaus) kommen
könnte, die weiter und umfassender ist, als sie traditionell in der
katholischen Theologie und Lehrverkündigung gegeben ist.

277
BUCH GOTTES - BUCH DER MENSCHEN

Auf dem Grund unserer Existenz als Mensch west, ob vorgelas-


sen oder verdrängt oder noch nicht an die Oberfläche unseres
Bewußtseins gedrungen, ein unheimliches Wissen um unsere
kreatürliche Endlichkeit. Und wie in der materiellen Natur das
Grundwasser mitgespeist wird durch den Regen, der von oben
kommt, so wird auch unser verborgenes Grundwissen um
unsere Kreatürlichkeit immer neu gespeist durch die Erfahrun-
gen, die die Menschheit in ihrer Geschichte und durch ihre
Wissenschaften macht. Zu diesem Grundwissen gehört eine
unheimliche Erfahrung der einzelnen je für sich und der
Menschheit als ganzer von einer fast tödlich erschreckenden
Ausgesetztheit in eine Welt von Milliarden von Lichtjahren
und damit von einer erschreckenden Relativität und Unbe-
deutendheit all dessen, was ein einzelner Mensch in seiner
konkreten Lebenssituation und was die Menschheit als ganze
in der kleinen, ihr zugemessenen Geschichte innerhalb der
ungeheuren Zeiträume des Universums tut und erfährt.

Der Mensch im Universum

Man kann sich wirklich vorkommen wie eine einzelne kleine


Ameise, die eine kleine Tannennadel einen Zentimeter weit
herumzerrt, das noch wichtig nimmt, ohne wirklich zu
realisieren, wie unbedeutend ihr mühseliges Tun ist auf einer
ganzen Erde, die selber nur ein winziges Stäubchen in einem
Universum ist, das Milliarden Lichtjahre groß ist und sich
immer noch in einer ungeheuerlichen Dynamik ausdehnt. Was
ist, von dieser kreatürlichen Erfahrung unserer Unbedeutend-
heit her gesehen, all das, was wir erleben, tun und erleiden, als
Glück empfinden oder als kommendes Unglück fürchten? Das
Gräßlichste, was wir für die ganze Menschheit auf einmal
fürchten könnten, wäre universalkosmisch gesehen doch nur
eine kleine Reibungserscheinung in der ungeheuren Ma-
278
schinerie des Universums. Man könnte von da aus denken, die
ganze Menschheitsgeschichte sei im Grunde genommen eben
doch nur ein verlorener kleiner Ameisenhaufen in einem Uni-
versum, das diesen kleinen Haufen Menschheitsgeschichte von
drei Millionen Jahren, so nebenbei und letztlich gleichgültig,
auch hervorgebracht hat und wieder vergehen läßt.
Aber die Wirklichkeit dieses Universums ist doch letztlich
ganz anders, als es uns diese Erfahrung unserer Nichtigkeit und
Verlorenheit im erbarmungslos sein Wesen treibenden Kosmos
einzureden sucht. Denn zunächst einmal ist jene ungeheuerliche
Kraft und Macht, die diesen Kosmos in seine Wirklichkeit setzt
und zu immer größerer Vielfalt auseinandertreibt, die einfach-
ste radikalste Einheit, die nicht eigentlich selber sich mit dem
Kosmos ausdehnt und so mit ihm in einzelnes zerfällt, sondern
als eine und ganze überall ganz an jedem Punkt dieses Kosmos
gegeben ist. Man nennt diese Urkraft, die allmächtig überall an
jedem Punkt ganz und ungeteilt gegeben ist, Gozt. Dieser Gott
aber, der als ganzer und unendlich einer allgegenwärtig ist —
selbst noch in der Tannennadel, die von der kleinen Ameise ein
paar Zentimeter weit herumgezerrt wird —, hat die Möglichkeit
und den freien Entschluß seiner sich selbst verschwendenden
Liebe, sich selber an bestimmten Punkten dieses Universums
mitzuteilen, einzelne Punkte dieses Universums zum Ereignis
dieser seiner freien Selbstmitteilung zu machen, sich ganz an ein
paar scheinbar verlorenen Punkten dieses Universums in das
Universum einzustiften. Ja, er hat dieses ganze Universum in
seiner scheinbar unermeßlichen und ungeheuerlichen Größe
nur werden lassen, damit die Bühne vorhanden sei, auf der das
Ereignis der Gott nicht teilenden und verzettelnden, sondern
ihn ganz gebenden Selbstmitteilung an das Nichtgöttliche ge-
schehen kann.
Die Punkte, an denen das Universum unzählige Male nicht
nur von Gottes Kraft untergründig getragen ist, sondern ihn
selbst als ganzen und einen empfängt, nennt man die Menschen.
Diese müssen, damit an ihnen und in ihnen solche Unbegreif-
lichkeit göttlicher, Gott selbst verschwendender Liebe ge-
schieht, eine unendliche, natürlich von Gott gegebene Offen-
279
> r e „a

heit und Empfänglichkeit für Gott als solchen selbst haben.


Das deutlichste Anzeichen dafür, daß solche unbegrenzte Of-
fenheit und Empfänglichkeit das Wesen des Menschen ausma-
chen, ist darin gegeben, daß der Mensch sich selber, die Teile
seiner kosmischen Umwelt und das Universum im ganzen noch
einmal gegenständlich vorstellen kann, daß im winzigen Teil
des Universums, der der Mensch ist, grundsätzlich das ganze
Universum noch einmal Platz hat, im menschlichen Bewußtsein
der Mensch also immer Partikel des Universums und der um
das Ganze Wissende ist — eine Ameise, in der das Ganze des
Universums selber Ereignis wird. Dieser Mensch der unendli-
chen Weite kann und soll Gott in seiner Unendlichkeit, Unbe-
greiflichkeit und Freiheit als solchen selber aufnehmen, erfah-
ren und ihn als die absolute Zukunft, die grundsätzlich nicht
überbietbar ist, besitzen.
Ob es im Kosmos noch andere solche Stellen gibt, in denen
als einzelnen dennoch der Kosmos je als ganzer zu sich selber
kommt und darüber hinaus die Unendlichkeit Gottes emp-
fängt, das wissen wir nicht. Wir können aber, nebenbei
bemerkt, bei dieser Frage an die Engel denken und brauchen
diese nicht als Wirklichkeiten schlechthin und von vornherein
jenseits eines materiellen Kosmos zu denken. Erkennen wir bei
ihnen auch einen, wenn auch vom Menschen verschiedenen,
umfassenderen Bezug auf den materiellen Kosmos und von
diesem her an, dann könnte die Frage, ob es auf anderen
Sternen auch personale Geistwesen gibt, die von Gott begnadet
werden, für uns eine Frage sein, die eigentlich schon überholt
ist oder jedenfalls in einer solchen Grundkonzeption, wie sie
eben angedeutet wurde, eine besondere Aktualität und Gewich-
tigkeit verliert. Auf jeden Fall aber gibt auch der uns zunächst
so erschreckend in unsere Unbedeutsamkeit hineinstoßende
Kosmos ein Verständnis her für die Bedeutsamkeit, Einmalig-
keit und Endgültigkeit des Menschen und der Menschheitsge-
schichte, wie sie von der christlichen Anthropologie immer
schon gedacht wurde.

280
Begegnung von Gott und Welt

Nun aber muß gesehen und deutlich gemacht werden, daß das
Ereignis, in dem durch die Menschheit der Kosmos noch
einmal zu sich selbst und zu seinem Ursprung kommt, selber
eine Geschichte hat, die eine letzte durchgehende Einheit in
einer Vielfalt von Einzelereignissen ist, in denen stufenweise
die Menschheit zu sich selber und zur freien Selbstmitteilung
Gottes gelangt. Die ganze Kultur- und Religionsgeschichte der
Menschheit ist letztlich identisch mit dieser Geschichte, in der
die Menschheit in immer steigendem Maß zu sich selbst und
zu ihrer Berufenheit vor die Unmittelbarkeit Gottes kommt. Es
ist hier nicht der Ort, genauer auszumachen, wie sich die
durchhaltende letzte Struktur dieser Geschichte und echte Ver-
änderungen und bedeutsame Zäsuren in dieser Geschichte
genauer zueinander verhalten.
Aber so schwer es auch sein mag, darüber zu befinden, ob
und wie diese Menschheitsgeschichte die Geschichte eines Auf-
stiegs und Fortschritts zu höheren Vollkommenheiten in den
verschiedensten Dimensionen des Menschseins gewesen ist, so
hat der christliche Glaube doch die Überzeugung in sich, daß
es solche entscheidenden, die Gesamtgeschichte der Mensch-
heit gliedernden und auf eine Endgültigkeit hin ausrichtenden
Zäsuren und Abschnitte der Menschheitsgeschichte gegeben
hat. Sonst könnte ja das Christentum nicht vom Alten und
Neuen Testament, von einem Bund Gottes mit Israel, vom
Neuen und Ewigen Bund Gottes mit der Menschheit in Chti-
stus reden.
Von dieser Grundperspektive der Geschichte des Kosmos
und der Menschheit her können wir als Christen auf jeden Fall
sagen: Die neue und endgültige Phase dieser Geschichte des
Kosmos und der Menschheit besteht darin, daß mindestens
einmal im Menschen (wenn vielleicht auch sonst noch) die Welt
zu sich selber und zur Überzeugung davon gekommen ist, daß
die Unmittelbarkeit zu ihrem letzten Ursprung ihr eigentliches
Ziel ist, und zwar nicht nur als Möglichkeit, die der Freiheit
des Menschen und der Menschheit angeboten ist, sondern auch

281
als schon jetzt in Zukunft durch die siegreiche Macht Gottes
gegebene Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Die Geschichte
des Kosmos ist, obzwar Freiheitsgeschichte seiend und
bleibend, schon in eine Phase eingetreten, in der die Ankunft
der Welt bei Gott selber oder die Ankunft Gottes in seiner
eigensten Wirklichkeit bei der Welt schon unwiderruflich
gegeben ist, wie auch, nebenbei bemerkt, das Zweite Vatikani-
sche Konzil ausdrücklich sagt.
Diese nicht mehr rückgängig zu machende Begegnung von
Gott und Welt ist nicht nur ein Ereignis in der letzten Tiefe der
Existenz kreatürlicher Freiheitssubjekte, sondern ist auch in
kollektiver Geschichte in Erscheinung getreten und erst gerade
dadurch selber unwiderruflich geworden. Dieses Ereignis einer
geschichtlich gewordenen, endgültigen Einheit des frei sich
selbst mitteilenden Gottes und des diese Mitteilung frei anneh-
menden Menschen heißt konkret Jesus Christus, der Ge-
kreuzigte und Auferstandene, in dem der Dialog zwischen Gott
und Kreatur zu einer letzten und nicht mehr rückgängig zu
machenden Verständigung gekommen ist. Da dieser Jesus als
die Einheit des Zusagewortes Gottes und der glaubenden
Annahme dieses Zusagewortes immer in einer von ihm nie
aufgegebenen Solidarität mit den Menschen, der Menschheit
handelt, ist dieses Ereignis der unlöslichen Einheit von Gott
und Welt in ihm auch heilsbedeutsam für die Gesamtmensch-
heit.
In Jesus ist die unwiderrufliche und von Gott her siegreiche
Selbstzusage Gottes an die Welt als des schöpferischen Ur-
grunds des Kosmos und als dessen wirklich in sich selbst
erreichbaren Zieles endgültiges Ereignis geworden. Dieses
kann nicht mehr aus der Welt und ihrer Geschichte verschwin-
den und bleibt so in seiner eschatologischen Unwiderruflichkeit
in der unzerstörbaren Gemeinschaft der Glaubenden, Kirche
genannt, präsent. Die Kirche ist nicht bloß irgendeine Anstalt
zur Beförderung individueller Religiosität und Heilssorge der
vielen einzelnen, sondern ist zuvor und zuletzt in ihrem
Glauben die sakramentale Präsenz der von sich her siegreichen
Selbstzusage Gottes an die Welt.

282
Die Heilige Schrift als Konstitutivum der Urgemeinde

Jetzt können wir endlich zum Verständnis dessen gelangen,


was wir die Heilige Schrift nennen. Diese geschichtliche und
unwiderrufliche Präsenz des eschatologischen, nicht mehr
rückgängig zu machenden Heilswillens Gottes ist erst mit Jesus
Christus und der ihn umgebenden Urgemeinde des Glaubens
gegeben. Die geschichtliche Weiterexistenz dieser Glaubensge-
meinde als der Präsenz des siegreichen Heils Gottes ist wesent-
lich bezogen auf dieses einmalige und unwiederholbare Ereig-
nis des Gottmenschen und der Urgemeinde. Diese bleibt für
alle Zukunft normativ.
Dies bedeutet aber gerade nicht ein partikuläres religiöses
Phänomen in der Menschheitsgeschichte, neben dem es letzt-
lich gleichberechtigte andere solche religiösen Phänomene und
Objektivationen geben könnte; denn dieser Jesus und seine
ursprüngliche Gemeinde sind ja gerade Ereignis und Be-
zeugung des Ankommens bei dem unendlichen Gott in sich
selber, des Ankommens nicht nur als Möglichkeit, sondern
auch als Wirklichkeit. Ein solches Ankommen hat grundsätz-
lich von vornherein keine Konkurrenz neben sich, was ihre
Inhaltlichkeit angeht, und die geschichtliche Bezeugung dieses
Angekommenseins durch Jesus Christus hat faktisch vor ihm
und neben ihm keine Konkurrenz und kann nach ihm eigent-
lich keine mehr haben, weil über sie hinaus nichts mehr gesagt
werden kann.
Die mit Jesus als der eschatologischen Selbstzusage Gottes
notwendig gegebene Urgemeinde muß notwendigerweise so
konstituiert sein, wie eine solche Gemeinde in ihrer damaligen
kulturellen Situation unvermeidlich konstituiert sein mußte
und wie sie konstituiert sein muß, wenn sie die normative
Größe und das bleibende Richtmaß für die spätere, sich immer
durch die Generationen erneuernde Glaubensgemeinde als der
sakramentalen Heilspräsenz Gottes sein soll. Das heißt
konkret: Diese Urgemeinde ist mitkonstituiert durch ein Buch.
Wir sagen dies, ohne eine spätere Präzision dieser Aussage zu
präjudizieren, was nachher noch deutlich werden muß.

283
Jedenfalls ist in der damaligen kulturellen Situation der
Menschheit, die schon zur Schrift und in etwa zum Buch
gelangt ist, eine Glaubensgemeinde mit einem gemeinsamen
Glaubensbewußtsein nicht mehr denkbar als auch durch die
Hilfe des Buchs, in dem niedergelegt und ausgesagt wird, was
geglaubt und gehofft wird, also in einem Medium, in dem die
einzelnen in ihrem Glaubensbewußtsein kommunizieren und so
eine Einheit bilden können, im Medium der Sprache und so
damals unweigerlich auch der Schrift und des Buchs. Die
Urgemeinde des Glaubens an Jesus ist in sich und in ihrer
normativen Bedeutung für die Zukunft des Glaubens mitkon-
stituiert durch das Buch.
Wenn und insofern dieses Buch als ein Konstitutivum der
Urgemeinde für ihre normative Bedeutung für alle kommenden
Zeiten verstanden wird und dabei gleichzeitig, ja zuvor, diese
Urgemeinde als die eschatologisch durch Gottes Macht un-
widerruflich gewirkte Präsenz der Heilszusage Gottes begriffen
wird, lassen sich, so meine ich, alle Aussagen des christlichen
Glaubens über die Heilige Schrift des Alten und Neuen Te-
staments verstehen, ohne daß diese Aussagen von der Urheber-
schaft Gottes an der Heiligen Schrift, von der Inspiration, der
Normativität, der Irrtumslosigkeit der Schrift einen
mirakulösen Beigeschmack haben, der heute nicht mehr as-
similierbar wäre, und ohne daß der Hinweis auf andere heilige
Schriften in anderen großen Kulturreligionen den Christen an
dem Verständnis der Heiligen Schriften des Christentums ir-
remachen müßte.

Die Heilige Schrift -— Wort Gottes und Wort der Menschen

Zunächst einmal betont das Zweite Vatikanische Konzil aus-


drücklich, daß die menschlichen Urheber der Heiligen Schrif-
ten des Alten und des Neuen Testaments wirkliche Verfasser
dieser Schriften sind und nicht bloße Schreiber eines Diktats,
durch das Gott allein «Urheber» der Heiligen Schrift wäre.
Wir können die Frage hier beiseite lassen, ob man in einer

284
. katholischen Theologie der Schrift heute nach dem Zweiten
Vatikanischen Konzil von einer Verbalinspiration sprechen
könne. Jedenfalls hat Gott die Schriften nicht in dem Sinn
diktiert, wie wir uns ein Diktat zwischen zwei Menschen vorzu-
stellen pflegen. Gott brauchte nicht durch eine mirakulöse
Intervention Sätze in das Bewußtsein der Verfasser einzu-
schleusen. Wenn die menschlichen Urheber der Schriften wirk-
liche Verfasser sind, dann muß die Urheberschaft Gottes an der
Heiligen Schrift, die eindeutige Glaubenslehre ist und bleibt,
anders verstanden werden als eine Verfasserschaft. Verfasser-
schaft der Schrift meint menschliche Verfasser, Urheberschaft
Gottes muß etwas anderes meinen.
Man wird darum sagen dürfen: Wenn und insofern Gott in
seiner von ihm aus ohne Aufhebung der menschlichen Freiheit
unbedingt mächtigen Gnade das Heilsereignis Christi und der
notwendig dazu gehörenden Urgemeinde des Glaubens kon-
stituiert und so deren bleibende Normativität will und garan-
tiert, und insofern zu dieser Urgemeinde und deren Nor-
mativität die schriftliche Objektivierung ihres Glaubens unbe-
dingt gehört, insofern ist Gott schon in wahrer Weise Urheber
der Schrift, hat er sie schon «inspiriert» und garantiert ihre
«Inerranz», in dem Sinn und mit den Grenzen, die mit der
eigentlichen Aufgabe dieser Schrift gegeben sind. Anders aus-
gedrückt: Gott in der Macht seiner Gnade wirkt die Urgemein-
de, er wirkt sie als bleibende Norm der künftigen Kirche, er
wirkt sie als sich selber objektivierend in bestimmten Schriften,
die Norm der künftigen Kirche sind, und er wirkt auf diese
Weise eben diese Schriften.
So sind alle Möglichkeiten der Individualität, Freiheit, Situa-
tionsbedingtheit menschlicher Verfasser in der Urkirche offen-
gelassen. Diese Menschen sind die Verfasser. In den Schriften
spiegelt sich ihre Individualität; sie entstehen durch eine
theologische Reflexion auf die Erfahrung Jesu Christi als der
endgültigen und unwiderruflichen Selbstzusage Gottes in der
Geschichte und Öffentlichkeit selbst. Diese Schriften haben oft
einen, menschlich gesehen, zufälligen Entstehungsgrund; sie
sind nicht von vornherein unter einem menschlich bewußten

285
Grundsystem einheitlich konzipiert; sie verraten eine Ver-
schiedenheit von theologischen Ausgangspunkten, Ter-
minologien, Plausibilitäten. Aber sie sind auch in ihrer Vielfalt
und Verschiedenheit gültige Zeugnisse des Glaubens der Urge-
meinde und so von der Vorsehung Gottes gewollt und hervor-
gerufen, in der von sich aus sich durchsetzenden Heilsgnade als
Norm des Glaubens der folgenden Kirche in ihren Genera-
tionen.
Natürlich hat es in der Urkirche ganz gewiß über die uns
überlieferte Schrift hinaus schriftliche Objektivationen des
Glaubens der Urgemeinde gegeben, die gewiß teilweise nicht
als normative Objektivationen des Glaubens der Urgemeinde
hätten gelten können, die teilweise aber vielleicht auch als
solche hätten anerkannt werden können (wie zum Beispiel
verlorengegangene Briefe des Paulus). Die Scheidung zwischen
schriftlichen Erzeugungen innerhalb der Urkirche, die einen
normativen Bezeugungscharakter für spätere Zeiten haben,
und solchen, denen dieser Charakter nicht zukommt, also die
Konstitution und Abgrenzung des sogenannten Kanons der
Schriften, muß dem Glaubensinstinkt der Kirche in der Über-
gangszeit zwischen der apostolischen und der nachapostoli-
schen Zeit zuerkannt werden, und wir Spätere können nur
nachträglich feststellen, daß diese Scheidung einerseits sehr
großzügig vorgenommen wurde — so daß also auch Schriften
in den Kanon aufgenommen wurden, die aufzunehmen wir uns
heute vielleicht nicht leicht getrauen würden — und andererseits
doch so streng war, daß wir auch heute noch in allen Schriften
trotz ihrer beträchtlichen Verschiedenheit an Gesichtspunkten
und auch an christlich existentieller Tiefe ein echtes Corpus der
Schrift als letztlich einhellige Bezeugung des christlichen
Glaubens entgegennehmen können.
Nachträglich muß nun noch etwas über das Alte Testament
gesagt werden. Insofern es die Heilige Schrift Jesu war und es
einfach zur unmittelbar greifbaren Vorgeschichte des christli-
chen Ereignisses gehört und als solche vom Christusereignis
anerkannt ist, gehört auch das Alte Testament zur Heiligen
Schrift des Christentums. Wir Christen erreichen es von Chri-
286
stus her. Ob es für uns heute als gottgewirkte Heilige Schrift
unabhängig von Christus erreichbar wäre oder ohne Christus
für uns in unserer eigenen Existenz- und Heilssituation nur als
ein vorderasiatisches, wenn auch noch so bedeutsames und in
der früheren Geschichte unübertroffenes Dokument der
Religionsgeschichte erfaßt werden könnte, das ist wohl eine
Frage, die wir hier offenlassen können.
Heilige Schrift ist das Alte Testament für uns in unserer
konkreten Glaubens- und Heilssituation, insofern es Heilige
Schrift Jesu war und «Christum treibt». Damit ist die auch
darüber hinausgehende religiöse Bedeutung des Alten Te-
staments nicht geleugnet, sondern nur betont, daß sie eben uns
Christen faktisch von Jesus her erreicht und für uns immer
auch auf den Gekreuzigten und Auferstandenen hin gelesen
werden muß. Das Alte Testament als solches bezeugt trotz des
darin schon waltenden und sich offenbarenden Heilswillens
Gottes noch nicht, daß dieser Heilswille Gottes nicht mehr in
der Phase einer ambivalenten Heilsmöglichkeit, sondern in der
Phase seines nicht mehr rückgängig zu machenden Sieges bei
uns angekommen ist, und ist darum mit Recht Altes Testament
genannt.
Die Schrift ist Menschenwort und Menschentat, insofern
darin Menschen bezeugen, daß Gott nicht nur der geheimnis-
volle und unheimliche Urgrund einer Geschichte ist, die ins
Unvorhersehbare weiterläuft, sondern daß ihr Gott als ihre
absolute Zukunft entgegenläuft und sie in seine eigene Unend-
lichkeit und lichte Unbedingtheit hineinläßt. Aber die Schrift
ist Gottes Wort, insofern in diesem Menschenwort nicht das
und jenes bezeugt wird, was an Endlichem Gott in freier
Schöpfermacht tut, sondern Gott selbst in sich als unendliche
Gabe an die Welt bezeugt wird und solche Bezeugung nur
möglich ist, wenn sie in einer über das Gewöhnliche der Schöp-
fertätigkeit Gottes hinausgehenden einmaligen Weise von Gott
selbst bewirkt wird.
Wenn die Schrift nicht Gott selbst als siegreich sich durch-
setzende Gabe durch Gott selbst (Glaubenslicht genannt) be-
zeugte, würde sie nur über von Gott verschiedene Wirklich-

287
keiten reden, auch wenn sie über diese in ihrer Beziehung zu
Gott handelte. Dann aber wäre der Inhalt ihrer Aussage letzt-
lich nicht von einem Aussageinhalt verschieden, der auch durch
bloß menschliche Rede (grundsätzlich) erreichbar wäre. Dann
aber wäre jener wesentliche Unterschied zu sonstiger menschli-
cher Rede nicht mehr gegeben, den die Schrift selber bezeugt.
Natürlich kann dieser wesentliche Unterschied der Schrift als
Gottes Wort von übriger menschlicher Rede letztlich nur
gedacht und aufrechterhalten werden, wenn ihre wesentliche
Bezogenheit auf das Kreuz und die Auferstehung Jesu erfaßt
wird, in welchen eschatologischen Heilsereignissen allein inner-
halb der Geschichte fundamental der Sieg der Selbstzusage
Gottes an die Welt geschichtlich und so im Wort gegeben ist,
und weil dieses Wort der Schrift bei gläubigem Lesen nochmals
von dieser Selbstmitteilung Gottes getragen ist und so nicht
nur Wort über Gott (wenn auch von ihm autorisiert) und so
nur menschliches Wort, sondern Wort Gottes selber ist.
Natürlich muß die Schrift, um das bei uns angekommene und
Gott selbst vermittelnde Wort Gottes sein zu können, auch
vom Menschen reden, auch Menschenwort über den Menschen
sein. Dieses Menschenwort über den Menschen hat noch
einmal auch in der Schrift die verschiedensten Dimensionen
und Verbindlichkeitsgrade, in denen der Mensch über sich
reden, sich und seine Geschichte bezeugen kann. Auch so kann
vieles über den Menschen gesagt werden in der Schrift, was
wichtig und unter Umständen auch immer für ihn gültig bleibt.
Aber all das hat seine letzte radikale Verbindlichkeit und Be-
deutsamkeit dadurch, daß es im Kontext der Aussage ge-
schieht, daß Gott selber in seiner eigenen Unendlichkeit und
Unbedingtheit sich dem Menschen nicht nur als Heilsmöglich-
keit angeboten hat, sondern von sich aus siegreich diese Mög-
lichkeit realisiert. Alle christliche Anthropologie, die wirklich
schriftgemäß sein will, darf diese letzte Begründung ihrer selbst
nie vergessen und muß die von der Sache selbst her gegebene
Verschiedenheit ihrer Verbindlichkeitsgrade immer mitbeden-
ken, eine Verschiedenheit, die durch die Geschichtlichkeit des
Menschen schon immer gegeben ist.

288
| \

Die Heilige Schrift als Buch

Die Schrift als Wort Gottes, das christliche Buch des Alten und
Neuen Testaments, war gewiß grundsätzlich schon gegeben
mit und in der Kirche der apostolischen Zeit als des für immer
normativen Beginns der eschatologischen Phase der Heilsge-
schichte überhaupt. Aber wenn wir schon vom Buch der
Heiligen Schrift sprechen, brauchen wir wohl nicht zu über-
sehen und tun der Ehre der Heiligen Schrift als Buch kein
Unrecht an, wenn wir darauf reflektieren, daß dieses Buch als
Buch noch eine Geschichte gehabt hat, in der ihr eigentliches
Wesen noch einmal radikaler als vorher verwirklicht wurde.
Die Schrift ist eine Botschaft an alle und an jeden einzelnen.
Dieser Charakter der Schrift wird aber radikaler realisiert, wenn
diese Schrift unmittelbar wirklich zu jedem und überallhin
gelangen kann. Das aber ist doch eigentlich erst gegeben, wenn
die Schrift ein Buch geworden ist, das leicht und praktisch so
vervielfältigt werden kann, daß es das Buch überall und von
jedem wird, also erst durch die schr tiefgreifende Zäsur der
menschlichen Geistesgeschichte, die mit dem Namen Guten-
berg bezeichnet wird.
Vor der Erfindung des Buchdrucks gab es Schrift, aber die
Schrift nicht als Buch für jedermann, was sie eigentlich sein will,
wenn auch die katholische Kirche das reflex nur in einem
langen und mühsamen Prozeß deutlich genug erfaßte und erst
eigentlich im Zweiten Vatikanischen Konzil ausdrücklich
sagte, daß sie die Schrift als Buch in der Hand von jedermann
wünsche, während sie vorher die Schrift fast ein wenig wie eine
Geheimschrift behandelte, die nur zum Gebrauch der Experten
in der Theologie und der amtlichen Verkündigung dienen
sollte. Erst von dem Ende des ı5. Jahrhunderts an war die
Schrift im Stadium der vollen Realisation ihres eigenen Wesens.
Jedes Buch, jede Bibliothek und jede Buchhandlung sagen
dem, für den die Geschichte ihre radikale Bedeutung als Heils-
geschichte des Ewigen Lebens hat, daß das Wort Gottes als im
Menschenwort und von da im geschriebenen Wort inkarniert
zu seinem vollen Wesen gekommen ist.
289
Besinnen wir uns zum Schluß dieser Überlegungen noch
einmal auf ihren Anfang zurück. Die ungeheure, atembe-
raubende Geschichte des Kosmos hat ihren letzten Sinn darin,
daß innerhalb dieser Geschichte scheinbar bloß punktförmig
unzählige Geschichten des Geistes und der Freiheit sich ereig-
nen können, in denen ebensooft die Geschichte des Kosmos
selber grundsätzlich zu sich selber kommt. Und diese unzählige
Male sich ereignende Geistes- und Freiheitsgeschichte als Zu-
sich-Kommen des Kosmos ist gleichzeitig und in einem die
Geschichte der Selbstmitteilung Gottes als absoluter Zukunft
an diese Geschichte der Freiheit und des Geistes des Kosmos.
Das endgültige Ergebnis all dieser zu Gott als solchem selber
vordringenden Geschichte des Geistes und der Freiheit, in der
der Kosmos erst zu sich selber kommt, heißt das ewige Reich
Gottes. In dieser Geschichte des Kosmos, des Geistes und der
Freiheit ist aber der unwiderrufliche Sieg dieser Geschichte
schon bezeugt und hat er auch schon als er selber begonnen.
Dieser Anfang der seligen Vollendung des Kosmos heißt Jesus
Christus, der durch seinen Tod hindurch Auferstandene. Die
bleibende Gegenwart dieses siegreichen Zusagewortes Gottes
in Jesus Christus heißt die Kirche derer, die an diesen Jesus
glauben, ihn und in ihm Gott selber lieben und mit ihm in die
Unbegreiflichkeit Gottes hinein in Hoffnung sterben.
Diese ganze Zeugenschaft, in der die Wirklichkeit des Be-
zeugten schon gegenwärtig ist, hat aber entsprechend dem
leibhaftigen Wesen des Menschen von Gott selber her eine
inkarnatorische Objektivation. Und diese heißt Heilige Schrift.
Sie muß natürlich glaubend gelesen werden, sonst wäre sie auch
nur ein Menschenbuch, das vom Feuer des Gerichts verzehrt
werden wird; ihr Wort muß immer wieder im sakramentalen
Wort und im Wort der Verkündigung aktualisiert werden.
Aber weil die Geschichte der Menschheit nicht nur Geschichte
der Menschen, sondern auch die Geschichte Gottes selber ist
(unvermischt, aber ungetrennt), darum gibt es in der Geschich-
te der Menschheit nicht nur Bildwerke, Bauten, Dichtungen,
Bücher, in denen der Mensch sein eigenes Wesen zur Erschei-
nung bringt, um es zu verwirklichen, sondern gibt es auch über

290
FRÖMMIGKEIT
ar ws, re
A

N,
BE DT.
BAR, .
DIMENSIONEN DES MARTYRIUMS

Hier soll der Versuch unternommen werden, für eine gewisse


Erweiterung des traditionellen Begriffes des Martyriums zu
plädieren.
Der traditionelle Begriff, so wie er heute in der Kirche
verwendet wird, ist bekannt. Es steht hier nicht zur Frage, wie
er sich im Lauf der Kirchengeschichte entwickelt hat, wie er
sich zum biblischen Begriff des Martyriums verhält, wie dieser
neutestamentliche Begriff selber wieder mit verwandten Begrif-
fen und Vorstellungen wie Verkündigung, Prophet, Bekennt-
nis, Tod usw. zusammenhängt. Hier setzen wir den heute in der
Kirche traditionellen Begriff des Martyriums voraus; bei
diesem dogmatisch-fundamentaltheologischen Begriff ist die
freie, duldende, nicht aktiv (wie z.B. beim Soldaten) kämpfen-
de Annahme des Todes um des Glaubens willen gemeint. Bei
«Glaube» ist die christliche Sittenlehre mitverstanden, was sich
ja z.B. deutlich daran zeigt, daß die hl. Maria Goretti, die 1902
von einem Burschen einer Nachbarsfamilie erstochen wurde,
weil sie sich gegen seine Zudringlichkeiten energisch zur Wehr
setzte, von der Kirche als Märtyrerin verehrt wird. Bei
«Glaube» kann es sich um das Ganze des christlichen Bekennt-
nisses handeln oder um eine einzelne Wahrheit der christlichen
Glaubens- und Sittenlehre, wobei aber natürlich diese einzelne
Wahrheit immer im Ganzen der christlichen Botschaft gesehen
wird. Der Tod «in odium fidei» muß bewußt angenommen
werden, so daß das Martyrium und die «Bluttaufe» unter-
schieden werden müssen.
Das Eigentümliche dieses Begriffes liegt nun darin, daß
heute kirchlicherseits bei diesem Begriff ein Tod in einem
aktiven Kampf ausgeschlossen wird. Unsere Frage lautet
deshalb, ob ein solcher Tod, der im aktiven Kampf um den
christlichen Glauben und seine sittlichen Forderungen (auch
bezüglich der Gesellschaft) erlitten wird, notwendig und für
immer von dem Begriff des Martyriums ausgeschlossen bleiben
muß. Diese Frage hat ein beträchtliches Gewicht für das christ-

29
liche und kirchliche Leben, weil die Zuerkennung des Mar-
tyriums einem kämpfenden Christen gegenüber eine bedeut-
same kirchenamtliche Empfehlung eines solchen aktiven
Kampfes als eines nachahmenswerten Beispieles für andere
Christen bedeuten würde.
Zunächst einmal ist es selbstverständlich, daß solche Begriffe
wie die, um die es sich hier handelt, eine Geschichte haben und
legitim variabel sind. Es handelt sich ja eigentlich nur um die
Frage, ob in diesem Falle ein duldendes Erleiden des Todes um
des Glaubens willen und das Erleiden des Todes in einem
aktiven Kampf für den Glauben (oder einzelne seiner For-
derungen) nicht unter einen Begriff des Martyriums zusammen-
gefaßt werden können, weil in diesen beiden Todesarten eine
sehr weite und tiefgreifende Gemeinsamkeit gegeben ist und
weil durch einen solchen einen Begriff für beide Todesarten eine
bleibende Verschiedenheit zwischen beiden nicht geleugnet
wird. Es gibt ja viele Begriffe, die zwei Wirklichkeiten zusam-
menfassen wegen ihrer sachlichen Ähnlichkeit, ohne darum
ihre Verschiedenheiten zu leugnen oder notwendig zu verdun-
keln. (Der Begriff «Sünde» z.B. wird im kirchlichen Sprachge-
brauch für das Erbverderbnis und für den persönlich verschul-
deten Sündenzustand gemeinsam verwendet, ohne daß darum
eine radikale Verschiedenheit dieser beiden Zustände geleugnet
werden soll.) Es ist nun gewiß richtig, daß das dw/dende Erleiden
des Todes um des Glaubens willen eine besondere Beziehung
zu dem Tode Jesu hat, der gerade durch seinen erlittenen Tod
der getreue und zuverlässige Zeuge schlechthin geworden ist.
Aber dieser nicht zu leugnende Unterschied zwischen den
beiden Todesarten schließt eine Zusammenfassung unter dem
einen Begriff und Wort des Martyriums nicht aus.
Um dies zu sehen, um also die innere und wesentliche
Gleichheit dieser beiden Todesarten bei aller ihrer auch gegebe-
nen Verschiedenheit sich deutlich zu machen, muß auf vieles
reflektiert werden. Zunächst einmal ist doch der «passiv erdul-
dete» Tod Jesu die Konsequenz eines Kampfes Jesu gegen die
religiösen und politischen Machthaber seiner Zeit. Er starb,
weil er kämpfte, sein Tod darf nicht isoliert gesehen werden
296
von seinem Leben. Umgekehrt «duldet» auch der, der im
aktiven Kampf für die Forderungen seiner christlichen Über-
zeugung (unter Umständen natürlich auch in der Dimension
der öffentlichen Gesellschaft) fällt, seinen Tod. Auch ein
solcher Tod wird ja nicht einfach als solcher direkt gesucht, er
schließt ein passives Element genauso ein, wie der Tod des
Märtyrers im herkömmlichen Sinn auch ein aktives Element an
sich hat, da ja auch ein solcher Märtyrer durch sein aktives
Zeugnisgeben und Leben die Situation heraufbeschworen hat,
in der er nur durch eine Verleugnung seines Glaubens dem Tod
entgehen könnte.
Es mag natürlich eine Frage bleiben, wie genauer der aktive
Kampf beschrieben und von ähnlichen Geschehnissen abge-
grenzt werden muß, damit der Tod in diesem aktiven Kampf
als Martyrium angesprochen werden kann und soll. Nicht
jeder, der in einem Religionskrieg auf christlicher oder ka-
tholisch-konfessioneller Seite fällt, muß als Märtyrer bezeichnet
werden. In solchen Religionskriegen spielen konkret zu viele
irdische Motive mit; die Frage bleibt offen, ob jeder Kämpfer
in solchen Kriegen wirklich ernsthaft mit seinem Tod rechnet
und ihn wirklich annimmt. Aber warum sollte z.B. ein Erzbi-
schof Romero, der im Kampf für die Gerechtigkeit in der
Gesellschaft fällt, in einem Kampf, den er aus letzter christli-
cher Überzeugung führt, nicht ein Märtyrer sein? Er hat sicher
mit seinem Tod gerechnet.
Wir dürfen uns das passive Erdulden des Todes nicht einfach
nur in der Weise vorstellen, wie wir uns die altchristlichen
Märtyrer vor einem Richterstuhl und ihre gerichtliche Verur-
teilung zum Tod anschaulich zu machen pflegen. Das passive,
aber in willentlicher Entscheidung angenommene Erdulden des
Todes kann in ganz anderen Weisen geschehen. Die modernen
«Christenverfolger» werden den Christen von heute gar keine
Gelegenheit geben, ihren Glauben im alten Stil der ersten
christlichen Jahrhunderte zu bekennen und einen Tod durch
Gerichtsbeschluß anzunehmen. Aber ihr Tod kann dennoch in
diesen anonymeren Formen heutiger Christenverfolgung
ebenso wie bei den Märtyrern alten Stiles vorausgesehen und

=
angenommen werden. Und zwar auch als Konsequenz eines
aktiven Kampfes für die Gerechtigkeit und andere christliche
Wirklichkeiten und Werte. Es ist ja seltsam, daß die Kirche
Maximilian Kolbe als Bekenner und nicht als Märtyrer heilig-
spricht. Ein unvoreingenommenes Verständnis für Maximilian
Kolbe wird mehr als auf sein früheres Leben auf sein Verhalten
im Konzentrationslager und in seinem Tod blicken und ihn als
Märtyrer selbstlos christlicher Liebe verstehen.
Jedenfalls sind die Unterschiede zwischen einem Tod um des
Glaubens willen im aktiven Kampf für ihn und dem Tod um
des Glaubens willen in einem passiven Erdulden zu fließend
und zu schwer zu bestimmen, als daß man sich die Mühe
machen müßte, die beiden Todesarten begrifflich im Wort
genau auseinanderzuhalten. Beides ist letztlich die gleiche, aus-
drückliche und entschlossene Annahme des Todes aus dersel-
ben christlichen Motivation heraus; in beiden Fällen ist der Tod
die Annahme des Todes Christi, die als höchster Akt der Liebe
und des Starkmutes den Menschen als Glaubenden restlos in
die Verfügung Gottes gibt, die eine radikale Einheit von Tat
der Liebe und des Erleidens des letzten notvollen Sich-selbst-
genommen-Seins angesichts des unbegreiflichen, aber macht-
vollen Nein der Menschen zu der sich offenbarenden Liebe
Gottes darstellt. In beiden Fällen erscheint der Tod als die
vollendete und offenbare Erscheinung des eigentlichen Wesens
des christlichen Todes überhaupt. Auch dort, wo der Tod im
Kampf für die christliche Überzeugung erlitten wird, ist er das
Zeugnis des Glaubens von restloser, das ganze Dasein in den
Tod hinein integrierender Entschlossenheit aus der Gnade
Gottes mitten in der tiefsten inneren und äußeren Machtlosig-
keit, die der Mensch duldend annimmt. Das gilt auch für den
Tod im Kampfe, weil ja dieser Kämpfer genauso wie der
duldende Märtyrer im traditionellen Sinne in der Erfahrung
seines äußeren Scheiterns die Macht des Bösen und seine eigene
Ohnmacht erfährt und ausleidet.
Wir können uns bei diesem Plädoyer für eine gewisse Aus-
weitung des traditionellen Martyriumsbegriffes durchaus auch
auf Thomas von Aquin berufen. Thomas sagt in IV. Sent. dist.
298
\

49 9.5 a.3 qc.2 ad ı1, durch einen Tod, der eine deutliche
Beziehung auf Christus hat, sei einer ein Märtyrer, wenn er die
Gesellschaft (res publica) verteidige gegen die Angriffe ihrer
Feinde, die den christlichen Glauben zu verderben trachten,
und in dieser Verteidigung den Tod erleide. Die Verderbnis des
Glaubens Christi, gegen die sich ein solcher Verteidiger der
Gesellschaft wehrt, kann sich selbstverständlich auch auf eine
einzelne Dimension der christlichen Überzeugung beziehen,
weil ja sonst auch das passive Erdulden des Todes um einer
einzelnen christlichen und sittlichen Forderung willen nicht
Martyrium genannt werden dürfte. Thomas verteidigt also in
seinem Sentenzenkommentar einen umfassenden Begriff des
Martyriums, so wie er hier vorgeschlagen wird.
Eine legitime «politische Theologie» und eine Theologie
der Befreiung sollten sich dieser Begriffserweiterung anneh-
men. Sie hat eine sehr konkrete praktische Bedeutung für ein
Christentum und eine Kirche, die ihrer Verantwortung für
Gerechtigkeit und Frieden in der Welt sich bewußt sein wollen.

