SCHOOL OF THEOLOGY
AT CLAREMONT
California
Karl Rahner/ Schriften zur Theologie
Band V
PAUL MARTINI
BONN
HANS SCHAEFER
HEIDELBERG
ERICH KELLNER
FRAUENCHIEMSEE
SCHRIFTEN
ZUR THEOLOGIE
BANDV
NEUERE SCHRIFTEN
IMPRIMI POTEST
Monachii, die 3 septembris 1968, P.H. Krauss SI,
Praep. Prov. Germ.Sup.SJ.
3. Auflage, 1968
Alle Rechte, auch die der Übersetzung, vorbehalten
© 1962 by Benziger Verlag Zürich Einsiedeln Köln
Hergestellt im Graphischen Betrieb Benziger Einsiedeln
Buchnummer 222 22008
INHALT
FUNDAMENTALTHEOLOGISCHES
UND WISSENSCHAFTSTHEORETISCHES
Über die Möglichkeit des Glaubens heute 11
Theologie im Neuen Testament . 53,
Was ist eine dogmatische Aussage? . 54
Exegese und Dogmatik. 82
GESCHICHTSTHEOLOGISCHES
CHRISTOLOGIE
EKKLESIOLOGISCHES
CHRISTLICHES LEBEN
. 471
Thesen über das Gebet «im Namen der Kirche»
n Gebote n . 494
Das «Gebot» der Liebe unter den andere
518
Heilsmacht und Heilungskraft des Glaubens .
. RT 527
Was ist Häresie?
VORWORT
12
wahr vor dem kritischen Gewissen und der fragenden Vernunft
bedeuten. Aber eines ist mir bei aller Anfechtung des Glaubens,
die auch ich erfahren zu haben glaube, immer deutlich geblieben,
hat mich gehalten, indem ich es hielt: die Überzeugung, daß das
Ererbte und Überkommene nicht einfach durch die Leere der All-
täglichkeit, der geistigen Stumpfheit, der dumpfen lichtlosen
Skepsis verzehrt werden dürfe, sondern höchstens von dem Mäch-
tigeren und in größere Freiheit und ins unerbittlichere Licht Ru-
fenden. Der ererbte Glaube war gewiß immer auch der angefoch-
tene und anfechtbare Glaube. Aber er wurde immer erfahren als
derjenige, der mich fragte: «Wolltauch ihr gehen?» unddem man
immernursagen konnte: «Herr, zu wem soll ich denn gehen », als
der Glaube, der mächtig und gut war, den ich also höchstens auf-
geben hätte dürfen, wenn das Gegenteil erwiesen worden wäre.
Also bis zum Beweis des Gegenteils. Und nun: dieser Beweis ist
mir von niemandem und auch nicht von der Erfahrung meines
Lebens beigebracht worden. Ich sehe ein: ein solcher Beweis müßte
tief greifen, müßte umfassend sein. Natürlich gibt es viele Schwie-
rigkeiten und viele Bitterkeiten im Geist und im Leben. Aber es
ist doch klar: die Schwierigkeit, die ernsthaft als Grund gegen
meinen Glauben in Frage kommen soll, muß der Würde und der
Radikalität dessen entsprechen, was sie bedrohen und verändern
will. Es mag viele intellektuelle Schwierigkeiten auf dem Gebiet
der einzelnen Wissenschaften geben, der Religionsgeschichte,
der Bibelkritik, der Geschichte des frühen Christentums, für
die ich keine direkte und in jeder Hinsicht glatt aufgehende
Lösung habe. Aber solche Schwierigkeiten sind zu partikulär und
- verglichen mit dem Gewicht des Daseins — sachlich zu leichten
Gewichtes, als daß man von ihnen her die letzten Daseinsfragen
entscheiden könnte, als daß man ihnen erlauben könnte, das ganze
unsagbar tiefe Leben zu bestimmen. Mein Glaube hängt nicht
davon ab, ob exegetisch und kirchlich die richtige Interpretation
der ersten Genesiskapitel schon gefunden ist oder nicht, ob eine
Entscheidung der Bibelkommission oder des Heiligen Offiziums
der Weisheit letzter Schluß ist oder nicht. Solche Argumente also
kommen von vornherein nicht in Frage. Es gibt natürlich andere
Anfechtungen, solche, die in die Tiefe gehen. Aber eben diese
15
bringen das wahre Christentum erst hervor, wenn man sich ihnen
ehrlich und demütig zugleich stellt. Sie treffen das Herz, die inner-
ste Mitte des Daseins, sie bedrohen es, sie stellen es in die letzte
Fraglichkeit des Menschen überhaupt. Aber gerade so können sie
der Schmerz der wahren Geburt des christlichen Daseins sein. Die
Argumentation des Daseins selber läßt den Menschen einsam wer-
den, wie ins Leere gestellt, wie in einem unendlichen Fall begrif-
fen, seiner Freiheit ausgeliefert und dieser dennoch nicht ver-
sichert, wie umgeben von einem unendlichen Meer der Finsternis
und von einer ungeheuren unerforschten Nacht, immer nur von
einer Vorläufigkeit zur anderen sich rettend, brüchig, arm, vom
Schmerz seiner Kontingenz durchbebt, immer aufs neue seiner
Abhängigkeit vom bloß Biologischen, vom dumm Gesellschaft-
lichen, vom Herkömmlichen (noch wo man ihm widerspricht)
überführt. Er spürt, wie der Tod in ihm sitzt mitten in seinem
Leben und wie dieser die Grenze überhaupt ist, die er von sich
aus nicht überschreiten kann, wie die Ideale des Daseins ermatten
und ihren jugendlichen Glanz verlieren, wie man des gescheiten
Geredes müde wird auf dem Jahrmarkt des Lebens und der Wis-
senschaft, auch der Wissenschaft. Das eigentliche Argument
gegen das Christentum ist die Erfahrung des Lebens, diese Er-
fahrung der Finsternis. Und ich habe immer die Erfahrung ge-
macht, daß hinter den Fachargumenten der Wissenschaftler gegen
das Christentum als letzte Kraft und apriorische Vorentscheidung,
aus denen diese wissenschaftlichen Bedenken lebten, immer diese
letzten Erfahrungen des Daseins standen, die den Geist und das
Herz finster, müde und verzweifelt machen. Diese Erfahrungen
suchen sich in den Bedenken der Wissenschaftler und Wissen-
schaften, so gewichtig diese auch durchaus in sich sein mögen und
so ernsthaft sie auch erwogen werden müssen, zu objektivieren,
sich aussagbar zu machen. Aber eben diese Erfahrung ist auch das
Argument des Christentums. Denn was sagt das Christentum?
Was verkündigt es? Es sagt trotz des Anscheins einer komplizier-
ten Dogmatik und Moral eigentlich doch nur etwas ganz Fin-
faches; ein Einfaches, als dessen Artikulation alle einzelnen Dog-
men des Christentums (vielleicht auch erst dann, wenn diese ge-
geben sind) erscheinen. Denn was sagt das Christentum eigent-
14
lich? Doch nichts anderes, als: das Geheimnis bleibt ewig Geheim-
nis, dieses Geheimnis will sich aber als das Unendliche, Unbegreif-
liche, als das Unaussagbare, Gott genannt, als sich schenkende
Nähe in absoluter Selbstmitteilung dem menschlichen Geist mit-
ten in der Erfahrung seiner endlichen Leere mitteilen ;diese Nähe
hat sich nicht nur in dem, was wir Gnade nennen, sondern auch in
geschichtlicher Greifbarkeit in dem ereignet, den wir den Gott-
_ menschen nennen; in diesen beiden Weisen der göttlichen Selbst-
_ mitteilung ist-durch deren radikale Absolutheit und aufgrund der
Identität des «An-sich » Gottes und seines «Für-uns» — auch die
Doppeltheit eines innergöttlichen Verhältnisses mitgeteilt und so
geoffenbart, also das, was wir als die Dreipersönlichkeit des einen
Gottes bekennen. Diese drei Mysterien absoluter Art des Christen-
tums (Trinität, Inkarnation, Gnade) werden aber erfahren, indem
der Mensch sich unentrinnbar als gegründet im Abgrund des un-
aufhebbaren Geheimnisses erfährt und dieses Geheimnis in der
Tiefe seines Gewissens und in der Konkretheit seiner Geschichte
(beide sind für seine Existenz konstitutiv) als erfüllende Nähe und
nicht als verbrennendes Gericht erfährt und annimmt (was man
den Glauben nennt). Daß dieses radikale Geheimnis Nähe ist und
nicht Ferne, sich selbst ausliefernde Liebe und nicht den Menschen
in die Hölle seiner Nichtigkeit verstoßendes Gericht, das fällt dem
Menschen schwer anzunehmen und zu glauben, das mag das Licht
sein, das uns fast finsterer vorkommt als unsere eigene Finsternis,
das anzunehmen mag die ganze Kraft unseres Geistes und unseres
Herzens, unserer Freiheit und unserer totalen Existenz fordern
und gewissermaßen verzehren. Aber wie: gibtesnichtsovielLicht,
so viel Freude, so viel Liebe, so viel Herrlichkeit inwendig und
auswendig in der Welt und im Menschen, daß man sagen kann:
all das erklärt sich nur von einem absoluten Licht, einer absoluten
Freude, einer absoluten Liebe und Herrlichkeit, von einem abso-
luten Sein her, aber nicht von einer leeren Nichtigkeit, die nichts
erklärt, wenn wir auch nicht begreifen, wie es diese unsere tödliche
Finsternis und Nichtigkeit geben könne, wenn es die Unendlich-
keit der Fülle, sei es auch als Geheimnis, gibt? Kann ich nicht
sagen, daß ich recht habe, wenn ich mich an das Licht halte, auch
wenn es klein ist, und nicht an die Finsternis, an die Seligkeit, und
15
nicht an die höllische Qual meines Daseins? Wenn ich die Argu- .
mente des Daseins gegen das Christentum annehmen würde, was
böten sie mir, um zu existieren? Die Tapferkeit der Ehrlichkeit
und die Herrlichkeit der Entschlossenheit, der Absurdität des Da-
seins mich zu stellen? Aber kann man diese als groß, als verpflich-
tend, als herrlich annehmen, ohne schon wieder, ob man es reflex
weiß oder nicht, ob man will oder nicht, gesagt zu haben, daß es
ein Herrliches und Würdiges gibt? Aber wie sollte es dies geben _
im Abgrund absoluter Leere und Absurdität? Und wer tapfer das
Leben annimmt, der hat schon, selbst wenn er ein kurzsichtiger,
primitiver Positivist ist, der scheinbar geduldig bei der Ärmlich-
keit des Vordergründigen bleibt, Gott angenommen, so wie er in
sich ist, so wie er uns gegenüber in Liebe und Freiheit sein will,
also als den Gott des ewigen Lebens göttlicher Selbstmitteilung,
in der die Mitte des Menschen Gott selbst ist und seine Form die
des menschgewordenen Gottes selbst. Denn wer sich wirklich an-
nimmt, nimmt das Geheimnis als die unendliche Leere an, die
der Mensch ist, nimmt sich in der Unabsehbarkeit seiner unbere-
chenbaren Bestimmung an, nimmt darum schweigend und un-
vorausberechnet den an, der diese Unendlichkeit der Leere als das
Geheimnis, das der Mensch ist, zu erfüllen beschlossen hat mit
der Unendlichkeit seiner Fülle, die das Geheimnis ist, das Gott
heißt. Und wenn das Christentum gar nichts anderes ist als die
deutliche Aussage dessen, was der Mensch undeutlich in der kon-
kreten Existenz erfährt, die real in der konkreten Ordnung immer
mehr ist als bloße geistige Natur, nämlich Geist, der von innen her.
durch das Licht der ungeschuldeten Gnade Gottes erhellt ist und
so, wenn er sich wirklich und ganz annimmt, dieses Licht, wenn
auch unreflex und un-aus-gesagt, annimmt, also glaubt, wenn das
Christentum die mit absolutem Optimismus geschehende Inbesitz-
nahme des Geheimnisses des Menschen ist, welchen Grund sollte
ich dann haben, kein Christ zu sein? Ich kenne nur einen Grund,
der mich bedrängt: die Verzweiflung, die Müdigkeit, die Sünde,
die ich in mir erfahre, das Zerbröckeln des Daseins in alltäglich
grauer Skepsis, die es nicht einmal mehr zu einem Protest gegen das
Dasein bringt, das billige Auf-sich-beruhen-Lassen der schweigend
unendlichen Frage, die wir selber sind, das diese Frage nicht aus-
16
"hält und annimmt, sondern ihr ausweicht in die Brhannlichkeit
des Alltags hinein, wenn auch damit nicht geleugnet werden soll,
daß die schweigende Redlichkeit der Geduld in der Pflicht des
Alltags auch eine Form eines anonymen Christentums sein kann,
in der mancher faktisch (wenn er dies nicht wieder skeptisch oder
eigensinnig zum absoluten System macht) das Christentum echter
ergreifen mag als in seinen expliziteren Formen, die oft so leer
und ein Mittel der Flucht vor dem Geheimnis statt die Ausdrück-
lichkeit des Sichstellens gegenüber denı Geheimnis sein können.
Dieser Abgrund könnte den unendlichen Optimismus lähmen, der
glaubt, daß der Mensch die mit der Unendlichkeit Gottes begabte
Endlichkeit sei. Aber wenn ich diesem Argument weichen
würde, was würde ich dann für das Christentum eintauschen ?
Leere, Verzweiflung, Nacht und Tod. Und welchen Grund sollte
ich haben, diesen Abgrund für wahrer und wirklicher zu halten
als den Abgrund Gottes? Es ist leichter, sich in seine eigene Leere
fallen zu lassen, als in den Abgrund des seligen Geheimnisses.
Aber es ist nicht mutiger und es ist nicht wahrer. Diese Wahrheit
freilich leuchtet nur, wenn sie auch geliebt und angenommen
wird, weil sie die Wahrheit ist, die frei macht, und darum nur in
der Freiheit, die alles nach oben wagt, aufleuchtet. Aber sie ist
da. Ich habe sie angerufen. Und sie bezeugt sich mir. Und sie gibt
mir, was ich ihr geben soll, damit sie als die Seligkeit und Kraft
des Daseins in mir sei und bleibe, sie gibt mir den Mut, an sie zu
glauben und sie anzurufen, wenn alle Nächte und Verzweiflungen
und alle toten Leeren mich verschlingen wollen.
Ich sehe tausend und abertausend Menschen um mich, ich sehe
ganze Kulturen, Geschichtsepochen um mich, vor mir und hinter
mir, die ausdrücklich nicht christlich sind. Ich sehe Zeiten herauf-
ziehen, in denen das Christentum nicht mehr das Selbstverständ-
liche in Europa und in der Welt ist. Ich weiß das. Aber es kann
mich im allerletzten nicht anfechten. Warum nicht? Weil ich
überall ein anonymes Christentum sehe, weil ich in meinem aus-
drücklichen Christentum nicht eine Meinung neben anderen, ihm
widersprechenden, erkenne, sondern in meinem Christentum
nichts erblicke als das Zusichselbergekommensein dessen, was als
Ich
Wahrheit und Liebe auch überall sonst lebt und leben kann.
17
halte die Nichtchristen weder für dümmer, noch für Leute mit we-
'niger gutem Willen als ich ihn babe. Aber wenn ich wegen der
Vielfalt der Weltanschauungen in einen leeren und feigen Skep-
tizismus verfiele, hätte ich dann eine größere Chance, die Wahr-
heit zu erreichen, als wenn ich Christ bleibe? Nein, denn auch der
Skeptizismus und der Agnostizismus sind nur Meinungen neben
anderen, und zwar eigentlich die feigsten und leersten Meinungen.
Man kann auf diese Weise der Vielfalt der Weltanschauungen in
der Welt nicht entrinnen. Auch die Abstinenz von der weltan-
schaulichen Entscheidung ist eine Entscheidung. Und die schlech-
teste.
Und weiter: Ich habe gar keinen Grund, das Christentum
als eine neben anderen Weltanschauungen zu betrachten. Ver-
stehen Sie das Christentum genau! Vergleichen Sie! Hören Sie ge-
nau hin, was das Christentum eigentlich sagt! Hören Sie seine Bot-
schaft mit aller Genauigkeit, aber auch mit aller Weite des Geistes
und des Herzens. Dann werden Sie nie anderswo etwas hören, was
gut, wahr, was erlösend und das Dasein erhellend, in die Unend-
lichkeit des göttlichen Geheimnisses hinein eröffnend ist, was Sie
in einer anderen Weltanschauung fänden und im Christentum
nicht. Sie werden zwar vielleicht anderswo etwas hören, was Sie
anruft, stachelt, den Horizont Ihres Geistes erweitert, was Sie rei-
cher macht und lichter. Aber all dies ist entweder ein Vorläufiges,
das die letzte Frage des Daseins angesichts des Todes nicht löst und
nicht beantworten will und das in der Weite des christlichen Da-
seins ruhig Platz hat, wenn es auch vielleicht bisher von den fak-
tischen Christen nicht kultiviert wurde, oder es ist etwas, was Sie
als Moment eines authentischen Christentums erkennen, wenn Sie
dieses nur genauer, nur mutiger, nur eindringlicher erforschen.
Sie werden dabei vielleicht bemerken, daß Ihnen eine vollständige
und durchgeführte Synthese dieser Erkenntnisse, Lebenserfah-
rungen, Wirklichkeiten der Kunst, der Philosophie, der Dichtung
mit Ihrem begrifflich reflexen Christentum nie ganz gelingt.
Aber Sie werden zwischen legitimen Erfahrungen und Erkennt-
nissen und beglückenden Wirklichkeiten einerseits und dem au-
‚ thentischen Christentum anderseits auch nie einen endgültigen
und unüberwindbaren Widerspruch entdecken. Und dies genügt.
18
Dennin diesem Sinn dürfen Sie Christ und « Heide » zugleich sein,
weil es unkatholisch wäre, nur eine Erfahrungs- und Wissensquelle
zu behaupten, während das katholische Christentum einen echten
und letztlich vom Menschen nicht absolut verwaltbaren Pluralis-
mus lehrt (der Gott anheimgegeben wird) und darum die Synthese
des Pluralen, des menschlichen Daseins immer eine unvollendete
Aufgabe in diesem kurzen Dasein bleibt. Sie haben also das Recht
und die Pflicht, das Christentum als die universale, die durch nichts
einschränkbare Botschaft der Wahrheit zu hören, die nur zu den
Verneinungen anderer Weltanschauungen, nicht zu ihrem echten
Ja, nein sagt. Hören Sie das Christentum als universale Botschaft,
als die, die alles andere «aufhebt» und so bewahrt, als die, die
nichts verbietet als die Selbstverschließung des Menschen in
seine Endlichkeit, als die, die nichts verbietet, , als daß der
Mensch nicht glaubt, daß er mit der radikalen Unendlichkeit des
absoluten Gottes begabt ist, daß das finitum capax infiniti ist. Ich
weiß, diese Botschaft der Unendlichkeit, der absoluten Wahrheit
und Freiheit des Christentums wird von seinen Rabbinern und
Schriftgelehrten mit den kümmerlichen Herzen oft wie eine Theo-
rie ausgelegt, die sich mühsam und disputierend neben anderen
behaupten muß, die sich in einen endlosen Wortstreit verliert und
nur die dialektische Gegenposition zu einer anderen Meinung oder
Erfahrung ist. Aber lassen Sie sich nicht anfechten durch die Küm-
_ merlichkeit der Theologie! Das Christentum ist unendliche Weite.
Denn das Christentum sagt unter allen Religionen am allerwenig-
sten an Einzelheiten, weil es das Eine sagt, das aber mit aller strah-
lenden Herrlichkeit der Wahrheit und mit dem letzten Mut des
Daseins, den nur Gott selbst geben kann: die absolute Fülle, un-
begreiflich und namenlos, unendlich und unsagbar, ist als sie selbst
ohne jeden Abstrich zur inneren Herrlichkeit der Kreatur gewor-
den, wenn diese sienur annehmen will. Und darum sehen wir Chri-
sten die Nichtchristen nicht als die an, die, weil dümmer, weil bös-
williger oder weil unglücklicher, den Irrtum als Wahrheit ange-
nommen haben, sondern als die, welche (das gibt esnun einmal in
der Welt der Geschichte und des Werdens, in der das Endgültige
noch auf dem Weg zur Vollendung ist) von Gottes unendlicher
Gnade kraft seines allgemeinen Heilswillens schon in der Tiefe
19
ihres Wesens begnadigt sind oder begnadigt sein können, dieschon
von GottesewigerGnade gefragtsind, obsieGottannehmen wollen,
und dienur noch nichtzum reflexen Bewußtsein dessen gekommen
sind, was sie schon sind: von Gott, dem Gott des ewigen dreifaltigen
Lebens, Angerufene. Wenn wir das schon wissen, wenn wir auch
schon die im menschlichen Wort der amtlichen Offenbarung kom-
miende Kunde von dem gehört haben, was wir und sie sind, dann
ist das Gnade, die wir von den anderen noch nicht sagen können,
dann ist das schreckliche Verantwortung für uns, die nun frei erst
recht sein müssen, was sie notwendig sind : die von Gott Gesuchten.
Aber es kann doch kein Grund sein, nicht schon ausdrücklicher
amtlicher Christ zu sein, weil es die anderen erst anonym sind, erst
als Gefragte vielleicht und noch nicht auch in der reflexen Begriff-
lichkeit ausdrücklichen Bekenntnisses Christen Gewordene.
Freilich: Daß das radikale Sichselbsteinlassen Gottes mit der
Welt, daß die Idee des Gottmenschen, die sich daraus als die min-
destens hypothetische Verlängerung des Wesens des Menschen als
der leeren Offenheit für die Unendlichkeit Gottes begreifen läßt,
gerade in Jesus von Nazareth unter Kaiser Augustus und Pontius
Pilatus sich ereignet hat, da und nicht dort, damals und nicht zu
anderer Zeit, das läßt sich nicht a priori ableiten, und diese — man
könnte fast sagen: eine Konkretheit und historische Aposteriorität
ist dem Christentum eigen. Aber, selbst zuvor, vor allen aposterio-
rischen Beweisen der Selbstaussage und der wunderbaren Bezeu-
gung seiner Selbstaussage bei Jesus von Nazareth ist es mir leicht
(wenn man das Ungeheuerste leicht nennen darf, weil, wenn die
Liebe ist, sie als das Schwerste leicht erscheint), an Jesus als den
Sohn Gottes zu glauben. Warum? Einmal hat diese Lehre von der
Hypostatischen Union, wirklich katholisch, d.h. chalkedonisch ver-
standen, absolut nichts von Mythologie an sich. So wenig es Mytho-
logie ist, wenn ich sage: In der absoluten Transzendenz des Geistes
istmir die Unendlichkeit Gottes gegeben, und dieses Anwesen Gottes
ist wirklicher, realer als alle endlich-dinghafte Wirklichkeit, weil
etwas indem Maße wirklich ist, als es bei sich und bei der absoluten
Unendlichkeit des Seins ist, so wenig ist es Mythologie, wenn ich
sage: in einem bestimmten Menschen, der absolut real Mensch ist
mit allem, was dieses Wort sagt, mit menschlichem Bewußtsein,
20
mit Freiheit, Geschichtlichkeit, Anbetung, Gehorsam und Qual
des Todes, hat die in uns grundsätzlich immer nur im Werden und
in Anfänglichkeit bestehende Selbsttranszendenz einen absoluten
und unüberbietbaren Höhepunkt erreicht und ist die Selbstmittei-
lung Gottes in einer einmaligen und unüberbietbaren Weise an
' die kreatürliche Geistigkeit geschehen. Es ist keine Mythologie,
wenn ich sage: Da ist ein Mensch, von dessen Dasein her ich zu
glauben wagen kann, daß Gott sich mir unwiderruflich und end-
. gültig zugesagt hat, an dem sich diese absolute Zusage Gottes an
alle geistige Kreatur und die Annahme dieser Zusage durch die
Kreatur eindeutig, unwiderruflich und kommunikativ bezeugt
und für je mich glaubhaft wird. Wenn man aber diesen Satz wirk-
lich in seinem ontologischen Gewicht verstehen kann, dann hat
man die Hypostatische Union ausgesagt und sie dennoch begriffen
als eine freilich einmalige und sonst nirgends sich ereignende und .
die Tat Gottes seiende Verwirklichung dessen, was Menschsein
überhaupt besagt. Damit schwindet nicht das Geheimnis und die
göttliche Freiheit in der Bewirkung der Hypostatischen Union,
aber sie verliert jeden Geschmack eines Mythologems und des pein-
lichen Eindrucks, es handle sich um ein Analogon zu griechischen _
oder anderen Sagen, zu Anthropomorphismen, nach denen Gott,
das Unendliche, Unbegreifliche, sich der Livree einer Menschen-
gestalt bedient habe, um gewissermaßen in einem zweiten Anlauf
- doch noch zu erreichen, was ihm in der Schaffung der Weltals Welt-
regent mißlungen war.
Und weiter: Es ist immer zu bedenken, daß für eine wirklich
christliche Lehre vom Verhältnis der Welt und Gottes, die Eigen-
ständigkeit der Kreatur nicht im umgekehrten, sondern im
gleichen Verhältnis zur Größe der Abhängigkeit und Gottge-
hörigkeit des Geschöpfes wächst, daß also Jesus, gerade weil seine
menschliche Wirklichkeit. in der radikalsten Weise angenom-
men ist und dem ewigen Logos gehört, am wahrsten, am selbstän-
digsten Mensch ist, am tiefsten in die Abgründe des Menschlichen
hineingestiegen ist, am wirklichsten gestorben ist und am endgül-
tigsten Mensch bleibt. Und nun: Wenn, was eben nur gerade ange-
deutetwerden konnte, wahrist, daßesdurchauseinemitdem Wesen
des Menschen und seiner Selbsttranszendenz mitgegebene (wenn
21
auch vielleicht zeitlich faktisch erst nach der Erfahrung der Inkar-
nationzu sich selbst gekommene) Idee des Gottmenschentums gibt,
wenn der Mensch sich selbst dann am besten versteht, wenner sich
als diermögliche Selbstaussage Gottes begreift, dieimMenschen Jesus
Wirklichkeit geworden ist, dann ist es nicht mehr so schwer, die
Wirklichkeit dieser Möglichkeit gerade in Jesus zu erkennen. Denn
wo ist sonst ein Mensch der hellen greifbaren Geschichte, der über-
haupt auf dieses Ereignis als in ihm geschehen Anspruch gemacht
hätte? Wo ist einer, dessen menschliches Leben, dessen Tod — und
sagen wir hinzu: Auferstehung -, dessen Geliebtsein durch unzäh-
lige Menschen den Mut und die geistige Legitimierung dazu geben
könnte — außer eben gerade der biblische Jesus? Wenn ich mich
selbst weiß als den Partner eines absoluten gegenseitigen Sich-
selbsteinlassens aufeinander zwischen Gott und der geistigen Krea-
tur, warum sollte ich dann nicht anerkennen, wenn allesdafürund
nichts eigentlich dagegen spricht, daß diese Partnerschaft gegen-
seitigen Sichselbsteinlassens aufeinander in Jesus soradikal von An-
fang an ist, daß die menschliche Seite Gott nicht nur als dem Schöp-
fer im Abstand, sondern auch Gott als dem sich selbst Aussagenden
gehört, die Antwort des Menschen in ihm an Gott nochmals das
Wort Gottes selbst ist und gerade so die selbständigste Antwort des
Menschen als Kreatur? Wo außer in Jesus könnte ich den Mut zu
solchem Glauben haben, den ich haben will, den ich haben darf,
weil er doch aus der Tiefe der durch Gottes Gnade erfüllten.
Transzendenzerfahrung entspringt? Wenn es einen Punkt Omega
geben muß, aufden hin alle Geschichte der Welt konvergiert, wenn
ich von der Erfahrung der eigenen gnadenhaften Nähe zu Gott
schon erwarten darf, daß es diesen Punkt Omega (um in der Termi-
nologie Teilhards de Chardin zu sprechen) schon gibt, oder es wenig-
stens nicht tollkühn sein kann, zu suchen und zu fragen, ob er nicht
schon in der Geschichte eingetreten ist, muß es mir dann absurd
vorkommen, ihn in Jesus von Nazareth zu finden? In dem, dernoch
im Tod seine Seele in die Hände des Vaters legte, in dem, der über-
zeugte, gerade weil er nicht nötig hatte, gescheite Weltanschau-
ungsprobleme zu diskutieren, in dem, der radikal um das Geheim-
nis als Geheimnis, um das verzehrende Gericht, um den Tod des
Menschen, um seine abgründige Schuld wußte, und dennoch die-
22
ses Geheimnis seinen Vater und uns seine Brüder nannte? Und der
sich eben einfach und schlicht als den Sohn wußte und seinen Tod
_ als die Versöhnung der Welt? Niemand kann durch Diskussionen
gezwungen werden, an Jesus von Nazareth als an die absolute Ge-
genwart Gottes zu glauben. Dieser Glaube ist frei schon deshalb,
weil er an Geschichtliches, an Kontingentes glaubt. Aber wer Ideen
erst dann für ernsthaft und existentiell wahr hält, wenn sie Fleisch
und Blut haben, der kann an die Idee des Gottesmenschentums
doch leichter glauben, wenn er an Jesus von Nazareth glaubt, im
Fleisch findet, was der seligste Entwurf der höchsten Möglichkeit
desMenschen ist, von der aus man erst überhaupt weiß, was eigent-
lich letzlich Mensch bedeutet.
Noch eines ist zu dieser Idee des Gottmenschen dad zur Fak-
tizität Jesu als des wirklichen Gottmenschen zu sagen: Er ist
einerseits, weil er die Zusage Gottes zur Welt und die Annahme
der Welt in Gott hinein in Person und als Person ist, gewiß das
unüberholbare, endgültige, das eschatologische Ereignis. Nach
ihm kann, sonst wäre er nicht der Gottmensch, keine religiöse
Erfahrung, kein Prophet mehr kommen, der ihn überholen
könnte, etwas, wodurch ein Neues und Besseres, das Alte ablösend,
an die Stelle des Bisherigen treten könnte. Wie sollte es auch mög-
lich sein? Es gibt doch zwei unüberholbare Worte und Wirklich-
keiten und damit deren Konvergenz: Der Mensch als die unend-
liche Frage und das unendliche Geheimnis als die unendliche ab-
solute Antwort, indem es Geheimnis bleibt: Mensch und Gott. Und
darum ist der Gottmensch unüberholbar; ein neuer Prophet kann
es nicht zu mehr bringen, kann hinter der Antwort, die der Gott-
mensch ist, höchstens zurückbleiben oder diese Antwort kopieren.
Aber durch diese unüberholbare reale Formel der Welt, ihres Sin-
nes und ihrer Aufgabe, ist die Welt und Geschichte zu ihrem eige-
nen Sinn (auch in begrifflicher und geschichtlicher Greifbarkeit)
gekommen, nicht so zu ihrem Ende, daß sie nun eigentlich keine
Geschichte mehr in dem haben könnte, was wert ist, bedacht und
. getan zu werden. ImGegenteil: Jetzthat dieGeschichte (die doch in
Wissen und Freiheit geschehen soll) ihr eigentliches Prinzip einge-
nommen, die Mitte des Kommenden erfahren, ihre eigentliche un-
endliche Bestimmung erkannt als ihr schon innerlich zu eigen ge-
23
gebene. Und darum beginntjetzterst eigentlich die Geschichte, die
unübersehbare, abenteuerliche, unberechenbare (auch Hatiinlich
"hinsichtlich ihres Endes unberechenbare), aber eine Geschichte, die
sich geborgen weiß in derLiebe Gottes, die alle seine Gerichte schon
überholt hat, die sich herrlich und siegreich verstehen darf trotz
aller Fürchterlichkeiten, die in ihr schon geschehen sind und noch
geschehen werden und sich vielleicht noch apokalyptisch steigern
werden. Und der Ausgang dieser vom Gottmenschen getragenen,
in ihm, dem absoluten Mittler, verknüpften Geschichte ist ja die
absolute Nähe aller geretteten Geister zu Gott, die letzte radikale
Unmittelbarkeit zu Gott, so wie siedem Wesen.nach auch dieinnere
Vergöttlichung des Gottmenschen in seiner menschlichen Wirk-
lichkeit ausmacht. Daran wird deutlich, daß das Ziel und der Sinn
der gottmenschlichen Einheit die Unmittelbarkeit der geistigen
Kreatur überhaupt zu Gott ist, wir alle also in aller Wahrheitals die
Brüder des Gottmenschen von vornherein konzipiert sind und die
einmalige Nähe Gottes und des Menschen im Gottmenschen nicht
eigentlich im ersten Ansatz als Nein zu einer Nähe des übrigen ge-
schaffenen Geistes zum absoluten Geheimnis, sondern als deren
Begründung und schon radikal verwirklichte Zusage aufzufassen
ist, und also von einem wahren Gottmenschentum der Gesamt-
menschheit geredet werden kann.
Nun ist noch eine weitere Hemmung und Gefährdung des Glau-
bens neben der abgründigen Bitterkeit des Daseins und der Viel-
falt der Weltanschauungen in der Welt: die Gemeinde der Glau-
benden selbst, die Kirche. Gewiß ist sie auch für den unvorein-
genommenen Blick des Geschichtsbetrachters die heilige Kirche,
das Zeichen, das erhoben über den Nationen durch ihre unversieg-
liche Fruchtbarkeit an aller Heiligkeit durch sich selbst ein Zeugnis
ihrer Gottgewirktheit ablegt. Aber sie ist auch die sündige Kirche
der Sünder, die sündige Kirche, weil wir, die Glieder der Kirche,
Sünder sind. Und diese Sündigkeit der Kirche meint nicht nur die
Summe der gleichsam privat bleibenden Unzulänglichkeiten ihrer
Glieder bis hinauf zu den Trägern ihrer höchsten und heiligen
Ämter. Die Sündigkeit und Unzulänglichkeit der Glieder der Kir-
che wirkt sich auch ausin dem Tun und Lassen, das, im Bereich der
menschlichen Erfahrung stehend, als Tun und Lassen der Kirche
24
4
26
_ ihre Durchschnittlichkeit, ihre Feigheit, ihren Egoismus das Licht
_ desEvangeliums verfinstern? Haben wir selber wirklich das Recht,
den ersten Stein auf die Sünderin, die angeklagt vor dem Herrn
steht und Kirche heißt, zu werfen, oder sind wir nichtin ihr und mit
ihr selbst angeklagt und dem Erbarmen auf Gedeih und Verderb
überantwortet? Und weiter: Wenn wir wissen, daß dieWirklichkeit
und Wahrheit nur auf der Erde, in der Geschichte und im Flei-
sche vollzogen werden können und nicht in einem leeren Idea-
lismus, wenn wir heute mehr als je wissen, daß der Mensch sich
selbst nur in einer harten und eindeutig fordernden Gemeinschaft
findet und aller Solipsismus jeder Art, jede Behütung des kostbaren,
sich selbst pflegenden Individuums ein vergangenes Ideal (und
immer falsch) war, dann kann es nur einen Weg für den Menschen
- von heute geben: die Last der Gemeinschaft auszuhalten als den
wahren Weg in die wirkliche Freiheit der Person und der Wahr-
heit, dann kann uns die Kirche der Sünder zwar eine schwere Last
bleiben, aber kein Ärgernis mehr bedeuten, das den Mut des Glau-
bens vernichtet. Und endlich: Wir suchen Gott im Fleisch unseres
Daseins, wir müssen den Leib des Herrn empfangen, wir wollen
auf seinen Tod getauft sein, wir wollen einbezogen sein in die Ge-
schichte der Heiligen und der großen Geister, welche die Kirche
liebten und ihr die Treue hielten: Man kann das alles nur, wenn
man in der Kirche lebt und dann eben ihre Last mitträgt, die Last,
die unsere eigene ist. Solange in ihr das Sakrament des Geistes und
des Leibes des Herrn vollzogen wird, ist allemenschliche Unzuläng-
lichkeit im allerletzten doch der weichende Schatten, der erschrek-
ken, aber nicht töten kann. Unsere Liebe, unser Gehorsam, unser
Schweigen und unser Mut, der, wo es nötigist, wie ein Paulus dem
Petrus, den Vertretern der amtlichen Kirche gegenüber sich zur
wahren Kirche und zu ihrem Geist der Liebe und der Freiheit be-
kennt, sinddieheiligeren unddarum auch immer die machtvolleren
Realitäten in der Kirche als alle Durchschnittlichkeit und aller er-
starrte Traditionalismus, der nicht glauben will, daß unser Gott
der ewige Gott aller Zukunft ist. An der Konkretheit der Kirche
kann unser Glaube angefochten werden, er kann an ihr reifen, er
muß an ihr nicht sterben, wenn wir ihn nicht schon vorher in un-
serem eigenen Herzen haben sterben lassen,
27
Es ist schwer, über seine eigene Zeit zu urteilen. Aber ich meine
doch: die jungen Geister in unserer Zeit haben es nicht leicht.
Denn eines ist für sie besonders schwer und doch notwendig: Das
eigentliche Christentum, den eigentlichen Glauben an Jesus Chri-
stus, sein Reich und seine erlösende Gnade zu unterscheiden von
‚dem, worüber man vieler Meinung sein kann und vielleicht harte,
bittere, tragische Kämpfe kämpfen muß, von den Dingen der
Wissenschaft, der Kultur, der Neugestaltung des irdischen Da-
seins, der Politik, der sozialen Wirklichkeiten, der irdischen Frei-
heit, der europäischen Sendung, dem Platz Deutschlands in der
nun anhebenden einen Weltgeschichte. Nicht als ob diese beiden
Dinge nichts miteinander zu tun hätten. Sie haben viel miteinan-
der zu tun. Schon darum, weil jeder Mensch im Gericht der Ewig-
keit auch gefragt werden wird, wie er seine sehr irdische Aufgabe
und Sendung erfüllt habe, und vor allem der Laie nur dann ein
guter Christ ist, wenn er die Erde, den Menschen und seine Ge-
schichte liebt und in ihrem Anruf auch den Ruf seines Gottes
hört, der Himmel und Erde erschaffen hat. Aber sosehr die Lehre
des Christentums auch eine Ordnung der Erde, des Volkes, der
sozialen Ordnung, der Geschichte einschließt, so ist es doch so,
daß ein eindeutiger Imperativ für die Gestaltung der Zukunft im
irdischen Bereich aus der Botschaft des Christentums allein grund-
sätzlich nicht abgeleitet werden kann. Das aber bedingt, daß auch
Christen untereinander über die Dinge dieser Erde, der Gestal-
tung der politischen, staatlichen und sozialen Verhältnisse, über
die Dosierung von Freiheit und Ordnung, über die konkreten
Formen der Toleranz, über die Marschrichtung für die Geschichte
eines Volkes, über die Analyse der heutigen Situation und der
Folgerungen, die sich daraus ergeben, uneinig, schrecklich un-
einig sein können und ihnen vielleicht gar nichts anderes übrig
bleibt, als mit den Waffen, die Gott dem Geist des Menschen
als legitime gegeben hat, auch gegeneinander zu kämpfen. Es ist
einfach nicht wahr, daß wir Christen und Katholiken immer in
allem eins sein müßten oder könnten oder daß die amtliche Kirche
in allem und jedem eine verpflichtende Norm auferlegen könnte.
Es ist wahr, daß die Kirche in ihren konkreten Vertretern kurz-
sichtig sein und Grenzüberschreitungen begehen kann, die vor
28
_ den wahren Normen des Christentums und vor der Geschichte
nicht gerechtfertigt sein können. Weil so etwas immer und über-
all der Fall sein kann, weil so etwas zu allen Zeiten und in jeder
Situation angesichts der Endlichkeit und Sündigkeit der Glieder
der Kirche erwartet werden kann und muß, so meine ich, wird
auch die Jugend von heute vor solchen Situationen auch in der
Gegenwart nicht bewahrt sein können. Darum aber hat sie die
Aufgabe, solche möglichen Konflikte in Geduld, Fairness, Liebe
zur Kirche, Liebe zu den Menschen der Kirche, auch wenn sie mit
uns in vielem uneins sind, mit Nüchternheit zu tragen; das Reich
Gottes nicht aus dem Auge zu verlieren in der Sorge für die irdi-
schen Aufgaben ;zu wissen, daß man die wahre Zukunft nicht ge-
winnt, indem man die echte Vergangenheit verleugnet; zu be-
greifen, daß das Abendland auch heute noch in der Welt eine
irdische und eine christliche Sendung hat, das alte Wahre mitzu-
nehmen auf den Weg ins Land einer besseren, freieren, größeren
Zukunft; zu verstehen, daß man der Vergangenheit nur getreu ist,
wenn man ihr eine Zukunft zu erobern sucht, daß der wahre Kon-
servative der ist, der entschlossen einer neuen Zukunft entgegen-
geht; sich nicht verbittern und entmutigen zu lassen, die Freiheit
der Kinder Gottes, die Verantwortung vor dem eigenen Gewissen
und der eigenen Sendung und Aufgabe zu vereinigen mit kirch-
lichem Gehorsam und mit der Geduld, die warten kann, bis die
neue Zeit auch in der Kirche reife Früchte trägt; zu realisieren,
‘daß das Samenkorn sterben muß, damit es Frucht bringt; den Mut
.zu haben, das Unrecht durch die Liebe zu besiegen. Wer soin der
Kirche seinen Auftrag für die Zukunft lebt, wird die geschicht-
liche Gestalt der Kirche ertragen, ohne daß sie eine Anfechtung
für den Glauben wird, die nicht mehr überwindbar wäre. Es kann
sein, daß einen die amtliche Kirche vor das Dilemnia stellt, in
Unglauben zu verfallen oder über sich selbst hinauszuwachsen
und die größere Demut, die heiligere Gerechtigkeit und die stär-
kere Liebe in Schweigen und Geduld zu üben, als sie uns von den
amtlichen Vertretern der Kirche vorgelebt wird. Warum sollte
eine solche Situation nicht möglich sein? Und warum sollten wir
sie nicht bestehen können? Wagen wir es, so über uns hinauszu-
wachsen und als Samenkorn im Acker der Kirche zu sterben und
29
nicht als Revolutionär vor,ihren Toren zu sterben, dann werden
wir merken, daß nur solche Tat uns wahrhaft befreit in die Un-
endlichkeit Gottes hinein. Denn der Glaube, der von uns auch in
dieser Kirche abverlangt wird, ist die Tat, die, von Gott geschenkt,
das unendliche Geheimnis als die Nähe der vergebenden Liebe
annimmt. Solches kann nicht geschehen ohne einen Tod, der
lebendig macht. In dieser Annahme aber ist das ganze Christen-
tum als seine eigentliche und selige Essenz enthalten. Solchen
Glauben zu wagen, ist auch heute möglich. Heute mehr als je.
Diese Botschaft der Möglichkeit des christlichen Glaubens heute
und morgen wird aber schließlich doch nur der verstehen, der sie
nicht nur anhört, sondern sie übt, sich in seiner Existenz auf sie
einläßt, indem er betet, d. h. den Mut hat, in jene schweigende
und doch liebend uns umfangende Unsagbarkeit hineinzusprechen
mit dem Willen, sich ihr anzuvertrauen und mit dem Glauben,
angenommen zu sein von jenem heiligen Geheimnis, das wir Gott
nennen, indem er sich müht, der fordernden Stimme seines Ge-
wissens treu zu sein, indem er sich den Fragen des Lebens, der
einen, schweigenden, alles umgreifenden Frage seines Daseins
stellt, ihr nicht davonläuft, sie selbst anruft und anredet, ihr sich
öffnet und sie annimmt als ein Geheimnis unendlicher Liebe. Man
sage nicht, man könne die Lehre des Christentums nur leben,
wenn man von ihr schon überzeugt sei. Man könne also so die
Wahrheit nicht erproben. Denn wir sind schon die Verfügten.
Und es gibt keinen Menschen, der nicht schon in jener Wirklich-
keit, die seiner Freiheit vorausgeht,.und von dieser endlichen Frei-
heit nie ganz eingeholt und nie ganz ausgetilgt werden kann,
schon irgendwie Christ wäre: Mensch der Sehnsucht, Mensch der
noch gebliebenen Liebe, Mensch, dessen Innerstes sich eben an
der Wahrheit doch mehr erfreut als an der Lüge, der noch Unter-
schiede sieht, weil auch der schlimmste Positivist und skeptischste
Materialist es nicht fertigbringt, nirgends in seinem Dasein mehr
eine Forderung und einen Anruf zu sehen und zu vernehmen. Er
mag noch kein voller, ausgewachsener, reflex zu sich selbst ge-
kommener Christ sein, einer, der sein vorgegebenes Christentum
in reflexer Freiheit bereits vollbewußt angenommen hat; aber er
kann nicht erreichen, daß die Dynamik seines Menschseins und
50
rt
der Gnade Gottes ihn nicht mehr auf das christliche Dasein aus-
richte. Wenn also gesagt wird, man solle aus der Erfahrung des
eigenen Daseins heraus erfahren, ob das Christentum die Wahr-
heit des Lebens sei, dann ist keine Überforderung angemeldet.
Dann ist nur gesagt: verbünde dich mit dem Echten, dem For-
‚dernden, dem nach dem Ganzen Verlangenden, dem Mut zum
Geheimnis in dir; dann ist nur gesagt: geh weiter, wo immer Du
jetzt gerade auch stehen magst, folge dem Licht, auch wenn es
jetzt noch klein ist, hüte das Feuer, auch wenn es jetzt noch nieder
brennt, rufe das Geheimnis an, gerade weil es unfaßbar ist. Geh
und Du wirst finden, hoffe, und Deine Hoffnung ist schon in-
wendig mit der Erfüllung begnadigt. Wer so sich aufmacht, mag
weit vom amtlich verfaßten Christentum entfernt sein, er mag
sich vorkommen wie ein Atheist, er mag bekümmert meinen, nicht
an Gott zu glauben, die Konkretheit der christlichen Lehre und
Lebensführung mag ihm seltsam und fast erdrückend vorkommen.
Er soll weitergehen, seinem Licht im innersten Grund des Her-
zens folgen. Dieser Weg ist schon inmitten des Zieles. Und der
Christ fürchtet nicht, daß er nicht ankommen werde, auch wenn
es einem solchen Fragenden und Suchenden in dieser Zeit nicht
mehr gelang, sein anonymes Christentum vollendet in das aus-
drückliche Christentum der Kirche hinein zu explizieren und zu
integrieren. Es ist keine philosophische, sondern eine christliche
Wahrheit, daß der, der sucht, schon gefunden ist von dem, den
er vielleicht namenlos, aber in hoffender Tapferkeit und Red-
lichkeit sucht. Wie selig ist es: Man kann an dem unendlichen
Geheimnis, das uns stille liebend umfängt, nicht so leicht vorbei-
laufen, wie sowohl die Skeptiker und Atheisten wie auch die Engen
unter den Christen meinen, die sich Gott zu sehr nach ihrem klei-
nen Herzen denken. Aber eben weil er schweigend alles umfängt,
weil alle Wege in ihm verlaufen, in dem wir leben, uns bewegen
und sind, der keinem von uns fern ist, der alles trägt und umfaßt
und von keinem umfaßt und überholt wird, darum gerade ist das
Christentum und sein Glaube das Einfachste und Selbstverständ-
lichste zumal, weil es gar nichts sagt, als daß wir in die Unmittel-
barkeit des Geheimnisses Gottes selbst gerufen sind, dieses in un-
sagbarer Nähe sich uns selbst gibt, diese Nähe als unwiderrufliche
51
offenbar und endgültig geworden ist im Menschensohn, der die
Gegenwart des ewigen Wortes Gottes unter uns ist, und in dieser
Fleisch und Geschichte gewordenen Endgültigkeit der göttlichen.
Selbstzusage alle, die diese Zusage auch in der Dimension der Ge-
schichte und Gemeinschaft gehört haben, gerufen sind zur Ge-
meinschaft, Kirche genannt, derer, die in Einheit, Wahrheit und
Liebe und in der Feier des Todes ihres Herrn warten auf das
Offenbarwerden dessen, was schon ist: Gott alles und in allem.
52
THEOLOGIE IM NEUEN TESTAMENT
54
Aber sehen wir genauer zu, bevor diese Auskunft als endgültige
angenommen wird. Kein katholischer Theologe wird bestreiten,
_ daß esin der Kirche Dogmen gibt, die als solche wahre Aussage der
Offenbarung sind, also mit göttlichem und nicht bloß mit kirch-
lichem Glauben geglaubt werden können und müssen-und doch
nicht als sie selber einem unmittelbaren Offenbarungsvorgang ent- |
springen, sondern aus einem oder mehreren Sätzen ursprünglicher
oder ursprünglicherer Offenbarung abgeleitet, expliziert sind. Un-
ter welchen Bedingungen, Voraussetzungen und Einschränkungen
solcheabgeleitete Sätzenoch dieQualität « von Gott geoffenbart» ha-
ben, in welchen Fällen dies nicht mehr möglich ist (obwohl sie auch
. dann vielleichtnoch absolut sicher sind und von der Kirche definiert
werden können), das steht hier nicht zur Debatte. Es genügt uns
hier, daß es solche Glaubenssätze abgeleiteter Art in der lehramt-
lichen Verkündigung der Kirche gibt, Sätze, von denen nicht ge-
sagt werden kann: sie als diese bestimmten Sätze entstammen un-
mittelbar als solche einer Offenbarung Gottes; sie sind erstmals mit-
geteilte Erkenntnisse, die nur auf sich selbst stehen. Es gibt Glau-
benswahrheiten, die als solche von der Kirche erkannt werden, weil
und indem sie auf andere Wahrheiten der Offenbarung zurückbe-
zogen werden, in ihnen «implizit » enthalten sind. Eine Dogmen-
entwicklung, die mehr ist als eine Theologiegeschichte, wäre sonst
nicht möglich. Denn Dogmengeschichte besagt weder die Ge-
schichte einer bloß menschlichen Verständnisbemühung um einen
immer gleichbleibenden Glaubensinhalt herum-noch die bloße
Geschichte verschiedener Formulierungen einer Wahrheit, die
gleichsam nackt und unabhängig von den Formulierungen, in de-
nen sie gegeben ist, da wäre und nun aus Gründen der Laune oder
äußerer geistesgeschichtlicher Umstände in verschiedenem, wech-
selndem Wortgewand dargeboten würde. Dogmengeschichte ist
wirklich Geschichte des Glaubens. Desselben Glaubens, der immer
bleibt, der keinen eigentlichen Zuwachs von außen mehr erfährt.
Aber eine Geschichte des Glaubens selbst, in der etwas sich ereignet,
was bisher nicht «so » gegeben war. Das Neue legitimiert sich im-
mer und nur durch seine Herkunft aus dem Alten ; die neue Wahr-
heit ist die alte, keine von außen zur alten zusätzlich hinzukom-
mende. Aber sie ist eine neue Wahrheit, insofern ein Satz gegeben
55
ist, der als Satz des Glaubens selbst jetzt erst, nicht aber früher ge-
geben ist. Und zwar kann sich diese Neuheit des jetzt erst Gegeben-
seins sowohl auf den Inhalt beziehen als auch auf die reflexe Er-
fassung der sicheren Geoffenbartheit alssolcher. Aber geradeindem
sich dieneue Wahrheiteines geoffenbarten Satzes als die alte Wahr-
heit durch ihren Rückgang in die alte, schon immer erfaßte und
bekannte Wahrheit des Glaubens ausweist, sagt sie ja, daß sie nicht
einer neuen, in sich selber stehenden Offenbarung Gottes ent-
springt, sondern ihre Geburtsstunde, ihr Offenbarungsaugenblick
der der anderen Wahrheit ist, die selber schon ursprüngliche, auf
keinem anderen Offenbarungsvorgang aufruhende Offenbarung
Gottes ist oder selbst nochmals in ihrer eigenen Herkunft einer
ursprünglichen Offenbarung Gottes entstammt. Kurz: Wenn es
wirklich Dogmengeschichte gibt, dann gibt es Offenbarung, die
nicht einfach in sich selbst ursprüngliche, aber doch Offenbarung
ist: Wort Gottes, das unfehlbar und im eigentlichen Sinn glaubens-
fordernd ist.
Nochmals: Es ist hier nicht der Ort, die Frage zu beantwor-
ten, wie das möglich sei, wie mit anderen Worten ein aus dem
Wort Gottes hergeleitetes Wort noch die Qualität des Wortes
Gottes selbst bewahren könne. Das ist eine schwierige Frage, die
gewiß nicht einfach nur durch die Auskunft der früher üblichen
Schultheologie über Dogmenentwicklung und -fortschritt beant-
wortet werden kann, ein neues Dogma sage nur mit anderen Wor-
ten genau dasselbe, der mitgeteilte Inhalt sei völlig und schlecht-
hin unverändert identisch mit dem alten Inhalt und darum eben
Wort Gottes. Nein, in der Lehre z. B. von der Siebenzahl der
Sakramente, von der Sakramentalität der Ehe, von der bloß rela-
tiven Seinsweise der göttlichen Personen usw. usw. sind Erkennt-
nisse als Dogma ausgesagt, die als solche in einer früheren Zeit
einfach nicht «da waren », sie sind geworden und sind doch nicht
in neuer Offenbarung gegeben worden. Sie sind gegeben als das
Ergebnis der wirklichen Geschichte der alten Wahrheit und darum
und in diesem Sinn mit ihr identisch und ihre Eigenschaft als eines
Wortes Gottes teilend, aber darum dem alten und nicht einem
neuen Ursprung auseiner göttlichen Mitteilungentstammend. Und
diese mitgeteilte Wahrheit muß eine solche Geschichte ‚haben,
56
weil sie als menschlich gehörte und geglaubte Wahrheit (und nur
als solche ist sie auch die von Gott gesagte Wahrheit) eine Ge-
schichte haben muß, und weil eine Geschichte im Raum des Gei-
stes und der Person immer eine Geschichte wahren Werdens in
der bleibenden Selbigkeit der einen und selben geschichtlich exi-
stierenden Wahrheit ist. Wie gesagt, die genaueren Formen, Be-
dingungen, Ursachen dieses Werdens und der Geschichte des-
selben hinsichtlich einer Wahrheit im allgemeinen und hinsicht-
lich einer geoffenbarten Wahrheit, eines Wortes Gottes, kann uns
hier nicht beschäftigen. Alle Theorien der Dogmenentwicklung
und der Dogmengeschichte sind nichts anderes als die Versuche
einer genaueren Antwort aufdiese Frage, wie wirklich neue Wahr-
heit die alte sein kann. Die Vielfalt dieser Theorien, die sich noch
längst nicht zu einer sententia communis in der Theologie zusam-
mengefunden haben, zeigt aber gerade durch ihre Vielfalt, daß
es wahr ist: Das Dogma kann als solches eine Geschichte haben,
nicht nur in der Weise, wie man gewöhnlich die « Geschichte der
göttlichen Offenbarung» durch das Alte Testament hindurch in
das Neue hinein stillschweigend sich denkt, daß nämlich an ver-
schiedenen Zeitpunkten neue göttliche Initiativen ergehen, die
jeweils neue Sätze der Wahrheit mitteilen, von denen jeder seine
eigene Geburtsstunde hat, sondern auch in dem Sinn, daß die ein-
mal mitgeteilte Wahrheit selbst nochmals ihre Geschichte hat, die
sie nicht notwendig aus dem Bereich der göttlichen Offenbarung
hinausführt, sondern deren Entfaltung sie selber ist.
Kann diese Geschichtlichkeit der geoffenbarten Wahrheit im
allgemeinen nicht bestritten werden, bleibt diese Wahrheit auch
in ihren neuen geschichtlichen Gestalten dieselbe, dann kann nun
die Frage gestellt werden, ob es auch schon innerhalb des Neuen
Trestamentes selbst eine solche Geschichte der ursprünglichen Of-
fenbarungswahrheit gibt, in der neue Entfaltungen dieser Wahr-
heit entstehen, die dennoch den Anspruch auf die Qualität des
Wortes Gottes machen, ohne darum auch einen eigenen Offen-
barungsursprung für sich zu fordern. « Innerhalb des NT» soll
hier sowohl heißen: schon innerhalb der Zeit des Neuen Testa-
mentes, zur Zeit der Apostolischen Kirche, in welcher Zeit nach
aller theologischen Überzeugung noch Offenbarung geschah, weil
57
'ja diese erst mit dem «Tode des letzten Apostels » als abgeschlossen
erklärt wird, so daß solche abgeleitete, aber eigentliche Offen-
barung (auch, nicht nur) zur Zeit der Urkirche entstand und von
den Aposteln und anderen von ihnen legitimierten Kündern der
christlichen Botschaft verkündigt wurde. «Innerhalb des Neuen
Testamentes» soll aber auch heißen: innerhalb des Entstehens
der Schriften des Neuen Testamentes selbst, so daß in ihnen selbst
solche dogmengeschichtliche Entwicklungsvorgänge sich ereignen
und greifbar werden.
Die Frage kann und muß eindeutig bejaht werden. Zunächst
einmal kann gefragt werden: Wenn es diesen Vorgang in der spä-
teren Kirche gibt, warum sollte er nicht in der Urkirche sich auch
ereignet haben? Die innere Entfaltungskraft, die Dynamik der
Selbstauslegung, die in der Wahrheit und vor allem in einer gött-
lichen Wahrheit innerlich enthalten ist, kann doch zur Zeit der
Urkirche nicht geringer gewesen sein als später. Gott brauchte
doch in dieser Zeit nicht etwas durch eigene neue Initiative zu tun,
was die von ihm geoffenbarte Wahrheit selbst leisten konnte (na-
türlich immer, genau wie in späterer Zeit, unter seiner dauernden
Heilsprovidenz, unter dem Beistand des Heiligen Geistes und ent-
sprechend einer geistigen Situation, die auch nochmals von seinem
Willen und seiner Weisheit umfaßt ist, so daß Gott nicht eigent-
lich « weniger », sondern anders handelt, wenn er so seine Wahr-
heit durch immanente Entfaltung des schon Mitgeteilten sagt, als
wenn er sie neu mitteilt). Weiter ist zu bedenken, daß man eine
Wahrheit nicht verstehend hören kann, ohne daß man sie auf-
nimmt, sie assimiliert, sie mit dem übrigen Inhalt des Geistes und
Bewußtseins konfrontiert usw. Mit anderen Worten: Der Akt des
einfachen Hörens und Annehmens und der Akt der Reflexion
sind gar nicht adäquat unterscheidbare und gänzlich zeitlich hin-
tereinander reihbare Akte und Phasen eines geistigen Verstehens-
prozesses. Die Theologie beginnt also als Bedingung des schlichten
Hörens schon im ersten Augenblick des Hörens selbst. Und sie
kann dann gar nicht anders als weitergehen und sich entfalten.
Tatsächlich sehen wir bei einem aufmerksamen Lesen des Neuen
Testamentes selbst, wenn wir unvoreingenommen lesen, daß im
Neuen Testament Theologie getrieben wird. Es wäre absurd, wollte
58
. manden ganzen Unterschied beispielsweise der synoptischen Theo-
. logie oder der Apostelgeschichte und der eines Paulus adäquat auf
. die Intervention einer neuen unableitbaren Offenbarung Gottes
zurückführen. Nein, die Männer des Neuen Testamentes denken
nach, sie reflektieren auf Daten ihres Glaubens, die sie'schon wis-
sen; sie haben « Probleme », die sie sich nach bestem Können selbst
in einer theologischen Reflexion lösen ; sie haben Einwände gehört,
auf die sie antworten, die neue Erkenntnisse bei ihnen hervor-
treiben ; sie haben eine verschiedene geistige und theologische Her-
_ kunft, diese macht sich in der Perspektive ihrer Aussagen geltend,
in der Wahl der Begriffe, in den Akzenten, die sie ihren Darlegun-
gen geben. Sie haben persönliche Lebenserfahrungen, die sie erst
erwarben, die ihnen nicht immer zu Gebote standen, die nun in
ihr theologisches Denken einfließen, neue Antworten auf dem
Boden ihres alten Glaubens verlangen. Ihre Lehre ist verschieden,
was nicht heißt: widersprechend. Man könnte nicht von einer
Theologie des Paulus, der Johanneischen Schriften sprechen, wenn
darin nicht eben-Theologie steckte, menschliche Bemühung,
menschliche Reflexion, die Fermentation durch eine bestimmte
Individualität und geschichtliche Situation (der jüdischen Um-
welt, des Weiterwirkens der Täuferbewegung, des Hellenismus,
des vorchristlichen jüdischen und heidnischen Gnostizismus). Auf
alle diese Fragen erhalten die Männer des Neuen Testamentes
offensichtlich nicht einfach durch immer neue eigenständige Of-
fenbarungen Gottes (« also spricht Jahwe ») Antwort, sondern diese
Antwort ist das Ergebnis ihrer Theologie, ihrer eigenen Reflexion
auf Grund der letzten ursprünglichen Offenbarungsdaten und der
ursprünglichsten Glaubenserkenntnisse. Diese Reflexion ist (wo
sie sich im NT als Schrift ausspricht) direkt oder indirekt die der
autoritativen Boten Christi, die eine wahre Lehrvollmacht haben,
sie ist eine Reflexion, die den Beistand des Heiligen Geistes hat;
diese Reflexion ist in ihrem rein sachlichen Ergebnis und in ihrer
Methode und formalen Eigenart legitimiert durch das, was wir
“Inspiration nennen (welche ja nicht notwendig die Mitteilung
eines neuen, bisher nicht vorhandenen Erkenntnisinhaltes an den
inspirierten Verfasser ist); das Ergebnis dieser Reflexion bleibt
durch die Autorität der Verfasser und durch die Inspiration eigent-
59
N
40
keiten sind in beiden Fällen dieselben. Natürlich bildet das NT als
Zeit und vor allem als Schrift eine normative Größe für alle spä-
teren Zeiten, insofern in ihm der eine Anfang gegeben ist, der, weil
ja nicht eine beliebige Summe von Einzelwahrheiten, sondern ein
geschichtliches Heilsereignis (zu dem auch die Bildung der Kirche
selbst gehört) darstellend, die bleibende Norm und der alles tragen
müssende Grund für alle spätere Kirche, allen späteren Glauben
und alle spätere Theologie ist. Aber das schließt nicht aus, daß es
in der späteren Geschichte des Glaubens den Vorgang des Werdens
neuen Dogmas auf diesem Boden des NT geben könne. Wenn die
Glaubensaneignung selbst geschichtlich ist-und wie könnte es
anders sein-und nicht nur die theologische Reflexion auf ein Glau-
bensbewußtsein, dann muß es eine Dogmengeschichte geben, weil
diese nichts anderes ist als die Geschichte der jeweiligen Gestalt
der absoluten Glaubenszustimmung auf dem Boden der einen blei-
benden göttlichen Offenbarung, so wie sie in Jesus Christus ein für
allemal ergangen ist und in jeder Situation der Geschichte aktuelles
Ereignis in der Glaubenszustimmung und nicht nur der bloßen
Theologie bleiben muß. |
Wenn es Theologie im NT schon gibt, die, obzwar verbindliche
Aussage der Offenbarung als des Wortes Gottes, so doch nicht ur-
sprünglicher Offenbarungsvorgang ist, dann muß es grundsätzlich
möglich sein, sich einen ungefähren Begriff darüber zu machen,
wo ungefähr die Grenzlinie zwischen der Inhaltlichkeit der ur-
sprünglichen Offenbarungsaussage und der offenbarungsmäßigen _
Theologie im NT verläuft. Daß innerhalb der katholischen 'Theo-
logie doch wohl diese Frage kaum ausdrücklich gestellt wird, zeigt,
daß die simple These, die hier ausgesprochen wird, offenbar trotz
ihrer Selbstverständlichkeit nicht mit genügender Deutlichkeit
gegeben ist. Es kann sich natürlich nur um eine ungefähre Grenz-
ziehung handeln. Da das Ganze des NT mit allen seinen Teilen
und Aussagen gleich verbindlich ist für die spätere Theologie (wenn
auch natürlich je in dem Sinn der Verbindlichkeit, den die ein-
zelnen Aussagen des NT selbst für sich in Anspruch nehmen), so
kann es sich bei einer solchen Grenzziehung nicht um ein Krite-
rium handeln, welche Aussagen des NT verbindlich, « Christum
treibend », dem inneren Kanon der Schrift entsprechend seien
41
und welche nicht. Und da die Grenzziehung zwischen einer Aus-
sage «mit anderen Worten » und einer Aussage, die im Verhältnis
zur ursprünglichen Aussage neu ist und Neues sagt, auch grund-
sätzlich sehr schwierig ist, wie all die verschiedenen Theorien über
die Dogmenentwicklung mit ihrer Unterscheidung von formel-
lem und virtuellem Enthaltensein usw. einer Aussage in einer _
anderen zeigen, so kann die Forderung einer solchen Grenz-
ziehung nicht die Absicht haben, eine ganz eindeutige Abgren-
zung bieten zu können. Dies zumal auch darum nicht, weil eine
Formulierung dessen, was ursprüngliche, und dessen, was abge-
leitete Offenbarungsaussage ist, notwendig in beiden Fällen wie-
derum eine verstehende Interpretation beider Aussagegruppen
durch den Grenzziehenden selbst, also wiederum selbst Theologie
besagt. Aber immerhin, es läßt sich durchaus die Frage stellen:
Wie sieht dasjenige ungefähr aus, was als eigentlicher Grund-
inhalt des Christentums nur dann als wahr erfaßt werden kann,
wenn und insofern es eine Kundmachung Gottes bedeutet, hinter
die schlechterdings nicht mehr weiter zurückgegangen werden
kann-und was läßt sich an dem Öffenbarungswort der Schrift
schon selbst als Entfaltung, als theologische Interpretation dieser
ursprünglichen Urdaten mit Hilfe von Begriffen, Vorstellungen,
Aspekten auffassen, die entweder aus der Problematik der Ur-
daten selbst erwachsen oder in der religiösen Umwelt des NT selbst
schon gegeben waren als Ausdrucksmittel und als Anreiz zur theo-
logischen Reflexion? Wenn wir einmal (das ist freilich kein stren-
ges hermeneutisches Prinzip, sondern nur eine sinnvolle Arbeits-
hypothese) annehmen, daß die christologischen und soteriologi-
schen Aussagen des NT samt und sonders auf die Aussagen Jesu
über sich und seine Person (diese freilich gesehen im Licht der
Östererfahrung) zurückgehen und inhaltlich darüber hinaus kein
Element enthalten, das selbst noch einmal notwendig und additiv
zur Selbstaussage Jesu auf eine neue inhaltliche Offenbarung eige-
ner Art zurückgeht, dann kann man z. B. fragen: Welches ist die-
jenige historische Selbstaussage, die Jesus von sich selbst macht
derart, daß auf ihr die ganze Christologie und Soteriologie der
übrigen Schriften des NT basieren? Man darf nach einem katho-
lischen Verständnis der Fundamentaltheologie nicht sagen, eine
42
r
44
selbst gelten könne, und was an solchen Formulierungen (in der
Abzweckung, in der Ausdrücklichmachung der Tragweite, in der
Konturierung, in dem verwendeten Begriffsmaterial usw.) schon
Bildung der «Gemeindetheologie » sei (diese natürlich katholisch
richtig verstanden: die Theologie des kirchlichen Lehramtes der |
Urkirche, getragen von den Aposteln als den von Jesus autorisier-
ten, Glauben. fordern könnenden Lehrern der Gemeinde unter
dem Beistand des Heiligen Geistes, und nicht eine letztlich ano-
nyme, von keiner Seite gelenkte oder garantierte theologische
Spekulation). Damit soll nicht einfach in jedem Fall gesagt wer-
den, daß, historisch gesehen, jedes Wort Jesu selbst schon in dem
hier verwandten Sinn für sich allein ursprünglicher Vorgang der
Offenbarung sein müsse. Aber die Nähe zu einem solchen Vorgang
ist aufjeden Fall grundsätzlich so groß, daß derimmerhin denkbare
Abstand, der auch hier manchmal noch sein kann, fast immer
vernachlässigbar ist (wenigstens, was Jesu eigentliche Selbstaus-
sagen angeht, obwohl er, das darf nicht übersehen werden, auch
hierin vermutlich schon stark vorgeprägte und vorbelastete theo-
logische Begriffe benutzt und nicht nur theologisch neutrale Be-
griffe allgemein menschlicher Art). Immerhin gibt es in der
Eschatologie Jesu doch schon so viel anderswoher historisch Vor-
| gegebenes, daß man schon wohl sachlich von einer Theologie Jesu
sprechen kann, die zur überlieferten Eschatologie eines hinzufügt
und sonst nichts, dadurch aber natürlich diese überlieferte Escha-
tologie radikalrevolutioniert, nämlich daß er selbst der Angelpunkt
der Weltgeschichte, der Heilsbringer in Person und nicht nur ein
Prophet ist. Wie gesagt, es kann aus dem angedeuteten Grund
auch nicht jedes Wort des historischen Jesus mit den Begriff einer
ursprünglichen Offenbarung identifiziert werden (wenn freilich
auch beachtet werden muß, daß das absolute und ursprüngliche
Sohnesbewußtsein Jesu-unmittelbare Anschauung Gottes in der
Sprache der Theologie-allen seinen Aussagen einen Verstehens-
horizont mitgeben muß, der doch wieder jeder seiner Aussagen,
auch wenn sie material abgeleitet ist, eine Ursprünglichkeit gibt,
die gar nicht überboten werden kann); so kommt praktisch doch
in vielen Fällen diese scheidende Arbeit der Exegeten und bibli-
schen Theologen zwischen dem Wort des historischen Jesus und
45
-
‘ der Arbeit der Gemeindetheologie daran auf dasselbe hinaus, was
wir hier als Methode der Unterscheidung (nicht der Trennung)
forderten. Diese Unterscheidung, die der Exeget vornimmt, scheint
zunächst für die Arbeit der Dogmatiker methodisch überflüssig,
da sie ja die ganze Schrift mit all ihrem Inhalt als inspiriertes und
unfehlbar wahres Gotteswort hören und es darum nicht wesent-
lich für sie zu sein scheint, woher der genaue Wortlaut eines Satzes
stammt, von Jesus selbst oder von der (die Worte Jesu schon theo-
logisch vom Ganzen des Christusglaubens her interpretierenden)
Gemeindetheologie. Aber wenn es sich um den genauen und viel-
leicht sonst nur schwer bestimmbaren Sinn eines Wortes Jesu in
den Evangelien handelt (so etwas kann durchaus vorkommen),
dann kann diese Unterscheidung doch auch für den Dogmatiker
bedeutsam werden. Es ist z. B. für den Sinn von Texten wieMt 10,
23 oder Mk 9, 1 nicht einfach gleichgültig, ob sie «so», wie sie
dastehen, als von Jesus selbst gesagt zu betrachten sind oder nicht.
Denn wenn diese Worte auch in beiden Voraussetzungen als in-
spiriert und inerrant zu gelten haben, so ist für die genaue Be-
stimmung ihres Sinnes die Entscheidung zwischen diesen beiden
Möglichkeiten nicht unwichtig. Überhaupt müßte gerade bei
eschatologischen Aussagen sehr genau zum Ursprungsort solcher
Aussagen zurückgefragt werden, um ihren wirklichen Sinn genau
zu bestimmen. Dasselbe gilt z. B. für die trinitarische Formel bei
Mt 28, 19. Ist sie schon Reflex der trinitarischen Theologie in der
Urgemeinde, dann ist eben von daher nach Sinn und Tragweite
dieser Formel zu fragen. Dann darf man nicht davon ausgehen,
als müsse diese Formel gleichsam von der unmittelbaren Gottes-
schau Jesu her in ihrem Sinn interpretiert werden, sondern es muß
gefragt werden, was die Theologie der Urgemeinde dazu bewegt,
in einer Taufformel Vater, Sohn und Geist zu nennen. Die Forde-
rung einer zunächst einmal heilsökonomischen Interpretation die-
ser Triade ist damit gegeben, von der aus dann die immanente
Trinität erst zu erreichen ist mit mancher Präzision, die vielleicht
ohne das Bewußtsein dieses Ausgangspunktes nicht so deutlich und
nicht so im ersten Ansatz erreichbar wäre. Solche Beispiele für den
sachlichen Nutzen des aufgestellten Prinzips für die Hermeneutik
ließen sich noch viele beibringen.
46
Die entschlossene Durchführung einer solchen Unterscheidung
könnte einen noch grundsätzlicheren Nutzen bringen. Wer hat
nicht schon den Eindruck gehabt, daß das Neue Testament, und
noch viel mehr unsere Schuldogmatik, ein verwirrend kompli-
ziertes System von Aussagen sei, ein ungeheurer Komplex von
Sätzen, Gesichtspunkten, Zusammenhängen, Unterscheidungen,
gegenläufigen, oft nur schwer miteinander harmonisierbaren
Denkbewegungen, deren Synthese dann noch kompliziertere Un-
terscheidungen hervorruft? Nun ist freilich von vornherein klar:
Die Wahrheit, die die Unendlichkeit Gottes und die unüberseh-
bare Vielfalt der Welt und der Heilsgeschichte auch nur von ferne
umfassen und aussagen will, kann nicht so einfach sein, daß diese
Aussage uns nicht überfordern müßte. Ein glatt aufgehendes Sy-
stem von einigen wenigen Formeln hinsichtlich der im Akt der
Religion gemeinten Wirklichkeit trüge durch seine simplifizie-
rende Einfachheit und Klarheit schon das Stigma des Falschen an
sich. Und dennoch: Die evangelische Botschaft wendet sich an. den
durchschnittlichen Menschen, sie will ihm helfen, sein mühsa-
mes und kurzes Leben zu bestehen; die Botschaft des Evangeliums
ist nicht das Material, an dem sich der dialektische Scharfsinn der
Menschen betätigen soll. Vor allem der Mensch von heute hat den
Eindruck, daß man es der wahren Botschaft von Gott anmerken
müßte, daß sie das unbegreifliche Geheimnis beschwört, das wir
Gott nennen; daß sie nicht den Anspruch mache, «dahinter ge-
kommen zu sein », sondern gerade umgekehrt, den Menschen un-
entrinnbar vor den je größeren Gott, vor sein Geheimnis als solches
zu stellen, um ihn dadurch wirklich aus sich heraus und über sich
selbst hinweg zu zwingen in jener, Akt hinein, den man Glaube,
Anbetung, Übergabe, Liebe oder wie immer nennen mag. Die
Reflexion über die christliche Botschaft mag notwendig und se-
gensreich als Reflexion, d.h. als Theologie kompliziert, subtil,
abstrakt und irgendwie eine nur dem Fachmann zugängliche Ge-
heimwissenschaft esoterischer Art sein. Vielleicht ist das unver-
meidlich und sollte nicht zu eilfertig und billig den Protest des
« einfachen Christen » hervorrufen. Solche komplizierte Theologie
mag sogar eine unentbehrliche Funktion dahin haben, daß die
einfache evangelische Botschaft, das Kerygma selbst nicht simpli-
47
fiziert, aufklärerisch und utilitaristisch in seiner Abgründigkeit,
die es haben muß, eingeebnet wird. Aber eben diese Theologie soll
nicht das Kerygma auffassen als Theologie «ad usum delphini»,
als popularisierte Theologie, so wie in den Illustrierten die Mikro-
. physik Herrn Jedermann erklärt wird. Die einfache Botschaft des
. Evangeliums, das Kerygma selbst muß in seiner Einfachheit das
Schwerere, das der gemeinten Wirklichkeit Nähere, das Ab-
gründige und Geist und Herz Überfordernde sein, trotz und wegen
seiner Einfachheit. Das reflektierte System muß immer als das
Abgeleitete, Sekundäre erscheinen gegenüber dem Kerygma, weil
dieses, wenn es voll und richtig verstanden wird, nicht die primi-
tivere Rede über die Sache, sondern die gemeinte Wirklichkeit
und ihre Erfahrung selbst ist, also von der Reflexion der Theologie
gar nicht eingeholt werden kann. Denn das Kerygma ist, richtig
verstanden, nicht eine zusätzliche Rede über etwas, sondern die
Wirklichkeit selbst. Denn es ist im Gegensatz zur reflektierenden
Theologie nur ganz da und richtig gehört, wenn es die Gnade, in
der es verkündigt wird und mit der es gehört wird, einschließt;
wenn es die gnadenhaft vergöttlichte und in die Wirklichkeit Got-
tes selbst hineinstürzende Transzendenz des Menschen selbst be-
schwört, diejenige, die nicht im Reden da ist, sondern in der Er-
fahrung des «Alltags», in der Erfahrung der Liebe, des Todes und
der unentrinnbaren Begegnung mit dem Geheimnis, in dessen
Abgründigkeit alles gründet, dessen Nacht allein alle vordergrün-
dige Helle des menschlichen Daseins erleuchtet. Aber ebenso ist
dieses Kerygma notwendig einfach, wenn es wirklich es selbst und
nicht depotenzierte Theologie ist: weil letztlich das Einfachste das
Abgründigste istund umgekehrt. Selbstverständlich hatdiese kery-
gmatische Beschwörung der im christlichen Glauben gemeinten
und durch die eigentliche Glaubensbotschaft zum Da-sein gebrach-
ten Unbegreiflichkeit der sich in ihr schenkenden und uns erlösen-
den Gottheit notwendig ihren Zeitstil, ihre situationsgebundene
Physiognomik; denn sie muß ja den konkreten Menschen tref-
fen, so wie er ist. (Es wird darum der Würde und der bleibenden
Bedeutung der Heiligen Schrift kein Abbruch getan, wenn man
diese geschichtlich situationsbedingte Physiognomik auch der
Schrift, die sie auszeichnet und nicht mindert, deutlicher in Rech-
48
nung stellen und darum unbefangener sich die Schwierigkeit ein-
gestehen würde, die sie uns, den Menschen einer anderen Zeit,
bereitet, das in ihr Gemeinte als für uns gemeint zu verstehen
und wirklich anzueignen, und zwar dort, wo wir in der grausam
nüchternen Realität unseres wirklichen Lebens stehen, und nicht
dort, wo wir dieser in einer romantischen Ideologie entfliehen, die
in einer eigentlich doch nur ästhetischen Verzauberung uns vor-
täuscht, wir würden den wahren und in der Schrift wirklich ent-
haltenen Trost aus der Schrift schöpfen. Würden wir es wirklich
richtig tun, müßte doch vermutlich unser Wort heute mehr Men-
schen erreichen, als es der Fall ist.) Wenn auch dieser Zeitindex
des Kerygmas nicht übersehen werden darf (oder besser: damit er
nicht übersehen wird), muß immer wieder gefragt werden, wel-
ches eigentlich die Botschaft, das Gemeinte in der komplizierten
Theologie ist. Nicht im Sinn eines Latitudinarismus oder Moder-
nismus, als sollte durch eine solche Frage festgestellt werden, was
man unbeschadet der «Substanz» des Christentums weglassen
könne, was man als unerheblich von der Glaubensforderung aus-
nehmen könne. Das wäre natürlich absolute Häresie. Denn das
Einfach-Ungeheure legt sich ja in all dem aus, was die kompli-
zierte Theologie sagt, es selbst, und es wäre darum auch in sich
selbst verletzt, wollte man auf einen Teil seiner Selbstauslegung
verzichten. Aber es muß ja als Kerygma, nicht als komplizierte
Theologie, es muß primär und nicht als vereinfachtes Derivat aus
der Theologie verkündigt werden. Und die katholische Lehre von
der «fides implicita», die früher für evangelische Ohren wie ein
Greuel klang, die Frage in der Theologie, was de necessitate medii
und praecepti ausdrücklich zu glauben sei und was nicht, sind im
letzten keine kasuistischen Fragen nach einer möglichst billigen
Glaubensforderung, sondern leben von der richtigen und höchst
wichtigen Überzeugung, daß der Glaube als solcher immer als
Übergabe an den unbegreiflichen Gott, als Annahme des Unver-
fügbaren, als Haben des Unübersehbaren - als wirkliches Haben! —
(und das meint eigentlich fides implicita) erst zu seinem eigent-
lichen Wesen kommt. In diesen Fragen meldet sich die Überzeu-
gung, daß das eigentliche Haben der geofienbarten Wirklichkeit
nicht immer notwendig wächst (sondern sogar abnehmen kann) .
49
„
2
50
glaubend und liebend angenommen werden soll. Es mag sein, daß
eine solche vereinheitlichende Perspektive typisch modern ist.
_ Aber das soll ja gar nicht bestritten werden. Man wird wohl nicht
bezweifeln, daß das Pathos der Gotteserfahrung des Menschen von
heute existentiell (und nicht nur theoretisch, wie es immer war)
Gott als den Unsagbaren, den Unbegreiflichen erfährt. Und also
ist es nur berechtigt, von diesem Punkt her die einfache Unbe-
greiflichkeit und die unbegreifliche Einfachheit der ganzen christ-
lichen Botschaft zu sehen. Wenn aber die hier in der Untersuchung
gestellte Frage nach dem Unterschied zwischen dem kerygmati-
schen und dem theologischen Inhalt des Neuen Testamentes ge-
stellt wird, ohne daß die Frage inhaltlich beantwortet wird, danur
ihre Legitimität hier behandelt werden sollte, dann kann doch
vermutet werden, daß die so gesteilte Frage und die jetzt eben in
sich und ihrer Antwort kurz angedeutete Frage in ihrem Ergebnis
konvergieren, wenn sie sich nicht einfach sachlich decken. Es muß
ja eines beachtet werden: mit der hier vertretenen Unterschei-
dung zwischen ursprünglicher Offenbarung und darauf beruhen-
der, wenn auch verbindlicher und quoad nos Offenbarung seiender
Theologie kann ja im letzten Verstand nicht gemeint sein, es gebe
einfachhin Sätze im NT, die nur und (sit venia verbo) «chemisch »
rein Objektivation des ursprünglichen Offenbarungsvorgangs und
sonst nichts, in gar keiner Weise auch schon Theologie wären.
Wir haben ja betont, daß das Hören einer Offenbarung als solches
schon ein Stück Aktivität des Menschen und so Theologie notwen-
dig impliziert. Zweifellos setzt der eigentliche Offenbarungsvor-
gang im Menschen auch so «tief» in der innersten Mitte an (und
zwar je mehr er eben Offenbarung der göttlichen Selbstmitteilung
der vergöttlichenden Gnade ist und im Grunde gar nichts anderes
besagen will, dort wo er auf seinen Höhepunkt und zu seiner Er-
füllung gekommen ist), daß jede begriffliche Objektivation des so
Mitgeteilten schon im Vergleich dazu sekundär ist, wenn auch diese
Objektivation durchaus noch (bei einer öffentlichen Offenbarung,
in der diese Offenbarung an andere als den bloßen unmittelbaren
Offenbarungsträger vermittelt werden muß) als sie selbst von Gott
gewollt und in ihrer Richtigkeit garantiert ist. Man kann sich das
Gemeinte am Beispiel des Mystikers verdeutlichen. In der mysti-
52
schen Erfahrung ist ja bekanntlich deutlich zu unterscheiden zwi-
schen der eigentlichen Erfahrung Gottesim Grund der Person und
deren begrifflicher Mitteilung, Ausdeutung und reflexen Verge-
genständlichung, die der Mystiker mit Hilfe seiner ihm anderswo-
her zu Gebote stehenden Begriffe, Verstehensmittel usw. für sich
und dann auch für andere vornimmt. Liegt auch hinsichtlich der
göttlichen Garantie für diese begriffliche Objektivation zwischen
der amtlichen öffentlichen Offenbarung und einer mystischen
«Privatoffenbarung» ein wesentlicher Unterschied vor, so darf
das eigentliche und ursprüngliche Kernerlebnis der ursprüngli-
chen Offenbarungsträger im ursprünglichen Offenbarungsvorgang
ruhig in Analogie zu einem solchen mystischen Kernerlebnis ver-
standen werden. Denn wenn Gnade als übernatürliche Selbstmit-
teilung Gottes auch Licht (Glaubenslicht, illustratio et illuminatio
mentis et cordis) ist, wie die alte Theologie immer bekannt hat, da
ohne eine solche Vorstellung die Lehre des NT vom Licht, von der
Salbung, von der Erfahrung der dynamis des Geistes, von den un-
_ aussprechlichen Seufzern des Geistes usw. einfach nicht verstan-
den werden kann, dann ist einfach innere Begnadigung schon eine
Form der Offenbarung, wenn sie auch als öffentliche und amtliche,
auch für andere bestimmte, erst zu ihrem vollen Wesen kommt in
der göttlich garantierten Objektivation dessen, was mit ihr vom
Menschen her unreflektierbar schon gegeben ist. Diese Grundoffen-
barung in der Gnade muß aber auch dem ursprünglichen Offenba-
rungsvorgang bei der schlechthin so genannten Offenbarung zu-
grundeliegen. Einfachdarum, weileseinehöhere Form der Offenba-
rung (vor der visio beatifica) als die Selbstmitteilung Gottes in der
Gnade grundsätzlich per definitionem gar nicht geben kann, so daß
diese auch der üblich so genannten Offenbarung zugrunde liegen
muß, die dann freilich ein Moment der amtlichen Objektivation,
der begrifflichen Vorstellung und Gerichtetheit an alle von ver-
pflichtender Kraft, eine Ausdehnung auf alle Dimensionen des
menschlichen Daseins (individueller und gesellschaftlicher Art)
bei sich hat, wie sie dieser Grundoffenbarung durch die Gnade in
der Tiefe des menschlichen Wesens als solcher nicht auch schon
zukommt. Ist dem aber so, so ist leicht zu verstehen, daß dieser
ursprüngliche Offenbarungsvorgang, der auch in der Schrift vor
52
der Theologie liegt, nicht einfach schlechthin in Identität mit einer
bestimmten Objektivation in ausgewählten Sätzen des Neuen
Testamentes gesucht werden kann. Er liegt diesen zugrunde, ist
aber nicht mit bestimmten begrifflich objektivierenden Sätzen
identisch, auch wenn diese die absolut verpflichtende und richtig
vermittelnde Objektivation des ursprünglichen Offenbarungsvor-
gangs für uns sind. Wird dies bedacht, dann ist zu verstehen, daß
die Frage nach dem vortheologischen, kerygmatischen Inhalt des
NT im Unterschied zur Theologie des NT und die Frage nach dem
kerygmatischen Kern der Botschaft des NT, die wir zu verkündi-
gen haben, sehr eng beisammenliegen. Freilich: reden können
wir über beide von der reflexen Theologie zu unterscheidenden
Wirklichkeiten auch nur in Begriffen, auch nur in Theologie. Aber
es ist wichtig, daß die Theologie begreift, daß es zu ihren eigenen
wesentlichen Aussagen gehört, zu erklären, daß sie nicht die ur-
sprüngliche Begründung der christlichen Existenz ist, so wie dies
die Metaphysik für die Begründung des geistigen Daseins nicht ist,
obwohl beide notwendig zu diesem menschlichen und christlichen
Dasein gehören.
55
J
Die Frage, die mir gestellt ist, und die ich innerhalb der Vorgege-
benheiten der katholischen Theologie beantworten soll, lautet:
Was ist eine dogmatische Aussage? Diese Frage ist darum schon
schwer in ihrem gemeinten Sinn auszulegen und zu beantworten,
weil sie meines Wissens so kaum ausdrücklich in der üblichen
katholischen Schultheologie gestellt wird. Man kennt in der funda-
mentaltheologischen Ekklesiologie natürlich einen Traktat über
das kirchliche Lehramt, über seine Träger, die verpflichtende Kraft
seiner Erklärungen in einer deutlich herausgearbeiteten Gestuft-
heit dieser Verpflichtung, einen Traktat über die loci theologici,
über den Vorrang der Heiligen Schrift als inspiriertes Wort Gottes.
Man hat auch heute wieder angefangen, eingehender, genauer
und nuancierter über das Verhältnis von Lehramt und Schrift
nachzudenken; man kann hoffen, daß sich endlich nach zu viel
bloß negativem Nein zur evangelischen Theologie langsam so etwas
wie eine Theologie des Wortes entwickelt. Und in diesem Zusam-
menhang wird allmählich auch eine Reflexion angestellt über den
Unterschied zwischen Kerygma und Dogma, zwischen lehramt-
lichem Wort und der eigentlichen Verkündigung der frohen, heil-
schaffenden Botschaft des Herrn. Man wird jedoch nicht sagen
können, daß man bloß ein Schulbuch aufschlagen müsse, um dort
schon deutlich die Frage beantwortet zu finden: Was ist eine dog-
matische Aussage? Insofern ist auch klar, daß dieses Thema nicht
unmittelbar schon als kontroverstheologisches bekannt und ausge-
führt ist, so sehr man a priori vermuten kann, daß auch bei der
Beantwortung dieser Frage sich alle Lehrunterschiede zwischen
evangelischer und katholischer "Theologie über Lehramt, Verhält-
nis zur Schrift usw. wieder geltend machen werden. Es kann sich
also für mich nur um einen Versuch handeln, die membra disiecta
einer solchen Lehre über das Wesen einer dogmatischen Aussage
I Der hier vorliegende Aufsatz ist ein Vortrag, der auf einer evangelisch-katho-
lischen ökumenischen Fachtagung gehalten wurde. Der Rahmen eines Referats,
der nicht nachträglich erweitert werden sollte, erzwingt das Fragmentarische der
Ausführungen. v
54
aus allen Winkeln der katholischen Theologie zu sammeln. Und es
bleibt abzuwarten, wie weit dies gelingt oder wie weit viele The-
men, die hierher gehören, von mir übersehen werden.
