SCHOOL OF THEOLOGY
AT CLAREMONT
California
Karl Rahner/Schriften zur Theologie
Band VI
KARL RAHNER
a
\ f SCHRIFTEN
ZUR THEOLOGIE
BAND VI
NEUERE SCHRIFTEN
IMPRIMIPOTEST
Monachii, die 29 septembris 1965, P.K.Fank SJ., Praep. Prov. Germ. Sup.SJ.
8.MAI 1965
INHALT
VOTIGOLT TEN ER ET
FUNDAMENTALTHEOLOGISCHE FRAGEN
A. Pilgernde Kirche
Kirche der Sünder . en 501
Sündige Kirche nach den a de RER Vatikani-
schen Konzils . u } 521
Kirche und Parusie Christi 548
B. Der Bischof in der Kirche
Über den Episkopat LIE 569
Pastoraltheologische Heniertkünsen über ee Erikopers in
der Lehre des II. Vaticanum 423
Über Bischofskonferenzen 452
C. Kirche im Konzil
Kirche im Wandel 455
Konziliare Lehre der Kirche Ni künftige Wirklichkeit
christlichen Lebens 479
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als ob diese Eigentümlichkeit für sich allein eine ausreichende
und tragfähige Basis für die Religion eines Menschen hergeben
' könnte. Wo ein Mensch nicht mehr echt und voll Mensch
wäre, ein Musischer, ein Liebender, ein Mensch, der die letzten
- Geheimnisse des Daseins vor sich kommen läßt: die Endlichkeit,
die Angst, die Seligkeit des Schönen, den Tod und wie alle Mächte
eines vollen menschlichen Daseins heißen, dann könnte er weder
auf die Dauer ein wirklicher Mensch noch ein wahrer homo reli-
giosus sein. Denn gerade die Religion, das echte Verhältnis zu
Gott, dem absoluten, alles tragenden und alles bergenden Geheim-
nis des Daseins, ist nicht ein partikuläres, regionales Stück des
menschlichen Daseins, sondern seine ursprüngliche und wiederum
alles einende Einheit und lebt somit auch immer aus dem Ganzen
dieses einen und zu einenden Daseins. Wo ein Mensch von heutein
dieser seiner Eigentümlichkeit in seiner Lebenserfahrung den
quälenden Eindruck erführe, seine Heutigkeit mache ihn, aus-
drücklich oder vor sich selbst verhohlen, zu einem A-religiosus,
dann wäre er zunächst zu fragen, ob er nicht zuvor schon zuwenig
Mensch sei, zu sehr, in dem oben angedeuteten existentialontolo-
gischen Sinn, bloß «Manager » sei, ein Mensch, der nur noch eines
tun wolle und dieses eine doch innerhalb der Verfügbarkeit dieser
Welt, nämlich im Mach- und Planbaren suche, anstatt im unsag-
baren Geheimnis Gottes, der verfügt über uns als die schweigende
Unverfügbarkeit.
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natürlich auch in dieser Welt der offenen, nahen und unbeherrsch-
baren Natur das Gewöhnliche und Gewohnte, das, womit man
' rechnete; es gibt auch schon im Buch des Alten Testaments da und
dort Vorkommnisse, die zeigen, daß der Mensch in seiner Welt
numinoser Natur als der Präsenz unmittelbar göttlichen Waltens
Unterschiede und Stufen erkannte, nicht alles ganz in gleicher
Dringlichkeit als Gottes unbewältigbares Walten erlebte. Aber es
gab eigentlich doch keine Natur, der man ihre strengen Gesetze, an
die man sie selbst gebunden wußte, so ablistete, um gleichsam be-
waffnet mit diesem ihr entwendeten Gesetz sie selbst anzugreifen,
sie zu zwingen, und sich selbst von dieser Gesetzlichkeit, was deren
brutale Härte gegen den Menschen angeht, zu emanzipieren, sie
sich selbst zu unterjochen. Sie war selbst für eine Religion, die Gott
nicht mit der Natur verwechselte, die Sonne, Mond und Sterne
und erst recht die Mächte dieser Erde als Gottes Kreatur erkannte
und nicht einfachhin als Erscheinungen Gottes selbst erfuhr, eben
doch die Statthalterin Gottes, der gegenüber, aufs Ganze gesehen,
dem Menschen nur demütig schweigender Gehorsam übrigblieb,
oder das Gebet und die Beschwörung des über allem waltenden
Herrn dieser Natur.
Heute ist dies nun in einem unerhörten Maße anders geworden.
Ob man diese Änderung als essentiell oder nur als graduell bezeich-
nen will, das hängt ab von der Begrifflichkeit, die man mit solchen
Worten meint, vom Standpunkt, unter dem man diese Änderung
sieht; und damit wollen wir uns hier nicht beschäftigen. Diese
Änderung, die im wesentlichen mit der modernen Naturwissen-
schaft und bei dieser wieder mit der Wendung zum Subjekt in der
Philosophie am Beginn der Neuzeit zusammenhängt, ist jedenfalls
viel größer, als sie in einem vulgär-christlichen Empfinden einge-
schätzt wird; sie wird sich erst in den noch anhebenden Zeiten der
Technik auf mikrophysikalischer Grundlage und mit den Mitteln
der Automation und Kybernetik noch ungeheuer weiterentwik-
keln und das Bewußtsein des Menschen noch viel mehr verändern.
Natürlich gibt es auch heute noch in jenem existentiellen Sinn
offene und unverfügte Natur, von der wir eben gesprochen haben.
Aber diese Natur ist doch schon für das Empfinden des heutigen
Menschen so etwas wie ein Residuum, eine folkloristische Insel aus
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\
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_ rückt waren, einer Sphäre, in der die Körper schicksalslos in un-
wandelbarer, sanfter Einheit mit sich selbst ihre himmlischen
Bahnen zogen. Die Natur ist dem heutigen Menschen nicht mehr
die erhabene, seiner Verfügung entzogene Statthalterin Gottes,
sondern der Stoff, den er braucht, um sich in seinem eigenen freien
Schöpfertum zu erfahren, um sich seine Welt selbst zu bauen nach
eigenem Gesetz. Natürlich hat dieser Stoff menschlichen Schöpfer-
tums seine Gesetze, die ihm selbst eigen sind, die immer noch hart
auf dem Menschen lasten, natürlich unterwirft sich dieses Schöp-
fertum darum unweigerlich dem Fremden, dem Vorgegebenen,
ist nicht reines Schöpfertum, wie wir es von Gott bekennen, nicht
ganz von innen, nicht einfach nur sich selbst Gesetz, nicht Stoff
und Form zugleich aus dem Nichts ziehend, und natürlich ist
darum dieses sich auf die Gesetze der Materie einlassen müs-
sende Schöpfertum des Menschen in seinem Wachstum auch im-
mer ein Wachstum des Gehorsams und der « Knechtschaft» ge-
genüber einem fremden Gesetz. Aber es ist Schöpfertum, wissend
und wollend, beherrschend und die Natur in den eigenen Dienst
zwingend.
Damit ist aber der Mensch in einem realen und nicht bloß
geistigen Sinn in seine eigene Hand gegeben; die Welt, die ihn
umgibt, ist sein eigenes Gebilde, er begegnet sich zunächst ein-
mal in dieser Umwelt selbst. Wir können diesen Wandel, dieses
Subjektwerden des Menschen innerhalb der realen, unmittelbar
erfahrbaren Welt hier nicht mehr weiter darlegen. Es ist auch
nicht bestritten, daß die einzelnen Menschen diese Erfahrung der
Eigentümlichkeit des Menschen von heute, seine Rationalität,
seine Technik und Kybernetik, sein aktives Schöpfertum, die Ver-
mitteltheit der Welt durch die « Hominisation » dieser Welt, in
sehr verschiedenem Maße erfahren, verschieden nach Beruf, ver-
schieden nach Alter, nach der Regionalität ihrer engeren Umwelt
und Kultur, verschieden nach dem Mut, mit dem sie diese Erfah-
rung zulassen oder eben verdrängen. Es ist nicht bestritten, daß die
klerikale Welt, die es in allen Konfessionen gibt, entsprechend dem
Segen und der Gefahr eines solchen « geistlich-religiösen Lebens»,
diese Erfahrung am langsamsten und widerwilligsten macht. Aber
im ganzen gilt eben doch und in einem unaufhaltsam wachsenden
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Maße: der Mensch von heute und morgen ist der Mensch, der
wirklich Subjekt geworden ist, der sich selbst, nicht nur theore-
tisch-kontemplativ, sondern praktisch selbst überantwortet ist, der
die kopernikanische Wendung von einer «Kosmozentrik » zu einer
«Anthropozentrik » nicht nur denkerisch und religiös, sondern
praktisch durchgeführt hat. Er plant, er ist im unmittelbaren
Kontakt mit jener Wissenschaft, die nicht in ästhetisch-philoso-
phischer Kontemplation die Welt betrachtet, sondern darüber
nachdenkt (auch noch in den theoretischsten Sparten), wie man
die Natur bewältigen und überwältigen, ihr das Gesetz des Han-
delns abringen und uns zu eigen machen könne. Er setzt neue Ziele
und Aufgaben, er erfindet neue Bedürfnisse als neu gewollte, die er
selbst erzeugt und zu befriedigen verspricht. Er ist in der Gefahr,
in der Kunst der sogenannten Menschenführung und der Reklame
und Propaganda auch den Menschen selbst als bloßes Material zu
betrachten, das er nach eigenen Absichten und selbstgewählten
Zielen formt. Er steht wirklich erfahrungs- und erlebnismäßig im
Raum der Natur als einem Steinbruch und einem Bauplatz, an
dem erst die Welt werden soll, in der der Mensch leben will in sei-
ner eigenen Welt, der Welt, in der er nochmals sich selber begeg-
net — fast wie sein eigener Schöpfer und Gott.
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y
von uns gemachte Natur, die künstliche Natur, die Natur, die raf-
‚finierte Kultur ist und nochmals das Bild des Menschen wider-
spiegelt. Diese Entwicklung ist unvermeidlich. Man braucht die-
ser Entwicklung nicht die marxistische Ideologie zu unterlegen,
man braucht sie nicht sehr triumphal und nicht sehr beglückend
zu empfinden. Sie ist da und wird bleiben. Der Mensch, der diese
Möglichkeit entdeckt hat, wird nicht mehr verzichten, Herr zu
sein, wütend kämpfender, tausend Niederlagen erleidender, aber
auch immer neue berauschende Siege gegen die Natur zu ihrer
Unterjochung erkämpfender Herr und Schöpfer einer Welt, die
er selbst macht. Und (das ist noch viel bedeutsamer): diese Ent-
wicklung ist bei einer wirklich letzten Betrachtung der Geistes-
geschichte und des Wesens des Christentums nicht etwas, was
trotz oder gegen oder neben dem Christentum entstanden ist, auch
wenn das — sanfte Ironie Gottes — die Kirchenmänner reflex erst
am spätesten merken. Sondern sie entspringt dem Wesen des Chri-
stentums selbst, ist ein notwendiges Moment seiner eigenen Ge-
schichte. Daran ändert der Umstand nichts, daß wir diesen Zu-
sammenhang erst entdecken können, wenn diese neue Phase der
Geschichte schon eingetreten ist, sie aber nicht eigentlich voraus-
gesehen haben; daß wir diese Geschichte faktisch oft nur mit
Angst, Unbehagen und Gejammer miterlebten und gar nicht be-
greifen wollten, daß es sich um die Geschichte seiner eigenen
Wirklichkeit handelte, um eine geschichtliche Phase, die dieses
Christentum zwar nicht immer schon besaß (sonst würde es ja
keine Geschichte erleben und erleiden), die aber dennoch zur Ent-
faltung und Verwirklichung seines eigenen, wesentlich geschicht-
lichen Lebens gehört. Nirgends nämlich mehr als im Christentum
ist der Mensch der freie Partner Gottes, so sehr, daß er sein ewiges
. Heil nicht erleidet, sondern in Freiheit tun muß (wenn auch dieses
‚Tun als Tat seiner Freiheit dem Menschen von Gott, seinem Schöp-
fertum und seiner Gnade gegeben wird). Aufder ersten Seite seines
heiligen Buches steht schon: «Und machet sie euch untertan. »
Der Christ konnte und brauchte nicht vorauszusehen, was ein sol-
ches Wort an Aufgaben und Geschichte in sich birgt. Aber der
Mensch im christlichen Verständnis, der sich in radikalster Weise
als Subjekt von Freiheit und Gottunmittelbarkeit weiß, der wirk-
21
4
lich verstanden hat, daß die Natur, das heißt alles, was ihn umgibt,
nicht Gott, sondern Gottes bloßes Geschöpf ist, das geringer ist als
er, der Mensch als Partner Gottes selbst, der Christ, der weiß, daß
im Menschen selbst und nur in ihm die Welt in der Inkarnation
unmittelbar Gottes Geschichte selbst geworden ist, daß er, der
Mensch, also auf seiten Gottes der Kreatur gegenübersteht und er
sie also gar nicht so einfach als die Stellvertreterin Gottes ihm ge-
genüber betrachten kann, sondern im Gottmenschen selbst zum
Stellvertreter Gottes der Natur gegenüber geworden ist, dieser
Mensch und Christ, sage ich, mußte eines Tages dazu kommen,zu
entdecken, daß dieses christliche Grundverhältnis zu Welt und
Natur sich nicht nur realisiert in der Innerlichkeit des Glaubens,
des Gewissens, des Gebetes, sondern auch in undaan der Welt selbst,
in der Tat der Erkenntnis durch weltliche Wissenschaft und der
daraus entspringenden Tat der Unterwerfung der Natur. Und so
kann der Christ diese Notwendigkeit und die christliche Ursprüng-
lichkeit dieser Entwicklung auch durchaus als eine Aufgabe sehen,
der er verpflichtet ist, als die Verteidigung und die Durchsetzung
seiner Würde, die ihm vom Schöpfer und gnadenhaften Partner
zukommt.
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dem, was er aus ihr macht, scheinbar nur Welt: die Gesetze der
Materie und sein eigenes Bild. Natürlich kann man immer sagen:
eben diese Welt sei doch die von Gott erschaffene, die Gesetze, die
der Mensch entdeckt, seien die von Gott gegebenen, und was er
selbst tue, geschehe in der Kraft eines Wesens von Geist und Frei-
heit, das eben derselbe Gott geschaffen und beim Namen genannt
hat. Aber das ändert, so wahr es ist und bleibt, nichts daran, daß
diese Welt gottloser geworden ist. Was sich in ihr ereignet, wird
nicht mehr so erfahren, wenigstens nicht mehr so unmittelbar und
massiv erfahren als die Tat Gottes in und an der Welt. Es begegnen
nicht mehr alle Tage Wunder, das Außergewöhnliche stellt sich
fast nur noch als die Aufgabe an die Wissenschaft, es zu erklären
und so zum Gewöhnlichen zu degradieren. Die Misere dieser Welt
wird nicht empfunden als Aufforderung zu beschwörendem Gebet
an den Herrn der Natur, sondern zu noch verbissenerem Kampf
mit ihren Gewalten, bis diese eben doch besiegt oder gezähmt und
eingedämmt sind. Die Welt bleibt eine entnuminisierte, eine pro-
fane, eine hominisierte, selbst wenn dadurch noch lange nicht ge-
sagt wird, daß sie humanisiert sei, weil ja auch aus dieser homini-
sierten Welt nochmals die Unmenschlichkeit des Menschen selbst
in Gestalt von Verwüstung der Natur, von ABC-Waffen und ähn-
lichen Greueln den Menschen anblicken kann. Aber diese ent-
numinisierte und hominisierte Welt bedeutet zunächst unweigerlich
einmal eine Ferne Gottes, eine Blaßheit und Unbegreiflichkeit des
Gottesgedankens, eine Entweltlichung Gottes, seine Entkategoria-
lisierung. Wer diese Tatsache, gemessen an seinem eigenen Erle-
ben, nicht wahrhaben will, der muß sich fragen lassen, ob denn
seine Gotteserfahrung wirklich sehr stark sei oder doch nur ein
freundliches Relikt aus früheren Zeiten, das ihm traditionell über-
kommen ist, wie auch der modernste Unternehmer noch die
Ahnenbilder vergangener Generationen in seiner modernen Villa
aufhängt; der muß sich hinweisen lassen auf den modernen, welt-
weiten Atheismus und den (wenigstens scheinbaren) Schwund der
Fähigkeit religiöser Vollzüge, worin, makroskopisch vergrößert,
sozial in Erscheinung tritt, was er in seiner individuellen Erfah-
rung wegen ihrer Begrenztheit nicht sieht oder auch nur nicht
wahrhaben will. Es nützt da auch nicht unmittelbar etwas, wenn
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!
wir sagten, wir haben außer der Natur und weit über ihr das un-
mittelbare Offenbarungswort Gottes in der Schrift. Bevor wir
überhaupt anfangen können, dieses Wort Gottes zu hören oder zu
lesen, sind wir schon längst eingefangen in dieser Welt von heute,
sind wir die Skeptischen, Rationalistischen, die Menschen der
naturwissenschaftlichen und historischen Ableitung und Erklä-
rung. Wir empfinden auch die Schrift zunächst als Echo einer un-
tergegangenen Welt, als Aussage in Funktion eines Weltbildes,
das uns fremd geworden ist. Und nur mühsam und unter tausend
Schmerzen des Geistes und des Herzens will es uns gelingen, die
Schrift zu übersetzen in unsere Sprache, damit sie uns nicht bloß
erscheine als Dokument einer religionsgeschichtlichen Epoche, die
untergegangen ist.
Aber wenn es wahr ist, daß diese europäische Profanität der
Welt, die heute im Zeitalter der einen politischen Welt, der Ent-
wicklungshilfe und der Rationalisierung und Technisierung der
ganzen Welt zum Schicksal aller Völker und Menschen wird, eine
unvermeidliche Tatsache und selbst noch einmal christlichen Ur-
sprungs ist, dann muß diese Profanität der Welt, die diese gottlos
und Gott weltlos zu machen scheint, eben doch einen positiven
Sinn haben und eine religiöse Aufgabe sein, die es wahrzuhaben
gilt. Und so ist es in der Tat. h
Zunächst einmal: Die Welt des Menschen bleibt auch heute im
letzten die unverfügbare und dunkel zukünftige. Wenn wir diesen
Satz sagen, dann meinen wir gar nicht so sehr und in erster und
letzter Linie, daß auch heute noch das Material des schöpferischen
Menschen diesem Menschen Gesetze und Grenzen auferlegt, daß
er diese Welt auch heute noch nicht beherrscht. Wir meinen nicht
nur, daß der Stoff des menschlichen Schöpfertums auch heute
noch spröde und hart ist, daß der Mensch im Grunde dennoch sein
Brot im Schweiße seines Angesichtes ißt, daß er auf einem Acker
baut, der Disteln und Dornen trägt. Wir meinen nicht einmal,
obwohl dies eigentlich dem ganzen Schöpfertum des Menschen bis
in seine letzte Wurzel und bis zu seiner stolzesten Höhe eine Eigen-
tümlichkeit verleiht, die dieses Schöpfertum als kreatürlich ent-
hüllt und als kreatürlich erleiden läßt, daß auch heute noch ge-
nauso wie immer und je dieser Titan von heute in seinem prome-
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theischen Stolz und in seiner Macht der arme Sterbende ist, der als
der einsam und elend Sterbende auch in den modernen Kliniken
immer noch das radikale und letzte «Nein» zu einer absoluten
Selbstmacht erfährt, auch wenn er zu diesem einsamen Sterben,
das niemand mehr stören darf, fern von den Seinen in eine Klinik
mit allem Sterbekomfort verbannt wird und dabei gerade so der
Einzelne und Unvertretbare bleibt, daß er sich über sein Los nicht
damit trösten kann, daß hinter ihm andere mit der Fackel des stol-
zen Fortschrittes und der titanischen Entwicklung den Lauf fort-
setzen, der jedesmal im Tod endet.
Wir meinen hier noch etwas ganz anderes.. Nämlich daß die Un-
verfügbarkeit und das Schicksal aus dem Verfügten und Geplanten
- des Menschen selbst nochmals hervortritt, daß es so ist, daß der
Mensch nicht nur an der unbewältigten und offenen Natur, son-
dern auch genauso an seiner eigenen Schöpfung die Erfahrung
seiner durch ihn unverfügbaren Verfügtheit macht. In der Tat:
Sind nicht auch heute noch die stolzesten, die durchdachtesten
Planungen des Menschen immer wieder auch der Gang in eine
unabsehbare, überraschende und ungeplante Zukunft? Fühlt sich
der Mensch nicht heute mehr als je einer Daseinsangst ausgelie-
fert, die beweist, daß seine geplante und gesteuerte Tat sich immer
noch und mehr als je verwandelt in das unvorhergesehene Erlei-
den eines dunklen Schicksals? Ist seine Freiheit, die sich selbst in
der Hand zu haben scheint, nicht immer das Wagnis einer dunklen
Zukünftigkeit, das Sichaussetzen einem Kommenden, das niemand
kennt? Haben nicht selbst die kommunistischen Planer einer ratio-
nal ausgedachten Zukunft von utopischer Herrlichkeit je mehr ge-
sehen als im besten Fall die Entwicklung der nächsten paar Jahre?
Und ist dies nicht notwendig so, weil eben jede Tat der Freiheit in
ihrer Objektiviertheit nochmals vor die dunkle Freiheit minde-
stens der nachfolgenden Mächtigen dieser Erde tritt, die eben dieses
Geplante und geplant Verwirklichte nochmals als das bloß will-
kürlich zu behandelnde Material einer Entscheidung verstehen,
die aus tausend Möglichkeiten (deren immer mehr werden, je
mächtiger und befreiter der Mensch wird) eine willkürlich aus-
wählen ?
Wahrhaftig: Der Mensch lebt immer noch im Land des Unver-
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fügbaren, und aus einer unverfügbaren Natur ist eine Welt des
Menschen geworden, die er zwar selbst gemacht hat, die aber dar-
um noch drohender, noch unverfügbarer, noch dunkler geworden
ist. Der Freie erfährt sich in seiner Freiheit als zur Freiheit Ver-
urteilter, als der in Freiheit das Unverfügbare Inaugurierende. Er
mag gewissermaßen noch wie berauscht sein von der Emanzipation,
die er für sich gegenüber der unmittelbar andrängenden und ihn
bedrohenden Natur gewonnen hat. Er wird bald und immer mehr
merken und erfahren, und den Weisen ist es heute schon gegeben,
dies zu erleben, daß seine schöpferische Freiheit sich selbst als die
verfügte und sich ins unabsehbare Dunkel wagende erfährt. Wem
aber soll der Mensch diese Verfügtheit anvertrauen, von wem soll
er sie entgegennehmen, worin soll er seine wagende, ins Dunkle
fallende Freiheit geborgen wissen? Wenn ihm das Geheimnis, das
absolute, schweigende und unendliche, nicht mehr so deutlich und
unmittelbar aus der naturalen Umwelt entgegentritt, so bricht es
jetzt aus seinem eigenen Wesen hervor. Wir nennen dieses Ge-
heimnis Gott. Und je mehr wir werden, was wir sind, die Freien
und Machtvollen, die Herren der Welt, um so mehr suchen wir
den, dem diese verfügte und sich selbst nie gehörende Herrschaft
anvertraut werden kann, Gott. Wenn die Angst der Freiheit nicht
nur theoretisch ist, sondern praktisch wird, dann steigtauch für den
Weisen von heute aus dem Grunde der Freiheit langsam und still,
aber mächtiger als je, das Wissen um die Verfügtheit des Daseins
vor Gott auf, gerade dann, wenn diese Verfügtheit nicht mehr ver-
mittelt ist durch die Fügung der Natur, sondern gottunmittelbarer
als je geworden ist, weil sie sich an der Freiheit selbst erfährt, die
Verfügung und nicht Verfügtheit zu sein scheint.
Weiter: Je mächtiger der Mensch wird, je mehr er sich die Natur
unterwirft, um so mehr wächst seine Yıerantwortung, um so radi-
kaler ist er sich ausgeliefert, um so weiter greifen seine Mösglich-
keiten aus seinem individuellen Umkreis hinaus auf das Geschick
von immer mehr Menschen, um so mehr wird allmählich wirklich
sehr real jeder für jeden verantwortlich. Es ist schon oft gesagt wor-
den, daß der moralische Fortschritt der Menschheit mit ihrem wis-
senschaftlichen, technischen und zivilisatorischen Fortschrittnicht
‚mitgekommen ist, daß der Mensch immer mehr der Barbar wird,
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der aus den Möglichkeiten des Daseins nichts als Zerstörung, Be-
drohung und Oberflächlichkeit herauszuholen vermag. Es ist
schon oft gesagt worden, aber ist es darum schon wahr? Der wache
und wissende Mensch jedenfalls kann aus dieser Situation seines
Schöpfertums einer unterworfenen Natur gegenüber, aus seiner
realen und nicht nur theoretischen Subjektwerdung ganz neue
Erfahrungen der Last der Verantwortung, des Ernstes des Daseins
ziehen. Es ist ja auch wirklich nicht so, daß der Mensch der mo-
dernen Naturwissenschaft und der Technik notwendig und un-
vermeidbar der weniger humane und der weniger moralische sein
müsse. Wenn man genau zusieht, erwächst aus dem Lebensgefühl
des modernen Wissenschaftlers und Technikers durchaus ebenso-
gut, ja vielleicht im stärkeren Maß als je, die Haltung der Sachlich-
keit, der Bescheidenheit, der Verantwortung, der Phrasenlosig-
keit, einer schlichten Stille des Ernstes, die gewissermaßen das
menschliche Gegenbild sind zu der stillen, genauen Sachlichkeit
eines automatisierten Betriebes, in dem, trotz seiner Menschen-
leere, doch ungeheure menschliche Qualitäten investiert sind. Wo
aber gerade aus dieser neuen Situation heraus neue Tugenden oder
Tugenden neu entwickelt werden können oder faktisch entwik-
kelt werden, wo der Mensch erfährt, daß er mehr Verantwortung
hat, weil er und seine Welt mehr als je in seine eigene Entschei-
dung gegeben werden, wo Freiheit als Verantwortung erlebt ist
(und anders bestraft sie sich selbst mit der Absurdität einer Selbst-
aufhebung), wo solche Verantwortung wirklich angenommen
wird, wo diese angenommene Verantwortung als eine absolute er-
fahren wird (und dann ist sie erst, was sie sein will), als unentrinn-
bar und ewig gültig, da ist, wenn auch vielleicht ganz anonym und
"verhalten, ein echtes Gottverhältnis realisiert. Denn der letzte,
absolute Grund aller Verantwortlichkeit der Freiheit und der
Macht, jenes unsagbaren schweigenden Hörens darauf, wie wir
uns verantworten, wird Gott genannt, und wenn wir von Gott
sprechen, meinen wir eben diesen, dem wir, selbst wenn wir ihm
keinen Namen geben, und scheu von ihm wegblicken, dann be-
gegnen, wenn wir die Macht und Weite unserer realen Freiheit
wie eine ungeheure Last auf uns stürzend erkennen und dieser
Wahrheit unseres Daseins nicht feig ausweichen.
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Ein Drittes soll ee werden zur Frage, wie die heutige
schöpferische Situation des Menschen das richtig verstandene, ge-
reinigte und gereifte Religiöse entwickelt und in unserem Leben
gegenwärtig sein läßt. Wir haben von der Weltlichkeit der Welt,
von ihrer Entnuminisierung gesprochen. Es ist wahr: Der Mensch
früherer Zeiten war der Natur mehr ausgesetzt als wir. Aber sie
war dafür ihm auch gleichzeitig die Mutter Natur, bei der man
(wenn wir einmal so sagen dürfen) eher auf die Laune der Milde,
der heiteren Überraschungen und der Nachgiebigkeit rechnen
durfte. Man konnte leichter als heute den Mut haben, den Zufall
zu beschwören und auf sein «Glück », auf die Göttin Fortuna mit
ihrem Füllhorn zu vertrauen. Nun gehört zwar auch heute noch
der Zufall zu den unausrottbaren Daten der menschlichen Exi-
stenz, und mitten in den genauesten Berechnungen der Natur-
wissenschaftler und Techniker springt plötzlich wie die Laune
grausamer Willkür .oder einer verspielten Göttin dieser Zufall:
vernichtend oder segnend auf. Aber im Ganzen ist doch die Welt
des Menschen nüchtern, sachlich, gewissermaßen entpersonalisiert
worden (fast möchte man sagen: gerade weil der Mensch, die Per-
son, sie sich unterworfen hat). Die Welt, die der Mensch sich selbst
gebaut hat, ist hart, schematisch, sie ist karg, weil sie von einem
doch sehr endlichen Wesen gebaut ist, das sparen muß, weilesnur
zu kurz lebt. All das aber spürt der Mensch eben doch. Woher auch
sonst die romantischen Träume und die Sehnsucht nach der alten,
heiteren Fülle einer verschwundenen Natur? Der Mensch leidet
also an der Weltlichkeit seiner Welt, an ihrer Härte und Kargheit,
an ihrer rationalen Strenge, die zu mildern ihm nur wenig glücken
kann. Wenn wir aber diesem Phänomen dieses Leidens an der
selbsterbauten Welt und dem des Grundes dieses Leidens in dieser
eigenen Welt genauer nachgehen könnten, dann würde deutlich
werden: der Grund ist die Endlichkeit, die Sterblichkeit des
Men-
schen, seine Begrenztheit, seine Angst vor dieser Begrenztheit, die
_ ernun heute auch seiner Welt aufprägt, die ihn aus seinen eigenen
Gebilden wieder anblickt. Die harte, unpathetische Wirklichkeit
dieser Welt, die neue Grausamkeit, die er seiner eigenen
Welt
mitteilen muß, obwohl sie seine ist, damit sie bestehen kann
und
nicht zusammenfällt, würde dann einfach doch nur
als eine Art
28
. neue, gewandelte Gestalt seiner Sterblichkeit, seiner Ausgesetztheit
in den Tod erscheinen. Es würde sich zeigen, daß all dies ein Stück
. jener prolixitas mortis ist, jener dauernden Anwesenheit des Todes
inmitten des Lebens in allen Dimensionen des Menschen, von der
schon die alten Bedenker des Menschen und seines Todes wußten.
Dann aber kann in aller Wahrheit gesagt werden, daß dieses an-
genommene Ausleiden dieser harten, kargen, strengen Welt, die
der Mensch sich selbst als Objektivation seiner eigenen, endlichen
Freiheit geschaffen hat, für den Christen in aller Wahrheit eine
Partizipation des Todes Christi ist. Es ist nicht nur so, daß auch
heute noch gestorben werden muß am Ende des Lebens, und daß
dieser Tod existentiell noch genauso hart ist wie zu alten Zeiten.
Nein, dieser Tod des Menschen ist als dauernd in allem Leben selbst
anwesende, geheime Essenz auch in jene Daseinsmöglichkeiten
hineingezogen, die der Mensch von heute sich neu erobert hat.
Solcher Tod und vor allem die Christlichkeit solchen Todes mag
sehr anonym sein; die Dummen und Stumpfen mögen ihn nur
erleiden, ohne ihn zu erkennen, wenn sie nur ihr Leben zu leben
vermeinen und meinen, der Tod käme erst hinterdrein, einmal
und viel später. Der Weise von heute weiß, daß er dauernd im
Leben stirbt, und er begegnet diesem Tod auch in der nüchternen
Härte der Welt, die er sich schuf, um sich sein Dasein in der Aus-
gesetztheit in eine inhumane Natur zu erleichtern, und die nun
selbst als der Schmerz auftritt, den er sich selbst zufügen muß, um
bestehen zu können. Nimmt er aber diesen Schmerz und den in
allem, auch im modernen Dasein als solchem sitzenden Tod an,
dann rückt dieses Dasein ein in die erlösende Todesnot des Erlösers,
mager esausdrücklich wissen odernicht. Denn dieser ToddesHerrn
ist eben gerade — der Tod, also die Ausweglosigkeit des Menschen
als der Sieg, weil diese von Gott selbst angenommen worden ist.
Weiterhin: Wir haben schon früher angedeutet, daß in ihren
Grundzügen trotz aller sündigen und ungläubigen Verzerrung die
Struktur der heutigen Zeit nicht nur nicht unchristlich ist, sondern
letztlich vom Christentum selber geschaffen worden ist, das die
Welt entnuminisiert und zum Material menschlicher Subjektivität
macht, weil so erst der Mensch ganz das wird, was er sein soll, das
freie, sich selbst verantwortende Subjekt vor Gott, und zwar auch
29
’
50
a
4. Hier ist ein Doppeltes anzufügen : Einmal ist noch deutlicher als
bisher zu sagen, daß diese profane Welt in ihrer unabdingbaren
Profanität, um eine Formulierung E.Schillebeeckxs aufzugreifen,
zwar keine sakralisierte, aber doch — wenigstens im katholischen
Weltverständnis — eine geheiligte ist. Das, was wir Gnade nennen,
innerste Vergöttlichung des Kreatürlichen von seiner tiefsten
Wurzel her und seine Eröffnetheit auf die Unmittelbarkeit Gottes
selbst, beginnt nicht erst dort, wo explizite Glaubensbotschaft,
Kirche, Sakrament, Kult, geschriebenes Wort Gottes anfangen.
All dieses explizit Sakrale ist vielmehr das notwendige, von Gott
verfügte, reflexe Zusichselberkommen jener von Gott aus freier
Huld, aber wahrhaft bewirkten Vergöttlichung der Welt, in der
Gott die ganze Welt und alle ihre Dimensionen schon immer an-
genommen und geheiligt hat. Dieses sakralisierende Erscheinen
der geheimen Angenommenheit der ganzen Welt ist gewiß selbst
ein Moment und eine geschichtliche Phase dieser Geheiligtheit
. der Welt von ihrem Ursprung her. Aber Erscheinung und Er-
scheinendes, Sakrament und Gnade decken sich nicht. Diese
gnadenhafte Geheiligtheit der profanen Welt, die gerade darum,
37
weil sie gnadenhaft geheiligt ist, profan bleiben muß (da die
Gnade Gottes ihre siegreiche Macht noch verborgen an sich
halten muß, um der Freiheit des Menschen Raum zu lassen),
bleibt bis zum Ende ihrer Geschichte immer im bleibenden
Widerstreit mit der Schuld, und so die Welt in ihrer konkreten
Verfassung immer die durch den Menschen undeutbare Einheit
vom Ja Gottes und dem Nein des Menschen. Aber Gott hat sein
wirksames Ja zur ganzen Welt in ihre innersten Gründe einge-
stiftet und darum - nicht aus sich allein - fällt sie überall in den
Abgrund des Geheimnisses seiner Liebe, wo sieihren Weg bis zum
Ende geht. Die Kirche mit ihrem Wort verkündigt nur dieses un-
aufhörliche, schweigende Fallen, das überall geschieht, wo der
Mensch sich nicht schuldhaft versperrt, und sie kündigt, daß Gottes
Gnade mächtiger ist als die Schuld des Menschen. Aber die Kirche
und die geheiligte Welt sind in Umfang und Auftrag und Gelingen
nicht identisch. Es mag schwer sein, in dieser Welt von heute das
schweigende Geheimnis der absoluten Nähe Gottes zu entdecken.
Aber es ist überall und geht seinen Gang bis zum Ende.