293
EUCHARISTISCHE ANBETUNG

Die Kirche hat eine Geschichte, die noch lange nicht zu Ende
ist, die nur schwer oder gar nicht vorauskalkuliert werden kann
und immer wieder Überraschungen bringt. Das gilt auch von
der Frömmigkeit sowohl der einzelnen in der Kirche wie auch
von der Kirche und ihren großen Gruppen. Es gibt also eine
Frömmigkeitsgeschichte. Auch eine solche hat ihren immer
neuen Wandel, der vom Geist Gottes gewirktes Neues bringt
und auch immer unvermeidlich seine Gefahren hat.
Weil die Kirche Jesu Christi in diesem Wandel ihrer Ge-
schichte im allgemeinen und ihrer Frömmigkeit im besonderen
ihre Identität nicht verlieren darf und nicht verlieren wird unter
dem Beistand des Geistes Gottes und Christi, bleibt in dieser
Geschichte nicht nur durch allen Wandel hindurch ein bleiben-
des, selbes Wesen erhalten, sondern die Vergangenheit ver-
schwindet nie so, daß sie der Zukunft nichts mehr zu sagen
hätte. In der weitergehenden Geschichte kann ein Altes wieder
jung werden und die spätere Geschichte belehren und in-
spirieren. Es gibt darum, um eine neue Zukunft zu schaffen,
auch eine Rückkehr zu den Quellen. Das so immer wieder neu
lebendig werdende Alte geht nicht als eine unlebendige, tote
Gegebenheit in die spätere Zeit ein, nicht als ein respektvoll
bewahrtes Museumsstück, sondern bleibt, indem es sich leben-
dig in eine neue Zeit hinein entwickelt und so anders wird und
doch sein altes Wesen bewahrt.
Was so von der Kirche und ihrer Geschichte samt der Fröm-
migkeitsgeschichte im allgemeinen gesagt wurde, gilt auch von
der eucharistischen Frömmigkeit, von der Frömmigkeit, mit
der die Stiftung Jesu im Abendmahl immer neu gefeiert werden
muß. Von der Möglichkeit, Altes aus der eucharistischen
Frömmigkeitsgeschichte neu lebendig werden zu lassen,
solches Alte nicht einfach als Vergangenheit gleichgültig hinter
sich zu lassen, sondern als neue Möglichkeit und Aufgabe der
Zukunft zu sehen, soll in dieser kleinen Betrachtung die Rede
sein.
300
Es läßt sich, wenn man das heutige Leben der Kirche in
unseren Ländern vorurteilslos betrachtet, nicht leugnen, daß die
eucharistische Frömmigkeit einen gewissen Schwund erfahren hat. Wird
die stille Anbetung vor dem Tabernakel mit dem ewigen Licht
noch so geübt wie früher? Wie viele Klöster mit einer «ewigen
Anbetung» gibt es noch? Ist die Fronleichnams-Prozession
nicht an vielen Orten entweder aufgegeben worden oder doch
sehr reduziert? In wie vielen Kirchen braucht man heute noch
eine Monstranz? Die Kniebeugung vor dem Allerheiligsten ist
vielfach schon vergessen. Die vielen, die heute sich zum Got-
tesdienst versammeln, sitzen sofort auf den Bänken und warten
gelangweilt bis zum Gottesdienstbeginn. Daß man zunächst
einmal für ein paar Augenblicke hinknien und den in der
Eucharistie gegenwärtigen Herrn anbeten könnte, das scheint
sehr vielen nicht einmal als eine denkbare Möglichkeit in das
Bewußtsein zu dringen. Der Kommunion-Empfang bei der
Teilnahme am eucharistischen Gottesdienst ist mehr als früher
für viele fast zur selbstverständlichen Gewohnheit ihrer Sonn-
tagsfeier geworden, aber vielleicht doch oft zu sehr zur Selbst-
verständlichkeit und Gewohnheit. Die früher fast selbstver-
ständliche Gewohnheit einer privaten Danksagung nach dem
Kommunion-Empfang und dem Ende des gemeinsamen Got-
tesdienstes scheint mehr oder weniger vergessen zu sein. Es
gibt gewiß keinen notwendigen Zusammenhang zwischen der
sakramentalen Buße, der «Beichte», und dem Kommunion-
Empfang, so wie noch vor ein paar Jahrzehnten viele Christen
sich diesen Zusammenhang als verpflichtend dachten. Aber
steht die Verpflichtung zur sakramentalen Einzelbeichte nach
schwerer Schuld vor dem Kommunion-Empfang dem durch-
schnittlichen Christen von heute deutlich genug im Bewußt-
sein? Solche Beobachtungen eines Schwundes in der eucharisti-
schen Frömmigkeit könnte man noch erweitern. Was ist dazu
zu sagen?
Es können hier und jetzt gewiß nicht alle früher durch
Jahrhunderte selbstverständlich gewesenen Äußerungen der
eucharistischen Frömmigkeit bedacht und auf ihre Lebendig-
keit auch in der Zukunft befragt werden. Manches daran wird
301
sicher nicht überall eine Verheißung der Zukunft haben, so
fromm es gewesen sein mag und man, wenn man es früher
selbst erlebt hat, ihm nachtrauern wird. Ich weiß nicht, ob
jederzeit und überall in der Zukunft in jeder Kirche eine schöne
Monstranz zum selbstverständlichen Schatz der Kirche
gehören wird. Aber es gibt gewiß in der eucharistischen Fröm-
migkeit der Vergangenheit nicht weniges, was bleiben sollte,
was auch in Zukunft einen Sinn hat, was nicht untergehen
sollte, was zu der Vergangenheit gehört, welche die Zukunft, soll sie
groß sein, sich neu erwerben muß. Es soll hier heute nur eines davon
genannt und etwas bedacht werden: Das stille Gebet des einzel-
nen vor dem Tabernakel.
Gewiß kann man Gott überall im Geist und in der Wahrheit
anbeten. Gewiß hört der ewige Gott das Gebet, das einer in der
verschlossenen Einsamkeit seiner Kammer spricht. Gewiß
sollte der Christ immer besser verstehen, Gott in allem zu
finden, seinen Alltag zum Gottesdienst zu machen. Aber wenn
man ehrlich ist, wird man zugeben müssen, daß derjenige, der
immer und überall Gott liebend nahe ist, den gemeinsamen
Gottesdienst, das ausdrückliche Gebet in der Kirche mit seinen
Brüdern und Schwestern zusammen, die ausdrücklichen und
leibhaftigen Vollzüge seiner Gottesnähe erst recht schätzen
wird. Ein solcher, der Gott immer und überall nahe sein will,
wird gerade solche ausdrücklichen und leibhaftigen Vollzüge
seiner Frömmigkeit als liebend geübte Höhepunkte seiner
Gottverbundenheit schätzen. Er kennt keinen Gegensatz zwi-
schen der dauernden Geweihtheit seines Alltags und den aus-
drücklich gestalteten Weihestunden seines Lebens.
Solches gilt auch erst recht für die eucharistische Frömmig-
keit. Es gehört zum katholischen Glauben, daß Jesus Christus
mit Gottheit und Menschheit unter den eucharistischen Gestalten wahr-
haft gegenwärtig ist. Gewiß ist diese Gegenwart unter den Sym-
bolen menschlicher Nahrung ausgerichtet auf den wirklichen
Empfang und Genuß dieser eucharistischen Speise. Aber das
ändert nichts daran, daß in dieser Speise Jesus Christus mit
Gottheit und Menschheit nicht nur gegenwärtig ist, indem er
empfangen wird, sondern zuvor gegenwärtig ist, damit er
302
leibhaftig empfangen werden könne. Und darum kann der
katholische Christ Jesus, das göttliche Unterpfand seines
Heiles, unter diesen eucharistischen Zeichen anbeten. Solche
Anbetung ist im Vergleich zum wirklichen Empfang des
himmlischen Brotes zwar nicht der Höhepunkt des sakramen-
talen Geschehens, wohl aber eine legitime Konsequenz aus dem
katholischen Glauben an die wahre Gegenwart des Herrn im
Sakrament.
Diese Verehrung Jesu im Sakrament dürfte also nicht unterge-
hen. Sie mag eine Geschichte haben aus fast nicht bemerkbaren
Anfängen heraus. Aber in der Heilsgeschichte und in der Ge-
schichte der Kirche ist es nicht so, daß etwas schon einfach
darum wieder schwinden dürfte, weil es fast unbemerkt begon-
nen hatte. Nein: Wir katholische Christen wollen in Gemein-
schaft und als einzelne auf das Zeichen der Gegenwart dessen
blicken, der uns geliebt hat und sich für uns dahingegeben hat.
Es sollte für uns nicht fremd sein, auch einmal in privatem
Gebet vor dem Herrn zu knien, der uns erlöst hat.
Vor vierzig Jahren sah ich in Wien noch in der Straßenbahn
Leute sich bekreuzigen oder den Hut abnehmen, wenn die
Straßenbahn an einer Kirche vorbeifuhr. Solches mag uns
heute fremd geworden sein, und zwar mit Recht,so daß auf
Wiederbelebungsversuche solcher Äußerungen der Frömmig-
keit verzichtet werden kann. Aber echte, private und gemeinsame
Verehrung des Sakramentes des Altares, auch außerhalb des Kom-
munionempfangs, dürfte dennoch nicht untergehen. Man sollte
sich selbst einmal prüfend fragen, ob einem diese heilige Tradi-
tion einer eucharistischen Frömmigkeit noch etwas zu sagen
hat. Wir sind gefragt, ob wir dieser Überlieferung eine Zukunft
geben wollen. Dieses Alte birgt einen Segen für die Zukunft
in sich. Wir müssen ihn nur erreichen.
Ich meine, es solle auch in der Zukunft der Kirche, und zwar
nicht nur in den seltensten Fällen, so sein: Da kniet ein Christ
allein und still in einer Kirche vor dem Heiligen Schrein, in dem
das Brot des Lebens für seinen Empfang aufbewahrt wird.
Dieser Christ weiß, daß Gott überall ist, mit seiner Macht und
Liebe alles trägt, allem unsagbar nahe ist, die ganze Welt der

203
Dom zu seiner ewigen Anbetung ist. Aber dieser Christ weiß
auch, daß er selber noch lange nicht immer dem ihm immer
nahe seienden Gott in anbetender Liebe nahe ist; er weiß, daß
er selber immer noch Gottes Nähe suchen muß. Und er weiß,
daß der in Allmacht und Liebe überall gegenwärtige Gott, weil
wir ihm nicht immer nahe sind, sich selbst einzelne Orte und
Wirklichkeiten geschaffen hat, die es uns, den in Raum und
Zeit Gefangenen, leichter machen, seine Gegenwart zu er-
greifen. — Jesus aber ist das Ereignis, in dem Gott unüberbiet-
bar und unwiderruflich für den endlichen Menschen seine
heilschaffende Gegenwart gegeben hat. Und vor diesem leibhaf-
tigen Jesus, wenn auch verhüllt unter sakramentalen Zeichen, kniet
dieser Christ. In Jesus ist die unüberbietbare und endgültige
Weltwerdung Gottes gegeben, und diese meldet sich, gewisser-
maßen in der Phase der Rückführung der Welt in die Herrlich-
keit Gottes, in diesem Sakrament an. Vor ihm kniet der Christ.
Er schaut auf den, den sie durchbohrt haben; er ist dem ganz
leibhaftig nahe, in dem Gott die Welt als seine eigene Wirklich-
keit angenommen hat. Der betende Christ schweigt, er nimmt
die stille Ruhe dieses Sakramentes entgegen, er kann diesem
sakramental gegenwärtigen Herrn seines Lebens dieses oder
jenes Anliegen vortragen; aber letztlich will er durch diesen
sakramental gegenwärtigen Jesus eben doch nur aufgenommen
werden in die Wahrheit und Liebe Gottes, die sich schweigend
von diesem sakramentalen Zeichen her ausbteitet.
Ich meine, wir dürfen auch heute und in Zukunft das, was
so unsere christlichen Vorfahren geübt haben, nicht vergessen.
Das ewige Licht unserer katholischen Kirchen lädt auch heute
noch zum schweigenden Verweilen vor dem Geheimnis
unserer Erlösung ein.

304
HERZ-JESU-VEREHRUNG HEUTE

Die Herz- Jesu-Verehrung ist heute in einer Krise, obwohl sie


eine so lange Geschichte hat und durch viele Lehrschreiben der
Päpste der pianischen Epoche, ja bis zu Paul VI., eindringlich
gefördert wurde und in der Liturgie einen recht hohen Rang
erreicht hat.
Es wird wohl, zumindest in Westeuropa, kaum noch von
dem Herzen Jesu gepredigt. Die Literatur über diese Andacht
ist in den letzten Jahrzehnten eindeutig zurückgegangen, die
Sendboten des Göttlichen Herzens sind rückläufig, auch die
amtlichen Äußerungen Roms werden seltener und zurückhal-
tender, und in den Orden, die sich diese Verehrung zur beson-
deren Aufgabe gemacht haben, scheint man diesbezüglich mut-
loser und eingeschüchtert zu sein durch einen modernen Trend
der Spiritualität, der kaum noch etwas mit einer Herz-Jesu-
Andacht meint anfangen zu können.
Wenn dennoch hier die Überzeugung vertreten werden soll,
daß die Verehrung des Göttlichen Herzens Jesu Christi auch
heute und in Zukunft sinnvoll und bedeutsam sein kann und
sein sollte, wenn dabei zu sagen versucht wird, we in der
Kirche diese Übung der katholischen Frömmigkeit der letzten
Jahrhunderte noch zugemutet werden und segensreich sein
kann, dann ist diese Überzeugung nicht getragen von einer
pessimistischen Einschätzung der gegenwärtigen Situation und
Verfassung der Kirche und der heutigen Spiritualität im allge-
meinen.

Die Kirche ist dem Wandel unterworfen

Die Kirche und ihre Frömmigkeit stehen in der Geschichte,


sind somit nicht nur früher, sondern auch heute und morgen
legitim dem Wandel unterworfen; im Vordergrund des
Glaubensbewußtseins der Kirche stehen nicht einfach schlecht-
hin immer dieselben gottgegebenen Wirklichkeiten — trotz des
20)
einen und selben Glaubens an den ewigen Gott, an Jesus
Christus und die in ihm unwiderruflich gewordene Selbstmit-
teilung dieses unbegreiflichen Gottes. Es ist darum selbstver-
ständlich, daß in einem Zeitalter eines weltweiten Atheismus,
einer Säkularisation, die nicht nur die berechtigte Anerkennung
der Weltlichkeit und Autonomie irdischer Wirklichkeiten ist,
in einem Zeitalter eines zunehmenden Unverständnisses der
eigentlichen Kernbotschaft des Christentums, in einer Zeit
tödlicher Gefahren für die irdische Welt und noch nie dage-
wesener, durch Tat zu erfüllender Aufgaben in der Gestaltung
des gesellschaftlichen Lebens und der Völkergemeinschaft - ich
sage, daß in einer solchen Zeit in der Kirche, in ihrem allge-
meinen Bewußtsein, im normalen Glaubensbewußtsein eines
Christen in der Welt das Thema einer ausdrücklichen, sich
verbalisierenden Herz-Jesu-Verehrung selbstverständlich nicht
den «Stellenwert» haben kann, den sie vermutlich in den
letzten zwei Jahrhunderten bis in die Mitte unseres Jahrhun-
derts gehabt hat.
In der Finsternis unserer vom Tod des Geistes und des
Leibes bedrohten Zeit schreien wir nach dem unbegreiflichen
Gott unserer Geschichte, verkündigen wir mit der letzten Kraft
des Glaubens, die uns geblieben ist, den Gekreuzigten als unser
eigenes Schicksal und die Hoffnung der Erlöstheit dieses Ge-
schickes, das individuell, aber auch gesellschaftlich auf uns
zukommt.
Wie kann man sich da wundern, daß angesichts dieser letzten
Fragen und der eben noch mit dem letzten Mut der Existenz
ergriffenen Antworten auf diese letzten Fragen eine Herz-Jesu-
Verehrung nicht mehr recht ihr Wort findet, uns zu sanft, zu
individualistisch, zu nur-«innerlich» klingt, daß man nicht
mehr recht sieht, warum man die letzten Antworten auf die
letzten Fragen, die uns heute aufgezwungen und abverlangt
werden, auch noch einmal, selbst wenn es möglich wäre, über-
setzen sollte in die Sprache und Verkündigung einer Herz-Jesu-
Verehrung? Man hat den Eindruck, diese Verehrung rücke
langsam in den Bereich der Gestalten und Ausdrücke einer
christlichen Vergangenheit hinein, die einmal waren, die leben-

306
dig und gut waren, die wir uns selber aber mit Recht nicht mehr
zumuten, wie eine besondere Verehrung der fünf Wunden
Jesu, des Prager Jesukindes, die besondere Verehrung des
kostbaren Blutes, der 14 Nothelfer und viele ähnliche Übungen
der christlichen Frömmigkeit, die einmal Geist und Herz der
Christen gefangennahmen und entzückten.
Wenn man aus der Geschichte von vielen Jahrhunderten
weiß, welche Bedeutung das Ablaßwesen in der Kirche hatte,
und diese Schätzung der Ablässe vielleicht noch selbst vor 5o
Jahren erlebte, wenn man dann bedenkt, daß sogar ein so auf
Tradition bedachter Papst wie Paul VI. trotz der aufrechterhal-
tenen traditionellen Ablaßlehre die Freiheit des Christenmen-
schen den Ablässen gegenüber unbefangen einräumte, und
wenn man merkt, daß diese nur noch in kleinen religiösen
Subkulturen wirklich vorkommen, im Gesamtbewußtsein der
lebendigen Kirche aber keine Rolle mehr spielen, dann kann
man sich natürlich fragen, ob nicht auch für die Herz-Jesu-
Verehrung ein ähnliches Schicksal heraufzieht.

Die Kirche braucht Menschen mit mystisch-charismatischer


Erfahrung

Aber ich bin der gegenteiligen Überzeugung, die ich schon


angedeutet habe und für die ich einige Überlegungen vortragen
möchte. Diese Überzeugung schließt nicht die Meinung ein, die
Herz- Jesu-Verehrung könne oder solle einfach auch in Zukunft
für das Bewußtsein der großen Massen in der Kirche jene
Ausdrücklichkeit behalten, wie sie noch von Pius XI. und Pius
XI. vorausgesetzt wurde. Wenn sie im Geamtbewußtsein der
Kirche, so wie diese eben von allen Christen gebildet wird, in
Zukunft voraussichtlich nicht mehr die intensive Selbstver-
ständlichkeit und ausdrückliche Form behalten sollte wie
früher, dann würde ich nicht dagegen protestieren und zu
kämpfen versuchen.
Aber es gibt auch, und es muß auch in der Kirche eine in
etwa esoterische Elite geben, die nicht identisch ist mit den
307
hal
I n

besonders Gebildeten, mit den Theologen und Amtsträgern in


der Kirche, eine Elite, zu der auch die gesellschaftlich Ohn-
mächtigen, die Armen gehören können. Ich meine hier die Elite
der Heiligen, der Menschen, die durch ihre mystisch-charis-
matische Erfahrung immer wieder für die Kirche Quelle neuen
Lebens und Zeugnis für Gottes Gnade in der Welt sind. Eine
solche geheime Elite muß es auch in einer noch so demo-
kratisch lebenden Kirche des Volkes Gottes geben. Zu ihr
sollten natürlich möglichst viele Priester gehören, weil in der
Kirche bei ihren Vertretern trotz ihrer gesellschaftlichen Funk-
tionalität Buchstabe und Geist, Recht und Freiheit, Ritus und
Gnade, Amt und freies Charisma möglichst in Einheit gegeben
sein sollten. Ich bin der Überzeugung, daß in einer solchen,
richtig verstandenen, selbstlos demütigen und sich selbst ver-
leugnenden Elite auch von Priestern die Herz- Jesu-Verehrung
in Zukunft eine Bedeutung haben soll und haben wird. Eine
Ausdrücklichkeit dieser Verehrung ist gemeint, auch wenn sie
in ihrem Stil, ihrer Wortwahl erhebliche Unterschiede gegen-
über früher aufweisen wird und aufweisen darf, auch wenn sie
sich weniger ausdrücklich als früher von dem Ganzen einer
christlichen und priesterlichen Spiritualität abheben wird. Eine
solche Überzeugung versteht sich weniger als Prophetie, viel-
mehr als Aufforderung und Angebot an eine Gestaltung der
priesterlichen Frömmigkeit, an eine Gestaltung, die gewiß
Gnade ist, aber dennoch auch Tat der Freiheit.
Wenn hier diese Überzeugung vertreten wird, dann können
zur Begründung für die Herz-Jesu-Verehrung nur ein paar
kleine Fragmente vorgetragen werden. Es kann heute nicht auf
die johanneische Begründung der Verehrung des Herzens Jesu
Berufung eingelegt werden. Es kann nicht die große Geschich-
te dieser Frömmigkeit beschworen werden, um zu fragen, ob
wir kleinen Spießbürger der Kirche von heute diese große,
wunderbare Frömmigkeitsgeschichte verraten wollen. Es
können hier nicht alle Dimensionen dieser Andacht ausgemes-
sen werden, von der Pius XI. zu erklären wagte, sie sei die
Summe der christlichen Religion. Es kann nicht der dog-
matisch und theologisch gemeinte Sinn der Herz-Jesu-Vereh-
308
rung dargestellt werden, den man kennen muß, bevor man sich
ein eigenes Denken über sie zubilligt und es vorträgt. Man
kann hier nicht von den Archetypen im Grunde der menschli-
chen Existenz sprechen, von den Urwotten, zu denen das Herz
gehört, auch wenn wir mehr als früher von dem physiologi-
schen Herzmuskel wissen und ihn bei Herztransplantationen
ersetzen können.
Hier und heute möchte ich nur auf zwei Einsichten aufmerk-
sam machen. Die eine ist allgemeiner geschichtstheologischer
Art. Die andere reflektiert auf eine ganz eigentümliche ge-
schichtliche Situation, in der die Kirche sich heute befindet;
beide Überlegungen zusammen können mindestens darauf auf-
merksam machen, daß es theologisch unvorsichtig, ja töricht
wäre, wollte man mit einem Untergang dieser Herz- Jesu-Ver-
ehrung rechnen, auch wenn natürlich jede Zukunft in der
Kirche nicht passiv erwartet und in einem rationalistischen
Kalkül vorausgesagt werden kann, sondern unserer Freiheit,
Verantwortung und Tat anheimgegeben bleibt.

Die Kirche — eine ihre Identität in der Geschichte bewahrende


Einheit

Die erste Überlegung bezieht sich auf die Irreversibilität der


Geschichte des einen kirchlichen Bewußtseins. Die Kirche ist
eine; sie verliert ihre Identität in ihrem Glaubensbewußtsein
trotz aller großen, oft schrecklichen und gar nicht vorausseh-
baren Wandlungen dennoch nie. Damit aber ist gegeben, daß
wirklich große, sie für ihr weiteres Schicksal prägende Ereig-
nisse zwar nen auftreten können, die wirklich nicht einfach
rational aus ihren natürlich immer gegebenen Voraussetzungen
abgeleitet werden können, sondern neue, überraschende Taten
des Geistes Gottes in seiner Kirche bedeuten. Aber damit ist
gerade nicht gegeben, sondern ausgeschlossen, daß solche
großen, das Ganze der kirchlichen Christlichkeit prägenden
Ereignisse deswegen, weil sie einmal erst an einem bestimmten
Zeitpunkt nach der Urkirche aufgetreten sind, einfach wieder
3
vergehen würden, ohne eine bleibende Spur zurückzulassen.
Es gibt vielleicht sogar eine eigentliche Geschichte des ius
divinum in der Kirche, das sich nicht einfach von Jesus her
unverändert in der Kirche weiterschiebt, sondern sich erst
durch spätere geschichtliche Entscheidungen in seine eigene
Wirklichkeit setzt. Die Konzilien können in ihren letztverbind-
lichen Entscheidungen später nicht nur nicht verworfen
werden, sie können auch in ihren letzten Aussagen nicht ver-
gessen werden. Die Geschichte der Liturgie ist nicht nur eine
Serie von Wandlungen, sondern eine eine Geschichte, in der
sich ein letztes Wesen christlichen Gottesdienstes nicht nur
durchhält, sondern auch in neuen Gestalten sich selber so
verwirklicht, daß in der neuen Gestalt das Grundwesen auch
früherer geschichtlicher Gestalten bewahrt wird und in Er-
scheinung tritt. Vieles am Leben der Kirche in ihrer Frömmig-
keit, ihrem Verhältnis zur profanen Welt, in ihrer Deutung der
Natur, der menschlichen Geschlechter, in der Gestaltung des
konkreten Lebens mag scheinbar, äußerlich gesehen, vergehen
und durch ganz anderes ersetzt werden. Weil aber diese Ge-
schichte die Geschichte ein und derselben Kirche, die Ge-
schichte des einen Leibes des einen Christus ist, darum ist diese
Geschichte mehr als eine äußerliche Reihung von Einzelereig-
nissen — auch wenn diese Ereignisse gedacht würden als auf-
ruhend auf dem Grund einer starr dieselbe bleibenden Wirk-
lichkeit und Lehre. Die Kirche wächst als dieselbe bleibende.
Sie kann darum ihre frühere Geschichte nicht einfach abtun
und vergessen. Sie ist immer jetzt die, die sie geworden ist; sie
gestikuliert immer aus der Erfahrung heraus, die sie in ihrer
Geschichte gemacht hat: Sie ist immer jung, aber diese Jugend-
lichkeit mit ihrer Möglichkeit des überraschend Neuen ist die
Jugendlichkeit, in der ihre alte Geschichte steckt, so wie ein
reifer Mensch zwar, wie Paulus sagt, das abtut, was des Kindes
ist, aber gerade dabei nicht wieder ein neues Kind wird, das
einfach neu anfängt, sondern die frühere Geschichte immer neu
in die Gegenwart hineinbringt und sie darum bewahrt.
Die lebendig erhaltende Memoria der Vergangenheit, aus der
sich die Gegenwart je neu ereignet und dabei die Vergangen-
310
heit bewahrt, ist eine Grundkategorie der Ekklesiologie, ohne
die die Geschichte der Kirche nicht verstanden und nicht gelebt
werden kann. Natürlich differenziert sich das Bleibende der
Vergangenheit in der Gegenwart und Zukunft der Kirche je
nach dem Verhältnis eines geschichtlichen Ereignisses zum
Grundwesen der Kirche, einem Verhältnis, das bei den einzel-
nen Ereignissen der Kirche natürlich schr verschieden ist.
Es mag heute keine Säulensteher mehr geben, so daß sie nur
noch eine seltsame Kuriosität für die historische Neugierde
sind. Aber der eigentliche Geist der Wüstenväter und die
Erfahrungen, die damals gemacht wurden, können dennoch für
uns heute eine Bedeutung haben; und wir wären nicht die, die
wir heute in der Kirche sein sollen, wenn wir all das als bloße
Belanglosigkeit hinter uns ließen und nicht als eine Erfahrung
bewahren würden, die uns jetzt oder später ganz neu anruft.
Man wird auch in Zukunft bei allem auch heute und morgen
noch möglichen Wandel der eucharistischen Frömmigkeit doch
nie einfach die Erkenntnis vergessen können, die der Kirche
über diese Gegenwart Jesu im Abendmahl und unter den
eucharistischen Zeichen bis zum ı2. Jahrhundert geschenkt
wurde und zu der sie sich im Trienter Dogma bekannte; der
eucharistische Kult wird darum auch nicht mehr einfach zu
jener Unausdrücklichkeit zurückkehren, die er in der Zeit der
Kirchenväter hatte; die Kirche wird auch darin, reifer gewor-
den, nicht einfach zu ihrer Kindheit zurückkehren, auch wenn
wir nicht einfach sagen können, wie dieser Kult in Afrika in
200 Jahren genau aussehen wird.
In einer eben erst langsam in ihre Wirklichkeit tretenden
Welt-kirche als solcher wird auch das Papsttum noch gar nicht
voraussehbare Wandlungen seines Verhältnisses zu den welt-
weiten Territorialkirchen in der ganzen Welt erfahren, aber es
wird gewiß nicht mehr zu einer solchen keimhaften Unaus-
drücklichkeit zurückkehren, wie es zur Zeit Cyprians gegeben
war. Die Kirche ist eine kirchliche, ihre Identität in der Ge-
schichte bewahrende Einheit und nimmt darum nicht nur ihr
abstraktes Wesen, sondern auch ihre Geschichte aus der Ver-
gangenheit in ihre Zukunft mit. Natürlich in verschiedenster
311
Weise, je nach der Bedeutsamkeit dieser geschichtlichen Set-
zungen in der Vergangenheit, je in Weisen, die man nicht
theoretisch ableiten und auf diese Weise voraussagen könnte.
Aber bei ihrer eigenen Selbigkeit in der Geschichte geht ihre
Vergangenheit trotz der Zeitlichkeit des Entstehens ihrer ge-
schichtlichen Taten und Entscheidungen nie mehr einfach
unter.

Die Herz-Jesu-Verehrung gehört zum Kult der Kirche

Das gilt nun darum auch — davon bin ich überzeugt — von der
Verehrung des Göttlichen Herzens in ausdrücklicher Spiritua-
lität und eigentlichem Kult. Gewiß ist, geschichtlich gesehen,
diese Verehrung — trotz aller Wurzeln in der Johanneischen
Theologie des durchbohrten Herzens als der Quelle von
Wasser und Geist, aus der die Kirche geboren wird, trotz aller
Anfänge ausdrücklicher Verehrung im Mittelalter — ein ge-
schichtliches Ereignis und eine geschichtliche Erfahrung, die
der Kirche erst in der Neuzeit geschenkt wurde. Selbstver-
ständlich hat diese geistliche Erfahrung ihre menschlich-ge-
schichtlichen Bedingtheiten, die nicht immer dieselben bleiben
müssen. Selbstverständlich haben das gläubige Bewußtsein und
die theologische Reflexion erst langsam gelernt und begriffen,
was dieser geistlichen Erfahrung eigentlich geschenkt wird,
was eigentlich gemeint ist, wenn vom Herzen Jesu gesprochen
wird, so daß nicht alles bleiben muß, was in dieser mühsam die
geistlichen Erfahrungen nachvollziehenden Theologie der
Herz-Jesu-Verehrung einmal gesagt wurde und was an kon-
kreten Formen der religiösen Praxis in dieser Verehrung einmal
lebendig war. Aber wenn wir auf die Geschichte der Herz-Jesu-
Verehrung blicken — nicht oberflächlich und naseweis, verach-
tend — und schen, was darin an spiritueller und charismatischer
Erfahrung lebendig war, wenn wir alle die kirchenamtlichen
Erklärungen über diese Verehrung und den liturgischen Kult
des Herzens Jesu in seiner ganzen Erhabenheit und Eindring-
lichkeit bedenken, dann können wir nicht mehr zu sagen

312
1

wagen, wir könnten diese Verehrung einfach als bloße Vergan-


genheit hinter uns lassen.
Wenn wir dennoch so denken und handeln wollten, dann
müßten wir sagen, daß wir im Begriff sind, eine Vergangenheit
der Kirche und damit auch unserer eigenen geistlichen Existenz
in. der Kirche zu verraten.
Das Empfinden, so einfach diese Vergangenheit unserer
Kirche hinter uns im wesenlosen Schein zurücklassen zu können
— in der Trägheit unserer Herzen sind wir nur allzusehr in
Versuchung, dies zu tun -, ist noch kein Beweis dafür, daß wir
es vor Gott und in der Verantwortung für die Kontinuität der
Geschichte der Kirche tun dürfen. Ein solches Empfinden sollte
uns eher erschrecken; wir sollten uns fragen lassen, ob ein
solches müdes Sich-zurückfallen-Lassen in eine spirituelle
Primitivität, die sich zu Unrecht auf die alten Zeiten, wo es
keine Herz-Jesu-Verehrung gab, beruft, nicht eben etwas ist,
das in einer geistlichen hoffenden Entschlossenheit überwun-
den werden muß und auch kann. Wir sollten uns fragen, ob uns
nicht mit Recht, soll die Vergangenheit nicht auch unser
Gericht werden, eine neue Erkenntnis des Wesens dieser
Andacht und eine neue Übung zugedacht ist. Was einem selber
heute als eine indiskutable Plausibilität zufliegt und überall
feilgeboten und gekauft wird, ist nicht immer und allein das-
jenige, was groß und heilig macht vor Gott und für die Zukunft
der Kirche. Dazu kann auch das geduldig und mühsam Erlern-
te gehören.

Die Kirche hat eine universelle Hoffnung für alle Menschen


Eine zweite Überlegung muß hinzugefügt werden. Die
Menschheit — und auch die Menschheit in der Kirche - ist heute
in einer Situation von erschreckender Ambivalenz. Diese
Menschheit kommt aus einem neuzeitlich aufgeklärten Op-
timismus; für sie ist der Mensch selbstverständlich gut und
schickt sich eben an, ein irdisches Paradies von Freiheit, allge-
meiner Gerechtigkeit und Glückseligkeit aufzubauen. Und in
diesem Zeitalter eines naiven Optimismus hat sich im kirchli-

315
chen Bewußtsein etwas ereignet, das scheinbar nur das Resultat
und Echo dieses bürgerlich aufgeklärten Optimismus ist, darin
gewiß auch ein günstiges Klima seines Wachstums fand, aber
im letzten Grunde eine ganz andere Ursache und eine ganz
andere Legitimation hat. Die Kirche hat angefangen, von ihrer
Offenbarung, die Jesus heißt, das Heil aller als ein solches zu
hoffen, das nicht nur eintreten kann, sondern eintreten wird. Die
Kirche wird zwar nie eine theoretische Lehre einer universellen
Apokatastasis verkünden, denn sie wird sich immer neu auch
dem Schrecken der apokalyptischen Drohreden Jesu in Demut
und unter Verzicht eines theoretischen Vorwitzes in der
Eschatologie aussetzen. Aber, so meine ich, die Kirche hat
gelernt, eine universelle Hoffnung für alle zu haben und sich eine
theoretische und dogmatisch verpflichtende Aussage über das
tatsächliche Eintreten von endgültiger Verlorenheit eines
Teiles der menschlichen Geistesgeschichte zu versagen.
Thomas von Aquin meinte noch, man könne nur für sich
hoffen und nicht für andere. Heute hofft man doch für sich,
weil man weiß, daß man das darf, weil man für andere hoffen
muß und es für alle darf. Früher diskutierte man, wieviel Pro-
zent aus der massa damnata der Menschheit von Menschen und
von Christen tatsächlich gerettet werden, und empfand — von
der augustinischen Erbsündenlehre her — das Scheitern der
menschlichen Existenz in endgültige Verlorenheit hinein als
den Normalfall, als das Ergebnis einer göttlichen Prädestina-
tion unbegreiflichen Gerichtes, und man empfand das Gerettet-
Werden von ein paar Auserwählten als Werk Gottes, der nur
so wirklich erweisen könne, daß er nicht nur der Gott der
Gerechtigkeit gegen die vielen Verdammten, sondern auch ein
Gott der Gnade für die wenigen Auserwählten sein wolle und
könne. Heute halten wir keine Höllenpredigten im alten Stile,
auch wenn wir im Leben und in der Verkündigung immer noch
notwendig realisieren müssen, daß wir die Sünder sind, die von
sich aus verloren sind und die unbegreifliche Gnade Gottes
nicht als etwas besitzen, über das sie selber verfügen können.
Wie das II. Vatikanum, fast ohne darauf zu reflektieren,
zeigt, gibt es heute eine universale Hoffnung des seligen Aus-

314
gangs der ganzen Geschichte — nicht mehr. Aber dies ist eine
jetzt der Kirche gegebene und berechtigte Frucht, die von dem
gekreuzigten, mit der Schuld der ganzen Menschheit beladenen
und so in den Abgrund der Seligkeit stürzenden Jesus her der
Kirche in einer langen Geschichte ihres Glaubensbewußtseins
geschenkt wurde. Und nun das Erstaunliche und etwas, das
einen zutiefst erschüttern kann: Mit diesem in ihrer Glaubens-
geschichte gewonnenen Heilsoptimismus, der eine billige
Frucht eines anmaßenden Optimismus der aufgeklärten Welt
zu sein schien, zieht die Kirche in die Zukunft und wird diesen
Optimismus, den sie von Gott geschenkt erhielt, auch bewah-
ren. Aber diese Zukunft, in die sie so mit ihrem Mut für ein
universelles Heil hineinzieht, ist doch — wenn nicht alle Zeichen
trügen — eine ganz andere Zeit als die, aus der die Kirche und
die Welt kommen. Diese anbrechende Zeit ist doch — ohne daß
einem, der will, auch ein größerer säkularer Optimismus ver-
boten werden soll — eine Zeit, in der die Menschen in vielerlei
Hinsicht an Grenzen stoßen, die nicht mehr überwunden
werden können, eine Zeit der Krisen ohne greifbare Alter-
nativen, eine Zeit der Resignation, der Müdigkeit und
Sterilität, der Erschöpfung, eine Zeit, in der der einzelne immer
dümmer wird, weil er der ungeheuren Masse des an sich Wiß-
baren immer hilfloser gegenübersteht, eine Zeit, in der er —
trotz aller Parolen von Freiheit und Demokratie - immer mehr
verplant wird und werden muß, weil sonst die ungeheure
Masse der Menschen gar nicht koexistieren kann, weil sonst die
Menschen sich durch Atomkriege zum guten Teil ausrotten
müßten, um für die Überlebenden wieder einen genügenden
Lebensraum zu haben. Wir leben in einer Zeit, in der die
anthropologischen Wissenschaften wie besessen daran arbeiten,
den Menschen zu desillusionieren, aufzulösen, ihn als das bloße
Produkt einer zufälligen Evolution, seiner Mächte des Unterbe-
wußtseins und seiner Triebe und einer Gesellschaft zu entlar-
ven, die auch nicht weiß, woher sie kommt und wohin sie geht.
Die vom Menschen selbst ausgebeutete Natur bedroht den
Menschen, und er selbst hat gelernt, wie man einen universellen
Selbstmord der Menschheit bewerkstelligen kann.

315
In eine solche Menschheit zieht die Kirche mit der Botschaft
von Jesus Christus als dem universellen Heil hinein, von Jesus
Christus, von dem wir zu hoffen wagen dürfen, daß der einzel-
ne und die Menschheit sich auf das ewige Heil in Gott in
irreversibler Eindeutigkeit hinbewegen, und zwar auch dann
und dort, wo sie nur in den finsteren Abgrund des Todes zu
stürzen scheinen.
Die Kirche hält diese Hoffnung, weil sie dem wahren Gott
und dem gekreuzigten Jesus treu bleiben will, auch fest in all
der Erfahrung einer grauenhaften Bosheit der Weltgeschichte,
die sich in der Zukunft nicht aufzulösen scheint, sondern nur
neue und unerhörte Weisen erfindet, sich in auswegloser
Schuld auszutoben. In solcher Hoffnungslosigkeit der Gegen-
wart und der Zukunft bleibt die Kirche die universell Hoffen-
de, die, die selber heute radikaler zu hoffen wagt als in ihren
früheren Zeiten.
Die universelle Hoffnung ist kein bequemes Analgetikum in
den Miseren der eigenen Zeit, sondern, vom Menschen her
gesehen, eine ungeheuerliche Überforderung; sie ist eine
moderne Gestalt der Torheit des Kreuzes, der Hoffnung wider
aller Hoffnung, eine Torheit, die die Weisheit Gottes gegen die
Weisheit der Welt ist, in der sie an sich zu verzweifeln beginnt;
sie ist die Tapferkeit des Lebens, die allein eigentlich frei macht,
die ohne ein Kalkül, das nie aufgeht, lassen und geben lehrt,
die allein letztlich das Sein vor das Haben stellen kann, die auch
noch den Feind lieben kann, der einen tötet. Diese Hoffnung
dispensiert uns gewiß nicht davon, in mühsamer Überlegung
und tatkräftig auch im Kampf - selbst mit Gewalt, wenn es sein
muß — die Erde für möglichst viele leidlich bewohnbar zu
machen. Aber diese universale Hoffnung, zu der als deutlicher
Wahrheit die Kirche selber erst langsam gefunden hat, kann
doch in einer sonst gar nicht denkbaren Weise die Finsternis
erhellen, in die wir heute mehr und mehr geraten, die wir heute
und morgen aushalten müssen, selbst wenn einer meint, denken
zu können, daß auch innerhalb der Geschichte solche Finster-
nisse wieder durch lichtere Perioden und Epochen abgelöst
werden. Und wenn wir heute weniger individualistisch,

316
sondern politisch und kollektivistisch denken oder es zu tun
uns wenigstens einbilden, dann ist doch die universelle Hoff-
nung, daß diese Gesamtgeschichte nicht schließlich doch in
einen endgültigen Abgrund des Nichts stürzt und es auch nicht
einen ewigen und endgültigen Müllhaufen für einen Teil dieser
Gesamtgeschichte geben müsse, die letzte Bestätigung und
Krönung einer solchen Mentalität und einer politischen
Theologie.
Die universelle Hoffnung, die vom einzelnen je für sich
ergriffen und in seinen unausweichlichen Tod hineingenom-
men wird, ist für ihn heute die Form seiner Hoffnung, die, zu
den drei göttlichen Tugenden gehörend, ihn rettet und selig
macht. Denn wer hat schon heute den Mut eines elitären
Vertrauens auf seine eigene absolute Zukunft in Vollendung,
wenn er nicht die selige Verpflichtung, für alle anderen zu
hoffen, auf sich nehmen würde?

Das Herz als die innerste Mitte

Was hat aber nun diese erschreckend seltsame Situation, in der


die Kirche die törichte Botschaft von einer universellen Hoff-
nung einer verzweifelten Menschheit ausrichten muß, mit der
Herz-Jesu-Verehrung zu tun?
Wenn wir den gemeinten Zusammenhang wirklich deutlich
machen wollten, was hier aber nicht mehr möglich ist, dann
müßten wir davon reden, daß der Mensch es in seiner religiösen
Existenz trotz der Ureinheit Gottes, auf die er sich hinbewegt,
mit einer unsäglichen Vielheit religiöser Wirklichkeiten zu tun
hat, die ihn immer wieder überwältigt. Wenn es nicht so wäre,
könnte ja das Konzil nicht von einer Hierarchie der Wahrheiten
sprechen, die dem Glaubenden vorgegeben ist und die er auch
selber aus seiner eigenen Situation heraus unter der Führung
des Geistes je für sich bilden muß. Wenn der religiöse Mensch
aber so diese unsägliche Vielfalt seiner religiösen Wirklichkeit
auch immer wieder zusammenfassen, strukturieren und auf das
letzte ureine Geheimnis Gottes hinbewegen will, dann greift er
337
nach Urworten, nach solchen Worten, die in einer geheimnis-
vollen Weise eine Unendlichkeit in sich bergen, in deren Ein-
zelheit sich alles ankündigt, die aus der innersten Mitte der
eigenen Existenz, wo alles noch eins ist, aufsteigen und die
eigene Mitte und die letzte Einheit aller Wirklichkeit be-
schwören. Es gibt gewiß viele solcher Urworte. Jeder hat
vielleicht sein eigenes Urwort, das ihm alles sagt.
Aber ein solches Urwort ist gewiß auch das Wort «Herz».
Es meint ja die innerste Mitte, in der alle Vielfalt noch eins ist.
Wenn wir daher «Herz-Jesu» sagen, beschwören wir die inner-
ste Mitte Jesu Christi und sagen, daß diese innerste Mitte Jesu
von dem Geheimnis Gottes erfüllt ist, daß in einem tödlich
erschreckenden und tödlich beseligenden Widerspruch zu all
unseren Erfahrungen der Leere, der Nichtigkeit, des Todes in
diesem Herzen die unendliche Liebe ist, in der sich Gott selber
schenkt. Dies glauben und bekennen wir mit der letzten Kraft
des eigenen Herzens, wenn wir «Herz-Jesu» sagen. Dies be-
kennen wir in der Trostlosigkeit, die auf uns zukommt und in
der wir allen Grund haben, zu dem aufzublicken, dessen Herz
durchbohtrt ist. Vielen Christen mag es vorkommen — und für
sie mag es auch gültig sein —, daß «Herz-Jesu» nur eine verbale
Doublette für « Jesus Christus» ist. Aber der, der im Abenteuer
seiner religiösen Existenz etwas deutlicher die ungeheuren
Höhen und Tiefen, Längen und Breiten der Heilswirklichkeit
erfahren darf, muß sich selber immer wieder sagen, was die
innerste Mitte und die letzte Wahrheit all dieser ungeheuerli-
chen Vielfalt an Leben und Tod, an Verlorenheit und Seligkeit,
an Lachen und Weinen, an Licht und Finsternis ist, und dann
sagt er: «Herz-Jesu». Dann wendet er sich an das durchbohrte
Herz, das liebt, das uns in der Finsternis unserer Ausweglosig-
keit liebt, das das Herz Gottes selber ist und uns das Urgeheim-
nis Gottes, ohne es abzuschaffen, verrät.
Es gibt nur einen existentiellen Ort, in dem der Mensch sein
Eigenstes, also sein Heil, das er radikal in der Endgültigkeit
seiner Freiheitsentscheidung ist, ohne vernichtet zu werden,
restlos und bedingungslos loslassen kann, ohne in die Ver-
zweiflung der Verdammnis zu verfallen: Das ist Gott, den er

318
als Erbarmen erfährt. Nicht, als ob er dieses vergebende und
rettende Erbarmen von Gott und der Radikalität seiner Unbe-
greiflichkeit und Souveränität unterscheiden und loslösen und
so diese Gnade seines individuellen Heils doch als die selbstver-
waltete an sich reißen dürfte. Nein, der Mensch muß sich
restlos in dem, was wir Glaube und Hoffnung nennen, unbe-
dingt und ohne Vorbehalt an Gott übergeben. Aber er kann
das nur, wenn er sich an Gott als die Liebe übergibt, an die er
glauben und auf die er als die ihm geschenkte hoffen darf und
muß. Dieser Akt als der reflex gewußte ist ihm aber nur vor
Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, vor
Seinem Herzen möglich, vor Seinem durchbohrten Herzen,
dem Herzen, das selbst in die unauslotbare Not des Todes und
der Gottesverlassenheit geraten ist, das sich dem Gericht
Gottes über die Welt ergab, vor dem Herzen, das — das ist
jedesmal das neue, nicht mehr ableitbare Wunder der Gnade —
uns den sich selbst vergessenden Mut gibt, an Seine Liebe als
die je mir geschenkte zu glauben (oder, wenn es genauer sein
sollte), sie zu erhoffen in jenem Akt der Hoffnung, der mehr
ist als bloß der allgemeine Glaube, der schon Aufgang der
Liebe ist. Wir schauen auf das Herz des Herrn, und die Frage,
die eine Ewigkeit entscheidet, erfüllt das Inwendigste unseres
Seins, unseres Herzens und unseres Lebens: Liebst du mich?
Liebst du mich so, daß diese Liebe eine selige Ewigkeit, mein
ewiges Leben wahrhaft, machtvoll und unüberwindbar schafft?
Diese Frage erhält keine Antwort, die kein Geheimnis mehr
wäre, die man sich selbst sagen könnte. Sie geht ein in das
Geheimnis, das in diesem Herzen des Herrn uns nahe geworden
ist. Aber wenn diese Frage eingeht in dieses Herz, weil in
Glaube, Hoffnung und Liebe gefragt wird, dann ist sie nicht
beantwortet, sondern überholt und überwunden von dem Ge-
heimnis, das Liebe ist, vom Fraglosen des Geheimnisses
Gottes.
Gott, ewiges Geheimnis, Unermeßlichkeit ohne Namen,
seliger Abgrund, der alles birgt, von keinem umfaßt, Du hast
Dein ewiges Wort selbst in Deine Schöpfung und in unser
Dasein ausgesagt, damit Dein ewiges Geheimnis die unsagbare

319
bergende Nähe für uns und die Mitte der Welt selbst werde!
Wir schauen auf dieses Dein ausgesagtes Wort, wir schauen auf
den, der das Herz der Welt ist, wir blicken auf das Herz des
Sohnes, das wir durchbohrt haben. Alle Unbegreiflichkeit, die
wir und unser Dasein sind, birgt sich in diesem Herzen; alle
Angst des Daseins bleibt von ihm gefaßt, alles Hohe und
Heilige wandert zurück zu diesem seinem Ursprung. Alles
findet dort sein wahres Wesen und erkennt sich als Liebe. Alles
geht ein in das Geheimnis, das selige Liebe ist.
Man kann die Herz-Jesu-Verehrung eigentlich nicht von
außen andozieren. Man muß im Vertrauen auf die Kirche und
ihren Geist selber versuchen, sich ihrem Geheimnis zu nähern;
man muß einmal in den lichten oder finsteren Stunden des
Lebens zu beten versuchen:
Herz- Jesu, erbarme dich meiner.
Man muß einmal eine solche Bitte vielleicht in der Weise des
Jesusgebetes des russischen Pilgers zu üben versuchen; man
kann vielleicht wagen, dieses Wort ähnlich wie ein Mantra
östlicher Meditation zu gebrauchen. Über all das hinaus muß
man aber im Leben erfahren, daß es das Unwahrscheinlichste,
Unmöglichste und so Selbstverständlichste ist, daß Gott, der
Unbegreifliche, uns wahrhaft liebt und diese Liebe in der des
Herzens Jesu Christi unwiderruflich geworden ist; da erst, da
aber - so wagen wir zu hoffen — für alle.