Ich vermute, daß die Frage so gemeint ist, daß ihre Beantwor-
tung auch, wenn auch nicht nur, die dogmatische Aussage abgren-
zen soll von einem Wort des eigentlichen, unmittelbaren Kery-
gmas, d. h. deutlich zu machen versuchen soll, ob, wie, und warum
esinnerlich verschiedene Aussagearten, Reden innerhalb deskirch-
lichen Christentums gibt, von denen man dann eine im engeren,
spezifischen Sinn eine dogmatische Aussage nennt. Offenbar aber
kann nun diese Unterscheidung innerhalb der Glaubensrede des
Christen in der Kirche und der Kirche selbst in ihren amtlichen
Vertretern nicht das einzige Thema der geforderten Überlegung
sein. Es wird (so vermute ich) doch erwartet, daß die dogmatische
Aussage nicht nur abgrenzend konfrontiert wird mit dem Kery-
gma, mit der Verkündigung und Predigt im strengsten theologi-
schen Sinne dieser Worte, sondern auch mit der profanen Aussage
(auch über religiöse Dinge, wenn es eine solche Aussage gibt und
‘geben kann), daß also in dieser Hinsicht auch das Gemeinsame .
von Kerygma und Dogma bis zur theologischen Aussage einschließ-
lich abgehoben wird von der profanen Rede. Insofern die dogma-
tische Aussage von der kerygmatischen im strengsten Sinn abge-
grenzt werden muß, ist auch eine genügende Abgrenzung dieser
Aussage von der Aussage gegeben, wie sie in der Schrift vorliegt,
wobei allerdings nicht übersehen werden darf, daß auch in der
Schrift nicht bloß ursprünglichste Offenbarung so ausgesagt wird, _
daß darin diese Offenbarung als Ereignis erstmals ergeht, sondern
es auch innerhalb der Schrift durchaus das Genus einer theologi-
schen Reflexion gibt, die nicht unmittelbar Kerygma ist, sondern,
so könnte man vielleicht sagen, exemplarische theologische Re-
flexion, was ja alles durchaus innerhalb der katholischen Vorstel-
lung von Schriftinspiration Platz hat, da diese sehr wesentlich ver-
schiedene genera litteraria innerhalb des einen Wortes Gottesnicht
ausschließt. Das mag als methodische Vorüberlegung, worüber
denn eigentlich gesprochen werden soll, genügen. Ich versuche,
die gestellte Aufgabe in einer Reihe von Thesen zu erfüllen, die
jedesmal etwas erläutert werden sollen.
55
1. Eine dogmatische Aussage ist eine Aussage, die den Anspruch
macht, auch in jenem formalen Sinn wahr zu sein, derunsausder
profanen Alltagssprache und -erkenntnis bekannt ist. Auch die
dogmatische Aussage will alle diejenigen inneren Strukturen und
Gesetzlichkeiten erfüllen, die einer profanen Aussage zukommen .
oder zukommen können: Verhältnis zum Aussagenden, Logik,
Geschichtlichkeit der Begriffselemente, Eingebettetheit der Aus-
sage in einen geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammen-
hang, Verschiedenheit der literarischen Genera, unreflektierte Ge-
meinsamkeiten zwischen Hörendem und Redendem, ohne die eine
Verständigungsmöglichkeit gar nicht gegeben wäre. Solche und
ähnliche Strukturen einer naturalen, profanen Aussage müssen
sich auch in der dogmatischen Aussage finden. Und es versteht
sich von selbst, daß wir diese Strukturen hier nicht näher entwik-
keln können, weil ihre reflex ausdrückliche Darstellung, die ja
kaum in der Theologie vorgenommen wird (was nicht immer sehr
gut ist), hier vielmehr Zeit und Kraft erfordern würde, als gegeben
sind. Diese These selbst, die wir formuliert haben, ergibt sich für
ein katholisches Verständnis nicht nur aus der aposteriorischen Er-
fahrung, daß es so ist, wie die These behauptet, daß es sich mit
anderen Worten eben auch in der Aussage der christlichen Ver-
kündigung und Theologie um menschliche Worte handelt mit all
dem, was damit gesagt ist, sondern auch aus dem katholischen Ver-
ständnis des Verhältnisses von Natur und Gnade. Hier wäre der
theologische Ort, an dem für ein katholisches Verständnis des We-
sens der dogmatischen Aussage als einer auch (nicht nur!) natura-
len am ehesten etwas zu erfahren wäre. Aber gerade von diesem
Punkt her wäre vermutlich zu fragen und zu sehen, ob sich das
evangelische Verständnis des Verhältnisses zwischen sündiger
Schöpfung und erlösender Gnade nicht auch in diese unsere Frage
hinein fortsetzt, daß auch hinsichtlich der naturalen Grundstruk-
turen einer dogmatischen und auch kerygmatischen Aussage ein
kontroverstheologischer Unterschied zwischen katholischer und
evangelischer Auffassung vorhanden ist oder zu erwarten wäre.
Aber vielleicht ist der Unterschied auf diesem Gebiet nicht reflex
genug aus dem ihm zugrundeliegenden Grundverständnis des Ver-
hältnisses zwischen Natur und Gnade herausgebildet. Innerkatho-
56
lisch wird man aber wohl sagen müssen : soweit in der katholischen
Theologie über das Wesen des Wortes nachgedacht wird, ist die
Seite dieses Wortes, die von der Sündhaftigkeit des Menschen be-
stimmt ist, kaum wirklich thematisch geworden. Und doch müßte
dies der Fall sein. Es dürfte nicht nur eine allgemeine theologische
Aussage über die erbsündliche Verdunkelung der menschlichen
Geistigkeit gemacht werden, über die moralische Notwendigkeit
der Offenbarung zur Erkenntnis (deutlicher und sicherer Art) jener
Wahrheiten, die an sich der natürlichen Erkenntnis des Menschen
auf religiösem und sittlichem Gebiet zugänglich wären. Denn es
“ dürften diese Aussagen nicht nur zur Charakterisierung der Er-
kenntnis des Menschen außerhalb der Offenbarung verwendet
werden. Sie müßten auch daraufhin befragt werden, welche eigen-
tümlich infralapsarische Verfassung die Erkenntnis und die Aus-
sage des Menschen innerhalb des Bereiches der Offenbarung und
des Glaubens der Kirche hat. Wenn es katholische Lehre ist, daß
auch der gerechtfertigteMensch, wenn wohl auch nicht im evange-
lischen Verständnis simul iustus et peccator, so doch immer noch
durch seine Herkunft aus der Situation der Sündigkeit mitbe-
stimmt bleibt, wenn es (um es einmal so zu formulieren) durchaus
einen katholisch verstehbaren richtigen Sinn des simul iustus et
peccator gibt, dann dürfte dies nicht nur gelesen werden als Be-
stimmung der moralischen Dimension des gerechtfertigten Men-
schen, sondern es müßte auch als eine Bestimmung des Noetischen
des Menschen verstanden werden, und zwar eben auch als Be-
stimmung der Wahrheit des gerechtfertigten Menschen im Glau-
ben. Diese göttliche Wahrheit ist doch in der naturalen Geistig-
keit des Menschen inkarniert, aber nicht in einer abstrakten, neu-
tralen geistigen Natur und Noetik des Menschen, sondern in der
erbsündigen und in der Gnade Christi zu erlösenden Natur und
also auch Noetik. Aber was dieses eben in formaler Abstraktheit
Gesagte konkret bedeutet, darüber kann ich in der ausdrücklichen
Thematik der heutigen katholischen Theologie keine wirklichen
Aufschlüsse finden. Und doch, wenn man nicht der seltsamen
Meinung huldigt, die eigentlich sinnlos, obwohl vermutlich un-
ausgesprochen sehr verbreitet ist, daß Rede, daß Sätze keine ande-
ren Eigenschaften als die der Wahrheit oder des Irrtums haben
97
Ef
58
r
60
Sicherheit zu W issen, ob man wahrhaft glaubt, obwohl man die für
absolut wahr erklärte Glaubensaussage nach dem Zeugnis seiner
Reflexion schlechthin festzuhalten scheint. Es ist nicht möglich,
hier auf dieses eben angedeutete Problem weiter einzugehen.
2. Die dogmatische Aussage ist eine Glaubensaussage. Wir wer-
den zwar in unserer 5. These die dogmatische Aussage von einer
unmittelbar und ursprünglich kerygmatischen Aussage abzugren-
zen und zu unterscheiden haben; das aber darf uns nicht daran
hindern, auch die dogmatische Aussage im engeren Sinn als eine
Glaubensaussage zu qualifizieren. Die dogmatische Aussage ist so-
mit, wo sie echt ist und ihr wahres Wesen verwirklicht, nicht nur
eine profane Aussage über einen theologischen Gegenstand, über et-
was, worauf sich der christlicheGlaube originär bezieht, sondern sie
ist auch selbst inihrem Vollzug, in dem, was sie als Selbstvollzug des
Subjekts ist, ein Vollzug des Glaubens. Sie ist mit anderen Worten
nicht nur als fides quae creditur, sondern als fides qua creditur
eine Glaubensaussage. Die katholische Theologie pflegt den hier
gemeinten Sachverhalt dadurch auszudrücken, daß sie sagt, die
Theologie sei zwar nicht einfach ein Vollzug des habitus fidei rein
in sich, sondern ein Vollzug des habitus scientiae, der aber durch-
drungen und unterfaßt sei vom habitus fidei, so daß die Theologie
immer « fide illustrata » (D 1796: Vaticanum I) sei und sein müsse.
Weil und insofern der Glaube immer das Hören eines konkreten
Menschen aufdas Wort Gottes ist, kann das wirkliche Gehörthaben,
das Gelingen des Horchens auf das Wort Gottes, das nur aktuell
da ist, wenn es gehört und verstanden ist, immer nur in einem
gleichzeitigen Glaubensverständnis geschehen, d.h. in einer na-
türlich viele Grade zulassenden Konfrontation der Botschaft mit
dem, was der Mensch als geistiges Subjekt im Hören der Botschaft
schon ist. Weil die Auseinandersetzung des Hörenden mit dem
ihm Gesagten ein unerläßliches Moment am Hören selbst ist, weil
schlechthinniges Nichtverstehen auch das Hören selbst aufhebt,
ist ein gewisser Grad von Theologie ein inneres Moment am Hören
selbst und das rein glaubende Hören schon eine Aktivität des Men-
schen, in der seine eigene Subjektivität mit ihrer Logik, ihrer
Erfahrung, ihren mitgebrachten Begriffen, ihren Perspektiven
schon ins Spiel kommt. Was wir Theologie und somit dogmatische
61
Aussage im engeren Sinn nennen, ist somit nur eine Weiterfüh-
rung, eine Entfaltung jener subjektiven Grundreflexion, die schon
innerhalb des bloß gehorsamen Hörens auf das Wort Gottes, also
im Glauben als solchem geschieht. Daraus aber ergibt sich auch,
daß die dogmatische Reflexion und ihre Aussage sich nie gänzlich
von jenem Ursprung ablösen können und dürfen, aus dem sie ent-
stammen, dem Glauben selbst. Dies bezieht sich immer, wie ge-
sagt, nicht nur auf den Gegenstand des Glaubens, sondern auch auf
seinen Vollzug. Dieser bleibt tragender Grund der dogmatischen
Aussage als solcher selber. Sosehr das eben Gesagte eigentlich selbst-
verständlich zu sein scheint, so muß doch eingestanden werden,
daß diese Aussage innerhalb der katholischen Theologie doch nicht
wirklich selbstverständlich ist. Hält man nämlich mit einem nicht
kleinen Teil der nachtridentinischen Theologie die Gnade, inso-
fern sie streng übernatürlich ist, und somit auch die Glaubens-
gnade als eigentlich übernatürliche, für ein absolut Bewußtseins-
jenseitiges, ist man also der Meinung, daß das «Glaubenslicht»,
auch wo dieser Ausdruck beibehalten wird, eigentlich entweder
jene rein bewußtseinsjenseitige, übernatürliche Erhöhung der gei-
stigen Akte des Menschen bedeute, durch die diese Akte Heilsakte
werden, oder eben die empirisch äußere Belehrung durch die ge-
schichtliche Offenbarung, deren Tatsache und Inhalt (weil beides
nicht zu trennen ist) auch durch die bloß natürliche spekulative
und geschichtliche Vernunft erfaßt werden können, leugnet man
also mit anderen Worten, daß die übernatürlichen Heilsakte ein
Formalobjekt haben, das von keinem natürlichen Akt erfaßt wer-
den kann, dann ist das Objekt der Theologie (wie sogar das des
Glaubens) auch von der bloß natürlichen Vernunft grundsätzlich
genau so erfaßbar wie von der glaubenden. Der Ungläubige wird
sich faktisch im allgemeinen nicht mit solchen Sätzen beschäftigen,
weil sie ihn nicht interessieren, er kann es aber unter der Voraus-
setzung der eben angedeuteten Theorie über die Natur der Glau-
bensgnade grundsätzlich ebenso gut wie der Glaubende, er erfaßt
genau dasselbe, wenn er sich mit diesen Aussagen beschäftigt, wie
der Glaubende. Es könnte also eine dogmatische Aussage geben,
die in ihrem Gegenstand, nicht aber in ihrem Vollzug eine Glau-
bensaussage wäre. Gegen diese Auffassung, die nominalistisch und
62
rationalistisch die eigentliche Gnadenhaftigkeit des Glaubens, die
natürlich nicht geleugnet wird, in eine rein objektivistisch und
zuständlich aufgefaßte, bewußtseins-jenseitige, außerhalb des gei-
stigen Vollzugs als solchen gelagerte Dimension abschiebt, halten
wir aber an der thomistischen Lehre vom eigenen Formalobjekt
des gnadenhaft erhobenen Aktes, am eigentlichen Glaubenslicht,
an der Inkommensurabilität des Glaubens mit einem profanen
Akt, der sich auf Religiöses bezieht, fest. Dann aber ist wirklich zu
sagen: auch dort, wo es sich nicht um das reine Hören und Aus-
sagen der Botschaft Gottes in Christus als solchem handelt, auch
dort, wo es um die dogmatische Aussage in dem Sinn einer sich
selbst Rechenschaft gebenden Reflexion und in diesem Sinn um
Theologie geht, handelt es sich immer noch um eine Glaubensaus-
‚sage, um Glaubeusvollzug. In dem Augenblick, wo dies nicht mehr
der Fall wäre, könnte zwar noch Religionswissenschaft vorhanden
sein, aber nicht mehr Theologie. Es mag sein, ja es wird so sein, daß
dieser Unterschied nicht eigentlich bewußtseinsmäßig reflektier-
bar ist und daher der profane Religionswissenschaftler und der
christliche Theologe sich scheinbar auf der genau selben Ebene
begegnen, sie sich also nur in der existentiellen Annahme und
Nichtannahme dessen unterscheiden, worüber beide miteinander
reden. Aber das ist doch nur Schein. Diese existentielle Annahme
oder Ablehnung öffnet oder verschließt vielmehr den Blick auf die
Sache selbst, wenn auch scheinbar der profane Religionswissen-
schaftler vom Christentum ebensoviel und -wenig wissen und sa-
gen kann, wie der glaubende Theologe. Es ist nicht leicht, reflex
deutlich zu machen, warum das dennoch nicht der Fall ist; wie
bei gleichlautenden Sätzen beider der profane Wissenschaftler
döch am eigentlich gemeinten Gegenstand vorbeiredet, ihn nicht
aussagt, obwohl er die dogmatischen Aussagen des Theologen
liest und zu verstehen glaubt und ihm auf der Ebene der gegen-
ständlichen Begrifflichkeit als solcher ein Unverständnis nicht
nachgewiesen werden kann. Aber dieses Unverständnis liegt eben
tiefer, liegt dort, wo die Erkenntnis vor ihrer satzhaft reflexen
Aussage im Vollzug der die Gnade annehmenden Person getätigt
wird. Freilich ist bei dieser Auffassung noch anzumerken, daß es
ja nicht so ist, daß der Ungläubige für ein christliches Verständnis
65
einfach der Gnadenlose, die (katholisch theologisch formuliert)
«reine Natur » wäre; auch er steht unter dem Einfluß der Gnade,
die jeden Menschen sucht und erleuchtet, er sieht also auf jeden
Fall mehr als ein Mensch ohne Gnade sehen würde, selbst wenn
er, was er sieht, nicht sehen will, selbst wenn er «die Wahrheit
niederhält» und verdrängt; auch er steht also unter dem Gnaden-
licht, freilich im Modus der Selbstverschließung vor ihm. Und
insofern obwaltet dann dennoch ein Unterschied zwischen der Aus--
sage des Theologen und der des profan ungläubigen Religions-
wissenschaftlers. Wobei freilich nochmals anzumerken ist, daß es
niemandem möglich ist, in concreto absolut zu sagen, wer von den
Redenden zur einen oder zur anderen Kategorie gehört. Ist es rich-
tig, daß die dogmatische Aussage, auch dort, wo diese schon eigent-
lich Theologie ist, eine Glaubensaussage ist und bleibt, nicht nur
hinsichtlich ihres Gegenstandes, sondern auch in ihrem subjek-
tiven Akt als solchem, dann ist sie bestimmt durch all die theolo-
gischen Eigentümlichkeiten der fides, qua creditur. Von daher
wäre wiederum eine ganze Theologie der dogmatischen Aussage
zu entfalten. Und wiederum muß gesagt werden, daß dies hier
nicht möglich ist. Jedenfalls aber ergibt sich aus diesem Ansatz,
daß auch die dogmatische Aussage noch in ihrer Art partizipiert
an der bekennenden und preisenden Aussage der gehörten und
gehorsam angenommenen Botschaft von Jesus Christus her über
ihn und auf ihn hin. Sie geht darum auch trotz aller Reflexion
begrifflicher Art auf das geschichtliche Heilsereignis, setzt dieses
gegenwärtig, indeni sie bekennt, von diesem gesetzt zu sein, redet
nicht nur «über » dieses Geschehen, sondern will den Menschen
mit diesem realin Beziehung bringen und ist bei aller Abstraktheit
und theoretischen Reflektiertheit wesentlich darauf angewiesen,
daß diese nicht bloß theoretische, sondern auch existentielle und
gnadenhafte Bezogenheit des ganzen Menschen auf die geschichtli-
che Heilswirklichkeit selbst und nicht nur auf einen Satz darüber
wirklich gewahrtbleibt,daßdietheologische Aussagealstheoretisch-
reflexe doch ex fide ad fidem ist. Da es hiernur möglich ist, den locus
theologicus für die Frage nach dem Wesen der dogmatischen Aus-
sage anzuzeigen, eben das Wesen des Aktes des Glaubens, so gehen
wir zu weiteren Bestimmungen der dogmatischen Aussage von
64
anderer Art über. Nur soviel sei noch angemerkt, daß bis in die
jüngste Zeit in der theologischen Beschreibung des Glaubensaktes
selbst dieser zu sehr und fast ausschließlich vom theologischen.
Wesen des dogmatischen Satzes her gesehen wurde. Bemüht man
sich heute in der katholischen Theologie, andere Momente am
Glaubensakt selbst als nur das des Festhaltens an einem durch die
Autorität Gottes verbürgten Satze herauszuarbeiten, dann wird es
wohlin Zukunft leichter sein, die Eigentümlichkeit der theologisch
dogmatischen Aussage in ihrem Unterschied zu einem Glaubens-
vollzug als solchem deutlich zu machen. Dann allerdings wird die
Gefahr zu vermeiden sein, die sonst zum Schaden des Glaubens-
aktes selbst (dessen theoretisches Moment nicht mehr deutlich
bliebe) und der theologischen Aussage (deren Rückbindung zum
Glaubensakt entschwinden könnte) ausschlagen müßte, daß man
nämlich aus einer Unterscheidung eine Trennung macht.
3. Eine dogmatische Aussage ist eine im besonderen Maße ek-
klesiale Aussage. Schon der Glaubensakt und das Kerygma von
Jesus Christus selbst haben ein ekklesiales Moment, das ihnen
wesentlich ist. Verkündigt und geglaubt wird in der Kirche, weil
sie in einer unauflöslichen Einheit mit der personalen Einmalig-
keit des einzelnen und seiner Glaubensentscheidung das Subjekt
der erlösenden Heilstat Gottes und des Glaubens selbst ist, da dieser
wesentlich vom Hören kommt und von der Bezeugung der Bot-
schaft Christi abhängig bleibt, diese aber in der Gemeinde der
Glaubenden, von ihr und für sie geschieht. Aber die dogmatische
Aussage ist noch in einer besonderen Weise und in besonderem
Maße ekklesial. Denn Theologie, insofern und insoweit sie sich
von der ursprünglichen Botschaft und dem einfachen Glauben
"unterscheidet, entsteht gerade, weil Kirche ist und sein muß. Weil
in der Kirche, von der Kirche her und auf die Kirche hin geglaubt
werden soll, gibt es Theologie. Vermutlich gäbe es natürlich auch
Theologie, wenn der einzelne eine absolut individualistische Heils-
und Glaubensgeschichte hätte und es diese geben könnte: die Bot-
schaft, die er gehört hat und immer neu hört, wäre in einem dau-
ernden Dialog mit seiner übrigen Lebenserfahrung, müßte immer
neu gehört werden in Funktion dieser übrigen geistigen Geschichte.
und
Und weil seine Heilserfahrung in sich (dies natürlich auch!)
65
durch die dauernde Begegnung mit seiner übrigen Wirklichkeit
geschichtlicher Art eine Geschichte hat, darum gäbe es auch schon
so Theologie. Denn diese ist das geschichtliche, in immer neuer
Begegnung existierende, alles sich anverwandelnde Bleiben einer
Offenbarung, die in der Zeit eine raumzeitliche Stelle hat. Gäbe es
das Eph’hapax des heilsgeschichtlichen Ereignisses nicht, wäre
dauernd Offenbarung und nie Theologie, die auf ein lokalisiertes
Heilsereignis bezogen wäre, das mit ihr nicht identisch ist; gäbe es
nicht Theologie, dann wäre die einmalige Heilsgeschichte nicht
imstande, den späteren Menschen wirklich heilschaffend zu errei-
chen, oder dieser wäre wenigstens nicht getroffen in der ganzen
Breite und Weite seiner Existenz, er müßte seine eigene geschicht-
liche Einmaligkeit abstreifen, als der abstrakte Mensch-an-sich eine
Beziehung zu diesem vergangenen Heilsereignis suchen. Von die-
ser Überlegung her sieht man übrigens, um das schon hier aus-
drücklich zu sagen, daß Theologie und unverbindliche Meinung
bloß subjektiver Reflexion auf ein Heilsereignis oder auf einen
Satz der ursprünglichen Offenbarung hin nicht dasselbe sind. Ge-
rade wenn Theologie die absolut gehorsame Konfrontation der eige-
nen Existenz mit dem Kerygma des Heils in dem Einmaligen
Jesu Christi sein soll, muß sie die Verbindlichkeit des Glaubens
an sich tragen können. Lehramtlich verpflichtende Theologie
muß möglich sein. Dort, wo sie diesen Charakter (noch) nicht hat,
kommt dies nicht daher, daß Theologie diesen Charakter nicht ha-
ben kann, sondern daher, daß sie selbst noch auf dem Wege ist, sich
zu finden und das zu leisten, was sie leisten will: die Konkretheit
des Glaubens in einer neuen geistigen Situation zu sein. Aber so-
sehr die Theologie schon wegen der individuellen Glaubensge-
schichte der einzelnen ist und sein muß, so hat sie doch einen be-
sonders ekklesialen Charakter. Es muß ja in der Kirche gemeinsam
geglaubt werden, gemeinsam bekannt werden und Gott in einer
von allen sprechbaren Zunge für seine Gnade gepriesen werden.
Und zwar je jetzt. In Konfrontation mit einer gemeinsamen geisti-
gen Situation, die als gemeinsame selbst immer wieder gemeinsam
erfaßt und verstanden werden muß, muß die überlieferte Bot-
schaft immer wieder gemeinsam neu ergriffen werden. Es muß
Theologie in der Kirche geben, die von der Kirche selbst getragen
66
ei “
ist. Sie wird natürlich auch immer von der Initiative der einzelnen
getragen sein, weil es anders Geschichte und Leben einer Gemein-
schaft gar nicht geben kann. Aber auch Theologie und theologi-
sche Aussage des einzelnen richten sich immer an die Kirche (ex-
plizit oder implizit). Eine solche Aussage des einzelnen ist immer
auch die Frage des einzelnen an die Kirche, ob sie diese Aussage
zu der ihren machen kann oder wenigstens sie als in der einen
Kirche mögliche ertragen kann. Und neben und über dieser immer
ekklesialen Theologie des einzelnen gibt es Theologie der Kirche,
in der sie als ganze in ihrem verfaßten Lehramt durch dessen Trä-
ger Theologie treibt, d.h. in Funktion zur jeweilig geschichtlich
bedingten Situation auf ihr Glaubensbewußtsein und dessen ur-
sprüngliche Quelle, die im Glauben der Urgemeinde übermittelte
Botschaft Jesu Christi und von Jesus Christus, so reflektiert und in
der Gestalt dieser neuen theologischen Reflexion den einen blei-
benden Glauben neu so verkündigt, daß er für die Entscheidung
des die Botschaft der Kirche Hörenden möglichst unausweichliche
Gegenwart behält und neu erlangt. Diese theologische Gestalt der
Verkündigung der Kirche ist Theologie, weil diese Verkündigung
immer aufeine andere norma normans verwiesen bleibt, an die sie
sich gebunden weiß und die sie nur auslegen will: die Botschaft der
ersten Zeugen des Herrn, den Glauben der Urgemeinde, wie er
sich maßgebend konkretisiert gibt in der Heiligen Schrift. Und
eben diese Theologie ist insofern eigentliche, Gehorsam fordernde
Glaubensverkündigung, als die Kirche in ihrer Lehrautorität den
Anspruch erhebt und erheben kann, daß diese ihre so verfaßte
(d.h. in Theologie gewordene) Botschaft die hier und jetzt gültige
Form des Wortes zst (und nicht nur darüber redet), in dem Gott zu
uns in unseren Herzen gesprochen hat. - Auch hier muß wieder
gesagt werden, daß nur eben der locus theologicus bezeichnet wer-
den kann, von dem aus eine wesentliche Bestimmung der dogma-
tischen Aussage gemacht werden könnte. Denn dadurch, daß man
eine dogmatische Aussage ekklesial nennt, ist noch nicht sehr viel
Deutliches gesagt. Was das heißt, müßte erst entfaltet werden. Das
ist hier wiederum nicht möglich.
Nur in einer einzigen Hinsicht soll wenigstens ein Versuch dazu
gemacht werden. Weil eine dogmatische Aussage, so möchte ich
67
formulieren, einen ekklesialen Charakter hat, bedeutet sie auch
immer unweigerlich eine kommunitäre terminologische Sprach-
regelung, die einerseits verpflichtend sein kann, anderseits bei der
Auslegung der kirchlichen Erklärungen berücksichtigt werden
"muß und nicht mit der Sache selbst bzw. mit einer von ihr allein
her möglichen Aussage verwechselt werden darf. Ich muß mich
und meine eben formulierte Unterthese erklären. Ich halte diese
These für wichtig, gerade weil darauf in der üblichen Theologie
des Lehramtes und seiner Verpflichtung nicht reflektiert wird und
dieses Übersehen in der innerkatholischen Lehrpraxis und in der
Kontroverstheologie zu unnötigen Mißverständnissen führt. Die
in den theologischen Aussagen gemeinte Wirklichkeitist voneinem
unabsehbaren Reichtum und einer unendlichen Fülle. Das zur
Kennzeichnung dieser Wirklichkeit verfügbare terminologische
Material ist sehr endlich. Es bleibt auch endlich, wenn es in der
Geschichte der Begriffe und Wörter wächst. Es bleibt dann und
darum besonders endlich, wenn es sich um jenen terminologischen
"Bestand handelt, der für eine theologische Aussage verwendbar ist,
die kurz, allgemeinverständlich, dem Glaubensbewußtsein einer
größeren Gruppe angemessen sein soll. Mit diesem sehr endlichen
Material kommunitär verwendbarer Begrifflichkeit muß der Blick
auf die unendliche Fülle des vom Glauben Gemeinten offengehal-
ten werden, muß die unendliche Fülle und Differenziertheit der
Sache ausgesagt werden. Eine solche endliche Terminologie kann
der gemeinten Sache nieadäquat sein. Essoll hier nun nicht darüber
nachgedacht werden, warum und wie man sich dieser Inadäquat-
heit zwischen der Aussage und dem in ihr Gemeinten bewußt sein
könne, wenn doch die Sache selbst nur im Wort selbst und nicht
auch neben und an ihm vorbei gehabt werden kann. Woraufes hier
ankommt, ist dieses: das der Sache inadäquate Wort hebt immer —
und zwar am meisten bei seiner kommunitären Verwendung — nur
und unvermeidlich gewisse Merkmale an dem gemeinten Sachver-
halt hervor, läßt ebenso unvermeidlich andere in den Hintergrund
treten, schafft Verbindungen zu bestimmten anderen Sachverhal-
ten, hebt ebenso existierende Verbindungen zu anderen Wirklich-
keiten des Glaubens nicht hervor. Die geschichtlich bedingte, end-
liche Terminologie gibt der Glaubensaussage besonders in ihrer
68
theologischen Gestalt selbst eine geschichtliche Endlichkeit, Kon-
kretheit und Kontingenz. Dazu kommt noch, daß es grundsätzlich
"unmöglich ist, eine absolut eindeutige, reflex ausgesprochene Defi-
nition der verwandten Termini immer mitzuliefern, da die Theo-
logie nicht wie die Geometrie von einer endlichen Zahl von Axio-
' men ausgehen kann, die definitorisch in den in ihnen verwendeten
Begriffen festgelegt werden können (wobei wir davon absehen, daß
dies nicht einmal in solchen Wissenschaften schlechthin gelingt).
Von da her kommt es nun, daß die kirchlichen Lehräußerungen,
die kirchlichen dogmatischen Aussagen, ohne daß dies den Leh-
renden und Definierenden immer bewußt ist, sogar so, daß dies
ihnen meist unbewußt ist, ja gar nicht adäquat reflex bewußt sein
kann, implizit auch eine terminologische Festlegung beinhalten,
der gegenüber nicht die Frage der Wahrheit, sondern höchstens
der Zweckmäßigkeit gestellt werden kann. Da und dort, aber nur
ganz am Rande, wird in der katholischen Theologie dieses Problem
irgendwie gesehen. So etwa, wenn gesagt wird, die Kirche nenne
den Vorgang, der im Abendmahl stattfindet, « aptissime» Trans-
substantiation, oder wenn Pius XII. die Angemessenheit vieler Be-
griffe in der scholastischen Tradition verteidigt, von denen nicht
angenommen werden dürfe, die Kirche werde sie wieder preis-
geben, obwohl man wisse, daß sie geschichtlich geworden sind
(D 2312). In der Praxis der kirchlichen Lehre aber ist das hier ge-
meinte Problem sehr zu spüren. Wenn (um wenigstens einige
wenige Beispiele anzuführen) gelehrt wird, daß der Mensch von
Adam her schon Sünder ist, so wird das Wort Sünder nur in einem
sehr analogen Sinn gebraucht, der sich sehr wesentlich von dem
der Sündigkeit unterscheidet, die durch die personale eigene Ent-
scheidung gegeben ist. Das wird im scholastisch-theologischen
Traktat über die Erbsünde sehr breit ausgeführt, aber in der kurzen.
kirchlichen Formulierung, der Mensch sei Sünder von seinem Ur-
sprung, von Adam her, wird diese bloße Analogheit nicht mit aus-
gesprochen, wird nicht thematisch, ist im reflexen Glaubensbe-
wußtsein der Mehrzahl der Christen nicht deutlich vorhanden
da
und wird meist selbst von den Theologen wieder vergessen,
auch deren Theologie in der Praxis des durchschnittlichen Lebens
sich wieder stark auf das Katechismusmäßige, Undifferenziertere
69
1
70
| deutlicher machende dogmatische Aussage, als man nicht erklärt
bekommt, was Konzelebration ist, und so der betreffende Satz
praktisch darauf hinausläuft, daß man Konzelebration nur jene
Meßfeier nennen darf, in der mehrere Priester die Wandlungs-
worte zusammen sprechen; es bleibt aber dabei offen, ob ein Prie-
ster ohne eine solche Konkonsekration doch als Mitfeiernder in
irgendeiner anderen Weise seine priesterliche Funktion als solche
ausüben könne oder nicht. Ein anderes Beispiel ist bekannter: die
Frage, wer nach katholischer Lehre die Kirchengliedschaft besitzt,
ist zum guten Teil eine terminologische Sprachregelung. In «My-
stici Corporis » war das Wort « Kirchengliedschaft » den Katholiken
“ vorbehalten, heute scheint man in kirchenamtlichen Kreisen wie-
der eher dazu zu neigen, jene Wirklichkeit, die durch die Taufe
allein schon gegeben ist, als Kirchengliedschaft zu bezeichnen.
Das Interessante dabei ist eben nur, daß in diesen kirchenamtli-
chen Erklärungen nirgends ausdrücklich die Frage als terminolo-
gische gesehen wird, sondern mit dem Eindruck und der Voraus-
setzung gelehrt wird, man rede nur über die Sache selbst. Es ist
noch dazu zu bedenken, daß diese Terminologie unvermeidlich
einem dauernden geschichtlichen Wandel ausgesetzt ist, der zwar
vom autoritativen Lehramt der Kirche beeinflußt, in etwa mit-
gelenkt, aufgehalten, teilweise in andere Bahnen gelenkt worden
ist und gelenkt werden darf, daß aber dieser geschichtliche Prozeß
in der Terminologie nicht adäquat, auch nicht auf kirchlichem
Gebiet, von kirchenlehramtlichen Autoritäten gesteuert werden
kann. Er vollzieht sich also unabhängig von der amtlichen Kirche
und ihrer bewußten Steuerung, wenigstens teilweise, und diese
Tatsache impliziert wieder die Pflicht (und das Recht) der Kirche,
diesem unabhängig von ihr geschehenden terminologischen Pro-
zeß Rechnung zu tragen. Das kann auf die verschiedensten Weisen
geschehen, auf die ich hier nicht eingehen will. Es kann aber aus
diesen Gründen so sein, daß die Kirche nicht deutlich und entschie-
den genug diesen terminologischen Wandlungen Rechnung trägt.
Dann kann es theologische Kontroversen innerhalb der Kirche und
mit nichtkatholischer Theologie geben, die eben doch im Grund
auf dem gegenseitigen Mißverständnis der Terminologie beruhen.
katho-
Darum kann es auch, katholisch gesprochen, so sein, daß ein
71
lischer Theologe an eine amtlich adoptierte Terminologie gebun-
‘ den bleibt, auch wenn er sich die Problematik dieser Terminologie,
ihre Mißverständlichkeit, ihren vielleicht bestehenden Mangel an
Perspektiven, auf die es doch auch wesentlich ankommt, und ähn-
liche Endlichkeiten einer solchen, wie jeder Terminologie, nicht
verhehlen kann. Damit ist wiederum nicht gesagt, daß der Theo-
loge dieser theologisch-terminologischen Sprachregelung der Kir-
che passiv gegenübersteht. Nein, überall wo er lebendige Theologie
treibt, indem er auf die Sache selbst schaut, trägt er auch aktiv
(wenn auch vielleicht fast unmerklich) zu jenem dauernden ge-
schichtlichen Wandel der Terminologie der kirchlichen Sprache
bei. Und umgekehrt: indem er sich dabei an die kirchliche Sprach-
regelung in seiner Aussage hält, fügt er sich in die kommunitäre
' geschichtliche Bedingtheit des jeweiligen aktuellen Glaubensbe-
wußtseins ein, eine Bedingtheit, die gleichzeitig (wenn sie ange-
nommen und ausgehalten wird) die individuelle Ansicht aufge-
‘ schlossen hält für das Glaubensbewußtsein der Kirche, wie sie
‚auch dem einzelnen jenen Verzicht zumutet, ohne den es in die-
sem Äon die Einheit der Wahrheit und Liebe nicht geben kann.
4. Die theologische Aussage ist eine Aussage ins Mysterium
hinein. Auch hiermit ist zunächst eine Eigentümlichkeit gemeint,
die der theologischen und dogmatischen Aussage mit der unmittel-
bar kerygmatischen gemeinsam ist. Ist die kerygmatische Aussage
bei und trotz aller bestimmten und unerläßlichen Inhaltlichkeit,
die ihr zukommt und zu Recht zukommt, schon darum, weil sie ja
immer auch aufein geschichtliches Ereignis innerhalb der mensch-
lichen Dimensionen sich bezieht, schon eine Aussage, die den Hö-
renden über sich hinaus und hinein weist in das Mysterium Gottes,
wie es an sich selber ist, so gilt dies darum auch von der dogmati-
schen Aussage, weil sie ihre Rückbindung zur eigentlichen, kery-
gmatischen Glaubensaussage nie aufgeben darf. Ist sie auch die re-
flektiertere Aussage, bei der der Mensch auch ausdrücklich, wenn
man so sagen darf, bei seinem eigenen Erkenntnisprozeß und nicht
nur bei der Sache in sich allein ist, so kann auch sie nur sein,
was
sie sein muß, wenn sie nicht vergißt, daß der in ihr gemeinte
Ge-
genstand nur dann richtig genannt ist, wenn er im Akt des
Zu-
greifens auf seinen endlichen Begriff als unendlicher und
unbe-
12
greiflicher, als bleibendes Mysterium ergriffen wird und darum
eben nicht nur im Begriff, sondern in der über alle Begrifflichkeit
‘ vorgreifenden Ergriffenheit durch den ergreifenden Gott in Trans-
zendenz und Gnade gegeben ist. Die dogmatische Aussage hat wie
die kerygmatische grundsätzlich ein Moment an sich, das nicht
(wie bei innerweltlichen kategorialen Aussagen) identisch ist mit
dem vorgestellten Begriffsinhalt. Dieser ist hier unbeschadet seiner
eigenen Bedeutung doch immer nur das Mittel der Erfahrung der
Verwiesenheit über sich und alles Nennbare hinaus. Daß diese
Verwiesenheit nicht nur leere, scheiternde Transzendenz, nicht
einfach nur der formale Horizont für die Möglichkeit der gegen-
ständlichen Begrifflichkeit ist, sondern die Weise, in der sich der
Mensch wirklich auf die Selbstmitteilung Gottes in sich selbst hin-
bewegt, das geschieht durch das, was wir Gnade nennen, und
wird erfaßt und angenommen in dem, was wir Glaube heißen.
Dabei ist nicht der Begriff der Transzendenz und nicht der Begriff
der Gnade gemeint, sondern diese selbst. Natürlich lassen diese
Wirklichkeiten sich nicht in sich selbst einfach gegenständlich in
der dogmatischen Aussage präsentieren; es kann nicht objektivi-
stisch festgestellt werden, ob sie bei der Aussage selbst vollzogen
waren. Es kann nur immer wieder dem Theologen selbst gesagt
werden, daß dasjenige, was in seine aus Begriffen gebauten Sätze
als solche eingeht, nicht das einzige ist, was bei seinen Sätzen da
sein muß. Es kann indirekt an diesen oder jenen Anzeichen kritisch
vermutend geprüft werden, ob neben dem Buchstaben auch der
Geist, neben dem Reden über die Sache auch die Sache selbst an-
west. Im Ganzen der Rede und auf lange Sicht gesehen bietensich
Indizien für eine Unterscheidung der Geister dahingehend, ob je-
mand nur davon redet, daß er es mit dem Geheimnis zu tun habe,
in Wirklichkeit aber nur seine Begriffe und Sätze handhabt, als ob
sie die Sache selbst wären, als ob sie wie in sich verschlossene Mona-
den von ihm beherrscht würden, und nicht bloß die Zeichen wären,
die dort am deutlichsten und vernehmlichsten reden, wo siestumm
über sich hinaus den glaubenden Menschen in das unzugängliche
Licht Gottes selbst einweisen. Diese Kriterien sind, wenn wir vom .
Thema der Analogie absehen (das insofern auch nochmals meistens
mißverstanden wird, als der analoge Begriff als ein merkwürdiger
73
Zwitter zwischen univokem und aequivokem Begriff, also als das
Abgeleitete aufgefaßt wird, demgegenüber die univoke Prädika-
tion das Ursprünglichere und Eigentlichere wäre, wo doch die
radikale Offenheit der analogen Bewegung des Geistes erst den
Geist zu Geist macht), eigentlich in der katholischen Theologie
nicht recht entwickelt. Die Theorien vom Paradox, vom dialek-
tischen Reden, von der bloß indirekten Rede haben, und vermut-
lich nicht nur mit Unrecht, kein rechtes Echo und jedenfalls kein
Heimatrecht in der katholischen Schultheologie gefunden. Die
Lehre von der Analogie ist, wenn wir ehrlich sind, erst durch
E. Przywara aus einem bescheidenen Lehrstück irgendwo in der
Logik und allgemeinen Ontologie zu einem wirklich wichtigen
Kernpunkt der theologischen Rede erhoben worden und ist noch
längst nicht so ausgebaut, daß man in dieser Hinsicht genau sagen
könnte und allgemein verstanden hätte, was damit gemeint ist,
so wenig man wirklich darüber einig ist, ob diese Lehre nun das-
jenige ist, was Barth früher als das spezifisch Katholische und abso-
lut Abzulehnende bezeichnet hat, oder ob diese Analogie das Wort
innerhalb der katholischen Theologie ist, das etwas bezeichnet,
was als Wesenszug theologischen Redens überall, wenn auch viel-
leicht unter anderen Namen, anerkannt ist und was uns einen
ersten Ansatz für das bedeutet, worauf es hier ankommt, daß näm-
lich die theologische Rede nicht nur über das Geheimnis spricht,
sondern das nur richtig tut, wenn sie auch so etwas wie eine An-
weisung ist, um vor das Geheimnis selbst zu kommen. Auf jeden
Fall, das ist der langen Rede kurzer Sinn, darf man bei der theolo-
gisch-dogmatischen Rede nicht meinen, man habe die Sache schon,
wenn man das begriffliche Wort über sie hat. Dieses Wort ist über
diese Funktion der Stellvertretung für die Sache, des Abbildes der
Sache hinaus noch in einer ganz anderen Weise mystagogisch. Es
beschwört die gnadenhafte Erfahrung des absoluten Geheimnisses
selbst als des sich uns mitteilenden in Gnade, die die Christi ist.
Aber wiederum kann auch bei diesem Punkt nur ein Thema
angemeldet und bedauernd festgestellt werden, daß eskein Thema
der Schultheologie ist, womit natürlich nicht behauptet wird,
daß es schlechterdings nirgends in der theologischen Tradition
vorkomme.
74
5. Die dogmatische Aussage ist nicht identisch mit dem ur-
sprünglichen Offenbarungswort und derursprünglichen Glaubens-
aussage.
Vielleicht komme ich erst jetzt zu dem Thema, dessen he
handlung man von mir erwartet hat, und kann so dieses erwartete
Thema am Schluß eines langen Vortrags nicht mehr in genügen-
der Weise darstellen. Aber für das katholische Verständnis von
Theologie und Glaube, von Schriftaussage und dogmatischer Aus-
sage ist dieses Verhältnis so vielfältig und verschlungen, und kann
so wenig im Sinne einer bloßen trennenden Unterscheidung aus-
gesagt werden, daß das bisher Gesagte doch auch eine notwendige
Vorbereitung des Abschnittes war, der jetzt fällig ist, des Abschnit-
tesüberdie Unterscheidungzwischen ursprünglicher Öffenbarungs-
verkündigungundursprünglicher Glaubensaussage einerseits, und
dogmatisch reflexer Aussage anderseits. Den Prototyp der ersten
Aussage haben wir in der Schrift, wenn auch hier vielleicht noch-
mals der Unterschied zwischen ursprünglicherem Offenbarungs-
ereignis und seiner unmittelbaren Bezeugung einerseits, und der
Reflexion darüber in der Schrift anderseits zu beachten ist. Wenn
die dogmatische Aussage von der Schriftaussage abgehoben werden
soll-und dies ist ganz berechtigt-, dann sind die Unterschiede
zwischen beiden nun herauszuarbeiten. Das ist nicht so leicht, wie
es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wir haben ja schon gesagt,
daß auch die dogmatische Aussage objektiv und subjektiv vom
Glauben getragen ist, Aussage und Akt des Glaubens bleibt, daß
sie darum vom Lehramt der Kirche ebenso normiert ist, wenn sie
auch nicht immer und in jedem Fall Aussage der verpflichtenden
Erklärung des Lehramtes ist, sondern Aussage einer quaestio dis-
putataseinkann, weil ssie selbst dann noch auf das Glaubensbewußt-
sein der Kirche als ganzer hinzublicken sucht und sich vom kirch-
lichen Lehramt abhängig weiß. Und umgekehrt: es gibt keine
verkündigte Offenbarung außer in der Form geglaubter Offenba-
rung. In einer geglaubten, also gehörten Offenbarung steckt aber
als verstandener, aufgenommener, assimilierter immer schon die
Synthesis zwischen dem Wort Gottes und demjenigen Wort des
betreffenden Menschen, das gerade er in seiner geschichtlichen
Situation aus seiner Position heraus sprechen kann und muß. Jedes.
75
r
Wort Gottes, das von Menschen gesagt wird, ist also schon bis zu
einem gewissen Grad reflektiertes Wort und insofern auch schon
ein Stück Theologie. Der Unterschied zwischen ursprünglichem
Kerygma und dogmatischer Aussage besteht also nicht darin, daß
dort gewissermaßen das reine Wort Gottes an sich allein, hier nur
menschliche Reflexion gegeben sei. Wäre es so, könnte es um dieses
Wort Gottes herum nur unverbindliche theologische Rede, aber
nicht vom ursprünglichen Wort Gottes verschiedene und doch
absolut verbindliche Glaubensaussage geben, durch die das Wort
Gottes, wie es ursprünglich ergangen ist, seine wirklich bindende
Gegenwart in dem Fortgang der Geschichte behält, es könnte nur
Theologiegeschichte, aber keine Dogmengeschichte geben. Die
Tatsache, daß es eine solche gibt, ist nur erklärlich, weil schon in
jener ursprünglichen Glaubensaussage dasjenige Moment einer
echt menschlichen Reflexion steckt und darin legitim und not-
wendig ist, das in der späteren Theologie weiter wirkt und sich
dort entfaltet. Das eben Gesagte gilt, um das nochmals zu betonen,
auch von der Heiligen Schrift. Auch in der schlichtesten kerygma-
tischen Aussage steckt also schon ein Anfang von Theologie; und
diese Theologie als Reflexion und Ableitung aus der unmittelbar-
sten Offenbarungserfahrung nimmt zweifellos auch schon in der
Schrift einen breiten Raum ein. Es ist zu bedauern, daß eigentlich
in der katholischen Theologie darüber kaum reflektiert wird.
Man fragt sich so gut wie nie, woher der Verfasser bestimmter
Stücke der Heiligen Schrift eigentlich das habe, was er sagt. Man
rechnet nicht mit der doch zweifellos vorhandenen Möglichkeit,
daß auch schon eine Schriftaussage im Verhältnis zu einer anderen
sekundär, aus dieser anderen abgeleitet sein könne. Man trägt jede
Schriftstelle auf der gleichen Sinnebene auf, behandelt sie als gänz-
lich ursprüngliche, der unmittelbarsten Offenbarung Gottes ent-
sprungene, unableitbare Gegebenheit. Und doch kann im Ernst
niemand die andere Möglichkeit grundsätzlich leugnen; sie ist
gegeben, weil auch schon innerhalb des Neuen Testamentes Dog-
menentwicklung zu beobachten ist. Und das konkrete Rechnen
mit solchen Möglichkeiten würde zur genauen Bestimmung des
Sinnes bestimmter Schriftstellen sehr wesentlich beitragen kön-
nen.
76
Und dennoch gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen
theologischer Aussage (auch in ihrer verbindlichen Form des wirk-
lichen Glaubenszeugnisses und der aktuellen Verkündigung) und
dem ursprünglichen Glaubenszeugnis, zu welchem quoad nos doch
wieder die Schrift als ganze gehört. Der Grund dafür liegt in der
eigentümlichen, einmaligen Stellung der Heiligen Schrift. Die
Offenbarung hat eine Geschichte. Das heißt aber im christlichen
Verständnis zuerst und zuletzt, daß es ganz bestimmte, raum-
zeitlich fixierte Ereignisse gibt, an denen diese Offenbarung, die
für alle späteren Zeiten bestimmt ist, sich so ereignet, daß an dieses
geschichtliche Ereignis diese späteren Zeiten dauernd gebunden
bleiben, daß sie diese Offenbarung Gottes nur dann wirklich errei-
chen, wenn und insofern sie sich auf dieses geschichtliche Offen-
barungsereignis zurückbeziehen. Darum gibt es für die kommen-
den Zeiten Ereignisse und Aussagen (die wiederum zu den kon-
stitutiven Elementen dieser Ereignisse selbst gehören), die die
bleibende und unüberholbare norma normans, non normata für
alle späteren dogmatischen Aussagen bilden, eben diese ursprüng-
lichen Aussagen. Auch wenn und dort wo diese Aussagen alle jene
Elemente, die sonst einer dogmatischen Aussage von uns vindiziert
- wurden, auch haben, so haben sie eben dieses eine allein: sie ge-
hören zu dem einmaligen geschichtlichen Heilsereignis selbst, auf
das sich alle Verkündigung und alle Theologie später beziehen, sie
sind in diesem ganz bestimmten Sinn mehr als Theologie, auch
mehr als absolut verpflichtende Theologie, nicht nur eine Glau-
bensaussage, sondern diejenige, die der bleibende Grund aller an-
deren und künftigen bleibt, sie sind das Tradierte, nicht die ent-
faltende Tradition des Tradierten. Sosehr diese spätere Aussage
schon abgeleiteter, normierter Art eine Form und eine Gestalt der
ursprünglichen Aussage sein mag, ohne die der spätere Christ diese
ursprüngliche Aussagenicht mehr schlechthin gehorsam hören und
wiederholen kann, will er nicht ungeschichtlich und unkirchlich
Funktion
sein, sosehr er sie, mit anderen Worten, auch immer in
ihrer späteren Aussage durch das kirchliche Lehramt und das Glau-
jene
bensbewußtsein der Kirchehören wird, so hört er doch wirk lich
selbst, nicht obwohl, sondern ge-
ursprüngliche Glaubensaussage
Kirche hört. Denn
rade weil er sie in Funktion der gegenwärtigen
77
’
78
"IR
80
auch freie theologische Meinungen können im Ernst doch nicht im
Verhältnis zum eigentlichen Glaubensinhalt als einfach zusätzliche
Erkenntnis ihren Sinn haben. Ob es in diesem Sinn eine wirkliche
Deduktionstheologie gibt, die schlechthin neue Erkenntnis ge-
winnt und diese als nicht glaubensinhaltlich und verpflichtend
deklariert, das dürfte man auf jeden Fall bezweifeln und erst recht
fragen, obso etwas, wenn es dies gäbe, noch Theologie sei. Die theo-
logisch entscheidende Funktion der theologisch freien dogmati-
schen Aussage ist doch gewiß die, das wirklich Geglaubte besser zu
sehen und zu bekennen, Hilfe also für den Glauben selbst zu sein.
Überdies darf nicht übersehen werden, daß eine absolut und adä-
quat durchgeführte Unterscheidung zwischen eigentlichem Glau-
bensinhalt und bloß theologisch freier Meinung für den einzelnen
hier und jetzt gar nicht möglich ist, daß selbst die Definitionen
der Kirche von jedem auch in Funktion seines Gesamtbewußtseins
und somit auch von theologisch freien Meinungen verstanden wer-
den, gerade dort, woer daraufnichtreflektiert. Mit dem, was bisher
zu dieser 5. These des Referates gesagt wurde, wird nicht unter-
stellt, es sei zu diesem Unterschied einer kerygmatischen und dog-
matischen Glaubensaussage schon alles gesagt. Wir haben bisher
mehr (nicht nur) auf den Unterschied zwischen einer ursprüng-
lichen Glaubensaussage und einer davon abhängigen, auf sie ge-
gründeten theologisch-dogmatischen Aussage reflektiert. Natür-
lich gibt es den Unterschied zwischen der bekennenden, sich auf
die Sache beziehenden, ihr sich anvertrauenden, preisenden Aus-
sage und der Aussage, in der der erste Reflektionsstrahl auf die
eigene Erkenntnis selbst geht, auch noch einmal innerhalb dieser
abgeleiteten theologisch-dogmatischen Aussagen selbst. Und dieser
Unterschied hat seinen letzten ontologischen Grund im Wesen der
menschliche Erkenntnis selbst, insofern diese immer unmittelbar
und reflex ist, bei sich und beim anderen, und dieser Dualismus
grundsätzlich nicht adäquat überwunden werden kann. Darum
gibt es eine dogmatische Aussage, die in erster Intention auf den
reflexen Selbstbesitz des Wissens um eine Sache geht, und eine
dogmatische Aussage, die auf die Sache selbst blickt. Und beide
Aussagen lassen sich trotz und in ihrer Unterschiedlichkeit doch
nie ganz voneinander lösen.
81
J
Was in diesem Aufsatz gesagt werden soll, bezieht sich nicht nur
und nicht in erster Linie auf die akademische Frage nach dem
Verhältnis der beiden Wissenschaften: Exegese (und Biblische
Theologie) und Dogmatik. Dieser Aufsatz ist vielmehr aus dem
Eindruck entstanden, daß innerhalb der katholischen Theologie:
eine gewisse Entfremdung zwischen den Vertretern dieser beiden
Disziplinen obwaltet. Es will uns scheinen, daß nicht ganz wenige
Vertreter der beiden Arbeitsgebiete der katholischen Theologie
einander mit einem gewissen Mißtrauen, ja mit Gereiztheit be-
trachten. Die Dogmatiker scheinen da und dort den Eindruck zu
haben, als kümmerten sich die Exegeten herzlich wenig um jene
Theologie, an die sich der Dogmatiker gebunden weiß und die
auch über jene Fragen Aussagen macht, die den Gegenstand der
Exegese (im weitesten Sinn des Wortes) bilden. Die Exegeten
ihrerseits scheinen da und dort der Meinung zu sein, daß die Dog-
matiker ihnen Bindungen auferlegen wollen, die von der Sache her
nicht gerechtfertigt sind, weil die Dogmatiker von den Fortschrit-
ten, die die katholische Exegese in den letzten Jahrzehnten erzielt
hat, nicht genügend Notiz nähmen.
Es besteht hier nicht die Absicht, diese angedeutete Spannung
näher zu schildern oder dokumentarisch zu belegen. Sie ist ja nicht
eine Sache, die sich schon sehr deutlich in Büchern und anderen
gedruckten Erzeugnissen niedergeschlagen hat. Die Spannung
äußert sich bisher mehr in Gesprächen, Vorträgen, Vorlesungen —
bis zum klerikalen Tratsch, den es natürlich auch gibt. Wollte man
diesen Dingen nachgehen, verlöre man sich nur im Gestrüpp per-
sönlicher Reibungen, Empfindlichkeiten und Polemiken. Dies hat
keinen Sinn und bringt keinen Nutzen.
Ist aber die vermutete Spannung doch auch nicht ein bloßes
Gespenst einer verängstigten Phantasie, und sollder Wissenschaft
und der Kirche daraus nicht allmählich ein ernsthafter Schaden
erwachsen, dann wird es geraten sein, über das Verhältnis zwi-
schen Dogmatik und Exegese ein paar grundsätzliche Erwägun-
82
gen anzustellen: nüchtern, aber auch in aller Offenheit. Bent
durch Vertuschung werden diese Dinge nicht besser und nicht aus
der Welt geschafft.
Wenn jedoch jemand durch diese Ausführungen wider die Ab-
sicht des Verfassers und wider die objektiven Verhältnisse den
Eindruck bekommen sollte, es herrschten in der deutschen katho-
lischen Theologie schlimme Zustände sachlicher oder persönlicher
Art, oder der Verfasser trete so etwas wie eine Flucht in die Öffent-
lichkeit an, dann könnte auch ein solches Mißverständnis noch kein
Grund sein, diese Überlegungen zu unterlassen. Auch richtige
und wichtige Ausführungen können mißverstanden werden.
Wir sprechen auch nicht, weder direkt noch indirekt, zu dem
beschämenden und für die Würde und das Ansehen der katholi-
schen Wissenschaft so abträglichen Artikel von A. Romeo gegen
die Professoren des Päpstlichen Bibelinstituts. Insofern sich dieser
Aufsatz in unwürdigen Verdächtigungen auch gerade gegen deut-
sche Exegeten ergeht, gegen die «brume nordiche » (dicken Nebel
aus dem Norden), womit liebenswürdigerweise die deutsche ka-
tholische Exegese gemeint ist und auch deutsche katholische Exe-
geten darin ausdrücklich apostrophiert sind, soll hier im Vorüber-
gehen nur das eine gesagt werden: die deutsche katholische Exe-
gese empfindet es mit Recht als eine häßliche Verunglimpfung
ihrer ehrlichen und kirchlichen Arbeit und Gesinnung, wenn sie
der Häresie und der unkirchlichen Gesinnung verdächtigt wird.
Man kann auch einige hundert Kilometer von Rom entfernt gut
katholisch sein. Wir möchten meinen, daß auch die katholischen
Dogmatiker und Bischöfe solche unqualifizierten Pauschalverdäch-
tigungen, solidarisch mit den deutschen Exegeten, entschieden
und eindeutig ablehnen. Aber über dieses etwas beschämende Ka-
pitel wollen wir, wie gesagt, nicht reden.
Wenn wir nüchtern und unpolemisch Schwierigkeiten vom
novae», in:
1 A.Romeo, L’Enciclica « Divino afflante Spiritu» e le «opiniones
287); Pontifi-
Divinitas 4 (1960) 387-456 (vel. Herder-Korrespondenz 15 [1961]
Verbum Domini
cium Institutum Biblicum et recens libellus R. D. A. Romeo, in:
309 (1961) 84ff.;
39 (1961) 1-17; J.-M. Le Blond, L’Eglise et l’Histoire, in: Etudes
biblique dans l’en-
vgl. auch L. Alonso-Schökel, Argument d’ecriture et theologie
theologique , in: Nouvelle Revue Theologiqu e 81 (1959) 357; ders.,
seignement
biblischen Forschung in Vergangenh eit und Gegenwart (Welt und
Probleme der
Bibel), Düsseldorf 1961.
83
Grundsätzlichen her besprechen, dann ist dies kein Beweis dafür,
daß in der katholischen Exegese eine alarmierende Situation herr-
sche oder daß diejenigen, die nach dem kirchlichen Bannstrahl
rufen, am Ende doch recht hätten. Umgekehrt bedeutet dies frei-
lich auch nicht, daß man so tun solle, als gäbe es überhaupt keine
Fragen und Schwierigkeiten.
Merkwürdigerweise ist es heute aber so, daß die «subkutanen »
Probleme, die den Anstoß dieser Überlegungen bilden, eher auf
dem Gebiet des Neuen Testaments liegen als auf dem des Alten.
Vor dreißig Jahren war es noch umgekehrt. Unsere Überlegungen
denken also vor allem an die Fragen, die zwischen Exegeten und
Dogmatikern hinsichtlich des Neuen Testaments ausdrücklicher
und offener besprochen werden sollten. Wenn manches, was ge-
sagt wird, vielleicht den Eindruck der Rede eines Besserwissers
und des Schiedsrichters durch eigene Ernennung macht, dann
möge der geneigte Leser fragen, ob man diesen Eindruck anders
hätte vermeiden können als dadurch, daß man das heiße Eisen
unangefaßt läßt. Ist er der Meinung, daß dies eine noch schlechtere
Methode sei, dann möge er seine unangenehmen Eindrücke als
unvermeidliche Randerscheinung einer doch notwendigen Sache
in Kauf nehmen.
Wenn wir nach allen Seiten unsere Meinung ohne Angst und
in voller Freiheit sagen, dann nehmen wir, so will uns scheinen,
nichts anderes in Anspruch als das Recht des Kindes im Haus des
Vaters, das nicht fürchten muß, seine bescheidene und ehrerbie-
tige Meinung gegenüber den Eltern zu sagen ; nichts als das Recht,
das mit der Notwendigkeit einer öffentlichen Meinung in der Kir-
che gegeben ist, deren Fehlen der Kirche zum großen Schaden für .
Hirt und Herde gereichte, wie Pius XII. ausdrücklich erklärt hat 2,
Die Einteilung dieser Überlegungen ist einfach: wir denken
zuerst an die Exegeten, dann an die Dogmatiker und fügen schließ-
lich noch einige zusätzliche Erwägungen an.
84
An die Exegeten : Ein Wort des Dogmatikers
Liebe Brüder und verehrte Herren Kollegen: erlaubt mir, daß ich
der Meinung bin: ihr Exegeten nehmt nicht immer genügend
Rücksicht auf uns Dogmatiker und unsere Dogmatik. Wenn ich
ein wenig in Pauschalurteilen rede, so nehmt mir das nicht übel.
Wer sachlich nicht betroffen ist, braucht sich auch hier nicht be-
troffen zu fühlen.
Aber es will mir eben doch scheinen: ihr Exegeten vergeßt
manchmal, daß ihr katholische Theologen seid. Natürlich wollt
ihr das sein, natürlich seid ihr es. Natürlich habe ich nicht die
leiseste Absicht, den ungerechten Verdacht zu äußern, ihr kenntet E-
nicht die katholischen Prinzipien über das Verhältnis von Exegese
und Dogmatik, von Glaube und Forschung, von Wissenschaft und
kirchlichem Lehramt, oder ihr wolltet sie nicht beachten. Aber
ihr seid Menschen und Sünder wie alle andern Menschen (und
sogar die Dogmatiker). Darum kann es euch im Alltag eurer Wis-
senschaft eben doch passieren, daß ihr diese Grundsätze nicht ge-
nügend beachtet. So ist es manchmal. Ihr könnt vergessen (nicht
leugnen und nicht prinzipiell ausschließen), daß ihr ein Fach be-
treibt, das ein inneres Moment der katholischen Theologie als sol-
cher ist, also all jene Prinzipien zu beachten hat, die der katholi-
schen Theologie nun einmal eigen sind.
Darum ist die katholische Exegese eine Glaubenswissenschaft,
nicht nur Philologie und Religionswissenschaft; sie steht in einem
positiven Verhältnis zum Glauben der Kirche und zum kirchlichen
Lehramt. Dessen Lehre und Weisung bedeuten für die katholische
Exegese nicht nur eine norma negativa, eine Grenze, die man nicht
überschreiten darf, will man katholisch bleiben. Sie sind vielmehr
noch ein inneres positives Forschungsprinzip der exegetischen Ar-
beit selbst, sosehr deutlich bleiben muß (wir werden darüber im
Wort an die Dogmatiker zu reden haben), was in der exegetischen
Arbeit und in der biblischen Theologie Ergebnis der philologischen
und historischen Methode als solcher ist und was nicht; so wenig
hier genauer gesagt werden kann, was es konkret bedeutet, wenn
wir sagen, die Exegese sei eine eigentlich theologische Wissen-
schaft samt all dem, was daraus folgt.
85
Aber in ein paar äußeren Indizien läßt sich das doch sehr leicht
greifen, ebenso wie die Tatsache, daß das Bewußtsein davon bei
_ euch nicht immer genügend lebendig ist: ich habe den Eindruck,
daß ihr oft munter und vergnügt im Stil des bloßen Philologen und
Profanhistorikers eure Arbeit tut und, wenn dann Schwierigkei-
ten, Probleme für die dogmatische Theologie oder für das Glau-
bensbewußtsein eurer jungen Theologen oder bei den Laien auf-
tauchen, erklärt: das geht «uns » nichts an, das ist Sache der Dog-
‚matiker, mögen diese sehen, wie sie damit fertig werden. Nein,
liebe Brüder: die Dogmatiker dürfen durch euch ruhig Arbeit
bekommen, und sie sollten darüber nicht böse werden. Aber die
wirkliche, echte Verträglichkeit eurer Ergebnisse mit dem katho-
lischen Dogma und (grundsätzlich wenigstens) auch mit der nicht-
definierten kirchenamtlichen Lehre ohne Gewaltsamkeit und in
aller Ehrlichkeit aufzuweisen, bzw. diese Übereinstimmung her-
zustellen, das ist eure ureigenste Aufgabe. Denn ihr seid katholi-
sche Theologen. Und ihr habt genau dieselbe Verantwortung ge-
genüber der Lehre der Kirche und dem Glauben des einfachen
Gläubigen wie der Dogmatiker. Nehmt es mir nicht übel: man
kann manchmal den Eindruck gewinnen, daß ihr euch dieser Ver-
antwortung nicht immer genügend bewußt seid, daß ihr beinahe
so etwas wie eine gelinde Schadenfreude empfindet, wenn ihr uns
Dogmatikern echte oder vermeintliche Schwierigkeiten machen
könnt. Man hat manchmal den Eindruck, ihr empfändet es als den
Gipfel und Ausweis der Echtheit und Wissenschaftlichkeit eurer
Wissenschaft, wenn ihr Schwierigkeiten entdecken könnt.
Ihr sollt kritisch sein, unerbittlich kritisch. Ihr sollt keine un-
ehrlichen Versöhnungen arrangieren zwischen den Ergebnissen
der Wissenschaft und der kirchlichen Lehre. Ihr könnt auch ruhig,
wo es notwendig ist, ein Problem anmelden und ehrlich ausspre-
chen, auch wenn ihr eine klare Lösung positiver Art des Ausgleichs
zwischen kirchenamtlicher Lehre (oder dem, was man als solche
ansieht) und den wirklichen oder vermeintlichen Ergebnissen
eurer Wissenschaft nicht schon seht, trotz eures besten Willens
noch nicht seht. Aber ihr sollt es erst dann als den wahren Gipfel
eurer Wissenschaft betrachten, wenn ihr eure ganze Aufgabe er-
füllt habt. Und zu dieser gehört (als Teil eurer exegetisch-katho-
86
lischen Aufgabe) der Aufweis der Harmonie zwischen euren Er-
gebnissen und der kirchlichen Lehre, der Aufweis, wie diese Er-
gebnisse von sich aus in die kirchliche Lehre als deren genuiner
Ausdruck hinüberweisen. So etwas braucht natürlich nicht jeder
Exeget jedesmal zu tun (ohne Arbeitsteilung und Teilarbeit kommt
heute niemand mehr aus), aber daß so etwas grundsätzlich zur
Aufgabe des Exegeten gehört, das sollte manchmal bei euch etwas
deutlicher sein, als es mir zu sein scheint.
Wie ist es denn? Wenn ihr diese Arbeit des Brückenschlags
zwischen Exegese und Dogmatik einfach bequem uns überlaßt
und wir arme Dogmatiker sie auf uns nehmen wollen (und dann
uns eben auch auf Exegese einlassen müssen, weil eine Brücke es
mit zwei Ufern zu tun hat), dann seid ihr-seid ehrlich!-doch
wieder die ersten, die schreien, wir Dogmatiker verstünden nichts
von Exegese und trieben sehr stümperhaft und billig Exegese, von
der wir lieber die Finger lassen sollten. Wer soll denn dann diese
Aufgabe, die unerläßlich ist, ausführen? Ihr macht da manchmal
einen seltsamen Eindruck: auf der einen Seite beklagt ihr, daß
man die Schrift zu wenig achte, zu viel Schultheologie treibe und
zu wenig biblische Theologie. Wenn es aber dann geboten wäre
zu zeigen, wie und wo in der Schrift die Lehre der Kirche ihren
Ausdruck oder wenigstens ihr letztes Fundament finde, dann fangt
ihr an, euch zu entschuldigen und zu erklären, ihr könntet für
diese Kirchenlehre (z. B. für bestimmte Sakramente, für gewisse
mariologische Dogmen usw.) in der Schrift beim besten Willen
nichts als Anhaltspunkt finden. Das sei eben etwas, was die Tradi-
tion und das Lehramt allein zu verantworten hätten. Seid ihr so
nicht oft selbst daran schuld, daß manche Theologen nach eurem
Eindruck das Blaue vom Himmel herunterspekulieren, wenn ihr
" für Wahrheiten, die auch zu eurem katholischen Glauben gehören,
auf jede biblische Fundierung plötzlich verzichtet? Woher soll
denn die Tradition solche Wahrheiten haben? Ihr seid doch als
Historiker gerade die, die am wenigsten an unterirdische Kanäle
in der Tradition glaubten, wenn etwas in den ersten Jahrhunder-
ten im öffentlichen Glaubensbewußtsein der Kirche nach eurem
Urteil als weder explizit noch implizit enthalten nachgewiesen
werden könnte. Das Lehramt aber ist der Träger einer Glaubens-
87
[3
88
verwundert bei eurer Einzelexegese und ihren Ergebnissen, wie
dann dies und das zur Irrtumslosigkeit der Schrift passe, zu lehr-
amtlichen canones über den Sinn bestimmter Schriftstellen, wie
das genus historicum einer Schrift noch gewahrt sei, wie es denn
nun mit der Pseudonymität einer Schrift bestellt sei, ob man so
etwas grundsätzlich auch im Neuen Testament als möglich anneh-
men könne, wie man zurechtkomme mit Dekreten der Bibelkom-
mission usw.
Ich fange an unhöflich zu werden. Aber erlaubt mir noch eine
etwas boshafte Bemerkung (weil ich gern zugebe, daß man sie um-
gekehrt auch gegenüber den Dogmatikern machen kann): wenn
ihr manchmal doch noch genauer die Schultheologie kenntet und.
diese nicht manchmal bei dem einen oder anderen Vertreter eurer
großartigen und heiligen Wissenschaft auf das Niveau einer halb
vergessenen Wissenschaft herabgesunken wäre, die man schon
lange nicht mehr betreibt, dann hättetihr esin der Exegese manch-
mal sogar leichter und nicht schwerer. Mir will z. B. scheinen, daß
die Exegeten über die biblische Lehre vom Verdienst einerseits
und von der reinen Gnadenhaftigkeit der Seligkeit anderseits noch
deutlicher und ausgeglichener sprechen könnten, wenn sie die
scholastische Lehre vom Verhältnis von Freiheit und Gnade bis
in ihre letzte Radikalität noch deutlicher gegenwärtig hätten. In
solcher scholastischer Lehre ist eben in anderer Begrifflichkeit
auch biblische Theologie getrieben worden. Wenn man nicht von
einer Dreifaltigkeitslehre aus dächte (man verzeihe mir dieses
Beispiel, das auf eine exegetisch hervorragende Arbeit nur eben
anspielen will 3), die vermutlich doch sehr primitiv ist, bräuchte
man nicht zu behaupten, man könne bei Paulus keine wirkliche
Trinitätslehre finden. (Wo übrigens soll man sie dann im Neuen
Testament finden, wenn man sie nicht einmal bei Paulus finden
kann? Vermutlich immer bei jener Schrift, die man gerade nicht
in Arbeit hat.) Wenn man sich deutlich vergegenwärtigte, was
die scholastische Theologie über den bloß relativen Unterschied
der drei Personen, über diesen fast nicht mehr greifbaren Unter-
fin-
schied lehrt, könnte man so viel Unterschied auch bei Paulus
weil auch bei ihm Kyrios und
den (in anderen Worten natürlich),
3 Ingo Hermann, Kyrios und Pneuma, München 1961,
89
k
90
_ nachweist, daß man vieles, historisch gesehen, nicht so genau weiß,
‘ wie man bisher meinte. Wenn man deutlich sieht, daß ihr nicht
nur gerade die dogmatisch unaufgebbaren Daten des Lebens, des
Selbstbewußtseins und des Sendungsbewußtseins Jesu, die für den
Dogmatiker in der Christologie und Soteriologie unerläßlich sind,
noch stehen laßt, sondern sie ins hellere Licht rückt und verteidigt,
und zwar auch mit den Methoden der historischen Erkenntnis,
dann werden die Dogmatiker leichter verstehen, daß ihr recht
habt, wenn ihr nicht jedes Wort Jesu, wie es auch bei den Synopti-
kern steht, als eine Art «Bandaufnahme » oder Stenogramm aus
dem Mund des historischen Jesus selbst auffaßt, sondern damit
rechnet (und nicht nur allgemein und theoretisch), daß in der
Überlieferung der Worte Jesu schon die theologische Deutung der
apostolischen Zeit mit am Werk ist, solche Worte in ihrem Sinn
präzisiert, sie schon an bestimmte Umstände der Gemeinde anpaßt.
Ich weiß, ihr seid das alles schon längst gewohnt, für euch liegt
darin überhaupt kein Problem mehr. Aber so sind eben doch nicht
alle. Ihr müßt auch auf die «Schwachen im Glauben », auf die
Langsamen im Verständnis Rücksicht-nehmen. Ihr müßt euch |
Mühe geben, auch diesen verständlich zu machen, daß ihr auf-
baut und nicht abbaut. Ihr müßt eure jungen Theologen so be-
lehren, daß sie selbst keinen Schaden leiden an ihrem Glauben
und daß sie als Kapläne nicht meinen, ihre Hauptaufgabe sei es,
von der Kanzel exegetische Probleme zu verkündigen, die sie selbst
vielleicht nur halb verstanden haben, vergröbern und einem dafür
noch weniger bereiten Publikum zu seiner Verwunderung und
seinem Ärgernis verkünden.
Es würde auch nicht schaden, wenn ihr vielleicht genauer als
bisher da und dort darüber nachdächtet, welche apriorischen Prin-
zipien dogmatischer und fundamental-theologischer Art (diese na-
türlich sehr vorsichtig und genau interpretiert und gefaßt und
schon im Blick auf die Probleme eurer eigenen Exegese in ihrer
Tragweite und verpflichtenden Kraft nuanciert) auch ihr in dieser
Leben-Jesu-Forschung beachten müßt, damit der Jesus der Evan-
gelienforschung mit dem Christus des Glaubens auch einen histo-
risch noch nachweisbaren Zusammenhang hat. Ihr braucht keine
chalkedonische Christologie in der Exegese als solcher zu treiben,
91
aber das, was der historische Jesus von sich selbst gesagt hat, muß
(mindestens zusammengehalten mit der Östererfahrung) der Sache
nach eben doch das sein, was die dogmatische Christologie von
Jesus weiß. Es ist durchaus erlaubt, auch das genus litterarium
synoptischer und johanneischer Wundererzählungen noch genauer
zu bestimmen und die allgemeine Aussage, vor allem angewandt
auf einzelne Erzählungen, es handle sich um historische Berichte,
noch zu undifferenziert zu finden. Es wäre aber vielleicht auch für
euch nützlich und unter Umständen befreiend, theoretisch ge-
nauer zu überlegen, was ein Wunder an sich überhaupt sein will
hinsichtlich seiner Tatsächlichkeit und Erkennbarkeit. Auch ihr
sollt nicht den Anschein erwecken, als ob ihr der Meinung wäret,
man könne aus den Evangelien nicht historisch erkennen, daß
Jesus solche Wunder (und vor allem das der Auferstehung) gewirkt
hat, die auch heute noch zur Legitimierung seiner Sendung von
Bedeutung sind. Wenn ihr etwas von den dogmatischen Prinzipien
der Fundamentaltheologie versteht (und das ist doch anzunehmen),
dann werdet ihr es euren Hörern deutlich werden lassen, daß die
Auferstehung Jesu nicht:nur Gegenstand, sondern auch Grund
des Glaubens an den Herrn ist. Niemand wird es euch als eine
schlimme Grenzüberschreitung vorhalten, wenn ihr selbst euren
Hörern erklärt, warum und wie beides gleichzeitig möglich und
richtig ist.
Ein Letztes: es ist eine ungerechte und sowohl euch wie die
evangelischen Theologen kränkende Methode, euch vorzuwerfen,
ihr habt dieses oder jenes aus der evangelischen Exegese übernom-
men. Denn was beweist so etwas, wenn die Feststellung richtig
ist? Gar nichts. Die evangelische Exegese kann nämlich-man
sollte das eigentlich gar nicht zu betonen brauchen -durchaus rich-
tige Ergebnisse haben. Es ist also nur richtig, sie zu übernehmen,
wenn es so ist. Und wenn sie falsch sind und nicht annehmbar?
Dann verwerfe man sie mit Angabe der sachlichen Gründe ihrer
Falschheit, nicht mit dem Verdikt, das sei evangelische Theologie.
Aber auch wenn das wahr ist, solltet ihr dann doch nicht manchmal
den Eindruck vermeiden, als sei bei euch eine evangelische These
schon darum wahrscheinlicher, weil sie auf dem Boden der evan-
gelischen Exegese und nicht ursprünglich auf dem der katholi-
92
schen gewachsen ist? Und solltet ihr nicht auch bedenken, daß die
evangelische Theologie oft mit einem philosophischen Apriori,
nicht mit einer sachgerechten, aus der Exegese selbst erwach-
senen Methode an die Schrift herangeht?
94
‚Irrtumslosigkeit der Schrift vorauszusetzen. Täte er dies, wäre er
ein schlechter Theologe, weil er leugnete, daß es eine Fundamen-
taltheologie im katholischen Sinn gibt. Er muß also seine Quelle,
das Neue Testament, auch als Historiker untersuchen. Er muß
auch als solcher anerkennen, daß die Synoptiker in ihrem wesent-
lichen Bestand historisch vertrauenswürdige Quellen sind, wenn
auch mit dem Satz von den Synoptikern als geschichtlich zuverläs-
sigen Quellen unserer historischen Erkenntnis des Lebens Jesu
noch längst nicht das genus litterarium der Synoptiker wirklich
genau genug so bestimmt ist, daß sich von da aus allein ein ein-
deutiges Urteil für den wirklich ausgesagten Inhalt jedes einzelnen
Satzes ergibt, der uns heute zunächst einmal als historische Notiz
vorkommt, es aber darum vielleicht doch nicht im Sinn einer
modernen Geschichtsschreibung ist. Die Hauptsache aber ist dies:
darf und muß der Exeget an Fragen der Überlieferung des Neuen
Testaments auch unter Absehung (methodischer Art) von der Inspi-
ration und Irrtumslosigkeit der Schrift arbeiten, dann hat er, auch
wenn er schon profanhistorisch an der Historizität der Substanz
der Synoptiker festhält, nicht nur das Recht, sondern auch die
Pflicht, nicht alle Aussagen der Schrift schon von vornherein als
historisch gleich sicher zu beurteilen. Täte er dies, würde er metho-
disch aus der Fundamentaltheologie in die Dogmatik hinüber-
wechseln. Und das wäre kein Vorzug, sondern ein Fehler. Selbst
also dort, wo (was vermutlich gar nicht immer der Fall ist) der
Synoptiker eine einzelne Aussage macht, die er selbst als historisch
verstanden wissen will, muß der Exeget und Leben-Jesu-Forscher
nicht jede synoptische Aussage als historisch gleich sicher und ge-
wiß erklären. Wo und wann mit eindeutiger Sicherheit feststeht,
daß der Synoptiker etwas als historisches Ereignis in unserm heu-
tigen Sinn aussagen will, darf der fundamentaltheologisch arbei-
tende Exeget zwar nicht sagen: hier irrt der Synoptiker sicher; er
als solcher braucht aber auch nicht zu sagen: hier hat der Synopti-
ker sicher recht. Er darf nicht nur, er muß nuancierter reden als
wir Dogmatiker dies tun (in unserm Fach mit Recht). Wenn wir
Dogmatiker glauben, an der unmittelbaren Gottesschau Jesu wäh-
rend seines irdischen Lebens festhalten zu müssen, weil es ver-
pflichtende, wenn auch nicht definierte Lehre der letzten Päpste
95
seit Benedikt XV. ist, dann hättest du auch die Pflicht, dem Exege-
ten zu zeigen, wie eine solche Lehre wirklich und nicht nur durch
Begriffsspielerei mit dem Eindruck vereinbar ist, den der Exeget
bei den Synoptikern von dem historischen Jesus gewinnt. Du müß-
test deutlicher, als es dir gewöhnlich gelingt, zeigen, daß dir auch
der Kummer deiner exegetischen Kollegen nicht fremd ist, daß
du einigermaßen seine Methoden zu handhaben und seine Ergeb-
nisse zu würdigen verstehst.
Du hast es leichter als dein fundamentaltheologisch arbeitender
Kollege: du kannst jedes Wort von vornherein und in gleicher
Weise als irrtumsloses und inspiriertes Wort, als gültigen Beweis
in deine dogmatischen Beweise einsetzen, gleichgültig, woher es
stammt, unabhängig von der Frage, ob es so, wie es dasteht, wirk-
lich historisch absolut gesichertes Wort Jesu ist oder schon mitge-
formt ist durch die Theologie der Gemeinde und der Schriftsteller
des Neuen Testaments, ob es zu den allerersten Urdaten der Offen-
barung gehört oder daraus schon von den Aposteln (natürlich rich-
tigund unfehlbar) abgeleitete Theologie der Apostel ist. Du kannst
so verfahren, obwohl, so nebenbei gesagt, das eigentlich auch in
einer dogmatischen Methode als solcher nicht ganz ideal ist, weil
die genauere Interpretation eines Textes eben doch auch von der
Antwort auf Fragen abhängen kann, um die sich der Textkritiker
und der mit historischen Überlieferungsschichten rechnende Exe-
get bemühen müssen. Aber würde es z. B. etwas schaden, wenn
bei deinem dogmatischen Schriftbeweis für die Trinität bemerk-
bar wäre, daß du um die Fragen des Historikers nach dem Aus-
sendungsbefehl (Mt 28, 16-20) weißt und (wie du doch kannst,
weil dem keine absolute dogmatische Unmöglichkeit entgegen-
steht) unbefangen damit rechnest, daß die trinitarische Formel
darin im Mund Jesu eben doch von der Gemeindetheologie mit-
geformt ist?
Es gäbe viele der Dogmatik als solcher immanente Probleme, die
ein Dogmatiker stellen könnte und sollte, weil deren Lösung für
den Exegeten durchaus befreiend und erleichternd wirken könnte.
Wenn man sich z. B. innerdogmatisch fragte, wie genauer vom
Wesen der Sache her die Erscheinungen des Auferstandenen zu
denken seien, wenn er doch (worauf alles ankommt) unserer Er-
96
fahrungs- und Erscheinungswelt gar nicht mehr angehört und
. seine Erfahrung also ganz anders sein muß als etwa die des auf-
erweckten Lazarus, dann ergäbe sich vielleicht von da aus, daß die
Schwankungen in der Zeichnung dieser Erscheinungen in den
Osterberichten durchaus von der Sache her zu erwarten sind und es
gar nicht nötig haben, künstlich retouchiert zu werden. Wir Dog-
matiker könnten von den immanenten Problemen der Trinitäts-
lehre und der Christologie aus vieles deutlicher schon beim ersten
Ansatz sagen, was dem biblischen Theologen verständlicher ma-
chen würde, daß biblische Theologie und dogmatische Schultheo-
logie tatsächlich dieselbe Wirklichkeit aussagen. Man könnte z.B.
das in der Trinitätstheologie Gemeinte vermutlich auch aussagen,
ohne immer allein nur die Formeln von Person und Natur zu
wiederholen. Man könnte wohl zeigen, daß immanente und öko-
nomische Trinität so zusammenhängen, daß man die immanente
schon gesagt hat, wenn man die ökonomische richtig ausgesagt hat,
wie es die Schrift tut. Man könnte eine sehr existential-ontologisch
unterbaute « Christologie des Aufstiegs », der Begegnung mit dem
Menschen Jesus entwickeln, die näher mit der Blickrichtung der
Synoptiker und der Apostelgeschichte in der Christologie verwandt
wäre, als wenn man nur eine Christologie der Annahme einer
Menschennatur durch den Abstieg des Logos darstellt. Man könnte
in einer wirklich metaphysisch verstandenen Lehre der unmittel-
baren Gottesschau der Seele Jesu schon im irdischen Leben ver-
mutlich sehr gut das Wesen einer solchen an sich unthematischen
Grundbefindlichkeit so verständlich machen, daß der Exeget be-
greift, daß durch diese scholastische Lehre ihm wirklich nicht das
Recht genommen wird, echte Entwicklung, wirkliche Abhängig-
keit von der religiösen Umwelt seiner Zeit, unerwartete Wendun-
gen im Leben Jesu festzustellen. Sollte es nicht doch einmal der
Mühe wert sein, z. B. darüber nachzudenken, ob in bestimmten
Umständen eine bestimmte Art von Nichtwissen nicht das Voll-
kommenere sein kann gegenüber dem Wissen, wenn es nun doch
einmal zum Wesen der geschöpflichen Freiheit gehört (die auch
Jesus hatte und übte als der wahrhaft Anbetende und einem un-
begreiflichen Willen des Vaters gegenüber Gehorsame), daß man
in der Entscheidung ins offen Unbekannte hinein lebt, das man
97
i
100
Es wäre jedoch falsch zu meinen, es falle alles zusammen und es
bleibe nichts mehr an historischer Sicherheit übrig, wenn man
nüchtern und mutig davon ausgeht, daß wir bei den Berichten
auch der Synoptiker über die Worte Jesu mit Verschiebungen
durch die mündliche Überlieferung, mit Verdeutlichungen aus
einem bestimmten theologischen Interesse, mit nicht ausdrück-
lich kenntlich gemachten Glossen, mit plastisch und dramatisch
gestalteten Aussagen usw. in historischer Kritik zu rechnen haben.
Noch genauer: wenn die einzelnen Stücke der Evangelien eine wie
immer geartete Vorgeschichte vor ihrer Zugehörigkeit zum Evan-
gelium gehabt haben (und das hat uns doch die Formgeschichte
‚mit Recht beigebracht), dann müssen wir auch damit rechnen,
daß die einzelnen Stücke, untereinander verglichen, nicht immer
genau das gleiche genus litterarium historicum haben, daß es also
z. B. mindestens vom rein fundamentaltheologisch-historischen
Standpunkt aus nicht ebenso sicher ist, daß Jesus in Ägypten war,
wie daß er in Jerusalem gekreuzigt wurde. All das richtet sich
nicht gegen die Autorität der Berichte, weil sie selbst von ihrem
eigenen Wesen her eine solche Frage zulassen. Sie machen keines-
wegs den Anspruch, eine polizeiberichtmäßige peinliche Angabe
«nur» des historisch und von jedermann beobachtbaren Gesche-
hens zu sein.
Mit der Möglichkeit, mit der zu rechnen ist, ist natürlich die
Frage noch nicht beantwortet, wo, wie, wann und in welchem
Umfang so etwas tatsächlich bei den einzelnen Berichten über
Worte und Taten Jesu vorliegt. Das im einzelnen im Rahmen des
Möglichen festzustellen, ist die Sache einer berechtigten histori-
schen Kritik im Neuen Testament. Sie «erschwert» nicht nur
öfters, sie erleichtert auch nicht selten dem Dogmatiker seine
Arbeit. Wenn man z. B. die Klausel bei Mt 5, 52 (Jeder, der sein
Weib entläßt [abgesehen vom Fall der Unzucht], macht, daß sie
die Ehe bricht) als Glosse der Gemeindekasuistik deuten kann,
dann hat es der Dogmatiker viel leichter, als wenn auch diese
Klausel wirklich unmittelbar aus dem Mund Jesu kommend ge-
dacht werden muß. Es ist durchaus möglich, so schwere « Kreuze »
für den Dogmatiker wie etwa die schon erwähnten Texte Mk 9, 1
oder Mt 10, 23 dadurch zu erleichtern (wenn auch angesichts der
101
4
Die Dogmatiker und Exegeten müssen wissen, daß sie nicht die
Herren, sondern die Diener des Lehramts sind, das Christus dem
Petrus und den Aposteln, nicht den Professoren anvertraut hat.
Aber nicht nur Hegel, sondern auch die Professoren wissen, daß
Gott es in der Welt so eingerichtet hat, daß der Herr auch den
Diener braucht und so trotz seines Herrentums von ihm auch ab-
hängig ist.