Ein zweites: In ihrem Verhältnis zu der geheiligten, aber nicht
sakralisierten Welt ist die Kirche noch sehr im Werden. 'Theore-
tisch, weil sie den Dialog der Theologie mit dem Daseinsverständ-
nis des Menschen dieser Welt erst zu lernen beginnt, weil ihre
Theologie - auch auf diesem Konzil - viel mehr noch Aufarbeitung
der noch latenten Möglichkeiten ihrer eigenen Vergangenheit als
Neubeginn auf dem Boden des heutigen Menschen war und unver-
meidlich sein mußte. Praktisch: weil die Kirche noch manches ge-
schichtlich bedingt sakralisiertes Gelände aufgeben kann, das sie
einst mit Recht bebaute, das ihr aber nicht für immer gehört, weil
die Kirche als Institution noch vielfach erst lernen muß, daß auch
ethisch und religiös sie nicht mehr unmittelbar überall die Fragen
und Antworten verwalten kann, die in dem Raum der schöpferi-
schen Möglichkeiten von heute aufstehen oder gesucht werden.
Solche Besinnung auf das ewig alte und neue Evangelium im Dia-
log mit der neuen Welt und solche Freigabe der Welt in ihr Eige-
nes, das von der Kirche als Institution nicht verwaltet werden
kann, bedeuten keine Kapitulation vor einem autonomen Daseins-
verständnis des heutigen Menschen, noch den Rückzug aus einer
52
. bloß profanen Welt in einen bloß sakralen Bereich. Der von Gott
immer geheiligten Welt sagt auch morgen das Evangelium ihr
letztes Geheimnis zu, das sie vergessen oder schuldig niederhalten
kann. Und die Christen im Unterschied vom Amt der Kirche sind
immer aufgerufen und gnadenvoll berufen, weltlich und über-
weltlich zumal zu sein, weil eines nicht das andere ist und doch
jedes von beiden nur im anderen zu seiner Vollendung kommt,
auch wenn kein Mensch die Einheit beider, nochmals planend,
verwalten kann, sondern in dem Verzicht auf die Macht über diese
Einheit Gott allein die Ehre gegeben werden muß.
Und darum (und damit nehmen wir eine Überlegung des An-
fangs nochmals erweitert auf): Die Erfahrung der schöpferischen
Macht des Menschen, die Erfahrung des Sichentziehens der selbst-
geschaffenen Welt in eine neue Unverfügbarkeit, die Erfahrung
der Verantwortung des schöpferischen Menschen von einem
schauervollen Ausmaß, die Erfahrung der abweisenden Härte und
Nüchternheit der neuen Welt und endlich die eingangs genannte
Erfahrung, daß das welthafte Schöpfertum des Menschen gar nicht
sein Leben adäquat bestimmen kann, er also nie nur « Unter-
nehmer» sein kann: all diese Erfahrungen und Haltungen blei-
ben zusammen für den einen Menschen in seinem Dasein in einem
unverwaltbaren Pluralismus stehen. Er erfährt sich als der, der nie
nur eine Aufgabe hat, der sein Leben nie nur in einem Ideal inve-
stieren kann, der zu vielem « ausgehen » muß und die Summe die-
ser seiner Haltungen selbst nie als die berechnete und beherrschte
vor sich bringen kann, um sich selbst in der Geglücktheit einer sol-
chen Synthese zu genießen. In diesem unverfügbaren Pluralismus
_ erfährt der Mensch sich als den bloßen Entwurf, als die Aufgabe,
"die um so mehr sich in ein Geheimnis hinein dem Menschen ent-
zieht, je weiter er diese Tat seines Lebens vollbringt. Und in dieser
Erfahrung erfährt der Mensch nochmals, was eigentlich mit Gott
gemeint ist. Er ist jenes Geheimnis unendlicher, unsagbarer, ber-
gender Fülle, das seinen Anfang gerufen, seine unverwaltbare
Vielfalt zusammenhält und in ihrer Einheit garantiert und die dem
Menschen selbst entschwindende Vollendung seines Daseins auf-
nimmt, wenn sie nur willig auf dieses Geheimnis hin getan wor-
den ist.
55
KLEINE FRAGE ZUM HEUTIGEN
PLURALISMUS IN DER GEISTIGEN SITUATION
DER KATHOLIKEN UND DER KIRCHE
Man soll zwar nicht zu den Leuten gehören, die immer nur Fragen
anmelden und die Antworten anderen überlassen. Solche Leute,
die immer nur « Probleme » aufwerfen, die sie als ungelöst erklä-
ren, glauben gescheiter als andere zu sein. Wo sie aber nicht soviel
' Verantwortung haben, zur Antwort ebenso beizutragen, wie sie
den Mut haben, die Frage aufzuwerfen, gehören sie letztlich doch
nur zur Kategorie der Kinder und Narren, von denen einer mehr
Fragen stellen kann, als hundert Weise zu beantworten wissen. Und
doch: man darf ab und zu auch eine Frage vortragen, ohne eine
Antwort gleich mitzuliefern. Vor allem dann, wenn die klare For-
mulierung der Frage, die sonst nur unklar und unreflex das gei-
stige Leben der Menschen von heute beunruhigt, auch schon ein
erster Schritt zur Antwort ist. Noch eines: wenn man feststellt,
etwas sei «neu», sei «so» früher nicht gewesen, dann kann eine
solche Feststellung richtig und von höchster Bedeutung sein, auch
wenn ein Metaphysiker, der das Wesen des Menschen erforscht,
. behaupten kann, das habe es « eigentlich » doch auch schon früher
gegeben. Man kann diesem metaphysischen Satz dann antworten:
Ja vielleicht, aber es kommt eben doch sehr « wesentlich » auf die
Dosierung an, in der es dasselbe gestern und in der es dieses heute.
gibt. Warum dies gesagt wurde, wird der Leser gleich bemerken.
Eine Feststellung
Für die katholische Weltanschauung, für den christlichen Glauben
sind hinsichtlich seiner rationalen, fundamentaltheologischen Be-
gründung grundsätzlich viele Erkenntnisse, Beweise, Lösungen
von Fragen usw. notwendig: daß es Gott gibt, daß nicht nur Ma-
terie existiert, daß es eine geistige Seele gibt, daß der Determinis-
mus nicht recht hat, daß Jesus von Nazareth sich für den Sohn
Gottes erklärte, daß er eine Kirche gründete, daß er sich hinsicht-
lich des Weltendes nicht irrte, daß Petrus nichtnur vorübergehend
eine Art «Kalif» in Jerusalem war und dann wieder verschwand,
54
RE
56
man selbst. Je nach Temperament wird er mehr oder weniger gern
gewillt sein, einem etwas von seinen Problemen und den Ergeb-
nissen seiner Wissenschaft zu erzählen. Aber er wird nie den
Eindruck haben, daß ich, der andere, nun hinsichtlich der welt-
anschaulichen Relevanz seiner Wissenschaft mitreden könne. Der
moderne Gehirnphysiologe wird immer den Eindruck haben, daß
ich, der ich eben nicht auch zwanzig Jahre Gehirnphysiologie stu-
diert habe, das wirkliche Gewicht seiner weltanschaulichen Pro-
bleme und die wirkliche Tragweite seiner Ergebnisse nicht wirklich
würdigen könne, auch wenn ich noch so gescheit mit einer allge-
meinen formalen philosophischen Bildung mitzureden versuche. Er
braucht mit diesem Eindruck nicht einmal notwendig recht zu
haben. Aber er hat den Eindruck. Und er kann diesen Eindruck
nicht aufheben. Denn er hat zwanzig Jahre Gehirnphysiologie
studiert, und diese Tatsache ist selbst eine — Tatsache, die einfach
diesseits jeder sachlichen und logischen Geltung seiner Erkennt-
nisse und Argumente ihn zu einem anderen geistigen Menschen:
macht, als ich es selber bin. Die schlichte Tatsache seines langen,
«einseitigen» Studiums, die gar nicht aufgehoben werden kann,
weil er sonst eben auf dem Gebiet seines Faches gar nicht das von
ihm Geforderte leisten könnte, die auch trotz zusätzlicher Neben-
interessen für Philosophie, Theologie verhindert, daß er ein Phi-
losoph oder Theologe sein kann, die schon rein durch den Druck
der Menge seiner Assoziationen, Gefühlskomplexe usw. ihn zu
einem anderen Menschen macht, als ich es je sein kann, und zwar
unvermeidlich macht, diese Tatsache also macht ihn zu einem
Gesprächspartner, den es unter den Gebildeten früherer Zeiten,
wenn sie miteinander redeten, nicht gab. Denn früher wußte oder
konnte jeder ungefähr dasselbe wissen, und wo diese Gleichheit
nicht von vornherein gegeben war, konnte sie grundsätzlich in
kurzer Zeit hergestellt werden. Was die Differenz der konkreten
Erfahrungen der verschiedenen Menschen ausmachte, war, soweit
sie nicht behebbar war, weltanschaulich auch unwichtig.
Das angedeutete Beispiel gilt natürlich auch umgekehrt. Wer
hat esals Theologe im Gespräch mit Naturwissenschaftlern nicht
schon erlebt, daß einfach beim anderen die notwendige «Wellen-
länge » nicht genau genug zu finden ist, dienotwendig wäre, damit
57
4
er wirklich versteht, was man als Theologe meint. Wer hat nicht
schon im Gespräch mit dem Durchschnittsmediziner praktisch
kapituliert vor der durch das medizinische Studium fast unver-
meidlich bewirkten Blockierung der wirklich sachlich und exi-
stentiell nötigen Offenheit für bestimmte Aspekte deontologischer
Fragen in der Medizin. Das Seltsamste, das man erleben kann, ist
aber dies: die Geistlichen und Theologen, die man gewisser-
maßen als Vertreter des Glaubens und der Kirche ins Lager der
anderen heutigen Wissenschaften abordnet, damit sie dort als
Experten und Vertrauensleute beider Parteien auftreten, werden
meist genauso nur noch für das andere «Fach» interessierte
Leute wie die übrigen Vertreter dieser Wissenschaften. Sie hören
natürlich im Normalfall nicht auf, gute Christen und Priester zu
sein. Aber auf dem Gebiet ihrer Wissenschaft werden sie meist
ebenso einseitige, methodenmonomane Vertreter ihrer profanen
Wissenschaften wie die anderen.
So kommt es dann z.B., daß ein Teilhard de Chardin von den
Theologen als Naturwissenschaftler anerkannt wird, aber nicht als
Philosoph und Theologe, und von den Naturwissenschaftlern für
einen Theologen gehalten wird, der mit den jüngsten Ergebnissen
der Naturwissenschaften doch nicht mehr ganz mitgekommen ist.
So kommt es dann, daß (um ein anderes Beispiel zu nennen) kirch-
liche Erklärungen, die von Theologen ausgearbeitet sind, über
Materien, die zunächst die der profanen Wissenschaften sind, oft
von den Vertretern der betreffenden Fächer als gut gemeint, aber
doch nicht ganz up to date empfunden werden. Man denke z.B.
an die Rede Pius’ XII. an die Astronomen oder an Erlasse über die
Psychoanalyse usw. Nochmals: alle diese merkwürdigen Verhält-
nisse beruhen auf Gegenseitigkeit. Auch die Naturwissenschaftler
bilden sich oft ein, sie seien auch firm in Philosophie oder Theo-
logie, und tragen dann peinliche Unzulänglichkeiten auf diesen
Gebieten vor, wenn sie in weltanschauliche Fragen einsteigen, was
man ihnen an sich nicht nur nichtübelnehmen darf, sondern sogar
fordern muß, da sie sich ja für solche Fragen interessieren müssen.
Diese Verhältnisse liegen nicht nur zwischen Philosophie und
Theologie einerseits und Naturwissenschaften anderseits vor. Es
gibt sie auch z.B. zwischen Philosophie und Theologie. Die Philo-
58
sophie ist heute nicht mehr so, daß man einen durchschnittlich
begabten jungen Priesteramtskandidaten in zwei bis drei Jahren
zu einem Philosophen ausbilden könnte, der ernsthaft die Proble-
matik der Philosophie von heute versteht und wirklich mitreden
könnte. Man kann auch nicht sagen, daß man dies zumindest hin-
sichtlich der weltanschaulich-glaubensmäßig relevanten Fragen
der Philosophie immer noch könne, wenn man diese Ausbildung
als eine auf dem Boden der wirklichen Philosophie als solcher ver-
steht, wie sie heute getrieben wird. (Ob es eine Inbeziehung-
setzung des jungen Theologen mit diesen Fragen der Philosophie
auf andere Art geben könnte und wie diese aussehen müßte, das
ist eine andere Frage, eben die Frage, die hier gestellt wird.)
Dasselbe gilt von all den historischen Wissenschaften, die Fra-
gen und Ergebnisse von weltanschaulicher Relevanz beibringen.
Der normale Theologe von heute kann nicht wirklich auch aus-
gebildet und Fachmann werden für Fragen der Religionswissen-
schaft und Religionsgeschichte, der Geschichte des Vorderen
Orients, der Bibelkritik, des Verhältnisses des jungen Christen-
tums zu seiner jüdischen und griechischen Umwelt, der Leben-
Jesu-Forschung usw. usw. Alle die faktisch nicht mehr direkt be-
reinigbaren Inkommensurabilitäten zwischen den einzelnen Wis-
senschaften, die wir zwischen Naturwissenschaften und Theologie
festgestellt haben, gelten auch hier. Es handelt sich dabei wohl-
gemerkt noch gar nicht um W' idersprüche zwischen den Ergebnis-
sen dieser Wissenschaften und der Theologie wie dem Glauben.
Die Frage liegt schon vor einer solchen Möglichkeit und vor der
Aufgabe, einen solchen vermeintlichen Widerspruch zu besei-
»
tigen. Sie liegt in der Unmöglichkeit, direkt in einem «an sich
nötigen Grad und Umfang von diesen anderen Wissenschaf ten
zu
und deren Fragen und Ergebnissen überhaupt jene Kenntnis
für seine. weltanschau lichen Pro-
nehmen, die man als Theologe
in
bleme an sich haben müßte. Wenn ich nicht zufällig Fachmann
der Exegese bin, kann ich dann wirklich mitreden hinsichtlich
Sinn
einer doch noch so einfachen und kleinen Frage wie über den
das als ge-
und die Tragweite von Mt 16,18? Und doch müßte ich
nur als Exeget können, weil es für
wöhnlicher Theologe und nicht
mich weltanschaulich von höchster Bedeutung ist.
59
.
40
Die Frage
42
v
nicht leicht ist, zu sagen, worin sie genau bestanden, so hat sich
jetzt diese Situation nur hinsichtlich ihrer allgemeinen und aus-
"drücklichen Bewußtheit verallgemeinert. Und in dieser geistig
der
pluralen Situation von heute sind diese Gründe, warum
e
Mensch vor der adäquaten Aufarbeitung der sachlichen Problem
s
der Fundamentaltheologie das Recht und die Pflicht des Glauben
haben kann, genauer zu entwickeln. |
ielle
Kein Zweifel, daß eine solche genaue sachliche und existent
für die Glau-
Darlegung dieser Gründe eine befreiende Wirkung
sie leiden
benswilligkeit vieler Katholiken haben würde. Denn
scheinb aren Dilemm a, daß sie in einem
doch fast allgemein an dem
einer anderen Welt-
Milieu von Menschen leben, die einerseits
ts weder die-
anschauung angehören, und denen sie doch andersei
wie sie diese
selbe Intelligenz noch dieselbe innere Anständigkeit,
oder gewillt sind.
sich selbst zuschreiben, abzusprechen in der Lage
gtes Glaubwürdig-
Wie kann in dieser Lage ein sachlich berechti
, wenn er auch die
keitsurteil des Katholiken zustande kommen
für weniger gutwillig
Nichtkatholiken weder für dümmer noch
und in jeder Hinsicht
halten kann noch sagen kann, daß sie einfach
jenen objektiven Be-
weniger in Kontakt gekommen seien mit
Glaubwürdigkeitsurteil
gründungen, die sein eigenes rationales
einfachh in; weil zwar ge-
tragen? Ich sage: in jeder Hinsicht und
dungsmomente seiner
wiß dem Katholiken diese oder jene Begrün
la fidei als ihm näher
Fundamentaltheologie und seiner Präambu
en betrachtet werden
(gegenüber dem Nichtkatholiken) gekomm
vermuten muß, daß ihm
können, dafür aber der Katholik wieder
nicht stringent voraus-
Gegengründe (wenn sie auch als objektiv
sind, die dem Nichtkatho-
gesetzt werden mögen) fern geblieben
der geschichtlichen Kon-
liken oder Nichtchristen einfach wegen
dennoch unausweichlichen
tingenz und Zufälligkeit seiner für ihn
näher stehen.
Ausgangsposition sachlich und existentiell
sagen, daß ein eingese-
Man kann bei dieser Überlegung nicht
stringenten Evidenz von
'hener Grund sachlicher Art in seiner
mache, auch wenn diese
vornherein alle Gegengründe zunichte
metaphysischen Überlegun-
noch nicht geprüft sind. Das mag bei
Überlegungen ist doch eine
gen richtig sein. Aber bei historischen
Denn ein historisches Faktum
solche Argumentation sehr fraglich.
45
und eine darauf aufruhende historische Sicherheit setzt sich eben
nun einmal aus einer Unzahl von Momenten zusammen, die erst
zusammen und in ihrer alle Momente aufarbeitenden Prüfung
eine wirklich direkte historische Sicherheit bieten können. Wenn
man gute Gründe gegen diese Auffassung anführen wollte, so
würden sie gewiß wieder in die Richtung der hier gestellten
Frage und ihrer Beantwortung führen; sie würden wohl unver-
meidlich in die Richtung der moralischen und sittlich genügenden
Sicherheit eines konvergierenden, obzwar unvollständigen In-
duktionsbeweises weisen, wie Newman ihn in diesen Fragen erst-
mals entwickelt hat, ohne daß er wirklich in der Schule schon rezi-
„piert wäre, wenn auch der ausdrückliche Widerspruch gegen diese
seine Lehre allmählich zu verstummen scheint.
Mit der Frage, die hier nur gestellt, nicht beantwortet werden
kann, ist natürlich auch die Frage gegeben, wie das Gespräch apo-
logetischer und missionarischer Art mit den heutigen « Ungläu-
bigen » methodisch geführt werden müßte. Führt nicht der direkte
«Angriff» mindestens auf dem Gebiete, auf dem der Ungläubige
sich wissenschaftlich zu Hause fühlt, und zwar gerade dann, wenn
der katholische Gesprächspartner nicht auf diesem selben Gebiet
auch « Fachmann » ist (wie brächte man es fertig, immer nur auf
beiden Seiten Fachleute zum Gespräch zu paaren?), zu endlosen,
immer subtiler geführten Auseinandersetzungen, ohne ein end-
gültiges Resultat in endlicher Gesprächszeit zu erzielen? Wie
kann bei solchen Gesprächen die Unabschließbarkeit der heutigen
historischen, textkritischen, philologischen, exegetischen Pro-
bleme umgangen werden ?Warumkann man das? Wie und warum
kann an eine existentielle Ganzheit im Menschen und zwar in
durchaus rationaler Weise appelliert werden, die verständlich
macht, daß man das Ganze des Glaubens haben kann, ohne dieses
Ganze hinsichtlich seiner rationalen Glaubwürdigkeitsgründe aus
all seinen unabsehbaren Momenten synthetisch aufgebaut zu
haben?
Wenn wir so diese Frage angesichts der doch immerhin einiger-
maßen neuen geistigen Situation des Menschen von heute stellen,
dann meinen wir natürlich nicht, es seien bisher in der traditionel-
len Schulfundamentaltheologie, Apologetik und Apologie keine
44
Elemente einer Antwort erbracht worden. Wir haben ja eben
selbst auf einen solchen Ansatzpunkt in der Analysis fidei hinsicht-
lich der « rudes » hingewiesen. Und es gibt gewiß noch vieleandere.
Aber die heutige Situation stellt eben doch die Frage schärfer, be-
deutet eine allgemeinere Not und verlangt, daß man die Frage
deutlicher sieht und sich um eine klarere, umfassendere und
brauchbarere Antwort müht.
45
ÜBER DEN DIALOG IN DER
PLURALISTISCHEN GESELLSCHAFT
Wenn mir heute die große Ehre zuteil wird, den Reuchlin-Preis
der Stadt Pforzheim entgegenzunehmen, wenn diese Feier auch
dem Andenken des großen Humanisten, also des menschlichen
"Menschen Reuchlin gilt, wenn dieser Preis schon Vertretern der
Geisteswissenschaften verschiedenster Prägung und Ausrichtung
verliehen wurde, wenn ich selbst ein Theologe in einer philosophi-
schen Fakultät sein darf, dann, meine ich, ist die sehr allgemeine
Frage nach dem Dialog in einer pluralistischen Gesellschaft gewiß
eine Frage, die dem Sinn dieser Stunde entspricht.
Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Das Wort « plu-
ralistische Gesellschaft » ist ein häßliches Wort, für das ich leider
kein besseres anbieten kann, und die Feststellung selbst, daß wir in
einer solchen Gesellschaft leben, ist eine Binsenwahrheit, die man
schon nicht mehr gern ausspricht. Aber wir müssen sie doch zu Be-
ginn unserer Überlegungen ein wenig bedenken. Denn das
scheinbar Alltägliche ist das wahrhaft Geheimnisvolle und Ge-
fährliche. Wenn hier der pluralistischen Gesellschaft ein wenig
nachgedacht werden soll, darf dabei der Blick nicht gelenkt wer-
den auf die gesellschaftlichen Institutionalisierungen, in denen
sich die verschiedenen Haltungen, Überzeugungen, Zielsetzungen
der Menschen, die zusammen leben, verleiblichen und so zu Gel-
tung, Macht und Erreichung ihrer Ziele zu kommen suchen: also
nicht auf die Kirchen, Konfessionen, Parteien, Interessenverbän-
de und ähnliches. Sondern auf das, was dahinter liegt, was in die-
sen gesellschaftlichen Institutionen nur erscheint, also auf den
Pluralismus der Haltungen, Überzeugungen, Zielsetzungen der
Menschen selbst. In diesem Pluralismus der «Gesinnung » (wenn
wir einmal alles Gemeinte unter diesem einen Wort zusammen-
fassen dürfen) kann die Gesinnung faktisch partikulär sein und
auch nicht mehr sein wollen, oder sie kann zwar faktisch partiku-
lär, d.h. nicht von allen geteilt sein, aber universell sein wollen,
d.h. mit dem theoretischen Anspruch und dem praktischen Ziel
auftreten, alle für sich gewinnen zu wollen. Die grundsätzlich
partikuläre Gesinnung impliziert höchstens theoretisch das Pro-
46
blem, ob solcher Partikularismus vom Wesen der Gesinnung her
in bestimmten Fällen sinnvoll ist, d.h. ob diese Bescheidenheit
‚nicht langsam diese Gesinnung selbst tötet, und impliziert prak-
‚tisch das Problem einer «technischen » Harmonisierung und Ver-
träglichkeit der gesellschaftlichen Konkretisierung solcher grund-
sätzlich partikulärer Gesinnung im Betrieb der einen Gesellschaft.
Das eigentliche Problem des Pluralismus der Gesinnungen ent-
steht aber dort, wo faktisch partikuläre Überzeugungen grundsätz-
lich einen Anspruch auf universelle Geltung erheben müssen,
wenn sie ihr eigenes Wesen nicht selbst aufheben wollen. Ein Bei-
spiel: eine Mozart- und eine Hindemith-Gesellschaft, ein Entomo-
logenverein und eine Gesellschaft von Aquariumsfreunden ver-
treten eine partikuläre Gesinnung, machen aber auch gar nicht
den Anspruch, aller Interesse gewinnen zu wollen. Das Christen-
tum hingegen, eine christliche Konfession, die Ideologie der «Hu-
manistischen Union », eine Partei eines militanten dialektischen
Materialismus empfinden sich, sollen sie ihr eigenes Wesen nicht
verleugnen, als begabt und berufen mit einem Wahrheitsan-
spruch und einer Sendung, die sich an alle richtet, als eine grund-
sätzlich universelle Gesinnung, als Weltanschauung. Die Lehre
aber, daß es grundsätzlich keine solche geben könne, daß ein sol-
cher universalistischer Anspruch von vornherein immer und über-
all falsch sei, wäre nochmals eben eine solche universelle Gesin-
nung mit sehr praktischen Folgerungen.
Wenn wir voraussetzen, daß solche faktisch partikulären, vom
grundsätzlichen Selbstverständnis und Anspruch her aber univer-
sellen Gesinnungen existieren, zusammenleben und einen Dialog
miteinander führen sollen, dann erhebt sich die eine, vielschichtige
Frage: Ist ein solcher Dialog möglich, welches ist sein Wesen, wie
muß er geführt werden? Zu dieser alten und immer neuen Frage
wird versucht, etwas — selbst Dialogisches — zu sagen, weil offenbar
der Dialog über den Dialog zwar nicht praktisch, aber theoretisch
das erste Gesprächsthema von solchen sein muß, die, selbst ver-
schiedener Überzeugung, den Dialog zwischen den Gesinnungen
für lebensnotwendig halten und die Anerkennung dieser Notwen-
digkeit selbst als Moment ihrer eigenen Gesinnung wissen.
Daß ein solcher Dialog frei sein muß, das sei hier eher voraus-
47
gesetzt als dargelegt. Das will sagen: Der Dialog muß von vorn-
herein verzichten aufGewalt und auf deren vielfältige, ausdrückli-
che oder anonyme Gestalten in der Gesellschaft. Unter Gewalt ist
dabei alles zu verstehen, was eine Gesinnung und ein inneres oder
äußeres Verhalten von Menschen zu bewirken versucht, ohne da-
bei an die individuelle Einsicht und die freie Zustimmung des an-
deren zu appellieren, ohne diesem die innere und auch äußere
Möglichkeit grundsätzlich und real einzuräumen, auch nein zu
sagen angesichts der Gesinnung, die man vermitteln und übertra-
gen will. Wenn wir sagen, der Dialog habe von vornherein auf
Gewalt zu verzichten, so ist damit weder die utopische These ver-
bunden, jede Form von Gewalt sei in jedem Fall unsittlich, noch sei
dadurch verschleiert, daß auch hier schon viele dunkle Fragen auf-
treten, die hier nicht bedacht werden können: das Recht der ge-
walthaften Verteidigung der Freiheit zur eigenen Gesinnung ge-
genüber gewalttätigen Angriffen auf die eigene Haltung; der ge-
walthafte Schutz der «demokratischen Spielregeln »; der gewalt-
hafte Schutz einer notwendigen öffentlichen Ordnung auch solchen
gegenüber, die diese Ordnung mit Berufung auf die Freiheit ihrer
eigenen Gesinnung brechen, selbst wenn man zugibt, daß die öf-
fentliche Ordnung selbst keine absolut fixen Umgrenzungen be-
sitztuund in ihrem Begriffund Umfang einem geschichtlichen Wan-
del unterliegt; das Problem der Gewalt, die unvermeidlich mit je-
der auch noch so toleranten - notwendigen und unvermeidlichen
Institutionalisierung einer Gesinnung schon gegeben ist; das Pro-
blem der Gewalt (in diesem grundsätzlichen Sinn) gegenüber Un-
mündigen, der Erziehung Bedürftigen, in welchen immer auch
ein Moment der « Dressur » mit Gewalt gegeben ist, und so weiter.
Das Problem, das wir bedenken, sei also nicht der Verzicht auf
Gewalt unter den Gesinnungen, sondern ihr Dialog selbst. Man
könnte meinen, es sei keine Frage mehr vorhanden, wenn die
« Weltanschauungen » auf Gewalt verzichten. Denn sei dieser
Verzicht gegeben und wolle jede « Weltanschauung» aus ihrem
Wesen heraus aus einer faktisch partikulären zu einer auch fak-
tisch universellen werden, dann bleibe ihr ja dafür gar kein ande-
resMittel mehr als eben dieMission durch Rede und Überzeugungs-
versuch, also der Dialog. Aber so einfach ist es nicht. Denn ist jede
48
.
‚aD,
anschaulich homogenen Einzelräume innerlich ihre Homogenität
‘verloren hatten. Jeder ist jedes Nachbar geworden, auf Gedeih und
' Verderb. Und wenn man nicht der absurden Meinung sein will,
daß die Existenz des Menschen in demselben Lebensraum unab-
"hängig von seinen Gesinnungen geregelt und bewahrt werden
könne, daß also Kultur gar nicht lebenswichtig für die biologische
und zivilisatorisch-gesellschaftliche Dimension des menschlichen
Daseins sei, dann wird der Dialog zwischen den Weltanschauun-
gen erst möglich und erst lebensnotwendig. Denn jede Weltan-
schauung kann bei der Einheit der geistig-personalen und leibhaf-
tig-gesellschaftlichen Existenz des Menschen gar nicht darauf ver-
zichten, sich leibhaftig und gesellschaftlich in den raumzeitlichen,
gesellschaftlichen Daseinsraum hinein zu objektivieren, der allen
gemeinsam ist, sie kann sich gar nicht in eine « Innerlichkeit » zu-
rückziehen, die niemand anderen mehr angeht; heute kann sie
aber den leibhaftig-gesellschaftlichen Daseinsraum auch nicht
mehr für sich allein erobern. Die universellen Gesinnungen sind
sich im selben geschichtlichen Daseinsraum konfrontiert und
der
bleiben es. Dann aber ist der Dialog die einzig mögliche Weise
wird,
Koexistenz, die Weise, die es bisher nicht gab und die bleiben
ge-
weil die Weltanschauungen weder wieder in verschiedene
eine die an-
schichtliche Räume auseinandertreten können, noch
Aussicht hat, dies zu errei-
dere mit Gewalt aufheben darf noch
noch berührt wer-
chen, noch Aussicht ist (aus einem Grund, der
wird
den muß), daß eine alle anderen durch reine Überzeugung
des Chri-
aufheben können (zumal die Geschichtstheologie gerade
stentums dessen innerweltlichen totalen Sieg nicht kennt).
einer in-
Aber ist solch ein Dialog möglich? Scheitert er nicht an
scheint ihn doch
neren Sinnlosigkeit? Eine radikale Sinnlosigkeit
ichen Dia-
innerlich aufzuheben: in einem wirklich weltanschaul
elbar
log, der also weder experimentelle, den Gegenstand unmitt
noch eine grundsä tzlich
und evident aufzeigende Wissenschaft
beiden Sei-
partikulare Gesinnung zum Gegenstand hat, muß von
, den anderen
ten her eine Weltanschauung den Versuch machen
me dieser Welt-
Unterredenden zu « bekehren»; muß zur Annah
t, kann wenig-
anschauung bewegen und hat. doch nicht die Aussich
Aussich t beginnen und
stens heute nicht mehr den Dialog mit der
51
führten, dies zu erreichen, weil zwar vielleicht Einzelne überzeugt
werden können, aber im ganzen der Bestand der dialogisierenden
Weltanschauungen nicht erheblich verändert wird, da solchenoch
möglichen «Bekehrungen » hin und her erfolgen werden. Der
Dialog scheint sinnlos, weil aussichtslos, zu werden in dem Augen-
blick, in dem er in einer pluralistischen und pluralistisch bleiben-
den Gesellschaft notwendig wird.
Aber die Alternative, daß der Dialog in einer pluralistisch blei-
benden Welt entweder sinnlos wird, weil erfolglos, oder sinnlos,
weilden universellen Anspruch einer Weltanschauung aufhebend,
existiertinWahrheit doch nicht.
Denn auch die grundsätzlich universellen Gesinnungen und Welt-
anschauungen stehen unter dem Gesetz der Geschichte; sie haben
eine partikuläre Ausgangsbasis, ein endliches, ererbtes Vokabular,
eine Differenz zwischen dem eigentlich Gemeinten, aber bloß for-
mal Antizipierten, gleichsam noch ohne konkrete Erfahrung ab-
sträkt Vorweggenommenen einerseits und dem konkret Realisier-
ten andererseits, dem Erfahrenen, der partikulären geschichtli-
chen Vorstellung und Anschauung, an der sie ihr eigentlich Ge-
meintes sich gegenwärtig setzen. Auch eine grundsätzlich univer-
selle Weltanschauung kann diese ihre Geschichtlichkeit, die Un-
vollendetheit der existentiellen, geschichtlichen Realisation ihres
grundsätzlichen Entwurfes anerkennen, ohne sich aufzugeben.
Ja, nur unter dieser Anerkennung ihrer geschichtlichen Herkunft
von einer bestimmten, endlichen Vergangenheit und ihrer Verwie-
senheit auf eine noch ausständige Selbstverwirklichung in der Zu-
kunft kann sie den Anspruch auf universale Geltung erheben, an-
tizipiert sie und rechtfertigt sie ihre Universalität. Ein Appell an
die eigene Zukunft, die Annahme ihres eigenen eschatologischen
Charakters, die ihre eigene Gegenwart in Selbstkritik ruft und
unter das Gericht der Zukunft stellt, gehört zum Wesen einer uni-
versellen Weltanschauung. Ohne dies hebt sie von vornherein ih-
ren Anspruch auf. Die grundsätzliche Universalität und die grund-
sätzliche Offenheit auf ihre eigene, nur in erwartungsvoller und
hoffender Antizipation vorweggenommene Zukunft widerspre-
. chen sich nicht. Wo diese Offenheit nicht gegeben wäre, wäre dies
gerade ein Beweis, daß der Anspruch auf Universalität von vorn-
52
herein illegitim ist. Dieser Mangel würde eine solche Weltan-
schauung zu einer in Ungeschichtlichkeit erstarrten Größe ma-
"chen, die dann freilich dialogunfähig wäre und nur noch als Relikt
der Vergangenheit im Wandel der Geschichte eine Zeitlang wei-
'tergeschleppt würde. Erkennt sich aber eine Weltanschauung in
diesem Sinn als eine in die Zukunft offene an, dann ist sie dialog-
fähig; ein Dialog hat für sie auch schon einen Sinn, bevor er —
utopisch oder asymptotisch — mit ihrem Sieg, mit ihrem Übergang
von der faktisch partikulären zur ‚faktisch universellen Geltung
beendet ist. Sie selbst nämlich lernt und bereichert sich in diesem
Dialog, sie holt selbst ihre eigenen Möglichkeiten in diesem nie en-
denden Dialog immer mehr ein; sie kann sich selbst am Dialog-
partner und in ihm immer mehr erkennen und vollziehen, sie
lernt so erst, was sie immer schon weiß. Voraussetzung ist nur, daß
sie ihr eigenes jetziges geschichtliches Stadium nicht mit ihrem
absoluten Wesen und mit dem ganzen geschichtlichen Auftrag ih-
res Werdens schlechthin identifiziert. Aber das braucht sie auch
alle, als
dann nicht, wenn sie sich grundsätzlich als Wahrheit für
universell setzt. Voraussetzung ist nur, daß sie nicht der-ausihrem
ihr
Wesen nicht geforderten — Überzeugung ist, im Dialog trete
kontra-
nur ein Gesprächspartner entgegen, der nichts tut als bloß
sie selbst als ihre eigene Wahrheit be-
diktorisch zu leugnen, was
Gegensatzes zwischen Ja
hauptet. Diese Situation des schlichten
gleich verstanden
und Nein zum selben und als von beiden Seiten
präsumierten Satz ist in der Situation des Dialogs zwar zunächst
charakte-
auch und immer wieder gegeben. Aber dieser Gegensatz
nicht allein. In der Situation der
_ risiert die Situation des Dialogs
zu. Wo
pluralistischen Gesellschaft trifft eram allerwenigsten allein
nämlich das Recht oder Unrecht solcher scheinbar kontradikto-
gibt es
risch entgegengesetzter Sätze (z.B. Gott existiert; Gott
der Naturwissens chaft am
nicht) nicht einfach wie ein Experiment
werden kann, handeltes
vorzeigbaren Gegenstand selbst verifiziert
nie ab-
sich immer um Begriffe und Sätze, die eine grundsätzlich
haben, um
schließbare Verständnis- und Auslegungsgeschichte
immer neu suchen
Gemeintheiten, die man immer schon weiß und
Person, Gott, Liebe, sittlich
und erfragen muß. Was mit Freiheit,
in einem das
Gesolltem, Heil und so fort gemeint ist, ist immer
55
]
54
bringt, die sich institutionell objektivieren kann. Auch der Beken-
ner einer absoluten Gesinnung kann sich auf dem Weg wissen; er
"geht ihn aber nur, wenn er sich auf den Dialog einläßt, sich öffnet,
sich von anderen anfechten läßt, zu lernen gewillt ist, wo er lehrt
und scheinbar nur seine eigene Position zu verteidigen und zum
Sieg zu führen sucht. Erst wenn ein Partner des Dialogs sicher
wüßte, er habe sich durch den Dialog die ganze existentielle Er-
fahrung des anderen Partners, von der her dieser seine Sätze und
seinen Widerspruch sagt, ganz angeeignet, könnte er sicher zu sa-
gen wagen, nichtnur das, was dieser andere sagt, sondern auch das,
was er eigentlich meint im weltanschaulichen Dialog, sei falsch
oder in seinem eigentlich gemeinten Sinn in der eigenen Wahrheit
schon positiv restlos integriert.