320
MUT ZUR MARIENVEREHRUNG

Die Mariologie und die Marienverehrung haben in den letzten


fünfzig Jahren eine sehr bewegte Geschichte gehabt. Man
denke nur daran, daß Pius XII. am ı. November 1950 die
Aufnahme der heiligen Jungfrau mit Leib und Seele in die
Herrlichkeit Gottes feierlich definierte. Man denke an die
starken Bestrebungen in den fünfziger Jahren, auch die Lehre
von der Miterlöserschaft und Gnadenmittlerschaft Marias zu
definieren. Man erinnere sich an die nicht unbeträchtlichen
Auseinandersetzungen darüber, ob eine eigene dogmatische
Konstitution über Maria vom Zweiten Vatikanischen Konzil
erlassen werden solle oder ob und in welchem Umfang und mit
welcher genaueren Inhaltlichkeit in der Konstitution über die
Kirche (Lumen Gentium) ein Kapitel ausdrücklich über Maria
handeln solle. Aus dieser Diskussion ist dann nach dem
7. Kapitel der Kirchenkonstitution über den eschatologischen
Charakter der pilgernden Kirche und ihrer Verbindung mit der
Kirche des Himmels das 8. Kapitel dieser Konstitution über die
selige Jungfrau und Gottesmutter Maria im Mysterium Christi
und der Kirche hervorgegangen.
Man kann aber für die letzten Jahrzehnte nicht übersehen,
daß der Eifer und die Ausdrücklichkeit der Verehrung Mariens
sehr große Schwankungen erfahren haben: Die Bestrebungen
auf eine Definition der Gnadenmittlerschaft scheinen abgeklun-
gen zu sein, seitdem das Konzil zwar durchaus Maria innerhalb
der Heilssolidarität aller Erlösten eine besondere Aufgabe zuer-
kennt, aber es vermeidet, von einer Gnadenmittlerschaft an der
Seite des einen Mittlers Jesus Christus zu sprechen; man hat
den Eindruck, daß die Praxis des Rosenkranzgebetes sehr
zurückgegangen ist; man kann bemerken, daß sich die mariani-
schen Kongregationen in «Gemeinschaften christlichen
Lebens» umbenannt haben; die heute dominierende Kirchen- |
baukunst tendiert auch nicht gerade auf die Errichtung sehr
großer Marienaltäre; die Maiandachten spielen weithin nicht
mehr die Rolle, die sie einst in der Frömmigkeit großer Volks-
321
massen gehabt haben. Wallfahrten zu großen marianischen
Heiligtümern sind gewiß nicht untergegangen, erfahren sogar
im Zeitalter des Massentourismus da und dort eine Belebung.
Aber man wird nicht behaupten können, daß die Marienvereh-
rung im religiösen Leben des Durchschnittes der gebildeten
Katholiken in unserer westlichen rationalen und aufkläreri-
schen Welt eine große Intensität und Ausdrücklichkeit auf-
weist.
Auf der anderen Seite hat das Konzil nicht nur eine verhält-
nismäßig ausführliche Mariologie in dem genannten Kapitel
vorgetragen, sondern in dieses Kapitel auch einen eigenen
Abschnitt über «die Verehrung der seligen Jungfrau in der
Kirche» aufgenommen. Es mehren sich auch in letzter Zeit
Arbeiten theologischer und spiritueller Art, die ein neues Ver-
ständnis für das Dogma von Maria und für die Marienvereh-
rung zu wecken suchen, wobei man sich heute bemüht, sich,
wie das Konzil sagt, «ebenso jeder falschen Übertreibung wie
zu großer Geistesenge bei der Betrachtung der einzigartigen
Würde der Gottesmutter sorgfältig zu enthalten» (Lumen
Gentium VII,67). Das Thema der Marienverehrung kann also
heute durchaus wieder Beachtung finden bei denen, die wirk-
lich als Christen an die Erlösung durch Jesus Christus glauben.

Ein anthropologischer Zugang

Wenn wir über die Marienverehrung nachdenken wollen, dann


brauchen wir in einer katholischen Theologie und Frömmig-
keit die Gründe humaner Art nicht zu verleugnen, die zweifel-
los in der traditionellen Marienverehrung der Vergangenheit
mitgewirkt haben. Warum sollten wir auch die humane (wenn
man will: profane) Inspiration für die Marienverehrung ver-
leugnen? Selbstverständlich waren in der alten Marienvereh-
rung auch die humane Verehrung der Frau, der Mutter, der
reinen Jungfrau usw. wirksam. Wenn jemand sagen wollte (wie
man tatsächlich oft gesagt hat), daß in der Marienverehrung der
Kult von Muttergottheiten der vorchtistlichen Religionen

322
weitergewirkt hat, so sollte man das, richtig besehen, gar nicht
als Vorwurf gegen die Marienverehrung lesen. So etwas
beweist höchstens die doch herrliche Tatsache, daß das Chri-
stentum keine menschliche Dimension und Erfahrung in seiner
Religiosität ausläßt, daß es keine Berührungsängste hat, nicht
meint, die Erhabenheit seines gnadenhaften Gottesverhältnis-
ses werde gefährdet, wenn der christliche Existenzvollzug
irdisch, sinnlich, blutvoll wird und in ihm sich auch alles das
ausspricht, was zum Menschen gehört. Wenn die Marienvereh-
rung heute im Vergleich zu früher abstrakt und blutleer gewor-
den zu sein scheint, ist die Beobachtung humaner Mitursachen
der alten Marienverehrung eher eine Frage und ein Vorwurf an
uns heute. Wie wenig ist uns heute im Durchschnitt übrigge-
blieben an Verständnis für all das sublim hohe Menschliche, das
einst in der Marienverehrung lebendig war? Ist es nicht ein
Zeichen der Banalität unseres heutigen Empfindens, wenn wir
nur noch wenig Interesse in uns spüren, in unserem Leben ein
Bild der großen, schönen und reinen Frau aufzurichten und
andachtsvoll mit Blumen zu schmücken? Die Demo-
kratisierung der Gesellschaft und auch eine berechtigte Eman-
zipation der Frau sind gewiß unausweichliche und in sich
zunächst legitime Entwicklungen in der heutigen Gesellschaft
und geistigen Welt. Aber sie sollten doch in uns nicht die
Fähigkeit verkümmern lassen, auch ein hehres Bild eines Men-
schen voll hoher Würde über unserem Alltag zu verehren,
sollten in uns nicht eine profane Mystik (wenn man so sagen
darf) einer Verehrung der Frau ersticken, wie sie sich doch auch
noch in unserem Jahrhundert z.B. im «Seidenen Schuh» von
Paul Claudel aussprach. Das heutige Defizit der Marienvereh-
rung ist im Grunde die Folge eines humanen Defizites bei uns.

Christliche Wurzeln der Marienverehrung

Die christliche und echt katholische Marienverehrung hat


natürlich viel tiefere Wurzeln im Eigentlichen der christlichen
Botschaft. Der Rückgang der Marienverehrung ist im letzten

523
eine Anzeige für einen Rückgang in unserer Fähigkeit, das
eigentlich Christliche existentiell und religiös zu realisieren,
sosehr es selbstverständlich begrüßenswert ist, daß in der
heutigen kirchlichen Frömmigkeit Auswüchse und falsche Ak-
zentuierungen in der Marienfrömmigkeit zurückgebildet
wurden, die manchmal den Eindruck machen konnten, in
dieser Frömmigkeit werde die radikale Beziehung zu dem un-
begreiflichen Gott ersetzt durch eine Frömmigkeit, die sich nur
noch auf die machtvolle Wirklichkeit der «unbefleckten Jung-
frau» bezieht.

Solidarität mit den Verstorbenen

Zunächst einmal: Haben wir noch ein echtes, von den Grund-
überzeugungen des Christentums her uns zugemutetes Verhält-
nis zu unseren Toten? Oder leugnen wir zwar als Christen nicht
ihre bleibende Gültigkeit und Wirklichkeit vor Gott durch den
Tod hindurch, verzichten aber auf eine lebendige Beziehung zu
ihnen? Glauben wir und realisieren wir religiös die «Gemein-
schaft der Heiligen», die lebendige Verbundenheit aller Men-
schen, die in Gottes heiliger Liebe geborgen und vereint sind,
gleichgültig, ob sie auf Erden leben oder schon ihre Vollen-
dung gefunden haben?! Eine modernste Theologie geht zwar
davon aus, daß die ganze christliche Überzeugung und die
Möglichkeit eines theologischen Redens auf unserer Solidarität
mit den in dieser Geschichte Zu-kurz-Gekommenen und Toten
basieren könne und müsse; daß man nur in einem letztlich
banalen und innumanen Egoismus auf diese Solidarität verzich-
ten könne, indem man die frühere Geschichte der Toten und
der in der Geschichte Zu-kurz-Gekommenen zum Humus her-
abwürdige, auf dem das armselige Glück von uns, den Späteren
und dem künftigen Paradies Nähergekommenen, erblühe. Aber
ist eine solche Solidarität mit den Toten eine Wirklichkeit in
unserem religiösen Leben? Leben die Toten noch für uns, oder
! Vgl. dazu K. Rahner, Die Gemeinschaft der Heiligen und die Heiligen-
verehrung, in: Die Heiligen heute ehren. Eine theologisch-pastorale Handrei-
chung, hrsg. von W. Beinert, Freiburg i. Br. 1983, 233—242.

324
.

sind sie gleichsam ohne Rest aus unserem Daseinskreis ausge-


schieden? Hat der Mensch der Großstadt noch ein Bedürfnis
zum Gräberbesuch wie der Bauer früher am Sonntag nach dem
Gottesdienst? Die Berufung auf die Unmenge historischer
Monographien und auf die Heldenverehrung, die sich auf diese
Weise ausspricht, nützt für unsere Frage nichts. Denn diese
Heldenverehrung der Heiligen oder sonstiger bedeutsamer
Menschen in der Geschichte mag zwar auch noch den leben-
digen Vollzug einer menschlichen Möglichkeit anzeigen, der
allen Lobes würdig ist, aber diese Verehrung richtet sich doch
nur auf eine geschichtliche Vergangenheit, gleichgültig, ob sie
sich auf einen Napoleon oder Bodelschwingh oder auf einen
Charles de Foucauld oder einen Maximilian Kolbe bezieht.
Eine Beziehung zu einer jetzt lebenden und in Gott vollendeten
Persönlichkeit ist damit noch nicht gegeben.

Lebendige Beziehung zu den Verstorbenen


Die katholische Lehre von der Gemeinschaft der Heiligen, von
der Einheit der streitenden und der in Gott vollendeten Kirche,
von der Heiligenverehrung, ja von ihrem «Kult», sagt aber
doch gerade, daß wir in unserem religiösen Leben es fertigbrin-
gen können und sollen, eine lebendige Beziehung zu einem
lebendigen, ja endgültig vollendeten Menschen zu realisieren,
auch wenn er scheinbar durch das Tor des Todes hindurch uns
in eine unendliche Ferne hinein entrückt zu sein scheint. Natür-
lich können wir bei dieser Forderung uns nicht auf die Praxis
moderner Spiritisten berufen. Sie meinen, durch ihre Medien
einen direkten Kontakt mit Verstorbenen herstellen zu können,
und begegnen dann doch nur Menschen, die nicht wirklich die
Enge und Kümmerlichkeit unseres diesseitigen Lebens über-
wunden haben; der christliche Glaube hingegen sucht in der
Verehrung der Heiligen und in einer lebendigen Beziehung zu
allen, die in Gottes Gnade und Liebe vollendet sind, Menschen,
die wirklich in die Namenlosigkeit des Geheimnisses eingegan-
gen sind, das wir Gott nennen.
Damit haben wir schon die fundamentale Schwierigkeit

22)
berührt, die uns heute diese lebendige Beziehung zu den Toten,
die leben, fast unmöglich zu machen scheint, eine Schwierig-
keit, die früher offenbar nicht so empfunden wurde — wobei
allerdings diese größere Leichtigkeit und Selbstverständlich-
keit, die lebendige Existenz der Toten religiös zu realisieren,
nicht ohne weiteres für die Menschen früherer Zeiten spricht,
sondern auch teilweise in einem Mangel der religiösen Realisa-
tion der Unbegreiflichkeit und Unverfügbarkeit Gottes ihre
Ursache haben kann. Aber wir haben heute von den Plausibi-
litäten unseres eigenen Empfindens her den Eindruck, die
Toten verschwänden in der Namenlosigkeit und Unverfügbar-
keit Gottes, und zwar gerade dann um so radikaler, je mehr wir
sie bei Gott selber und nicht in irgendeiner bloß kreatürlichen
Vollendung angekommen glauben. Aber gerade an diesem
Punkt protestiert nun der christliche Glaube gegen diese unsere
Plausibilitäten, nach denen wir, die endlichen Kreaturen, um
so mehr ausgelöscht wären, je mehr die Unendlichkeit und
Unbegreiflichkeit Gottes in unsere Existenz einbricht.
Der christliche Glaube sagt — auch wenn diese Botschaft
unseren Geist und unser Herz zu überanstrengen scheint —, daß
beides in Einheit wahr ist: daß Gott alles in allem ist und daß
dennoch dann, wenn er in seiner Absolutheit wirklich bei uns
angekommen ist, wir gerade so bestehen und vollendet werden.
Der christliche Glaube sagt, daß Gott keine Konkurrenz zu der
von ihm verschiedenen Kreatur ist. Der christliche Glaube
bekennt, daß Gott als er selber mit seiner Unendlichkeit und
Unbegreiflichkeit im Lande unserer Endlichkeit ankommen
könne — er selber bei uns selber —, ohne daß er verendlicht
werden müsse oder wir vergehen müßten in der brennenden
Unbedingtheit seiner Göttlichkeit. Von da aus also gebietet uns
der radikale Optimismus des Christentums, Gott als ihn selber
dort zu suchen, wo nach unserer kümmerlichen und resi-
gnierenden Meinung er gar nicht sein könne, ohne diese End-
lichkeit selber aufzulösen, gebietet uns, Gott bei uns auf Erden
und nicht nur in seinem eigenen Himmel zu suchen.

326
Heiligenverehrung

Von daher nur kann die katholische Heiligenverehrung in


ihrem letzten Sinn verstanden werden. Sie ist der Lobpreis der
Ankunft Gottes beim Menschen. Heiligenverehrung bejaht
gewiß den Menschen, seine endgültige Rettung bei Gott, die
endgültige Vollendung der Geschichte eines Menschen auf
dieser Erde, zielt auf den konkreten Menschen, wir er uns aus
seiner Geschichte bekannt ist und mit dieser Geschichte als
vollendet bekannt wird. Aber diese Vollendung ist letztlich
radikal Gott selber, der nicht eine geschöpfliche Wirklichkeit
zur Vollendung des Menschen schafft, sondern seine eigene
Wirklichkeit und Herrlichkeit dem Menschen mitteilt und so
diesen durch sich selber vollendet. Darum ist Heiligenvereh-
rung etwas, das innerhalb der eigentlichsten Theologie bleibt,
ist eine Aussage über die Geschichte Gottes selber, der in
Vollendung der Menschwerdung seines ewigen Logos sich
dem Menschen selber mitteilt und so wahrhaftig in dieser
Geschichte der Heiligen seine eigene Geschichte hat und voll-
endet. Heiligenverehrung bedeutet darum, daß wir Gott in
seiner eigenen Herrlichkeit finden und preisen dort, wohin er
sich selber herabgelassen hat. Man kann die Heiligenverehrung
nur verstehen, wenn man glaubend begreift, daß Gott nicht nur
der über alle geschöpfliche Wirklichkeit unendlich Erhabene
und so Anzubetende ist, sondern in seiner Gnade die innerste
Wirklichkeit seiner Geschöpfe werden wollte in einer wahren
Auswirkung und Vollendung der Menschwerdung des ewigen
Wortes. Gott und seine Welt fallen gewiß nicht in einer
schlechten Identität zusammen, aber man darf sie auch dort, wo
die Welt vollendet ist und in Wahrheit von Gott im Menschge-
wordenen als seine eigene Wirklichkeit angenommen ist, nicht
einfach bloß nebeneinander denken, sondern man kann Gott
finden, wo man dem begnadeten, erlösten und vollendeten
Menschen begegnet. Da ist der Höhepunkt der Einheit von
Gottes- und Nächstenliebe erreicht, da darf man im Ungestüm
der Liebe, die Gott und Mensch vereint, fast so etwas tun, wie
Gott und Mensch verwechseln, weil die wirklich innerste Mitte

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des Menschen in Gnade Gott selber ist.
Von einer solchen Theologie der Heiligenverehrung, von
einer Theologie des Abstieges Gottes in die Welt und einer
radikalsten Solidarität Gottes mit dem Menschen her ist
zunächst die Marienverehrung zu verstehen. Wenn es ein
Finden Gottes im geliebten konkreten, von Gottes eigener
Wirklichkeit erfüllten Menschen geben darf und gibt, dann gilt
das natürlich vor allem einmal von der heiligen Jungfrau und
Mutter Jesu, der Gebenedeiten unter den Frauen, die nach dem
Wort der Schrift von allen Geschlechtern selig zu preisen ist.

Die heilsgeschichtliche Bedeutung Marias

Aber bevor wir die Theologie der Heiligenverehrung nur als


selbstverständlich auch auf Maria anwenden, ist die Marien-
verehrung noch in ganz anderer Weise zu begründen und
verständlich zu machen. Die Heiligenverehrung meint ja nicht
den abstrakten Begriff des Menschen, sondern die konkreten
Menschen mit ihrer konkreten und vollendeten Geschichte.
Alle Heiligen sind zwar vollendet, aber jeder in seiner letztlich
einmaligen Weise, jeder mit seiner eigenen, für ihn selbst und
für alle anderen bedeutsamen Geschichte, jeder in seiner ihm
von Gott verfügten Eigenart, in der er von allen anderen
Vollendeten neidlos in der Einheit der allumfassenden und
gerade so Eigenart gewährenden Liebe Gottes anerkannt wird.
Darum muß die heilsgeschichtliche Eigenart und Bedeutung
der heiligen Jungfrau für alle Menschen zuerst ausgesagt
werden, bevor die Marienverehrung in der Einheit mit der
allgemeinen Heiligenverehrung theologisch begriffen werden
kann.
Gewiß ist Maria die demütige Magd des Herrn. Wir tun ihrer
Ehre keinen Abbruch, wenn wir sie zunächst sehen als das
bescheidene Mädchen, als die arme und unbedeutende Frau
unter vielen Frauen, in einem verlorenen Winkel der Welt. Wir
tun ihrer Ehre keinen Abbruch, wenn wir sie zunächst einmal
auch geistig und religiös in dem Kreis frommer Frauen ihres
328
\

Volkes und ihrer Zeit belassen. Aber ohne solche bescheidene


Menschlichkeit mirakulös aufzuheben, kann Gottes Gnaden-
macht in einem solchen Menschen Großes und das Größte
wirken, wenn er in seiner Gnade sich herabneigt zur Niedrig-
keit seiner Magd. Und so hat diese Gnade in Maria bewirkt, daß
sie glaubend in Freiheit die Menschwerdung des ewigen Gottes
in sich selbst eingelassen hat, um diese letzte Nähe Gottes
weiterzuschenken an die Welt.
Sie ist gewiß nicht die letztlich eigenständige Partnerin im
Dialog zwischen Gott und der Welt, in dem das Heil der Welt
verhandelt wird. Ihre Freiheit und ihr freies Ja sind gewiß
selbst noch einmal das gnadenhafte Geschenk der souveränen
Liebe Gottes, die keine Ursache außer ihr selbst hat. Aber die
Gnade Gottes setzt eben selber menschliche Freiheit und ihre
Zustimmung zu dieser Gnade Gottes; die Gnade Gottes selber
macht, daß sie einen echten Partner sich selber gegenüber hat.
Sie ist darum erst dann wirklich in der allmächtigen Über-
macht, die ihr zukommt, anerkannt und gepriesen, wenn sie in
dem freien Partner, der ihr gegenübersteht, erkannt wird, weil
eben diese Gnade noch einmal ein freies Ja zu ihr selbst bewir-
ken kann.
Und so steht Maria an der Stelle, an der ein kleiner und
unbedeutender Mensch dennoch für das Heil der gesamten
Menschheit die fleischgewordene Gnade zuerst in ihrem
Glauben und dann in ihrem gebenedeiten Schoß frei angenom-
men hat, für sich und uns. Der eine Mittler zwischen Gott und
Mensch konnte es bewirken, daß dieser Mensch frei angenom-
men wird, daß seine freie Annahme noch einmal Gnade ist und
umgekehrt die Gnade zur freien Annahme ihrer selber wurde.
An diesem einmaligen Punkt der Heilsgeschichte von univer-
saler Bedeutung für alle Zeiten und Räume der Menschheitsge-
schichte steht Maria. Sie ist nicht die Gnade, sie ist nicht der
eine Mittler, sie ist aber die freie Annahme der Gnade und des
Mittlers, die sich in der einen Heilsgeschichte für uns alle
einmal ereignet hat. In diesem Sinne ist sie in Wahrheit die
Gottesgebärerin, die Gottesmutter, auch wenn natürlich die
Gottheit ihres Kindes nicht die Frucht ihres Leibes ist.

329
Ob man Maria Miterlöserin und Mittlerin aller Gnaden
nennen mag, wie man es schon vorgeschlagen hat und es auch
in päpstlichen Erklärungen von sekundärer Art geschehen ist,
oder ob man dies vermeiden will, um Mißverständnisse und
Verdunkelungen der einen einzigen Mittlerschaft Jesu Christi
zu vermeiden, das ist keine entscheidende Frage für Glaube und
Theologie. Auf jeden Fall aber erkennt der katholische Glaube
Maria eine einzigartige und einmalige Stelle in der einen Heils-
geschichte zu, in der schließlich ja alle für alle eine solidarische
Heilsgemeinschaft bilden. Sie ist die zweite Eva, die Mutter
Jesu und so aller Glaubenden. Ihr Ja, durch das hindurch ihr
nach dem Wort des Engels geschah, begründet für den Christen
Grund und Dimension seines Heiles mit, wenn er wirklich in
Jesus Christus seinen Heiland und Erlöser und die unüberbiet-
bare Nähe Gottes zu ihm in der Geschichte glaubt, weil dieser
Jesus zwar selbst seiner Mutter dieses Ja schenkte, aber eben
durch dieses Ja hindurch in diese Welt eintrat.

Zur Gleichwertigkeit von Mann und Fran

Wenn wir heute zutiefst von der Gleichwertigkeit und Gleich-


berechtigung der Geschlechter überzeugt sind — im Unter-
schied zu der antiken Anthropologie, die in der Theologiege-
schichte noch lange massiv weitergewirkt hat und so auch zu
beklagenswerten und zu überwindenden Abwertungen der
Frau geführt hat —, dann sind wir als Christen und Theologen
heute gewiß gefragt, wie sich denn diese unsere Wertung der
Geschlechter und die Gleichwertigkeit der Frau in unserer
Theologie der Heilsgeschichte auswirke und zur Geltung
bringe. Dann stellt sich uns doch, wenn wir ehrlich sind,
zunächst einmal eine nicht ganz selbstverständlich zu beant-
wortende Frage, warum wir den einen Mittler gerade in einem
Mann zu erkennen haben und nicht ebenso selbstverständlich
in einer Frau. Wir werden dann gewiß sagen, daß die Männlich-
keit des einen Mittlers für seine universale Heilsbedeutung für
uns alle letztlich unerheblich sei und eben zu den kontingenten

339
Einzelbestimmtheiten gehöre, die das ewige Wort Gottes so
oder so annehmen muß, wenn es in einer zahlenmäßig einen
Menschennatur unsere Geschichte ergreifen will. Oder wir
werden diese Frage wenigstens in gelassenem Gehorsam der
souveränen Verfügung Gottes anvertrauen, zumal wir ja auch
nicht gefragt werden konnten, ob wir als Mann oder als Frau
Mensch werden wollten mit der Unbegrenztheit unserer, alle
Geschlechtsdifferenz übergreifenden, wenn auch nicht auf-
hebenden Bestimmung. Wir müssen in diesem Zusammenhang
auch bedenken, daß die wahre menschliche Wirklichkeit auch
des Mittlers Jesus Christus mit jener göttlichen Selbstmit-
teilung, Gnade genannt, erfüllt werden mußte, wie sie allen
Menschen, ob Mann oder Frau, von Gott zugedacht ist. Wenn
wir unter diesen Voraussetzungen die einmalige und unersetzli-
che Stellung und Funktion der Heiligen Jungfrau bedenken,
werden wir wohl nicht mehr sagen können, daß man in der alle
Menschen solidarisch umfassenden Heilsgeschichte von
Glaube und Theologie her der Frau eine geringere Funktion
und Aufgabe zuerkennen müsse als dem Mann.
Allerdings meine ich, daß heute von unserer für uns gültigen
Anthropologie her jede christliche Theologie vor die Frage
gestellt ist, welchen Rang in der Heilsgeschichte sie der Frau
zuzuerkennen vermag. Die traditionelle katholische Theologie
hat in ihrer Mariologie die Eigenart und Einmaligkeit der Frau
im allgemeinen schon gewürdigt und muß diesen ihren maria-
nischen Grundansatz nur noch weiter und unbefangener als
bisher im Ganzen der Theologie und des christlichen Lebens
entfalten.

Heiligenverehrung und Marienverehrung aufgrund der endgültigen


Gerettetheit in Gott
Wenn die Marienverehrung sich zunächst einmal durch die
Theologie der Heiligenverehrung im allgemeinen verständlich
zu machen sucht, dabei aber dann eben die einmalige heilsge-
schichtliche Funktion Marias glaubend realisiert, dann kann ein
Verständnis dieser Marienverehrung gewonnen werden.

334
Diejenige Heilsgeschichte, die die Dimension und Situation der
Gewinnung des Heiles und der menschlichen Vollendung für
jeden von uns begründet, ist nicht untergegangen in bloßer
Gewesenheit, sondern lebt real in Endgültigkeit in all den
Menschen, die schon in Gott vollendet sind und gerade in
Gottes scheinbar nur schweigenden Unbegreiflichkeit endgül-
tig zu ihrer höchsten Wirklichkeit gekommen sind. Auf diese
realen Menschen zielt die Heiligenverehrung und findet in
ihnen Gott selbst, dessen Gnade in ihnen Wirklichkeit und
Vollendung gefunden hat. Und so eben auch in Maria, und
zwat, indem dabei auch ihre einmalige Stellung in der Heilsge-
schichte für uns glaubend realisiert wird. Denn die selig Geret-
teten sind ja keine abstrakten Schemen von gleicher Art,
sondern die konkreten Menschen, in denen ihre irdische Ge-
schichte in deren Einmaligkeit gerettet und endgültig gewor-
den ist. Wir haben schon gesagt, daß in etwa eine solche
Beziehung zu diesen endgültig gewordenen Menschen für uns
heute eine Schwierigkeit bedeutet, die unsere ganze religiöse
Kraft herausfordert, damit die schweigende Unendlichkeit
Gottes, in die die Toten eingegangen sind, diese nicht aus-
löscht, sondern erst recht bestätigt und in sich und für uns
gültig macht. Aber ein solches Vermögen, die einzelnen noch
in der weiselosen Wirklichkeit Gottes zu sehen und Gott zuzu-
trauen, diese einzelnen nicht in sich untergehen, sondern in
ihrer Einzelheit aufgehen zu lassen zu Endgültigkeit, ist für den
Christen doch grundsätzlich schon garantiert, weil er ja minde-
stens dem verklärten Menschen Jesus gegenüber ein solches
Verhältnis realisiert, in dem dieser Mensch noch immer in der
Unbegreiflichkeit Gottes erkennbar und geliebt bleibt und
darin gerade die höchste Macht Gottes über alle Unendlich-
keitsmetaphysik hinaus angenommen wird.

Konkrete Marienverehrung
Wie weit dies dem einzelnen Christen in seiner religiösen Ent-
wicklung tatsächlich gelingt, wie deutlich oder nur sehr
schwach und dunkel es ihm gelingt, gewissermaßen die einzel-

397
nenseligen Menschen in der überlichten Finsternis Gottes noch
auszumachen, ohne sie dabei gleichsam zu magisch wirksamen
Untergöttern zu verfälschen, das ist eine Frage der religiösen
Individualgeschichte, die man nicht für alle auf einmal in glei-
cher Weise beantworten kann. Im Hause seines Vaters, sagt
Jesus, sind viele Wohnungen, und nicht jeder hat jedes Charis-
ma, das der Heilige Geist Menschen mitteilen kann. Es ist
einerseits durchaus legitim, wenn jemand bescheiden und nüch-
tern von sich zugibt, ein bestimmtes Charisma, das er bei einem
anderen neidlos anerkennt und bewundert, nicht oder höch-
stens sehr rudimentär zu besitzen, vorausgesetzt, daß er an-
dererseits sich nicht grundsätzlich und radikal gegen ein solches
Charisma verschließt, wenn es ihm in seiner religiösen Lebens-
geschichte durch die Gnade Gottes angeboten wird. So ist es
auch bei der Marienverehrung.
Vielleicht ist sie bei einem nur sehr keimhaft gegeben, in
einem guten Willen, sich nicht grundsätzlich skeptisch oder
hochmütig über die Marienverehrung anderer in der Kirche
erhaben zu fühlen. Man kann ein guter Christ sein in der
katholischen Kirche, auch wenn man in sich selber wenig von
jener glaubensmäßig tiefen und herzensmäßig begeisterten Ver-
ehrung der Heiligen Jungfrau entdecken kann, die man an
anderen beobachtet. Es muß nicht immer neurotische Emp-
findlichkeit sein, wenn verheiratete Frauen in der Verehrung
manchen Bildes der jungfräulichen Mutter eine stille Dis-
kriminierung herausspüren. Geht es oft nicht um Marienmy-
thos statt um Marienglauben? (V. Schurr) Man hat gewiß das
Recht, bestimmte Formen der Marienverehrung abzulehnen,
wie auch das Zweite Vatikanische Konzil betont, wenn solche
Formen in Aberglauben abirren oder zu Praxen greifen, die mit
der Einmaligkeit des Mittlertums Jesu Christi oder der freien
Souveränität der göttlichen Gnade in Widerspruch stehen und
der absurden Meinung huldigen, man könne sich der Liebe
Marias eher vergewissern als der grundlosen Barmherzigkeit
und Liebe des ewigen Gottes.
Aber wenn man sich redlich und nüchtern einen gewissen
Abstand zwischen der eigenen religiösen Praxis und einer an

333
sich legitimen Marienverehrung eingesteht, und wenn man
dieses Eingeständnis sich ruhig machen darf, dann soll man
daraus doch kein Prinzip machen, sondern sich offenhalten für
eine Weiterentwicklung seines religiösen Lebens, in der auch
eine intensivere und ausdrücklichere Marienverehrung ihren
Platz haben kann. Denn für ein wirklich radikal christliches
Verhältnis des Menschen zu Gott ist es, wie jetzt schon oft
betont, nicht so, daß die Menschen untergehen, wenn und je
mehr sie sich Gott und seiner Unbegreiflichkeit nahen.
Und überdies ist nicht zu übersehen, daß in der einen Ge-
meinschaft der Heiligen, in dem mystischen Leibe Christi, die
einzelnen je verschiedene Befähigungen und Aufgaben haben,
daß also der Kirche als ganzer eine Befähigung und Aufgabe
der Marienverehrung zukommen kann, die nicht im gleichen
Maß auch die Befähigung und Aufgabe jedes einzelnen sein
muß. Die Kirche als ganze hat eine Beziehung zu Maria, auch
wenn dieselbe Beziehung nicht in der gleichen Ausdrücklich-
keit und Intensität dem einzelnen zugemutet werden kann. Die
Kirche als ganze hat von Anbeginn schon Maria verehrt und
gepriesen, wie schon die Evangelien bei Lukas und bei Johan-
nes es bezeugen. Man mag von dem Titel Marias als der
«Mutter der Kirche», den das Konzil vermied und den Papst
Paul VI. dennoch aufgriff?, bezüglich seines genaueren Inhaltes
und seiner Verständlichkeit denken, wie man will; die Kirche
als ganze hat auf jeden Fall in allen Zeiten, wenn natürlich auch
in einer wechselvollen Geschichte mit immer wieder anderen
Akzentsetzungen, die Heilige Jungfrau verehrt. Dieser Lob-
preis Marias gehört einfach in das Selbstverständnis der Kirche
hinein, denn die Kirche ist trotz aller bleibenden Bedrohtheit
und Sündigkeit in ihrer noch andauernden Geschichte eben
doch die heilige Gemeinschaft derer, die nicht nur an eine
abstrakte Heilsmöglichkeit glauben, sondern in Hoffnung davon
überzeugt sind, daß die Macht der Gnade Gottes diese Mög-
lichkeit an ihnen auch tatsächlich in Wirklichkeit umsetzt.

2 Vgl. Apostolisches Schreiben «Marialis cultus» über die Marienvereh-


rung, 1975.

334
Daher gehört die Anerkennung der siegreichen Ankunft der
Macht Gottes in der Gefährdung unserer Existenz zum Selbst-
verständnis der Kirche.
Wie aber sollte sie deutlicher und konkreter dieses ihr Selbst-
verständnis, das Gottes Gnade preist, realisieren als dadurch,
daß sie einen Menschen nennt, in dem dieses Wunder siegrei-
cher Gnade Gottes in allen Dimensionen dieses Menschen sich
ereignet hat und der gerade so zu ihr, der Kirche, selbst gehört?
Indem die Kirche Maria preist und ehrt, nimmt sie konkret und
beim Namen genannt das entgegen, was Gott an ihr, der Kirche
getan hat und tut bis zum Ende der Zeiten. Die Kirche erfüllt
die Prophezeiung Marias, daß alle Geschlechter sie seligpreisen
werden, weil Gott auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut
hat. Und indem die Kirche Maria so preist, wird sie ihrer
eigenen Berufung konkret und nicht bloß in abstrakter Theorie
inne, der Berufung, daß Gott in ihr alles in allem wird und doch
gerade so die selige Gültigkeit der Menschen erreicht wird.

335
ZUM VERSTÄNDNIS DES
WEIHNACHTSFESTES

Die Botschaft von der Geburt

Die Botschaft von Weihnachten ist zunächst einmal die Bot-


schaft von der Geburt, dem Anfang eines Menschen. Von Jesu
Leben und Sterben her als dem Schicksal eines, natürlich eines
ganz bestimmten Menschen, muß sein Anfang, seine Geburt
verstanden werden. So können wir als Christen nur vom Kreuz
und von der Auferstehung Jesu Christi her einen wirklichen
Zugang zur Tatsache und zum Sinn des Weihnachtsfestes
finden. Wir feiern die Geburt dessen, den wir in seinem Tod
und seiner Auferstehung als unseren Erlöser und Herrn, als die
unwiderrufliche Heilszusage Gottes gefunden haben. Nur von
daher kann uns die Geburt Jesu radikal bedeutsam sein, eben
als der Anfang dieses Lebens und Sterbens, in dem unser Leben
die unwiderrufliche Zusage der ewigen Freiheit erhielt. Weih-
nachten mag dennoch das liebliche Fest eines holdseligen
Kindes bleiben; wir hätten aber seinen Sinn nicht begriffen,
wenn wir dieses Fest nicht als den Anfang eines Lebensweges
verstehen würden, der durch alle Abgründe des Menschentums
hindurch den Menschen in die selige Vollendung führt, die in
dem unbegreiflichen Geheimnis Gottes verborgen ist.
Das ganze menschliche Leben ist, unbeschadet seiner
Freiheit, umfaßt und getragen von dem Wissen und Willen
Gottes, der den Anfang aus seinem eigenen Willen zum Ende
und zur Vollendung verfügt und setzt. Da ein Leben und seine
Vollendung enthüllen, was der Anfang schon in sich barg,
offenbaren Leben und Vollendung den Anfang als von Gott
gewollten und von ihm auf dieses ganz konkrete Ende hin
bestimmten. Weihnachten ist darum bei Jesus wie bei uns der
Anfang des Todes.
Weil dieser Tod die ganze Länge und Breite unseres Lebens
durchwaltet und nicht bloß etwas am Ende ist, das uns noch
nichts angeht, weil wir im Alltag immer diesen Tod schon

336
anzunehmen versuchen, wenn wir nüchtern, aber nicht banal
leben, darum können wir sehr nüchtern Weihnachten feiern.
Weihnachten ist wirklich der Anfang jener Vollendung, in
der Jesus, bedingungslos und ohne an irgend etwas anderem
als an Gott festzuhalten, sich in die Unbegreiflichkeit Gottes
als seine eigene, durch ihn selbst nicht verfügbare Vollendung
fallen läßt.
Weihnachten ist der Beginn des Menschen, der — auch für uns
— sterben soll in einer Tat, die die höchste Tat seines glauben-
den Gehorsams ist.
Wenn wir uns glaubend vor die Krippe des Neugeborenen
stellen, müssen wir sehen, daß hier der Untergang, Tod
genannt, beginnt, der allein rettet, weil seine Leere erfüllt ist
von der namenlosen Unbegreiflichkeit Gottes, die allein alle
Fragen, die unser Leben in tausend Einzelfragen stellt, beant-
wortet, indem sie diese überholt. Natürlich ist immer der von
Gott gerettete Tod, der von ihm erfüllte Tod gemeint, ist der
Tod gemeint, der von uns her Untergang unserer Existenz und
von Gott her Aufgang Gottes ist in dem, was wir Auferstehung
nennen. Weihnachten ist der Anfang dieses geretteten Todes
und nur von daher wirklich zu verstehen.
Das Licht von Weihnachten und der Gott preisende wie auch
die letzte Versöhnung den Menschen der Gnade Gottes
zurufende Gesang der Engel müssen in die Abgründe unseres
Todes fallen, oder sie sind nicht gesehen und gehört. Weih-
nachten ist kein vertröstendes Fest, das uns über die Unbegreif-
lichkeit unseres Schicksals für einen Augenblick hinwegtrösten
will. Es muß da gefeiert werden, wo wir leben, in dem Sturz
in unseren Tod, weil Jesu Geburt der Anfang seines Todes war.

Die zentrale Schwierigkeit

Wir haben nun in einer theologischen Überlegung die Haupt-


schwierigkeiten zu bedenken, denen wir begegnen, wenn wir
Weihnachten feiern, denen wir selbst dann begegnen, wenn wir
nicht schon einfach vor allgemeiner Uninteressiertheit, Gleich-

337
gültigkeit und Langeweile vor dem Gewohnten kapitulieren.
Die gemeinte Schwierigkeit ist eine komplexe Größe. Sie hat
vor allem zwei Aspekte: die zeitliche Ferne des Ereignisses und
seine kontingente Geschichtlichkeit, die es uns schwermachen,
Weihnachten als Grund des Heiles unserer ganzen Existenz zu
begreifen.

Die zeitliche Ferne

Schon die zeitliche Ferne von Weihnachten schreckt uns: Es


ist so schrecklich lange her. Auch Weihnachten scheint uns wie
andere Ereignisse einer fernen Vergangenheit zu überfordern.
Wir sind in unserem Menschsein zunächst einmal gefragt, ob
Geschichte im allgemeinen uns etwas sagen kann, ob wir auch
heute noch Menschen sind, die sich betroffen, klagend oder
stolz von einem Ereignis unserer Geschichte berühren lassen,
ob der Entschluß unserer Ahnen für uns eine Verbindlichkeit
haben kann, ob ein geschichtliches Gedächtnis in uns wach
ist.
Wenn wir ehrlich sind, werden wir zugeben müssen, daß im
Durchschnitt der heutigen Menschheit der Sinn für Geschichte
unterentwickelt ist. Das Wissen um allgemeine, immer gleiche
Naturgesetze und die Planung einer noch nie dagewesenen
Zukunft beherrschen das zeitgenössische Bewußtsein bis zu oft
unmenschlicher Geschichtsvergessenheit.
In dem Maße, in dem ein Mensch geschichtslos wird, wird
er auch unmenschlich und orientierungslos. Sein Leben soll die
schöpferische Erkämpfung einer unbekannten Zukunft sein,
aber eben diese wird sich immer wieder erweisen als die Vollen-
dung des Anfangs, als die Frucht der Geschichte, die schon
längst begonnen hat, bevor das kleine Licht unseres individuel-
len Bewußtseins zu leuchten begann.
Jedenfalls ist Weihnachten eine Frage an uns, ob wir Men-
schen sind, die kein Gedächtnis im eigentlichen Sinne des
Wortes mehr haben, aufgehen im banalen Betrieb bloßer Ge-
genwart, keine Zukunft aufbauen können, weil sie keine Ver-

338
gangenheit haben, oder ob Geist und Herz in uns die lebendige
Spannung bewältigen, die die Vergangenheit in die eigene
Gegenwart hineinnimmt und in eine unendliche Zukunft ein-
bringt. Wenn es uns schwerfällt, Weihnachten zu feiern, dann
könnte dies daher kommen, daß wir überhaupt geschichtslos
die Wurzeln unserer Existenz ganz oder teilweise haben abster-
ben lassen, die in die Vergangenheit, in die Anfänge zurücktei-
chen und dort die Fülle der Zukunft gewinnen. Wenn Weih-
nachten uns anstrengt, schadet dies nicht; es können Schmer-
zen sein, die unvermeidlich jene Umkehr in die Vergangenheit
begleiten, die eine wahre Bekehrung zum wirklichen Mensch-
sein ist.

Ein einzelnes Ereignis der Geschichte von universaler Bedeutung?

Wir bedenken weiter die Schwierigkeit des Weihnachts-


glaubens, die als die für Weihnachten spezifischste und
schwierigste erscheinen will. Sie ist seit den Zeiten der ra-
tionalistischen Aufklärung bekannt und noch immer beden-
kenswert:
Ein einmaliges, zeitlich und lokal begrenztes Ereignis soll für
das totale Heil des ganzen Menschen, aller Menschen, ent-
scheidend sein; eine Geschichtswahrheit soll eine universale
existentielle Bedeutung haben; ein einzelner Punkt der Ge-
schichte und in der Geschichte soll über die ganze Geschichte,
die sich uns jetzt als die von vielleicht Millionen Jahren ent-
hüllt, verfügen? Die ganze Kette der Geschichte, die nach
hinten und nach vorne sich ins Unerkennbare verliert, soll nicht
nur von dem Herrn der Geschichte, der außerhalb ihrer selbst
in seiner Ewigkeit lebt, getragen werden, sondern auch an
einem einzelnen Glied ihrer selbst aufgehängt sein?
Seit fast 300 Jahren mühen sich Theologie und Philosophie,
insgeheim auch die Verkündigung, mit diesem Problem ab.
Sosehr der Glaube der Christen sich eindeutig auf dieses eine
Ereignis «Jesus Christus» innerhalb der Zeit und Geschichte
als auf den Herrn und Schlüssel dieser ganzen Geschichte
339
bezieht und davon niemals lassen wird, so ist damit noch nicht
gesagt, daß die denkerische Bemühung um diese Glaubenstat-
sache schon abgeschlossen sei oder überall in den Theologien
der Christenheit zum selben Ergebnis geführt habe. Um dieser
zentralen Schwierigkeit näherzukommen, müssen wir neu an-
setzen und von der Sache der Christologie selbst ausgehen.

Der Abstieg des Wortes Gottes ın die Welt

Man kann mit Johannes — Analoges könnte von Paulus, beson-


ders nach dem Kolosserbrief und dem Christushymnus des
Philipperbriefes, gesagt werden — in einer ungeheuren Kühn-
heit beim Abstieg des göttlichen Logos von Gott in die Welt
beginnen: «Und das Wort ist Fleisch geworden.» Man sagt
sich so, daß Gott nicht nur eine von ihm verschiedene Welt
geschaffen hat, umfängt und aus seiner göttlichen Unberühr-
barkeit heraus regiert, sondern sich selber mit seiner göttlichen
Herrlichkeit mitteilen will, sich selber als innerste Dynamik
und endgültiges Ziel der Welt einstiften will in ihre innerste
Mitte. Man kann dann von da aus bekennen, daß diese Einstif-
tung Gottes in seine Welt unwiderruflich geschehen ist in
Jesus, so daß er, als der von Anfang seiner Existenz an endgül-
tig und unwiderruflich Angenommene, die endgültige, ge-
schichtlich greifbare Selbstzusage Gottes an seine Welt ist.
Wenn man so Gott scheinbar steil von oben allein an dem
Punkt « Jesus» in die Welt zu ihrer rettenden Annahme einbre-
chen läßt, dann darf man freilich nicht vergessen, daß dieses
scheinbar punktförmige Ereignis als geschichtliches in einer
geschichtlichen Welt eben doch faktisch eine Vorgeschichte als
Vorbereitung hat und daß diese Geschichte der Welt als Vorbe-
reitung der Ankunft des göttlichen Logos durchwaltet und
getragen war (um wirklich seine Vorgeschichte sein zu können)
vom Walten des Heiligen Geistes Gottes, der vom Anfang der
Geschichte an schon immer die innerste Dynamik der Welt
war.
Von daher kann dann dieser von oben kommende Einbruch

340
#
[i

des sich selbst mitteilenden Gottes in seine Welt ebensogut


verstanden werden als der Ausbruch des Heiligen Geistes
Gottes aus der innersten Mitte der Geschichte in die Greifbar-
keit dieser Geschichte hinein, des Geistes Gottes, der damit
diesem seinem Walten — auch der Freiheitsgeschichte der Men-
schen gegenüber — Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit ver-
leiht.