Dieser Diener des kirchlichen Lehramts bedarf des Vertrauens
dieses Amtes, jenes Raumes vertrauensvoller Freiheit, ohne den der
105
Diener seine bescheidene, aber notwendige Aufgabe nicht erfüllen
kann. ;
Die kirchliche Wissenschaft und darunter vor allem die Exegese
hat heute nicht nur wissenschaftliche Aufgaben zu erfüllen, die
die Gelehrten interessieren. Sie muß mitkämpfen an der Front
des Glaubens und der Kirche, sie muß dem Menschen von heute
die Glaubensmöglichkeit deutlich machen, sie muß den Intellek-
tuellen von heute belehren, stärken und trösten. Dieser ist geistig
ein Kind des Historismus und der Naturwissenschaften, ein schreck-
lichnüchterner, vorsichtiger und enttäuschterMensch, einMensch,
der an der Ferne und dem Schweigen Gottes (wie er dies nun ein-
mal erlebt) leidet. Mit diesem Menschen muß sich die Kirche be-
schäftigen. Denn er ist eben doch der Mensch von heute und mor-
gen. Es ist einfach, sich in der Verkündigung des Glaubens auf
andere Menschen zu beschränken, auf Menschen, die anderen
geistessoziologischen Schichten entstammen, die leichter « gläu-
big» sind: auf die einfachen, demütigen Menschen, denen die
geistige Atmosphäre von heute noch nicht wirklich nahegekom-
men ist, die Menschen, die vom Gesellschaftlichen her noch starke '
Bindungen haben, die Menschen, die aus was für Gründen immer
die intellektuellen Probleme beiseiteschieben oder sie vielleicht
auch auf ihre private Weise unter Umständen sehr unkatholisch
lösen, sich aber dadurch in ihrer offiziellen « Kirchlichkeit » nicht
stören lassen. Die Kirche muß sich des eigentlichen Intellektuellen
von heute annehmen, sie darf ihn in seiner ihm eigenen Glaubens-
not und Glaubenswilligkeit nicht im Stich lassen. Wer diese Glau-
bensnot nicht wahrhaben will, verkennt die eigentliche Proble-
matik unserer Zeit. Sie ist da. Und darum hat die kirchliche Wis-
senschaft keine Inzucht zu treiben, sondern an die Menschen von
‚heute zu denken. Wenn sie dies aber tut, kann sie nicht an Fragen
vorbeikommen, die schwierig und gefährlich sind. Sie muß Lö-
sungen suchen, die neu und unerprobt sind, weil es einfach nicht
so ist, daß man nur die guten alterprobten Wahrheiten wieder-
holen oder sie höchstens didaktisch und psychologisch geschickt
neu formulieren müsse.
Es mag sein, daß die letzten Glaubensprobleme nicht auf dem
Feld theologischer Einzelfragen und Einzelprobleme entschieden
104
werden. Aber viele solcher Fragen, bei denen der nichttheolo-
gische Intellektuelle von heute den Eindruck hat, sie seien nicht
beantwortet, man habe keine ehrliche und einfache Antwort, man
drücke sich um sie herum, man verbiete ihre ehrliche Diskussion, -
erzeugen doch zusammen eine Situation und geistige Atmosphäre,
die-wenn auch noch die letzten Grundentscheidungen des Lebens
als lastend empfunden werden-für die Gläubigkeit des heutigen
Menschen tödlich werden können. Er muß deutlich und verständ-
lich auf diese Einzelfragen von der kirchlichen Wissenschaft eine
Antwort bekommen: wie es mit der Evolution stehe, was die Kirche
eigentlich zur ganzen Religionsgeschichte sage, wie es mit dem Los
der unzähligen Nichtchristen stehe, warum wir heute so wenige
und problematische Wunder (angeblich) haben, wo doch in den
alten Schriften deren viel herrlichere und überzeugendere erzählt
werden, wie es mit der Unsterblichkeit der Seele und dem Beweis
dafür bestellt sei. Solche und fast unzählige andere Fragen bilden
auch dort, wo sie gar nicht ausdrücklich gestellt werden (aus Mü-
digkeit und aus Furcht, das bißchen Glauben, das man noch ge-
rettet hat und bewahren will, noch mehr zu gefährden), die gei-
stige Situation, in derdie Intellektuellen von heute (und deren Zahl
wird immer größer) nun einmal immer und unentrinnbar leben.
Zu solchen Fragen gehören auch exegetische und bibeltheologi-
sche, Fragen nach der historischen Zuverlässigkeit der Schrift,
auch des Neuen Testaments, nach der Glaubwürdigkeit der darin
berichteten Wunder, nach der historischen Erkennbarkeit der Auf-
erstehung Jesu, nach der scheinbaren oder wirklichen Diskrepanz
der Auferstehungsberichte, nach dem Verhältnis der Lehre Jesu
zur Theologie und Praxis seiner Umwelt usw. Wenn die Exegese
"solchen und vielen ähnlichen Fragen ausweichen wollte, verletzte
sie ihre Pflicht. Solche Fragen sind schwierig und «gefährlich ».
Die Kirche hat immer anerkannt, daß es Schulen, theologische
Richtungen gibt, ja geben soll. Rein logisch gesehen waren die sich
widersprechenden Sätze dieser Schulen unter Umständen auch
objektiv glaubensgefährdend, weil nicht beide Sätze zweier sich
- bekämpfender Schulen gleichzeitig unter dem gleichen Gesichts-
punkt wahr sein können. Aber subjektiv hat man diese Glaubens-
gefährlichkeit mit Recht nicht empfunden; man wußte, daß beide
105
Schulen die zu wahrenden Grundprinzipien in solchen offenen
Fragen wirklich wahrten und wahren wollten. Man konnte daher
die Theologen ruhig unter sich disputieren lassen. Die Kirche griff
nicht ein, sondern ließ Freiheit zum Nutzen der Theologie.
Bei den heutigen Fragen, die der Theologie aufgegeben sind,
ist es garnicht zu vermeiden, daß Lösungen überdacht und geprüft
werden müssen, deren Vereinbarkeitmitderverpflichtenden Lehre
der Kirche nicht von vornherein eindeutig und offenkundig fest-
steht. Man kann auf solche Fragen nicht immer und überall mit
einer Antwort kommen, deren « Sicherheit» außer Zweifel steht
und gar nicht bestritten werden kann. Ob eine solche Antwort
kirchlich unbedenklich ist, muß sich oft erst langsam herausstel-
len. Solche Fragen mögen, soweit es geht, zunächst möglichst in
Fachkreisen diskutiert werden, bevor sie einem größeren Publi-
kum zugänglich gemacht werden. Das ist ein ganz gutes Prinzip.
Nur läßt es sich beim besten Willen nicht immer anwenden. Es
gibt nämlich sehr viele Fragen, die fachtheologisch noch nicht be-
reinigt und erledigt und doch schon Fragen der Menschen von
heute, nicht nur der Fachtheologen sind. Man kann dann diese
Menschen nicht einfach auf später vertrösten, auf die Zeit, in der
man sich in « Fachkreisen » zu einer « sententia communis » durch-
gerungen hat, die schon von der ganzen Theologie und dem kirch-
lichen Lehramt als solche anerkannt ist. Man muß jetzt eine Ant-
wort geben, man muß sie so sagen, daß auch der Nichtfachmann
eine Antwortaufseine Fragen hört. Eine solche Antwortkann dann
unter Umständen-wie sich später herausstellen wird-einfach
falsch sein, sie kann zu kurz geraten sein, sie kann gegen die beste
Absicht des betreffenden Theologen mit gewissen kirchlich-lehr-
amtlichen Prinzipien objektiv in Widerspruch stehen, sie kann
auch schon richtig, ja ausgereift sein, es kann aber unter Umstän-
den dabei noch nicht deutlich sein, daß gewisse lehramtliche Äuße-
rungen nichtdefinitorischer Art einer gewissen Revision bedürftig
sind (was nicht nur möglich ist, sondern auch schon nichtselten Tat-
sache war), es kann sein, daß auch eine neue richtige Ansicht
ein-
fach kirchensoziologisch einer gewissen « Inkubationszeit » bedarf,
bis «man» sich an sie gewöhnt und ihre Vereinbarkeit mit dem
alten Glauben der Kirche auch existentiell und gefühlsmäßig
er-
166
B
lebt hat. Das kirchliche Lehramt hat zweifellos das Recht und die
Pflicht, einen solchen Prozeß des Suchens und Tastens, der Dis-
‚kussion (der ernsthaften, von der wirklich etwas abhängt) zu über-
wachen, Auswüchse hintanzuhalten, sich anbahnende Entwick-
lungen, die sicher und klar in eine häretische Richtung gehen,
möglichst bald zu unterbinden. Das alles ist für jeden katholischen
Theologen selbstverständlich. Und er ist keineswegs der Meinung,
jede Maßnahme des kirchlichen Lehramts sei deswegen schon
falsch oder ungerecht, weil sie für diesen oder jenen Theologen
hart und bitter ist.
Aber es ist auch nicht so, daß man diese Zeit der Frage, der Dis-
kussion und des Suchens einfach überspringen und durch Ent-
scheidungen des kirchlichen Lehramts von vornherein ersetzen
könnte. Das kirchliche Lehramt ist die einzige Instanz, die nach
katholischer Lehre eine verbindliche. Gewissensentscheidung in
Sachen der Theologie, auch für den Fachtheologen, erlassen kann.
Es ist aber nicht die einzige Instanz, die als solche selbst allein die
offenen Fragen klären kann. Dazu bedarf es der Überlegung der
Theologen, der Diskussion. Die Theologen sind nicht nur ein hüb-
sches Übel in der Kirche, ein Debattierklub zum eigenen Vergnü-
gen. Siehaben eine eigenwertigeund unersetzliche Funktion. Diese
Tatsache wird nicht dadurch aus der Welt geschafft, daß die Lehr-
autorität des kirchlichen Oberen und die wissenschaftliche Kompe-
tenz auch in einer Person vereinigt sein können. Die Theologen
sind in der Kirche notwendig, sie müssen diskutieren, und sie
müssen heute Fragen diskutieren, bei denen in der Diskussion
auch noch unerprobte, gefährliche und sich aufdie Dauer vielleicht
als undurchführbar und unkatholisch herausstellende Meinungen
« gewagt»werden müssen.
Daß dies kein Freibrief ist für törichte und von vornherein für
jeden ordentlichen Theologen als theologisch unvollziehbar er-
kennbare Meinungen, braucht hoffentlich nicht lange betont zu
werden. (Wissenschaftstheoretisch ist freilich auch klar und soll
unverblümt gesagt werden: ein formales Prinzip, nach dem sofort
und über jeden Zweifel erhaben festgestellt werden könnte, wo
die Grenze zwischen den mit Recht der Diskussion überlassenen
und den a priori zu verwerfenden Meinungen verläuft, läßt sich
107
‚nicht angeben. So ist die wagende Entscheidung naclı bestem Wis-
sen und Gewissen auf beiden Seiten nie ganz vermeidbar: die
kirchliche lehramtliche Stelle kann etwas zuerst hindern oder ver-
bieten, was sich dann doch als durchaus diskutable Meinung her-
ausstellt; der einzelne Theologe kann eine Meinung als diskutabel
vertreten, die esin Wirklichkeit von vornherein nicht ist und mit
Recht sofortigen Widerspruch des kirchlichen Lehramts hervor-
ruft. Gegen diese mit der Kreatürlichkeit und Endlichkeit des
Menschen und der Kirche gegebenen Unzulänglichkeiten gibt es
nur ein Kraut: Demut, Geduld, Liebe.)
All das bisher Gesagte ist eigentlich selbstverständlich. Es wurde
nicht gesagt, weil man darin im Ernst verschiedener Meinung sein
könnte, sondern weil daran eine Folgerung angeknüpft werden
soll, die vielleicht weniger selbstverständlich, aber wichtig und
richtig zu sein scheint. Setzen wir den Fall: die Theologen disku-
tieren ein wirklich heikles, aber ihnen heute doch aufgegebenes
Problem in der Exegese. Dem Exegeten und Dogmatiker kann es
in solchenFällen obliegen, sein Wort in der Diskussion so zu sagen,
daß er die Meinung eines anderen Theologen als mit diesem oder
jenem Prinzip der lehramtlich verbindlichen katholischen Theo-
logie unvereinbar erklärt. Eine solche Meinung mag richtig sein
oder falsch. Sie muß geäußert werden können. Man kann nicht
einfach sagen, der andere habe doch auch selbst das Zeug, eine sol-
che Diskrepanz zu erkennen ;wäre diese also da, dann hätte dieser
andere Theologe, da er ja katholisch sei, diese Meinung selbst nicht
geäußert. Nein, esist durchaus möglich, daß ein Theologe in bester
Absicht etwas vorträgt, was, kirchlich und theologisch gesehen,
objektiv zu beanstanden ist, aber von ihm nicht immer sofort be-
merkt wird.
Wenn nun aber ein Theologe, der mit diesen ihm durchaus zu-
stehenden, ja unter Umständen pflichtmäßigen Waffen gegen
einen anderen auftreten könnte, sollte und auch wollte, annehmen
müßte, daß dies für den anderen unmittelbar die Gefahr der kirch-
lichen Zensurierung, des Verbots des betreffenden Buches oder
der Entfernung aus dem kirchlichen Lehramt bedeutete, dann
würde er sich voraussichtlich zum Schaden der Sache hüten,
mit
diesen, ansich legitimen, ja notwendigenMitteln gegen seinen Kol-
108
legen aufzutreten. Er schwiege, er würde um die Sache herum-
reden, er würde seine Ansicht nur in Vorlesungen äußern. Aber
so wäre der Sache nicht gedient, und die freimütig brüderliche
Offenheit, die unter katholischen Theologen herrschen soll, litte
Schaden. Man kann in einem solchen Fall nicht sagen, der andere
habe sich doch durch seine Meinungsäußerung selbst zuzuschrei- |
ben, daß er in die Gefahr einer Maßregelung von seiten der kirch-
lichen Behörde kommt. Der Kollege, der daran denkt, dieMeinung
des andern zu bekämpfen, kann dabei ja durchaus der ehrlichen
Ansicht sein, daß sein Gegner ein hervorragender Theologe ist,
daß seine Meinungsäußerung, auch wenn sie nicht angenommen
wird, dieSache fördert, daß sein Gegner von untadeligerkirchlicher
Gesinnung ist. Er kann also der durchaus ernsthaften Meinung
sein, daß sein Gegner vor einer kirchenamtlichen Zensurierung
bewahrt bleiben solle, obwohl er dessen Meinung gänzlich ablehnt
und bekämpfen möchte. Wenn er nun den Eindruck hätte, fürch-
ten zu müssen, daß auf Grund seines Neins zu der Meinung seines
Gegners dieser doch in Gefahr kommt, kirchlich zensuriert zu
werden, dann würde er sich eben hüten, diese seine Meinung in
der angedeuteten Form zu äußern. Er will nicht an einer solchen
Zensurierung schuld sein. Das ist verständlich und durchaus ehren-
haft.
Solches Schweigen oder Leisetreten ist aber dann ein Schaden
für die Sache. Denn es verhindert die notwendige Diskussion, so-
gar unter Umständen den notwendigen Schutz der katholischen
Lehre, der ja zu einem Teil auch den Theologen obliegt. Es
zwänge die kirchlichen Behörden, eine Funktion zu übernehmen,
die an sich die Theologen selbst hätten ausüben sollen, es drängte
die theologische Diskussion aus der Öffentlichkeit der Zeitschriften
und Bücher in eine Art Maquis der sich nur mündlich befehdenden
Parteien.
Nun soll mit dem Gesagten nicht unterstellt werden, die kirch-
lichen Behörden übernähmen an sich unbesehen einfach das Ver-
dikt eines Theologen gegen die Meinung eines anderen oder sie
ergriffen eine unnötige und ungerechte Maßnahme, wenn sie eine
solche Zensurierung vornähmen. Aber man wird auch nicht sagen
können, daß eine solche a priori und immer ausgeschlossen, daß
109
FE
sie noch nie vorgekommen sei. Sind aber voreilige, objektiv unge-
rechte oder zu harte, der größeren Sache, der alle dienen wollen,
abträgliche Maßnahmen kirchlicher Behörden in solchen Dingen
a priori nicht unmöglich, dann kann ein Theologe sie auch fürch-
ten. Hätte er den Eindruck, daß sich so etwas relativ leicht ereigne,
dann würde er sie gegenüber seinen Kollegen zu vermeiden suchen.
Die Diskussion würde lahmgelegt und die Probleme blieben unge-
‚löst. Denn eine Zensurierung kann im besten Fall einen falschen
Wegversperren ; aberdamitistderrichtige Wegnoch.nichteröffnet.
Bei dieser Sachlage kann man somit der Meinung sein, daß sol-
che (rechtlich und sachlich an sich durchaus möglichen und unter
Umständen auch nötigen) kirchenamtlichen Maßnahmen gegen
Theologen, die ihre Meinung in freier Diskussion aus ehrlicher
Verantwortung gegenüber ihrer Pflicht als Professoren äußern,
doch nur selten und vorsichtig und nach Prüfung aller Umstände
. und aller Entlastungsgründe vorgenommen werden sollten. Sonst
wird die notwendige Funktion, die die theologische Diskussion in
der Kirche hat, zum Schaden der kirchlichen Lehre, nicht zu ihrem
Nutzen gestört. Solche Maßnahmen dürfen nicht stillschweigend
von dem Vorurteil ausgehen, daß jede falsche Lehre, die nicht
ausdrücklich vom kirchlichen Lehramt verboten wurde, unge-
hindert weiterwuchere und nie durch die Klärung der Fragen mit
rein theologischen Mitteln überwunden werden könne. Wenn
solche kirchlichen Zensurmaßnahmen zu oft und zu rasch erfolg-
ten, entstünde wider alle Absicht unwillkürlich in theologischen
Kreisen die Meinung, eine Ansicht sei darum auch schon mit dem
katholischen Glauben vereinbar, weil sie nicht sofort vom Lehr-
amt beanstandet wurde. Geschieht das aber im Einzelfall über-
haupt nicht, weil es gar nicht in jedem Fall geschehen kann, dann
getraute sich der Theologe erst recht nicht mehr, seine gegenteilige
Meinung zu äußern. Er stünde unter dem Eindruck, sein Wider-
spruch müsse falsch sein, weil ihn ja sonst auch schon die kirchliche
Behörde hätte erheben müssen. Dies zwänge dann wieder die kirch-
liche Behörde zu rascherem Handeln, damit nicht der Eindruck
entstünde, diese oder jene Ansicht sei katholisch tragbar. Die not-
wendige Funktion der katholischen Theologie würde paralysiert.
Unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß eine nichtdefini-
110
f
111
wT». \ 4 an ’
Wr RE RCE
zn WR
ES .,
are a en
2 es Va Seele AEeeae.
BEWR RR ee Pe
er E20 ER ü he 7
ER
RRREE Ba,
f ü E 2 ! 1
BSR En 2
|
FE ur
GESCHICHTSTHEOLOGISCHES
_ WELTGESCHICHTE UND HEILSGESCHICHTE
' Das Thema, dessen Behandlung mir aufgetragen worden ist, lau-
tet: Weltgeschichte und Heilsgeschichte. Unter dieser Überschrift
können sich so viele Fragen und Anliegen bergen, daß ich zweifle,
ob es mir gelingt, gerade diejenigen herauszufinden, die man von
mir vielleicht erwartet. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als
einige Fragen aus dem ganze Themenkreis herauszugreifen, die
einem katholischen Theologen nicht unwichtig zu sein scheinen.
Was so gesagt werden kann, sei in ein paar ganz einfachen Thesen
formuliert, die dann noch etwas verdeutlicht werden.
1.Heilsgeschichte ereignet sich in Weltgeschichte. Heil ist
zwar das, was den ganzen Menschen endgültig in seine Vollen-
dung stellt, was ihm von Gott letztlich gegeben werden muß, was
noch nicht ist, was (im besten Fall) noch werden muß. Und dieses
Heil ist nirgends einfach in der Welt antreffbar. Es wäre sogar
eine absolute Grundhäresie, wollte ein Mensch irgendeinen an--
treffbaren Zustand in der Welt, der schon gegeben ist oder vom
Menschen selbst durch eigene Planung und Tat realisiert werden
kann, als sein Heil verstehen, also als das eigentlich Gemeinte, das
Endgültige und Beseligende. Das Heil als absolut transzendentes _
Geheimnis, als das von Gott her unverfügbar Kommende gehört
zu den Grundvorstellungen des Christentums. Das vollendete Heil
ist kein Moment in der Geschichte, sondern deren Aufhebung,
kein Gegenstand des Besitzes oder der Herstellung, sondern des
Glaubens, der Hoffnung und des Gebetes. Und dadurch sind alle
innerweltlichen Heilsutopien schon als zu verdammende Lehren
verworfen. Die Geschichte wird als der Raum erklärt, in dem das
Heil nicht zu finden ist. Die Geschichte bleibt immer der Raum
des Vorläufigen, des Unvollendeten, des Zweideutigen, des Dialek-
tischen, und der innerweltliche Griff nach dem Heil und nach
der Vollendung in der Weltgeschichte als solcher selbst bliebe ein
Stück Geschichte, das zu ihrem unheilen, gottlosen und vergeb-
lichen gehören würde und - selbst sich in andere Geschichte auf-
höbe, die nach ihr käme.
115
x 1)
116
oder des Kultes und der « Religion » im engeren Sinn, in Begeg-
nung mit dem Nächsten, mit der geschichtlichen Aufgabe, mit
dem sogenannten Alltag, in und mit dem, was wir Geschichte des
Individuums und der Gemeinschaften nennen. Und darum ge-
schieht inmitten der Geschichte selbst Heilsgeschichte. In allem,
was der Mensch treibt und was ihn treibt, wirkt er sein Heil oder
sein Unheil. Alles in der Weltgeschichte geht schwanger mit
Ewigkeit und ewigem Leben oder unendlichem Verderben.
Aber noch ein drittes Moment dieses Inseins der Heilsgeschichte
in Profangeschichte muß hervorgehoben werden, das für ein katho-
lisches Verständnis dieses Verhältnisses charakteristisch ist, mehr
wohl als die beiden ersten. Diese Heilsgeschichte ist zwar (wie
wir noch ausführlicher werden sagen müssen) in ihrem eigenen
Gehalt und ihrer eigenen Wirklichkeit in der Profangeschichte
verborgen, weil die unmittelbar geschichtlichen greifbaren Er-
eignisse und Wirklichkeiten von sich aus in ihrer Zweideutigkeit
von Heils- oder Unheilshaftigkeit nicht gedeutet werden können,
nicht von sich aus eindeutig verraten, ob hier und jetzt in ihnen
Heil oder Unheil sich ereignet. Aber diese Verborgenheit der
Heilsgeschichte in einer zweideutigen, offenen und von ihr selbst
her nicht heilsmäßig interpretierbaren, nicht «richtbaren » Pro-
fangeschichte bedeutet doch wieder nicht, daß die Heilsgeschichte
sich darum nur in einer individuellen transempirischen Geschichte
der einzelnen Existenz, des Gewissens, des absolut ungreifbaren
Glaubens abspiele und einfach bloß hinter einer absolut stumm
und gleichgültig gegenüber der Heilsgeschichte verlaufenden
Profangeschichte als Übergeschichte, Glaubensgeschichte ver-
laufe. Die Profangeschichte im allgemeinen und ganzen ist zwar
hinsichtlich der Frage, was an ihr Heil oder Unheil sei, zweideu-
tig und von sich her nicht mit Sicherheit interpretierbar, sie wird
sich einer eindeutigen Interpretation in dieser Hinsicht erst öff-
nen in dem, was wir das Endgericht nennen, das selbst nicht ein
Moment der Geschichte ist, sondern ihre enthüllende Aufhebung.
Aber eben dies bedeutet nicht, daß sie nicht da und dort transpa-
rent würde, in Zeichen und Verweisen von sich aus den Menschen
auf die Glaubens- und Heilsfrage aufmerksam mache, diese Frage
für ihre Beantwortung in einer bestimmten Richtung orientiere.
ALL
Die an sich verborgene Heilsgeschichte wirkt sich in der Dimen-
sion der Profangeschichte, in der sie sich vollzieht, selber auch aus.
Der heilschaffende Gott ruft den Menschen in der Dimension der
Geschichte innerhalb ihrer profanen Dimension an: durch die
Propheten, die worthaft und in gesellschaftlicher Greifbarkeit die
inwendig geschehende Gnaden- und Offenbarungsgeschichte in-
terpretieren, sozial greifbar machen, durch jene empirischen Fak-
ten legitimieren, die wir Wunder nennen, die dem Glauben vor-
ausgehen und ihm eine innerweltliche Legitimation vor der Ver-
nunft und der sittlichen Verantwortung des Menschen geben,
wenn sie ihn auch nicht erzeugen können und nicht erzeugen
wollen. Die innerweltliche Geschichte ist dann vor allem und in
einer innerweltlich nicht mehr überbietbaren Weise auf das Heil
hin transparent geworden durch das Christusereignis in Jesus von
Nazareth, durch seine Auferstehung und den Erweis des Geistes,
den er spendet. Mit anderen Worten: der eine Mensch, deralseiner
und ganzer vorderHeilsentscheidung in seinem geschichtlichen Da-
sein steht, hat letztlich nur eine Geschichte, so daß es darin keine
so abgegrenzten Regionen gibt, daß sie in keiner Weise von der
Gnaden- und Glaubensgeschichte in seinem Dasein mitbestimmt
wären (oder umgekehrt). Und diese eine Geschichte ist nicht so
einerlei und homogen, daß das Heil und die Tat Gottes so deut-
lich und so immer und überall in ihr anwesend wären, daß eine
profane Zone überhaupt nicht mehr erfahrbar wäre oder die echte
Glaubensentscheidung gar nicht mehr möglich wäre, weil der
Mensch, wohin er sich auch wenden würde in seiner Geschichte,
überall in gleicher Unausweichlichkeit und Unvermeidlichkeit
Gott und seinem Heilsangebot begegnen würde. Die Frage, ob
nur mit den Augen des Glaubens diese Transparenz der Heils-
geschichte durch die Profangeschichte faktisch so erblickt werden
kann, daß sie auch angenommen wird, ist dabei noch eine Frage,
die hier ganz offen bleiben kann. Die Gesamtheit der Profan-
geschichte ist auf jeden Fall auch in ihrem eigentlichen Bereich
beunruhigend, verweisend, aufgebrochen und enthält für den
nach dem Heil fragenden, mit der Möglichkeit einer personalen
Selbsterschließung rechnenden Menschen Hinweise, « Zeichen »
daraufhin, wo sich dieses Heil in seiner Geschichte ereignet hat,
118
*
den Geheimnisses, das wir Gott nennen, als die Dynamik, der
wirklich gegeben ist, anzukommen, anzunehmen, nicht nur die
ewig asymptotische Bewegung auf die Unendlichkeit Gottes hin
zu sein, sondern diese zu erreichen, weil Gott sich ihr selbst von
sich aus gibt, und zwar so, daß er sich ihr schon jetzt als die in-
nerste Kraft und Legitimation dieser Bewegung unendlicher
Transzendenz eingestiftet hat. Ist dem aber so, dann verwirklicht
diese durch den allgemeinen Heilswillen Gottes gegebene über-
natürliche Erhöhung des Menschen schon von sich selbst her den
Begriff einer Offenbarung. Nicht zwar schon durch sich allein im
Sinn einer satzhaft ausgesprochenen Mitteilung über einen be-
stimmten umgrenzten Einzelgegenstand, wohl aber im Sinn einer
Bewußtseinsveränderung (wenn auch nicht Gewußtheitsverän-
derung), die einer personalen Selbstmitteilung Gottes in Freiheit
als Gnade entstammt und also durchaus schon als Offenbarung an-
gesprochen werden kann, zumal in ihr ja schon das seinshaft und
real als Gnade mitgeteilt ist oder angeboten wird, was schließlich
auch allen Inhalt der eigentlich satzhaft und in menschlichen Be-
griffen geschehenden Offenbarung Gottes ausmacht: Gott und
sein ewiges Leben selbst, wie es als Selbstmitteilung Gottes in
Gnade und Glorie das Heil der Menschen ist. Nimmt der Mensch
solche übernatürlich erhobene Transzendenz, den übernatürlichen
Horizont, also diese Offenbarung Gottes in der Selbstmitteilung
des Geoffenbarten an, dann vollzieht er, wenn zunächst auch in
einer sehr unthematischen Weise, das, was man christlich durch-
aus Glaube nennen kann. Daraus aber ergibt sich nun, daß es
eine Heils-, Offenbarungs- und Glaubensgeschichte gibt, die der
allgemeinen profanen Geschichte koexistent ist. Wir nennen sie
als solche allgemeine Heils- und Offenbarungsgeschichte, um sie
von derjenigen Heils- und Offenbarungsgeschichte zu unterschei-
den, auf die wir gleich ausdrücklich zu sprechen kommen müs-
sen. Natürlich ist im Begriff der allgemeinen Heils- und Offenba-
rungsgeschichte der Begriff der « Geschichte » in einem weiteren
und (wenn man will) abgeschwächten Sinn zu verstehen, wie
kurz schon früher angedeutet wurde. Man kann die angezielte
Wirklichkeit Heils- und Offenbarungsgeschichte nennen, weil es
sich sowohl von seiten Gottes wie des Menschen um wirkliche
125
Entscheidungen und Taten der Freiheit, um gegenseitige per-
sonale Kommunikationen handelt, die konkret vollzogen werden in
und am Material der profanen Geschichte. Man kann diese allge-
meine Heils- und Offenbarungsgeschichte nur in einem weiteren
Sinn Geschichte nennen, weil sie als solche streng von ihrem
apriorisch transzendentalen Ansatz her noch nicht in jenen im
Wort und in den objektiven Kulturgütern geschehenden Objektiva-
tionen geschieht, die eine unmittelbare Interkommunikation un-
ter Menschen, konkrete Gemeinschaft von Menschen, reflex er-
greifbares Wissen um Beziehung auf empirisch erfahrene und
mitteilbare Wirklichkeiten ermöglicht, kurz Geschichte im vollen
Sinn des Wortes darstellt. Damit ist nun doch wiederum nicht ge-
sagt, daß diese allgemeine Heils- und Offenbarungsgeschichte sich
in einer absolut metaempirischen Region hält, die mit der Greif-
barkeit der normalen Geschichte nichts zu tun hätte. Jene Grund-
befindlichkeit, jener Horizont gnadenhafter Art, von dem wir ge-
sprochen haben und der die Grundlage dafür ist, daß es eine all-
gemeine Offenbarungs- und Glaubensgeschichte zu allen Zeiten
und auch außerhalb des Alten und Neuen Bundes gibt, wird sich
in der konkreten Geschichte der Menschen auch dann bemerkbar
machen, und auf seine konkreten Gestaltungen der Religion, des
Selbstverständnisses des Menschen, seiner Philosophie und Sitt-
lichkeit Einfluß nehmen, wenn dieser Horizont als solcher in
begrifflicher Reinheit und Sicherheit der Wahrheit nicht oder
nicht ohne weiteres thematisch gemacht werden kann. Bei der
Einheit der Dimensionen des menschlichen Daseins und bei der
Berufenheit des ganzen Menschen zum Heil, bei der inneren Dy-
namik der Gnade, sich in allen Dimensionen des Menschen hei-
lend und heiligend und vergöttlichend auszuwirken, ist überdies
zu erwarten, daß immer und überall, wenn auch in verschiedener
Stärke und mit sehr verschiedenem Erfolg, diese vergöttlichte
Grundbefindlichkeit des Menschen sich zu thematisieren sucht aus
der Dynamik der Gnade selbst heraus unter einer übernatürlichen
Heilsprovidenz Gottes, sich zu objektivieren sucht in ausdrücklichen
religiösen Aussagen, in Kult, in religiösen Vergesellschaftungen,
in Protest «prophetischer» Art gegen eine naturale Selbstver-
schließung des Menschen in seiner kategorialen Welt und gegen
124
«
126
charakter oder Unheilscharakter hin eindeutig durch das Wort
Gottes in der Geschichte interpretiert wird und wo die Taten
Gottes in der allgemeinen Heils- und Offenbarungsgeschichte
durch das Wort Gottes eindeutig und sicher objektiviert werden
und wo die absolute, unüberbietbare und unaufhebbare Einheit
von Gott und Welt und deren Geschichte in Jesus Christus durch
die worthafte Selbstbezeugung Christi geschichtlich manifest
wird, dort ist die besondere, amtliche Heils- und Offenbarungs-
geschichte gegeben und diese auch gleichzeitig abgesetzt und un-
terschieden von der Profangeschichte, weil dieses deutende und
offenbar machende Wort Gottes, das die amtliche besondere, von
der allgemeinen Heils- und Offenbarungsgeschichte zu unter-
scheidende Offenbarungs- und Heilsgeschichte konstituiert, nicht
immer und überall geschieht, sondern seinen besonderen Raum-
zeitpunkt innerhalb der Geschichte hat und auch nicht alle ir-
dische Geschichte in ihrem Heils- und Unheilscharakter eindeu-
tig deutet, sondern auf weite Strecken ungedeutet läßt, wenn es
auch dem glaubenden und hoffenden Wagnis des geschichtlich
existierenden Menschen Interpretationsregeln an die Hand gibt
für diese Profangeschichte, auf die wir noch zu sprechen kommen
werden. Diese Absetzung der Heilsgeschichte von der Profange-
schichte hat selbst nochmals ihre Geschichte. Sie war nicht zu al-
len Zeiten gleich intensiv und gleich deutlich. Sie kann es auch
nicht sein. Denn durch die allgemeine Gnaden-, Heils- und Of-
fenbarungsgeschichte ist ja ein wirkliches Heilshandeln der Welt-
geschichte koexistent und geschieht innerhalb dieser immer und
überall. Und von daher ist die Heilsgeschichte immer auch schon
der geheime Grund der Profangeschichte, der sich in ihr selbst
auch immer wieder manifestiert: das Religiöse ist überall der
Sinn und die Wurzel der Geschichte und dieses Religiöse ist nie
nur die sublimste Blüte einer bloß menschlichen Kultur als Werk
der Menschen, sondern innerlich schon getrieben durch die von
Gott gewirkte Gnade, innerlich schon mitbestimmt durch die
eigentliche allgemeine Heilsgeschichte. Und wo sich diese so
deutlich bemerkbar macht, daß sie selbst geschichtlich im Wort
und in den Objektivationen des Geistes der Geschichte greifbar zu
werden beginnt, da geht die allgemeine Heilsgeschichte in die be-
127
sondere über: man weiß nicht genau, ist dieser oder jener ein re-
ligiöser Denker, ein religiös schöpferisch begabter Mensch oder
schon ein Prophet, ist diese oder jene religiöse Erfahrung die My-
stik der suchenden unendlichen Transzendenz oder schon die
Mystik der Erfahrung der Gnade, die die Dynamik des Geistes in
das göttliche Leben hineinträgt, ist dies oder jenes in Kult, reli-
giöser Vergesellschaftung, Sitte von Gott zugelassen, gefördert,
eigentlich gewollt, damit es geschichtliche Leibhaftigkeit jener
Gottzugewandtheit der Tiefe des Menschen sei, ohne die keiner
sein Heil findet. Wir wissen, daß das Alte Testament als ganzes in
seinen großen Gottesmännern und in dem, was sich als von Gott
legitimiert in der Heiligen Schrift des Alten Testaments objekti-
viert hat, von Gott wirklich als von ihm gewollt, als seine eigene
Heilsveranstaltung anerkannt worden ist, also wirkliche Heils-
geschichte innerhalb und abgegrenzt von Profangeschichte war.
Aber dennoch sind auch im Alten Testament die Grenzen zwi-
schen Heils- und Profangeschichte noch sehr fließend: der Mensch
im Alten Testament konnte nur schwer zwischen den legitimen
und falschen Propheten unterscheiden, da sie ja nur sporadisch
auftraten und keine institutionelle Instanz gegeben war, die mit
einer absoluten Unterscheidung der Geister immer zwischen ech-
ten Propheten und legitimer religiöser Erneuerung und Kritik
einerseits und falschen Propheten und religiös pervertierenden
Entwicklungen hätte unterscheiden können; der ganze Alte Bund
als ganzer konnte von seiner Sendung abfallen und sich so aus
einer legitimen amtlichen geschichtlichen Greifbarkeit des Heils-
willens Gottes für das Volk Israel zu einem leeren Zeichen, zu
einer illegitimen Usurpation der Repräsentanz der Gnade Gottes
in der Welt werden. Und es ist nicht gesagt, daß es nicht auch für
andere Völker analog zum Alten Testament Heilsveranstaltungen
Gottes geschichtlich greifbarer Art gab, wenn auch das Privileg
Israels bleibt, daß seine greifbare und einigermaßen abgesetzte
Heilsgeschichte die unmittelbare Vorgeschichte der Fleischwer-
dung des Logos war und nur sie in der Weise autoritativ gedeutet
wurde durch das Wort Gottes in der Schrift, daß sie eben dadurch
von anderer Profangeschichte (die ja auch immer religiöse Wirk-
lichkeiten in sich birgt) abgegrenzt und so erst amtliche und spe-
128
zielle Heilsgeschichte im Unterschied von Profangeschichte wurde.
Erst in Jesus Christus ist nun eine absolute und unlösliche Einheit
zwischen Göttlichem und Menschlichem erreicht und diese Ein-
heit in der Selbstoffenbarung Jesu auch geschichtlich anwesend,
so daß diese Heilsgeschichte eindeutig und bleibend abgegrenzt
ist von jeder Profangeschichte mit all dem, was aus diesem Chri-
stusereignis erfolgt und in seiner Weise an dieser Endgültigkeit
und Unüberbietbarkeit des Christusereignisses und so an seiner
' Abgesetztheit von der Profangeschichte partizipiert: Kirche,
Sakramente, Schrift. Aber eben in dem, daß hier in Christus und
Kirche die Heilsgeschichte ihre eindeutigste und unverlierbare
Unterscheidung von der Profangeschichte erreicht, wirklich eine
eindeutig abgegrenzte Erscheinung innerhalb der Weltgeschichte
wird und so innerhalb dieser Geschichte die allgemeine Heilsge-
schichtezu ihrem Selbstverständnisundihrer worthaften und gesell-
schaftlichen Geschichtlichkeit bringt, ist diese abgegrenzte Heils-
geschichte ausdrücklich worthafter, gesellschaftlicher und sakra-
mentaler Art auch die Größe, die für alle Menschen aller kommen-
den Zeiten bestimmt ist. Sie will die ganze allgemeine Heils- und
Offenbarungsgeschichte in sich einbringen, durch sich selbst ge-
schichtlich darstellen, sie strebt also zu einer Deckung mit der all-
gemeinen Heils- und Offenbarungsgeschichte und somit auch zu
einer solchen mit der Profangeschichte, wenn sie auch weiß, daß
diese beiden Identifizierungen in der Geschichte nie erreicht, son-
dern erst in deren Aufhebung verwirklicht werden.
3. Die Heilsgeschichte deutet die Profangeschichte. Das ist das
Dritte, was zu unserem Thema hier gesagt werden soll. Es ist mit
diesem Satz sowohl gemeint, daß die Heilsgeschichte die Deutung
der Profangeschichte ist, weil sie (als allgemeine) deren tiefstes
Wesen und Untergrund ist, weil sie als (amtliche und besondere)
dieses letzte Wesen der Geschichte überhaupt zu der Erscheinung
bringt, in der sich das Heil ereignet und zugleich geschichtlich
zeigt, als auch daß die Heilsgeschichte durch ihr Wort eine Deu-
tung der Profangeschichte bietet. Diese beiden Aspekte des Satzes
brauchen nicht gesondert erwogen zu werden.
a) Die Heilsgeschichte setzt die Weltgeschichte von sich ab und
entmythologisiert und entnuminisiert sie. Schöpfung und Ge-
129
"AL...
N
schichte sind nicht schon Heil. Das Heil ist Gott und seine Gnade
und diese ist nicht einfach mit der Geschichte treibenden Wirk-
lichkeit identisch. So wie das Christentum die Welt entnumini-
siert, indem es sie als Geschöpf, das von Gott wesenhaft verschieden
ist, erklärt und verbietet, die Welt einfach als die Leibhaftigkeit
der Götter zu betrachten, so ist es auch mit der Geschichte. Sie ist
nicht einfach die Geschichte Gottes selbst, nicht Theogonie, sie
hat darum ihren letzten Grund nicht in sich selbst, sie erklärt sich
nicht von sich selbst her, sie ist nicht das Weltgericht, sie ist ge-
schöpflich, endlich, zeitlich, auf das Geheimnis verwiesen, das sie
nicht ist. Kronos und die Ananke der Geschichte sind keine Götter.
Und in diese entgöttlichte Welt ist der Mensch hinausverwiesen.
Er lebt nicht einfach nur in der Heilsgeschichte. Er ist Christ und
wirkt sein Heil, gerade indem er die Nüchternheit des Profanen
auf sich nimmt, das nicht schon das Heil selber ist. Die Heilsge-
schichte schafft sich gerade ihre Voraussetzung, indem sie das
Profane, das Zweideutige, das Gott Verbergende, in einem Wort
Welt und Profangeschichte schafft als Klima des Glaubens und der
Bewährung. Das Schweigen der Heilsgeschichte über die Profan-
geschichte, das Offenlassen ihrer Fragen, das Wachsenlassen des
Unkrauts unter dem Weizen, ohne beide eindeutig unterscheiden
zu wollen, die Unzuständigkeitserklärung, die das Christentum
gegenüber dem «Weltlichen», dem Staat und der Politik, der
Wirtschaft und allen anderen Kultursachgebieten abgibt, sieht
zunächst für den, der meint, mit der Welt allein leicht fertig zu
werden, wie eine nur zu erwünschte Bescheidung aus. Aber in
Wirklichkeit hat dieser Dualismus von Staat und Kirche, von
Wissenschaft und Theologie, kurz von Christentum und Welt
samt ihrer Geschichte noch eine ganz andere Seite: Gott läßt die
Geschichte sich selber ausgeliefert sein: dem Gang ins Unbe-
stimmte, dem Versuch, der Verantwortung der eigenen Planung,
der Möglichkeit der Verirrung, der tragischen Selbstauf hebung
usw., und zwar auch dort, wo man dem Wort Gottes und seinen
Geboten nicht ungehorsam ist. Die Heilsgeschichte schickt also
den Heilssuchenden auch in die profane Geschichte hinaus, die
dunkel, ungedeutet, unübersehbar, Aufgabe bleibt, und gebie-
tet ihm, es darin auszuhalten, sich darin zu bewähren, im Un-
150
'
gedeuteten an den Sinn zu glauben, so gerade Gott als das Heil
anzunehmen, kurz: indem die Heilsgeschichte eine von ihr ver-
schiedene Profangeschichte als solche von sich absetzt, schickt sie
den Menschen in eine entmythologisierte Welt hinaus, die nicht
so sehr der Raum des Waltens von Göttern als vielmehr das Ma-
terial der Aufgabe ist, die dem Menschen gestellt ist, ja die er, der
homo faber, sich selbst stellt und stellen darf, um zu wissen, daß,
wenn er diese Aufgabe erfüllt hat, er immer noch nicht das Heil
erobert hat, sondern als Geschenk Gottes empfängt, weil es mehr
als Welt und Geschichte ist.
b) Die Heilsgeschichte deutet die Weltgeschichte als antagoni-
stische und verhüllte. Gerade weil das Heil nicht einfach die im-
manente Frucht der Profangeschichte ist, ist das Christentum die-
ser Profangeschichte gegenüber skeptisch. Es entläßt den Men-
schen in seine weltliche Aufgabe, gerade weil er in der Verhüllt-
heit und Zweideutigkeit dieser irdischen Aufgabe sein Heil als das
aus Glauben wirken soll. Aber eben diese weltliche Aufgabe ist
für das Christentum die immer unvollendete, die im letzten im-
mer wieder scheiternde. Denn sie hat für den einzelnen Men-
schen immer eine absolute Grenze, den Tod. Und ebenso erklärt
das Christentum auch für die Universalgeschichte, daß auch in
ihr mitten drin der Tod steckt. Das heißt die Vergeblichkeit, die
aus der Unübersehbarkeit des immer nur teilweise Planbaren er-
wächst, die aus dem bösen Herzen des Menschen heraus immer
wieder aufs neue über die allem Endlichen immanente Tragik
hinaus entspringt. Das Christentum kennt keine Geschichte, die
aus ihrer innerer‘ Dynamik heraus sich in das Reich Gottes selbst
hinein entwickelt, ob man dieses Reich als Reich des aufgeklärten
Geistes, der völlig zivilisierten Menschen, der klassenlosen Gesell-
schaft oder wie immer konzipieren will. Die Formen, unter denen
sich der Gegensatz zwischen Mann und Frau, zwischen Gescheit
und Dumm, Reich und Arm, Krieg und Frieden, Herrschenden
und Untergebenen und allen anderen unausrottbaren Gezweit-
heiten der Existenz abspielt und abspielen wird, mögen sich
wandeln, mögen sich verfeinern und erträglicher werden, und
diese Humanisierung mag sogar eine Pflicht der Menschheit sein,
die ihr aufgetragen ist und deren Erfüllung bis zu einem gewissen
151
Grad auch durch die Notwendigkeiten der Geschichte erzwungen
wird: die Gegensätze bleiben, sie werden immer lasten, sie werden
den Schmerz und die bittere Melancholie des Daseins immer aufs
neue erzeugen. Ja das Christentum kennt in seiner Eschatologie
sogar eine fortwährende Verschärfung dieser innerweltlichen An-
tagonismen, des Kampfes zwischen Licht und Finsternis, zwischen
Gut und Böse, Glauben und Unglauben. So wenig dieser eigent-
lich heilsgeschichtliche Kampf jemals so ausgetragen werden
wird, daß die menschlichen Kämpfer auf den beiden Seiten der
Fronten dieses Kampfes sich adäquat identifizieren könnten oder
identifiziert werden dürften mit dem absolut Guten oder absolut
Bösen, sosehr diese letzten heilsgeschichtlichen Fronten immer
nur von Gott adäquat unterscheidbar quer durch die Parteien die-
ser weltgeschichtlichen Kämpfe und quer mitten durch den ein-
zelnen Menschen verlaufen werden, so ist es doch nach der christ-
lichen Eschatologie so, daß die heilsgeschichtlichen Entscheidun-
gen sich in immer schärferen Formen und in immer deutlicheren
Repräsentationen abspielen werden und diese Entscheidungen in
den letzten Tiefen der Existenz sich doch auch ihre Leibhaftigkeit
und Ausdrücklichkeit innerhalb der Weltgeschichte verschaffen
werden, wenn auch innerhalb dieser Objektivationen das letzte
Urteil, das Weizen und Unkraut eindeutig scheidet, Gott allein
zusteht. Das Christentum bestreitet, daß sich die Weltgeschichte
auf den ewigen Frieden hin entwickelt, wenn dies auch nicht
heißt, daß der Krieg, der immer sein wird, gerade mit Hellebar-
den oder Atombomben ausgetragen werden müsse. Das Christen-
‚tum weiß, daß jeder Fortschritt in der Profangeschichte auch ein
Schritt zur Möglichkeit größerer Gefährdungen und tödlicher Ab-
stürze ist. Die Geschichte wird nie die Stätte des ewigen Friedens
und des schattenlosen Lichtes sein, sondern das Land des Todes
und der Finsternis, wenn dieses Dasein gemessen wird an dem
absoluten Anspruch des Menschen, den zu stellen Gott dem Men-
schen die Möglichkeit, ja sogar die unausweichliche Pflicht
schenkt.
c) Die Weltgeschichte ist für die Deutung des Christentums die
existentiell depotenzierte. Wir müssen vorsichtig sein in der
Schätzung der Bedeutung der Profangeschichte. Der Christ ist
152
Y
189
DAS CHRISTENTUM
UND DIE NICHTCHRISTLICHEN RELIGIONEN!
136
x
heit der Religionen, die es auch noch in der Zeit des Christentums
gibt und zwar immer noch nach einer zweitausendjährigen Ge-
‘schichte und Mission dieses Christentums. Gewiß ist es richtig,
daß diesen Religionen allen zusammen samt dem Christentum sel-
ber heute ein Feind gegenübersteht, den sie früher nicht hatten,
die dezidierte Religionslosigkeit, die Verneinung der Religion
überhaupt, eine Verneinung, die gewissermaßen mit der Inbrunst.
einer Religion, eines absoluten und heiligen Systems als der Grund-
lage und dem Maßstab allen weiteren Denkens auftritt, so paradox
es klingen mag, die staatlich organisiert sich als die Religion der
Zukunft vorstellt, als die dezidierte, absolute Profanität und Ge-
heimnislosigkeit des menschlichen Daseins, so bleibt es doch eben
wahr, daß gerade dieser Zustand der Bedrohtheit der Religion
überhaupt eine seiner wichtigsten Waffen und Erfolgschancen in
der Zerrissenheit der religiösen Menschheit hat. Und davon ab-
gesehen: für das Christentum ist dieser religiöse Pluralismus eine
größere Bedrohung und der Grund einer größeren Unruhe als für
alle anderen Religionen. Denn keine andere, nicht einmal der
Islam, setzt sich selbst so absolut als die Religion, als die eine und
einzig gültige Offenbarung des einen, lebendigen Gottes wie das
Christentum. Für es also muß der faktische, bleibende, immer
noch neu virulente Pluralismus der Religionen nach einer zwei-
tausendjährigen Geschichte das größte Ärgernis und die größte
Anfechtung sein. Und diese Anfechtung ist heute auch für den
einzelnen Christen bedrohlicher als je zuvor. Denn früher war die
andere Religion praktisch auch die Religion eines anderen Kultur-
kreises, einer Geschichte, mit der man selbst nur ganz am Rande
seiner eigenen Geschichte kommunizierte, war die Religion der
auch in jeder anderen Hinsicht Fremden. Kein Wunder also, daß
man sich nicht wunderte, daß diese so Anderen und Fremden auch
eine andere Religion hatten, kein Wunder, daß man nicht ernst-
haft und im allgemeinen diese andere Religion als eine Frage an
sich selbst oder gar als eine Möglichkeit für einen selbst betrachten
konnte. Heute ist es anders. Es gibt kein in sich geschlossenes
den
Abendland mehr, kein Abendland mehr, das sich einfach als
Mittelpunkt der Weltgeschichte und der Kultur betrachten könnte,
dessen Religion also schon von daher, das heißt von einem Punkt,
137
der eigentlich nichts mit ’einer Glaubensentscheidung zu tun,
sondern das Gewicht des profan Selbstverständlichen hat, als die
selbstverständliche und einzig für einen Europäer in Frage kom-
mende Form der Gottesverehrung erscheinen könnte. Heute ist
jeder jedes anderen Menschen in der Welt Nachbar und Nächster,
und darum von der Kommunikation aller Lebenssituationen von
planetarischer Art her bestimmt: Jede Religion, die in der Welt
existiert, ist, wie alle kulturellen Möglichkeiten und Wirklich-
keiten anderer Menschen, eine Frage und eine angebotene Mög-
lichkeit für jeden Menschen. Und wie man die Kultur des anderen
als eine Relativierung der eigenen konkret und existentiell for-
dernd erlebt, so ist es unwillkürlich auch mit den fremden Reli-
gionen. Sie sind ein Moment an der eigenen Daseinssituation ge- z
158
es gehe dabei notwendig auch um eine innerchristlich kontrovers-
theologische Theorie, sondern es soll nur gesagt sein, daß wir nicht
eigens darauf eingehen können, ob die vorzutragenden Thesen
auch die Hoffnung haben können, von der evangelischen Theologie
angenommen zu werden. Wir sagen, es handle sich um eine
dogmatische Interpretation, weil wir die Frage nicht als empirische
Religionsgeschichtler, sondern vom Selbstverständnis des Chri-
stentums selbst aus, also als Dogmatiker stellen.
1. These. Die erste These, die an den Anfang zu stellen ist, weil
sie gewiß die Grundlage des theologischen Verständnisses der
anderen Religionen im christlichen Glauben ist, lautet: Das
Christentum versteht sich als die für alle Menschen bestimmte,
absolute Religion, die keine andere als gleichberechtigt neben sich
anerkennen kann. Dieser Satz ist für das Selbstverständnis des
Christentums selbstverständlich und grundlegend. Er braucht hier
weder bewiesen noch in seinem Sinn entfaltet zu werden. Wenn
Religion als gültige und legitime für das Christentum zuerst und
zuletzt nicht dasjenige Verhältnis des Menschen zu Gott ist, das
der Mensch selbst autonom stiftet, nicht die Selbstinterpretation
des menschlichen Daseins durch den Menschen, nicht die Re-
flexion und Objektivierung der Erfahrung ist, die er durch sich
selbst mit sich macht, sondern die Tat Gottes an ihm, die freie
Selbstoffenbarung in Selbstmitteilung Gottes an den Menschen,
das Verhältnis, das Gott selbst zum Menschen hin von sich her
stiftet und stiftend offenbart, wenn dieses Verhältnis Gottes zu
allen Menschen grundlegend das eine und selbe ist, weil es auf der
Inkarnation, dem Tod und der Auferstehung des einen fleisch-
gewordenen Wortes Gottes beruht, wenn das Christentum die
durch Gott selbst in seinem Wort vorgenommene Interpretation
dieses in Christus für alle Menschen von Gott selbst gestifteten
Verhältnisses Gottes zu den Menschen ist, dann kann nur das
Christentum sich als die wahre und legitime Religion für alle
Menschen schlechthin dort und dann anerkennen, wo und wann
es in existentieller Mächtigkeit und fordernder Kraft in den Be-
reich einer anderen Religion eindringt und diese, sie ansich selbst
messend, in Frage stellt. Seit es Christus gibt, seitdem er im
Fleisch als das Wort Gottes in Absolutheit gekommen und die
139
Welt in seinem Tod und seiner Auferstehung real und nicht nur
theoretisch mit Gott versöhnt, das heißt geeinigt hat, ist dieser
Christus und seine bleibende geschichtliche Gegenwart in der
Welt, Kirche genannt, die religio, die den Menschen an Gott
bindet. Eine Bemerkung.muß freilich schon zu dieser ersten These
(die hier nicht näher entfaltet und begründet werden kann) ge-
macht. werden. Mag dieses Christentum selbst auch seine Vorge-
schichte haben, die dieses Christentum bis in den Anfang der
Menschheitsgeschichte selbst — wenn auch in sehr wesentlich ge-
stufter Weise — zurückführt, mag dieses Haben einer «Vorge-
schichte » für die theoretische und existentielle Begründung seines
Absolutheitsanspruches nach Ausweis des NT auch von viel größe-
rer Bedeutung sein als es unsere heutige katholische Fundamental-
theologie weiß, so hat das Christentum als solches doch einen inner-
geschichtlichen Anfang; es war nicht immer, es hat begonnen.
Es war wenigstens in seiner geschichtlich-greifbaren, kirchlich-
soziologischen Verfassung, in dem reflexen Zusichselbstgekom-
mensein des Heilshandelns Gottes in Christus und auf ihn hin
nicht schon immer und überall der Heilsweg der Menschen. Als
eine geschichtliche Größe hat darum dieses Christentum einen
zeitlich-räumlich punktförmigen Anfang in Jesus von Nazareth
und in dem Heilsereignis des einmaligen Kreuzes und des leeren
_ Grabes in Jerusalem. Damit ist aber gegeben, daß diese absolute
Religion, auch dann, wenn sie anfängt, diese grundsätzlich für
alle Menschen zu sein, auf einem geschichtlichen Weg zu den
Menschen kommen muß, denen sie als deren legitime, sie an-
fordernde Religion gegenübertritt. Die Frage ist also diese (und
sie ist bisher in der katholischen Theologie nicht klar genug und
reflex genug durchdacht in echter Konfrontierung mit der Länge
und Verwickeltheit echt menschlicher Zeit und Geschichte), ob
dieser Zeitpunkt des existentiell realen Angefordertseins durch
diese absolute Religion in ihrer geschichtlich greifbaren Verfaßt-
heit wirklich für alle Menschen uhrzeitlich im selben Moment ein-
tritt oder ob dieses Eintreten dieses Momentes selbst wieder eine
Geschichte hat und so uhrzeitlich nicht für alle Menschen, Kul-
turen und Geschichtsräume gleichzeitig ist. Gewöhnlich betrach-
tet man den Beginn der objektiven Verpflichtung der christlichen
140
. Botschaft für alle Menschen, also die Abschaffung der Gültigkeit
der mosaischen Religion und aller anderen Religionen, die auch
(wie wir später sehen werden) ein Moment der Gültigkeit und
Gottgewolltheit an sich haben können, als in der apostolischen
Zeit geschehend und faßt somit die Zeit zwischen diesem Beginn
und der faktischen Annahme oder der persönlich schuldhaften Ab-
lehnung des Christentums in einer nichtjüdischen Welt und Ge-
schichte als die Spanne zwischen der schon geschehenen Promulga-
"tion des Gesetzes und der faktischen Kenntnisnahme durch den
vom Gesetz Gemeinten. Ob diese Auffassung richtig ist, oder ob
man da, wie wir meinen möchten, einer anderen Auffassung sein
kann, also den Beginn des Christentums für die konkreten Ge-
schichtsräume, Kulturen und Religionen auf den Zeitpunkt ver-
legen kann, in denen dieses Christentum innerhalb dieser Einzel-
geschichte und Kultur geschichtlich eine reale Größe geworden
ist, zu einem wirklichen geschichtlichen Moment dieser bestimm-
ten Kultur, das ist nicht bloß eine müßige Gelehrtenfrage. Man
schließt z.B. aus der üblichen Antwort im ersten Sinn, daß seit
dem ersten Pfingstfest überallin der Welt die Taufe der unmündig
sterbenden Kinder zum übernatürlichen Heil notwendig sei, ob-
wohl sie das vorher nicht war. Auch für andere Fragen, z.B. für
die Vermeidungnoch unreifer Bekehrungen, für die Berechtigung
und Wichtigkeit der «indirekten» Missionierung usw. könnte
eine richtige und ausgewogene Lösung von großer Bedeutung
sein. Man wird sich fragen müssen, ob man der angedeuteten
ersten Auffassung angesichts einer zweitausendjährigen und noch
weithin in den Anfängen stehenden Missionsgeschichte heute noch
beipflichten kann, wenn doch z.B. selbst schon Suarez wenigstens
hinsichtlich der Juden gesehen hat, daß die promulgatio und obli-
gatio der christlichen Religion und nicht nur die divulgatio und
notitia promulgationis in geschichtlicher Folge geschehen ist? Wir
können hier diese Frage nicht eigentlich beantworten. Sie darf
aber wenigstens als offene Frage angemeldet und praktisch die
Richtigkeit der zweiten Theorie vorausgesetzt werden, weil nur
sie der wirklichen Geschichtlichkeit des Christentums und der
Heilsgeschichte entspricht. Und daraus ergibt sich nun ein nuan-
cierteres Verständnis unserer ersten These: wir behaupten positiv
141
Er,
142
‚oder vielleicht besser gesagt: es kommt langsam in eine ganz neue
Phase: wir haben die eine Weltgeschichte, in der als einer die
Christen und die Nichtchristen (das heißt Alt- und Neuheiden
zusammen) in derselben Situation leben, sich dialogisch gegen-
überstehen. Und so steht erst recht wieder die Frage nach dem
christlichen theologischen Sinn der anderen Religionen auf.
2. These. Bis zu jenem Augenblick, in dem das Evangelium
wirklich in die geschichtliche Situation eines bestimmten Men-
schen eintritt, enthält eine nichtchristliche Religion (auch außer-
halb der mosaischen) nicht nur Elemente einer natürlichen Gottes-
erkenntnis, vermischt mit erbsündlicher und weiter darauf und
daraus folgender menschlicher Depravation, sondern auch über-
natürliche Momente aus der Gnade, die dem Menschen wegen
Christus von Gott geschenkt wird, und sie kann von daher, ohne
daß dadurch Irrtum und Depravation in ihr geleugnet werden,
als, wenn auch in verschiedener Gestuftheit, legitime Religion
anerkannt werden. Diese These bedarf einer weiter ausholenden
Erklärung.
Zunächst muß der terminus ad quem beachtet werden, bis zu
welchem hin diese Einschätzung der außerchristlichen Religionen
gilt: es ist der Zeitpunkt, in dem das Christentum eine geschicht-
lich reale Größe für die Menschen dieser Religion wird. Ob dieser
Zeitpunkt theologisch zusammenfällt mit den ersten Pfingsten
oder selber für die einzelnen Völker und Religionen uhrzeitlich
verschieden liegt, das mag auch hier in etwa noch offen bleiben.
Wir haben jedoch die Formulierung so gewählt, daß sie eher auf
die uns richtiger scheinende Ansicht in dieser Frage hinweist, wo-
bei freilich auch noch einmal die genaueren Kriterien des Ein-
tritts dieses Zeitpunktes offenbleiben.
Die These selbst teilt sich in zwei Teile. Sie besagt zunächst,
daß in den nichtchristlichen Religionen a priori durchaus über-
natürlich-gnadenhafte Momente angenommen werden können.
Wenden wir uns zunächst dieser Behauptung zu. Dieser Satz
besagt natürlich in keiner Weise, daß alle die Momente poly-
theistischer Auffassung des Göttlichen und aller anderen religiö-
sen, ethischen und metaphysischen Depravationen in den nicht-
christlichen Religionen in Theorie und in Praxis übersehen oder
145
verharmlost werden sollen oder dürfen. All der Protest des
Christentums gegen solche Momente, der die ganze Geschichte des
Christentums und seiner Interpretation der nichtchristlichen Reli-
gionen vom Römerbrief an im Gefolge der alttestamentlichen
Polemik gegen die Religion der «Heiden» begleitet, bleibt in
dem darin eigentlich Gemeinten und Gesagten aufrechterhalten,
bleibt ein Teil der Botschaft, die das Christentum und die Kirche
diesen Völkern solcher Religionen zu sagen hat. Wir haben hier
ferner nicht aposteriorische Religionsgeschichte zu treiben. Darum
können wir auch nicht empirisch dieses Nichtseinsollende und
Gottwidrige in diesen nichtchristlichen Religionen beschreiben
und in seiner mannigfaltigen Art, Gestuftheit und Dosierung dar-
stellen. Wir treiben ja Dogmatik, haben also nur die Möglichkeit,
das allgemeine und unnuancierte Verdikt auf Nichtseinsollendheit
der nichtchristlichen Religionen in dem Augenblick, wo sie real
und geschichtsmächtig dem Christentum begegnen (und zunächst
nur sol), zu wiederholen. Es ist aber klar, daß dieses Nein die sehr
wesentlichen Unterschiede innerhalb der nichtchristlichen Reli-
gionen nicht leugnen will, zumal der fromme, gottgefällige Heide
schon ein Thema des AT war und dieser gottgefällige Heide doch
nicht einfach als schlechthin außerhalb jeder konkreten, gesell-
schaftlichen Religion lebend und seine eigene Religion autochthon
konstruierend gedacht werden kann; so wie Paulus in der Areopag-
rede doch auch eine positive Sicht grundsätzlicher Art auf die
heidnische Religion nicht einfach ausschließt. Entscheidend für
den ersten Teil unserer These ist aber eine grundsätzliche theo-
logische Erwägung. Sie beruht letztlich darauf (dabei sehen wir
von gewissen genaueren Nuancierungen ab), daß wir den Glau-
benssatz vom allgemeinen und ernsthaften Heilswillen Gottes
allen Menschen gegenüber und zwar auch innerhalb der nach-
paradiesischen, erbsündlichen Heilsphase zu bekennen haben,
wenn wir Christen sein wollen. Gewiß wissen wir, daß durch
diesen Glaubenssatz über das individuelle Heil des Menschen als
faktisch erreichtes noch nichts Sicheres gesagt ist. Aber Gott will
das Heil aller. Und dieses so gewollte Heil ist das Heil Christi, ist
das Heil der übernatürlichen, den Menschen vergöttlichenden
Gnade, das Heil der visio beatifica, ist ein Heil, das wirklich all
144
den Menschen zugedacht ist, die zu Millionen und Abermillionen
in vielleicht einer Million Jahren vor Christus lebten und auch
seit Christus doch in Volksgeschichten, Kulturen und Epochen von
größtem Umfang lebten, die dem Gesichtskreis der neutestament-
lichen Menschen noch ganz entzogen waren. Wenn wir das Heil
. als ein spezifisch christliches begreifen, wenn es kein Heil an
Christus vorbei gibt, wenn die übernatürliche Vergöttlichung des
Menschen nach katholischer Lehre nie durch bloß den guten
Willen des Menschen ersetzt werden kann, sondern als selber in
diesem irdischen Leben gegebene notwendig ist, wenn aber ander-
seits dieses Heil Gott wirklich, wahrhaft und ernsthaft allen Men-
schen zugedacht hat, dann kann beides nicht anders vereint wer-
den, als daß gesagt wird, daß jeder Mensch wahrhaft und wirklich
dem Einfluß der göttlichen, übernatürlichen, eine innere Ge-
meinschaft mit Gott und eine Selbstmitteilung Gottes anbietenden
Gnade ausgesetzt ist, mag er zu dieser Gnade im Modus der An-
nahme oder der Ablehnung stehen. Es hat keinen Sinn, grausam
und ohne jede Hoffnung auf eine Annahme von seiten des heutigen
Menschen angesichts der ungeheuerlichen Größe dieser außer-
christlichen Heils- und Unheilsgeschichte anzunehmen, daß
außerhalb des amtlichen und öffentlichen Christentums die Men-
schen ungefähr alle so böse und verstockt seien, daß das Angebot
der übernatürlichen Gnade real doch meist nicht erfolgen müsse,
weil die einzelnen Menschen sich im voraus zu einem solchen An-
gebot durch subjektiv schwere Verstöße gegen das natürliche
Sittengesetz eines solchen Angebotes unwürdig gemacht hätten.
Wenn man die Dinge genauer theologisch durchdenkt, kann man
Natur und Gnade nicht wie zwei zeitlich hintereinanderliegende
Phasen im Leben des einzelnen ansehen. Es ist ferner unmöglich,
zu denken, daß dieses Angebot der übernatürlichen vergöttlichen-
den Gnade an alle Menschen wegen des allgemeinen Heilswillens
Gottes doch im allgemeinen meist, von relativ wenigen Ausnah-
men abgesehen, durch die personale Schuld der einzelnen
Menschen unwirksam bliebe. Denn wir haben vom Evangelium
aus keinen wirklich durchschlagenden Grund, so pessimistisch
vom Menschen zu denken, wir haben aber alle Ursache, wider
alle bloß menschliche Erfahrung optimistisch von Gott und seinem
145
Heilswillen zu denken, der mächtiger ist als die sehr endliche
Dummheit und Bosheit der Menschen, optimistisch, das heißt
christlich wahrhaft hoffend und vertrauend von Gott zu denken,
der gewiß das letzte Wort hat und der uns geoffenbart hat, daß
er das machtvolle Wort der Versöhnung und Vergebung in die
Welt hinein gesprochen hat, so wenig wir etwas Sicheres über das
endgültige Los eines einzelnen Menschen innerhalb und außer-
halb des amtlich verfaßten Christentums sagen können. Wenn es
wahr ist, daß das ewige Wort Gottes um unseres Heiles willen und
trotz unserer Schuld Fleisch geworden ist und den Tod der Sünde
gestorben ist, dann hat der Christ nicht das Recht anzunehmen,
daß das Schicksal der Welt im Nein des Menschen, auf das Ganze
der Welt gesehen, doch seinen selben Gang geht, wie er gewesen
wäre, wenn Christus nicht gekommen wäre. Christus und sein
Heil ist nicht einfach eine von zwei Möglichkeiten, die der Freiheit
des Menschen zur Auswahl angeboten sind, sondern die Tat
Gottes, die die falsche Wahl des Menschen überholend aufsprengt
und erlöst. In Christus gibt Gott nicht nur die Möglichkeit des
Heiles, das doch selber vom Menschen gewirkt werden müßte,
sondern das tatsächliche Heil selbst, sosehr es die — eben von Gott
geschenkte — richtige Entscheidung der menschlichen Freiheit
einschließt. Wo die Sünde schon war, ist die Gnade im Übermaß
gekommen. Und darum haben wir alles Recht anzunehmen, daß
die Gnade nicht nur auch außerhalb derchristlichen Kirche angebo-
ten ist, was zu leugnen jansenistischer Irrtum wäre, sondern auch
wenigstens weithin zu einem Sieg in der von ihr selbst erwirkten
freien Annahme durch die Menschen kommt. Daß das empirische
Bild der Menschen, ihres Lebens, ihrer Religion und ihrer indi-
viduellen und allgemeinen Geschichte diesen Glaubensoptimis-
mus, der die ganze Welt unter die Erlösung durch Christus gestellt
weiß, nicht als unmöglich erweist, müßte natürlich ausführlicher
gezeigt werden, als es hier bei der Kürze der Zeit möglich ist. Aber
wenn wir bedenken, daß das Theoretische und das Rituelle im
Guten und im Bösen nur ein sehr inadäquater Ausdruck dessen
sind, was der Mensch existentiell tatsächlich vollzieht, wenn wir
bedenken, daß die Transzendenz des Menschen (auch die von der
Gnade Gottes erhöhte und befreite) als die eine und selbe sich
146
u
4
u N 5 .
148
kreten Erscheinung der israelitischen Religion zu unterscheiden
zwischen dem, was darin wahrer Gottesbund und was menschlich
freie und so unter Umständen verfälschende Auslegung und
Depravation: dieser gottgestifteten Religion war. Es konnten für
diese Unterscheidung der Geister objektive Kriterien vorhanden
sein, aber ihre Handhabung konnte nicht einfach einer «kirch-
lichen » Instanz überlassen werden, nicht einmal in den entschei-
denden Fragen, da auch in diesen die amtlichen Instanzen ver-
sagen konnten und schließlich endgültig versagt haben. Dieses
Eine und Ganze in seiner letztlich der individuellen Entscheidung
überlassenen Unterscheidung zwischen Gottgewolltem und
menschlich-Allzumenschlichem war die konkrete israelitische Re-
ligion. In der Heiligen Schrift haben wir zwar den amtlichen und
gültigen Niederschlag dieser diakritischen Unterscheidung der
Geister, die die alttestamentliche Religionsgeschichte bewegt ha-
ben. Da aber der Kanon der Schrift in einer unfehlbaren Grenz-
ziehung auch wieder nur im NT für das AT gegeben ist, so ist
diese genaue und endgültige Unterscheidung des Legitimen und
Illegitimen in der alttestamentlichen Religion wiederum nur vom
NT als der eschatologisch endgültigen Größe her möglich. Die nur
auf eigenes Wagnis (letztlich) und tastend unterscheidbare Ein-
heit der konkreten Religion des AT war aber dennoch die von
Gott gewollte, heilshaft für die Israeliten providentielle, die legi-
time Religion für sie. Wobei noch zu beachten ist, daß sie dies
da
selber nur für die Israeliten und sonst niemanden sein wollte,
das Institut der stammesmäßig nichtjüdischen Religionsanhänger,
das heißt der Proselyten, eine sehr späte Sache ist. Zum Begriff
einer im obigen Sinn legitimen Religion kann es also nicht ge-
von
hören, daß sie in ihrer konkreten Erscheinungsform frei sei
Depravation, von Irrtum und objektiv sittlich Verkehrtem oder
das
daß in ihr eine eindeutige objektive und bleibende Instanz für
sicher
Gewissen des einzelnen vorhanden sei, die es dem einzelnen
ermöglicht, zwischen den Elementen des Gottgewollten und -ge-
stifteten und den Elementen des bloß Menschlichen und Ent-
arteten rein zu scheiden. Man muß sich also von dem Vorurteil
Christen-
frei machen, als dürften wir eine Religion außerhalb des
tums vor das Dilemma stellen, entweder mit allem an ihr von
149
Gott zu stammen, seinem Willen und seiner positiven Vorsehung
zu entsprechen oder einfach nur menschliches Gebilde zu sein.
Ist der Mensch in diesen Religionen auch unter der göttlichen
Gnade, und das zu leugnen ist gewiß völlig verkehrt, dann kann
es nicht ausbleiben, daß sich diese übernatürliche Gnadenhaftig-
keit des Menschen auch dort (wenn auch wahrhaftig nicht allein)
bemerkbar macht und ein Gestaltungsmoment des konkreten
Lebens wird, wo dieses Leben die Beziehung auf das Absolute
thematisch macht, also in der Religion. Man kann zwar vielleicht
theoretisch sagen, daß dort, wo eine bestimmte Religion ein Fal-
sches, menschlich Depraviertes nicht nur in ihrer konkreten Er-
scheinungsform bei sich hat, sondern dieses zu einem ausdrücklich
und reflex festgehaltenen, ausdrücklich als Wesensbestandteil er-
klärten Moment an sich macht, diese Religion in ihrem eigent-
lichsten und spezifischsten Wesen verkehrt sei und darum nicht
mehr als legitime Religion, auch nicht im weitesten Sinn dieses
Wortes, in Frage komme. Das mag rein begrifflich ganz richtig
sein. Aber es ist doch zu fragen, ob und in welchen Religionen
außerhalb des (hier sogar: katholischen) Christentums eine In-
stanz vorhanden sei, die das Falsche zum eigentlichen Wesens-
bestandteil erheben und so den Menschen vor die Alternative
stellen könne, entweder dieses Depravierte als das Eigentlichste
und Entscheidende anzunehmen oder aus dieser Religion gänzlich
auszuscheiden. Selbst wenn man so etwas vielleicht vom Islam als
solchem sagen könnte, wäre so etwas immer noch von den meisten
Religionen zu verneinen. Und in jedem Fall wäre zu fragen, wie
weit sich die «Anhänger» einer solchen Religion einer solchen
Interpretation der betreffenden Religion faktisch anschließen.
Wenn man ferner bedenkt, wie leicht im konkreten, ursprünglich
religiösen Akt seine eigentliche Intention immer auf das eine und
. selbe Absolute: geht, auch wenn es unter den verschiedensten
Namen auftritt, dann wird man nicht einmal sagen können, daß
der theoretische Polytheismus, so beklagenswert und verwerflich
er objektiv ist, immer und überall ein absolutes Hindernis dafür
sein muß, daß in einer solchen Religion echte religiöse Akte, die
sich auf den wahren einen Gott beziehen, vollzogen werden. Dies
zumal, als schwer nachweisbar ist, daß das praktische religiöse
150
Leben der alten Israeliten, soweit es sich vulgär-theoretisch expli-
zierte, immer mehr war als ein bloßer Henotheismus.
Nun ist weiter folgendes zu bedenken: der einzelne Mensch soll
und muß die Möglichkeit haben, einer echten, ihn rettenden
Gottesbeziehung in seinem Leben und zwar in allen Zeiten und
Situationen der Menschheitsgeschichte teilhaftig zu sein. Sonst
kann von einem ernsthaften und auch tatsächlich wirksam wer-
denden Heilswillen Gottes allen Menschen aller Zeiten und Zonen
gegenüber nicht die Rede sein. Bei der sozialen Natur des Men-
schen, bei der in früheren Zeiten sogar noch viel radikaler be-
stehenden gesellschaftlichen Gebundenheit der Menschen ist es
nun aber schlechthin undenkbar, daß der konkrete Mensch diese
Gottesbeziehung, die er haben muß und die ihm von Gott her
möglich gemacht wird und werden muß, soll er gerettet werden,
konkret in einer absolut privaten Innerlichkeit und außerhalb der
faktischen, sich ihm anbietenden Religion seiner Umwelt habe
vollziehen können. Wenn der Mensch immer und überall ein
homo religiosus sein mußte und konnte, damit er als solcher sich
retten konnte, dann war er dieser homo religiosus in der konkreten
Religion, in der «man » in seiner Zeit lebte und leben mußte, der
er nicht entrinnen konnte, sosehr er im einzelnen kritisch und
auswählend und die Akzente existentiell anders setzend als die
offizielle Theorie dieser Religion dieser seiner Religion gegenüber-
stehen mochte und gegenüberstand. Kann aber der Mensch immer
eine ihn rettende, positive Gottesbeziehung haben, mußte er sie
immer haben, so hat er sie eben innerhalb der Religion gehabt,
die faktisch ihm als Moment seines Daseinsraumes zu Gebote
stand. Die Eingebettetheit der individuellen Religionsübung in
eine gesellschaftliche, religiöse Ordnung gehört zu den Wesens-
zügen wahrer, konkreter Religion, wie wir schon vorhin sagten.
Wollte man also dem außerchristlichen Menschen zumuten, er
habe seine echte, ihn rettende Gottesbeziehung schlechthin außer-
halb der ihm gesellschaftlich vorgegebenen Religion vollziehen
müssen, dann würde eine solche Vorstellung aus Religion ein un-
faßbar Innerliches, ein immer und überall nur indirekt Getanes,
eine nur transzendentale Religion ohne jede kategoriale Greifbar-
keit machen und würde das eben aufgestellte Prinzip der not-
151
wendigen Gesellschaftlichkeit jeder konkreten Religion aufheben,
so daß dann auch das kirchliche Christentum die notwendige
Voraussetzung allgemein menschlicher, naturrechtlicher Art für
den Erweis seiner Notwendigkeit nicht mehr besäße. Und da zum
Begriff der legitimen, dem Menschen positiv heilshaft von Gott
zugedachten Religion gar nicht gehört, daß sie rein und in all
ihren Elementen positiv von Gott gewollt ist, so kann eine solche
Religion für den betreffenden Menschen als durchaus für ihn
legitime Religion angesprochen werden. Das von Gott ihm heil-
schaffend Zugedachte erreichte ihn nach dem Willen und der
Zulassung Gottes (in einem praktisch nicht mehr adäquat auf-
lösbaren Ineinander) in der konkreten Religion seines konkreten
Daseinsraumes, seiner geschichtlichen Bedingtheit, was ihm
Recht und beschränkte Möglichkeit der Kritik und der Aufmerk-
samkeit auf religiöse Reformimpulse, die durch Gottes Vorsehung
immer wieder innerhalb einer solchen Religion sich erhoben,
nicht abnahm. Um das noch besser und einfacher zu verstehen,
braucht man nur an die natürliche und gesellschaftlich verfaßte
Sittlichkeit eines Volkes und einer Kultur zu denken. Diese ist nie
rein, sie ist immer auch depraviert, wie Jesus sogar vom AT be-
stätigt. Sie kann darum immer auch vom einzelnen nach seinem
Gewissen bestritten und korrigiert werden. Aber sie ist dennoch
in ihrer Ganzheit die Weise, in der dem einzelnen Menschen’nach
Gottes Willen das natürliche göttliche Sittengesetz entgegentritt
und eine konkrete Macht im Dasein des einzelnen erhält, der
nicht als privater Metaphysiker diese Tafeln des göttlichen Ge-
setzes auf eigene Faust neu konstruieren kann. Im Ganzen ist also
die Sittlichkeit eines Volkes und einer Zeit (bei aller Korrigierbar-
keit und -notwendigkeit) die legitime und konkrete Form des
göttlichen Gesetzes, so daß erst im NT allein die Institution für die
Garantie der Reinheit dieser Erscheinungsform (mit den nötigen
Vorbehalten) ein Moment an dieser Erscheinung selbst wird und
nicht früher. Gibt es also vor diesem Moment legitime Anwesen-
heit des göttlichen Sittengesetzes und der Religion im Leben des
Menschen, dann gibt es dies, ohne daß dafür ihre absolute Rein-
heit, das heißt ihr Bestehen aus bloß gottgewollten Momenten,
zur Bedingung der Legitimität gemacht werden darf. In der Tat:
152
wenn jeder Mensch, der in diese Welt kommt, von der göttlichen
Gnade verfolgt wird, wenn diese Gnade, auch als übernatürlich
. und heilshaft erhöhende, nach der besseren Theorie innerhalb der
katholischen Theologie eine bewußtseinsverändernde Wirkung
hat, auch wenn sie als solche nicht einfach direkt Gegenstand der
unmittelbaren Reflexion sicherer Art sein kann, dann kann es
nicht sein, daß die konkreten Religionen in ihrem objektivierten
Bestand einfach gar keine Spuren dieser Gnadenbetroffenheit aller
Menschen an sich trägen. Diese mögen schwer unterscheidbar sein
auch noch für den erhellten Blick des Christen. Aber vorhanden
sein müssen sie. Und vielleicht haben wir nur zu schlecht und zu
wenig liebevoll hingeblickt auf die nichtchristlichen Religionen,
um sie wirklich zu sehen. Es geht jedenfalls nicht an, die nicht-
christlichen Religionen nur zu betrachten als ein Konglomerat aus
natürlicher theistischer Metaphysik und menschlich verkehrter
Interpretation und Institutionalisierung dieser «natürlichen Reli-
gion». Die konkreten Religionen müssen Momente übernatür-
licher, gnadenhafter Art an sich tragen und in ihrer Praxis konnte
der vorchristliche Mensch (den es vermutlich bis auf unsere Tage
gibt, wenn auch diese Tage heute allmählich auf hören) die Gnade
Gottes erreichen.
Wenn wir sagen, es habe in der vorchristlichen Zeit auch außer-
halb des AT legitime Religionen gegeben, so ist damit nicht gesagt,
daß diese in allen ihren Elementen legitim gewesen seien, was zu
behaupten ja absurd wäre; es ist nicht gesagt, daß jede Religion
legitim gewesen sei, weil ja innerhalb der geschichtlich konkreten
Situation der betreffenden Menschen eines bestimmten Volkes,
einer Kultur, Geschichtsperiode usw. sich unter Umständen
durchaus mehrere Formen, Systeme und Gestalten religiöser Art
anboten, die den betreffenden Menschen vor die Entscheidung
stellten, welche nach seinem Gewissen hic et nunc der im ganzen
richtigere und so für ihn in concreto einzig erlaubte Weg des
Gottfindens sei. Es ist mit dieser These nicht gesagt, daß die
Legitimität des AT von genau gleicher Art gewesen sei wie die-
jenige, die wir außerchristlichen Religionen in einem bestimmten
Maß vindizieren, da im AT durch die Propheten, wenn auch nicht
in einer bleibend institutionellen Weise, in der öffentlichen Heils-
199
geschichte für eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Legi-
‚timem und Nichtlegitimem innerhalb der israelitischen Religions-
geschichte gesorgt war, was außerhalb ihrer nicht im gleichen
Maße behauptet werden kann, womit freilich wiederum nicht
gesagt ist, daß außerhalb des AT in gar keiner Weise im Bereich
des öffentlich Geschichtlichen und Institutionellen von einer gött-
lich gesteuerten Heilsgeschichte die Rede sein könne. Der Haupt-
unterschied zwischen einer solchen Heilsgeschichte und der des
AT wird vermutlich darin bestehen, daß das NT in seiner ge-
schichtlichen Faktizität nun einmal im AT seine unmittelbare
Vorgeschichte hat (die - nebenbei gesagt -, da von Abraham oder
Moses an allein rechenbar, gegenüber der allgemeinen, vielleicht
eine Million Jahre zählenden Heilsgeschichte verschwindend kurz
ist) und darum diese kleine Spanne Heilsgeschichte diakritisch ent-
hüllt in ihrem Gottgewollten und Gottwidrigen in einer Schei-
dung, die wir so in anderen Religionsgeschichten nicht durch-
führen können. Es ist mit dieser zweiten These in ihrem zweiten
Teil aber ein Doppeltes in positiver Weise gesagt: Auch die außer-
christlichen und außeralttestamentlichen Religionen enthalten
durchaus Momente übernatürlichen Gnadeneinflusses, der sich
auch in ihren Objektivationen geltend machen muß, und: in An-
betracht der Tatsache, daß der konkrete Mensch die ihm gebotene
Gottbeziehung konkret nur in gesellschaftlich verfaßter Weise
leben kann, muß er das Recht, ja die Pflicht gehabt haben, diese
seine Gottbeziehung innerhalb der ihm in seiner geschichtlichen
Situation gebotenen religionsgesellschaftlichen Wirklichkeiten zu
leben.
3. These. Wenn die zweite These richtig ist, dann tritt das
Christentum dem Menschen außerchristlicher Religionen nicht
einfach als dem bloßen und schlechthinnigen Nichtchristen gegen-
über, sondern als einem, der durchaus schon als ein anonymer
Christ in dieser oder jener Hinsicht betrachtet werden kann und
muß. Es wäre falsch, den Heiden zu sehen als einen Menschen,
der bisher in keiner Weise von der Gnade und Wahrheit Gottes
berührt war. Hat er aber die Gnade Gottes schon erfahren, hat er
unter Umständen diese Gnade in der Annahme der Unabsehbar-
keit und der ins Unendliche offenen Weite seines sterbenden Da-
154
‚ seins schon angenommen als die unauslotbare letzte Entelechie
seines Daseins, dann ist in ihm, schon bevor das missionarische
- Wort von außen auf ihn auftrifft, in einem wahren Sinn schon
Offenbarung geschehen, weil diese Gnade als apriorischer Horizont
aller seiner geistigen Vollzüge zwar nicht gegenständlich gewußt,
aber subjektiv mitbewußt ist. Und die Offenbarung, die von außen
an ihn herantritt, ist dann nicht die Verkündigung des bisher
schlechthin Nichtgewußten, so wie man einem bayrischen Kind
in der Schule zum erstenmal mitteilt, daß es einen Kontinent
Australien gibt, sondern ist die gegenständlich-begriffliche Aus-
sage dessen, was dieser Mensch in der Tiefe seines geistigen Da-
seins schon vollzogen hat oder vollziehen konnte. Wir haben hier
nicht die Möglichkeit, genauer diese fides implicita als dogmatisch
möglich in dem sogenannten Heiden nachzuweisen. Es läßt sich
hier nicht mehr als die These und die Andeutung der Richtung
bieten, in der der Beweis dieser These gefunden werden könnte.
Aber wenn es wahr ist, daß der Mensch, der Objekt des missiona-
rischen Bemühens der Kirche wird, schon im voraus dazu ein
Mensch ist oder sein kann, der sich auf sein Heil zubewegt und es
unter Umständen findet, ohne daß er von der Verkündigung der
Kirche erreicht wird, wenn es gleichzeitig wahr ist, daß dieses
Heil, das ihn so erreicht, das Heil Christi ist, weil es ein anderes
Heil nicht gibt, dann muß man nicht nur ein anonymer Theist,
sondern auch ein anonymer Christ sein können. Und dann ist eben
wahr, daß die Verkündigung des Evangeliums im letzten Verstand
nicht einen absolut von Gott und Christus Verlassenen zu einem
Christen, sondern einen anonymen Christen zu einem Menschen
macht, der um dieses sein Christentum in der Tiefe seines begna-
deten Wesen nun auch gegenständlich reflex und in einem gesell-
schaftlich verfaßten Bekenntnis, in Kirche, weiß. Damit ist nicht
geleugnet, sondern mitgesagt, daß dieses ausdrückliche Zusich-
selberkommen seines zuvor anonymen Christentums selbst ein
Stück des Werdens dieses Christentums selbst ist, eine von seinem
Wesen her geforderte höhere Entwicklungsphase dieses Christen-
tums und darum unter dem gleichen Gesolltsein von Gott her
steht, wie alles am Heil. Man kann also aus dieser Auffassung in
keiner Weise den Schluß ableiten, diese ausdrückliche Predigt des
155
Christentums sei überflüssig, weil der Mensch ja auch ohne sie
schon anonym Christ sei. Ein solcher Schluß ist genau so und
aus den gleichen Gründen falsch, wie wenn jemand aus der Tat-
sache, daß jemand im voraus zum Sakrament der Taufe oder Buße
allein durch seine subjektiven Akte des Glaubens und der Reue
gerechtfertigt sein kann, schließen wollte, die beiden Sakramente
könne man sich schenken. Das reflexe Zusichselberkommen des
vorher anonymen Christentums ist gefordert 1) aus der inkarna-
torischen und gesellschaftlichen Struktur der Gnade und des
Christentums, und 2) darum, weil seine deutlichere und reine
reflexe Erfassung an sich auch wieder die größere Heilschance für
. den einzelnen Menschen bietet, als wenn er nur ein anonymer
Christ wäre. Trifft aber die Botschaft der Kirche auf einen Men-
schen, der nur im Sinn eines anonymen, noch nicht zu sich selbst
gekommenen Christentums ein «Nichtchrist» ist, dann muß die
Mission dieser Tatsache Rechnung tragen und in ihrer Missions-
strategie und -taktik die nötigen Folgen ziehen. Man wird ver-
muten können, daß dies noch nicht immer in genügendem Maße
geschehen ist. Was dies genauer heißt, kann hier nicht mehr ent-
wickelt werden.
4. These. Wenn einerseits nicht gehofft werden kann, daß der
religiöse Pluralismus in der konkreten Situation der Christen in
absehbarer Zukunft verschwinden werde, wenn anderseits diese
Nichtchristenheit vom Christen selbst dennoch durchaus als eine
Christenheit anonymer Art aufgefaßt werden darf, der er zwar
immer missionarisch entgegentritt als einer Welt, die zum aus-
drücklichen Bewußtsein dessen gebracht werden soll, was ihr
schon zuvor als göttliches Angebot oder darüber hinaus auch schon
als unreflex und unausdrücklich angenommenes göttliches Gna-
dengeschenk gehört, dann wird sich die Kirche heute nicht so sehr
als die exklusive Gemeinschaft der Heilsanwärter betrachten,
sondern vielmehr als den geschichtlich greifbaren Vortrupp, als
die geschichtlich und gesellschaftlich verfaßte Ausdrücklichkeit
dessen, was der Christ als verborgene Wirklichkeit auch außerhalb
der Sichtbarkeit der Kirche gegeben erhofft. Zunächst einmal:
so sehr wir immer neu und immer unverdrossen für die Einigung
der ganzen Menschheit in der einen Kirche Christi zu arbeiten, zu
156
leiden und zu beten haben, haben wir aus theologischen Gründen
und nicht nur aus profaner geschichtlicher Diagnose heraus doch
. zu erwarten, daß in absehbarer Zeit der religiöse Pluralismus in der
Welt und in unserem eigenen geschichtlichen Daseinsraum nicht
verschwinden wird. Wir wissen aus dem Evangelium, daß. der
Widerspruch zu Christus und zur Kirche bis zum Ende der Zeiten
nicht verschwinden wird. Wir haben sogar eher eine Verschärfung
dieses agonalen Daseins des Christentums zu erwarten. Wenn
aber dieser Widerspruch zur Kirche sich nicht nur auf den rein
privaten Bereich des einzelnen beschränken kann, sondern einen
öffentlich-geschichtlichen Charakter haben muß, wenn dieser
Widerspruch anwesend sein soll in einer Geschichte, die jetzt im
Unterschied zu früher eine planetarische Einheit hat, dann kann
der Widerspruch zur Kirche, der bleibt, nicht mehr lokal außer-
halb einer bestimmten begrenzten Geschichtsregion, etwa des
Abendlandes, angesiedelt sein. Er muß bei uns und überall sein.
