Fi
Per
Karl Rahner / Schriften zur Theologie
Band XVI
BT
ER KARL RAHNER
-R23
N f7
SCHRIFTEN
ZUR THEOLOGIE
BAND XVI
HUMANE GESELLSCHAFT
UND KIRCHE VON MORGEN
Theology |_ibrary
SCHOOL OF TFZOLOGY
AT GLAREMONT
California
Vorwott .
MENSCHLICHE GESELLSCHAFT
ÖKUMENE
FRÖMMIGKEIT
SAKRAMENTE
Quellennachweis . 438
Namensverzeichnis . 442
Sachregister . 444
VORWORT
1 S.Th. 1,2 q.19a.5; De ver. q.1ı7a. 4ad2. Vgl. Rudolf Hofmann, Die
Gewissenslehre des Walter von Brügge O.F.M. und die Entwicklung der
Gewissenslehre in der Hochscholastik (Beiträge zur Geschichte der Philosophie
und Theologie des Mittelalters, XXX VI/s-6), Münster 1941, bes. 145-204.
II
Gottbezogenheit des Gewissens gegenüber einem säkularisier-
ten Gewissensbegriff und seiner Tendenz zur Aufstellung einer
sittlichen Autonomie im Gegensatz zur Theonomie des Gewis-
sens; über die Weiterentwicklung des Gewissensbegriffes in
der christlichen Theologie durch neugewonnene Einsichten der
modernen Psychologie und Tiefenpsychologie, Soziologie und
Ethnologie bis hin zu der Anerkennung der Gewissens- und
Religionsfreiheit, wie sie in der katholischen Kirche durch das
II. Vatikanum erreicht wurde. Von alldem also kann ich hier
nicht reden — ohne dadurch zu unterstellen, alle diese Themen
seien für die Theologie vom Gewissen unerheblich.
Ebenso kann vieles hier nicht thematisiert werden, was der
Theologe an sich über die außertheologischen Lehren über das
Gewissen sagen müßte. Es kann hier also z.B. nicht davon
geredet werden, daß das Gewissen nicht durch die Annahme
eingebotener sittlicher Ideen erklärt werden kann. Es kann
.keine ausdrückliche Stellungnahme zu Kants Beschreibung des
Gewissens als eines transzendentalen Vermögens vorgetragen
werden. Wir können nicht ausdrücklich von der Bildung des
Über-Ichs gemäß der Psychologie Freuds sprechen. Es darf
keine ausdrückliche Stellungnahme zu den Überlegungen der
modernen Existentialphilosophie, der Verhaltensforschung,
der Ethnologie, eines biologischen Evolutionismus usw. er-
wartet werden. Es ist aber selbstverständlich, daß die
Theologie sich all den durch die heutigen anthropologischen
Wissenschaften gewonnenen Einsichten nicht verschließt, die
für ein volles Verständnis des mit «Gewissen» Gemeinten
wichtig sind. Natürlich gibt es eine Entwicklung des Gewis-
sens; natürlich ist es mitbedingt durch biologisch vorgegebene
Verhaltungsweisen, für die der Verhaltensforscher Analogien
im Tierreich nachweist; natürlich gibt es eine frühkindliche
Entwicklung des Gewissens mit all den Bedingtheiten und
Vorgegebenheiten einer solchen Entwicklung; natürlich ist die
konkrete Gestaltung des Gewissens durch einzelne Gebote und
Verbote, die sie zum Teil selbst aufstellt, biologisch, gesell-
schaftlich und kulturell mitbedingt; natürlich ist eine reflexe
und verbalisierte Erkenntnis des theonomen Charakters des
rar,
Gewissens innerhalb der Geschichte der prähistorischen
Menschheit, der Kulturen und Zivilisationen und auch der
Individualgeschichte nicht deutlich greifbar; und diese Er-
kenntnis kann auch in der heutigen geistigen Situation nicht
jedermann leicht und schnell nahegebracht werden. Aber, wie
gesagt, von alldem kann und soll hier nicht ausdrücklich
geredet werden, weil wir sonst letztlich das, worum es dem
Theologen bei diesem Thema geht, nicht genügend ausführlich
und deutlich aussprechen können. Ich meine den Bezug des
Gewissens auf Gott.
14
‚als seine Verpflichtung anzuerkennen hat, wenn er in einer
Entscheidungssituation meint, zu keiner genügenden Einsicht
kommen zu können, welche der beiden angebotenen Ent-
scheidungsmöglichkeiten die richtige sei. Wenn in einer
solchen Situation der Perplexität, des Versagens der sachgebun-
denen Entscheidungsgründe, entschieden werden muß und
eine größere Klarheit sachlicher Art nicht erzielt werden kann,
dann ist zu sagen und auch einsichtig zu machen, daß in einem
solchen Fall die eine und die andere der beiden Möglichkeiten
sittlich gerechtfertigt ist.
Wir gehen im weiteren also davon aus, daß das Urteil in einer
Entscheidungssituation ein Gewissensurteil ist, wenn es dem
urteilenden Subjekt eine absolute Verbindlichkeit auferlegt.
15
nicht abwälzbaren Verantwortung, in der das letzte Wesen
radikaler Freiheitsentscheidung realisiert wird. Das ist alles
andere als eine billige Selbstverständlichkeit. Die bloße Tatsa-
che, daß das sittliche Urteil eines Menschen irrig sein, der
objektiven Wertordnung und auch einem wirklichen Selbstver-
ständnis des Subjektes in Wahrheit widersprechen kann, daß
ein Mensch die sachliche Ordnung der Werte — seine Verpflich-
tung gegenüber den anderen und seine wahre Selbstinterpreta-
tion — verfehlen kann, ist natürlich an und für sich eine Selbst-
verständlichkeit, die der öffentliche Alltag und auch die in-
dividuelle Erfahrung immer wieder bezeugen. Wir irren oft,
und zwar eben auch in der Dimension der sittlichen Werte.
Aber daß ein solches irriges Urteil dennoch — wenn natürlich
auch längst nicht immer, so doch in vielen Fällen - ein eigentli-
ches Gewissensurteil bedeutet und diesem Irrenden eine ab-
solute Verpflichtung auferlegt, die hier und jetzt (christlich
formuliert) für ihn ein Gebot Gottes bedeutet, dessen Nichtbe-
folgung ihn vor Gottes Gericht verwerflich machen würde, daß
ein Urteil mit einem Inhalt, der sittlich falsch ist, doch einen
kategorischen Imperativ bedeuten kann, dessen Verletzung den
Täter moralisch böse machen würde, das ist doch keine Selbst-
verständlichkeit.
Man könnte auf verschiedene Weise deutlich machen, warum
das keine Selbstverständlichkeit ist. Man könnte darauf hin-
weisen, daß der sittliche Unwert, auf den sich dieses Urteil
bezieht, ja gar keine sittliche Forderung positiver Art an das
Subjekt richten kann und somit ein wirkliches Gewissensurteil
gar nicht möglich ist. Man könnte sagen, daß ein Gewissensur-
teil, das eine Verpflichtung von Gott her beinhaltet, sich doch
nicht als verpflichtend auf etwas beziehen kann, das Gott
objektiv ablehnt und uns zu verwerfen gebietet. Man könnte
sagen, daß ein sittlicher Unwert im Unterschied zu einem
sittlichen Wert von absoluter Majestät gar nicht jene Ent-
schiedenheit und Unbedingtheit hervorrufen könne, die zu den
Wesenseigentümlichkeiten eines Gewissensurteils gehören.
Und dennoch halten die christliche Moraltheologie und auch
die menschliche und christliche Lebensüberzeugung daran fest,
16
daß es solche irrigen Gewissensurteile gibt, obwohl Irrtum und
absolute Verpflichtung schlechthin widersprüchliche Begriffe
zu sein scheinen, die in derselben Wirklichkeit nicht gleich-
zeitig gegeben sein können. «Nicht selten geschieht es, daß das
Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne daß es
dadurch seine Würde verliert», sagt das II. Vatikanum
(Gaudium es spes 16). Wieso aber verliert es seine Würde nicht,
wenn es irrt?
18
tümliche sittliche Urwirklichkeit gegeben und bejaht. Das
irrige Gewissensurteil ist nur in bezug auf diese Einzelgegen-
ständlichkeit irrig und nicht in bezug auf die Wirklichkeit, die
dem Gewissensurteil seine absolute Würde und Verbindlichkeit
verleiht. Der Begriff «irriges Gewissen» ist also eine Bezeich-
nung, die der gemeinten Sache inadäquat ist. Es gibt gar keine
schlechthin irrigen Gewissensurteile. Wo und wenn ein solches
; Urteil schlechthin irrig wäre, wäre es gar kein Gewissensurteil,
weil es ja eine absolute Verbindlichkeit gar nicht meinen und
bejahen würde.
29
explizit sagen würde, dieser grundsätzliche Unterschied sei
relativ und könne auch geleugnet oder vernachlässigt werden,
würde er in einem solchen Urteil noch einmal implizit behaup-
ten, dieses sein Urteil sei gültig und allein die absolut richtige
Handlungsnorm für die Freiheit mit Ausschluß jeder anderen.
Es gibt, mit anderen Worten, eine transzendentale Erfahrung
von Freiheit und Verantwortung, die gerade nicht ein Datum
partikulärer Art innerhalb des Bewußtseins sein kann. Die
empirische psychologische Reflexion kann — abstrakt gespro-
chen — jedes Einzeldatum auf ein anderes zurückführen und
könnte so letztlich gar nicht Freiheit und Verantwortung ent-
decken. Es gibt aber eine transzendentale Erfahrung von Sub-
jekthaftigkeit, von Freiheit und Verantwortung, die auch dann
noch gegeben ist, wo man so etwas bezweifelt und als Einzel-
datum raumzeitlich-kategorialer Erfahrung nicht entdecken
kann. Man kann seiner Freiheit und Verantwortung zu ent-
fliehen suchen, indem man sich als Produkt von Fremden, von
Nicht-Ichs interpretiert. Aber eben diese Selbstinterpretation,
die wir vornehmen, ist die Tat des Subjekts als solchem; und
in diesem Falle lehnt es sich ab oder interpretiert seine Freiheit
als Verdammnis zu leerer Willkür von etwas Fremden oder
erreicht sich in solcher Interpretation gar nicht wirklich.
Gerade dann aber handelt man als freies Subjekt und bestätigt
sich als solches in dem sich weginterpretierenden Nein zu sich
selber; man darf den Inhalt dieser Interpretation, also die
Nicht-Freiheit, nicht verwechseln mit dem Tun des Inter-
pretierens, das Gesetzte nicht mit dem Tun des Setzens. Natür-
lich ist dieses sich so unentrinnbar aufgegebene Sich-selbst-
überantwortet-sein der Person immer durch die Begegnung mit
einem kategorialen Objekt vermittelt; aber mit dieser Vermitt-
lung, die nicht identisch ist mit dem transzendentalen Sich-
selbst-überantwortet-sein, wird Freiheit und eigentliche Ver-
antwortung erfahren. Und darin ist das eigentliche Phänomen
des Gewissens gegeben. Es ist der unbedingte Anruf zu sich
selbst, zu seiner Subjekthaftigkeit und Verantwortung, der
Anruf, dessen Annahme zwar in die Freiheit, aber nicht in die
Beliebigkeit des Menschen gestellt wird: Denn auch wenn
20
dieser Anruf durch die Freiheit abgelehnt wird, ereignet sich
darin die unentrinnbare Gegebenheit dieses Anrufes. Dieses
Gewissensphänomen ist also auch dort gegeben, wo sich der
Mensch bezüglich der sachlichen Gebotenheit oder Nicht-Ge-
botenheit einer kategorialen Gegenständlichkeit irrt; und
darum ist dort, wo ein wirkliches Gewissensurteil vorliegt,
dieses in seinem wahren Wesen als absolute Forderung, Freiheit
und Verantwortung anzunehmen, immer noch Serben) auch
wenn es «irrig» ist.
Pa
\
verliert. Das kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch sich
zu wenig darum bemüht, nach dem Wahren und Guten zu
suchen, und das Gewissen durch Gewöhnung an die Sünden
allmählich fast blind wird.» (Gaudium et spes 16) Es ist wohl
unnötig, diesen Text des Konzils noch eigens ausführlich zu
interpretieren.
Auf einige Dinge aber sei aufmerksam gemacht, die sich aus
diesem Verständnis des Wesens des Gewissens ergeben. Dazu
gehört vor allem das, was man heute die Gewissens- und
Religionsfreiheit nennt. Weil im Gewissen eine letzte Subjekt-
haftigkeit des Menschen gegeben ist, die es verbietet, ihn letzt-
lich rein sachlichen Normen und Bestrebungen untertan zu
machen und zu verplanen, muß das Gewissen von allen gesell-
schaftlichen und kirchlichen Instanzen respektiert werden;
denn diese alle dienen zunächst einmal unmittelbar den sachhaf-
ten Strukturen der Wirklichkeit. Gewissens- und Religions-
freiheit darf dabei nicht die Gewissensfreiheit bei anderen ver-
letzten; das wäre — wie man zu formulieren pflegt — eine
Verletzung des Gemeinwohls. Damit sind natürlich weitere
Fragen, wie die von Konfliktfällen zwischen der Freiheit des
Gewissens und dem Gemeinwohl, also letztlich der Freiheit
anderer, gegeben, Probleme, die hier nicht mehr kasuistisch
behandelt werden können. Daß in dieser Beziehung Theorie
und Praxis der Kirche Entwicklungen und Wandlungen durch-
gemacht haben, ist eigentlich nicht verwunderlich.
Die Gesellschaft und auch die Kirche haben weiterhin durch-
aus das Recht und die Pflicht, die einzelnen Gewissen über die
objektiven Sittennormen zu belehren und zu ihrer Beobach-
tung aufzufordern, also über die sachliche Richtigkeit der
kategorialen Vermittlung des Gewissens zu sich selbst; das ist
durchaus verträglich mit einer Respektierung der Gewissens-
freiheit. Aber je komplizierter heute die Situation des Men-
schen und seines Handelns individuell und kollektiv wird, um
so schwieriger wird es, für die konkrete Situation eines Men-
schen genau anzugeben, was hier und jetzt objektiv richtig oder
falsch ist. Die Kirche und auch eine profane Gesellschaft (in der
‚ Verteidigung der menschlichen Grundwerte) können zwar
23
nicht darauf verzichten, Normen von objektiver Sittlichkeit
anzubieten und zu verteidigen; aber mindestens die Kirche
sollte heute den Schwerpunkt ihres Bemühens darauf verlegen,
die eigentlich transzendentale Erfahrung auf Gott hin, die
Erfahrung eigentlich theonomer und gerade so wirklich
autonomer Sittlichkeit im Menschen deutlicher werden zu
lassen.
Es ist gut, ja lebensnotwendig, daß die konkreten Verpflich-
tungen des Alltags für ein erträgliches menschliches Zusam-
menleben befolgt und als sittlich gefordert erkannt werden.
Aber wenn dabei nicht die eigentliche Würde des Gewissens,
die unabwälzbare Verantwortung des einzelnen vor Gott, die
Unmittelbarkeit des Subjekts auf Gott hin realisiert würde,
dann wäre alle nützliche und lebensnotwendige objektive Sitt-
lichkeit und ihre Respektierung im Grunde genommen doch
nur eine sublimere Art von Menschen-Dressur, die vor der
letzten Würde des Menschen und vor Gott keine Geltung hätte.
Einmal etwas überspitzt, aber letztlich doch richtig, könnte
man sagen: Ein in der Dimension kategorialer Sittlichkeit
irriges Gewissensurteil ist wichtiger und wunderbarer als ein
objektiv richtiges «Gewissensurteil» (das aber natürlich letzt-
lich gar kein solches wäre), das die transzendentale, auf Gott
bezogene Dimension weder explizit noch implizit in Freiheit
bejahen würde.
In den Fällen, in denen einer ein wirkliches Gewissensurteil
beim anderen zu präsumieren hat, besteht zwischen beiden eine
Gemeinschaft auf Gott hin, auch wenn in der materialen Inhalt-
lichkeit der beiden Gewissensurteile ein Widerspruch besteht
und eines (oder manchmal vielleicht beide) darum irrig sein
muß. Wenn zwei Gegner dies wirklich realisieren würden,
wenn sie so sich dessen bewußt wären, daß sie vor Gott und
in seiner Gnade eine Bruderschaft haben, die im letzten wich-
tiger ist als die bittere Uneinigkeit in der materialen Inhaltlich-
keit ihrer Gewissensurteile, dann könnte eigentliche und wahre
Toleranz zwischen Gegnern bestehen, die weit über das hinaus-
reicht, was man bürgerlich und liberal Toleranz zu nennen
pflegt. Der bittere Streit, in dem es wahrhaftig um hohe Werte
24
und Güter der Menschen geht und der gewiß nicht in einer
billigen Friedfertigkeit verharmlost werden darf, wäre dennoch
umfaßt von der Weite, dem Licht und dem Frieden, auf die sich
jedes wahrhafte Gewissensurteil ausstreckt, wie bitter immer
auch die Fehde noch sein mag, die wir in einem solchen Fall
gerade um des Gewissens willen bestehen und ertragen müssen.
25
DIALOG UND TOLERANZ ALS GRUNDLAGE
EINER HUMANEN GESELLSCHAFT
27
£
Dialog immer bereit sein? Dürfen wir ihn nie beenden oder
abbrechen, außer wenn sich die Dialogpartner allesamt
schlechthin auf dieselbe Überzeugung geeinigt hätten? Kann
man auf jede Entscheidung im öffentlichen Leben verzichten,
die nicht aus einem durch bloßen Dialog erzeugten Konsens
aller hervorgeht? Wer bestimmt denn letztlich, daß in einem
Dialog nun alles völlig genügend «ausdiskutiert» sei? Wer
formuliert, für alle verbindlich, das Ergebnis eines Dialogs?
Kann ein Dialog überhaupt zu einem aus ihm selber allein
hervorgebrachten Ende kommen? Und weiter: Können wir
immer und in jedem Fall dem anderen gegenüber nur tolerant
sein?
Man sagt sehr oft (auch in modernen kirchlichen Erklärun-
gen, wie im Zweiten Vatikanum), die zu tolerierende Freiheit
jedes einzelnen habe ihre Grenze an dem Gemeinwohl, das
nicht verletzt werden dürfe. Man unternimmt heute den
Versuch, aus dem Begriff des Gemeinwohls Momente heraus-
zuscheiden, die von religiösen Überzeugungen bedingt sind,
‘und man versucht, von dem so säkularisierten Begriff des
Gemeinwohls her Tendenzen zu gesellschaftlichen Religions-
streitigkeiten von vorneherein zu unterbinden. Aber gelingt so
etwas eindeutig und klar? Ist es z.B. sicher und nachweisbar
intolerant, wenn Bundesstaaten in den USA in den öffentlichen
Schulen sich gegen Lehren der Evolution sperren? Verstößt es
bei uns zulande gegen die Toleranz und die Gleichberechtigung
einer atheistischen Weltanschauung, wenn es zwar theologische
Fakultäten an den staatlichen Universitäten gibt, aber keine
Fakultät, die sich eine radikale und atheistische Religionskritik
zur Aufgabe macht?
Aber selbst wenn man sagen würde, es gebe natürlich auch
in einer modernen, fortschrittlichen Gesellschaft noch Reste
von Intoleranz, die noch ausgeräumt werden müssen, so bliebe
immer noch die Frage, was genaugenommen das wahre Ge-
meinwohl sei und wer genau es zu bestimmen habe. Denn auch
in der aufgeklärtesten und tolerantesten Gesellschaft hat gegen
die Willkür des einzelnen immer noch das Gemeinwohl das
Recht und eine Notwendigkeit, sich auch ohne Zustimmung
28
dieses einzelnen gegen seine Übergriffe zur Wehr zu setzen,
also in einem gewissen Sinn intolerant zu sein, wenn man
Intoleranz definieren will als die Setzung einer Situation für die
Freiheit eines anderen ohne dessen Zustimmung. Wenn also
solche Freiheitssituationsbeschränkung in einer Gesellschaft
wegen des Gemeinwohls gar nicht schlechthin unvermeidlich
ist, wenn also in diesem Sinn Intoleranz gar nicht restlos
vermieden werden kann und auch in keiner faktischen Gesell-
schaft, so verschieden sie auch sein mögen, vermieden wird —
wer bestimmt dann das Gemeinwohl, das solche Intoleranz
legitimiert?
Wenn eine Gesellschaft gegeben ist, in der (vielleicht von ein
paar Rechtsbrechern abgesehen) gar keine wirkliche Meinungs-
verschiedenheit darüber besteht, welches das allseitig anerkann-
te Gemeinwohl sei, dann ist diese eben gestellte Frage keine
reale. Wenn aber in einer Gesellschaft auch über fundamentale
Fragen des Gemeinwohls entscheidende Meinungsverschieden-
heiten bestehen, wie bestimmt man dann den Raum von Dialog
und Toleranz und auch dessen Grenze, die ja immer noch
gegeben ist? Sagt man (und zwar gewiß mit einem ganz erhebli-
chen Recht), der reale Begriff des Gemeinwohls sei selber eine
im Wandel der Geschichte stehende Größe und müsse von der
Gesellschaft in einem dauernden Prozeß immer neu bestimmt
werden, dann ist doch mindestens für den Geist und vor allem
für das sittliche Gewissen des einzelnen immer noch die Frage
brennend, nach welchen Maßstäben und in welcher Richtung
er seine verantwortliche Aufgabe bei dieser immer neuen
Bildung des Begriffs des Gemeinwohls und so auch des Begriffs
des real möglichen Dialogs und einer wirklich realen Toleranz
erfüllen solle.
Für welche Toleranz in immer offenem Dialog soll man
kämpfen, wenn man doch nicht einfach schlechthin und ohne
jede Unterscheidung davon überzeugt sein kann, daß jedwede
denkbare Grenze von Dialogbereitschaft und Toleranz ver-
werflich sei? Man kann zum Beispiel moralisch einen Schwan-
gerschaftsabbruch ablehnen und dennoch dialogbereit und
tolerant zugeben, daß eine solche Tat kein Gegenstand des
=
bürgerlichen Strafrechts sein müsse. Man kann vielleicht in
einem Dialog darüber streiten, ob die Beihilfe zu einem klar
gewollten Suizid strafrechtlich verfolgt werden müsse, ob so
etwas vom Gemeinwohl her gefordert werden müsse oder
nicht. Aber es gab doch zum Beispiel Praxen und Normen des
nationalsozialistischen Regimes, die einfach verwerflich sind
und nicht in den Bereich eines toleranten Dialogs unter Gleich-
berechtigten gehören, die sich gegenseitig gleich viel Intel-
ligenz und Humanität zubilligen, auch wenn sie in der kon-
kreten Sachfrage verschiedener Meinung sind.
Wenn es also gar nicht so leicht ist, eindeutig und klar und
für alle einsichtig zu bestimmen, was genau eine mit Recht
geforderte Dialogbereitschaft und Toleranz sei und was viel-
leicht eben doch nicht dazu gehöre, obwohl es von anderen als
unbedingt zum Wesen der Toleranz gehörig erklärt wird, dann
ist es nicht so einfach, eine Scheidung der Menschen in zwei
Gruppen vorzunehmen: in solche, die für Dialog und Toleranz
eintreten, und solche, die es nicht tun. Es wird sogar für eine
nüchterne Betrachtung der menschlichen Wirklichkeit und Ge-
schichte gar nicht unvermeidbar sein, zuzugeben, daß über die
genauere Bestimmung des Wesens eines wahren Humanismus
und so des richtigen Begriffs von Toleranz und Dialogbereit-
schaft immer Meinungsverschiedenheiten bleiben werden.
An diesem etwas resignierend stimmenden Punkt unserer
Überlegungen könnte man natürlich fragen, ob nicht die all-
seitige Anerkennung dieser Situation, also die Bereitschaft zu
möglichst weitgehender Toleranz und zu offen bleibendem
Dialog dasjenige sei, worüber sich alle Menschen einig sein
könnten. Aber über diese Konsequenz werden sich die Men-
schen auch nicht einigen, und es wird nicht wenige geben, die
der Meinung sind, man müsse den anderen unter Umständen
intolerant zu seinem Glück zwingen. Diese Auffassung einer
legitimen Intoleranz ist zweifellos sowohl in den modernen
islamischen Staaten wie auch in den sozialistischen Ländern
gegeben. In beiden wird eine verbindliche Ideologie des Staats
als für alle geltend erklärt und auch dort zu realisieren versucht,
wo der einzelne nicht damit einverstanden ist.
30
Man könnte natürlich von solchen Staatsideologien auch
zwanghaft verbindlicher Art her gegen uns «Westler», die so
etwas ablehnen, einwenden, wir würden ja unsere Toleranz
auch begrenzen durch die Berufung auf ein Gemeinwohl, und
wir würden uns somit von intoleranten Staatsideologien nur
durch die Verschiedenheit unterscheiden, in der auf beiden
Seiten das alle zwingende Gemeinwohl ausgelegt wird. Wenn
wir im toleranteren Westen wiederum dagegen aufklären, unser
Begriff des Gemeinwohls sei eben weiter und toleranter als der
dieser anderen Staatsideologien und darum auch richtiger, weil
die Freiheit (und somit auch die Toleranz) die Präsumtion
gegenüber einem zwanghaft verordneten Gemeinwohl und
allgemeinen Glück habe, dann wird uns dies hier im Westen als
durchaus richtig erscheinen, zumal wir uns ein echtes Gemein-
wohl nur denken können mit einem möglichst großen Maß an
Freiheit der einzelnen, da diese ja selbst ein inneres Moment am
menschlichen Wohl ist.
Aber von der anderen Seite können wir dann wiederum
gefragt werden, ob das von uns angestrebte Maß an Toleranz
nicht doch jenes Gemeinwohl tödlich bedrohe, das alle zu
fordern nicht unterlassen können, so daß in dieser Bedrohung
des Gemeinwohls auch eben diese Freiheit selber faktisch noch
einmal tödlich bedroht werde. Man könnte von dieser anderen
Seite sich fragen lassen, ob dieses Gemeinwohl bei uns durch
eine libertinistische Toleranz so auf reines Funktionieren einer
bloßen Wirtschafts- und Konsumgesellschaft reduziert werde
und selber sich durch die Leere an Humanität echter Art ad
absurdum führe.
Aus all diesen Erwägungen ergibt sich die Problematik des
Begriffs und des Ideals von Toleranz. Toleranz kann nicht
schlechterdings unabhängig vom Gemeinwohl gedacht
werden. Dieses aber stellt eine metaphysische Frage, wie
nämlich dieses Gemeinwohl genauer gedacht und bestimmt
werden muß, stellt eine geschichtliche und gesellschaftspoli-
tische Frage, wie nämlich eine bestimmte Gesellschaft in einer
bestimmten Periode genau den Ausgleich wünscht, der immer
neu gefunden und hergestellt werden muß, zwischen Freiheit
31
des einzelnen und einzelner Gruppen einerseits und der von der
unvermeidlichen Struktur der Gesellschaft her notwendigen
Begrenztheit des Freiheitsraums der einzelnen und der einzel-
nen Gruppen andererseits. Da dieser Ausgleich nicht einfach
ein für allemal getroffen werden kann, sondern selbst in der
wandelnden Geschichte steht, ist schließlich die individuell und
kollektiv existentielle Frage, wie der konkrete Ausgleich in
einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Situation
und Periode in freier Entscheidung getroffen werden solle und
ob diese Gesellschaft wirklich entschlossen auch für die
Zukunft zu dieser Entscheidung über den konkreten Ausgleich
stehen wolle. Wir im Westen mit unserer Geschichte werden,
so hoffe ich, zu der Ordnung «freiheitlicher» Art (wie wir zu
sagen pflegen) entschlossen stehen, auch wenn wir uns darüber
klar sein müssen, daß diese freiheitliche Gesellschaftsordnung
mit der damit gegebenen konkreten Toleranz weiterentwickelt
werden muß und daß Toleranz gar nicht der einzige und für
sich allein absolutsetzbare Maßstab unserer Existenz sein kann.
32
und verwirklicht, daß das, was es ist, dem, was es sein soll,
_ immer auch widerspricht. Aber es soll hier weder eine Anklage
noch eine Apologie bezüglich des faktischen Verhältnisses der
Kirchen gegenüber der Toleranz versucht werden.
Wir bedenken vielmehr einfach die Toleranz, die sein soll,
die von einem Grundverständnis der Freiheit des Menschen
gefordert wird, und zwar von jenem Selbstverständnis des
Menschen her, das gleichzeitig das Christliche und das jedem
Menschen Zugängliche ist. Da wir in einem kurzen Beitrag
natürlich nicht eine metaphysische und christliche An-
thropologie entwerfen können, gehen wir hier und jetzt von
einer Einsicht aus, die wohl Gemeingut jedes echten Humanis-
mus ist oder sein sollte und zu der auch das Christentum und
die Kirchen sich in einem langen Prozeß des Geistes, als vom
Christentum selbst her geboten, durchgerungen haben. Wir
meinen die Einsicht, daß auch das unüberwindlich irrige Ge-
wissen für den Menschen eine unbedingte sittliche Forderung
bedeutet, der er vor sich und vor Gott unbedingten Gehorsam
schuldet und darin von niemandem gehindert werden darf, so
daß von daher eine Forderung nach Toleranz entsteht, die alle
bloßen Nützlichkeitserwägungen über Frieden und bequeme
Koexistenz verschiedener Menschen und Meinungen in einer
Gesellschaft hinter sich läßt.
Wenn wir von der Einsicht ausgehen wollen, daß auch das
unüberwindlich irrige Gewissen für den Menschen eine unbe-
dingte sittliche Pflicht und Forderung aufstellt, der er vor sich
und vor Gott einen unbedingten Gehorsam schuldet, dann ist
es für uns in diesem Augenblick unserer Überlegungen an sich
noch keine Frage, wie der absolute Spruch des Gewissens
metaphysisch und theologisch genauer zu deuten sei. Wir
fragen also hier nicht eigentlich, ob und wie eine unbedingte
sittliche Verpflichtung genauer zu deuten sei, ob man bei einem
kategorischen Imperativ der Pflicht als einem letzten Datum
der menschlichen Existenz und Freiheit stehenbleibe, ob man
33
diese Verpflichtung von einem vorausgehenden Wissen über
Gott und seinen Willen her erkläre, oder ob einem gerade von
der Unbedingtheit der sittlichen Pflicht her aufgehe, was mit
Gott gemeint sei. Als christlicher Theologe freilich darf ich hier
voraussetzen, daß die Unbedingtheit einer sittlichen Pflicht
etwas mit dem zu tun habe, den wir Gott nennen, ohne hier den
Versuch auch noch machen zu müssen, diesen Zusammenhang
zu verdeutlichen. Wir gehen jedenfalls von der Voraussetzung
aus, daß es so etwas wie eine absolute Verpflichtung innerhalb
der menschlichen Existenz gibt, die nicht psychologisch oder
utilitaristisch oder soziologisch aufgelöst werden kann.
Wenn nun diese letzte Unbedingtheit des Spruchs des Gewis-
sens diesem auch dann zuerkannt wird, wenn es objektiv irrt,
dann muß natürlich zunächst klar sein, daß nicht jedwede
Meinung, jedweder Geschmack, jedwedes willkürliche Vorur-
teil, das ein Mensch hat und das er wenigstens unreflex doch
auch in seiner Unverantwortbarkeit erfaßt, die Würde und das
Prädikat eines Gewissensurteils für sich in Anspruch nehmen
kann, zumal ja bei einer solchen unverbindlichen Meinung man
gar nicht mit dem letzten unerbittlichen Ernst und dem vollen
Einsatz seiner Existenz urteilt. Aber dennoch bleibt es wahr:
Wenn ein Mensch in einer bestimmten Situation handeln und
sich entscheiden muß und er im Rahmen der ihm zu Gebote
stehenden Möglichkeiten nach bestem Wissen und Gewissen
(wie wir sagen) eine Entscheidung als die wahre und sittlich
richtige gegenüber einer anderen, an sich auch realisierbaren,
beurteilt, dann ist dieses Urteil für ihn bindend, ist ein Gewis-
sensurteil von absoluter Verpflichtung.
Nun wird man nach Ausweis der alltäglichen Erfahrung nicht
bestreiten können, daß ein solches Urteil sachlich, das heißt
gemessen an den objektiven Normen des Sittlichen, irrig sein
kann. Und dennoch kann ein solches Urteil, das sachlich irrig ist,
ein wirkliches Gewissensurteil sein, das für den Urteilenden
absolut bindend ist. Dieser Satz von der Möglichkeit eines
irrigen und doch den Urteilenden absolut bindenden Ge-
wissensurteils ist - wenn auch nur langsam mit all den darin
implizierten Konsequenzen - in der christlichen Moraltheologie
34
grundsätzlich mindestens seit Thomas von Aquin allgemein
anerkannt und hat die radikalen Konsequenzen für,die Gewis-
sensfreiheit und Religionsfreiheit in einem langsamen Erkennt-
nisprozeß der Kirche erbracht, wie im Zweiten Vatikanischen
Konzil deutlich geworden ist.
Der Satz von der Möglichkeit einer Entscheidung eines
Menschen, die aus der innersten Mitte seiner Existenz kommt
und ein Spruch des Gewissens von absoluter Verbindlichkeit
ist, obwohl sie irrig ist, ist nicht so selbstverständlich, wie wir
heute vielleicht empfinden, weil heute jeder nur zu sehr geneigt
ist, seine beliebige Meinung, die er gar nicht radikal verantwor-
ten will, als Gewissensurteil auszugeben. Aber die christliche
Moraltheologie anerkennt heute, und zwar bezüglich a//er mög-
lichen Gegenstände eines solchen Urteils, eine solche Möglich-
keit. Das heißt aber (nochmals gesagt): Ein Urteil eines Men-
schen über seine konkrete sittliche Haltung und Entscheidung
kann irrig und dennoch ein wirkliches, radikales Gewissensur-
teil sein, das ihn absolut verpflichtet in einer nicht abwälzbaren
Verantwortung, in der das letzte Wesen radikaler Freiheitsent-
scheidung realisiert wird.
Das ist wirklich keine billige Selbstverständlichkeit. Der
öffentliche Alltag und auch die individuelle Erfahrung be-
zeugen uns, daß wir oft irren, und zwar auch in der Dimension
der sittlichen Werte. Daß nun ein solches Urteil dennoch ein
eigentliches Gewissensurteil sein kann von absoluter Verpflich-
tung, dessen Nichtbefolgung den Menschen auch vor Gottes
Gericht verwerflich machen würde, ihn böse sein ließe, das ist
keine Selbstverständlichkeit. Dennoch halten die christliche
Moraltheologie und auch die menschliche und christliche
Lebensüberzeugung daran fest, daß es solche irrigen und doch
absolut verpflichtenden Gewissensurteile in der konkreten
Situation eines Menschen geben könne, obwohl Irrtum und
absolute Verpflichtung schlechthin widersprüchliche Begriffe
zu sein scheinen. «Nicht selten geschieht es», sagt das jüngste
Konzil, «daß das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis
irrt, ohne daß es dadurch seine Würde verliert.»!
1 «Gaudium et Spes», 16.
35
1% ,
1}
Worauf es uns nun für unser Thema ankommt, ist dies: Was
wir im normalen Leben als Toleranz ansprechen, ist nicht nur
eine Maxime eines friedlichen Zusammenlebens, in welchem
Menschen verschiedener Meinungen und Bestrebungen, ohne
sich gegenseitig physisch zu zerstören, miteinander auskom-
men, sondern ist die Respektierung des Freiheitsraums eines
anderen für seine Gewissensentscheidung, die für ihn auch
dann noch absolut verpflichtend sein kann, wenn der andere
urteilt, und zwar vielleicht mit sachlichem Recht, daß sie irrig
sei. Weil und insofern eine Gewissensentscheidung absolut
verpflichtend sein kann, auch wenn sie sachlich irrig ist, be-
deutet sie einen absoluten (was nicht heißt: unendlichen) Wert,
der unbedingt von einem anderen respektiert werden muß.
Auf dem Konzil haben manche, die die Lehre des Konzils
von der Religionsfreiheit bekämpften, erklärt, daß der Irrtum
kein Recht habe. Die Verteidiger der Religionsfreiheit entgeg-
neten mit Recht: Der Irrtum an sich hat kein Recht, aber die
Irrenden. Und das ist wahr. Denn in einem solchen, wenn auch
gegenständlich irrigen, Gewissensurteil ist immer noch die
Würde des Gewissens, die Würde der Freiheit und der unab-
wälzbaren, von niemandem anderen vertretbaren Verantwor-
tung jedes einzelnen für sich gegeben, die Würde, die von
jedem anderen respektiert werden muß. Darum aber ist
36
Toleranz nicht bloß eine Spielregel nüchtern vernünftiger
Leute, um miteinander auszukommen, sondern die Anerken-
nung der absoluten Würde der Freiheit und der Personalität des
Menschen, die auch noch in seiner irrigen Gewissensent-
scheidung gegeben ist, die aber geleugnet und verneint würde,
wenn sie zugunsten einer bloß sachhaften Richtigkeit einer
Erkenntnis und eines Handelns hintangesetzt würde. Gerade
weil ein Gewissensurteil nicht einfach verwechselt werden darf
mit beliebig oberflächlicher Meinung, aber doch als solches bei
Irrtum gegeben sein kann, war ein Reflexionsprozeß auch
innerhalb des Christentums durch Jahrhunderte hindurch not-
wendig, um die letzten Konsequenzen aus der zu respektieren-
den Würde auch eines irrigen Gewissens für das praktische
Verhalten der Menschen untereinander zu ziehen, um zu erken-
nen, daß Toleranz etwas mit dem letzten Wesen des Menschen
als Freiheitssubjekt zu tun hat, daß Toleranz auch dort zu üben
ist, wo sie einem nicht abgezwungen wird durch die physische
Macht des Gegners, daß Toleranz auch zu üben ist, wo einen
niemand hindern könnte, intolerant zu sein, ja auch dort, wo
man absolut überzeugt ist, für das Richtige und selbst für das
dem Gegner Segensreiche einzutreten, wenn die Intoleranz den
Freiheitsraum des anderen aufheben oder ungerecht einengen
würde, in dem allein er der sein kann, der er sein will und muß:
der Freie, dessen Wirklichkeit, soweit dies möglich, seine
eigene Tat ist. Toleranz, so verstanden, entspringt jenem
Selbstverständnis des Menschen, das in gleicher Weise abend-
ländisch human, genuin christlich und so ist, wie wir es als das
Selbstverständnis aller Menschen wünschen.
37
jedem toleriert wird. Diese Toleranz hat ihre Grenzen, und
daran wird auch durch die Einsicht nichts geändert, daß im
Gemeinwohl das Recht des einen durch das gleichberechtigte
Recht des anderen oder der anderen begrenzt wird. Im zweiten
Teil unserer Überlegungen war die Toleranz die Anerkennung
des Freiheitsraums, den ein Freiheitssubjekt, um es selber sein
zu können, von seiner Würde her verlangt und der als solcher
von sich aus eben nicht gerade dort aufhört, wo des anderen
Freiheitsraum beginnt, sondern an sich unbegrenzt ist.
Eine so verstandene Toleranz beschwört notwendigerweise
Konflikte herauf, weil sie einen Freiheitsraum für den einen
postuliert, der von der Freiheit eines anderen schon besetzt ist
oder besetzt sein kann. Denn eben die realen Freiheitsräume der
vielen Freiheitssubjekte sind nicht voneinander geschieden,
sondern koexistieren ineinander. Und es ist nicht so, daß von
vornherein der eine Freiheitsraum aller in friedlicher und
selbstverständlicher Übereinkunft so unter die Freiheitssub-
jekte aufgeteilt werden könnte, daß kein Konflikt entsteht, daß
keine Freiheit mehr an Raum für sich verlangt als den, den der
andere von vornherein nicht für sich beansprucht. Die Freiheit,
die in der Toleranz des zweiten Teils unserer Überlegungen
gewährt werden soll, ist konfliktgeladen; es werden ihr durch
das Gemeinwohl, eben der Freiheit der anderen, Grenzen
gesetzt, die sie sich selber von sich allein her nicht setzen würde.
Die Toleranz, die sich vom Gemeinwohl her Grenzen setzen
läßt, ist intolerant gegen die Toleranz, die das Freiheitssubjekt
von sich her als ihr unbegrenztes Recht fordert. Auch wenn
man durchaus betonen kann, daß ein Freiheitssubjekt von sich
selber her sich Wesensnormen setzt und so nicht einfach
schlechthin grenzenlose Subjektivität sein will und kann, so
wird es dennoch grundsätzlich in tausend Fällen von sich her
Verwirklichungen suchen, die ihm faktisch von den anderen
her unmöglich gemacht werden durch deren intolerante Wirk-
lichkeit, die schon im voraus zu jedem bösen und ungerechten
Willen die Möglichkeiten anderer beschneidet. Die Wirklich-
keit ist nicht so, daß alles von vornherein und immer har-
monisch zusammenpaßt.
38
Was hier gemeint ist, wurde eben sehr abstrakt gesagt, damit
die unerbittliche Schwierigkeit, um die es sich hier handelt,
nicht zu rasch und billig versöhnt werde. Der Mensch muß im
privaten und im gesellschaftlichen Leben oft intolerant dem
einen gegenüber sein, um tolerant den Raum der Freiheit des
anderen zu gewähren und zu schützen. Diese bittere Notwen-
digkeit bestimmt die Existenz und das Leben der Menschen
mit, auch wenn sie sich dies oft verhehlen und scheinbar das
Kunststück fertigbringen, durch das jeder nur frei ist und doch
keines anderen Freiheit beeinträchtigt.
Diese Unvermeidlichkeit, durch die die Toleranz immer
auch, um zu sein, ein Stück Intoleranz notwendig macht und
es wirklich Intoleranz gibt, die die Bedingung freigebender
Toleranz ist, hat nun aber überdies die weitere Bitterkeit an
sich, daß es kein eindeutiges und einsichtig handhabbares
Prinzip von vornherein gibt, nach dem die genaue Dosierung,
von Toleranz und Intoleranz, von Toleranz für den einen durch
Intoleranz gegenüber dem anderen und umgekehrt ein für
allemal bestimmt werden könnte. Wer könnte ein solches
Prinzip einleuchtend aufstellen? Ist die ganze Menschheitsge-
schichte mit ihren immer neuen Konflikten zwischen Freiheit
und Zwang, mit ihren immer neuen Versuchen, möglichst viel
Freiheit und möglichst wenig Zwang zu haben, nicht ein immer
neuer Beweis dafür, daß es ein solches, alle Konflikte von
vornherein versöhnendes und konkret handhabbares Prinzip
nicht gibt?
Zwar kann man von dem zweiten Teil unserer Überlegungen
her ganz gewiß die Maxime ableiten, daß möglichst viel
Freiheit und Freiheitsraum und möglichst wenig einschrän-
kende und intolerante Zwänge sein sollen. Aber was bedeutet
«möglichst viel - möglichst wenig», wenn doch das eine sein
soll und das andere, das wirklich nicht Freiheit ist, doch sein
muß, damit Freiheit sein kann? Es gibt ein solches Prinzip
nicht. Gäbe es ein solches, würde die Geschichte stillstehen und
aufgehoben sein. Weder ein Sozialismus, der vom Gemeinwohl
aller her eindeutig die Freiheitsräume aller eingrenzen und
miteinander versöhnen will, noch ein absoluter Liberalismus,
2
der allen alle Freiheit geben will, kann ein solches Prinzip sein.
Wir bleiben unweigerlich in der Geschichte, in der die konkrete
Koexistenz von Freiheit und Notwendigkeit immer neu und
immer wieder anders bestimmt werden wird. Aber wenn diese
Situation auch nicht aufgehoben werden kann, so ist doch eines
möglich und von den Überlegungen des zweiten Teiles dieses
Beitrags her human und christlich legitim und sollte für uns
auch in Zukunft ein verpflichtender Imperativ sein.
40
eine solche Antwort auf diese Frage wirklich ehrlich war. Von
da aus darf sich der Theologe den Satz erlauben, daß jeder einst
auch vor dem Gericht Gottes darüber gerichtet werden wird,
ob er seinen Nächsten individuell und kollektiv die Freiheit
wirklich zugestanden hat, die sein ureigenstes und unveräußer-
liches Recht ist, ob er tolerant in diesem Sinn und dialogbereit
gewesen ist.
41
UTOPIE UND REALITÄT
Aber was ist Utopie? Was ist hier damit gemeint? Was ist
Realität? Welche ist hier gemeint? Und was haben alle die damit
gegebenen Begriffe und Fragen mit christlicher Lebens- und
Weltgestaltung zu tun? «Anspruch und Wirklichkeit» im Un-
42
tertitel dieses Aufsatzes sollen — der Einfachheit halber — im
selben Sinn wie Utopie und Realität verstanden werden, so daß
also das Thema nach der christlichen Lebens- und Weltgestal-
tung fragt, insofern diese zwischen Utopie und Wirklichkeit
‚gestellt ist.
Was nun meint hier Utopie? Dieses ursprünglich von
Thomas Morus, dem Lordkanzler und Heiligen, erfundene
Wort soll sich hier nicht auf alles das beziehen, was noch nicht
verwirklicht ist, aber vom Menschen angestrebt wird, obgleich
seine Verwirklichung schwierig und ungewiß oder sogar un-
wahrscheinlich ist. Unter Utopie werden hier — wenn vielleicht
auch mit einer gewissen definitorischen Eigenmächtigkeit — die
Ziele und Aufgaben des Menschen verstanden, die er nicht nur
verwirklichen oder anstreben Aann, sondern auch »uß, die aber
als Aufgabe und Pflicht noch unverwirklicht vor ihm liegen
und dabei den Eindruck machen, den Menschen zu überfordern
und faktisch ewig unverwirklicht zu bleiben.
Utopien in diesem Sinn sind dem Menschen fast unzählige
zugemutet. Der Mensch wünscht sich eine biologische und
wirtschaftliche Gesichertheit und fühlt sich in seiner biologi-
schen und wirtschaftlichen Existenz bedroht und unsicher. Er
will Wissen, d.h. die vorgegebene Wirklichkeit geordnet in ein
strukturiertes Bewußtsein aufnehmen, und er erkennt, daß ihm
dies faktisch nur in bescheidenstem Maß gelingt; ja, er erkennt,
daß das Verhältnis zwischen der angebotenen Wirklichkeit und
dem davon faktisch Angeeigneten immer einseitiger wird;
denn die angebotenen und im menschlichen Gesamtbewußtsein
bereitgestellten Wissensmengen wachsen rascher für den einzel-
nen als das mögliche Tempo ihrer Aneignung durch den einzel-
nen. Der Mensch mutet sich die Forderung einer Gerechtigkeit
und Liebe dem anderen gegenüber zu und erfährt gleichzeitig
seinen scheinbar alles durchdringenden und vergiftenden
Egoismus. Der Mensch wird seine metaphysische Bedürftig-
keit, sein ahnendes Wissen von Gott nicht los, und er möchte
zugleich, sich gegen Gott gereizt wehrend, lieber auf der Erde
bleiben, die er aus eigener Kraft und zu eigenem Gebrauch, auf
sich selbst bezogen erforscht und ausnützt. Der Mensch will
43
i
44
die sublimste Weise des Idealismus und der Wahrheit). Allen.
diesen und vielen anderen Arten des Idealismus ist gemeinsam,
_ daß sie das Gegebene innerhalb der menschlichen Wirklichkeit
ausdrücklich oder in ihrem faktischen Verhalten implizit als
hoffnungslos ungenügend und erbärmlich finden. Der Idealist in
diesem Sinne ist letztlich der Mensch, für den seine «Ideale»
nicht einmal im Keim und verborgen in der Realität enthalten
sind, sondern als bloßes, verwerfendes Gericht über der soge-
nannten Realität schweben. Diese Haltung braucht, wie gesagt,
nicht in eine Theorie hinein objektiviert zu sein. Sie ist faktisch
dort gegeben, wo man an der sogenannten Realität nur noch
leiden kann; wo man allem Schmerzlichen aus dem Weg zu
gehen sucht wie ein Herzkranker, der Aufregungen von vorn-
herein vermeidet; wo man sich über sein Versagen in der
Wirklichkeit des Lebens mit seinen geliebten Idealen tröstet;
wo man bewußt oder instinktiv die Nischen und Windschatten
der Gegenwart und Gesellschaft aufsucht, in denen man mög-
lichst unbehelligt bleibt; wo man alles besser weiß als die
anderen, die Politiker und die Kirchenführer, die für den
schäbigen Alltag verantwortlich sind.
Die zweite Weise, in der man falsch mit der angedeuteten
Grundsituation des Menschen und deren Dualismus fertig zu
werden sucht, ist die des sogenannten Realisten. Er ist stolz auf
seine Nüchternheit, mit der er die Schäbigkeit des Lebens und
der Menschen zu durchschauen meint, ohne sich darüber auf-
zuregen. Er ist ein moralischer Darwinist, der es für selbstver-
ständlich erachtet, daß das Leben unter den Menschen ein
Kampf ums Dasein ist, in dem sich der Härtere kaltblütig
durchzusetzen vermag. Er betrachtet kaltblütig die idealen
Reden, welche die anderen, die politischen Sonntagsredner und
die Pfarrer auf den Kanzeln, halten, als wirklichkeitsfremden
Dunst, den die anderen — aber nicht er selber — brauchen als
Analgetikum (Schmerzmittel) in der Misere des Lebens. Er hält
sich an massive Genüsse des Daseins — wobei natürlich die
Bestimmung eines möglichst zuträglichen Maßes wichtig ist.
Er empfindet — wenn er noch irgendwie von ferne mit Gott
rechnet — seinen Lebenserfolg als die Konkretheit des göttli-
45
chen Segens, der ihm mit Recht gewährt wird. Er ist ein
erbitterter, von keinen Zweifeln geplagter Verteidiger der ge-
sellschaftlichen Ordnung, die die beste Gewähr für seine eigene
vorteilhafte Situation bietet, wobei natürlich auch zu bemerken
ist, daß es solche Realisten uneingestandenermaßen auch in der
Kirche gibt.
46
das Vorläufige, als das, was den minderen Wirklichkeitsgrad
hat, auch wenn wir es nicht mit einer östlichen Mystik für bloß
unwirklichen Schein halten dürfen. Dies ist eigentlich selbst-
verständlich, besser: es müßte allmählich durch eine lange
christliche Lebenserfahrung hindurch selbstverständlich
werden. Wir sagen doch: Es gibt den unendlichen, absoluten,
von der Welt unterschiedenen Ewigen Gott; wir bewegen uns
auf ihn zu; die Freiheitsgeschichte mündet unerbittlich in die
Unmittelbarkeit dieses Gottes selbst, den wir als das erlösende,
vergebende und befreiende Gericht erhoffen. Gleichzeitig aber
macht der christliche Glaube kein Hehl daraus, daß dieser unser
Gott in unzugänglichem Licht wohnt und in alle Ewigkeit —
auch in der Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht, ja
gerade da — das unbegreifliche Geheimnis bleibt in seinem
Wesen und in den Verfügungen seiner eigenen Freiheit. Der
christliche Glaube mutet uns gerade von daher aber auch zu, daß
wir die Welt und unsere innerweltliche Aufgabe mit all deren
banalen, scheinbar immer wieder verwesenden Einzelheiten so
radikal ernst nehmen, daß wir sie, soweit sie unserer uns uner-
bittlich angelasteten Freiheit entspringen, vor Gott selbst ver-
antworten müssen und so unser Heil in Furcht und Zittern (wie
Paulus sagt) zu wirken haben. Für die wahre, uns unerbittlich
abverlangte Grundstruktur unseres Daseins in Freiheit ist Gott
nicht nur irgendeine beliebige oder sogar zweifelhafte Einzel-
heit am Rande unserer Existenz, die man auch bescheiden und
skeptisch auf sich beruhen lassen könnte, sondern er ist die alles
durchdringende, alles ordnende, alles auf sich von uns weg
konzentrierende Wirklichkeit; und gerade so als unbegreifliche
Wirklichkeit stellt er auch alles andere, was uns näher liegt, in
Frage, relativiert und impft es mit ihrer eigenen Unbegreiflich-
keit.
Sind wir Christen also nicht diejenigen, welche die Utopie,
über die wir gar nicht verfügen können — weder im Denken
noch in der Tat -, Gott nennen und sie für die eigentliche und
wahre Wirklichkeit halten? Sind wir Christen nicht diejenigen,
die den utopischen Himmel nicht bloß als einen zusätzlichen
Trost betrachten, den man sich — warum auch nicht — schließ-
47
lich gefallen läßt, sondern den in die Rechnung der Erde und
unseres sogenannten realen Lebens einzukalkulieren man von
sich unerbittlich fordert? Natürlich soll man einen Glauben
verkünden, der die Erde liebt. Natürlich kann man, richtig
verstanden, die Aufgaben dieser Erde nicht ernst genug
nehmen; natürlich soll man die Schönheit der Erde, die Größe
des Menschen und den Glanz der Liebe hymnisch preisen. Aber
es bleibt dabei, daß der Gott, auf den wir uns hinbewegen, für
den wir da sind, vor dem wir Rechenschaft zu geben haben,
noch einmal ganz anders, ganz verschieden ist von den soge-
nannten «realen» Wirklichkeiten, mit denen unsere sogenannte
realistische Empirie zu tun hat; und dieser Gott darf nicht zu
dem Glanz allein herabgewürdigt werden, mit dem wir unsere
eigene Wirklichkeit verherrlichen oder wenigstens ein wenig
tröstlicher zu machen suchen. Letztlich sind wir nach christli-
cher Grundüberzeugung für Gott da; er ist eben in seiner
souveränen Absolutheit und Herrlichkeit nicht allein der
zusätzliche Posten, der das Budget unseres Lebens auszuglei-
chen hat. Erst wenn wir Gott in seiner unbezüglichen Absolut-
heit anzubeten entschlossen sind; erst wenn wir ihn sogar in
einem uns scheinbar restlos überfordernden Wagnis zu lieben
versuchen; erst wenn wir verstummend vor seiner Unbegreif-
lichkeit kapitulieren und diese Kapitulation der Erkenntnis und
des Lebens als das Ereignis letzter Freiheit und ewigen Heiles
annehmen — erst dann fangen wir an, Christen zu sein. Und
dann sind wir doch die Menschen einer heiligen Utopie und
nicht die Menschen eines sogenannten Realismus und sind so
gerade davon überzeugt, daß wir in einem solchen Denken und
Leben die wirkliche Wirklichkeit ergreifen, während wir die
andere, sogenannte Wirklichkeit als das bloß Vermittelnde, als
das Vorläufige, ja von der sogenannten Utopie schon insge-
heim Erfüllte und Erlöste verstehen und leben.
Die Frage unseres Themas nach einem «Zwischen» der
christlichen Existenz zwischen Utopie und Wirklichkeit stellt
uns also, genau genommen, vor die unerbittliche Frage:
Bringen wir es in unserem Leben fertig, das, was als ferne
Utopie uns zunächst sehr unwirklich, sehr unkalkulierbar und
48
unhandlich erscheint, als die wahre Wirklichkeit zu denken und
zu leben, der gegenüber das unwirklich wird, was «man» als
- die selbstverständliche feste Realität betrachtet? Haben wir
Christen den Mut zu dieser Umkehr der Maßstäbe bezüglich
dessen, was als wirklich zu gelten hat? Bringen wir den Mut
auf, uns (biblisch gesprochen) als Pilger, als Fremdlinge zu
empfinden in einer Welt, die höchstens noch an Gräbern oder
von den Kanzeln herunter die Rede von Gott erlaubt, sonst
aber eine solche Rede von Gott und dem Ewigen Leben als
Peinlichkeit empfindet, die für die Idealisten zu massiv und für
die Realisten zu utopisch klingt?
Macht sich Gott und der Glaube an das Ewige Leben
konkret im Alltag bei uns bemerkbar, oder ist diese Wirklich-
keit für uns nur ein Gegenstand frommer Andacht am Sonntag,
während unsere Moral des Alltags sich von der eines Atheisten
nicht wirklich unterscheidet? Es ist schon so: Das «Zwischen»
der Dualität von Utopie und Realität, Anspruch und Wirklich-
keit bedeutet in Wahrheit, daß wir die profanen, heidnischen
Maßstäbe, nach denen wir die Realität beurteilen, umkehren
müssen und der Anspruch der sogenannten Utopie für uns das
Wirklichste sein muß.
Was das eben Gesagte für uns wirklich bedeutet, wird erst klar,
wenn wir bedenken, daß diese Spannung zwischen Utopie und
Realität, Anspruch und Wirklichkeit nicht schon durch die
Bejahung eines theoretischen Satzes bezüglich dieser Spannung
angenommen ist. Es handelt sich letztlich nicht darum, daß wir
Christen jenseits eines bloßen Idealismus und eines sogenann-
ten Realismus die bleibende Spannung zwischen Anspruch und
Wirklichkeit, zwischen Himmel und Erde /beoretisch bejahen.
Es ist nicht so, daß wir durch eine solche theoretische Bejahung
schon das richtige Verhältnis zu dieser Spannung haben. Man
kann theoretisch ein Christ sein und dennoch unreflektiert in
der Praxis des Lebens nach der einen Seite des Idealismus oder
49
nach der anderen Seite des sogenannten Realismus diese
unserer Freiheit aufgegebene Spannung im konkreten Alltag
verraten. Ja, wir sind sogar, solange die Geschichte unserer
Freiheit nicht vollendet ist, immer unterwegs, immer Pilger
und so immer diejenigen, die bis zu einem gewissen Grad die
Einheit in Verschiedenheit, die mit dieser Spannung gegeben
ist, verletzen; wir sind diejenigen, die sich halbherzig dem
radikalen Anspruch, der Gott heißt, entziehen, die nicht wahr-
haben wollen, daß wir diesen absoluten Anspruch Gottes
immer durch eine Treue zu unserer irdischen Aufgabe beant-
worten müssen. Wenn gesagt wird, daß wir Gott aus ganzem
Herzen und aus allen Kräften lieben müssen, und wenn wir
gleichzeitig uns als Sünder zu bekennen haben, dann ist damit
doch gegeben, daß wir immer hinter der vollen Erfüllung des
absoluten Anspruches zurückbleiben, daß wir die sogenannte
nahe Wirklichkeit unserer Existenz entweder idealistisch als
Vermittlung der Erfüllung des absoluten Anspruches nicht
ernst genug nehmen oder sie — weil «realistisch» ihre Synthese
mit dem absoluten Anspruch Gottes leugnend — in falscher
Weise ernst nehmen. Faktisch sind wir alle Halbherzige, denen
es nie ganz gelingt, die richtige Position zwischen Anspruch
und sogenannter Wirklichkeit einzunehmen. Wir sind immer
die, die zwischen der Gefahr, unser Herz an einen bloß ideali-
stisch erträumten Himmel zu verlieren, und der Gefahr, gottlos
die Erde allein zu lieben, hin und her schwanken. Ja, es wird
uns gesagt — durch die christliche Botschaft -, daß wir uns nicht
einmal mit einer reflexen Sicherheit eindeutig sagen können,
welche Position wir genan innerhalb dieser Spannung einnehmen.
Wir sind geheißen, diese Frage, wie es mit uns im allerletzten
bestellt ist, ob wir ein gutes oder schlechtes Gewissen haben
können, noch einmal schweigend, wenn auch hoffend, dem
alleinigen Gerichte Gottes zu überlassen. Wir kommen von
einem Anfang, den wir nicht selber gesetzt haben; wir pilgern
einen Weg, dessen Ende von der Unbegreiflichkeit des Wesens
und der Freiheit Gottes verschlungen wird; wir sind ausge-
spannt zwischen Himmel und Erde und haben weder das Recht
noch die Möglichkeit, auf eines davon zu verzichten; das eine
5o
ist nicht das andere, und dennoch ist eines nicht ohne das
andere zu haben; und wir wissen nie mit einer letzten Sicher-
heit, wie sich unsere ursprüngliche Freiheit zu dieser unaus-
weichlichen Situation unserer Existenz verhält; wir haben
unseren Anfang anzunehmen, unsere letzte Liebe dem An-
spruch und dem Ende, die Gott heißen, zu schenken und selbst
die Tatsache, ob wir es wirklich tun, noch einmal hoffend Gott
selber anzuvertrauen. Die christliche Existenz kann keines von
all diesen Daten auslassen. Das ist ihre Größe, ihre radikale
Schwierigkeit und ihre letzte einfache Selbstverständlichkeit,
weil außerhalb ihrer gar nichts ist, das sie in Frage stellen
könnte.
NZ
In der wachsenden Ratlosigkeit das Ankommen des Geheimnisses
Gottes bestehen
53
Die Annahme, das Eingeständnis und das Aushalten solcher
Ratlosigkeit gehören zur christlichen Aufgabe; diese muß
nüchtern und ohne idealistische Vernebelungen heute von uns
geleistet werden. Für den Christen ist die Ratlosigkeit in seinem
Leben im allerletzten doch nur das konkrete Ankommen des
heiligen Mysteriums, das wir Gott nennen. Unsere Ratlosigkeit
darf uns im letzten nicht verwundern. Wo wir nur immer
können, sollen wir sie zu verscheuchen, aufzuklären versuchen.
