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The Library
SCHOOL OF THEOLOGY
AT CLAREMONT
SCHRIFTEN
ZUR THEOLOGIE
BAND XIII
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THEOLOGISCHE HERMENEUTIK
Dogmen- und Theologiegeschichte von gestern für morgen 11
Scheinprobleme in der ökumenischen Diskussion . . . . 48
Lehramt und Theologie . . . . Re
Über schlechte Argumentation in = Nareiikeoisie ee
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12
und Theologiegeschichte heraus Einsichten und Prinzipien (ver-
schiedenster Art) entnommen werden können, deren Kenntnis
und Anwendung für die laufende und künftige Dogmenge-
schichte nützlich, ja vielleicht unerläßlich sein können.
Daß man auf eine solche Frage grundsätzlich bejahend antwor-
ten muß, scheint selbstverständlich zu sein. Aber hat man auf
solche dogmengeschichtliche Erfahrungen und auf die daraus
resultierenden Einsichten und Prinzipien für den Fortgang der
Dogmengeschichte schon genügend reflektiert? Sind solche Ein-
sichten und Prinzipien da, wo es sich um die laufende Dogmen-
geschichte handelt, wo neue Kontroversen, neue Konfrontationen
zwischen Lehramt und wissenschaftlicher Theologie auftauchen,
wo «neue» Interpretationen des alten Dogmas vorgetragen wer-
den, deutlich genug so bewußt, daß sie diese theologische Ent-
wicklung mitbestimmen, diese vielleicht friedlicher und rascher
verlaufen lassen, unnötige Konflikte zwischen Lehramt und mo-
derner Theologie, zwischen «konservativen» und « progressi-
ven» Gläubigen vermeiden helfen?
Ob diese Frage alt oder neu ist, ist schließlich gleichgültig.
Wenn man aber konkrete Vorgänge in der heutigen Kirche, die
letztlich unter den Begriff der Dogmenentwicklung subsumiert
werden können, beobachtet oder miterlebt, wird man nicht sagen
können, daß die Antwort auf diese Frage so deutlich ist, daß sie
auf allen Seiten in theologischen Kontroversen den Verlauf solcher
Vorgänge genügend mitbestimmt. Hätte es sonst z. B. vorkom-
men können, daß in Schemata, die vor dem Konzil in Rom von
der amtlichen Kommission für das Konzil vorbereitet wurden,
Sätze als zu definierende Wahrheiten vorgetragen wurden, die
zwanzig Jahre danach kaum noch mit der Zustimmung der
Mehrheit bei den Theologen in der Welt und bei den Gläubigen
rechnen können, Sätze wie z. B. über den Monogenismus und den
Limbus der Kinder? Wie anders ist das weitverbreitete Unbeha-
gen vieler Theologen (besonders auch der Moraltheologen) gegen-
über lehramtlichen Erklärungen nach dem letzten Konzil zu er-
klären, von Theologen, die:bei allem Respekt vor dem kirch-
lichen Lehramt und seinen Absichten den Eindruck haben, es
werde in solchen Erklärungen zu wenig der doch auch gegebenen
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Geschichtlichkeit und geschichtlichen Bedingtheit früherer lehr-
amtlicher Aussagen Rechnung getragen; es werde zu viel bloß
«wiederholt», was früher schon gesagt wurde; es werde mit zu
wenig wirklich offenem Kontakt mit den heutigen Humanwissen-
schaften und auch der Theologie von heute gesprochen? _
Mit solchen Einsichten und Prinzipien möchten sich die folgen-
den Überlegungen beschäftigen. Es handelt sich hier nur um
ganz einfache, eigentlich selbstverständliche Einsichten und Prin-
zipien, nicht um tiefsinnige und schwierige hermeneutische
Theorien, nach denen die laufende Dogmen- und Theologie-.
geschichte — so weit möglich — gesteuert werden müßte. Eine sol-
che tieferschürfende hermeneutische Prinzipienlehre für die wei-
tergehende Dogmengeschichte ist hier schon darum nicht mög-
lich, weil so etwas eine genauere und bestimmte Theorie der
Dogmenentwicklung überhaupt voraussetzen würde, die es als
einheitlich angenommene nicht gibt und die hier natürlich auch
nicht entwickelt werden kann. Die hier vorzutragenden Einsich-
ten und Prinzipien ergeben sich, so will es scheinen, aus der
schlichten Beobachtung von Vorgängen der bisherigen Dogmen-
geschichte. Sie sollen einfach genannt werden. Dabei ist nicht
einmal ein System dieser Einsichten und Prinzipien angestrebt,
sie werden vielmehr in einer in etwa willkürlichen Folge hinter-
einandergereiht, weil ein «System» solcher Prinzipien und des-
sen Begründung hier natürlich auch nicht möglich sind. Diese
Prinzipien sollen durch kurze Hinweise auf Einzelvorkommnisse
der bisherigen Dogmengeschichte illustriert und legitimiert wer-
den. Es braucht dabei keine historische Dokumentation für diese
Beispiele aus der bisherigen Dogmengeschichte geboten zu wer-
den, weil sie bekannt sind und die historische Quellendokumenta-
tion für jeden, der sich dafür interessiert, leicht zugänglich ist.
Bei diesen Vorkommnissen der bisherigen Dogmengeschichte
(samt der Theologiegeschichte) ist es hier für uns auch nicht von
ausschlaggebender Bedeutung, ob es sich dabei um die Geschichte
eines Dogmas im strengen Sinn des Wortes handelt oder nur um
die Geschichte einer Lehre, die vom Lehramt mit einem geringe-
ren Verpflichtungsgrad, aber doch «authentisch» vorgetragen
wurde. Warum bei den Beispielen, die selber wieder unsyste-
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matisch genannt werden, in diesem Zusammenhang der ge-
nannte Unterschied, so wichtig er in sich selber ist, vernachlässigt
‘ werden kann, braucht wohl nicht eigens begründet zu werden.
Wichtig aber bei diesen folgenden Beispielen ist für uns folgender
Umstand: In vielen, wenn auch nicht allen zu nennenden Bei-
spielen führte diese Entwicklung zu «neuen» Dogmen oder zu
«neuen» authentisch durch das Lehramt vorgetragenen Lehren.
Damit ist gegeben, daß die in einer solchen Lehrentwicklung im-
plizit gegebenen hermeneutischen Prinzipien (wenn solche Im-
plikationen deutlich aufgewiesen werden können) vom Lehramt
selbst stillschweigend als legitim anerkannt werden: nicht bloß
die neue Lehre, sondern auch der Weg zu ihr (im großen und
ganzen) wird vom Lehramt als legitim und also wenigstens als
grundsätzlich auf andere Fälle anwendbar anerkannt, wenn das
Lehramt diese neue Lehre sich zu eigen macht, wenigstens in dem
Grad der Verbindlichkeit, in dem die «neue» Lehre vorgetragen
wird. Was das genauer heißt, wird sich wohl aus den Beispielen
selbst ergeben, mit denen wir die vorzutragenden Einsichten und
Prinzipien für eine noch laufende und zukünftige Dogmen- und
Theologiegeschichte zu illustrieren und zu legitimieren versu-
chen. Unter diesen Vorbehalten und Begrenzungen unseres The-
mas versuchen wir nun gleich unmittelbar zur Sache selbst zu
kommen.
15
gewesen sei, die Gegner solcher Lehren dumm und böswillig ge-
wesen seien und die betreffende als selbstverständlich und als un-
mittelbar in Schrift oder vorausgehender Tradition greifbar er-
klärte Lehre nur aus böswilliger Gottlosigkeit angezweifelt und
bestritten hätten. Dafür ließen sich unzählige Beispiele nennen,
die aufzuzählen wir uns hier ersparen dürfen. Diese Verketzerung
der Gegner als töricht und böswillig war — man möchte fast sagen
vom Neuen Testament an — einfach der früher als selbstverständ-
lich empfundene Stil kirchenlehramtlicher Erklärungen, der
heute überwunden zu sein scheint.
Aber es ist selbstverständlich, daß entgegen dieser Interpreta-
tion der Geschichte nach Erzielung des Resultats einer bestimm-
ten Lehre diese Geschichte selbst unter vielen Schwierigkeiten,
Dunkelheiten, Reibungen verlief, die nicht einseitig auf das
Konto dummer und böswilliger Ketzer geschrieben werden kön-
nen, sondern mit der Sache selbst gegeben sind und den Tribut
der Geschichtlichkeit menschlicher Erkenntnis auch in der Di-
mension des Glaubens bedeuten. Es ist nun einmal bei neuauf-
tauchenden Fragen, deren Auftauchen nicht einfach der Böswillig-
keit oder dem menschlichen Vorwitz und Stolz von Theologen an-
gelastet werden kann, so, daß nicht einfach alles eigentlich von
vornherein klar und auf jede Frage sofort eine Antwort zur Hand
ist. Nur eine Theorie der Dogmenentwicklung, die diese als bloß
logische Entfaltung des vorher schon Gegebenen und die kon-
kreten Anlässe geschichtlicher Art für eine solche logische Ent-
faltung als bloß äußere Reize auffaßt, ohne die eine solche Ent-
faltung grundsätzlich hätte auch geschehen können, kann so den-
ken. Aber eine solche Theorie der Dogmenentwicklung verkennt
die Geschichtlichkeit der Wahrheit selbst und wird wohl heute
im Ernst kaum noch vertreten werden.
Für einen Schultheologen von heute mag es eine bare Selbst-
verständlichkeit sein, daß das Konzil von Chalkedon recht hat und
es das Konzil von Ephesus richtig interpretiert. Welche Schwie-
rigkeiten, Dunkelheiten, Begriffsunklarheiten mußten aber in
Wirklichkeit in den paar Jahrzehnten zwischen den beiden Kon-
zilien überwunden werden, und welch große Schwierigkeiten
empfanden auch danach noch gutwillige Vertreter einer kyrilli-
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schen Christologie des Ephesinums nach Chalkedon (eigentlich
bis auf unsere Zeit), diesen Weg als richtigen und auch notwen-
digen nachzuvollziehen.
Wenn Dogmengeschichte und Theologiegeschichte in der Ver-
gangenheit nur unter Reibungen und bitteren Kämpfen sich voll-
zogen, dann ist nicht zu erwarten, daß uns heute und morgen so
etwas einfach erspart würde. Die Akzentverschiebung (wenn man
einmal so «unvorsichtig» sagen darf) im Bewußtsein der Kirche
von der objektiven Würde der Wahrheit an sich (die auch nur zu
unbefangen in sich oder in ihren fundamentaltheologischen Vor-
aussetzungen als klar einleuchtend und jeder Erkenntnis zugäng-
lich gewertet wurde: vgl. z.B. DS 5009, 5015), zur Anerkennung
und Respektierungder Würdedessubjektiven Wahrheitsgewissens,
das nie eliminiert werden kann, und die im Zweiten Vatikanum
ihre deutlichste Markierung — wieder unter nicht unerheblichen
Kämpfen — gefunden hat, wird aber hoffentlich mehr als früher den
Stil solcher Auseinandersetzungen (und zwar bis in sehr prak-
tische Konsequenzen hinein, die noch viel mehr als bisher durch-
dacht werden müssen) bestimmen müssen. Sie wird also nie mehr
wie früher eine Bestreitung dieser Akzentverschiebung fast nur
durch Dummheit oder Böswilligkeit und den Bestreiter zum
«subjektiven » Ketzer erklären lassen können.
II
E27
seins der Kirche nach « rückwärts» nicht mehr revidierbar (im
strengen Sinn von «Irrtum ») sein (auch wenn dieser Prozeß, der
zu einem absoluten Glaubensassens führte, nach vorne offen
bleibt), so ist damit nicht gesagt, daß eine Entwicklung des Glau-
bens und der Theologie in der Kirche nur im Sinne einer rei-
bungslosen Entfaltung geschehen sei und in Zukunft geschehen
werde. Dieser Entwicklungsweg ist vielmehr sehr oft auch durch
lehramtliche Fehlentscheidungen markiert, Fehlentscheidungen,
die zu dem notwendig mit der Geschichtlichkeit der Wahrheit
immer gegebenen Reibungsmoment ein weiteres hinzufügen, die
geschichtliche Entwicklung stören und auch menschlich schwerer
und bitterer machen.
Wieder eine Selbstverständlichkeit, wenn man rückwärts
schaut, die aber vom kirchlichen Lehramt in der noch laufenden
Geschichte nicht gern zur Kenntnis genommen wird. In der Praxis
des kirchlichen Lehramtes wird nicht selten so getan, als ob au-
thentische, aber im Grunde noch revidierbare (also irrig sein kön-
nende) Lehräußerungen des Amtes für immer zu respektierende
Größen seien. Dementsprechend wird dann in solchen Lehräuße-
rungen Berufung eingelegt auf frühere, auch wenn diese an sich
keinen absoluten Verbindlichkeitsgrad haben, also streng genom-
men nur beweisen, daß man auch früher schon «so» gelehrt hat,
der neuen Aussage also kaum ein größeres Gewicht geben, als
wenn sie ohne ein solches Zitat vorgetragen würde; dies zumal,
weil wir ja heute nach unseren dogmengeschichtlichen Erfah-
rungen der uhrzeitlich langen Dauer einer authentischen Lehre
im Unterschied zu früheren Zeiten kein so erhebliches Gewicht
für den Nachweis ihrer sachlichen Richtigkeit zumessen werden.
(Man denke z. B. an die Billigung der Tortur und der Ketzerver-
brennung von Innozenz IV. — gegen Nikolaus I.: DS 648 bis
Leo X.: DS 1483, oder an das Zinsverbot auch noch in Zeiten, in
denen die gegebene Wirtschaftsstruktur ein solches Verbot gewiß
nicht mehr rechtfertigte.)
Man wird auch in der Gegenwart wohl kaum eine kirchenlehr-
amtliche Erklärung finden können, in der die allgemeinen Prin-
zipien jeder normalen Fundamentaltheologie auch orthodoxester
Art über die Gestuftheit der Verpflichtung lehramtlicher Erklä-
18
rungen auch ausdrücklich und offen der gerade in Frage stehen-
den Erklärung beigegeben werden. Aus fragwürdigen (« pädago-
gischen »?) Gründen wird auch heute noch bei solchen authenti-
schen Erklärungen insinuiert, es sei selbstverständlich, daß solche
Erklärungen nicht revidierbar seien, und gar nicht an den Fall
gedacht werden könne, daß sie sich später als irrig herausstellen
und ein Hindernis auf dem Weg bilden könnten, auf dem tat-
sächlich die Geschichte des Glaubens und der Theologie in der
Zukunft weitergeht. Es gibt aber solche Hindernisse auf diesem
. Weg und wird sie weiter geben, weil das kirchliche Lehramt in
seinen authentischen Erklärungen irren kann und oft geirrt hat
und dies selbstverständlich auch in Zukunft möglich ist.
Es ist wohl hier überflüssig, für solche Fehlentscheidungen aus
der Geschichte noch eigens weitere Beispiele anzuführen. Die
Tatsache selbst ist ja auch in einem Lehrschreiben des deutschen
Episkopats unumwunden anerkannt worden. Es ist hier auch nicht
der Platz, darüber Reflexionen anzustellen, wie genauer der sol-
chen Lehräußerungen gebührende Respekt mit einem Rechnen-
müssen und -dürfen mit einer Irrtumsmöglichkeit solcher Lehr-
erklärungen vereinbart sei. Diesbezüglich sei hier nur noch offen
und unbefangen gesagt, daß diese Frage auch in «Lumen Gen-
tium» des Zweiten Vatikanischen Konzils keine genügend ein-
leuchtende Antwort erhalten hat, weil hier (Nr.25) nicht ver-
ständlich wird, wie die Anerkennung der «höchsten Lehrautori-
tät» und die «aufrichtige Anhänglichkeit», die für bloß authen-
tische Lehrerklärungen dieses Amtes gefordert wird, koexistent
sein können mit einer Kritik solcher Lehräußerungen, die Recht,
ja sogar Pflicht der Theologen sein kann.
III
19
dann durchaus als nichtverbindlich oder sogar als falsch heraus-
stellen.
Man kann und muß zwar mit Recht sagen (wie schon eben ge-
sagt wurde), daß die Geschichte des eigentlichen Dogmas ein-
bahnig und nach rückwärts nicht mehr in dem Sinne revidierbar
ist, daß ein definierter Satz später wieder als schlechthin irrig er-
klärt werden könnte, und daß dies auch dann nicht der Fall ist,
wenn die dabei vollzogene Art von Glaubensentfaltung nicht in
einer bloß logischen Argumentation zwingend aus ursprüngliche-
ren Glaubensdaten heraus nachvollzogen werden kann. Das alles
aber schließt nicht aus, daß auch bei eigentlichen Dogmen in
ihrer Überlieferung und Aussage, Vorstellungen, Interpretamente
usw. ungeschieden amalgamiert sind, die nicht zum verbindlichen
Inhalt des betreffenden Glaubenssatzes gehören, aber in einer be-
stimmten Geschichtsepoche von diesem Satz durch die traditio-
nelle Theologie und auch durch das kirchliche Lehramt nicht
reflex abgeschieden worden sind und aus geschichtlichen Gründen
bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auch nicht abgeschieden wer-
den konnten. Solche Amalgame (um dieses, natürlich problema-
tische, Wort zu gebrauchen) können auch bei eigentlichen Dog-
men gegeben sein.
Nicht alles, was in einer bestimmten Zeit faktisch und unreflek-
tiert zur Verdeutlichung des Sinnes eines Glaubenssatzes mitge-
dacht wurde, gehört also wirklich prinzipiell unlösbar zu diesem
Glaubenssatz selbst. Das muß heute für die künftige Dogmen-
geschichte deutlich gesehen werden und bei der Interpretation
der Lehre des Ersten Vatikanums nüchtern einkalkuliert werden,
daß nämlich ein Dogma für immer in dem «Sinn» weiter fest-
gehalten werden müsse, den es bei seiner früheren Verkündigung
gehabt hat. Es gibt solche Amalgame; sie sind bei der Geschicht-
lichkeit der Wahrheit gar nicht vermeidbar; sie werden bleiben
(wenn auch so, daß bei der Ausscheidung eines solchen Amalgams
dafür ein anderes an seine Stelle tritt).
Wenn man z. B. historisch nachweist, daß die Väter von Trient
dies und das zwar als selbstverständlich und von ihnen ununter-
schieden beiihrer Transsubstantiationslehre unter « Substanz » des
Brotes und Weines gedacht haben, ist damit noch lange nicht ge-
20
sagt, daß dieser faktisch in Trient gegebene und vom eigentlich
dogmatisch Gemeinten nicht abgehobene Substanzbegriff auch
heute noch für die Interpretation der Transsubstantiation ver-
bindlich sei. Wenn Augustinus eine unmittelbar väterliche Zeu-
gung und die Libido dabei als notwendige Vehikel der Übertra-
gung der Erbsünde aufgefaßt hat (so daß man Jesus schon darum,
bis in die jüngste Zeit hinein, als erbsündenfrei erachtete, weil er
keinen menschlichen Vater hat), und so die Erbsünde als katho-
lisches Dogma erklärt hat, so ist damit längst nicht gesagt, daß
wir dieses Verständnis der Erbsünde heute als Dogma betrachten
müßten oder auch nur könnten. Wenn noch Pius XII. (und dar-
über hinaus die Vorbereitungskommission des Zweiten Vati-
kanums) der Meinung war, daß der Monogenismus ein unerläß-
liches und unverzichtbares (ja unmittelbar dogmatisierbares) Mo-
ment der katholischen Erbsündenlehre sei, so werden wir den-
noch heute anderer Meinung sein dürfen und unter Aufrecht-
erhaltung der Erbsündenlehre und ihres eigentlichen Sinnes ein
monogenistisches Interpretament dieser Erbsündenlehre als hi-
storisch bedingtes Amalgam aus ihr ausscheiden, auch wenn die
frühere Theologie und das Lehramt an eine solche Möglichkeit
nie gedacht haben und auch nicht denken konnten. Pius XII. hat
es als Stück des katholischen Glaubens erklärt (DS 3896), daß die
menschliche Seele unmittelbar von Gott erschaffen werde. Er hat
aber, wie leicht historisch nachgewiesen werden könnte, bei die-
sem (an sich richtigen) Satz ein Vorstellungsmodell dieser Un-
mittelbarkeit des Schöpfungsaktes vor sich gehabt, das heute von
vielen Theologen (mit ihrer Lehre von der Selbsttranszendenz des
Lebendigen auch von wesentlicher Art) nicht mehr geteilt wird,
ohne daß Pius XII. an eine solche Unterscheidungsmöglichkeit
zwischen dem eigentlich im Dogma Gemeinten und dem aus-
scheidbaren Vorstellungsmodell gedacht hat. Wenn wir heute —
selbstverständlich - an der Lehre festhalten, daß Jesus die Kirche
« gestiftet», sieben Sakramente eingesetzt habe, dann werden wir
dennoch heute manches bei diesen Sätzen, die festgehalten wer-
den, aus Gründen der historischen Forschung anders sehen, Inter-
pretamente solcher Sätze, die unreflex mitgedacht wurden, aus
ihnen ausscheiden, auch wenn frühere Zeiten solche Unterschei-
21
dungsmöglichkeiten gar nicht explizit gesehen haben. Könnte
man in der traditionellen Inspirationslehre nicht unterscheiden
zwischen einer heilsgeschichtlichen « Urheberschaft » Gottes, die
wirklich von Gott ausgesagt werden kann, und einer literarischen
«Verfasserschaft», die nicht ausgesagt werden muß, und so aus
dieser Lehre von Gott als dem Urheber der Schrift. Amalgame
ausscheiden, die heute nur schwer verständlich gemacht werden
können ? Sonst muß man ja den Satz, Gott sei der «Verfasser » der
Schrift in einem literarischen Sinn, mit so vielen Vorbehalten
eines bloß «analogen » Sinnes versehen, die das Verständnis der
Schriftinspiration nur erschweren, anstatt es zu erleichtern. Das
glaubensgeschichtlich und geistesgeschichtlich vielleicht bedeut-
samste und fast erschreckende Beispiel solcher dogmengeschicht-
licher Entwicklung, die hier gemeint ist, wird greifbar in der
Einheit und dem Unterschied zugleich, die zwischen der Nah-
erwartung des historischen vorösterlichen Jesus und dem liegt,
was die Kirche heute als das eigentlich in dieser Naherwartung
Gemeinte glaubt. Dieser Unterschied (bei aller Selbigkeit des
Glaubens auch in dieser Frage) zeigte sich erst in einem langen
Prozeß, der zwar schon im Neuen Testament selbst greifbar wird,
aber auch heute noch nicht völlig abgeschlossen und dennoch
legitim ist. Es könnten natürlich noch sehr viele andere Beispiele
für solche Amalgame in einem Dogma und deren Ausscheidung
aus einem verbindlichen Dogma beigebracht werden. Aber die ge-
nannten mögen genügen.
Ein solcher AusscheidungsprozeßB muß natürlich gleichzeitig
deutlich machen, daß dabei die Selbigkeit des Dogmas im alten
Sinn gewahrt wird, und ein solches Bemühen darf nicht grund-
sätzlich verdächtigt werden als faules und feiges Arrangement
zwischen einem verbalen Festhalten an einer traditionellen Lehre
und deren Formulierungen einerseits und einer neuen Erkennt-
nis anderseits, die, wenn ehrlich ausgesagt, die bisherige Lehre
angeblich als irrig ablehnen müßte. So ist es nicht. Aber der
Nachweis der Seligkeit einer Lehre unter alten und neuen, von-
einander verschiedenen Vorstellungsmodellen, Interpretamenten
usw. muß auch nicht so tun, als ob er mit historischer Sicherheit
nachweisen müsse, daß schon in der alten Zeit dieser Unterschied
22
deutlich gesehen und das alte Interpretament damals schon als
bloß solches erfaßt wurde.
Es ist doch wohl selbstverständlich, daß solche Unterschei-
dungsprozesse auch in Zukunft weitergehen werden, ohne daß
hier prophezeit werden muß, welche solche Prozesse heute oder
bald anstehen werden. Daß solche Ausscheidungsprozesse faktisch
nur unter Reibungen und Kämpfen vor sich gehen werden, ist
eigentlich selbstverständlich. Denn es handelt sich ja gerade um
die Frage, die zunächst dunkel ist, ob dieses oder jenes zur wirk-
lich gemeinten Sache selbst gehört oder nur ein epochal bedingtes
Interpretament dieses eigentlich Gemeinten ist, das in einer an-
deren neuen Epoche ausgeschieden werden kann. Es wird nicht
selten so sein, daß das Glaubensbewußtsein in der Kirche (als der
Summe der historisch bedingten Bewußtseine der Gläubigen und
auch der Lehrer in der Kirche) sich psychologisch erst langsam
und unter Schwierigkeiten an die Erkenntnis gewöhnen muß, daß
die Abscheidung eines solchen Amalgams und die unter neuen
Verstehenshorizonten ausgesagte Neuinterpretation das Dogma
wirklich bewahrt. Ist dies richtig, dann müssen Lehramt und
Theologie u. U. geduldig mit kleineren oder längeren Perioden
rechnen, in denen Berechtigung oder auch Nichtberechtigung
einer solchen Ausscheidung nicht feststehen, eine Entscheidung
nach der einen oder anderen Seite nicht rasch und ungeduldig er-
zwungen werden kann, Perioden, die mit Geduld und Zuversicht
durchgestanden werden müssen. (Man denke z. B. an neue Inter-
pretationen der Transsubstantiationslehre oder an die Frage, in
welchem genaueren Sinn eine Präexistenz des in Jesus für uns
anwesenden Logos zu denken sei.)
Dies setzt natürlich eine religiöse Erziehung der Gläubigen
voraus, die nicht meinen dürfen, daß solche Perioden einer ge-
wissen Unsicherheit immer und in jedem Fall die eigentliche
Glaubenssubstanz bedrohen und möglichst rasch dekretorisch vom
Lehramt der Kirche beendigt werden müßten. Dies setzt auch
voraus, daß in einer solchen Periode auch die Theologen ihre
neuen Interpretamente nicht.gar zu apodiktisch und « unfehlbar »
verkünden. Solche Perioden waren in gewissem Sinn früher ein-
fach deshalb selbstverständlich, weil ein langsames Tempo durch
25
die gesellschaftlichen und technischen Voraussetzungen theolo-
gischer Dialoge einfach erzwungen wurde; heute müßte man
solche Besinnungspausen, die für das Lehramt und die Theologie
notwendig sind, bewußt kreieren. In vielen Fällen sollte das Lehr-
amt nicht rasch entscheiden wollen, sondern einen solchen Be-
sinnungsprozeß stimulieren und behutsam begleiten.
Es sei gestattet, diese Überlegungen noch durch einige Erwä-
gungen zu erweitern, auch wenn sie vielleicht ein wenig über
unser eigentliches Thema hinausgreifen. Bei diesen zusätzlichen
Erwägungen verzichten wir der Kürze halber darauf, sie durch
Beispiele zu illustrieren. Wer sich dennoch diese Erwägungen
durch einen konkreten Fall verdeutlichen will, denke z. B. an das
oben erwähnte Beispiel der Naherwartung Jesu. Bei diesen zusätz-
lichen Erwägungen verwenden wir weiter das Wort «Amalgam»,
auch wenn wir uns dessen bewußt sind, daß das mit diesem Wort
Gemeinte sachlich sehr komplex ist und erkenntnistheoretisch
und hermeneutisch viel genauer ausgesagt und differenziert wer-
den könnte und vielleicht müßte, was aber hier nicht möglich ist.
Wir gehen von dem schon beobachteten Phänomen aus, daß eine
bestimmte Wahrheit in einer bestimmten Epoche nur zusammen
mit einem solchen Amalgam ausgesagt wurde, damals gar nicht
anders ausgesagt werden konnte (weil in dieser Epoche ein anderes
Vorstellungsmodell usw. als Amalgam gar nicht konkret ange-
boten war), und daß die objektiv mögliche Differenz zwischen der
eigentlich gemeinten Wahrheit und dem Amalgam gar nicht reflex
bemerkt werden konnte.
Wir unterscheiden nun zwischen der (1.) Frage, wie ein solcher
Satz in seiner Einheit von eigentlich Gemeintem und Amalgam
damals in der geschichtlichen Epoche, in der er entstand, zu be-
werten ist, und der (2.) Frage, wie er jetzt (in seiner Einheit zwi-
schen Gemeintem und Amalgam) einzuschätzen ist, wenn nun
diese genannte Differenz reflex erkannt ist und grundsätzlich die
Möglichkeit besteht, das Amalgam selbst evtl. als falsch oder als
vielleicht falsch oder als entbehrlich und durch ein anderes Vor-
stellungsmodell ersetzbar auszuschalten.
Die erste Frage bezieht sich sinnvoller Weise nur auf die Be-
wertung des in Frage stehenden Satzes für damals, wenn er von
24
jetzt her bewertet wird. Denn ohne diesen jetzigen Beziehungs-
punkt kann die Frage gar nicht gestellt werden. Von damals her
(wenn auch für damals) ist das Problem gar nicht gegeben. Soll
man nun sagen, der Satz sei auch damals «irrig» gewesen (wenn
dies auch erst jetzt erkannt werden kann), weil er eben in Einheit
mit einem (ex supposito) irrigen Amalgam ausgesagt wurde, die
mögliche Differenz zwischen dem (nach unserem heutigen Urteil)
eigentlich Gemeinten und dem Amalgam selbst nicht reflektiert
wurde, und weil überdies rein historisch nicht sicher feststeht,
daß das Amalgam selbst damals nicht mit jener absoluten Zu-
stimmung ausgesagt wurde, mit der das eigentlich Gemeinte als
Inhalt des Glaubens bejaht wurde. Wir meinen, daß ein solcher
Satz in seiner eigenen epochalen Situation nicht als Irrtum quali-
fiziert werden darf, oder daß, wenn man es doch tut, dabei eine
solche Sprachregelung ausdrücklich notiert werden müßte, d.h.
darauf aufmerksam gemacht werden müßte, daß eine solche
Qualifikation als Irrtum den betreffenden Satz, im Grunde ge-
nommen, schon aus seiner eigenen ursprünglichen epochalen Si-
tuation herausnimmt. Denn ein Satz, der ein gemeintes Wahres
in einer bestimmten Epoche gar nicht anders als unter einem be-
stimmten Vorstellungsmodell usw. («Amalgam ») aussagen kann,
darf nicht als irrig qualifiziert werden, weil er in dieser epochalen
Situation die einzige Möglichkeit ist, die eigentlich gemeinte
Wahrheit auszusagen. Wer damals einen solchen Satz sagte, hat
damals die Wahrheit gesagt. Man muß ja auch bedenken, daß
eine «heutige» Differenzierung zwischen dem eigentlich Ge-
meinten und dem Amalgam nicht so geschieht, daß jetzt das
eigentlich Gemeinte in «chemischer Reinheit» für sich allein
ausgesagt würde, sondern diese Aussage auch wieder unter an-
deren Vorstellungsmodellen von epochaler Bedingtheit geschieht,
womit freilich wiederum nicht behauptet ist, daß bei einem sol-
chen Wechsel von Verstehensmodellen und -horizonten diese un-
ter sich einfach als schlechthin gleichwertig und gleich gut be-
trachtet werden müssen.
Wir kommen zur zweiten Frage. Wenn und insofern ein sol-
cher Satz in eine andere Verstehenssituation übertragen wird,
wenn er dennoch als Einheit von Gemeintem und dem Amalgam
25
betrachtet wird, wenn bei dieser Transposition in eine neue Ver-
stehenssituation das Amalgam als falsch oder als nicht verbindlich
oder als ersetzbar reflex erfaßt wird, dann kann natürlich der be-
treffende Satz (in seiner Einheit mit dem Amalgam!) als «irrig»
qualifiziert werden. Aber dann ist er heute im Gründe gar nicht
der Satz, der damals gesagt wurde. Er war nicht irrig, sondern ist
irrig geworden, weil er jetzt unter Verstehenshorizonten gesagt
wird, die gar nicht die seiner ursprünglichen Aussage waren. Das
eben Gesagte bezieht sich hier sachlich und methodisch auf spe-
zifisch religiöse Sätze. Eine Aussage von allgemeinerer hermeneu-
tischer Bedeutung ist hier nicht beabsichtigt. Es soll hier auch
nicht noch das Problem behandelt werden, warum die Abschei-
dung solcher Amalgame nicht schließlich doch dazu führt, daß
ein «eigentlich » Gemeintes gar nicht mehr übrig bleibt, daß ein
solcher Ausscheidungsprozeß nicht schließlich zur Destruktion
eines wirklichen Sinnes religiöser Aussage führt, die diesen Sinn
letztlich aufhebt. Dazu sei nur gesagt, daß eine religiöse Aussage
letztlich nicht in das Sinnentleerte, sondern in das unaussprech-
liche Geheimnis, das wir Gott nennen, hineinweist und dies ge-
rade erst eine Aussage zu einer religiösen macht, daß also solche
Ausscheidungsprozesse im Grunde der immer neue Vorgang sol-
chen Verweises in das Geheimnis sind und darum in der Ge-
schichte der bleibenden religiösen Wahrheit immer aufs neue ge-
schehen müssen, weil dieser lassende und hoffende Eingang in das
Geheimnis Gottes von immer neuen geschichtlichen Situationen
der Wahrheit her sich ereignen muß.
Hy
26
auch eine kritische Instanz für das richtige Verstehen dieses Satzes
und für eine mögliche und evtl. notwendige Ausscheidung tradi-
tioneller Interpretamente aus ihm sein.
Das Dogma der Kirche kann von seinem Wesen her und nach
Ausweis einer wirklichen Dogmengeschichte bezüglich seiner ein-
zelnen Aussagen und Artikulationen heute weniger als je als eine
bloß additive Summe von Einzelsätzen verstanden und ausgesagt
werden, die einfach als je einzelne mit Berufung auf einzelne
Sätze der Schrift oder des bisherigen Lehramtes vorgetragen wer-
den. Jeder einzelne Satz muß in seiner Kohärenz mit dem einen
Ganzen des Glaubens und mit der ursprünglichen und einheit-
stiftenden Mitte der Glaubenswirklichkeit ausgesagt werden.
Sonst ist die Lehre des Zweiten Vatikanums von der « Hierarchie
der Wahrheiten » ein leeres Wort und eine billige Ausflucht.
Das ursprüngliche eine und einheitstiftende Ereignis der end-
gültigen, eschatologischen Offenbarung im Christentum wird
nicht nachträglich additiv konstituiert (auch nicht subjektiv!)
durch eine Summierung von einfach hinzunehmenden Einzel-
sätzen, die in freier Willkür von Gott als einzelne mitgeteilt wer-
den, sondern ist das eine Ereignis der eigentlichsten Selbstmittei-
lung Gottes, die überall in Welt und Geschichte in dem jedem
Menschen angebotenen heiligen Geist geschieht, selber schon als
solche den Charakter von Wahrheitsoffenbarung hat und in Jesus
Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, ihre volle ge-
schichtliche Greifbarkeit und eschatologische Irreversibilität fin-
det. (Mit dieser Charakterisierung des ursprünglichsten Offen-
barungsereignisses soll nicht gesagt werden, daß diese hier gege-
bene die einzig mögliche oder auch nur adäquate sei; aber es gibt
eine solche Grundsubstanz des ursprünglichsten Offenbarungs-
ereignisses nach Tatsache und auch Inhalt, von der her positiv
und kritisch zugleich die einzelnen Glaubenssätze verstanden
werden können und müssen, auch wenn umgekehrt dieses ur-
sprünglichste Offenbarungsereignis selber immer wieder neu
durch die einzelnen Offenbarungsereignisse und durch die diese
objektivierenden Einzelsätze hindurch ergriffen werden muß, also
ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis, ein «Zirkel» zwischen
diesen beiden Größen besteht.)
27.
Dieser Rückgriff auf dieses ursprünglichste Offenbarungsereig-
nis ist auch oft schon gegenüber den Einzelsätzen des Neuen Te-
stamentes notwendig und legitim und wird auch faktisch (mehr
oder weniger reflex) gehandhabt, um in der Analogia Fidei den
wirklichen Sinn und den eigentlichen Stellenwert von einzelnen
Sätzen der Schrift genauer zu bestimmen, was natürlich nicht be-
deutet, daß dieses ursprüngliche Ereignis von Heilsgeschichte,
Gnade und Offenbarung samt deren eschatologischer Irreversi-
bilität in Christus nicht auch schon ausdrücklich und thematisch
in der Schrift selbst bezeugt würde. Ein solcher Rückgriff ist erst,
recht notwendig, um (evtl. unterscheidend) Sinn und Grenzen
späterer kirchenlehramtlicher Erklärungen deutlich zu machen;
ein solcher immer neu vollzogener Rückgriff auf die ursprung-
und einheitgebende Mitte des Glaubens, der in der Dogmen-
geschichte immer am Werk ist, auch wenn er da sich oft meta-
historisch ereignen mag und in einzelnen Fällen der schon ge-
schehenen Dogmengeschichte historisch nur undeutlich nach-
weisen läßt, bedeutet zwar gar nicht (wie schon gesagt wurde),
daß die Dogmenentwicklung, d. h. die Entfaltung der ursprüng-
lichen und globalen Offenbarungserfahrung in Einzelsätze hinein
nicht « einbahnig » verlaufe, ist vielmehr durchaus (was verständ-
lich gemacht werden kann) mit der Tatsache vereinbar, daß eine
solche Entfaltung, wenn und wo sie zu einem einzelnen partiku-
lären Satz geführt hat, nicht mehr nach rückwärts revidierbar ist
in dem Sinne, daß ein solcher Satz später wieder als irrig erklärt
werden könnte. Das ist auch dann nicht der Fall, wenn eine solche
Glaubensentfaltung, die sich früher ereignet hat, nicht durch
eine bloß logische Argumentation rational zwingend nachvoll-
zogen werden kann.
Dieses Verständnis der Dogmenentwicklung im katholischen
Sinne schließt aber dennoch die Notwendigkeit einer Rückfrage
nach dem ursprünglicheren Glaubensverständnis nicht aus, son-
dern ein. Sonst bräuchte der theologische Systematiker z. B. nur
Denzinger-Theologie zu treiben und könnte sich eine biblische
Theologie schenken oder diese als bloß historische Neugierde ver-
stehen. (Darf man der Meinung sein — um ein Beispiel anzufüh-
ren —, daß das Credo des Volkes Gottes von Paul VI. im ganzen
28
doch zu sehr Denzinger-Theologie treibt, d.h. zu positivistisch
und zu wenig aus der hier gemeinten Grundsubstanz des Offen-
barungsereignisses heraus den christlichen Glauben aussagt und
so Sinn und Stellenwert der einzelnen Glaubenssätze dem Men-
schen von heute zu wenig assimilierbar macht?)
Wenn man z. B. wissen will, was heute und für uns verbind-
lich die Lehre vom sakramentalen Charakter besagen will, darf
man nicht nur auf die Lehre Augustins zurückgreifen und nicht
nur die späteren lehramtlichen Erklärungen darüber aufsammeln
und interpretieren und systematisieren, man muß auch fragen,
woher denn vierhundert Jahre nach dem Evangelium Augustin
das alles, was er sagt, wissen könne; welches der (teilweise meta-
historisch zu erschließende) Ursprungsort dieser Lehre vom sakra-
mentalen Charakter sei; was dieser hergebe und was nicht; was
darum in der traditionellen Lehre wirklich dogmatisch verpflich-
tender Sinn, was Interpretament und freie theologische Spekula-
tion dabei sei, wobei diese Frage durchaus auch an kirchenlehr-
amtliche Erklärungen gerichtet werden kann und auch Antwor-
ten auf diese Frage durch noch ausstehende Erklärungen des Lehr-
amtes einkalkuliert werden müssen. Auch viele andere Fragen,
die als offene in der heutigen Sakramenten-Theologie anstehen,
haben keine Aussicht auf eine wirkliche und überzeugende Beant-
wortung, wenn man bloß auf « Denzinger» oder sonstige lehr-
amtliche Erklärungen der Vergangenheit von ausdrücklicher Art
zurückgreift. Man muß sich einerseits eine historisch wirklich
überzeugende Vorstellung des Sinnes des Satzes machen, daß
(wie?) die Sakramente von Jesus herkünftig (« gestiftet») sind,
und anderseits bedenken, welches der Zusammenhang der ein-
zelnen Sakramente mit dem Wesen der Kirche als « Grundsakra-
ment » des Heiles ist. Nur dann kann man heute ernsthaft hoffen,
eine einleuchtende Antwort z. B. auf die Frage zu finden, wer
Empfänger des Weihesakramentes sein könne (auch die Frau?),
welche sakramentalen Zeichen u. U. in außergewöhnlichen Fäl-
len genügen können, wie u. U. der eine Ordo in verschiedene sa-
kramentale Einzelfunktionen (verschiedener und gestufter Art)
evtl. neu differenziert werden könne usw.
Solche Rückfragen, die hier gemeint und durchaus auch eine
29
kritische Instanz gegenüber dem traditionellen Verständnis eines
theologischen Satzes sind, laufen in der traditionellen Schultheo-
logie meist unter dem Stichwort des theologischen « Konvenienz-
argumentes». Eine solche Kategorialisierung verdeckt aber eher
das eigentliche Wesen dieses Rückgriffs und hindert die richtige
Einschätzung dieses Entfaltungsprozesses des Dogmas und seiner
immer neuen theologischen Rekonstruktion von der eigentlich-
sten ursprünglichen Mitte des Offenbarungsereignisses her.
Wenigstens ein Beispiel für das, was hier gemeint ist, sei noch
genannt. In der apostolischen Konstitution « Munificentissimus
Deus» von 1950 über die auch leibliche Aufnahme Marias in die
endgültige Seligkeit werden zunächst in einem langen histori-
schen Rückblick Zeugnisse aus der theologischen und frommen
Vergangenheit für diesen dogmatischen Satz aufgeführt. Für sich
allein genommen können diese Zeugnisse deswegen vielleicht als
unbefriedigend empfunden werden, weil sie zeitlich doch in einem
großen Abstand vom Neuen Testament und der Urkirche bleiben,
und zwar vielleicht deutlich machen, daß die spätere Kirche diese
Überzeugung gehabt habe, aber auch dann noch diese Lehre als
glaubensverbindlich nicht so recht überzeugend machen. Dann
aber (DS 3900 s) unternimmt diese Konstitution doch auch das,
was wir hier den « Rückgriff» hinter einen einzelnen Satz auf ein
ursprünglicheres und globaleres Glaubensverständnis genannt
haben. Ob dieser Rückgriff in dieser Konstitution in jeder Bezie-
hung befriedigt (der Rückgriff auf die allgemeine Eschatologie
z. B. fällt aus; die leibseelische Einheit des Menschen immer und
in jedem Fall kommt nicht genügend zum Tragen), steht hier
nicht zur Debatte. Aber die Konstitution richtet ihren Blick doch
auf das eine und ganze globale und ursprüngliche Glaubensver-
ständnis, das die Kirche von Maria und ihrer heilsgeschichtlichen
Funktion hat, und begründet von daher den Satz, der definiert
wird.
Man darf einen solchen Rückgriff (auch wenn er hier nicht un-
mittelbar auf das ursprüngliche Eine der Offenbarung, sondern
schon auf eine davon abhängige, aber doch im Verhältnis zu dem
in Frage stehenden theologischen Satz ursprünglichere partiku-
lärere Glaubenswirklichkeit geht) nicht billig als zu einem schon
50
einfach feststehenden Satz nachträgliches Konvenienz-Argument
abwerten. Denn wenn mit genügender historischer Sicherheit
feststeht, daß man im Ernst dieses Dogma nicht als einen explizit
und formell von der apostolischen Zeit her gelehrten Satz auf-
fassen kann, dann ist dieser Rückgriff grundsätzlich die eigent-
liche Quelle dieses Satzes, gleichgültig ob die Explikation dieses
Satzes aus dieser Quelle (wie in der genannten Konstitution) ge-
nügend deutlich und umfassend genug geschieht oder diesbezüg-
lich sehr erhebliche theologische Wünsche offenbleiben.
Ein solcher Rückgriff (um wieder zu unseren allgemeinen
Überlegungen zurückzukehren) ist nicht notwendig und immer
ein Rückgriff auf das deutlicher und expliziter schon immer For-
mulierte; der Rückgriff kann durchaus von einem im Glaubens-
bewußtsein der Kirche (in Schrift oder Tradition) gegebenen ex-
pliziten Satz auf eine dahinter liegende, globale, aber ursprüng-
lichere Wirklichkeit gehen, die selber in diesem Rückgriff deut-
licher und expliziter wird, so aber dann in ihrer umfassenderen
Einheit dem Glaubensbewußtsein der Kirche deutlicher als unab-
dingbar einleuchtet als der Satz selbst, hinter den so zurückge-
griffen wird.
Der Rückgriff auf diese entweder schon explizit gegebene oder
in ihm selbst erst deutlicher reflektierte, Ursprung gebende Glau-
benswirklichkeit ist nun aber auch durchaus geeignet, eine kri-
tische Instanz für die Bestimmung des genaueren Sinnes und
dessen Grenzen bei einem theologischen Satz abzugeben, auch
wenn dieser selbst als solcher dogmatisch als verbindlich feststeht.
Wie soll man z. B. (wenn sich das als unvermeidbar herausstel-
len sollte) die Frage entscheiden, ob im Dogma der Auferstehung
des Leibes eine materiale Identität des Auferstehungsleibes mit
dem verklärten Leib implizit gegeben sei (wie bis in die neueste
Zeit sehr viele Theologen, und zwar als Dogma behauptet haben),
wenn man nicht hinter den dogmatischen Einzelsatz der Auf-
erstehung des Leibes zurückgreift auf die ursprünglichere Glau-
bensüberzeugung der auch heilsgeschichtlich bleibenden Einheit
des einen leib-seelischen Menschen und auf die Grundüberzeu-
gung von dessen Endgültigwerden bei Gott, auch wenn durch
einen solchen Rückgriff auf eine solche Grundüberzeugung diese
51
selbst erst deutlicher formuliert würde? Wie soll man heute sich
eigentlich sagen können, was mit Transsubstantiation eigentlich
gemeint ist, ohne einen solchen Rückgriffaufein ursprünglicheres,
globaleres Verständnis der Eucharistie? Wie soll man heute in
Vermeidung eines latenten Tritheismus (der nur zu oft trotz aller
verbalen Orthodoxie auch — unlogisch, aber wirklich — in land-
läufigen Ausführungen in der Trinitätslehre geistert) die dogma- _
tisch verbindliche Lehre von der «immanenten » 'Trinität richtig
deuten, wenn man nicht dauernd und immer neu aufihren wirk-
lichen Ursprungsort-für-uns reflektiert, auf die Lehre von der
heilsökonomischen Trinität Gottes? Wie kann man heute die
Lehre der Stiftung aller Sakramente durch Jesus Christus histo-
risch glaubwürdig verteidigen, wenn man nicht zurückgriffe auf
die Lehre von der Kirche als dem von Jesus Christus herkünftigen
Ursakrament, das die Kirche ist als die bleibende Präsenz der irre-
versiblen und in ihrem Wort geschichtlich greifbaren Selbst-
zusage Gottes? ;
Solche Rückgriffe sind dann nicht nur nachträgliche, fromme
Konvenienzarguemente (auch wenn sie natürlich immer nur
Ausgriffe des Glaubensbewußtseins der Kirche aus ihrem globalen
und ursprünglichen Wissen auf partikuläre Sätze, Ausgriffe, die
in der Glaubensgeschichte schon geschehen sind, nachvollziehen,
so gut es geht, und von da aus nur so ihre formale Glaubensver-
pflichtung erreichen), sondern die Weise, in der wir heute ein
Glaubensverständnis echt vollziehen können und müssen; solche
Rückgriffe sind dann aber auch eine kritische Instanz, auch wenn
deren Geltendmachung die formale Autorität des kirchlichen
Lehramtes grundsätzlich zu respektieren hat, die aber auch u. U.
gegenüber bloß authentischen Interpretationen des Dogmas durch
das kirchliche Lehramt, in denen dieses Dogma mit ungeschiede-
nen Amalgamen verbunden weitertradiert wird, Einspruch er-
heben kann.
All das Gesagte ist sehr ungenau angedeutet; es könnte nur ge-
nauer formuliert und begründet werden in einer umfassenden
und vieldimensionalen Theorie der Dogmenentwicklung. Aber
das Gesagte scheint doch auf jeden Fall eine Einsicht zu sein, die
sich aus der bisherigen Dogmengeschichte ergibt und darum eine
52
große Bedeutung für die laufende Dogmen- und Theologie-
geschichte hat, die in Zukunft nicht mehr nur fast unreflex ge-
schehen muß, sondern sich auch, belehrt durch ihre frühere Ge-
schichte, reflexer der Prinzipien bewußt sein kann und soll, unter
denen sie geschieht, auch wenn sie dadurch noch längst nicht
unter eine autonome und adäquate Steuerung durch die Men-
schen der Kirche oder auch durch ihr Amt gerät.
Es wäre darum wünschenswert, daß auch das kirchliche Lehr-
amt bei seinen Äußerungen sich nicht bloß auf seine formale
Autorität oder auf frühere Einzelsätze beruft, die die jetzt vorzu-
tragende Lehre schon explizit enthalten, nicht einmal bloß auf
Einzelsätze der Schrift, die exegetisch vielleicht nicht so eindeutig
sind, wie man in solchen Lehräußerungen oft unterstellt, sondern
daß es auch den hier gemeinten Rückgriff auf die ursprüngliche
Mitte des Glaubens selber darstellt. Heute sollte das Lehramt
nicht einfach sagen oder stillschweigend voraussetzen, eine solche
Aufgabe sei bloß Sache der Theologen. Auch das Lehramt muß
nicht nur seine formale Autorität wahrnehmen, die ihr nicht be-
stritten werden darf, sondern muß sich auch bemühen, daß seine
Lehre wirklich die Zustimmung der Gläubigen findet. Dazu
scheint aber ein solcher Rückgriff heute mehr oder weniger un-
erläßlich zu sein, zumal ja die formale Autorität des Lehramtes
nicht ein ursprünglichstes Datum des Glaubens ist, sondern selbst
in sich und vor allem in ihrer Effizienz auf dieser ursprünglichen
Grundsubstanz des Glaubens selber aufruht, die für den Glauben
des Einzelnen vorgängig zu seiner Anerkennung des Lehramtes
ist.
v
54
Frömmigkeit, doxologische Aussagen usw. mit einem genus li-
terarium, das reflektiert werden muß, sollen Sinn und Tragweite
und Verpflichtung solcher Aussagen genau bestimmt werden?
Kann man in kirchlichen Äußerungen (z. B. in den Sozialenzykli-
ken seit Leo XIII.) ein literarisches Genus entdecken, das man das
von «Weisungen » nennen kann (die es wohl auch schon in der
Schrift gibt), von Weisungen, die eine geschichtlich bedingte
Synthese zwischen einem bleibenden Prinzip und einem Impera-
tiv oder Rat darstellen, der die Anwendung des Prinzips für eine
bestimmte Situation darstellt und gar nicht für immer und in
allen Situationen gelten will, ohne daß dieses wirklich vorhan-
dene literarische Genus in solchen Aussagen reflex von einer im-
mer gelten wollenden Aussage unterschieden wird? Was bedeutet
es z. B., wenn (DS 5917) gesagt wird, Maria überrage bezüglich
der Gnade schon im ersten Augenblick ihrer Existenz alle Heili-
gen? Man braucht eine solche Aussage nicht zu bestreiten und
kann doch den Eindruck haben, sie gehöre nicht in das literarische
Genus einer nüchtern objektiven dogmatischen Aussage. Gibt es
vielleicht ein genus literarium, in dem die Legitimität einer kirch-
lichen Praxis für hier und jetzt verteidigt wird (und eigentlich
nicht mehr), obwohl auf den ersten Blick die Aussage im Stil einer
immergültigen Wesensaussage vorgetragen wird? Impliziert z.B.
die Lehre Trients über die Berechtigung und den Nutzen der Ab-
lässe, daß auch für alle künftigen Zeiten Ablässe in der Form der
mittelalterlichen Ablaßpraxis erteilt werden? Ist diese Lehre
Trients eine Verheißung dafür, daß auch in ferner Zukunft in der
Praxis der Kirche ausdrücklich Ablässe «gewonnen» werden?
Müßten nicht auch die Erklärungen Trients über die Unauflös-
lichkeit der christlichen Ehe unter dem hier anstehenden Ge-
sichtspunkt neu und eindringlicher überdacht werden, wenn das
genus literarium der Verwerfung der Ehescheidung im Neuen
Testament in seinem Sinn und seiner Tragweite bestimmt wird?
Wenn die biblischen Aussagen über die Möglichkeit einer end-
gültigen Verwerfung als (natürlich existentiell unbedingt ernst zu
nehmende) « Drohreden » zu’ interpretieren sind, könnten nicht
auch lehramtliche Aussagen über dieses Thema eben so interpre-
tiert werden, auch wenn sie zunächst doktrinär wie solche über
55
einfach schon sicher vorausgewußte Tatsachen klingen? Allge-
meiner gesprochen: wenn einerseits lehramtliche Aussagen nur
biblische Aussagen weiter zu tradieren und somit für ihren ge-
naueren Sinn und dessen Grenzen nur auf diese biblischen Aus-
sagen zurückzuverweisen scheinen, und wenn wir anderseits heute
exegetisch den wirklich glaubensverbindlichen Sinn dieser bibli-
schen Aussagen (etwa bezüglich der Stellung der Frau gegenüber
dem Mann bei Paulus) näher bestimmen und begrenzen, kann
ınan dann diese begrenzende Bestimmung nicht auch auf die spä-
teren lehramtlichen Erklärungen übertragen? Hinsichtlich des
Monogenismus z. B. macht es die heutige Theologie doch schon
so; sie findet in der Bibel durch die genauere Bestimmung des
literarischen Genus der betreffenden Aussagen keine glaubens-
mäßige Verpflichtung zum Monogenismus mehr und interpre-
tiert dementsprechend auch die von diesen biblischen Sätzen her-
künftigen Erklärungen des Lehramtes (etwa in der 5.Sitzung
Trients) in gleicher Weise.
Hier sind doch wohl Fragen gegeben, die, weil unbeantwortet,
selber noch nicht einmal klar formuliert und differenziert werden
können. Die ungeheuren Schwierigkeiten, die die katholische
biblische Hermeneutik durchstehen mußte, aber heute im großen
und ganzen überwunden hat mit Resultaten, die auch lehramt-
lich (wenigstens stillschweigend) anerkannt sind, sollten davor
warnen, eine solche ebenso genaue Hermeneutik lehramtlicher
Aussagen bloß deshalb für undurchführbar zu erachten, weil sie
auf große Schwierigkeiten stoßen wird.
VI
56
die anderseits in einem solchen lehramtlichen Satz nicht aus-
drücklich als (grundsätzlich und an sich auch anders denkbare,
also in etwa frei gesetzte) Sprachregelung gekennzeichnet wird.
Mit diesem Satz ist nicht nur die Selbstverständlichkeit gemeint,
daß in solchen lehramtlichen Sätzen neue Begriffe auftreten kön-
nen, die früher nicht verwendet wurden, sondern erst in einem
langsamen geschichtlichen Prozeß in die kirchenamtliche Sprache
eingeführt worden sind. Zwar bedeutet schon das eine gewisse
Sprachregelung, insofern sich die spätere Verkündigung und die
Theologie nicht mehr einfach über solche Begriffe und die diese
verwendenden lehramtlichen Sätze hinwegsetzen können. Hier
aber ist mehr gemeint, wenn wir von einer «Sprachregelung »
sprechen. Wenn nämlich einmal solche Begriffe geworden sind
und in den lehramtlichen Erklärungen verwendet werden, kann
der Eindruck entstehen, sie seien die einzig möglichen und für-
derhin allein legitimen; es könne das Gemeinte (von nun an) nur
noch so ausgesagt werden; diese Begriffe seien mindestens in dem
Sinne der gemeinten Sache adäquat, daß ein solcher Satz mit sol-
chen Begriffen die gemeinte Sache unüberbietbar gut und er-
schöpfend aussage. Dieser Eindruck wird auch dadurch nicht be-
seitigt, daß natürlich jeder Theologe weiß, daß solche Begriffe
wieder erklärt werden müssen, was ja ein wichtiges Geschäft in
der Theologie ist, und daß bei solchen Erklärungen selbstver-
ständlich wieder andere Worte und Begriffe verwendet werden
müssen, ein solcher weiterer Erklärungsprozeß also grundsätzlich
unabschließbar ist. Auch wenn darauf reflektiert wird, kann der
Eindruck fortbestehen, alle diese weiteren Erklärungen würden
im Grunde genommen doch immer wieder notwendig zu dem er-
klärten Begriff zurückführen und adäquat in ihm zusammenge-
faßt und aufbewahrt werden und die Sprachregelung sei also
doch nicht von der Sachaussage abhebbar. Dieser Eindruck ist
aber mindestens in vielen Fällen falsch.
Bedenken wir einen Einzelfall der Dogmengeschichte. Im Un-
terschied zur ostkirchlichen Theologie hat sich die abendländische
Theologie bis zum heutigen Tag seit Augustinus auf den Begriff
der « Erbsünde » festgelegt. Die theologischen und lehramtlichen
Erklärungen über die Erbsünde erwecken den Eindruck, die wirk-
Le
lich gemeinte Sache könne gar nicht anders als in Verwendung
des Begriffs «Sünde» ausgesagt werden, dieser sei unersetzlich,
es liege also hier keine in dem hier gemeinten Sinn verstandene
Sprachregelung vor. In Wirklichkeit aber ist es anders. Minde-
stens seit einigen Jahrhunderten weiß die Theologie mit wachsen-
der Deutlichkeit, daß in der Erbsündenlehre der Begriff «Sünde»,
nur «analog» verwendet wird, weil dieser zunächst einmal die
subjektive, personale Sünde und den aus dieser erfolgenden Zu-
stand des Tatsünders meint. Nun ist aber bei einer solchen Ana-'
logie klar, daß die beiden Analogate untereinander in allen ihren
Aspekten ebenso verschieden sind, wie sie übereinkommen. Ist
dies richtig, dann bedeutet es, daß man, um die Unterschiedlich-
keit nicht zu verdunkeln und zu übersehen, an sich ebensogut ein
gemeinsames Wort für die beiden Analogate vermeiden könnte,
wie man, um ihre Übereinkunft hervorzuheben, sie unter einem
gemeinsamen, aber eben nur analog einen Begriff zusammen-
sehen kann. Das bedeutet für unsern Fall, daß man «sprachre-
gelnd» ebensogut das Wort «Erbsünde» hätte vermeiden oder
verbieten können, um deren sehr tiefgehenden Unterschied von
‚der persönlichen Sünde nicht zu verdunkeln, ohne daß dadurch
das mit Erbsünde Gemeinte geleugnet oder verschleiert werden
müßte, vorausgesetzt, daß man in anderer, durchaus möglicher
Weise das aussagen würde, was mit nicht unerheblichen Gefah-
ren von Mißverständnissen in der abendländischen Theologie und
kirchenamtlichen Lehre als Erbsünde ausgesagt wird. Hier haben
wir offenbar einen Fall einer hier gemeinten Sprachregelung vor
uns, denn es soll ja anderseits nicht bestritten werden, daß auch
eine moderne Theologie nicht einfachhin sich über das Wort Erb-
sünde hinwegsetzen kann, so sehr es heute ihre Aufgabe sein mag,
die bloße Analogheit dieses Begriffs im Vergleich zu dem der per-
sönlichen Sünde herauszuarbeiten.
Es kann sogar der Fall eintreten, daß solche Sprachregelungen
auch durch das Lehramt selbst revidiert und geändert werden.
Wenn wir heute noch der Sprachregelung des Konzils von Orange
folgen dürften, dann müßten wir in der Sprache Augustins sagen,
daß jeder Akt eines nichtgerechtfertigten Menschen « Sünde » sei.
Aber eben dies scheint durch die Sprachregelung, die Pius V.
58
gegen Baius getroffen hat, uns verboten zu sein. Es ist auch der
Fall denkbar, daß mehrere Sprachregelungen in kirchenlehramt-
lichen Erklärungen gegenseitig unausgeglichen nebeneinander
liegen. Man kann zwar vielleicht sagen, daß die Begriffe Hypo-
stase und Person in der amtlichen Trinitätslehre im gleichen Sinn
gebraucht werden (mindestens wenn man einmal vom Moment
der Rationalität und Freiheit im Personbegriff absieht). Das än-
dert aber nichts daran, daß die beiden Begriffe in ihrem Ursprung
und in ihrer weiteren Geschichte nur schwer untereinander aus-
geglichen werden können, also eine doppelte und nicht eine ein-
zige Sprachregelung vorliegt. Wenn man mit solchen Sprach-
regelungen, die nicht einfach von der auszusagenden Sache her
allein geboten sind, sondern in etwa eine «politische» Entschei-
dung freier Art (oft von größter geistespolitischer Konsequenz)
bedeuten, rechnen muß, dann bedeutet dies für die künftige Dog-
mengeschichte, daß es durchaus denkbar ist, daß man bei lehr-
amtlichen Sätzen, die schon gegeben sind, mit einem solchen Mo-
ment von Sprachregelung auch dann rechnen kann, wenn diese
bisher nicht reflex als solche erkannt worden ist. Mögliche Bei-
spiele für so etwas anzudeuten, würde hier allerdings zu weit
führen. ’
Es ist ferner auch denkbar, daß ein Prozeß, der auf eine defi-
nierende Sprachregelung hintendierte, steckenbleibt und wieder
abgebrochen wird. In den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts
gab es eine beträchtliche Bewegung dahin, die « Mittlerschaft »
der seligen Jungfrau zu definieren. Heute scheint diese Bewegung
erlahmt zu sein und in absehbarer Zukunft keine Aussichten zu
haben. Man scheut sich jetzt (trotz päpstlicher Enzykliken, die die
Mittlerschaft und Miterlöserschaft Marias aussagen), die heils-
geschichtliche Funktion Jesu Christi und die der seligsten Jung-
frau, die nur in einer sehr entfernten Analogie mit der Christi
verglichen werden kann, unter einen, wenn auch analogen, Be-
‚griff zu subsumieren, weil man offenbar den Eindruck hat, ein
solcher Begriff, auch wenn seine bloße Analogheit zusätzlich be-
tont wird, verdunkle den radikalen Unterschied, der zwischen den
beiden « Mittlerschaften » obwaltet. Hier scheint also die geistes-
politische Entscheidung, in der eine solche Sprachregelung ge-
39
troffen wird, in umgekehrter Richtung zu verlaufen wie bei der,
die vorhin beim Begriff der Erbsünde festgestellt worden ist, in
der man die Bedenklichkeiten eines solchen analogen Begriffes
sehr unbefangen in Kauf genommen hat. Könnte nicht die Fest-
stellung von bloß «verbalen» Häresien, die eigentlich eher so
etwas wie eine «schismatische» Ablehnung einer kirchenamt-
lichen Sprachregelung ist, ein Stück der Dogmengeschichte von
morgen und einer ökumenischen Theologie sein?
VII
40
entgegengesetzt wurde; er kann vielmehr Anliegen, Wahrheits-
momente usw. enthalten, die so im lehramtlich approbierten Satz
nicht gegeben sind, aber doch richtig und bedeutsam sein können
und eine Zukunft haben, auch wenn das nicht selten gegebene
Triumphgeschrei der andern Partei dies nicht wahrhaben will, ja
selbst wenn die unterlegene Partei im Augenblick der Verurtei-
lung selbst nicht deutlich sieht, was von ihrem Grundanliegen
gerettet werden könne.
War z.B. alles falsch, was Pelagius und Julian von Eclanum
gegen den scheinbar rundum siegreichen Augustinus zu sagen
hatten, oder haben sie nicht in vieler Hinsicht doch später recht
bekommen in einer langsamen Entwicklung bis in unsere Tage,
in der z. B. die Limbuslehre aufgegeben zu werden scheint und
die augustinische Erbsündenlehre doch ganz erheblich modifiziert
wurde und durch die in Augustins Sünden- und Rechtfertigungs-
lehre Präzisionen durch eine deutlichere Unterscheidung von
Natur und Gnade eingetragen wurden, die Augustinus nicht
kannte und die seine Gegner ein gutes Stück weit rehabilitierten ?
War m.a. W. Pelagius wirklich in der Sache selbst «an sich» ein
Ketzer, oder nur in der (wenn auch menschlich und epochal ver-
ständlichen) Interpretation Augustins, der den Pelagius faktisch
nicht anders verstehen konnte, ihn darum als Ketzer bekämpfte
und mit seiner eigenen « Sprachregelung » in der Kirche siegreich
blieb? War Monophysitismus in manchen Kirchen des Ostens nach
Chalkedon sachlicher oder bloß verbaler Art, eher in etwa « schis-
matisch » als häretisch, weil er der Sprachregelung von Chalkedon
nicht glaubte folgen zu können’? Ist es absolut sicher, daß die Lehre
von der Rechtfertigung (und Heiligung), soweit diese in den
evangelischen Kirchen Gemeingut und verpflichtend ist, eindeu-
tig der Rechtfertigungslehre des Trienter Konzils widerspricht?
Hat Bossuet gegen Fenelon schlechthin recht bekommen? Wie
vieles ist nach der massiven Verurteilung des Modernismus (unter
Pius X.) nachträglich aus dessen Bestrebungen und aus der von
ihm angemeldeten Problematik doch langsam in der katholischen:
Theologie und Bibelwissenschaft rezipiert worden, und zwar auch
nicht selten gegen die lehramtliche Verwerfung einzelner Sätze
von Modernisten durch das kirchliche Lehramt!
41
Auch kirchenlehramtliche Entscheidungen, selbst definieren-
der Art, integrieren in sich nie die ganze und volle Wahrheit nach
allen Seiten und in allen Dimensionen der Glaubenswirklichkeit;
auch nach Entscheidung eines Streites geht die Geschichte weiter,
so daß die «Sieger» in einem solchen Streit bescheiden und vor-
sichtig sein müssen, und die « Besiegten » immer noch die bessere
Erfassung ihres eigentlichen Anliegens (und auch von vielem,
was sie ausdrücklich gesagt haben) durch die amtliche Kirche für
die Zukunft erhoffen können.
VIII
42
«Einbahnigkeit» dieser Geschichte Wahrheiten, die einmal mit
einem reflexen und absoluten Glaubensassens in der Kirche er-
griffen wurden, nicht einfach wieder « vergessen» werden kön-
nen, weil das je gegenwärtige Glaubensbewußtsein der Kirche
nur es selber ist, indem es auch das Gedächtnis seiner eigenen Ge-
schichte bleibt. Aber damit ist für die Zukunft noch wenig dar-
über ausgesagt, welchen existentiellen und davon her abgeleite-
ten theologischen Stellenwert eine solche Wahrheit konkret im
Glaubensbewußtsein der Kirche und in ihrer Praxis haben werde.
Und dies gilt erst recht für theologische Sätze und Einsichten ge-
ringeren Verbindlichkeitsgrades.
Solche Verschiebungen des existentiellen und theoretischen
Stellenwertes von Wahrheiten lassen sich in der Vergangenheit
leicht beobachten. Wie lange dauerte es z. B., bis die Ekklesiologie
seit dem 16. Jahrhundert im Gefolge Bellarmins sich wieder mit
einem Rückgriff auf ältere Tradition zu der Ekklesiologie gewan-
delt hatte, die in « Mystici corporis » bei Pius XII. und in «Lumen
gentium» des Zweiten Vatikanischen Konzils ausgesagt ist. Wird
die breit entfaltete Lehre von der Andachtsbeichte praktisch und
theologisch die Rolle bewahren, die sie im Traktat vom Bußsakra-
ment seit langem bis in unsere Zeit hinein gehabt hat? Es gibt
eine ausführliche Lehre der Päpste seit Leo XIII. über die Herz-
Jesu-Verehrung. Es gibt im letzten und in unserem Jahrhundert
fast unzählige römische Erklärungen über Maria und die Marien-
verehrung. Werden die amtlichen theologischen Erklärungen
über solche Andachten den Stellenwert bewahren, den sie einmal
wie selbstverständlich im Leben und in der Theologie der Kirche
beanspruchten ? :
Man kann die künftige Dogmen- und Theologiegeschichte
nicht wirklich voraussehen. Wenn man jedoch mit etwas futuro-
logischer Phantasie sich ein Bild der Menschheit der nächsten
Jahrhunderte zu machen, sich ihre quantitativen, wirtschaft-
lichen, gesellschaftlichen, geistigen, politischen Veränderungen
vorzustellen versucht, dann wird man nicht daran zweifeln kön-
nen, daß auch die Glaubens- und Dogmengeschichte der Kirche
Veränderungen mit sich bringen wird, die wir uns heute noch
kaum vorstellen können.
45
IX
"Man wird aber vielleicht dennoch sagen können, daß die Thema-
tik der künftigen Glaubens- und Dogmengeschichte des Christen-
tums und der Kirche sich erheblich und charakteristisch unter-
scheiden wird von der Geschichte, die zwischen dem Ende der
Hochpatristik und der Aufklärung liegt (beide Zeitangaben sehr
vorläufig und ungenau gemeint, so daß man statt Ende der Hoch-
patristik vielleicht besser konstantinische Wende und Beginn der
Reichskirche, und statt Aufklärung Rezeption der Aufklärung in
der heutigen Kirche sagen könnte, die erst jetzt allmählich ge-
schehen ist und im Zeitalter, das noch unseres ist, 150 oder 200
Jahre erforderte).
Das ganze Zeitalter, das man so gegen die drei ersten Jahrhun-
derte des Christentums und gegen die Moderne seit der Aufklä-
rung abgrenzen könnte, war dadurch charakterisiert, daß sich
diese Glaubens- und Dogmengeschichte im großen und ganzen
in einer homogenen Umwelt vollzog, die trotz allem, was in diese
Umwelt neu eintrat, in allen —- auch den profanen — Dimensionen
des menschlichen Lebens christlich geprägt und eigentlich nur
von außen bedroht war.
Während darum die ersten drei Jahrhunderte des Christen-
tums und vielleicht die noch anderthalb Jahrhunderte danach (als
Weiterwirkung und Aufarbeitung der ersten Epoche) in einer
kämpferischen Konfrontation und gleichzeitigen Assimilation
einer nichtchristlichen geistigen und kulturellen Umwelt Glau-
bens- und Dogmengeschichte darstellen, bedeutet diese lange
mittlere Periode (trotz des Weiterwirkens des antiken Platonis-
mus, trotz der Rezeption des Aristotelismus und auch der inner-
christlichen Krisen, die mit der Spaltung zwischen der östlichen
und der westlichen Kirche und mit der Reformation des 16. Jahr-
hunderts gegeben sind) eine Zeit der Entfaltung und Differenzie-
rung der Glaubenssubstanz aus ihrer Mitte heraus in immer mehr
systematisierte Unterscheidungen hinein, die wegen ihres einen
Ausgangspunkts von innen her ohne wirklich erhebliche Konfron-
tation mit von außen kommenden Widersprüchen in einer mehr
oder weniger einheitlichen und von allen als selbstverständlich
44
vorausgesetzten Begrifflichkeit vorgenommen werden konnte.
Diese Zeit war daher die Zeit der Summen und zugleich und aus
dem selben Grund die Zeit, in der man sich (weil das Ganze
selbstverständlich war) mit ungeheurer theologischer Leiden-
schaft auf Einzelfragen stürzen und sich in ihnen fast verlieren
konnte. Es war die Zeit, deren Ergebnis sich in dem spiegelt, was
man in den modernen großen Katechismen und in dem wieder-
finden kann, was man eine Denzinger-Theologie zu nennen
pflegt. Es war die Zeit, in der man lange päpstliche Enzykliken
über relativ kleine Detailfragen des christlichen Glaubens als
selbstverständlich empfinden konnte; in der das Lehramt sorg-
fältig und rasch über wirkliche oder vermeintliche Verstöße gegen
Einzellehren aus diesem detaillierten System reagierte; in der
man den Eindruck hatte, das Ganze des Systems sei klar und kaum
mehr entwicklungsfähig (höchstens in diesem Jahrhundert wie-
der von außen bedroht durch liberale Exegese und Theologie und
durch den Modernismus) und darum nur noch in Einzelfragen
(etwa der Mariologie) ernsthaft entwicklungsfähig, so daß die
Hauptarbeit der Theologie rückwärtsgewandt ihrer eigenen Ge-
schichte galt, die « großen » Theologen Historiker und nicht Syste-
matiker waren.
Heute (natürlich nach einer langen Anlaufzeit seit der Auf-
klärung, in welche Anlaufzeit auch die — defensiv. geführte — Aus-
einandersetzung mit der liberalen Theologie und dem Modernis-
mus gehört) sind wir zweifellos in eine neue Phase der Glaubens-
geschichte und somit auch der Dogmen- und Theologiegeschichte
eingetreten: Es handelt sich heute nicht mehr um eine immer
detailliertere Entfaltung der Grundsubstanz des Glaubens inner-
halb einer homogenen christlichen Umwelt, die selber gemein-
same Verstehenshorizonte hatte; es handelt sich vielmehr um
die Gewinnung eines neuen (natürlich die überlieferte Glaubens-
substanz bewahrenden) Verstehens des einen Ganzen des Glau-
bens in einer nichtchristlichen Umwelt, in einer neuen Periode
einer globalen Weltzivilisation, in die auch Weltkulturen neu
eingetreten sind, die nie christlich waren; es handelt sich um eine
Glaubens- und Dogmengeschichte in einer neuen Diaspora mit
radikal neu zu vollziehender Konfrontation und Assimilation zu-
45
gleich hinsichtlich dieser neuen Situation, die vom Atheismus
verschiedenster Prägung und von der Bezweiflung des Weiter-
existierenkönnens von Religion überhaupt mitgeprägt ist. Inso-
fern besteht formal eine Ähnlichkeit dieser anhebenden Periode
der Dogmengeschichte mit ihrer ersten Periode, die wir unter-
schieden haben, auch wenn das Material und die Aufgaben der
ersten und der dritten Periode radikal verschieden sind.
Die Glaubens- und Dogmengeschichte wird sich vermutlich in
der Zukunft nicht im Stil der zweiten Periode als evolutive Ent-
faltung und systematisierende Differenzierung der Grundsub-
stanz des Glaubens vollziehen, sondern als Transposition dieses
bleibenden Glaubens in neue und pluralistische Verstehenshori-
zonte, die von heute und morgen sind. Bei dem inkommensurab-
len und nicht adäquat synthetisierbaren Pluralismus der heutigen
und künftigen Verstehenshorizonte der aufgehenden epochalen
Situation wird die Transposition des Glaubens in diese Verstehens-
horizonte hinein durch einen Pluralismus von Theologien ge-
schehen müssen, der darum auch selber bei aller notwendigen
Dialogbereitschaft dieser Theologien untereinander zur Wahrung
und immer neuen Findung des einen Glaubens nicht adäquat syn-
thetisierbar sein wird.
Die Aufgabe des Lehramtes in dieser schon begonnen haben-
den neuen Periode wird darum kaum mehr in der Definition
«neuer » Einzeldogmen bestehen, nicht mehr so sehr in der ängst-
lichen Überwachung vermeintlicher oder wirklicher Abweichun-
gen von traditionellen Einzellehren, sondern in der Bewahrung
des einen Ganzen des Glaubens in seiner Grundsubstanz, und
zwar durch eine nicht so sehr «zensurierende », sondern positiv
fördernde Mitarbeit an dieser heute aufgegebenen Neuinterpreta-
tion des alten Glaubens in einer neuen und nicht von vornherein
christlichen Umwelt. Das Instrumentarium personaler und sach-
licher Art, über das die römische Glaubensbehörde verfügt, mag
durch eine solche Aufgabe neuer Art noch weit überfordert sein,
und das römische Lehramt hat im großen und ganzen auch in dem
letzten Jahrzehnt im alten Stil und mit dem alten Instrumenta-
rium weitergearbeitet und muß darum vermutlich bei aller Wah-
rung seiner Eigenständigkeit und besonderen Funktion in
der
46
l
47
SCHEINPROBLEME
IN DER ÖKUMENISCHEN DISKUSSION
Es soll hier einiges zu offenen Fragen der Dogmatik, die von der
Amtskirche als endgültig beantwortet betrachtet werden, gesagt
werden. Wenn dabei im folgenden von Amtskirche die Rede ist,
so handelt es sich in einem etwas vagen Sinn um die Amtskirche,
insofern sie in der durchschnittlichen Praxis ihrer Lehrpolitik (bei
‚Ernennungen von Professoren, Zensurierungen von Büchern,
wenigstens bis in die neueste Zeit, und so weiter), in ihrer durch-
schnittlichen Doktrin und in authentischen, aber nicht definie-
renden Lehräußerungen handelt. Es handelt sich also hier nicht
um Definitionen absoluter Art des höchsten Lehramtes durch
Kathedralentscheidungen des Papstes oder Definitionen eines
Konzils. Solche Entscheidungen von dogmatischen Fragen kom-
men hier höchstens insofern in Frage, als auch solche Entschei-
dungen zwar absolut verbindlich sind, dennoch aber auch Fragen
offenlassen können, die durch eine solche Definition noch nicht
beantwortet sind, sei es, weil diese Frage noch gar nicht gesehen
wurde, sei es, weil man meinte, sie sei auch schon beantwortet,
obwohl sich bei genauerer Sinnbestimmung der fraglichen Defi-
nition herausstellen kann, daß dies gar nicht der Fall ist. Insofern
können in etwa auch offene Fragen bei endgültigen Definitionen
entdeckt werden, die nur vermeintlich durch die Definition schon
beantwortet sind. Aber wenn wir von offenen Fragen sprechen,
die die Amtskirche als schon beantwortet betrachtet, handelt es
sich doch vor allem um authentische, nicht definierte Erklärun-
gen des kirchlichen Lehramtes. Es kann sich ferner auch um
solche Lehren handeln, die in der traditionellen scholastischen
Schultheologie bis mindestens zum Zweiten Vatikanum als «theo-
logisch sicher » qualifiziert wurden wegen einer allgemeinen Zu-
stimmung der Theologen und so praktisch auch als nicht mehr
offen behandelt wurden. Solche Lehren können hier ruhig mit
eingerechnet werden, weil ja auch das römische Lehramt, wenn
es sich zu einer Erklärung herausgefordert erachtet, auf solche
traditionelle Lehren der Theologen zurückzugreifen pflegt.
Wenn hier von Fragen die Rede ist, die nur scheinbar durch
48
das Lehramt erledigt sind, die in Wirklichkeit dogmatisch aber
noch offen sind, dann handelt es sich hier nur um dogmatische,
nicht um kirchenrechtliche oder pastoral-theologische Fragen. Es
mag z.B. dogmatisch durchaus offen sein, ob die Materie der
Eucharistie nur Weizenbrot sein könne. Diese Frage kann man
dogmatisch als offen erklären, ohne daß sich daraus für die kon-
krete Praxis der Kirche irgend etwas ändern müßte. Dogmatisch
offene Fragen brauchen darum nicht auch für das praktische Han-
deln der Kirche schon immer ein Problem zu sein.
Unser Thema ist natürlich unter einen ökumenischen Aspekt
gestellt. Damit ist gegeben, daß hier auf solche Fragen reflektiert
werden soll, die für das ökumenische Gespräch der traditionellen
christlichen Kirchen von Bedeutung sind. Wir lassen darum von
vornherein alle moraltheologischen Fragen beiseite, die heute ak-
tuell sind, die vom kirchlichen Lehramt heutzutage in authenti-
schen Erklärungen behandelt werden, die, obwohl sie diesen An-
spruch gar nicht machen können, so vorgetragen werden, als ob
sie definitiv seien. Solche moraltheologischen Probleme lassen wir
hier beiseite, obwohl nicht zu leugnen ist, daß römische Erklä-
rungen solcher Art faktisch doch auch den ökumenischen Dialog
erschweren. Wir lassen hier auch alle exegetischen und bibel-
theologischen Erklärungen seit Pius X. beiseite, in denen das
kirchliche Lehramt in überzogener Reaktion gegen den Moder-
nismus den katholischen Exegeten Normen gab, die sie in Wider-
spruch zur protestantischen Exegese brachten und so gewiß auch
das ökumenische Gespräch erschwerten. Diese Fragen können
hier beiseite gelassen werden, weil diese antimodernistischen
Lehräußerungen des Lehramtes im großen und ganzen obsolet
geworden sind und stillschweigend von dem römischen Lehramt
fallengelassen wurden.
Wenn wir uns somit auf dogmatische Fragen im engsten Sinne
des Wortes beschränken, so ist das Thema immer noch nicht sehr
klar. An sich wäre es sinnvoll und nützlich, bei diesem Thema all-
gemeine und grundsätzliche Überlegungen einer theologischen
Erkenntnislehre anzustellen, zu zeigen, und zwar allgemein und
grundsätzlich, warum und wie es im Glaubensbewußtsein der
Kirche immer wieder, wenn auch nicht in einem absoluten Glau-
49
bensengagement, zur Meinung kommen kann, daß eine be-
stimmte Lehre die Antwort auf eine bestimmte Frage sei, durch
die diese Frage eindeutig und endgültig entschieden sei, obwohl
dies nicht der Fall ist. Man könnte in solchen allgemein en und
grundsätzlichen Überlegungen einer theologischen Erkenntnis -
lehre zu zeigen versuchen, welches die geistesgeschichtlichen und
geistespolitischen Gründe dafür sind, daß wir plötzlich entdecken,
daß traditionelle Lehren gar nicht die Fragen beantworten, die
uns heute gestellt sind, obwohl wir dies meinten. Aber bei der
Kürze der Überlegungen und bei der Dunkelheit des allgemeinen
Problems muß hier auf ein solches Unternehmen verzichtet wer-
den. Wir beschränken uns also auf ein paar kurze Bemerkungen
zu ein paar dogmatischen Einzelfragen, bei denen das Lehramt
und die traditionelle Schultheologie zu rasch und zu eindeutig
eine Antwort zu haben meinen.
Bei solchen Fragen können wir, so meine ich, obwohl es seltsam
zu klingen scheint, diedreigroßenkontroverstheologischen Fragen-
kreise beiseite lassen, die durch die drei Schlagworte: sola fide,
sola scriptura, sola gratia, bezeichnet werden. Was die Rechtferti-
gungslehre angeht, so wird man heute nicht mehr sagen können,
daß es sicher sei, daß sich die Lehre der Augustana und des Trien-
ter Konzils eindeutig widersprechen. Dasselbe gilt wohl auch von
dem Begriff des allein rechtfertigenden Glaubens, den die Lu-
therische Theologie eigentlich meint. Was das «sola scriptura »
angeht, so muß nur auf die heftige Kontroverse während des
Zweiten Vatikanums verwiesen werden, das bewußt die Frage
nach dem genaueren Verhältnis zwischen Schrift und Tradition
offengelassen hat und damit die seit dem Tridentinum traditio-
nell gewordene diesbezügliche Lehre zu einer offenen Frage ge-
macht hat. Wir können also, so meine ich, hier die traditionell
fundamentalen Kontroversfragen der abendländischen Kirchen
beiseite lassen. Eine Frage ist es dabei natürlich doch, wie alle
Amtskirchen in ihren Ämtern auf die Frage antworten müßten,
was zu tun sei, wenn diese Amtskirchen plötzlich merken, daß
ihnen jener Dissens abhanden gekommen ist, der und der allein
einmal kirchentrennend gewesen ist. Wir behandeln darum nur
ein paar relativ sekundäre Fragen, die wir im Unterschied zur tra-
50
ditionellen Auffassung als offen betrachten. Dabei kann hier auf
eine Systematik bei diesen Fragen kein Gewicht gelegt werden.
Bei diesen so begrenzten Fragen kann nicht ein ausdrücklicher
Vergleich zwischen absolut verbindlichen katholischen Positionen
und evangelischen Überzeugungen durchgeführt werden. Wir
müssen uns darauf beschränken, bei den katholisch-traditionellen
Positionen offene Fragen, verschiedene Möglichkeiten der Inter-
pretation usw. anzumelden, damit von diesen Positionen aus
deutlich wird, daß ein absoluter Widerspruch zu evangelischen
Positionen nicht so eindeutig und selbstverständlich ist, wie es
zunächst scheinen mag.
Beginnen wir mit einigen Bemerkungen zur allgemeinen Sa-
kramentenlehre. Das Trienter Konzil lehrt die Existenz von sie-
ben Sakramenten, die von Christus gestiftet sind. Wenn wir
heute als Katholiken historisch ehrlich auf die Geschichte der Sa-
kramente reflektieren, werden wir sagen müssen, daß die Sakra-
mente als aktuelle Grundvollzüge des Wesens der Kirche insofern
von Jesus herkünftig sind, als die Kirche selbst von ihm « gestif-
tet», von ihm herkünftig ist, ohne daß im allgemeinen ein aus-
drückliches Stiftungswort, vom historischen Jesus gesprochen, bei
den einzelnen Sakramenten gesucht oder postuliert werden
müßte, auch wenn bei der Eucharistie ein solches Stiftungswort
ausdrücklicher Art nicht bestritten werden kann. Ein solches eben
nur angedeutetes Verständnis der Sakramente im allgemeinen,
das die Sakramente als Aktualisationen-im-Wort des Grundsakra-
mentes Kirche auffaßt, die die Gegenwart der unüberwindlichen
Heilstat Gottes in Jesus Christus ist, müßte auch auf evangeli-
scher Seite annehmbar sein, weil so der richtige Sinn des opus
operatum verständlich gemacht werden kann, weil so die Sakra-
mente als das intensivste Ereignis des exhibitiven Wortes des
Evangeliums verstanden werden können, auch katholisch, weil
die heutige protestantische Theologie darauf aufmerksam ge-
‚macht werden kann, daß für ihre heutige Exegese die Herkunft
der Taufe von Jesus, die von der Reformation als Sakrament an-
erkannt wird, nicht deutlicher und sicherer dargetan werden
kann als bei anderen Sakramenten. Auch katholisch kann und
muß heute das ius divinum der Sakramente als legitime und irre-
91
den
versible CrntdensschSidung der apostolischen Kirche verstan
werden. Dann aber ergibt sich eine Deutung smöglic hkeit der tri-
dentinischen Sakramentenlehre, die hier einersei ts für die evan-
gelische Sakramentenlehre von heute akzeptabel scheint, die frei-
lich andererseits auf katholischer Seite neue Fragen, aber auch
pastorale Handlungsmöglichkeiten eröffnet, an die man bisher
nicht gedacht hat. In einer heutigen, den historischen Daten ge-
recht werdenden katholischen Sakramententheologie und bei
einer leider erst heute allmählich entwickelten katholischen Theo-
logie des Wortes, ist es nicht mehr möglich und nicht mehr nötig,
die katholische Kirche als Kirche der Sakramente und die evange-
lischen Kirchen als Kirchen des Wortes zu charakterisieren. — In
diesem Zusammenhang sei bemerkt, daß in der Lehre vom sakra-
mentalen Charakter einiger Sakramente viel mehr offene Fragen
gegeben sind, als es in unserer Schultheologie deutlich wird.
Wenn und insofern die Kirche bei bestimmten Sakramenten
einen unwiderruflichen Status in der Kirche erteilt, den sie
schlechthin nicht mehr zurücknehmen will und als solchen er-
teilt, ist das schon gegeben, was man sich verpflichtend unter
einem sakramentalen Charakter vorstellen muß, ohne daß dar-
über weiter tiefsinnige Spekulationen am Platz sind.
Wir kommen zur Frage des Amtsverständnisses in der katho-
lischen Kirche, insofern auch hier sehr viel mehr Fragen offen
sind, als man gemeinhin denkt. Es ist für ein katholisches Glau-
bensverständnis des Amtes in der Kirche selbstverständlich, daß es
ein Leitungsamt in der Kirche als einer geschichtlichen und ge-
sellschaftlichen Wirklichkeit geben muß, dessen Eigentümlich-
keiten, Aufgaben und Vollmachten vom Wesen der Kirche herzu-
leiten sind und verständlich gemacht werden müssen. Wenn wir,
worüber später eigens zu reden sein wird, das Papsttum und seine
Vollmachten hier zunächst ausklammern, dann ist eigentlich der
eben gesagte Satz auch alles, was mit absoluter dogmatischer Ver-
bindlichkeit vom Amt in der Kirche gesagt werden kann und
muß. Es gilt dann natürlich in vollem Umfang für die Träger
eines solchen Amtes, die die Leitung einer größeren und (vom
Bezug auf die Gesamtkirche abgesehen) autarken Kirche inne-
haben und traditionell Bischöfe genannt werden. Faktisch wird
52
dieses eine Amt, soweit es jetzt sakramental übertragen wird, in
der römischen Kirche in die drei Grade des Episkopats, des Presby-
terats und des Diakonats gegliedert. Daß diese dreigliedrige Amts-
gestaltung aber schlechthin iuris divini sei, scheint mir nicht si-
cher zu sein. Diese Dreistufigkeit des Amtes geht gewiß nicht auf
eine ausdrückliche Setzung des geschichtlichen Jesus zurück. Daß
sie in der Urkirche der apostolischen Zeit sich so irreversibel ge-
staltet hat, daß sie auf diese Weise iuris divini und unabänderlich
ist, scheint mir denkbar, aber nicht absolut sicher. Die Kirche
könnte doch, auch wenn man diese drei Stufen als göttlichen
Rechtes anerkennen mag, ihr eines Amt noch weitergliedern und
an ihm in verschiedener Weise Anteil geben. Faktisch tut sie das
ja auch. Daß andere Arten und Stufen der Anteilgabe an dem
einen Amt der Kirche nicht auch sakramental gegeben werden
könnten, ist auch nicht bewiesen, ja im Blick auf die mittelalter-
liche Lehre von der Sakramentalität der niederen Weihen nicht
einmal wahrscheinlich. Von daher ist es nicht von vornherein
sicher, daß evangelische Kirchen, die sich mit Rom unieren woll-
ten, notwendig genau die Amtsgliederung übernehmen müßten,
wie sie in der römischen Kirche gegeben ist. Rein dogmatisch ge-
sehen, scheint es mir auch nicht absolut sicher zu sein, daß die bi-
schöfliche Gewalt, so wie sie von Trient bis zum Zweiten Vati-
kanum umschrieben wird und natürlich immer gültig sein wird,
notwendig von einem einzelnen als «monarchischem» Bischof
getragen sein müsse. Praktisch und konkret ist natürlich gegen
den monarchischen Episkopat nichts zu sagen. Aber wenn in den
kirchlichen Lehräußerungen das Wesen der episkopalen Voll-
macht, die Leitungsgewalt einer Großkirche beschrieben werden,
wenn diese Vollmacht, die gültig ist und bleiben wird, wie selbst-
verständlich, weil faktisch überall so geübt, als von einem einzel-
nen Mann getragen beschrieben wird, dann scheint mir dadurch
noch nicht im Sinne eines dogmatischen Satzes ausgeschlossen zu
sein, daß die eine und ganze episkopale Vollmacht auch von einem
kleinen Kollektiv getragen werden könne. Die katholische Lehre
vom Gesamtepiskopat als dem höchsten Leitungsgremium der
Kirche zeigt, daß kollegiale Verfassungsstrukturen dem Wesen
der katholischen Kirche nicht einfach von vornherein wesens-
55
fremd sein können. Jedenfalls aber muß bei uns deutlicher zwi-
schen der Frage des Wesens des kirchlichen Amtes und der Frage
nach dem singulären oder kollektiven Träger eines solchen Amtes
unterschieden werden. Das Wesen des Amtes muß vom Wesen
der Kirche her gesehen werden und ist schon darum anders als
das Wesen einer Leitungsfunktion in einer profanen Gesellschaft.
Wo dies im ökumenischen Gespräch von allen Seiten anerkannt
wird oder würde, könnte sehr vieles andere an der konkreten
Strukturierung des Amtes und dessen Trägerschaft frei in der
einen Kirche, die aus vielen historisch verschieden gewachsenen
Teilkirchen gebildet wird, vereinbart werden.
Stammt das Amt in der Kirche vom theologischen Wesen der
Kirche und so von Christus her, kommt es in diesem Sinne von
oben und nicht von der freien Setzung der Basis der Kirche her,
dann ist trotzdem noch die Frage, wie die Träger solchen Amtes
ausgewählt und bestellt werden können und sollen, eigentlich
noch ganz offen und ist nicht eigentlich eine dogmatische Frage.
Oder dies höchstens insofern, als ein neuer bischöflicher Amtsträ-
ger, soll seine Amtsvollmacht legitim sein, der Zustimmung des
Papstes und des Gesamtepiskopats bedarf. Damit aber ist nicht
gesagt, daß die eigentliche Bestellung und Auswahl eines Bi-
schofs nach göttlichem Recht beim Papst liegen müsse. Das kann
zwar, und zwar sinnvoller und nützlicher Weise positives Kirchen-
recht sein, ist aber kein ius divinum des Papsttums. Das zeigt ja
auch die ganze Geschichte des Episkopats. Daß eine Findung eines
Amtsträgers durch Wahl von unten, und zwar durch einen Wahl-
körper von geschichtlicher Bedingtheit, nicht gegen das Wesen
der Kirche sein kann, zeigt ja schon die schlichte Tatsache, daß die
Bestellung des höchsten Amtsträgers, des Papstes, durch eine
Wahl von unten, heute durch das geschichtlich höchst bedingte
Kardinalskollegium geschieht. Natürlich ist ein auf irgendeine
denkbare Weise von unten her gewählter bischöflicher Amtsträ-
ger erst dann im vollen Besitz der ganzen bischöflichen Vollmach-
ten, wenn er nicht nur in die Einheit und den Frieden des Ge-
samtepiskopats aufgenommen ist, sondern auch durch andere Bi-
schöfe sakramental ordiniert ist und so auch in dieser Hinsicht in
die apostolische Sukzession eintritt. Damit ist aber umgekehrt
54
nicht gesagt, daß eine Wahl von unten unmöglich sei und dem
Wesen der Kirche widerspreche. Einheit und Frieden mit dem
Apostolischen Stuhl in Rom sind grundsätzlich unerläßlich. Das
bedeutet aber nicht notwendig, daß die Gewährung dieser Ein-
heit und dieses Friedens der zentrale und eigentliche Vorgang der
Bestellung eines bestimmten Trägers des bischöflichen Amtes
dogmatisch notwendig sein müsse. Der Papst würde nicht auf
eine dogmatisch unverlierbare, sondern ihm nur historisch zu- -
gewachsene Prärogative verzichten, wenn er bei einer Union mit
getrennten Kirchen darauf verzichten würde, einen Bischof so zu
ernennen, wie dies im bisherigen lateinischen Rechtsbuch der
Kirche vorgesehen ist.
In diesem Zusammenhang muß wohl auch ein Wort gesagt
werden über die dunkle Frage der Anerkennung der Ämter der
von der römischen Kirche getrennten Kirchen der Reformation.
Ich habe mich in meiner Schrift: Vorfragen zu einem ökumeni-
schen Amtsverständnis (Qd 65, Freiburg 1974) zu dieser Frage
geäußert. Meine darin geäußerte Meinung hat, so viel ich sehe,
kaum Anklang gefunden und wird stillschweigend von römischen
und deutschen lehramtlichen Erklärungen desavouiert. Da aber
solche Erklärungen gewiß nicht den Anspruch auf Irreformabili-
tät machen können, bin ich immer noch der Meinung, daß, was
ich in der genannten Schrift vorsichtig andeutete, immer noch
der Diskussion würdig ist. Daß solche Ämter in ihrer Ausübung
in den getrennten Kirchen eine positive Heilsbedeutung haben
können, ist nach dem Zweiten Vatikanum nicht zu bezweifeln.
Ich bin aber darüber hinaus der Meinung, daß sie als legitim und
wenigstens in vielen Fällen, die natürlich von anderen nicht legi-
timen abgegrenzt werden müßten, auch in ihrer Übertragung
(Ordination) und in ihren Amtshandlungen (Eucharistiefeier),
sakramental sind, und zwar nicht nur in den von Rom getrennten
* Kirchen des Ostens, sondern auch in den reformatorischen Kir-
chen. Um für eine solche Meinung Verständnis zu gewinnen,
muß zunächst darauf reflektiert werden, daß diese Kirchen jetzt
nicht von katholischer Seite beurteilt werden dürfen, wie es —
grundsätzlich mit Recht — in der Reformationszeit selbst, in der
Situation der Trennung im Unterschied von Getrenntsein gesche-
55
hen ist. Dann muß weiter bedacht werden, daß es grundsätzlich
so etwas wie ein Wesensrecht gibt, das dem gesatzten Recht vor-
ausgeht und einfach aus dem Wesen einer bestimmten Person
oder einer Gesellschaft erfließt. So etwas ist grundsätzlich auch bei
der Kirche denkbar, weil diese ein Wesen hat, das ihrer recht-
lichen Verfaßtheit vorausgeht und mit dem endgültigen und irre-
versibel siegreichen Heilsereignis in Jesus Christus und dem damit
unbedingt gegebenen Glauben an ihn gegeben ist. Aus einem
solchen letzten Wesen der Kirche können, mindestens ist das
grundsätzlich denkbar, auch Wirklichkeiten sakramentaler Art
erfließen, auch wenn sie sich nicht durch den normalen recht-
lichen Vorgang konstituieren, wenn ein solcher schuldlos nicht
geschehen kann. Ohne die Annahme einer solchen Möglichkeit
kommt man in der Geschichte der Kirche mit den Tatsachen
nicht zurecht. Ist ein Priester oder ein Bischof, der im unange-
fochtenen Besitz seiner Vollmachten in der Kirche lebt, dann
nicht im Besitz dieser Vollmachten, wenn man annimmt, an ir-
gendeinem Punkt sei nach normalem Sakramentenrecht diese
Sukzessionsreihe einmal unterbrochen worden? Ist der als Papst
von der ganzen Kirche anerkannte Martin V. nur dann legi-
timer Papst, wenn zuvor feststeht, daß seine Vorgänger entweder
nicht gültig gewählt gewesen waren oder wirklich freiwillig auf
ihr Amt verzichtet haben? Wenn ein katholischer Priester mit
Reisbrot Eucharistie feiern würde, wenn und weil hier und jetzt
in absehbarer Zeit kein Weizenbrot zu haben ist, wäre eine solche
Feier wirklich nicht sakramental? Wie konnten mittelalterliche
Theologen eine Laienbeichte im Notfall für sakramental halten?
Wenn nichtkatholische Christen heiraten, wenn sie dadurch ein
Sakrament vollziehen, wenn auch ein solches Sakrament vom
grundsakramentalen Wesen der Kirche her geschieht, dann ist
doch eine solche Heirat nicht darum heute ein Sakrament, weil
der Papst durch einen positiven Rechtsakt für solche Christen
diese Form des Eheabschlusses zum sakramentalen Zeichen
macht, obwohl die Trienter Form nicht eingehalten wird. Sonst
müßte man ja zur absurden Meinung kommen, der Papst könne
durch eine Forderung der Trienter Form — auch für solche Chri-
sten — allen nicht-katholischen Christen die Sakramentalität ihrer
56
Ehe verweigern. Die Sakramentalität dieser Ehen kommt ihnen
somit vom grundsakramentalen Wesen der Kirche unmittelbar
zu, weil diese getauften Christen ein Recht auf dieses Sakrament
haben und es ihnen bei ihrer bona fides nicht durch das normale
sakramentale Zeichen vermittelt werden kann. Man bedenke fer-
ner, daß der Ritus einer kirchlichen Amtsübertragung im freien
Ermessen der Kirche liegt und gar nicht notwendigerweise in
einer Handauflegung bestehen muß. Von solchen Überlegungen
her, die an sich natürlich viel ausführlicher und präziser ange-
stellt werden müßten, scheint es mir nicht unmöglich, in einem
viel weiteren Umfang (als es bei uns traditionell geschieht) den
sakramentalen Charakter der Ordination und der darauf beruhen-
den Amtshandlungen in den Kirchen der Reformation anzuer-
kennen. Für diese Frage, die ja doch für die Möglichkeit einer
Kircheneinigung von erheblichem Gewicht ist, muß ich, wie ge-
sagt, auf das kleine Buch von mir, das ich oben nannte, verwei-
sen. Wenn wir katholische Theologen die Pflicht haben, alles ge-
rade noch Denkbare ins Auge zu fassen, was einer Einigung dien-
lich sein kann, dann sollten wir nicht zu schnell uns mit der tra-
ditionellen, aber billigen Antwort auf die Frage nach der Aner-
kennung der Ämter in den Reformationskirchen begnügen.
Wir kommen zu dem Haupthindernis der Kircheneinigung, zur
Frage nach dem Papsttum und dem römischen Primat. Paul VI.
hat selbst anerkannt, daß das Papsttum heute das größte Hinder-
nis der Kircheneinigung ist. Auch an dieser Frage scheint vieles
offener zu sein, als man gewöhnlich meint. Theologen und Päpste
müßten auch heute noch genauer darüber nachdenken, was in
der Lehre und der Praxis des römischen Primats wirklich unauf-
gebbarer Glaubensinhalt ist und was nicht. Und hinsichtlich des-
sen, was dazu nicht gehört, obwohl es in der Praxis festgehalten
wird, müßten sich die katholischen Theologen und vor allem die
Päpste viel deutlicher erklären. Dies zumal, da offenbar auf evan-
gelischer Seite die Neigung wächst, ein Petrusamt in der Kirche
als wesensnotwendig oder wenigstens als wesensgemäß anzuer-
kennen. Man sieht aber in Rom doch kaum Anzeichen dafür, eine
dogmatisch mögliche und heute situativ empfehlenswerte Selbst-
begrenzung des römischen Primats deutlich zu machen, den er-
57
sten Schritt zur Einigung in dieser Frage selber zu tun. Daß sehr
vieles, was an geschichtlich gewordenen Vollmachten und Rech-
ten der Römische Stuhl auch heute noch in Ansprüch nimmt,
nicht zum dogmatisch unveräußerlichen Wesen des Primats ge-
hört, unterliegt ja keinem Zweifel. Auch natürlich nicht in Rom.
Aber Rom müßte auch deutlich sagen, was dazu nicht gehört und
worauf man den Kirchen gegenüber, die eine Union mit Rom
suchen, zu verzichten bereit ist. Ob solche Verzichte nur gegen-
über solchen zur Union bereiten anderen Kirchen ausgesprochen
werden sollen, oder dann auch für die lateinische Kirche des We-
stens Geltung haben sollen, ist noch einmal eine ganz andere
Frage, die hier nicht besprochen werden kann. Die Grundfrage
wäre wohl nicht sosehr durch eine Inventarisierung dessen zu
beantworten, worauf Rom grundsätzlich verzichten kann, son-
dern durch die Umschreibung dessen, worauf Rom aus dogmati-
scher Grundsätzlichkeit nicht verzichten kann. Bei dieser Weise
der Beantwortung der Frage wäre natürlich genauer zu sagen,
was der universale Jurisdiktionsprimat des Papstes über alle Kir-
chen als ordentliche Vollmacht des Primats bedeutet und was
nicht. Daß da noch sehr viele Fragen offen sind und dogmatisch
vieles nicht selbstverständlich ist, was Rom zur selbstverständ-
lichen Ausübung dieses Jurisdiktionsprimats rechnet, braucht wohl
auch nicht eigens bewiesen zu werden. (Von verschiedenen denk-
baren Weisen der Beteiligung Roms an der Bestellung von Bi-
schöfen wurde schon gesprochen. Ebenso davon, daß erhebliche
presbyterale, kollektive Verfassungselemente auch in der katho-
lischen Kirche oder in Teilkirchen von ihr dogmatisch nicht aus-
geschlossen sind.) Bei der formalrechtlich unbegrenzten Voll-
macht des römischen Primates ist überdies folgendes zu bedenken
und ausdrücklicher zu sagen: Der Papst hat bei dieser formal-
rechtlich unbegrenzten Vollmacht nicht nur darin eine Grenze,
daß er das Wesen der Kirche iuris divini nicht abändern kann,
‚ also z. B. den Episkopat im Sinne des Zweiten Vatikanums nicht
nur nicht abschaffen kann, sondern dessen Eigenständigkeit auch
faktisch nicht so aushöhlen darf, daß die Bischöfe praktisch doch
nur regionale Vertreter des Papstes wären in einer Entwicklung,
deren Bedrohlichkeit auch heute noch nicht beseitigt ist. Eine Be-
58
grenzung des formalrechtlich unbegrenzten Primats ist auch noch
von einer anderen Seite gegeben und sollte viel deutlicher reflex
ausgesprochen werden, als dies faktisch geschieht. Das will sagen:
Die Ausübung des vollen Jurisdiktionsprimats ist an sittliche,
christliche Normen gebunden, und zwar an solche, die nicht im-
mer einfach material dieselben sind, sondern je nach den ge-
schichtlichen Situationen verschieden sein können. Es wird nun
faktisch in der Kirche so getan, als ob das selbstverständlich sei
und niemand daran zweifeln könne, daß ein Papst sich an diese
sittlichen Begrenzungen seiner Vollmacht auch immer halte. Daß
dem im allgemeinen so sei, soll natürlich nicht bestritten werden.
Daß dies immer der Fall ist, kann bezweifelt werden. Es ist durch-
aus denkbar, daß bestimmte aus einer heutigen gesellschaftlichen
und geistesgeschichtlichen Situation an sich zwingend erwach-
sende sittliche Begrenzungen der Vollmacht des Papstes vorhan-
den sind, aber faktisch nicht gesehen und darum auch nicht re-
spektiert werden. Es ist z. B. grundsätzlich durchaus denkbar, daß
Paul VI. bona fide faktisch Normen der päpstlichen Urteilsfin-
dung bei Veröffentlichung von «Humanae Vitae» verletzt hat,
die an sich gegeben sind. Es ist durchaus denkbar, daß römische
Behörden sich in das Eigenleben der Teilkirchen in einer Weise
einmischen, durch die das Subsidiaritätsprinzip in der Kirche ob-
jektiv verletzt wird. Mir ist es nicht selbstverständlich und ein-
deutig, daß die Zölibatsregelung einheitlich von Rom aus in der
ganzen Kirche geregelt werden muß. Es ist nicht von vornherein
klar, daß jede Inanspruchnahme des Universalprimates des Pap-
stes immer und in jedem Fall faktisch auch sittlich gerechtfertigt
ist. (Wenn z. B. eine allgemeinkirchliche Regelung des Zölibats
von Rom allein aus sittlich legitim ist, dann hätte der Papst grund-
sätzlich auch dieses Recht gegenüber den Ostkirchen. Könnte
man dann im Ernst behaupten, der Papst habe das sittliche Recht,
die Priesterehe auch für alle unierten Ostkirchen zu verbieten?)