Und dies gehört zu dem, was der Christ erwarten muß und aus-
zuhalten lernen muß. Die Kirche, die gleichzeitig die homogene
Charakterisierung einer in sich homogenen Kultur, also die mittel-
alterliche Kirche ist, wird es nicht mehr geben, wenn anders die
Geschichte aus der Phase ihrer planetarischen Einheit nicht mehr
heraus- und zurückkann. In einer einheitlichen Weltgeschichte,
in der jedes ein Moment für jeden ist, ist der «seinmüssende »
Widerspruch öffentlicher Art gegen das Christentum ein Moment
am Daseinsraum jeder Christenheit. Wenn aber dennoch diese
Christenheit, die so immer ihren Widerspruch sich gegenüber hat
und gar nicht ernstlich erwarten kann, daß dies jemals aufhört,
dennoch an den allgemeinen Heilswillen Gottes glaubt, also glaubt,
daß Gott auch noch dort mit seiner geheimen Gnade siegen kann,
wo die Kirche nicht siegt, sondern wo ihr widersprochen wird,
dann kann diese Kirche sich gerade nicht als ein dialektisches
Moment an der ganzen Geschichte fühlen, sondern in ihrem
Glauben hat sie ihren Widerspruch hoffend und liebend schon
überwunden: die widersprechenden anderen sind bloß die, die
noch nicht erkannt haben, was sie eigentlich doch schon sind oder
sein können, sogar dann, wenn sie auf der Oberfläche des Daseins
widersprechen; sie sind schon anonyme Christen, und die Kirche
157
ist nicht die Gemeinschaft derer, die besitzen, zum Unterschied
von jenen, die Gottes Gnade entbehren, sondern die Gemeinschaft
derer, die ausdrücklich bekennen können, was sie und die anderen
zu sein hoffen. Es mag dem Nichtchristen anmaßend erscheinen,
daß.der Christ das Heile und geheiligt Geheilte in jedem Menschen
als Frucht der Gnade seines Christus und als anonymes Christen-
tum wertet und den Nichtchristen als einen noch nicht reflex zu
sich selbst gekommenen Christen betrachtet. Aber auf diese «An-
maßung» kann der Christ nicht verzichten. Und sie ist eigentlich
die Weise seiner größten Demut für sich und die Kirche. Denn
sie läßt Gott nochmals größer sein als den Menschen und die
Kirche. Die Kirche wird den Nichtchristen von morgen mit der
Haltung entgegentreten, die Paulus aussprach, indem er sagte:
Was ihr nicht kennt und doch verehrt (und doch verehrt!), das
kündige ich euch (Apg 17, 23). Von hier aus kann man tolerant,
bescheiden und dennoch unerbittlich sein gegenüber allen nicht-
christlichen Religionen.
158
DAS CHRISTENTUM UND DER «NEUE MENSCH»
159
dacht wird, die die zeitlicheGeschichte aufhebt, sondern als das, was
der Mensch selber sich schafft und erobert. Die Frage also, wie sich
diese beiden Zukunftsvorstellungen zueinander verhalten, ist un-
vermeidlich und für den Christen eine absolut entscheidende Frage.
Bevor wir diese Frage unmittelbar behandeln, ist der Versuch
andeutungsweise zu machen, die moderne, außerchristliche Zu-
kunftsideologie einigermaßen zu verdeutlichen, damit wir wissen,
womit eigentlich die christliche Eschatologie verglichen wird.
Natürlich kann hier das « Bild des neuen Menschen » nur in seinen
formalsten Eigentümlichkeiten skizziert werden. Aber dieses Bild
dieses neuen Menschen kann doch nicht einfach als unter den
Gesichtspunkten schon bekannt vorausgesetzt werden, auf die
es uns hier ankommen muß. Wir setzen dabei voraus, daß heute
in etwa dieser «neue Mensch» schon in seinen Anfängen so weit
da ist, daß sich seine Weiterentwicklung und seine Vollgestalt
mindestens irgendwie vorausahnen lassen. Es kommt uns bei die-
ser Schilderung auch nicht auf eine zwingende Systematik der
herausgestellten Merkmale an.
Der Mensch von heute und erst recht der von morgen ist der
Mensch einer planetarisch vereinheitlichten Geschichte, eines glo-
balen Lebensraumes und damit der Abhängigkeit jedes von
schlechthin allen. Die UN sind dafür nur ein bescheidenes Indiz.
Und die Grenzlinien, die die verschiedenen «Vorhänge » ziehen,
bedeuten für das Gemeinte keine Einschränkung, weil Feinde
einem gewöhnlich «näher » stehen, d. h. für das eigene Schicksal
bestimmender sind als Freunde. Während früher, vom nur hypo-
thetisch und asymptotisch erreichbaren Anfang der Menschheit
abgesehen, die Geschichte der einzelnen Völker und somit der
einzelnen Menschen durch geschichtliche Leerräume mehr oder
weniger deutlich voneinander getrennt war, während es also z.B.
für die Geschichte Europas im 14. Jahrhundert gleichgültig war,
was damals im Reich der Inkas geschah, kommunizieren heute alle
Völkergeschichten in der einen realen Weltgeschichte. Das Feld,
das das Schicksal des einzelnen Menschen heute bestimmt, ist nicht
nur physikalisch, sondern auch geschichtlich das Gesamt der Erde.
Die Gegenwart und die Geschichte jedes ist Gegenwart und Ge-
schichte aller geworden und umgekehrt.
160
Der Mensch von heute und morgen ist der Mensch der Technik,
der Automation und der Kybernetik. Das will hier, in unserem
. Zusammenhang, bedeuten: der Mensch ist nicht mehr oder in
weitem Umfang nicht mehr der Mensch, der einfach von einer
vorgegebenen Natur in einer ebenso vorgegebenen Umwelt sein
Dasein fristet, sondern ist der, welcher sich seine Umwelt schafft.
Zwischen sich in seiner physischen und geistigen Daseinsfristung
und Daseinsbehauptung und der «Natur», d. h. der physikalisch
und biologisch faßbaren Umwelt als Bedingung seiner eigenen
Existenz, schiebt er eine äußere Welt, die er selbst gemacht hat.
Es hat zwar nie einen Menschen gegeben, der ohne Kultur war,
d.h. der so leben konnte wie das Tier, so daß der Akt der Daseins-
behauptungin Zeugung, Aufzucht der Nachkommenschaft, Schutz
vor den Gefahren der Umwelt usw., sich wie beim Tier unmittel-
bar auf die rein vorgegebene Wirklichkeit bezog. Aber im großen
und ganzen war früher die Kultur als äußere doch nur eine leichte _
Modifikation der naturalen Umwelt, wie diese eine solche selber
anbot: eine Benutzung von Tieren und Pflanzen in einer gewissen
Systematik, nicht aber die freie Umgestaltung der Natur im phy-
sischen und biotischen Bereich, wobei diese Umgestaltung auf frei
gewählte Ziele hin geschieht und rational gesteuert ist. In diesem
Leben in der zweiten Potenz zeigt sich immer und überall der
Grund der Möglichkeit eines solchen Lebens in der von uns selbst
bestimmten Umwelt: die neuzeitlich-abendländische Rationalität
des Menschen, das planende Kalkül, die Aufhebung eines numi-
nosen Charakters, der früher der erfahrenen Welt selbst anhaftete,
ihre Profanierung zum Material menschlichen Handelns als die
bestimmende Voraussetzung, die, vom Abendland ausgehend, der
Daseinsgrund der ganzen Welt und der Menschheit geworden ist.
Der Mensch von heute ist aber nicht nur der Mensch der ratio-
nal-planenden Schaffung des eigenen Daseinsraumes, der homo
faber, er ist nicht nur, wie der Mensch früherer Zeiten und vor
allem seit der neuzeitlichen Wende zum Subjekt, der Mensch der
geistigen Reflexion auf sich selbst, bei der (wenigstens einem ersten
und wichtigen Anschein nach) der Gegenstand der Reflexion durch
diese nicht verändert wurde, sondern er ist vielmehr derjenige,
sich
der die technisch-planende Macht der Umgestaltung auch auf
161
selbst anwendet, er ist der, der sich selbst zum Obj ekt seiner Mani-
pulation macht. Er nimmt sich nicht mehr bloß zur Kenntnis, er
verändert sich selbst, er steuert seine eigene Geschichte weder nur
durch die Veränderung seines Daseinsraumes, noch durch die bloße
Aktualisierung jener Möglichkeiten, die der zwischenmenschliche
Verkehr in Krieg und Frieden dem Menschen immer bot. Das
Subjekt wird sich selbst zum eigentlichsten Objekt, der Mensch
wird der Schöpfer seiner selbst. Es kommt dabei zunächst noch
nicht darauf an, daß diese Möglichkeiten der planenden Selbst-
veränderung und Umstellung aus den verschiedensten Gründen
und in den verschiedensten Hinsichten verhältnismäßig gering
sind. Entscheidend ist, daß der Mensch auf die Idee einer solchen
Umgestaltung gekommen ist, schon Möglichkeiten, sie zu ver-
wirklichen, sieht, schon angefangen hat, sie zu verwirklichen. In
diesem Zusammenhang muß man die Freud’sche Tiefenpsycho-
logie sehen, die Geburtenkontrolle, die menschliche Eugenik, die
die freie Einsicht und Entscheidung des Menschen überspringen-
den Umgestaltungen der Menschen im Bereich des Kommunis-
mus, die sich auf der Psychologie Pawlows aufbauen, und die in
etwas vorsichtigerer Dosierung auch im Westen praktiziert wer-
den (man denke nur an die Technik der Propaganda, Reklame
usw.).
Dieser Mensch des vereinheitlichten planetarischen Lebens-
raumes, der über die Erde hinaus ausgedehnt werden soll, der
Mensch, der seine Umwelt nicht hinnimmt, sondern sie schafft,
und der sich selber nur als Ausgangspunkt und Material betrachtet
für das, wozu er sich selbst nach eigenen Plänen machen will, hat
den Eindruck, aus diesen Gründen an einem Anfang zu stehen,
der Anfang des neuen Menschen zu sein, der als eine Art Über-
mensch erst deutlich zeigt, was eigentlich der Mensch ist. Was ist
zu dieser Ideologie des neuen Menschen zu sagen, wenn diese
Situation und dieses Programm vom christlichen Glauben aus ge-
sehen werden ?
1.
Das Christentum hat keine Vorhersage, kein Programm und keine
eindeutigen Rezepte für die innerweltliche Zukunft desMenschen,
162
es weiß von vornherein, daß dieser Mensch sie nicht hat, daß er
also (und somit auch das Christentum selbst) ungeschützt in das
dunkle Wagnis der innerweltlichen Zukunft gehen muß. Die
_ Eschatologie des Christentums ist keine innerweltliche Utopie,
setzt keine innerweltlichen Aufgaben und Ziele. Damit ist aber
gegeben, daß der Christ keine konkrete Anweisung für sein inner-
_ weltliches Leben als solches hat, die ihm die Qual der Planung
und die Last des Ganges ins Ungewisse abnehmen würde. Er hat
das sittliche Gesetz der Natur und des Evangeliums. Aber diese
allgemeinen Prinzipien müssen von ihm selbst in konkrete Impe-
rative umgewandelt werden, die nicht nur Anwendungen dieser
Prinzipien auf eine statisch vorliegende Materie sittlichen Han-
delns bedeuten, sondern auch Entscheidungen zu einem bestimm-
ten Handeln, zur Auswahl aus verschiedenen Möglichkeiten, was
alles aus diesen allgemeinen Prinzipien nicht eindeutig deduziert
werden kann. Indem der Mensch sich und seine Umwelt ändert,
indem diese Änderungen selbst doch wieder den Charakter des
Unvorhersehbaren haben, des Versuchs und der Wanderung ins
Ungewisse, da paradox, aber wahrhaftig die Planung das Unvor-
hersehbare nicht vermindert, sondern im gleichen Verhältnis zu
dem Umfang der Planung wachsen läßt, so sind den Prinzipien,
diedas Christentum vertritt, immerneueundimmerüberraschende
Aufgaben gestellt, die sich die Christenheit früherer Zeiten nicht
träumen lassen konnte; die einen langen, mühsamen Akklimati-
sationsprozeß für die Christen und die Kirche an sie erfordern,
darnit sie überhaupt bewältigt werden können.
Dabei ist es nicht so, daß dieser Gang in die unvorhersehbare
Zukunft für das Christentum selbst unwichtig, für das Christen-
tum als Kirche und als christliches Leben der einzelnen und der
Völker von keiner Bedeutung wäre. Das wirklich vollzogene Chri-
stentum ist immer die je einmalig vollzogene Synthesis der Bot-
schaft des Evangeliums und der Gnade Christi einerseits und der
konkreten Situation, in der das Evangelium gelebt werden soll,
anderseits. Diese Situation ist immer neu und überraschend. Und
darum ist die innerweltliche und christliche Aufgabe des Christen
wahrhaft und wirklich Aufgabe, deren Lösung in Überraschun-
gen, in Schmerzen, Vergeblichkeiten und Mißgriffen, in falscher
165
Distanzierung und in restaurativen, ängstlich-konservativen Vor-
behalten undfalschen Faszinationen durch das Neue mühsam ge-
sucht werden muß. So darf auch der Christ erschreckt und faszi-
niert vor der aufgehenden Zukunft innerweltlicher Aufgabe ste-
hen, zur Tat und zur Kritik aufgerufen, brüderlich neben allen
anderen, die diese Zukunft grüßen und sie heraufzuführen sich
berufen wissen. Da die Bewältigung der innerweltlichen Situation
(soweit es dem Menschen gegeben ist) eine Aufgabe darstellt, die
auch eigentlich christlich ist, weil das ewige Leben in der Zeit ge-
wirkt werden muß, darum kann man vielleicht bedauernd fest-
stellen, daß die Christen der Gegenwart sich zu wenig mit der
Programınatik der innerweltlichen Zukunft beschäftigen, als ob
diese keine Probleme böte oder den Nichtchristen überlassen wer-
den dürfte.
Es ist zwar richtig und entscheidend wichtig, daß das Evange-
lium keine solche Programmatik bietet noch bieten will und die
Kirche keine solche als eindeutige und verpflichtende zu verkün-
digen hat. Aber damit ist durchaus nicht gesagt, daß jede Zukunfts-
programmatik, wie immer sie auch sei, mit dem christlichen Geist
und Leben und mit dem vom Christentum gehüteten Wesen des
Menschen vereinbar sei, die Christen also selbst in ihrem konkreten
Leben hinsichtlich dieser konkreten Programmatik keine Aufgabe
und Verpflichtung hätten. Die Christen können durchaus eine
Aufgabe als Christen haben, die die Kirche als solche nicht hat. Und
es mag scheinen, daß die Christen diese Planung der Zukunft,
diese Imperative-über die abstrakten Prinzipien des bleibenden
Evangeliums hinaus-nicht deutlich, nicht mutig, nicht werbend
genug in Geist und Herzen trügen, den Geist des Evangeliums
nur in einer defensiven Kritik der Gefahren der Zukunftsplanun-
gen, der innerweltlichen Ideologien zu verteidigen suchten.
Indes es bleibt dabei: Der Christ als solcher hat vom Evangelium
her keine eindeutigen Rezepte, wie die Zukunft aussehen solle
oder werde, er ist hier der Pilger, der ins Ungewisse und ins Wag-
nis schreitet, brüderlich vereint mit den anderen, die die irdische
Zukunft planen, und es ist ihm durchaus gestattet, jenen Stolz zu
spüren, das Wesen zu sein, das sich selber plant, jener Ort-man
nennt ihn Geist und Freiheit-zu sein, an dem die große Welt-
164
maschine nicht nur in erhabener Eindeutigkeit abläuft, sondern
sich selbst zu steuern beginnt.
2.,
Das Christentum macht den Menschen, der an der Schwelle einer
neuen und unerhörten Zukunft zu stehen vermeint, darauf auf-
merksam, daß auch diese Zukunft eine Ankunft des Menschen bei
sich als dem endlichen und kreatürlichen Wesen ist und bleiben
wird. Diese selbst entworfene und selbst zu bauende Zukunft ist
für den Christen unweigerlich endlich und als endliche schon im
voraus erkannt, erfahren und erlitten. Das will sagen: auch die
Zukunft wird gebaut aus einem Material von vorgegebenen Struk-
turen, deren endliche Definiertheit auch die Möglichkeit der Zu-
kunft innerlich begrenzt und verendlicht. Gewiß erlebt der Mensch
immer wieder Überraschungen darüber, wie er seine eigenen Mög-
lichkeiten unterschätzt hat, wie die Welt größer ist als er gedacht,
wie sich neue Tore auftun zu Möglichkeiten, die er bisher als
schlechthin utopisch ansah. Gewiß ist es in vieler Hinsicht ge-
fährlich, etwas als unmöglich zu erklären; denn solche Erklärung
ist oft schon in der Geschichte der Anfang der erfolgreichen Be-
mühung gewesen, das Unmögliche möglich zu machen. Aber den-
noch ist und bleibt der Mensch nicht der Schöpfer aus dem Nichts
in Allmacht, sondern das Wesen, das aus sich und aus seinen ihm
vorgegebenen Wirklichkeiten der Umwelt schafft. Und er und
seineihn umgebende Wirklichkeit haben Strukturen und Gesetze;
und diese vorgegebenen Wirklichkeiten bilden mit ihren determi-
nierten Strukturen das apriorische Gesetz dessen, was aus ihnen
werden kann.
Diese Wesensstrukturen sind nicht-das hat der Mensch der
Neuzeit gelernt und das unterscheidet ihn auch vom Menschen
früherer Zeiten und auch des christlichen Mittelalters-die stati-
und
sche Schranke, die ein echtes Werden und Sich-Verändern
Verändert-Werden verhindert. Diese Wesenss truktur en haben
ge-
durchaus eine innere Dynamik auf ein Werden in sich. Aber
der
rade so sind sie das Gesetz, nach dem das Werdende antritt,
Bahn seiner Geschic hte verläuft .
Horizont, innerhalb dessen die
erlau-
Und mag diese Bahn noch so sehr ins Unbegrenzte weiterv
165
® !
y
fen, sie hat eine innere Gekrümmtheit, in der sich die Endlichkeit
und Kreatürlichkeit dieser Bahn des Werdens verrät und der sie
unausweichlich untertan bleibt. Vieles gehört in diesem Sinn zu
den apriorischen, unausweichlichen Momenten der Endlichkeit
des Menschen: seine Raumzeitlichkeit; selbst wenn er sich ein
neues Stück der Welt außerhalb seiner Erde erobern sollte- wie
weit sind wir genau genommen noch davon entfernt?-, er wird
der Ungeheuerlichkeit des Weltalls immer als jener gegenüber-
stehen, der von der Erde aus und nicht anderswoher seinen kurzen
Daseinslauf beginnt; seine biologische Verfassung samt all dem,
was damit an Bedingtheit gegeben ist; die Phasen des Lebens, die
Angewiesenheit auf Nahrung; die Endlichkeit seines Gehirns als
Speichers seiner Taten, als Basis dessen, was er wirklich erleben
kann und wodurch alle sonstigen künstlichen Speicherungen ver-
wertbarer Inhalte im Grunde doch erst interessant für ihn wer-
den, so wie nur die Bücher einer Bibliothek für jemanden inter-
essant sind, die er liest, nicht die er lesen kann, oder höchstens
noch die, die er lesen könnte, ohne auf die Lektüre anderer
ver-
zichten zu müssen; die Endlichkeit seines Lebens, das im Tode
endigt.
Und damit kommen wir an die unwiderruflichste und deut-
lichste Endlichkeitsgrenze des Menschen: er stirbt, er hat
einen
Anfang und ein Ende, und dadurch ist restlos alles, was innerha
lb
dieser Klammer steht, unter dem unerbittlichen Index der
End-
lichkeit. Wir können das Leben des Menschen verlängern, ja
wir
haben es schon getan. Aber welche lächerliche Änderung wäre
es
eigentlich, würden wir alle 120 oder 180 Jahre alt? Wer hat
schon
mehr als Möglichkeit postuliert oder prophezeit? Und wer könnte,
wollte er diese Utopie auch nur einigermaßen durchdenken,
auch
nur hoffen und wünschen, daß er in dieser Verfaßtheit des
Daseins,
das uns allein gegeben ist, unaufhörlich leben werde? Die
innere
Endlichkeit des Daseins würde die äußere Unaufhörlichke
it des
Lebens zum Wahnwitz machen, zum Dasein Ahasver
s, zur Ver-
dammnis, weil das Endlich-Einmalige nur gewichtig und
süß ist,
wenn und weiles nicht immer zu haben ist; weil eine
ins Unend-
liche real für je mich habbare Zeit den Inhalt jedes Augenbl
icks
zu absoluter Gleichgültigkeit, weil absoluter Wiederholbarke
it,
166
- i !
verdammt. Und dann: Was bedeutet es für mich, der ich sterben
werde, wenn ich dazu beitragen könnte, daß irgendeinmal die
Züchtung eines Menschen gelänge, der nicht mehr stirbt? Nichts!
Aber davon muß noch eigens die Rede sein.
“ Nein, die Botschaft des Christentums von der Endlichkeit und
Kreatürlichkeit des Menschen ist immer noch wahr. Und je mehr
von dem, was heute noch ausstehende Zukunft und Utopie ist,
realisiert würde, desto weniger könnte das Erreichte über die End-
lichkeit dieses Erreichten hinwegtäuschen und den Schmerz dieser
Endlichkeit narkotisieren. Zumal es eine durch nichts bewiesene
Annahme ist, daß die Möglichkeit und das Tempo neuen Werdens,
das wir in unserer Zeit erleben, nie durch eine Phase einer gewis-
sen Stagnation abgelöst werden könne, daß die Zeit des voraus-
geplanten und selbstgesteuerten Werdens, einmal begonnen, in
stetiger Beschleunigung unaufhörlich zu immer neuen Ufern
weitergehen müsse. Es ist ebensogut möglich, daß die Entwick-
lung, wenn auch auf dem erreichten höheren Niveau, gewisser-
maßen wieder stagniert, so wie sie in vielen früheren Jahrzehn-
tausenden, was den Fortschritt in der Technik und im äußeren
Lebensstil angeht, stagnierte. Diese Endlichkeit bestimmt nicht
nur das Dasein des einzelnen als solchen, sondern, weil sich die
Gesellschaft immer auch unweigerlich aus den einzelnen zusam-
mensetzt (ganz gleich wie man-individualistisch oder kommuni-
stisch-über das genauere Verhältnis von einzelnem und Gesell-
schaft denken mag), durchdringt diese Endlichkeit auch das Leben
der Gesellschaft.
Diese Gesellschaft muß in einem erheblichen Maße immer wie-
der von vorne anfangen, weil sie die Kultur nicht einfach biolo-
gisch vererben kann. Die Planung wird, so raffiniert genau und
allumfassend sie gestaltet werden kann und mag, nie adäquat sein,
sondern notwendig Überraschungen und Fehlleistungen erbrin-
gen, weil das endliche Bewußtsein unweigerlich mehr gegenständ-
lich unreflexe Momente besitzt als durchreflektierte, einfach schon
weil der Akt der Reflexion nicht wieder selber reflektiert sein kann,
von ihm und seinen Eigentümlichkeiten aber sehr viel hinsichtlich
seines Inhaltes abhängt. Ja es kann sein, daß es ein durchaus end-
liches Optimum der Geplantheit gibt: Jede Planung arbeitet mit
167
ungeplanten Momenten; das Verhältnis Zwischen den ungeplanten
Momenten, die für das Ergebnis des Planes von konkreter Bedeu-
tung sind, und den geplanten Momenten und deren Sicherheit für
das geplante Resultat ist variabel; es kann also leicht der kompli-
ziertere Plan, der mehr Fehler planmäßig vermeiden will, faktisch
schlechter arbeiten als der simplere, der mit weniger ausdrück-
lichen Momenten arbeitet. Noch einfacher: auch die scheinbar ins
Unendliche wachsende Kultur und Zivilisation der Gesellschaft
bleibt bezogen auf den einzelnen, also auf die Endlichkeit seines
Bewußtseins, die Endlichkeit der Menge der einzelnen, die End-
lichkeit des Lebens der einzelnen. Und damit bleiben diese Kultur
und Zivilisation endlich.
Es kann natürlich im einzelnen Menschen und in der durch-
schnittlich ausgesprochenen Meinung einer Gruppe, einer Zeit
usw. so sein, daß diese Endlichkeit nicht, nicht ausdrücklich, nicht
in existentieller Radikalität ins Bewußtsein tritt; es kann sein, daß
die Bewegung, weil sie überhaupt da ist, als eine Bewegung ins
Unendliche enthusiastisch erlebt wird, indem man übersieht, daß
eine wenn auch erlebnismäßig nicht deutlich begrenzte Bewegung
dennoch immer nur Endliches erreicht, und die Unbegrenztheit
der Potenz noch keinen unendlichen Akt verheißt. Aber dieses
rauschhafte Unendlichkeitserlebnis wird immer wieder grausam
desillusioniert werden. Spätestens im Tod. Und immer wird aufs
neue jener Unendlichkeitsanspruch, der im Menschen existiert
und nach der Lehre des Christentums aus der Unendlichkeit der
Verheißung der Gnade stammt, das innerweltlich Erreichte und
Erreichbare wägen und als zu leicht befinden.
a
Das Christentum kennt einen individuellen und existentiellen
Zeitbegriff, den die innerweltlichen Zukunftsutopien nicht haben
und dessen Fehlen diese als ungenügend entlarvt. Wie ist es denn?
Die Zukunft hat schon begonnen, sagt man, sagt man wohl
mit
Recht. Und im Westen und im Osten erklärt man, man gehe
einer
Zeit entgegen, die herrlich sei: man werde den außerplanetari
-
schen Raum erobern, man werde Brot für alle haben,
es werde
168
keine unterentwickelten und unterernährten Völker mehr geben,
es werde jedem das zuteil, was seine Bedürfnisse erfülle, der Klas-
senunterschied werde aufgehoben sein. Es darf wirklich nicht vom
Christen so getan werden, als ob alle diese Zukunftspläne dadurch
widerlegt seien, daß der Christ skeptisch erklärt, das Paradies
komme auf dieser Welt doch nicht. Wer all diesen inbrünstigen
Zukunftsträumen gegenüber nur nüchterne Skepsis anmeldet, der
hat vermutlich keinen Hunger, istim Augenblick nicht vom Krebs
bedroht und darum nicht daran interessiert, daß die Medizin end-
lich über diese Krankheit siegt. Aber: der Christ hat doch einfach
und schlicht recht, wenn er darauf hinweist, daß diese glückliche
Zukunft doch noch nicht angekommen ist, daß er sie nicht mehr
erlebt und daß er die Frage seines Daseins nicht dadurch als gelöst
anerkennen kann, daß sie später in anderen gelöst wird.
Der Kampfum eine bessere Zukunft lebt doch, oberes weiß oder
nicht, von einer Einschätzung des Menschen, auch des einzelnen,
die diesen Menschen als geistige Person absolut setzt. Das mit
Recht! Denn warum sollte sich das heutige Individuum aufopfern
für eines in der Zukunft, wenn dieses ebenso unbedeutend wäre,
wie man das heutige einschätzt, wenn das jetzige Individuum
darum geopfert werden dürfte, weil es unbedeutend ist? Der Kom-
munist, der sich heute in wahrer Freiheit selbstlos für die anderen
der Zukunft opfert, bejaht, daß seine Person und die der späteren
einen absoluten Wert haben, mag er es in seiner reflexen Begriff-
lichkeit zugeben oder nicht. Werden anderen absolut bejaht, bejaht
auch sich selbst absolut. Nicht notwendig in seiner biologischen
Existenz. Aber in dem, als welcher er diese Entscheidung der sich
opfernden Bejahung trifft, in der freien Geistperson. Die Zukunft
als nicht nur von selbst sich einstellende, sondern als im Opfer zu.
erobernde, bejaht implizit, was das Christentum ausdrücklich er-
klärt: daß die Zukunft der menschlichen Geistperson gar nicht in
der Zukunft allein liegt, die in einem späteren Zeitpunkt einmal
da sein wird, sondern die Ewigkeit ist, die sich als Frucht der gei-
stigen Tat der Person zeugt.
Das Christentum sagt mit Recht, daß es eine personale, existen-
tielle Zeit gibt als das Werden der unbedingten Endgültigkeit der
sie
freien Entscheidung, der Existenz, die in der Zeit wirkt, indem
169
diese als einfach fortlaufende überwindet. Alle Zukunftsideologien,
die die zeithaft ausständige Zukunft als das absolut Gesollte und
nicht als das ebenso bloß zu Überwindende wie die bloße Gegen-
wart erklären, entleihen diesen Absolutheitscharakter der Zukunft
jener Zukunft, die wirklich absolut ist, der Zukunft der freien
Person, die nicht später kommen wird, sondern die da ist in der
geistigen Person und ihrer freien Tat und dort zu sich selbst
kommt, wo das Leben biologisch in seiner ins Unbegrenzte offenen
linearen Zeitlichkeit beendet wird. Würde alles, was ist, restlos
jener Zeit untertan sein, deren jedes Moment gleichgültig ist, weil
‚es sich in ein ebenso gleichgültiges späteres Zeitmoment aufhebt,
das seine eigene Unbedeutendheit entlarvt, indem es ebenso im
nächsten Moment verschwindet, dann wäre gar kein Grund, der
Gegenwart eine Zukunft vorzuziehen, die nicht mehr die des Vor-
ziehenden selbst ist. Für den schlechthin Vergehenden ist, wenn
er überhaupt zu sich und seiner Vergänglichkeit kommt, notwen-
dig das Gegenwärtige das einzig Wahre und Gültige. Nur wenn
es eine Zukunft des personalen, individuellen Geistes gibt, hat es
im letzten einen Sinn, für die innerweltlich bessere Zukunft
der
Späteren zu kämpfen.
Daß dies viele tun, die eine Endgültigkeit des personalen Gei-
stes der Person in ihren ausdrücklichen Aussagen leugnen, ist
kein
Gegenbeweis, sondern ein Zeichen dafür, daß der Mensch
im kon-
kreten sittlichen Vollzug seines Daseins mehr weiß und
mehr
glaubt als in seiner reflexen Weltanschauung, ist ein Beweis
dafür,
wie unausrottbar die ewige Würde des personalen Geistes
ist, der
auch noch dort ist und handelt nach seinem Gesetz und
Wesen, wo
er theoretisch geleugnet wird. Es ist dann so, wie wenn
einer mit
scharfsinniger Logik absoluten Anspruchs die absolute
Gültigkeit
der Logik bestreitet.
Man erkennt aus dem eben nur flüchtig Anged
euteten: das
Christentum hat in seiner Lehre von der indivi
duellen, frei ge-
tanen Endgültigkeit der Person einen Zeitbegriff,
der den rein ins
noch Ausständige linearen Zeitbegriff aller innerw
eltlichen Ideo-
logie und Utopie der Zukunft überholt-überholt,
indem es dem
Echten und sittlich Gerechtfertigten dieser
Zukunftsideologien
erst den wirklich tragenden Boden gibt-überhol
t, indem es dem
170
Menschen eine überweltliche und übergeschichtliche, dem ewigen
Fortfließender Zeit enthobene «Zukunft» eröffnet: das ewige
Leben, das in der Zeit sich auszeitigt und auszeugt, die einzige
Zukunft, die wirklich schon jetzt, je jetzt, in der freien Entschei-
dung der glaubenden Liebe begonnen hat.
4.
Das Christentum hat noch in einer ganz anderen Weise alle Zu-
kunftsideologien und Utopien schon überholt. Nämlich durch seine
Lehre von der Inkarnation des ewigen Logos Gottes und von dem
damit schon angebrochenen universalen Heil. Es ist zunächst auf-
fallend, wie blaß und dünn doch alles wird, wenn die Gläubigen
der innerweltlichen Zukunft als selig paradiesischer und als des
Triumphes des Menschen, der sich durchgesetzt hat und die Natur
so zu ihrem eigenen Ziel bringt, sagen sollen, wie eigentlich die
erstrebte Zukunft einmal aussehen wird. Man wird um den Mond
fahren können und vielleicht auf dem Mars landen, die Fleisch-
produktion Rußlands wird die Amerikas überholt haben, niemand
leidet mehr Mangel, es ist genug Zeit und Geld da, jeden aufs beste
zu erziehen, ihm alle von ihm nur erwünschten Kulturgüter zu
bieten usw.; jedem wird alles nach seinen Bedürfnissen zuteil. So
geht es fort. Man hat aber den Eindruck, daß dies alles nicht son-
derlich von dem abweiche, was auch heute schon möglich und teil-
weise auch schon üblich ist, daß also der «neuen Mensch» doch
dem alten verzweifelt ähnlich sehe.
Demgegenüber (nicht als Widerspruch, sondern als Botschaft
von einer völlig neuen, anderen Dimension des menschlichen
Daseins gemeint) verkündigt das Christentum, daß der Mensch
dem Unendlichen und Absoluten, dem von vornherein jedes End-
liche Überbietenden und nicht aus solchen endlichen Fortschritts-
momenten stückweise Zusammengesetzten unmittelbar begegnen
könne; daß der Mensch mit Gott selber zu tun habe; daß dieses
unsagbare Geheimnis, das wir Gott nennen, nicht nur der immer
ferne bleibende Horizont unserer Transzendenzerfahrungen, un-
serer Endlichkeitserlebnisse bleibe, sondern daß die Unendlichkeit
als solche in das Herz des Menschen fallen könne, das so « endlich »
171
ist, daß es dennoch mit dieser unsagbaren Unendlichkeit begnadet
werden könne; daß wir die Unendlichkeit der absoluten Wirklich- _
keit, das unzugängliche Licht, die Unbegreiflichkeit, die unend-
lich seliges Leben ist, schauen werden von Angesicht zu Angesicht;
daß diese personale Unendlichkeit dadurch schon begonnen hat,
diese Endlichkeit der geistig-personalen Welt des Menschen in ihr
ewiges Leben hineinzunehmen, daß das ewige Wort Gottes diese
endliche Frage nach der Unendlichkeit Gottes, die Menschheit, in
Jesus Christus als seine eigene angenommen und sie mit der Ant-
wort des ewigen Wortes beantwortet hat.
Das Christentum lehrt: Während die Welt noch ihren Gang
geht in den innerlich gekrümmten Bahnen ihrer endlichen Ge-
schichte, während sie noch dem Wechsel unterworfen ist, indem
sie nur ein Endliches durch ein anderes ersetzen kann, das-mag
es auch besser sein als das vorausgehende-doch immer nur Ver-
heißung und Enttäuschung in einem für den Geist bleibt, der seine
Endlichkeit erkennt und erleidet, hat Gott die Welt schon aufge-
brochen, ihr einen Ausgang eröffnet in seine eigene Unendlichkeit
hinein. Schöpfung heißt in der konkreten Welt nicht mehr bloß
Setzung eines Endlichen aus einem unendlichen Grund, von dem
als dem unverfügbaren dieses Entsprungene immer ferne gehalten
wird, sondern Setzung des Endlichen als desjenigen, woran das Un-
endliche als Liebe sich selbst verschwendet.
Diese Geschichte der unendlichen Begabung der Kreatur mit
Gott ist primär gewiß die Geschichte des personalen Geistes,
sie
geschieht gewiß primär quer zum zeitlichen Fortgang der mate-
riellen Geschichte des Kosmos als existentielle Glaubensgeschichte.
Aber es ist mit dieser Erfüllung der Endlichkeit mit der Unendli
ch-
keit Gottes doch die ganze geschaffene Wirklichkeit gemeint.
Das
Christentum kennt keine Geschichte des Geistes und
der Existenz,
die einfach die Überwindung und Abstoßung des Materiel
len wäre,
für die die Geschichte des Kosmos höchstens äußerlich
die Bühne
böte, auf der sich das Drama des personalen Geistes
und seiner Be-
gabung mit Gott derart abspielen würde, daß, wenn
das Stück ge-
schehen ist, die Spieler die Bühne verlassen
und diese selbst, tot
und leer, sich selbst überlassen bliebe. Die Geschich
te, in der Gott
selbst mit seinem eigenen Einsatz mitspielt,
ist ja die Geschichte
172
} y
der Fleischwerdung Gottes und nicht nur das Ereignis eines bloß
ideologischen Geistes. Das Christentum bekennt die Auferstehung
des Fleisches und sagt damit, daß es im letzten nur eine Geschichte
-und ein Ende von allem gibt, daß alles erst dann in sein Ziel gelangt
ist, wenn es Gottes selbst habhaft geworden ist. Das Christentum
denkt und kennt zwar nur eine Materie, die vom Geist verschieden
ist, aus der der Geist sich nicht einfach als deren ureigenes Produkt
entwickeln kann, wie der dialektische Materialismus lehrt, aber
das Christentum kennt dennoch nur eine Materie, die von vorn-
herein als Ermöglichung geistig-personalen Lebens, als Basis eines
solchen Lebens aus dem Geist, der Gott heißt, und für den Geist,
der Mensch genannt wird, erschaffen ist und west. Der Geist ist
nicht der Fremdling in einer geistlosen Welt, die unbekümmert
um diesen Geist ihre Bahnen zieht, sondern diese materielle Welt
ist die Leibhaftigkeit des Geistes, der erweiterte Leib des Men-
schen und hat darum im letzten mit ihm nur ein einziges Ziel und
Geschick. Sie ist auch in Ewigkeit in der Vollendung des Geistes
der Ausdruck dieses vollendeten Geistes und nimmt darum « ver-
klärt », wie wir sagen, an seinem endgültigen Los teil. Und darum
bekennen wir, daß das Ende ein neuer Himmel und eine neue Erde
sein wird.
Wir können von diesem vollendeten Ende des leibhaftigen, welt-
lichen Geistes nicht viel sagen: gerade weil jede innerweltliche
Vollendung nur die Vollendung aus Endlichkeit sein könnte, also
gar nicht absolute Vollendung wäre. Gerade weil uns Gottes Bot-
schaft den Mut des Glaubens an eine unendliche Vollendung ge-
geben hat, darum kann diese Vollendung grundsätzlich in ihrer
materialen Inhaltlichkeit nur sobeschrieben werden, daß mansagt:
Gott selbst wird diese Vollendung sein. Und weil Gott der Unend- _
liche das Geheimnis ist, das nur via negationis, im stummen Ver-
weis über alles Sagbare hinaus genannt und beschworen werden
kann, darum können wir von dieser unserer Vollendung nur in
Bildern und Gleichnissen, im verstummenden Hinweis auf die ab-
solute Transzendenz negativ sprechen. Sie hat darum nicht die
Eigenschaft, Gegenstand der Parteitiraden, der glühenden Aus-
malung, der plastischen Schilderung, der Utopie zu werden. Und
der Mensch von heute kann die alten Schilderungen dieser Voll-
173
4
174
D.
Sosehr der Christ als der Mensch der Zukunft Gottes Bürger der |
kommenden Welt und nicht nur Kind und Träger dieser jetzigen
Welt ist, auch wenn sie selbst noch so sehr als die ins Unbegrenzte
sich entfaltende gedacht wird, so sehr hat der Christ jetzt in dieser
Welt zu leben, die eine Welt einer Zukunft, die immer schon be-
gonnen hat, die die neue Welt voll der innerweltlichen Ziele, Auf-
gaben und Gefahren ist. All das, was bisher gesagt wurde, wäre
gänzlich mißverstanden, wollte man meinen, der Christ könne
sich gewissermaßen in den toten Winkel der Weltgeschichte zu-
rückziehen, er sei der, der geschichtlich oder sozial zu den Men-
schen gehöre, die es in jeder Geschichte und bei jeder Entwicklung
gibt, zu den Menschen von gestern, die nicht mehr recht mitkom-
men, zu den Trägern des bloß Gestrigen, zu den Konservativen,
die alten Zeiten nachtrauern.
Es ist nicht zu leugnen, daß die gute, die christliche Christenheit
oft diesen Eindruck macht. Es ist wahr: die Christenheit hat keine
Garantie von Gott erhalten, daß sie nicht die Gegenwart verschla-
fen könne. Sie kann altmodisch sein, sie kann vergessen, daß man
das alte Wahre und die Werte von gestern nur dann verteidigen
kann, wenn und indem man eine neue Zukunft erobert. Und sie
ist zum guten Teil in diesen Fehler verfallen, so daß das Christen-
tum von heute oft den peinlichen Eindruck erweckt, es laufe nur
maulend und verärgert kritisierend hinter dem Wagen her, in dem
die Menschheit in eine neue Zukunft fährt; der Eindruck entsteht,
die unendliche Revolution Gottes in seiner Geschichte, in der er
die Welt aufbrennen läßt in seinem eigenen unendlichen Feuer,
sei getragen von Leuten, die eigentlich nur auf das Alterprobte ver-
trauen, obwohl dieses im Grunde ja auch innerweltlich und darum
brüchig, zweideutigund vergänglich ist, wie das innerweltlich Zu-
künftige und noch Ausstehende. Warum sind denn die Christen so
oft nur bei den konservativen Parteien ?Sie bräuchten ja wahrhaf-
tignicht die Zukunftsprogramme anderer zu unterschreiben, wenn
diese unchristlich und unmenschlich sind. Aber dann müßten sie
selber auch für die nächsten paar Jahrhunderte und nicht nur für
die Ewigkeit einen Imperativ haben undnichtnurallgemeine Prin-
175
zipien, von denen sie erklären, daß sie stets, gestern und morgen,
gültig seien.
Alle diese Tatsachen brauchen nicht verschleiert, sie können
ruhig zugegeben werden. Sie ändern aber nichts an dem Prinzip,
daß der Christ nur dann wahrhaftig ganz und voll sein eigenes und
eigentliches Christentum verwirklichen kann, wenn er selbstver-
ständlich und bedingungslos im Heute und Morgen und nicht bloß
im Gestern lebt. Nicht als ob der Erbauer einer neuen innerwelt-
lichen Zukunft damit schon sein Christentum gelebt und bewiesen
hätte. Aber es gehört doch zu den Überzeugungen gerade eines
totalen Christentums, daß der christliche Glaube und die christliche
Sittlichkeit sich an der konkreten Materie des menschlichen Da-
seins und nicht in einem Raum daneben vollziehen und vollziehen
müssen, daß diese Materie des christlichen Selbstvollzuges das
Ganze der von Gott geschaffenen Weltwirklichkeit ist. Damit ist
' aber die Aufgabe des Christen nicht eine von ihm frei gewählte,
sondern eine vorgegebene: eben daskonkrete Dasein, die geschicht-
liche Stunde, in die hinein er gesetzt ist. Er mag diese anders be-
wältigen können, ja sollen, als es der Nichtchrist tun wird. Aber er
hat sie und keine andere zu bestehen. Überall und immer, wenn
man sich dieser Situation nicht stellen will, die die je eigene der
eigenen Zeit ist, und statt dessen in eine Welt flüchtet, die von
gestern, die erträumt, die der tote Winkel der Geschichte, die so-
ziale Schicht ist, die gestern lebendig und mächtig war, wird nicht
nur die irdische Aufgabe verfehlt, sondern auch das Christentum
selbst leidet unter der Künstlichkeit des Daseins, der Unechtheit
des Fiktiven.
Mit dieser innerweltlichen Aufgabe des Christseins ist natürlich
nicht gesagt, daß das «amtliche » Christentum, die Kirche selbst,
nun.in eigener Verantwortung und nur aus den Prinzipien, die
allein das Christentum zu vertreten hat, ein konkretes, innerwelt-
liches Zukunftsprogramm zu entwickeln und zu vertreten habe.
Man kann nicht gleichzeitig betonen, daß die innerweltlichen Kul-
tursachgebiete eine relative Selbständigkeit haben, ja daß die Kir-
che heute unweigerlich in einer pluralistischen Gesellschaft leben
müsse und aufkeinen Fall eine unmittelbare und direkte Leitungs-
gewalt in den «weltlichen» Dingen beanspruchen könne, und
176
gleichzeitig beklagen, daß die Kirche über die beginnende Zukunft
und ihre Gestaltung nichts sehr Deutliches und Bewegendes zu
sagen wisse. Aber die Christen selbst haben sich der Zukunft zu
stellen und sie als ihre ureigenste Aufgabe zu betrachten, selbst
wenn sie dabei auch dem Dunklen und dem Wagnis ausgesetzt
sind. Sie sind, gerade als Laien, janichtnur die Ausführungsorgane
von Weisungen, die von der amtlich-hierarchischen Kirche kom-
men, sondern haben selbst den Willen Gottes als den je für sie und
für ihre Zeit einmaligen zu finden.
Damit ist wieder gerade nicht gesagt, daß die amtliche Kirche
im engern Sinn, die Kirche in ihrem eigenen, inneren Leben, keine
Aufgaben hätte, die gerade aus dieser Situation erwachsen. ImGe-
genteil: sie hat unendlich viele solcher Aufgaben. Sie müßte noch
sehr vieldarüber nachdenken, wie sie ihr Leben und ihre Botschaft
so gestalte, daß sie den Menschen von heute und morgen, den
Menschen von morgen, die heute schon leben, nicht mehr Schwie-
rigkeiten in ihrer Assimilation bereite, als es in der Natur der Sache
gelegen ist. Von der Erfüllung dieser Aufgabe ist die Kirche noch
weit entfernt, nicht nur darum, weil diese Aufgabe immer wieder
neu ist und immer neu zu lösen ist. Sondern darum, weil die Kirche
hier sehr viel nachzuholen hat, was sie in den letzten anderthalb
Jahrhunderten versäumte. Denn in dieser Neuzeit, die jetzt am
Ende ist, hat sie in ihrem Denken und Empfinden, in ihrem Ver-
trautsein mit der Situation nicht genügend mit der Entwicklung
Schritt gehalten; in dieser Zeit wurde sie eine sich selbst vertei-
digende, konservative Macht, mehr, als es richtig war.
Und dieser Rückstand in der Erfüllung alter Aufgaben belastet
enst-
natürlich die Erfüllung der heutigen: im kirchlichen, gottesdi
lichen Leben, in der Gestaltung der Liturgie, im Stil des Ordens-
lebens, im Mut, die alte Wahrheit in der Theologie neu zu sagen,
in der Gestaltung des Kirchenrechts, in der Durchdenkung der Pro-
Kir-
bleme, die die heutige pluralistische Welt und Gesellschaft der
besser: in dem lieben-
che aufgeben, in der Auseinandersetzung,
Chri-
den Verstehen der anderen Religionen, in der Bildung eines
der Welt
sten, der die unvermeidliche und bleibende Profanität
rung
von heute durchstehen und ertragen kann, in der Aktivie
der heutige n und künftig en
eines öffentlichen Einflusses, wie er
177
, ’
279
a In
%
u ee Br
De Bahn ui® ihe£nr
” .
DeDin
TE
LU
[Der [i
er
7
1
is2
CHRISTOLOGIE
DIE CHRISTOLOGIE INNERHALB
EINER EVOLUTIVEN WELTANSCHAUUNG
Das Thema, über das ich sprechen soll, lautet: Die Christologie
innerhalb einer evolutiven Weltanschauung. Es handelt sich also
um die Frage des Nachweises einer Einpaßbarkeit oder Eingepaßt-
heit einer Aussage in einen Komplex von anderen Aussagen, nicht
um diese Aussagen je für sich. Damit ist schon gegeben, daß das
Thema, das hier gestellt ist, weder die Darstellung der christlichen
und katholischen Christologie in sich noch die Darstellung dessen
ist, was — wenn auch vage — mit evolutiver Weltanschauung be-
zeichnet wird. Es handelt sich vielmehr um eine mögliche Zuein-
anderordnung der beiden Größen. Dabei wird (was sachlich und
methodisch freilich weder selbstverständlich noch unbedenklich
ist, hier aber gewagt werden soll) diese evolutive Weltanschauung
als gegeben vorausgesetzt und nach einer Eingepaßtheit der Chri-
stologie in sie und nicht umgekehrt gefragt, obwohl dieses Umge-
kehrte ebenfalls eine mögliche, ja an sich die bessere und radikalere
Frage wäre. Nochmals: es wird also weder der Versuch gemacht,
die Christologie selbst darzustellen, theologisch zu entfalten, noch
der Nachweis unternommen, daß Jesus von Nazareth den Anspruch
dessen für sich erhoben hat, was wir dann in theologischer Sprache
als metaphysische Gottessohnschaft, als Inkarnätion, als hyposta-
tische Union verdeutlichen, und daß dieser sein Anspruch sich als
legitim, d.h. als glaubwürdig, verständlich machen lasse. All dies
ist vorausgesetzt oder wird von anderer Seite behandelt. Wenn wir
über das « Innerhalb» einer Lehre in einer «Weltanschauung »
sprechen, von einer Eingepaßtheit und Einpaßbarkeit der Christo-
logie in diese evolutive Weltanschauung, dann ist damit weder
gemeint, daß (das wäre das eine Extrem, das nicht beabsichtigt
ist) sich die christliche Lehre von der Inkarnation als eine notwen-
dige Folge und zwingende Verlängerung aus der evolutiven Welt-
anschauung herleiten lasse, noch (das andere Extrem, das leicht
dargetan, aber nicht sonderlich bedeutsam wäre und uns nicht
genügt) daß die Inkarnationslehre sich nicht unmittelbar in einem
185
einfachen sachlichen oder lögischen Widerspruch zu dem befinde,
was diese Weltanschauung als sichere Erkenntnis, als wirklich wis-
senschaftliche Ergebnisse beinhaltet. ‚
Wäre das erste gemeint, dann würde der Versuch eines theolo-
gischen Rationalismus unternommen, der Versuch, Glaube, Of-
fenbarung und Dogma in Philosophie zu verwandeln, was natür-
lich nicht beabsichtigt ist. Würde bloß das zweite angestrebt, wür-
den wir an einer wirklichen Aufgabe vorbeireden und zu wenig
leisten. Denn dann könnte diese als von der heutigen evolutiven
Weltanschauung nicht direkt geleugnete, nicht durch rein logisch
ihr widersprechende Sätze aufgehobene Lehre von der Mensch-
'werdung des göttlichen Logos doch immer noch wie ein Fremd-
körper im Geist des Menschen empfunden werden, der durch diese
evolutive Weltanschauung strukturiert ist, wie etwas, was, zu sei-
nem sonstigen Denken und Empfinden schlechterdings bezie-
hungslos, den Menschen dieser Art, wenn er aus irgendwelchen
anderen Gründen doch Christ ist oder wäre, zwingen würde, in
zwei völlig beziehungslosen Denkebenen sich zu bewegen. Aber
die Aufgabe besteht gerade darin (ohne die Inkarnationslehre des
Christentums zu einem notwendigen und inneren Moment der
heutigen Weltanschauung, ihres Denkstils, des heutigen Lebens-
gefühls zu erklären), nicht bloß formallogisch Widersprüche zu
beseitigen, besser: das Nichtvorhandensein solcher Widersprüche,
dort wo sie sich einzustellen scheinen, darzutun, sondern eine in-
nere Affinität der beiden Größen, eine Art Stilgleichheit, die Mög-
lichkeit einer gegenseitigen Zuordnung deutlich zu machen. Da-
bei kann es in einem kurzen Vortrag wie diesem natürlich nicht
die Aufgabe sein, das allgemeine Problem einer gewissen Homo-
genität menschlicher Erkenntnisse einer Epoche, eines einen Men-
schen, die Möglichkeit einer Art Denksiils, einer einen Denkform,
die viele Erkenntnisse material sehr verschiedenen Inhalts gemein-
sam prägt, zu bedenken, obwohl da natürlich sehr vieles Dunkle
und Wichtige zu erwägen wäre. Im übrigen muß, was wir wollen
und nicht wollen, aus der Durchführung des Versuches deutlicher
werden.
Setzen wir aber einmal ein gewisses Vorverständnis. der gestell-
ten Aufgabe voraus, dann ist auch das Schwierige, Mühsame und
184
Vielfältige dieser Aufgabe schon klar. Es spielt eigentlich alles
hinein, worum sich die Paulus-Gesellschaft bemüht: schlechthin
alle Fragen der Versöhnung der christlichen Lehre und Interpre-
tation des Daseins und der heutigen Weise des Lebens, des Den-
kens und Empfindens versammeln sich notwendigerweise geballt
in unserer Aufgabe; alle sachlichen und historischen Schwierig-
keiten, die mit dem Wort: «Christentum und moderner Geist»
beschworen werden, stellen sich auch hier ein, wo es sich um die
zentralsteund geheimnisvollste Aussage des Christentums handelt,
die gleichzeitig eine Wirklichkeit meint, die gerade als jener Di-
mension angehörend erklärt wird, die dem Menschen von heute
wissenschaftlich, existentiell und gefühlsmäßig als die ihm ver-
trauteste zugeordnet ist, der materiellen Welt nämlich, der greif-
baren Geschichte, um eine Aussage, die Gott (den in der Theologie
Gemeinten) gerade dort sein läßt, wo sich der Mensch heimisch
und allein zuständig fühlt, in der Welt und nicht im Himmel. Es
ist von daher wiederum selbstverständlich, daß unsere Aufgabe
nicht sein kann, von den allgemeinsten, wenn auch noch so funda-
mentalen Fragen und Schwierigkeiten zu sprechen, die mit der
Versöhnung zwischen christlicher Religion und modernem Den-
ken gegeben sind, sondern daß wir uns beschränken müssen auf
das, wasmitunserem engeren Thema an besonderen Fragen gestellt
ist, wenn wir uns auch dessen bewußt sind, daß vielleicht das mei-
ste des Fremdheitserlebnisses und des Befremdetheitserlebnisses
des heutigen Menschen vor der Menschwerdungslehre auf Xonto
der Befremdetheit des heutigen Menschen durch eine metaphy-
sische und religiöse Aussage überhaupt geht. —-Aber genug der Ein-
leitung.
Es sollen aber noch ein paar Worte über den geplanten Gang
unserer Überlegungen vorausgeschickt werden. Wir gehen vom
heutigen evolutiven Weltbild aus, dieses mehr voraussetzend als
darstellend. Wir fragen daher zunächst nach einem darin gegebe-
nen Zusammenhang zwischen Materie und Geist, somit nach der
des
Finheit der Welt, der Naturgeschichte und der Geschichte
nur jene
Menschen. Al dies natürlich nur ganz kurz. Dabei sollen
sagen
Zusammenhänge berührt werden, die, wenn wir einmal so
« gemeint heologi sch » sind. Anders
dürfen, «gemeinchristlich»,
185
‚ausgedrückt: Wir versuchen Theoreme zu vermeiden, die Ihnen
von Teilhard de Chardin her geläufig sind. Treffen wir uns mit
ihm, ist es gut. Wir brauchen das nicht absichtlich zu meiden. Wir
fühlen uns aber auch von ihm weder abhängig noch auf ihn ver-
pflichtet. Wir wollen nur das sagen, was eigentlich jeder Theologe
sagen könnte, wenn er seine Theologie unter diesen von der mo-
dernen evolutiven Weltanschauung gestellten Fragen aktiviert.
Wir nehmen damit allerdings auch eine gewisse Abstraktheit in
Kauf, die vielleicht den Naturwissenschaftler ein wenig enttäu-
schen wird. Denn es wäre verständlich, wenn dieser genauere An-
gaben über eine bestimmte Honmiogenität zwischen Materie und
Geist erwarten würde, als wir sie bieten werden, und zwar eben von
jenen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen oder jenen Auswer-
tungen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse aus, dieihm geläufig
sind. Würden wir dies aber so tun (ähnlich wie Teilhard), müßte
unsere Überlegung nicht nur den Anspruch solcher naturwissen-
schaftlicher Erkenntnisse machen, die nun eben einmal einem
armen Theologen doch nur sehr aus zweiter Hand zugänglich
wären, sondern wir hätten auch alle Belastungen zu tragen, die mit
sölchen Ausdeutungen wirklich naturwissenschaftlicher Ergeb-
nisse, mit Ausdeutungen, die nicht unumstritten sind, unvermeid-
lich verbunden sind. Es genügen uns aber die Schwierigkeiten, die
wir allein von der Philosophie und Theologie her in diesen Fragen
empfinden.
Wir müssen dann von da aus in einer zweiten Überlegung
den
Menschen zu verstehen suchen als das Seiende, in dem die Grund-
tendenz der Selbstfindung der Materie im Geist durch Selbsttr
ans-
zendenz zu ihrem definitiven Durchbruch kommt, so
daß von da-
her das Wesen des Menschen selbst gesehen werden kann
inner-
halb der Grund- und Gesamtkonzeption der Welt. Eben
dieses
von daher gesehene Wesen des Menschen aber ist es,
das durch
seine höchste, freie, ihm von Gott her ungeschuldet
ermöglichte
und volle Selbsttranszendenz in Gott hinein und durch
Selbstmit-
teilung Gottes in einem das «erwartet» als seine
und der Welt
‚ Vollendung, was wir Gnade und Glorie in christlichen
Begriffen
nennen.
Der erste Schritt und der bleibende Anfang und
die absolute
186
\
j
188
über die Materie wissen, aber nicht die Materie wissen, wenn auch
dieses Wissen um die funktionalen
und zeitlichen Zusammenhänge
ihres isolierten Gegenstandes sie doch wieder zu dem Menschen
_ selbst aposteriorisch hinführt. Das ist auch eigentlich selbstver-
ständlich: Das Feld, das Ganze als solches kann nicht mit den Mit-
teln der Bestimmung der Teile bestimmt werden. Was Materie ist,
kann nur vom Menschen her gesagt werden. Und nicht umgekehrt,
was Geist sei, von der Materie her. Vom «Menschen» her, wird hier
gesagt, nicht vom « Geist» her. Das wäre etwas ganz anderes, wäre
nochmals jener Platonismus, der gleichermaßen im Materialismus
steckt, da er ja eben so wie der platonische Spiritualismus glaubt,
für das Verständnis des Ganzen und seiner Teile einen Ansatz-
punkt zu haben, der unabhängig ist vom Menschen als dem einen
und ganzen, in dem allein jene Momente, Geist und Materie, in
ihrem eigentlichen Wesen erfahren werden können. Von der ur-
sprünglichen Erfahrung des einen Menschen von sich selbst her
kann man aber sagen: Geist ist der eine Mensch, insofern er zu sich
selbst in einem absoluten Sichselbstgegebensein kommt, und zwar
dadurch, daß er auf die Absolutheit der Wirklichkeit überhaupt
und aufderen einen Grund, Gott genannt, immer schon verwiesen
istund daß diese Rückkehr zu sich selbst und die Verwiesenheit auf
die absolute Ganzheit möglicher Wirklichkeit und deren Grund
sich gegenseitig bedingen. Diese Verwiesenheit hat aber nicht
den Charakter des inı Durchschauen entleerenden Besitzes des
Erkannten, sondern den Charakter des Sich-selbst-genommen-
werdens und Einbezogenwerdens in das unendliche Geheimnis,
so daß nur in der Jiebenden Annahme dieses Geheimnisses und
in seiner unabsehbaren Verfügung über uns dieser Vorgang des
Sichentführtwerdens echt bestanden werden kann in jener. Frei-
heit, die mit dieser Transzendenz allem einzelnen und sich selbst
gegenüber notwendig gegeben ist. Als Materie begreift der Mensch
sich und seine zu ihm notwendig gehörende Umwelt, insofern der
Akt dieser Rückkehr zu sich in der Erfahrung der Verwiesenheit
nur
in das liebend anzunehmende Geheimnis immer und primär
geschieht in einer Begegnung mi: dem einzelnen, dem von sich
end-
aus Zeigenden, dem konkreten Unverfügbaren und, obzwar
lich, unausweichlich Gegebenen. Als Materie erfährt der Mensch
189
sich und seine ihm unmittelbar begegnende Welt, insofern er der
Faktische, der Hinzunehmende, der sich selber Vorgegebene und
in dieser Vorgegebenheit noch nicht Durchschaute ist, insofern
inmitten der Erkenntnis als dem Selbstbesitz das Fremde und jeder
als der sich Fremde und Unverfügbare steht. Materie ist die Bedin-
gung der Möglichkeit für das gegenständig andere, dasdie Welt und
der Mensch sich selber ist, Bedingung dessen, was wir als Raum
und Zeit unmittelbar erfahren (gerade wenn wir es uns begriff-
lich nicht objektivieren können), die Bedingung jener Andersheit,
die den Menschen sich selbst entfremdet und dadurch gerade zu
sich bringt und die Bedingung der Möglichkeit einer unmittel-
baren Interkommunikation mit anderen geistig Seienden in Raum
und Zeit, in Geschichte bildet; Materie ist der Grund der Vor-
gegebenheit des anderen als des Materials der Freiheit.
4. Dieses Verhältnis gegenseitiger Bezogenheit von Geist und
Materie ist nun nicht einfach ein statisches Verhältnis, sondern hat
selbst eine Geschichte. Der Mensch als zu sich selbst kommender
Geist erfährt seine Vorgegebenheit in Andersheit, seine Selbstent-
fremdung als zeitlich erstreckte, als naturgeschichtliche ; er kommt
zu sich als ein in sich selbst und in seiner Umwelt (die auch zu ihm
und seiner Konstitution gehört) schon zeitlich existiert Habender.
Und umgekehrt: Diese zeitliche Materialität als Vorgeschichte des
Menschen alsreflexer FreiheitmußalsaufdieseGeschichtedesMen-
schengeistes ausgerichtete begriffen werden. Dieser letzte Punkt
ist noch etwas genauer auszusagen. Wir haben Geist und Materie,
ohne sie zu trennen, als aufeinander bezogene, untrennbare, aber
auch aufeinander nicht zurückführbare Momente des einen Men-
schen zu begreifen gesucht. Dieser unaufhebbare Pluralismus der
Momente des einen Menschen kann auch so ausgesagt werden, daß
eine Wesensverschiedenheit zwischen Geist und Materie ausgesagt
wird. Diese auszusagen ist von absoluter Wichtigkeit und Bedeu-
tung, weil nur so der Blick offen bleibt für alle Dimensionen des
einen Menschen in ihrer ganzen unabsehbaren, ja unendlichen
Erstreckung. Diese Wesensverschiedenheit darf aber, wie wir
schon sagten, nicht mißverstanden werden als Wesensgegensätz-
lichkeit oder absolute Disparatheit und gegenseitige Gleichgültig-
keit dieser beiden Größen. Von dieser inneren Bezogenheit
der
190
beiden Größen her darf, wenn die zeitliche Erstreckung dieses Ver-
hältnisses dieser beiden Größen ins Auge gefaßt wird, unbefangen
gesagt werden, daß die Materie sich aus ihrem inneren Wesen auf
den Geist hin entwickelt. Und dieses muß noch etwas deutlicher
ausgeführt, diese Sprechweise verteidigt und verständlich gemacht
werden. Zunächst einmal: wenn es überhaupt ein Werden gibt
(und dieses ist nicht nur eine Erfahrungstatsache, sondern ein
Grundaxiom der Theologie selbst, weil sonst Freiheit und Verant-
wortlichkeit und Vollendung des Menschen durch sein eigenes ver-
antwortliches Tun überhaupt keinen Sinn haben), dann kann Wer-
den in seiner wahren Gestalt nicht als ein bloßes Anderswerden, in
dem eine Wirklichkeit anders, aber nicht mehr wird, begriffen wer-
den, sondern muß als Mehrwerden, als ein Entstehen von mehr
Wirklichkeit, als getätigte Erreichung größerer Seinsfülle verstan-
den werden. Dieses Mehr muß aber nicht als einfach an das Bis-
herige hinzugefügt gedacht werden, sondern muß einerseits das
vom Bisherigen selbst Gewirkte und anderseits dessen eigener, ihm
innerlicher Seinszuwachs sein. Das aber besagt: Werden muß, soll
es wirklich ernstgenommen werden, als wirkliche Selbsttranszen-
denz, Selbstüberbietung, aktive Einholung seiner Fülle durch das
Leere begriffen werden. Soll aber dieser Begriff einer aktiven
Selbsttranszendenz, in der ein Seiendes und Wirkendes seine aus-
ständige höhere Vollkommenheit aktiv einholt, nicht das Nichts
zum Grund des Seins, die Leere als solche zum Quell der Fülle ma-
chen, soll mit anderen Worten das metaphysische Prinzip der Kau-
salität nicht verletzt werden, dann kann diese Selbsttranszendenz
(ich fasse alle hier notwendigen Überlegungen nur in äußerster
Kürze zusammen) nur als Geschehen gedacht werden in der Kraft
der absoluten Seinsfülle, die einerseits dem endlichen, nach seiner
Vollendung hin sich bewegenden Seienden so innerlich zu denken
ist, daß dieses Endliche zu einer wirklichen aktiven Selbsttranszen-
denz ermächtigt wird und es die neue Wirklichkeit nicht einfach
nur als von Gott gewirkte passiv empfängt — und diese Kraft der
Selbsttranszendenz ist anderseits gleichzeitig so von diesem end-
lichen Wirkenden unterschieden zu denken, daß sie nicht als We-
senskonstitutiv dieses Endlichen, sich selbst Wirkenden aufgefaßt
werden darf, weil sonst, wenn die Wirksamkeit gewährende und
191
nn
192
wir eben in ihrem begrifflichen Inhalt zu entwickeln versuchten.
Eshandelt sich natürlich dabei um eine Wesensselbsttranszendenz,
denn es soll ja in keiner Weise geleugnet oder verdunkelt werden,
daß Materie, Leben, Bewußtsein, Geist nicht dasselbe sind. Ganz
im Gegenteil. Aber eben dieser Unterschied, dieser Wesensunter-
schied schließt die Entwicklung nicht aus, wenn Werden gegeben
ist, wenn Werden eigentliche Selbsttranszendenz aktiver Art und
wenn Selbsttranszendenz mindestens auch Wesensselbsttranszen-
denz besagt oder besagen kann. Und was so in einer apriorischen
Überlegung als begrifflich denkbar erfaßt wird, wird auch als wirk-
lich durch die immer besser und umfassender beobachteten Tat-
sachen erhärtet. Hier ist nicht nur wieder zurückzuverweisen auf
die schon angestellte Überlegung einer inneren Zusammengehö-
rigkeit von Geist und Materie, es ist auch die uns bekannte Ge-
schichtedesKosmos zu berücksichtigen,so wiediesevonderheutigen
Naturwissenschaft erforscht und dargestellt wird: diese Geschichte
wird immer mehr als eine eine, zusammenhängende Geschichte
der Materie, des Lebens und des Menschen gesehen. Diese eine Ge-
in ihrem
schichte schließt Wesensunterschiede nicht aus, sondern
Begriff ein, weil ja gerade Geschichte nicht das Bleiben desselben,
diese
sondern das Werden des Neuen, nicht bloß desandern ist. Und
nicht aus,
Wesensunterschiede schließen auch die eine Geschichte
der
weil sie ja gerade erfolgt in einer Wesensselbsttranszendenz, in
im
das Frühere sich selbst überbietet, um sich in aller Wahrheit
Neuen, das es selbst erwirkt hat, aufzuheben, aufzubewahren.
Ziel
Und insofern das Sichselbsttranszendierende im jeweiligen
höhere Ord-
seiner Selbsttranszendenz immer bleibt, insofern die
ist es
nung ja immer die niedrigere als bleibend in sich umfaßt,
das
klar, daß dem eigentlichen Ereignis der Selbsttranszendenz
und Ord-
Niedrige in der Entfaltung seiner eigenen Wirklichkeit
präludiert, sich lang-
nung vorbereitend dieser Selbsttranszendenz
die dann in
sam an jene Grenze hinbewegt in seiner Geschichte,
wird, an jene
der eigentlichen Selbsttranszendenz überschritten
deutlicheren Entfaltung des Neuen
Grenze, die man erst von einer
ohne daß man genau sie
her als eindeutig überschritten erkennt,
alles sehr ab-
selbst eindeutig festlegen kann. Natürlich ist das
wünschenswert,
strakt und vage gesagt. Natürlich wäre es an sich
193
daß konkreter gezeigt würde, welche gemeinsamen Züge im Wer-
dendesMateriellen, des Lebendigen unddesGeistigen gegeben sind,
wie (genauer) das bloß Materielle in seiner eigenen Dimension
dem Höheren des Lebens, und dieses in seiner Dimension in fort-
schreitender Annäherung an die durch die Selbsttranszendenz zu
überspringende Grenze dem Geist präludiert. Gewiß müßte, wenn
wir wirklich eine eine Geschichte der ganzen Wirklichkeit postu-
lieren, angegeben werden, welche bleibenden formalen Strukturen
dieser ganzen Geschichte in Materie, Leben und Geist gemeinsam
eingestiftet sind, wie auch noch das Höchste als (wenn auch wesens-
neue) Abwandlung des Früheren verstanden werden kann.
Aber dann müßte der Theologe und Philosoph sein ihm eigenes
Feld wohl zu sehr verlassen und in einer mehr aposteriorischen
Methode der Naturwissenschaften mit Zuhilfenahme von Begrif-
fen, wie sie etwa bei Teilhard entwickelt werden, diese Grund-
strukturen der einen Geschichte entwickeln. Man wird einsehen,
daß das nicht die Aufgabe des Theologen, zumal hier, sein kann.
Es sei hier nur eben angemerkt, daß der Theologe nicht nur einen
analogen Begriff von Selbstbesitz, wie er im Bewußtsein voll zu
seinem eigenen Wesen kommt, in analoger Weise in allem Mate-
riellen zulassen kann, sondern es eigentlich als gut thomistischer
Philosoph tun mnıß. Denn was er als solcher die « Form » in jedem
Seienden nennt, ist fürihn wesentlich auch « Idee », und diejenige
Wirklichkeit, die wir im vulgären und an seinem Platz durchaus
richtigen Sinn als bewußtlos bezeichnen, ist metaphysisch gesehen
jenes Seiende, das nur seine eigene Idee besitzt, verfangen in sich
allein sich selbst und seine Idee hat und darum-nicht bewußt ist.
Von da aus wird auch thomistisch verständlich, daß eine wirklich
höhere, komplexere Organisation auch als Schritt zum Bewußtsein
und schließlich zum Selbstbewußtsein erscheinen kann, wenn
auch
mindestens Selbstbewußtsein eine eigentliche Wesensselbsttran-
szendenz des Materiellen gegenüber dem bisberigen Zustand
ein-
schließt.
5. Wenn so der Mensch die Selbsttranszendenz der lebend
igen
Materie ist, dann bilden Natur- und Geistesgesch
ichte eine innere
gestufte Einheit, in der dieN aturgeschichte sich auf den
Menschen
hin entwickelt, in ihm als seine Geschichte weiter
geht, in ihm be-
194
wahrt und überboten ist und darum mit und in der Geistesge-
schichte des Menschen zu ihrem eigenen Ziel kommt. Insofern.
diese Geschichte der Natur im Menschen in Freiheit hinein auf-
gehoben ist, kommt diese Naturgeschichte in der freien Geistes-
geschichte zu ihrem Ziel. Insofern die Geschichte des Menschen
immer noch die Naturgeschichte als die der lebendigen Materie in
sich einfaßt, ist sie immer noch mitten in ihrer Freiheit von den
Strukturen und Notwendigkeiten dieser materiellen Welt getra-
gen. Insofern daher der Mensch nicht nur der geistige Betrachter
der Natur ist, weil er ihr Teil ist und gerade auch ihre Geschichte
fortsetzen soll, ist seine Geschichte nicht nur eine Kulturgeschichte
als eine ideologische Geschichte über der Naturgeschichte, sondern
auch eine aktive Veränderung dieser materiellen Welt selbst, und
nur durch Handlung, die geistig ist, und Geistigkeit, die Handlung
ist, kommen der Mensch und die Natur zu ihrem einen und gemein-
samen Ziel. Dieses Ziel freilich ist, entsprechend der Transzendenz
des Menschen auf die absolute Wirklichkeit Gottes als des unend-
lichen Geheimnisses, gerade weil in der unendlichen Fülle Gottes
bestehend, dem Menschen selbst verborgen und entzogen. Es kann
nur in der Annahme dieser Verborgenheit und Entzogenheit er-
reicht werden. Insofern diese Geschichte des Kosmos Geschichte
des freien Geistes ist, ist auch die Geschichte des Kosmos wie die
des Menschen in Freiheit als Schuld und Bewährung gestellt. In-
sofern aber diese Freiheitsgeschichte immer auf den vorgegebenen
Strukturen der lebendigen Welt beruhen bleibt und insofern die
Freiheitsgeschichte des Geistes, wie der Christ bekennt, umfaßt ist
von der sich zum Guten siegreich durchsetzenden Gnade Gottes,
weiß der Christ, daß diese Geschichte des Kosmos als ganze trotz
der und in der Freiheit des Menschen und durch sie ihre wirkliche
Vollendung finden wird, daß ihre Endgültigkeit als ganze auch
Vollendung sein wird.
il
196
barkeit von einem unmittelbaren Bezug auf den Menschen in sei-
ner vitalen Sphäre. Wird dies gesehen als finis der Geschichte des
Kosmos selbst, dann kann durchaus gesagt werden, daß im Men-
schen die gesetzte Welt sich selber findet, sich selbst zu ihrem Ber
genstand macht und den Bezug zu ihrem Grund nicht mehr nur als
Voraussetzung ihrer selbsthinter sich hat, sondern als aufgegebenes
Thema vor sich selbst. Diese Feststellung wird auch nicht dadurch
desavouiert, daß man einwendet, solche Zusammenfassungen der
räumlich-zeitlichen Zerstreutheit der Welt in sich und in ihren
Grund hinein seien beim Menschen nur in einem sehr formalen,
fast leeren Ansatz vorhanden und ließen sich in nichtmenschlichen
Geistpersonen (Monaden) denken, die dies besser fertig brächten,
ohne daß sie, wie der Mensch, so Subjekte der Ganzheit und der
Selbstgegebenheit der Welt wären, daß sie auch gleichzeitig ein
eigentliches Teilmoment an dieser Welt seien. Solche Wesen mag
es geben. Der Christ weiß sogar von ihnen und nennt sie Engel.
Aber eben diese zusammenfassende, synthetisierende, wenn auch
noch so anfängliche Zusichgekommenheit des Ganzen des Kosmos
im einzelnen Menschen ist etwas, was je in einer absolut einmali-
gen Weise vielmals sich ereignen kann, gerade wenn dies von
einem bestimmten Teilmoment als einer raumzeitlichen Einzel-
größe des Kosmos her geschieht. Und so kann man nicht sagen (zu-
mal wenn man die Jeeinmaligkeit der Freiheit bedenkt), daß dieses
kosmische Selbstbewußtsein nicht gerade menschlich oder nur ein-
mal gegeben sein könne. Es ereignet sich je auf seine eigene, ein-
malige Weise im einzelnen Menschen. Der eine materielle Kosmos
ist gewissermaßen der eine Leib vielfältiger Selbstgegebenheit eben
dieses Kosmos und der Verwiesenheit auf seinen absoluten und
unendlichen Grund. Wenn diese kosmische Leibhaftigkeit unzäh-
liger personaler Selbstbewußtseine, in denen der Kosmos zu sich
selbst kommen kann, auch erst (ähnlich wie die eigene Leibhaftig-
keit des Menschen im engeren Sinn) ganz anfänglich im Selbstbe-
wußtsein und in der Freiheit der einzelnen Menschen zur Gegeben-
heit gekommen ist, ist sie als eine solche, die werden soll und wer-
den kann, in jedem Menschen da, weil er in seiner Leiblichkeit ein
gar nicht wirklich abgrenzbares und abscheidbares Element des
Kosmos ist und darin so mit dem ganzen Kosmos kommuniziert,
197
daß dieser durch diese Leiblichkeit des Menschen als das andere
des Geistes wirklich zu dieser Selbstgegebenheit im Geist drängt.
Diese noch im Werden, erst sehr anfänglich seiende Selbstgege-
benheit des Kosmos im Geist der einzelnen Menschen hat ihre
noch laufende Geschichte; diese Geschichte geschieht noch in der
inneren und äußeren Geschichte der einzelnen Menschen und der
Menschheit in der Tat des Gedankens und in der bei sich seienden
äußeren Tat, individuell und kollektiv. Wir stehen freilich immer
wieder unter dem Eindruck, daß bei dieser unabsehbar langen und
mühsamen Selbstfindung des Kosmos im Menschen nichts End-
gültiges herauskomme, weil dieses Zusichselberkommen der Welt-
wirklichkeit im Menschen immer wieder aufs neue zu erlöschen
scheint, eine Art geheimer Widerspenstigkeit gegen das Selbst-
bewußtsein, eine Art Wille zum Unbewußten sich immer wieder
durchzusetzen scheint. Aber wenn man überhaupt eine letzte Ein-
bahnigkeit und Gerichtetheit der Evolution einmal voraussetzt
(und alles andere macht den Gedanken einer solchen von vorn-
herein undenkbar, weil, was schlechthin zum Anfang zurückkehrt
und keine andere Tendenz hat, sich von diesem Anfang schon gar
nicht entfernt hätte), dann muß dieses Zusichselberkommen des
Kosmos im Menschen, in seiner individuellen Totalität und Frei-
heit, die er je realisiert, auch ein endgültiges Resultat haben. Und
dieses scheint nur darum zu verschwinden und sich zu verlieren,
in den durnpfen Anfang des Kosmos und seiner Zerstreutheit zu-
rückzufallen, weil wir, als die jetzt raumzeitlich Festgelegten, das
endgültige Kommen einer solchen monadischen Einheit der Welt
zu sich, die Jeeinmaligkeit der voll erfaßten Ganzheit des Kosmos
an unserem Raumzeitpunktals solchem gar nicht erfahren können.
Sie muß aber gegeben sein. Christlich pflegen wir sie die Unsterb-
lichkeit der Geistseele zu nennen, wobei wir aber hier deutlich
sehen müssen, daß eine solche, richtig verstanden, gerade eine (for-
male und an sich leere) Endgültigkeit und Vollendung eben der
Selbstfindung des Kosmos ist, also nicht mit einem Entweichen
einer kosmosfremden Geistseele aus der Ganzheit jener Welt zu
verwechseln ist, die immer auch und zwar gerade im Dienst des
Geistes materiell ist und eine materielle Geschichte. gehabt hat
und hat.
198
3. Diese Selbsttranszendenz des Kosmos im Menschen auf ihre ei-
gene Ganzheit und auf ihren Grund hin, die selbst eine Geschichte
hat, ist nun nach der Lehre des Christentums erst dann wirklich
ganz zu ihrer letzten Erfüllung gelangt, wenn der Kosmos in der
geistigen Kreatur, seinem Ziel und seiner Höhe, nicht nur das aus
seinem Grund Herausgesetzte, das Geschaffene ist, sondern die
unmittelbare Selbstmitteilung seines Grundes selbst empfängt,
wenn diese unmittelbare Selbstmitteilung Gottes an die geistige
Kreatur geschieht in den, was wir (im geschichtlichen Verlauf
dieser Selbstmitteilung gesehen :) Gnade und in seiner Vollendung
Glorie nennen. Gott schafft nicht nur das von ihm Verschiedene,
sondern gibt sich selbst diesem Verschiedenen. Die Welt empfängt
so sehr Gott, den Unendlichen und das unsagbare Geheimnis, daß
er selbst ihr innerstes Leben wird. Der konzentrierte, je einmalige
Selbstbesitz des Kosmos in den einzelnen geistigen Personen, in
ihrer Transzendenz auf den absoluten Grund ihrer Wirklichkeit,
geschieht in der unmittelbaren Innewerdung des absoluten Grun-
des selbst im Begründeten. Das Ende ist der absolute Anfang. Die-
ser Anfang ist nicht die unendliche Leere, das Nichts, sondern die
Fülle, die allein das Geteilte, Anfangende erklärt, ein Werden tra-
gen kann, ihm wirklich die Kraft einer Bewegung auf das Ent-
faltetere und gleichzeitig Innigere geben kann. Aber eben weil so
diese Bewegung der Entwicklung des Kosmos von vornherein
und in all ihren Phasen getragen ist von dem Drang nach der grö-
Beren Fülle und Innigkeit und dem immer näheren und bewuß-
teren Verhältnis zu ihrem Grund, liegt die Botschaft, daß es zu
einer absoluten Unmittelbarkeit mit diesem unendlichen Grund
komme, wenn auch nicht als das aus dieser Bewegung in all ihren
Phasen schon zwingend Erkennbare, so doch als das wenigstens
asymptotisch anvisierbare Ziel absoluter Art dieser Entwicklung
durchaus in ihr selbst gegeben vor. Ist die Kosmosgeschichte im
Grund inımer eine Geistesgeschichte, das Kommenwollen zu sich
und seinem Grund, dann ist die Unmittelbarkeit zu Gott in der
Selbstmitteilung Gottes an die geistige Kreatur und in ihr an den
Kosmos überhaupt als das sinngerechte Ziel dieser Entwicklung,
vorausgesetzt, daß sie überhaupt an das absolute Ziel ihrer selbst
kommen darf und dieses nicht nur als das Unerreichbare sie be-
199
wegt, nicht mehr grundsätzlich bestreitbar. Wir erfahren als ein-
zelne, physikalisch bedingte Individuen nur den äußersten Anfang
dieser Bewegung auf dieses unendliche Ziel hin. Aber wir sind
doch solche, daß wir auch schon in demjenigen Bewußtsein, mit
dem wir unseren physisch-biologischen Daseinskampf und unsere
irdische Würde bestreiten, im Unterschied zum Tier aus einer for-
malen Antizipation des Ganzen heraus leben und handeln, wir sind
sogar die, die in der Erfahrung der Gnade, wenn auch in einer
ungegenständlichen Art, dasEreignis der Verheißungder absoluten
Nähe des alles gründenden Geheimnisses erfahren, und wir haben
dadurch die Legitimität des Mutes des Glaubens an die Erfüllung
der aufsteigenden Geschichte des Kosmos und des je individuellen
kosmischen Bewußtseins, diein der unmittelbaren Erfahrung Got-
tes in eigentlichster und unverhüllter Selbstmitteilung besteht.
Eine solche Aussage ist natürlich vom Wesen ihrer Sache her in
radikalster Art auch die Aufrechterhaltung des unsagbaren Ge-
heimnisses, das unser Dasein durchwaltet. Denn wenn Gott selbst,
so wie er als die unaussprechliche Unendlichkeit des Geheim-
nisses gemeint ist, die Wirklichkeit unserer Vollendung ist und
wird, und wenn die Welt sich in ihrer eigentlichsten Wahrheit erst
dort versteht, wo sie sich selbst radikal an dieses unendliche Ge-
heimnis übergibt, dann ist mit solcher Botschaft nicht dieses oder
jenes gesagt, das als ein Aussageinhalt neben anderen steht und
unter ein gemeinsames Koordinatensystem von Begriffen fällt,
sondern esist gesagt, daß vor und hinterallemeinzelnen und Einzu-
ordnenden, hinsichtlich dessen die Wissenschaften ihr Geschäft
be-
treiben, das unendliche Geheimnis immer schon steht, voraussteht
und daß in diesem Abgrund der Ursprung und das Ende das selige
Ende ist. Der Mensch mag, wie durch Überforderung gereizt,
sich
an diesem Abgrund des Anfangs und Endes seines Daseins uninter-
essiert erklären und in die verständliche Helle der Wissenschaft
als
demihmallein gemäßen Raum seines Daseins zu fliehen
versuchen.
Es ist ihm nicht gestattet, und er kann, wenn er
es auch auf der
Oberfläche seines gegenständlichen Bewußtseins vermöchte,
in der
alles tragenden und nährenden Tiefe der eigentlich geistigen
Per-
son die unendliche Frage nicht auf sich beruhen lassen,
die ihn
umschließt und die allein sich selbst beantwortet, weil
sie ist und
200
nichts hat, was sie von außen beantworten könnte, die sich selbst
beantwortet, wenn sie in Liebe angenommen wird. Sie bewegtihn ;
läßt er sich auf diese Bewegung ein, die die der Welt und des Gei-
stes ist, kommt er erst eigentlich zu sich, zu Gott und zu seinem
Ziel, in dem der Anfang sich selbst unmittelbar gibt.
Ur
Erst von hier aus ist nun der Platz der Christologie in einem sol-
chen evolutiven Weltbild zu bestimmen.
1. Wir setzen also voraus, daß das Ziel der Welt die Selbstmittei-
lung Gottes an sie ist, daß die ganze Dynamik, die Gott dem Wer-
den in Selbsttranszendenz der Welt ganz innerlich und doch nicht
als ihr Konstitutiv dem Wesen nach einstiftet, eigentlich immer
schon als Anfang und Anlauf auf diese Selbstmitteilung und ihre
Annahme durch die Welt gemeint ist. Wie ist nun diese Selbstmit-
teilung Gottes an die geistige Kreatur überhaupt, an alle jene Sub-
jekte, in denen der Kosmos zu sich und zu seinem Verhältnis, zu
seinemGrund kommt, genauer zu denken? Um dieseszu verstehen,
ist zunächst einmal darauf hinzuweisen, daß diese geistigen Sub-
jektivitäten des Kosmos Freiheit bedeuten. Wir können diesen Satz
hier nur hinstellen und müssen uns seine transzendentale Begrün-
dung schenken. Setzen wir ihn aber voraus, dann setzen wir gleich-
zeitig voraus, daß diese Geschichte des Selbstbewußtseins des Kos-
mos immer auch notwendig eine Geschichte der Interkommuni-
kation dieser geistigen Subjekte ist, weil das Zusichselbstkommen
des Kosmos in den geistigen Subjekten vor allem und notwendig
auch ein Zueinanderkommen dieser Subjekte, in denen jeweils auf
je eigene Art das Ganze bei sich ist, bedeuten muß, da sonst das
Zusichkommen trennen und nicht einigen würde. Selbstmittei-
lung Gottes ist also Mitteilung an Freiheit und Interkommunika-
tion der pluralen kosmischen Subjektivitäten. Diese Selbstmittei-
lung wendet sich also notwendig an eine freie Geschichte der
Menschheit, kann sich nur in freier Annahme durch diese freien
Subjekte und in einer gemeinsamen Geschichte ereignen. Die
Selbstmitteilung Gottes wird nicht plötzlich unkosmisch, nur ge-
richtet an eine isolierte vereinzelte Subjektivität, sondern ist
201
menschheitlich und geschichtlich. Dieses Ereignis dieser Selbst-
mitteilung ist also als geschichtlich in einer bestimmten Raumzeit-
lichkeit geschehendes, von da aus an alle sich wendendes und ihre
Freiheit anrufendes Ereignis zu denken. Diese Selbstmitteilung
muß mit anderen Worten einen bleibenden Anfang, darin eine
Garantie ihres Geschehens haben, durch die sie mit Recht die freie
Entscheidung zur Annahme dieser göttlichen Selbstmitteilung for-
dern kann (es sei dabei noch kurz angemerkt, daß diese freie An-
nahme oder Ablehnung von seiten der einzelnen Freiheiten nicht
eigentlich über das Ereignis der Selbstmitteilung als solches be-
findet, sondern nur, genauer gesagt, über das Verhältnis, das die
geistige Kreatur zu ihm einnimmt; freilich nennt man gewöhn-
lich nur die Selbstmitteilung im Modus der freien und somit be-
seligenden Annahme Selbstmitteilung, erfolgreiche, angekom-
mene Selbstmitteilung Gottes).