Diese totale Integration der existentiellen Erfahrung des ande-
ren ist aber nicht nur grundsätzlich, sondern auch praktisch heute
weniger als je völlig möglich. Noch in Humboldts Zeiten konnte
man mit einem guten Recht der Meinung sein, daß ein Gebildeter
positiv all das selbst wissen könne, was in seinem eigenen geschicht-
lichen Daseinsraum an weltanschaulich relevanter Erfahrung und
Kenntnis gegeben und angeboten war. In einer solchen Zeit, unter
solcher Voraussetzung war dann ein Dialog, soweit er geführt
wurde, leicht: man konnte, von der ganz individuellen Eigenart
des Geisteslebens des anderen abgesehen, im Dialog voraussetzen
in einem
- (und tates auch), daß man die Sätze des anderen nichtnur
son-
wissenschaftlich und gesellschaftlich manipulierbaren Sinn,
dern im eigentlich gemeinte n Sinn, d. h. als objektivie rtes Zusich-
als Er-
kommen des eigentlichen, ursprünglichen Daseinsvollzugs,
Heute haben
scheinung der freien Wahrheit der Person verstehe.
gei-
wir es im Dialog unendlich viel schwerer: das heute gegebene
so diffe-
stesgeschichtliche und naturwissenschaftliche Wissen ist
renziert und so unübersehbar, daß die Menschheit und Gesell-
gemessen
schaft im ganzen unabsehbar wissend, und der Einzelne,
geworden
relativ am Ganzen dieses Wissens, immer «dümmer »
weniger von
ist, weilerin seinem individuellen Bewußtsein immer
diesem dauernd wachsenden Ganzen direkt ergreifen kann; weil
mehr zwangslä u-
gerade der Intellektuelle, der Gebildete immer
werdende n
fig ein Spezialist ist, der nur in einem immer kleiner
o)6)
Sektor des Gesamtwissens immer mehr weiß (sich hinbewegt auf
jenen asymptotischen Punkt, wo der Einzelne alles — von nichts
weiß). Der Dialog aber kann nur von individuellen Bewußtseinen
geführt werden, und es ist — leider oder Gott sei Dank — nicht zu
erwarten, daß in einem weltanschaulichen Dialog, der immer das
Ganze der Wirklichkeit als solches in seinem Sinn meint, einmal
ein elektronisches «Gehirn » (wer sollte da programmieren kön-
nen?) zwischengeschaltet werden könnte, das die Situation des heu-
tigen Dialogs überwinden könnte, in der keiner mehr schon von
vornherein oder am Ende das weltanschaulich relevante Wissen des
anderen aktuell und explizitund in seinen konkreten, materiellen
Inhalten ganz besitzen kann. Der heutige Dialog ist also nicht nur
dadurch charakterisiert, daß die Dialogpartner verschiedener An-
sicht sind, entgegengesetzte Standpunkte vertreten, sondern im
voraus dazu dadurch, daß keiner mehr alles weiß und wissen kann,
was sein Gesprächspartner weiß. Das macht den Dialog heute un-
sagbar viel schwerer; aber es gibt ihm auch einen Sinn schon im
voraus zu einer Einigung: man kann unendlich viel voneinander
lernen; man wird nie ausgelernt haben, aber man kann auch nie
mehr sagen, daß man vom anderen im Dialog nichts lernen könne
als bloß die Tatsache, daß er einer Anschauung huldigt, die man
selbst für falsch hält und achselzuckend nur als unbegreifliches
Faktum hinnimmt. Gerade heute kann auch jede sich selbst als uni-
versell setzende Weltanschauung sich als unendlich offen erfahren
und anerkennen auf die materielle Erfüllung hin, die ihr entge-
genkommt durch den Dialog im Wissen und der Erfahrung des
andern, die man selbstnicht haben kann, esseidenn, sie begegnen
einem in dem sich dialogisch öffnenden Wissen des andern.
Es kann und muß heute Dialog sein. Kein feiger, kein relativi-
stischer Dialog, in dem die Partner ihre eigene Überzeugung nicht
mehr ernst nehmen und so eigentlich nicht wahrhaft reden kön-
nen, weil sie nichts zu sagen haben; ein Dialog in echter Freiheit,
nicht bloß in jener «Toleranz » und Koexistenz, die hingenommen
werden, weil einem die Macht fehlt, den Gegner zu vernichten. Es
muß ein Dialog sein, in dem man sich selbst wagt: gerade eine
grundsätzlich universelle, sich absolut setzende Weltanschauung
muß dies fertigbringen und darf es; sie kann ja solchen universa-
56
len Anspruch nur erheben, wenn sie sich allem öffnet und auch so
den Grund des Neins des Gegners in sich selbst zu entdecken sucht
- und weiß, daß sie diesen Grund nur überwindet in ein volleres Ja,
wenn sie ihm standhält und so sich selber wagt. Der Dialog muß
sich hüten vor Geschwätz und Unverbindlichkeit. Der endliche
Mensch des Dialogs muß den demütigen Mut haben, sich seinen
Partner auszuwählen, weil er nicht mit allen reden kann, soll sein
Dialog nicht zu leerem Gerede entarten; er darf sogar auch einmal
den
für sich das Recht, ja die Pflicht erkennen, einen Dialog (nicht
Dialog überhaupt!) abzubrechen, wenn er auch bei strengster
auf
Selbstkritik und einem letzten (aber nicht vorletzten !) Verzicht
- das Urteilüber den anderen Menschen sich zur Ansicht gezwungen
ande-
erfährt, daß ihm hier und jetzt nicht jener gute Wille auf der
die Vorausset zung eines jeden Dia-
ren Seite entgegenkommt, der
im Ernst des Wissens um
logs ist. Ein Christ wird den Dialog führen
des Eigen-
die Gefahr, daß in ihm selbst die Schuld des Hochmuts,
den Dialog
sinns, der falschen Selbstsicherheit, der Gewalttätigkeit
sich im-
verdirbt und zur gesellschaftlichen Lüge macht; er weiß
von daher seinen eigenen Teil am
mer auch als Sünder und wird
Gottes stellen. Der
Dialog unter das Gericht und das Erbarmen
der Erkenntnis
Christ weiß, daß die Liebe allein das höchste Licht
Paulus sagt:
ist und darum auch vom Dialog gelten muß, was
dieLie-
« WennichmitMenschen-und Engelzungen rede undhabe
und eine gellende Zymbel »
be nicht, bin ich ein tönendes Erz
Dialog müßte sagen
(1Kor 13,1). Er weiß, daß man von seinem
Dialog ist
können, was der Apostel von der Liebe sagt: Im wahren
man nicht,
man langmütig, gütig, nicht eifersüchtig, da prunkt
sucht man nicht das
überhebt man sich nicht, heuchelt man nicht,
das erlittene Böse
Seine, wird man nicht verbittert, trägt man
denn man weiß, auch
nicht nach, hofft man alles, duldet man alles;
man jetzt noch
in der Überzeugung seiner eigenen Wahrheit, daß
Auch der Dialog
wie durch einen Spiegel und in Rätseln schaut.
auungen kann und
zwischen sich absolut setzenden Weltansch
unaufholba rer Un-
muß von dem Wissen getragen sein, daß ein
objektivierten Überzeu-
terschied besteht zwischen der satzhaft
gung, auf deren Ebene allein man unmittelba r den Dialog führen
unmittelb aren Vollzug der Exi-
kann, und der im unreflektierten,
87
x
58
IDEOLOGIE UND CHRISTENTUM
ver-
1. Was wird hier bei diesen Überlegungen unter Ideologie
die wir uns zu stellen haben. Es ist
standen? Das ist die erste Frage,
hte des Ideolog ie-Be-
hier nicht möglich, Entstehung und Geschic
Begriff so
griffes darzustellen. In dieser Geschichte wird dieser
gar nichts
vielschichtig und widersprüchlich verwendet, daß uns
auch im Blick auf diese Geschic hte,
anderes übrigbleibt als, freilich
wir hier unter Ideolog ie ver-
in etwa definitorisch zu sagen, was
sich natürli ch nicht
stehen. Diese Begriffsbestimmung versteht
phische. Ideo-
als willkürliche, sondern als eine sachgemäß philoso
in einem ne-
logie wird hier, das sei gleich von vornherein betont,
von der rich-
gativen Sinn verstanden. Also als irriges, falsches,
her abzuleh nendes System.
tigen Interpretation der Wirklichkeit
ob sich das falsche
Dabei kann es für uns hier dahingestellt bleiben,
konstituiert oder
«System» eindeutig in theoretischer Reflexion
und willkürlich
mehr als eine unreflexe Haltung, als Mentalität
darstellt . Die Frage bleibt
voluntaristisch gesetzte Gestimmtheit
verstan dene Ideologie
natürlich hier noch ganz offen, wo eine so
Metaphysik als so ge-
konkret zu finden ist, ob also z.B. jedwede
Wesen aber gehört in
meinte Ideologie zu verstehen ist. Zu ihrem
Irrtum das wil-
Abhebung vom einfachen, grundsätzlich offenen
3
lentliche Moment des Abschlusses, durch das die Ideologie sich als
totales System versteht. Insofern ist dann Ideologie die grundsätz- /
liche Verschließung vor dem «Gesamt» der Wirklichkeit, die
Verabsolutierung eines Teilaspektes. Im Blick auf den üblichen
Wortgebrauch müßte man diese abstrakte Beschreibung des We-
sens der Ideologie dahin ergänzen, daß die Verabsolutierung eines
Teilaspektes der Wirklichkeit, insofern sie als Ganzes eine Aner-
kennung vom Menschen fordern kann, im Blick auf das praktische
Handeln geschieht, also gewöhnlich gegeben ist als Grundbestim-
mung politischen Wirkens, ja in letzter Intention als Normierung
des Gesamtlebens einer Gesellschaft. Von da aus könnte Ideologie
auch mit R.Lauth definiert werden als eine scheinwissenschaft-
liche Interpretation der Wirklichkeit im Dienste einer praktisch-
gesellschaftlichen Zielsetzung, die sie rückläufig legitimieren soll.
Von dieser formalen Bestimmung des Wesens einer Ideologie als
abschließender Verabsolutierung eines Teilaspektes der ganzen
Wirklichkeit her läßt sich a priori eine dreifache Gestalt der Ideolo-
gie als möglich erkennen. Ohne daß damit gesagt ist, daß diese
drei Gestalten jemals rein und ganz getrennt voneinander ver-
wirklicht seien. Es gibt eine Ideologie der Immanenz, eine Ideolo-
gie der Transmanenz, eine Ideologie der Transzendenz. Diese Ein-
teilung sei kurz erläutert!.
Die Ideologie der Immanenz verabsolutiert bestimmte ee
Regionen unserer Erfahrungswelt und macht deren Strukturen
zum Gesetz der Wirklichkeit überhaupt. Diese Gruppe umfaßt
den größten Teil dessen, was wir üblicherweise als Ideologie be-
zeichnen: Nationalismus, «Blut und Boden», Rassenideologie,
Amerikanismus, Technizismus, Soziologismus und natürlich den-
jenigen Materialismus, für den Gott, Geist, Freiheit, Person im
wahren Sinne dieser Worte leeres Gerede bedeuten. Der oft nicht
durchschaute Gegenwurf zu dieser Ideologie der Immanenz ist die
Ideologie der Transmanenz: Supranaturalismus, Quietismus, ge-
wisse Formen der Utopie, des Chiliasmus, indiskrete « Brüderlich-
keit» usw. In dieser Art der Ideologie wird das Letzte, Unendliche,
alle Wirklichkeitsbereiche Durchherrschende in dem Sinne ver-
60
-absolutiert (oder vielleicht besser: totalisiert), daß man das vor-
letzte Endliche, in der unmittelbaren Erfahrung schon immer Ge-
gebene und Angenommene um sein relatives Recht betrügt, über-
geht und rein von jenem Letzten her zu entwerfen und zu mani-
pulieren sucht: die typische Gefahr des Philosophen und des reli-
giösen Menschen. Die dritte Gestalt der Ideologie heiße die Ideolo-
gie der Transzendenz. Diese will die beiden erstgenannten Gestal-
ten der Ideologie überwinden und hypostasiert nun ihrerseits den
leeren, formalen Überstieg über das in den beiden ersten Gestalten
der Ideologie Gemeinte in sich zum einzig Gültigen. Hier wird das
unmittelbar Gegebene der Erfahrung in Historismus, Relativis-
mus usw. negativ abgewertet, das eigentlich Transzendente wird
nur als das Sichversagende und Unsagbare empfunden. Von hier
her kommt dann die ideologische Programmatik einer schranken-
losen sogenannten «Offenheit» für alles und jedes unter ängst-
licher Vermeidung jedes eindeutigen Engagements für irgend
etwas Bestimmtes, so daß einer solchen angeblich das eigentlich
Westliche seienden Haltung die Forderung einer westlichen
Ideologie entgegengesetzt wird und der «engagierende» Kom-
munismus seine immer neue Verführungskraft bei den westlichen
Intellektuellen erhält.
auch
. 2. Dem Christentum wird der Vorwurf gemacht, es sei selbst
e. Bevor wir bedenk en
eine solche negativ zu verstehende Ideologi
htferti gt ist,
können, daß und warum dieser Vorwurf ungerec
die diese
müssen doch wenigstens kurz die Gründe bedacht werden,
ntums als Ideolog ie scheinb ar rechtfer -
Interpretation des Christe
tigen.
scheinen
a) Zunächst einmal kann dieser Vorwurf berechtigt
en Position
von der unreflexen Haltung oder der ausdrücklich
Dort, wo
eines allgemeinen Skeptizismus und Relativismus her.
aus welche n Gründ en persön licher
Erfahrung und Wirklichkeit,
von vornhe rein identif iziert
oder geistesgeschichtlicher Artimmer,
unmitt elbarn atur-
werden mit derErfahrungund der Wirklichkeit
Art, dort, wo alle
wissenschaftlicher und technisch ausweisbarer
g auswechsel-
andere Wirklichkeit und Erfahrung nur als beliebi
der wahre n Wirklichkeit
barer, eben ideologischer Überbau über
61
der sogenannten exakten. Empirie empfunden oder theoretisch
abgewertet wird, dort, wo Metaphysik wegen der Unausweisbar-
keit ihrer Gegenstände in einer von vornherein naturwissen-
schaftlich eingeengten Erfahrung als beliebige Meinung und völlig
freie Begriffsdichtung abgewertet wird, kann natürlich das Chri-
stentum von vornherein nur als Ideologie empfunden werden,
wobei es dann letztlich gleichgültig ist, aus welchen Gründen her-
aus man das Entstehen dieser Ideologie erklärt: ob als Opium für
das Volk, als Produkt einer bestimmten gesellschaftlichen Verfas-
sung, als utopische Überhöhung des menschlichen Daseins, als
Effekt eines unstillbaren, aber nur Ideologien erzeugenden Wun-
sches nach einer umfassenden Sinndeutung des Daseins.
b) Ein weiterer Grund für die Interpretation des Christentums
als Ideologie ist in der geschichtlichen Tatsache gegeben, daß das
Christentum tatsächlich oft mißbraucht wurde und zwar manch-
mal in revolutionärer, meistens aber in konservativer und reaktio-
närer Weise zur Rechtfertigung eines gesellschaftlichen, wirt-
schaftlichen, politischen, kulturellen, wissenschaftlichen Zustan-
des, der keine bleibende Gültigkeit beanspruchen kann. Wosolcher,
allerdings oft nur schwer vermeidbarer und faktisch meist nur in
einem langsamen, geschichtlichen Prozeß überwindbarer MiB-
brauch mit dem Christentum getrieben wird, verwandelt sich al-
lerdings das Christentum in eine Ideologie, und nicht seltenisteine
solche konservative Ideologie im Namen des Christentums mit
Recht als Ideologie bekämpft worden. Wenn das wirkliche Chri-
stentum selbst in diesem Kampf zu leiden hatte, dann war dies die
Schuld oder das tragische Unglück, das die Repräsentanten des
Christentums und der Kirche heraufbeschworen haben, indem sie
selbst Anlaß gaben, das Christentum als eine zu überwindende
Ideologie mißzuverstehen.
c) Die noch größere und subtilere Gefahr, das Christentum als
Ideologie mißzuverstehen, ist aber in der Notwendigkeit gelegen,
das eigentliche Wesen des Christentums, das unbegreifliche Ge-
heimnis des weltüberlegenen Gottes und seines Heiles in absoluter,
vergebender Selbstmitteilung, kategorial, geschichtlich, institu-
tionell, sakramental, rechtlich objektivieren zu müssen im mensch-
lichen Wort der Offenbarung, in sakramentalen Zeichen, in ge-
62
N = ?
iR’ f
3. Sind damit wohl die Gründe für die Einschätzung des Christen-
tums als Ideologie in groben Umrissen genannt, so kommen wir
nun zum dritten Gang unserer Überlegungen, zur zentralen
Frage, warum das Christentum keine Ideologie ist. Eine adäquate
. Beantwortung dieser Frage fiele natürlich mit dem Aufweis zu-
sammen, daß das Christentum mit Recht den Anspruch erhebt, die
Wahrheit über das Ganze der Wirklichkeit auszusagen, die abso-
lute Religion zu sein oder (wenn man hier das Wort Religion
scheut) das zu erfüllen, was menschliche Religion von sich aus
vergebens sucht. Es ist selbstverständlich, daß in einer kleinen
Stunde ein solcher Aufweis nicht geboten werden kann. Es müßte
zu viel gefragt und gesagt werden. Es müßte davon die Rede sein,
was in einem solchen Zusammenhang Wahrheit und absolute
Gültigkeit überhaupt bedeutet; es müßte gefragt werden, wie der
Mensch überhaupt einen Zugang zu Gott und seinem Offenba-
rungswort finde, wie sich die christliche Botschaft als wirksames
Wort Gottes vor dem Wahrheitsgewissen des Menschen ausweise,
was dann eigentlich in dieser Botschaft wirklich ausgesagt werde
und was nicht, was an dieser Botschaft Vorstellung, Symbol und
Chiffre, was gemeinter Inhalt, Wirklichkeit und Wahrheit sei. Es
ist klar, daß diese und viele andere notwendigen Fragen hier nicht
gestellt und beantwortet werden können. Es kann sich hier nur
darum handeln, einige Momente am Christentum bzw. an den
Ideologien herauszuheben, die das Christentum gerade von dem
unterschieden sein lassen, was an einem irrigen System gerade
durch das Wort «Ideologie» besonders gekennzeichnet und her-
vorgehoben wird. Alles Folgende also steht unter diesem ein-
schränkenden Vorbehalt.
a) Zunächst einmal kann man das Christentum nicht darum
schon als eine Ideologie verdächtigen, weil es Aussagen absoluter
Art mitdem Anspruch von Wahrheit in einem ganz einfachen und
schlichten Sinn dieses Wortes macht, d.h. weiles Aussagen macht,
64
die «metaphysisch» genannt werden können, da sie einerseits
mit einem absoluten Wahrheitsanspruch ausgesagt werden, an-
dererseits nicht unmittelbar im Umkreis der naturwissenschaft-
lichen Empirie als gültig ausgewiesen werden können. Wer jed-
wede «Metaphysik» für falsch oder unbeweisbar hält, der kann
es
selbstverständlich auch das authentische Christentum, so wie
sich selbst versteht, nur für eine Ideologie halten und vielleicht
dann noch nachträglich in einem existentiellen Irrationalismus
eine we-
darauf reflektieren, warum dieses Christentum dennoch
wobei
sentliche Bedeutung für sein Leben haben kann und soll,
auf eine
dann freilich übersehen wird, daß eine solche Reflexion
eine
irrationale Setzung und Ideologisierung des Lebens nochmals
impliziert . Mit dem Ge-
Metaphysik, wenn auch eine schlechte,
erkenntn is und
sagten ist natürlich nicht gemeint, daß Glaubens
dasselbe
philosophische Metaphysik in ihren Grundstrukturen
un-
seien und sich bloß hinsichtlich der ausgesagten Gegenstände
lich-
terschieden. Aber hinsichtlich der eben genannten Eigentüm
doch die christlich e
keiten des Wahrheitsanspruches kommen
so daß, wo die Mög-
Glaubensaussage und die Metaphysik überein,
und von
lichkeiten einer metaphysischen Aussage grundsätzlich
nur noch der
vornherein bestritten wird, auch dem Christentum
kann, weil ja
Rang einer subjektiven Ideologie zuerkannt werden
h an-
ein Subjekt, vor dem ein solcher absoluter Wahrheitsanspruc
überhaup t nicht
gemeldet und ihm zugesprochen werden könnte,
die sich ihr Dasein
existiert, sondern nur vereinzelte Menschen,
und erhabener zu
durch eine Begriffsdichtung etwas erträglicher
des Vorwurfes,
machen suchen. Darum ist hier doch zur Abwehr
einmal zu betonen, daß
das Christentum sei eine Ideologie, zuerst
Fall als Ideologie
Metaphysik nicht von vornherein und in jedem
daß der Satz,
verdächtigt werden darf. Das zeigt sich schon daran,
Ideologie, sel-
jede Metaphysik sei eine im letzten unverbindliche
ob er in theoretis cher All-
ber wieder ein metaphysischer Satz ist,
oder im Versuch
gemeinverbindlichkeit reflex ausgesagt wird
(in einer abso-
impliziert ist, das Leben metaphysikfrei zu leben
der unmittel-
lut skeptischen Epoche von einem Überschreiten
der naturwiss enschaftl ichen
baren, brutalen Lebenserfahrung und
sind, ob theoretis ch
Erkenntnis). Relativismus und Skeptizismus
65
\
66
#
68
Schuld verschließt, dann heißt dies dochalles en daß der
Mensch im Grunde seines personalen Wesens der von Gott selbst
Getragene und auf die Unmittelbarkeit zu Gott hin Getriebene ist,
daß m.a. W. das, was wir Gnade nennen, die eigentliche Wahrheit
und von Gott frei geschenkte Eigentlichkeit der transzendentalen
Erfahrung der Offenheit des personalen Geistes auf Gott hin ist.
Wenn Christentum in seinem eigentlichen Wesen Gnade sagt,
Gnade aber die innerste Möglichkeit und Wirklichkeit des Emp-
fangs der Selbstmitteilung Gottes im Grunde des Daseins ist, dann
ist Christentum nichts als das Eigentlichste der transzendentalen
Erfahrung, die Erfahrung der absoluten und vergebenden Nähe
Gottes selbst als des von aller innerweltlichen Wirklichkeit Un-
terschiedenen, über sie Erhabenen und gerade so (auch in dieser
absoluten Nähe) das heilige, anzubetende Geheimnis Bleibenden.
Ist dies aber das eigentliche Wesen des Christentums, dann ist jede
Ideologie schon überschritten. Denn jede Ideologie will es mit
dem Angebbaren der innerweltlichen Erfahrung zu tun haben, ob
dieses Angebbare nun Blut und Boden, Gesellschaftlichkeit, ratio-
nale Technisierung und Manipulierung, Lebensgenuß oder die
Erfahrung der eigenen Leere und Absurdität oder was immer sein
mag, und setzt dieses als die Grundbestimmung menschlichen
Daseins. Das Christentum erklärt diese Mächte und Gewalten, die
Herren des unerlösten Daseins, nicht nur theoretisch als letztlich
nichtige Götzen, die nicht unsere Herren sein dürfen, sondern er-
klärt, daß der Mensch im Grunde seines Daseins diese Mächte und
Gewalten in der Gnade schon immer überwunden hat und es nur
it
- darauf ankommt, ob er diese seine transzendentale Eröffnethe
auf die Unmittelbarkeit zum Gott des ewigen Lebens durch die
Gnade in seiner Freiheitstat bejaht, die noch einmal selbst aus der
Kraft dieser Gnade stammt. Weil also der Grundvollzug des Chri-
an-
stentums in der Mitte der Transzendentalität des Menschen
,
setzt, die eine innerweltliche Ideologie schon immer übersteigt
enz
wenn auch nur oder vielmehr gerade weil sie eine Transzend
als der absoluten und verge-
auf das absolute Geheimnis Gottes
keine Ideolo-
benden Nähe ist, ist das Christentum von vornherein
Transzen-
gie. Wenigstens keine Ideologie der Immanenz. Diese
sei-
denz aber ist nicht eine äußerlich und zusätzlich dem Bereich
69
nes innerweltlichen Lebens angestückte Dimension, sondern
Grund und Bedingung der Möglichkeit eines innerweltlichen per-
sonalen Daseins und kann darum nicht als nachträgliche und für
den Vollzug des innerweltlichen Daseins überflüssige Ideologi-
sierung der menschlichen Existenz betrachtet werden.
c) Das Christentum ist aber gleichzeitig wesentlich Geschichte,
Hinwendung des Menschen zu raumzeitlich fixierten Ereignissen
der menschlichen Geschichte als Heilsereignissen, die in dem ab-
soluten Heilsereignis Jesus Christus ihren unüberbietbaren Höhe-
punkt, ihre Mitte und ihr geschichtliches Maß haben. Gehört diese
Geschichte selbst zum Wesen des Christentums, ist sie nicht nur
beliebige und austauschbare Anregung jener transzendentalen
Gnadenerfahrung der absoluten und vergebenden Nähe des heili-
gen Geheimnisses als der Überwindung aller innerweltlichen
Mächte und Gewalten, dann erscheint das Christentum auch deut-
lich als Nein zu jeder Ideologie der Transmanenz und Transzen-
denz. (Um nicht mißverstanden zu werden: nicht als Aufhebung
der Transzendenz, sondern als Aufhebung der Ideologisierung der
Transzendenz in eine bloße, leere Formalisierung der echten
Transzendenz.) Soll dies aber denkbar sein, dann ist ein Doppeltes
zu verstehen: Einmal muß der innere Zusammenhang zwischen
der echten und unüberholbaren Geschichtlichkeit des Christen-
tums in seiner Hinwendung zu Geschichte als wirklichem Heils-
ereignis und dem transzendentalen Wesen des Christentums als
gnadenhafter Eröffnetheit auf den absoluten Gott deutlich ge-
macht werden, also gezeigt werden, daß echte Transzendentalität
und echte Geschichtlichkeit sich gegenseitig bedingen und der
Mensch durch seine Transzendentalität selbst an wirkliche Ge-
schichte verwiesen ist, die er in apriorischer Reflexion nicht «auf-
heben» kann. Und zum anderen ist zu verstehen, daß mit der
echten Auferlegtheit wirklicher Geschichte der Mensch auch in
seinem profanen Dasein zu wirklichem Ernstnehmen, zu eigent-
lichem Engagement dem geschichtlichen Gegenüber ermächtigt
und verpflichtet ist, auch dort noch, wo er die Kontingenz und so-
mit die Relativität dieses Geschichtlichen erkennt und leidend
erfährt. Was die erste Frage angeht, so ist zunächst zu sagen, daß
die richtig verstandene Geschichte des Menschen nicht das einfach
70
.
712
d) Ein Viertes ist zu betonen gegen die These, das Christentum
und
sei eine Ideologie. Ideologien schließen sich in ihrer Lehre
sind nichts als das, wodurc h sie sich
"Absicht gegenseitig aus und
da ja das faktisc h ihnen
gegenseitig verneinen und bekämpfen,
e und
Gemeinsame gewissermaßen trotz der ideologischen Theori
ein Stück
nicht wegen ihr besteht. Das Christentum aber kennt als
bezeich-
seiner Lehre das, was wir kurz als anonymes Christentum
was seine eigens te Wirkli chkeit aus-
nen wollen. Es beschränkt das,
nde Gnade, nicht auf den
macht, die vergebende und vergöttliche
n und geschic ht-
Umkreis derer, die sich ausdrücklich zur reflexe
wirkenden Gnade
lichen, lehrhaften Objektivation dieser überall
en christl ichen Lehre und zu deren
Gottes, also zur ausdrücklich
Es schließ t also im Blick auf den
Träger, der Kirche, bekennen.
Möglic hkeit einer Recht-
allgemeinen Heilswillen Gottes und die
Gegner seiner selbst
fertigung vor dem Sakrament die lehrhaften
sie somit gar nicht im
in seine eigene Wirklichkeit ein und kann
Ideologien tun und
selben Sinn als Gegner betrachten, wie dies
Toleranz (die mit dem
tun müssen. Diese mögen zwar bei einiger
ist) die Gegner noch
Wesen einer Ideologie nicht ganz vereinbar
oder sonst noch irgend-
akzeptieren, insofern sie Menschen sind
haben. Aber daß das
eine neutrale Basis mit ihnen gemeinsam
der eigenen Position dem
eigentlich Gemeinte, das Spezifische
Reflexion und gesell-
Gegner auf der Ebene der theoretischen
zuerkannt werden könne
schaftlicher Verfassung dennoch tiefer
zugestehen, weil sie außer-
und dürfe, das kann keine Ideologie
nnen kann, das diese Gemein-
halb ihrer selbst kein Drittes anerke
der Differenz ihrer re-
samkeit der Wirklichkeit vor und hinter
. Die Ideologie kann nie
flexen Ausdrücklichkeit herstellen könnte
das Christentum gerade inso-
größer sein als sie selbst, während
die Bewegung ıst, in der sich der
fern mehr ist als es selbst, als es
abgibt und im Blick auf
Mensch an das unverfügbare Geheimnis
die bergende Nähe dieses
Jesus Christus weiß, daß diese Bewegung
Geheimnisses findet.
74
Der Christ nimmt diese christliche Verantwortung für die kon-
krete Entscheidung in seiner geschichtlichen Situation an, nimmt
‚diese ernst als Gehorsam gegenüber dem absolut verpflichtenden
Willen des lebendigen Gottes und ideologisiert diese Entscheidung
dennoch nicht, weil er, ohne sie quietistisch oder skeptisch zu rela-
tivieren, seine Entscheidung immer wieder hineinbirgt in die Ver-
fügung des unverfügbaren Herrn der Geschichte, in dessen Gnade
Erfolg und Scheitern dieser Entscheidung geborgen und heilshaft
ge-
werden können und der andern Zeiten andere, seinem Willen
mäße Entscheidungen zumuten und ermöglichen kann.
die
b) Wenn das Christentum keine Ideologie ist, wenn also
en zu innerwe ltliche n
Imperative und konkreten Entscheidung
und müssen,
Taten und Haltungen, die die Christen haben dürfen
Christen
nicht ideologisiert werden dürfen, dann ist unter den
Ver-
Toleranz notwendig und ist ein Ausdruck der notwendigen
in der Kirche. Solche Toleran z
meidung partikulärer Ideologien
ist, daß diese Wahl
ist darum notwendig, weil nicht zu erwarten
htlichen Stunde
konkreter Imperative, diese Deutung der geschic
der Geschichte
und die Entscheidung zu einem bestimmten Weg
n solchen ver-
bei allen Christen gleich ausfällt. Der Kampf zwische
gar nicht vermei dbar sein, auch
schiedenen Entscheidungen wird
rein theoretische Aus-
nicht unter Christen, er läßt sich durch eine
eine solche voraus-
einandersetzung gar nicht vermeiden, weil
Imperative für hier
setzen würde, daß grundsätzlich die konkreten
ien und einer rein
und jetzt eindeutig aus den allgemeinen Prinzip
gen Situati on abgeleitet
statischen, neutralen Analyse der jeweili
Irrtum ist, da jede Ent-
werden könnten, was ein rationalistischer
Wesenseinsicht ein
scheidung zur konkreten Tat der apriorischen
die Wahl der konkreten
unzurückführbares Moment hinzufügt,
weil ein Kampf, d.h. die
Existenz unter vielen möglichen; gerade
Realisationstendenzen
reale Konkurrenz zwischen gegensätzlichen
nicht vermeidbar ist, ist
jenseits der Ebene des rein Theoretischen
unter Christen und in der
das, was mit Toleranz gemeint ist,
die Position des anderen,
Kirche notwendig: das Verständnis für
er ernsthaft geführt wird, jene
Fairneß im Kampf, auch dort, wo
mit der für die eigene Posi-
seltsame Finheit von Entschiedenheit,
sich besiegen zu lassen
tion gekämpft wird, und der Bereitschaft,
29
und im Ganzen der sich anders entscheidenden Kirche zu ver-
bleiben. — Von dem her, was vorhin über das anonyme Christen-
tum als Nein gegen ein Verständnis des Christentums als Ideologie
gesagt wurde, ergibt sich dann eine ähnliche Haltung positiver To-
leranz gegenüber dem Nichtchristen, eine Toleranz, die die Festig-
keit und den missionarischen Eifer des Glaubens unterscheidet von
dem Fanatismus, der einer Ideologie eigentümlich ist und sein
muß, weil nur durch einen solchen Fanatismus die Ideologie in
ihrer Begrenztheit sich absichern kann gegen die größere Wirk-
lichkeit, die die Ideologie umgibt, während das Christentum von
seinem Wesen her geheißen ist, sich selbst im andern zu suchen
und darauf zu vertrauen, daß es im andern noch einmal sich selbst
und seiner größeren Fülle begegnet.
c) Natürlich muß das Christentum sich immer wieder vor der
Gefahr hüten, sich ideologisch selbst mißzuverstehen. Ob dies in
einer Ideologie der Transmanenz oder einer der Transzendenz ge-
schieht oder ob eine partikuläre, an sich für eine bestimmte Zeit-
situation durchaus richtige Haltung und Entscheidung, die in die-
ser Zeit praktisch von der ganzen Christenheit angenommen wird,
ideologisch verabsolutiert und zu einer partikulären Ideologie
reaktionärer Art verhärtet wird, das kommt auf das gleiche hin-
aus. Vor solchen Gefähren ist die Christenheit nicht von vorn-
herein bewahrt und kann auch nicht sagen, daß sie ihr nie und
nirgends verfallen gewesen wäre. Alles bloß Doktrinäre und Insti-
tutionelle als solches bietet für sich allein keine Garantie gegen
solche ideologische Verhärtung, zumal man den Protest gegen sie
auch noch einmal zur leeren Ideologie verabsolutieren kann. Der
Christ hat nur das Vertrauen, daß die reine, unverfügbare Gnade
Gottes diese Gefahr der Ideologisierung des Christentums immer
wieder verhindert. Die Christen mögen uneins sein in der Frage,
wo diese siegreiche Gnade Gottes bei seiner Kirche konkret ansetzt,
und was zu dem gehört, was diese Gnade in seiner Kirche sowohl
bewahrt wie vor ideologischer Verabsolutierung rettet. Aber im
Vertrauen auf diese Gnade selbst sind sich die Christen einig. Sie
ist auch die Gnade der Bewahrung vor Ideologie, die im letzten
nichts anderes ist als die Absolutsetzung des Menschen durch sich
selbst.