Über die genauere Begrenzung der universalen Jurisdiktionsvoll-
macht des Papstes durch sittliche, und zwar auch situativ verän-
derliche Prinzipien kann natürlich im einzelnen gestritten wer-
den; es müßte aber einen offenen und deutlichen Dialog in der
Kirche geben, auch wenn im Zweifelsfalle und wo der Papst nicht
59
eindeutig etwas positiv Unsittliches befiehlt, die Präsumption für
die Richtigkeit des Handelns beim Papst wäre. Für die ökumeni-
schen Bestrebungen aber wäre es sehr wichtig, wenn Rom selbst
konkret und deutlich und im einzelnen das benennen. würde,
62
Erforschung des Glaubenssinns der Gläubigen selbst usw., ge-
schehen müßte und auch öffentlich deutlich sein müßte, ist an
‚ sich selbstverständlich, wenn auch offenbar in Rom noch nicht
deutlich reflektiert und eingeübt, wie auch durch das faktische
Zustandekommen authentischer, wenn auch nicht definierender
Lehräußerungen auch in jüngster Zeit deutlich wird. Wenn sol-
che Verfahrensweisen deutlich artikuliert, ausdrücklich als gel-
tend ausgesagt und in der Praxis gehandhabt würden, dann müßte
auch ein evangelischer Christ weitgehend von der Furcht vor
einer willkürlichen, dem wahren Geist Jesu und der Kirche wider-
sprechenden Handhabung der päpstlichen Lehrvollmacht befreit
werden.
Zu dieser ersten Überlegung kommt aber vermutlich noch eine
zweite hinzu. Der katholische Glaube an das Bestehen einer päpst-
lichen Lehrgewalt, die mit dem bleibenden Wesen der Kirche
immer gegeben ist, impliziert ja nicht, daß die faktische Aus-
übung dieser Gewalt zu allen Zeiten die gleiche sei (was ja auch
für die Vergangenheit nicht stimmt), impliziert nicht, daß sie von
keinen geschichtlichen und wechselnden Vorbedingungen ab-
hängig sei. Durch die Dogmengeschichte der ersten zwei Jahr-
tausende der Kirche sind wir daran gewöhnt, diese Dogmenge-
schichte unwillkürlich als eine immer weiter fortschreitende Ex-
plikation und Artikulation der letzten Glaubenssubstanz in immer
mehr und immer neue Einzelsätze expliziter Art zu denken und
dementsprechend uns auch den päpstlichen Lehrprimat unwill-
kürlich als in solchen neuen und differenzierenden Sätzen aktiv
zu denken. Man stellt sich den Vollzug des Lehrprimats des
Papstes, wenn er ex cathedra spricht, unwillkürlich als Erklärung
von Sätzen vor, die, wenn auch letztlich implizit in der Glaubens-
überlieferung gegeben, doch irgendwie material neu und früher
kaum explizit greifbar erscheinen, wie etwa das Dogma der un-
beflekten Empfängnis oder der Aufnahme Mariens in die Selig-
keit oder die vor zwanzig Jahren noch zur Dogmatisation propa-
gierte Lehre von ihrer Gnadenmittlerschaft. Daß aber die Aus-
übung der päpstlichen Lehrvollmacht in der Zukunft auf diese
Weise weitergehen werde, ist völlig unbewiesen und scheint mir
durchaus nicht wahrscheinlich zu sein. Die künftige Lehrge-
65
schichte des Christentums und der Kirche scheint mir nicht auf
eine materiale Weiterdifferenzierung der christlichen Glaubens-
substanz hinzutendieren, sondern auf eine von der neuen geistes-
und gesellschaftspolitischen Situation erforderte und ermöglichte
Neuaussage der letzten Grundsubstanz des Christentums. Dem-
entsprechend müßte dann auch die konkrete Ausübung der päpst-
lichen Lehrvollmacht gedacht werden, auch wenn sie auch in
Zukunft bestehen bleiben wird. Eine genauere Begründung die-
ser Prognose der künftigen Dogmengeschichte und damit auch
der konkreten Weise der Ausübung des päpstlichen Lehrprimats
kann hier nun leider nicht mehr geboten werden. Man müßte
sonst eine genauere Analyse der geistigen Situation der Welt und
der Weltzivilisation, des heutigen unüberholkaren Pluralismus
in einer doch einen Welt usw. bieten und so die profangeschicht-
lichen Voraussetzungen des Glaubenslebens der heutigen Welt-
kirche verdeutlichen. Das aber ist nun einmal hier nicht mehr
möglich. Ich bin aber davon überzeugt, daß von daher durchaus
eine Prognose für die künftige Ausübung des päpstlichen Lehr-
primates möglich wäre, eine Prognose, die dem evangelischen
Christen deutlich machen würde, daß das päpstliche Lehramt in
Zukunft unvermeidlich und bereitwillig sich auf die Verteidigung
und zeitgemäß neue Aussage der Grundsubstanz des Christen-
tums konzentrieren wird, die diesem Christen ebenso teuer und
selbstverständlich ist wie uns Katholiken. Zusammenfassend also
könnte man sagen: Wenn die künftige Thematik und Stoßrich-
tung der päpstlichen Lehrvollmacht deutlich würde und unbe-
fangen von Rom her ausgesprochen würde und wenn gleichzeitig
die heute mögliche und notwendige Verfahrensweise in der Fin-
dung der Wahrheit und Entscheidung durch Rom deutlicher ge-
macht und einleuchtender beobachtet würde, müßte die Vatika-
nische Lehre vom päpstlichen Lehrprimat nicht mehr das das
Glaubensgewissen der evangelischen Christen beunruhigende
Schreckgespenst bleiben, das es bisher ist. Dabei ist die Frage noch
ganz offen, ob überhaupt in einer absehbaren Zukunft faktisch
päpstliche Kathedralentscheidungen erwartet werden müssen
oder ob dies aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich ist.
Es sei schließlich noch ein Wort gesagt zu den offenen Fragen,
64
die auch bei den beiden Marianischen Dogmen von Pius IX. und
Pius XII. gegeben sind. In sich und als die eigentlich einzigen
konkreten Beispiele von Kathedralentscheidungen des Papstes
allein gehören sie ja auch zu den Anstößen der evangelischen und
orthodoxen Christen an der Römischen Kirche seit Trient. Was
das erste Marianische Dogma angeht, so wage ich die Vermutung,
daß es bei einer möglichen orthodoxen Weiterentwicklung des
Erbsündendogmas im allgemeinen viel leichter als mit der eigent-
lichen Offenbarung gegeben nachgewiesen werden kann und da-
mit auch das Anstößige und Unglaubwürdige verliert, das an ihm
evangelische Christen empfinden. Wenn wir heute in bezug auf
alle Menschen das Dogma der Erbsünde verdeutlichen wollen und
aber auch ebenso deutlich und eindeutig dabei im Glauben uns
deutlich machen, daß jeder adamitische Mensch auch infralapsa-
risch unter dem übernatürlich begnadenden Heilswillen Gottes
immer und von Anfang an steht, unter einem Heilswillen, der
nicht nur eine Absicht Gottes bedeutet, sondern ein übernatür-
liches Existential des immer und überall gegebenen Angebotes
der übernatürlichen Gnade bedeutet, dann ist die Erbsündigkeit
nicht einfach ein zeitlich dem Angebot der Gnade an die Freiheit
vorausliegender Zustand, sondern eine «dialektisch» mit dem
Heils- und Gnadenangebot koexistente Bestimmung des Men-
schen, der in seiner Freiheitssituation immer und überall gleich-
zeitig herkünftig von Adam und herkünftig von Christus ist und
in seiner Freiheit die eine oder die andere Freiheitssituation rati-
fiziert. Wenn man bedenkt, daß auch Maria durch Christus er-
löst ist, also erlösungsbedürftig ist und dies zu den bleibenden Exi-
stentialien ihrer Existenz gehört, dann unterscheiden sich der nor-
male infralapsarische Mensch und Maria nicht eigentlich durch
die Verschiedenheit einer zeitlichen Periode am Anfang der Exi-
stenz, sondern dadurch, daß Maria das Angebot der Gnade an ihre
Freiheit aufgrund ihrer Prädestination zur Mutter Jesu und dar-
um als siegreich sich durchsetzendes und dazu als solches in der
Heilsgeschichte greifbares Angebot erhält. Dieser Unterschied
dürfte eigentlich einer evangelischen Theologie der reinen Gnade
als von sich aus siegreicher nicht anstößig sein. Im Dogma von
der unbefleckten Empfängnis ist nicht notwendig impliziert, daß
65
ihr Anfang als zeitliche Periode anders ist als bei uns, die wir die
Gnade als bleibendes Existential unserer Freiheit zum Heil auch
nicht erst in der Taufe empfangen. ’
Fast noch einfacher ließe sich wohl ein Konsens mit der evan-
gelischen Theologie über das II. Mariendogma erzielen. Sein In-
halt impliziert ja nicht, daß die «leibliche» Aufnahme Marias in
die Seligkeit ein Privileg sei, das außer Jesus nur ihr zuteil ge-
worden sei. Für die Kirchenväter war es z. B. selbstverständlich,
daß die Väter des Limbus mit der Auferstehung Jesu leiblich in
ihre Seligkeit eingegangen sind. Wenn wir heute gegen eine pla-
tonisierende Interpretation der « Trennung von Leib und Seele »
im Tod uns durchaus denken dürfen, daß jeder Mensch im Tode
«schon jetzt» (wenn und soweit eine solche Aussage mit Zeit-
begriffen überhaupt einen Sinn hat) seinen Auferstehungsleib
gewinnt, was doch auch in der evangelischen Theologie oft ver-
treten wird und mit ein wenig berechtigter Entmythologisierung
durchaus legitim ist, dann wird von Maria in diesem Dogma nicht
etwas ihr allein Gewährtes ausgesagt, sondern etwas, was zwar
den Seligen allgemein zukommt, ihr aber aufgrund ihrer heils-
geschichtlichen Funktion in besonderer Weise eignet und von
daher im Glaubensbewußtsein der Kirche deutlicher erfaßt wird
als bei den übrigen Menschen. Es kann also gesagt werden, daß
auch bei diesen beiden Marianischen Dogmen kein unüberwind-
licher Kontroverspunkt gegeben sein muß, wenn man die offenen
Fragen deutlich sieht, die auch bei diesen Dogmen eindeutig ge-
geben sind.
Alles in allem genommen: darf der katholische Theologe wohl
der Meinung sein, daß heute keine theologischen Meinungen mit
Sicherheit als auf der einen oder anderen Seite absolut verbind-
lich aufgewiesen werden können, die eine Kirchenspaltung er-
zwingen und legitimieren. Wir sagen: Heute. Man könnte natür-
lich sagen, daß wenn heute keine solchen eine Kirchentrennung
legitimierenden Meinungsverschiedenheiten gegeben sind, sie
auch in der Vergangenheit nicht bestanden haben können, dies
aber doch unwahrscheinlich sei. Gegen diesen Einwand ist zu
sagen, daß eine grundsätzlich immer möglich gewesene Einigung
in Glaubenssätzen doch auch als möglich reflex erfaßt werden
66
muß und dies Zeit und Geschichte erfordert, deren Länge wir
nicht apriorisch festlegen und begrenzen können. Überdies ist zu
bedenken, daß die Kirchenspaltung des 16.Jahrhunderts nicht
nur das noch nicht zur reflexen Gegebenheit Gekommensein der
Übereinstimmung bedeutet, sondern auch ein illegitimer, von
beiden Seiten verschuldeter Dissens gegenüber einer amtlichen
Sprachregelung von seiten der katholischen Kirche, welche Ver-
weigerung einer solchen gemeinsamen Sprache vielleicht nicht
notwendig einen objektiv bestehenden Gegensatz häretischer Art
bedeuten muß, aber doch auf alle Fälle einen schismatischen Cha-
rakter hat, wenn vielleicht heute auch nicht überall mehr. Wenn
wir sagen, die heutige Theologie kenne keine unüberwindlichen
dogmatischen Kontroverspunkte mehr, keine Gegensätze, in de-
nen die Lehre der faktischen Kirchen sich einfach deutlich kontra-
diktorisch gegenüberstehen, wenn wir also meinen, daß in öku-
menischen Fragen die Aufgabe nicht mehr eigentlich bei den
Theologen, sondern bei den Amtsträgern der Kirche liege, diese
sich heute in ihrer ökumenischen Verantwortung nicht mehr un-
ter bedauerndem Achselzucken auf den Dissens der Theologen
hinausreden dürfen, dann ist damit natürlich nicht gesagt, daß
die Theologen keine ökumenische Aufgabe mehr hätten. Es muß
natürlich der mögliche, schon gegebene oder sich anbahnende
Konsens zwischen den Lehren der getrennten Kirchen noch viel
mehr verdeutlicht und im einzelnen ausgearbeitet werden. Die
katholischen Theologen haben die Aufgabe, dem kirchlichen Lehr-
amt in Rom, das noch lange nicht genügend die heutige, durch-
aus orthodoxe Theologie verarbeitet hat, klar zu machen, daß
heute theologisch ein Konsens schon gegeben oder unmittelbar
möglich ist; diese Theologen müssen in Rom um Verständis wer-
ben für andere theologische Sprachen, die die getrennten Kirchen
in die Einheit der Kirche legitim einbringen können; sie müssen
um Verständnis in Rom werben, daß es einen legitimen Pluralis-
mus in den Theologien der einen Kirche des einen Glaubens gibt,
der sich auch durchaus im Verständnis des Glaubens und in der
Praxis des Lebens der Teilkirchen auswirken kann. Wenn man
eine dogmatische Einigung der getrennten Kirchen heute für
möglich hält, dann ist natürlich die Frage noch offen, wer dann
67
auf evangelischer Seite der autorisierte Partner sei, der einen
Glaubenskonsens verbindlich feststellen kann. Denn es gibt na-
türlich innerhalb der evangelischen Kirchen Gruppen und Theo-
logien, mit denen dieser Konsens nicht hergestellt werden kann,
weil diese Gruppen und Theologien der Grundsubstanz des
christlichen Glaubens eindeutig widersprechen und die darum in
diesen Konsens nicht positiv einbezogen werden können. Damit
sind natürlich neue Fragen gegeben, die hier nun nicht mehr be-
handelt werden können.
Die traditionelle neuscholastische Theologie, von der wir her-
kommen und die in Rom trotz des Zweiten Vatikanums noch
mehr oder weniger selbstverständlich herrscht und unbefangen
auch in heutigen römischen Lehräußerungen sich kundtut, hat
viele offene Fragen übersehen, die das verpflichtende Dogma der
Kirche offenhält. Dieses Übersehen offener Fragen führt dann
nur zu leicht zu einer stillschweigend vorgenommenen Interpre-
tation des verpflichtenden Dogmas, die einfach mit diesem Dogma
amalgamiert wird, als ob diese Interpretation ein inneres Moment
des Dogmas selber wäre. Dann aber entstehen Mißverständnisse
des wirklichen Dogmas, die es evangelischen Christen schwer oder
unmöglich machen, den eigenen christlichen Glauben in der ka-
tholischen Lehre wiederzufinden. Hier liegt eine wichtige Auf-
gabe der heutigen katholischen Theologie in ihrer ökumenischen
Arbeit. Es handelt sich nicht nur um Mißverständnisse, die hin-
sichtlich des katholischen Dogmas bei evangelischen Christen be-
stehen, sondern die wir katholische Christen und Theologen selber
noch haben und fälschlich mit dem katholischen Dogma identifi-
zieren. Unsere Arbeit besteht darum nicht bloß in der Aufklärung
nichtkatholischer Christen und Theologen, sondern zuvor in der
Aufklärung unserer selbst, in der Reinigung unseres eigenen
Glaubens von Mißverständnissen, die wir selber, zu sehr von uns
überzeugt und träge, weiterschleppen.
68
LEHRAMT UND THEOLOGIE
69
logischen Sätze in Erinnerung gerufen, die das kirchliche Lehr-
amt über sich selbst als Inhalt seines Selbstverständnisses vorträgt,
wobei vorausgesetzt wird, daß diese Sätze im großen und ganzen
von diesem Lehramt als absolut verbindlich, als Dogma der Ka-
tholischen Kirche vorgetragen werden. Die Kirche ist von Jesus
Christus gestiftet, von ihm herkünftig, wie immer man auch
diese Gestiftetheit, diese Herkünftigkeit genauer denken mag,
was hier nun nicht auch noch erörtert werden kann. Diese Kirche
soll in dieser Herkünftigkeit die bleibende Präsenz Jesu Christi in
der Welt, die öffentliche Präsenz des Glaubens bilden, daß in Jesus
Christus das unwiderrufliche und siegreiche Zusagewort Gottes
an die Welt ergangen ist und nicht mehr untergeht. Diese so ver-
standene Kirche hat eine gesellschaftliche Struktur, gerade auch
als Glaubensgemeinde. Sie ist nicht nur die Gemeinde der an
Christus in Einheit Glaubenden, sie hat vielmehr auch Auftrag
und Sendung, diesen Glauben der Welt gegenüber zu bezeugen
und zu verkünden. Sie kann beides (Einheit desselben Glaubens
und Verkündigungsauftrag) als gesellschaftlich strukturierte
Größe nur erfüllen, wenn es in ihr eine konkret greifbare und
handlungsfähige Instanz gibt, die in besonderer Weise (was nicht
heißt exklusiv!) die Aufgabe der Einheit des Glaubens der Kirche
und die aktive Verkündigung dieses Glaubens an die Welt wahr-
nimmt. Zwar ist selbstverständlich eine solche amtlich rechtliche
Instanz nicht etwas, was der Kirche wie eine ihr vorgeordnete
Größe gegenübersteht, sondern ist selber und ursprünglich ge-
tragen von der siegreichen Macht des Geistes Christi, der letztlich
allein die Bleibendheit des einen Glaubens an Jesus Christus, den
Gekreuzigten und Auferstandenen, und die Kraft für das Wirk-
samwerden der christlichen Botschaft garantiert. Aber eben dies
schließt bei der geschichtlichen Gesellschaftlichkeit der Kirche als
Glaubensgemeinde Jesu nicht aus, sondern ein, daß es in dieser
Gemeinde eine personale, handlungsfähige Instanz gibt, die in
der Kraft des Geistes Christi die genannte Aufgabe in besonderer
Weise wahrnimmt. Nach der katholischen Ekklesiologie sind die
konkreten Träger dieser Aufgabe, die diese Instanz bilden, ge-
geben in dem Gesamtepiskopat der katholischen Kirche mit und
unter dem römischen Bischof, dem Papst, der in diesem Bischofs-
70
kollegium nicht einfach bloß primus inter pares ist, sondern, ohne
die ursprüngliche und letzte Autorität lehramtlicher Art des Ge-
samtepiskopats aufzuheben, doch noch einmal als einzelne Amts-
person diese Lehrautorität des Gesamtepiskopats in sich ver-
einigt, wenn auch der Papst dabei eben als handlungsfähige
Spitze dieses Gesamtepiskopats handelt. Diese oberste, in sich
noch einmal gegliederte Lehrinstanz aus Papst und Gesamtepisko-
pat in Einheit nimmt ihre Funktion entweder in der Tätigkeit
des sogenannten ordentlichen Lehramtes wahr, d.h. durch die
normale Lehrverkündigung, wie sie überall und in den verschie-
densten Gestalten und Formen in der Kirche üblich ist, oder in
einer außerordentlichen Weise, z. B. in Konzilien, wobei uns die
Frage hier nicht beschäftigen soll, welche Arten der Inanspruch-
nahme dieses Lehramtes genauerhin zur ordentlichen oder zur
außerordentlichen Tätigkeit des Lehramtes gehören, ob z. B. eine
Enzyklika eines Papstes zu dieser oder jener Art des Lehramtes
gehört. Dieses Lehramt hat nach katholischem Kirchenverständ-
nis eine auch formale Autorität, d. h.: so’ sehr es selbstverständ-
lich seine einzelnen Lehräußerungen von der Mitte des christ-
lichen Glaubens, von der Heiligen Schrift, von der Glaubensüber-
zeugung der Gesamtkirche her begründen muß, so sehr auch die
Autorität dieses Lehramtes, um vor dem Glaubensgewissen des
einzelnen Christen wirksam zu werden, durch eine Glaubensent-
scheidung dieses Christen anerkannt sein muß, die nicht noch
einmal auf der Autorität dieses Lehramtes selbst beruht, sondern
ursprünglicherer Art ist, so ist unter dieser Voraussetzung doch
die Autorität dieses Lehramtes für den katholischen Christen
nicht bloß durch das Gewicht der von diesem Lehramt vorgetra-
genen Sachargumente für einzelne Lehräußerungen dieses Amtes
und durch die Einsicht des einzelnen Katholiken in die Gewichtig-
keit dieser vorgetragenen Sachargumente begründet, sondern ein-
fach dadurch, daß diese als grundsätzlich im Glauben schon er-
griffene Lehrautorität in legitimer Inanspruchnahme ihres Auf-
trages spricht. Es kann hier nun nicht die katholische Lehre über
die Kriterien entfaltet werden, nach denen die formale Legitimi-
tät dieses Lehramtes für den Einzelfall festgestellt werden kann
und grundsätzlich auch muß. Dieses Lehramt kann (in ordent-
74
E)]
75
eine bestimmte und notwendige Funktion, zumal wenn man, be-
lehrt durch die Geschichte der Kirche, es als praktisch gegeben
und unvermeidlich voraussetzt, daß die Funktion des Theologen
und die des Trägers des eigentlichen Lehramtes meist nicht in
einer Person vereinigt sind, sondern faktisch heute und schon
lange auf verschiedene Personen verteilt sind. Über diese Funk-
tion der Theologen ist der Sache nach natürlich später noch mehr
zu sagen. Man hat nun in jüngster Zeit da und dort von einem
«Lehramt» der Theologen gesprochen und dafür auch auf bib-.
lische Indizien zu verweisen gesucht. Unbeschadet aber einer
wirklichen und unerläßlichen Funktion der Theologen sollte man
das Wort «Lehramt» der Theologen vermeiden, weil es zu Miß-
verständnissen führt, da doch in ein und derselben Gesellschaft
bezüglich derselben Aufgabe nicht zwei eigentliche Ämter, die
voneinander verschieden sind, bestehen können. In lehramtlichen
Äußerungen des 19. und 20.Jahrhunderts wird im großen und
ganzen das Verhältnis zwischen Lehramt und Theologen so be-
schrieben, daß den Theologen nur eine Funktion der weiteren,
subtileren Auslegung der kirchenamtlichen Lehre und eine Ver-
teidigung dieser Lehre im Aufweis des Enthaltenseins solcher
Lehre in den ursprünglichen Offenbarungsquellen zuerkannt
wird, daß also den Theologen nur eine untergeordnete Hilfsfunk-
tion im Dienste des Lehramtes zuerkannt wird. Daß eine solche
Sicht für sich allein den tatsächlichen Gegebenheiten und Erfor-
dernissen der kirchlichen Verkündigung nicht gerecht wird, da-
von wird gleich zu sprechen sein. Das bisher Gesagte mag genü-
gen, um die traditionelle kirchenlehramtliche Lehre über das
kirchliche Lehramt anzudeuten. Wir kommen nun erst zu un-
serer eigentlichen "Thematik, die, wie eingangs schon gesagt, nun
nicht die kirchliche Lehre über das Lehramt, so wie sie faktisch
gegeben ist, wiederholen und begründen soll, sondern eine wei-
tere und ungeklärte Frage bedeutet, die aber nicht bloß den Fach-
theologen, sondern auch den gebildeten Katholiken von heute
interessieren kann.
74
ches die « These » ist, die hier vertreten werden soll, von welchen
verschiedenen Seiten her an die eigentlich hier gemeinte Sache
herangekommen werden kann. Ohne darum eine systematisch
formulierte Grundthese aufzustellen, seien zunächst einige
schlichte Beobachtungen vorgetragen, die für eine genauere Klä-
rung des Verhältnisses zwischen Lehramt und Theologie erheb-
lich zu sein scheinen, ohne dabei nochmals eine Systematik bei
diesen Beobachtungen anzustreben. Zunächst einmal wird man in
der ganzen Dogmen- und Theologiegeschichte beobachten können,
daß auch die eigentliche dogmatische Glaubenssubstanz, die vom
Lehramt in der Verkündigung der Kirche vorgetragen wird, im-
mer auch schon « Theologie » ist. « Theologie » bedeutet bei die-
sem Satz die Tatsache oder den Umstand, daß das auszusagende
und zu verkündende Dogma formuliert ist mit Hilfe von Be- —
75
sanktionierte neue Begriffe in dogmatischen Sätzen auftreten, die
es vorher nicht gegeben hat, gäbe es mit einem Wort keine
Dogmengeschichte, sondern höchstens Theologiegeschichte. Das,
was hier leider nicht durch konkrete Beispiele aus der Dogmen-
geschichte illustriert werden kann, bedeutet aber, daß Theologie
immer schon auch in der Bildung des Dogmas selbst mit am
Werke ist, daß Theologie nicht einfach nur die nachträgliche, das
Dogma selbst nicht betreffende Reflexion auf das Dogma bedeu-
ten kann. Theologie ist also auch ein inneres Moment jenes Vor-:
ganges selbst, der in der kirchlichen Verkündigung als vom Lehr-
amt getragen gegeben ist. Das gilt auch dort, wo konkret und
praktisch die Träger des Lehramtes und die Träger der reflektie-
renden Theologie nicht einfach identisch sind. Wo Träger des
Lehramtes lehren und definieren, sind sie auch selbst schon Theo-
logen gewesen oder haben sich deren Hilfe, reflektiert oder un-
reflektiert, bedient. Das wird noch deutlicher beobachtbar, wenn
man darauf reflektiert, daß die faktische Geschichte der Tätigkeit
des Lehramtes kaum durch es selbst gesteuert worden ist. Fak-
tisch sanktioniert das Lehramt in seinen definierenden oder au-
thentischen Lehräußerungen eine Entwicklung des Glaubens-
bewußtseins der Kirche, die vor solcher Sanktionierung durch die
nichtamtliche Theologie stimuliert und getragen gewesen war.
Unter dieser Hinsicht ist das Lehramt immer und grundsätzlich
auch abhängig von der Theologie, auch wenn diese Abhängigkeit
nicht lehrrechtlicher Art ist, auch wenn daraus gerade folgt, daß
der Träger des Lehramtes in der Ausübung seiner Aufgabe gar
nicht umhin kann, in einem gewissen Grade selber Theologe
zu sein, weil er ja, wie z. B. im Zweiten Vatikanum betont wird,
sich selber darüber vergewissern muß, daß seine Entscheidung
von den ursprünglichen Quellen und Daten der Offenbarung, von
der Heiligen Schrift und der verbindlichen Tradition, vom Ganzen
der christlichen Lehre her legitimiert wird, die Funktion seines
Amtes also nicht mit einem magisch-mechanischen Vorgang auf-
grund von dessen bloß formaler Autorität verwechselt werden
darf.
Theologie geht nicht bloß in der genannten Weise der lehramt-
lichen Verkündigung voraus, weil jede Verkündigung selber
76
schon unweigerlich ein Reflexionsmoment in sich selber hat, das
als solches selbst nicht einfach mit dem ursprünglichsten Ereignis
von Offenbarung identisch ist, sondern folgt notwendig dieser
Verkündigung auch nach, ohne daß man diese Nachfolge für die
lehramtliche Verkündigung selbst als unerheblich betrachten
könnte. Jede kirchliche Lehrverkündigung durch das ordentliche
oder außerordentliche Lehramt muß, soll sie wirklich verstanden
werden, «ankommen» können, immer auch interpretiert, er-
klärt, in die allgemeineren und auch profanen Verständnishori-
zonte der diese Verkündigung Hörenden eingefügt werden, ohne
daß man sagen oder verlangen dürfte, daß diese Aufgabe allein
schon in genügender Weise durch das Lehramt selbst bei seiner
amtlichen Verkündigung geleistet werde. Dies ist nicht der Fall
und kann auch vom Lehramt dort, wo es wirklich autoritativ
lehrt, gar nicht verlangt werden. Gerade wegen seiner Verbind-
lichkeit bleibt es unvermeidlich in etwa immer hinter der Gestal-
tung der Glaubensverkündigung zurück, die beim aktuellen An-
kommen dieser Verkündigung beim jeweiligen Hörer in seiner
eigenen geistigen, kulturellen und geschichtlichen Situation ge-
geben sein muß. Streng verbindliche, für die Gesamtheit der
Kirche gültige Lehrformulierung durch das Lehramt ist unver-
meidlich immer etwas «altmodisch » traditionell, trägt das Ge-
dächtnis der Kirche in die Gegenwart verbindlich hinein, ohne
darum schon immer in voller Weise dieses Gedächtnis zum ak-
tuellen Besitz der Gegenwart machen zu können. Natürlich ist
damit nicht behauptet, daß ein Papst, ein Bischof nicht auch in
voller Aktualisierung der Botschaft predigen könne. Aber dann
handelt ein solcher Träger des Lehramtes auch schon als Theo-
loge, er arbeitet mit Begriffen, Verstehenshorizonten und Zu-
gangswegen zur Botschaft, die von heute sind, und bei denen er
mindestens meistens auch keine absolute Garantie dafür hat, daß
seine Synthese zwischen dem verbindlichen Inhalt seiner Bot-
schaft und seinen heutigen Aussagemitteln sicher und rein ge-
lingt; er ist dabei auch notwendig immer auch «nur» Theologe,
der auch auf eigene Rechnung und Gefahr spricht und abwarten
muß, ob und wie die konkrete Gestalt seiner Predigt und Ver-
kündigung als gelungene Synthese von altem Glauben und dessen
77
heutigem Verständnis durch das Glaubensbewußtsein der Kirche
anerkannt werden wird.
Eine weitere der Kirchenlehre nachfolgende, aber unerläßlich
und immer wieder als faktisch vollzogen beobachtbare Aufgabe
der Theologie besteht darin, die eben schon erwähnte Synthese
von dem im Glauben eigentlich bewußt Gemeinten und den ge-
schichtlich bedingten Aussagemitteln immer wieder daraufhin
zu befragen, ob eine solche Synthese auch heute noch genügend
im Glauben assimilierbar ist oder ob sie nicht mit heute besser zu-
gänglichen Aussagemitteln neu hergestellt werden muß, ob vor
allem nicht in solchen alten Formulierungen auch bei deren blei-
bender Gültigkeit faktisch doch auch Amalgamierungen gegeben
sind, die unbeschadet der bleibenden Normativität alter Formu-
lierungen ausgeschieden werden dürfen, ja sogar müssen. Auch
hier wären, um besser verständlich zu werden, konkrete Beispiele
aus der Dogmengeschichte notwendig, deren viele genannt wer-
den könnten, was aber hier nicht möglich ist. Aber doch wenig-
stens ein Beispiel: die bleibende katholische Erbsündenlehre ist
bis zu Pius XII. immer unter der Voraussetzung des Monogenis-
mus formuliert worden. Heute dürfen und müssen wir sehen,
daß eine solche Voraussetzung unsicher oder falsch ist, daß sie als
ein nicht verpflichtendes Amalgam aus der bleibenden Erbsün-
denlehre ausgeschieden werden kann, gerade damit das Dogma
der Erbsünde heute glaubwürdig verkündigt werden kann. Aus
dieser unerläßlichen, der Funktion des Lehramtes nachfolgenden
Aufgabe der Theologie wird deutlich, daß die lehramtlichen Aus-
sagen (nicht nur authentischer, sondern auch dogmatisierender
Art) nicht einfach einen Endpunkt darstellen, dessen Ergebnis
nur wiederholt und verteidigt werden muß, sondern in einem
weiteren, immer unabgeschlossenen und unabschließbaren Pro-
zeß stehen, der selber vom Lehramt nicht eigentlich inauguriert,
nicht adäquat gesteuert werden kann und dessen Ergebnisse in
der Zukunft nicht eindeutig voraussehbar sind. Ein solcher weiter-
gehender Prozeß kann natürlich auch wieder, wie die Dogmen-
geschichte zeigt, in solche neuen Aussagen einmünden, die vom
Lehramt selbst verbindlich vorgetragen werden und durch seine
formale Autorität garantiert sind. So kann es oft sein, so muß es
78
nicht immer sein. In beiden Fällen aber ist damit die Geschichte
des Glaubens bezüglich einer bestimmten Glaubenswirklichkeit
nicht abgeschlossen, sondern geht weiter.
Schon aus diesen wenigen Beobachtungen, die man in der
Dogmen- und Lehrgeschichte der Kirche machen kann und die
noch durch viele andere, genauere Beobachtungen ergänzt wer-
den könnten, ergibt sich, wie kompliziert das Verhältnis zwischen
Lehramt und Theologie ist. Das Lehramt ist für den Glauben und
seine Geschichte nicht das erste und grundlegendste Datum, weil
seine Existenz und seine formale Autorität durch Offenbarung
und Glaube im voraus zum Lehramt selbst konstituiert und er-
griffen werden müssen; das Lehramt arbeitet immer schon mit
einer Theologie, die ihr als Mittel seiner eigenen Verkündigung
immer schon vorausgeht, ohne daß solche Theologie in ihrer Her-
kunft, in ihrer Brauchbarkeit und in ihrem Pluralismus von die-
sem Lehramt adäquat durchreflektiert sein könnte, sondern von
ihm benutzt wird in einem Vertrauen auf die Macht des sich
offenbarenden Geistes Gottes, der der Reflexion dieses Lehramtes
nicht eigentlich untertan ist. Wenn und wo das Lehramt jeweils
seine Funktion je vorläufig erfüllt hat, geht die Arbeit der Theo-
logie dennoch weiter und besteht nicht nur im Ausweis der legiti-
men Herkunft der Aussagen des Lehramtes aus den Quellen der
Offenbarung und in der Apologetik dieser Aussagen vor der kriti-
schen Vernunft, sondern führt über solche Aussagen auch immer
wieder hinaus und liefert ja gerade dadurch auch wieder dem
Lehramt die Möglichkeit, Neues zu sagen und nicht bloß die alten
Formulierungen zu wiederholen. Für die Theologie sind somit das
Lehramt und seine Aussagen eine normative Instanz, aber den-
noch ist auch umgekehrt die Theologie für dieses Lehramt eine
unerläßliche Bedingung der Existenz und des effizienten Weiter-
lebens, ohne die das Lehramt selbst gar nicht existieren und han-
deln könnte. Es besteht somit zwischen Lehramt und Theologie
ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis, natürlich je eigener Art,
ein Bedingungsverhältnis, in welchem jedes der beiden Momente
nicht adäquat vom andern abgeleitet werden kann, ein Bedin-
gungsverhältnis, dessen unauflösliche Einheit letztlich nicht
durch das Lehramt selbst, sondern nur durch die Einheit der
29
Kirche, durch die Offenbarung selbst und die Macht des Geistes
Gottes garantiert ist. Innerhalb dieser Einheit hat das Lehramt
seine eigene und notwendige Funktion, ist aber nicht das Ganze
und nicht eigentlich das ursprünglichste Datum, von dem alles
übrige abgeleitet werden könnte. Seine Funktion ist trotz der Be-
auftragung der Apostel und ihrer bischöflichen Nachfolger von
Gott und Jesus Christus her eine Teilfunktion in der Kirche, die
nur im Ganzen der Kirche, die mehr ist als Lehramt, denkbar ist,
sich nur in diesem Ganzen als legitim ausweisen und faktisch effi-
zient werden kann. Zwischen den einzelnen konstitutiven Mo-
menten der Kirche (ursprüngliche Offenbarung, immer neue Re-
flexion darüber in Praxis und Theorie, Lehramt als konkret im-
mer neu werdendes Freignis greifbarer Einheit im Glauben, Sa-
krament usw.) besteht eine dauernde Wechselwirkung, die die
Geschichte der Wahrheit der Kirche ist und als solche Geschichte
vom Geist Gottes und letztlich nicht vom Lehramt selbst getragen,
gesteuert und verantwortet wird. Diese nie adäquat von Men-
schen, auch nicht von den Amtsträgern der Kirche, steuerbare
Geschichte enthält auch immer in ihrem unabschließbaren Fort-
gang das Verhältnis zwischen Lehramt und Theologie und be-
deutet so immer auch eine unaufhebbare Geschichtlichkeit des
Lehramtes selbst, der Theologie in der Kirche, des gegenseitigen
Verhältnisses beider, die darum bei Bleibendheit beider die kon-
krete Gestalt dieses Verhältnisses immer neu abwandelt, ohne
daß diese konkrete Gestalt für die Zukunft eindeutig vorausge-
sehen werden könnte. Die lehrrechtliche Struktur des Lehramtes
ist darum trotz einer formalen Bestimmbarkeit in sich und seinem
Verhältnis zur Theologie in ihrer Konkretheit immer auch in
einem geschichtlichen Wandel begriffen. Wie sich konkret das
Lehramt zur Theologie und die Theologie zum Lehramt verhal-
ten muß, das ist nicht ein für allemal eindeutig gegeben, sondern
muß immer aufs neue gefunden werden durch neue Erfahrungen
in neuen Gestalten.
Ich bin mir dessen sehr bewußt, daß ich sehr abstrakt geredet
habe über das Verhältnis von Lehramt und Theologie. Es ging
nicht anders, so bedauerlich es sein mag, daß das Gemeinte nicht
durch konkrete Beispiele und Einzelfälle erläutert werden konnte.
80
Vielleicht wird das Gemeinte noch etwas deutlicher und ver-
ständlicher, wenn im folgenden versucht wird, einige mehr kon-
krete und praktische Folgerungen aus dieser prinzipiellen Über-
legung vorzutragen, die auch für den Nichttheologen eine ge-
wisse Bedeutung haben können.
1. Es muß nicht nur auf der Seite der Theologen, sondern auch
auf seiten der Träger des Lehramtes ein echter Wille zum Dialog
bestehen. Man hat oft und an sich gar nicht unrichtig gesagt, daß
das Lehramt nicht diskutiert, sondern entscheidet. Wenn damit
gesagt sein soll, daß es sich hier nicht um einen Dialog handelt,
dessen Partner die gleiche Funktion haben, so ist natürlich dieser
Satz richtig. Es wäre aber falsch, wenn er meinen und sagen
wollte, das Lehramt selbst würde in diesem Dialog davon dispen-
siert sein, auch Theologie zu treiben, es könne sich in einem bei-
nahe magischen Selbstbewußtsein auf seine formale Autorität
und deren Berechtigung allein verlassen, es müsse nicht damit
rechnen, daß es bei authentischen Lehräußerungen auch irren
könne, ja daß es auch bei definierenden Entscheidungen hinter
seiner Aufgabe zurückbleiben könne, daß auch Definitionen bes-
ser und schlechter ausfallen können, daß auch solche Definitionen
mehr oder weniger leicht assimilierbar sein können, daß sie mehr
oder weniger das Ganze des zu Definierenden in sich integrieren
können, daß auch Definitionen mit Voraussetzungen, begriff-
lichem Instrumentar usw. ausgesagt werden können und Amal-
game mitaussagen können, die als unzulänglich oder sogar als
falsch ausscheidbar sind, ohne daß dies von den Trägern des Lehr-
amtes im Zeitpunkt der Definition schon immer reflex bemerkt
werden muß. Sind sich die Träger des Lehramtes alles dessen .
deutlich bewußt, dann wird deutlich, daß sie ihre eigene Funk-
tion sachgerecht nur in einem echten Dialog mit der Theologie
wahrnehmen können, auch wenn die Dialogpartner dabei nicht
dieselbe Funktion haben.
- 2. Von da aus ergibt sich wohl, daß heute und in Zukunft die
lehramtlichen Erklärungen den notwendig vorausgehenden Dia-
log mit der Theologie und die Dialogbereitschaft der Lehramts-
träger deutlicher in Erscheinung treten lassen müssen, als dies
früher meist geschah. In solchen lehramtlichen Erklärungen darf
81
und muß zwar entschieden werden, solche Erklärungen sind nicht
einfach Meinungsäußerungen von ein paar römischen Theologen
auf der Ebene des Dialogs beliebiger Theologen untereinander,
Meinungsäußerungen, die so viel wert sind wie die vorgebrachten
Argumente, deren Gewichtigkeit wieder völlig und allein der Be-
urteilung derer unterliegt, denen sie vorgetragen werden. Aber‘
dies alles schließt nicht aus, daß heute das Lehramt seine eigenen
Argumente, die es natürlich haben muß, auch ausdrücklich und
deutlich vorträgt, daß es höchst wünschenswert wäre, daß das
Lehramt auch ausdrücklich bei seiner Erklärung anmerkt, wel-
chen Verpflichtungsgrad es der vorgetragenen Lehre zuerkennt,
ob, mit anderen Worten, diese Erklärung als authentisch oder als
eigentliches Dogma vorgetragen wird. Diese Qualifikation als
ausdrücklich mitgegebene wird praktisch in allen Fällen bis heute
von der römischen Glaubensbehörde unterlassen. Es wird voraus-
gesetzt, daß diese Qualifikation von den Theologen nach tradi-
tionellen Regeln von selbst erkannt wird; man unterläßt eine
solche ausdrückliche Qualifikation offenbar aus dem Eindruck
heraus, eine Lehräußerung des Amtes werde nicht genügend
ernstgenommen und respektiert, wenn ihr ausdrücklich von der
Lehrbehörde selbst nur die Qualität einer authentischen, also
grundsätzlich reformablen Lehre zuerkannt werde, wenn man
nicht den Eindruck erwecke, die vorgetragene Lehre sei imGrunde
eben doch irreformabel. Aber abgesehen davon, daß ein solches
Vorgehen bei den Theologen und bei den anderen Gläubigen
heute den Eindruck macht, nicht ganz ehrlich zu sein, und Ge-
wissenskonflikte hervorrufen kann, die sachlich ganz überflüssig
sind (man denke z. B. an Humanae Vitae), dient eine solche Me-
thode nicht dem Dialog zwischen Lehramt und Theologie. Dieser
Dialog ist zwar auch dann noch nicht abgeschlossen, sondern nach
vorne immer noch möglich und nötig, wenn es sich um eine Lehre
von absoluter Glaubensverbindlichkeit, um ein Dogma handelt;
ein solcher Dialog ist aber erst recht legitim, wo es sich um bloß
authentische Äußerungen des Lehramtes handelt. Aber die ge-
nauere Art und die Möglichkeiten eines solchen Dialoges sind oft
anders und größer, wenn von vornherein feststeht und klar aus-
drücklich gesagt wird, daß es sich bloß um eine authentische
82
Lehre handelt, die der Theologe zwar ernstzunehmen hat, der
von der formalen Autorität des Lehramtes her ein anderes Ge-
wicht zukommt als einer beliebigen theologischen Meinung, die
aber doch grundsätzlich reformabel ist und darum von den Theo-
logen in ganz anderer Weise befragt und in Frage gestellt werden
kann, als es bei einem eigentlichen Dogma möglich ist, das nicht
eigentlich in Zweifel gezogen werden kann, auch wenn es nach
vorne hin immer noch auf eine bessere, umfassender integrie-
rende, mit anderen denkerischen Mitteln arbeitende Formulie-
rung hin interpretiert werden kann und u. U. muß. Die römische
Glaubensbehörde sollte nicht meinen, ihre Effizienz und Autorität
einzubüßen, wenn sie durch eine solche Qualifikation von sich aus
den möglichen und berechtigten Fortgang des Dialogs mit den
Theologen deutlich macht. Auch der Glaube und erst recht bloß
authentische Lehren der Kirche, die mindestens bisher nur solche
sind, stehen in einer unabgeschlossenen und unabschließbaren Ge-
schichte. Diese aber sollte nicht durch Konfrontationen zwischen
Lehramt und häretischen Positionen von Theologen weitergetrie-
ben werden, sondern durch den Dialog, in dem beide Dialog-
partner die unverzichtbare Funktion des jeweils anderen Partners
eindeutig respektieren. Dieser Respekt verlangt vom Lehramt in
Theorie und Praxis die Einsicht, daß die Theologie nicht bloß die
Vollzugsgehilfin des Lehramtes ist, nicht bloß diesem zuarbeitet
und es verteidigt, sondern eine darüber hinausgehende und un-
ersetzliche kritische Aufgabe hat. Dies zumal, weil ja das Glau-
bensbewußtsein der Kirche in Praxis und Theologie viel reicher,
differenzierter und lebendiger ist, als daß es durch lehramtliche
Erklärungen allein objektiviert und abgedeckt wäre.
3. Lehramt und die Theologie müssen in diesem Dialog immer
damit rechnen, daß sie sich gegenseitig Positionen vortragen, die
einerseits durchaus richtig, ja sogar glaubensverbindlich sind und
auch ausdrücklich als solche vorgetragen werden, die aber doch,
ohne daß dies immer gleich von beiden Seiten bemerkt wird, mit
Vorstellungen, Begriffen, Verständnishorizonten usw. amalga-
miert sind, die nicht glaubensverbindlich sind und u. U. ausge-
schieden werden können und in einer bestimmten geistesge-
schichtlichen Situation ausgeschieden werden müssen. Wo und
85
wenn solche Amalgame eventuell auch in eigentlich glaubens-
verbindlichen Sätzen einerseits gegeben sind, anderseits aber vom
einen oder andern oder beiden Dialogpartnern nicht bemerkt
wurden, entstehen dann die eigentlichen Spannungssituationen
zwischen Lehramt und Theologie, die gar nicht von vornherein
vermieden werden können, auch wenn sie grundsätzlich lösbar
sind. Bei dem hier Gemeinten kommt es natürlich nicht auf das
Wort Amalgam an. In einer subtileren und genaueren philsoso-
phischen und theologischen Theorie der Wahrheit und deren Ge-
schichtlichkeit könnte man gewiß das Wort Amalgam entbehren
und durch eine bessere Terminologie ersetzen. Aber weil eine
solche Theorie hier nicht möglich ist, kann auch dieses Wort
Amalgam wohl verständlich machen, was hier gemeint ist. Wenn
z. B. als verbindliche Glaubenslehre gesagt wird, daß die Kirche
eine Stiftung Jesu sei, daß die Sakramente ebensolche Stiftungen
Jesu seien, daß in der Eucharistie eine Verwandlung der Substanz
des Brotes und des Weines sich ereignet, daß in der Einheit des
einen Gottes drei «Personen » real zu unterscheiden sind usw.,
dann haben frühere Zeiten bei solchen Formulierungen wie
selbstverständlich den Eindruck gehabt, daß solche Begriffe wie
Stiftung, Substanz, Person usw. mehr oder weniger ganz eindeu-
tig und klar seien und somit über den genauen Sinn solcher Sätze
kein Zweifel bestehen könne. Heute aber sehen wir aus neuen
historischen, bibeltheologischen, begriffsgeschichtlichen usw.
Gründen, daß solche Begriffe doch nicht so eindeutig sind, wie
man einmal meinte und voraussetzte, daß vielmehr in ihnen be-
stimmte Vorstellungsweisen, traditionelle Verstehensvorausset-
zungen und -horizonte mitgegeben sind oder unwillkürlich mit-
schwingen und mitverstanden werden, die gar nicht die absolute
Verbindlichkeit von irreformablen Glaubensaussagen haben, son-
dern ausgeschieden werden können oder müssen. Man kann sich
z. B., ohne darum das Dogma von der Transsubstantiation im
Trienter Konzil zu bezweifeln, heute unter Substanz des Brotes
nicht mehr genau das denken, was die Väter von Trient konkret
sich darunter gedacht haben. Man kann angesichts der heute auch
in der katholischen Bibeltheologie anerkannten Naherwartung
des Keiches Gottes bei Jesus unter Stiftung der Kirche-durch-ihn
84
konkret nicht einfach genau dasselbe denken, was frühere Zeiten
beim Lehramt und in der Theologie mitgedacht haben, wenn sie
die Überzeugung proklamierten, daß Jesus die Kirche gestiftet
hat, die selbstverständlich auch für uns von Jesus und dem blei-
benden Glauben an seine unüberholbare Heilsbedeutung her-
künftig ist. Man kann bei der vom Lehramt auch nicht eindeutig
steuerbaren und immer weitergehenden Begriffsgeschichte daran
zweifeln, daß der Begriff Person in der Trinitätslehre heute noch
mehr Klarheit und Eindeutigkeit als Unverständnis und Unklar-
heit schafft, auch wenn man an der bleibenden Verpflichtung des
Trinitätsdogmas keinen Zweifel hegt. Solche hier nur eben ange-
deuteten Amalgamierungen zwischen bleibendem Dogma und
geschichtlich bedingten Begriffen, Vorstellungsmodellen und
Voraussetzungen liefern eigentlich vielleicht den wichtigsten Ge-
genstand des Dialogs zwischen Lehramt und Theologie. Bis heute,
und zwar, wie leicht verständlich ist, besonders auf dem Gebiet
der Moral, weil in deren traditionellen Formulierungen, z.B. be-
züglich des sogenannten Naturrechtes, der Sexualmoral, der ge-
sellschaftlich-ethischen Prinzipien unvermeidlich sehr viele ge-
schichtlich bedingte Momente enthalten sind, die nicht den An-
spruch auf bleibende Gültigkeit haben können. Diesbezüglich
wäre die auf dem Zweiten Vatikanum verhandelte Frage über die
Religionsfreiheit ein gutes Beispiel, weil da auf dem Konzil selbst
solche Ausscheidungsprozesse von Amalgamen aus der bisher tra-
ditionellen Lehre stattgefunden haben. Mit dem Gesagten ist na-
türlich nicht gemeint, daß nicht auch das Lehramt gegenüber
neu formulierten Positionen von Theologen Recht und Pflicht
haben könnte, darauf aufmerksam zu machen, daß in ihren Neu-
formulierungen nicht bloß zeitbedingte Amalgame ausgeschieden
werden, sondern eventuell die bleiben-müssende Substanz des be-
treffenden Dogmas verletzt wird. Wenn z.B. ein Theologe die
wirkliche und notwendige Herkunft der Kirche und der Sakra-
mente von Jesus selbst einfach leugnen würde oder eine Gottes-
lehre formulieren würde, in der der Sache nach das einfach ge-
tilgt ist, was im Trinitätsdogma gelehrt wird, dann hätte das
Lehramt selbstverständlich das Recht und die Pflicht, eindeutig
gegen solche Positionen Einspruch zu erheben. Weil es aber sehr
85
oft so sein kann, daß in einem diesbezüglichen Dialog zwischen
Lehramt und Theologie längere Zeit unklar bleibt, ob eine Neu-
formulierung eines Theologen nur legitim traditionelle Amal-
game ausscheidet oder die Substanz des Dogmas verletzt oder
leugnet, ist es nicht verwunderlich, daß solche Dialoge zwischen
Lehramt und Theologie ihre Zeit brauchen, konfliktgeladen sind,
berechtigte und auch unberechtigte und vermeidbare kirchen-
disziplinäre Maßnahmen bis zur Amtsenthebung eines Theologen
nach sich ziehen, und weder von der einen noch von der anderen
Seite rasch durch einen Machtspruch, den sich ja oft auch Theo-
logen zubilligen, beendet werden dürfen. Es ist bei solchen Kon-
flikten nicht zu vermeiden, daß-der Nichtfachmann in Theologie,
der normale Gläubige, bei einem solchen länger andauern-müs-
senden Klärungsprozeß sich verunsichert fühlt und ungeduldig
wird, erklärt, alles im Glaubensleben der Kirche und in ihrer
Verkündigung sei unklar und fließend geworden, man wisse
nicht mehr ein und aus. Das ist im ganzen sachlich nicht richtig,
weil für den wirklich glauben wollenden und das Lehramt der
Kirche respektierenden Christen die eigentliche Grundsubstanz
seines Glaubens auch heute noch genügend klar und deutlich
bleibt, und weil dort, wo in Einzelfragen Perioden von Unklarheit
und Kontroversen zwischen Lehramt und Theologie durchlitten
werden müssen, auch dem normalen Christen Geduld und Zu-
versicht zugemutet werden können, zumal es, genau besehen,
solche Perioden auch in der früheren Kirchengeschichte gegeben
hat und man vielleicht sogar der Meinung sein kann, daß in dieser
oder jener Frage solche früheren Perioden zu schnell mit einem
lehramtlichen Spruch beendet wurden und so mindestens ver-
bale, aber wie sachliche Häresien aussehende Widersprüche ver-
festigt wurden, die eigentlich hätten vermieden werden können,
wenn man in solchen Perioden auf allen Seiten mehr Geduld,
mehr Dialogwilligkeit aufgebracht hätte. Jedenfalls aber ist und
bleibt die Frage nach neuer und genauerer Interpretation der
kirchlichen Lehre und auch ihrer Dogmen durch eine eventuelle
Ausscheidung von bisher mittradierten Amalgamen einer der
wichtigsten Gegenstände des Dialogs zwischen Lehramt und
Theologie und bringt nicht immer schnell behebbare Konflikte
86
unvermeidlich mit sich zwischen Lehramt und Theologen, Kon-
flikte, die nun einmal zur Geschichtlichkeit auch der Offenbarung
gehören. Solche Konflikte können schon darum nicht vermieden
werden, weil ein Theologe vor der Veröffentlichung seiner An-
sicht nicht vorher beim Lehramt anfragen kann, ob da seine Mei-
nung genehm sei, weil auch bei den Trägern des Lehramtes selbst
Lernprozesse unvermeidlich und notwendig sind, weil auch bei
den Trägern des Lehramtes das bei ihnen gegebene und (richtig
verstanden) normative Glaubensbewußtsein nicht einfach eine
starre, über alle Geschichtlichkeit erhabene Normgröße ist, son-
dern auch selber eine Geschichte hat. Natürlich bedeutet die For-
derung eines solchen Dialoges nicht die Meinung, die heute nicht
selten bei Theologen verbreitet zu sein scheint, daß nämlich ein
solcher Dialog endlos weitergeführt werden müsse, bis man in
einem «Dialog», der unter Gleichartigen geführt wird, sich ein-
fachhin geeinigt habe und so eine eigentliche Entscheidung des
Lehramtes überflüssig werde. In einem solchen Dialog können
und müssen u. U. wirkliche Entscheidungen des Lehramtes auf-
grund seiner formalen Autorität fallen, sie müssen von den Theo-
logen nach dem jeweiligen Grad ihrer Verbindlichkeit respektiert
werden. Aber Tatsache und Pflicht solcher Entscheidung und
deren Respektierung durch die Theologen bedeutet umgekehrt
auch wieder nicht, daß nach solchen lehramtlichen Entscheidun-
gen der Dialog einfach zu Ende ist und die Theologen dann nichts
mehr zu tun hätten, als eine solche Entscheidung weiterzutradie-
ren und zu verteidigen. Auch nach einer solchen Entscheidung
kann und muß der Dialog, wenn auch unter neuen Voraussetzun-
gen, weitergehen. Denn auch nach einer solchen Entscheidung
ist nun doch nicht einfachhin alles klar, da auch eine Respektie-
rung einer solchen lehramtlichen Entscheidung die Frage, was sie
beinhaltet und was nicht, ob sie doch auch noch Amalgame mit-
tradiert, die nicht schlechthin verbindlich sind, wie eine solche
Entscheidung dem Christen von heute vielleicht besser, als es das
Lehramt selbst tut, vermittelt werden könne, ob nicht bei bloß -
authentischen Lehräußerungen doch ein Irrtum vorliege, immer
noch wieder offen ist, so daß ein solcher Dialog weitergehen kann
und muß.
87
y
88
jedem Fall gleiche Respektierung einer solchen Erklärung sie ihr
entgegenzubringen haben; beide hätten dann nicht so leicht den
Eindruck, das Lehramt fordere einen höheren und verbindliche-
ren Grad der Zustimmung, als es nach den eigenen allgemeinen
Prinzipien des Lehramtes verlangt werden kann. In dieser Frage
dürfte das Lehramt nicht insgeheim von der Meinung ausgehen,
seine Erklärung würde überhaupt nicht respektiert und ginge im
weitergehenden Dialog einfach unter, wenn bei einer solchen Er-
klärung die Begrenzung ihrer Verbindlichkeit vom Lehramt
selbst ausdrücklich, und zwar in einer neuen und wirklich prakti-
kablen Weise vermerkt würde. Aber dafür müßten die Theologen
eine Vorarbeit leisten, die sie noch gar nicht wirklich in Angriff
genommen haben.
5. Bezüglich des Verhältnisses zwischen Theologie und Lehr-
amt sei schließlich noch ein Weiteres angemerkt: man kann zwar
die formalrechtliche Kompetenz des Lehramtes als solche nicht
über die Begrenzung, die das Lehramt selbst vornimmt, hinaus
enger begrenzen. Das Lehramt aber umschreibt seine Kompetenz
als bezogen auf alle Gegenstände des Glaubens und der christ-
lichen Sittlichkeit, de rebus fidei et morum, wenn auch damit die
Frage, was bezüglich der Moral in die Kompetenz des Lehramtes
fällt, nicht eine in jeder Hinsicht klare Antwort findet, wie neuere
Kontroversen bezüglich der Kompetenz des Lehramtes für das
sogenannte Naturrecht, wo dieses als solches nicht einfach als
auch geoffenbarterklärtwerdenkann, zeigen, und wennauch damit
die Frage nach der Kompetenz der Kompetenz, die sich das Lehr-
amt auch zuerkennt, noch dunkel und ungeklärt zu sein scheint.
Aber wie dem auch genauer sein mag, das alles schließt doch
nicht aus, daß aufjeden Fall die faktische Aufgabe des Lehramtes
sich je nach der veränderlichen geistesgeschichtlichen Situation,
in der es wirken muß, nicht unerheblich ändert. In unserer Zeit
aber ist eine Situation eines nicht mehr adäquat integrierbaren
Pluralismus von Philosophien, Anthropologien, nicht mehr auf
Europa allein beschränkten Kulturen, und zwar auch innerhalb
der Kirche selbst gegeben, so daß von all diesen Wirklichkeiten
her auch in der Kirche langsam, aber immer deutlicher im Plural
Theologien entstehen, die wenn auch alle auf den einen und sel-
89
ben christlichen Glauben bezogen, nicht mehr adäquat in eine
und selbe Theologie integriert werden können, wie sie doch so
ungefähr bis in die Mitte unseres Jahrhunderts bestanden hat, wo
man in Japan, Afrika und Australien unbefangen in den Priester-
seminarien dieselben theologischen Schulbücher wie in Europa
verwendet hat. Wenn man voraussetzt, daß das konkrete Rö-
mische Lehramt bei all seinem notwendigen und auch tätigen
Bemühen um ein Verständnis und einen Kontakt mit all diesen
pluralen Theologien doch konkret als solches wenigstens in nähe-
rer Zukunft europäisch geprägt bleibt und nicht einfach alle diese
Theologien gleichmäßig mitrepräsentieren kann, dann wird wohl
verständlich, daß die Aufgabe dieses Lehramtes in einer näheren
Zukunft nicht so sehr die Überwachung der Steuerung des vielfäl-
tigen Details der theologischen Arbeit sein kann, sondern die Ver-
teidigung und lebendige und zeitgerechte Aussage der Grundsub-
stanz des christlichen Glaubens. Aus den verschiedensten Gründen,
diehier nichtim einzelnen dargelegt werden können, sich aber wohl
vor allem aus der angedeuteten geistigen Situation von heute her-
leiten, wird man nicht erwarten können, daß es praktisch in abseh-
barer Zeit zu eigentlich neuen Definitionen kommt wie den
beiden marianischen Dogmen des 19. und 20. Jahrhunderts. Ein
Zeichen dafür ist ja auch der Verzicht des Zweiten Vatikanischen
Konzils auf solche Dogmatisierungen im strengen Sinn des
Wortes. Das Lehramt wird in näherer Zukunft aus ganz prak-
tischen Gründen gar nicht anders können, als viele theologische
Einzelfragen, in die esim 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts sehr rasch und sehr dezidiert eingegriffen hat, länger
und geduldiger den Theologen selbst und ihrer Arbeit und Dis-
kussion zu überlassen. Einfach weil es nicht anders geht und
sonst die praktische Effizienz der Autorität des Lehramtes in ge-
fährlicher Weise verbraucht wird. Dadurch mindert sich aber
Bedeutung und Aufgabe des Lehramtes nicht, sondern werden
nur verschoben in einen Bereich, der viel fundamentaler und
wichtiger ist. In einer Zeit eines weltweiten Säkularismus und
Atheismus, der die Grundsubstanz des Christentums bedroht und
zugleich neu thematisch macht, müßte das Lehramt sich immer
neu und aus der letzten Kraft des Geistes heraus die Frage stellen,
90
. wie unverkürzt und lebendig zugleich diese Grundsubstanz der
heutigen und morgigen Generation der Menschheit, und zwar
vor allem auch außerhalb Europas, vermittelt werden könne. Das
hat eigentlich in den letzten Jahrhunderten das Lehramt kaum
getan; es hat Randbezirke in der Hierarchie der Wahrheiten des
christlichen Glaubens betreut, darüber hinaus vielleicht partiku-
lärere Formen der christlichen Frömmigkeit und des christlichen
Lebens gefördert, die lebendige Bezeugung des christlichen Glau-
bens in seiner Grundsubstanz aber den Predigern, den Lehrern
der christlichen Spiritualität und den Theologen weitgehendst
überlassen. Es will scheinen, daß sich hier die Aufgabe des Lehr-
amtes verändern muß. Sie wird nicht so sehr bloß bezüglich der
überlieferten Lehre doktrinär, sondern prophetisch werden müs-
sen in einer Weise, in der der alte Glaube und die Fragen der Zeit
lebendig und kritisch zugleich zueinander vermittelt werden.
Was das konkret bedeutet, und wie man sich das konkret durch-
geführt denken könnte, das kann hier nicht mehr bedacht wer-
den. Man könnte vielleicht aber sagen: das. Lehramt könnte ruhig
wieder etwas theologischer werden, teilweise und in seiner Art
Aufgaben der Theologen übernehmen, die es vielleicht zu sehr
den Theologen und den von diesen abhängigen Predigern des
Glaubens überlassen hat. Wenn man die innere Verschränkung
und das gegenseitige Bedingungsverhältnis zwischen Lehramt
und Theologie bedenkt, von denen wir gesprochen haben, dann
müßte eine solche Neuorientierung der Aufgabe des Lehramtes
in der Zukunft nicht auf den Protest stoßen, man fordere von ihm
lebendige Theologie anstatt der Wahrnehmung seiner spezifi-
schen Aufgabe, die nicht einfach mit Theologie identisch ist.
Lehramt und Theologie müssen einhellig aus der Kraft des Gei-
stes Christi heraus der einen Aufgabe dienen: der lebendigen Be-
zeugung Gottes und seines gekreuzigten und auferstandenen
Christus, der Bezeugung des Glaubens, in dem die letzte Bestim-
mung der Welt in der Herrlichkeit Gottes selbst für alle Zeiten
siegreich ergriffen wird.
Es obwaltet also zwischen Lehramt und Theologie ein sehr
eigentümliches Verhältnis, das verbietet, das Lehramt als eine
in sich selbst allein schwingende, sich selbst genügende Größe zu
91
betrachten. Wenn man einen banalen Vergleich anwenden darf:
es ist ein ähnliches Verhältnis, wie zwischen den Knochen und
den Muskeln eines Leibes. Beide sind verschieden in Wesen und
Funktion. Und doch können auch die Knochen die ihnen eigene
Funktion nur mit Hilfe der Muskeln ausüben, wie umgekehrt
auch. Das Zusammenspiel beider als solches ist weder durch die
Knochen noch die Muskeln allein garantiert, sondern nur durch
das Ganze als solches, das den beiden Größen vorgegeben ist und
weder in der Macht des einen noch in der des anderen, je für sich,,
gelegen ist. So ist auch nicht nur die "Theologie auf das Lehramt,
sondern auch das Lehramt auf die Theologie verwiesen, ohne
diese gar nicht denkbar, und der Zusammenhang und die Einheit
beider ist wieder nicht nochmals in der Verfügung des Lehr-
amtes, sondern nur in der des Geistes Gottes, der die Geschichte
lenkt.
92
ÜBER SCHLECHTE ARGUMENTATION
IN DER MORALTHEOLOGIE
93
Ist nun die angerufene Beobachtung richtig, kann sie nicht als
beliebige Belanglosigkeit abgetan werden, wie sie in jeder mensch-
lichen Wissenschaft selbstverständlich vorkommt, nür weil eben
überall « petitiones principii» vorkommen. Zwar könnte ja eine
harmlos durchschnittliche Logik des Alltags und der Wissenschaft
sagen: so etwas kommt natürlich in der Moraltheologie vor, ge-
hört aber einfach in das Gebiet des menschlichen Irrens allein und
muß nach Kräften in immer neuer Anstrengung eliminiert wer-
den.
Aber so einfach scheint es eben doch nicht zu sein. Und gerade
nicht in der Moraltheologie. Denn wenn auch nicht nur, so kom-
men doch solche Fälle besonders in der Moraltheologie vor, und
zwar aus Gründen, die mit dem Wesen der Moraltheologie selbst
gegeben sind, insofern diese eine theoretische Wissenschaft ist, die
auf das praktische Handeln des Menschen reflektiert. Hier sollen
daher ein wenig Recht und Grenzen dessen bedacht werden, was
zwar nicht einfach identisch ist mit der Beobachtung, von der wir
ausgingen, aber hinter ihr verborgen steckt und nicht einfach
falsch ist. Wir sagen: Recht und Grenzen.
Zunächst einmal das Recht dessen, was hinter der Beobachtung,
bzw. der beobachteten Sache steckt. Wenn die Moraltheologie
Maximen des Handelns zu gewinnen sucht in reflexer Argumen-
tation für ihre Richtigkeit, dann handelt es sich immer (oder fast
immer — oder im Normalfall des Lebens) um Maximen, die im
Handeln im voraus zu ihrer theoretischen Aussage schon in die
Praxis umgesetzt worden sind. Theoretische Reflexionen über
Normen des praktischen Handelns entstehen und werden er-
zwungen durch die vorausgehende immer schon vollzogene Praxis
selbst. Diese hat aber, weil sie ja verantwortlich und sittlich sein
soll und wo sie es ist, grundsätzlich eine ihr eigene, ihr immanente
Erfahrung ihrer Richtigkeit bei sich. Daher kann es sein (an sich
eine Binsenwahrheit, die aber in der moraltheologischen Polemik
der Wissenschaft auf beiden Seiten des Streites über die Schlüssig-
keit einer bestimmten Argumentation oft übersehen wird), daß
eine notwendig nachträgliche Reflexion der Theorie auf eine vor-
ausgehende, ihre innere Evidenz möglicherweise in sich selbst be-
sitzende Praxis diese Evidenz gar nicht einholt, sie falsch oder un-
94
zulänglich interpretiert und begrifflich objektiviert, und die so
schlecht ausgelegte und schlecht begründete Maxime dennoch
richtig ist. Natürlich weiß das die formale Logik immer, wenn sie
betont, daß ein Konsequens richtig sein kann, auch wenn es aus
den Prämissen nicht folgt, sei es weil die Prämissen falsch oder un-
bewiesen sind; sei es weil aus richtigen Prämissen dieses Konse-
quens formallogisch nicht folgt.
Aber dieser formallogische Hinweis trifft den eigentlichen Kern
der Sache hier nicht. Denn er sagt nichts darüber, ob und wie die
Richtigkeit des « Konsequens » anders als durch eine richtige Ar-
gumentation gewußt werden könne. Eine solche Möglichkeit ist
aber grundsätzlich gegeben im Bereich des Sittlichen. Es kann hier
eine globale, noch unreflektierte, aber eventuell durchaus rich-
tige und wirksame Einsicht geben, die der Theorie, der begriff-
lichen Artikulation und Objektivation vorausliegt, das innere Licht
der Praxis als solcher selbst ist. Die Beurteilung einer moraltheo-
logischen Argumentation darf das nicht vergessen. Eine solche Be-
urteilung mag zwar sagen, daß in einem bestimmten Fall diese
Argumentation (rein in ihrer expliziten Begrifflichkeit und logi-
schen Kohärenz genommen) falsch oder nicht zwingend sei; eine
solche Beurteilung dürfte aber dann doch nicht vergessen, daß die
getadelte Argumentation eigentlich (auch und zuerst) zu lesen sei
als Anruf und Hinweis auf eine globale Erfahrung, in der mehr
enthalten sein kann, als was in der Argumentation begrifflich und
logisch explizit wird. Wenn man das grundsätzlich leugnen wollte,
ginge man von einem Verständnis des Verhältnisses zwischen
Praxis und Theorie aus, das problematisch, ja falsch ist. (Natür-
lich kann und soll hier die schwierige erkenntnistheoretische Pro-
blematik des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis nicht auf-
gerollt werden, eine Problematik, die einen guten Teil der heuti-
gen Philosophie und der fundamentalen Theologie ausmacht.)
Eine schlechte moraltheologische Argumentation ist also durch
den Aufweis ihrer logischen Nichtstringenz doch noch nicht ein-
fach «erledigt», sie stellt mindestens an ihren Bestreiter die
Frage, wie er ihre faktische Existenz erklären wolle, ob es ge-
nüge, zu sagen, sie sei falsch oder nicht zwingend und durch die
Dummheit des so Argumentierenden zu erklären; sie kann den
95
Bestreiter fragen, ob er nicht erkennen könne, daß hinter ihrer
verbalen und begrifflichen Wirklichkeit doch die Weisheit einer
ursprünglicheren Erfahrung stecke, die sich einen nur unbehol-
fenen Ausdruck verschaffe. Eine solche Gegenfrage ist zumal
dann berechtigt und wichtig, wenn die als falsch oder als nicht
zwingend erklärte Argumentation nicht bloß die eines einzelnen
ist, sondern von vielen vertreten wird, ja vielleicht durch Jahr-
hunderte hindurch in der Kirche unbeanstandet vorgetragen
wurde und wird.
Wo eine solche Rückfrage hinter die bestrittene moraltheolo-
gische Argumentation nicht geschieht, ist entweder die Gefahr
eines moraltheologischen Nihilismus oder Skeptizismus oder die
eines billigen moraltheologischen Positivismus gegeben, der sich
einfach auf das bloße Faktum der Gegebenheit solcher schlecht
bewiesenen Überzeugungen in der Kirche beruft und es dabei
bewenden läßt. Man sieht, anders gesagt, in einem leeren For-
malismus überall in der Moraltheologie nur schlechte Argumen-
tation, die rabulistisch erschleicht, was gar nicht wirklich bewie-
sen wird, und wird dann skeptisch gegen alle « Gesetzlichkeit »
(und flüchtet in eine bloße «Situationsethik») oder verschanzt
sich einfach hinter die formale Autorität des Lehramtes und ver-
gißt dabei, daß eben auch das Lehramt in seinen bloß authenti-
schen Erklärungen zeit- und situationsbedingten Irrtümern un-
terliegen kann.
Das, worauf eine solche in sich ungenügende Argumentation
implizit verweist, kann natürlich, genauer besehen, von verschie-
denster Art und Qualität sein. Es kann ein globales und reflex nur
schlecht objektiviertes Offenbarungswissen sein; es kann sich um
eine «instinktive» menschliche Einsicht «natürlicher» Art han-
deln, die selbst nochmals von sehr verschiedener Art gedacht wer-
den kann in ihrer Eigenart und eventuell in ihrem Werden in der
Geschichte der Menschheit.
Je nach der genaueren Eigenart dessen, was hinter einer sol-
chen schlechten Argumentation an Richtigem stehen mag, muß
auch die Methode der berechtigten « Respektierung» einer sol-
chen Argumentation variieren. Wenn z. B. hinter einer solchen
in sich selbst anfechtbaren Argumentation doch ein globales rich-
96
tiges Verständnis der christlichen Offenbarung vermutet werden
kann, dann ist eine andere Behandlung einer solchen Argumen-
tation angezeigt, als wenn von vornherein klar ist, daß hinter der
zu kritisierenden Argumentation ein bloß menschliches Vorver-
ständnis waltet, das viel leichter als im ersten Fall selbst wieder
problematisch und geschichtlich oder gesellschaftlich oder kul-
turell bedingt sein kann.
Freilich müßte man, um so von vornherein zwischen den bei-
den angedeuteten Methoden unterscheiden zu können, formal
ein Prinzip darüber haben, was (und was nicht) von vornherein
wirklich als göttliche Offenbarung in Frage kommen kann. Aber
dieses Problem eines solchen formalen Kriteriums ist in der
durchschnittlichen Schultheologie noch gar nicht oder kaum ge-
sehen, obwohl es aus begreiflichen Gründen gerade auch für die
Moraltheologie von großer Bedeutung wäre, schon weil die Kom-
petenz des kirchlichen Lehramtes auf dem Gebiet der eigentlichen
Offenbarung und die auf dem Gebiet des sogenannten (bloßen)
Naturrechtes gewiß nicht einfach identisch sind. Aber diese
Probleme können hier natürlich nicht weiter verfolgt wer-
den.
Wenn also das kirchliche Lehramt eine bestimmte sittliche
Maxime verteidigt und dies (was durchaus möglich ist) mit
schlechten Argumenten tut, dann muß der Bestreiter einer sol-
chen Argumentation, der einzelne Moraltheologe, durchaus mit
einer solchen Möglichkeit rechnen. Er kann daher unter Um-
ständen auch die Aufgabe haben, die richtige Maxime mit besse-
ren Argumenten zu verteidigen und verständlicher zu machen,
als es das kirchliche Lehramt fertigbringt, das ja in solchen Din-
gen in seiner Argumentation nicht mit einer höheren Erleuch-
tung rechnen kann, sondern sich der Argumentation bedienen
muß, die in der kirchlichen Moraltheologie üblich ist.
Soweit über das «Recht», das hinter einer schlechten moral-
theologischen Argumentation stehen kann, die unter Umständen
in einer bestimmten Weise argumentiert, ohne Widerspruch zu
finden, und oft getragen ist durch eine lange Geschichte moral-
theologischer Lehre in der Kirche, weil man im voraus zu ihr
schon von der Richtigkeit des zu Beweisenden überzeugt ist. Nun
97
aber zu den Grenzen eines solchen Rechtes. Und diese sind in der
Praxis der kirchlichen Moraltheologie und der des kirchlichen
Lehramtes vielleicht noch wichtiger. Die stillschweigend und
unreflex vorauswirkende Überzeugung von der Richtigkeit des zu
Beweisenden kann auch Ursachen entspringen, die durchaus pro-
blematisch sind oder in ihrer eigenen historischen Bedingtheit zu
falschen globalen vorwissenschaftlichen Überzeugungen geführt
haben. Es gibt auch falsche (historisch zeitbedingte, globale, in-
stinktiv wirkende) Überzeugungen, die sich dann in reflexen be-
grifflichen « Beweisen » zu objektivieren versuchen, so daß dem,
der solche Überzeugungen teilt, solche Beweise sehr einleuchten
und sie mit der Unbedingtheit vorgetragen und verteidigt wer-
den, mit der man einer solchen vorwissenschaftlichen globalen
Überzeugung anhängt, obwohl diese falsch oder mindestens be-
streitbar ist. Es gibt auch im Leben vor jeder wissenschaftlichen
Reflexion Urteile, die nicht von der Weisheit des Lebens einge-
geben sind, sondern «Vorurteile» sind, die geschichtlich, kul-
turell und gesellschaftlich bedingt sind, veränderlich sind, immer
oder für eine andere Situation irrig sein können. Die faktische
Entwicklung und Geschichte der Moraltheologie in der Kirche
hat es weithin nicht nur mit der Destruktion unrichtiger oder un-
sicherer theologischer Argumentation als solcher allein zu tun,
sondern zuvor und danach mit dem Abbau solcher vorwissen-
schaftlicher instinkthafter Überzeugungen, die falsch oder unbe-
wiesen sind, aber bisher die reflexe Argumentation « einleuch-
tend» erscheinen ließen.
Dabei ist es leider sehr oft (wenn auch nicht immer) so, daß die
Unhaltbarkeit solcher moraltheologischer Argumentation in der
Kirche faktisch erst eingesehen und anerkannt wird, wenn die
dahinter stehende globale vorwissenschaftliche Überzeugung aus
anderen Gründen (der Geschichte, der gesellschaftlichen Verän-
derungen, des Wandels der menschlichen Psyche usw.) abgebaut
worden waren. Man wird (hoffentlich) auch Beispiele nennen
können, in denen eine reflexe Gegenargumentation gegen die Be-
gründung falscher moralischer Maximen auch zur Auflösung sol-
cher falscher globaler Überzeugungen geführt hat; man wird
auch durchaus oft mit einem langsamen geschichtlichen Prozeß
98
rechnen können, in dem sich in vielen Fragen eine gegenseitige
Wechselwirkung zwischen rationaler Gegenargumentation und
einem aus anderen Ursachen erfolgenden Abbau von Vorüber-
zeugungen ereignet. Aber man wird wohl nüchtern zugeben dür-
fen, daß die kirchliche Moraltheologie mit ihrer Argumentation
sehr oft das Feld bestimmter Positionen erst räumte und die Un-
haltbarkeit früherer Argumentation für diese Positionen erst zu-
gab, nachdem andere geschichtliche Faktoren die Vorüberzeugun-
gen schon destruiert hatten, von denen aus man bisher, ohne es
zu merken oder merken zu wollen, argumentiert hatte. Das mag
verständlich sein, sehr erhebend ist es für den Historiker der
kirchlichen Moraltheologie nicht. Man kann sagen, daß die Kir-
che von ihrer Aufgabe, das depositum fidei zu bewahren, her nun
einmal konservativ ist, daß sie auch in diesem Konservatismus
eine legitime, wenn auch partikuläre Funktion in der Geistes-
geschichte hat, die man nicht unterschätzen soll und nicht von
vornherein abwerten darf. Aber es gehört eben doch auch zu der
tragischen und nicht aufhellbaren Geschichtlichkeit der Kirche,
daß sie in Praxis und Theorie mit schlechten Argumenten mora-
lische Maximen verteidigte aus problematischen, geschichtlich
bedingten Vorüberzeugungen, «Vorurteilen» heraus, die nicht
sie selbst von sich aus, sondern die andere geschichtliche Ursachen
auflösten, bis dann endlich auch die Kirche die neue Vorüber-
zeugung selbstverständlich fand und (leider) dann oft danach so
tat, als ob die neue globale Vorüberzeugung selbstverständlich sei
und die Kirche daran nie gezweifelt hätte.
Wie viele Beispiele kann ein Moraltheologe aus dem Handge-
lenk aufzählen, in denen das Lehramt der Kirche solche Revisio-
nen seines eigenen Standpunktes auch ausdrücklich anerkannt
und dabei zugegeben hat, daß es diese bessere Einsicht anderen
Ursachen verdankt als seinem eigenen Bemühen, Vorurteile ab-
zubauen? Ich glaube, ein durchschnittlicher Moraltheologe hat
wenige solche Beispiele ohne weiteres zur Hand. Schön wäre es
doch, wenn es anders wäre.
Diese dunkle Tragik der kirchlichen Geistesgeschichte ist dar-
um so lastend, weil es sich dabei, immer oder oft, um Fragen han-
delt, die tief in das konkrete Leben der Menschen eingreifen,
99
weil solche falsche Maximen, die objektiv nie gültig waren oder
schon längst obsolet geworden waren (durch die kulturellen und
wirtschaftlichen Veränderungen, bevor solche Veränderungen
von der amtlichen Kirche anerkannt wurden), den Menschen
Lasten auferlegten - und auch ihr Heil in Gefahr brachten -,
die von der Freiheit des Evangeliums her gar nicht legitim wa-
ren.
Wenn das Gesagte ungefähr richtig ist, dann bedeutet dies auf
dem Gebiet der Moraltheologie für diese die Aufgabe, viel ge-.
nauer, kritischer und mutiger die Herkünftigkeit und geschicht-
lich-gesellschaftliche Bedingtheit solcher Vorentscheidungen zu
analysieren, die hinter den Argumentationen der traditionellen
Schulmoraltheologie und auch des kirchlichen Lehramtes am
Werk sind. Konkreter bedeutet dies vor allem einmal, daß auf
dem Gebiet der Moraltheologie viel deutlicher und mutiger zu
unterscheiden ist zwischen einer Tradition, die wirklich eine un-
bezweifelbare göttliche Offenbarung weiterträgt, und einer sol-
chen Tradition, die bloß «menschlich» ist und die auch dann
keine Garantie ihrer Richtigkeit und überzeitlichen Geltung be-
sitzt, wenn sie in der bisherigen Geschichte des Christentums und
der Kirche allgemein und unbestritten gewesen war. Bei dieser
kritischen Unterscheidung zwischen diesen beiden « Traditionen »
ist überdies zu bedenken, daß eine «menschliche» Tradition für
eine bestimmte Zeit sogar durchaus richtig gewesen sein kann,
weil sie die richtigen Maximen für diese Zeit aus den mensch-
lichen und gesellschaftlichen Verhältnissen und Gegebenheiten
zog, wie sie damals faktisch gegeben waren, ohne darum selber
unveränderlich zu sein. Aber eine solche instinktive Grundüber-
zeugung war eben doch für die damalige Zeit zwar unter Umstän-
den sittlich verpflichtend, aber nur für damals. Wenn man solche
Wandlungen und Wandlungsmöglichkeiten bedenkt, wenn man
dazu aus einer geklärteren (und auch heute noch gar nicht genau
genug durchreflektierten) Theorie über das eigentliche Wesen
der streng übernatürlichen Offenbarung erkennt, daß nur sehr
wenige materiale sittliche Maximen (welche?) zur wirklichen
Offenbarung als solcher gehören, dann wird man ahnen können,
welche Wandlungen bei der «christlichen » Moral möglich sind
100
trotz der fast zweitausend Jahre währenden, aber weithin nur
«menschliche» Tradition beinhaltenden Geschichte der diese
tragenden Vorüberzeugungen.
Mag es daher auch durchaus eine Aufgabe der Moraltheologie
sein, eventuell oft das echt Menschliche geschichtlicher sittlicher
Überlieferung in einem guten Konservatismus auch dann zu be-
wahren, wenn dieses Überlieferte geschichtlich bedingt ist und
als an sich veränderbar reflex erkannt wird (weil nicht alles, was
veränderbar ist, darum auch schon verändert werden soll), so ist,
es doch auch die Aufgabe der wissenschaftlichen Moraltheologie,
nicht nur Unbewiesenes in der moraltheologischen Argumenta-
tion als solches zu entlarven, sondern auch an der Auflösung der
dahinter stehenden Vorüberzeugungen zu arbeiten, wenn diese
selber geschichtlich bedingt sind und der konkreten «Sache»
nicht mehr entsprechen, der sie dienen sollen und die sie unreflek-
tiert wiedergeben. Das ist eine schwere Aufgabe, die ihr meist vom
kirchlichen Lehramtbeidessen (verständlicher, aber unter Umstän-
den auch unberechtigter) konservativer Einstellung nicht gedankt
wird.
Wenn so die Moraltheologie in ihrem faktischen Erkenntnis-
prozeß eine Geschichte hat, die gar nicht nur von theoretischer
Reflexion und Argumentation allein bedingt ist, weil sie mitbe-
dingt ist durch Faktoren, die gar nicht dem Bereich der theoreti-
schen Reflexion angehören und von daher allein gar nicht elimi-
niert werden können, da die Theorie immer auf einem vortheoreti-
schen Vollzug der menschlichen und christlichen Existenz auf-
ruht, so ist die Moraltheologie ein nach vorn offener Prozeß, der
letztlich gar nicht voraussehbar ist, alle Reibungen, Kämpfe und
Gefahren nicht ausschalten kann, die nun einmal mit der Gei-
stesgeschichte unweigerlich verbunden sind. Der Mut zum Ri-
siko, zum Widerspruch und zur Kritik gehören darum zu den Tu-
genden des Moraltheologen, die wir z. B. auch an B. Häring ehren
und bewundern, weil aus den angedeuteten Gründen der Moral-
theologe nicht nur der Ausleger und Verteidiger der traditionel-
len Lehre des Lehramtes sein darf, sondern auch deren Kritiker,
der dem Lehramt hilft, die Lehre von der christlichen Offenba-
rung und vom Selbstverständnis des Menschen in der Geschichte
101
seiner Sittlichkeit besser zu verstehen und wirksamer vor der
Menschheit zu vertreten.
Man könnte den angedeuteten Ansatz noch weiter entwickeln.
Man könnte darauf reflektieren, daß jede moraltheologische Ar-
gumentation durch ihre Begriffe, die immer eine Einheit von
Begriff und Anschauung sind, in einer «conversio ad phantasma »
(um mit Thomas von Aquin zu reden) geschieht, gar nicht anders
möglich ist; daß jede Argumentation, um überhaupt verständ-
lich zu sein, immer auch Berufung einlegt an das schon in Erfah-.
rung und Tat ergriffene Konkrete, das immer auch kulturell und
gesellschaftlich (eben geschichtlich) bedingt ist. (Denn wenn der
Moraltheologe von Geld, Obrigkeit, Familie, Wahrheit in der
Interkommunikation, Geschlechtlichkeit und so fort in seiner
Argumentation redet, wie könnte er dabei verhindern, daß bei
solchen Begriffen immer auch etwas mitgegeben ist oder minde-
stens mitschwingt, was geschichtlich bedingt und nicht ewig gül-
tig ist?) Natürlich wird bei der so unvermeidlich auch geschicht-
lich bedingten Argumentation ein Stück solcher geschichtlich be-
dingten Vorstellungs- und Anschauungsmodelle reflex sichtbar,
kann kritisiert und eventuell ausgeschieden und durch ein (auch
wieder notwendiges) anderes Vorstellungsmodell ersetzt werden,
das allerdings selbst wieder geschichtlich bedingt bleibt, ohne daß
eine «chemische Reinheit» des Begriffs als solchen, im Unter-
schied zum Anschauungsmodell, erzielt werden kann. Aber diese
kritische Differenzierung zwischen Begriff und Anschauung ist
immer nur ein Stück weit möglich und ist nie abgeschlossen. Im-
mer ist auch ein Stück Vorstellungsmodell mitgegeben, das in
seiner geschichtlichen Bedingtheit nicht gesehen und reflektiert
wird, aber bei einer solchen moraltheologischen Argumentation
doch insgeheim mitwirkt. Damit ist aber ein Dreifaches gegeben,
dessen sich der Moraltheologe immer bewußt bleiben muß, wenn
er argumentiert.
Erstens: Der (dialogisch sein müssende) Argumentationsprozeß
kommt nie zu einem schlechthin endgültigen Abschluß; immer
wieder müssen unter neuen geschichtlichen Verhältnissen und
besonders solchen, die im Übergang stehen, die konkreten Vor-
stellungsmodelle, ohne die jeder Begriff leer wäre, auf ihre Gül-
102
tigkeit, ihre Veränderbarkeit und Ausscheidbarkeit befragt wer-
den; immer wieder muß die Erfahrung gemacht und zugelassen
werden, daß die moraltheologische Argumentation als geschicht-
licher Prozeß immer in Versuchung ist, an der eigentlich doch
gemeinten Sache vorbeizureden, weil diese sich unterdessen ge-
ändert hat oder in einer Änderung steht.
Zweitens: Eine moraltheologische Argumentation ist immer
oder oft (obwohl meist unreflex, aber unvermeidlich) auch ein
Appell, in geschichtlicher Entscheidung an jener konkreten, ob-
zwar geschichtlich bedingten, Wirklichkeit festzuhalten, die als
konkrete auch der abstrakten Argumentation als deren «An-
schauung » zugrunde liegt, ohne die es keinen Begriff und keine
Argumentation gibt. Ob ein solcher latenter Appell, der unreflex
in einer solchen Argumentation mitgegeben ist, sein Ziel erreicht,
sich durchhält und bewirkt, daß auch eine künftige Geschichte
(wenigstens von näherer Zukunft) auch wirklich will, daß es so
bleibe, wie in der Argumentation nicht allein «bewiesen », son-
dern auch unreflex als Postulat praktischer Vernunft gefordert
wird, das entscheidet die Zukunft, nicht der Argumentierende.
Er kann Erfolg haben oder auch nicht. Er kann zwar davon über-
zeugt sein, daß seine Argumentation auch in der Zukunft sich
immer wieder durchsetzen wird, wenn und insoweit seine Argu-
mentation das wirklich metaphysische, transzendental notwen-
dige Wesen der Sache (des Menschen) erreicht. Aber weil er dies
nicht durch eine absolut adäquate Unterscheidung von (metaphy-
sischem) Begriff und (geschichtlich bedingter) Anschauung mit
letzter Klarheit feststellen kann, weiß er, wenn er an seiner Ar-
gumentation als gültig festhält, doch nicht mit letzter Klarheit, ob
sie eine wirklich metaphysisch zwingende Argumentation ist, die
in aller Zukunft immer wieder auch Erfolg haben wird und an
der bleibenden Gültigkeit des erreichten metaphysischen Wesens
partizipiert oder nur als gültig behauptet werden kann, wenn und
insofern das genannte Moment eines Appells (reflex oder unreflex)
mitbejaht wird.
Über diese Situation braucht an sich der Moraltheologe nicht
betrübt zu sein. Denn er hat ja grundsätzlich durchaus das Recht,
das in jeder freien, immer unvermeidlichen geschichtlichen Ent-
103
scheidung gegeben ist, zu wollen, daß die Konkretheit der An-
schauung, an die er vielleicht unreflex und gar nicht adäquat
unterscheidbar appelliert, bleibe und nicht verändert werde, auch
wenn er nicht weiß, ob dieses sein eigenes geschichtliches Wollen,
das vielleicht auch noch in einer solchen abstrakten Argumenta-
tion steckt, tatsächlich Erfolg haben werde. Jedenfalls aber wird
deutlich, daß die argumentierende Theorie selber schon auch ein
Stück Praxis ist, ob sie dies weiß oder nicht.
Wir sind in unseren Überlegungen bisher von der stillschwei-
gend gemachten Voraussetzung ausgegangen, es gebe schlicht
und einfach zwei moralthologische Argumentationen: richtige
und falsche (samt unbewiesenen). Jetzt aber müßten wir wohl
genauer differenzieren. Richtige (richtige, wahre) Argumenta-
tion kann entweder eine Argumentation sein, die das transzenden-
tal notwendige Wesen des Menschen erreicht und darum voll-
zogen wird mit der verpflichtenden Hoffnung, daß sie sich immer
wieder durchsetzt. (Wir sehen hier von der Frage ab, ob und wie
es durch göttliche übernatürliche Offenbarung gegebene positive
Gebote gebe, die nicht eigentlich in sich und ihrem Aufweis unter
diese erste Klasse der richtigen Argumentation gehören und den-
noch die Hoffnung und den Anspruch auf immer bleibende Gül-
tigkeit haben.)
Oder die Argumentation kann richtig sein, weil und wenn sie
ihre Richtigkeit (reflex oder meist unreflex) auch aus dem Vor-
stellungsmodell mitbezieht, mit dem die Begriffe der Argumen-
tation vorgestellt werden.
Wenn nun eine solche Argumentation richtig ist oder sein soll,
sind noch zwei Möglichkeiten denkbar:
a) Entweder ist dieses Vorstellungsmodell allgemein akzeptiert
und unbestritten, auch von denen, gegen die sich diese Argu-
mentätion richtet; es wird m.a. W. von einer anthropologischen,
kulturellen und gesellschaftlichen Situation her argumentiert, die
allgemein innerhalb des konkreten Argumentations-Milieus
herrscht und anerkannt wird, auch wenn sie an sich geschicht-
lich bedingt und nicht von metaphysischer Notwendigkeit ist. In
solchen Fällen wird meist eine Grenzziehung deutlicher Art zwi-
schen dem Metaphysischen der verwendeten Begriffe und dem
104
geschichtlich bedingten Anschauungsmodell gar nicht gegeben
sein. Eine solche Argumentation darf durchaus als wahr qualifi-
ziert werden, zumal auch geschichtlich bedingte Situationen, so-
lange sie unangefochten existieren, durchaus einen sittlichen Im-
perativ hergeben können, wenn er auch nicht immer und ewig
gültig sein muß.
b) Oder das in solcher Argumentation (reflex oder meist un-
thematisch) verwendete Anschauungsmodell ist zwar faktisch in
der konkreten Situation des Argumentierens bedroht, an sich aber
sinnvoll; in einem solchen Fall impliziert eine solche Argumenta-
tion einen «Appell» (wie wir ihn genannt haben) zur Aufrecht-
erhaltung der von ihm vorgestellten Situation in geschichtlicher
Entscheidung, mag dabei dieser Charakter eines Appells an der
Argumentation reflex bewußt sein oder (was oft oder meist der
Fall sein wird) nicht. Wenn eine solche Argumentation für eine
absehbare Zukunft die Chance hat, daß der in ihr implizierte
Appell Erfolg hat, kann eine solche Argumentation ruhig als
«wahr» qualifiziert werden, wenn auch diese «Wahrheit» mit-
konstituiert ist durch eine (sinnvolle, wenn auch theoretisch nicht
zwingende) Entscheidung der Vernunft der Praxis selbst, die
auch noch mit ihrem eigenen Recht in scheinbar bloß theoreti!
scher Argumentation impliziert ist. Es sei zugegeben, daß die
Qualifikation dieser Art von Argumentation als «wahr» eine
Auffassung des Verhältnisses zwischen "Theorie und Praxis vor-
aussetzt, in der die Praxis nicht einfach bloß die Anwendung der
Maximen der theoretischen sittlichen Vernunft ist, sondern auch
ein unableitbares eigenständiges Recht hat, Wahrheit setzt und
nicht nur entgegennimmt. Aber diese Problematik kann nätürlich
hier nicht weiter verfolgt werden.
Eine moraltheologische Argumentation ist falsch, unwahr, wenn
sie ihre Behauptung nicht nur nicht aus dem transzendental not-
wendigen Wesen der Wirklichkeit ableiten kann, sondern sogar
auch das Vorstellungsmodell verfehlt, mit dem sie arbeiten müßte,
um als wahr anerkannt werden zu können. Das Verfehlen eines .
solchen wirklich tragenden Vorstellungsmodells kann wiederum
in zwei Weisen gedacht werden, wenn auch diese beiden Weisen
untereinander fließende Übergänge haben.
105
Entweder (erste Weise) wird in einer solchen Argumentation
Berufung eingelegt auf eine geschichtlich bedingte Verfaßtheit
des Menschen (die dieses Vorstellungsmodell liefert), die gar
nicht mehr allgemein gültig (innerhalb des argumentierenden
Dialogkreises) ist und vom Argumentierenden nur durch seine
geschichtliche und gesellschaftliche Rückständigkeit und Unzeit-
gemäßheit für selbstverständlich und allgemein gültig gehalten
wird, obwohl man (das ist Voraussetzung) gar nicht sagen kann,
daß diese geschichtlich bedingte Verfaßtheit des Menschen von.
seinem metaphysischen Wesen her geboten ist und nur durch
(objektive) Schuld des Menschen nicht beachtet werde. Bei der
geschichtlichen und kulturellen Ungleichzeitigkeit der Menschen
trotz ihrer uhrzeitlichen Gleichzeitigkeit ist nicht zu leugnen, daß
solche falsche Argumentation auch im kirchlichen Bereich oft
vorkommt und einem guten Teil moraltheologischer Kontro-
versen zugrunde liegt.
Oder: die zweite Weise solcher falscher Argumentation ist dann
gegeben, wenn sie ihre Behauptung nicht nur nicht aus dem
metaphysischen Wesen des Menschen legitim herleiten kann,
sondern einen Appell geschichtlicher Entscheidung impliziert, der
praktisch keine ernsthafte Chance auf Erfolg hat, weil die ge-
schichtliche Situation, an die der Appell Berufung einlegt, zwar
noch nicht einfach vergangen ist, aber doch schon so bedroht, im
Abbau begriffen ist, daß man voraussehen kann, dieser Appell
werde faktisch auf die Dauer wirkungslos bleiben. Die Argumen-
tation in dieser zweiten Weise kann als unwahr qualifiziert wer-
den aus denselben Gründen, aus denen eine Argumentation mit
einem impliziten Appell an eine aussichtsreiche geschichtliche
Entscheidung impliziter Art vorhin als wahr qualifiziert wurde.
Die beiden Weisen einer falschen moraltheologischen Argumen-
tation gehen verständlicherweise ineinander über, ohne mit re-
flexer Sicherheit voneinander abgegrenzt werden zu können, weil
das Urteil über die Erfolgschancen des genannten Appells eine
Sache der praktischen Vernunft ist und keine theoretische Sicher-
heit haben kann.
Wir wollten nur ein paar wenige Überlegungen und Gedanken
über schlechte Argumentationen in der Moraltheologie vortragen.
106
Wenn auch solche Überlegungen doch wieder in die schwierigsten
und dunkelsten Fragen der menschlichen Erkenntnis allgemein-
ster Art hineinführen, in Fragen, die hier ohne den Anspruch,
klar und sicher beantwortet zu werden, angemeldet wurden, dann
liegt dies wohl in der Natur der Sache. Der Moraltheologe weiß,
daß Taten, die konkret als unsittlich zu qualifizieren sind, immer
noch einmal gegen ihre Absicht die Unvergleichlichkeit des Gu-
ten gegenüber dem Bösen, die unausweichliche Verwiesenheit des
Menschen auf das absolute Gute, die heilige Würde des Gewissens
implizit bejahen. Damit ist aber eigentlich auch gegeben oder
gleich selbstverständlich, daß auch in einer falschen moraltheolo-
gischen Argumentation wenigstens unreflex, aber wirklich, jenes
Licht bejaht wird, das der Freiheit und der Liebe innewohnt und
das letztlich von der absoluten Liebe und Freiheit herkommt, die
wir Gott nennen.
107
GOTTESLEHRE UND CHRISTOLOGIE
DIE MENSCHLICHE SINNFRAGE
VOR DEM ABSOLUTEN GEHEIMNIS GOTTES
Jede Zeit hat von der Eigenart ihrer Situation her gewisse Schlüs-
selbegriffe, die die Aufgabe und Sehnsucht einer solchen Zeit zu-
sammenfassen. Die Christen werden immer Glaube, Hoffnung,
Liebe zu solchen Schlüsselbegriffen zählen, auch wenn sie selberim
Lauf der Geschichte des Christentums den Akzent in diesem Ter-
nar verschieden gesetzt haben. Einer der vielen Schlüsselbegriffe
war gewiß Logos; er hat in der Geistesgeschichte der Spätantike
eine große Rolle gespielt. Ordo hat man in der Philosophie und
Theologie des Hochmittelalters, bei Thomas von Aquin, als
Schlüsselbegriff empfunden. Aufklärung, Emanzipation aus
Selbstentfremdung, Utopie, Hoffnung sind solche zentralen
Worte, die die menschliche Existenz als ganze anrufen wollen und
uns Heutigen in den Ohren klingen. Ob Schlüsselbegriffe genuin
christlichen Ursprungs sind oder mehr von außen, kritisch, viel-
leicht anklagend, auf jeden Fall herausfordernd an das Christen-
tum und die Kirche herantreten, jedenfalls sind die Christen und
ihre Theologen dazu aufgerufen, die Verkündigung der christ-
lichen Botschaft mit ihnen zu konfrontieren, die Botschaft an
ihnen und sie an der Botschaft zu messen und so einen geschicht-
lichen Kairos heraufzuführen, der sowohl dem Christentum und
seiner unüberholbaren Botschaft wie der Aufgabe und Sehnsucht
der jeweiligen geschichtlichen Stunde Genüge tut.
Zu solchen Schlüsselbegriffen mit ihrer evokativen Kraft und
ihrer schrecklichen Vieldeutigkeit darf auch das Wort «Sinn » ge-
rechnet werden. Die christliche Theologie im Dienste der Ver-
kündigung der Kirche ist darum aufgerufen, sich diesem Wort-
sinn zu stellen, dieses Wort kritisch zu befragen, von ihm sich kri--
tisch befragen zu lassen, sich auch mit diesem Wort auf einen
Jakobskampf einzulassen, damit aus diesem Kampf Segen erstehe
sowohl für die nach Sinn fragenden Menschen wie für die Theo- (
logie selbst und damit auch für die Verkündigung. In den folgen-
den kurzen Überlegungen kann es sich nicht darum handeln — das
würde mehr Raum erfordern als gegeben ist —, alles in der Theo-
111
logie aufzubieten, um es mit der Sinnfrage zu konfrontieren. Wir
beschränken uns vielmehr auf ein einziges Datum der katholi-
schen Theologie, um es mit der Sinnfrage in Beziehung zu setzen.
Dieses eine Datum ist die Unbegreiflichkeit Gottes. Hier, immer
und in alle Ewigkeit. Wir fragen also: Was bedeutet es für die
Sinnfrage innerhalb einer christlichen Theologie und Verkündi-
gung, wenn wir als Christen die Unbegreiflichkeit Gottes be-
kennen? Natürlich ist bei einer solchen Frage, sosehr sie sich aus-
drücklich auf « Sinn » bezieht und von der Unbegreiflichkeit Got-
tes her nach einem Verständnis des Wortes Sinn sucht, auch um-
gekehrt das Wort Unbegreiflichkeit in die Frage gestellt.
112
schen Handelns mit seiner Welt und ihrer Geschichte, wird im
selben Sinne bei Paulus gefeiert, wenn er nicht nur die gesamte
Heilstat Gottes in Christus als Mysterium preist, sondern sie auch
ausdrücklich als unauslegbar und als spurenlos bezeichnet (Röm
11,55). Von da aus hat dann die «negative Theologie» den Be-
griff der Unbegreiflichkeit des Wesens Gottes entwickelt, im
Osten vor allem bei den Kappadoziern und im Westen bei Augu-
stinus.
Bei dieser negativen Theologie der Unbegreiflichkeit des We-
sens Gottes darf aber, sosehr sie im Recht ist, nicht vergessen
werden, daß diese Unbegreiflichkeit auch für die Verfügungen
von Gottes Freiheit gilt, an welchen sich ursprünglich das Ver-
ständnis für seine Unbegreiflichkeit überhaupt entzündete. Wenn
wir hier die franziskanische Metaphysik der Freiheit und der
Liebe, die für unsere Frage an sich gewiß eine fundamentale Be-
deutung hat, überspringen, dann können wir nach den Untersu-
chungen von Pius Siller sagen, daß in der mittelalterlichen Philo-
sophie und Theologie die Lehre von der incomprehensibilitas Got-
tes einen ausgezeichneten Ort und Rang ebenso bei Thomas von
Aquin erhält.! Bei ihm ist darüber die Rede nicht so sehr inner-
halb einer metaphysischen Charakteristik Gottes, sondern inner-
halb der Offenbarungstheologie: in der anthropologischen Escha-
tologie, der Christologie und der theologischen Hermeneutik;
diese Unbegreiflichkeit Gottes ermöglicht bei Thomas erst eigent-
lich die Offenbarung Gottes als solche, ohne daß der Mensch Gott
wird.
Wir verzichten hier darauf, die subtile Theologie der Unbe-
greiflichkeit Gottes bei Thomas und von daher bei Siller genauer
zu entfalten und verweisen für diese genauere Frage über die
Unbegreiflichkeit als Weise eines Verstehens überhaupt und über
die Unbegreiflichkeit Gottes auf Thomas und Siller selbst. Wir
dürfen uns hier mit einem etwas einfacheren Begriff der Unbe-
1 Vgl. die Arbeit des Verfassers: Fragen zur Unbegreiflichkeit Gottes nach Tho-
mas von Aquin, in: Schriften zur Theologie XII., 306-319; in dieser Arbeit sind auch
die Untersuchungen meines Schülers P.Siller (bisher ungedruckte Dissertation: Die
Incomprehensibilitas Dei bei Thomas von Aquin, Innsbruck 1963) dankbar ver-
wertet worden.
118
greiflichkeit Gottes begnügen, zumal ja die kirchenamtliche und
normale Theologie sich keine allzu große Mühe geben, diesen
Begriff selber noch zu erklären. Hier sei nur zunächst noch ange-
merkt, daß nach dieser traditionellen Lehre die Unbegreiflichkeit
Gottes auch in der unmittelbaren Schau Gottes von Angesicht zu
Angesicht bestehen bleibt, also nicht bloß die Eigentümlichkeit
der Erkenntnis Gottes im irdischen Leben des Pilgers, sondern
auch sein Verhältnis zu Gott in seiner Vollendung der Ewigkeit
bestimmt.
114
Art dieses Wesens die Unbegreiflichkeit Gottes von vornherein,
immer und überall mitbestimmend ist. Ferner: Wenn man die
unmittelbare Anschauung Gottes als das eine, eigentliche und
allein erfüllende Ziel des Menschen preist, wenn man betet, «ut
te relevata cernens facie visu sim beatus tuae gloriae», «daß ich
dich schaue enthüllten Angesichts und selig sei im Anschauen
deiner Herrlichkeit», dann hat man praktisch doch vergessen,
daß diese Seligkeit ewiger Klarheit das Kommen vor die Unbe-
greiflichkeit Gottes in Unmittelbarkeit ist. Man sagt dann nach
dem Preis des lJauteren unendlichen Lichtes der ewigen Gottheit,
das sich endlich in Geist und Herz der Kreatur senkt und alle ir-
dische Nacht für immer vertreibt, hinterdrein und als leise ge-
sprochene Anmerkung, daß Gott auch da unbegreiflich bleibe,
aber man empfindet diese Unbegreiflichkeit doch eher als ein
Randphänomen, als einen Tribut an die eigene endliche Kreatür-
lichkeit bei einer Seligkeit als dem ewigen Genuß des an Gott
Gesehenen und Begriffenen. Die Unbegreiflichkeit Gottes ist
nicht das Gesehene, sondern das Nichtgesehene, von dem man
eigentlich nur wegblickt.
Wenn somit die natürlich im Christentum nirgends geleugnete
Unbegreiflichkeit Gottes in dieser doppelten seltsamen Weise
verstanden wird, wenn auch nur unreflex und unthematisch und
im Grunde gegen den eigentlichen Sinn dieser Unbegreiflichkeit,
dann ist es nicht mehr verwunderlich, daß in der traditionellen
Behandlung der Sinnfrage das Thema der Unbegreiflichkeit Got-
tes nicht wirklich deutlich und hart vorkommt.