2. Von hier aus ergibt sich zunächst der Begriff des Heilbringers
schlechthin. Wir nennen Heilbringer schlechthin jene geschicht-
liche Persönlichkeit, die, in Raum und Zeit auftretend, denjeni-
gen Anfang der absoluten Selbstmitteilung Gottes bedeutet, der
diese für alle als unwiderruflich geschehend inauguriert und
als geschehend anzeigt. Es ist mit diesem Begriff nicht gesagt, daß
‚diese Selbstmitteilung Gottes an die Welt in ihrer geistigen Sub-
jektivität zeitlich mit ihm erst beginnt. Das braucht gar nicht der
Fall zu sein; sie kann ruhig als schon vor dem Heilbringer begin-
nend, ja als koexistent mit der ganzen geistigen Geschichte der
Menschheit und Welt gedacht werden, wie es ja nach christlicher
Lehre auch faktisch der Fall war. Heilbringer wird jene geschicht-
liche Subjektivität genannt, in der dieser Vorgang der absoluten
Selbstmitteilung Gottes an die geistige Welt als ganze unwiderruf-
lich da ist, an der diese eindeutigals unwiderruflich erkannt werden
kann, in der sie zu ihrem Höhepunkt kommt, insoweit dieser Höhe-
punkt als Moment an der Gesamtgeschichte der Menschheit ge-
dacht werden muß und nicht (ein anderer, wenn auch daneben
durchaus legitimer Begriff des Höhepunktes der göttlichen Selbst-
mitteilung) einfach mit der Gesamtheit der geistigen Welt unter
der Selbstmitteilung Gottes identifiziert wird. Insofern diese Selbst-
ınitteilung nämlich von seiten Gottes und der annehmen müs-
202
senden Geschichte der Menschheit als frei zu denken ist, ist durch-
aus der Begriff eines Ereignisses legitim, durch das diese Selbst-
mitteilung und Annahme eine unwiderrufliche Irreversibilität in
der Geschichte erlangt, in dem die Geschichte dieser Selbstmit-
teilung zu ihrem eigentlichen Wesen und Durchbruch kommt,
ohne daß dadurch extensiv und hinsichtlich der raumzeitlichen
Pluralität der Menschheitsgeschichte diese Geschichte der Selbst-
mitteilung Gottes an die Menschheit schon einfach ihr Ende
und ihren Abschluß gefunden haben müßte. Es ist dabei zu be-
achten, daß dieser Moment der offenbar werdenden Irrever-
sibilität dieser geschichtlichen Selbstmitteilung Gottes, sowohl
die Mitteilung selbst als auch ihre Annahme besagt. Beides ist in
dem Begriff des Heilbringers mitgemieint. Insofern eine geschicht-
liche Bewegung auch in ihrem Anlauf schon von ihrem Ende lebt,
weil ihre Dynamik in ihrem eigentlichen Wesen das Ziel will, die-
ses als erstrebtes in sich trägt und in ihm sich in ihrem eigenen
Wesen erst eigentlich enthüllt, ist es durchaus berechtigt, ja not-
wendig, die ganze Bewegung der Selbstmitteilung Gottes an die
Menschheit, auch wo sie zeitlich vor diesem Ereignis ihres Un-
widerruflichwerdens im Heilbringer geschieht, als von diesem Er-
eignis, also als vom Heilbringer getragen zu denken. Die ganze Be-
wegung dieser Geschichte lebt vom Kommen in ihr Ziel, ihren
Höhepunkt, in das Ereignis ihrer Irreversibilität, also von dem, den
wir Heilbringer nennen. Dieser den Höhepunkt dieser Selbstmit-
teilung bildende Heilbringer muß somit in einem die absolute Zu-
sage Gottes an die geistige Kreatur im ganzen von seiner Selbstmit-
teilung sein und die Annahme dieser Selbstmitteilung durch diesen
Heilbringer; erst dann ist schlechthin unwiderrufliche Selbstmit-
teilung von beiden Seiten aus gegeben und geschichtlich-kommu-
nikativ in der Welt anwesend.
3. Von da aus läßt sich nun der Sinn der Aussage der hypostati-
schen Union, der Menschwerdung des göttlichen Logos erkennen,
so wie er wirklich gemeint ist und sich, wie sich dann aus dem bis-
her Gesagten von selbst ergibt, einfügt in eine evolutive Weltan-
schauung. Der Heilbringer ist zunächst einmal selbst ein geschicht-
liches Moment anı Heilshandeln Gottes an der Welt, ein Moment
der Geschichte der Selbstmitteilung Gottes an die Welt, und zwar
205
so, daß er ein Stück dieser Geschichte des Kosmos selbst ist. Er darf
nicht einfach Gott als der an der Welt Handelnde sein, er muß ein
Stück des Kosmos selbst sein, und zwar in dessen Höhepunkt. Das
ist ja auch gesagt im christologischen Dogma: Jesus ist wahrhaft
Mensch, wahrhaft ein Stück der Erde, wahrhaft ein Moment an
dem biologischen Werden dieser Welt, ein Moment der mensch-
lichen Naturgeschichte, da er geboren ist aus dem Weibe; er ist ein
Mensch, der in seiner geistigen, menschlichen und endlichen Sub-
jektivität ebenso wie wir Empfänger jener gnadenhaften Selbst-
mitteilung Gottes ist, die wir von allen Menschen und damit vom
Kosmos aussagen als den Höhepunkt der Entwicklung, in dem die
Welt absolut zu sich selbst und absolut in Unmittelbarkeit zu Gott
kommt; er ist derjenige, der durch das, was wir seinen Gehorsam,
sein Gebet, sein freiangenommenesTodesgeschicknennen, auchdie
Annahme seiner von Gottihm gegebenen Gnade und Gottunmittel-
barkeit vollzogen hat, die er als Mensch besitzt. Das alles ist katho-
lisches Dogma. Man darf den Gottmenschen, ohne einem Irr-
glauben, einer Häresie zu verfallen, nicht dahin verstehen, als
habe Gott oder sein Logos zum Zwecke seines Heilshandels an den
Menschen eine Art Livree angezogen, sich gewissermaßen ver-
mummt, sich nur ein äußeres Erscheinungsbild gegeben, um sich
innerweltlich verlautbaren zu können. Nein ‚ Jesus ist wahrhaft
Mensch. Er hat schlechterdings alles, was zu einem Menschen ge-
hört, er hat (auch) eine endliche Subjektivität, in der die Welt zu
sich kommt, die eine radikale Unmittelbarkeit zu Gott hat, die wie
unsere auf jener Selbstmitteilung Gottes in Gnade und Glorie be-
ruht, die wir auch selbst besitzen. Es muß in diesem Zusammen-
hange auch unterstrichen werden, daß die Grundaussage der Chri-
stologie gerade die Fleischwerdung Gottes, seine M. ateriellwerdung
ist. Das ist nicht selbstverständlich. Das lag gar nicht «im Zug der
Zeit» und des Geistes jener Zeit, in der das Dogma von der Inkar-
nation entstand. Ein Gott, der als geistige Transzendenz einfach
als absolut über die Welt als materielle erhaben gedacht
wird,
müßte, wenn er sich heilschaffend der Welt nähert, eigentlich
als
derjenige gedacht werden, der sich vom Geist her vorsichtig
von
außen dem Geist der Welt nähert, dem Geist begegnet und schließ-
lich, wenn überhaupt, auf diese Weise-gewissermaßen
psycho-
204
. x
207
Union, wenn auch in ihrer wesentlichen, nur einmal gegebenen
Eigenart, doch als die Weise gedacht werden, in der die Vergött-
lichung der geistigen Kreatur gerade durchgeführt wird und
durchgeführt werden muß, wenn sie überhaupt geschehen soll?
Mit anderen Worten: ist sie eine höhere Stufe, in der die Begnadi-
gung der geistigen Kreatur (wenn auch «aufgehoben ») überboten
wird, oder ist sie ein eigenartiges Moment an dieser Begnadigung,
die eigentlich ohne diese hypostatische Union gar nicht gedacht
werden kann, für die diese geschieht?
Hoffentlich sieht man die Bedeutung dieser Frage für unser
Gesamtthema. Ist nämlich die Inkarnation als eine absolut eigene
neue Stufe in der Hierarchie der Weltwirklichkeiten zu betrach-
ten, die die bisher gegebenen oder zu gebenden einfach nur über-
trifft, ohne selbst für eben diese unteren als solche nötig zu sein,
d. h. ohne für die allgemeine Begnadigung der geistigen Kreatur
Bedingung und Ermöglichung zu bilden, dann müßte die Inkar-
nation entweder unter dieser Voraussetzung immer noch als über-
steigernde Aufgipfelung der nach oben geschichteten Weltwirk-
lichkeiten gesehen werden können, damit sie in eine evolutive
Weltanschauung positiv eingefügt werden kann, oder es müßte
beides (d. h. der Gedanke, die Inkarnation des Logos sei ein Gipfel-
punkt der Weltentwicklung, auf den die ganze Welt, wenn auch
gnadenhaft freibleibend, angelegt ist, und der Gedanke der Ein-
passung der Inkarnation in ein evolutives Weltbild) fallengelassen
werden. Wie man aber ohne Zuhilfenahme der Theorie, die Inkar-
nation sei selbst schon inneres Moment und Bedingung für die
allgemeine Begnadigung der geistigen Kreatur mit Gott selbst,
diese Inkarnation dennoch als das Höhere und Höchste in der Welt-
wirklichkeit und Weltverwirklichung so auffassen könne, daß sie
auch als das Ziel und Ende dieser Weltwirklichkeit selbst erscheint,
ist kaum oder gar nicht zu sehen. Sie würde natürlich immer als
das Höchste in dieser Weltwirklichkeit erscheinen, weil sie die
Einheit hypostatischer Art zwischen Gott und einer Weltwirklich-
keit ist. Aber damit ist sie noch nicht als Ziel und Ende, als von
unten asymptotisch anvisierbarer Höhepunkt verständlich ge-
macht. Dies scheint doch nur dadurch möglich zu sein, daß man
voraussetzt, die Inkarnation selbst sei in ihrer Einmaligkeit und in
208
dem mit ihr gegebenen Wirklichkeitsgrad (in, nicht: trotz dieser
Einmaligkeit) als inneres und notwendiges Moment an der Be-
gnadigung der Gesamtwelt mit Gott verständlich zu machen, und
nicht nur (was kein Christ leugnen kann) als faktisch angewendetes
Mittel zu dieser Begnadigung, die aber auch ebenso gut anders
hätte geschehen können, also selbst in sich nicht durch die Inkar-
nation als solche mitgetragen ist.
Zunächst einmal kann sich der Theologe, der diese Frage so
stellt, darauf aufmerksam machen lassen, daß die hypostatische
Union sich für die angenommene Menschheit des Logos innerlich
gerade in dem und eigentlich nur in dem auswirkt, was dieselbe
Theologie allen Menschen als Ziel und Vollendung zuschreibt,
nämlich in der unmittelbaren Anschauung Gottes, die die geschaf-
fene menschliche Seele Christi genießt. Dieselbe Theologie be-
tont, daß die Inkarnation «um unseres Heiles willen» geschah,
daß sie der Gottheit des Logos keinen eigentlichen Zuwachs an
Wirklichkeit und Leben einträgt, daß die durch die hypostatische
Union der menschlichen Wirklichkeit Jesu innerlich zuwaclısen-
den Vorzüge solche seien, die in derselben Wesensart auch den
anderen geistigen Subjekten durch die Gnade zugedacht sind.
Schon dies läßt uns vorsichtig sein in der Beantwortung der ge-
stellten Frage. Die Theologie hat sich auch schon das Problem
dadurch zu verdeutlichen gesucht, daß sie die in sich natürlich
irreale Frage stellte, was z. B. im Falle eines Wählenmüssens vor-
zuziehen wäre: die unio hypostatica ohne unmittelbare Anschau-
ung Gottes oder diese Anschauung Gottes, und entscheidet sich für
die Bejahung der zweiten Möglichkeit. Man sieht auch daraus, wie
schwer es ist, das Verhältnis genauer zu bestimmen zwischen jener
Vollendung, die der christliche Glaube allen Menschen zuerkennt,
und jener einmaligen Vollendung menschlicher Möglichkeit (als
einer potentia oboedientialis), die wir als unio hypostatica beken-
nen. Und doch ist eine genauere Bestimmung dieses Verhältnisses
in der Frage gefordert, die wir uns gestellt haben: ob wir das, was
wir Inkarnation des Logos nennen, als die Weise der Verwirkli-
chung der Vergöttlichung der geistigen Kreatur überhaupt denken
diese
können oder müssen oder dürfen, so daß wir auch schon
die
hypostatische Union implizit mitanvisiert haben, wenn wir
209
Geschichte des Kosmos und des Geistes an demjenigen Punkt an-
kommend erblicken, an dem absolute Selbsttranszendenz des Gei-
stes in Gott hinein und absolute Selbstmitteilung Gottes durch
Gnade und Glorie an alle geistigen Subjekte stehen. Die These
also, die wir anstreben, geht darnach, daß die unio hypostatica,
wenn auch als in ihrem eigenen Wesen einmaliges und gewiß
in sich gesehen höchstes denkbares Ereignis, doch ein inneres Mo-
ment der Ganzheit der Begnadigung der geistigen Kreatur über-
haupt ist. Warum dies? Wir sagten schon, dieses Gesanıtereignis
der vergöttlichenden Begnadigung der Menschheit müsse, wenn
es seine Vollendung findet, eine konkrete Greifbarkeit in der Ge-
schichte sein (dürfe mit anderen Worten nicht plötzlich akosmisch
sein), müsse so Ereignis sein, daß es sich von cinem Punkt raum-
zeitlich ausbreitet (dürfe mit anderen Worten die Einheit der Men-
schen und ihr ihnen wesentliches Mitsein und ihre Kommunika-
tion untereinander nicht aufheben, sondern darin selbst zur Ge-
gebenheit kommen), müsse eine unwiderrufliche Wirklichkeit
sein, in der sich die Selbstmitteilung Gottes nichtnurals bloßes An-
gebot auf Widerruf, sondern als unbedingtes und zwar vom Men-
schen angenommenes erweist, und es müsse sich (entsprechend
dem Wesen des Geistes) zur Selbstgegebenheit bringen. Wo aber
Gott die Selbsttranszendenz des Menschen in Gott hinein durch
absolute Selbstmitteilung derart bewirkt, daß beides die unwider-
rufliche und in diesem Menschen schon zur Vollendung gelangte
Verheißung an alle Menschen ist, da haben wir hypostatische
Union. Wir dürfen ja bei «hypostatischer Union » nicht einfach
bei dem Vorstellungsmodell irgendeiner « Einheit», irgendeines
Zusammenhanges stecken bleiben. Wir haben die Eigentlichkeit
dieser Einheit auch nicht damit schon genügend erfaßt, wenn wir
sagen: von dem göttlichen Subjekt des Logos sei auch die mensch-
liche Wirklichkeit wegen dieser Einheit in aller Wahrheit auszu-
sagen. Denn es fragt sich ja gerade, warum dies möglich sei, wie
die Einheit zu denken sei, die zu solcher Aussage der Idiomen-
kommunikation berechtigt. Diese Annahme und « Einigung » hat
den Charakter einer Selbstmitteilung; es wird angenommen, da-
mit dem Angenommenen, der Menschheit (zunächst Christi) die
Wirklichkeit Gottes mitgeteilt werde. Aber eben diese Mitteilung,
210
die durch die Annahme bezweckt wird, ist die Mitteilung durch
das, was wir Gnade und Glorie nennen, und eben diese ist allen
zugedacht. Man darf nicht einwenden, es sei doch diese Mitteilung
auch ohne diese hypostatische Einigung möglich, da sie ja doch
auch in uns ohne eine solche erfolge. Denn eben in uns ist diese
Mitteilung möglich und bewirkt durch diese Einigung und An-
nahme, wie sie in der hypostatischen Union geschieht. Und es steht
theologisch auf jeden Fall der Annahme nichts im Wege, daß
Gnade und unio hypostatica nur zusammen gedacht werden kön-
nen uud als eine Einheit den einen freien Entschluß Gottes zur.
übernatürlichen Heilsordnung bedeuten. In Christus geschieht die
Selbstmitteilung Gottes grundsätzlich an alle Menschen, und eben
insofern diese unüberbietbare Selbstmitteilung Gottes in einer un-
widerruflichen Weise geschichtlich greifbar und zu sich selbst ge-
kommen «da ist», ist unio hypostatica. Nochmals: warum? Jede
Selbstaussage Gottes geschieht, wo sie nicht einfach visio beatifica
ist (und selbst da ist es wohl nicht anders, worauf hier nicht einge-
gangen werden kann), durch eine endliche Wirklichkeit, durch ein
Wort, durch ein Ereignis usw., das dem kreatürlichen, endlichen
Bereich angehört. Solange aber diese endliche Vermittlung der
göttlichen Selbstaussage nicht streng und im eigentlichsten Sinn
eine Wirklichkeit Gottes selbst ist, ist sie grundsätzlich vorläufig,
grundsätzlich überholbar, weil sie endlich und in dieser Endlich-
keit nicht einfach Gottes Wirklichkeit selber ist und so von Gott
selbst durch neue Setzung von Endlichem überholt werden kann.
Soll also die Wirklichkeit Jesu, in der als Zusage und Annahme die
Selbstmitteilung Gottes absoluter Art an die Gesamtmenschheit
für uns «da ist», wirklich die endgültige und unüberholbare sein,
dann muß gesagt werden: sie ist nicht nur von Gott gesetzt, son-
dern ist Gott selbst. Ist diese Zusage aber selbst eine menschliche
Wirklichkeit als absolut begnadete (und etwas anderes kann sie
nicht sein, weil ein bloßes Wort eben nicht das Ereignis dieser
Selbstmitteilung wäre, sondern nur über sie redete, also gar nicht
die eigentliche und wirklich primäre Mitteilung an uns über diese
Selbstmitteilung an uns wäre, da das Ereignis selbst in seiner Offen-
heit, nicht ein Wort über es die primäre Kundmachung seiner .
selbst ist), und soll sie wirklich absolut Gottes selbst sein, dann ist
211
sie die absolute Zugehörigkeit einer menschlichen Wirklichkeit zu
Gott, also eben das, was wir unio hypostatica nennen. Die unio
hypostatica unterscheidet sich also, wenn man einmal so formulie-
ren darf, nicht von unserer Gnade durch das in ihr Zugesagte, das
ja eben beidesmal die Gnade (auch bei Jesus) ist, sondern dadurch,
daß Jesus die Zusage für uns ist und wir nicht selbst wieder die
Zusage, sondern die Empfänger der Zusage Gottes an uns sind.
Die Einheit der Zusage, die Unablösbarkeit der Zusage von dem
Zusagenden (uns sich selbst zusagenden!) muß aber entsprechend
der Eigenart der Zusage gedacht werden. Ist die reale Zusage an
uns eben die menschliche Wirklichkeit als begnadete, in der und
von der aus Gott sich in seiner Gnade uns zusagt, selbst, dann kann
die Einheit zwischen dem Zusagenden und der Zusage nicht bloß
«moralisch » gedacht werden etwa wie zwischen einem menschli-
chen «Wort» oderetwas Ähnlichem, bloß Zeichenhaften und Gott,
sondern nur als eine Einheit unwiderruflicher Art zwischen dieser
menschlichen Wirklichkeit mit Gott, die eine Trennungsmöglich-
keit zwischen der Verlautbarung und dem Verlautbarenden auf-
hebt, also das real menschlich Verlautbarte und die Zusage für uns
zu einer Wirklichkeit Gottes selbst macht. Und eben dies sagt die
unio hypostatica. Sie sagt dies und eigentlich nichts anderes: in
dieser menschlichen Wirklichkeit Jesu ist der absolute Heilswille
Gottes, das absolute Ereignis der Selbstmitteilung Gottes an uns
einfach, schlechthin und unwiderruflich da, die Aussage an uns
samt ihrer Annahme, als von Gott selbst gewirkte, eine Wirklich-
keit Gottes selbst, unvermischt, aber auch untrennbar, und darum
unwiderruflich. Diese Aussage aber ist die Zusage der Gnade an
uns.
Es ist natürlich hier nicht möglich, von diesem erreichten An-
satzpunkt aus die ganze Christologie zu entfalten und von daher
nun auch ein besseres Verständnis ihrer selbst zu gewinnen. Das
ist hier einfach zeitlich nicht möglich. Es würde sich aber so zeigen,
daß die echteund richtig verstandene Lehre von der hypostatischen
Union nichts mit einer Mythologie zu tun hat. Es würde sich zeigen,
daß die subkutan und unausdrücklich, so aber um so wirksamer
monophysitisch interpretierte Christologie vieler Christen wirklich
ein Mißverständnis ist.
212
IN8
Es sollen nur noch ein paar Bemerkungen angefügt werden, die ge-
eignetsind, das Thema wenigstensnoch einigermaßen abzurunden.
1. Wir haben bisher die Christologie in einen Rahmen einzuord-
nen versucht, der einfach der einer evolutiven Weltanschauung
des Kosmos ist, der sich auf jenen Geist hin entwickelt, der eine
absolute Selbsttranszendenz durch und in einer absoluten Selbst-
mitteilung Gottesin Gnade und Glorie besagt als seine Vollendung.
Es war somit von Schuld und Erlösung als Befreiung von Sünde
noch nicht die Rede. Die ausdrücklichste Perspektive aber, unter
der die Menschwerdung des Logos gesehen wird, ist ja doch die
der Erlösung, der Tilgung der Schuld. Sind wir von der traditio-
nellen Christologie nicht also doch in einer Weise abgewichen, die
nicht erlaubt ist? Um zu dieser Frage wenigstens einige kurze Be-
merkungen zu machen, sei zunächst einmal gesagt: Es gibt von
altersher innerhalb der katholischen Theologie eine Schulrichtung,
gewöhnlich die skotistische genannt, die immer schon betont hat,
daß das erste und grundlegendeMotiv der Inkarnation nicht die Til-
gung der Schuld sei, sondern diese Menschwerdung im voraus zu
dem göttlichen Vorherwissen der freien Schuld Ziel göttlicher Frei-
heit sei, Inkarnation als freier Gipfel der Selbstäußerung und
Selbstentäußerung Gottes in das andere der Kreatur hinein der
ursprünglichste Akt Gottes sei, der als seine Momente den Willen
zur Schöpfung und (unter der Voraussetzung der Schuld) zur Er-
lösung gewissermaßen einbegreifend vorwegnehme. Von dieser
lehramtlich in der Kirche nie beanstandeten Schulauffassung her
kann man also nicht sagen, daß die hier vorgelegte Konzeption der
Inkarnation wirklich lehramtlich Bedenken erregen könne. Es ist
durchaus in der katholischen Kirche erlaubt, die Inkarnation zu-
nächst einmal in der ersten Absicht Gottes als die Spitze und Höhe
des göttlichen Schöpfungsplanes zu fassen und nicht zunächst und
im ersten Ansatz als den Akt einer bloßen Wiederherstellung einer
durch die Schuld der Menschheit gestörten göttlichen Weltord-
nung, die selbst an sich ohne Inkarnation von Gott her gedacht ge-
wesen wäre. Häretisch wäre es natürlich, zu leugnen, daß Wirk-
Über-
lichkeitund Vollzug des geschöpfgewordenen Logos auch die
215
windung der Sünde bedeute. Welchen letzten Stellenwert (um es
einmal so auszudrücken) dieser Satz aber habe, das ist in diesem
Satz selbst noch nicht entschieden, und es kann gezeigt werden,
wie wir es gleich andeuten werden, daß der Satz von der Erlösung
von der Schuld sich auch ungezwungen und von selbst von unserem
eigenen Systemansatz ableiten läßt. Sodann: Die Einheit von
Geschichte des Geistes und der Materie, des einen Kosmos des
Leibhaftigen und des Geistigen, von dem wir ausgegangen sind,
braucht und darf nicht dahin mißverstanden werden, als ob in
dieser Einheit Freiheit, Schuld, Möglichkeit endgültiger Verloren-
heit in selbstgewollter endgültiger Selbstversperrung gegen den
Sinn der Welt und seiner Geschichte keinen Platz haben, als ob
Schuld in einer solchen Weltkonzeption nicht mehr sein könne als
eine Art unvermeidlicher Entwicklungsschwierigkeit, die von
vornherein dialektisch in die Momente dieses Prozesses einbezogen
sei. Es ist auch bekannt, daß man Teilhard den Vorwurf gemacht
hat, die Sünde in dieser Weise zu verharmlosen, ein Vorwurf, den
H. de Lubac in seinem neuesten Buch über Teilhard doch wohl
einleuchtend entkräftigt hat. Ein solcher Vorwurf darf einer sol-
chen evolutiven Weltanschauung wirklich nicht gemacht werden,
wenn diese sich selbst richtig versteht. Die Entwicklung des Kos-
mos geht auf Geist, Transzendenz und Freiheit hin, sie geht in
einer wirklichen wesenhaften Selbsttranszendenz auf Geist, Per-
son und Freiheit. Die Geschichte des Kosmos hat (und zwar dann
auch für den ganzen, auch materiellen, was eine rein idealistische
Weltinterpretation gar nicht verständlich machen kann und so
gerade ihr Ungenügen für die Bedürfnisse der christlichen Theo-
logie enthüllt) in dem Augenblick, da Geist und Freiheit in dem
Kosmos erreicht sind, ihre Strukturen und ihre Interpretation von
Geist und Freiheit her, nicht von der Materie her, insofern sie noch
vorgeistig die Andersheit des Geistes als solche ist. Wo aber Frei-
heitin und vor der Wirklichkeit des Kosmos als ganzer und in einer
Transzendenz auf Gott hin ist, da kann es Schuld geben, Freiheit,
die sich Gott gegenüber versagt, Sünde und die Möglichkeit
der
Verlorenheit. Ob und wieweit diese Möglichkeit und deren
Ver-
wirklichung nochmals durch die größere Freiheit Gottes in seiner
Gnade überholt werden, das istwieder eine andere Frage. Jedenfalls
214
_ aber darf man nicht sagen, Freiheit und echte, vom Menschen her
nicht mehr aufhebbare Schuld könne in einer solchen Weltkon-
zeption keinen Platz mehrhaben. Dieseinmalvorausgesetztund be-
tont, läßt sich gerade von unserer Grundkonzeption aus verstehen,
daß in einer Geschichte, die durch die freie Gnade Gottes ihr Ziel
in einer absoluten und unwiderruflichen Selbstmitteilung Gottes
an die geistige Kreatur hat, in einer Selbstmitteilung, die durch
ihr Ziel und ihren Höhepunkt, die Inkarnation, festgemacht wird,
die erlösende und sündenüberwindende Macht eben in diesem Hö-
hepunkt der Inkarnation und in dem Vollzug dieser gottmensch-
lichen Wirklichkeit notwendig gegeben ist. Weil die Welt und
ihre Geschichte von vornherein getragen sind durch den absoluten
Willen Gottes zu einer radikalen Selbstmitteilung Gottes an die
Welt, weil die Welt in dieser Selbstmitteilung und in ihrem Höhe-
punkt, der Inkarnation, zur Geschichte Gottes selbst wird, ist die
Sünde, wenn und soweit sie in der Welt ist, von vornherein von
dem Vergebungswillen umfangen, wird das Angebot der göttli-
chen Selbstmitteilung notwendig, weil es wegen Christus nicht
durch die Sünde bedingt ist, ein Angebot der Vergebung und der
Überwindung der Schuld, ja ist die Schuld nur zugelassen, weil sie
als endlich menschliche Schuld von Gott immer als eingefangen
bleibend gewußt wurde in dem absoluten Willen Gottes zur Welt
und seinem Selbstangebot. Diese Vergebungsmöglichkeit existiert
nicht vom Menschen, von «Adam» als solchem her, von der
menschlichen Stufe der Geschichte als solcher her, sondern durch
jene Kraft der Selbstmitteilung Gottes, die einerseits von vorne-
herein die Entwicklung der Gesamtgeschichte des Kosmos trägt,
anderseits aber als sie selbst geschichtlich greifbar und ihr eigenes
Ziel findend manifest wird in Existenz und Existenzvollzug Chri-
-sti. Und dies ist der Sinn des Satzes, daß wir durch Jesus Christus
von unseren Sünden erlöst sind. Das wird schon dadurch deutlich,
daß eben der Entschluß Gottes zu Christus und seinem Heilswerk
dieses Heilswerk trägt und nicht von ihm getragen wird, daß nicht
eigentlich die TatChristiden Willen Gottes zur Vergebung bewirkt,
sondern jene von diesem bewirkt wird, und daß diese Erlösung in
Christus (man könnte auch sagen: auf Christus hin) schon vom
Anfang der Menschheit an wirksam war. Dazu kommt, daß nach
219
katholischer Lehre die «Erlösung» und Sündentilgung gar nicht
alseine bloße moralische oder rechtliche Transaktion, als eine bloße
Freisprechung oder Nichtanrechnung einer Schuld verstanden
werden darf. Sie ist die Mitteilung der göttlichen Gnade, sie ge-
schieht in der ontologischen Wirklichkeit der Selbstmitteilung Got-
tes, sie ist also auf jeden Fall die Fortsetzung und Durchführung
jenes seinshaften Prozesses, der in der übernatürlichen Begnadi-
gung und Vergöttlichung der Menschheit von Anfang an bestand.
Nimmt man an, daß diese ursprüngliche Begnadigung der Mensch-
heit vor ihrer Sünde nicht nur als Forderung, sondern als sich
durchsetzende Macht bestand und bestehen blieb, weil sie und in-
sofern sie von vornherein auf die Inkarnation und die darin un-
widerruflich gesetzte Selbstmitteilung Gottes an die ganze Mensch-
heit ausgerichtet war (nicht: weilsiein «Adam » angefangen hatte),
und darum eben auch von selbst Überwindung des Hindernisses
dieser Selbstmitteilung, der Schuld wurde, wenn dieses Hindernis
frei in der Geschichte der Durchführung dieser Selbstmitteilung
auftritt, dann haben wir die Idee der christlichen Erlösung so, daß
sie sich von selbst aus einer christologisch-evolutiven Weltkonzep-
tion ergibt. - Es soll mit dem eben nur Angedeuteten nicht der An-
schein erweckt werden, es seien nun alle Tiefen und Breiten einer
Harmatologie und Soteriologie ausgemessen. Es sollte nur ange-
deutet werden, wie eine Erlösung sich in das entwickelte Grund-
schemaeinerchristologisch-evolutiven Weltanschauungeinordnet.
2. Eine weitere Frage muß noch berührt werden. Wir haben, so
könnte man formulieren, die Idee einer möglichen Inkarnation
von dem formalen Schema einer Weltentwicklung her entworfen,
die ihren Höhepunkt in der Selbstmitteilung Gottes hat. Natürlich
ist ein solcher formaler Entwurf bei der Geschichtlichkeit der
menschlichen, auch metaphysischen Erkenntnis faktisch in dieser
Deutlichkeit nur darum möglich, weil wir schon um die faktische
Menschwerdung wissen, also möglich erst post Christum natum.
Aber dies ist nicht weiter verwunderlich. Auch eine metaphysische
Reflexion ist immer die Einholung einer schon gemachten Erfah-
rung. Der transzendentale Entwurf des Menschen als Freiheits-
wesen z. B. ist apriorisch transzendental und doch faktisch in sei-
nem Vollzug abhängig von einer konkreten Freiheitserfahrung.
216
Aber eines läßt sich auch in dieser Weise nicht bewerkstelligen:
der Nachweis, daß dieser transzendentale Entwurf einer möglichen
Inkarnation sich faktisch gerade in Jesus von Nazareth, hier und
nur hier, ereignet hat. Die Idee des Gottmenschen und die Aner-
kennung gerade Jesu als des einen, einmaligen, wirklichen Gott-
menschen sind zwei verschiedene Erkenntnisse. Und erst durch
die zweite Glaubenserkenntnis ist man ein Christ, erst also, wenn
das einmalig Konkrete dieses bestimmten Menschen ergriffen ist,
und zwar als die absolute Selbstaussage Gottes, als die Zusage Got-
tes selbst an je mich. Daß nicht an der Idee allein, sondern an der
kontingenten Konkretheit der wirklichen Geschichte das Heil des
Menschen hängt, das gehört zum Christentum. Aber eben von hier
aus sieht man auch wieder die Bedeutung unserer ganzen Überle-
gungen. Innerhalb des skizzierten Grundschemas, in der Geist
nicht das der materiellen Wirklichkeit Fremde ist, sondern das
Zusichselbstkommen dieser leibhaftigen Wirklichkeit selbst, ist
eigentlich allein verständlich zu machen, daß eine konkret leib-
haftige Wirklichkeit und nicht eine allgemeine Idee das wirklich
Rettende und ewig Gültige sein kann, daß das Christentum.eigent-
lich kein « Idealismus» sein kann, wenn es sich selbst recht ver-
steht. Der Akt des Ergreifens der konkreten Wirklichkeit die-
ses bestimmten Menschen als des rettenden Gottmenschen ist
anders und mehr als der apriorische Entwurf der Idee eines
Gottmenschen als des tragenden Grundes einer vergöttlichten
Menschheit als ganzer und einer darin zu Gott selbst gelangten
Welt. Aber wie der Mensch in seiner geschichtlichen Erfahrung
und in seinem Glauben nun zur Glaubenserkenntnis gelangt, daß
gerade in diesem Jesus von Nazareth die Weltgeschichte nicht zwar
schon in ihre volle und absolute Vollendung, aber doch in ihre un-
überbietbare Vollendungsphase gelangt ist, das aufzuzeigen ist
nicht mehr die Aufgabe dieser Überlegungen. Es konnte hier nur
auch auf diese weitere Frage aufmerksam gemacht werden.
3. Eine richtig verstandene Einordnung der Christologie in eine
evolutive Weltanschauung muß sich auch Gedanken machen hin-
sichtlich des Zeitpunktes, an dem in dieser einen und ganzen Welt-
geschichte sich die Inkarnation ereignet hat. Schon die theologi-
sche Reflexion der früheren Zeiten der Kirche hat sich hinsichtlich
217
!
dieser Frage schwer getan. Sie empfand das Konımen Christi einer-
seits als das Ende, das Ereignis des späten Alters der Weltgeschichte,
als die letzte Stunde, die unmittelbar auf das Ende der Geschichte
schlechthin, auf die baldige Wiederkunft Christi hinweist, als den
Anfang des Endes. Anderseits erschien die Inkarnation und der
Sieg Christi als Anfang einer neuen Epoche, als Gründung der
Kirche, die sich erst langsam in einer unabsehbaren Geschichte
ausbreiten soll, als Anfang eines Durchsäuerungsprozesses einer
Materie von Weltgeschichte, die erst durch diese in Christus zu
beginnen scheinende Vergöttlichung der Welt aus einem unge-
formten Stoff zu einer von Gott wirklich gemeinten Gestalt ge-
bracht wird. Unter beiden Aspekten aber war das Blickfeld der
alten Christenheit sehr begrenzt, was die Zeiterstreckung der von
ihr geschichtstheologisch zu interpretierenden Geschichte angeht,
und zwar nach rückwärts wie vorwärts, und beides wieder auch
wegen des räumlich-zeitlich sehr begrenzten Horizontes ihres ge-
schichtlichen Daseins. Heute glauben wir eine Menschheitsge-
schichte zu kennen, die rückwärts einige hundertmal länger gewe-
sen ist, als man sie in alten Zeiten gedacht hat, und wir haben den
Eindruck, daß die Menschheit eine Geschichte vor sich hat, deren
innerweltliche Zukunft gerade erst nach einer langen und bisher
fast stagnierenden Anlaufszeit begonnen hat. Während man also
früher den Eindruck hatte, Gott sei in der Inkarnation seines Logos
erst am Abend der Geschichte seiner Welt in diese eingetreten,
macht es uns jetzt den Eindruck, daß er gekommen sei, so unge-
fähr (in großen Epochen gedacht) in dem Moment, da die Ge-
schichte der tathaften Selbstübernahme der Menschheit, der wis-
senden und aktiven Selbststeuerung der Geschichte gerade anzu-
heben begann. Wenn man neulich irgendwo die Zahl der bisher
jemals gelebt habenden Menschen auf ca. 77 Milliarden geschätzt
hat, so würde das ja auch bedeuten, daß in vielleichttausend Jahren
(ein winziger Bruchteil des menschlichen Lebens auf Erden) schon
mehr Menschen nach Christus gelebt haben als vor ihm, und dieses
Verhältnis würde sich immer schneller so verschieben, daß Chri-
stus immer mehr an den Anfang der Menschheit rückt. Worauf es
nun in dieser Hinsicht wirklich theologisch ankommt, kann viel-
leicht kurz so gesagt werden:
218
a) Gewiß ist Christus insofern der Anfang des Endes (gleich-
gültig, wie lange die Menschheitsgeschichte dauert und welche
Ergebnisse sie noch bringt), als mit ihm das Ereignis der radi-
kalen Selbsttranszendenz der Menschheit in Gott hinein grund-
‚sätzlich und unwiderruflich da ist und dieses als Verheißung und
Aufgabe der Menschheit vom Wesen der Sache her durch keine
weitere höhere Selbsttranszendenz der Geschichte mehr über-
boten werden kann. Insofern ist der telos der vorausgehenden
Epochen in ihm gegeben (1 Kor 10, 11), und zwar unüberholbar.
b) Anderseits steht bei Aufrechterhaltung dieser eigentlichen
eschatologischen Interpretation der mit Christus endgültig begrün-
deten Heilsepoche des NT nichts im Wege, diese Menschwerdung
auch als die Begründung einer auch innerweltlichen Epochalität
der Menschheit ganz am Anfang dieser Epoche anzusehen. Das will
sagen: wir können die abendländische Geschichte von Christus an
und darin auch die Neuzeit und die jetzt erst beginnende Zukunft
planetarischer, von höherer gesellschaftlicher Organisation getra-
gener, die Natur weiterhin beherrschender und steuernder und
sich ibr nicht mehr nur bedienender Art als etwas betrachten, was
unter nicht unwesentlichen Aspekten, innerweltlich und inner-
geschichtlich gesehen und ohne einem kommunistischen Utopis-
mus zu verfallen, erst die Epoche zu sein beginnt, auf die das bis-
herige Leben der Menschheit hintendierte, in der sie auch tätig
und nicht nur kontemplativ, real und nicht ästhetisch zu sich
kommt und die Welt zu sich kommen läßt.
Und wir können eben diese neue Epoche durchaus als etwas an-
sehen, dessen letzter Grund im Glauben des Christentums liegt,
weil nur die durch das Christentum geschehende Entnuminisie-
rung der Welt deren durch das Christentum selbst gewollte und
durchgeführte Profanisierung, und zwar durch seine Botschaft
von der letzten Transzendenz des Geistes in der Gnade in einen
absoluten und von der Welt als Schöpfung absolut verschiedenen
Gott hinein die Welt zu einem technisierbaren und manipulier-
baren Material für den Menschen selbst gemacht hat, die Kosmo-
zentrik in eine Anthropozentrik verwandelt hat. Von da aus ist es
durchaus sinnvoll und verständlich, daß die Menschwerdung am
Anfang dieser erst eigentlich ganzmenschlichen Epoche steht.
219
4. Damit ist auch schon der Ansatzpunkt zu einer letzten Über-
legung gegeben. Insofern die Glaubenslehre von der Fleischwer-
dung des Logos keine bestimmte Angabe über den Fortgang der
innerweltlichen Geschichte enthält, allen Chiliasmus ablehnt, die
ganze Weltgeschichte und ihre Zukunft, wie immer auch sie durch
das innerweltliche Wirken des Menschen werden mag, schon über-
holt hat (was nicht heißt: für sinnlos oder gleichgültig erklärt),
weil vom Wesen der Sache her die Unmittelbarkeit zum absoluten
unendlichen Geheimnis Gottes alle kategoriale, innerweltliche
Leistung des Menschen schon immer überholt hat, auch die, die
der endlichen, noch so groß gedachten Zukunft des Menschen an-
gehören wird, darum bindet und befreit diese Christologie zugleich
alle innerweltlichen Zukunftsideologien und -utopien. Sie befreit
sie, weil diese Christologie keine Konkurrenz und kein Ersatz für
solche innerweltliche Planung der Zukunft sein will, sondern diese
sich selbst überläßt, hinsichtlich der Dauer und dem Inhalt, der
Planung und dem unberechenbaren Wagnis dieser kategorialen
Zukunft des Menschen. Sie befreit sie, weil diese Lehre von der
Menschwerdungnichtleugnet, sondern einschließt, daßderMensch
seine transzendentale Zukunft, sein Erreichen Gottes in sich selbst
nur vollziehen kann am Material dieser Welt und ihrer Geschichte,
also auch in einem Sichaussetzen und einem Bestehen und Schei-
tern an dieser innerweltlichen Zukunft mit ihrem darin notwen-
_ dig immanenten Glück und Tod zumal. Insofern setzt die mit der
Christologie gegebene Verheißung einer übergeschichtlichen Voll-
endung in der Absolutheit Gottes selbst die innerweltliche Auf-
gabe des Menschen nicht herab, sondern gibt ihr erst ihre letzte
Würde, Dringlichkeit und Gefahr. Weil der Mensch sein Heil
nicht an seiner weltlichen Aufgabe vorbei, sondern nur an ihr
wirken kann, erhält diese ihre höchste Würde, Ehre, Gefahr und
letzte Bedeutung, an ihr wird auch das Heil angenommen, das
Gott in seiner Unbedingtheit und Unmittelbarkeit selbst ist; Zeit
und Raum sind der Zeitraum, in dem die wahre Ewigkeit als deren
Frucht und Bleibendheit heranreift. Gleichzeitig aber bindet diese
Christologie auch alle innerweltlichen kategorialen Zukunftsent-
würfe und -ideologien. Sie sind nie das Heil selbst, sie sind immer
nur das Material, an dem der Mensch seine Öffnung vollzieht, um
220
das Heil von Gott in Empfang zu nehmen, weil dieses Heil Gott
‚selbst ist, den der Mensch nicht macht, sondern in seinem Grund
und Abgrund immer schon vorfindet. So wird die Eigentat der
Zukunft, die der Mensch setzt, durch diese Christologie ernüchtert
und gedemütigt. Die Zukunft, die der Mensch durch seine eigene
Tat schafft, rechtfertigt allein nie den Menschen, so wie er ist.
Denn er ist immer schon von Gott her gerechtfertigt durch den
Spruch, in dem Gott sich selbst in seiner heiligen und unbegreif-
lichen, unsagbaren Unendlichkeit dem Menschen zusagt, so daß
auch die letzte Tat des Menschen die Annahme der Tat Gottes an
ihm ist. Aber eben dieser ernüchterte und gedemütigte innerwelt-
liche Zukunftswille des Menschen ist auf die Dauer der zukunfts-
trächtigere. Er kommt nicht in Versuchung, die Gegenwart und
deren Menschen der Zukunft grausam zu opfern, er braucht nicht
brutal zu werden, um mit blutiger Gewalt den ewigen Frieden zu
erzwingen, er braucht nicht alle in einer öden Gleichheit unter-
gehen zu lassen, damit keiner sich benachteiligt fühlen könne.
Wenn Christus das entscheidende Existential des menschlichen
Daseins ist, dann ist die Unruhe einer unendlichen Weite einer
göttlichen Zukunft da, und deren Größe liegt auf aller Zeit und:
zeitlichen Tat; dann ist Friede da, weil das eigentliche, letzte und
unendliche Heil schon als gegeben, als der Glaubenstat des Men-
schen geschenktes gewußt und angenommen wird, nicht aber erst
durch die utopisch verzweifelte, zugleich titanische und lächerliche
Überanstrengung des Menschen erzwungen werden muß; dann ist
die Würde des einzelnen gewahrt, weil er nicht nur durch seine
Vernutzung für die Individuen einer ausständigen Zukunft sich
rechtfertigt, sondern auch als der einzelne in Gott und seiner Liebe
ewig gültig geborgen bleibt; dann ist vor diesem einzelnen und
seiner ewigen Würde auch die Gemeinschaft gerechtfertigt und
zu einer absoluten Gültigkeit eingesetzt, weil man das Heil Christi
nicht finden kann, man liebe denn seine, Christi, Brüder und
Schwestern ; dann sind Wagnis und Abstürze nicht von uns genom-
men, aber deren letzte Verzweiflung ist erlöst, weil aller Sturz in
den Abgrund des Unsagbaren und Unbegreiflichen in Geist und
Leben ein Fallen in die Hände dessen ist, den der Sohn Vater
nannte, als er im Tod die Seele in seine Hände empfahl.
221
ı
222
theologische Überlieferung sagt von Jesus als Menschen ein Wis-
sen aus, das alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen
endlichen Wirklichkeiten umfaßt und durchdringt, mindestens
insofern diese in irgendeiner Beziehung zu seiner soteriologischen
Aufgabe stehen, so daß zum Beispiel die Enzyklika Mystici Cor-
poris Jesu ein ausdrückliches Wissen über alle Menschen aller
Zeiten und Zonen zuerkennt?; die theologische Tradition sagt
überdies von Jesus vom ersten Augenblick seines Daseins an den
Besitz der unmittelbaren Gottesschau aus, so wie sie von den Se-
ligen der Vollendung erfahren wird. Solche Aussagen klingen,
wenn wir sie heute hören, im ersten Augenblick fast mytholo-
gisch; sie scheinen der echten Menschlichkeit und Geschichtlich-
keit des Herrn zu widersprechen, sie scheinen in einen auf den
ersten Blick unlösbaren Widerspruch mit dem Befund der Schrift
zu geraten, die ein sich entwickelndes (Lk 2, 52) Bewußtsein Jesu -
kennt, einen Herrn, der von sich selbst ein Nichtwissen entschei-
dender Dinge gerade soteriologischer Art aussagt (Mt 24, 36; Mk
13, 52), der durch die Geistigkeit und Religiosität seiner Zeit —
wie unmittelbar greifbar und in immer wachsendem Maß durch
die moderne Forschung deutlich wird — geprägt ist, so daß man
fast den Eindruck bekommt, an ihm sei nur er selbst originell und
die eben einmalige Kombination der Umwelteinflüsse, wie sie
aber in jedem Menschen sich schließlich findet. Man empfindet
die Auskunft der üblichen Schuldogmatik, man müsse unterschei-
den zwischen einem eingegossenen und einem durch das erste
nicht geleugneten erworbenen Wissen, man müsse an die Herab-
lassung und Anpassung des Herrn an seine Umgebung denken,
die er frei und absichtlich vornehme, man müsse zwischen einem
225
mitteilbaren und unmitteilbaren Wissen unterscheiden — diese
Auskunft empfindet man als künstlich und unwahrscheinlich, ja
man hat den Eindruck, daß damit nur eine verbale Versöhnung
zwischen der historischen und dogmatischen Aussage über das Be-
wußtsein Jesu erzielt sei. Und somit gehört diese Frage in den
Kreis jener Fragen, bei denen eine gewisse Spannung zwischen
Exegeten und Dogmatikern nicht bestritten werden kann, eine
Spannung, die meist dadurch « gelöst» wird, daß der Exeget sich
nicht um den Dogmatiker kümmert‘ und umgekehrt in gleicher
Weise verfahren wird, so daß der Streit nur dadurch nicht offen-
kundig wird, daß man Formulierungen sucht, die einen aus-
drücklichen formellen Widerspruch zur Auffassung der anderen
Disziplin vermeiden, ohne aber damit der Sache selbst genug zu
tun. Immerhin zeigt aber die Diskussion in der jüngsten Literatur
zu dieser Frage, daß nicht überall der Wille der ehrlichen Begeg-
nung zwischen den beiden Disziplinen und zu neuen sachlichen
Lösungen fehlt. Ich nenne beispielsweise das Buch meines Kol-
legen Gutwenger, in dem die vorausgehende Literatur gefunden
werden kann, oder die Tagung der Dogmatiker Frankreichs bei
den Dominikanern in Eveux, bei der unser Thema Hauptgegen-
stand dieser der Christologie gewidmeten Tagung war. Es sei we-
nigstens darauf im Vorbeigehen hingewiesen, daß es auch ein in-
nerdogmatisches Problem in der Theologie der letzten Jahre gibt,
das sich mit dem Io di Cristo®, seinem Bewußtsein, seinem krea-
4 Vgl. z. B. Otto Karrer, Neues Testament, zu Mk 13,32 Anm. S. 152: «Auch der
Sohn hat in seiner irdischen Pilgererfahrung noch nicht die selige Gottesschau wie
zur Rechten des Vaters.» Die heutigen Exegeten wie J. Schmid übergehen die dog-
matische Frage, die sich an dieser Stelle erhebt.
5 E. Gutwenger, Bewußtsein und Wissen Christi, Innsbruck 1960.
® Zu dieser Frage und damit zur neueren Literatur über unser ganzes Thema ver-
gleiche:
Deodat de Basly, La Christiade frangaise, Paris 1929. — L’Assumptus Homo. L’em-
melement de trois conflits: Pelage, Nestorius, Apollinaire: La France Franciscaine
11 (1928) 285-314. — La Moi de Jesus-Christ: La France Franciscaine 12 (1929)
125-160, 525-352. — Scotus docens: Suppl. ala France Franciscaine 17 (1934) 320 S.
— Inoperantes offensıves contre l’Assumptus Homo: Suppl. A la France Franciscaine
17-18 (1954/35) 164 S. — La structure philosophique de Jesus ’Homme-Dieu: La
France Franciscaine 20-21 (1937/38).
P. Galtier, L’unite du Christ. Etre-Personne-Conscience, Paris 19392,
H. Diepen, Un scotisme apocryphe: Rev. Thom. 49 (1949) 428-492. — La critique du
baslisme selon S. Thomas d’Aquin: Rev. Thom. 50 (1950) 82-118, 290-329.
H. Diepen, La psychologie du Christ selon S. Thomas d’Aquin: Rev. Thom. 50
224
türlichen Selbstbewußtsein unter den dogmatischen Aspekten
des Neuchalkedonismus oder einer mehr reinchalkedonischen
Christologie oder unter den Gesichtspunkten einer Assumptus-
Homo-Theologie oder eines sogenannten Baslismus befaßt. Haubst
hat darüber ja vor wenigen Jahren einen guten Überblick gebo-
_
(1950) 515-562. — Note sur le baslisme et le dogme d’Eph&se: Rev. Thom. 51 (1951)
162-169.
P. Parente, L’Io di Christo, Brescia 1951 (2. erweiterte Auflage 1955).
P. Galtier, La conscience humaine du Christ a propos de quelques publications re-
centes: Gregorianum 32 (1951) 525-568.
B. Leeming, The Human Knowledge of Christ: The Irish Theological Quarterly 19
(1952) 254-253.
M. Ce, La discussione sulla coscienza umana di Cristo nella teologia moderna: Scuola
Catt. 80 (1952) 265-503.
Rezension Parentes: F. Lakner ZkTh 52 :(1952) 339-348. j
L. Ciappi, De unitate ontologica ac psychologica personae Christi: Angelicum 29
(1952) 186-189.
P. Parente: Unitä ontologica e psicologica dell’Uomo-Dio: Euntes docete 5 (1952)
337-401 (als Separatabdruck in der Collectio Urbaniana, Ser. III Text. ac Docum,
[1953] 1-68 erschienen). FR
R. Garrigou-Lagrange, L’unique personnalite du Christ: Angelicum 29 (1952) 60-75.
H. Diepen, L’unique Seigneur Jesus Christ: Rev. Thom. 53 (1953) 62-80.
M. J. Nicolas, Chronique de theologie dogmatique: Rev. Thom. 53 (1953) 421-428.
P. Galtier, Nestorius mal compris, mal traduit: Gregorianum 34 (19553) 427-433.
P. Parente, Echi della controversia sull’unita ontologica e psicologica di Christo:
Euntes docete 6 (1953) 312-322.
P. Galtier, La conscience humaine du Christ. Epilogue: Gregorianum 35 (1954)
225-246.
B. M. Xiberta, El Yo de Jesucristo, Barcelona 1954.
, Nea-
E.M. Bosco, La scienza umana del Cristo in San Tommaso e San Bonaventura
pel 1954.
Chalkedon III
J. Ternus, Das Seelen- und Bewußtseinsleben Jesu: Das Konzil von
Würzburg (1954) 81-237.
Homo oriental
E.M. Llopart, Una tesis de Dom. Diepen, 0.S.B., sobre el Assumptus
y el Concilio de Calcedonia: Rev. Espafi. Teol. 14 (1954) 59-78.
Das menschliche Wissen des irdischen Christus: ZkTh 76 (1954)
E. Gutwenger,
170-186.
contemporanea
J. M. Delgado Varela, El tema del «yo de Christo» en la Teologia
espafiola: Rev. Espafi. Teol. 14 (1954) 567-581.
a Galtier-Parente:
P. Inchaurraga, La Unidad Psicologica de Cristo en la Controversi
,
Lumen 3 (1954) 215-239.
von der Gottesschau
K. Forster, Die Verteidigung der Lehre des heiligen Thomas
;
durch J. Capreolus, München 1955.
77 (1955) 212-228.
F. Lakner, Eine neuantiochenische Christologie?: ZkTh
(1955) 105-123.
M. Cuervo, El Yo de Jesucristo: La Ciencia Tomista 82
Ecl. 29 (1955) 443-478.
F. de P. Solä, Una nueva explicaciön de Yo de Jesucristo: Est.
Il lumen gloriae e Yunitä psicologic a di Cristo: Div. Thom. 58 (1955)
A. Peregro,
90-110, 296-310.
Christi animadversiones:
B. M. Xiberta, In controversiam de conseientia humana
margen de la controversia sobre
Euntes docete 9 (1956) 93-109. — Observaciones al
Teol. 16 (1956) 215-233.
la consciencia humana de Jesucristo: Rev. Espafi.
225
ten’, so daß wir hier auf diesen F ragenkreis der heutigen Theo-
logie nicht ausdrücklich eingehen müssen. Betont sei noch zu Ein-
gang unserer Überlegungen, daß diese rein dogmatisch sein sol-
len. Wir haben also nicht die Absicht und auch nicht die Kompe-
tenz, eine exegetische Arbeit zu betreiben. Das einzige, was wir
in dieser Hinsicht beabsichtigen, ist dies: dem Exegeten eine dog-
matische Auffassung des Selbstbewußtseins Jesu und seines Wis-
sens anzubieten, von der er vielleicht leichter als bisherigen Auf-
fassungen gegenüber zugeben kann, daß sie mit seinen histori-
schen Befunden sich verträgt. Wir sagen: sich verträgt. Denn
mehr ist nicht erforderlich. Es wird ja vom Exegeten nicht ver-
langt, daß er mit seinen historischen Methoden oder mit einer un-
mittelbar sich auf die Texte stützenden Biblischen Theologie die
dogmatischen Aussagen über Wissen und Selbstbewußtsein Jesu
selber erzielen könne. Zwar stützen sich diese dogmatischen Aus-
sagen letztlich auf die Selbstaussage Jesu, insofern das, was wir die
Hypostatische Union des Logos mit einer menschlichen Natur in
Jesus Christus nennen, sich letztlich auf die Selbstaussage Jesu
226
t
sein kann. Das will sagen:,man hat den Eindruck, daß in der Er-
örterung über das Wissen Christi stillschweigend von der Voraus-
setzung ausgegangen werde, daß das wissende Bewußtsein des
Menschen —- eben die berühmte tabula rasa sei, auf der etwas
stehe oder nicht stehe, so daß hinsichtlich dieser Frage des Darauf-
_ geschriebenseins oder Nichtgeschriebenseins nur dieses einfache
Entweder-Oder möglich wäre. So ist es aber nicht. Das mensch-
liche Bewußtsein ist ein unendlich vieldimensionaler Raum: es
gibt reflex Bewußtes und Randbewußtes, Bewußtes und aus-
drücklich Bemerktes, ein gegenständlich begriffliches Bewußtsein
und ein transzendental und unreflex am subjektiven Pol des Be-
wußtseins angesiedeltes Wissen, es gibt Gestimmtheit und satz-
haftes Wissen, es gibt zugelassenes und verdrängtes Wissen, es gibt
seelische Vorkommnisse im Bewußtsein und deren reflexe Inter-
pretation, es gibt das Wissen ungegenständlicher Art des formalen
Horizontes, innerhalb dessen ein bestimmter erfaßter Gegenstand
zu stehen kommt, als ungegenständlich bewußte apriorische Be-
dingung des aposteriorisch erfaßten Gegenstandes und das Wis-
sen um diesen selbst. Das alles ist eigentlich selbstverständlich,
wird aber in unserer Frage zu wenig bedacht. Natürlich weiß man
in der Diskussion um unser Problem, daß es verschiedene Arten
von Wissen gibt, und unterscheidet eingegossenes und erworbe-
nes Wissen und innerhalb dieser Begriffe nochmals in vielfältiger
Weise. Aber man betrachtet dabei doch mehr oder weniger aus-
drücklich diese verschiedenen Arten der Erkenntnis als verschie-
dene Weisen, in denen ein gegenständliches Wissen erworben,
nicht aber eigentlich als verschiedene Weisen, wie eine Wirklich-
keit gewußt wird, als verschiedene Weisen, wie die ebene Tafel
des Bewußtseins beschriftet wird, nicht als total verschiedene Ar-
ten, in denen eine Wirklichkeit in dem vieldimensionalen Raum
des Bewußtseins gegeben sein kann. Es kann daher nicht unsere
Aufgabe sein, ein empirisch-psychologisches oder transzendenta-
les Schema solcher verschiedenen Gegebenheitsweisen im Be-
wußtsein zu entwerfen. Die eben gemachten Andeutungen wol-
len nur die Tatsache einer solchen Vielfalt möglicher Formen der
Gegebenheit einer Wirklichkeit im Bewußtsein andeuten, nicht
genau von einander unterschiedene Weisen solchen Bewußt-
228
habens, solcher Bewußtheit oder Gewußtseins, solcher Grundbe-
findlichkeiten und Gestimmtheiten auseinanderlegen.
Nur auf zwei Dinge sei hier aufmerksam gemacht. Einmal: es
. gibt unter diesen Wissensformen ein apriorisches ungegenständ-
liches Wissen um sich selbst als eine Grundbefindlichkeit des gei-
stigen Subjektes, in der es bei sich ist und gleichzeitig seiner trans-
zendentalen Verwiesenheit auf das Ganze der möglichen Gegen-
stände der Erkenntnis und der Freiheit inne ist. Diese Grund-
befindlichkeit ist kein gegenständliches Wissen, normalerweise
beschäftigt man sich nicht mit ihr; die Reflexion holt diese Grund-
befindlichkeit nie adäquat ein, selbst wenn sie sie ausdrücklich an-
zielt; das begrifflich reflexe Wissen um sie, selbst dort, wo es ge-
geben ist, ist nicht sie selbst, sondern nochmals von ihr getragen,
und holt darum schon diese ursprüngliche Befindlichkeit nie ad-
äquat ein. Überdies: die Reflexion auf diese Grundbefindlichkeit
braucht nicht notwendig zu glücken, sie kann vielleicht sogar un-
möglich sein, ihre asymptotisch glückende Durchführung kann
abhängig sein von den äußeren, in geschichtlicher Kontingenz ge-
gebenen Daten der äußeren Erfahrung, des von anderswoher ge-
botenen Begriffsmaterials und seiner geschichtlichen Eigenart.
Um diese eben formulierten Thesen — die im Idealfall natürlich
genau und ausführlich begründet werden müßten, was hier nicht
möglich ist — in ihrem Sinn und ihrer Richtigkeit doch einiger-
maßen zu verstehen, braucht nur daran gedacht zu werden, daß
die Geistigkeit, die Transzendenz, die Freiheit, die Verwiesenheit
auf das absolute Sein in jedem, auch dem alltäglichsten Akt des
Menschen, der sich mit irgendeiner Gleichgültigkeit seiner biolo-
gischen Selbstbehauptung beschäftigt, gegeben sind, unthema-
tisch und ungegenständlich, aber wirklich bewußt sind, jadie ur-
sprünglichsten Daten des Bewußtseins von transzendentaler Not-
wendigkeit und umfassender tragender Bedeutung sind, und den-
noch nur unter größter Anstrengung, in einer langen Geschichte
des Geistes, unter der wechselvollsten Geschichte der Termino-
logie, mit sehr verschiedenem Erfolg, bei größten Meinungsver-
schiedenheiten in ihrer Interpretation thematisch und gegen-
ständlich erfaßt werden können.
Das zweite, was vorbereitend zu sagen ist, besteht in einer Kri-
229
tik des griechischen Ideals® des Menschen, in dem das Wissen ein-
fach der Maßstab des Menschen schlechthin ist. Das will sagen:
eine griechische Anthropologie kann ein bestimmtes Nichtwissen
nur als Zurückbleiben hinter der Vollkommenheit, auf die hin der
Mensch angelegt ist, denken. Nichtwissen ist das einfachhin zu
Überwindende, man kennt von ihm keine mögliche positive Funk-
tion. Das im Nichtwissen Abwesende ist einfach das Ausfallende,
diese Abwesenheit wird aber nicht gesehen als die Einräumung
eines offenen Raumes für Freiheit und Tat, die bedeutsamer sein
können als die einfache Gegebenheit einer bestimmten Wirklich-
keit. So undialektisch hinsichtlich des Wissens und Nichtwissens
können wir Menschen von heute nicht mehr denken. Und wir
haben dafür objektive Gründe. Es ist hier nicht möglich, die Posi-
tivität des Nichtwissens, der «docta ignorantia», nach allen Sei-
ten zu entwickeln. Nur auf eines sei hier aufmerksam gemacht.
Eine Philosophie der Person und der Freiheit des endlichen We-
sens, der Geschichte und der Entscheidung könnte doch wohl ver-
hältnismäßig leicht zeigen, daß zum Wesen des Selbstvollzugs der
endlichen Person in geschichtlicher Entscheidung der Freiheit not-
wendig das Wagnis, der Gang ins Offene, das Sichanvertrauen an
das Unübersehbare, die Verborgenheit des Ursprungs und die
Verhülltheit des Endes, also eine bestimmte Weise von Nicht-
wissen wesentlich gehören, daß Freiheit auch immer die weise
Unverstelltheit des Freiheitsraumes, seine willig angenommene
Leere als den dunklen Grund ihrer selbst, als Bedingung ihrer
Möglichkeit verlangt. Es gibt also durchaus ein Nichtwissen, das
als Ermöglichung des Freiheitsvollzugs der endlichen Person in-
nerhalb des noch laufenden Dramas ihrer Geschichte das Voll-
kommenere ist als das Wissen in diesem Vollzug der Freiheit, das
diesen aufheben würde. Und es gibt darum auch durchaus einen
positiven Willen zu einem solchen Nichtwissen. Gerade im Willen
zur absoluten Transzendenz auf das unendliche und unbegreif-
liche Sein überhaupt ist ein Raum des Nichtgewußten immer
schon bejaht. Und insofern das Wesen des Geistes auf das Ge-
heimnis, das Gott ist, als solches geht, insofern alle Helle des Gei-
stes gründet in der Verwiesenheit auf das ewig Unbegreifliche als
8 Vgl. dazu Gutwenger 103/104.
250
solches, und zwar auch noch in der visio beatifica, die nicht die
Aufhebung des Geheimnisses, sondern die absolute Nähe dieses
Geheimnisses als solchen und seine endgültige selige Annahme
ist, zeigt sich nochmals von der letzten Vollendung des Geistes her,
daß man sehr vorsichtig sein muß, wenn man versucht ist, ein
Nichtwissen als bloße Negativität im Dasein des Menschen zu
qualifizieren. Ob und was sich unter Umständen aus dieser Über-
legung für unser eigentliches Thema ergibt, kann sich erst später
zeigen.
Wir kommen nun sehr rasch in die eigentliche Mitte unserer
Überlegungen. Sie sind dogmatischer Art. Wir fragen daher: aus
welchen Gründen muß man mit der katholischen Schultheologie
und dem Lehramt Jesu schon in seinem irdischen Leben eine un-
mittelbare Gottesschau zuschreiben, wie sie Grundlage und Kern
der seligen Gottesschau der Vollendeten ist? Wenn wir so formu-
lieren, so wollen wir in der Fragestellung schon darauf hinweisen,
daß man von vornherein nicht sagen sollte: selige Gottesschau®.
Denn einmal ist es auch eine zu selbstverständlich gemachte Vor-
aussetzung, daß eine Unmittelbarkeit zu Gott immer beseligend
sein müsse. Warum sollte die absolute Nähe und Unmittelbarkeit
zu Gott (ohne daß man darum Skotist hinsichtlich der Weise der
Seligkeit sein müßte) als Unmittelbarkeit zu der richtenden und
verzehrenden Heiligkeit des unbegreiflichen Gottes notwendig
und immer beseligend wirken? Und dann: ist es sicher, daß das
in der Tradition der Theologie Gemeinte hinsichtlich des Bewußt-
seins Jesu wirklich eine Seligkeit in seiner Gottunmittelbarkeit
über diese selbst hinaus aussagen will, und kann bei dem Befund
der geschichtlichen Quellen über die Todesangst und Gottverlas-
senheit Jesu in seinem Kreuzestod im Ernst und ohne künstliche
Stockwerkpsychologie eine Seligkeit des Vollendeten von Jesus
behauptet werden, und so aus ihm ein nicht mehr wirklich in
echter Weise sein Dasein als « Pilger » Vollziehender gemacht wer-
den? Wenn man diese Fragen mit Nein beantworten darf, dann
ist das Problem, das uns beschäftigt, einfach das, welche theologi-
n 1954) S. 190 Anm. 1 be-
9 Wie ich schon in Schriften zur Theologie I (Einsiedel
s hinsichtlich derselben
tonte, Ich freue mich, dafür auf die Zustimmung Ratzinger
(Münchner Theol. Zeitschrift
Überlegung Gutwengers (S. 90) verweisen zu können
[1961] 80).
251
schen Gründe geltend gemacht werden können, die uns mit
Recht veranlassen, Jesu in seinem irdischen Leben eine Unmittel-
barkeit seines Bewußtseins zu Gott, eine visio immediata zuzu-
schreiben, ohne sie darum als beata“ zu qualifizieren oder als
solche qualifizieren zu müssen.
‚ Vermutlich wird man zur Beantwortung dieser so präzisierten
Frage eine Vorüberlegung vorausschicken können. Man wird die
möglichen Antworten grundsätzlich und nach Ausweis der Ge-
schichte der Theologie in zwei Gruppen teilen können. Die erste
Gruppe der (natürlich noch sehr variierbaren) Antworten wird
diese Unmittelbarkeit Jesu zuschreiben, weil und insofern sie von
dem Grundsatz ausgeht, daß Jesu auch schon auf Erden alle Voll-
kommenheiten zuzuschreiben sind, die nicht mit seiner irdischen
Mission schlechthin unvereinbar sind, vor allem, wenn sich diese
Vollkommenheit noch als Hilfe und mehr oder weniger notwen-
dige Voraussetzung seiner Lehrautorität erweisen oder wahr-
scheinlich machen läßt. In dieser Gruppe der Antworten ist also
diese visio immediata doch eine zusätzliche, nicht ontologisch, son-
dern höchstens mit einer gewissen moralischen Notwendigkeit
mit der Hypostatischen Union verbundene Vollkommenheit und
Gabe Jesu, so wie z.B. ein aus ähnlichen Gründen postuliertes
eingegossenes Wissen Jesu usw. Diese Gruppe der Antworten auf
unsere Frage ist dann natürlich mehr auf die Berufung auf
das
Zeugnis der Schrift und der Tradition angewiesen als die zweite,
von der bald zu reden sein wird. Denn ein mit der Autorität
Got-
tes auftretender legatus divinus, ein Prophet, ist auch durchaus
ohne visio Innmediata denkbar, und der Grundsatz, Jesu
seien alle
Vollkommenheiten und Vorzüge zuzuschreiben, die mit
seiner
Sendung nicht unvereinbar sind (solche unvereinbare gibt
es na-
türlich auch, z.B. die Leidensfreiheit), sieht sich vor
die Frage
gestellt, ob eben nicht doch diese visio immediata,
die praktisch
meist als eine selige betrachtet wird, unvereinbar
sei mit Jesu
Sendung und Lebensform auf Erden, eine Frage, die
angesichts
10 Das beata in D 2289 oder das beati in D 2183
darf ohne weiteres als eine spezi-
fikative Qualifizierung, nicht als reduplikative
verstanden werden. Denn daß Jesus
auf Erden nicht einfach so selig war wie die
Seligen des Himmels, kann ja schlechter-
dings nicht geleugnet werden. Solche Behaupt
ung wäre die häretische Bestreitung
seines Leidens, das nicht nur physiologisch war,
232
des historischen Befundes des Lebens Jesu doch nur mit vielen
Vorbehalten und Unklarheiten verneint werden könnte. Darüber
hinaus wird man aber sagen müssen, daß der bei dieser Antwort-
richtung notwendige Rückhalt in der Tradition, vor allem wenn
man die griechische Selbstverständlichkeit mancher stillschwei-
genden Voraussetzungen in der Tradition, die menschlich, nicht
dogmatisch sind, einkalkuliert, keine allzu feste Stütze darstellt.
Beruft man sich einfach auf die Lehre des kirchlichen Lehramtes,
so muß der Dogmatiker daran erinnert werden, daß es ja gerade
seine Aufgabe ist, zu zeigen, wie und woher das moderne Lehr-
amt diese seine Lehre schöpft, da es ja keine neuen Offenbarungen
empfängt, sondern nur die apostolische Überlieferung hütet und
auslegt, also selbst sachliche Gründe für diese seine Interpretation
der apostolischen Überlieferung haben muß. Der Rekurs auf die
Lehre des kirchlichen Lehramtes ist also auch nicht genügend,
zumal diese Lehre ja bisher nicht mit einer definitorischen Ver-
bindlichkeit vorgetragen wird und in ihrem Inhalt ja auch noch
wesentlich verschieden interpretiert werden kann. Schon von da
aus scheint die erste Gruppe der Antworten, die extrinsezistische
Theorie (wenn wir sie einmal so nennen dürfen), nicht sehr emp-
fehlenswert zu sein.
Die zweite Gruppe der Antworten sieht die visio irnmediata als
ein inneres Moment der Hypostatischen Union und darum einfach
mit dieser mitgegeben und darum auch gar nicht aufgebbar, so
daß also eine eigene unmittelbare Bezeugung in der Tradition zu
allen Zeiten gar nicht notwendig ist und sie — das ist für unsere
Überlegungen entscheidend — vom Wesen der Hypostatischen
Union her genauer bestimmt werden kann, derart, daß, was sich
von ihr her für diese visio immediata ergibt, auch auszusagen ist,
und was sich von daher nicht ergibt, auch nicht theologisch be-
hauptet werden muß, sofern nicht dafür eine sichere und theolo-
gisch verpflichtende zusätzliche Tradition angeführt werden kann,
die es aber vermutlich nicht gibt.
Was damit gesagt sein soll, ist genauer darzulegen, und zwar
aus zeitlichen Gründen in einer möglichst knappen spekulativen
Überlegung, die auf Belege aus der Geschichte der Theologie ver-
zichtet. Wir gehen von dem Axiom einer thomistischen Erkennt-
253
nismetaphysik aus, demzufolge Sein und Beisichsein sich gegen-
seitig innerlich bedingende Momente der einen Wirklichkeit
sind, und darum ein Seiendes in dem Maß bei sich ist, als es Sein
hat oder ist, was bedeutet, daß die innere Analogheit und Abwan-
delbarkeit des Seins und der Seinsmächtigkeit in einem absolut
eindeutigen und gleichen Verhältnis stehen zur Möglichkeit des
Beisichseins, des wissenden Selbstbesitzes, des Bewußtseins. Setzen
wir dieses Axiom, das in seinem Sinn und seiner Berechtigung
hier nicht näher entfaltet werden kann, einmal voraus und wen-
den wir es auf die Wirklichkeit der Unio hypostatica an. Die Unio
hypostatica besagt die Selbstmitteilung des absoluten Seins Got-
tes, so wie es im Logos subsistiert, an die menschliche Natur
Christi als die von ihm hypostatisch getragene. Sie ist die denkbar
höchste — ontologisch höchste — Aktualisation einer geschöpflichen
Wirklichkeit, die überhaupt möglich ist, die höchste Seinsweise,
die es außerhalb Gottes überhaupt gibt, mit der höchstens noch
die göttliche Selbstmitteilung durch die ungeschaffene Gnade in
Rechtfertigung und Glorie vergleichbar ist, insofern beide nicht
unter den Begriff einer effizienten, sondern unter den einer quasi-
formalen Ursächlichkeit fallen, weil nicht eine geschaffene Wirk-
lichkeit, sondern das ungeschaffene Sein Gottes selbst einer Krea-
tur mitgeteilt wird. Sosehr die Hypostatische Union ein ontologi-
sches Ansichnehmen der menschlichen Natur durch die Person
des Logos besagt, so besagt sie (ob formell oder konsequent braucht
hier nicht untersucht zu werden) eine Bestimmtheit der mensch-
lichen Wirklichkeit durch die Person des Logos, ist also minde-
stens auch Akt der potentia oboedientialis des radikalen Angenom-
menwerdenkönnens und so etwas auf der Seite der Kreatur, zu-
mal ja die Schultheologie betont, daß der Logos sich bei der Ilypo-
statischen Union nicht verändere, sondern alles Geschehen, das
doch hier in radikalster Weise gegeben ist, auf die Seite der Krea-
tur zu stehen komme. Nach dem eben aufgestellten Axiom der
tlıomistischen Erkenntnismetaphysik muß aber diese ontologisch
höchste Bestimmtheit der kreatürlichen Wirklichkeit Christi, die
Gott in seiner hypostatischen Quasiformalursächlichkeit selbst ist,
notwendigerweise sich bewußt sein. Denn das ontologisch Hö-
lıere kann nach diesem Axiom bewußtseinsmäßig nicht tiefer sein
234
als das ontologisch Niedrigere. Gibt es also in dieser menschlichen
Wirklichkeit ein Selbstbewußtsein, dann ist diese ontologische
Selbstmitteilung Gottes auch, ja erst recht und in erster Linie, ein
Moment des Beisichseins der menschlichen Subjektivität Christi.
Eine rein ontische Unio hypostatica ist m. a. W. ein metaphysisch
unvollziehbarer Gedanke. Die visio irmmediata ist ein inneres Mo-
ment der Hypostatischen Union selbst. Es soll mit dem eben Ge-
sagten nur eben eine Andeutung des hier Gemeinten und somit
der Lösungsrichtung der zweiten Gruppe der Antworten auf un-
sere Ausgangsfrage gemacht werden, nicht aber unterstellt wer-
den, daß dies alles nicht viel eingehender und genauer dargelegt
werden müßte.
Es ist auch nicht gemeint, daß man diese Erkenntnis der visio
immediata als eines inneren Momentes der Hypostatischen Union
nicht auch auf ganz anderem Wege erreichen könnte. Man könnte
z.B. zum selben Resultat kommen, wenn man die tiefsinnigen
Überlegungen zugrunde legte, die Bernhard Welte im dritten
Band des Chalkedonwerkes unter dem Titel « homoousios hemin»
angestellt hat, wo er in einer Ontologie des endlichen Geistes die
Hypostatische Union als die radikalste (ungeschuldete) Aktualisa-
tion dessen aufzeigt, was endlicher Geist überhaupt besagt. Es ist
von daher dann leicht zu sehen, daß eine solche Hypostatische
Union nicht gedacht werden kann als bloß ontischer Zusammen-
hang zwischen zwei sachhaft gedachten Wirklichkeiten, sondern
als die absolute Vollendung des endlichen Geistes als solchen über-
haupt notwendig eine (richtig verstandene) « Bewußtseinschri-
stologie» impliziert, m. a. W. in einer solchen subjektiven ein-
maligen Einheit des menschlichen Bewußtseins Jesu mit dem
Logos von radikalster Nähe, Einmaligkeit und Endgültigkeit die
Hypostatische Union überhaupt erst in ihrem vollen Wesen ge-
geben ist. Faßt man das Verhältnis zwischen Hypostatischer
Union und visio immediata so auf, dann braucht die letztere gar
nicht immer in der Tradition oder in der Schrift ausdrücklich be-
zeugt gewesen zu sein und die kirchliche Lehre über diese Wirk-
lichkeit erhält doch eine Notwendigkeit und Verbindlichkeit, die
größer ist, als wenn sie nur mit Hilfe von moralischen Dezenz-
und Konvenienzargumenten begründet würde.
235
Wird aber diese Lehre so:abgeleitet, dann ergibt sich auch eine
Einsicht dahinein, wie diese Unmittelbarkeit des menschlichen .
Bewußtseins Jesu zu Gott zu denken ist. Wenn wir von der un-
mittelbaren Gottesschau Jesu hören, dann stellen wir uns unwill-
kürlich diese Schau als ein gegenständliches Vorsichhaben der
Wesenheit Gottes vor, die wie ein Gegenstand angeblickt wird.
dem der Beschauer gegenübersteht, die darum von außen an sein
Bewußtsein herantretend dieses Bewußtsein von außen her und
darum in allen seinen Dimensionen und Schichten okkupiert,
Und wenn wir dieses Vorstellungsschema (natürlich nicht reflex,
aber darum um so mehr unseren Begriff von dieser Gottesschau
bestimmend) einmal haben, dann geht, ebenso unausdrücklich
und ebenso selbstverständlich, der Gedanke dahin weiter, daß
diese so gegenständlich von außen sich darbietende und ange-
schaute göttliche Wesenheit wie ein Buch und ein Spiegel mehr
oder weniger selbstverständlich alle sonstigen denkbaren mög-
lichen Erkenntnisinhalte in ihrer distinkten Einzelheit und satz-
haft formulierten Aussagbarkeit anbiete und dem Bewußtsein
Jesu vorstelle.
Dann aber sind wir bei dem Problem, von dem wir ausgingen:
Kann ein solches Bewußtsein das des geschichtlichen Jesus gewe-
sen ein, den wir aus den Evangelien kennen, das Bewußtsein des
Fragenden, des Zweifelnden, des Lernenden, des Überraschten,
des innerlich Erschütterten, dessen, den eine tödliche Gottver-
lassenheit überfällt? Aber eben dieses sich wie selbstverständlich
aufdrängende Vorstellungsschema der Bewußtseinsunmittelbar-
keit Jesu zu Gott ist nicht nur nicht zwingend, sondern ergibt sich
als falsch, wenn wir von dem dogmatisch einzig gegebenen An-
satzpunkt für die Erkenntnis der Tatsache dieser bewußtseins-
mäßigen Gottunmittelbarkeit ausgehen, den wir überhaupt haben
und oben kurz anzudeuten versuchten. Von da aus ergibt sich
nämlich, daß diese Gottunmittelbarkeit als eine Grundbefindlich-
keit des Geistes Jesu von der substantiellen Wurzel dieser kreatür-
lichen Geistigkeit her zu denken ist. Denn sie ist ja das einfache,
schlichte Beisichsein, das notwendige Zusichselbstgekommensein
eben dieser substantiellen Einheit mit der Person des Logos,
dies
und sonst nichts. Das aber bedeutet, daß diese unmittelbare
Got-
236
tesschau, die es wirklich gibt, gar nichts anderes ist, als das ur-
sprüngliche, ungegenständliche Gottessohnbewußtsein, das ein-
fach schon damit gegeben ist, daß diese Hypostatische Union zsz,
da dieses Gottessohnbewußtsein nichts ist als die innere onto-logi-
sche Gelichtetheit dieser Sohnschaft, ihre mit dem objektiven
Tatbestand als sein inneres Moment notwendig gegebene Subjek-
tivität dieser objektiven Sohnschaft. Aber gerade darum ist diese
Bewußtheit der Sohnschaft, die deren inneres Moment und. die
notwendig damit gegebene Unmittelbarkeit zur Person und dem
Wesen des Logos ist, nicht als ein gegenständliches Vorsichhaben
Gottes zu denken, auf den hin sich die Intentionalität des mensch-
lichen Bewußtseins Jesu als auf das andere — das gegenüberste-
hende «Objekt» — beziehen würde. Diese Bewußtheit der Sohn-
schaft und Gottunmittelbarkeit (diese nicht als eine nur von
außen von ihr her gewußte Sache, sondern als eine Gottunmittel-
barkeit, die in absoluter Identität die Sache und deren innere Er-
helltheit selber ist) ist darum am subjektiven Pol des Bewußtseins
Jesu gelegen. Man kann sie sich am besten und von der Sache her
am richtigsten so verständlich machen, daß man ihre Eigenart
mit der geistig subjektiven Grundbefindlichkeit menschlicher
Geistigkeit überhaupt vergleicht. Diese Grundbefindlichkeit
eines Menschen, seine Geistigkeit, seine Transzendenz, seine Frei-
heit, seine Einheit von Wissen und Tat, sein frei getätigtes Selbst-
verständnis sind nicht erst in ihm bewußt gegeben, wenn erdar-
über nachdenkt, wenn er darauf reflektiert, darüber Sätze bildet,
die verschiedensten Interpretationen dieser Wirklichkeit erwägt.
Immer und überall, wo er als Geist ist und handelt, dort also, wo
er intentional sich mit den alltäglichsten äußeren Wirklichkeiten
beschäftigt, ist dieses sein Vonsichwegblicken auf die äußere Ge-
genständlichkeit hin getragen von diesem unthematischen, un-
reflexen, vielleicht gar nie reflektierten Wissen um sich selbst,
von einem schlichten Sichselbsthaben, das sich nicht « reflek-
tiert» oder objektiviert, sondern von sich wegblickend schon im-
mer bei sich ist, eben in der Weise dieser farblos scheinenden
Grundbefindlichkeit eines geistigen Seins und des Horizontes,
innerhalb dessen alles Umgehen mit den Dingen und Begriffen
des Alltags geschieht. Diese unausweichliche, bewußte und ge-
257
_ wissermaßen doch nicht gewußte Gelichtetheit für sich selbst, in
der Wirklichkeit und ihre Bewußtheit noch ungeschieden eins
sind, mag gar nie reflektiert werden, mag begrifflich falsch inter-
pretiert werden, mag (was immer der Fall ist) nur sehr inadäquat
und asymptotisch eingeholt werden, sie mag von den verschieden-
sten möglichen oder unmöglichen Gesichtspunkten, unter den
verschiedensten Terminologien und Begriffssystemen interpre-
tiert werden, damit der Mensch sich ausdrücklich thematisch
sage, was er schon immer weiß (weiß in jenem unthematischen
Gestimmtsein, das der unumgreifbare Grund seines ganzen Wis-
sens, die bleibende Bedingung der Möglichkeit alles anderen
Wissens, deren Gesetz und Richtmaß, deren letzte Form ist), diese
alles durchstimmende Grundbefindlichkeit ist da und ist bewußt
auch noch in dem Menschen, der erklärt, er habe noch nie etwas
davon gemerkt.
Zu dieser innersten, ursprünglichen, alles andere Wissen und
Tun tragenden Grundbefindlichkeit gehört bei Jesus nun auch
jene Gottunmittelbarkeit, die ein inneres Moment subjektiver
Art an der hypostatischen Aufgenommenheit dieser mensch-
lichen Geistigkeit Jesu durch den Logos ist. Und diese bewußte
Gottunmittelbarkeit teilt die Eigentümlichkeiten der geistigen
Grundbefindlichkeit eines Menschen, zu der sie gehört, weil sie
ontisch ein Moment jenes substantiellen Grundes ist, dessen Bei-
sichsein diese Grundbefindlichkeit ist. Diese Gottunmittelbarkeit
‚bewußter Art ist also nicht als gegenständliche Schau zu verste-
hen, was die ontische und ontologische Radikalität und Unüber-
bietbarkeit dieser Unmittelbarkeit in keiner Weise aufhebt, so
daß diese Unmittelbarkeit eben die ist, die wir bei der visio imme-
diata meinen, nur daß von ihr das gegenständliche Gegenüber
fernzuhalten ist, das wir im Vorstellungsmodell einer Schau mit-
zudenken pflegen — wir aber anderseits ruhig und mit Recht in
unserem Falle auch von einer Schau sprechen können, wenn wir
eben dieses gegenständliche, intentionale Gegenüber aus dem Be-
griff eliminieren. Eine Gottunmittelbarkeit gehört zum Wesen
einer geistigen Person: als unthematische Gestimmtheit, als al-
les andere bestimmender unreflex gegebener Horizont, innerhalb
dessen sich das ganze geistige Leben dieses Geistes vollzieht, als
258
I
reflex gar nicht adäquat einholbarer Grund, der alle anderen gei-
stigen Vollzüge trägt, der, weil Grund, als er selber immer mehr
und immer ungegenständlicher als alles andere «da ist», als
schweigende Selbstverständlichkeit, die alles ordnet und erklärt
und selbst nicht erklärt werden kann, weil der Grund immer das
klare Unerklärbare ist. Wollten wir an diesem Punkt noch zu
größerer Deutlichkeit und Verständlichkeit kommen, müßte die
Lehre von der geistigen, unthematischen und unbegrifflich-un-
gegenständlichen Grundbefindlichkeit eines Geistes weiter ent-
wickelt und begründet werden. Dann könnte gesagt werden und
besser verstanden werden: eben in dieser Art ist auch die unmit-
telbare Gegebenheit des Logos durch sich selbst für die mensch-
liche Seele Jesu zu denken. Weil aber diese allgemeinere Aufgabe
hier nicht mehr weiter durchgeführt werden kann, darum müs-
sen wir uns hier mit diesen bescheidenen Hinweisen auf ein denk-
bares Verständnis der Unmittelbarkeit absoluter Art der bewuß-
ten Mitgeteiltheit des Logos an die menschliche Geistigkeit des
Herrn begnügen!".
Es müssen aber aus dieser wenigstens andeutungsweise vorge-
tragenen Theorie noch einige Folgerungen kurz dargelegt wer-
den, die uns zur Problematik zurückführen, von der wir ausge-
gangen sind. Wenn wir das eben über die Eigenart der bewußten
Gottunmittelbarkeit Jesu und das in der ersten einleitenden Be-
merkung Gesagte zusammennehmen, dann können wir sagen:
die gottunmittelbare Grundbefindlichkeit ist nicht nur vereinbar
mit einer echt menschlichen geistigen Geschichte und Entwick-
lung des Menschen Jesu, sondern fordert sie darüber hinaus. Sie
ist ja selbst so, daß sie nach einer Thematisierung und geistig-be-
grifflichen Objektivation verlangt, eine solche selbst noch nicht
11 Wir müssen es uns darum auch versagen, ausdrücklich auf die Kontroverse
Sempiter-
Galtier-Parente (und damit auf die berühmte Verbesserung der Enzyklika
zu der amtlichen
nus Rex von ihrer Veröffentlichung im Össervatore Romano bis
die sich
Publikation in den AAS 43 [1951] 638) und deren Literatur einzugehen,
Galtier ge-
auf die Einheit und Zweiheit des Ich-Bewußtseins Christi und der bei
en Union weiß.
gebenen Theorie bezieht, wie der Mensch Jesus von der Hypostatisch
der Hypostati-
Nur kurz könnte dies gesagt werden: während bei Galtier Jesus von
er die Hypostati-
schen Union weiß, weil er die Visio hat, hat er bei uns die Visio, weil
der Unmittel-
sche Union und als deren inneres Moment die Grundbefindlichkeit
barkeit zu Gott hat.
259
ist und für eine solche in dem aposteriorisch-gegenständlichen Be-
wußtsein Christi allen Raum frei läßt. So wie ein Mensch trotz
seiner immer schon gegebenen Grundbefindlichkeit als Geist,
trotz seiner im Grunde seines Daseins gegebenen Gestimmtheit
(die mit einer « Stimmung» nicht das Geringste zu tun hat, wenn
dies auch zur Vorsicht noch bemerkt werden soll) erst noch zu sich
kommen muß, erst im Lauf einer langen Erfahrung sich zu sagen
lernen muß, was er ist und als was er sich in dem Bewußtsein sei-
ner Grundbefindlichkeit auch schon immer eingenommen hat,
so wie es dieses gegenständlich reflexe Zusichselberkommen dessen,
was unthematisch und ungegenständlich sich schon immer bewußt,
wenn auch nicht gewußt eingenommen hat, gibt, so ist es auch
mit dem Sohnesbewußtsein Jesu, mit seiner grundbefindlichen
Gottunmittelbarkeit. Sie ist in seiner geistigen Geschichte zu sich
selbst, d. h. zu ihrer reflexen Objektivation unterwegs gewesen,
weil der Sohn in der Annahme einer Menschennatur auch eine
geistig-menschliche Geschichte angenommen hat und eine solche
nicht nur und nicht im ersten und letzten die Beschäftigung mit
diesem und jenem der äußeren Wirklichkeit, sondern das asymp-
totische Einholen dessen ist, was und wer man selbst ist und als
was und als welchen man sich auch im Grunde des Daseins im-
mer schon besitzt. Es ist also durchaus sinnvoll und kein billiges
Kunststück einer paradoxalen Dialektik, wenn man Jesus zugleich
eine gottunmittelbare Grundbefindlichkeit absoluter Art von An-
fang an zuschreibt und gleichzeitig eine Entwicklung dieses ur-
sprünglichen Selbstbewußtseins absoluter Weggegebenheit der
kreatürlichen Geistigkeit an den Logos. Denn diese Entwicklung
bezieht sich nicht auf die Begründung der gottunmittelbaren
Grundbefindlichkeit, sondern auf die gegenständliche, in mensch-
lichen Begriffen geschehende Thematisierung und Objektivie-
rung dieser Grundbefindlichkeit, und diese Grundbefindlichkeit
ist kein ausgemünztes, plural satzhaftes Wissen und keine gegen-
ständliche Schau.
Diese beiden Begriffe widersprechen sich darum nicht nur nicht,
sie fordern sich gegenseitig aus ihrem eigenen Wesen heraus.