Aber wir besiegen sie auch bei tapfer entschlossenem Kampf
letztlich nie, sie bleibt und überwältigt den einzelnen in seinem
Leben. Die Frage ist nur, ob sie von uns verstanden wird als
das Zu-sich-Kommen der letzten Absurdität des Daseins oder
als das konkrete Ankommen des Geheimnisses, das wir als
unsere rettende, vergebende und vollendende, absolute
Zukunft annehmen. Letztlich gibt es nur diese Alternative, die
einzige, vor der wir gewiß nicht ausweichen können.
Freilich kann die Option für die eine oder die andere Alter-
native, die unser Leben auf Endgültigkeit hin vornimmt, noch
einmal seltsam verschleiert und zweideutig werden. Die schein-
bar sich selbstverständlich gebärdende ruhige Hoffnung auf das
Ewige Leben kann in Wahrheit der Schleier über einer soge-
nannten realistischen Lebenshaltung sein, die sich in falscher
Nüchternheit und Bescheidenheit mit dem kärglichen Glück
dieses Lebens begnügt. Und der leidenschaftliche, scheinbar
verzweifelte Protest gegen die Absurdität unserer Existenz
kann die Weise sein, in der allein eine letzte, durch keine
Einzelwirklichkeit zu befriedigende Hoffnung auf eine unend-
liche Vollendung sich realisieren kann.
Trotz allem Nachhall eines Triumphgeschreis einer Mensch-
heit, die meinte, unmittelbar an der Grenze ihrer selbstgeschaf-
fenen Vollendung angekommen zu sein, überfällt uns heute das
Gefühl, nicht recht weiterzuwissen, die Erfahrung eines immer
schneller werdenden Verschleißes aller Ideale, die auf den
Märkten des Lebens angepriesen werden, eine schreckliche
Dissonanz der Stimmen, die tausend Dinge gleichzeitig als
unbedingt und rasch zu verwirklichend anpreisen, eine uner-
bittlich sich ausbreitende Hoffnungslosigkeit, vor der alle auch
54
heute noch vertretenen alten und neuen Menschheitsideale und
Zukunftsprogramme sich ein wenig kümmerlich zeigen und
wenig Durchschlagskraft zu haben scheinen.
In dieser Situation dürfen wir Christen gewiß nicht aufge-
ben, müssen wir nüchtern weiter tun, was die Zeit und der
Alltag uns abverlangen, und haben nicht einmal das Recht,
nichts mehr für diese Geschichte und Gesellschaft an innerwelt-
lichem Erfolg zu hoffen. Wir Christen wissen, daß wir im
letzten die Zeit unserer Heilsgeschichte nicht selber beliebig
aussuchen dürfen und können. Und darum haben wir keinen
Grund, so zu tun, als ob es uns heute als Menschen und als
Christen besonders fröhlich zumute wäre. Wir leben nun
einmal, so meine ich, wenn wir ehrlich sind, in einer winter-
lichen Zeit — winterlich in Gesellschaft und Kirche. Wir brau-
chen es uns gar nicht selber oder der Kirche zum Vorwurf und
zum Zeichen unseres Versagens zu machen, wenn es uns nicht
gelingt, diese unsere winterliche Zeit wegzuzaubern. Wir haben
gewiß immer wieder Grund, von uns mehr zu fordern, als wir
tatsächlich leisten. Aber wir brauchen uns auch nicht zu über-
fordern, uns selbst nicht, die Politiker nicht und die Kirchen-
führer nicht; wir brauchen nicht so zu tun, als ob mit ein
bißchen mehr Mut und gutem Willen unsere individuelle und
kollektive Situation in eitel Lust und Freude verwandelt
werden könnte. Eine solche Überforderung wäre das Zeichen
dafür, daß wir nicht auf Gott, sondern auf uns selbst unsere
Hoffnung setzen.
Wenn die Situation, in der wir heute weltweit sehr winterlich
zu leben haben, uns auferlegt und bleibend ist, dann haben wir,
wenn wir gelassen und mutig das Unsere getan haben, das
Recht, diese Situation zu erleben als geheimnisvollen Einbruch
des Ewigen Geheimnisses Gottes, bei dem wir ankommen
können und ankommen müssen. Erfolglosigkeit, Enttäu-
schung und Untergänge soll sich ein Christ nicht durch selt-
same ideologische Versüßungen zu ersparen suchen, die in der
Gesellschaft und auch in der Kirche feilgeboten werden. Aber
er kann diese Untergänge eben doch glaubend, hoffend, liebend
als Aufgang des unbegreiflichen Gottes annehmen, der um so
„2
\
J7
Vernünftige Ausgleiche und Kompromisse
58
Das Reich der unbedingten Freiheit
3)
den Opfer und Verzicht verlangt werden, die nicht mehr wirk-
lich und greifbar durch den unmittelbaren Frieden in sich selbst
genügend und einsichtig belohnt werden. Die Rechnungen des
Lebens gehen auch in bezug auf den Frieden nie durch mensch-
lich ausgleichbare Posten allein genau und glatt auf.
An dieser Stelle tut sich nun eine religiöse Dimension des
Friedens auf, von der wir hier sprechen wollen. Letztlich kann
man gar nicht auf Dinge, die für die eigene Existenz und die
eigene Selbstverwirklichung radikal bedeutsam sind oder in
Freiheit als solche aufgefaßt werden, einfach verzichten, wenn
man sich nicht selbst zerstören will (was man letztlich gar nicht
wollen kann), ohne daß der Anspruch erhoben wird, daß dieser
Verzicht auf andere Weise kompensiert wird. Aber wodurch
wird ein solcher Verzicht ersetzt, wenn diese Kompensation
doch innerhalb der üblichen Erfahrung gar nicht ausgewiesen
werden kann? Es gibt genug Fälle, in denen man sich in einem
Streit erbittert und gar nicht unsinnig fragen kann, warum man
denn selber gerade der Dumme sein soll, der zahlen muß, damit
Friede werde. In solchen Fällen nun kann ein Mensch die
Größe und die innere Freiheit, um solche Verzichte schweigend
und unbelohnt zu erbringen, nur haben, wenn er auf jene
Wirklichkeit und Erfüllung hin offen ist, die wir Gott nennen.
Man könnte fast definitorisch sagen: Gott ist die eigentliche,
umfassende und alles tragende Möglichkeit des Friedens,
dessen Möglichkeit und Sinnhaftigkeit durch die Einzelwirk-
lichkeiten nicht mehr ausgewiesen werden kann, aus denen sich
die menschliche Wirklichkeit zusammensetzt. Nur der kann
letztlich friedfertig sein, der der glaubenden Überzeugung ist,
daß es eine letzte, unangreifbare, von Menschen gar nicht
zerstörbare Sinnerfüllung der menschlichen Existenz gibt, die
wir eben Gott nennen. Wer an Gott glaubt, der hat es gar nicht
notwendig, in einer letzten Erbitterung und Absolutsetzung
jedwede irdische Wirklichkeit und einzelne Sinnhaftigkeit so zu
verteidigen, daß er sie auch bei einem radikalen Streit unter
Menschen aufzugeben nicht bereit wäre. Nur wer auf Gott und
seine eigene Verwirklichung von Gott her offen ist, braucht
sich nicht dort noch einmal zu einem absoluten Konflikt zu
60
entschließen, wo an sich ein Verzicht zugemutet wird um des
Friedens willen, ein Verzicht, der ihm Werte nimmt, die sehr
groß und bedeutsam für ihn sind. Die Frage nach den Voraus-
setzungen des Friedens weist also in eine religiöse Dimension
hinein. Wenn es jemand fertigbringt, um des Friedens willen
ohne Dank und Anerkennung auf sehr erhebliche Werte und
Güter zu verzichten — sogar unter Umständen darauf verzich-
tet, nicht einmal durch das Gefühl der Selbstlosigkeit belohnt
zu werden -, der ist im Grunde genommen, ob er es weiß oder
es sich nicht ausdrücklich zu sagen vermag, in das Reich der
unbedingten Freiheit, der Gnade Gottes geraten.
62
' DIE FRAGE NACH DER ZUKUNFT EUROPAS
Die Frage, die uns nun beschäftigen soll, könnte man vielleicht
vorläufig so formulieren: Gibt es über eine allgemeine histori-
sche Neugierde, die unwillkürlich auch ein wenig über die
Gegenwart hinaus an Möglichkeiten der Zukunft denkt, und
über einen positivistischen Pragmatismus, der im Stil der
Politiker und der Futurologen nach einer absehbaren Zukunft
der Welt und so Europas fragt, hinaus Überlegungen, die Sinn
und Notwendigkeit, nach der Zukunft Europas zu fragen, als
berechtigt erkennen lassen? Daß eine solche Frage nicht von
vornherein selbstverständlich berechtigt ist, leuchtet wohl dem
skeptischen Menschen von heute verhältnismäßig leicht ein. Er
wird sich fragen, ob «Europa» nicht — trotz einer ‘gewissen
geographischen Abgrenzung von anderen Gebieten der Erde,
63
trotz einer gewissen Einheit seiner Geschichte gegenüber
anderen Geschichtsabläufen, trotz einer bei allen Verschieden-
heiten doch gegebenen Einheit der «Kultur» im Unterschied
zu anderen Kulturen, trotz eines gemeinsamen biologischen
(ethnischen) Substrates, trotz EG usw. — einen Gegenstand zu
bezeichnen versucht, der sich, wenn man ihn genauer betrach-
tet, vor dem Betrachter auflöst - einerseits in die Schicksale der
einzelnen und andererseits in ein Geflecht von Ursachen und
Wirkungen, das eben doch bei allen künstlich wirkenden Ab-
grenzungen mit dem Ganzen der Menschheitsgeschichte iden-
tisch ist oder langsam identisch wird.
Der skeptische Mensch von heute wird weiter fragen, ob
man eigentlich über die konkrete Zukunft Europas und der
Welt wirklich im voraus auch nur einigermaßen eindeutige
Aussagen machen könne, oder ob wir über die allernächste
Zukunft hinaus und über prognostizierbare Entwicklungen
einzelner Wirklichkeiten der Gesellschaft und Geschichte (be-
sonders technischer Art) hinaus von der Zukunft im Grunde
nichts wissen und nichts wissen können.
Der skeptische Mensch von heute wird fragen, ob man denn
über den «Sinn» der Zukunft der Menschen im allgemeinen
und Europas im besonderen ernsthaft überhaupt etwas aus-
sagen könne. Er wird den Eindruck haben, daß man natürlich
zwischen Wirklichkeiten seiner Geschichte und seiner Gesell-
schaft dartikuläre Sinnzusammenhänge feststellen kann, die da
und dort auch so etwas wie eine Entwicklung zu Höherem und
Besserem, zu Sein-sollendem bedeuten, daß aber solche par-
tikulär bleibenden Erfahrungen (wie kleine Sinninseln in einem
Meer von Unverstandenem und Undurchschaubarem) keinen
greifbaren Sinn des Ganzen und im Grunde auch keitie
Normen, wie es weitergehen so//, für uns hergeben. Dies weder
für den «Sinn» der Menschheitsgeschichte im ganzen noch für
Europa im besonderen.
Der skeptische Mensch von heute wird schließlich zwar
meist noch einige moralische Normen im Bereich seines
privaten Lebens und seiner unmittelbaren Umgebung anerken-
nen, er wird aber nur zu leicht daran zweifeln, ob sich Normen
64
sittlicher Art als verbindlich für die große Geschichte und
Politik angeben lassen, ob im Ernst über die Anerkennung der
sogenannten «Sachzwänge» im Biologischen und Wirtschaft-
lichen hinaus Normen, Ideale und Richtlinien dafür angegeben
werden können, wie Europa sich für die Zukunft mindestens
einmal selbst verstehen und wollen solle. Die Frage nach der
Zukunft Europas scheint also im voraus zu allen skeptischen
Erfahrungen in unserer Gegenwart im einzelnen eine dunkle
Frage zu sein.
Weil diese Frage im letzten nicht eine partikuläre,
«regionale» Frage innerhalb des Ganzen, des einzelnen Men-
schen und innerhalb des Ganzen seiner Welt ist, sondern eben
dieses Ganze selbst betrifft, ist diese Frage im allerletzten (trotz
der notwendigerweise zu mobilisierenden Einzelwissenschaf-
ten und Einzelerfahrungen der Menschen) eine Frage der Meta-
physik, des Glaubens, der Entscheidung; und diese schenken
nur demjenigen eine Begründung, der sich vertrauensvoll auf
die Eigenart dieser Erkenntnis einläßt, in welcher der ganze
Mensch mit der Ganzheit seiner Wirklichkeit befaßt ist. Denn
alle diese Entscheidungen über die Zukunft Europas, nach
denen zu fragen ist, betreffen direkt oder indirekt das Schicksal
des ganzen einzelnen Menschen der Völker Europas als ganze
und bei der heutigen Einheit der Weltgeschichte auch die
Gesamtheit der Menschheit. Solche Fragen aber sind letztlich
nicht mehr Fragen nach diesem oder jenem einzelnen im
Gesamt der Wirklichkeit, das für sich allein erkannt und even-
tuell verändert werden kann, sondern Fragen nach dem Ganzen
der Welt. Solche Fragen aber können auch darum nur von
einem Vorverständnis über das Ganze der Wirklichkeit her
gestellt und beantwortet werden. Sie sind gewissermaßen nicht
Fragen nach einem einzelnen Punkt in einem Koordinatensy-
stem, sondern Fragen nach dem Koordinatensystem als solchem
und ganzem — und damit Fragen einer metaphysischen An-
thropologie und des glaubenden Selbstverständnisses des Men-
schen und darüber hinaus solche, die nicht durch eine abstrakte
Theorie allein beantwortet werden können, sondern gerade,
um «rational» und verantwortungsvoll beantwortet werden zu
65
können, nur in Einheit mit einer freien Entscheidung, mit
einem Bekenntnis, mit einem Moment der Praxis beantwortet
werden können. Es wäre nämlich ein Mißverständnis der
menschlichen Existenz, würde man meinen, daß die letzten
Klarheiten und Sicherheiten in einer abstrakten Wissenschaft-
lichkeit allein, in einer Enthaltung von einer existentiellen
Entscheidung zu erreichen seien.
67
5 ED
69
Völkern angenommen werden kann — wenn auch dieses Ver-
hältnis in Israel ausdrücklicher erfaßt und zur Grundlage der
Volkheit Israels gemacht wurde. Jedenfalls ist hier ein V’o/& der
Adressat göttlichen Handelns. Der einzelne ist nur wichtig,
wenn und insofern er sich eingliedert in das richtige Handeln
dieses Volkes aus seinem Bund mit Gott heraus. Der einzelne
empfindet sich (was sein ausdrückliches und reflexes Bewußt-
sein angeht) genügend bestätigt und von Gott angenommen,
wenn dieses Volk seine Existenz und sein gehorsames Verhält-
nis zu dem Bundesgott bewahrt. Zumindest tritt durch lange
Jahrhunderte der israelitischen Glaubensgeschichte die Frage
nach der ewigen Einzelbedeutung des Individuums hinter die
Bedeutung des Volkes vor Gott zurück.
Im Neuen Testament ist nach einer noch zur Geschichte
Israels gehörenden Vorgeschichte der speziell christlichen An-
thropologie die Betrachtung des Menschen umgekehrt. Zwar
wird auch von der Missionierung der Völker gesprochen, und
ähnliche alttestamentliche Perspektiven auf kollektive Größen
verschwinden nicht einfach, zumal die Kirche als eine ent-
scheidende Heilsgröße ja auch ein Kollektiv ist; aber der ein-
zelne und sein Heil stehen jetzt deutlich im Vordergrund. Jeder
einzelne entscheidet in Freiheit über sein Heil und wird einmal
mit einer unabwälzbaren Verantwortung als einzelner vor dem
Gericht Gottes stehen. Man wird nun nicht sagen dürfen, daß
diese beiden Auffassungen sich gegenseitig ausschließen und
ein neutestamentlicher «Individualismus» (wenn man so sagen
darf) im Christentum die allein gültige Größe ist, die für eine
Deutung der Geschichte ernsthaft in Frage kommt. Die alt-
testamentliche Theologie bleibt auch gültig: Sie erkennt
«Völker» als Subjekte der Heilsgeschichte (die sich innerhalb
der profanen Geschichte ereignet) an. Es wird von ihren
Engeln gesprochen, über sie wird der Name Gottes angerufen,
der ein Gott aller Völker ist, und diesen Völkern wird das
Evangelium Jesu gepredigt. Man kann also schwerlich die
Heilsgeschichte dieser «Völker» (und damit ihre profane Ge-
schichte) einfach in die der einzelnen Menschen aus diesen
Völkern auflösen, sowenig die Profangeschichte der Völker in
70
das bloße wirre Durcheinander von Einzelgeschichten aufge-
löst werden kann, die sich zwar gegenseitig bedingen, aber
darüber hinaus nicht noch einmal ein einziges und ganzes
Sinngebilde bilden. Wir Christen sprechen vom ewigen
«Reich» Gottes, von der ewigen Gemeinschaft der Heiligen
bei Gott. Wenn wir uns in dieser Endgültigkeit der Geschichte
bei Gott nicht nur eine Ordnung hierarchischer Art von Einzel-
wesen denken wollen, die bloß nach einem formalen sittlichen
Maßstab geordnet sind, dann muß in diesem ewigen Reich der
Endgültigkeit der Freiheit auch die Individualität einzelner
überindividueller Kollektivgeschichten der Völker gerettet
und erkennbar sein. Wie die Vielfalt der Geschichte solcher
kollektiver Größen in das endgültige Reich der Freiheit ein-
ziehen kann, das geht wohl über unsere jetzige Vorstellungs-
kraft hinaus. Es muß aber möglich sein, wenn die Geschichte,
um überhaupt einen nicht untergehenden Sinn zu haben, selber
zur Endgültigkeit Gottes gelangen soll und nicht nur gewisser-
maßen einen farblos gewordenen Ertrag von Moralität oder
eine bloß äußerliche Summe von je einzelnen, isoliert bleiben-
den Freiheitssubjekten aus sich entlassen soll, die ihre ge-
schichtlich kollektive Einheit gar nicht in die Endgültigkeit der
Geschichte mitnehmen. Wir dürfen also die Idee wagen, daß
auch kollektive Größen der Geschichte als solche in den end-
gültigen Ertrag der Geschichte eingehen und bleiben und von
da aus gar nicht bloß Größen einer nur zerrinnenden Zeit sind.
73
besteht. Es braucht hier auch nicht untersucht zu werden, ob
der «Bund» Gottes mit Israel eine so einmalige Größe in der
Heilsgeschichte der Gesamtmenschheit ist, daß der Charakter
eines «Bundesvolkes» allen anderen Völkern schlechthin ab-
erkannt werden müsse, oder ob der einmalige Charakter des
Bundes Gottes mit Israel nur die Einmaligkeit bedeutet, in der
sich Gott in seiner freien Liebe jedem Volk in je einmaliger
Weise zuwendet. Es soll auch hier nicht verdunkelt werden,
daß der Christus aller Völker in der konkreten Einmaligkeit,
die jedem Ereignis in der Geschichte zukommt, aus dem Volke
Israel und aus keinem anderen stammt. Aber wenn es trotz
allem universalen, jeden Raum und jede Zeit umfassenden
Heilswillen Gottes, durch den sich Gott in Selbstmitteilung zur
innersten Entelechie der ganzen Welt und zu ihrem letzten Ziel
macht, eine wirkliche Heilsgeschichte gibt, dann hat doch Europa
faktisch eine ähnliche Funktion für das Heil der ganzen Welt
gehabt, wie es Israel zukam.
Das Heil der Welt für seine ganze Geschichte nach Jesus
Christus ging — ausgehend von Israel - von Europa aus. Die
gesamtgeschichtliche Bedeutung aller Völker hat selbst noch
einmal eine Geschichte, in der die Völker nicht einfach gleich-
zeitig ihren entscheidenden Beitrag für die Gesamtgeschichte
leisten. Und so ist es nicht für andere Völker in Asien und
Afrika eine Herabminderung und Verdemütigung ihrer ge-
schichtlichen Berufung in sich, wenn man schlicht und nüch-
tern feststellt, daß Europa trotz allem verwerflichen Kolonialis-
mus eine ihm allein zukommende Bedeutsamkeit für alle
Völker gehabt hat. Man kann mit Johannes sagen, daß alle
Völker berufen sind, Gott im Geist und in der Wahrheit überall
anzubeten, und sie brauchen das nicht im eigentlichen Sinne
gerade in Jerusalem zu tun; aber dennoch bleibt es wahr, daß
das Heil aller Welt in seiner Leibhaftigkeit und Ausdrücklich-
keit eine Geschichte hat und durch Europa hindurch in ge-
schichtlicher, «kirchlicher», «worthafter» Greifbarkeit zu den
anderen Völkern kam und kommt, analog wie das Heil von
Israel ausging. Diese geschichtliche Einmaligkeit Europas in-
nerhalb der Heilsgeschichte berechtigt durchaus, Europa als
74
eines jener auch eschatologisch immer vor Gott gültigen
Völker zu betrachten, wie sie in einer Geschichtstheologie
vorkommen müssen, die nicht einseitig individualistisch ist. Es
ist selbstverständlich, daß diese heilsgeschichtliche Bedeutung
‚Europas zudem eine Bedeutsamkeit und Eigenart in der Ge-
samtgeschichte der Menschheit einschließt, die auch profan-
historisch sichtbar gemacht werden kann.
Gewiß (wie bald ausführlich gesagt werden wird) bleibt die
Zukunft der Menschheit für uns heute so gut wie unbekannt.
Und darum kann man natürlich nicht wissen, welche beson-
deren Beiträge Europa und andere Völker für die zukünftige
Gesamtgeschichte der Menschheit noch leisten werden, zumal
es weithin unmöglich bleibt, den faktischen Ablauf der Ge-
schichte in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ge-
schichtsphilosophisch so verständlich zu machen, daß die ein-
zelnen Etappen und die Beiträge der einzelnen Völker dazu
durchsichtig und einsichtig für das Ganze der Geschichte
werden. Dennoch können gewisse Eigenbeiträge Europas für
die Gesamtgeschichte namhaft gemacht werden, die als seinsol-
lend und mit Recht als «Fortschritt» in der Menschheitsge-
schichte verstanden werden. Die Vereinheitlichung der vorher
weithin regional voneinander getrennten Einzelgeschichten der
Völker und Kulturen in eine einzige Menschheitsgeschichte, in
der jeder von allen abhängt, ist doch von Europa ausgegangen,
und damit ist von Europa her dieser so eine Größe gewordenen
Geschichte vieles eingestiftet worden, was die Gesamtmensch-
heit als ihr eigenes angenommen hat und was doch von Europa
ausging. Damit ist nicht nur die rationaltechnische Zivilisation
gemeint, sondern auch höhere menschliche Werte der Kultur
und der menschlichen Gesellschaftlichkeit. Doch davon muß
in den folgenden Kapiteln gesprochen werden. Jedenfalls aber
bedeutet die heilsgeschichtliche Funktion Europas, die den
profan-menschlichen Beitrag Europas zur Menschheitsge-
schichte voraussetzt und einschließt, eine Wirklichkeit und
Bedeutsamkeit Europas, die nicht der Beliebigkeit des einzel-
nen unterworfen ist. Europa ist mindestens für eine Geschichts-
theologie eine Realität und eine Forderung.
7
Der Heilswille Gottes zu Europa
76
Damit ist dem Europäer mit Recht ein Selbstgefühl und ein _
gewisser Stolz zugebilligt. Das hat mit einem überheblichen
Vergleich gegenüber anderen Völkern und Kulturen nichts zu
tun. Es bedeutet aber, daß der Europäer davon überzeugt sein
kann, daß Europa heilsgeschichtlich und darin auch profange-
schichtlich eine im letzten positive Bedeutung für die Gesamt-
geschichte gehabt hat und noch hat, die vor Gott gültig ist. Es
bedeutet, daß bei aller Unberechenbarkeit der weiteren
Zukunft der Welt und Gesamtgeschichte der Europäer keinen
Grund hat, einfach zu resignieren.
77
sende Antwort wagen, wenn er gefragt würde, wie es im Jahre
2200 mit Europa bestellt sein werde? Aber es muß gesagt
werden, daß eine konkrete Zukunftsprognose, durch die man
jetzt schon wüßte, was einst sein wird, grundsätzlich unmöglich
ist. Natürlich gibt es Futurologie, Untersuchungen darüber,
wie sich vermutlich von den heute greifbaren Gegebenheiten
und den damit gegebenen Zwängen aus die Zukunft der Welt
und auch Europas im besonderen gestalten wird. Es wird bald
zu sagen sein, daß solche Bemühungen, auf die Zukunft vor-
auszublicken, eine Aufgabe sind, der sich der Mensch nicht
entziehen darf. Aber zunächst einmal muß betont werden, daß
trotz aller Prognosen und aller Bemühungen, vorauszudenken,
die Zukunft immer eine letztlich unbekannte Größe bleiben
wird. Und zwar grundsätzlich! Soschr die konkrete Geschichte
in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft eine letztlich unauf-
lösbare Einheit von Notwendigkeit und Freiheit ist, so ist eben
die Situation des Menschen in all seinen Dimensionen auch
durch Freiheit mitbestimmt. Diese Freiheit ist aber nicht nur
die Exekution des Notwendigen und Voraussehbaren, sondern
trägt immer auch ein Moment des Kreativen in sich, das nicht
aus einem früher Gegebenen eindeutig abgeleitet werden kann,
ist Wahl und Entscheidung.
Die These, daß der Mensch bei allen Zwängen und Notwen-
digkeiten, denen er immer unterliegt, doch ein Wesen der
Freiheit ist, kann natürlich hier nicht weiter begründet werden.
Es kann hier auch nicht weiter dargelegt werden, wo und wie
innerhalb der menschlichen Existenz Freiheit konkret gegeben
ist, wie sie sich einer eindeutigen Festlegung durch die mensch-
liche Reflexion immer auch entzieht, wie das der Reflexion
unmittelbar Gegebene immer schon eine reflex nicht auflösbare
Synthese von Notwendigkeit und Freiheit ist, wie darum
immer die Möglichkeit bestehen bleibt, dieses konkret Gege-
bene als notwendig zu erklären. Dennoch ist daran festzuhal-
ten, daß die Freiheit nicht bloß ein metaempirisches Postulat
hinter einer objektiven Welt von bloßer Notwendigkeit ist, die
die Freiheit des Subjektes nur verbergen würde, wenn es diese
überhaupt gibt, sondern sich mindestens für das der Geschichte
78
sich konfrontierende Subjekt, das seine eigene Freiheit und
Verantwortung erfährt, auch irgendwie immer in der Ge-
schichte selber zur Erscheinung bringt. Wenn Freiheit aber,
wie gesagt, nicht nur die formal bleibende Motorik der Ver-
nunft ist, Praxis nicht bloß Konsequenz der Theorie (und deren
Defekten) ist, sondern auch immer das Neue und Unerwartete
schafft, wenn mehrere Möglichkeiten für die Freiheit nicht
einfach objektive Vorgegebenheiten sind, sondern letztlich erst
im Akt der schöpferischen Freiheit zur Gegebenheit kommen,
dann ist die Geschichte immer auch die Ankunft des Unableit-
baren und so Gang in eine unbekannte Zukunft. Dazu kommt,
daß, selbst wenn man die Geschichte als die bloße Abwicklung
notwendiger Ursachenzusammenhänge auffassen würde, die
Zukunft letztlich doch nicht berechenbar wäre, weil eine
absolut umfassende und genaue Kenntnis der Gesamtwirklich-
keit, welche die Voraussetzung auch dann einer eindeutigen
Prognose wäre, einem Erkenntnisvermögen des Menschen, der
selber nur ein Teil dieser Gesamtwirklichkeit ist, nicht erreich-
bar ist, ganz abgesehen von der Frage, wieweit im subatomaren
Bereich so etwas wie Indeterminismus gedacht werden kann.
Ist so der Gang in die Zukunft immer auch ein Gang in die
dunkle Unberechenbarkeit dieser Zukunft und kann ein verant-
wortliches Handeln sich diese Situation nicht einfach verheh-
len, indem es sich in oberflächlicher Naivität mit den hellen
Voraussehbarkeiten der allernächsten Zukunft begnügt, dann
bedeutet diese dunkle Situation für den Handelnden auch eine
Forderung nach bestimmten «Tugenden», ohne die dieser
Gang in eine dunkle Zukunft nicht würdig und der Sache
gemäß vollbracht werden kann. Gehandelt werden muß darum
mit dem Mut zum Risiko, mit der Entschlossenheit, nicht nur
das Selbstverständliche und Alterprobte zu wagen, mit einem
« Tutiorismus» des Wagnisses, der damit rechnet, daß die heile
Zukunft, über die man nicht einfach verfügen kann, nur er-
79
reichbar ist mit der Bereitschaft, das alte Erprobte nicht einfach
in einem bequemen Konservativismus zur obersten Norm des
Handelns zu machen.
Das «Prinzip der Hoffnung» — im Unterschied zum bloßen
Verlaß auf das Sichere — gehört zum Wesen der Freiheit, die
ihr Wagnis annimmt. All das gehört auch zu jener Freiheit als
Gang in das Dunkle, wenn es sich um die Zukunft Europas
handelt. Von diesem Prinzip allein her läßt sich natürlich nicht
demonstrieren, welche der konkurrierenden Geschichtsmächte
Europas die richtige und eine gute Zukunft Europas ver-
heißende Parole vertritt. Aber alle solche konkurrierenden
Mächte im Konzert Europas müßten sich immer fragen lassen,
ob sie sich ernsthaft zum Mut bekennen, auch eine dunkle
Zukunft zu wagen, ob sie der Zukunft als solcher ihr eigenes
Recht zu lassen entschlossen sind.
Futurologie
Ist für den Menschen, der sich seiner Verantwortung für die
Zukunft Europas bewußt ist, diese Zukunft immer auch
wesentlich - vom Wesen der Freiheit selber her — eine dunkle
und durch rationale Überlegungen und Untersuchungen nie
adäquat aufhellbare Zukunft, so bedeutet dies natürlich nicht,
daß Voraussicht, Planung der Zukunft nicht unbedingt vom
Menschen geforderte Aufgabe wären. Der Mensch kann und
muß seine Zukunft planen. Er muß immer wieder fragen: Wie
geht es weiter, wie kann es und wie soll es weitergehen? Dies
ist nicht nur im Wesen des Menschen als freien Geschichtssub-
jektes gegeben, sondern hat heute Dringlichkeit und größere
Möglichkeiten. Futurologie im genaueren Sinn dieses Wortes,
wie diese heute möglich ist, hat es früher nicht gegeben und war
früher in einem größeren Umfang unmöglich. Heute ist der
Mensch als Freiheitssubjekt in dieser Hinsicht in eine neue
Phase der Geschichte eingetreten. Er ist sich selber in einer
Weise und in einem Umfang aufgegeben, wie dies früher bei
all den Zukunftsplanungen, die es natürlich auch früher gab,
80
.
gar nicht möglich war. Der Futurologie heute ist die gesamte
Erde in sehr vielen Zusammenhängen und dem gegenseitigen
Bedingungsverhältnis sehr vieler ihrer Teile präsent, während
der Mensch früher nur kleine Ausschnitte der Gesamtwirklich-
keit der Erde überblicken konnte und somit alle Geschichts-
philosophie und Geschichtstheologie die Gesamtmenschheit
als solche nur als formales Postulat, als «Idee» vor sich hatte.
Die Futurologie aber kann sich heute fragen, wie groß die
Menschheit voraussichtlich in 100 Jahren sein wird; sie kann
die Quantität der Resourcen für das biologische Weiterleben
der Menschheit in der Zukunft in etwa schon vorauskal-
kulieren; sie kann nicht nur wie früher durch Zufall auf neue
und größere Lebensmöglichkeiten stoßen, sondern die Suche
nach solchen planmäßig organisieren. In solcher Hinsicht und
vielen anderen ist die Zukunft des Menschen in ganz neuer
Weise dem Menschen selber und seiner aktiven Planung aufge-
geben. Er ist auch heute und in Zukunft nie der absolute
Schöpfer seiner selbst; seine Kreativität hat immer von ihm
selber unabhängige Voraussetzungen und innere und äußere
Grenzen ihres Vollzuges, aber dennoch ist der Mensch heute
in einem früher nicht denkbaren Umfang der Planer und
Schöpfer seiner selbst geworden, auch wenn heute die Erfah-
tung der inneren und äußeren Grenzen solchen Schöpfertums
wieder deutlicher und bitterer wird. Diese Futurologie, in der
sich der Mensch in einem früher nicht denkbaren Umfang
selber gestalten kann, bedeutet für ihn auch eine ganz neue
Verantwortung. Er kann sich nicht bloß weithin selber planen,
er muß es auch. Diese rationale und technische Vorausplanung
seiner Umwelt und sogar seiner Mitwelt und seiner eigenen
biologischen Verfassung ist für das menschliche Freiheitssub-
jekt eine Pflicht, der es sich nicht entziehen darf, die es nicht
ablehnen darf in einem nostalgischen Verlangen nach vergan-
genen Zeiten, in denen alles einfacher und selbstverständlicher
war. Das alles gilt dann auch von den Menschen, die für die
Zukunft Europas verantwortlich sind.
81
Mut zum Wagnis und zur Planung
Es ist für den Europäer, der sich für die Zukunft Europas
verantwortlich weiß, nicht leicht, beide Verpflichtungen, von
denen wir gesprochen haben, gleichzeitig und in Einheit zu
erfüllen: den Mut zum Wagnis einer letztlich nicht vorauskal-
kulierbaren, sondern in schöpferischer Freiheit zu schaffenden
Zukunft und die nüchtern rationale Planung. Wenn beides
zusammen vom Europäer gefordert wird, dann hat er natürlich
auch die Pflicht zu einer grundsätzlichen Reflexion auf diese
Verschiedenheit der Erkenntnisquellen und der Kriterien für
eine solche Futurologie. Da diese Zukunft Europas, die die
Einheit der beiden genannten Haltungen und Aufgaben
fordert, nicht von einem einzelnen oder wenigen Auserwähl-
ten, sondern letztlich von allen Europäern getan werden muß,
steht natürlich (letztlich wie in allen Zeiten, aber doch immer
neu) die Frage an, wie dieses reale kollektive Freiheitssubjekt
aus vielen einzelnen die Zukunft Europas finden kann. Von
daher müßte verständlich werden, daß die Frage nach der
richtigen Struktur des kollektiven Subjektes, das die Zukunft
Europas prägt und entscheidet, letztlich nicht nur durch allge-
meine abstrakte Kriterien demokratischer Gleichberechtigung
usw. entschieden werden kann, sondern daß dabei Überlegun-
gen darüber einbezogen werden müssen, wie dieses Subjekt,
das Europa will und dessen Zukunft entscheidet, aussehen
muß, damit es für diese Aufgabe geeignet ist. Das durchschnitt-
liche Verständnis von der Legitimation einer demokratischen
Gesellschaft und eines parlamentarisch regierten Staates geht
doch vielleicht zu einseitig und ein wenig naiv von der Über-
zeugung aus, daß die politischen Entscheidungen nicht letztlich
Entscheidungen kreativer Freiheit seien, sondern bloß die
Resultate einer Synthese von immer und überall geltenden
(letztlich moralischen) Prinzipien («Menschenrechte» usw.)
und den gegebenen und wissenschaftlich und demoskopisch
feststellbaren «Sachzwängen» usw. Politische Entscheidungen
sind das oder sollen es gewiß sein; sie sind aber immer auch
mehr, nämlich wirklich Entscheidungen einer kollektiven
82
Freiheit. Diese aber fordern immer aufs neue, daß das Subjekt
solcher Entscheidungen so gestaltet ist, daß es wirklich zu
solchen Entscheidungen fähig ist.
Die Frage nach der Zukunft Europas ist gewiß die Frage nach
einer wirklichen Zukunft, die im Bestehen zukünftiger ge-
schichtlicher Situationen in Freiheit getan werden muß. Aber
dies ist von vornherein und notwendig auch die Aufgabe der
Bewahrung einer letzten Identität dieses Europas mit seiner
vergangenen Geschichte; ohne eine solche Bewahrung hätte
dieses Europa in der Zukunft zwar vielleicht noch den Namen
und die geographische Örtlichkeit von früher, wäre aber im
Grunde gar nicht Europa. Das beinhaltet die grundsätzliche
geschichtsphilosophische Frage, ob mit dem Bleiben von in der
Vergangenheit einmal geschichtlich realisierten Werten
Europas in der Zukunft gerechnet werden kann oder ob diese
Werte in ihrer spezifisch europäischen Eigentümlichkeit unver-
meidlich und unerbittlich in der Zukunft verschwinden
müssen, weil diese Zukunft einer globalen Weltzivilisation
gehört, die mehr oder weniger überall in der Welt die gleiche
ist. Es handelt sich bei dieser Frage letztlich nicht um das
Weiterbestehen sogenannter Kulturgüter und geschichtlicher
«Denkmäler» als Relikte früherer Zeiten, die ja, wenn Europa
nicht einfach physisch ausgelöscht wird, in irgendeinem
Umfang weiterbestehen werden; es handelt sich auch nicht um
eine Prognose darüber, ob Europa in seiner Zukunft faktisch
die ihm spezifischen Kulturwerte bewahren wird. Es handelt
sich vielmehr um die der Prognose des faktisch Zukünftigen
vorausliegende Frage, ob es überhaupt möglich und denkbar
ist, daß eine bestimmte regionale Kultur in der Weltzivilisation,
die schon Gegenwart ist und die Zukunft für sich zu haben
scheint, ihre ihr spezifischen Eigentümlichkeiten und Werte
überhaupt bewahren Aann. Natürlich werden solche spezifi-
schen Eigentümlichkeiten und Werte einer bestimmten Kultur
83
in der Zukunft einer solchen Weltzivilisation von universaler
Interdependenz aller geschichtlichen Räume, von einer allge-
meinen Interkommunikation, eines gemeinsamen Besitzes allen
rationalen und technischen Wissens nicht einfach noch so sein
können, wie sie einst wurden und waren. Die Frage ist, ob sie
überhaupt noch weiter bestehen können oder ob sich die Ge-
samtgeschichte der Menschheit unerbittlich auf einen Punkt hin
bewegt, an dem die Völker und Menschen sich noch durch ihre
Hautfarbe und ihren bevorzugten Wohnort unterschieden, aber
nicht mehr durch das, was früher einmal die großen Kulturen
voneinander unterschied. Es braucht nicht bezweifelt zu
werden, daß wir heute praktisch noch weit von einem solchen
_ Zustand einer radikalen Homogenisierung der Kulturen zu
einer allen gemeinsamen (amerikanischen oder russischen oder
chinesischen?) Lebensweise entfernt sind. Es ist auch nicht zu
bezweifeln, daß faktisch wohl bei allen größeren Kulturna-
tionen, ja darüber weit hinaus, neben allen Homogenisierungs-
tendenzen auch ein Wille gegeben ist (noch gegeben ist), die
Eigentümlichkeiten der eigenen Kultur in die Zukunft der
Menschheit so einzubringen, daß sie bei aller friedlichen Koexi-
stenz und allem kulturellen Austausch voneinander unter-
schieden bestehen bleiben. Die Frage ist aber, ob eine solche
Tendenz weiterhin nur ein nostalgisch retardierendes Moment
in der Geschichte sein kann oder ob ein solcher Wille, (in
unserem Falle) Europa seine kulturelle Eigenart zu bewahren
und in eine fernere Zukunft der Gesamtmenschheit einzubrin-
gen, eine sinnvolle Aufgabe, ein Recht und eine Pflicht
Europas sein kann. Die Frage ist, ob der Wille, mit sich und
seiner früheren Geschichte und der darin realisierten Eigen-
tümlichkeit des Menschseins identisch zu bleiben und so real
in der künftigen Geschichte zu existieren, grundsätzlich vor
dem geschichtlichen und politischen Gewissen Europas ge-
rechtfertigt werden kann. Nochmals: Es wird nicht gefragt, ob
Europa im Ernst diesen Willen hat und wie weit er sich in der
Zukunft faktisch durchsetzt. Es wird nur gefragt, ob ein
solcher Wille in die Zukunft hinein überhaupt hier und jetzt
sinnvoll ist. Das ist nicht einfach selbstverständlich.
84
Kulturen können sterben und untergehen; solches hat sich
schon oft ereignet, auch wenn es dabei dann immer auch Erben
solcher gestorbener Kulturen gegeben hat. Wenn aber ein
solcher Tod möglich ist, dann kann doch grundsätzlich gefragt
werden, ob nicht die größte und tapferste Tat einer solchen
dem Tod geweihten Kultur darin bestünde, diesen Tod als nahe
bevorstehend zu sehen und gelassen anzunehmen, ähnlich wie
es dem einzelnen Menschen im unvermeidlich andrängenden
_ Sterben geboten ist. Es könnte ja sein, daß in einer solchen
Situation einer sterbenden Kultur nur die Oberflächlichen und
Dummen so sich gebärden, als habe ihre Geschichte noch eine
echte Zukunft, während die Weisen und Tapferen bewußt auf
einen solchen Kulturspektakel verzichten (so ähnlich wie Be-
nedikt das sterbende Rom floh und ein Eremit in Subiaco
wurde — und so und nicht anders der «Patron» des Abendlan-
des). Andererseits hat ein Christ von seiner Geschichts-
theologie her die Überzeugung, daß auch grundsätzlich die
Möglichkeit des Bleibens von nicht immer und überall gegebe-
nen, sondern spezifischen Kulturwerten in eine nach vorn nicht
abzuschließende Zukunft hinein gegeben ist. Sein Glaube ist ja
zumindest davon überzeugt, daß ein ausdrückliches Christen-
tum trotz seines partikulär geschichtlichen Ursprungs immer
weiterbestehen wird, wenn auch ein Christ nicht im voraus
wissen kann, welche Bedeutsamkeit dieses Christentum inner-
halb der empirischen Geschichte im Vergleich zu den übrigen
geschichtlichen Mächten und Wirklichkeiten in späteren Zeiten
haben wird, und wenn auch der Christ nicht im voraus wissen
kann, wie genau dieses geschichtlich herkünftig Bleibende in
der Zukunft gestaltet sein wird. Aber wenn z.B. die Heilige
Schrift, die immer die Grundlage des Christentums bleiben
wird, auch in Zukunft ihren partikulären Ursprung an sich
tragen und so doch für die Zukunft bedeutsam bleiben wird,
dann kann ein Christ nicht daran zweifeln, daß nicht jede
bestimmte geschichtliche Eigentümlichkeit einfach darum
schon wieder untergehen wird, weil sie einmal geschichtlich
geworden ist. Mit dieser geschichtstheologischen Begründung
der hier gemeinten Überzeugung soll nicht gesagt werden, daß
85
sie nicht auch eine Einsicht sein könnte, die auch in einer
Geschichtsphilosophie in Zusammenhang mit der Betrachtung
der faktischen Geschichte gewonnen werden könnte. Es sollte
nur eine Überlegung für diese Überzeugung vorgetragen
werden, die für einen christlichen Humanisten vielleicht am
einfachsten und überzeugendsten ist.
87
r
sam sein sollen. Es gibt gewiß sehr viele andere hohe menschli-
che Werte und Eigentümlichkeiten, die gerade in Europa Ge-
schichte geworden sind und wert sind zu bleiben, und zwar
auch als bedeutsam für die übrige Welt. An diesem Punkt
unserer Überlegungen muß dann notwendig die Frage noch
einmal verdeutlicht werden, ob diese europäischen Werte nur
Aussicht haben, zu bleiben und für die übrige Welt bedeutsam
zu sein, indem sie sich gewissermaßen wandeln in allgemeine,
für alle Menschen gleichermaßen verstehbare und realisierbare
Werte, oder ob sie wirklich in der Zukunft noch eine euro-
päische Eigentümlichkeit bewahren können und gerade so auch
für die übrige Welt bedeutsam werden. Es besteht ja kein
Zweifel, daß sich gewisse Werte und Lebensnormen, die in der
europäischen Geschichte reflex ausdrücklich und greifbar ge-
worden sind, so weiterentwickelten und universalisierten, daß
sie unmittelbar auch Werte und Normen in anderen Kulturen
und Gesellschaften über Europa hinaus geworden sind. Man
denke z.B. an alle Ideale und Ziele, die mit den Worten « Allge-
meine Menschenrechte», «Demokratie», «Emanzipation der
Frau» usw. angezielt werden. So könnte man denken, daß
Zukunft und Aufgabe Europas hinsichtlich dieser mensch-
lichen Werte nur bedeutet, daß diese — geschichtlich gesehen
— im Ursprung europäischen Werte nun in ihrer allgemein
menschlichen Bedeutsamkeit für Europa und die übrige Welt
gültig bleiben. So ähnlich wie eine mathematische Wissenschaft
höheren Grades und Ranges geschichtlich zunächst in Europa
entstanden ist, dann aber — wenigstens auf den ersten Blick —
überall gleich verstanden und gültig geworden ist und ihre
einmalige europäische Herkunft verloren zu haben scheint.
Dennoch wird man sagen können und deswegen auch anzu-
streben das Recht haben, daß in den einzelnen Kulturen, deren
Pluralismus auch in einer allen gemeinsamen Weltzivilisation
bestehen bleiben soll, auch diese allgemeinmenschlichen Werte
noch einmal eine je den einzelnen Kulturen eigentümliche
Ausprägung behalten und gerade je in dieser Eigentümlichkeit
auch noch einmal für die anderen Kulturen wichtig und bedeut-
sam sind. So wie im engeren Kreis personaler Beziehungen
88
unter Menschen jeder in seiner Eigenart, die der andere nicht hat,
dennoch für den anderen als Anreiz zur weiteren Entwicklung,
als kritische Distanz usw. wichtig ist und so sich alle Glieder
eines solchen Kreises gerade in ihrer jeweiligen Eigenaus-
prägung des Gemeinmenschlichen annehmen und bejahen, so
könnten und sollten auch in der Völkerfamilie und in der
Weltkultur die einzelnen Kulturen und Völker das Gemein-
menschliche in einer bestimmten, je eigenen Ausprägung real
werden lassen und gerade dadurch — und nicht nur durch eine
formale und abstrakte Verwirklichung des Menschlichen in
größtmöglicher Homogenität — den anderen Völkern und Kul-
turen dienen.
Natürlich bedeutet die Verschiedenheit der Ausprägung des
Gemeinmenschlichen auch immer eine Gefahr gegenseitigen
Unverständnisses und echter Konflikte, wie sie heute überall
in der Welt - trotz der Berufung auf die höchsten menschlichen
Werte und Prinzipien aller Menschen — zu beobachten sind.
Aber es kann dennoch kein Ziel sein, die Menschen möglichst
zu uniformieren, um solche Konflikte von vornherein zu ver-
meiden. Die hier gemeinte Problematik der immer neu zu
suchenden Versöhnung zwischen dem allgemein Menschlichen
und seinen verschiedenen Ausprägungen ist in unzähligen
Fällen zu beobachten. Man denke z.B. an den immer wieder
neu ausbrechenden Konflikt in den kommunistischen Ländern
über das richtige Verhältnis der gemeinkommunistischen Prin-
zipienlehre und der verschiedenen Gestaltung dieses Gemein-
kommunistischen in den verschiedenen Ländern. All das
Gesagte gilt nun auch für Europa. Es soll seine eigene Aus-
prägung des Gemeinmenschlichen in allen Dimensionen einer
Kultur bewahren und gerade so — und nicht durch eine
Aufgabe des Eigenen — für die gesamte Kultur und Zukunft
der Menschheit einen unersetzlichen Beitrag leisten.
Der Unterschied zwischen dem allgemein Menschlichen als
solchem und seiner konkreten Ausprägung in einer bestimmten
Kultur ist in vielen Fällen nur schwer zu erfassen. Dies aus
vielen Gründen. Ein Träger eines so an sich gültigen Allge-
meinen kann überheblich seine konkrete Ausprägung und Ver-
89
wirklichung dieses Allgemeinen zu diesem Allgemeinen als
solchem rechnen und so für alle verbindlich erklären. Ebenso
kann umgekehrt eine allgemeine Gültigkeit eines solchen All-
gemeinen übersehen oder abgelehnt werden mit der Berufung
darauf, daß es an einer bestimmten, historisch kontingenten
Stelle der Geschichte in Erscheinung getreten ist und darum
nicht allgemein gültig sein könne. Es ist auch durchaus
möglich, daß eine an sich nicht allgemein gültige Ausprägung
des wahrhaft Allgemeinen dennoch auch von anderen über-
nommen wird bei einem gegenseitigen Austausch solcher
Werte und Lebensstile, in dem ja nicht nur das nur Allgemein-
gültige gehandelt wird.
909
EA
| Napl w j LE Be,
wer Dr A s
A
5 a, Br 73
” 3 ne
ca ieTE e: er Pr TE
3 Yu rn d wi RE y
" FR Tele
REALISTISCHE MÖGLICHKEIT DER
GLAUBENSEINIGUNG ?
93
Man müßte sich gewiß über die kirchenrechtliche Seite des
ökumenischen Problems viel mehr Gedanken machen, weil die
eine Kirche der Zukunft selbstverständlich nicht durch eine
einfache Vereinnahmung der evangelischen oder orthodoxen
Großkirchen in die römisch-katholische Kirche, so wie sie im
lateinischen Westen rechtlich verfaßt ist, erreicht werden kann.
Und selbstverständlich sind auch noch große Hindernisse im
praktischen Leben der Kirchen, in ihren Mentalitäten des
Alltags, in ihren unreflektierten Stimmungen und Lebensge-
wohnheiten usw. zu überwinden, wenn sich die Christen aller
bisher getrennten Kirchen unbefangen als Brüder und Schwe-
stern in der einen Kirche empfinden sollen, auch wenn die eine
Kirche der Zukunft selbstverständlich für einen großen
Pluralismus in solcher christlicher Lebenspraxis Raum haben
muß. Aber, wie gesagt, wir bedenken in diesen Überlegungen
nur die dogmatische Seite des ökumenischen Problems, die
Frage also, wie die eine Kirche der Zukunft denselben christli-
chen Glauben haben und bekennen könnte.
94
politischen Situation, in der die Menschen heute und so auch
die Kirchen leben. Wenn diese geistespolitische Situation, in
der der Mensch leben kann, verdeutlicht werden soll, wenn die
Unterschiede solcher Situationen im Lauf der Geschichte ver-
ständlich gemacht werden sollen, wenn unsere heutige Situa-
tion abgegrenzt werden soll von der, in der alle Kontroversen
um die Kircheneinheit sich bisher abspielten und die teilweise
natürlich bis in die von uns selbst erlebte Gegenwart hineinrei-
chen, dann ist es selbstverständlich, daß solche Kennzeichnun-
gen dieser Situationen in ihrem Unterschied unweigerlich ver-
einfacht ausfallen müssen, daß Unterschiede deutlicher als das
Bleibende und Gemeinsame in diesen Situationen herausgear-
beitet werden, so daß man natürlich sehr leicht Einwände
gegen eine solche Schilderung erheben kann.
Aber ich meine, das, was diesbezüglich vorgetragen werden
soll, sei im Ganzen doch richtig und habe ein entscheidendes
Gewicht für die Frage, in welcher Weise heute eine Glaubens-
einheit gedacht und allein gefordert werden könne.
95
/
t
\
97
den anderen ihre Erkenntnisse und Lebensmaximen beibringen
wollen. Der Konsens in einer Gesellschaft hat überall in der
Welt die Tendenz, sich von der Einstimmigkeit gleicher
Grundüberzeugungen weg auf einen Konsens zu reduzieren,
der nur noch in der Selbigkeit von materiellen Voraussetzun-
gen und Bedürfnissen besteht. Das kommt letztlich daher, daß
die Menge des aktuell Wißbaren so ungeheuer gewachsen ist,
daß es sich nicht mehr synthetisieren läßt in der einfachen
Weise, wie es in früheren Zeiten möglich war.
Die Grenzen zwischen den sogenannten Gebildeten und den
Ungebildeten sind darum gegenüber früher höchst undeutlich
geworden. Es gibt heute nicht mehr eigentlich Gebildete und
Ungebildete, sondern alle sind heute in irgendeiner bestimmten
Hinsicht gebildet und darum gleichzeitig in anderen Hinsichten
höchst unwissend. Der Universalgelehrte ist ausgestorben.
99
Mühe, ihn in seinem Wahrheitsanspruch zu prüfen vor der
Zustimmung, kann für den Betreffenden unverhältnismäßig
groß sein; der Satz, der an sich richtig ist, kann in einer einem
selbst unzugänglichen Begrifflichkeit, in einem fremden Ver-
ständnisfeld vorgetragen werden und so selber nur schwer
zugänglich sein. In solchen und ähnlichen Fällen wird man
nicht sagen können, ein bestimmter Satz fordere von einem
solchen Menschen schon deshalb allein eine positive und aus-
drückliche Zustimmung, weil er mit der Wahrheit dieses Satzes
rechnen müsse. Er kann ihn unter Umständen respektvoll auf
sich beruhen lassen, ohne seine sittliche Pflicht, der Wahrheit
die Ehre zu geben, zu verletzen.
Was vom einzelnen gilt, kann selbstverständlich auch von
größeren Gruppen von Menschen gesagt werden. Auch bei
solchen kann ein existentielles Desinteresse an bestimmten
Sätzen, auch wenn sie nicht positiv bestritten werden und mit
ihrer Richtigkeit zu rechnen ist, aus anderen Gründen legitim
sein.
Was so im allgemeinen gesagt wurde, gilt nun auch für die
einzelnen Sätze eines Glaubensbekenntnisses und für die Men-
schen der Kirche. Daß die Kirchen (auch die katholische) das
eben Gesagte in ihrer Praxis mindestens stillschweigend anneh-
men, scheint mir evident zu sein. Wenn ein Christ getauft ist,
in seiner Kirche lebt und ihr Leben in einem gewissen Umfang
mitvollzieht, betrachtet diese Kirche diesen Christen als
legitimes Glied in der kirchlichen Einheit; sie untersucht nicht
genauer, welche Glaubenssätze genauerhin ausdrücklich im
Bewußtsein dieses Mitglieds stehen, wieweit er genau über das
gesamte Dogma dieser Kirche unterrichtet ist; sie forscht nicht
nach, ob er ein ausdrückliches positives Verhältnis zu bestimm-
ten Sätzen hat, die sie vorträgt und vielleicht auch in bestimm-
ten geschichtlichen Situationen ihres Lebens ausdrücklich pro-
klamiert. Sie ist zufrieden, wenn sich einerseits aus der kirchli-
chen Praxis dieses Menschen ergibt, daß er doch offenbar —
wenn vielleicht auch nur sehr global und rudimentär — ein
positiv bejahendes Verhältnis zu den Grunddogmen, zu den
letzten Fundamenten in der Hierarchie der Glaubenswahr-
IOoo
heiten hat und auf der andern Seite keinen ausdrücklichen und
dezidierten Widerspruch innerlich oder öffentlich erhebt gegen
Sätze, die diese Kirche als an sich objektiv zu ihrem eigentli-
chen Glauben gehörend erklärt. Sie weiß, daß vieles im in-
dividuellen Bewußtsein der meisten ihrer Glieder an religiösen
und profanen Vorstellungen gegeben ist, was objektiv nicht
zusammenpaßt. Sie weiß, daß selbst dort, wo eines ihrer
Glieder zustimmend einen von ihr formulierten Satz wiederholt
und aussagt, auch für sie selbst noch längst keine absolute
Gewißheit darüber gegeben ist, daß dieser Gläubige bei diesem
Satz, den er wiederholt, wirklich das denkt, das versteht und
dem zustimmt, was die Kirche selber mit diesem Satz sagen
will.
Alle Kirchen, auch die katholische, sind damit zufrieden, daß
ihre Glieder in einer menschlichen, rechtlichen, liturgischen
Einheit als Getaufte und kirchlich Mitlebende gegeben sind
und somit die Grundsubstanz des christlichen Bekenntnisses
mitvollziehen (wenigstens darf und muß dies für den Bereich
der Öffentlichkeit der Kirche, in der sie lebt, präsumiert
werden), ohne von jedem Mitglied eine ausdrückliche Zustim-
mung zu jedem einzelnen Satz zu fordern, den sie selbst zu
ihrem verbindlichen Bekenntnis rechnet. Diese erkenntnis-
theoretische, in etwa minimalistische Toleranz ist gar nicht
vermeidbar, und sie ist auch in den Kirchen legitim.
102
nicht positiv deutlich sieht, daß sie bei einer solchen umfassen-
deren Interpretation positiv übereinstimmen.
In einer solchen neuen Situation ist, so meine ich, eine
genügende Glaubenseinheit unter den Kirchen schon herstell-
bar. Der evangelische Christ bräuchte zwar nicht schon jetzt
eine glaubensmäßige und positive Zustimmung zu manchen
Sätzen geben, die der Katholik als glaubensverbindlich betrach-
tet. Er braucht sie aber auch nicht positiv zu verwerfen, weil
er — wie sich wohl aus der geschichtlichen Entwicklung und in
der heutigen geistespolitischen Situation herausgestellt hat —
nicht sagen kann, daß diese spezifisch katholischen Sätze von
ihm nur unter einer glaubenszerstörenden Verleugnung dessen
bejaht werden können, was er mit Recht zur Substanz seines
eigenen Glaubens rechnet. Eine solche Enthaltung eines Urteils
über solche Sätze beinhaltet ja auch nicht die Überzeugung, er
müsse sich doch mit seinem Glaubensbewußtsein langsam
einfach auf die Position hinbewegen, wie sie jetzt in diesen
katholischen Sätzen ausgesagt ist. Denn dieser evangelische
Christ kann durchaus voraussetzen, daß (hoffentlich) diese
katholischen Sätze in der weiteren Geschichte des Glaubensbe-
wußtseins der Kirche eine solche Verdeutlichung und Inter-
pretation finden, die ihm dann auch eine positive Zustimmung
erlauben, die ihm heute noch nicht möglich ist, ohne daß er sie
deshalb frontal zu verwerfen sich verpflichtet fühlen muß.
Und umgekehrt, so meine ich, kann sich das Amt der ka-
tholischen Kirche bei einer Kircheneinigung mit einer solchen
Glaubensposition zufriedengeben, in der gemeinsam die eigent-
lichen Grundwahrheiten der christlichen Offenbarung aus-
drücklich bejaht werden, aber eine positive Zustimmung nicht
zu allen Sätzen für die Einigung verlangt wird, die im histori-
schen Prozeß des Glaubensbewußtseins der römisch-katholi-
schen Kirche als mit der göttlichen Offenbarung objektiv
gegeben erfaßt werden. Umgekehrt werden doch die or-
thodoxen und evangelischen Kirchen bereit sein können, sich
des Urteils (als eines Glaubensinhaltes) zu enthalten, daß
spezifisch römisch-katholische Glaubenssätze mit der Offen-
barung Gottes und der Wahrheit des Evangeliums schlechter-
103
\
104
windlich gegeben wären? Würden sich für gewisse Lehren
nicht konkret die einzelnen Gläubigen und große Gruppen von
ihnen — von der Begrenztheit ihrer existentiellen Situation her
— für uninteressiert erklären und faktisch doch stillschweigend
jene Enthaltung von einer positiven Zustimmung zu solchen
Lehren praktizieren, die in dieser idealeren Glaubenseinheit
vermieden werden soll, die aber in unserem eigenen Vorschlag
als legitim anerkannt wird?
Ich meine: Entweder erklärt man die Glaubenseinheit zu
einem konkret unerreichbaren Ideal, zu dem man nur mit
Lippenbekenntnissen steht, oder man strebt nach einer reali-
stisch denkbaren Glaubenseinheit, die man dann auch als
legitim anerkennen und theologisch verständlich machen soll.
Noch einmal anders ausgedrückt: Die Glaubenseinheit, die
faktisch in der katholischen Kirche besteht und legitim sein
muß, ist eine andere Glaubenseinheit als die, wie man sie in der
theoretischen Ekklesiologie stillschweigend wie selbstver-
ständlich voraussetzt und die als (explizite oder wenigstens
implizite) positive Zustimmung zu all dem verstanden wird,
was kirchenamtlich als glaubensverbindliche Lehre vorge-
tragen wird.
Da sich aber die konkret verwirklichte Glaubenseinheit auch
innerhalb der katholischen Kirche von dieser theoretisch po-
stulierten Glaubenseinheit unterscheidet und doch legitim ist
und in dieser Legitimität auch explizit anerkannt werden sollte,
muß man auch für die Glaubenseinheit in der künftigen einen
Kirche nicht mehr fordern als die faktisch in der katholischen
Kirche bestehende Glaubenseinheit und diese auch ausdrück-
lich als genügend und legitim anerkennen. Natürlich müßte
diese Konzeption der Glaubenseinheit auch von den or-
thodoxen und evangelischen Kirchen als genügend anerkannt
werden. Aber das müßte doch keine Schwierigkeit bedeuten,
weil man sich ja in diesen Kirchen noch viel handgreiflicher
heute schon mit dieser Glaubenseinheit zufriedengibt, wie wir
sie für die eine Kirche der Zukunft für genügend erachten.
Gefordert ist in dieser Hinsicht eigentlich nur, .daß diese
anderen Kirchen eine explizite Glaubenslehre in der katholi-
105
schen Kirche nicht positiv als mit der Grundsubstanz ihres
Christentums unvereinbar verwerfen.