76
ne MARXISTISCHE UTOPIE
UND CHRISTLICHE ZUKUNFT DES MENSCHEN
Das Thema, das mir gestellt ist, ließe sich formulieren als die
christliche Lehre von der Zukunft des Menschen. Es könnte pole-
mischer ausgedrückt werden als: der Unterschied zwischen christ-
licher Eschatologie und innerweltlicher Utopie. Für seine Be-
handlung seien zwei Vorbemerkungen gemacht. Erstens: es kann
nicht ausdrücklich hier auch die menschlich-christliche Erfahrung
Gottes als solche behandelt werden. Wir müssen dieses Thema
hier voraussetzen. Freilich kann diese Voraussetzung wohl so ge-
macht werden, daß wenigstens implizit gleichzeitig gezeigt wird,
daß die Frage nach der absoluten Zukunft des Menschen die Frage
nach Gott in sich schließt, daß also der Mensch, der sich seiner
dem
absoluten Zukunft öffnet, auch erfährt, was eigentlich mit
ob er
Wort Gott gemeint ist, wobei es eine sekundäre Frage bleibt,
absoluter
dieses Wort verwendet oder nicht, auf diese Einheit von
Zukunftund Gott explizitreflektiert oder nicht. Zweitens: daschon
Mög-
die Darstellung der christlichen Eschatologie eigentlich die
übersteigt, kann das, was eben
lichkeiten eines kurzen Referates
zur christlichen Eschato-
innerweltliche Utopie als Gegenbegriff
Rand berührt werden. Es bleibt
logie genannt wurde, nur am
ob
darum die Frage unbehandelt und der Diskussion überlassen,
Widerspruch
die marxistische Zukunftserwartung der konträre
des einzelnen
zur christlichen Lehre von der absoluten Zukunft
sich also unmittelbar
Menschen und der Menschheit ist, beide
im Grunde
widersprechen oder ob die christliche Zukunftslehre
Zukunftserwar-
nur eine Leerstelle ausfüllt, die die marxistische
mögliche, echte
tung der Sache nach frei läßt, weil sie bloß eine
re und planbare, vor-
innerweltliche, d.h. kategorial bezeichenba
daß die marxistische
hersehbare Zukunft des Menschen anzielt, so
im Diamat
Leugnung der christlichen Zukunft, die es natürlich
ist, zum Entwurf
gibt, doch nur ein äußerer Zusatz, der trennbar
hier eigentlich nur
dieser innerweltlichen Zukunft ist. Obwohl
absolute Zukunft für
eines zu sagen ist, nämlich: Gott ist als die
hintereinan der
uns da, kann dieses eine nurin mehreren Aussagen
nur im Gan-
gesagt werden. Daraus ergibt sich, daß jede Aussage
1
y
%
zen ganz verständlich wird und der Hörer um die Geduld des
Wartens gebeten werden muß.
1. Das Christentum ist eine Religion der Zukunft. Es versteht
sich und läßt sich verstehen nur von der Zukunft her, die es als
absolute, auf den einzelnen Menschen und die Menschheit zukom-
mend weiß. Seine Deutung der Vergangenheit geschieht in der
und durch die fortschreitende Enthüllung der sich nähernden
Zukunft, und der Sinn und die Bedeutung der Gegenwart ist be-
gründet in der hoffenden Offenheit auf das Näherkommen der
"absoluten Zukunft. Das Christentum versteht die Welt ja heils-
geschichtlich, d.h. aber, es ist im eigentlichen und letzten nicht
eine Lehre von einem statischen Wesen der Welt und des Men-
schen, das, immer gleichbleibend, in einem von sich aus leeren
Zeitraum sich wiederholt, ohne eigentlich weiterzukommen, son-
dern die Proklamierung eines absoluten Werdens, das nicht ins
Leere weitergeht, sondern die absolute Zukunft wirklich findet,
ja sich schon ir ihr bewegt, weil dieses Werden so real von seiner
ausständigen Zukunft und Vollendung verschieden ist (also keinen
Pantheismus impliziert), daß dennoch die unendliche Wirklich-
keit dieser Zukunft als inneres, wenn auch vom Werden selbst
unabhängiges, Konstitutivum dieses Werdens in ihm waltet, es
trägt (und so jeder primitive Deismus und ein bloß äußerliches
Verhältnis von Gott und Welt von vornherein überboten und die
Wahrheit irnPantheismus bewahrt wird). Das reale Wesen des
Menschen kann daher gerade definiert werden als die Möglichkeit
der Erreichung der absoluten Zukunft, d.h. nicht dieses oder jenes
bestimmten Zustandes, der immer schon wieder durch eine andere
und größere, noch ausständige und dennoch aufgegebene Zukunft
umfaßt und so relativiert und als solche relativierte erkannt wird:
Das Christentum ist also die Religion des Werdens, der Geschichte,
der Selbsttranszendenz, der Zukunft. Für es ist alle Gegebenheit
Aufgegebenheit; alles nur verständlich vom Ausständigen her. Die
Tendenz auf die ausständige Zukunft hat zwar ihren Grund, ihr
Maß, ein Wesen hinter sich, das einen Horizont des Möglichen vor
sich entwirft, ein Gesetz, nach dem angetreten wird. Aber da der
letzte Grund die absolute Fülle der Wirklichkeit Gottes und das
letzte Ziel eben dieser Gott ist, der den Anfang setzt, indem er sich
78
\
‚als Ziel gibt, so ist alles Verständnis von Wesen und Natur doch
nur wahrhaft wirklichkeitsgemäß, wenn es von der Zukunft her
‚versteht, die erst den Anfang enthüllt.
2. Das Christentum ist die Religion der absoluten Zukunft. Was
damit gemeint ist, ist eigentlich eben schon gesagt worden. Ist der
Mensch (und die Menschheit) die Wirklichkeit, die sich wissend
und wollend immer selbst voraus ist, die sich konstituiert, indem
‚sie ihre Zukunft entwirft, besser: sich, d.h. ihr Wesen auf sie
selbst hin entwirft (oder da es sich um den Entwurf der absoluten
Zukunft handelt, die per definitionem nicht eigentlich geplantund
gemacht werden kann: auf sich zukommen läßt), dann ist die ent-
scheidende Frage für eine metaphysische Anthropologie die, ob die
Zukunft, auf die der Mensch sich hinentwirft, bloß eine katego-
riale ist, d.h. eine solche, deren Elemente als einzelne und ver-
schiedene und so raumzeitlich begrenzte in einer — eventuell ge-
planten und manipulierten, eventuell auch immer komplexeren
— Zusammensetzung diese Zukunft bilden, so daß diese immer
noch als endliche von einer weiteren leeren Möglichkeit von Zu-
kunft grundsätzlich umfaßt ist, oder ob die unüberbietbare, un-
endliche Zukunft als solche aufden Menschen zukommt, möglicher
Raum von Zukunft und Zukunft als Gegenwart also identisch
werden.
Hinsichtlich dieser Frage erklärt das Christentum sich für die
zweite Möglichkeit: die absolute Zukunft ist die wahre und eigent-
liche Zukunft des Menschen ; sie ist für ihn reale Möglichkeit, An-
gebot, das auf ihn Zukommende, Zukünftige, ihre Annahme die
letzte Aufgabe seines Daseins. Weil der Mensch sich um eine Zu-
kunft herstellbarer Art, die einen Raumzeitpunkt hat, die ge-
macht ist aus Teilelementen seiner Welt, nur kümmern kann,
indem er sie übergreift in das grundsätzlich Ganze unbegrenzter
Möglichkeit, istin seiner innerweltlichen Sorge immer (wenigstens
implizit und oft vielleicht auch verdrängt) die Frage nach der mög-
lichen Begegnung mit eben diesem unendlichen Ganzen als sol-
chem gegeben, mit der absoluten Zukunft. Und diese Frage beant-
nicht
wortet das Christentum dahin, daß diese absolute Zukunft
kate-
nur die immer ausständige Bedingung der Möglichkeit einer
-errei-
gorialen, innerweltlichen Zukunftsplanung, -hoffnung und
79
chung ist, sondern als solche selbst zur mitgeteilten, erreichten
- Zukunft des Menschen wird.
Das Christentum stellt also dem Menschen die eine Frage, wie
er sich im Grunde verstehen wolle: ob als handelndes Wesen nur
im Ganzen, das mit dem Ganzen als solches nichts zu tun hat, ob-
wohlein Vorgriff auf das Ganze als asymptotischer Horizont immer
die Bedingung der Möglichkeit seines Erkennens und Handelns
ist, oder als empfangend-handelndes Wesen des Ganzen, das es
auch mit dieser Bedingung seines Erkennens, Handelns und Hof-
fens als solcher zu tun hat und im zukunftsschaffenden Handeln
innerhalb des Ganzen dieses Ganze, die absolute Zukunft selbst
aufsich zukommen, für sich selbst Ereignis werden läßt. Das ist im
letzten die einzige Frage, die das Christentum stellt. Daß dieses
Ganze der absoluten Zukunft nicht eigentlich Gegenstand kate-
gorialer Benennung, nicht Gegenstand der technischen Manipu-
lierung werden kann, sondern das unsagbare Geheimnis bleibt,
das aller Einzelerkenntnis und je einzelnen Tat an der Welt vor-
ausliegt und diese überbietet, ergibt sich aus dem Wesen des Gan-
_ zen der absoluten Zukunft selbst.
Es brauchtnur angemerkt zu werden, wie die geläufigen Begriffe
der christlichen Dogmatik lauten, unter denen diese These vom
Christentum als der Religion der absoluten Zukunft ausgedrückt
' wird, um zu sehen, daß das Christentum sich wirklich so ver-
steht. Absolute Zukunft ist nur ein anderer Name für das, was mit
«Gott» eigentlich gemeint ist. Denn die absolute Zukunft kann
von ihrem Begriff her nicht als die durch endliches Einzelmaterial
und kategoriale Zusammensetzung herstellbare sein; sie kann
aber auch als Woraufhin und Ermächtigung der Dynamik der
Zukunftsbewegung der Welt und des Menschen, als tragende
Hoffnung nicht bloß das nur leere Mögliche als das Noch-nicht-
Wirkliche sein; sie muß die absolute Fülle der Wirklichkeit sein
als der tragende Grund der Zukunftsdynamik. Diese so verstan-
dene absolute Zukunft aber nennen wir eben gerade Gott. Und
aus dem Gesagten ergibt sich umgekehrt ein Doppeltes über Gott:
einmal: er ist gerade gewußt als die absolute Zukunft; er ist also
nicht ein Gegenstand neben anderen, mit denen als einzelnen man
innerhalb des unbegrenzten Koordinatensystems der Erkenntnis
80
und der planenden Tat auf Zukunft hin zu tun hat, sondern der
‚Grund eben dieses ganzen Zukunftsentwurfes; er ist also immer
mitgewußt, wenn der Mensch sich auf Zukunft hin entwirft, ge-
rade auch wenn er diesem Ganzen keinen Namen gibt, sondern
versucht, es auf sich beruhen zu lassen. Und zum anderen: Gott
als absolute Zukunft ist grundsätzlich und notwendig das unsag-
bare Geheimnis, da das ursprüngliche Ganze der absoluten Zu-
kunft, auf die der Mensch sich entwirft, nie eigentlich in seiner,
ihm als solcher zukommenden Eigentlichkeit durch Bestimmun-
gen ausgedrückt werden kann, die der innerweltlichen katego-
rialen Erfahrung entnommen sind, und somit wesentlich Geheim-
Transzen-
nis ist und bleibt, d.h. bekannt ist als das wesentlich
- dente, von dem freilich gesagt wird, daß es als solches Geheimnis
ist, die
unendlicher Fülle selbst des Menschen absolute Zukunft
sich mitteilt.
Aus beiden Eigentümlichkeiten der Gotteserkenntnis ergibt sich
die
die Möglichkeit des Atheismus. Er ist möglich, weil einmal für
ung immer mög-
kategoriale Erkenntnis des Menschen die Weiger
eigenen
lich ist, sich auf die transzendentale Bedingung ihrer
mit
Möglichkeit einzulassen, weil zum anderen die Konfrontation
nis immer erklärt werden kann als
dem grundsätzlichen Geheim
wird, wenn es in Religio n ge-
etwas, das in seinem Wesen zerstört
und gesell-
schieht, die unvermeidlich sich eines kategorialen
drittens der Mensch
schaftlichen Instrumentes bedient, und weil
t oder bezweifelt,
"natürlich insofern Atheist sein kann, als er leugne
te Zukun ft werde n kann, und er
daß Gott selbst seine eigene absolu
jeden Fall nichts zu tun
so meinen kann, mit ihm als solchem auf
zu haben.
Menschen in
Heißt so die absolute Zukunft der Welt und des
is ihres von Gott
christlicher Terminologie Gott, so heißt das Ereign
telba rkeit der Welt zu
zugeschickten Eintritts endgültige Unmit
etwas intellektua-
dem sich selbst mitteilenden Gott oder in einer
Gottes, d.h.
listichen Terminologie unmittelbare Anschauung
ten Aufgipfelung,
die Unmittelbarkeit der Welt in ihrer höchs
mnis als mitgeteiltem. Was
dem Menschen, zum absoluten Gehei
andere s als die Selbst-
das Christentum Gnade nennt, ist nichts
in jenem Stadium, in
mitteilung Gottes als der absoluten Zukunft
81
dem die Geschichte ihres Zukommens und ihrer Annahme noch
dauert. Was Inkarnation des göttlichen Logos in Jesus Christus
heißt, meint nichts anderes, als daß in ihm objektiv und für uns
diese Selbstmitteilung Gottes als der absoluten Zukunft der Welt
so geschichtlich in Erscheinung tritt, daß sie als gegeben, irrever-
sibel und von der kategorialen Erfahrung der Menschheit als
solche erfaßbar, glaubbar wird. Mit Gott, endgültiger Unmittel-
barkeit zu ihm, Gnade und Jesus Christus ist aber das Ganze der
Heilswirklichkeit umgriffen, die der christliche Glaube bekennt.
Da aber alle diese Worte nur das eine besagen, daß nämlich die
Welt eine absolute Zukunft, und zwar wirklich als heile besitzt,
daß ihr Werden erst in der Absolutheit Gottes selbst ihr Ziel hat,
so ist es berechtigt, wenn wir sagen, das Christentum sei die Reli-
gion der absoluten Zukunft.
5. Das Christentum hatals Religion der absoluten Zukunft keine
innerweltliche Zukunftsutopie. Es erklärt zwar, daß die Entschei-
dung für den einzelnen Menschen mit seinem Tod gegeben sei,
ob er sich durch die Tat seines Lebens der absoluten Zukunft Got-
tes geöffnet hat oder nicht. Aber hinsichtlich der kollektiven Ge-
schichte der Menschheit als solcher hat es zunächst einmal keine
Angabe, wie lange diese innerweltliche kollektive Geschichte
dauert. Und hinsichtlich des materialen Inhaltes dieser Zukunft ist
es ebenfalls neutral. Es stellt keine inhaltlich bestimmten Zu-
kunftsideale auf, macht darüber keine Prognosen und verpflichtet
den Menschen zu keinen bestimmten Zielen seiner innerwelt-
lichen Zukunft. Wo eine Zukunft, die vom Menschen geplant und
mit den Mitteln seiner verfügbaren Welt hergestellt werden sollte,
als absolute Zukunft gesetzt würde, über die hinaus nichts ist und
zu erwarten wäre, würde das Christentum eine solche Zukunfts-
erwartung als utopistische Ideologie ablehnen.
Als Ideologie, deren Wesen darin besteht, eine bestimmte, ein-
zelne Wirklichkeit der pluralistischen Welt der Erfahrung als ab-
soluten Fixpunkt zu setzen; als Utopie, weil individuell und kol-
lektiv es auf die Dauer nicht möglich ist, eine innerweltliche Zu-
kunft, gleichgültig wie sie konkret ist, als endliche mit der abso-
luten Zukunft zu verwechseln oder dem Menschen zu verbieten,
über diese endliche Zukunft hinauszufragen, wo er sie doch als end-
82
lich erkannte immer schon in den weiteren Rahmen unendlicher
Möglichkeiten hineinstellt. Wo aber eine solche utopistisch-ideo-
- logische Verabsolutierung einer innerweltlichen Zukunft unter-
lassen wird, ist das Christentum nicht nur gegenüber jeder sinn-
vollen innerweltlichen Zukunftsplanung neutral, sondern ihr
gegenüber positiv eingestellt. Denn es betrachtet eben diese ratio-
nale, aktiv planende Konstruktion der innerweltlichen Zukunft,
die möglichste Befreiung des Menschen von der Herrschaft der
Natur, die fortschreitende Sozialisierung der Menschen zur Errei-
chung eines möglichst großen Freiheitsraumes für jeden als eine
mit dem gottgewollten Wesen des Menschen gegebene Aufgabe,
zu der der Mensch verpflichtet ist und an der er seine eigentlich
religiöse Aufgabe vollzieht, die glaubend-hoffende Offenheit der
Freiheit für die absolute Zukunft.
Insofern im Christentum durch die absolute Zukunft jedes
Men-
Menschen allein die Begründung des absoluten Wertes jedes
es eine Überzeu gung gegeben, die
schen gegeben ist, ist durch
in der Erzielun g einer
auch der innerweltlichen Zukunftssorge
und
möglichst vollkommenen Gesellschaftsordnung ihre festeste
zu
tiefste Begründung verleiht. Wenn im Christentum die Liebe
authen-
Gott und zum Menschen ein Gebot und den einen Vollzug
und Liebe zu Gott nicht irgendei nen
tischen Christentums bedeuten
Daseinsv ollzug, sondern die
ideologischen Zusatz zum wirklichen
Sinn des
entgegennehmende, hoffende Offenheit für den totalen
dort, wo diese
Daseins, für die absolute Zukunft besagt — gerade
Zukunft nicht
Sorge die aktive Erstellung innerweltlicher Art von
einen Gebot und dem einen
mehr zuläßt - dann ist mit diesem
innerwel tlicher Ver-
Daseinsvollzug auch die innerste Dynamik
en Situatio n
änderung des Menschen und seiner gesellschaftlich
zu einem kon-
richtig genannt, ohne daß darum das Christentum
Konkurr enz für eine innerwel tliche
trären Gegensatz oder einer
keine innerwel tliche Zu-
Zukunftsplanung wird. Es selbst hat
g frei, es
kunftsutopie, es läßt jede sachgerechte Zukunftsplanun
sche Zukunfts -
verwirft nur, das aber auch radikal, jede ideologi
innerweltlich-kate-
utopie, in der die absolute Zukunft mit einer
die letzte Zukunft desMenschen
gorialen Zukunft verwechselt und
im unsag baren , heiligen
in einem Geringeren gesehen würde als
85
Geheimnis des absoluten Gottes, der sich aus Gnade dem Men-
schen mitteilt und die Dynamik auf diese Mitteilung hin zum letz-
ten Sinn und Motor der Welt- und Menschheitsgeschichte ge-
macht hat. |
4. Auch als Religion der absoluten Zukunft, die gegenüber in-
dividuellen und kollektiven Zielsetzungen des Menschen neutral
ist und solche freigibt, hat das Christentum dennoch eine unab-
schätzbare Bedeutung für diese Tendenz auf echte und sinnvolle
irdische Zielsetzungen. Das Christentum behauptet zwar nicht,
daß nur seine Anhänger dieser irdischen Zukunft sachgerecht und
mit dem Einsatz des ganzen Menschen dienen könnten, sowenig
es sich allein als echte Trägerin solcher innerweltlicher Zukunfts-
ziele betrachtet, sowenig es bestreitet, daß es in seinen konkreten,
geschichtlich-kirchlichen Ausprägungen in nicht wenigen Fällen
faktisch zum Hindernis für solche Bestrebungen gewesen ist.
Denn selbstverständlich gibt es Menschen, die in selbstloser Weise
der Wohlfahrt und gesellschaftlichen Entwicklung der Menschen
dienen, ohne in greifbarer Weise Christen zu sein. Das Christen-
tum ist zwar von seiner Lehre von der Einheit von Gottes- und
Nächstenliebe her der Meinung, daß, wo jemand in absoluter
Selbstlosigkeit liebend dem Menschen und seiner Würde dient, er
in der Bejahung absoluter sittlicher Werte und Imperative wenig-
stens implizit Gott bejaht und auch vor Gott sein Heil wirkt. Es
sagt aber durchaus nicht, daß solches nur im expliziten Christen
möglich sei.
Dennoch hat es auch als thematisch-explizite Religion Gottes
als der absoluten Zukunft eine große Bedeutung für die innerwelt-
liche Gesellschaft und ihre Ziele. Das Christentum schützt durch
seine absolute Zukunftshoffnung den Menschen vor der Versu-
chung, die berechtigten innerweltlichen Zukunftsbestrebungen
mit solcher Gewalt zu betreiben, daß jede Generation brutal zu-
gunsten der nächsten und so fort geopfert wird und so die Zu-
kunft zum Moloch wird, vor dem der reale Mensch für den nie .
wirklichen, immer ausständigen geschlachtet wird. Das Christen-
tum macht verständlich, warum auch der Mensch seine Würde
und intangible Bedeutung behält, der keinen greifbaren Beitrag
zur Annäherung an die innerweltliche Zukunft mehr leisten kann.
84
" Das Christentum verleiht der Arbeit an dieser innerweltlichen
Zukunft ihren letzten, radikalen Ernst: es erklärt in seiner Lehre
‘von der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, daß die positive
Beziehung zum Menschen ein unerläßliches Wesensmoment, die
- unersetzliche Vermittlung für die Beziehung zu Gott, zu ihm als
absoluter Zukunft (als «Heil») sei. Kann aber dieser zu liebende
Mensch nicht existieren denn als der auf seine Zukunft hin ent-
werfende, dann ist damit gesagt, daß Gottesliebe als Nächstenliebe
nicht sein kann ohne den Willen zu diesem Menschen, also auch zu
seiner innerweltlichen Zukunft. Damit wird dieser Wille nicht
ideologisiert und sich selbst entfremdet, sondern nur in seiner ab-
soluten Würde und seinem radikalen Verpflichtungscharakter
explizit.
5. Das Christentum als Religion der absoluten Zukunft wird
bleiben.
en
a) Es wird bleiben. Niemand wird auf die Dauer dem Mensch
» in der
- verbieten können, sich wichtig zu nehmen. Je « rationaler
ist er bei
Geschichte der Menschheit der Mensch wird, um so mehr
Frei-
sich, erfährt er sich in seiner je unvertretbaren Einmaligkeit,
Gesellschaft
heit und Würde. Je gewichtiger und fordernder die
mehr wird der einzeln e an Bedeutung
ihm erscheinen wird, um so
chaft selbst unweige rlich
wachsen. Denn sonst würde die Gesells
Würde der Gesell-
zur Herde von Bedeutungslosen werden. Die
en und
schaft, der radikale Ernst der durch sie gestellten Aufgab
und den radi-
Forderungen mehrt, vermindert nicht die Würde
und jedem Einzeln en schuldet.
kalen Ernst, die der Einzelne sich
nicht weniger seine
Auch von da her wird er in Zukunft mehr,
den Fesseln
Je-Einmaligkeit erfahren. Je befreiter der Mensch von
er für sich und
der Natur wird, um so mehr kommt er zu sich, wird
und kein
zu sich selbst frei. Und keine ökonomische Veränderung
daß der
gesellschaftliches System werden verhindern können,
und dadurch sich
Mensch die Grenze seines Todes wissend erfährt
als ganzer in Frage stellt.
und nach dem
Man kann ihm die Frage nach sich als ganzem
funktionalen Zusam-
Sinn schlechthin, der nicht mehr auf die
seines Daseins,
menhänge der Einzelmomente seiner Welt und
nehmen. Er mag
sondern nach dem Sinn des Ganzen geht, nicht
85
KEN
86
über prophezeien kann, kann es auch über die Konkretheit seiner
eigenen gesellschaftlich-kirchlichen Gestaltung keine Voraussage
für die Zukunft machen.
Da das Christentum aber von der Sache selbst her und in seiner
Eschatologie weiß, daß es bis zum Anbruch der absoluten Zukunft
selbst eine umstrittene, auch abgelehnte Größe sein wird, sosehr
es sich als die Religion weiß, die an sich allen Menschen zugedacht
ist, allein schon darum rechnet es nicht damit, daß die kirchliche
Gesellschaft und die profane auch nur material zur Deckung ge-
bracht werden. Es selbst ist ja die gesellschaftlich organisierte
eines
Gemeinschaft des freien Glaubens an die absolute Zukunft,
Glaubens also, der notwendig auf der individuellen Entscheidung
des einzelnen beruht. Es kann also gar nicht erwarten, daß faktisch
alle Menschen ihm angehören werden. Da aber die irdische
Zukunft der Menschheit immer mehr auf eine gesellschaftliche
je der
Organisation der Menschheit als einer und ganzer und nicht
en Kul- .
einzelnen Völker und geschichtlich und regional begrenzt
herauf,
turen hintendiert, so zieht mehr und mehr eine Situation
ist gegeben,
in der jeder für jeden Nachbar sein wird. Damit
n Regional-
daß in Zukunft auch keine christlich homogene
der geschicht -
schichten und -gesellschaften mehr sein werden. In
it wird
lichen und gesellschaftlichen Einheit der einen Menschhe
darum das Christentum sowohl überall sein, als auch überall
eine Minderheit
nur einen Teil der Menschheit, ja vermutlich nur
umfassen.
Freiheit in einer
Es ist darum von sich aus daran interessiert, in
s pluralistisch
weltlichen Gesellschaft zu leben, die selber religiö
ten und Vorau ssetzungen
sein will und dafür die Möglichkei
r entsch ieden ist,
schafft oder zuläßt, womit noch gar nichts darübe
h homog ene
wie weit eine solche Gesellschaft eine innerweltlic
oder schaffen
«Weltanschauung » zu ihrem Bestand voraussetzen
eine Gesellschaft
muß. Einen solchen religiösen Pluralismus kann
sie gewiß nicht einmal,
der Zukunft um so leichter ertragen, als
absolute Uniformi-
was eine innerweltliche Ideologie angeht, eine
weil ja eine solche das
tät im Ernst als Ideal wird anstreben wollen,
e über die Zu-
Ende der Geschichte bedeuten würde. Jede Theori
die Geschi chte nicht auf-
kunft innerweltlicher Art, die als solche
87
heben will, muß darum notwendig eine Theorie eines legitimen
innerweltlichen und in diesem Sinn demokratischen Pluralis-
mus entwickeln. Sie muß also unvermeidlich von sich aus auch
Raum dafür schaffen, daß in dieser Zukunft Menschen sind.
und als solche sich bekennen, die die absolute Zukunft hoffend
erwarten.
88
FUNDAMENTALTHEOLOGISCHE FRAGEN
PHILOSOPHIE UND THEOLOGIE
92
. Immerhin ist es wichtig, dieses größere Problem beim kleineren
nicht zu übersehen.
Von da aus läßt sich zunächst einmal sagen: wie und in dem Sinn
die konkrete Wirklichkeit der Gnade die Natur als inneres Moment
in sich beschließt, so ist es auch in unserer Frage: die Philosophie
ist ein inneres Moment der Theologie. Gnade ist kein Ding, son-
dern die bestimmte Zuständlichkeit einer geistigen Person (wirk-
lich dieser Person selber, auch wenn sie ihr ungeschuldet ist). Als
Bestimmung eines Subjekts ist sie als solche formell von diesem
Subjekt verschieden, ja diesem sogar ungeschuldet. Aber sie kann
nur existieren als diese Bestimmung dieses Subjektes, als ein be-
stimmtes Sosein dieser geistigen Person. Und darin kann sie nur
sein und begriffen werden, indem durch sie die Person, also die
«Natur » ist, so ist und als soseiend begriffen wird. Der Vollzug
der Gnade ist notwendig auch Vollzug der natürlichen Person.
Und diese ist daher in diesem Sinn ein inneres Moment an der
Konkretheit der Gnade, wie die Potenz die Potenz des Aktes und
der Akt Akt der Potenz ist und beide also konkret sich gegenseitig
einverleiben, um selber sein und so sein zu können. Gnade ist, in-
dem sie eine geistigpersonale Substantialität affiziert, indem sie
deren vergöttlichende Zuständlichkeit ist und darum alle Wirk-
lichkeit dieser Person als die Bedingung ihrer Möglichkeit sich
voraussetzt, in sich aufnimmt und zu den Momenten ihres eigenen
konkreten Seins macht.
Und so ist es auch mit dem Verhältnis von Offenbarung und
Theologie einerseits und Philosophie andererseits. Zunächst ein-
mal: Offenbarung als gehörte und geglaubte, ist notwendig auch
schon Theologie. Vielleicht rudimentäre, ansatzhafte. Aber wirk-
lich solche. Denn die Offenbarung wird, wo und weil sie als ge-
schichtliche und satzhafte gemeint ist, von einem Menschen ge-
hört, der schon anderes weiß als bloß diese Offenbarung, die nicht
immer und überall, sondern hier und jetzt geschieht. Das Hören
g,
einer Botschaft von einem schon Wissenden ist aber notwendi
als in der Einheit dieses einen Subjekts geschehe nd, nur möglich
in Konfrontation mit diesem anderen Wissen, so unabgeschlossen
schon von
diese Konfrontation sein mag; ist Hören mittels dieser
en, Rezeptio n unter vorgängi-
anderswoher besessenen Kategori
95
gen Horizonten — sosehr diese dadurch selbst verändert werden
mögen —, mit anderen Worten: ist schon aktive denkerische Lei-
stung des Menschen, also Theologie — sosehr diese unter Umstän-
den auch unter der Steuerung und Kontrolle des ursprünglichen
Offenbarungsvorganges stehend gedacht werden mag.
‘Solche Theologie aber als notwendiges und unvermeidliches
Element des Hörens der Offenbarung und somit dieser selbst impli-
ziert notwendig Philosophie: ein vorgängiges, sowohl transzen-
dentales als auch geschichtliches Selbstverständnis des Menschen,
der die geschichtliche Offenbarung Gottes hört. Ob dieses Selbst-
verständnis schon in einem technischen Sinn Philosophie genannt
werden mag oder nicht, ist letztlich gleichgültig, wenn man zugibt,
daß auch die Philosophie im strengsten Sinn nichts anderes sein
kann als die methodisch genaue, reflektierte und tunlichst kon-
_ trollierte Darstellung und Artikulation dieses ursprünglicheren
und nie ganz eingeholten Selbstverständnisses. Mit anderen Wor-
ten: Wer zugibt, daß in der Einheit des einen Subjektes jede Er-
kenntnis auch Funktion jeder anderen Erkenntnis dieses Subjektes
ist, wer dabei nicht behauptet, daß jede Erkenntnis Offenbarung ist
(worauf noch zurückzukommen sein wird), der muß zugeben, daß
Offenbarungserkenntnis auch Funktion der Philosophie ist, falls
diese verstanden wird als Grundformel des Selbstverständnisses des
Menschen, soweit dieses nicht einfach selbst Offenbarungseffekt ist.
Soll nun dieser Abhängigkeitszusammenhang der Würde und
Autonomie der Offenbarung und der Theologie nicht abträglich
sein, so kann er nur dahin verstanden werden, daß die Offenba-
rung als oberste Entelechie und Norm dieser in der Einheit des
Subjekts geeinten Erkenntnis selber diese fremde «philosophische»
Erkenntnis gerade als andere sich als Bedingung ihrer eigenen
Möglichkeit voraussetzt. Nur unter dieser Bedingung ist das Di-
lemma vermeidbar, daß die Offenbarung entweder unter die Ab-
hängigkeit von einer ihr heterogenen Erkenntnis gerät oder
schlechthin von Philosophie unabhängig sein muß. Dies zumal, da
die innerlich sachliche Versöhnung und die ursprüngliche Einheit
des bleibend Pluralen in der Erkenntnis ja nicht bloß durch die
Berufung auf die eine objektive Quelle beider Erkenntnisse und
Erkenntnisvermögen allein bewerkstelligt werden kann.
94
Hiermit aber kommen wir zu einem Problem, das wir in seinem
‚formalen Wesen nicht eigentlich genauer bedenken können: zur
allgemeinen Frage nämlich, ob und wie ein Wesen ein anderes als
- das andere von sich doch als wirkliche Bedingung seines eigenen
Wesens voraussetzen, sich selbst also voraussetzen könne, ob und
wie das andere als anderes die innere Bedingung eines Seienden
sein könne (ohne daß dies auf das Schema des effizienten Ursache-
Wirkungsverhältnisses gebracht werden kann) und wie man so
etwas erkennen könne. Lassen wir dieses Problem beiseite und
wenden wir uns wieder unserer begrenzten Frage zu. Daß so etwas
wie Philosophie ein inneres Moment in Theologie (und somit in
Offenbarung) ist, macht an sich noch keine Schwierigkeiten, da
jedes Wesen aus verschiedenen Konstitutiven aufgebaut gedacht
werden kann und somit ein Moment der Theologie eben — Philo-
sophie genannt werden kann. Aber daß und wie die Theologie die-
ses ihrem eigenen Wesen innerliche Moment gleichzeitig als das
andere von sich absetzt und in seine eigene Autonomie einsetzt und
erst so zur wirklichen Bedingung ihres eigenen Wesens machen
kann, das gilt es zu verstehen. Und hier liegt die Schwierigkeit
darin, daß die unerläßliche ancilla theologiae nur eine solche sein
kann, wenn sie zugleich in sich selber domina ist und das erste
nicht ein Nebenberuf des zweiten, der Herrschaft ist, vielmehr
diese Herrschaft ist gerade erst zur Dienstleistung an der Theologie
befähigt. Warum ist dies so?