Jesus, der Beginn der Verwirklichung aller menschlichen Hoffnung

Worauf es in einer Weihnachtsbetrachtung ankommt, ist dies:


Wenn wir dem geschichtlichen Jesus als der Einheit von
menschlicher Frage und göttlicher Antwort in seinem Leben,
seinem Tod und seiner Auferstehung begegnen, wenn wir
dieses Leben als Maß und Kraft unseres Lebens annehmen,
dann sind wir in der Situation, aus der heraus Weihnachten
begriffen werden kann. Weihnachten ist der Anfang dieses
Lebens, die Geburt, die dieses Leben vermag.
Was soll es eigentlich bedeuten, wenn wir sagen: Das ewige
Wort, in dem sich der ewige Gott, Vater genannt, von Ewig-
keit für sich selbst aussagt und bei sich ist, ist Mensch gewor-
den, er, der der alles durchwaltende, alles in seine Unterschiede
setzende und zusammenhaltende Urgrund jener unvorstellbar
großen Welt der Materie, des Lebens und des Geistes ist, wie
wir sie heute als immer noch werdende wissen? Ist dieser Gott
nicht zugleich allem und jedem zu nahe und zu fern, als daß
man fast wie in einer griechischen Mythologie ihn sich denken
könnte als in der Gestalt eines Menschen auf dem kleinen,
verlorenen Planeten umherwandelnd, den wir unsere Erde
nennen? Wir sagen: Und das Wort ist Fleisch geworden, und
wir sagen: Dieser Mensch Jesus ist so von Anfang an und
radikal von Gott gefunden gewesen und bis zum Ende ge-
blieben, daß wir darin auch uns von Gott gefunden hoffen
können. Und diese beiden Aussagen sind, beide radikal verstan-
den, eins.
In Jesus sind Frage des Menschen und Antwort Gottes,

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unvermischt und ungetrennt, eins geworden; der eine ist da,
in dem Gott und Mensch eins sind, ohne sich gegenseitig
aufzuheben. In Jesus hat sich Gott als das unsagbare Geheim-
nis, als Wort ganz und unwiderruflich ausgesagt, in ihm ist es
da als uns allen zugesagt, als Gott der Nähe, der unsagbaren
Intimität und Vergebung.

Das Kind — wie wir geboren

So also stellen wir uns vor die Krippe Jesu; der Stall und das
Vieh darin überraschen uns nicht. Das alles charakterisiert ja
auch heute noch den Ort unserer eigenen Geburt, auch wenn
sie in der sterilen Eleganz eines Kreißsaales von heute ge-
‚schehen sollte. Da, in dieser Krippe fängt einer an, Mensch zu
sein. Er hat sich dazu nicht entschlossen. Er ist nicht gefragt
worden. Seine ganze Existenz ist ihm mit der Unerbittlichkeit
des Willens eines andern — Gottes — auferlegt worden, so
unerbittlich, daß jede Frage und jeder denkbare Protest zu spät
kommen.
Diesem Kind geht es wie uns: Es ist da und wurde darüber
nicht gefragt. Aber da ist ein Unterschied zwischen dem Kind
und uns. Wir sind in Versuchung, diese unerbittliche Notwen-
digkeit, zu sein, die Ausgangslosigkeit unseres Daseins wie
einen erstickenden Zwang zu erfahren, eben als die schreckliche
Unmöglichkeit, nicht sein zu können. Weil dieses Kind ein
wahrer Mensch ist, ja gerade der Mensch, der gewiß zur rechten
Zeit in die untersten Verliese seines Menschseins, in den gott-
verlassenen Tod hinunterdrang, darum hat dieses Kind die den
letzten Herzschlag stockenlassende Erfahrung, nicht nichtsein
zu können, gewiß auch gemacht. Aber (und da kann ein Unter-
schied zu uns liegen, zu uns, die wir nie recht wissen, ob wir
nicht doch in all unserer Spießbürgerlichkeit einen letzten
hassenden Protest gegen diese Notwendigkeit vollziehen)
dieses Kind nahm diese Erfahrung an als die Erfahrung der Tat
einer Liebe; die Unerbittlichkeit seines ungefragten Gesetzt-
seins war ihm nur die selige Unerbittlichkeit der Liebe, das

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Wunder des Erwähltseins, der Selbstverständlichkeit des Seins,
das sich vor dem Nichts verantworten muß.
In dem Kind war die schreckliche, scheinbar vernichtende
Erkenntnis: Ich bin noch einmal durch eine geschenkte und
doch die Tat der eigenen Freiheit seiende antwortende Liebe
umfangen: Ich darf sein, ich will sein, und dieser mein Wille
ist die Entgegennahme der Notwendigkeit meines Seins als Tat
einer unendlichen Liebe, die mich in nicht hinterfragbarer
Souveränität gesetzt hat, aber eben doch nur, um sich selbst an
ihre Setzung zu verschenken und zu wagen. Das ist der Grund-
akt dieses Kindes, den es durch sein ganzes Leben hindurch-
tragen mußte, bis es damit auch den finsteren Abgrund des
Todes ausleuchtete.

Unser Dasein annehmen

Wir stehen vor der Krippe dieses Kindes und fragen uns, ob
auch wir so mit der uns auferlegten Existenz fertig werden. Ob
wir sie annehmen? Die Tatsache, daß wir faktisch existieren,
ist ja noch kein Beweis, daß wir dieses Dasein wirklich ange-
nommen haben, so wie es war, so wie es ist, so wie es uns
unvorhergesehen noch überfallen wird. Wir haben es gewiß
noch nicht aus ganzem Herzen und in all seinen Dimensionen
angenommen. Es ist immer noch bei uns eine offene, meist
nicht einmal als gegeben eingestandene Frage, ob wir den
lieben oder hassen, der uns unser Dasein auferlegt hat, ob wir
dieses Dasein als das Wunder der Liebe liebend annehmen oder
es in einem geheimen Protest verwerfen.
Das Kind in der Krippe hat unter Augustus sein Leben
anfangen müssen, in diesem Augenblick, nicht vorher und
nicht nachher. In diesem Augenblick begann das Rad seiner
Zeit sich zu drehen, fingen die Augenblicke an zu laufen, einer
nach dem andern, jeder nur einmal, alle in einem unerbittlichen
Lauf, der unaufhaltsam auf ein Ende dieser Zeit hinlief. Die
Ewigkeit hat in diesem Kind für es und darin für die ganze Welt
die Zeit in sich aufgenommen, sie von ihrem Anfang und von

343
T

ihrem Ende her umfaßt und trägt sie in jedem ihrer Augenblik-
ke. Wenn es nicht geschähe, würde unsere Zeit wirklich das
werden, als was sie sich uns darbietet: die ausrinnende Zeit, in
der Augenblick für Augenblick unser Leben zerrinnt. Wo
unsere Zeit aber durch Glaube, Hoffnung und Liebe zur Zeit
dieses Kindes, zu seinem Fortleben in unserem Leben wird, da
ist der Tod in unserer Zeitlichkeit gestorben, und wir leben die
Zeit, deren Ende der Anfang ewiger Gültigkeit ist.
Wir stehen vor der Krippe. Da, in diesem Stall fängt das
irdische Leben an, in dem sich Gott aussagt, er selber, auch
wenn diese Aussage so erschreckend billig und banal zu sein
scheint wie in jedem Menschenleben. Da, in diesem Stall fängt
diese Selbstaussage Gottes an. Die Bühne dieses göttlichen
Dramas scheint erbärmlich eng und klein zu sein, mit wenigen
und abgebrauchten Requisiten, eine enge Bühne, auf der von
vornherein nicht viel gezeigt werden kann. Der Ort ist eng und
bleibt es. So wie in unserem Dasein.
In diesem Kind aber bringt es Gott fertig, seine Unendlich-
keit in ein so kleines Dasein hineinzuzwängen. Daß Gott
überall ganz sein kann, das mag dem metaphysischen Geist
noch verhältnismäßig selbstverständlich erscheinen. Daß er
aber sich mit seiner Unendlichkeit selber dem kleinen Daseins-
raum mitteilen könne, der wir sind, das ist das Wunder, dessen
Möglichkeit uns letztlich doch nur das Kind in der Krippe an
Weihnachten verbürgt. Unser Dasein mag uns gewiß so eng
vorkommen wie eine Krippe in einem Stall, langweilig, nicht
sonderlich gut duftend, erstickend. Wir hätten wohl kaum den
Mut der Hoffnung, da herauszukommen, wenn nicht Gott
selbst in diesem Kind in diesen Stall hineingekommen wäre und
so die schreckliche Frage, wie die unendliche Kreatur aus ihrer
Enge herauskomme, eigentlich überholt hätte.

Durch das Kind erlöst und befreit

Wir stehen vor der Krippe. Die schreckliche Enge unseres


Daseins mag uns das Herz zusammenptressen — so sehr, daß wir

344
nicht einmal mehr meinen, den freien Atem der Hoffnung zu
haben, hinauszukommen. Ach, wir sind so müde, uneingestan-
‚den resigniert, so daß selbst das Wort unendlicher Hoffnung
uns nur noch einmal mehr gereizt und überfordert zu machen
scheint. Die Nacht scheint noch finsterer zu werden, wenn man
anfängt, vom kommenden Licht des Tages zu reden. Aber wir
stehen eben doch vor der Krippe. Es ist kein Wort einer
bequemen Ausrede, sondern — da wir es ja doch selber sagen
mit der letzten Kraft, die unser Herz hat — die Wahrheit, daß
dieses Kind auch noch für uns hofft, wenn unsere Hoffnung
zu sterben scheint und wir meinen, uns nur retten zu können
durch die Flucht in den Alltag mit seinem Betrieb, in dem man
nicht glauben, hoffen und lieben muß und so die drohende
Verzweiflung nicht spürt.
Das Kind ist aber gekommen. Und so wie wir nicht gefragt
wurden, ob wir sein wollen, so sind wir auch nicht gefragt
worden, ob wir erlöst und befreit werden wollen. Wir sind es.
Durch dieses Kind. Seine Gnade wird uns gewiß auch dazu
bringen, dieses Erlöstsein anzunehmen. Denn auch diese
Annahme, die die letzte Tat unseres Lebens ist, ist noch einmal
Gnade. Das hat auch Paulus gesagt: Getreu ist Gott, der uns
berufen hat; er wird es auch machen.
Wir sind vor die Krippe gestellt. Es wird uns nicht gelingen,
von dieser Krippe wegzufliehen. Weihnachten ist in der Nacht ©

unseres Daseins geschehen.

Gott ist uns nahe

Wer in der Stille des milden Ansichhaltens, der lassenden


Ergebenheit, in der schweigenden Weihnacht des eigenen
Herzens die Vielfalt der Dinge, der Menschen und der Be-
strebungen zurücktreten läßt, die ihm sonst den Blick in die
Unendlichkeit verstellen, wer die irdischen Lichter einmal
wenigstens für eine kleine Weile auslöscht, die ihn sonst die
Sterne des Himmels nicht sehen lassen, nur wer in solcher
schweigender Nacht des Herzens sich anrufen läßt von der

345
unsagbaren, wortlosen Nähe Gottes, die durch ihr eigenes
Schweigen spricht, so wir Ohren dafür haben, nur der feiert
Weihnachten, wie es sich begangen gehört, wenn es nicht zu
einem bloß weltlichen Feiertag entarten soll. Es müßte uns
zumute sein, wie wenn wir in einer klaren Winternacht unter
den Sternenhimmel treten: Ferne grüßt noch ‘das Licht der
menschlichen Nähe und heimatlichen Geborgenheit; aber über
uns steht der Himmel, und wir empfinden die schweigende
Nacht, die uns sonst unheimlich und erschreckend vorkommen
mag, als die stille Nähe des unendlichen Geheimnisses unseres
Daseins, das bergende Liebe und weite Größe zugleich ist.
Die ewige Zukunft ist in unsere Zeit gekommen. Ihr Glanz
blendet noch, so daß wir meinen, es sei Nacht. Aber auf jeden
Fall ist es eine selige Nacht, eine Nacht, die schon durchwärmt
ist und durchlichtet, die schön ist, heimlich und bergend durch
den ewigen Tag, den sie in ihrem dunklen Schoß trägt. Es ist
Stille, Heilige Nacht. Für uns aber nur, wenn wir die heilige
Stille dieser Nacht in unseren inneren Menschen hineinlassen,
wenn auch unser Herz «einsam wacht». Es kann es eigentlich
leicht. Denn solche Einsamkeit und Stille ist leicht. Sie hat nur
jene Schwere, die allen hohen Dingen eigen ist, die einfach sind
und groß. Wir sind ja einsam. Denn es gibt ein inwendiges
Land in unserem Herzen, wo wir allein sind, wo niemand
hinfindet außer Gott. Diese innerste unbezügliche Kammer in
unserem Herzen ist da. Die Frage ist nur,ob wir sie nicht selber
in töricht schuldiger Furcht meiden, weil niemand und nichts
von dem irdisch Vertrauten sie betreten und mitgehen kann,
wenn wir dort eintreten. Treten wir da leise ein! Schließen wir
die Tür hinter uns! Lauschen wir der unsagbaren Melodie, die
im Schweigen dieser Nacht ertönt. Die stille und einsame Seele
singt hier dem Gott des Herzens ihr leisestes und innigstes
Lied. Und sie kann vertrauen, daß er es hört. Denn dieses Lied
muß den geliebten Gott nicht mehr jenseits der Sterne in jenem
unzugänglichen Licht suchen, das er bewohnt und dessent-
wegen ihn keiner sicht.
Weil Weihnachten ist, weil das Wort Fleisch wurde, darum
ist Gott nahe, und das leiseste Wort in der stillsten Kammer des

346
Herzens, das Wort der Liebe findet sein Ohr und sein Herz.
Man muß ruhig sein, die Nacht nicht fürchten, schweigen.
Sonst hört man nichts. Denn das Letzte wird nur im Schweigen
der Nacht gesagt, seitdem durch des Wortes gnadenvolle
Ankunft in unserer Nacht des Lebens Weihnacht, Heilige
Nacht, Stille Nacht geworden ist.

347
ZUR THEOLOGIE DER RELIGIÖSEN
BEDEUTUNG DES BILDES

Wenn ich versuche, über dieses Thema zu schreiben, dann ist


von vornherein zu sagen, daß ich keine Kompetenzen bean-
spruchen kann, die einem Philosophen des Ästhetischen oder
einem Kunsthistoriker profaner oder sakraler Kunst zukom-
men. Von all diesen damit angedeuteten Dingen verstehe ich
nichts. Ich möchte mich nicht einmal zum höheren Durch-
schnitt der in solchen Dingen Gebildeten rechnen. Bei meinen
Überlegungen werden theologische und «philosophische»
(wenn man das behaupten kann) Sätze etwas vermengt vorge-
tragen werden. Ich erlaube mir das, weil ich meine, die
«philosophischen» Sätze würden durch die theologischen Be-
hauptungen genügend gestützt oder fügten sich sinnvoll zu
diesen hinzu.

Christliche Anthropologie

Ich möchte zunächst einige Überlegungen vortragen über einen


unüberholbaren Pluralismus in der menschlichen empirischen
Erfahrung. Zunächst einmal ist für eine christliche An-
thropologie der Mensch das Wesen einer aposteriorischen,
geschichtlichen, ja sinnlichen Erfahrung. Und zwar auch für
jene Dimension seiner Existenz, in der er es religiös mit Gott
zu tun hat. Es gab immer wieder bis in die neueste Zeit
Versuche einer metaphysischen Anthropologie, in denen für
den Menschen eine eigenständige religiöse Erkenntnisquelle
postuliert wurde, die von vornherein unabhängig von der
sinnlichen und geschichtlichen Erfahrung des Menschen ist.
Solche Versuche waren meist von der Überzeugung getragen,
daß nur durch eine solche Erkenntnisquelle Religion als Be-
ziehung zum absoluten und persönlichen Gott möglich sei. Wie
genauer dann diese Erkenntnisquelle gedacht wurde, ob sie als
vom Menschen her mögliche mystische Erfahrung oder im

348
Sinne des Ontologismus oder als Vollzug eines von anderen
Erkenntnisfähigkeiten mehr oder weniger unabhängigen religi-
ösen Organs gedacht wurde, das ist hier nicht weiter zu fragen.
Jedenfalls aber ist die normale christliche Anthropologie der
Überzeugung, daß die eine menschliche Erkenntnisfähigkeit .
zwar zwei Momente aufweist, die unterschieden werden
müssen: sinnliche Erkenntnis, die das Materielle (als solches)
als inneres Konstitutivum hat, und die geistige, begriffliche
Erkenntnis mit ihrer Transzendentalität auf das Sein über-
haupt. Aber gegen allen Ontologismus unterschiedlichster Art
und gegen den Versuch einer Rettung des Religiösen durch
eine Herauslösung aus dem übrigen Erkenntnisvollzug hat die
traditionelle christliche Anthropologie immer und immer deut-
licher daran festgehalten, daß Sinnlichkeit und geistige Er-
kenntnis im Menschen eine Einheit bilden, daß auch alle gei-
stige Erkenntnis, so sublim sie sein mag, immer nur ursprüng-
lich in Gang gesetzt, mit Inhaltlichkeit erfüllt wird von der
sinnlichen Erfahrung her. Thomas von Aquin z.B. betont
ausdrücklich in seiner Erkenntnismetaphysik, daß auch der
geistigste, «transzendentalste», sublimste Begriff nur gegeben
sein könne im Menschen dieser Erde durch eine «Conversio ad
phantasma», daß also (kantisch geredet) jeder Begriff ohne jede
Anschauung leer, d.h. inexistent wäre. Das gilt auch grundsätz-
lich für die religiöse Erkenntnis. Auch sie ist notwendig von
der Anschauung getragen, die durch die sinnliche und so auch
geschichtliche Erfahrung getragen ist.

Religiöse Erfahrung — sinnliche Anschauung

Es ist nun hier natürlich nicht unsere Aufgabe, gegen einen


Großteil der neuzeitlichen Philosophie zu zeigen, warum auch
unter dieser Voraussetzung der Bedingtheit metaphysischer
Erkenntnis durch die sinnliche Erfahrung eine echte Erkennt-
nis Gottes möglich ist, obwohl dieser Gott über alles sinnlich
Anschauliche unendlich erhaben ist. So schwer eine solche
Aufgabe auch sein mag, sie muß als lösbar hier vorausgesetzt

349
werden. Hier und heute kommt es uns auf den Satz an, daß auch
alle religiöse Erfahrung von einer sinnlichen Erfahrung
ausgeht und nur vollzogen werden kann in einer immer auch
mitgegebenen — wenn vielleicht auch noch so unreflektierten
— Hinwendung zu einer sinnlichen Anschauung. Natürlich gibt
es in der religiösen Sprache recht anschauliche Begriffe, Vor-
stellungen und Bilder und daneben eine Sprache, die uns, wie
wir sagen, abstrakt, unanschaulich, rein begrifflich vorkommt.
Aber in letzter Grundsätzlichkeit gibt es auch im Religiösen
nur Begriffe und Worte, die überhaupt verstanden werden
können, wenn und insofern sie ein Moment der Anschaulich-
keit in sich haben. Wiederum ist es hier nicht möglich, an
Beispielen im einzelnen zu zeigen, wie in allen religiösen Voll-
zügen, die ja immer auch ein Element von Bewußtheit enthal-
ten oder einfach solche Bewußtseinsvorgänge sind, ein solches
sinnliches Element mitgegeben ist. Je lebendiger solche religi-
ösen Vollzüge sind, um so deutlicher ist auch das Sinnliche.
Gerade in einer katholischen Frömmigkeit ist das deutlich. Da
gibt es natürlich zentral die Verkündigung im Wort, das in
seiner Begrifflichkeit auf jeden Fall immer auch getragen ist
durch eine Vorstellung, die durch sinnliche Erfahrung in das
Bewußtsein einzieht und auch dort im Begriff gegeben ist, wo
er dem Alltagsmenschen völlig abstrakt und unanschaulich
vorkommt. In dieser Frömmigkeit aber gibt es darüber hinaus
die heiligen Zeichen der Sakramente, gibt es Gebetshaltungen
leiblicher Art, Wallfahrten, Gesang, heilige Gewänder, Weih-
rauch und tausend andere Dinge, in denen die sinnliche Leib-
haftigkeit des Menschen in den religiösen Vorgang einbezogen
Asa

Leibhaftigkeit religiöser V’ollzüge — Bezogenheit auf den namenlosen


Gott

Dabei wird es immer einen gewissen Antagonismus geben


zwischen dieser Leibhaftigkeit religiöser Vollzüge und ihrer
transzendentalen Bezogenheit auf den namenlosen Gott, den,
wie es Joh 1, 18 heißt, niemand je gesehen hat. Aber bei aller

Sn
Lehre (auch in der katholischen Frömmigkeit) von einem my-
stischen Aufstieg in Kontemplation, die als unanschaulich, ja
gegenstandslos, als Versinken in die Unbegreiflichkeit Gottes
hinein empfunden wird, bei aller Betonung, daß wir einst Gott
unmittelbar schauen werden, ohne Vermittlung kreatürlicher
Begriffe und Vorstellungen, bleibt das Christentum dennoch in
der Betonung der Auferstehung des Fleisches, der Fleischwer-
dung des Ewigen Logos für immer, die Religion, die die
Vollendung des Menschen nur als die Vollendung des ganzen
Menschen denken kann, in der er, wenn auch unbegreiflich
verwandelt, mit allen Dimensionen seiner Wirklichkeit in deren
Einheit zur Vollendung kommt, diese Vollendung also nicht
in einer Abstoßung von Dimensionen besteht, die ihm nur jetzt
angehören würden. Für das Christentum nimmt der Mensch,
wenn auch in einer unbegreiflichen und jetzt nicht vorstell-
baren Weise, seine ganze Wirklichkeit in seine Vollendung mit,
also auch seinen Leib, seine Sinnenhaftigkeit, seine Geschichte,
und die aufklärerische Vorstellung muß abgelehnt werden,
nach der die «unsterbliche Seele» schon jetzt so wäre, daß sie
ohne radikale Umwandlung durch bloße Abstoßung ihres
Leibes als eines bloß vorläufigen Mittels in das Reich der
Vollendung eintauchen könnte.

Sinnlichkeit — eine komplexe Wirklichkeit

All das setzen wir hier, wenn auch nur schr grob angedeutet,
eigentlich voraus. Es kommt uns hier auf eine genauere Refle-
xion darüber an, daß, was philosophische und theologische
Anthropologie im christlichen Bereich global als Leiblichkeit,
genauer als Sinnlichkeit bezeichnet, eine sehr komplexe Wirk-
lichkeit ist, die in Wahrheit bei aller Einheit des menschlichen
Subjektes aus vielen und letztlich nicht kommensurablen
Fähigkeiten besteht. Erst (um vorauszugreifen) wenn das deut-
lich begriffen wird, kann man auch die Bedeutung des Bildes
im religiösen Bereich wirklich verstehen. Was meinen wir,
wenn wir von der Pluralität sinnlicher Erfahrungen als im
letzten inkommensurabler Vorgänge sprechen? Fangen wir

351
ganz einfach an. Jeder kennt die Rede von den fünf Sinnen. Ob
es wirklich fünf Sinne sind oder mehr oder die sinnliche Wahr-
nehmung als ganze anders und besser strukturiert und ge-
gliedert werden müßte, und wie diese Vielfalt sinnlicher Erfah-
rungsfähigkeiten im Laufe der Evolution des tierischen Lebens
allmählich geworden ist, das braucht uns hier nun auch nicht
zu beschäftigen. Eine Pluralität sinnlicher Erfahrungen gibt es
jedenfalls. Wir hören, wir schen, wir tasten, wir erleben die
Bewegtheit unseres Leibes von innen, wir riechen, wir schmek-
ken, wir spüren Schmerz und körperliches Wohlbefinden. Wir
können diese Pluralität sinnlicher Erfahrungen nicht aufheben,
wir können für das subjektive Erlebnis die Verschiedenheit
dieser sinnlichen Erfahrungen in Raum und Zeit durch unsere
Leiblichkeit nicht aufeinander zurückführen. Wir können sie
zwar unter dem Begriff und Wort «Sinnlichkeit» als apo-
steriorischer Erfahrungsfähigkeit in Raum und Zeit zusammen-
fassen, wir können sogar abstrakt in Begrifflichkeit uns denken,
daß es auch an sich noch andere solcher Erfahrungsfähigkeiten
geben könnte, z.B. ein «Sehen ultravioletter Strahlen» oder
Wahrnehmungen, wie wir sie bei Fledermäusen etc. vorausset-
zen müssen; es kann die Biochemie usw. sicher in allen diesen
verschiedenen Fähigkeiten unserer Sinnlichkeit Gemeinsames
entdecken und beschreiben und so auch die Möglichkeit evolu-
tiver. Differenzierung der Sinnlichkeit (eigentlich besser: Sin-
nenhaftigkeit) verständlich machen.

Inkommensurable Pluralität sinnlicher Erfahrungen

All das ändert nichts daran, daß es eine Pluralität sinnlicher


Erfahrungen gibt, die nicht aufeinander zurückgeführt werden
können. Sehen und Hören sind nicht dasselbe. Der Mensch
kann zwar durch die Fähigkeit abstrakter Begrifflichkeit durch
Worte und Begriffe zugleich das Sehen und das Hören sowohl
in ihrer Verschiedenheit als auch abstrakten Übereinkunft be-
schreiben. Aber wer nie selber gesehen hätte, verstände auch
durch eine solche Beschreibung vom Sehen soviel wie ein von
Anfang an Blinder, dem man zu erklären versucht, was Sehen

3)2
/

ist. Und so ist es auch bei den übrigen sinnlichen Erfahrungen.


Sie selber in sich sind untereinander inkommensurabel und
bleiben es auch in der Einheit des erfahrenden Subjektes, und
zwar auch, wenn dieses als geistiges auf diese Erfahrungen
noch einmal begrifflich reflektieren kann. Mit dieser Inkom-
mensurabilität sinnlicher Erfahrungen ist weder die Einheit des
erfahrenden Subjektes geleugnet, durch die diese sinnlichen
Erfahrungen doch untereinander kommunizieren und so eben
doch eine Einheit dieser Pluralität bilden, noch ist behauptet,
daß schlechthin jede dieser sinnlichen Erfahrungsfähigkeiten
und -dimensionen im Menschen den gleichen Rang besäße,
existentiell gleich bedeutend wäre. Allerdings ist mit der These
einer inkommensurablen Pluralität sinnlicher Vermögen und
Erfahrungen gegeben, daß dort, wo der Mensch völlig (soweit
das überhaupt möglich ist) zu sich kommt und für sich gegeben
ist, in diesem totalen Selbstvollzug alle diese pluralen sinnlichen
Vermögen zusammen aktualisiert gegeben sein müßten, daß
(anders gesagt) der Mensch in seiner Vollendung ein Gesamt-
_ kunstwerk darstellen müßte, in das alle seine Vermögen einge-
bracht sind. So etwas mag ein Grenzbegriff sein; durch die
Zeitlichkeit des Menschen mag es gegeben sein, daß er nur
immer partiell und in zeitlich hintereinanderkommenden Ver-
suchen auch in seiner Sinnlichkeit sich verwirklichen kann. Auf 7

jeden Fall aber hat jede sinnliche Fähigkeit des Menschen für
ihn eine wesentliche Bedeutung und kann nicht durch eine
andere ersetzt oder verdrängt werden. Wir sind und sollen sein
Menschen, in denen die nicht aufeinander reduzierbaren
pluralen Dimensionen unserer Sinnlichkeit alle ihre Verwirkli-
chung finden.

Die Augen des Glaubens - Der Ewige Logos als Gottes ewiges
Gleichbild

Was eben gesagt wurde, gilt nun auch für die Sinnlichkeit des
Menschen, insofern sie ein wesentliches Element seiner Fähig-
keit zur Religion ist. Für das Christentum als eine der Hoch-
religionen ist dies bezüglich des Wortes, des Hörens, selbstver-
3.33
ständlich. In einem positiven (doch, wie wir hier vertreten
wollen, nicht exklusiven) Sinn hat Luther recht, wenn er sagt:
Die Ohren sind das Organ des christlichen Menschen; wenn
Paulus sagt: Der Glaube kommt vom Hören. Aber wenn der
volle Mensch nur gegeben ist in der harmonischen Aktuali-
sierung seiner pluralen sinnlichen Vermögen, wenn diese
Fähigkeiten inkommensurabel sind, wenn der vollendete
Mensch und der vollendete Christ identisch sind, dann kann das
Christentum im Menschen eigentlich nur voll und vollendet
gegeben sein, wenn es durch alle Tore seiner Sinnlichkeit
eingezogen ist und nicht nur durch die Ohren, das Wort. Und
es ist nicht so, daß die göttliche Wirklichkeit, die in den Men-
schen einziehen soll, voll und ganz durch das eine Tor der
Ohren, des Hörens, in die Existenz hinein sich mitteilen kann.
Es ist damit gewiß nicht gesagt, daß alle diese Tore für die
Selbstmitteilung Gottes an den Menschen gleich weit und
wichtig wären, und somit soll hier nicht gegen die Auffassung
Luthers und darüber hinaus einer wichtigen christlichen Tradi-
tion polemisiert werden, nämlich daß die Offenbarung und die
gnadenhafte Selbstmitteilung Gottes fundamental durch das
Wort und das Hören dieser Wortbotschaft geschehe. Aber
wenn doch auch in der christlichen Sprache von den Augen des
Glaubens gesprochen wird, der Ewige Logos nicht nur als die
Selbstaussage Gottes, sondern auch als sein ewiges Gleichbild
verstanden wird, wenn die ewige Seligkeit primär als Schau des
Dreifaltigen Gottes von Angesicht zu Angesicht und nicht
mehr als Hören ausgesagt wird, dann kann man gewiß nicht
grundsätzlich bestreiten, daß das Schen ein durch andere Erfah-
rungsweisen nicht ersetzbares Vermögen innerhalb der ganzen
Sinnlichkeit des Menschen ist, das auch zur sinnlichen Basis der
religiösen Erkenntnis gehört. Da wir hier nicht in einer
philosophischen und theologischen Erkenntnislehre genauer
darlegen können, wie die sinnlich erfahrene Wirklichkeit Aus-
gangspunkt und Moment der religiösen Erfahrung und Er-
kenntnis ist, weil das viel zu weit führen würde, ist natürlich
der eben gesagte Satz von der durch kein anderes sinnliches
Vermögen, auch nicht durch das Hören, ersetzbaren Funktion

334
des Sehens zunächst noch ein sehr vager und dunkler formaler
Satz, unter dem man sich vielleicht nicht sehr viel denken kann.
Aber er kann doch vielleicht als Grundlage für einige Über-
legungen über das religiöse Bild dienen, die noch vorgetragen
werden sollen.

Bedeutungen des religiösen Bildes im Christentum

Im Christentum hat das religiöse Bild immer eine große Be-


deutung gehabt. Die Schaffung, Anerkennung, ja Verehrung
des religiösen Bildes unterscheidet unter anderem ja das Chri-
stentum und seine Frömmigkeit von der des Alten Testamentes
mit seinem Bilderverbot und vom Islam, also den beiden
anderen großen monotheistischen Hoch- und Weltreligionen.
Daß diese beiden anderen monotheistischen Religionen wenig-
stens grundsätzlich das religiöse Bild ablehnen, bedeutete
gleichzeitig im Christentum immer wieder auch einen neuen
Anlaß, das religiöse Bild zu bestreiten. Bekannt sind ja der
Bilderstreit zwischen 730 und 843 im Osten, der karolingische
Bilderstreit Ende des 8. Jahrhunderts, die Verwerfung der
Bilder durch Karlstadt, Zwingli und Calvin mit den Bilderstür-
men in Zürich, in Frankreich und in den Niederlanden in der
2. Hälfte des 16. Jahrhunderts ... Wenn man genauer zusicht,
wird die orthodoxe und die römisch-katholische Verteidigung
der Bilder von sehr verschiedenen Mentalitäten und Argumen-
ten getragen. Im Osten, wenn man es so kurz und primitiv
sagen kann, wird die Bilderverehrung getragen von einem
mystischen Empfinden einer gewissen «inkarnatorischen»
Identität von Bild und Bildgegenstand (Christus, die Heiligen,
Gott). Im Westen herrscht ein rationaleres Empfinden vor;
Bilder sind auch im religiösen Bereich legitim, sind, verglichen
mit der Bedeutsamkeit des Wortes, eine Art biblia pauperum,
die besonders für Analphabeten die vorgetragene Geschichte
und Lehre anschaulicher macht.

233
a",

Eigener Ausgangspunkt

Diese beiden Grundtendenzen des Verständnisses der religi-


ösen Bilder gehen in der Praxis und in der sie deuten wollenden
Theorie meist natürlich vermischt ineinander und rufen dann
die verschiedenen komplizierten Theorien hervor, in denen
man (angefangen von Johannes Damascenus über Thomas von
Aquin bis Bellarmin) die Bilderverehrung, den Bilderkult
genauer rechtfertigte, der ja auch in der Frömmigkeit je nach
Gegenden, Volksmentalitäten bis auf den heutigen Tag auch
in der katholischen Kirche noch sehr verschieden ist. Es soll
hier auf diese Fragen, die in der Theologie der Heiligenvereh-
rung üblicherweise behandelt werden, nicht näher eingegangen
werden. Es soll vielmehr versucht werden, von unserem
eigenen Ausgangspunkt her noch ein paar Überlegungen vor-
zutragen über das religiöse Bild, wobei uns zunächst der Unter-
schied zwischen eigentlichen religiösen, mit kultischer Vereh-
rung bedachten Ikonen (in Wallfahrtsorten usw.) und religi-
ösen Bildern im allgemeinen zunächst noch nicht interessiert.

Theologie des religiösen Sehens

Von unserem Ausgangspunkt her kann man sagen, daß das


religiöse Bild grundsätzlich durch sein Gesehenwerden eine
religiöse Bedeutung hat, die durch das Wort nicht ersetzt
werden kann. Das religiöse Bild ist grundsätzlich mehr als nur
eine biblia pauperum, eine Illustration aus religionspädagogi-
schen Gründen für das, was grundsätzlich ganz und allein
durch das Wort an religiöser Wirklichkeit dem Menschen ver-
mittelt wird. Auch wenn innerhalb einer geschichtlichen und
gesellschaftlichen Offenbarungsreligion dem Wort eine uner-
setzliche und fundamentale Bedeutung zuerkannt werden muß,
so ist die Schau des Bildes doch nicht bloß eine Illustration des
Wortereignisses, sondern hat seine eigenständige religiöse Be-
deutung. Man kann natürlich über diese Bedeutung reden und
auch interpretieren, das Bild wieder durch Worte auslegen, aber

356
{
J

solche Rede ersetzt diese Schau als solche und als religiösen
Vorgang nicht. Daß die Theologie von dieser eigenständigen
und unvertretbaren Bedeutung dieses religiösen Sehens nicht
oder höchst selten und fast nur in Nebenbemerkungen spricht,
ist kein Argument gegen diese Behauptung. Die Theologie
spricht ja auch nicht mehr vom religiösen Tanz, sie erwägt in
der Sakramentenlehre nach der trockenen Feststellung der sa-
kramentalen Materie nur die «Form», das Wort im Sakrament
und empfindet die «Materie» der Sakramente (Waschung,
Salbung, Handauflegung usw.) fast nur als mehr oder weniger
willkürlich festgelegtes Zeremoniell, das genausogut durch ein
anderes ersetzt werden könnte.

Mit der Erde durchbrechen zu Gott

Wenn nun bei dieser Grundthese gefragt wird, wie genauer


diese unvertretbare Funktion des Schauens des Bildes im religi-
-ösen Gesamtakt gedacht werden muß, dann muß zunächst
nochmals betont werden, daß, weil es sich um ein fundamen-
tales und unzurückführbares Moment des religiösen Gesamtak-
tes handelt, dieses Moment nur durch seinen Vollzug und nicht
durch ein Reden darüber verständlich gemacht werden kann,
daß analog dafür auch der alte Satz gilt: Bilde, Künstler, rede
nicht! Wenn diese Grundthese richtig ist, dann sind die moder-
nen Versuche der Bildmeditation nur zu empfehlen, auch wenn,
wie schon gesagt, die Versöhnung zwischen gegenstandsloser
Kontemplation und dem Recht und der Bedeutung der Bild-
meditation eine schwierige Frage bleibt, die mit der des Chri-
stentums überhaupt zusammenhängt, das die Erde als ganze,
wenn auch verklärt, mitnehmen will, wenn es zum absoluten
Gott durchzubrechen versucht. Nur von dieser Grundthese her
kann letztlich z.B. die Ignatianische Betrachtungsmethode in
den Exerzitien verstanden werden, in der Anschauung eine
wichtige, immer neu einzuübende Bedeutung hat und die eine
«Anwendung der Sinne» gar nicht nur als unterste, sondern
als höchst sublime Stufe der Meditation kennt.

331
Heilsereignisse müssen auch geschaut werden

Aber nochmals: Wie ist die Rolle des Sehens gegenüber dem
Hören als unvertretbares Moment des religiösen Gesamtaktes
genauer zu denken? Zunächst einmal könnte man sagen: In-
sofern das religiöse Bild Vorkommnisse der Heilsgeschichte
von sinnlich greifbarer Art vorstellt, ist bei dieser Frage kein
besonderes Problem gegeben. Solche Bilder vermitteln die
Erfahrung dieses sinnlich geschichtlichen Ereignisses; das
Problem wird so weitergegeben und verwandelt in die Frage,
wie die erste geschichtliche, anschauende Erfahrung, die bei
dem geschichtlichen Heilsereignis vorkam, eine religiöse Be-
deutung haben könne, eine Frage also, die hier nicht weiter
verfolgt werden kann. Jedenfalls aber kann gesagt werden: So
wie die Erfahrung von einem Menschen unvertretbar auch
dadurch vermittelt wird, daß er angeschaut und nicht nur
gehört wird, so wie ein Porträt nicht durch eine Biographie
adäquat ersetzt werden kann, so ist es auch bei den geschichtli-
chen Heilsereignissen. Sie müssen auch geschaut werden, und
dann eben im Bild, wenn man nicht unmittelbar selber
schauend dabeisein konnte.

Schauen eines eigentlich religiösen Phänomens

Aber damit ist die Eigenart des Bildes und des Schauens als
eines eigentlich religiösen Phänomens noch nicht in jeder Hin-
sicht erfaßt. Jede religiöse Wirklichkeit ist nur als eine solche
wirklich, wenn sie eine Vermittlung eines unmittelbaren
Bezuges auf den absoluten Gott als solchen ist. Selbstverständ-
lich ist diese Vermittlungsfunktion einer innerweltlichen Wirk-
lichkeit auf den wahren und souveränen Gott als solchen nur
denkbar in Einheit mit dem, was wir christlich Gnade nennen,
gleichgültig, ob diese Gnade bei dieser Beziehung auf Gott als
solchen selbst reflektiert wird oder nicht. Das braucht uns hier

358
!

nicht näher zu beschäftigen, sowenig wie andere Voraussetzun-


gen für eine solche Vermittlungsfunktion einer innerweltlichen
Wirklichkeit auf Gott selbst hin, die wohl genannt werden
könnten.

Religiöses Bild — Vermittlungsfunktion auf den absoluten Gott hin

Aber für uns jetzt ist wichtig: Wenn und insofern es ein
religiöses Bild überhaupt geben können soll, muß es eine solche
Vermittlungsfunktion auf den absoluten Gott hin haben und
darf eine solche Vermittlungsfunktion nicht nur dem Wort
zukommen können. Diese Annahme ist zwar implizit in unserer
Grundthese vorhanden, daß alle Vorzüge jeder Sinnlichkeit und
nicht nur des Hörens Basis und Element eines religiösen Aktes
sein können. Aber es ist natürlich zuzugeben, daß eine solche
Funktion beim Wort unmittelbarer und leichter verständlich ist
als beim Bild, weil das Wort, insofern es ein Moment der
Negation wesentlich in sich hat, ohne weiteres eine Transzen-
dentalität über den endlichen Gegenstand hinaus auf den ab-
soluten Gott ermöglicht. Zunächst aber könnte es scheinen,
daß die Schau steckenbleibt bei dem unmittelbar geschauten
und begrenzten Gegenstand und so gar keine Transzenden-
talität auf den absoluten Gott hin ermöglicht. Aber man wird
dem widersprechen und sagen können: Jede gegenständliche
Erfahrung ist, auch wenn sie immer auf einen bestimmten und
begrenzten Gegenstand greift, schon bei allem sinnlichen Ver-
mögen und nicht nur beim Geist als solchem mit seiner unbe-
grenzten Transzendentalität und nicht nur beim Hören ge-
tragen von einem apriorischen Vorgriff auf die gesamte Weite
des Formalobjektes des sinnlichen Vermögens und geht nicht
nur im Griff auf den konkreten einzelnen Gegenstand, der
sinnlich erfaßt wird. Wenn auch Sinnlichkeit und Geist durch
Begrenztheit bzw. Unbegrenztheit ihres Formalobjektes, ihres
apriorischen Vorgriffes voneinander unterschieden sind, so ist
auch schon in der Sinnlichkeit als solcher bei jedem Akt eine
gewisse Erfahrung einer Transzendentalität gegeben. Man hört

359
z.B. beim Hören eines bestimmten Lautes schon immer die
Stille mit, die den einzelnen Laut umgibt und den Raum bildet,
innerhalb dessen ein einzelner Laut gehört werden kann.

Auch beim Schauen sinnliche Transzendenzerfahrung

Eine solche, wenn auch ebenfalls begrenzte Transzendenzerfah-


rung ist auch notwendigerweise beim Schauen gegeben. Man
sieht gewissermaßen bei jedem geschauten Gegenstand durch
ihn hindurch in die Weite des überhaupt Schaubaren, man sieht
etwas als Bestimmtes, indem man in dieser Schau auch immer
gleichzeitig die ungeschaute Fülle des Schaubaren miterfährt;
man kann die Grenze und Eigenart des direkt Geschauten
überhaupt nur erfahren, indem der Blick immer auch über diese
Grenze in die Weite des ungeschauten Schaubaren hinauszielt.
Es gibt also auch bei der Schau und nicht nur bei dem Hören
eine Art sinnlicher Transzendenzerfahrung, die Basis und
Element der Vermittlung der Bezogenheit des sinnlich-gei-
stigen Subjekts auf Gott als solchen selber hin ist.

Religiöse Bilder ohne unmittelbar religiöses Thema

Wenn dem so ist, dann folgt allerdings, vielleicht überraschend,


‚ daß auch ein Bild, das nicht unmittelbar ein religiöses Thema
hat, grundsätzlich ein religiöses Bild sein kann, wenn es in
seiner Anschauung durch eine (wenn man so sagen darf) sinnli-
che Transzendenzerfahrung jene eigentliche religiöse Tran-
szendenzerfahrung anregt und mitkonstituiert. Diese Konse-
quenz, die in einer vieldiskutierten Frage von einer vielleicht
sonst nicht explizit ausgesagten Seite her Partei ergreift, muß
eigentlich für den Theologen nicht sonderlich verwunderlich
sein. Eine theologische Primitivität wird zwar unwillkürlich
meinen oder stillschweigend voraussetzen, daß nur in explizit
religiösen Akten (des Gebetes, der ausdrücklichen Liebe zu
Gott, der ausdrücklichen Befolgung einer sittlichen Norm als

360
Gebot Gottes usw.) eine heilshafte Bezogenheit auf Gott
realisiert wird. Das ist aber theologisch gesehen ein Irrtum.
Sittliche Akte können Heilsakte sein, von der Gnade Gottes auf
die Unmittelbarkeit Gottes hin radikalisiert sein, ohne daß im
Bewußtsein des Handelnden eine explizite, gegenständlich vor-
gestellte und verbalisierte Bezogenheit auf Gott gegeben ist.
Heilsakte müssen nicht immer und notwendig von einer
«guten Meinung» begleitet sein. Die Gesamtheit des Selbst-
vollzuges eines Freiheitssubjektes ist immer und unweigerlich
ein Ja oder Nein zu Gott, auch wenn dies von diesem Freiheits-
subjekt nicht immer thematisiert oder sogar verbalisiert ist.
Von da aus ist der Satz, die Schau eines Bildes, das keine explizit
religiöse Gegenständlichkeit hat, könne doch eine Erfahrung
einer frei angenommenen Transzendentalität auf Gott hin, ein
religiöser Akt sein und in diesem Sinne dieses Bild doch eine
religiöse Bedeutung haben, für den Theologen nicht so be-
fremdlich, wie es zunächst vielleicht scheinen mag.

Bilder, die auf die Feilsgeschichte hinweisen

Damit wird die eigenständige Notwendigkeit eines auch gegen-


ständlich religiösen Bildes für den Menschen und Christen
nicht geleugnet. Denn der Christ hat natürlich immer auch die
glaubende Anerkennung der Tatsache einer bestimmten abge-
grenzten, erzählbaren und anschaubaren Heilsgeschichte inner-
halb der ganzen profanen Geschichte in seiner Frömmigkeit zu
vollziehen. Er kann also z.B. seine Religiosität nicht unter
Ausschluß eines Kreuzbildes und anderer ausdrücklich religi-
öser Bilder durch abstrakte Gemälde allein ausdrücken und
anschaulich machen. Das gilt erst recht für die kirchliche Ge-
meinschaft, die durch das Bekenntnis desselben Glaubens
durch das gemeinverständliche Wort konstituiert wird und so
auch das Bild nicht entbehren kann, das grundsätzlich allen
verständlich ist und ausdrücklich auf die Heilsgeschichte hin-
weist, die gemeinsam geglaubt und bekannt wird. Damit aber
ist, wie gesagt, umgekehrt die Möglichkeit eines Bildes als eines
361
Mon u

religiösen nicht ausgeschlossen, das keine unmittelbar und


eindeutig religiöse Inhaltlichkeit hat.