Dieses Vergessen der Unbegreiflichkeit Gottes dort, wo man
bei uns Gott als letzte, einzige, alles erhellende Antwort auf die
radikale Sinnfrage des Menschen rühmt, scheint mir offenkundig
zu sein. Für uns wandelt der Mensch, der Gott nicht kennt, in
Finsternis; im Lichte aber der, der Gott erkennt und ihn in das
Kalkül seines Lebens einsetzt als den Posten, der alle Rechnungen
aufgehen läßt. Gott wird von uns gepriesen als der eine, umfas-
sende, alle Ratlosigkeiten letztlich auflösende Sinn unserer Exi-
stenz, in dem alle partiellen Sinnerfahrungen erst ihren rechten
Platz und ihre Integration finden. Gott klärt auf, verbindet, ord-
net ein, löst Dissonanzen, ist die selig in sich selbst in reiner Ein-
115
heit weilende Zufluchtsburg, in die wir über alle Unversöhnt-
heiten des Lebens und der Erkenntnis hinweg flüchten dürfen.
Er ist für uns das Licht, der ewige Friede, die Versöhnung, die
Einheit schlechthin, der Punkt, und zwar für uns erreichbar, von
dem aus alle die fürchterlichen Dissonanzen der Natur und der
Geschichte in einer reinen, sinnvollen Harmonie zusammenklin-
gen. Er ist der Sinn schlechthin, und wenn wir diesen an sich
natürlich richtigen Satz sagen, dann denken wir unwillkürlich
Sinn nach unserem Sinn, also als das Durchschaute, das Verstan-
dene, das Verfügte, das was sich vor uns rechtfertigt und sich in
unsere Hand, in unsere Verfügung gibt, damit endlich der
Schmerz der Sinnleere der unbeantworteten Frage aufhöre.
All diese Beschwörung Gottes als der einen und umfassenden
Antwort auf die eine und ganze unendliche Frage, die der Mensch
ist, soll wahrhaftig nicht verworfen werden. Es gibt partielle
Sinnerfahrungen, so schwer es sein mag, reflex zu sagen, was mit
Sinn eigentlich gemeint ist, und alle diese partiellen Sinnerfah-
rungen weisen auf den einen im Unendlichen liegenden Punkt
hin, an dem sich die partikulären Sinnerfahrungen treffen, in
ursprünglicher Einheit schon vorweggenommen und untereinan-
der versöhnt sind, so daß wir diesen ursprünglichsten, alles einen-
den, utopischen und gerade so realsten Sinn schlechthin mit
Recht Gott nennen. Aber wenn wir so mit der letzten Kraft des
Geistes und des Herzens, der Theorie und der Praxis das Höchste
ahnen und verlangen, stürzen wir dann nicht wieder von der
höchsten Höhe unserer Existenz in den leersten Abgrund der
Sinn-Losigkeit, wenn wir von diesem Höchsten sagen, es sei unbe-
greiflich? Wie kann das Unbegreifliche und Namenlose der Sinn
sein, den wir haben? Man kann doch nicht diese Unbegreiflich-
keit als eine Eigentümlichkeit Gottes verstehen, die er auch hat
neben den anderen Eigenschaften, die, von jener verschieden,
dann die Fülle des Sinnes abgeben, nach dem wir verlangen.
Eben diese anderen Eigenschaften Gottes, die wir als den Sinn
unserer Existenz erklären, sind unbegreiflich; diese Unbegreif-
lichkeit ist nicht eine Eigenschaft Gottes neben anderen, sondern
die Eigenschaft seiner Eigenschaften. Und so bleibt die Frage, wie
dieser Unbegreifliche unser Sinn sein könne.
116
Zur Vorsicht muß hier an dieser Stelle noch eine spezifisch
theologische Anmerkung gemacht werden: Man kann auf dem
Boden des christlichen Glaubens nicht sagen, Gott sei nur inso-
fern Garant und Inhalt des Sinnes unserer Existenz, als er schöpfe-
risch ein Endliches bewirke, das (formaliter, wie die Scholastiker
im Unterschied zu efficienter sagen würden) einerseits unsere
Sinnerfüllung bedeute und das andererseits, weil endlich und so
nicht unbegreiflich, der scheinbar unüberwindlichen Ausweg-
losigkeit entgehe, in die wir geraten sind. Ein solcher Ausweg ist
unmöglich, weil für den christlichen Glauben nicht eine endliche,
wenn auch von Gott geschaffene Wirklichkeit, sondern Gott an
sich selber Unmittelbarkeit, Ziel und Sinnerfüllung des Menschen,
wenn auch aus reiner Gnade, ist.
Zur Verdeutlichung der Schwierigkeit muß überdies noch hin-
zugefügt werden, daß diese Unbegreiflichkeit selbstverständlich
nicht nur jene Eigentümlichkeiten Gottes radikal bestimmt, die
ihm an und für sich selber zukommen, sondern auch seine auf
uns hin «relativen» Eigenschaften, die Entschlüsse also seiner
Freiheit, seine Gerechtigkeit, seine Barmherzigkeit, seine Treue
und so fort. Wenn wir nicht auch diese, gewissermaßen für uns
selber existentiell entscheidenden Eigenschaften Gottes, die rela-
tiv zu uns sind, sofort und im ersten Ansatz schon als unbegreif-
lich verstehen, ist eine solche Aussage von vornherein verfehlt
und trifft den wirklichen Gott überhaupt nicht. Werden wir aber
dieser Einsicht wirklich gerecht, wenn wir in einer apologetischen
Theodizee des furchtbaren Weltenlaufes und der Schrecklichkeit
der Menschheitsgeschichte zu schnell und salbungsvoll sagen, im
Himmel werde uns der gute Sinn des Weltenlaufes und der
Menscheitsgeschichte in strahlender Klarheit aufgehen? Verges-
sen wir dann nicht, daß, auch gerade wenn wir Gott von Ange-
sicht zu Angesicht schauen, er auch in seiner Freiheit, in der er
die Weltgeschichte verfügt, der Unbegreifliche ist und gerade
diese Unbegreiflichkeit, an der wir hier leiden, dort erst recht mit
schrecklichem Glanze erstrahlt? Gilt, wenn wir die Unbegreif-
lichkeit der Entscheidungen des freien Gottes ernst nehmen,
nicht erst recht für den Himmel, was der Psalmist (94,6) in der
Vulgata betet: «Kommt, laßt uns anbeten und niederfallen und
247
weinen vor dem Herrn, der uns gemacht hat?» Sagt nicht Paulus
gerade von dem freien Heilshandeln Gottes, seine Gerichte seien
unbegreiflich und seine Wege unerforschlich (Röm: 11,35)? Ist
das nur wahr, solange wir noch auf diesen Wegen pilgern oder
gilt es nicht erst recht, wenn wir am Ende dieser Wege ange-
kommen sind?
Es ist nicht so einfach, bei der Sinnfrage an Gott zu appellieren
und dabei zu meinen, es sei dann alles klar, alle Finsternis aufge-
lichtet, alle Probleme gelöst, aller Sinn in reiner Fülle herbei-
gerufen, wenn man das Wort Gott nennt. Man könnte, wenn
man dieses Wort wirklich versteht, ebensogut sagen, es verbiete
sich jetzt und in alle Ewigkeit, in irgendeiner Wirklichkeit einen
Sinn zu suchen und zu finden meinen, der für uns ergreifbar und
durchschaubar ist. \
Was sollen wir sagen’? Eines ist sicher: Wenn wir die Sinnfrage
stellen und zu beantworten suchen unter dem neuzeitlichen Er-
kenntnisideal, nach dem Erkenntnis erst dann zu ihrem Wesen
und Ziel kommt, wenn sie durchschaut und so das Erkannte be-
herrscht, wenn sie auflöst in das für uns Fraglose und Selbstver-
ständliche, wenn sie nur mit klaren Ideen arbeiten will und die
Bedingungen der Möglichkeit ihrer selbst bis zum letzten reflek-
tieren will, wenn sie sich selber als autonom die Grenzen dessen
setzen will, was sie angeht und was nicht, wenn sie über das
schweigen will, worüber man nicht klar reden kann, wenn ihr
Interesse nur den funktionalen Zusammenhängen der Einzelhei-
ten ihrer Erfahrungswelt gilt, kurz, wenn das neuzeitliche Er-
kenntnisideal als selbstverständlich und keiner Rechtfertigung
bedürftig herrscht, dann kann das Wort von der Unbegreiflich-
keit Gottes nur noch als Todesurteil über die Sinnfrage verstan-
den werden, wobei es dann gleichgültig ist, wie man bei diesem
Verbot einer universalen Sinnfrage mit dem Leben fertig werden
will.
118
von der Unbegreiflichkeit Gottes nicht nur irgendwo innerhalb
des theologischen Systems auch aus, sondern anerkennen seine
Macht über alles andere und konfrontieren es mit dieser Sinn-
frage. Unter diesen Voraussetzungen scheinen uns vor allem zwei
Fragen zu stellen zu sein: Erstens, wie muß grundsätzlich und
von vornherein das Wesen der menschlichen Erkenntnis gedacht
werden, damit sie die Frage nach der Unbegreiflichkeit Gottes
überhaupt stellen kann, damit deutlich wird, daß sie das Befaßt-
sein mit der Unbegreiflichkeit Gottes sich nicht von vornherein
verbieten darf; zweitens, wie muß genauer der Akt des Menschen
gedacht werden, in dem der Mensch die Unbegreiflichkeit Gottes
vorlassen kann, ohne an dieser Unbegreiflichkeit zu zerbrechen
oder sie als für ihn selbst gleichgültig beiseite zu schieben ?Diese
beiden Fragen hängen natürlich eng zusammen, sind aber nicht
einfach identisch, da erst die zweite Frage deutlich macht, daß
die Erkenntnis als solche sich selber überschreiten, sich in das
Ganze der menschlichen Existenz hinein aufheben muß, wenn
sie vor die Unbegreiflichkeit Gottes gerät.
Daß die Beantwortung dieser beiden Fragen etwas mit der an-
gemessenen Stellung der Sinnfrage und ihres Verständnisses zu
tun hat, ist ohne weiteres klar: Absoluten Sinn gibt es für uns
nur in Gott, und darum kann diese Sinnfrage nur richtig verstan-
den und beantwortet werden, wenn immer gleichzeitig an Gottes
Unbegreiflichkeit und darum an die beiden Fragen gedacht wird,
die eben formuliert wurden. Natürlich können hier zu diesen bei-
den Fragen nur ein paar Andeutungen vorgetragen werden, die
von der Sache selbst immer wieder überfordert sind.
a) Wie muß die Erkenntnis selbst im ersten Ansatz gedacht
werden, damit sie überhaupt mit der Unbegreiflichkeit Gottes
etwas zu tun haben kann? Wenn die Vernunft schon im ersten
Ansatz das Vermögen der Erkenntnis der Einzelwirklichkeiten
des Bewußtseins und ihrer gegenseitigen funktionellen Ver-
knüpfungen wäre, dann könnte die Unbegreiflichkeit Gottes
weder als Frage noch als Aussage zur Gegebenheit kommen oder
müßte von ihr von vornherein als ein Unbegriff wie der eines
viereckigen Kreises abgelehnt und verworfen werden als ein
Wort, unter dem man sich nur scheinbar etwas denken kann.
149
Der erkennende Geist des Menschen kann nicht so gedacht wer-
den, daß er bloß im Lauf seiner Unternehmungen auch einmal
auf das stößt, das man Gott nennt, und diesem zufälligen Gegen-
stand dann auch noch das Prädikat « Unbegreiflichkeit » zuerteilt
als eine Eigenschaft, die diesem zufällig entdeckten Einzelgegen-
stand der Erkenntnis neben andern auch noch zukommt. Wird
die Vernunft des Menschen so neuzeitlich, so aposteriorisch, po-
sitivistisch, funktionell begriffen (auch wenn dann noch wissen-
schaftstheoretisch die Regeln des Funktionierens dieser so ge-
dachten Vernunft entfaltet werden), dann kann diese Vernunft
nie das Vermögen der Erkenntnis der Unbegreiflichkeit Gottes
sein, schon darum nicht, weil Gott selbst nieht so als partikulärer
Einzelgegenstand unter den übrigen Gegebenheiten des Bewußt-
seins gedacht werden kann, und weil eine Vernunft, die es
schlechthin zunächst mit dem durch funktionale Zusammenhänge
Bestimmbaren zu tun hat, es nicht hinterdrein mit etwas zu tun
bekommen kann, das solcher so gedachten Apriorität möglicher
Bewußtseinsgegebenheiten schlechthin widerspricht. Die Ver-
nunft muß ursprünglicher gerade als das Vermögen des Unbe-
greiflichen verstanden werden, als Vermögen des Ergriffenwerdens
durch das immer Unbewältigbare, ursprünglich nicht als Ver-
mögen des Begreifens, das bewältigt und untertan macht. Die
Vernunft muß verstanden werden als (um mit Thomas von Aquin
zu sprechen) Vermögen des excessus, als Vor-gang in das Unzu-
gängliche. Wenn die Vernunft nicht von vornherein als das Ver-
mögen der Unbegreiflichkeit, des unauslotbaren Geheimnisses,
als das Innewerden des Unaussagbaren begriffen würde, dann
käme alle nachträgliche Rede von der Unbegreiflichkeit Gottes
zu spät, stieße auf taube Ohren, könnte nur als Anzeige eines nur
vorläufigen Restes an Gegenständlichkeit verstanden werden, der
von der alles verzehrenden Vernunft noch nicht aufgearbeitet ist,
_ es aber über kurz oder wenigstens lang sein wird.
Nun ist aber tatsächlich die Vernunft dieses Wesens, auch
wenn sie immer gerne bei dem klar Begriffenen und Umgriffe-
nen halt macht und verweilt, auch wenn sie immer vergißt,
von wo die klare Helle ihrer Einzelerkenntnisse herkommt. Sie
hat ja jeden Gegenstand, wenn sie ihn ergreift und begreift, im-
120
ı
121
chen, nur von seinem asymptotisch angestrebten Ziel selbst be-
endet werden kann, wenn dieses sich selbst gibt, aber dann gerade
als die nackte Unbegreiflichkeit, die nicht mehr verschleiert ist),
sagt immer aufs neue, daß das Begriffene vom Unbegreiflichen
und das Begreifen vom Walten der Unbegreiflichkeit lebt.
Man kann solches, wenn man will, als müßige Dialektik und
billige Paradoxie abtun, mit der Aufforderung, sich an das Klare
und Greifbare zu halten. Man kann aber solches auch nur in der
rationalistischen Theorie tun und gerät in der Bitterkeit des
scheiternden Lebens, ob man will oder nicht, doch immer wieder
in diese Grenzerfahrung hinein, so daß man dabei dann sich höch-
stens fragen kann, ob das Jenseits dieses Feldes klarer Erkennt-
nisse und autonom durchführbarer Pläne den Sturz in eine bo-
denlose Sinnlosigkeit bedeute oder das Aufgefangenwerden durch
eine bergende, uns und unsere Frage schlechthin uns abnehmende
Unbegreiflichkeit. ;
b) Damit kommen wir zu unserer zweiten Frage, die wir uns
gestellt haben und die natürlich mit der ersten unmittelbar zu-
sammenhängt. Wir fragten bisher nach der erkennenden Ver-
nunft und haben sie im voraus zu ihrer festlegend begreifenden
Funktion als das Vermögen des Kommens vor die Unbegreiflich-
keit selbst bestimmt. Weil dies die ursprüngliche Bestimmung
der erkennenden Vernunft selber ist und nicht nur ein sie unver-
sehens treffendes Endschicksal ihres Ganges, darum sind wir keine
Irrationalisten; denn dieses ursprüngliche Ausgesetztsein in die
Unbegreiflichkeit hinein ist ja gerade als Bedingung der Möglich-
keit der begrifflich feststellenden, abgrenzenden und unter-
scheidenden Erkenntnis erfaßt. Aber wenn wir die Vernunft
so beschreiben, sind wir doch auch schon über sie hinausgelangt,
haben wir, gerade um ihr Wesen selber ursprünglich zu bestim-
men, sie auch auf ein Größeres und Umfassenderes überschritten,
weil — wer an Gott glaubt, kann das letztlich nicht bezweifeln —
Wesenserfassung immer letztlich nur in einer Wesensüberschrei-
tung möglich ist. Und somit müssen wir nun die zweite Frage
stellen, die wir uns vorgenommen haben: Wie muß genauer der
Akt des Menschen gedacht werden, in dem der Mensch die Un-
begreiflichkeit Gottes vorlassen kann, ohne an dieser Unbegreif-
122
lichkeit zu zerbrechen oder sie als für ihn selbst gleichgültig bei-
seite zu schieben ?
Bevor wir diese Frage genauer zu beantworten versuchen, seien
ein paar Vorbemerkungen gemacht, um die Antwort auf diese
Frage von vornherein gegen Einwände und Mißverständnisse zu
schützen.
Mit Thomas von Aquin sind wir durchaus der Überzeugung,
daß sich Erkenntnis einerseits und Wille (als Freiheit und Liebe)
anderseits unterscheiden lassen als Vermögen, die einer letzten
substantiellen Einheit des Menschen als verschiedene entspringen
und in dieser Einheit zusammengehalten werden in einer Art
Perichorese (gegenseitiger Durchdringung), um einen Begriff
der Trinitätstheologie analog zu verwenden. Zugleich aber sind
wir der Überzeugung, daß Thomas das Tiefste über die Verschie-
denheit dieser beiden Vermögen untereinander nicht da ent-
wickelt, wo er sie voneinander abgrenzt und daraus Folgerungen
zieht, wie etwa die, daß das eigentliche Wesen der seligen Schau
Gottes im Vollzug des Intellekts als solchen bestehe, sondern dort,
wo er der Sache nach die Einheit und das gegenseitige Bedin-
gungsverhältnis (wenn auch in einer Ordnung, analog der, die in
der Trinität Gottes gegeben ist) der Transzendentalien verum
(Wahrheit) und bonum (Gutheit) behandelt. Wenn wir die Meta-
physik dieser Transzendentalien in ihrer Einheit und ihrem ge-
genseitigen Bedingungsverhältnis und ihrer Unterschiedenheit
bedenken und ernst nehmen, dann können wir auch gut thoma-
sisch auf unsere Frage antworten: Dieser Akt, in dem der Mensch
die Unbegreiflichkeit Gottes (und damit den umfassenden Sinn
seines Daseins) vorlassen und annehmen kann, ohne daran
zu zer-
brechen und ohne davon wegzufliehen in die Banalität seines kla-
ren Wissens und eines nur auf solchem durchschauten und mani-
pulierenden Wissen beruhenden Sinnverlangens, ist der Akt der
sich selbst weggebenden und sich eben dieser Unbegreiflichkeit
als solcher anvertrauenden Liebe, in der die Erkenntnis, sich
selbst zu ihrem Überwesen überbietend, erst bei sich selber ist,
indem sie Liebe wird.
Man mag diesen Satz, den wir noch zu erläutern haben, paradox
finden, aber er drückt nur die Paradoxie der letzten Einheit der
123
verschiedenen Vermögen des Menschen aus, in der jedes Vermö-
gen letztlich nur zu sich selber kommt, wenn es sich in das andere
hinein aufhebt, und in der das Ganze mit Recht nach dem letzten
Moment in der Ordnung dieser Momente benannt wird (so ähn-
lich wie wenn wir sagen: Gott ist Geist und ihn so mit dem Na-
men seiner dritten Subsistenzweise benennen).
Wir können die Antwort, die wir auf die zweite Frage geben,
uns gewissermaßen auf einem gegenläufigen Weg verständlich
machen, indem wir fragen, wie muß der Akt beschaffen sein, in.
dem es der Mensch als Vernunft vor der Unbegreiflichkeit Gottes
aushalten kann, diese Unbegreiflichkeit nicht als die unendliche
Mauer empfindet, die das kleine Feld seiner Seligkeit von allen
Seiten eingrenzt, so daß er auf diesem kleinen Bezirk des Glückes
nur selig zu sein vermag, indem er ängstlich seinen Blick senkt,
um ja mit dieser in alle Himmel ragenden Mauer nichts zu tun
zu haben? Wie muß der Akt benannt werden, wenn es ihn über-
haupt geben soll, in dem das Vorkommen des unbegreiflichen
Geheimnisses in seiner unerbittlichen Eindeutigkeit und End-
gültigkeit selbst ewige Seligkeit bedeutet und nicht ihre doch
wieder: alles zunichte machende Grenze? Wir können nur ant-
worten: Wenn es diesen Akt überhaupt gibt, wenn es ihn gibt,
weil wir auf ihn gar nicht verzichten können, wenn wir für ihn
aus dem Bereich unserer letzten Erfahrungen heraus einen Na-
men suchen, dann können wir nur sagen: Liebe. Freilich muß
dann gerade das, was wir Liebe nennen, nicht von irgendwoher
sonst bestimmt werden, sondern von der Erfahrung her, die wir
im Vorkommen des unbegreiflichen Geheimnisses machen. Liebe
ist im letzten gerade die Annahme der Unbegreiflichkeit, die wir
Gott in seinem Wesen und seiner Freiheit nennen, als bergende,
als für immer gültig bejahte, als uns annehmende.
Aber dieses Wesen der Liebe Gottes, das sich gerade und letzt-
lich nur in der Annahme seiner Unbegreiflichkeit als beseligende
und nicht als vernichtende enthüllt, ist uns doch auch wieder von
den kleinen Erfahrungen her zugänglich, die wir sonst in per-
sonaler Liebe machen. Geschieht nicht dort, wo ein Mensch dem
andern in wirklich personaler Liebe begegnet, eine Annahme des
Nichtdurchschauten, eine Annahme dessen an der anderen Per-
124
son des Geliebten, das man sich nicht selber erkennend und so be-
herrschbar untertan gemacht hat? Ist personale Liebe nicht ver-
trauende Weggabe ohne Rückversicherung an die andere Person,
gerade insofern sie die freie, unkalkulierbare ist und bleibt? Es
soll nicht gesagt werden, daß im eigentlichen, univoken Sinne die
absolut einmalige Liebe zu Gott subsumiert werden könne unter
eine uns ohne weiteres erfahrbare zwischenmenschliche Liebe;
die beiden Größen haben nur eine analoge Übereinkunft, also so,
daß mitten in der Übereinkunft imıner aufs neue die größere
Verschiedenheit aufbricht (um ein Wort des IV. Laterankonzils
über das Verhältnis zwischen Gott und Kreatur zu variieren).
Aber eine Ahnung unseres Verhältnisses zu Gott gibt uns die zwi-
schenmenschliche Liebe eben doch; sie berechtigt uns zu sagen,
daß der Akt, in dem das Subjekt, sich selber und seine auf sich
bezogenen Ansprüche lassend, sich dem unbegreiflichen und
ewig unbegreiflich bleibenden Geheimnis übergibt, am besten
doch Liebe genannt werden kann, weil Erkenntnis, rein als solche
selber in unserem alltäglichen Erfahrungsbereich, wenn auch
nicht in ihrem letzten Wesen, den Charakter des Sichaneignens
und der Beherrschung des Erkannten an sich trägt, während dies
bei echter zwischenmenschlicher Liebe auch schon im empiri-
schen Kreis des Lebens nicht der Fall ist. Dabei bleibt wahr, daß
im Akt des gelassenen und sich selber lassenden Übereignens des _
Subjekts an die Unbegreiflichkeit Gottes als solche, die dann nicht
mehr Begrenzung, sondern gerade der Inhalt unseres. Verhält-
nisses zu Gott ist, erst eigentlich das ursprünglichste Wesen der
Liebe aufgeht, von der die zwischenmenschliche Liebe nur ein
kreatürlicher Abglanz ist.
Gewiß ist das Verhältnis zwischen dem Grundakt der Men-
schen der Unbegreiflichkeit Gottes gegenüber, insofern er Er-
kenntnis ist und insofern er Erkenntnis überbietende freie Liebe
ist, noch nicht wirklich genügend bestimmt. Aber, wie schon an-
gedeutet wurde, wäre diese letzte Verhältnisbestimmung nicht
auf der Ebene einer Vermögenslehre bei Thomas vorzunehmen,
sondern mittels einer Lehre der Transzendentalien Wahr und
Gut und deren Verhältnis zueinander. Denn nur so kann deutlich
werden, daß die Liebe (vielleicht würden wir heute auch sagen:
125
die Freiheit, die Praxis) auch die Bedingung der Erkenntnis des
Wahren (der Theorie) sein kann und sein muß, so daß eben dieses
Verhältnis einer Perichorese der beiden Transzendentalien vor
der Unbegreiflichkeit Gottes zu seinem radikalsten Wesensvoll-
zug kommt.
126
Unsere Verkündigung muß den Mut haben zu sagen, daß die
letzte Sinnfrage nur dann richtig gestellt ist, wenn sie die Frage
der freien Liebe ist, die sich loslassen und das Unbegreifliche als
das wunderbar und selig Selbstverständliche erleben kann. Die
Sinnfrage muß als Frage unerbittlich selber geläutert werden,
indem ihr die Unbegreiflichkeit Gottes entgegenkommt und sie
selber in die Frage stellt, ob sie es vermag, sich als die Frage nach
einer Unbegreiflichkeit zu verstehen, die selig macht, oder ob sie
insgeheim, weil letztlich ein dritter Sinn nicht möglich ist, die
Unbegreiflichkeit Gottes nur als ein anderes Wort für die leere
Absurdität des Daseins verstehen will.
Hier bei dieser Frage sind «objektive» Erkenntnis und letzte
freie Entscheidung nicht mehr zu trennen. Und eben dies muß
die Verkündigung als mit jeder Theorie von Anfang an unweiger-
lich gegeben deutlich machen; sie muß klar machen, daß auch
die Erkenntnis selbst gut oder böse ist, je nachdem sie die Unbe-
greiflichkeit der Existenz, die von der Unbegreiflichkeit Gottes
her kommt, als seligmachend oder als im letzten abscheulich ver-
stehen will. Die heutige Verkündigung ist, gerade wenn sie Gott
als letzte Antwort der Sinnfrage preist, in Versuchung, Gott zum
kleinen Mittel des kleinen Menschen zu machen, Gott nur das zu
erlauben, was dem kurzsichtig egoistischen Menschen für sich
selber brauchbar erscheint, ohne radikal zu begreifen und zu ver-
künden, daß der Mensch nur selig werden kann mit einem Gott,
der unbegreiflich größer ist als er selber und gerade dadurch die
wahre Seligkeit des Menschen.
Wo redet heute die christliche Verkündigung deutlich und hart
genug vom Gott der Gerichte, der ewig unbegreiflichen Wege
und Entschlüsse seiner Freiheit? Gewiß ist das Christentum die
Verkündigung des Sieges der Gnade von Gott her und nicht
eigentlich bloß das ambivalente Angebot von zwei Möglichkeiten
an die Freiheit des Menschen, der Seligkeit und der ewigen Ver-
lorenheit. Aber eben diese Botschaft, daß Gottes gnädige Freiheit
mächtiger ist als die Freiheit des Menschen und diese immer
schon überholt hat, ohne sie aufzuheben, wird nur richtig ver-
standen, wenn sie selber noch einmal gehört wird als Ereignis der
Unbegreiflichkeit der Freiheit Gottes und nicht als eine selbst-
127
verständliche Einsicht, in der wir die Gerichte Gottes doch über-
listen, wenn sie gehört wird als Appell an die Freiheit des Men-
schen, sich bedingungslos der Unbegreiflichkeit Gottes ohne Vor-
behalt und ohne Rückversicherung anzuvertrauen, weil darin
allein die Freiheit frei wird und selig. Der Rekurs auf Gott als
Antwort auf die Sinnfrage des Menschen als totale ist richtig und
unerläßlich. Er wird aber zur Schaffung eines menschlichen
Götzen, wenn er nicht den Menschen, sich lassend, sich anver-
trauend und nur so selig, kommen läßt vor die Unbegreiflichkeit
Gottes.
EINZIGKEIT UND DREIFALTIGKEIT GOTTES
IM GESPRÄCH MIT DEM ISLAM
Die Frage nach der Einzigkeit Gottes ist gewiß ein, wenn nicht
das zentralste, Thema, das in einer Begegnung zwischen islami-
schen und christlichen Theologen behandelt werden muß. Die
Religion Israels, das Christentum und der Islam sind die drei
großen Weltreligionen, die einen primären Monotheismus be-
kennen, wobei sich Christentum und Islam in einer ausdrück-
lichen Nachfolge des alttestamentlichen Monotheismus wissen.
Das Christentum bekennt aber in einer immer deutlicher und
reflexer gewordenen Glaubens- und Theologiegeschichte die Drei-
faltigkeit des einen Gottes und wird daher vom alttestamentlichen
Monotheismus und vom Glauben des Islams und seiner Theologie
gefragt, ob nicht das Bekenntnis zum dreifaltigen Gott doch im
Grunde einen schlechterdings verwerflichen Tritheismus dar-
stelle und das christliche Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes doch
bloß eine Verschleierung eines solchen Tritheismus bedeute oder
(wenn man dies so radikal nicht behaupten solle) eben doch eine
Lehre sei, die religiös und logisch nicht wirklich von dem nach-
vollzogen werden könne, für den das Bekenntnis zur Einzigkeit
Gottes nicht bloß irgendein verbal oder theoretisch festgehaltener
Satz ist, sondern die Mitte seiner Existenz in Theorie und Praxis.
Man könnte natürlich an sich diese Frage auch umgekehrt vom
Christentum her an die beiden anderen Weltreligionen stellen,
d. h. fragen, ob nicht (bei Voraussetzung einer eigentlichen Offen-
barungsgeschichte, in der der eine und letzte Inhalt der Glaubens-
substanz sich doch langsam deutlicher artikuliert, aber so dann
nicht mehr vergessen werden darf) diese beiden Weltreligionen
hinter jener Verdeutlichung und Radikalisierung des Monotheis-
mus zurückbleiben, die gerade in der Trinitätslehre zum Aus-
druck kommen. Aber für die von mir zu behandelnde Aufgabe
soll es mit der ersten Fragerichtung sein Bewenden haben.
Es wird also hier nur gefragt, warum die christliche Trinitäts-
lehre das wirkliche Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes nicht auf-
hebe oder bedrohe. Es ist bei einer solchen Fragestellung, bei de-
129
ren Beantwortung nicht alles und jedes gleichmäßig explizit wer-
den kann, selbstverständlich, daß die Trinitätslehre in sich nicht
einfach in ihrer ganzen Fülle und Lebendigkeit ausdrücklich
thematisch werden kann. Wenn sie, so wie sie hier zur Sprache
kommt, dem christlichen Theologen in etwa blaß und mit einer
gewissen skeptischen Verhaltenheit vorgetragen erscheinen mag,
dann sei dies von vornherein zugestanden und ist durch die be-
grenzte Aufgabe der folgenden Überlegungen legitimiert. Bei
dieser Aufgabe ist es gar nicht vermeidbar, daß Theologumena
und Interpretationen der christlichen Trinitätslehre vorgetragen
werden, die unter christlichen Theologen in etwa kontrovers sein
"können. Diese Überlegungen gehen von der Überzeugung aus,
daß, wollte man einfach die definierte Kirchenlehre über die
Trinität wiederholen, ohne sie auch gleichzeitig auf eigene Rech-
nung und Gefahr des Theologen zu interpretieren, man der hier
gestellten Aufgabe nicht genügend gerecht würde. In dem
Augenblick, in dem man die kirchenlehramtliche Trinitätslehre
auf einen islamischen Theologen hin, um sein Verständnis wer-
bend, vortragen will, muß man zu vermutende Mißverständnisse
dieser Lehre abwehren, die einerseits nicht einfach schon durch
die Wiederholung der kirchenamtlichen Lehre in jeder Hinsicht
genügend ausgeräumt zu sein scheinen, die aber andererseits
wohl nur überwunden werden können, allerdings in einer theolo-
gischen Überlegung, die der christliche Theologe doch weitgehend
auf eigene Rechnung und Gefahr leisten muß.
Bei diesem meinem Unternehmen ist noch folgendes zu beto-
nen: Ich bin leider kein Kenner der islamischen Theologie. Da-
mit ist von vornherein ausgeschlossen, daß diese Überlegungen
- eine ausdrückliche Konfrontation zwischen christlicher und isla-
mischer Theologie versuchen, weil dann nämlich in diesen Über-
legungen auch der islamische Monotheismus dargestellt und in-
terpretiert werden müßte, in seiner Grundlehre, deren Variatio-
nen und deren Geschichte. Das aber ist mir schlechthin unmög-
lich. Ich kann also nur einige Überlegungen vortragen über das
Verhältnis zwischen dem christlichen Monotheismus und der
christlichen Trinitätslehre und dabei hoffen, daß solche Vorüber-
legungen für ein explizites Gespräch zwischen dem islamischen
150
und christlichen Monotheismus einen gewissen Nutzen bieten
können, damit ein solches Gespräch nicht gleich am Anfang an
Mißverständnissen der christlichen Trinitätslehre scheitert. Bei
diesen bloßen Vorüberlegungen ist bei mir auch der gute Wille
vorhanden, diese Überlegungen sich nicht in zu abstrakte Be-
griffsdialektik allein verlieren zu lassen, sondern, so gut es in
Kürze geht, die Frage nicht aus dem Auge zu lassen, was denn all
die sublimen und gar nicht einfach vermeidbaren Begrifflichkei-
ten in der Lehre vom einen und dreifaltigen Gott existentiell und
religiös austragen. — Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir
uns gleich der eigentlichen Sache selbst zuwenden, und zwar ohne
schon einen formalen Aufbau dieser Überlegungen im voraus an-
zukündigen, weil sich der sachliche Gang der Überlegungen aus
seiner Entwicklung selbst rechtfertigen muß.
Das Christentum ist eine primär und nicht nur sekundär mono- .
theistische Religion. Sie bekennt die Einzigkeit Gottes, des Got-
tes, den der Christ anbetet, von dem er sich geschaffen und ins
Heil gerufen weiß, den er in absolutem Gehorsam, in Glaube,
Hoffnung und Liebe anbetet. Nach Ausweis der christlichen Hei-
ligen Schriften und nach dem Bekenntnis der Christenheit ist
dieser Glaube an den einzigen Gott nicht nur irgendeine Lehre,
die in der Vielfalt christlicher Glaubenssätze auch vorkommt, son-
dern das wirkliche Grunddogma des Christentums schlechthin.
Beim Verständnis dieses Grunddogmas ist folgendes zu beachten:
Bei dem Bekenntnis zu der Einzigkeit Gottes handelt es sich nicht
primär um eine metaphysische Aussage, wenn auch eine solche
in diesem Bekenntnis notwendig impliziert ist. Es handelt sich
vielmehr um einen Satz, der innerhalb der Heils- und Offenba-
rungsgeschichte gehört und bekannt werden muß. Das Christen-
tum sagt primär nicht: Es gibt nur ein einziges Absolutes, son-
dern: Derjenige, der sich in der Heils- und Öffenbarungsge-
schichte an uns handelnd manifestiert, ist allein Gott; zu diesem
allein kann man wirklich jenes Verhältnis absoluter Hingabe
haben, die das Grundwesen der Religion ausmacht. Die Aussage
über die Einzigkeit Gottes geht also nicht auf ein abstraktes Ab-
solutum, neben dem von vornherein per definitionem kein ande-
res denkbar wäre, sondern auf den konkret in seinem Handeln an
70%
uns erfahrenen Gott, auf den Gott Abrahams, Isaaks, auf den
Gott der Propheten, den Gott Jesu. So aber ist dieser Satz alles
andere als eine metaphysische Selbstverständlichkeit,die nur der
leugnen könnte, der entweder den Satz von der notwendigen Ein-
zigkeit eines Absolutum überhaupt nicht verstanden hätte oder
gnostisch, manichäisch den metaphysischen Widersinn eines gu-
ten und bösen Absolutums nebeneinander meint denken zu kön-
nen. Der christliche Satz von der Einzigkeit Gottes geht auf ein
concretum absolutum. Und so ist er alles andere als selbstverständ-
lich. Denn er impliziert dann, daß entweder jedes Woraufhin
einer religiösen, wirklich radikal religiösen Erfahrung, wo immer
sie in der Religionsgeschichte auftritt und echt ist, dasselbe ist,
das als eines alle religiöse und numinose Erfahrungsgeschichte
von seiner Einzigkeit her zusammenhält und legitimiert, letzt-
lich also die Vielfalt und scheinbare Widersprüchlichkeit der Reli-
gionsgeschichte doch zu einer universalen Heilsgeschichte macht,
oder daß diese religiöse Intentionalität ihr Woraufhin schlecht-
hin verfehlt, einen Götzen und nicht Gott anbetet. Nochmals: So
gelesen ist dieser Satz nicht selbstverständlich. Immer waren die
Menschen in Versuchung, ihre numinosen Erfahrungen wegen
deren Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit auf verschiedene
Absoluta zurückzuführen, den Pluralismus ihrer religiösen Er-
fahrungen als letzte Gegebenheit zu interpretieren, in einer aus-
drücklichen oder unreflektierten Weise Polytheisten zu sein,
oder, wenn sie dies aus eher metaphysischen Gründen nicht zu
sein wagten, die letzte Einheit hinter diesem Pluralismus religiö-
ser Erfahrungen und deren Woraufhin in eine Region zu ver-
bannen, in der diese Einheit religiös für sie uninteressant ist. Die
monotheistischen Religionen, die etwas anderes sind als mono-
theistische Metaphysik, sagen aber: Diese letzte, ursprünglichste
Einheit, die alles trägt, unendlich und allmächtig ist, weilt nicht
bloß in einer fernen und dem Menschen grundsätzlich entzoge-
nen Einsamkeit, sondern kann, ohne ihre Einzigkeit zu zersplit-
tern, als sie selber in den Pluralismus dieser Welt selber eindrin-
gen und gegeben sein, selber konkret werden. Der Monotheismus
des Christentums und der beiden anderen Weltreligionen muß
daher sowohl als konkreter Monotheismus als auch als universaler
152
verstanden werden, weil der konkrete Gott, der in einer legiti-
men Religion handelnd auftritt, als dieser der einzige und abso-
lute ist und weil eben dieser Gott wegen seiner Absolutheit und
Einzigkeit der Gott aller Welt ist und wegen seines allgemeinen
Heilswillens überall in seiner Welt am Werke ist. Der so verstan-
dene Monotheismus der echten monotheistischen Religionen
muß daher entweder das Woraufhin anderer numinoser Erfah-
rungen und Religionen als auch auf den eigenen konkreten Gott
bezogen verstehen oder als ihr Ziel verfehlend ablehnen oder
solche numinosen Erfahrungen radikal relativieren und vom
eigentlichen Theismus absetzen, indem man sie, wie es in allen
drei monotheistischen Weltreligionen zu beobachten ist, als Er-
fahrungen von kreatürlichen Engelsmächten guter oder böser Art
interpretiert. Wenn der Gott des religiösen Monotheismus trotz
seiner Unendlichkeit, Unbegreiflichkeit und Weltüberlegenheit
(als Schöpfer) doch der konkrete Gott ist, der da sich zeigt, wo wir
sind, und dies, ohne dadurch selbst in einen Pluralismus numino-
ser Mächte zu zerfallen, dann haben alle diese drei monotheisti-
schen Religionen, jede in ihrer Weise und in verschiedener Radi-
kalität, unweigerlich eine (christlich gesagt) inkarnatorische
Eigentümlichkeit, weil die Konkretheit des in der Geschichte
handelnden Gottes ihn ja gerade in seiner einzigen wirklichen
Göttlichkeit selber anwesend sein lassen soll. Ob sich dann diese
inkarnatorische Eigentümlichkeit, die mit dem so verstandenen
Monotheismus gegeben ist, auf einen «Bund», auf ein Heiliges
Buch, das wirklich Gottes Buch selber ist, auf einen bestimmten
Menschen, der die Gegenwärtigkeit Gottes ist, bezieht, das ist
eine weitere Frage, der natürlich hier nicht nachgegangen wer-
den kann.
Nach diesen kurzen Andeutungen über den Sinn des christ-
lichen Monotheismus fragen wir nun: Ist er vereinbar mit der
christlichen Lehre von der Trinität Gottes oder nicht? Ist die
Lehre vom Monotheismus und die von der göttlichen Trinität
nur durch verbale Kunststücke vereinbar? Ist die gleichzeitige .
Gegebenheit dieser beiden Aussagen religiös vollziehbar? Unsere
Grundthese, die hier vorgetragen werden soll, geht dahin, daß die
Trinitätslehre nicht als Zusatz oder Abschwächung des christ-
155
lichen Monotheismus, sondern als dessen Radikalisierung ver-
standen werden kann und muß, vorausgesetzt nur, daß dieser
Monotheismus selbst wieder als konkreter Monotheismus heils-
geschichtlicher Erfahrung wirklich ernst genommen wird, der
Gott in seiner Einzigkeit nicht aus der heilsgeschichtlichen Er-
fahrung des Christentums hinaus und in eine metaphysisch ab-
strakte Einsamkeit verbannt.
Bei dieser Grundthese, die in einem positiven und nicht not-
wendig exklusiven Sinne verstanden werden muß, kommt es uns,
wie schon eingangs angedeutet wurde, nicht auf die Behauptung
an, daß unter dem Aspekt dieser These von der Trinität als Radi-
kalität des Monotheismus und nicht als dessen Zusatz oder Ab-
schwächung die ganze Fülle der christlichen Trinitätslehre zur
Gegebenheit kommen könne oder ob zu sagen ist, daß dies
nicht der Fall ist. Diese Frage darf hier auf sich beruhen. Bevor
wir uns unmittelbar dieser unserer Grundthese, sie erläuternd
und begründend, zuwenden, ist es wohl angebracht, einige, wenn
auch primitive, Mißverständnisse dieser christlichen Trinitäts-
lehre auszuräumen zu versuchen, weil solche Mißverständnisse
über diese Lehre nicht nur außerhalb des orthodoxen Christen-
tums (ja sogar vom Unitarismus an in liberalen Theologien, die
doch christlich sein wollen) verbreitet sind, sondern auch subku-
tan, latent in an sich und grundsätzlich orthodoxen Theologien
des Christentums sich bemerkbar zu machen scheinen, auch wenn
hier Belege dafür im einzelnen nicht beigebracht werden können.
Es kann hier natürlich die lange, schwierige und wechselvolle
Geschichte der Trinitätslehre nicht nochmals erzählt werden, die
der Sache nach, soweit sie eigentliches Dogma ist, in der Hoch-
patristik ihre dogmatisch verpflichtende bisher letzte Formulie-
rung gefunden hat, im Konzil von Florenz nochmals zusammen-
fassend ausgesagt ist und in der Hochscholastik und danach zwar
noch tiefsinnige weitere Auslegungen gefunden hat, die aber
doch Theologie und nicht Dogma des Christentums sind. Nur
unter Voraussetzung dieser kirchenlehramtlich verbindlichen
Lehre und deren Geschichte, sollen einige Bemerkungen vorge-
tragen werden, die sich gegen mögliche oder wirkliche Mißver-
ständnisse innerhalb und außerhalb der christlichen Orthodoxie
154
wenden. Ich möchte zunächst unbefangen und ehrlich sagen, daß
mir der Begriff « Person» in der Trinitätslehre mißverständlich
oder in Gefahr von Mißverständnissen zu sein scheint. Durch
diesen Satz wird nicht bestritten, daß beim Begriff der « Person »
für den katholischen Theologen eine verbindliche Sprachregelung
vorliegt, daß der Satz: Der eine Gott in seiner einzigen Wesenheit
subsistiert in drei Personen, richtig verstanden, richtig und de-
finierte Glaubenswahrheit ist. Aber mit dieser Selbstverständ-
lichkeit ist nicht ausgeschlossen, daß der Begriff « Person» doch
faktisch auch immer wieder mißverstanden werden kann und
mißverstanden worden ist. Es muß immer wieder daran erinnert
werden, daß die Geschichte eines bestimmten Begriffes in dogma-
tischen Aussagen, der im faktischen Verständnis nicht einfach
und allein von der Bedeutung lebt, die ihm die Kirche geben will,
nicht eine Geschichte ist, die allein vom kirchlichen Lehramt ge-
steuert würde oder gesteuert werden kann. Darum ist es an sich
nicht von vornherein ausgeschlossen, daß der Weitergang einer
solchen Begriffsgeschichte, die sich außerhalb des Glaubensberei-
ches vollzieht und doch auf das faktische Verständnis solcher Be-
griffe innerhalb eines dogmatischen Satzes einwirkt, die Brauch-
barkeit und Verständlichkeit kirchenamtlich verwendeter Begriffe
bedroht oder fast aufhebt und so etwas nur durch schwierige und
mühsame, eigens und nachträglich vorgetragene Stützungsmaß-
nahmen für den kirchlich gemeinten Sinn eines solchen Begriffes
hintangehalten werden kann. So etwas scheint mir heute und
vermutlich schon sehr lange beim Begriff «Person » gegeben zu
sein. Wenn ein heutiger Mensch innerhalb und außerhalb des
Christentums den Satz hört: In Gott sind drei Personen, dann
denkt er sich unwillkürlich drei Subjekte, deren Subjektivität,
Erkenntnis und Freiheit voneinander verschieden sind, und fragt
sich dann in einer gewissen logischen Verwirrtheit, wie denn drei
so verstandene Personen gleichzeitig ein und derselbe Gott sein
könnten. Auch wenn dieser heutige Mensch mit der amtlichen
Schultheologie definiert, Personalität sei die Subsistenz einer ra-
tionalen Natur, und wenn ihm gesagt wird, daß sich die rationale
Natur zahlenmäßig nicht vermehren müsse durch die Mehrheit
von Subsistenzen, dann ist er dennoch immer in Gefahr, die Ra-
155
tionalität dieser Subsistenzen mit ihnen als plural zu denken, drei
aufeinander bezogene geistige Aktzentren zu denken, die als
solche aufeinander bezogen sind. Oder umgekehrt: Wenn dieser
Hörer des Trinitätsdogmas diese logischen Schwierigkeiten nicht
empfindet und mehr oder weniger den Satz von der Einzigkeit
des göttlichen Wesens vergißt, wenn er von den drei göttlichen
Personen zu sprechen beginnt, dann stellt er sich unter den drei
voneinander verschiedenen Personen drei Wirklichkeiten vor,
die solche gegenseitige Beziehungen haben, die in ihrer Ver-
schiedenheit mindestens mitbegründet sind oder mitkonstituiert
gedacht werden durch Momente, die in Wirklichkeit nach dem
christlichen Trinitätsdogma gar nicht verschieden sind, sondern
zum essentialen Bereich Gottes gehören, den es in strenger Iden-
tität nur einmal gibt, was aber eben in dieser Vorstellung von drei
Personen (besonders unter dem stillschweigenden, aber wirksa-
men Einfluß eines modernen Personbegriffs) mehr oder weniger
vergessen wird. Diese vulgäre, nicht reflektierte, auch in der
hohen Theologie latent mitwirkende, aber radikal zu Ende ge-
dacht heterodoxe Vorstellung von drei Personen sucht (an sich
unvermeidlich) die gegenseitige Relationalität der drei Personen,
die nach dem Florenzer Konzil die drei « Personen » konstituiert,
inhaltlich spekulativ zu füllen und macht dabei dann bewußt
oder unbewußt Anleihen bei der Inhaltlichkeit der Essentialität
Gottes, obwohl man doch an sich weiß, daß dieses Wesen Gottes
und alles was es enthält, absolut einzig und einmalig ist und das
Dogma von dieser Einzigkeit des göttlichen Wesens radikal auf-
recht erhalten werden muß. Die « Personen » erkennen in dieser
Vorstellung einander, lieben sich gegenseitig, sprechen miteinan-
der und so weiter. Wenn man aber solche Verdeutlichungen der
Unterschiedenheit der drei « Personen» vornimmt, dann trägt
man in diese Gegenseitigkeit ihrer Relationen als die Verschie-
denheit der Personen selbst mitkonstituierend (mindestens von
dem sich vordrängenden modernen Personenbegriff her) essen-
tiale Wirklichkeiten Gottes ein, die esin Wirklichkeit nur einmal
gibt und die gar nicht Verschiedenheiten konstituieren können.
Wenn z.B. gesagt wird, zwischen den göttlichen Personen be-
stehe eine gegenseitige Erkenntnis und Liebe, so sollen solche
156
Sätze zwar nicht als heterodox verworfen werden, aber man kann
sich doch fragen, was solche Sätze genauer bedeuten sollen, wenn
Erkenntnis und Liebe auf jeden Fall zunächst in den Bereich des
einen Wesens Gottes gehören, wenn nicht deutlich bleibt, was
man sich unter einem dreifach personalen Relativen bei Erkennt-
nis und Liebe denken soll, wenn und insofern diese Relationalität
klar (wenn auch nur begrifflich) von der Essentialität des Er-
kennens und Liebens unterschieden wird, wenn z. B. auch mit-
bedacht wird (z. B. beim Satz, der Heilige Geist sei die gegensei-
tige Liebe von Vater und Sohn), daß Vater und Sohn durch den
Besitz des göttlichen Wesens schon essentiale Liebe notwendiger-
weise sind und sie in der Hauchung des Geistes streng nur als ein
einziges Prinzip gedacht werden müssen. Die Verlegenheit, die
mit einem Personbegriff in der Trinitätslehre entsteht (min-
destens wo sich der moderne Personbegriff immer wieder und
heute zwangsläufig vordrängt), zeigt sich ja auch schon in der
klassischen Schultrinitätslehre seit Augustinus und im Mittel-
alter: Man muß sagen, daß der Vater sich erkennt, weil er im
Besitz des ursprünglichen Wesens Gottes ist, er sagt den Logos,
weil er in seinem ursprunglosen, erkennenden Selbstbesitz durch
sein Wesen ist, und man will dennoch verständlich machen, daß
der Vater sich erkennt, indem er und dadurch, daß er den ewigen
Logos als von ihm verschiedenen aussagt. Diese ganze Problema-
tik kann hier nicht weiter verfolgt und ausgebreitet werden. Es
soll auch nicht bestritten werden, daß sie grundsätzlich in Be-
rufung auf das unergründliche Geheimnis des trinitarischen Got-
tes letztlich ausgehalten werden dürfe, ohne sie absolut logisch zu
bewältigen. Aber mit einer solchen Berufung darf man sich auch
nicht dort solcher Problematik entledigen, wo sie unter Umständen
nicht durch das Mysterium unvermeidlich gegeben ist, sondern
durch eine indiskrete und spekulativ zu unbedachte Verwendung
des Personbegriffs gegeben ist. Letztlich sollte wenigstens hier
durch die eben vorgetragenen Bemerkungen nicht mehr als eine
solche Warnung vor der Problematik einer indiskreten Verwen-
dung des Personbegriffs in der Trinitätslehre ausgesprochen wer-
den. Eine solche Warnung kann noch von einer anderen Seite her
verdeutlicht werden: In der kirchenamtlichen Lehre über die
157
Trinität werden zwar «Person» und «Hypostase » (Subsistenz)
gleichsinnig gebraucht, wenn man davon absieht, daß die Hypo-
stase einer Person die Subsistenz einer geistigen Natur (die es in
Gott nur einzig gibt) meint. Dennoch sind diese beiden Begriffe
in ihrer geschichtlichen Herkunft und auch in ihrer Verwendung
einerseits vorwiegend in der lateinischen Theologie und anderer-
seits vorwiegend in der griechischen Patristik und auch in der der
Formulierung der Trinitätslehre nachfolgenden Geschichte nicht
einfach synonym, haben mindestens deutlich bemerkbare Nuan-
cierungen, durch die sie gegenseitig voneinander abgehoben sind.
Jedenfalls hat doch der Begriff der Hypostase jene Entwicklung
und Annäherung des Personbegriffs an ein modernes Verständnis
von Subjektivität nicht mitgemacht, durch die im Begriff der
Person eine solche Personalität und Subjektivität sich vordrängt,
die den Begriff der Person in seiner Verwendung in der Trinitäts-
lehre immer problematischer macht, sowohl im vulgären Ver-
ständnis der Trinitätslehre außerhalb des orthodoxen Christen-
tums, als auch in seiner spekulativen Auswertung innerhalb einer
Trinitätslehre, die orthodox sein und die Einzigkeit des göttlichen
Wesens nicht verdunkeln will. Von da aus könnte man sich doch
wohl fragen, ob nicht heute, ohne die Legitimität der traditionel-
len, kirchenamtlichen Sprachregelung, die von drei Personen in
Gott redet, zu bestreiten, der Begriff von drei Hypostasen in Gott,
also (etwas moderner formuliert der Begriff von drei Subsistenz-
weisen des einen Gottes in seiner einzigen Wesenheit) angemesse-
ner wäre, leichter vulgäre Mißverständnisse der Trinitätslehre
und auch in letztlich indiskreten spekulativen Ausdeutungen die-
ser Lehre in der landläufigen christlichen Theologie hintanhalten
könnte. Mir will, wenn man das als einzelner Theologe unbeschei-
den sagen darf, scheinen, daß der Begriff der Hypostase oder Sub-
sistenzweise einerseits durchaus geeignet ist, die wirkliche Sub-
stanz des Trinitätsdogmas auszusagen und festzuhalten, und an-
dererseits doch weniger Gefahren eines im letzten tritheistischen
Mißverständnisses des trinitarischen Dogmas heraufzubeschwö-
ren. Aber das alles waren und konnten nur sehr kurze und unbe-
holfene Andeutungen sein. Jedenfalls ist es nicht so, daß man
irgendeinen, sehr unklaren, undeutlichen und immer in einer
1358
geschichtlichen Weiterentwicklung stehenden Begriff von « Per-
son» nehmen dürfte, mit ihm von drei göttlichen Personen in
Gott reden könnte und dann überzeugt sein dürfe, man habe das
Trinitätsdogma verstanden und richtig ausgesagt. Diese War-
nung war eigentlich vorläufig der einzige kurze Sinn der langen
Rede. Aber diese Warnung scheint mir wichtig. Auch der isla-
mische Theologe darf und muß sich sagen, daß sein Nein zur
christlichen Trinitätslehre damit rechnen muß, ein Nein zu sein
zu einem Satz, der gar nicht Inhalt der christlichen Lehre ist,
wenn sich schon der christliche Theologe nicht leicht tut, in sei-
nem eigenen Denken sich von Mißverständnissen des Begriffs
Person abzugrenzen, den er dauernd gebraucht.
Um nun endlich unmittelbarer und greifbarer zu der schon
früher formulierten Grundthese, daß die Trinitätslehre nicht Zu-
satz und Abschwächung, sondern Radikalisierung des christlichen
Monotheismus ist, zu kommen, fangen wir nochmals bei einem
anderen Ansatzpunkt an. Wir gehen von dem Satz aus, daß die
ökonomische Trinität die immanente Trinität zst und umgekehrt.
Ich weiß nicht genau, seit wann und von wem dieses theologische
Axiom erstmals formuliert worden ist. Aber es scheint sich doch
heute in der Theologie durchzusetzen oder ist mindestens ein
Theologoumenon, das nicht von vornherein als heterodox ver-
worfen werden kann, sondern getrost in theologischen Überle-
gungen eingesetzt werden darf. Daß es ein heilsökonomisches
Verständnis der Trinitätslehre gibt, daß es eine heilsgeschicht-
liche und offenbarungsgeschichtliche Erfahrung dreifaltiger Art
gibt, kann ein Christ im Ernst nicht bestreiten. In der Offen-
barungs- und Heilsgeschichte hat er es mit dem unaussprech-
lichen Geheimnis des unumgreifbaren, ursprunglosen Gottes,
Vater genannt, zu tun, der nicht in einer metaphysischen Ferne
west und verbleibt, sondern bei aller seiner Unbegreiflichkeit
und Souveränität und Freiheit sich selber der Kreatur mitteilen
will als deren ewiges Leben in Wahrheit und Liebe. Dieser eine
und unbegreifliche Gott ist in einer unüberholbaren Weise ge-
schichtlich dem Menschen in Jesus Christus nahe, der nicht ir-
gendein Prophet in einer immer offenen Reihe von Propheten
ist, sondern die endgültige und unüberholbare Selbstzusage dieses
159
einen Gottes in der Geschichte. Und dieser eine und selbe Gott
teilt sich selber dem Menschen als Heiliger Geist in der innersten
Mitte der menschlichen Existenz zu dem Heil und der Vollendung
mit, die Gott selbst ist. Es gibt also für den christlichen Glauben
zwei radikalste und endgültige und unüberbietbare Gegebenhei-
ten, Daseinsweisen des einen Gottes in der Welt, die das frei von
Gott gewährte endgültige Heil der Welt sind, in Geschichte und
Transzendenz. Diese beiden Gegebenheiten sind als bleibende
immer zu unterscheiden, wenn sie sich auch (was hier nicht eigens
dargelegt werden soll), gegenseitig bedingen. Daß es nur zwei
solche Gegebenheiten Gottes selbst in sich selbst für seine Schöp-
fung gibt, ist natürlich nicht von vornherein einsichtig. Wenn wir
die Lehre von der immanenten Trinität über die zwei innergött-
lichen Hervorgänge als nur zwei schon voraussetzen könnten,
dann wäre die Frage nach der Exklusivität der zwei göttlichen
Gegebenheitsweisen für die Welt einfach zu beantworten. Dä wir
aber hier zunächst erst noch die ökonomische Trinität als imma-
nente zu verstehen haben, ist diese Frage an diesem Punkt nicht
so leicht zu beantworten. Wir könnten aber (und das mag hier
genügen) sagen, daß Verschiedenheit, Einheit und gegensei-
tiges Bedingungsverhältnis von Geschichtlichkeit und Transzen-
dentalität des Menschen uns eine genügende Verstehenshilfe für
‚die Unterschiedenheit, Einheit und Exklusivität der zwei genann-
ten Gegebenheiten Gottes anbietet, vorausgesetzt nur, daß wir
von vornherein den Menschen als Gleichnis Gottes denken und
nicht vergessen, daß dieses Gleichnis «Mensch » von vornherein
so sein muß, daß es der Adressat der Selbstmitteilung Gottes sein
kann, also Mitzuteilendes und Empfänger der Mitteilung not-
wendigerweise eine Entsprechung haben müssen. Wenn es so bei
aller Einheit und gegenseitigem Bedingungsverhältnis wirklich
eine bleibende Zweiheit der göttlichen Gegebenheitsweisen in der
Selbstmitteilung Gottes an die Welt gibt, dann ist damit minde-
stens das einmal gegeben, was wir die heilsökonomische Trinität
nennen: Der ursprunglose Gott, der sich in zwei verschiedenen
Gegebenheitsweisen selber mitteilt und wegen der Einheit und
Verschiedenheit dieser beiden Weisen und wegen der unum-
greifbaren Souveränität, die er auch in seiner Selbstmitteilung
140
behält, nicht einfach in einer toten Identität mit diesen zwei Ge-
gebenheiten gedacht werden darf. In dieser heilsökonomischen
Trinität heißt der ursprunglos und souverän bleibende Gott Vater,
in seiner Selbstmitteilung in die Geschichte Logos, in seiner
Selbstmitteilung an die Transzendentalität des Menschen Heili-
ger Geist. (Wir sagen in dieser Formulierung lieber und auch
durch das Neue Testament legitimiert: Logos, weil wir hier an
diesem Punkt die Frage vermeiden wollen, ob der «Sohn» des
Vaters, der Jesus nach dem Neuen Testament ist, auch in den ur-
sprünglichsten neutestamentlichen Aussagen im Unterschied zu
späteren neutestamentlichen und lehramtlichen Aussagen eine
heilsökonomische Gegebenheitsweise Gottes für sich allein und
damit eine immanente Subsistenzweise Gottes bezeichnet, oder
ursprünglicher die einmalige Einheit des Menschen Jesus mit
Gott — Vater - als solche). Es gibt also für den Christen zweifellos
eine heilsökonomische Trinität.
Entscheidend bei diesem Satz ist es aber, zu sehen und zu be-
kennen, daß durch die Zweiheit der Gegebenheiten Gottes für
uns die Gegebenheit Gottes in sich selbst nicht verstellt oder durch
etwas vermittelt wäre, was nicht Gott selbst ist. Logos und Hei-
liger Geist dürfen nicht als vermittelnde Modalitäten gedacht
werden, die von dem einen Gott verschieden sind. Denn sonst
müßten sie, da das Christentum jede neuplatonische, plotinische,
gnostische usw. Vorstellung eines absteigend sich selbst entleeren-
den Gottes ablehnt, als geschaffene Wirklichkeiten gedacht wer-
den, die wie alle andere geschöpfliche Wirklichkeit einen Hin-
weis auf den immer fernbleibenden Gott an sich tragen würden,
aber nicht Gott an sich selbst in seiner innersten Wirklichkeit
mitteilen würden. Bei der radikal verstandenen Selbstmitteilung
Gottes an die Kreatur muß die Vermittlung selbst Gott sein und
kann keine kreatürliche Vermittlung bedeuten. Wo und wenn
eine, wenn auch theistisch religiöse Existenz gehorsam und de-
mütig allein in einem unendlichen Abstand vor dem unbegreif-
lichen Gott verharren wollte und gar nicht wagen würde zu reali-
sieren, daß dieser unendliche und unbegreifliche Gott auch der
Gott radikalster Nähe und Unmittelbarkeit und nicht nur der
Schöpfergott unendlicher Ferne sein könnte, da sind natürlich
141
solche Überlegungen, in denen wir uns befinden, von vornherein
ferne liegend. Wo und wenn aber der von Gott selbst dem Men-
schen mitgeteilte Durst nach Gott in sich selbst vorgelassen wird,
wo die letzte unüberbietbare Aussage der Offenbarung, daß Gott
selbst an sich selbst den Menschen sich geben will, in radikalster
Zuversicht gehört und angenommen wird, so wie diese Aussage
im Neuen Testament in der Erfahrung Jesu und seines Geistes ge-
wagt wird, da wird es unausweichlich, zu sagen, daß es eine dop-
pelte Selbstmitteilung Gottes in Verschiedenheit und Einheit
gibt, deren Modalitäten in Einheit und Unterschiedenheit noch-
mals Gott selbst streng als solcher ist. Damit ist aber zunächst
einmal in der Dimension der heilsökonomischen Trinität gegeben,
daß die Aussage: Der Logos und der Heilige Geist sind Gott selbst,
nicht eine Abschwächung oder Verdunkelung des richtig verstan-
denen Monotheismus ist, sondern seine Radikalisierung. Wir ha-
ben ja eingangs bei der Charakterisierung des Monotheismus als
religiöser und theologischer Aussage gesagt, daß er nicht eine
abstrakt metaphysische "Theorie über ein fernes Absolutum ist,
sondern die Aussage des einzigen Absolutums gerade von dem
Gott, mit dem wir es konkret in der Heilsgeschichte zu tun haben.
Wenn dieser Gott der konkreten Heilsgeschichte darin seine ab-
solute und unbedingte Selbstmitteilung in Geschichte und Tran-
szendenz verwirklicht, dann darf auf der einen Seite die Verschie-
denheit dieser Gegebenheitsweisen nicht geleugnet werden, darf
aber diese Gegebenheitsweise andererseits nicht so zwischen den
einen Gott und die mit Gott begnadete Kreatur geschoben wer-
den, daß sie als bloß kreatürliche eben doch mehr den Abstand
als die Nähe Gottes zur Kreatur konstituieren würde. Wenn und
insoweit (was natürlich nicht bestritten werden kann) kreatür-
liche Vermittlungen zwischen Gott und den Menschen gedacht
werden können und gegeben sind, und wenn diese im Bereich des
religiösen Verhältnisses des Menschen zu Gott auftreten und so
eine numinose Qualität haben, ist eigentlich die Gefahr eines aus-
drücklichen oder verschleierten Polytheismus immer gegeben:
Der Mensch greift zu solcher Vermittlung, hält sie absolut fest,
bejaht sie wenigstens unausdrücklich in solchem absolutem Fest-
halten als Gott selbst, und sie ist doch in Wahrheit endliche Krea-
142
tur, die gar nicht Gott in sich selbst geben kann. Der religiöse
Monotheist steht darum für den Christen unausweichlich vor fol-
genden Alternativen: Entweder entmythologisiert er in einem
theoretischen Monotheismus alle (wenn auch bleibenden und un-
vermeidlichen) Vermittlungen seines Verhältnisses zu Gott
(gleichgültig, ob solche als Wort, Schrift, Sakrament, Institution
usw. gedacht werden) als bloß kreatürliche, die letztlich den ab-
soluten Gott in eine unendliche Ferne entrücken, und wird so zu
einem bloß theoretischen Monotheisten, für den Gott so entrückt
ist, wie die oberste Gottheit in sehr alten und primitiven Reli-
gionsgestalten, weil man sich konkret eben doch an diese partiku-
lären und endlichen Vermittlungen ausdrücklich oder verhohlen
polytheistischer Art halten muß und so die Religion praktisch
doch wieder Andacht und numinose Verklärung der Welt wird;
oder der Mensch nimmt den radikalen Monotheismus ernst, wei-
gert sich aber dabei, die Gegebenheitsweise des monotheistischen
Gottes für ihn selbst als selbstgöttlich zu verstehen, dann muß er
die Gegebenheitsweise Gottes als radikal kreatürlich und endlich
und diesseits des Abgrundes zwischen Gott und der Kreatur lie-
gend verstehen und endet dann eben doch nur auch wieder in
einem theoretischen und abstrakten Monotheismus, der Gott nur
unendlich ferne sein läßt, und hält sich zwangsläufig im fakti-
schen religiösen Vollzug an diese kreatürlichen Vermittlungen
als dem für ihn eigentlich doch nur konkret in Frage kommenden
Religiösen, ob dieses dann Gebot, Schrift, Bund Gottes usw. ge-
nannt werden mag. In beiden Fällen also wird er unsicher schwe-
ben zwischen einem abstrakten Monotheismus, der das Eigent-
liche des religiösen Monotheismus gar nicht radikal ernst nehmen
kann, und einem verhohlenen Polytheismus, der jene geschöpf-
lichen Wirklichkeiten faktisch doch absolut setzt, die ihm Gott
vermitteln sollen, obwohl sie endlich sind. (Es scheint mir, daß
man dieses Schweben zwischen einem abstrakten Monotheismus
und einem uneingestandenen Polytheismus bis in die heutige
abendländische Geistesgeschichte hinein verfolgen könnte, bis
etwa bei Hölderlin, Rilke, Kerenyi, Heidegger usw.) Immer wie-
der wird versucht, zwischen dem Göttlichen und den Göttern zu
unterscheiden. Oder der religiöse Monotheist hat, getragen von
143
Gottes Gnade selbst, die absolute Zuversicht, daß der absolute
Gott an sich selbst ihm unbedingt nahe gekommen ist. Dann aber
muß er die vermittelnden Gegebenheitsweisen selbst für göttlich
im strengen Sinn des Wortes erachten. Er muß beides sagen,
auch wenn er zu dieser Doppelaussage keine sie überbietende, sie
aus einem ursprünglicheren Punkt verständlich machende hö-
here Synthese für diese Doppelaussage anbieten kann: Der eine,
einzige Gott ist in zwei Gegebenheitsweisen als er selber dem
Menschen nahe, und diese beiden Gegebenheitsweisen sind selber
Gott. Diese nicht mehr übergreifbare Doppelaussage ist darum
die Radikalisierung desjenigen Monotheismus, um den es sich in
einer religiösen Dimension handelt. Denn der richtig verstan-
dene monotheistische Gott ist der nahe Gott konkreter Heils-
geschichte. Nur wenn diesem in einem letzten Sinne geschöpf-
liche Vermittlungsweisen abgesprochen werden, sosehr es natür-
lich auch solche gibt, ist er wirklich der einzige und dennoch
zugleich der nahe Gott, der als er selber in der Heilsgeschichte
da ist. Der Satz von der Identität der Gegebenheitsweisen Gottes
mit Gott selbst ist nur die andere Seite des Satzes, daß jede bloß
kreatürliche Vermittlung zwischen Gott und Mensch diesen Gott
in eine absolute Ferne rückt, aus einem konkreten Monotheismus
einen abstrakten macht und den Menschen dann in der Konkret-
heit seines religiösen Lebens doch verhohlen polytheistisch sein
läßt. Gott muß durch sich selbst zu sich vermitteln, sonst bleibt er
letztlich fern und nur in dieser Ferne gegeben durch die zertei-
lende Vielfalt kreatürlicher Wirklichkeiten, die in Gottes Ferne
hineinweisen. Das sagt der-Satz von der Göttlichkeit der zwei
fundamentalen Gegebenheitsweisen Gottes in der Welt, und er
ist somit das radikale Ernstnehmen des konkreten Monotheismus.
‘Wenn wir nun das schon angerufene Axiom von der Identität
der heilsökonomischen und der immanenten Trinität an diesem
Punkt unserer Überlegungen geltend machen, dann sind wir
schon unmittelbar bei der klassischen christlichen Trinitätslehre.
Weil diese zwei Gegebenheitsweisen des einen Gottes in und trotz
ihrer Verschiedenheit selber Gott sind und nicht etwas kreatür-
lich von ihm Verschiedenes, müssen sie Gott an sich selber immer
und ewig zukommen. Sie heißen dann, um diese Zugehörigkeit
144
zu Gott an sich selbst deutlich zu machen, in der klassischen Trini-
tätslehre innergöttliche Hervorgänge. Dem ursprunglosen Gott
(Vater genannt) kommt von Ewigkeit her die Möglichkeit einer
geschichtlichen Selbstaussage zu und ebenso die Möglichkeit, sich
als er selber in die innerste Mitte der geistigen Kreatur als deren
Dynamik und Ziel einzustiften. Diese beiden ewigen Möglich-
keiten, die reine Aktualität sind, sind Gott, sind voneinander zu
unterscheiden und sind durch diese Unterschiedenheit auch vom
ursprunglosen Gott zu unterscheiden. Insofern sie Gott an sich
selbst zukommen, weil sie gar nicht anders Gott selbst sein kön-
nen, können sie Subsistenzweisen genannt werden, um deutlich
zu machen, daß die beiden Gegebenheitsweisen Gottes an sich
selbst der Welt gegenüber ihm wirklich an sich selbst zukommen
und nicht eine Modalität bedeuten, die nur durch einen freien
Entschluß-Gottes konstituiert wäre und darum unweigerlich dem
Bereich des kreatürlich Endlichen und nicht Gottes selbst ange-
hören würde. Wir können natürlich hier nun nicht zeigen, daß
von diesem Ansatzpunkt aus die klassische Trinitätslehre ver-
ständlich gemacht werden könnte. Daß dies möglich ist, dürfte
aber ein christlicher Schultheologe nicht bestreiten, wenn er den
Zusammenhang zwischen den beiden «Missionen » und den bei-
den « Prozessionen » in Gott bedenkt. Es ist nicht zu bestreiten,
nach meiner unmaßgeblichen Meinung, daß von dem angedeu-
teten Ansatzpunkt eine Trinitätslehre erreicht wird, die nicht
von vornherein mit dem traditionellen Begriff der Person arbei-
ten muß, sondern eher zu den Begriffen von Hypostasen (im Un-
terschied zu Person), Subsistenzweisen des einen und selben Got-
tes gelangt. Aber es ist ja schon früher auf die Problematik des
Personbegriffes in der Trinitätslehre hingewiesen worden, so daß
man den angedeuteten Ansatz der Trinitätslehre nicht von vorn-
herein darum verdächtigen kann, weil er nicht von vornherein
sehr deutlich auf eine Dreiheit gerade von Personen hinsteuert.
Daß dieser Ansatz gar nicht an einem solchen Begriff von Person
ankommen könnte, ist damit.noch gar nicht gesagt, vorausgesetzt
freilich, daß dieser Personbegriff selbst wirklich gereinigt ist und
dauernd gereinigt bleibt von jenen Mißverständnissen, die min-
destens heute, wie wir schon gesagt haben, in diesem Begriff mit-
145
zuschwingen pflegen. Aber alle diese Fragen könnten nur in
einer breitentfalteten Trinitätslehre behandelt werden, nicht
aber in diesen kurzen Überlegungen.
Zum Schluß sei in dieser Apologetik einer richtig verstandenen
Trinitätslehre vor dem Forum eines eindeutigen Monotheismus
noch auf folgendes hingewiesen, worauf der Sache nach z.B. auch
schon Thomas von Aquin aufmerksam gemacht. Wir Christen
reden meist etwas zu unbefangen von drei göttlichen Personen,
sagen dann, daß jede dieser drei Gott sei und (das sollen wir uns
ruhig eingestehen) beschwören so die Gefahr herauf, als Tri-
theisten mißverstanden zu werden. In der normalen Sprachlogik
des Alltags aber kann man mit Zahlen nur das zusammenzählen,
was als das Gleiche mehrmals gegeben ist, nicht aber das Ver-
schiedene streng in seiner Verschiedenheit als solcher selbst.
Wenn man somit von drei Personen in Gott spricht, insinuiert
man unwillkürlich den einen und gleichen Personbegriff, der
dem Vater, dem Logos und dem Geist in streng gleicher Weise zu-
kommt und der in dieser Gleichheit dreimal gegeben ist. Aber dies
widerspricht der dogmatischen Trinitätslehre, weil in dem, worin
Vater, Logos und Geist gleich sind, sie schlechthin identisch sind,
so daß dieses Gleiche streng nur einmal gegeben ist, und weil in
dem, worin sie sich unterscheiden, sie sich zur unterscheiden und
darum nicht eigentlich durch eine Zahl zusammengezählt werden
können. Diese Schwierigkeit der Aussage in Bezug auf Trinität
müßte, ohne dadurch die traditionellen Aussageweisen in der
Trinitätslehre abschaffen zu wollen, doch bedacht werden, wenn
man vom Geheimnis der Trinität vor strengen Monotheisten
spricht. Auch wenn man die Sprachregelungen der klassischen
Trinitätslehre durchaus respektiert, könnte man sagen, daß die
Rede von «drei Personen», ja auch von Trinität (die ja im Neuen
Testament so gar nicht zu finden ist) gar nicht unabdingbar not-
wendig ist, um das auszusagen, was das Christentum mit dieser
Trinitätslehre eigentlich meint. In der religiösen Sprache könnte
man an sich ruhig vom Vater sprechen, der in seinem Logos in der
Geschichte und in seinem Geist in uns selbst als er selber unsag-
bar nahe ist; man könnte bekennen, daß dieser Logos und dieser
Geist, so sehr sie von ihm und untereinander zu unterscheiden
146
sind und nicht in eine tote Selbigkeit fallen dürfen, Gott selber
sind und keine Zwischenwesen, die entweder als Kreaturen ge-
dacht werden müßten oder einen subordinatianischen Evolutions-
prozeß in Gott hineintragen würden. Wenn man dies bekennen
würde und so näher bei dem Sprachgebrauch des Neuen Testa-
mentes verbliebe, hätte man, so meine ich, doch die Substanz des
christlichen Trinitätsdogmas ausgesagt und würde vielleicht leich-
ter Bedenken anderer Monotheisten vermeiden können, auch
wenn es wahr bleibt, daß diese anderen Monotheisten immer
auch wieder gebeten werden müssen, sich um ein richtiges Ver-
ständnis der christlichen Trinitätslehre zu bemühen, wie immer
diese notwendig unvollkommen und unvermeidlicherweise auch
mißverständlich formuliert werden mag. Wenn so die Frage nach
einer auch strategisch und didaktisch möglichst assimilierbaren
Formulierung des Trinitätsdogmas über den Kreis des Christen-
tums hinaus aufgeworfen wird und dabei zurückhaltende Formu-
lierungen empfohlen werden, nicht um zu verschleiern, sondern
um überflüssige Mißverständnisse zu vermeiden, dann soll der
christlichen Theologie natürlich nicht verwehrt werden, auch
weiterhin im Gefolge der Spekulation der griechischen Väter, des
Augustinus und der mittelalterlichen Theologie zwischen Thomas
von Aquin und Richard von St. Viktor sich in das Geheimnis der
immanenten Trinität zu vertiefen, vorausgesetzt nur, daß sie
auch dasselbe Geheimnis der heilsökonomischen Trinität wirk-
lich mit aller Geisteskraft und Liebe bedenkt und für das christ-
lich religiöse Leben fruchtbar macht.
Ich bin mir dessen bewußt, was ich schon eingangs sagte, daß
ich nicht eigentlich einen Dialog mit der islamischen Theologie
geführt habe, sondern nur einiges aus einer innerchristlichen
Problematik hinsichtlich des Monotheismus und der Trinitäts-
lehre angedeutet habe in der bescheidenen Hoffnung, daß es
vielleicht doch von ferne nützlich sein könnte für einen eigent-
lichen Dialog, in dem islamische und christliche Theologen sich
über das gemeinsame Bekenntnis zu dem einzigen und alleinigen
Gott unterhalten und dabei fragen, warum dieses Bekenntnis
nicht durch die christliche Lehre von der Dreifaltigkeit dieses
einen und einzigen Gottes verkürzt oder bedroht sei.
147
ZWIEGESPRÄCH MIT GOTT?
1 Der Verfasser hat sich von Anfang an immer wieder in seinen Veröffentlichun-
gen mit dem Gebet befaßt. Hingewiesen sei nur auf die Arbeit: Von der Not und
dem Segen des Gebetes, die 1949 zum erstenmal erschien, sowie auf die entsprechen-
den Beiträge in den 10 Bänden «Schriften zur Theologie».
2 Für einen allgemeinen Überblick zum Thema «Gebet» sei auf den gleich-
namigen Artikel von J.Sudbrack verwiesen, in: Sacramentum Muündi II, Freiburg
1968, 158-174, der auch sehr knapp das hier gewählte Thema streift, dafür aber
auf den Artikel «Wort Gottes» (vgl. L.Scheffezyk, in: Sacramentum Mundi IV,
1402-1413) weiterverweist.
® Zur «Erfahrung » siehe K. Lehmann und J. Mouroux, in: Sacramentum Mundil,
Freiburg 1967, 1117-1126. Dahinter steht aber in unserem Fall noch die ganze Pro-
blematik des Personbegriffs (vgl. M. Müller/A. Halder, in: Sacramentum Mundi III,
148
Fragen, die dem Menschen von heute schon schwierig genug er-
scheinen, liegt die Schwierigkeit, das Gebet als Zwiegespräch zu
erfahren, darin, daß, was man in einer unbefangeneren Frömmig-
keit im Gebet als Anrede Gottes an uns zu interpretieren pflegt
oder geneigt ist, zunächst einmal als eigene seelische Zuständlich-
keit oder Tätigkeit erfahren wird (was zweifellos richtig ist, gar
nicht geleugnet und heute auch nicht mehr naiv übersehen wer-
den kann) und es sich darum fragt, wieso dies als eine besondere
Bekundung Gottes, als seine Anrede verstanden werden dürfe.
Der Mensch von heute hat den Eindruck, im Gebet gewisser-
maßen mit sich selber zu reden und zu Rate zu gehen, wenn dieses
sein Selbstgespräch auch über Gott gehen mag, seine Selbstre-
flexion eventuell auch «vor» Gott geschehe. Wenn er im Gebet
gewisse plötzliche, unerwartete und starke Ein- und Aufbrüche
neuer Einsichten und Antriebe erlebt, was natürlich auch durch-
aus vorkommt, dann wird der Mensch von heute solche Vorkomm-
nisse zunächst einmal als Geschehnisse innerhalb seiner eigenen
Existenz, als Wortmeldung tieferer seelischer Schichten, als
Durchbruch von bisher Verdrängtem, als glückliches Zusammen-
spiel von unterbewußten Konstellationen oder ähnlich deuten. Er
wird darauf hinweisen, daß dieselben, etwas außergewöhnliche-
ren, seelischen Abläufe auch gegeben sind, wo es sich nicht um
spezifisch religiöse Inhalte handelt, bei künstlerischen Intuitionen
und Einfällen, die nicht eigentlich vorprogrammiert werden kön-
nen, bei plötzlichen Umschichtungen der ganzen Person, die
nicht ausdrücklich religiös motiviert sind, und so weiter. Ob mit
Recht oder nicht ganz zu Recht, braucht hier nicht untersucht zu
werden; jedenfalls hat der Mensch von heute den Eindruck, daß
es Annahme eines Mirakels oder altmodische Mythologie sei,
‚wenn er ein unerwartetes und starkes seelisches Ereignis wegen
dieser Plötzlichkeit, Eindringlichkeit und Bedeutsamkeit schon
gleich als das Ergebnis eines raumzeitlich punktförmigen Ein-
greifens Gottes in den normalen Ablauf seiner Bewußtseinsge-
Freiburg 1969, 1115-1127) und seiner Anwendung auf Gott, die gerade in letzter
Zeit unter verschiedenen Gesichtspunkten wieder ausführlich diskutiert wird. Vgl.
Bemerkungen zur Gotteslehre in der katholischen Dogmatik, in: Schriften zur
Theologie VIII, Zürich 1967, 165-186.
149
schichte verstehen würde. Dies kommt ihm mindestens im all-
gemeinen für den seelischen Bereich genau so unwahrscheinlich
und unglaubwürdig vor, wie er für den äußeren Bereich nicht mit
Wundern als neuen Eingriffen Gottes in seine Welt « von außen »
rechnet.* Er erklärt den Ablauf seiner inneren Welt, auch bei
Anerkenntnis der Existenz Gottes, aus innerweltlichen Ursachen,
die selbst dann noch innerweltlich bleiben, wenn sie weniger all-
tägliche Phänomene im Bereich des Bewußtseins produzieren. Es
gibt freilich auch heute noch viele Menschen in der Kirche, be-
sonders in den vielen Gruppen einer enthusiastischen Frömmig-
keit, die bestimmte seelische Erlebnisse, besonders beim Zungen-
reden, der Geisttaufe, bei radikaler Bekehrung usw. unbefangen
als charismatische Eingriffe des Heiligen Geistes «von außen»
verstehen,? die gewissermaßen die einfache Tatsache übersprin-
gen, daß alle solche Vorkommnisse zunächst einmal ihre sind und
(mindestens bis zum strengen Beweis des Gegenteils, der auch
durch parapsychologische Phänomene noch nicht erbracht ist) als
Wirkungen der in ihnen selbst gegebenen Zuständlichkeiten in-
nerer und äußerer Art erklärt werden müssen. Dazu kommt, daß
alle solche enthusiastischen Phänomene für den Außenstehenden
ihre Parallelen in außerchristlichen Religionen haben, die deut-
lich die Eigenart, den Bewußtseinshorizont, die Sprache und die
Begrenztheit aller dieser seelischen Ursachen aufweisen, so daß
man schon von daher kaum etwas entdecken oder suchen kann,
was notwendig auf ein besonderes und wunderbares Eingreifen
Gottes zurückgeführt werden müßte. Aus diesen und ähnlichen
Überlegungen ist es dem Menschen von heute sehr schwierig, in
seinem betenden Bewußtsein etwas zu entdecken, was er im Un-
terschied zu seinem Eigenen einfach als Anrede Gottes interpre-
tieren möchte. Das Gebet scheint ihm ein Monolog oder besten-
falls ein Selbstgespräch zu sein, aber nicht eine Zwiesprache mit
* Was die in ihren Gründen nicht durchschaute und meist auch nur schwer
durchschaubare Plötzlichkeit des Auftretens von Erscheinungen angeht, ist dieser
Aspekt, wenn auch wohl noch nicht umfassend und abschließend, in der Diskussion
um die Wunder mit behandelt; darauf kann hier nur hingewiesen werden. Für das
Gebet ist dieser Aspekt meines Erachtens bisher nur sehr selten und unzulänglich in
den Blick genommen worden. Dazu aber im folgenden noch mehr.
5 Hier ist nur an Bewegungen wie «Jesus-People», « Pentecostal-Movement »
u. a. zu erinnern, die sich offenbar auch in Europa immer mehr durchsetzen.
150
Gott, ein Geschehen, das man im Ernst und ohne zu viel Vorbe-
halte Zwiesprache, Dialog nennen könnte. ®
In dieser schwierigen Situation könnte man versucht sein, das
Gebet als Zwiesprache mit Gott dadurch zu interpretieren, daß
man sagt, es sei Auseinandersetzung (in Lektüre, Anwendung
usw.) mit dem Wort Gottes, das in der Offenbarung und in der
Heiligen Schrift gegeben ist.” Gott spreche zu uns in der Schrift,
das schriftmeditierende Gebet antworte diesem Wort, und so sei
eine Zwiesprache, ein Dialog mit Gott im Gebet gegeben. Diese
Auffassung hat für- den Christen, der die Heilige Schrift als
Wort Gottes versteht, gewiß einen Sinn. Aber diese Auskunft hat
auch ihre Schwierigkeiten. Genau gesehen, verschiebt sie nur das
Problem. Denn die im Geiste eines Menschen aufgenommene
Offenbarung (anders als so « angekommen » ist sie noch gar keine)
und die in der Schrift objektivierte Offenbarung stehen grund-
sätzlich unter derselben Fraglichkeit, nämlich wie denn ein in der
Subjektivität des Menschen gegebener und all deren Bedingthei-
ten an sich tragender Bewußtseinsinhalt, der zunächst als Wir-
kung dieser menschlichen Ursächlichkeit interpretiert werden
muß, als Wort Gottes gehört und verstanden werden könne.® Von
diesem umfassenden und hier nicht weiter zu verfolgenden Pro-
blem abgesehen, besteht aber noch eine andere Schwierigkeit bei
dieser Auskunft. Im Gebet glaubt der Fromme eine konkrete, ihn
in seiner Individualität und individuellen Lebensentscheidung
anrufende Anrede Gottes zu vernehmen. Würde aber der Beter
die Anwendung des an sich allgemeinen Schriftwortes auf sich
und seine konkrete Lebenssituation als sein eigenes, bloß auf
% Zur Klärung der Frage, wie überhaupt « Gespräch » zu verstehen ist, vel. den .
gleichnamigen Artikel von J.B.Metz, in: LThK 4, Freiburg ?1960, 836-837. In
unserem Zusammenhang wäre aber auch noch zu berücksichtigen J.B.Metz, Akt,
religiöser A., in: LThK 1, Freiburg ?1957, 256-259 sowie K.Rahner, Gebet IV.
Dogmatisch, in: LThK 4, Freiburg ?1960, 542-545.
? Einen ersten Zugang zu dem hier angesprochenen weiten Bereich der « Medi-
tation » bietet der entsprechende Beitrag von E.Simons, in: Sacramentum Mundi III,
Freiburg 1969, 388-395.
8 Grundlegend hat sich der Verfasser zu den Fragen eines Hörens der Offenbarung
in seinem Werk: Hörer des Wortes - Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie,
München 1963 (Erstausgabe: München 1941) schon geäußert. Diese Ausführungen
sind dann später auf manche Kritik gestoßen. Wir hoffen, daß die vorliegenden Aus-
führungen zu einem bescheidenen Teil eine Klärung von Mißverständnissen und
eine Weiterführung einiger Ansätze bieten.
151
eigene Rechnung und Gefahr unternommenes Werk betrachten
müssen, nur als Anwendung allgemeiner Normen auf eine kon-
krete Situation zu individueller Entscheidung, deren Plus über
das Allgemeine hinaus doch gerade das ist, worauf es ankommt,
dann wäre kein solches Zwiegespräch gegeben, wie es doch ge-
meint ist, wenn man das Gebet als ein solches auffaßt. Es bliebe
eine bloß menschliche Anwendung eines allgemeinen göttlichen
Wortes auf ein Individuum und seine konkreten, immer einmali-
gen Lebensfragen. Der Beter bliebe bei einem Selbstgespräch,
wenn auch mit Hilfe eines allgemeinen göttlichen Wortes. Der
Übergang von der allgemeinen Offenbarung zum konkreten Im-
perativ wäre das Werk des Menschen allein, und zwar auch, wenn
man diesen Übergang als mit Hilfe der göttlichen Gnade gesche-
hend dächte, solange nicht deutlich wird, wie man diese Gnaden-
hilfe bei einer solchen Anwendung des Schriftwortes auf sich und
seine Lebensfragen als göttliche Anrede deuten könne, durch die
dann auch der konkrete Imperativ, der den Beter anruft, als An-
ruf Gottes verstanden werden könnte. Solche Gnadenhilfe zu
konkreter Entscheidung wird zwar in der Theologie als « Erleuch-
tung» und « Inspiration » verstanden, aber es bleibt doch fraglich,
was mit dieser Aussage genauer gemeint ist. Denn es gibt min-
destens eine große Schule in der T'heologie,? die diese Erleuchtung
und Inspiration, insofern diese die Bedingung von Heilsakten
sind, als bloß «seinshaft» und als bewußtseinsjenseitig deuten,
so daß damit für das Verständnis einer Anrede Gottes im Gebet
nichts gewonnen ist. Auch wenn gesagt würde, ein solcher Ge-
betsvorgang, in dem eine heilshafte Entscheidung gewonnen
wird, sei samt der ihn tragenden seinshaft übernatürlichen Gnade
begleitet von «heilenden» Gnadenhilfen, die dieses Geschehen
auf eine heilshafte Entscheidung hin drängen,!® so ist uns auch
® Vgl. dazu die Übersichten von L.Casutt und J. Auer unter den Stichworten
«Erleuchtung», «Erleuchtungsgnade», in: LThK3, Freiburg ?1959, 1014-1016.
In diesem Zusammenhang wären auch zwei Veröffentlichungen des Verfassers zu
berücksichtigen und miteinander zu vermitteln: Über die Schriftinspiration, (QD1)
Freiburg 1957 sowie: Visionen und Prophezeiungen (QD 4), Freiburg 1958. Diese
Hinweise sollen nur unterstreichen, daß wir in der Behandlung dieser Fragen noch
einiges zu tun haben.
10 «Heilende Gnaden » (gratiae sanantes) werden diese Hilfen genannt, inso-
fern sie aus dem durch die Begierlichkeit «kranken» freien Willen einen « gesun-
152
FEFWEE
den» freien Willen machen; vgl. Indiculus, cap. 9: Denz.-Schönm. N.248 (liberum
arbitrium «de languido sanum»); Neuner-Roos, Der Glaube der Kirche, Regens-
burg 81971, N. 776 (der freie Wille «statt krank gesund »).
11 Diese Gedanken sind sicher nicht schwer zu verstehen, aber sie machen durch
ihre Ungewohnheit deutlich, wie sehr wir geneigt sind, hier mit vorausgesetzten
Selbstverständlichkeiten zu denken und zu argumentieren, die sich bei näherem
Zusehen dann bei weitem als nicht so tragfähig herausstellen, wie wir es gern wün-
schen würden. Daß darum und in diesem Sinn für eine heutige Theologie die Kritik
eine unverzichtbare Aufgabe ist, ergibt sich fast von selbst.
153
Wir müssen versuchen, auf andere Weise weiterzukommen.
Die bisher selbstverständlich gemachte Voraussetzung unserer
Überlegungen über das Gebet als Zwiesprache mit Gott lag darin,
daß uns Gott im Gebet «etwas» sagt. Die Voraussetzung unserer
Problematik war es, daß ein bestimmter einzelner, kategorialer
Bewußtseinsinhalt neben vielen anderen in einer besonderen und
ausgezeichneten Weise als unmittelbar von Gott bewirkt und in
dieser besonderen Bewirktheit erfaßt, so etwas wie ein Zwiege-
spräch mit Gott konstituiere. Und diese Voraussetzung brachte
die Schwierigkeiten mit sich, von denen wir bisher gesprochen
haben. Wie aber, wenn wir sagen würden und sagen dürften: im
Gebet erfahren wir uns selber als die von Gott Gesagten, als die in
der Konkretheit unserer Existenz von der souveränen Freiheit
Gottes Herkommenden und Verfügten? Wie, wenn wir sagen:
Was Gott uns zunächst einmal sagt, sind wir selber in der Ver-
fügtheit unserer Freiheit, in der Unverfügbarkeit unserer Zu-
kunft, in der nie restlos auflösbaren und nie funktional rationali-
sierbaren Faktizität unserer Vergangenheit und Gegenwart?1?
Wenn wir unsere Frage in diesen ganzen Überlegungen so ver-
stehen, dann ist natürlich von vornherein damit gegeben, daß das
«partnerschaftliche» und «dialogische» Verhältnis zwischen
Gott und uns ein ganz einmaliges und unvergleichliches ist und
nicht einfach univok nach dem Modell eines partnerschaftlichen
und dialogischen Verhältnisses zwischen den Menschen gedacht
werden darf, so daß natürlich auch von daher schon der Begriff
des «Zwiegesprächs» für unsere Frage den Charakter der Ein-
maligkeit und Unvergleichbarkeit hat, wenn er die Eigentüm-
lichkeit des Gebetes charakterisieren soll.'? Wenn wir die neu-
gestellten Fragen positiv beantworten können, dann sind wir (in
12 Die hier formulierten Fragen sind durchaus nicht so künstlich und willkür-
lich, wie das auf den ersten Blick scheinen könnte. Doch werden diese Arbeitshypo-
thesen — und als nichts anderes sollen sie an dieser Stelle dem Leser nahegelegt wer-
den — sich im weiteren Verlauf des Gedankenganges als innerlich und sachlich be-
gründet erweisen, mindestens in dem Sinn, daß eine solche Konzeption nicht mehr
grundsätzlich als unmöglich und unberechtigt zurückgewiesen werden kann.
13 Das wird gegenüber einem Denken betont werden müssen, das unter Vernach-
lässigung des analogen Charakters solchen Sprechens zu unmittelbar mit solchen
Strukturen umgeht. Das grundsätzliche Recht dazu ist damit nicht bestritten, viel-
mehr versuchen wir ja hier selbst, einiges zu diesem partnerschaftlichen und dialo-
gischen Verhältnis zu sagen.
154
Zu
Ka
re
A
14 (Jnd damit ist eine echte, wenn auch spezifische Konkretheit der gemeinten
Wirklichkeit behauptet.
155
# v
15 Zum Stichwort «Anthropologie » dürfte als Überblick der Beitrag von J.Splett,
R.Pesch und K.Rahner, in: Sacramentum Mundi I, Freiburg 1967, 163-186 einen
guten Einstieg bieten; dort auch weiterführende Literatur.
16 Hier dürften auch die Beiträge des Verfassers weiterführen: Gotteserfahrung
heute, in: Schriften zur Theologie IX, Zürich 1970, 161-176, sowie: Selbsterfahrung
und Gotteserfahrung, in: Schriften zur Theologie X, Zürich 1972, 135-144.
156
Loyola « Indifferenz » und (wenn diese Indifferenz wirklich radi-
kal frei vollzogen und durchgehalten wird) « Trost ohne voraus-
gehende Ursache» in den Exerzitien nennt.!? Begegnet nun in-
nerhalb einer solchen letzten dialogischen Freiheit ein bestimm-
ter einzelner Wahlgegenstand, ohne daß er, auch nicht bei län-
gerer spiritueller Erfahrung und Befragung, diese reine Offenheit
auf Gott verstellt, verwirrt und einschränkt, wird er vielmehr als
die Vermittlung erfahren, durch die sich dieses indifferente Offen-
sein auf Gott in bedingungsloser Weggabe an ihn, also (umge-
kehrt) in bedingungsloser Annahme des Wortes Gottes, das wir
selber sind, angenommen wird und aufrecht bleibt, dann kann
und darf auch dieser kategoriale Wahlgegenstand (gleichgültig,
wie er an sich selber innerweltlich und bedingt sein mag) als Mo-
ment an diesem dialogischen Verhältnis zwischen Gott und
Mensch aufgefaßt werden, weil und insofern dieser Wahlgegen-
stand sich in das Ganze dieses dialogischen Gesprächs einfügt,
ohne dessen grenzenlose und bedingungslose Offenheit zu gefähr-
den oder aufzuheben. Rein innerweltlich und kategorial, sach-
haft gesehen, kann dann ein solcher kategorialer Wahlgegen-
stand, zu dem sich der Mensch betend entscheidet, immer noch
problematisch sein, sich vielleicht später, gemessen an den inner-
weltlichen Bedürfnissen und Strukturen des Menschen, als unzu-
länglich, vorläufig, überholbar, ja schädlich erweisen; er war
doch die hier und jetzt beste Vermittlung dieser indifferenten,
transzendentalen Offenheit, in der der Mensch sich als Wort Got-
tes zugesagt erfährt, und darum heilshaft Wille Gottes. In solcher
Logik der existentiellen Erkenntnis und Freiheit!® wird das Gebet
auch in seiner kategorialen Einzelinhaltlichkeit dialogisch.- Nicht
einfach dasjenige, das mit einer gewissen überraschenden Plötz-
lichkeit und Unerwartetheit oder in sentimentaler Rührung im
157.
Bewußtsein auftritt, wird schon darum als Wirkung des Geistes
und so als Anrede Gottes aufgefaßt, so daß es heute gegen eine
nüchterne und skeptische Psychologie enthusiastisch hochstilisiert
' werden müßte. Wo vielmehr die partikuläre Wirklichkeit im Be-
wußtsein, zu der man sich entscheidet, als positive Vermittlung
bestehen kann vor einer bleibenden und bedingungslosen Offen-
heit auf Gott hin (wir könnten auch sagen: vor einer unbedingten
kritischen Freiheit), da darf ein solcher partikulärer Gegenstand
als uns von Gott zugesagt gelten in und mit jener grundlegen-
den Anrede Gottes an uns selbst, die wir selber sind und die wir
im Gebet vernehmen und annehmen.
Es soll hier nicht behauptet werden, daß die beiden Aspekte,
die wir eben am Gebet ganz kurz anzudeuten versuchten, den
dialogischen Charakter des Gebetes adäquat konstituieren. Wir
wären zufrieden, wenn man darin übereinstimmen könnte, daß
wir wenigstens ein Stück weit den dialogischen Charakter des
Gebetes verdeutlicht haben. Es ist hier natürlich auch nicht mehr
möglich, die Konsequenzen eines solchen Verständnisses des Ge-
betes als Zwiesprache zu verdeutlichen.!? Wenn es vielleicht nun
schwieriger zu sein scheint, als man üblicherweise denkt, das Ge-
betim Ernst und nüchtern als Zwiesprache mit Gott zu verstehen,
und vor allem es in der Praxis so «entmythologisiert» als Zwie-
gespräch zu erfahren, dann soll damit nicht gesagt sein, daß der
normale Gläubige in der unreflektierten Alltäglichkeit alle die
hier gesagten Überlegungen reflex vor sich haben müsse. Nach
einem Durchgang durch solche Reflexion und Ernüchterung darf
er in einer Art neuer Naivität
das Gebet als Zwiesprache mit Gott
erleben, weil es in Wahrheit eine solche ist.
19 Es sei aber erlaubt, ganz allgemein noch hinzuweisen auf Thesen zum Thema:
Glaube und Gebet, in: Chancen des Glaubens (Herder-Bücherei 389), Freiburg
1971, 65-74, wo der Verfasser versucht hat, einige konkrete Forderungen für das
Gebet heute zu formulieren.
158
TOD IJESU UND ABGESCHLOSSENHEIT
DER OFFENBARUNG
160
raschend verwirklicht. Der Mensch von heute wird von daher
auch die Religionsgeschichte, gerade wenn er diese nicht als jetzt
überholte und abgetane Periode seiner Emanzipationsgeschichte
versteht, immer als auf unbekannte Zukunft hin offen empfinden.
Und wenn er als Christ in dieser Religionsgeschichte, mindestens
einmal in der Vergangenheit, immer und überall Offenbarungs-
geschichte am Werke sieht, weil Geschichte immer Heilsge-
schichte ist und Heilsgeschichte ohne Glaube und darum ohne
Offenbarung nicht möglich ist, dann scheint ihm der Satz vom
Ende der Offenbarungsgeschichte mitten in der weiterlaufenden
Geschichte mindestens einmal schwer verständlich. Diese Vor-
stellung scheint ihm der Geschichte ihre letzte Tiefe und Würde
zu nehmen, wenn die Geschichte der Offenbarung zu Ende ist.
Wenn man dieser Schwierigkeit entgegenhält, daß der Geist Got-
tes natürlich die Kirche immer noch in alle Wahrheit einführt,
daß die Geschichte der Annahme der Offenbarung, ihrer Anver-
wandlung an den immer neuen Menschen, die Glaubensgeschichte
weitergeht, dann wäre in der Theologie wenigstens deutlicher,
als es üblich ist, Einheit und Kontinuität von (abgeschlossener)
Offenbarungsgeschichte und (weitergehender) Glaubensgeschichte
herauszuarbeiten und so die Zäsur, die das Axiom statuiert, deut-
licher und legitim in etwa zu relativieren. Wenn man sagt, das
Axiom lehre eher eine « Unüberholbarkeit» der Offenbarung in
Jesus Christus als eine «Abgeschlossenheit» (die amtliche deut-
sche Übersetzung von Dei Verbum übersetzt das «oeconomia
Christiana.... numquam praeteribit» mit: «die christliche
Heilsordnung ist unüberholbar»), dann ist terminologisch für
den heutigen Menschen gewiß eine Verständnishilfe für das
Axiom geboten, weil er leichter einsieht, daß ein zeitlich fixiertes
geschichtliches Ereignis für alle weitere Zeit maßgeblich (aber
gerade auf echte Zukunft hin) sein könne, als daß ein geschicht-
liches Ereignis selber einfach fertig sei, nicht mehr weitergehe
und doch eine Bedeutung für spätere Zeiten beanspruche. Ver-
steht man aber so das Axiom im Sinne einer geschichtlichen Un-
überholbarkeit, dann wäre dieser Begriff zunächst geschichtsphi-
losophisch und geschichtstheologisch formal genauer zu erklären,
wasin der Theologie gewiß noch nicht genügend geschehen ist, und
161
es wäre inhaltlich zu zeigen, welches diese Unüberholbarkeit der
Offenbarung im Christusereignis ist. Hinsichtlich dieser letzten
Aufgabe ist natürlich in der Theologie und auch im Zweiten Vati-
kanum schon vieles getan. Da im Zweiten Vatikanum die Offen-
barung nicht mehr, wie vorher üblich, als bloße Mitteilung von
Sätzen, sondern als Geschichte (zu der natürlich selber auch
«Sätze» gehören) aufgefaßt wird, ist die Frage nach der Unüber-
holbarkeit der christlichen Offenbarung zur Frage nach der Un-
überholbarkeit des Christusereignisses geworden. Dann kann
man natürlich sagen: es wird nach Jesus Christus nichts Neues
mehr gesagt, nicht obwohl noch vieles zu sagen wäre, sondern
weil alles gesagt, ja alles gegeben ist im Sohn der Liebe, in dem
Gott und die Welt eins geworden sind. Dann kann man sagen,
daß Gott sich geschichtlich greifbar in Jesus Christus der Welt als
ihr siegreiches Heil irreversibel zugesagt hat in einer Selbstmittei-
lung des absoluten Gottes selbst als der absoluten Zukunft der
Welt, die sich von Gott her siegreich und irreversibel durchsetzt;
dann kann man sagen, daß diese Zusage unüberholbar ist, weil
sie die Selbstzusage des absoluten Gottes in sich selbst an die Welt
ist. Dann schließt diese Zusage nicht eigentlich ab, sondern auf
in eine unendliche Zukunft und ist in diesem Sinne unüberholbar.
Die Geschichte bleibt offen in allen ihren Dimensionen, auch der
der Gnade und der Offenbarung, und bewegt sich nun in ihrer
Offenheit innerhalb der geschichtlich erfolgten Zusage eines ab-
soluten Heiles, einer Zusage, die die Ambivalenz der Freiheit der
Welt zu Heil und Unheil siegreich von Gott her übergreift.
Es ist nun, wie schon gesagt wurde, nicht die Absicht dieser
Überlegungen, eingehend und allseitig unser Axiom mit dem
heutigen Selbstverständnis des Menschen zu versöhnen. Dazu
wäre mehr erforderlich, als die wenigen und fragmentarischen
Andeutungen, die wir eben gemacht haben. Uns soll hier nur
speziell die Frage beschäftigen, ob und wie der Tod Jesu als solcher
für die Unüberholbarkeit des Offenbarungsereignisses in Jesus
Christus eine Bedeutung habe, und wie von daher ein Beitrag zu
der Versöhnung des neuzeitlichen Geistes einer offenen Zukunft
mit dem Dogma von der Unüberholbarkeit und «Abgeschlossen-
heit» der christlichen Offenbarung erzielt werden könne. Die
162
oben erwähnte letzte kirchenamtliche Formulierung unseres
Axioms im Zweiten Vatikanum erwähnt zwar Tod und Auferste-
hung Jesu in den diesem konziliaren Axiom vorausgehenden Sät-
zen. Aber es wird darin nicht deutlich, ob diese Erwähnung des
Todes (und der Auferstehung) Jesu nur darum vorkommt, weil
natürlich Tod und Auferstehung Jesu in der Beschreibung des
letzten ursprünglichen Offenbarungsträgers nicht ausgelassen
werden können, oder ob der Tod als solcher (natürlich vollendet
in der Auferstehung) für die Konstitution dieser Unüberholbar-
keit der christlichen Offenbarung eine wesentliche und unersetz-
liche Bedeutung habe.
Dieses zweite aber meint die These, die wir hier vorzutragen
und zu begründen suchen. Man könnte diese These auch so for-
mulieren: Nur durch das Kreuz Jesu als solches ist die Unüber-
holbarkeit der christlichen Offenbarung konstituierbar und kon-
stituiert; die Kreuzestheologie ist ein inneres Konstitutivum der
Lehre von der Unüberholbarkeit der christlichen Offenbarung als
einer und ganzer. Damit ist natürlich nicht im geringsten gesagt,
daß die Kreuzestheologie sich in dieser Funktion erschöpft. Ge-
sagt aber ist, daß in der dieser Offenbarung vorgegebenen Wirk-
lichkeit des Menschen und in einer noch fortlaufenden Geschichte
das «Ende » einer Offenbarungsgeschichte nur im Tode des Men-
schen gegeben sein kann, der Offenbarungsträger und Offenba-
rungsereignis in einem ist. Die Kreuzestheologie hat auch diesen
Aspekt und diese Funktion, auch wenn sie darin nicht aufgeht.