Ich meine aber, die Entwicklung des kirchlichen Bewußt-
seins in allen Kirchen sei mittlerweile so weit fortgeschritten,
daß dies möglich ist. Natürlich gewiß nicht bei jedem einzelnen
dieser Christen und bei jedem einzelnen Theologen in diesen
Kirchen. Aber man kann doch annehmen, daß ein Großteil
dieser Christen und Theologen in den anderen Kirchen ein
absolutes Glaubensanathem gegen solche spezifisch römisch-
katholischen Glaubenslehren nicht mehr sprechen wird, die
Kirchenleitungen in diesen Kirchen dies also auch nicht mehr
tun müssen. Unter dieser Voraussetzung muß, so will mir
scheinen, auch eine positive Glaubenszustimmung von diesen
Kirchen zu solchen spezifisch römisch-katholischen Glaubens-
lehren nicht gefordert werden und kann doch eine genügende
Glaubenseinheit unter allen hergestellt werden, die die Grund-
substanz des Christentums im Bekenntnis des dreieinigen
Gottes und Jesu als unseres Herrn und Erlösers glaubend
erfassen und getauft sind. Die Grundthese, die ich vorzutragen
wagte, geht also dahin, daß in der heutigen geistespolitischen
Situation gar keine größere als die vorgeschlagene Glaubens-
einheit möglich ist, sie also legitim sein muß, wenn man nicht
auf eine solche Einheit der Kirchen im Glauben trotz aller
gegenteiligen Beteuerungen verzichten will.
109
KONKRETE OFFIZIELLE SCHRITTE AUF EINE
EINIGUNG HIN?
114
sie seien sofort zum Rücktritt von ihrem Amt bereit, wenn die
orthodoxen Kirchen sich mit Rom einigen würden, könnte
dann nicht eine solche Regelung von Rom amtlich und ver-
bindlich als Grundsatz aufgestellt werden? Solche partiellen,
aber verbindlich festgelegten Einigungen wären auch auf dem
Gebiet der eigentlichen Dogmatik möglich. Wäre zum Beispiel
nicht eine lehramtliche Erklärung über den Opfercharakter der
Messe denkbar, welche die evangelischen Bedenken, es handle
sich in der Messe um eine Wiederholung und nicht nur um eine
Gegenwärtigsetzung des einen Kreuzopfers, ausräumen
würde? Könnte nicht noch deutlicher als im Trienter Konzil
lehramtlich klargemacht werden, daß alles rechtfertigende
Handeln des Menschen von der freien, uneinklagbaren
Gnadentat Gottes an uns getragen ist und alle gute Freiheitstat
des Menschen in Ablehnung eines primitiven Synergismus
selber noch einmal Gnade Gottes ist? Könnte nicht lehramtlich
deutlich gemacht werden, daß eine päpstliche Kathedralent-
scheidung ohne Konzil von der Sache her die Ausnahme in
besonderen Fällen ist und eine solche, selbst wenn sie erfolgt,
grundsätzlich und erst recht bei den heute gegebenen Möglich-
keiten der weltweiten Kommunikation und der Wahrheitsfin-
dung in der Kirche in einer Weise geschehen wird, die diese
Entscheidung praktisch doch zu einer Konzilsentscheidung
macht, weil die Gesamtkirche eben doch mitgewirkt hat, so daß
die evangelischen Christen bei einer Anerkennung des
I. Vatikanums heute und in Zukunft eben doch keine sie überra-
schenden und überfordernden Entscheidungen des Papstes
fürchten müssen? Wäre es eigentlich nicht leicht, auch kirchen-
lehramtlich eine Sakramentenlehre vorzutragen, die für einen
Menschen von heute keinen Verdacht auf Magie und Zauberei
mehr erregen kann? Wäre es nicht möglich, die für einen
sakramentalen Ehewillen erforderlichen Momente eines
Ehekonsenses so zu umschreiben, daß man das heute sicher oft
gegebene Fehlen eines sakramentalen Ehewillens bei bürgerli-
chen Eheschlüssen deutlicher und einfacher greifen kann?
Damit sollen nur ein paar Beispiele angedeutet sein, neben
vielen anderen, die es gewiß gibt und hier ungenannt bleiben.
LT2
Der Dialog der Theologen in den letzten Jahrzehnten zwi-
schen den christlichen Konfessionen sollte kirchenamtlich in
seinen Ergebnissen Stück für Stück festgeschrieben werden,
sonst hat der theologische interkonfessionelle Dialog nicht den
Erfolg, den er haben könnte, sonst wird viel geredet und am
Ende bleibt ein wirklich in den Kirchen als solchen greifbares
Ergebnis aus. Die Bedeutung einer Bewußtseinsbildung, die
mehr in einem gegenseitigen Vertrauen besteht und auf eine
praktische Interkommunion hinzielt, soll nicht unterschätzt
werden. Aber zu einer wirklichen Kircheneinigung kommt
dieses allgemeine Bewußtsein eben doch nur, wenn es sich auch
in konkreten dogmatischen Einzelaussagen objektivieren kann.
Solche aber müßten nicht bloß in immer wieder wechselnden
und von theologischen Moden beeinflußten Gesprächen unter
den Theologen ausgesagt werden, sondern auch lehramtliche
Feststellungen werden. Die katholische Kirche besitzt doch ein
Lehramt, das auch außerhalb eigentlich definitorischer Ent-
scheidung zu authentischen Aussagen fähig ist. Es sollte auch
heute den Mut haben, von seinen Möglichkeiten Gebrauch zu
machen. Dieser Gebrauch sollte nicht bloß in Warnungen und
Abgrenzungen bestehen, die dann auch noch wenig ökumeni-
sches Fingerspitzengefühl aufweisen, sondern sie sollten positiv
ökumenische Schritte auf eine Einigung hin festlegen. Wenn
das Lehramt zum Beispiel in Enzykliken nicht nur abgrenzt,
sondern auch positiv die christliche Wahrheit aussagt, dann
kann man nicht von vornherein der Meinung sein, die
Glaubenskongregation habe nur eine überwachende Funktion,
die sich in der Verwerfung heterodoxer oder gefährlicher Sätze
äußert. Die Glaubenskongregation könnte in Zusammenarbeit
mit dem Einheitssekretariat durchaus auch positive Lehren
vortragen, die Ergebnisse partieller interkonfessioneller Theo-
logengespräche beinhalten. Nur dann könnte man auch kon-
kret abschätzen, was schon dogmatisch erreicht ist und was zu
einer dogmatischen Einheit noch fehlt.!
113
Natürlich sollte es, meine ich, auch auf evangelischer Seite
etwas geben, das dem ähnlich ist, was der katholischen Seite
hier zugemutet wird. Warum sollte nicht auf evangelischer
Seite erklärt werden, daß man die reine Gnade Gottes in Jesus
Christus nicht verraten hat, wenn man die Rechtfertigungslehre
von Trient annimmt? Aber hier beginnt die alte Schwierigkeit.
Wer kann verbindlich für andere evangelische Christen spre-
chen?
Ich meine, die ökumenischen Bestrebungen müßten allmäh-
lich konkretere Ergebnisse zeitigen. Interkonfessionelle Kom-
missionen und Besprechungen, Arbeitspapiere privater
Gruppen ohne amtliche Verbindlichkeit sind noch nicht die
konkreten Ergebnisse, die heute allmählich fällig sind.
114
ÖKUMENISCHES MITEINANDER HEUTE
115
einandersetzung mit der eigenen Zeit nicht Beliebigkeit, nicht
willkürliche Übernahme modischer Tendenzen von außen,
sondern immer neue und radikale Rückbesinnung auf die inner-
ste Glaubenswirklichkeit, welche die Kirchen und die Christen
bezeugen müssen. Die Christen müssen christlicher werden,
dann kommen sie sich von selber näher. Nicht eine liberalisti-
sche Verwässerung des Christentums in einen Allerwelts-
Humanismus hinein ist darum geboten.
Alles, was seit der Aufklärung in der Theologie und im
Weltverständnis aller an Wahrem, Richtigem, für uns heute
Selbstverständlichem in der westlichen Welt entstanden ist, hat
in den Kirchen ein Recht auf eine unbefangene Anerkennung.
Aber es hat sich gezeigt und zeigt sich immer deutlicher, daß
dies alles ein radikal gläubiges Christentum nicht bedrohen und
in Frage stellen muß, daß Naturwissenschaften, kritische Ge-
schichtswissenschaften, historisch-kritische Exegese und über
all das hinaus ein modernes Welt- und Lebensgefühl durchaus
eine echte Einheit mit einem wirklich gläubigen Christsein
eingehen können. Und darum ist in allen Kirchen ein leben-
diges, immer neu und intensiv von der Wurzel des Glaubens
her gelebtes Christentum eine heute durchaus mögliche und für
die ökumenische Sache notwendige Aufgabe. Wir können zwar
nicht einfach mit einem willkürlichen Dekret die alten kon-
trovers-theologischen Probleme zwischen den christlichen
Kirchen abschaffen und für gegenstandslos erklären, aber diese
alle erhielten andere Aspekte und Gewichtungen, erhielten die
Möglichkeit, neu ausgesagt und bewältigt zu werden, gemein-
sam beantwortet zu werden, wenn sie heute bedacht würden
innerhalb der gemeinsamen Aufgabe der Kirchen und der
Christen, das ursprüngliche, echte, im guten Sinne orthodoxe
Christentum in einer echten Begegnung mit den gemeinsamen
Fragen unserer Zeit neu zu denken und zu leben.
Ist uns Christen das Bekenntnis zur letzten, realen Unbegreif-
lichkeit, in die wir ausgesetzt sind und die wir Gott nennen,
nicht gemeinsam? Getrauen wir uns nicht alle in einer Kühn-
heit, die nicht in uns selber ihr Recht hat, diese Unbegreiflich-
keit und Unverfügbarkeit, die wir Gott nennen, anzureden, mit
116
ihr zu tun zu haben, uns selbst ihr anzuvertrauen in der Über-
zeugung, daß wir in ihr geborgen sind, angenommen werden,
im Abgrund unseres Todes bei ihr selber ankommen, von ihr
freigesprochen werden, indem sie sich selbst uns zuspricht?
Und sind wir nicht die, die solches Ungeheuerliche — Glaube
genannt — wagen, indem wir auf Jesus und den Abgrund seines
Kreuzestodes blicken, ihn darin als den Geretteten bekennen
und uns von daher die unüberwindliche Überzeugung geben
lassen, daß auch wir, ohne vernichtet zu werden, selig bei dem
ankommen, den Jesus seinen Vater nannte und dem er sich in
letzter Gottverlassenheit bedingungslos übergab? Sind wir
nicht gemeinsam die, die so von Jesus das erste und das letzte
und unüberholbare Wort sich haben sagen lassen, in dem Gott
selbst sich uns als unser Ziel und Ende, als unser Gericht und
unsere Versöhnung zusagt? Sind wir nicht gemeinsam getauft
auf dieses letzte Wort Gottes in Jesus, so daß wir — ob wir
wollen oder nicht — durch die Taufe schon eine letzte Einheit
im Geist und in der Greifbarkeit gesellschaftlichen Zeugnisses
haben? Wenn wir diese Wirklichkeiten neu bedenken und
radikaler leben, muß auch eine Einheit in Glaube und Bekennt-
nis langsam und unerbittlich wachsen, die über die schon
gegebene Einheit hinaus jene Glaubensgemeinschaft hervor-
bringt, welche die ökumenische Bewegung sucht.
Von einem Christentum, das von seiner innersten Mitte her
gelebt wird, kann ganz gewiß auch eine Einheit in reflexeren
und in etwa sekundäreren Glaubenslehren gefunden werden, in
denen die Kirchen heute noch meinen, noch nicht eins zu sein,
oder es kann deutlich werden, daß die scheinbar kontroversen
Aussagen der verschiedenen Kirchen sich eigentlich nicht ge-
genseitig aufheben und verneinen, sondern die unausschöpf-
bare Fülle der christlichen Wirklichkeit von verschiedenen
Gesichtspunkten aus zu verdeutlichen suchen. In der Be-
mühung, die Theologien der Kirchen zu einer Konvergenz zu
bringen, hat es in den letzten Jahrzehnten in den christlichen
Theologien sehr beachtliche Erfolge gegeben. Es gibt heute
schon in fast allen Großkirchen — wenn auch nicht am Rande
der vielen Denominationen — Theologen, die der Meinung
117
sind, heute gäbe es keine kontrovers-theologischen Meinungs-
verschiedenheiten mehr, die wirklich #irchen-trennend sein
müßten; Theologen, die meinen, die Kirchenleitungen hätten
nun die Pflicht, aus dieser Situation die entsprechenden Konse-
quenzen zu ziehen und nicht Spaltungen kirchenrechtlich und
organisatorisch aufrechtzuerhalten, die es theologisch gar nicht
mehr gibt. Die Meinung solcher Theologen mag etwas zu
optimistisch sein und den Ereignissen vorauseilen. Sie zeigt
aber, daß eine Rückbesinnung auf die letzte Substanz des Chri-
stentums innerhalb einer mutigen Begegnung mit der Welt von
heute und die Revision der alten kontrovers-theologischen
Probleme von daher ökumenisch von größter Bedeutung und
durchaus erfolgversprechend sein können.
Voraussetzung ist natürlich, daß die Kirchenleitungen nicht
nur eine Verantwortung vor der Vergangenheit ihrer Kirchen
empfinden, sondern noch mehr vor ihrer Zukunft. Vorausset-
zung ist, daß solches Christentum von heute nicht nur
theoretisch gedacht, sondern praktisch gelebt wird. Daran fehlt
es natürlich am meisten. Wenn die Christen ihre Wahrheit nicht
nur dächten, sondern lebten, auf Orthopraxie so bedacht wären
wie auf Orthodoxie; wenn diese Orthopraxie aber nicht nur
Gesellschaftskritik und gesellschaftliche Veränderung besagen
würde — obwohl auch darin ein schreckliches Defizit bundes-
bürgerlichen Konservativismus festzustellen ist —, sondern An-
betung Gottes im Geist und in der Wahrheit realisieren würde,
weil wir für Gott und letztlich er nicht für uns da ist, dann
würden sie sich, meine ich, bald über die kontrovers-theologi-
schen Fragen einigen können, die nun einmal, ob wir wollen
oder nicht, zweitrangiger geworden sind als zur Zeit der Refor-
mation. Zweitrangig, nicht weil sie dies in ihrer letzten Tiefe
wären - Gnade und Rechtfertigung sind in sich nicht zweitran-
gig —, sondern weil wir solche Themen heute notwendig auch
unter Aspekten und Voraussetzungen allgemein erkenntnis-
theoretischer Art und im Kontext noch fundamentalerer Art
sehen müssen, so daß die Antwort unvermeidlich differenzier-
ter ausfällt und dann leichter konvergieren kann als in früheren
Zeiten.
118
Keine dritte Konfession
12%
ihre guten Traditionen von der Reformation her hat? Ein
bißchen schöpferische Phantasie und Freiheit des Geistes sind
natürlich notwendig, um sich für die Zukunft so etwas vorstel-
len zu können. Aber könnten solche Tugenden nicht uns Chri-
sten von heute und morgen abverlangt werden? Natürlich
müßten der Wille zur Einheit und diese Einheit der Kirchen
konkretisiert und abgesichert werden durch vielfältige kirchen-
rechtliche Normen und Gesetze. Aber so etwas ist möglich; die
Schaffung einer solchen, verschiedene Kirchen übergreifenden
Einheit muß indes auf keinen Fall bedeuten, daß die eine
Kirche von nun an, ohne sich selber zu verändern, über die
andern dominiert, sie einfach absorbiert. Man könnte sogar,
meine ich, in diesem Zusammenhang darüber nachdenken, ob
eine natürlich notwendige Einheit des Glaubens nicht nur einen
sehr erheblichen Pluralismus in den Theologien der einzelnen
Teilkirchen zuläßt, sondern auch eine Verschiedenheit des Stel-
lenwertes, der in den einzelnen Teilkirchen wirklichen
Glaubenslehren zuerkannt wird. Müßte zum Beispiel die
unierte hessische Landeskirche auch ausdrücklich ein Fest
Mariä Himmelfahrt feiern, oder könnte auf so etwas verzichtet
werden? Im Verhältnis Roms zu den unierten Teilkirchen des
Nahen Ostens sind eigentlich viele größere und kleinere
Paradigmen für die verschiedenen Weisen gegeben, in denen
eine Teilkirche mit Rom uniert sein kann, Weisen, die sehr
voneinander differieren. Wegen einer regionalen, geographi-
schen Unterschiedenheit zwischen West und Ost in der katholi-
schen Kirche hat man offenbar in Rom keine unüberwindlichen
Hindernisse einer Einheit gesehen. Bei den christlichen
Kirchen des Westens ist zwar dieses Auseinander räumlicher
Art dieser Kirchen nicht gegeben. Aber es ist nicht einzusehen,
daß die Verschiedenheit in der geschichtlichen Entwicklung
dieser Kirchen des Westens nicht ebensoviel Recht zu einer
bleibenden Verschiedenheit dieser Kirchen geben könnte.
T:2r2
Kennenlernen der andern Konfession
124
N ‘ N \ j
k .
125
nen kann, um dann schließlich zu entdecken, daß wir alle
Christen sind, die in der einen großen und umfassenden Kirche
Jesu Christi leben können, in der Kirche, die aus ihrem eigenen
Wesen heraus und nicht als bloße Konzession eine Fülle von
regional und geschichtlich bedingten Teilkirchen in sich
umfaßt, weil nur so die Fülle Christi in der Welt offenbar
werden kann.
126
dabei bedenken, daß auch die ökumenische Einheit, die als
unsere eigene Aufgabe noch vor uns liegt, einen schr erhebli-
chen Pluralismus auch in der einen Kirche gar nicht aufheben
könnte und dürfte, daß ein solcher Pluralismus auch in einer
geeinten Kirche aller Christen immer noch eine Last und An-
fechtung bedeuten würde, daß man auch in einer geeinten
Kirche gegenseitig Unverständnis, Antagonismus und anderes
ertragen müßte, daß auch eine geeinte Kirche innerhalb der
Geschichte die selige Einheit des vollendeten Reiches Gottes
nicht vorwegnehmen könnte. Rechnet man aber dies demütig
und nüchtern ein, weiß man, daß auch eine mögliche und
gebotene Einheit der Christen hienieden das Reich des ewigen
Friedens nicht schon vorwegnehmen kann, rechnet man weiter-
hin in einem von Gott her kommenden Optimismus ein, daß
Gottes Gnade selbst aus Schuld und Versagen der Menschen
noch einmal Gutes gewinnt und auf krummen Linien gerade
schreiben kann, durch Spaltung eine Fülle des Christentums
bewirken kann, die faktisch durch Einheit nicht erzielt werden
könnte, dann darf man sich unbefangen und dankbar der
Einheit freuen, die Gott unzerstörbar den Christen schon ge-
schenkt hat. Diese Freude darf nicht zur Entschuldigung einer
resignierten Stagnation der Ökumenischen Bemühungen
führen. Aber wer bei dieser Arbeit das Seine tut, auch wenn es
klein und bescheiden ist, der darf sich dankbar im Ruhm der
mächtigen Gnade Gottes wirklich über die Einheit freuen, die
Gott uns Christen schon geschenkt hat.
127
N DE Bw Ze
3 EROR aA
2 E
N ä
E 2’ ‚ Ew ar wer
, u Hu Eu 2 ee | -
Kr = Er, GeTe $£
Nr a ee
Ne eb VER Be
wg N Er EEE 7 Ta
RS N re jet ee
Sn
ö ee > wa „ie re k@
u an BO PAD ER Or re Be
a a Si ie
OR et N NE
u
IE Var | a
en 2 DR Se ee RT Be
we Sa Pr ern Re
a Rn a 2
u er Aal eure eh sr
j Ar EUPRREO RS: Br
RR
r Ex u ee
h u { I
f
E FD: r
R AEr 2
21% B-
5 e ei k
4 u z ni 2 reVo F2
- TEEN
er VER
“ A, 5
u
03 e -— P
‚
»
{
Fi
”
n ni
a
A 2En an
ı K2 . b u Ro u he:
P Pi
Sr Br
u Kuh x RIEMENDR
, Se
i HaB
n e ERFa De te
LE:
ZUKUNFT DER KIRCHE
VERGESSENE ANSTÖSSE DOGMATISCHER
ART DES ZWEITEN VATIKANISCHEN
KONZILS
Bei diesem Thema werde ich mich von vornherein auf dogmati-
sche Themen beschränken. Alle an sich größeren und weiterrei-
chenden Anstöße für die Verkündigung, Pastoral und Strategie
einer jetzt Weltkirche gewordenen Kirche auf diesem Konzil,
das ja ein pastorales sein wollte und war, bleiben also unberück-
sichtigt. Wenn von «Anstößen» die Rede sein soll, dann ist
damit gemeint, daß es sich nicht so sehr um die Darstellung und
Interpretation ausdrücklicher und unmittelbar greifbarer
Lehren dogmatischer Art des Konzils handelt, sondern um
Aussagen des Konzils, die eher einen Anfang, eine Anregung
und Aufforderung zu weiterer dogmatischer Überlegung und
Arbeit darstellen. Beim meisten, was gesagt werden wird, kann
also nicht eine klare und eindeutige, nicht bezweifelbare Lehre
des Konzils vorgetragen werden; es kann nur auf Aussagen des
Konzils hingewiesen werden, bei denen der Theologe auf neue
Fragen gestoßen wird, über die er weiter nachdenken sollte,
weil diese Fragen auch für die Verkündigung des Glaubens für
heute und morgen wichtig sind, aber noch eine ausstehende
klare Antwort vermissen lassen, die in der Theologie der
Kirche allgemein akzeptiert wäre. Wenn die Überschrift von
«vergessenen» Anstößen spricht, so ist damit natürlich nicht
gemeint, daß erst hier und gerade von mir allein solche Anstöße
bedacht werden, was natürlich ein Unsinn wäre, sondern daß
sie m.E. doch im allgemeinen in der katholischen Theologie
von heute noch nicht eine wirklich genügende Beachtung und
Bearbeitung finden. Die einzelnen Fragen, die ich nennen
werde, erschöpfen, wie von vornherein betont werden muß, die
Gesamtheit solcher möglichen Anstöße in keiner Weise. Es
werden wichtigere und weniger wichtige Anstöße in beliebiger
Reihenfolge dargestellt. Ich will mit einer Frage beginnen, die
in sich nicht unwichtig ist und gleichzeitig die formale Methode
unserer Überlegungen verdeutlichen kann.
131
Atheismus und persönliche Schuld
233
an Gott in Unkenntnis Gottes vorbeileben, obwohl sie zum
Gebrauch der Vernunft und zur Möglichkeit sittlicher Ent-
scheidungen gelangt sind, und doch selig werden und in die
Unmittelbarkeit zu Gott im ewigen Leben gelangen. Es stellt
. sich also die Frage, ob diesen schuldlosen Atheisten - wenn und
wo es solche gibt, was ja eigentlich bei der geistesgeschichtli-
chen und geistespolitischen Situation von heute und morgen
im Ernst nicht bezweifelt werden kann — dennoch ein heilschaf-
fendes und Glauben ermöglichendes Wissen von Gott zuge-
schrieben werden kann und muß, das wirklich gegeben ist,
auch wenn es hinter dem expliziten verbalen Atheismus im
Vordergrund ihres Bewußtseins versteckt ist. Die Frage nach
einem anonymen Theismus ist also gestellt, auch wenn nicht
wenige Theologen das Wort «anonym» in dieser Frage verab-
scheuen. Es kommt nicht auf das Wort, sondern auf die Sache
an, die durch die Aussage des Konzils angemeldet ist. Damit
sind auch weitere allgemeinere Fragen der Anthropologie in
der Theologie aufgegeben. Das menschliche Bewußtsein muß
bezüglich seiner Erkenntnisse und Freiheitsentscheidungen
mehr Dimensionen, mehr Vordergründe und Hintergründe,
mehr Verbalisiertes und Nicht-Verbalisiertes, mehr Zugelas-
senes und mehr Verdrängtes enthalten können, als die tradi-
tionelle Schultheologie ausdrücklich wußte. Wo ist die
Theologie, die über diesen Denkanstoß des Konzils ausdrück-
lich genug nachdenkt und (das ist ebenso wichtig) der Verkün-
digung und der Pastoral des Alltags die Ergebnisse weitergibt?
134
episkopates als des höchsten und wirklichen Trägers aller
Grundvollmachten in der Kirche sakramentaler und gesell-
schaftsrechtlicher Art das Konzil eine Aussage gemacht hat, die
bisher konziliar so nicht ausgesprochen war und relativ inten-
sive Diskussionen auf dem Konzil hervorrief, obwohl sie sach-
lich eigentlich nicht über das hinausging, was auch die
Theologen des I. Vatikanums ausdrücklich wußten und sagten.
Bekannt ist auch, mit welcher ängstlichen Skrupulosität Papst
Paul VI. darüber wachte, daß durch diese Aussage über Wesen
und Funktion des Gesamtepiskopates die Lehre des
I. Vatikanums über den höchsten und universalen Jurisdik-
tionsprimat des Papstes und seine Lehrvollmacht nicht verdun-
kelt werde. Diese beiden Aussagen des Konzils stehen nun
gleichberechtigt und gültig nebeneinander. Aber die Frage, wie
sich diese beiden Subjekte höchster Vollmacht in der Kirche
genauer zueinander verhalten, bleibt im II. Vatikanum unbe-
antwortet und ist ein fordernder Anstoß für die künftige
Theologie, obwohl man einerseits einsehen kann, daß diese
Frage für das konkrete Leben der Kirche von großer Be-
deutung ist, und andererseits anscheinend nicht behaupten
kann, daß die Beantwortung dieser Frage für die Theologen,
Kanonisten und Amtsträger in der Kirche als sehr beun-
ruhigend und schwer gilt.
Man kann zwar sagen, es könne natürlich in einer einen
Gesellschaft nicht zwei verschiedene Subjekte der höchsten und
universalen Vollmacht in dieser Gesellschaft geben, weil das die
Einheit einer solchen Gesellschaft aufheben würde, dies sei aber
in unserem Falle ja darum gar nicht gegeben, weil der Gesamt-
episkopat ein solcher Träger höchster Vollmacht nur mit und
unter dem Papst sei, also von einer adäquaten Unterscheidung
zweier Subjekte derselben höchsten Vollmacht in derselben
Gesellschaft gar nicht die Rede sein könne. Das ist richtig,
beseitigt aber weder für die Theorie noch für die Praxis der
Kirche das Problem, das die beiden Aussagen der Theologie
und der Kanonistik stellen. Zunächst müßte man, um eine
wirkliche Versöhnung dieser beiden Aussagen deutlich zu
machen, meiner Meinung nach auch betonen, daß auch dann,
135
wenn der Papst für sich allein in Lehre und Gesetz handelt, er
als Haupt des Gesamtepiskopates seine Vollmachten ausübt.
Denn sonst würde eben doch der Gesamtepiskopat, insofern er
eben nicht mit dem Papst identisch ist, zu einer beratenden
. Behörde in der Gesamtkirche als solcher degradiert. Die Voll-
macht des Papstes muß immer und überall — auch wenn er
«allein handelt» (was natürlich unbestritten ist) — integriert
sein in die Vollmacht des Gesamtepiskopates, so wie umge-
kehrt diese nicht ohne die einzigartige Vollmacht des Papstes
gedacht werden kann. Aber auch wenn daran spekulativ festge-
halten wird, ist das Problem für die Praxis und die Theorie der
Praxis noch nicht gelöst. Die grundsätzlichen und praktischen
Schwierigkeiten, die mit den nachkonziliaren Bischofssynoden
in Rom aufgetreten sind, sind ja bekannt.
Zwar wollte Papst Paul VI. diese Bischofssynoden einrichten
und immer wieder abhalten, um der Lehre und dem Geist des
Konzils über den Gesamtepiskopat Geltung zu gewähren. Es
ist auch noch nicht weiter verwunderlich, daß der Papst dieser
Bischofssynode nicht einfach das Recht und die Vollmacht
eines Konzils in Theorie oder Praxis zuerkennen wollte. Die
bisherigen Bischofssynoden waren somit auch nur Tagungen
einer beratenden Körperschaft, der gegenüber der Papst sich
— mindestens in der Dimension der rechtlichen Entscheidung
— alle Vollmachten seines Primates wahrte und vorbehielt. Auf
einem Konzil sind die Bischöfe mit dem Papst selber «judices»
und nicht nur Berater. Das sollten sie auf diesen Bischofs-
synoden nicht sein, sind es auch nicht gewesen, und daß sie nur
Berater waren, wurde in diesen Synoden immer wieder sehr
deutlich demonstriert. Aber wenn dem so war und ist, bleibt
eben die ekklesiologische Frage offen, ob der Gesamtepiskopat
hinsichtlich der ihm vom Konzil zuerkannten höchsten und
universalen Vollmacht in der Kirche nur und allein auf einem
Konzil in Aktion treten kann oder ob es auch andere Weisen
der Aktualisierung dieser Vollmacht des Gesamtepiskopates als
solchem geben kann und wie, wenn ja, solche anderen Weisen
in der konkreten Praxis der Kirche aussehen könnten und
vielleicht sollten.
136
J
Wenn so etwas von vornherein unmöglich wäre, dann wäre
konkret eben doch nur der Papst allein der Träger der höchsten
Gewalten in der Kirche, zumal ja die Einberufung eines
Konzils gänzlich von der Entscheidung des Papstes abhängt;
von daher schon ist also die Lehre des Konzils vom Gesamt-
episkopat als Subjekt der höchsten Gewalten in der Kirche
nicht leicht verständlich. Wie schon gesagt, haben die Bischofs-
synoden nur eine beratende Funktion für die Regierung der
Kirche durch den Papst, wie durch das neue Kirchenrecht fast
ein wenig penetrant eingeschärft wird. Diese Bischofssynoden
können daher als bescheidener Beitrag zu einer gewissen
größeren Demokratisierung betrachtet werden; man kann sich
aber auf sie nicht berufen, um die Bedeutung und Realisierung
der Lehre des Konzils vom Gesamtepiskopat deutlich zu
machen.
Das Konzil stellt also eine theologische Aufgabe, die es selbst
nicht einlöst: in Theorie und Praxis deutlich zu machen, daß
und wie der Gesamtepiskopat die Kirche regiert. Theoretisch
mag man zwar auf diese Frage antworten, eben dieses tue der
Gesamtepiskopat durch den Papst, der als Haupt und Re-
präsentant des Gesamtepiskopates seine ihm eigenen Vollmach-
ten ausübt. Aber damit ist doch wohl die gestellte Frage noch
nicht genügend beantwortet, sondern bleibt immer noch eine
erst einzulösende Aufgabe. Denn in der Praxis ist ja nicht
allzuviel davon zu bemerken, daß der Papst gerade a/s Haupt
und Repräsentant des Gesamtepiskopates seine Vollmachten
ausübt, obwohl das denkbar ist, auch wenn er dabei nicht als
der vom (ohne ihn ja gar nicht gegebenen) Gesamtepiskopat
Bevollmächtigte verstanden werden darf. Es ist wohl nicht
notwendig, durch konkrete Beispiele zu verdeutlichen, daß die
römische Kirchenregierung praktisch nicht gerade transparent
ihre Vollmachten in einer Rückkoppelung an den Gesamtepis-
kopat ausübt, obwohl eine solche durchaus als in ihrem Wesen
gegeben behauptet werden kann — auch wenn dies in der
bisherigen traditionellen Ekklesiologie nicht gerade deutlich
gesehen wird und eben fast nur implizit gegeben ist durch die
genannte Lehre des Konzils vom Gesamtepiskopat.
157
Wenn wir so behaupten, daß in der Lehre des Konzils von
zwei (wenn auch nur inadäquat unterschiedenen) Subjekten der
höchsten Vollmachten in der Kirche der Theologie eine
Aufgabe und ein Anstoß zu weiterer Arbeit gegeben sind, dann
meine ich nicht so schr, daß eine theoretische Lösung dieses
Problems von schlechthinniger Durchsichtigkeit gefunden
werden kann. Es gibt nun einmal im Recht Probleme in der
Koexistenz von mehreren Rechten, Probleme, die die Hoff-
nung verbieten, es könnten solche Rechte durchsichtig in einer
klaren höheren Synthese aufgehoben werden. (Mir scheint z.B.
die Koexistenz der Einheit einer Gesellschaft und der For-
derung der Teilung der Gewalten ein solches Problem zu sein,
das innerhalb des klar umschriebenen Rechtes nicht mehr völlig
gelöst werden kann, sondern aus dem Rechtsbereich weg in die
Praxis, die Geschichte, in die Liebe und Demut verweist.)
Wenn mit einer solchen Unbewältigbarkeit theoretischer Art in
dieser Frage zu rechnen ist, so ist dadurch die gesuchte Aufgabe
noch nicht aus der Welt geschafft. Man müßte in Ekklesiologie
und Kanonistik zunächst einmal eben diese theoretische Unauf-
arbeitbarkeit dieser Frage deutlich herausarbeiten und daraus
Konsequenzen ziehen, und man müßte für die Praxis darüber
nachdenken, wie dort die Bedeutung des Gesamtepiskopates
innerhalb und außerhalb der päpstlichen Regierung eben doch
mehr zur Geltung gebracht werden kann, wie der Papst z.B.
iure humano mindestens oft und praktisch der Bischofssynode
ein Votum deliberativum einräumen könnte und sollte, was ja
auch das neue Kirchenrecht für möglich hält, oder wie z.B. die
Begrenzung der Vollmachten des einzelnen Bischofs, der ja im
Namen Christi und nicht des Papstes seine Diözese leitet,
möglichst gering gehalten werden kann, damit auch der Ein-
druck vermieden werde, die einzelnen Bischöfe seien bloß
regionale Vertreter des Papstes, die ihre Aufgabe und Voll-
macht nur von ihm delegiert erhalten. Daß die damit gegebene
theologische und kanonistische Aufgabe von größter ökumeni-
scher Bedeutung ist, braucht nicht lange erläutert zu werden.
Man denke nur an die Frage der Bischofsbestellungen in der
Kirche, die doch vom Wesen der Kirche her gar nicht nur
138
durch eine freie Wahl von seiten des Papstes getätigt werden
können, sondern auch in anderer Weise geschehen können und
partikulär rechtlich geschehen, was ja auch der neue Codex
(can. 304$ ı) zugibt, auch wenn dieses Zugeständnis bemer-
kenswerterweise fast nachträglich noch in den Codex eingefügt
wurde.
159
bens sind. Aber für uns Christen ist diese Hoffnung geboten.
Wir dürfen nicht mehr wie unsere christlichen Vorfahren kalt-
blütig damit rechnen und uns darüber theoretisch sicher
wähnen, daß das endgültige und bleibende Resultat der Weltge-
schichte zum größten Teil in einer ewigen Hölle besteht. Diese
universale Hoffnung ist auch eine Last, weil sie schwer ist und
uns gerade nicht davon dispensiert (sonst würden wir sie ver-
raten), dafür zu arbeiten, daß wir auch empirisch an unserer
Gesellschaft und Geschichte nicht verzweifeln müssen. Die
universale Hoffnung ist ein Geschenk des Konzils, das bleibt.
Als Trost und Aufruf.
Sind damit nicht auch Aufgaben gegeben, mit denen die
Theologie noch längst nicht fertig geworden ist? Kann die
Gnade bei dem vom Konzil gelehrten universalen und überall
wirksamen Heilswillen Gottes noch wie ein raum-zeitlich be-
grenztes Ereignis gedacht werden, das, einfach von außen und
oben bewirkt, nur manchmal — wenn auch immer wieder — in
der im übrigen profan und natürlich bleibenden Geschichte
gegeben ist? Wie ist das furchtbare Böse in der Welt zu inter-
pretieren — ohne es zu verharmlosen -, so daß die Lehre vom
universalen und eschatologisch irreversibel bleibenden und
wirksamen Gnadenwillen Gottes nicht bloß ein verbales
Theorem bleibt, das in der realen Geschichte doch immer von
der Bosheit der Menschen widerlegt wird? Wie kann es einen
wirklichen, heilschaffenden Offenbarungsglauben geben, auch
dort, wohin die verbale Offenbarung des Alten und Neuen
Testamentes nicht hingedrungen ist? Kann man sich my-
thologisch zur Beantwortung dieser Frage noch naiv auf die
paradiesische Uroffenbarung berufen? Kann man die Millionen
Jahre der Heilsgeschichte, mit der wir rechnen müssen und die
eine Glaubensgeschichte sein soll, nur allein dadurch verständ-
lich machen, daß man sich den Zwischenraum zwischen dem
Anfang der Menschheit und Moses, den Zwischenraum von
Millionen Jahren nur vage durch eine göttliche Providenz
ausgefüllt denkt und nicht erklärt, wie darin wirkliche Offen-
barung und Offenbarungsglaube möglich sind? Darf man sich
wie das Konzil allein mit der Auskunft begnügen, es gebe eben
140
Heilswege, die Gott allein kennt? Wie ist genauerhin die Ab-
. solutheit des Christentums mit der Erkenntnis einer positiven
Heilsbedeutung der nicht-christlichen Religionen zu versöh-
nen? Warum darf man nicht-katholische Gemeinschaften ent-
gegen der Tendenz, die noch unter Pius XII. herrschte, doch
Kirchen nennen? Was bedeutet es genauerhin, wenn das Konzil
sagt (Lumen Gentium 8), daß die Kirche Jesu in der römisch-
katholischen Kirche verwirklicht ist («subsistit»), dabei aber
doch eine absolute Identifikation durch ein «ist» («esse»)
vermeidet. Solche und viele andere Anstöße und Fragen, die
hier nicht mehr ausdrücklich genannt werden können, sind uns
mit dieser universalen Heilshoffnung, die alle Menschen, alle
christlichen Gemeinschaften und alle nicht-christlichen Reli-
gionen umfaßt, aufgegeben, damit allmählich deutlicher wer-
den kann, wieso Christus wirksam für alle gestorben und die
Kirche das universale Sakrament des Heiles der ganzen Welt
1st.
141
tion in der systematischen Theologie auszubreiten scheinen,
dann ist das Konzil daran gewiß nicht schuld. Es gibt genügend
halbvergessene Fragen, die das Konzil der systematischen
Theologie stellt. Und nur wenn sie mutig angepackt und beant-
wortet werden, kann auch die Verkündigung der göttlichen
Offenbarung durch die Kirche in unserer eigenen Zeit so sein,
wie sie sein muß und sein kann, damit wir das Unsere dafür tun,
so daß Gottes Wort gehört und Gottes Gnade wirksam und
verherrlicht werde.
142
PERSPEKTIVEN DER PASTORAL IN DER
ZUKUNFT
143
Was hier in einem schüchternen Versuch gesagt wird, hat
nur die Absicht, ein klein wenig zur Weckung des Bewußtseins
beizutragen, daß es eine Aufgabe der Kirche in ihrer Pastoral-
theologie und pastoralen Planung wäre, ein solches ausdrückli-
ches Konzept für ihre pastorale Aufgabe als Weltkirche zu
entwickeln.
144
Pastorale Strategie und römische Zentralregierung
145
ER
146
im 16. Jahrhundert im Zuge des europäischen Imperialismus
und Kolonialismus ihren Gang in die ganze Welt und zu allen
. Völkern antrat, war, wenn auch unvermeidlich, das Ergebnis
der neuzeitlichen Missionsarbeit der Kirche doch zunächst nur
ein in alle Welt exportiertes abendländisches Christentum. Die
Kirche blieb aktuell eine abendländische Kirche mit Exporten
in alle Welt. Heute, wie es kirchenamtlich im II. Vatikanischen
Konzil greifbar geworden ist, beginnt die Kirche, aktuell Welt-
kirche als solche zu werden. Überall gibt es einen einheimischen
Episkopat und Klerus. Die Autonomie und Eigenständigkeit
der großen Regionalkirchen wurde auf dem letzten Konzil
grundsätzlich anerkannt. Überall, wenn auch in verschiedener
Intensität, sind Ansätze für die den verschiedenen Kultur-
kreisen entsprechenden Theologien gegeben. Überall ist wenig-
stens grundsätzlich als Pflicht der Kirche die Inkulturation des
Christentums in die verschiedenen Kulturen anerkannt. Schon
beginnen, wenn auch nur sehr schüchtern, die früheren Mis-
sionskirchen, ihren positiven und aktiven Beitrag für das Leben
der Gesamtkirche zu erbringen. Überall beobachtet man
Schwierigkeiten und Lösungsversuche für die Frage, wie die
Einheit der Kirche konkret mit einem legitimen Pluralismus
der Teilkirchen vereinbart werden kann, so daß sich die Kirche
wirklich als Weltkirche vollzieht und darstellt.
Diese neue Aktualität der Kirche als Weltkirche ist faktisch
— wenn auch nicht in ihrem eigentlichsten Wesen — bedingt
durch eine neu-gewordene Einheit der Menschheit und durch
die damit gegebene und notwendige globale Einheit des gesell-
schaftlichen Handelns und Planens dieser so eins-gewordenen
Menschheit. Früher waren Geschick und Geschichte der einzel-
nen Völker und Gruppen der Menschheit durch Niemandsland
getrennt; Wirklichkeit und Geschichte Preußens in der Zeit des
Großen Kurfürsten waren praktisch und konkret unabhängig
von der Wirklichkeit und Geschichte Thailands zur selben Zeit.
Heute hängt alles mit allem zusammen. Leben und Geschick
jeder Region der Erde sind sehr entschieden und greifbar
mitbestimmt durch alles, was sonstwo in der Welt geschieht.
Darum hat es Weltkriege gegeben, die vorher gar nicht
147
3
\
148
u }
149
dafür, daß das Gesamtbewußtsein der Menschheit langsam in
das Stadium einer reflexen Planung der Menschheit selbst ein-
tritt. Und nun: Die Kirche ist (wenigstens anfanghaft) aktuelle
Weltkirche geworden, und zwar in einem Stadium der Mensch-
heit, in dem diese langsam das planend aktive Subjekt ihrer
Selbstverwirklichung wird. In einer solchen Situation eines
neuen theoretischen und praktischen Bewußtseins der Mensch-
heit muß darum die Kirche sich und ihre Zukunft in einer
neuen Weise planen.
13
heute wenigstens richtig verstehen kann, was die Christen wirk-
lich glauben?
Eine Wissenschaftspolitik in der systematischen und prakti-
schen Theologie müßte unbefangen und mutig auf eine Welt-
läufigkeit allgemeiner Art in der Theologie und in der Verkün-
digung hinarbeiten. Gewiß kann und darf das Christentum in
Theorie und Praxis seinen geschichtlich partikulären Ursprung
nicht verleugnen. Überall in der Welt und in allen ihren Kul-
turen darf man auch in Zukunft merken, daß es aus Palästina
herkommt und durch die abendländische Kultur hindurchge-
gangen ist. Aber wenn und weil das Christentum nun einmal
Weltreligion werden soll — also auch Religion der Völker und
Kulturen, für die der Mittelmeerraum und das Abendland eben
nicht die Ursprungsorte ihres Wesens und ihrer Geschichte
sind —, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als weltläufig zu
werden, d.h. in Theorie und Praxis geschichtlich blasser zu
werden, geschichtliche Herkünfte, soweit sie nicht sein eigentli-
ches Wesen mitbedingen, ruhig in eine bloße geschichtliche
Gewesenheit zurücktreten zu lassen. Man wird sich fragen
müssen, wie eine Theorie und Praxis des Christentums aus-
sehen werden, wenn in der Welt außerhalb des Abendlandes
Elemente seiner geschichtlichen Herkunft und Bedingtheit in
so ferne Vergangenheiten zurückweichen, wie etwa schon bei
uns heute selbst die jüdische Theologie zur Zeit Jesu unbe-
kannt und gleichgültig geworden ist. Solche Veränderungen
werden unweigerlich kommen; man sollte sie aber heute schon
als Aufgabe einer reflexen Wissenschaftspolitik in der sy-
stematischen und praktischen Theologie zu sehen lernen.
154
samtkirche seien, die sich bloß durch ein paar höchst sekundäre
Nebensächlichkeiten unterscheiden könnten, aber im großen
und ganzen (wenn wir von den kleinen unierten Kirchen des
Nahen Ostens absehen) ist es bei der Aussage dieses allge-
meinen Prinzips geblieben. In Rom strebt man immer noch
nach einem möglichst homogenen Kirchenrecht für die ganze
Kirche; die Liturgien sind eben bisher faktisch doch nur die
Übersetzungen der römischen Liturgie. Man kann sich natür-
lich immer darauf berufen, daß die Einheit der Kirche diese und
jene Einheitlichkeiten in der Gesamtkirche notwendig mache.
Aber so kann man billig das Prinzip der Eigenständigkeit und
Differenziertheit der großen Regionalkirchen sabotieren und
zu einem bloßen Lippenbekenntnis machen. Welche Eigenstän-
digkeit und Initiativen konkreter, greifbarer Art hat Rom wirk-
lich den Kirchen in Südamerika oder Indonesien eingeräumt?
Natürlich sind die Konsequenzen aus dem dialektischen Ver-
hältnis von Gesamtkirche und Partikularkirchen praktisch
nicht leicht zu entwickeln. Aber wo ist die Instanz, die solche
Probleme mutig und unter Mitarbeit der Gesamtkirche prin-
zipiell durchdenkt und dafür sorgt, daß solche Konsequenzen
realisiert werden?
155
Rom eine Stelle, die wirklich systematisch, genau — und nicht
nur von dem löblichen Wohlwollen dieser oder jener Amts-
träger getragen — alle diese Fragen gründlich studiert und
wirklich mutig auf konkrete Lösungen hin vorantreibt? Natür-
lich gibt es in Rom Leute, die sich mit solchen Fragen beschäf-
tigen, die den Heiligen Stuhl auf allen möglichen Kongressen
und Versammlungen vertreten, aber ein einheitlicher, mutiger,
aktiver Repräsentant dieser ganzen Weltverantwortung der
Kirche ist doch für den Normalchristen in der Welt in Rom
nicht deutlich zu sehen. Ja, es scheint, daß der Mut hinsichtlich
dieser Aufgabe in Rom trotz der Weltreisen des Papstes eher .
abnimmt als zunimmt und man in Rom cher ängstlich und
nervös ist und eher in die Sakristei zurückpfeift, wenn die
Christen in der Welt aktiv ihre gesellschaftskritische Aufgabe
wahrzunehmen versuchen.
157
zipien deshalb abzuschaffen oder zu leugnen, dann könnte es
ja z.B. so sein, daß die Verwerfung einer irrsinnig werdenden
Aufrüstung für das moralische Durchschnittsbewußtsein der
profanisierten Welt ein wichtigeres Merkmal der christlichen
Moral ist als die Ablehnung der Pille. Solche Verschiebungen
in den moralischen Akzentsetzungen hat es natürlich immer
gegeben. (Die Päpste zur Zeit Ludwigs XIV. haben sich sicher
keine grauen Haare über die unmoralische Kriegspolitik dieses
Königs wachsen lassen, ohne daß man dies diesen Päpsten
übelnehmen sollte.) Aber heute sollten und könnten vielleicht
solche Akzentverschiebungen doch auch in einer pastoralen
Globalstrategie geplant werden. Wenn man diese Diaspora-
situation nicht nur irgendwie sieht, um sie zu verdrängen, muß
man dann in unseren Landen immer noch mit tausend Mitteln
und Auskünften daran festhalten, daß die Seelsorge überall
möglichst gleichmäßig verteilt sei, oder sollte die Kirche eher
danach streben, in einer profanisierten Welt wie in einer Wüste
blühende Oasen zu entwickeln, auch wenn dann diese gleich-
mäßig dünne und wenig attraktive Präsenz der Kirche nicht
mehr überall gegeben ist? Auf jeden Fall sind einer notwen-
digen pastoralen Globalstrategie durch die überall gegebene
Diasporasituation Aufgaben gestellt, die noch längst nicht
deutlich genug gesehen und erfüllt sind.
Man spricht heute schon nicht mehr ganz selten von einer
Abkehr von einem bürgerlichen Christentum, von einer
Service-Kirche. Es ist hier natürlich nicht möglich, zu ent-
scheiden, was an einer solchen Forderung richtig ist, was heute
diesbezüglich geschehen kann, was Programm für eine fernere
Zukunft ist, was richtige oder vielleicht unangebrachte Über-
tragung von Modellen anderer Länder und Kulturen auf unsere
Verhältnisse ist, was bloße Utopie, die gerade in der Entwick-
lung der profanen Gesellschaft in der Zukunft nicht realisierbar
ist. Aber sicherlich steckt in dieser Forderung eine wichtige
und richtige Zukunftsperspektive, die gesehen, reflektiert und
158
geplant werden müßte. Wenn z.B. die Kirche in Zukunft
wirklich noch am Zölibat festhalten will, dann sind damit aber
auch implizit sehr tiefgreifende Wandlungen in der Kirche in
anderen Hinsichten mitgegeben, die vielleicht von der heutigen
Amtskirche gar nicht deutlich gesehen und noch weniger
eigentlich angestrebt werden, die aber unerbittlich kommen
werden, wenn die Kirche nicht gleichzeitig zu einer kleinen
Sekte zusammenschrumpfen soll. Die Laienschaft wird zwangs-
läufig eine größere Selbständigkeit, Macht und Bedeutung
bekommen, als sie jetzt hat; weithin werden die Laien in Basis-
gemeinden Träger des Selbstvollzugs der Kirche werden. Als
normaler rechtgläubiger Christ wird man natürlich überzeugt
erwarten, daß die Kirche der Zukunft immer noch die Kirche
des alten und vollen christlichen Glaubens auch mit jenen
gesellschaftlichen Strukturen sein wird, die ihr heutiger Glaube
als göttliches, unabschaffbares Recht erklärt. Aber im Jahr 2200
wird die Kirche dennoch in ihrem empirischen Erscheinungs-
bild ganz anders aussehen und aussehen müssen, als wir es
heute gewohnt sind. Ist dieses künftige Erscheinungsbild nur
und allein etwas, das ungefragt und unbedacht auf die Kirche
zukommen wird, das nur in kleinen Schritten ohne große
Voraussicht und jeweils von der Gegenwartssituation stück-
weise abgetrotzt «passieren» wird, so wie die Kirche des mit-
telalterlichen Feudalismus auf die Kirche der Väterzeit folgte,
oder muß es beim heutigen Stand des kollektiven menschlichen
Bewußtseins auch — wenn auch nicht in erster Linie — eine
Aufgabe der Kirche sein, dieses künftige Erscheinungsbild der
Kirche nach Kräften vorauszuahnen und vorauszupl/anen? Kann
und muß es nicht in der Kirche eine weiter als bisher voraus-
schauende globale Strategie der Seelsorge geben? Das scheint
mir eine echte, nicht deutlich genug geschene Frage für die
heutige Kirche zu sein.
159
ÜBER DIE ZUKUNFT DER GEMEINDEN
160
“mit Bischöfen, die überall geachtet sind, mit einem Papst, der
in aller Welt mit großer Begeisterung empfangen wird. Auch
dann wäre eigentlich die Situation des einzelnen Menschen
immer noch die eines geheimnisvollen radikalen Kampfes zwi-
schen Licht und Finsternis, zwischen Gott und dem Bösen,
zwischen der Entscheidung für Gott und das Ewige Leben und
der Entscheidung für eine endgültige Verlorenheit. Mit
anderen Worten: Die Welt wäre bei all ihrer äußeren, löblichen
und wünschenswerten Christlichkeit immer noch eine Welt, in
der Finsternis und Licht miteinander ringen in einem Kampf,
dessen Ausgang wir nach rein menschlichen Maßstäben gar
nicht voraussagen könnten.
Wenn Gott den einzelnen bis zu seinem Lebensende in einem
Kampf beläßt zwischen Gut und Böse, dann müssen wir das
auch übertragen auf die äußere greifbare Geschichte. Darin
muß in einer gesellschaftlichen Weise dieser Kampf nach dem
Willen Gottes offenbar sein und darf nicht bloß in der Inner--
lichkeit des einzelnen Individuums verborgen bleiben. Selbst
wenn wir also annehmen würden, daß einmal die ganze
Menschheit in einem äußeren Sinne christianisiert wäre, würde
sich in einem gewissen Sinne doch gar nicht so viel ändern. Es
müßten immer noch in der Öffentlichkeit antichristliche
Mächte vorhanden sein, es bliebe auch in der Öffentlichkeit, in
der Geschichte, in der Politik, in der Kunst ein bleibender
Kampf für und gegen Christus. So scheint es gewollt zu sein:
Gott hat für die Menschheit eine freie Entscheidung gewollt,
und zwar eben nicht bloß in der Innerlichkeit des einzelnen
Menschen, sondern auch in der Öffentlichkeit der Geschichte.
Wenn wir das einmal voraussetzen (auch wenn wir nicht
voraussehen können, wie sich das konkret darbieten würde in
einer Menschheit, die öffentlich überall christlich wäre), dann
verstehen wir von vornherein, daß in einer solchen Situation
die wirklichen Christen doch immer (zumindest dem äußeren
Anschein der Geschichte nach) eine Minderheit wären. Sie
müßten auch in einer solchen idealen Zukunft, wie sie sich
vielleicht Päpste und Bischöfe denken und wünschen, immer
noch ein angefochtener Teil der Menschheit sein, der nicht nur,
161
wie gesagt, im Inneren der einzelnen moralischen Ent-
scheidung, sondern auch in der Öffentlichkeit angefochten,
bekämpft, bestritten würde. Mit anderen Worten: Die eigentli-
chen Christen können gar nicht ernstlich erwarten, daß sie in
einer homogen-christlichen Welt leben.
Setzen wir das alles einmal voraus, und fragen wir uns, wie man
sich die nähere Zukunft einer christlichen Gemeinde wohl
denken soll. Da ist zunächst zu sagen, daß es nicht sicher ist,
daß es in unserem sogenannten christlichen Europa auf die
Dauer «flächendeckende» Gemeinden geben kann, die das
profane Territorium eines Landes, eines Staates eindeutig ab-
decken. Dieser Satz will kein Ideal für die Zukunft verkünden,
sondern nur eine nüchtern-realistische Vermutung darüber aus-
sprechen, wie es wohl faktisch werden wird. Für mehr wird es
einfach zuwenig Priester geben. Wir können natürlich hoffen,
daß die Zahl der Priester wieder etwas zunimmt, aber in einer
Bevölkerung, in der nur ı0 bis 15 % der Menschen tatsächlich
«praktizierende» — wie man sagt — Christen sind, kann man
nicht erwarten, daß diese 15 % praktizierender Christen so viele
Priester stellen können, daß die priesterlichen Bedürfnisse der
anderen 85 % gedeckt werden könnten. Wir werden also Ge-
meinden haben, die nur eine Minorität in der Gesamtbevöl-
kerung ausmachen werden, denn es ist realistisch nicht wahr-
scheinlich, daß diese europäische säkularisierte Welt in abseh-
barer Zeit wieder ausdrücklich und praktizierend christlich sein
wird. Mit anderen Worten: Wir werden kleine Gemeinden mit
wenigen Priestern haben. So wird es vermutlich auf die Dauer
gar nicht möglich sein, daß diese Gemeinden im Stil von
profanen Polizeirevieren mit ihren wenigen Priestern unmittel-
bar und direkt die Gesamtbevölkerung, die Entchristlichten
werden erreichen können. Ich meine, daß deshalb sich die
künftigen Gemeinden, auch die sogenannten Pfarrgemeinden,
nicht mehr so unmittelbar und direkt wie bisher in einer ad-
162
I
163
Auf daß das Heil Gottes sichtbar wird
164
f
165
viel unbefangener und freier erfüllen kann. Es ist ja zunächst
einmal klar, daß diese Gemeinde als Zeichen des Heiles für die
anderen dafür sorgen muß, daß diese Gemeinde, die das
Zeichen ist, nicht untergeht, nicht verschwindet. Die sichtbare
Greifbarkeit des Heiles der Welt, bezogen auf Jesus Christus
und Kirche genannt, muß bis zum Ende der Zeiten in der Welt
gegeben sein. Wie groß und mächtig dieses Zeichen prozentual
zur Gesamtheit der übrigen Menschheit ist, darüber können
wir nichts ausmachen, aber auf jeden Fall muß dieses Zeichen
weiterexistieren.
Wenn ein Mensch seine eigene Berufung zu dieser Ausdrück-
lichkeit des Heiles als eines Zeichens für andere kennt und von’
seiner gesellschaftlichen Verantwortung, von seiner Nächsten-
liebe nicht absehen kann, dann muß er zumindest erst einmal
dafür sorgen, daß diese Gemeinde lebendig bleibt, wächst und
neue Mitglieder aus dem sie umgebenden Heidentum heraus
gewinnt. Wenn ein Mensch nicht nur wortlos anonym und der
eigenen Wirklichkeit selber nicht recht bewußt von der Gnade
Gottes umfangen ist, sondern weiß, daß er wirklich das von
Gott geliebte Kind Gottes ist; wenn ein Mensch reflex
realisiert, daß er zu einem unendlich ewigen Leben in der
Unmittelbarkeit Gottes berufen ist, dann muß er das auch
anderen sagen. Er muß von diesem ausdrücklich zu ihm als ihm
selbst gekommenen Glück anderen mitteilen wollen, so daß
von ihm aus eben dieses Heilszeichen der Welt, Kirche
genannt, bleibt, wächst und immer mehr Menschen gewinnt,
die auch ausdrücklich zu dieser innersten Begnadigung gekom-
men sind. Eine Gemeinde, die nicht notwendigerweise von der
Vorstellung gequält wird, daß in ihr nur ıs % ihrer Glieder
praktizieren, eine Gemeinde, die sich zunächst einmal der Zahl
ihrer wirklichen, lebendigen Gemeindemitglieder erfreut, hat
eine größere Chance für einen missionarischen Geist als eine
Gemeinde, in der von vornherein wie ein Krebsgeschwür das
drückende Gefühl grassiert, sie sei in Wirklichkeit gar nicht
das, was sie sein sollte, weil ja 85 % ihrer Mitglieder abständig
sind. Eine solche Gemeinde wie die erstgenannte kann von
dieser glaubensmäßig gegebenen Selbsteinschätzung her, das
166
sakramentale Zeichen des Heiles für die zu sein, die noch gar
nicht eigentlich und lebendig zu ihr gehören, viel unbefangener
und lebendiger missionarisch sein.
Ich habe früher einmal gesagt, daß ein Priester oder ein Bischof
gefragt werden sollte, wie viele neue Christen er in seinem
sogenannt christlichen und in Wirklichkeit unchristlichen
Gebiet gewonnen hat. Er sollte darauf mehr Gewicht legen als
auf die Frage, wie viele «noch» zu seiner Gemeinde oder zu
seiner Diözese gehören. Diese Frage öffnet auch ein Verständ-
nis für die eigentümliche Aufgabe eines Priesters als Gemein-
deleiter in einer Pfarrei der Zukunft. Er ist gewissermaßen
durch seine Existenz, sein Tun und sein Wort die lebendige,
glaubende, hoffende, liebende Vertretung der Botschaft
Gottes. Dafür sucht er wenigstens ein paar Menschen zu gewin-
nen. Von dieser Eigentümlichkeit eines (dürfen wir das einmal
so sagen) spirituellen Gurus aus sollte ein Priester in der
Zukunft sein Amt auffassen. Er ist nicht in erster Linie der-
jenige, der dafür zu sorgen hat, daß alle, die im Grund genom-
men dafür kein Verständnis haben, getauft werden und sa-
kramental die Ehe schließen; er ist nicht der, der statistisch in
besonders genauer Weise berechnen muß, wieviel Prozent
seiner sogenannten Pfarrangehörigen nun faktisch Ostern
feiern; er ist nicht der, der ängstlich dafür sorgen muß, daß er
auch bei einer Beerdigung noch mitziehen darf. Er ist der, der,
erfüllt von einem seligmachenden Glauben an Jesus Christus,
den Gekreuzigten und Auferstandenen, im Gefühl seiner
eigenen Befreitheit und Erlöstheit, im Glauben an das ewige
Leben möglichst vielen (aber wievielen ist sekundär!) diese
seine eigene innere Erlöstheit und Befreitheit mitteilen will.
Natürlich auch durch die Sakramente, durch die Feier des
Herrenmahles; aber all das muß umfaßt sein von der Verkün-
digung der befreienden, erlösenden, rettenden Gnade Gottes.
Ein Pfarrer dieser Art wird eine innere Beziehung zur soge-
167
ge
171
! , T
172
“r 1 r N N 2 ]
. ren Dingen, als sie dem Amt in der Kirche unmittelbar zu gäng-
lich sind. Es hat früher nicht umsonst heilige Könige gegeben,
und es wäre verkehrt, die Heiligen nur in der Stille klausurier-
ter Klöster finden zu sollen. Die Heilige Teresa von Avila hat
bedauert, daß in ihrer Zeit die Frauen so wenig zu sagen hatten,
und auch die Kleine Therese hat aus ihrem missionarischen
Drang für das Heil der Welt, eben weil es— wie sie sagte — nicht
anders ging, im Herzen der Kirche als beschauliche Karmelitin
ihre missionarische Aufgabe zu erfüllen gesucht. Jedenfalls
haben die Christen in der Kirche sowohl auf die Kirche wie
auch auf die Welt, auf die profane Öffentlichkeit, auf die
Gesellschaft hin Aufgaben, die sie als Träger der Kirche wahr-
nehmen müssen.