Es läßt sich dies durch eine Reihe theologischer Überlegungen,
die zusammengehören, klarmachen: Wir greifen zunächst wieder
auf das Verhältnis von Natur und Gnade zurück und fragen: war-
Mo-
um kann jene Wirklichkeit, die Natur, nicht bloß als inneres
Gnadeno rd-
ment in dem konkreten Gottverhältnis, das wir die
nung nennen, derart gedacht werden, daß sie, wenn nicht begna-
ge-
det, immer und in jedem Fall sinnlos und somit nur als sündig
dacht werden müßte? Die Antwort ist: weil die Gnade als absolute
zu
Selbstmitteilung Gottes selbst auf jeden Fall sich, um sie selber
en
sein, also als ihre Bedingung der Möglichkeit, einen Adressat
der auch
voraussetzen muß, dem sie ungeschuldet ist, d.h. aber,
einfach
ohne diese Mitteilung gedacht werden kann, ohne daß dies
zu sagen: Offen-
widersprüchlich würde. Dementsprechend ist
95
barung alsMoment an dieser freien, personalen Selbsterschließung
aus ungeschuldeter Gnade setzt als Bedingung ihrer Möglichkeit
den voraus, dem diese Offenbarung ungeschuldet bleibt; Offenba-
rung als Gnosis des aus Gnade ungeschuldet adoptierten Kindes
setzt den Knecht als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit voraus.
Gott hat den Knecht nur geschaffen, um ihn zum Kind zu machen.
Aber er konnte das Kind aus Gnade im Unterschied zum eingebo-
renen Sohn nur schaffen, indem er den Adressaten ohne Anspruch
auf die Sohnschaft, also den Knecht, schuf. Und so hat Gott die
Wahrheit der Philosophie nur gewollt, weil er die Wahrheit seiner
eigenen Selbstenthüllung wollte, die absolute, selige Wahrheit,
die er selbst ist, für uns — die Schau, die die Nähe, nicht die Ferne
der absoluten Unbegreifbarkeit ist. Aber eben diese göttliche
Wahrheit als von sich selbst weggesagte, konnte er nur als gnaden-
haft ungeschuldet, in und aus Liebe ausgesagte, wollen. Und dar-
um mußte er den schaffen, dem er sie verschweigen konnte, mußte
er den Philosophen schaffen, der, weil er selber Gott als den sich
verschweigenden erfahren, die Offenbarung als Gnade entgegen-
nehmen konnte. Was wir Offenbarung nennen, ist also nicht etwas
| Zusätzliches, was der Geistnatur und ihrem Selbstverständnis als
einfach in sich Ruhendes und Selbstverständliches vorausgesetzt
ist, sondern die Geistnatur ist die Bedingung der Möglichkeit, die
sich die Offenbarung selbst voraussetzt und dazu freisetzt, damit
Offenbarung sein könne, was sie ist: Gnade als personale, freie
Selbstmitteilung Gottes. Man kann den Satz, daß Bund Schöpfung
einschließt und diese ihm nicht einfach vorgeordnet ist, durchaus
in einem rechtgläubigen Sinn verstehen, der den wirklich katho-
lischen Sinn des Unterschiedes von Natur und Gnade nicht auf-
hebt, sondern gerade ermöglicht und begründet. Offenbarung setzt
also die unterschiedene, freie Philosophie sich selbst als Raum
ihrer Möglichkeit voraus, weil nur dem Sichselbstverstehenden
und so autonomen über sich Verfügenden die Selbsterschließung
Gottes in personaler Offenbarung als die Tat der freien Liebe er-
scheinen kann. Diese Überlegung könnte noch ergänzt werden
durch den Blick darauf, daß diese Offenbarung auch als durch
freien Glauben zu beantwortende im Modus der Ablehnung muß
existieren können und sie selbst diese ihre Möglichkeit nur schaffen
96
Pr
98
Diese allgemeine Offenbarung geschieht nicht unmittelbar im
menschlichen Wort von der ihren Inhalt thematisierenden Gegen-
‚ständlichkeit und Begrifflichkeit her, sondern durch eine Ände-
rung des unthematischen Horizontes und der geistig-personalen
Grundbefindlichkeit, welche Änderung durch die angenommene
oder im Modus der Ablehnung gegebene übernatürliche Gnade
notwendig gegeben ist. Die Reflektierung, Thematisierung und
Auslegung dieser übernatürlichen Grundbefindlichkeit, in der das
absolute Geheimnis im Modus der absoluten, der gebenden Nähe
erfahren wird, mag bis zu einem gewissen Grad gar nicht vom
Menschen allein her möglich sein, sie mag eine lange Geschichte
haben, sie mag nicht überall in gleicher Weise von Gott gelenkt,
befördert und durch Propheten und Wunder garantiert sein, sie
mag oft mit Fehlinterpretation gemischt sein, die die Ohnmacht
und die Schuld des Unglaubens oder des hybrishaften, von sich
aus Wie-Gott-sein-Wollens vermeldet, dennoch ist diese Auswir-
kung der übernatürlichen Grundbefindlichkeit des Menschen als
eines Offenbarung bedeutenden, gnadenhaften Fxistentials un-
vermeidlich am Werk, wo immer der Mensch sein Dasein unter
der Gnade lebt, die ihn anruft, ob er es reflex weiß oder nicht, ob
er hört oder ungehorsam weghört. Daraus aber folgt: In der ge-
genwärtigen, allgemeinen, jeden Menschen zu allen Zeiten betref-
fenden Ordnung des Heils wird jene Selbsterhellung des Daseins
des Menschen, die wir Philosophie nennen, zwar in etwa «reine»
Philosophie sein können, in dem Sinn, daß sie keine materialen
Inhalte und Normen aus der amtlichen, sozial verfaßten und somit
kirchlichen, speziellen und thematisch gewordenen Offenbarung
entnimmt, nicht aberin demSinn, daß die unthematische Daseins-
erhelltheit, aus der sie lebt und die sie nie adäquat einholt noch er-
setzen kann, nur Elemente enthielte, die aus dem naturalen Wesen
des Menschen entstammten.
Die Abgründigkeit des Menschen, die:in tausend Weisen das
Thema der Philosophie ist, ist schon der Abgrund, den Gottes
Gnade eröffnet hat und der in die Abgründe Gottes selbst reicht,
gerade dann und dort, wo der philosophierende Mensch diese Tat-
sache seines geistigen Daseins nicht genau reflektieren, nicht Natur
undGnade im Vollzug seines geistigen Daseins unterscheiden kann.
99
Daraus aber ergibt sich: Wo die amtliche, explizit christliche
Offenbarung die Philosophie als Bedingung ihrer eigenen Möglich-
keit sich voraussetzt und in ihre Freiheit einsetzt, geschieht dies,
gar nicht als die Setzung der reinen Möglichkeit, sondern schon als
unweigerlich in irgendeinem Umfang christlich aktuierte Philo-
sophie. Und zwar nicht nur dann, wenn ausdrücklich sich als
Christen wissende Menschen Philosophie treiben, sondern auch
dann, wenn jene Menschen Philosophie treiben, die wir - anonyme
Christen nennen können (und das gilt prinzipiell für alle Men-
schen, die sich nicht explizit Christen nennen), weil sie, ob sie es
"wissen oder nicht, ob sie es vom Licht ihrer natürlichen Vernunft
unterscheiden oder nicht, erleuchtet sind von dem Licht der
Gnade, das Gott keinem Menschen versagt. Von da aus ist der Satz
richtig: In jeder Philosophie wird schon unvermeidlich, unthe-
matisch Theologie getrieben, weil kein Mensch es in der Hand hat,
auch wenn er es reflex nicht weiß, ob er von Gottes offenbarender
Gnade verfolgt sein will oder nicht. Wir Christen sind meist nur zu
blind oder zu bequem, in der Geschichte des Daseins, der Religion
überhaupt und der Philosophie diese verborgene Christlichkeit zu
erkennen. Wir leben oft unbewußt in der habsüchtigen Enge
derer, die meinen, ihre Erkenntnis sei kostbarer und gnadenhaf-
ter, wenn sie von wenigen besessen wird, und meinen töricht, Gott
selbst komme mit seiner Wahrheit dann erst beim Menschen an,
wenn wir mit der thematisierten und soziologisch-amtlichen Aus-
drücklichkeit dieser Wahrheit bei diesem Menschen angekom-
men sind.
Bevor wir von da aus weiterdenken, ist noch zu bedenken, daß
die Philosophie des Abendlandes in tausend Weisen ausdrücklich
‘ und geschichtlich greifbar zu ihrem eigenen Leben durch die
christliche Offenbarung und Theologie entbunden worden ist. Das
ist bekannt und schon oft gesagt worden. Es ist aber vielleicht gut,
zu bekennen, daß dies nicht nur geschah in der Philosophie der .
Patristik und des Mittelalters, sondern ebenso in der Philosophie
der Neuzeit bis auf unsere Tage. Mögen die Philosophen oft laue
Christen oder gar keine Christen gewesen sein, mag ihre Philo-
sophie in ihren satzhaften Ergebnissen - sie sind gar nicht das Erste
und Letzte der Philosophie — oft im Namen des Christentums ab-
100
zulehnen sein; die Fragen, die Themenstellung, die Eröffnung
neuer Horizonte haben darin viel mehr Christliches, als wir klein-
gläubige Christen, wenn wir dem Buchstaben einer christlichen
Philosophie mehr als ihrem Geist dienen, oft wahrhaben wollen.
Man könnte richtig sagen, daß die Umkehr aus einer kosmozentri- .
schen, sachhaften Philosophie der Griechen in die anthropozen-
trische, transzendentale Philosophie der Neuzeit durchaus im
Grundansatz christlich ist und im Grunde schon bei Thomas an-
hebt, die kirchliche schulhafte Philosophie also noch vieles einzu-
holen und zu retten hat, was außer ihr und seiner selbst nicht recht
bewußt als Stück einer faktisch nur im Kairos des Christentums
möglichen und doch genuin eigenständigen Philosophie außerhalb
der schulamtlichen Orthodoxie geworden ist.
Wir setzen nach diesen Überlegungen nun voraus, daß die
Kirche und von daher abgeleitet sekundär das Abendland immer
noch den geschichtlich unerfüllten und noch gültigen Auftrag und
die Sendung hat, der ganzen Welt und kommenden planetarisch
vereinheitlichten Geschichte die Offenbarung Christi zu bezeugen.
Was folgt dann aus dem bisherig Gesagten unter dieser Voraus-
setzung hinsichtlich der Philosophie des Abendlandes?
Zunächst einmal: 1. Das Abendland braucht seine eigene Syn-
these von Theologie und Philosophie nicht aufzugeben zugunsten
eines Versuches, gewissermaßen die nackte Botschaft des Christen-
tums ohne die sogenannte « Belastung» mit der abendländischen
Philosophie weiterzusagen. Das braucht nicht zu geschehen, weil .
es keine Verkündigung der Offenbarung ohne Theologie und keine
Theologie ohne Philosophie geben kann. Man kann nur das Ge-
hörte weitersagen. Gehört ist das Weiterzusagende aber in dem
Maß, als es in Funktion mit dem Ganzen der eigenen geistigen
Existenz aufgenommen ist. Eine unphilosophische Theologie wäre
eineschlechte Theologie. Und eine Theologie, die schlecht ist, kann
ihren notwendigen Dienst für die Verkündigung der Offenbarung
nicht leisten. Das heißt nun aber, 2., gerade nicht, daß das Abend-
land einfach seine traditionelle Philosophie als Weltphilosophie
traditionalistisch weiterverbreiten dürfte, vielleicht noch mit der
stillschweigenden Meinung, daß die bei uns aus der Mode gekom-
menen Kleider der Philosophie bei den Barbaren immer noch gut
101
für die
"und modern seien. Denn I Philosophie ist ja gerade
notwen dig und nützlic h, wenn
Verkündigung des Christentums
Offenb arung durch uns
sie für das wirklich ausreichende Hören der
aus der
selbst zureicht. Dies aber tut sie nur, wenn wir sie in und
eigenen geistigen Situation, die wirklich die unsere hier und jetzt
a neu erwerben, wenn sie nicht die bloß tradierte, sondern die
schöpferisch neu geschaffene ist. Nach dem Historismus, im Zeit-
alter der Mikrophysik, der Kybernetik, der planetarisch geworde-
nen Geschichte, der höherstufigen Struktur der Gesellschaft usw.
ist unsere eigene Situation des Daseins, die von der Philosophie zu
erhellen ist, eine andere als früher, und also auch unsere Philo-
sophie. Und so auch die Philosophie, mit der das Abendland in sei-
nem eigenen Abend die Botschaft des Evangeliums auszurichten
hat. Dazu kommt. : zu dieser Situation, die auch der xaı0dg unse-
rer Philosophie heute ist, gehört ja auch die Begegnung mit dem
Dasein und also mit der ausdrücklichen oder impliziten Philo-
sophie derer, denen wir Abendliche die junge Botschaft des Herrn
immer noch bringen dürfen und müssen. Die Hörenden wandeln
die Situation der Redenden. Und zwar auch zugunsten der Christ-
lichkeit unserer eigenen Situation als Philosophen. Denn wir haben
ja schon gesagt, daß es keine Philosophie geben kann, die einfach
a-christlich sein könnte. Zweifellos hat die abendländische Bot-
schaft des Christentums auch mittels seiner ihr vorausgehenden
und sie begleitenden Philosophie auch die Aufgabe, das philoso-
phische Selbstverständnis der nichtabendländischen Welt zu för-
dern, ihr zu helfen, besser zu sich zu kommen, sich von Irrtum und
Verkürzung ihrer Selbstinterpretation zu befreien. Aber da dem
Christi Botschaft tragenden Abendland auf seiner Wanderung in
fremde Räume immer eine Welt begegnet, in der die Gnade Christi
schon längst am Werk ist, auch wenn sie noch nicht bei ihrem eige-
nen Namen genannt wird, so muß notwendig auch das Umge-
kehrte geschehen, wenn alles richtig geschieht: die anonyme
Christlichkeit (d.h. Menschlichkeit und Begnadigung) der nicht-
abendländischen Philosophie kann in der ausdrücklich christ-
lichen Philosophie des Abendlandes Verkürzungen ihres christ-
lichen Wesens ans Licht bringen und beheben, latente Möglich-
keiten ihres Wesens entbinden, die ja auch sie, trotz ihres christ-
102
lichen Namens, trotz ihrer eigenen Möglichkeiten, auch als spe-
. zifisch christliche Philosophie längst nicht eingeholt hat. Kurz, das
kündigende Abendland kann selber christlicher und philosophi-
scher werden, indem es hören muß, um verständlich werden zu
können. Ob und wie weit dadurch so etwas wie eine gemeinsame
christliche Weltphilosophie entsteht, oder ob und wie sich darin
die völkischen und geschichtlichen Individualitäten von inkom-
mensurabler Eigenart in vielen Philosophien, die sich ja nicht
notwendig widersprechen müssen und doch viele sein können, ent-
falten mögen, das hängt von der Frage ab, die hier nicht erörtert
werden kann, ob und wie die Einheit und Interferenz der bisher
getrennten geschichtlichen Räume eine homogene, aber dennoch
bleibend, ja erhöht differenzierte Weltkultur erzeugt.
105
.
KLEINES FRAGMENT “
«ÜBER DIE KOLLEKTIVE FINDUNG
DER WAHRHEIT»
104
N
108
der als einer und gleicher Dritter den «Gesprächspartnern » ge-
genübertritt. Bei den Formeln, die den Menschen als ganzen und
das ihn umfassende Geheimnis aussagen sollen, ist diese Art von
«Objektivation » nicht möglich. Die gemeinte Wirklichkeit ist als
gemeinsam besessene nur in der Formel zwischenmenschlich da.
Unmittelbar gemeinsam ist also der Satz, nicht dessen Verständ-
nis. Und ob dieses Verständnis des gemeinsamen Satzes dasselbe
sei, darüber hat man auch bei Einigung über die Formel keine ab-
solute Sicherheit. Schon darum nicht, weil die Summe der indivi-
duellen und geschichtlichen Voraussetzungen des Verständnisses
von Worten und Sätzen verschieden und gleichzeitig nie so ad-
äquat durchreflektierbar ist, daß man sich auch darüber ausdrück-
lich verständigen könnte. Diese Fraglichkeit der erzielten Über-
einkunft ist z.B. für das christliche Verständnis des Glaubens so
selbstverständlich, daß man immer weiß, daß das ausdrückliche
Annehmen der gemeinsamen Glaubensformel keine subjektive
und keine zwischenmenschliche absolute Sicherheit darüber ge-
währt, daß der Betreffende nun wirklich auch ein Glaubender sei.
Dazu kommt auch, daß die erzielte und gemeinsam akzeptierte
Formel nie so « klar » ist, daß sie ihr absolutes Verständnis von sich
allein aus mitliefert und gar keiner weiteren Interpretation mehr
zugänglich oder bedürftig ist. So gibt es z.B. in der christlichen
Theologie wohl überhaupt keine Glaubensformel, die nicht von
den Theologien in ihren «Schulen» verschieden interpretiert
würde, ohne daß man sagen dürfte, man habe also von ihr über-
haupt kein gemeinsames Verständnis, oder sagen könnte, diese
verschiedenen Schulinterpretationen seien einfach von außen zur
Formel hinzukommende Zusätzlichkeiten, die die Formel selbst
gar nicht tangieren. Ist dies schon hinsichtlich des mittelbaren,
zwischenmenschlichen Sinnes einer Formel so, um wieviel weni-
ger kann man dann absolut wissen, ob sich ihr subjektives Ver-
ständnis, so wie es personal vollzogen wird, bei den Gesprächs-
partnern deckt. Jede Formel erhält ihren ganzen Sinn vom ganzen
Bezugssystem jedes Sprechenden. Diese Systeme als ganze lassen
sich nicht mehr adäquat vergleichen.
Und doch sind die Formel und die Einigung auf sie notwendig
und sinnvoll. Diese scheinbar so prekäre Einigung lebt von dem
109
x = '
110
N
1. Der Begriff der Schrift. Weil in Jesus Christus die volle Selbst-
erschließung Gottes als endgültiges und eschatologisch siegreiches
Heil der ganzen Menschheit gegeben ist, ist die Heilsgeschichte in
ihre eschatologische Phase getreten, die nur noch durch die Auf-
hebung der Geschichte bei der Offenbarwerdung dieses geschehe-
nen Heils in der unmittelbaren Anschauung Gottes und der un-
widerruflichen Verklärung der Welt in der Auferstehung des Flei-
sches abgelöst werden kann. Darum und in diesem Sinn ist die
Offenbarung Gottes abgeschlossen und alle amtliche und alle all-
gemeine Heils- und Offenbarungsgeschichte in ein nicht mehr
überbietbares Stadium getreten. Was von Jesus Christus, dem
Gekreuzigten und Auferstandenen, an, in dem dieses endgültige
Heil geschehen und offenbar geworden ist, noch geschieht, muß
bei aller zeitlichen Länge und aller Größe und Tiefe des geschicht-
lichen «Materials», an dem dieses endzeitliche Daseinsverständ-
nis sich entfalten, bewähren und noch wachsend zu sich kommen
“muß, den Charakter der Anamnese, der wissenden und existen-
tiellen (glaubenden) Rückbezogenheit auf diesen alles eröffnenden
und alles schon umfassenden Anfang des Endes haben, der in
Jesus Christus gegeben ist.
Damit dies möglich ist, ist vorausgesetzt, daß dieser Anfang blei-
bend auch in derjenigen Dimension (nicht nur in dieser) gegeben
ist, in der die Kirche (als die Bleibendheit des Heiles Christi in die-
ser Endzeit) auch existiert: in der Dimension des ausdrücklichen
Bekenntnisses, des begrifflich gefaßten Glaubens, der alle ge-
meinsam verpflichtenden Glaubensnorm, der Möglichkeit einer
zwischenmenschlich ausweisbaren Rückbeziehung auf diesen blei-
benden, normativen Anfang der Endzeit, der durch keinen neuen
* heilsgeschichtlichen Anfang mehr abgelöst und überholt wird.
Die reine und darum eine absolut normative norma non normata
bildende Objektivation dieses eschatologischen Anfangs des Endes,
das die Urkirche ist, heißt in der genannten Dimension :« Schrift».
Durch die Inspiration ist die Schrift als Werk Gottes geworden
gerade als Objektivation des Glaubens der Urkirche als der blei-
benden Norm des Glaubens aller späteren christlichen Zeiten, und
111
} Aah?
zwar als reine Norm, der gegenüber ein eigentlich kritisches Unter-
scheiden der Geister (darüber, was nun in dieser Wirklichkeit vom
Geiste Gottes, was bloß menschliche Erfindung sei) bei aller An-
erkennung des geschichtlich Kontingenten und der Entwicklung
und Entfaltung Fähigen und Bedürftigen darin nicht mehr not-
wendig und nicht mehr erlaubt ist. (Hier liegt der theologische
"Sinn der Inerranz’der Schrift: sie ist norma non normata, und sie
muß so sein, daß sie dies sein kann: als Werk Gottes ist sie schlecht-
hin inerrant; mit dieser formalen Aussage ist aber die Frage noch
offen, ob die Hagiographen jemals eine schlechthin feste, asserto-
rische Aussage haben machen wollen, die sich nicht innerhalb die-
ser Proklamation des christlichen Heiles als solcher bewegt, frei-
lich mit all dem, was nach der Erklärung der Schrift selbst dazu-
gehört, nicht was nach einem von uns apriorisch an die Schrift
angelegten eigenen Maßstab darunterfällt. Die Erklärung des
kirchlichen Lehramtes, man dürfe nicht apriori die Inerranz
der Schrift auf die Lehre über religiöse Wahrheiten beschränken
[DS 3411, 3650, 5887], gibt trotz ihrer formalen Richtigkeit dar-
über noch keinen Aufschluß, was die Hagiographen eindeutig
assertorisch in materialer Hinsicht nun haben aussagen wollen und
worüber sie eine solche Aussage nicht machen wollten.)
Da die Urkirche sich immer als die wahre Nachfolgerin des AT
bekannt, die Geschichte des AT für ihre eigene Vorgeschichte ge-
halten hat, so gehört das Wissen um die authentische Vorgeschichte
als Moment an der Urkirche selbst und darum die reine Objekti-
vation dieses Wissens, das AT als inspiriertes Buch, auch zu den
normativen Größen der späteren Zeiten der Kirche.
2. Was Theologie ist, welche Funktion sie im Glaubensbewußt-
sein des Einzelnen und der Kirche hat, darüber ist unter diesem
Stichwort selbst zu handeln. Hier ist nur wichtig, zu betonen, daß
Theologie nicht nur eine wissenschaftlich methodische Reflexion
auf das Glaubensbewußtsein der Kirche ist, sondern auch ein in-
neres Moment dieses Glaubensbewußtseins selbst derart (wenn
natürlich mit größerer oder geringerer systematischer « Wissen-
schaftlichkeit»), daß dieses Glaubensbewußtsein selbst sich mit
Hilfe dieser Reflexion (Theologie genannt) entfaltet, reflexer zu
sich kommt und somit zu neuen ausdrücklichen Definitionen, zu
112
«neuen» Glaubenssätzen führen kann. Das ist eigentlich selbst-
verständlich : Wenn das Glaubensbewußtsein der Kirche nicht eine
rein abstrakte, ungeschichtliche Größe sein soll, wenn es in einem
dauernden Gegenüber zu der jeweiligen geistigen Situation der
Glaubenden stehen soll, mit einem Wort: wenn es selbst unbe-
schadet der bleibenden Wahrheit und Abgeschlossenheit der Of-
fenbarung eine geschichtliche Größe sein muß, die nicht nur be-
gleitet ist von einer Theologiegeschichte, sondern eine wirkliche
Dogmengeschichte bildet, dann muß diese Geschichte dieses Glau-
bensbewußtseins alle Momente in sich haben, die zur Geschicht-
lichkeit geistiger Art gehören, also auch die Reflexion. Für ein
katholisches Glaubensverständnis (das durch das Werdenkönnen
von irreformablen «neuen» Dogmen gekennzeichnet ist) ist so-
mit Theologie letztlich nicht bloß die unverbindliche menschliche
Reflexion bleibend reformabler Art auf eine unveränderliche
Größe, die keine Geschichte hat (z.B. eine so verstandene m.
Schrift), sondern die Weise, in der absolute Glaubensgeschichte
wird, die irreversibel, nur nach vorne offen ist.
3. Theologie und Schrift. Diese Glaubensgeschichte mittels theo-
logischer Reflexion als eines ihrer Momente (nicht des einzigen,
in gewisser Hinsicht nicht einmal des entscheidenden) bleibt nun
dennoch immer an ihren Anfang gebunden, an die Offenbarung
Jesu Christi in der apostolischen Zeit, wie sie in der Schrift sich
rein und als norma non normata objektiviert hat. Wir können wohl
sogar sagen (wenn über diese Frage die innerkatholische theolo-
gische Diskussion auch noch nicht abgeschlossen ist): Die 'Theo-
logie ist an die Schrift als ihre einzige materiale Quelle schlechthin
ursprünglicher, unabgeleiteter Art(quoadnos ‚)verwiesen. Natürlich
ist die Schrift als solche nur bekannt, insofern sie in der lebendigen
«mündlichen » Überlieferung der Kirche als inspiriert und als
norma non normata des Glaubens der Kirche, weil reine Objekti-
apo-
vation der bleibend maßgeblichen Glaubensüberzeugung der
wird. Insofern gibt es natürlich eın
stolischen Kirche, überliefert
als sie ein Moment der
Dogma, das die Schrift nur so bezeugt,
en
Kirche selbst ist, nicht insofern sie (auch) eine dem kirchlich
Dogma
Glaubensbewußtsein gegenüberstehende Größe ist: das
ihre Inspirier theit und den Umfang des
über die Schrift selbst,
113
enge
Kanons. Aber dieses aus dem Wesen der Sache erfließende Ver-
hältnis zwischen Schrift und mündlichem Kerygma braucht jeden-
falls nicht verallgemeinert zu werden, weil es durchaus einsehbar
ist, warum es einmalig sein kann. Umgekehrt gibt es sicher kein
Dogma der Kirche, von dem sie selbst lehramtlich erklärt, es sei
ihr sonur durch mündliche Tradition (als einer eindeutig verschie-
denen materialen Sachquelle) bekannt, daß es in der Schrift keinen
Erkenntnisgrund habe.
Es gibt auch keinen Konsens der Theologen darüber, ob und
vor allem welche Dogmen solcher Art genannt werden könnten.
Schließlich dürfte eine solche «Tradition» nicht nur eine aus
dem Bestehen eines Dogmas postulierte Größe sein (die ein Theo-
loge postuliert, weil er erklärt, nach seiner Meinung sei dieses
Dogma nicht aus der Schrift herleitbar, nicht in ihr implizit ge-
geben), sondern müßte für uns historisch greifbar sein, und zwar
zurückführbar bis zu den apostolischen Zeiten. Denn nur dann
kann diese Berufung auf die Tradition die Aufgabe erfüllen, die
diese Berufung hat und die die eigentliche Aufgabe der histori-
schen Theologie ist (auch wenn ohne sie ein Dogma oder die De-
finierbarkeit eines Satzes erkannt werden kann in einem Rekurs
auf ein einmütiges Glaubensbewußtsein irgendeiner — auch der
heutigen — Epoche der Kirche), nämlich zu zeigen, wie ein heutiges
Dogma auf das Glaubensbewußtsein der apostolischen Kirche zu-
rückgeht. Nun wird man aber sagen können: Praktisch und fak-
tisch liefern die außerbiblischen Bezeugungen des Glaubens der
Kirche mindestens in den ersten zwei Jahrhunderten keine In-
halte, die einerseits eindeutig als eigentliche Glaubensüberzeu-
gungen dieser Zeit und andererseits als schlechthin in der Schrift
nicht auffindbar bezeichnet werden könnten. Mitanderen Worten:
das Postulat einer material reichhaltigeren Tradition gegenüber
der Schrift, wodurch die Tradition eine eigenständige materiale
Glaubensquelle für uns werden könnte, nützt praktisch nichts.
Wenn wir in schwierigen Fällen geneigt wären, ein späteres
Dogma auf die apostolische Überlieferung zurückzuführen unter
Berufung auf die mündliche Tradition, so ist konkret ein solches
Verfahren nicht erfolgreicher und nicht überzeugender, als wenn
wir das «letzte Fundament » eines solchen Dogmas in der Schrift
114
selbst suchen. Wenn Exegeten dies in diesen oder jenen Fällen
glauben nicht leisten zu können, so wäre zu fragen, ob dieses
scheinbare Unvermögen nicht aus einem zu ungenauen Wissen
um das betreffende Dogma stammt oder eventuell bedingt ist
durch einen biblizistischen Positivismus als stillschweigend vor-
ausgesetzte Methode, in der die Möglichkeiten einer legitimen
Entfaltung der biblischen Daten unterschätzt werden. Dabei ist
natürlich immer zu bedenken, daß der Grad der Sicherheit, mit
der ein einzelner Theologe oder Exeget, und der, mit dem das
kirchliche Gesamtglaubensbewußtsein und das kirchliche Lehr-
amt eine solche Explikation ursprünglicher biblischer Daten vor-
nimmt, sehr verschieden sind. Wir dürfen also ruhig den Satz
aufstellen: Für die Theologie ist die Schrift praktisch die einzige
materiale Glaubensquelle, an die sie sich als schlechthin ursprüng-
liche, unabgeleitete und norma non normata zu wenden hat.
Damit ist die Tradition in keiner Weise als unersetzliche Größe
aus der Theologie ausgeschaltet. Denn die Tradition, wenn und
sofern sie Zeugnis des Glaubensbewußtseins der Kirche und der
Lehre des Lehramtes ist, bleibt immer authentische Norm für
die Auslegung der Schrift dem einzelnen Theologen gegenüber.
Sie ist ja das lebendige Selbstverständnis der Kirche und darum
auch das lebendige, dauernde Verständnis der Schrift, weil das
Selbstverständnis der Kirche sich immer auf seine eigene Ver-
gangenheit und somit auf das maßgebliche und unüberholbare
Selbstverständnis der Urkirche zurückbezieht, dieses aber in reiner
Objektivation in der Schrift gegeben ist. Somit wird immer (expli-
zit oder implizit) mit der Tradition zusammen die Schrift gelesen,
also dies weder so getan, daß die Tradition die Schrift ersetzen
wollte (weil jene diese schon adäquat ein für allemal gelesen hätte)
noch die Schrift die Tradition. Ebensowenig ist das kirchliche
Lehramt auch nur im geringsten ausgeschaltet oder zu Unrecht
in seiner Funktion eingeengt, wenn wir die Schrift als praktisch.
die einzige nicht mehr normierte, sondern nur normierende ma-
teriale Quelle des Glaubensbewußtseins der Kirche bezeichnen.
Das kirchliche Lehramt ist ja in keiner Weise Quelle von Glau-
bensinhaltlichkeit, da es keine neuen Offenbarungen empfängt,
"sondern nur das depositum fidei hüten und auslegen muß. Es hat
115
)
118
Leitung des ae weil siear Schrift in der Kirche und so
schon immer belehrt durch die aktuelle Glaubensverkündigung
der Kirche, also durch das Lehramt, liest. Insofern liest die Theo-
logie die Schrift immer schon mit einem Wissen, das «so» nicht
einfach in der Schrift zu lesen ist, weil der Theologe immer von
dem aktuellen Glaubensbewußtsein der Kirche her Theologie trei-
ben muß und weil es eine eigentliche Dogmenentwicklung gege-
ben hat.
Aber dennoch ist der Theologie nicht einfach die Aufgabe auf-
erlegt, diese aktuelle Glaubenslehre des kirchlichen Lehramtes
als durch die Schrift legitimierbar nachträglich durch das Auf-
finden der dicta probantia für die Kirchenlehre in der Schrift dar-
zutun. Ihre innerdogmatische Aufgabe geht in bezug auf die
Schrift in doppelter Hinsicht über eine solche (leider meist zu
exklusiv betriebene) Aufgabe hinaus. Einmal darf nicht über-
sehen werden, daß die aktuelle Kirche selbst immer die Kirche ist,
die die Schrift liest, vorliest, zu lesen befiehlt. Es ist also nicht so,
“ daß nur das in Konzilien, Enzykliken, Katechismen usw. inder
Kirche Gelehrte zur aktuellen Lehre des kirchlichen Lehramtes
gehöre. Die Schrift selbst ist auch immer das aktuell in der Kirche
je jetzt amtlich Verkündigte. Wenn man also dem Dogmatiker die
aktuelle kirchliche Lehre als den unmittelbaren Gegenstand seines
Nachdenkens zuweist, weist man ihm gerade auch die Schrift als
unmittelbaren Gegenstand seines dogmatischen Bemühens zu.
Die Schrift ist also nicht fons remotus, d.h. bloß das, worauf der
Dogmatiker schließlich die kirchliche Lehre zurückführt, sondern
das, womit er sich unmittelbar zu beschäftigen hat, da er die Schrift
nicht eigentlich als eine «andere» Sache und Quelle von der ak-
tuellen Kirchenlehre adäquat scheiden kann. Und weiter: die
theologische Beschäftigung mit der Offenbarung Gottes in der
aktuellen Verkündigung der Kirche, des Lehramtes und im Glau-
bensbewußtsein der Kirche der eigenen Zeit muß auch dort, wo
diese Verkündigung nicht mehr mit der Lesung der Schrift in,der
heutigen Kirche identisch ist, zur Schrift zurückführen. Denn das
volle Verständnis der heutigen Lehre verlangt immer wieder den
Rückgang zur Quelle, aus der sich diese Lehre nach ihrer eigenen
Erklärung herleitet, auf die Lehre, deren Auslegung und Ak-
119
tualisierung sie selbst sein u also die Rückbeziehung auf die
Schrift.
Ist so biblische Theologie ein inneres Moment an der Dogmatik
selbst, und zwar nicht nur eines neben anderen Momenten der
«historischen » Theologie, sondern ein absolut ausgezeichnetes
und einmaliges Moment der Dogmatik selbst, so ist damit nicht
bestritten, daß die biblische Theologie aus verschiedenen Gründen
‚ sich auch als eigene Wissenschaft im Ganzen der Theologie etablie-
ren dürfe. Das ist ihr schon aus praktischen Gründen durchaus an-
gemessen: Konkret kann der Dogmatiker nur in den seltensten
Fällen ein so fachmännisch ausgebildeter Exeget sein, wie er es
sein müßte, wollte er die biblische Theologie allein verwalten.
Die ausgezeichnete Stellung sodann, die der biblischen Theologie
innerhalb der Dogmatik im Unterschied zu ihren sonstigen Be-
mühungen (patristische Theologie, mittelalterlich-scholastische,
moderne scholastische Theologie) zukommt, kommt auch besser
zur Geltung, wenn die biblische Theologie nicht nur innerhalb
der Dogmatik betrieben wird. Vielleicht bildet sich einmal im
Zug der kirchlichen Studienreform ein eigenes Fach, in dem die
biblische Theologie weder als bloße Fortführung der normalen
Exegese noch als bloßes Moment an der Dogmatik betrieben wird,
sondern als eigene Wissenschaft die richtige Vermittlung zwischen
Exegese und Dogmatik darstellt.