Bild und Wort haben komplementäre Funktionen

Wenn so die eigenständige und durch eine andere Vermittlung


nicht ersetzbare religiöse Bedeutung des Bildes behauptet wird,
so ist damit (um es noch einmal und ausdrücklicher zu sagen)
nicht geleugnet, daß das Bild einer verbalen Auslegung bedarf,
sowohl, um als ausdrücklich christlich vom Beschauenden
erkannt zu werden, wie auch, damit es als religiöses Bild einer
christlichen Gemeinde eine kirchlich-soziale Funktion haben
kann. Es gibt ja selbstverständlich keine anschauliche Wirklich-
keit, an der als solcher allein ihre christliche Bedeutung abge-
lesen werden könnte. Daß dieser gekreuzigte Jesus Christus
den geschichtlichen Heilbringer bedeutet, läßt sich aus der
reinen Anschauung als solcher nicht erkennen, obwohl die
religiöse Bedeutung dieses Bildes des Gekreuzigten sich nicht
in der hinzukommenden, worthaft geschehenden Deutung als
solcher erschöpft. Und so bedarf natürlich ein Bild erst recht,
um als christliches für die eine Gemeinschaft gelten zu können,
der worthaften Auslegung, die auch dann noch gegeben ist,
wenn diese Auslegung in konventionellen Zeichen und Sym-
bolen ‚geschieht. Insofern haben dann Wort und Bild kom-
plementäre Funktionen und treten in Einheit zur Konstitution
in den religiösen Akt ein. Es ist hier natürlich nicht mehr
möglich, diesen Satz zu erweitern durch Hinweise auf andere
sinnliche Erfahrungen, die zu dieser Wort-Bild-Einheit im
religiösen Akt außerdem noch hinzutreten können, z.B. durch
Raumerfahrung von der Architektur her, Bewegung, Erfah-
rungen bei liturgischen Gesten, beim Gehen in Wallfahrten,
religiösem Tanz, durch Geruchserlebnisse bei Weihrauch,
durch Tast- und Geschmacksempfindungen bei anderen sa-
kramentalen Vorgängen usw. Die ganze Sinnlichkeit in allen
ihren gegenseitig nicht aufeinander zurückführbaren Erfahrun-
gen kann in unzähligen und verschiedenen Abwandlungen und
Kombinationen in den religiösen Akt eintreten.

362
Die kollektive Funktion des Kultbildes

Es sei noch von dem bisher Gesagten her eine Bemerkung


vorgetragen über das eigentliche Kultbild, die Ikone, insofern
dieses Kultbild mehr ist als ein beliebiges religiöses Bild mit
gegenständlichem Inhalt aus der Heilsgeschichte. Gewöhnlich
wird die Eigenart des Kultbildes im engeren Sinne verstanden
von seiner faktischen Verehrung und von irgendeiner Art
amtlicher Anerkennung her. Von daher steht dann bei der
theologischen Deutung des Kultbildes die Frage im Vorder-
grund, wie eine solche Verehrung eines solchen Kultbildes
gerechtfertigt werden könne und wie diese Verehrung genauer
zu deuten sei, ob sie in irgendeiner Art dem Bild selber gelte
oder diese Verehrung gewissermaßen durch das Bild hindurch
nur die dargestellte Person meine, und ob sich dabei herausstel-
len kann, daß diese verschiedenen Deutungen dieser Bilder-
verehrung sich nicht gegenseitig verneinen müssen. Von
unseren Überlegungen her können wir sagen: Ein Kultbild ist
gegeben, wenn und insofern ein bestimmtes religiöses Bild
immer wieder als religiöses in die Erfahrung einer größeren
Zahl von Christen eintritt und diese kollektive Bedeutung
erkannt und anerkannt wird. Das Kultbild wird. «verehrt»,
weil und insofern es eine religiöse, dauernde Bedeutung für
viele hat. Von daher gesehen ist es dann eine nachträgliche und
sekundäre Frage, ob und in welchem Sinne dieses Bild
«verehrt» wird. Die Verehrung ist, wie immer sie genauer
beschrieben werden mag, begründet in der kollektiven Funk-
tion des Bildes als eines religiösen, dessen Anschauung ein
wesentliches Element des religiösen Aktes geworden ist.
Wegen dieser Funktion kann ein solches Bild hochgeschätzt
und aus der übrigen Zahl religiöser Bilder hervorgehoben und
in diesem Sinne selber «verehrt» werden; es braucht gar nicht
darauf insistiert zu werden, daß die Verehrung nur der durch
das Bild dargestellten Wirklichkeit allein zukomme.

363
ur

DIE KUNST IM HORIZONT VON THEOLOGIE


UND FRÖMMIGKEIT

Zunächst müßte man vielleicht fragen, was eigentlich Kunst ist.


Es ist ja schon ein schwieriges Problem, ob die einzelnen
Künste — Bildhauerei, Malerei, Musik, Dichtung usw. — wirk-
lich unter einen Begriff der «Kunst» subsumiert werden
können. Ich möchte für unsere Frage zunächst einmal die
Künste, die mit menschlichen Worten arbeiten, beiseite lassen.
Denn eine solche Wortkunst — wie wir im Deutschen sagen —
ist von der Sache her sehr verwandt mit der Theologie, die sich
ja auch durch das Wort aussagt. Wenn man nur jene Künste
betrachtet, die sich nicht des Wortes bedienen — also Architek-
tur, Bildhauerei, Malerei, Musik —, dann können wir zunächst
davon ausgehen, daß alle diese Künste doch auch Selbstaus-
sagen des Menschen sein wollen, in denen der Mensch irgend-
wie zu sich kommt. So betrachtet, entsteht wiederum die Frage,
ob die Selbstaussagen in Nichtwortkünsten von gleichem Rang
und gleicher Bedeutung sind wie die Wortkunst.
Ein Musiker wird sicherlich sagen, daß seine Musik nicht nur
keine geringere Art der Selbstaussage des Menschen ist, son-
dern eine eigene, unersetzliche, auch durch Worte und Wort-
kunst nicht ersetzbare Selbstaussage. Ähnliches könnte man
von der Malerei und Bildhauerei sagen. Wenn man sich vor ein
Rembrandt-Gemälde stellt, kann man natürlich versuchen, in
Worte zu übersetzen, was dieses Bild ausdrückt. Aber sosehr
man von einer Kunst in die andere übersetzen kann, wird doch
wohl letztlich Bildhauerei, Malerei, Musik (lassen wir Architek-
tur, weil sie viel zweckhafter ist, beiseite) jeweils als eigenstän-
dige Selbstaussage des Menschen gelten dürfen, die nicht
adäquat in Wortaussagen übersetzt werden kann.

Kunst — bewegendes Element der Theologie


Wenn man diese letzte Unzurückführbarkeit aller Künste auf
die Wortkunst voraussetzt, dann entsteht die Frage: Welche
genaueren Beziehungen bestehen zwischen der Theologie und

364
diesen Künsten? Insofern der Mensch in allen diesen Künsten
und auch in der Theologie — wenn auch je in verschiedener
Weise — sich aussagt, haben diese verschiedenen Künste und die
Theologie eine gegenseitige Beziehung und Verwandtschaft.
Aber die Situation ist doch schwieriger, als man sie gemeinhin
darstellt. Wenn und insofern Theologie die reflexe Selbstaus-
sage des Menschen über sich selbst von der göttlichen Offen-
barung her ist, könnte man die These aufstellen, daß Theologie
dort am ehesten vollkommen ist, wo sie sich diese Künste als
integrales Moment aneignet, wo die Künste ein inneres
Moment der Theologie selbst werden. Man könnte sich dann
weiter auf den Standpunkt stellen, auch die Selbstaussage in
einem Rembrandt-Bild oder in einer Symphonie von Bruckner
sei so sehr von der göttlichen Offenbarung, von Gnade und
Selbstmitteilung Gottes inspiriert und getragen, daß in ihnen
eine in die Worttheologie gar nicht adäquat übersetzbare Mit-
teilung dessen geschieht, was der Mensch, von Gott gedacht,
eigentlich ist. Wenn man Theologie nicht von vornherein mit
Worttheologie identifiziert, sondern als die totale Selbstaussage
des Menschen versteht, insofern diese durch die göttliche
Selbstmitteilung getragen ist, dann wären religiöse Phänomene
in den Künsten selber ein Moment einer adäquaten Theologie.
Praktisch wird das selten so aufgefaßt. Warum aber sollte nicht
ein Mensch bei einem Oratorium von Bach den Eindruck
haben, daß er nicht nur durch die darin verwendeten Worte,
sondern auch durch die Musik als solche in einer eigentümli-
chen Weise in Beziehung gesetzt wird zur göttlichen Offen-
barung über den Menschen. Warum sollte er nicht der Meinung
sein, daß da ebenso Theologie geschieht? Wenn man willkür-
lich definiert, daß Theologie identisch mit Worttheologie ist,
kann man das natürlich nicht sagen. Aber es entsteht dann die
Frage, ob man durch eine solche Reduzierung der Theologie
auf Worttheologie nicht die Würde und die Eigenart und auch
das In-Dienst-genommen-Sein dieser anderen Künste durch
Gott unberechtigterweise reduziert.

365
Weg zur ursprünglichen Erfahrung

Wenn wir nun bei dieser eben gemachten Unterscheidung


bleiben und Wortkunst von anderen Künsten abheben und
jetzt nur noch an Lyrik, Dramatik, Epik usw. denken, dann ist
vermutlich solche Wortkunst auch gerade dadurch theologisch
zu charakterisieren, daß es ihr gelingt, durch das ihr - in
verschiedener Weise — Eigentümliche den Menschen an seine
ursprüngliche religiöse Erfahrung heranzuführen. Wenn ich
etwa sage: «Der Mensch muß Gott lieben», dann habe ich
durch einen solchen einfachen Satz etwas sehr Tiefes gesagt,
jedoch in der oberflächlichen Alltäglichkeit des Lebens nicht
viel Verständnis dafür geweckt. Wenn ich aber ein Iyrisches
Gedicht im Stil eines Johannes vom Kreuz oder einen Roman
von Julien Green lese, bei dem mir die unmittelbare, echte
religiöse Erfahrung zwar nicht einfach gegeben werden kann
(weil das ganz unmöglich ist), aber doch meine eigene religiöse
Erfahrung hervorgerufen wird, dann hat diese religiöse Dich-
tung eine Funktion, die eine reflexe, rein begriffliche, rationale
Theologie gar nicht zu leisten vermag. Es gibt natürlich auch
Theologen im engeren und strengeren Sinne — ich denke an
Augustinus oder an Thomas von Aquin mit seinen eucharisti-
schen Hymnen -, bei denen religiöse Erfahrung und theologi-
sche reflexe Begrifflichkeit eng miteinander verbunden sind.
Aber das ist doch eher eine Ausnahme und etwas, das gerade
in der Theologie der Neuzeit nur noch selten zu finden ist,
höchstens noch in einer Predigt von Newman. Hans Urs von
Balthasar hat einmal gesagt, daß in der Neuzeit die kniende
Theologie fehlt. Man könnte vielleicht auch sagen, es fehle die
dichtende Theologie. Das ist ein Mangel, aber man muß ver-
nünftig sein: Es gibt eben auch eine Theologie, die gleichsam
mit langem Atem und mit Geduld durchaus berechtigterweise
lange begriffliche Wanderungen unternimmt, von denen man
nicht gleich religiöse oder mystische Erlebnisse erwarten kann.
Sosehr man es dem einzelnen Theologen überlassen muß,
wieweit er religiöse Erfahrung in seiner Theologie aufruft oder
nicht, kann man doch zugeben, daß es eine Folge und ein
366
Mangel rationalistischer und nur noch «wissenschaftlich» ar-
beitender Theologie ist, daß ihr das dichterische Element fehlt.
Gerade heute wird eine zwar nicht neue, aber in den letzten
Jahrhunderten vernachlässigte Forderung an die Theologie
gestellt, daß sie irgendwie «mystagogisch» sein müsse, das
heißt, daß sie nicht nur in abstrakter Begrifflichkeit über die
Gegenstände der Theologie reden dürfe, sondern den Men-
schen dazu anleiten müsse, eine wirkliche, ursprüngliche Erfah-
rung dessen zu machen, was mit solchen Begriffen ausgesagt
wird. Insofern könnte man die dichtende Theologie als eine —
nicht als die! — Weise solcher mystagogischer Theologie ver-
stehen.

Schwierigkeit neuer Chiffrierung

Ein Dichter, so pflegt man doch zu sagen, spricht in Bildern


und Gleichnissen. Die Möglichkeit eines solchen religiösen
Sprechens beruht letztlich auf der Analogie des Seins über-
haupt, insofern alle Wirklichkeiten einen inneren Zusammen-
hang haben, aufeinander verweisen, irgendwie verwandt sind,
immer nur im letzten begriffen werden können, wenn sie als
einzelne auf das Ganze der Wirklichkeit hin überschritten
werden. Diese analogia entis gibt dem Dichter die Möglichkeit,
eine bestimmte menschliche Erfahrung als geheimnisvoll auf
Gott hinweisend zu verstehen. Er kann menschliche Liebe in
ihrem Geheimnischarakter darstellen als analogen Verweis auf
die Liebe Gottes. Treue, Verantwortung, Ergebung in das
Mysterium des Lebens usw. sind natürlich auch dort, wo sie
nicht ausdrücklich religiös zur Sprache kommen, letztlich doch
Verweise auf dasjenige, worüber die Theologie ausdrücklich
redet.
Es scheint mir fraglich, ob es heute wirklich so viel weniger
christlich-religiöse Literatur in dichterischer, künstlerischer
Form gibt. Es wäre durchaus möglich, daß die analogen Chif-
fren, unter denen ein wirklicher Dichter heute seine Aussagen
macht, zwar anders geworden sind und deshalb von den tradi-
tionellen Frommen gar nicht richtig verstanden werden

367
}
ı

können, daß die Autoren aber im Ceönde genommen dennoch


durchaus religiöse Aussagen in anderen analogen Chiffren
machen. Hier müßte man sehr genau hinsehen.
Die ganze christliche Theologie muß, richtig verstanden,
«subjektiv» sein. Sie kann nicht von Gegenständen reden, die
jenseits der geistig-personalen freien Wirklichkeit des Men-
schen liegen. Über einen Maikäfer als solchen kann man keine
theologische Aussage machen. Alle Gegenstände der Naturwis-
senschaft fallen darum als solche von vornherein gar nicht in
den Bereich der Theologie. Man könnte also sagen: Theologie
fängt erst dort an, wo sie wirklich subjektiv wird; das heißt
_ aber nicht: wo sie beliebig wird, wo sie einfach das Blaue vom
Himmel herunter behauptet.
Christliche Theologie muß subjektiv sein, insofern sie von
Glaube, Hoffnung und Liebe reden muß, von unserem per-
sonalen Verhältnis zu Gott. Sie muß subjektiv sein, insofern sie
letztlich direkt oder indirekt diese personalen geistigen Be-
ziehungen des Menschen auf Gott hin beschreibt und hervor-
ruft, mystagogisch in sie einführt. Mit anderen Worten:
Theologie auch als Offenbarungstheologie ist gerade die Ver-
mittlung des Anrufs Gottes an die Subjektivität des Menschen.
Dort, wo die Theologie das nicht mehr fertigbringt, wo sie in
einem falschen Sinne sachhaft wird, dort ist sie eben keine gute
Theologie, sondern eine schlechte.

Das Ewige in geschichtlicher Eigentümlichkeit

Analogie ermöglicht das Verständnis einer Wirklichkeit als


geheime Offenbarung einer höheren, anderen, umfassenderen
Wirklichkeit. Alle Dinge, die in der Kunst ausdrücklich
werden, sind Einzelvollzüge jener Transzendentalität des Men-
schen, durch die er als Geist und Freiheit auf die Gesamtheit
aller Wirklichkeit verwiesen ist. Nur weil der Mensch von
vornherein das Wesen der Grenzüberschreitung ist, das Wesen,
das nie haltmachen kann, das Wesen, das es von vornherein mit
dem unfaßbaren Geheimnis zu tun hat, nur weil und insofern

368
der Mensch das transzendentale Wesen ist, kann es im eigentli-
chen Sinne Kunst und Theologie geben.
Eine andere Frage ist, warum und wie sich diese Transzen-
dentalität des Menschen in der Kunst in einer bestimmten
geschichtlichen Weise darstellt. Wahre Kunst ist das Ergebnis
eines ganz bestimmten geschichtlichen Ereignisses der Tran-
szendentalität des Menschen. Insofern kann und muß die Kunst
durchaus geschichtlich sein. Es gibt eine echte Geschichte der
Kunst; es wird von den Künstlern nicht immer das gleiche
gesagt.
Der Künstler ist von seinem Wesen her notwendigerweise
der Entdecker einer konkreten Situation, in der neu und anders
als bisher der Mensch sein transzendentales Wesen konkret
realisiert. Daraus folgt aber nicht ein Gegensatz zwischen Ge-
schichtlichkeit und Transzendentalität, sondern das gegen-
seitige notwendige Bedingungsverhältnis dieser beiden
Größen. Der wahre Künstler verkündet gewiß das Ewige der
Wahrheit, der Liebe, der unendlichen Sehnsucht. Aber er ist
nur dort Künstler und kein begrifflicher Rationalist, wo er
diese Verkündigung des Ewigen in einer einmaligen Weise
vollzieht, in der seine absolut geschichtliche Eigentümlichkeit
und seine Ewigkeitsaufgabe in einer Einheit gegeben sind, die
gerade das Wesen des Kunstwerks ausmacht. Ich kann den
Hasen bei Dürer durchaus als das Konkreteste einer ganz
bestimmten, harmlosen menschlichen Erfahrung verstehen.
Wenn ich ihn aber wirklich mit den Augen eines Künstlers
ansehe, schaut mich daraus — wenn ich so sagen darf — die
Unendlichkeit und Unbegreiflichkeit Gottes an.

Das Hören des ganzen Menschen

Die Schwierigkeit ist, daß die Augen als optisches Instrument


oder die Ohren als akustisches Instrument als solches Gott
nicht wahrnehmen können. Das zu behaupten, wäre Unsinn.
Schon im Mittelalter hat man sich die Frage gestellt, ob die
sinnlichen Fähigkeiten des Menschen bei der Gottanschauung

369

des Himmels ins Spiel kommen, und hat das verneint. Aber
kann nicht der ganze Mensch mit all seinen Fähigkeiten dort,
wo etwas besonders Intensives gesehen oder gehört wird, einen
sehr radikalen religiösen Vollzug erfahren? Anders ausge-
drückt: Ist es möglich, daß dort, wo der ganze Mensch an
einem Seh- oder Hörvorgang beteiligt ist, ein religiöses Erleb-
nis entsteht? Nehmen wir z.B. das deutsche Lied «Guter
Mond, du gehst so stille .. .», also ein triviales Lied, das mit
Religion an und für sich nichts zu tun hat. Man sagt, daß die
Melodie dieses Liedes dieselbe sei, mit der wir auch das
«Tantum ergo sacramentum» gesungen haben. Daraus ergibt
sich, daß ein akustisches Phänomen — je nachdem, in welchem
gesamtmenschlichen Zusammenhang es vollzogen wird —
religiös oder nicht religiös sein kann. Wenn nicht die Ohren
allein hören, sondern der ganze Mensch, dann ist je nach der
Verfassung und der konkreten Gesamtsituation dieses Men-
schen ein akustisches Phänomen religiös oder nicht religiös.
Die religiöse Qualität dieser Melodie hängt einfach davon ab,
ob diese Melodie nur in einem akustischen Zusammenhang
beurteilt wird oder ob eine gesamtmenschliche Situation
miteinbezogen wird. Dann wird nämlich auch die Akustik
anders — nicht von sich aus, sondern von dieser Situation her.
Der Satz: «Gott ist mit seiner Gnade überall», bedeutet nicht,
daß jede Wirklichkeit dasselbe Verhältnis zu mir oder zu Gott
hat. In einer physikalisch-chemischen Umsetzung meines
Magens ist Gott nicht in derselben Weise gegenwärtig, als
wenn ich Treue, Liebe, Verantwortung gegenüber dem Näch-
sten übe. So ist auch die Frage der Kunst hinsichtlich des
Religiösen eine schwierige Sache. Ich kann zum Beispiel sagen,
die Malerei des Impressionismus sei unreligiös, weil sie grund-
sätzlich nichts als die farbigen Eindrücke der unmittelbaren
Umgebung des Menschen wiedergeben will. Wenn und in-
sofern sie nur das will und auch nur das erreicht, muß man
vermutlich sagen, sie sei keine religiöse Kunst. Und man sollte
nüchtern und unbefangen zugeben, daß es Kunst geben kann,
die nicht religiös ist. Sie braucht deswegen nicht antireligiös zu
sein, aber sie bewegt sich eben in einer Dimension des Men-

BuD
schen, in der das Verhältnis zu Gott noch nicht gegeben ist.
Es ist aber eine ganz andere Frage, ob ich das Gemälde eines
Impressionisten am Anfang des 20. Jahrhunderts noch einmal
in einen größeren Zusammenhang, in einen größeren menschli-
chen Kontext hineinstelle, so daß damit dann doch die Frage
des Religiösen aufkommt. Insofern könnte man die anonyme
Andächtigkeit auch eines impressionistischen Gemäldes be-
haupten, vor allem weil ein religiöses Gemälde nicht einfach
identisch ist mit einem Gemälde, das einen explizit religiösen
Gegenstand darstellt.
Wenn ich die Krippe mit Jesus, Maria und Josef male, wo
man durch die Heiligenscheine von vornherein erklärt, was
dargestellt werden soll, dann ist das in einem gegenständlichen
Sinn ein religiöses Bild. Vielleicht ist es im Grunde genommen
gar nicht besonders religiös, weil es keine echten und radikalen
religiösen Vollzüge im Beschauer hervorrufen kann. So gibt es
auch religiösen Kitsch. Man könnte vielleicht behaupten, die
Bilder der Nazarener im 19. Jahrhundert seien im Grunde
genommen gut gemeint, von frommen Leuten gemalt, aber
keine echt religiösen Gemälde, weil sie nicht jene Herzensmitte
treffen, in der eigentlich religiöse Vollzüge geschehen. Es
könnte umgekehrt unter Umständen sein, daß ein Bild von
Rembrandt, wenn es auch gar nicht thematisch religiös ist,
trotzdem den Menschen so zu sich selber als Ganzen bringt, ihn
vor die totale Existenzfrage stellt, daß es im engsten Sinne ein
religiöses Bild ist.

Heiligkeit und Menschsein

Hier ist noch ein großes Problem verborgen. Der Standpunkt


ist denkbar, daß der wahre Heilige identisch sei mit dem in allen
Dimensionen seines Menschseins vollentwickelten Menschen,
daß also dort, wo die Sensibilität des Menschen, die Fähigkeit
seines Sehens und Hörens in einer vollkommenen Weise ent-
wickelt sind, seine Erfahrungen von vornherein mit seiner
religiösen Haltung identisch sind. Man kann das schon des-

EN
a }

wegen sagen, weil man ja offenbar im Himmel nicht nur sehr


fromm, sondern auch absolut menschlich in der vollen Ent-
wicklung aller menschlichen Fähigkeiten ist. Das ist die eine
Seite. Aber man kann, wenn man empirisch vorgeht, leicht zu
einer gegenteiligen Meinung kommen. Gibt es nicht Menschen,
die wirklich echte Heilige sind, in einer radikalen Weise selbst-
los Gott und den Nächsten lieben und trotzdem künstlerische
Fähigkeiten kaum entwickelt haben, in künstlerischen Dingen
Banausen sind und darin nur sehr rudimentär reagieren
können? So wie es umgekehrt doch Menschen gibt, die eine
außerordentliche künstlerische Sensibilität in sich entwickelt
haben und trotzdem keine Heiligen sind. Man muß da vermut-
lich noch einmal unterscheiden zwischen angebotenen und in
Freiheit übernommenen religiösen Möglichkeiten. So wäre die
Meinung vertretbar, daß ein Goethe eine solche Breite, Tiefe
und Weite seines Menschtums entwickelt hat, daß, wenn er
angefangen hätte, Gott zu lieben, dies mit der ganzen Fülle und
Intensität seines Menschtums geschehen wäre, also in einer
viel größeren, differenzierteren, weiteren, freieren Weise als bei
einer kleinen, frommen Heiligen. Aber es wäre trotzdem
möglich, daß ein Goethe dies de facto nicht getan, von diesen
Möglichkeiten, seine entwickelte Menschlichkeit auf Gott hin
zu aktualisieren, nicht in genügender Weise Gebrauch gemacht
hätte. Umgekehrt können die kleineren, bescheideneren Mög-
lichkeiten eines kleinen Heiligen besser genutzt worden sein.
Hier berühren wir das alte Problem, inwieweit Heiligkeit seeli-
sche Gesundheit bedeutet. Auch das ist eine schwierige Frage.
Ist die heilige Margareta Maria Alacoque nicht, wie manche
katholische Therapeuten heute sagen, eine höchst neurotische
Persönlichkeit gewesen? Ist der heilige Alphons von Ligouti,
der Stifter der Redemptoristen, in seinen alten Tagen zwar ein
wirklicher, aber auch ein neurotischer Heiliger gewesen? Alle
diese Fragen lassen sich auch transponieren auf die Frage, wie
sich künstlerische Fähigkeit zur Heiligkeit verhält.

31%
WIDER DEN HEXENWAHN

Was hat Friedrich Spee uns hente zu sagen?


Wenn ein Jesuit von heute, der der älteren Generation des
Ordens angehört, das Leben von Friedrich Spee (1591-1635)
bedenkt, fällt ihm zuerst vielleicht auf, wie sich bis in die
eigenen Tage die Lebensform des Jesuiten Spee durchgehalten
hat: zwei Jahre Noviziat, drei Jahre Philosophie, vor der
Theologie einige Jahre Verwendung in der Jugenderziehung,
vier Jahre Theologie, danach (oft in einem kleinen Abstand)
das Tertiat und dann eben die eigentliche Tätigkeit, die damals
und heute in einem normalen Jesuitenleben meist sehr ab-
wechslungsreich ist, in Seelsorge, philosophischer und
theologischer Lehrtätigkeit, Schriftstellerei usw. So hat ein
Jesuit von heute (einmal von der jüngsten Entwicklung abge-
sehen) den Eindruck, damals und heute lebe man eigentlich in
diesem Orden auf die gleiche Weise. Man wundert sich dann
vielleicht ein wenig, freut sich ein wenig darüber, daß ein
solches Lebensprogramm, wie es ein Orden darstellt, sich
durch so lange Zeiten halten und lebendig bleiben konnte, fragt
sich, ob nicht manches in diesem Alten doch zu alt geworden
oder manches Neue von heute zu selbstverständlich in diesem
Orden geworden ist. Aber (man verzeihe mir diese Genug-
tuung) es ist schön, mit einem solchen Mann wie Spee über
Jahrhunderte hinweg im selben Orden zu leben und zu
beobachten, wie groß angelegt die Grundkonzeption eines
Ignatius von Loyola war, der aus einer mystischen Gotteserfah-
rung heraus den Menschen um Gottes willen zu dienen ver-
suchte, Kirche voraussetzend und Kirche bildend, und so ein
Charisma weitergeben konnte, das auch nach Jahrhunderten
nicht untergegangen ist.
Nachfolge des Gekreuzigten: sterben, um zu leben
Aber wenn ein solcher Jesuit von heute das Leben Spees
bedenkt, fällt ihm noch etwas anderes auf. Ignatius von Loyola
wollte seine Jünger in der Nachfolge des Gekreuzigten sehen,
373
u

jan

sie sollten verstehen, daß man mit Christus gestorben sein


müsse, um mit ihm leben zu können, wie im zweiten Timo-
theusbrief (2,11) gesagt wird. Das ist in einer erschreckenden
Weise im Leben Spees Wirklichkeit geworden. Meist aber wird
es übersehen, wenn man die Größe dieses Mannes in der
Geschichte der Humanität und der Dichtung preist. Schon die
Normalität des Jesuitenlebens Spees zeigt seine Tapferkeit in
Glaube und Hoffnung, die ihn befähigte, einen durchschnittli-
chen, geregelten Lebensstil von sehr angepaßter Alltäglichkeit
mit vielen anderen durchzutragen. Er wurde zu allen mögli-
chen Aufgaben doch sehr ungefragt bestimmt, er lebte nach
dem Willen seiner Oberen in einer merkwürdigen Unrast an
vielen Orten und mit vielen Beschäftigungen, die er sich meist
nicht selber aussuchen konnte. Von seinen besonderen
Schwierigkeiten in seinem Orden soll noch eigens gesprochen
werden. Aber darüber hinaus - er lebte in den Schrecken des
Dreißigjährigen Krieges, der damaligen Seuchen und im un-
mittelbaren Kontakt mit dem Scheiterhaufen, auf dem arme
Frauen nach qualvollen Torturen als Hexen verbrannt wurden,
Frauen, die er unschuldig wußte in der letzten Überzeugung
seines Geistes und Herzens. Welche Bitterkeit und doch Ge-
wöhnlichkeit dieses Lebens! Und darüber noch hinaus — es
erfüllte sich in seinem Leben Jesu Wort vom Samenkorn, das
sterben muß. Viele seiner Kirchenlieder gingen anonym in den
Gesang der Kirche ein. Sein «Güldenes Tugendbuch» und
seine «Trutz-Nachtigall» erschienen erst nach seinem Tode,
seine «Cautio criminalis» mußte ohne seinen Namen er-
scheinen!, seine Moraltheologie ging namenlos in der seines
Nachfolgers H. Busenbaum unter, der (und nicht Spee) ein paar
hundert Ausgaben seines Werkes bis zum Ende des
18. Jahrhunderts erzielte. Spee mußte immer wieder neu anfan-
gen und sah eigentlich nie die reifen Früchte seiner Arbeit und
seines selbstlosen Dienens. Sein Tod war gewiß die Vollendung
einer selbstlosen Liebe zu den Menschen aller Parteien — aber

! Friedrich Spee von Langenfeld, Sämtliche Schriften, 3 Bde., München


1968; ders., Cautio Criminalis oder Rechtliches Bedenken wegen der Hexen-
prozesse, München 1982.

374
an einer pestartigen Seuche zu sterben, ist eben doch eine
armselige Sache, wenn man schon mit 44 Jahren sterben muß.
Wir rühmen heute gewiß mit Leibniz, Brentano, Ricarda Huch
und anderen bedeutsamen Zeugen Spee, aber wir sollten
darüber nicht vergessen, wie gesellschaftlich eingeengt, wie
normal, wie bitter und sterbend das Leben dieses Mannes war.
Und darum, so meine ich, fragt uns auch dieses Leben fast mehr
durch seine bittere Normalität als durch seine Großartigkeit,
ob wir mit unserem heutigen Leben fertig werden, ob wir (wie
er vor den Scheiterhaufen der Hexen) in einer Zeit des
Holocaust an Gott glauben und noch für den Menschen etwas
zu hoffen wagen, ob wir auch in den Zwängen unserer Gesell-
schaft und über alle Proteste gegen ihre Unmenschlichkeit
hinaus unser Leben als Nachfolge des Gekreuzigten verstehen
und schon jetzt die letzte Freiheit in Gott ergreifen können, ob
wir es mit der schrecklichen Angst in unserer heutigen Be-
drohtheit letztlich doch auszuhalten vermögen, ob wir (wie
Böll von Spee rühmt) zwar voller Untröstlichkeit sind, aber
weder billigen Trost noch Trostlosigkeit kennen.
Wenn uns vielleicht die selige Verzücktheit des frommen
Kindes in Spee fernzuliegen scheint, so könnte uns doch die
tapfere Nüchternheit dieses Christen in der enttäuschenden
Bitterkeit des Lebens immer noch eine Mahnung sein.

Ein unerschrockener Kämpfer gegen die Unmenschlichkeit


seiner Zeil s =

Wenn man die Größe als Dichter anzuerkennen und zu rühmen


beginnt, wird dieser Preis gewöhnlich eingeleitet mit der Versi-
cherung, daß man mit seiner geistlichen Schäferpoesie, mit
Braut- und Wundenmystik und mit der Rede vom «süßen
Jesus» natürlich heute nicht mehr sehr viel anfangen könne, ja,
daß solche Rede für uns schon fast zum Inbegriff religiöser
Unerträglichkeit geworden sei. Nun ist gewiß richtig, daß jeder
Zeit ihre eigene Religiösität zuzubilligen ist und Spees und
unsere Frömmigkeit weder gleich sind noch gleicher Art sein
3008
a W,
ne

sollen. Aber man sollte sich doch auch von der Eigenart der
religiösen Lyrik Spees, wenn man sie nicht bloß als Dichtung,
sondern auch als religiöses Zeugnis liest, fragen lassen, ob
unsere eigene Frömmigkeit heute nicht zu lau und spießbürger-
lich geworden ist, wenn sie die Frömmigkeit Spees als so fremd
und für uns nicht nachvollziehbar empfindet. Spee war bei all
seiner mystischen Verbundenheit mit Gott und Jesus doch kein
harmlos introvertierter Frömmler, der vor der Realität sich in
Sentimentalität flüchtete. Er war ein unerschrockener Kämpfer
gegen die Unmenschlichkeit seiner Zeit, gegen Dummheit und
Aberglaube, gegen Neid und einen Sadismus, der bei hoch und
niedrig in der Mentalität seiner Zeit sein furchtbares Unwesen
trieb. Er prangerte die Verlogenheit und Grausamkeit des
damaligen Strafvollzuges an; er war in den Kerkern; er
schleppte und versorgte die Verwundeten und war der
Todesangst der armen Frauen vor ihrer Verbrennung nahe; für
ihn mußte sich die Erfahrung der Nähe Gottes in einer verzük-
kenden Liebe darin auswirken, Arme und Kranke in der Stadt
aufzuspüren, einen Korb Weißbrot für die Kranken in den
Spitälern zu kaufen, armen Studenten die Schulbücher zu be-
zahlen.

.. aus einer bedingungslosen, anbetenden Liebe zu Gott

Spee zeigt uns, daß seine geistliche Schäferpoesie vielleicht


doch etwas anderes war als das, was wir heute aus seiner
Dichtung herauslesen; er fragt uns, ob nicht unsere Liebe zum
Nächsten und unser Einsatz für die Gerechtigkeit in der Welt
trotz aller unserer lauten Parolen darum so kümmerlich sind
und immer wieder in unserem kurzsichtigen Egoismus erstik-
ken, weil wir Gott nicht aus ganzem Herzen lieben, wie es in
der prosaischen Kargheit der heutigen Frömmigkeit zur Er-
scheinung kommt. Wenn nach den Worten eines heutigen
Literaturhistorikers Prosa und Poesie Spees «Kraft und Süße,
innige Musikalität und festlichen Überschwang in vollkommen
durchgebildeter Rede» vereinen, dann bedeutet dies eben nicht

376
nur einen literarischen Vorzug bei Spee, den wir auch heute
noch zu würdigen und zu genießen vermögen, sondern all das
entspringt einer innersten Gotteserfahrung, die das Recht zu
einem Triumph über alle Angst und zu süßer Innigkeit aus
einer bedingungslosen, anbetenden Liebe zu Gott in Jesus
Christus empfängt. Es ist ein protestantisches Vorurteil, wenn
Ricarda Huch meint, der junge Spee sei ins Kloster gegangen,
um sich vor dem Anblick des Leidens der Kreatur zu schützen.
Er wollte ja durch seinen Ordenseintritt gerade die Möglichkeit
erreichen, in die Mission geschickt zu werden, wo er gewiß
nicht die Begegnung mit dem Leid der Welt vermeiden konnte
und sich darüber sicher auch keine Illusionen machte, zumal
damals ein Missionar auch mit einem blutigen Martyrium rech-
nete. Die Innigkeit seiner Gotteserfahrung und der Wille, das
Leid der Menschen mitzutragen, bildeten bei ihm gewiß von
vornherein und immer eine unlösliche Einheit, so wie das
Gebot der Nächstenliebe und das der Gottesliebe schon im
Evangelium eins sind. Seine für uns barock klingende Innigkeit
überschwenglicher Gottesliebe sollte darum von uns nicht
einfach nur abgetan werden als ein Lebensstil einer vergange-
nen Zeit, sondern uns vor die Frage stellen, ob wir den Näch-
sten in Tat und Wahrheit wirklich lieben oder uns nur einbil-
den, wir bedürften zu dieser selbstlosen Liebe des Nächsten
nicht der Kraft einer radikalen Liebe zu Gott.

Massenwahn — vorgestern, gestern und heute

Zu allen Zeiten ist Spee bewundert worden für seinen uner-


schrockenen Mut, mit dem er in seiner «Cautio criminalis» für
die Opfer des Hexenwahns seiner Zeit eintrat. Er tat es mit
allem Scharfsinn seines scholastisch in Philosophie und
Theologie geschulten Geistes und gleichzeitig mit der ganzen
Kraft seines liebenden und die Not seines Nächsten bis zum
Ende teilenden Herzens. Seine «Cautio criminalis» ist auch
heute noch eine Lektüre, die unseren Geist und unser Herz
gefangennehmen kann. Es sind darin Maximen vertreten, die

317

Re

auch heute noch nicht selbstverständlich geworden sind. Wenn


Spee z.B. schreibt: «So lautet das Gesetz Christi, Matth. cap.
13: Wenn Gefahr droht, daß zugleich der Weizen mit ausge-
rauft werde, dann darf auch das Unkraut nicht vertilgt werden»
— ist das nicht auch heute noch eine Maxime, die uns nicht
selbstverständlich erscheint und doch vom Evangelium her
legitimiert ist. Müßten nicht manche Theoretiker des Strafvoll-
zuges auch heute noch sich von Spee auffordern lassen, sich
einmal ganz nahe den konkreten Strafvollzug in den Gefängnis-
sen anzuschauen, um zu sehen, was sie konkret mit ihren ihnen
so selbstverständlich erscheinenden Normen anrichten?
Aber was die «Cautio criminalis» uns heute als Frage
aufgibt, ist noch einmal etwas ganz anderes. Der entsetzliche
Massenwahn der Zeit Spees und noch lange danach ist in
unseren Regionen gewiß überwunden. Aber wenn auch der
Hexenwahn, so wie er damals war, nun vorbei ist, dann beweist
er doch grundsätzlich, daß die Menschen auch in sogenannten
christlichen Gegenden durch alle Schichten hindurch von
solchen wahnhaften Mentalitäten bedroht sind, einem Massen-
wahn verfallen können und dabei ein gutes Gewissen haben
und diesen Wahn im Namen der Vernunft oder des Evange-
liums verteidigen als eine indiskutable Selbstverständlichkeit,
die nur Leute bezweifeln können, die nicht ganz normal sind.
Ist es da selbstverständlich, daß heute solche Formen von
Massenwahn bei uns nicht grassieren? Ist der Massenwahn des
Nationalsozialismus schon so lange und weit in die Vergangen-
heit zurückverschwunden, daß wir uns jetzt einbilden könnten,
wir seien von solchen Massenpsychosen frei, die doch auch bei
Gescheiten und bei Lenkern der Völker gegeben sein können,
ohne daß es jemand merkt und zugibt? Ist nicht z.B. die
Aufrüstung auf der ganzen Welt, deren Kosten Millionen von
Menschen hungern und sterben lassen, ein solcher Massen-
wahn? Müßten nicht Maximen anderer Lebensstile, die sich als
selbstverständlich präsentieren, ebenso durch eine «politische
Theologie» als Normen entlarvt werden, die uns ein Massen-
wahn suggeriert? Sind nicht in allen faktisch gegebenen
heutigen Gesellschaftssystemen ähnliche als selbstverständliche

378
Wahrheit empfundene Wahnideen wie damals am Werk? Und
nun: Haben wir genug Männer und Frauen, die aus der Klar-
heit des Geistes und aus einer bedingungslosen Liebe des
Herzens heraus, erleuchtet von der letzten Wahrheit des Evan-
' geliums, solche Wahnideen sehen, entlarven und sie mit dem
Einsatz ihrer ganzen Existenz bekämpfen, auch wenn sie als
naive Idealisten und Querköpfe abgelehnt und verspottet
werden, auch wenn man ihnen sagt, sie jagten frommen
Utopien nach, die ein klarsehender Realist nicht teilen könne;
sollten wir, die wir wenigstens nicht von vornherein uns von
unbemerkten Wahnideen freihalten können, uns nicht minde-
stens gegenüber heutigen Propheten im Stile Spees vorsichtiger
und wohlwollender verhalten? Treten nicht auch heute noch
Träger kirchlicher Autorität solchen Mahnern im Stile Spees
gegenüber, wie sie es Spee gegenüber taten in der schrecklich
naiven Überzeugtheit, niemand könne im Ernst leugnen, es
gäbe massenweise Hexen? Haben wir heute genug mutige
Kritiker an den falschen Plausibilitäten, mit denen wir bequem
leben und uns aus unserem gewohnten Trott nicht aufscheu-
chen lassen wollen? Gewiß gibt es nicht wenige Normen des
Evangeliums, die von den Amtsträgern der Kirche gegen herr-
schende Auffassungen vertreten werden. Das ist durchaus zu
sehen und anzuerkennen, auch wenn man manchmal den Ver-
dacht nicht ganz unterdrücken kann, die so verteidigten christ-
lichen Normen würden so unbefangen von der Kirche ver-
teidigt, weil sie durch die Plausibilitäten früherer Zeiten ge-
stützt würden. Aber gibt es nicht Normen, die gegen einen
vielleicht gerade aus der Vergangenheit sich als selbstverständ-
lich gebärdenden Lebensstil von heute verteidigt werden
müßten, die auch von den meisten Amtsträgern in der Kirche
übersehen oder nur zu schwachherzig und leise verteidigt
werden? Müßten gegen den Irrwahn unserer Zeit nicht manche
«Cautiones criminales» geschrieben werden, auf die wir noch
warten? Es wäre ja auch nicht schlimm, wenn eine solche
«Cautio» zunächst einmal nicht von den höchsten Amts-
trägern, sondern zuerst von einem kleinen und unbedeutenden
Priester oder Laien geschrieben würde, wie einst von Spee.

379
Zwischen Gewissensentscheid und Ordensgehorsam

Es sei einem Jesuiten von heute erlaubt, auch eine Anmerkung


über Spees Verhältnis zu seinem Orden zu schreiben. Spee
wollte Jesuit sein, wollte es immer sein und ist es bis zu seinem
Tod geblieben. Diesen unbedingten Willen dieses großen
Mannes muß man auch heute respektieren, will man Spee
gerecht werden. Viele Einzelheiten in seinem Leben im Orden,
die vielleicht einen Außenstehenden verwundern, sind im
Orden — von innen gesehen — mehr oder weniger harmlose
Selbstverständlichkeiten, in einem Orden, der von Männern
gebildet wird, von denen jeder seine Eigenart und seine eigene
Überzeugung hat und das alles im Zusammenleben gar nicht
ausschalten kann. Wenn einem Mann in einem Orden seine
Bitte, in die Mission geschickt zu werden, abgeschlagen wird,
wenn er an den verschiedensten Orten verwendet und mit den
verschiedensten Aufgaben betraut wird, wenn er einmal aus
einer Aufgabe entfernt wird, wenn er nicht von vornherein in
einer reibungslosen Harmonie mit seinen Vorgesetzten leben
kann, dann sind das alles für einen wahren Jesuiten, wie Spee
es war, Selbstverständlichkeiten, die gar nicht vermeidbar sind,
mit denen man im Orden, auch wenn sie nicht gerade immer
angenehm sind, rechnet und mit ihnen in männlicher Nüchtern-
heit fertig zu werden versucht. Vieles im Leben Spees ist in
dieser Hinsicht eine Selbstverständlichkeit für den, der das
jesuitische Ordensleben kennt. Damit ist nun nicht bestritten,
daß es im Leben Spees durch sein Eintreten gegen den Hexen-
wahn Situationen gegeben hat, die man nicht einfach zu diesen
Selbstverständlichkeiten in einem Ordensleben zählen kann.
Es ist selbstverständlich, daß Spee die «Cautio criminalis»
letztlich schrieb, damit sie von anderen gelesen werde. Selbst-
verständlich wußte er, daß er damit auch das Risiko eines
Konfliktes mit seinen Oberen und seinem Gehorsamsgelübde
einging. Aber zunächst kann von einem ganz normalen Ver-
ständnis des Ordensgehorsams her nicht gesagt werden, daß es
gegen den Geist seines Ordens verstoße, ein solches Risiko zu
wagen, wenn man dadurch nicht sich, seinen Eigensinn, seinen

380
Ruhm, seine « Selbstverwirklichung» oder seine Bequemlich-
keit sucht, sondern dem Gebot seines Gewissens und einer
selbstlosen Liebe zum Nächsten treu sein will. Der jesuitische
Gehorsam bedeutet in keiner Weise, daß einem Jesuiten Selbst-
verantwortung einsamer Art und eine eigene Initiative, die
nicht schon von vornherein von oben her inauguriert ist,
verboten wären. Im Gegenteil, beides gehört grundlegend zu
diesem Gehorsam, wie er in diesem Orden verstanden wird.
Spee konnte also seine «Cautio criminalis» schreiben, ohne daß
er dafür eine Anordnung oder Genehmigung seiner Ordens-
oberen voraussetzen mußte. Weiter darf man wohl sagen: Es
ist eine historisch zu beantwortende Frage, ob Spee die erste
und zweite Ausgabe seiner «Cautio» faktisch doch selber ins-
geheim veranlaßt hat, um die Ordenszensur zu umgehen, oder
ob er davon wirklich nichts wußte und die «Cautio» ohne sein
Wissen und seinen Willen gedruckt wurde. Aber selbst wenn
die erste Annahme die richtige sein sollte, so müßte in diesem
seinem Fall und in seiner konkreten Situation Spee daraus nicht
der Vorwurf gemacht werden, er habe gegen sein Gehorsams-
gelübde und den Geist seines Ordens verstoßen. Jeder Moral-
theologe wird zugeben, daß in der Konkretheit eines Men-
schenlebens Situationen auftreten können, in denen zwei unter-
schiedliche Forderungen so auftreten, daß sie nicht gleichzeitig
und miteinander versöhnt verwirklicht werden können,
sondern nur die eine oder die andere befolgt werden kann.
Wenn Ignatius von Loyola mit der Möglichkeit rechnet, daß
einem Jesuiten von seinem Oberen in gutem Glauben und
einem ungetrübten Gewissen etwas befohlen wird, was der
Untergebene unüberwindlichen Gewissens als Sünde beurteilt
und darum trotz des Befehles nicht tut, dann ist Spee wahrhaf-
tig grundsätzlich zuzubilligen, daß er die Aufgabe, gegen den
Hexenwahn aufzutreten, als für sein Gewissen so unbedingt
fordernd erachten konnte, daß. ein eventuell gegenteiliger
Befehl seiner Oberen ihn faktisch nicht hätte verpflichten
können und er auch hätte bereit sein müssen, alle Konsequen-
zen dieser Gewissensentscheidung hinzunehmen, die seine
Oberen aus ihrem gegenteiligen Gewissensurteil heraus für
381
geboten erachteten. Das menschliche und christliche Leben
verläuft nun einmal oft nicht ohne solche bitteren Situationen,
die es auch in einem Orden grundsätzlich geben kann, in einem
Dilemma zwischen einem möglichen, vor Gott allein zu verant-
wortenden Gewissensentscheid und dem Befehl eines kirchli-
chen Oberen, auch wenn diesem durchaus aller gute Wille
zugebilligt wird. Durch Gottes Vorsehung ist es geschehen,
daß Spee faktisch ein letzter Konflikt zwischen seiner legitimen
Sendung und seinem Jesuitengehorsam erspart geblieben ist.
Es nützt auch nichts, sich den Kopf zu zerbrechen, wie Spee
hätte handeln müssen oder gehandelt hätte, wenn er vor ein
absolutes Dilemma gestellt worden wäre, entweder dem Befehl
seiner Oberen zu folgen oder auf die «Cautio criminalis» und
deren Veröffentlichung absolut zu verzichten. Mir selber
scheint es eigentlich eine tröstliche Tatsache zu sein, daß in
Spees Fall ein solches eindeutiges Dilemma faktisch bis zu
seinem Tode vermieden wurde, ja, daß der Kölner Provinzial
Goswin Nickel, der Spee doch wohlwollend und mild nach
Kräften gegen den damaligen Ordensgeneral deckte, schließ-
lich selber noch Ordensgeneral wurde. Auch heute kann es in
der Kirche auch bei bestem Willen auf beiden Seiten noch
solche Konflikte wie im Leben Spees geben. Und auch darum
hat das Leben Spees eine vorbildliche Bedeutung für Priester
und Laien in der Kirche. Dieses Leben bezeugt, daß eine
künstlich hergestellte Harmonie zwischen allen Gliedern der
Kirche, die in Wahrheit eine Friedhofsruhe wäre, gar kein Ideal
ist, das immer und unter allen Umständen anzustreben ist.