Es gäbe natürlich dazu noch viele andere Fragen, die ins Detail
gehen. Man könnte z.B. fragen, ob es wirklich mit dem sa-
kramentalen Charakter des Priestertums unvereinbar wäre,
wenn die Kirche ein selbstverständlicheres Ausscheiden aus
dem Priesteramt, ein Ausscheiden, das den Betreffenden nicht
moralisch disqualifiziert, ins Auge fassen würde. Man könnte
fragen, ob eine solche Einrichtung einer Art Priestertum auf
Zeit nicht erst recht wieder psychologisch und gesellschaftlich
zu einem Abbau des Priestertums führen würde. Darüber
müßte man nachdenken und vielleicht auch Erfahrungen zu
sammeln versuchen. Aber ganz abstrakt und im allgemeinen
gesagt, glaube ich nicht, daß der sogenannte bleibende sa-
kramentale Charakter des Priestertums, der nach der Lehre des
Trienter Konzils unverlierbar ist, grundsätzlich und von vorn-
herein ein Priestertum auf Zeit schlechterdings dogmatisch
unmöglich machen müßte. Die Kirche laisiert ja Priester, und
es ist nicht einzusehen, warum der Grund einer solchen
Laisierung im Auge der Kirche, ganz abgesehen jetzt vom
einzelnen selber, nur in einer moralischen Verfehlung des Be-
treffenden bestehen könnte. Dann könnte nämlich überlegt
219
werden, ob nicht durch ein richtig verstandenes Priestertum auf
Zeit mehr junge Menschen eine priesterliche Berufung entdek-
ken könnten, junge Menschen, die heute nicht wagen, das
Priestertum zu übernehmen, weil sie sich eine lebenslange
Verpflichtung nicht zutrauen.
174
das Beispiel vom Schachklub zurückdenkt, dann könnte man
sagen - bildlich gesprochen -, es sei für die Frau doch letztlich
entscheidend wichtiger, daß sie gut Schach spielt, das heißt, daß
sie in radikalster Weise — was ihr niemand verwehrt — das
Christentum selbst als die Religion Jesu Christi, des Gekreuzig-
ten und Auferstandenen, als die Religion der Freiheit und der
Liebe in ihrem Leben realisiert, als daß sie — also auch im
«Schachklub» — als Pfarrer und als Priester oder als Bischof ein
Amt in der Kirche innehat. Gemessen an der eigentlichsten
Aufgabe des Christentums ist ja doch diese Frage der Zulas-
sung zu einem Amt in der gesellschaftlichen Dimension der
Kirche sekundär gegenüber der Frage, wie eine Frau heute
selbständig in der Gesellschaft - man könnte sagen: eman-
zipiert — und trotzdem fraulich ihr Christentum leben könne.
In der Zeit, in der die Welt eine einzige globale Größe wird als
Menschheit, in der das Schicksal eines jeden von allen abhängt,
in einer Zeit, in der die einzelnen Gesellschaften und Staaten
nicht mehr durch geschichtliche Leerräume voneinander ge-
trennt.sind, sondern von der Frage, wie es Südamerika im
nächsten halben Jahrhundert gehen wird, auch die Frage, wie
es uns hier gehen wird, abhängt und umgekehrt natürlich auch
- in einer solchen Zeit gehören, wenn wir so sagen dürfen, auch
die Fernsten noch zu den Nächsten. Vor tausend Jahren konnte
es einem Christen in Europa, abgeseehen von seiner Bedroht-
heit durch die Türken, praktisch gleichgültig sein, wie es in
Indien oder Ostasien zugeht. Einfach deshalb, weil er dafür gar
keine Möglichkeiten der Veränderung hatte und deswegen die
Forderung christlicher Nächstenliebe keine konkrete Be-
deutung für seine abstrakte Beziehung zu den Menschen in
Ostasien oder Indien hatte. Heute ist das ganz anders. Alle die
Fragen, die uns von «Global 2000» heute aufgegeben werden,
alle Fragen über die Benützung und Schonung der Lebens-
voraussetzungen der Menschheit, alle Fragen des interna-
273
tionalen Friedens, alle Fragen der Entwicklung der Dritten
Welt usw., sind heute unmittelbare Fragen der Verantwortung
des einzelnen Christen und auch der einzelnen Gemeinden.
Eine Pfarrei von heute oder morgen müßte ein realistisch
sich auswirkendes Verhältnis zu einer Pfarrei in Nigeria haben.
Die Fragen der Abrüstung, des Friedens in der Welt, der Hilfe
für die Dritte Welt, die Fragen, die die heutigen sogenannten
«Grünen» aufwerfen (wenn vielleicht auch manchmal in einer
zu emotionalen und naiven Weise), sind Fragen, die heute an
die Verantwortung des einzelnen Christen und der christlichen
Gemeinden gerichtet sind. Wieviel der einzelne da tun kann,
ist noch einmal eine andere Frage. Aber daß einer gar nichts
tun könne, das ist vielleicht für irgendeinen armen Bettler an
einem Straßenrand richtig (der aber mindestens noch für die
Dritte Welt beten kann), aber für den normalen Christen sind
das Fragen, bei denen er wirklich mindestens dafür sorgen
sollte, daß seine Vertretungen in größeren gesellschaftlichen
Organisationen, z.B. in Parteien und im Staat, ihre diesbezügli-
che Verpflichtung und Verantwortung wahrnehmen. Wie viele
Christen gibt es, die bei ihren Parteien schon einmal dagegen
protestiert haben, daß nicht einmal ı % des Sozialproduktes
bei uns für die Dritte Welt freigemacht wird? Wie viele Chri-
sten haben schon einmal effektiv ihren Parteien gegenüber
erklärt, daß sie auf ı % ihres Gehaltes verzichten würden? (In
Berlin gibt es einige Universitätsprofessoren, die effektiv auf
einen nicht unbeträchtlichen Prozentsatz ihre Gehaltes verzich-
ten, damit gewisse Professuren nicht vom Staat, der sparen
muß, gestrichen werden. Mir hat eine bedeutende deutsche
Pädagogin, die schon in Pension ist, gesagt, sie müsse, wenn
sie ehrlich ist, zugeben, daß sie noch anständig und gut leben
könnte, wenn ihre Pension 10 % geringer wäre, und sie sei von
sich aus auch durchaus zu einer solchen Kürzung bereit. Wenn
die Bundesrepublik Deutschland Beamte hätte, die alle zu einer
Kürzung von einigen Prozenten ihres Gehalts bereit wären,
dann wäre ein großer Teil der finanziellen Misere beseitigt.)
Warum gibt es so wenige Christen, die zu so etwas bereit sind
und diese Bereitschaft nicht in der Tiefe ihres Herzens verber-
176
j
177
RITENSTREIT - NEUE AUFGABEN FÜR DIE
KIRCHE
Keine Synthese
Diese Frage tauchte zum ersten Mal zu Riccis Zeiten deutlich
auf, zuvor — etwa beim Übergang der Kirche aus dem römi-
schen Kulturkreis in den germanischen — war sie nicht so
178
lebendig. Heute ist sie brennender denn je und stellt eine
fundamentale Aufgabe der Kirche dar. Wir können uns natür-
lich heute denken — und in kirchlichen Verlautbarungen wird
bis auf den heutigen Tag oft so gedacht —, daß man diese und
jene Elemente, die wir westeuropäischen Christen in der kon-
kreten Gestaltung des christlichen Lebens oder in der For-
mulierung unseres Glaubens gewohnt sind, weglassen, ein
klein wenig verändern könne und dadurch das Christentum
mehr oder minder automatisch in andere Völker inkulturieren
werde. Man stellt sich vor, man müsse heute in China oder in
Japan keine gotischen Kirche mehr bauen und brauche in der
Kirche auch keine Musik zu machen, wie sie in Europa üblich
ist - im Grunde sei das alles ziemlich leicht und einfach. Ich
meine hingegen, daß es schr, sehr schwierig ist. Selbstverständ-
lich sollen auch solche Anpassungen vorgenommen werden,
vielleicht viel intensiver als bisher. Aber so wie zwei Menschen
eine letzte Verschiedenheit voneinander haben, die nicht
einfach in einem höheren Begriff oder einer Synthese aufge-
hoben werden kann, so 'gibt es auch große Individuen von
Kulturen, die sich nicht ohne weiteres durch ein wenig prakti-
sche Angleichung und Adaptation gegenseitig verständlich
machen können. Es ist zunächst ein wirklich profundes
theologisches Problem, ob es überhaupt ein und dieselbe
Kirche in verschiedenen Kulturkreisen geben könne. Wir Chri-
sten und Katholiken sind davon überzeugt.
Die Kirche muß in Kult, Recht und Glauben eine greifbare
Einheit haben. Wie das aber bei gleichzeitiger Respektierung
sehr tiefgreifender Differenzen zwischen den verschiedenen
Kulturen möglich ist, ist eine Frage, die noch nicht gelöst ist.
Heute fragen wir doch nach einem Pluralismus in den
Theologien und erkennen einen solchen an. Wir geben grund-
sätzlich zu — obwohl Rom natürlich immer wieder bremst -,
daß es verschiedene große Regionalkirchen geben kann und
muß, daß es verschiedene Liturgien geben kann, schließlich
und endlich sogar, daß es bei aller letzten Einheit im Kirchen-
recht doch sehr große Unterschiede im Recht der einzelnen
Teilkirchen geben kann.
ne)
Eu
Neue Aufgaben
! Vgl. W.Bühlmann, Wenn Gott zu allen Menschen geht. Für eine neue
Erfahrung der Auserwählten, Basel 1981; ders., Alle haben denselben Gott.
Begegnung mit den Menschen und Religionen Asiens, Frankfurt 1978; ders.,
Wo der Glaube lebt. Einblicke in die Lage der Weltkirche, Freiburg i.Br. 1974.
180
fremder Kulturen angeht, Matteo Ricci immer noch ein
Vorbild sein. Anfänge sind schon gemacht: In den Dekreten,
die sich auf die Ostkirche beziehen, ist eine echte Autonomie
und Verschiedenheit regionaler Kirchen als positive Eigentüm-
lichkeit der Kirche anerkannt. Es ist demnach gar kein katholi-
sches Ideal, die Kirche so zu uniformieren und zu homoge-
nisieren, daß es nur noch örtlich verschiedene Verwaltungen
eines kirchlichen Universalstaates gibt. In der ökumenischen
Frage stellt sich das Problem analog. Auch dort werden wir
nicht eine Kirche anstreben können, in der die bisherige
lateinisch-römisch-katholische Kirche die übrigen Kirchen der
Christenheit verschluckt und selber ohne jede innere Verän-
derung durch einen ausschließlich quantitativen Zuwachs zur
Kirche aller Christen wird. Die ökumenische Frage kann si-
cherlich nur — wenn überhaupt — gelöst werden, indem den
übrigen großen christlichen Kirchen ein genuines Recht als
Teilkirchen innerhalb der einen katholischen Kirche zuerkannt
wird.
Wir verfügen zweifelsohne innerhalb der römisch-katholi-
schen Kirche heute schon über eine große Erfahrung mit einem
relativ intensiven Pluralismus. Die lateinamerikanische Kirche
z.B. entwickelt eine Theologie der Befreiung, die vielleicht
nicht unmittelbar auf uns übertragen werden kann. In Deutsch-
land und in Westeuropa gibt es die verschiedensten theologi-
schen Grundströmungen.
Einheit in Christus
Papst Paul VI. hat einmal zu mir gesagt, der Pluralismus in der
Theologie dürfe nicht anarchisch werden. Das ist sicherlich
richtig. Wo aber fängt ein legitimer Pluralismus an, und wo
und wie grenzt er sich gegen einen anarchischen Pluralismus
ab? Diese Frage ist in der Praxis oft ungelöst und ungeklärt,
wenn man sie konkret stellt. So werden auch die Afrikaner
wünschen, allmählich eine afrikanische Theologie zu entwik-
keln. Die Frage wird sein, ob und wie diese ihre Eigentümlich-
181
keit haben und dennoch gleichzeitig eine legitime Theologie
innerhalb der einen Kirche sein kann. Vermutlich wird man
ehrlich zugeben müssen, daß sich diese verschiedenen
Theologien in mancher Hinsicht nicht adäquat verstehen
können. Denn wenn sie das könnten, läge im Grunde schon
wieder eine Synthese zwischen mehreren Theologien vor, und
ein Pluralismus wäre gar nicht mehr gegeben. Es muß also in
der Kirche bezüglich der Einheit des Rechts, der Theologie,
der Liturgie usw. eine Toleranz gelebt werden, in der jeder dem
anderen sagt: Ich verstehe dich im allerletzten nicht hundert-
prozentig, und trotzdem bist du mein Bruder in ein und dersel-
ben Kirche.
Ich glaube, daß diese Toleranz der letztlich nicht adäquat
verstehbaren Andersheit in der Kirche erst noch eingeübt
werden muß. Es dominiert immer noch folgende Einstellung:
Was ich am anderen nicht verstehe, nicht positiv mit meiner
Mentalität erfüllen kann, kann kirchlich nicht legitim sein.
Aber das stimmt eben nicht. Wenn wir uns fragen, wie denn
diese nicht synthetisierbaren Theologien dennoch in der einen
Kirche mit ihrem einen Glauben bestehen können, dann würde
ich meinen: Wir sind eins, weil wir alle getauft sind und uns
auf den einen Jesus als den Mittler unseres Heils beziehen, und
wir sind auch eins, weil wir eine rechtlich und liturgisch verfaß-
te Kommunikation untereinander aufrechterhalten. Mit diesem
Rahmen ist eine Einheit gegeben, in der eine Pluralität von
Mentalitäten zu ertragen ist und positiv gewertet werden kann.
Jeder Mensch begegnet doch dem anderen so, daß ein letzter
Rest von Fremdheit und Unverständlichkeit nicht beseitigt
werden kann. Wenn sich zwei Menschen restlos verstehen
würden, wären sie im Grunde genommen ein und derselbe
geworden, und das wäre nicht nur völlig unwirklich, sondern
auch höchst uninteressant. Zum Menschen gehört, daß er den
anderen annimmt a/s den irgendwie Unverstandenen, a/s den
Fremden, den bis zu einem gewissen Grad Befremdenden. Das
muß auch in der Kirche anerkannt und gelebt werden.
182
Grenzen der Toleranz
185
einmal ein konstitutives Moment der Praxis, also in unserem
Fall des Volksglaubens, selber ist. Aber diese allgemeinste
wissenschaftliche Grundlage für eine sachgemäße Beantwor-
tung unserer Grundfrage kann hier nicht weiter bedacht
werden.
187
tisch gelebter Glaube, Volksreligion usw. in ihrem Verhältnis
zueinander genauer zu bestimmen sein; eine grundsätzliche
Bedeutung der Volksreligion für die Theologie (und nicht nur
umgekehrt) dürfte dann jedoch eigentlich nicht mehr bestritten
werden. Dieser Überlegung muß später noch weiter nachge-
gangen werden.
Nicht nur von dem Begriff der Theologie als kirchlicher Wis-
senschaft, sondern auch vom Begriff der Volksreligion her ist
ein Brückenschlag sehr schwierig. Was ist mit «Volk» hier
gemeint? Sicher nicht einfach das «Volk Gottes» in seiner
institutionellen Verfaßtheit und Gesamtheit. Denn sonst würde
der Satz: Die Theologie hat eine wesentliche Bezogenheit auf
die Volksreligion, identisch sein mit dem Satz: Die Theologie
hat einen wesentlichen Bezug auf den Glauben der Kirche.
Diesen Satz kann oder könnte nur der bestreiten oder be-
zweifeln, der innerhalb des Glaubens und Glaubenslebens der
ganzen und einen Kirche zwei wesentlich voneinander unter-
scheidbare Wirklichkeiten annimmt: die reine, von oben kom-
mende Offenbarung Gottes, die als solche deutlich und sicher
von allem anderen abhebbar ist, und die menschliche Antwort
darauf, die von der Offenbarung als solcher, vom reinen Wort
Gottes eindeutig unterscheidbar ist und so auch Volksreligion
genannt werden könnte, auch wenn sie vom ganzen Volk
Gottes (als Summe aller Getauften und christlich Lebenden)
praktiziert würde. Da aber eine solche adäquate und eindeutig
festgelegte Unterscheidung zwischen der Offenbarung und
dem die Offenbarung annehmenden und lebenden Glauben
faktisch nicht durchgeführt werden kann, hat ein solcher
Begriff von (christlicher) Volksreligion wenig Sinn und
Nutzen.
Von Volksreligion zu sprechen hat somit wohl dann nur
eine Bedeutung, wenn mit dem Begriff «Volk» ein profan-
soziologisches Element eingeführt wird, so daß nicht von vorn-
188
herein und notwendig jedermann zu diesem Volk gezählt
werden muß, daß es mindestens erhebliche Differenzen in der
Zugehörigkeit zu diesem so verstandenen Volk gibt, daß
dementsprechend die Religion dieses Volkes nicht einfach von
vornherein oder im gleichen Maß die Religion aller in der
Kirche ist, daß endlich dennoch und entscheidend die Religion
des so verstandenen Volkes eine theologische Bedeutung, einen
in etwa wenigstens normativen und kreativen Einfluß auf die
Theologie als solche hat. Sehen wir zu, ob diese Postulate für
eine Volksreligion wenigstens grundsätzlich erfüllbar sind.
Was zunächst die soziologischen Bestimmungen angeht, die im
Begriff «Volk» gegeben sein müssen, so besteht keine grund-
sätzliche Schwierigkeit, auch nicht, wenn solches «Volk» in
der Kirche gegeben sein soll. Ja, für unsere theologische Über-
legung ist es sogar relativ gleichgültig, welche Bestimmungen
genauer namhaft gemacht werden. Das ist eine Sache der Gesell-
schaftswissenschaftler, ob solches «Volk» durch ein niedrige-
res Bildungsniveau, durch den Begriff der Masse, durch seine
wirtschaftliche Situation, durch seine Marginalität in der Ge-
samtgesellschaft, durch die geringe Möglichkeit, sich, sein
Denken und Wollen artikuliert in kulturellen Schöpfungen zu
objektivieren, durch den praktischen Ausschluß von der gesell-
schaftlichen Macht oder sonstwie bestimmt wird. Solche Be-
stimmungen schließen sich gegenseitig nicht notwendig aus; es
ist letztlich doch eine Sache der Terminologie, die festlegt,
welche von solchen denkbaren Bestimmungen im Begriff des
Volkes maßgebend sein soll. Auf jeden Fall aber gibt es solches
so bestimmtes «Volk» auch in der Kirche, weil diese Bestim-
mungen den Menschen auch anhaften und sie charakterisieren,
insofern sie Glieder der Kirche sind und in ihr leben und auch
auf das religöse Leben dieser Menschen Auswirkungen haben.
Es ist ja z.B. selbstverständlich, daß das verschiedene profane
Bildungsniveau auch in der Kirche gegeben ist und sich auf das
religiöse Leben dieser so bildungsmäßig verschiedenen Chri-
sten auswirkt. Es ist (ein anderes Beispiel) durch die Geschichte
nur zu deutlich bestätigt, daß der Unterschied im profanen
Machtpotential der einzelnen sich auch auf deren Stellung in
189
der Kirche auswirkt, obwohl das Evangelium und der Jakobus-
brief davor warnen.
Die Frage kann also eigentlich ernsthaft nur darauf abzielen,
ob das «Volk» in der Kirche (im Unterschied zur Kirche als
Volk Gottes) mit seiner Volksreligion in einem kreativen und
normativen Bezug zur (wissenschaftlichen) Theologie stehen
könne und solle. Es ist klar, daß, wenn diese Frage bejaht
werden soll, auch angegeben werden muß, in welchem ge-
naueren Sinn diese kreative und normative Bedeutung der
Volksreligion für die Theologie der Kirche überhaupt gedacht
werden darf. Denn es ist in einer Offenbarungstreligion, die eine
Initiative des welt- und geschichtsüberlegenen Gottes der Of-
fenbarung kennt, klar, daß Volk und Volksreligion für sich
allein nicht einfach erste und letzte Instanz der Theologie sein
kann.
192
angewiesen und rückverwiesen ist auf diese ursprünglichste
Offenbarung, die durch die «Salbung des Geistes» gegeben ist,
in der jeder von Gott selbst belehrt ist.
Dementsprechend sagt das Zweite Vatikanische Konzil im
Kirchendekret (Nr.35), daß Christus sein prophetisches Amt
nicht nur durch die Hierarchie mit ihrem Lehramt ausübe,
sondern auch durch die Laien, die durch den Glaubenssinn
ausgerüstet seien: «Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die
Salbung von dem Heiligen haben (vgl. ı Joh 2,20 u. 27), kann
im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft
macht sich durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen
Volkes dann kund, wenn sie «von den Bischöfen bis zu den
letzten gläubigen Laien» ihre allgemeine Übereinstimmung in
Sachen des Glaubens und der Sitten äußert. Durch jenen
Glaubenssinn nämlich, der vom Geist der Wahrheit geweckt
und genährt wird, hält das Gottesvolk unter der Leitung des
heiligen Lehramtes, in dessen treuer Gefolgschaft es nicht mehr
das Wort von Menschen, sondern wirklich das Wort Gottes
empfängt (vgl. ı Thess 2, 13), den einmal den Heiligen überge-
benen Glauben (vgl. Jud 3) unverlierbar fest. Durch ihn dringt
es mit rechtem Urteil immer tiefer in den Glauben ein und
wendet ihn im Leben voller an.» (Kirchenkonsitution Nr. 12)
Natürlich ist hier in dieser Konzilserklärung das ganze Volk
Gottes, das die Kirche ist, gemeint und nicht bloß das Volk in
der Kirche, das uns hier interessiert. Aber es muß das Gesagte
auch von diesem Volk gelten, weil und insofern es ein Teil des
Volkes ist, das mit der Kirche identisch ist, und weil man das
von der Kirche als Ganzer Gesagte nicht behaupten könnte,
würde man es schlechthin vom größten Teil dieser Kirche, vom
Volk in ihr, verneinen. Natürlich kann man das über den sensus
fidelium vom Konzil Gesagte vom Volk in der Kirche nur
sagen, insofern es ein Teil der Kirche ist und bleibt und in einer
lebendigen Verbindung mit den übrigen Teilen und Ämtern
der Kirche steht. Aber wenn man den zitierten Text des
Konzils genau liest, dann ist deutlich, daß dieser sensus
fidelium zwar in einer unlöslichen Verbindung mit Lehramt,
Schrift usw. stehen muß, aber nicht einfach eine schlechthin
123
von diesen anderen Größen abgeleitete Größe ist. Denn dieser
Glaubenssinn wird hergeleitet von dem Geist der Wahrheit, der
Salbung der Heiligen, die allen gegeben ist.
195
SÜDAMERIKANISCHE BASISGEMEINDEN IN
EINER EUROPÄISCHEN KIRCHE?
196
”
schen sind, die, jeder für sich, ihre religiösen Bedürfnisse von
einem Priester besorgen lassen; das geschieht vielleicht in einer
äußeren Ansammlung von Menschen, die man dann Gottes-
dienst nennt. Aber in einer solchen Pfarrgemeinde bei uns gibt
es eigentlich kaum einen inneren Zusammenhang unter den
Menschen. Sie sind in diesem Sinne eben dann auch keine
Basisgemeinde. Es hat allerdings in unseren Ländern in den
letzten Jahrzehnten oder Jahrhunderten merkwürdige Ersatz-
bildungen für diese Basisgemeinden, die mit einer richtigen
Pfarrei identisch sein müßten, gegeben. Es gab sogenannte
Standesvereine, Gesellenvereine, Müttervereine, Vereine
junger Christen in den verschiedenen Bünden. In solchen Ver-
einigungen gab es sehr oft so etwas, das von ferne doch einer
Basisgemeinde glich. Man kannte sich wirklich, man hielt
zusammen, man suchte in gemeinsamen Überlegungen und
Bestrebungen und organisatorischen Maßnahmen ein christli-
ches Leben gemeinsam zu realisieren. Man traf sich auch auf
gesellschaftlicher Ebene; das religiöse und das profane Leben
durchdrangen sich wenigstens bis zu einem gewissen Grad.
Kurz, diese Standesvereinigungen hatten so etwas, was eigent-
lich in einer Pfarrei verwirklicht werden müßte: das wirkliche,
gemeinsame christliche Leben, in dem jeder nach dem Evange-
lium versucht, auch des anderen Last mitzutragen; wo man
gemeinsam aus einem inneren Gemeinschaftsgefühl heraus
zusammen betet, arbeitet, die Fragen des Lebens zu lösen sucht.
Die Tatsache, daß es früher solche lebendige Standesvereine,
auch unter Umständen studentische Korporationen, Schüler-
vereinigungen gab, zeigt, daß auch die Christen der letzten
Jahrhunderte nicht ganz vergessen hatten, daß eine Pfarrei
eigentlich anders aussehen müßte als eine Stelle, in der ein
kirchenamtlicher Funktionär, Priester genannt, die religiösen
Bedürfnisse der einzelnen je für sich zu erfüllen sucht.
Schon diese schlichte Tatsache zeigt, daß offenbar so etwas
wie Basisgemeinden dasein müßte. Der Christ ist Christ, in-
sofern er auch Bruder seines Nächsten in einer christlichen
Gemeinschaft ist. Sonst fehlt ihm etwas Wesentliches an seinem
Christentum. Gemeinde muß realisiert werden am bestimmten,
197
konkreten Ort, in einem gemeinsamen Leben und darf nicht
bloß die Station sein, in der das Amt in der Kirche den reli-
giösen Bedürfnissen der vereinzelten Menschen Rechnung zu
tragen sucht. Die Christen müssen untereinander Kirche bilden
— natürlich immer auch in Verbindung mit dem Amt, mit den
Trägern eigentlich priesterlicher Funktionen durch einen
amtlich autorisierten Gottesdienst und durch Sakramen-
tenempfang. Aber eben darüber hinaus dadurch, daß sie selber
eine solche Kirche bilden, Kirche am Ort. Wenn sie das aber
tun, realisieren sie das, was mit Basisgemeinde eigentlich
gemeint ist.
2
wg
.
r
200
christlichen Gemeinde als solcher gegeben ist. Im süd-
amerikanischen Urwald wird es selbstverständlich sein, daß die
Nachbarsfrau die andere Nachbarsfrau, wenn sie krank ist und
das nächste Krankenhaus ein paar hundert Kilometer weit
entfernt ist, pflegt und für die Kinder der kranken Mutter
sorgt. Es ist in einer Gesellschaft, wo es Hungernde oder
vielleicht Verhungernde gibt, für die die profan organisierte
Gesellschaft nicht sorgt, selbstverständlich, daß hier christliche
Nächstenliebe dasein muß, die dafür sorgt, daß diese Menschen
nicht verhungern. Aber in einer Gesellschaft, wo es Arbeits-
losenunterstützung gibt, wo es Sozialrenten usw. gibt, sind
eben viele Funktionen von der profanen Gesellschaft übernom-
men, die nicht auch noch einmal von der christlichen Basisge-
meinde erfüllt zu werden brauchen.
Früher, im Mittelalter, waren ungefähr alle Schulen und alle
Krankenhäuser von kirchlicher Art. Es hat nun keinen Sinn,
wollten die Basisgemeinden heute wieder, um kirchlich echte
Gemeinden zu werden, die Funktionen in Schule und Gesund-
heitswesen zu übernehmen suchen, die heute die profane Ge-
sellschaft übernommen hat und vermutlich besser ausüben
kann, als wenn eine kleine Basisgemeinde sich darin versuchen
wollte. Es kann gewiß heute noch sinnvoll die eine oder andere,
eigentlich christliche Schule in der Trägerschaft eines Ordens
oder einer integrierten Gemeinde geben, aber das ändert nichts
an der Tatsache, daß der größte Teil der Schulen heute eben
vom profanen Staat verwaltet und getragen wird. In solchen
Dingen mittelalterliche Ideale wieder zu beleben, damit die
christlichen Gemeinden Aufgaben haben, das ist eine Utopie,
und nicht einmal eine gute und schöne.
201
im engsten Sinn zu sein? Oder müßten sie, weil sie gar keine
Betätigungsfelder anderer Art finden, nur Gemeinden sein, in
denen ausschließlich gebetet, das Evangelium verkündigt wird
und die Sakramente gespendet werden? Das ist das Dilemma,
vor dem bei uns eine Basisgemeinde steht. Dieses Dilemma
müßte unbedingt zugunsten von Basisgemeinden entschieden
werden, die mehr sind als nur Träger von Gebet, Kult, Sa-
krament und einer theoretischen Verkündigung des Evange-
liums. Ich bin der Meinung, daß eine Basisgemeinde nur Basis-
gemeinde sein kann, wenn sie über das abstrakt und rein
Religiöse hinaus eine Gemeinschaft von Menschen bildet, die
sich wirklich zueinander gehörend fühlen, die irgendwie in
einem wahren Sinn eine Familie, eine Gemeinde, ein Liebes-
bund, eine Einheit von wahrhaft christlich Glaubenden sind.
Diese Gemeinde soll eine Einheit sein, in der christliches
Leben, christliche Liebe nicht nur theoretisch verkündet,
sondern konkret praktiziert wird. Sonst gibt es keine Basisge-
meinden, und sie würden wieder zurückfallen in den Stil der
Pfarreien, wie wir ihn gerade durch Basisgemeinden zu über-
winden suchen. Damit ist das eigentliche Problem der Basisge-
meinden bei uns gegeben.
Gibt es Aufgaben und Vollzüge, die über den engsten Kreis
des abstrakt und theoretisch Religiösen hinausgehen und trotz-
dem nicht von den profanen Gesellschaften, ihren Organen und
Strukturen okkupiert sind? Ich meine, man müßte und könnte
diese Frage mit Ja beantworten. Natürlich braucht und darf
eine solche Basisgemeinde nicht für alle Bedürfnisse, Wünsche,
Bestrebungen, Lebensvollzüge eines Menschen von heute
autark werden wollen. Musik braucht nicht notwendigerweise
nur in dieser Basisgemeinde gemacht zu werden, es kann auch
ruhig einen Konzertbesuch geben, der nicht von einer Basisge-
meinde organisiert ist. Es gibt tausend Dinge einer heutigen
Erwachsenenbildung, die nicht gettohaft von einer Basisge-
meinde geboten werden müssen. Eine Basisgemeinde muß sich
von einer Sektengemeinde in diesen Dingen deutlich unter-
scheiden.
Eine Sekte ist ein religiöses Gebilde, das sich nicht nur von
202
religiösen Großorganisationen aus irgendwelchen Gründen
absetzt, sondern gleichsam autark alles für seine Glieder bieten
will. Da ist man immer und in allen Vollzügen des menschli-
chen Daseins unter sich, da fürchtet man den Windzug des
profanen Lebens, da sucht man im Grunde genommen ein
Ideal, das bis in unsere letzten Jahrzehnte doch sehr stark das
Leben der Kirche und der Frommen geprägt hat. Meine Groß-
mutter ist nicht, wenn sie ihre Romane haben wollte, zu einer
städtischen Bibliothek gegangen und auch nicht in einen
profanen Buchladen, sondern zur Bibliothek des Borromäus-
vereins. Die Bücher, die sie zu Weihnachten verschenkte,
waren auch verzeichnet und angeboten in einem Gabenver-
zeichnis des Borromäusvereins. Ich habe nichts gegen Pfarrbi-
bliotheken; warum soll es sie nicht geben, wenn sie vernünftig
geführt werden und vielleicht auch echten religiösen Bedürfnis-
sen entgegenkommen, die eine heutige profane Bibliothek
nicht erfüllt? Aber das Ideal einer für alle Lebensbereiche und
Lebensvollzüge autarken sektiererischen Gemeinde soll eine
Basisgemeinde von heute und morgen nicht zu verwirklichen
suchen. Das wäre etwas Verkehrtes.
suchen.
CHRISTLICHER PESSIMISMUS?
Was Paulus in 2 Kor 4,8 sagt, soll Leitwort sein für die
folgenden Überlegungen. Zur Schilderung seiner Situation als
Apostel, von deren menschlich-irdischer Seite her, verwendet
Paulus in dialektischer Gegenüberstellung die Worte
änopoduevor AAN obn Edanopoduevoı.
Man kann diese Worte auf die verschiedenste Weise überset-
zen: «Ohne Ausweg, doch nicht am Ende» — «Zweifelnd, aber
nicht verzweifelt» — «Wir wissen nicht, wo aus noch ein, aber
den Weg verlieren wir dennoch nicht» — «Immer wissen wir
nicht weiter, aber wir verzweifeln nicht» — «Ratlos und doch
nicht verzweifelt» — «In Verlegenheit, doch nicht in Verzweif-
lung» — «In Not, aber nicht in Verzweiflung» — «Weglos,
doch nicht ausweglos». Das sind so einige Übersetzungen in
heutigen deutschen Ausgaben des Neuen Testaments. Sie
zeigen, wie schwer die Worte des Apostels übersetzt werden
können. Jedenfalls aber charakterisiert Paulus mit diesen
Worten seine Situation als Apostel; er empfindet diese so
bezeichnete Situation als dauernde Eigentümlichkeit seines
Lebens und nicht nur als vorübergehenden Zustand. Wir
können, ohne dies hier näher begründen zu wollen, sagen, daß
damit auch eine Wesenseigentümlichkeit des christlichen
Lebens immer und überall ausgesagt ist. Der 2. Teil dieser
dialektischen Einheit, die im menschlichen Leben durch das
exaporoumenoi gegeben ist, ist besonders dunkel, weil im selben
Brief 1,8 der Apostel von sich auszusagen scheint, was er 4, 8
von sich verneint. Jedenfalls wird damit deutlich, daß die im
ersten Teil von 4,8 ausgesagte Ausweglosigkeit radikal ernst-
zunehmen ist. Der Christ ist nach Paulus, so könnte man sagen,
der radikale Aporetiker, so daß es eben die Frage ist, wie diese
existentielle Aporetik durch alle Dimensionen des Menschen
hindurch gesehen und anerkannt werden könne, ohne sie abzu-
schaffen, und wie sie dennoch noch einmal umfaßt und erlöst
ist durch eben das, was das Christliche ausmacht. Diese Frage
sei der Gegenstand unserer Überlegungen.
206
Die Grundsituation des Menschen
207
#
209
überzeugend weiß, wie man es eigentlich machen müsse, das
ist nicht gerade eine Überzeugung der konkreten Kirche, die
sehr im Vordergrund stünde.
Auch der Mensch des Christentums ist ein Mensch einer unauf-
hebbaren Aporetik in allen Dimensionen seiner Existenz. Die
Kirche kann und will ihm eigentlich nicht aus dieser Aporetik
heraushelfen. Sie muß ihm sogar helfen, diese seine wahre
Situation allseitiger Aporie einzugestehen, und muß sich selber
hüten, einer letztlich irrealen und unchristlichen Verdrängung
dieses Pessimismus Vorschub zu leisten. Ist damit aber nicht
auch eine erste, wenn auch nicht einzige und letzte Aufgabe
einer katholischen Akademie gegeben? Eine solche Akademie
braucht kein Ort billiger Kassandrarufe zu sein. Schon des-
wegen im allerletzten nicht, weil dieser Pessimismus keine
Legitimation einer faulen und billigen Resignation ist, sondern
die Situation deutet und annimmt, in der realistisch gehandelt,
gekämpft und partielle Siege errungen und partielle Nieder-
lagen nüchtern und tapfer hingenommen werden können. Aber
es ist wirklich eine Aufgabe einer solchen Akademie, für einen
realistischen Pessimismus, für eine Einsicht in die aporetische
Situation des Menschen einzutreten. Müßte sie nicht allen Par-
teien in einer Gesellschaft sagen, daß keine von ihnen ein
eindeutiges Rezept für eine Seligkeit in der Gesellschaft hat,
daß alle Parteien lügen, wenn sie so tun, als ob so etwas möglich
sei, daß es feige und unchristlich ist, wenn Staatsmänner nicht
bereit sind, ihren Irrtum, den sie doch auch begangen haben
können, ehrlich einzugestehen? Müßte eine Akademie nicht ein
Ort sein, wo ehrlich und nüchtern auf die Aporien in der
kirchlichen Botschaft reflektiert wird, wo das Gewissen der
Kirche der Sünder sich artikulieren kann und nicht nur in
kirchlicher Euphorie die Herrlichkeit der Kirche gerühmt
wird? Wenn nun einmal die kirchliche Theologie gar nicht
mehr jene neuscholastische Homogenität aufweisen kann, wie
210
sie in der Pianischen Epoche gelebt wurde, muß dann nicht
wenigstens in einer Akademie so etwas deutlich werden
können? Muß nicht in einer Akademie die Tendenz abgewehrt
werden, die mir heute gegeben zu sein scheint, Einheit in der
Theologie dort vortäuschen zu wollen, wo sie ehrlicherweise
nicht bestehen kann, bloß um eine militante und schlagfertige
Kirche der bösen Welt gegenüber haben zu können? Muß eine
Akademie nicht heute eine Stätte sein, in der für Menschenrech-
te auch in der Kirche selbst eingetreten wird, weil es gar nicht
selbstverständlich ist, daß solche in der Kirche immer und
überall respektiert werden? Nicht alle Unruhe ist vom Bösen,
nicht jeder Zweifel ist zersetzend, nicht jeder Streit ist schlech-
ter als ein Frieden einer Kirchhofsruhe, nicht jedes Aufbegeh-
ren von unten nach oben ist schlecht. Schlecht wäre es, wenn
Amtsträger in der Kirche nie den Mut hätten, einzugestehen,
daß sie trotz bestem Willen und Gewissenhaftigkeit sich geirrt
haben. Mir scheint es z.B. bedauerlich zu sein, daß praktisch
(vielleicht mit einer Ausnahme) die lehramtlichen Fehlgriffe
unter PiusX. und auch später nie offiziell zurückgenommen
worden sind. Eine katholische Akademie sollte durchaus eine
Stätte einer eingestandenen und durchgehaltenen pessimisti-
schen Aporetik in allen Dimensionen des Menschen und der
Kirche sein.
Daß dadurch kein Freibrief gegeben ist für ein ewiges
Meckern über Kirche und Gesellschaft, für die Bestreitung des
Amtes in der Kirche und der Gewalten in der Gesellschaft und
deren legitime Entscheidungen, ist selbstverständlich. Denn
der wahre Aporetiker und Pessimist kann gerade tolerant und
geduldig sein gegenüber einer jetzt bestehenden Situation, weil
er weiß, daß auch eine vielleicht wünschenswerte andere Situa-
tion, für die er ruhig kämpfen kann, auch kein Paradies und
reine Seligkeit wäre. Man braucht nicht einen Papst zu
glorifizieren, um in Frieden und Gehorsam mit ihm zu leben.
en” +
Wir sind aber mit dem bisher Gesagten noch gar nicht bei der
Frage angekommen, die uns das dialektische Doppelwort des
Apostels stellt. Denn Paulus sagt uns nicht nur, daß wir auch
als Christen in dieser Welt aus unseren Aporien nie herauskom-
men, sie sehen und aushalten müssen, sondern daß wir dabei
trotzdem diejenigen sind, die 0u& exaporoumenoi sind. Man kann
zwar sagen, daß wir Christen eben die auf Gott Hoffenden, die
in aller Not und Angst durch den Geist Gottes Befreiten und
Getrösteten sind, daß das Christentum die Botschaft der
Freude, des Mutes und der tapferen Zuversicht ist. Das alles
ist wahr und bedeutet für uns Christen gewiß die heilige
Aufgabe — für deren Erfüllung wir vor Gottes Gericht Rechen-
schaft geben müssen -, froh, tapfer, zuversichtlich —, auch für
diese unsere Geschichte selbst zu kämpfen und auch durch
unsere brüderliche Gemeinschaft, unsere Selbstlosigkeit,
unsere Bereitschaft zu teilen, unsere Friedfertigkeit usw. eine
Vorahnung des ewigen Reiches Gottes schon in unserer Ge-
schichte zu bewerkstelligen. Aber damit scheint mir das eigent-
liche Problem der Koexistenz der beiden Existentialien des
Menschen, die Paulus zusammenbindet, noch nicht gesehen
und bewältigt zu sein. Wie kann man ein pessimistischer
Aporetiker sein, die Weglosigkeit unserer Existenz sehen und
annehmen, wie kann diese Haltung bleiben und als jetzt un-
überholbar anerkannt werden, und man doch darüber hinaus
sein, wie Paulus erklärt. Heben nicht das eine und das andere
sich wechselseitig auf? Ist der Christ nicht der, der nur, so das
überhaupt ihm möglich wäre, vor der unbesiegbaren Finsternis
des Daseins kapituliert und diese Kapitulation ehrlich einge-
steht? Oder hebt er, wenn er mehr sein will, im Grunde genom-
men siegreich seine aporetische Situation auf, um schon jetzt
der im Grunde bereits triumphierende Sieger über alle Ausweg-
losigkeiten seines Lebens zu sein? Bleibt dem Christen wirklich
die Möglichkeit, weder einfach zu verzweifeln noch in einem
falschen Pseudooptimismus die bittere Ausweglosigkeit seines
Daseins zu verschleiern? Ich meine, diese Frage ist theoretisch
212
nicht leicht zu beantworten, und dennoch hat sie und ihre
Antwort eine an sich grundlegende Bedeutung für das christli-
che Leben, auch wenn diese Frage und ihre Beantwortung
meist nur in der mehr oder weniger unreflektierten Praxis des
Lebens geschieht, und auch wenn die Frage über diese christli-
che Aporetik selbst noch einmal unter deren Gesetz fällt und.
darum für unsere Reflexion gar nicht schlechthin durch-
schaubar beantwortet werden kann.
Die Koexistenz dieser beiden Existentialien, die sich gegen-
seitig nicht aufheben dürfen, liegt offenbar begründet in der
fundamentalen Differenz zwischen einem Wissen, das alle Men-
schen immer und überall aus eigener Macht erreichen können,
und dem Wissen, das nur der Glaubende von Gott allein und
seiner Gnade her empfängt. Weil diese beiden Erkenntnis-
weisen und das je in ihnen Gewußte fundamental nicht ver-
gleichbar sind, ist eine Koexistenz dieser beiden Existentialien
möglich, kann ein Christ sich in der Weglosigkeit seiner Exi-
stenz erfahren und illusionslos annehmen und doch gerade
darin der Befreite, Getröstete und (in gewissem Sinn schon)
Angekommene sein.
Der Christ läßt sich von Gott selbst durch seine Gnade
getrost in den Abgrund der Unbegreiflichkeit Gottes hineinfal-
len und erfährt, daß diese letzte und bleibende Aporetik der
Unbegreiflichkeit Gottes selber seine wahre Vollendung,
Freiheit und vergebende Seligkeit ist. Er erlebt den immer
neuen und in seinem Leben immer radikaler werdenden Sturz
in den Abgrund Gottes als seine radikalste Aporetik; er ist
immer noch daran, diese Finsternis zu erfahren, in einem gewis-
sen Sinn bis in die grausame Absurdität des Todes hinein
immer mehr und immer bitterer, und sieht dabei diese Erfah-
rung bestätigt durch das Schicksal Jesu, und gleichzeitig erfährt
er in einer geheimnisvollen Paradoxie, daß eben diese Erfah-
rung selber, wenn durch Gott selbst zugeschickt, die Erfahrung
der Ankunft Gottes selbst bei ihm ist. Die Aporetik und ihre
Aufgehobenheit durch Gott in seiner Gnade sind nicht eigent-
lich zwei hintereinander kommende Phasen menschlicher FExi-
stenz, wobei die Phase der Aufhebung die Aporetik der Exi-
213
stenz schlechthin aufheben würde, sondern die Aufhebung, das
ouk exaporoumenoi, ist als angenommene und begnadete die
wirkliche Wahrheit der Apotetik selber. Denn wenn es wahr
ist, daß wir einmal Gott schauen, wie er selber ist, unmittelbar
von Angesicht zu Angesicht, und wenn er gerade da gesehen
wird als das namenlose, unumgreifbare Geheimnis, das nur in
Liebe, also in einem letzten Befreitsein von sich selbst, ange-
nommen und ausgehalten werden kann, dann ist gerade die
Vollendung selber, christlich gesehen, der Höhepunkt der
Aporetik der menschlichen Existenz, demgegenüber alle unsere
Aporien, unser Nichtwissen, unsere Enttäuschungen usf. nur
kleine Vorboten und Angelte jener Aporetik sind, die in dem
weglosen Verlieren seiner selbst in Liebe in dem weiselosen
Gott besteht. In der Seligkeit der Annahme des unendlichen
Geheimnisses, also der absoluten Aporie, vergehen alle unsere
partikulären Aporien, Ausweglosigkeiten und Enttäuschun-
gen, und umgekehrt: Wenn wir dieses Ziel unserer Existenz
erwarten und annehmen, sind diese gegenwärtigen Aporien
nicht aufgehoben und abgeschafft, aber umfaßt, und wir sind
befreit, weil sie nicht mehr unsere Herren sind, sondern der
Anlaß und die Vermittlung zu dieser Annahme des unbegreifli-
chen Geheimnisses, das uns sich selber gibt und macht, daß wir
es liebend annehmen.
Innerhalb dieser letzten Erlöstheit und Befreitheit von allen
knechtenden Mächten und Gewalten bleibt die Welt noch so,
wie sie ist: die Aufgabe, die Herausforderung, der Ort des
Kampfes mit seinen Siegen und Niederlagen in einer Folge und
Mischung, über die wir nie eigentlich verfügen können,
sondern sie uns in ihrer eigenen Aporetik zuschicken lassen.
Innerhalb dieser letzten Freiheit und sogar Heiterkeit dessen,
für den Nacht und Tag, Sieg und Untergang nochmals von
einer überwesentlichen Wirklichkeit Gottes, der für uns ist,
umfangen sind, scheint alles beim alten zu bleiben. Wir bleiben
die aporoumenoi. Und selbst, daß wir mehr als solche, also erlöste
und befreite aporoumenoi sind, entzieht sich uns geheimnisvoll
(oft oder immer, ich weiß es nicht) noch einmal. Aber auch
dann und so bleibt es dabei, daß unsere Aporie erlöst ist.
214
LEHRE UND LEHRAMT
FAST
oe Pe Re
. a? ne: 108
ww. vn A re a:
Ki,
|
N
u: fi vw Fü
Ei.
l ee
ee.
5,
Be: Re ”s
Zn
Be RE
bez a ‚ i © r . 2 Pr % w 377 2 un ee SR
u
i N 5 n s
%Y
>
220
oe
u
224
” 5 2 5 an
228
Die geistesgeschichtliche Situation ist heute nun einmal
anders als früher. Früher dachte man mit einfacherem Ent-
weder-Oder und in Sätzen, für die ein absoluter Assens zumin-
dest präsumiert wurde. Heute präsumiert man eher, daß ein
schlichtes Entweder-Oder von vornherein falsch sei, und bejaht
Sätze normalerweise bedingt bis zum immer auch denkbaren
Beweis des Gegenteils. Die heutige Mentalität darf durchaus
nicht verabsolutiert werden, da dies ja nochmals gegen ihr
eigenes Wesen wäre. Aber man kann bei einer doch relativ auch
berechtigten heutigen Mentalität fragen, ob man heute die
Differenzen unter den christlichen Konfessionen im selben Stil
weiterführen müsse, in dem sie unter einer anderen Mentalität
einst formuliert wurden und formuliert werden mußten.
Wird man im Ernst heute noch wie in den Zeiten der Refor-
mation mit einem Entweder-Oder bezüglich der Zahl der Sa-
kramente rechnen müssen? Könnten nicht unter Einkal-
kulierung der heutigen Mentalität die Differenzen um das
I. Vatikanum bereinigt werden? Zum Beispiel, wenn der
Zusammenhang der päpstlichen Entscheidung mit dem
Glauben der ganzen Kirche deutlicher gemacht, wenn die ge-
schichtliche Bedingtheit auch einer päpstlichen Definition un-
befangener und deutlicher ins Bewußtsein gehoben würde usw.
Wenn es eine Eigenständigkeit der großen Regionalkirchen in
der katholischen Kirche gibt, wenn das doch auch eine Eigen-
ständigkeit ihrer Theologien bedeutet, die nicht einfach die
römische Theologie repetieren, dann müßte es doch auch so
etwas bezüglich der wieder mit Rom unierten Kirchen der
Reformation geben können. Was das genauer bedeutet, müßte
natürlich erst geklärt werden. Dabei würde dann zweifellos
auch der faktische Glaube der Menschen in den Kirchen zu
bedenken sein.
Eine letzte Konsequenz aus unseren Überlegungen sei noch
ausdrücklich angemerkt. Jeder wirklich christliche und heil-
schaffende Glaube muß ein Moment eines absoluten Assenses
in sich haben. Dieser Assens hat auch als absoluter (gegenüber
der heilschaffenden und rettenden Unbegreiflichkeit Gottes)
ein aposteriorisches Moment der Vermittlung in sich. Aber,
220
wie wir oben angedeutet haben, dieses aposteriorische Moment
der Vermittlung ist im Lauf der Heilsgeschichte unübersehbar
variabel gewesen. Dieses Moment ist auch nach Ausweis der
empirischen Tatsachen in der katholischen Kirche nicht immer
und überall die infallible Autorität des kirchlichen Lehramtes.
Diese wird oft bezweifelt oder verdrängt, und der Glaubende
hat ganz andere inhaltliche Vermittlungen zu seinem absoluten
Assens zu der rettenden Selbstmitteilung Gottes, etwa das
Christus-Ereignis oder eine unbedingte Hoffnung usw. Darum
müßte die kirchliche Verkündigung sich fragen, welches
konkret in unserer heutigen Zeit das wirksamste und nächst-
liegende Moment einer solchen Vermittlung sein könnte. In der
Verkündigung dürfte heute nicht wahllos einfach alles ge-
predigt werden, was zur ganzen Fülle des Glaubens der Amts-
kirche gehört. Es müßten Akzente gesetzt werden. Und diese
Akzente müßten dort liegen, wo der faktische Glaube oder eine
wirklich reale Glaubensmöglichkeit der Menschen von heute
liegt. Auch von daher hätte der faktische Glaube der Menschen
eine (richtig verstandene) «normative» Bedeutung für den
amtlichen Glauben der Kirche und dessen Verkündigung.
Dieser faktische Glaube muß gewiß nicht das Ende der Ver-
kündigung sein, aber er müßte ihren Ausgangspunkt bilden.
Das ist zwar eine Binsenwahrheit, aber eine sehr wichtige, die
vielfach gar nicht beachtet wird.
230
7
231
amts zu verteidigen (durch den Nachweis ihrer Herkunft aus
den letzten Offenbarungsquellen) und zu erklären, soweit dies
noch für eine bestimmte geistesgeschichtliche und gesellschaft-
liche Situation notwendig sei.
Die Theologen dagegen bemerken bei solchen Erklärungen
des Lehramts, daß diese (bei allem zugegebenen Beistand des
Geistes der Kirche) auch von Theologen in theologischer
Arbeit verfaßt seien und darum die geschichtliche menschliche
Bedingtheit ihrer konkreten Verfasser an sich trügen, und zwar
oft schr deutlich; auch solche Erklärungen müßten nochmals
in einem vielleicht sehr komplizierten Auslegungsverfahren
hinterfragt werden, weil sie gar nicht so «klar» seien, wie die
Verfasser von ihrem unreflektierten Verstehenshorizont aus
meinen; durch eine solche gar nicht vermeidbare — wenn auch
römischen Theologen oft unangenehme — Interpretation ent-
stünden dann neue Formulierungen, die ebenso richtig seien
wie die bisherigen, aber vielleicht in Rom auf wenig Verständ-
nis stoßen. Die Theologen betonen, es sei gar nicht wahr, daß
ihre Arbeit bei den kirchenamtlichen Erklärungen anfange und
ende; in tausend Fällen seien die kirchenamtlichen Erklärungen
das Ergebnis theologischer Arbeit, die nicht von vornherein
schon amtlich gesteuert worden ist; die Theologie könne und
müsse durchaus vieles fragen, was nicht von vornherein schon
durch amtliche Erklärungen abgedeckt sei, und solche kir-
chenamtlich nicht abgesegnete Theologie könne für die Aner-
kennung des christlichen Glaubens in der Welt und für das
praktische Leben von größter Bedeutung sein. Die Theologen
erklären, daß sie für diese Arbeit einen Raum der Freiheit und
des nicht von vornherein kontrollierten Forschens nötig
haben; man könne solche Arbeit nicht tun, wenn man von
vornherein und immer dem Risiko des Irrtums ausweiche,
wenn man die Theologie uniformieren wolle und einen
legitimen Pluralismus als unmöglich oder gefährlich unterdrük-
ke.
Diese Forderungen des Lehramts und der Theologen brau-
chen sich nicht zu widersprechen. Das Mißliche ist nur, daß
eine praktische Vereinbarkeit dieser Forderungen nicht leicht
232
var J f
HF I
2
Theologen müßt verstehen, daß wir das bisher nicht genügend
getan haben und so den Anschein erweckten, alles, was wir
sagen, habe eine Letztverbindlichkeit fern aller Irrttumsmög-
lichkeit. Zwar wird in jeder Ekklesiologie mit unserer still-
schweigenden Billigung das Gegenteil gesagt, aber meistens
nur da, und das bleibt im Bewußtsein und dem Gewissen der
Gläubigen oft unwirksam. Was die Deutsche Bischofskon-
ferenz in ihrer Königsteiner Erklärung im Jahr 1968 diesbezüg-
lich gesagt hat, fand leider wenig Aufmerksamkeit und Nach-
ahmung. So erwecken amtliche Erklärungen von uns nur zu
leicht den Eindruck, es könne aus Glaubensgründen nicht der
leiseste Zweifel an der Wahrheit unserer Erklärung möglich
sein und geduldet werden. Hier sollten wir unsere Praxis
ändern und nicht nur die jeweilige wahre Verbindlichkeit (ver-
schiedenen Grades natürlich) feststellen, sondern auch den
genaueren Grad und die Relativität dieser Verbindlichkeit. Vor
einigen Jahrzehnten hat das Lehramt auch geboten, im
theologischen Unterricht bei euren Thesen die theologische
Qualifikation ausdrücklich anzumerken. Warum sollten wir
nicht Ähnliches tun, wenn wir lehramtliche Erklärungen erlas-
sen?
Ihr Theologen müßtet aber auch mithelfen, die Vorausset-
zungen dafür zu schaffen, daß wir in Zukunft anders vorgehen
können. Wenn nämlich ihr oder die anderen Gläubigen in
Theorie und Praxis einfach voraussetzt, daß eine nicht-
definitorische, bloß authentische Erklärung im Grund keine
ernsthafte Bedeutung habe, sondern ihr sie milde lächelnd ad
acta legt, dann dürft ihr euch nicht wundern, daß wir bei
unseren Erklärungen so tun, als ob sie irreformabel seien. Ihr
müßt also zur Schaffung eines geistigen Klimas mitwirken, in
dem authentische, wenn auch nicht letztverbindliche Erklärun-
gen wirklich eine Bedeutung in der Kirche haben.
234
ehrlich beschrieben worden sind und die auch durch allgemeine
Regeln nicht genau festgelegt werden können. Wann soll ein
Theologe gegen eine solche ja nicht irreformable Erklärung
rasch und ausdrücklich, gewissermaßen frontal Einspruch
erheben? Wann und wie könnte es zum Beruf eines Theologen
gehören, umgekehrt (wofür eigentlich eine Präsumtion besteht)
eine römische Erklärung ausdrücklich zu begründen und zu
verteidigen? Wo könnte ein «Silentium obsequiosum», ein
gehorsames Schweigen, am Platz sein? Wo und wann wäre es
am Platz, eine römische Erklärung mit der gebührenden Sorg-
falt zu untersuchen, zu würdigen, darin zu unterscheiden und
auf diese Weise Korrekturen oder mögliche Interpretationen
anzumelden, die wir in Rom nicht ausdrücklich gesehen haben?
Wo wäre es angezeigt, die Thematik einer solchen römischen
Erklärung in einen bisher von uns nicht reflektierten größeren
Erkenntnishorizont zu stellen und zu kurzsichtige Perspektiven
grundsätzlich zu überholen, so daß wir, die wir ja auch lernen
wollen, verstehen können, daß das von uns eigentlich Gemein-
te auch dann erhalten bleibt, wenn man den unmittelbaren
Wortlaut der Erklärung fallenläßt?
Mit solchen Differenzierungen wollen wir ehrlich und unbe-
fangen rechnen und es nicht von vornherein denen übelneh-
men, die unseren vorläufigen Entscheidungen nicht restlos
zustimmen. Es kann durchaus wünschenswert sein, daß eine
Periode eines «Silentium obsequiosum» nicht zu lange dauert,
bis man zu einer ausdrücklichen Revisionsforderung kommt.
(Der jetzige Papst spricht unbefangen vom Jahwisten, während
wir vor siebzig Jahren mit einem katholischen Exegeten nicht
gerade glimpflich umgegangen wären, der dies zu sagen gewagt
hätte.) Im konkreten Fall gibt es jedoch keine Regeln allge-
meiner und doch leicht handhabbarer Art, um zu beurteilen, ob
eine Reaktion sachgemäß und mit genügendem Respekt vor
dem kirchlichen Lehramt geschieht; bei einem solchen Urteil
könnt ihr und können wir irren, zumal ein solches Urteil auch
eine geistige Ermessensfrage ist. Wir dürfen nicht davon ausge-
hen, daß unsere Reaktionen auf eure Stellungnahmen entweder
über jeden denkbaren Zweifel erhaben sein müssen oder
23)
Ba
ei.
236
Letztverbindliche Entscheidungen
237,
unvereinbar, obwohl er bisher das Gegenteil meinte? Woher.
und in welcher Zeitspanne muß er zu dieser neuen Über-
zeugung kommen? Woher haben wir im Amt das Recht, eine
solche Erklärung zu fordern, wo doch selbstverständlich auch
die Möglichkeit besteht, daß wir uns bei der Feststellung einer
solchen Unvereinbarkeit irren, da diese Feststellung ja nicht
zum Inhalt des geoffenbarten Glaubens gehört? Darf ein in
dieser Frage Gemaßregelter sagen, er bejahe das betreffende
Dogma, akzeptiere auch die kirchliche Legitimität seiner For-
mulierungen, nehme die damit gegebene Sprachregelung (die
ja bei einem Dogma gegeben und nicht einfachhin mit seinem
Inhalt identisch ist) für seine eigene Theologie als normativ an,
behalte sich aber darüber hinaus seine theologische Meinungs-
freiheit vor, auch wenn sie von den römischen Instanzen in der
betreffenden Frage nicht sehr gern gesehen wird? Über all diese
Dinge haben wir hier in Rom noch nicht genügend nachge-
dacht und sind darum in Versuchung, euch einfach in einem
altmodisch feudalistischen Stil von früher zu behandeln, und
wir haben uns nicht genau genug überlegt, was wir im Ernst
auch bei eigentlichen Glaubensfragen von euch verlangen
können und was nicht.
Wir in Rom können ja die Gedanken eines Theologen nicht
genau nachprüfen, können nicht feststellen, ob in dem kon-
kreten Bewußtseinskomplex, durch den hindurch er zu glauben
bereit ist, der aber unvermeidlich ein Amalgam aus dogmatisch
richtigen Sätzen und deren notwendig subjektivem Verständnis
ist, die dogmatisch verpflichtende Inhaltlichkeit wirklich vor-
handen ist oder nicht schließlich doch, ohne nachgewiesen
werden zu können, durch eigenmächtige Interpretationen sach-
lich wieder aufgehoben wird. Die Kirche hat überdies in vielen
anderen Belangen schon gelernt, zwischen einer öffentlichen
und einer privaten Dimension beim einzelnen zu unterscheiden
und sich vor Grenzüberschreitungen in die private Sphäre zu
hüten. Das alles müßten wir in Rom genauer bedenken und
Konsequenzen ziehen hinsichtlich dessen, was wir von einem
zensurierten Theologen fair und ehrlich verlangen können. In
dieser Hinsicht sollten wir bessere Formeln finden; sie sollten
238
d
\
er),
Theologe nicht frontal ein Dogma leugnet) auch bei Interpreta-
tionen des Dogmas all das, was für nicht-definitorische Er-
klärungen des Lehramts gilt, weil der Konflikt nicht zwischen
dem Dogma und seiner Leugnung besteht, sondern zwischen
unserer und eurer Interpretation, bei der beide Seiten nicht
unfehlbar sind.
Dabei sollten wir in Rom uns deutlicher zu Bewußtsein
bringen, daß eine solche interpretierende Arbeit heute sogar in
einem viel größeren Umfang erforderlich wäre, als ihr faktisch
leistet und als unserer theologischen Bequemlichkeit lieb ist.
Wenn heute Grunddogmen des Christentums glaubwürdig
auch in einem nicht traditionell christlichen Milieu verkündigt
werden sollen, dann verlangt dies in einem viel ausgedehnteren
und intensiveren Maß eine Neuinterpretation des Dogmas, als
es eure Theologie schon leistet. Was soll sich ein Durch-
schnittschrist unter drei Personen in Gott vorstellen? (Ich
fürchte, er stellt sich eine Häresie als Glaubenssatz vor!) Wenn
es eine Dogmengeschichte gibt und diese eben noch nicht zu
Ende ist, steht es nun einmal fest, daß die traditionellen For-
mulierungen der klassischen Christologie nicht schlechthin un-
überholbar sind und das damit Gemeinte auch anders ausgesagt
werden kann.