120
HEILIGE SCHRIFT UND TRADITION
Der Anlaß für die Behandlung der Frage von « Schrift und Tradi-
tion » ist die Verhandlung, die über diese Frage auf dem Zweiten
'Vatikanischen Konzil schon begonnen hat. Sie wissen aus der
Tagespresse, daß dem Konzil in seiner ersten Sitzungsperiode ein
Lehrdekretentwurf vorgelegt worden war, der überschrieben war:
« Über die Quellen der göttlichen Offenbarung ». In diesem Sche-
ma war auch über das Verhältnis von Schrift und Tradition einiges
gesagt. Dieses Verhältnis war nicht das eigentliche und zentrale
Thema dieses Dekretentwurfs. In den offiziellen Verhandlungen
des Konzils über das ganze Schema war diese Frage noch nicht
eigentlich thematisch geworden. Aber man darf wohl annehmen,
daß auch solche einzelne Fragen schon im Hintergrund der Über-
legungen der Konzilsväter standen und vielleicht auch diese Frage,
d.h. die Aussage dieses Dekretentwurfs über das Verhältnis von
Schrift und Tradition, doch mitgewirkt hat, daß bei den Konzils-
vätern eine sehr kritische Stellung gegenüber diesem Entwurf
vorhanden war, eine kritische Stellung, die dann — wie Sie aus der
Tagespresse wissen — zu einer praktischen Ablehnung dieses Ent-
wurfs geführt hat.
Wie später diese Frage weiter behandelt wird, was schließlich
und endlich das Konzil über diese Frage lehren wird, ob das Konzil
diese Frage überhaupt lehramtlich beantworten wird, in welchem
Umfang man das tun wird, das können wir heute noch nicht sagen.
Es könnte durchaus sein, daß diese Frage letztlich als theologisch
noch zu ungeklärt vom Vatikanischen Konzil offengelassen wird.
Aber immerhin sehen Sie schon aus dieser kleinen Vorgeschichte .
unserer gemeinsamen Überlegungen, daß dieses Thema einer-
seits durchaus nicht ein besonders zentrales und wichtiges Thema
des Konzils als solchen ist und auf der. anderen Seite doch ein ge-
wisses Interesse beanspruchen kann von denjenigen, die sich über-
haupt für die Themata des Konzils interessieren. Rein von der
dogmatischen Frage her ist dieses Verhältnis von Schrift und
Tradition zweifellos ein sehr wichtiges und bedeutsames Thema,
denn die Frage, woher der einzelne Christ, vor allem und in erster
Linie die Kirche selbst, um die göttliche Offenbarung, die in Jesus
121
I .
Christus ergangen ist, wisse, diese Frage ist doch zweifellos eine
Grundfrage der christlichen Theologie überhaupt.
Ich möchte nun in diesem Vortrag nicht unmittelbar auf die
Fragestellung, so wie sie beim Konzil gegeben war, eingehen, son-
dern versuchen, Sie in das eigentliche Sachproblem, um das es sich
hier handelt, in katholischer Sicht einzuführen, so gut das in so
kurzer Zeit geht.
Zunächst einige, aber wirklich nur einige sehr bescheidene An-
deutungen über die Geschichte dieses Problems. Gerade in neue-
ster Zeit sind ja zwei bedeutsame Arbeiten von J. R.Geiselmann
in Tübingen und von Johannes Beumer in Frankfurt a.M. |
St.Georgen über dieses Thema erschienen, zwei Arbeiten, in de-
nen das geschichtliche Material über die Frage vom Verhältnis
von Schrift und Tradition genau und eingehend ausgebreitet wird,
so daß ich also auf diese Arbeiten verweisen kann und mich be-
schränken darf auf einige Anmerkungen und Hinweise, die nur
dazu dienen sollen, uns in das eigentliche Sachproblem einzu-
führen.
Beginnen wir zunächst mit dem Begriff der Tradition. Tradi-
tion heißt Überlieferung: etwas wird von einer Generation der
anderen übergeben. Wenn heute in der katholischen Theologie
von Tradition geredet wird, dann ist in einer merkwürdigen und
gar nicht selbstverständlichen Verengung des Begriffes von vorn-
herein und beinahe unbesehen und selbstverständlich von einer
Lehrtradition die Rede: eine Lehre wird weitergegeben, unter
Umständen autoritativ weitergegeben, ein bestimmtes Lehramt
mit bestimmter Lehrautorität verkündet einen bestimmten Satz,
der so der gegenwärtigen Generation mitgeteilt wird, daß auf diese
Weise auch die nächste Generation autoritativ belehrt und so ein
Lehrsatz durch die Generationen hindurch weitertradiert wird.
Natürlich gibt es einen solchen Begriff. Er ist auch legitim. Aber
wir kommen dem wirklichen Geheimnis der christlichen Tradi-
tion nur dann näher, wenn wir zunächst einmal diesen Begriff
erweitern bzw. seine eigentliche Wurzel erreichen.
122
‘Was ist denn das Christentum im letzten? Zweifellos Gottes
Wahrheit, die uns verkündet wird. Aber eben dieses Offenbar-
werden der göttlichen Heilswahrheit ist nicht eine Verkündigung,
die primär in Lehrsätzen oder in Katechismustexten, sondern die
in Ereignissen geschieht. Denn dasjenige, was im Christentum
verkündet wird, ist nicht eine allgemeine, notwendige, abstrakte
Wahrheit, die man von jedem Punkt der Geschichte aus gleich-
mäßig erreichen könnte, weil sie in ewiger Selbigkeit und Klar-
heit gleichsam am Himmel der Ideen steht, sondern das Christen-
tum ist primär das Ereignis, in dem Gott in seiner Gnade an uns
handelt. Ein freies Ereignis, ein Ereignis seiner machtvollen Liebe,
ein Ereignis, das man nicht von anderswoher ableiten kann, son-
dern das in seiner freien, geschichtlichen Wirklichkeit erfahren
werden muß, das also deswegen auch zunächst einmal einen ganz
bestimmten raumzeitlichen Punkt in der Geschichte der Menschen
hat. Offenbarung im eigentlichen, ursprünglichen Sinn ist Offen--
barungstat Gottes in geschichtlicher Konkretheit, in geschicht-
licher Raum-Zeitlichkeit, was nicht aus-, sondern einschließt, daß
das Wort zu den konstitutiven Elementen der Offenbarungstat
selbst gehört. Wenn nun ein solches Heilsereignis an einem ganz
bestimmten Punkte geschieht, wenn das Wort gerade Fleisch wird
aus Maria der Jungfrau, in Jesus von Nazareth, wenn wir erlöst
sind in die Herrlichkeit Gottes hinein gerade dadurch, daß dieser
bestimmte Mensch an diesem bestimmten Raum-Zeitpunkt unter
Pontius Pilatus an diesem Kreuz hängt, dann muß dieses Heilser-
eignis, soll es uns nicht nur in den Tiefen unseres begnadeten We-
sens jenseits aller unserer eigenen geschichtlichen Erfahrung er-
reichen, sondern auch in der Dimension unseres raumzeitlichen,
geschichtlichen Lebens treffen, auf uns von diesem bestimmten
Raum-Zeitpunkt her zukommen; es muß sich selber gleichsam
durch diese Raum-Zeitlichkeit der geschichtlichen Existenz der
Menschheit hindurchbewegen und als ein solches auf uns zukom-
men. Darum hat der Begriff der Paradosis, der Traditio, der Über-
lieferung, biblisch gesehen, seinen letzten tiefsten Sinngehalt und
seine letzte, tiefste Wirklichkeit nicht zunächst in der Überliefe-
rung, in der Weitergabe von Sätzen, sondern in der Paradosis, in
der Übergabe, der Überlieferung, in der der menschgewordene
125
4
Sohn Gottes, der Logos Gottes im Fleisch, sich selber, von dem
' "Ereignis des Abendmahles (in Einheit mit seinem Tod) ausge-
hend, immer wieder aufs neue uns überliefert und ausliefert in der
Feier des heiligen Mysteriums, des Abendmahles der Kirche, in der
Eucharistie. Dort geschieht primär Überlieferung, dort gibt sich
das einmalige Heilsereignis des Todes und der Auferstehung
Christi, immer aufs neue weiterschreitend und sich ausbreitend,
in der Menschheit den Menschen. Insofern nun und weil selbst-
verständlich eine solche reale Traditio des Offenbarungsereignisses
an alle Zeiten notwendigerweise angesichts des Wesens des Offen-
barungsereignisses und angesichts des Offenbarungsempfängers
notwendigerweise auch das Wort als konstitutives Element dieser
Heilswirklichkeit selbst seine Überlieferung an den Menschen und
seines Empfangs durch die Menschen hat, ist das Sich-selber-Wei-
terübergeben und Ausliefern der Heilstat Gottes geschichtlicher
Artan alle Generationen auch notwendigerweise eine Traditio des
Wortes. Darum sind ja die Sakramente, unter denen sich die Heils-
wirklichkeit den Menschen selber mitteilt, solche Heilszeichen, die
im Worte geschehen, und die Worte sind konstitutive Elemente an
diesen Heilszeichen selber. Weil Heilsereignis als Tat Gottes am
Menschen in der Geschichte ein für allemal geschieht und den-
noch dieses einmalige Ereignis geschichtlich sich allen Menschen
zu eigen geben will, und weil ein solches Ereignis im Ursprung und
im Ankommen bei uns immer notwendigerweise im Wort ge-
schieht, darum ist Traditio auch Überlieferung im heute üblichen
Sinn dieses Wortes.
Von da aus müssen wir nun einen Schritt weitergehen. Jenes
Heilsereignis, auf das unser Leben, Sterben und unsere ewige
Hoffnung begründet ist, heißt Jesus Christus, der Sohn Gottes,
das Wort Gottes, das im Fleische unter uns erschienen ist, erfunden
in aller Wahrheit als Mensch so wie wir, geboren und gestorben
wie wir. Diese Wirklichkeit, die sich weitergeben will, ist nun
selbstverständlich, weil sie die Wirklichkeit des ewigen Logos Got-
tes selbst ist und darum das unüberbietbare, bleibende, das nicht
mehr ablösbare, eschatologische Heilsereignis, notwendig ein sol-
ches Ereignis, das sich nicht so tradiert, daß es in dieser Tradition
sich selber eigentlich in seiner wahren Wirklichkeit aufheben
124
könnte, wie sonst ein geschichtliches Ereignis weiterwirkt, um
gewissermaßen sich selber aufzuheben und abgelöst zu werden
durch etwas Neues, durch etwas Revolutionäres, durch etwas, was
einen neuen Äon einführt. Daraus ergibt sich aber, daß Jesus Chri-
stus, und zwar nicht nur in seiner Abstraktheit, sondern in seiner
konkreten Erscheinung, seiner bestimmten, konkreten Zeit, so wie
er ist, die absolute Norm, weil die absolute Wirklichkeit, ist für
alle kommende Überlieferung. Diese Selbsttradition Jesu Christi
in seinem Sein, in seiner Tat, in seinem T'od, in seiner Auferste-
hung und damit in allem, also auch in seinem Wort an die Mensch-
heit, ist nun eine solche Selbstüberlieferung, daß sie eben not-
wendigerweise im Wort sich bezeugen muß, und zwar im autori-
tativen Wort derer, die wir Apostel nennen, und zwar zunächst,
wie sich das einfach aus der Tatsache Jesu Christi und seines kon-
kreten, weiter vielleicht nicht ableitbaren Auftretens ergibt, im
mündlichen Wort, in dem lebendigen Wort, in dem ein Mensch
dem anderen begegnet, sich, seine Person, seine Freiheit, seine
Entscheidung, seine Liebe dem anderen Menschen eröffnet und
so für den anderen da ist. Daraus ergibt sich natürlich, daß jetzt in
diesem ganz umfassenden Sinne die Traditio Jesu Christi in seiner
Wirklichkeit, Tat und Wort, eine mündliche Tradition und als
solche eine absolut normative und eine bleibend eschatologische
Tradition ist. Sie als in seiner eigenen Zeit (dies in einem gewissen
Spielraum natürlich genommen) gehört, angenommen, geglaubt
_ bedeutet die Gemeinschaft der Glaubenden, die Jesus Christus
mindestens in ihren eigenen Zeitgenossen unmittelbar erfahren
haben und dieses Wort und Zeugnis Jesu Christi durch das leben-
dige Wort der Augen- und Ohrenzeugen des Herrn unmittelbar
empfangen haben - bedeutet also Kirche. Kirche als apostolische
Kirche der ersten Generation, der Apostel selber, ist nichts anderes
als die wirklich gehörte, aufgenommene Traditio Jesu Christi selbst
an die Menschheit. Und diese Kirche ist selbstverständlich — das
ergibt sich aus all dem, was wir schon gesagt haben — die norma-
tive Größe für alle weiteren Zeiten. Was hier gehört, gefeiert, emp-
fangen, angenommen, geglaubt wurde, ist und bleibt — weil dies
das eschatologische Heilsereignis Jesu Christi selber ist, weil dies
im eigentlichen Sinne Urkirche ist — die Größe, die sich weiter
125
F
126
als ihr eigenes Buch und sie durch die Zeiten trägt, ihr Wesen und
ihren Umfang bezeugt, ihr Wesen und ihren Umfang, der im -
letzten gar nirgends anderswoher gewußt werden kann als eben
aus diesem lebendigen Zeugnis der Kirche. Wenn wir also Tradi-
tion in diesem weiten, vollen, ursprünglichen Sinne verstehen, der
eben anzudeuten versucht wurde, dann ist eigentlich klar: Heilige
Schrift ist einerseits selber ein Ergebnis und eine Weise der Tra-
dition, in der das Heilsereignis Jesu Christi in der Kirche emp-
fangen, weitertradiert wird, und ist auch eine Weise der Tradition
und eine Objektivation der Tradition, die immer an dem Gesamt-
vorgang dieser — wenn Sie so wollen - auch mündlichen, d.h. le-
bendigen Tradition der Kirche hängenbleibt.
Bis zu diesem Punkte kann, meine ich, unter katholischen
Christen und Theologen und nach der Lehre der Kirche kein Zwei-
fel bestehen, und ich glaube, daß heute, wenn vielleicht auch
schwierig, insoweit doch eine Übereinstimmung mit den.evan-
gelischen Christen erzielt werden kann. Aber damit ist nun das
spezielle innerkatholische Problem des Verhältnisses von Schrift
und Tradition noch nicht deutlich gesehen. Es entsteht nämlich
nun die Frage: Ist die mündliche Tradition nicht nur, insofern sie
die Schrift trägt, über die Schrift hinausgehend, sondern enthält
diese sogenannte mündliche Überlieferung über ihr Zeugnis von
der Schrift hinaus noch andere materiale Inhalte, die in der
Schrift als solcher in keiner Weise bezeugt sind? Ich kann diese
etwas knifflige Frage leider nicht viel einfacher sagen. Wenn wir
(um die Frage noch etwas zu verdeutlichen) eine vulgäre Theo-
logie der letzten Jahrhunderte innerhalb der katholischen Kirche
befragen, dann sieht es doch zweifellos so aus, daß Schrift und Tra-
dition zwei gleichsam nebeneinandergeführte Zuflüsse sind, die
material verschiedene Inhalte des Glaubens zu uns bringen, so
daß man gewisse Wahrheiten vielleicht nur zunächst in der Schrift
und andere aber — und da ist der eigentliche Kern des Problems —
nurin der mündlichen Tradition finden und feststellen kann. Ob
diese Vorstellung vom Verhältnis von Schrift und Tradition
stimmt, das ist die Frage. Bevor wir uns diese Frage zu überlegen
undeine Antwort zu erarbeiten suchen, ist noch in dreifacher Hin-
sicht eine Präzisierung zu machen.
127
Zunächst einmal ist das lebendige Glaubenszeugnis der Kirche,
Chri-
. des autoritativen kirchlichen Lehramtes, für den einzelnen
sten als solchen zweifell os eine Lehrnor m, die er nach katholi schem
128
der Schrift hinaus noch eine weitere materiale Insuffizienz der
Schrift im Vergleich zur Tradition angenommen werden muß
oder ob man das, ohne gegen das katholische et zu
verstoßen, leugnen kann.
Wenn wir hinsichtlich der so präzisierten Frage in die Ge-
schichte des christlichen Selbstverständnisses hineinblicken, wer-
den wir, in Bausch und Bogen gesprochen, sagen müssen, daß hin-
sichtlich der so präzisierten Frage eine wirklich klare Überliefe-
rung der Antwort nicht greifbar ist. Mit anderen Worten, eine
klare, durchdachte, allgemein angenommene Antwort auf die so
präzisierte Frage ist in der Überlieferung der kirchlichen Theo-
logie nicht zu greifen, sondern es werden hinsichtlich dieser Frage
— soweit man überhaupt eine Aniwort auf die so gestellte Frage
finden kann — verschiedene Meinungen und Auffassungen ver-
treten bis auf den heutigen Tag. Das kommt zunächst einmal ein-
fach daher, daß diese Frage in früheren Zeiten in dieser Präzisie-
rung, wie ich sie eben zu entwickeln versucht habe, nicht gestellt
wird. Es wird z.B. einfach sehr undifferenziert gefragt: Gibt es in
der Tradition Inhalte, die in der Heiligen Schrift nicht greifbar -
sind? Und wenn nun darauf geantwortet wird, ja, selbstverständ-
lich, dann ist das gar keine Antwort — weder positiver noch nega-
tiver Art - auf die eben von uns gestellte Frage. Denn selbstver-
ständlich, meine ich, muß jeder katholische Christ sagen : Ja, in der
Tradition gibt es solche Inhalte, die unmittelbar in der Heiligen
Schrift nicht greifbar sind, nämlich mindestens die Tatsache der
Schrift, ihrer Inspiration und ihres Umfanges selbst. Aber eine so
allgemein formulierte Antwort antwortet eben gerade nichtauf die
Frage, ob es solche Inhalte über die eben gesagten hinaus noch gibt.
So aber wird die Frage allermeist nicht präzisiert. Dazu kommt ein
zweiter Grund, warum in der durchschnittlichen Geschichte der
Theologie hier eine wirklich klare, deutliche, allgemein ange-
nommene Antwort auf unsere so gestellte Frage nicht erwartet
werden kann. Ein wirklich reflexes, geschichtliches Verständnis
für das, was wirheute Dogmenentwicklungund Dogmengeschichte
nennen, hat es in der katholischen Theologie — wieder in Bausch
und Bogen gesagt — vor dem 19. Jahrhundert nicht gegeben und
aus verständlichen geistesgeschichtlichen Gründen nicht geben
129
} x
150
wirklich deutlichen Consensus unanimis in der einen oder anderen
Richtung reden können. Man wird aber durchaus sagen können,
daß in der alten Kirche und auch in der Theologie des Mittelalters,
z.B. bei Thomas von Aquin, ein durchaus lebendiges Glaubens-
bewußtsein für die überragende Bedeutung der Heiligen Schrift,
für die grundlegende Funktion für alles Glauben der Kirche ge-
geben war. Und man wird deshalb durchaus sagen können, daß es
nicht wahr sei, daß die alte Tradition vor dem Trienter Konzil eine
wirkliche theologisch qualifizierte Bezeugung dafür sei, daß die
sogenannte mündliche Tradition materiale Inhalte überliefere, die
zum Glauben der Kirche, zum apostolischen Depositum gehören
und trotzdem in keiner Weise in der Schrift enthalten seien. Ein
solcher Consensus hinsichtlich einer so verstandenen Bedeutung
der mündlichen Tradition als partikuläre, materiale Glaubens-
quelle neben der Schrift - eine solche eindeutige Tradition gibt es
vor dem Konzil von Trient nicht. Wir werden dann weiter sagen
müssen, daß beim Konzil von Trient eine Entscheidung in der so
präzisierten Frage, auch in der polemischen Absetzung der katho-
lischen Kirche gegenüber dem protestantischen Prinzip der Sola-
scriptura, nicht erfolgt ist. Das Konzil von Trient sagt in dem, was
es verpflichtend sagt, nichts anderes, als daß es Schrift und Tradi-
tion als Normen des kirchlichen Glaubens gibt und sie in dieser Hin-
sicht (nicht in jeder Hinsicht) pari reverentia aufzunehmen und
zu verehren seien. Wie sich aber Schrift und Tradition gegenein-
ander verhalten, welches genauere Verhältnis sie haben hinsicht-
lich ihrer formalen Autorität, hinsichtlich ihrer materialen Ab-
grenzung wiederum hinsichtlich der Bezeugung des Wesens der
Schrift selbst einerseits und der Bezeugung vielleicht gegebener
anderer materialer Glaubensinhalte anderseits, darüber hat das
Trienter Konzil nichts gesagt und nichts sagen wollen und hat
absichtlich -- kann man ruhig sagen - eine Formulierung gewählt,
die diese Frage unerledigt läßt. Wir werden nicht bezweifeln und
bestreiten können, daß in der nachtridentinischen Theologie der
Trend des Denkens in einer antiprotestantischen Frontstellung
dahin ging, zu behaupten, es gebe nicht nur die Wahrheit von der
Inspiration und vom Kanon der Schrift, sondern auch andere
Glaubenswahrheiten, die nicht in der Schrift zu finden sind, so daß
151
ı
also hinsichtlich derer die mündliche Tradition eine material ver-
schiedene Glaubensquelle sei. Man kann aber nichtsagen, daß diese
Frage wirklich auch nur nachtridentinisch in der Präzision gestellt
wurde, die eben zu entwickeln versucht wurde, noch kann man
sagen, daß diese theologische Schultradition und dieser theolo-
gische Trend eine verpflichtende Größe sind, noch kann man sa-
gen, daß in dieser Zeit diese Frage einheitlich zugunsten einer wei-
teren materiellen Insuffizienz der Schrift beantwortet wurde. Erst
in neuester Zeit, besonders in einer Kontroverse zwischen Joseph
Rupert Geiselmann und dem römischen Theologen Lennerz und
dann in einer weiteren Auseinandersetzung unter anderen Theo-
logen, istnun diese Frage, in den letzten zehn oder zwanzig Jahren,
erneut zur Debatte gestellt worden, und es hat sich gezeigt, daß
in dieser Frage die katholische Theologie nicht einig ist. Und des-
wegen wird — so meine ich — zu erwarten sein, daß beim augen-
blicklichen Stand der Frage das Konzil des Zweiten Vaticanums die
Frage auch nicht wird beantworten wollen.
Ich möchte aber nun im letzten Teil unserer Überlegungen ver-
suchen, einiges dafür geltend zu machen, daß wir eine über die
Bezeugung des Wesens der Schrift hinausgehende konstitutive
materiale Funktion der Tradition nicht anzunehmen brauchen,
auch nicht vom katholischen Standpunkt aus; daß wir also, um-
gekehrt gesagt, hinsichtlich des Glaubensgutes der Kirche durch-
aus ein katholisches Sola-scriptura formulieren können, voraus-
gesetzt, daß wir katholisch dabei mitverstehen, daß es eine autori-
tative Bezeugung und Auslegung der Heiligen Schrift durch das
lebendige Wort der Kirche und ihrer Lehrautorität gibt, und daß
diese Bezeugung der Schrift selbst und ihre autoritative Ausle-
gung durch die Schrift selbst nicht ersetzt werden können. Wenn
diese beiden, nicht Einschränkungen, sondern aus der Natur der
Sache herauskommenden Präzisionen beachtet werden, kann man,
so möchte ich meinen, durchaus auch von einem katholischen Sola-
scriptura-Prinzip sprechen, vorausgesetzt natürlich — das muß jetzt
noch einmal dazu gesagt werden -, daß man dieses Prinzip der
Sola-scriptura nicht in einem unhistorischen und versteinernden
Sinn auslegt als ein Verbot einer lebendigen Glaubensentwick-
lung der Kirche. Sind aber diese drei Bedingungen gegeben, gibt
152
es, meine ich, durchaus mit Recht ein katholisches Prinzip der
Sola-scriptura.
Zunächst einmal (das ist natürlich ein äußerer und theologisch
nicht gerade durchschlagender Grund) haben wir gegenüber der
Glaubenserfahrung und der Theologie unserer evangelischen Mit-
christen die Pflicht, das evangelische Prinzip der Sola-scriptura so
ernst wie möglich zu nehmen, weil dahinter doch eine echte reli-
giöse Erfahrung und, meine ich, auch eine echte theologische Tra-
dition steht, die in die katholische Vergangenheit zurückreicht, so
ernst zu nehmen, daß wir, solange wir nicht durch wahrhaft ka-
tholische Glaubenswahrheiten gezwungen sind, nein zu sagen,
darum kämpfen müßten, dieses evangelische Prinzip der Sola-
scriptura in einem katholischen Verständnis verstehen und auf-
nehmen zu können. Das ist kein innerer theologischer Sachgrund,
aber doch für unsere eigene christliche Situation von heute eine
außerordentlich ernst zu nehmende Überlegung. Wir haben kein
Recht und keine Pflicht, dort zwischen uns und unseren evange-
lischen Brüdern Gräben zu sehen, wo wir sie nicht mit absoluter
Notwendigkeit sehen müssen. Und ich meine, in dieser Hinsicht
sei eine Sola-scriptura unter den gemachten Präzisionen (nicht
eigentlich Einschränkungen) eben kein Prinzip, gegen das wir
notwendigerweise protestieren müßten.
Es gibt nun aber wirklich auch innertheologische Sachgründe,
die für eine richtig verstandene Suffizienz der Heiligen Schrift
sprechen. Zunächst, um noch einmal auf etwas zurückzukommen,
wovon andeutungsweise schon vorhin gesprochen wurde, wird die
theologische Situation, d.h. die theologische Möglichkeit des ka-
tholischen Theologen, den Glauben der heutigen Kirche als apo-
stolisches Glaubensgut zu erweisen, in Wahrheit nicht erleichtert,
wenn er ein materiales Plus in der mündlichen Tradition über die
Schrift hinaus annimmt. Warum? Es ist zweifellos hinter der Ver-
teidigung eines solchen materialen Plus der Tradition über die
Schrift hinaus bei vielen katholischen Theologen auch bis in die
unmittelbare Gegenwart das Empfinden vorhanden, wir könnten
ohne dieses so verstandene Prinzip eines Plus der Tradition die
katholischen, jetzt schon definierten Glaubenswahrheiten als In-
halte apostolischer Überlieferung nicht aufweisen. Man hat unter
153
enswahr-
diesen Theologen den Eindruck, diese und diese Glaub
und
heiten - es ist gleich, was wir jetzt nennen, ob die Möglichkeit
die leiblic he Aufna hme der
Notwendigkeit der Kindertaufe oder
seligsten Jungfrau in den Himmel oder die Sieben zahl der Sakra-
mente oder die Sakramentalität der Ehe oder auch gewisse moral-
theologische Prinzipien, wie daß man trotz der Worte des Herrn
—, man
unter Umständen ernsthaft einen Eid schwören dürfe usw.
hat, sage ich, den Eindruck, daß man solche Wahrhe iten, die für
den katholischen Christen auf Grund des kirchlichen Lehramtes
unbezweifelbar sind, nicht auf die apostolische Überlieferung zu-
rückführen könne, wenn man gezwungen wäre, diese Wahrheiten
auf die Schrift zurückzuführen. Und das ist eigentlich der leben-
dige Grund, warum viele katholische Theologen auch ein katho-
lisch verstandenes Prinzip der Sola-scriptura bestreiten.
Wie ist aber die Sache in Wirklichkeit? Ich meine, daß eine
solche Aufwertung (wenn man so sagen kann) der mündlichen
Tradition gegenüber der Schrift in dieser eben angedeuteten Hin-
sicht in Wirklichkeit nichts nützt. Es ist zwar für jeden katholi-
schen Theologen selbstverständlich, daß, wenn das aktuelle heu-
tige Glaubensbewußtsein der Kirche eine Wahrheit als wirklich
mit göttlichem Glauben geglaubt und als apostolische Überliefe-
rung bezeugt, festhält und erklärt in einem unfehlbaren Spruch
eines Papstes oder eines Konzils, diese Überzeugung kraft der In-
defektibilität des Glaubens der Kirche auch wahr sein muß, also
wirklich apostolische Überlieferung bedeutet, auch dann, wenn
der einzelne Theologe oder Gläubige diese Tatsache noch nicht
historisch nachgewiesen und ausdrücklich gemacht hat. Aber auch
bei einer solchen dogmatischen Bewertung des augenblicklichen
Standes der kirchlichen Lehrverkündigung und so der mündlichen
Tradition bleibt selbstverständlich dem katholischen Theologen
das Recht und darüber hinaus die Pflicht, historisch zu zeigen, wie
das heute geglaubte Dogma der Kirche von der apostolischen Zeit
in einer echten, geschichtlichen Überlieferung und Entwicklung
auf uns gekommen ist. Und dieser für den katholischen Theologen
auch pflichtmäßige historische Nachweis der Herkunft eines Glau-
bensinhalts der heutigen Kirche aus der apostolischen Zeit ge-
schieht faktisch nicht leichter, wenn wir diese Ableitung aus einer
154
_ mündlichen apostolischen Überlieferung, als wenn wir sie aus der
Heiligen Schrift versuchen, und zwar aus einem ganz einfachen
Grund. Man wird durchaus sagen können: wir haben gar keine
theologischen materialen Quellen aus (sagen wir einmal) den er-
sten drei Jahrhunderten, die material und gleichzeitig theologisch
verpflichtend über die Inhalte hinausgehen, die uns auch in der
Heiligen Schrift bezeugt sind. Das heißt aber: Dort, wo wir jetzt
etwas explizit bekennen, was wir explizit in der Schrift nicht aus-
gesagt finden, können wir eben diese heutige explizite Wahrheit
auch in der übrigen Tradition der ersten zwei, drei Jahrhunderte
nicht als explizit nachweisen. Mit anderen Worten: Wir müssen
in jedem Falle auf einen Explikationsvorgang zurückgreifen, des-
sen genauere Natur, Möglichkeiten, Grenzen und Tragweite ich
jetzt natürlich hier nicht entwickeln kann. Die Berufung auf eine
mündliche Tradition erleichtert also dem katholischen Theologen
seine Arbeit vor seinem historischen und historisch-theologischen
Gewissen nicht. Damit ist im Grunde genommen gegeben, daß die
Triebkraft dieser von mir eben bekämpften Theorie gar nicht wirk-
lich eine objektiv zu Recht bestehende ist.
Weiterhin: Wenn wir die Tatsache der Inspiration der Schrift
damit in einen engeren Zusammenhang bringen (was ich im
Augenblick jetzt auch nicht tun kann), daß die Heilige Schrift die
normative Objektivation des normativen Glaubens der aposto-
lischen Kirche ist, dann ergibt sich eigentlich daraus, daß diese
Schrift auch suffizient sein muß, wenn das überhaupt einen Sinn
haben soll, überall dort, wo sich eine gegenteilige Insuffizienz nicht
aus der Natur der Sache heraus ergibt. Anders und simpel ausge-
drückt: Wenn Gott nun einmal wirklich das Wunder einer
Schriftinspiration und einer göttlichen Schrift gewirkt hat, dann
kann er mit Ausnahme der Bezeugung dieses Wunders nicht noch
einmal bestimmte Wahrheiten der Kirche nicht in der Schrift
bezeugt sein lassen, wenn doch diese Schrift gerade dazu inspiriert
wurde, um die Wahrheit der apostolischen Kirche für die späteren
Generationen zu bezeugen. Die Schrift kann sich zwar - um esnoch
einmal anders auszudrücken - nicht eigentlich allein für sich selbst
bezeugen, sie muß aber, wenn sie überhaupt da ist und die inspi-
rierte göttliche Schrift sein soll, alles andere am Glauben der
135
Tier} .
156
durch das eine, lebendige Glaubensbewußtsein des Einzelnen und
der Gesamtkirche in seiner geschichtlichen Entfaltung durch die
Zeiten erfaßt wird. Wenn man wirklich ein lebendiges Verständ-
nis von der Einheit der Glaubenswirklichkeit und des Glaubens-
gegenstandes hat, dann wirkt es eigentlich doch absurd, zu sagen,
dieser ganze Glaube der Kirche ist im großen und ganzen durch
die Schrift bezeugt, was ja niemand leugnen kann, aber dieser und
dieser Satz im einzelnen ist gewissermaßen so disparat gegenüber
dem Ganzen, das in der Schrift bezeugt ist, daß man ihn schlechter-
dings von einer ganz anderen Quelle herleiten muß.
Nein, das eine, vom Geiste Gottes getragene Glaubensbewußt-
sein der Kirche erfaßt die innere Einheit der Glaubenswirklichkeit
und gliedert diesen einen Glauben von einer inneren Mitte her
auseinander, entfaltet ihn. Dieser Entfaltungsprozeß ist eine ge-
schichtliche Größe, dieser Entfaltungsprozeß geht aber immer
wieder zurück zu seinem Ursprung, eben dem Glauben der apo-
stolischen Kirche, der sich selbst in der von Gott inspirierten
Schrift niedergeschlagen hat. Diese Objektivation kann nur zu uns
kommen in der Tradition der Kirche, in der sie ihre eigene Wirk-
lichkeit, den Leib des Herrn, und deswegen auch seine Wahrheit
weitertradiert. Dieser Rückgriff auf die Schrift ist nur möglich im
Selbstvollzug der Kirche, in der sich diese Schrift bezeugt, aber
damit ist auch umgekehrt gesagt, daß diese Selbstbezeugung der
Schrift in der Schrift und mit der Schrift eben nun wirklich —
abgesehen vom Vorgang der Selbstbezeugung selber — in der
Schrift selbst sich objektiviert hat und in diesem Sinne wirklich
eine Sola-scriptura im katholischen Sinne durchaus möglich ist.
Mit einem Wort: die Einheit des Glaubensgegenstandes, die
innere Zusammengehörigkeit der pluralen, von Gott geoffenbar-
ten Wahrheiten macht es mindestens unwahrscheinlich, letztlich
religiös unvollziehbar, einfach zwei voneinander material ver-
schiedene Glaubensquellen, Glaubensüberlieferungen anzuneh-
men, die eine «Schrift» und die andere «Tradition» genannt.
Diese beiden Größen gehören von ihrem Ursprung, der gnaden-
haften Auslieferung des göttlichen Lebens an den Menschen, von
der Weise her, wie sich die Wort-Tradition niedergeschlagen hat
in der Heiligen Schrift, von der notwendigen Bezeugung der
197
t
Schrift durch die lebendige Kirche her, viel enger zusammen, als
es diese etwas bequeme und primitive Theorie von zwei material
voneinander verschiedenen Glaubensüberlieferungen wahrhaben
will.
Ich möchte damit schließen. Darfich sagen: Bitten Sie den Hei-
ligen Geist Gottes, er möge der Kirche helfen, daß sie in echter
Selbstbescheidung im II. Vatikanischen Konzil diese Frage ruhig
offenlasse. Mehr braucht es ja nicht, dann sind wir Theologen, die
das wünschen, durchaus zufrieden. Wir können gerade von un-
serem Standpunkt aus gar nicht erwarten oder erwarten wollen,
‚daß die Kirche über diesen gegenwärtigen Stand der Klärung ihres
Glaubensbewußtseins hinausgehe und nun für uns Partei nehme.
Es genügt vollkommen, wenn die Kirche wiederum sagt, was sie
im Trienter Konzil gesagt hat: Schrift und Tradition sind katho-
lische Elemente der einen Glaubensüberlieferung. Dann können
wir Theologen und das künftige christliche Glaubensbewußtsein
in den nächsten Jahrzehnten oder Jahrhunderten überlegen, wie
aus dem letzten Glaubensverständnis heraus das genauere Ver-
hältnis dieser beiden Größen zu bestimmen sei. Hoffen wir, daß
es so geht.