Denn eine Grundbefindlichkeit will sich — das ist das Wesen der
geistig-personalen Geschichte selbst, ihr ganzer Inhalt - für sich
240
selbst vermitteln, und das ausdrückliche Gewußtsein seiner eige-
nen Verfaßtheit in einem geistigen Wesen kann sich immer nur
verstehen als Auslegung und Artikulierung einer sie selbst immer
noch einmal tragenden und von ihr nie überholbaren Grundbe-
findlichkeit, die die verborgenste und innerste Gelichtetlieit einer
geistigen Wirklichkeit für sich selbst ist. Es kann also durchaus
unbefangen von einer geistigen, ja religiösen Entwicklung Jesu
gesprochen werden. Eine solche leugnet diese absolute bewußte
Unmittelbarkeit zum Logos nicht, sondern ist von dieser getragen
und legt sie aus, objektiviert sie. Eine solche Geschichte der
Selbstinterpretation der eigenen Grundbefindlichkeit eines Gei-
stes geschieht selbstverständlich immer in der Begegnung mit der
ganzen Weite der eigenen äußeren Geschichte des Sichfindens in
einer Umwelt und des Mitseins mit einer Mitwelt. An diesem Ma-
terial kommt zu sich, was immer schon bei sich war. Es ist darum
durchaus legitim, beobachten zu wollen, in welcher vorgegebenen
Begrifflichkeit, in welcher eventuell gegebenen, unbefangen apo-
steriorisch geschichtlich zu erhebenden Entwicklung dieses the-
matisierende Zusichselberkommen der gottmenschlichen Grund-
befindlichkeit, der Gottunmittelbarkeit und Sohnschaft Jesu von
Anfang an sich ereignet hat, welche Begriffe, die dem geschicht-
lichen Jesus aus seiner religiösen Umwelt vorgegeben waren, er
verwendet hat, um langsam zu sagen, was er im Grunde seines
Daseins immer schon von sich wußte. Eine solche Geschichte sei-
ner Selbstaussage braucht wenigstens grundsätzlich gar nicht nur
als Geschichte seiner pädagogischen Anpassung interpretiert zu
werden, sondern darf ruhig auch als Geschichte seiner Selbstinter-
pretation für ihn selbst gelesen werden. Denn diese besagt ja
bis-
nicht, daß Jesus «auf etwas kommt», was er schlechterdings
her nicht wußte, sondern daß er immer mehr ergreift, was er
schon immer ist und im Grunde schon weiß. Ob man über diese
Geschichte im einzelnen etwas sagen kann und wie sie verlaufen
ist, das festzustellen ist die Aufgabe nicht einer (in dieser Frage
gewissermaßen apriorischen) Dogmatik, sondern der aposteriori-
wird sie
schen Leben-Jesu-Forschung. Wenn sie richtig vorgeht,
nichts
mindestens in ihrem aposteriorisch erhobenen Material
finden, was gegen eine solche ursprüngliche Grundbefindlichkeit
241
einer absoluten Gottunmittelbarkeit spricht, sie wird vielleicht
_ überdies auch geschichtlich zu der Erkenntnis kommen, daß die
Einheit dieser Geschichte des Selbstbewußtseins Jesu, ihre innere
Ungebrochenheit, Klarheit und Unerschütterlichkeit auch dann
nur von dieser Grundbefindlichkeit her genügend erklärt wer-
den kann, wenn historisch die Einzelheiten des begrifflichen Ma-
terials, des allgemeinen Hintergrundes dieses Selbstbewußtseins
aus der religiösen Umwelt Jesu im weitesten Ausmaß hergeleitet
werden können oder könnten.
An das eben Gesagte mag sich noch eine Bemerkung über das
«eingegossene Wissen» Christi anschließen. Gutwenger hat zu
zeigen versucht, daß kein zwingender theologischer Grund für
die Annahme eines solchen Wissens neben. der unmittelbaren
Gottesschau und dem erworbenen Wissen besteht. Man wird also
die Qualifikation eines solchen Wissens z. B. durch Ott als sententia
certa auch ablehnen dürfen. Soviel ich sehe, haben die theologi-
schen Besprechungen der Arbeit Gutwengers seine Meinung an
diesem Punkt nicht beanstandet. Wenn man von der Gottunmit-
telbarkeit subjektiver Art als einer letzten Grundbefindlichkeit
des Bewußtseins Jesu ausgeht und diese so auffaßt, daß sie sich in
einer geschichtlichen Entwicklung von ihrem eigenen Wesen her
in ein gegenständliches Wissen umzusetzen sucht, so kann man in
diesem Umstand den sachlichen Inhalt dessen erblicken, was die
Lehre von einem (wenigstens habituellen) eingegossenen Wissen
Jesu meint, und also die ganze Frage eigentlich auf sich beruhen
lassen. Denn man muß sich die Eingegossenheit dieses Wissens ja
nicht notwendig als eine ungeheure Zahl einzelner « species in-
Jusae» denken, sondern als einen apriorischen Grund eines sich
in der Begegnung mit der Wirklichkeit der Erfahrung entfalten-
den Wissens.
Wenn jemand gegen diese eben skizzierte Theorie einwendete,
sie behaupte zwar eine Gottunmittelbarkeit des Selbstbewußt-
seins Jesu radikaler Art von Anfang an, lehre aber doch minde-
stens in der Dimension der begrifflichen Reflektiertheit und Ver-
gegenständlichung dieser ursprünglichen Grundbefindlichkeit
eine eigentliche Geschichte und Entwicklung und diese implizie
re
notwendig Stadien, in denen bestimmte Vergegenständlichungen
242
und Ausformungen und Vermitteltheiten dieser Grundbefind-
lichkeit noch nicht gegeben waren, also in diesem Sinn und in
dieser Dimension ein Nichtwissen gegeben war — dann ist ein so
geartetes anfängliches Nichtwissen zuzugeben, aber radikal zu be-
streiten, daß ein solches im Blick auf lehramtliche Erklärungen
der Kirche oder auf eine theologisch verbindliche Tradition nicht
angenommen werden dürfe. Und es ist zu sagen, daß eine solche
Geschichtlichkeit, also ein Kommen von Anfängen her, in denen
noch nicht immer schon gegeben war, was eben, weil geschicht-
lich, erst werden sollte, notwendigerweise von Jesus auszusagen
ist, soll die Lehre von der wahren, echten, uns gleichwesentlichen
Menschheit des Sohnes nicht zu einem Mythologem eines in
menschlichen Schein verkleideten Gottes depraviert werden. Die
kirchlichen Lehräußerungen gebieten uns, an der unmittelbaren
Schau des Logos durch die menschliche Seele Jesu festzuhalten.
Sie geben uns aber keine theologische Anweisung, welchen ge-
naueren Begriff dieser Gottesschau wir festhalten müssen. Man
kann mit vollem Recht sagen, daß in dieser unthematischen glo-
balen Grundbefindlichkeit der Sohnschaft und Unmittelbarkeit
zum Logos alles unthematisch mitgewußt ist, was eben zur Sen-
dung und soteriologischen Aufgabe des Herrn gehört!%, und wird
somit auch den randhaften beiläufigen Äußerungen des kirch-
lichen Lehramtes'®, die in diese Richtung weisen, ganz gerecht,
ohne daß man darum auch schon ein dauerndes, reflexes und satz-
haft ausgemünztes Wissen nach Art einer Enzyklopädie oder einer
ungeheueren Universalgeschichte aktueller Art in Jesus anneh-
men müßte. Hier ist wirklich zu sehen, was in unserer zweiten
einleitenden Vorbemerkung gesagt wurde: nicht jedwedes Wissen
jedweder Art ist in jedem Augenblick der Geschichte des Daseins
12 Wir meinen, daß man so der Erklärung von D 2184 gerecht wird. Denn man
wird nicht sagen können, daß dieser Text befiehlt zu meinen, Jesus habe in derselben
Weise alles gewußt, was Gott durch die scientia visionis gewußt hat. So etwas ist
völlig undenkbar und schon ausgeschlossen, weil dies schon von der Unmöglichkeit
einer comprehensio Gottes durch die menschliche Seele Christi ausgeschlossen ist
(S.th. III q. 10 a. 1), da die comprehensio und Nicht-comprehensio Gottes auch von
Bedeutung für Art und Tiefe der Erkenntnis der übrigen möglichen Gegenstände
ist. Ist aber der Unterschied der Art einmal deutlich, dann ist auch klar, daß D 2184
mit Vorsicht und Zurückhaltung zu interpretieren ist.
13 Vgl. z. B. D 2289. Man bedenke immer: das Gegebensein einer geliebten Per-
son im Bewußtsein kann in den verschiedensten Weisen gedacht werden.
245
besser als ein Nichtwissen.,
Die Freiheit im Raum der Entschei-
dung, der offen ist, ist nun aber eben besser als die Erfülltheit die-
ses Freiheitsraumes durch ein Wissen, das diese Freiheit ersticken
würde. Man kann diese Überlegung nicht dadurch zurückwei-
sen, daß man sa gt, sie müsse dann auch für die behauptete gott-
unmittelbare Grundbefindlichkeit gelten und sei darum, da sie
hier nicht geltend gemacht werden kann, überhaupt falsch. Die
Grundbefindlichkeit nämlich ist gerade jenes Wissen, das den
Freiheitsraum eröffnet, nicht verstellt, denn diese Transzendenz
auf Gottes Unendlichkeit (gleichgültig wie sie näherhin zu den-
ken ist, sei es so wie bei uns, sei es so wie bei Christus) ist gerade
in ihrer Unendlichkeit die Bedingung der Möglichkeit der Frei-
heit; die transzendentale Antizipation aller möglichen Gegen-
stände der Freiheit ist deren Grund, während die gegenständliche,
‚vereinzelnde Perzeption aller dieser Gegenstände in ihrer Verein-
zelung bis ins letzte das Ende der Freiheit wäre. Von da aus darf
vielleicht zum Schluß noch angemerkt werden, daß auch von
hierher das eschatologische Bewußtsein Jesu seine genauere Klä-
rung und Deutung erhalten kann“. Es ist nicht die antizipierte
Vorwegnahme der Eschata, sondern deren Entwurf aus dem Wis-
sen in Grundbefindlichkeit von seiner Sohnschaft und Gottunmit-
telbarkeit. Er weiß diese Eschata und er weiß sie insoweit, weil,
indem und in der Art er sich als Sohn und seine Unmittelbarkeit
zu Gott weiß: in dieser Unmittelbarkeit absolut, in der gegen-
ständlichen Vermittlung seiner Grundbefindlichkeit in der Weise
und in dem Maße, als diese geschichtliche und aposteriorisch be-
dingte Vermittlung in dieser Frage tragen kann.
Es sei die ganze Überlegung mit der Formulierung einer Art
These beschlossen:
Dem Dogmatiker und auch dem Exegeten ist es nicht erlaubt,
die verbindliche, wenn auch nicht definierte Lehre des kirch-
lichen Lehramtes über die unmittelbare Schau Gottes durch die
menschliche Seele Jesu während seines irdischen Lebens in Zwei-
fel zu ziehen. Damit ist aber zunächst nicht gesagt, daß der funda-
mentaltheologisch arbeitende Exeget diese theologische Lehre po-
14 Vgl. Karl Rahner, Theologische Prinzipien der Hermeneutik eschatologischer
Aussagen: Schriften zur Theologie IV (Einsiedeln 1960) 401-428.
244
sitiv einkalkulieren müsse oder könne. Man darf überdies positiv
der Meinung sein, daß eine theologisch richtige Interpretation
dieser unmittelbaren Gottesschau (die diese nicht als eine äußere
Zutat zur Hypostatischen Union, sondern als deren inneres und
unaufgebbares Moment in ihr selbst begreift, weil man die Hypo-
statische Union selbst nicht nur ontisch, sondern ontologisch zu
verstehen notwendig gehalten ist) diese Gottesschau als eine so
ursprüngliche und ungegenständliche, unthematische radikale
Grundbefindlichkeit der kreatürlichen Geistigkeit Jesu begreifen
kann, daß mit ihr eine echte menschliche Erfahrung, eine mit der
Menschennatur angenommene geschichtliche Bedingtheit und
eine echte geistige und religiöse Entwicklung als objektivierende
Thematisierung dieser ursprünglichen, immer gegebenen Gott-
unmittelbarkeit in der Begegnung mit der geistigen und religiö-
sen Umwelt und in der Erfahrung des eigenen Daseins durchaus
vereinbar ist.
245
EKKLESIOLOGISCHES
ÜBER DEN BEGRIFF DES «JUS DIVINUM»
IM KATHOLISCHEN VERSTÄNDNIS
249
nell gebundene » Geschichtsschreibung steht zu einem nicht ge-
ringen Teil auf der Seite der Bestreitung solchen « göttlichen
Rechtes» hinsichtlich vieler Bestimmungen des katholischen
Kirchenrechtes. Diese Tatsache der Bestreitung allein ist nun ge-
wiß kein durchschlagendes Argument gegen die katholische Auf-
fassung. Zumal man ja auch nicht ernsthaft und grundsätzlich der
Meinung sein kann, daß, wo längere Zeit zwei Ansichten sich
faktisch gegenüberstehen, ohne daß die eine die andere hinsicht-
lich ihres faktischen Bestehens zu überwinden imstande sei, da-
durch schon bewiesen werde, daß keine Ansicht objektiv zwin-
gende Beweise für sich habe. Denn es bleibt nun einmal wahr:
der sachlich zwingende Beweis braucht nicht notwendig auch der
psychologisch erfolgreiche zu sein. So etwas nehmen vielleicht
extrem optimistische Vertreter des demokratischen Prinzips an.
Die Wirklichkeit aber scheint doch eine andere Auffassung nahe-
zulegen. Aber immerhin: die tiefgehende, jahrhundertealte Mei-
nungsverschiedenheit muß doch auch wieder einen Grund, wenn
auch nicht notwendig den adäquaten, in der Sache selbst haben.
Das will sagen: der Nachweis für das Bestehen des ius divinum
hinsichtlich vieler solcher Bestimmungen kann der katholischen
Dogmatik und Kanonistik nicht sehr leicht fallen, weil die Ge-
schichte in diesen Fragen nicht sehr leicht schlechthin zwingende
Argumente hergibt. Die formale Grundschwierigkeit ist in all
diesen Fällen dabei immer dieselbe: Der heutige Satz vom « gött-
lichen Recht » einer bestimmten Einrichtung blickt auf diese Ein-
richtung in einer vollentwickelten Gestalt, in einer Konkretheit,
Fülle der Verwendung, der Konsequenzen aus diesem Satz vom
göttlichen Recht dieser Einrichtung usw., daß es durchaus wahr
ist, wenn man sagt, «so» sei diese Einrichtung oder dieser Rechts-
satz zu bestimmten Zeiten der Kirche nicht greifbar; was aber als
ursprünglicher «Keim» und früheste Gestalt dieser Einrichtung
' oder dieses Rechtsbewußtseins von der katholischen Dogmatik an-
geführt werde (z. B. auch entsprechende Sätze aus der Schrift),
sei viel zu vieldeutig, als daß es zwingend mit dem späteren Insti-
tut oder Rechtssatz in seiner Eindeutigkeit und Bedeutsamkeit
identifiziert werden könne, und selbst wenn eine materiale hi-
storische Kontinuität zwischen dem früheren und dem späteren
250
Gebilde nachweisbar sei, so sei immer noch fraglich, ob das frü-
here Gebilde (etwa die Stellung, die Kephas für einige Zeit in der
Jerusalemer Gemeinde eingenommen hat) zu seiner Zeit mit dem
Anspruch aufgetreten sei, für immer zu gelten und unveränder-
lichen Rechtes zu sein. Man wird in solchen Fällen oft sagen, das _
heutige katholische « göttliche Recht » sei in der Urkirche und in
ihrem Leben vielleicht eine auch angelegte Möglichkeit gewesen,
sei aber nicht dort schon als eindeutige Wirklichkeit aufgetreten,
neben der es schon damals keine gleichberechtigte andere gegeben
habe, und so sei die betreffende Institution nicht nachweisbar als
solche, die nicht nur als Faktizität (wie etwa das Gebot der Ver-
schleierung der Frauen beim Gottesdienst), sondern mit dem be-
wußten Anspruch auftrat, endgültig und unabänderlich zu sein.
Der «konfessionell nicht gebundene » Dogmen- und Rechtshisto-
riker wird vielleicht den Eindruck haben, er könne in den frühen
und frühesten Zeiten der Kirche die Ansätze zu den verschieden-
sten Entwicklungen entdecken (mrlır kollegialer, mehr monar-
chischer, mehr charismatischer, mehr institutioneller, mehr lo-
kaler, mehr überregionaler Art usw.), er könne es als ein Ergebnis
des geschichtlichen Zufalls betrachten, welche der vielen ur-
sprünglich angelegten Möglichkeiten faktisch zum Zug gekom-
men sei, eine solche Selektion der Geschichte könne aber auf je-
den Fall nicht mit dem Anspruch der Verpflichtung für alle künf-
tigen Zeiten und dies als Wille des Stifters der Kirche auftreten.
An diesem Punkt sei es gestattet, zwei Nebenbemerkungen ein-
zuschalten. Zunächst einmal: auch der katholische Dogmatiker
und Kanonist weiß, daß an der konkreten geschichtlichen Gestalt,
in der ein solches ius divinum in seiner oder in einer anderen Zeit
auftritt und auftrat, nicht alles auch darum schon göttlichen
Rechtes ist, weil dieses göttliche Recht faktisch real und real
wirksam nur in dieser Zeitgestalt ist, in der es zu seiner bestimm-
ten Zeit auftritt. Hier liegt schon ein schwieriges erkenntnistheo-
retisches Problem: nach gut scholastischer Lehre kann ein meta-
physisches Wesen, ein Begriff nur erkannt werden in einer «con-
versio ad phantasma », einer Hinwendung zur «Vorstellung ». Die
metaphysische Struktur wird immer nur erfaßt am konkreten
das
Modell. Und dies, obwohl beides nicht dasselbe ist, obwohl
251
metaphysische Wesen auch:real sein kann in einer anderen Kon-
kretheit. Man kann den Begriff « Privateigentum » noch so meta-
physisch abstrakt definieren, ihn noch so sehr von jeder histori-
schen Bedingtheit und Zufälligkeit zu reinigen versuchen, man
kann sich von theoretischen Erwägungen der Metaphysik der Er-
kenntnis her noch so sehr allgemein und abstrakt sagen, daß Be-
griff und Vorstellung sich nicht decken: dennoch kann man sich
konkret in seiner eigenen historischen Situation den Begriff « Pri-
vateigentum» nur denken und praktisch in der Realität des Le-
bens als Bauplan dieses Lebens handhaben, wenn man ihn kon-
kret, in einer Vorstellung denkt, die man im konkreten Fall nicht
mehr adäquat vom eigentlich begrifflich Gemeinten absetzen
kann, weil dies ja nur wieder in einer Hinwendung zu einem an-
deren Vorstellungsschema möglich wäre und eine historische und
‚ metaphysische Kritik an einem bestimmten Vorstellungsschema,
durch die der gemeinte Begriff von diesem als ablösbar unter-
schieden wird, wieder nur geschieht in der Hinwendung zu einem
anderen Vorstellungsschema, das — unreflektiert - auch den Kriti-
ker der historischen Gestalt eines metaphysischen Wesens wieder
seiner historischen Bedingtheit ausgeliefert und untertan sein
läßt. Das gilt auch in unserem Falle. Das «ius divinum » läßt sich
immer nur in seiner historischen Gestalt « vorstellen ». Die histo-
rische Kritik, die eine Gestalt mit einer anderen vergleicht und
dadurch mit Recht die geschichtliche Bedingtheit der einen Ge-
stalt nachweist, die gerade der zugeben muß, der sagt, dieses gött-
liche Recht sei von Anfang der Kirche an dagewesen (weil er ge-
rade mehr als alle anderen dieses göttliche Recht auch noch als
vorhanden behaupten muß in einer Gestalt, die nun einmal zwei-
fellos anders als die heutige war), darf darum wenigstens nicht
grundsätzlich behaupten, ein solches Recht müsse entweder auch
früher in der heutigen Gestalt gegeben gewesen sein oder habe
überhaupt nicht existiert. Dieses stillschweigende Apriori liegt
vielen geschichtlichen Beweisen vom Nichtvorhandensein eines
jetzt behaupteten göttlichen Rechtes zugrunde: Wesen und Ge-
stalt seien einfach identisch. Es gibt nun aber einmal Wesens-
identität in Gestaltwandel. Wer dies grundsätzlich bestreitet,
leugnet (wenigstens in diesen Fragen, die uns hier angehen) das
252
bleibende Wesen der Kirche (und das wird auch der evangelische
Dogmatiker und Kanonist nicht tun, selbst wenn er noch so for-
malisierend die Schrift lesen und auslegen sollte) oder er muß die
Gleichheit auch der Gestalt dieses Wesens behaupten, was der
Erfahrung widerspricht. Außerdem könnte man ihm nachweisen,
daß er in diesem letzten Fall stillschweigend die alte Wesensge-
stalt formalisiert und typisiert, bis sie sich mit der heutigen in
Deckung bringen läßt. Mit dem Phänomen der Kirche und ihres
geschichtlichen Lebens wird man gewiß nur fertig, wenn man
Wesensgleichheit durch die geschichtliche Vielfalt ihrer Gestalt.
und Gestaltverschiedenheit trotz desselben Wesens (göttlichen
Rechtes) gleichzeitig zu denken vermag. Damit ist natürlich das
Problem nur gestellt, nicht gelöst. Denn die Frage ist nun die: _
wie dieser Gestaltwandel sich denken lasse, der das Wesen unbe- %
rührt läßt und doch wirklich so gedacht werden kann, wie er nach
dem Zeugnis der Geschichte offenbar war. Ein kleiner Beitrag zu
dieser Frage (ein nur sehr kleiner, der das ganze Problem zu lösen
sich nicht unterfängt) ist gerade der Gegenstand dieses Aufsaizes.
Die zweite Nebenbemerkung: wenn eben gesagt wurde, daß
eine adäquat reflektierte und materiale Unterscheidung zwischen
Wesen und konkreter Gestalt der Wesensverwirklichung gar
nicht möglich ist infolge der Geschichtlichkeit des reflektierenden
Geistes, so ist damit natürlich in keiner Weise behauptet, eine
solche Unterscheidung sei überhaupt nicht möglich oder sei keine
immer neu zu stellende und zu erfüllende Aufgabe der Theologie
und Kanonistik. Im Gegenteil: die immer neu, immer deutlicher
gestellte und beantwortete Frage nach der Unterscheidung von
Wesen und seiner historisch bedingten Gestalt gehört gerade auch
in den Fragen des göttlichen Rechtes in der Kirche zu den wesent-
lichsten Aufgaben der Ekklesiologie dogmatischer und kanonisti-
scher Art. Man darf vielleicht der hoffentlich nicht zu unbeschei-
denen oder ungerechten Meinung sein, daß man in der Beant-
wortung dieser Frage auf katholischer Seite mehr tun könne, als
faktisch getan wird. Wie wenig z. B. wird doch die Frage be-
sprochen, wie heute die faktische Gestalt des Ausgleichs zwischen
primatialer und episkopaler Struktur der Kirche, die beide von
der katholischen Ekklesiologie als göttlichen Rechtes erklärt wer-
25 0
den, eigentlich aussehen müsse. Ebendies aber kann nur gesche-
hen in einer wirklich genauen Deskription des Verhältnisses, das
zwischen diesen beiden Strukturen heute faktisch besteht, in einer
ekklesiologisch-soziologischen Analyse der Ursachen dieser fakti-
schen Gestalt heute, die ja nicht bloß im ius divinum beider Struk-
turen bestehen, und (weil ohne dies die Aufgabe auch nicht ge-
löst werden kann) in einem immer neuen, unbefangenen Ver-
gleich zwischen der heutigen und den vielen früheren Gestalten
dieses Verhältnisses. Ein solcher Vergleich setzt aber für den ka-
tholischen Dogmen- und Rechtshistoriker (auch soweit er metho-
disch als Glaubender vorangeht und dieses Apriori nicht als Hem-
mung, sondern als Schärfung seiner historischen Erkenntnisfähig-
keit betrachtet, weil es ihm eine größere innere Sympathie zur zu
erkennenden Sache vermittelt, die eine Voraussetzung der wirk-
lich sachgemäßen Erkenntnis ist, wobei ja auch dem katholischen
Forscher eine fundamentaltheologische, also nicht vom Apriori
des Glaubens schon ausgehende historische Untersuchung nicht
nur nicht verboten, sondern grundsätzlich sogar geboten ist) als
katholischen das Wissen voraus, was er nun eigentlich a priori
hinsichtlich der Bleibendheit des Wesens im Wandel der Ge-
schichte zu erwarten hat und was nicht notwendig für ihn zu er-
warten ist. Diese Frage ist nicht schon mit dem einfachen Satz er-
ledigt: er habe zu erwarten, daß das eine und selbe Wesen der
Kirche, das die katholische Ekklesiologie als iuris divini erklärt,
immer schon vorhanden war, und daß er (vermutlich doch auch)
dieses eine Wesen aposteriorisch in der Geschichte zu entdecken
vermöge, und er könne unbefangen erwarten (weil die Kirche
eine geschichtliche Größe ist), daß mit dieser Bleibendheit des
Wesens «ein nicht unerheblicher Gestaltwandel verbunden sei.
Denn der Historiker trifft eben dieses Wesen immer nur in seiner
realen Gestalt an. Und so ist die Frage, was er an dieser konkreten
Gestalt als «wesenhaft», als «iuris divini» ansprechen müsse
und was nicht. Es ist ja auch nicht so, daß man auf diese Frage
nur antworten könne: das, was man damals selbst als iuris divini
angesprochen hat. Wir haben hier eine ganz analoge Situation
wie in der Dogmengeschichte überhaupt.
Es wird mit Recht in der katholischen Dogmatik gesagt, als
254
absolut verbindliche Glaubensaussage könne nur definiert wer-
den, was als göttlich geoffenbart durch die Tradition überliefert
sei, sei es daß diese Überlieferung in einem expliziten Satz, sei es
daß sie implizit in einem anderen explizit durch die Tradition
weitergegebenen Satz immer gegeben sei. Die Schwierigkeit ist
bei dieser Auskunft die: der z. B. hier und jetzt zu definierende
Satz mag durchaus immer oder schon lange in der Tradition aus-
gesprochen gewesen sein, er wurde aber früher nicht ausdrück-
lich als von Gott geoffenbarter und glaubensmäßig verbindlicher
ausgesagt und er wurde gesagt inmitten einer Unzahl von Sätzen
ohne deutliche Unterscheidung von diesen, die gewiß nicht den
Anspruch auf göttliche Geoffenbartheit machen können. Wie
kann also die Qualität des Geoffenbartseins an diesem früheren
Satz erkannt werden, wenn er diese Qualität früher mindestens
nicht deutlich erkennbar an sich trug und wenn doch diese Er-
kenntnis nicht die Folge der Definition jetzt, sondern die Voraus-
setzung der Legitimität der Definition mindestens für das kirch-
liche Lehramt selbst sein soll?
Eben diese Frage haben wir auch hinsichtlich des ius divinum
in der Kirche. Diese Frage ist noch nicht erledigt durch den
Nachweis, daß früher einmal auch schon ein solcher Rechtssatz
oder eine solche Institution bestanden hat. Die Frage ist: ist dieses
ius divinum damals schon mit dem verpflichtenden Anspruch auf-
getreten, ius divinum zu sein, und wenn dies nicht der Fall war
oder nicht so eindeutig, wie wünschenswert, als gegeben nachge-
wiesen werden kann, wie kann man dann erkennen, daß es nicht
nur faktisch gehandhabtes Recht, sondern vom Stifter der Kirche
her unveränderlich gesetztes Recht ist, das alle späteren Zeiten
bindet? Selbst wenn man sich darauf berufen kann oder könnte,
daß der Herr der Kirche so etwas angeordnet hat, ist die Frage
noch nicht eindeutig erledigt. Denn man kann gar nicht ernst-
haft behaupten, daß alle Anordnungen Jesu oder eines. Apostels
den Anspruch auf ein für alle Zeiten verbindliches Recht machen.
Die verschiedenen Regeln bei Mt 18 über die Gemeindezucht
sind doch z. B., «so wie sie dastehen», als stillschweigend über-
holt abgetan (auch wenn man sagt, ihr Geist werde den anderen
Verhältnissen entsprechend in neuen und anderen Formen be-
255
wahrt); das Gebot der Verschleierung ist auch keine heute bin-
dende Norm des Gottesdienstes. Die Aufteilung der der Kirche
" wesentlich zukommenden Vollmachten gerade in die Ämter, wie
sie jetzt bestehen, ist doch füglich auch dann noch nicht einfach
als für alle Zeiten verbindlich zu betrachten, wenn diese Eintei-
lung in das apostolische Zeitalter zurückreicht. Könnte z. B. die
Kirche den Diakonat als sakramentale Stufe der Hierarchie iuris
.divini abschaffen ?Wenn man dies einfach bestreiten zu müssen
meint, könnte man fragen, ob die Kirche diese Abschaffung nicht
schon längst vorgenommen hat, was die Sache und nicht Titel
und iuristische Fiktion angeht, auch wenn sie vielleicht heute
wieder (in der lateinischen Kirche) daran denkt, den Diakonat
auch der Wirklichkeit nach wieder einzuführen. Kurz: man kann
nicht so einfach behaupten, alle Rechtswirklichkeit der apostoli-
schen Zeit oder eine solche, die sich auf ein Wort Jesu oder der
‚Apostel berufen karın, sei darum auch schon iuris divini. Ist dies
aber nicht vorausgesetzt, dann ergibt sich aus der reinen aposte-
riorischen Beobachtung der altkirchlichen rechtlichen Gebilde
seJbst dann nicht so leicht ein ius divinum, wenn seitdem der Ge-
staltwandel nicht sehr groß in diesem bestimmten Gebilde ge-
wesen sein sollte. Es hleibt also die Frage: wie erkennt man an
solchen alten Rechtsgebilden ihren Charakter eines ius divinum,
wenn sie dies damals nicht ausdrücklich sagten ?Wie weit können
Idee (Wesen) und Gestalt auseinandertreten, ohne die reale, ge-
schichtliche Existenz und Kontinuität einer rechtlichen Wirklich-
keit iuris divini in allen Zeiten der Kirche aufzugeben ? Was
darf m.a. W. an solchem Gestaltwandel wenigstens erwartet
werden, ohne daß man wegen des immer bestehenden ius divi-
num von vornherein als Katholik sagen müßte: so kann es nicht
gewesen sein, weil dieses oder jenes immer schon gewesen sein
müsse, da es als ius divinum von der heutigen Kirche bekannt
wird ?
In dieser Hinsicht also versucht die folgende Überlegung eine
Teilantwort zu geben. Sie ist, das sei gern und unbefangen zu Be-
ginn gesagt, vielleicht nur für den Katholiken interessant, weil sie
wenigstens zunächst ein Problem erleichtert und klärt, das (in
dieser spezifischen Weise) nur er hat. Wo von vornherein mit Be-
256
ae
chen dabei nicht so sein, daß sie von diesem Wesen und seinen
Wesensnormen her einfach verpflichtend sind in einer bestimm-
ten geschichtlichen Situation dieses Seienden. Es genügt durch-
aus, daß diese Entscheidungen mit dem Wesen dieses Seienden
und mit den Normen, denen ein solches Seiendes unterstellt ist,
konform sind, eine der möglichen Wesensvollzüge und -verwirk-
lichungen für dieses Seiende sind. Niemand, der an die physische
und (wenigstens teilweise bestehende) moralische Freiheit einer
Person glaubt, wird bestreiten können, daß es solche Entscheidun-
gen gibt, Entscheidungen, die wesensgemäß, aber nicht wesens-
notwendig (weder physisch noch moralisch) sind. Solche nicht we-
sensnotwendige Entscheidungen können nochmals entweder in
sich nicht wesensnotwendig sein oder guoad nos solche sein, d.h.
von uns nicht als mehr denn als solche nichtnotwendige, aber we-
sensgemäße erkennbar sein. Beides ist grundsätzlich möglich,
wenn auch damit ein objektiv sehr großer Unterschied zwischen
‘ diesen an sich nur wesensgemäßen und den nur von uns nicht als
mehr denn als solche erkennbaren Entscheidungen nicht bestrit-
ten werden darf. Aber wir dürfen diese beiden an sich sehr ver-
schiedenen Entscheidungen unter einem Begriff belassen. Und
zwar aus folgendem Grund: es kann sehr leicht sein, daß in den
meisten Fällen (ja vielleicht bei einer strengen Erkenntnismeta-
physik in fast allen Fällen) nicht erkannt werden kann, ob eine
Wesensgemäßheit einer Entscheidung nur quoad nos eine solche
ist (an sich) und sich dahinter eine Wesensnotwendigkeit ver-
birgt (bzw. in dieser Wesensgemäßheit anmeldet) oder ob es sich
wirklich um eine bloße Wesensgemäßheit auch objektiv handelt.
Der Begriff einer wesensgemäßen, wenn auch in sich oder quoad
nos nicht wesensnotwendigen Entscheidung läßt sich über die ein-
zelne physische freie Person hinaus auch auf geschichtliche Ge-
bilde komplexerer Natur anwenden. Auch eine Gesellschaft, ein
Staat, eine Kirche usw. kann Subjekt solcher Entscheidungen der
einen oder anderen Art sein. In dem Maß und der Weise, in der
einer moralischen Person eine freie Entscheidung zugeschrieben
werden kann (über welche Weise und deren Grenze hier nicht zu
handeln ist), und da dies in irgendeinem sinnvollen Sinn sicher
möglich ist, kann von einer solchen moralischen Person auch die
260
Möglichkeit solcher Akte ausgesagt werden. Darüber kann im
_Ernst kein Zweifel sein. Denn zweifellos lassen sich Entscheidun-
gen eines Staates usw. geschichtlich aufweisen, die echter Aus-
druck der geschichtlichen « Physiognomie » dieses Gebildes sind,
die seiner geschichtlichen «Sendung», vielleicht seiner richtigen
Verfassung usw. entsprechen oder davon das Gegenteil sind, ohne
daß man im ersten Fall notwendig sagen muß, ein solches kollek-
tives Gebilde konnte oder durfte in der betreffenden Situation nur
so entscheiden.
3. Es ist der Begriff einer solchen wesensgemäßen, wenn auch
nicht wesensnotwendigen geschichtlichen Entscheidung denkbar,
die sowohl im Sinn von Satz 1 rechtlicher Natur, rechtschaffend
als auch irreversibel ist. Gegen diesen Satz wird der wohl nichts
einwenden können, der die beiden ersten Sätze zugibt. Denn es
ist kein Grund vorhanden, welcher die Kombination des eidos des
ersten Satzes mit dem des zweiten hindern könnte. Im Gegenteil:
Die irreversible Rechtssetzung, wenn und wo es eine solche gibt,
wird (soll das sie setzende Gebilde geschichtlicher Art durch eine
solche Setzung nicht sich selbst aufheben oder selbstzerstörerisch
erstarren) als wenigstens wesensgemäß, wenn auch nicht immer
und notwendig als wesensnotwendig zu denken sein. Denn sonst
ist bei einer positiven irreversiblen Rechtssetzung nicht verständ-
lich zu machen, warum sie irreversibel sein soll. An sich läßt sich
durchaus denken, daß eine solche irreversible Entscheidung und
Setzung rechtschaffender Art auch wesensnotwendig ist. Denn es
wäre ein unhistorisches Denken, daß das Wesensnotwendige an
einem Seienden darum auch notwendig aktuell von Anfang an da-
gewesen sein müsse, also der spätere Zeitpunkt des Erscheinens
durch eine (ausdrückliche oder unreflexe) Rechtsetzung auch
schon die Wesenszufälligkeit beweise, es sich also sicher höchstens
nur darum handeln könne, ob diese Entscheidung als wesensge-
mäß angesprochen werden könne oder als wesenswidrig. Natür-
lich muß das Wesensnotwendige einer geistig-personalen Wirk-
lichkeit physischer oder gesellschaftlicher Art schon in irgend-
einer Weise immer dann gegeben sein, wenn das betreffende We-
sen gegeben ist. Der Wesensgrund muß dieses Wesensnotwen-
dige in sich bergen. Die Frage ist aber, wie er dies tun oder auch
261
nicht tun muß. Man kann doch z. B. das Sehvermögen, die Fähig-
keit zu lachen, Kontakt mit seiner Umwelt durch freie Entschei-
dung aufzunehmen usw. durchaus als wesensnotwendig, als zum
Wesen des Menschen gehörig bezeichnen und dennoch wird man
nicht sagen können, daß diese Wesensnotwendigkeiten in einem
embryonalen Stadium eines Menschen so da seien wie später, und
man wird nicht sagen können, dieses später Hinzukommende sei
nicht mehr mit dem Prädikat « wesensnotwendig » zu bezeichnen.
Ein Wesen vollzieht sich, stellt sich selbst aus seinem Grund her-
aus, in dem das Herausgestellte und Erscheinende gewiß schon ent-
halten waren, aber eben wie in dem Grund, wie in einer Möglich-
keit, und dieses Herausgestellte ist eben sein Wesen und nicht
etwas, was zu diesem Wesen als dem Wesen Gleichgültiges nach-
träglich noch dazukommt. Ist das grundsätzlich richtig, dann muß
durchaus gesagt werden, daß ein später Erscheinendes immernoch
ein 'Wesensnotwendiges sein kann. Aber weil der reine Anfang
und Grund einer Wirklichkeit in sich selbst nicht (oder meist oder
größtenteils nicht) unmittelbar zugänglich ist, sondern erst im
Wesensvollzug, im Heraustreten des aus dem Grund Entspringen-
den erscheint, was er in sich birgt, darum kann ein später ge-
schichtlich Gesetztes nicht so leicht danach beurteilt werden, ob
es wesensnotwendig oder nur wesensgemäß ist. Es wird oft so sein,
daß man sich mit dem Urteil begnügen muß, es sei wenigstens
wesensgemäß und als solches (aus diesen und jenen Gründen)
irreversibel.
4. Eine wesensgemäße (dem Wesen legitim entsprechende),
rechtschaffende und irreversible Entscheidung der Kirche kann
dann als «ius divinum» betrachtet werden, wenn sie in der Zeit
der Urkirche erfolgte. An diesem Satz ist vieles einer Erklärung
bedürftig. Wir meinen zunächst den Begriff der Urkirche in
einem ganz prägnanten theologischen Sinn. Man könnte vielleicht
auch sagen: Apostolisches Zeitalter. Jedenfalls ist die Zeit gemeint,
in der für das katholische Glaubensverständnis die Zeit und Ge-
schichte der Offenbarung des Neuen Testamentes noch läuft. So-
sehr nämlich die Apostel und die Schriftsteller des geschriebenen
Neuen Testamentes im letzten Grund Botschafter und Zeugen
des Wortes Jesu und seiner Geschichte sind, so hat das katholische
262
DE,
In diesem Sinn ist also Urkirche gemeint, wenn wir zunächst sa-
gen: in ihr können sich rechtschaffende, wesensgemäße und irre-
versible Entscheidungen ereignet haben. Dieser Satz ist zunächst
nichts anderes als eine Anwendung der These, daß die Zeit der -
Urkirche noch die Zeit der geschehenden Offenbarung und nicht
nur eine Zeit der Offenbarungsüberlieferung gewesen ist. Denn
unter solchen Inhalten der Offenbarung können natürlich auch
Rechtssätze sein. Das ist zunächst einfach für das katholische
Glaubensverständnis selbstverständlich. Denn wenn es überhaupt
in der Kirche irgendwelches Recht (Rechtssätze, oder wenigstens,
was ja auch ein evangelischer Kanonist nicht schlechthin bestrei-
ten wird, Tatsachen und Erkenntnisse, die von sich aus Recht von
einer ganz bestimmten Eigenart fordern) gibt, das iuris divini ge-
nannt werden kann, dann bedeutet dies eben, daß solches Recht
« geoffenbart » ist, da es ja nicht einfach Naturrecht sein soll, son-
dern geistliches Recht der Kirche als geschichtlicher Stiftung
Christi als solcher. Ist die Offenbarung erst mit dem Ende der Ur-
kirche, des Zeitalters der Apostel abgeschlossen, dürfen wir diese
Zeit nicht schon früher beenden, dann haben wir Recht und
Pflicht, während dieser Zeit auch mit der Offenbarung von recht-
lichen Normen zu rechnen. Und zwar während dieser ganzen Zeit.
Insofern wäre der eben genannte erste Teil unseres Satzes für den
Ekklesiologen noch eine bare Selbstverständlichkeit. Aber er sagt
mehr als nur dieses. kt:
Er sagt zunächst eine bestimmte mögliche Vorstellung von der
Art der Offenbarung, wie sie von der menschlichen Erfahrung aus
sich ausnimmt. Die Offenbarung erscheint als «Entscheidung».
Man verbindet mit dem Wort « Offenbarung » in der katholischen
Schultheologie nur zu leicht und fast selbstverständlich die Vor-
stellung eines gewissermaßen rein passiven Hörens eines wort-
haft mitgeteilten Satzes. So kann die Offenbarung zwar gedacht
werden, sie muß es aber nicht. Die Tatsache z. B., daß ein Evan-
gelium inspiriert ist, hängt auch an dem Entschluß, es wirklich
zu schreiben, der bei dem betreffenden Evangelisten lag, der die-
ses Schreiben gewiß als eine spontane Entscheidung erfahren hat,
die seine war. Man kann natürlich mit Recht sagen, die Qualität
dieses Entschlusses müsse anderswoher gewußt werden. Aber zu-
265
nächst einmal: wo das Ereignis selbst hinsichtlich seiner inneren
Eigenart nur gewußt werden kann durch Offenbarung, darf auch
seine Setzung als ein Moment am Offenbarungsvorgang selbst be-
trachtet werden. Denn es zeigt sich doch als es selbst durch sich an,
offenbart sich selbst, wenn auch seine eigenste intime Qualität
(z. B. des Inspiriertseins) daran allein nicht erkannt werden mag,
sondern nur aus einem größeren Zusammenhang heraus erfaßt
werden kann. Das hebt aber nicht auf, daß der Vorgang der Ab-
fassung eines Evangeliums selbst zu den Momenten der Offenba-
rung seiner Inspiriertheit gehört, zumal man ja all das, was zu
dieser Offenbarung als ihr konstitutives Moment gehört, auch
nicht auffassen darf als die einfache Mitteilung eines Satzes über
diese Inspiriertheit, sondern der Vorgang viel komplizierter ist
und durchaus Momente in sich enthält, die wiederum Vorgänge,
Wirklichkeiten, nicht unmittelbar Sätze über solche sind®, an de-
nen die Tatsache der Inspiration unter Voraussetzung anderer ge-
offenbarter Sätze abgelesen werden kann, weil man nirgends mit
historischer Wahrscheinlichkeit einen unmittelbar das Faktum
der Inspiriertheit bezeugenden Satz in der apostolischen Zeit ent-
decken oder postulieren kann. Wenn nach nicht wenigen Theolo-
gen der Primat unablöslich an das Bischofsamt in Rom gebunden
ist und der Primatssitz juristisch nicht durch einen späteren Pri-
matsinhaber an einen anderen Sitz (de iure, nicht nur de facto)
verlegt werden kann, dann ist doch offenbar dieser Umstand durch
eine Entscheidung des Petrus, dauernd nach: Rom zu ziehen, so-
wohl gesetzt wie auch (unter Voraussetzung anderer allgemeine-
rer Sätze) geoffenbart. Warum sollte die Wahl des Matthias und
seine Kooptation in das Apostelkollegium, also seine Zugehörig-
keit zu diesem, nicht einerseits als geoffenbart betrachtet werden
und anderseits als durch die Entscheidung zu dieser Wahl ge-
schehend und darin als geoffenbart betrachtet werden ? Ereignisse
können durchaus den Charakter einer bestimmten materialen Of-
fenbarung haben, vorausgesetzt nur, daß sie gewissermaßen im
Feld von Menschen auftreten, die schon bestimmte Offenbarungs-
erkenntnisse haben und so imstande sind, dieses Ereignis in dieser
seiner bestimmten Qualität, die nur durch Offenbarung gewußt
2 Vgl. dazu: K. Rahner, Über die Schriftinspiration, Freiburg 1959,
266
werden kann, von diesem ihrem Wissen her zu beurteilen. Man
kann dann nicht sagen: geoffenbart seien nur diese allgemeinen
‚Prinzipien, nicht aber die Qualität dieses Ereignisses, die mit
Hilfe dieser Prinzipien erkannt wird. Wenigstens für die Aposto-
lische Zeit wird man dies nicht sagen können. Denn spricht man
die Qualität des betreffenden Ereignisses als geoffenbart an, ist sie
erkannt (wenigstens von den Aposteln) nicht durch eine ganz
eigene neue Offenbarungsinitiative Gottes, sondern mit Hilfe die-
ser allgemeinen Prinzipien, und geben diese als bloß allgemeine
Sätze allein diese Einsicht über die Qualität des betreffenden Er-
eignisses gar nicht her, dann muß eben das Ereignis selbst als ein
Moment an seiner eigenen Offenbarung betrachtet werden. Es
offenbart sich. Freie Ereignisse können somit im Zeitalter der Ur-
kirche durchaus den Charakter einer Offenbarung haben. Sie
sind Entscheidungen der Menschen und darin vollzieht sich ge-
rade der Offenbarungswille Gottes, der in und durch diese von
ihm prädefinierte Freiheit der Entscheidung hindurch selbst die-
ses Ereignis will, setzt und seine volle Eigentümlichkeit offenbart.
Wenn also gesagt wird: diese und diese bestimmte Tatsache ist
durch eine freie Entscheidung der Apostel gesetzt worden, dann
ist damit nicht der Offenbarungscharakter dieser durch freie Ent-
scheidung entstandenen Tatsache geleugnet, sondern eine Vor-
stellung der Weise vermittelt, wie in dem bestimmten Fall diese
Offenbarung geschehen ist, vorausgesetzt wenigstens, daß man
diese freie Entscheidung als von Gott in freier formeller Präde-
finition gewollt voraussetzt. Damit ist noch nicht gesagt, welche
bestimmte Qualität an einer rechtschaffenden Entscheidung in
der Urkirche durch diese Entscheidung innerhalb des Gesamten
der Urkirche (und dessen, was sie von sich weiß) geoffenbart sei.
Davon muß später noch gehandelt werden. Zunächst gilt es hin-
sichtlich dieser Entscheidung, der wir die Möglichkeit (nicht im-
mer und notwendig die Tatsächlichkeit) eines Offenbarungsvor-
gangs zuschreiben, noch folgendes zu sehen: eine solche recht-
schaffende Entscheidung kann als Entscheidung durchaus in Art
einer Auswahl unter mehreren Möglichkeiten geschehen. Die
aus-
Setzung eines Rechtes kann ja sehr wohl den Charakter einer
wählenden Entscheidung zwischen mehreren sich anbietenden
267
Möglichkeiten haben. Die anderen, vor der einen hintangesetzten
Möglichkeiten können nicht nur physisch, sondern auch sittlich
und rechtlich möglich sein, die Rechtssetzung kann wirklich eine
Entscheidung sein. Wenn also innerhalb der Urkirche sich auch
noch für den Blick des Historikers erkennbar verschiedene Mög-
lichkeiten einer verfassungsmäßigen und rechtlichen Konkretisie-
rung der Kirche nachweisen lassen oder ließen, wenn sich zeigen
ließe, daß sich damals durchaus verschiedene « Stile» einer mög-
lichen Weiterentwicklung der Verfassung und des Rechtes ange-
boten haben, dann bedeutet dies nicht, daß diese faktische Ent-
scheidung (etwa auf einen monarchischen Episkopat hin im Un-
terschied zu einer mehr kollegialen Verfassung) etwa wesens-
widrig sein müsse, weil sie eine Möglichkeit vor einer anderen aus-
wählt. Man braucht sich also die Situation der Urkirche nicht not-
wendig so vorzustellen, daß entweder von vornherein und in je-
dem Augenblick die während dieser Zeit auftretende Entschei-
dung rechtlicher Art als die einzige Möglichkeit gegeben gewesen
sei oder aber die verschiedenen Möglichkeiten auch nach einer
solchen Entscheidung immer noch als berechtigte und später reali-
sierbare bleiben müßten. Wenn man also z. B. als Historiker den
Eindruck haben sollte, die verschiedenen «Verfassungen» der
späteren christlichen Bekenntnisse seien in irgendeiner Weise
und in einem bestimmten Grad alle schon auch in der Urkirche
vorgebildet gegeben gewesen, so ist dies kein Argument dafür,
wenigstens für sich kein entscheidendes, daß diese Pluripoten-
tialität des urkirchlichen Systems immer auch später als legitime
Möglichkeit bestehen bleiben müsse. Es kann sich die Kirche
durchaus in irreversibler Entscheidung (weil eine solche grund-
sätzlich möglich ist) für eine bestimmte Möglichkeit entschieden
haben und diese Entscheidung dann bindend für alle späteren
Zeiten bleiben. Zunächst ist dafür nur notwendig, daß man nach-
weisen kann, daß eine solche Entscheidung nicht wesenswidrig,
sondern wesensgemäß war. Auch wenn wenigstens zunächst nicht
unmittelbar greifbar ist, daß diese Aktualisierung einer Möglich-
keit vor anderen als irreversibler Vorgang wesensnotwendig war.
Mindestens ist ein solcher Vorgang denkbar: die Kirche entschei-
det in einem rechtlichen Konkretisationsprozeß in einer irrever-
268
siblen Entscheidung rechtschaffender Art, und zwar innerhalb:
der Zeit der Urkirche als der Zeit der noch geschehenden Offen-
barung, in welcher Richtung und Weise sie ihr eigenes rechtliches
Wesen aus der größeren Zahl der an sich vorliegenden MN
keiten heraus konkretisiert.
Wenn und insofern nun eine solche Entscheidung als Offen-
barungsvorgang betrachtet werden kann, wie schon gezeigt
wurde, dann erhebt sich die Frage, was nun genauerhin an die-
sem Entscheidungsvorgang durch ihn (innerhalb der gewußten
kirchlichen Gesamtsituation) geoffenbart sein soll. Zunächst kann
(wenn wir diese Voraussetzung machen, es habe sich ein solcher
auswählend rechtschaffender Vorgang in der Urkirche ereignet)
gewiß gesagt werden: es wird die Legitimität dieser Entschei-
dung, ihre Wesensgemäßheit geoffenbart. Soviel kann zunächst
auf jeden Fall gesagt werden. Die Urkirche konnte bei einem sol-
chen Vorgang durchaus die Überzeugung haben, ihr‘Wesen rich-
tig vollzogen und entfaltet zu haben, mindestens nicht gegen es
gehandelt zu haben, selbst wenn andere Möglichkeiten der Ent-
scheidung «an sich » auch offen gewesen wären. Wenn die katho-
lischen Theologen der späteren Kirche und dem Papst grundsätz-
lich das Recht und die Vollmacht zuerkennen, unter Umständen
sogar unfehlbar darüber zu entscheiden, daß z. B. eine bestimmte
Ordensverfassung ein legitimer, mit dem Evangelium substan-
tiell in genügender Weise übereinstimmender Weg der echten
Nachfolge Christi sei, dann muß a fortiori der Apostolischen
Kirche (unter ihrer legitimen Leitung, wie immer diese rechtlich
damals ausgesehen haben mag) Recht und Vollmacht zuerkannt
werden, zu erkennen, daß eine bestimmte Verfaßtheit, die sie
sich gibt, dem Gesetz, nach dem sie angetreten war, entsprechend
ist, eine legitime, wesensgemäße Art ihres Selbstvollzugs ist. Sie
muß das können. Denn sie muß einerseits handeln und sich in
einer ganz bestimmten Weise vollziehen. Und sie muß als so sich
vollziehende, weil eschatologisch unzerstörbare Heilsgemeinde
der
des Herrn, das Bewußtsein ihrer substantiellen Identität mit
Kirche Christi, mit ihrem eigenen Anfang haben. Sie.setzt also
diese Entscheidung als legitime, sie setzt sie als Urkırche, sie setzt
Zeiten zu
sie mit dem Bewußtsein, Norm und Richtmaß für alle
269
sein und zu bleiben, sie erwartet also die Anerkennung dieser Le-
gitimität auch von ihren späteren Generationen, sie offenbart die
Wesensgemäßheit dieser Entscheidung. Den Vorgang der recht-
. schaffenden Entscheidung in der Urkirche als Vorgang der Offen-
barung der Legitimität dieser auswählenden Entscheidung aufzu-
fassen, macht keine theologische Schwierigkeit. Kann man dar-
über hinaus (ein zweiter Schritt) verständlich machen, daß im
Geschehen dieses Vorgangs auch die Irreversibilität und somit die
dauernde Verpflichtetheit der späteren Generationen der Kirche
auf diese Entscheidung geoffenbart werde ungeachtet des Ur-
sprungs dieser Entscheidung aus einer plurivalenten Situation des
konkretisierenden Selbstvollzugs der Urkirche? Diese Frage darf
mit einem Ja beantwortet werden. Zunächst ist (entsprechend
dem früher Gesagten) zu betonen, daß die Irreversibilität einer
Handlung und Entscheidung nicht etwas besonders Seltsames und
Überraschendes ist, sondern eher das vom Wesen der Freiheit her
zu Erwartende. Es werden weiterhin in der Urkirche, wie apo-
steriorisch festgestellt werden kann, rechtliche Entscheidungen
. getroffen, die mit dem Bewußtsein einer endgültigen, alle späte-
ren Zeiten bindenden Entscheidung gefällt werden. So, wenn Pe-
trus tauft, ohne vom Heidentäufling den Weg über das Judentum
und seine Beschneidung als Weg zum vollen Glied der Kirche zu
fordern. Man kann sagen, daß eine solche Entscheidung wesens-
notwendig war und notwendig aus dem Glauben an die Erlösung
durch Christus allein erfließt. Aber sie mußte dennoch getroffen
werden und sie wurde erlebt als Entscheidung und sie läßt sich
überdies vermutlich doch nicht einfach eindeutig aus dem ablei-
ten, was die Apostel immer schon von Jesus Christus und seiner
Heilsbedeutung wissen mußten. Denn in abstracto wäre es doch
denkbar gewesen, daß z. B. die Beschneidung als Moment am Ini-
tiationsritus hätte beibehalten werden können, ja ebenso ver-
pflichtend gewesen wäre wie die Weiterverwendung des Alten
Testamentes, ohne daß dadurch die reine Erlöstheit durch Chri-
stus damit müßte geleugnet werden. Das erkennt man ja auch
daran, daß sonst eine Weiterbeobachtung des Alten Gesetzes
durch die Judenchristen auch schon zur Zeit der Urkirche hätte
widerchristlich sein müssen, würde sich die Abschaffung des alt-
270
testamentlichen Gesetzes einfach aus dem Wesen der christlichen
Erlösung zwangsläufig ergeben. Eine solche Entscheidung der Ab-
schaffung der Beschneidung mag also von dieser Entscheidung
an als wesensnotwendig betrachtet werden, sie braucht es aber
vor dieser Entscheidung nicht gewesen zu sein und braucht we-
nigstens nicht als solche erkennbar gewesen zu sein aus dem
schon im voraus gegebenen Wesen des Christentums. Wenn man
also nicht einfach eine besondere Offenbarung annehmen will, die
nicht nur eine Aufforderung zum Verzicht auf die Beschneidung
enthält, sondern auch eine ausdrückliche Offenbarung der We-
sensnotwendigkeit dieses Verzichtes (und davon wird man doch
nicht leicht einen sicheren Anhaltspunkt im Neuen Testament
entdecken, weil Petrus und Paulus vielmehr den Eindruck er-
wecken, für ihre Entscheidung aus einer Wesensgemäßheit des
Verzichtes und aus der Überflüssigkeit der Auferlegung einer wei-
teren Last zu argumentieren, als sich darauf zu berufen, es sei
ihnen jenseits aller solchen Überlegungen einfach und schlicht
von Gott selbst verboten worden, die Beschneidung zu verlangen),
dann wird man doch annehmen dürfen, es handle sich-in diesem
Fall um eine wesensgemäße Entscheidung der Urkirche, die mit
dem Anspruch der Irreversibilität gesetzt wird, mag damit auch
die Frage offen bleiben, woraus genauerhin die Apostel und die
Apostolische Kirche diese Irreversibilität ihrer Entscheidung er-
kennen. Man kann sagen: sie handeln so und erklären durch
diese Handlung, daß sie ihre als wesensgemäß nachgewiesene
Entscheidung als irreversibel betrachten. Und dann kann auch
dieses Moment (zunächst einmal in diesem Beispiel) als geoffen-
bart betrachtet werden mit derselben formalen Überlegung, die
wir oben hinsichtlich der Legitimität einer solchen rechtschaffen-
den Entscheidung angestellt haben.
Diese auswählende geschichtliche Entscheidung rechtschaffen-
der Art, die als wesensgemäß mit der Kirche erfolgt und als solche
und irreversible in der Urkirche sich offenbart in eigentlicher Of-
fenbarung, kann nun mit Recht in ihrer Rechtschöpfung als
«iuris divini» bezeichnet werden. Mit anderen Worten: ein ius
divinum kann mindestens zunächst einmal in der Urkirche als da-
durch entstehend gedacht werden, daß eine (von Gott formal
271
prädefinierte) wesensgemäße, aber (wenigstens quoad nos) nicht
a.priori als wesensnotwendig von uns erkennbare Entscheidung
der Urkirche erfolgt, die aus einer an sich (wenigstens dem An-
schein nach) sich anbietenden Pluralität von Möglichkeiten der
» Gestaltung der Verfassung der Kirche und ihres Rechtes aus-
. wählt. Auch so etwas, was sich doch zweifellos leichter in das
Ganze der geschichtlichen Entwicklung der Urkirche einordnen
läßt, weil es nicht voraussetzt, daß eine solche Rechtschaffung
einfach ohne Anhaltspunkt im Milieu und in den rechtlichen Vor-
stellungen und Möglichkeiten dieser Umwelt der Urkirche gleich-
sam vom Himmel fällt, kann noch durchaus als ius divinum gel-
ten.. Denn dazu ist nicht mehr notwendig als die Offenbarung
einer Rechtswirklichkeit von seiten Gottes für die Kirche, die für
die ganze Folgezeit der Kirche verpflichtend bleibt und einer Abän-
derung durch die spätere Kirche entzogen ist. Diesen Anforderüun-
gen.an ein ius divinum positivum in der Kirche genügt diese Vor-
stellung einer wesensgemäßen, irreversiblen und in diesen bei-
den Hinsichten geoffenbarten Entscheidung der Urkirche, auch
wenn sie als aus einer größeren Anzahl von rechtlichen Möglich-
keiten, die an sich vorhanden und «angelegt» waren und so hi-
storisch noch greifbar sind, erfolgend gedacht wird. Der Offen-
barungscharakter eines solchen ius divinum schließt die Beobacht-
barkeit seines Entstehens aus empirisch nachweisbaren Tenden-
zen und Ursachen in einer Art von Konkurrenzkampf mit anderen
vorhandenen Entwicklungstendenzen nicht aus: Auch das gött-
liche Recht der Kirche ist ein gottmenschliches Recht. Das Leben
auch des Rechtes und darum auch des gottmenschlichen Rechtes
ist eine einbahnige Geschichte, in der (ähnlich wie in der Phylo-
genese und der Ontogenese des Lebendigen) aus einem notwen-
' dig pluripotentiellen System durch fortschreitende Determinie-
rung des Zu-verwirklichenden aus der größeren Fülle des Poten-
tiellen die konkrete Gestalt des Rechtes entsteht. Solange dieser
Prozeß innerhalb der Urkirche in dem streng theologischen Sinn
des Wortes verläuft, kann er durchaus (was nicht heißt: muß er
durchaus in jeder Einzelheit der Entwicklung) in seinen einzelnen
Momenten zur offenbarungsmäßigen Konstitution der Kirche, zur
Konstitution ihres Wesens selber freilich aus dem mit Christus
272
und seiner Erlösung gegebenen Wesensgrund heraus gehören.
‘Freiheit und Kontingenz dieser Entwicklungsschritte, die als freie
\(physisch und moralisch) die Pluralität anderer Möglichkeiten
voraussetzen, die also eine solche Pluralität nicht nur zu sehen ge-
statten, sondern sie fast aufzuspüren gebieten, sind kein Argu-
ment gegen ihre Gottgewolltheit, gegen das ius divinum im Er-
gebnis dieser Entwicklung.
Wie wir schon zu Beginn dieser Überlegungen betonten, kam
es uns in ihnen nicht darauf an, die wirkliche Existenz eines so
verstandenen ius divinum in der Urkirche zu beweisen, sondern
trotz der Andeutung von Beispielen aus dieser Zeit war unsere
Absicht lediglich, die theologische Denkbarkeit eines solchen Be-
griffes eines evolutiv verstandenen ius divinum in der Urkirche
einigermaßen plausibel zu machen. Sache der Exegeten, Bibel-
theologen, Dogmengeschichtler und Kirchenrechtshistoriker wird
es sein, zu beurteilen, ob ihnen mit diesem angebotenen Begriff
ein Dienst geleistet wird, wenn sie auf der Basis der katholischen
Grundüberzeugung von der Wesenskontinuität der heutigen ka-
tholischen Kirche mit der Stiftung Jesu und der Urkirche daran-
gehen, geschichtlich einsichtig zu machen, wie die heutige Kirche
in jener Gemeinde Jesu nach seiner Himmelfahrt schon dem We-
sen nach enthalten ist, und zwar als die uns verpflichtende Gestalt,
in der wir die von Jesus gestiftete Gemeinde seiner Gläubigen ha-
ben sollen. Wenn sie einen solchen Begriff nicht brauchen, wenn
es «auch einfacher » geht bei dem Nachweis der verpflichtenden
Kontinuität zwischen der heutigen katholischen Kirche und der
Urkirche, bei einem Nachweis, der doch wohlgemerkt in. einem
katholischen Verständnis einer fundamental-theologischen Ekkle-
siologie auf historischem Weg zu erbringen ist und nicht nur von
der Voraussetzung des Glaubens an das Selbstverständnis der ka-
tholischen Kirche her, dann mag man diesen angebotenen Begriff
eine überflüssige Subtilität schelten. Unvollziehbar in seiner ab-
strakten Inhaltlichkeit müßte er auch dann noch immer nicht
sein. Aber vielleicht hat der eine oder andere katholische Kirchen-
rechtsgeschichtler doch den Eindruck, daß auf diese Weise der
Spruch seines historischen und der seines dogmatischen Gewis-
sens leichter miteinander versöhnt werden können als bei einem
275
\
Begriff von ius divinum, bei dem dieses zwar in einem bestimm-
ten Zeitpunkt von Gott gesetzt ist, selbst aber in keiner Weise eine
Geschichte haben kann:
5. Die Frage eines ius divinum, das als irreversible Entschei-
dung wesensgemäßer Art von der Kirche der nachapostolischen
Zeit getroffen wird, muß nicht a priori und sicher als unmöglich
bezeichnet werden. Das ist der letzte Satz, den wir hier aufstellen
möchten. Er will nur zu einer weiteren Überlegung einladen.
Nicht mehr. Er sagt nur, man solle die Frage eines Entstehens
eines nachapostolischen ius divinum nicht zu schnell und nicht a
limine ablehnen. Mehr nicht. Er entscheidet diese Frage, ob ein
solches Recht denkbar sei oder gar die Frage, ob es ein solches tat-
sächlich gäbe, in keiner Weise. Warum es vielleicht sinnvoll ist,
diese Frage wenigstens zu stellen, wie immer sie schließlich be-
antwortet werden muß, versteht sich leicht. Es gibt wohl ohne
Zweifel verfassungsmäßige und rechtliche « Verfestigungen » (das
Wort in einem durchaus positiven Sinn verstanden), die als noch
in der Zeit der Urkirche geschehen aufgefaßt werden können
(z. B. das Entstehen des monarchischen Episkopats im Unterschied
zu einer kollegialen Regierung der Einzelgemeinde, von der man
wohl nicht leicht beweisen kann, daß sie in dem Augenblick als
unmöglich nachgewiesen werden kann, in dem Jesus seine Ge-
meinde verließ, oder aus dem heraus, was er über seine Kirche
gesagt hat). Kann man dies aber sicher, und zwar historisch nach-
weisbar, von allen Momenten sagen, die nach katholischer Über-
zeugung zum ius divinum der Kirche gehören ?Diese Frage soll
in keiner Weise mit einem Nein beantwortet werden. Eine solche
Antwort wird auch hier nicht « vorsichtig suggeriert». Es ist ja
auch nochmals ein sehr gewichtiger Unterschied, ob jemand glau-
bensmäßig sagt: alle Momente des ius divinum müssen wenig-
stens in der Apostolischen Zeit formell (explizit oder wenigstens
implizit) gegeben gewesen sein, sonst könnten sie nicht ius di-
vinum sein, oder ob jemand historisch sagt: dieses Vorhandenge-
wesensein aller dieser Momente schon in der Urkirche läßt sich
geschichtlich nachweisen. Und gewiß ist der einzelne katholische
Historiker nicht von seinem Glauben aus gehalten, zu behaupten,
ihm persönlich selbst sei für jedes dieser Momente der historische
274
Nachweis eindeutig gelungen. Mindestens in diesem Sinn also
kann auch ein katholischer Historiker sagen: ich entdecke nicht
alle Momente des ius divinum (z. B. den absoluten Jurisdiktions-
primat des Petrus über die ganze Kirche in der vollen Deutlich-
keit und dem vollen Umfang der Vatikanischen Definition) schon
in der Urkirche. (Man wird ja nicht bezweifeln können, daß z. B.
das Glaubensbewußtsein hinsichtlich des Primats des Römischen
Bischofs zur Zeit Cyprians in der Kirche noch sehr undeutlich und
gewissermaßen « flüssig» war.) Angesichts dieser Gegebenheiten
kann man dann immerhin .die Frage als nicht von vornherein
überflüssig erachten, ob man eventuell auch mit einer solchen
Entwicklung der Verfassung und des Rechtes in der Frühkirche
rechnen könne, die einerseits nach der Urkirche stattfindet (in der
oben skizzierten Weise) und doch anderseits noch als ius divinum
angesprochen werden kann. Zweifellos ist diese Frage schwieriger
zu beantworten und hat mehr Gründe gegen sich als die These,
die sich auf die Urkirche bezieht. Denn in der Urkirche geschieht
auch nach der Himmelfahrt des Herrn noch Offenbarung. Eben-
dies aber kann man nicht mehr einfach von der nachapostolischen
Zeit sagen. Und damit scheint die Frage, die neu gestellt wurde,
schon negativ entschieden zu sein: ius divinum erfordert seine
Offenbarung, in welcher Form man sich auch diese Offenbarung
ergehend denken mag. Offenbarung ist mit der Urkirche abge-
schlossen. Ergo. Doch seien wir vorsichtig. Die theologische Lehre
der Schule nimmt einhellig an, daß es lehramtliche Entscheidun-
gen gibt, die sich auf Fakten nachapostolischer Zeit beziehen und
dennoch unfehlbar sind. Sind diese Lehrentscheidungen geoffen-
bartes Wort Gottes im eigentlichen Sinn ? Die Mehrzahl der Theo-
logen der Neuzeit verneinen diese Frage und führen zur Erklä-
rung, warum eine solche kirchliche Lehrentscheidung dennoch
unfehlbar sein könne (z. B. die Richtigkeit einer Kanonisation,
die sittliche Unbeanstandbarkeit einer bestimmten Ordensver-
fassung, die Unvereinbarkeit eines modernen philosophischen Sy-
stems mit dem christlichen Glauben, der Sinn eines Satzes in einer
theologischen Schrift usw.), den Begriff des «kirchlichen. Glau-
bens» ein im Unterschied zu dem «göttlichen Glauben » an das
eigentliche Wort Gottes, das dieser selbst gesprochen hat und un-
275
mittelbar mit seiner eigenen Autorität als Wahrheit bezeugt. In
der «fides ecclesiastica» glaube man ein unfehlbares Wort, das
nicht formell das Gottes selbst ist, auf die (freilich von Gott ver-
bürgte) Autorität der Kirche hin, so daß dieses Wort, wenn auch
unfehlbar, doch nicht als göttliche Offenbarung anzusehen sei.
Nun gibt es aber durchaus katholische Theologen, die unbean-
standet auch heute noch den Begriff einer fides ecclesiastica als
einen Unbegriff verwerfen, der keine Stütze in der älteren Tradi-
tion habe. Diese Theologen müssen damit alle Sätze, die sie als
unfehlbare Erklärungen des kirchlichen Lehramtes ansehen,
eo ipso auch als göttlich geoffenbarte Sätze ansprechen und sehen,
wie sie erklären können, daß etwas von Gott geoffenbart sein
könne, was seiner historischen Existenz nach doch erst nach der
. Urkirche auftritt (z. B., daß Eugenio Pacelli ein rechtmäßiger
Papst war, von welchem Satz ja z. B. die verpflichtende Kraft sei-
ner unfehlbaren Definition abhängt). Wie diese Erklärungen aus-
fallen, kann uns hier nicht mehr beschäftigen. Es soll hier nur
soviel gesagt sein: wenn man diese T'heorie als möglich voraus-
setzt und vielleicht sogar durch Fakten erhärtet, die kein Theo-
loge leugnen kann, dann braucht ein geschichtlich späteres, nach-
apostolisches Ereignis noch nicht sicher und einfach als außerhalb
der Gegenstände des Offenbarungsglaubens stehend betrachtet zu
werden. Setzen wir dies einmal voraus, nehmen wir ferner an, es
könne auch in der späteren Geschichte der Kirche wesensgemäße
und irreversible Entscheidungen rechtschaffender Art geben (und
das muß an sich nicht a priori bestritten werden, weil auch die
Geschichte der Kirche nach der Urkirche rechtschaffend ist, ge-
schichtlich und einbahnig, so daß a limine eine solche Möglichkeit
einer irreversiblen Entscheidung an sich nicht bestritten werden
muß), dann ist es vielleicht doch nicht so selbstverständlich, wie es
auf den ersten Blick scheint, daß es ein ius divinum durch eine
spätere Entscheidung der Kirche nicht mehr geben könne, weil es
den Charakter einer göttlichen Offenbarungsgarantie nicht an sich
haben könne. Wenn unter Umständen die Abgeschlossenheit der
Offenbarung mit dem Tod des letzten Apostels nicht hindert, daß
eine bestimmte Qualität eines späteren, nachapostolischen Ereig-
nisses mit offenbarungsmäßiger Sicherheit als von Gott geoffen-
276
bart erkannt werden kann, dann könnte vielleicht so etwas auch
angenommen werden hinsichtlich einer wesensgemäßen und irre-
versiblen Rechtschaffung der Kirche von auswählender, wirklich
ent-scheidender Art aus einer Pluralität von Möglichkeiten, auch
wenn diese Entscheidung erst später eingetreten ist. Aber, wie
schon gesagt wurde, diese Frage soll hier nicht beantwortet wer-
den. Alles, was hier hinsichtlich ihrer gesagt wurde und werden
sollte, war nur die Bemerkung, daß man sie nicht zu rasch und
unbesehen negativ entscheiden sollte.
277
I
Der Papst hat für dieses Jahr ein Konzil der Kirche, ein ökumeni-
sches Konzil der ganzen heiligen, katholischen, apostolischen und
römischen Kirche angekündigt. Es geziemt sich für uns katholische
Christen, daß wir uns wachen Geistes und bereiten Herzens auf
dieses Konzil einstellen; denn es ist unser Konzil, und seine Be-
schlüsse greifen unter Umständen tief in unser eigenes Leben und
auf jeden Fall in das der Kirche ein.
Man könnte von den verschiedensten Gesichtspunkten aus dieses
Konzil ins Auge fassen. Man könnte (das scheint aufden ersten Blick
der nächstliegende Gesichtspunkt zu sein) sich zunächst fragen, mit
welchen Problemen sich dieses Konzil beschäftigen wird, und sich
diesen Gegenständen zuwenden. Aberpraktisch und für uns, die wir
- in die Vorbereitungen dieses Konzils nicht eingeweiht sind, ist die-
ser Weg ungangbar. Man übertreibt wohlnicht, wenn man sagt, es
habe noch nie ein Konzil gegeben, bei dem wenigstens für den Au-
Benstehenden die Thematik so verhüllt und unbekannt war wie bei
diesem Konzil. Denn bisher war doch so gut wie immer ein ganz be-
stimmter äußerer Anlaß die eindeutige Ursache der Einberufung:
eine dogmatische Streitfrage, ein kirchenpolitischer Gegenstand.
Heute weiß man nur, daß das Konzil einberufen wird und daß
es sich mit der Erneuerung der Kirche befassen will, eine Auf-
. gabe, die so weit und unbestimmt ist, daß sie für jedes Konzil gilt
und darum für den Außenstehenden so gut wie nichts sagt. Die
ökumenische Zielsetzung, die bei den ersten Verlautbarungen über
das Konzil im Vordergrund stand, ist später dahin präzisiert wor-
den, daß dieser Absicht durch eine Erneuerung der katholischen
Kirche selbst, nicht eigentlich durch unmittelbare Verhandlungen
mit den Christen anderer Bekenntnisse gedient werden soll. Diese
ökumenische Bestimmung des Konzils kann also auch nicht sehr
viel über die sachliche Thematik verraten. Man kann also eigent-
lich nur sagen: Thema des Konzils können alle Anliegen sein, die
einerseits in der Kirche allgemein genug als solche empfunden
werden und anderseits nach Absicht der Konzilseinberufer und
278
-teilnehmer konziliar und nicht auf andere Weise angepackt wer-
den sollen, eine Umschreibung der Thematik des Konzils, die nicht
sehr erhellend ist.
Mit dieser Feststellung soll nichts als eine-Feststellung getroffen
werden. Wir haben ja vom Wesen eines Konzilsher nicht dasRecht,
von ihm zu fordern, daß es immer einen sehr konkreten und zwin-
genden Anlaß haben müsse. Man kann das auch nicht aus der «Au-
Berordentlichkeit» eines Konzils ableiten und fordern. Denn wir
werden sehen, daß ein Konzil vom Wesen der Kirche her keine so
außerordentliche Sache ist, wie es zunächst erscheinen könnte, so
daß man es fast wie eine verfassunggebende Versammlung im Un-
terschied zu einem gewöhnlichen Parlament auffassen könnte. Es
ergibt sich aber zu Beginn unserer Überlegungen aus dieser schlich-
ten Tatsache, daß die Materie dieses Konzils uns unbekannt ist, die
Einsicht, daß wir einen anderen Weg einschlagen müssen, wenn
wir uns einige Gedanken über dieses Konzil machen wollen. Und
darum lautet das Thema unserer Überlegungen: Zur Theologie
des Konzils. Wir fragen uns, was denn eigentlich von der katholi-
schen Glaubenslehre her gesehen ein Konzil sei. Dies und sonst
eigentlich nichts. Wir werden aber sehen, daß sich daraus durch-
aus Einsichten ergeben werden, die für gerade dieses Konzil und
für unsere Einstellung zu ihm von größter Wichtigkeit sind, von
größerer, als wenn wir versuchen wollten, in unserer Überlegung
möglichst « aktuell» zu sein.
280
kirche. Zwar mag sich die Tatsache, daß ein bestimmter Mensch
Glied dieses Kollegiums ist, erkennen lassen an der Tatsache, daß
ereinen festumrissenen Sprengel der Kirche als Ortsbischof recht-
mäßig zur Verwaltung und Leitung zugewiesen erhalten hat, und
diese Zuweisung mag der normale konkrete Weg sein (wenn wir
von untergeordneten Einzelfragen absehen), auf dem jemand in
dieses Kollegium aufgenommen wird. Das ändert aber nichts an
der grundlegenderen Tatsache, daß die kollegiale Einheit des Ge-
samtepiskopats unter dem einen Petrusnachfolger, dem Papst, die
sachlich und rechtlich vorgeordnete Größe ist gegenüber den ter-
ritorial begrenzten Rechten des Einzelbischofs und seiner territu-
rialen Funktion. Wesen, Sinn und Recht des Gesamtepiskopats ist
demnach nicht die nachträgliche Summierung des Wesens, der
Rechte und des Sinnes des einzelnen Episkopats der einzelnen Bi-
schöfe. Nur so wird erklärlich, warum dem Gesamtepiskopat nach
katholischer Lehre z.B. die absolute Lehrunfehlbarkeit unter be-
stinnmten Voraussetzungen zukommen kann, die sich als Summie-
rung der Lehrautorität der einzelnen Bischöfe als solcher und fehl-
barer nie erklären ließe. So kommt es auch, daß dem Bischof nicht
nur nachträglich zu seiner territorial begrenzten Einzelautorität
und als Folge davon, sondern im voraus dazu, wenn auch immer
nur als Glied der kollegialen Größe des Gesamtepiskopats, Rechte
und Pflichten der Gesamtkirche gegenüber zukommen,
Die Überzeugung von dieser Sachlage, die in der Theologie der
Kirchenverfassung noch nicht bis ins letzte durchdacht ist, spricht
sich am greifbarsten aus in der Lehre von der ordentlichen Lehr-
vollmacht des Gesamtepiskopats unter und mit dem Papst. Es gibt
nach katholischer Lehre nicht nur eine Lehrautorität und -voll-
macht des Gesamtepiskopats, wenn dieser in einem Konzil zusam-
mentritt und so eine Körperschaft bildet, und nicht nur die ordent-
liche Lehrautorität des Papstes zu Zeiten, in denen kein Konziltagt,
sondern es gibt ein ordentliches Lehramt des Gesamtepiskopats
immer und jederzeit, auch außerhalb des Konzils, mit und unter
dem Papst. Und diese Tatsache bezeugt (zumal in Anbetracht der
Unfehlbarkeit dieser Lehrautorität, die dieselbe Qualität wie die
des Römischen Papstes hat), daß der Gesamtepiskopat schon immer
eine wirkliche Einheit besitzt, ein einheitliches Subjekt von Pflich-
281
ten und Rechten immer schon ist und nicht erst durch seinen Zu-
sammentritt auf einem Konzil wird. Der Gesamtepiskopat ist ein
wahres Rechtssubjekt göttlichen Rechts und göttlicher Stiftung
mit und unter dem Papst irn voraus zu seinem Zusammentrittauf
einem Konzil. Er hat auch außerhalb des Konzils Pflicht, Rechtund
Möglichkeit zu einem Handeln als dem einer kollegialen Einheit,
gerade wenn und weil er diese seine Möglichkeiten aus seinem
Wesen und seiner Einheit im Papst heraus meist durch die per-
sonale Spitze und personale Repräsentanz dieser dauernden Ein-
heit, d.h. durch den Römischen Papst, wahrnimmt. Diese Tat-
sache, richtig gesehen, hebt diese handlungsfähige Einheit des Ge-
samtepiskopats, die er immer hat, nicht auf, sondern unterstreicht
sie und läßt sie dauernd aktuell bleiben. Damit ist natürlich nicht
gesagt, daß sich diese Handlungsfähigkeit des einen Gesamtepisko-
pats nur im Handeln des Römischen Bischofs vollziehe und in Er-
scheinung trete. Die tausend Weisen, in denen in der Kirchen-
geschichte der Gesamtepiskopat handelte, sowohl insofern er in
dem faktisch einträchtigen Lehren, Leiten und Regieren der ein-
zelnen Bischöfe auf dern Erdkreis handelte, als auch insofern ein
dauerndes gegenseitiges Geben und Nehmen zwischen den einzel-
nen Bischöfen und dem Römischen Primas diese Einheit vollzog,
können hier nicht genauer analysiert werden. Sie zeigen aber, daß
der Gesamtepiskopat, so wenig seine rechtliche Größe und Einheit
und die rechtlichen Strukturen seines Handelns in der Theologie
eingehend durchdacht wurden, immer in der Kirche als eine wirk-
liche und wahre kollegiale Einheit existierte und handelte.
Es ist nun bei der Kürze dieser Ausführungen nicht möglich, das
genauere Verhältnis dieses Gesamtepiskopats zum Papst darzu-
stellen. Katholische Glaubenslehre ist in dieser Hinsicht aber zu-
nächst einmal, daß dieser Gesamtepiskopat Träger der höchsten
Gewalten in der Kirche nur ist, insofern er selbst unter und mit
dem Papst eine Einheit bildet, er also das kollegiale Führungsgre-
mium in der Kirche nicht unabhängig oder gegen den Papst ist,
sondern nur insofern er selbst durch den Papst als seine eigene per-
282
sonale Spitze seine Einheit erhält. So freilich, wenn auch nicht als
Instanz im Unterschied vom und gegen das Papsttum, eignet dem
Gesamtepiskopat, wie die Lehre von der höchsten Lehrautorität
des Gesamtepiskopats zeigt, die höchste Gewalt in der Kirche, die
niemand anderm als nur Gott verantwortlich ist. Siehatnichtnoch
einmal eine Instanz neben oder über sich, die auf dem Weg einer
rechtschaffenden Nachprüfung über die Legitimität formaler oder
materialer Art befinden könnte und selbst gegen den Mißbrauch
dieser Gewalt nur noch durch den verheißenen Beistand des Gei-
stes und nicht mehr durch kirchenrechtlich greifbare Vorbehalte
oder Appellationsinstanzen geschützt wäre. Man muß nach katho-
lischer Lehre weiter sagen, daß der Römische Papst als Person (frei-
lich insofern er Papst ist) jene Rechte ausüben kann, die dem Ge-
samtepiskopat mit dem Papst an der Spitze zukommen, also die
höchste Jurisdiktions- und Lehrgewalt in der Kirche, und daß er
also auch den einzelnen Gliedern des Gesamtepiskopats gegenüber
diese Rechte besitzt. Er ist also durch sich selbst handeln könnende
und oberste Spitze dieses kollegialen Trägers der höchsten Voll-
machten in der Kirche und er bedarf dazu nicht einer besonderen,
rechtlich kontrollierbaren Beauftragung von seiten des Bischofs-
kollegiums, da ja dieses selbst nur handeln könnendes Rechtssub-
jektin der Kirche und gegenüber der Kirche ist, insofern es zur Ein-
heit im Papst verfaßt ist.
Sosehr der Römische Bischof somit auch wirklich in Person die
höchsteGewaltinderKirchebesitzt, so bedeutet dies dennoch nicht,
daß der Gesamtepiskopat als solcher vom Papst abgeschafft werden
könne, nur das ausführende Organ der päpstlichen Gewalt, und
dies nur Teilnahme an der päpstlichen Gewalt sei. Ja, man wird
über den eben gesagten, katholische Glaubensüberzeugung aus-
sprechenden Satz vom Episkopat göttlichen Rechtes in der Kirche
hinaus sagen können, daß auch dort, wo der Papst als Person und
aus der ihm in Person eignenden Fülle.der Gewalten handelt, er
als Haupt des Gesamtepiskopats handelt. Mit diesem Satz ist näm-
lich gerade nicht gesagt, daß der Papst einer rechtlich nachkon-
trollierbaren Beauftragung durch den Gesamtepiskopat als eines
von ihm und seiner Gewalt unterscheidbaren Rechtsträgers be-
dürfe. Man wird also sagen dürfen: es gibt in der Kirche einen höch-
285
sten Träger der der Kirche durch Christus mitgeteilten Fülle der
Gewalten, den Gesamtepiskopat (unter und mit dem Papst), der
eine kollegiale Größe ist und von vornherein nicht in zwei verschie-
dene Gewaltenträger aufgelöst werden kann, von denen ein Teil
dem anderen als beauftragende, kontrollierende und begrenzende
Gewalt entgegengesetzt werden könnte. Dieses eine Subjekt kolle-
gialer Einheit hat aber im Papst seine selbst handeln könnende
Spitze, ohne daß es selbst eine ihm, dem Papst, entgegengesetzte
Größe wäre. Auch hört der Papst, wenn er «ex sese» handelt,
darum nicht auf, Spitze des Kollegiums in diesem Handeln zu sein,
wenn er auch jedem einzelnen Bischof (als Einzelglied des Kolle-
giums) gegenüber selbst nochmals eine bischöfliche Jurisdiktion
hat, und wenn er auch die genauen Formen seines Handelns, durch
die es das Handeln der Spitze des Gesamtepiskopats wird, selbst be-
stimmen kann und an keine rechtlich nachkontrollierbaren be-
stimmten Formen solchen Handelns als Haupt der Kirche und
des Gesamtepiskopats gebunden ist.
284
einander unterschieden denkt. Insofern sie auch bei einer solchen
Auskunft eben doch verschieden wären, bliebe das Problem be-
_ stehen. Darum sagen Theologen wie z.B. Salaverri mit Recht, die -
Lehre, es gäbe nur eine höchste Gewalt in der Kirche, nämlich die
des Papstes, und das Konzil habe von ihm her seine Gewalt (wie
immer man diese Herkunft genauer denken mag), seilogisch klarer
und einfacher. Macht man aber so den Papst zum eigentlich doch
alleinigen Träger der höchsten Gewalt (ohne ihn dabei schon als
Haupt des Bischofskollegiums zu sehen), dann kommt man (wie
auch Salaverri gesteht) nicht mehr wirklich einsichtig mit der ganz
allgemeinen traditionellen und im Kirchenrecht ausgesprochenen
Lehre zurecht, daß das Konzil die höchste Gewalt in der Kirche
innehabe. Denn eine von einem anderen Amtsträger in einer Ge-.
sellschaft mitgeteilte Gewalt kann per definitionem nicht die höch-
stein dieser Gesellschaft sein, sondern ist eine abgeleitete, alsokeine
höchste.
Wir können um all diese Schwierigkeiten herumkommen, in-
dem wir sagen: Es gibt einen obersten und höchsten Träger der
obersten und höchsten Gewalt in der Kirche, die Einheit des Bi-
schofskollegiums, in und unter dem Papst zur Einheit verfaßt, und
dieser eine oberste Träger hat entsprechend dem Wesen eines Kol-
legiums die Möglichkeit, in verschiedener Weise handelnd aufzu-
treten, ohne dadurch die Einheit des handelnden Subjekts aufzu-
lösen : entweder in dem als Haupt des Kollegiums handelnden Papst
oder in einer Weise, in der die Kollegialität des einen Kollegiums
unmittelbarer und greifbarer zur Erscheinung kommt, d.h. in
einem Handeln, das sich unmittelbar aus dem Handeln der einzel-
nen Bischöfe zusammensetzt. Aber auch darin wirkt sich immer
noch die apriorisch einheitstiftende Funktion des Papstes aus (in-
sofern diese Bischöfe in sich und in ihrem Handeln «Frieden und
Einheit mit dem Apostolischen Stuhl» haben), und es wird nicht
nur eine nachträgliche Summierung der Handlungen der einzel-
nen Bischöfe hergestellt.
285
1
286
+
288
äquat vom Amt in der Kirche dargestellt werde. Es wäre ungerecht
gegen das Amt und verriete ein fundamentales Mißverständnis des
Wesens der Kirche, wenn man stillschweigend in seinem Handeln,
in seiner Beurteilung voraussetzte, das Amt in der Kirche habe erst
dann seine Pflicht erfüllt, wenn es gewissermaßen alles Charis-
matische in sich absorbiert habe und aus seinen eigenen Entschei-
dungen ausstrahle und verwirkliche. Die Kirche wird nur richtig
gesehen, wenn sie als von Gott allein adäquat verwaltete Einheit
_ von Amt und Charisma gesehen wird; von keiner der beiden Grö- |
Ben darf restlos das verlangt werden, was der anderen Größe zu-
kommt und als Aufgabe gegeben ist.
All dies muß gesagt werden, wenn wir wirklich verstehen wollen,
was ein Konzil ist, was wir von ihm erwarten dürfen und was nicht.
Der Gesamtepiskopat
Zunächst ist von dem zuerst Gesagten aus das Wesen des Konzils
verständlich. Das Konzil hat nach der Erklärung des kirchlichen
Rechtsbuches die oberste Gewalt in der Kirche inne. Diese Erklä-
rung stellt eine Tatsache göttlichen Rechtes in der Kirche fest, sie
ist nicht ein Verfassungsparagraph eines kirchlich-menschlichen
Rechtes, über den die Kirche oder der Papst selbst verfügen könn-
ten. Nach dem bisher Gesagten ist diese Bestimmungauch ohne wei-
teres einleuchtend. Es treten auf dem Konzil (seine legitime Ein-
berufungund Zusammensetzung vorausgesetzt)nichtEinzelbischö-
fezueinerneuen undbishernicht bestehenden Körperschaft zusam-
men, deren Recht und Gewalt erst neu geschaffen werden müßte,
sei es durch neue Rechtsbildung, sei es durch Verleihung durch
den Papst, sei es durch Zusammenlegung der Rechte der Einzel-
bischöfe als solcher; sondern es versammelt sich das oberste kolle-
giale Subjekt der Vollgewalt, die in der Kirche immer existiert, es
tritt ein kollegiales Subjekt der höchsten kirchlichen Gewalt zu-
schon
sammen, das immer schon bestand und diese Gewalt immer
ausübte. Es entsteht also nicht ein neues Subjekt von Gewalt, son-
dern ein altes Subjekt übt seine alte und bleibende Gewalt nur auf
289
eine andere Weise aus. Von da aus ist sowohl verständlich, warum
der Zusammentritt eines Konzils eine reine F rage des Ermessens
ist, warum ein Konzil nicht regelmäßig abgehalten werden muß,
warum es lange Zeiten in der Kirche gab und vermutlich geben
wird, in denen kein Konzil abgehalten wurde oder wird, wie auch,
warum ein Konzil, wenn es zusammentritt, die höchste Vollmacht
in der Kirche innehat: Was auf dem Konzil erscheint und handelt,
gibt es auch sonst und handelt auch sonst: der eine Gesamtepiskopat
als das eine kollegiale Führungsgremium der Kirche in Einheit mit
dem und unter Führung durch den Papst.