Ich habt gewiß nicht in allen Punkten denkerisch eingeholt,
was mit einer evolutiven Weltkonzeption, mit einer universalen
Heilsgeschichte, mit einer positiven Heilsbedeutung nicht-
christlicher Religionen, mit einer positiven Interpretation der
Spaltungen in der Christenheit, mit der heutigen säkularen
Welt und vielem anderen als eure Aufgabe gegeben ist. Das
Problem eines Pluralismus in der Theologie, der kontinental
verschiedenen Theologien von Afrika, Lateinamerika, Ostasien
kommt noch hinzu. Damit sind Aufgaben gegeben, die euch
klein und bescheiden machen müßten und uns höchstens Wohl-
wollen euch gegenüber gebieten. Wir sollten eher beunruhigt
sein, wenn wir von eurer Theologie nicht beunruhigt werden,
wenn das Dogma mehr als sakrosankte Unberührbarkeit denn
als lebendige Kraft erscheint.
Auch mit einer Definition ist die Geschichte der Wahrheit
240
u
nicht zu Ende. Wir sind in Rom nicht bloß zum Erlaß von
Verurteilungen berufen, sondern müssen dabei unvermeidlich
positive Aussagen machen, also auch theologische Arbeit im
engeren Sinn leisten. Der Papst kann nicht immer seine Enzy-
kliken allein verfassen und sollte es im allgemeinen auch nicht
(schon Bellarmin hat den Papst davor gewarnt, durch private
Theologie seine Entscheidungen vorbereiten zu wollen). Dabei
sind wir in Rom vielmehr auf eure Mitarbeit angewiesen.
Warum führt die Internationale Theologenkommission ein so
kümmerliches Dasein neben der Glaubenskongregation, deren
Chef sich schon ausdrücklich geweigert hat, diesen interna-
tionalen Theologenkreis zur Beratung heranzuziehen? Die
Theologen, die der Glaubenskongregation angehören, müßten -
einen internationalen Ruf haben, und es müßte bekannt sein,
welche von ihnen bei einer bestimmten Entscheidung mitge-
wirkt haben. Man kann doch hoffentlich in der Kirche soviel
Mannesmut erwarten.
Das erste, was wir von unserer Seite als Theologen zu sagen
haben, ist also die Anerkennung unserer Pflicht gegenüber dem
römischen Lehramt. Selbstverständlich haben wir Theologen
eine eigenständige Funktion und eine pastorale Verantwortung
in der Kirche. Wir sind gewiß nicht bloß die Handlanger des
Lehramts und der kirchlichen Behörden. Aber das Lehramt ist
für uns Theologen eine verbindliche Größe, und wir versehen
unsere Aufgabe innerhalb der hierarchischen, römisch-katholi-
schen Kirche und deren Ordnungen. Diese Aufgabe reicht
gewiß über die bloße apologetische und interpretierende Unter-
stützung des Lehramts hinaus, schon deshalb, weil die Ent-
wicklung des Gesamtglaubensbewußtseins der Kirche nicht
einfach adäquat vom Lehramt gesteuert werden kann. Aber
diese Aufgabe kann nur in einem grundsätzlichen Einverneh-
men mit dem kirchlichen Lehramt wahrgenommen. werden.
Wir Theologen sollten bei den sich rasch ins Uferlose ver-
243
mehrenden Erklärungen über das Verhältnis von Lehramt und
Theologie nicht nur gerade noch in einem Satz dieses Lehramt
formal anerkennen, um dann emphatisch und emotional lang
und breit unsere Freiheit zu reklamieren; wir sollten auch etwas
genauer von dieser Respektierung des Lehramts reden. Es ist
grundsätzlich keine Anmaßung des Lehramts, wenn es uns
zensuriert; so etwas ist auch nicht von vornherein und grund-
sätzlich eine Bedrohung der Freiheit unserer theologischen
Forschung. So fließend und differenziert das Verhältnis zwi-
schen Glaube und Glaubensverkündigung einerseits und wis-
senschaftlicher Theologie andererseits sein mag - eine
Theologie, die zur Verkündigung und zum Glaubensvollzug
in der Kirche keine Beziehung hätte, wäre keine christliche
Theologie mehr, sondern höchstens profane Religionswissen-
schaft. Darum kann es auch keine eindeutig abgrenzbaren
Bezirke und Methoden der wissenschaftlichen Theologie
geben, die schlechterdings außerhalb der Kompetenz des Lehr-
amts lägen.
Man hat schon betont, daß ein Unterschied obwalte zwischen
Veröffentlichungen wissenschaftlicher Fachtheologie und Ver-
öffentlichungen, die sich an ein breites Publikum wenden.
Abgesehen davon, daß heute eine solche Unterscheidung
schwer durchführbar ist, weil die Massenmedien alle über alles
unterrichten, so hat sie doch einen Sinn. und empfiehlt mit
Recht eine größere Toleranz des Lehramts gegenüber der fach-
theologischen Literatur, besonders wenn diese mit der zu wis-
senschaftlichen Forschungen gehörenden Vorläufigkeit und
Bedingtheit denkt und schreibt. Aber solange Theologie nicht
zu bloßer Religionswissenschaft degeneriert, sondern innerhalb
des Glaubensbewußtseins der Kirche lebt und denkt, können
auch wissenschaftliche theologische Veröffentlichungen und
Zeitschriften die Aufsicht des Lehramts nicht grundsätzlich
ablehnen.
Freilich ist nun an die Adresse dieses kirchlichen Lehramts
zu sagen, daß uns Theologen in vieler Hinsicht nicht recht klar
ist, was dieser Respekt des Lehramts und unsere Normiertheit
durch das Lehramt uns konkret abverlangt und was nicht. Daß
244
diese Normiertheit Stufen und Grade verschiedener Art hat,
ergibt sich schon aus der kirchenamtlichen Lehre, daß die
Erklärungen des kirchlichen Lehramts nicht alle den gleichen
Verbindlichkeitsgrad beanspruchen. Damit ist selbstverständ-
lich auch eine Differenzierung in unserer Reaktion auf solche
Erklärungen gegeben. Aber wie diese Differenziertheit konkret
aussehen darf und wie nicht, darüber läßt uns Theologen das
Lehramt doch sehr im unklaren bzw. stellt Normen auf, die in
ihrer Undifferenziertheit entweder falsch sind oder uns nicht
helfen.
247
eh a re
3
248
r% H 1 )
Im Vatikan
Lieber Peppino! Rom, den ...
Jetzt ist Dein alter Freund Papst geworden. Wer von uns
beiden hätte das gedacht, als wir in den 60er Jahren miteinander
in Rom studierten. Du wirst erschrocken sein, als Du die
1 Vgl. K. Rahner, Der Traum von der Kirche, in: Schriften zur Theologie
XIV, Zürich 1980, 355 — 367.
249
X
Ich bin z. B. noch lange nicht davon überzeugt, daß der unge-
heure bürokratische Apparat, der in den letzten zwei Jahrhun-
derten sich hier in Rom entwickelt hat, einfach zwingend sich
aus dem Dogma vom Universalprimat des Papstes ableiten läßt.
Wenn der Heilige Geist (hoffentlich) nicht nur dem Papst hilft
(wenn auch leider, wie wir einst gelernt haben, meist nur durch
eine assistentia per se negativa), sondern überall in seiner
Kirche, dann muß doch nicht alles, was von Gutem und
Heiligem und Vernünftigem in der Kirche wachsen will, erst
einmal durch eine römische Behörde abgesegnet sein, bevor es
leben und wachsen kann. Ich meine, der Papst und seine Behör-
den dürften Gottes Vorsehung nachahmen und oft mit einer
assistentia per se negativa arbeiten, d.h. Verkehrtes verhindern,
aber nicht meinen, es dürfe oder könne nur wachsen, was sie
selbst gepflanzt haben.
Ich will überlegen, ob man nicht nur die Priester in den
römischen Behörden verwenden solle, die ı5 Jahre erfolgreiche
252
Tätigkeit in der normalen Seelsorge nachweisen können. Dann
würde sicher weniger von der oft beklagten Arroganz und
Selbstsicherheit vorhanden sein, die die römischen «General-
stäbler» (sprich: Kurienbeamten) gegenüber den «Frontof-
fizieren» (sprich: Bischöfen) an den Tag legen. Was da in Rom
konkret verändert werden kann und muß, weiß ich natürlich
noch nicht genau, auch wenn das franziskanische Ideal meines
Peppinos vom armen und demütigen Papst in der Nachfolge
Jesu mich vermutlich nicht veranlassen wird, aus dem Vatikan
auszuziehen in eine Dachwohnung in Trastevere oder auf die
Philippinen meinen Sitz zu verlegen, wie es in unserer Studen-
tenzeit Bühlmann schon gedacht hatte. Der bürokratische
Apparat der Kurie aber kann gewiß sehr vereinfacht werden,
einfach darum, weil eine Kirche, die nicht mehr die Kirche
Europas mit ein paar Außenbezirken ist, sondern eine Weltkir-
che geworden ist, einfach nicht so zentralistisch wie bisher
«regiert» werden kann. Ich gehöre zu denen, die Verantwor-
tung und Macht gerne anderen überlassen, zu denen, die nicht
alles selber verstehen und selber tun wollen. Was das genau
heißt, das muß sich, wie gesagt, freilich noch herausstellen.
Ich meine, auch ein Papst habe das Recht, ein normaler armer
Mensch, ein angefochten Glaubender, ein einzelner unter vielen
zu sein. Und das auch unbefangen — demütig, wenn Du willst
— merken zu lassen. Wir beide haben einst Papstgeschichte
nüchtern und ehrlich studiert. Peppino, wieviel Schreckliches,
Törichtes, Kurzsichtiges, Rückständiges ist da doch passiert,
auch wenn man dazu immer denken und sagen soll, daß es so
die für uns unbegreifliche Fügung des ewigen Gottes war,
dessen Geheimkämmerer auch der Papst nicht ist. Natürlich
werden wir die Schrecklichkeiten und Dummheiten früherer
Zeiten nicht mehr wiederholen. Aber wie soll ich nicht fürch-
ten, daß ich in meinem Amt nicht andere Dummheiten begehe,
auch bei gutem Willen und ehrlichem Bemühen? Die Men-
schen, und also auch die Päpste, erfüllen doch ihre Aufgaben
immer schlecht, wir wären ja sonst keine armen Sünder und
endlichen Kreaturen, die sich mühsam durch die Finsternis der
Geschichte vorantappen. Aber auch wenn ich keinem meiner
255
Vorgänger oder wenigstens meiner letzten Vorgänger einen
Mangel an Demut und Bescheidenheit unterstelle, so meine ich
doch, daß ein Papst heute und morgen diese kritische Selbstein-
schätzung auch nach außen deutlicher machen dürfe, als dies
bisher üblich war. Die Großen in der Welt- und Kirchenge-
schichte hatten früher offenbar die in gewisser Hinsicht realisti-
sche Vorstellung, daß die Autorität, die sie mit Recht in An-
spruch nahmen, Schaden leide, wenn man vor den «Unter-
tanen» merken lasse, daß man auch nur ein Mensch sei und
Fehler mache. Erst nach seinem Tod durften die Kirchenge-
schichtsschreiber an einem Papst Fehler, Mißgriffe, Rückstän-
digkeiten entdecken. Wenn ich nun aber davon überzeugt bin,
daß ich auch als Papst ein Mensch bleibe und Fehler - vielleicht
sogar massiver Art — machen kann und wohl auch machen
werde, warum sollte ich so etwas nicht auch schon zu meinen
Lebzeiten eingestehen dürfen? Ist die Mentalität der Menschen,
auf die es wirklich ankommt, heute nicht so, daß eine Autorität
gewinnt und nicht Schaden leidet, wenn ihr Träger greifbar
und deutlich mit solchen Möglichkeiten eines armen, sündigen
und unvermeidlich beschränkten Menschen rechnet und dies
auch merken läßt? Vorläufig wenigstens bin ich gewillt, auch
in meiner unmittelbaren Umgebung hörbare Diskussionen
zuzulassen, zuzuhören und unter Umständen auch eines Bes-
seren belehrt zu werden und das nüchtern einzugestehen. Ich
möchte auch als Papst noch etwas dazulernen, und die Leute
sollen ruhig merken, daß der Papst irren kann, Fehler macht,
einseitig informiert ist, falsche Mitarbeiter auswählen kann.
Das alles ist selbstverständlich, und ich glaube, daß kein Papst
neuerer Zeit im Ernst jemals daran gezweifelt hat. Aber warum
sollen solche Selbstverständlichkeiten verborgen und verdeckt
bleiben? Petrus hat sich ja von Paulus ins Angesicht wider-
stehen lassen, und ich nehme an, daß Petrus zugab, Paulus habe
mit seinem Protest recht gehabt. So etwas darf sich doch auch
ein Papst heute erlauben. Ich jedenfalls nehme dieses Recht in
Anspruch und fürchte nicht, dadurch an der Autorität Einbuße
zu erleiden, die in Anspruch zu nehmen mir nun einmal aufer-
legt ist.
254
Pontifikat der Bescheidenheit als Ausgleich
Peppino, ich muß Dir noch etwas anderes sagen. Ich werde
kein großer Papst werden. Dazu fehlt mir zuviel. Das weißt Du
selbst.Wir haben uns früher nichts vorgemacht, aber das
schadet nichts. Ich werde deshalb keine Minderwertigkeits-
komplexe haben, wenn ich neben den großen Päpsten des
20. Jahrhunderts mich recht bescheiden ausnehmen werde. Ich
finde das nämlich providentiell. Mir kommt vor, daß diese
Päpste durch ihre Größe in der Kirche auch eine Wirkung
hervorgebracht haben, die sie vermutlich gar nicht beabsichtig-
ten, die aber ihre bedenklichen Seiten hat und die ich durch
mein weniger bedeutsames Pontifikat ausgleichen werde. Ist es
nicht so? Haben diese großen Päpste nicht unwillkürlich in der
Kirche eine Mentalität erzeugt, die die Funktion des Papstes
überschätzt, die er sowohl vom Dogma wie vom Durchschnitt
der Papstgeschichte her haben muß? Ist es nicht in dieser
Mentalität so, als ob ein Papst der Größte in der Kirche in jeder
Beziehung sein müsse? Eine Instanz, von der alle Impulse in
der Kirche auszugehen haben, ein Lehrer, für den alle Denker
und Theologen daneben nur kleine Handlanger sind, ein
Heiliger und ein Prophet, ein Mensch, der durch seine be-
zaubernde Menschlichkeit alle in seinen Bann zwingt, ein
großer Führer, der sein Jahrhundert prägt und neben dem alle
Staatsmänner und sonstigen weltlichen Größen verblassen, ein
Pontifex, dem sich alle Bischöfe wie kleine Beamte ihrem
König ehrfurchtsvoll nahen, um sein Wort und seine Weisung
gehorsam entgegenzunehmen? Peppino, ein solcher Papst
werde ich nicht werden und halte dies auch gar nicht für nötig.
Ein Papst hat seine ganz genau begrenzte Aufgabe in der
Kirche, begrenzt trotz seiner universellen Jurisdiktion und
seiner Lehrvollmacht nach dem Ersten Vatikanum. Diese Voll-
macht werde ich wahrnehmen. Auch das nur in den Grenzen,
die mir durch die Begrenztheit meines eigenen Wesens vorge-
geben sind. Das, aber auch nicht mehr. Ich werde in der Kirche
nicht der Heiligste sein. Vor Gott bin ich weniger als die
Heiligen, die es auch heute noch in der Kirche gibt, die
25)
schweigenden Beter, die mystisch Verzückten, die in den
Kerkern der Feinde Christi und der Kirche glaubend Unterge-
henden, die selbstlos Liebenden, wie es einst die Teresa von
Kalkutta war, die unbekannten und unbelohnten Helden des
Alltags, der Pflicht und des Verzichtes. Es kann doch kein
Mensch leugnen, daß auch ein Innozenz II. vor Franz von
Assisi verblaßt und die Pius-Päpste der beiden letzten Jahrhun-
derte zurücktreten vor einem Pfarrer von Ars oder der Therese
von Lisieux. Man kann natürlich sagen, es würden so Größen
miteinander verglichen, die inkommensurabel sind. Aber nicht
nur vor Gottes ewigem Gericht, sondern auch im Leben der
Kirche sind solche Menschen wie die Heiligen, auch die großen
Theologen wie ein Thomas von Aquin oder ein Newman,
bedeutsamer als die meisten Päpste, und erst recht als ich es sein
werde. Es gibt in der Kirche viele Charismen, und auch ein
Papst hat nicht alle selber. Wenn man im allerletzten nur die
eigenen Charismen wirklich ganz verstehen kann, muß sich
auch ein Papst sagen, daß er nicht alles, was in der Kirche lebt,
wirklich ganz würdigen kann, daß nur Gott selbst und auch
kein Papst an dem Ort steht, wo alles Gute und Heilige in der
Kirche wie eine vollendete Symphonie erklingt. Und darum
schadet es nichts, wenn durch mein Pontifikat eine gewisse
Korrektur in der Mentalität der frommen Christen eintritt, die
von den Päpsten letztlich zu Unrecht erwarten, was sie von
ihren Heiligen und großen Geistern in der Kirche erhalten
können und vielleicht von sich selber verlangen müßten.
Welcher Christ und vielleicht auch welcher Papst denkt beim
Vaterunser daran, daß er auch das Ende des Papsttums erbittet,
wenn er in ungeduldiger Hoffnung um das Kommen des
Ewigen Reiches Gottes betet? Ein kleiner Papst kann auch
providentiell sein.
Ich gestehe Dir, daß ich mich dennoch für den realen Fort-
schritt in der ökumenischen Frage verantwortlich fühle und
Gottes Gericht fürchte, wenn ich in dieser Sache nicht das
Äußerste tun werde, das mir möglich ist. Im ganzen Jahrhun-
dert, das nun hinter uns liegt, wurde von allen Seiten beteuert,
daß die Kirchen nicht das Recht hätten, in der ökumenischen
256
Aufgabe einfach so weiterzumachen wie seit der Trennung von
Ost und West und seit der Reformation. Man kann sagen, es
sei im letzten halben Jahrhundert und besonders seit dem
Zweiten Vatikanum in der ökumenischen Sache ungeheuer viel
geschehen, und ich will wahrhaftig niemandem da Verdienste
absprechen. Aber man kann auch sagen: Wir sind nicht recht
weitergekommen. Denn die großen Kirchen sind immer noch
voneinander getrennt, und daran ändert letztlich auch die
größer gewordene Nähe unter den Kirchen nichts. Ich frage
mich verzweifelt, ob das so bleiben muß. Natürlich hängt die
Einheit, auf die alle Christen verpflichtet sind, nicht nur von
Rom ab. Aber ich frage mich, ob man hier bei uns nicht mehr
tun könnte, auch wenn man bisher der Überzeugung war, man
habe alles getan, was möglich ist. Ich weiß nicht recht, wie es
weitergehen könnte. Ich bin mir darüber nicht klar, aber ich
werde auch ehrlich sagen, daß ich es nicht bin, und andere
fragen, wo sie neue Möglichkeiten sehen, weiterzukommen.
Ich bin entschlossen zum Mut eines ökumenischen Probabilis-
mus, d.h. ich fühle mich in dieser Frage zu allen Maßnahmen
und Schritten verpflichtet, die mir vorgeschlagen werden,
wenn kein eindeutiges Veto meines Glaubensgewissens gegen
solche Maßnahmen und Schritte besteht. In dieser Frage muß
man hart an die äußerste Grenze des theologisch Möglichen
gehen. Der Tutiorismus des Wagnisses ist geboten. Warum
z.B. sollte man an Einheit des Glaubens mehr verlangen, als
wir faktisch von den Menschen heute innerhalb der römisch-
katholischen Kirche fordern? Warum sollten nicht die hi-
storisch gewachsenen christlichen Kirchen innerhalb der einen
Kirche auf demselben Territorium als Teilkirchen und par-
tikuläre Riten weiterbestehen dürfen? Warum sollte ich nicht
ausdrücklich erklären dürfen, daß ich und die kommenden
Päpste keine Kathedralentscheidung vornehmen werden außer
im deutlichen und transparenten Einvernehmen mit dem Ge-
samtepiskopat der ganzen Kirche, zu der auch die anderen
Kirchen als bestehenbleibende Teilkirchen gehören werden?
Haben Pius IX. und Pius XI. bei solchen Entscheidungen
nicht so gehandelt? Und warum könnte man eine solche Hand-
#)7
lungsweise nicht auch ausdrücklich als gültige Norm betrach-
ten und erklären? Könnte man den Führern der Kirchen der
Reformation nicht ausdrücklich und feierlich zusichern, daß
diese Kirchen in der einen Kirche mindestens soviel Selbstän-
digkeit und eigenes Profil von ihrer Geschichte her behalten
werden, wie es Rom doch den Teilkirchen des Ostens zuge-
steht? Es muß einfach in der ökumenischen Frage weitergehen
können; wenn ich allen Menschen guten Willen und ehrliche
Absichten und Offenheit für den Heiligen Geist zubillige, dann
darf ich einfach nicht der Meinung sein, es sei «einstweilen»
«leider» nichts zu machen.
260
"|
Guter und getreuer Peppino, ich will Dir etwas sagen. Ich
hoffe, daß ich in meinem Pontifikat drei Dinge (natürlich neben
vielen anderen) nicht vergesse: erszens, daß zwei Millionen
Jahre lang die Menschen ohne ein Papsttum den ewigen Gott
suchen mußten und ihn finden konnten. Das ist eine Selbstver-
ständlichkeit, denn das Papsttum ist nur am «Ende der Zeiten»
nach Jesus Christus denkbar. Aber diese Selbstverständlichkeit
ist doch für einen Papst fundamental bedenkenswert. Die alten
Möglichkeiten, Gott zu finden, sind ja — genaugenommen —
durch das Papsttum nicht abgeschafft, sondern gerade über-
höht und radikalisiert. Die Theologen sollten genauer darüber
nachdenken, wie ein Kopfjäger in der Steinzeit, der den Kopf
seines getöteten Gegners anbohrte, mit Gott, dem ewigen
Leben - und dies in Jesus Christus und nicht an diesem vor-
bei —, zu tun haben konnte. Die Theologen sollten es sich nicht
zu billig machen mit dieser Frage durch den Hinweis auf das
Zweite Vatikanum, das von den «Gott allein bekannten
Wegen» für diese Frage spricht. Schließlich werde ja auch ich
nur gerettet auf solchen nur Gott bekannten Wegen und darf
und muß über sie dennoch nachdenken. Und die Menschen von
heute lassen sich von der nur in Jesus Christus allein gegebenen
Heilsmöglichkeit nur dann überzeugen, wenn sie einigermaßen
261
verstehen können, wie diese Möglichkeit auch für die Men-
schen vor Christus gegeben sein kann.
Ich möchte zweitens nie vergessen, daß es auch heute unzäh-
lige Menschen gibt, für die — sogar oft in einer ihr Gewissen
auf Tod und Leben fordernden Weise — dieses Papsttum nicht
existiert: die Milliarde Chinesen, die Menschen, die in Gesell-
schaften leben, in denen der Atheismus Staatsreligion ist, die
einige hundert Millionen Moslems, die Millionen von Christen,
die getauft sind, Jesus Christus als ihren Herrn und Heiland
bekennen und doch vom Papst nichts wissen wollen, die
übrigen Menschen, die wir «Heiden» zu nennen pflegen, die
vielen Katholiken, die faktisch, wenn vielleicht auch nicht
ausdrücklich, kein positives Verhältnis zum Papsttum haben.
Und doch habe ich auch in dieser heilsgeschichtlichen Endzeit,
in der das Papsttum existiert, das Recht und die Pflicht, zu
hoffen und sogar in meinem Verhalten zu präsumieren, daß alle
diese Menschen dennoch den Gott Jesu Christi, in dem alles
lebt und sich bewegt, finden und als ihr ewiges Ziel erreichen.
Wenn dem so ist, dann ist bei aller objektiv gegebenen Ver-
bindlichkeit des Papsttums doch in der Hierarchie der Wahr-
heiten dieses Papsttum nicht das Höchste und nicht das Fun-
damentalste. Es bedeutet eine Wirklichkeit und Wahrheit, die
abgeleiteterweise nur der erreichen kann, der Gott und Jesus
Christus schon gefunden hat, und darum ist es auch möglich,
daß unzählige Menschen, die Gott und darüber hinaus auch
Jesus Christus finden, ohne ihre persönliche Schuld diese Ab-
leitung nicht vollziehen können, ja sogar vielleicht sich davon
überzeugt halten, eine solche Ableitbarkeit des Papsttums aus
ursprünglicherem Glaubensvollzug in ihrer Existenz sei gar
nicht möglich und ihnen verboten. Wie bescheiden, wie vor-
sichtig und milde muß also ein Papst dieser Welt gegenüber-
treten, für die das Papsttum entweder unbekannt ist oder höch-
stens eine seltsame Zufälligkeit in der Geschichte bedeutet.
Ein Drittes muß mein Auftreten als Papst in der Welt mitbe-
stimmen: Der Papst hat die letzte Heilswahrheit, die alle Men-
schen betrifft, vor der Welt zu bezeugen. Aber er darf doch bei
dieser Verkündigung des Evangeliums nicht den Eindruck
262
erwecken, er meine, mit seiner Botschaft seien alle Probleme
gelöst oder lösbar, die die Menschen in ihrem privaten und
öffentlichen Leben bewegen. Ich kann keinem Mann sagen,
welche bestimmte Frau er heiraten soll, obwohl das für diesen
für Zeit und Ewigkeit bedeutsam ist. Wir beide haben in
unserem Studium in den 60er Jahren doch gemerkt, wie viele
Fragen höchst realer und kapitaler Art die Gesellschaftslehre
der Kirche gar nicht eindeutig beantworten kann, sondern sie
der profanen Vernunft und dem Experiment der Geschichte
überlassen muß. Es gibt, obwohl die Menschen mit brennen-
dem Interesse fragen, tausend und abertausend Fragen in den
Geisteswissenschaften, den Naturwissenschaften, den Gesell-
schaftswissenschaften, auf die die Kirche keine Antwort geben
kann. Ich zweifle in keiner Weise daran, daß die christliche
Botschaft von Gott und dem ewigen Leben in Jesus Christus,
wenn sie wirklich ernst verkündet und lebendig angenommen
wird, auch von sehr großer, kreativer Bedeutung für dieses
irdische Leben ist, für den einzelnen und für die Gesellschaft
bei all den Aufgaben, die diese im letzten selber lösen müssen.
Aber das ändert nichts daran, daß auch ein Papst mit seiner
Botschaft der Ewigkeit, wenn es radikal konkret werden muß,
die Welt Gott, seiner unerforschlichen Gnade und der ge-
schichtlichen Freiheit der Menschen anvertrauen muß und
keine Rezepte hat, die man nur möglichst genau ausführen
müßte, damit eitel Friede und Glück in der Welt entsteht.
Papsttum ist bei all seiner Bedeutung für Kirche und Welt
eine partikuläre Größe in einem Konzert und Streit der Welt,
die nur Gott allein durchschaut und lenkt. Das sind natürlich
an sich Selbstverständlichkeiten, die hoffentlich nie ein Papst
bezweifelt hat. Aber ich werde mich ängstlich hüten, in meinem
Gebaren und meinem Reden auch nur von ferne den Eindruck
zu erwecken, ich vergäße jemals diese Selbstverständlichkeiten;
ich werde leise und bescheiden reden. Ich werde, wenn ich die
auch für das konkrete Leben fundamental bedeutsame Wahr-
heit des Evangeliums den Menschen anbiete, sie immer gleich-
zeitig in einem wahren Dialog fragen, wie konkret diese Wahr-
heit in die Wirklichkeit ihres Lebens übersetzt werden könne,
263
was ich ja auch nicht von vornherein und eindeutig wissen
kann.
264
Sakrament für die ganze Kirche vollzieht? Wir leben im Ende
der Zeiten, auch wenn dieses Ende uhrzeitlich noch unabsehbar
lang dauern sollte. (Wer weiß, ob es wirklich noch lange dauert,
wo doch die Menschheit jetzt die Möglichkeit eines kollektiven
Selbstmordes erworben hat.) Jedenfalls ist «das Ende der
Zeiten bereits zu uns gekommen, und die Erneuerung der Welt
ist unwiderruflich schon begründet» (ein Wort des Zweiten
Vatikanums, über das die Theologen zu wenig nachdenken).
Diese Unwiderruflichkeit des wahren und seligen Ausgangs der
Weltgeschichte, der in der Mitteilung des absoluten Gottes an
die Kreatur besteht und durch den gekreuzigten und auferstan-
denen Jesus unwiderruflich festgemacht ist, ist doch das, wofür
das Papsttum da ist, was es letztlich und endgültig zu bezeugen
hat, woher es seine Aufgabe und Vollmacht ableitet. Und weil
diese Botschaft nicht mehr in der Welt verstummen kann und
weil diese Botschaft, weil das Kommen des unendlichen und
unbegreiflichen Gottes gar nicht überboten werden kann, also
unüberholbar ist, ist diese erst endzeitliche Botschaft auch die
Verheißung, daß die Pforten des Todes innerhalb dieser
Endzeit das Papsttum nicht überwältigen werden, bis der Herr
kommt, der auch dieses Papsttum beendigen wird. Die Bot-
schaft und der Bote werden bleiben. Darum ist es eine letztlich
doch sekundäre Frage, wie viele Menschen den als legitimen
Boten anerkennen werden, der auf jeden Fall eine Botschaft
ausrichtet, die auch das Heil derer proklamiert, die den Boten
selber nicht meinen anerkennen zu dürfen. Darum, meine ich,
muß mich die Frage der innerweltlich greifbaren Erfolge oder
Mißerfolge des Papsttums innerhalb meines Pontifikats nicht
sonderlich berühren. Mein Pontifikat wird nicht sehr glorreich
werden. Dafür fehlen bei mir selber die Voraussetzungen, und
Gott hat ja nicht die Pflicht, immer und in jedem Fall die
Unzulänglichkeiten derer zu kompensieren, die seine ewige
Botschaft stotternd und unzulänglich, aber wahr, ausrichten.
Peppino, ich meine, was im 14. Kapitel bei Mt von Petrus
erzählt wird, ist für das Papsttum und für mich ebensowichtig
wie die Texte in der Schrift, die man in dieser Sache zu zitieren
pflegt. Ich bin ein Petrus, der über die Wasser ohne Balken auf
265
seinen Herrn zuzugehen versucht, der immer angstvoll zu
versinken meint, den Jesus immer aufs neue an die Hand nimmt
und in das Schiff mitnimmt, das wirklich am Gestade der
Ewigkeit ankommt.
Lieber Peppino, ich muß noch einmal einen neuen Anlauf
nehmen, damit es mir leichter wird, auch wenn der Brief heute
nicht mehr fertig werden sollte. Wenn es heute nicht mehr geht,
mache ich eben morgen weiter. Hör zu: Mein Kopf ist leer, so
wie damals, als wir Examina machen mußten an der Gregoria-
na. Ich muß gestehen, ich weiß eigentlich nicht mehr darüber,
was ein Papst ist, als damals, als wir in der Ekklesiologie die
Lehre vom Papsttum durchnahmen, und natürlich weiß ich
darüber hinaus auch noch das, was ich davon in den letzten
Jahrzehnten praktisch erlebt habe, auch wenn in dieser Erfah-
rung selbst noch einmal ein Problem steckt, mit dem ich nicht
so leicht fertig werde. Ich merke jetzt an mir selber, was das
Zweite Vatikanum vom Papst auch sagt, daß er nämlich keine
neuen Offenbarungen empfängt. Auch wenn dies sehr merklich
der Fall bei mir ist, so hoffe ich freilich doch auf den Beistand
Gottes. Nur macht sich dieser wohl meist nur sehr diskret
geltend, so daß man ihn nur schr schwer von menschlichen
Überlegungen und Antrieben unterscheiden kann. Ich weiß
also vom Papsttum nicht mehr als Du. Aber ich weiß, daß auch
die Lehre vom Papsttum wie alle anderen Glaubenswahrheiten
von all den Dunkelheiten umgeben ist, die ja letztlich auch bei
aller möglichst klaren Begrifflichkeit in das Geheimnis Gottes
münden. Ich weiß, daß auch die Lehre vom Papsttum ihre
Gültigkeit in dieser Weltzeit so bewahrt wie die anderen
Glaubenswahrheiten, obwohl die Aussage über alle diese in
Begriffen und Vorstellungen geschieht, die irgendwie — natür-
lich in verschiedenster Weise — geschichtlich bedingt sind. Ich
weiß, daß vermutlich alle diese Glaubensaussagen und so auch
die über das Papsttum, weil in der Geschichte stehend, immer
mit Amalgamen (wie wir es früher nannten) verbunden sind,
die als nicht zur geoffenbarten Sache selber gehörend erst
später erkannt und dann abgestoßen werden (freilich so, daß
das eigentlich Gemeinte und auch Gesagte dann wieder unter
266
s
267
schreiben, einen solchen alten Knaben wie Dich noch auf-
zunehmen. Die volle Vollmacht des Papstes ist zweifellos be-
grenzt. Ich bezweifle zwar nicht, daß ich im gegebenen Fall
auch die Kompetenz der Kompetenz habe (ich brauche Dir
nicht zu erklären, was das ist); aber wenn dieser volle Jurisdik-
tionsprimat seine Grenzen hat vom göttlichen und vom
menschlichen Recht her, und wenn einem Papst sogar aus
sittlichen Gründen etwas selbstverständlich verboten sein kann,
von dem man nicht nachweisen kann, daß es auch außerhalb
seiner rechtlichen Kompetenz liegt, wo sind dann genau die
Grenzen dieses vollen Jurisdiktionsprimats? Ich könnte doch
z.B. wohl gewiß nicht den unierten Ostkirchen eine Bestellung
der Bischöfe in der Art aufzwingen, wie sie in der lateinischen
Kirche üblich geworden ist. Ich könnte doch nicht das Latein
als Kirchensprache auch den Orientalen vorschreiben, so wie
die Moslems in der ganzen Welt den Koran arabisch rezitieren
müssen. Ich kann doch nicht nach freiem Belieben einem
Orden, der sich letztlich durch freien Entschluß seiner Mit-
glieder von unten bildet, jedwede denkbare (an sich vielleicht
vernünftige) Regelung ihres Lebens auferlegen, an die dessen
Mitglieder bei ihrem Eintritt niemals gedacht haben. (Ich kann
den Jesuitenorden — gleichgültig, ob er mir sympathisch ist
oder nicht - nicht zu einem Orden unbeschuhter Priester umge-
stalten.)
Natürlich sind das Selbstverständlichkeiten, die im großen
und ganzen gewiß in der Kirchengeschichte schon deswegen
respektiert wurden, weil ihr Gegenteil einfach undurchführbar
war. Aber das schließt doch nicht aus, daß in konkreten Fällen
ein Papst doch, wenn auch guten Glaubens, die Grenze seiner
Vollmachten überschreitet. Und darum würde ich eigentlich
von unseren Kanonisten gerne genauer erfahren, wie solche
Grenzen nicht nur so ganz im allgemeinen, sondern auch
konkret verlaufen. Solche Grenzen gibt es, wie gesagt, sowohl
bezüglich der Regierung wie auch der Lehrautorität des
Papstes, Grenzen, die faktisch auch verletzt werden können.
Konnte und mußte die Kirche erst unter Pius XI. auf den
Kirchenstaat verzichten? Hat unserem, von uns beiden heißge-
268
liebten Thomas von Aquin der weise Leo XIH. nicht eine
Position und Funktion in der katholischen Theologie zuge-
schrieben, die nun einmal ein einzelner Theologe gar nicht
haben kann? Hat man nicht unter Berufung auf den päpstlichen
Primat in dieser oder jener Sache den Orientalen Normen
aufzuerlegen gesucht, die — schlicht und ehrlich gesehen — zu
solchen Grenzüberschreitungen gehören? Dir fallen gewiß
noch genügend andere Beispiele ein. Ich will solche Grenzüber-
schreitungen nicht begehen. Ich will klar sehen, soweit das
möglich ist, wo solche Grenzen liegen, die ich nicht über-
schreiten darf. Und darum würde ich wünschen, daß die Dog-
matiker und die Kanonisten über diese Frage genauer als bisher
nachdenken. Ich werde ihnen nicht gleich über den Mund
fahren, wenn sie das laut tun und vielleicht selber Grenzüber-
schreitungen ihrer Art sich zuschulden kommen lassen.
In dieser Frage habe ich auch noch eine weitere Sorge, auch
wenn ich mir sagen darf (Gott sei Dank), daß sie in meinem
Pontifikat, das sehr kurz sein wird, nicht viel aktueller werden
wird, als sie jetzt ist. Die Begriffe, mit denen die Aufgaben eines
Papstes in der Regierung der Kirche beschrieben werden,
stammen doch aus unserem eigenen Kultur- und Geschichts-
raum. Und darum ist zu vermuten, daß diese Begriffe, ohne daß
wir es bemerken, mit gewissen Amalgamen verbunden sind, die
gar nicht wirklich zur geoffenbarten Sache selbst gehören, aber
von uns gar nicht reflex ausgeschieden werden können. Daß so
etwas auch praktische Konsequenzen hat, ist selbstverständlich.
Wie ist es nun aber dann, wenn diese Lehre (samt der von ihr
legitimierten Praxis) in andere Kulturkreise übertragen, «in-
kulturiert» werden muß, die einerseits selbstverständlich und
gleichen Rechtes in der Kirche als wirklicher Weltkirche
gegeben sind und andererseits ganz anders denken, empfinden
und leben als wir hier in unserem Westen, der schon längst
aufgehört hat, die Welt zu beherrschen, aber vielleicht nicht so
gerne und leicht eine Herrschaft abgeben will, die er noch im
19. und 2o. Jahrhundert unvermeidlich in der Kirche innehat-
te? Mich beschäftigt diese Frage manchmal, auch wenn sie in
meinem Pontifikat nicht gelöst werden wird.
269
Darüber hinaus quälen mich auch noch andere Fragen, denen
ich in meinem Pontifikat nicht ausweichen kann. Was ich Dir
eben schrieb, bedeutet ganz gewiß eine Verpflichtung zu höch-
ster Vorsicht und Diskretion, wenn ich meine Autorität in
Lehre und Regierung wahrnehmen muß. Solche Vorsicht und
Zurückhaltung bedeuten natürlich nicht, daß ich vor lauter
Vorsicht auf Handeln und Entscheiden verzichten könnte. Ich
muß den Mut zum Handeln haben, selbst wenn damit das
Risiko verbunden ist, Entwicklungen zu inaugurieren, deren
endgültiges Resultat gar nicht abgesehen werden kann, und
Entwicklungen unter Umständen abzubremsen, die sich dann
in der Zukunft doch durchsetzen werden. Das gehört zur Last
der Geschichte, die auch ein Papst nicht abschütteln kann.
Wundert es Dich, wenn ich Dir darum sage, daß ich mich jetzt
schon frage, ob ich bis zu meinem Tod Papst bleiben soll oder
nicht? Ich kann abdanken, wenn ich dies als für die Kirche
nützlicher erkenne und dies will. Aber kann es nicht sein, daß
ich lebend in ein Alter komme, in dem ich zu einer sachlich
nüchternen Erkenntnis dieser Art gar nicht mehr fähig bin und
mich trotzdem niemand absetzen kann? Ein schrecklicher
Gedanke. Oder ist er letztlich sogar tröstlich, weil er klarmacht,
daß Gottes gnädige Vorsehung auch in der Kirche nicht alles
durch die Taten eines weisen und mächtigen Papstes voll-
bringt? Ich warte ab. ’
Ich muß nun endlich Schluß machen. Papier und Zeit sind
zu Ende. Und doch habe ich wohl das meiste nicht gesagt, was
ich Dir, dem alten Freund, eigentlich heute schreiben wollte.
Was geschrieben ist, ist sehr unvollkommen und pro-
blematisch, und ich möchte nicht (ich lache) diesen Brief dem
Heiligen Offizium unterbreiten. Verbrenne den Brief, wenn Du
ihn gelesen hast. Komm bald einmal vorbei. Von Friaul nach
Rom ist es ja nicht so weit. Patet porta et cor magis. Sei
umarmt.
Vor vielen Jahren habe ich eine kleine Abhandlung über Vor-
fragen zu einem ökumenischen Amtsverständnis veröffent-
licht.! Ich habe nicht den Eindruck, daß diese meine Meinungs-
äußerung viel Beachtung gefunden hat. Ich vermute, daß evan-
gelische Ökumeniker eben doch den Eindruck haben, ich hätte
in dieser Abhandlung offene Türen eingerannt in einer um-
ständlichen Bemühung, etwas plausibel zu machen, was ihnen
eine bare Selbstverständlichkeit ist. Ich vermute, daß es einige
katholische Ökumeniker gibt, die mindestens mit der Grund-
tendenz meiner Schrift einverstanden sind, d.h. mit mir die
Überzeugung teilen, daß die bei uns Katholiken traditionelle
Ansicht über die Nichtgültigkeit der Ordination in den evange-
lischen Kirchen (wenigstens im großen und ganzen) und über
die daraus zu ziehenden Folgerungen hinsichtlich der Gültig-
keit des Abendmahls und des Vergebungswotrtes nicht so über
allen Zweifel erhaben ist. Aber im allgemeinen und besonders
in den Verlautbarungen der Amtskirche wurde meine Arbeit
mit höflicher Toleranz durch Schweigen übergangen und
weiterhin der Eindruck erweckt, als sei der alte Dissens über
die sakramentale Gültigkeit der Ämter außerhalb der katholi-
schen und der orthodoxen Kirchen auch in Zukunft eine indis-
kutabel bleibende Gegebenheit. Auf den folgenden Seiten kann
diese Frage nun nicht als ganze und in all ihren vielen Einzel-
problemen neu aufgegriffen werden. Es soll nur skizzenhaft
eine kleine Überlegung vorgetragen werden, die in den ganzen
Fragenkomplex hineingehört.
1 Vgl. dazu: K. Rahner, Schriften zur Theologie XIII: Gott und Offen-
barung, 48-68.
271
\
schweigend von einer Konzeption der Wirksamkeit der Sa-
kramente aus, die mir einerseits wenigstens einseitig zu sein
scheint und andererseits eben doch Konsequenzen für die Äm-
terfrage hat. Die Konzeption der sakramentalen Vollmachten
(der Vollmacht des Vollzugs der Eucharistie, der Firmung, der
Sündenvergebung im Bußsakrament, der Krankensalbung,
auch der Ordination) setzt traditionell eine (schulscholastisch
gesprochen) einseitig effiziente Wirkkausalität der Sakramente
voraus, die letztlich doch das an und für sich bekannte Axiom
wieder vergißt, daß die Sakramente Wirkursache der Gnade
sind, insofern und weil sie diese Gnade zeichenhaft darstellen.
Wenn der die Sakramente spendende Priester die sakramentale
Gnade einfach so, wie man sonst sich eine Wirkursächlichkeit
zu denken pflegt, hervorruft, dann ist es ja selbstverständlich,
daß er die Fähigkeit solcher Wirkursächlichkeit nicht von sich
aus hat, sondern sie erhalten muß, und daß die Mitteilung einer
solchen Fähigkeit an ganz bestimmte Weisen der Mitteilung
gebunden ist, ohne die Mitteilung solcher Gnade und andere
sakramentale Wirkungen (Transsubstantiation usw.) einfach
nicht möglich sind. Bei einer solchen Konzeption spielt die
Zeichenhaftigkeit der Sakramente für das Verständnis ihrer
Wirksamkeit, der sakramentalen Ursächlichkeit keine ent-
scheidende Rolle, sondern ist nur eine zusätzliche Aussage, die
einfach zu der Aussage ihrer gnadenhaften Wirkursächlichkeit
hinzukommt. Genau gesehen müßte man in der traditionell
katholischen Sakramentenlehre sagen: sacramenta significant
gratiam et efficiunt, aber nicht: sacramenta significando ef-
ficiunt gratiam. Nur so, mit diesem zweiten Satz, wäre das
innerste Verständnis der katholischen Sakramentenlehre ausge-
sprochen, das eigentlich in ihr gegeben und doch dann wieder
in weiteren vulgären (dinglich massiven) Vorstellungen vet-
dunkelt wird.
Nun ist aber, um zu sehen, was sich vielleicht von hier aus
über die Ämterfrage ausmachen läßt, deutlicher zu sehen, was
die Sakramente «bezeichnen» (rituell in der gesellschaftlichen
Dimension der Kirche zur raumzeitlichen Erscheinung
bringen). Es wäre verkehrt und würde das Wesen der christlich
272
eschatologischen Heilssituation verdunkeln, wenn man sich
nun dächte, die Sakramente bezeichneten einfach und isoliert
die Gnade allein, die hier und jetzt dem einzelnen Sakramen-
tenempfänger mitgeteilt wird. So würden die Sakramente nur
das von ihnen allererst noch zu Schaffende bezeichnen. Sie sind
aber im voraus dazu und über dies hinaus das gesellschaftliche,
raumzeitliche In-Erscheinung-Treten der erst mit Christus ge-
gebenen, unwiderruflich in die Welt siegreich eingestifteten
Gnade, die sich wegen dieser eschatologischen Unwiderruflich-
keit durch ihr In-Erscheinung-Treten ex opere operato dem
einzelnen und seiner Freiheit konkret anbietet und (normaler-
weise) von diesem angenommen wird. Die Sakramente sind
von ihrem ursprünglichsten Wesen her das In-Erscheinung-
Treten dieser eschatologisch irreversibel gewordenen Gnade
Gottes in Christo. Es ist hier nicht der Platz, diesen Satz
ausführlicher zu erhärten.
Man müßte sonst die Eigentümlichkeit der erst mit Christus
gegebenen Heilssituation beschreiben. Man müßte das
eschatologisch zeichenhafte Wesen der Kirche immer und
überall als sacramentum salutis mundi beschreiben. Man müßte
u.a. klarmachen, daß nur von diesem eschatologisch sakramen-
talen Wesen der Kirche her (ohne magische Vorstellung) wirk-
lich verständlich gemacht werden kann, was die Wirksamkeit
der Sakramente ex opere operato eigentlich bedeutet. Man
müßte heute beim Stand der bibeltheologischen und dogmen-
geschichtlichen Erkenntnisse über das Entstehen der Sa-
kramente, die nicht einfach mit historischer Plausibilität auf
einzelne Einsetzungsworte Jesu zurückgeführt werden können
und doch in aller Wahrheit von ihm herkünftig sein müssen,
zeigen, daß die wirkliche Sakramentalität und Herkünftigkeit
der Sakramente von Christus nur verständlich gemacht werden
können, wenn die Sakramente aufgefaßt werden als Grundakte
der von Jesus herkünftigen Kirche als des wirklichen Grundsa-
kramentes des Heiles der Welt, das die bleibende geschichtliche
Greifbarkeit der Selbstzusage Gottes an die Welt in Christo ist,
als Grundvollzüge der Kirche, in denen sie ihr eigenes Wesen
auf den einzelnen hin aktualisiert. Man müßte zeigen, daß nur
273
so der alte leidige Streit über die Zahl der Sakramente beigelegt
werden kann. Diese, den sakramentalen Einzelvollzügen vor-
ausliegende und diesen Wesen und Wirksamkeit verleihende
Wirklichkeit der Kirche (in deren Einheit unauflösbarer Art
von Wahrheit und Gnade einerseits und deren geschichtlicher
Greifbarkeit andererseits) wird durch die Sakramente ur-
sprünglich «bezeichnet»: significant ecclesiam ut sacramentum
salutis mundi. Die Sakramente bezeichnen zunächst und ur-
sprünglich nicht das von ihnen zu Wirkende, sondern das,
wodurch sie selber bewirkt sind und was sie gerade darum
bezeichnen können, weil sie von ihm, d.h. von der Kirche,
bewirkt sind.
274
P
ei N
Gründen auch immer — zwar nicht «Sakramente» genannt
werden und werden sollen, aber doch echte Bezeugungen
dieses Grundsakramentes des Heiles, Kirche genannt, sind und
von daher durchaus an der Wirksamkeit des Grundsakramentes
und seiner eigentlich sakramentalen Bezeugung partizipieren.
Solche gesellschaftlich-geschichtlichen, rituellen Verweise
auf das Grundsakrament Kirche, von dem her sie Sinn und
Kraft beziehen, können nicht nur in der verschiedensten Weise
gestuft gedacht werden — je nachdem, wie z.B. die genauere
Inhaltlichkeit dieses Verweises gestaltet ist, je nachdem, um
welches Subjekt der Setzung dieses Zeichens es sich handelt
usw. —; solche Verweise sind auch als legitim anzuerkennen,
konstituieren m.a.W. das geschichtliche In-Erscheinung-
Treten des Grundsakramentes mit, wenn sie inhaltlich in
rechter Weise auf das Grundsakrament verweisen und auf es
Berufung einlegen, und wenn sie in christlich gutem Glauben
gesetzt werden. Mehr kann eigentlich für die Legitimität
solcher Verweise nicht gefordert werden. Die Legitimität des
Verweischarakters solcher Zeichen ist ja nicht dadurch begrün-
det, daß sie das, worauf sie verweisen, erstmals konstituieren,
sondern kommt von der immer schon existierenden Vorgege-
benheit dessen, worauf verwiesen wird: der Kirche als sacra-
mentum salutis mundi und dem Heilswillen Gottes, in dem sich
Gott jedem einzelnen schon immer zugewendet hat. Dazu
kommt, daß die innere gläubige Haltung dessen, der dieses
Zeichen setzt, bis zum Beweis des Gegenteils zu präsumieren
ist und diese Präsumtion für die Gültigkeit eines solchen Ver-
weises genügt, da auch dort in der Kirche, wo zweifellos
gültige Zeichen gesetzt werden, eine solche Präsumtion bezüg-
lich des Vorhandenseins einer «Intention» usw. als genügend
vorausgesetzt wird. Es ist auch in diesem Zusammenhang
deutlich zu sehen, daß es für die Legitimität eines solchen
Verweises nicht von vornherein erforderlich sein kann, daß
dieses Zeichen ausdrücklich innerhalb des rechtlichen Verbun-
des der Römisch-Katholischen Kirche gesetzt wird, weil diese
sonst die Gültigkeit der Ketzertaufe gar nicht anerkennen
könnte.
27
Natürlich kann man solchen Überlegungen entgegenhalten,
daß bei irgendeinem anderen Sakrament aus der Natur der
Sache heraus im Unterschied zur Taufe Bedingungen für ihre
Gültigkeit erforderlich sein können, die eben in Amtshandlun-
gen nicht gegeben seien, die von einem nicht durch die normale
römisch-katholische Ordination Bestellten gesetzt werden.
Aber wenn diese Amtshandlung doch auch dann noch einen
Verweischarakter auf das objektive, im voraus immer gegebene
sacramentum salutis mundi hat, wenn überdies die Setzung
dieses Verweises in christlichem Glauben und heiliger Absicht
geschieht - und zwar in einem kirchengesellschaftlichen Milieu,
in dem die Präsumtion der bona fides der die Verweise Setzen-
den als selbstverständlich vorausgesetzt werden muß -, dann
kann doch der Unterschied zwischen einem für die traditionelle
katholische Theologie gültigen Sakrament und einem derar-
tigen Verweis außerhalb der normalen katholischen Sakramen-
tenordnung nur noch darin bestehen, daß im ersten Falle eine
«normale» sakramentale Zeichensetzung gegeben ist, im
zweiten Falle aber ein solches Verweiszeichen, das außerhalb
der normalen Zeichenregelung steht, so daß es dann nicht
gültiges Sakrament genannt werden kann — falls man ter-
minologisch von vornherein festlegt, man gebe einem solchen
Zeichen nur dann den Namen «Sakrament», wenn es in der
normalen Zeichenordnung zustande kommt. Aber muß man
diese Terminologie als die einzig mögliche betrachten? Und
selbst wenn man dies tut, muß man dann dem gläubig gesetzten
Verweis auf das allgemeine Heilssakrament außerhalb der nor-
malen Ordnung eine Wirkung absprechen? Wäre dann die
normale sakramentale Ordnung nicht der Herr Gottes —
obwohl doch Gott der Herr dieser Ordnung ist, der ihr nicht
untertan sein kann -, wenn ihr selber schuldlos nicht Genüge
getan wird und in einer konkreten Situation nicht Genüge
getan werden kann? Es gibt gewiß existentielle und gnadenhaf-
te Vorkommnisse (z.B. die «Begierdetaufe» impliziter Art
eines Menschen, der mit dem ausdrücklichen Christentum nie
in Berührung gekommen ist), die man nicht «Sakramente»
nennen kann, obwohl sie die Rechtfertigung bewirken oder
276
vertiefen. Aber ist damit sicher und eindeutig schon klar, daß
man jeder Amtshandlung ihre Gültigkeit dann absprechen
müsse, wenn sie von jemandem vorgenommen wird, der nach
katholischen Normen nicht gültig ordiniert ist (obwohl dies im
normalen Fall nach diesen Prinzipien zur Gültigkeit erforder-
lich ist), wenn doch diese Zeichen alle (auch die normalen) ihre
Kraft von der ihnen vorausliegenden, immer gegebenen
eschatologischen Heilssituation, Kirche genannt, haben und
diese Situation (im exhibitiven Wort) auch dort bezeugt wird,
wo dies nicht in der normalen Weise geschieht und geschehen
kann, die an sich mit Recht von der Römisch-Katholischen
Kirche gefordert wird? Ist das Recht der Römisch-Katholi-
schen Kirche, Normen der Gültigkeit der sakramentalen
Zeichen zu setzen, so apodiktisch, daß dieses Recht auch die
Möglichkeit von Ausnahmen ausschließen kann?
Das sind Fragen, für die hier nur ein paar wenige Gesichts-
punkte angedeutet werden sollten und die hier wirklich nur
Fragen sind, ohne eine eindeutige Antwort. Bei der ganzen
Überlegung war natürlich stillschweigende Voraussetzung, die
vom evangelischen Theologen natürlich nicht geteilt wird, daß
die Frage der Ämteranerkennung usw. hier von einem katholi-
schen Ausgangspunkt her gestellt wird, die katholische Sa-
kramentenspendung also als die normale vorausgesetzt und
unter dieser Voraussetzung gefragt wird, ob nicht-katholische
Sakramentenspendung (Abendmahl usw.) auch dort und dann
noch als gültig anerkannt werden kann, wo sie die Normen der
katholisch normalen Sakramentenspendung nicht einhält. Ein
evangelischer Theologe wird natürlich diese Voraussetzung
unserer Überlegungen von vornherein ablehnen und Amts-
handlungen in seiner Kirche gar nicht wirklich vor die Frage
stellen wollen, ob sie nach römischen Normen gültig sind oder
nicht. Aber auch ein solcher Theologe kann sich für die Frage
interessieren, ob nicht doch auch die katholische Sakramenten-
lehre zu einer Anerkennung der Ämter und der Amtsvollzüge
in den evangelischen Kirchen (über die Taufe hinaus) kommen
könnte, die weiter und umfassender ist, als sie traditionell in der
katholischen Theologie und Lehrverkündigung gegeben ist.
277
BUCH GOTTES - BUCH DER MENSCHEN
280
Begegnung von Gott und Welt
Nun aber muß gesehen und deutlich gemacht werden, daß das
Ereignis, in dem durch die Menschheit der Kosmos noch
einmal zu sich selbst und zu seinem Ursprung kommt, selber
eine Geschichte hat, die eine letzte durchgehende Einheit in
einer Vielfalt von Einzelereignissen ist, in denen stufenweise
die Menschheit zu sich selber und zur freien Selbstmitteilung
Gottes gelangt. Die ganze Kultur- und Religionsgeschichte der
Menschheit ist letztlich identisch mit dieser Geschichte, in der
die Menschheit in immer steigendem Maß zu sich selbst und
zu ihrer Berufenheit vor die Unmittelbarkeit Gottes kommt. Es
ist hier nicht der Ort, genauer auszumachen, wie sich die
durchhaltende letzte Struktur dieser Geschichte und echte Ver-
änderungen und bedeutsame Zäsuren in dieser Geschichte
genauer zueinander verhalten.
Aber so schwer es auch sein mag, darüber zu befinden, ob
und wie diese Menschheitsgeschichte die Geschichte eines Auf-
stiegs und Fortschritts zu höheren Vollkommenheiten in den
verschiedensten Dimensionen des Menschseins gewesen ist, so
hat der christliche Glaube doch die Überzeugung in sich, daß
es solche entscheidenden, die Gesamtgeschichte der Mensch-
heit gliedernden und auf eine Endgültigkeit hin ausrichtenden
Zäsuren und Abschnitte der Menschheitsgeschichte gegeben
hat. Sonst könnte ja das Christentum nicht vom Alten und
Neuen Testament, von einem Bund Gottes mit Israel, vom
Neuen und Ewigen Bund Gottes mit der Menschheit in Chti-
stus reden.
Von dieser Grundperspektive der Geschichte des Kosmos
und der Menschheit her können wir als Christen auf jeden Fall
sagen: Die neue und endgültige Phase dieser Geschichte des
Kosmos und der Menschheit besteht darin, daß mindestens
einmal im Menschen (wenn vielleicht auch sonst noch) die Welt
zu sich selber und zur Überzeugung davon gekommen ist, daß
die Unmittelbarkeit zu ihrem letzten Ursprung ihr eigentliches
Ziel ist, und zwar nicht nur als Möglichkeit, die der Freiheit
des Menschen und der Menschheit angeboten ist, sondern auch
281
als schon jetzt in Zukunft durch die siegreiche Macht Gottes
gegebene Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Die Geschichte
des Kosmos ist, obzwar Freiheitsgeschichte seiend und
bleibend, schon in eine Phase eingetreten, in der die Ankunft
der Welt bei Gott selber oder die Ankunft Gottes in seiner
eigensten Wirklichkeit bei der Welt schon unwiderruflich
gegeben ist, wie auch, nebenbei bemerkt, das Zweite Vatikani-
sche Konzil ausdrücklich sagt.
Diese nicht mehr rückgängig zu machende Begegnung von
Gott und Welt ist nicht nur ein Ereignis in der letzten Tiefe der
Existenz kreatürlicher Freiheitssubjekte, sondern ist auch in
kollektiver Geschichte in Erscheinung getreten und erst gerade
dadurch selber unwiderruflich geworden. Dieses Ereignis einer
geschichtlich gewordenen, endgültigen Einheit des frei sich
selbst mitteilenden Gottes und des diese Mitteilung frei anneh-
menden Menschen heißt konkret Jesus Christus, der Ge-
kreuzigte und Auferstandene, in dem der Dialog zwischen Gott
und Kreatur zu einer letzten und nicht mehr rückgängig zu
machenden Verständigung gekommen ist. Da dieser Jesus als
die Einheit des Zusagewortes Gottes und der glaubenden
Annahme dieses Zusagewortes immer in einer von ihm nie
aufgegebenen Solidarität mit den Menschen, der Menschheit
handelt, ist dieses Ereignis der unlöslichen Einheit von Gott
und Welt in ihm auch heilsbedeutsam für die Gesamtmensch-
heit.
In Jesus ist die unwiderrufliche und von Gott her siegreiche
Selbstzusage Gottes an die Welt als des schöpferischen Ur-
grunds des Kosmos und als dessen wirklich in sich selbst
erreichbaren Zieles endgültiges Ereignis geworden. Dieses
kann nicht mehr aus der Welt und ihrer Geschichte verschwin-
den und bleibt so in seiner eschatologischen Unwiderruflichkeit
in der unzerstörbaren Gemeinschaft der Glaubenden, Kirche
genannt, präsent. Die Kirche ist nicht bloß irgendeine Anstalt
zur Beförderung individueller Religiosität und Heilssorge der
vielen einzelnen, sondern ist zuvor und zuletzt in ihrem
Glauben die sakramentale Präsenz der von sich her siegreichen
Selbstzusage Gottes an die Welt.
282
Die Heilige Schrift als Konstitutivum der Urgemeinde
283
Jedenfalls ist in der damaligen kulturellen Situation der
Menschheit, die schon zur Schrift und in etwa zum Buch
gelangt ist, eine Glaubensgemeinde mit einem gemeinsamen
Glaubensbewußtsein nicht mehr denkbar als auch durch die
Hilfe des Buchs, in dem niedergelegt und ausgesagt wird, was
geglaubt und gehofft wird, also in einem Medium, in dem die
einzelnen in ihrem Glaubensbewußtsein kommunizieren und so
eine Einheit bilden können, im Medium der Sprache und so
damals unweigerlich auch der Schrift und des Buchs. Die
Urgemeinde des Glaubens an Jesus ist in sich und in ihrer
normativen Bedeutung für die Zukunft des Glaubens mitkon-
stituiert durch das Buch.
Wenn und insofern dieses Buch als ein Konstitutivum der
Urgemeinde für ihre normative Bedeutung für alle kommenden
Zeiten verstanden wird und dabei gleichzeitig, ja zuvor, diese
Urgemeinde als die eschatologisch durch Gottes Macht un-
widerruflich gewirkte Präsenz der Heilszusage Gottes begriffen
wird, lassen sich, so meine ich, alle Aussagen des christlichen
Glaubens über die Heilige Schrift des Alten und Neuen Te-
staments verstehen, ohne daß diese Aussagen von der Urheber-
schaft Gottes an der Heiligen Schrift, von der Inspiration, der
Normativität, der Irrtumslosigkeit der Schrift einen
mirakulösen Beigeschmack haben, der heute nicht mehr as-
similierbar wäre, und ohne daß der Hinweis auf andere heilige
Schriften in anderen großen Kulturreligionen den Christen an
dem Verständnis der Heiligen Schriften des Christentums ir-
remachen müßte.