Sehen wir im Rückgriff auf das schon Gesagte näher zu. Soll
Geschichte als Geschichte der Freiheit des Menschen noch weiter
gehen und noch weiter Heilsgeschichte und somit in einem weiten
(d.h. auch die Glaubensgeschichte implizierenden) Sinn Offen-
barungsgeschichte bleiben, weil sonst die Geschichte des Menschen
als ganzen in allseinen Dimensionen nicht mehr weiterginge, dann
kann das «Abschließende» und « Unüberholbare» eines Offen-
barungsereignisses in der noch laufenden Geschichte nur das ge-
schichtliche Erscheinen der absoluten Selbstzusage Gottes als sol-
chen, und zwar als des Zieles dieser Geschichte selbst sein. Jedes an-
dere «Wort» Gottes, das er nicht selbst ist, könnte als endliches
wesentlichimmernur vorläufig, alsnoch offen fürnoch weitereneue
165
}
Worte Gottes sein, die das bisherige Wort ablösen (wenn auch u.U.
auf eine in einem Hegelschen Sinne «aufhebende » Weise). Sonst
müßte ein solches Wort mit seinem endlichen Inhalt gedacht
werden als mit einer bloß deklaratorischen Erklärung verbunden,
es sei durch willkürliche Setzung Gottes das letzte, obwohl an sich
durchaus neue Worte von Offenbarung folgen könnten. So etwas
aber würde nicht nur die offene Geschichte des Menschen, wie er
sie heute versteht, verneinen, es würde auch letztlich die Offen-
barung zu einem heute unglaubwürdigen Mythologem depra-.
vieren, einen Willkürgott postulieren, der plötzlich aufhört, Part-
ner der Geschichte zu sein, in die er sich vorher eingelassen hatte.
Man könnte auch sagen, wenn man diese Terminologie billigen
will: ein prophetisches Offenbarungswort ist immer und wesent-
lich vorläufig; das eschatologische Offenbarungswort kann nur in
der Selbstzusage Gottes als der absoluten Zukunft der Welt be-
stehen, wobei hier die Frage offen bleiben kann, ob nicht auch
jedes prophetische Wort, wenn es personales Offenbarungswort
«übernatürlicher » Art sein soll, einen Verweis auf Zukunft und
Offenheit auf das eschatologische Wort Gottes an sich tragen
muß, um überhaupt wirklich echtes Offenbarungswort Gottes im
christlichen Sinne sein zu können. Das (einzige) eschatologische
Wort der Selbstzusage Gottes als solchen, als des absoluten Zieles
der Geschichte, als der absoluten Zukunft impliziert noch eine
Eigentümlichkeit, auf die aufmerksam gemacht werden muß.
Dieses eschatologische Wort Gottes bietet Gott nicht bloß als
höchste und unüberholbare Möglichkeit der Freiheit und Frei-
heitsgeschichte des Menschen an, so daß immer noch offen wäre,
wie die Freiheitsgeschichte der Menschheit als ganze auf diese
angebotene Möglichkeit reagieren wird. Das Angebot Gottes als
solche Möglichkeit allein konstituiert die Freiheitsgeschichte der
Menschheit, so wie sie faktisch ist, als ganze und immer und über-
all, und wäre noch kein Einzelereignis in der Offenbarungsge-
schichte, durch die diese in eine unüberholbare, eben eschatolo-
gische Phase eintritt. Das eschatologische Wort der Selbstzusage
Gottes an die Welt muß die irreversible Sieghaftigkeit dieses An-
gebotes Gottes an die Welt von ihm selbst her sein, muß ge-
wissermaßen Proklamation nicht bloß der gratia sufficiens, son-
164
dern auch der gratia efficax für die Welt und ihre Geschichte als
ganze sein, wenn natürlich auch (wie die Lehre von der Koexi-
stenz der von Gott her wirksamen Gnade und der Freiheit des
Menschen ja besagt) die Freiheit der Menschheitsgeschichte nicht
aufgehoben wird und mit dieser Proklamation des Sieges des
Selbstangebotes Gottes von Gott her über das Schicksal des Ein-
zelnen in dieser Geschichte noch keine theoretische Aussage zu
seinen Gunsten gegeben ist. Gott sagt sich selber im eschatologi-
schen Wort der Welt nicht bloß als deren letzte und unüberhol-
bare Möglichkeit, sondern auch als die von ihm her gewirkte Er-
füllung dieser Möglichkeit zu. Das ist, so meine ich, auch der Sinn
der Botschaft Jesu, daß jetzt in ihm eine siegreiche Nähe des Got-
tesreiches gegeben sei, die vorher nicht gegeben war, und darum
auch nicht in der immer schon gegebenen, wenn auch gnaden-
haften Möglichkeit der Freiheit, sich für Gott zu entscheiden,
allein bestehen kann.
Wie ist nun konkret dieses eine eschatologische und unüber-
holbare Offenbarungswort zu denken? Wir setzen hier der Ein-
fachheit halber voraus, daß «revelationis oeconomia fit gestis ver-
bisque intrinsece inter se connexis», wie «Dei Verbum» (Nr. 2)
des Zweiten Vatikanischen Konzils sagt. Wir setzen auch voraus,
daß die Menschheitsgeschichte von Gott her und in sich selbst
eine solche Einheit und Solidarität ihrer einzelnen Ereignisse un-
ter sich hat, daß ein einzelnes Ereignis in ihr auch für alle ande-
ren etwas bedeutet und «sagt». Die Frage, die uns gestellt ist,
ist unter diesen Voraussetzungen also die: wie muß unter diesen
Voraussetzungen das eschatologische Wort Göttes der irrever-
siblen Sieghaftigkeit der Selbstzusage Gottes gedacht werden,
wenn diese siegreiche Selbstzusage Gottes geschichtlich erschei-
nen soll, und zwar in einer noch laufenden Geschichte? Unter
den gemachten Voraussetzungen und etwas abkürzend können
wir sagen: die Selbstzusage Gottes kann, wenn sie nicht bloß
verba, sondern auch gesta sein soll, nur in einem Menschen ge-
geben sein, der diese Selbstzusage in Freiheit und Endgültigkeit _
angenommen hat. Nur so kann geschichtlich die Sieghaftigkeit
der Selbstzusage Gottes erscheinen, gesta und nicht nur verba
sein. Es ist natürlich überdies gefordert, daß die freie und end-
165
gültige Annahme dieses Selbstangebotes Gottes durch einen Men-
schen geschichtlich für uns greifbar wird.
Bevor wir an diesem Punkt weiterfahren, ist wohl eine Zwi-
schenbemerkung nötig, um den Gedankengang vor Mißverständ-
nissen und dem Verdacht einer Heterodoxie zu schützen. Es kann
hier nicht die Aufgabe sein, eine Christologie nach allen Seiten
gleichmäßig zu entwickeln, also zu zeigen, daß der absolute Heil-
bringer, d.h. die Wirklichkeit und der Träger der absoluten,
irreversiblen und siegreichen Selbstzusage Gottes an die Welt in.
geschichtlicher Greifbarbeit, notwendig der ist, den die klassische
Christologie der hypostatischen Union lehrt. Das darf hier vor-
ausgesetzt werden. Hier in unserer Frage ist nur wichtig, daß diese
geschichtlich erscheinende Selbstzusage Gottes an die Welt, soll
sie eschatologisch, also nicht bloß Angebot, sondern siegreich sich
durchsetzendes Angebot Gottes von Gott selbst her sein, notwen-
dig sich in einem Menschen ereignen muß, der diese Selbstzusage
in Freiheit und Endgültigkeit annimmt. Und zwar so, daß diese
Annahme als endgültige geschichtlich für uns greifbar wird.
Das scheint mir eigentlich selbstverständlich zu sein. Ein bloßes
Wort, in dem eine Selbstzusage Gottes geschehend gedacht würde,
wäre eben ein bloßes Angebot an den Adressaten dieses Wortes,
an die Freiheit des Menschen, wäre also ein Angebot, dessen end-
gültige Annahme noch in Frage stünde. Würde man sagen, dieses
Wort Gottes versichere uns auch, daß es tatsächlich angenommen
werde und sich durchsetze, dann könnte man immer noch fragen,
wo dies denn faktisch geschehe, ob diese Annahme schon gesche-
hen oder in der Geschichte noch ausständig sei, ob diese Annahme,
ob geschehen oder noch künftig, wenn sie nicht schon Rettung
der Welt als ganzer, also Ende der Geschichte sei, so schon ge-
schehen sei, daß durch ein einzelnes Ereignis in der Geschichte
der selige Ausgang der ganzen Geschichte irreversibel festgelegt
sei. Das Wort Gottes als solches, das eschatologisch Gott als das
tatsächlich siegreiche Ziel der Geschichte verbürgt, muß somit
notwendig durch ein geschichtliches Ereignis geschehen, und
dieses kann dann nur in der faktischen und endgültigen Annahme
dieses Selbstangebotes Gottes an die Welt durch einen Menschen
geschehen, der natürlich in seiner eigenen Konstitution so ge-
166
dacht werden muß, daß seine Annahme dieses Selbstangebotes in
gehorsamer und endgültig werdender Freiheit das Heil der Welt
als ganzer verbürgt. Hier wäre dann der Ansatz für die klassische
Christologie der hypostatischen Union, die allerdings eingehender
und genauer ergänzt werden müßte durch eine Theologie, in der
die Solidarität dieses Gott-Menschen mit der ganzen Menschheit
und ihrer Geschichte herausgearbeitet werden müßte.
Hier steht aber nur die eine Frage an: wie ist diese freie und
endgültige Annahme des Selbstangebotes Gottes als der absoluten
Zukunft der ganzen Geschichte, durch welche Annahme das An-
gebot Gottes erst eschatologisch endgültiges Wort Gottes an die
Menschheit wird, genauer und konkret zu denken? Darauf muß
geantwortet werden: diese freie und endgültige Annahme des
Selbstangebotes Gottes, die das Wort Gottes an die Welt eschato-
logisch macht und die Weltgeschichte zum Heil prädestiniert,
kann nur durch den Tod dieses Menschen der freien Annahme
geschehen, wobei natürlich dieser Tod als geretteter und als ge-
rettet greifbarer zu verstehen ist, also zusammen mit dem ge-
meint ist, was wir die Auferstehung Jesu nennen. Der Tod Jesu
in diesem Sinn ist ein inneres konstitutives Moment der eschato-
logischen Selbstzusage Gottes an die Welt.
Es kann natürlich hier nicht ausführlich und genau eine Theo-
logie des Todes im allgemeinen entwickelt werden, die die Vor-
aussetzung der eben formulierten Grundthese unserer Überle-
gungen ist. Diesbezüglich muß auf andere Darlegungen der
Theologie des Todes im allgemeinen hingewiesen werden. Aber
hier genügt es doch zu sagen: der Tod, der durch das ganze Leben
bis zu seinem Ende hindurchgestorben wird, ist, ganzmenschlich
und theologisch verstanden, nicht ein bloß biologisches Vorkomm-
nis am Ende, ein medizinischer Exitus, sondern die eine Selbstver-
wirklichung kreatürlich-menschlicher Freiheit, in der der Mensch
vor Gott, auf ihn hin oder gegen ihn, über sich als ganzen auf
Endgültigkeit hin verfügt, und zwar in jener letzten kreatürli-
chen Ohnmacht, die in dem, was wir vulgär als Tod erfahren und _
nennen, zur äußersten Verwirklichung und Erscheinung kommt.
Die eine Freiheitstat des menschlichen Lebens in Endgültigkeit
hinein ereignet sich für das christliche Verständnis der Freiheit
167
nur durch das reale Sterben hindurch und nicht unabhängig da-
von, auch wenn, empirisch für uns, die endgültig über den Men-
schen verfügende Freiheitstat des einen Lebens uhrzeitlich nicht
notwendig gerade im Augenblick seines medizinisch-biologischen
Exitus lokalisiert werden kann. Es ist für die christliche Anthro-
pologie keine endgültige Selbstverwirklichung der Freiheit denk-
bar, die entweder als unabhängig vom Tod irgendwo innerhalb des
Lebens (etwa in einer mystischen Tat, die nicht auf den Tod aus-
greifen würde) geschehend gedacht würde oder erst nach dem Tod
geschehen würde. Dabei ist es grundsätzlich gleichgültig, in wel-
cher konkreten Weise das Sterben des Menschen geschieht. Die
Annahme der konkreten Weise, in der letztlich unverfügbar der
Tod geschieht, gehört zwar auch noch einmal zur geglückten end-
gültigen Freiheitstat, die wir Tod nennen. Und es sei einem Theo-
logen nicht verwehrt, wenn nicht sogar geboten, darüber nachzu-
denken, warum und wie die Konkretheit des Todes Jesu (dessen
Gewaltsamkeit im Konflikt mit den politischen und religiösen
Gewalten, die äußerste Gottverlassenheit dieses Todes usw.) auch
noch einmal wesentlich und signifikant ist für die heilshafte Be-
deutsamkeit dieses Todes für Jesus selbst und erst recht für uns.
Aber auch dann bleibt entscheidend, daß der Tod auch bei Jesus
fundamental als die höchste Freiheitstat in radikaler Ohnmacht
zugleich auf Endgültigkeit hin zu denken ist.
Wenn somit in Jesus die letzte und endgültige Annahme des
Selbstangebotes Gottes geschehen soll und er so das eschatologisch
siegreiche Wort Gottes an die Welt sein soll, dann kann dies nur
in und durch seinen Tod hindurch geschehen. Natürlich so, daß
das Geglücktsein dieser Annahme in der Ohnmacht des Todes für
uns im Glauben auch greifbar wird, also zusammen mit seiner
Auferstehung.
Der Tod Jesu und somit seine Passion im ganzen ist ein not-
wendiges konstitutives Element im eschatologischen Wort der
Selbstzusage Gottes an die Welt als deren absoluter Zukunft. Ist
nun dieses Wort Gottes, wie wir früher gesagt haben, unüber-
holbar, und zwar allein, ist dieses Wort und es allein die nicht
mehr überholbare Offenbarung Gottes, die abschließt, indem sie
die unendliche Unbegreiflichkeit Gottes als solche selbst auf-
168
schließt und so gerade eine noch weitergehende Geschichte er-
möglicht und legitimiert, weil diese jetzt ein unendliches Ziel als
siegreich sich durchsetzendes hat, dann kann und muß gesagt
werden, daß der Tod Jesu dieser aufschließende Abschluß der
Offenbarung ist und ohne ihn dieser Abschluß gar nicht denkbar
ist. Das Kreuz Jesu markiert in dem richtig zu verstehenden Sinn
das Ennde der öffentlichen Offenbarung. Wenn die Schultheologie
zu sagen pflegt, mit dem Tod des letzten Apostels sei die öffent-
liche Offenbarung abgeschlossen, dann würde sie besser und ge-
nauer zu sagen haben, daß mit dem geglückten Tod Jesu, des Ge-
kreuzigten und Auferstandenen, die Offenbarung abgeschlossen
sei, also mit dem Kreuz, weil darin Gott selbst sich unrücknehm-
bar der Geschichte zugesagt hat und über dieses letzte Wort Got-
tes hinaus Gott nichts mehr sagen kann, wenn auch innerhalb
dieses letzten Wortes die Geschichte auch als Offenbarung Gottes
weitergeht, die Geschichte, die wir gewöhnlich Kirchen- und
Glaubensgeschichte zu nennen pflegen, die die Geschichte dieses
letzten Wortes Gottes ist und somit auch, richtig verstanden, im-
mer noch Offenbarungsgeschichte genannt werden dürfte. Wenn
das Kreuz als in Auferstehung hinein geglückter Tod Jesu das
Ende der Offenbarungsgeschichte genannt werden muß, dann ist
damit nicht geleugnet, sondern implizit gesagt, daß zu diesem
Kreuz als Sieg des Selbstangebotes Gottes an die Welt natürlich
auch die Konstitution der Kirche als der geschichtlichen und in-
stitutionellen (weil öffentlichen) Greifbarkeit des Glaubens an
den Gekreuzigten und Auferstandenen gehört, ohne welchen
Glauben die Selbstzusage Gottes an die Welt in Jesus gar nicht
siegreich wäre. Man mag also auch heute noch sagen, daß die
öffentliche christliche Offenbarung mit dem apostolischen Zeit-
alter abgeschlossen ist, vorausgesetzt, daß man diese «Abge-
schlossenheit» richtig versteht, und daß man dieses apostolische
Zeitalter im Kreuze Christi als solchem zentriert erkennt, dem
Kreuz, das nicht nur eines der Ereignisse innerhalb dieser Phase
ist, sondern auch ihre gnosiologische Achse. Im Kreuz Jesu wer-
den die transzendentale und die geschichtliche Dimension des
Menschen endgültig und unwiderruflich versöhnt: die absolute
Verwiesenheit des Menschen in das sich selbst schenkende Ge-
169
heimnis Gottes wird geschichtliches Ereignis, und zwar im ge-
glückten Tod als solchen, ohne den dies nicht möglich wäre. Daß
die Transzendenz des Menschen auf Gott in seiner Unmittel-
barkeit durch Gott selbst wirklich endgültig glückt und den
Menschen über alle kategorialen Einzelheiten und Vorläufigkei-
ten hinwegreißt, das ist die Substanz der christlichen Offenbarung,
die im Kreuz Jesu Ereignis und selber darin offenbar wurde. Und
darum ist das Kreuz die Vollendung der christlichen Offenbarung.
Wir können das schon Gesagte noch unter einem ein wenig an-
deren Gesichtspunkt sehen und damit die Problematik noch ein-
mal ausdrücklich aufnehmen, bei der am Anfang unsere Über-
legungen einsetzten. Ich meine die Problematik zwischen der
heutigen Mentalität eines unbedingten Willens zu einer unbe-
grenzten Zukunft einerseits und der Lehre von der Abgeschlos-
senheit der öffentlichen Offenbarung, die doch letzter Inhalt der
Geschichte selber ist. Wie schon gesagt, kann hier dieses Problem
nicht allseitig und zureichend behandelt werden. Aber wenn es
der Wille des heutigen Menschen ist, nicht nur auch wie die Vor-
fahren als derselbe Mensch, wenn auch unter ein wenig anderen
Bedingungen, zu existieren, sondern auch wirklich neue Zu-
künfte in schöpferischer Freiheit zu schaffen (individuell und kol-
lektiv in Verschränkung dieser beiden Dimensionen), dann ist
dieser Wille des Menschen von heute doch immer wieder des-
avouiert und durchkreuzt durch den Tod, der gerade durch die-
sen Widerspruch zu diesem in etwa neuen Willen des Menschen
eine neue Eigentümlichkeit und Radikalität bekommt. Dieser
tödliche Widerspruch zwischen dem radikalen Willen des Men-
schen zu unbegrenzter Freiheit und seinem Verurteiltsein zum
Tod wird selbstverständlich, auch wenn dies in allen Ideologien
unserer heutigen Geschichte verdrängt wird, nicht dadurch ver-
söhnt für den je existierenden Menschen, daß die Folge der Ge-
schlechter mit solchen dem Tod Geweihten ins Unbestimmte
weitergehend gedacht wird. Dieser tödliche Widerspruch wird
nicht dadurch legitimiert, daß er ewig weitergehend verstanden
wird und jede Generation nur das Podest ist, auf dem das Sieges-
mal der nächsten Generation errichtet wird, die mit ihrem Sieg
ebenso wieder untergeht. Jeder hat nicht nur eine Verantwortung
170
für die Kommenden, sondern auch für die Toten, die vor ihm
waren, und nicht nur für das eigene Leben, sondern auch für den
eigenen Tod. Die heutige Mentalität eines unbedingten Zu-
kunftswillens muß sich somit, soll sie nicht lügen, als durchkreuzt
erkennen durch den Tod. Soll somit überhaupt eine Versöhnung
dieses Gekreuzigtseins aller Geschichte durch den Tod denkbar
sein und gehofft werden dürfen, dann kann dies nur so sein, daß
der Tod selbst nicht das nichtende Ende der Geschichte ist, son-
dern das Ereignis, in der die Geschichte sich in die unendliche
Freiheit Gottes durch Gottes Tat selbst aufhebt. Daß der Tod die-
ses Ereignis sein kann, als solches schon geglückt ist und als sol-
ches auch unserem eigenen Tod zugesagt ist, das erfährt der
Glaube des Christen am Kreuze Jesu.
171
WAS HEISST HEUTE
AN JESUS CHRISTUS GLAUBEN?
172
”»
auf die eine und ganze Frage der menschlichen Existenz sein will.
Das soll nicht bedeuten, daß hier unmittelbar meditativ und
erbaulich geredet oder gepredigt werden soll, daß die Anstren-
gung begrifflichen Redens ganz erspart werden soll. Aber es muß
doch von Anfang an klar sein, welche Haltung der Leser von
vornherein mitbringen muß, um ein Verständnis für diese Über-
legungen zu haben: die Haltung einer bewußten und freien Ver-
antwortung für seine Existenz als eine und ganze.
Drittens: Der Zugang zu einer heutigen Christologie könnte in
der verschiedensten Weise gefunden werden. Es wäre denkbar,
mit einer Theologie der Nächstenliebe, mit einer Theologie des
Todes, mit einer Theologie der Zukunft zu beginnen und von
einem dieser Ausgangspunkte aus, die vermutlich noch sehr ver-
mehrt werden könnten, zu zeigen, daß sie zu einer fragenden und
suchenden .Christologie führen, die ihre eigene Antwort in dem
Bekenntnis der Kirche findet zu Jesus Christus als dem unüber-
holbaren und siegreichen Zusagewort Gottes an den Menschen,
in dem Gott seine eigene Selbstzusage an die Welt geschichtlich
greifbar und irreversibel macht. Durch solche ausdrücklicher ab-
geschrittenen Zugangswege zur Christologie könnte gewiß auch
deutlicher werden, wie gerade heute ein Ja des Glaubens zur Chri-
stologie des Christentums begründet werden kann. Aber wir müs-
sen notgedrungen noch etwas mehr vereinfachen und die ver-
schiedenen, an sich zu differenzierenden Zugangswege zu einer
heutigen Christologie, so gut es geht, zusammen sehen.
Viertens: Es kann bei diesen Überlegungen nicht die Aufgabe
sein, die kirchenlehramtliche Christologie als solche in ihrer Fülle
und Differenzierung in hoher Theologie oder auch nur in her-
kömmlicher katechetischer Art vorzutragen. Es soll vielmehr nur
versucht werden, einen Ansatzpunkt für eine solche Christologie
einem Menschen von heute anzudeuten. Daß ein solcher dann
die Christologie der Kirche hergibt, wenn, was er in sich birgt,
entfaltet und ernst genommen wird, das kann hier höchstens an-
gedeutet werden mit der Versicherung, daß auch schon in einem
solchen Ausgangspunkt das enthalten ist, was die kirchenamtliche
Lehre des katholischen Christentums von Jesus aussagt. Wir sa-
gen also nicht gleich am Anfang: Jesus ist Gott, Jesus ist das
173
Fleisch gewordene Wort des ewigen Gottes, das beim Vater von
Ewigkeit her existiert; wir reden nicht von Anfang an von der
hypostatischen Einheit der göttlichen und menschlichen Natur
in der einen Person des göttlichen Logos; wir gehen nicht von
den christologischen Formulierungen des Neuen Testamentes bei
Paulus und Johannes aus, in denen schon eine hochentwickelte
Glaubensreflexion gegeben ist; wir setzen auch nicht voraus, daß
solche «späte» neutestamentliche Christologie nicht hinterfragt
werden könnte auf ursprünglichere und in etwa einfachere Er-
fahrungen des Glaubens mit dem geschichtlichen Jesus, in seiner
Botschaft, seinem Tod und seinem geretteten Endgültiggewor-
densein, das wir seine Auferstehung nennen; wir sind nicht der
Meinung, daß es von vornherein sicher und selbstverständlich
sein müsse, daß man den orthodoxen Glauben an Jesus als den
Christus nur und allein in den Formulierungen aussagen könne,
die die der klassischen Christologie der abendländischen Kirche
sind, auch wenn diese auch für uns heute und in Zukunft eine
normative Bedeutung für unseren Glauben behalten. Was mit
dieser vierten Vorbemerkung gemeint ist, kann hier nicht ge-
nauer entfaltet werden, ergibt sich aber vielleicht doch aus dem,
was nun gesagt werden soll.
Wir beginnen mit einer Überlegung, die man vielleicht su-
chende Christologie nennen könnte. Was ist damit gemeint? Der
Mensch hat in Freiheit auf Endgültigkeit hin mit sich als einem
und ganzen zu tun. Er kann sich zwar durch die Vielfalt seines
Lebens hindurchtreiben lassen, jetzt mit dieser, dann mit einer
anderen Einzelheit seines Lebens und seiner Möglichkeiten be-
schäftigt. Er soll aber das Eine und Ganze seiner Existenz vor sich
kommen lassen und in Freiheit verantworten; er soll sich um
sich, um sein «Heil» sorgen. Tut er dies, kommt er in eine eigen-
tümliche und fundamentale Verlegenheit. Weil es sich um das
Ganze seiner Existenz handelt, scheint darin nur eben dieses selbe
Ganze als eines und ganzes heilsbedeutsam sein zu können,
scheint eine bestimmte Einzelheit seines Lebens, seiner indivi-
duellen und kollektiven Geschichte für dieses Eine und Ganze von
vornherein, per definitionem, nicht entscheidend sein zu können.
In seiner Heilsfrage scheint also der Mensch, sosehr er im übrigen
174
unweigerlich ein geschichtliches Wesen bleibt, geschichtslos wer-
den zu müssen. Wie er dann geschichtslos das eine Ganze seiner
. Existenz vor sich zu bringen versuchen mag, ob er in einem my-
stischen Zusichselberkommen in seiner Tiefe, wo noch alles eins
zu sein scheint, dieses Ganze heilssorgend vor sich bringt, ob er
in einem metaphysischen Aufschwung die ewige Wahrheit, die
gleichbleibend über der Geschichte schwebt und ihm sein ewiges
Wesen über der bunten Vielfalt seiner Geschichte zusagt, zu er-
greifen sucht, ob er seine eigentliche Wahrheit in der skeptisch
resignierenden Entlarvung aller Wahrheiten als geschichtlich und
gesellschaftlich bedingter zu finden sucht, das alles ist letztlich
gleichgültig, weil auf alle diese und andere denkbaren Weisen der
Mensch sich als einen und ganzen nur außerhalb seiner echten
geschichtlichen Existenz meint finden zu können; die Geschichte
als solche scheint heillos zu sein, nur der Schein, der das wahre
Wesen des Menschen in tausend leeren Erscheinungen ver-
schleiert. Wenn aber der Mensch überzeugt ist, daß er auch sein
Heil nur in seiner Geschichte tun und erfahren kann, weil er zu
sich selbst kommt und seine Freiheit vollzieht im Umgang mit
seiner Mitwelt und Umwelt, also in der Geschichte, und auch in
Metaphysik und Mystik nicht wirklich aus seiner Geschichte her-
austreten kann, dann sucht er einen anderen Menschen, in dem
— natürlich durch die freie Macht Gottes — solches Heil wirklich
geglückt ist und als geglücktes für ihn erfahrbar wird, in dem
dann wegen seiner Solidarität mit ihm auch für ihn nicht nur die
abstrakte Heilsmöglichkeit, sondern auch das Heil als Zusage für
seine Hoffnung konkret in Erscheinung tritt. Der Mensch, der
wirklich sein Heil sucht und sich für es in seiner Freiheit verant-
wortlich weiß, sucht in der Geschichte der einen Menschheit, zu
der er gehört, einen Menschen, in dem als Zusage an ihn selbst
dieses Heil nicht nur geschehen ist, sondern auch als durch Gottes
Macht siegreich vollbracht greifbar wird und ihn über eine bloß
abstrakte Möglichkeit hinaus für sich selbst konkret hoffen läßt.
Ob ein solches geglücktes und so auch erfahrenes Heilsereignis
nur gesucht wird in der Geschichte oder darin auch wirklich schon
gefunden ist, ist eine Frage, die in diesem Augenblick unserer
Überlegungen noch nicht bedacht werden muß. Den so minde-
175
stens gesuchten Menschen können wir (auch wenn die Überle-
gung hier etwas rasch und sprunghaft gehen muß) den absoluten
Heilbringer nennen, weil es sich, wie gesagt, nicht bloß um ein
individuelles Existenzschicksal für sich allein, sondern um ein
solches handeln soll, das für uns Heil als feste Hoffnung ver-
spricht und uns von Gottes Gnade her siegreich unser Heil zu-
sagen soll. Das setzt natürlich voraus, daß dieser gesuchte und ins
Heil gekommene Mensch in einer absoluten Solidarität mit uns
existiert und wir ihm dieselbe Solidarität entgegenbringen kön-
nen und tatsächlich entgegenbringen. Dieses in dem gesuchten
Menschen geglückte Heil kann in unserer menschlichen Situa-
tion, so wie sie faktisch ist, nicht anders als durch den Tod ge-
schehend gedacht werden, weil nur darin Geschichte vollendet,
Freiheit zu Endgültigkeit wird, der Mensch sich frei und end-
gültig dem Geheimnis Gottes übergibt, und so Transzendenz des
' Menschen in die Unbegreiflichkeit Gottes hinein und seine Ge-
schichte zur endgültigen Einheit kommen. Dieser den Menschen
ins Heil rettende Tod muß aber auch, weil er siegreiche Heils-
verheißung für uns, Selbstgabe Gottes an uns und nicht nur das
individuell isolierte Schicksal dieses Menschen sein soll, als ge-
glückter und in Gott hinein geretteter für uns, wenn auch in
einer Erfahrung von absoluter Einmaligkeit, greifbar werden,
d. h. der Tod dieses Menschen muß als in das hinein geschehend
ergriffen werden können, was wir in der traditionellen christ-
lichen Terminologie die Auferstehung dieses Menschen nennen.
Dazu gehört natürlich auch, daß das Leben und das Selbstver-
ständnis dieses (immer noch gesuchten) Menschen so war und
von uns geschichtlich so ergriffen wird, daß wir im Ernst an die
Gerettetheit dieses Lebens, an seine «Auferstehung» glauben
können. Unter diesen Voraussetzungen aber kann ein solcher,
bisher gewissermaßen apriorisch von unserer Heilsfrage her pro-
jektierter, Mensch durchaus als absoluter Heilbringer verstanden
und benannt werden. Er ist, rein als solcher Mensch gesehen, nicht
selbst das Heil, denn dieses kann bei der unbegrenzten Transzen-
dentalität des Menschen über jedes Einzelgut hinaus und bei der
Radikalisiertheit dieser Transzendenz durch das, was wir Gnade
nennen, nur Gott selbst sein und kann nur durch die Selbstmit-
176
teilung dieses Gottes in Unmittelbarkeit und Endgültigkeit hin-
ein konstituiert werden. Aber dieser gesuchte Mensch ist inso-
fern der absolute Heilbringer, als seine durch Tod und Auferste-
hung in der Macht Gottes geschehende Vollendung in Solidarität
mit uns für uns das unwiderrufliche Zeichen dafür ist, daß Gott
sich selbst als unsere Heilsvollendung zugesagt hat.
Wie schon eingangs gesagt wurde, kann nun nicht auch noch
ausdrücklich und ausführlich der Versuch des Nachweises unter-
nommen werden, daß dieser so entworfene und gesuchte absolute
Heilbringer auch, wenigstens implizit, das besagt, was die klas-
sische kirchliche Christologie unter Inkarnation, hypostatischer
Union, Menschwerdung des ewigen Wortes Gottes in der Einheit
einer Person und in der unvermischten Zweiheit einer mensch-
lichen und einer göttlichen Wirklichkeit meint und lehrt. Aber
wir meinen, daß dieser Nachweis grundsätzlich möglich ist und
setzen ihn hier als möglich und durchführbar voraus. Dort, wo
ein Mensch in dem geretteten Schicksal eines Menschen und als
einem gerettet erfahrenen die Heilszusage Gottes an ihn selbst
ergreift, treibt er, thematisch oder unthematisch, schon Christo-
logie; wenn er in seiner Geschichte einen solchen Menschen
sucht, treibt er, thematisch oder unthematisch, schon suchende
Christologie. Und weil eigentlich ein Mensch nur schuldhaft die
Frage nach seinem eigenen Heil verdrängen kann, ist in einer
solchen thematisch oder unthematisch vollzogenen suchenden
Christologie auch heute in allen Menschen die Voraussetzung in
Transzendenz und Gnade gegeben, daß seine geheime Christo-
logie sucht und schließlich auch findet. Es ist nicht so, daß wir
heute die klassische Christologie nur als ein merkwürdiges und
nicht mehr vollziehbares Mythologem empfinden müßten.
Es ist jetzt an der Zeit, daß wir von einer suchenden Christo-
logie, die den absoluten Heilbringer in der Geschichte zu ent-
decken sucht, zu einer Christologie gelangen, die diesen Heil-
bringer in der Geschichte auch wirklich gefunden hat. In dieser
Überzeugung des Gefundenhabens ist der eigentliche Kern, die
Substanz desChristentums gegeben. Dieses kirchliche Christentum
sagt: In Jesus von Nazareth haben wir den absoluten Heilbringer,
den Christus Gottes, den Sohn Gottes schlechthin gefunden.
102
Haben wir auch heute Grund und Recht, dies zu sagen? Natür-
lich ist, rein vom Menschen her gesehen, der Satz, gerade Jesus
von Nazareth sei das geglückte und als geglückt glaubend erfah-
rene Heilsereignis, sei der absolute Heilbringer, der uns die kon-
krete Hoffnung unseres Heiles in der Geschichte verbürgt, ein
Satz, der mit allen Schwierigkeiten beladen ist, die mit einem
Satz über ein geschichtliches Ereignis von Einmaligkeit und ge-
schichtlicher Ferne, von Unwiederholbarkeit belastet ist. Aber für
einen Menschen, der in seiner eigenen individuellen Geschichte
erfährt, daß seine konkrete Existenz nicht allein auf naturwissen-
schaftlich verifizierbaren Sätzen, sondern entscheidender auf ge-
schichtlich einmaligen Erfahrungen trotz deren bleibender Be-
zweifelbarkeit beruht, ein Mensch, der erfährt, daß er unaus-
weichlich immer seine Existenz an solche geschichtlichen Erfah-
rungen wagen muß und wagt (auch wenn es nur das unbedingte
Vertrauen auf die Liebe eines nächsten Menschen wäre), kann
sich der geschichtlichen Erfahrung dieses Jesus nicht in billigem
Skeptizismus mit der Meinung entziehen, in der Geschichte bleibe
letztlich doch alles dunkel, unsicher und zweideutig. Er weiß,
daß er die Fragwürdigkeit seiner historischen Erfahrungen un-
weigerlich und mutig auf den anderen Menschen hin in letzten
Entscheidungen überschreiten muß. Warum also sollte dies nicht
auch auf Jesus hin möglich und legitim sein?
Es ist zunächst nicht so, daß wir heute von dem historischen
Jesus nichts mehr mit genügender Sicherheit wüßten oder nur
solches, was glaubensmäßig und theologisch belanglos wäre. Zwar
hat die historisch-kritische Exegese gezeigt, daß wir es auch schon
in den frühesten neutestamentlichen Schriften über Jesus mit
Zeugnissen des Glaubens an ihn als den Christus und nicht bloß
mit historisch neutralen Reportagen über sein irdisches Leben zu
tun haben; zwar zeigt die moderne Bibeltheologie eine große und
dramatische Entwicklungsgeschichte auch schon innerhalb des
Neuen Testaments zwischen der Predigt des geschichtlichen Jesus
von der andrängenden Nähe des Reiches Gottes und dem damit
gegebenen Selbstverständnis Jesu einerseits und einer sublim
entwickelten Christologie bei Paulus und im Johannesevangelium
anderseits, die im ganzen doch schon sehr nahe an die spätere
178
klassische Christologie der Kirche grenzt. Aber all das, das heute
Gemeingut nicht bloß der evangelischen Theologie, sondern auch
— wenn auch mit einiger Verspätung — der katholischen Exegese
und Theologie ist, bedeutet nicht, daß wir vom historischen Jesus
heute nichts für unsere Christologie Relevantes wüßten oder daß
die Legitimität der Glaubensgeschichte vom historischen Selbst-
verständnis Jesu zur Christologie bei Paulus und Johannes und
zur Christologie der Kirche nicht dargetan werden könnte, wenig-
stens dann, wenn Ostern miteinkalkuliert wird. Auch die histo- _
risch noch greifbare Verkündigung Jesu und sein darin impli-
ziertes Selbstverständnis haben eine Eigenart und Unüberholbar-
keit, eine Unvergleichlichkeit, die uns erlauben zu sagen, daß in
ihm die Selbstzusage Gottes als unseres Heiles in einer unüber-
bietbaren und irreversiblen Weise geschichtlich Ereignis gewor-
den ist und dann durch seinen geretteten Tod endgültig besiegelt
wurde, daß so Jesus in seiner Verkündigung und seinem Tod das.
endgültige Wort Gottes an uns in der Geschichte geworden ist.
Wir können dies hier nicht im einzelnen genau darlegen und (wie
gesagt) noch weniger von da aus hier und jetzt die klassische
Christologie der Schrift und der Kirche ausdrücklich entfalten,
die im Selbstverständnis des ‚historischen Jesus impliziert ist. So
viel sei hier nur gesagt: Jesus verkündigt nicht bloß ein befreien-
des Bild Gottes als des Vaters, vor dem alle, auch die Sünder und
die gesellschaftlich und politisch Deklassierten, gleichberechtigt
stehen, einen Gott, der vergibt und befreit, dessen Gnade alle
menschlichen Ausweglosigkeiten übergreift und erlöst. Das alles
tut Jesus auch, und es wäre schon das allein in seiner Reinheit und
Unbedingtheit wahrhaftig nicht wenig. Wäre dies aber der allei-
nige Inhalt der Verkündigung Jesu, könnte man fragen, ob dieses
befreiende Wissen um Gott als den Vater nicht auch ohne Jesus
erreichbar wäre, ob es die letzten Aufgipfelungen prophetischer
Frömmigkeit des Alten Testaments wirklich wesentlich überbiete,
ob es nicht letztlich doch auch ohne Jesus in Hoffnung ergriffen
werden könne und so von Jesus und gerade seiner Verkündigung
letztlich ablösbar sei. Wir brauchen diese Frage hier und jetzt
nicht zu beantworten. Denn Jesus hat mehr verkündigt als bloß
dies, so wunderbar es auch für sich allein schon wäre, und so sehr
179
es gerade heute in einem modernen Jesuanismus der Freiheit und
der Brüderlichkeit, der selbstlosen Liebe zwischen den Menschen
als befreiend und beglückend erfahren wird. Jesus hat, auch hi-
storisch gesehen, Radikaleres verkündigt, das von seiner Person
und seiner Verkündigung nicht ablösbar ist. Seine Verkündigung
beinhaltet eine neue, bisher so nicht gegebene Zuwendung Got-
tes an den Menschen, ein neues Gekommensein des Reiches Got-
tes, weil dieses Gekommensein nicht nur ein Angebot an die ge-
schichtliche Freiheit des Menschen darstellt, für die es offen-
bleibt, ob und wie sie sich selbst gegenüber diesem Selbstangebot
Gottes in Ja oder Nein verhalten will und so auch die Geschichte
dieses göttlichen Selbstangebotes Gottes noch einmal offenläßt.
Jesus verkündigt, daß dieses Selbstangebot Gottes als des Heiles
und nicht des Gerichtes der Menschheit von Gott her und durch
seine Macht irreversibel siegreich ist und in dieser irreversiblen
Sieghaftigkeit in ihm, in seiner Verkündigung und dann letztlich
in seinem geretteten Tod geschichtlich greifbar wird, wenn auch
der einzelne Mensch durch die Wirklichkeit und Greifbarkeit des
Sieges Gottes in der Menschheitsgeschichte aus der Verantwortung
seiner individuellen Freiheit nicht entlassen wird, sondern diesen
Sieg Gottes für sich nur in Hoffnung ergreifen kann. Wenn wir
fragen, woher denn der Mensch Jesus diesen mit ihm und seiner
Botschaft gegebenen tatsächlichen Sieg Gottes in seiner unver-
söhnten und sündigen Welt wissen könne, wissen könne, daß
Gottes Selbstangebot dem Menschen seine letzte Möglichkeit,
Gott in Unmittelbarkeit zu finden, nicht nur anbietet, sondern
den Sieg dieses Angebotes selber bewirkt, dann können wir nur
sagen: Jesus weiß sich einerseits in einer unsagbaren und unauf-
löslichen Einheit mit seinem Gott und trägt diese in unbedingter
Treue durch alle Katastrophen seines Lebens bis in den Tod
durch, und Jesus hat anderseits eine solche bedingungslose Soli-
darität der Liebe zu allen Menschen trotz derer Erbärmlichkeit
und Schuld, daß er sich nicht vor das Dilemma stellen läßt, ent-
weder zu Gott oder zu den Menschen zu halten, sondern sein
eigenes Heil als das der Menschheit ergreift. Natürlich können
wir von Jesus her sagen, daß dieser nicht bloß Möglichkeit, son-
dern bedingungslos Wirklichkeit schaffende Heilswille Gottes in
180
der ganzen Länge und Breite der Menschheitsgeschichte am
Werke war. Aber daß er nicht nur Angebot der Möglichkeit, son-
dern sich selbst von sich her durchsetzende Wirklichkeit ist, daß
er als solcher in seiner eigenen Geschichte irreversibel und als
solcher geschichtlich greifbar geworden ist, das können wir nur
im Blick auf Jesus glaubend sagen. Das aber hat Jesus der Sache
nach in seiner Botschaft vom neuen und endgültigen Kommen
des Reiches Gottes in seiner von seiner Person nicht ablösbaren
Botschaft gesagt, und dies ist in seinem geretteten Tod endgültig
besiegelt worden. Und so ist er das neue, unbesiegbare und un-
überbietbare Wort der Selbstzusage Gottes an uns, auch wenn die
Geschichte weiterläuft und, was in Jesu Botschaft und Schicksal
grundgelegt ist, noch ausgefüllt werden und erscheinen muß in
der ganzen Geschichte der Menschheit bis zu ihrem Ende.
An diesem Punkt unserer Überlegungen müssen wir noch et-
was ausdrücklicher über eine Sache sprechen, die wir schon mehr-
mals berührt haben: die Auferstehung Jesu, die die geschichtliche
Besiegelung und Erscheinung dessen ist, was mit-Jesu Person und
Botschaft gegeben ist, der geschichtlich erscheinende Sieg der
Selbstzusage Gottes an die Menschheit. Man kann, was mit Auf-
erstehung Jesu gemeint ist, glaubend nur ergreifen, wenn man
ein Vierfaches in seiner unauflöslichen Einheit der Momente
realisiert. Erstens: man muß ein richtiges Verständnis dessen ha-
ben, was mit Auferstehung gemeint ist. Sie beinhaltet eine Aus-
sage über den ganzen und einen Menschen; sie meint die end-
gültige Gerettetheit der Person und der Geschichte eines Men-
schen bei Gott; sie meint keine Wiederkehr in unser raumzeit-
liches biologisches Leben, ist keine Tootenerweckung in der Weise,
in der solche Rückkehr in das leibliche Dasein dieser Zeit sonst im
Neuen Testament und in der Heiligengeschichte berichtet wird;
ihre Erfahrung durch uns, durch die Zeugen der Auferstehung
hat darum eine absolute Eigentümlichkeit, die mit anderen Er-
fahrungen letztlich nicht verglichen werden kann und darum
in einer besonderen Weise «geschichtlich » ist; sie ist geschicht-
lich, weil und insofern darin die endgültige Rettung einer Ge-
schichte in deren Aufhebung hinein erfahren wird. Zweitens:
Der Mensch kann eine solche Erfahrung einmaliger Art nur dann
181
erreichen, wenn und insofern er ihr seine eigene Hoffnung für
sich auf ein endgültiges Gerettetwerden seiner eigenen Existenz
entgegenbringt. Wo dies nicht geschieht, kann ein Mensch nicht
anders, als skeptisch den Bericht der Auferstehung Jesu auf sich
beruhen lassen als etwas, was in einer nicht mehr aufklärbaren
Vergangenheit ihn schließlich gar nichts angeht. Der Mensch
kann aber seine eigene Auferstehungshoffnung haben, darf für
sich und auch in der Solidarität mit den Toten die menschliche
Existenz und Geschichte nicht einfach, ohne sich selbst zu zer-
stören, in das leere Nichts des bloßen Gewesenseins fallen lassen.
Dort, wo wirklich geliebt und gehofft wird, wird Glaube an
die eigene Auferstehung, die nicht notwendig an einem «späte-
ren» Punkt der Zeitlinie in weiter Ferne lokalisiert werden muß,
vollzogen, selbst dann, wenn einem Menschen solcher Hoffnung
und Liebe die Fähigkeit oder der Mut fehlen würde, die in der
Unreflektiertheit seines Existenzvollzugs getane Auferstehungs-
hoffnung verbal zu thematisieren und zu objektivieren. Läßt aber
ein Mensch seine eigene Auferstehungshoffnung mutig vor, er-
greift er sich selbst als den in die Endgültigkeit seiner Existenz
hinein Berufenen, begegnet er so der Botschaft von der Auferste-
hung Jesu, und zwar im Blick auf den Anspruch des Lebens und
des Todes Jesu in absoluter Liebe zu Gott und den Menschen in
einem, dann weiß er sich berechtigt, die Auferstehung dieses
Jesus glaubend zu ergreifen. Er ist gefragt, ob er denn nicht seine
eigene Auferstehungshoffnung in einer letzten schuldhaften Ver-
zweiflung verleugnen würde, wenn er angesichts dieses Lebens
und dieses Todes dieses Jesus nicht den Mut fände zu glauben,
daß er der endgültig Gerettete, der Auferstandene sei. Drittens:
Diese unsere Hoffnung auf die eigene Auferstehung und die Be-
gegnung mit dem Anspruch, den Jesus Schicksal uns stellt, begeg-
nen der Auferstehungsbotschaft seiner Jünger und dem Glauben
einer zweitausendjährigen Hoffnungsgeschichte der Christenheit
und sind gefragt, ob sie mit Recht dieser Botschaft und diesem
Glauben ihre Zustimmung bloß deshalb verweigern können, weil
hier das Endgültige und Unvorstellbare in die Unbegreiflichkeit
Gottes hinein geglaubt werden muß. Die Jünger Jesu bezeugen
eine Östererfahrung: Der Herr ist wahrhaft auferstanden. Wir
182
können aus dem schon genannten Grund die Eigenart dieser
Erfahrung uns nur schwer verdeutlichen und abgrenzen von
scheinbar ähnlichen, visionären und mystischen Phänomenen,
die letztlich mit dieser Auferstehungserfahrung nicht verglichen
werden können. Die Einzelerscheinungen des Auferstandenen,
von denen das Neue Testament in einer letztlich nicht harmoni-
sierbaren Weise berichtet, mögen durchaus aufgefaßt werden als
Inszenierungen und schon in verschiedenen Aspekten verlau-
fende Interpretationen der ursprünglichen und eigentlichen Auf-
erstehungserfahrung der ersten Jünger. Aber dadurch wird diese
selbst nicht aus der Welt geschafft; sie wurde gemacht und be-
zeugt von Menschen, die in ihrer Verzweiflung über Jesu Le-
benskatastrophe dafür gar nicht besonders disponiert waren,
von Menschen, die durchaus imstande und befähigt waren,
diese Erfahrung von scheinbar ähnlichen visionären und hal-
luzinatorischen Phänomen, die sie kannten, zu unterscheiden.
Welchen Grund sollten wir haben, ihrem Zeugnis nicht zu
glauben, vorausgesetzt natürlich, daß wir.aus der unbedingten
Hoffnung unserer eigenen Existenz nach unserer eigenen Auf-
erstehung verlangen und uns dem Anspruch des Lebens und des
Todes Jesu stellen und dieses einmalige Leben in unbedingter
Liebe nicht in eine absolute Leere des bloßen Gewesenseins fal-
len zu lassen bereit sind? Freilich muß man mit den Toten sich
solidarisch wissen und sie nicht einfach als die Gewesenen abtun,
die nur dafür gut sind, unsere eigene Geschichte zu ermöglichen.
Viertens: Wenn in dem, was wir Gnade nennen, unsere eigene
Transzendenz auf die Unmittelbarkeit Gottes in Freiheit lebendig
ist, wenn sie in der Geschichte und in der Begegnung mit ihr sich
realisiert und zu sich selber kommt, wenn mit unserer suchenden
Christologie wir Jesus von Nazareth begegnen, dann ist für uns
durchaus die Möglichkeit einer eigenen Erfahrung des Auferstan-
denen gegeben, auch wenn diese nicht einfach unabhängig vom
Zeugnis der ersten Jünger ist. Die Erfahrung unserer Transzen-
denz auf die Unmittelbarkeit Gottes hin in der Geschichte erhält
hier ihren einmaligen Höhepunkt: Wir erfahren in der Gnade
eine letzte Freiheit über alle Mächte und Gewalten der Ge-
schichte, des Gesetzes, der Schuld, der T'yrannei aller unserer
185
menschlichen Bedingtheiten, diese Erfahrung sucht ihre Greif-
barkeit und Besiegelung in der Geschichte; diese Erfahrung
kommt im Österzeugnis der Jünger und der Kirche zu Jesus, dem
Gekreuzigten und Auferstandenen, findet in ihm diese gesuchte
Besiegelung und findet sie in eben diesem Auferstandenen, schon
weil sonst in der religiösen Geschichte der Menschheit ein solches
Angebot gar nirgends erfolgt. Erfahrung der Freiheit in der Un-
mittelbarkeit zu Gott und Begegnung mit diesem Auferstandenen
treten in eine unauflösliche Einheit zusammen und bedingen sich
gegenseitig; man hofft absolut für sich selbst, weil man diesem
geretteten Schicksal Jesu begegnet als dem unüberholbaren Wort
Gottes an uns, und glaubt an die Auferstehung, weil man in letz-
ter Freiheit für sich alles, Gott in sich selber, hofft. Und diese Ein-
heit der Erfahrung in Geist und Geschichte zugleich ist durch-
aus eine Erfahrung des Auferstandenen in uns selber, auch wenn
wir sie nur durch das Zeugnis der ersten Jünger und der Kirche
mit dem Namen Jesu benennen können und diese Erfahrung
sonst gewissermaßen anonym bliebe. — Wenn die vier genannten
Momente deutlich sind und glaubend und hoffend in ihrer Ein-
heit ergriffen werden, kann und darf man auch heute an die Auf-
erstehung Jesu glauben, ohne dadurch den Eindruck zu haben,
man verliere sich dadurch in eine mythologische Interpretation
einer banalen Vergangenheit, in der letztlich doch nichts ge-
schehen wäre als utopische Hoffnung, die in eine grausame und
letzte Leere abgestürzt ist. Der Christ hat den Mut, an die Auf-
erstehung Jesu zu glauben, weil er sie ergreift in Verantwortung
für das letzte Gewicht seiner eigenen Existenz und an seine eigene
gerettete Geschichte hoffend zu glauben wagt.
Bei diesen aphoristischen Bemerkungen zu unserem Thema,
die viele wichtige Fragen auslassen und auslassen müssen, weil es
nicht anders geht, sei noch wenigstens auf ein Einzelthema inner-
halb des Ganzen aufmerksam gemacht: Auf das persönliche Ver-
hältnis des einzelnen Christen zu Jesus. Jesus als der Auferstan-
dene und Erhöhte darf oder sollte wenigstens nicht eine bloße
Chiffre sein für ein persönliches Verhältnis des Christen zum ewi-
gen Gott, Jesus sollte gerade als der erhöhte nicht einfach hinein-
verschwinden in das namenlose Geheimnis, das unaussagbar und
184
-
PURE
FEUERS unbegreiflich über unserem Dasein waltet und Gott genannt
wird. Er, der gerettete Mensch mit seinem konkreten, endgültig
gewordenen Schicksal ist zwar der Bürge dafür, daß wir bei Gott
selbst in der Fülle seines Lebens und seiner Freiheit, in seinem
seligen Licht und seiner Liebe ankommen können. Aber dieser
Bürge ist gerade darum der ewig Gültige, die bleibende Vermitt-
lung zur Unmittelbarkeit Gottes in sich selbst, und darum können
und sollen wir als Christen zu diesem geretteten Jesus in der Ein-
maligkeit seiner menschlichen Wirklichkeit ein persönliches Ver-
hältnis der Hoffnung, .des Vertrauens, der Liebe haben. So etwas
ist möglich, sollte vom Christen entwickelt und gepflegt werden.
Warum sollte dies nicht möglich sein? Allein schon in unserer
eigenen Auferstehungshoffnung, in der wir auf die gerettete End-
gültigkeit unserer Person und unserer Geschichte hoffend vorgrei-
fen, setzen wir die Hoffnung, daß es solche geretteten und end-
gültig gewordenen Menschen gibt. Wir haben nicht das Recht,
die Toten der Geschichte und die, die aus unserem eigenen Le-
benskreis heraus in die schweigende Ewigkeit Gottes eingegangen
sind, denen wir in Treue und Liebe verbunden waren, einfach-
hin und gänzlich aus unserem Lebenskreis zu entlassen und so zu
tun, als gingen sie uns nichts mehr an. Wir werden zwar nicht
parapsychologisch oder spiritistisch uns in eine Beziehung zu die-
sen Toten, die leben, in Beziehung zu setzen versuchen, weil
schon das Alte Testament solche Totenbeschwörungen verwarf
und weil solche Praxen der Würde Gottes und der geheimnis-
vollen, unserer Verfügung entzogenen Gerettetheit und Endgül-
tigkeit der Toten widerspräche. Das aber bedeutet für uns Chri-
sten, die die Gemeinschaft der Heiligen in ihrem Credo bekennen,
nicht, daß wir die liebende Gemeinschaft mit den Toten einfach
aufgeben und so tun dürften, als ob sie in sich oder wenigstens für
uns nicht mehr lebten. Und wenn wir vielleicht doch so tun und
das Gedächtnis der Kirche an alle ihre heimgegangenen Glieder
nur ein leeres Ritual für uns sein lassen, dann spricht das nicht
dafür, daß wir richtig handeln, sondern bezeugt nur die Unfertig-
keit und partielle Leere unserer eigenen Existenz. Ist das aber
schon im allgemeinen richtig, dann gilt das erst recht für das Ver-
hältnis, das wir zum lebenden Jesus haben können und haben
185
sollen. Er, dieser in einmaliger Weise als Bürge unserer eigenen
Existenz Gerettete, lebt in sich und für uns. Wir können auf ihn
hoffen, ihn lieben, zu ihm rufen, wir können auf seine Liebe und
Treue zu uns bauen, wir können uns seines irdischen Lebens und
Sterbens meditierend vergewissern in der glaubenden Überzeu-
gung, daß dieses Lebensschicksal gerettet ist und als ewige Bürg-
schaft unserer eigenen Hoffnung bei Gott für uns hinterlegt ist.
Wir können in seinem Geiste erfahren, daß er uns liebt, jeden in
einer einmaligen Weise, daß wir ihn lieben, jeder auch in einer
einmaligen Weise, die mit der Einmaligkeit jeder menschlichen
Existenz und Geschichte gegeben ist. In solcher Liebe zu dem
konkreten Jesus in der Ewigkeit Gottes geschieht die letzte Versöh-
nung von Zeit und Ewigkeit, von Geschichte und der Geschichts-
überlegenheit des ewigen Gottes. In und mit Jesus ergreifen wir
die selige Unberührtheit Gottes in sich selbst, weil in ihm sich
Gott selbst der Zeit und Geschichte mit seiner Unendlichkeit und
Freiheit unwiderruflich für Jesus und in ihm für uns zu eigen ge-
geben hat. In Jesus und der Liebe zu ihm ergreifen wir aber auch,
daß er und in ihm wir mit unserer Individualität und Geschichte
nicht verzehrt werden und untergehen, wenn wir uns der bren-
nenden Unbedingtheit des ewigen Gottes in Unmittelbarkeit nä-
hern, sondern gerade so die endgültig Geretteten und Bleibenden
werden. In ihm und mit ihm erfahren wir, daß Gott und Welt
zusammen in seliger Einheit existieren können, ohne daß das
eine oder das andere untergehen muß. Er, Jesus, ist das einmalige
und unwiderrufliche Siegel der letzten Versöhnung. Und darum
ist für den Christen das liebende, je einmalige Verhältnis des Ein-
zelnen zu Jesus nicht etwas, was vor der schweigenden und na-
menlosen Unbegreiflichkeit Gottes in Unmittelbarkeit ver-
schwinden müßte, sondern ein inneres, wesentliches Moment
eben dieser Unmittelbarkeit zu Gott, durch das gesetzt und be-
siegelt wird, daß wir bleiben, gerade dann, wenn Gott alles in
allem geworden sein wird und die Geschichte bei Gott gerettet
angekommen sein wird. Wenn wir glaubend, hoffend und liebend
uns in das Schicksal Jesu, in seine bedingungslose Liebe zum
Nächsten und in seinen Tod hineingeben, mit ihm leben und mit
ihm sterben in der leeren Finsternis seines Todes, dann werden
186
J
wir in seinem Geist, in dem Geist, den wir als seinen erfahren,
ergreifen, daß man es wirklich mit Gott selber über alle weltliche
Wirklichkeit hinaus zu tun haben kann, in diesen Gott unbe-
greiflicher Gerichte und unsagbaren Geheimnisses hineinfallen
kann, ohne darin unterzugehen, um darin seine letzte und end-
gültige Wirklichkeit zu finden. Wenn man Jesus liebt, ganz per-
sönlich und unmittelbar, wenn man sein Leben und sein Schick-
sal liebend zur inneren Form und Entelechie des eigenen Lebens
werden läßt, dann erfährt man, daß er der Weg, die Wahrheit
und das Leben ist, daß er zum Vater führt, daß man den unbe-
greiflichen Gott trotz seiner Namenlosigkeit Vater nennen darf
und kann, daß die Namenlosigkeit und Wegelosigkeit Gottes un-
sere eigene Heimat sein kann, die uns nicht Untergang, sondern
ewiges Leben schenkt. Man muß Jesus lieben in der bedingungs-
losen Annahme seines Lebensschicksals als der eigenen Norm der
Existenz, um die eigene Existenz als im allerletzten eben doch
gelöst, heiter, fröhlich erfahren zu können.
187
NACHFOLGE DES GEKREUZIGTEN |
188
In der Exegese und in der Lehre über die christliche Spirituali-
tät wird darauf aufmerksam gemacht, daß Nachfolge und Nach-
ahmung (trotz des schillernden Wortes der «imitatio Christi» in
der traditionellen Spiritualität) nicht einfach synonyme Begriffe
sind, daß vom neutestamentlichen Begriff der Nachfolge auszu-
gehen ist, auch wenn Paulus auch den Begriff der Nachahmung
kennt. Gewiß haben wir nicht eigentlich Jesus in seinem Leben
zu kopieren und zu reproduzieren. Wir leben in anderen ge-
schichtlichen Situationen als Jesus selbst, wir haben eine andere, je
einmalige Aufgabe, die er gerade in seiner auch geschichtlich be-
dingten und begrenzten Existenz nicht hatte; er und wir zusam-
men bilden den einen Christus der einen und einmaligen Gesamt-
heilsgeschichte, in der wir bei aller entscheidenden Abhängig-
keit von ihm und seiner geschichtlichen Existenz in Leben und
Tod ihn nicht reproduzieren, sondern seine geschichtliche Einzel-
wirklichkeit ergänzen (wie Paulus sagt) zu dem einen Christusin
Haupt und Gliedern, der mit der ganzen erlösten Menschheit, die
in Gott geborgen ist und Gott selber hat, identisch ist. Von daher
dürften wir sicher, richtig verstanden, sagen, die Christen seien
Nachfolger, nicht Nachahmer des Gekreuzigten. Aber das ist
doch auch wieder nicht die ganze Wahrheit. Wenn man das eben
Gesagte allein bedenken und realisieren würde, wäre eben doch
die Gefahr gegeben, daß praktisch der Imperativ der Nachfolge
Jesu als des Gekreuzigten sich in abstrakte moralische Prinzipien
verwandeln würde, die in sich selber allein einsichtig wären und
Jesus, sein Leben und seinen Tod herabdrücken würden zu einem
bloß illustrierenden Beispiel für eine sittliche Maxime, die auch
unabhängig von ihm bestehen könnte. Nachfolge Jesu, seines Le-
bens, und Jesu als des Gekreuzigten ist aber letztlich doch etwas
anderes als die Realisation eines allgemeinen Ideals, das auch
und vielleicht besonders ausdrücklich und rein in Jesus verwirk-
licht wurde, aber eben doch als «Fall» einer allgemeinen Idee,
die grundsätzlich von ihm unabhängig ist. In seinem Leben und
in seinem Tod muß etwas gegeben sein, das einmalig ist, und
zwar auch als Inhalt und Norm unserer Jesusnachfolge, so daß
diese Nachfolge durch ihn als solchen selbst legitimiert ist, und
nicht dadurch, daß sein Leben und sein Tod selbst wieder legiti-
189
miert würden durch ein Ideal, eine Norm, die in sich und unab-
hängig von ihm Geltung beanspruchen. Wenn man dies bedenkt
und auch diese einmalige Nachfolge nicht allein durch das Ge-
triebensein von seinem « Geist» als einer dann doch wieder über-
geschichtlichen Größe erklärt, dann wird es verständlich und
grundsätzlich legitim, daß die ganze christliche Frömmigkeits-
geschichte doch auch immer ein Element der Nachahmung des
konkreten Jesus in seine Nachfolge eintrug, sich an seinem Wü-
stenaufenthalt, seinem Fasten, seinem nächtlichen Gebet, seiner
konkreten Armut, seinem Verzicht auf konkrete Macht und so
fort orientierte, obwohl man doch nur schwer beweisen kann
oder auch gar nicht, daß eine Nachfolge Jesu, theoretisch und ab-
strakt gesehen, nicht auch ohne solche konkreten Formen seiner
Nachahmung möglich wäre. Das ist zu bedenken, wenn von
Nachfolge Jesu die Rede sein soll; diese darf nicht von vornherein
in einen absoluten Gegensatz zur Nachahmung seines konkreten
Lebens gebracht werden, so schwer zu sagen und so dunkel es
einstweilen noch sein mag, was eigentlich für diese nachahmende
Nachfolge konkret im Leben Jesu gegeben sein kann und soll, das
nur in ihm gefunden werden kann und durch sich allein diese
nachahmende Nachfolge legitimiert. Wenn man bei dieser Frage
sofort und allein auf eine Gesinnung Berufung einlegen würde,
durch die man ihm nachfolgt, und somit allen Fragen nach einer
konkreten Inhaltlichkeit dieser nachahmenden Nachfolge aus-
weichen wollte, dann wäre sofort zu fragen, worin denn diese Ge-
sinnung eigentlich bestehe und warum sie nicht auch ohne den
Rekurs gerade auf Jesus verständlich zu machen sei. Wir sind da-
mit zu einem dunklen Problem gelangt, dessen Schwierigkeit in
der ganzen Frömmigkeitsgeschichte des Christentums deutlich
wird. Der altchristliche Fromme suchte Jesus nachzuahmen durch
sein Martyrium in der Nachfolge des ersten Zeugens. Was ist,
wenn dieses Martyrium nicht mehr möglich ist? Man ahmte ihn
dann nach in der Wüste, im nächtlichen Gebet, in der Armut,
in dem Verzicht auf die Ehe und wurde dann doch ein wenig ver-
legen bei der Frage, wie denn die Christen Jesu nachfolgen, die
solche konkreten Weisen der Nachfolge nicht auf sich nehmen
können, wie solche Nachfolge möglich sei, ohne daß man bloß
190
auf eine «Gesinnung», eine Nachfolge «im Geiste » Berufung
einlegen müßte. Heute wird man vielleicht daran denken, daß
man Jesus konkret nachfolgen könne und müsse durch eine Soli-
darität mit den Armen und Deklassierten, durch ein kritisches
Verhältnis zu den durch Macht sich behauptenden Institutionali-
täten in Gesellschaft und Kirche, durch den Mut zum Konflikt mit
den Mächtigen. Es ist grundsätzlich durchaus denkbar, daß sich
so im Glaubensbewußtsein der Kirche eine bis zu einem gewissen
Grad neue Gestalt der nachahmenden Nachfolge Jesu anmeldet
und so auch von daher dem Rückzug auf eine bloß innerliche und
private Gesinnung in der Nachfolge Jesu wehrt. Und da wir ge-
wiß nicht bloß im Tode, sondern auch im Leben Jesu nachfolgen
sollen, ist das Aufkommen einer solchen neuen Gestalt der Nach-
folge gewiß von größter Bedeutung, zumal die bisherigen Gestal-
ten solcher. konkreten Nachfolge mehr oder weniger identisch
waren mit den Lebensformen der Orden, die « Laien » aber einen
solchen Lebensstil als fremd empfinden und sich nicht erst und
nur so weitin der Nachfolge Jesu stehend erkennen wollen, als sie
Stil und Mentalität des Ordenslebens von ferne oder nahe nach-
ahmen. Aber selbst wenn man das alles sieht und für wichtig hält,
scheint die eigentliche Frage, auf die wir hinsichtlich einer nach-
ahmenden Nachfolge gestoßen sind, die nicht nur in Gesinnung
hinein verschwindet, noch nicht gelöst zu sein. Die Präferenz, die
Jesus für die Armen und Deklassierten in der Gesellschaft hat und
lebt, und die gewiß nicht von einer abstrakten und allgemeinen
Moralität, nicht einmal von einer christlichen Nächstenliebe allein
abgeleitet werden kann, bedeutet ja noch keinen Stil der Nach-
folge für die Armen und Deklassierten in der Gesellschaft selber,
außer man würde sagen, diese Armen und Deklassierten würden
Jesus nachfolgen, indem sie ihr Los geduldig tragen. Man hat
diese Konsequenz im Lauf der Geschichte des Christentums nur
zu oft und zu leichtsinnig gezogen, aber sie ist dann doch so etwas
wie das Opium des Volkes, ist höchst problematisch und verkennt
eigentlich den fundamentalen Unterschied, der zwischen einer
freiwilligen Solidarisierung mit den Armen und Deklassierten als
der eigenen souveränen Tat und einer Gefangenschaft in Armut
und Not besteht, die eben doch durch die konkrete Freiheit allein
191
nicht restlos verwandelt wird. Überdies wird man doch wohl die
Frage ohne eine sicher positive Antwort stehen lassen müssen, ob
die Bevorzugung der Armen und Deklassierten bei Jesus ein ent-
scheidendes Stilprinzip der Nachfolge bei jedem einzelnen Chri-
sten sein müsse oder ob man dies nur im Ernst höchstens von der
\
Gemeinschaft der Glaubenden, der Kirche im ganzen sagen oder
wenigstens wünschen müsse.
Damit aber stehen wir vor der Frage, ob es denn nicht eine be-
stimmte konkrete, gewissermaßen nachahmende, Nachfolge Jesu
geben könne, die weder in eine innerliche Gesinnung allein ver-
legt werden muß, noch nur verteilt auf einzelne und abgewan-
‚delt nach Perioden der christlichen Geschichte gedacht werden
muß. Diese Frage, so meinen wir, kann nur, ohne in einen ab-
strakten Idealismus der Moral auszuweichen, beantwortet werden
mit dem Satz: Der Christ, jeder Christ und zu allen Zeiten, folgt
Jesus in der Konkretheit seines Lebens nach, indem er mit ihm
stirbt; Nachfolge Jesu hat ihre letzte Wahrheit und Wirklichkeit
und Allgemeingültigkeit in der Nachfolge des Gekreuzigten. Eine
andere konkrete Inhaltlichkeit der Nachfolge, die doch für alle
‚Christen zugleich gelten könnte und konkret bleibt, scheint mir
‚nicht aufweisbar. Und damit münden diese bisherigen Bemer-
kungen über die Nachfolge Jesu von sich selber her in die Über-
legungen über die Nachfolge Jesu als gerade des Gekreuzigten.
Bevor wir hier weiterfahren, muß aber noch einiges im vor-
aus angemerkt oder deutlicher gesagt werden, damit die eben
| aufgestellte These nicht von vornherein mißverstanden wird. Zu-
‚ nächst ist natürlich klar, daß die gemeinte These nicht verstan-
den werden darf als Dispens von einer Nachfolge Jesu während
Per
des Lebens, von einer Nachfolge seines Lebens und nicht bloß
seines Todes. Aber diese Nachfolge wird, wenn sie nicht in eine
bloße innere Haltung und Gesinnung verlegt und verdünnt wird,
\ in den Leben der einzelnen Christen sehr verschieden sein und
kann wohl kaum auf einen gemeinsamen Nenner gebracht wer-
den. Ein sozialgesellschaftskritischer Mut und Protest bis zum
Tode kann durchaus Nachfolge Jesu sein, ohne daß man darum
mit spekulativem Scharfsinn müsse nachweisen können, daß so
etwas in irgendeiner homöopathischen Verdünnung auch in je-
192
\
193
Darum geschieht natürlich die Nachfolge des Gekreuzigten als
Teilnahme an seinem Sterben und Tod durch das ganze Leben
hindurch. Das hat die christliche Tradition immer gewußt, wenn
sie das Wort von der Nachfolge Jesu durch die Aufnahme seines
Kreuzes (mindestens auch) als gläubige Geduld im Leiden, in der
auferlegten Enttäuschung und Bitterkeit des Lebens während
seiner Dauer verstanden hat. Das muß immer deutlich bleiben,
wenn wir nun von der Nachfolge des Gekreuzigten noch genauer
zu sprechen haben.
Worin besteht die Nachfolge des Gekreuzigten als Teilnahme
an seinem Tod genauerhin, und warum ist diese Gleichheit des
Schicksals, die Gemeinsamkeit des Sterbens etwas, worin wir ihm
nicht nur ähnlich sind, sondern von ihm im eigentlichen Sinne
abhängen, ihm nicht nur ähnlich sind, weil wir eben wie er auch
sterben, sondern richtig sterben, weil und indem wir ihn nach-
ahmen und sein Tod unerläßlich produktives Vorbild unseres
Todes ist? Das ist offenbar die Frage, die uns aufgegeben ist. Zu
dieser Frage gehört natürlich auch als ihre Präzisierung die Frage,
was an dem Tod Jesu selber Eigentümliches und Einmaliges sei,
so daß nur in der (natürlich unter Umständen auch bloß implizi-
ten) Nachahmung seines Todes richtig gestorben werden könne.
Zunächst scheint ja alles gerade umgekehrt zu sein: Im Tode
teilt Jesus, so sehr sein Tod konkrete außergewöhnliche Eigen-
tümlichkeiten als gewaltsamer Tod an sich trug, doch unser aller
Geschick, er scheint einer sterbenden Menschheit nachzufolgen
in seinem Tod und nicht sie ihm. Es braucht ja doch wohl nicht
lange betont zu werden, daß sich unsere Nachfolge Jesu im Ster-
ben auf den Tod als solchen und nicht auf eine geschichtlich par-
tikuläre Eigentümlichkeit seines "Todes bezieht, die wir ja min-
destens normalerweise gar nicht teilen können. Aber folgt er darin
dann nicht eher uns nach, als wir ihm?
Wir dürfen ruhig und müssen zuerst nach der Gleichheit seines
und unseres Todes fragen, bevor wir ausdrücklicher die Frage
stellen, warum wir dabei von ihm abhängig sind, ihm also im
eigentlichen Sinne darin nachfolgen und wir und er also nicht
einfach gleichberechtigt dasselbe Los teilen, das über uns alle ver-
hängt ist. Wenn wir zunächst nur nach der Gleichheit unseres
194
en
Eee
und seines Todes fragen, dann ist natürlich auch, aber gar nicht
allein nach dem Tod als einem physiologischen Ereignis gefragt.
Zwar nach diesem physiologischen Ereignis eines medizinischen
Exitus auch, weil der Mensch nicht nur einen Leib hat, sondern
auch Leib ist, die ganze Breite und Tiefe der menschlichen Exi-
stenz bis in die sublimsten Aktualisationen dieser Existenz leib-
haftig vollzogen wird, in einem wahren Sinne also nicht der Leib,
sondern der Mensch im Leibe stirbt. Aber Tod in einem mensch- -
lichen und christlichen Sinn ist darum umgekehrt auch wesent-
lich mehr als ein bloßer medizinischer Exitus, in dem das Herz
stillsteht und die elektrischen Gehirnströme aufhören. Der Tod
ist, richtig verstanden, ein ganzmenschliches Ereignis, das sich in
seinem entscheidenden Kern, der Verendgültigung der Freiheits-
tat, nicht einmal notwendig im uhrzeitlichen Augenblick des me-
dizinischen Exitus ereignen muß (wenn dieser auch ein wirk-
liches Moment an der Verendgültigung der Freiheitsgeschichte
des Menschen ist), sondern in einem wahren Sinn sich durch das
ganze Leben hindurch ereignet und in jenem durch unsere Re-
flexion nicht feststellbaren Augenblick zu einem Höhepunkt
kommt, in dem die zeitlich ausgedehnte Freiheitsgeschichte des |
Menschen in ihre Endgültigkeit hineingelangt. Aber was tut der
Mensch, wenn er so seine Freiheitsgeschichte im Tod zu ihrer End-
gültigkeit und Irreversibilität bringt, in welcher Weise geschieht
letztlich und im verborgenen Kern der Existenz dieses Irreversi-
belwerden der einen Freiheitsentscheidung, die, wenn auch zeit-
lich gedehnt, in dem einen Leben des Menschen vollzogen wird?
Wir können zur Beantwortung dieser Frage nun hier nicht aus-
führlich und genau eine Existentialontologie und Theologie des
Todes entfalten. Es kann auf die gestellte Frage nur kurz geant-
wortet werden. Zwar geschehen während des Lebens die einzel-
nen Freiheitsentscheidungen, die zu der einen Lebensentschei-
dung sich integrieren, an einem kategorialen Einzelmaterial un-
seres Lebens, das uns aus unserer Mitwelt und Umwelt entgegen-
tritt. Aber diese Einzelentscheidungen sind nur insofern Mo-
mente der einen Lebensentscheidung, als in ihnen über deren
endliche und partikuläre Inhaltlichkeit hinaus, wenn auch durch
deren Vermittlung, ein Ja oder ein Nein zu jenem unendlichen
195
Horizont und Woraufhin der Freiheit geschieht, das Freiheit im ı
eigentlichen Sinn dem Subjekt und seinen Einzelobjekten gegen-
über erst ermöglicht und im letzten Verstand Gott heißt. Wenn
und insofern die Freiheitsentscheidung gegenüber einem Einzel-
objekt kategorialer, innerweltlicher Art auch ein lassendes, in ge-
wissem Sinne verzichtendes Übersteigen dieses Einzelobjektes ist
und dabei und dadurch das unendliche Woraufhin der Freiheit,
Gott genannt, als solches und somit das Einzelobjekt von sich di-
stanzierend anerkannt wird, ist eine solche Entscheidung richtig,
bejaht Gott als solchen selber, was natürlich nicht verlangt, daß
diese innerste Struktur des richtigen Freiheitsaktes als solche aus-
drücklich und objektiviert und verbalisiert gegeben sein müßte.
Diese innerste Struktur jeder wirklichen Freiheitsentscheidung,
insofern sie inneres Moment am menschlichen. Tod als existen-
tielle Tat ist, kommt nun in dem, was wir empirisch als Tod er-
leben, zur deutlichen Erscheinung. In dem Tod, empirisch gese-
hen, entzieht sich die Welt dem Freiheitssubjekt, ja dieses wird
sich selber genommen. Es geht alles unter, es ist die Nacht, in der
niemand wirken kann, wie die Schrift sagt. Wie begegnet das
Freiheitssubjekt diesem Untergang, in dem es nichts einzelnes
und nicht einmal sich selbst in seiner reflektierten Gegebenheit
festhalten kann? Es sind zwei Weisen denkbar, in denen das Frei-
heitssubjekt diesen Untergang entgegennimmt. Entweder ver-
steht sich das Subjekt in einem letzten schuldhaften, keine frei
sich schenkende Liebe eines andern entgegennehmenden Willen
zu einer absoluten Autonomie und Autarkie als zu absoluter Sinn-
losigkeit verdammt, gegen die nur noch radikal protestiert wer-
den kann, oder es nimmt diesen Untergang aller partikulären
Wirklichkeiten gelassen hoffend als den Aufgang und das Nahe-
kommen jener schweigenden Unendlichkeit entgegen, in die hin-
ein der partikuläre Freiheitsakt den Einzelgegenstand immer
schon überstiegen hatte, um sich gewissermaßen in diese nur
scheinbar leere Unendlichkeit hineinzuverlieren. Im ersten Falle
ist der Tod das Ereignis endgültiger Verlorenheit, im zweiten
Falle der Anfang geretteter Endgültigkeit in Gott. Es kann hier
nun nicht genauer dargetan werden, warum und wie diese
Selbstweggabe an die liebende Unbegreiflichkeit Gottes in dem
196
im Tode sich ereignenden Untergang aller partikulären Freiheits-
gegenstände sich das ereignet, was wir christlich den einen Ternar
von Glaube, Hoffnung und Liebe nennen, der rechtfertigt und
ins endgültige Heil bringt, vorausgesetzt natürlich, was als gege-
ben vorausgesetzt werden muß, daß diese alles einzelne lassende
und übersteigende Selbstweggabe des Freiheitssubjekts an die
liebende Unbegreiflichkeit Gottes in dieser allein realen Heils-
ordnung getragen ist durch eine unserer Freiheit immer und
überall zuvorkommende Selbstmitteilung Gottes (Gnade genannt),
durch die Gott durch sich selbst unsere Selbstweggabe auf seine
Unmittelbarkeit hin radikalisiert und sie mit sich selbst beantwor-
tet. Es kann ferner nun nicht im einzelnen noch weiter dargetan
werden, warum und wie dieses im empirischen Tod zur Erschei-
nung kommende Untergehen aller Einzelwirklichkeiten, dieser
Untergang schon als inneres Moment anfanghaft in jeder Frei-
heitstat des Lebens inwendig steckt und es so geschieht, daß durch
das ganze Leben hindurch auf einen Tod hin gestorben wird, in
dem zur Erscheinung und zur Endgültigkeit kommt, was in der
ganzen Freiheitsgeschichte eines Lebens getan wird oder (besser
gesagt) getan werden soll: das Loslassen, das kein partikuläres
Gut absolut nimmt und festhält, sondern losläßt, um sich der na-
menlosen Unbegreiflichkeit anzuvertrauen, die wir Gott nennen.
Vielleicht können wir jetzt etwas deutlicher sagen, worin das
Gemeinsame im Tode Jesu und in unserem besteht, was wir tun,
wenn wir ihm in seinem Sterben nachfolgen, auch wenn dadurch
dann zunächst noch nicht gesagt ist, warum er bei diesem ge-
meinsamen Sterben das unerläßliche, produktive Vorbild ist,
warum unser Sterben im eigentlichen Sinne von seinem Sterben
abhängt und so wirklich Nachfolge des Gekreuzigten ist. Nach der
Schrift dürfen wir ruhig sagen, daß Jesus in seinem Leben der
Glaubende war, unbeschadet der traditionellen Lehre, daß er in
der innersten Mitte seiner Existenz eine Unmittelbarkeit zu Gott
hatte, wie sie bei uns erst im ewigen Leben gegeben ist, daß er
darum der absolut hoffende und selbstverständlich der gegenüber
Gott und den Menschen der absolut Liebende war. In der Einheit
dieses Ternars von Glaube, Hoffnung und Liebe übergab sich
Jesus in seinem Tod bedingungslos dem absoluten Geheimnis, das
197
er seinen Vater nannte, in dessen Hände er seine Existenz legte,
als in der Nacht seines Todes und der Gottverlassenheit ihm alles
entzogen wurde, was sonst den Inhalt einer menschlichen Exi-
stenz bedeutet: Leben, Ehre, Angenommenheit von irdischer
und religiöser Gemeinschaft und so fort. In der Konkretheit seines
Todes wird nur zu deutlich, daß ihm alles unterging, selbst die als
Geborgenheit spürbare Nähe der Liebe Gottes, und nur noch
schweigend in dieser weglosen Finsternis das Geheimnis waltete,
das in sich und seiner Freiheit keinen Namen mehr hat und dem:
er sich dennoch als der ewigen Liebe und nicht als der Hölle der
Sinnlosigkeit gelassen überließ. Insofern ist sein Tod und unser
Tod der gleiche, auch wenn die konkreten Umstände des Sterbens
variieren zwischen einem grauenhaften Marterpfahl, an dem der
grausame Irrsinn der Menschen einen andern Menschen zu Tode
quält, und dem Sterbebett in einer heutigen Klinik, an dem weiß-
gekleidete Ärzte alles tun, damit der Sterbende nicht merke, wor-
an er ist. Ob so oder so gestorben wird, das mag unter vieler Hin-
sicht einen großen Unterschied machen, so daß wir uns mit Recht
einen gnädigen und sanften Tod wünschen. Aber im letzten er-
eignet sich bei allen eben doch im Tod dasselbe: uns wird alles
genommen und wir auch uns selber; wir alle fallen, jeder für sich
allein in den finsteren Abgrund, in dem es keine Wege mehr gibt.
Und diesen Tod, der zunächst einmal unserer ist, ist Jesus gestor-
ben; er, der aus der Herrlichkeit Gottes kam, ist nicht nur in un-
ser Menschenleben herabgestiegen, sondern auch in den Abgrund
unseres Todes gefallen, und sein Sterben hat begonnen, da er zu
leben begann, und war zu Ende am Kreuz, da er sein Haupt
neigte und starb.
Jesus ist gestorben wie wir. Wenn wir dies sagen und uns eini-
germaßen die Inhaltlichkeit dieses Satzes vergegenwärtigen,
dann sehen wir aber Jesus eher in unserer Nachfolge, als uns in
seiner. Wenn und insoweit wir dann ihn immer noch verstehen
als das ewige Wort Gottes, das unsere menschliche Wirklichkeit,
unser Leben und unseren Tod als seine eigene Wirklichkeit an-
genommen hat, kann natürlich schon dieser Satz: « Jesus ist wie
wir gestorben » unsagbare Würde und ewigen Trost für unseren
eigenen Tod bedeuten. Wenn wir unsere eigene menschliche
198
,
Wirklichkeit durch Gott angenommen glauben, dann gilt dies
dann natürlich auch von unserem Tod. Weil der ewige Logos des
Vaters ihn als seinen eigenen Tod erlitten hat, muß dieser Tod
erlöst sein, geheiligt, letzter Verzweiflung und Sinnlosigkeit ent-
rissen, erfüllt vom ewigen Leben Gottes selbst. Das kann und
muß gesagt werden, wenn wir voraussetzen, was der christliche
Glaube von Jesus Christus als dem eingeborenen Sohn des Vaters
selbst bekennt, und wenn wir von diesem Bekenntnis her sagen,
daß er gestorben ist, wie wir sterben, auch wenn wir jetzt von
diesem Punkt her die Erlöstheit unseres Todes nicht weiter ent-
falten wollen.
Aber haben wir so unsere oben gestellte zweite Frage schon be-
antwortet, die Frage, ob und in welchem Sinne wir in unserem
Sterben wirklich dem am Kreuz sterbenden Jesus nachfolgen, so
daß Jesu Tod wirklich das produktive Vorbild unseres Todes wird,
daß unser Tod anders ist, als er sonst wäre, wenn wir ihn nicht
gerade in seiner Nachfolge sterben würden. Man könnte wohl
gewiß auch eine Antwort auf diese Frage entwickeln, indem man
an dem Punkte unserer Überlegungen weiterfährt, an dem wir
eben angekommen waren. Man könnte ausdrücklicher zeigen,
wie die Annahme unseres Todes durch den ewigen Logos als sei-
nen eigenen ihn nicht nur uns gleichgestaltet, sondern auch un-
seren Tod verwandelt. Aber wir wollen die Antwort auf diese
zweite Frage von einer etwas anderen Überlegung her zu beant-
worten suchen, weil sie so einfacher und greifbarer wird. Jesus ist
in seine Auferstehung hinein gestorben, sein Tod ist das Ereignis
des Gewinns der Endgültigkeit seiner menschlichen Wirklichkeit
im Leben Gottes selbst. Es kann natürlich hier jetzt nicht eine
Fundamentaltheologie und dogmatische Theologie der Auferste-
hung Jesu entwickelt werden. Wir heben nur einiges daran her-
vor, was für unsere Frage besonders wichtig ist. Zunächst einmal
ist Jesu Auferstehung nicht bloß ein Ereignis, das sich in einer
seltsamen Weise unerwartbar an seinen Tod anreiht, sondern Er-
gebnis seines Todes als solchen selbst, wenn er zugleich gesehen
wird als der Tod desjenigen, in dem der ewige Gott sein eigenes
Leben als Begnadigung der Welt in diese einstiftet, und als das
Ereignis, in dem dieser Jesus diese Selbstmitteilung Gottes durch
199
_ den Tod endgültig und unwiderruflich annimmt. Wie immer die
«drei Tage» zwischen Jesu Tod und der Erfahrung seines Auf-
erstandenseins theologisch genauer zu interpretieren sein mögen,
die Vorstellung dieses zeitlichen Intervalls darf nicht den Blick
verstellen auf die innerste Einheit von Tod und Auferstehung
Jesu. In seiner Auferstehung kommt zur Vollendung und Er-
scheinung gerade dasjenige, was sich in seinem Tod ereignete,
eben daß der unbegreifliche Gott diese menschliche Wirklichkeit
als gerettete endgültig da und dadurch annahm, daß diese sich in
Gottes Unbegreiflichkeit selbst hinein ohne Halt und Vorbehalt
aufgab. Wir können wirklich sagen: sein Tod ist (im Sinne eines
unlöslichen Wesenszusammenhangs) seine Auferstehung und
umgekehrt, weil er gerade im Tode, so und nicht anders, in das
endgültige Leben gerät. Da dies aber zunächst nur für den einge-
borenen Sohn des Vaters und bei der sündelosen Radikalität sei-
nes Glaubens, Hoffens, Liebens im Unterschied zu uns Sündern
gilt, ist sein Tod trotz aller Gleichheit mit unserem doch an sich
wieder ganz anders als der "Tod, den wir von uns aus und unab-
hängig von seiner Nachfolge sterben können und sterben müssen.
Wenn also sein T'od zu einer realen Bestimmung unseres eigenen
Todes werden soll, und zwar gerade in der Eigentümlichkeit, die
an sich seinen 'Tod als Tod in Auferstehung hinein und unseren
Tod als Sold der Sünde unterscheidet, dann muß er uns an seinem
Tod Anteil geben. Dies aber bedeutet wiederum ein Doppeltes:
einerseits muß sein Tod für uns geschehen; er muß in einer
Schicksalsgemeinschaft und Solidarität mit uns sterben, und der
Geist Gottes, in dem er seinen Tod als Anbruch des Lebens
schlechthin annahm, muß uns als die Möglichkeit eines Sterbens
mit ihm angeboten sein. Andererseits muß von unserer Seite in
Freiheit diese Möglichkeit des Mitsterbens mit ihm als Aufgang
des Lebens angenommen werden. Weil beide Voraussetzungen
gegeben sind bzw. in Freiheit realisiert werden können, kann mit
ihm gestorben werden, kann die seinem Tod wesentliche Bestim-
mung der Einheit mit der Auferstehung als Gnade auch Bestim-
mung unseres Todes werden, und dieser unser Tod hat dann eine
Eigentümlichkeit, die nicht nur wie die anderen Bestimmungen
des Todes seinem und unserem Tod gemeinsam ist, sondern nur
200
von seinem Tod her unserem Tod zukommt, so daß jene Eigen-
tümlichkeit gegeben ist, durch die aus einer bloßen Ähnlichkeit
zwischen uns und Jesus eine eigentliche Nachfolge wird. Im
Glauben an ihn und seine Gnade verwandelt sich unser Tod aus
einer Erscheinung sündiger Gottverlassenheit oder einer offenen
Frage in die unheimliche Unbegreiflichkeit Gottes hinein zu
einem Tod in die liebende Annahme unserer Existenz durch Gott
in dessen eigenes Leben hinein, zu einem Tod in Auferstehung.
Zu dieser Überlegung, in der die Gleichheit des Todes bei Jesus
und bei uns zu einer eigentlichen Nachfolge des Gekreuzigten im
Sterben wird, muß aber noch etwas ausdrücklich hinzugefügt
werden. Unser Tod und Jesu Tod geschehen, auch und gerade als
Auferstehung, in die schweigende Unbegreiflichkeit und Unver-
fügbarkeit Gottes hinein. Das ist die Voraussetzung dafür, daß der
Tod das höchste und radikalste Ereignis des Glaubens ist. Die
Nachfolge des Gekreuzigten als solchen ist als solche höchste Tat
des Glaubens, hoffende und liebende Übergabe an die Unbegreif-
lichkeit Gottes, die uns, die wir hier sind, das Ergebnis dieser
Todestat völlig entzieht, wie in einen totalen Untergang hinein.
Wenn wir dies zunächst von unserem Tod auch als Nachfolge des
Gekreuzigten sagen müssen, dann ist von dieser seltsamen Ein-
heit des Todes Jesu und unseres Todes doch noch nicht alles ge-
sagt. Gewiß entschwindet uns Jesus durch seine Auferstehung in
die Unverfügbarkeit Gottes hinein. Aber seine Auferstehung ist
dennoch gleichzeitig das Ereignis der Heilsgeschichte, das, wenn
auch nur im Glauben ergriffen, dennoch zu dieser Geschichte
dieser Welt und dieser Menschheit gehört und gerade vom Glau-
ben als solches geschichtliches Ereignis, das real die Welt ver-
ändert, erfaßt und bekannt wird. Seine Auferstehung ereignete
sich in dieser Welt, auch wenn sie das Ereignis der Aufhebung
dieser geschichtlichen Werdewelt in die Ewigkeit Gottes ist. Die
Auferstehung hat eine ganz eigentümliche und einmalige, aber
doch wirkliche Greifbarkeit in der Geschichte. Das muß auch für
seinen Tod als Eingang in diese Auferstehung bedacht werden.
Wenn wir nun in seiner Nachfolge mit ihm sterben, dann ist für
unsere empirische Erfahrung von hier und jetzt her für unseren
Tod als solchen die Beantwortung der Frage, ob wir in das Leben
201
Gottes oder in die leere Verlorenheit hineinsterben, zwar nicht
empirisch greifbar zugunsten des Sterbens in Auferstehung hin-
ein beantwortet, da wir ja (mindestens im Normalfall) über das
Endschicksal eines sterbenden Menschen von uns her kein ein-
deutiges Urteil fällen können. Aber es fällt von der Eindeutigkeit
des Todes Jesu in seine Auferstehung hinein, von der Geschicht-
lichkeit der Auferstehung Jesu her doch ein Licht auf die Ambi-
valenz unseres eigenen Todes, und dieses Licht gehört auch zu
unserem Mitsterben mit Christus. Es verhält sich in dieser Sache:
wie in der Weltgeschichte im allgemeinen. Vor der Auferste-
hung Jesu war in der Geschichte der Welt selbst im Unterschied zu
den ewigen Plänen Gottes die siegreiche Irreversibilität der
Selbstmitteilung Gottes an die Welt nicht festgemacht und greif-
bar, der endgültige Ausgang der Weltgeschichte als Heil in der
Geschichte selber nicht greifbar. Das Drama der Weltgeschichte
auch als ganzer war noch offen und ambivalent. Seit der Auf-
erstehung ist das anders; in ihr ist die Peripetie des Dramas der
Weltgeschichte zum Guten, zum ewigen Heil schon geschehen.
Daraus läßt sich zwar für den einzelnen und sein individuelles
Heilsschicksal durch uns noch kein eindeutiger Schluß ablei-
ten; aber die Situation der Hoffnung ist doch auch für den ein-
zelnen schon eine andere als vor Jesu Auferstehung. Von der
einen Wirklichkeit, die schon gegeben ist, ist eine Präsumption
für das wirkliche Glücken anderer Möglichkeiten gegeben. Zumal
dort, wo eine doch auch geschichtlich und gesellschaftlich aus-
drückliche Bezogenheit auf die Auferstehung Jesu als Verheißung
an die Welt als ganze gegeben ist. Was so im allgemeinen über
das Verhältnis der Weltgeschichte zu Tod und Auferstehung Jesu
gesagt ist, gilt somit auch vom Verhältnis unseres Sterbens zu dem
Sterben Jesu, zumal dann, wenn dieses Verhältnis ausdrücklich
im Glauben realisiert wird. Unser Sterben behält zwar eine ge-
wisse Offenheit und Ambivalenz, aber es ist doch umfaßt von der
Verheißung, die für uns in dem siegreichen Tod Jesu in seine
Auferstehung hinein gegeben ist. Paulus sagt: Getreu ist das
Wort: wenn wir mit ihm gestorben sind, werden wir auch mit
ihm leben (Tit.3,8).
Wir haben schon früher gesagt, daß der Tod in einem theolo-
202
gischen Sinne letztlich nicht uhrzeitlich mit dem medizinischen
Exitus zusammenfällt, sondern durch das ganze Leben hindurch
geschieht und am Ende nur seine Vollendung erreicht. Daher ist
es von der Sache her durchaus legitim, wenn die christliche Fröm-
migkeit in ihrer ganzen Geschichte die Nachfolge des Gekreuzig-
ten im christlichen Leben zu verwirklichen suchte, in der An-
nahme alles dessen, was auch bis heute der christliche Sprach-
gebrauch «Kreuz» nennt: die Erfahrungen der Gebrechlichkeit
des Menschen, der Krankheit, der Enttäuschungen, des Unerfüllt-
bleibens unserer Erwartungen und so fort. Überall darin geschieht
ein Stück Sterben des Menschen, des Untergangs greifbarer Güter
des Lebens. In allen diesen kleinen Sterbestunden in Raten sind
wir gefragt, wie wir sie bestehen. Ob wir nur protestieren, nur
(wenn auch in kleinen Raten) verzweifeln, zynisch werden und
nur um so verzweifelter und unbedingter das festhalten, was uns
noch nicht genommen ist. Oder ob wir gelassen das lassen, was
uns genommen wird, die Dämmerung als Verheißung einer ewi-
gen Weihnacht voller Licht entgegennehmen, die kleinen Unter-
gänge als Ereignisse der Gnade werten. Wenn wir in dieser zwei-
ten Weise, die gar nicht so leicht von der ersten unterschieden
werden kann, das tägliche Kreuz auf uns nehmen, dann vollbrin-
gen wir ein Stück der Nachfolge des Gekreuzigten, dann üben
wir den Glauben und die liebende Hoffnung ein, in denen der
Tod als Ankunft des ewigen Lebens angenommen wird und die
Nachfolge Jesu, des Gekreuzigten, zu ihrer Vollendung kommt.
205
ERFAHRUNG DES GEISTES
TRANSZENDENZERFAHRUNG
AUS KATHOLISCH-DOGMATISCHER SICHT
207
bare Verwiesenheit des Geistes (in Erkenntnis und Freiheit) auf
den oder das einschließt, was wir christlich Gott nennen. Das alles
ist hier einfach vorausgesetzt. Es werden von dieser transzenden-
talen Erfahrung, die nicht eigentlich nachgewiesen und in ihrem
Wesen nicht eigentlich entfaltet wird, nur — fast zusätzlich —
einige Thesen vorgetragen, die mir wichtig zu sein scheinen für
ein Gespräch, das einer vergleichenden Untersuchung der Tran-
szendenzerfahrungen gewidmet ist, deren Auslegung zwischen
Ost und West strittig ist.
Etwas muß also bezüglich der Grenzen dieser Überlegungen
ausdrücklich betont werden: Wir reden von 'Transzendenz; wir
setzen voraus, daß die Transzendenzerfahrung philosophisch ob-
jektiviert und verbalisiert werde. Wie aber das in den religiös-
philosophischen Systemen des Ostens und Westens genauer ge-
schieht, ob diese philosophischen Interpretationen da oder dort
richtiger, besser und überzeugender gelingen, wie das Worauf-
hin dieser Transzendenzerfahrung richtiger bezeichnet wird,
ob als absolutes Nichts oder als absolutes Sein oder als absolutes
Geheimnis, wie diese verschiedenen Interpretationen miteinan-
der in einen Dialog gebracht werden können, so daß er einen
Erfolg verspricht — das alles kommt eigentlich in meinen Über-
legungen nicht zur Sprache. Die Fragen, die hier gestellt werden,
liegen vor und hinter diesen Fragen. Was ich zu sagen vermag zu
diesem vorgegebenen Thema, sei in einer in etwa thesenhaften
Form vorgetragen, weil sonst die Aufgabe, die mir gestellt ist,
hier überhaupt nicht bewältigt werden könnte, wenn die einzel-
nen Thesen jeweils eingehend erläutert und begründet werden
müßten. Ich muß auch darauf verzichten, eine streng systema-
tische und in dieser Hinsicht zwingende Abfolge dieser Thesen zu
bieten. Ich komme damit zur Sache selbst.
1. Das Christentum weigert sich einerseits, eine systematische
und gewissermaßen technisch entwickelte, «mystische» Tran-
szendenzerfahrung als den einzigen und notwendigen Weg zur
Vollendung des Menschen anzuerkennen, und anderseits wird die
christliche Theologie, wenigstens im katholischen Bereich, nicht
darauf verzichten, solche mystische Transzendenzerfahrung als
eine wenigstens mögliche Eiappe auf dem Weg zur Vollendung
208
und als eine paradigmatische Verdeutlichung dessen zu werten,
was auf dem christlichen Weg zur Vollendung des Heils in
Glaube, Hoffnung und Liebe überall geschieht, wo Heil im
christlichen Verständnis erreicht wird.
Diese erste These in ihrer Doppeltheit muß noch etwas ver-
deutlicht werden.
Zum ersten Teil der These: Die christliche Lehre und die
Praxis des authentischen Christentums können nicht zugeben,
daß der «Mystiker » (was immer auch genauer mit diesem Wort
gemeint ist, mit den Phänomenen der Versenkung, der weiselo-
sen Erfahrung des Absoluten usw.) der einzige sei, der jenen Weg
zur Vollendung gegangen sei oder gehe, dessen letzte Etappe un-
mittelbar und allein an die Vollendung des Menschen grenzt (wie
immer auch dieses Wort Vollendung genauer zu deuten ist). Die
Lehre des Neuen Testamentes darüber, daß die Erfüllung der
Gebote Gottes in der Pflichttreue des Alltags in Glaube, Hoffnung
und Liebe zu Gott und den Menschen diesen durch den Tod schon
zur Vollendung bringe, mit Gott endgültig vereinige, die Dar-
stellung des letzten Gerichtes in den eschatologischen Reden Jesu,
etwa bei Mt 25, und sehr vieles andere in Lehre und Praxis des
Christentums, das hier nicht genannt werden muß, verbieten es,
Mystik und vor allem deren gewissermaßen technisch und reflex
ausgebildete Gestalt exklusiv als notwendige und letzte Weg-
strecke vor der Erreichung der vollendenden Seligkeit zu betrach-
ten und alle alltägliche christliche Lebenspraxis nur als vorberei-
tende Phase des Heilsweges zu werten, die nur dann zur Vollen-
dung führt, wenn sie auf den höheren Weg komtemplativer My-
stik einmündet. Das Christentum verwirft solche elitäre Inter-
pretation des Lebens, die die Vollendung des Menschen nur beim
trainierten Mystiker zu finden vermag. Dies zumal das Christen-
tum, das die Lehre der Seelenwanderung ablehnt, eine solche
mystische Phase ausdrücklicher Art für den einzelnen Menschen
nicht in einem späteren Leben lokalisieren kann. Das ist, kurz
gesagt, der Inhalt des ersten Teiles unserer ersten These.
Damit ist aber gerade nicht gesagt, daß mystische Erfahrung
einfachhin nur betrachtet werden könnte oder müßte als ein sin-
gulärer und seltener Ausnahmefall bei einzelnen Menschen und.
209
Christen, der solchen entweder durch psychotechnische Anstren-
gung oder durch eine besondere Gnade Gottes als seltenes Privileg
oder durch beides zusammen gewährt wird, aber nicht eigentlich
eine konstitutive Bedeutung für den eigentlichen Heilsweg zur
Vollendung habe. Es gibt zwar in der christlichen Theologie der
Mystik bis auf unsere Tage Auffassungen, die der Mystik in jeder
Weise eine konstitutive Bedeutung für den Heilsvorgang abstrei-
ten oder ihr höchstens in den Fällen so etwas zubilligen, wo es
sich um eine besondere «heroische» Aufsteigerung der Voll-
endung, der «Heiligkeit», um die Erlangung eines besonders
hohen Grades der endgültigen Seligkeit handelt, die ja für die
katholische Schultheologie trotz ihrer Endgültigkeit verschie-
den hohe Grade haben kann. Aber der erste Teil unserer These
zwingt nicht zu einer solchen Interpretation des eigentlichen
Kernphänomens der Mystik, nicht zu einer Interpretation dieser
Mystik, in der diese schlechthin und in jeder Hinsicht keine kon-
stitutive Bedeutung für das Geschehen und die Erlangung der
letzten Vollendung hat. Es scheint mir vielmehr (der Sache nach
kommen wir noch darauf zurück) Aufgabe der christlichen Theo-
logie im ganzen und der christlichen Theologie der Mystik im be-
sonderen zu sein, zu zeigen und verständlich zu machen, daß das
eigentliche Grundphänomen mystischer Transzendenzerfahrung
auch schon, wenn auch unreflex, in der schlichten Tat des christ-
lichen Lebens in Glaube, Hoffnung und Liebe als innerster tragen-
der Grund gegeben ist, daß solche (sagen wir einmal:) unreflek-
tierte Transzendenz in das namenlose Geheimnis, Gott genannt,
hinein aus Gnade schon in diesem Glauben, Hoffen und Lieben
gegeben ist; es scheint uns, daß zwar Mystik im expliziten und
ausdrücklich geübten Sinn unter dem Aspekt einer gegenständlich
reflektierenden Psychologie, nicht aber unter einem eigentlich
theologischen Gesichtspunkt eine höhere Stufe des christlichen
Aufstiegs zur Vollendung bedeutet, daß Mystik in einem expliziten
Erlebnis darum (umgekehrt) einen paradigmatischen Charakter,
eine exemplarische Funktion dafür hat, dem Christen deutlich zu
machen, was eigentlich geschieht und gemeint ist, wenn ihm sein
Glaube sagt, daß ihm in Gnade die Selbstmitteilung Gottes überall
geschenkt und in Freiheit angenommen ist, wo er glaubt, hofft
210
ı
212
gebildet ist. Eine solche Methodik dürfte aber auf jeden Fall nie
vergessen, daß mystische Erfahrung (von welcher Art auch im-
mer) einerseits, und Reden über sie anderseits immer zweierlei
bleiben. Wenn wir bisher den Unterschied zwischen ursprüng-
licher, existentieller Grunderfahrung der Transzendentalität des
Menschen einerseits und deren konzeptueller Auslegung und
begrifflicher Theoretisierung anderseits betont haben und daraus
Konsequenzen zu ziehen versuchten, so soll damit natürlich
nicht verdunkelt werden, daß diese so unterschiedenen Größen
auch eine Einheit bilden, aufeinander bezogen sind und sich
auch gegenseitig bedingen. Wenn wir von der Möglichkeit
einer absolut bildlosen und vorstellungsfreien mystischen Erfah-
rung als möglich absehen, so ist auf jeden Fall diese nach dieser
ursprünglichen Erfahrung selbst nur in einer Einheit mit einer
wenigstens primitiven vorstellenden und begrifflichen Inter-
pretation gegeben und kann nur so für das ganze Leben des
Mystikers von Bedeutung sein, was sie doch offenbar soll. Würde
man überdies trotz aller Unterscheidung nicht auch die Ein-
heit dieser beiden Größen betonen (was nicht Selbigkeit bedeu-
tet), dann wäre die Bedeutung der eigentlichen «Lehre», des
begrifflich formulierten Glaubens im Christentum nicht mehr
verständlich zu machen und zu legitimieren. Das Christentum
ist aber weit davon entfernt, eine solche begrifflich artikulierte
Lehre als letztlich überflüssiges, bloß nachträgliches und be-
liebiges Phänomen im Ganzen des Christentums zu’ werten.
Bei der Einheit der beiden Größen trotz ihrer bleibenden Ver-
schiedenheit ist es natürlich auch durchaus denkbar, daß ein
Mensch mit einer solchen existentiellen Entschiedenheit sich mit
einer bestimmten philosophisch-theologischen Interpretation sei-
ner ganzen Wirklichkeit identifiziert, daß, wenn diese Interpreta-
tion falsch ist, diese Identifikation auch das ursprüngliche Phäno-
men wesentlich aufhebt oder zerstört, soweit dies bei der tran-
szendentalen Notwendigkeit bestimmter letzter Strukturen und
Vollzüge des Menschen überhaupt möglich ist. Ein «theoreti-
scher» Atheist, z. B. kann u. U. (nicht notwendigerweise!) so
sehr sich mit dieser Deutung seines Daseins auch existentiell iden-
tifizieren, daß er auch in der eigentlichen Tiefe seiner Existenz in
213
\
Freiheit ein Atheist ist und sich nicht bloß irrtümlich als solchen
interpretiert, auch wenn dann noch eine letzte transzendentale
Notwendigkeit seiner Verwiesenheit auf Gott bestehen bleibt, die
er aber nicht nur theoretisch, sondern existentiell verneint. Sol-
ches ist auch zu bedenken, wenn es sich um Einheit und Differenz
zwischen ursprünglich mystischer Erfahrung und deren theore-
tischer und begrifflicher Interpretation handelt. Auf jeden Fall
kann (nicht muß!) eine theoretische Interpretation einer mysti-
schen Erfahrung diese durch die existentielle Freiheit hindurch.
auch verändern. Dies aber sollte natürlich durch den ersten Teil
unserer zweiten These nicht verdunkelt werden.