Vorbild der Großen und Kleinen zugleich

Spee war in seinem Leben nicht nur der mutige Verfasser der
«Cautio criminalis» und der innige Poet seiner Gedichte. Er
war ein ganz normaler Seelsorger in der Schule, in den Kon-
gregationen junger Leute, in den Gefängnissen, auf Dorfkan-
zeln, auf theologischen Kathedern, die in jenen Zeiten ihren
Inhabern keinen besonderen Glanz verliehen. Spee ist so nicht
382
nur Patron und Vorbild mutiger Kritiker gegen den Zeitgeist
und nicht nur eine große Gestalt in der deutschen Literatur,
sondern ein Vorbild für die gewöhnlichen Arbeiter im Wein-
berg Gottes, die, ohne viel Dank und Anerkennung erwarten
zu können, die Hitze und Mühe alltäglicher Arbeit tragen.
Wenn das Scherflein der armen Witwe im Opferkasten Gottes
höher gewertet wird als das dicke Almosen des Reichen, dann
gilt vielleicht oft etwas Ähnliches von der normalen Arbeit
eines durchschnittlichen Seelsorgers und den spektakulären
Taten und Leistungen mancher Großer in der Welt und auch
in der Kirche. Spee gehört in einer seltsamen Weise zugleich
zu den Großen und den Kleinen in der Kirche und in der Welt.
Er suchte von sich aus eigentlich nur die normale Durch-
schnittlichkeit eines braven und frommen Ordenslebens. Aber
es geschah, daß ihm darin Großes geboten und zugemutet
wurde und er dieses in der tapferen Liebe seines Herzens
annahm.

Ein Heiliger?

Man hat sich schon gefragt, warum Spee nicht von der Kirche
heiliggesprochen worden ist. Verdient hätte er dies nach
menschlichem Ermessen, ebenso wie z.B. ein Wilhelm Ebersch-
weiler, der in derselben Kirche wie Spee begraben ist und der
einen ganz anderen Typ eines Jesuiten repräsentiert als Spee.
Aber es müssen nicht alle menschlichen und heiligen Vorbilder
amtlich heiliggesprochen werden. Man kann versuchen, ihnen
nachzufolgen, und sie um ihre Fürsprache bei Gott bitten, auch
wenn sie nicht eigens im Meßbuch der Kirche aufgeführt
werden.

383
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GLAUBE UND SAKRAMENT

Wenn man das Pathos ernst nimmt, mit dem Paulus und
schließlich das ganze Neue Testament die einzigartige und
fundamentale Bedeutung des Glaubens für das Heil des Men-
schen betonen, dann ist die Verknüpfung von Glaube und
Sakrament, die eine Gleichrangigkeit der beiden Größen an-
zudeuten scheint, nicht selbstverständlich. Glaube meint exi-
stentielle Totalentscheidung des Menschen als Freiheitssubjekt
auf Gott hin als Antwort auf Gottes offenbarende Selbster-
schließung und Selbstmitteilung. Demgegenüber aber scheint
es im Leben des Menschen kein anderes Ereignis geben zu
können, das von derselben heilschaffenden Bedeutung ist. In
der Tat ist die Christenheit davon überzeugt, daß es auch ohne
Sakramente Heil geben könne, während es Heil ohne wirk-
lichen Glauben nicht geben kann und man mindestens nach
dem II. Vatikanischen Konzil wohl nicht mehr annehmen
kann, daß in manchen Fällen der eigentliche theologische
Glaube durch eine primitivere sittliche Haltung ersetzt werden
könne, so schwer auch eine Antwort auf die Frage gefunden
werden kann, wie ein eigentlicher Glaube als Antwort auf eine
eigentliche Offenbarung Gottes in der unübersehbaren Menge
von Menschen möglich sei, die von der historischen Offen-
barungsbotschaft des Alten und des Neuen Testaments nicht
erreicht werden. Diesem Glauben gegenüber scheint das Sa-
krament nur eine höchst sekundäre Rolle spielen zu können —
wenn überhaupt noch eine denkbar ist. Andererseits blickt
zumindest die katholische Christenheit mit einer fast naiven
Selbstverständlichkeit auf die unmündigen Kinder, die getauft
werden, und erblickt in dieser Taufe das grundlegende Ereignis
des Heiles, läßt (obzwar heute und mit Recht bezweifelt) die
ungetauft sterbenden Kinder des Heiles verlustig gehen und
verweist sie in den Limbus der Kinder, betrachtet so ferner
den späteren Glauben der getauften Kinder, wenn sie zum
Gebrauch der Vernunft kommen, fast wie eine sekundäre
Aktualisierung des Glaubenshabitus, den sie durch die Taufe

387
LH
se

empfangen haben, begründet die Zugehörigkeit zur Kirche wie


selbstverständlich durch die Taufe allein, so daß ein öffentlich
bekundetes Überzeugtsein von der christlichen Botschaft ohne
Taufe als denkbare Möglichkeit einer Zugehörigkeit zur
Kirche überhaupt nicht in Betracht gezogen wird, wenn auch
durch eine Theologie des Katechumenenstandes die genaue
Grenze der Kirche wieder etwas unsicher und ungenau werden
mag.
Man sieht aus dem Gesagten wohl, daß das letzte Verhältnis
zwischen Glaube und Sakrament doch nicht so klar und selbst-
verständlich ist, wie es von der traditionellen, etwas positivi-
stisch die einzelnen Lehrsätze nebeneinander stellenden
Theologie her zunächst erscheinen mag. Natürlich steckt, um
es sofort und reichlich ungenau zu sagen, hinter der Schwierig-
keit der Beziehung zwischen Glauben und Sakrament die
Schwierigkeit, das genaue Verhältnis zu bestimmen und ein-
leuchtend auszusagen, das obwaltet zwischen Existenz und
Essenz (im modernen Sinne dieser Wörter), zwischen dem
Menschen als Freiheitssubjekt und dem Menschen als «Natur»,
zwischen dem Menschen als je einmaligem Individuum und
dem Menschen als Gemeinwesen, zwischen dem Menschen,
der seinen eigentlichen Selbstvollzug gar nicht adäquat objek-
tivieren kann, und dem Menschen, der eben diesen Selbstvoll-
zug unweigerlich in eine Dimension der Leiblichkeit, der Ge-
sellschaft und der Geschichte hinein vollzieht und dadurch und
nicht anders wirklich ganz zu sich selber kommt. Alle diese und
anderen dialektischen Paare von Verschiedenheit und gegen-
seitiger Bezogenheit bilden den Hintergrund der dialektischen
Einheit und Verschiedenheit von Glaube und Sakrament. Doch
hier kann dieser Hintergrund unseres Themas nicht ausdrück-
lich bedacht werden. Wir versuchen, unmittelbar von Glaube
und Sakrament auszugehen, um deren gegenseitige Bezogen-
heit ein wenig mehr zu verdeutlichen.
Glaube kommt vom Hören, sagt die Theologie mit Paulus
und auch mit einer Geschichte der Offenbarung, die weit in das
Alte Testament zurückreicht. Glaube ist die Antwort auf die
gehörte Selbstoffenbarung Gottes. Wenn wir an diesem Punkt

388
.

ansetzen, könnten wir, so scheint es wenigstens, rasch auf


unserem Reflexionsweg vorankommen. Wir könnten sagen:
Glaube gründet auf Offenbarung. Diese ist gemeint als ge-
schichtlich ins Wort kommende. Dieses geschichtlich im Wort
gegebene Offenbarungsereignis ist im Christentum escha-
tologischer Natur, weil es unüberholbar und irreversibel ist, da
es die von sich selbst her sich als siegreich proklamierende
Zusage der eigensten Wirklichkeit Gottes an die Welt ist. So
aber hat dieses Wort der eschatologischen und von sich aus
siegreichen Selbstzusage Gottes einen exhibitiven Charakter.
Was es aussagt, ist nicht bloß Wort über Gott, sondern Wort
des sich selbst zusagenden Gottes und so notwendig auch
Gnadengeschehen. Seine Aussage und sein Gehört-werden sind
notwendig getragen dadurch, daß Gott selbst mit seiner Selbst-
mitteilung im Verkündiger und im Hörer dieses Geschehen
durch seine eigene Wirklichkeit mitträgt. So aber hat das Of-
fenbarungswort geschichtlichen, gnadenhaften, , exhibitiven
Charakter, es ist in diesem Sinne «ex opere operato», Sa-
kramental. Das Sakrament im traditionellen Sinne ist darum
nur der intensivste Fall des Offenbarungswortes Gottes, in-
sofern es vom eigentlichen und letzten Träger dieses Offen-
barungswortes, von der Kirche, dem einzelnen in einem
wesentlichen Moment seiner Glaubensexistenz zugesprochen
wird.
Es sei nur nebenbei bemerkt, daß man letztlich die tradi-
tionelle und bleibend verbindliche Lehre vom Wesen der Sa-
kramente, von ihrer Differenzierung und Siebenzahl angesichts
der historischen Schwierigkeiten der Dogmengeschichte der.
Sakramente nur von einem solchen Ansatz her ehrlich rechtfer-
tigen kann. Dabei kann freilich nochmals nebenbei angemerkt
werden, daß heute von der Exegese her und im Unterschied zur
Reformationszeit die Schwierigkeit, die Sakramentalität der
meisten Sakramente zu legitimieren, nicht mehr größer ist als
die Schwierigkeit bei der Taufe und dem Abendmahl, so daß
von da aus eine ökumenische Verständigung über die Sa-
kramentenlehre leichter als früher möglich sein müßte.
Wenn so vom Wesen des Glaubens selber her für die

389
eschatologische Phase dieses Glaubens der sakramentale
Charakter des Glaubens selbst und damit auch die Sakramente
selbst verständlich gemacht werden können, die Sakramente als
Höhepunkte des Offenbarungs- und Glaubensgeschehens er-
scheinen und von daher der Binar: Glaube und Sakramente,
richtig gelesen werden kann, die Sakramente nicht eigentlich
als Zusatz zum Glauben, sondern als dessen Höhepunkte dar-
geboten werden, so scheint die Grundfrage, die wir gestellt
haben, relativ einfach beantwortet werden zu können. Und es
soll auch das eben nur flüchtig Angedeutete nicht ausführlicher
und genauer behandelt werden.

Glaube und Offenbarung

Aber es muß von einer Schwierigkeit gesprochen werden, die


gegen die ganze, eben angedeutete Grundkonzeption des
Glaubens als des Grundes der Sakramente geltend gemacht
werden kann. Die gemeinte Schwierigkeit ist, mehr oder
weniger deutlich reflektiert, irgendwie und unter den ver-
schiedensten Themenstellungen und theologischen Etiketten
schon immer wirksam gewesen. Denn schon seit den Zeiten der
Väter hat man über die Heilsmöglichkeit der Heiden oder
wenigstens der Katechumenen nachgedacht. Aber praktisch
und konkret rechnete man doch bis ins 19. Jahrhundert hinein,
ja fast bis zum II. Vatikanischen Konzil, nur mit einer Heils-
möglichkeit für solche Menschen, die irgendwie konkret mit
der Alt- und Neutestamentlichen Offenbarung in Berührung
gekommen sind, oder man half sich zusätzlich noch mit Hilfs-
konstruktionen, die reichlich mythologisch entweder die Of-
fenbarung oder den theologischen Glauben an sie durch andere
Größen ersetzten oder eben einfach in einem humanitären
Optimismus den Großteil der Menschheit unter Dispens von
einem Offenbarungsglauben zum Heil gelangen ließen. Heute,
nach dem II. Vatikanum ist die theologische Situation in dieser
Frage schwieriger geworden: Man kann einerseits nach dem
Missionsdekret des Konzils keine Heilsmöglichkeit ohne über-

399
natürlichen Glauben an die Offenbarung im eigentlichen Sinne
dieses Wortes zulassen, und man muß andererseits mit dem sehr
universellen Heilsoptimismus des Konzils, der nicht einmal
schuldlose Atheisten und polytheistische Heiden vom Heil
ausschließt, annehmen, daß dieser gnadenhafte Offenbarungs-
glaube eine universelle Möglichkeit auch für die ist, die offen-
sichtlich von derjenigen Offenbarung des Alten und Neuen
Testamentes nicht erreicht werden, wie sie traditionell und
auch im Offenbarungsdekret des Konzils gedacht wird, das
nach der sogenannten Uroffenbarung einige Millionen Jahre
harmlos überspringt und die Offenbarungsgeschichte mit
Abraham und Moses fortgehen läßt.
Nun kann man diese Lücke mit Berufung darauf auszufüllen
suchen, daß die übernatürliche Heilsgnade, die allen Menschen
angeboten wird (ohne darum auch schon reflektiert und ver-
balisiert sein zu müssen), durch das neue Formalobjekt, das sie
dem geistigen Freiheitssubjekt durch dessen Hinordnung auf
die Unmittelbarkeit Gottes anbietet, schon fundamental den
Begriff einer eigentlichen, personalen und freien Selbstoffen-
barung Gottes realisiere, so daß die freie Annahme einer
solchen, auf die Unmittelbarkeit Gottes ausgerichteten Subjek-
tivität in Wahrheit schon eigentlich theologischen Glauben
bedeute. Ich halte dies für richtig, und ich weiß nicht, wie man
ohne eine solche theologische Deutung die Universalität des
eigentlichen Glaubens immer und überall als gegeben rechtfer- R
tigen könnte. Denn man kann sich in der Theologie — auch
wenn sich das Lehramt im Konzil legitim davon dispensiert,
weil es keine theologischen Theorien vorzutragen hat - in einer
Rechtfertigung des Christentums nicht damit begnügen zu
sagen, Gott werde die Wege schon kennen, auf denen er diese
scheinbar von aller historischen Offenbarung abgeschnittenen
Menschen doch zu einem Offenbarungsglauben führen könne.
Aber wenn man auf diese oder auf eine ähnliche Weise mit dem
Problem der Universalität der Glaubensmöglichkeit in der
ganzen Menschheit fertig wird, dann beginnt die Schwierigkeit,
die uns hier beschäftigen soll. Ernsthaft kann man die Univer-
salität der Glaubensmöglichkeit immer und überall (und so die

49
TERRY

| FR
Universalität der Offenbarung, die alle Menschen findet) nur
dadurch verständlich machen, daß man sie (wenn diese For-
mulierung erlaubt ist) «transzendental» ansetzt, d.h. überall
dort schon durch das Angebot übernatürlicher Heilsgnade
gegeben sein läßt, wo Geist und Freiheit gegeben sind und
durch die ebenso immer gegebene Gnade Gottes auf die Unmit-
telbarkeit Gottes finalisiert werden. Setzt man aber so «tran-
szendental» die universale Glaubensmöglichkeit durch die
überall und immer angebotene Gnade an (die durch ihre Uni-
versalität nicht aufhört, ungeschuldet und frei zu sein), dann
scheint zwar Glaube möglich zu sein, dieser aber samt der
Offenbarung selbst seinen geschichtlichen und (in seiner Voll-
gestalt) sakramentalen Charakter zu verlieren. In der eben
vorgetragenen Rettung der Universalität des Glaubens scheint
seine vorher entwickelte Bezogenheit auf das Sakrament (auf
die Sakramentalität des exhibitiven Gnadenwortes, auf die .
Kirche als Sakrament des Heiles) verlorenzugehen. Daß hier
ein Grundproblem des Christentums überhaupt gegeben ist, ist
leicht verständlich.

Geschichte und Gnade

Das Christentum will eine geschichtliche Religion sein, in der


sich die Offenbarung selbst (und nicht nur die menschlich
theologische Reflexion darauf) geschichtlich ereignet. Und
eben dieses Christentum will die universale Religion sein, die
für alle Menschen bestimmt ist und sogar für die heilsbedeut-
sam ist, die vor dem eigentlichen Beginn dieses Christentums
gelebt haben. Das Christentum will universal und sakramental
zugleich sein, und wenn man diese beiden Begriffe genauer
anschaut und nicht gar zu primitiv pragmatisch denkt, scheinen
diese Begriffe schwer miteinander vereinbar zu sein. Das so
angedeutete Problem besteht nicht darin, daß Glaube auch
ohne Sakrament im traditionell strengen Sinn des Wortes
möglich ist. Daß Glaube und Glaubensgnade gegeben sein
können, ohne schon (kollektiv oder individuell) ihre geschicht-

294
\

liche Vollgestalt im Sakrament des Glaubens, in der Taufe (und


den übrigen Sakramenten der Kirche), erreicht zu haben, das
ist unbestritten und bietet für den, der die Gnade als Existential
des geschichtlichen Menschen denken kann, kein besonderes
Problem. Aber damit ist noch nicht deutlich, wie diese (tran-
szendental angesetzte) Gnade immer und überall einen sa-
kramentalen Charakter im weitesten Sinn des Wortes, einen
inkarnatorischen, letztlich doch auf die Kirche hingeordneten
Charakter habe. Sie muß immer und überall — wenigstens
ansatzhaft — geschichtlich, inkarnatorisch, sakramental (was
nicht heißt:durch einen eigentlichen kirchlich sakramentalen
Vorgang vermittelt) sein. Ist sie nun das einfach dadurch, daß
sie die Gnade des geschichtlichen Menschen ist, der sein tran-
szendentales Wesen (aus Natur und Gnade) immer und überall
durch geschichtliche Vollzüge und nie ohne sie zu sich selbst
vermittelt? Es ist richtig, daß der Mensch seine geistige Natur
als Intellekt und Freiheit nie in ihrer abstrakten, so eigentlich
gespensterhaften Reinheit als solche für sich besitzt, sondern
immer nur als konkretes geschichtliches Wesen, daß er eben
seine Transzendentalität nicht neben seiner Geschichte (in einer
gegenstandslosen Mystik allein usw.) treibt, sondern in und
durch seine Geschichte. In der Geschichte und nicht neben ihr
erfahren wir ursprünglich, was Geist und Freiheit ist. Das gilt
aber dann auch für jene transzendentale, existentiale Begabung
des Menschen, die wir Gnade nennen und in der Gott durch
seine Selbstmitteilung sich selber zum inneren Prinzip der
Bewegung der Kreatur auf die Unmittelbarkeit Gottes hin
gemacht hat. Die Uroffenbarung im Paradies scheint zunächst
eine alte mythologische Vorstellung zu sein, die wir heute nicht
mehr nachvollziehen können, zumal man sich in einer nüchter-
nen Religionsgeschichte schwer denken kann, wie sie sich auf
spätere Zeiten ausgewirkt habe und weitergegeben worden sei.
Faßt man aber die Uroffenbarung des Paradieses auf als die am
Anfang geschehende geschichtliche Vermittlung der durch die
Gnade immer gegebenen Selbstoffenbarung Gottes, eine ge-
schichtliche Vermitteltheit von Anfang an, die zum Wesen des
begnadeten Menschen gehört (auch wenn wir sie uns natürlich
393
nicht ausmalen können und sie uns, wenn wir wollen, sehr
primitiv und sehr unreflektiert denken dürfen), dann verliert
die Uroffenbarung ihren mythologischen Anschein und wird
für denjenigen selbstverständlich, der sich denken kann, daß
dort, wo Geist und Freiheit, also Mensch, wenn auch in urtüm-
lichster Weise, gegeben ist, er auch schon, wenn auch ganz
unreflektiert, auf die Unmittelbarkeit Gottes aus Gnade
finalisiert war und sich in Freiheit, so wie er war, angenommen
hat, was man dann mit Recht «Glaube als Annahme der Selbst-
offenbarung Gottes» nennt, weil eben die geistige Transzen-
dentalität des Menschen durch die Gnade auf die Unmittelbar-
keit Gottes hin radikalisiert war.

Gnade und Offenbarung

Unser Problem löst sich also dann, wenn man einerseits die
Gnade als Offenbarung Gottes transzendental ansetzt, sie aber
an Geist und Freiheit immer durch geschichtliche Konkretheit
vermittelt sein läßt, und wenn man andererseits diese geschicht-
liche Vermittlung der Offenbarungsgnade an Geist und
Freiheit des Menschen immer und überall als geschichtliche
Offenbarung verstehen darf. Dieses letztere mag kühn und
ungewohnt klingen, es mag zunächst den Eindruck erwecken,
als ob dadurch die Offenbarungsgeschichte nivelliert würde zu
der allgemeinen Freiheitsgeschichte, die immer und überall sich
ereignet. Aber in Wirklichkeit sind Geschichte und Offen-
barungsgeschichte nicht einfach identisch, aber die Offen-
barungsgeschichte ist koextensiv mit der Geschichte über-
haupt. Das aber kann ja eigentlich der Christ nicht bestreiten,
der zugibt, daß sich immer und überall in der Geschichte Heil
ereignen konnte und dieses Heil immer und überall Heil aus
Glauben sein mußte. Was hier zu dieser Überzeugung der
heutigen Christenheit hinzugefügt wird, ist nur die Behaup-
tung, daß die absolut notwendige kategorialgeschichtliche Ver-
mittlung der Glaubensgnade sich überall im menschlichen

394
ı>

Leben ereignen kann, also auch dort, wo «nur» dem Spruch


des sittlichen Gewissens gehorcht wird, und diese scheinbar
nur «natürliche» Vermittlung dennoch das transzendentale
Angebot der Gnade, die Selbstoffenbarung Gottes, ist, zu dem
macht, was man geschichtliche Offenbarung Gottes nennen
kann und muß. Es kann theologisch einfach nicht mehr gefor-
dert sein.
Wer mit dem II. Vatikanum einerseits eigentlichen Glauben
an göttliche Offenbarung, die mehr ist als die sogenannte
natürliche Offenbarung in der alten Terminologie, für heilsnot-
wendig hält und dennoch - andererseits — sagt, daß der schuld-
lose Atheist das Heil findet, der kann für den heilsnotwendigen
Glauben dieses schuldlosen (aber bleibenden) Atheisten nicht
mehr fordern als die gnadenhafte und schon die Selbstoffen-
barung Gottes einschließende Radikalisierung und Finali-
sierung des sittlichen Aktes auf die Unmittelbarkeit Gottes hin
und die geschichtliche Vermittlung der freien Annahme dieser
gnadenhaft erhöhten Subjektivität; diese Vermittlung macht
trotz ihrer scheinbaren Natürlichkeit diese gnadenhaft erhöhte
sittliche Entscheidung zu einer geschichtlichen Offenbarung.
Diese Position impliziert natürlich die Behauptung, daß durch
die Einheit der menschlichen Gesamtgeschichte jedwedes
Moment in ihr einen objektiven Verweis auf dieses Ganze der
Geschichte und somit auch auf deren Höhepunkte einschließt,
zu denen das in dieser Geschichte gehört, was wir im tradi-
tionellen Sinn des Wortes ausdrückliche Offenbarungsge-
schichte mit ihrem unüberbietbaren Höhepunkt in Jesus Chri-
stus nennen, und daß es zum Wesen der Freiheit gehört, in
absoluten Entscheidungen auch jene Implikationen der Wirk-
lichkeit anzunehmen, die man nicht ausdrücklich in der
Freiheitsentscheidung reflektieren kann. Kann man diese Vor-
aussetzungen machen (und es scheint dem nichts unbedingt im
Wege zu stehen), dann kann man alle Glaubensgnade als auf
ihre Erscheinung im geschichtlichen Offenbarungsereignis hin-
geordnet verstehen, also auch jene Gnade, die wir einerseits
wegen des allgemeinen infralapsarischen Heilswillens Gottes
als universal denken müssen und bei der wir andererseits

395
zunächst wegen ihrer Transzendentalität keinen inkarnatori-
schen Charakter meinten entdecken zu können.
Aber wir können jetzt doch sagen, daß alle Heils- und
Glaubensgnade — auch wenn sie immer zugleich sehr in der
Transzendentalität des Menschen eingewurzelt gedacht werden
muß — wegen ihrer notwendig durch die Geschichte geschehen-
den Vermittelheit und wegen der Einheit der Menschheitsge-
schichte, in der jedes ihrer Momente auf das Ganze bezogen
und von allen andern ihrer Momente mitbedingt ist, in ge-
nügender Weise inkarnatorische, geschichtlich vermittelte und
. in diesem Sinne sakramentale Gnade ist. Wir brauchen auch
dort von dieser Sakramentalität die Gnade nicht auszu-
schließen, wo sie nicht unmittelbar durch eine historisch greif-
bare Beziehung zur alt- und neutestamentlichen Offenbarung
vermittelt wird.
Wer für den sakramentalen Charakter aller Heilsgnade mehr
verlangt, als wir als notwendig forderten, aber auch als ge-
nügend erachteten, der muß sich freilich fragen, wie er dann
noch mit dem Dilemma fertig wird, entweder zu viele Men-
schen von einer konkreten Heilsmöglichkeit auszuschließen,
von einer Heilsmöglichkeit, die für das heutige Glaubensbe-
wußtsein nur an der personalen Schuld des Menschen und an
sonst nichts (auch nicht an der Erbsünde) eine Grenze hat, oder
vielen Menschen eine Heilsmöglichkeit zuzuerkennen, die
keine Beziehung zur christlichen Offenbarung und zur in Jesus
Christus begründeten Gnade Gottes hat. Es mag einer gewissen
theologischen Anstrengung bedürfen, um die Universalität des
christlichen Heiles mit der Geschichtlichkeit der Offenbarung
und des Christentums zu versöhnen. Nur wenn dies gelingt,
nur wenn gezeigt wird, daß alle göttliche Gnade, in der sich
Gott selbst dem Menschen mitteilt, eine innere Dynamik hat,
in Jesus Christus, in seiner Kirche, in deren Sakramenten zur
geschichtlichen Erscheinung, in der sie selber irreversibel wird,
zu kommen, kann der Binar: Glaube und Sakramente, als eine
wirkliche Einheit von zwei Größen verstanden werden, die sich
gegenseitig bedingen und fordern. Nur dann hat das Begriffs-
paar Glaube — Sakramente ein wirklich theologisches Gewicht.

396
Te

|
_

Für die heutige Verkündigung des christlichen Glaubens ist


es von entscheidender Bedeutung, daß der Zusammenhang der
einzelnen Glaubensmysterien möglichst deutlich theologisch
herausgearbeitet und kerygmatisch verkündigt wird. Wo die
einzelnen Wirklichkeiten des Glaubens als ebensoviele Ein-
zeleinfälle Gottes nur hintereinander positivistisch aufgezählt
werden, werden sie unglaubwürdig. Darum muß verständlich
gemacht werden, daß die eine und ganze Selbstmitteilung
Gottes an die eine und ganze Welt in ihrer einen Geschichte in
ihr notwendig selber eine Geschichte hat — nicht in dem Sinne,
daß sich diese Begnadetheit der Welt in deren Geschichte nur
da und dort einmal mitten in sonstiger Natürlichkeit und
Profanität ereignet, sondern in dem Sinne, daß diese universale
und dauernde Begnadetheit der Welt eine Geschichte ihres Zu-
sich-selber-Kommens hat und von Gott her in der Geschichte
der kreatürlichen Freiheit zu einer eschatologischen Endgültig-
keit gelangt. Wo die universale und dauernde Begnadetheit der
Welt in diese ihre geschichtliche Phase der Unumkehrbarkeit
gelangt, ist Kirche und sind die Sakramente.

397
FRAGEN DER SAKRAMENTENTHEOLOGIE

Wenn man Sakramente verstehen will, sollte man zuerst daran


denken, daß es überall im menschlichen Leben, also nicht nur
im religiösen Bereich, Gesten gibt, die etwas ausdrücken, etwas
anzeigen, aber darüber hinaus auch wirklich bewirken, was sie
anzeigen. Das ist nicht selbstverständlich; es gibt sehr viele
Gesten, die nicht bewirken, was sie anzeigen. Wenn ich irgend-
wohin telefoniere, es gehe ein Gewitter herunter, dann ist das
Gewitter von meiner Meldung völlig unabhängig. Wenn aber
jemand einem anderen bewußt und hinterhältig eine Ohrfeige
gibt, dann drückt eine solche Ohrfeige die Verachtung und den
Haß des Ohrfeigengebers aus, aber ein solcher Ausdruck
bewirkt auch mindestens einmal eine Steigerung, eine
Radikalisierung, vielleicht auch eine Verendgültigung dieses
hassenden Verachtens auf seiten des Schlägers. Es gibt sicher-
lich Küsse zwischen Liebenden, bei denen der Kuß nicht nur
der Ausdruck der Liebe ist, sondern auch der konkrete Vollzug
dieser Liebe, so daß eine solche Liebe gar nicht dieselbe wäre,
wenn sie sich nicht so ausdrücken würde.

Ansdruck und Wirkung

Es gibt Gesten, die mitbringen und bewirken, was sie ausdrük-


ken. Wenn es so etwas ganz allgemein im menschlichen Leben
gibt, dann kann man das übertragen auf den eigentlichen religi-
ösen Bereich: Gott, Jesus und die Kirche - alle drei gewisser-
maßen als ezn handelndes Subjekt gedacht - setzen ein Zeichen,
eine Geste, welche das gnadenhafte Verhältnis des diese Geste
entgegennehmenden Menschen zu Gott nicht nur ausdrückt,
sondern dieses gnadenhafte Verhältnis auch bewirkt. Im religi-
ösen Bereich gibt es sicherlich sehr viele solcher Gesten. Wenn
ein Vater sein Kind segnet, wenn eine Mutter ihrem Kind ein
Kreuzzeichen auf die Stirne macht, wenn jemand niederkniet,
wenn jemand ein Kreuz küßt usw., dann sind das alles religiöse
Gesten und Zeichen eines inneren menschlichen Vorgangs, die
wenigstens mit einem gewissen Maß von Realisation dessen,

398
was so ausgedrückt wird, verbunden sind. Dort nun, wo die
Kirche in einer feierlichen, autoritativen Weise eine solche
Geste einem Menschen gegenüber macht, da ist dann mit dieser
Geste der Kirche das gegeben, was wir ein Sakrament nennen.
Wenn die Kirche einen Säugling in die Gemeinde aufnimmt,
wenn sie einen Menschen in das große, alle einigende Abend-
mahl Jesu mit hineinnimmt, wenn sie ihm tröstend in schwerer
Krankheit die Hand auflegt, die ihm in einer dunklen Stunde
seines Lebens sagt, daß Gott dennoch ihm gegenüber barmher-
zigist...: In solchen Gesten werden entscheidende Situationen
in heiligen Zeichen markiert, und solche Gesten bewirken dann
auch dasjenige, was sie bezeichnen.

Die Herkunft von Jesus


Die Kirche ist sich in einer längeren Reflexionsgeschichte des
Glaubens darüber bewußt geworden, daß sie sieben solcher
fundamentaler Gesten den einzelnen Christen gegenüber hat,
in denen in der Vollmacht Gottes auch bewirkt wird, was sie
bezeichnen. Diese sieben fundamentalen Zeichen oder Gesten
wirksamer Art nennt man die Sakramente. Eine solche
«Geste» wird meist aus einer Handlung und dem sie begleiten-
den Wort bestehen, kann aber auch ein bloßes Wort sein. Die
Kirche ist sich dessen bewußt, daß ihr diese Zeichen und
Gesten von der Autorität Jesu her gegeben sind. Wie diese
Rückbeziehung dieser heiligen Gesten der Kirche auf Jesus
genauer zu interpretieren ist, das ist noch einmal eine ziemlich
schwierige theologische Frage. Daß Jesus das Abendmahl ein-
gesetzt hat, das ist im Neuen Testament unmittelbar greifbar.
Man kann sich natürlich auf den Taufbefehl Jesu in Mt 28
berufen, von dem dort berichtet wird; nur könnte man viel-
leicht eine kritische Frage dabei anbringen, ob dieser Taufbe-
fehl, so wie er da berichtet wird, wirklich ganz unmittelbar auf
den historischen Jesus zurückgeht, weil die trinitarische Tauf-
formel, von der dort die Rede ist, nicht so leicht im Mund des
geschichtlichen Jesus gedacht werden kann. Aber selbst wenn
wir solche Sakramente nicht in dieser Weise, durch die Be-

399
rufung auf ein «Einsetzungswort» des geschichtlichen Jesus,
auf ihn zurückführen können, so ist damit der wirkliche, echte
Zusammenhang zwischen den einzelnen Sakramenten der
Kirche und Jesus noch längst nicht geleugnet oder in Zweifel
gezogen. Erstens einmal braucht nicht jedes einzelne Sa-
krament in genau derselben Weise auf Jesus zurückgeführt zu
werden, denn das Konzil von Trient lehrt ausdrücklich, daß die
einzelnen Sakramente in ihrem Wesen und ihrer Bedeutung
sehr verschiedener Natur sind. Das kann man unter Umständen
dann auch bezüglich der Weise der Einsetzung durch Jesus für
die einzelnen Sakramente gelten lassen. Es ist auch durchaus
nicht undenkbar oder sogar von der Entwicklung der Sa-
kramente in der Urkirche naheliegend, daß die Kirche aus
sinnvollen Gründen in einer Vollmacht, die ihr zusteht, ein
Sakrament gewissermaßen geteilt hat. So war die Urkirche
davon überzeugt, daß in der Taufe nicht nur die Vergebung der
Sünden und eine Aufnahme in die Kirche bewirkt werden,
sondern auch der Heilige Geist in einer ganz besonderen Weise
dem Täufling mitgeteilt wird. Von da aus kann man sich
durchaus denken, daß die Taufe mit Wasser und die dabei
ursprünglich gegebene Mitteilung des Heiligen Geistes durch
Handauflegung in einer gewissen Weise auseinandergetreten
sind und so für die spätere Reflexion der Kirche zwei Sa-
kramente bedeuten. Aber das Entscheidende in dieser Frage der
Herkunft der Sakramente von Jesus Christus ist wohl folgen-
des: Er, der Gekreuzigte und Auferstandene ist das letzte,
unüberholbare, endgültige und siegreiche Zusagewort, in
welchem Gott sich der Welt definitiv mitteilt. Er ist, so können
wir in unserer Terminologie sagen, das Zeichen der Gnade
Gottes, in dem unwiderruflich der Welt gegeben wird, was
dieses Zeichen besagt und sagen will.

Die bleibende Annahme

Wenn und insofern dieses bleibende, der gesamten Welt und


der ganzen Menschheitsgeschichte geltende, definitive Zusage-
wort wirklich in der Welt bleiben soll, dann kann es nur bleiben

400
\

als angenommenes, also als wirklich von den Menschen durch


alle künftigen Zeiten hindurch geglaubtes. Das Zusagewort
Gottes, Jesus Christus genannt, in der Welt muß das angenom-
mene und geglaubte Zusagewort sein und bleiben. Die bleiben-
de Gegenwart dieses göttlichen Zusagewortes in Jesus Christus
heißt Kirche, Gemeinde der Glaubenden, die nicht nur etwas
entgegennehmen, was Jesus gesagt hat, sondern die mit diesem
ihrem Glauben auch die Bleibendheit des göttlichen Zusage-
wortes in Jesus durch alle Zeiten in der Welt mitkonstituieren.
Wir können ruhig mit anderen Worten sagen, wie es das Zweite
Vatikanische Konzil auch getan hat: Die Kirche ist das un-
widerrufliche, in der Welt bleibende Sakrament des Heiles der
Welt. Die Kirche ist der große, einmalige Gestus Gottes und
Gestus der annehmenden Menschheit, in welchem die göttliche
Liebe, die Versöhnung und die Selbstmitteilung Gottes ewig
angezeigt und gegeben werden. Wenn und insofern nun die
Kirche dieses Wort, das sie selber ist, gleichsam konkret dif-
ferenziert und in die einzelnen Geschichten der Menschen an
den entscheidenden Punkten ihrer Existenz hineinsagt, dann
hat eine solche Konkretisierung des Sakramentes, Kirche
genannt, auf den einzelnen hin dieselben Eigentümlichkeiten,
wie sie eben im Wesen der Kirche gegeben sind. Es ist das
wirksame, das Ausgesagte selber mitteilende, das von sich aus
sicher wirksame Wort der Kirche. Wenn und insofern die
Kirche einem bestimmten Menschen dieses Wort, in dem sie
sich selber gleichsam konkretisiert und differenziert, sagt, dann
muß dieses Wort vom Glauben des dieses Wort Empfangenden
entgegengenommen werden, sonst ist und bleibt es unwirk-
sam.
Diese siegreiche, endgültige, unwiderrufliche Bedeutung des
Wortes der Kirche in ihren sakramentalen Zeichen nennt man
auch die Wirksamkeit der Sakramente von ihnen selber her, mit
dem lateinischen Wort «opus operatum». Damit ist in keiner
Weise geleugnet oder verdunkelt, daß, was Gott von sich aus
bedingungslos im Wort der Kirche dem Menschen sagt, bei
ihm nur in Glaube, Hoffnung und Liebe ankommen kann.
Aber es ist das Wort Gottes, das entweder die Seligkeit des
401
"like
2

Menschen ist oder auch, wenn es in Unglauben empfangen


wird, sein Gericht, wie Paulus bezüglich der Eucharistie aus-
drücklich sagt.

Die Geschichte ist nicht abgeschlossen

Diese Weise, in der die Kirche ihr innerstes Wesen als Gegen-
wart der siegreichen Gnade Gottes den einzelnen Menschen
zusagt, hat im Lauf der zwei Jahrtausende selber eine sehr
abwechslungsreiche und große Geschichte gehabt. Der Tauf-
titus war nicht immer der gleiche; er muß schon notwendiger-
weise variieren, je nachdem, ob Säuglinge oder Erwachsene
getauft werden. Die Weise des Empfangs des Abendmahls Jesu
war in den verschiedenen Zeiten verschieden: in der genaueren
Ausgestaltung der Feier des Abendmahls Jesu, in der Art des
Brotes, in der Frage, ob nur Brotkommunion oder auch Kelch-
kommunion von den einzelnen Gläubigen empfangen wird, in
der nebensächlichen Frage der Mund- oder Handkommunion
usw. So war es auch bei den anderen Sakramenten. Die Bedin-
gungen, unter denen die Kirche das Wort der bleibenden Liebe
zwischen zwei Menschen als Sakrament gelten läßt, waren
verschieden, haben verschiedene Modalitäten gehabt bis auf
den heutigen Tag. Aus den verschiedensten (auch aus sozialen)
Gründen war die Häufigkeit des Empfangs der Krankensal-
bung in den verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich. Ähnli-
ches gilt von der Firmung; sie wird in den Ostkirchen immer
noch unmittelbar zusammen mit der Taufe gespendet. Bei uns
liegen viele Jahre religiöser Erziehung zwischen Taufe und
Firmung. Das Bußsakrament hat eine ungeheuer bewegte Ge-
schichte gehabt, und es sieht nicht so aus, als ob diese Geschich-
te einfach schon in eine immer weiter, genau gleichbleibende
Praxis eingemündet sei. Das letztlich ezne Amt in der Kirche,
das es geben muß, konnte und mußte aus sinnvollen und
berechtigten Gründen der konkreten gesellschaftlichen und
geschichtlichen Situation in verschiedene Teilämter geteilt
werden. Schon sehr früh wurden Priestertum, Bischofsamt,

402
Diakonat differenziert, und dementsprechend konnten die kon-
kreten Riten, unter denen solche Amtsvollmachten gegeben
wurden, sehr verschieden gestaltet werden. Bis zum Pontifikat
Pius’ XII. war es zum Beispiel bei der Priesterweihe im abend-
ländischen Westen nicht absolut sicher, ob die Handauflegung
allein der entscheidende Ritus ist, oder ob zur Gültigkeit der
Priesterweihe notwendig die Übergabe von Patene und Kelch
durch den Bischof an den Weihekandidaten erforderlich ist.
Solche Entwicklungen brauchen auch heute noch nicht
definitiv abgeschlossen zu sein. Es ist z.B. durchaus denkbar,
daß die Kirche faktisch einen heiligen Ritus, also eine solche
Gnadengeste Gottes an einem Menschen vollzieht, ohne schon
ausdrücklich und sicher auf die sogenannte Sakramentalität
dieses Ritus zu reflektieren. Im Mittelalter z.B. hat der
hl. Thomas erklärt, die Bischofsweihe sei kein Sakrament. Sie
wurde damals ungefähr so wie heute auch gespendet, aber daß
dieser Gestus an der Würde eines eigentlichen Sakramentes
Jesu Christi teilhat, das war für die damalige Kirche nicht klar.
Heute hat die Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil diese
Sakramentalität der Bischofsweihe als solcher ausdrücklich
erklärt. Sie ist gewissermaßen in ihrer Reflexion weiter voran-
geschritten. So könnte man sich auch heute noch denken, daß
andere Amtsbeauftragungen, die es in der Kirche ja gibt, viel-
leicht auch an dieser Sakramentalität der Amtsübertragung in
der Kirche teilhaben, obwohl es die Kirche noch nicht deutlich
reflektiert. Ich glaube nicht, daß jemand eine Häresie behaup-
ten würde, wenn er der Meinung ist, die amtliche, feierliche
dauernde Bestellung eines Pastoralassistenten könnte auch
ebensogut an der Sakramentalität der Amtsübertragung in der
Kirche teilhaben, wie es der hl. Thomas vom Ministrantenamt
in der Kirche behauptet hatte. Das ist keine furchtbar wichtige
Frage, aber man sieht doch, daß in der katholischen Sakramen-
tentheologie noch nicht alle Fragen geklärt sind, und es können
auch neue Fragen auftreten, die eine ernsthafte religiöse Be-
deutung haben.

403
) Der Spielraum ist größer geworden

Es wurde schon vorher gesagt, daß die Entgegennahme eines


solchen, die Sache selbst mitbringenden Zeichens und Gestus
der Kirche nur dann sinnvoll und auch sittlich berechtigt ist,
wenn sie in der diesem Gestus entsprechenden Weise angenom-
men wird. Ein bloßer Empfang des eucharistischen Brotes
durch einen, der gar nicht in der genügenden sittlichen Verfas-
sung ist, der nur gewohnheitsmäßig heute mit allen anderen an
den Altar läuft, ist etwas, das sinnwidrig und unmoralisch ist.
Schon Paulus hat gefordert, daß der, der zum Abendmahl
hinzutritt, sich vorher prüfen müsse, ob er die nötigen Voraus-
setzungen mitbringt und wirklich das Brot der Eucharistie vom
anderen Brot unterscheidet. Dazu ist nicht nur notwendig, daß
er eine gewisse, wenn vielleicht auch rudimentäre Kenntnis
über die Eucharistie hat, sondern er muß auch gewisse sittliche
Voraussetzungen fundamentaler Art mitbringen.
Was die sogenannte «Disposition», d.h. die innere und
äußere, für den echten und fruchtbaren Empfang der heiligen
Kommunion erforderlichen Voraussetzung angeht, so lehrt die
Kirche, daß jemand, der objektiv und subjektiv sich einer
schweren Schuld bewußt ist, die er noch nicht sakramental im
Bußsakrament getilgt hat, die Eucharistie erst nach sakramen-
taler Tilgung seiner Schuld empfangen soll. Daß das für
normale Situationen gilt und im Sonderfall auch zum Empfang
der Eucharistie eine bloße innere Hinkehr zu Gott in wirklicher
Reue genügen kann, das ist eine andere Sache. Aber die Frage,
wann und unter welchen Voraussetzungen eine (noch nicht
sakramental getilgte) Schuld objektiver und subjektiver
Schwere gegeben sei, ist eine schwierige Frage, die gar nicht
leicht beantwortet werden kann. In früheren Jahrzehnten hat
so der normale Christ den Eindruck gehabt, daß er, wenn er
an einem Sonntag aus Bequemlichkeit, ohne vernünftigen
Grund dem Gottesdienst fernblieb, eine schwere Sünde began-
gen habe, die er vor einer neuen Kommunion durch eine
Beichte tilgen müsse. Heute werden vielleicht viele Christen,
die es ernst meinen, doch der Überzeugung sein, daß ein

404
solches Versäumen einer Sonntagsmesse für sie mindestens
subjektiv vor Gott noch keine schwere Schuld bedeute, die vor
einem neuen Kommunionempfang sakramental getilgt sein
müsse.
Durch diese Fragen ist, weil sie gar nicht eindeutig von seiten.
der Kirche beantwortet werden können, ein sehr großer Spiel-
raum offen hinsichtlich der Frage des einzelnen Christen, ob er
sich zubilligen könne oder nicht, ohne vorhergehende Beichte
zur Kommunion hinzutreten. Daß in den letzten Jahrzehnten
in diesen Fragen ein gewisser Stilwandel eingetreten ist, läßt
sich nicht bestreiten. Daß im Normalfall die Mitfeier der Eu-
charistie auch mit einem persönlichen Kommunionempfang
verbunden ist, ist an sich löblicherweise heute etwas, das zum
normalen Verständnis eines Christen gehört — in einem erhebli-
chen Unterschied zur Praxis früherer Zeiten. Aber hier ist doch
auch die Gefahr gegeben, daß eine Laxheit bei den Christen sich
einschleicht, die nicht sein sollte.