284
. katholischen Theologie der Schrift heute nach dem Zweiten
Vatikanischen Konzil von einer Verbalinspiration sprechen
könne. Jedenfalls hat Gott die Schriften nicht in dem Sinn
diktiert, wie wir uns ein Diktat zwischen zwei Menschen vorzu-
stellen pflegen. Gott brauchte nicht durch eine mirakulöse
Intervention Sätze in das Bewußtsein der Verfasser einzu-
schleusen. Wenn die menschlichen Urheber der Schriften wirk-
liche Verfasser sind, dann muß die Urheberschaft Gottes an der
Heiligen Schrift, die eindeutige Glaubenslehre ist und bleibt,
anders verstanden werden als eine Verfasserschaft. Verfasser-
schaft der Schrift meint menschliche Verfasser, Urheberschaft
Gottes muß etwas anderes meinen.
Man wird darum sagen dürfen: Wenn und insofern Gott in
seiner von ihm aus ohne Aufhebung der menschlichen Freiheit
unbedingt mächtigen Gnade das Heilsereignis Christi und der
notwendig dazu gehörenden Urgemeinde des Glaubens kon-
stituiert und so deren bleibende Normativität will und garan-
tiert, und insofern zu dieser Urgemeinde und deren Nor-
mativität die schriftliche Objektivierung ihres Glaubens unbe-
dingt gehört, insofern ist Gott schon in wahrer Weise Urheber
der Schrift, hat er sie schon «inspiriert» und garantiert ihre
«Inerranz», in dem Sinn und mit den Grenzen, die mit der
eigentlichen Aufgabe dieser Schrift gegeben sind. Anders aus-
gedrückt: Gott in der Macht seiner Gnade wirkt die Urgemein-
de, er wirkt sie als bleibende Norm der künftigen Kirche, er
wirkt sie als sich selber objektivierend in bestimmten Schriften,
die Norm der künftigen Kirche sind, und er wirkt auf diese
Weise eben diese Schriften.
So sind alle Möglichkeiten der Individualität, Freiheit, Situa-
tionsbedingtheit menschlicher Verfasser in der Urkirche offen-
gelassen. Diese Menschen sind die Verfasser. In den Schriften
spiegelt sich ihre Individualität; sie entstehen durch eine
theologische Reflexion auf die Erfahrung Jesu Christi als der
endgültigen und unwiderruflichen Selbstzusage Gottes in der
Geschichte und Öffentlichkeit selbst. Diese Schriften haben oft
einen, menschlich gesehen, zufälligen Entstehungsgrund; sie
sind nicht von vornherein unter einem menschlich bewußten
285
Grundsystem einheitlich konzipiert; sie verraten eine Ver-
schiedenheit von theologischen Ausgangspunkten, Ter-
minologien, Plausibilitäten. Aber sie sind auch in ihrer Vielfalt
und Verschiedenheit gültige Zeugnisse des Glaubens der Urge-
meinde und so von der Vorsehung Gottes gewollt und hervor-
gerufen, in der von sich aus sich durchsetzenden Heilsgnade als
Norm des Glaubens der folgenden Kirche in ihren Genera-
tionen.
Natürlich hat es in der Urkirche ganz gewiß über die uns
überlieferte Schrift hinaus schriftliche Objektivationen des
Glaubens der Urgemeinde gegeben, die gewiß teilweise nicht
als normative Objektivationen des Glaubens der Urgemeinde
hätten gelten können, die teilweise aber vielleicht auch als
solche hätten anerkannt werden können (wie zum Beispiel
verlorengegangene Briefe des Paulus). Die Scheidung zwischen
schriftlichen Erzeugungen innerhalb der Urkirche, die einen
normativen Bezeugungscharakter für spätere Zeiten haben,
und solchen, denen dieser Charakter nicht zukommt, also die
Konstitution und Abgrenzung des sogenannten Kanons der
Schriften, muß dem Glaubensinstinkt der Kirche in der Über-
gangszeit zwischen der apostolischen und der nachapostoli-
schen Zeit zuerkannt werden, und wir Spätere können nur
nachträglich feststellen, daß diese Scheidung einerseits sehr
großzügig vorgenommen wurde — so daß also auch Schriften
in den Kanon aufgenommen wurden, die aufzunehmen wir uns
heute vielleicht nicht leicht getrauen würden — und andererseits
doch so streng war, daß wir auch heute noch in allen Schriften
trotz ihrer beträchtlichen Verschiedenheit an Gesichtspunkten
und auch an christlich existentieller Tiefe ein echtes Corpus der
Schrift als letztlich einhellige Bezeugung des christlichen
Glaubens entgegennehmen können.
Nachträglich muß nun noch etwas über das Alte Testament
gesagt werden. Insofern es die Heilige Schrift Jesu war und es
einfach zur unmittelbar greifbaren Vorgeschichte des christli-
chen Ereignisses gehört und als solche vom Christusereignis
anerkannt ist, gehört auch das Alte Testament zur Heiligen
Schrift des Christentums. Wir Christen erreichen es von Chri-
286
stus her. Ob es für uns heute als gottgewirkte Heilige Schrift
unabhängig von Christus erreichbar wäre oder ohne Christus
für uns in unserer eigenen Existenz- und Heilssituation nur als
ein vorderasiatisches, wenn auch noch so bedeutsames und in
der früheren Geschichte unübertroffenes Dokument der
Religionsgeschichte erfaßt werden könnte, das ist wohl eine
Frage, die wir hier offenlassen können.
Heilige Schrift ist das Alte Testament für uns in unserer
konkreten Glaubens- und Heilssituation, insofern es Heilige
Schrift Jesu war und «Christum treibt». Damit ist die auch
darüber hinausgehende religiöse Bedeutung des Alten Te-
staments nicht geleugnet, sondern nur betont, daß sie eben uns
Christen faktisch von Jesus her erreicht und für uns immer
auch auf den Gekreuzigten und Auferstandenen hin gelesen
werden muß. Das Alte Testament als solches bezeugt trotz des
darin schon waltenden und sich offenbarenden Heilswillens
Gottes noch nicht, daß dieser Heilswille Gottes nicht mehr in
der Phase einer ambivalenten Heilsmöglichkeit, sondern in der
Phase seines nicht mehr rückgängig zu machenden Sieges bei
uns angekommen ist, und ist darum mit Recht Altes Testament
genannt.
Die Schrift ist Menschenwort und Menschentat, insofern
darin Menschen bezeugen, daß Gott nicht nur der geheimnis-
volle und unheimliche Urgrund einer Geschichte ist, die ins
Unvorhersehbare weiterläuft, sondern daß ihr Gott als ihre
absolute Zukunft entgegenläuft und sie in seine eigene Unend-
lichkeit und lichte Unbedingtheit hineinläßt. Aber die Schrift
ist Gottes Wort, insofern in diesem Menschenwort nicht das
und jenes bezeugt wird, was an Endlichem Gott in freier
Schöpfermacht tut, sondern Gott selbst in sich als unendliche
Gabe an die Welt bezeugt wird und solche Bezeugung nur
möglich ist, wenn sie in einer über das Gewöhnliche der Schöp-
fertätigkeit Gottes hinausgehenden einmaligen Weise von Gott
selbst bewirkt wird.
Wenn die Schrift nicht Gott selbst als siegreich sich durch-
setzende Gabe durch Gott selbst (Glaubenslicht genannt) be-
zeugte, würde sie nur über von Gott verschiedene Wirklich-
287
keiten reden, auch wenn sie über diese in ihrer Beziehung zu
Gott handelte. Dann aber wäre der Inhalt ihrer Aussage letzt-
lich nicht von einem Aussageinhalt verschieden, der auch durch
bloß menschliche Rede (grundsätzlich) erreichbar wäre. Dann
aber wäre jener wesentliche Unterschied zu sonstiger menschli-
cher Rede nicht mehr gegeben, den die Schrift selber bezeugt.
Natürlich kann dieser wesentliche Unterschied der Schrift als
Gottes Wort von übriger menschlicher Rede letztlich nur
gedacht und aufrechterhalten werden, wenn ihre wesentliche
Bezogenheit auf das Kreuz und die Auferstehung Jesu erfaßt
wird, in welchen eschatologischen Heilsereignissen allein inner-
halb der Geschichte fundamental der Sieg der Selbstzusage
Gottes an die Welt geschichtlich und so im Wort gegeben ist,
und weil dieses Wort der Schrift bei gläubigem Lesen nochmals
von dieser Selbstmitteilung Gottes getragen ist und so nicht
nur Wort über Gott (wenn auch von ihm autorisiert) und so
nur menschliches Wort, sondern Wort Gottes selber ist.
Natürlich muß die Schrift, um das bei uns angekommene und
Gott selbst vermittelnde Wort Gottes sein zu können, auch
vom Menschen reden, auch Menschenwort über den Menschen
sein. Dieses Menschenwort über den Menschen hat noch
einmal auch in der Schrift die verschiedensten Dimensionen
und Verbindlichkeitsgrade, in denen der Mensch über sich
reden, sich und seine Geschichte bezeugen kann. Auch so kann
vieles über den Menschen gesagt werden in der Schrift, was
wichtig und unter Umständen auch immer für ihn gültig bleibt.
Aber all das hat seine letzte radikale Verbindlichkeit und Be-
deutsamkeit dadurch, daß es im Kontext der Aussage ge-
schieht, daß Gott selber in seiner eigenen Unendlichkeit und
Unbedingtheit sich dem Menschen nicht nur als Heilsmöglich-
keit angeboten hat, sondern von sich aus siegreich diese Mög-
lichkeit realisiert. Alle christliche Anthropologie, die wirklich
schriftgemäß sein will, darf diese letzte Begründung ihrer selbst
nie vergessen und muß die von der Sache selbst her gegebene
Verschiedenheit ihrer Verbindlichkeitsgrade immer mitbeden-
ken, eine Verschiedenheit, die durch die Geschichtlichkeit des
Menschen schon immer gegeben ist.
288
| \
Die Schrift als Wort Gottes, das christliche Buch des Alten und
Neuen Testaments, war gewiß grundsätzlich schon gegeben
mit und in der Kirche der apostolischen Zeit als des für immer
normativen Beginns der eschatologischen Phase der Heilsge-
schichte überhaupt. Aber wenn wir schon vom Buch der
Heiligen Schrift sprechen, brauchen wir wohl nicht zu über-
sehen und tun der Ehre der Heiligen Schrift als Buch kein
Unrecht an, wenn wir darauf reflektieren, daß dieses Buch als
Buch noch eine Geschichte gehabt hat, in der ihr eigentliches
Wesen noch einmal radikaler als vorher verwirklicht wurde.
Die Schrift ist eine Botschaft an alle und an jeden einzelnen.
Dieser Charakter der Schrift wird aber radikaler realisiert, wenn
diese Schrift unmittelbar wirklich zu jedem und überallhin
gelangen kann. Das aber ist doch eigentlich erst gegeben, wenn
die Schrift ein Buch geworden ist, das leicht und praktisch so
vervielfältigt werden kann, daß es das Buch überall und von
jedem wird, also erst durch die schr tiefgreifende Zäsur der
menschlichen Geistesgeschichte, die mit dem Namen Guten-
berg bezeichnet wird.
Vor der Erfindung des Buchdrucks gab es Schrift, aber die
Schrift nicht als Buch für jedermann, was sie eigentlich sein will,
wenn auch die katholische Kirche das reflex nur in einem
langen und mühsamen Prozeß deutlich genug erfaßte und erst
eigentlich im Zweiten Vatikanischen Konzil ausdrücklich
sagte, daß sie die Schrift als Buch in der Hand von jedermann
wünsche, während sie vorher die Schrift fast ein wenig wie eine
Geheimschrift behandelte, die nur zum Gebrauch der Experten
in der Theologie und der amtlichen Verkündigung dienen
sollte. Erst von dem Ende des ı5. Jahrhunderts an war die
Schrift im Stadium der vollen Realisation ihres eigenen Wesens.
Jedes Buch, jede Bibliothek und jede Buchhandlung sagen
dem, für den die Geschichte ihre radikale Bedeutung als Heils-
geschichte des Ewigen Lebens hat, daß das Wort Gottes als im
Menschenwort und von da im geschriebenen Wort inkarniert
zu seinem vollen Wesen gekommen ist.
289
Besinnen wir uns zum Schluß dieser Überlegungen noch
einmal auf ihren Anfang zurück. Die ungeheure, atembe-
raubende Geschichte des Kosmos hat ihren letzten Sinn darin,
daß innerhalb dieser Geschichte scheinbar bloß punktförmig
unzählige Geschichten des Geistes und der Freiheit sich ereig-
nen können, in denen ebensooft die Geschichte des Kosmos
selber grundsätzlich zu sich selber kommt. Und diese unzählige
Male sich ereignende Geistes- und Freiheitsgeschichte als Zu-
sich-Kommen des Kosmos ist gleichzeitig und in einem die
Geschichte der Selbstmitteilung Gottes als absoluter Zukunft
an diese Geschichte der Freiheit und des Geistes des Kosmos.
Das endgültige Ergebnis all dieser zu Gott als solchem selber
vordringenden Geschichte des Geistes und der Freiheit, in der
der Kosmos erst zu sich selber kommt, heißt das ewige Reich
Gottes. In dieser Geschichte des Kosmos, des Geistes und der
Freiheit ist aber der unwiderrufliche Sieg dieser Geschichte
schon bezeugt und hat er auch schon als er selber begonnen.
Dieser Anfang der seligen Vollendung des Kosmos heißt Jesus
Christus, der durch seinen Tod hindurch Auferstandene. Die
bleibende Gegenwart dieses siegreichen Zusagewortes Gottes
in Jesus Christus heißt die Kirche derer, die an diesen Jesus
glauben, ihn und in ihm Gott selber lieben und mit ihm in die
Unbegreiflichkeit Gottes hinein in Hoffnung sterben.
Diese ganze Zeugenschaft, in der die Wirklichkeit des Be-
zeugten schon gegenwärtig ist, hat aber entsprechend dem
leibhaftigen Wesen des Menschen von Gott selber her eine
inkarnatorische Objektivation. Und diese heißt Heilige Schrift.
Sie muß natürlich glaubend gelesen werden, sonst wäre sie auch
nur ein Menschenbuch, das vom Feuer des Gerichts verzehrt
werden wird; ihr Wort muß immer wieder im sakramentalen
Wort und im Wort der Verkündigung aktualisiert werden.
Aber weil die Geschichte der Menschheit nicht nur Geschichte
der Menschen, sondern auch die Geschichte Gottes selber ist
(unvermischt, aber ungetrennt), darum gibt es in der Geschich-
te der Menschheit nicht nur Bildwerke, Bauten, Dichtungen,
Bücher, in denen der Mensch sein eigenes Wesen zur Erschei-
nung bringt, um es zu verwirklichen, sondern gibt es auch über
290
FRÖMMIGKEIT
ar ws, re
A
N,
BE DT.
BAR, .
DIMENSIONEN DES MARTYRIUMS
29
liche und kirchliche Leben, weil die Zuerkennung des Mar-
tyriums einem kämpfenden Christen gegenüber eine bedeut-
same kirchenamtliche Empfehlung eines solchen aktiven
Kampfes als eines nachahmenswerten Beispieles für andere
Christen bedeuten würde.
Zunächst einmal ist es selbstverständlich, daß solche Begriffe
wie die, um die es sich hier handelt, eine Geschichte haben und
legitim variabel sind. Es handelt sich ja eigentlich nur um die
Frage, ob in diesem Falle ein duldendes Erleiden des Todes um
des Glaubens willen und das Erleiden des Todes in einem
aktiven Kampf für den Glauben (oder einzelne seiner For-
derungen) nicht unter einen Begriff des Martyriums zusammen-
gefaßt werden können, weil in diesen beiden Todesarten eine
sehr weite und tiefgreifende Gemeinsamkeit gegeben ist und
weil durch einen solchen einen Begriff für beide Todesarten eine
bleibende Verschiedenheit zwischen beiden nicht geleugnet
wird. Es gibt ja viele Begriffe, die zwei Wirklichkeiten zusam-
menfassen wegen ihrer sachlichen Ähnlichkeit, ohne darum
ihre Verschiedenheiten zu leugnen oder notwendig zu verdun-
keln. (Der Begriff «Sünde» z.B. wird im kirchlichen Sprachge-
brauch für das Erbverderbnis und für den persönlich verschul-
deten Sündenzustand gemeinsam verwendet, ohne daß darum
eine radikale Verschiedenheit dieser beiden Zustände geleugnet
werden soll.) Es ist nun gewiß richtig, daß das dw/dende Erleiden
des Todes um des Glaubens willen eine besondere Beziehung
zu dem Tode Jesu hat, der gerade durch seinen erlittenen Tod
der getreue und zuverlässige Zeuge schlechthin geworden ist.
Aber dieser nicht zu leugnende Unterschied zwischen den
beiden Todesarten schließt eine Zusammenfassung unter dem
einen Begriff und Wort des Martyriums nicht aus.
Um dies zu sehen, um also die innere und wesentliche
Gleichheit dieser beiden Todesarten bei aller ihrer auch gegebe-
nen Verschiedenheit sich deutlich zu machen, muß auf vieles
reflektiert werden. Zunächst einmal ist doch der «passiv erdul-
dete» Tod Jesu die Konsequenz eines Kampfes Jesu gegen die
religiösen und politischen Machthaber seiner Zeit. Er starb,
weil er kämpfte, sein Tod darf nicht isoliert gesehen werden
296
von seinem Leben. Umgekehrt «duldet» auch der, der im
aktiven Kampf für die Forderungen seiner christlichen Über-
zeugung (unter Umständen natürlich auch in der Dimension
der öffentlichen Gesellschaft) fällt, seinen Tod. Auch ein
solcher Tod wird ja nicht einfach als solcher direkt gesucht, er
schließt ein passives Element genauso ein, wie der Tod des
Märtyrers im herkömmlichen Sinn auch ein aktives Element an
sich hat, da ja auch ein solcher Märtyrer durch sein aktives
Zeugnisgeben und Leben die Situation heraufbeschworen hat,
in der er nur durch eine Verleugnung seines Glaubens dem Tod
entgehen könnte.
Es mag natürlich eine Frage bleiben, wie genauer der aktive
Kampf beschrieben und von ähnlichen Geschehnissen abge-
grenzt werden muß, damit der Tod in diesem aktiven Kampf
als Martyrium angesprochen werden kann und soll. Nicht
jeder, der in einem Religionskrieg auf christlicher oder ka-
tholisch-konfessioneller Seite fällt, muß als Märtyrer bezeichnet
werden. In solchen Religionskriegen spielen konkret zu viele
irdische Motive mit; die Frage bleibt offen, ob jeder Kämpfer
in solchen Kriegen wirklich ernsthaft mit seinem Tod rechnet
und ihn wirklich annimmt. Aber warum sollte z.B. ein Erzbi-
schof Romero, der im Kampf für die Gerechtigkeit in der
Gesellschaft fällt, in einem Kampf, den er aus letzter christli-
cher Überzeugung führt, nicht ein Märtyrer sein? Er hat sicher
mit seinem Tod gerechnet.
Wir dürfen uns das passive Erdulden des Todes nicht einfach
nur in der Weise vorstellen, wie wir uns die altchristlichen
Märtyrer vor einem Richterstuhl und ihre gerichtliche Verur-
teilung zum Tod anschaulich zu machen pflegen. Das passive,
aber in willentlicher Entscheidung angenommene Erdulden des
Todes kann in ganz anderen Weisen geschehen. Die modernen
«Christenverfolger» werden den Christen von heute gar keine
Gelegenheit geben, ihren Glauben im alten Stil der ersten
christlichen Jahrhunderte zu bekennen und einen Tod durch
Gerichtsbeschluß anzunehmen. Aber ihr Tod kann dennoch in
diesen anonymeren Formen heutiger Christenverfolgung
ebenso wie bei den Märtyrern alten Stiles vorausgesehen und
=
angenommen werden. Und zwar auch als Konsequenz eines
aktiven Kampfes für die Gerechtigkeit und andere christliche
Wirklichkeiten und Werte. Es ist ja seltsam, daß die Kirche
Maximilian Kolbe als Bekenner und nicht als Märtyrer heilig-
spricht. Ein unvoreingenommenes Verständnis für Maximilian
Kolbe wird mehr als auf sein früheres Leben auf sein Verhalten
im Konzentrationslager und in seinem Tod blicken und ihn als
Märtyrer selbstlos christlicher Liebe verstehen.
Jedenfalls sind die Unterschiede zwischen einem Tod um des
Glaubens willen im aktiven Kampf für ihn und dem Tod um
des Glaubens willen in einem passiven Erdulden zu fließend
und zu schwer zu bestimmen, als daß man sich die Mühe
machen müßte, die beiden Todesarten begrifflich im Wort
genau auseinanderzuhalten. Beides ist letztlich die gleiche, aus-
drückliche und entschlossene Annahme des Todes aus dersel-
ben christlichen Motivation heraus; in beiden Fällen ist der Tod
die Annahme des Todes Christi, die als höchster Akt der Liebe
und des Starkmutes den Menschen als Glaubenden restlos in
die Verfügung Gottes gibt, die eine radikale Einheit von Tat
der Liebe und des Erleidens des letzten notvollen Sich-selbst-
genommen-Seins angesichts des unbegreiflichen, aber macht-
vollen Nein der Menschen zu der sich offenbarenden Liebe
Gottes darstellt. In beiden Fällen erscheint der Tod als die
vollendete und offenbare Erscheinung des eigentlichen Wesens
des christlichen Todes überhaupt. Auch dort, wo der Tod im
Kampf für die christliche Überzeugung erlitten wird, ist er das
Zeugnis des Glaubens von restloser, das ganze Dasein in den
Tod hinein integrierender Entschlossenheit aus der Gnade
Gottes mitten in der tiefsten inneren und äußeren Machtlosig-
keit, die der Mensch duldend annimmt. Das gilt auch für den
Tod im Kampfe, weil ja dieser Kämpfer genauso wie der
duldende Märtyrer im traditionellen Sinne in der Erfahrung
seines äußeren Scheiterns die Macht des Bösen und seine eigene
Ohnmacht erfährt und ausleidet.
Wir können uns bei diesem Plädoyer für eine gewisse Aus-
weitung des traditionellen Martyriumsbegriffes durchaus auch
auf Thomas von Aquin berufen. Thomas sagt in IV. Sent. dist.
298
\
49 9.5 a.3 qc.2 ad ı1, durch einen Tod, der eine deutliche
Beziehung auf Christus hat, sei einer ein Märtyrer, wenn er die
Gesellschaft (res publica) verteidige gegen die Angriffe ihrer
Feinde, die den christlichen Glauben zu verderben trachten,
und in dieser Verteidigung den Tod erleide. Die Verderbnis des
Glaubens Christi, gegen die sich ein solcher Verteidiger der
Gesellschaft wehrt, kann sich selbstverständlich auch auf eine
einzelne Dimension der christlichen Überzeugung beziehen,
weil ja sonst auch das passive Erdulden des Todes um einer
einzelnen christlichen und sittlichen Forderung willen nicht
Martyrium genannt werden dürfte. Thomas verteidigt also in
seinem Sentenzenkommentar einen umfassenden Begriff des
Martyriums, so wie er hier vorgeschlagen wird.
Eine legitime «politische Theologie» und eine Theologie
der Befreiung sollten sich dieser Begriffserweiterung anneh-
men. Sie hat eine sehr konkrete praktische Bedeutung für ein
Christentum und eine Kirche, die ihrer Verantwortung für
Gerechtigkeit und Frieden in der Welt sich bewußt sein wollen.
293
EUCHARISTISCHE ANBETUNG
Die Kirche hat eine Geschichte, die noch lange nicht zu Ende
ist, die nur schwer oder gar nicht vorauskalkuliert werden kann
und immer wieder Überraschungen bringt. Das gilt auch von
der Frömmigkeit sowohl der einzelnen in der Kirche wie auch
von der Kirche und ihren großen Gruppen. Es gibt also eine
Frömmigkeitsgeschichte. Auch eine solche hat ihren immer
neuen Wandel, der vom Geist Gottes gewirktes Neues bringt
und auch immer unvermeidlich seine Gefahren hat.
Weil die Kirche Jesu Christi in diesem Wandel ihrer Ge-
schichte im allgemeinen und ihrer Frömmigkeit im besonderen
ihre Identität nicht verlieren darf und nicht verlieren wird unter
dem Beistand des Geistes Gottes und Christi, bleibt in dieser
Geschichte nicht nur durch allen Wandel hindurch ein bleiben-
des, selbes Wesen erhalten, sondern die Vergangenheit ver-
schwindet nie so, daß sie der Zukunft nichts mehr zu sagen
hätte. In der weitergehenden Geschichte kann ein Altes wieder
jung werden und die spätere Geschichte belehren und in-
spirieren. Es gibt darum, um eine neue Zukunft zu schaffen,
auch eine Rückkehr zu den Quellen. Das so immer wieder neu
lebendig werdende Alte geht nicht als eine unlebendige, tote
Gegebenheit in die spätere Zeit ein, nicht als ein respektvoll
bewahrtes Museumsstück, sondern bleibt, indem es sich leben-
dig in eine neue Zeit hinein entwickelt und so anders wird und
doch sein altes Wesen bewahrt.
Was so von der Kirche und ihrer Geschichte samt der Fröm-
migkeitsgeschichte im allgemeinen gesagt wurde, gilt auch von
der eucharistischen Frömmigkeit, von der Frömmigkeit, mit
der die Stiftung Jesu im Abendmahl immer neu gefeiert werden
muß. Von der Möglichkeit, Altes aus der eucharistischen
Frömmigkeitsgeschichte neu lebendig werden zu lassen,
solches Alte nicht einfach als Vergangenheit gleichgültig hinter
sich zu lassen, sondern als neue Möglichkeit und Aufgabe der
Zukunft zu sehen, soll in dieser kleinen Betrachtung die Rede
sein.
300
Es läßt sich, wenn man das heutige Leben der Kirche in
unseren Ländern vorurteilslos betrachtet, nicht leugnen, daß die
eucharistische Frömmigkeit einen gewissen Schwund erfahren hat. Wird
die stille Anbetung vor dem Tabernakel mit dem ewigen Licht
noch so geübt wie früher? Wie viele Klöster mit einer «ewigen
Anbetung» gibt es noch? Ist die Fronleichnams-Prozession
nicht an vielen Orten entweder aufgegeben worden oder doch
sehr reduziert? In wie vielen Kirchen braucht man heute noch
eine Monstranz? Die Kniebeugung vor dem Allerheiligsten ist
vielfach schon vergessen. Die vielen, die heute sich zum Got-
tesdienst versammeln, sitzen sofort auf den Bänken und warten
gelangweilt bis zum Gottesdienstbeginn. Daß man zunächst
einmal für ein paar Augenblicke hinknien und den in der
Eucharistie gegenwärtigen Herrn anbeten könnte, das scheint
sehr vielen nicht einmal als eine denkbare Möglichkeit in das
Bewußtsein zu dringen. Der Kommunion-Empfang bei der
Teilnahme am eucharistischen Gottesdienst ist mehr als früher
für viele fast zur selbstverständlichen Gewohnheit ihrer Sonn-
tagsfeier geworden, aber vielleicht doch oft zu sehr zur Selbst-
verständlichkeit und Gewohnheit. Die früher fast selbstver-
ständliche Gewohnheit einer privaten Danksagung nach dem
Kommunion-Empfang und dem Ende des gemeinsamen Got-
tesdienstes scheint mehr oder weniger vergessen zu sein. Es
gibt gewiß keinen notwendigen Zusammenhang zwischen der
sakramentalen Buße, der «Beichte», und dem Kommunion-
Empfang, so wie noch vor ein paar Jahrzehnten viele Christen
sich diesen Zusammenhang als verpflichtend dachten. Aber
steht die Verpflichtung zur sakramentalen Einzelbeichte nach
schwerer Schuld vor dem Kommunion-Empfang dem durch-
schnittlichen Christen von heute deutlich genug im Bewußt-
sein? Solche Beobachtungen eines Schwundes in der eucharisti-
schen Frömmigkeit könnte man noch erweitern. Was ist dazu
zu sagen?
Es können hier und jetzt gewiß nicht alle früher durch
Jahrhunderte selbstverständlich gewesenen Äußerungen der
eucharistischen Frömmigkeit bedacht und auf ihre Lebendig-
keit auch in der Zukunft befragt werden. Manches daran wird
301
sicher nicht überall eine Verheißung der Zukunft haben, so
fromm es gewesen sein mag und man, wenn man es früher
selbst erlebt hat, ihm nachtrauern wird. Ich weiß nicht, ob
jederzeit und überall in der Zukunft in jeder Kirche eine schöne
Monstranz zum selbstverständlichen Schatz der Kirche
gehören wird. Aber es gibt gewiß in der eucharistischen Fröm-
migkeit der Vergangenheit nicht weniges, was bleiben sollte,
was auch in Zukunft einen Sinn hat, was nicht untergehen
sollte, was zu der Vergangenheit gehört, welche die Zukunft, soll sie
groß sein, sich neu erwerben muß. Es soll hier heute nur eines davon
genannt und etwas bedacht werden: Das stille Gebet des einzel-
nen vor dem Tabernakel.
Gewiß kann man Gott überall im Geist und in der Wahrheit
anbeten. Gewiß hört der ewige Gott das Gebet, das einer in der
verschlossenen Einsamkeit seiner Kammer spricht. Gewiß
sollte der Christ immer besser verstehen, Gott in allem zu
finden, seinen Alltag zum Gottesdienst zu machen. Aber wenn
man ehrlich ist, wird man zugeben müssen, daß derjenige, der
immer und überall Gott liebend nahe ist, den gemeinsamen
Gottesdienst, das ausdrückliche Gebet in der Kirche mit seinen
Brüdern und Schwestern zusammen, die ausdrücklichen und
leibhaftigen Vollzüge seiner Gottesnähe erst recht schätzen
wird. Ein solcher, der Gott immer und überall nahe sein will,
wird gerade solche ausdrücklichen und leibhaftigen Vollzüge
seiner Frömmigkeit als liebend geübte Höhepunkte seiner
Gottverbundenheit schätzen. Er kennt keinen Gegensatz zwi-
schen der dauernden Geweihtheit seines Alltags und den aus-
drücklich gestalteten Weihestunden seines Lebens.
Solches gilt auch erst recht für die eucharistische Frömmig-
keit. Es gehört zum katholischen Glauben, daß Jesus Christus
mit Gottheit und Menschheit unter den eucharistischen Gestalten wahr-
haft gegenwärtig ist. Gewiß ist diese Gegenwart unter den Sym-
bolen menschlicher Nahrung ausgerichtet auf den wirklichen
Empfang und Genuß dieser eucharistischen Speise. Aber das
ändert nichts daran, daß in dieser Speise Jesus Christus mit
Gottheit und Menschheit nicht nur gegenwärtig ist, indem er
empfangen wird, sondern zuvor gegenwärtig ist, damit er
302
leibhaftig empfangen werden könne. Und darum kann der
katholische Christ Jesus, das göttliche Unterpfand seines
Heiles, unter diesen eucharistischen Zeichen anbeten. Solche
Anbetung ist im Vergleich zum wirklichen Empfang des
himmlischen Brotes zwar nicht der Höhepunkt des sakramen-
talen Geschehens, wohl aber eine legitime Konsequenz aus dem
katholischen Glauben an die wahre Gegenwart des Herrn im
Sakrament.
Diese Verehrung Jesu im Sakrament dürfte also nicht unterge-
hen. Sie mag eine Geschichte haben aus fast nicht bemerkbaren
Anfängen heraus. Aber in der Heilsgeschichte und in der Ge-
schichte der Kirche ist es nicht so, daß etwas schon einfach
darum wieder schwinden dürfte, weil es fast unbemerkt begon-
nen hatte. Nein: Wir katholische Christen wollen in Gemein-
schaft und als einzelne auf das Zeichen der Gegenwart dessen
blicken, der uns geliebt hat und sich für uns dahingegeben hat.
Es sollte für uns nicht fremd sein, auch einmal in privatem
Gebet vor dem Herrn zu knien, der uns erlöst hat.
Vor vierzig Jahren sah ich in Wien noch in der Straßenbahn
Leute sich bekreuzigen oder den Hut abnehmen, wenn die
Straßenbahn an einer Kirche vorbeifuhr. Solches mag uns
heute fremd geworden sein, und zwar mit Recht,so daß auf
Wiederbelebungsversuche solcher Äußerungen der Frömmig-
keit verzichtet werden kann. Aber echte, private und gemeinsame
Verehrung des Sakramentes des Altares, auch außerhalb des Kom-
munionempfangs, dürfte dennoch nicht untergehen. Man sollte
sich selbst einmal prüfend fragen, ob einem diese heilige Tradi-
tion einer eucharistischen Frömmigkeit noch etwas zu sagen
hat. Wir sind gefragt, ob wir dieser Überlieferung eine Zukunft
geben wollen. Dieses Alte birgt einen Segen für die Zukunft
in sich. Wir müssen ihn nur erreichen.
Ich meine, es solle auch in der Zukunft der Kirche, und zwar
nicht nur in den seltensten Fällen, so sein: Da kniet ein Christ
allein und still in einer Kirche vor dem Heiligen Schrein, in dem
das Brot des Lebens für seinen Empfang aufbewahrt wird.
Dieser Christ weiß, daß Gott überall ist, mit seiner Macht und
Liebe alles trägt, allem unsagbar nahe ist, die ganze Welt der
203
Dom zu seiner ewigen Anbetung ist. Aber dieser Christ weiß
auch, daß er selber noch lange nicht immer dem ihm immer
nahe seienden Gott in anbetender Liebe nahe ist; er weiß, daß
er selber immer noch Gottes Nähe suchen muß. Und er weiß,
daß der in Allmacht und Liebe überall gegenwärtige Gott, weil
wir ihm nicht immer nahe sind, sich selbst einzelne Orte und
Wirklichkeiten geschaffen hat, die es uns, den in Raum und
Zeit Gefangenen, leichter machen, seine Gegenwart zu er-
greifen. — Jesus aber ist das Ereignis, in dem Gott unüberbiet-
bar und unwiderruflich für den endlichen Menschen seine
heilschaffende Gegenwart gegeben hat. Und vor diesem leibhaf-
tigen Jesus, wenn auch verhüllt unter sakramentalen Zeichen, kniet
dieser Christ. In Jesus ist die unüberbietbare und endgültige
Weltwerdung Gottes gegeben, und diese meldet sich, gewisser-
maßen in der Phase der Rückführung der Welt in die Herrlich-
keit Gottes, in diesem Sakrament an. Vor ihm kniet der Christ.
Er schaut auf den, den sie durchbohrt haben; er ist dem ganz
leibhaftig nahe, in dem Gott die Welt als seine eigene Wirklich-
keit angenommen hat. Der betende Christ schweigt, er nimmt
die stille Ruhe dieses Sakramentes entgegen, er kann diesem
sakramental gegenwärtigen Herrn seines Lebens dieses oder
jenes Anliegen vortragen; aber letztlich will er durch diesen
sakramental gegenwärtigen Jesus eben doch nur aufgenommen
werden in die Wahrheit und Liebe Gottes, die sich schweigend
von diesem sakramentalen Zeichen her ausbteitet.
Ich meine, wir dürfen auch heute und in Zukunft das, was
so unsere christlichen Vorfahren geübt haben, nicht vergessen.
Das ewige Licht unserer katholischen Kirchen lädt auch heute
noch zum schweigenden Verweilen vor dem Geheimnis
unserer Erlösung ein.
304
HERZ-JESU-VEREHRUNG HEUTE
306
dig und gut waren, die wir uns selber aber mit Recht nicht mehr
zumuten, wie eine besondere Verehrung der fünf Wunden
Jesu, des Prager Jesukindes, die besondere Verehrung des
kostbaren Blutes, der 14 Nothelfer und viele ähnliche Übungen
der christlichen Frömmigkeit, die einmal Geist und Herz der
Christen gefangennahmen und entzückten.
Wenn man aus der Geschichte von vielen Jahrhunderten
weiß, welche Bedeutung das Ablaßwesen in der Kirche hatte,
und diese Schätzung der Ablässe vielleicht noch selbst vor 5o
Jahren erlebte, wenn man dann bedenkt, daß sogar ein so auf
Tradition bedachter Papst wie Paul VI. trotz der aufrechterhal-
tenen traditionellen Ablaßlehre die Freiheit des Christenmen-
schen den Ablässen gegenüber unbefangen einräumte, und
wenn man merkt, daß diese nur noch in kleinen religiösen
Subkulturen wirklich vorkommen, im Gesamtbewußtsein der
lebendigen Kirche aber keine Rolle mehr spielen, dann kann
man sich natürlich fragen, ob nicht auch für die Herz-Jesu-
Verehrung ein ähnliches Schicksal heraufzieht.
Das gilt nun darum auch — davon bin ich überzeugt — von der
Verehrung des Göttlichen Herzens in ausdrücklicher Spiritua-
lität und eigentlichem Kult. Gewiß ist, geschichtlich gesehen,
diese Verehrung — trotz aller Wurzeln in der Johanneischen
Theologie des durchbohrten Herzens als der Quelle von
Wasser und Geist, aus der die Kirche geboren wird, trotz aller
Anfänge ausdrücklicher Verehrung im Mittelalter — ein ge-
schichtliches Ereignis und eine geschichtliche Erfahrung, die
der Kirche erst in der Neuzeit geschenkt wurde. Selbstver-
ständlich hat diese geistliche Erfahrung ihre menschlich-ge-
schichtlichen Bedingtheiten, die nicht immer dieselben bleiben
müssen. Selbstverständlich haben das gläubige Bewußtsein und
die theologische Reflexion erst langsam gelernt und begriffen,
was dieser geistlichen Erfahrung eigentlich geschenkt wird,
was eigentlich gemeint ist, wenn vom Herzen Jesu gesprochen
wird, so daß nicht alles bleiben muß, was in dieser mühsam die
geistlichen Erfahrungen nachvollziehenden Theologie der
Herz-Jesu-Verehrung einmal gesagt wurde und was an kon-
kreten Formen der religiösen Praxis in dieser Verehrung einmal
lebendig war. Aber wenn wir auf die Geschichte der Herz-Jesu-
Verehrung blicken — nicht oberflächlich und naseweis, verach-
tend — und schen, was darin an spiritueller und charismatischer
Erfahrung lebendig war, wenn wir alle die kirchenamtlichen
Erklärungen über diese Verehrung und den liturgischen Kult
des Herzens Jesu in seiner ganzen Erhabenheit und Eindring-
lichkeit bedenken, dann können wir nicht mehr zu sagen
312
1
315
chen Bewußtsein etwas ereignet, das scheinbar nur das Resultat
und Echo dieses bürgerlich aufgeklärten Optimismus ist, darin
gewiß auch ein günstiges Klima seines Wachstums fand, aber
im letzten Grunde eine ganz andere Ursache und eine ganz
andere Legitimation hat. Die Kirche hat angefangen, von ihrer
Offenbarung, die Jesus heißt, das Heil aller als ein solches zu
hoffen, das nicht nur eintreten kann, sondern eintreten wird. Die
Kirche wird zwar nie eine theoretische Lehre einer universellen
Apokatastasis verkünden, denn sie wird sich immer neu auch
dem Schrecken der apokalyptischen Drohreden Jesu in Demut
und unter Verzicht eines theoretischen Vorwitzes in der
Eschatologie aussetzen. Aber, so meine ich, die Kirche hat
gelernt, eine universelle Hoffnung für alle zu haben und sich eine
theoretische und dogmatisch verpflichtende Aussage über das
tatsächliche Eintreten von endgültiger Verlorenheit eines
Teiles der menschlichen Geistesgeschichte zu versagen.
Thomas von Aquin meinte noch, man könne nur für sich
hoffen und nicht für andere. Heute hofft man doch für sich,
weil man weiß, daß man das darf, weil man für andere hoffen
muß und es für alle darf. Früher diskutierte man, wieviel Pro-
zent aus der massa damnata der Menschheit von Menschen und
von Christen tatsächlich gerettet werden, und empfand — von
der augustinischen Erbsündenlehre her — das Scheitern der
menschlichen Existenz in endgültige Verlorenheit hinein als
den Normalfall, als das Ergebnis einer göttlichen Prädestina-
tion unbegreiflichen Gerichtes, und man empfand das Gerettet-
Werden von ein paar Auserwählten als Werk Gottes, der nur
so wirklich erweisen könne, daß er nicht nur der Gott der
Gerechtigkeit gegen die vielen Verdammten, sondern auch ein
Gott der Gnade für die wenigen Auserwählten sein wolle und
könne. Heute halten wir keine Höllenpredigten im alten Stile,
auch wenn wir im Leben und in der Verkündigung immer noch
notwendig realisieren müssen, daß wir die Sünder sind, die von
sich aus verloren sind und die unbegreifliche Gnade Gottes
nicht als etwas besitzen, über das sie selber verfügen können.
Wie das II. Vatikanum, fast ohne darauf zu reflektieren,
zeigt, gibt es heute eine universale Hoffnung des seligen Aus-
314
gangs der ganzen Geschichte — nicht mehr. Aber dies ist eine
jetzt der Kirche gegebene und berechtigte Frucht, die von dem
gekreuzigten, mit der Schuld der ganzen Menschheit beladenen
und so in den Abgrund der Seligkeit stürzenden Jesus her der
Kirche in einer langen Geschichte ihres Glaubensbewußtseins
geschenkt wurde. Und nun das Erstaunliche und etwas, das
einen zutiefst erschüttern kann: Mit diesem in ihrer Glaubens-
geschichte gewonnenen Heilsoptimismus, der eine billige
Frucht eines anmaßenden Optimismus der aufgeklärten Welt
zu sein schien, zieht die Kirche in die Zukunft und wird diesen
Optimismus, den sie von Gott geschenkt erhielt, auch bewah-
ren. Aber diese Zukunft, in die sie so mit ihrem Mut für ein
universelles Heil hineinzieht, ist doch — wenn nicht alle Zeichen
trügen — eine ganz andere Zeit als die, aus der die Kirche und
die Welt kommen. Diese anbrechende Zeit ist doch — ohne daß
einem, der will, auch ein größerer säkularer Optimismus ver-
boten werden soll — eine Zeit, in der die Menschen in vielerlei
Hinsicht an Grenzen stoßen, die nicht mehr überwunden
werden können, eine Zeit der Krisen ohne greifbare Alter-
nativen, eine Zeit der Resignation, der Müdigkeit und
Sterilität, der Erschöpfung, eine Zeit, in der der einzelne immer
dümmer wird, weil er der ungeheuren Masse des an sich Wiß-
baren immer hilfloser gegenübersteht, eine Zeit, in der er —
trotz aller Parolen von Freiheit und Demokratie - immer mehr
verplant wird und werden muß, weil sonst die ungeheure
Masse der Menschen gar nicht koexistieren kann, weil sonst die
Menschen sich durch Atomkriege zum guten Teil ausrotten
müßten, um für die Überlebenden wieder einen genügenden
Lebensraum zu haben. Wir leben in einer Zeit, in der die
anthropologischen Wissenschaften wie besessen daran arbeiten,
den Menschen zu desillusionieren, aufzulösen, ihn als das bloße
Produkt einer zufälligen Evolution, seiner Mächte des Unterbe-
wußtseins und seiner Triebe und einer Gesellschaft zu entlar-
ven, die auch nicht weiß, woher sie kommt und wohin sie geht.
Die vom Menschen selbst ausgebeutete Natur bedroht den
Menschen, und er selbst hat gelernt, wie man einen universellen
Selbstmord der Menschheit bewerkstelligen kann.
315
In eine solche Menschheit zieht die Kirche mit der Botschaft
von Jesus Christus als dem universellen Heil hinein, von Jesus
Christus, von dem wir zu hoffen wagen dürfen, daß der einzel-
ne und die Menschheit sich auf das ewige Heil in Gott in
irreversibler Eindeutigkeit hinbewegen, und zwar auch dann
und dort, wo sie nur in den finsteren Abgrund des Todes zu
stürzen scheinen.
Die Kirche hält diese Hoffnung, weil sie dem wahren Gott
und dem gekreuzigten Jesus treu bleiben will, auch fest in all
der Erfahrung einer grauenhaften Bosheit der Weltgeschichte,
die sich in der Zukunft nicht aufzulösen scheint, sondern nur
neue und unerhörte Weisen erfindet, sich in auswegloser
Schuld auszutoben. In solcher Hoffnungslosigkeit der Gegen-
wart und der Zukunft bleibt die Kirche die universell Hoffen-
de, die, die selber heute radikaler zu hoffen wagt als in ihren
früheren Zeiten.
Die universelle Hoffnung ist kein bequemes Analgetikum in
den Miseren der eigenen Zeit, sondern, vom Menschen her
gesehen, eine ungeheuerliche Überforderung; sie ist eine
moderne Gestalt der Torheit des Kreuzes, der Hoffnung wider
aller Hoffnung, eine Torheit, die die Weisheit Gottes gegen die
Weisheit der Welt ist, in der sie an sich zu verzweifeln beginnt;
sie ist die Tapferkeit des Lebens, die allein eigentlich frei macht,
die ohne ein Kalkül, das nie aufgeht, lassen und geben lehrt,
die allein letztlich das Sein vor das Haben stellen kann, die auch
noch den Feind lieben kann, der einen tötet. Diese Hoffnung
dispensiert uns gewiß nicht davon, in mühsamer Überlegung
und tatkräftig auch im Kampf - selbst mit Gewalt, wenn es sein
muß — die Erde für möglichst viele leidlich bewohnbar zu
machen. Aber diese universale Hoffnung, zu der als deutlicher
Wahrheit die Kirche selber erst langsam gefunden hat, kann
doch in einer sonst gar nicht denkbaren Weise die Finsternis
erhellen, in die wir heute mehr und mehr geraten, die wir heute
und morgen aushalten müssen, selbst wenn einer meint, denken
zu können, daß auch innerhalb der Geschichte solche Finster-
nisse wieder durch lichtere Perioden und Epochen abgelöst
werden. Und wenn wir heute weniger individualistisch,
316
sondern politisch und kollektivistisch denken oder es zu tun
uns wenigstens einbilden, dann ist doch die universelle Hoff-
nung, daß diese Gesamtgeschichte nicht schließlich doch in
einen endgültigen Abgrund des Nichts stürzt und es auch nicht
einen ewigen und endgültigen Müllhaufen für einen Teil dieser
Gesamtgeschichte geben müsse, die letzte Bestätigung und
Krönung einer solchen Mentalität und einer politischen
Theologie.
Die universelle Hoffnung, die vom einzelnen je für sich
ergriffen und in seinen unausweichlichen Tod hineingenom-
men wird, ist für ihn heute die Form seiner Hoffnung, die, zu
den drei göttlichen Tugenden gehörend, ihn rettet und selig
macht. Denn wer hat schon heute den Mut eines elitären
Vertrauens auf seine eigene absolute Zukunft in Vollendung,
wenn er nicht die selige Verpflichtung, für alle anderen zu
hoffen, auf sich nehmen würde?
318
als Erbarmen erfährt. Nicht, als ob er dieses vergebende und
rettende Erbarmen von Gott und der Radikalität seiner Unbe-
greiflichkeit und Souveränität unterscheiden und loslösen und
so diese Gnade seines individuellen Heils doch als die selbstver-
waltete an sich reißen dürfte. Nein, der Mensch muß sich
restlos in dem, was wir Glaube und Hoffnung nennen, unbe-
dingt und ohne Vorbehalt an Gott übergeben. Aber er kann
das nur, wenn er sich an Gott als die Liebe übergibt, an die er
glauben und auf die er als die ihm geschenkte hoffen darf und
muß. Dieser Akt als der reflex gewußte ist ihm aber nur vor
Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, vor
Seinem Herzen möglich, vor Seinem durchbohrten Herzen,
dem Herzen, das selbst in die unauslotbare Not des Todes und
der Gottesverlassenheit geraten ist, das sich dem Gericht
Gottes über die Welt ergab, vor dem Herzen, das — das ist
jedesmal das neue, nicht mehr ableitbare Wunder der Gnade —
uns den sich selbst vergessenden Mut gibt, an Seine Liebe als
die je mir geschenkte zu glauben (oder, wenn es genauer sein
sollte), sie zu erhoffen in jenem Akt der Hoffnung, der mehr
ist als bloß der allgemeine Glaube, der schon Aufgang der
Liebe ist. Wir schauen auf das Herz des Herrn, und die Frage,
die eine Ewigkeit entscheidet, erfüllt das Inwendigste unseres
Seins, unseres Herzens und unseres Lebens: Liebst du mich?
Liebst du mich so, daß diese Liebe eine selige Ewigkeit, mein
ewiges Leben wahrhaft, machtvoll und unüberwindbar schafft?
Diese Frage erhält keine Antwort, die kein Geheimnis mehr
wäre, die man sich selbst sagen könnte. Sie geht ein in das
Geheimnis, das in diesem Herzen des Herrn uns nahe geworden
ist. Aber wenn diese Frage eingeht in dieses Herz, weil in
Glaube, Hoffnung und Liebe gefragt wird, dann ist sie nicht
beantwortet, sondern überholt und überwunden von dem Ge-
heimnis, das Liebe ist, vom Fraglosen des Geheimnisses
Gottes.
Gott, ewiges Geheimnis, Unermeßlichkeit ohne Namen,
seliger Abgrund, der alles birgt, von keinem umfaßt, Du hast
Dein ewiges Wort selbst in Deine Schöpfung und in unser
Dasein ausgesagt, damit Dein ewiges Geheimnis die unsagbare
319
bergende Nähe für uns und die Mitte der Welt selbst werde!
Wir schauen auf dieses Dein ausgesagtes Wort, wir schauen auf
den, der das Herz der Welt ist, wir blicken auf das Herz des
Sohnes, das wir durchbohrt haben. Alle Unbegreiflichkeit, die
wir und unser Dasein sind, birgt sich in diesem Herzen; alle
Angst des Daseins bleibt von ihm gefaßt, alles Hohe und
Heilige wandert zurück zu diesem seinem Ursprung. Alles
findet dort sein wahres Wesen und erkennt sich als Liebe. Alles
geht ein in das Geheimnis, das selige Liebe ist.
Man kann die Herz-Jesu-Verehrung eigentlich nicht von
außen andozieren. Man muß im Vertrauen auf die Kirche und
ihren Geist selber versuchen, sich ihrem Geheimnis zu nähern;
man muß einmal in den lichten oder finsteren Stunden des
Lebens zu beten versuchen:
Herz- Jesu, erbarme dich meiner.
Man muß einmal eine solche Bitte vielleicht in der Weise des
Jesusgebetes des russischen Pilgers zu üben versuchen; man
kann vielleicht wagen, dieses Wort ähnlich wie ein Mantra
östlicher Meditation zu gebrauchen. Über all das hinaus muß
man aber im Leben erfahren, daß es das Unwahrscheinlichste,
Unmöglichste und so Selbstverständlichste ist, daß Gott, der
Unbegreifliche, uns wahrhaft liebt und diese Liebe in der des
Herzens Jesu Christi unwiderruflich geworden ist; da erst, da
aber - so wagen wir zu hoffen — für alle.
320
MUT ZUR MARIENVEREHRUNG
322
weitergewirkt hat, so sollte man das, richtig besehen, gar nicht
als Vorwurf gegen die Marienverehrung lesen. So etwas
beweist höchstens die doch herrliche Tatsache, daß das Chri-
stentum keine menschliche Dimension und Erfahrung in seiner
Religiosität ausläßt, daß es keine Berührungsängste hat, nicht
meint, die Erhabenheit seines gnadenhaften Gottesverhältnis-
ses werde gefährdet, wenn der christliche Existenzvollzug
irdisch, sinnlich, blutvoll wird und in ihm sich auch alles das
ausspricht, was zum Menschen gehört. Wenn die Marienvereh-
rung heute im Vergleich zu früher abstrakt und blutleer gewor-
den zu sein scheint, ist die Beobachtung humaner Mitursachen
der alten Marienverehrung eher eine Frage und ein Vorwurf an
uns heute. Wie wenig ist uns heute im Durchschnitt übrigge-
blieben an Verständnis für all das sublim hohe Menschliche, das
einst in der Marienverehrung lebendig war? Ist es nicht ein
Zeichen der Banalität unseres heutigen Empfindens, wenn wir
nur noch wenig Interesse in uns spüren, in unserem Leben ein
Bild der großen, schönen und reinen Frau aufzurichten und
andachtsvoll mit Blumen zu schmücken? Die Demo-
kratisierung der Gesellschaft und auch eine berechtigte Eman-
zipation der Frau sind gewiß unausweichliche und in sich
zunächst legitime Entwicklungen in der heutigen Gesellschaft
und geistigen Welt. Aber sie sollten doch in uns nicht die
Fähigkeit verkümmern lassen, auch ein hehres Bild eines Men-
schen voll hoher Würde über unserem Alltag zu verehren,
sollten in uns nicht eine profane Mystik (wenn man so sagen
darf) einer Verehrung der Frau ersticken, wie sie sich doch auch
noch in unserem Jahrhundert z.B. im «Seidenen Schuh» von
Paul Claudel aussprach. Das heutige Defizit der Marienvereh-
rung ist im Grunde die Folge eines humanen Defizites bei uns.
523
eine Anzeige für einen Rückgang in unserer Fähigkeit, das
eigentlich Christliche existentiell und religiös zu realisieren,
sosehr es selbstverständlich begrüßenswert ist, daß in der
heutigen kirchlichen Frömmigkeit Auswüchse und falsche Ak-
zentuierungen in der Marienfrömmigkeit zurückgebildet
wurden, die manchmal den Eindruck machen konnten, in
dieser Frömmigkeit werde die radikale Beziehung zu dem un-
begreiflichen Gott ersetzt durch eine Frömmigkeit, die sich nur
noch auf die machtvolle Wirklichkeit der «unbefleckten Jung-
frau» bezieht.
Zunächst einmal: Haben wir noch ein echtes, von den Grund-
überzeugungen des Christentums her uns zugemutetes Verhält-
nis zu unseren Toten? Oder leugnen wir zwar als Christen nicht
ihre bleibende Gültigkeit und Wirklichkeit vor Gott durch den
Tod hindurch, verzichten aber auf eine lebendige Beziehung zu
ihnen? Glauben wir und realisieren wir religiös die «Gemein-
schaft der Heiligen», die lebendige Verbundenheit aller Men-
schen, die in Gottes heiliger Liebe geborgen und vereint sind,
gleichgültig, ob sie auf Erden leben oder schon ihre Vollen-
dung gefunden haben?! Eine modernste Theologie geht zwar
davon aus, daß die ganze christliche Überzeugung und die
Möglichkeit eines theologischen Redens auf unserer Solidarität
mit den in dieser Geschichte Zu-kurz-Gekommenen und Toten
basieren könne und müsse; daß man nur in einem letztlich
banalen und innumanen Egoismus auf diese Solidarität verzich-
ten könne, indem man die frühere Geschichte der Toten und
der in der Geschichte Zu-kurz-Gekommenen zum Humus her-
abwürdige, auf dem das armselige Glück von uns, den Späteren
und dem künftigen Paradies Nähergekommenen, erblühe. Aber
ist eine solche Solidarität mit den Toten eine Wirklichkeit in
unserem religiösen Leben? Leben die Toten noch für uns, oder
! Vgl. dazu K. Rahner, Die Gemeinschaft der Heiligen und die Heiligen-
verehrung, in: Die Heiligen heute ehren. Eine theologisch-pastorale Handrei-
chung, hrsg. von W. Beinert, Freiburg i. Br. 1983, 233—242.
324
.
22)
berührt, die uns heute diese lebendige Beziehung zu den Toten,
die leben, fast unmöglich zu machen scheint, eine Schwierig-
keit, die früher offenbar nicht so empfunden wurde — wobei
allerdings diese größere Leichtigkeit und Selbstverständlich-
keit, die lebendige Existenz der Toten religiös zu realisieren,
nicht ohne weiteres für die Menschen früherer Zeiten spricht,
sondern auch teilweise in einem Mangel der religiösen Realisa-
tion der Unbegreiflichkeit und Unverfügbarkeit Gottes ihre
Ursache haben kann. Aber wir haben heute von den Plausibi-
litäten unseres eigenen Empfindens her den Eindruck, die
Toten verschwänden in der Namenlosigkeit und Unverfügbar-
keit Gottes, und zwar gerade dann um so radikaler, je mehr wir
sie bei Gott selber und nicht in irgendeiner bloß kreatürlichen
Vollendung angekommen glauben. Aber gerade an diesem
Punkt protestiert nun der christliche Glaube gegen diese unsere
Plausibilitäten, nach denen wir, die endlichen Kreaturen, um
so mehr ausgelöscht wären, je mehr die Unendlichkeit und
Unbegreiflichkeit Gottes in unsere Existenz einbricht.
Der christliche Glaube sagt — auch wenn diese Botschaft
unseren Geist und unser Herz zu überanstrengen scheint —, daß
beides in Einheit wahr ist: daß Gott alles in allem ist und daß
dennoch dann, wenn er in seiner Absolutheit wirklich bei uns
angekommen ist, wir gerade so bestehen und vollendet werden.
Der christliche Glaube sagt, daß Gott keine Konkurrenz zu der
von ihm verschiedenen Kreatur ist. Der christliche Glaube
bekennt, daß Gott als er selber mit seiner Unendlichkeit und
Unbegreiflichkeit im Lande unserer Endlichkeit ankommen
könne — er selber bei uns selber —, ohne daß er verendlicht
werden müsse oder wir vergehen müßten in der brennenden
Unbedingtheit seiner Göttlichkeit. Von da aus also gebietet uns
der radikale Optimismus des Christentums, Gott als ihn selber
dort zu suchen, wo nach unserer kümmerlichen und resi-
gnierenden Meinung er gar nicht sein könne, ohne diese End-
lichkeit selber aufzulösen, gebietet uns, Gott bei uns auf Erden
und nicht nur in seinem eigenen Himmel zu suchen.
326
Heiligenverehrung
547
des Menschen in Gnade Gott selber ist.
Von einer solchen Theologie der Heiligenverehrung, von
einer Theologie des Abstieges Gottes in die Welt und einer
radikalsten Solidarität Gottes mit dem Menschen her ist
zunächst die Marienverehrung zu verstehen. Wenn es ein
Finden Gottes im geliebten konkreten, von Gottes eigener
Wirklichkeit erfüllten Menschen geben darf und gibt, dann gilt
das natürlich vor allem einmal von der heiligen Jungfrau und
Mutter Jesu, der Gebenedeiten unter den Frauen, die nach dem
Wort der Schrift von allen Geschlechtern selig zu preisen ist.
329
Ob man Maria Miterlöserin und Mittlerin aller Gnaden
nennen mag, wie man es schon vorgeschlagen hat und es auch
in päpstlichen Erklärungen von sekundärer Art geschehen ist,
oder ob man dies vermeiden will, um Mißverständnisse und
Verdunkelungen der einen einzigen Mittlerschaft Jesu Christi
zu vermeiden, das ist keine entscheidende Frage für Glaube und
Theologie. Auf jeden Fall aber erkennt der katholische Glaube
Maria eine einzigartige und einmalige Stelle in der einen Heils-
geschichte zu, in der schließlich ja alle für alle eine solidarische
Heilsgemeinschaft bilden. Sie ist die zweite Eva, die Mutter
Jesu und so aller Glaubenden. Ihr Ja, durch das hindurch ihr
nach dem Wort des Engels geschah, begründet für den Christen
Grund und Dimension seines Heiles mit, wenn er wirklich in
Jesus Christus seinen Heiland und Erlöser und die unüberbiet-
bare Nähe Gottes zu ihm in der Geschichte glaubt, weil dieser
Jesus zwar selbst seiner Mutter dieses Ja schenkte, aber eben
durch dieses Ja hindurch in diese Welt eintrat.
339
Einzelbestimmtheiten gehöre, die das ewige Wort Gottes so
oder so annehmen muß, wenn es in einer zahlenmäßig einen
Menschennatur unsere Geschichte ergreifen will. Oder wir
werden diese Frage wenigstens in gelassenem Gehorsam der
souveränen Verfügung Gottes anvertrauen, zumal wir ja auch
nicht gefragt werden konnten, ob wir als Mann oder als Frau
Mensch werden wollten mit der Unbegrenztheit unserer, alle
Geschlechtsdifferenz übergreifenden, wenn auch nicht auf-
hebenden Bestimmung. Wir müssen in diesem Zusammenhang
auch bedenken, daß die wahre menschliche Wirklichkeit auch
des Mittlers Jesus Christus mit jener göttlichen Selbstmit-
teilung, Gnade genannt, erfüllt werden mußte, wie sie allen
Menschen, ob Mann oder Frau, von Gott zugedacht ist. Wenn
wir unter diesen Voraussetzungen die einmalige und unersetzli-
che Stellung und Funktion der Heiligen Jungfrau bedenken,
werden wir wohl nicht mehr sagen können, daß man in der alle
Menschen solidarisch umfassenden Heilsgeschichte von
Glaube und Theologie her der Frau eine geringere Funktion
und Aufgabe zuerkennen müsse als dem Mann.
Allerdings meine ich, daß heute von unserer für uns gültigen
Anthropologie her jede christliche Theologie vor die Frage
gestellt ist, welchen Rang in der Heilsgeschichte sie der Frau
zuzuerkennen vermag. Die traditionelle katholische Theologie
hat in ihrer Mariologie die Eigenart und Einmaligkeit der Frau
im allgemeinen schon gewürdigt und muß diesen ihren maria-
nischen Grundansatz nur noch weiter und unbefangener als
bisher im Ganzen der Theologie und des christlichen Lebens
entfalten.