Der zweite Teil unserer zweiten These ist vielleicht noch wich-
tiger. Der christliche Glaube und seine Theologie kennen die hi-
storische Wirklichkeit Jesu, die Kirche, das Sakrament und das
verkündigte Wort als Vermittlungen zu Gott so, daß alle diese
Wirklichkeiten nicht bloß Momente einer nachträglichen Refle-
xion auf das eigentliche heilschaffende Verhältnis des Menschen
zu Gott sind, die für dieses Verhältnis selbst nicht konstitutiv
wären, sondern die vielmehr innere und konstitutive Momente
für dieses heilschaffende Verhältnis zu Gott selbst sind. Für die
christliche Theologie ist nicht nur der Adressat der göttlichen
Selbstmitteilung eine geschöpfliche, endliche Wirklichkeit, die
im Ereignis dieser göttlichen Selbstmitteilung nicht untergeht
und verbrennt, vielmehr in ihrer positiven und guten Endlichkeit
gerade vollendet und endgültig bestätigt wird, sondern es gibt für
diesen christlichen Glauben auch zwischen dem absoluten Gott
und dem endlichen Adressaten seiner Selbstmitteilung geschöpf-
liche Wirklichkeiten (von denen einige wesentliche schon genannt
wurden), die eine vermittelnde Funktion in diesem Verhältnis
haben. Dennoch (und das ist entscheidend) halten der christliche
Glaube und seine Theologie, wo beide sich radikal richtig ver-
stehen, daran fest, daß solche Vermittlung ein unmittelbares Ver-
hältnis des (begnadigten) Menschen zu Gott nicht aufhebt oder
verstellt, sondern ermöglicht und garantiert und in der geschicht-
lich-kategorialen Dimension des Menschen bezeugt. Der christ-
liche Glaube bestreitet, daß radikale Unmittelbarkeit zu Gott, der
sich als Er selber in seiner absoluten Wirklichkeit dem Menschen
214
mitteilt, einerseits und kreatürliche Vermittlung dieser Selbst-
mitteilung des Absoluten anderseits sich als sich gegenseitig aus-
schließende Alternativen gegenüberstehen. Für den christlichen
Glauben ist es nicht so, daß man grundsätzlich die absolute Wirk-
lichkeit in ihrer göttlichen Reinheit nur so empfangen könne, daß
in diesem Verhältnis weiselos jede endliche Wirklichkeit ver-
schwindet, oder daß eine geschöpfliche Wirklichkeit, wenn auch
als gnadenhaft von Gott gegeben gedacht, das allein wirklich Ge-
gebene sei, das bloß stellvertretend auf den immer doch noch fer-
nen Gott verweist. Wie dieses Verständnis einer Vermittlung zu
Unmittelbarkeit genauer gedacht und theologisch begründet wer-
den kann, kann hier nicht mehr genauer ausgeführt werden. Es
müßte sonst von Unterschied und Einheit zwischen geschaffener
und ungeschaffener Gnade, von dem geschaffenen Glorienlicht in
der unmittelbaren Anschauung Gottes, in der Gott durch seine
eigene Wirklichkeit diese unmittelbare Schau konstituiert, von
den theologischen Tugenden im Unterschied zu den moralischen,
von der Einwohnung Gottes selbst im begnadeten Menschen, von
der Eigenart der Heilsursächlichkeit Christi und der Kirche einer-
seits und des göttlichen Pneumas anderseits usw. gesprochen wer-
den. Wenn und insofern eine wie immer sich theoretisch verste-
hende östliche Mystik einen solchen Begriff einer Vermittlung zu
Unmittelbarkeit verwerfen wollte, so wäre sie darauf aufmerksam
zu machen, daß sie dann konsequent auch den endlichen Adressa-
ten einer solchen Unmittelbarkeit zu Gott selbst im Ereignis sol-
cher mystischen Theophanie untergehen lassen müßte, die blei-
bende Bedeutung der Geschichte in ihrer Konkretheit und den
Begriff einer guten Endlichkeit verwerfen müßte. Dann wäre zu
fragen, ob eine solche Metaphysik und Theologie in sich wahr
seien und wirklich durch die ursprüngliche mystische Erfahrung
gedeckt würden. Der zweite Streitpunkt, die Berufung auf die
mystische Erfahrung selbst, müßte dann unter die Einsicht ge-
stellt werden, die der erste Satz unserer zweiten These formuliert
hat. Es muß, was den zweiten Teil der zweiten These angeht,
freilich noch darauf hingewiesen werden, daß auch die christliche
Theologie sehr viele Weisen und Stufen solcher kreatürlicher
Vermittlungen zur Unmittelbarkeit Gottes kennt, also nicht der
215
f
Meinung ist, in jedem Fall und für immer seien dieselben Ver-
mittlungen gegeben, wenn ein Mensch unmittelbar mit Gott
selbst zu tun hat. Die Frage z. B., ob es schon in der diesseitigen
Mystik den Fall solcher Unmittelbarkeit zu Gott geben könne,
den die christliche Theologie für die unmittelbare Anschauung
Gottes in der jenseitigen Vollendung lehrt, ist in der christlichen
Theologie der Mystik umstritten. Wenn und insofern also außer-
christliche mystische Theologien eine absolut « weiselose »
schlechthin «ungegenständliche» Erfahrung Gottes lehren,
müßte ihnen eine christliche Theologie nicht schon notwendig
widersprechen, sondern nur darauf aufmerksam machen, daß
eine solche weiselose Unmittelbarkeit zu Gott immer noch durch
den Heiligen Geist Gottes aus Gnade getragen wäre, der durch
das geschichtliche Ereignis Jesus Christus in geschichtlicher
Greifbarkeit irreversibel zugesagt ist, würde eine christliche
Theologie betonen, daß solche mystische Erfahrung eines Unter-
gangs aller «normalen» Vermittlung die Teilnahme am Tode
Jesu wäre, der gerade in seinem realen Tod als radikalem Unter-
gang den endgültigen Aufgang Gottes selbst erreicht hat.
d. Unter dem Vorbehalt, eine theologisch nicht allgemein an-
genommene These vorzutragen und zu verteidigen, sei als dritte
These folgendes formuliert: Überall dort, wo ein letzter radikaler
Selbstvollzug des Menschen in Geist und Freiheit geschieht und
so der Mensch in Endgültigkeit über sich verfügt, darf angenom-
men werden, daß ein solcher Selbstvollzug, der auch, wenn auch
nicht allein, in einer mystischen Transzendenzerfahrung gesche-
hen kann, faktisch auch immer durch das getragen wird und radi-
kalisiert ist, was man in christlicher Theologie Heiliger Geist, über-
natürliche Gnade, Selbstmitteilung Gottes nennt, auch wenn
diese Gnadegetragenheit als solche selbst in diesem Vorgang nicht
reflektiert und thematisiert wird.
Es ist zwar in der landläufigen Schultheologie, die aber keine
absolute Garantie kirchlich-lehramtlicher Art hat, so, daß Gnade
(übernatürliche Erhöhung geistiger Akte, wie auch gesagt wird)
als ein zeitlich und räumlich punktförmiges, intermittierendes
Geschehen verstanden zu werden pflegt. Wenn wir aber von der
christlichen Lehre eines universalen Heilswillens Gottes, der
216
immer und überall in der Geschichte die konkrete Möglichkeit
eines übernatürlichen, d. h. die Unmittelbarkeit Gottes selbst er-
reichenden Heils anbietet, also außerhalb der verbalisierten Bot-
schaft des Christentums und der Kirche, ausgehen, dann können,
ja müssen wir annehmen, daß das, was wir Christen Heiligen
Geist, übernatürliche Gnade nennen, mindestens im Modus des
realen Angebotes an die Freiheit des Menschen als radikalisieren-
des Existential der Transzendentalität des Menschen als solcher
immer und überall gegeben ist, also auch außerhalb des institu-
tionalisierten Christentums, wenn auch natürlich im konkreten
Menschen dieses übernatürliche Existential der Dynamik auf die
Unmittelbarkeit Gottes hin entweder im Modus der bloßen Vor-
gegebenheit oder im Modus der Ablehnung oder im Modus der
freien Annahme existieren kann.
Die These von der universalen Gegebenheit der Gnade als
Selbstmitteilung Gottes kann hier natürlich, wie gesagt, nicht
theologisch genauer dargetan und erhärtet werden. Man müßte
sonst eingehend reflektieren auf die von der Kirche gelehrte Uni-
versalität des Heilswillens Gottes, auf die heute (z. B. im Zweiten
Vatikanum) gelehrte Möglichkeit des eigentlichen übernatür-
lichen Glaubens immer und überall, also auch dort, wo die aus-
drückliche Botschaft des Christentums noch nicht gehört wurde;
man müßte zu zeigen versuchen, warum und wie eine solche uni-
versale Glaubensmöglichkeit immer und überall, selbst noch in
dem, der sich als Atheisten interpretiert, gegeben sein könne,
ohne daß eine solche Behauptung auf eine Negation der Heilsnot-
wendigkeit des eigentlichen und verbalisierten Offenbarungs-
glaubens hinausläuft; man müßte deutlich machen, warum und
wie eine sich selbst wirklich begreifende Theologie der Gnade
diese als Selbstmitteilung Gottes in seiner eigensten ungeschaffe-
nen Wirklichkeit deuten und diese Gnade ursprünglich als erhe-
bende, radikalisierende Mitteilung an die Transzendentalität des
Menschen als solche gedacht werden muß. Das alles ist hier nicht
möglich und kann nur als eine durch einen allgemeinen Konsens
nicht gestützte, aber durchaus vertretbare 'These vorgetragen
werden.
Setzt man diese These von der universalen Angebotenheit der
217.
Gnade immer und überall, und zwar gerade primär an die Tran-
szendentalität des Menschen als solche, voraus und reflektiert
man darauf, daß dann diese Gnade auch als angenommene, als
rechtfertigende gegeben ist, wenn und wo diese Transzendentali-
tät des Menschen von der Freiheit des Menschen angenommen
und ausgehalten wird, geht man ferner von der Voraussetzung
aus, daß eine solche bedingungslose Annahme der eigenen Tran-
szendentalität durch die Freiheit des Menschen auch, wenn auch
nicht nur, gerade und besonders intensiv in mystischen Transzen-
denzerfahrungen gegeben sein kann, dann ergibt sich daraus, daß
jene Mystik, die von der christlichen Theologie als eigentliche
Gnadenerfahrung mit Recht interpretiert wird, auch außerhalb
des institutionellen Christentums gefunden werden kann und
muß. Diese These ist nicht vor das Dilemma zu stellen, mystische
Transzendenzerfahrung müsse sich entweder ausdrücklich christ-
lich interpretieren, oder könne im besten Falle nur so etwas wie
eine natürliche Mystik sein. Die traditionelle Theologie der My-
stik im katholischen Christentum neigt zwar bis in unsere Tage
dazu, ein solches Dilemma als gegeben und unvermeidlich anzu-
nehmen, so wie die Gnadentheologie besonders seit der Barock-
scholastik es als selbstverständlich erachtete, daß es existentiell
radikale geistige Akte des Menschen, sogenannte actus honesti,
gebe, die konkret noch keine übernatürlichen Heilsakte seien.
Bedenkt man aber einerseits unsere zweite These und hält man
an der Universalität der Vorgegebenheit der Gnade als eines Exi-
stentials der Transzendentalität des Menschen als solcher fest,
dann läßt sich die Möglichkeit einer übernatürlichen, gnaden-
haften, anonym christlichen Mystik außerhalb des verbalisierten
und institutionalisierten Christentums nicht mehr leugnen.
Der christliche Religionswissenschaftler braucht also, um
christlich orthodox zu bleiben, nicht von der Voraussetzung als
einem hermeneutischen Prinzip seiner Wissenschaft auszugehen,
er dürfe außerhalb des Christentums keine Mystik entdecken, die
er als wesensgleich mit der christlichen Mystik erkennt. Ob die-
sem Religionswissenschaftler eine solche Entdeckung faktisch ge-
lingt, wenn er unter Voraussetzung unserer zweiten These die
außerchristliche Interpretation dieser außerchristlichen Mystik
218
noch einmal auf das ursprüngliche mystische Phänomen hin zu
hinterfragen sucht, oder ob dies ihm bei historischer und reli-
gionspsychologischer Nüchternheit und Genauigkeit faktisch
nicht gelingt, das ist eine Frage, deren Beantwortung nicht dem
christlichen Dogmatiker als solchem zusteht, sondern vom Reli-
gionswissenschaftler selbst entschieden werden muß. Jedenfalls
aber verbietet die christliche Dogmatik dem Religionswissen-
schaftler nicht a priori, gnadenhafte Mystik in der Erfahrung der
Selbstmitteilung Gottes durch eine vom Heiligen Geist radikali-
sierte Transzendentalität des Menschen auch außerhalb des Chri-
stentums zu entdecken. Wenn und wo eine solche Entdeckung
a posteriori ohne voreilige Verwischung von Unterschieden durch
Übersteigung der Unterschiede der Verschiedenheit zwischen
christlichen und außerchristlichen nachträglichen Deskriptionen
der ursprünglichen mystischen Erfahrung selbst gelingt, wäre ein
solches Resultat für den christlichen Dogmatiker nicht verwun-
derlich. Dies zumal schon darum nicht, weil mystische Erfahrung
von ihm auch innerhalb des Christentums nicht als eine eigent-
liche Überbietung des übernatürlichen Glaubens, der übernatür-
lichen Hoffnung und Liebe interpretiert wird, sondern als eine
mögliche radikalisierte Vollzugsgestalt dieser drei theologischen
Tugenden, und weil derselbe christliche Dogmatiker heute nicht
mehr leugnen darf, wenn er dem Zweiten Vatikanischen Konzil
nicht widersprechen will, daß übernatürlicher Glaube im streng
theologischen Sinn des Wortes überall, auch außerhalb des expli-
ziten Christentums, ja sogar bei dem gegeben sein kann, der sich
in seiner theoretischen Reflexion als Atheisten interpretiert, weil
ursprünglicher Selbstvollzug und verbalisierende Reflexion dieses
Vollzugs nie identisch sind, ja sich sogar widersprechen können.
4. Mit der Proklamation der theologischen Möglichkeit einer
gnadenhaften, heilschaffenden mystischen Transzendenzerfah-
rung auch außerhalb des expliziten Christentums ist freilich das
Problem noch nicht bewältigt, zu dem der christliche Dogmatiker
von seiner Seite aus beitragen soll. Ich meine, der Dogmatiker
müsse eine selbstkritische und negativ seine Kompetenz begren-
zende vierte These hinzufügen. Man könnte sie vielleicht so zu
formulieren versuchen: Der christliche Theologe weiß nicht und
219
kann nicht darüber befinden, ob es nicht Erfahrungen gibt, die
man einerseits in irgendeinem möglichen Sinn als außerhalb der
psychologischen Alltagserfahrung stehend, als in irgendeinem
Sinne als «mystisch » qualifizieren kann oder muß, und die an-
derseits doch nicht als Erfahrungen übernatürlich-gnadenhafter
Mystik im Sinne der dritten These angesprochen werden können.
Der christliche Theologe muß in diesem Sinn Selbstbeschei-
dung und Selbstbegrenzung üben, dem Religionsgeschichtler,
dem Religionspsychologen, dem Phänomenologen nicht alltäg-
licher Erfahrungen das Feld überlassen, er kann diese Wissen-
schaftler nur auffordern, selbst genau und unterscheidend zuzu-
sehen und nicht zu schnell und voreilig alle nichtalltäglichen
Selbsterfahrungen des Menschen auf einen und denselben Nenner
bringen zu wollen.
Zu diesem sehr negativen und abstrakten dei einige Erläute-
rungen. Wenn und insofern die dritte These, die wir vorgetragen
haben, richtig ist, dann muß zwar gesagt werden, daß all jene
Mystik, in der die letzte Transzendentalität des Menschen auf
Gott hin erfahren und in Freiheit angenommen wird, auch gna-
denhaft übernatürliche, wenigstens anonym christliche mystische
Erfahrung ist, weil diese dritte These von der Unmöglichkeit aus-
geht, daß es in der Konkretheit der wirklichen Existenz des Men-
schen «actus honesti» geben könne, die nicht auch übernatürlich
durch die Gnade erhoben seien. Aber damit sind eben noch nicht
alle Fragen, die hier gestellt werden können, beantwortet. Die
Theologie, die die reale Einheit von personal-radikalen Akten, in
der die letzte Verwiesenheit auf Gott in Freiheit angenommen
wird einerseits, und von übernatürlich gnadenhaften, heilshaften
Akten des Menschen anderseits annimmt, muß ja darum noch
lange nicht behaupten, daß es außerhalb der Einheit von solchen
geistig-natürlichen und gnadenhaften mystischen Transzendenz-
erfahrungen keine anderen Erfahrungen gebe, die zwar nicht
solche natürlich-übernatürliche Transzendenzerfahrung sind, und
doch, weil über den Alltag hinausreichend, unter bestimmten
Umständen und bei bestimmten Eigentümlichkeiten in etwa unter
den Begriff «mystisch » subsumiert werden können, wenn dieser
Begriff weit genug gefaßt wird. Die Theologie, die wir hier vor-
220
aussetzen, für die ein eigentlich im strengen Sinn geistiger, Tran-
szendenz erfahren lassender, personale Freiheit radikalrealisieren-
der Akt faktisch immer auch eine übernatürliche Transzendenz-
erfahrung ist, braucht darum noch nicht zu behaupten, daß alle
Erfahrungen solche « aczus honesti et salutares» seien. Die Erfah-
rungen des Menschen von seiner Leiblichkeit, von seinem biolo-
gisch-physiologischen Habitus, von seinem Unterbewußtsein, sei-
nem Tiefenbewußtsein, von kollektiven Archetypen, von einem
«es» in seinem Bewußtsein, von einer Eingebettetheit seines Be-
wußtseins in eine kollektive Wirklichkeit usw. sind gewiß Erfah-
rungen, die es im Menschen mehr oder weniger deutlich gibt, die
aber noch nicht identisch sind mit dem, was der Theologe als gei-
stig-übernatürliche Transzendenzerfahrung bezeichnet, und die
auch getrennt von solcher Transzendenzerfahrung auftreten kön-
nen. Mit einer solchen Möglichkeit wird der Theologe selbstver-
ständlich und unbefangen rechnen, genau so wie die alte Moral-
theologie wußte, daß es sogenannte actus indifferentes gibt, die
noch außerhalb der eigentlich personalen Sphäre der sittlichen
Entscheidung und der eigentlichen Moral liegen. Wenn auch dem
christlichen Theologen in der hier gemeinten Frage keine eigent-
liche Kompetenz zukommt, so kann er doch unbefangen damit
rechnen, daß die eben angedeuteten Erfahrungen einerseits eine
Intensität und radikale Deutlichkeit und Eigentümlichkeit in be-
stimmten Menschen erlangen, so daß sie irgendwie einen « mysti-
schen» Charakter annehmen, und anderseits doch nicht zu der
eigentlich geistig übernatürlichen Transzendenzerfahrung gehö-
ren, die das Wesen der eigentlich christlichen Mystik ausmacht.
Ganz abgesehen von aposteriorisch empirischen Belegen, warum
sollte durch ein psychologisches Training der Mensch als Subjekt
nicht z.B. zu einem Verhältnis zu seiner Leiblichkeit kommen, das
anders, vollkommener usw. ist, als es beim «normalen » Menschen
gegeben ist, ohne daß dieses Verhältnis oder dessen Erlangung
schon in den Bereich der eigentlichen gnadenhaften Transzenden-
talität des Menschen gehört? Es ist (um ein weiteres Beispiel zu
nennen) doch wohl denkbar, daß es Erfahrungen der Leere des
Bewußtseins, der Versunkenheit usw. gibt, die doch noch in diesen
Bereich gehören, der der eigentlichen Transzendenzerfahrung
221
vorausliegt. Ob dann solche Phänomene, wie immer sie auch ge-
nauer geartet sein mögen, durch ein psychotechnisches Training
erzielt werden können, oder auch von einem christlichen Mysti-
ker, für den auch solche Phänomene Hilfen oder Begleitphäno-
mene eigentlicher Mystik sind, als helfende Gnade interpretiert
werden, oder ob sie beides in einem sind, was durchaus denkbar
ist, das ist dann eine Frage, die der Dogmatiker als solcher nicht
zu entscheiden hat. Vermutlich (eine bloße Hypothese!) wäre es
angebracht, solche Phänomene unter den Begriff parapsycholo-
gischer Vorkommnisse zu subsumieren, und nicht eigentlich unter
den Begriff der Mystik, weil solche Phänomene sicher weitgehend
durch bloßes psychologisches Training erzeugt werden können
und auch außerhalb eines religiösen Bereichs auftreten können,
ohne daß man diese profan gearteten Phänomene dadurch für
eine eigentlich religiöse Mystik retten könnte oder müßte, daß
man erklärt, sie seien an sich Ereignisse religiöser Transzenden-
talität auf das Absolute, auf Gott, und würden nur nachträglich
profan und so falsch interpretiert. Weil aber solche Phänomene
eigentlich parapsychologischer, d. h. hier: vorreligiöser und vor-
existentieller Art auch im Zusammenhang mit eigentlich reli-
giöser und radikal-existentieller Transzendenzerfahrung zusam-
men auftreten, ist es auch wieder verständlich, daß auch sie als
«mystisch» qualifiziert zu werden pflegen. Tatsächlich behan-
delt die traditionelle christliche Theologie solche Phänomene als
einen ihr eigenen, wenn auch sekundären, Gegenstand; sie
spricht von Ekstasen, Elevationen, Erkenntnissen von Zukunft,
telepathischen Fähigkeiten usw. und ist traditionell nur zu sehr
geneigt, solche Dinge als wunderbare Begnadigungen zu inter-
pretieren, als ob sie nur innerhalb eigentlicher Mystik auftreten
könnten. Anderseits weiß die christliche Theologie der Mystik
doch (vor allem bei Johannes vom Kreuz), daß solche Phänomene
letztlich unwesentlich sind und eigentlich bei der Erlangung der
höchsten mystischen Einheit mit Gott eher wieder verschwinden
müßten, wenn auch diesbezüglich für die christliche Mystik, die
eine Vermittlung zu Unmittelbarkeit nicht von vornherein ab-
lehnen kann, noch einmal ein eigenes Problem gegeben ist, wie
sich bei dem Unterschied zwischen der mystischen Theologie bei
222
Theresia von Avila und Johannes vom Kreuz zeigt. Wenn und .
insoweit solche Phänomene, die an sich vor der eigentlichen Tran-
szendenzerfahrung auf das absolute Geheimnis hin liegen, doch
eine Vorbereitung und Hilfe für diese eigentlich mystischen Er-
fahrungen sein können, genau so gut wie eine normale Alltags-
fähigkeit der Konzentration für eine normale Meditation des All-
tagschristen Bedingung und Hilfe ist, ist es verständlich, daß im
praktischen Betrieb höherer Spiritualität auch im Christentum
durch ein psychisches Training (Fasten, Einsamkeit, Stille, Aus-
schaltung der ungeordneten Vielfalt der Bewußtseinsgegenstände
usw.) unwillkürlich darauf zu «trainiert» wird, auch die eigent-
liche gnadenhafte Transzendentalität des Geistes auf Gott hin
deutlicher zu erfahren und in radikalerer Freiheit sich zu eigen zu
machen. Wie gesagt, kann der Erfolg solchen psychischen Trai-
nings dennoch unbefangen als helfende Gnade verstanden wer-
den. Umgekehrt aber ergibt sich aus unseren Thesen, daß die
eigentliche Gnadenhaftigkeit der eigentlichen Transzendenz-
erfahrung auf die Unmittelbarkeit Gottes hin nicht erst dort und
dann gegeben ist, wo und wann sie auch als Gnade reflektiert
wird, oder gar wo sie als partikuläres intermittierendes Wirken
Gottes verstanden wird, während sie in Wirklichkeit immer und
überall im Modus des Angebotes von der Selbstmitteilung Gottes
getragen wird. Christlich gesehen freilich ist auch die faktische
Annahme in Freiheit dieser Selbstmitteilung Gottes nochmals als
Gnade Gottes zu verstehen, weil (paulinisch gesprochen) nicht
nur das Können, sondern auch das tatsächliche Vollbringen gna-
denhaft geschenkt und von Gott bewirkt wird.
Worauf es eigentlich bei dieser vierten These ankam, ist nur die
Einsicht, daß es im konkreten Vollzug des religiösen Verhältnis-
ses zu Gott Phänomene geben kann, gleichgültig ob man sie als
mystisch oder als parapsychologisch wertet, die nicht eigentlich
streng zur gnadenhaft erhobenen Transzendenzerfahrung gehören
und darum auch außerhalb der Kompetenz des Theologen liegen,
auch dannnoch, wenn dieser derAnsichtist, daßeigentlich alle wirk-
liche Transzendenzerfahrungin der konkreten Ordnung.der Wirk-
lichkeitauch schon Gnadenerfahrungistundessokeine «natürliche»
Mystik gibt, die nicht faktisch auch übernatürliche Mystik wäre.
225
Mit dieser Selbstbescheidung des Theologen ist dann auch ge-
geben, daß Erfahrungen, Regeln, Praxen der Schaffung besserer
Voraussetzungen (wenn man will: parapsychologischer Art) für
das bessere und deutlichere Gelingen eigentlicher Mystik möglich
sind, Erfahrungen, Regeln und Praxen, die außerhalb der christ-
lichen Religions- und Frömmigkeitsgeschichte gegeben sind.
Grundsätzlich können diese vom Christentum genau so unbefan-
gen als für sich selbst nützlich übernommen werden, wie es son-
stige Erfahrungen, Regeln und Praxen der normalen Alltags-
psychologie übernimmt und im religiösen Bereich anwendet. Das
ist durchaus möglich, auch wenn die christliche Theologie davon
überzeugt ist, daß die reflexe Interpretation eigentlicher Tran-
szendenzerfahrung in Gnade im Christentum richtig und wahr ist
(was nicht bedeutet, daß diese Interpretation und Verbalisation
schon adäquat sei und nichts mehr dazulernen könnte). Der
christliche Glaube und seine Theologie sind davon überzeugt, daß
dort, wo diese mystische Transzendenzerfahrung objektiviert und
interpretiert wird mit einer eigentlichen Leugnung ihrer Gnaden-
haftigkeit eines frei personalen Verhältnisses zu einem freien und
personalen (oder: überpersonalen) Absoluten, mit einer Leugnung
einer guten Enndlichkeit und einer Rückbindung auch des Mysti-
schen in eine heilsbedeutsame Geschichte, mit einer Leugnung
(wenigstens impliziter Art) einer universalen Heilsmöglichkeit
für alle Menschen auch außerhalb eines ausdrücklichen Weges
mystischer Versenkung, die mystische Transzendenzerfahrung
falsch oder unzulänglich interpretiert wird. Das Christentum muß
aber nicht behaupten, daß der Fall einer solchen falschen oder we-
sentlich unzulänglichen Interpretation gnadenhafter Mystik, die
es als solche selbst auch außerhalb des verfaßten Christentums als
möglich zugesteht, immer und überall außerhalb des Christen-
tums faktisch eintrete. Das braucht die christliche Theologie
nicht zu behaupten. Sie wird natürlich sagen, daß auch alle My-
stik, wo immer sie gegeben ist, eine objektive Bezogenheit auf
Jesus Christus hat, die natürlich in außerchristlicher Mystik noch
nicht ausdrücklich ergriffen ist, wenn auch dies wiederum um-
gekehrt nicht bedeutet, daß solche Mystik, die Jesus Christus noch
nicht ausdrücklich gefunden hat, deshalb keine Heilsbedeutung
224
\
228
ERFAHRUNG DES HEILIGEN GEISTES
Was kann das Thema einer Meditation auf Pfingsten anderes sein
als der Heilige Geist, der an diesem Tag unter enthusiastischen
Phänomenen der jungen Kirche geschenkt wurde unter der Ver-
heißung, daß er mit seiner Kraft, seinem Trost und seiner Frei-
heit immerdar bis zum Ende bei ihr bleiben werde? Vom Heiligen
Geist als der Gabe, in der Gott sich selbst dem Menschen mitteilt,
muß gewiß in einer solchen Meditation gesprochen werden.
Aber was und wie genauer soll davon geredet werden? Man
könnte gewiß die Schrift aufschlagen und darin lesen vom Geist
des Vaters, der durch den Sohn allen gegeben. wird, die an ihn
glauben, vom Geist, der als lebendiges Wasser aus der durchbohr-
ten Seite des Gekreuzigten strömt als Lebensquell, der fortspru-
delt ins ewige Leben und den Durst der Ewigkeit in uns stillt,
vom Geist, der uns zu Söhnen macht und uns Abba, lieber Vater,
sagen läßt, vom Geist, der in der Taufe und Handauflegung uns
gegeben wird, der das Kommen des dreifaltigen Gottes bedeutet,
der uns an Gottes Liebe, Wahrheit und Freiheit Anteil gibt, in
dem wir untereinander eins werden und Hoffnung haben, durch
den wir gesalbt und besiegelt sind, der mit unaussprechlichem
Rufen in uns und mit uns betet und uns im Zugang zum Vater
die Zuversicht ewigen Lebens schenkt. Solches und vieles andere
Wunderbare und Erhabene könnte man in der Schrift lesen, zu
einer Pfingstbetrachtung sammeln und dem inneren Menschen
in uns zum mutig glaubenden und fröhlichen Bedenken anbieten.
Es ist selbstverständlich für den glaubenden Christen, der für
solchen Zuspruch der Schrift sein Herz offenhält, daß er auch
heute auf diese Weise eine Pfingstmeditation halten kann. Es ist
auch selbstverständlich, soll aber doch eigens gesagt werden, daß
wir — auch wenn wir hier und jetzt einen ein wenig anderen Me-
ditationsweg einzuschlagen versuchen und nach unserer eigenen
Erfahrung des Geistes fragen wollen — dabei immer schon still-
schweigend von dieser Lehre der Schrift Gebrauch machen und
daß wir sonst unsere eigene Erfahrung, die allen Menschen in der
226
Tiefe ihrer Existenz angeboten ist, selber nicht so deutlich ergrei-
fen könnten, wäre sie nicht schon im voraus zur eigenen Bemü-
hung durch die Schrift in die Ausdrücklichkeit des Wortes ge-
hoben worden.
Aber eben weil diese Schrift uns nicht nur doktrinär von die-
sem Geist, der uns gegeben ist, spricht, sondern dabei selber Be-
rufung einlegt auf die Erfahrung des Geistes, die wir selbst ma-
chen (etwa im Galaterbrief und auch andernorts bei Paulus, bei
Johannes und letztlich eben in der ganzen Schrift), darum dürfen
wir mit Recht fragen, wo und wie eine solche Erfahrung des
Geistes in uns geschieht.
Dabei sind wir uns natürlich von vornherein dessen bewußt,
daß solche Erfahrung inkommensurabel ist mit dem, was wir
sonst im Alltag « Erfahrung » — besonders in einem naturwissen-
schaftlichen oder empirisch psychologischen Sinne — zu nennen
pflegen; denn diese Erfahrung des Geistes setzt in der innersten
Mitte unserer Existenz an, an ihrem subjektiven Pol, wenn wir
so sagen dürfen, und bedeutet nicht die Begegnung mit einem
beliebigen, von außen auf uns stoßenden Gegenstand partikulärer
Art mit dessen Wirkungen auf uns. Es gibt eben, abgesehen von
Erfahrungen, die in unserem Bewußtsein und unserer Reflexion
ausdrücklich theologisch interpretiert werden, eine Erfahrung in
uns, die anders und unverrechenbar mit den Erfahrungen ist, an
die wir zunächst denken, wenn wir das Wort « Erfahrung » hören.
Zunächst denken wir bei diesem Wort ja an das Gegebensein,
das Sichmelden von Einzelwirklichkeiten unserer Mitwelt und
Umwelt oder an psychologische Einzelgegenstände innerhalb un-
seres Bewußtseins, wie an einen lokalisierbaren Schmerz, an
einen einzelnen Gedanken mit einem bestimmten Inhalt usw.
Alle diese Einzelwirklichkeiten sind uns als einzelne innerhalb des
Gesamtrahmens unseres Bewußtseins gegeben; sie werden da
hinein irgendwie eingeordnet, von anderen unterschieden und
untereinander verknüpft.
Aber neben diesen Einzelerfahrungen bestimmter einzelner
Wirklichkeiten gibt es eine ganz andere, im Alltagsbetrieb unse-
rer Erfahrungen gar nicht thematisierte Erfahrung: die Erfah-
rung des einen Subjekts als solchen, das alle diese Einzelerfahrun-
227
gen als seine eigenen macht und zu verantworten hat, das sich
selber in seiner ursprünglichen Einheit und Ganzheit präsent ist,
auch wenn es sich selbst nicht in Einzelheiten hinein thematisch
objektivieren kann, sondern sich nur in einer scheinbar leeren Ge-
stimmtheit immer schon hat, wenn es in die Vielfalt seiner all-
täglichen Erfahrungen ausgeht und sich darüber zu vergessen
scheint.
Es soll hier nicht in einer erkenntnismetaphysischen oder exi-
stentialontologischen Überlegung diese seltsame, ursprüngliche
und immer und überall hinter allen gegenständlichen Einzel-
erfahrungen gegebene Urerfahrung des Subjekts von sich selbst
analysiert werden. (In etwa kommen wir später nochmals auf
diese « transzendentale » Subjekthaftigkeit des Menschen zurück.)
Es wird mit diesem Hinweis nur schon jetzt daran erinnert, daß
es aufjeden Fall eine Art der Erfahrung gibt, die mit den Alltags-
erfahrungen einzelner Wirklichkeiten inkommensurabel ist, die
aber dennoch immer gegeben ist, auch wenn sie meist übersehen
wird. Man darf daher die hier nun zu bedenkende Erfahrung des
Geistes nicht von vornherein als nichtexistent abweisen, weil sie
genau wie die Selbstgegebenheit des Subjekts für sich selbst in
allen Einzelerfahrungen immer übersehen werden kann.
Natürlich kann man, wenn man die gemeinte Geisterfahrung
nicht recht in sich selber zu entdecken meint, sich ihre Existenz
gleichsam autoritativ von außen her durch die Heilige Schrift und
die kirchliche Lehre bezeugen lassen. Würden wir aber nicht hier
und jetzt auch nach solcher Erfahrung des Geistes — sosehr diese
durch den Glauben mit Hilfe der Schrift gedeutet und ans Licht
des Wortes gebracht werden muß - fragen, dann bestünde die Ge-
fahr, daß wir alles, was die Schrift uns von diesem Geist in uns
sagt, skeptisch als Ideologie oder Mythologie empfänden und uns
fast verärgert fragten, ob und wo denn all das in uns gegeben sei,
was uns an Herrlichkeit des Geistbesitzes von der Schrift berichtet
wird; daß wir uns fragten, ob nicht all das in eine Dimension ver-
legt werden müsse (gerade bei gläubiger Zustimmung zur Lehre
der Schrift), die jenseits unseres Bewußtseins und jenseits unserer
frei vollzogenen Frömmigkeit liegt.
Gibt es eine solche Erfahrung des Geistes, die einerseits das
228
Zeugnis der Schrift von der Einwohnung des Geistes in uns ver-
ständlich macht und legitimiert, wie anderseits von der Schrift
bestätigt und ins wahre Wort gebracht wird? Wir sagen: Ja, es |
gibt eine solche Erfahrung.
Dieser Satz wird nicht dadurch widerlegt, daß fragend und
zweifelnd nach einer solchen Erfahrung gefragt werden kann und
muß, daß es sich also nicht um eine fraglose Erfahrung handelt,
wie wir sie etwa mit der Außenwelt machen, ohne (von sublimen
Philosophen abgesehen) das Bedürfnis oder die Notwendigkeit zu
empfinden, zu fragen, ob es wirklich eine solche Erfahrung der
Mitwelt und der Umwelt des Menschen gibt. Es gibt jedenfalls
auch andere echte Erfahrungen, die gegeben sind und nach denen
doch auch erst gefragt werden muß. Wenn z. B. der Philosoph
des Deutschen Idealismus oder auch ein heutiger christlicher
Philosoph nach dem transzendentalen Subjekt der Erkenntnis und
der Freiheit und nach dessen Strukturen fragt, wenn der heutige
Tiefenpsychologe letzte verdrängte Haltungen aufzuspüren sucht,
dann ist in beiden Fällen die richtige Überzeugung gegeben, daß
es im Menschen wirkliche Erfahrungen geben kann, die doch nur
unthematisch gemacht werden, die nicht verbalisiert, vielleicht
verdrängt und von der freien Aufmerksamkeit des Menschen
nicht angenommen werden. Erfahrung und objektivierte, gegen-
ständliche und verbalisierte Erfahrung sind nun einmal nicht
einfach dasselbe, wie es dem in die Gegenständlichkeit des Alltags
verlorenen und darin allein umgetriebenen Bewußtsein erschei-
nen mag. Es kann also eine Erfahrung geben, die er eine
echte Frage ist.
Die Frage nach der Erfahrung des Geistes kann also nicht von
vornherein als widersprüchlich abgetan werden. Aber wie kann
sie beantwortet werden?
Heute — wie auch oft in der Vergangenheit der Kirche - liegt es
vielleicht nahe, bei dieser unserer Frage darauf Berufung einzu-
legen, daß es doch in der Kirche immer Mystik und enthusiasti-
sche Erlebnisse, Erfahrungen und Bewegungen gegeben hat, die
sich, wenn auch in den verschiedensten Gestalten und Interpreta-
tionen, als Erfahrungen des Heiligen Geistes verstanden haben.
Es gab und gibt Mystik. Hier sagten und sagen die Begnadeten,
229
daß sie entweder in einem plötzlichen Durchbruchserlebnis oder
in einem langen stufenförmigen Aufstieg Gnade, unmittelbare
Nähe Gottes, Vereinigung mit ihm im Geiste, in heiliger Nacht
oder in seligem Licht, in schweigend von Gott erfüllter Leere er-
leben und — mindestens innerhalb des mystischen Geschehens
selbst — nicht daran zweifeln können, daß sie die unmittelbare
Nähe des sich selbst mitteilenden Gottes erfahren als Wirkung
und Wirklichkeit der heiligenden Gnade Gottes in der Tiefe ihrer
Existenz — eben als « Erfahrung des Heiligen Geistes ».
Wie dann in einer deskriptiven oder theologischen Weise im
Lauf der Geschichte der Mystik im Christentum diese Erfahrung
beschrieben wurde, wie diese objektivierende und verbalisierende
Interpretation — abhängig von geistesgeschichtlichen, kulturge-
schichtlichen, philosophischen und theologischen Interpretations-
horizonten — in der verschiedensten Weise geschehen ist, wie die
Frage zu beantworten ist nach dem Verhältnis dieser christlichen
und christlich interpretierten Mystik zu außerchristlichen ähn-
lichen mystischen Phänomenen, besonders im Osten, vor allem
im Islam und im Buddhismus, wie eine solche Erfahrung koexi-
stent sein kann mit kirchlich-gesellschaftlicher und sakramental-
ritueller Frömmigkeit, das alles sind Fragen, die uns hier und
jetzt nicht beschäftigen müssen.
Die Mystiker bezeugen uns eine Erfahrung des Geistes, und
' grundsätzlich steht dem nichts im Wege, daß wir im ganzen das
Zeugnis von ihrer Erfahrung für glaubwürdig halten, zumal
wenn wir einerseits berechtigterweise einkalkulieren, daß die
ursprüngliche Erfahrung einerseits und die philosophische und
theologische Auslegung dieser Erfahrung anderseits zweierlei sind
und darum Verschiedenheit und Widerspruch in den Auslegun-
gen die ursprüngliche Erfahrung nicht desavouieren müssen,
und wenn wir anderseits bedenken, daß unter diesen Mystikern
Menschen von hervorragender Nüchternheit und schärfster Be-
obachtungsgabe waren, bis etwa herauf in unsere Tage zu Carl
Albrecht, dem Mystiker, der ein hervorragender Arzt, Psycho-
loge, Philosoph und Naturwissenschaftler war. Es bleibt dabei: Es
gibt Menschen, die den Mut haben, uns glaubwürdig die Erfah-
rung des Geistes zu bezeugen.
250
Freilich hat man in der Theologie der christlichen Mystik sehr
auf dem außergewöhnlichen und elitären Charakter solcher my-
stischer Phänomene insistiert; einerseits weil man (mit Recht)
den gnadenhaften Charakter dieser Phänomene betonen wollte
und dabei von der stillschweigenden Meinung geleitet war, Gna-
denhaftes und Ungeschuldetes müsse per definitionem selten
sein, und anderseits weil solche mystischen Phänomene deutlicher
Art meist mit Begleitumständen ekstatischer, fast parapsycholo-
gischer Art auftreten, die wirklich selten sind. Von daher ist esin
etwa verständlich, daß der normale Christ solche Mystik als eine
Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen geneigt ist, die ihn sel-
ber nichts angeht.
Würde man aber (was hier nicht möglich ist) das eigentlich
mystische Kernerlebnis deutlicher von solchen seltenen Rand-
phänomenen wie Ekstase, Versunkenheit usw. abheben, dann
würde wohl verständlicher werden, daß solche mystische Erfah-
rungen durchaus nicht Vorkommnisse sind, die schlechterdings
jenseits der Erfahrung eines gewöhnlichen Christen liegen; daß
das Zeugnis der Mystiker von ihren Erfahrungen eine Erfahrung
bezeugt, die jeder Christ, ja jeder Mensch machen und anrufen
kann, die er aber leicht übersieht oder verdrängt. Auf jeden Fall
aber gilt: Es gibt Mystik, und sie ist uns nicht so fern, wie wir zu-
nächst zu vermuten versucht sind.
Dazu kommen enthusiastische Phänomene und Bewegungen
im nichtkatholischen und katholischen Christentum. Ob dabei
mystische Nähe und Einheit mit Gott im Sinne der klassischen,
mehr individualen und individualistischen Mystik gegeben ist
oder ob und wie Mystik und (früherer und heutiger) Enthusias-
mus mehr gemeinschaftlicher Art phänomenologisch und theolo-
gisch unterschieden werden müssen, das ist eine Frage, auf die
wir hier nicht unmittelbar eingehen können, zumal auch die
klassische Theologie der Mystik die verschiedensten Weisen und
Stufen mystischer Erfahrung kennt und so auch von daher eine
Möglichkeit gegeben ist, enthusiastische Erfahrungen in einen
Stufenweg des mystischen Aufstiegs einzuordnen, ohne sie schon
mit dem Gipfel der Mystik, der letzten Gnadeneinigung mit Gott
in der unio mystica zusammenfallen zu lassen.
251
Es gibt heute jedenfalls in der Christenheit enthusiastische Be-
wegungen. Man verlangt nach der Erfahrung des Geistes und
seiner Kraft. Man hält in Gemeinschaft lange, charismatisch be-
wegte Gottesdienste, in denen man das Wehen des Geistes zu
spüren glaubt bis zu ekstatischem Zungenreden und wunderbaren
Krankenheilungen. In solchen Gebetszeiten glauben nicht wenige,
das zu erfahren, was sie die « Geisttaufe», das ein für allemal ge-
schehende Erfülltwerden mit dem Geist Gottes nennen.
Solche enthusiastische Erfahrungen braucht auch eine nüch-
tern rationale Theologie nicht von vornherein und für alle Fälle
abzulehnen oder skeptisch zu bezweifeln — auch wenn da oft das
Feuer Gottes noch viel menschlichen Rauch erzeugt —, auch wenn
uns in Europa viele Phänomene eines amerikanischen Enthusias-
mus nicht liegen mögen -, auch wenn vieles an solchen Phänome-
nen mit sehr profaner Psychologie erklärt werden kann und
(wenn auch nicht theologisch interpretiert) genauso außerhalb
eines religiösen Kontextes auftritt.
Wenn auch in solchen enthusiastischen Bewegungen der noch
in Zeit und Geschichte pilgernde Mensch nie meinen darf, er sei
vollendet, er habe eine absolut sichere und auch endgültige Zu-
sage des Geistes empfangen und erfahren (die traditionelle Theo-
logie würde dies « Befestigung in der Gnade» nennen und unter
die sublimsten mystischen Erfahrungen rechnen), so braucht
doch nicht bestritten zu werden, daß es hier besonders eindrück-
liche und den Menschen umwandelnde, ganz neue Lebenshori-
zonte schenkende und befreiende Erfahrungen der Gnade geben
könne, die auf lange Zeit die innerste Haltung des christlichen
‚ Menschen prägen und die durchaus (wenn man will) « Geisttaufe »
genannt werden können und auch gerade innerhalb solcher ge-
meinsamer Gebetsgottesdienste als Wirkung des der Gemeinde
gegebenen Geistes erfahren werden.
II
252
wagen und die wir vielleicht aus den verschiedensten Gründen
kein persönliches Verhältnis zu solchen enthusiastischen Bewe-
gungen und Praxen finden können? Haben wir keine Erfahrung
des Geistes? Können wir uns nur in Respekt vor diesen und von
uns als elitär empfundenen Erfahrungen anderer respektvoll ver-
neigen? Geben solche Menschen uns nur Bericht von einem Land,
das wir selber nie betreten haben, dessen Existenz wir gelten las-
sen wie die Australiens, wo wir (vielleicht) nie waren?
Wir sagen, ja wir bekennen als Christen, auch gestützt auf das
Zeugnis der Schrift, daß wir eine solche Erfahrung des Geistes ha-
ben können, ja sogar als Angebot an unsere Freiheit notwendig
haben. Solche Erfahrung ist gegeben, auch wenn wir sie meist
im Betrieb unseres Alltags übersehen, sie vielleicht verdrängen
und nicht wahrhaben wollen.
Wenn wir nun im folgenden versuchen, auf solche Erfahrung
aufmerksam zu machen, dann scheint es nicht vermeidbar zu
sein, diesen konkreten Hinweisen auf die eigene Erfahrung einige
etwas theoretischere Erwägungen über das innerste Wesen der
menschlichen Erkenntnis und Freiheit vorauszuschicken, auch
wenn sie nur sehr kurz geraten können und manchem sehr ab-
strakt scheinen mögen. Nur so nämlich kann auch die eigentli-
che Struktur und Eigenart unserer Geisterfahrungen deutlich
und verstanden werden, warum wir sie in unserem reflexen
und verbalisierten Gegenstandsbewußtsein leicht übersehen kön-
nen, so daß wir meinen, es gebe sie gar nicht. Für diese theoreti-
schen Vorüberlegungen muß darum besonders um Aufmerksam-
keit und Geduld gebeten werden.
Wir dürfen Erkenntnis und Freiheit des Menschen zusammen
bedenken, weil sie trotz ihrer radikalen Verschiedenheit unter-
einander eine gemeinsame letzte Struktur haben. In Erkenntnis
und Freiheit ist der Mensch unausweichlich das Wesen der Tran-
szendenz. Dieses Wort mag hochtrabend, ärgerlich und ideologie-
verdächtig klingen. Aber es ist schwer vermeidlich, und die damit
gemeinte Sache bedeutet eine letzte unausweichliche Wesens-
struktur des Menschen, gleichgültig, ob der Alltagsmensch oder
auch der empirische Wissenschaftler davon Kenntnis zu nehmen
geneigt ist oder nicht. In Erkenntnis und Freiheit ist der Mensch
255
immer zugleich beim einzelnen benennbaren und von anderen
abgrenzbaren Einzelgegenstand seiner Alltagserfahrung und sei-
ner einzelnen Wissenschaften und immer auch gleichzeitig dar-
über hinaus, auch wenn er dieses immer schon mitgegebene Dar-
überhinaus unbeachtet und unbenannt läßt. Die Bewegung des
Geistes auf den einzelnen Gegenstand, mit dem er sich beschäf-
tigt, geht immer auf den jeweiligen Gegenstand hin, indem er ihn
überschreitet. Das einzelne gegenständlich und genannt Ge-
wußte wird immer erfaßt in einem weiteren unbenannten,
schweigend gegenwärtigen Horizont möglichen Wissens und
möglicher Freiheit überhaupt, auch wenn es der Reflexion nur
schwer und immer nur nachträglich gelingt, diese schweigend
anwesende Bewußtheit noch einmal zu einem gewissermaßen
einzelnen Gegenstand des Bewußtseins zu machen und verbali-
sierend zu objektivieren.
Die Bewegung des Geistes und der Freiheit, der Horizont dieser
Bewegung ist grenzenlos. Jeder Gegenstand unseres Bewußtseins,
der uns in unserer Mitwelt und Umwelt, sich von sich aus mel-
dend, begegnet, ist nur eine Etappe, ein immer neuer Ausgangs-
punkt dieser Bewegung, die ins Unendliche und Namenlose geht.
Was in unserem Alltags- und Wissenschaftsbewußtsein gegeben
ist, ist nur eine kleine Insel (auch wenn sie groß ist und durch
unser gegenständlich machendes Erkennen und Handeln ver-
größert wird, immer neu und immer mehr) in einem grenzen-
losen Meer des namenlosen Geheimnisses, das wächst und deut-
licher wird, je mehr und je genauer wir im einzelnen erkennen
und wollen. Und wenn wir diesem, wie leer erscheinenden Hori-
zont unseres Bewußtseins eine Grenze setzen wollen, hätten wir
ihn gerade durch diese Grenze schon wieder überschritten.
Mitten in unserem Alltagsbewußtsein sind wir die auf namen-
lose, unumgreifbare Unendlichkeit hin Beseligten oder Ver-
dammten (wie man will). Die Begriffe und die Worte, die wir
nachträglich von dieser Unendlichkeit, in die wir dauernd ver-
wiesen sind, machen, sind nicht die ursprüngliche Weise solcher
Erfahrung des namenlosen Geheimnisses, das die Insel unseres
Alltagsbewußtseins umgibt, sondern die kleinen Zeichen und
Idole, die wir errichten und errichten müssen, damit sie uns im-
254
mer aufs neue erinnern an die ursprüngliche, unthematische,
schweigend sich gebende und gebend sich verschweigende Erfah-
rung der Unheimlichkeit des Geheimnisses, in dem wir bei aller
Helle des alltäglichen Bewußtseins wie in einer Nacht und weise-
losen Wüste beheimatet sind; die uns erinnern an den Abgrund,
in dem wir unauslotbar gründen.
Wer will, kann natürlich ärgerlich und wie überfordert das
alles auf sich beruhen lassen und immer aufs neue verdrängen;
er kann die Nacht zu übersehen versuchen, die unsere kleinen
Lichter erst sichtbar macht und ihnen Glanz verleiht. Aber dann
handelt ein Mensch doch eigentlich gegen sein letztes Wesen, weil
diese Erfahrung seiner Verwiesenheit in das grenzenlose Geheim-
nis hinein, genau gesehen, kein zusätzlicher Luxus des Geistes,
sondern die Bedingung der Möglichkeit des alltäglichen Erken-
nens und Wollens ist, auch wenn der Mensch gewöhnlich im Be-
trieb des Alltags und der Wissenschaft dies übersieht und nicht
reflektiert.
Wenn man diese Transzendenzerfahrung, in der der Mensch
mitten im Alltag immer auch schon über sich selbst und über das
Einzelne, mit dem er umgeht, hinaus ist, «Mystik» nennen
wollte, dann könnte man sagen, daß Mystik immer schon mitten
im Alltag sich ereignet, verborgen und unbenannt, und die Be-
dingung der Möglichkeit für die nüchternste und: profanste All-
tagserfahrung ist.
In dieser namenlosen und weglosen Weite unseres Bewußt-
seins wohnt der, den wir Gott nennen. Das Geheimnis schlecht-
hin, das man Gott nennt, ist nicht ein besonderes, besonders eigen-
tümliches gegenständliches Stück Wirklichkeit, das wir zu den
übrigen Wirklichkeiten unserer nennenden und ordnenden Er-
fahrung hinzufügen und in sie einfügen; er ist der umfassende,
nie umfaßte Grund und die Voraussetzung von unserer Erfah-
rung und von deren Gegenständen. Er wird in dieser unheim-
lichen Transzendenzerfahrung erfahren, auch wenn es hier nicht
möglich ist, metaphysisch Einheit und Verschiedenheit zwischen
der Transzendenzerfahrung des geistigen Subjekts in Erkenntnis
und Freiheit einerseits und der Erfahrung Gottes selbst, die in der
Transzendenzerfahrung gegeben ist, anderseits genauer zu be-
235
stimmen. Eine solche Bestimmung wäre jetzt ein zu schwieriges
philosophisches Unterfangen und ist hier nicht nötig.
Es bleibt dabei: die unbegrenzte Weite unseres Geistes in Er-
kenntnis und Freiheit, die unausweichlich immer in jeder All-
tagserkenntnis unthematisch gegeben ist, läßt uns erfahren, was
mit Gott als dem eröffnenden und erfüllenden Grund jener Weite
des Geistes und seiner unbegrenzten Bewegung gemeint ist.
Transzendentale Erfahrung ist, auch wenn und wo sie vermittelt
ist durch einen konkreten, kategorialen Gegenstand, immer auch
Gotteserfahrung mitten im Alltag.
An dieser Stelle muß eine Feststellung hinzugefügt werden,
die in einem eigentümlichen gegenseitigen Bedingungsverhältnis
philosophisch und theologisch zugleich ist. Die unbegrenzte tran-
szendentale Bewegung des Geistes auf Gott hin hat tatsächlich
eine Radikalität, die bewirkt, daß diese Bewegung Gott nicht
bloß als ein asymptotisches Ziel meint, das selber immer in un-
endlicher Ferne bleibt, sondern das als es selbst in Unmittelbar-
keit das erreichbare Ziel dieser Bewegung bildet.
Philosophisch können wir diese Radikalität, durch die Gott
selbst in sich das Ziel dieser Bewegung wird, mindestens als eine
nicht ausschließbare Möglichkeit denken und hoffen; theologisch
erfassen wir diese Möglichkeit als tatsächlich durch Gott gegeben
und nennen diese tatsächlich gegebene Radikalität der transzen-
dentalen Bewegung auf die Unmittelbarkeit Gottes in sich selbst
bis zur einstigen unmittelbaren Schau hin Gnade; denn darin be-
steht das eigentliche und letzte Wesen dessen, was wir Gnade,
Selbstmitteilung Gottes im Heiligen Geist nennen und was seine
letzte Vollendung in der unmittelbaren liebenden Anschauung
Gottes findet; existentiell erfassen wir diese von Gottes Geist ge-
tragene Radikalität unserer Bewegung auf Gott hin in Unmittel-
barkeit dann frei, wenn wir uns dieser Bewegung des Geistes ohne
Vorbehalt und bedingungslos so weit überlassen, wie sie von sich
aus tatsächlich trägt, wenn wir ihr auch in unserer Freiheit keine
Grenzen setzen, sondern sie gewissermaßen ausschwingen lassen
in ihrer eigenen Grenzenlosigkeit bis zur Unmittelbarkeit Gottes
selbst.
Wenn Gnade so verstanden wird, wie sie als Möglichkeit philo-
256
sophisch ergriffen, als Wirklichkeit theologisch gesehen und exi-
stentiell in Hoffnung (thematisch oder unthematisch) realisiert
werden muß, dann ist in der faktischen Ordnung der Wirklich-
keit Transzendenzerfahrung, die Gotteserfahrung ist, auch immer
schon Gnadenerfahrung, weil die Radikalität der Transzendenz-
erfahrung und ihre Dynamik von der all dies ermöglichenden
Selbstmitteilung Gottes in der innersten Mitte unserer Existenz
getragen ist, von der Selbstmitteilung Gottes als Ziel und als Kraft
der Bewegung auf ihn hin, die wir die Gnade, den Heiligen Geist
(mindestens als Angebot an die Freiheit des Menschen) nennen.
Die Gott anwesend-sein-lassende Transzendenzerfahrung ist fak-
tisch immer (wegen des Heilswillens Gottes allen Menschen ge-
genüber, durch den der Mensch auf die Unmittelbarkeit Gottes
hin ausgerichtet wird) Erfahrung des Heiligen Geistes, gleichgül-
tig, ob ein Mensch reflex seine unausweichliche Erfahrung des
namenlosen Gottes so interpretieren kann oder nicht, ob ihm da-
für solche theologische Vokabeln, wie wir sie eben verwendet
haben, zu Gebote stehen oder nicht. \
Wir müssen noch ein Weiteres zu dem eben Gesagten hinzu-
fügen: Zwar gilt an sich all das Gesagte auch für den durchschnitt-
lichen Alltag des Menschen in Erkenntnis und Freiheit, dort we-
nigstens, aber dort immer, wo wirklich geistige Erkenntnis gege-
ben ist und die Freiheit, in der ein Mensch als wirkliches Subjekt
bei sich ist und über sich auf Endgültigkeit hin verfügt. Diese
transzendentale Gotteserfahrung im Heiligen Geist ist aber im All-
tagsgeschäft des Menschen nur unthematisch gegeben, verdeckt
und überlagert durch die Beschäftigung mit den konkreten Wirk-
lichkeiten, mit denen wir in unserer Mitwelt und Umwelt be-
schäftigt sind. Diese transzendentale Gotteserfahrung im Heiligen
Geist bleibt im Alltag anonym, unreflektiert, unthematisch, wie
das allgemein und diffus ausgebreitete Licht einer Sonne, die wir
nicht selber erblicken, indem wir uns allein den in diesem Licht
sichtbaren Einzelgegenständen in unserer sinnlichen Erfahrung
zuwenden.
Aber auch wenn wir von der Frage absehen, ob solche transzen-
dentale Gotteserfahrung im Heiligen Geist, etwa in Vorkomm-
nissen einer weiselosen Versenkung, in einer von Gegenstän-
237
den einzelner Art entleerten Bewußtseinshaltung, in mystischer
Erfahrung ganz für sich allein vorkommen könne, so gibt es auf
jeden Fall konkrete Erfahrungen in unserer existentiellen Ge-
schichte, in denen diese, an sich immer gegebene, transzendentale
Geisterfahrung sich deutlicher in unser Bewußtsein: vordrängt,
Erfahrungen, in denen (umgekehrt) die einzelnen Gegenstände
der Erkenntnis und der Freiheit, mit denen wir es im Alltag zu
tun haben, durch ihre Eigenart deutlicher und eindringlicher uns
auf die begleitende transzendentale Geisterfahrung aufmerksam
machen, in denen sie deutlicher von sich aus schweigend in jenes
unbegreifliche Geheimnis unserer Existenz, das uns immer um-
gibt und auch unser Alltagsbewußtsein trägt, verweisen, als es
sonst in unserem gewöhnlichen und banalen Alltagsleben ge-
schieht. Die Alltagswirklichkeit wird dann von sich aus Verweis
auf diese transzendentale Geisterfahrung, die schweigend und wie
scheinbar gesichtslos immer da ist. i
Dieser Verweis, den unsere in Erkenntnis und Freiheit ergrif-
fene Alltagswirklichkeit an sich immer mitbringt und in bestimm-
ten Situationen dringlicher vermeldet, kann an sich auch durch
die Positivität solcher kategorialer Wirklichkeit gegeben sein, in
der die Größe und Herrlichkeit, Güte, Schönheit und Durchlich-
tetheit unserer einzelnen Erfahrungswirklichkeit auf das ewige
Licht und das ewige Leben verheißend hinweist. Aber es ist auch
ohne weiteres verständlich, daß ein solcher Hinweis dort am
deutlichsten erfahren wird, wo die umgreifbaren Grenzen un-
serer Alltagswirklichkeiten brechen und sich auflösen, wo Unter-
gänge solcher Wirklichkeiten erfahren werden, wenn Lichter,
die die kleine Insel unseres Alltags erhellen, ausgehen und die
Frage unausweichlich wird, ob die Nacht, die uns umgibt, die
Leere der Absurdität und des Todes ist, die uns verschlingt, oder
die selige Weihnacht, die schon innerlich durchlichtet den ewigen
Tag verheißt. Wenn daher vor allem auf solche Erfahrungen im
folgenden aufmerksam gemacht wird, die in dieser zweiten Weise
die transzendentale Gotteserfahrung im Heiligen Geist vordrän-
gen lassen, dann soll damit dem Menschen und Christen nicht
verboten werden, auch in der ersten angedeuteten Weise diese
Gotteserfahrung vorkommen zu lassen und anzunehmen. Die via
258
eminentiae und die via negationis sind im letzten nicht zwei
Wege oder zwei hintereinanderliegende Etappen eines Weges,
sondern zwei Aspekte ein und derselben Erfahrung, auch wenn es,
wie gesagt, der Deutlichkeit halber berechtigt ist, die via nega-
tionis besonders hervorzuheben.
Fangen wir nun endlich an, auf die konkreten Lebenserfah-
rungen hinzuweisen, die, ob wir es reflex wissen oder nicht, Er-
fahrungen des Geistes sind, vorausgesetzt nur, daß wir sie richtig
bestehen. Bei diesen Hinweisen auf die konkrete Erfahrung des
Geistes mitten im banalen Leben kann es sich nicht mehr darum
handeln, sie einzeln auf ihre letzte Tiefe hin, die eben der Geist
ist, zu analysieren. Diesbezüglich muß genügen, was eben in for-
maler Vorzeichnung des eigentlichen Wesens all dieser Erfah-
rungen im allgemeinen gesagt worden ist. Es kann auch nicht der
Versuch gemacht werden, eine systematische Tafel solcher Er-
fahrungen zu bieten. Nur willkürlich und unsystematisch heraus-
gegriffene Beispiele sind möglich.
Da ist einer, der mit der Rechnung seines Lebens nicht mehr
zurecht kommt, der die Posten dieser Rechnung seines Lebens
aus gutem Willen, Irrtümern, Schuld und Verhängnissen nicht
mehr zusammenbringt, auch wenn er, was ihm oft unmöglich
scheinen mag, diesen Posten Reue hinzuzufügen versucht. Die
Rechnung geht nicht auf, und er weiß nicht, wie er darin Gott
als Einzelposten einsetzen könnte, der Soll und Haben ausgleicht.
Und dieser Mensch übergibt sich mit seiner unausgleichbaren Le-
bensbilanz Gott oder — ungenauer und genauer zugleich — der
Hoffnung auf eine nichtkalkulierbare letzte Versöhnung seines
Daseins, in welcher eben der wohnt, den wir Gott nennen, er läßt
sich mit seinem undurchschauten und unkalkulierten Dasein ver-
trauend und hoffend los und weiß selbst nicht, wie dieses Wunder
geschieht, das er selber nicht noch einmal genießen und als seinen
selbstgetanen Besitz sich zu eigen machen kann.
Da ist einer, dem geschieht, daß er verzeihen kann, obwohl er
keinen Lohn dafür erhält und man das schweigende Verzeihen
von der anderen Seite als selbstverständlich annimmt.
Da ist einer, der Gott zu lieben versucht, obwohl aus dessen
schweigender Unbegreiflichkeit keine Antwort der Liebe entge-
259
genzukommen scheint, obwohl keine Welle einer gefühlvollen
Begeisterung ihn mehr trägt, obwohl er sich und seinen Lebens-
drang nicht mehr mit Gott verwechseln kann, obwohl er meint, zu
sterben an solcher Liebe, weil sie ihm erscheint wie der Tod und
die absolute Verneinung, weil man mit solcher Liebe scheinbar
ins Leere und gänzlich Unerhörte zu rufen scheint, weil diese
Liebe wie ein entsetzlicher Sprung ins Bodenlose aussieht, weil
alles ungreifbar und scheinbar sinnlos zu werden scheint.
Da ist einer, der seine Pflicht tut, wo man sie scheinbar nur tun
kann mit dem verbrennenden Gefühl, sich wirklich selbst zu ver-
leugnen und auszustreichen, wo man sie scheinbar nur tun kann,
indem man eine entsetzliche Dummheit tut, die einem niemand
dankt.
Da ist einer, der einmal wirklich gut ist zu einem Menschen,
von dem kein Echo des Verständnisses und der Dankbarkeit zu-
rückkommt, wobei der Gute auch nicht einmal durch das Gefühl
belohnt wird, «selbstlos», anständig und so weiter gewesen zu
sein.
Da ist einer, der schweigt, obwohl er sich verteidigen könnte,
obwohl er ungerecht behandelt wird, der schweigt, ohne sein
Schweigen als Souveränität seiner Unantastbarkeit zu genießen.
Da ist einer, der sich rein aus dem innersten Spruch seines Ge-
wissens heraus zu etwas entschieden hat, da, wo man solche Ent-
scheidung niemandem mehr klarmachen kann, wo man ganz ein-
sam ist und weiß, daß man eine Entscheidung fällt, die niemand
einem abnimmt, die man für immer und ewig zu verantworten
hat.
Da gehorcht einer, nicht weil er muß und sonst Unannehm-
lichkeiten hat, sondern bloß wegen jenes Geheimnisvollen,
Schweigenden, Unfaßbaren, das wir Gott und seinen Willen
nennen.
Da ist einer, der verzichtet, ohne Dank, Anerkennung, selbst
ohne ein Gefühl innerer Befriedigung.
Da ist einer, der restlos einsam ist, dem alle farbigen Konturen
seines Lebens verblassen, für den alle verläßlichen Greifbarkeiten
zurückweichen in unendliche Fernen, der aber dieser Einsamkeit,
die wie der letzte Augenblick vor dem Ertrinken erfahren wird,
240
nicht davonläuft, sondern sie in einer letzten Hoffnung gelassen
aushält.
Da ist einer, der erfährt, daß seine schärfsten Begriffe und in-
tellektuellsten Denkoperationen auseinanderfallen, daß die Ein-
heit des Bewußtseins und des Gewußten im Zerbrechen aller Sy-
steme nur noch im Schmerz besteht, mit der unermeßlichen Viel-
falt der Fragen nicht mehr fertig zu werden und sich doch nicht
an das klar Gewußte der Einzelerfahrungen und der Wissenschaf-
ten halten zu dürfen und halten zu können.
Da ist einer, der merkt plötzlich, wie das kleine Rinnsal seines
Lebens sich durch die Wüste der Banalität des Daseins schlängelt,
scheinbar ohne Ziel und mit der herzbeklemmenden Angst, gänz-
lich zu versickern. Und doch hofft er, er weiß nicht wie, daß die-
ses Rinnsal die unendliche Weite des Meeres findet, auch wenn es
ihm noch verdeckt ist durch die grauen Dünen, die sich vor ihm
scheinbar unendlich auszubreiten scheinen.
So könnte man noch lange fortfahren und hätte vielleicht dann
dennoch gerade jene Erfahrung nicht beschworen, die diesem und
jenem bestimmten Menschen in seinem Leben die Erfahrung des
Geistes, der Freiheit und der Gnade ist. Denn jeder Mensch
macht sie je nach der eigenen geschichtlichen und individuellen
Situation seines je einmaligen Lebens. Jeder Mensch! Nur muß er
sie vorlassen, gleichsam ausgraben unter dem Schutt des Alltags-
betriebs, darf ihr, wo sie leise deutlich werden will, nicht davon-
laufen, darf sich nicht von ihr ärgerlich abwenden, als ob sie nur
eine Verunsicherung und Störung der Selbstverständlichkeit sei-
nes Alltags und seiner wissenschaftlichen Klarheiten sei.
Lassen Sie es mich noch einmal sagen, obwohl ich nur noch-
mals dasselbe mit fast denselben Worten wiederhole: Wo die eine
und ganze Hoffnung über alle Einzelhoffnungen hinaus gegeben
ist, die alle Aufschwünge, aber auch alle Abstürze noch einmal
sanft in schweigender Verheißung umfängt,
— wo eine Verantwortung in Freiheit auch dort noch ange-
nommen und durchgetragen wird, wo sie keinen angebbaren Aus-
weis an Erfolg und Nutzen mehr hat,
— wo ein Mensch seine letzte Freiheit erfährt und annimmt,
die ihm keine irdischen Zwänge nehmen können,
241
— wo der Sturz in die Finsternis des Todes noch einmal gelassen
angenommen wird als Aufgang unbegreiflicher Verheißung,
— wo die Summe aller Lebensrechnungen, die man nicht selber
noch einmal berechnen kann, von einem unbegreiflichen ande-
ren her als gut verstanden wird, obwohl man es nicht nochmals
«beweisen » kann,
— wo die bruchstückhafte Erfahrung von Liebe, Schönheit,
Freude als Verheißung von Liebe, Schönheit, Freude schlechthin
erlebt und angenommen wird, ohne in einem letzten zynischen
Skeptizismus als billiger Trost vor der letzten Trostlosigkeit ver-
standen zu werden,
— wo der bittere, enttäuschende und zerrinnende Alltag heiter
gelassen durchgestanden wird bis zum angenommenen Ende aus
einer Kraft, deren letzte Quelle von uns nicht noch einmal gefaßt
und so uns untertan gemacht werden kann,
— wo man in eine schweigende Finsternis hinein zu beten wagt
und sich auf jeden Fall erhört weiß, obwohl von dort her keine
Antwort zu kommen scheint, über die man noch einmal räsonie-
ren und disputieren kann,
— wo man sich losläßt, ohne Bedingung und diese Kapitulation
als den wahren Sieg erfährt,
— wo Fallen das wahre Stehen wird,
— wo die Verzweiflung angenommen und geheimnisvoll noch-
mals als getröstet ohne billigen Trost erfahren wird,
— wo der Mensch alle seine Erkenntnisse und alle seine Fragen
dem schweigenden und alles bergenden Geheimnis anvertraut,
das mehr geliebt wird als alle unsere uns zu kleinen Herren ma-
chenden Einzelerkenntnisse,
— wo wir im Alltag unseren Tod einüben und da so zu leben
versuchen, wie wir im Tode zu sterben wünschen, ruhig und ge-
lassen,
— wo .... (man könnte, wie gesagt, noch lange weiterfahren)
— da ist Gott und seine befreiende Gnade. Da erfahren wir,
was wir Christen den Heiligen Geist Gottes nennen; da ist eine
Erfahrung gemacht, die im Leben — auch wenn sie verdrängt
wird — unausweichlich ist, die unserer Freiheit mit der Frage an-
geboten wird, ob wir sie annehmen wollen oder ob wir uns in
242
einer Hölle der Freiheit, zu der wir uns selber verdammen, gegen
sie verbarrikadieren wollen. Da ist die Mystik des Alltags, das
Gottfinden in allen Dingen; da ist die nüchterne Trunkenheit des
Geistes, von der die Kirchenväter und die alte Liturgie sprechen,
die wir nicht ablehnen oder verachten dürfen, weil sie nüchtern
ist.
Suchen wir selbst nach solcher Erfahrung unseres Lebens, su-
chen wir die eigenen Erfahrungen, in denen gerade uns so etwas
geschieht. Wenn wir solche finden, haben wir die Erfahrung des
Geistes gemacht, die wir meinen. Die Erfahrung der Ewigkeit,
die Erfahrung, daß der Geist mehr ist als ein Stück dieser zeit-
lichen Welt, die Erfahrung, daß der Sinn des Menschen nicht im
Sinn und Glück dieser Welt aufgeht, die Erfahrung des Wagnisses
und des abspringenden Vertrauens, das eigentlich keine ausweis-
bare, dem Erfolg dieser Welt entnommene Begründung mehr hat.
Von da aus können wir verstehen, was für eine geheime Lei-
denschaft in den eigentlichen Menschen des Geistes und in den
Heiligen lebt. Sie wollen diese Erfahrung machen. Sie wollen
sich immer wieder in einer geheimen Angst, in der Welt stecken-
zubleiben, versichern, daß sie anfangen, im Geist zu leben. Sie
haben den Geschmack des Geistes bekommen. Während die ge-
wöhnlichen Menschen solche Erfahrungen nur als unangenehme,
wenn auch nicht ganz vermeidbare Unterbrechungen des eigent-
lichen normalen Lebens betrachten, in dem Geist nur die Würze
und Garnierung eines anderen Lebens ist, nicht aber das Eigent-
liche, haben die Menschen des Geistes und die Heiligen den Ge-
schmack des reinen Geistes erhalten. Geist wird von ihnen ge-
wissermaßen rein getrunken, nicht nur als Gewürz des irdischen
Daseins genossen. Daher. ihr merkwürdiges Leben, ihre Armut,
ihr Verlangen nach Demut, ihre Sehnsucht nach dem Tod, ihre
Leidensbereitschaft, ihre geheime Sehnsucht nach dem Marty-
rium. Nicht als ob sie nicht auch schwach wären. Nicht als ob sie
nicht auch immer wieder zurückkehren müßten in die Gewöhn-
lichkeit des Alltags. Nicht als ob sie nicht wüßten, daß die Gnade
auch den Alltag und das vernünftige Handeln segnen kann und zu
einem Schritt auf Gott hin zu machen vermag. Nicht als ob sie
nicht wüßten, daß wir hier keine Engel sind und auch nicht sein
243
sollen. Aber sie wissen, daß der Mensch als Geist, und zwar in der
realen Existenz, nicht bloß in der Spekulation, wirklich auf der
Grenze zwischen Gott und Welt, Zeit und Ewigkeit leben soll,
und sie suchen sich immer wieder zu vergewissern, daß sie das
auch wirklich tun, daß der Geist in ihnen nicht nur das Mittel der
menschlichen Art des Lebens ist.
Und nun: wenn wir diese Erfahrung des Geistes machen, dann
haben wir (wir als Christen mindestens, die im Glauben leben)
auch schon faktisch die Erfahrung des Übernatürlichen gemacht:
Sehr anonym und unausdrücklich vielleicht. Wahrscheinlich so-
gar so, daß wir uns dabei nicht umwenden können, nicht umwen-
den dürfen, um das Übernatürliche selber anzublicken. Aber wir
wissen, wenn wir in dieser Erfahrung des Geistes uns loslassen,
wenn das Greifbare und Angebbare, das Genießbare versinkt,
wenn alles nach tödlichem Schweigen tönt, wenn alles den Ge-
schmack des Todes und des Untergangs erhält, oder wenn alles
wie in einer unnennbaren, gleichsam weißen, farblosen und un-
greifbaren Seligkeit verschwindet, dann ist in uns faktisch nicht
nur der Geist, sondern der Heilige Geist am Werk. Dann ist die
Stunde seiner Gnade. Dann ist die scheinbar unheimliche Boden-
losigkeit unserer Existenz, die wir erfahren, die Bodenlosigkeit
Gottes, der sich uns mitteilt, das Anheben des Kommens seiner
Unendlichkeit, die keine Straßen mehr hat, die wie ein Nichts
gekostet wird, weil sie die Unendlichkeit ist. Wenn wir losgelassen
haben und uns nicht mehr selbst gehören, wenn wir uns selbst
verleugnet haben und nicht mehr über uns verfügen, wenn alles
und wir selbst wie in eine unendliche Ferne von uns weggerückt
ist, dann fangen wir an, in der Welt Gottes selbst, des Gottes der
Gnade und des ewigen Lebens zu leben.
Das mag uns am Anfang noch ungewohnt vorkommen, und
wir werden immer wieder versucht sein, wie erschreckt in das
Vertraute und Nahe zurückzufliehen, ja wir werden es sogar oft
tun müssen und tun dürfen. Aber wir sollten uns doch allmählich
an den Geschmack des reinen Weines des Geistes, der vom Hei-
ligen Geist erfüllt ist, zu gewöhnen suchen. Wenigstens so weit,
daß wir den Kelch nicht zurückstoßen, wenn seine Führung und
Vorsehung ihn uns reicht.
244
Man könnte an dieser Stelle die Frage erheben, ob wir nicht
bisher eine Mystik des Alltags gepriesen hätten, die gar nicht
eigentlich christlich, auf Jesus Christus, den Gekreuzigten und
Auferstandenen, bezogen sei, sondern in allen Religionen, ja sogar
außerhalb jeder ausdrücklichen religiösen und theologischen In-
terpretation gegeben sein könne. Das ist zwar eine Frage, die hier
nicht mehr adäquat beantwortet werden kann, für deren Beant-
wortung aber doch noch einige wenige Hinweise gegeben werden
sollen.
Zunächst einmal: Wenn und soweit die hier angerufene Erfah-
rung des Geistes in einer Mystik des Alltags auch außerhalb eines
verbalisierten und institutionalisierten Christentums gegeben ist
und da vom Christen in seinem Leben im Umgang mit seinen
nichtchristlichen Brüdern und Schwestern oder in seinem reli-
gionsgeschichtlichen Studium entdeckt wird, dann braucht eine
solche Beobachtung den Christen nicht zu erschrecken. Sie macht
ihm nur deutlich, daß sein Gott, der Gott Jesu Christi, das Heil
aller Menschen will, allen seine Gnade als Befreiung in das unbe-
greifliche Geheimnis hinein anbietet, daß die Gnade Christi über
die Grenzen des verbalisierten und institutionalisierten Christen-
tums hinaus in geheimnisvoller Weise hinauswirkt und an dem
österlichen Geheimnis Jesu auch dort noch Anteil gibt, wo ein
Mensch, der seinem Gewissen treu ist, noch nicht von der explizi-
ten Botschaft des Christentums in überzeugender Weise erreicht
und durch die christlichen Sakramente geprägt ist. h
Eine solche Beobachtung ist dem Christen nicht nur nicht ver-
wehrt, wenn und wo er sie machen kann; er muß sie sogar er-
warten, weil sein Glaube ihm gebietet, an den universalen Heils-
willen Gottes zu glauben, der nur an der persönlichen tödlichen
Schuld eines Menschen eine Grenze findet, ja sogar die Gnade
Christi jedem Menschen im ganzen Leben immer aufs neue an-
bietet. Die Gnade Gottes, die durch die Geschichte des einen Ge-
kreuzigten und Auferstandenen in der Geschichte der Mensch-
heit siegreich und irreversibel geworden ist, ist darum auch dort
noch Gnade Jesu Christi, wo sie als solche noch nicht ausdrück-
lich und reflex erfaßt und interpretiert wird. Das darf ein Christ
nicht nur meinen; es gehört zu seinem Glauben, der den allge-
245
meinen und übernatürlichen Heilswillen Gottes für alle Men-
schen bekennt und es ihm verbietet, der Meinung zu sein, dieser
Heilswille Gottes in Jesus Christus komme allein dort zur Bewir-
kung-des Heiles eines Menschen, wo dieser schon ausdrücklich
Christ geworden ist.
Wenn wir weiter bedenken, was wir von der durch die Gnade
Gottes radikalisierten Transzendenzerfahrung des Menschen in
das unsagbare Geheimnis Gottes hinein gesagt haben, dann wird
verständlich, daß diese etwas mit dem Tood Jesu zu tun hat, gleich--
gültig, ob dies ausdrücklich reflektiert wird oder nicht.
Die wirkliche und in Freiheit angenommene Transzendenz-
erfahrung im Heiligen Geist ist ja ursprünglich und letztlich nicht
eine Sache der theoretischen Vernunft, sondern eine des ganzen
Menschen in der konkreten Geschichte seines Lebens und seiner
Freiheit. Sie geschieht also letztlich dort, wo ein Haltmachen bei
einer Einzelwirklichkeit des Lebens als letzter und absolut gesetz-
ter unmöglich wird, wo eine letzte autonome Selbstverteidigung
in freier und befreiter, und nicht noch einmal durch anderes ver-
sicherter Hoffnung aufgegeben wird, kurz, wo gestorben wird in
die Unbegreiflichkeit Gottes hinein.
Für den Christen, der seine geschichtliche Existenz nicht aus
seinem Verhältnis zum absoluten Gott aussparen kann und will,
ist der Augenblick seiner mystischen Gottvereinigung und damit
der Höhepunkt seiner Geisterfahrung letztlich nicht in einem
sublimen mystischen Versenkungserlebnis als solchem gegeben,
sondern in seinem Tod, auch wenn dieses Ereignis nicht notwen-
digerweise gerade im Moment seines medizinischen Exitus ein-
treten muß und (umgekehrt) das eigentlich existentielle Sterben
unter Umständen (aber nicht notwendigerweise gerade so) als das
letzte Sichselberlassen, das der eigentliche Tod ist, zwar auch in
einem mystischen Versenkungserlebnis geschehen mag — voraus-
gesetzt nur, man meine nicht, man habe ein solches sicher und
endgültig, bevor man im gewöhnlichen Sinne des Wortes gestor-
ben ist.
Man sieht, Geisterfahrung und Teilnahme am siegreichen Tod
Jesu, an welchem das wirkliche Glücken unseres Todes allein, und
zwar in einer Glaubensgemeinschaft erfahren wird, sind also
246
identisch. Der Kelch des Heiligen Geistes ist identisch in diesem
Leben mit dem Kelch Christi. Ihn aber trinkt nur der, der lang-
sam ein wenig gelernt hat, in der Leere die Fülle, in dem Unter-
gang den Aufgang, im Tod das Leben, im Verzicht das Finden
herauszukosten. Wer es lernt, macht die Erfahrung des Geistes,
des reinen Geistes, und in dieser Erfahrung die Erfahrung des
Heiligen Geistes der Gnade. Denn zu dieser Befreiung des Geistes
kommt es im Ganzen und auf die Dauer nur durch die Gnade
Christi im Glauben. Wo ER diesen Geist befreit, befreit er ihn
aber durch die übernatürliche Gnade in das Leben Gottes selbst
hinein.
III
247
ähnliche spirituellen « Übungen » sind dadurch nicht abgewertet.
Sie können Einübungen dafür sein, daß letzte Geisterfahrungen,
wo immer im Leben sie sich ereignen, in radikaler Freiheit vor-
gelassen und angenommen werden; solche Übungen können
auch, aber nicht allein, der Ort sein, an dem solche Geisterfah-
rung deutlicher und reflexer gemacht werden und so von der
letzten Grundfreiheit des Menschen ergriffen werden, daß sie
eine Entscheidung werden, die das Ganze der Existenz umfaßt
und ins Heil setzt.
Aber das Christentum ist nicht elitär. Das Neue Testament
weiß zwar auch von sublimen Erfahrungen des Geistes in den
verschiedensten Weisen, die wir unter dem Wort «Mystik» zu-
sammenfassen können; aber es erkennt auch allen Menschen, die
den Nächsten selbstlos lieben und darin Gott erfahren, jenes letzte
Heil im Gerichte Gottes zu, das auch von dem höchsten Aufstieg
und der tiefsten Versenkung des Mystikers nicht überboten wird.
Das Neue Testament ist also — auch wenn es darüber nicht aus-
drücklich reflektiert - der Überzeugung, daß dieses unüberbiet-
bare Heil in dem sich selbst mitteilenden Heiligen Geist Gottes
sich auch dort ereignen kann, wo scheinbar nichts geschieht als
die letzte bittere Pflicht des Alltags und ein gelassenes Sterben.
Daß eine solche letzte Geisteserfahrung gegen allen elitären
Hochmut von « Pneumatikern » auch mitten im Alltag geschehen
kann, und wie dies als möglich gedacht werden kann, das zu zei-
gen war ja eine Absicht dieser ganzen Überlegungen.
Freilich: Wo echte Heilssorge gegeben ist, wo Gott geliebt
wird, wo der Mensch immer deutlicher erfährt, daß er auf dem
Weg der Freiheit zu sich selbst (und darin zu Gott) nie endgültig
haltmachen darf, wo er sich der erschreckenden und seligen Über-
forderung der Bergpredigt stellt, da wird er sich auch nie wei-
gern, wenigstens jene ausdrücklichen meditativen und spirituellen
Wege zu beschreiten, die sich ihm in der letztlich unverfügbaren
Geschichte seines Lebens eben doch auftun.
Wenn wir die Briefe des Apostels Paulus lesen, stoßen wir auf
seine Lehre von den Charismen. Diese sind nicht einfach iden-
tisch mit einem Geistbesitz und einer Geisterfahrung des durch
Glaube gerechtfertigten Menschen; sie haben aber einen inneren
248
Zusammenhang mit diesem letzten Geistbesitz und seiner Erfah-
rung. Sie werden von Paulus gesehen als vielfältige, immer wie-
der anders auf die Einzelnen verteilte, nie alle zumal einem Ein-
zelnen gegebene Fähigkeiten und Aufträge zur Auferbauung
einer christlichen Gemeinde. Sie können — wie etwa Heilungs-
kräfte oder Zungenreden - ein außergewöhnliches, fast spektaku-
läres Gepräge haben; sie können aber auch durchaus sich wie fast
profane, alltägliche Befähigungen - bis zu einer guten Kassenver-
waltung einer Gemeinde — geben. Für uns hier darf die Bedeut-
samkeit dieser Charismen für den Aufbau der Gemeinde im
Augenblick vernachlässigt werden. Wir können ruhig sagen: alle
Fähigkeiten und Möglichkeiten christlichen Tuns, so dieses nur
vom Heiligen Geist Gottes letztlich ermächtigt, getragen und be-
seelt ist, sind Charismen, Geistesgaben.
Wenn wir dabei nicht vergessen, daß die vielfältigen und ver-
schieden verteilten Charismen dennoch von dem einen und in
allen Gerechtfertigten selben Geistbesitz verschieden sind, dann
läßt sich der Zusammenhang und die Verschiedenheit von Geist-
besitz und Charismen vielleicht so noch etwas verdeutlichen:
Charismen sind zunächst einmal, ganz nüchtern gesehen, Einzel-
aufträge, Einzelbefähigungen und Einzelangebote, die die All-
täglichkeit eines Menschen und seines vielfältigen Lebens an ihn
herantragen. Solcher Möglichkeiten sind immer mehr als das,
was ein einzelner Mensch in der Begrenztheit seiner Kraft und
Zeit wirklich realiseren kann. Er muß auswählen, unterscheiden.
Wenn er diese Auswahl richtig, d. h. im Geist und aus ihm her-
aus, trifft, dann kann er das Ausgewählte wirklich als « Charisma »,
als «Wille Gottes» werten.
Wie geschieht solche Auswahl richtig? Über die Regeln solcher
Unterscheidung der Geister, solchen Findens des Willens Gottes
in der Konkretheit des Lebens haben die Meister des geistlichen
Lebens viel nachgedacht und experimentiert, zumal sie der Über-
zeugung waren, daß das Finden des konkret hier und jetzt Rich-
tigen nicht nur eine Sache rationaler Überlegung und theoreti-
scher Moraltheologie sei. Wir können hier nicht diese Lehre der
Meister des geistlichen Lebens wiederholen. Aber vom Ganzen des
bisher Gesagten her kann vielleicht ganz kurz doch etwas sehr
249
Grundlegendes dazu gesagt werden, das noch einmal die letzte
Geisterfahrung und diese immer neu vom Leben verlangten,
letztlich «charismatischen » Einzelentscheidungen miteinander
verbindet: Wo solche Wahl eines Einzelgegenstandes durch die
Freiheit im Alltag nicht bloß (das ist selbstverständliche Voraus-
setzung) rational und nach den Prinzipien einer christlichen Mo-
ral berechtigt ist, sondern auch (was nicht selbstverständlich ist)
eine letzte Offenheit auf die eigentliche Geisterfahrung in unbe-
grenzter Freiheit nicht verstellt und nicht verdunkelt, wo ein
Christ eine letzte, nicht willkürlich herstellbare, rational nicht
auflösbare, aber faktisch gegebene Synthese von ursprünglicher
Geisterfahrung und dem Willen zu einem bestimmten Einzel-
objekt seiner Alltagsfreiheit als gegeben erfährt, da hat er den
Willen Gottes gefunden, da handelt er nicht nur vernünftig und
sittlich, sondern auch charismatisch. Natürlich bedarf es vieler
Übung und geistlicher Erfahrung, um deutlicher zu erkennen,
wann ein Wille zu einem vom Alltag angebotenen Einzelobjekt
diese letzte Geisterfahrung in die scheinbar leere Freiheit Gottes
hinein und über alle Einzelwirklichkeiten hinweg nicht verstellt,
sondern gerade als Material und Ausgangspunkt dieser Geisterfah-
rung anbietet zu einer gelungenen Snythese zwischen Geisterfah-
rung und Pflicht des Alltags. Aber die Erfahrung solcher Syn-
these, in der ein Mensch alles läßt, um das unbegrenzte Geheim-
nis Gottes vorzulassen, und die mutige Entscheidung zu einer kon-
kreten Wirklichkeit des Lebens und der «Welt» trifft, ist mög-
lich und macht erst das Ganze des christlichen Lebens aus. In
einem solchen Leben läßt der Mensch mit dem sterbenden Jesus
alles, um in die ausweglose und weiselose Freiheit Gottes zu ge-
langen, und nimmt das ihm zugedachte Einzelne dieser Welt im
Alltag liebend an, um es in diesen Geist Gottes hinein mitzu-
nehmen.
Suchen wir selbst in der Betrachtung unseres Lebens die Er-
fahrung des Geistes und der Gnade! Nicht um zu sagen: da ist sie;
ich habe sie. Man kann sie nicht finden, um sie triumphierend
als sein Eigentum und Besitztum zu reklamieren. Man kann sie
nur suchen, indem man sich vergißt; man kann sie nur finden,
indem man Gott sucht und sich in selbstvergessener Liebe ihm
250
hingibt, ohne noch zu sich selbst zurückzukehren. Aber man soll
sich ab und zu fragen, ob es so etwas wie diese tötende und leben-
digmachende Erfahrung in einem lebt, um zu ermessen, wie
weit der Weg noch ist, und wie weit wir noch von der Erfahrung
des Heiligen Geistes in unserem sogenannten geistlichen Leben
entfernt leben.
Grandis nobis restat via. Venite et gustate, quam suavis sit Do-
minus! — Ein weiter Weg liegt noch vor uns. Kommt und ver-
kostet, wie liebreich der Herr ist!
25
GLAUBE ALS MUT
Das Thema «Glaube als Mut» ist mir von anderer Seite vorge-
schlagen worden. So ungewohnt und überraschend der Vorschlag,
darüber etwas zu sagen, beim ersten Hören klingen mag, habe ich
ihn doch gerne angenommen. Er gibt mir Gelegenheit darzule-
gen, daß der christliche Glaube (von ihm reden wir) entgegen
landläufiger Eindrücke im Grunde doch eine sehr einfache (und
nur darum schwierige) Sache ist, weil er die Konkretheit von et-
was ist, was wir «Mut» nennen können. Dies unter der Voraus-
setzung, daß solcher «Mut» in seiner ganzen Radikalität im Be-
zug auf das Ganze der menschlichen Existenz begriffen wird.
Ohne mir die Kompetenz eines Sprachphilosophen zuzuschrei-
ben, meine ich doch, daß man vielleicht zwei Gruppen substan-
tivischer Wörter unterscheiden kann. Die Wörter der einen
Gruppe haben einen ganz fest umrissenen Sinn, der von den exak-
ten Wissenschaften immer genauer bestimmt werden kann, einen
Sinn, der von anderen Wörtern eindeutig abgrenzt. Wasserstoff,
Maikäfer, Haus und so fort mögen als Beispiele solcher Wörter
dienen. Sie bestimmen abgrenzend eine ganz bestimmte einzelne
Wirklichkeit in der Vielfalt unserer empirischen Welterfahrung.
Es gibt aber eine zweite Gruppe von Wörtern, die ganz anders
sind, ohne daß man ihnen mit dem Postulat, klar und exakt zu
sprechen, Sinn und Notwendigkeit absprechen darf. Es sind Worte,
die zwar einen bestimmten Ausgangspunkt innerhalb der mensch-
lichen Existenz haben, jedoch nicht begrenzen und abschließen,
sondern, so man die Radikalität ihres Sinnes vorläßt, aufschließen
hin auf das Ganze der menschlichen Existent und Wirklichkeit
überhaupt. Es sind Worte spezifisch menschlicher Art, die immer
den Menschen als ganzen ins Spiel bringen. Den Menschen, der
als Geist und Freiheit immer schon über das Einzelne und Ab-
grenzbare bestimmter Wirklichkeiten innerhalb seiner empiri-
schen Erfahrung hinausgreift und so letztlich immer sich in jenem
geheimnisvollen Dunkel verliert, das das Ganze der menschlichen
Existenz durchwaltet und umfaßt.
Der rationalistische Positivist mag sagen, solche Wörter seien
unwissenschaftlich und dürften in der Wissenschaft und der nüch-
252
ternen Philosophie, die nicht dichtet, nicht vorkommen; man
müsse über das schweigen, was man nicht klar, d. h. in seinem
Sinn nicht eindeutig festlegbar, sagen könne. Aber kann man ein
Mensch sein und menschlich existieren, wenn man Wörter wie
Freiheit, Liebe, Treue, Freude, Verantwortung, Angst usw. ver-
meiden wollte? Das kann man nicht. Solche Wörter aber verlieren
sich in das Ganze der menschlichen Existenz hinein, obzwar von
einem bestimmten Ausgangspunkt aus, und können darum nicht
in der Weise festgelegt werden wie Einzelwirklichkeiten, die
einen ganz bestimmten Platz innerhalb der menschlichen Exi-
stenz und ihrer Umwelt haben. Denn diese ganze Existenz des
Menschen als eine und ganze ist dem Menschen immer aufgege-
ben; er kann sie darum nicht als «unbegreifbar », als « nicht klar
aussagbar» einfach entmutigt oder verärgert auf sich beruhen
lassen. Dort, wo er fragt und weiß, daß «er» es tut, wo er in Frei-
heit verantwortlich entscheidet und diese Verantwortung nicht
noch einmal auf anderes abwälzen kann, dort hat er nämlich im-
mer mit diesem Ganzen seiner Existenz zu tun, gleichgültig, ob
er sich dessen reflex bewußt ist oder es « vergißt» oder verdrängt
in der Beschäftigung mit einem bestimmten einzelnen Gegen-
stand, der klar ist oder « wissenschaftlich » klargemacht werden
kann.
Der Mensch kann sich zwar, sehr beschäftigt, immer neu durch
die Vielfalt der einzelnen Dinge seines Lebens und durch die dar-
auf bezogenen Einzelerkenntnisse und Einzelstimmungen hin-
durchtreiben lassen, sich selbst vergessen über dem, was er in
tausend Einzelheiten tut und hat, er kann sich so auf das Feld der
Sprache der ersten Wortgruppe nach Kräften zu beschränken
suchen. Aber er wird auch so sich selber nie wirklich los. Das
Ganze, Eine seiner Existenz, das er verdrängen und vergessen will
im Betrieb seines Alltags, wird immer wieder aus seinem dunklen
Grund hervortreten und ihm und seiner Freiheit die eine und
letzte Frage stellen, wie er sich zu diesem Einen verhält, was er
damit und nicht bloß mit den tausend Einzelheiten seines Lebens
anfangen will. Kein Mensch kann darum in seinem konkreten
Leben von Freiheit und Verantwortung nur mit den Wörtern der
ersten Gruppe leben, die die der sogenannten exakten Wissen-
258
schaften sind. Wenn er nochmals fragt, was Wissenschaft, Wahr-
heit usw. selber sind, gerät er noch einmal unweigerlich in den
Bereich dieser geheimnisvollen zweiten Gruppe von Wörtern, die
auch dann unvermeidlich sind, wenn er ihnen den Charakter von
wissenschaftlicher Klarheit und Eindeutigkeit abspricht.
Zu solchen unvermeidlichen und auf das geheimnisvolle Ganze
der menschlichen Existenz aufschließenden Wörtern gehört auch
das Wort Mut. Über es soll etwas nachgedacht werden. Es soll ge-
zeigt werden, daß dieser Mut, wenn er in seiner existentiellen
Notwendigkeit und Radikalität begriffen wird, schon das ist, was
in einer christlichen Theologie Glaube genannt wird.
Zuvor noch eine kleine Vorbemerkung; damit die genannte
Absicht unserer Überlegungen nicht von vornherein mißverstan-
den wird: Die Wörter dieser zweiten Gruppe, so sagten wir schon,
gehen bei ihrem Verweis auf das Ganze der menschlichen Exi-
stenz aus. Wer von Freiheit spricht, denkt zunächst an etwas an-
deres, als wenn er Verantwortung sagt. Freude und Angst, Ver-
zweiflung und Hoffnung und so fort visieren das Ganze des Men-
schen von verschiedenen Ansätzen an, bezeichnen verschiedene
Weisen, wie die Grundfreiheit des Menschen sich dem einen
Ganzen der Existenz stellt. Aber weil jedes dieser Worte doch im-
mer den einen Menschen in seiner Einheit und der Grenzenlosig-
keit seines Fragens und Handelns meint, gehen solche Worte im-
mer ineinander über, ziehen den Sinn der anderen Worte in sich
(in Bejahung oder Verneinung) hinein; dadurch sind sie weder
einfach synonym noch einfach klar voneinander abgegrenzt.
Durch dieses merkwürdige, hier eben gerade noch andeutbare
Verhältnis solcher Wörter untereinander ist auch die Möglichkeit
von verschiedenen, in der Geistes- und Glaubensgeschichte der
Menschheit sich in etwa ablösenden «Schlüsselbegriffen » gege-
ben. Solche Schlüsselbegriffe wollen jeweils in das geheimnisvolle
Ganze der menschlichen Existenz hinein aufschließen, ‚tun es
aber von je einem verschiedenen Ansatzpunkt aus, sind verschie-
den und gehen doch, wenn sie radikal verstanden werden, inein-
ander über. Sie können darum, ohne jeweils ihre letzte Aufgabe,
das Ganze der menschlichen Existenz aufzurufen, im Lauf der Gei-
stesgeschichte entweder nebeneinander existieren odersich ablösen.
254
Dem Christen sind mindestens drei solcher Schlüsselbegriffe
bekannt: Glaube, Hoffnung, Liebe. Sie sind alle drei im Neuen
Testament gegeben, aber in dessen einzelnen Schriften jeweils
verschieden betont, so daß ein solcher Schlüsselbegriff auch das
Verständnis für einen anderen aufschließen kann. Man hat zwar
in der katholischen Theologie (besonders in Trient) diese drei Be-
griffe menschlich-christlichen Grundvollzugs der Existenz mög-
lichst deutlich voneinander zu unterscheiden und als hintereinan-
der liegende Phasen des einen und in diesen Phasen wachsend zu
sich selbst kommenden Grundvollzugs zu begreifen versucht.
Dieses Bestreben darf als durchaus legitim gelten. Aber letztlich
zeigt sich doch immer wieder, daß alle drei Worte, jedes auch
schon für sich allein, den einen ganzen Grundvollzug christlicher
Existenz anvisieren. Jedes dieser drei Worte kommt nur zu seinem
radikalen und vollen Sinn, wenn es sich in die beiden anderen
Worte «aufhebt».
Es gibt im Neuen Testament natürlich noch andere solcher
Schlüsselbegriffe, die alle in unsere zweite-Gruppe von Wörtern
gehören: Freiheit, Logos, Licht, Wahrheit, Geist- und Gnaden-
besitz, Versöhnung, Friede, Gerechtigkeit usw. Alle diese Be-
griffe, die an sich alle solche Schlüsselbegriffe sind oder sein kön-
nen, haben im Lauf der christlichen Geistesgeschichte ein wech-
selvolles Geschick gehabt, weil sie natürlich nicht in jeder Zeit-
epoche aus deren Eigentümlichkeit heraus immer die gleiche
Effizienz für solchen Aufschluß in das Ganze der menschlichen
Existenz gehabt haben. So kommt es, daß in dieser christlichen
Geistesgeschichte bis zur Neuzeit Worte, die eher der Dimension
der Erkenntnis des Menschen oder seiner individuellen Heils-
sorge entsprangen, wie Logos, Wahrheit, unmittelbare Schau
Gottes, Liebe, Rechtfertigung, solche Funktion nur für den Men-
schen dieser jeweiligen Epoche hatten.
Heute im Zeitalter der kreativen Freiheit, der Offenheit auf
Zukunft, werden aber Worte wie allgemeine Gerechtigkeit,
Emanzipation und Hoffnung solche Schlüsselbegriffe effizienter
Art sein können. Solche neuen Schlüsselbegriffe schaffen die alten
nicht einfach ab, sondern öffnen, richtig und radikal verstanden,
auch selbst wieder auf die alten. Wer z. B. wirklich und radikal
255
hofft, der glaubt und liebt auch, weil Hoffnung immer auch ein
Moment von Glaubenserkenntnis konstitutiv in sich selber hat
und nur zur eigenen Vollendung kommt, wo liebend für den An-
deren oder der Andre gehofft wird.
Was Mut ist, ist schwer zu sagen. Nicht weil man es nicht weiß,
sondern weil er als eigentümlicher Existenzvollzug des ganzen
Menschen letztlich nicht als partikuläres Vorkommnis neben vie-
len anderen eingrenzend bestimmt werden kann im Sinn der er-
sten Gruppe der Wörter, von der wir gesprochen haben; weil er
auf das Ganze der menschlichen Existenz bezogen ist, weil er die
Unmöglichkeit einer adäquaten Reflexion und Definition dieser
Existenz teilt; weil der Mut, den wir hier eigentlich meinen, nicht
Mut zu diesem oder jenem, was man tun kann, sondern Mut zu
sich selbst in der einen Ganzheit der menschlichen Wirklichkeit ist.
256
| J
258
tat getan werden soll: die letzte und endgültige Selbstbestim-
mung in einer Vollendung der unbegrenzten Möglichkeiten, die
dem Menschen als Geist und Freiheit vorgegeben sind, das letzte
Selbstverständnis, das ein Mensch nicht bloß passiv entgegen-
nimmt, sondern in Freiheit selbst schaffend sich gibt. Er erfährt
diese Distanz, weil er sich gleichzeitig als das Wesen unbegrenzter
Ansprüche, als den Menschen erfährt, der bei einem begrenzten
Ziel nie endgültig haltmachen kann, und als den Ohnmächtigen,
den Menschen des Todes, den immer Fragmentarischen, das un-
glückliche Bewußtsein. Diese Distanz wird nur überbrückt durch
die absolute Hoffnung, durch den Vorgriff auf eine Erfüllung, die
nicht mehr die eigene Leistung ist, durch eine Hoffnung einer
absoluten Zukunft als möglich und real angeboten, die wir Gott
nennen, und ursprünglich und eigentlich nur ın dieser Hoffnung
wissen.
Der freie Entschluß zu solcher Hoffnung bedeutet aber nun
auch denjenigen Mut, um den es hier geht. In diesem Mut wird
das Ganze der menschlichen Existenz als glückend erhofft; der
Grund dieser Hoffnung ist keine empirische Einzelheit, die man
durchschauen und deren man habhaft werden könnte; diese Hoff-
nung baut auf den unbegreiflichen Gott, und zwar als den freien.
Der Mensch muß sich also einer anderen Freiheit anvertrauen
und diese als nicht gefährdend, sondern als rettend sich geben
lassen. Diese Hoffnung hat nicht eigentlich etwas außer sich, das
außer ihr Boden und Sicherheit gäbe, weilja der Grund der Hoff-
nung, Gott genannt, nur in ihr selbst erfahren wird. Solche Hoff-
nung aber ist darum der Mut schlechthin,
259
Voraussetzungen geboten ein solcher Akt auch sein mag, er ist
nicht einfachhin das, was wir mit solcher mutigen Hoffnung mei-
nen. Denn zunächst ist es für das reflektierende Bewußtsein des
Menschen gar nicht sicher, ob ein solcher ausdrücklicher religiö-
ser Einzelakt aus jener letzten Mitte des handelnden Subjekts
kommt, von der her das Ganze der menschlichen Existenz wirk-
lich gewagt und dem letzten Geheimnis, Gott genannt, als rettend
und versöhnend übergeben wird. Nicht jeder noch so deutliche
und gut gemeinte religiöse Akt verfügt schon wirklich über die
ganze Existenz auf Endgültigkeit hin. Auch wenn jemand ehrlich
sagt: «Gott, auf dich hoffe ich, dich liebe ich », ist noch lange nicht
sicher, daß sich wirklich ereignet, was da gedacht und gesagt
wird, daß die ganze Existenz des Menschen in freier Entschei-
dung aus ihrer innersten Mitte heraus sich auf Gott hin bewegt.
Noch wichtiger aber ist folgendes: Solcher hoffender Mut kann
sich sehr unthematisch und unreflex in den verschiedensten freien
Taten des Lebens vollziehen, ohne daß sein Wesen verbal und
explizit religiös thematisiert wird. Wenn jemand eine letzte Treue
zu seinem Gewissen durchhält, auch wenn sie nicht belohnt
wird; wenn es jemandem gelingt, Liebe so selbstlos zu verwirk-
lichen, daß es sich in Wahrheit nicht mehr um einen bloßen Aus-
gleich oder ein Bündnis von Egoismen handelt; wenn jemand ge-
lassen und ohne letzten Protest in der Nacht des Todes sich selbst
sich nehmen läßt; wenn das eine Leben eines Menschen trotz
aller bösen Erfahrungen und Enttäuschungen ohne Aufhebens
für das Licht und das Gute votiert; wenn jemand — vielleicht
in scheinbar totaler Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung — den-
noch hofft, daß er hofft (weil ja auch die Hoffnung selbst nicht
noch einmal als fixe Tatsache sicher festgestellt werden kann, von
der aus man dann sicher weiter kalkulieren könnte, sondern Hoff-
nung gehofft werden muß) usw.: da wird schon jene mutige Hoff-
nung vollzogen, auch wenn sie nicht ausdrücklich und religiös
thematisiert wird. Da identifiziert sich schon die Freiheit des
Menschen mit jener Hoffnung, die die Grundstruktur mensch-
licher Existenz ist und sich der Freiheit des Menschen dauernd
durch alle Einzelereignisse des Lebens hindurch anbietet. Da ist
in solcher Hoffnung unthematisch schon erfahren und gewußt,
260
was eigentlich mit «Gott» gemeint ist, auch wenn diese Vokabel
im alltäglich gebrauchten Wortschatz eines solchen Menschen
nicht vorkommen sollte.
Das Mutige und Letzte solcher freien Hoffnung in Mut ist ge-
wissermaßen anonym über das Ganze der menschlichen Freiheits-
geschichte ausgebreitet. Damit sind natürlich solche ausdrück-
lichen und religiös verbalisierten Vollzüge der mutigen Hoffnung
nicht für überflüssig oder wertlos erklärt. Im Gegenteil, sie kön-
nen ein volles Zu-sich-selber-kommen dieser meist anonymen
Hoffnung sein. Sie sind Einübung dieser letzten Grundhoffnung
in Freiheit in der Mitte der Existenz. Sie bewahren den Menschen
tunlichst vor der Gefahr, daß er in entscheidenden Augenblicken
seiner Geschichte von Finsternis und drohender Verzweiflung
sich der letzten Tat der Hoffnung versagt.
261
totaler Mut schon Antwort des Glaubens auf den sich personal
offenbarenden Gott sein könne.
Aber es kann durchaus gesagt und dem nur scheinbar naiven
Laien recht gegeben werden, daß solche Hoffnung schon Offen-
barungsglaube sei, wenn auch nur in einer rudimentären Gestalt,
die sich noch zu ihrem vollen Wesen entfalten muß. Warum? Zu-
nächst ist zu bedenken, daß Freiheit immer auch Annahme des-
sen ist, was unreflektiert in einer Freiheitsentscheidung steckt.
Freiheit ist immer Annahme eines « Risikos», wagt immer mehr,
als was ausdrücklich und reflektiert durch sie angezielt wird. Das
gilt vor allem für den Akt mutiger Hoffnung, um den es hier geht.
Hier wird ja die eine ganze, nie adäquat reflektierbare Existenz
des Menschen in die Unbegreiflichkeit und Freiheit Gottes hin-
ein gewagt. Es wird das Äußerste, alles, eben Gott selber, gehofft
in einem Überstieg über alle partikulären Einzelwirklichkeiten
und Einzelgüter, die dem Menschen auf dem Weg seiner Ge-
schichte begegnen. Daß so nicht bloß vieles und immer neues Ein-
zelnes gehofft werden kann; daß Gott in sich selber gehofft wird;
daß die Bewegung des Geistes und der Freiheit über jedes Ein-
zelne, das nacheinander ergriffen werden kann, sich nicht letzt-
lich ins Leere verläuft oder bei einer, wenn auch noch so bedeu-
tenden, einzelnen Wirklichkeit als einziger wirklich möglichen
Erfüllung, bei einem «kreatürlichen » Gut schließlich doch halt-
machen muß, sondern bei Gott selbst ankommen wird, der ur-
sprünglichen Fülle und dem schöpferischen Grund aller einzel-
nen Wirklichkeiten; daß Gott selbst die absolute Zukunft unserer
Hoffnung ist: das ist nun nicht einfach unsere eigene, selbstver-
ständliche Möglichkeit, sondern Geschenk, das uns auch versagt
werden könnte, ist schon Gnade. Gott selbst ist die innerste Dyna-
mik dieser unbegrenzten Bewegung der Hoffnung auf ihn selbst
hin.