405
TAUFE UND TAUFERNEUERUNG

Die Kirche versteht die Taufe als den sakramentalen Eintritt


in die Kirche und damit in das volle christliche Leben. Darum
versteht man die Taufe nur wirklich in dem Maße, als man
Christentum und Kirche begreift. Wenn man somit die Taufe
verständlich machen will, muß man eigentlich vom Christen-
tum und der Kirche selber sprechen. Da eine Auskunft darüber,
was Christentum in der Kirche bedeutet, in einem kurzen
Aufsatz natürlich nicht zureichend gegeben werden kann, ist
' das, was hier von der Taufe gesagt wird, notwendig fragmen-
tarisch und nur eine etwas willkürliche Auswahl aus dem, was
über die Taufe gesagt werden müßte.
Die Taufe ist nach christlicher Lehre, wie sie schon im Neuen
Testament bezeugt wird, das Sakrament des Glaubens und der
Rechtfertigung, vermittelt also jenes Leben, das Gott durch
seine Selbstmitteilung (oder Einwohnung oder Besiegelung mit
dem Heiligen Geist Gottes) dem Menschen schenkt, um ihn so
fähig zu machen für das ewige Leben in der unmittelbaren
Einheit und Gemeinschaft mit Gott. Wenn man also verständ-
lich machen wollte, was die Taufe ist, müßte man eigentlich
von Gott, seinem ewigen Leben, seiner Selbstmitteilung an den
Menschen durch die Gnade des Heiligen Geistes sprechen. Das
aber wäre eigentlich dann nicht mehr bloß die Lehre von einem
einzelnen Sakrament (wirksamen Gnadenzeichen), sondern die
Lehre vom christlichen Menschen überhaupt.
Wir wollen daher für unsere Überlegungen einen anderen
Weg einschlagen, auf dem wir vielleicht auch besser und ver-
ständlicher mit der Hauptschwierigkeit bezüglich der Taufe
fertig werden, die heute wohl viele Menschen auch in der
Kirche beunruhigt. Sie fragen nämlich, wozu es denn eine
Taufe und sogar eine Kindertaufe gebe, wenn man doch wissen
oder wenigstens hoffen dürfe, daß Gott jeden Menschen guten
Willens — also auch den Nichtgetauften, den «Heiden», ja
sogar den Atheisten (wenn er seinem Gewissen treu ist) — zum
ewigen Heil führt. Um auf diesem Weg durch diese Schwierig-
406
keit hindurch weiterzukommen, müssen ein paar Vorüber-
legungen angestellt werden.

Gesinnung und Geste


Der Mensch ist ein eines und doch vielfältiges Wesen. Seine
Einheit ist die Einheit von vielem, das voneinander unter-
schieden ist und doch eine Einheit bildet, und zwar so, daß
diese Verschiedenheiten in dieser Einheit sich gegenseitig be-
dingen und keines zu seiner eigenen Vollendung kommt ohne
das andere. Das ist sehr abstrakt gesagt, aber was gemeint ist,
läßt sich am Menschen und in seinem Leben immer und überall
beobachten. Die Liebe eines Menschen zu einem anderen z.B.
ist als innere Gesinnung von einem Blick, einer Geste, einer
Zärtlichkeit usw. verschieden, und doch kann sich unter Um-
ständen eine solche innere Gesinnung der Liebe nur selber ganz
verwirklichen, wenn sie auch in einer solchen leibhaftigen
Geste sich ausdrückt und «verleiblicht». Die innere Verbun-
denheit mehrerer Menschen ist eine Wirklichkeit in ihrer Ge-
sinnung und doch ist sie unter Umständen erst ganz und gar
sie selber, wenn diese Menschen an einem Tisch zusammen
essen. In solchen und unzählig vielen anderen Fällen gibt es im
Menschen ein Inneres und ein Äußeres; beide sind verschieden
und gehören doch zusammen. Das Innere vollendet sich selber
erst ganz und eindeutig, wenn es sich selber in diesem Äußeren
zur Erscheinung bringt und verleiblicht. Das Äußere kann
unter Umständen lügnerisch vorhanden sein (wie ein Judas-
kuß), ohne daß das Innere, das dadurch sich selbst verwirkli-
chen und zur Erscheinung bringen soll, wirklich vorhanden ist.
Aber das Äußere kann auch, wenn der Mensch es sinngemäß
und willig vollzieht, das Innere werden lassen. Mancher z.B.
begriff plötzlich innerlich, was Beten sei, dadurch, daß er sich
hinkniete. Liebe kann selber wachsen als innerste Wirklichkeit
dadurch, daß ein Mensch sich liebevoll gegenüber dem anderen
beträgt. Setzen wir ein williges Verständnis dieser Andeutun-
gen voraus und fragen wir, was dies für das Verständnis der
Taufe bedeuten könne.
407
Unaufhebbares Angebot

Gehen wir einmal ruhig und zuversichtlich davon aus, daß


Gott jeden Menschen liebt, ihn bei seinem Namen gerufen hat,
sich selber in freier Liebe in dem Augenblick, da er den Men-
schen ins Dasein ruft, auch schon mit seiner ganzen Wirklich-
' keit als innerste Kraft und als Ziel jedem Menschen eingestiftet
hat, daß Gott sich selber immer jedem Menschen und seiner
Freiheit als Ziel und als innerste Kraft und Bewegung auf dieses
Ziel hin zugleich anbietet, auch wenn diese menschliche
Freiheit sich diesem immer gegebenen, gar nicht aufhebbaren
Angebot verschließen kann. So ähnlich wie ein Mensch un-
weigerlich ein geistig personales Wesen ist und doch tierisch
in Freiheit seinem nicht abschaffbaren Wesen widersprechen
kann. Dieses immer gegebene Angebot des göttlichen Lebens
im Menschen besteht, von Gott her gesehen, immer und überall
darum (ob man es weiß oder nicht), weil Gott die gesamte
Menschheit auf den Gottmenschen hin gewollt hat, weil die
Gesamtmenschheit in dem einen Jesus, dem Gekreuzigten und
Auferstandenen, von Gott angenommen worden ist. Insofern
ist dieses innerste Gnadenangebot Gottes, aus dem kein
Mensch je entlassen wird, auch wesentlich «christlich». Diese
innerste Begnadetheit jedes Menschen will sich aber in allen
Dimensionen des Menschen verleiblichen und in Erscheinung
bringen als göttliche und als «christliche» Wirklichkeit, als
eine, die den einzelnen als unvertretbar einzelnen und als Glied
der Gesamtmenschheit meint. Natürlich kann diese innere Be-
gnadigung des Menschen auch gegeben sein ohne diese ihrem
Wesen gemäße äußere Verleiblichung und Erscheinung. Das
hat der christliche Glaube immer gewußt, er spricht z.B. von
der Begierdetaufe, die schon vor der Wassertaufe den Men-
schen rechtfertigt, d.h. mit dem göttlichen Leben begnadigt,
oder von der vollkommenen Reue, durch die der Mensch schon
vor dem Empfang des Bußsakramentes das ihm immer ange-
botene göttliche Leben in Freiheit annimmt. Aber darum ist
diese Verleiblichung und dieses In-Erscheinung-Treten der
göttlichen Gnade durch das Sakrament (der Taufe oder der
408
Buße) nicht etwas, das in das freie Belieben des Menschen
gestellt ist. Denn dieses göttliche Leben in der Gnade des
Heiligen Geistes will von sich selber her sich verleiblichen und
im gesellschaftlichen Bereich der Glaubenden, Kirche genannt,
in Erscheinung treten. Wenn sich jemand frei schuldhaft dieser
Tendenz des göttlichen Lebens, leibhaftig und gesellschaftlich
in Erscheinung zu treten, versagt, lehnt er nicht nur diese
Verleiblichung als solche ab, sondern auch dieses göttliche
Gnadenangebot selber. Es ist so ähnlich, wie wenn einer sagen
würde, er liebe ja in seinem Herzen einen Menschen seiner
Umgebung, verweigere ihm aber, weil das ja etwas anderes sei,
nur einen bestimmten, diesem anderen notwendigen Dienst, in
dem sich diese innere Liebe ausdrücken sollte. Wer diesen
Dienst verweigert, verneint auch seine innere Liebe, obwohl
dieser Dienst und die innere Liebe nicht dasselbe sind. So ist
es auch bei der Taufe.
Wenn jemand nicht von der Taufe weiß oder sie nicht emp-
fangen kann, lebt das göttliche Leben dennoch in der innersten
Mitte eines Menschen als Angebot oder auch als in Freiheit
angenommenes göttliches Leben, wenn nämlich in irgendeiner,
vielleicht gar nicht ausdrücklich reflektierten Weise der Mensch
dieses göttliche Angebot annimmt in dem, was wir Glaube,
Hoffnung und Liebe nennen, die auch in einer ganz unreflek-
tierten Weise in einer selbstlosen Nächstenliebe und in anderen
Entscheidungen gegeben sein können, in denen der Mensch
sich auf dieses göttliche Leben einläßt.

Leib der Gnade

Wenn aber ein Mensch in der Situation lebt, in der die leibhaf-
tige und gesellschaftliche Erscheinung dieses göttlichen
Lebens, Taufe genannt, möglich ist, dann kann ein Mensch
nicht sagen, er wolle dieses göttliche Leben, lehne aber sein
leibhaftiges In-Erscheinung-Treten ab. Das wäre so, wie wenn:
einer die konkrete Tat der Liebe ablehnt und dennoch behaup-
tet, er liebe. Das wäre so, als wenn ein Mensch nicht erwachsen

409
werden wollte, mit der Erklärung, er sei ja auch schon im
embryonalen Zustand ein Mensch und verzichte darum auf eine
weitere Entfaltung seines Menschseins. Die Taufe ist das kon-
krete In-Erscheinung-Treten des göttlichen Lebens, insofern
dieses immer auch ein christliches und darum kirchliches ist.
Insofern diese Leibhaftigkeit des göttlichen Lebens immer auch
eine kirchliche Wirklichkeit ist, ist es nicht in das Belieben des
einzelnen Menschen gestellt, wie er diese Leiblichkeit des gött-
lichen Gnadenlebens in sich gestalten wolle. Er muß sie wollen
und vollziehen in der Weise, die ihm von dieser kirchlichen
Gemeinschaft vorgegeben ist. Und diese Weise ist eben die
Wassertaufe unter der Anrufung des dreifaltigen Gottes. Wenn
jemand einen rechtlich wirksamen Willen bekunden will, sein
Vermögen einem freigewählten Erben zu hinterlassen, dann
muß sich dieser sein Wille eben, um wirksam zu sein, durch ein
nach den Normen der Gesellschaft gültiges Testament bekun-
den. Analog ist es auch bei der Wassertaufe.
Wir müssen nun noch zwei Fragen bedenken, die sich als
Schwierigkeiten aus dem bisher Gesagten ergeben. Die erste
Schwierigkeit liegt darin, daß von unserem Ansatz her die
sakramentale Ursächlichkeit der Taufe für die Gnade schwerer
verständlich zu sein scheint, als wenn einfach der sakramentale
Vorgang als Ursache der Taufgnade gedacht wird, ohne die
Taufe zunächst als Erscheinung und so als Zeichen der inneren
göttlichen Begnadigung zu sehen. Die zweite Schwierigkeit,
die wir bedenken müssen, bezieht sich auf die Kindertaufe.

Tat Gottes selbst

Wir haben bisher die Taufe gesehen als die geschichtliche und
gesellschaftliche Erscheinung der göttlichen Gnade, in der sich
Gott selbst in die innerste Mitte des Menschen einstiftet und
sich der Freiheit des Menschen als Kraft des Glaubens, der
Hoffnung und der Liebe auf Gott hin anbietet. So gesehen,
scheint die Taufe nur die Verlautbarung einer Wirklichkeit zu
sein, die auch unabhängig von ihr gegeben ist. Die kirchliche
410
Lehre spricht aber von einer Wirkursächlichkeit der Sakramen-
te und also auch der Taufe für die Gnade. Sind diese beiden
Aussagen nicht miteinander vereinbar? Oder kann man sinn-
voll sagen, der Charakter der Taufe als eines die Gnade verlaut-
barenden Zeichens und die Wirkursächlichkeit bedingen sich
gegenseitig, so daß man sagen kann, die Taufe sei die Ursache
der Gnade, wez/ sie ihr Zeichen ist? Daß man dann, wenn man
dies sagen können soll, nicht einen beliebigen Begriff von
Ursache in diesen Satz eintragen darf, sondern sich eine berech-
tigte und sinnvolle Vorstellung von der hier gegebenen Ur-
sächlichkeit machen muß, ist selbstverständlich. Darauf macht
ja auch schon die traditionelle Schultheologie aufmerksam,
wenn sie sagt, daß bei der Taufe selbstverständlich Gott selbst
die eigentliche und einzige schöpferische Ursache der göttli-
chen Gnade sei und die Taufe nur als eine «Instru-
mentalursache» gedacht werden dürfe, wobei die Theologen
die verschiedensten Theorien vortragen, wie diese Instrumen-
talursächlichkeit der Sakramente genauer zu denken sei.
Daß man unseren Ausgangspunkt zum Verständnis der
Taufe bei ihrem Zeichencharakter nicht von vornherein ableh-
nen kann, zeigt folgende Überlegung: Wenn ein Erwachsener
sich taufen läßt, muß er, um das Sakrament würdig empfangen
zu können, schon Glaube, Hoffnung und Liebe zur Taufe
mitbringen, wobei diese Liebe mindestens im Normalfall
durchaus so gedacht werden muß, daß sie Gott um seiner selbst _
willen liebt, also «vollkommene Liebe» im Unterschied zu
jener Liebe ist, die in der «Furchtreue» mitgegeben ist. Unter
dieser Voraussetzung kommt dieser Erwachsene nach allge-
meiner Lehre der Kirche und der Theologen schon als «Ge-
rechtfertigter» zur Taufe, als einer, der das ihm angebotene
göttliche Leben schon angenommen hat und ein heiliges Kind
Gottes durch die Einwohnung des Heiligen Geistes ist. Minde-
stens also in diesem Fall hat der Täufling das schon, was ihm
die Taufe als Ursache geben soll, die Rechtfertigungsgnade.
Die Theologen suchen dieser Schwierigkeit zu entkommen,
indem sie sagen, die Taufe dieses schon Gerechtfertigten ver-
mehre ursächlich diese seine Gnade und gebe zusätzlich einiges,
411
das dieser zu taufende Gerechtfertigte noch nicht besitzt, z.B.
die gesellschaftsrechtliche Eingliederung in die sichtbare
Kirche, den «Taufcharakter». Aber diese Auskunft scheint
doch etwas gequält zu sein, ohne daß dies hier noch lange
erörtert werden kann. Gehen wir, um weiterzukommen, von
einer Überlegung aus, die ganz am Anfang vorgetragen wurde.
Wie ist es, wenn einer, der jemand anderen von Herzen liebt
und dann auch, obwohl ihm das vielleicht aus irgendwelchen
Gründen gar nicht leicht fällt, das entscheidende Wort seiner
Liebe dem anderen sagt? Dieses Wort ist Äußerung und Ent-
scheidung seiner Liebe, und dennoch verwirklicht sich diese
Liebe in ihrer ganzen Intensität und Endgültigkeit durch dieses
Wort, sie wäre nicht einfach dieselbe, wenn sie sich nicht in
dieser ihrer Verlautbarung ausdrücken und so sich se/ber ver-
wirklichen würde. Insofern kann man dieses Wort als Zeichen
dieser Liebe durchaus auch als ihre Ursache verstehen, weil
diese Liebe sich durch diese — an sich von ihr verschiedene —
Verlautbarung selber verwirklicht. Wenden wir diese Über-
legung auf die Taufe des schon gerechtfertigten Täuflings an.
Er bringt die in Freiheit schon angenommene göttliche Be-
gnadigung zur Taufe mit. Aber eben diese Gnade will sich
selbst in diesem Taufvorgang geschichtlich (raumzeitlich —
leibhaftig) und gesellschaftlich (kirchlich) verlautbaren, und
indem sie sich so verlautbart, wird sie selber auch in den
Dimensionen der Leibhaftigkeit und Gesellschaftlichkeit des
Täuflings gegenwärtig. Die Taufe ist so die Wirkung der
Gnade, daß durch sie diese Gnade sich selber voll verwirklicht,
und insofern ist die Taufe auch die Ursache der Gnade. (In-
sofern ist die oben erwähnte Auskunft, daß die Taufe beim
schon gerechtfertigten Täufling die heiligmachende Gnade
«vermehre», an sich richtig, nur faßt sie diese Vermehrung als
fast quantitativ gedachten Zusatz auf und versteht nicht, daß
dieses «Mehr» die Selbstverwirklichung der einen Gnade ist,
die sich durch ihr sakramentales Zeichen selbst in ihre volle
Wirklichkeit setzt.) Wenn wir dies so schen, können wir ver-
stehen, was es heißt, das Sakrament sei a/s Zeichen der Gnade
ihre Ursächlichkeit. Der Charakter des Zeichens und der

412
Charakter der Ursache liegen, richtig verstanden, bei einem
Sakrament nicht nebeneinander, sondern ineinander.

Die Kindertaufe
Wir müssen schließlich noch einige Überlegungen über die
Kindertaufe anstellen, die durch viele Jahrhunderte in der
Kirche eine Selbstverständlichkeit war, jetzt aber wieder ange-
fochten wird, weil sie (wie man sagt) im Neuen Testament nicht
bezeugt sei und dem personalen Charakter des Christwerdens
widerspreche. Dennoch hält die Kirche unerbittlich an der
grundsätzlichen Berechtigung und Sinnhaftigkeit der Kinder-
taufe fest, auch wenn man vielleicht nicht mit der gleichen
Eindeutigkeit und Sicherheit eine Verpflichtung zur Kinder-
taufe behaupten kann. Warum ist die Kindertaufe durchaus
sinnvoll und sollte darum auch nicht von Eltern abgelehnt
werden, die sagen, man müsse das Christwerden und die Ein-
gliederung in die Kirche der freien Entscheidung des Kindes
überlassen, es dürfe also nicht unmündig getauft werden?
Zunächst einmal ist doch das, was die Taufe leibhaftig und
gesellschaftlich bekundet, gar nicht in das Belieben und die
Entscheidung des Menschen gestellt. Denn Gottes Liebe, in der
Gott sich selbst zur innersten Dynamik des Menschen und
seiner Geschichte macht, ist unerbittlich und immer schon dem
Menschen und seiner Freiheitsentscheidung voraus und fragt
diese gerade, ob sie diese fordernde Liebe Gottes annehmen
wolle oder nicht, ob sie das Heil oder das Gericht dieses
Menschen durch seine freie Entscheidung werden sollte.
Gefragt sind wir auf jeden Fall — gleichgültig, wie wir darauf
antworten —, und dieses unerbittliche Gefragtsein durch die
heilige Liebe Gottes verlautbart die Taufe. Wenn man geboren
ist, kann man sein Menschsein annehmen oder hassen, man
kann aber seine Gegebenheit nicht aus der Welt schaffen.
Menschliche Freiheit ist immer und unweigerlich eine Reaktion
auf Vorgegebenes, setzt nicht ein schlechthin Ursprüngliches
in einen leeren Raum. Wenn daher in der Taufe in Erscheinung
tritt, was der Mensch unerbittlich und unausweichlich ist —

413
nämlich die von Gott geliebte Kreatur, die zum Empfang des
göttlichen Lebens bestimmt ist —, dann geschieht dieser Freiheit
kein Unrecht, weil sie Gott und der Welt gegenüber immer eine
antwortende Freiheit ist, die nie das erste Wort hat. _
Wenn man einwenden würde, durch die Taufe sei nicht nur
die unentrinnbare Gottbezogenheit des Menschen verlautbart,
sondern auch eine Zugehörigkeit zur sichtbaren Kirche gestif-
tet und diesbezüglich wenigstens müsse der Mensch eine Ent-
scheidungsfreiheit bewahren, dann ist zu sagen: Die Kirche
versteht sich in ihrem eigentlichen Wesen als die geschichtliche
und gesellschaftliche Erscheinung der Gerufenheit aller Men-
schen durch Gott und empfindet darum die Zugehörigkeit zur
Kirche als ein selbstverständliches In-Erscheinung-Treten
dieser Beanspruchtheit jedes Menschen vor Gott. Es kann wohl
(ohne daß das hier genauer erläutert werden kann) zugegeben
werden, daß die Kirche in früheren Zeiten aus dieser Zuge-
hörigkeit des Getauften zur Kirche Folgerungen gezogen hat,
die problematisch sind. Sie hatte daraus z.B. ein Recht zu
Zwangsmaßnahmen gegenüber dem Getauften abgeleitet, das
sie nach ihrem eigenen Selbstverständnis gegenüber den Nicht-
getauften nicht besitzt. Aber solche Folgerungen werden heute
nicht mehr von der Kirche gezogen, weil sie eine gleiche
Gewissensfreiheit für Getaufte und Nichtgetaufte bekennt.
Und insofern ist diese Schwierigkeit aus der Zugehörigkeit zur
Kirche heute nicht mehr gegeben. Die Taufe ist die selbstver-
ständliche Manifestation einer Hingeordnetheit jedes Men-
schen auf die Kirche, und insofern bedeutet sie keine Vorweg-
nahme einer Entscheidung, die von der Freiheit allein getroffen
werden müßte.
Aber etwas an der Kindertaufe muß noch bedacht werden,
das in unseren Gegenden durch den Umstand verdunkelt wird,
daß Kindertaufen sehr häufig und Erwachsenentaufen sehr
selten sind. Wenn die Taufe das wirksame In-Erscheinung-
Treten der göttlichen Liebe zum Menschen ist, die Gott selbst
und nicht ein geschaffenes Gut dem Menschen mitteilt, dann
ist sie natürlich von ihrem innerlichsten Wesen her ein Anruf
an den Menschen, diese Liebe anzunehmen. Man kann darum

414
ruhig sagen, die Kindertaufe komme zu ihrem eigenen Sinn
und ihrer Vollendung dadurch, daß der Mensch in Glaube,
Hoffnung und Liebe diese ihm zugesagte Liebe Gottes
annimmt. Man kann also ruhig sagen, die Kindertaufe komme
zu ihrem vollen Sinn und Ziel erst im Erwachsenen. Ob dieser
so sein ihm als Kind gemachtes Selbstangebot Gottes durch das
normale christliche Leben in Liebe und Treue annimmt oder
immer wieder auch ausdrücklich in seiner christlichen Freiheit
seine Taufe im Kindesalter ratifiziert, das ist letztlich keine
entscheidende Frage. Die letzte und entscheidende Übernahme
der Taufe in persönlicher Freiheit geschieht natürlich auf jeden
Fall durch die Ganzheit eines menschlichen und christlichen
Lebens in seiner ganzen Länge und Breite. Aber es ist doch
sicherlich gut und heilsam, sich glaubend und vertrauend aus-
drücklich auf seine Taufe am Anfang des Lebens zurückbe-
ziehen zu können. Was in der Osternacht die Liturgie als
Erneuerung des Taufgelübdes jedem Christen anbietet, das
könnte auch unabhängig von der amtlichen Liturgie im Leben
eines Christen vorkommen. Er blickt auf sein Leben zurück;
er weiß, daß dieses Leben von Anfang an von der Macht und
der Liebe Gottes begleitet und getragen war und Gott es in
seiner Vorsehung liebevoll gefügt hatte, daß diese Liebe zu ihm
leibhaftig und ausdrücklich durch die Taufe am Lebensanfang
bezeugt wurde. Der Christ kann immer wieder das Ereignis der
Taufe gegenwärtig werden lassen und annehmen. Wenn in 2
Tim 1,6f gesagt wird: «Entfache die Gnade Gottes wieder, die
dir durch die Auflegung meiner Hände zuteil geworden ist,
denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben,
sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit»
— dann kann jeder Christ dieses Wort, das zunächst für die
kirchliche Amtsverleihung gesagt wurde, auch sinngemäß in
bezug auf seine Taufe verstehen. In ihr hat er den göttlichen
Geist der Liebe erhalten und hat die Aufgabe, dieses göttliche
Feuer in sich lebendig zu halten. Man sollte manchmal auch im
stillen Kämmerlein Tauferneuerung feiern.

415
Tauferneuerung

Wenn verständlich gemacht werden soll, was mit Taufer-


neuerung gemeint ist, dann muß zunächst bedacht werden, daß
das Gnadenleben eines Christen ein wirkliches Leben ist. Es
entwickelt sich, wächst, nimmt zu im Laufe eines Lebens in
freier christlicher Verantwortung. Immer und überall, wo ein
Mensch auf Gott hin in Freiheit sein Leben gestaltet, also auch
im scheinbar so banalen Alltag, ereignet sich das Gnadenleben
und dessen Wachstum. Dieses wachsende und reifende Leben
ist aber selbstverständlich das Leben und das Wachstum der
Gnade, die dem Menschen in sakramentaler Greifbarkeit in der
Taufe zuteil wird, ist also Leben und Wachstum und Reifung
der Taufgnade. Wenn man ehrlich ist, wenn man sich einen
selbstlosen Dienst zugunsten des Nächsten abringt, wenn man
tapfer ist, seine Launen beherrscht, wenn man fröhlich bleibt,
obwohl es einem nicht leichtfällt, aber vor allem, wenn man die
großen und schweren Entscheidungen im Leben christlich
besteht, dann kommt man auch Gott näher (selbst wenn man
dabei nicht immer ausdrücklich an ihn denkt), dann wächst die
Taufgnade. Man kann (um zu primitiv-quantitative Vorstellun-
gen zu vermeiden) auch sagen: Die Taufgnade wird immer
mehr verinnerlicht, verwurzelt sich immer mehr in der Mitte
einer menschlichen Existenz.
All das ist eigentlich schon Tauferneuerung, auch wenn man
nicht ausdrücklich daran denkt, daß man ein getaufter Christ
ist: Die Taufgnade lebt und wächst im christlichen Leben in
seiner ganzen Länge und Breite. Aber man kann im Alltag doch
auch ab und zu ausdrücklich sich selber sagen, in all den großen
und kleinen Ereignissen seines Lebens: Du bist getauft, in der
innersten Mitte deines Wesens lebt und will der Heilige Geist
wirken; Gott hat dich beim Namen genannt, dich mit sich
selbst begnadigt und vergöttlicht. Er will, daß diese göttliche
Lebendigkeit auch wirklich Macht gewinnt in deinem Leben,
bis in seine banalsten Alltäglichkeiten hinein, du darfst nicht
bloß besiegelt sein mit dem Heiligen Geist, du mußt auch die
Früchte des Geistes erbringen, die nach Paulus sind: Liebe,
416
Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanft-
mut und Selbstbeherrschung. Wenn man so sich ausdrücklich
an seine Taufgnade zu erinnern sucht und sich ausdrücklich
ermuntert, aus ihrem Geist und ihrer Kraft heraus zu leben,
dann macht man eine ausdrückliche Tauferneuerung. Wenn es
einem damit ernst ist und man ehrlich und wirklich sich müht,
das zu tun, wozu man sich so ermuntert, dann wächst wirklich
die Taufgnade, gewinnt sie immer mehr Macht über unser
Leben, und wir werden die, die wir keimhaft in der Taufe
geworden sind: Christen.
Bei dem Wort Tauferneuerung müssen und dürfen wir auch
an die Tauferneuerung denken, die in liturgischer Feierlichkeit
in der Osternacht gemeinsam von einer Gemeinde von Christen
gefeiert wird. Über das schon Gesagte hinaus kann uns eine
solche Feier auf zwei Dinge noch besonders aufmerksam
machen: In dieser Tauferneuerung erneuern wir auch unsere
Absage an die finsteren Mächte des Bösen, die immer wieder
unser Leben für sich einnehmen wollen. Wir werden also
darauf aufmerksam gemacht, daß auch eine unausdrückliche
_ oder ausdrückliche Tauferneuerung in unserem Alltag immer
wieder auch den Kampf gegen das Böse in uns und um uns
herum, im individuellen Leben und in der Gesellschaft ein-
schließt und einschließen muß, daß also auch immer wieder,
soll die Taufgnade lebendig bleiben und wirken, Verzicht,
Entsagung, Mut zu einem christlichen Nein gefordert werden.
Die Tauferneuerung in einer Gemeinde macht uns auch darauf
aufmerksam, daß das Leben und Reifen der Taufgnade nicht
bloß ein individualistisches Geschehen ist, sondern daß wir
Christen letztlich doch nur in einer Gemeinschaft des Gebetes,
der Liebe und einer gnadenhaften Verbundenheit unser Christ-
sein zur Reifung bringen können, so wie in einem Leib oder
einem Weinstock das einzelne Glied oder der einzelne Zweig
nur in der Einheit mit dem Ganzen, in das das Glied oder der
Zweig eingepflanzt ist, zur eigenen vollen Verwirklichung
kommen kann.

417
ZUR SITUATION DES BUSS-SAKRAMENTES!

Das Bußsakrament hat in jüngster Zeit zweifellos eine neue


Entwicklung durchgemacht, über die nachzudenken der Mühe
wert ist. Durch viele Jahrhunderte hindurch (seit dem frühen
Mittelalter) war die Praxis des Bußsakramentes ziemlich gleich-
mäßig gewesen. Jeder katholische Christ hatte den Eindruck,
verpflichtet zu sein, seine Sünden dem verordneten Priester
mindestens einmal im Jahr zu beichten; und darüber hinaus war
die sogenannte Andachtsbeichte eine selbstverständlich ge-
handhabte Übung der frommen Christen, die das Bußsa-
krament öfter als jährlich empfingen im Bekenntnis leichterer
Sünden, vielleicht sogar ebensooft beichteten, als sie zum Sa-
krament des Altares gingen. Heute ist das Bußsakrament in eine
kritische Situation geraten. In unseren Ländern wird, kurz
gesagt, seltener gebeichtet, vielleicht sogar in vielen Fällen das
Bußsakrament von Christen nicht mehr empfangen, die sich
durchaus als fromme Christen betrachten und vielleicht sogar
bei jedem eucharistischen Gottesdienst auch die heilige Kom-
munion empfangen. Wir wollen uns einige Gedanken darüber
machen, wie eine solche Krise beurteilt werden muß.
Es ist selbstverständlich nicht so, daß jede Entwicklung in
jeder Zeit in der Kirche positiv beurteilt werden muß. Es gibt
zweifellos auch kürzer oder länger andauernde Entwicklungen,
die weniger wünschenswert sind, die vielleicht sogar bekämpft
und ausgeschaltet werden sollten. So etwas ist in der Kirche
durchaus möglich, und deswegen stellt sich die Frage, wie die
heutige Situation des Bußsakramentes zu beurteilen sei, eine
Frage, die man stellen kann und stellen muß. Die richtige
Antwort ist nicht einfachhin von vornherein eindeutig klar.
Zur Beantwortung ist erstens etwas zu sagen in bezug auf die
Frage, welche Verpflichtung ein Christ zur sakramentalen Ein-
zelbeichte vom göttlichen Recht (Gebot) her hat und welche

! Vgl. dazu auch K.Rahner, Vom Geheimnis menschlicher Schuld und


göttlicher Vergebung, in: GuL 55 (1982) 39-54.

418
nicht. Erst wenn diese Frage beantwortet ist, können wir —
zweitens — wirklich an die Frage herantreten, wie die heutige
Situation des Bußsakramentes zu beurteilen sei. |

Beichtpflicht und schwere Sünde

Die erste Frage ist zunächst dahin zu beantworten, daß ein


katholischer Christ dann und nur dann zu einer sakramentalen
Beichte verpflichtet ist, wenn er subjektiv und objektiv schwer
gesündigt hat, wobei wir die Frage zunächst einmal beiseite
lassen können, wie schnell er dieser Pflicht nachkommen muß.
Das kann man als eine sekundäre Frage betrachten, auf die wir
hier nicht eingehen müssen. Wir könnten jedenfalls sagen, daß
diese Frage zumindest durch ein Kirchengebot vom Vierten
Laterankonzil praktisch beantwortet ist, demzufolge ein
solcher Christ, der objektiv und subjektiv schwer gesündigt
hat, innerhalb eines Jahres dieser Verpflichtung göttlichen
Rechtes genügen muß. Aber wir haben uns etwas genauer mit
dem allgemeinen Grundsatz zu befassen, den ich eben genannt
habe. Nach der Lehre des Konzils von Trient wird man wohl
nicht daran zweifeln dürfen — obwohl vielleicht auch da noch
einige Theologen gewisse Fragen haben -, daß ein Christ, der
wirklich schwer gesündigt hat, diese seine schwere Schuld
durch den Empfang des Bußsakramentes in einer eigentlichen
Einzelbeichte tilgen muß, so daß in einem solchen Falle die rein
subjektive Buße der Reue und der privaten Bitte um Verge-
bung und auch eine sogenannte Bußandacht nicht genügen.
Gehen wir ruhig davon aus, daß in diesem genannten Fall eine
solche Verpflichtung zur «Ohrenbeichte» vorhanden ist, und
zwar eine Verpflichtung göttlichen Rechtes, die sowohl aus der
Natur des Verhältnisses eines Menschen zur Kirche als auch aus
der Natur der Kirche selbst und des in ihr eingesetzten Bußsa-
kramentes folgt, also nicht im Belieben der Kirche steht, so daß
sie diese Verpflichtung aufheben oder abschaffen könnte.
Mit einem solchen Prinzip ist aber die konkrete, praktische
Frage, die hier ansteht, noch gar nicht beantwortet. Denn es

419
entsteht, wenn man dieses Prinzip aufrechterhält und in die
Praxis überführen will, unweigerlich und notwendig die Frage,
wann denn eine solche objektiv und subjektiv schwere Sünde
vorliegt. Daß es Sünden gibt, die nicht in diese Kategorie
fallen, die also zu beichten ein Christ nicht verpflichtet ist, das
ist eine Selbstverständlichkeit. Wir pflegen im Jargon des Kate-
chismus solche Sünden läßliche Sünden zu nennen im Unter-
schied zu den sogenannten schweren Sünden oder Todsünden.
Mit andern Worten: Es entsteht nun die Frage, wie diese beiden
Arten von Sünden, die einen sehr wesentlichen, fundamentalen
Unterschied aufweisen, unterschieden werden können. Es
handelt sich dabei nicht bloß um den objektiven Unterschied
zwischen einer schweren und einer läßlichen Sünde, z.B. um
den objektiven Unterschied zwischen einem Mord und einer,
zwar freiwilligen, Unachtsamkeit und Zerstreuung im Gebet
oder einer zwar bewußten, aber leichten Lieblosigkeit gegen-
über einem Nächsten. Daß es einen solchen objektiven Unter-
schied gibt, ist eine Lehre der Kirche, die gerade auch im
Konzil von Trient sehr deutlich ausgesagt wurde. Aber hin-
sichtlich der Beichtpflicht handelt es sich eben nicht bloß um
einen objektiven Unterschied zwischen schweren und läßlichen
Sünden, von denen nur die ersteren gebeichtet werden müssen,
sondern es handelt sich um die Frage nach der subjektiven
Schuldhaftigkeit des Menschen. Daß unter Umständen ein
Mensch einen Verstoß gegen eine objektiv vom Wesen der
Sache her schwere Verpflichtung so begehen kann, daß er doch
vor Gott nicht im eigentlichen Sinn schuldig wird, das ist auch
eine Selbstverständlichkeit. Man darf niemanden vergiften,
aber wenn ein Apotheker durch irgendeine Nachlässigkeit, die
ihn vor Gott nicht im eigentlichen Sinn schwer schuldig
werden läßt, ein Rezept falsch ausführt und der Benutzer dieser
Medizin daran stirbt, dann kann man durchaus von einer objek-
tiv schweren Verfehlung sprechen, die aber subjektiv im
eigentlichen Sinne den Menschen nicht vor Gott in einer ab-
soluten Weise schuldig werden läßt, so daß zwischen Gott und
dem Menschen wirklich eine absolute, wenn auch wieder auf-
hebbare, Trennung bestünde.

420
Es ist also dieses Prinzip, daß jemand schwere Sünden durch
die sakramentale Einzelbeichte tilgen muß, von den objektiv
und subjektiv schweren Sünden her zu verstehen. Wo vielleicht
eine zwar objektiv schwere Schuld gegeben ist, die aber von
dem betreffenden Menschen nicht wirklich realisiert wird, ist
nach der Lehre des Trienter Konzils eine eigentlich absolute,
selber wieder unter schwerer Sünde verpflichtende Pflicht zur
sakramentalen Einzelbeichte nicht gegeben.

Subjektiv und objektiv schwere Schuld


Nun hat man in der kirchlichen Praxis durch die vielen Jahr-
hunderte — mindestens seit dem frühen Mittelalter bis ungefähr
auf unsere Tage - in der kirchlichen Praxis der Frommen diesen
fundamentalen Unterschied zwischen einer auch subjektiv
schweren Schuld und einer bloß objektiv schweren Schuld mehr
oder minder vernachlässigt. Der normale Christ hat in der
sakramentalen Beichte, die er ja mindestens jährlich oder auch
noch öfters ablegte, einfach all das gebeichtet, was in der
allgemeinen Moral als objektiv schwer schuldhaft erklärt
worden ist, wobei im Grunde genommen auch nicht allzusehr
darauf reflektiert wurde, ob die traditionelle Qualifikation einer
Schuld durch die Moraltheologen nun wirklich sicher oder nur
eine mehr oder minder begründete, aber nicht absolut sichere
Meinung der Theologen ist. Die Theologen sagten, jeder Christ
müsse jeden Sonntag, wenn er nicht legitim verhindert ist, die
Sonntagsmesse hören; das sei eine strenge Verpflichtung, und
wer sie nicht erfülle, habe zunächst einmal objektiv eine
schwere Sünde begangen. Daß in schr vielen Fällen dann die
Frage offen war, ob eine objektive Verfehlung gegen dieses
strenge Kirchengebot auch subjektiv eine schwere Sünde ist,
darauf hat man nicht weiter reflektiert, und der normale Christ
hat eben dann eindeutig und einfach gebeichtet: Ich habe,
obwohl ich hätte können, also nicht krank war oder sonst
legitim verhindert, soundso oft die Sonntagsmesse unterlassen.
Und er hat das als die konkrete Durchführung seiner Pflicht,
schwere Sünden zu beichten, betrachtet.

421
Nun ist aber in der neuesten Zeit aus den verschiedensten
"Gründen die Frage, was nicht nur objektiv, sondern auch
subjektiv eine schwere Sünde ist, sehr in die Diskussion
geraten. Zunächst wird sogar in sehr vielen Fällen gegenüber
der früheren, traditionellen Moral die heutige Auffassung auch
von den Moraltheologen dahingehend berichtigt, daß manches,
was man früher als eine objektiv schwere Verpflichtung bzw.
eine objektiv schwere Schuld betrachtet hat, in Wirklichkeit
eine solche nicht ist. Man wird heute schwer behaupten
können, daß jedwede freiwillige Unterlassung einer einzelnen
Sonntagsmesse einen normalen Christen in eine solche ab-
solute, radikale Feindschaft mit Gott versetzt, wie wenn er z.B.
einen anderen Menschen heimtückisch umgebracht hätte.
Aber wir werden hinsichtlich der Schuld nicht nur bezüglich
ihres objektiven Gewichts heute differenzierter und — in vielen
Fällen wenigstens — auch milder urteilen, sondern wir werden
— und zwar mit einem gar nicht schlechten Recht, das mit
moralischer Laxheit nichts zu tun hat — auch in sehr vielen
Fällen sagen müssen, daß mindestens eine subjektiv schwere
Schuld nicht vorliegt. Viele Menschen haben faktisch nicht
jenes Vermögen sittlicher Abwägung, daß jedweder objektiv
schwere Widerspruch zum göttlichen Willen diesen Menschen
auch subjektiv so schwerwiegend erscheint, daß sie sich sagen
müßten: Wenn ich das trotzdem tue, setze ich ein wirklich
radikales Nein zu Gott und seinem Willen. Wir wissen heute
deutlicher als früher und setzen also dieses Wissen auch in die
Praxis um, daß sehr viele Menschen ein geringes Wahrneh-
mungsvermögen hinsichtlich der Dringlichkeit einer sittlichen
Pflicht haben. Dieses Vermögen ist oft geringer, als an und für
sich wünschenswert wäre. Aber es ist gering. Wir wissen heute
aus der modernen Psychologie, wie oft - und zwar nicht nur
dort, wo es sich um Verbrechen handelt, sondern auch im
normalen Alltagsbetrieb — auf verminderte Zurechnungsfähig-
keit befunden werden darf. Wir haben vielleicht darüber hinaus
heute ein in sich und grundsätzlich durchaus legitimes Empfin-
den, daß der arme, schwache, von tausend Belastungen seines
Milieus bedrängte Mensch wirklich nicht so leicht und so oft
422
mit seiner sittlichen Freiheit in einen solchen Konflikt mit
Gottes Willen kommen wird, daß dieser Konflikt (wenn nicht
durch Reue beigelegt) von Gottes heiliger Gerechtigkeit mit
der ewigen Verdammnis beantwortet werden müßte. Wir sind
vielleicht sogar heute — auch wieder nicht a priori unberechtig-
terweise — der Meinung, daß wirklich subjektiv schwere
Schuld, die ewiger Verdammnis gerechterweise würdig wäre,
nicht etwas ist, das in dem normalen Leben eines anständigen
Christen sehr oft oder sehr schnell vorkommen wird. Wir sind
da — warum sollte das nicht berechtigt sein! — optimistischer.
Wir werden den normalen Christen hinsichtlich seiner
moralischen Qualität nicht unbedingt besonders günstig beur-
teilen. Wir wissen, daß er dumm, schwach und der öffentlichen
Meinung, obwohl diese vielleicht sehr unchristlich ist, weitge-
hend untertan ist; er ist durch seine genetische Veranlagung,
durch die Mängel der Erziehung, durch seine Lebensschicksale
vielleicht moralisch relativ stumpf und primitiv, und wir
werden, gerade wenn wir die heutige Menschheit anschauen,
hinsichtlich ihrer moralischen Qualität nicht sehr enthusiasti-
sche Urteile fällen. Aber daß diese Menschheit, so wie sie
konkret ist, im Normalfall vom Grund des eigenen Freiheits-
wesens her so böse ist, daß sie im Durchschnitt ein absolutes
Nein zu Gott sagt, das nur die andere Seite ewiger Verlorenheit
ist, so zu urteilen bringen wir heute als Christen, wie ich meine,
mit Recht nicht fertig. Wir sind im Grunde genommen eben
optimistischer als der heilige Augustinus, der im großen und
ganzen die Menschheit als eine «massa damnata» betrachtete,
aus der nur durch die seltene Gnade Gottes einige wenige
gerettet werden.