ÜBER DIE THEORETISCHE AUSBILDUNG
KÜNFTIGER PRIESTER HEUTE
Es ist kein Zweifel, daß über die richtige, der geistigen Situation
entsprechende theologische Ausbildung der künftigen Priester
bei uns in Mitteleuropa (und auch in der Welt überhaupt) ernste
ungelöste Fragen und Schwierigkeiten bestehen — oder bestehen
sollten. Das konziliare Schema «De Institutione sacerdotali » ist
so kurz (ca. 130 Zeilen im ganzen) und muß daher so sehr im all-,
gemeinen bleiben, daß man sich nicht der holden Täuschung hin-
geben darf, die hier gemeinten Fragen seien dadurch gelöst, zu-
mal über die eigentlichen theologischen Studien nur in 57 Zeilen
gesprochen wird.
Wenn der Verfasser hier einige Überlegungen zu diesem Thema
vorzutragen versucht, so nimmt er erneut ein Thema auf, über
das er sich schon vor vielen Jahren ohne Erfolg geäußert hat!.
Seine Hoffnung, diesmal mehr Interesse oder gar Zustimmung zu
finden, ist daher mehr als bescheiden. Dazu kommt, daß er sich
sehr deutlich bewußt ist, nur einen kleinen Teil der ganzen viel-
schichtigen Materie zu behandeln, also schon darum nicht meinen
darf, ein konkretes Programm vorlegen zu können. Er hofft aber,
einen zentralen Punkt des ganzen Problems zu berühren.
heute:
1 Vgl.K.Rahner, Der Theologe. Zur Frage der Ausbildung der Theologen
18
Sendung und Gnade (Innsbruck ?1961) 334-358 (ursprünglich: Orientierung
505 bis
(1954) 149-152, 165-168; auch italienisch in: Missione e grazia (Rom 1964)
: Tü-
540). Vgl. auch Georg May, Die Ausbildung des Weltklerus in Deutschland
Theologisch e Quartalschri ft 144 (1964) 170-215; J.Allendorff, Zur wissen-
binger
ThprQS 111
schaftlichen und aszetischen Ausbildung unserer Theologiestudenten:
theologischen Stu-
(1963) 305-309: F. Klostermann, Überlegungen zur Reform der
Literatur). Vgl.
dien: Theol.-prakt. Quartalschrift 112 (1964) 273-313 (hier weitere
Wahrheit 20 (1965)
auch Kardinal Franz König, Theologische Fakultät: Wort und
Diskussion dieser
329-341. — Inzwischen hat die öffentliche und nichtöffentliche
h, daß sich
hier vorgetragenen Gedanken begonnen. Dabei ist es nicht verwunderlic
Gedanken aus dem Zusammenh ang dieser Überlegunge n herauslösen und
einzelne
die Idee des « Grund-
ein Eigendasein zu führen beginnen. Das gilt vor allem für
machen. Ein
kurses». Ich kann nur wieder auf meine Ausführungen aufmerksam
vorgetragenen Fragen
Eingehen auf die brieflich, mündlich und auch öffentlich
Es bleibt ohnedies die Haupt-
und Bedenken wäre im Augenblick noch zu verfrüht.
die unumgängliche Geduld
gefahr der gegenwärtigen Reformbestrebungen, daß sie
Reifens außer acht lassen könnten. Vielleicht läßt die nachkonziliare Arbeit
des
und Zeit zum gemeinsame n Gespräch und zur Auseinandersetzung.
mehr Raum
Skizze letztlich nur durch den
Anschaulich gemacht werden kann die vorliegende
bei der Aufnahme des
konkreten Entwurf eines «Grundkurses». (Anmerkung
Aufsatzes in diesem Band.)
159
N;
VORAUSSETZUNGEN
140
nur nicht mitreden, sondern sich auch über diese Dinge kein sach-
gemäßes und gleichzeitig persönliches Urteil erlauben.
Das mag in vielen Zweigen der Wissenschaft unerheblich sein,
weil man da kein eigenes Urteil haben muß. Wie aber, wenn eine
persönliche Entscheidung im Leben nicht vermieden werden kann
und doch eine reflex-wissenschaftliche Begründung dieser Ent-
scheidung auch für den «Gebildeten», der zwangsläufig immer
ungebildeter wird, immer weniger möglich wird? Etwa in der Po-
litik, der Wirtschaft, dem religiösen Bekenntnis? Die gemeinte.
Situation gilt auch auf dem Gebiet der «Weltanschauung ». Geben
wir uns doch keinen frommen Illusionen hin: Man kann vierzig
Jahre Theologie betreiben und man kann hinsichtlich zentraler
Fragen (so wie sie in dem heutigen Betrieb und der heutigen Me-
thode betrieben werden), die — reflex fundamental-theologisch |
gesehen — grundlegend sind, nicht mehr mitreden. Wenn ich z.B.
Dogmatiker bin und auf diesem Gebiet meine Arbeitleiste, wie soll
ich dann mir einbilden können, ich könne mir « wissenschaftlich »
nach den Prinzipien und Methoden der heutigen Exegese ein
selbständiges, kompetentes, von mir selbst kritisch nachgeprüftes
Urteil über Sinn und Tragweite der « Primatstelle» bei Mt 16,18
erwerben? Das kann vielleicht heute noch ein Exeget, aber kein
Dogmatiker mehr; und der Exeget auch nur nach einem Stu-
dium, das dienormale Ausbildungszeit des normalen Priesters weit
übersteigt. Und doch ist die genannte Frage in der Perspektive
der auch heute noch betriebenen Fundamentaltheologie grund-
legend. Das heißt aber doch: in dem heutigen theologischen Wis-
senschaftsbetrieb und dessen Methoden kann der junge Theologe
unmöglich mehr eine vor seinem Wahrheitswissen verantwort-
bare, reflexe, in wissenschaftlicher Methode gewonnene Funda-
mentaltheologie erbauen, wenn man unter Fundamentaltheologie
das versteht und betreibt, was man nach Ausweis ihrer Lehrbücher
darunter verstehen muß.
Der junge Theologe müßte Religionsgeschichtler, Religions-
philosoph, Exeget und noch vieles andere sein mit der uferlosen
Auffächerung, die diese Disziplinen selbst, jede für sich, nochmals
gewonnen haben. Er kann es nicht sein und nicht werden. Werden
ihm, im Grunde popularisiert, die « Ergebnisse » dieser Wissen-
141
schaften vorgesetzt (so wie man einem Nichtphysiker die Ergeb-
nisse der Kernphysik erzählt), dann ist ihm durchaus nicht gehol-
fen. Denn die Situation ist in seinem Fall ganz anders als beim
«Laien », der sich etwas vom Fachmann über Kernphysik erzählen
läßt und es gläubig hinnimmt: er soll diese fundamentaltheolo-
gische Grundlegung seines Glaubens nicht «gläubig» entgegen-
nehmen, vertrauend auf die Autorität des Fachmannes, sondern
sie verstehen und einsehen, sie eben doch sich fachmännisch zu
eigen machen. Und er steht (anders als in den Naturwissenschaf-
ten) «Ergebnissen » gegenüber, die in diesen theologischen und
geisteswissenschaftlichen Disziplinen (sowohl wenn wir die katho-
lische Theologie in sich als auch wenn wir sie im Konzert der vielen
Theologien und Philosophien von heute betrachten) umstritten
sind und umstritten bleiben; er bleibt hilflos vor ihren Problemen
stehen, ohne daß er sich sagen kann, er könne und dürfe selbstän-
dig urteilend sich eine Position erwerben, die er auch dann verant-
wortlich vertreten kann, wenn andere sie nicht teilen. Die übliche
Fundamentaltheologie mit ihren Teildisziplinen philosophischer
"und geschichtlicher Art hat sich zwar in sich nicht (als berechtigte
und notwendige Wissenschaft und Methode) aufgehoben ; sie wird
und muß weiterbestehen. Aber sie hat sich ad absurdum geführt,
wenn und wo sie die wissenschaftlich-reflexe Begründung des
Glaubens für den einzelnen jungen Theologen sein will, was sie
im Betrieb der theologischen Ausbildung bisher doch offenbar sein
wollte. Man mußte natürlich auch schon früher grundsätzlich
sagen, daß eine solche wissenschaftliche Glaubensbegründung die
existentielle, vorwissenschaftliche Gegründetheit des Glaubens
vor dem sittlichen Wahrheitsgewissen des Einzelnen nie adäquat
aufarbeiten und einholen wollte und konnte, daß der Grund des
je persönlichen Glaubens des Einzelnen immer mehr enthielt, als
was von ihm in wissenschaftlicher Reflexion objektiviert werden
konnte. Aber das, was als reflexe Frage über die Begründung des
Glaubens bisher traditionell Fundamentaltheologie heißt, kann
jene reflexe und doch in praktisch verfügbarer Zeit eines einzelnen
Menschen durchführbare thematische Glaubensbegründung heute
nicht mehr leisten. Wenn und wo sie es da und dort doch faktisch
tut (was nicht bestritten werden soll), dann geschieht es, weil der
142
. Professor unwillkürlich die bisherige Thematik und Methode ver-
ändert und, vielleicht ohne es selbst recht zu wissen, einen Weg
einschlägt, von dem hier erst später gesprochen werden kann.
Daher kommt es, daß die heutigen Lehrbücher der Fundamen-
taltheologie, obwohl sie an sich besser und nicht schlechter als frü-
her sind, auf den heutigen jungen Theologen einen desperaten
Eindruck machen. Wie soll er sich daraus so z. B. eine wissenschaft-
lich reflexe Überzeugung über den «historischen Jesus » als Stifter
der Kirche, des Abendmahles, als Auferstandenen und so weiter
machen, daß er diese Art der Begründungen selbständig und kri-
tisch durchschaut, ohne (was er ja nicht kann) Kenner der jüdi-
schen Theologie der Zeit Jesu, Qumran-Fachmann, Formge-
schichtler, Religionsgeschichtler der Antike und noch vieles andere
zu sein? Muß er nicht den Eindruck haben, ein jämmerlicher Di-
lettant zu bleiben, wenn er die Glaubensbegründung in der übli-
chen Weise einer langsamen Synthese für sich leisten soll, die
Stück für Stück durch die kompliziertesten philosophischen und
historischen Untersuchungen hindurch führen müßte, die er
nicht leisten kann und nicht zu leisten weiß, wenn er sich ehrlich
wenigstens mit der heutigen Problematik all dieser Fragen ver-
traut macht? Wird er - vielleicht sehr unreflex, aber sehr wirksam
— nicht im Grunde, um durchzukommen, eine protestantische
Haltung einnehmen und sie unausdrücklich auch bei seinem Leh-
rer am Werk sehen: statt einer «rationalen Glaubensbegrün-
dung» den «existentiellen» absoluten Sprung in den Glauben
hinein? |
Es wird später zu sagen sein, warum die angedeutete Situation
nicht nur die Fundamentaltheologie affiziert, sondern auch die
Dogmatik (und damit auch diejenige Exegese, die nicht nur philo-
sophisch, historisch und religionsgeschichtlich sein will, sondern
einen positiven und wirksamen Beitrag zum Aufbau einer Glau-
bensbegründung leisten, dogmatisch fruchtbare Exegese sein will,
die in das Verständnis der heutigen Glaubenslehre der Kirche
mündet). Dies aber vorausgesetzt, muß gesagt werden: der heu-
tige, notwendige und unvermeidliche Pluralismus und die riesige
Auffächerung und Problemvertiefung der Wissenschaften im all-
gemeinen und auch der theologischen im besonderen bringen es
143
mit sich, daß die theologischen Fächer in ihrem Kern (Fundamen-
taltheologie, Dogmatik, dogmatisch interessierte Exegese) unge-
eignet werden, selber und unmittelbar die Theologie zu sein, die
dem jungen Theologen eine erste Glaubensbegründung und einen
ersten systematischen Aufbau des Glaubenswissens vermitteln soll.
Wie war es noch vor 50 Jahren, wenn ein junger Mensch seine
Theologie begann? Im Durchschnitt (Ausnahmen und einzelne
Krisenfälle, die durch das Theologiestudium hervorgerufen wur-
den, zugegeben) kam der junge Theologe mit einer festen, im
ganzen problemlosen Glaubenssubstanz zu seinem Studium.
Elternhaus und ein sonstiges, im ganzen homogen gebliebenes
(meist bäuerliches und kleinbürgerliches und darum stabiles)
Lebensmilieu hatten schon vor dem theologischen Studium die
junge Persönlichkeit im ganzen fest geprägt. Die theologische
Wissenschaft, die man dann hörte und studierte, konnte festigen
und vertiefen, sie brauchte die persönliche Glaubenssubstanz
aber nicht eigentlich aufzubauen; diese war schon da; die theolo-
gische Reflexion änderte nicht viel an ihr; die persönliche Fröm-
migkeit wurde darum auch wenig vom theologischen Studium
mitgeprägt. Die Wissenschaft war nur zu oft einfach eine Hürde
von Lernstoff, die man nehmen mußte, um zu den Weihen zu-
gelassen zu werden, ein Überbau, nicht ein Fundament, eine
Ausbildung für den späteren Beruf, nicht (oder nur sehr entfernt)
eine Gestaltung der eigenen religiösen Persönlichkeit, für die eher
die aszetische Ausbildung des Seminars in Frage kam. Wo es sich
um gute Begabungen handelte, konnte daher auch die Theologie
mit jener dialektischen Unbekümmertheit und Spitzfindigkeit be-
trieben werden, wie sie sehr oft in der Neuscholastik anzutreffen
war: für eine ganz fundamentale Existenzbewältigung in ihrer
Not und Bedrohtheit brauchte man die Wissenschaft nicht, weil
man diese Not und Bedrohtheit nicht wirklich empfand, und so
konnte man die Theologie spekulativ oder historisch (je nach
Neigung und Begabung) mit einer rührenden Unbeschwertheit
in einer theologischen art pour l’art betreiben, wie man sie nicht
144
selten heute noch unter den Theologen romanischer Länder
antreffen kann, die lange Abhandlungen darüber schreiben, ob
Maria schon im Mutterschoß vom Geheimnis der heiligen Drei-
faltiokeit wußte.
Heute ist es — wieder im Durchschnitt gemeint — anders ge-
worden. Der junge Theologe (vor allem der begabte, aber nicht
nur er) leidet unter einer wirklichen Glaubensnot. Er ist in einem
absolut pluralistischen Milieu aufgewachsen. Er hat keine Glau-
bensüberzeugung von einer solchen beruhigten Selbstverständ-
lichkeit mehr, die eher durch Tradition und Milieu als durch die
Glaubensgnade bedingt gewesen war. Er hat einen bedrohten, an-
gefochtenen Glauben, bedroht und angefochten in allen Dimen-
sionen seines Daseins. Das steht nicht in Widerspruch zu seinem
Interesse an der Welt des Glaubens noch zu seinem geistlichen
Beruf; beides kann ja gerade von dieser Glaubensnot einen An-
stoß erhalten. Aber, wenn man nüchtern und ehrlich die Lage
sieht, wie sie ist, wird man sagen müssen: der junge Theologe
sucht heute notwendig eine fundamentale Begründung und Fe-
stigung seines Glaubens; er verlangt von seiner Theologie not-
wendig und mit Recht etwas anderes als der Theologe früherer
Generationen; er sucht nicht einen intellektuellen Überbau über
den schon selbstverständlich besessenen Glauben seiner Jugend
und seiner christlichen, traditionsfesten Umgebung, sondern den
reflex verantwortbaren Unterbau einer bedrohten Glaubensüber-
zeugung inmitten einer glaubensindifferenten oder ungläubigen
Umgebung, die das unvermeidliche Milieu seiner gläubigen Exi-
stenz und deren dauernde Infragestellung ist. Er bringt diese
Grundlage im Durchschnitt von der Mittelschule nicht mit. Der
Religionsunterricht der höheren Schulen ist zeitlich zu gering,
leidet unter dem Milieu der ihn vielfach bloß absitzenden, religiös
uninteressierten Schüler; die Aufmerksamkeit auf ihn ist durch
die enzyklopädische Vielfalt der anderen Schulfächer bedrängt.
Regenten der Priesterseminare wissen ein Lied davon zu sin-
gen, mit welchen primitiven theologischen Kenntnissen heute
junge Leute oft in das Seminar eintreten.
Von da aus verschärft sich die Fraglichkeit der traditionellen
Fundamentaltheologie für den jungen Theologen. Denn diese
145
d
r
146
+
148
Das bedeutet kein Plädoyer für eine nur praktische, «unwis-
senschaftliche» Ausbildung des künftigen Geistlichen zu einem
subalternen, routinierten kirchlichen Funktionär. Aber wenn es
richtig ist, was oben gesagt wurde, dann bedeutet das, daß dem
jungen Theologen in der heutigen wissenschaftlichen Situation
und bei der persönlichen Lage seines Glaubens zum großen Teil
nicht diejenige Wissenschaft geboten wird, die er für seine spätere
Seelsorge bräuchte. Schon darum nicht, weil diese wesentlich be-
dingtist durch seine eigene persönliche Gläubigkeit, diese aber von
der heutigen theologischen Wissenschaft nicht jene Hilfe erhält,
deren sie bedarf. Es ist mir klar, daß solche Sätze die Gefahr mit
sich bringen, daß sie den harten Willen der jungen Theologen
lähmen, sich unverdrossen in die Wissenschaft « hineinzuknien »
und fleißig zu studieren, auch wenn sie noch nicht übersehen kön-
nen, wie man das einmal « verwenden » und «an den Mann brin-
gen » könne, was sie jetzt lernen müssen. Aber diese Sätze müssen
doch gesagt werden. Es ist wahr und es bedarf der Abhilfe, daß die
jungen Theologen nicht genügend für ihre spätere seelsorgliche
Tätigkeit ihren eigenen Möglichkeiten entsprechend ausgebildet
werden. Die Theologie wird immer « wissenschaftlicher », sie ent-
wickelt sich nach den immanenten Gesetzen der Wissenschaft «an
sich », sie spaltet sich in immer neue Fächer, betreibt viele Dinge,
die man früher der Übung und Erfahrung überließ, als eigene
Wissenschaften, vermehrt ihren Stoff ins Unübersehbare, kurz,
sie ist so strukturiert, als ob sie künftige Theologieprofessoren aus-
bilden wolle. Das wird nicht dadurch anders, daß ähnliche Pro-
bleme auch in anderen Fakultäten auftreten und die Spannung
zwischen der Universität als Subjekt der Forschung und als Träger
der Berufsausbildung an sich ein wichtiges und gesundes Wesens-
moment an einer deutschen Universität ist, die ja auch von denan-
deren theologischen Bildungsstätten teils löblich nachgeahmt, teils
schlecht kopiert wird, ohne daß sie es zu einem eigenen Bildungsziel
bringen.
Man hat schon oft unter verschiedenen Etiketten das hier Ge-
meinte angezielt, ohne sein eigentliches Wesen richtig deutlich
149
machen zu können. Man hat für die Ausbildung des künftigen
Seelsorgers eine kerygmatische Theologie gefordert, die man
theoretisch einfach neben die scholastische setzen und praktisch
die Ausbildung oder Grundausbildung des künftigen Priesters sein
lassen wollte. Aber diese Theorie war mit zu viel problematischen
erkenntnistheoretischen Theorien verknüpft worden, schien der
strengen und nüchternen Wissenschaftlichkeit auch einer Grund-
ausbildung nicht genügend Rechnung zu tragen und schien die
kerygmatische Herkunft und Zielrichtung aller wirklichen Theo-
logie zu sehr zu verkennen, als daß dieses Programm viel Anklang
hätte finden können.
Man hat oft, von solchen Theorien absehend, nach einem Grund-
kurs der Theologie verlangt, der zuerst für alle Theologen oder für
die künftigen Seelsorger (ohne die später in der Wissenschaft Tä-
tigen) bestimmt, deutlich auf die spätere Seelsorge ausgerichtet,
den intellektuellen Möglichkeiten der Hörer angepaßt sein sollte
und die eigentliche Einführung in die wirklich wissenschaft-
liche Forschung und Arbeit anderen und « höheren » Kursen über-
lassen sollte, die nicht für alle jungen Theologen bestimmt sind.
Aber auch solche Bestrebungen sind immer schon am ersten An-
fang gescheitert: Diese vorgeschlagene Struktur fügt sich nicht
in den Betrieb der Vorlesungen ein, wie sie nun einmal von alters
her an den Universitäten üblich sind. Man fürchtete eine Degra-
dierung des Großteils der Theologen, die bei diesem Vorschlag als
Herde der Minderbegabten abgestempelt zu werden schienen.
Man besorgte eine Senkung des geistigen Niveaus in der Ausbil-
dung der Theologen. Man hatte den Eindruck, ein solcher Grund-
kurs könne doch nur eine primitive, verdünnte Ausgabe dessen
sein, was an Theologie bisher dem Theologen geboten und zuge-
mutet wurde, was natürlich wenig Begeisterung für einen solchen .
Plan wecken konnte. Man wollte kein theologisches « Polytechni-
kum », keine theologische Mittelschule anstatt einer akademischen
Ausbildung (und man gestand sich daher auch nicht ein, daß man
faktisch auch auf akademischem Boden meist, besonders deutlich
sichtbar in den Examina, nicht mehr fertigbrachte als ein solches
theologisches Polytechnikum). Die Grundschwierigkeit, die man,
‚undeutlich freilich, gegen solche Vorschläge empfand, lag darin,
150
7
daß man sich unter einem solchen Grundkurs nur etwas von Gang,
Inhalt und Methode des bisherigen Betriebs Abgeleitetes vorstel-
len konnte und daher nur als Ausgabe des Bisherigen «ad usum
delphini» zu denken vermochte.
Dieser theologische « Grundkurs1» aber läßt sich aus den vor-
hin bedachten Voraussetzungen in seinem Wesen erkennen, ohne
daß er als popularisierende und verharmlosende Ausgabe der übli-
chen Fundamentaltheologie (und Dogmatik) verstanden werden
müßte, und zwar so, daß er eine Antwort bedeutet auf die Fragen,
die wir gestellt haben.
Es muß eine Einführung in das Wesen des Christentums und
seine Wahrheit geben können, die nicht identisch ist mit der Fun-
damentaltheologie, so wie sich diese faktisch heute versteht (und
an sich auch ihre Berechtigung von der Sache her hat).
Das will sagen: Es gibt eine Glaubensbegründung (natürlich
mit all den genaueren Ausdeutungen und Reserven, mit denen
eine solche «rationale» Glaubensbegründung im katholischen
Glaubensverständnis gemeint ist, worauf hier nicht eingegangen
werden muß?, weil es auch heute wirklichen Glaubensvollzug
gibt und ein solcher nicht ohne eine solche Gerechtfertigtheit vor
dem sittlichen Wahrheitsgewissen bestehen kann, eine solche
Glaubensbegründung also ursprünglich nicht das bloß nachträg-
liche Ergebnis einer methodisch reflexen, wissenschaftlichen Über-
legung sein kann, auch wenn sie natürlich immer auch schon solche
1 Man sei sich der Mißverständlichkeit dieses zunächst nicht zu entbehrenden
Begriffes bewußt. Es handelt sich nicht um die Propädeutik für eine andere Disziplin,
von der her die Propädeutik ihren Sinn, ihre Methode und Richtmaß (wenn auch in
etwas vereinfachter, popularisierender Weise) entleihen dürfte, sondern um eine
absolut eigenständige Disziplin, die im Folgenden noch genauer wissenschaftstheore-
tisch gerechtfertigt werden soll, die allerdings — unbeschadet ihrer Wissenschaftlich-
keit — als theologischer Grundkurs für den jungen Theologen dienen kann, und zwar
aus ihrem eigensten Wesen heraus und nicht bloß in propädeutischer Adaptation
dieser Wissenschaft für «Anfänger». Es handelt sich also bei dieser Grunddisziplin
nicht um das, was man bisher als «Einführung in die katholische Theologie», als
«theologische Propädeutik» oder als «theologische Enzyklopädie» betrieben hat.
so von
Natürlich könnte man diese alte Disziplin, die kaum mehr gelehrt wird,
sach-
Grund aus umgestalten (Tendenzen in dieser Richtung sind vorhanden), daß
lich ungefähr die Grunddisziplin entstünde, die uns hier vorschwebt.
diese
2 Dieser Vorbehalt darf nicht übersehen werden. Es ist hier nicht der Ort,
dar-
«rationale Glaubensbegründung» in ihrem Wesen und ihren Grenzen genauer
seit dem
zustellen und gegen eine rationalistische Interpretation zu schützen, wie sie
19.Jahrhundert in der katholischen Fundamentaltheologie nur zu oft anzutreffen
war (und ist).
151
I
152
Frage aber: "warum (und was) glaube ich als Mensch von heute
und als Christ, ist eine solche Frage. Und sie und ihre Beantwor-
tung fallen nur bei sehr ungenauer Betrachtung mit der 'T'hema-
tik der traditionellen Fundamentaltheologie zusammen; denn,
wie gesagt, diese Frage will nicht zum erstenmal (auch nicht me-
thodisch gesehen!) einen Grund liefern (denn ich glaube schon
begründet), sondern ihn, den realen und existentiell schon gege-
benen, zu «wissenschaftlicher» Reflektiertheit erheben; diese
Frage will darum nur nach dem fragen, was hier und heute (wenn
oft auch sehr unausdrücklich) als Grund des Glaubens heute gege-
ben ist; diese Frage muß darum auch nach vielem fragen, was in
der alten Fundamentaltheologie nicht gefragt oder sogar als Frage
direkt verdeckt wurde (z.B. schon gerade die Frage, warum ich
mit Recht glauben kann, bevor ich viele philosophische und histo-
rische Probleme der traditionellen Fundamentaltheologie direkt
bewältigt und ausgearbeitet habe; die vielen Fragen, die mit der
heutigen «Weltanschauung » aufgegeben sind, obwohl sie in der
traditionellen Fundamentaltheologie nicht thematisch werden).
Zu diesem hier angezielten «Grundkurs» einer heutigen Ausbil-
dung in der Theologie, den wir vorläufig in Ermangelung eines
geläufigen besseren Wortes «neue Fundamentaltheologie» ge-
nannt haben, sind noch weitere Überlegungen notwendig oder
nützlich, um verständlich zu machen, was eigentlich gemeint ist.
Natürlich können hier auch diese folgenden Überlegungen nicht
so weit vorgetrieben werden, daß für diesen «Grundkurs» ein
genau detailliertes Programm erstellt wäre. Aber ein Stück weiter
kann das Gemeinte wohl noch beschrieben werden.
Für eine existentiell erfolgreiche Glaubensbegründung, wie sie
gefordert wurde, ist die traditionelle Fundamentaltheologie vor
allem auch darum wenig geeignet, weil sie den Beweis des Ergan-
genseins der von der Kirche verkündigten Offenbarung in einer
reinen Formalität und ohne materiale Inhaltlichkeit des Geoffen-
barten selbst führt. Das will sagen: die übliche Fundamental-
theologie beweist das Ergangensein der Offenbarung und die Exi-
stenz ihres lehramtlichen Übermittlers und Trägers. Was aber
geoffenbart ist, das interessiert sie nicht. Das wird der «speziellen
Dogmatik » überlassen. Man könnte schon fragen, ob Existenz und
153
Inhalt der Offenbarung wirklich so gleichgültig nebeneinander
liegen, wie es bei dieser Methode doch wohl vorausgesetzt wird, ob
sich nicht vielmehr die beiden Momente (wenigstens beim Begriff
einer eschatologisch vollendeten Offenbarung, mit der wir es doch
zu tun haben, da es vor diesem Stadium der Offenbarungsge-
schichte auch keine Fundamentaltheologie gegeben hat) gegen-
seitig bedingen und verständlich machen, also z.B. nur gesehen
werden kann, daß und was eigentlich Offenbarung ist, wenn auf
das gesehen ist, was geoffenbart ist, nämlich die absolute Selbst-
mitteilung Gottes. Aber von all dem abgesehen: dem Menschen
von heute (mindestens einmal) ist das Ergangensein einer gött-
lichen Offenbarung eine wirkliche Frage, nicht so sehr von ihrem
abstrakten Begriff her (etwa: «locutio Dei attestans»), sondern
von ihrem Inhalt her; von da aus wird ihm die Offenbarungsge-
schichte problematisch. Wem z.B. die «Idee» einer Inkarnation
des göttlichen Logos, eines einmaligen historischen Gottmen-
schen als ein unvollziehbarer Mythos erscheint, der wird in der
Erforschung der Geschichte des historischen Jesus genug gar nicht
so ungewichtige Gründe entdecken, zu bestreiten, daß sich Jesus als
solchen metaphysischen Sohn Gottes verstanden wissen wollte.
Kurz: die «Fundamentaltheologie» ist ein inneres Moment der
Dogmatik selbst, weil diese die innere Glaubwürdigkeit des Inhalts
der Offenbarung ebenso nachweisen muß wie die Fundamental-
theologie die Glaubwürdigkeit des Ergangenseins der Offenbarung
in ihrem abstrakten Begriff, und weil sich beide Aufgaben bei der
reflexen Begründung des Glaubens beim Menschen von heute ge-
genseitig fordern und durchdringen. Das bedeutet nicht, daß es
nicht eine spezielle Dogmatik geben könne und müsse, in der die-
ser fundamentaltheologische Aspekt zurücktritt und nur am
Rande erscheint, in der hingegen eine genauere rationale Durch-
dringung der Glaubensaussage und ihre Rückführung zu den
« Quellen der Offenbarung » die eigentliche Aufgabe bilden. Wohl
aber bedeutet es, daß der gesuchte «Grundkurs », weil er die wis-
senschaftliche Reflexion auf die heute existentiell gelebte Begrün-
dung des Glaubens eines heutigen Menschen ist, auf die Begrün-
dung des Inhalts des Glaubens reflektieren muß, weil diese Be-
gründung sich keineswegs erschöpft in dem Verweis auf den Satz,
154
die historische Offenbarung sei ergangen und darin sei eben dieses
und jenes enthalten. Damit aber ist gegeben, daß dieser «Grund-
kurs » einer neuen Fundamentaltheologie in strenger Einheit auch
ein Grundkurs über die fundamentalen Glaubensaussagen selbst,
in Einheit also auch ein Grundkurs von Dogmatik ist, in der sich die
volle Form der Struktur von absoluter Offenbarung und die letzten
Themen ihrer Aussage gegenseitig spiegeln, erhellen und glaub-
würdig machen. Wiederum muß betont werden, daß der genaue
Nachweis, daß so etwas möglich ist, hier nicht erbracht werden
kann. Es würde eine Durchführung dieses Grundkurses selbst be-
deuten, was man hier billigerweise nicht erwarten kann.
Es sei hier nochmals etwas genauer auf eine Überlegung zu-
rückgegriffen, die oben nur kurz angedeutet wurde, um die Struk-
tur des Nachweises, daß eine neue« Fundamentaltheologie » not-
wendig sei, nicht zu verdunkeln. Die Möglichkeit einer «neuen
Fundamentaltheologie» fußt darauf, daß sich der Umfang der
heute existentiell unreflex vollzogenen Gründe des Glaubens mit
dem Umfang der in der üblichen Fundamentaltheologie thema-
tisch werdenden Begründung nicht deckt, sondern nach beiden
Seiten ein «Überschuß» besteht: vieles wird in der heutigen
Fundamentaltheologie nicht thematisch, was von entscheidender
Bedeutung für den Vollzug des Glaubens von heute ist; vieles ist
darin sehr zentral (mit Recht; weil es auch frag-würdig ist) und
steht doch für eine existentielle Glaubensbegründung nicht zur
Frage oder höchstensnuram Rand, weil es in einer wirklich durch-
geführten, reflektierten existentiellen Glaubensbegründung (ent-
sprechend der verfügbaren Zeit, Begabung usw.) gar nicht aufge-
arbeitet werden kann bei der pluralistischen Komplexität der theo-
logischen Wissenschaften und in der «neuen Fundamental-
theologie» auch gar nicht aufgearbeitet werden muß, weil es
nicht zu den wesentlichen Momenten der vorreflexen existen-
tiellen Glaubensbegründung gehört. Diese Diastase gibt es. Am
Rand der Überlegungen rechnete auch bisher schon jede « analysis
fidei» damit, wenn sie fragte, warum auch die «rudes» rational
berechtigt glauben können, obwohl sie von der — üblichen - Funda-
mentaltheologie wenig oder nichts verstehen. Bei dem heutigen
« Fortschritt » der theologischen Wissenschaften istnur noch nüch-
198
tern zuzugeben, daß der Einzelne diesen Wissenschaften gegen-
über in ihrer Gesamtheit und Komplexität immer mehr ein rudis
wird, je mehr er studiert und dadurch sieht, wie wenig oder nichts
er in seinem individuellen Kopf, der nicht ausschaltbar oder er-
setzbar ist, bei der Endlichkeit seiner Zeit und Kraft von vielen
Problemen dieser Fundamentaltheologie verstehen kann. In vie-
len Einzelheiten wird er sagen: das glaube ich nur, weil es eben
auch zum Inhalt meines christlich-kirchlichen Glaubens gehört,
obwohl es «an sich» auch Gegenstand der Fundamentaltheologie
ist (also «gewußt» werden kann). Und das kann so sein in durch-
aus wichtigen Dingen.
Aber dann ist er gefragt, welches bei dieser Situation nun doch
die verbleibenden Gründe seines Glaubens sind. Hier gibt es nun
bei dem Menschen von heute einen gewissen Kanon der Gründe
für seine Glaubensmöglichkeit und Glaubenspflicht. Diese und
nur diese zu reflektieren, und zwar in ihrer Einheit, Kohärenz und
Vollziehbarkeit, ist die Aufgabe der «neuen Fundamentaltheo-
logie ». Diese Reflexion braucht dabei nicht modernistisch aufge-
faßt zu werden als die Reflexion auf ein bloß «irrationales » Glau-
bensbedürfnis. Aber sie ist gewiß eine Reflexion auf einen ur-
sprünglichen Grund des Glaubens. Zu dieser Reflexion gehört
schon sehr anfänglich auch die Reflexion darauf, daß der Mensch
sein Dasein mit Recht gläubig in existentieller Entscheidung voll-
ziehen kann und immer vollziehen muß, bevor er durch die Refle-
xion die Gründe seiner Entscheidung adäquat aufgearbeitet und
vor sich gebracht hat. Zu diesen Gründen gehört auch eine tran-
szendentale Anthropologie über die Verwiesenheit des Menschen
in Geschichte und die Möglichkeit von Heilsgeschichte. Diese
Gründe werden gewiß auch historische Elemente enthalten bei
einem Christentum, dem Gott wirklich in der Heilsgeschichte be-
gegnet. Aber wenn es Glaube heute gibt und, darin eingefaßt,
eine rationale Begründung, dann kann der nächste geschichtliche
Grund des Glaubens in seinem existentiellen Vollzug gewiß nicht
in jenen Nachweisen unmittelbar und unabdingbar im einzelnen
liegen, mit denen sich die historische Theologie des Lebens Jesu,
seines Selbstverständnisses usw. beschäftigt. Die Erfahrung des
Geistes an und in der Konkretheit der Kirche ist auch eine ge-
156
schichtliche Erfahrung, die reflektiert werden kann, die in der
alten Fundamentaltheologie (trotz Dechamps und dem Vaticanum
D) praktisch keine Rolle spielt, aber für die «neue Fundamental-
theologie » mit zur zentralen Thematik gehört. Was nicht leugnet,
sondern einschließt, aber eben als Hintergrund, nicht als unmit-
telbaren Grund des Glaubens für je jetzt und diesen bestimmten
Glaubenden, daß diese geschichtliche Erfahrung auf ihre ge-
schichtliche Herkunft zurückweist und diese glaubwürdig macht.