Indem aber Gott so in Gnade sich selbst zur Dynamik und zum
Ziel unserer Hoffnung macht, geschieht schon Offenbarung.
Gnade, an Geist als solchen gegeben, die gnadenhaft gegebene
Möglichkeit der Hoffnung, die auf Gott selbst als ihr Ziel vor-
greift, ist schon Offenbarung. Sie braucht nicht als solche reflex
erfaßt und von der sonstigen Erfahrung des geistlichen Freiheits-
262
subjekts reflex unterschieden zu werden oder vom Einzelnen allein
je für sich ausdrücklich als unterscheidbar erfaßt zu werden. Das.
ändert aber nichts daran, daß es sich um eigentlich personale gött-
liche Offenbarung handelt. Sie erfolgt hier zwar nicht unmittel-
bar in der Mitteilung bestimmter Sätze, sondern setzt im inner-
sten Kern der freien Geistperson an, sprengt diese in ihrer Dyna-
mik auf die Unmittelbarkeit Gottes auf und gibt ihr so den Mut,
alles, d.h. Gott selbst, zu erhoffen. Wo diese innerste geistige.
Dynamik des Menschen in Freiheit angenommen wird, wo sie
nicht in einer falschen Bescheidenheit, die eine letzte geheime
Lebensangst bedeuten würde, auf ein partikuläres Gut als letztem
Lebensziel hin abgebremst wird, ist darum schon das gegeben,
was wir theologisch Glaube nennen.
Und noch einmal: Diese Annahme der unbegrenzten und un-
bedingten’ Hoffnung in Freiheit muß ursprünglich nicht als ein
einzelnes, explizit religiöses Einzelvorkommnis gedacht werden.
Überall, wo der Mensch in einer letzten Unbedingtheit dem
Spruch des Gewissens treu ist, wo er in letzter Entscheidung trotz
aller Enttäuschungen und Untergänge seiner irdischen Erfah-
rung eine letzte Hoffnung unbedingter Art nicht verwirft, da
überläßt er sich der unbegrenzten, nicht mehr durchkalkulierten
Bewegung seines Geistes in Hoffnung. Da geschieht Offenbarung
und Glaube. Da ist, christlich gesprochen, Heiliger Geist, gleich-
gültig, ob man sich das noch einmal ausdrücklich verbalisiert sa-
gen kann oder nicht. Diese mutig hoffende Annahme der-eigenen _
Existenz, die sich in die rettende Unbegreiflichkeit Gottes und
seiner Freiheit losläßt, kann sich mitten im nüchternen Alltag des
Durchschnittsmenschen ereignen, weil auch dieser alltägliche
Durchschnittsmensch solche letzten Entscheidungen nicht ver-
meiden kann, auch wenn sie meistens noch so unauffällig gesche-
hen. Darum ist solcher Glaube in mutiger unbedingter Hoffnung
durchaus etwas, was sich auch dort ereignen kann, wo Religion
nicht oder kaum thematisiert vorkommt. Solcher Glaube kann
sich auch dort ereignen, wo'ein Mensch, aus welchen Gründen
immer, sich scheut, das Unbegreifliche und Namenlose seiner
Existenz mit Namen zu nennen. Mutige Hoffnung, die eigent-
licher Glaube ist, ist überall abverlangt und findet sich auch bei
265
t
Nun müssen wir aber doch auch noch diesen Mut der Hoffnung,
die Glaube ist, von einer ganz anderen Seite her betrachten. Wir
müssen den Mut zum ausdrücklich christlichen Glauben, zur aus-
drücklich christlichen Hoffnung bedenken. Man könnte ja den
Eindruck haben, daß der christliche Glaube bei seiner fast unüber-
sehbar großen Menge von Lehrsätzen, Dogmen usw. in allen
christlichen Konfessionen — trotz aller konfessioneller Meinungs-
verschiedenheiten — etwas ganz Anderes sei als der Glaube in
Hoffnung, von dem wir bisher gesprochen haben. Man könnte
denken, daß der Mut, der für die hoffende Annahme der ganzen
einen Existenz in die Unbegreiflichkeit Gottes hinein gefordert
ist, etwas ganz Anderes, Einfacheres und Selbstverständlicheres
sei als der Mut, mit dem komplizierten Lehrgebäude des Christen-
tums mit seiner detaillierten Theologie glaubend fertig zu werden.
Natürlich ist der eine und der andere Mut nicht einfach
schlechthin dasselbe. Es kann nicht nur nach dem Ausweis der
nüchternen Alltagsempirie, sondern auch nach der Überzeugung
des Christentums selbst durchaus so sein, daß ein Mensch jenen
innersten Glauben in mutiger Hoffnung für das Ganze seines Da-
seins auf Gott hin hat, ihn frei in der nüchternen Alltäglichkeit
seiner Pflicht und Liebe vollzieht, und doch ohne Schuld den Mut
nicht leisten kann, der vom Christen für den Glauben gegenüber
dem Ganzen seiner christlichen Glaubenslehre grundsätzlich ge-
fordert ist. Es ist durchaus möglich, daß ein Mensch in dem un-
überschaubaren Durcheinander religiöser und weltanschaulicher
Meinungen, das seine Lebenssituation ist, angesichts der gedank-
lichen Schwierigkeiten, die das Verständnis des subtil formulier-
ten und fast ins Unübersehbare artikulierten christlichen Glau-
bens mit sich bringt, diesen ohne wirkliche Schuld aufgibt und
sich dieser christlichen Lehre gegenüber indifferent und skeptisch
verhält, wie es ja heute bei Gebildeten und Ungebildeten in größ-
tem Maß der Fall ist. Aber grundsätzlich muß doch gesagt wer-
264
l
den, daß eigentlich der Mut zum christlichen Glauben nichts An-
deres ist als die Konkretheit der mutigen Hoffnung, von der wir
bisher gesprochen haben. So handelt es sich letztlich um denselben
Mut, und die gewiß unterscheidbaren zwei Gestalten des Mutes
unterscheiden sich nur ungefähr so wie ein Samenkorn und die
entfaltete Blume.
Um dies zu sehen, müssen wir uns zunächst fragen: Was lehrt
das Christentum eigentlich in seiner Botschaft, wenn diese wirk-
lich in ihrer innersten Mitte begriffen wird? Wir können die Ant-
wort in zwei Teilen geben.
Erstens sagt das Christentum genau das ausdrücklich, was wir
bisher als den « Inhalt» des mutig hoffenden Glaubens angegeben
haben, über den wir hier nachgedacht haben, so gut es eben
ging. Es sagt also, daß wir hoffen dürfen, daß alle Vergeblichkeit,
Finsternis und Tod nicht das letzte Wort haben, daß wir absolut
und unbegrenzt hoffen dürfen, daß wir Gott selbst hoffen und ihn
in der Unbegrenztheit und Unbedingtheit dieser Hoffnung er-
fahren. Es sagt, daß wir den Mut haben dürfen und müssen,
selbst dann noch zu hoffen, wenn wir gegen diese Hoffnung ein
verzweifeltes Nein gesagt haben in dem, was wir christlich Schuld
und Sünde nennen. Es sagt, daß wir uns in dieser Hoffnung ver-
geben lassen dürfen, gerade wenn von uns aus unsere Schuld
hoffnungslos und unübersteigbar ist. Dieser Mut, der, von Gott
selbst getragen, immer wieder die Banalität unseres Alltags und
die müde Skepsis unseres Geistes durchbricht, mag schwer sein
und die letzte Kraft unseres Herzens erfordern, die schon nicht
mehr die eigene ist. Aber in dieser Hinsicht ist der Mut zur Hoff-
nung in unserer Existenz und der Mut des christlichen Glaubens
letztlich doch derselbe. Es mag zwar auch wahr sein, daß die reli-
giöse Ausdrücklichkeit dieses hoffenden Mutes im Christentum,
verglichen mit dem anonymen Glauben in der Profanität außer-
halb des Christentums, nicht nur — was gewiß wahr ist — den
anonymen Lebensmut absoluter Art, der Glaube ist, anstachelt
und fördert, sondern ihm auch in etwa eine neue Schwierigkeit
bereitet, so wie eine reflexe Handlungstheorie auch sonst dem un-
befangenen Vollzug einer solchen Handlung aus einem unreflek-
tierten Instinkt heraus Schwierigkeiten machen kann.
265
Zweitens: Zu dieser gleichlautenden Aussage, bezüglich derer
die eine und die andere Art des Glaubensmutes eigentlich doch
gleich sind und sich nur so unterscheiden wie unthematischer und
reflektierter Daseinsvollzug, kommt nun im Christentum noch
eine zweite fundamentale Aussage: die über Jesus Christus. Aber
was wird in dieser Aussage über Jesus den Gekreuzigten und Auf-
erstandenen eigentlich gesagt? Eigentlich doch nur, daß hier in
diesem Menschen mit seinem Todesschicksal die absolute Hoff-
nung, die seine war und unsere ist, wirklich geglückt ist, ans Ziel
gekommen ist, daß die Vollendung der Hoffnung, die auch unsere
ist, auch für uns greifbar und geschichtlich geworden ist in dem,
was wir als Jesu Auferstehung glaubend ergreifen, daß uns die
Vollendung unserer Hoffnung, die die Mitte unserer Existenz ist,
von Gott her in Jesus auch geschichtlich unwiderruflich zugesagt
ist. Es ist nun hier nicht der Ort, deutlich zu machen, daß mit
dem, was wir eben von Jesus sagten, auch schon die klassische
orthodoxe Christologie aller christlichen Kirchen im Ansatz ent-
halten ist. Das müßte natürlich ausführlicher gezeigt werden,
was hier nicht mehr möglich ist.
Aber gehen wir von dieser hier einfach vorausgesetzten These
aus, die gewiß das dogmatische Gewissen des nicht-fachtheologi-
schen Normalchristen erleichtert, dann ist die Glaubenssituation
des Christen von heute, sein Mut des Glaubens doch verhältnis-
mäßig einfach: Er ergreift Jesus, den Gekreuzigten und Aufer-
standenen, also den, der im Sturz in die radikale Ohnmacht des
Todes geraten ist und als gerettet im Glauben seiner Jünger und
der ganzen Christenheit erfahren wird; er ergreift ihn also genau
als das geschichtliche Ereignetsein dessen, was er für sich selbst in
dem Mut hoffend ergreift, von dem wir im ersten Teil unserer
Überlegungen als dem letzten Vollzug unserer Existenz gespro-
chen haben.
Letzter Daseinsmut und explizit christlicher Glaube an Jesus,
den Gekreuzigten und Auferstandenen, sind also nicht zwei Be-
reiche des einen christlichen Glaubens, die äußerlich additiv zu-
sammentreten. Der christliche Glaube ergreift vielmehr als in
Jesus erfüllt und geglückt und darin auch uns von Gott her zu-
gesagt, was der Christ, ja jeder Mensch, für sich selber hofft, wenn
266
/
268
DAS CHRISTLICHE STERBEN
I. Prolixitas mortis
1. Einleitende Vorbemerkungen
269
Aussage immer auch vorausblickt auf die allgemeine und auf
die individuelle Eschatologie. Aber es bleibt dabei: das eigentliche
Thema ist hier das christliche Sterben. Und insofern können und
müssen hier auch Einzelthemen besprochen werden, die sonst
üblicherweise in einer Dogmatik über den Tod nicht behandelt
werden.
2. Aus den verschiedensten Gründen der Sache selbst und auch
traditioneller Gewohnheiten wird das Thema: Sterben und Tod in
einer christlichen Dogmatik nie ganz und umfassend an einer
Stelle allein abgehandelt, obwohl dies an sich nicht unmöglich
wäre, wenn es sinnvoll ist, eine christliche Glaubenslehre als heils-
geschichtliche «Anthropologie» im umfassenden Sinn dieses
Wortes zu konzipieren und so vielleicht doch die ganze Thematik
des Sterbens und des Todes an einer Stelle zu konzentrieren. Wie
dem auch sei, in dieser Dogmatik finden sich wichtige Aussagen
über das Sterben und den T'ood in anderen Stücken dieser Dogma-
tik, die hier vorausgesetzt werden müssen und nicht eigentlich in
ihrer ganzen Breite und Tiefe nochmals wiederholt werden kön-
nen. Es sei vor allem auf den Traktat über den Menschen als Sün-
der verwiesen, und auf den Traktat über das Kreuz, das Sterben,
den Tod, den Abstieg Christi in die Unterwelt. Vor allem in die-
sen beiden Traktaten ist auch Entscheidendes über das Sterben
und den Tod gesagt, weil beides nur christlich begriffen ist, wenn
es sowohl als die Erscheinung der Sünde der Welt und des Sündig-
seins auch des Christen und als Mitsterben mit dem erlösenden
Tod Christi verstanden und vollzogen wird. Damit ist gegeben,
daß einerseits nicht alles, was in diesen beiden Traktaten gesagt
wird, hier ganz ausgelassen werden kann, anderseits dies aber nur
in einer gewissen formalen Abstraktheit wiederholt werden darf
und muß, die auf ihre inhaltliche Fülle in den genannten Trak-
taten zurückverweist. Umgekehrt aber wird manches beim Thema
Sterben und Tod behandelt werden müssen, was durchaus auch
in anderen Stücken einer Dogmatik seinen Platz finden könnte.
\ Denn es gibt ja im Grunde kein Moment einer christlichen An-
thropologie, das nicht, um wirklich christlich verstanden zu wer-
den, mit der Lehre vom Tod in einem christlichen Verständnis
konfrontiert werden müßte, gleichgültig, ob dies in einer tradi-
270
tionellen Theologie geschieht oder übersehen wird. Das Ausge-
richtetsein der ganzen menschlichen Existenz auf den Tod gehört
als mitbestimmendes Moment im Grunde genommen in jeden
Traktat über eine Dimension der menschlichen Existenz, in eine
Theologie des Geistes und der Erkenntnis, eine Theologie der
Freiheit, eine Theologie des menschlichen Mitseins und der Liebe,
in eine christliche Beschreibung der Grundvollzüge des mensch-
lichen Daseins (Angst, Hoffnung, Freude, Verzweiflung, Ver-
trauen usw.) usf. hinein, weil dieses «Sein zum Tode» alles im
menschlichen Leben mitbestimmt und ihm seine Fragwürdig-
keit, seine Offenheit in das Geheimnis und seinen letzten Ernst
mitteilt. Dieses — gewissermaßen transzendentale -— Vorkommen
des Todes im Ganzen des menschlichen Lebens, die ganze An-
thropologie als Theologie des Todes kann natürlich hier nur sehr
ansatzweise und in einer in etwa willkürlichen Auswahl vorge-
tragen werden. Sonst müßte hier noch einmal die gesamte Dog-
matik wiederholt werden.
271
nimmt oder gegen ihn protestiert. Diese prolixitas mortis (wie
Gregor der Große sagt) ist zu bedenken. Diesbezüglich ist hier
auch schon sofort vor einem Mißverständnis zu warnen: Man
sollte dem Tod als einem am Ende des biologischen Lebens und
nur da eintretenden Ereignis nicht (über das später darüber zu
Sagende hinaus) Eigentümlichkeiten zuschreiben, die man grund-
sätzlich anderen Zeitmomenten im Leben eines Menschen ab-
spricht. Im Augenblick des Todes (unmittelbar davor oder darin
oder «danach»?) kann alles Mögliche «passieren», das wir für
denkbar halten können, ahnen mögen, für das wir Berufung ein-
legen können auf Berichte, die uns gegeben werden durch solche,
die schon einmal mehr oder weniger in einer Agonie lagen und
doch wieder davongekommen sind. Aber grundsätzlich dem Mo-
ment des medizinischen Exitus eine theologische Bedeutung zu-
schreiben, die keinem Augenblick des sonstigen Lebens zukom-
men kann, behaupten, daß im Augenblick des medizinischen Exi-
tus die eigentliche und umfassende Freiheitstat des Menschen in
der totalen Verfügung über seine Existenz für oder gegen Gott
geschehe, da und nur hier, weil dieser Exitus dafür die allein zu-
reichende Situation und Möglichkeit bietet, das ist eine Behaup-
tung, die von der empirischen Psychologie und Biologie her nicht
wahrscheinlich ist,! nur durch mythologisch anmutende Hilfs-
vorstellungen unterbaut werden kann, und die theologisch weder
1 Die medizinische und psychologische Exploration von Sterbenden und solchen,
die nach einem « Herztod » nochmals « gerettet» worden sind, mag interessante Tat-
sachen ergeben. Diese Tatsachen mögen uns hoffen lassen, daß in sehr vielen Fällen
eines langsamen Sterbens eine Phase eintritt, in der dem Menschen von seiner
Physis her die personale Ergebung in sein Todesschicksal leicht gemacht wird und
somit auch in Fällen des medizinischen Exitus der Grundakt der menschlichen Frei-
heitsgeschichte möglich ist. Aber das ändert nichts daran, daß es nach einem wirk-
lichen Tod keine Rückkehr in das Diesseits mehr gibt (aus dem Wesen des wirklichen
Todes als des endgültigen Endes der Freiheitsgeschichte heraus), und daß alle Be-
richte iiber das Sterben Berichte über Erfahrungen vor dem Tod sind und keine
Garantie dafür gegeben ist, daß, was manchmal dabei geschieht, immer geschieht.
— Die Frage, ob es durch « Totenerweckung» einzelne gegeben habe, die wirklich
tot und doch in dieses irdische Leben zurückgekehrt sind (Lazarus usw.), kann hier
nicht behandelt werden. Es wären zu viele Vorfragen zu klären, als daß dies hier
möglich ist. In einem theologischen Sinn des Todes als der Endgültigkeit der per-
sonalen Lebensentscheidung sind solche Wiedererweckte sicher nicht gestorben.
Aber was solches Nichtgestorbensein konkret bedeutet, das ist hier nicht zu beant-
worten, auch nicht unter der Voraussetzung, daß solche Erzählungen von Wieder-
erweckung in der Schrift und im Leben von Heiligen historische Gültigkeit bean-
spruchen.
‚272
wahrscheinlich noch notwendig ist. Wenn und insoweit die totale
Verfügung der Freiheit über die eigene Existenz vor Gott, für
oder gegen ihn, überhaupt zeitlich an einem bestimmten Punkt
oder an bestimmten Punkten an sich lokalisiert gedacht werden
muß, obwohl wir wohl nie oder (von dem Phänomen einer mysti-
schen « Befestigung in der Gnade » abgesehen, die traditionell in
der Theologie der Mystik als möglich angenommen wird, wenn
auch diesbezüglich erhebliche Bedenken anzumelden sind wegen
der doch noch fortlaufenden und bedrohten Freiheitsgeschichte
des Menschen) selten in unserer Reflexion mit Sicherheit einen
solchen Augenblick genau auf der zeitlichen Linie unserer Le-
bensgeschichte festlegen können, so braucht dieser Augenblick
doch auf jeden Fall nicht einfach mit dem Augenblick des medi-
zinischen Exitus zusammenzufallen, weil — wie gesagt — dies em-
pirisch für die Mehrzahl der Fälle höchst unwahrscheinlich und
theologisch in keiner Weise notwendig ist. Auch dann nicht, wenn
man (das ist wohl die versteckte Motivation dieser falschen Hypo-
these) heilsoptimistisch für möglichst viele oder alle Menschen
denken mag, daß sie entgegen dem empirischen Anschein ihres
sündigen Lebens gerettet werden. Denn einerseits ist in einzelnen
Fällen ein mehr oder weniger genau zeitliches Zusammenfallen
der letzten Grundentscheidung für Gott und des medizinischen
Exitus durch die Ablehnung der generellen These als falsch nicht
ausgeschlossen, und anderseits lassen sich genügend andere Wei-
sen expliziter oder unthematischer Art denken, in denen eine
solche Grundentscheidung innerhalb des Lebens selber fällt. Die
Voraussetzung für das Verständnis einer solchen Möglichkeit,
durch seine Freiheit sich total für oder gegen Gott zu entscheiden,
ohne daß dies mysteriös gerade im Augenblick des Exitus gesche-
hen müsse (wie z. B. L. Boros es sich zu denken scheint), ist darin
gelegen, daß man die Prolixitas mortis im Leben selber, als das
bleibende und unausweichliche, wenn auch unthematische Kon-
frontiertsein der Freiheit mit dem Tod in ihrer ganzen Geschichte
versteht und ernst nimmt.
278
3. Erfahrungen des kommenden Todes
274
Hoffnung des Glaubens mögliche Theodizee bezüglich des Leides
in der Welt ein Moment an der Theodizee des Todes und umge-
kehrt. Dabei darf nicht die Illusion gehegt werden, alle diese ent-
täuschenden Erfahrungen würden sich durch Tapferkeit, Nüch-
ternheit usw. so umprägen und umwandeln lassen, daß die
«Reife» der Person sich so greifen und genießen ließe und da-
durch der Erfolg eines « heroischen » Fertigwerdens mit dem Tod
festgestellt werden könnte. Darum ist die Theodizee des Todes,
die nur in einer bedingungslosen Übergabe des Menschen an die
Unbegreiflichkeit des Willens Gottes in einer im Letzten nicht
mehr anders als durch sich selbst ausweisbaren Hoffnung voll-
zogen wird, hier an dieser Stelle nicht (noch einmal) zu leisten;
sie wäre ja nichts anderes als das Verstehen von Glaube, Hoffnung
und Liebe gegenüber der Unbegreiflichkeit Gottes im Angesicht
des Todes, vor dem allein der Sinn dieser christlichen Grundvoll-
züge radikal deutlich werden kann. Das gilt dann auch von der-
jenigen Prolixitas mortis, die im Leid jeder Art im individuellen
und gesellschaftlichen Leben besteht.
c) Dieses Andrängen des Todes wird am deutlichsten in der
wirklichen, d. h. bedrohlichen Krankheit erfahren. Denn sie ist
ja unmittelbar greifbar die Gefahr des biologischen Sterbens.
Dementsprechend wurde ja auch im Alten Testament der Tod
durch Krankheit im Unterschied zu einem sanften Erlöschen des
Lebens in gutem Alter als besonders hart und problematisch und
das Befreitwerden von Krankheit als besonderer Hulderweis Got-
tes empfunden. Auch abgesehen von allen Erkenntnissen einer
psychosomatischen Medizin von heute, ist die Krankheit darum
schon als ein gesamtmenschliches Phänomen und nicht nur als
eine Störung der biologischen Dimension des Menschen allein
gekennzeichnet, weil sie nach unserer sehr alltäglichen, wenn
auch nicht deutlich in jedem Einzelfall verifizierbaren, Erfahrung
auch die geistige und freie Subjektivität des Menschen bedroht
und herabsetzt, dem Menschen die Möglichkeit, auf sie zu reagie-
ren, vermindert oder entzieht, so daß diese Ohnmacht des Sub-
jekts selbst ein Moment der Krankheit in einem wirklich huma-
nen, und nicht nur biologischen Sinn ist. Dadurch aber und nicht
als bloß biologische Störung deutet und tendiert die Krankheit auf
275
jenen Endpunkt des Lebens hin, in dem der Mensch als ganzer
sich und seiner Souveränität entzogen wird und den wir den Tod
nennen. Die Erfahrung einer den Menschen als ganzen wenig-
stens ein Stück weit verohnmächtigenden Krankheit zeigt schon,
daß der menschliche Tod nicht einfach mit dem naturwissen-
schaftlich verstandenen medizinischen Exitus und dessen unmit-
telbaren Ursachen identifiziert werden darf. Die Krankheit er-
weist sich auch durch ihre einzelnen Eigentümlichkeiten als sol-
che Prolixitas mortis in einem ausgezeichneten Sinn: Die Un-
möglichkeit, sie völlig vorauszusehen und zu manipulieren, die
Hilflosigkeit, in die sie stürzt, das besondere, distanzierte Ver-
hältnis zur Gesellschaft, in das sie hineinzwingt, die Einsamkeit
und die Minderung von Kommunikationsmöglichkeiten, die Min-
derung der Fähigkeit, sich selbst aktiv zu steuern, die bleibende
Fragwürdigkeit ihrer Deutung hinsichtlich ihres «Sinnes» und
ihrer Ursachen im Gesamtgefüge eines menschlichen Lebens, die
Last, die durch sie der Umgebung des Kranken zugemutet wird,
das Ausscheiden aus einer Leistungsgesellschaft, die Erfahrung
der Nutzlosigkeit des Kranken für andere, die Unmöglichkeit, die
Krankheit sinnvoll in einen Lebensentwurf hineinzuintegrieren,
diese und viele andere Eigentümlichkeiten der Krankheit ma-
chen diese zum Vorboten des Todes.
4. Memento mori
276
Vollzüge der Freiheit, in denen ein Mensch gelassen die Endlich-
keit seiner Mit- und Umwelt und seiner selbst in Hoffnung auf das
Ungreifbare annimmt und so den Versuch aufgibt, irgendein un-
mittelbar in sich selbst Erfahrbares absolut zu setzen; solches ge-
schieht auch dort, wo der Mensch sich selber läßt hinsichtlich der
unbeantwortbaren Frage nach seiner letzten Identität und seinem
Verhältnis zu Gott als Sünder und (hoffentlich) Gerechtfertigter
vor Gott. Auch dieses letzte «Lassen» ist ein Vorgriff auf jene
«Nacht, in der niemand mehr wirken kann». Aber neben diesen
grundlegenden, wenn auch unthematischen Vollzügen eines
« Memento mori» gibt es im christlichen und kirchlichen Leben
mit Recht auch ein ausdrückliches Andenken an den kommenden
Tod. Solche Formen des Bedenkens des Todes, der ausdrücklichen
Vorbereitung auf den Tod, des Ordnens des Lebens im Blick auf
den Tod usw. brauchen hier nicht im einzelnen beschrieben zu
werden. Sie haben trotz ihrer Abgeleitetheit ihre große Bedeu-
tung, weil vom Wesen des Menschen her die reflexe Thematisie-
rung und Einübung von Grundvollzügen, die, ob angenommen
oder abgelehnt, auf jeden Fall unausweichlich im menschlichen
Leben gegeben sind, geade darum von großer Bedeutung ist, weil
sie rückwirkend die wahre und radikale Annnahme dieser Grund-
vollzüge durch die ursprüngliche Freiheit sicherer macht und der
Mensch grundsätzlich zu einer solchen Sicherung, natürlich nur
soweit eine solche möglich ist, verpflichtet ist.
Die Geschichte des christlichen Lebens kennt, wie auch die Ge-
schichte des Lebens der Menschheit überhaupt, offenbar sich wan-
delnde Stile des Sterbens. Das Ethos und die Sitte einer bestimm-
ten Gesellschaft geben meistens dem einzelnen Glied einer sol-
chen Gesellschaft einen bestimmten Stil des Sterbens als bevor-
zugt richtigen und würdigen vor, wenigstens für den «normalen »
Fall. Auch in der Christenheit gibt es solche « Sterbekomments »,
und sie sind nicht einfach immer die gleichen geblieben. Beson-
ders von hochgestellten Männern in der Kirche erwartete man
einen bestimmten Stil des Sterbens, in dem noch einmal ihre Stel-
277
lung, ihre Verantwortung für andere, ihr christlicher Glaube
exemplarisch zur Erscheinung kommen konnten. Im Unterschied
zu früher, als ein Christ im Kreis seiner Familie starb, Abschied
nahm, segnete, letzte Mahnungen gab, seinen orthodoxen Glau-
ben und seine christliche Hoffnung beteuerte usw., ist heute das
Sterben durch die Abdrängung der Kranken in die Personlosig-
keit der öffentlichen Krankenhäuser weithin stillos geworden.
Dies mag bedauerlich sein und braucht nicht einfachhin als un-
vermeidlich hingenommen zu werden; aber es ist auch ein Stück
der « Stillosigkeit », d.h. Gestaltlosigkeit, die man dem Tod und so
auch dem Sterben zukommen läßt, über das man letztlich nicht
verfügen kann. Die einzelnen christlich möglichen und sich in der
Geschichte in etwa auch ablösenden Sterbestile brauchen hier
nicht im einzelnen dargestellt zu werden. Ihr Wechsel und der
Wandel der konkreten Sterbesituationen, die diesen Stil jeweils
bestimmen, gehören auch zu jener radikalen Unverfügbarkeit, die
dem Tod eigen ist. Somit ist hier theologisch im Unterschied zu
einer (unter Umständen auch kirchlichen) Kulturgeschichte des
Sterbens nur noch zu bemerken, daß der Christ insofern zu einem
christlich-kirchlichen Sterbestil verpflichtet ist (dazu ist im dritten
Abschnitt dieses Kapitels Genaueres zu sagen), als er im « Normal-
fall», d.h. wenn die Möglichkeiten dazu konkret gegeben sind
und ohne außerordentliche Maßnahmen realisiert werden kön-
nen, zu einem ausdrücklich christlichen Sterben « verpflichtet »
ist. Das heißt konkret: er soll die «Sterbesakramente » empfan-
gen. Ein solches «Sollen», in dem sich auch eine unabdingbare
Bereitschaft zur Annahme des Todes konkret realisiert, ist nach
gemeinchristlichem Empfinden (vorsichtig gesagt) auch dann ge-
geben, wenn sich der Sterbende als im Frieden mit Gott lebend,
als gerechtfertigt beurteilen darf und so die « Sterbesakramente »
nicht die ihn verpflichtende Weise sakramentaler Versöhnung
mit Gott und der Kirche bedeuten. Die genauere Art dieser Ver-
pflichtung zu einem kirchlichen « Sterbestil» mag in einer Moral-
theologie untersucht werden.
6. Eintritt des Todes
Die Frage des Eintritts des Todes, d. h. die Kriterien, nach denen
beurteilt werden muß, ob ein Mensch schon gestorben ist oder
noch, wenn auch bewußtlos, lebt, ist an sich zunächst eine F rage
einer natürlichen, empirischen Anthropologie. Sie hat aber theo-
logische Konsequenzen für die kirchliche Praxis, z. B. für die Ent-
scheidung darüber, ob einem Christen noch die Krankensalbung
gespendet werden kann. Weil und insofern der Tod in einem
theologischen Sinne das Ende eines geschichtlich personalen Le-
bens in Freiheit ist, wird man heute sagen können, daß dort der
Tod eingetreten ist, wo die Gehirnfunktionen als Grundlage sol-
chen Lebens irreparabel aufgehört haben, gleichgültig, ob sonstige
«Organe» des Menschen noch « weiterleben ».
1. Kirchenamtliche Aussagen
279
Tod die geistigpersonale Geschichte des Menschen unmittelbar
in die endgültige Bleibendheit des Subjekts und seiner Geschichte
vor Gott übergeht, also die Idee einer Seelenwanderung, Re-
inkarnation usw. mit einem christlichen Verständnis des Men-
schen und seines Todes unvereinbar ist. Bei dieser Lückenhaftig-
keit der lehramtlichen Aussage über den Tod ist es unerheblich,
wie man diese etwas amorphen Aussagen anordnen will. Mit der
Darstellung dieser Lehre werden unmittelbar auch einige Be-
merkungen über Sinn und Grenzen dieser lehramtlichen Aus-
sagen verbunden.
b) Der Tod erscheint als Straffolge (poena) der Erbsünde (DS
146,222, 231, 372, 1511£, 15212617). Diese Lehre braucht hier
nicht ausführlicher dargestellt zu werden. Es kann auf den Trak-
tat über die Sünde verwiesen werden. Insofern die « Erbsünde »
im Vergleich zur personalen schweren Schuld nur analog « Sünde »
genannt werden und durchaus als geschichtliche und universale
Situiertheit der Freiheit des Menschen verstanden werden kann
und als ein Moment der «Sünde der Welt» anzusehen ist, wobei
freilich zu dieser Situation auch das durch Schuld bewirkte Fehlen
der Gnade zu rechnen ist, insofern dieses Fehlen vom Anfang der
Geschichte her wäre, wenn es nicht durch die Erlösung Christi
überholt wäre, ist auch der Tod nur in einem analogen Sinn
Strafe, und zwar eine solche, die eigentlich durch den Tod Christi
überholt und zu einem an sich erlösenden Geschehen umgeprägt
ist. Die Bedingtheit der hamartologischen Interpretation des Todes
(insofern er von «Adam» herkommt) wird in den kirchenlehr-
amtlichen Texten über den Tod als Straffolge der Sünde nicht
ausdrücklich hervorgehoben, darf ihnen aber unterstellt werden,
wenn die übrigen Aussagen der Schrift und der Tradition über
die positive Bedeutung des Todes Christi (und Marias) und über
den Tod als Mitsterben mit Christus (vgl. DS 72, 485, 5901) zur
Geltung gebracht werden. Auch diese «Strafe» ist nicht als eine
zusätzliche, gewissermaßen von außen verhängte Reaktion Gottes
auf die Sünde zu verstehen, sondern als eine aus dem inneren
Wesen der Schuld selbst erfließende Konsequenz. Der Strafcha-
rakter des Todes kann auch nicht in der verfügten Beendigung
der Freiheitsgeschichte des Menschen als solcher bestehen. Denn
280
es gehört zum Wesen einer kreatürlichen Freiheitsgeschichte, daß
sie in einer Einheit von Verfügtheit und Freiheit zu einer end-
gültigen Vollendung kommt, die man als solche auch « Tod»
nennen könnte und die dem Unterschied zwischen Schuld und
Unschuld vorausliegt. Welches genauere Moment zu diesem
« Tod» in der konkreten Geschichte des Menschen hinzutritt und
diesen «Tod» zum Tod im traditionellen Sinn der Erbsünden-
lehre als Straffolge der Sünde macht, ist später zu sagen. Dann
muß sich auch ergeben, wie der Charakter des Todes als einer
Straffolge der Sünde sich vereinbaren läßt mit der Lehre gegen
Baius usw. (DS 1955, 1978, 2617), daß der Tod eine «natürliche »
Eigentümlichkeit des Menschen ist.
c) Mit dem Tod tritt die Endgültigkeit der Grundentscheidung
des Menschen ein, die seine Geschichte durchwaltet und in der er.
gegenüber Gott, vermittelt durch Welt und Geschichte, über sich
selbst verfügt (DS 410, 859, 858, 926, 1002, 1506, 1488).2 Mit
dieser kirchenamtlichen Lehre, die unter noch zu gebenden Prä-
zisionen als Glaubenslehre verstanden werden muß, ist die Lehre
von einer Apokatastasis (mindestens und wohl auch nur als siche-
rer, theoretisierender Aussage im Unterschied zu einer Hoffnung,
die aber die souveräne und unbekannte Verfügung Gottes und
die Offenheit jeder uns bekannten? Freiheitsgeschichte respek-
tiert), die Lehre von der Seelenwanderung (Metempsychose, Rein-
karnation) als mit dem christlichen Menschenverständnis und
dem Ernst einer einmaligen Geschichte unvereinbar verworfen.
Man wird aber doch wohl vorsichtig nach beiden Seiten sagen
dürfen, daß diese Lehre von der mit dem Tod gegebenen Ein-
maligkeit und bleibenden Gültigkeit jeder personalen Geschichte
dann sicher gilt, wenn eine solche Freiheitsgeschichte wirklich
geschehen ist. Jeder Mensch und Christ wird sich sagen müssen,
daß er in seinem je eigenen Leben konkret mit einer solchen ab-
2 Vgl. auch ColLac VII, 567; Pius XII.: AAS 47 (1955) 64f.
3 Wir sehen dabei natürlich von dem Glaubensbekenntnis über Christi und
Marias ewiges Gerettetsein ab und von der Lehre der Theologen, daß die von der
Kirche feierlich kanonisierten Heiligen sicher die ewige Seligkeit erlangt haben. Es
ist aber zu bedenken, daß die frohe Botschaft von der Erlösung und dem siegreichen
Heilswillen Gottes gewiß nicht unbedingt erwarten läßt, daß die Möglichkeit des
Lebens und des Todesin genau gleicher Weise Inhalt der christlichen Botschaft sind.
281
I
282
d) Die kirchenlehramtliche Aussage über den Tod beinhaltet
auch seine Allgemeinheit (DS 1512), die sich so weit erstreckt wie
die Allgemeinheit der Erbsünde. Die alte Frage, ob Henoch und
Elia in Form eines Privilegs von diesem allgemeinen Gesetz aus-
genommen gewesen seien, ist wohl heute angesichts des literari-
schen Genus dieser alten Erzählungen gegenstandslos geworden.
Dasselbe gilt wohl für die Frage, ob nach Schrift und Tradition
diejenigen Menschen, die wir als am Ende der Gesamtgeschichte
existierend denken, sterben oder «lebend » in die Vollendung der
Geschichte eintreten. Auf jeden Fall erfahren sie den « Tod», in-
sofern er die von Gott verfügte Vollendung ihrer Freiheitsge-
schichte ist. Und darüber hinaus werden wir nichts sagen können
als eben dies, daß alle, ob sie leben oder tot sind, vor die richtend
vollendende Unmittelbarkeit Gottes gelangen. Insofern auch Pau-
lus (1Kor 15,51) unter der Hypothese seiner eschatologischen
Vorstellungswelt spricht, kann aus ihm keine thetische Entschei-
dung dieser Frage entnommen werden.
284
Seele und dementsprechend den Tod als Trennung von Leib und
Seele versteht (vgl. z.B. DS 991: animae separatae; DS 1000:
ante resumptionem suorum corporum usw.). Aber es ist von dem
ursprünglichen Ansatz der Schrift her verständlich, daß sie das
eine Schicksal des einen Menschen als Auferstehung der Toten
begreift, die nicht wie ein nachträglicher Zusatz als Schicksal des
Leibes zu einem Schicksal der Seele hinzugedacht wird; daß die
Lehre vom Gericht - letztlich unsystematisierbar — bald dieses
Gericht als Ereignis denkt, das beim Tod des Einzelnen eintritt,
bald als Geschehen für alle zugleich am Ende der Weltgeschichte.
Bedenkt man dies alles, ohne ein positivistisches Verständnis von
Offenbarung stillschweigend vorauszusetzen, dann muß man
wohl sagen, daß für die Theologie der Schrift der Tod eine innere
Wesensgrenze als Vollendung der Freiheit von innen her bedeutet
und nicht-bloß ein Ende der sittlichen Freiheitsgeschichte, das
willkürlich von Gott «anläßlich » des biologischen Todes gesetzt
wird. Denn sonst könnte ja die alte Scheol-Lehre für uns keine
positive Bedeutung haben, würde vielmehr die unlösbare Frage
bedeuten, warum sie dann nicht auch früher einfach irrig ge-
wesen sei. Die spätere Lehre im AT und vor allem im NT von
einem ewigen Leben positiver Art könnte nicht als Radikalisie-
rung des eigentlich in der Scheol-Lehre Gemeinten verstanden
werden, sondern wäre rein zusätzlich, wobei noch einmal dunkel
bliebe, warum eine solche zusätzliche Lehre sich nicht erst an der
Erfahrung der Auferstehung Jesu entwickelt, sondern auch vor-
her schon gegeben war. Wenn man hier sagen würde, sie ent-
wickle sich aus der Überzeugung von der unwiderruflichen Treue
Jahwes zum Bundesvolk und aus der Erfahrung, daß die sinnlosin
Untergänge führende Geschichte vor diesem Gott der Treue
einen Sinn haben müsse, dann wird nur mit anderen Worten das-
selbe gesagt, was hier bisher gemeint war: es gibt nur diese eine
irdische Geschichte, die mit dem Tod als ihrer inneren Grenze
beendet wird, und diese Geschichte hat eine unaufhebbare End-
gültigkeit und Bleibendheit vor Gott. Von hier aus sind dann erst
einzelne Texte, vor allem des NT, wirklich in ihrer fundamenta-
len Bedeutung zu würdigen. Das endgültige, unaufhebbare Fol-
gen habende Urteil des Weltenrichters bezieht sich auf die Taten
285
des Menschen, die er in seinem irdischen Leben vollbracht hat,
und auf sonst nichts: Mt 25,54ff usw. Die Zeit des Erdenlebens
ist der Tag, dem die Nacht des Todes folgt, da niemand mehr wir-
ken kann: Joh 9,4. Wir müssen «durch den Leib» wirken, «so-
lange wir Zeit haben», und dies ist allein der Maßstab des end-
gültigen Gerichtes: Gal 6,10; 2Kor 5,10; Offb 2,10. — Die von
der Schrift öfters betonte freie Souveränität Gottes, mit der er
über den Tod des Menschen verfügt, muß nicht bedeuten, daß
die Einschränkung der Verdienstmöglichkeit auf einer dem We-
sen des Todes äußerlichen und zusätzlichen Anordnung Gottes
beruhe, sondern ist dadurch schon gewahrt, daß der Tod des
Menschen als solcher selbst von seinem Wesen her ein passives,
nicht kalkulierbares und der vollen Verfügung des Menschen ent-
zogenes Moment in sich hat.
Wenn man von immer spärlich gebliebenen Vertretern einer
Apokatastasislehre von Origenes an absieht bzw. diese Lehre als
Ausdruck einer nicht theoretisierbaren, so aber erlaubten uni-
versalen Hoffnung interpretiert, dann kann man durchaus sagen,
daß das christliche Glaubensbewußtsein immer und eindeutig
davon überzeugt war, daß der Tod das Ende der menschlichen
Freiheitsgeschichte ist, in dem diese in eine bleibende Endgültig-
keit aufgehoben wird. Wie schon gesagt, blieb und bleibt in dieser
christlichen Tradition umstritten, ob vom Wesen des Todes als
eines biologischen, aber das Ganze des Menschen betreffenden
Geschehens her die Endgültigkeit der Geschichte eintritt oder
dieser Tod und das Ende der personalen Geschichte nur durch eine
zusätzliche Verfügung Gottes miteinander verknüpft sind. Ebenso
wurde schon gesagt, daß hier für die erste Möglichkeit der Alter-
native eingetreten wird, letztlich weil man anders sich gar nicht
denken kann, daß und wie diese Verknüpfung geoffenbart sein
könne. (Wollte jemand zu sagen versuchen, daß diese Verknüp-
fung trotz des Fehlens eines Wesenszusammenhangs zwischen
Tod und Ende der Geschichte Jesu mit seinem Tod als solchem ein-
getreten sei und darum diese Verknüpfung auch bei allen anderen
Menschen anzunehmen sei, dann muß daran erinnert werden,
daß die faktische Erfahrung der Auferstehung Jesu, so neu und
grundsätzlich sie verstanden werden muß, eben doch auch und
286
unlöslich verbunden ist mit der Überzeugung von einer künftigen
Auferstehung der Gerechten, einer Überzeugung, die schon vor
Jesus da war, sich legitim gebildet haben mußte und, wie oben
angedeutet wurde, doch wohl nur unter der Voraussetzung eines
Wesenszusammenhangs zwischen Tod und Ende der Geschichte
entstehen konnte, wenn auch die Schrift nicht noch einmal auf
die Gründe dieses Zusammenhangs ausdrücklich reflektiert.)
b) Das Verständnis des Todes als Aufhebung der Freiheitsge-
schichte in ihre Endgültigkeit hinein muß gleichzeitig und in
einem drei Sachverhalte zur Kenntnis nehmen: das innere Wesen
der Freiheit; die Einheit des Selbstvollzugs des leiblich-geschicht-
lichen und geistig-personalen Menschen; das genauere Wesen der
Vollendung, die der Freiheit ermöglicht und zugemutet ist. Min-
destens einmal durch das dritte Moment gehört die Lehre, um die
es hier geht, in den eigentlichen Bereich der Glaubensmysterien
und ist nicht bloß ein Stück einer philosophischen Anthropologie.
Wenn die hier zur Frage stehende Lehre aus diesen drei Momen-
ten hergeleitet wird, so ist damit nicht bestritten, daß ein klares
und sicheres Verständnis dieser drei Momente ebenso gut bedingt
gedacht werden kann durch die Überzeugung von dieser Lehre,
von einer Überzeugung, die unthematisch, aber fest im Leben
vollzogen wird. Freiheit ist in ihrem ursprünglichen Wesen nicht
das Vermögen, dieses oder jenes von kategorialer Art willkürlich
zu tun oder zu lassen, sondern ist die Grundverfassung des Sub-
jekts in seiner Transzendentalität, in der es über sich selbst ver-
fügt auf Endgültigkeit hin. Freiheit eröffnet somit Geschichte,
aber diese Geschichte ist gerade nicht die Möglichkeit eines immer
bleibenden Weitermachenkönnens ins Leere und damit ins
Gleichgültige, weil immer wieder Revidierbare, hinein, sondern
gerade die Möglichkeit, wirklich Endgültiges zu setzen. Die Un-
abwälzbarkeit der Verantwortung, die dem Subjekt in seiner Frei-
heit aufgebürdet ist, die das Subjekt erst zu einem solchen macht,
wäre nicht, wenn die Selbstverfügung des Subjekts jederzeit wie-
der revidiert werden könnte, so als je einzelne gleichgültig würde,
weil sie immer wieder revidiert und durch eine andere ersetzt
werden könnte; das Subjekt könnte sich von sich und seiner Frei-
heitsentscheidung immer entlasten in die Zukunft als leere Mög-
287
lichkeit hinein. Der Freiheit wäre ein unendliches Potential vor-
gegeben, das sie nicht bedeutsamer, sondern in jedem, was wirk-
lich durch sie wird, gleichgültig machen würde. Das ursprüng-
liche Wesen der Freiheit ist somit die Möglichkeit einer «einma-
ligen » Verfügung des Subjekts über sich selbst, die endgültig ist.
Diese Einmaligkeit der Selbstverfügung, die sich als endgültig
und unwiderruflich will, hat nun freilich im Menschen eine zeit-
liche Gedehntheit und Gestreutheit durch die Vielzahl der einzel-
nen Augenblicke hindurch, die das leibhaftig geschichtliche Le-
ben des Menschen ausmachen. Die Einmaligkeit der freien
Selbstverfügung liegt zwar nicht hinter dem raumzeitlichen Le-
ben des Menschen, so daß dieses nur die letztlich überflüssige
Projektion einer in sich unzeitlichen Grundentscheidung des Frei-
heitssubjekts auf das ablaufende Band einer Zeit wäre; diese Ein-
maligkeit geschieht in der Zeit selbst, sie wird aber durch die
Vielzahligkeit der einzelnen Zeitmomente auch nicht aufgehoben.
Gerade darum aber kann diese Einmaligkeit der einen und ganzen
Selbstverfügung des Freiheitssubjekts über sich selbst als ganzes
und eines nicht an dem raumzeitlich-geschichtlichen Leben vor-
beigehendes gedacht werden. Es ist sinnlos, diese leibhaftige Frei-
heitsgeschichte weiter fortgeführt zu denken über den Tod als
Ende der geschichtlichen Leibhaftigkeit des Menschen hinaus;
man würde sonst diese Selbstverfügung des Menschen schon von
vornherein und immer in ein Außerhalb von seiner raumzeit-
lichen Geschichte verlegen, damit aber diese Geschichte selbst
nur noch als den Schein verstehen, der sich um die wahre Freiheit
herum und sie verdeckend ausbreitet. Geht die Freiheitsgeschichte
nach dem Ennde der leibhaftigen Geschichte im Tod weiter, dann
war die eigentliche Geschichte nie als sie selbst wirklich in diesem
raumzeitlichen Leben anwesend. Der nüchterne Mensch und der
Christ kennt aber nur eine Geschichte, die zwar wahrhaftige
Freiheitsgeschichte vor Gott und somit von unumgreifbarer Tiefe
und Radikalität ist, aber da geschieht, wo wir in der Alltäglichkeit
unseres Lebens weilen und walten.
Wenn wir das dritte Moment, das oben schon erwähnt wurde,
in diesen Zusammenhang einbringen, dann bedeutet dies sowohl
eine Verschärfung wie eine Aufklärung der Problematik, die mit
288
der Überzeugung gegeben ist, daß der Mensch in einer raumzeit-
lich gestreuten irdischen Geschichte und nur in ihr allein die Ein-
maligkeit einer endgültigen Selbstverfügung vollbringt. Wenn in
dieser Selbstbestimmung über ein letztes und endgültiges Ver-
hältnis zu Gott verfügt wird, der sich in seiner eigensten Wirk-
lichkeit und in Unmittelbarkeit zum letzten Inhalt dieser Frei-
heitsgeschichte und so erst recht der Endgültigkeit dieser Ge-
schichte macht, dann bedeutet dies gewiß eine ungeheuerliche
und letztlich unbegreifliche Belastung der Problematik dieser
einmaligen Freiheitsgeschichte eines raumzeitlichen Freiheits-
subjekts. Wie kann ein solches Subjekt mit der kreatürlichen
Endlichkeit seiner Freiheit und in der Ärmlichkeit seiner raum-
zeitlichen Geschichte wirklich und endgültig und ein für alle-
mal für oder gegen diese Unendlichkeit seines eigentlichen
Lebens, die Gott selber an und für sich ist, entscheiden? Aber
wenn man dies für möglich hält und als Christ halten muß, dann
wird diese Möglichkeit auch eine Entlastung der Problematik,
um die es geht. Eine Präexistenz oder Seelenwanderung, die Er-
öffnung von Freiheitsmöglichkeiten, die vor oder nach oder hinter
dieser unserer leibhaftigen Geschichte liegen, würde auch abge-
sehen davon, daß sie für eine nüchterne Erfahrung nicht greifbar
ist, für die eigentliche Problematik, um die es hier geht, nichts
austragen. Wenn es um eine Freiheitsentscheidung geht, bei der
es sich radikal um die Unendlichkeit und bleibende Unbegreif-
lichkeit Gottes an sich selber handelt, dann ist diese ungeheuer-
liche und unbegreifliche Möglichkeit um gar nichts erleichtert,
wenn man sagen würde, der Mensch werde mit ihr fertig durch
ein paar weitere Möglichkeiten der Freiheit, die ihm hinter, vor
oder nach seinem irdischen Leben gegeben sind. Die Anziehungs-
kraft einer Seelenwanderungslehre kann nur dann entstehen,
wenn auf die kategorialen Einzelinhalte des sittlichen Lebens
allein geblickt wird; dann kann der Eindruck entstehen, der
Mensch müsse mehr und besseres Material haben, an dem er seine
sittlichen Entscheidungen vollzieht, als es ihm in einem kurzen -
und ärmlichen Leben gewährt ist. Blickt man aber auf das Wesen
der Freiheit als der einen Selbstverfügung vor der unbegreiflichen
Unendlichkeit Gottes in Unmittelbarkeit, dann ist eine immer
289
endlich bleibende Vermehrung des dazu vermittelnden geschicht-
lichen Materials keine Antwort auf die Grundfrage, die mit dem
Wesen der Freiheit als Selbstverfügung auf Gott hin gegeben ist.
Auch ein vermehrtes Material bleibt diesem Grund wesen der Frei-
heit gegenüber immer inkommensurabel. Wollte man .dieser Un-
begreiflichkeit einer Entscheidung für oder gegen Gott als sol-
cher, die durch ein endliches Material vermittelt wird, auswei-
chen, dann würde keine Idee einer Seelenwanderung oder eine
ähnliche Vorstellung nützen; es bliebe nur die Möglichkeit eines
niemals abgeschlossenen Vollzugs der Freiheit und die Leugnung
der christlichen Lehre, daß die Freiheit mit Gott an und für sich
wirklich zu tun haben könne. Eine solche Freiheit widerspräche
aber der christlichen Grunderfahrung, daß man — mindestens
durch die Gnade — mit Gott selbst zu tun hat, und würde letztlich
belanglos und verantwortungslos werden, weil sie nur immer wie-
der überholbare Beliebigkeiten setzen kann. Mit dem Gesagten
ist natürlich die oben schon einmal berührte Frage nicht ent-
schieden, ob es nicht menschliche Lebensphänomene gibt, die tat-
sächlich keine christlich verstandene Freiheitsgeschichte bedeuten
(Beschluß des Lebens in einer embryonalen Phase, biologisches
Leben, das nicht «zum Gebrauch der Vernunft» gelangt usw.),
und ob in einem solchen Fall die Erreichung einer ewigen Voll-
endung gedacht werden müsse oder könne.
c) Die mit dem biologischen Tod endende Freiheitsgeschichte
der Entscheidung des Subjekts über sich selbst in seinem Verhält-
nis zu Gott als ihn selbst mitteilende Gnade steht nun in einem
dialektischen Verhältnis zur Verfügtheit des Menschen, die im Tod
zur radikalen Erscheinung kommt. Erst in der im Tod voll radi-
kalisierten Dialektik zwischen Freiheit und Verfügtheit und zwar
so, daß die Konkretheit dieser Dialektik nochmals dem Menschen
radikal im Tod verhüllt ist, ist das eigentliche Wesen des «infra-
lapsarischen » Todes gegeben, das es ermöglicht, daß der Tod in
dieser verhüllten und von uns nicht auflösbaren Dialektik Er-
scheinung der Sünde und der Erlösung und Befreiung sein kann.
Die menschliche Freiheit hat einen unendlichen Horizont, wie er
in der Erkenntnis gegeben ist, zumal einerseits diese Freiheit in
der konkreten Heilsordnung es mit Gott selbst in Unmittelbar-
290
keit zu tun hat, und anderseits diese Freiheit nicht allein auf die
endlichen Wirklichkeiten allein bezogen ist, die sie in einem vul-
gären Sinn herstellen oder leisten kann, sondern mindestens im
Modus des freien Verzichtes oder der selbstlosen Anerkennung
sich auf alles beziehen kann. Diese unendliche Freiheit ist aber
in ihrem konkreten Vollzug dennoch endlich: sie hat bestimmte,
endliche, ihr vorgegebene Voraussetzungen und Bedingungen der
Möglichkeit, sie ist immer situiert. Wenn man aber die eigent-
liche Freiheit nicht hinter oder vor oder nach ihrer Begegnung
mit den konkreten Wirklichkeiten legt, die diese Freiheit zu sich
selbst vermitteln, dann muß gesagt werden, daß diese Freiheit,
obwohl sie sich auf den unendlichen Gott als solchen bezieht, die
endlichen kategorialen Inhaltlichkeiten, die sie zu sich selber ver-
mitteln, als vollzogene bei sich behält und so immer auch end-
liche und verfügte Freiheit bleibt. Nur so kann ja auch die Voll-
endung der Freiheit die bleibende Endgültigkeit der Geschichte
des Menschen sein. Darüber hinaus erfährt sich die Freiheit als
endliche und verfügte, weil sie sich selbst als gesetzte, als von
einer Unendlichkeit, die sie selber nicht ist, eröffnete erfährt, so
wie die Unbegrenztheit der Transzendentalität der Erkenntnis
des Menschen diesen nicht zum absoluten Subjekt macht, sondern
ihn seine gesetzte Eröffnetheit durch das absolute Sein und so sein
Geschaffensein erfahren läßt.
Diese Verfügtheit der endlichen Freiheit BR von sich selbst
her, wie auch durch das sie zu sich selbst vermittelnde’ Material
der Um- und Mitwelt wird nun im Sterben und Tod in radikaler,
nicht mehr verdrängbarer Weise erfahren, gleichgültig, an wel-
chem genaueren Ort diese radikale Erfahrung, die nicht notwendig
gerade im Augenblick des medizinischen Exitus geschehen muß,
eventuell im Leben lokalisiert werden muß. Wo immer sie auch
als Tat der ihre radikale Endlichkeit annehmenden Freiheit ge-
macht wird innerhalb der einen und einmaligen Freiheitstat des
Lebens, sie kommt im Sterben und 'T'od zu ihrer vollen Verwirk-
lichung und Erscheinung. Denn darin ist der Mensch sich selbst
genommen und verohnmächtigt. Indem ihm alles, über das er
verfügen kann, genommen wird und das Freiheitssubjekt sich
selbst entzogen wird, erscheint die Freiheit in letzter Weise als
291
gesetzte und verfügte. Insofern die Freiheit als sie selber sich in
ihrer Situiertheit als endliche erfährt, kann die radikale Verfügt-
heit des Menschen im Tod nicht als etwas verstanden werden, das
der einen und einmaligen Freiheitstat, durch die ein Mensch über
sich selbstin seine Endgültigkeit hinein verfügt, äußerlich ist;
diese Verfügtheit des Menschen im Tod ist vielmehr ein inneres
Moment an der im Tod zur Vollendung kommenden einen Frei-
heitstat, durch die ein Mensch über sich selbst vor Gott verfügt.
Tod ist in einem endgültige Selbstbestimmung und endgültige,
nicht mehr revidierbare Verfügtheit des Menschen,? und zwar
selbst dann noch, wenn man sich die aktiv-passive Endgültigwer-
dung des Menschen und seiner Freiheit vorstellungsmäßig da-
durch verständlicher machen wollte, daß man das Moment radi-
kaler Verohnmächtigung uhrzeitlich in den Augenblick des medi-
zinischen Exitus verlegt und die freie Selbstverfügung des Men-
schen über sich in einen anderen Augenblick innerhalb des Le-
bens gegeben sein ließe. Auch dann würde die Einheit der Frei-
heitsgeschichte, der das Moment der Verfügtheit innerlich ist,
diese beiden Momente zur Einheit eines spezifisch menschlichen
Todes zusammenhalten. Diese Einheit ist überdies vor allem auch
dadurch gegeben, daß der eigentlichste «Gegenstand» der Frei-
heit eben gerade die Annahme oder die Ablehnung dieser Ver-
fügtheit, also der endlichen Kreatürlichkeit ist, die gerade durch
den unendlichen Horizont der Freiheit zur Erfahrung kommt.
Dabei verdeckt natürlich diese passive Verfügtheit des Men-
schen das Wesen der Freiheit als Selbstverfügung. Im Tod sieht
es so aus, als ob der Mensch nicht mehr habe, woran die Selbst-
verfügung als an ihrer Vermittlung sich vollziehen kann, oder als
ob alle früheren Ergebnisse der freien Einzeltaten als Momente
an der einen und ganzen Selbstverfügung wieder zunichte ge-
macht würden. Und umgekehrt kann die Freiheitstat in der un-
begrenzten Weite ihrer Möglichkeiten immer den Schein einer
* Das ist auch nicht anders beim Suizid, dem nur der Schein einer größeren
Selbstverfügung eignet, als sie im normalen Tod gegeben ist. Auch dabei handelt
Freiheit aus Vorgegebenheiten, die man selbst nicht bestimmt hat, und in eine Ohn-
macht hinein. Im übrigen muß das T'hema des Suizids der Moraltheologie überlassen
werden, sosehr darin auch nochmals von einer Anthropologie im ganzen her reflek-
tiert werden müßte und man es sich oft dabei zu leicht und einfach macht
292
absoluten Autonomie ausbreiten und die Verfügtheit der Freiheit
verdecken, so daß schließlich der biologische Tod als etwas sich
präsentieren würde, das den eigentlichen Menschen und seine
Freiheit gar nicht tangiert. Weil aber der Schein nach beiden
Seiten hin gegeben ist und jeder Schein für sich allein trügt, weil
überdies der Mensch in seiner tödlichen Ohnmacht diesen Schein
nicht auflösen kann und nicht noch einmal das dialektische Ver-
hältnis von absoluter Ohnmacht und absoluter Tat von einem
höheren Standpunkt aus beurteilen und tätigen kann, zumal auch
die Freiheitstat an sich selbst wegen der Unmöglichkeit einer
adäquaten Reflexion in ihrer konkreten Wirklichkeit nicht sicher
für die reflexe Erkenntnis beurteilt werden kann, darum hat der
Tod den Charakter der Verhülltheit und der nicht auflösbaren
Frage. Keiner weiß konkret, wie es mit seinem Tod bestellt ist.
Er muß ihn sehen als das Ereignis des aktiven Endgültigwerdens
der einen Freiheitstat seines Lebens; er erfährt den selben Tod
als den Höhepunkt seiner Verohnmächtigung; er weiß, daß seine
Freiheit eben diese Verohnmächtigung bis zum Letzten hoffend
annehmen muß; er kann sich nicht noch einmal reflex und mit
Sicherheit sagen, wo und wie, im Leben oder Sterben, ihm, dem
Ohnmächtigen, die Möglichkeit solcher annehmenden Freiheits-
tat gegeben gewesen ist und ob er tatsächlich angenommen hat.
Insofern in diesem Tod das unbegreifliche Geheimnis Gottes
nahekommen soll, das sowohl die Unbegreiflichkeit seines We-
sens als auch die seiner Freiheit gegenüber dem Menschen um-
schließt, wird die Unbegreiflichkeit des Todes in seiner Verhüllt-
heit endgültig.
295
(mindestens in der durch die Taufe) nicht bloß die Erbschuld und
die persönlichen Sünden, sondern auch jeder Strafreat getilgt
werden, so geht die traditionelle Formulierung der Schule dahin,
daß der Tod für den gerechtfertigten Menschen nur noch den
Charakter einer « poenalitas », nicht mehr aber den einer « poena »
habe, obwohl und weil der Tod natürlich auch den Gerechtfertig-
ten trifft. Zunächst ist mit dem Wort « poenalitas» eben nur ein
Wort gegeben, das das anstehende Problem eher verdeckt als
erhellt. Denn es ist weder deutlich, wie denn die empirisch‘
gegebene und mindestens anscheinend bei allen — Gerechtfertig-
ten und Sündern — gleichbleibende Gegebenheit einmal eine
Strafe und das andere Mal nur eine «poenalitas» sein könne.
Noch wird durch die Auskunft, der Strafreat der Erbsünde ver-
wandle sich durch die Rechtfertigung in eine bloße poenalitas,
die positive Heilsbedeutung des Todes des Gerechtfertigten ange-
meldet, die man diesem Tod als Mitsterben mit Christus und im
Blick auf den heilschaffenden Tod Jesu doch nicht versagen kann.
Was das erste Problem angeht, so kann man natürlich sagen, der
Tod könne auch eine bloße poenalitas sein, weil er als Konsequenz
des natürlichen Wesens des Menschen als eines biologischen Lebe-
wesens selbst natürlich sei. Aber dann steht die Frage wieder auf,
wie denn der Tod als Straffolge gedacht und erfahren werden
könne, wenn er doch eine solche natürliche Wesenskonsequenz in
der menschlichen Existenz ist. Es gibt nun gewiß im mensch-
lichen Leben partikuläre Vorkommnisse und Schädigungen, die
dem natürlichen Wesen des Menschen widersprechen und so
unter bestimmten Voraussetzungen als «Strafe» gedacht und er-
lebt werden können. Soll aber ein solcher Strafcharakter dem
Tod als einem allgemeinen natürlichen Phänomen zuerteilt wer-
den, dann kann ein solcher Strafcharakter und seine Erfahrung
nicht relativ zum natürlichen Wesen des Menschen gedacht wer-
den. Soll aber dennoch ein an sich Nichtseinsollendes, ohne das
«Strafe » nicht gedacht werden kann, im Tod gegeben sein, dann
kann dies nur relativ zu den Ansprüchen gedacht werden, die der
Mensch als das zu einem übernatürlichen Ziel verpflichtete und
mit dem Angebot der Selbstmitteilung Gottes durch Gnade be-
gabte Seiende mit Recht erhebt und zu erheben gar nicht unter-
294
lassen kann. Um den Strafcharakter des Todes zu verstehen, muß
überdies noch deutlicher werden, was denn auch bloß relativ zur
übernatürlichen Bestimmung des Menschen an ihm nichtsein-
sollend sein kann, da doch offenbar der Charakter des Todes als
der endigenden Vollendung der Freiheitsgeschichte in Tat und
Erleiden nicht nichtseinsollend gedacht werden kann, sondern
unter allen Voraussetzungen zum Wesen des Menschen gehört.
b) Der Strafcharakter, der vom Tod ausgesagt wird, kann somit
nur in der schon signalisierten Verhülltheit des Todes bestehen,
insofern dieser relativ zu der übernatürlichen Erhobenheit des
Menschen als nicht seinsollend, d. h. mindestens als retardieren-
des, zu überwindendes Moment in der gnadenhaften Lebensent-
wicklung des Menschen erfahren wird oder werden kann. Zu-
nächst einmal ist es mindestens nicht denkunmöglich, daß eine
Freiheitsgeschichte in der wachsenden Radikalität der langsam
alle pluralen Momente der menschlichen Existenz integrierenden
Grundentscheidung das Glücken dieses Integrationsprozesses und
somit das Ergebnis der Freiheitsgeschichte deutlich ergreifen
kann. Das kann nicht denkunmöglich sein, weil der Mensch tat-
sächlich mindestens partielle solche Erfahrungen des Reifwer-
dens, des Wachsens seiner « Identität», einer wenigstens partiel-
len « Integrität», die mindestens stückweise die « Konkupiszenz »
als Nichtintegriertheit vieler Wirklichkeiten des Menschen in
seine freie Grundentscheidung hinein überwindet, tatsächlich
macht. Von da aus ist es zunächst einmal mindestens nicht dem
Wesen des Menschen als Freiheitssubjekt positiv-widersprechend,
wenn auch vom naturalen Wesen des Menschen her nicht voll-
kommen erreichbar, daß er in seiner Freiheitsgeschichte, die sich
auf die Endgültigkeit seiner Selbstverfügung (« Tod» in einem
metaphysischen Sinn genannt) hin vollendet, in diesem « Tod »
das volle Geglücktsein dieses Integrationsprozesses erfährt, und
daß so die Verhülltheit des Todes als Freiheitstat durch das Erlei-
den einer ohnmächtigen Passivität, in der das Subjekt und das
Ergebnis seiner Freiheitstat im Leben ihm entzogen und ver-
hüllt sind, aufhört. Es gibt ja Stile des Sterbens und des Todes, in
denen mindestens einmal dem für uns zugänglichen Anschein
nach ein solches Sterben in «Integrität» mindestens asympto-
295
tisch erreicht zu werden scheint, dort, wo «alt und lebenssatt »
gestorben werden kann, wo in vollem Frieden und letzter Ge-
lassenheit im Besitz des inneren Ergebnisses eines Lebens, das
sich vollenden konnte, frei gestorben wird. Es soll nicht behauptet
werden, daß (von Jesus abgesehen) ein solcher Tod in reiner Inte-
grität und Überwundenheit dessen, was mit « Konkupiszenz »
eigentlich gemeint ist, jemals vollkommen satthat. Aber es zeigt
sich doch aus solchen Approximationen, daß ein «Tod» in Inte-
grität ohne diese Verhülltheit des Todes, in der das klare und
greifbare Ergebnis eines Lebens dem Freiheitssubjekt entzogen
wird, nicht dem Wesen des Menschen unter allen Umständen wi-
derspricht. Wenn somit zunächst die kirchenamtliche und neu-
testamentliche Lehre den Tod als « Sold » der Sünde erklärt und in
dieser Lehre sich die Erfahrung des Menschen, die man freilich
durchaus als durch die Gnade bedingt verstehen kann oder muß,
legitimiert und «ermutigt» empfindet, in der gegen die Finster-
nis des Todes und dessen verhüllende Verohnmächtigung prote-
stiert wird, dann kann durchaus verständlich werden, daß der
eigentliche Strafreat der Sünde in dieser Verhülltheit des Todes
besteht, daß diese Verhältnisse zwar dem naturalen Wesen des
Menschen entspricht, aber in der gnadenhaften Existenz des Men-
schen nicht sein müßte, durch die Gnade am Anfang der Mensch-
heitsgeschichte und wachsend wieder am Ende diese Verhülltheit
der Freiheit in Konkupiszenz und im Tod nicht gegeben gewesen
wäre, und darum von dieser Gnade und ihrer Erfahrung her diese
Verhülltheit des Todes als nichtseinsollend, als Straffolge der
Sünde erlebt wird.
c) Entgegen einer landläufigen Auffassung muß nun auch noch
ausdrücklich gesagt werden, daß der Tod in seiner Verhülltheit
nicht.nur Ausdruck und Erscheinungsform derjenigen Gottes-
ferne ist, die die Menschheit sich durch die Sünde am Anfang, in
«Adam», zugezogen hat. Eine genaue Abwägung der neutesta-
mentlichen Aussagen über den Tod (Röm 1,32; 6,16.21.23;
7,5. 9.10; 8,2, Jak 1,15; ähnlich bei Joh) kann zeigen, daß für
das NT der Tod auch Folge der persönlichen schweren (nicht ge-
tilgten) Sünden ist, und zwar ebenso wie bei der Erbsünde als in-
nerer, wesensgemäßer Ausdruck, als In-Erscheinung-Treten die-
296
ser persönlichen Sünden in der auch leiblichen Gesamtwirklich-
keit des Menschen. Der Tod ist somit die Erscheinung der einen
«Sünde der Welt», die sich von der «Erbsünde» anfangend aus
der Gesamtschuld der Menschheit aufbaut und sich nicht nur in
der leidschaffenden inneren und äußeren Situation des einzelnen
Menschen und in den nie restlos beseitigbaren schlechten gesell-
schaftlichen Verhältnissen, sondern auch im konkupiszenten, ver-
hüllten Tod zur Erscheinung bringt.
An den Satz vom Tod als Ausdruck und Straffolge auch der per-
sönlichen Sünden schließt sich dann auch ohne weiteres die Lehre
bei Paulus an, daß zwischen Tod und gnadenlosem Gesetz Gottes
ein Zusammenhang besteht. Wenn nämlich das Gesetz Gottes
außerhalb der Gnade Christi faktisch (wenn auch gegen seine
eigene ursprüngliche und innere Intention) zur Dynamik der
Sünde wird (1Kor 15,56), dann wird verständlich, daß das bloße
Gesetz, indem es selbst den sündigen Protest des Menschen gegen
sich hervorruft, den Tod als Folge dieser Sünde bewirkt, nicht
nur den Tod der Seele, sondern auch den Tod schlechthin, der
auch das leibliche Ende des Menschen in der Eigenart, in der wir
es tatsächlich erfahren, d. h. in seiner Verhülltheit, mit einbe-
greift (2Kor 3,6; Röm 7,5.10.13).
d) In diesem Zusammenhang muß auch auf die biblisch und
kirchenlehramtlich bezeugte Beziehung zwischen Sündentod und
Teufel (Hebr 2,14; Joh 8,44; Weish 2,24; Gen 3,13.19; DS
1511) aufmerksam gemacht werden. Wie der Tod Folge der
Sünde ist, so erscheint er auch in der Schrift als Ausdruck der
Machtsphäre des Teufels als des Herrschers der Welt. Wenn und
insofern die «Sünde der Welt» einen Zusammenhang mit den
«Mächten und Gewalten » hat, die wir mit dem Wort « Teufel»
zusammenfassen und interpretieren, und die die Situation mit-
konstituieren, in der und von der her die Sünde der Welt ge-
schieht, ist grundsätzlich das Verhältnis zwischen Sündentod und
Teufel schon gegeben. Genaueres über diese Beziehung müßte
zurückführen in eine Angelologie und Dämonologie, die hier
nicht (noch einmal) geboten werden können.
e) Der Tod ist das Allgemeinste, und jeder Mensch erklärt, es
sei natürlich und selbstverständlich, daß man sterbe. Und doch
297
lebt in jedem Menschen ein geheimer Protest und das unauflös-
liche Grauen vor diesem Ende. Eine metaphysische Anthropo-
logie allein kann diese Tatsache nicht erklären. Wenn sie erkennt,
daß der Mensch als geistiges Wesen « unsterblich » ist, sein Tod
als der eines biologischen Wesens « natürlich » ist und der Mensch
vom Wesen der Freiheit her gar nicht ins Endlose weiterleben
wollen könne, ist nicht mehr recht einzusehen, warum der
Mensch sich so vor dem Tod fürchtet, es sei denn, man degradiere
die Todesfurcht des Menschen zu einem bloßen Ausbruch rein’
vitalen Selbstbehauptungsdranges, obwohl dieser ja gerade im
Sterben selbst sich verflüchtigt, und verfälscht so das Problem der
Todesangst. Hier tritt nun das Zeugnis des Christentums ein. Der
Mensch hat mit Recht Angst vor dem Tod. Denn er sollte und soll
seine Freiheitsgeschichte in der Tat seines Lebens, die ein Mo-
ment einer, freilich an sich in Freiheit integrierbaren Passivität
in sich trägt, in Endgültigkeit aufheben und in diesem Sinne
«sterben », aber er sollte doch nicht diesen finsteren Tod erleiden,
weil er auch jetzt noch als Wirklichkeit jene Lebendigkeit des
göttlichen Lebens in sich trägt, die, wenn sie von vornherein in
dieser irdischen Welt sich rein zum Ausdruck bringen könnte,
den Tod von vornherein überboten hätte. Daß der Mensch stirbt
und sich nicht nur vollendet, ist Folge der Sünde am Anbeginn
der Gesamtgeschichte der Menschheit und aller jener Sünden, in
denen der Mensch die Sünde am Anfang und die damit gegebene
Situation sich zu eigen macht. Diese Folge ist nicht eine von Gott
verhängte Strafe, die von außen über den Menschen hereinbricht,
ohne einen inneren Sachzusammenhang mit dem zu bestrafen-
den Vergehen zu haben, wenn auch natürlich der Tod als Leiden
und als Abbruch von außen, als Dieb in der Nacht, der er immer
auch ist, konkret unter der freien Verfügung Gottes steht und so
immer auch den Charakter eines einbrechenden Gerichtes Gottes
an sich trägt. Im Tod erscheint vielmehr die Sünde. Das Leere,
Ausweglose, Zerrinnende, das Wesenlose, das unauflösliche In-
einander von höchster Tat und niederstem Getriebenwerden, von
Eindeutigkeit und letzter Fragwürdigkeit — alle diese Eigentüm-
lichkeiten des Todes, den wir tatsächlich sterben, sind nichts als
Erscheinungen der Sünde, der in einer höheren und verborgene-
298
ren Dimension des Freiheitssubjekts analog dieselben Eigentüm-
lichkeiten eignen. Weil aber die gottgehörige Kreatur von ihrer
gnadenhaft erhobenen Wesensmitte her zurückbebt vor dem letz-
ten Geheimnis der Leere und Ausweglosigkeit und Nichtigkeit,
vor dem Geheimnis der Bosheit, und weil sie — ob heilig oder
sündig -, solange sie lebt, immer auch getrieben ist von der Macht
des göttlichen Lebens, das sie ruft und in ihr wirkt, darum emp-
findet diese Kreatur ein geheimes, ihr selbst von sich aus nicht
deutbares Grauen vor dem Tod als dem Emporbrechen jenes To-
des, der allein der eigentliche ist, auf die Oberfläche des greif-
baren Daseins. Wo sie dieses Grauen sich wirklich existentiell
verhehlen wollte, indem sie es in eine Tat des Lebens weginter-
pretiert, sei es durch die Flucht in die Oberflächlichkeit, sei es
durch die Flucht in die Verzweiflung oder in einen tragischen
Heroismus, da würde sie diesen Tod erst recht noch einmal zu
dem machen, was ihr an ihm uneingestanden Schrecken erregt,
zum Anbruch des ewigen Todes.
4. Der Tod als Mitsterben mit Jesus und als Ereignis der Gnade
a) Es ist schon gesagt worden, daß in der kirchenamtlichen Lehre
und in der Schultheologie der Tod als Mitsterben mit Christus,
sofern der Mensch in der Gnade und aus ihr heraus stirbt, nicht
zu einer deutlichen Aussage kommt. In der Schultheologie wird
im Anschluß an das Tridentinum (DS 1515) nur gesagt, daß der
Tod des gerechtfertigten Menschen nicht mehr eine eigentliche
Sündenstrafe, sondern nur noch wie die Konkupiszenz eine bloße
Sündenfolge, poenalitas, nicht mehr poena sei, welche Gott zur
Prüfung, Läuterung und Bewährung, als «agon» dem Gerecht-
fertigten belasse. Davon ist schon oben gesprochen worden. Das
NT sagt aber über den T'od des gerechtfertigten Menschen mehr.
Es gibt ein «Sterben im Herrn » (Offb 14,13; 1’Thess 4,16; 1 Kor
15,18), ein Sterben, das eigentlich kein Tod ist, weil jeder, der
lebt und Christus glaubt, in Ewigkeit nicht stirbt (Joh 11,26), es
gibt ein Mitsterben mit Christus, das das Leben schenkt (2 Tim
2,11; Röm 6,8). Nach dem Neuen Testament geschieht natürlich
die grundsätzliche Übernahme des Todes Christi schon durch
Glaube und Taufe, so daß das Mitsterben mit Christus und das
299
Gewinnen des neuen Lebens schon jetzt unser diesseitiges Leben
verborgen durchherrscht (Röm 6,6. 11f; 7,4-6; 8,2.6-12 usw.).
Aber abgesehen davon, daß diese Aussagen des NT voraussetzen,
daß_der reale Tod als eine axiologische, das ganze Leben durch-
herrschende Größe und auch als Freiheitstat aufgefaßt werden
muß, wenn das Sterben « während » des irdischen christusförmi-
gen Lebens durch den Glauben und die Gerechtigkeit aus Gnade
nicht zu einem ethisch-idealistischen Bild verflüchtigt werden
und den Zusammenhang mit dem realen Tod verlieren soll, so
wird man schon aus den erwähnten Aussagen des NT selbst ent-
nehmen müssen, daß auch das wirkliche Sterben, als — natürlich
vom Leben bestimmter — Endvorgang betrachtet, im Gerecht-
fertigten ein Sterben in Christus ist. Das heißt aber, der Tod selbst
ist im Begnadeten als ein Heilsereignis anzuseken, wobei natür-
lich dieser Tod auch als das Leben zusammenfassende Freiheitstat
gesehen werden muß und offenbleiben kann, wann diese Tat als
solche uhrzeitlich im Leben geschieht, wie weit sie uhrzeitlich mit
dem biologischen Ableben zusammenfällt oder von diesem ver-
schieden ist. Die im Glauben Gestorbenen sind nicht nur « Tote
in Christus», weil sie in Christus ihr irdisches Leben lebten, son-
dern auch, weil ihr Sterben selbst in Christus war. Wenn und in-
sofern der Tod als Tat des Menschen das Ereignis ist, das die ganze
personale Lebenstat des Menschen in die eine Vollendung ein-
sammelt, und wenn im «Tod» «pragmatisch», wie Eutychius
sagte, das geschieht, was « mystisch » in den sakramentalen Höhe-
punkten des christlichen Daseins in Taufe und Eucharistie ge-
schehen war, eben die Angleichung an den Tod des Herrn, dann
hat der Tod als Höhepunkt des Heilswirkens und Heilsempfangs
zu gelten.
b) Mit dem eben Gesagten ist nur auf eine in der Schrift be-
zeugte Tatsache hingewiesen, aber noch nicht wirklich deutlich
geworden, wie dieses im Tod geschehende Mitsterben mit Christus
zu denken ist. An sich wäre diese weitere Frage am besten durch
einen Rückgriff auf die Theologie des Sterbens und des Todes Jesu
zu beantworten, da dieses Sterben in seiner Einmaligkeit nicht
nur die Bewirkung der «objektiven» Erlösung war, sondern bei
der Gleichwesentlichkeit Jesu mit uns als Mensch in der Gnade
500
auch hinsichtlich unseres Todes gleichwesentlich ist, und weil über
dieses Sterben Jesu die Schrift mehr und Deutlicheres aussagt als
über unseren eigenen Tod als solchen. Aber auf das Sterben und
den Tod Jesu kann an dieser Stelle nicht noch einmal ausdrück-
lich zurückgegriffen werden. Hier soll nur noch einmal ganz kurz
darauf aufmerksam gemacht werden, daß Jesus nicht «anläß-
lich » seines Todes in einer moralischen Leistung des Gehorsams,
der Liebe usw., die mit dem Tod als solchem nichts zu tun hätte,
uns erlöst hat, sondern diese Erlösung gerade dadurch geschah,
daß der Tod als Erscheinung der Sünde, als die Sichtbarkeit der
Leere und Ausweglosigkeit dieser Sünde, als Anwesen der ewigen
Finsternis und Gottverlassenheit glaubend, hoffend, liebend an-
genommen und in die Erscheinung der gehorsamen Übergabe des
ganzen Menschen an die Unbegreiflichkeit des heiligen Gottes
inmitten von Verlorenheit und Ferne verwandelt wurde. Dies
muß immer gesehen werden, wenn das Mitsterben des Gerecht-
fertigten mit Christus in der Gnade richtig verstanden werden soll.
c) Wir suchen darum das Verständnis des Todes als Mitsterben
mit Christus vom Wesen der Gnade her zu erreichen, wobei im-
mer vorausgesetzt ist, daß diese Gnade Gnade Christi ist, gegeben
wird von ihm her und aufihn hin und unser Leben in sein Leben
eingliedert und uns ihm gleichgestaltet. Es muß somit kurz an
das eigentliche Wesen der Gnade erinnert und dann gezeigt
werden, daß das Sterben und der Tod eine diesem Wesen ent-
sprechende, ausgezeichnete Situation für den freien Vollzug der
Gnade ist. Gnade besteht fundamental in der Selbstmitteilung
Gottes dazu hin, daß der Mensch in Freiheit durch Glaube, Hoff-
nung und Liebe die ihm angebotene Unmittelbarkeit zu Gott an-
nimmt. Weil und insofern die Gnade Gott an und für sich zum
unmittelbaren Ziel, Inhalt und zur Bedingung der Möglichkeit
eines unmittelbaren Verhältnisses zu Gott macht, bedeutet Gnade
und ihre Annahme in Freiheit immer ein Sichloslassen, eine
Selbsttranszendenz über alle endlichen Wirklichkeiten (zu denen
primär auch das menschliche Subjekt selbst gehört) auf die Unbe-
greiflichkeit Gottes als selige, nur «ekstatisch» erreichbare Er-
füllung hin. Insofern kommt jedem durch die Gnade getragenen
Akt auf die Unmittelbarkeit Gottes hin ein Moment eines sich
501
selbst weggebenden, «entsagenden» Freiwerdens zu, was sich
schriftgemäß auch darin verdeutlicht, daß Glaube, Hoffnung und
Liebe « bleiben » (1 Kor 13,13), also auch Momente der eschatolo-
gischen Vollendung sind, bei denen vor allem bei der Hoffnung
(aber auch in der Schau der Unbegreiflichkeit Gottes und in der
Liebe) die Eigentümlichkeit eines sich selbst loslassenden Weg-
kommens von sich selbst deutlich ist. Dieser Charakter einer
«Entsagung» hebt natürlich die Möglichkeit einer seligen Voll-
endung nicht auf, weil der Mensch als Kreatur, die er auch in
einer übernatürlichen Vollendung bleibt, nur dann sich selber
wirklich findet, wenn er sich radikal in die Verfügung Gottes hin-
ein losläßt, der von Gott Ergriffene und Überwältigte und nicht
ein autonomes Subjekt ist, wenn er m.a. W. den seine ganze Exi-
stenz umfassenden und weggebenden Mut (nochmals durch die
Gnadentat Gottes) aufbringt, zu glauben, zu hoffen und zu lieben,
daß er sich nur findet, wenn er sich selbst an Gott verliert. So-
lange aber die Freiheit unterwegs ist und dieserihr Wesensvollzug
noch nicht die selige Selbstverständlichkeit geworden ist, sondern
noch überfordernde Aufgabe bleibt, die verfehlt werden kann,
solange die noch werdende Freiheit situativ ist, gibt es zweifellos
Situationen, in denen das Moment der Entsagung in allem Gna-
denvollzug besonders deutlich als Aufgabe, Erscheinung und
Schwere dieses Gnadenvollzugs zur Gegebenheit kommt. Man
darf gewiß nicht in einer Art von Tragizismus meinen, Gnade und
ihr Vollzug seien nur gegeben, wo und insofern « Entsagung » (bis
zum Untergang) dem Menschen auferlegt ist. Dem widerspricht
es, daß die Seligkeit des ewigen Lebens der höchste Akt der Gnade
Christi ist, daß die Positivität des Endlichen und nicht nur seine
Negativität ein positives Verhältnis zu Gott hat, daß auch ein po-
sitives Verhältnis zur von Gott unterschiedenen Wirklichkeit als
solches durchaus ein inneres Moment des gnadenhaften Verhält-
nisses des Menschen zu Gott sein kann. Aber die Erfahrung des
Menschen und das Ereignis des Kreuzes Christi als der Erlösung
im Tod als solchem zeigen doch, daß mindestens faktisch die Si-
tuation, in der das an sich in jedem Akt auf Gott als gnadenhaftes
Ziel hin gegebene Moment der Entsagung in besonders harter
und für die unmittelbare Erfahrung exklusiver Weise in Erschei-
502
nung tritt, die bevorzugte Situation für das Gnadengeschehen in
der gegenwärtigen Heilsordnung ist. Insofern die christliche
Lehre die Eigentümlichkeit dieser Entsagungssituation als «in-
fralapsarisch » versteht, als Konsequenz der Sünde, also der Frei-
heit des sündigen Menschen und des die Sünde «zulassenden »
Gottes, wird diese Situation einerseits nicht verabsolutiert, als ob
wir wüßten und sagen dürften, sie könne nicht anders sein und
entspringe darum in einem gnostizistischen Verständnis notwen-
dig der Unheimlichkeit Gottes selbst allein, aber anderseits ist
diese Entsagungssituation doch als allgemeine und unentrinnbare
Situation unseres Selbstvollzugs auf die Unmittelbarkeit Gottes
hin erklärt und festgehalten. Diese Entsagung als im Wesen der
Gnade an sich schon mitgegebene und in unserer infralapsari-
schen Situation unausweichlich uns abverlangte kommt nun im
Tod zu ihrer unüberbietbaren Höhe. Weil im Tod als gesamt-
menschlichem Ereignis dem Menschen alles, und also auch er
selbst, genommen wird, weil die Tat der Freiheit, in der er als
Gerechtfertigter diesen Selbstentzug im Tod annimmt und be-
jaht, im Tod ihm noch einmal in ihrem wirklichen Gelingen ver-
hüllt bleibt, darum ist in unserer infralapsarischen Situation, in
der das Subjekt sich nicht in Integrität vollziehen und das Ergeb-
nis dieses Vollzugs nicht selig ergreifen kann, der Tod der Höhe-
punkt der Gnade Christi des Gekreuzigten, und also Mitsterben
mit Christus. Dabei darf nicht übersehen werden, daß es eben zu
dieser Todesentsagung gehört, in entsagender Freiheit "hinzu-
nehmen, daß gerade dieser verhüllte und verhüllende Tod nicht
zu sein bräuchte, daß es «an sich» auch anders ginge, so daß der
Tod auch noch einmal die Annahme seiner eigenen, nicht ableit-
baren und nicht «ideologisierbaren » Faktizität in sich schließt.
d) Mit all dem ist natürlich nicht gesagt, daß das Sterben und
der Tod die Weise des Vollzugs einer «abstrakten» Entsagung
allein sei. Dieses im Tod radikalisierte Sichselbstlassen ist eben
ein Aspekt des Vollzugs der Gnade als Glaube, Hoffnung und
Liebe. Darum kann das Sterben Akt des Glaubens sein, weil es ja
dem Menschen jeden Rückgriff auf eine kategoriale Rechtferti-
gung des Glaubens zunichtemacht oder (wenn das zuviel gesagt
sein sollte) diese fundamentaltheologische Rechtfertigung des
503
Glaubens vor der innerweltlichen Rationalität des Menschen als
etwas erweist, was den Glauben gar nicht als solchen erzeugen
kann. Das Sterben ist Gottesliebe, insofern diese im Tod abver-
langte Entsagung in Freiheit erbracht wird als die Vermittlung
einer Liebe, in der Gott um seiner selbst willen geliebt wird und
daher der Mensch nicht mehr zu sich zurückkehrt. Die Annahme
des Todes kann durchaus auch als Akt der Nächstenliebe verstan-
den werden, insofern darin das geschichtliche Subjekt für andere
den weltlichen Freiheitsraum und die Bühne der Geschichte frei-
macht. Damit soll natürlich nicht gesagt werden, daß das Sterben
des Menschen nur unter dieser Hinsicht als Akt der Nächstenliebe
gesehen werden kann. Wenn wir verpflichtet sind, durch unser
ganzes Leben liebend dem Nächsten Zeugnis abzulegen von der
Gnade, der Freiheit Gottes und der Hoffnung des ewigen Lebens,
dann gilt das auch von dem Zeugnis der Liebe, das wir durch
unser Sterben ablegen müssen. «Wie im ganzen Leben», sagt
Ignatius von Loyola, «auch im Sterben, so, ja noch viel mehr, soll
jeder... darauf bedacht sein und sich bemühen, daß in seiner
Person Gott unser Herr verherrlicht, ihm gedient und der Nächste
erbaut werde, wenigstens durch das Beispiel der Geduld und des
Starkmutes in lebendigem Glauben, Hoffnung und Liebe zu den
ewigen Gütern, die uns Christus unser Herr durch die so unver-
gleichlichen Mühen seines irdischen Lebens und seines Todes er-
worben hat. » (Konst. 595)
e) Die christliche Tradition, angefangen von der Schrift, hat
das Martyrium als frei erlittenen und angenommenen Tod der
Bezeugung des Glaubens immer als die bevorzugteste Weise ver-
standen, in der ein Christ mit Christus mitstirbt. Und dies mit
Recht. Denn im Tod des Martyriums kommen die allgemeinen
Wesenskonstitutiven des christlichen Todes zu ihrer deutlichsten
Erscheinung: die Unverfügbarkeit des Todes, der Tod als freie
Tat, der Tod als Zeugnis des Glaubens für andere. Die geheime
Sehnsucht nach dem Martyrium, die im Laufe der Geschichte des
Christentums immer wieder bezeugt wird, gründet in der Hoff-
nung, daß das Mitsterben mit Christus, das an sich jedem Tod in
der Gnade zukommt, durch einen solchen Tod am gewissesten
gewährt werde.
504
RECHTFERTIGUNG UND WELTGESTALTUNG
IN KATHOLISCHER SICHT
507
lischen Sicht » die Rede ist. Diese Einschränkung kann hier wohl
nur bedeuten, daß diese Überlegungen mit einer in der katholi-
schen Theologie üblichen Begrifflichkeit arbeiten, von der katho-
lischen Rechtfertigungslehre ausgehen, ohne ausdrücklich die
evangelische Rechtfertigungslehre zu berücksichtigen. Das aber
bedeutet doch wohl noch lange nicht oder nicht sicher, daß da-
durch eigentliche Kontroverstheologie getrieben wird; nicht nur
darum nicht, weil es ja heute nicht mehr feststeht, daß die ka-
tholische Rechtfertigungslehre, so wie sie und so weit sie kirchen-
lehramtlich für den Katholiken absolut verpflichtend ist, in einem
kontradiktorischen Gegensatz zur evangelischen Rechtfertigungs-
lehre steht, soweit diese wirklich indiskutables Gemeingut der
evangelischen Kirchen ist; sondern vor allem auch darum nicht,
weil eine christliche Lehre von der Weltgestaltung, der Welt-
aufgabe des Christen in Geschichte und Gesellschaft selbst noch
einmal unter den Christen aller Konfessionen verschieden artiku-
liert wird, diese verschiedenen Artikulationen quer durch die
Konfessionen hindurchgehen und wohl (von extremsten Fällen
abgesehen) keine einer bestimmten Konfession eindeutig zuge-
ordnet werden kann, und weil, soweit eine solche Lehre von der
Weltaufgabe der Christen im großen und ganzen vielleicht doch
Gemeingut ist, dieses auch von verschiedenen Begriffen der
Rechtfertigung her erreicht werden kann; denn es kann ja frag-
lich sein, ob sublime kontroverstheologische Differenzen bezüglich
der Rechtfertigung selbst sich im Verständnis der Weltgestaltung
auswirken müssen oder, wo es sich um konkretere und prakti-
schere Maximen für diese Weltaufgabe handelt, durch ein globa-
leres und gemeinsames christliches Existenzverständnis überwun-
den werden können. Unser Thema scheint mir kein eigentliches
kontroverstheologisches Thema zu sein, zumal die evangelische
Lehre über das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, über die
zwei Reiche usw. und die katholische Lehre vom Naturrecht, vom
Verhältnis von Natur und Gnade usw. in den beiden Konfessio-
nen je für sich selbst so verschieden interpretiert werden, daß
auch von daher keine Kontroverse aufgebaut werden kann, die
eindeutig die zweier, je in sich geschlossener Konfessionen wäre.
Aber nun nach diesen Vorbemerkungen zum eigentlichen
508
Thema. Diese Überlegungen, die hier vorgetragen werden, müs-
sen ihren Weg und ihre Methode selber suchen, ohne daß eine
formale Struktur im voraus und als eindeutig von der Sache selbst
her gegeben vorausgesetzt werden kann.
Diese Überlegungen beginnen darum in einer gewissen Will-
kür, die gerne zugestanden wird, mit der traditionellen katho-
lischen Lehre, daß Vorgang und Wirkung der Rechtfertigung im
Vollzug und der freien Annahme der drei göttlichen Tugenden
des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe bestehen. Für das
Trienter Konzil besteht ja die Rechtfertigung als Gerechtfertigt-
sein im Besitz dieser drei göttlichen habituellen Tugenden als
«eingegossenen » und der Rechtfertigung als Vorgang beim mün-
digen Menschen im Vollzug dieser drei Tugenden selbst. Das
Trienter Konzil läßt ja die Frage offen, ob die sogenannte « heilig-
machende Gnade» und diese drei göttlichen Tugenden identisch
oder nur untrennbar miteinander verbunden sind. Auf jeden
Fall also dürfen wir, wenn wir wissen wollen, was Rechtferti-
gungsgnade ist, unbefangen sofort auf diese drei göttlichen Tu-
genden reflektieren. In unserem Zusammenhang ist auch das
Problem unerheblich, wie die Lehre von der « Eingegossenheit »
und dem Charakter eines Habitus der Gnade, also eine ontisch ob-
jektive Begrifflichkeit genauer versöhnt werden kann mit der
reformatorischen Gnadenlehre mit ihrer mehr deskriptiven und
existenzialen Begrifflichkeit; wir setzen hier nur voraus, daß dies
grundsätzlich nicht unmöglich ist. Wir können hier auch getrost
davon absehen, daß die Trienter Rechtfertigungslehre unwill-
kürlich und stillschweigend im Gefolge der mittelalterlichen Gna-
dentheologie voraussetzt, daß diese drei göttlichen Tugenden in
einer zeitlichen Abfolge vollzogen und habituell erworben wer-
den und so auch grundsätzlich der Fall denkbar ist, daß der Habi-
tus des Glaubens und auch der Hoffnung ohne den Habitus der
Liebe gegeben sind. Wenn wir mit dem Trienter Konzil beden-
ken, daß die wirkliche und eine Rechtfertigung doch nur durch
den Vollzug und den Besitz der drei göttlichen Tugenden zusam-
men gegeben ist, also in der fides spe et caritate formata, wenn wir
überdies bedenken, daß das Konzil uns nicht verbietet, existen-
tiell und konkret diese drei göttlichen Tugenden in dieser Einheit
509
als gemeinsam vollzogen und gegeben zu denken, auch wenn sie
wegen ihrer begrifflichen Unterscheidbarkeit abstrakt auch als
sich zeitlich hintereinander entwickelnd gedacht werden können,
und dies auch bei der inneren Zeitlichkeit des einen Existenzvoll-
zugs nicht von vornherein sinnlos ist, dann dürfen wir hier ruhig
die drei göttlichen Tugenden als eine Größe betrachten. Wir dür-
fen diese drei Worte: Glaube, Hoffnung, Liebe als drei Aspekte des
einen christlichen Existenzvollzugs verstehen, als drei Schlüssel-
begriffe für diesen einen und ganzen Existenzvollzug, die begriff-
lich und sachlich unweigerlich ineinander übergehen, wenn auch
in der Geschichte des Glaubensbewußtseins der Kirche und in der
Geschichte der Theologie einmal eher dieser und dann wieder ein
anderer dieser drei Schlüsselbegriffe im Vordergrund stand und
für das eine Ganze des christlichen Daseinsverständnisses eintrat
und so vielleicht heute « Hoffnung» der vorbetonte Schlüsselbe-
griff ist. Für unsere Frage nach dem Verhältnis zwischen Recht-
fertigung und Weltgestaltung dürfen wir also unbefangen auf alle
drei Momente der Rechtfertigung reflektieren und uns fragen,
was sie zusammen und jeder für sich für das Verständnis der
Weltaufgabe des Christen ergeben.
Wir fragen also, ob in diesem einen Ternar der drei göttlichen
Tugenden in ihrer Einheit ein bestimmtes Verhältnis des christ-
lichen Menschen zur Welt gegeben ist, insofern diese Welt einer-
seits als endlich und geschöpflich von dem Gott verschieden ist,
zu dem der Mensch in der Rechtfertigung ein positives, heils-
haftes und umfassendes Verhältnis gewinnt, und anderseits als
geschichtliche eine Aufgabe für die tätige Freiheit des Menschen
bedeutet. Wenn wir diese Frage einigermaßen umfassend und
zutreffend beantworten können, haben wir wohl die Antwort auf
die Frage erreicht, die das Thema dieser Überlegungen ist. Es ist
dabei selbstverständlich, daß eine solche gesuchte Antwort auf
jeden Fall nur sehr formal und abstrakt ausfallen kann. Denn die
konkrete Geschichte als Tat der Freiheit des Menschen und als
freies Erleiden der Naturgeschichte, in der der Mensch als ihm
vorgegebener und nie adäquat für seine Freiheit verfügbarer
wurzelt, ist und bleibt — Geschichte, die aus den immer in etwa
abstrakt bleibenden Begriffen der Rechtfertigung und aus dem
510
unumgreifbaren Geheimnis, Gott genannt, auf das der Mensch
in der Rechtfertigung bezogen ist, nie für den Menschen konkret
ableitbar ist. Wir versuchen unter diesem fundamentalen Vor-
behalt aber doch aus der christlichen Lehre über den Ternar der
göttlichen Tugenden einige formale Einsichten über das Verhält-
nis des Menschen zur Welt, über die christliche Weltgestaltung
zu gewinnen. Wir gehen dabei von Aussagen aus, die sich ent-
weder auf den Ternar als ganzem oder auf eine einzelne göttliche
Tugend beziehen.
Für eine in der katholischen Theologie zwar nicht allgemein
angenommene und verpflichtende, aber legitime Auffassung
kann gesagt werden, daß dieser Ternar als von Gott gewirkte
Möglichkeit mindestens im Modus des Angebotes an die Freiheit
des Menschen immer und überall im einzelnen Menschen und in
der Menschheit gegeben ist, dieser Ternar als gottgewirkte Mög-
lichkeit der geschichtlichen Freiheit des Menschen nicht nur ein
raumzeitlich punktuelles Ereignis ist, sondern ein, wenn auch
gnadenhaft von Gott her gegebenes Existential, das Existenz und
Geschichte des Menschen immer mitbestimmt. Mindestens ein-
mal nach der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils gibt es
einen allgemeinen, überall Rechtfertigung anbietenden Heils-
willen Gottes, ist räumlich und zeitlich in der gesamten Ge-
schichte der Menschheit eigentlicher Glaube, eigentliche Hoff-
nung und Liebe, die Gott selber mitteilen und den Menschen
rechtfertigen, möglich, also auch außerhalb des worthaft verfaß-
ten, sakramentalen und gesellschaftlich institutionalisierten Chri-
stentums bis zu einem theoretisch verbalen Atheismus inklusive.
Es ist hier und jetzt nun nicht der Ort, darüber zu reflektieren,
wie diese durch den Heilswillen Gottes immer und überall ange-
botene Möglichkeit der Rechtfertigung in Glaube, Hoffnung und
Liebe als möglich gedacht werden kann, auch wo der Mensch
nicht von der ausdrücklichen Heilsbotschaft des Christentums er-
reicht ist. Darüber kann hier nun nicht auch noch gehandelt wer-
den. Setzen wir aber diese (wenn man will) radikal optimistische
Auffassung (gegen eine Augustinische Konzeption der Geschichte)
voraus, setzen wir also voraus, daß die Möglichkeit der Rechtferti-
gung als dauerndes Existential den Menschen immer und überall
511
angeboten ist, auch außerhalb des expliziten Christentums durch
die Freiheit des Menschen angenommen werden kann (wobei na-
türlich diese Annahme, wenn sie faktisch geschieht, selbst noch
einmal Gnade Gottes ist), setzen wir weiter voraus, daß einerseits,
wie später zu zeigen ist, diese Annahme der Rechtfertigung auch
für das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt eine wesentliche
Bedeutung hat und anderseits auch tatsächlich durch die Frei-
heit des Menschen vollzogen wird, dann können und müssen wir
sagen: Das Weltverhältnis des Menschen, seine Weltgestaltung
ist immer und überall, also auch außerhalb des institutionalisier-
ten Christentums, mindestens anonym mitgeprägt durch das, was
wir Christen Rechtfertigung, d. h. Befreitheit des Menschen auf
die Unmittelbarkeit Gottes hin nennen. Daraus ergibt sich aber
dann eine wichtige Einsicht: vieles, was uns in der Geschichte
der Menschheit als Interpretation der Welt in Praxis und Theorie
innerhalb und außerhalb des expliziten Christentums begegnet,
kann gar nicht von vornherein als Interpretation gelesen werden,
die außerhalb des Christentums gnadenlos und in diesem Sinne
unchristlich oder achristlich ist oder und nur innerhalb des explizi-
ten Christentums etwas mit Rechtfertigung zu tun hat. Christ-
liche Weltinterpretation in Theorie und erst recht in der Praxis
kann auch außerhalb des expliziten Christentums christlich sein, ja
ist im praktischen Lebensvollzug nach dem Zweiten Vatikanum
tatsächlich christlich, d.h. gnadenhaft getragen, wo der Mensch
sich nicht in schwerer Schuld dem Spruch seines Gewissens versagt,
auch wenn diese praktische Weltgestaltung nicht explizit christ-
lich interpretiert wird und eventuell co-existent ist mit theoreti-
schen Auslegungen der Welt und des Menschen, die das Christen-
tum als falsch verwirft, auch wenn solche konkrete Weltinter-
pretation in der Praxis u. U. in einer Weise geschieht, die das
explizite Christentum aus seiner eigenen geschichtlichen und ge-
sellschaftlichen Situation heraus noch nicht ausdrücklich und
deutlich realisiert hat.
Der Ternar der göttlichen Tugenden bedeutet im katholischen
Verständnis eine Unmittelbarkeit des Menschen zu Gott, wie sie
ohne diese als Gnade Gottes gegebenen göttlichen Tugenden
schlechthin unmöglich wäre; diese Unmittelbarkeit zu Gott im-
512
pliziert aber, wenn und insoweit sie in Freiheit rechtfertigend an-
genommen wird, ein bestimmtes Verhältnis zur Welt, das also
ohne diese rechtfertigende Gnade auch schlechterdings unmög-
lich wäre und, umgekehrt, von dieser rechtfertigenden Gnade ge-
fordert und zugleich mitgebracht wird. Dies ist das zweite, was
über das Verhältnis zwischen Rechtfertigung und Weltgestaltung
gesagt und ein wenig erläutert werden soll. Nach traditioneller
katholischer Lehre bedeutet der Ternar der drei göttlichen Tu-
genden nicht bloß die Wiederherstellung und das Gegebensein
irgendeines guten und richtigen Verhältnisses des Menschen zu
Gott als dem Herrn und Schöpfer, nicht bloß die Vergebung der
Sünden des Menschen, eine Bereinigung des sittlichen Verhält-
nisses des Menschen zu Gott, so wie dieses als verpflichtend auch
unabhängig von einer göttlichen Offenbarung im Wort erkannt
werden könnte. Weil und insofern das letzte heilschaffende Ver-
hältnis zu Gott, so wie es von Gott ermöglicht und unter dieser
Voraussetzung von Gott gefordert wird, schon im voraus freie
Gnade Gottes, «übernatürlich » ist, ist es einerseits die höchste
und radikalste Wesensverwirklichung des Menschen, ander-
seits uneinklagbare Gnade schon für den Menschen als solchen,
und nicht nur, insofern dieser Sünder ist. Das ist mit der katho-
lischen Lehre von dem Unterschied zwischen Natur und über-
natürlicher Gnade gegeben. Diese Übernatürlichkeit der Gnade
und des durch sie ermöglichten und getragenen Verhältnisses des
Menschen zu Gott läßt sich dadurch verdeutlichen: diese Gnade
gibt dem Menschen ein Verhältnis radikaler Unmittelbarkeit zu
Gott, nicht nur existentiell, sondern auch ontologisch ;durch diese
Gnade ist Gott nicht bloß die schöpferische Voraussetzung einer
kreatürlichen Wirklichkeit, die als solche selbst doch nur in ihrer
eigenen Endlichkeit befangen bliebe in ihrem Selbstvollzug, und
die Gott nur als den schöpferischen Grund und nur als immer
fernbleibenden Beweger ihres immer im Endlichen bleibenden
Selbstvollzugs zur Voraussetzung hätte. Durch die Gnade ist viel-
mehr eine wirkliche und eigentliche Selbstmitteilung Gottesin
seiner eigenen absoluten Wirklichkeit an die geistige Kreatur ge-
geben, so daß diese sich auf Gott streng in sich selbst hin bewegt.
Für eine katholische Gnadenlehre gilt wirklich unerbittlich: fini- -
515
tum capax infiniti. Das (was hier nur kurz angedeutet werden
kann) ist gegeben mit der Lehre von der ungeschaffenen Gnade,
von der Mitteilung des Gott selbst seienden Heiligen Geistes, von
der unmittelbaren Anschauung Gottes im ewigen Leben, die nicht
mehr durch eine geschöpfliche Wirklichkeit vermittelt wird.
Diese Lehre von der Gnade als eigentlichste Selbstmitteilung
Gottes in sich selbst an die geistige Kreatur wirkt sich dann aus in
der traditionellen Lehre vom Ternar der göttlichen Tugenden.