Dieser Gesamtepiskopat mit seiner bleibenden Vollmacht kann
konziliar handeln, er muß es aber nicht, weil er auch anders sein
und handeln kann. Handelt er konziliar, dann hat er auch als so
Handelnder genau die Vollmachten und Rechte, die er auch sonst
hat: die Unfehlbarkeit der Lehrgewalt (unter den hier nicht näher
darzulegenden Voraussetzungen und Bedingungen), die oberste
gesetzgeberische Gewalt, die oberste Hirtengewalt. Das ordentli-
che Lehramt handelt also in außerordentlicher Weise und kann in
diesem Sinn außerordentliches Lehramt genannt werden, das Sub-
jekt ist in beiden Fällen dasselbe. Und wenn es konziliar zusam-
mentritt, kann es sich nur auf die Gewalten berufen, die es immer
hat. Diese neue Weise seines Handelns gibt ihm keine neuen Voll-
machten.
290
des Kirchenvolks. Wir sehen hier davon ab, genauer auf die Frage
_ einzugehen, ob, in welchem Sinn und auf welche Weise die Hirten
der Kirche, die sich auf einem Konzil versammeln, eine solche
(gewissermaßen material demokratische) Pflicht auch auf dem
Konzil haben, so zu handeln, daß sie durch ihr Handeln die Sache
aller Glieder der einen Kirche vertreten und in einem wahren
Sinn im Namen des Kirchenvolkes handeln können, ob sie die
Pflicht haben, gewissermaßen auf das Gemeinwohl der Kirche
und somit aufdie legitimen Wünsche und Tendenzen des Kirchen-
volkes zu achten. Trotzdem besteht eine soinnige, durch Gott selbst
geschaffene, objektive und in ihrer Auswirkung durch den Geist
der Kirche garantierte Einheit zwischen Hirten und Kirchenvolk,
daß die Hirten auf einem Konzil auf jeden Fall in einem wahren
Sinn auch die Repräsentanten der ganzen Kirche und aller ihrer
Glieder sind. Es ist ja nicht so, daß die Kirche als das Volk der Er-
lösten und Christgläubigen ersi durch das Amt zu bestehen an-
fange, gleichsam als die bloß von den amtlich Beauftragten ange-
worbene Anhängerschaft einer Ideologie oder eines Vereins, der
von dem freien Werbeentschluß seiner Gründungsmitglieder aus
zusammengeschart wird. Dem Amt und den einzelnen Gläubigen
geht in gleicher Weise der absolute, prädefinierende Entschluß
Gottes zur Schaffung der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden
voraus, geht die Erlösung und so die objektive Heiligung der
Menschheit in Jesus Christus und seiner Erlösertat voraus, geht
die Menschheit als konsekriertes Volk Gottes voraus.
Diese Heilstat Gottes, die der eigentliche und dem Vergesell-
schaftungswillen der Menschen und dem Bestehen eines Amtes
vorausgehende Grund der Kirche ist, schafft sowohl Glaube (zu-
mindestens in den Amtsträgern einmal selbst) und Amt gleich ur-
sprünglich und ordnet beide Größen zu einer letztlich untrenn-
baren Einheit einander zu. Das zeigt sich sowohl darin, daß Glaube
auf das gemeinsame und geordnete Bekenntnis dieses Glaubens
hingeordnet ist und vom Hören der legitimierten Botschaft im
Munde der autorisierten Künder des Evangeliums herkommt, als
(und
auch darin, daß dieses kirchliche Amt nurin einem sein kann
wäre er selbst der Papst), der mindestens einmal in der öffentlich
rechtlichen Dimension auch ein Bekenner des wahren Glaubens
291
ist, und so Glaube und Amt nie restlos auseinanderfallen können
(wenn auch aus begreiflichen Gründen der Rechtsstabilität die
Vollmacht des einzelnen Amtsträgers in der Kirche nicht von seiner
inneren Gläubigkeit abhängig ist). Damit aber sind die Amtsträger
notwendig selbst Glaubende, wenigstens in der gesellschaftlichen
Dimension des äußeren Bekenntnisses; sie gehören selbst, um
Amtsträger sein zu können, zu denjenigen, die Glaubende sein
müssen, die hören und gehorchen;; sie und das Kirchenvolk stehen
sich nicht einfach gegenüber wie Obrigkeit und Untertan, wie
Befehlsgeber und Befehlsemipfänger. Beide stehen vor Gott als die
Glaubenden und Gehorsamen, als die auf dem einen Grund, Jesus
Christus und seiner Erlösungstat, Stehenden, sie sind miteinander
schon Brüder und Schwestern und in seiner Gnade, bevor diese
Einheit der Erlösung und des Glaubens nach dem Willen Christi
in die einzelnen Funktionen des einen Leibes Christi aufgegliedert
wird und es darum auch die Amtscharismen der Lehre und der
Leitung gibt, die nicht jedem im gleichen Maß zukommen. Darum
aber sind die Leiter der Kirche, gerade weil sie ihr Amt von Chri-
stus innerhalb der einen schon bestehenden Kirche erhalten, zu
der alle Christen als Glieder des einen Leibes Christi, und nicht
bloß als Untertanen gehören, auch ohne eine demokratische Be-
vollmächtigung von unten schon immer und zumal auf einem
Konzil Repräsentanten der ganzen Kirche und aller ihrer Glieder.
Wenn diese wesensmäßige Repräsentanz des ganzen Kirchenvolkes
durch die Hierarchie behauptet wird, so ist damit natürlich noch
nicht gesagt, daß diese Grundrepräsentanz nicht in der verschie-
densten Art in Erscheinung treten und in der mannigfaltigsten
Weise durchgeführt werden könne, besser und auch schlechter.
Und noch weniger ist geleugnet, daß man auch heute darüber mit
Recht nachdenken könnte, wie und in welcher Weise, durchaus
vereinbar mit der göttlichen Verfassung der Kirche und der dem
Episkopat allein vorbehaltenen Leitungsgewalt, sich der Einfluß
auch des Kirchenvolkes auf einem Konzil geltend machen könnte
und sollte. In dieser Hinsicht braucht nicht jede faktische Praxis
der Kirche in ihrer Hierarchie gleich ideal und den Zeitumständen
gleich angepaßt zu sein.
292
Das Konzil und das Charismatische in der Kirche
294
x
Man wird von dem Konzil nicht erwarten können, daß es in der
Glaubenslehre grundlegend neue Erkenntnisse verkündigt. Dieser
Satz ist natürlich nicht in dem Sinn gemeint, als ob man denken
oder wünschen könnte, ein Konzil könne überhaupt etwas anderes
verkünden als die Wahrheit der Offenbarung Jesu Christi, wie sie
295
seit je von der Kirche verkündigt worden ist. Aber angesichts der
heutigen Lage der Welt und Geschichte, der aufgetauchten und.
neu noch auftauchenden Probleme, angesichts einer mit unge-
heurer Geschwindigkeit sich wandelnden und die ganze Welt
ergreifenden Mentalität des positivistischen, naturwissenschaft-
lichen, industriellen Menschen ließe sich doch denken und
wünschen, daß das Evangelium neu gepredigt, die Wahrheit in
einer Weise gesagt werde, in der die alte, ewig gültige Wahrheit
der christlichen Offenbarung neu durchdacht, aus dieser Menta-
lität des Menschen von heute heraus formuliert ist, seine Ver-
ständnisansätze und seine Verständnisschwierigkeiten von vorn-
herein und wie selbstverständlich berücksichtigt sind und so die
ewige Wahrheit Christi dem Menschen mit nicht mehr Schwierig-
keiten und Hindernissen vorgetragen wird, als es unvermeidlich
ist, wenn die hohe Wahrheit Gottes im engen, vorurteilsbefange-
nen und sündigen Menschen Eingang sucht. Hier ist nun nüchtern
zu sehen, daß man von einem Konzil in der gegenwärtigen Situa-
tion nicht viel in dieser Hinsicht verlangen kann. Das Amt, auch
wenn es das Lehramt ist, muß sich seinem Wesen nach an das
allgemein Gelehrte, an das Erprobte und überall schon Ein-
gängige halten. Das Lehramt als solches kann nur in einer Weise
formulieren, wie sie schon durch die erprobte Tradition der
letzten Jahrzehnte oder Jahrhunderte gewohnt und als legitim
ausgewiesen ist.
Wenn man hinsichtlich einer zeitnahen Verkündigung des
Evangeliums und des Glaubens der Kirche Wünsche hätte, so
wären sie an die Theologie der letzten Jahrzehnte oder Jahrhun-
derte zu richten gewesen. In ihr gibt es natürlich in einem nicht
unerheblichen Maß Bemühungen, das Wort der Offenbarung zeit-
gemäß und existentiell «ankommend » zu sagen. Aber man gäbe
sich doch einem unberechtigten Optimismus und einer (auch unter
Theologen nicht einfach seltenen, wenn auch unbeabsichtigten)
gegenseitigen Beweihräucherung hin, wollte man im Ernst be-
haupten, daß die Theologie von heute im ganzen jenen zu gleich
streng wissenschaftlichen wie ebenso charismatischen Schwung
habe, der ihre Aussagen wirklich so zeitgemäß und überzeugend
machte, wie es sein müßte und sein könnte, wenn das Wort Gottes
296
und die Wahrheit Christi das sehnsüchtig gesuchte Heil aller Zei-
ten sind.
Viele werden es sicher nicht gern hören, und wenn man es sagt,
so ist damit auch nicht gemeint, man sei der Ansicht, daß man,
wenn man kritisiert, es selbst besser gemacht habe. Die Tatsache
jedoch, daß das Christentum heute zum allergrößten Teil in
der ganzen Welt in der Defensive ist, muß doch wenigstens zu
einem Teil daher kommen, daß die Prediger des Christentums es
nicht so verkündigen, wie man es verkündigen müßte und könnte.
Das hat mit einer Schuld auf seiten der Prediger des Evangeliums
nicht notwendig etwas zu tun, wenn auch diese nicht ausgeschlos-
sen werden sollte (denn warum sollten sich die Amtsträger in der
Kirche einbilden dürfen, sie seien keine armen Sünder und trägen
Knechte Gottes?). Aber wenn das Evangelium Gottes nach der
Lehre der Kirche in sich mit seinen fundamentaltheologischen Be-
gründungen hell und strahlend und der Intelligenz jedes Men-
schen zu allen Zeiten angepaßt ist, und wenn wir nicht das Recht
haben, die Mehrzahl der Menschen entweder für übertrieben
dumm oder für böswillig zu halten, dann bleibt uns Predigern und
Theologen der Kirche gar nichts anderes übrig als zu gestehen,
daß wir offenbar noch nicht gelernt haben, das Evangelium Gottes
so zu verkündigen, daß es durch unsere Verkündigungsweise in
seiner strahlenden Helle nicht in etwa verdunkelt wird. Ob wir
das selbst spüren oder nicht, ändert an der Sache selbst nichts. Es
muß so sein, gerade wenn wir es selbst nicht so empfinden und der
Meinung sind, man könne Gottes Botschaft nicht besser ausrichten,
als wir es tun.
Ist aber die Theologie und die durchschnittliche Verkündigung
aufden Kanzeln und in den Schulen so, wie sie ist, dann kann man
(zumal wenn ein Konzil kurz dauern soll und die Hauptarbeit von
denselben Theologen geleistet werden muß, die auch jene Schul-
theologie vertreten, von der man nicht sagen kann, daß sie nicht
wesentlich zeitgerechter sein könnte) nicht im Ernst und ohne
gegen ein Konzil und seine Möglichkeiten ungerecht zu werden,
erwarten, daß es in den theologischen Dekreten wesentlich
anders sein wird als heutige Theologie in der Schule, auf der
Kanzel und in den theologischen Büchern eben ist. Man wird gute,
297
‚sorgfältig überlegte, oft durchdiskutierte Lehrdekrete erwarten
können. Aber es wird gut sein, schon jetzt, ohne falschen Optimis-
mus nüchtern zu sagen: Man wird keine Lehrdekrete erwarten
können, die den Nichtchristen sonderlich aufhorchen lassen, die
Geist und Herz der Christen mit einem ganz ungewohnt neuen
Licht erfüllen werden. So etwas zu verlangen wäre dem Wesen
eines Konzils unter den heutigen Umständen unangemessen. Das
Lehramt kann das Charisma der Theologie nicht ersetzen. Und
. hat dazu keine Aufgabe. Ist dieses Charisma heute schwach, wird
sich das auch in den Lehrdekreten eines Konzils von heute zeigen.
Man kann vielleicht sogar einer berichteten Absicht des Heiligen
Vaters entsprechend hoffen, daß nicht zu viel definiert wird. Wenn
ein Konzil gar nicht mit einem bestimmten, schon aktuell disku-
tierten Fragepunkt lehrhafter Art zusammentritt (und dies ist doch
offenbar nicht der Fall, da es ja nicht zur Bereinigung von neu ent-
fachten und umstrittenen Fragen einberufen worden ist, die die
Gefahr einer neuen, noch nicht verurteilten Häresie herauffüh-
ren), dann liegt (menschlich gesprochen, wer kann es sagen?) die
Gefahr nahe, daß man nun gewissermaßen sucht, wo man dem
Konzil einen einer solchen Synode würdigen Gegenstand lehrhaf-
ter Art finden könne, daß man Lehrdefinitionen zur Beschluß-
fassung vorschlägt, damit sich das Konzil auf diesem Feld als wich-
tig und groß ausweise.
Eine solche Tendenz ist menschlich zu naheliegend, als daß man
sie von vornherein für unmöglich halten könnte. Ich vermute,
daß nicht nur Luther, sondern auch katholische Christen schon
gedacht haben, daß das 5. Laterankonzil eigentlich wichtigere Pro-
bleme gehabt hätte, die es aber ungelöst gelassen hat, als die De-
finition der natürlichen Unsterblichkeit der menschlichen Seele,
so wahr dieser Satz ist. Die damit verworfenen wenigen Neo-
aristoteliker waren nicht die Gefahr, die damals vor allem der
Kirche drohte. Die Prälaten jenes Konzils hätten sie näher bei sich
selbst suchen sollen. Die heute die eigentliche Substanz des Chri-
stentums bedrohenden Häresien sind nicht jene im Grunde doch
harmlosen, wenn vielleicht auch wirklich irrigen und rein logisch
gesehen sehr « substantiellen » Irrtümer, die da und dort auch bei
katholischen Theologen zu finden sein mögen. Der eigentliche
298
'Positivismus, der latente und kryptogame Materialismus, die Un-
fähigkeit, das Nichtempirische als wirklich zu realisieren, das Ge-
fühl, daß das Geheimnis, Gott genannt, nur durch «Abwesenheit »
anwese und zu groß sei, als daß man es anders als durch ein be-
kümmertes Schweigen ehren könne, das tief im Grund des Geistes
sitzende Gefühl, das vom rein Logischen gar nicht erreichbar ist,
von der Relativität alles Menschlichen und so auch Religiösen
angesichts des unüberwindlichen Pluralismus der heutigen Kultu-
ren und der territorial und historisch unübersehbaren Vielfalt der
religiösen Erscheinungen, die Unabsehbarkeit künftiger Entwick-
lungen bei einer Überzeugtheit, daß wir noch ungeheure neue
Entwicklungsphasen vor uns haben, alle diese wirklichen oder hal-
ben « Häresien » sind noch gar nicht so thematisch in der Theologie
geworden, noch gar nicht so «aufgearbeitet» (theoretisch und
existentiell), daß das kirchliche Lehramt die Wahrheit dagegen
so formulieren könnte, daß sie in einer Weise in Geist und Herz
des Menschen einstrahlte, wie es durch die bisherige übliche Lehre
noch nicht geschehen ist.
Gerade weil dies von dem Konzil gar nicht verlangt werden
kann und darf, möchte man wünschen, daß das Konzil nicht durch
viele (selbstverständlich wahre) Definitionen den Eindruck er-
wecken möchte, diese Aufgabe dennoch erfüllen zu wollen. Darf
man mit allem Freimut sagen, daß es - immer menschlich gespro-
chen, wie es menschlichen und vor dem letzten Spruch des Konzils
erlaubten, ja gebotenen Erwägungen entspricht — höchst inoppor-
tun wäre, wenn nun auf dem Konzil diese oder jene theologischen
Kontroversen, die unter Pius XII. zur Sprache kamen, konziliar
Los der
entschieden würden, wie über den Monogenismus, das
ungetauft sterbenden Kinder, über die Beurteilung der Psycho-
in
analyse, oder diese und jene andere Frage, die durch Pius XI.
« Humani generis » durchaus in genügender Weise beurteilt wor-
den ist?
-
In mehr kirchendisziplinärer Hinsicht wird das Konzil zweifel
en treffen können und wohl
los nicht unwichtige Entscheidung
Fra-
auch treffen. Hier sind ja von vielen Seiten und schon länger
Amtes
gen angemeldet, die unmittelbar in die Kompetenz des
und die von
auch in seiner konziliaren Handlungsform gehören
299
N
ihm allein (weil sie unmittelbar das Recht der Kirche betreffen)
und auch schon jetzt gelöst werden können: Fragen des Verhält-
nisses zwischen religiösen Genossenschaften und den Bischöfen,
einer gewissen Dezentralisation der Kirche in größere territoriale
Komplexe hinein (nicht einfach in die kleinen Einzeldiözesen als
solche, die ja hinsichtlich vieler kirchlicher Fragen heute keine
handlungsfähigen Gebilde mehr sind), einer Dezentralisation,
die gar nicht im Widerspruch dazu steht, daß die Kirche im
Zeitalter der Welteinheit in vieler Hinsicht einer gesteigerten
Einheit und Verantwortlichkeit jedes Teiles, jeder Diözese usw.
für die Gesamtkirche gebieterisch bedarf, einer größeren Offen-
heit gegenüber den nichtunierten orientalischen Kirchen und
den evangelischen Christen, einer Möglichkeit, daß sich mit der
katholischen Kirche unieren wollende kirchliche Gebilde in
einer Art «Ritus» die echte christliche Tradition ihrer Ver-
gangenheit bewahren können, der mutigen Vereinfachung des
kirchlichen Strafrechtes und sonstiger kirchenrechtlicher Gebilde,
der Anerkennung vieler Dinge, die sich in derund durch die Litur-
gische Bewegung schon angebahnt haben, aber durch die liturgi-
schen Reformen der beiden letzten Päpste noch nicht ganz durch-
gesetzt sind, der zeitgemäßen Erneuerung des Diakonats, der An-
passung der Nüchternheits-, Fasten- und Abstinenzgesetze an das
heutige Leben (wenn man da überhaupt noch eine gesamtkirch-
liche Gesetzgebung für möglich hält), solche und ähnliche Fragen
können von diesem Konzil vermutlich viel eher einer Lösung zu-
geführt werden, teils weil sie einfacher sind, teils weil sie keine
besonderen schon gegebenen « charismatischen » Voraussetzungen
haben, teils weil das Verständnis für eine bestimmte Lösung schon
in der ganzen Kirche vorausgesetzt werden kann. |
Man kann wohl auch vermuten, daß unter solchen, dem Amt
von vornherein zustehenden und für es auch im Augenblick schon
möglichen Lösungen solche sein werden oder sein können, die auf
den ersten Blick sehr harmlos, selbstverständlich und nicht sehr
weittragend erscheinen, in Wirklichkeit aber von Wirkungen auf
die Zukunft, auf die Mentalität der Menschen in der Kirche sein
können, wie sie noch gar nicht abschätzbar sind und vielleicht so-
gar von den Verfassern solcher kirchendisziplinären oder liturgi-
3500
'
Vielleicht sind wir nun aus einer Theologie des Konzils im all-
gemeinen zu sehr in eine Praxis des kommenden Konzils geraten
501
I
502
DIE THEOLOGIE DER ERNEUERUNG
DES DIAKONATES
a) Unter dem Problem der Legitimität der Frage nach der Er-
neuerung des Diakonats ist die Frage verstanden, ob es berechtigt
und praktisch sinnvoll ist, eine Möglichkeit der Erneuerung des
Diakonats in der lateinischen Kirche überhaupt zum Gegenstand
einer Untersuchung zu machen, die eine praktische Bedeutung
haben kann und nicht rein theoretisch ist. Es könnte ja jemand
der Meinung sein, die heute in der lateinischen Kirche herrschende
Praxis sei hinsichtlich dessen, was dabei die Kirche tut und unter-
läßt, schon auch ein zwingendes Argument dafür, daß diese Praxis
nicht nur möglich, sondern auch die bestmögliche sei, weil sie
durch die Erfahrung von vielen Jahrhunderten gebildet wurde und
schon seit vielen Jahrhunderten im ungestörten Selbstverständnis
503
der Kirche sich befindet, also eine ernsthaft praktische Frage nach
einer gegenteiligen Praxis von vornherein nicht mehr gestellt
werden könne. Darum geht der erste Abschnitt der systematischen
Darlegung dieser Frage der Legitimation der Fragestellung nach.
b) Voraussetzungen für die Beantwortung dieser ersten Frage.
&) Der Diakonat ist ein Teil jenes Amtes, des «Ordo», das
Christus mit der Gründung der Kirche dieser Kirche mitgeteilt
hat, und der Diakonat als Weihehandlung oder Amtsübertragungs-
ritus gehört zu jenem Amtsübertragungsritus, den Christus in
der Kirche und für die Kirche als eigentliches Sakrament gestiftet
hat, wie immer man diese Stiftung genauer sich denken mag!.
Die Sakramentalität des Ordo im allgemeinen und auch die
Sakramentalität der Diakonatsweihe im besonderen kann hier als
aus den positiven Quellen und aus den Lehräußerungen des
kirchlichen Lehramtes feststehend vorausgesetzt werden. Was die
Sakramentalität des Diakonats angeht, so ist die bestehende These
mindestens «sententia certa et communis ».
ß) Der Satz von der Sakramentalität des Diakonats meint den
Weiheritus für jenes Amt, samt seinen Vollmachten und Pflichten,
das in der Kirche von Anfang an, d.h. von apostolischer Zeit her
bis heute, Diakonat genannt wurde und unter dieser Bezeichnung
existiert und ausgeübt wurde. Zwar ist es richtig, daß die genauere
Konzeption dieses so genannten Amtes mit seinen Amtsobliegen-
heiten und Rechten in den verschiedenen Zeiten und Gebieten
der Kirche nicht unerhebliche Verschiedenheiten aufweist. Wer
aber den Diakonat als von Christus der Kirche gegebenes Sakra-
ment nicht nur verbal, sondern real bejahen will, muß zugeben,
daß alle jene Amtsträger in der apostolischen Zeit und in größeren
Zeiträumen und Gegenden der Kirche wirklich Diakone waren,
trotz und in der größeren oder geringeren Verschiedenheit des
von ihnen faktisch ausgeübten Amtes, und daß diesen Diakone
genannten Amtsträgern ihre Vollmacht durch eine wirklich
sakramentale Weihe übertragen wurde. Die nicht geringe Ver-
schiedenheit der faktischen Amtsobliegenheiten bedeutet auch für
die Einheit und Sakramentalität dieses Amtes und seines Über-
tragungsritus keine wirkliche Schwierigkeit. Denn alle diese
1 Vgl. K. Rahner, Kirche und Sakramente (Freiburg 1960) 85-95.
504
Amtsobliegenheiten kommen trotz ihrer Verschiedenheit darin
überein, daß sie (negativ) kein Recht einer eigentlichen Leitungs-
gewalt in der Kirche beinhalten, darum auch nicht die eigentliche
amtspriesterliche Funktion in der Darbringung des eucharistischen
Opfers einschließen, und anderseits (positiv) eben alle jene
Leistungen besagen, durch die den eigentlichen Leitern der
Kirche in deren eigenem Amt als solchem Hilfe geleistet wird. Mit
anderen Worten, die historisch sehr verschiedenen Funktionen
der Diakone sind doch eines Wesens: Hilfe für die Leiter der
Kirche, durch die deren Funktion nicht übernommen und nicht
vertreten wird, sondern bei deren Ausübung durch die Leiter der
Kirche selbst diese unterstützt werden. Jede Hilfeleistung dieser
Art kann grundsätzlich ein Moment an jenem Amt sein, das das
der Diakone ist, und darum ermöglicht werden durch jene Gnade,
die durch die sakramentale Diakonatsweihe verliehen wird (oder
werden kann). Wenn so an sich jede solche Hilfe grundsätzlich
in den Bereich des Diakonates fällt, so kann die Kirche (wie sie
es tatsächlich tat) diese oder jene solche Hilfeleistung vor anderen
entsprechend den Bedürfnissen der Zeit in den Vordergrund
rücken, aus dem Kreis der diakonischen Vollmachten, die durch
das Sakrament übertragen werden, ausnehmen oder in ihm be- _
lassend doch gewissermaßen stillegen (wie die Kirche es ja z.B.
auch tat hinsichtlich der Vollmachten anderer Weihegrade, wie
der Firmvollmacht eines einfachen Priesters). All dies läßt das
Wesen des Diakonats intakt unter drei Voraussetzungen:
Es muß eine Hilfsfunktion hinsichtlich der Leiter der Kirche
in einer Aufgabe übrigbleiben, die diesen Leitern eigentümlich
ist, also dem Amt in der Kirche als solchem im Unterschied von
den Laien zukommt;
dieses Hilfsamt muß an sich grundsätzlich als bleibende Aufgabe
gemeint sein, weil ein im sakramentalen Wesen samt seinem
Charakter grundsätzlich unverlierbarer Diakonat an sich nicht
sinnvollerweise für eine von vornherein als vorübergehend ge-
dachte Funktion verliehen werden kann;
dieses dienende Hilfsamt muß doch von einiger größerer Be-
deutung sein, da geringere solche Hilfeleistungen nach Ausweis
der Geschichte und der Praxis der Kirche zu allen Zeiten, sei es
505
' dauernd, sei es vorübergehend, von Menschen geleistet wurden,
die in der Kirche weder im strengen Sinn Diakone genannt wurden
noch für eine solche Hilfsfunktion durch eine sakramentale Weihe
bestellt und ausgerüstet wurden.
y) Der Diakonat kann zwar eine «Stufe » sein, durch die jemand
zum Priestertum aufsteigt, wenigstens in dem Sinn, daß die
Kirche das höhere Amt einem nicht überträgt, außer nach Über-
tragung des niedrigeren diakonischen, wie die Lehre und die
Praxis vor allem der lateinischen Kirche beweisen. Diese Praxis
ist aber dem Diakonat nicht wesentlich, sondern eher akzidentell
und grundsätzlich eher in dem gemeinmenschlichen Umstand
begründet, daß die gute Ausübung einer niedrigeren Funktion oft
die Geeignetheit des betreffenden Amtsträgers für eine höhere
Funktion und so die Berufbarkeit zu diesem höheren Amte zeigt.
Denn die Praxis der alten Kirche beweist, daß der Diakonat
keineswegs nur als Stufe betrachtet und geübt wurde, durch die
man zum Priestertum aufsteigt, sondern durchaus als bleibendes
Amt in der Kirche galt. Das ist auch aus der Natur der Sache
verständlich. Ein Amt und eine Aufgabe in einer Gesellschaft, das
für diese Gesellschaft notwendig und von einem anderen Amt in
ihr verschieden ist, wenn es in seinen ihm eigentümlichen Funk-
tionen richtig erfaßt wird, ist nicht einfach schon eine Stufe zu
einem höheren Amt, sondern kann jemandem durchaus verliehen
werden, ohne daß einem solchen Amtsträger damit auch schon
die Fähigkeit und das Recht des Übergangs zu einem höheren Amt
übertragen wird. Ja es kann sein, daß das Wesen eines solchen
Amtes von dem eines anderen so verschieden ist, daß die gute Aus-
übung des einen Amtes noch in keinem erheblichen Maß die
Geeignetheit seines Trägers für ein anderes und höheres Amt be-
weist. Von da aus muß der Satz interpretiert werden, dem zufolge
der Diakonat die Stufe sei, durch die man zum Priestertum auf-
steigt. Wenn mit diesem Satz nichts anderes gesagt werden soll,
als daß die lateinische Kirche faktisch niemanden zum Priester
weiht, den sie nicht vorher zum Diakon geweiht hat, dann ist
dieser Satz selbstverständlich. Soll aber mit diesem Satz gesagt
werden, daß die Kirche grundsätzlich jemanden nur zum Priester
weihen könne nach der Diakonatsweihe als einer notwendigen
506
Voraussetzung für die Priesterweihe (so wie die Firmung die
Taufe voraussetzt), oder daß der Diakonat seinem Wesen nach die
menschliche Erprobung der sittlichen und religiösen Geeignetheit
eines Menschen für das Priestertum sei, oder daß jemand nur für
den Diakonat geeignet sein könne, wenn er auch für das Priester-
tum Eignung und Berufung habe, so ist dieser Satz einfach falsch.
Denn der Presbyterat kann gültig auch ohne vorausgehenden
Diakonat erteilt werden, mit welcher Feststellung natürlich nichts
gegen die heutige gesetzlich verankerte Praxis der Kirche gesagt
ist, nur Diakone zu Priestern zu weihen. Die bisherige Praxis
eines nur sehr kurzen Zeitraumes zwischen Diakon- und Priester-
weihe läßt den Diakonat nicht als Mittel der Erprobung eines
Menschen hinsichtlich seiner Geeignetheit für das Priestertum
erscheinen. Die Amtsobliegenheiten eines Diakons sind bei einem
richtigen und vollen Verständnis dieser Obliegenheiten so sehr von
denen eines Priesters verschieden, daß die Geeignetheit für den
Diakonat noch keine Geeignetheit für das Priestertumeeinschließt,
eine solche also auch vom Diakon als solchem nicht gefordert wer-
den muß. Insofern hat der Diakonat von seinem Wesen her
durchaus nicht den Charakter einer Stufe zum Priestertum, außer
in dem Sinne, daß er das eingeschränktere Amt im Vergleich zum
Priestertum ist und daß das Priestertum die diakonischen Voll-
machten (aus später noch darzulegenden Gründen) in sich «emi-
nenter» einschließt, und daß faktisch nur Diakone zu Priestern
geweiht werden.
c) Die Frage nach der Erneuerung dieses so verstandenen
Diakonats, d.h. die Frage, ob es möglich und ratsam sei, Amt und
Amtsübertragung des Diakonats in der lateinischen Kirche wieder-
herzustellen, ohne daß die so Geweihten von vornherein als Kandi-
daten einer späteren Priesterweihe geweiht werden und so der
Diakonat nur als Stufe zum Priestertum erscheint, ist aus folgen-
den Gründen legitim:
&) Zunächst einmal wäre es eine falsche Behauptung, wenn
man sagen wollte, die heutige Praxis und Gesetzgebung in der
Kirche hinsichtlich des Diakonats als bloßer Stufe zum Priestertum
sei schlechthin allgemein. Denn die Praxis und Gesetzgebung der
lateinischen Kirche ist noch keine Praxis der Gesamtkirche. Bei
507
den orientalischen unierten Kirchen gibt es aber bis in die jüngste
Zeit einen Diakonat, der nicht nur eine Stufe zum Presbyterat ist.
Bedenkt und würdigt man diese Tatsache, so kann die Praxis der.
lateinischen Kirche im besten Falle als ein Argument dafür gelten,
daß in gewissen Zeiten und unter bestimmten Umständen der
Diakonat als bloße Stufe zum Presbyterat möglich und vielleicht
auch opportun war. Eine solche lateinische Praxis beweist aber
weder, daß sie die einzig mögliche und legitime ist, noch daß sie
für alle weiteren Zeiten und Umstände die opportunste sein und
bleiben werde.
ß) Eine solche Praxis beweist auch nicht durch ihre jahr-
hundertelange Dauer, daß sie auch heute und für alle kommenden
Zeiten empfehlenswert sei. Wie wir aus der Kirchengeschichte
wissen, gab es viele Praxen und Gewohnheiten in der Kirche, die
ziemlich allgemein und langdauernd waren, ohne daß daraus ihre
Beibehaltung auch für andere und spätere Zeiten und Umstände
gefolgert werden könnte. Durch Jahrhunderte existierte die
Praxis, Laien nur selten und unter übertrieben schweren Be-
dingungen zur Eucharistie zuzulassen. In der lateinischen Kirche
der Väterzeit gab es durch Jahrhunderte die Übung und Vor-
schrift, bestimmte Sünder nur einmal zur sakramentalen Kirchen-
buße zuzulassen. Durch Jahrhunderte gab es die Praxis, Ablässe
für Geldspenden zu frommen Zwecken zu gewähren. Durch viele
Jahrhunderte hindurch war für die Gültigkeit der Ehe der Ehe-
abschluß vor dem Priester nicht erfordert. Überdies muß beachtet
werden, daß die heutige Praxis hinsichtlich des Diakonats sich
ohne viel Reflexion und eigentliche ausdrückliche Entscheidungen
aus historischen Bedingungen entwickelt hat, die heute nicht mehr
notwendig geltend sein müssen. Da auch unter der heutigen
lateinischen Gesetzgebung ein Diakon, der sich nach seiner Weihe
nicht zum Priester weihen läßt, an sich nicht an der Ausübung
seiner diakonischen Vollmachten und Rechte grundsätzlich ge-
hindert werden muß, so zeigt sich auch von da, daß die heutige
Praxis nur mit höchster Vorsicht und Vorbehalt, wenn überhaupt,
als Argument hinsichtlich einer besten und zu empfehlenden
Praxis und Gesetzgebung der heutigen Kirche ins Feld geführt
werden kann. Es kann also wirklich auch praktisch die ernsthafte
508
- y \ '
a) Wie wir schon gesagt haben, setzen wir als Ergebnis der posi-
tiven Theologie über einen Diakonat voraus, daß die Diakonats-
weihe ein Sakrament als Teil des einen sakramentalen Ordo in
der Kirche ist. Damit ist aber das Verhältnis zwischen Diakonat .
und Priestertum noch nicht hinreichend geklärt, was aber doch
die Voraussetzung ist für eine wirklich hinreichende Beantwor-
tung mancher Fragen, die mit dem Problem der Erneuerung des
Diakonats gestellt werden müssen. Und darum ist diese Frage
nach dem genaueren Verhältnis von Presbyterat und Diakonat
nicht ganz zu umgehen, sosehr vieles mangels kirchenlehramt-
licher Erklärungen und wegen der Dunkelheit der urkirchlichen
Geschichte dabei unsicher und umstritten bleiben wird.
b) Angesichts des Berichtes über die Erwählung und Auf-
stellung der Sieben (wenn wir sie als Diakone überhaupt auffassen
wollen oder müssen) und bei Würdigung der nicht unbeträcht-
lichen Verschiedenheiten in der Struktur der Gemeinden in der
apostolischen Zeit und aus anderen Gründen, die hier nicht dar-
gelegt werden können, wird man nicht annehmen können, daß
die Dreiteiligkeit des Amtes in der Kirche (Bischofsamt, Priester-
amt, Diakonenamt) unmittelbar auf den ausdrücklichen Willen
des historischen Jesus vor oder nach der Auferstehung zurückgehe.
Damit ist das ius divinum dieser drei Amtsarten oder Amtsstufen
nicht geleugnet. Wir werden unbefangen annehmen können, daß
Jesus seiner Kirche das Amt auch hinsichtlich dieser drei Stufen
in dem Sinne gegeben und eingestiftet hat, daß er dem Apostel-
kollegium mit Petrus als Spitze alle jene-Vollmachten und Befug-
nisse, Aufgaben und Rechte gegeben hat, die mit dem Wesen der
von ihm gestifteten Kirche entweder notwendig mitgegeben sind
(auch ohne ausdrückliche Erklärung) oder auch von ihm aus-
drücklich (z.B. hinsichtlich der Vollmacht zum Vollzug bestimmter
Sakramente) als solche erklärt worden sind, und daß mit einer
509
solchen Kirchenstiftung als vollkommener Gesellschaft dem Amt
in der Kirche auch das Recht verliehen wurde, diese Amtsgewalt
entsprechend den praktischen Notwendigkeiten des Ortes und der
Zeit ganz oder eben nur zu einem bestimmten, umgrenzten Teil
auf andere, spätere Amtsträger zu übertragen.
Von dieser Möglichkeit haben offenbar in der Urkirche die
Apostel schon Gebrauch gemacht, mindestens in der Bestellung der
Sieben (die ja eindeutig nicht alle Vollmachten und Aufgaben der
Apostel übertragen erhielten), in der Bestellung von Diakonen, die
eindeutignicht jene Vollmachten im ganzen besaßen, die jenen eig-
neten, die in diesem Zusammenhang &rtioxono: genannt werden,
in der Bestellung einer kollegialen oder monarchischen Führungs-
spitze in den Einzelgemeinden zu Lebzeiten der Apostel, welcher
Spitze doch offenbar nicht alle Vollmachten eines eigentlichen
Apostels zugesprochen wurden. Die Variabilität solcher teilweisen
Amtsübertragung in der Urkirche zeigt doch wohl, daß man in
der Aufteilung des einen und ganzen Amtes, das in der Kirche und
ihrem Wesen entsprechend von Christus ihr gegeben ist, sich an
keine fixen Bestimmungen Jesu gebunden wußte, die über die
Bestellung des Apostelkollegiums mit der petrinischen Spitze und
eine durch autoritative Weitergabe der bleibenden Vollmachten
‘des Apostelkollegiums geschehende Weiterexistenz des Apostel-
kollegiums hinausgingen. Entsprechendes ist dann auch von dem
Amtsübertragungsritus solchen Amtes zu sagen. Grundsätzlich
ist die Amtsübertragung in der Kirche mindestens dort, wo sie das
Amt in seinem innersten Wesen als heiligender und nicht hoheit-
licher Vollmacht betrifft, ein Sakrament und bleibt so grundsätz-
lich, solange die Kirche bei einer solchen Teilamtsübertragung
geringeren Umfangs keine gegenteilige Absicht hat, auch sakra-
mental, wenn nur ein Teil dieses einen Amtes in der Kirche
übertragen wird (freilich unter den allgemeinen Voraussetzungen,
die für die Existenz eines Sakramentes aus seinem Wesen oder aus
von der Kirche selbst festgelegten Voraussetzungen für ihren
sakramentalen Spendungswillen gegeben sind). Von da aus ist
leicht einzusehen, daß zunächst einmal die Bischofsweihe grund-
sätzlich als Sakrament anzusehen ist (trotz der mittelalterlichen
Bestreitung dieses Satzes [vorausgesetzt freilich, daß man nicht
510
annehmen muß, es seien auch schon in der Priesterweihe an sich
alle postetates ordinis schon gegeben, seien aber gebunden und
würden nur bei dem Sakramentale einer Bischofsweihe in liturgi-
scher Form entbunden]). Von da her wird auch klar, daß jene
Amtsübertragung jenes Teiles des Amtes in der Kirche, das auf
jeden Fall das des Priesters ist, einen solchen bedeutenden Teil
des Amtes in der Kirche mitteilt, daß auch diese Teilamtsüber-
tragung den Grundcharakter der kirchlichen Amtsübertragung,
seine Sakramentalität, bewahrt. Von hier aus wird auch verständ-
lich, warum die Tradition auch der Diakonatsweihe immer einen
sakramentalen Charakter zugeschrieben hat. Von hier aus ist ver-
ständlich, daß die mittelalterliche Theorie von der Sakramentalität
des Subdiakonats und der niederen Weihen nicht notwendig falsch
sein muß, daß aber umgekehrt die heute fast allgemeine Auf-
fassung dieser Weihen dennoch auch richtig sein kann, weil es
letztlich einfach vom Willen der Kirche abhängt, ob sie einen sehr
bescheidenen Teil ihres Gesamtamtes und dessen Amtsüber-
tragungsritus mit dem Willen zur Spendung eines Sakramentes
verbindet oder nicht.
c) Von hier aus sind nun schon einige wichtige Feststellungen
hinsichtlich des Diakonats möglich. Bei der Apologetik für die Er-
“ neuerung des Diakonats muß man zunächst sich hüten (wenn
der
das eben Gesagte richtig ist), zu einfach und unnuanciert von
t
Tatsache auszugehen, daß der in der Kirche bestehende Diakona
zwar richtig, insofern die tat-
ein Sakrament ist. Diese These ist
nt
sächlich gespendete Diakonatsweihe unzweifelhaft ein Sakrame
Anordnu ng
ist. Der Diakonat ist auch sicher durch göttliche
t ge-
insofern ein Sakrament, als die Kirche diesen im Diakona
ihres Amtes allein übertrag en kann
gebenen beschränkten Teil
nt übertrag en kann. Es
und diesen Teil auch durch ein Sakrame
für immer eine
ist aber wohl nicht absolut sicher, daß die Kirche
müsse,
solche Dreiteilung des Amtes für alle Zeiten vornehmen
d.h.
also den Diakonat schlechterdings nicht abschaffen könnte,
so weiterg eben könnte, daß sie
diese Amtsfunktionen nicht auch
n mit den priester-
immer nur einem bestimmten Subjekt zusamme
h durchaus
lichen Vollmachten gegeben würden. Es ist natürlic
daß diese
denkbar und soll hier auch gar nicht bezweifelt werden,
S11
Dreiteilung des Amtes, die in der apostolischen Zeit von den
Aposteln selbst vorgenommen wurde (selbst wenn sie nicht von
‚Christus selbst ausdrücklich angeordnet wurde), dennoch die
spätere Kirche absolut binde, der Diakonat in diesem Sinne also
nicht nur in seinem Inhalt und seiner Möglichkeit, sondern auch
in seiner vom Priestertum getrennten Existenz iuris divini sei®.
"Aber da man dies doch nicht mit absoluter Sicherheit behaupten
kann, kann man die in einem eigenen Amt getrennte Existenz
diakonischer Aufgaben und Rechte nicht mit absoluter Sicherheit
als eine die Kirche für immer verpflichtende Anordnung Christi
behaupten und von dieser Tatsache allein aus eine Wiedererneue-
rung des realen Diakonates fordern, weil die lateinische Kirche
gewissermaßen nur dem Schein nach dieser Verpflichtung in
ihrem Diakonat nachkomme, da er eine bloß flüchtige Übergangs-
stufe zum Priestertum sei, aber nicht ein für sich allein bleibendes
und wirklich ausgeübtes Amt. Wir werden später sehen, daß man
ohne diese vereinfachte Argumentation dennoch für die Er-
neuerung eines wirklich ausgeübten und sakramental verliehenen
Diakonats eintreten kann. Wir haben ferner oben schon kurz die
gedankliche Möglichkeit gestreift, daß die Amtsvollmachten der
niederen Weihen und des Subdiakonats früher einmal durch eine
sakramentale Weihe übertragen wurden, ohne daß die Konsti-
tution solcher Ämter auch heute noch schon deswegen in der
Kirche ein Sakrament sein müsse. Diese Möglichkeit ist mindestens
grundsätzlich nicht eindeutig auszuschließen, da wir auch andere
Fälleähnlicher Art haben, die man vielleicht mindestens so deuten
kann. Die Möglichkeit zum Beispiel, daß einem einfachen Priester
_ die Firmvollmacht, ja sogar vielleicht die Vollmacht der Spendung
der Priesterweihe vom Apostolischen Stuhl gegeben wird, kann
mindestens so gedeutet werden, wobei die Tatsache, daß in diesen
beiden Fällen doch wenigstens die Priesterweihe in dem mit dieser
neuen Vollmacht außersakramental ausgestatteten Subjekt Vor-
aussetzung ist, an der Sachlage nichts grundsätzlich ändert. Denn
es könnte ja in anderen Fällen entsprechend gedacht werden, daß
die Taufe (oder Firmung) die genügende Voraussetzung dafür sei,
2 Vgl. zu dieser schwierigen Frage meinen Aufsatz in der Festschrift
für Erik Wolf
(Frankfurt 1962): Über das ius divinum in der Kirche. (In diesem
Buch Seite 277.)
512
daß die Amtsvollmachten der niederen Weihen und des Sub-
diakonats ähnlich außersakramental übertragen werden können,
obwohl sie auch durch einen sakramentalen Ritus verliehen wer-
den können, also die Übertragungsweise in etwa vom Willen der
Kirche abhängt. Tatsächlich sehen wir ja auch, erst recht im Falle
des Diakonats, daß mit einer solchen Möglichkeit zu rechnen ist.
Denn es werden doch wohl kaum Funktionen des Diakonats ge-
nannt werden können, die die Kirche nicht auch in einer außer-
sakramentalen Bevollmächtigung verleihen könnte, und dennoch
kann ja niemand bestreiten, daß die Diakonatsweihe, in der
_ faktisch solche Vollmachten verliehen werden, ein Sakrament sei.
Wir müssen also grundsätzlich damit rechnen, daß es Ämter in
der Kirche geben kann, die zwar durch einen sakramentalen Ritus
verliehen werden können, aber nicht streng notwendig müssen,
so daß die genauere Verleihungsweise (sakramental oder nicht
sakramental) von dem Willen und der (impliziten oder expliziten)
Absicht der Kirche abhängt. Die Erkenntnis dieser Sachlage hat --
nicht nur eine negative Bedeutung für die Frage der Erneuerung
des Diakonats, insofern sie darauf hinweist, daß man nicht zu
einfach aus der Möglichkeit einer sakramentalen Amtsverleihung
schon gleich auf eine unbedingte, strikte Verpflichtung der Kirche
schließen darf, das betreffende Amt auf sakramentale Weise zu
übertragen. Gültig ist eine solche Schlußfolgerung nur für die
Gesamtheit solcher Amtsübertragungen in der Kirche, insofern
man gewiß mit absoluter Sicherheit sagen kann, daß die Kirche
- nicht das Recht hat, die sakramentale Amtsübertragung, also das
Sakrament des Ordo, überhaupt abzuschaffen. Mehr aber doch
wohl nicht. Diese Erkenntnis hat vielmehr für die Erneuerung
des Diakonats auch eine positive Seite. Ist sie nämlich richtig, so
ist durchaus mit der Möglichkeit unbefangen zu rechnen, daß das
Amt des Diakonats auch in einer Gestalt bestehen kann, in der es
nicht auf eine sakramentale Weise verliehen wird. Es ist mit
anderen Worten eine Pflicht des Theologen, sich in der Kirche
umzusehen, ob nicht da dieses Amt faktisch als vom Presbyterat
verschiedenes schon existiert und ausgeübt wird, ohne daß darum
dieses Amt auch schon durch einen sakramentalen Ritus verliehen
wird. Dies ist vor allem darum eine echte Möglichkeit, als man ja
515
'
514
1
516
Menschen als Verheiratete zum sakramentalen Diakonat zuge-
‚lassen werden. Alle diese Fragen bleiben hier offen. Die Grund-
frage wird aber hinsichtlich des verheirateten Diakons gestellt,
weil nur so in der heutigen Zeit die ganze Frage einen wirklich
genügenden realen Sinn erhält. Denn es ist nicht zu erwarten,
daß die Zahl der Diakone in einem Ausmaß sich vermehren
würde, das für die Erfüllung der heutigen Mission der Kirche ins
Gewicht fällt, wenn die Frage nach der Erneuerung des Diakonats
nicht als Frage nach der Möglichkeit eines verheirateten geweihten
Diakons gestellt und positiv gelöst wird.
6) Wenn die Frage nach der Opportunität der Erneuerung des
Diakonats gestellt wird, so impliziert diese Frage nicht die Voraus-
setzung, daß diese Opportunität in allen Teilen der Kirche gleich
groß sein müsse und darum, wenn die Frage der Opportunität
grundsätzlich bejaht werde, der Diakonat dann in allen Teilen
der Kirche gleichmäßig real wiederhergestellt werden müsse. Auch
bei einer positiven Bejahung der grundsätzlichen Opportunität
bleibt die Möglichkeit durchaus offen, daß manche Teile der
Kirche bei einfacheren sozialen und pastoralen Verhältnissen und
bei einer genügenden Anzahl von Priestern bei der bisherigen
Praxis bleiben. Eine solche verschiedene Praxis in den einzelnen
Teilen der Kirche ist darum durchaus denkbar, weil eine solche
Verschiedenheit tatsächlich existiert, wenn man nämlich die
katholische Kirche nicht einfach mit ihrem lateinischen Teil
identifiziert, und weil aus den schon angestellten grundsätzlichen
Erwägungen sich ergibt, daß die Aufgliederung des einen Amtes
in der Kirche in deren konkreter Durchführung von den konkreten
Umständen der Kirche bestimmt sein darf, die nun einmal in den
einzelnen Teilen der Kirche nicht gleich sind. Auch bei einer
positiven Beantwortung der grundsätzlichen Frage ist eine
kirchenrechtliche Regelung der Einzelheiten einer solchen Er-
neuerung in den einzelnen Teilen der Kirche leicht denkbar,
durch die den einzelnen größeren Teilen der Kirche (etwa einem
Metropolitanverband, der Bischofskonferenz eines bestimmten
größeren Landes) die Möglichkeit der Entscheidung offenbleibt,
ob und in welchem Umfang in diesem Teil der Kirche ein solcher
bleibender Diakonat wiederhergestellt werden soll oder nicht.
517
b) Grundansatz für die richtige Beantwortung der Frage
Wenn man die Frage theoretisch und praktisch richtig stellen
und die Voraussetzung zu einer legitimen Beantwortung schaffen
will, muß man die Tatsache ins Auge fassen, daß es diesen
Diakonat als Amt in der Kirche schon gibt, wenn auch dieses reale
und bleibende Amt in der lateinischen Kirche der letzten Jahr- .
hunderte tatsächlich nicht durch einen sakramentalen Ritus ver-
liehen wurde und vielleicht nicht alle jene Vollmachten impliziert,
die nach dem heutigen Kirchenrecht dem sakramental geweihten
Diakonat zukommen und für das faktische Amt eines Diakons
tatsächlich wünschenswert wären. Wir müssen bei einer rechten
Fragestellung immer den Unterschied und das richtige Verhältnis
von Amt und sakramentaler Amtsübertragung berücksichtigen.
Beide Größen sind nicht identisch, beide Größen haben nach dem
oben Gesagten mindestens beim Diakonat keinen absolut unauf-
löslichen Zusammenhang, und beide Größen haben eine Be-
ziehung zueinander derart, daß der sakramentale Amtsübertra-
. gungsritus seine letzte Berechtigung vom Amt und nicht das Amt
seine letzte Berechtigung vom sakramentalen Amtsübertragungs-
ritus empfängt. Sosehr, wie wir oben gesagt haben, unter Um-
ständen ein Amt in der Kirche existieren kann, das sakramental
übertragen werden kann, aber nicht muß, so ist dennoch die letzte
Begründung für die Opportunität einer sakramentalen Amts-
übertragung die Opportunität des Amtes selber. Denn ein Amts-
übertragungsritus, der Sakrament ist, will ja gar nichts anderes
sein als die sakramentale Verleihung des Amtes selber und die
sakramentale Spendung der dafür notwendigen Amtsgnade. Die
Amtsübertragung hat also ihrem Wesen nach ihren letzten Sinn-
und Opportunitätsgrund im Amt selber. Soll aber die Frage nach
der Erneuerung der sakramentalen Diakonatsweihe legitim und
sinnvoll gestellt werden, so ist die Opportunität des diakonischen
Amtes zu bedenken, weil zunächst einmal diese Frage geklärt sein
muß, bevor die Frage nach der Opportunität einer sakramentalen
Übertragung dieses Amtes sinnvoll gestellt werden kann.
Die Frage nach der Opportunität des diakonischen Amtes selber
kann aber entweder so gestellt werden, daß die Opportunität eines
Amtes gefragt wird, das nicht existiert, oder die Frage nach der
518
Opportunität des Amtes dadurch beantwortet wird, daß ausdrück-
lich gezeigt wird, daß dieses Amt ja besteht, und zwar deshalb
besteht, weil es eben nützlich und notwendig in der Kirche ist,
und dann von da aus die Sinnhaftigkeit einer gerade sakramentalen.
Amtsverleihung deutlich gemacht wird. Tatsächlich kann der
zweite Weg beschritten werden. Wir gehen mit anderen Worten
von der Tatsache aus, daß das diakonische Amt faktisch in der
Kirche oder mindestens in vielen großen Teilen der Kirche in ge-
nügendem Umfang besteht und sich durch dieses Bestehen als in
sich selbst sinnvoll, nützlich, ja notwendig erweist. Von der eben
oben gegebenen grundsätzlichen Umschreibung des Wesens des
diakonischen Amtes aus (wie es sich auch in seiner Geschichte
zeigte) ist diese Behauptung leicht zu erhärten. Gewiß besitzen in
der lateinischen Kirche nur die sakramental geweihten Diakone
die Vollmacht, die feierliche Taufe zu spenden und in ordentlicher
Weise die Eucharistie auszuteilen. Aber es wäre doch eine will-
kürliche, sachlich nicht gerechtfertigte Behauptung, wollte man
diese beiden Vollmachten so als das eigentliche Wesen des Diako-
nats auffassen, daß dieser nur dann gegeben ist, wo diese beiden
Vollmachten vorliegen. Diese beiden Vollmachten haben schon
darum vor anderen keinen wesentlichen Vorrang, weil janiemand
bestreiten kann, daß die Kirche diese beiden Vollmachten, wenn
sie wollte, auch ohne sakramentale Weihe verleihen könnte. Die
bleibenden Aufgaben, das Wort Gottes zu verkünden, wichtige
administrative Funktionen als Hilfsorgan des Bischofs zu ver-
walten, die christliche Lehre der heranwachsenden Jugend zu
vermitteln, Erwachsenenkatechese, Brautunterricht, unter Um-
ständen einer des Priesters beraubten Gemeinde vorzustehen,
Leitung christlicher Organisationen und Vereine usw. sind ihrem
Inhalt und Gewicht nach zweifellos ebenso wichtige Momente am
Gesamtamt und Gesamtauftrag der Kirche wie speziell liturgische
Funktionen, die man zwar nicht grundsätzlich aus dem Amt des
Diakons ausschließen darf, die man aber nicht zum alleinigen
oder zentralsten Wesenselement übersteigern sollte (wenn auch
die sachliche Ordnung und der Zusammenhang der einzelnen
Funktionen eines idealen Wesens des Diakonates dadurch noch
völlig offenbleiben kann und nichts dagegen einzuwenden ist, daß
519
dieses ideale und volle Wesen des Diakonats unter einer gewissen
Hinsicht von der Funktion des Diakons am Altare her entworfen
werden mag)®. Die Vorbetonung der liturgischen Funktionen des
Diakons in dem Sinne, als ob man nur durch sie, und nur durch
sie allein, so etwas wie ein wahrer Diakon sein könne, kommt wohl
aus jener seltsamen und unreflexen Scheu vor einem Kontakt
mit der Eucharistie, die vergißt, daß der Kontakt mit der Eucha-
ristie in dem einfachen Christen, der sie empfängt, doch in Wirk-
lichkeit nicht geringer ist als der, der einem Diakon zugestanden
wird.
Hält man sich diese Überlegungen vor Augen, dann kann man
ruhig und bestimmt sagen:
Das Amt des Diakonats besteht in der Kirche, und zwar auch
(wenn nicht real fast ausschließlich) außerhalb des Kreises der
geweihten Diakone. Denn es gibt hauptamtliche, berufliche
Katecheten, es gibt hauptamtliche und berufliche «Fürsorger »
(im weitesten Sinn dieses Wortes), die als dauernden Beruf die
Erfüllung des caritativen Auftrags der Kirche auf sich genommen
haben, im Dienste der Hierarchie lebenslänglich arbeiten und
ihre Berufsarbeit in der ausdrücklichen Beauftragung durch die
Hierarchie durchaus als Erfüllung einer der Kirche wesensnot-
wendigen Aufgabe auffassen, die nicht nur der Kirche im allge-
meinen zukommt (so daß sie von vornherein und selbstverständ-
lich auch durch Laien erfüllt werden könnte), sondern in ganz
eigentümlicher und spezieller Weise den Amtsträgern der Kirche,
der Hierarchie als solcher, so daß diese caritative Arbeit durchaus
das formelle Wesen des eigentlichen Diakonats an sich trägt. Es
gibt in der Kirche hauptamtliche und berufliche Verwaltung, die
eine eigentliche Hilfsfunktion für die Aufgabe der Hierarchie als
® Vgl. meinen Aufsatz « Priesterliche Existenz », in: Schriften zur Theologie III
(Einsiedeln 21960) 285-312. — Hier wird auch für das Priestertum der Zusammen-
hang mit der sakramental-liturgischen Funktion und die existenzbegründende
Funktion des Prophetischen im Priestertum herausgearbeitet. Analoges ließe sich für
Zusammenhang und Verschiedenheit der diakonischen Funktionen sagen. Sosehr
die liturgische Funktion, richtig und voll verstanden, Ausgangs- und Quellpunkt für
das gesamte Wesen des Diakonats sein kann, so sind eben doch auch die caritative
und kerygmatische Aufgabe des Diakons in Entfaltung des Gesamtinhaltes des My-
steriums des Altares nicht bloße Folgerungen sekundärer Art aus diesem Wesens-
grunde, sondern selber wesentliche und diakonische Existenz begründende Elemente
des Diakonats.
520
‚solcher darstellt. Mindestens dort, wo solche Funktionen in einem
‚größeren Umfang, in einer ausdrücklichen Beauftragung durch
die Hierarchie, unter einer unmittelbaren Leitung der Hierarchie
als unmittelbare Hilfe für die Aufgabe der Hierarchie, als etwas
Bleibendes und Dauerndes ausgeübt werden, kann durchaus von
einem diakonischen Amt gesprochen werden, auch wenn dieses
Amt nicht durch eine sakramentale Weihe übertragen worden ist.
Dies zumal darum, weil ja durch diese Behauptung in keiner Weise
bestritten wird, daß die Bestimmung, Abgrenzung und genauere
Strukturierung solcher Ämter in einer idealeren Weise vorge-
nommen werden könnten, mit anderen Worten, es dem Wesen
und dem Sinn solcher faktisch bestehender Ämter an sich ent-
sprechen würde, wenn ihnen durch die Bestimmung der Kirche
diese oder jene weiteren Vollmachten hinzugegeben würden, die
die Bedeutung und z.B. den letzten Quellpunkt der schon vor-
handenen Vollmachten besser deutlich machen würden, nämlich
deren Beziehung und letzte Rückbindung zum Altar. Der Aus-
gangspunkt unserer Überlegungen über die Opportunität der
Erneuerung des Diakonats bildet also die These, daß das faktische
Amt des Diakonats, der erneuert werden soll, in der Kirche schön
besteht, wenn auch anonym und ohne genaue kanonische Um-
grenzung. Daraus ergibt sich:
Einmal ist nur noch nach der Opportunität einer sakramentalen
Amtsbestellung für diese schon bestehenden Ämter zu fragen,
und zweitens ist diese Frage nur dort zu stellen, wo diese Ämter
bestehen bzw. bei den Notwendigkeiten der pastoralen Situation
in den betreffenden Teilen der Kirche bestehen müßten. Wird
die Frage so gestellt, dann ist von vornherein klar, daß der Wunsch
nach der Erneuerung des Diakonats nur für die Teile der Kirche
gestellt wird, wo von den pastoralen N otwendigkeiten her das Amt
besteht oder bestehen sollte, nicht aber ein Diakonat gefordert
wird, damit eine Diakonatsweihe sei. Es soll also nicht eigentlich
ein nicht bestehendes Amt eingeführt werden, sondern es soll die
sakramentale Amtsverleihung dieses im Grunde anonym schon
bestehenden Amtes erneuert werden.
Mit dieser Präzisierung der Fragestellung ist natürlich nicht
geleugnet, daß durch die Wiedererneuerung der sakramentalen
521
Amtsübertragung auch das Amt selbst deutlicher, dauernder, in
der Schätzung der Gläubigen wachsend und in der Bestimmung
seiner Funktionen und Vollmachten erweitert werden kann. Dies
zu betonen ist auch darum wichtig, weil die Opportunität der
Erneuerung der sakramentalen Amtsverleihung durchaus richtig
mit pastoraltheologischen Notwendigkeiten (wie dem Priester-
mangel, der Bedeutung dieses Amtes usw.) begründet werden
kann, obwohl diese Gründe direkt nicht die Opportunität und
‚Bedeutung der Amtsübertragung, sondern des Amtes selber be-
' gründen. Aber eben weil die sakramentale Amtsübertragung im
Unterschied zu einer nichtsakramentalen die Erkenntnis der Be-
deutung, die Anziehungskraft, die Verbreitung und die Schätzung
bei den Gläubigen für das Amt selber steigern kann, sind die
pastoraltheologischen Gründe für das Amt, auch wo es selbst
schon besteht, doch auch Gründe für die Opportunität der Er-
‚neuerung der sakramentalen Amtsübertragung.
522
werden sollten; die Möglichkeit, eine nicht unerhebliche Zahl von
Männern durch einen sakramentalen Diakonat für die spezifischen
Aufgaben des hierarchischen Amtes in der Kirche zu gewinnen,
die sich nicht zum geistlich begründeten Zölibat berufen wissen,
ohne daß man die Forderung des Zölibats für die Priester selbst
aufheben müßte; die Möglichkeit der Entlastung der Priester von
vielen Aufgaben des hierarchischen (nicht eigentlich laikalen)
Apostolates, die einerseits der Hierarchie als solcher zukommen,
also theoretisch-praktisch nicht einfach auf die Laien abgewälzt
werden können, anderseits jedoch geeignet sind, die Priester einem
spezifisch priesterlich-geistlichen Leben und einer spezifisch prie- |
sterlichen Seelsorge zu entfremden. Wie gesagt, sollen diese
Gründe hier nicht noch einmal entfaltet werden, da dies schon
geschehen ist und sie auch nicht die eigentlich dogmatische letzte
Begründung der Opportunität der Erneuerung des sakramentalen
Diakonats darstellen.
ß) Der entscheidende Grund liegt darin, daß 1) das Amt be-
steht, 2) eine sakramentale Amtsübertragung möglich ist und
3) eine solche, mindestens wenn das Amt besteht, grundsätzlich
und von vornherein, wenn auch nicht als notwendig, so doch als
geziemend und opportun zu betrachten ist. Nach dem bisher Ge-
sagten ist eigentlich nur noch das dritte Moment dieser Grund-
argumentation näher darzulegen. Gewiß kann die für die Er-
füllung eines bestehenden Amtes zweifellos notwendige Gnade,
die dann auch nicht nur für den betreffenden Amtsträger, sondern
für die Kirche selber heilsam ist, dem Inhaber eines Amtes von
Gott auch gegeben werden, wenn ihm dieses Amt nicht durch eine
sakramentale Weihe übertragen worden ist. Das ist zunächst
selbstverständlich, zumal das höchste Amt in der Kirche, der
Primat des Papstes, nach allgemeiner Auffassung doch keine neue
sakramentale Weihe voraussetzt und dennoch zweifellos der höch-
sten und umfassendsten Amtsgnade bedarf, die also selber nicht
sakramental ist, wenn sie auch, wenn man will, im Bischofsamt
des Papstes eine sakramentale Wurzel haben mag. Dort, wo über-
haupt ein Amt in der Kirche besteht, das von der Kirche in legi-
timer Weise übertragen ist, für die Kirche notwendig oder
nützlich ist, partizipiert ein solches Amt je in seiner Weise und
323
in natürlich verschiedenem Maß und verschiedener Dringlichkeit
notwendig an dem Gnadenbeistand, der der Kirche für ihr Be-
stehen und Leben von Gott verheißen ist und der sich wegen des
eschatologisch unzerstörbaren Charakters der Kirche auch effektiv
in genügender Weise auswirken muß, wenn dadurch auch noch
keine absolute Garantie für dieses Wirksamwerden dieser der
Kirche von Gott zugedachten Gnade in einem bestimmten ein-
zelnen Amtsträger gegeben ist. Insofern ist das Amt in der Kirche
selbst schon unabhängig von seiner sakramentalen Verleihung
selber eine greifbare Weise der göttlichen Zusage einer Amts-
gnade, auch wenn dieses Amt nicht sakramentäl verliehen wird,
ein Moment (wenn wir so sagen dürfen) an jenem Ursakrament,
das die Kirche selber ist, insofern sie in ihrem Wesen und in ihrer
Existenz selber die eschatologisch endgültige Greifbarkeit des
Heilswillen Gottes zur Welt ist. Von da aus gesehen, darf gewiß
die Bedeutung einer sakramentalen Amtsübertragung, z.B. eben
des Diakonats, für die Inhaber eines solchen (expliziten oder
anonymen) diakonischen Amtes nicht übertrieben werden. Und
von daher läßt sich auch die bisherige Praxis der Kirche in dieser
Frage in einem gewissen Sinne rechtfertigen und braucht nicht
als eine schlechterdings nur bedauerliche und beinahe nicht mehr
erklärbare Fehlentwicklung verurteilt zu werden.
Aber es bleibt dennoch bestehen: wo eine Amtsübertragung
und die göttliche Zusicherung der für die Erfüllung des Amtes
notwendigen Gnade auf sakramentale Weise geschehen kann
(sinnvollerweise und praktisch durchführbar), soll sie auch auf
diese Weise geschehen. Das ist durchaus ein Prinzip, das auch
sonst das praktische Verhalten der Kirche in ihrer sakramentalen
Praxis bestimmt. Die Theologen erklären z.B. von der Firmung
oder Krankensalbung, von der Devotionsbeichte oder dem häufigen
Empfang der Eucharistie nicht, daß sie einer absoluten göttlichen
Verpflichtung auf solche sakramentale Handlungen unterliegen.
Es ist also damit einschlußweise gesagt, daß, absolut gesehen, die
durch solche Sakramentenempfänge erreichbaren Gnaden auch
auf einem nichtsakramentalen Wege erreicht werden können,
da weder die Vermehrung der heiligmachenden Gnade noch
die spezifisch sakramentalen Gnaden so gedacht werden können,
524
daß sie schlechterdings nur durch den sakramentalen Empfang
erlangt werden können, und solche dennoch nicht nur sehr heils-
fördernd, sondern in bestimmten Umständen heilsnotwendig sein
können. Dennoch geht die Praxis und die Lehre der Kirche in
solchen Fällen durchaus dahin, daß solche Sakramentsempfänge
opportun und zu fördern sind. Es wäre z.B. durchaus gegen die
Auffassung der Kirche, die sogenannte Devotionsbeichte mit der
Begründung zurückzudrängen, die durch sie vermittelten Gnaden
seien ebenso auf andere Weise (durch Gebet, Gewissenserfor-
schung, Aszese usw.) erreichbar. Im Rahmen des menschlich
Möglichen und echt Vollziehbaren soll auch jene Gnade offenbar
grundsätzlich eine sakramentale Greifbarkeit und Anwesenheit
im Leben des Einzelnen und der Kirche erhalten, die nicht not-
wendig an das Sakrament gebunden ist, weder aus dem Wesen
der betreffenden Gnade noch durch eine göttliche Verfügung (wie
bei der Wassertaufe, der sakramentalen Buße bei Todsünden), die
positiv zum Sakrament verpflichtet. Das ergibt sich einfach aus
der Grundstruktur der christlichen Gnadenordnung. Diese Ord-
nung ist die Ordnung des menschgewordenen Wortes Gottes, der
sichtbaren Kirche, der eschatologisch unaufhebbaren Einheit von
Pneuma und der ekklesiologischen Leibhaftigkeit dieses Geistes.
Wenn in der eschatologischen Situation der Kirche, in der die
Greifbarkeit der Kirche und ihr Geistbesitz im Ganzen schlechter-
dings niemals mehr auseinandergerissen werden können, Amt
und Amtsgnade zusammengehören — und wenn Amtsgnade, weil
sie Gnade des menschgewordenen Gottes und Gnade der sicht-
baren Kirche ist, immer aus ihrem Wesen heraus in eine konkrete
Greifbarkeit und Darstellung drängt, dann ist eben grundsätzlich
zu sagen: wo eine sakramentale Gnadenvermittlung im Rahmen
des menschlich Möglichen und sinnvoll Vollziehbaren möglich ist,
soll sie auch geschehen, ist sie grundsätzlich empfehlenswert und
opportun, und dieser Opportunität darf nicht mit dem Einwand
begegnet werden, solche Gnaden könnte man schließlich auch
ohne das Sakrament erhalten*. Selbst wenn dieser Satz von der
t», in:
4 Vgl. dazu meinen Aufsatz «Personale und sakramentale Frömmigkei
II (Einsiedeln *1960) 115-141, wo das hier thesenhaft Ge-
Schriften zur Theologie
sagte näher begründet ist.
525
Möglichkeit des Erwerbs der betreffenden Gnade durchaus richtig
sein mag, kann er grundsätzlich nicht als Argument gegen die
Sinnhaftigkeit und Opportunität einer sakramentalen Vermitt-
lung dieser Gnade anerkannt werden. Sonst wäre schließlich auch
noch einer Argumentation für die Überflüssigkeit der Wassertaufe
nur noch mit der bloßen Berufung auf ein arbiträres positives
Dekret Gottes zu begegnen. Wir heben bei dieser Argumentation
sie nicht von der Tatsache ab, daß im Sakrament des Diakonats
ein unauslöschlicher Charakter verliehen wird, der auf andere
Weise überhaupt nicht erlangbar ist; denn die Bedeutung und
Wünschbarkeit eines solchen Charakters hängt als «sacramentum
et res» doch schließlich ganz und gar von der Bedeutung und
Wünschbarkeit der Amtsvollmacht und der Amtsgnade ab, für die
er ein (positiver, aber in unserem Fall nicht absolut notwendiger)
Titel ist.
Eine solche Argumentation aus dem Wesen eines Amtes, einer
Amtsgnade und der Möglichkeit der sakramentalen Zusage solcher
Amtsgnade schließt auch die Behauptung einer nicht unerheb-
lichen existentiellen Auswirkung der in dieser Argumentation
angezielten Tatsachen und Zusammenhänge ein. Das heißt: Es
ist zu erwarten, daß der Mensch, dem in einer sakramentalen
Weise das Amt verliehen und die Amtsgnade von Gott zugesagt
wird, bei der Feierlichkeit, Einmaligkeit und bei den unaufheb-
baren Wirkungen einer solchen sakramentalen Amtsübergabe
Amt und Amtsgnade in einer existentiell viel radikaleren Weise
entgegennimmt, als wenn ihm das mehr oder weniger selbe Amt
und die Amtsgnade auf eine andere Weise zukämen, zumal ja die
Gnade des Sakramentes auch als solche von ihrem Wesen her
geeignet ist, beidem Menschen, der sich dieser Gnade nicht grund-
sätzlich verschließt, die personale Aufnahmebereitschaft für sie
selber zu schaffen oder zu vertiefen, die sakramentale Gnade also
mit anderen Worten die Disposition für sich selber unter den
nötigen Voraussetzungen erweitert und vertieft.
Zusammenfassend kann ganz einfach gesagt werden: Es gibt
den sakramentalen, gnadenhaft wirksamen Ritus der Amtsüber-
tragung des Diakonats in der Kirche mindestens als eine Mösglich-
keit iuris divini in der Kirche, von der die meisten Theologen sogar
526
x
7
550
4. Diakonat und Zölibar
Wir haben schon oben gesagt, daß die Frage der Erneuerung
des Diakonats nur dann eine wirklich praktische und bedeutsame
Frage ist, wenn sie mindestens auch als Frage die Erneuerung
eines Diakonats sakramentaler Art für Verheiratete einschließt.
Hier liegen nun auch die für viele stärksten gefühlsmäßigen und
praktischen Schwierigkeiten gegen den Wunsch einer solchen
Erneuerung. Um in dieser Frage klar zu sehen, ist zunächst wieder
darauf hinzuweisen, daß die Frage des Zölibats oder Nichtzölibats
nicht von der sakramentalen Amtsweihe, sondern vom Amte her
zu sehen ist. Wenn irgendwo der Zölibat notwendig oder höchst
wünschenswert ist, dann muß die Forderung des Zölibats ent-
weder aus seiner Bedeutung in sich für die Kirche oder aus dem
Amte als solchem abgeleitet werden, mit dem der Zölibat ver-
bunden sein soll. Daß der Zölibat in sich für die Kirche eine Be-
deutung hat, ist weder bestreitbar noch braucht dies hier näher
dargelegt und begründet zu werden. Ein solcher unmittelbar und
allein von sich selbst her für den Zölibatären und für die Kirche
bedeutsamer Zölibat (wie er in den Gemeinschaften der evangeli-
schen Räte gelebt wird) steht aber hier von vornherein nicht zur
Debatte. In diesem Zusammenhang kann es sich nur darum
handeln, ob das Amt des Diakons, so wie das priesterliche Amt,
eine solche innere Affinität zum Zölibat habe, daß die Kirche, wie
beim lateinischen Priestertum und Bischofsamt überhaupt, darum
auch vom Diakon den Zölibat zu fordern geraten finde und sich
dazu berechtigt wisse (wie immer man näherhin diese gegenseitige
Affinität deuten möge, sei es. rein aus dem Wesen des Zölibats
selbst, sei es aus pastoralen Erwägungen, sei es im Blick auf den
Dienst am Altar usw.). Wenn man sich die Unterscheidung von
Amt und Amtsübertragungsritus deutlich vor Augen hält und
sich klarmacht, daß aus der Natur der Sache heraus ein Amts-
übertragungsritus den Zölibat nur «fordern » kann, wenn das
übertragene Amt ihn fordert, dann ist die Frage, um die es nun
Sie wird
5 Es ist hier nicht beabsichtigt, alle Aspekte dieser Frage zu behandeln.
Sammelwerk « Diaco-
ausführlicher diskutiert in dem Beitrag von A. Auer zu dem
(Freiburg 1962)
nia in Christo», herausgegeben von K. Rahner u. H. Vorgrimler
525-339.
551
[3
552
funktion das Bindeglied zwischen Klerus und Altar einerseits und
der Welt mit ihrer christlichen Aufgabe anderseits ist; die Kirche
hat von diesem Amt den Zölibat bisher nicht gefordert, aus der
Weihe als solcher folgt eine solche Forderung auch nicht. Warum
sollte also nun neu eine solche Forderung erhoben werden, die
praktisch die neue Realisierung des Diakonats in größerem Um-
fang verhindern würde, weil die meisten faktischen Diakone auf
die ihnen zugehörige Amtsweihe verzichten würden und ver-
zichten müßten, und die wenigen schon aus anderen Gründen
zölibatär lebenden (vor allem in Ordensgemeinschaften) nicht
jene Zahl an wirklichen und zusätzlichen Diakonen bilden könn-
ten, die doch die heutige pastorale Situation der Kirche erfordert?
Es ist dabei immer zu sehen, daß bei einer wirklichen Theologie
der Ehe die Ehe wahrhaftig nicht als bloße Konzession an die
Schwachheit der Menschen gesehen werden darf (wie eine geistige
Unterströmung fast manichäischer Art in der Kirche immer wieder
zu denken versucht ist), sondern eine durchaus positive und
wesentliche Funktion nicht nur im privaten christlichen Leben
Einzelner, sondern in der Kirche hat. Die Ehe als sakramental
geweihte Gemeinschaft ist in der Kirche und für die Kirche die
konkrete, reale Darstellung und Darlebung des Geheimnisses der
Einheit Christi und der Kirche. Sie hat also durchaus eine not-
wendige Funktion in der Kirche und für die Kirche selber. Wie
sollte also für das Amt des Diakons eine Ehe weniger empfehlens-
wert sein? Er kann vielmehr seine Ehe durchaus als ein nicht
unwesentliches Moment an seiner diakonischen Aufgabe sehen,
weil eben eine christliche Ehe eine solche Funktion der Bezeugung
der Kräfte der Gnade für die Kirche hat. Da in dem Falle, daß
der Weihediakonat auch als Stufe für das Priesteramt beibehalten
wird, Ausbildung und Aufgabe der zum Priestertum aufsteigenden
Diakone und der bleibenden Diakone von vornherein verschieden
und getrennt sind und auch in dieser Verschiedenheit deutlich ins
Bewußtsein dieser beiden Arten von Diakonen und der Gläubigen
Wider-
treten werden, ist nicht ernsthaft zu befürchten, daß ein
spruch gegen den Zölibat des zum Priestertum führenden Diako-
könne.
nats mit Berufung auf die verheirateten Diakone entstehen
Ebenso ist eine Lockerung oder Anfechtung des priesterlichen
555
r
556
_ nicht. Das schließt aber nicht aus, daß der Schwerpunkt im
Leben eines Diakons dieser Art in der Verwaltung der christlichen
Lehre oder in der Ausübung der kirchlichen Caritas oder in der
kirchlichen Verwaltung liegen kann. Und es sind grundsätzlich
durchaus noch andere als die oben aufgezählten Funktionen denk-
bar, die die konkrete Gestalt eines Diakonats bestimmen, ohne
daß sie hier aufgezählt werden müßten oder könnten, vorausge-
setzt nur, daß diese Funktionen solche des kirchlichen Amtes als
solchen sind und im Dienst und der Diakonie des Bischofs- und
des Priesteramtes Erfüllung der Aufgabe geleistet wird, die der
Hierarchie gerade im Unterschied zur Laienschaft in der Kirche
zukommt. Weiter wird man sagen können, daß man diese Vielfalt
der Aufgaben durchaus am Altar entspringen lassen kann, wenn
man den gemeinten Zusammenhang und die innere Einheit
dieser vielfältigen Aufgaben des Diakonats einmal so ausdrücken
darf. Man wird nicht sagen müssen, daß die liturgische Funktion
des Diakons einfachhin das Eigentliche seines Amtes ausmache
und alles andere nur sekundäre Nebenfunktionen wären. Das
würde doch der alten Geschichte des Diakonats widersprechen,
würde wieder in diejenige Konzeption des Diakonats zurück-
führen, die zu der Rückbildung dieses Amtes geführt hat, die
heute überwunden werden soll, und wäre auch darum nicht
richtig, weil diese liturgischen Funktionen praktisch und konkret
auch nicht mit größerer Notwendigkeit eine Weihe voraussetzen
wie die übrigen Funktionen des Diakons (oder höchstens kirchen-
- rechtlich iure humano).
Die Gleichwesentlichkeit der kerygmatischen, caritativen und
ts
administrativen Funktionen des Diakons im Wesen des Diakona
nen
schließt aber doch wiederum nicht aus, daß sie als Funktio
grund mit seiner Aufgabe am
gesehen werden, die im Wesens
der Eucharis tie, eigentli ch
zentralen Mysterium der Kirche, an
nur das Opfer
schon gegeben sind. Denn die Eucharistie ist nicht
ung
Christi für Gott und das Sakrament der individuellen Begegn
,
mit Christus und der privaten Heiligung, sondern das Ereignis
in der intensiv sten Weise zum
in dem das Wesen der Kirche selber
an einem
aktuellen Vollzug kommt, in dem Kirche wird und
ät gegen-
bestimmten Raumzeitpunkt in ihrer dichtesten Aktualit
557
a}
wärtig wird ®. Hier in der Anamnese des Todes Christi wird das
entscheidende Wort Gottes wirksam gesprochen, das in aller Ver-
kündigung und Lehre eigentlich nur ausgelegt werden kann’.
Hier vollzieht sich in intensivster Weise die Einheit der Kirche
im sakramentalen Symbol und in der Liebe Christi. Wenn also
der Diakon in einer besonderen Weise als Gehilfe des bischöflichen
oder priesterlichen Vertreters Christi als des Hauptes der Kirche
und als Vertreter des Volkes und Interpret des heiligen Geheim-
nisses für das Volk an der Eucharistie als dem zentralen Selbst-
vollzug der Kirche Anteil hat, und zwar dauernd, kann er sich
nicht von jenen Funktionen der Kirche grundsätzlich ausschließen,
durch die sie in der heiligen Lehre die Anamnese der Erlösung
auslegt und ihre in der Eucharistie gefeierte Einheit in Glaube,
Hoffnung und Liebe durch die Leitung der Gläubigen und durch
die christliche Caritas auf das Ganze des menschlichen Lebens aus-
breitet. Von da aus ist verständlich, wie diese verschiedenen
. Grundfunktionen des Diakonats, so disparat sie zunächst erschei-
nen mögen, untereinander eine Einheit bilden, vom zentralen
Mysterium der Eucharistie ausgehen und zu ihm zurückführen.
Von daher ist auch verständlich, daß der alte Streit, obder Diakonat
ein mehr geistliches oder mehr profanes Amt in der Kirche sei,
eigentlich auf einem Mißverständnis beruht. Die Verkündigung
des Wortes und die Realisierung der Liebe, die in der Eucharistie
sakramental gegenwärtig ist, im Leben sind keine profanen
Wirklichkeiten, sondern ein Selbstvollzug, eine Aktualisation der
‚heiligen Kirche als heiliger in der realen Wirklichkeit des Lebens,
in der das Heil der Menschen gewirkt werden muß.
b) Die Abgrenzung der diakonischen Aufgabe von den Auf-
gaben und Möglichkeiten eines Laien in der Kirche in seinem
Laienapostolat und in seiner Anteilnahme an der Katholischen
Aktion ist nicht leicht®. Schon rein äußerlich nicht, weil man ja
558
,
393
Ähnlich wird die Bezeugung der Caritas Christi in dem Umfang,
in der ‚Dringlichkeit und in der konkreten Weise eine Aufgabe
des kirchlichen Amtes sein, durch die diese Caritas unmittelbar
als Akt der «sichtbaren Kirche» als solcher erscheint und nicht
mehr nur als Erfüllung der allgemeinen Christenpflicht der
christlichen Nächstenliebe. Mit diesen Andeutungen soll nicht der
Anspruch erhoben werden, es sei damit die Eigenart solcher Auf-
‚gaben des Amtes von denen der Laien in der Kirche, die material
fast gleich erscheinen mögen, schon genügend deutlich und all-
seitig genug abgegrenzt. Aber ein solcher Unterschied besteht,
weil der Unterschied zwischen der Hierarchie und dem Kirchen-
volk trotz des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen iure divino
besteht und nicht eingeschränkt werden kann auf jene wenigen
Vollmachten der potestas ordinis, die wir erwähnt haben, oder auf
die potestas iurisdictionis im strengsten Sinn.
Gibt es aber diesen Unterschied, dann bedeutet das, daß sämt-
liche Aufgaben und Vollmachten eines Diakons durch diese all-
gemeine Eigentümlichkeit der Aufgaben und Vollmachten des
hierarchischen Amtes in der Kirche im Unterschied zu den Auf-
. gaben und Vollmachten der Laien charakterisiert sind. Daß diese
Sachlage in der praktischen Handhabung und im Bewußtsein der
Kirche von heute nicht sehr deutlich hervortritt, kommt ja gerade
daher, daß heutzutage berufsmäßig und lebenslänglich (und nicht
nur nebenberuflich und aus Gründen einer vorübergehenden,
zufälligen Notwendigkeit) von Laien Aufgaben und Vollmachten
wahrgenommen werden, die im Grunde Aufgaben und Voll-
machten der Hierarchie als solcher und ganzer sind und deren
Ausübung berufsmäßiger und bleibender Art den Ausübenden in
früheren Zeiten als ein Glied des Klerus hätten erscheinen lassen,
so daß diese Zugehörigkeit in früheren Zeiten der Kirche auch
durch eine Weihe bekräftigt worden wäre. Der Umstand also,
daß für eine oberflächliche Betrachtung das meiste von dem, was
dieser künftige, «absolute» Diakon tun wird, auch von Laien
getan werden kann, spricht bei genauerer Analyse dieses Tuns
nicht für seinen wirklich laikalen Charakter, sondern für die
‚Forderung, daß ein solcher Amtsträger jene kirchliche und unter
Umständen sakramentale Weihe erhält, die es für diese Ämter
540
in der Kirche gab oder gibt. Daß die Grenze zwischen einer
laikalen Aufgabe und einer hierarchischen («nach unten») in
‚etwa fließend ist, ist in der Natur der Sache begründet und beweist
nur die innere Einheit von Amt und Kirchenvolk in der Kirche
für eine letztlich eine und selbe Aufgabe der Kirche für das Reich
Gottes. Empirisch und praktisch aber läßt sich immer sagen: Wo je-
mand dauernd und berufsmäßig eine Aufgabe wahrnimmt, die das
höhere Amt (also Bischof und Priester) als ein inneres Moment an
dieser seiner eigenen Aufgabe selbst oder als eine indispensable, un-
mittelbare und in sich bedeutsame Hilfsfunktion daran erkennt und
ausübt, nimmt er grundsätzlich an sich ein klerikales Amt wahr®.
Von da aus ist eine grundsätzliche Abgrenzung des Amtes des
Diakons und der Aufgabe des Laienapostels durchaus möglich und
die Forderung auf Erneuerung der Diakonatsweihe zu begründen.
c) In diesem Zusammenhang muß auch ein Wort gesagt wer-
den über das Verhältnis des Diakonats zum Priestertum und somit
des Diakons zum Priester. Auch hier ist die Auffassung der Über-
lieferung nicht ganz deutlich und einhellig. Es sieht manchmal
so aus, als ob der Diakonat und das einfache Priestertum zwei
nebeneinander bestehende Ausgliederungen des einen Bischofs-
amtes (wenn auch nicht einfach von gleichem Rang und gleicher
Würde) seien, so daß der Diakon nicht eigentlich als Hilfe des
einfachen Priesters erscheinen kann: bald wieder - und wohl
deutlicher und verbreiteter — erscheint die Auffassung, daß der
Diakon schlechthin der Helfer des Priesters derart ist, daß auch
das einfache Priestertum alle Rechte und Vollmachten des Diako-
nats eminenter in sich begreift und darum eben der Diakonat nur
als eine Ausgliederung und als Hilfsorgan für dieses einfache
Priestertum betrachtet werden kann. Wenn unsere Überlegungen
unter Nr.2 richtig waren, dann kann eine Entscheidung. der
Frage, welche der beiden Auffassungen faktisch die richtige sei
(was doch unter Umständen nicht nur eine theoretische Frage ist),
eigentlich nur von der tatsächlich gegebenen Entscheidung der
Kirche her getroffen werden, mit dem Wissen darum, daß die
angegeben bei
9 Vgl. dazu meine Aufsätze zum Thema des Laien in der Kirche,
(Innsbruck 31961)
dem Kapitel «Laie und Ordensleben», in: Sendung und Gnade
364-396.
541
Kirche unter Umständen ‚auch anders hätte verfügen können.
Wenn nämlich die Kirche unter den nötigen Voraussetzungen
entsprechend den konkreten pastoralen Bedürfnissen der jeweili-
. gen Zeit der Kirche ihr Gesamtamt aufgliedern kann, dann kann
sie an sich dies grundsätzlich so tun, daß sie zwei nebeneinander
bestehende Ämter aus dem Gesamtamt der Kirche ausgliedert,
von denen keines die Vollmachten des anderen Amtes besitzt,
oder sie kann ein höheres und ein niedrigeres Amt ausgliedern,
von denen das höhere die Vollmachten des niedrigeren einschließt.
Welche dieser beiden Möglichkeiten nach dem Bewußtsein und
der Absicht der Kirche faktisch realisiert ist, ist unter Umständen
gar nicht so leicht zu sagen. Wir haben schon früher darauf hin-
gewiesen, daß man z.B. vielleicht annehmen kann, daß auch im
einfachen Priestertum an sich (wenn auch in den meisten Fällen
«stillgelegt ») in seiner potestas ordinis die Firmgewalt und die
Gewalt, Priester zu weihen, eingeschlossen sind, die sicher im
Bischofsamt gegeben sind. Man denke auch an die F rage, ob einer,
' der «per saltum » als Diakon ohne vorherige Priesterweihe zum
Bischof geweiht wird, durch die Bischofsweihe allein auch die
priesterlichen Vollmachten erhält. Aus solchen und ähnlichen
Überlegungen kann man doch wohl den Schluß ziehen, daß hin-
sichtlich der Konstitution des Inhalts eines Amtes vieles, wenn
nicht fast alles, von dem faktischen Willen der Kirche abhängt.
Sind also so verschiedene Vollmachten von ihrem eigenen Wesen
her verschieden, dann können sie wohl getrennt verliehen werden,
sie brauchen es aber nicht. Infolgedessen ist die reale Frage, wie
sich der Diakonat zum Presbyterat verhält, wohl nicht einfach
aus dem abstrakten Wesen dieser beiden Größen abzuleiten, son-
dern nur aus der Frage, welche Vollmachten faktisch die Kirche
bei der einen oder anderen Weihe verleihen will und welche nicht.
Stellt man die Frage aber so, dann wird man wohl nicht daran
zweifeln können, daß die Kirche bei der Priesterweihe nicht
so
die diakonischen Vollmachten in dem zu Weihenden voraussetzt,
daß er in der Priesterweihe diese nicht erhielte, wenn er sie vorher
nicht durch die Diakonatsweihe schon besäße. Dies, wie gesagt,
nicht nur, weil aus dem eben unter a) Gesagten nicht leicht ein-
zusehen ist, warum ein Priester nicht schon gerade durch
sein
542
c
544
6. Beruflicher und nebenberuflicher Diakonat
546
r
Solche Normen sollen hier nur angedeutet werden, soweit sie sich
mehr oder weniger als selbstverständliche Folgerungen aus den
bisherigen grundsätzlichen Überlegungen ergeben, damit eine
gewisse Vorstellung darüber erzielt wird, daß eine solche Er-
neuerung eines Diakonats auch praktisch keine so revolutionäre
Maßnahme wäre, wie man zunächst vielleicht meinen könnte.