Rückgang der Beichten

. Wenn wir aber hinsichtlich der Frage des Gegebenseins subjek-


tiv schwerer Schuld viel zurückhaltender sind als die Menschen
früher und wenn wir ein Recht haben, so zu denken und zu
empfinden, also aus Gottes Gnade heraus den Menschen op-

423
a
Z;

timistisch zu betrachten trotz seiner empirischen Erbärmlich-


keit, dann wird eben die Frage, wann und wie oft ein Christ
zum Empfang des Bußsakramentes streng verpflichtet ist, sehr
viel schwieriger. Die Kirche hat in ihrer praktischen Pastoral
bis heute noch nicht sehr große Mühe darauf verwendet, den
Unterschied zwischen objektiv schwerer und subjektiv
schwerer Schuld im konkreten Alltagsbewußtsein der
Gläubigen lebendig zu machen und herauszuarbeiten. Aber es
ist nun einmal nach der amtlichen Lehre der Kirche so, daß nur
dort, wo mit einer genügenden moralischen (wenn auch nicht
absoluten) Gewißheit feststeht, daß ein Mensch auch subjektiv
schwer gesündigt hat, er zum Bußsakrament durch göttliches
Recht verpflichtet ist. Und wenn wir heute, wie ich eben
andeutete, mit einem gewissen Recht urteilen, daß die subjektiv
schweren Sünden nicht so oft und nicht so selbstverständlich
und alltäglich im Leben eines normalen Christen vorkommen,
dann haben wir das Recht zu sagen, daß der Fall einer göttli-
chen Verpflichtung zum Empfang des Bußsakramentes nicht
so oft eintritt, als die frühere Pastoral es in der Praxis still-
schweigend voraussetzte.
Man könnte natürlich über das, was ich bisher ausgeführt
habe, noch sehr viel sagen. Man könnte über das Problem der
Unterscheidung zwischen läßlicher und schwerer Sünde reden,
über eine Frage also, die nicht so einfach ist, wie ich sie bisher
dargestellt habe und wie sie auch in unserer normalen Moral-
theologie vorausgesetzt wird. Man könnte die Frage stellen,
wie man denn in der Praxis des konkreten christlichen Alltags-
lebens überhaupt mit einer gewissen moralischen Sicherheit zu
einem vernünftigen Urteil kommen könne, daß hier nur eine
subjektiv läßliche und dort eine subjektiv schwere Sünde vor-
liegt usw. Aber wir können jetzt hier alle diese an sich sehr
wichtigen Fragen nicht näher besprechen. Wir können nur
feststellen, daß es bei genauer Interpretation der Beichtpflicht
nicht so verwunderlich und nicht so widersprüchlich ist, daß
heute seltener gebeichtet wird. Ob diese rückläufige Tendenz
wünschenswert oder bedauerlich ist und ob sie durch eine
kluge pastorale Erziehung wieder rückgängig gemacht werden

424
müßte, das ist eine ganz andere Frage, über die wir nachher
noch sehr viel werden sagen müssen. Aber wenn jemand die
Frage stellen würde, ob die Tatsache des Rückgangs des Bußsa-
kramentes ein eindeutiger Beweis dafür ist, daß eine große Zahl
_ der heutigen katholischen Christen gegen die objektive Ver-
pflichtung zum Bußsakrament beim Vorliegen von subjektiv
schweren Sünden verstößt, dann muß man diese Frage mit
Nein beantworten. Aus dem rein zahlenmäßigen Rückgang der
sakramentalen Beichten kann man nicht mit eindeutiger Sicher-
heit schließen, daß die heutigen katholischen Christen gegen
ein sie verpflichtendes, strenges Gebot Gottes verstoßen. Das
könnte man nur dann sagen, wenn einerseits selten gebeichtet
würde und andererseits feststünde, daß wirklich subjektiv
schwere Sünden nicht selten, sondern sehr oft vorkommen. Da
man aber dieses Zweite eben nicht mit Sicherheit sagen kann,
da man durchaus hoffen kann, daß solche Sünden, die den
Menschen der ewigen Verdammnis würdig machen, zumindest
im normalen Christenleben nicht oft oder vielleicht sogar gar
nicht vorkommen, darum kann man aus dem Rückgang der
Beichtpraxis nicht sicher schließen, daß die Christen einer ob-
jektiv auf ihnen liegenden Beichtpflicht faktisch nicht nach-
kommen.
Es gibt freilich auch Christen, die gegen eine solche Ver-
pflichtung verstoßen, weil natürlich auch unter ihnen wirklich
schwere Sünden vorkommen, die objektiv und auch subjektiv
solche sind. Wenn eine Mutter, die schr gut noch ein Kind
haben könnte, die wirtschaftlich und menschlich durchaus in
der Lage dazu wäre und die durch keine großen äußeren
Umstände in Bedrängnis ist, aus purer Bequemlichkeit und
anderen schäbigen Gründen eine Abtreibung vornehmen läßt,
‚dann ist durchaus die Möglichkeit gegeben, daß es sich hier
nicht nur um einen objektiv, sondern auch um einen subjektiv
schweren Verstoß gegen das Fünfte Gebot handelt.
Aber auch wenn das zugegeben und deutlich gemacht wird,
steht damit noch nicht fest, daß subjektiv schwere Schuld beim
Normalchristen so häufig vorkommt, daß man daraus auf eine
erschreckende und massive Unchristlichkeit wegen des Ver-
425
a
S

stoßes gegen die Beichtpflicht schließen kann. Die kirchliche


Praxis in der Pastoral, in der Predigt, in der Empfehlung des
Bußsakraments und im Katechismusunterricht in der Schule
dürfte die häufigere Beichte nicht dadurch wieder zu erreichen
suchen, daß sie bei der Beichtempfehlung mit falschen, unwah-
ren Argumenten arbeitet oder Prinzipien verschleiert, die in
dieser Sache an und für sich gegeben sind und die wir gerade
genannt haben. Auch ein schr frommer Christ könnte vom
göttlichen Gebot aus selbst an Ostern sagen: Ich beichte nicht,
und ich verstoße dadurch auch gar nicht gegen das Gebot der
Kirche, weil ich mich durch die Gnade Gottes keiner subjektiv
schweren Sünde schuldig weiß und darum auch zu Ostern eine
solche Verpflichtung nicht gegeben ist.
Ich kannte eine fromme alte Frau, die es aus vielleicht sehr
merkwürdigen subjektiven Gegebenheiten ihrer Psychologie
einfach nicht fertigbrachte, in den Beichtstuhl zu gehen und
dort einem Priester etwas ins Ohr zu flüstern. Und diese Frau
war eine fromme, betende, keinem Menschen ein Haar krüm-
mende, Gott liebende Frau. Man müßte ihr sagen: Wenn du
solche subjektiven Hemmungen hast zu beichten, dann
brauchst du auch zu Ostern nicht zu beichten, dann laß es
bleiben, dann ist das durchaus mit der Lehre der Kirche und
ihrem Gebot vereinbar.
Mit den bisherigen Feststellungen ist aber das eigentliche
Problem nicht gelöst. Wenn nur das gelten und betrachtet
würde, was wir bisher gesagt haben, könnte man ja sagen, der
heutige Schwund der Beichthäufigkeit sei schlechthin und in
jeder Hinsicht legitim, sei nichts als die Ausführung der göttli-
chen Vorschrift, daß eben nur die wirklich schweren Sünden
gebeichtet werden müssen, und die Überzeugung sei legitim,
daß solche Sünden nicht allzu häufig sind oder jedenfalls in
besonderer Häufigkeit innerhalb des kirchlichen Lebens nicht
nachgewiesen werden können. Also — könnte man sagen —
wenn heute nur noch selten gebeichtet wird, dann ist das nichts
als die getreue, selbstverständliche Anwendung desjenigen
Dogmas, das die Kirche im Trienter Konzil verkündet hat.
Aber so einfach ist die Sache eben doch nicht.

426
Beichte — nicht erst auf dem Sterbebett

Um hier weiterzusehen, müssen wir zunächst einmal eine allge-


meine Überlegung anstellen, die dahin geht, daß es sehr Vieles
und sehr Wichtiges in der Kirche gibt und geben muß, was
nicht unmittelbar durch eine göttliche Anordnung, durch die
Kirchenstiftung selber schon gedeckt ist. Es’gibt zum Beispiel
in der Kirche die Orden. Daß es einen Franziskanerorden,
einen Jesuitenorden, einen Benediktinerorden usw. gibt, kann
man sicher hier nicht als eine göttliche, die Kirche notwendig
verpflichtende Anordnung ansehen. Und trotzdem muß es
eben in der Kirche jenes Leben, das sich in den Orden entfaltet,
in ihnen geregelt und geschützt wird, geben. Man könnte
gewissermaßen sagen, daß die göttlichen Anordnungen über
die Kirche und über ihr Leben so etwas wie das Knochengerüst
eines lebendigen Organismus sind. Aber zu ihm hinzu muß
eben dann doch vieles andere, was nicht Knochen ist, kommen:
Es muß Fleisch geben, es muß lebendigen Austausch von
Stoffen geben usw. So ähnlich ist es auch in der Kirche. Es gibt
Orden, es gibt bestimmte Andachten, es gibt bestimmte Ent-
wicklungen in der Theologie, theologische Schulen, ganz be-
stimmte Weisen des christlichen Lebens, die alle nicht einfach
als eine göttliche Verpflichtung in der Kirche gegeben sind.
Man könnte beinahe paradox sagen: Es gibt eine göttliche
Verpflichtung, daß es in der Kirche Wirklichkeiten, Vollzüge,
Lebensbekundigungen gibt, die in sich selber, je für sich, nicht
noch einmal göttliche Anordnung sind. Wenn jemand von allen
kirchlichen und christlichen Lebensäußerungen fordern wollte,
sie bräuchten eine göttliche Beglaubigung «iuris divini», dann
würde er etwas absolut Falsches behaupten, würde an und für
sich — so merkwürdig das klingt — das eigentliche Leben in der
Kirche aufheben. Es muß in der Kirche, damit sie wirklich voll
lebendig ist, durchaus Lebensweisen, Handlungen und Lebens-
stile geben, die sich nicht selbst unmittelbar auf ein göttliches
Mandat berufen können und doch eben zum vollen Leben der
Kirche mehr oder weniger notwendig gehören. So etwas gilt
auch für die häufigere Beichte. Zunächst könnte man, um das

427
IR
Ya”

zu verdeutlichen, auf die simple Tatsache hinweisen, die schon


dem einen oder anderen Kirchenvater in der alten Kirche
aufgegangen ist, daß, wenn wirklich in der Kirche nur schwer-
ste Sünden gebeichtet werden würden, tatsächlich sich diese
Verpflichtung selber aufheben oder bis zum Lebensende des
einzelnen Menschen verschieben würde. Wenn zum Beispiel
von vornherein bei dieser Übung feststünde, daß alle jene
Leute, die vor dem Beichtstuhl stehen, schwerste Sünden be-
gangen hätten — einen Meineid geschworen, mit kaltem Blut die
Ehe in wirklich schrecklicher Weise gebrochen hätten usw. —,
dann wäre es selbstverständlich, daß gerade auch diese Leute
nicht vor dem Beichtstuhl stehen würden. Sie würden sich ja
bei dieser Methode in aller Öffentlichkeit schwerster Sünden
bezichtigen. Das aber ist den Menschen praktisch nicht
zuzumuten.
Man könnte schon aus diesem simplen Grunde sagen, daß,
wenn nur schwere Sünden gebeichtet würden, weil sie gebeich-
tet werden müssen, überhaupt keine gebeichtet würden. Von
diesem pastoralen Gesichtspunkt her ist es schon selbstver-
ständlich, daß die kirchliche Seelsorge dahin arbeitet, daß auch
solche Leute das Bußsakrament empfangen, die dazu nicht
durch eine wirklich schwere Sünde verpflichtet sind. Man hat
tatsächlich in der alten Kirche die Probe aufs Exempel gemacht.
Ursprünglich wurden nur schwerste Sünden gebeichtet. Die
Folge davon war dann eben, daß die Christen eine solche
Beichte immer mehr auf das Sterbebett verschoben haben.
Man könnte zwar unter dem Gesichtspunkt göttlichen
Rechtes kaum beweisen, daß eine solche Verschiebung der
Beichte schwerer Sünden bis auf das Totenbett schlechterdings
gegen Gottes Gebot ist, aber jedermann sieht ein, daß ein
wirklich lebendiges christliches Leben, das aus der Fülle des
Ernstes gegenüber der Sünde und aus einem wirklich großen
Willen, mit Gott versöhnt zu leben, handelt, auch in einer
solchen Praxis mehr oder minder zerstört werden würde.
Die Kirche hat also schon von diesem Gesichtspunkt aus
recht, wenn sie wünscht, daß über das absolut Gebotene hinaus
vom Bußsakrament Gebrauch gemacht wird. Und sie ist von

428
ihrer alten Praxis her davon schlechterdings überzeugt, daß sie
ihre Vergebungsvollmacht selbstverständlich nicht nur auf die
schweren Sünden im strengen Sinn des Wortes, sondern auch
auf andere Verfehlungen und Sünden anwenden kann. Denn
schon der Satz Jesu bei Johannes 20,23, daß die Kirche, wenn
sie Sünden vergibt, tatsächlich ihre Vergebung vor Gott
bewirkt, macht ja von vornherein keinen Unterschied zwischen
den Sünden. Es wäre also töricht zu behaupten, die Kirche
könne nur schwerste Sünden vergeben und könne ihre Verge-
bungsvollmacht, die sie von Jesus hat, nicht auch auf andere
Sünden anwenden. Aber darüber hinaus gibt es noch sehr viele
Gründe und Überlegungen, die eine häufige Andachtsbeichte
sinnvoll sein lassen. Wir können diese Gründe und Überlegun-
gen jetzt nicht völlig entfalten und darlegen, weil wir dann zu
sehr in eine Theologie der Sünde, in eine Theologie des Lebens
des Christen zwischen Gnade und Sünde, in eine gesamte
Theologie der Kirche und ihres Wesens als des Sakramentes der
Vergebung im allgemeinen hineingeraten würden, was natür-
_ lich hier jetzt nicht möglich ist. Wir deuten also nur das eine
oder andere kurz an.

Sakramentale und existentielle Vergebung

Zunächst einmal haben die Christen durch viele Jahrhunderte


hindurch das Empfinden gehabt, daß ihre Sünden ihnen si-
cherer und eindeutiger vergeben würden, wenn sie sich auch
dem sakramentalen Bußgericht der Kirche unterstellen und das
Vergebungswort Gottes ausdrücklich durch den Mund der
Kirche hören. Diese Überzeugung ist, wenn wir ehrlich sind
und theologisch nüchtern denken, nicht so selbstverständlich.
Denn es ist selbstverständlich richtig, daß — abgesehen von den
schweren Sünden - solche Sünden auch ohne Sakrament getilgt
und von Gott vergeben werden, wenn wir sie echt und aufrich-
tig bereuen und von ihnen Abstand nehmen. Ohne einen
solchen inneren Willen, der im Grunde genommen die Verge-
bung solcher Sünden schon bewirkt, hätte und hat auch das
429
Bußsakrament keinen Sinn und keine Wirkung. Wer nur seine
Unvollkommenheiten und Sünden bekennt, aber im Grunde
genommen dabei gar keinen inneren reuigen Abstand von
ihnen nimmt, für den ist eine solche sakramentale Beichte
vollkommen sinnlos und nutzlos. Für den heiligen Thomas von
Aquin ist es im Grunde genommen eine Selbstverständlichkeit
gewesen, daß, wer zum Bußsakrament hinzutritt, eigentlich
normalerweise in einer Verfassung kommen muß, die als solche
selber schon vor dem Sakrament die Vergebung dieser so be-
reuten Sünden bewirkt. Von da aus gesehen, ist dieses Empfin-
den des Normalchristen, daß er ein größeres Vertrauen auf die
Vergebung seiner Sünden hat, wenn er die sakramentale Los-
sprechung empfängt, nicht so selbstverständlich. Aber man
sollte diesen inneren — man könnte sagen: <«existentiellen» —
Gnadenvorgang, Rechtfertigungsvorgang, Vergebungsvor-
gang von vornherein nicht einfach von dem sakramentalen,
dem kirchlichen, dem leibhaftigen, zeichenhaften Vorgang im
Sakrament trennen. Es ist z.B. selbstverständlich, daß, wenn
ein nichtgetaufter Erwachsener vor seiner Taufe glaubt, hofft
und liebt, seine Sünden bereut, sich in einer inneren existentiel-
len Entscheidung zum Gott der Liebe, der Vergebung, der
Gnade hinwendet, er damit auch schon vor seiner Taufe ge-
rechtfertigt ist. Trotzdem wird niemand sagen: Also soll doch
dieser Erwachsene, der durch seine subjektiven Akte gerecht-
fertigt ist, auf die Taufe verzichten; sie wäre ja nach dem eben
gesagten Prinzip überflüssig, da sie den Menschen gerechtfer-
tigt machen solle, dieser Mensch aber schon vor der Taufe
gerechtfertigt, im Stand der Gnade, in Liebe durch die Gnade
mit Gott verbunden usw. sei. — Man sieht aus einem solchen
Beispiel bei einem anderen, bei dem fundamentalsten Sa-
krament, daß man den inneren Vorgang und die äußere sa-
kramentale Verleiblichung nicht wie zwei Vorgänge betrachten
sollte, die einfach unverbunden nebeneinander liegen, sondern
sie sind in einer inneren Einheit zu sehen. Das sakramentale
Zeichen sollte die kirchliche Inkarnation dessen sein, was in der
innersten Mitte der Existenz einer Person sich ereignet.

430
Sakramentaler Vollzug als Verleiblichung

Es ist ja auch sonst so, daß wir die innersten Gesinnungen


unseres Herzens beinahe notwendig wie von selbst verleibli-
chen. Wir lieben einander nicht nur, sondern wir umarmen uns,
wir küssen uns, wir streicheln uns vielleicht. Wir wenden uns
nicht bloß in innerster, verborgener Abscheu vor irgendeiner
Untat oder ähnlichem ab, sondern wir ballen die Faust. Wir
beten Gott nicht nur in der innersten Mitte unseres Herzens an,
sondern wir knien hin. Kurz und gut, das religiöse innerste,
inwendigste Leben eines Menschen in seinem Verhältnis zu
Gott hat wie von selbst die Tendenz und das Wesen, sich zu
verleiblichen. Die vollste kirchliche Verleiblichung unserer
Abwendung von der Schuld, unserer Hinwendung zu Gott, ist
eben für den getauften Sünder das kirchliche Bußsakrament.
Da glauben wir nicht nur mit den Ohren des Glaubens geheim-
nisvoll, ungreifbar, nur in der Mitte unseres Herzens das milde
Vergebungswort Gottes zu hören, sondern wir hören auch mit
den leiblichen Ohren: «Deine Sünden sind dir vergeben.» Der
Priester an Gottes Statt, in Seinem Auftrag, verleiblicht, ver-
kirchlicht, versinnlicht den innersten geistigen Vorgang, und
dieser will — so ist es eben das Wesen des leibhaftigen Menschen
— auch von sich aus so verleiblicht werden. Natürlich hat diese
Verleiblichung ihre verschiedensten Grade. Ich kann jeman-
dem, den ich gerne habe, die Hand schütteln, ich kann ihm auf
die Schulter klopfen, ich kann ihn aber vielleicht auch
umarmen. Und zwei liebende Menschen, die eine totale innerste
Liebe zueinander haben, wie Mann und Frau in der Ehe,
werden eben diese innerste Gemeinschaft der Herzen nicht nur
durch einen Handdruck oder vielleicht durch einen Kuß,
‚sondern durch viel mehr ausdrücken. Diese Verleiblichung
innerster, existentieller Vorgänge hat durchaus mit Recht seine
verschieden intensiven Grade. So kann einer wirklich im
Vaterunser beten: «vergib uns unsere Schuld», und dabei das
echte, wahre, im Glauben garantierte Bewußtsein haben, daß
Gott ihm seine Sünden vergibt. Aber er kann eben auch diese
Leibhaftigkeit seiner Reue und seiner Vergebungshoffnung

431
u BEA

und Zuversicht viel deutlicher, viel massiver ausdrücken, eben


durch den Empfang des Bußsakramentes. Und es ist ja schon
im normalen menschlichen Bereich, ganz abgesehen von der
kirchlichen Lehre von der Wirksamkeit der Sakramente so, daß
ein solcher Ausdruck einer menschlichen Haltung in der Leib-
haftigkeit des Menschen diese innerste Haltung nicht nur aus-
drückt, sondern gleichsam in einem Rückstoß verstärkt und
vertieft.
Wenn z. B. zwei Menschen, die sich in einer echten Gemein-
schaft lieben, sich irgendwie gekränkt haben, dann kann es
natürlich so sein — wie das in einem nüchternen Leben oft
passiert —, daß so etwas einfach dadurch bereinigt wird, daß
man zur Tagesordnung übergeht und nicht mehr davon spricht
und jeder der beiden sich gewissermaßen denkt: Schwamm
darüber, es ist vergessen. Aber es kann durchaus sein, daß so
ein innerer Wille gegenseitigen Vergebens selber viel radikaler,
echter und entschiedener wird, wenn man sich diese Vergebung
auch gegenseitig sagt und gesteht. Schon Pascal hat gewußt,
daß die Geste der Verdemütigung unter Umständen nicht nur
der Ausdruck, sondern auch die Ursache innerer Demut ist. Es
hat schon manche gegeben, die gleichsam erst ihre letzte lieben-
de und hoffende Kapitulation vor Gott vollzogen und fertigge-
bracht haben, nachdem sie hingekniet sind — und nicht vorher.
Mit anderen Worten: Die sakramentale Verleiblichung des
Reue- und Vergebungsgeschehens zwischen Menschen und
‚Gott hat erst recht nicht nur die Funktion, das Geschehen der
Vergebung menschlich-inkarnatorisch auszudrücken, sondern
es hat durchaus auch eine Funktion des Erweckens dieser
inneren Haltung, für die sie Zeichen und Ausdruck ist. Das ist
‘das Merkwüdige am Menschen, daß der Leib die Seele und die
Seele den Leib formt. Es besteht zwischen dem Inneren und
Äußeren des Menschen ein solches gegenseitiges Verhältnis des
Ausdrucks und der Veranlassung des Inneren durch das Leibli-
che.

432
Soziale Dimension von Sünde und Vergebung

Zu diesen Überlegungen kämen natürlich noch sehr viele


andere, auf die wir jetzt nicht näher eingehen können. Die
‘Tatsache etwa, daß wir praktisch in allen leichteren oder
schwereren Vergehen und Verfehlungen uns nicht nur in einem
individualistischen Bereich verfehlen, sondern auch mit einer
sozialen Hypothek belastet werden. Das müßte natürlich auch
— unter vielem anderen — genauer bedacht werden. Das Zweite
Vatikanische Konzil hat in der Wiederaufnahme einer in der
alten und in der mittelalterlichen Kirche bis zu Luther hin
selbstverständlichen Erkenntnis gelehrt, daß die kirchliche
Vergebung der Sünden auch Frieden des Menschen mit der
Kirche bedeutet. Der Sünder vergeht sich nicht nur gegen Gott,
sondern auch gegen den Leib Christi in größerer oder geringe-
rer Intensität. Und diese Schuld, die dem Leib Christi zugefügt
wird, wird vergeben, wenn der Mensch reuig zu Gott zurück-
kehrt. Dann aber ist es eben auch wieder beinahe selbstver-
ständlich, daß dieser Friede mit der Kirche sich nicht nur
irgendwie ereignet, sondern durch einen kirchlichen Akt ver-
leiblicht und besiegelt wird.
Dazu kommen noch sehr viele, hier ebenfalls nicht näher
ausführbare Überlegungen, die sich mehr auf den Nutzen der
Beichte für die übernatürlich-sittliche Reifung des Menschen
beziehen. Es ist doch praktisch so, daß es wohl bei den meisten
Menschen zu einer deutlichen, wirklich überlegten Konfronta-
tion mit ihrer Sündigkeit nur kommt, wenn diese Sünden im
sakramentalen Bußgericht bekannt und getilgt werden. Selbst-
verständlich muß und soll ein Christ bei einem lebendigen
christlichen Leben die Bitte um die Vergebung der Schuld im
Vaterunser ernst nehmen; er soll genauso in der heiligen Messe
das Sündenbekenntnis am Anfang ernsthaft mitvollziehen,
auch wenn das nicht im eigentlichen, strengsten Sinne ein
sakramentaler Vorgang ist. Er soll unter Umständen durchaus
ernsthaft sich an einer Bußandacht beteiligen. Er soll abends
vielleicht beim Abendgebet Gott um die Vergebung seiner
Sünden bitten usw. — Aber die sakramentale Einzelbeichte,

433
auch wenn sie nicht «iure divino» gefordert ist, ist doch ein
konkreter Vorgang, der dem normalen Christen sehr hilft, diese
innere Gesinnung des immer neuen Sich-Wegwendens von der
Schuld und der Hinwendung zu Gott ernsthaft zu realisieren.
Die genauere Erforschung des Gewissens, die Möglichkeit, bei
einer solchen sakramentalen Buße gewissermaßen das vor-
zunehmen, was die heutigen Franzosen die «revision de vie»
nennen, alle solche und viele andere nützliche Vorzüge sind
eben mit der sakramentalen Beichte gegeben: Vorzüge, die ein
Christ nicht geringachten soll und von denen er sich durchaus
veranlaßt sehen kann, seine sakramentale Beichte auch dort
abzulegen, wo er nicht im strengen Sinn dazu verpflichtet ist.

Häufigkeit der Beichte

Die Frage, wie oft so etwas sein sollte, läßt sich vermutlich nur
individuell beantworten. Das hängt von so vielen Dingen ab
— von der Möglichkeit oder der praktischen Unmöglichkeit, oft
zu beichten, von der individuellen Eigenart eines einzelnen
Menschen und von dem konkreten Leben, das der einzelne zu
führen hat und in dem mehr oder weniger ernsthafte und
zahlreiche Gelegenheiten des Sündigens gegeben sind. Solche
und andere Umstände lassen es wohl schwer zu, eine allgemeine
Norm für die konkrete Häufigkeit der Andachtsbeichte aufzu-
stellen, und das soll hier auch nicht geschehen. Man kann aber
sicher sagen, daß man sich die sakramentale Buße ruhig schen-
ken kann, wenn man im Rückblick auf eine kürzere Periode
seines Alltagslebens nüchtern und vernünftigerweise sagen
muß, daß nichts vorgekommen ist, was man ernsthaft bereuen
könnte.
Man kann natürlich mehr bereuen, als der hartsinnige
Alltagschrist vielleicht meint. Es gibt Lieblosigkeit, Gleichgül-
tigkeit gegenüber seinen Lebensaufgaben, Uninteressiertheit an
seiner Umgebung, an den Mitmenschen, für die man vielleicht
verantwortlich ist. Es gibt solche Dinge, die sehr schwer greif-
bar sich durch ein ganzes Leben ausbreiten. Da wäre unter

434
Umständen bei einem ernsten Selbstgericht durchaus mehr
Möglichkeit ernsthafter Umkehr und Reue, als wir uns ge-
wöhnlich, alltäglich gestimmt und harten Gemütes, zugeben.
Aber, wie gesagt, es soll sich umgekehrt auch niemand zu einer
sakramentalen Buße verpflichtet oder veranlaßt fühlen, der sich
im Grunde genommen sagt: Ich habe hier und jetzt eigentlich
nichts zu bereuen; mein Alltag ist in einer so normalen, wenn
auch etwas christlich-spießbürgerlichen Weise verlaufen, daß
ich ihn jetzt nicht als besonderen Gegenstand einer sakramen-
talen Anklage empfinden kann.
Jetzt ist noch etwas in einer gewissen Zusammenschau des
ersten und zweiten Teiles unserer Überlegungen zu sagen.
Etwas, das — soviel ich weiß — in der normalen Pastoral kaum
einmal gesagt und vorgeschlagen wird. Nämlich: Wenn und
insofern ein Laienchrist — an diesen denke ich jetzt — einerseits
der Überzeugung ist, daß er eigentlich im strengen Sinne einer
sakramentalen Lossprechung nicht bedarf, und auf der anderen
Seite doch einsieht und willig ist, dieses Sakrament auch außer-
halb dieser Situation häufiger zu empfangen, dann sollte er
auch eine weise und gute Auswahl des sogenannten Beicht-
vaters treffen. Es ist selbstverständlich, daß, sosehr alle
Momente eines sakramentalen Geschehens in jeder Beichte
gegeben sein müssen — Gewissenserforschung, Reue, Anklage,
Absolution —, sich doch bei einer Andachtsbeichte das Gewicht
dieses sakramentalen Geschehens stärker auf das Subjektive des
Beichtenden verlagert als bei einer Lossprechung von einer
schweren Schuld. Anders ausgedrückt: Eine bloß routine-
mäßig häufige Andachtsbeichte, in der existentiell so gut wie
nichts geschieht, hat auch als sakramentales Geschehen keinen
Sinn. Nun aber wird man doch sagen können, daß die Möglich-
keit, eine solche Andachtsbeichte ernst zu nehmen, auch davon
abhängt, welchen Beichtvater man sich wählt. Die Kirche hat
vom Mittelalter an immer mehr dahin tendiert, dem Laienchri-
sten eine möglichst große Auswahl an Beichtvätern zur Ver-
fügung zu stellen. Während im Vierten Laterankonzil noch
vorgeschrieben wurde, daß man die Jahresbeichte bei seinem
zuständigen Pfarrer abzulegen habe, hat die Kirche mehr und

435
mehr die freie Wahl des Beichtvaters kirchengesetzlich ermög-
licht und auch pastoral erleichtert. Bei einer Andachtsbeichte,
wie wir sie jetzt, glaube ich, einigermaßen richtig verstehen, ist
eigentlich klar, daß das bloße sakramentale Absolviertsein in
diesem Falle am wenigsten sinnvoll ist. Und deswegen ist eben
die innere Haltung des Beichtenden von entscheidendem
Gewicht; und diese läßt sich leichter bewerkstelligen, wenn ein
entsprechender Beichtvater gegeben ist. Es gab und gibt natür-
lich Pfarrer, die in der Zahl von möglichst vielen Absolutionen
an einem Samstag einen Triumph ihrer seelsorglichen Be-
mühungen sehen. Es hat früher durchaus Christen gegeben,
z.B. in Ordenshäusern, die jeden Tag — weil es technisch
möglich war — die Absolution im Bußsakrament erbaten.
Solche Dinge, die existentiell keine echte Bedeutung haben,
sollte man unterlassen. Es kommt letztlich nicht auf die Zahl
der sakramentalen Vorgänge an. Und deshalb ist es auch
wichtig, für die richtig verstandene Andachtsbeichte einen
einigermaßen dafür geeigneten Beichtvater auszuwählen. Es ist
wirklich nicht selbstverständlich, daß jeder Priester, der die
liturgisch sakramentale Vollmacht der Absolution hat, des-
wegen auch schon ein geeigneter Beichtvater wäre. Die Wirk-
samkeit eines Sakramentes darf man eben nicht übertreiben. Ich
glaube, daß es schr oft in der frommen Praxis der letzten
Jahrhunderte Beichten gegeben hat, die praktisch nichtig
waren. Die Anklage bezog sich sehr oft auf Sünden, von denen
man innerlich keinen wirklichen Abstand gewonnen hatte, und
‚damit war gegeben, daß eine wirkliche Reue fehlte und somit
die Absolution keinen Nutzen und keine Wirksamkeit hatte.
Das mag sehr oft in gutem Glauben geschehen sein, aber
empfehlenswert ist es trotzdem noch nicht.
Ein guter Beichtvater sollte unter Umständen auch zu einem
ernsthaften Beichtgespräch bereit sein. Er sollte ein Ohr für
vielleicht nicht ganz Ausgesprochenes in solch einer Anklage
haben. Nicht, um Sünden zu entdecken, die der Beichtende
vergessen oder verschwiegen hätte — wie das bei Don Bosco
vorgekommen ist —, sondern um wirkliche Schwierigkeiten des
seelischen Lebens beim konkreten Menschen zu entdecken und

436
ihm nach Kräften zu helfen. Der Beichtvater braucht und soll
im Sakrament nicht eigentlich ein Psychotherapeut sein; er hat
einen Beichtenden vor sich, der die Vergebung von Gott und
der Kirche will und nicht im eigentlichen Sinne psycho-
therapeutische Ratschläge. Aber so wahr das ist — der Priester
soll eben keine Absolutionsmaschine sein, denn das hat keinen
Sinn und keinen Nutzen und widerspricht dem Wesen eines
Sakramentes, in dem die innere personale Mitwirkung nach der
Lehre des heiligen Thomas sogar ein inneres Element des
sakramentalen Geschehens selbst und nicht nur seine Vorbe-
dingung ist. Wie man einen solchen Beichtvater findet, wie man
sich ihm gegenüber bekennend verhalten soll, damit er eine
wirklich seelsorgliche Funktion ausüben kann, das sind natür-
lich Fragen, deren Antworten wieder nach den jeweiligen kon-
kreten Situationen eines Beichtenden verschieden sind und auf
die man hier nicht noch nähere Antworten und Anweisungen
geben kann.

437
QUELLENNACHWEIS

VOM IRRENDEN GEWISSEN


Vortrag am ı1. März 1983 in Wien.
Veröffentlicht in Orientierung 47 (1983) 246 — 250.
DIALOG UND TOLERANZ ALS GRUNDLAGE EINER
HUMANEN GESELLSCHAFT
Vortrag am ı1. Juni 1983 in Pforzheim.
Veröffentlicht in: StdZ 201 (1983) 579-589.
UTOPIE UND REALITÄT
Vortrag am 27. Februar 1983 in Bad Camberg.
Veröffentlicht in: GuL 56 (1983) 422-432 mit dem Untertitel: «Christ-
liche Welt- und Lebensgestaltung zwischen Anspruch und Wirklich-
keit». ;

DIE THEOLOGISCHE DIMENSION DES FRIEDENS


Veröffentlicht in: Entschluß 38 (3/1983) 11-13. Haupttitel des Aufsat-
zes: «Die Offenheit auf Gott hin».
DIE FRAGE NACH DER ZUKUNFT EUROPAS
Veröffentlicht in: F. König, K. Rahner (Hrsg.), Europa — Horizonte
der Hoffnung, Graz 1983, 11-34.
REALISTISCHE MÖGLICHKEIT DER GLAUBENSEINIGUNG?
Vortrag am 2o. Januar 1982 in Basel.
Veröffentlicht in: H. Fries (Hrsg.), Das Ringen um die Einheit der
Christen. Zum Stand des evangelisch-katholischen Dialogs, Düssel-
dorf 1983, 176-192 unter dem Titel: «Was kann realistischerweise Ziel
der ökumenischen Bemühungen um die Einheit im Glauben sein?»
Ebenfalls in: H. Bürkle, G. Becker (Hrsg.), Communicatio fidei. Fest-
schrift für Eugen Biser, Regensburg 1983, 175-183.
Teilweise in: Evangelische Kommentare 15 (1983) 480-484 unter dem
Titel: «Ökumenischer Realismus. Über das Ziel einer Einheit im
Glauben».

KONKRETE OFFIZIELLE SCHRITTE AUF EINE


EINIGUNG HIN?
Veröffentlicht in: K. Froehlich (Hrsg.), Ökumene. Möglichkeiten und
Grenzen heute, Tübingen 1982, 80-85.

438
ÖKUMENISCHES MITEINANDER HEUTE
Veröffentlicht in: Quatember 44 (1980) 3-12.
VERGESSENE ANSTÖSSE DOGMATISCHER ART DES
II. VATIKANISCHEN KONZILS
Vortrag am 27. November 1982 in Freiburg.
Bisher unveröffentlicht.
PERSPEKTIVEN DER PASTORAL IN DER ZUKUNFT
Veröffentlicht in: Diakonia ı2 (1981) 221-235.
ÜBER DIE ZUKUNFT DER GEMEINDEN
Veröffentlicht in: Entschluß 37 (12/1982) ıı f, 16-20. Haupttitel des
Aufsatzes: «Warum die Christen eine Minderheit bleiben».
RITENSTREIT — NEUE AUFGABEN FÜR DIE KIRCHE
Veröffentlicht in: Entschluß 38 (7/8/1983) 28, 30f. Haupttitel des
Aufsatzes: « Austausch statt Einbahn?»

ZUM VERHÄLTNIS VON THEOLOGIE UND VOLKSRELIGION


Veröffentlicht in: K. Rahner, C. Modehn, M. Göpfert (Hrsg.), Volks-
religion — Religion des Volkes, Stuttgart 1979, 9-16 unter dem Titel:
«Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Theologie und
Volksreligion».

SÜDAMERIKANISCHE BASISGEMEINDEN IN EINER


EUROPÄISCHEN KIRCHE?
Veröffentlicht in: Entschluß 36 (1/1981) 4-8.
CHRISTLICHER PESSIMISMUS?
Vortrag am 10. November 1983 in Frankfurt.
Bisher unveröffentlicht.
OFFIZIELLE GLAUBENSLEHRE DER KIRCHE UND
FAKTISCHE GLÄUBIGKEIT DES VOLKES
Veröffentlicht in: K. Rahner, H. Fries (Hrsg.), Theologie in Freiheit
und Verantwortung, München 1981, 15-29.
DIE THEOLOGIE UND DAS RÖMISCHE LEHRAMT
Veröffentlicht in: StdZ 198 (1980) 363-375 unter dem Titel:
«Theologie und Lehramt».

DIE UNVERGÄNGLICHE AKTUALITÄT DES PAPSTTUMS


Veröffentlicht in: B.Moser (Hrsg.), Das Papsttum. Epochen und
Gestalten, München 1983, 277-292 unter dem Titel: «Paul VII. an
Peppino — Ein Papstbrief aus dem 2ı. Jahrhundert».

439
ZUR FRAGE DES AMTSVERSTÄNDNISSES
Veröffentlicht in: P. Neuner, F. Wolfinger (Hrsg.), Auf Wegen der
Versöhnung. Beiträge zum ökumenischen Gespräch, Frankfurt 1982,
213-219 unter dem Titel: «Kleine Randbemerkungen zur Frage des
Amtsverständnisses»,
BUCH GOTTES — BUCH DER MENSCHEN
Vortrag am 2o. Juni 1983 in Köln.
Veröffentlicht in: StdZ 202 (1984) 35 —44 unter dem Titel: «Die
Heilige Schrift — Buch Gottes und Buch der Menschen».

DIMENSIONEN DES MARTYRIUMS


Veröffentlicht in: Concilium ı8 (1983) 174-176 mit dem Untertitel:
«Plädoyer für die Erweiterung eines klassischen Begriffs».

EUCHARISTISCHE ANBETUNG
Veröffentlicht in: GuL 54 (1981) 188-191.

HERZ-JESU-VEREHRUNG HEUTE
Veröffentlicht in: Korrespondenzblatt des Canisianums 116 (1/1982/
83) 2-8.

MUT ZUR MARIENVEREHRUNG


Veröffentlicht in: GuL 56 (1983) 163-173 mit dem Untertitel: «An-
thropologische und glaubensmäßige Zugänge zur heilsgeschichtlichen
Bedeutung Marias».
Teilweise identisch mit: «Die Gemeinschaft der Heiligen und die
Heiligenverehrung», in: W.Beinert (Hrsg.), Die Heiligen heute
ehren. Eine theologisch-pastorale Handreichung, Freiburg i. Br. 1983,
BIT 242

ZUM VERSTÄNDNIS DES WEIHNACHTSFESTES


Veröffentlicht als Vorwort in: K. Gröning (Hrsg.), «Fürchtet euch
nicht». Das Weihnachtsgeschehen in Zeugnissen der abendländischen
Kultur, München 1983, 11-19. Dieser Aufsatz besteht weithin aus
Beiträgen, die dankenswerterweise K. Gröning aus: K. Rahner, Die
Gabe der Weihnacht, Freiburg i. Br. 1980, und K. Rahner, Gott ist
Mensch geworden, Freiburg i. Br. 1975, zusammenstellte.

ZUR THEOLOGIE DER RELIGIÖSEN BEDEUTUNG DES BILDES


Vortrag am 19. November 1983 in München.
Veröffentlicht in: Halbjahresheft Nr. 5 der Deutschen Gesellschaft für
christliche Kunst e. V., München3 (5/1983) 2-8.

440
DIE KUNST IM HORIZONT VON THEOLOGIE UND FRÖMMIGKEIT
Veröffentlicht in: Entschluß 37 (1/1982) 4-7 unter dem Titel: «Nicht
jeder Künstler ist ein Heiliger. Zur Theologie der Kunst».
WIDER DEN HEXENWAHN
Veröffentlicht in: GuL 56 (1983) 284-291 mit dem Untertitel: «Was
hat Friedrich Spee uns heute zu sagen?»
Ebenfalls in: A. Arens (Hrsg.), Friedrich Spee im Licht der Wissen-
schaften, Trier 1984.
GLAUBE UND SAKRAMENT
Veröffentlicht in: H. J. Auf der Mauer, L. Bakker, A. von de Bunt,
J. Waldram (Hrsg.), Fides Sacramenti. Sacramentum Fidei (Festschrift
P. Smulders), Assen 1981, 245-252 unter dem Titel: «Kleine theologi-
sche Reflexion über die gegenseitige Beziehung von Glaube und
Sakrament».
FRAGEN DER SAKRAMENTENTHEOLOGIE
Veröffentlicht in: Entschluß 38 (11/1983) 6, 8-9. Haupttitel des Auf-
satzes: «Das endgültige und siegreiche Zusagewort für die Welt».
TAUFE UND TAUFERNEUERUNG
Veröffentlicht in: Entschluß 37 (9/10/1982) 6-11. Haupttitel des Auf-
satzes: «Das göttliche Feuer in sich lebendig halten».
ZUR SITUATION DES BUSS-SAKRAMENTES
Veröffentlicht in: Entschluß 35 (9/10/1980) 4-12. Haupttitel des Auf-
satzes: «Warum man trotzdem beichten soll».

441
NAMENSVERZEICHNIS

zusammengestellt von
Paul Imhof SJ

Abraham 391 Freud, S. ı2


Alacoque, M.M. 372 Fries, H. 104 113 438/9
Alphons v.L. 372 Froehlich, K. 438
Arens, A. 441
Augustinus ıı 366 423 Göpfert, M. 439
Augustus 343 Goethe, J.W.v. 372
Goretti, M. 295
Bach, ]J.S. 365 Green, J. 366
Bakker, L. 441 Greshake, G. 169
Balthasar, H.U.v. 366 Gröning, K. 440
Becker, G. 438 Gutenberg, ]J. 289
Beinert, W. 324 440
Bellarmin, R. 356 Hieronymus ı1
Benedikt 86 Hofmann, R. ıı
Biser, E. 438 Horaz 44
Bodelschwingh, F.v. 325 Huch, R. 375 377
Böll, H. 375
Brentano, C. 375 Ignatius v.L. 267 373 381
Bruckner, A. 365 Innozenz III 256
Bühlmann, W. 143 180 253
Bürkle, H. 438 Johannes 74 334 340
Bunt, A.v.d. 441 Johannes XXIII 250
Busenbaum, H. 374 Johannes Damascenus 356
Johannes v.K. 366
Calvin, J. 355 Johannes Paulll 231 250/1
Chrysostomos ı1
Claudel, P. 323 Kant, TI. 12
Congar, Y. 251 Karlstadt, A. 355
Cyptian 311 Kaufmann, F.X. 171
König, F. 438
Kolbe, M. 298 325
Don Bosco 436
Küng, H. 220

Eberschweiler, W. 383 Lefebvre, M. 261


Leibniz, G.W. 375
Foucauld, Ch.de 325 Leo XIII 269
Franz v.A. 256 Ludwig XIV 158

442
Lukas 334 PiusX 174 211 245/6
Luther, M. 354 433 Pius XI 178 257 268 307/8
Pius XII 141 267 307 321 403
Modehn, C. 439
. Morus, Th. 43 Rembrandt 364/5 371
Moser, B. 439 Rieci, M. 178 181
Moses 140 174 391 Romero, O. Erzbischof 297

Napoleon 325 Schurr, V. 333


Neuner, P. 439 Smulders, P. 441
Newman, J.H. 256 366 Sokrates 27
Nickel, G. 382 Spee, F. 373-383 441
Origenes ı1 218 Terra y, A473
Tertullian ıı
Pascal, B. 432 Theresa, M.v.Kalkutta 256
Paul VI 135/6 144/5 181 305 307 ‚Theresia v.1..2173256
334 Thomas v.A. ıı 15 35 256 269
Paulus 47 76 196 206 zıı1/2 254 298/9 314 349 356 366 403
286 310 340 345 354 387/8 430 437
402 404 416
Petrus 254 265 Waldram, J. 441
Pfarrer von Ars 256 Walter v.B. ıı
Pius IX 257 Wolfinger, F. 439

Zwingli, U. 355

443
SACHREGISTER

zusammengestellt von
Paul Imhof SJ

Dieses Sachregister wurde nach denselben Kriterien wie das


Sachregister von Bd. XII, Schriften zur Theologie, «Gott und
Offenbarung», S. 435 f, von Bd. XIV, Schriften zur Theologie,
«In Sorge um die Kirche», S.437 f und von Bd. XV, «Wissen-
schaft und christlicher Glaube», S. 415 f erstellt.

Abtreibung 425 — Rückgang der Beichten


Akademie 209-211 423-429
Altes Testament — schwere Sünde 419-429
— Bund 69 — Sonntagsmesse 422
— Jesus Christus 286/7 — soziale Dimension 433/4
Amt 153 Bild
— Ökumene 271-277 — Christentum 355-363
Anthropologie — Gott 358-363
— christliche 279 280 288 348/9 — Heilsgeschichte 358 361
— Zeichen 398 — Ikone 363
Aporie 206-214 — Kult 363
Atheismus 132-134 153 218 260 — Theologie 348-363
394/5 406 — Vermittlungsfunktion 359
Aufklärung 349 351 Bischof
— Amt ı170/1 236
Basisgemeinde — Papst 134-139 250
— Kirche 196-205 Bußsakrament 418-437
— profane Gesellschaft 200/1 — Notwendigkeit 404/5
— Sektengemeinde 201-203
— südamerikanische 196-205 Christ
Beichte 418-437 — Glaube 46-50 87 115-117
— Andachtsbeichte 435-437 212-214 218
| Beichtpflicht 419-429 — Taufe 406 417
— Beichtvater 435-437 — Welt ı61/2
— Bußandacht 419 Christentum
| Häufigkeit der Beichte
— Bild 355-363
434-437 — Geschichte 392
— Kirche 427-437 — Menschheit 175-177 -
— konkret 431-437 — Ökumene ı15 117
— Priester 426 = Wesen 351 353-355

444
Christlichkeit Ewigkeit
— Toleranz 32/3 — Zeit 343/4
Christologie
— Abstiegschristologie 340/1 Freiheit
— Jesus Christus 340-347 — Ethik 41
— Gemeinwohl 27/8 31/2
— Geschichte 68 70 77 79 80 83
Dialog
86
— Toleranz 26-33
— Gewalt 29
Dogma
— Gewissen 13/4 16 22-25 40
— Kirche 131-142
— Gott 41 423/4
— Lehramt 237-239
— Offenbarung 396
— Neuinterpretation 239-241
— Planung ı50/1
— Ökumene 93-109 228-230
— Taufe’4r;
— Theologie 131-142
— Theologie 248
— Weihe der Frau 1