Diese sind streng zu unterscheiden von den sittlichen Tugenden,
auch sofern diese ein bestimmtes religiöses Verhältnis zu Gott als
dem Schöpfer und Herrn der Kreatur fordern. Alle sogenannten
sittlichen Tugenden haben eine endliche Wirklichkeit, einen end-
lichen sittlichen Wert, ein kreatürliches Formalobjekt, auch wenn
diese Wirklichkeiten natürlich immer einen Verweis auf Gott als
auf ihre letzte Voraussetzung an sich tragen. In dem Ternar der
drei göttlichen Tugenden, und nur in ihm hat man es aber mit
Gott in sich selbst in Unmittelbarkeit zu tun. Das setzt natürlich
voraus, daß die Akte, in denen sich der Mensch auf Gott unmittel-
bar und nicht durch eine geschöpfliche Wirklichkeit, die ihn re-
präsentiert, vermittelt, bezieht, von Gottes Selbstmitteilung selber
getragen sind, daß er selbst nicht bloß asymptotisches Ziel einer
bloß kreatürlichen Bewegung auf ihn hin ist, sondern mit seiner
eigenen Wirklichkeit selbst inneres konstitutives Moment (wenn
auch aus Gnade) der geistigen Bewegung der Kreatur auf Gott
selbst hin. Im Glauben wird Gott selbst gehört und nicht bloß ein
endliches Wort «über» ihn, es wird das göttliche Wort, das Gott
selber ist, empfangen und gehört; in der Hoffnung wird Gott selbst
gehofft und nicht nur eine kreatürliche, von ihm bloß heilshaft ge-
schaffene Wirklichkeit, indem er selber diese hoffende Bewegung
auf die Vollendung hin durch sich selber trägt, die Kreatur im
Ziel auf das Ziel hin bewegt; die Liebe zu Gott ist schon getragen
durch die Liebe Gottes zu uns, in der er sich selbst und nicht nur
eine ihn und seine Liebe repräsentierende und vermittelnde Gabe
gibt. Das alles darf nicht als emphatische Überhöhung bloß verba-
ler Art über eine banale Wirklichkeit verstanden werden, in der
die endliche Kreatur doch in ihrer Endlichkeit stecken bleibt und
Gott nur insofern erreicht wird, als er das absolute Andere, in sich
514
|
durchgehende Modalität des Ternars ist und letztlich nur von ihm
her begründet werden kann; man könnte ruhig auch auf eine
Mystik weiseloser Erfahrung Gottes in Ost und West verweisen,
die ein solches Weltverhältnis durch ihre Radikalität verdeut-
lichen kann, wenn sie auch nicht, wie noch zu sagen sein wird, die
einzige Gestalt dieses christlichen Weltverhältnisses ist. Aufjeden
Fall aber bedeutet die durch den Ternar gegebene Einstellung zur
Welt eine radikale, gewissermaßen entmythologisierende Relati-
vierung aller weltlichen, endlichen, unmittelbar gegebenen
515
Werte und Aufgaben in der Welt, eine Zerstörung aller Götzen,
d.h. aller Absolutsetzungen innerweltlicher Werte und Aufga-
ben, einen letzten Vorbehalt all diesen Wirklichkeiten gegenüber,
einen Vorbehalt, der wirklich möglich ist, weil Gott in seiner eige-
nen Selbstmitteilung, so diese nur ergriffen wird, sich selbst zum
letzten Standpunkt des Menschen gemacht hat. Es gibt dadurch
wirklich einen Existenzvollzug des Menschen, in dem Leben und
Tod, Aufgang und Untergang, geschichtliches Gelingen und Miß-
lingen, Erfahrung von Sinn und Sinnlosigkeit und so fort noch
einmal übergriffen werden auf den absoluten Gott hin, der sich
wirklich durch die von ihm selbst in Selbstmitteilung gegebene
Möglichkeit eines unmittelbaren Verhältnisses zu ihm im Ternar
der göttlichen Tugenden erreichen läßt. Die traditionelle Lehre
über diesen Ternar kann und muß mit anderen Worten gelesen
werden als Lehre einer letzten absoluten Freiheit des Menschen
gegenüber der Welt, zu der natürlich auch er selbst mit seiner an
sich endlichen Subjektivität und geschichtlichen Bedingtheit ge-
hört, da ja in diesem Ternar, in dem Gott in sich selbst erreicht
_ wird, der Mensch auch die Befreitheit sich selbst gegenüber er-
fährt. Daß so «Fundamentales» auch über die christliche Eigen-
art der Aufgabe der Weltgestaltung gesagt ist, braucht wohl nicht
weiter verdeutlicht zu werden.
Wir müssen aber zu dieser ersten Aussage über das im Ternar
der göttlichen Tugenden, also in der Rechtfertigung gegebene
Weltverhältnis sofort eine zweite Aussage hinzufügen, die in
einem gewissen dialektischen Verhältnis zu dieser ersten Aussage
steht. Um die Radikalität der in diesem Ternar gegebenen Un-
mittelbarkeit zu Gott und damit die Weltüberlegenheit des Men-
schen über seine gelingende oder scheiternde Weltaufgabe zu er-
läutern, haben wir auf die weiselose Mystik in Ost und West
kurz verwiesen. Das war aber nur als Verdeutlichung gemeint
und hat nichts mit einer Behauptung zu tun, daß primär oder nur
in solcher Weise der Mensch unmittelbar zu Gott als solchem sei.
Im Gegenteil. Das Christentum ist, vermutlich in einem wesent-
lichen Unterschied zu östlicher Mystik, davon überzeugt, daß es,
so paradox dies klingen mag, eine mindestens normalerweise not-
wendige und mögliche Vermittlung zu dieser Unmittelbarkeit zu
316
Gott gibt. Das zeigt sich einmal schon darin, daß das Christentum,
gerade wo und weil es das Ereignis der Unmittelbarkeit zu Gott
und darin zu einer letzten Weltüberlegenheit sein will, sich doch
als begründet versteht in einer im menschlichen Wort sich ob-
jektivierenden Offenbarung Gottes, als Kirche des Wortes und des
Sakramentes als geschichtliche und gesellschaftliche Institution.
Das zeigt sich zum andern darin, daß das Christentum davon über-
zeugt ist, daß der Mensch in Ablehnung eines elitären Esoterismus
das vollendete Heil in der schlichten Erfüllung der Gebote Gottes
(freilich aus Glaube, Hoffnung, Liebe heraus) mitten im Alltag
finden kann. Da dieses Christentum diese Alltäglichkeit der Er-
füllung der Gebote Gottes in Treue zum Gewissen natürlich nicht
als Ersatz für die «mystische» Unmittelbarkeit zu Gott verstehen
kann, als Alltäglichkeit der normalen Pflichterfüllung, die erst
nach dem Tode durch etwas ganz anderes, nämlich durch diese
Unmittelbarkeit zu Gott zusätzlich honoriert würde, da die christ-
liche Lehre betont, daß diese normale Erfüllung der Pflicht des
Alltags als des Heilsweges eben doch dem Ternar der drei gött-
lichen Tugenden als Unmittelbarkeit zu Gott entspringen müsse
und entspringen könne, so impliziert das Daseinsverständnis des
Christentums die Überzeugung, daß der kategoriale Umgang mit |
der Welt dort, wo er in letzter Freiheit geschieht, auch der Voll-
zug der göttlichen Tugenden auf die Unmittelbarkeit Gottes hin
ist, daß das Kategoriale Vermittlung, Absprungsbasis und ge-
schichtliche Konkretheit gerade jener absoluten Transzendentali-
tät in Gnade ist, in der der Mensch Gott an sich selbst erreicht.
Nicht erst, und erst recht nicht allein, vollzieht der Mensch. sein
unmittelbares Verhältnis zu Gott in weiseloser Mystik, in der die
Welt als wesenlos untergeht und abgetan wird. Das Kategoriale,
die geschichtliche und konkrete Weltaufgabe des Menschen, wo
sie aus dem Ternar der göttlichen Tugenden heraus getan wird
(und eben dies ist möglich und notwendig zugleich), ist die Ver-
mittlung zur Unmittelbarkeit Gottes. Die Welt wird gerade dann
richtig ergriffen und bestanden, wenn dies getan wird aus jener
Freiheit und Weltüberlegenheit heraus, die Gott in seiner drei-
faltigen Gnade dem Menschen anbietet und in der er selbst un-
mittelbar Gott ist. Wenn wir von der Frage der Möglichkeit einer
517
absolut weltlosen Mystik absehen, einer Frage, die in der katho-
lischen Theologie offen ist und die, selbst wenn sie mit «ja» beant-
wortet würde, nochmals die neue Frage aufwerfen würde, wie es
denn in solcher Mystik mit dem endlichen Subjekt selbst bestellt
sei, das ja auch in solcher Mystik für das Christentum nicht unter-
gehen dürfte, dann ist auf jeden Fall zu sagen, daß nach christ-
lichem Verständnis des Menschen seine Unmittelbarkeit zu Gott
und somit sein gottgeschenkter Stand über Welt und über sich
selbst doch vermittelt ist, sein muß und sein kann durch seinen
Weltvollzug und seine Weltaufgabe in seiner Freiheitsgeschichte.
Es ist hier leider nicht mehr möglich, genauer zu verdeutlichen,
warum und wie eine solche Vermittlung zur Unmittelbarkeit zu
Gott keinen Widerspruch enthält, sondern in den letzten Struk-
turen des geistigen Subjekts begründet ist, dessen Transzendenta-
lität auf das Absolute hin immer schon die Bedingung der Mög-
lichkeit kategorialer Erkenntnis und Freiheit ist und dennoch in
dieser Funktion nicht radikal aufgeht, sondern eine Möglichkeit
hat, auf die Unmittelbarkeit Gottes hin durch die Gnade radikali-
siert zu sein, ohne dadurch in ihrer Funktion als Bedingung der
Möglichkeit innerweltlich kategorialer Erkenntnis und Freiheit
aufgehoben zu werden. Setzen wir aber dies alles einmal voraus,
dann kann gesagt werden, daß der Vollzug der Weltaufgabe des
Menschen mindestens im normalen Fall auch der Vollzug seiner
Unmittelbarkeit zu Gott in den drei göttlichen Tugenden sein
kann und (wo diese Weltaufgabe sachlich und subjektiv richtig
geleistet wird) auch wirklich ist. Bei diesem Satz müßte an sich
natürlich noch deutlicher gemacht werden, als dies hier möglich
ist, daß solche kategoriale Vermittlung zur Unmittelbarkeit Got-
tes nicht bloß da gegeben sein kann, wo diese Kategorialität expli-
zit religiöser Art, christlich verbalisierter expliziter Glaube und
Sakrament ist, sondern «bloß» Treue zum eigenen Gewissen und
somit sachgemäße und subjektgemäße Erfüllung der Weltauf-
gabe ist — vorausgesetzt natürlich, daß eine solche Profanität der
kategorialen Vermittlung zur Unmittelbarkeit Gottes nicht ein
schuldhaftes «nein» impliziert zu jenen kategorialen Vermittlun-
gen, die explizit religiös und christlich sind und fordernd in der
kollektiven oder individuellen Geschichte des Menschen auftreten
518
und sich als solche Vermittlungen anbieten. Jedenfalls ist aber,
wenn das Gesagte richtig ist, ein sehr differenziertes gegenseitiges
Bedingungsverhältnis zwischen rechtfertigender Gnade und
Weltaufgabe des Christen gegeben. Die Rechtfertigung bietet
dem Menschen als zu absoluter Freiheit Ermächtigtem für seine
Weltaufgabe einen Standpunkt über der Welt an, von dem aus
er in letzter Freiheit diese Aufgabe leistet und zugleich erleidet,
und eben diese Weltaufgabe ist bis in ihre scheinbare Profanität
hinein die Vermittlung für die freie Annahme dieser Unmittel-
barkeit zu Gott, die ihm in der immer und überall angebotenen
Gnade als höchste Möglichkeit und absolute Heilsaufgabe gege-
ben ist. Die Gnade, so können wir auch sagen, hat immer und
überall eine inkarnatorische Struktur; sie steigt in die Welt hinab,
macht diese Welt nicht wesenlos, sondern gibt dieser Welt, indem
sie sich selber vollzieht in Bestehen und Scheitern, die Unmittel-
barkeit zu Gott, in der die Welt Gott an sich selbst als ihre Voll-
endung annimmt.
Wenn mehr Raum wäre, könnte das eben Gesagte sehr schlicht
und vielleicht verständlicher verdeutlicht werden durch die Beru-
fung auf die katholisch traditionelle Lehre von der Einheit von
Gottes- und Nächstenliebe. Für die traditionelle Schultheologie
ist nämlich in Berufung auf das Neue Testament die Nächsten-
liebe nicht bloß die Erfüllung eines Gebotes, das aus der Gottes-
liebe als ein anderes folgt. Sondern diese Nächstenliebe wird, so-
fern sie nur zu ihrem eigenen radikalen Wesen gelangt, verstan-
den als Gottesliebe selbst. Das Formalobjekt, so sagt die Schul-
theologie, der Gottes- und der Nächstenliebe, sind ein und .das-
selbe, eben Gott selbst, ohne daß dadurch der konkrete Nächste
in seiner Bedeutung und seinem Anspruch an uns aufgelöst wer-
den soll in eine bloße äußere Gelegenheit, anläßlich derer Gott
selbst allein geliebt werden würde. Die Nächstenliebe in ihrem
radikalen Wesen ist also nach dieser Lehre selbst schon Vollzug
der Gottesliebe, selbst wenn dies in ihrem Vollzug nicht aus-
drücklich thematisiert sein sollte, sie ist das Ereignis der Transzen-
denz der Person auf die Unmittelbarkeit Gottes hin, sagt selbst
schon zu dem Angebot Gottes ja, in dem Gott im Wunder seiner
eigenen Liebe sich dem Menschen mitteilt. Nächstenliebe ist
519
somit, wenn sie ihre eigene Wesensfülle in Unbedingtheit er-
reicht, wenn das liebende Subjekt wirklich das Gefängnis seines
Egoismus durchbricht und sich wirklich bedingungslos wagt,
Vorgang und Gegebensein der Rechtfertigung. Dabei müßte
natürlich (was hier nicht mehr möglich ist) gezeigt werden, daß
solche. Nächstenliebe, wenn sie zu ihrer eigenen Unbedingtheit
und Radikalität kommt, das in sich einschließt, was man theolo-
gisch Glaube und Hoffnung nennt. Bei dieser traditionellen Lehre
von der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, bei deren gegen-
seitiger Perichorese, müßte mitbedacht werden, daß solche Näch-
stenliebe nicht verstanden werden darf als begrenzt auf einen
bloßen Bereich des Gefühls oder individueller Intimität, nicht
privatistisch interpretiert werden darf, sich vielmehr realisiert in
Tat und Werk, eine gesellschaftliche Dimension hat, sich reali-
sieren muß in Gerechtigkeit und Behauptung des Freiheitsrau-
mes für die andern, auch von einer Politischen Theologie her ge-
lesen werden muß. Dann aber ist der Zusammenhang zwischen
der einen Gottes- und Nächstenliebe, der Rechtfertigung einer-
seits und der Weltaufgabe des Christen anderseits unmittelbar
greifbar, auch wenn die konkreten Maximen für diese Weltauf-
gabe in einer bestimmten geschichtlichen und gesellschaftlichen
Situation von daher allein nicht abgeleitet werden können, son-
dern anderswie gefunden werden müssen.
An sich müßte nun auch die theologische Tugend der Hoffnung,
die für die Rechtfertigung mitkonstitutiv ist, auf ihre Bedeutung
für die Weltaufgabe des Christen ausdrücklich bedacht werden.
Das Thema der Hoffnung ist jain beiden Konfessionen heute sehr
aktuell, auch wenn dabei die Hoffnung als. konstitutives Moment
der Rechtfertigung im klassischen Sinne dieses Wortes weniger
bedacht zu werden pflegt. Als theologische Tugend, die ja nicht
einfach von den existential-ontologischen Überlegungen eines E.
Bloch und anderer heutiger Philosophen her allein begriffen wer-
den darf, ist sie zunächst einmal und im letzten Verstand eine
Hoffnung auf die absolute Zukunft, die Gott in sich selber ist, die
sich von sich selber in freier Gnade dem Menschen zuschickt und
nicht einfach und ursprünglich das Werk der eigenen geschicht-
lichen Anstrengung und Tat des Menschen ist, auf die absolute
520
}
Zukunft, die allein ganz und endgültig den Menschen von seiner
Selbstentfremdung befreien kann. Wenn aber bei dieser Hoff-
nung auf die absolute Zukunft in Unmittelbarkeit zu Gott selbst
bedacht wird, was schon bezüglich des ganzen Ternars der gött-
lichen Tugenden über die kategoriale, also innerweltliche Ver-
mittlung zur Unmittelbarkeit Gottes gesagt worden ist, dann hat
natürlich positiv und negativ diese Hoffnung für diejenige Hoff-
nung eine Bedeutung, in der der Mensch bei seiner Weltauf-
gabe seine immer neue, geschichtliche, individuelle und kollek-
tive Zukunft, die er selbst schafft, antizipiert. Solche Hoffnung
und ihr Woraufhin sind notwendige Vermittlungen für die Hoff-
nung auf die absolute Zukunft, die Gott ist. Nur im Vollzug der
innerweltlichen Hoffnung kann der Mensch seine Hoffnung auf
die absolute Zukunft in echter Freiheit realisieren. Und nur wenn
er seine innerweltlichen, immer neu kreativ hoffend zu ergreifen-
den Ziele seiner Geschichte in dieser göttlichen Hoffnung an-
strebt, gewinnt er die richtige Haltung zu seinen erhofften inner-
weltlichen Zielen und Aufgaben. Weil er eine absolute Hoffnung
hat, in der er auf eine absolute Zukunft ausgreift, die ihm durch
Siege und Untergänge hindurch von Gott her geschenkt wird, hat
er das richtige Verhältnis zu seinen innerweltlichen Zielen: er
wird weder seine Gegenwart noch seine innerweltliche Zukunft
vergötzen, er kann seine dauernde geschichtliche Bewegtheit in
einer letzten Angstlosigkeit annehmen und aushalten, er kann
echt geschichtlich leben, ohne seiner Geschichtlichkeit einfach
zu verfallen und untertan zu sein. Er kann wirklich gelassen le-
ben; er wird der geschichtlichen Aufgabe nicht als einer letztlich
wesenlosen entfliehen, weil sie die kategoriale und notwendige
Vermittlung zur Unmittelbarkeit auf die absolute Zukunft hin
ist, und er hält weder eine vergangene noch gegenwärtige noch
zukünftige innerweltliche Zukunft so verabsolutierend fest, als
ob er ohne sie nicht existieren könnte. Für den Christen ist die
göttliche Tugend der Hoffnung der Grund und die Befreiung sei-
ner weltlichen Hoffnung, selbst wenn er weiß, daß solche gött-
liche Hoffnung auch außerhalb des institutionellen und verbali-
sierten Christentums Ereignis sein kann. Weltaufgabe und Heils-
aufgabe fallen für ihn nicht einfach in eins, bedingen sich aber
521
gegenseitig. Rechtfertigung kann in ihrem konkreten Vollzug
durchaus ein Lassen eines innerweltlichen Wertes erfordern, wo
und wenn dies die Realisation des Glaubens und der Hoffnung
auf eine absolute Zukunft, die Aufgabe eines innerweltlichen
Götzen bedeutet; kann also Askese implizieren, insofern diese die
antizipierende glaubende und hoffende Vorwegnahme des Todes
ist, in dessen Untergang die absolute Zukunft rein ergriffen wird,
kann aber nie einfach Weltflucht schlechthin bedeuten, weil auch
solche Weltflucht, so sie an sich selbst und allein als das vom Men-
schen getane Mittel der Erreichung des absoluten Zieles des Men-
schen verstanden würde, nochmals leugnen würde, daß die abso-
lute Zukunft, die Gott, ist, letztlich sich von sich selbst allein her
in freier Gnade schenken muß.
Es wäre zu unserem Gesamtthema an sich noch vieles zu sagen,
was jetzt nur eben noch angedeutet werden kann. Es wäre .z. B.
von der christlichen Logik der existentiellen Entscheidung zu
handeln, d.h. von der Frage, wie eigentlich ein Christ erkennt,
daß hier und jetzt in einer konkreten Situation, also gerade auch
in seiner Weltaufgabe, gerade dieses und nicht jenes innerwelt-
liche Ziel als Gegenstand seiner Wahl die hier und jetzt verpflich-
tend gebotene Vermittlung zur Unmittelbarkeit zu Gott, das Ma-
terial, die Leibhaftigkeit seiner Unmittelbarkeit zu Gott sei, die
ihn rechtfertigt und ins Heil bringt. Diese Erkenntnis kann ja
nicht allein durch die allgemeinen Normen der christlichen Sitt-
lichkeit deduktiv gewonnen werden; die Findung des konkreten
Willens Gottes in einer konkreten Situation ist nicht nur die An-
wendung allgemeiner Normen auf einen bestimmten Fall; Praxis
und Freiheit sind nicht nur die Konsequenz aus Theorie und all-
gemeiner Vernunft. Wie aber solche Logik existentieller Ent-
scheidung aus der Gnade heraus, die « Unterscheidung der Gei-
ster», die Findung der individuellen Entscheidung als von Gott
her gewollte konkret zustande kommen, das ist eine Frage, die in
der traditionellen Schultheologie der Gnade und der Rechtferti-
gung noch längst nicht genügend bedacht ist, hier aber nicht wei-
ter verfolgt werden kann. Weiterhin dürfte bei unserem Thema
auch eine Theologie der Sünde und des Kreuzes viel ausdrück-
licher eingebracht werden, weil weder Rechtfertigung noch Welt-
522
aufgabe des Christen ohne diese beiden Aspekte sachgerecht und
realistisch verstanden werden können. Wenn der Mensch auch
in einer katholischen Rechtfertigungslehre durchaus als «simul
iustus et peccator» verstanden werden kann und muß, dann ist
damit gegeben, daß sein «Stand» als Gerechtfertigter und seine
Weltaufgabe immer auch unter der Bedrohung und der verwirk-
lichten Realität dessen stehen, was wir christlich Sünde nennen.
Es bleibt darum immer in einer letzten Weise verhüllt und dem
Gericht Gottes bedingungslos anheimgegeben, ob der Einzelne
seine Rechtfertigung erfaßt hat, ob seine Weltaufgabe sachge-
recht und persongerecht als Konkretheit seiner Rechtfertigung
erfüllt worden ist. Dabei müßte (auch im Rückgriff auf eine rich-
tig verstandene Erbsündenlehre) mitbedacht werden, daß Sünde
nicht bloß im Bereich einer privaten Innerlichkeit und Gesinnung
ist, sondern sich auch objektiviert in geschichtlichen und gesell-
schaftlichen Institutionen, von denen ebenso das vom Menschen
nicht rein scheidbare Ineinander von Gerechtigkeit und Sünde
gilt. Unser Thema müßte ebenso konfrontiert werden mit einer
Theologie des Kreuzes als der Konkretheit der Sünde und der Er-
lösung in einem. Von da aus wäre die Eigenart der christlichen
Weltinterpretation und Weltaufgabe zwischen Kreuz und Auf-
erstehung genauer zu bestimmen, weil selbstverständlich die
christliche Weltaufgabe die Eigenart der Existenz des Gerecht-
fertigten teilt, der in diesem Leben vor dem Tod im Übergang
zwischen dem Tode Jesu und seiner Auferstehung existiert.
oO[5e)[&)
GESETZ UND GERECHTIGKEIT
IM KATHOLISCHEN VERSTÄNDNIS
524
käme, würde dies mich weder verwundern noch erschrecken.
Denn ich bin (nebenbei bemerkt) der Meinung, daß sich seit den
Zeiten der Reformation in der katholischen und der evangelischen
Theologie die Auffassungen über Gerechtigkeit und Gesetz so
geklärt und vor allem in jeder Kirche weiter differenziert haben,
daß dieses Thema keinen legitimen Grund einer Kirchentren-
nung darstellt. Natürlich werden sowohl evangelische wie aber
auch katholische Theologen bei dem, was ich sagen werde, Män-
gel und Lücken, subjektive Akzentsetzungen usw. entdecken,
mit denen sie gewiß nicht einfachhin einverstanden sein werden.
Wenn hier das Thema die Darstellung eines katholischen Ver-
ständnisses des Verhältnisses zwischen Gesetz und Gerechtigkeit
gebietet, dann kann dies ja von vornherein nur bedeuten, daß der
Verfasser einer begründbaren Überzeugung davon ist, daß sein
Verständnis dieses Verhältnisses sich im Rahmen der katholischen
Theologie und der kirchlichen Verkündigung bewegt, ohne dar-
um den Anspruch zu machen, mit diesen Größen einfach iden-
tisch zu sein. Wie sich das, was ich sagen möchte, zu einem heuti-
gen jüdischen Lebensverständnis verhält, darüber wage ich über-
haupt keine Aussage. Aber fangen wir nach diesen Vorbemerkun- _
gen nun mit dem "Thema selber an.
Ich höre das Wort: Gesetz. Tausend verschiedene und sich wi-
dersprechende Gedanken und Emotionen werden bei diesem
Wort in mir wach. Hunderterlei Gesetze, Normen, Vorschriften,
Regeln, Gebräuche, Verhaltensmuster, Tabus usf. kommen auf
mich zu und erwarten von mir die Huldigung meiner Freiheit
und meinen Gehorsam. Die Herkunft dieser unzähligen Gesetze
unter den verschiedensten Namen ist auch noch einmal mannig-
faltig. Da sind die Gesetze dessen, was wir Natur nennen, und sie
bestrafen Ungehorsam gegen sie mit Krankheit, Tod, Zerrüttung
unseres eigenen Lebens, und selbst dann noch, wenn wir unwis-
send und schuldlos gegen sie verstoßen. Ich suche ihnen gehorsam
zu sein, auch wenn sie den Eindruck machen, mich als Subjekt
der Freiheit empfindlich einzuschränken, weil ich ihr Todesurteil
über mich fürchte und im voraus zu allen tiefsinnigeren Über-
legungen einen - manchmal doch reizenden — Widerspruch gegen
das drohende Todesurteil dieser Gesetze letztlich doch nicht für
525
sehr sinnvoll halte. Da sind die Gesetze, Normen und Gebräuche
der Gesellschaft, die mich geboren hat und in der ich leben muß.
Teilweise kommen sie mir, gewissermaßen als Fortsetzung und
Interpretation der genannten Naturgesetze, als relativ sinnvoll,
als nützlich und unvermeidlich vor, und ich gehorche ihnen un-
gefähr so wie den Naturgesetzen, eben als Normen, gegen die zu
verstoßen nicht recht sinnvoll ist. Teilweise aber kommen mir
diese Normen und Gesetze der Gesellschaft als fragwürdig, als
sinnlos, als Einschränkungen meiner Freiheit vor, gegen die man
Protest einlegen kann, die sich bloß von außen aufdrängen, ohne
daß man sie wirklich internalisieren, sich zu eigen machen, sie als
Gesetz empfinden könnte, das die eigene Freiheit sich selber ge-
geben hat. Wo solche gesellschaftlichen Gesetze ernsthaft als
bloß solche empfunden werden können (und solche gibt es), dann
ist nur noch die Frage, wie weit man sich ihnen doch anzupassen
bereit sein muß, weil wegen der gesellschaftlichen Sanktion ihre
Verletzung sich nicht lohnt, oder ob man sich ihnen lebensklug
entziehen kann, weil es — auch christlich gesehen - eine legitime
Entmythologisierung und Enttabuisierung der verpflichtenden
Hoheit gibt, mit der eine Gesellschaft ihre Normen dieser Art zu
umkleiden pflegt, um ihnen Gehorsam zu verschaffen. (Die
Emanzipierung des frühen Christentums von den gesellschaft-
lichen und religiösen Normen seiner jüdischen Herkunft kann
durchaus zunächst einmal als ein solcher Vorgang interpretiert
werden). Ob solche Gesetze der Gesellschaft von der ersten oder
zweiten Art sind, das läßt sich im konkreten Fall sehr oft nicht
leicht sagen, und die meisten der Normen der Gesellschaft, wie
sie auf uns zukommen, sind ein Amalgam aus den beiden Arten,
die wir eben unterschieden haben, und sind darum hinsichtlich
ihrer Beständigkeit und ihres moralischen Anspruchs auch nicht
einfach in sich völlig homogen. Mir ist aber auch darüber hinaus
eine andere Art von Gesetzen bekannt, die sich nicht einfach von
der Gesellschaft oder der Natur in einem physiologischen Sinne
herleiten lassen. Gerade dem, der sich frei weiß, d. h. die Verant-
wortung seiner Taten nicht auf ein anonymes «Es» hinter seiner
Subjektivität abzuwälzen bereit ist, kommen Forderungen ent-
gegen, die sich weder von Natur aus durchsetzen noch die Objek-
526
tivationen der Gesellschaft allein bedeuten, sondern die Freiheit
als solche selber beanspruchen, freisprechen oder verurteilen, aus
einer geheimnisvollen Tiefe des freien Subjekts selbst emporstei-
gen, so daß, wenn sie nicht befolgt werden, sie das Subjekt selbst
mit sich in einen tödlichen Widerspruch bringen. Wahrhaftig-
keit, Liebe, Treue, Bereitschaft, Verantwortung zu tragen, die
Forderung, die Würde seiner eigenen Existenz zu wahren und
ebenso die jedes anderen Menschen - solche und andere «Ge-
setze» mögen, was die konkrete Inhaltlichkeit ihrer Forderung
hier und jetzt angeht, immer noch ein Moment des geschichtlich
und gesellschaftlich Bedingten in sich haben, ihr eigentlicher
Sinn und ihre eigentliche Würde aber sind letztlich von diesen
Bedingtheiten unabhängig, sind der Ausdruck dessen, was der
Mensch als freies Subjekt sein soll, haben eine Würde von Ab-
solutheit und Unbedingtheit. Wie sie in dieser Absolutheit weiter
und tiefer zu deuten sind, darüber gehen unter den Menschen die
Meinungen auseinander. Aber man kann sehr wohl daran zwei-
feln, daß es einigermaßen normal entwickelte Menschen gibt,
denen solche Gesetze nicht begegnet sind. Denn selbst der, der die
Gegebenheit solcher absoluter Forderungen leugnet, wird diese
Leugnung konkret, wenn vielleicht auch unreflex, mit dem Be-
wußtsein vollziehen, er müsse an dieser Überzeugung festhalten
und dürfe sie um keinen Preis verleugnen; er bejaht also die ab-
solute Verbindlichkeit des Bekenntnisses zur Wahrheit. Die Exi-
stenz solcher Gesetze wird auch, wie schon gesagt, nicht dadurch
in Frage gestellt, daß ihre materiale Inhaltlichkeit,
mit der sie auf-
treten, in den einzelnen Zeiten, Völkern, Kulturen, Gesellschaf-
ten sehr verschieden ist, bis zum materialen Widerspruch. Der
Christ interpretiert die absolute Hoheit dieser Gesetze wenig-
stens in ihrem formalen Anspruch als Willen Gottes, als Gesetz
Gottes. Die Richtigkeit dieser Interpretation soll hier nun nicht
eigentlich argumentativ dargetan werden, sie sei hier einfach
vorausgesetzt. Dies ist darum nicht so abwegig und keine billige
Ausflucht, weil wir durchaus voraussetzen können, daß das Wis-
sen um Gott und seinen willentlichen Anspruch an uns gar nicht
als einfach andere Erkenntnis von außen zur Erfahrung absoluter
Gesetze hinzutritt, so daß diese beiden Wissensinhalte nachträg-
527
lich verknüpft werden, sondern das Wissen um Gott gar nichts
anderes ist als die radikale Interpretation der Erfahrung der ab-
soluten Gesetze, der Freiheit und ihrer Verantwortung. Wo man
der Würde dieser Gesetze in freiem Gehorsam begegnet, hat
man schon erfahren, was mit dem Wort Gott gemeint ist, auch
wenn man dieses explizit theologische Vokabular nicht kennt und
zu gebrauchen versteht. Aber einige Bemerkungen über Gesetz
als Wille Gottes müssen dennoch gemacht werden, damit ein
Verständnis der explizit christlichen Theologie über dieses Thema
erreicht werden kann. Mindestens in weitestem Umfang (über
einen anderen Gegenstandsbereich wird noch zu sprechen sein)
beziehen sich diese Gesetze, die als heiliger Wille Gottes verstan-
den werden, und soweit sie konkrete Forderungen auf eine Er-
füllung erheben, auf endliche, innerweltliche, von Gott verschie-
dene Wirklichkeiten und Werte des Menschen und seiner Gesell-
schaft: die Respektierung einer sinnvollen Ordnung der Gesell-
schaft, das Leben und den Freiheitsraum des Nächsten usw. Damit
aber ist ein fundamentales Problem gegegeben, das, so will mir
scheinen, im Durchschnitt weder von der jüdischen noch von der
christlichen noch von der «mohammedanischen » Theologie deut-
lich genug reflektiert wird. Wie kann auf einem endlichen Wert,
so hoch er auch gedacht werden mag, ein absoluter Anspruch
ruhen? Ohne Berufung auf Gott, scheint diese Frage von vorn-
herein unbeantwortbar zu sein. Sagt man aber, diese Werte erhö-
ben einen absoluten Anspruch an unsere Freiheit, wie die christ-
liche Theologie sagt, als Wille Gottes, dann ist immer noch die
Frage offen, wie Gott sinnvollerweise solche endlichen Werte als
absolut wollen könne, wie er sie wichtiger nehmen könne als sie
doch sind (und er sie in seinem eigenen Verhalten zu ihnen selber
nimmt), wie man diesen absoluten Anspruch dieser Wirklich-
keiten von Gott her erkennen könne. Muß angesichts dieser Frage
ein Christ doch wieder zu einer Ethik profaner Nüchternheit zu-
rückkehren, die auf die vernünftige Sachgerechtigkeit aufmerk-
sam macht, deren Verletzung ja den Menschen letztlich doch zu
Übeln führt, deren Vermeidung als bloß hypothetisch und bedingt
zu bejahen, er gar nicht fertigbringt? Sind diese Gesetze eben doch
nur insofern Wille Gottes, als man den anderswoher erkannten
528
Gott sinnvollerweise nicht anders denken kann als den, der die
endliche Summe von Wirklichkeiten und Werten jetzt will, weil
er sie als Schöpfer gewollt hat? Ist aber der Wille Gottes als des
Gesetzgebers im Grunde dann doch einfach identisch mit dem
Willen Gottes des Schöpfers, der eine sehr endliche und bedingte
Welt gewollt hat, in der es gar nichts geben kann, was absolut und
unbedingt wichtig ist? Man kann natürlich schon an diesem Punkt
darauf verweisen, daß das eigentliche und ausdrückliche Verhält-
nis des Menschen zu Gott wegen Gott als des Bezugspunkts dieses
Verhältnisses eine solche Dignität und Absolutheit hat, daß für
dieses Verhältnis unser Problem nicht mehr in Frage kommt, daß
das Gesetz, Gott zu suchen, auf seine Unbegreiflichkeit hin offen
zu sein, ihn anzubeten und ihn — so etwas möglich ist — zu
lieben, auf jeden Fall diese absolute Dignität habe, über die hin-
sichtlich von göttlichen Gesetzen mit einem innerweltlichen In-
halt uns Zweifel gekommen sind. Man kann dann darauf beste-
hen, daß von daher die Gebote mit einem endlichen materialen
Inhalt als Gesetz dieses Gottes, zu dem wir ein Verhältnis von ab-
soluter Verpflichtung haben, dennoch einen solchen absoluten
Charakter haben könnten, auch wenn ihr materialer Inhalt als
solcher ihn nicht hergeben kann. Aber damit geraten wir wieder
in eine neue Frage hinein: wie ist dieses Verhältnis zu Gott, das
die unbedingte Würde des eigentlich sittlichen Gesetzes tragen
soll, genauer zu denken, damit dieses Verhältnis jene Absolutheit
des Gesetzes tragen oder (das ist noch ganz unklar) auch von sich
absetzen und in etwa relativieren kann?
Mit dieser Frage sind wir an einen Punkt gelangt, bei dem ganz
neu angefangen werden muß und an dem das andere Wort un-
seres Gesamtthemas in Sicht kommt: Gerechtigkeit. Wieso dem
so ist, wird sich gleich zeigen. Gerechtigkeit in einem christlich-
theologischen Sinn bedeutet nicht eine Einzeltugend im gesell-
schaftlichen Bereich, sondern das einfachhin richtige, seinsollende,
den Menschen ins Heil bringende Verhältnis des Menschen zu
Gott, bedeutet Heiligkeit, Friede schlechthin, Versöhntheit mit
Gott, um wenigstens ein paar andere Worte der Schrift und Tradi-
tion zu nennen, die letztlich dasselbe meinen wie Gerechtigkeit,
diesem Wort aber damit auch den Eindruck nehmen, es handle
529
sich bei dieser Gerechtigkeit um ein Rechtsverhältnis zwischen
- Gott und dem Menschen, das von einer beiden Parteien über-
geordneten Instanz geregelt werde und das richtige Verhältnis
herstelle, wenn beide Parteien sich an diese höhere Norm halten.
Es ist klar, daß es für den Christen eine solche Gerechtigkeit nicht
gibt. Diese Gerechtigkeit der endlichen und sündigen Kreatur
muß christlich ganz anders gedacht werden. Sie ist die unge-
schuldete, von Gottes souveräner Liebe verfügte Gabe, sie ist, so-
sehr sie in Freiheit angenommen werden muß, Gottes Heiliger
Geist selbst, kurz Gott selbst, der sich der geistigen Kreatur mit
seinem eigensten göttlichen Leben mitteilt, so daß Gott nicht nur
der schöpferische Geber einer von ihm verschiedenen endlichen
und den Menschen vervollkommnenden Gabe ist, sondern er als
solcher die Gabe selbst. Wie dies genauer zu verstehen ist, und wie
der Mensch selbst zu denken sei, damit er der Empfänger einer
solchen Gabe, capax infiniti, sein könne, das kann hier jetzt nicht
deutlicher dargelegt werden. Wenn aber die Lehre des Christen-
tums vom Wesen und der Bestimmung des Menschen, von seiner
Vollendung und Gerechtigkeit radikal verstanden wird und man
dabei nicht in naiven Bildern stecken bleibt, kann darüber kein
Zweifel bestehen, daß das richtige Verhältnis des Menschen zu
Gott nur in freier Initiative Gottes von Gott hergestellt wird, daß
es nicht eigentlich ein «Zwischen» zwischen uns und Gott be-
deutet, das auch von Gott verschieden wäre, sondern daß es der
sich selbst mitteilende Gott ist, Heiliger Geist, der selber Gott ist.
Er selbst gibt sich selber als die innerste Mitte unserer Existenz;
ja er kommt dabei nicht eigentlich von außen als zusätzliche
Wirklichkeit auf uns zu, sondern ist von vornherein das Inwen-
digste in uns, weil das, was wir die Schöpfung des von Gott ver-
schiedenen Endlichen nennen, in der konkreten Ordnung ge-
schieht, indem und weil Gott als die Liebe sich verschwenden
will und verschwendet und darum und dabei den Endlichen
schafft, an dem das Wunder solcher sich selbst weggebenden Liebe
Gottes geschehen kann. Nochmals: es ist hier nicht möglich, das
Gesagte näher zu erläutern und deutlich zu machen, daß damit
nicht eine utopische Spekulation vorgetragen wird, die in der
nüchternen Alltagserfahrung keinen Ausweis mehr hätte.
550
!
Mit dem eben Gesagten sind wir für unsere Frage nach dem
Verhältnis von Gesetz und Gerechtigkeit in eine merkwürdige
Situation geraten. Das Wort Gesetz führte uns zu einer Erfah-
rung einer heilig unbedingten Forderung an das Freiheitssubjekt,
zu einem Gesetz, das als heiliger Wille Gottes zu verstehen ist
und nur so in seinem wahren Wesen begriffen wird. Das Wort
Gerechtigkeit führte uns aber nicht, wie man vielleicht hätte er-
warten sollen, zum Begriff des Zustandes des Subjekts, das in Frei-
heit das Gesetz vollbringt, sondern zu einer Wirklichkeit, die min-
destens im ersten Ansatz nichts mit Gesetz und Gesetzeserfüllung,
mit Moral zu tun hat, sondern diesem moralischen Bereich un-
endlich überlegen ist und in dem Wunder der Liebe besteht, in
der Gott sich selbst als innerstes Leben dem Menschen mitteilt.
Gesetz und Gerechtigkeit in diesem eigentlichen biblischen Sinn
sind zunächst einmal so weit voneinander entfernt wie sachliche
Normen, die dem Wesen endlicher Wirklichkeiten entspringen,
und der unendliche Gott, wie Erfüllung von Normen, die von
außen an den Menschen herantreten und in etwa auch noch « von
außen » sind, wenn sie Forderungen des noumenalen Subjekts an
die konkrete Freiheit sind, und die Liebe, in der die Liebe Gottes
und des Freiheitssubjekts eins werden, weil in der radikalen Frei-
heit solcher Liebe das menschliche Freiheitssubjekt wirklich radi-
kal zu sich selbst und nicht mehr bloß zu einer Norm von außen
kommt, weil in dieser Liebe Gott sich selber gibt und nicht mehr
eine in ihrem Inhalt von ihm verschiedene Norm legitimiert, und
weil er in dieser seiner Selbstmitteilung gerade noch einmal un-
sere Liebe zu ihm ermöglicht, trägt und so befreit, daß sie wirk-
lich Gott selbst erreicht und nicht doch noch in unendlicher Ferne
von ihm in ihre eigene Endlichkeit zusammensinkt. Gesetz und
Gerechtigkeit sind für ein christliches Verständnis zunächst ein-
mal ganz disparate Größen. Man kann natürlich mit Recht sagen,
der zu dieser Gerechtigkeit sich selbst mitteilende Gott unend-
licher Liebe sei doch derjenige, dessen Wille die Beobachtung der
materialen sittlichen Einzelnormen, des « Gesetzes » wolle, so daß
nur unter der Voraussetzung dieser Erfüllung des Gesetzes das
Wunder der Einheit von Gott und Mensch in der Gerechtigkeit
geschehe, die die Liebe zwischen Gott und Mensch von innen her
551
ist. Das ist natürlich richtig; diese These, in der Gesetzeserfüllung
zur Vorbedingung oder Konsequenz (beides kommt auf dasselbe
hinaus) gemacht wird für die Gerechtigkeit als Einheit der Liebe,
ändert aber nichts an dem radikalen Unterschied zwischen Ge-
setz und Gerechtigkeit, die eben nicht die Erfülltheit des Gesetzes
ist. Man kann natürlich, wenn auch nur unter Verdunkelung der
Tatbestände, sagen, daß der Mensch ein «Gebot» habe, Gott zu
lieben, und man kann so die Liebe zu Gott unter die Erfüllung des
Gesetzes subsumieren und so doch wieder die Gerechtigkeit der
Liebe zu einem Stück oder (wenn man will) zum Ganzen der Ge-
rechtigkeit machen, die die Erfüllung des Gesetzes ist. Das mag
eine Sprache sein, die uns vom Neuen Testament her nicht ein-
fach verboten ist, weil sie hier auch da und dort benutzt wird.
Aber wenn man nicht nur vom Gebot der Göttesliebe spricht,
sondern darüber hinaus dieses Gebot unter das Gesetz im allge-
meinen subsumiert, dann bleibt nicht mehr deutlich, daß diese
Liebe zu Gott nicht die Erfüllung eines Gesetzes ist, das von seiner
doch wieder endlichen Würde her einen Respekt der Größe Got-
tes in Anbetung verlangen würde und - scholastisch formuliert —
religio und nicht Gottesliebe heißen würde, sondern unmittel-
barste Nähe zwischen Gott und Mensch ist, bei der eigentlich von
Gesetz nicht mehr die Rede sein kann, weil der Gesetzgeber sich
durch seine Selbstmitteilung überbietet und in der personalen
Liebe des Menschen zu Gott alle Norm von außen verschwunden
oder überholt ist. Diese Liebe zwischen Gott und Mensch kennt
kein Gebot, ist kein Gesetz im eigentlichen Sinne, weil diese
Liebe nicht die Respektierung einer sittlichen Forderung ist, die
außer oder über dem materialen Gebotenen steht, weil diese
Liebe nur sich selber Inhalt, Sinn und Forderung gibt.
Mit dieser Distanzierung zwischen Gesetz und Gesetzerfüllung
einerseits und Gerechtigkeit als Liebe anderseits ist natürlich
die Problematik des Verhältnisses dieser beiden Begriffe noch
nicht bewältigt. Auch dann noch nicht, wenn, wie schon gesagt
wurde, die Erfüllung des Gesetzes als Vorbedingung oder uner-
läßliche Konsequenz aus der Gerechtigkeit als Liebeseinheit zwi-
schen Gott und Mensch proklamiert wird, wobei «Vorbedingung »
kein zeitliches, sondern ein logisches Prius, und das auch nur in
552
gewisser Hinsicht, meint. Wir sind zunächst schon früher auf das
Problem gestoßen, wie denn genauer verständlich gemacht wer-
den kann, daß vom Willen Gottes her die materiale Inhaltlich-
keit eines moralischen Gesetzes einen absoluten Charakter erhal-
ten könne. Jetzt können wir diese Frage genauer präzisieren, auch
wenn dadurch die Antwort vielleicht noch schwerer wird. Wir
können fragen: Besteht die Absolutheit der einzelnen moralischen
Gesetze über deren sachhafte (aber in etwa hypothetische) Sinn-
haftigkeit hinaus darin, daß ihre Erfüllung Vorbedingung und
Konsequenz der Absolutheit der Liebe zwischen Gott und Mensch
ist? Wenn wir uns auf diese Annahme einlassen, wenn wir mit
anderen Worten annehmen, daß die Einzelgebote und -gesetze
ihre absolute Verbindlichkeit gerade dadurch und nur so erhal-
ten, daß sie Vorbedingungen und Konsequenzen der Liebe zwi-
schen Gott und Mensch sind und ohne diesen Zusammenhang
zwar immer noch das Vernünftige, Sachgemäße, Vorzuziehende
aussagen würden, aber nicht einfach und schlechthin unbedingt
wären, dann täten wir uns zwar leicht, indem wir die unbedingte
Normativität des Gesetzes als Theonomie deuten. Aber das schon
früher angedeutete Problem wäre nicht aus der Welt geschafft,
die Frage nämlich, ob, warum und wie der heilige Wille Gottes
den endlichen Werten, die den materialen Inhalt der Gesetze
ausmachen, einen solchen Charakter der Unbedingtheit verleihen
könne, wenn diese Werte doch endlich sind und bleiben. Minde-
stens dem Menschen von heute ist es vielleicht doch nicht so
selbstverständlich, daß man Gott nur lieben könne, wenn man
die innerweltlichen Normen respektiere, wo doch die von diesen
geschützten Werte sehr endlich und darum bedingt und in einem
dauernden Widerspruch untereinanderstehend erscheinen und _
es den Anschein haben mag, daß Gott durch die blinde Natur mit
ihren Antagonismen hindurch auch nicht zu viel Gewicht auf
ihre Verwirklichung lege. Kommt diesen endlichen Werten, die
den materialen Inhalt der Gesetze bilden, vom Willen Gottes her
ein Absolutheitscharakter zu, weil dieser Wille, der sich auf sie
bezieht, durch eine positive Offenbarung Gottes uns mitgeteilt
wird und durch solche Offenbarung, und nur so, diese Normen
ihren Absolutheitscharakter erhalten, den sie sonst gar nicht hät-
885
ten? Man könnte vielleicht so denken, auch wenn eine solche
Vorstellung von Einheit zwischen Sachnormen und Wille Gottes
mit der traditionellen Lehre vom Naturgesetz und Naturrecht
wohl kaum in Einklang gebracht werden kann, weil diese Lehre
schon unabhängig von einer eigentlichen übernatürlichen Offen-
barung dem Naturgesetz eine absolute Verbindlichkeit zuschreibt.
Aber auch wenn man sich über diese Schwierigkeit meint hin-
wegsetzen zu können, ist doch noch nicht alles klar. Zunächst ist
wohl immer noch undeutlich, wie ein absoluter Wille Gottes,
auch wenn er jetzt als ausdrücklich geoffenbart verstanden wird,
sich so mit endlichen Werten und Sachnormen verbinden könne,
daß die diese Werte bejahenden Sachnormen nun absolute Ge-
bote Gottes selbst werden und ein Verstoß gegen sie wirklich Gott
als solchen selbst treffe. Weiter würde die Frage entstehen, ob
eine Offenbarung eigentlicher Art wirklich unmittelbar auf solche
Sachnormen sich beziehen kann, die der Welt als solcher ange-
hören, wenn man einen richtigen Begriff der übernatürlichen
Offenbarung hat, der nicht erlaubt, alles und jedes sachlich Rich-
tige auch zum möglichen Gegenstand einer eigentlichen Offen-
barung zu machen (es sei denn, daß Gott dies so offenbaren
wolle). Daß sich eine göttliche Offenbarung auf die eigentliche
/ Selbstmitteilung Gottes in Gnade und Inkarnation des Logos an
Transzendentalität und Geschichte des Menschen beziehen könne
und beziehe, ist klar, weil solches eben nur durch Gott selbst mit-
geteilt werden kann und nicht durch die Konstitution einer end-
lich kreatürlichen Wirklichkeit, die von Gott verschieden ist. Daß
aber innerweltliche Normen auch Gegenstand solcher göttlicher
Offenbarung sein können, wenn ihr eigentliches Wesen in der an-
gedeuteten Weise begriffen wird, ist nicht klar. Daß bei einem
solchen Verständnis von Offenbarung im eigentlich christlichen
Sinn die alttestamentliche Offenbarungsgeschichte und auch das
Alte Testament als Buch zu einer schwierigen Frage werden, weil
darin diese eigentliche neutestamentliche Selbstmitteilung Gottes
in Jesus, dem menschgewordenen Wort, und im Heiligen Geist als
Gott selbst noch gar nicht sich ereignet hat, ist auch ohne weiteres.
verständlich. Man könnte nun mehrere der eben genannten
Aporien dadurch zu überwinden suchen, daß man auch die eigent-
554
lich göttliche Offenbarung sich immer und überall ereignen läßt
durch die innere Gnade Gottes, die jedem Menschen immer und
überall angeboten ist, so daß unthematisch und in einem gewissen
Sinne anonym Offenbarung im eigentlichen Sinne als Selbstmit-
teilung Gottes natürlich auch im Bereich des Alten Testamentes
gegeben ist und sie insgeheim eben doch dann dem Gesetz des
Alten Bundes seinen Absolutheitscharakter mitteilen kann und
von da aus, d. h. von der Selbstmitteilung Gottes als Gnade und
Offenbarung her, die allen immer und überall angeboten ist, auch
außerhalb einer expliziten, thematischen und worthaften Offen-
barung der Absolutheitscharakter des Gesetzes erfahren wer-
den könne. Damit wären wir wieder bei dem Grundproblem,
warum und wie sich der heilige Wille Gottes, jetzt als gnaden-
hafte und offenbarende Selbstmitteilung Gottes verstanden, mit
endlichen Werten verbinde und ihnen so den Charakter eines un-
bedingten Sollens verleihe. Ich muß gestehen, daß mir eine Ant-
wort auf diese Frage, die ja identisch ist mit der Frage nach der
Verbindung von Gesetz und Rechtfertigung, nicht klar ist. Soll
diese Verbindung unmittelbar im Bereich des Allgemeinen da-
durch hergestellt werden, daß gesagt wird, der Heilige Gott, der
sich rechtfertigend unsin seinereigensten Wirklichkeit mitteilt, sei
eben der Schöpfergott in Identität, der die Respektierung der
Strukturen der Wirklichkeit verlangen muß, da er sie doch selber
gewollt hat, und der darum keine liebende Einheit mit dem
menschlichen Freiheitssubjekt eingehen könne, wenn dieses die-
sen seinen Willen nicht respektiere? Aber, so könnte man viel-
leicht eben doch gegen diese Auskunft einwenden: ist dieser Wille
Gottes, der sich auf ein endliches Bedingtes und oft zu anderen
Wirklichkeiten Antagonistisches bezieht, so absolut, daß von sei-
ner Respektierung das einzig und allein wirkliche Absolute ab-
hängt, das Gott in sich selbst und in seiner Selbstmitteilung ist?
Man kann auch versucht sein, die Lösung der Aporie in eine mehr
subjektive Dimension zu verlegen, indem man sagt, es gäbe in
jedem Menschenleben immer wieder konkrete Situationen, in
denen ein Mensch erfährt, daß er faktisch und konkret das «Nein»
zu einem bestimmten innerweltlichen endlichen Wert normati-
ver Art einfach nicht synthetisieren könne mit einer absoluten
839
unbedingten Offenheit auf Gott selbst hin, der ihm seine eigene
Wirklichkeit schenken wolle. Warum im konkreten Einzelfall
eine solche Diskrepanz und Inkompatibilität bestehen könne und
bestehe zwischen der Verneinung eines endlichen Wertes und der
Annahme der Selbstmitteilung Gottes, ist dann freilich immer
noch dunkel. Es stünde aber, so meine ich, der Annahme einer
Individual-Offenbarung nichts im Wege, die diese Diskrepanz
nicht nur mitteilt, sondern auch setzt, wobei eine solche Indi-
vidual-Offenbarung gar nicht auffallend oder mirakulös gedacht
werden müßte, sondern einfach ein Stück der Konkretheit des
Gottes bedeuten würde, der nach christlicher Überzeugung sich
auf jeden Fall in der Mitte unserer Existenz mitteilt. Wird bei
einer solchen Lehre nicht an einen abstrakten Wesensgott, son-
‘ dern an einen Gott personaler, je an den einzelnen als solchen
sich richtender Freiheit gedacht, dann wäre eine solche Lehre von
einer Individual-Offenbarung, die das innerweltlich Richtige zu
einem von Gott hier und jetzt absolut Gewollten, d. h. unlöslich
mit seiner Selbstmitteilung faktisch Verbundenen macht, auch
nicht verwunderlicher und unglaubwürdiger als die Lehre von der
allgemeinen Offenbarung. — Wir können hier dieses Problem des
Verhältnisses zwischen Gesetz und Rechtfertigung als Begnadi-
gung mit Gott selbst nicht mehr weiter verfolgen. Der Unter-
schied zwischen beiden Größen, den die evangelische Theologie
betont, und der Zusammenhang dieser voneinander zu unter-
scheidenden Größen, den die katholische Theologie mehr betont,
sind zwei Wirklichkeiten, die beide deutlich gesehen und im
christlichen Leben realisiert werden müssen. Menschliche Sittlich-
keit hat etwas mit unserem Verhältnis zu Gott zu tun, und dieses
Verhältnis einigender Liebe zwischen Gott und Mensch ist doch
etwas ganz anderes als eine moralische Bravheit des Menschen,
die von einem Herrn der Welt anerkannt und belohnt wird.
Es ist an der Zeit, wenigstens in einem Satz darauf hinzuwei-
sen, daß wir bisher von einem Aspekt unseres Gesamtthemas
noch gar nicht gesprochen haben: Rechtfertigung bedeutet im
biblischen und kirchlichen Sprachgebrauch auch die Vergebung
der Schuld, die dem Sünder aus freier Gnade Gottes erlassen wird,
wobei die Initiative in dieser Schuldvergebung ausschließlich bei
556
Gott liegt und die erneuerte Hinkehr des Sünders zu Gott schon
die Wirkung dieser göttlichen Initiative ist. Aber so sehr dieser
Aspekt der Schuldvergebung nochmals den radikalen Unterschied
zwischen Gerechtigkeit einerseits und Gesetz und Gesetzeserfül-
lung als solcher anderseits verdeutlichen würde, so kann doch
hier davon nicht weiter gehandelt werden.
Es soll vielmehr zum Schluß noch eine andere Überlegung vor-
getragen werden. Bisher haben wir dieses Verhältnis von Gesetz
und Rechtfertigung so behandelt, als ob es ein immer gleichblei-
bendes, statisches Verhältnis wäre. Dem ist aber nicht so. Dieses
Verhältnis hat selber eine Geschichte; die beiden Größen dieses
Verhältnisses nehmen im Dasein des Menschen nicht immer den
gleichen existentiellen Ort ein und haben darum auch eine Ge-
schichte des gegenseitigen Verhältnisses. Man könnte nun beim
Versuch, über diese Geschichte etwas zu sagen, die allgemeine
Heils- und Offenbarungsgeschichte befragen. Paulus jedenfalls
hatte (vorsichtig gesagt) ein sehr intensives Empfinden für die
Geschichtlichkeit dieses Verhältnisses, für die Zäsur, die durch
das Kreuz Christi in der Geschichte dieses Verhältnisses gegeben
ist. Mindestens darum, weil am Kreuz sich der Sieg der freien,
gerechtigkeitschenkenden Gnade Gottes gegenüber einer bloßen
Gesetzeserfüllung ereignet und als irreversibel bekundet. Jedoch
von dieser allgemeinen Geschichte des Verhältnisses zwischen
Gesetz und Gerechtigkeit soll hier auch nicht mehr die Rede sein.
Aber ein Blick auf die Individualgeschichte dieses Verhältnisses
im Leben des Einzelnen sei doch noch versucht. Auch im Leben
des Einzelnen kann und soll sich ein solcher Sieg der gottge-
schenkten Gerechtigkeit, der Gnade über die heilige Hoheit des
Gesetzes ereignen, das den Menschen fordert und überfordert.
Normalerweise wird der Mensch in der Geschichte seiner Existenz
mit der Erfahrung der heiligen Würde und des Anspruchs des
Gesetzes an ihn beginnen. Schon solche Erfahrung ist von we-
sentlicher Bedeutung und macht den Menschen aus einem findig
egoistischen Lebewesen mit Wissenschaft und gesellschaftlicher
Dressur erst zu einem Menschen der sich selbst verantworten
müssenden Freiheit, gibt erst dem Menschen seine Würde und
seine unabwälzbare Verantwortung. Die Erfahrung des morali-
591.
‚schen Subjekts mit seiner sittlichen Autonomie, wie sie im Ethos
der Aufklärung besonders deutlich wurde, ist eine Erfahrung, auf
‚ die der Mensch nicht verzichten kann und die er auch heute nicht
verschütten darf mit der Berufung auf all die inneren und äuße-
ren, psychologischen, tiefenpsychologischen und gesellschaft-
lichen Determinanten, denen er ausgesetzt ist. Aber die Erfah-
rung des moralischen Subjekts, die natürlich beim einzelnen
Menschen bei sehr verschiedenen Gelegenheiten und bezüglich der.
individuellen Lebensphasen sehr verschieden ist, bedeutet doch
nur den Anfang der religiösen Erfahrung. Das Gesetz, das die
erhabene Würde des Menschen weckte und bestätigte, wird lang-
sam eine drückende Last, ein Gesetz, das überfordert. Langsam
bekommt man den Eindruck, man wisse eben doch nicht so ge-
nau, was es eigentlich von einem fordere, den Eindruck, seine
Forderungen zwängen in unlösliche Dilemmen, den Eindruck, es
überfordere und stürze in Schuld und lasse den Menschen doch
wieder versinken in dem nicht auszutrocknenden Sumpf seiner
Kurzsichtigkeit und seines Egoismus. Man erlebt überdies immer
mehr, daß all der hohe Glanz des sittlich Guten als Leistung des
Menschen sehr endlich, sehr zweideutig, sehr eine Auswahl ist
(wo doch nicht ausgewählt werden dürfte, sondern alle Gerechtig-
keit erfüllt werden müßte), sehr blaß wird, bis man schließlich
nicht mehr recht weiß, ob nicht doch all dieser Glanz des Sitt-
lichen untergeht in der Bewußtlosigkeit der Naturgeschichte.
Kurz, der Mensch macht die Erfahrung der Endlichkeit auch des
menschlich Sittlichen, und diese Erfahrung wird auch dadurch
nicht bewältigt, daß man sich sagt, daß nicht die formale Würde
des Gesetzes als äußere Norm das Entscheidende sei, sondern das,
worauf diese formale Normativität schützend hinweise, die Schön-
heit, die Liebe, die Treue zur Wahrheit und so fort. Denn auch
ein so verstandenes Gesetz bleibt, und zwar auch unter der Sank-
tion Gottes, ein Gesetz des endlichen Menschen, ein Gesetz end-
licher Güte. Im Menschen aber lebt eine Erfahrung eines unend-
lichen Anspruches, auch wenn er diesen gar nicht durch sich
selbst legitimieren kann, eines Anspruchs, der nicht erfüllt wird
durch das Endliche seiner sittlichen Gesetzerfüllung. So aber er-
fährt der Mensch langsam die heimliche Hoffnung, die fast Angst
558
vor sich selber hat, daß es eine Erfüllung der eigenen Existenz
trotz Endlichkeit der menschlichen Sittlichkeit und trotz der von
uns her nicht mehr aufhebbaren Schuld gibt, eine unendliche
Erfüllung, die wir Gott nennen, eine Gerechtigkeit, die nicht von
uns kommt und nicht an unserer Endlichkeit leidet. Wenn diese
Erfahrung immer mehr wächst, von der Freiheit immer radikaler
angenommen wird, immer selbstverständlicher sich auf das ganze
Dasein verbreitet, dann verändert sich damit unser Verhältnis
zum sittlichen Gesetz. Das Gesetz wird von dieser Erfahrung
überholt, das überfordernde und immer überanstrengende Sollen
von außen löst sich langsam auf in ein Mögen und Können von
innen, in das innere Gesetz der Liebe, das der Heilige Geist in die
Herzen schreibt (wie Ignatius von Loyola sagt), seine Erfüllung
wird aus-einer Leistung, die die Respektierung eines heiligen
Gesetzes von außen her ist, die Äußerung einer Liebe, die, weil
Gott selbst besitzend, kein Gesetz mehr ist und in der Freiheit
Gottes selber lebt. Diese Verwandlung geschieht natürlich nicht
plötzlich und auf einmal; sie ist erst dann vollendet, wenn in der
Entsagung des Todes der Mensch alles gelassen hat und in dieser
Leere das unendliche Geheimnis, das Gott ist, ohne Vermittlung
empfängt. Aber, auch wenn in verschiedenen Phasen bei den ein-
zelnen Menschen stehend, ist dieser Prozeß der Verwandlung des
heiligen Gesetzes, das nicht Gott selber ist, in die Gerechtigkeit,
die Gott selber ist, schon bei jedem Menschen im Laufen. Die
theoretische Dialektik zwischen Gesetz und Gerechtigkeit und die
Geschichte des Verhältnisses zwischen Gesetz und Gerechtigkeit,
wie sie in der religiösen Großgeschichte der Menschheit, in der
Offenbarungsgeschichte, in den Büchern des Alten und des Neuen
Testamentes sich abspielt und dokumentiert, ist nur ein Wider-
schein jener Geschichte dieses Verhältnisses, die sich im Herzen
jedes Menschen ereignet, wenn er langsam aus einem Sünder und
Täter des Gesetzes ein durch Gott selbst Gerechtfertigter wird,
der über alle Gesetzesgerechtigkeit hinaus das Leben, die Heilig-
keit, die Freiheit des Gottes empfängt, der über alle Gesetze un-
endlich erhaben ist. Wenn Gott, wie es schon bei Jeremias (31,33)
verheißen ist, sein Gesetz in das Innere des Menschen legt, es
ihm ins Herz schreibt, wenn uns, wie Ezechiel verheißt (36, 26),
559
ein neues Herz und ein neuer Geist anstatt unseres steinernen
Herzens gegeben werden, wenn das Gesetz, um mit Paulus zu
reden (2Kor 3,5), nicht mehr auf steinernen Tafeln, sondern
durch den Geist des lebendigen Gottes auf die Tafeln unserer
Herzen selbst geschrieben ist, dann gibt es kein Problem mehr
zwischen Gesetz und Gerechtigkeit, dann ist das Gesetz erfüllt
durch eine Erfüllung, die nicht mehr Gesetz Gottes, sondern Gott
selbst ist.
540
ÜBER DIE HEILSBEDEUTUNG
DER NICHTCHRISTLICHEN RELIGIONEN
541
Diese Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils ist eine be-
deutsame Hilfe für den Dogmatiker aus verschiedenen Gründen.
Die Erklärung beginnt unter einem Aspekt, dem sich die Kirche
vor dem Zweiten Vatikanum in dieser Deutlichkeit noch nicht
gestellt hatte: Es gibt ein Verhältnis der Kirche zu den nicht-
christlichen Religionen als solchen, also als konkreten gesell-
schaftlichen Wirklichkeiten mit ihren Lehrgebäuden und ihrem
Leben als solchen, und nicht nur ein Verhältnis zu nichtchrist-
lichen Einzelnen. Die Erklärung stellt ferner ihr Thema gar nicht
unter den Gesichtspunkt, wie die Kirche sich nach ihrem Selbst-
verständnis als einmalige Größe von allen anderen Religionsge-
meinschaften unterscheidet. Dieser gewohnte apologetisch-mis-
sionarische Aspekt fehlt hier absichtlich. Das Motiv der Erklärung
wird nicht aus dem Missionsbefehl genommen, sondern aus der
Aufgabe der Kirche, «Einheit und Liebe unter den Menschen
und damit auch unter den Völkern zu fördern ». Damit bezweifelt
das Konzil weder das Selbstverständnis der Kirche als der Präsenz
der Fülle der Offenbarung noch ihre dringliche Verpflichtung zur
Mission. Das Konzil eröffnet aber eine Perspektive zu größerer
Gelassenheit in der Mission und in einer Missionsmethode, die
eine geduldige und positive Koexistenz der Kirche mit den ande-
ren Religionsgemeinschaften und einen Dialog mit diesen als sol-
chen gestattet. Für dieses Verhältnis sieht das Konzil die Basis im
universalen Heilswillen des souveränen und gütigen Gottes, des
Urhebers der allgemeinen, vom Anfang bis zur Endvollendung
dauernden, auch durch die Sünde nicht aufgehobenen Heilsge-
schichte. Die Erklärung erkennt an, daß es in den verschiedenen
Religionen «Wahres» und «Heiliges» gibt, und daß auch die
konkreten Formen und Lehren dieser Religionen mit aufrichti-
gem Ernst zu betrachten seien. Die Erklärung sieht die letzte
Wurzel dieser Religionen in der Suche nach einer Antwort auf die
ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins und in einer gewis-
sen Wahrnehmung und Anerkenntnis jener verborgenen Macht,
die dem Lauf der Welt und den Ereignissen des menschlichen
Lebens gegenwärtig ist. Kurz: das Konzil fordert uns zu einem
Ernstnehmen der nichtchristlichen Religionen als solchen auf.
Bei der Begrenzung unseres Themas hier kann dabei die Frage
542
beiseite bleiben, ob die allzu kurzen Deskriptionen des Hinduis-
mus und des Buddhismus über alle Zweifel erhaben seien, und ob
nicht andere Religionen unter den Nichtchristen, und besonders
in den kulturell weniger entwickelten Völkern, zu kurz gekommen
seien. Anderseits muß gesagt werden, ohne daß dies einen Tadel
für die Erklärung bedeutet, daß das entscheidende Problem für
den Theologen offengeblieben ist. In der Kirchenkonstitution
(Nr. 16), im Missionsdekret (Nr. 7), in der Pastoralen Konstitu-
tion (Nr. 22) wird gesagt: Sogar ein Mensch, der von der ge-
schichtlichen Botschaft des Christentums nicht erreicht wurde,
ja auch ein Atheist, kann schuldlos sein und so, von der erlösen-
den Gnade Gottes («auf Gott bekannten Wegen») erreicht, einen
heilwirkenden Glauben im eigentlichen Sinne des Wortes haben
und so das Heil erlangen. Von daher aber ist es eigentlich selbst-
verständlich, daß sich von diesem in ungeheurem Heilsoptimis-
mus anerkannten inneren Besitz des eigentlichen Heilsgutes auch
im «Heiden» Auswirkungen in den Religionen selbst finden
müssen, in denen ein solcher Mensch konkret sein Verhältnis zu
Gott lebt. Aber diese Konsequenz aus den Prämissen des Konzils
selbst wird in « Nostra aetate» vom Konzil nicht gezogen. In die-
ser Erklärung bleibt die eigentlich theologische Qualität der nicht-
christlichen Religionen unbestimmt. Sind sie religiöse Gebilde,
die die Menschen selbst aufgrund ihrer « natürlich »-religiösen
Anlage, wenn auch unter einer gewissen Heilsprovidenz Gottes,
geschaffen haben mit all den Begrenztheiten und Depravationen,
die nun einmal solchen menschlichen Leistungen anhaften?
Sind sie (als Lehren und Institutionen) nur «Religion» im
Gegensatz zum «Glauben»? Vollzieht sich der eigentliche heil-
schaffende Glaube, den das Konzil an den anderen genannten
Stellen auch im Heiden und Atheisten als grundsätzlich möglich
anerkennt, nur außerhalb des Lebens dieser Religionen als sol-
cher, etwa in der Treue gegenüber dem Spruch des Gewissens, in
der Nächstenliebe usw., so daß Akte im Bereich dieser nicht-
christlichen Religionen als solcher nicht heilswirksam wären?
Oder können solche Akte, die innerhalb der nichtchristlichen Reli-
gionen als solchen vollzogen werden, unter Umständen auch als
Heilsakte gewürdigt werden? Ist es denkbar, daß die Geschichte
543
dieser nichtchristlichen Religionen trotz der darin vorkommen-
den Depravationen als ein Stück der eigentlichen Offenbarungs-
geschichte betrachtet werden darf? Ist der Gegensatz: Offenba-
rung und Glaube von oben — Religion von unten zwar begrifflich
richtig, aber so, daß die wirklichen Religionen von unten immer
auch schon, wenn auch in verschiedenster Weise und Intensität,
auch mitbestimmt sind durch Offenbarung und Glaube von oben?
Über diese Fragen gibt uns «Nostra aetate » verständlicherweise
keine Auskunft. Diese Fragen sind aber für eine theologische
Wertung und Interpretation der Religionsgeschichte, für die rich-
tige Einstellung der Missionsarbeit von größter Bedeutung. Diese
Fragen laufen darauf hinaus, ob die Theologie, die in einem mehr
als 1000jährigen Bemühen den Augustinischen Heilspessimismus
zugunsten des Einzelnen bis zum Heilsoptimisinus des Zweiten
Vatikanums überwunden hat, das das übernatürliche Heil im.un-
mittelbaren Besitz Gottes allen zuspricht, die nicht durch persön-
liche Schuld frei sich ihm verschließen, nun auch in entsprechen-
der Weise die nichtchristlichen Religionen in diesen Heilsopti-
mismus einbeziehen kann. Um in dieser Frage weiterzukommen,
müssen vom systematischen "Theologen mehrere Dinge beachtet
werden, die freilich selbst umstrittene oder umstreitbare Theolo-
gumena sind und hier nur sehr kurz behandelt werden können.
Aus einer Lehre vom allgemeinen und übernatürlichen Heils-
willen Gottes und aus anderen Gründen folgt eine Auffassung des
Verhältnisses von Gnade einerseits und Mensch, Menschheit und
Geschichte anderseits, die diese Gnade, soll sie überhaupt unter
solche traditionellen Schemata gebracht werden, eher als « habi-
tuelle», denn als «aktuelle» begreift. Mit «habituell » ist natür-
lich hier nicht der Zustand der Gnade gemeint, in dem die Gnade
durch die freie Zustimmung des Menschen angenommen ist. Es
ist vielmehr an die Gnade als vorgegebene, als der Freiheit ange-
botene gedacht, wie wir sie etwa als «habituell» im getauften
Kind gegeben zu denken pflegen. Wenn wir in der Schultheologie
an übernatürliche Gnade (als Möglichkeit von Glaube, Hoffnung
und Liebe) denken, so wie sie in dieser Schultheologie als auch
vor der Taufe und außerhalb einer ausdrücklich christlichen Si-
tuation möglich gedacht wird, dann ist sie unreflex immer ge-
344
dacht als ein uhrzeitlich punktförmiges, hier und da unter be-
stimmten Situationen gegebenes Ereignis. So «aktuell» muß aber
diese Gnade nicht gedacht werden. Unbeschadet ihrer Übernatür-
lichkeit und Ungeschuldetheit kann sie durchaus als ein dauern-
des, immer und überall gegebenes Existential des Menschen, der
Menschheit und ihrer Geschichte gedacht werden, als bleibend
gegebene Möglichkeit eines heilshaften Verhältnisses der Freiheit
zu Gott, als innerste Entelechie der Geschichte des Einzelnen und
der Menschheit im ganzen, in der die gnadenhafte Selbstmittei-
lung Gottes an die Welt ungeschuldet doch die letzte Finalität
und Dynamik der Welt und der Weltgeschichte ist, gleichgültig,
ob die menschliche Freiheit des je Einzelnen diese innerste Ente-
lechie annimmt oder sich gegen sie versperrt. Diese so « habituell »
verstandene Begnadetheit der Welt und ihrer Geschichte ist nun
aber aus dem Wesen der Gnade als übernatürlicher Finalität der
Transzendentalität des Geistes — in — Welt heraus immer auch
schon fundamentalstes Offenbarungsereignis, weil es diese Tran-
szendentalität auf die Unmittelbarkeit Gottes hin aufschließt,
gleichgültig ob dies noch einmal reflektiert und objektiviert wird
oder nicht. Übernatürliche Heilsgeschichte und übernatürliche
Offenbarungsgeschichte sind daher notwendigerweise koextensiv
und koexistent. Was wir üblicherweise Offenbarungs- und Glau-
bensgeschichte nennen, ist von daher die Geschichte der Annahme
und Objektivierung dieser innersten, der Freiheit angebotenen
Vergöttlichung der Welt, die zugleich Angebot des Heiles und
der Offenbarung ist und ein bleibendes Existential der Mensch-
heit und ihrer Geschichte bedeutet. Dieses «habituelle» Exi-
stential ist nichts anderes als die Wirklichkeit des allgemeinen
Heilswillens Gottes, der nicht als eine bloße in Gott «innerlich »
bestehende Absicht Gottes gedacht werden darf, die nur da und
dort, in «aktueller» Gnade sich in der Welt objektiviert. All das
eben Gesagte müßte an sich natürlich deutlicher entwickelt und
begründet werden. Aber hier und jetzt muß dies genügen.
Offenbarungsgeschichte ist auch dort, wo sie wirklich gegeben
ist, nicht von vornherein immun gegen die Möglichkeit, daß sie
nicht nur nicht völlig in Objektivation und Tat durch die reflek-
tierende Erkenntnis des Menschen und seiner Freiheit objekti-
545
viert, sondern auch gegen ihr innerstes Wesen depraviert wird.
Erst die Heils- und Offenbarungsgeschichte in und nach Jesus
Christus als dem eschatologisch unüberholbaren Wort Gottes,
durch das Gott irreversibel in geschichtlicher Greifbarkeit sich
der Welt zugesagt hat, ist eine letzte Verneinung der gnaden-
haften Existentialität der Geschichte durch die Freiheit der
Menschheit ausgeschlossen und überholt. Die These von der
Unvollkommenheit, ja der Möglichkeit des Scheiterns einer ech-
ten Offenbarungsgeschichte ist für die christliche Theologie ein-
fach schon mit ihrer Lehre vom Scheitern des Alten Bundes und
der Ablehnung des Messias durch die institutionelle Religion des
alten Israel gegeben. Ebenso durch die ganze Geschichte des alten
Bundes, in der der Widerspruch zwischen dem faktischen Volk
Gottes mit seinen religiösen Institutionen einerseits und dem
durch die Propheten repräsentierten Anspruch Gottes anderseits
immer wieder gegeben war. Aber gerade diese alttestamentliche
Offenbarungsgeschichte vor dem Kommen des eschatologischen
Heilbringers in Jesus Christus zeigt, daß eine konkrete verbali-
sierte und institutionalisierte Religion nicht von vornherein und
grundsätzlich vor das Dilemma gestellt werden kann, entweder
reine Objektivation der Gnade und Offenbarung Gottes zu sein
oder nur das radikale Nein zu diesem Selbstangebot Gottes oder
bloß eine Religion «von unten ». Die Geschichte des Alten Testa-
mentes zeigt, daß eine institutionalisierte Religion als Objektiva-
tion der göttlichen Offenbarung in Gesellschaftlichkeit ein für das
menschliche Urteil letztlich unauflösbares Gemenge von gött-
licher Offenbarung und deren gesellschaftlicher Institutionali-
sierung sowie von Blockierungen der Weiterentwicklung und von
Depravation dieser Offenbarung und ihrer Geschichte sein kann.
Dabei ist zu bedenken, daß, wenn wir Christen heute den alt-
testamentlichen Kanon als eindeutige Norm für die Frage be-
trachten und anwenden, was im Alten Bund gottgewollt, was
gottwidrig war, wir einen Maßstab benutzen, den die Menschen
des Alten Bundes in seiner Fülle und genauen Abgrenzung vor
Jesus Christus gar nicht hatten und somit vor einer Frage standen,
die sie gar nicht adäquat und sicher beantworten konnten. Für
diese Menschen war die Gottgewirktheit ihrer Religion kaum
546
eine besser bestimmbare Größe als für die Menschen anderer
Religionen. Sie konnten weder die faktische Wirklichkeit der alt-
testamentlichen Geschichte einfach als rein gottgewirkt anneh-
men, noch sie schlechterdings verwerfen, noch hatten sie ein
institutionell verfaßtes Kriterium bleibender Art, nach dem sie
sicher zwischen dem am Alten Bund unterscheiden konnten, was
von Gott kam, und was bloß vorübergehende Erscheinung oder
Depravation dieser Gottgewirktheit war. Wenn das aber schon
für den Alten Bund gilt, dann darf es erst recht für die nicht-
christlichen religiösen Objektivationen und Institutionen gelten.
Sie sind nicht vor die Alternative zu stellen, entweder ganz Ob-
jJektivation göttlicher Offenbarung und Gnade oder nur mensch-
liche Erfindung von unten oder nur schlechte Verkehrung gött-
licher Offenbarung zu sein.
Ein drittes ist zu sagen: wenn jedem Menschen zu jeder Zeit
nach dem Zweiten Vatikanum eine übernatürliche Heilsmöglich-
keit und die Möglichkeit eines eigentlichen Offenbarungsglau-
bens immer und überall angeboten ist, wenn also Offenbarung
im eigentlichen Sinn, ohne den Glaube im eigentlichen Sinn
nicht möglich ist, immer und überall angeboten sein muß und
diesbezüglich seit dem Zweiten Vatikanum nicht mehr auf eine
« fides virtualis » als Ersatz für wirkliche Offenbarung und Glaube
ausgewichen werden darf, dann kann sich solche Offenbarung und
solcher Glaube, deren innere Möglichkeiten im Subjekt wir hier
nicht weiter darlegen können, konkret und aufs ganze nur durch
die Vermittlung jener kategorialen, institutionellen und verbalen
Wirklichkeiten ereignen, die wir die nichtchristlichen Religionen
nennen. Im Menschen ist seine transzendentale, geistige und
übernatürliche Beziehung auf Gott immer vermittelt durch kate-
goriale Wirklichkeiten seines Lebens, wovon auch die sublimste,
weiselose Mystik letztlich keine Ausnahme machen kann. Diese
kategoriale Vermittlung der transzendentalen Beziehung des Men-
schen auf Gott, d.h. der Annahme der durch die Gnade radikali-
- Glaube, Hoff-
sierten Offenheit des Geistes auf Gott in Freiheit
nung und Liebe genannt, kann nun gewiß auch durch kategoriale
Gegenständlichkeiten geschehen (was den einzelnen solchen Akt
angeht), die nicht thematisch religiös sind. Dementsprechend ist
547
1
548
.
549
MARIA UND DIE FRAU
MARIA UND DAS CHRISTLICHE BILD
DER FRAU
Die Kirche hat von Anfang an Maria nicht bloß als eine Person
betrachtet, die wie viele andere unvermeidlich in der Biographie
Jesu auftritt. Maria eignet vielmehr eine einmalige Funktion in
der Heilsgeschichte als solcher, und entsprechend zollt die Kirche
in Liturgie und Frömmigkeit der Heiligen Jungfrau, die sie als
Gottesmutter bekennt, eine besondere Verehrung. Die Kirche
erblickt in Maria ihr eigenes Bild in reiner Vollendung, das Bild
des Christen in seinem reinen und vollen Wesen, und darum auch
das vollendete Bild der Frau.
Dieses Bild der Frau darf heute nicht verlorengehen. Durch
dieses Bild hat die Kirche, vielleicht ohne selbst darauf genau zu
reflektieren, in den vergangenen Jahrhunderten die Gesellschaft,
mit der sie sich oft genug zu unkritisch solidarisierte, davor be-
wahrt, eine reine Männerherrschaft aufzurichten. Mußte die
Kirche auch selbst langsam und mühselig in Abhängigkeit vom
Wandel der profanen Gesellschaft lernen, der Frau zu geben, was
ihr nach Wesen und Recht zusteht, so ist dieser geschichtliche
Prozeß doch noch längst nicht abgeschlossen. Aber die Kirche hat
in ihrem Glaubensverständnis einen eigenen Ausgangspunkt und
eine eigene Dynamik für diesen Prozeß. Dieses Hier ist eben
in ihrem Bild von Maria archetypisch gegeben.
Selbstverständlich hat das Bild Marias in der. Kirche eine Ge-
schichte, wie der christliche Glaube überhaupt. Darum besitzt
auch das Bild der Frau, wie es für die Kirche in Maria gegeben ist,
seine Geschichte, die nicht schon einfach damit erzählt und ver-
deutlicht ist, daß man die Geschichte der marianischen Dogmen
vom Konzil von Ephesus (431) bis zu Pius XII., bis ins 8. Kapitel
der Konstitution «Lumen gentium» des Zweiten Vatikanums
oder bis zur Adhortatio Apostolica Pauls VI. über die Marienver-
ehrung (1974) darstellt. Dies ist darum vor allem richtig, weil
erst auf dem Zweiten Vatikanum und bei Paul VI. ausdrücklich
begonnen wird, im Bild Marias das Bild der Frau überhaupt zu
sehen, wenn natürlich auch die Christenheit zu allen Zeiten - viel-
555
leicht manchmal wenig diskret - ihr Wissen um die Frau in das
Bild Marias eingezeichnet hat. Das Bild der Frau im Bild Marias
hat eine Geschichte, die auch heute weitergeht und all die Eigen-
tümlichkeiten des Unvollendeten, Unabgeschlossenen und Unvor-
hersehbaren hat, die der Geschichte eignen.
554
Wenn wir nach möglichen und denkbaren Veränderungen
fragen, die das Bild der Heiligen Jungfrau heute oder in Zukunft
erfährt, dann sind zuerst einige Grundüberlegungen anzustellen.
Zunächst: auch das christliche Dogma hat seine Geschichte. Seine
Wahrheit ist immer nur in geschichtlicher Gestalt gegeben und
gerade dort ganz besonders, wo wir auf eine solche geschichtliche
Gestalt der Wahrheit nicht reflektieren. Vielleicht können wir es
nicht adäquat, weil diese Gestalt die unserer eigenen Zeit ist und
darum die Distanz fehlt, aus der wir in historischer Reflexion an-
dere Gestalten der Wahrheit bedenken, die nicht unsere eigenen
sind. Das gilt auch für das marianische Dogma. Es hat sich ge-
schichtlich so entwickelt, daß bis zur Definition der Aufnahme
Marias in ihre Vollendung mit Leib und Seele (1950) einzelne
marianische Dogmen (Gottesmutterschaft, Unbefleckte Empfäng-
nis, Aufnahme in den Himmel) in einer gewissen additiven Weise
zu der Mariologie zusammenkamen, die wir heute als Teil un-
seres Glaubens bekennen. Diese einzelnen marianischen Dogmen
sind aus einem einzigen mariologischen Grundprinzip herausge-
wachsen.
Ich glaube nun nicht, daß sich die Mariologie in dieser (vor-
sichtig verstanden) « quantitativen » Weise weiterentwickelt, wie
es noch vor zwanzig Jahren nicht wenige Mariologen hofften, daß
es also z. B. in absehbarer Zeit zur Definition der « Miterlöser-
schaft » oder « Mittlerschaft der Gnaden » kommt. So etwas scheint
mir angesichts der Vorgänge auf dem Zweiten Vatikanischen
Konzil um die kontroverse Formulierung der Mariologie un-
wahrscheinlich. Damit ist nicht gesagt, daß katholische Mario-
logie in Zukunft keine weitere Geschichte mehr hat. Diese wird
aber vermutlich nicht in’ einer (grob gesagt) «quantitativen »
Mehrung des marianischen Dogmas bestehen. Man wird viel-
mehr das alte marianische Dogma unter neuen Aspekten, unter
neuen Verstehenshorizonten, die früher so ausdrücklich nicht ge-
geben waren, neu bedenken sowie theologisch und spirituell assi-
milieren. Darüber soll im folgenden etwas nachgedacht werden.
Eine zweite Überlegung: wenn wir legitimerweise von subli-
men Spekulationen über die Würde Marias von ihrer Gottes-
mutterschaft her absehen, die unmittelbar in die Unbegreiflich-
385
keit des unendlichen Gottes hineinweist, sprechen mariologische
Aussagen über einen bestimmten einzelnen, geschichtlichen und
endlichen Menschen, der im Ganzen der Menschheit und ihrer
Geschichte seinen bestimmten (wenn auch einmaligen) Platz hat.
Diesem Menschen darf darum nicht wegen seiner einmaligen
Funktion in der Geschichte in einem letztlich falschen Platonis-
mus allein die ganze Fülle menschlicher Wirklichkeit zugeschrie-
ben werden, die nur in der ganzen Menschheit und in ihrer gan-
zen Geschichte realisiert werden kann. |
Eigentlich ist das selbstverständlich. Aber mir will scheinen,
daß in der Vergangenheit die Mariologie «subkutan» diese
Selbstverständlichkeit nicht immer genügend ernst genommen
hat und der Gefahr ausgesetzt war, Maria auch als einzelnen
Menschen alle jene Vorzüge (wenigstens «eminenter») zuzu-
schreiben, die überhaupt in einem Menschen denkbar, aber: eben
nur in der ganzen Menschheit zusammen realisierbar sind. So
mußte dann der einzelne Christ sich nur als eine defiziente Wie-
derholung dessen empfinden, was in Maria als einzelner Person
schon vollkommen realisiert ist. Das aber ist nicht richtig. So wie
(um mit Augustinus zu sprechen) der ganze Christus erst in
Haupt und Leib (der Kirche) zusammen gegeben ist und der Leib
der Kirche auch seinem Haupt zu seiner ganzen Fülle verhilft, so
ist esin analoger Weise bei Maria. Erst die ganze Kirche verwirk-
licht Maria und gibt in liebender Einheit dieser einzelnen Person
ihre ganze Fülle, die sie nicht hat, solange sie für sich allein be-
trachtet wird. Das gilt besonders, wenn wir Maria als die voll-
endete Frau in ihrem Verhältnis zu allen Frauen der Menschheit
betrachten: Erst das Ganze ist mit Maria — Maria.
856
B!
398
Kritik geringer einschätzt als bisher, dann braucht dies nicht not-
wendig zum Schaden einer dogmatischen Mariologie auszuschla-
gen. Solche Erzählungen sind nicht nur Bericht, sondern auch
schon Theologie, die als inspirierte Schriftaussage für uns ver-
bindlich ist und die Aufgabe stellt, zu zeigen, wie solche Aussagen
aus der Erfahrung entspringen, die die erste Christenheit von
Maria im Zusammenhang mit Jesus gemacht hat.
Unter diesen Voraussetzungen der heutigen Exegese läßt sich
eine Mariologie von unten entwickeln, die natürlich die klassische
Mariologie einholen muß, sie aber unter neuen Aspekten sieht
und von frommen Übertreibungen reinigen kann. Die mit der
Lehre von der «Jungfrauengeburt » gegebenen Fragen müssen
neu durchdacht werden. Maria muß auch als die Frau aus dem
Volk erscheinen, die Arme, die Lernende, die aus der geschicht-
lichen, sozialen, religiösen Situation ihrer Zeit und ihres Volks
heraus lebt. Sie ist nicht als himmlisches Wesen zu sehen, son-
dern als Mensch, der aus der Gewöhnlichkeit seiner Situation und
in ihr seine heilsgeschichtliche Funktion für sich und die anderen
tätig und leidend, in vielen Unsicherheiten lernend, in Glaube,
Hoffnung und Liebe annahm und gerade so Vorbild und Mutter
der Glaubenden ist.
Noch von einer anderen Seite her kann die Mariologie heute in
Bewegung kommen. Maria soll für den Christen das reine Bild der
Frau sein und bleiben, nicht nur vorbildlicher Fall für den glau-
benden Menschen im allgemeinen. Eine orthodoxe Christologie
ist auch nicht subkutan monophysitisch oder monotheletisch, son-
dern nimmt die wahre und ungeschmälerte Wirklichkeit Jesu als
des in kreatürlicher Freiheit Gott Gegenüberstehenden radikal
ernst. Bedenkt man dabei, daß er ein Mann war, dann ließe sich
wohl unbeschadet der einmaligen Bedeutung Jesu für beide Ge-
schlechter sagen, daß Maria in gleicher Weise das reine Bild der
Frau in ihrem Verhältnis zu Gott darstellt, wie es Jesus als Mann
für den Mann als solchen ist.
558
Wenn wir fragen, was das für Maria in ihrer Exemplarität für
die Frau genauer bedeutet, ergeben sich große, noch nicht genü-
gend gesehene Probleme. Die verschiedensten anthropologischen
Wissenschaften von heute sagen (bei aller grundsätzlichen Gleich-
wertigkeit, in der die Theorie und die Praxis der Kirche zu lernen
haben) Vieles und Bedeutendes über den Unterschied der Ge-
schlechter und damit auch über die Eigenart der Frau, die alle
Dimensionen ihrer Existenz mitbestimmt. Grundsätzlich kann
daher kein Zweifel bestehen, daß die Frau auch in ihrem gnaden-
haften Verhältnis zu Gott Frau und nicht geschlechtsloses Wesen
ist. Aber wenn man anfängt, anthropologisch und theologisch
(aus menschlicher Erfahrung, aus dem Alten und Neuen Testa-
ment) die religiöse Eigenart der Frau konkret zu beschreiben,
gerät man, will man nicht zu hymnisch reden, in große Verlegen-
heiten.
Solche konkreteren Beschreibungen der religiösen Existenz der
Frau arbeiten oft und schnell mit Bestimmungen, die im Grund
genommen nicht das ewige, eigentliche Wesen der Frau meinen,
sondern geschichtlich, kulturell und gesellschaftlich bedingt sind.
Vielleicht stoßen sie heute sogar auf den Vorwurf, sie sperrten
sich unter dem Schein eines theologisch garantierten Wesensver-
ständnisses gegen die Emanzipation der Frau. Es ist dann die Ge-
fahr gegeben, daß auch das Bild Marias mit Hilfe eines solchen
geschichtlich und kulturell bedingten Bildes der Frau gezeichnet
wird, um wieder dazu verwendet zu werden, dieses alte, heute in
vielem fragwürdige Bild theologisch zu sanktionieren und zu ver-
ewigen.
Anderseits zeigt sich beim genauen Zusehen, daß viele Züge
(an sich legitimer Art), die in das Bild Marias als Frau in ihrem
Verhältnis zu Gott eingetragen werden, gar nicht spezifisch und
exklusiv fraulich sind. Gilt nicht auch für den Mann vor Gott, daß
er schweigen können muß, daß er hinnehmend empfängt, sich
anvertraut, daß er demütig und glaubend hört, daß er dient und
nicht herrscht? In der Beschreibung der religiösen Existenz der
Frau greift man nur zu leicht und oft zu Bestimmungen, die
eigentlich gemeinmenschlich sind und von beiden Geschlechtern
ausgesagt werden können und müssen.
559
Fügt man hinzu, solche Bestimmungen der Frau seien in spe-
zifisch weiblicher und nicht männlicher Weise gegeben, dann
stellt sich die Frage, was das genau und konkret heißt. Man hat
nicht den Eindruck, daß darauf eine klare Antwort sehr leicht zu
geben ist, wenn man diese spezifisch weibliche Weise religiöser
Existenz nicht doch wieder mit Modalitäten charakterisieren will,
die gesellschaftlich und kulturell bedingt sind und nicht einfach
immer und überall zum Wesen der Frau gehören.
\ Die Mariologie hat heute und in Zukunft noch vielzu tun, wenn
sie das Bild Marias so zeichnen will, daß es für die religiöse Exi-
stenz der Frau wirklich gültig sein soll. Vielleicht kann dieses Bild
nur von Frauen, von Theologinnen authentisch gezeichnet wer-
den. Aber damit ist die Mariologie bei all ihrer dogmatischen
Eigenständigkeit in jene geistige und geistliche Geschichte hinein-
gegeben, in der die Frau auch heute ihr immer gegebenes und
doch immer neu aufgegebenes Wesen sucht. Die Mariologie ist
nicht zu Ende. Sie hat auch heute eine Geschichte in eine Zu-
kunft hinein, die erst noch gefunden werden muß. In dieser Ge-
schichte sucht die Kirche das Wesen der Frau, Marias und auch
ihrer selbst.
360
JUNGFRÄULICHKEIT MARIAS
Vorbemerkungen
561
stimmten Fragestellung zu sagen ist, wird anderweitig dargelegt
und kann und muß hier nicht wiederholt werden. Damit ist eine
weitere Einschränkung der hier fälligen Aufgabe. gegeben. Die
so begrenzte Themenstellung umfaßt aber dennoch ein Doppel-
tes: es muß nicht nur gefragt werden, welche theologischen (sy-
stematischen und dogmengeschichtlichen) Vorüberlegungen not-
wendig wären, wenn man heute sachgemäß eine «an sich » rich-
tige und glaubensverbindliche Antwort bezüglich der Lehre von
der Jungfräulichkeit Marias geben will; es muß auch gefragt wer-
den, welche derartigen Vorüberlegungen notwendig sind, damit
eine autoritative Lehre der Kirche über diese Jungfräulichkeit
auch wirklich einigermaßen Aussicht hat, faktisch im Glaubens-
verständnis der Kirchenglieder «anzukommen», die durch eine
solche autoritative Erklärung erreicht werden sollen. Die Kirche
hat eben nicht nur die Pflicht, das Richtige zu sagen, sondern
auch die Pflicht, dieses Richtige « richtig» zu sagen, d. h. so, daß
eine möglichst große Aussicht besteht, daß ihre richtige Lehre
auch wirklich geglaubt wird. Diese beiden Gesichtspunkte unse-
rer I'hematik sollen hier gleichmäßig zur Geltung kommen, ohne
daß sie darum immer auch ausdrücklich unterschieden werden
müssen.
J. Methodische Vorüberlegungen
562
und hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit) als einer Durchbre-
chung und Aufhebung der « Naturgesetze » ein höchst problema-
tischer Begriff geworden, ganz abgesehen von der Frage, ob
Wunder in diesem Sinne als gegeben empirisch nachweisbar sind.
(Die Auferstehung Jesu als Wunder kann und darf hier nicht ins
Spiel gebracht werden, weil dieses Wunder als eschatologisches
Ereignis von vornherein sui generis ist.?) Jedenfalls aber kann für
eine sachgemäße und apologetisch und kerygmatisch effiziente
Lehre über die vap nicht so vorgegangen werden, als ob hier in
der Sache und für die heutige Mentalität bezüglich eines «Wun-
ders» der vap nicht schon ganz allgemeine Probleme vorlägen.
2. Wenn die Lehre von der Jungfräulichkeit Marias heute
wirklich effizient dem Christen (und zwar auch dem gebildeten)
vermittelt werden soll, dann dürfen die neueren Erkenntnisse
über Dogmenentwicklung nicht außer acht gelassen werden, und
es müssen auch hier die Erfahrungen eingebracht werden, die an
anderen Punkten der Dogmengeschichte gemacht wurden, und
zwar auch schon innerhalb des Neuen Testamentes selbst. Dies
bedeutet unter anderem (was hier nicht ausdrücklich gemacht
werden kann) wenigstens folgendes:
a) Das Dogma der Kirche kann bezüglich seiner einzelnen Aus-
sagen und Artikulationen heute nicht mehr als eine bloße addi-
tive Summe von Einzelsätzen ausgesagt werden, die einfach als je
einzelne mit Berufung auf einzelne Sätze der Schrift oder des
früheren Lehramtes vorgetragen werden. Jeder einzelne Satz
muß in seiner Kohärenz sowohl mit dem einen Ganzen des Glau-
bens, wie mit der ursprünglichen und einheitstiftenden Mitte der
Glaubenswirklichkeit ausgesagt werden. Sonst ist die Lehre des
Zweiten Vatikanums von der Hierarchie der Wahrheiten ein
leeres Wort und eine billige Ausflucht. Das ursprüngliche eine
und einheitstiftende Ereignis der letzten Offenbarung im Chri-
stentum ist nicht eine einfach hinzunehmende Summe von Ein-
zelsätzen, die in freier Willkür von Gott als einzelne mitgeteilt
werden, sondern das Ereignis der eigentlichsten Selbstmitteilung
2 Vgl.z.B. K.Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg 1976, 260-278. Die ganze
Frage eines heute möglichen und überzeugenden Wunderbegriffes im allgemeinen
kann hier natürlich nicht behandelt werden. Vgl. dazu B. Weissmahr, Gottes Wir-
ken in der Welt, Frankfurt 1973.
565
Gottes, die in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstan-
denen, ihre volle geschichtliche Greifbarkeit und ihre eschatolo-
gische Irreversibilität findet. Auch die Lehre der Kirche über
Maria muß von daher gesehen und verständlich gemacht werden,
auch wenn dies nicht notwendig eine einfach logisch deduktive
Argumentation bedeutet. Das gilt auch im besonderen von der
vap, vip und der vpp. Wo diese Rückbindung nicht deutlich und
ausdrücklich geleistet wird, bleibt die Verkündigung dieser Lehre
ineffizient und leistet das Lehramt nicht das, was (ihm) heute un-
bedingt geboten ist. Damit ist natürlich nur ein Postulat aufge-
stellt, und es bleibt undeutlich, wie es erfüllt werden könne. Aber
die Einlösung dieses Postulats ist selbstverständlich hier nicht
möglich.
b) Eine sachgemäße und effiziente Verkündigung der Lehre
von der Jungfräulichkeit Marias (auch der vap) muß unbefangen
sehen, daß der (richtige, d. h. erst noch genauer zu bestimmende)
Inhalt dieser Lehre kein in sich allein stehendes erstes Datum ist,
das auf rein empirischen Feststellungen beruht, sondern eine aus
einer vorausliegenden Überzeugung über Maria und ihre heils-
geschichtliche Funktion abgeleitete Größe ist. Selbst wenn und
insoweit solche empirischen Feststellungen möglich waren und
als gemacht vorausgesetzt werden können oder. könnten, würden
sie für sich allein den eigentlichen Inhalt der theologischen Lehre
nicht hergeben. Zunächst ist dogmengeschichtlich greifbar, daß
die vip nicht auf solchen empirischen (physiologischen) Feststel-
lungen oder Mitteilungen von seiten Marias beruht, sondern eine
theologische «Schlußfolgerung» (im weitesten und an sich ge-
nauer zu bestimmenden Sinn dieses Wortes) ist, die sich erst im
Lauf der Zeit im Bewußtsein der Kirche durchgesetzt hat. Das-
selbe gilt aber mutatis mutandis für die vap. Der Umstand allein
z. B., daß beim Werden Jesu die Intervention eines Mannes nicht
greifbar ist oder daß eine historische Mitteilung von seiten Ma-
rias darüber vorliegen könnte, könnte für sich allein den gemein-
ten Sinn der vap nicht legitimieren, weder in sich noch als Gegen-
stand eines theologischen Glaubens als solchen. Auch eine empi-
rische Feststellung der vpp in dem Sinne, daß Maria faktisch
keine weiteren Kinder mehr gehabt habe, würde für sich allein
564
das nicht legitimieren, was die vpp im tradıtionellen Verständnis
beinhaltet. Es bleibt also dabei, daß diese ganze Lehre, soweit und
in dem Sinne sie Gegenstand des Glaubens und glaubensverbind-
lich sein kann, eine abgeleitete Größe sein muß, die aus einem
ursprünglicheren, globalen Verständnis Marias und ihrer heils-
geschichtlichen Funktion herkünftig ist und glaubensgeschicht-
lich und dogmengeschichtlich nur so begründet werden kann.
Wie aber muß dies geschehen? Das ist die Frage, der eine Mario-
logie von heute nicht mehr ausweichen kann.
c) Wenn diese Frage wirklich sachlich und überzeugend beant-
wortet wird, dann wird sich zweifellos auch für unsere Frage er-
geben, was sich jain der Dogmengeschichte in sehr vielen anderen
Lehren beobachten läßt und in diesen Fällen durch das heutige
Lehramt der Kirche unbefangen zur Kenntnis genommen wird,
wenn es in der Arbeit der Theologen auftritt. Man kann zwar
mit Recht sagen, daß die Dogmenentwicklung, d.h. die Entfal-
tung der ursprünglichen globalen Offenbarungserfahrung in Ein-
zelsätze hinein «einbahnig» verläuft, d. h., daß eine solche Ent-
faltung, wenn und wo sie zu einem absoluten Glaubensassens der
Kirche zu einem einzelnen partikulären Satz geführt hat, nicht
mehr nach rückwärts revidierbar ist in dem Sinne, daß ein sol-
cher Satz später wieder als irrig erklärt werden könnte. Das ist
auch dann nicht der Fall, wenn diese Glaubensentfaltung, die
sich früher faktisch ereignet hat, nicht in einer bloß logischen
Argumentation zwingend nachvollzogen werden kann. Dieses
Verständnis der Dogmenentwicklung schließt aber dennoch die
Notwendigkeit einer Rückfrage nach dem ursprünglicheren Glau-
bensverständnis nicht aus, sondern ein. (Sonst bräuchten wir z. B.
nur Denzingertheologie zu treiben und könnten uns heute eine
biblische Theologie schenken oder diese als bloß historische Neu-
gierde verstehen.) Die Rückfrage nach dem ursprünglicheren
Glaubensverständnis, aus dem sich die spätere Lehre entfaltet,
kann aber trotz der « Einbahnigkeit » der Dogmengeschichte eine
kritische Instanz für das richtige Verständnis des späteren Dog-
mas sein. Es ließe sich nämlich an sehr vielen (und auch vom
kirchlichen Lehramt hingenommenen oder sogar bestätigten)
Beispielen zeigen, daß die Rückfrage nach dem früheren, für spä-
565
tere Lehre ursprunggebenden Glaubensverständnis eine kritische
Instanz für das richtige und wirklich verbindliche Glaubensver-
ständnis sein kann. Wir fragen z.B.: Was ist « eigentlich » mit
Erbsünde gemeint; was ist «eigentlich» gemeint, wenn wir sa-
gen, Jesus habe die Kirche gestiftet, habe sieben Sakramente ein-
gesetzt? usw. usw.; und wir fragen dann nicht zur, was man sich
heute landläufig bei den Antworten der traditionellen Theologie
denkt, sondern fragen auch gleichzeitig zurück nach den Ursprün-
gen solcher Antworten, fragen dabei, ob sie wirklich diese Ant-
worten eindeutig hergeben, oder ob bei solchen traditionellen
Antworten trotz ihrer im ganzen genuinen Herkunft aus diesen
Ursprüngen auch Vorstellungen, Interpretamente ungeschieden
amalgamiert sind, die nicht zum verbindlichen Inhalt des betref-
fenden, abgeleiteten Glaubenssatzes gehören, aber bisher von
diesem in der traditionellen Theologie und auch in den Lehr-
äußerungen der Kirche nicht abgeschieden worden sind und auch
aus geschichtlichen Gründen bisher nicht abgeschieden werden
konnten. Nicht alles, was in einer bestimmten Zeit faktisch und
unreflektiert zur Verdeutlichung des Sinnes eines Glaubenssatzes
mitgedacht wurde, gehört wirklich prinzipiell unablösbar zu die-
sem Glaubenssatz selbst. Wenn man z.B. historisch nachweist,
daß die Väter von Trient faktisch dies und das, und zwar als
selbstverständlich und von ihnen ununterschieden unter « Sub-
stanz» gedacht haben, ist damit noch lange nicht gesagt, daß die-
ser Substanzbegriff für die heutige Interpretation der Transsub-
stantiation verbindlich sei. Oder wenn Augustinus die Libido als
notwendiges Vehikel der Übertragung der Erbsünde aufgefaßt
hat und so die Erbsünde als katholisches Dogma erklärt hat, so ist
damit noch längst nicht gesagt, daß wir dieses Verständnis der
Erbsünde heute noch als Dogma betrachten müßten oder auch
nur könnten. Wenn noch Pius XII. der Meinung war, daß der
Monogenismus ein unerläßliches und unverzichtbares Moment
der katholischen Erbsündenlehre sei, so werden wir dennoch
heute anderer Meinung sein dürfen und unter Aufrechterhaltung
der Erbsündenlehre und ihres eigentlichen Sinnes ein monogeni-
stisches Interpretament dieser Erbsündenlehre als historisch be-
dingtes Amalgam aus ihr ausscheiden, auch wenn die bisherige
566
Theologie und das Lehramt an eine solche Möglichkeit nie ge-
dacht haben und nicht denken konnten. Pius XII. hat es als Stück
des katholischen Glaubens erklärt (DS 5896), daß die mensch-
liche Seele unmittelbar von Gott erschaffen werde. Er hat aber,
wie leicht historisch nachgewiesen werden könnte, bei diesem (an
sich richtigen) Satz ein Vorstellungsmodell der Unmittelbarkeit
dieses Schöpfungsaktes vor sich gehabt, das heute von vielen Theo-
logen nicht mehr geteilt wird (vgl. z.B. B. Weissmahr 31-39),
ohne daß Pius XII. an eine solche Unterscheidungsmöglichkeit
zwischen dem eigentlich Gemeinten und dem ausscheidbaren
Vorstellungsmodell gedacht hat. Das glaubensgeschichtlich und
geistesgeschichtlich vielleicht bedeutsamste und fast erschrek-
kende Beispiel solcher dogmengeschichtlicher Entwicklung ist in
der Einheit und dem Unterschied gelegen, die zwischen der Nah-
erwartung des historischen, vorösterlichen Jesus einerseits liegt
und dem, was die Kirche heute als das eigentlich in dieser Nah-
erwartung Gemeinte glaubt. Hier ist doch ein Prozeß gegeben,
der schon im Neuen Testament beginnt, eigentlich auch heute
noch nicht abgeschlossen und der dennoch legitim ist. Solche kri-
tische Rückfrage nach der ursprünglichen Herkunft bestimmter
theologischer Sätze ist also wegen der geschichtlichen Wandlung
der Verstehenshorizonte der Menschen und der Kirche immer neu
notwendig, um mit neuen Anfragen über den wirklich verbind-
lichen Sinn bestimmter theologischer Sätze fertig zu werden; sie
gibt aber dann auch die Möglichkeit, das glaubensmäßig wirklich
Verbindliche zu bewahren, auch wenn aus dessen bisheriger Aus-
sage Amalgame als nicht mehr möglich oder als glaubensmäßig
nicht verbindlich ausgeschieden oder unterschieden werden müs-
sen. Es ist dabei, wie gesagt, nicht erforderlich, daß solche Unter-
scheidungsmöglichkeiten als in der früheren Theologie schon
reflex als möglich erfaßte gegeben gewesen sind. Daß solche Un-
terscheidungen legitim sind oder sein können, wird dann gerade
eben heute durch den Nachweis erhärtet, daß das ursprünglichere
Glaubensverständnis diese Amalgame nicht explizit enthielt und
diese auch nicht aus ihm zwingend abgeleitet werden können.