334
Diejenige Heilsgeschichte, die die Dimension und Situation der
Gewinnung des Heiles und der menschlichen Vollendung für
jeden von uns begründet, ist nicht untergegangen in bloßer
Gewesenheit, sondern lebt real in Endgültigkeit in all den
Menschen, die schon in Gott vollendet sind und gerade in
Gottes scheinbar nur schweigenden Unbegreiflichkeit endgül-
tig zu ihrer höchsten Wirklichkeit gekommen sind. Auf diese
realen Menschen zielt die Heiligenverehrung und findet in
ihnen Gott selbst, dessen Gnade in ihnen Wirklichkeit und
Vollendung gefunden hat. Und so eben auch in Maria, und
zwat, indem dabei auch ihre einmalige Stellung in der Heilsge-
schichte für uns glaubend realisiert wird. Denn die selig Geret-
teten sind ja keine abstrakten Schemen von gleicher Art,
sondern die konkreten Menschen, in denen ihre irdische Ge-
schichte in deren Einmaligkeit gerettet und endgültig gewor-
den ist. Wir haben schon gesagt, daß in etwa eine solche
Beziehung zu diesen endgültig gewordenen Menschen für uns
heute eine Schwierigkeit bedeutet, die unsere ganze religiöse
Kraft herausfordert, damit die schweigende Unendlichkeit
Gottes, in die die Toten eingegangen sind, diese nicht aus-
löscht, sondern erst recht bestätigt und in sich und für uns
gültig macht. Aber ein solches Vermögen, die einzelnen noch
in der weiselosen Wirklichkeit Gottes zu sehen und Gott zuzu-
trauen, diese einzelnen nicht in sich untergehen, sondern in
ihrer Einzelheit aufgehen zu lassen zu Endgültigkeit, ist für den
Christen doch grundsätzlich schon garantiert, weil er ja minde-
stens dem verklärten Menschen Jesus gegenüber ein solches
Verhältnis realisiert, in dem dieser Mensch noch immer in der
Unbegreiflichkeit Gottes erkennbar und geliebt bleibt und
darin gerade die höchste Macht Gottes über alle Unendlich-
keitsmetaphysik hinaus angenommen wird.
Konkrete Marienverehrung
Wie weit dies dem einzelnen Christen in seiner religiösen Ent-
wicklung tatsächlich gelingt, wie deutlich oder nur sehr
schwach und dunkel es ihm gelingt, gewissermaßen die einzel-
397
nenseligen Menschen in der überlichten Finsternis Gottes noch
auszumachen, ohne sie dabei gleichsam zu magisch wirksamen
Untergöttern zu verfälschen, das ist eine Frage der religiösen
Individualgeschichte, die man nicht für alle auf einmal in glei-
cher Weise beantworten kann. Im Hause seines Vaters, sagt
Jesus, sind viele Wohnungen, und nicht jeder hat jedes Charis-
ma, das der Heilige Geist Menschen mitteilen kann. Es ist
einerseits durchaus legitim, wenn jemand bescheiden und nüch-
tern von sich zugibt, ein bestimmtes Charisma, das er bei einem
anderen neidlos anerkennt und bewundert, nicht oder höch-
stens sehr rudimentär zu besitzen, vorausgesetzt, daß er an-
dererseits sich nicht grundsätzlich und radikal gegen ein solches
Charisma verschließt, wenn es ihm in seiner religiösen Lebens-
geschichte durch die Gnade Gottes angeboten wird. So ist es
auch bei der Marienverehrung.
Vielleicht ist sie bei einem nur sehr keimhaft gegeben, in
einem guten Willen, sich nicht grundsätzlich skeptisch oder
hochmütig über die Marienverehrung anderer in der Kirche
erhaben zu fühlen. Man kann ein guter Christ sein in der
katholischen Kirche, auch wenn man in sich selber wenig von
jener glaubensmäßig tiefen und herzensmäßig begeisterten Ver-
ehrung der Heiligen Jungfrau entdecken kann, die man an
anderen beobachtet. Es muß nicht immer neurotische Emp-
findlichkeit sein, wenn verheiratete Frauen in der Verehrung
manchen Bildes der jungfräulichen Mutter eine stille Dis-
kriminierung herausspüren. Geht es oft nicht um Marienmy-
thos statt um Marienglauben? (V. Schurr) Man hat gewiß das
Recht, bestimmte Formen der Marienverehrung abzulehnen,
wie auch das Zweite Vatikanische Konzil betont, wenn solche
Formen in Aberglauben abirren oder zu Praxen greifen, die mit
der Einmaligkeit des Mittlertums Jesu Christi oder der freien
Souveränität der göttlichen Gnade in Widerspruch stehen und
der absurden Meinung huldigen, man könne sich der Liebe
Marias eher vergewissern als der grundlosen Barmherzigkeit
und Liebe des ewigen Gottes.
Aber wenn man sich redlich und nüchtern einen gewissen
Abstand zwischen der eigenen religiösen Praxis und einer an
333
sich legitimen Marienverehrung eingesteht, und wenn man
dieses Eingeständnis sich ruhig machen darf, dann soll man
daraus doch kein Prinzip machen, sondern sich offenhalten für
eine Weiterentwicklung seines religiösen Lebens, in der auch
eine intensivere und ausdrücklichere Marienverehrung ihren
Platz haben kann. Denn für ein wirklich radikal christliches
Verhältnis des Menschen zu Gott ist es, wie jetzt schon oft
betont, nicht so, daß die Menschen untergehen, wenn und je
mehr sie sich Gott und seiner Unbegreiflichkeit nahen.
Und überdies ist nicht zu übersehen, daß in der einen Ge-
meinschaft der Heiligen, in dem mystischen Leibe Christi, die
einzelnen je verschiedene Befähigungen und Aufgaben haben,
daß also der Kirche als ganzer eine Befähigung und Aufgabe
der Marienverehrung zukommen kann, die nicht im gleichen
Maß auch die Befähigung und Aufgabe jedes einzelnen sein
muß. Die Kirche als ganze hat eine Beziehung zu Maria, auch
wenn dieselbe Beziehung nicht in der gleichen Ausdrücklich-
keit und Intensität dem einzelnen zugemutet werden kann. Die
Kirche als ganze hat von Anbeginn schon Maria verehrt und
gepriesen, wie schon die Evangelien bei Lukas und bei Johan-
nes es bezeugen. Man mag von dem Titel Marias als der
«Mutter der Kirche», den das Konzil vermied und den Papst
Paul VI. dennoch aufgriff?, bezüglich seines genaueren Inhaltes
und seiner Verständlichkeit denken, wie man will; die Kirche
als ganze hat auf jeden Fall in allen Zeiten, wenn natürlich auch
in einer wechselvollen Geschichte mit immer wieder anderen
Akzentsetzungen, die Heilige Jungfrau verehrt. Dieser Lob-
preis Marias gehört einfach in das Selbstverständnis der Kirche
hinein, denn die Kirche ist trotz aller bleibenden Bedrohtheit
und Sündigkeit in ihrer noch andauernden Geschichte eben
doch die heilige Gemeinschaft derer, die nicht nur an eine
abstrakte Heilsmöglichkeit glauben, sondern in Hoffnung davon
überzeugt sind, daß die Macht der Gnade Gottes diese Mög-
lichkeit an ihnen auch tatsächlich in Wirklichkeit umsetzt.
334
Daher gehört die Anerkennung der siegreichen Ankunft der
Macht Gottes in der Gefährdung unserer Existenz zum Selbst-
verständnis der Kirche.
Wie aber sollte sie deutlicher und konkreter dieses ihr Selbst-
verständnis, das Gottes Gnade preist, realisieren als dadurch,
daß sie einen Menschen nennt, in dem dieses Wunder siegrei-
cher Gnade Gottes in allen Dimensionen dieses Menschen sich
ereignet hat und der gerade so zu ihr, der Kirche, selbst gehört?
Indem die Kirche Maria preist und ehrt, nimmt sie konkret und
beim Namen genannt das entgegen, was Gott an ihr, der Kirche
getan hat und tut bis zum Ende der Zeiten. Die Kirche erfüllt
die Prophezeiung Marias, daß alle Geschlechter sie seligpreisen
werden, weil Gott auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut
hat. Und indem die Kirche Maria so preist, wird sie ihrer
eigenen Berufung konkret und nicht bloß in abstrakter Theorie
inne, der Berufung, daß Gott in ihr alles in allem wird und doch
gerade so die selige Gültigkeit der Menschen erreicht wird.
335
ZUM VERSTÄNDNIS DES
WEIHNACHTSFESTES
336
anzunehmen versuchen, wenn wir nüchtern, aber nicht banal
leben, darum können wir sehr nüchtern Weihnachten feiern.
Weihnachten ist wirklich der Anfang jener Vollendung, in
der Jesus, bedingungslos und ohne an irgend etwas anderem
als an Gott festzuhalten, sich in die Unbegreiflichkeit Gottes
als seine eigene, durch ihn selbst nicht verfügbare Vollendung
fallen läßt.
Weihnachten ist der Beginn des Menschen, der — auch für uns
— sterben soll in einer Tat, die die höchste Tat seines glauben-
den Gehorsams ist.
Wenn wir uns glaubend vor die Krippe des Neugeborenen
stellen, müssen wir sehen, daß hier der Untergang, Tod
genannt, beginnt, der allein rettet, weil seine Leere erfüllt ist
von der namenlosen Unbegreiflichkeit Gottes, die allein alle
Fragen, die unser Leben in tausend Einzelfragen stellt, beant-
wortet, indem sie diese überholt. Natürlich ist immer der von
Gott gerettete Tod, der von ihm erfüllte Tod gemeint, ist der
Tod gemeint, der von uns her Untergang unserer Existenz und
von Gott her Aufgang Gottes ist in dem, was wir Auferstehung
nennen. Weihnachten ist der Anfang dieses geretteten Todes
und nur von daher wirklich zu verstehen.
Das Licht von Weihnachten und der Gott preisende wie auch
die letzte Versöhnung den Menschen der Gnade Gottes
zurufende Gesang der Engel müssen in die Abgründe unseres
Todes fallen, oder sie sind nicht gesehen und gehört. Weih-
nachten ist kein vertröstendes Fest, das uns über die Unbegreif-
lichkeit unseres Schicksals für einen Augenblick hinwegtrösten
will. Es muß da gefeiert werden, wo wir leben, in dem Sturz
in unseren Tod, weil Jesu Geburt der Anfang seines Todes war.
337
gültigkeit und Langeweile vor dem Gewohnten kapitulieren.
Die gemeinte Schwierigkeit ist eine komplexe Größe. Sie hat
vor allem zwei Aspekte: die zeitliche Ferne des Ereignisses und
seine kontingente Geschichtlichkeit, die es uns schwermachen,
Weihnachten als Grund des Heiles unserer ganzen Existenz zu
begreifen.
338
gangenheit haben, oder ob Geist und Herz in uns die lebendige
Spannung bewältigen, die die Vergangenheit in die eigene
Gegenwart hineinnimmt und in eine unendliche Zukunft ein-
bringt. Wenn es uns schwerfällt, Weihnachten zu feiern, dann
könnte dies daher kommen, daß wir überhaupt geschichtslos
die Wurzeln unserer Existenz ganz oder teilweise haben abster-
ben lassen, die in die Vergangenheit, in die Anfänge zurücktei-
chen und dort die Fülle der Zukunft gewinnen. Wenn Weih-
nachten uns anstrengt, schadet dies nicht; es können Schmer-
zen sein, die unvermeidlich jene Umkehr in die Vergangenheit
begleiten, die eine wahre Bekehrung zum wirklichen Mensch-
sein ist.
340
#
[i
341
unvermischt und ungetrennt, eins geworden; der eine ist da,
in dem Gott und Mensch eins sind, ohne sich gegenseitig
aufzuheben. In Jesus hat sich Gott als das unsagbare Geheim-
nis, als Wort ganz und unwiderruflich ausgesagt, in ihm ist es
da als uns allen zugesagt, als Gott der Nähe, der unsagbaren
Intimität und Vergebung.
So also stellen wir uns vor die Krippe Jesu; der Stall und das
Vieh darin überraschen uns nicht. Das alles charakterisiert ja
auch heute noch den Ort unserer eigenen Geburt, auch wenn
sie in der sterilen Eleganz eines Kreißsaales von heute ge-
‚schehen sollte. Da, in dieser Krippe fängt einer an, Mensch zu
sein. Er hat sich dazu nicht entschlossen. Er ist nicht gefragt
worden. Seine ganze Existenz ist ihm mit der Unerbittlichkeit
des Willens eines andern — Gottes — auferlegt worden, so
unerbittlich, daß jede Frage und jeder denkbare Protest zu spät
kommen.
Diesem Kind geht es wie uns: Es ist da und wurde darüber
nicht gefragt. Aber da ist ein Unterschied zwischen dem Kind
und uns. Wir sind in Versuchung, diese unerbittliche Notwen-
digkeit, zu sein, die Ausgangslosigkeit unseres Daseins wie
einen erstickenden Zwang zu erfahren, eben als die schreckliche
Unmöglichkeit, nicht sein zu können. Weil dieses Kind ein
wahrer Mensch ist, ja gerade der Mensch, der gewiß zur rechten
Zeit in die untersten Verliese seines Menschseins, in den gott-
verlassenen Tod hinunterdrang, darum hat dieses Kind die den
letzten Herzschlag stockenlassende Erfahrung, nicht nichtsein
zu können, gewiß auch gemacht. Aber (und da kann ein Unter-
schied zu uns liegen, zu uns, die wir nie recht wissen, ob wir
nicht doch in all unserer Spießbürgerlichkeit einen letzten
hassenden Protest gegen diese Notwendigkeit vollziehen)
dieses Kind nahm diese Erfahrung an als die Erfahrung der Tat
einer Liebe; die Unerbittlichkeit seines ungefragten Gesetzt-
seins war ihm nur die selige Unerbittlichkeit der Liebe, das
342
Wunder des Erwähltseins, der Selbstverständlichkeit des Seins,
das sich vor dem Nichts verantworten muß.
In dem Kind war die schreckliche, scheinbar vernichtende
Erkenntnis: Ich bin noch einmal durch eine geschenkte und
doch die Tat der eigenen Freiheit seiende antwortende Liebe
umfangen: Ich darf sein, ich will sein, und dieser mein Wille
ist die Entgegennahme der Notwendigkeit meines Seins als Tat
einer unendlichen Liebe, die mich in nicht hinterfragbarer
Souveränität gesetzt hat, aber eben doch nur, um sich selbst an
ihre Setzung zu verschenken und zu wagen. Das ist der Grund-
akt dieses Kindes, den es durch sein ganzes Leben hindurch-
tragen mußte, bis es damit auch den finsteren Abgrund des
Todes ausleuchtete.
Wir stehen vor der Krippe dieses Kindes und fragen uns, ob
auch wir so mit der uns auferlegten Existenz fertig werden. Ob
wir sie annehmen? Die Tatsache, daß wir faktisch existieren,
ist ja noch kein Beweis, daß wir dieses Dasein wirklich ange-
nommen haben, so wie es war, so wie es ist, so wie es uns
unvorhergesehen noch überfallen wird. Wir haben es gewiß
noch nicht aus ganzem Herzen und in all seinen Dimensionen
angenommen. Es ist immer noch bei uns eine offene, meist
nicht einmal als gegeben eingestandene Frage, ob wir den
lieben oder hassen, der uns unser Dasein auferlegt hat, ob wir
dieses Dasein als das Wunder der Liebe liebend annehmen oder
es in einem geheimen Protest verwerfen.
Das Kind in der Krippe hat unter Augustus sein Leben
anfangen müssen, in diesem Augenblick, nicht vorher und
nicht nachher. In diesem Augenblick begann das Rad seiner
Zeit sich zu drehen, fingen die Augenblicke an zu laufen, einer
nach dem andern, jeder nur einmal, alle in einem unerbittlichen
Lauf, der unaufhaltsam auf ein Ende dieser Zeit hinlief. Die
Ewigkeit hat in diesem Kind für es und darin für die ganze Welt
die Zeit in sich aufgenommen, sie von ihrem Anfang und von
343
T
ihrem Ende her umfaßt und trägt sie in jedem ihrer Augenblik-
ke. Wenn es nicht geschähe, würde unsere Zeit wirklich das
werden, als was sie sich uns darbietet: die ausrinnende Zeit, in
der Augenblick für Augenblick unser Leben zerrinnt. Wo
unsere Zeit aber durch Glaube, Hoffnung und Liebe zur Zeit
dieses Kindes, zu seinem Fortleben in unserem Leben wird, da
ist der Tod in unserer Zeitlichkeit gestorben, und wir leben die
Zeit, deren Ende der Anfang ewiger Gültigkeit ist.
Wir stehen vor der Krippe. Da, in diesem Stall fängt das
irdische Leben an, in dem sich Gott aussagt, er selber, auch
wenn diese Aussage so erschreckend billig und banal zu sein
scheint wie in jedem Menschenleben. Da, in diesem Stall fängt
diese Selbstaussage Gottes an. Die Bühne dieses göttlichen
Dramas scheint erbärmlich eng und klein zu sein, mit wenigen
und abgebrauchten Requisiten, eine enge Bühne, auf der von
vornherein nicht viel gezeigt werden kann. Der Ort ist eng und
bleibt es. So wie in unserem Dasein.
In diesem Kind aber bringt es Gott fertig, seine Unendlich-
keit in ein so kleines Dasein hineinzuzwängen. Daß Gott
überall ganz sein kann, das mag dem metaphysischen Geist
noch verhältnismäßig selbstverständlich erscheinen. Daß er
aber sich mit seiner Unendlichkeit selber dem kleinen Daseins-
raum mitteilen könne, der wir sind, das ist das Wunder, dessen
Möglichkeit uns letztlich doch nur das Kind in der Krippe an
Weihnachten verbürgt. Unser Dasein mag uns gewiß so eng
vorkommen wie eine Krippe in einem Stall, langweilig, nicht
sonderlich gut duftend, erstickend. Wir hätten wohl kaum den
Mut der Hoffnung, da herauszukommen, wenn nicht Gott
selbst in diesem Kind in diesen Stall hineingekommen wäre und
so die schreckliche Frage, wie die unendliche Kreatur aus ihrer
Enge herauskomme, eigentlich überholt hätte.
344
nicht einmal mehr meinen, den freien Atem der Hoffnung zu
haben, hinauszukommen. Ach, wir sind so müde, uneingestan-
‚den resigniert, so daß selbst das Wort unendlicher Hoffnung
uns nur noch einmal mehr gereizt und überfordert zu machen
scheint. Die Nacht scheint noch finsterer zu werden, wenn man
anfängt, vom kommenden Licht des Tages zu reden. Aber wir
stehen eben doch vor der Krippe. Es ist kein Wort einer
bequemen Ausrede, sondern — da wir es ja doch selber sagen
mit der letzten Kraft, die unser Herz hat — die Wahrheit, daß
dieses Kind auch noch für uns hofft, wenn unsere Hoffnung
zu sterben scheint und wir meinen, uns nur retten zu können
durch die Flucht in den Alltag mit seinem Betrieb, in dem man
nicht glauben, hoffen und lieben muß und so die drohende
Verzweiflung nicht spürt.
Das Kind ist aber gekommen. Und so wie wir nicht gefragt
wurden, ob wir sein wollen, so sind wir auch nicht gefragt
worden, ob wir erlöst und befreit werden wollen. Wir sind es.
Durch dieses Kind. Seine Gnade wird uns gewiß auch dazu
bringen, dieses Erlöstsein anzunehmen. Denn auch diese
Annahme, die die letzte Tat unseres Lebens ist, ist noch einmal
Gnade. Das hat auch Paulus gesagt: Getreu ist Gott, der uns
berufen hat; er wird es auch machen.
Wir sind vor die Krippe gestellt. Es wird uns nicht gelingen,
von dieser Krippe wegzufliehen. Weihnachten ist in der Nacht ©
345
unsagbaren, wortlosen Nähe Gottes, die durch ihr eigenes
Schweigen spricht, so wir Ohren dafür haben, nur der feiert
Weihnachten, wie es sich begangen gehört, wenn es nicht zu
einem bloß weltlichen Feiertag entarten soll. Es müßte uns
zumute sein, wie wenn wir in einer klaren Winternacht unter
den Sternenhimmel treten: Ferne grüßt noch ‘das Licht der
menschlichen Nähe und heimatlichen Geborgenheit; aber über
uns steht der Himmel, und wir empfinden die schweigende
Nacht, die uns sonst unheimlich und erschreckend vorkommen
mag, als die stille Nähe des unendlichen Geheimnisses unseres
Daseins, das bergende Liebe und weite Größe zugleich ist.
Die ewige Zukunft ist in unsere Zeit gekommen. Ihr Glanz
blendet noch, so daß wir meinen, es sei Nacht. Aber auf jeden
Fall ist es eine selige Nacht, eine Nacht, die schon durchwärmt
ist und durchlichtet, die schön ist, heimlich und bergend durch
den ewigen Tag, den sie in ihrem dunklen Schoß trägt. Es ist
Stille, Heilige Nacht. Für uns aber nur, wenn wir die heilige
Stille dieser Nacht in unseren inneren Menschen hineinlassen,
wenn auch unser Herz «einsam wacht». Es kann es eigentlich
leicht. Denn solche Einsamkeit und Stille ist leicht. Sie hat nur
jene Schwere, die allen hohen Dingen eigen ist, die einfach sind
und groß. Wir sind ja einsam. Denn es gibt ein inwendiges
Land in unserem Herzen, wo wir allein sind, wo niemand
hinfindet außer Gott. Diese innerste unbezügliche Kammer in
unserem Herzen ist da. Die Frage ist nur,ob wir sie nicht selber
in töricht schuldiger Furcht meiden, weil niemand und nichts
von dem irdisch Vertrauten sie betreten und mitgehen kann,
wenn wir dort eintreten. Treten wir da leise ein! Schließen wir
die Tür hinter uns! Lauschen wir der unsagbaren Melodie, die
im Schweigen dieser Nacht ertönt. Die stille und einsame Seele
singt hier dem Gott des Herzens ihr leisestes und innigstes
Lied. Und sie kann vertrauen, daß er es hört. Denn dieses Lied
muß den geliebten Gott nicht mehr jenseits der Sterne in jenem
unzugänglichen Licht suchen, das er bewohnt und dessent-
wegen ihn keiner sicht.
Weil Weihnachten ist, weil das Wort Fleisch wurde, darum
ist Gott nahe, und das leiseste Wort in der stillsten Kammer des
346
Herzens, das Wort der Liebe findet sein Ohr und sein Herz.
Man muß ruhig sein, die Nacht nicht fürchten, schweigen.
Sonst hört man nichts. Denn das Letzte wird nur im Schweigen
der Nacht gesagt, seitdem durch des Wortes gnadenvolle
Ankunft in unserer Nacht des Lebens Weihnacht, Heilige
Nacht, Stille Nacht geworden ist.
347
ZUR THEOLOGIE DER RELIGIÖSEN
BEDEUTUNG DES BILDES
Christliche Anthropologie
348
Sinne des Ontologismus oder als Vollzug eines von anderen
Erkenntnisfähigkeiten mehr oder weniger unabhängigen religi-
ösen Organs gedacht wurde, das ist hier nicht weiter zu fragen.
Jedenfalls aber ist die normale christliche Anthropologie der
Überzeugung, daß die eine menschliche Erkenntnisfähigkeit .
zwar zwei Momente aufweist, die unterschieden werden
müssen: sinnliche Erkenntnis, die das Materielle (als solches)
als inneres Konstitutivum hat, und die geistige, begriffliche
Erkenntnis mit ihrer Transzendentalität auf das Sein über-
haupt. Aber gegen allen Ontologismus unterschiedlichster Art
und gegen den Versuch einer Rettung des Religiösen durch
eine Herauslösung aus dem übrigen Erkenntnisvollzug hat die
traditionelle christliche Anthropologie immer und immer deut-
licher daran festgehalten, daß Sinnlichkeit und geistige Er-
kenntnis im Menschen eine Einheit bilden, daß auch alle gei-
stige Erkenntnis, so sublim sie sein mag, immer nur ursprüng-
lich in Gang gesetzt, mit Inhaltlichkeit erfüllt wird von der
sinnlichen Erfahrung her. Thomas von Aquin z.B. betont
ausdrücklich in seiner Erkenntnismetaphysik, daß auch der
geistigste, «transzendentalste», sublimste Begriff nur gegeben
sein könne im Menschen dieser Erde durch eine «Conversio ad
phantasma», daß also (kantisch geredet) jeder Begriff ohne jede
Anschauung leer, d.h. inexistent wäre. Das gilt auch grundsätz-
lich für die religiöse Erkenntnis. Auch sie ist notwendig von
der Anschauung getragen, die durch die sinnliche und so auch
geschichtliche Erfahrung getragen ist.
349
werden. Hier und heute kommt es uns auf den Satz an, daß auch
alle religiöse Erfahrung von einer sinnlichen Erfahrung
ausgeht und nur vollzogen werden kann in einer immer auch
mitgegebenen — wenn vielleicht auch noch so unreflektierten
— Hinwendung zu einer sinnlichen Anschauung. Natürlich gibt
es in der religiösen Sprache recht anschauliche Begriffe, Vor-
stellungen und Bilder und daneben eine Sprache, die uns, wie
wir sagen, abstrakt, unanschaulich, rein begrifflich vorkommt.
Aber in letzter Grundsätzlichkeit gibt es auch im Religiösen
nur Begriffe und Worte, die überhaupt verstanden werden
können, wenn und insofern sie ein Moment der Anschaulich-
keit in sich haben. Wiederum ist es hier nicht möglich, an
Beispielen im einzelnen zu zeigen, wie in allen religiösen Voll-
zügen, die ja immer auch ein Element von Bewußtheit enthal-
ten oder einfach solche Bewußtseinsvorgänge sind, ein solches
sinnliches Element mitgegeben ist. Je lebendiger solche religi-
ösen Vollzüge sind, um so deutlicher ist auch das Sinnliche.
Gerade in einer katholischen Frömmigkeit ist das deutlich. Da
gibt es natürlich zentral die Verkündigung im Wort, das in
seiner Begrifflichkeit auf jeden Fall immer auch getragen ist
durch eine Vorstellung, die durch sinnliche Erfahrung in das
Bewußtsein einzieht und auch dort im Begriff gegeben ist, wo
er dem Alltagsmenschen völlig abstrakt und unanschaulich
vorkommt. In dieser Frömmigkeit aber gibt es darüber hinaus
die heiligen Zeichen der Sakramente, gibt es Gebetshaltungen
leiblicher Art, Wallfahrten, Gesang, heilige Gewänder, Weih-
rauch und tausend andere Dinge, in denen die sinnliche Leib-
haftigkeit des Menschen in den religiösen Vorgang einbezogen
Asa
Sn
Lehre (auch in der katholischen Frömmigkeit) von einem my-
stischen Aufstieg in Kontemplation, die als unanschaulich, ja
gegenstandslos, als Versinken in die Unbegreiflichkeit Gottes
hinein empfunden wird, bei aller Betonung, daß wir einst Gott
unmittelbar schauen werden, ohne Vermittlung kreatürlicher
Begriffe und Vorstellungen, bleibt das Christentum dennoch in
der Betonung der Auferstehung des Fleisches, der Fleischwer-
dung des Ewigen Logos für immer, die Religion, die die
Vollendung des Menschen nur als die Vollendung des ganzen
Menschen denken kann, in der er, wenn auch unbegreiflich
verwandelt, mit allen Dimensionen seiner Wirklichkeit in deren
Einheit zur Vollendung kommt, diese Vollendung also nicht
in einer Abstoßung von Dimensionen besteht, die ihm nur jetzt
angehören würden. Für das Christentum nimmt der Mensch,
wenn auch in einer unbegreiflichen und jetzt nicht vorstell-
baren Weise, seine ganze Wirklichkeit in seine Vollendung mit,
also auch seinen Leib, seine Sinnenhaftigkeit, seine Geschichte,
und die aufklärerische Vorstellung muß abgelehnt werden,
nach der die «unsterbliche Seele» schon jetzt so wäre, daß sie
ohne radikale Umwandlung durch bloße Abstoßung ihres
Leibes als eines bloß vorläufigen Mittels in das Reich der
Vollendung eintauchen könnte.
All das setzen wir hier, wenn auch nur schr grob angedeutet,
eigentlich voraus. Es kommt uns hier auf eine genauere Refle-
xion darüber an, daß, was philosophische und theologische
Anthropologie im christlichen Bereich global als Leiblichkeit,
genauer als Sinnlichkeit bezeichnet, eine sehr komplexe Wirk-
lichkeit ist, die in Wahrheit bei aller Einheit des menschlichen
Subjektes aus vielen und letztlich nicht kommensurablen
Fähigkeiten besteht. Erst (um vorauszugreifen) wenn das deut-
lich begriffen wird, kann man auch die Bedeutung des Bildes
im religiösen Bereich wirklich verstehen. Was meinen wir,
wenn wir von der Pluralität sinnlicher Erfahrungen als im
letzten inkommensurabler Vorgänge sprechen? Fangen wir
351
ganz einfach an. Jeder kennt die Rede von den fünf Sinnen. Ob
es wirklich fünf Sinne sind oder mehr oder die sinnliche Wahr-
nehmung als ganze anders und besser strukturiert und ge-
gliedert werden müßte, und wie diese Vielfalt sinnlicher Erfah-
rungsfähigkeiten im Laufe der Evolution des tierischen Lebens
allmählich geworden ist, das braucht uns hier nun auch nicht
zu beschäftigen. Eine Pluralität sinnlicher Erfahrungen gibt es
jedenfalls. Wir hören, wir schen, wir tasten, wir erleben die
Bewegtheit unseres Leibes von innen, wir riechen, wir schmek-
ken, wir spüren Schmerz und körperliches Wohlbefinden. Wir
können diese Pluralität sinnlicher Erfahrungen nicht aufheben,
wir können für das subjektive Erlebnis die Verschiedenheit
dieser sinnlichen Erfahrungen in Raum und Zeit durch unsere
Leiblichkeit nicht aufeinander zurückführen. Wir können sie
zwar unter dem Begriff und Wort «Sinnlichkeit» als apo-
steriorischer Erfahrungsfähigkeit in Raum und Zeit zusammen-
fassen, wir können sogar abstrakt in Begrifflichkeit uns denken,
daß es auch an sich noch andere solcher Erfahrungsfähigkeiten
geben könnte, z.B. ein «Sehen ultravioletter Strahlen» oder
Wahrnehmungen, wie wir sie bei Fledermäusen etc. vorausset-
zen müssen; es kann die Biochemie usw. sicher in allen diesen
verschiedenen Fähigkeiten unserer Sinnlichkeit Gemeinsames
entdecken und beschreiben und so auch die Möglichkeit evolu-
tiver. Differenzierung der Sinnlichkeit (eigentlich besser: Sin-
nenhaftigkeit) verständlich machen.
3)2
/
jeden Fall aber hat jede sinnliche Fähigkeit des Menschen für
ihn eine wesentliche Bedeutung und kann nicht durch eine
andere ersetzt oder verdrängt werden. Wir sind und sollen sein
Menschen, in denen die nicht aufeinander reduzierbaren
pluralen Dimensionen unserer Sinnlichkeit alle ihre Verwirkli-
chung finden.
Die Augen des Glaubens - Der Ewige Logos als Gottes ewiges
Gleichbild
Was eben gesagt wurde, gilt nun auch für die Sinnlichkeit des
Menschen, insofern sie ein wesentliches Element seiner Fähig-
keit zur Religion ist. Für das Christentum als eine der Hoch-
religionen ist dies bezüglich des Wortes, des Hörens, selbstver-
3.33
ständlich. In einem positiven (doch, wie wir hier vertreten
wollen, nicht exklusiven) Sinn hat Luther recht, wenn er sagt:
Die Ohren sind das Organ des christlichen Menschen; wenn
Paulus sagt: Der Glaube kommt vom Hören. Aber wenn der
volle Mensch nur gegeben ist in der harmonischen Aktuali-
sierung seiner pluralen sinnlichen Vermögen, wenn diese
Fähigkeiten inkommensurabel sind, wenn der vollendete
Mensch und der vollendete Christ identisch sind, dann kann das
Christentum im Menschen eigentlich nur voll und vollendet
gegeben sein, wenn es durch alle Tore seiner Sinnlichkeit
eingezogen ist und nicht nur durch die Ohren, das Wort. Und
es ist nicht so, daß die göttliche Wirklichkeit, die in den Men-
schen einziehen soll, voll und ganz durch das eine Tor der
Ohren, des Hörens, in die Existenz hinein sich mitteilen kann.
Es ist damit gewiß nicht gesagt, daß alle diese Tore für die
Selbstmitteilung Gottes an den Menschen gleich weit und
wichtig wären, und somit soll hier nicht gegen die Auffassung
Luthers und darüber hinaus einer wichtigen christlichen Tradi-
tion polemisiert werden, nämlich daß die Offenbarung und die
gnadenhafte Selbstmitteilung Gottes fundamental durch das
Wort und das Hören dieser Wortbotschaft geschehe. Aber
wenn doch auch in der christlichen Sprache von den Augen des
Glaubens gesprochen wird, der Ewige Logos nicht nur als die
Selbstaussage Gottes, sondern auch als sein ewiges Gleichbild
verstanden wird, wenn die ewige Seligkeit primär als Schau des
Dreifaltigen Gottes von Angesicht zu Angesicht und nicht
mehr als Hören ausgesagt wird, dann kann man gewiß nicht
grundsätzlich bestreiten, daß das Schen ein durch andere Erfah-
rungsweisen nicht ersetzbares Vermögen innerhalb der ganzen
Sinnlichkeit des Menschen ist, das auch zur sinnlichen Basis der
religiösen Erkenntnis gehört. Da wir hier nicht in einer
philosophischen und theologischen Erkenntnislehre genauer
darlegen können, wie die sinnlich erfahrene Wirklichkeit Aus-
gangspunkt und Moment der religiösen Erfahrung und Er-
kenntnis ist, weil das viel zu weit führen würde, ist natürlich
der eben gesagte Satz von der durch kein anderes sinnliches
Vermögen, auch nicht durch das Hören, ersetzbaren Funktion
334
des Sehens zunächst noch ein sehr vager und dunkler formaler
Satz, unter dem man sich vielleicht nicht sehr viel denken kann.
Aber er kann doch vielleicht als Grundlage für einige Über-
legungen über das religiöse Bild dienen, die noch vorgetragen
werden sollen.
233
a",
Eigener Ausgangspunkt
356
{
J
solche Rede ersetzt diese Schau als solche und als religiösen
Vorgang nicht. Daß die Theologie von dieser eigenständigen
und unvertretbaren Bedeutung dieses religiösen Sehens nicht
oder höchst selten und fast nur in Nebenbemerkungen spricht,
ist kein Argument gegen diese Behauptung. Die Theologie
spricht ja auch nicht mehr vom religiösen Tanz, sie erwägt in
der Sakramentenlehre nach der trockenen Feststellung der sa-
kramentalen Materie nur die «Form», das Wort im Sakrament
und empfindet die «Materie» der Sakramente (Waschung,
Salbung, Handauflegung usw.) fast nur als mehr oder weniger
willkürlich festgelegtes Zeremoniell, das genausogut durch ein
anderes ersetzt werden könnte.
331
Heilsereignisse müssen auch geschaut werden
Aber nochmals: Wie ist die Rolle des Sehens gegenüber dem
Hören als unvertretbares Moment des religiösen Gesamtaktes
genauer zu denken? Zunächst einmal könnte man sagen: In-
sofern das religiöse Bild Vorkommnisse der Heilsgeschichte
von sinnlich greifbarer Art vorstellt, ist bei dieser Frage kein
besonderes Problem gegeben. Solche Bilder vermitteln die
Erfahrung dieses sinnlich geschichtlichen Ereignisses; das
Problem wird so weitergegeben und verwandelt in die Frage,
wie die erste geschichtliche, anschauende Erfahrung, die bei
dem geschichtlichen Heilsereignis vorkam, eine religiöse Be-
deutung haben könne, eine Frage also, die hier nicht weiter
verfolgt werden kann. Jedenfalls aber kann gesagt werden: So
wie die Erfahrung von einem Menschen unvertretbar auch
dadurch vermittelt wird, daß er angeschaut und nicht nur
gehört wird, so wie ein Porträt nicht durch eine Biographie
adäquat ersetzt werden kann, so ist es auch bei den geschichtli-
chen Heilsereignissen. Sie müssen auch geschaut werden, und
dann eben im Bild, wenn man nicht unmittelbar selber
schauend dabeisein konnte.
Aber damit ist die Eigenart des Bildes und des Schauens als
eines eigentlich religiösen Phänomens noch nicht in jeder Hin-
sicht erfaßt. Jede religiöse Wirklichkeit ist nur als eine solche
wirklich, wenn sie eine Vermittlung eines unmittelbaren
Bezuges auf den absoluten Gott als solchen ist. Selbstverständ-
lich ist diese Vermittlungsfunktion einer innerweltlichen Wirk-
lichkeit auf den wahren und souveränen Gott als solchen nur
denkbar in Einheit mit dem, was wir christlich Gnade nennen,
gleichgültig, ob diese Gnade bei dieser Beziehung auf Gott als
solchen selbst reflektiert wird oder nicht. Das braucht uns hier
358
!
Aber für uns jetzt ist wichtig: Wenn und insofern es ein
religiöses Bild überhaupt geben können soll, muß es eine solche
Vermittlungsfunktion auf den absoluten Gott hin haben und
darf eine solche Vermittlungsfunktion nicht nur dem Wort
zukommen können. Diese Annahme ist zwar implizit in unserer
Grundthese vorhanden, daß alle Vorzüge jeder Sinnlichkeit und
nicht nur des Hörens Basis und Element eines religiösen Aktes
sein können. Aber es ist natürlich zuzugeben, daß eine solche
Funktion beim Wort unmittelbarer und leichter verständlich ist
als beim Bild, weil das Wort, insofern es ein Moment der
Negation wesentlich in sich hat, ohne weiteres eine Transzen-
dentalität über den endlichen Gegenstand hinaus auf den ab-
soluten Gott ermöglicht. Zunächst aber könnte es scheinen,
daß die Schau steckenbleibt bei dem unmittelbar geschauten
und begrenzten Gegenstand und so gar keine Transzenden-
talität auf den absoluten Gott hin ermöglicht. Aber man wird
dem widersprechen und sagen können: Jede gegenständliche
Erfahrung ist, auch wenn sie immer auf einen bestimmten und
begrenzten Gegenstand greift, schon bei allem sinnlichen Ver-
mögen und nicht nur beim Geist als solchem mit seiner unbe-
grenzten Transzendentalität und nicht nur beim Hören ge-
tragen von einem apriorischen Vorgriff auf die gesamte Weite
des Formalobjektes des sinnlichen Vermögens und geht nicht
nur im Griff auf den konkreten einzelnen Gegenstand, der
sinnlich erfaßt wird. Wenn auch Sinnlichkeit und Geist durch
Begrenztheit bzw. Unbegrenztheit ihres Formalobjektes, ihres
apriorischen Vorgriffes voneinander unterschieden sind, so ist
auch schon in der Sinnlichkeit als solcher bei jedem Akt eine
gewisse Erfahrung einer Transzendentalität gegeben. Man hört
359
z.B. beim Hören eines bestimmten Lautes schon immer die
Stille mit, die den einzelnen Laut umgibt und den Raum bildet,
innerhalb dessen ein einzelner Laut gehört werden kann.
360
Gebot Gottes usw.) eine heilshafte Bezogenheit auf Gott
realisiert wird. Das ist aber theologisch gesehen ein Irrtum.
Sittliche Akte können Heilsakte sein, von der Gnade Gottes auf
die Unmittelbarkeit Gottes hin radikalisiert sein, ohne daß im
Bewußtsein des Handelnden eine explizite, gegenständlich vor-
gestellte und verbalisierte Bezogenheit auf Gott gegeben ist.
Heilsakte müssen nicht immer und notwendig von einer
«guten Meinung» begleitet sein. Die Gesamtheit des Selbst-
vollzuges eines Freiheitssubjektes ist immer und unweigerlich
ein Ja oder Nein zu Gott, auch wenn dies von diesem Freiheits-
subjekt nicht immer thematisiert oder sogar verbalisiert ist.
Von da aus ist der Satz, die Schau eines Bildes, das keine explizit
religiöse Gegenständlichkeit hat, könne doch eine Erfahrung
einer frei angenommenen Transzendentalität auf Gott hin, ein
religiöser Akt sein und in diesem Sinne dieses Bild doch eine
religiöse Bedeutung haben, für den Theologen nicht so be-
fremdlich, wie es zunächst vielleicht scheinen mag.
362
Die kollektive Funktion des Kultbildes
363
ur
364
diesen Künsten? Insofern der Mensch in allen diesen Künsten
und auch in der Theologie — wenn auch je in verschiedener
Weise — sich aussagt, haben diese verschiedenen Künste und die
Theologie eine gegenseitige Beziehung und Verwandtschaft.
Aber die Situation ist doch schwieriger, als man sie gemeinhin
darstellt. Wenn und insofern Theologie die reflexe Selbstaus-
sage des Menschen über sich selbst von der göttlichen Offen-
barung her ist, könnte man die These aufstellen, daß Theologie
dort am ehesten vollkommen ist, wo sie sich diese Künste als
integrales Moment aneignet, wo die Künste ein inneres
Moment der Theologie selbst werden. Man könnte sich dann
weiter auf den Standpunkt stellen, auch die Selbstaussage in
einem Rembrandt-Bild oder in einer Symphonie von Bruckner
sei so sehr von der göttlichen Offenbarung, von Gnade und
Selbstmitteilung Gottes inspiriert und getragen, daß in ihnen
eine in die Worttheologie gar nicht adäquat übersetzbare Mit-
teilung dessen geschieht, was der Mensch, von Gott gedacht,
eigentlich ist. Wenn man Theologie nicht von vornherein mit
Worttheologie identifiziert, sondern als die totale Selbstaussage
des Menschen versteht, insofern diese durch die göttliche
Selbstmitteilung getragen ist, dann wären religiöse Phänomene
in den Künsten selber ein Moment einer adäquaten Theologie.
Praktisch wird das selten so aufgefaßt. Warum aber sollte nicht
ein Mensch bei einem Oratorium von Bach den Eindruck
haben, daß er nicht nur durch die darin verwendeten Worte,
sondern auch durch die Musik als solche in einer eigentümli-
chen Weise in Beziehung gesetzt wird zur göttlichen Offen-
barung über den Menschen. Warum sollte er nicht der Meinung
sein, daß da ebenso Theologie geschieht? Wenn man willkür-
lich definiert, daß Theologie identisch mit Worttheologie ist,
kann man das natürlich nicht sagen. Aber es entsteht dann die
Frage, ob man durch eine solche Reduzierung der Theologie
auf Worttheologie nicht die Würde und die Eigenart und auch
das In-Dienst-genommen-Sein dieser anderen Künste durch
Gott unberechtigterweise reduziert.
365
Weg zur ursprünglichen Erfahrung
367
}
ı
368
der Mensch das transzendentale Wesen ist, kann es im eigentli-
chen Sinne Kunst und Theologie geben.
Eine andere Frage ist, warum und wie sich diese Transzen-
dentalität des Menschen in der Kunst in einer bestimmten
geschichtlichen Weise darstellt. Wahre Kunst ist das Ergebnis
eines ganz bestimmten geschichtlichen Ereignisses der Tran-
szendentalität des Menschen. Insofern kann und muß die Kunst
durchaus geschichtlich sein. Es gibt eine echte Geschichte der
Kunst; es wird von den Künstlern nicht immer das gleiche
gesagt.
Der Künstler ist von seinem Wesen her notwendigerweise
der Entdecker einer konkreten Situation, in der neu und anders
als bisher der Mensch sein transzendentales Wesen konkret
realisiert. Daraus folgt aber nicht ein Gegensatz zwischen Ge-
schichtlichkeit und Transzendentalität, sondern das gegen-
seitige notwendige Bedingungsverhältnis dieser beiden
Größen. Der wahre Künstler verkündet gewiß das Ewige der
Wahrheit, der Liebe, der unendlichen Sehnsucht. Aber er ist
nur dort Künstler und kein begrifflicher Rationalist, wo er
diese Verkündigung des Ewigen in einer einmaligen Weise
vollzieht, in der seine absolut geschichtliche Eigentümlichkeit
und seine Ewigkeitsaufgabe in einer Einheit gegeben sind, die
gerade das Wesen des Kunstwerks ausmacht. Ich kann den
Hasen bei Dürer durchaus als das Konkreteste einer ganz
bestimmten, harmlosen menschlichen Erfahrung verstehen.
Wenn ich ihn aber wirklich mit den Augen eines Künstlers
ansehe, schaut mich daraus — wenn ich so sagen darf — die
Unendlichkeit und Unbegreiflichkeit Gottes an.
369
’
des Himmels ins Spiel kommen, und hat das verneint. Aber
kann nicht der ganze Mensch mit all seinen Fähigkeiten dort,
wo etwas besonders Intensives gesehen oder gehört wird, einen
sehr radikalen religiösen Vollzug erfahren? Anders ausge-
drückt: Ist es möglich, daß dort, wo der ganze Mensch an
einem Seh- oder Hörvorgang beteiligt ist, ein religiöses Erleb-
nis entsteht? Nehmen wir z.B. das deutsche Lied «Guter
Mond, du gehst so stille .. .», also ein triviales Lied, das mit
Religion an und für sich nichts zu tun hat. Man sagt, daß die
Melodie dieses Liedes dieselbe sei, mit der wir auch das
«Tantum ergo sacramentum» gesungen haben. Daraus ergibt
sich, daß ein akustisches Phänomen — je nachdem, in welchem
gesamtmenschlichen Zusammenhang es vollzogen wird —
religiös oder nicht religiös sein kann. Wenn nicht die Ohren
allein hören, sondern der ganze Mensch, dann ist je nach der
Verfassung und der konkreten Gesamtsituation dieses Men-
schen ein akustisches Phänomen religiös oder nicht religiös.
Die religiöse Qualität dieser Melodie hängt einfach davon ab,
ob diese Melodie nur in einem akustischen Zusammenhang
beurteilt wird oder ob eine gesamtmenschliche Situation
miteinbezogen wird. Dann wird nämlich auch die Akustik
anders — nicht von sich aus, sondern von dieser Situation her.
Der Satz: «Gott ist mit seiner Gnade überall», bedeutet nicht,
daß jede Wirklichkeit dasselbe Verhältnis zu mir oder zu Gott
hat. In einer physikalisch-chemischen Umsetzung meines
Magens ist Gott nicht in derselben Weise gegenwärtig, als
wenn ich Treue, Liebe, Verantwortung gegenüber dem Näch-
sten übe. So ist auch die Frage der Kunst hinsichtlich des
Religiösen eine schwierige Sache. Ich kann zum Beispiel sagen,
die Malerei des Impressionismus sei unreligiös, weil sie grund-
sätzlich nichts als die farbigen Eindrücke der unmittelbaren
Umgebung des Menschen wiedergeben will. Wenn und in-
sofern sie nur das will und auch nur das erreicht, muß man
vermutlich sagen, sie sei keine religiöse Kunst. Und man sollte
nüchtern und unbefangen zugeben, daß es Kunst geben kann,
die nicht religiös ist. Sie braucht deswegen nicht antireligiös zu
sein, aber sie bewegt sich eben in einer Dimension des Men-
BuD
schen, in der das Verhältnis zu Gott noch nicht gegeben ist.
Es ist aber eine ganz andere Frage, ob ich das Gemälde eines
Impressionisten am Anfang des 20. Jahrhunderts noch einmal
in einen größeren Zusammenhang, in einen größeren menschli-
chen Kontext hineinstelle, so daß damit dann doch die Frage
des Religiösen aufkommt. Insofern könnte man die anonyme
Andächtigkeit auch eines impressionistischen Gemäldes be-
haupten, vor allem weil ein religiöses Gemälde nicht einfach
identisch ist mit einem Gemälde, das einen explizit religiösen
Gegenstand darstellt.
Wenn ich die Krippe mit Jesus, Maria und Josef male, wo
man durch die Heiligenscheine von vornherein erklärt, was
dargestellt werden soll, dann ist das in einem gegenständlichen
Sinn ein religiöses Bild. Vielleicht ist es im Grunde genommen
gar nicht besonders religiös, weil es keine echten und radikalen
religiösen Vollzüge im Beschauer hervorrufen kann. So gibt es
auch religiösen Kitsch. Man könnte vielleicht behaupten, die
Bilder der Nazarener im 19. Jahrhundert seien im Grunde
genommen gut gemeint, von frommen Leuten gemalt, aber
keine echt religiösen Gemälde, weil sie nicht jene Herzensmitte
treffen, in der eigentlich religiöse Vollzüge geschehen. Es
könnte umgekehrt unter Umständen sein, daß ein Bild von
Rembrandt, wenn es auch gar nicht thematisch religiös ist,
trotzdem den Menschen so zu sich selber als Ganzen bringt, ihn
vor die totale Existenzfrage stellt, daß es im engsten Sinne ein
religiöses Bild ist.
EN
a }
31%
WIDER DEN HEXENWAHN
jan
374
an einer pestartigen Seuche zu sterben, ist eben doch eine
armselige Sache, wenn man schon mit 44 Jahren sterben muß.
Wir rühmen heute gewiß mit Leibniz, Brentano, Ricarda Huch
und anderen bedeutsamen Zeugen Spee, aber wir sollten
darüber nicht vergessen, wie gesellschaftlich eingeengt, wie
normal, wie bitter und sterbend das Leben dieses Mannes war.
Und darum, so meine ich, fragt uns auch dieses Leben fast mehr
durch seine bittere Normalität als durch seine Großartigkeit,
ob wir mit unserem heutigen Leben fertig werden, ob wir (wie
er vor den Scheiterhaufen der Hexen) in einer Zeit des
Holocaust an Gott glauben und noch für den Menschen etwas
zu hoffen wagen, ob wir auch in den Zwängen unserer Gesell-
schaft und über alle Proteste gegen ihre Unmenschlichkeit
hinaus unser Leben als Nachfolge des Gekreuzigten verstehen
und schon jetzt die letzte Freiheit in Gott ergreifen können, ob
wir es mit der schrecklichen Angst in unserer heutigen Be-
drohtheit letztlich doch auszuhalten vermögen, ob wir (wie
Böll von Spee rühmt) zwar voller Untröstlichkeit sind, aber
weder billigen Trost noch Trostlosigkeit kennen.
Wenn uns vielleicht die selige Verzücktheit des frommen
Kindes in Spee fernzuliegen scheint, so könnte uns doch die
tapfere Nüchternheit dieses Christen in der enttäuschenden
Bitterkeit des Lebens immer noch eine Mahnung sein.
sollen. Aber man sollte sich doch auch von der Eigenart der
religiösen Lyrik Spees, wenn man sie nicht bloß als Dichtung,
sondern auch als religiöses Zeugnis liest, fragen lassen, ob
unsere eigene Frömmigkeit heute nicht zu lau und spießbürger-
lich geworden ist, wenn sie die Frömmigkeit Spees als so fremd
und für uns nicht nachvollziehbar empfindet. Spee war bei all
seiner mystischen Verbundenheit mit Gott und Jesus doch kein
harmlos introvertierter Frömmler, der vor der Realität sich in
Sentimentalität flüchtete. Er war ein unerschrockener Kämpfer
gegen die Unmenschlichkeit seiner Zeit, gegen Dummheit und
Aberglaube, gegen Neid und einen Sadismus, der bei hoch und
niedrig in der Mentalität seiner Zeit sein furchtbares Unwesen
trieb. Er prangerte die Verlogenheit und Grausamkeit des
damaligen Strafvollzuges an; er war in den Kerkern; er
schleppte und versorgte die Verwundeten und war der
Todesangst der armen Frauen vor ihrer Verbrennung nahe; für
ihn mußte sich die Erfahrung der Nähe Gottes in einer verzük-
kenden Liebe darin auswirken, Arme und Kranke in der Stadt
aufzuspüren, einen Korb Weißbrot für die Kranken in den
Spitälern zu kaufen, armen Studenten die Schulbücher zu be-
zahlen.
376
nur einen literarischen Vorzug bei Spee, den wir auch heute
noch zu würdigen und zu genießen vermögen, sondern all das
entspringt einer innersten Gotteserfahrung, die das Recht zu
einem Triumph über alle Angst und zu süßer Innigkeit aus
einer bedingungslosen, anbetenden Liebe zu Gott in Jesus
Christus empfängt. Es ist ein protestantisches Vorurteil, wenn
Ricarda Huch meint, der junge Spee sei ins Kloster gegangen,
um sich vor dem Anblick des Leidens der Kreatur zu schützen.
Er wollte ja durch seinen Ordenseintritt gerade die Möglichkeit
erreichen, in die Mission geschickt zu werden, wo er gewiß
nicht die Begegnung mit dem Leid der Welt vermeiden konnte
und sich darüber sicher auch keine Illusionen machte, zumal
damals ein Missionar auch mit einem blutigen Martyrium rech-
nete. Die Innigkeit seiner Gotteserfahrung und der Wille, das
Leid der Menschen mitzutragen, bildeten bei ihm gewiß von
vornherein und immer eine unlösliche Einheit, so wie das
Gebot der Nächstenliebe und das der Gottesliebe schon im
Evangelium eins sind. Seine für uns barock klingende Innigkeit
überschwenglicher Gottesliebe sollte darum von uns nicht
einfach nur abgetan werden als ein Lebensstil einer vergange-
nen Zeit, sondern uns vor die Frage stellen, ob wir den Näch-
sten in Tat und Wahrheit wirklich lieben oder uns nur einbil-
den, wir bedürften zu dieser selbstlosen Liebe des Nächsten
nicht der Kraft einer radikalen Liebe zu Gott.
317
—
Re
378
Wahrheit empfundene Wahnideen wie damals am Werk? Und
nun: Haben wir genug Männer und Frauen, die aus der Klar-
heit des Geistes und aus einer bedingungslosen Liebe des
Herzens heraus, erleuchtet von der letzten Wahrheit des Evan-
' geliums, solche Wahnideen sehen, entlarven und sie mit dem
Einsatz ihrer ganzen Existenz bekämpfen, auch wenn sie als
naive Idealisten und Querköpfe abgelehnt und verspottet
werden, auch wenn man ihnen sagt, sie jagten frommen
Utopien nach, die ein klarsehender Realist nicht teilen könne;
sollten wir, die wir wenigstens nicht von vornherein uns von
unbemerkten Wahnideen freihalten können, uns nicht minde-
stens gegenüber heutigen Propheten im Stile Spees vorsichtiger
und wohlwollender verhalten? Treten nicht auch heute noch
Träger kirchlicher Autorität solchen Mahnern im Stile Spees
gegenüber, wie sie es Spee gegenüber taten in der schrecklich
naiven Überzeugtheit, niemand könne im Ernst leugnen, es
gäbe massenweise Hexen? Haben wir heute genug mutige
Kritiker an den falschen Plausibilitäten, mit denen wir bequem
leben und uns aus unserem gewohnten Trott nicht aufscheu-
chen lassen wollen? Gewiß gibt es nicht wenige Normen des
Evangeliums, die von den Amtsträgern der Kirche gegen herr-
schende Auffassungen vertreten werden. Das ist durchaus zu
sehen und anzuerkennen, auch wenn man manchmal den Ver-
dacht nicht ganz unterdrücken kann, die so verteidigten christ-
lichen Normen würden so unbefangen von der Kirche ver-
teidigt, weil sie durch die Plausibilitäten früherer Zeiten ge-
stützt würden. Aber gibt es nicht Normen, die gegen einen
vielleicht gerade aus der Vergangenheit sich als selbstverständ-
lich gebärdenden Lebensstil von heute verteidigt werden
müßten, die auch von den meisten Amtsträgern in der Kirche
übersehen oder nur zu schwachherzig und leise verteidigt
werden? Müßten gegen den Irrwahn unserer Zeit nicht manche
«Cautiones criminales» geschrieben werden, auf die wir noch
warten? Es wäre ja auch nicht schlimm, wenn eine solche
«Cautio» zunächst einmal nicht von den höchsten Amts-
trägern, sondern zuerst von einem kleinen und unbedeutenden
Priester oder Laien geschrieben würde, wie einst von Spee.
379
Zwischen Gewissensentscheid und Ordensgehorsam
380
Ruhm, seine « Selbstverwirklichung» oder seine Bequemlich-
keit sucht, sondern dem Gebot seines Gewissens und einer
selbstlosen Liebe zum Nächsten treu sein will. Der jesuitische
Gehorsam bedeutet in keiner Weise, daß einem Jesuiten Selbst-
verantwortung einsamer Art und eine eigene Initiative, die
nicht schon von vornherein von oben her inauguriert ist,
verboten wären. Im Gegenteil, beides gehört grundlegend zu
diesem Gehorsam, wie er in diesem Orden verstanden wird.
Spee konnte also seine «Cautio criminalis» schreiben, ohne daß
er dafür eine Anordnung oder Genehmigung seiner Ordens-
oberen voraussetzen mußte. Weiter darf man wohl sagen: Es
ist eine historisch zu beantwortende Frage, ob Spee die erste
und zweite Ausgabe seiner «Cautio» faktisch doch selber ins-
geheim veranlaßt hat, um die Ordenszensur zu umgehen, oder
ob er davon wirklich nichts wußte und die «Cautio» ohne sein
Wissen und seinen Willen gedruckt wurde. Aber selbst wenn
die erste Annahme die richtige sein sollte, so müßte in diesem
seinem Fall und in seiner konkreten Situation Spee daraus nicht
der Vorwurf gemacht werden, er habe gegen sein Gehorsams-
gelübde und den Geist seines Ordens verstoßen. Jeder Moral-
theologe wird zugeben, daß in der Konkretheit eines Men-
schenlebens Situationen auftreten können, in denen zwei unter-
schiedliche Forderungen so auftreten, daß sie nicht gleichzeitig
und miteinander versöhnt verwirklicht werden können,
sondern nur die eine oder die andere befolgt werden kann.
Wenn Ignatius von Loyola mit der Möglichkeit rechnet, daß
einem Jesuiten von seinem Oberen in gutem Glauben und
einem ungetrübten Gewissen etwas befohlen wird, was der
Untergebene unüberwindlichen Gewissens als Sünde beurteilt
und darum trotz des Befehles nicht tut, dann ist Spee wahrhaf-
tig grundsätzlich zuzubilligen, daß er die Aufgabe, gegen den
Hexenwahn aufzutreten, als für sein Gewissen so unbedingt
fordernd erachten konnte, daß. ein eventuell gegenteiliger
Befehl seiner Oberen ihn faktisch nicht hätte verpflichten
können und er auch hätte bereit sein müssen, alle Konsequen-
zen dieser Gewissensentscheidung hinzunehmen, die seine
Oberen aus ihrem gegenteiligen Gewissensurteil heraus für
381
geboten erachteten. Das menschliche und christliche Leben
verläuft nun einmal oft nicht ohne solche bitteren Situationen,
die es auch in einem Orden grundsätzlich geben kann, in einem
Dilemma zwischen einem möglichen, vor Gott allein zu verant-
wortenden Gewissensentscheid und dem Befehl eines kirchli-
chen Oberen, auch wenn diesem durchaus aller gute Wille
zugebilligt wird. Durch Gottes Vorsehung ist es geschehen,
daß Spee faktisch ein letzter Konflikt zwischen seiner legitimen
Sendung und seinem Jesuitengehorsam erspart geblieben ist.
Es nützt auch nichts, sich den Kopf zu zerbrechen, wie Spee
hätte handeln müssen oder gehandelt hätte, wenn er vor ein
absolutes Dilemma gestellt worden wäre, entweder dem Befehl
seiner Oberen zu folgen oder auf die «Cautio criminalis» und
deren Veröffentlichung absolut zu verzichten. Mir selber
scheint es eigentlich eine tröstliche Tatsache zu sein, daß in
Spees Fall ein solches eindeutiges Dilemma faktisch bis zu
seinem Tode vermieden wurde, ja, daß der Kölner Provinzial
Goswin Nickel, der Spee doch wohlwollend und mild nach
Kräften gegen den damaligen Ordensgeneral deckte, schließ-
lich selber noch Ordensgeneral wurde. Auch heute kann es in
der Kirche auch bei bestem Willen auf beiden Seiten noch
solche Konflikte wie im Leben Spees geben. Und auch darum
hat das Leben Spees eine vorbildliche Bedeutung für Priester
und Laien in der Kirche. Dieses Leben bezeugt, daß eine
künstlich hergestellte Harmonie zwischen allen Gliedern der
Kirche, die in Wahrheit eine Friedhofsruhe wäre, gar kein Ideal
ist, das immer und unter allen Umständen anzustreben ist.
Spee war in seinem Leben nicht nur der mutige Verfasser der
«Cautio criminalis» und der innige Poet seiner Gedichte. Er
war ein ganz normaler Seelsorger in der Schule, in den Kon-
gregationen junger Leute, in den Gefängnissen, auf Dorfkan-
zeln, auf theologischen Kathedern, die in jenen Zeiten ihren
Inhabern keinen besonderen Glanz verliehen. Spee ist so nicht
382
nur Patron und Vorbild mutiger Kritiker gegen den Zeitgeist
und nicht nur eine große Gestalt in der deutschen Literatur,
sondern ein Vorbild für die gewöhnlichen Arbeiter im Wein-
berg Gottes, die, ohne viel Dank und Anerkennung erwarten
zu können, die Hitze und Mühe alltäglicher Arbeit tragen.