Es ist selbstverständlich, daß die Aufstellung solcher Normen als
gesetzlich gültiger allein Sache der kirchlichen Obrigkeit ist.
a) Die kirchenrechtlichen und liturgischen Gesetze hinsicht-
lich der Diakone, die dieses Amt und diese Weihe auf sich nehmen
mit der erklärten Absicht, Priester zu werden, können durchaus
so bleiben, wie sie bisher waren. Es ist nicht Aufgabe dieser Über-
legungen, zu untersuchen, ob ein längeres und praktisches Inter-
stiz zwischen Diakonatsweihe und Priesterweihe für die Aus-
bildung und Erprobung des Priesteramtskandidaten empfehlens-
wert und durchführbar sei. Da der Priesteramtskandidat in der
lateinischen Kirche vor der Übernahme des Subdiakonats eidlich
erklärt, er kenne die Verpflichtung des Zölibats und wolle sie frei
auf sich nehmen, kann ja kein Zweifel entstehen, zu welcher von
beiden Klassen der Diakone jemand gehört, besonders da ja die
Priesteramtskandidaten, die Diakone werden, eine religiöse und
theologische Ausbildung erhalten, die inhaltlich, räumlich usw.
von der Ausbildung der «absoluten » Diakone (wenn man einmal
so sagen darf) völlig verschieden ist. Beläßt man den Diakonat
auch als Weihestufe zum Priestertum, dann braucht in der
kirchenrechtlichen Gesetzgebung für das Priestertum gar nichts
geändert zu werden, und es wird den Priesteramtskandidaten in
einer sakramentalen Deutlichkeit nahegebracht, daß auch ihr
Amt, das den Diakonat einschließt, ein Dienen und nicht ein
Herrschen bedeutet. Es wird ihnen dadurch auch deutlich, daß
sie die «absoluten » Diakone als ihre wahren Brüder im Geiste für
die gleiche und eine Aufgabe der Kirche betrachten müssen.
b) Unsere ganzen bisherigen Überlegungen gingen davon aus
und zielten darauf hin, daß die sakramentale Amtsübertragung
348
des Diakonats dort erteilt werden solle, wo dieses Amt mehr oder
weniger ausdrücklich (wenn vielleicht auch nicht in all seinen
Funktionen und Vollmachten) schon besteht, und nicht gewisser-
maßen künstliche und von der Notwendigkeit der Seelsorge nicht. |
geforderte Ämter geschaffen werden sollen, bloß damit man die
Diakonatsweihe erteilen könne. Die für die Erneuerung der
Diakonatsweihe schon vorausgesetzten Ämter existieren nun
zweifellos in den einzelnenTeilen der Kirche nicht in gleichem
Maß, gleicher Bedeutung und gleicher Zahl. Und sie sind auch
dort, wo sie nicht bestehen, vermutlich teilweise inexistent, weil
man ihrer wirklich nicht bedarf (da es z.B. genügend Priester.
gibt, die diese diakonischen Aufgaben leicht und ohne Schwierig-
keit mitbesorgen können); teilweise freilich mögen sie fehlen aus
einer gewissen Atrophie der kirchlichen Seelsorge, die solche
Ämter durchaus nötig hätte und sie nur noch nicht in genügendem
Maße entwickelt hat. Von dieser Sachlage her ist wohl zu wün-
schen, daß die zentrale, allgemeine kirchliche Gesetzgebung hin-
sichtlich der Erneuerung des Diakonats nur eine Rahmengesetz-
gebung sei, die eine solche Weihe dort ermöglicht, wo sie vom
faktischen Bestehen dieser Ämter her sinnvoll und wünschenswert |
ist, dort die Bildung solcher Ämter anrät und erleichtert, wo die
seelsorgerliche Situation solche Ämter erfordern würde und sie
durch die Möglichkeit einer Amtsweihe leichter mit geeigneten
Kräften besetzt werden könnten, und dort die Erneuerung des
Diakonats nicht zur Pflicht macht, wo sie aus den Umständen
heraus nicht notwendig ist und auch keine wirkliche Bedeutung
erlangen würde, wenn sie dennoch durchgeführt würde. Eine
solche bloße Rahmengesetzgebung, die eine echte, der religiös-
pastoralen, kulturellen und geschichtlichen Situation entspre-
chende Differenzierung in der Kirche erlauben würde, würde sich
sinnvoll und homogen einfügen in das allgemeine Bestreben in
der Kirche, dort eine gewisse Dezentralisation in der Kirche (ent-
sprechend dem auch für die Kirche geltenden Subsidiaritäts-
prinzip) eintreten zu lassen, wo eine solche Dezentralisation von
der objektiv existierenden oder wünschenswerten Verschiedenheit
der einzelnen Teile in der Kirche her naheliegt. Als Träger einer
solchen verschiedenen und eigenständigen Praxis hinsichtlich der
549
. Weihe und Verwendung von Diakonen kämen vermutlich nicht
so sehr die einzelnen Diözesen, sondern größere kirchliche Ver-
bände, etwa ein Metropolitanverband oder die Gesamtheit der
Diözesen eines Landes, in Frage, so daß der eigentliche Gesetz-
geber einer solchen partikulären Regelung (im Einvernehmen
mit dem Apostolischen Stuhl) z.B. ein Metropolit oder die
Bischofskonferenz eines Landes wäre.
c) Durch eine solche römische Rahmengesetzgebung könnten
die genannten Träger partikulären Rechtes in der Kirche das
Recht erhalten (unter vielleicht genauer zu präzisierenden Voraus-
setzungen), Männer zu Diakonen zu weihen ohne Verpflichtung
zum Zölibat, vorausgesetzt, daß sie sich durch ihr erprobtes
christliches Leben und durch eine «berufsmäßige» (vgl. Nr.6)
Ausübung eines beträchtlichen Teiles der Aufgaben bewährt
haben, die nach der Überlieferung der Kirche das Amt der Diakone
ausmachen (also liturgische, lehrhafte, caritative, administrative
Funktionen, wobei zu bemerken ist, daß ein solcher Kandidat des
Weihediakonats nicht alle diese Funktionen faktisch ausgeübt
haben muß, sondern durchaus auf eine einzelne hauptberuflich
spezifiziert sein kann). Der Bischof muß vor der Weihe die Über-
zeugung haben, daß der zum Diakon zu Weihende den Willen
und den festen Entschluß hat, dieses sein Amt, ohne nach dem
Priestertum zu streben, lebenslänglich als Glied des Klerus zu
_ verwalten, und daß er dafür die leibliche, geistige und religiöse
Eignung hat. Ist er schon verheiratet, so ist natürlich auch die
. christliche Führung seiner Ehe ein Moment in der Beurteilung
seiner Eignung durch den Bischof. Es wird wohl auch Sache dieser
Rahmengesetzgebung sein, darüber zu befinden, ob die Weihe
eines «absoluten » Diakons dem schon Verheirateten erteilt wer-
den solle (wenn er nicht mit der Weihe oder durch seine Zuge-
hörigkeit zu einem religiösen Institut die Verpflichtung des Zöli-
bats auf sich genommen hat) oder ob die Diakonatsweihe einem
geeigneten Kandidaten auch schon erteilt werden kann, wenn er
noch unverheiratet ist, sich aber des Rechts auf die Ehe nicht
begeben will. Vielleicht ist diese Frage darum praktisch nicht so
dringend, weil im allgemeinen erwartet werden kann, daß ein
schon länger erprobter (was ja notwendig ist) Kandidat der Diako-
550
natsweihe, der überhaupt zu heiraten gedenkt, auch schon ver-
heiratet sein wird, wenn er jene längere Probezeit seiner Aus-
bildung und seiner Bewährung im ausgeübten Beruf hinter sich
hat, die auf jeden Fall verlangt werden muß. Freilich ist schon an
anderer Stelle gesagt worden, daß man diese Probezeit auch wieder
nicht zu lange ausdehnen dürfe, will man nicht dem Sinn einer
solchen Weihe widersprechen. Wie immer diese Rahmengesetz-
gebung genauer ausfallen mag, so wird eine gewisse Elastizität
ihrer Handhabung entsprechend den territorialen und personalen
Umständen empfehlenswert sein, wie sie ja auch bisher bezüglich
der Gesetzgebung für das Priesteramt gehandhabt wurde (Dispens
vom erforderten Weihealter usw.). In dieser Rahmengesetzgebung
wird eine allgemeine Bestimmung über Möglichkeit und Weise
einer Laisierung eines solchen geweihten Diakons nicht fehlen
können. Es wird aus den verschiedensten praktischen Gründen
heraus wohl empfehlenswert sein, einen solchen Rücktritt aus
diesem klerikalen Stand nicht zu sehr zu erschweren, mag er nun
(was beides möglich sein muß) vom Diakon selbst oder vom
Bischof eingeleitet werden. Diese Rahmengesetzgebung muß sich
natürlich auch mit dem zölibatären «absoluten » Diakon befassen,
da ja auch ein solcher möglich ist. Hinsichtlich der Verpflichtung
zum Zölibat in diesem Falle wird entweder das zu sagen sein, was
über den Zölibat des zum Priestertum strebenden Diakons schon
kirchenrechtliche Bestimmung ist (oder vielleicht werden wird)
oder was von jenem anderen Grund des Zölibats eines solchen
Diakons her recht ist, nämlich von seiner Verpflichtung als Mit-
glied einer religiösen Genossenschaft oder eines Säkularinstitutes.
Insofern wird über den Zölibat eines solchen Diakons sich wohl
leicht eine Regelung treffen lassen.
d) Die so geweihten Diakone werden doch wohl auch, grund-
sätzlich wenigstens, das Recht haben, jene liturgischen Funktionen
auszuüben, die ihnen nach can. 741; 845 $ 2; 1147 $4; 1342 $ 1
CIC zukommen, und zwar auch eindeutig und unbefangen dann,
wenn sie verheiratet sind. Ob der Umfang solcher liturgischer
Vollmachten noch durch die allgemeine kirchliche Gesetzgebung
erweitert und präzisiert werden solle (etwa auf das Recht der
Eheassistenz, Ausdehnung ihrer Vollmachten für Benediktionen
551
aufalle, dieeinem Priester gestaitetsind, Vollmacht der eucharisti-
schen Segensspendung), muß der kirchlichen Gesetzgebung, und
zwar vermutlich der allgemeinen, überlassen bleiben. Bedeutsam-
keit, Schätzung und pastorale Verwendbarkeit des Diakons werden
gewinnen, wenn diese Gesetzgebung in dieser Hinsicht großzügig
und weitherzig ist. Es kann ja dennoch in dieser Rahmengesetz-
gebung vorgesehen werden, daß der einzelne Ordinarius hinsicht-
lich des Gebrauchs dieser liturgischen Vollmachten genauere Be-
‚stimmungen erläßt, auch wenn sie unter Umständen in der
Praxis eine gewisse Einschränkung dieser Vollmachten bedeuten.
. Es versteht sich von selbst, daß der Diakon bei diesen liturgischen
Funktionen an die gleichen liturgischen Gesetze (z.B. hinsichtlich
der liturgischen Kleidung) gebunden ist wie der übrige Klerus.
e) Diese elastische Rahmengesetzgebung des allgemeinen
Kirchenrechts wird wohl hinsichtlich der Amtsverrichtung, der
Kleidung, der Lebensweise der verheirateten Diakone nur be-
stimmen können, daß diese sich in allen diesen Hinsichten an die
. Weisungen ihres Ordinarius zu halten haben. Aber hinsichtlich
der Weisungen des Ordinarius wird wohl wieder an das Grund-
prinzip zu erinnern sein, daß das Amt und nicht die Amtsweihe
als solche Grundnorm für alle diese Bestimmungen sein kann.
Die Lebensweise, die also bisher als dem Amt entsprechend von
den kirchlichen Obrigkeiten anerkannt und gefördert wurde, wird
also auch nach der Weihe weiterhin diesem Amt entsprechen. Das
gilt z. B. auch für die dem betreffenden Land entsprechende laikale
Kleidung eines solchen Amtsträgers. Diese Bestimmungen dürfen
also nicht eine äußerliche und mechanische Übertragung der Ge-
setze für die Lebensführung der Träger höherer Weihegrade sein.
f) Der kanonische Gehorsam, zu dem der geweihte Diakon als
Mitglied des Klerus seinem Bischof gegenüber verpflichtet ist,
umfaßt
1. die Verpflichtung zur möglichst vollkommenen Ausübung
jenes Amtes nach den Richtlinien des Bischofs, das der Betreffende
schon vor seiner Diakonatsweihe im Dienste der Kirche ausübte
und das durch diese Weihe geheiligt und vervollkommnet werden
sollte. Dieser kanonische Gehorsam braucht also mindestens nicht
notwendig die Verpflichtung zu beinhalten, eine völlig andere
552
Spezifikation des diakonischen Gesamtamtes auszuüben als die,
zu der der Betreffende ausgebildet und in der und für die er ge-
weiht wurde;
2. die Verpflichtung zur Ausübung der liturgischen Funktionen
eines Diakons, wann und in dem Maße, wie dies dem Bischof für
eine geordnete und fruchtbare Seelsorge notwendig erscheint;
3. die Verpflichtung zu einer Lebensführung, die dem kirch-
lichen Amt und der Weihe entspricht. Im übrigen werden die
Normen dieses kanonischen Gehorsams mit den von der Sache her |
selbstverständlichen Modifikationen analog zu denen des kanoni-
schen Gehorsams des Priesters aufzufassen sein.
g) Der Lebensunterhalt eines Diakons im Dienste der Kirche
wird zunächst einmal (wiederum entsprechend unserer Grund-
überlegung) jener sein, den die Kirche (der Bischof, die Pfarrei)
- einem solchen Diakon schon im voraus zu seiner Weihe aufgrund
seines ausgeübten Amtes gewährt und gewähren muß. Es ist klar,
daß diese Unterhaltspflicht von seiten der Kirche verstärkt wird
durch die Weihe und die Zugehörigkeit des Geweihten zum
Klerus. Der formalrechtliche Charakter dieser Unterhaltspflicht
der Kirche gegenüber dem Diakon kann entsprechend dem
«titulus canonicus» bei den anderen Weihen gestaltet werden.
Es versteht sich von selbst, daß dieser Lebensunterhalt, den die
Kirche dem von ihr geweihten Diakon innerhalb der Grenzen
ihrer Möglichkeiten schuldet, auch den Unterhalt der Familie
dem Stand und dem Sinn dieses Berufes entsprechend einschließt.
h) Die Ausbildung eines «absoluten » Diakons.
Eine gewisse Regelung der Ausbildung des absoluten Diakons
wird vermutlich auch in dieser allgemeinen Rahmengesetzgebung
getroffen werden müssen, ohne daß dadurch der großen Ver-
schiedenartigkeit der Verhältnisse in den einzelnen Ländern und
damit der konkreten Eigenart des diakonischen Dienstes in den
einzelnen Ländern Gewalt angetan wird. Man könnte in diesem
Sinn fordern, daß die Ausbildung eines solchen Diakons folgenden
Grundsätzen entspricht:
«) Der Diakon muß eine religiöse Allgemeinbildung haben,
wie sie den Gepflogenheiten und Möglichkeiten des betreffenden
Gebietes bei einem gebildeten christlichen Laien entspricht.
35%
ß) Er muß jene Schulung und Ausbildung empfangen, die ent-
sprechend den Bedürfnissen und Möglichkeiten des betreffenden
Gebietes für die Ausübung jenes Amtes (des Fürsorgers, Sozial-
arbeiters, Katecheten, kirchlichen Verwaltungsbeamten usw.) er-
forderlich ist, das er auch unabhängig von der Diakonatsweihe
ausübt oder ausüben soll. Es ist also nicht erforderlich, daß diese
berufliche Ausbildung bei allen Diakonen die gleiche sei. Es wird
im Gegenteil wünschenswert sein, daß diese Ausbildung sehr
spezialisiert, dafür aber gründlich ist, und daß die spätere Berufs-
betätigung entsprechend dieser Ausbildung sich wirklich von ihrer
Leistung selbst her und nicht bloß durch die Geweihtheit des
Betreffenden rechtfertigt. Daraus ergibt sich, daß mindestens
dieser Teil der Gesamtausbildung eines Diakons verschiedene Aus-
bildungsinstitute erfordert und nicht für alle Diakone gemeinsam
sein kann. Dies erfordert nicht die Errichtung eines komplizierten
neuen Ausbildungsapparates, da ja gar keine neuen Ämter und
darum keine neuen Berufsausbildungsinstitute geschaffen werden
müssen, sondern im normalen Falle jene Ausbildungsmöglich-
keiten genügend ausgenützt werden sollen und eventuell ihrer
höheren Bestimmung angepaßt werden können, die schon jetzt
der Vorbildung für diese verschiedenen Berufe dienen. Wenn der
künftige geweihte Diakon hauptsächlich katechetischen Dienst in
der Kirche leisten soll, muß seine theologische Ausbildung natür-
lich gründlich sein und wird ungefähr der entsprechen müssen,
die von einem Priester in der Seelsorge nach den Vorschriften und
Gepflogenheiten des betreffenden Landes verlangt wird. Genaue-
res in dieser Hinsicht ist an einem anderen Ort dieses Buches ge-
sagt. Diejenige allgemeine schulische Ausbildung (Mittelschule
usw.), die in den betreffenden Instituten für diese berufliche
Ausbildung verlangt wird und genügt, sollte auch für die Diako-
natsweihe verlangt werden und genügen.
y) Zur Ausbildung des Diakons wird auch eine längere Aus-
übung des je ihm besonders eigenen Amtes im Dienste der Kirche
vor der Weihe gehören müssen. Es wäre vielleicht wünschens-
werter, von dieser Seite her das Weihealter eines absolute
n
Diakons zu bestimmen, als einfach schematisch dafür ein bestimm
-
tes festes Lebensalter zu fordern. Wenn z.B. jemand nach gründ-
554
> licher Ausbildung drei bis fünf Jahre seinen diakonischen Beruf
ausgezeichnet ausgeübt hat (und dadurch von selbst das Alter
erreicht hat, dem die Kirche auch die Priesterweihe zugesteht),
sollte eigentlich einer solchen Diakonatsweihe nichts mehr im
Wege stehen.
6) Schließlich muß noch eine kurze, aber gründliche Unter-
richtung und Einübung hinsichtlich der liturgischen Funktionen
hinzutreten, die dem Diakon eigen sind. Ob für diesen Teil der
Ausbildung eine gemeinsame Ausbildung aller verschiedenen
Klassen solcher Diakone möglich und wünschenswert ist, muß
wohl entsprechend den Verhältnissen der einzelnen Länder ent-
schieden werden. Während der ganzen Ausbildung (also sowohl
in der mehr beruflichen als auch in der liturgischen Ausbildung)
muß in entsprechender Weise für eine religiös-aszetische Unter-
weisung und Formung der Kandidaten des Diakonats gesorgt
werden. Eine solche könnte wohl gedacht werden analog zu einer
solchen Bildung der Priesteramtskandidaten durch den Spiritual.
i) Da über das konkrete Leben der geweihten Diakone im. Amt
und im privaten Leben durch die römische Rahmengesetzgebung
vermutlich wenig gesagt werden kann, wird es Aufgabe der
Bischöfe sein, durch geeignete Normen und Empfehlungen dem
geweihten Diakon zu helfen, daß sein persönliches, menschliches
und religiöses Leben seinem geistlichen Stande und seinem Amt
in der Kirche entspricht, daß seine Ehe sich harmonisch und
positiv fördernd in diese seine kirchliche Sendung einfügt und er
jene Einheit und Zusammenarbeit der Diakone untereinander
und mit den priesterlichen Seelsorgern pflegt, die für die Er-
füllung seiner Aufgabe notwendig sind, die Einheit und Zu-
sammenarbeit von Priester und Diakon in Erscheinung treten
und die Eigenart seines Amtes im Unterschied vom Priestertum
zur Geltung kommen lassen. Vor allem wird dem Diakon die
tägliche Mitfeier des eucharistischen Opfers und eine meditative
Schriftlesung zu empfehlen sein.
k) Entsprechend dem eigentlichen Wesen der kiraklichen
Weihearten scheint es bei diesem «absoluten» Diakon weniger
angemessen, ja überflüssig zu sein, den Empfang der niederen
Weihen als Voraussetzung für die Diakonatsweihe zu fordern.
333
! /
EINIGE BEMERKUNGEN
ÜBER DIE FRAGE DER KONVERSIONEN
‚Zu den Fragen, die in das Gebiet der Probleme der ökumenischen
Bewegung gehören, zählt auch die Frage nach der Einzelkonver-
sion. Über diese Frage sollen hier einige Bemerkungen vorgetragen
werden. Sie machen in keiner Weise den Anspruch, dieses schwie-
rige Thema umfassend zu behandeln. Die Auswahl der vorzu-
tragenden Bemerkungen ist reichlich willkürlich. Die scheinbare
Einseitigkeit der Perspektiven darf nicht als eine grundsätzliche
Einstellung mißdeutet werden.
Die katholische Kirche macht den Anspruch, die wahre Kirche
Jesu Christi zu sein, und zwar ausschließlich. Da sich «Bekehrun-
gen » zum Christentum als einer Religion des personalen Glaubens
bei Erwachsenen letztlich nie anders vollziehen können als durch
den freien Entschluß des je einzelnen, kann die Kirche nie darauf
_ verzichten, daß sie als die wahre Kirche Jesu Christi den Anspruch
erheben kann und muß, daß der einzelne durch seinen freien
Entschluß sich ihr anschließt. Von dieser grundsätzlichen Ver-
pflichtung ist er an sich auch dadurch nicht entbunden, daß ein
solcher Entschluß geschehen müßte gegen die Auffassung seines
Volkes, seiner Zeit, seiner Verwandten, den Trend seiner geistes-
geschichtlichen Situation usw. Auch nicht dadurch, daß der Be-
treffende schon Christ ist. Alle diese Momente können die prakti-
sche Anwendung dieses allgemeinen Prinzips nuancieren, nicht
aber das Prinzip als solches aufheben. Ökumenisch ist natürlich
vor allem bedeutsam, daß der Anspruch der katholischen Kirche
grundsätzlich sich auch auf die anderen Christen bezieht, und
diese nicht ausnimmt, weil sie schon Christen sind. Die ökumeni-
sche Bewegung als solche, insofern sie die christlichen Gemein-
schaften als solche einander zu nähern und schließlich zu einigen
sucht, kann, ja muß, um diesem wichtigen und legitimen Ziel
zu
dienen, innerhalb ihrer Arbeit darauf verzichten, für die
Einzel-
konversion zu werben. Denn keine Einzelbestrebung und keine
einem einzelnen Ziel dienende Organisation leugnet die Berechti-
556
gung oder Verpflichtung einer anderen Bestrebung oder eines
anderen Zieles, wenn sie diese in ihre eigenen Absichten nicht
aufnimmt. Es ist auch durchaus möglich, daß die katholische
Kirche in ihren amtlichen Repräsentanten, die für die Totalität
der Aufgaben und Verpflichtungen der Kirche verantwortlich
zeichnen, zugunsten eines legitimen Zieles eine andere Aufgabe
weniger fördert. So etwas ist bei der Endlichkeit des Menschen
angesichts der Pluralität seiner Aufgaben grundsätzlich physisch
gar nicht vermeidbar und darum auch moralisch durchaus legitim.
Und insofern könnte auch die amtliche Kirchenleitung (und nicht
nur die ökumenische Bewegung) die Aufforderung an den einzel-
nen nichtkatholischen Christen, katholisch zu werden, die Be-
mühung um Konversionen in etwa hinter allgemeinen ökumeni-
schen Bestrebungen zurücktreten lassen. Aber grundsätzlich muß
die katholische Kirche sich nicht nur das Recht, sondern auch die
Pflicht zuerkennen, sich um die einzelnen Menschen als solche
und somit auch um die einzelnen nichtkatholischen Christen zu
bemühen, um sie zu Gliedern der katholischen Kirche zu machen.
Zumal sie sich ja nicht nur als heilsbedeutsam und heilsfördernd,
sondern als heilsnotwendig betrachtet. Der Begriff dieser Heils-
notwendigkeit der Kirche ist hier nicht in seinem Sinn und seinen
Grenzen darzulegen. Er muß aber hier genannt werden, weil doch
vermutlich viele andere christliche Gemeinschaften und nicht-
katholische Einzelchristen diese Heilsnotwendigkeit von ihrer
eigenen Gemeinschaft als solcher (d.h. insofern sie sich von einer
anderenchristlichenGemeinschaft unterscheidet) heutenichtmehr
aussagen. Die altreformatorischen Gemeinschaften haben sich zwar
als solche selbst (nicht nur hinsichtlich der wesentlichen, allgemein
christlichen Wahrheiten und Sakramente) als heilsnotwendig be-
kannt und somit hierin das Lehrerbe der alten Kirche von ihrer
Heilsnotwendigkeit auf sich selbst bezogen, ihre Lehre also mit
dem katholischen Pathos eines Absolutheitsanspruchs verkündigt.
Das aber werden vermutlich viele der heutigen nichtkatholischen
Glaubensgemeinschaften nicht mehr tun, theoretisch nicht oder
wenigstens nicht praktisch. Insofern müßte grundsätzlich bei
ihnen auch eine andere Haltung gegenüber der Bemühung um
Konvertiten zu ihrer eigenen Gemeinschaft vorhanden sein als in
357
der katholischen Kirche. Wenn man die einzelnen christlichen
Denominationen nur als verschiedene Ausprägungen desselben
Christentums auffaßt, die grundsätzlich gleichberechtigt, wenn
auch nicht alle gleichgut geraten sind, dann hat man an sich keinen
‘Grund, sich ein absolutes Recht und eine schwere Verpflichtung
zur Gewinnung von Konvertiten zuzuschreiben, wie dort, wo man
den anderen christlichen Gemeinschaften nach der eigenen eigent-
lichen Glaubensüberzeugung auch grundsätzlich eine solche
Gleichberechtigung nicht zuerkennt. Solche christliche Denomi-
nationen könnten und müßten sogar vielleicht im Zeitalter der
Ökumene auf die Bemühungen um Gewinnung von Konvertiten
verzichten. Denn sie könnten, ja sollten dann wohl ihre ganze
Bemühung auf die Gewinnung von Heiden und auf die allge-
meinen ökumenischen Bemühungen konzentrieren. Jedenfalls ist
ein Unterschied in der Haltung gegenüber Konversionsbestrebun-
gen bei den einzelnen christlichen Gemeinschaften in diesem
tieferen Unterschied begründet. Wo anderen Christen dieser Un-
terschied vielleicht auffällt und als belastend für das ökumenische
Gespräch empfunden wird, wo der katholischen Kirche ein solcher
Wille zu Konvertiten als unökumenisch ausgelegt werden könnte,
müssen die nichtkatholischen Christen verstehen, daß dieser Wille
zu «Proselyten » im Absolutheitsanspruch der katholischen Kirche
gründet und ebenso von ihrer Seite aus als Tatsache zu ertragen
ist wie alles andere, was sie von der katholischen Kirche trennt.
(Damit ist natürlich noch nichts gesagt hinsichtlich der konkreten
Weise solcher Bemühungen um Konvertiten. Diese können noch
immer lieblos, intolerant, zuungunsten des höheren Zieles der
‚ökumenischen Bewegung als solcher sein und darum auch von
katholischer Sicht her nicht berechtigt erscheinen.)
Dieses allgemeinste Prinzip, soweit es eine Verpflichtung ob-
jektiver Art des einzelnen Nichtchristen bedeutet, katholisch
zu
werden, zu «konvertieren », ist im Lichte aller der Prinzipi
en der
katholischen Moral zu interpretieren, die diese aufstellt hinsicht
-
lich der Schwere einer Verpflichtung, des Unterschiedes zwische
n
objektiver Verpflichtung und subjektiver «Realisation»
einer
solchen Verpflichtung, des Unterschiedes der Weise, wie ein
ge-
bietendes und ein verbietendes Gebot, ein naturgesetzliches
und
558
ein positives göttliches Gebot verpflichtet, der Gründe und Ur-
sachen, die die subjektive Erkenntnis einer objektiven Verpflich-
tung hindern und die Nichterfüllung eines Gebotes entschuldigen,
und ähnlicher Teilprinzipien.
In dieser Hinsicht haben sich zweifellos die wissenschaftlichen
Erkenntnisse und die Erfahrungen der Christenheit bezüglich der
Ursachen des Fehlens einer solchen Erkanntheit der Konversions-
pflicht gegenüber den ersten Jahrhunderten nach der Reformation
sehr vermehrt. Wir Menschen von heute sind dazu (durch unsere
Erkenntnisse über die unübersehbare subjektive Bedingtheit der
Erkenntnis des einzelnen, besonders in weltanschaulichen, also
ganzmenschlichen und existentiell radikalen Fragen, autorisiert
und von unserer Pflicht bestimmt, einerseits an den allgemeinen
. Heilswillen Gottes zu glauben und anderseits beiden Mitmenschen
die bona fides bis zum strikten Beweis des Gegenteils zu präsumie-
ren) nicht mehr geneigt, allen «gebildeten » Nichtkatholiken, die
bei einer irgendwie konkreten Berührung mit Katholiken und der
katholischen Kirche doch nicht katholisch werden, die bona fides
abzusprechen. Das mag den meisten unserer Zeitgenossen, auch
den Katholiken, auch den heutigen Theologen, als eine mehr als
selbstverständliche Binsenwahrheit vorkommen, die ja auch der
Papst selbst durch den unbefangenen freundlichen Empfang von
nichtkatholischen Christen praktiziert (was vermutlich in früheren
Jahrhunderten in dieser Weise nicht der Fall war). Aber diese
nicht
Selbstverständlichkeit war noch vor 150 Jahren durchaus
in romani-
selbstverständlich, und sie ist es vermutlich auch heute
sehr
schen Ländern immer noch nicht. Ich selbst kann mich noch
schen Pfarrer
gut an ein Gespräch mit einem alten niederbayri
gelehr-
erinnern, der es als selbstverständlich betrachtete, daß ein
Kon-
ter evangelischer Theologe nicht guten Glaubens an seiner
selbstverst ändlich in der Lage sei,
fession festhalte, weil er doch
einzusehen. In Boswells
die Wahrheit der katholischen Kirche
Reise durch Deutschland und die Schweiz» (Stuttgart
«Große
mit einem
1955) erzählt ein Engländer von seiner Begegnung
erscheint dem
Jesuiten im Jahre 1764 in Mannheim. Der Jesuit
und offen. Als der Englän-
Anglikaner sehr gebildet, liebenswürdig
der Jesuit
der ihm sagte, er sei nicht katholisch und hinzufügte,
559
werde ihn darum doch hoffentlich nicht zu den Verdammten
rechnen, erklärte dieser: «Es klingt hart, aber es ist für mich
unbedingt notwendig daran zu glauben. Die Milderungsgründe,
die bei einem armen Bauerntölpel bestehen, gelten für Sie nicht.
Sie sind unterrichtet.» So einfach werden wir heute nicht mehr
denken können. Auch aus theologischen Gründen nicht. Denn bei
_ dieser Unzahl von nichtkatholischen Christen, bei ihrer nahen Be-
rührung mit der katholischen Wirklichkeit müßten wir entweder
am guten Willen so vieler Menschen zweifeln, wofür wir, wenn
wir nicht jansenistisch vom Menschen denken, keinen Grund und
keine erfahrungsmäßigen Indizien haben, oder am allgemeinen
Heilswillen Gottes, der ihnen (wiederum jansenistisch) die Gnade
dafür ohne ihre Schuld verweigern würde (d.h. auch die hinrei-
chende), für die Erfüllung einer Verpflichtung, die nicht nur objek-
tiv, sondern auch subjektiv gegeben wäre. Können wir dies heute
nicht mehr so in der Weise der nachreformatorischen Polemik sa-
gen, dann entsteht allerdings die Frage, die wohl bisher nur eine
sehr allgemeine und formale Rahmenantwort erhalten hat, wie
. nämlich die Zubilligung der bona fides (grundsätzlich wenigstens)
auch bei Nicht-«rudes» (um in der Theologie des Vaticanum I
zu reden) vereinbar sei mit der Lehre, daß die Wahrheit und
der verpflichtende Anspruch der katholischen Kirche durch klare
Argumente rationaler und historischer Art als signa certissima et
omnium intelligentiae accommodata (D 1790) erkennbar seien,
da diese Qualifikation der Erkennbarkeit der christlichen Offen-
barung ausdrücklich auch auf die katholische Kirche als solche
bezogen wird (D 1794). Die Frage ist deswegen schwierig, weil
die Beurteilung der objektiven Erkennbarkeit der christlichen
Offenbarung und des Anspruchs der Kirche nicht nur hinsichtlich
der Qualität der Argumente «an sich », sondern auch hinsichtlich
ihrer Angemessenheit und ihrer auf die konkreten Subjekte be-
zogenen Wirkkraft gemeint ist. Dann entsteht wirklich die Frage:
Wieso können diese Argumente als omnium intelligentiae accom-
modata betrachtet werden, wenn sie faktisch auch dort,
wo sie
vor der Urteilskraft und dem Gewissen von Nichtkatholiken
ge-
geben zu sein scheinen (weil diese ja mit der Kirche in Berührung
kommen, die selbst wieder als Argument ihrer Credibilität
er-
560
EUER
562
auf dem eine Konversion erwächst, ein stark ästhetisches Bedürfnis
sein (natürlich unter anderen), das normalerweise gewiß auch
gegeben ist, es kann der Mensch auf die Idee kommen, zu kon-
vertieren, weil er erlebnismäßig eine starke persönliche Bindung.
an einen werbend auftretenden Katholiken hat, er kann ein
Mensch sein, dessen stark zum Widerspruch neigende Veranlagung
den Anstoß zu kritischer Stellungnahme gegenüber der Konkret-
heit seiner bisherigen Kirche gibt, es kann sein, daß jemand nicht
auf diese Idee gekommen wäre, wenn er nicht sehr große persön-
liche Enttäuschungen in seiner eigenen Gemeinschaft erlitten.
hätte, auch wenn diese an sich objektiv mit der Wahrheitsfrage
nichts oder nur sehr wenigzu tun haben. Solche und ungezählte
und zwar vom Konvertiten gar nicht thematisch gemachte An-
triebe können den Anstoß zu einer Konversion bilden (genau wie
sie eine solche behindern können und zwar als ebenso unthemati-
sche Begrenzungen der existentiell wirklich auftretenden Frage).
Das spricht natürlich in keiner Weise gegen die objektive Be-
gründetheit einer Konversion. Jemand kann den pythagoräischen
Lehrsatz sachlich durchaus einsehen, auch wenn er oder andere
sich sagen, er würde ihn nie begriffen haben, wenn er nicht aus
ganz anderen Motivationen als aus Interesse an der Sache der
Geometrie auf die Idee gekommen wäre, sich in dessen sachlichen
Beweis zu vertiefen. Aber immerhin ist schon von da aus die Frage
nach der sittlichen Richtigkeit und Gebotenheit einer Konversion
im konkreten Fall eine schwierigere Frage als man gemeinhin
denkt, auch dann, wenn eine dem Konvertiten bewußte verwerf-
liche Motivation (weltliche Motive der Ehre, der Rücksicht auf
einen Ehepartner, der Karriere usw.) nicht vorhanden ist und rein
in der doktrinären reflexen Begrifflichkeit die objektiven Gründe
für eine Konversion erfaßt zu sein scheinen. So wie kein Christ
sicher sagen kann, er habe aus den Motiven wirklich gehandelt
und diejenigen seien sicher die innerlich sittlich formgebenden
Größen, die er sich reflex vorgestellt hat und sich anzuzielen be-
müht, weil er ja sonst sicher wüßte, daß er in der Gnade Gottes
und
ist, wenn er «ehrlich » einen Akt des Glaubens, der Hoffnung
sachlich richtig von den
der Liebe betet, wie er ganz genau und
ab-
Theologen formuliert ist, so kann auch ein Konvertit nie mit
565
soluter Sicherheit sagen, ob die expliziten Motive seiner Konver-
sion, über deren Richtigkeit keine Zweifel bestehen sollen, nun
auch in seinem konkreten Fall wirklich das eigentlich Tragende
und das die sittliche Qualität seines Aktes Bestimmende sind, oder
ob dieses nicht in jenen unreflexen Motivationen gegeben ist, die
er gar nicht adäquat reflektieren kann. Wie ist es aber nun, wenn
dem Dritten, etwa demjenigen, der den Konvertitenunterricht
hält, darüber berechtigte Zweifel kommen? Man kann nicht sagen,
daß ein solcher Fall unmöglich sei. Man kann auch nicht sagen,
daß ein solcher Fall immer durch einen Appell an den Konver-
tierenden selbst gelöst werden könne. Selbstverständlich wird ein
verbitterter Rechthaberischer, der schlechte Erfahrungen in seiner
bisherigen Gemeinschaft gemacht hat, auch dann, wenn er auf die
möglicherweise sehr stark einfließenden Eigentümlichkeiten sei-
ner Veranlagung aufmerksam gemacht wird, erklären, das alles
spiele keine ausschlaggebende Rolle bei seiner Absicht. Muß es
der andere ihm in jedem Fall glauben? Er wird in vielen Fällen
die Konversion entgegennehmen müssen, so ähnlich wie ein
Priester auch bei einer Trauung oft assistieren muß, deren Motiva-
tion und Haltbarkeit er anzweifelt. Aber es kann doch auch Fälle
geben, wo dieser Dritte, der eine Konversion inaugurieren kann,
wenn er ıll, sich fragen kann, ob er dies nicht unterlassen
soll
oder wenigstens darf, wenn er solche Motivationsgrundlagen
an-
zunehmen berechtigt ist. In einer Ehe kann z.B. unter Umständen
der eine Partner den anderen leicht zu einer Konversion bewegen.
Soll er es tun, wenn er im ganzen den Eindruck hat, der geistige
und religiöse Gesamthabitus des anderen sei (ohne daß es sich
um
eine unehrliche Konversion handeln würde) für eine
wirklich exi-
stentiell religiöse Konversion einfach nicht geeignet und wirklich
vorbereitet? Kann man wirklich sagen, daß in den konkreten
Ver-
hältnissen des menschlichen Lebens eine solche Umstimmung
und
Vorbereitung und Aufbereitung der seelischen Voraussetzungen
zu
einer Konversion, in der die eigentlich gemeinten Motive
wirklich
den tragenden Grund abgeben, in endlicher Zeit bei den
gegebe-
nen Möglichkeiten wirklich immer möglich ist? Wenn
nicht, muß
man dann doch eine solche Konversion befördern? Diese
Frage er-
fordert zu ihrer Beantwortung noch eine andere Untersche
idung.
564
Eine Konversion hat einen doppelten Sinn. Die objektive Zu-
: gehörigkeit zur Kirche Christi hat einen Sinn in sich selbst. Und
die Zugehörigkeit zur Kirche ist an sich in Anbetracht der Wahr-
heit und der Gnadenmittel der Kirche die objektiv größere Heils-
möglichkeit für den Menschen, was der Konversion subjektiv,
d.h. im Blick auf das Heil des einzelnen, ihre Bedeutung gibt.
Beide «Werte» liegen dem göttlichen Gebot der Zugehörigkeit
zur Kirche zugrunde. Auch der erste Wert. Denn in der Ordnung
der Inkarnation und damit der geschichtlichen und eschatologi-
schen Greifbarkeit des Heilswillens und der Gnade, Kirche ge-
nannt, will Gott die Kirche als sichtbare Gemeinschaft auch schon
im voraus zur Frage, ob dadurch konkret die Heilschance eines
bestimmten einzelnen Menschen gefördert wird oder nicht. Wenn
man dies nicht sagte, wäre die theologische Begründung des Mis-
sionsauftrages, des Missionsrechtes und der Missionspflicht der Kir-
che nur schwer einleuchtend zu geben. Denn man könnte immer
sagen, angesichts des allgemeinen Heilswillens Gottes stehe jedem
Menschen, auch wenn er nicht Glied der sichtbaren Kirche ist,
eine Heilsmöglichkeit zu Gebote und diese sei auch nicht wesent-
lich geringer als innerhalb der Kirche, da vielleicht die größere
Heilschance, die an sich und objektiv innerhalb der Kirche vor-
handen ist, wieder ausgeglichen werde durch die größere Verant-
wortung, durch die subjektiv größere Belastung, die auf dem
besser unterrichteten und strengere sittliche Forderungen erken-
nenden Menschen ruhen. Will man also den Missionsauftrag nicht
durch ein rein positives Gebot Gottes ohne inhaltliche Recht-
fertigung begründen, dann wird man in der geschichtlichen Greif-
barkeit und so in wachsender Kirche als solcher einen Sinn und
Wert erblicken müssen, der den Missionsauftrag begründet. Aber
natürlich ist auch der zweite Wert einer Konversion von wesent-
licher Bedeutung für sie. Es steht nun ohne Zweifel fest, daß der
erste Begründungsgesichtspunkt nicht so ist, daß er in keinem
Fall bei einer (hier möglichen und sinnvollen) Güterabwägung
vor einem anderen Wert zurücktreten könnte. Sicher wird z.B.
die Taufe eines Kindes nicht auch dann eine sittliche Pflicht sein,
wenn sie mit einer erheblichen Lebensgefahr für den Taufenden
verbunden wäre. Eine solche Taufe könnte in diesem Fall aufge-
565
schoben werden (wir setzen den Fall, daß es sich nicht um ein
sterbendes Kind handelt). Die objektive Zugehörigkeit zur Kirche,
. die in sich einen Wert darstellt, ist nicht in jedem Fall ein Wert,
der vor keinem anderen Wert zurücktreten könnte. Was aber die
andere, mehr subjektive Seite einer Konversion und Zugehörig-
keit zur Kirche angeht, so ist folgendes zu bedenken. Hinsichtlich
. dieser Seite ist der Wert, um den es sich handelt, konkret wesent-
lich davon bestimmt, wie weit ein bestimmter Mensch nach ver-
nünftigem Ermessen tatsächlich in der Lage ist, diese ihm durch
die Zugehörigkeit zur Kirche angebotenen Heilsgüter anzuneh-
men und subjektiv zu realisieren. In dieser Hinsicht gibt es aber
sehr erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen,
sozialen Gruppen und einzelnen Zeiten. Man darf sich nicht
täuschen: Der durchschnittliche Mensch in der Kirche «realisiert »
subjektiv nur einen sehr kleinen Teil der ihm in der Kirche an
sich zur Verfügung stehenden Heilsmöglichkeiten und -wirklich-
keiten. Er hat, wenn wir die Verhältnisse realistisch betrachten,
ein sehr beschränktes Wissen (wenigstens was das angeht, was er
in sein konkretes Leben aus dem Schulunterricht von religiösen
Erkenntnissen rettet). Er wird nicht viel mehr wissen als ein paar
Grundwahrheiten: daß Gott existiert, daß er der Hüter der sitt-
lichen Ordnung ist, daß wir durch Jesus Christus erlöst sind, daß
es ein Gericht und ein ewiges Leben gibt. Niemand wird be-
zweifeln können, daß, wenn diese «Grundwahrheiten » des
Glau-
bens einigermaßen ernsthaft existentiell realisiert werden, wir
einen «guten Christen» haben. Niemand wird ernsthaft
be-
zweifeln können, daß man in sehr vielen Fällen individueller
und
sozialer Situationen mit genügender menschlicher Sicherheit
sagen kann, daß dieser und jener Mensch faktisch über dieses
Niveau nicht hinauskommen kann in der empirischen Greifbar-
keit des Lebens (die ja noch kein adäquates Urteil begründet
über
die letzte Verfassung des Menschen vor Gott). Dasselbe gilt
vom
Gebrauch der «Gnadenmittel» der Kirche. Gewiß: Der katholi-
sche Christ, der sich nicht in ausdrücklichen Widerspruch
zur
Kirche setzt, wird diese Gnadenmittel in einem gewissen
Umfang
gebrauchen: er wird dem sonntäglichen Gottesdienst beiwohnen
und er wird ab und zu die Sakramente empfangen. Aber
wenn
566
r
568
- nicht, daß ein mitteleuropäischer Bischof im allgemeinen sehr
viel Zeit und Kraft in der Erfüllung dieser Pflicht verbraucht.
Aber eben diese nüchterne Feststellung der Tatsachen verliert das
Schockierende und Anstößige durch diese Überlegungen. Im großen.
und ganzen ist diese Einstellung ganz richtig, sosehr sie vielleicht
z. B. einen Katholiken in Spanien usw. erstaunen und bestürzen
mag, weil er vermutlich der Meinung ist, die Katholiken Mittel-
europas müßten mit dem Schwert des Geistes (wenigstens) für
die Ausbreitung der Kirche gegen die Protestanten zu Felde ziehen
und sie müßten bei einigem Eifer angesichts der Klarheit und
Überzeugungskraft der katholischen Wahrheit sehr schnelle und _
erhebliche Erfolge erzielen, zumal ja heute durch den Wegfall
evangelischer Staaten die äußeren Hindernisse einer solchen Re-
katholisierung großenteils weggefallen sind. Angesichts der der
Kirche bei uns tatsächlich zur Verfügung stehenden Kräfte ist die
faktische Taktik bei uns hinsichtlich der Beförderung der Kon-
versionen im ganzendurch unsere Überlegungen zu rechtfertigen.
Von da aus aber ergibt sich auch: Wir katholischen Christen
können nicht mit Rechtund gutem Gewissen aufSubstanzverluste _
innerhalb des evangelischen Christentums hoffen. Es sind da nicht
zahlenmäßige Verluste an Mitgliedern der nichtkatholischen Ge-
meinschaften gemeint, wenn wir auch solche, wo sie an das
heutige Neuheidentum geschehen, sehr schmerzlich auch als
Schaden für uns beklagen müssen. Denn wo immer das moderne
Nichtchristentum seine Anhänger herbezieht, sein Wachstum ist
auch immer eine Bedrohung der katholischen Christenheit, ist
eine Schädigung des Namens Christi und der Macht des Evan-
geliums. Wie sollten wir Katholiken das nicht mit höchster Trauer
und mit Schmerz erleben? Hier ist der innere Substanzverlust
gemeint, Verlust an eindeutigem Bekenntnis zur überlieferten,
der Christenheit an sich gemeinsamen Wahrheit. Es gehörte durch
Jahrhunderte zum Arsenal unserer katholischen Polemik gegen-
über der evangelischen Christenheit, ihr einen baldigen « Ausver-
kauf» zu prophezeien, die Konsequenzen der Grundprinzipien
der Häresie so logisch zu entwickeln, daß diese Entwicklung mit
‘ der absoluten Aufhebung des Christentums endet und diese
logische Entwicklung sich sehr bald eindeutig und vollständig in
369
der Wirklichkeit des Lebens endgültig realisiert. Nun, diese Pro-
phezeiungen haben sich nach 400 Jahren immer noch nicht erfüllt.
Und es sieht gar nicht so aus, als ob sie sich bald erfüllen würden.
Perioden liberalistischen und aufklärerischen Substanzverlustes
sind in der evangelischen Christenheit auch gegenläufige Be-
wegungen von erheblicher Kraft gefolgt. Dazu kommt, daß zwar
die katholische Kirche in ihrem amtlichen Wesen wesentlich und
eindrucksvoll resistent gewesen ist gegen die Angriffe der anti-
christlichen Moderne, daß man aber nicht sagen kann, daß die
katholische Christenheit als solche weniger Verlust an Substanz
in den letzten 150 Jahren erlitten habe als die evangelische
Christenheit. Auch in den romanischen Ländern mehr katholi-
schen Gepräges sind die wirklich katholisch glaubenden Menschen
eine kleine Minderheit. Und die katholischen Länder sind von der
organisierten Gottlosigkeit des Bolschewismus eher mehr als weni-
ger bedroht denn die evangelischen Länder. Man mag diese Tat-
sache mit Gründen erklären, die außerhalb des konfessionellen
Bereiches liegen, die Tatsache bleibt bestehen. In Spanien hatte
der Kommunismus fast schon gesiegt. Italien und Südamerika
sind heute besondere Hoffnungen des Kommunismus. Das alles
soll hier nur sagen: Angesichts dieser Lage haben wir auch nicht
den geringsten Grund, einen Substanzverlust innerhalb der evan-
gelischen Christenheit mit dem Gefühl zu betrachten, daß hier
nur eintrete, was eben kommen müsse und was wir vorausgesagt
hätten, oder gar mit einer Art Schadenfreude. Den Nutzen hat
nicht die katholische Kirche, sondern das Neuheidentum. Es wäre
eine irrsinnige Kirchenpolitik, wollten wir meinen, in dieser
Sache sei der Schaden des anderen der eigene Nutzen. Nach
menschlichem Ermessen müßte man sagen (wenn man letztlich
etwas anderes tun dürfte, als auf den menschlichem Ermessen
nicht zugänglichen Sieg Gottes in Christus zu hoffen), daß die
ganze Christenheit gemeinsam lebt oder untergeht. Ob, wie und
wann die Einheit der Christenheit kommt, wissen wir nicht. Aber
eines wissen wir: sie von einem äußeren oder inneren Bankrott
eines Teiles der Christenheit zu erhoffen wäre dumme und schänd-
liche Katastrophenpolitik. Dies aber bedeutet wiederum: Wir
sollten uns gegenseitig helfen, unsere gemeinsamen ökumenischen
570
Bestrebungen auch darauf auszudehnen, daß wir uns gegenseitig
vor inneren und äußeren Substanzverlusten zu bewahren suchen.
Warum könnten wir uns nicht gegenseitig helfen und belehren
in der Frage, wie man heute wirksam und überzeugend mit denen
redet und ihnen das Christentum bezeugt, das uns eben doch in
seinen wesentlichsten Punkten gemeinsam ist, die meinen, keine
Christen sein zu können? Warum sollte die katholische Exegese
nicht da und dort der evangelischen helfen können, kritisch zu
sein, ohne zu «entmythologisieren», in der Weise, daß das
Christentum verschwindet? Könnte nicht vielleicht die evangeli-
sche Exegese manchen katholischen Exegeten davor bewahren,
im Überschwang der Erfüllung des wissenschaftlichen «Nachhol-
bedarfs » in der katholischen Exegese Fehler zu begehen, die die
evangelische Exegese früher begangen und unterdessen schon
überwunden hat? Könnten nicht pastorale Erfahrungen in der
Missionierung der heutigen technischen Massengesellschaft aus-
getauscht werden? Man kann nicht den Eindruck haben, daß die
katholische Pastoraltheologie sich viel um die evangelische küm-
mere. Und umgekehrt wird es auch nicht viel anders sein. Man
kann aber nicht sagen, daß man nichts voneinander lernen könne.
Da und dort hat man es auch getan. Zum Beispiel hinsichtlich der
«Akademien». Man könnte auch sogar in der Dogmatik von-
einander lernen. Denn es gibt doch auch einen gemeinsamen Blick
auf die Schrift in Wahrheiten, die nun gar nicht in das Gebiet der
Kontroverstheologie gehören. Es könnte die Sprache der beiden
Theologien voneinander lernen. Denn jede hat in ihrer Art nicht
selten eine traditionelle Prägung, die sie unlebendig und alt-
modisch erscheinen läßt und so die Predigt des Evangeliums an
die heutige Zeit erschwert. Das alles scheint eine Überlegung zu
sein, die mit dem Thema hier nichts zu tun hat. Ist es nicht so:
Die Möglichkeit realistischer Art, aus dem evangelischen Christen-
tum Konvertiten zu gewinnen, ist, richtig gesehen, so, daß sie
vor anderen Aufgaben faktisch sekundär ist und man sich hüben
und drüben auf die Parole einigen sollte: Helfen wir uns gegen-
seitig, den Kampf gegen das neue Heidentum zu bestehen, und
suchen wir «Konvertiten » unter den Menschen zu gewinnen, die
faktisch eine reale Verbindung zu kirchlichen Christentümern
a
heute nicht mehr haben. Hier ist ein weites Feld der missionari-
schen Arbeit, groß genug für alle Konfessionen; hier könnte sich
ja dann erweisen, wo die stärkere Kraft ist. Eine solche Richtung
der Anstrengungen könnte vielleicht auch noch eine andere
Wirkung haben: unbeschadet der eigentlichen Wahrheitsfrage
ist doch auch ein Gutteil dessen, was die christlichen Konfessionen
trennt und getrennt hält, nicht der theologische Unterschied,
sondern der Lebensstil, die geschichtlich bedingte Weise der
Frömmigkeit, die Gegensätze im ius humanum des Kirchenrechtes
usw. Unwillkürlich werden die dogmatischen Differenzen doch
auch auf dem Hintergrund dieser trennenden Verschiedenheiten
apperzipiert. Man weiß (von dieser «gelebten » Verschiedenheit
her, die man als selbstverständlich und indiskutabel findet), daß
man getrennt ist und die theologischen Bemühungen laufen dann
unwillkürlich dahin, diese gelebte und indiskutabel erscheinende
Trennung nun auch in der Theologie zu entdecken und von daher
zu rechtfertigen. So kommt es, daß die theologischen Kontroversen
manchmal den Eindruck erwecken, man suche in immer subtileren
Unterscheidungen einen Unterschied, um sich nicht einigen zu
müssen. Natürlich ist das nicht Absicht, aber ein Mechanismus
des Denkens und Empfindens, den es wirklich gibt: Man beweist
eine Konklusion, deren Richtigkeit einem schon feststeht: eben
von der faktischen Trennung her, welche existentielle Richtigkeit
einem von der Verschiedenheit des Lebens, nicht eigentlich von
der Verschiedenheit der Theologie her «evident » ist. Würde sich
nun die Christenheit aller Konfessionen in intensivster Weise um
die Rechristianisierung des Neuheidentums bemühen, müßten
vielleicht alle Konfessionen diesem selben «Material» an Men-
schen gegenüber einen Stil des christlichen Lebens, des theologi-
schen Redens usw. entwickeln, der wegen der Selbigkeit
des
«Materials » weitgehend gleich wäre (trotz des verschiedenen
kon-
fessionellen Ausgangspunktes) und so zu einer Annäherung unter
den Konfessionen selbst führen würde hinsichtlich ihres konkreten
wirklichen Lebens, Empfindens und Denkens. Und von da
aus
könnte dann auch das theologische Gespräch mit mehr Aussicht
auf Erfolg geführt werden. Wenn sich z.B. (das ist als ein bloßes
Beispiel gemeint; man könnte natürlich auch Nutzanwendungen
972
für die andere Seite entwickeln) die katholische Kirche in den
romanischen Ländern wirklich aktiv und erfolgreich der indu-
striellen Massengesellschaft und deren Neuheidentum, das es
. beides auch in diesen Ländern in immer größerem Maß gibt,
annehmen würde, dann entstände vermutlich von selbst ein Er-
scheinungsbild der katholischen Kirche in diesen Ländern, das es
einem mitteleuropäischen evangelischen Christen leichter machte,
in diesem christlichen und kirchlichen Leben sein eigenes
Christentum wiederzufinden.
Die Frage der religiösen Verpflichtung zur Konversion ist nicht
selten verknüpft mit der Frage der Zeitspanne, die ohne Ge-
wissensverstoß zwischen die Erkenntnis der Pflicht der Konver-
sion und die Durchführung der Konversion gelegt werden darf.
Es kann ja die verschiedensten Gründe geben, derentwegen
jemand wünschen kann, daß er die als Pflicht erkannte Konversion
noch eine Zeitlang aufschieben dürfe. Entsprechend dem eingangs
Gesagten wird man zunächst sagen müssen, daß die Erkenntnis
der Wahrheit und Gestiftetheit der katholischen Kirche durch
Christus grundsätzlich auch die Verpflichtung einschließt, sich ihr
anzuschließen. Diese Verpflichtung des einzelnen wird an sich
nicht aufgehoben durch den Nutzen, den man sich von einem
„ökumenischen Wirken innerhalb seiner bisherigen Konfession für
die Einheit der Christenheit überhaupt erhofft. Nicht nur darum,
weil dieser Nutzen meist sehr problematisch sein wird und solche
Hoffnungen leicht utopisch sind und solche Kryptokatholiken eher
weniger als mehr Gehör finden als solche, die sich eindeutig als
Katholiken bekennen. Sondern darum, weil eine grundsätzliche
Anerkennung der Berechtigung einer solchen Taktik sachlich auf
die Leugnung einer Konversionspflicht des einzelnen als einzelnen
überhaupt hinauslaufen müßte zugunsten einer einzig zu er-
strebenden sozialen Einigung der christlichen Gruppen unter-
einander. Eine solche These aber würde den einzelnen als einzelnen
zur absolut und allein abhängigen Funktion der christlichen
Gemeinschaft machen, würde der religiösen Entscheidung als
einzigen Träger die Gemeinschaften zuweisen, eine Auffassung,
die grundsätzlich abzulehnen ist. Freilich erheben sich hier bei
genauerer Überlegung sehr schwierige Probleme wenigstens hin-
319
sichtlich jener christlichen Gemeinschaften, die von katholischem
Standpunkt nur als Schisma und nicht als eigentliche Häresie
bewertet werden müssen und soweit sie nur Schisma sind, bzw.
in dem Glaubensbewußtsein des einzelnen nur als Schisma sich
auswirken. Wird man hier nicht sagen müssen, daß die Praxis der
katholischen Kirche bisher vorausgesetzt hat, daß, wenn die
Hirten der ostkirchlichen Gemeinschaften sich mit Rom einigen,
die Glieder ihrer Herden eo ipso mit Rom geeint sind? Bedeutet
dies aber nicht, daß diesen Hirten eine bestimmte Autorität
gegenüber ihrer Herde von rechtswegen zuerkannt wird? Kann
unter dieser Voraussetzung ein einzelner Christ die Frage der Auf-
hebung des Schismas seinem Hirten überlassen und diesen dafür
für allein zuständig anerkennen ?Oder ist jedes Schisma auch eine
wenigstens implizite Häresie, so daß die allgemeinen Prinzipien
der individuellen Glaubens- und Bekenntnispflicht gleichermaßen
auch hier gelten? Aber warum unterscheidet dann die Tradition
zwischen Schisma und Häresie bis auf den heutigen Tag? Wie es
auch mit dieser hier nicht entscheidbaren Frage bestellt sein mag,
auf jeden Fall kann, wo es sich um Häresie handelt, das Prinzip
der kommunitären Lösung der Spaltung der Christenheit als
alleiniges nicht angenommen werden und somit auch keine Prin-
' zipien oder Praxen, die implizit auf ein solches Prinzip hinaus-
laufen. Eine grundsätzliche Verschiebung der Konversion auf den
Zeitpunkt der Union ist abzulehnen. Damit ist aber nur ein
äußerster Rahmen für die gestellte Frage nach dem Zeitpunkt der
Konversion gegeben. Denn zweifellos hat auch dort, wo die Er-
kenntnis der Notwendigkeit der Kirche vorhanden ist, der Christ
noch einen beträchtlichen zeitlichen Spielraum für die Erfüllung
der Pflicht des Anschlusses an die Kirche. Es gibt ja auch für das
Katechumenat sogar der Nichtgetauften sehr lange Zeiten, wo
doch eigentlich, weiles sich um die heilsnotwendige Taufe handelt,
die Sache eher eiliger wäre als in unserem Fall, wo es sich um einen
Christen handelt, der getauft ist und in einem sehr weiten Maß
die
Heilsmittel schon zur Verfügung hat, die auch sein späteres Leben
noch wesentlich mittragen. Der Hinweis darauf, daß der Kate-
chumene noch nicht genügend unterrichtet ist, verschlägt nicht.
Denn mindestens zum Empfang der Taufe wäre keine Unter-
574
richtung von mehreren Jahren notwendig. Der Hinweis auf die
anderen Gründe eines solchen jahrelangen Katechumenats be-
weist aber gerade, daß es Gründe für einen relativ langen Auf-
schub des eigentlichen Eintritts in die Kirche geben kann. Es
wäre also zu beweisen, daß ein Konvertierender keine solchen
Gründe haben könne. Daß seine Gründe andere sind als die des
Taufbewerbers, hebt die Möglichkeit solcher legitimen Gründe
nicht auf. Da in Einzelfällen die objektive Bedeutsamkeit der
Kirchenzugehörigkeit vermutlich nicht sehr ins Gewicht fällt, so
ist somit in solchen Fällen die konkrete subjektive Bedeutsamkeit
der vollen Kirchenzugehörigkeit (in mancher Beziehung gehört
der nichtkatholische Christ ja doch schon zur Kirche) einigermaßen
abzuschätzen. Wenn von einer ernsthaften Bedrohung seines per-
sönlichen Heiles im konkreten Fall nicht die Rede sein kann,
wird man vermutlich hinsichtlich des Zeitpunktes, an dem «hier
und jetzt» seine Verpflichtung zur vollen Kirchenzugehörigkeit
akut wird, weitherzig urteilen können. Zumal dann, wenn ein
gewisses wartendes Hinausschieben nicht als Demonstration einer
grundsätzlichen Verneinung der Pflicht des Anschlusses an die
Kirche gedeutet werden kann. Wo ein künftiger Konvertit trotz
amtlicher Zugehörigkeit zu einer evangelischen Gemeinschaft
doch eher vom Neuheidentum herkommt, kann ja auch die Ein-
übung in das wirklich gelebte Christentum im allgemeinen, das
schon mit viel katholischer «Praxis » verbunden sein kann (Teil-
nahme an der hl. Messe, am katholischen Leben usw.), sehr viel
Zeit in Anspruch nehmen und kann ebenso wie ein langes Kate-
chumenat gerechtfertigt werden. An sich ist nicht einzusehen,
warum die Kirche einen solchen auf dem Weg zur Konversion
seienden Christen kirchenrechtlich nicht ebenso behandeln könnte
(kirchliches Begräbnis usw.) wie einen Tauf bewerber.
Eine andere Frage kann heute noch hinsichtlich der Konver-
sionen, ihrer Möglichkeit und sittlichen Legitimität gestellt wer-
den: die Frage nach der subjektiven Möglichkeit des Erfassens der
objektiv stichhaltigen Gründe der Konversion, bzw. des legitimen
Anspruchs der katholischen Kirche, die einzige und wahre Kirche
Jesu Christi zu sein.
Diese Frage ist oben schon gestreift worden. Es soll aber noch-
375
mals eigens aufsie reflektiert werden. Jeder, der heute Kontrovers-
theologie treibt, weiß, wie schwierig es ist, den Nichtkatholiken
die Gründe für die Pflicht der Konversion rational und geschicht-
lich so klar zu machen, daß sie überzeugend auf den wirken, der
nicht schon von vorneherein (aus welchen Gründen immer) ent-
‚schlossen ist, katholisch zu werden. Die religionsgeschichtlichen,
bibeltheologischen, kirchengeschichtlichen undkirchenrechtlichen
Fragen, die bei einer solchen Aufgabe erörtert und beantwortet
werden müssen (oder müßten, wenn es sich um die Veranlassung
einer Konversion handelt, die nicht aus außerwissenschaftlichen
und -theologischen Gründen «existentiell» schon geschehen ist),
sind objektiv so schwierig, wie die Kontroverstheologie unter den
theologischen Fachleuten auf beiden Seiten zeigt, daß man sich
fragen kann, ob der normale Nichtfachmann auf diesem Gebiet
im Durchschnitt zu einem sachlich fundierten und eindeutigen
Urteil kommen kann, wenn man für diesen Nichtfachmann nur
eine sehr endliche Möglichkeit an Zeit und Belehrbarkeit über
solche Fragen voraussetzt. Wenn man dies bezweifeln kann, so
ergibt sich nochmals eine Berechtigung der Zurückhaltung im
Eifer, auf diesem Weg Konvertiten zu gewinnen, wo diese nicht
schon aus Gründen anderer Art entschlossen sind, katholisch zu
werden. Es ergibt sich von dieser Seite aus die Notwendigkeit und
Berechtigung der eigentlich ökumenischen Bestrebungen: Ein
guter Teil der Christen kann gewissermaßen nur mit Hilfe einer
kollektiven, gesamtkirchlichen Überlegung, nicht aber als einzel-
ner zu einem begründeten Urteil kommen, wo die wahre Kirche
Christi ist. Man braucht sich über diesen Satz nicht zu wundern.
Für Thomas von Aquin gilt er sogar hinsichtlich der einfachen Er-
kenntnis Gottes, die doch gewiß leichter ist als die Meinungs-
bildung in kontroverstheologischen Fragen. Und dann: es wäre
. zu fragen, ob man nicht dort, wo man Konvertiten (der einen
oder der anderen Art) belehrt, die sittliche und theologische Legi-
timität ihres Entschlusses mit Überlegungen begründen müßte,
die indirekt und global sind und so die Problematik der einzelnen
kontroverstheologischen Fragen weithin und zwar legitim um-
gehen können. Was damit gemeint ist, sei noch ein wenig erklärt.
Ist es verwegen oder zu skeptisch, wenn man meint, es sei (bei
376
aller Anerkennung einer objektiven Beweisbarkeit des Primats
_ von einer genauen Bibeltheologie her) eigentlich nicht ganz ehr-
lich, wenn man einem einfachen Konvertiten gegenüber so tut,
als sei dieser Beweis einfach und leicht einzusehen; man brauche
nurMt 16, 18 zu zitieren und einige leicht einsichtige Erklärungen
dazu zu geben und die Sache sei klar? Wenn man ehrlich sagen
darf, solch eine kontroverstheologische Methode einem zu Kon-
vertierenden gegenüber sei objektiv unerlaubt (auch wo sie
eventuell zum Ziel führt), weil sie ihm eine wirklich sachlich be-
rechtigte (und an sich mögliche) Einsicht in die Lösung der-Frage
nicht vermittelt (und in der gegebenen Zeit und bei den vor-
liegenden Voraussetzungen auch nicht vermitteln kann) und doch
so tut, als vermittle sie eine solche Erkenntnis, dann entsteht doch
die Frage, wie auf eine legitime indirekte Weise solche theologische
Einzelfragen gelöst und die fundamentaltheologischen Voraus-
setzungen für die Bejahung der katholischen Kirche geschaffen
werden können. So etwas ist wohl möglich. Wenn man z.B. den
Gedanken entwickelt, daß die Stiftung Jesu, seine Kirche, ent-
sprechend der ganzen inkarnatorischen Struktur seines Heiles eine
geschichtliche Größe und darum eine Größe mit einer geschicht-
lichen Kontinuität sein müsse, und nicht nur ein ideologisches
Gebilde sein könne, das gewissermaßen immer neu entsteht und als
neues das bisherige Kirchengebilde schlechthin in einer generatio
aequivoca ablöst, wenn man weiter betont, daß unter dieser Vor-
aussetzung die katholische Kirche mit ihrer real greifbaren
apostolischen Sukzession mindestens so lange als die legitime
Kirche Jesu Christi zu präsumieren sei, bis nicht eindeutig fest-
stehe, daß sie den Geist Christi und die fundamentalen Lehren des
Christentums der Urkirche verraten und verlassen habe, daß mit
anderen Worten wegen der geschichtlich eindeutigeren Kontinui-
tät der katholischen Kirche vor den Gemeinschaften der Reforma-
tion die Beweislast für die «Neugründung» auf den Vertretern
der Reformation als einer Neugründung der Kirche liege, diese
Beweise aber doch offenbar nicht erbracht würden, zumal doch
allermindestens die Möglichkeit einer grundsätzlichen Leugnung
fundamentalchristlicher Lehren in den protestantischen Gemein-
schaften deutlich zu greifen sei, dann ist doch wohl eine sachlich
3/7
legitime fundamentaltheologische Begründung einer Konver-
sionspflicht möglich, ohne daß man sich auf theologische Einzel-
fragen der Kontroverstheologie einlassen müßte, die den normalen
Konvertiten einfach überfordern und die direkt nur angepackt _
werden könnten in einer unsachlichen und oberflächlichen Weise.
Kann man dies aber sagen, dann zeigt sich nochmals eine Beob-
achtung, die wir der Sache nach schon gemacht haben: Eine solche
Argumentation setzt für ihre psychologische Wirksamkeit eine
empirische Gestalt der katholischen Kirche voraus, die es dem
nichtkatholischen Christen «schwer macht» (wenn man so sagen
darf), unwillkürliche und unreflektierte Hemmungen gegen den
Gedanken zu haben, «man » könne doch eigentlich auch katholisch
sein. Bietet ihm aber das von ihm erlebte Erscheinungsbild
(mit einem gewissen Klerikalismus, mit einer unverstandenen
Liturgie, mit vielem, was einem Menschen einer romanischen
‚Kultur, aber nicht einem Mitteleuropäer verständlich ist, mit
einem schwer erträglichen Zentralismus usw.) schon soviele un-
reflektierte, in sich nicht durchschlagende, aber psychologisch
wirksame Gründe, die eine wirklich existentielle Frage, ob man
auch katholisch sein könne, ja nicht aufkommen lassen, dann kann
natürlich auch das eben angedeutete indirekte Präsumtionsargu-
ment für einen Christen, katholisch zu werden, seine Wirksam-
keit nicht entfalten. Man kann nur hoffen und beten, daß die
maßgeblichen Männer der Kirche noch viel mehr verstehen ler-
nen, welche große Verantwortung sie hinsichtlich dieses Erschei-
nungsbildes haben, auch dort noch, wo es sich bei diesem Er-
scheinungsbild nicht um Dinge handelt, die von einer theoreti-
schen Moral als sittlich schlecht qualifiziert werden können. Etwas
kann ja in sich gut oder möglich sein, und doch darf es unter Um-
ständen nicht als unnötige Last einem anderen auferlegt werden.
Prüft man unter einem solchen Gesichtspunkt das Erscheinungs-
bild der Kirche, entstehen ernste Fragen.
378
DOGMATISCHE RANDBEMERKUNGEN
ZUR «KIRCHENFRÖMMIGKEIT»
379
EEK
Kirche glaube, aber nicht an die Kirche glaube, und daß dieser
Unterschied, den schon das Apostolische Glaubensbekenntnis
mache, höchst bedeutsam sei und in der Praxis der Frömmigkeit‘
doch nicht immer einfach selbstverständlich und klar respektiert
werde.
Und nochmals: bevor über diesen Unterschied nachgedacht wer-
den kann, muß zuvor ein Vordergründigeres noch bedacht werden,
das im Verhältnis des Christen zu seiner Kirche noch vor der Frage
diegt, ob und inwieweit er sie (mit Recht oder Unrecht) gewisser-
maßen «personifiziert» und «hypostasiert» und so zu ihr sich in
einer Weise verhält, die den Unterschied des Glaubens an Gott und
des Geglaubtwerdens der Kirche verwischen könnte. Der Dogma-
tiker soll zwar bei seinem Handwerk bleiben und nicht den Geistes-
geschichtler und Kulturphilosophen spielen. Aber vielleicht ist
darum doch die Beobachtung, von ihm ausgesprochen, richtig, daß
die Kirche für den mödernen Katholiken, vor allem im 19. Jahr-
hundert, fast so etwas wie eine Kollektivperson geworden ist, die
er verehrt, liebt, der er vertraut, die er verteidigt, auf die er stolz
ist, bei der er sich geborgen fühlt, die ihm, verglichen mit allen
andern Größen dieser Welt, unvergleichlich erhabener, reiner,
machtvoller, unzerstörbarer vorkommt, eben als die reale In-
karnation alles Wahren, Guten, Verheißungsvollen. Nun könnte
man natürlich — und zunächst mit allem Recht — sagen, das sei
doch immer so gewesen, das gehöre zum Wesen der Haltung eines
Katholiken seit den ersten Tagen des Christentums, wo man (noch
mehr als jetzt, ja fast gnostisch) die Kirche als eine der urweltlichen
himmlischen Mächte und Äone aufzufassen geneigt war und jeden-
falls von der «Mutter » Kirche sprach, ohne die man Gott nichtzum
Vater haben könne, die die einzige Arche des Heils, die Braut
Christi, das neue Paradies und die Königin ist, die an der Seite des
. Heilbringers steht. Das alles ist wahr. Und doch schwingt in diesem
neuzeitlichen Kirchenbewußtsein etwas, was weder dogmatisch
selbstverständlich ist noch zu allen Zeiten gegeben war (wobei ja
der Dogmatiker auch noch das Recht hat, seine kritischen Fragen
an das faktische, unreflexe, kritisch nicht gereinigte Kirchenbe-
wußtsein früherer Zeiten zu stellen, wobei seine Fragen an das
heutige Bewußtsein also auch dann noch nicht als unberechtigt
380
%
581
«subjektiver », existentiell gelebter Heiligkeit vieler ihrer Glieder,
die, ununterscheidbar von den anderen, die eschatologisch sieg-
reiche Gnade Christi sich nicht entlaufen lassen)? Wenn sie nie aus
der Wahrheit Christi herausfallen kann, ist damit schon gesagt,
daß sie diese Wahrheit in jener Kraft, Gegenwärtigkeit, immer
neuen Aneignung verkündigt, wie es heilsam und ersehnt wäre?
Ist es wirklich immer und deutlich so, daß sie diese Wahrheit ver-
wandelnd, in die Unendlichkeit Gottes eröffnend, tröstend und er-
lösend, zu innigster Einheit sich vermählen läßt mit jenem un-
übersehbaren, brausenden, wirren und doch so herrlichen Chaos
an Erkenntnissen, Fragen, Ahnungen, geistigen Eroberungen, ab-
gründigen Ratlosigkeiten, das wir das «Weltbild», die Welt-
anschauung des modernen Menschen nennen? Wird nicht oft
(gegen den Sinn der evangelischen Wahrheit) das Bestehenbleiben
der Botschaft des Evangeliums in der Kirche dadurch erkauft, daß
man sich ängstlich hütet, sich diesem «Chaos » (aus dem die Welt
von morgen geboren wird) auszusetzen, oder ihm höchstens, das
Eigene bloß bewahrend, rein defensiv begegnet? Gibt es nicht
diese Kirche auch? Kann man das nur von den Menschen der
Kirche klagend sagen, wenn die Kirche nicht ein jenseitiger
Äon, sondern «die Menge der Gläubigen» und also auch der
Schwachgläubigen ist? Würde es nicht zum rechten Kirchenbild
gehören, auch dies zu sehen, mit diesem Ärgernis zu rechnen, zu
glauben, daß es sein könne und ertragen werden «müsse», weil
es gar nicht so herrlich in der Kirche zugehen soll? Wenn die
Kirche sich als Hüterin des Naturrechts und des Gesetzes Christi
weiß, so ist damit noch lange nicht gesagt, daß ihre Gläubigen
nicht darüber weithin im Dunkel tappen und untereinander un-
eins sein könnten, wie nun diese richtigen Prinzipien in jene kon-
kreten Imperative eindeutiger, handhabbarer Art übersetzt wer-
den können und sollen, die man über die richtigen Prinzipien
hinaus braucht, soll man vom Gedanken zur machtvollen Tat
kommen. Wenn die Kirche immer die Kirche der Heiligen ist,
dann ist damit noch nicht gesichert, daß diese Heiligen immer dort
stehen, wirken und zeugen, wo die Geschichte der Welt gemacht
wird, dort auch nur in dem bescheidenen Maße stehen, wie es
Gott vielleicht doch gestatten würde, auch wenn seine Kirche nicht
582
‚die der Mächtigen dieser Welt sein al Es wäre also durchaus in
weitem Maße möglich, daß der einzelne Christ, eben weil er sich
als Glied der Kirche weiß, das Los, das er selbst als seines erfährt,
als das der Kirche empfindet. Er brauchte, wenn er so die Existen-
tialien seines eigenen Daseins auf die Kirche überträgt, nicht zu
vergessen, daß die Kirche — die Kirche Christi ist. Im Gegenteil.
Sie ist gerade dadurch die Kirche Christi, daß Gottes fleisch-
gewordene, vergebende Gnade solche Menschen, wie wir es sind
und uns erfahren, mit der ganzen Last ihrer immer tödlich be-
drohten Existenz angenommen und zur Kirche gemacht hat. Wäre
es aber dann im geringsten undogmatisch, wenn der einzelne
Christ gerade von dieser seiner Erfahrung des eigenen Daseins her
die Kirche sähe: als die Gemeinde derer, die, obzwar sündig, doch
nicht ihre Schuld ableugnen, sondern mit ihr zur Gnade Gottes
fliehen, als die Gemeinde derer, die zugeben, daß sie an das Kreuz
ihres Daseins genagelt sind, aber eben mit dem gekreuzigten
Herrn, als die Gemeinde der Ratlosen, solcher aber, die glaubend
ihre Finsternis in das Geheimnis Gottes hineinbergen, als die Ge-
meinde derer, die den Mut haben zu bekennen: mein Gott, warum
hast du mich verlassen, und gerade nach diesem Wort ihre Seele
in die Hände des Vaters legen, obwohl es schrecklich ist, in die
Hände des lebendigen Gottes zu fallen? Warum sollte also der
Christ sich nicht so als Glied der Kirche fühlen, daß er sein er-
fahrenes Schicksal als die Erfahrung der Kirche, als das darin
glaubend ausgetragene Schicksal erfährt und eben dies ihm seine
Kirche charakterisiert? Denn gerade indem der Tod gehorsam an-
genommen wird, in der Finsternis das Licht Gottes geglaubt wird,
die Ungewißheit dem Geheimnis schlechthin anvertraut wird,
entsteht jene Gemeinde der Glaubenden, die die Kirche ist und
immer durch die Gnade Gottes bleibt. Denn sie ist nie nur der von
Gott in Christo organisierte und legitimierte äußere Verband,
sondern dieser ist immer nur die gesellschaftliche Erscheinung und
das Sakrament jener geheimnisvollen Gemeinde der wahrhaft
Glaubenden, die Gottes uneinfangbare Gnadentat zu solchen ge-
macht hat. Aber wird man sagen können, daß der Christ von heute
die Kirche auch nur «auch » von dieser Seite sieht? Er sieht sie als
die lehrende, nicht als die notvoll glaubende, als die im Lichte
585
stehende und Finsternis verscheuchende, nicht als die Finsternis
in Geduld aushaltende, als das Ziel der Werke Gottes, nicht als das
Mittel zum noch ausständigen Zielwerk Gottes, eben als die Köni-
gin und Mutter, er sieht sie aber nicht als die Schar derer, die so sind
wie er selbst und so gerade (soundnichtanders) sich in GottesGnade
geborgen wissen. Es gibt wohl wenig Christen, die wie Bernhard
Martin formulieren würden und es als ein durchaus legitimes Kir-
chenbewußtsein unmittelbar erfahren: «Nun bin ich gewiß dank-
bar, den Wegin die Kirche gefunden zu haben, oder, was dann doch
zutiefst dasselbe ist, geführt worden zu sein, aber ich hatte und
habe nicht vor, mich auf Erden «zu Hause» zu fühlen, auch nicht
in der Kirche.» Wie sollte eine solche Unbehaustheitserfahrung
auch in der Kirche unkatholisch sein, wenn die Kirche, der wir
angehören, die pilgernde Kirche ist und wir, die Glieder dieser
Kirche, — leidende, irrende, suchende, das Künftige, das allein das
End-Gültige ist, erst noch erhoffende Glieder sind?
Was mit all dem gemeint ist, kann vielleicht dogmatisch noch
"etwas deutlicher gemacht werden. Der moderne Katholik lebt, so
könnte man formulieren, das Kirchenbewußtsein des I. Vatikani-
schen Konzils. Dessen Eigentümlichkeit liegt aber darin, daß sein
Akzent (natürlich nicht sein exklusiver Inhalt) auf der Kirche als
empirisch erfahrbarem Glaubwürdigkeitsmotiv, nicht auf .der
Kirche als (in sich verborgenem) Glaubensgegenstand ruht. Nicht
als ob es so etwas wie die Kirche als Glaubwürdigkeitsmotiv dafür,
daß durch sie und in ihr Gott gesprochen hat, nicht gäbe oder dies
in früheren Zeiten gänzlich außerhalb des religiösen Bewußtseins
der Christen gestanden habe (das «Seht, wie sie einander lieben »,
das kirchliche, triumphale Selbstbewußtsein, daß in der Kirche
das neue Geschlecht greifbar wird, beiMinucius Felix, im Diognet-
Brief, bei Tertullian usw., sind ja wahrhaftig schon alt). Aber für
das religiöse Bewußtsein der «noch» heutigen Christen ist die
Kirche doch in einem sehr betonten Maß die, deren empirische
Erscheinung von ihrem Wesen überzeugt, und wenig die, deren
Wesen «trotz» ihrer Erscheinung geglaubt wird. Kirche, soweit
sie Glaubwürdigkeitsmotiv ist und soweit sie Gegenstand eines —
doch notwendig schweren, die ganze Kraft des Herzens verzehren-
den, nur durch das Wunder der Gnade ermöglichten — Glaubens
584
ist, verschwimmen seltsam ineinander. Man hat neuzeitlich fast
‘den Eindruck, als ob sie, die Kirche, der Punkt wäre, an dem man
das Geglaubte doch fast mit Händen greifen könne: «Ein Haus voll’
Glorie schauet...». Man ist sich wenig dessen bewußt, daß ihre
empirisch feststellbaren «Eigenschaften » und «Noten» und ihre
geglaubten und bekannten Eigenschaften (auch wenn beide z.T.
mit den gleichen Namen genannt werden) nicht einfach identisch
sind. Was würde z.B. eine empirische Katholizität (gerade heute,
wo es zum erstenmal auch organisatorisch verfaßte Welt- und
Lebenssysteme weltweiter Art und Macht außerhalb der Kirche
gibt) bedeuten, wenn man nicht glauben dürfte, daß wirklich alle
Menschen in ihrer unabsehbaren Vielfalt grundsätzlich in ihr
Platz haben, weil ihr Raum nicht ihrer, sondern der Gottes ist?
Was würde die Einheit der Lehre und der Organisation letztlich
besagen, wenn man nicht glauben (nicht erfahren!) dürfte, daß
darin und darüber hinaus (d.h. über die Formeln und alle Organi-
sation hinaus) die Wahrheit und Wirklichkeit selbst gemeinsam im.
Glauben, den der Geist mit sich selbst mitbringt, besessen werden
und die Herzen eins sind, die so unsagbar einsam zu sein scheinen?
Was wäre alle empirische sittliche Leistung (bis zum Martyrium)
in der Kirche, wenn man nicht den Mut haben dürfte zu glauben,
daß mitten darin der heilige Geist Gottes sein Werk vollbringt und
seine Liebe, die er selber ist, ausgießt in diese Herzen, so daß, wenn
man dieses Sittliche in seine Tiefen hinein analysiert, man wirk-
lich nicht in das Leere des Menschen, sondern in den Abgrund
Gottes fällt? Was würde einem die empirisch feststellbare «Apo-
stolizität» der Kirche nützen, alle ununterbrochene, hierarchische
Sukzession, hätten wir nicht den Glauben, daß diese zweitausend-
jährige Kirche die nicht greifbare Fülle ihres Anfangs wider allen
tötenden Spruch der geschichtlichen Vergänglichkeit bewahrt hat?
Wird aber im neuzeitlichen Kirchenbewußtsein der (echte) ge-
sehene Glanz der Kirche und ihre geglaubte Herrlichkeit nicht zu
sehr als eins gesehen und die «ontologische Differenz » (weil das
eine das - wenn auch gottgewirkte — Endliche und das andere
Gottes Absolutheit selbst ist) nicht fast übersehen? Dürfte man
aber nicht vielleicht das Paradox wagen, daß, je mehr die Kirche
die Gemeinde derer ist, die contra spem in spem glauben, daß Gott
585
Großes an ihnen getan hat, glauben gerade dadurch, daß sie wahr-
haftig in Geduld die Knechtsgestalt dieser Kirche annehmen und
mitausleiden, daß die Kirche auch um so mehr und gerade so (und
eigentlich nur so!) auch das signum elevatum in nationes wird,
von dem das I. Vatikanische Konzil so triumphal spricht? Man wird
aber nicht behaupten können, daß solche dogmatisch durchaus
möglichen, ja latent immer auch gelebten Aspekte der Kirche und
der Kirchenfrömmigkeit im Vordergrund des neuzeitlichen Be-
wußtseins ständen oder theologisch sehr thematisch seien.
Wir kehren zum Anfang der Erwägung zurück. Was bedeutet
es für die Kirchenfrömmigkeit, daß man an Gott glaubt, aber nicht
an die Kirche, sondern nur die Kirche glaubt? Dieser Umstand
muß etwas für die Kirchenfrömmigkeit bedeuten, denn christliche
Frömmigkeit ist ja gar nichts anderes als der in der Liebe tätig
werdende Glaube. Wenn wir sagen, wir glauben nicht nur Gott,
sondern darüber hinaus an Gott, dann meinen wir damit, daß der
Akt des Glaubens nicht bei einem Satz endigt, den man für wahr
hält (weil er mit der Wirklichkeit «übereinstimmt », die man aber
nur insofern hat, als man den Satz über sie, den endlichen mit ihr
inadäquaten, hat), sondern das Geglaubte — richtiger: den Ge-
glaubten - selber trifft und hat. Und dies in doppelter Hinsicht:
insofern im Akt des Glaubens (von uns aus gesehen) jene eigen-
tümlich personale Bezogenheit geschieht, in der der Erkennende
und Bejahende nicht mit einem Wissen «über etwas » bei sich ist,
sondern wirklich über sich hinauskommt, sich aufsprengt, sich
transzendiert, die Reflexion und « Vermittlung » überholt und den
Mut hat, bei der «Sache» (die Person ist) selbst zu bleiben
und
nicht, sich selbst vergewissernd, zu sich zurückkehrt, um
im Ge-
schäft der Reflexion innerlich in sich selbst zu ersticken. Und dann
(was wichtiger ist): insofern der Akt des Glaubens Akt der Gnade
ist (und gerade sich selbst als solchen begreift und so von sich selbst
loskommt), ist er getragen und gewirkt von der Wirklichkeit
des
Geglaubten selbst. Denn «Gnade » (als «übernatürliche », «ein-
gegossene» Tugend) ist ja nicht irgendeine «Hilfe» zu einem in
sich selbst doch wieder rein menschlichen Akt, sondern
(trotz aller
«Geschaffenheit», d.h. trotz allen realen verwandelnden
Ange-
kommenseins Gottes beim Menschen selbst) in letzter
Wahrheit
586
Gott selbst, der seine eigene Wirklichkeit (obzwar alsdas unendliche
Geheimnis) der Kreatur mitteilt und so und dadurch den Akt des
Glaubens ermöglicht und trägt, so daß er in Wahrheit das als den
Grund seines eigenen Wesens hat, was geglaubt wird. Es wird also
in aller Wahrheit «in Gott hinein » geglaubt. Und das kann man
gewiß vom Glauben nur in bezug auf Gott sagen. Und nicht von
einer anderen Wirklichkeit, die geglaubt wird. Auch nicht von der
Kirche. Was dieser Unterschied genauer bedeutet, dem muß noch
weiter nachgedacht werden, auch wenn dazu Geduld nötig ist.
Natürlich läßt sich theologisch in gewisser Hinsicht durchaus sa-
gen, daß die Kirche der Grund desGlaubens ist, daß sie den Glauben
des Einzelnen trägt. In einem gewissen Sinn ist dies ja heutzutage
sogar leichter und verständlicher als je. Denn gerade wenn der
Glaube «in Gott hinein» geht, weil er der Glaube genau und
eigentlich nur daran ist, daß das absolute grenzenlose Geheimnis,
das unser Dasein von Unendlichkeiten her umfaßt, sich selbst in
unsagbarer Nähe vergebend und beseligend der endlichen Kreatur
mitteilt und nicht der schreckliche Glanz unnahbaren Lichtes
bleibt, das uns selbst als reine Finsternis entlarvt und von sich ab-
weist, hätten wir dann heute den Mut, das für uns selbst zu glau-
ben, wenn wir es nicht für alle glauben und hoffen dürften? Wir
können heute (auch wenn wir Gott — Gott sein lassen und seine
Verfügungen als unbegreiflich und inappellabel zugleich anbeten)
nicht so «aristokratisch » (oder naiv egoistisch?) empfinden, daß
wir für andere weniger hoffen oder mehr fürchten könnten als für
uns selbst. Wir vermögen also die Botschaft, daß die unbegreifliche
Ferne des unendlichen Geheimnisses die absolute selige Nähe für
uns sein will, als je uns gesagt nur zu hören, wenn wir sie hören
als Botschaft an alle, wenn wir wirklich an den «allgemeinen
Heilswillen» Gottes glauben und hinsichtlich seiner «Bedingt-
heit» für andere nicht mehr fürchten als für uns. Weil diese Bot-
schaft allen gesagt ist, darum wagen wir (je ich), sie als mir gesagt
zu hören, darum fürchten wir nicht, sie könnte das schrecklichste
Mißverständnis sein, das eine wahnhafte Selbstüberschätzung je
meiner selbst mir vorgaukelt. Von den anderen darf und muß ich
das Höchste denken, das Unendliche erhoffen, sie darf ich nicht
geringer einschätzen, ohne sie zu verachten und in den tödlichen
587
Zustand des Hasses (weil er da schon ist, wo nicht unendlich geliebt
wird) zu verfallen. Wenn wir also heute glauben, geschieht es
immer inmitten jener ungezählten, alle, alle umfassenden Schar
derer, von denen wir fest glauben, daß an sie dasselbe Wort ge-
richtet ist, und von denen wir fest hoffen, daß sie es zu ihrem
Heil hören. Wir glauben immer in der Gemeinde der von Gott
Angeredeten,