Daß solche Prozesse der Unterscheidung zwischen dem, was in
einem dogmengeschichtlich späteren Satz vom früheren globale-
907
ren Glaubensbwußtsein her wirklich gemeint war, und dem kon-
kreteren Vorstellungsmodell, unter dem der spätere Satz dieses
eigentlich Gemeinte bisher vorstellte, in der konkreten Glaubens-
geschichte der Kirche praktische Schwierigkeiten und Kämpfe
mit sich bringen, spricht nicht gegen die hier angedeutete Teil-
theorie der dogmengeschichtlichen Entwicklung. Das zeigt ge-
rade diese Geschichte. Wenn ein solcher Einzelprozeß abgeschlos-
sen ist, macht er dem Gläubigen und dem Theologen meist keine
großen emotionalen und existentiellen Schwierigkeiten mehr.
Man denke z. B. an die Lehre des Konzils von Florenz (DS 1351),
das alle vor dem Tod nicht katholisch gewordenen Menschen für
verloren erklärt, und vergleiche diese Lehre mit der Lehre des
Zweiten Vatikanums und der ihr entsprechenden Mentalität auch
in der Kirche von heute. Solange aber ein solcher Prozeß der Neu-
interpretation einer theologischen Lehre (auch unter Bewahrung
des wirklich damit Gemeinten und Verpflichtenden) läuft, sind
Kämpfe und Meinungsverschiedenheiten gar nicht vermeidbar
und müßten in Geduld und Toleranz ausgetragen werden. Hier
in dieser Überlegung steht nun nicht zur Frage, ob sich eine neue
Einsicht, und gegebenenfalls welche, für die Lehre von der Jung-
fräulichkeit Marias ergäbe, wenn sie dogmengeschichtlich und
systematisch unter Berücksichtigung der eben genannten Erfah-
rungen der Dogmengeschichte und der Entwicklung des Glau-
bensbewußtseins der Kirche neu durchdacht würde. Bei einer
solchen Methode könnte es sein, daß nichts «Neues» «heraus-
kommt». Es könnte aber auch sein, daß sehr wesentliche neue
Erkenntnisse über den glaubensmäßig verpflichtenden Sinn die-
ser Lehre sich ergeben. Das alles steht hier nicht zur Debatte.
Hier kommt es nur darauf an, eindringlichst zu betonen, daß eine
solche Konfrontation der Lehre von Marias Jungfräulichkeit mit
den heutigen Einsichten über die Möglichkeiten der Dogmen-
entwicklung unbedingt notwendig ist. Grundsätzlich ist auch die-
ses Dogma «nach vorne» offen. Man wird nicht sagen können,
daß die Mariologie der letzten Jahrhunderte mit dieser grund-
sätzlichen Möglichkeit genau und unbefangen genug gerechnet
hat.
d) Der Systematiker ist in seiner Mariologie gehalten, den Exe-
568
geten und Bibeltheologen zu befragen, welches genauere genus
litterarium nach seinen Untersuchungen in den Berichten der
Kindheitsgeschichte Jesu im Neuen Testament, besonders bei
Matthäus und Lukas, gegeben ist. Bei dieser Frage werden, soll
sie beantwortet werden, nach den Prinzipien der heutigen Exe-
gese gewiß sehr viele Differenzierungen notwendig sein. Histori-
scher Bericht oder Legende ist gewiß eine zu einfache Alterna-
tive. Wenn man mit midraschähnlichen Erzählungen rechnet
und dies auch grundsätzlich dann, wenn die bisherige theolo-
gische Tradition in der Mariologie damit nicht rechnete, dann ist
die hier gemeinte Frage immer noch nicht genügend beantwortet.
Aussageabsicht und Aussageweise in der Kindheitsgeschichte Jesu
müssen genauer bestimmt und voneinander unterschieden wer-
den. Es kann gefragt werden, ob und wo ein Evangelist Erzähl-
traditionen weitergibt (weil sie auf jeden Fall eine theologische
Sinnspitze haben), ohne deswegen schon einer solchen Erzählung
eine absolut glaubensmäßige Verbindlichkeit zuzuschreiben. So
etwas ist doch grundsätzlich möglich. Wenn z. B. Lukas Jesus
nach seiner Auferstehung essen läßt, dann ist doch die Frage er-
laubt, ob so etwas einfach und ohne jede Interpretation in die
Dimension der geschichtlichen Wirklichkeit gehört. Erst wenn
solche Fragen vom Exegeten beantwortet sind, kann der Systema-
tiker überlegen, was sich daraus für seine Mariologie ergibt. Das
ist dann eine schwierige Frage. Es ist dann der Fall denkbar, daß
die nachfolgende Glaubensgeschichte über Maria mehr äussagt,
als die neutestamentliche Mariologie für sich allein hergibt, wenn
sie nur unter der Hermeneutik der Bestimmung eines solchen
genus litterarium allein gelesen wird. (Ob und warum ein solches
Plus denkbar ist, ist hier. nicht mehr zu erörtern.) Es ist aber
grundsätzlich auch der andere Fall denkbar: die Tradition gibt
den Bericht der Evangelien weiter, in dem sie schlicht auf deren
Autorität verweist, ohne selber im strengen Sinn auf den Sinn
und die Grenzen dessen eigens zu reflektieren, was die Evange-
lien berichten, und ohne das genauere genus litterarium selbstän-
dig zu reflektieren, unter dessen Hermeneutik die evangelischen
Berichte heute gelesen werden müssen, soll ganz genau bestimmt
werden, was sie uns glaubensverbindlich sagen wollen und was
569
nicht. Auch diese zweite Möglichkeit ist grundsätzlich gegeben.
Wenn z. B. Paulus bei Lukas (Apg 17,26) im Blick auf die Gene-
siserzählung sagt, die ganze Menschheit stamme von einem Men-
schen ab, oder Paulus im Röm 5 dasselbe unbefangen voraussetzt,
dann ist uns dadurch nicht verwehrt, das genus litterarium der
Genesiserzählung selber genauer zu bestimmen und von da aus
die Einsicht zu gewinnen, daß der Monogenismus im biologischen
Sinn kein Satz ist, der glaubensmäßig verbindlich ist. Eine solche
Zusammenarbeit von Exegese und Systematik in einem gegen-
seitigen Bedingungsverhältnis und gegenseitiger Infragestellung
ist heute notwendig. Man kann aber den Eindruck haben, daß
diese Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Mariologie noch nicht
genügend gegeben ist und noch weitere Resultate bringen könnte,
wenn sie unbefangen und ernsthaft in die Wege geleitet wird.
e) Das bisher Gesagte oder Angedeutete könnte vielleicht zu-
sammengefaßt und zugleich verallgemeinert werden, indem man
sagt: Seit der Aufklärung befindet sich das Christentum in einem
ungeheueren Prozeß der Neuinterpretation seines Dogmas, d.h.
der Transposition dieses Dogmas aus den Verstehenshorizonten
der Antike und des Mittelalters in die der gegenwärtigen Zeit.
Eine solche Transposition (wie immer man sie schlagwortartig
charakterisisieren will, worauf es hier nicht ankommt) beinhaltet
natürlich eine Unmenge dogmatischer Einzelfragen, auch wenn
diese Transposition zugleich eine eine und ganze Aufgabe be-
deutet, die auf den innersten und eigentlichen Kern des Wesens
des Christentums zielt. Die mit dieser Transposition gegebenen
Einzelaufgaben sind je nach der Inhaltlichkeit des einzelnen Dog-
mas sehr verschieden, werden mit einer gewissen geschichtlichen
Zufälligkeit früher oder später in Angriff genommen, rascher
oder langsamer, unauffällig oder unter deutlichen Kämpfen ge-
löst. Es wäre aber von vornherein verkehrt, diesen Transpositions-
prozeß unter dem Schema eines Abbaus, einer Reduktion (Ent-
mythologisierung usw. genannt) zu lesen und zu interpretieren.
Dieser Prozeß kann vielmehr, auch dort, wo er mutig und unbe-
fangen, Schritt für Schritt, das Einzelne und das Ganze erwägend,
vollzogen wird, dem Gläubigen und dem Theologen die Erfah-
rung vermitteln, die ja an sich, rein geschichtlich gesehen, gar
570
nicht selbstverständlich ist, aber zur Hoffnung des Glaubens des
Gläubigen gehört, daß nämlich dieser Transpositionsprozeß die
Selbigkeit des christlichen Glaubens und der Kirche durch all die
radikal sich wandelnden Epochen der Geistesgeschichte hindurch
nicht aufhebt, sondern bestätigt, daß der neue Glaube der alte ist
und der alte Glaube immer neu wird. Apriori kann nun gewiß
nicht behauptet werden, die Mariologie gehöre in diesen Trans-
positionsprozeß nicht auch hinein. Während man bis in die Mitte
des 20. Jahrhunderts hinein unter den Theologen und den From-
men gewissermaßen stolz war und es als beglückend empfand, wie
sich die Mariologie in material immer neu artikulierte Sätze hin-
ein entfaltete (dieser Prozeß scheint zum Stillstand gekommen zu
sein), wächst heute der Mariologie eine andere Aufgabe ge-
schichtlich zu, soll sie nicht steril zu einem musealen Relikt wer-
den, das nur noch kirchenlehramtlich aufbewahrt wird, aber für
die Glaubensexistenz des gegenwärtigen Christen keine Rolle
mehr spielt. Die Mariologie von heute muß auch. als Moment an
diesem Transpositionsprozeß gesehen werden, in dem das Alte
neu wird, um zu bleiben. Was das alles konkret bedeutet, ist na-
türlich noch längst nicht genügend bedacht und kann hier nicht
einmal ahnungsweise angedeutet werden. Aber diese Zusammen-
hänge zwischen einer Geschichte der Mariologischen Lehre und
der heute in rascher Bewegung befindlichen Glaubensgeschichte
der Kirche im Ganzen muß gesehen und aktualisiert werden, es
müssen die Erfahrungen der Dogmengeschichte im allgemeinen,
die neuzeitlichen Erkenntnisse einer Hermeneutik der Glaubens-
aussagen, einer Theologie (und Philosophie) der religiösen Spra-
che, die Ergebnisse der historisch kritischen Exegese eingebracht
und für die Mariologie aktualisiert werden, soll die Mariologie als
theologische Disziplin bleiben und eine religiöse Bedeutung für
das Leben behalten.
3. Wenn man u. U. einer Position rein exegetisch und histo-
risch arbeitender Bemühung eine bloß «größere Wahrschein-
lichkeit» zuerkennt als der gegenteiligen, dann muß sich der
Systematiker davor hüten, eine solche Situation zu schnell und
unbedacht auszunützen, indem er in einem bloß formallogischen
Räsonnement erklärt, die exegetisch geringere Wahrscheinlich-
Dal
keıt werde auf Grund seiner eigenen Prämissen und Überlegun-
gen als die Wahrheit erwiesen, auch wenn sie historisch eine
größere Wahrscheinlichkeit (aber nur eine solche) gegen sich hat.
Das ist zwar formallogisch richtig. Aber eine solche Argumenta-
tion muß doch, wenn überhaupt, mit größter Vorsicht gehand-
habt werden. Zunächst muß ja mit aller Strenge und Nüchtern-
heit gefragt werden, ob der Systematiker wirklich mit aller Ein-
deutigkeit und Ausschließlichkeit eine so sichere Position von sei-
nen eigenen Prinzipien her hat, daß er das historisch Wahrschein-
lichere als das Falsche und das historisch weniger Wahrschein-
liche als das Wahre erklären kann. Ferner muß in solchen Fällen
bedacht werden, daß wir in sehr vielen Fällen fundamentaltheo-
logischer Fragen nur zu historischen Wahrscheinlichkeiten ge-
langen und diese dennoch als existentiell genügende fundamen-
tal-theologische Basis für einen Glaubensassens gleichgerichteter
Art erachten, größeren Wahrscheinlichkeiten in existentiellen
Entscheidungen also ein erhebliches Gewicht zuerkennen, das
nicht einfach durch die obengenannte formallogische Operation
aus der Welt geschafft werden darf. Schließlich müssen wir doch,
soweit es nur möglich ist, auch nach Kräften eine Art von Schizo-
phrenie zu vermeiden suchen, in der ein Mensch zu dem einen
Glaubensassens gibt, was er für historisch unwahrscheinlicher
hält.
4. Schließlich sei folgendes noch als Frage vorgetragen. Muß
denn in allen Fragen, die im Glauben und in der Theologie auf-
stehen, immer auch schon eine eindeutige Antwort gegeben wer-
den? Es darf doch auch in der Dimension des Glaubens ein Raum
des Fraglichen und Nichtbeantworteten offen bleiben, wenn die-
ser Raum ehrfürchtig von allen Seiten respektiert wird und keine
Seite ihn gleich und dezidiert mit einer Antwort ausfüllt, mit der
die andere Seite glaubensmäßig oder intellektuell nicht zurecht
kommt. Es gibt doch in allen Gebieten der Dogmatik offene Fra-
gen, verschiedene Schulen, theologische Kontroversen. Die Ge-
schichte belehrt uns, daß solche Fragen von den Theologen und
den Gläubigen gar nicht immer und von vornherein als solche
empfunden wurden, d.h. als offene anerkannt wurden. Im so-
genannten Gnadenstreit hatte die große Majorität der päpstlichen
572
Kommission die dezidierte Ansicht, daß der Molinismus als häre-
tisch zu verurteilen sei, hielt also die Alternative zwischen den
verschiedenen Gnadensystemen durchaus nicht für eine offene
Frage. Sie ist es dennoch seitdem geblieben durch Jahrhunderte,
obwohl Paul V. so tat, als ob der Papst nächstens diese Frage ent-
scheiden werde. Die Frage von «Humanae vitae» ist ebenfalls
eine noch offene Frage, obwohl Paul VI. dies nicht ausdrücklich
zugesteht. Es gibt nun einmal offene Fragen in der Theologie,
auch wenn diese Offenheit für das Glaubensgewissen von Gläubi-
gen und Theologen oft Schwierigkeiten schafft, ungeduldig nach
einer Entscheidung solcher offenen Fragen gerufen wird und die-
ser oder jener erklärt, sie habe für seinen Glauben und dessen
Klarheit eine erhebliche Bedeutung und könne und müsse rasch
und eindeutig in einer bestimmten Richtung getroffen werden.
Wo dies möglich ist, kann oder soll man dies tun. Man soll aber
nicht zu ungeduldig und aus einer Schwäche des Glaubens her-
aus zu schnell meinen, so etwas sei immer und überall möglich
und erforderlich. In unserer Frage der Jungfräulichkeit Marias
sind wir doch alle wohl im Glauben davon überzeugt, daß Maria
mit ihrer ganzen leib-seelischen Existenz restlos in die heils-
geschichtliche Sendung Jesu einbezogen war. Haben wir nicht
somit gemeinsam ein Verständnis grundlegender Art für das, was
ihre «Jungfräulichkeit» bei uns allen bedeutet, auch wenn wir
nicht alle mit gleicher Sicherheit und Klarheit zu wissen glauben,
was diese Integriertheit « biologisch » genau bedeutet, zumal wir
doch alle davon überzeugt sind, daß diese restlose Integriertheit
auch die Anteilnahme Marias an der Gewöhnlichkeit und Nied-
rigkeit des Menschseins Jesu einschließen muß?
II. Folgerungen
Was ergibt sich nun aus diesen Überlegungen für den konkreten
Zweck, um dessentwillen dieses Gutachten erbeten wurde?
1. Zunächst einmal scheint es gänzlich inopportun zu sein, daß
das bischöfliche Lehramt in Deutschland sich unmittelbar und
allein ausdrücklich zu den Positionen äußert, die R. Pesch in sei-
275
nem Markus-Kommentar über die Frage der « Brüder Jesu» auf-
stellt. Sein Thema ist ja nicht ausdrücklich die vap, sondern die
vpp: Und auch das nur, soweit diese Frage mit exegetischen Mit-
teln als solchen allein beantwortet werden soll und dabei nur
größere oder geringere Wahrscheinlichkeiten zu erzielen sind.
Was soll also das Lehramt zu diesen Positionen von R.Pesch als
solchen sagen, wenn es sich auf diese allein beziehen wollte?
Wenn es sagen würde, andere theologische Quellen und Erkennt-
nisse würden die gegenteilige Position gegenüber derjenigen, die
R. Pesch mit exegetischer Wahrscheinlichkeit einnimmt, als si-
cher und als Gegenstand des Glaubens erweisen, dann bliebe dem
Lehramt eben doch, soll es nicht nur richtig, sondern auch effi-
zient lehren wollen, nichts anderes übrig, als die Lehre von der
Jungfräulichkeit Marias selbst ausführlich darzulegen und zu be-
gründen, unter Berücksichtigung der Gesichtspunkte, auf die wir
unter I. hingewiesen haben. Damit aber kämen wir zu den Schwie-
rigkeiten einer solchen Erklärung, die gleich unter 2. zu bespre-
chen sind. Offenbar ist es auch nicht Sache des Lehramtes, über
die größere oder geringere exegetische und historische Wahr-
scheinlichkeit der Position von R. Pesch als solche zu urteilen.
Dazu kommt, daß das heutige Lehramt in seinem Vorgehen deut-
lich machen muß, daß es der theologischen Wissenschaft einen
genügenden Freiheitsraum für ihre Forschung beläßt und respek-
tiert. Es wird natürlich Christen (z. B. konservative Leute aus dem
Klerus) geben, die möglichst rasch eine eindeutige Stellungnahme
des kirchlichen Lehramtes zu unserer Frage fordern, weil sie sich
durch solche theologischen Kontroversen in ihrem Glauben ver-
unsichert fühlen. Aber eine kurze Stellungnahme des Lehramtes
in der traditionellen Richtung würde faktisch diese Verunsiche-
rung einerseits nicht wirklich beseitigen und andererseits mehr
andere Christen in die gegenteilige Verunsicherung drängen,
ohne daß durch eine solche kurze Erklärung diesen anderen Chri-
sten eine wirkliche Glaubenshilfe geboten würde. Vor allem besitzt
das hier in Frage kommende deutsche Lehramt aus der Natur der
Sache heraus keine solche Autorität, daß einer solchen Erklärung
ein erheblich zusätzliches Gewicht über das Gewicht der tradi-
tionellen Lehre hinaus zukommen könnte. Eine solche kurze Er-
574
klärung, die sich unmittelbar gegen R. Pesch allein richtet, wäre
also geistespolitisch (wenn man so sagen darf) keine erhebliche
Hilfe gegen die «Verunsicherung», auf welcher Seite man auch
diese hauptsächlich suchen will. Diese geistespolitische Situation
ist nun einmal so, daß sie durch kurze Erklärungen des Lehr-
amtes nicht wesentlich verändert werden kann, sondern in Ge-
duld und Hoffnung wohl noch erhebliche Zeit durchgestanden
werden muß, weil eine wirklich effiziente Klärung im Glaubens-
bewußtsein der Kirche eben auch ihre Zeit brauchte.
2. Kann man vorschlagen, daß z.B. die Deutsche Bischofskon-
ferenz ein größeres Lehrschreiben über die anstehende Frage ver-
öffentlicht, für das die Position R. Peschs vielleicht zwar den Anlaß
abgibt, aber nicht das eigentliche und umfassende Thema dar-
stellt? Praktisch gesehen, muß wohl auch diese Frage verneint
werden. Wer sollte dieses Lehrschreiben, so erstrebenswert es an
sich vielleicht sein mag, verfassen? Wo sind die Theologen, die
diese Aufgabe auf sich nehmen wollen und können? Es müßten
bei einem solchen Unternehmen doch all die Aspekte berücksich-
tigt werden (und andere mehr), die unter I. genannt worden
sind. Es müßten zu vielen theologischen Einzelfragen genaue Po-
sitionen bezogen werden. Kann beides so gemacht werden, daß
ein so verfaßtes Lehrschreiben die gemeinsame und verbindliche
Lehre des Episkopats wiedergibt, also mehr ist, als eine theolo-
gische Abhandlung, deren Gewicht so groß ist wie ihre Argu-
mente? Aus diesen und ähnlichen Überlegungen heraus wird
man wohl sagen können, daß ein solches amtliches Lehrschreiben,
das richtig und effizient zugleich ist, im Augenblick nicht mög-
lich ist. Diese negative Antwort auf die hier unter 2. gestellte
Frage bedeutet natürlich nicht, daß der Episkopat in dieser gan-
zen Frage keine Aufgabe und keine Wirkungsmöglichkeit habe.
Er kann Theologen ermuntern, sich diesem Fragekomplex ein-
dringlicher als in den letzten Jahrzehnten zu widmen, er kann
unter Umständen technische und materielle Hilfen dafür bereit-
stellen, er kann mithelfen, daß sich solche theologische Arbeit in
einem Klima des Ernstes, des gegenseitigen Respektes und der
Achtung vor der Glaubensmentalität auch des durchschnittlichen
Christen vollzieht usw.
375
3. Sollte aber die Glaubenskommission des deutschen Episko-
pats oder der deutsche Episkopat dennoch zu der Überzeugung
kommen, daß eine Erklärung in der anstehenden Frage nicht
unterlassen werden dürfe, dann müßte sie nicht nur, um effizient
zu werden, die unter I. angedeuteten Gesichtspunkte (und wohl
andere mehr) berücksichtigen. Es schiene vielmehr darüber hin-
aus angezeigt, daß ein solches für unvermeidlich erachtetes Lehr-
schreiben in Fortsetzung und Ergänzung des früheren Lehrschrei-
. bens des deutschen Episkopats über das kirchliche Lehramt von
vornherein ein allgemeineres Thema wählt und darin die hier
anstehende Frage und ähnlich liegende Fragen konkreter Art,
wie sie z. B. durch Hans Küng in jüngster Zeit aufgeworfen wur-
den, als Beispiele und Illustrationen in dieses allgemeinere Thema
einbezieht. In einem solchen Lehrschreiben allgemeinerer und
grundsätzlicherer Art könnte sehr vieles behandelt werden, was
reflex oder unreflex das Glaubensbewußtsein des heutigen (ge-
bildeten) Christen beunruhigt: z. B. Selbigkeit der christlichen
Glaubenslehre trotz und in ihrer Geschichtlichkeit, die Probleme
der Dogmenentwicklung, der Wandel der Verstehenshorizonte in
der Geschichte des Glaubens, die Konsequenzen aus der Lehre
von der Hierarchie der Wahrheiten, die Verschiedenheit des
Grades der Verbindlichkeit kirchenamtlicher Lehräußerungen,
Sinn und Grenzen des Lehramtes selbst, dessen wirklicher exi-
stentieller Ort im Glaubensbewußtsein des Einzelnen usw., The-
men, die hier nur angedeutet und nicht erschöpfend aufgezählt
sind. In einem solchen größeren Rahmen könnten dann Fragen,
wie sie R. Pesch, H. Küng oder andere aufgeworfen haben, als
Beispiele konkreter Art genannt werden, die gleichzeitig die all-
gemeine Thematik verdeutlichen und umgekehrt von dieser all-
gemeinen Thematik her selber richtig beantwortet werden kön-
nen. Weil die Frage von R. Pesch sachgemäß und efiizient (« assi-
milierbar ») wohl nur von dieser allgemeineren Thematik her be-
antwortet werden kann, scheint diese allgemeinere Thematik
auch das "Thema eines solchen Lehrschreibens sein zu müssen,
. wenn ein solches Lehrschreiben für sachlich notwendig und si-
tuativ opportun erachtet wird. Natürlich kann man einwenden,
daß eine solche umfassendere Thematik noch viel schwerer zu be-
576
wältigen ist als die begrenztere T'hematik, deren Bewältigung als
möglich unter 2. bezweifelt worden ist. Doch dagegen läßt sich
wieder sagen, daß die engere Problematik über die Jungfräulich-
keit Marias heute eben doch in die allgemeinere Problematik hin-
einzwingt und diese allgemeinere Frage doch, vor allem aus den
Erfahrungen der schon geschehenen Dogmengeschichte heraus,
zu grundsätzlichen Lösungen führen kann, die dann auch für die
noch im Prozeß befindliche Geschichte der Mariologie hilfreich
sein können.
IH,
ÜBER ENGEL
Die Frage nach der Existenz des Teufels und der Dämonen ist
heute akut geworden, nachdem fast 2000 Jahre lang diese Exi-
stenz in Lehre und Praxis des ganzen Christentums in allen Kon-
fessionen als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Man be-
schäftigt sich dabei aus verständlichen Gründen mit der Existenz
des Teufels und der Dämonen; an sich aber ist die Frage unwei-
gerlich eine Frage nach der Existenz außermenschlicher, ge-
schaffener personaler Wesen, also eine Frage nach der Existenz
der «Engel», gleichgültig, ob diese als gut und vollendet oder als
böse und verloren gedacht werden. Dieser allgemeineren Frage
seien hier einige Überlegungen gewidmet. Diese Überlegungen
beziehen sich nicht auf alle die Fragen, die an sich mit dem Pro-
blem der Existenz von «Engeln» gegeben sind. Wir setzen viel-
mehr den heutigen Stand der Frage in der katholischen Theologie
voraus und suchen nur einige Überlegungen vorzutragen, die
vielleicht in der bisherigen Kontroverse noch nicht sehr ausdrück-
lich behandelt wurden.
Der heutige Stand der Kontroverse läßt sich wohl kurz und
einfach angeben: die späten Schriften des Alten Testamentes und
das Neue Testament kennen Engel und Dämonen (samt dem
Teufel, der irgendwie als Repräsentant und Oberster dieses Dä-
monenreiches gedacht wird, wobei allerdings von Herkunft und
Sache her ein Unterschied zwischen Satan und den Dämonen
nicht einfach übersehen werden darf). Diese Lehre der späten
Schriften des Alten Testaments und des Neuen Testaments ist,
religionsgeschichtlich gesehen, keine originale Lehre dieser in-
spirierten Schriften des Christentums, sondern ist da hinein von
der religiösen Umwelt des späten Judentums und des frühen
Christentums eingewandert, wenn auch durch diese Feststellung
grundsätzlich noch nichts Entscheidendes über den genaueren
Sinn und die glaubensmäßige Verpflichtung dieser Lehre ent-
schieden ist, weil nicht von vornherein ausgeschlossen ist, daß
auch eine «von außen» rezipierte Lehre glaubensverbindlich
581
sein kann. Diese Lehre des Neuen Testaments, in dem mit der
Existenz von Engeln und Dämonen selbstverständlich gerechnet
wird, auch wenn gerade wegen dieser Selbstverständlichkeit das
eigentliche Aussageziel des Neuen Testaments nicht auf diese
Existenz, sondern auf ein letztes Entmachtetsein dieser « Mächte
und Gewalten » durch Jesus Christus und seinen Geist geht, wird
als selbstverständlich weitergegeben, in der Lehre durch eine ent-
faltete Angelologie und Dämonologie reflektiert und auch in der
Praxis (Verehrung von Schutzengel, Exorzismus, Lehre von Be-
sessenheit usw.) gelebt. Durch diese Lehre der Tradition wird ein
Beitrag versucht zum Verständnis des Bösen in der Welt: dieses
ist nicht bloß Wirkung und Folge der Freiheit des Menschen,
sondern hat einen dazu vorgängigen, allgemeineren ursächlichen
Grund in der finsteren Herrschaft der bösen Mächte und Gewal-
ten, auch wenn durch diese die verantwortliche Freiheit des
Menschen nicht aufgehoben wird. Die spekulative Angelologie
der christlichen Theologie ist natürlich (besonders im Mittelalter)
angereichert durch viele philosophische Ideen und Theorien, die
gewiß nicht glaubensverbindlich sind. Die Lehre von den Dämo-
nen hat im christlichen Leben faktisch gewiß, und zwar bis in
unsere "Tage, auch zu schrecklichem Fehlverhalten geführt bis zu
den Greueln der Hexenprozesse. Den wichtigsten lehramtlichen
Niederschlag der traditionellen Lehre finden wir in dem Glau-
bensbekenntnis des Vierten Laterankonzils von 1215, worin ge-
sagt wird: Gott «hat in seiner allmächtigen Kraft zu Anfang der
Zeit in gleicher Weise beide Ordnungen der Schöpfung aus dem
Nichts geschaffen, die geistige und die körperliche, d. h. die En-
gelwelt und die irdische Welt, und dann die Menschenwelt, die
gewissermaßen beide umfaßt, da sie aus Geist und Körper be-
steht. Denn der Teufel und die anderen bösen Geister sind von
Gott ihrer Natur nach gut geschaffen, aber sie sind durch sich
selbst schlecht geworden. Der Mensch aber sündigte auf Ein-
gebung des Teufels.» Diese Lehre, die sich auch in vielen ande-
ren Lehrdokumenten findet, ist von Paul VI. in einer Ansprache
vom 15.November 1972 wiederholt worden.
In der heutigen Kontroverse innerhalb der katholischen Theo-
logie (die wir hier allein berücksichtigen) lassen sich drei Posi-
582
tionen unterscheiden: Die erste Meinung geht dahin, daß die
Lehre von geschaffenen (endgültig) guten und (endgültig) bösen
personalen Geistwesen neben und über dem Menschen (samt
deren Einfluß auf die Unheilsgeschichte der menschlichen Welt)
eine streng verbindliche Glaubenswahrheit sei, an der auch heute
unbedingt festgehalten werden müsse. Dabei sei es letztlich
gleichgültig, ob diese Lehre, die aber doch im Neuen Testament
bei Paulus und auch im Wort und der Praxis Jesu selbst deutlich
gegeben sei, mit rein exegetischen Mitteln als eigentliche Glau-
bensaussage aus der Schrift erhoben werden könne, oder ob diese
«wörtliche» Auslegung der Schrift erst durch die kirchliche
Lehrdefinition, an der nicht gezweifelt werden könne, zum Ge-
genstand verpflichtenden Glaubens werde. Es ist freilich auch
unter der Voraussetzung der Richtigkeit dieser ersten Position
nicht zu bezweifeln, daß sie im Lauf ihrer Geschichte Abstriche
hinnehmen mußte und ohne Protest hingenommen hat. So wird
heute wohl niemand mehr verteidigen, daß der Raum zwischen
Erde und Mond der eigentliche, wesensgemäße Aufenthaltsort
der Dämonen sei. Auch die Verteidiger dieser ersten Position
werden heute vorsichtiger sein in der Interpretation gewisser
Krankheiten als dämonische Besessenheit, werden froh sein, daß
es heute keine Hexen und Hexenprozesse gibt, die man früher
als selbstverständliche Konsequenzen aus der traditionellen Lehre
betrachtete. Auch die Vertreter dieser ersten Position werden auf
dickleibige Dämonologien in der Theologie verzichten, die frü-
her, aber gerade in der nachtridentinischen Theologie bis in unser
Jahrhundert (die zwei Bände von v. Petersdorff erschienen erst
1956), verfaßt wurden. Man wird schon an diesem Punkt sagen
können, daß die Vertreter dieser ersten Position vorsichtig und
bescheiden vorgehen müssen, weil sie sich auf eine Tradition be-
rufen müssen, die nicht in allem und jedem, was sie faktisch bie-
tet, glaubwürdig ist. Die Vertreter einer zweiten Position von
heute leugnen schlechthin und eindeutig die Existenz des Teufels
und der Dämonen. Sie insistieren darauf, daß die Lehre vom
Teufel in die Heilige Schrift von außen eingewandert sei, daß bei
einer genauen historisch-kritischen Exegese es sich zeige, daß die
Schrift nicht die Existenz von Teufel, Dämonen (und Engel)
585
lehre, sondern voraussetze und unter dieser Hypothese Aussagen
mache, deren eigentlicher Inhalt auch bestehen bleibe, wenn
man die Hypothese fallenlasse. Wenn und insofern an der blei-
benden Verbindlichkeit lehramtlicher Definitionen festgehalten
wird, werden diese lehramtlichen Erklärungen, soweit sie ver-
bindlich bleiben sollen, in dieser zweiten Position so interpretiert,
wie die Aussagen der Schrift: nicht die Existenz von Dämonen
(und Engeln) wird definiert, sondern nur gesagt, daß, wenn und
insofern sie existieren (was unbefangen vorausgesetzt, aber nicht
eigentlich gelehrt wird), sie von Gott gut geschaffen und nur
durch eigene Schuld böse sind, keine absolute und ursprüngliche
Macht des Bösen darstellen, sondern der größeren Macht des
Guten, dem Heilswillen Gottes und seiner Gnade untertan blei-
ben. Diese zweite Position geht nicht bloß von einer historisch-
kritischen Exegese aus, um die Aussagen der Schrift (und der von
der Schrift herkommenden Tradition und des Lehramtes) zu
relativieren, sondern sucht durch Psychologie, Parapsychologie,
Soziologie verständlich zu machen, wie es zu einer Lehre vom
Teufel kommen konnte, der der Sache nach nur eine Projektion
und Personifikation des Bösen in der Welt ist, das der Mensch als
übermächtig und unausrottbar erfährt. Solche personifizierende
Projektionen sollen dem Menschen die Existenz des überall ge-
gebenen Bösen in der Welt verständlich machen und zugleich
den Menschen selbst entlasten: wo das Böse besonders furchtbar
auftritt, ist nicht eigentlich der Mensch, sondern der Teufel am
Werk; wo ein Mensch in der Widersprüchlichkeit seiner Antriebe
die Tendenz zum Bösen beinahe schizophren erfährt, handelt es
sich um dämonische Einflüsterungen. In der Verteidigung dieser
zweiten Position wird auch aufmerksam gemacht auf die schäd-
lichen Folgen des Teufelsglaubens in dem Leben des einzelnen
und in der Gesellschaft. Schon an diesem Punkt muß wohl
diese zweite Position daran erinnert werden, daß es erkenntnis-
theoretisch doch eine sehr schwierige Sache sei, positiv die Nicht-
Existenz einer Wirklichkeit zu beweisen durch den Nachweis
der Nichtschlüssigkeit der für die Existenz dieser Wirklichkeit
bisher vorgebrachten Argumente. Diese zweite Position muß
auf jeden Fall vor der ihr immanenten Versuchung gewarnt
584
werden, das Böse in der Welt zu verharmlosen und es als unver-
meidliche und letztlich harmlose Reibungserscheinung und un-
vermeidliche Schattenseite einer Werdewelt zu deuten, die sich
eben doch von vornherein siegreich auf eine Vollendung hin ent-
wickelt, ohne wirklich in endgültige Verlorenheit abstürzen zu
können. Diese zweite Position, die sich leicht mit einer Leugnung
der «Erbsünde » verbindet, ist immer wieder darauf zu befragen,
ob sie den Ernst von Sünde und Schuld, der im Kreuz des Sohnes
Gottes offenbar wird, wirklich bewahrt, muß immer neu gefragt
werden, was das Böse und das Dämonische, das alle Dimensionen
der Existenz und der Welt durchdringt und nicht durch einen
bürgerlich naiven Optimismus aus der Welt geschafft wird, eigent-
lich sei, wenn man es nicht mit Hilfe der traditionellen Dämonen-
lehre verdeutlichen will. Eine dritte Position erkennt auf ein jetzt
(noch) gegebenes «non liquet» in dieser Frage: es sei nicht ein-
deutig sicher, daß die traditionelle Lehre der Schrift und der Kir-
che absolut, und nicht nur hypothetisch, die Existenz von außer-
menschlichen, geschaffenen, personalen, guten und bösen Wesen
lehre, über die Lehre von der Geschaffenheit aller Wirklichkeit
außer dem einen Gott, der kreatürlichen Endlichkeit des Bösen,
der Verwerfung eines manichäischen Dualismus hinaus auch ab-
solut die Existenz von solchen Engeln und Dämonen behaupte.
Diese dritte Position vertraut also in einer gewissen Neutralität
zwischen den beiden anderen Positionen das Problem der künfti-
gen Glaubens- und Theologiegeschichte an. Diese dritte Position
kann sich weder von den Argumenten der ersten noch von den
Argumenten der zweiten Position eindeutig überzeugt erklären.
Eine solche Position ist von den Erfahrungen der Dogmenge-
schichte her nicht verwunderlich. Es hat in dieser Geschichte im-
mer wieder Meinungen und Lehren gegeben, die vom (nicht de-
finierenden oder bei Definitionen verschieden interpretierbaren)
Lehramt in der ordentlichen oder außerordentlichen Lehrver-
kündigung vorgetragen wurden (auch mit Berufung auf die
Schrift), die sich später als irrig erwiesen und von denen das Lehr-
amt schließlich stillschweigend oder ausdrücklich abrückte. Sol-
che Fälle hat es, ohne daß sie hier vorgestellt werden müssen,
immer wieder gegeben, Fälle, in denen zwischen dem Auftreten
583;
eines neuen Problems und seiner Bereinigung in der einen oder
anderen Richtung eine geraume Zeit vergehen mußte und dieser
Zeitraum auch, je nach der Eigentümlichkeit des Problems und
der Voraussetzungen für seine Lösung, nochmals sehr verschieden
lang sein kann. Es ist also dieser dritten Position nicht von vorn-
herein der Vorwurf zu machen, sie weigere sich bequem oder
feige und denkfaul, eine deutliche Meinung in dieser Frage zu
haben, zumal es sich ja hier nicht eigentlich um die Äußerung
einer privaten Meinung handelt, sondern um ein Urteil darüber,
wie die beiden ersten Positionen vom Gesamtglaubensbewußtsein
der Kirche beurteilt werden, also um eine Frage, die nur sehr
schwer beantwortet werden kann, weil dieses Glaubensbewußt-
sein schwer zu fassen ist und selber in einer geschichtlichen Ent-
wicklung steht.
Damit, so hoffen wir, ist in etwa der heutige «status quaestio-
nis» für dieses Problem gekennzeichnet, wenn natürlich auch die
eigentlichen Sachargumente, die von den drei Positionen vorge-
tragen werden, nicht im einzelnen entfaltet worden sind. Im fol-
genden soll nun das Problem der Existenz von Engeln und Dä-
monen als theologisches Problem nicht nach all den Richtungen
weiter untersucht werden, die in der bisherigen Kontroverse zur
Sprache kamen. Es sollen also hier keine exegetischen und reli-
gionsgeschichtlichen Untersuchungen vorgetragen werden, noch
die Erklärungen des kirchlichen Lehramtes auf ihren Inhalt und
ihre Verbindlichkeit befragt werden, obwohl alle diese Unter-
suchungen für eine Beantwortung des eigentlichen Problems
selbstverständlich unerläßlich sind. Wir möchten vielmehr auf
einige Fragen hinweisen, die in der bisherigen Kontroverse nicht
oder höchstens am Rand behandelt worden sind. Diese Fragen,
die wir aus dem Gesamtkomplex des Problems herausgreifen,
können für sich allein das Gesamtproblem nicht zur Entscheidung
bringen, weil es sich um Fragen handelt, die als Einzelfragen
neben vielen anderen auch bei einer klaren Antwort auf sie das
Gesamtproblem nicht für sich allein entscheiden können, und weil
sie selber wieder in weitere Probleme hineinzwingen, die viel-
leicht noch dunkler und bisher noch weniger bedacht sind als ihr
eigener unmittelbarer Gegenstand. Unter dem Vorbehalt, daß
586
man eine etwas hochtrabend klingende Nomenklatur geduldig
hingehen lasse, möchten wir drei Fragen unterscheiden, die uns
hier beschäftigen sollen: eine erkenntnistheoretische Frage, eine
existentialontologische Frage, eine Frage der Theologie des Kos-
mos. Was hier mit diesen Fragen gemeint ist, wird sich bei ihrer
Behandlung ohne weiteres ergeben.
587
Bedeutung für die Frage nach der Existenz der Engel. Und dar-
um soll wenigstens in Andeutungen von diesem allgemeinen Pro-
blem theologischer Erkenntnis gesprochen werden..
Kann man die Frage beantworten: Gibt es ein formales Prin-
zip, das apriori eine Scheidung zwischen Gegenständen erlaubt,
die von vornherein als solche gar nicht als Gegenstand der Offen-
barung in Frage kommen, und solchen, die Gegenstand solcher
übernatürlicher Offenbarung sein können? Kann man unter Um-
ständen von bestimmten Sätzen über Existenz und Wesen be-'
stimmter Wirklichkeiten sagen, sie könnten gar nicht geoffen-
bart sein, weil ihr Inhalt von vornherein gar nicht Offenbarungs-
gegenstand sein könne? Wenn nicht alles täuscht, wird eine solche
Frage in der katholischen J’heologie kaum oder gar nicht gestellt.
(Es kann sein, daß diese Behauptung auf eigener Unkenntnis be-
ruht; außer eigenen Überlegungen anderswo, die an diese Frage
sich herantasten, ist mir diese Frage innerhalb der katholischen
Theologie nur aus der Fundamentaltheologie von P. Knauer be-
kannt!; natürlich ist nicht ausgeschlossen, daß diese von mir ver-
mißte Frage anderswo doch unter anderen Perspektiven und Be-
grifflichkeiten verhandelt wird.)
Das Fehlen dieser Fragestellung ist leicht verständlich: man
geht stillschweigend und selbstverständlich von der Voraussetzung
aus, daß Gott allwissend ist, sich «nach außen » mitteilen kann,
in dieser Mitteilung frei ist und somit jede Wahrheit grundsätz-
lich, wenn Gott will, auch Gegenstand seiner übernatürlichen
Wortoffenbarung sein kann. Es scheint somit von vornherein
kein apriorisches und grundsätzliches Axiom geben zu können,
das bestimmte Sätze aus dem Kreis möglicher göttlicher Offen-
' barung ausschließt. Zu dieser stillschweigend als selbstverständ-
lich vorausgesetzten Überlegung kommt noch hinzu, daß die ka-
tholische Theologie (deutlich z. B. im Ersten Vatikanum) voraus-
setzt, daß es Sätze innerhalb der Offenbarung gibt als wirklich zur
Offenbarung gehörende (z. B. über die Existenz Gottes, eines
Naturgesetzes usw.), die aber doch auch von der «natürlichen »
Vernunft ohne die Hilfe der übernatürlichen Offenbarung grund-
1 P. Knauer, Der Glaube kommt vom Hören. Oekumenische Fundamentaltheolo-
gie, Graz 1977.
588
sätzlich erreicht werden können, so daß die Offenbarung solcher
Sätze nur der größeren Klarheit und Sicherheit solcher Sätze für
den Menschen in seinem Heilswirken dient. Gerade weil man
(wie mir scheinen will) sich in der Schultheologie über das eben
Angedeutete hinaus kaum viel Gedanken gemacht hat darüber,
wie sich Offenbarung von Wirklichkeiten und Wahrheiten, die
an sich der natürlichen Vernunft auch für sich allein zugänglich
sind, verhalte zur Offenbarung der eigentlichen Glaubensmyste-
rien, die grundsätzlich nur durch personale übernatürliche Offen-
barung zugänglich sind, schien es ganz allgemein und gar nicht
weiter reflektiert selbstverständlich zu sein, daß Gott, wenn er
nur wolle und es in bestimmten Situationen für sinnvoll halte,
weil heilsbedeutsam, jedwede denkbare Wahrheit offenbaren
könne. Diese Überzeugung wird noch durch den Eindruck ver-
stärkt, den man gemeinhin von der Geschichte der Offenbarung
gewinnt: weil man alle Offenbarungsträger, von Moses und den
Propheten angefangen bis zu Jesus und seiner endgültigen Offen-
barung, stillschweigend für formal gleichwertig betrachtet und sie
nur im Inhalt der Offenbarung, nicht aber im Vorgang der Offen-
barung selbst für differenziert erachtet (obwohl ein bloß analoger
gemeinsamer Oberbegriff von Offenbarung noch gar nicht aus-
geschlossen worden ist), weil man in der Geschichte der Offen-
barung, wenn sie so formal nivelliert betrachtet wird, die ver-
schiedensten Offenbarungsinhalte feststellt (von der politischen
Maxime eines Propheten bis zur eschatologisch siegreichen Geist-
mitteilung an die Welt), konnte man eigentlich gar nicht wirk-
lich an die Frage denken, ob nicht apriori dieser oder jener Satz-
inhalt aus dem Gebiet von eigentlicher Offenbarung ausgeschlos-
sen werden könne. Man kannte praktisch nur die Frage, ob dies
oder jenes (z. B. die Existenz von Engeln) tatsächlich geoffenbart
sei oder nicht, nicht aber die Frage, ob dieses oder jenes von seiner
Inhaltlichkeit her, gemessen am Wesen der göttlichen Offenba-
rung, überhaupt geoffenbart sein könne oder vielmehr von vorn-
herein aus diesem Bereich auszuschließen sei.
Es wird nun hier die Meinung vertreten, daß es dennoch ein
solches apriorisches Axiom für die Bestimmung der Möglichkeit
solcher Offenbarung gebe. Dieses Axiom lautet (unter dem Vor-
589
behalt später anzubringender Präzisionen): In einer übernatür-
lichen Offenbarung (in ihrer hier als notwendig vorausgesetzten
Einheit von Geistmitteilung und Wort, durch die eine Wortoffen-
barung überhaupt erst Wort Gottes und nicht nur Wort über
Gott sein kann) kann eigentlich und primär nur Gott sich selbst
(in seiner Selbstmitteilung) offenbaren. Alles andere, also alles von
Gott als geschaffen Unterschiedene, kann als solches gar nicht
ursprünglicher Gegenstand einer eigentlichen, übernatürlichen
Offenbarung und so Glaubensgegenstand ursprünglicher Art sein.
(Ob und wie es sekundäre, im Ereignis und im Inhalt von der
eigentlichen Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes abhängige
Gegenstände der Offenbarung geben könne, die nicht Gott selbst
sind, muß später noch eigens überlegt werden.) Dieses Grund-
axiom müßte eigentlich sich von selbst verstehen und einleuch-
ten. Wenn man das Verhältnis von Gott und Welt nicht anthropo-
morph denkt, wenn man Gott freien Grund der Welt und nicht
partikulären Teil der Wirklichkeit sein läßt, dann muß jede parti-
kuläre Intervention Gottes innerhalb der Welt und als von Welt-
wirklichkeiten verschieden und doch zu ihnen gehörend, nur als
mythologische Vorstellung abgelehnt werden oder diese « Parti-
kularität» muß darin bestehen, daß Gott sich als solcher selbst
durch sich selbst der Welt zu Unmittelbarkeit mitteilt und darin
die Heils- und Offenbarungsgeschichte in einem besteht. Daß
Gott nicht ein eigentlich partikuläres Moment partieller Art in
der Welt und ihrer Geschichte werden kann, bedeutet keine Be-
grenzung Gottes, sondern ist gerade mit einer recht verstandenen
und radikal ernst genommenen Göttlichkeit Gottes identisch. Wir
können dasselbe, das hier gemeint ist, auch aus der umgekehrten
Sicht sehen: wenn Gott, sich offenbarend und mitteilend, durch
ein Anderes, das von ihm geschaffen und von ihm verschieden ist,
sich mitteilen würde, weil dieses andere Geschaffene einen Ver-
weis auf ihn an sich tragen würde, wenn also die Offenbarung
Gottes durch ein « Kreatürliches » konstituiert würde, dann wäre
dieses Geschaffene grundsätzlich der Vernunft des Menschen zu-
gänglich, weil das Formalobjekt dieser Vernunft kein endliches
Kreatürliches aus seinem Bereich ausschließen kann, weil Ver-
nunft als unbegrenzte Transzendentalität alles Endliche grund-
590
sätzlich umfassen kann und so ein Endliches grundsätzlich kein
absolutes Geheimnis sein kann. Eigentliche Offenbarung kann
nur Gott als solchen selbst zum Gegenstand haben.
Natürlich muß dieses Grundaxiom zunächst Verwunderung
und Widerspruch erregen. Man sieht zwar zunächst leicht, daß
durch dieses Axiom die drei Grundmysterien des Christentums:
Trinität, Inkarnation, Geistmitteilung abgedeckt und in ihrer
formalen Gemeinsamkeit zusammengefaßt werden. Man mag
auch noch verhältnismäßig schnell sich deutlich machen, daß das
Mysterium Kirche, insofern sie ein solches ist, zurückgeführt
werden kann auf das Mysterium der von Gott her irreversibel in
Christus festgemachten Selbstmitteilung Gottes. Aber man wird
nicht leugnen können, daß es den Anschein hat, es gäbe noch an-
dere Glaubenssätze, die einerseits als eigentliche Mysterien ver-
standen werden, die nur durch die Offenbarung Gottes zugänglich
sind, und die anderseits, weil wenigstens dem Anschein nach eine
endliche Realität aussagend, dem eben formulierten Grundaxiom
zu widersprechen scheinen (man denke z.B an den Satz von
der Transsubstantiation). Es kann natürlich hier diese Schwierig-
keit nicht bereinigt werden, schon darum nicht, weil eine solche
Aufgabe voraussetzen würde, es sei klar, welche und wie viele
eigentliche Glaubensmysterien gegeben und zu unterscheiden
sind. Wir setzen hier einfach voraus, daß eine Versöhnung un-
seres Grundaxioms mit der Glaubensüberzeugung der Kirche von
Sätzen möglich ist, die die Kirche als eigentliche Glaubensmyste-
rien versteht, vorausgesetzt freilich, daß diese anderen Glaubens-
mysterien selber in sich im Hinblick auf ihren Mysteriencharak-
ter richtig interpretiert werden, was in einzelnen Fällen gar nicht
so einfach ist. Aber damit ist die eigentliche Schwierigkeit, die
uns hier bei diesem Grundaxiom beschäftigen muß, noch nicht
einmal anvisiert. Es scheint nämlich doch einfach evident zu sein,
daß das Glaubensbewußtsein der Kirche Sätze kennt, die als
wirkliche Offenbarung verstanden werden, obwohl sie einen end-
lichen Gegenstand aussprechen und gar nicht den Anspruch er-
heben, eigentliche Mysterien zu sein. Solche Offenbarungswahr-
heiten scheint es eine ganze Menge zu geben, ohne daß man sich
bisher die Mühe gemacht zu haben scheint, solche Glaubens-
591
wahrheiten in ihrer Verschiedenheit zu unterscheiden und formal
zu ordnen in ein durchsichtiges System hinein. Diese Systemati-
sierung solcher Sätze, die einerseits geoffenbart sein sollen und
anderseits keine eigentlichen Mysterien beinhalten und also
unserem Grundaxiom viel größere Schwierigkeiten bereiten als
eventuelle Mysterien, die mit unserem Grundaxiom nicht von
vornherein deutlich harmonisieren, kann hier natürlich nicht vor-
genommen werden. Zu diesem Problem müssen einige Andeu-
tungen genügen. Zunächst einmal gibt es gewiß Sätze, deren’
Inhalt eine unmittelbar greifbare und als zwingend notwendig
verstehbare Voraussetzung auf seiten des Menschen für die Mög-
lichkeit der eigentlichen Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes
bedeutet. Daß der Mensch ein Wesen ist, das mit Gott über-
haupt etwas zu tun haben kann, das ist ein Satz, der unmittelbar
eine endliche Wirklichkeit aussagt, und zwar eine solche, die
«natürlich» erfahrbar ist (oder so gelten kann), und die ander-
seits durch das Ereignis der eigentlichen Offenbarung als deren
Voraussetzung garantiert ist. Solche Sätze können in einem se-
kundären und abgeleiteten Sinn durchaus als Offenbarungssätze
angesprochen werden, weil und insofern ihr Inhalt im eigent-
lichen Offenbarungsvorgang als Selbstmitteilung Gottes unwei-
gerlich erfahren wird. Solche Sätze bestreiten also, richtig ver-
standen und interpretiert, unser Grundaxiom nicht, sondern be-
stätigen es. Man wird der Meinung sein können, daß der Groß-
teil der Offenbarungssätze, die keine absoluten Mysterien enthal-
ten, in dieser Weise interpretiert werden kann und so nicht in
Widerspruch zu unserem Grundaxiom kommt. Aber läßt sich
dies von allen Sätzen sagen, die das Glaubensbewußtsein der
Kirche als geoffenbart versteht? Diese Frage ist schon darum sehr
schwer zu beantworten, weil eine übersichtliche und durchsich-
tige und gleichzeitig erschöpfende Tafel solcher eventuell gege-
bener Sätze nicht besteht. Wenn z. B. ein Prophet im Alten Testa-
ment eine politische Maxime für eine bestimmte geschichtliche
Situation als «Wort Jahwes», als Offenbarungswort verkündigt,
dann ist, selbst wenn man diesen Anspruch anerkennt, immer
noch die dunkle Frage ungeklärt, in welchem genauen Sinne ein
solches Wort Offenbarung sei. (Es ist ja auffallend, wie wenig im
592
Unterschied zur mittelalterlichen Theologie der Prophetie die
modernere Fundamentaltheologie sich Gedanken macht über den
konkreten Vorgang im Bewußtsein des Propheten, der Anspruch
darauf macht, daß sein Wort, das zunächst einmal eine Gegeben-
heit seines Bewußtseins ist, Gottes Wort sei. In der modernen
schulmäßigen Fundamentaltheologie blickt man zu rasch auf die
äußere Beglaubigung der Worte der Offenbarungsträger durch
vom Offenbarungsvorgang selbst unterschiedene Wunder, ohne
genauer «psychologisch » auf den Offenbarungsvorgang selbst im
Offenbarungsträger zu reflektieren, obwohl doch diese Offenba-
rungsträger selbst für ihre Überzeugung, innerlich eine göttliche
Offenbarung erhalten zu haben, gar nicht auf Wunder rekurrie-
ren. Es müßten jedenfalls solche Sätze in ihrem Inhalt und ihrer
psychologischen und gesellschaftlichen Herkunft genauer unter-
sucht und unterschieden werden, so daß auch die Behauptung, sie
seien göttliche Offenbarung, sehr differenziert werden könnte und
müßte. Weil all dies hier nicht durchgeführt werden kann und
die Verlegenheit bezüglich unseres Grundäxioms, die entstanden
ist, doch nicht einfach verschwiegen werden kann, sei in aller
Kürze eine Grundlösung des anstehenden Problems kurz ange-
deutet, die vielleicht doch klarmachen kann, daß wir auf unserem
Grundaxiom bestehen können, ohne darum einfach zu leugnen,
daß es Sätze gebe, die einerseits direkt eine endliche Wahrheit
aussagen und anderseits doch den Anspruch machen, geoffen-
bart zu sein. Bei diesem Vorschlag setzen wir voraus, daß Offen-
barung immer nur im Glauben entgegengenommen werden
kann und daß solcher Glaube immer und zu allen Zeiten, wenn
auch höchst unthematisch und ohne verbale Objektivation von
der Selbstmitteilung Gottes (durch das, was wir «ungeschaffene
Gnade» zu nennen pflegen) getragen sein muß und er immer,
wenn auch implizit und unthematisch, die eigentliche Selbstmit-
teilung und Selbstoffenbarung Gottes im Sinne unseres Grund-
axioms bejaht. Unter dieser Voraussetzung kann man wohl sa-
gen: Eine endliche Wirklichkeit und der auf sie bezogene Satz
können dann als geoffenbart bejaht werden, wenn und insofern
ihre Getragenheit durch den eigentlichen Glauben als Unmittel-
barkeit zum absoluten Gott und ihre Synthese damit unmittelbar
593
und zwingend erfahren werden. Wo (etwas kühn formuliert) die
Mystik der transzendentalen Gnadenerfahrung in einer unlös-
lichen, die Offenheit dieser Mystik nicht verstellenden Synthese
mit einer kategorialen Erfahrung erlebt wird, darf auch diese als
gottgewollt, als Wille und Wink Gottes, als geoffenbart verstanden
werden. Dies aber immer von der eigentlichen Gnadenerfahrung
her, in der ein Mensch glaubend sich dem absoluten Geheimnis
Gottes, also seiner eigentlichen Offenbarung im Sinn unseres
Grundaxioms ergibt, auch wenn diese Gnadenerfahrung als solche
selbst in vielen Fällen und je nach der Eigenart der Situation der
Offenbarungsgeschichte unthematisch bleiben mag und der Blick
des Offenbarungsempfängers an dem kategorialen Inhalt seiner
Erfahrung haftet. Eine katholische Theologie, so will mir scheinen,
kann diese eben angedeutete Theorie nicht eigentlich verwerfen,
wenn sie zugibt, daß Offenbarung, gleichgültig welchen partiku-
lären Inhalts, im Glauben entgegengenommen werden muß, um
als Offenbarung verstanden zu werden, Glaube aber immer und
überall im letzten das gleiche Wesen hat und nicht allein von sei-
nem Einzelgegenstand her bestimmt werden kann, unter dem
Selbstmitteilung Gottes an sich selbst im Heiligen Geist ge-
schieht. Diese Theorie könnte von einer Theologie der Mystik
und der Privatoffenbarungen her verdeutlicht und gestützt wer-
den, auch wenn dann der Unterschied zwischen öffentlicher und
privater Offenbarung bei letztlich gleichem Grundwesen deutlich
gemacht werden müßte. Es gibt wohl auch in der üblichen Theo-
logie und Praxis der Kirche Fälle, in denen man ohne einen Re-
kurs auf die angedeutete Theorie nicht auskommt. Die Glaubens-
verpflichtung, die ein Katholik einer Kathedralentscheidung des
Papstes gegenüber anerkennt, hängt doch von der Rechtmäßig-
keit der Wahl dieses Papstes und von der sicheren Erkenntnis
‚des Ergangenseins einer solchen Kathedralentscheidung ab. Sol-
che Wirklichkeiten und ihre Erkenntnis scheinen doch rein na-
türliche, geschichtliche und kontingente zu sein, keinen Glau-
bensgegenstand an sich selbst zu bedeuten, auch nicht zur Gruppe
jener Wahrheiten und Wirklichkeiten zu gehören, die zwingend
in der Entgegennahme der eigentlichen Offenbarung mitreali-
siert werden, von denen wir oben gesprochen haben, und sollen
594
doch Grundlage einer Glaubensentscheidung sein. Wenn man
sich auch in der «analysis fidei» der Schultheologie gewöhnlich
etwas anders bei diesem Problem zu helfen versucht, so scheint
doch die hier angebotene Lösung auch für diese Fälle am ver-
ständlichsten zu sein. Die Glaubenserfahrung des Katholiken im
Heiligen Geist auf die Unmittelbarkeit Gottes hin legitimiert und
bestätigt ihm auch den kategorialen Ausgangspunkt und die Ver-
mittlung seines eigentlichen Glaubens, also in diesem Falle die
tatsächliche Legitimität der Wahl des Papstes usw. Es scheint
doch wohl letztlich unerheblich zu sein, ob man dann einen sol-
chen Satz über eine geschichtlich kontingente Wirklichkeit einen
geoffenbarten Glaubenssatz oder einen Satz nennt, der nur bei
einer Glaubensentscheidung absolut mitbejaht wird, ob man ihn
als Inhalt einer fides divina oder einer bloßen fides ecclesiastica
(wenn es eine solche gibt) betrachtet, zumal heute diese tradi-
tionelle Unterscheidung zwischen einem göttlichen und bloß
kirchlichen Glauben wenig Beifall mehr zu finden scheint. Wenn
man Offenbarungswahrheiten, deren Inhalt endlich und ge-
schichtlich kontingent zu sein scheint, ohne schon im früheren
Sinne im Glaubensvorgang notwendig implizit bejaht zu sein, so
auffaßt und interpretiert, dann ist man zwar zu einer differen-
zierteren Auffassung von Offenbarungswahrheit gezwungen, als
sie üblicherweise gegeben ist, man muß aber eine richtig ver-
standene Geoffenbartheit solcher Wahrheiten nicht leugnen und
braucht sie nicht als Widerspruch zu unserem Grundaxiom in
dieser Frage zu verstehen.
Nach diesen umständlichen und doch viel zu Be Vorüber-
legungen können wir nun zu unserer eigentlichen Frage zurück-
kehren: Kann die Existenz von Engeln (und Dämonen) über-
haupt geoffenbart sein? Wenn unser Grundaxiom und seine
nachgetragene Präzision richtig sind, dann muß auf diese Frage
geantwortet werden: Da die Existenz von Engeln, wenn sie ge-
geben sein soll, höchstens eine endliche und kreatürliche Wirk-
lichkeit aussagt, die gar kein eigentliches Glaubensmysterium
sein kann, kann diese Existenz von Engeln höchstens dann als
Offenbarungsinhalt sekundärer und abgeleiteter Art verstanden
werden, wenn nachgewiesen werden kann, daß diese Wirklich-
395
T
596
halt eingeht, daß das Gesamtbewußtsein der Kirche erfährt, daß
konkret der ursprüngliche Glaubensvollzug faktisch nur unter Be-
Jahung dieses sekundären Gegenstandes getan werden kann. (Um
an einem Beispiel sich deutlich zumachen, was mit diesen gewiß
an sich nicht sehr klaren und ungewohnten Sätzen gemeint ist,
denke man z. B. an die Legitimität des Papsttums Pius’ IX., an
der die Legitimität des Ersten Vatikanums hängt; diese Legitimi-
tät ist gewiß ein endliches, kontingentes, aus dem Wesen der
Kirche nicht ableitbares, natürlich erfahrbares Faktum;; und doch
muß der konkrete Glaubensakt der Kirche als ganzer, in dem sie
ihr konkretes Wesen annimmt samt ihrer geschichtlichen Kon-
tinuität durch die Zeiten hindurch, diese Legitimität Pius’ IX.
als absolut gegeben setzen, also als sekundären Glaubensgegen-
stand und nicht nur als hypothetische Voraussetzung eines Glau-
bensurteils. Natürlich müßte, von der Sache her gesehen, über
diese Synthese noch mehr und Genaueres gesagt werden, müßte
vielleicht die Eigenart verschiedener solcher Synthesen heraus-
gearbeitet werden, auch im Unterschied voneinander. Aber dies
ist hier nun nicht mehr möglich.)
Wir fragen also: Wenn in Schrift und Tradition von der Exi-
stenz von Engeln gesprochen wird, wenn es sich dabei nach un-
serem Grundaxiom über mögliche Offenbarungsgegenstände
nicht um einen primären und ursprünglichen Glaubensgegen-
stand handeln kann, ist dann diese Existenz nur hypothetisch vor-
ausgesetzt als Gegenstand einer natürlichen Erkenntnis, über den
die Glaubensaussage (geschaffen usw.) unter Bleibendheit des
hypothetischen Charakters des Gegenstandes der Aussage ge-
macht wird (wenn es Engel gibt, wovon wir natürlich, aber nicht
glaubensmäßig überzeugt sind, dann sind sie geschaffen usw.),
oder geht die an sich natürliche Erkenntnis der Existenz von En-
geln so eine Synthese mit dem Glauben (an die Geschaffenheit
alles Außergöttlichen usw.) ein, daß diese Existenz, obzwar an
sich natürlichen und hypothetischen Charakters, doch ein sekun-
därer und abgeleiteter Glaubensgegenstand wird? Diese Frage-
stellung verbietet uns nach all dem bisher Gesagten, einfach bloß
mit dem simplen Dilemma zu arbeiten, daß die Existenz der
Engel entweder ein Offenbarungsgegenstand (dies: primärer, un-
397
differenzierter Art) sei oder eine bloße Behauptung der natürli-
chen Erkenntnis, die an sich irrig sein kann, deren Entstehen
psychologisch, soziologisch usw. erklärt werden könne und bezüg-
lich derer der Glaube bloß eine hypothetische Aussage mache. So
einfach ist es nicht. Man muß beim Begriff « geoffenbart » unter-
scheiden, und man kann beim Begriff «natürliche Erkenntnis »
nicht einfach voraussetzen, daß ihr Gegenstand nie und in keiner
Weise in den Bereich abgeleiteter und sekundärer Glaubens-
gegenstände eintreten könne.
Wenn wir aber die Frage so differenziert stellen, dann muß
man wohl im augenblicklichen Zeitpunkt der Kontroverse sagen,
daß sie jetzt und hier keine eindeutige Antwort finden kann. Man
wird zwar gewiß sagen können, daß, wenn Engel existieren, sie
an sich und zunächst Gegenstand einer natürlichen Erkenntnis
sind, wobei « natürlich » durchaus die Frage offen lassen kann, ob
eine solche « natürliche » Erkenntnis auch gedacht werden könnte
unter der Voraussetzung einer allein bestehenden «Natur» im
Sinne der scholastischen Unterscheidung von Natur und Gnade.
«Natürliche Erkenntnis» braucht hier nur zu bedeuten, daß sie
außerhalb und unabhängig von der Offenbarungsgeschichte des
Alten und Neuen Bundes entstanden und jetzt noch gültig ist und
als solche nicht die Garantie göttlichen Geoffenbartseins hat. Daß
in einem solchen Sinn die Existenz der Engel Gegenstand natür-
licher Erkenntnis ist (wobei die Frage, ob diese richtig oder falsch
sei, natürlich noch ganz offen ist), kann man wohl nicht bestreiten.
Denn nicht nur die Anhänger der ersten Position müssen zugeben,
daß die Engellehre von außen in das Alte und Neue Testament
eingegangen ist und nicht darin selbst ursprünglich sich ereignet
hat, sondern auch die Anhänger der zweiten Position behaupten
eine solche natürliche Erkenntnis, die nach ihnen freilich falsch
ist, um die Geoffenbartheit dieser Lehre bestreiten zu können.
Somit sind für uns zwei Fragen gegeben. Erstens: kann eine
solche natürliche Erkenntnis der Existenz von Engeln nicht nur
in ihrem Entstehen psychologisch, soziologisch, geistesgeschicht-
lich verständlich gemacht werden, sondern auch als sachlich rich-
tig und auch heute noch gültig nachgewiesen oder wenigstens als
wahrscheinlich und sinnvoll dargetan werden, oder ist dies nicht
598
der Fall und ist somit für uns die Existenz der Engel eine heute
überwundene Anschauung mythologischer Art? Zweitens, wenn
die Existenz der Engel als Gegenstand einer natürlichen, auch
heute noch richtigen Erkenntnis aufgezeigt werden könnte, ist sie
dann Glaubensgegenstand in der Schrift und der Tradition oder
doch nur ein Gegenstand natürlicher Erkenntnis, über den der
Glaube hypothetisch eine Aussage macht, ohne ihn in den Rang
eines Glaubensgegenstandes zu erheben, ohne seine Leugnung zu
verbieten? Über die erste dieser beiden Fragen müssen wir im
dritten Abschnitt unserer Überlegungen noch weiter nachdenken.
Setzen wir aber eine positive Antwort voraus, d. h. die Meinung,
daß auch heute die Existenz von Engeln bejahbar, wahrscheinlich
gemacht werden kann, dann ist die eben gesagte zweite Frage
immer noch offen; es wäre dann immer noch zu fragen, ob diese
Existenz der Engel in den Aussagen über sie hypothetisch bleibt
oder sie zu einem sekundären Glaubensgegenstand macht. Diese
Frage muß aber offenbar offen bleiben. Denn unter den Voraus-
setzungen, die wir mit unserem Grundaxiom gemacht haben,
müßte nachgewiesen werden, daß der Glaube in Schrift und Tra-
dition wirklich jene Synthese als unausweichlich erfährt, die zwi-
schen dem ursprünglichen, auf Gott selbst allein gehenden Glau-
ben und einem endlichen Gegenstand, der nicht ursprünglicher
Glaubensgegenstand sein kann, bestehen muß, wenn eine solche
endliche Wirklichkeit doch sekundärer Glaubensgegenstand sein
soll. Es soll nun hier nicht apodiktisch behauptet werden, eine
solche Synthese (genauer zu beschreibender Art) existiere in un-
serem Falle sicher nicht. Aber daß eine solche Synthese, die an
sich denkbar und für eine diesbezügliche Glaubensaussage not-
wendig ist, in unserem Falle sicher besteht, ist doch wohl auch
nur schwer oder gar nicht überzeugend nachzuweisen. In einem
geistlichen und geschichtlichen Milieu, in dem der Glaube an
übermenschliche Geister eine Selbstverständlichkeit war (das zei-
gen die Argumente der zweiten Position auf jeden Fall), geht
natürlich der christliche Glaube mit der Überzeugung von der
Existenz solcher Geisterwesen eine solche innige und selbstver-
ständliche Symbiose ein, die in vielen Menschen bis auf den heu-
tigen Tag selbstverständlich geblieben ist, daß eine solche Sym-
399
‚biose durchaus den Eindruck machen kann, sie sei sachlich mit
jener eigentümlichen Synthese identisch, die eine natürliche
Erfahrungswirklichkeit als sekundären und abgeleiteten Glau-
bensgegenstand konstituiert. Dies, zumal aus geistessoziologi-
schen Gründen eine solche Symbiose in den amtlichen Repräsen-
"tanten des kirchlichen Bewußtseins auch dann noch zu bestehen
pflegt, wo in anderen diese Symbiose sich schon aufzulösen be-
gonnen hat. Daß aber diese Symbiose wirklich die gesuchte Syn-
these beweist, ist damit noch längst nicht eindeutig ausgemacht.
Man denke an eine Parallele: Im 17. Jahrhundert noch wurde die
Existenz von Hexen in den Kirchen eindeutig und unbefangen
bejaht, und man empfand diese Bejahung gewiß als Konsequenz
oder zweifelsfreie Konkretheit des christlichen Glaubens an Dä-
monen. Die Verfaßtheit des Pentateuchs durch Moses empfand
man in katholischen Kreisen bis in unser Jahrhundert hinein als
selbstverständliche Konkretheit des Glaubens an die inspirierte
Schrift. Solche und ähnliche Beispiele einer Auflösung einer zu-
erst unbefangen gelebten Einheit von wirklichem Glauben und
vergänglicher menschlicher Meinung ließen sich noch viele auf-
zeigen. Solche Beispiele beweisen natürlich nicht, daß immer und
überall, wo eine solche Verbindung vorliegt, es sich bloß um eine
solche vergängliche Symbiose und nicht um eine Synthese handle,
in der das Glaubensbewußtsein der Kirche eine an sich natürliche
Wahrheit als sekundären und abgeleiteten Glaubensgegenstand
ergreift. Ob eine bloße Symbiose oder eine echte Synthese vor-
liegt, wird nun eben in unserem Falle im Augenblick nicht zu
entscheiden sein; es wird vielmehr abgewartet werden müssen,
ob in näherer oder fernerer Zukunft das Glaubensbewußtsein der
Kirche eine solche vergängliche Symbiose aufgibt oder auch reflex
eine solche Synthese bejaht, in der die Existenz von Engeln als
sekundärer Glaubensgegenstand bejaht wird.
An diesem Punkt unserer Überlegungen darf wohl bescheiden
die Ansicht geäußert werden, daß an einem solchen Punkt der
Geschichte des reflektierenden Glaubensbewußtseins, wie er in
unserer Frage gegenwärtig gegeben zu sein scheint, eine aus-
drückliche Intervention des Lehramtes wenig opportun zu sein
scheint. Die grundsätzliche Berechtigung einer solchen Interven-
400
tion braucht nicht bestritten zu werden. Aber was nützt sie an
einem solchen Punkt? Sie kann praktisch und konkret nicht in
einer Kathedralentscheidung des Papstes oder eines Konzils ge-
schehen, weil dafür die Voraussetzungen nicht gegeben sind.
Das zeigt sich ja daran, daß das Zweite Vatikanum in keinem
Fall neue Definitionen aussprach und Paul VI. nach dem Konzil
auch in den Fragen, in denen er eine neue Erklärung seines Lehr-
amtes für angebracht hielt, keine Kathedralentscheidungen vor-
trug. Werden aber nicht-definierende, wenn auch authentische
Erklärungen des Lehramtes erlassen, dann beendigen solche, wie
die Erfahrung der letzten Jahrzehnte sehr deutlich zeigt, die Dis-
kussion nicht. Diese und also die Geschichte des Glaubensbewußt-
seins der Kirche gehen weiter. Man kann natürlich bei unserer
Frage sich auf frühere Definitionen berufen und erklären, darin
sei die anstehende Frage definitiv entschieden. Aber selbst wenn
man dem Vierten Laterankonzil den Charakter eines allgemeinen
Konzils der Kirche nicht bestreiten will, so bleibt doch die Frage,
was darin wirklich definiert ist und was nicht. Denn darüber kann
man sich doch ernsthaft streiten. Die Berufung auf das allgemeine
Glaubensbewußtsein der Kirche und das ordentliche Lehramt er-
zwingt wohl auch keine eindeutige Beendigung der Diskussion.
Denn es ist eine Erfahrung der Dogmengeschichte, daß auch de-
finierte Glaubenswahrheiten im Bewußtsein der Gläubigen der
Kirche amalgamiert waren mit Meinungen, deren Verschieden-
heit vom eigentlich gemeinten dogmatischen Satz erst später re-
flex deutlich wurde und so dieses Amalgam ausgeschieden wer-
den konnte.
Wir scheinen durch die langen Überlegungen nicht weiterge-
kommen zu sein, denn wir sind ja immer noch bei der dritten
Position, die eingangs gekennzeichnet wurde. Aber unter dem
Vorbehalt, daß viele Überlegungen exegetischer und dogmen-
geschichtlicher Art zusätzlich angestellt werden müßten, die wir
nicht behandelt haben, kann doch gesagt werden, daß unsere
Überlegungen die Wegroute deutlicher gekennzeichnet haben,
die beschritten werden müßte, wenn man von der dritten Position
wieder zur ersten zurückfinden wollte. Man dürfte dann (das ist
das Resultat der bisherigen Überlegungen) nicht bloß behaupten
401 \
und nachzuweisen suchen, daß die Existenz von Engeln und Dä-
monen ein Glaubensgegenstand sei; man müßte vielmehr die
Eigenart dieses behaupteten Glaubensgegenstandes zu bestim-
men suchen und von da aus dann erkennen, wie genauer ein
Glaubensgegenstand solcher Art als solcher nachgewiesen werden
kann.
Wir kommen in unseren Überlegungen zum zweiten der oben
angekündigten Themen. Auch wenn man einmal voraussetzt, daß
Engel und Dämonen existieren und diese Existenz von der Offen-
barung (direkt oder indirekt, als ursprünglicher oder abgeleiteter
und sekundärer Gegenstand des Glaubens) ausgesagt werde, dann
ist immer noch die große Frage, was man sich denn sinnvoller-
weise heute unter diesen Engeln und Dämonen zu denken habe.
Diese Frage könnte natürlich zufriedenstellend nur durch eine
ganze Angelologie und Dämonologie beantwortet werden, die
hier natürlich nicht entwickelt werden kann. Diese Frage kann
aber auch nicht durch den Verweis auf ein paar Schriftstellen er-
ledigt werden. Denn bei eben diesen Schriftstellen ist nochmals
zu fragen, was in ihnen zeitbedingtes Vorstellungsmodell, was
wirklich ausgesagter und verbindlich gemeinter Inhalt ist. Diese
Frage fordert aber ein Kriterium der Unterscheidung zwischen
Vorstellungsmodell und eigentlichem Aussageinhalt, das doch
von der Schrift selbst kaum oder gar nicht bereitgestellt wird.
Auch aus der Tradition ist für diese Wesensfrage nicht so leicht
eine klare Antwort zu erwarten. Denn die traditionelle Angelo-
logie und Dämonologie ist selbst wieder ein sehr seltsames Kon-
glomerat von mühsam versuchter Systematik aus Bibelstellen, phi-
losophischen Voraussetzungen und Meinungen und volkstüm-
lichen Vorstellungen. Der Streit um die Existenz von Engeln und
Dämonen müßte nicht so geführt werden, als ob klar sei, was
Engel und Dämonen sind und nur der Streit über ihre Existenz
bestehe. Die volkstümliche Entrüstung vieler, besonders from-
mer Christen über die Bestreitung der Existenz von Engeln und
Dämonen ist zweifellos oft und in einem sehr erheblichen Maße
von primitiven Vorstellungen über Engel und Dämonen ge-
tragen, die dringend auch dann einer « Entmythologisierung » be-
dürfen, wenn man an der Existenz dieser Wesen als Glaubens-
402
gegenstand festhalten will. In diesem zweiten Abschnitt unserer
Überlegungen seien ein paar bescheidene Beiträge zu einer sol-
chen Entmythologisierung eines volkstümlich primitiven Glau-
bens an Engel und Dämonen vorgetragen. Diese Überlegungen
kritischer Art sollen gar nicht von Erkenntnissen ausgehen, die
besonders neu und umstritten sind. Vielmehr soll Berufung ein-
gelegt werden auf Sätze, die in einer katholischen Theologie
eigentlich gar nicht bestritten werden können oder jedenfalls von
eindeutigen Glaubenspositionen aus nicht bestritten werden
müssen. Diese Beiträge zu einer Entmythologisierung der Ange-
lologie und Dämonologie, die geboten ist, auch bei einer Aner-
kennung der Existenz von Engeln und Dämonen, sind vielleicht
etwas willkürlich ausgewählt ohne die Absicht einer umfassenden
und gleichmäßigen Erneuerung dieser Stücke der traditionellen
Theologie.
Zunächst einmal sei ein Protest gestattet gegen die landläufige
Meinung in der Angelologie und Dämonologie, diese geschaffe-
nen «Geister» müßten als «reine» Geister ohne einen ihnen
notwendig zukommenden Wesensbezug zur Materie gedacht wer-
den. « Reine» Geister mögen diese Wesen sein, insofern sie we-
der bloß materielle Wirklichkeiten sind noch jene Materialität
haben, die dem Menschen durch seine Leiblichkeit gegeben ist.
Daß darüber hinaus die Engel und Dämonen «reine» Geister
seien, mag neuplatonische Philosophie sein, ist aber weder glau-
bensverbindliche Lehre der Kirche noch logisch dadurch gegeben,
daß diese Wesen keinen Leib haben von der Art, wie er im Men-
schen gegeben ist. Denn ein solcher Schluß setzt voraus, daß die
wesenhafte Bezogenheit einer personalen Subjektivität auf die
Materie nur in der Weise gedacht werden könne, wie wir sie sel-
ber als Menschen erfahren. Eine solche Voraussetzung ist aber
völlig unbewiesen und willkürlich. Hier kann natürlich nicht im
einzelnen und mit philosophischer Genauigkeit für die gegentei-
lige Auffassung, d.h. für eine für solche personalen Subjektivi-
täten wie Engel und Dämonen (wenn sie existieren und wenn wir
über sie überhaupt etwas auszusagen vermögen) wesenhafte Be-
zogenheit auf Materie plädiert werden. Man müßte ja sonst auf
die Frage eingehen, was in einem philosophischen Sinne Materie
405
sei, man müßte zeigen, daß gerade in einem thomasischen Ver-
ständnis Materie als solche nicht eigentlich von sich her in viele
Materien aufgespalten werden kann, sondern die ursprüngliche,
wenn auch gerade differenzierende, Einheit, das eine «Feld» des
Kosmos, die Bedingung der Möglichkeit des Auseinanderseins und
der Interaktivität der einzelnen konkreten Wirklichkeiten bedeu-
tet. Man müßte weiter (vielleicht in einer Kritik der traditionel-
len Schulphilosophie in der Kirche) zeigen, daß der für das Ver-
ständnis der Geschaffenheit notwendige innere Dualismus in
einem endlichen Seienden in dieser Schulphilosophie zweimal re-
flektiert wird, obwohl beide Male dasselbe gemeint ist: Im Dua-
lismus von Essenz und Existenz und im Dualismus von Form und
Materie, zwei Dualismen, die in ihrer Zweiheit nur dann ver-
ständlich und zwingend werden, wenn man neuplatonisch, aber
auch bei Thomas gegen die innere Tendenz seines Systems, als
selbstverständlich voraussetzt, es gäbe immaterielle Wesen, for-
mae separatae. Aber selbst wenn man solche metaphysischen
Überlegungen als hier undurchführbar ausläßt, kann man sagen,
daß die Vorstellung von guten und bösen Engeln als rein imma-
teriellen Wesen gegen die Grundtendenz ist, die bei der bibli-
schen Engellehre gegeben ist. Die traditionelle Angelologie be-
inhaltet doch in sich selber einen merkwürdigen Widerspruch,
der nur notdürftig verbal verdeckt wird: Zunächst werden in der
traditionellen Angelologie die Engel als leibnizische Monaden an-
gesetzt, die den Inhalt ihrer Existenz (von der Bezogenheit auf
Gott abgesehen) rein aus ihrem eigenen Inneren beziehen kön-
nen, weil sie als formae separatae von sich aus ohne den Durch-
gang durch das Andere schon immer bei sich selber sind; und
doch sollen dann plötzlich diese Monaden (der Schrift entspre-
chend) Mächte und Gewalten dieser unserer materiellen Welt
sein, sollen etwas mit Winden, Feuer und Wasser zu tun haben,
werden in dieser irdischen Welt lokalisiert, bilden mit den Men-
schen zusammen letztlich doch die eine und selbe Heilsgeschichte,
können Engeln einzelner Völker sein, werden helfend und ver-
sucherisch in dieser Welt und Geschichte wirksam gedacht. Mit
diesen inneren Spannungen und Widersprüchen der traditionel-
len Angelologie wird man nur fertig, wenn man neuplatonischen
404
Vorstellungen entschlossen den Abschied gibt und den Engeln (so
es sie gibt) von vornherein eine wesenhafte innere Bezogenheit
auf die Materie zuerkennt, die der tragende Grund der Endlich-
keit der Welt und der Einheit des Kosmos und seiner Geschichte
aus personalen Wesen ist. Wie eine solche « Materialität» auch
der Engel im Unterschied zur Materialität desjenigen personalen
Bewußtseins, das der Mensch ist, genauer zu denken ist, das ist
natürlich schwer zu sagen. Immerhin kann man sich denken,
daß diejenige Beherrschung und Gestaltung von Raumzeitlich-
keit, die durch den menschlichen Leib und die ihm entsprechende
personale Entelechie gegeben ist, nicht die einzige ist, daß es
größere und differenziertere Einheiten von Raumzeitlichkeit ge-
ben kann als die eines menschlichen Leibes mit dessen Synthese
und Verinnerlichung von Materialität. Der Begriff einer materie-
bezogenen Form, die eine größere materielle Einheit und Gestalt
bildet als die des menschlichen Leibes, ist jedenfalls nicht schwie-
riger zu denken als der Begriff einer forma separata, an den sich
die traditionelle Angelologie gewöhnt hat und ihn so verständ-
lich findet, ohne noch die Spannungen und, wenn man ehrlich
ist, die Widersprüche in ihm zu empfinden. Jedenfalls aber ist der
Begriff eines solchen Einheit und Innerlichkeit stiftenden, über-
menschlichen Prinzips eher geeignet, durch eine natürliche Er-
kenntnis erfaßt zu werden, als die monadischen Engel einer tradi-
tionellen Angelologie. Aus theologischen Gründen aber kann
man, wie im ersten Abschnitt unserer Überlegungen gezeigt
wurde, auf eine natürliche Erkennbarkeit von Engeln nicht ver-.
zichten, wenn diese nicht von vornherein in den Verdacht bloßer
Mythologie kommen sollen. Doch müssen diese Überlegungen in
unserem dritten Abschnitt weitergeführt werden.
Selbst wenn man die Existenz von Dämonen als gegeben vor-
aussetzt und aufrecht erhält, bedürfen die konkreten Vorstellun-
gen von ihnen in einer vulgären Theologie und erst recht in der
durchschnittlichen Frömmigkeit der katholischen Christen einer
entschiedenen Entmythologisierung. Darüber muß hier noch
etwas reflektiert werden. Diese Entmythologisierung bedarf an
sich gar keiner besonders modernen Erkenntnisse. Es genügt,
wenn auf die Vorstellungen von den Dämonen jene grundsätz-
405
lichen und allgemeinen Erkenntnisse über das Böse angewendet
werden, die von einer christlichen Metaphysik der endlichen
Freiheit, des Wesens des Guten und des schuldhaft Bösen schon
längst entwickelt sind. Es gibt kein absolutes Böses. Alles Böse ist
endlich; ist keine positive Wirklichkeit in sich selbst, sondern ein
Mangel eines Guten in einem in seiner von Gott herkommenden
und unzerstörbaren Substanz gutbleibenden Seienden. Die frei
gesetzte Bosheit ist gewiß in ihrer Herkunft, in ihrem Endgültig-
werdenkönnen, in ihrer Koexistenz mit einem absoluten Gott
und seiner eigenen unbegrenzten guten Freiheit und Macht ein
Geheimnis, das rationalistischer Auflösung widersteht und nicht
einfach als bloße unvermeidliche Kehrseite des Guten, als Rei-
bungsphänomen im Werdeprozeß des Guten verstanden werden
kann. Das aber darf nicht daran hindern, auch die Bosheit der
Bösen, die Schuld der Schuldigen, und zwar auch bei deren mög-
licher Endgültigkeit als Defizienz (wenn auch frei gesetzter Art)
des Guten an einem guten Seienden zu verstehen, das gar nicht
wäre und gar nicht böse sein könnte, wenn es nicht in sehr vielen
Hinsichten und Wirklichkeitsdimensionen immer noch gut wäre
und bliebe. Man kann nur böse sein und Böses tun, wenn man
(wenn auch in defizienter Weise) gut bleibt und gut handelt.
Auch in einer bösen Freiheitshandlung selbst radikalster Art wird
das Gute als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Güte
bejaht und positiv Sinn realisiert, wenn auch nicht in dem Um-
fang und der Radikalität, wie es in der betreffenden konkreten
Situation möglich und geboten wäre. Wenn man kein Manichäer
sein will, und wenn man das Böse und das Gute nicht in einem
absoluten Dualismus von zwei gleichwertigen Mächten stehend
begreifen will, dann muß man immer und überall an der Ein-
sicht festhalten, daß auch das Böse vom Guten lebt und immer
noch Gutes realisiert, daß ein Böses, das eine absolute und
schlechthinnige Verderbnis wäre, dieses böse gewordene Seiende
als Seiendes schlechthin aufheben würde. Das alles gilt aber dann
eindeutig von den Teufeln und Dämonen, wenn es sie gibt. Sie
haben ein gottgeschaffenes, gutes Wesen, das auch durch ihre
freie und endgültige Entscheidung gegen Gott nicht aufgehoben,
sondern nochmals gesetzt ist. Die endgültig gewordene Entschei-
406
dung gegen Gott dieser Dämonen kann gewiß nicht als eine ober-
flächliche Patina gedacht werden, die nur äußerlich an einer
gottgeschaffenen Wirklichkeit anhaftet, so daß man fragen
könnte, warum diese Patina nicht weggefegt und die gute gott-
geschaffene Wirklichkeit nicht gerettet werde. Die freie Bosheit
ist gewiß eine die personale, von Gott geschaffene Wirklichkeit
bis ins innerste Mark treffende Bestimmung. Aber sie ist eine Be-
stimmung dieser von Gott geschaffenen und daher guten und
immer auch gutbleibenden Wirklichkeit in Substantialität und
Selbstvollzug. Eine vulgäre Teufelsvorstellung denkt sich aber die
Dämonen als Wesen, die aus nichts mehr bestehen denn aus Wi-
derspruch gegen Gott, aus Haß und Verneinung. Diese vulgäre
Vorstellung verwechselt Bosheit und böse Gewordenes, die ma-
litia als solche und ein reales malum, sie denkt sich die Bösen als
reine Essenz von Bosheit, die nichts ist als Bosheit. Solche Bösen
aber gibt es nicht und kann es nicht geben. Wenn die Dämonen
ein Nein gegen Gott sagen, dann sagen sie dieses Nein als defi-
zienten Modus ihres immer noch positiven Wesens und dessen
Vollzugs, der immer noch einen positiven Sinn hat und positiv
zur Güte der Welt beiträgt. Noch mythologischer wäre eine Vor-
stellung von Dämonen, die diese als koboldartige Schadengeister
denkt, deren Tun und Handeln wirklich in deren Inhalt nichts
enthielte als eine Zerstörung positiver Wirklichkeiten, während
so etwas doch nur denkbar ist in einer Realisation von positiv
Gutem. Mythologisch ist die Vorstellung, solche bösen Geister
bedürften, um ihr Wesen in der Welt zu realisieren mit dem da-
mit notwendig gegebenen Guten und dem Negativen, das durch
ihre Entscheidung in und an diesem Guten gegeben ist, einer ge-
wissermaßen juristisch und rechtlich konzipierten « Erlaubnis »
Gottes, der da Schaden durch solche Geister zuläßt, dort verbietet,
ohne daß dieses und jenes eigentlich mit dem Wesen und der kos-
mischen Funktion solcher Geister, die sie haben, ob gut oder
böse, zu tun hätte. Wenn und insofern Ereignisse im Kosmos und
seiner Geschichte auch bedingt sind durch Sein und Selbstvollzug
solcher Mächte und Gewalten, sind diese Ereignisse sinnvoller-
weise nicht zu denken als Ergebnisse von neuen und nur auf das
Böse als solches allein gerichteten Initiativen von solchen Dämo-
407
nen, sondern als Auswirkungen ihres Wesens und ihrer kosmi-
schen Funktion, die immer Ausdruck eines guten Wesens sind
und durch die böse Entscheidung mitbestimmt werden. Wo die
Einwirkungen solcher dämonisch kosmischen Mächte nur als
reine Zerstörungen als solche gedacht werden, landet man, ob
man es merkt oder nicht, grundsätzlich bei einem Manichäismus
oder bewegt sich in kindlichen Vorstellungen, die den Dämonen
ein Treiben zuschreiben, wie es bei kleinen Lausbuben gegeben
ist, die die Fenster ihrer Schule einwerfen. Mythologisch wäre
auch eine Vorstellung eines Kampfes und Widerspruchs zwischen
Gott und den Dämonen, in dem Gott und der Teufel zu sich
gegenseitig bekämpfenden und in ihrer Macht sich begrenzenden
Partnern eines absoluten Antagonismus werden. Die Dämonen
(wenn es solche gibt) sind radikal von Gott abhängig, in ihrem
Tun restlos getragen von einer positiven Mitwirkung Gottes, in
ihrem Tun samt dem diesem anhaftenden Bösen von vornherein
eingeplant durch die von nichts anderem abhängige Vorsehung
Gottes; in einem eigentlichen metaphysischen Sinne kann es kei-
nen Kampf zwischen Gott und dem Teufel geben, weil dieser von
vornherein, immer und in jedem Augenblick in all seinen Kräften
und all seinem Tun restlos abhängig ist von Gott. Der Unter-
schied und die Abhängigkeit der Dämonen von Gott sind auf je-
den Fall so groß wie unser eigener Unterschied und unsere Ab-
hängigkeit von Gott, nämlich unendlich. Sie und wir mögen,
untereinander verglichen, erhebliche Unterschiede aufweisen in
Erkenntnis und Macht. Dieser Unterschied rückt aber die Dämo-
nen nicht in die Rolle eines Gegengottes. Gerade wenn man ihnen
mit der traditionellen Schultheologie ein übermenschliches Maß
an Intelligenz und Macht zuschreibt, sollte man ihr Wirken nicht
vor allem dort gegeben sehen, wo es sich um fast kindlich läp-
pische Manifestationen handelt, die weder weltgeschichtlich noch
heilsgeschichtlich eine irgendwie bedeutsame Rolle spielen. Wenn
man mit der traditionellen Schultheologie Intelligenz und Macht
solcher Mächte und Gewalten ernsthaft einkalkuliert, dann wird
man ihr Wirken nicht dort vermuten, wo ein Heiliger eine
Treppe herunterfällt oder ein armes Mädchen schizophrene oder
epileptische Syndrome aufweist, die in anderen Fällen sicher na-
408
türliche Ursachen haben und da nicht dämonologisch interpre-
tiert werden. Wenn man außer-menschlichen Geistpersonen eine
Existenz zuschreibt, wenn man sie gerade von einer höheren Ord-
nung sein läßt trotz ihres Weltbezuges, dann darf man ihr Wirken
gerade nicht als eine sporadische, nur eine Schadensabsicht ver-
wirklichende Einmischung in die Kette von Ursachen und Wir-
kungen, die uns sonst erfahrbar sind, denken, sondern als Aus-
wirkung dieser höheren Ordnung als solcher, die Wesensvollzug
und Zusammenhang der niedrigeren Ordnungen nicht aufhebt,
sondern diese unbeschädigt in die höhere Ordnung aufnimmt.
Wir nehmen ja auch heute nicht mehr an, daß die Biosphäre ihre
Macht und ursprüngliche Eigengesetzlichkeit nur durchsetzen
könne in einer partiellen Aufhebung und Störung des normalen
Ablaufes der Sphäre des Physikalischen und Chemischen. Höhere
Ordnungen heben die tieferen nicht auf, sondern gliedern sie un-
ter Wahrung ihres Eigenbestandes in sich ein. Wenn es über-
menschliche geschaffene und personale Wirklichkeiten gibt, dann
bilden sie in der Einheit des einen Kosmos eine höhere Ordnung
in dieser Welt als ganzer. Dieses aus der Einheit aller geschaffe-
nen Wirklichkeiten in dem einen Kosmos gegebene Ordnungs-
gefüge wird auch durch die Schuld von personalen Wirklichkeiten
innerhalb dieser Gesamtordnung des einen Kosmos nicht aufge-
hoben, weil auch «böse Geister» durch ihre Entscheidung ein-
zelnen anderen Wirklichkeiten eine falsche Richtung geben kön-
nen oder (wenn diese anderen personaler Art sind) dies wenig-
stens versuchen, aber sie können auch diese ihre endlichen bösen
Absichten nur verwirklichen in einer positiven Bejahung. ihres
Wesens und ihrer kosmischen Funktion. Wenn man innerhalb
einer traditionellen katholischen Angelologie und Dämonologie
mit solchen Spekulationen noch weiterfahren wollte, könnte man
darauf hinweisen, daß bei der Höhe der Intelligenz und der Frei-
heit solcher Wesen eine radikale und endgültige Schuld sinnvoller-
weise nur denkbar ist in einem solchen Wie-Gott-Sein-Wollen,
das eine Ablehnung einer solchen Vergöttlichung durch Gnade
ist. Setzt man dies aber voraus, dann wird noch deutlicher, daß
die naturale kosmische Funktion der Dämonen (wie die der an-
deren Engel) nicht aufgehoben gedacht werden muß, sondern nur
409
mitbestimmt ist durch ihre Selbstverschließung gegenüber dem
Selbstangebot Gottes aus freier, gnadenhafter Liebe. Das eigent-
lich Dämonische in der Welt wäre dann jene mutlose Trauer, in
der in freier Angst um sich selbst eine Kreatur nicht wagt, sich
der Unbedingtheit der Liebe anzuvertrauen, in der Gott nicht
ein dem Geschöpf Gemäßes, sondern sich selber schenken will.
Kurz: Wenn man schon Angelologie und Dämonologie treiben
will, dann muß man auf der Ebene des ersten Ansatzes für eine
solche Theorie auch bleiben und darf diese kosmischen Mächte und
Gewalten nicht zu koboldartigen, spukhaften Schadensgeistern
degradieren, die dümmer und erbärmlicher sind als wir kleine
Menschen.
410
sichtig formuliert, weil wir uns hier auf unsere eigene Rechnung
und Gefahr nicht unterfangen wollen, mehr zu behaupten, als
eben daß man auch natürlicherweise nicht widersinnig denkt,
wenn man die Existenz von Engeln annimmt. Es soll nicht be-
stritten werden, daß, wenn man zu einer solchen Aussage gelangt,
man noch nicht eindeutig an dem Punkt ist, der erreicht sein
muß, wenn man diese natürliche Erkenntnis in eine eigentlich
theologische erheben will. Und selbst wenn man behaupten
würde, die Existenz von Engeln sei mit hinreichender natürlicher
Sicherheit erreicht, wäre die Frage, ob der Glaube bloß über die-
sen natürlichen Erkenntnisgegenstand eine Aussage mache oder
ihn als sekundären Glaubensgegenstand synthetisiere, noch gänz-
lich offen. Es ist also nicht so, daß das Ergebnis dieses dritten Ab-
schnittes eine Entscheidung zwischen den beiden ersten eingangs
skizzierten Positionen erzielen würde. Nach diesen Überlegungen
scheint die dritte Position immer noch nicht überwunden zu sein.
Aber vielleicht dienen die Überlegungen dieses dritten Abschnit-
tes doch dazu, die Selbstsicherheit der Anhänger der zweiten Po-
sition etwas zu erschüttern und damit die Berechtigung der drit-
ten Position gegenüber der zweiten ein wenig zu verdeutlichen.
Bei unseren Überlegungen gehen wir von der Voraussetzung
aus, daß, wenn es Engel gibt, sie von vornherein nicht als leibni-
zische Monaden gedacht werden dürfen, sondern: als kosmische
Mächte und Gewalten, für die bei aller Subjektivität und Per-
sonalität eine kosmische, d. h. auf die materielle Welt bezogene
Funktion wesenskonstitutiv ist. Könnten wir diese Voraussetzung
nicht machen, könnte auch selbstverständlich von einer zunächst
einmal natürlichen Erkenntnis der Existenz von Engeln nicht die
Rede sein.
Man wird wohl behaupten dürfen, daß eine Theologie des Kos-
mos besonders heute recht unterentwickelt ist. Natürlich sind in
einer traditionellen Schultheologie Momente einer solchen Theo-
logie des Kosmos zerstreut gegeben. Man spricht über die Ge-
schaffenheit und Zeitlichkeit der Welt als ganzer; eine Angelo-
logie traditioneller Art enthält fast wider Willen einige kosmische
Aspekte; man verteidigt die Einheit des Menschengeschlechtes und
muß dabei die Biosphäre mitbedenken, gerade wenn man den tra-
411
ditionellen Monogenismus nicht mehr zu verteidigen wagt; man
lehrt in der Anthropologie bezüglich des Menschen eine substan-
tielle Einheit von Geist und Materie, auch wenn von der Lehre
der alten Metaphysik über die materia prima in derSchultheologie
wenig mehr zu merken ist und daher die Einheit von Geist und
Materie als kosmische Einheit kaum zu Gesicht kommt; in der
Eschatologie pflegt kurz vom neuen Himmel und der neuen Erde
die Rede zu sein, ohne daß eigentlich sehr deutlich wird, ob,
warum und wie die endgültige Vollendung der geschaffenen
Geistpersonen und ihrer Geschichte die Vollendung des materiel-
len Kosmos mit sich bringe oder dieser materielle Kosmos eigent-
lich davon nicht berührt werde. Vielleicht sind alle Fragen, die
in einer solchen Theologie des Kosmos gestellt werden müßten,
schon in sich so dunkel, daß man die Verkümmerung einer sol-
chen Theologie verstehen kann. Es wird auch dabei bleiben, daß
in der Theologie der Mensch und sein Verhältnis zu Gott im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen und alle theologischen
Aussagen in ihrem Sinn und ihrer Geltung von daher verständ-
lich gemacht werden müssen. Das entspricht dem Wesen der
Offenbarung und der Theologie und einer durchaus im Grunde
legitimen Entwicklung des philosophischen Verständnisses des
Menschen, in der der Mensch allmählich nicht mehr so sehr als
Teil eines Kosmos verstanden wurde, sondern als transzendentales
Subjekt, das eine Welt hat und sie denkerisch und tätig entwirft.
Aber diese Entwicklung der Geistesgeschichte der Neuzeit war
doch auch koexistent mit einer gegenläufigen Bewegung: Die
Erde rückte aus dem Mittelpunkt des Kosmos heraus und wurde
eine unbedeutende Partikel in einem unermeßlichen Kosmos,
der für die menschliche Erkenntnis immer größer wurde und
immer noch größer wird; der Mensch selber aber wurde immer
deutlicher greifbar als das Produkt (gezielter oder zufälliger Art)
einer Naturgeschichte des materiellen Kosmos. Von daher gesehen
ist eben doch auch eine Theologie des Kosmos aufgegeben, zumal
die Glaubenslehre von der substantiellen Einheit von Geist und
Materie im Menschen (mit all den Konsequenzen, die damit ge-
geben sind: Heilsbedeutung der Geschichte als solcher, Fleisch-
werdung des Logos, Auferstehung des Fleisches usw.) es schlecht-
412
hin verbietet, eine schlechthin akosmische Theologie und An-
thropologie zu treiben.
Eine solche Theologie des Kosmos müßte die theologische Be-
deutung der Interpretation des Kosmos als einer Welt im Werden
herausarbeiten. Die alte, vorneuzeitliche Welt hat doch im
ganzen Welt und Erde als einmal und für allemal von Gott ge-
schaffene statische Größen verstanden, die ein für allemal eine
feste Bühne bieten, auf der der Mensch und nur er allein seine
Geschichte treibt. Heute sprechen wir mit Recht von einer Natur-
geschichte, kennen eine Welt, die überall und immer noch im
Werden ist und verstehen auch die Geschichte der Menschheit
als einen Teil dieser Geschichte oder mindestens als von dieser
Geschichte bedingt, auch wenn eine ernsthafte und behutsame,
die Differenziertheit der Welt wirklich ernst nehmende Meta-
physik der Stufen und Ordnungen des Seins wesenhafte Unter-
schiede unter den Seienden im Kosmos anerkennt und darum
von qualitativen Sprüngen, von eigentlicher Selbsttranszendenz
einer Seinsstufe in eine höhere weiß, die nur möglich ist unter der
schöpferischen Dynamik Gottes in der Welt. Die Anerkennung
wesenhaft verschiedener Seinsstufen in der Welt bis hinauf zu
eigentlicher Subjektivität, Personalität, Transzendentalität auf
das Sein überhaupt bedeutet aber keine Leugnung des einen ma-
teriellen Kosmos und seiner in immer neuer Selbsttranszendenz
einer niedrigeren Stufe geschehenden Entwicklung.
Von einer solchen Grundkonzeption der Welt aus, in der der
Mensch nicht ohne weiteres als Mittelpunkt einer Welt erscheint,
die um ihn als den schlechthin und in jeder Hinsicht Unableit-
baren herum statisch gebaut ist, in der er vielmehr als Höhe-
punkt und Ergebnis einer Weltentwicklung sich darstellt, ist nun
die Frage nicht mehr zu vermeiden, ob jene in Materialität grün-
dende Subjektivität, die Mensch genannt wird, die einzige ist, auf
die hin diese Weltentwicklung des materiellen Kosmos in immer
neuer Selbsttranszendenz sich entwickelt hat. Angesichts der un-
geheuren Größe des materiellen Kosmos als Werdewelt muß diese
Frage gestellt werden. Denkt man sich den Kosmos als Werde-
welt, die auf Subjektivität ausgerichtet ist in ihrem Werden,
dann ist es wirklich nicht selbstverständlich, daß dieses Ziel nur
413
an dem kleinen Punkt geglückt sein sollte, das wir unsere Erde
nennen. Wir dürfen zwar an diesem Punkt der Überlegungen
nicht wieder vergessen, was die Geschichte der Subjektivität des
Menschen gelernt hat: Eine personale und freie Subjektivität, die
in unbegrenzter Transzendentalität auf das Sein schlechthin und
somit auf dessen Grund, Gott, ausgerichtet ist, ist Mittelpunkt des
Kosmos, auch wenn diese menschliche Subjektivität auf einer
Materialität aufruht, die als solche nicht als Mittelpunkt des Ma-
teriellen gedacht werden kann, auch wenn es sinnvoll sein sollte,
überhaupt von einem materiellen Mittelpunkt dieses materiellen
Kosmos zu reden. Aber auch wenn wir diese menschliche Subjek-
tivität, durch die alles die Welt des Menschen ist, die er hat, mag
sie auch noch so groß sein und sich immer noch im Werden be-
finden, nicht wieder vergessen, bleibt eben. doch die Frage offen,
ob das unermeßliche Werden des materiellen Kosmos nur zur
Entstehung gerade menschlicher Subjektivität gedient hat. Ge-
rade die traditionelle Theologie, die von der Existenz von Engeln
überzeugt ist (von Engeln, die mit den Menschen zusammen eine
gemeinsame Heilsgeschichte haben), kann nicht von dem Axiom
ausgehen, es könne Gott gegenüber nur eigentlich menschliche
Subjektivitäten geben. Die Frage also kann ernsthaft gestellt wer-
den, selbst wenn wir keine Nlöglichkeit haben oder hätten, sie
eindeutig zu beantworten. Wenn diese Frage gestellt wird, dann
soll hier (obwohl dies vielleicht auch möglich und berechtigt ist)
nicht nach Wesen gefragt werden, die auf anderen «Sternen » als
Subjekte von ungefähr derselben biologischen Leibhaftigkeit
existieren, wie wir sie als unsere eigene kennen. Zwar könnte
man auch diese Frage stellen, weil in einem solchen unermeß-
lichen Kosmos es nicht einfach und schlechthin als unwahrschein-
lich erscheinen mag, daß irgendwo anders die selben chemischen
und physikalischen Voraussetzungen wie bei uns für den « Zufall»
des Entstehens von Leben gegeben sind und dieses Leben sich
dann nach den strengen Gesetzen der Entwicklung (mit und in
qualitativen Sprüngen) auf so etwas hinentwickelt, was uns im
wesentlichen gleicht. Diese Frage wäre die Frage nach «Men-
schen auf anderen Planeten», eine Frage, die in jüngster Zeit
neu und dringlicher gestellt wurde, weil sie natürlich auch theo-
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logische Probleme aufwirft. Diese Frage soll aber hier nicht weiter
verfolgt werden, weil sie zur Zeit nicht nur unbeantwortbar ist,
sondern sich auf Lebewesen bezieht, die mindestens bisher in un-
seren eigenen existentiellen und somit theologischen Lebenskreis
noch nicht einbezogen sind und also existentiell und theologisch
keine größere Relevanz für uns haben als irgendein «toter »
Stern irgendwo im Weltall.
Aber hier soll die Frage aufgeworfen werden, ob sich nicht von
diesem allge