Wenn das Scherflein der armen Witwe im Opferkasten Gottes
höher gewertet wird als das dicke Almosen des Reichen, dann
gilt vielleicht oft etwas Ähnliches von der normalen Arbeit
eines durchschnittlichen Seelsorgers und den spektakulären
Taten und Leistungen mancher Großer in der Welt und auch
in der Kirche. Spee gehört in einer seltsamen Weise zugleich
zu den Großen und den Kleinen in der Kirche und in der Welt.
Er suchte von sich aus eigentlich nur die normale Durch-
schnittlichkeit eines braven und frommen Ordenslebens. Aber
es geschah, daß ihm darin Großes geboten und zugemutet
wurde und er dieses in der tapferen Liebe seines Herzens
annahm.
Ein Heiliger?
Man hat sich schon gefragt, warum Spee nicht von der Kirche
heiliggesprochen worden ist. Verdient hätte er dies nach
menschlichem Ermessen, ebenso wie z.B. ein Wilhelm Ebersch-
weiler, der in derselben Kirche wie Spee begraben ist und der
einen ganz anderen Typ eines Jesuiten repräsentiert als Spee.
Aber es müssen nicht alle menschlichen und heiligen Vorbilder
amtlich heiliggesprochen werden. Man kann versuchen, ihnen
nachzufolgen, und sie um ihre Fürsprache bei Gott bitten, auch
wenn sie nicht eigens im Meßbuch der Kirche aufgeführt
werden.
383
Aare
er Be Bari AA Ana sr
3 en Elia a EEE
ie LT RRre ur
r Betr
je An enru Re; AA as prä
'% N“ Ar EEE vs mon AA
es: Au:LI: BR Ter EC MEN BA 2 Re.
ie on ge Ve ae \ Wr
N » \ de j
1 Wr Ad: A . u ı ee
M N
TER
An
na ee RI i an. :
ss v h EST un s Brave MT,
EEE...
A er der BET
EN re
1 A Me > EEE Br
are Er Zr 6
u ra Ace Arms e%
' re! dr EU
% Nor z "\ ar,
WER 13
GLAUBE UND SAKRAMENT
Wenn man das Pathos ernst nimmt, mit dem Paulus und
schließlich das ganze Neue Testament die einzigartige und
fundamentale Bedeutung des Glaubens für das Heil des Men-
schen betonen, dann ist die Verknüpfung von Glaube und
Sakrament, die eine Gleichrangigkeit der beiden Größen an-
zudeuten scheint, nicht selbstverständlich. Glaube meint exi-
stentielle Totalentscheidung des Menschen als Freiheitssubjekt
auf Gott hin als Antwort auf Gottes offenbarende Selbster-
schließung und Selbstmitteilung. Demgegenüber aber scheint
es im Leben des Menschen kein anderes Ereignis geben zu
können, das von derselben heilschaffenden Bedeutung ist. In
der Tat ist die Christenheit davon überzeugt, daß es auch ohne
Sakramente Heil geben könne, während es Heil ohne wirk-
lichen Glauben nicht geben kann und man mindestens nach
dem II. Vatikanischen Konzil wohl nicht mehr annehmen
kann, daß in manchen Fällen der eigentliche theologische
Glaube durch eine primitivere sittliche Haltung ersetzt werden
könne, so schwer auch eine Antwort auf die Frage gefunden
werden kann, wie ein eigentlicher Glaube als Antwort auf eine
eigentliche Offenbarung Gottes in der unübersehbaren Menge
von Menschen möglich sei, die von der historischen Offen-
barungsbotschaft des Alten und des Neuen Testaments nicht
erreicht werden. Diesem Glauben gegenüber scheint das Sa-
krament nur eine höchst sekundäre Rolle spielen zu können —
wenn überhaupt noch eine denkbar ist. Andererseits blickt
zumindest die katholische Christenheit mit einer fast naiven
Selbstverständlichkeit auf die unmündigen Kinder, die getauft
werden, und erblickt in dieser Taufe das grundlegende Ereignis
des Heiles, läßt (obzwar heute und mit Recht bezweifelt) die
ungetauft sterbenden Kinder des Heiles verlustig gehen und
verweist sie in den Limbus der Kinder, betrachtet so ferner
den späteren Glauben der getauften Kinder, wenn sie zum
Gebrauch der Vernunft kommen, fast wie eine sekundäre
Aktualisierung des Glaubenshabitus, den sie durch die Taufe
387
LH
se
388
.
389
eschatologische Phase dieses Glaubens der sakramentale
Charakter des Glaubens selbst und damit auch die Sakramente
selbst verständlich gemacht werden können, die Sakramente als
Höhepunkte des Offenbarungs- und Glaubensgeschehens er-
scheinen und von daher der Binar: Glaube und Sakramente,
richtig gelesen werden kann, die Sakramente nicht eigentlich
als Zusatz zum Glauben, sondern als dessen Höhepunkte dar-
geboten werden, so scheint die Grundfrage, die wir gestellt
haben, relativ einfach beantwortet werden zu können. Und es
soll auch das eben nur flüchtig Angedeutete nicht ausführlicher
und genauer behandelt werden.
399
natürlichen Glauben an die Offenbarung im eigentlichen Sinne
dieses Wortes zulassen, und man muß andererseits mit dem sehr
universellen Heilsoptimismus des Konzils, der nicht einmal
schuldlose Atheisten und polytheistische Heiden vom Heil
ausschließt, annehmen, daß dieser gnadenhafte Offenbarungs-
glaube eine universelle Möglichkeit auch für die ist, die offen-
sichtlich von derjenigen Offenbarung des Alten und Neuen
Testamentes nicht erreicht werden, wie sie traditionell und
auch im Offenbarungsdekret des Konzils gedacht wird, das
nach der sogenannten Uroffenbarung einige Millionen Jahre
harmlos überspringt und die Offenbarungsgeschichte mit
Abraham und Moses fortgehen läßt.
Nun kann man diese Lücke mit Berufung darauf auszufüllen
suchen, daß die übernatürliche Heilsgnade, die allen Menschen
angeboten wird (ohne darum auch schon reflektiert und ver-
balisiert sein zu müssen), durch das neue Formalobjekt, das sie
dem geistigen Freiheitssubjekt durch dessen Hinordnung auf
die Unmittelbarkeit Gottes anbietet, schon fundamental den
Begriff einer eigentlichen, personalen und freien Selbstoffen-
barung Gottes realisiere, so daß die freie Annahme einer
solchen, auf die Unmittelbarkeit Gottes ausgerichteten Subjek-
tivität in Wahrheit schon eigentlich theologischen Glauben
bedeute. Ich halte dies für richtig, und ich weiß nicht, wie man
ohne eine solche theologische Deutung die Universalität des
eigentlichen Glaubens immer und überall als gegeben rechtfer- R
tigen könnte. Denn man kann sich in der Theologie — auch
wenn sich das Lehramt im Konzil legitim davon dispensiert,
weil es keine theologischen Theorien vorzutragen hat - in einer
Rechtfertigung des Christentums nicht damit begnügen zu
sagen, Gott werde die Wege schon kennen, auf denen er diese
scheinbar von aller historischen Offenbarung abgeschnittenen
Menschen doch zu einem Offenbarungsglauben führen könne.
Aber wenn man auf diese oder auf eine ähnliche Weise mit dem
Problem der Universalität der Glaubensmöglichkeit in der
ganzen Menschheit fertig wird, dann beginnt die Schwierigkeit,
die uns hier beschäftigen soll. Ernsthaft kann man die Univer-
salität der Glaubensmöglichkeit immer und überall (und so die
49
TERRY
| FR
Universalität der Offenbarung, die alle Menschen findet) nur
dadurch verständlich machen, daß man sie (wenn diese For-
mulierung erlaubt ist) «transzendental» ansetzt, d.h. überall
dort schon durch das Angebot übernatürlicher Heilsgnade
gegeben sein läßt, wo Geist und Freiheit gegeben sind und
durch die ebenso immer gegebene Gnade Gottes auf die Unmit-
telbarkeit Gottes finalisiert werden. Setzt man aber so «tran-
szendental» die universale Glaubensmöglichkeit durch die
überall und immer angebotene Gnade an (die durch ihre Uni-
versalität nicht aufhört, ungeschuldet und frei zu sein), dann
scheint zwar Glaube möglich zu sein, dieser aber samt der
Offenbarung selbst seinen geschichtlichen und (in seiner Voll-
gestalt) sakramentalen Charakter zu verlieren. In der eben
vorgetragenen Rettung der Universalität des Glaubens scheint
seine vorher entwickelte Bezogenheit auf das Sakrament (auf
die Sakramentalität des exhibitiven Gnadenwortes, auf die .
Kirche als Sakrament des Heiles) verlorenzugehen. Daß hier
ein Grundproblem des Christentums überhaupt gegeben ist, ist
leicht verständlich.
294
\
Unser Problem löst sich also dann, wenn man einerseits die
Gnade als Offenbarung Gottes transzendental ansetzt, sie aber
an Geist und Freiheit immer durch geschichtliche Konkretheit
vermittelt sein läßt, und wenn man andererseits diese geschicht-
liche Vermittlung der Offenbarungsgnade an Geist und
Freiheit des Menschen immer und überall als geschichtliche
Offenbarung verstehen darf. Dieses letztere mag kühn und
ungewohnt klingen, es mag zunächst den Eindruck erwecken,
als ob dadurch die Offenbarungsgeschichte nivelliert würde zu
der allgemeinen Freiheitsgeschichte, die immer und überall sich
ereignet. Aber in Wirklichkeit sind Geschichte und Offen-
barungsgeschichte nicht einfach identisch, aber die Offen-
barungsgeschichte ist koextensiv mit der Geschichte über-
haupt. Das aber kann ja eigentlich der Christ nicht bestreiten,
der zugibt, daß sich immer und überall in der Geschichte Heil
ereignen konnte und dieses Heil immer und überall Heil aus
Glauben sein mußte. Was hier zu dieser Überzeugung der
heutigen Christenheit hinzugefügt wird, ist nur die Behaup-
tung, daß die absolut notwendige kategorialgeschichtliche Ver-
mittlung der Glaubensgnade sich überall im menschlichen
394
ı>
395
zunächst wegen ihrer Transzendentalität keinen inkarnatori-
schen Charakter meinten entdecken zu können.
Aber wir können jetzt doch sagen, daß alle Heils- und
Glaubensgnade — auch wenn sie immer zugleich sehr in der
Transzendentalität des Menschen eingewurzelt gedacht werden
muß — wegen ihrer notwendig durch die Geschichte geschehen-
den Vermittelheit und wegen der Einheit der Menschheitsge-
schichte, in der jedes ihrer Momente auf das Ganze bezogen
und von allen andern ihrer Momente mitbedingt ist, in ge-
nügender Weise inkarnatorische, geschichtlich vermittelte und
. in diesem Sinne sakramentale Gnade ist. Wir brauchen auch
dort von dieser Sakramentalität die Gnade nicht auszu-
schließen, wo sie nicht unmittelbar durch eine historisch greif-
bare Beziehung zur alt- und neutestamentlichen Offenbarung
vermittelt wird.
Wer für den sakramentalen Charakter aller Heilsgnade mehr
verlangt, als wir als notwendig forderten, aber auch als ge-
nügend erachteten, der muß sich freilich fragen, wie er dann
noch mit dem Dilemma fertig wird, entweder zu viele Men-
schen von einer konkreten Heilsmöglichkeit auszuschließen,
von einer Heilsmöglichkeit, die für das heutige Glaubensbe-
wußtsein nur an der personalen Schuld des Menschen und an
sonst nichts (auch nicht an der Erbsünde) eine Grenze hat, oder
vielen Menschen eine Heilsmöglichkeit zuzuerkennen, die
keine Beziehung zur christlichen Offenbarung und zur in Jesus
Christus begründeten Gnade Gottes hat. Es mag einer gewissen
theologischen Anstrengung bedürfen, um die Universalität des
christlichen Heiles mit der Geschichtlichkeit der Offenbarung
und des Christentums zu versöhnen. Nur wenn dies gelingt,
nur wenn gezeigt wird, daß alle göttliche Gnade, in der sich
Gott selbst dem Menschen mitteilt, eine innere Dynamik hat,
in Jesus Christus, in seiner Kirche, in deren Sakramenten zur
geschichtlichen Erscheinung, in der sie selber irreversibel wird,
zu kommen, kann der Binar: Glaube und Sakramente, als eine
wirkliche Einheit von zwei Größen verstanden werden, die sich
gegenseitig bedingen und fordern. Nur dann hat das Begriffs-
paar Glaube — Sakramente ein wirklich theologisches Gewicht.
396
Te
|
_
397
FRAGEN DER SAKRAMENTENTHEOLOGIE
398
was so ausgedrückt wird, verbunden sind. Dort nun, wo die
Kirche in einer feierlichen, autoritativen Weise eine solche
Geste einem Menschen gegenüber macht, da ist dann mit dieser
Geste der Kirche das gegeben, was wir ein Sakrament nennen.
Wenn die Kirche einen Säugling in die Gemeinde aufnimmt,
wenn sie einen Menschen in das große, alle einigende Abend-
mahl Jesu mit hineinnimmt, wenn sie ihm tröstend in schwerer
Krankheit die Hand auflegt, die ihm in einer dunklen Stunde
seines Lebens sagt, daß Gott dennoch ihm gegenüber barmher-
zigist...: In solchen Gesten werden entscheidende Situationen
in heiligen Zeichen markiert, und solche Gesten bewirken dann
auch dasjenige, was sie bezeichnen.
399
rufung auf ein «Einsetzungswort» des geschichtlichen Jesus,
auf ihn zurückführen können, so ist damit der wirkliche, echte
Zusammenhang zwischen den einzelnen Sakramenten der
Kirche und Jesus noch längst nicht geleugnet oder in Zweifel
gezogen. Erstens einmal braucht nicht jedes einzelne Sa-
krament in genau derselben Weise auf Jesus zurückgeführt zu
werden, denn das Konzil von Trient lehrt ausdrücklich, daß die
einzelnen Sakramente in ihrem Wesen und ihrer Bedeutung
sehr verschiedener Natur sind. Das kann man unter Umständen
dann auch bezüglich der Weise der Einsetzung durch Jesus für
die einzelnen Sakramente gelten lassen. Es ist auch durchaus
nicht undenkbar oder sogar von der Entwicklung der Sa-
kramente in der Urkirche naheliegend, daß die Kirche aus
sinnvollen Gründen in einer Vollmacht, die ihr zusteht, ein
Sakrament gewissermaßen geteilt hat. So war die Urkirche
davon überzeugt, daß in der Taufe nicht nur die Vergebung der
Sünden und eine Aufnahme in die Kirche bewirkt werden,
sondern auch der Heilige Geist in einer ganz besonderen Weise
dem Täufling mitgeteilt wird. Von da aus kann man sich
durchaus denken, daß die Taufe mit Wasser und die dabei
ursprünglich gegebene Mitteilung des Heiligen Geistes durch
Handauflegung in einer gewissen Weise auseinandergetreten
sind und so für die spätere Reflexion der Kirche zwei Sa-
kramente bedeuten. Aber das Entscheidende in dieser Frage der
Herkunft der Sakramente von Jesus Christus ist wohl folgen-
des: Er, der Gekreuzigte und Auferstandene ist das letzte,
unüberholbare, endgültige und siegreiche Zusagewort, in
welchem Gott sich der Welt definitiv mitteilt. Er ist, so können
wir in unserer Terminologie sagen, das Zeichen der Gnade
Gottes, in dem unwiderruflich der Welt gegeben wird, was
dieses Zeichen besagt und sagen will.
400
\
Diese Weise, in der die Kirche ihr innerstes Wesen als Gegen-
wart der siegreichen Gnade Gottes den einzelnen Menschen
zusagt, hat im Lauf der zwei Jahrtausende selber eine sehr
abwechslungsreiche und große Geschichte gehabt. Der Tauf-
titus war nicht immer der gleiche; er muß schon notwendiger-
weise variieren, je nachdem, ob Säuglinge oder Erwachsene
getauft werden. Die Weise des Empfangs des Abendmahls Jesu
war in den verschiedenen Zeiten verschieden: in der genaueren
Ausgestaltung der Feier des Abendmahls Jesu, in der Art des
Brotes, in der Frage, ob nur Brotkommunion oder auch Kelch-
kommunion von den einzelnen Gläubigen empfangen wird, in
der nebensächlichen Frage der Mund- oder Handkommunion
usw. So war es auch bei den anderen Sakramenten. Die Bedin-
gungen, unter denen die Kirche das Wort der bleibenden Liebe
zwischen zwei Menschen als Sakrament gelten läßt, waren
verschieden, haben verschiedene Modalitäten gehabt bis auf
den heutigen Tag. Aus den verschiedensten (auch aus sozialen)
Gründen war die Häufigkeit des Empfangs der Krankensal-
bung in den verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich. Ähnli-
ches gilt von der Firmung; sie wird in den Ostkirchen immer
noch unmittelbar zusammen mit der Taufe gespendet. Bei uns
liegen viele Jahre religiöser Erziehung zwischen Taufe und
Firmung. Das Bußsakrament hat eine ungeheuer bewegte Ge-
schichte gehabt, und es sieht nicht so aus, als ob diese Geschich-
te einfach schon in eine immer weiter, genau gleichbleibende
Praxis eingemündet sei. Das letztlich ezne Amt in der Kirche,
das es geben muß, konnte und mußte aus sinnvollen und
berechtigten Gründen der konkreten gesellschaftlichen und
geschichtlichen Situation in verschiedene Teilämter geteilt
werden. Schon sehr früh wurden Priestertum, Bischofsamt,
402
Diakonat differenziert, und dementsprechend konnten die kon-
kreten Riten, unter denen solche Amtsvollmachten gegeben
wurden, sehr verschieden gestaltet werden. Bis zum Pontifikat
Pius’ XII. war es zum Beispiel bei der Priesterweihe im abend-
ländischen Westen nicht absolut sicher, ob die Handauflegung
allein der entscheidende Ritus ist, oder ob zur Gültigkeit der
Priesterweihe notwendig die Übergabe von Patene und Kelch
durch den Bischof an den Weihekandidaten erforderlich ist.
Solche Entwicklungen brauchen auch heute noch nicht
definitiv abgeschlossen zu sein. Es ist z.B. durchaus denkbar,
daß die Kirche faktisch einen heiligen Ritus, also eine solche
Gnadengeste Gottes an einem Menschen vollzieht, ohne schon
ausdrücklich und sicher auf die sogenannte Sakramentalität
dieses Ritus zu reflektieren. Im Mittelalter z.B. hat der
hl. Thomas erklärt, die Bischofsweihe sei kein Sakrament. Sie
wurde damals ungefähr so wie heute auch gespendet, aber daß
dieser Gestus an der Würde eines eigentlichen Sakramentes
Jesu Christi teilhat, das war für die damalige Kirche nicht klar.
Heute hat die Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil diese
Sakramentalität der Bischofsweihe als solcher ausdrücklich
erklärt. Sie ist gewissermaßen in ihrer Reflexion weiter voran-
geschritten. So könnte man sich auch heute noch denken, daß
andere Amtsbeauftragungen, die es in der Kirche ja gibt, viel-
leicht auch an dieser Sakramentalität der Amtsübertragung in
der Kirche teilhaben, obwohl es die Kirche noch nicht deutlich
reflektiert. Ich glaube nicht, daß jemand eine Häresie behaup-
ten würde, wenn er der Meinung ist, die amtliche, feierliche
dauernde Bestellung eines Pastoralassistenten könnte auch
ebensogut an der Sakramentalität der Amtsübertragung in der
Kirche teilhaben, wie es der hl. Thomas vom Ministrantenamt
in der Kirche behauptet hatte. Das ist keine furchtbar wichtige
Frage, aber man sieht doch, daß in der katholischen Sakramen-
tentheologie noch nicht alle Fragen geklärt sind, und es können
auch neue Fragen auftreten, die eine ernsthafte religiöse Be-
deutung haben.
403
) Der Spielraum ist größer geworden
404
solches Versäumen einer Sonntagsmesse für sie mindestens
subjektiv vor Gott noch keine schwere Schuld bedeute, die vor
einem neuen Kommunionempfang sakramental getilgt sein
müsse.
Durch diese Fragen ist, weil sie gar nicht eindeutig von seiten.
der Kirche beantwortet werden können, ein sehr großer Spiel-
raum offen hinsichtlich der Frage des einzelnen Christen, ob er
sich zubilligen könne oder nicht, ohne vorhergehende Beichte
zur Kommunion hinzutreten. Daß in den letzten Jahrzehnten
in diesen Fragen ein gewisser Stilwandel eingetreten ist, läßt
sich nicht bestreiten. Daß im Normalfall die Mitfeier der Eu-
charistie auch mit einem persönlichen Kommunionempfang
verbunden ist, ist an sich löblicherweise heute etwas, das zum
normalen Verständnis eines Christen gehört — in einem erhebli-
chen Unterschied zur Praxis früherer Zeiten. Aber hier ist doch
auch die Gefahr gegeben, daß eine Laxheit bei den Christen sich
einschleicht, die nicht sein sollte.
405
TAUFE UND TAUFERNEUERUNG
Wenn aber ein Mensch in der Situation lebt, in der die leibhaf-
tige und gesellschaftliche Erscheinung dieses göttlichen
Lebens, Taufe genannt, möglich ist, dann kann ein Mensch
nicht sagen, er wolle dieses göttliche Leben, lehne aber sein
leibhaftiges In-Erscheinung-Treten ab. Das wäre so, wie wenn:
einer die konkrete Tat der Liebe ablehnt und dennoch behaup-
tet, er liebe. Das wäre so, als wenn ein Mensch nicht erwachsen
409
werden wollte, mit der Erklärung, er sei ja auch schon im
embryonalen Zustand ein Mensch und verzichte darum auf eine
weitere Entfaltung seines Menschseins. Die Taufe ist das kon-
krete In-Erscheinung-Treten des göttlichen Lebens, insofern
dieses immer auch ein christliches und darum kirchliches ist.
Insofern diese Leibhaftigkeit des göttlichen Lebens immer auch
eine kirchliche Wirklichkeit ist, ist es nicht in das Belieben des
einzelnen Menschen gestellt, wie er diese Leiblichkeit des gött-
lichen Gnadenlebens in sich gestalten wolle. Er muß sie wollen
und vollziehen in der Weise, die ihm von dieser kirchlichen
Gemeinschaft vorgegeben ist. Und diese Weise ist eben die
Wassertaufe unter der Anrufung des dreifaltigen Gottes. Wenn
jemand einen rechtlich wirksamen Willen bekunden will, sein
Vermögen einem freigewählten Erben zu hinterlassen, dann
muß sich dieser sein Wille eben, um wirksam zu sein, durch ein
nach den Normen der Gesellschaft gültiges Testament bekun-
den. Analog ist es auch bei der Wassertaufe.
Wir müssen nun noch zwei Fragen bedenken, die sich als
Schwierigkeiten aus dem bisher Gesagten ergeben. Die erste
Schwierigkeit liegt darin, daß von unserem Ansatz her die
sakramentale Ursächlichkeit der Taufe für die Gnade schwerer
verständlich zu sein scheint, als wenn einfach der sakramentale
Vorgang als Ursache der Taufgnade gedacht wird, ohne die
Taufe zunächst als Erscheinung und so als Zeichen der inneren
göttlichen Begnadigung zu sehen. Die zweite Schwierigkeit,
die wir bedenken müssen, bezieht sich auf die Kindertaufe.
Wir haben bisher die Taufe gesehen als die geschichtliche und
gesellschaftliche Erscheinung der göttlichen Gnade, in der sich
Gott selbst in die innerste Mitte des Menschen einstiftet und
sich der Freiheit des Menschen als Kraft des Glaubens, der
Hoffnung und der Liebe auf Gott hin anbietet. So gesehen,
scheint die Taufe nur die Verlautbarung einer Wirklichkeit zu
sein, die auch unabhängig von ihr gegeben ist. Die kirchliche
410
Lehre spricht aber von einer Wirkursächlichkeit der Sakramen-
te und also auch der Taufe für die Gnade. Sind diese beiden
Aussagen nicht miteinander vereinbar? Oder kann man sinn-
voll sagen, der Charakter der Taufe als eines die Gnade verlaut-
barenden Zeichens und die Wirkursächlichkeit bedingen sich
gegenseitig, so daß man sagen kann, die Taufe sei die Ursache
der Gnade, wez/ sie ihr Zeichen ist? Daß man dann, wenn man
dies sagen können soll, nicht einen beliebigen Begriff von
Ursache in diesen Satz eintragen darf, sondern sich eine berech-
tigte und sinnvolle Vorstellung von der hier gegebenen Ur-
sächlichkeit machen muß, ist selbstverständlich. Darauf macht
ja auch schon die traditionelle Schultheologie aufmerksam,
wenn sie sagt, daß bei der Taufe selbstverständlich Gott selbst
die eigentliche und einzige schöpferische Ursache der göttli-
chen Gnade sei und die Taufe nur als eine «Instru-
mentalursache» gedacht werden dürfe, wobei die Theologen
die verschiedensten Theorien vortragen, wie diese Instrumen-
talursächlichkeit der Sakramente genauer zu denken sei.
Daß man unseren Ausgangspunkt zum Verständnis der
Taufe bei ihrem Zeichencharakter nicht von vornherein ableh-
nen kann, zeigt folgende Überlegung: Wenn ein Erwachsener
sich taufen läßt, muß er, um das Sakrament würdig empfangen
zu können, schon Glaube, Hoffnung und Liebe zur Taufe
mitbringen, wobei diese Liebe mindestens im Normalfall
durchaus so gedacht werden muß, daß sie Gott um seiner selbst _
willen liebt, also «vollkommene Liebe» im Unterschied zu
jener Liebe ist, die in der «Furchtreue» mitgegeben ist. Unter
dieser Voraussetzung kommt dieser Erwachsene nach allge-
meiner Lehre der Kirche und der Theologen schon als «Ge-
rechtfertigter» zur Taufe, als einer, der das ihm angebotene
göttliche Leben schon angenommen hat und ein heiliges Kind
Gottes durch die Einwohnung des Heiligen Geistes ist. Minde-
stens also in diesem Fall hat der Täufling das schon, was ihm
die Taufe als Ursache geben soll, die Rechtfertigungsgnade.
Die Theologen suchen dieser Schwierigkeit zu entkommen,
indem sie sagen, die Taufe dieses schon Gerechtfertigten ver-
mehre ursächlich diese seine Gnade und gebe zusätzlich einiges,
411
das dieser zu taufende Gerechtfertigte noch nicht besitzt, z.B.
die gesellschaftsrechtliche Eingliederung in die sichtbare
Kirche, den «Taufcharakter». Aber diese Auskunft scheint
doch etwas gequält zu sein, ohne daß dies hier noch lange
erörtert werden kann. Gehen wir, um weiterzukommen, von
einer Überlegung aus, die ganz am Anfang vorgetragen wurde.
Wie ist es, wenn einer, der jemand anderen von Herzen liebt
und dann auch, obwohl ihm das vielleicht aus irgendwelchen
Gründen gar nicht leicht fällt, das entscheidende Wort seiner
Liebe dem anderen sagt? Dieses Wort ist Äußerung und Ent-
scheidung seiner Liebe, und dennoch verwirklicht sich diese
Liebe in ihrer ganzen Intensität und Endgültigkeit durch dieses
Wort, sie wäre nicht einfach dieselbe, wenn sie sich nicht in
dieser ihrer Verlautbarung ausdrücken und so sich se/ber ver-
wirklichen würde. Insofern kann man dieses Wort als Zeichen
dieser Liebe durchaus auch als ihre Ursache verstehen, weil
diese Liebe sich durch diese — an sich von ihr verschiedene —
Verlautbarung selber verwirklicht. Wenden wir diese Über-
legung auf die Taufe des schon gerechtfertigten Täuflings an.
Er bringt die in Freiheit schon angenommene göttliche Be-
gnadigung zur Taufe mit. Aber eben diese Gnade will sich
selbst in diesem Taufvorgang geschichtlich (raumzeitlich —
leibhaftig) und gesellschaftlich (kirchlich) verlautbaren, und
indem sie sich so verlautbart, wird sie selber auch in den
Dimensionen der Leibhaftigkeit und Gesellschaftlichkeit des
Täuflings gegenwärtig. Die Taufe ist so die Wirkung der
Gnade, daß durch sie diese Gnade sich selber voll verwirklicht,
und insofern ist die Taufe auch die Ursache der Gnade. (In-
sofern ist die oben erwähnte Auskunft, daß die Taufe beim
schon gerechtfertigten Täufling die heiligmachende Gnade
«vermehre», an sich richtig, nur faßt sie diese Vermehrung als
fast quantitativ gedachten Zusatz auf und versteht nicht, daß
dieses «Mehr» die Selbstverwirklichung der einen Gnade ist,
die sich durch ihr sakramentales Zeichen selbst in ihre volle
Wirklichkeit setzt.) Wenn wir dies so schen, können wir ver-
stehen, was es heißt, das Sakrament sei a/s Zeichen der Gnade
ihre Ursächlichkeit. Der Charakter des Zeichens und der
412
Charakter der Ursache liegen, richtig verstanden, bei einem
Sakrament nicht nebeneinander, sondern ineinander.
Die Kindertaufe
Wir müssen schließlich noch einige Überlegungen über die
Kindertaufe anstellen, die durch viele Jahrhunderte in der
Kirche eine Selbstverständlichkeit war, jetzt aber wieder ange-
fochten wird, weil sie (wie man sagt) im Neuen Testament nicht
bezeugt sei und dem personalen Charakter des Christwerdens
widerspreche. Dennoch hält die Kirche unerbittlich an der
grundsätzlichen Berechtigung und Sinnhaftigkeit der Kinder-
taufe fest, auch wenn man vielleicht nicht mit der gleichen
Eindeutigkeit und Sicherheit eine Verpflichtung zur Kinder-
taufe behaupten kann. Warum ist die Kindertaufe durchaus
sinnvoll und sollte darum auch nicht von Eltern abgelehnt
werden, die sagen, man müsse das Christwerden und die Ein-
gliederung in die Kirche der freien Entscheidung des Kindes
überlassen, es dürfe also nicht unmündig getauft werden?
Zunächst einmal ist doch das, was die Taufe leibhaftig und
gesellschaftlich bekundet, gar nicht in das Belieben und die
Entscheidung des Menschen gestellt. Denn Gottes Liebe, in der
Gott sich selbst zur innersten Dynamik des Menschen und
seiner Geschichte macht, ist unerbittlich und immer schon dem
Menschen und seiner Freiheitsentscheidung voraus und fragt
diese gerade, ob sie diese fordernde Liebe Gottes annehmen
wolle oder nicht, ob sie das Heil oder das Gericht dieses
Menschen durch seine freie Entscheidung werden sollte.
Gefragt sind wir auf jeden Fall — gleichgültig, wie wir darauf
antworten —, und dieses unerbittliche Gefragtsein durch die
heilige Liebe Gottes verlautbart die Taufe. Wenn man geboren
ist, kann man sein Menschsein annehmen oder hassen, man
kann aber seine Gegebenheit nicht aus der Welt schaffen.
Menschliche Freiheit ist immer und unweigerlich eine Reaktion
auf Vorgegebenes, setzt nicht ein schlechthin Ursprüngliches
in einen leeren Raum. Wenn daher in der Taufe in Erscheinung
tritt, was der Mensch unerbittlich und unausweichlich ist —
413
nämlich die von Gott geliebte Kreatur, die zum Empfang des
göttlichen Lebens bestimmt ist —, dann geschieht dieser Freiheit
kein Unrecht, weil sie Gott und der Welt gegenüber immer eine
antwortende Freiheit ist, die nie das erste Wort hat. _
Wenn man einwenden würde, durch die Taufe sei nicht nur
die unentrinnbare Gottbezogenheit des Menschen verlautbart,
sondern auch eine Zugehörigkeit zur sichtbaren Kirche gestif-
tet und diesbezüglich wenigstens müsse der Mensch eine Ent-
scheidungsfreiheit bewahren, dann ist zu sagen: Die Kirche
versteht sich in ihrem eigentlichen Wesen als die geschichtliche
und gesellschaftliche Erscheinung der Gerufenheit aller Men-
schen durch Gott und empfindet darum die Zugehörigkeit zur
Kirche als ein selbstverständliches In-Erscheinung-Treten
dieser Beanspruchtheit jedes Menschen vor Gott. Es kann wohl
(ohne daß das hier genauer erläutert werden kann) zugegeben
werden, daß die Kirche in früheren Zeiten aus dieser Zuge-
hörigkeit des Getauften zur Kirche Folgerungen gezogen hat,
die problematisch sind. Sie hatte daraus z.B. ein Recht zu
Zwangsmaßnahmen gegenüber dem Getauften abgeleitet, das
sie nach ihrem eigenen Selbstverständnis gegenüber den Nicht-
getauften nicht besitzt. Aber solche Folgerungen werden heute
nicht mehr von der Kirche gezogen, weil sie eine gleiche
Gewissensfreiheit für Getaufte und Nichtgetaufte bekennt.
Und insofern ist diese Schwierigkeit aus der Zugehörigkeit zur
Kirche heute nicht mehr gegeben. Die Taufe ist die selbstver-
ständliche Manifestation einer Hingeordnetheit jedes Men-
schen auf die Kirche, und insofern bedeutet sie keine Vorweg-
nahme einer Entscheidung, die von der Freiheit allein getroffen
werden müßte.
Aber etwas an der Kindertaufe muß noch bedacht werden,
das in unseren Gegenden durch den Umstand verdunkelt wird,
daß Kindertaufen sehr häufig und Erwachsenentaufen sehr
selten sind. Wenn die Taufe das wirksame In-Erscheinung-
Treten der göttlichen Liebe zum Menschen ist, die Gott selbst
und nicht ein geschaffenes Gut dem Menschen mitteilt, dann
ist sie natürlich von ihrem innerlichsten Wesen her ein Anruf
an den Menschen, diese Liebe anzunehmen. Man kann darum
414
ruhig sagen, die Kindertaufe komme zu ihrem eigenen Sinn
und ihrer Vollendung dadurch, daß der Mensch in Glaube,
Hoffnung und Liebe diese ihm zugesagte Liebe Gottes
annimmt. Man kann also ruhig sagen, die Kindertaufe komme
zu ihrem vollen Sinn und Ziel erst im Erwachsenen. Ob dieser
so sein ihm als Kind gemachtes Selbstangebot Gottes durch das
normale christliche Leben in Liebe und Treue annimmt oder
immer wieder auch ausdrücklich in seiner christlichen Freiheit
seine Taufe im Kindesalter ratifiziert, das ist letztlich keine
entscheidende Frage. Die letzte und entscheidende Übernahme
der Taufe in persönlicher Freiheit geschieht natürlich auf jeden
Fall durch die Ganzheit eines menschlichen und christlichen
Lebens in seiner ganzen Länge und Breite. Aber es ist doch
sicherlich gut und heilsam, sich glaubend und vertrauend aus-
drücklich auf seine Taufe am Anfang des Lebens zurückbe-
ziehen zu können. Was in der Osternacht die Liturgie als
Erneuerung des Taufgelübdes jedem Christen anbietet, das
könnte auch unabhängig von der amtlichen Liturgie im Leben
eines Christen vorkommen. Er blickt auf sein Leben zurück;
er weiß, daß dieses Leben von Anfang an von der Macht und
der Liebe Gottes begleitet und getragen war und Gott es in
seiner Vorsehung liebevoll gefügt hatte, daß diese Liebe zu ihm
leibhaftig und ausdrücklich durch die Taufe am Lebensanfang
bezeugt wurde. Der Christ kann immer wieder das Ereignis der
Taufe gegenwärtig werden lassen und annehmen. Wenn in 2
Tim 1,6f gesagt wird: «Entfache die Gnade Gottes wieder, die
dir durch die Auflegung meiner Hände zuteil geworden ist,
denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben,
sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit»
— dann kann jeder Christ dieses Wort, das zunächst für die
kirchliche Amtsverleihung gesagt wurde, auch sinngemäß in
bezug auf seine Taufe verstehen. In ihr hat er den göttlichen
Geist der Liebe erhalten und hat die Aufgabe, dieses göttliche
Feuer in sich lebendig zu halten. Man sollte manchmal auch im
stillen Kämmerlein Tauferneuerung feiern.
415
Tauferneuerung
417
ZUR SITUATION DES BUSS-SAKRAMENTES!
418
nicht. Erst wenn diese Frage beantwortet ist, können wir —
zweitens — wirklich an die Frage herantreten, wie die heutige
Situation des Bußsakramentes zu beurteilen sei. |
419
entsteht, wenn man dieses Prinzip aufrechterhält und in die
Praxis überführen will, unweigerlich und notwendig die Frage,
wann denn eine solche objektiv und subjektiv schwere Sünde
vorliegt. Daß es Sünden gibt, die nicht in diese Kategorie
fallen, die also zu beichten ein Christ nicht verpflichtet ist, das
ist eine Selbstverständlichkeit. Wir pflegen im Jargon des Kate-
chismus solche Sünden läßliche Sünden zu nennen im Unter-
schied zu den sogenannten schweren Sünden oder Todsünden.
Mit andern Worten: Es entsteht nun die Frage, wie diese beiden
Arten von Sünden, die einen sehr wesentlichen, fundamentalen
Unterschied aufweisen, unterschieden werden können. Es
handelt sich dabei nicht bloß um den objektiven Unterschied
zwischen einer schweren und einer läßlichen Sünde, z.B. um
den objektiven Unterschied zwischen einem Mord und einer,
zwar freiwilligen, Unachtsamkeit und Zerstreuung im Gebet
oder einer zwar bewußten, aber leichten Lieblosigkeit gegen-
über einem Nächsten. Daß es einen solchen objektiven Unter-
schied gibt, ist eine Lehre der Kirche, die gerade auch im
Konzil von Trient sehr deutlich ausgesagt wurde. Aber hin-
sichtlich der Beichtpflicht handelt es sich eben nicht bloß um
einen objektiven Unterschied zwischen schweren und läßlichen
Sünden, von denen nur die ersteren gebeichtet werden müssen,
sondern es handelt sich um die Frage nach der subjektiven
Schuldhaftigkeit des Menschen. Daß unter Umständen ein
Mensch einen Verstoß gegen eine objektiv vom Wesen der
Sache her schwere Verpflichtung so begehen kann, daß er doch
vor Gott nicht im eigentlichen Sinn schuldig wird, das ist auch
eine Selbstverständlichkeit. Man darf niemanden vergiften,
aber wenn ein Apotheker durch irgendeine Nachlässigkeit, die
ihn vor Gott nicht im eigentlichen Sinn schwer schuldig
werden läßt, ein Rezept falsch ausführt und der Benutzer dieser
Medizin daran stirbt, dann kann man durchaus von einer objek-
tiv schweren Verfehlung sprechen, die aber subjektiv im
eigentlichen Sinne den Menschen nicht vor Gott in einer ab-
soluten Weise schuldig werden läßt, so daß zwischen Gott und
dem Menschen wirklich eine absolute, wenn auch wieder auf-
hebbare, Trennung bestünde.
420
Es ist also dieses Prinzip, daß jemand schwere Sünden durch
die sakramentale Einzelbeichte tilgen muß, von den objektiv
und subjektiv schweren Sünden her zu verstehen. Wo vielleicht
eine zwar objektiv schwere Schuld gegeben ist, die aber von
dem betreffenden Menschen nicht wirklich realisiert wird, ist
nach der Lehre des Trienter Konzils eine eigentlich absolute,
selber wieder unter schwerer Sünde verpflichtende Pflicht zur
sakramentalen Einzelbeichte nicht gegeben.
421
Nun ist aber in der neuesten Zeit aus den verschiedensten
"Gründen die Frage, was nicht nur objektiv, sondern auch
subjektiv eine schwere Sünde ist, sehr in die Diskussion
geraten. Zunächst wird sogar in sehr vielen Fällen gegenüber
der früheren, traditionellen Moral die heutige Auffassung auch
von den Moraltheologen dahingehend berichtigt, daß manches,
was man früher als eine objektiv schwere Verpflichtung bzw.
eine objektiv schwere Schuld betrachtet hat, in Wirklichkeit
eine solche nicht ist. Man wird heute schwer behaupten
können, daß jedwede freiwillige Unterlassung einer einzelnen
Sonntagsmesse einen normalen Christen in eine solche ab-
solute, radikale Feindschaft mit Gott versetzt, wie wenn er z.B.
einen anderen Menschen heimtückisch umgebracht hätte.
Aber wir werden hinsichtlich der Schuld nicht nur bezüglich
ihres objektiven Gewichts heute differenzierter und — in vielen
Fällen wenigstens — auch milder urteilen, sondern wir werden
— und zwar mit einem gar nicht schlechten Recht, das mit
moralischer Laxheit nichts zu tun hat — auch in sehr vielen
Fällen sagen müssen, daß mindestens eine subjektiv schwere
Schuld nicht vorliegt. Viele Menschen haben faktisch nicht
jenes Vermögen sittlicher Abwägung, daß jedweder objektiv
schwere Widerspruch zum göttlichen Willen diesen Menschen
auch subjektiv so schwerwiegend erscheint, daß sie sich sagen
müßten: Wenn ich das trotzdem tue, setze ich ein wirklich
radikales Nein zu Gott und seinem Willen. Wir wissen heute
deutlicher als früher und setzen also dieses Wissen auch in die
Praxis um, daß sehr viele Menschen ein geringes Wahrneh-
mungsvermögen hinsichtlich der Dringlichkeit einer sittlichen
Pflicht haben. Dieses Vermögen ist oft geringer, als an und für
sich wünschenswert wäre. Aber es ist gering. Wir wissen heute
aus der modernen Psychologie, wie oft - und zwar nicht nur
dort, wo es sich um Verbrechen handelt, sondern auch im
normalen Alltagsbetrieb — auf verminderte Zurechnungsfähig-
keit befunden werden darf. Wir haben vielleicht darüber hinaus
heute ein in sich und grundsätzlich durchaus legitimes Empfin-
den, daß der arme, schwache, von tausend Belastungen seines
Milieus bedrängte Mensch wirklich nicht so leicht und so oft
422
mit seiner sittlichen Freiheit in einen solchen Konflikt mit
Gottes Willen kommen wird, daß dieser Konflikt (wenn nicht
durch Reue beigelegt) von Gottes heiliger Gerechtigkeit mit
der ewigen Verdammnis beantwortet werden müßte. Wir sind
vielleicht sogar heute — auch wieder nicht a priori unberechtig-
terweise — der Meinung, daß wirklich subjektiv schwere
Schuld, die ewiger Verdammnis gerechterweise würdig wäre,
nicht etwas ist, das in dem normalen Leben eines anständigen
Christen sehr oft oder sehr schnell vorkommen wird. Wir sind
da — warum sollte das nicht berechtigt sein! — optimistischer.
Wir werden den normalen Christen hinsichtlich seiner
moralischen Qualität nicht unbedingt besonders günstig beur-
teilen. Wir wissen, daß er dumm, schwach und der öffentlichen
Meinung, obwohl diese vielleicht sehr unchristlich ist, weitge-
hend untertan ist; er ist durch seine genetische Veranlagung,
durch die Mängel der Erziehung, durch seine Lebensschicksale
vielleicht moralisch relativ stumpf und primitiv, und wir
werden, gerade wenn wir die heutige Menschheit anschauen,
hinsichtlich ihrer moralischen Qualität nicht sehr enthusiasti-
sche Urteile fällen. Aber daß diese Menschheit, so wie sie
konkret ist, im Normalfall vom Grund des eigenen Freiheits-
wesens her so böse ist, daß sie im Durchschnitt ein absolutes
Nein zu Gott sagt, das nur die andere Seite ewiger Verlorenheit
ist, so zu urteilen bringen wir heute als Christen, wie ich meine,
mit Recht nicht fertig. Wir sind im Grunde genommen eben
optimistischer als der heilige Augustinus, der im großen und
ganzen die Menschheit als eine «massa damnata» betrachtete,
aus der nur durch die seltene Gnade Gottes einige wenige
gerettet werden.
423
a
Z;
424
müßte, das ist eine ganz andere Frage, über die wir nachher
noch sehr viel werden sagen müssen. Aber wenn jemand die
Frage stellen würde, ob die Tatsache des Rückgangs des Bußsa-
kramentes ein eindeutiger Beweis dafür ist, daß eine große Zahl
_ der heutigen katholischen Christen gegen die objektive Ver-
pflichtung zum Bußsakrament beim Vorliegen von subjektiv
schweren Sünden verstößt, dann muß man diese Frage mit
Nein beantworten. Aus dem rein zahlenmäßigen Rückgang der
sakramentalen Beichten kann man nicht mit eindeutiger Sicher-
heit schließen, daß die heutigen katholischen Christen gegen
ein sie verpflichtendes, strenges Gebot Gottes verstoßen. Das
könnte man nur dann sagen, wenn einerseits selten gebeichtet
würde und andererseits feststünde, daß wirklich subjektiv
schwere Sünden nicht selten, sondern sehr oft vorkommen. Da
man aber dieses Zweite eben nicht mit Sicherheit sagen kann,
da man durchaus hoffen kann, daß solche Sünden, die den
Menschen der ewigen Verdammnis würdig machen, zumindest
im normalen Christenleben nicht oft oder vielleicht sogar gar
nicht vorkommen, darum kann man aus dem Rückgang der
Beichtpraxis nicht sicher schließen, daß die Christen einer ob-
jektiv auf ihnen liegenden Beichtpflicht faktisch nicht nach-
kommen.
Es gibt freilich auch Christen, die gegen eine solche Ver-
pflichtung verstoßen, weil natürlich auch unter ihnen wirklich
schwere Sünden vorkommen, die objektiv und auch subjektiv
solche sind. Wenn eine Mutter, die schr gut noch ein Kind
haben könnte, die wirtschaftlich und menschlich durchaus in
der Lage dazu wäre und die durch keine großen äußeren
Umstände in Bedrängnis ist, aus purer Bequemlichkeit und
anderen schäbigen Gründen eine Abtreibung vornehmen läßt,
‚dann ist durchaus die Möglichkeit gegeben, daß es sich hier
nicht nur um einen objektiv, sondern auch um einen subjektiv
schweren Verstoß gegen das Fünfte Gebot handelt.
Aber auch wenn das zugegeben und deutlich gemacht wird,
steht damit noch nicht fest, daß subjektiv schwere Schuld beim
Normalchristen so häufig vorkommt, daß man daraus auf eine
erschreckende und massive Unchristlichkeit wegen des Ver-
425
a
S
426
Beichte — nicht erst auf dem Sterbebett
427
IR
Ya”
428
ihrer alten Praxis her davon schlechterdings überzeugt, daß sie
ihre Vergebungsvollmacht selbstverständlich nicht nur auf die
schweren Sünden im strengen Sinn des Wortes, sondern auch
auf andere Verfehlungen und Sünden anwenden kann. Denn
schon der Satz Jesu bei Johannes 20,23, daß die Kirche, wenn
sie Sünden vergibt, tatsächlich ihre Vergebung vor Gott
bewirkt, macht ja von vornherein keinen Unterschied zwischen
den Sünden. Es wäre also töricht zu behaupten, die Kirche
könne nur schwerste Sünden vergeben und könne ihre Verge-
bungsvollmacht, die sie von Jesus hat, nicht auch auf andere
Sünden anwenden. Aber darüber hinaus gibt es noch sehr viele
Gründe und Überlegungen, die eine häufige Andachtsbeichte
sinnvoll sein lassen. Wir können diese Gründe und Überlegun-
gen jetzt nicht völlig entfalten und darlegen, weil wir dann zu
sehr in eine Theologie der Sünde, in eine Theologie des Lebens
des Christen zwischen Gnade und Sünde, in eine gesamte
Theologie der Kirche und ihres Wesens als des Sakramentes der
Vergebung im allgemeinen hineingeraten würden, was natür-
_ lich hier jetzt nicht möglich ist. Wir deuten also nur das eine
oder andere kurz an.
430
Sakramentaler Vollzug als Verleiblichung
431
u BEA
432
Soziale Dimension von Sünde und Vergebung
433
auch wenn sie nicht «iure divino» gefordert ist, ist doch ein
konkreter Vorgang, der dem normalen Christen sehr hilft, diese
innere Gesinnung des immer neuen Sich-Wegwendens von der
Schuld und der Hinwendung zu Gott ernsthaft zu realisieren.
Die genauere Erforschung des Gewissens, die Möglichkeit, bei
einer solchen sakramentalen Buße gewissermaßen das vor-
zunehmen, was die heutigen Franzosen die «revision de vie»
nennen, alle solche und viele andere nützliche Vorzüge sind
eben mit der sakramentalen Beichte gegeben: Vorzüge, die ein
Christ nicht geringachten soll und von denen er sich durchaus
veranlaßt sehen kann, seine sakramentale Beichte auch dort
abzulegen, wo er nicht im strengen Sinn dazu verpflichtet ist.
Die Frage, wie oft so etwas sein sollte, läßt sich vermutlich nur
individuell beantworten. Das hängt von so vielen Dingen ab
— von der Möglichkeit oder der praktischen Unmöglichkeit, oft
zu beichten, von der individuellen Eigenart eines einzelnen
Menschen und von dem konkreten Leben, das der einzelne zu
führen hat und in dem mehr oder weniger ernsthafte und
zahlreiche Gelegenheiten des Sündigens gegeben sind. Solche
und andere Umstände lassen es wohl schwer zu, eine allgemeine
Norm für die konkrete Häufigkeit der Andachtsbeichte aufzu-
stellen, und das soll hier auch nicht geschehen. Man kann aber
sicher sagen, daß man sich die sakramentale Buße ruhig schen-
ken kann, wenn man im Rückblick auf eine kürzere Periode
seines Alltagslebens nüchtern und vernünftigerweise sagen
muß, daß nichts vorgekommen ist, was man ernsthaft bereuen
könnte.
Man kann natürlich mehr bereuen, als der hartsinnige
Alltagschrist vielleicht meint. Es gibt Lieblosigkeit, Gleichgül-
tigkeit gegenüber seinen Lebensaufgaben, Uninteressiertheit an
seiner Umgebung, an den Mitmenschen, für die man vielleicht
verantwortlich ist. Es gibt solche Dinge, die sehr schwer greif-
bar sich durch ein ganzes Leben ausbreiten. Da wäre unter
434
Umständen bei einem ernsten Selbstgericht durchaus mehr
Möglichkeit ernsthafter Umkehr und Reue, als wir uns ge-
wöhnlich, alltäglich gestimmt und harten Gemütes, zugeben.
Aber, wie gesagt, es soll sich umgekehrt auch niemand zu einer
sakramentalen Buße verpflichtet oder veranlaßt fühlen, der sich
im Grunde genommen sagt: Ich habe hier und jetzt eigentlich
nichts zu bereuen; mein Alltag ist in einer so normalen, wenn
auch etwas christlich-spießbürgerlichen Weise verlaufen, daß
ich ihn jetzt nicht als besonderen Gegenstand einer sakramen-
talen Anklage empfinden kann.
Jetzt ist noch etwas in einer gewissen Zusammenschau des
ersten und zweiten Teiles unserer Überlegungen zu sagen.
Etwas, das — soviel ich weiß — in der normalen Pastoral kaum
einmal gesagt und vorgeschlagen wird. Nämlich: Wenn und
insofern ein Laienchrist — an diesen denke ich jetzt — einerseits
der Überzeugung ist, daß er eigentlich im strengen Sinne einer
sakramentalen Lossprechung nicht bedarf, und auf der anderen
Seite doch einsieht und willig ist, dieses Sakrament auch außer-
halb dieser Situation häufiger zu empfangen, dann sollte er
auch eine weise und gute Auswahl des sogenannten Beicht-
vaters treffen. Es ist selbstverständlich, daß, sosehr alle
Momente eines sakramentalen Geschehens in jeder Beichte
gegeben sein müssen — Gewissenserforschung, Reue, Anklage,
Absolution —, sich doch bei einer Andachtsbeichte das Gewicht
dieses sakramentalen Geschehens stärker auf das Subjektive des
Beichtenden verlagert als bei einer Lossprechung von einer
schweren Schuld. Anders ausgedrückt: Eine bloß routine-
mäßig häufige Andachtsbeichte, in der existentiell so gut wie
nichts geschieht, hat auch als sakramentales Geschehen keinen
Sinn. Nun aber wird man doch sagen können, daß die Möglich-
keit, eine solche Andachtsbeichte ernst zu nehmen, auch davon
abhängt, welchen Beichtvater man sich wählt. Die Kirche hat
vom Mittelalter an immer mehr dahin tendiert, dem Laienchri-
sten eine möglichst große Auswahl an Beichtvätern zur Ver-
fügung zu stellen. Während im Vierten Laterankonzil noch
vorgeschrieben wurde, daß man die Jahresbeichte bei seinem
zuständigen Pfarrer abzulegen habe, hat die Kirche mehr und
435
mehr die freie Wahl des Beichtvaters kirchengesetzlich ermög-
licht und auch pastoral erleichtert. Bei einer Andachtsbeichte,
wie wir sie jetzt, glaube ich, einigermaßen richtig verstehen, ist
eigentlich klar, daß das bloße sakramentale Absolviertsein in
diesem Falle am wenigsten sinnvoll ist. Und deswegen ist eben
die innere Haltung des Beichtenden von entscheidendem
Gewicht; und diese läßt sich leichter bewerkstelligen, wenn ein
entsprechender Beichtvater gegeben ist. Es gab und gibt natür-
lich Pfarrer, die in der Zahl von möglichst vielen Absolutionen
an einem Samstag einen Triumph ihrer seelsorglichen Be-
mühungen sehen. Es hat früher durchaus Christen gegeben,
z.B. in Ordenshäusern, die jeden Tag — weil es technisch
möglich war — die Absolution im Bußsakrament erbaten.
Solche Dinge, die existentiell keine echte Bedeutung haben,
sollte man unterlassen. Es kommt letztlich nicht auf die Zahl
der sakramentalen Vorgänge an. Und deshalb ist es auch
wichtig, für die richtig verstandene Andachtsbeichte einen
einigermaßen dafür geeigneten Beichtvater auszuwählen. Es ist
wirklich nicht selbstverständlich, daß jeder Priester, der die
liturgisch sakramentale Vollmacht der Absolution hat, des-
wegen auch schon ein geeigneter Beichtvater wäre. Die Wirk-
samkeit eines Sakramentes darf man eben nicht übertreiben. Ich
glaube, daß es schr oft in der frommen Praxis der letzten
Jahrhunderte Beichten gegeben hat, die praktisch nichtig
waren. Die Anklage bezog sich sehr oft auf Sünden, von denen
man innerlich keinen wirklichen Abstand gewonnen hatte, und
‚damit war gegeben, daß eine wirkliche Reue fehlte und somit
die Absolution keinen Nutzen und keine Wirksamkeit hatte.
Das mag sehr oft in gutem Glauben geschehen sein, aber
empfehlenswert ist es trotzdem noch nicht.
Ein guter Beichtvater sollte unter Umständen auch zu einem
ernsthaften Beichtgespräch bereit sein. Er sollte ein Ohr für
vielleicht nicht ganz Ausgesprochenes in solch einer Anklage
haben. Nicht, um Sünden zu entdecken, die der Beichtende
vergessen oder verschwiegen hätte — wie das bei Don Bosco
vorgekommen ist —, sondern um wirkliche Schwierigkeiten des
seelischen Lebens beim konkreten Menschen zu entdecken und
436
ihm nach Kräften zu helfen. Der Beichtvater braucht und soll
im Sakrament nicht eigentlich ein Psychotherapeut sein; er hat
einen Beichtenden vor sich, der die Vergebung von Gott und
der Kirche will und nicht im eigentlichen Sinne psycho-
therapeutische Ratschläge. Aber so wahr das ist — der Priester
soll eben keine Absolutionsmaschine sein, denn das hat keinen
Sinn und keinen Nutzen und widerspricht dem Wesen eines
Sakramentes, in dem die innere personale Mitwirkung nach der
Lehre des heiligen Thomas sogar ein inneres Element des
sakramentalen Geschehens selbst und nicht nur seine Vorbe-
dingung ist. Wie man einen solchen Beichtvater findet, wie man
sich ihm gegenüber bekennend verhalten soll, damit er eine
wirklich seelsorgliche Funktion ausüben kann, das sind natür-
lich Fragen, deren Antworten wieder nach den jeweiligen kon-
kreten Situationen eines Beichtenden verschieden sind und auf
die man hier nicht noch nähere Antworten und Anweisungen
geben kann.
437
QUELLENNACHWEIS
438
ÖKUMENISCHES MITEINANDER HEUTE
Veröffentlicht in: Quatember 44 (1980) 3-12.
VERGESSENE ANSTÖSSE DOGMATISCHER ART DES
II. VATIKANISCHEN KONZILS
Vortrag am 27. November 1982 in Freiburg.
Bisher unveröffentlicht.
PERSPEKTIVEN DER PASTORAL IN DER ZUKUNFT
Veröffentlicht in: Diakonia ı2 (1981) 221-235.
ÜBER DIE ZUKUNFT DER GEMEINDEN
Veröffentlicht in: Entschluß 37 (12/1982) ıı f, 16-20. Haupttitel des
Aufsatzes: «Warum die Christen eine Minderheit bleiben».
RITENSTREIT — NEUE AUFGABEN FÜR DIE KIRCHE
Veröffentlicht in: Entschluß 38 (7/8/1983) 28, 30f. Haupttitel des
Aufsatzes: « Austausch statt Einbahn?»
439
ZUR FRAGE DES AMTSVERSTÄNDNISSES
Veröffentlicht in: P. Neuner, F. Wolfinger (Hrsg.), Auf Wegen der
Versöhnung. Beiträge zum ökumenischen Gespräch, Frankfurt 1982,
213-219 unter dem Titel: «Kleine Randbemerkungen zur Frage des
Amtsverständnisses»,
BUCH GOTTES — BUCH DER MENSCHEN
Vortrag am 2o. Juni 1983 in Köln.
Veröffentlicht in: StdZ 202 (1984) 35 —44 unter dem Titel: «Die
Heilige Schrift — Buch Gottes und Buch der Menschen».
EUCHARISTISCHE ANBETUNG
Veröffentlicht in: GuL 54 (1981) 188-191.
HERZ-JESU-VEREHRUNG HEUTE
Veröffentlicht in: Korrespondenzblatt des Canisianums 116 (1/1982/
83) 2-8.
440
DIE KUNST IM HORIZONT VON THEOLOGIE UND FRÖMMIGKEIT
Veröffentlicht in: Entschluß 37 (1/1982) 4-7 unter dem Titel: «Nicht
jeder Künstler ist ein Heiliger. Zur Theologie der Kunst».
WIDER DEN HEXENWAHN
Veröffentlicht in: GuL 56 (1983) 284-291 mit dem Untertitel: «Was
hat Friedrich Spee uns heute zu sagen?»
Ebenfalls in: A. Arens (Hrsg.), Friedrich Spee im Licht der Wissen-
schaften, Trier 1984.
GLAUBE UND SAKRAMENT
Veröffentlicht in: H. J. Auf der Mauer, L. Bakker, A. von de Bunt,
J. Waldram (Hrsg.), Fides Sacramenti. Sacramentum Fidei (Festschrift
P. Smulders), Assen 1981, 245-252 unter dem Titel: «Kleine theologi-
sche Reflexion über die gegenseitige Beziehung von Glaube und
Sakrament».
FRAGEN DER SAKRAMENTENTHEOLOGIE
Veröffentlicht in: Entschluß 38 (11/1983) 6, 8-9. Haupttitel des Auf-
satzes: «Das endgültige und siegreiche Zusagewort für die Welt».
TAUFE UND TAUFERNEUERUNG
Veröffentlicht in: Entschluß 37 (9/10/1982) 6-11. Haupttitel des Auf-
satzes: «Das göttliche Feuer in sich lebendig halten».
ZUR SITUATION DES BUSS-SAKRAMENTES
Veröffentlicht in: Entschluß 35 (9/10/1980) 4-12. Haupttitel des Auf-
satzes: «Warum man trotzdem beichten soll».
441
NAMENSVERZEICHNIS
zusammengestellt von
Paul Imhof SJ
442
Lukas 334 PiusX 174 211 245/6
Luther, M. 354 433 Pius XI 178 257 268 307/8
Pius XII 141 267 307 321 403
Modehn, C. 439
. Morus, Th. 43 Rembrandt 364/5 371
Moser, B. 439 Rieci, M. 178 181
Moses 140 174 391 Romero, O. Erzbischof 297
Zwingli, U. 355
443
SACHREGISTER
zusammengestellt von
Paul Imhof SJ
444
Christlichkeit Ewigkeit
— Toleranz 32/3 — Zeit 343/4
Christologie
— Abstiegschristologie 340/1 Freiheit
— Jesus Christus 340-347 — Ethik 41
— Gemeinwohl 27/8 31/2
— Geschichte 68 70 77 79 80 83
Dialog
86
— Toleranz 26-33
— Gewalt 29
Dogma
— Gewissen 13/4 16 22-25 40
— Kirche 131-142
— Gott 41 423/4
— Lehramt 237-239
— Offenbarung 396
— Neuinterpretation 239-241
— Planung ı50/1
— Ökumene 93-109 228-230
— Taufe’4r;
— Theologie 131-142
— Theologie 248
— Weihe der Frau 1