Eine solche «neue Fundamentaltheologie » müßte, weil sie auf
die wirklich existentiell vollzogenen und heute vollziehbaren
Gründe des Glaubens reflektiert, in weitem Umfang «transzen-
dental» sein, d.h. auf die Bedingungen der Möglichkeit im glau-
benden Subjekt für die Vollziehbarkeit der Glaubensinhalte re- |
flektieren. Die moderne Dogmatik zieht sich doch oft zu schnell auf
einen dogmatischen Positivismus zurück: dieser und dieser Satz
ist eben geoffenbart und so durch die Autorität des offenbarenden
Gottes gewährleistet. Das ist dann oft identisch damit, daßerim
« Denzinger » steht. Die Dogmatik beachtet oft nicht genügend,
daß es auch schon Theologie innerhalb der Offenbarungsquellen,
d.h. innerhalb des Alten und Neuen Testaments gibt. Man kann
fragen (und heute muß man es), woher und wie die Offenbarungs-
träger (Propheten und Hagiographen) das wissen, was sie sagen,
wie und warum das, was sie sagen, meist eben doch auf ein paar
ganz einfache Grundaussagen zurückgeführt werden kann, als
deren theologische (wenn auch durch Offenbarung verbürgte)
Entfaltung und artikulierte Auslegung die Vielzahl dogmatischer
Sätze erscheint. Geschähe das, würde also eine « Reduktion » der
Vielzahl dogmatischer Sätze (ohne inhaltliche Verarmung) auf
einige Grundmysterien der Offenbarung vorgenommen, dann
könnte in diesen Grundmysterien die Entsprechung zwischen dem
formalen Wesen von Offenbarung überhaupt und seinem christ-
lichen «Inhalt» viel deutlicher gesehen werden. Dann aber ist
eine «transzendentale» Begründung des Offenbarungsinhaltes
nicht mehr so unmöglich, zumal eine solche nicht voraussetzt, daß
die Begründung der Möglichkeit nicht von der Erfahrung der ge-
schichtlichen Wirklichkeit lebe, also erst nach dieser, aber doch
immer noch notwendig, durchgeführt werden könne. Solche
157
,
158
' Grundkurses zu treiben : man hat es im Mittelalter im Grunde auch
getan. Philosophie wird getrieben an der Wirklichkeit, zu der der
theologische Hörer ein echtes persönliches Verhältnis hat; es kann
ihm innerhalb dieses Grundkurses mehr und radikaler Philosophie
abverlangt werden, als es beim bisherigen Verfahren geschieht;
kein Philosoph kann ernsthaft behaupten, daß so nicht echt philo-
sophiert werden könne (sonst wären ein Augustin oder ein Pascal
philosophisch ohne Bedeutung); «bloße» Philosophie kann für
die höheren Semester immer noch — und mit mehr Nutzen - ge-
boten werden. Durch den Grundkurs würde dann an dem Ort zu-
erst philosophiert, an dem die wirkliche Existenz der jungen Theo-
logen ihren Grund hat. Braucht ein Christ sich dessen zu schämen
oder es auch nur als unphilosophisch zu betrachten oder für nicht
genug «voraussetzungslos» zu halten, wenn für ihn die Philo-
sophie zunächst einmal die genaue, methodisch saubere Reflexion
auf seinen wirklichen und ganzen Vollzug seines Daseins ist, um
von da aus dann - später — die «reine» Philosophie aus dem Gan-
zen des christlichen Daseins heraus in ihre echte Freiheit als von
der Theologie selbst sich vorausgesetzte Voraussetzung zu ent-
lassen? Eine Philosophie für Theologen, die nach diesem theolo-
gischen Grundkurs einer « fundamentaltheologischen Dogmatik »
(wie wir ihn auch nennen können) gelehrt würde, fände jedenfalls
mehr Interesse und hätte mehr Aussicht auf Erfolg als die doch
recht kümmerliche philosophische Propädeutik, die heute meist
am Anfang des theologischen Studiums steht. Es wäre dann auch
leichter zu erkennen, wer von den jungen Theologen für eine
solche «reine» Philosophie geeignet ist, und die wirklichen Pro-
fessoren der echten Philosophie erlebten mehr Freude an solchen
Schülern, als dies bei den frühen Semestern meist der Fall ist.
160
als Grund- und Zentraldisziplin der theologischen Ausbildung
- verstanden wird. Wenn bei diesem Grundkurs darauf geachtet
wird, daß es um die Frage der Möglichkeit des existentiellen Voll-
zugs des Glaubens heute und so gerade bei dem geht, der diesen
Glauben im Namen der Kirche bezeugen kann, dann ist von selbst
das mysterium Christi als im priesterlichen Dienst wirksam gese-
hen, ohne daß dieser Aspekt zu einem kleinen Einzelthema dogma-
tischer oder erbaulicher Art wird, das mit einer introductio gene-
ralis in das Ganze der Theologie doch wenig zu tun hätte. Die
transzendentale Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit
des Glaubens, die immer auch auf dessen letzten Grund, die Selbst-
mitteilung Gottes in der Gnade als dauerndes übernatürliches
Existential, reflektieren muß, zeigt von selbst in ursprünglicher
Weise, daß das mysterium Christi die ganze Geschichte der
Menschheit durchdringt und finalisiert, so daß in der Geschichte
diese übernatürliche Transzendentalität immer deutlicher er-
scheint, bis sie in Christus ihre höchste und unüberbietbare Er-
scheinung findet.
Jede Ausbildung, soll sie eine Einheit haben, die notwendig und
erst im echten Sinn bildend sein kann, muß eine zentrale Disziplin
haben, auf die die Vielfalt der Fächer ausgerichtet ist, als deren
Vorbereitung, Artikulierung und Folge. Das gilt vor allem von der
höchsten Geisteswissenschaft, von der Theologie. Es wird nun
zwar heute oft und mit Recht gesagt, das Studium der Schrift sei
«die Seele der Theologie». Aber bei dem konkreten und zwar
unvermeidlichen Betrieb der heutigen Einleitungswissenschaft
und Exegese wird man in einem konkreten Sinn nicht sagen kön-
nen, daß die Exegese die zentrale Disziplin der Theologie sein
kann. Sie betreibt heute ihr Geschäft auch auf katholischer Seite
so, daß das Kerygma der heutigen Kirche und die Lehre des Lehr-
amtes praktisch nur norma negativa für sie ist; bis ihre Ergebnisse
unmittelbar in das heutige Kerygma und die persönliche Glaubens-
substanz übersetzt sind, bedarf es bei dem Abstand zwischen der
Schrift und der geistigen Situation des Menschen von heute so
161
vieler Arbeit der « Übersetzung », daß diese praktisch nicht genü-
gend in der Exegese selbst geleistet werden kann. In den Fällen, in
denen heute Exegese und Bibeltheologie, höchst lobwürdig und
erfolgreich, solche Übersetzungsarbeit leisten, ist diese Arbeit
(auch wenn sie Exegese genannt wird) mit so viel philosophisch-
theologischer Überlegung verbunden und durchsetzt, daß sie sich
nicht mehr prinzipiell von einer Arbeit der Dogmatik unterschei-
det, wie sie heute sein soll. Das aber zeigt deutlich, daß die «reine »
(d.h. vorwiegend historisch-philologisch ausgerichtete) Exegese
wohl eine sehr wichtige und unerläßliche Disziplin in der Theo-
logie ist, aber nicht die zentrale Disziplin sein kann, in der der
entscheidende Akt der Theologie zum Vollzug kommt, nämlich
jenes mit allen geistigen Kräften vollzogene Hören auf die Offen-
barung Gottes, so daß diese vor dem heutigen Glaubensgewissen
des Menschen unmittelbar ankommt.
Nun besteht zwar kein prinzipieller Grund, der Dogmatik als
solcher im Kreis der theologischen Wissenschaften die Würde
einer solchen zentralen Disziplin streitig zu machen. Sie darf also
mit gutem Recht diese Würde beanspruchen. Immerhin aber
kann einerseits gesagt werden, daß sie sich in ihrem heutigen Be-
trieb (nicht mit Unrecht) so sehr in historische (exegetische und
dogmengeschichtlich-kirchenlehramtliche) Untersuchungen auf-
fächert, daß ihr der Akt der Synthese, der die Offenbarung zum
; unmittelbaren Hören und Vollziehenkönnen bringt, nur noch
schwer gelingt. Anderseits will ja die angezielte Grunddisziplin
einer «fundamentaltheologischen Dogmatik » wirklich Dogmatik
sein, und zwar solche, die das einheitliche Ganze der Glaubensbot-
schaft in ihrer Grundstruktur und Glaubwürdigkeit zur wissen-
schaftlichen Reflexion bringt, daß man ihr die Würde der gesuch-
ten und notwendigen zentralen Disziplin ruhig zuerkennen kann.
Wenn eine echte «introductio generalis» nur dann gegeben ist,
wenn sie das Ganze von seiner wurzelhaften Einheit her erstmals
ergreift, dann ist diese «introductio generalis in mysterium
Christi» eben auch gleichzeitig und notwendig die zentrale Diszi-
plin der Theologie, als deren Ausgliederungen (in einem zweiten
Gang) die einzelnen Traktate der speziellen Dogmatik verstanden
werden können. Andere theologische Disziplinen kommen ja als
162
D
164
wird. Nach Vollendung des Grundkurses läge in einer Art zweiten
‚Studienabschnittes der Schwerpunkt auf spezieller Dogmatik (mit
Dogmengeschichte) und Moraltheologie. Ein dritter Studien-
abschnitt wäre der praktischen Theologie (Kirchenrecht, Liturgie,
Pastoraltheologie, kirchliche Soziallehre usw.) und der «reinen »
Philosophie zu widmen, in der, richtig betrieben, von selbst noch-
mals wesentliche Aspekte des Grundkurses vertieft wiederholt
würden. Die Frage, wie Einzelthemen der traditionellen Funda-
mentaltheologie, soweit sie außerhalb des Gegenstandes des Grund-
kurses liegen, eigens behandelt werden können, wurde schon frü-
her gestreift. Es ist dabei zu bedenken, daß viele solcher Themen
auch in der speziellen Dogmatik durchaus sachgemäß unterge-
bracht werden können, vorausgesetzt, daß die Dogmatik eine ge-
nügende Ekklesiologie bietet.
Universitätsrechtlich und hinsichtlich der faktischen Aufteilung
der Lehrstühle, wie sie nun einmal bestehen, bräuchte die hier
vorgetragene Strukturierung des theologischen Studiums keinen
unüberwindlichen Schwierigkeiten zu begegnen. Der Inhaber
eines Lehrstuhls für Fundamentaltheologie könnte, ohne mit sei-
nem Lehrauftrag in geringsten in Konflikt zu kommen, seine
Fundamentaltheologie im Sinn dieser «neuen Fundamentaltheo-
logie» verstehen und vortragen. In diesem Zusammenhang sei
nochmals ein alter Wunsch wiederholt: Die theologischen Lehr-
anstalten der Ordensgemeinschaften, die rechtlich und organisa-
torisch viel freier sind als staatliche oder bischöfliche Anstalten
und darum Pflicht und Recht haben, beweglicher und experimen-
tierfreudiger zu sein als diese, sollten den Mut haben, neue Wege
in der theologischen Ausbildung zu suchen und nicht nur die
theologischen Fakultäten der Universitäten — oft kümmerlich — zu
kopieren. Vielleicht könnte man bei ihnen praktisch versuchen,
ob an der hier vorgetragenen Idee etwas Richtiges ist.
165
!
schaft und dem geistlichen Leben der jungen Theologen. Meist ist.
die Kluft zwischen beiden Stücken des Lebens groß, viel zu groß.
Eine solche introductio generalis in mysterium Christi könnte dem
jungen Theologen deutlich machen, daß er sich darin auf das be-
sinnt, was auch sein geistliches Leben ausmacht, um es zu fördern,
und daß diese Wissenschaft nur wirklich angeeignet wird, wenn
sie von einem religiösen Vollzug des in ihr Reflektierten getragen
wird. Wird dieser Grundkurs wirklich vorgetragen, wie er sein
soll, dann ist es wohl nicht nötig, zeitlich vor die Theologie, wie
man schon da und dort erwogen hat, eine längere aszetische Vor-
bereitung, eine Art «Noviziat» des Weltpriestertheologen zu le-
gen, um ihn geeignet zu machen, den Segen der Theologie zu er-
werben und die Gefahr des zersetzenden bloßen Problematisierens
in der Theologie zu überwinden. Wenn man so etwas wie eine Art
« Noviziat» für wichtig hält, könnte es eher (im eigentlichen Prie-
sterseminar, in längeren Exerzitien usw.) später, nach einer ge-
wissen theologischen Reife des Theologen gelegt werden. Ein
wirklicher Kontakt dieses « Fundamentaltheologen» mit dem
« Spiritual» könnte beiden sehr nützlich sein.
Die Laientheologen
167
ZUR THEOLOGISCHEN ANTHROPOLOGIE
VOM GEHEIMNIS DES LEBENS.
Es ist eigentlich selbstverständlich, daß bei einem gemeinsamen
Gespräch, das dem Wesen des Lebens nachdenkt, auch der Theo-
loge zu Wort kommen soll. Denn auch in seinem Bereich ist das
Wort «Leben» ein Schlüsselbegriff, ohne den er gar nicht aus-
kommen kann, auf den ihn seine unmittelbarsten Quellen, die
Schriften des AT und NT, immer wieder eindringlichst aufmerk-
sam machen.
102
Es besagt nur, daß der Vitalismus keine theologische Frage ist, so-
lange die Frage nur über das Biologische als solches geht. Das ge-
nannte «Vorwerk» mag in sich eine durchaus richtige Position
sein, als Vorwerk der christlichen Anthropologie gegen den Mate-
rialismus ist es nicht nötig.
Damit scheint mir in kurzen Worten alles gesagt zu sein, was
die Theologie als solche zu dem Thema zu sagen hat, das bisher
auf dieser Tagung verhandelt wurde. Und darum darf sich der
Theologe nun gleich der Frage zuwenden, welchen Lebensbegriff
die Theologie als innertheologischen kennt.
II
174
den Menschen begnadigt bis zur Verklärung des Leibes (1Kor
15, 45; Jo 6,63; 1Petr 5, 18) als aveöua tjc tw (Röm SO a,
In diesem, vom Menschen und seiner Erfahrung ausgehenden
Lebensbegriff ist gewiß bei dem Verständnis der Schrift! von der
Einheit des einen Menschen, die eine dualistische Zerfällung in
zwei selbständige Substanzen nicht gestattet, auch die konkret ir-
dische Seite des (menschlichen) Lebens gesehen: der Mensch, der
sich sehnt nach «Länge der Tage» (Ps 21,5; 91,16; 119, 17.37
usw.; 145,11), nach «guten Tagen » (Ps 34,13), verbunden mit
Friede, Freude, Glück, Fruchtbarkeit des Landes, Gesundheit und
Kinderreichtum. Aber schon dieses irdische, in unbefangener
Lebensbejahung angenommene und verteidigte Leben hat schon
in sich selbst eine theologische Tiefe in der Schrift: es stammt von
Gott, dem absolut Lebendigen (Ps 18,47), wird erweckt vonihm,
der «die Quelle des Lebens » ist (Ps 356,10) durch seine « Ruach »
(vgl. Ps 104,50; Is 42,5), so daß dieses Leben immer als abhängig
erfahren wird von Gott, als hinfällig trotz aller inneren Vitalität
und Selbstmacht des Menschen. Von da aus wird verständlich, daß
das leibhaftige Leben des Menschen von vornherein als einbezogen
erfahren wird in die personale, dialogische Geschichte des Heils
und Unheils, die sich zwischen Gott und Mensch begibt. Auch das
irdische Leben wird nicht als neutral-profaner Sachverhalt ge-
sehen, sondern als Erscheinung des Heils Jahwes und des Friedens
des Menschen mit Gott in Gehorsam gegen sein Gebot (Dt 4,1.40;
5,50; 6,18; 8,1; 11,8f.; 50,15-20; 52,46£.; Ps 57,9 usw.). Es ist
zwar richtig, daß an vielen Stellen des AT der Tod als Ende des
menschlichen Lebens unproblematisch und in schweigendem,
fraglosem Gehorsam angenommen wird, vorausgesetzt nur, daß
man «alt und lebenssatt», auf die geschenkte Nachkommenschaft
blickend, sterben darf und nicht vorzeitig und gewaltsam das Ende
dieses Lebens erfahren muß. Aber wenn man die ganze Aussage
des AT und des NT würdigt, ist dennoch zu sagen, daß (wenn man
so formulieren darf) die Erfahrung des radikalen Willens des gan-
zen Menschen zu dem einen, ganzen Leben so unbedingt ist, so
ursprünglich (wir würden heute vom NT her interpretierend hin-
1 Vgl. zu den alttestamentl. Belegen: Handbuch theologischer Grundbegriffe II,
25-27. ;
175
zufügen: durch die Dynamik der gnadenhaften Selbstmitteilung
Gottes, des absoluten Lebens), daß er dennoch den T.od letztlich
nicht sehen kann denn als ein Nichtseinsollendes, das nicht zur
ursprünglichen Idee Gottes vom Menschen gehört, das seinen
Ursprung darum nur in der schuldhaften Trennung des Menschen
vom Gott des Lebens am Anfang seiner Geschichte als Ursache
haben kann. So kommt es, daß Leben und Tod einen radikal theo-
logischen Sinn bekommen, der Tod zur Erscheinung und zum
Gericht über die Sünde wird, die Heils- und Unheilsgeschichte
somit als Kampf zwischen Leben und Tod sich verdeutlicht. Es ist
_ dabei immer zu beachten, daß für die ganze Schrift der Mensch
ein so einheitliches Wesen ist, daß sie den absoluten Anspruch auf
das Leben, das die Tiefe seiner Existenz ausmacht, nicht be-
schränken kann auf seine «Seele», so daß die Leben-Tod-Ge-
schichte bloß eine Geschichte des Verhältnisses einer « unsterb-
lichen » Seele zu Gott wäre. Immer ist der eine, ganze Mensch
gemeint, der seine letzte Lebendigkeit in Leibhaftigkeit vollzieht.
Und darum ist das Stichwort für den Sieg des einen Lebens, das er
leibhaftig, aber eben gleichzeitig auch als personale Geschichte mit
dem lebendigen Gott erfährt, nicht Unsterblichkeit der Seele, son-
dern Auferstehung des Fleisches, wobei aber darum gerade
«Fleisch » nicht allein die biologische Dimension des Menschen,
sondern den ganzen Menschen meint in seiner Todverfallenheit
und dem durch das Pneuma Gottes in ihm erweckten radikalen
Verlangen nach dem Leben; in dieser Auferstehung muß die
«Seele» ebenso aus der nichtigenden Gottesferne der « Unter-
welt» (Scheol) errettet werden, wie ihm seine Leibhaftigkeit
wieder geschenkt wird. Freilich ist diese immer deutlicher in der
Offenbarungsgeschichte durchdringende Sicht auf das eschato-
logische Heilsgut des Lebens in der Auferstehung des Fleisches,
d.h. also auf die totale Endgültigkeit des sich in freiem Dialog mit
Gott vollendenden, einen, ganzen Menschen (wie sie sich seit der
Is-Apokalypse [Is 25,8; 26,19ff.], bei Dan 12,2; 2Makk 7,9ff.;
12,45 ff; 14,46 durchsetzt), begleitet von der Reflexion darauf, daß
dieses leibhaftige eschatologische Leben durch die radikale Ver-
wandlung des Todes hindurch vollzogen werden muß, also keine
Rückkehr in eine irdische Leibhaftigkeit bedeutet und also nicht
176
mehr « vorstellbar» ist (1 Kor 15). Wo die Geschichte des theo-
_ logischen Begriffes des menschlichen Lebens in seiner Ganzheit
zu ihrem Höhepunkt gekommen ist, verschwindet dieses Leben,
_ sich radikal wandelnd und so entziehend, in das unsagbare Ge-
heimnis Gottes. Aber dahinein verbirgt sich der ganze Mensch
mit «Leib» und «Seele». Und eben dadurch kehrt der Mensch
gewissermaßen zu seiner Ausgangserfahrung vom «Leben » zu-
rück. Das Letzte ist noch das Erste. Er hat kein Recht mehr, etwas
an sich nicht ernst zu nehmen, so etwa seine menschliche « Bio-
sphäre » als das bloß Vorläufige zu betrachten, das er einfach hin-
ter sich lassen müßte, abstoßen könnte, wenn die Vollendung
kommt. Die letzte «Verwandlung » der Geschichte ist die Rettung
des Ganzen, auch der Materie, auch des leibhaftigen Lebens, frei-
lich die Rettung hinein in das Geheimnis Gottes.
Wenn einerseits der Mensch nur von Gott weiß, indem er er-
fährt, wie Gott an ihm handelt, und so von «Gottan sich selbst»
nur weiß, weil dieser an sich selbst in der gnadenhaften Selbstmit-
teilung eben sich selbst gibt, und wenn anderseits die heilsge-
schichtliche Erfahrung des Menschen von sich selbst ihm « Leben »
als Anfang und als Ende seiner Selbsterfahrung anbietet, als
Schlüsselwort (dunkel und in Gleichnissen natürlich) für seine
ganze Existenz, dann wird verständlich, daß er von Gott mit Recht
sagt: er ist der Lebendige. Er ist «lebendig» nicht bloß, weil er
« die Quelle des Lebens » für uns ist, wie esin Ps 56, 10 heißt, weil
alle lebenden Geschöpfe ihre Existenz der « Ruach » Gottes ver-
danken (Ps 104,30; Is 42,5), wobei schon immer zu sehen ist,
daß es sich schon hier nicht bloß um die Zurückführung unseres
Lebens auf seine letzte Ursache handelt, sondern auch um die
Aussage, daß unser Leben der souveränen Verfügung Gottes
dauernd anheimgegeben bleibt, Er der ist, der tötet und lebendig
macht (Röm 4, 17; 1Tim 6, 13; Jo 5,21; 6,57; Lk 12,20; 2Kor 1,9;
Jak 4,14f)!. Er ist auch nicht nur der Lebendige im Gegensatz zu
den «toten » Götzen, also Gott, der von sich aus wirkende und als
wirkend erfahrene im Unterschied zu den Idolen, die der Mensch
sich selbst macht und in denen er sich selbst als «schöpferischen
Ideologen » erfahren will. Gott selbst an sich ist lebendig, ist das
1 Vgl. zu den neutestamentlichen Belegen: ThWNT II (Stuttgart 1935).
477,
2
178
(1Jo 1,2); er ist der Logos des Lebens (1Jo 1,1), das lebenspen-
dende Pneuma (1Kor 15,45), der doxnyös wis Los (Apg 3,15).
Und wenn der johanneische Jesus in einer seiner emphatisch-
ich hoheitlichen Ich-bin-Aussagen, die Parallelen des « Ich-bin(da)-
der ich-(da)-bin » Gottes bilden (Ex 3,14ff), sagen will, wer er in
sich und für uns (beides fällt zusammen) ist, dann kann er darum
schlechthin sagen: «Ich bin das Leben», «Ich bin die Auferste-
hung und das Leben» (Jo 11,25; Jo 14,6), so wie sein absolutes
«Ich-bin ich» (Jo 8,24.28.58; Mk 6,50; 13,6; Lk 21,8) mit
«Wahrheit», «Weg», « Brot des Lebens », das «Licht der Welt»
verdeutlicht werden können?. So kann «Leben» bei Johannes
wirklich der umfassende Heilsbegriff sein, der alles enthält, was
der Retter der Welt bringt, so daß Johannes 36mal vom Leben
bzw. vom «ewigen Leben» spricht und betont, daß dieses «Le-
ben» schon jetzt dem Glaubenden und Liebenden geschenkt ist
(Jo 3,36; 5,24; 6,55f; 1Jo 3,15; 5,13; Eph 2,5), auch wenn es
noch mit Christus in Gott verborgen ist (Kol 5,5). Dieser Christus
ist nicht nur das Leben für uns; er hat unsere Geschichte, die
durch den Tod zum Leben geht, selbst geteilt, so daß das Wort
vom Auferstandenen: «er lebt», die Mitte der christlichen Ver-
kündigung ist (Mk 16,11; Lk 24,5; Apg 1,3. - Röm 6,10; 14,9;
2Kor 13,4).
III
Blicken wir nochmals zurück und übersetzen wir dabei das Ge-
sagte in eine Sprache, die vielleicht unmittelbarer die von heute
ist und das heutige Weltverständnis noch etwas deutlicher in das
Verständnis des Gesagten einbezieht. Das heutige Weltbild ist
geprägt durch eine Vorentscheidung zu Einheit und Entwicklung;
es sieht Materie, Leben, Geist in einer einzigen Geschichte der
Entwicklung zusammengehalten. Eine solche Vorstellung braucht
nicht falsch zu sein, wenn sie diskret und realistisch bleibt und
1 ThWNT I, 866.
2 Vgl. dazu ThWNT II, 866, 871; LTh.K VI, 855/856.
3 Vgl. bes. F.Mussner, ZQ@H. Die Anschauung vom «Leben» im 4.Evangelium
unter Berücksichtigung der Johannes-Briefe (München 1952). Weitere Literatur
vor allem LThK VI, 856. Vgl. auch H.Schlier, Besinnung auf das NT (Freiburg
1964) 260ff., 278 u.ö.
179
Wesensunterschiede innerhalb dieser Einheit nicht nivelliert. In
der Tat schließt der Entwicklungsgedanke eine in ihr ständig ge-
schehende, wesentliche Selbsttranszendenz!nicht aus, sondern ein,
weil sonst ja letztlich nichts wirklich neu werden würde. Selbst im
dialektischen Materialismus ist diese Selbsttranszendenz noch ir-
gendwie unter dem Begriff des « qualitativen Sprungs» erhalten
geblieben. Der christliche Philosoph und christliche Theologe
werden diese Selbsttranszendenz, in der ein Seiendes sich selbst
in das wesentlich Höhere hinein überbietet und «aufhebt», im-
mer geschehen denken unter der Dynamik des göttlichen Seins
und der dauernden göttlichen Schöpfungsmacht. Unter. dieser
Voraussetzung aber ist Evolution und wesenhafte Selbsttranszen-
denz (als deren Weise) durchaus eine Möglichkeit, Materie, Leben,
Geist als eine zusammenhängende Wirklichkeit und Geschichte
zu sehen und sogar die göttliche Selbstmitteilung in der Gnade des
Pneumas Gottes an die geistige Kreatur als die höchste, frei ge-
schenkte, nicht mehr überbietbare Stufe und Phase dieser einen
Entwicklung zu betrachten. Bei einer solchen weltbildlichen Vor-
entscheidung wird derjenige Begriff am leichtesten zum Verständ-
nis der Inhaltlichkeit der einen, sich entwickelnden Geschichte
geeignet sein, der a) die Wirklichkeit aussagt, in der sie für uns an
dieser ganzen Einheit am unmittelbarsten gegeben ist, und b) das
dieser Wirklichkeit Vorausliegende und das Nachfolgende an die-
ser einen Geschichte immer noch verständlich macht. Eine solche
Wirklichkeit und ihr Begriff ist im « Leben » gegeben, so wie wir
es als unseres, als menschliches erleben. Denn von ihm, das uns
am nächsten liegt, ist Materie und untermenschliches Leben noch
am ehesten verständlich zu machen, und dieser Begriff ist, wie
Bibel, Credo und Dogmatik zeigen, auch noch geeignet, das letzte
Heilsgut, die Vollendung des Menschen in Gott selbst, auszusagen.
Es zeigt sich nun auch, daß mit dem Lebensbegriff ein durchgehen-
des, wenn natürlich auch gestuftes und analog abgewandeltes Ver-
ständnis dieser einen Geschichte der kreatürlichen Wirklichkeit
tatsächlich geleistet werden kann.
1 Zu diesem Begriff vgl. näher und ausführlicher den folgenden Beitrag in die-
sem Band, wo eine spekulative Begründung dieser hier vorgetragenen Thesen
versucht wird. Vgl. auch P.Overhage-K.Rahner, Das Problem der Hominisation
(Freiburg 21963). i
180
Wenn wir zunächst Leben sehen als Gestalt von einer inneren
Einheit aus und in einer heterogenen (physiko-chemisch und
raum-zeitlich gemeinten) Vielfalt, die nicht einfach koordiniert,
sondern hierarchisch subordiniert ist, wenn wir dazu nehmen, daß
diese Gestalt eine «Innerlichkeit» hat, die den Selbstaufbau, die
Selbsterhaltung und das Verhältnis zur Umwelt wie von einem
Zentrum her steuert und durchhält, sich von dem übrigen der
Umwelt in einem final-spontanen Verhältnis zu ihr absetzt und
zugleich öffnet, sich bewahrt, aufnimmt, im Ganzen und in all
seinen Teilen sich zur Erscheinung bringt, Ursprung und Ziel der
Selbstbewegung in sich hat, einen ihr eigenen Lebensraum und
eine ihr eigene innere Zeitgestalt hat, dann haben wir eine Be-
schreibung des (zunächst biologischen) Lebens (unter Vernach-
lässigung des Unterschieds zwischen Tier und Pflanze), die sich
als Verstehensmodell nach oben und nach unten, also für das
ganze, eine Sein und die ganze Geschichte der erfahrenen Wirk-
lichkeit verwenden läßt.
Wir können zunächst dann die anorganische Materie als ele-
mentare Vorstufe, als Instrumentar, gewissermaßen als Voka-
bular des biologischen Lebens verstehen, als Grenzzustand, Grenz-
wert und Ansatz zugleich für das Leben. «Tote » Materie ist dann
der asymptotische Nullzustand des Lebens, in dem dessen Inner-
lichkeit und Offenheit zum anderen in gleicher Weise sich dem
unteren Grenzwert nähern; das einzelne bloß Materielle ist
scheinbar ganz offen für die Ganzheit der materiellen Wirklich-
keit, weil es reine Funktion des Ganzen ist, restlos eingebunden ist
in den Konnex der ihm äußeren Ursachen. Aber gerade so hat es
noch keine wahre Offenheit zu dem Ganzen der Wirklichkeit; es
existiert bloß als ihr Moment selbst, weil es (noch) nicht jene
Innerlichkeit und jenes Sichzusammenraffen (mindestens als
«Gestalt») gegenüber dem Ganzen (mindestens einer Umwelt)
hat, die das Lebendige auszeichnet; es ist verloren an das andere,
und darum ist es in dieser absoluten Selbstentfremdetheit auch
nicht imstande, das andere als solches zu erfahren, es ist nicht
wahrhaft «offen», weil es sich selbst nicht innerlich ist. Aber es
hat doch schon wenigstens die passive Möglichkeit zu solcher im
gleichen Maße wachsenden Innerlichkeit und Offenheit, als es
181
aufbaubar ist zu heterogenen Systemen, die, wenn das «Wun-
der » der Selbsttranszendenz an ihnen auf eine Selbstbesitznahme
und Eigengewolltheit hin geschieht, eben die innerlich gewor-
dene Gestalt des Organischen bedeuten. Man könnte, anders for-
muliert, sagen und so Zusammenhang und Unterschied zwischen
Anorganischem und Lebendigem in einem treffen: Wenn das
heterogene, auf eine einheitliche, vorgegebene Leistung (minde-
stens der Selbstaufrechterhaltung) hin gebaute materielle System
seine Gezieltheit als solche sich selbst aneignet, sich innerlich
macht, ist das Lebendige gegeben.
Vom Lebensbegriff her läßt sich Geist und Person durchaus als
Radikalisierung und Selbstüberbietung des Lebens verstehen. Aus
der Umwelt wird Welt schlechthin, aus Innerlichkeit wird Sub-
jektsein, aus Assimilation der Umwelt durch Nahrungsaufnahme
wird Aneignung durch Kultur und Maschine, durch Hominisie-
rung der Umwelt über den eigenen biologischen Bereich hinaus;
aus Innerlichkeit als Bewußtsein wird Selbstbewußtsein; aus end-
licher Offenheit für eine Umwelt wird unendliche Transzendenz
auf das Sein überhaupt. Es ist bei alldem zu beachten, daß wir
keine personale Subjektivität in unserer Erfahrung kennen, die
nicht biologische Lebendigkeit als ihr inneres Moment in sich
selbst hat und sich als ihre eigene Bedingung voraussetzt, daß das
Sichbegegnenlassenmüssen des anderen der Welt, das für eine
anfangende endliche Subjektivität wesentlich ist, eben gerade das
Wesen des Biologischen, der Sinnlichkeit des Geistes per defini-
tionem ist; es ist zu beachten, daß dem auch nicht die christliche
Lehre von den Engeln widerspricht, da auch diese durchaus als
welthaft und kosmisch gedacht werden können, so daß Materialität
und Biosphäre nur ein anderes Wort sind für den Raum der not-
wendig entgegennehmenden Geistigkeit, für Intersubjektivität.
Von da aus bestätigt sich die Wesenseinheit von endlichem,
wenn auch transzendental unendlich offenem Geist und von Ma-
terie nochmals. Biologisches Leben und geistiges Leben haben eine
Gemeinsamkeit dort, wo sie zusammen die Einheit des einen
menschlichen Lebens konstituieren, das biologisch-sinnlich ist, um
geistig sein zu können; und auch dann, wenn das Biologische für
sich allein existierte, bleibt daher gültig: die Offenheit auf das an-
182
4
183
sich mitteilendes Ziel schenkt. Dies ist souverän freie, unge-
schuldete Selbstmitteilung, aber so die letzte Erfüllung des Lebens,
weil das, woraufhin sich das Leben öffnet, jetzt auch sein innerster
Grund und sein innerlichster Besitz wird, weil die Welt des
Lebens das Leben des Lebens selbst wird: vita aeterna. Und auch
hier läßt dieses Leben des Menschen die Leibhaftigkeit des einen
Seins des Menschen nicht als das Wesenlose hinter sich zurück,
stößt sie nicht ab. Das eine, ganze Leben des Menschen geht in
das ewige Leben Gottes ein. Ob man seine biologische Seite, wenn
der Mensch vollendet ist in Gott, noch « biologisch » nennen kann,
das ist eine letztlich gleichgültige Frage. Der ganze Mensch (also
auch sein Geist) wird verwandelt sein. Der ganze Mensch (also
auch seine Leibhaftigkeit) wird gerettet sein. Daß wir die blei-
bende Gerettetheit des leibhaftigen Menschen uns nicht vorstellen
können, ist nicht verwunderlich: als ganzer entzieht er sich uns in
das absolute Geheimnis Gottes hinein.
Selbstmitteilung Gottes aber macht zusammen mit der darin
mitgegebenen Dreifaltigkeit Gottes und mit der geschichtlichen
Erscheinung dieser Selbstmitteilung in Jesus Christus das eine
Ganze aus, das das Christentum bekennt und hofft, dem der Christ
entgegen-lebt. Weil und insofern der Besitz dieser Selbstmittei-
lung Gottes begriffen werden kann als höchste, absolute Stufe des
Lebens, darum kann folgerichtig das Christentum als die Lehre
vom Leben schlechthin verstanden werden, als Bekenntnis von
Gott dem Lebendigen und vom ewigen Leben. Und darum schlie-
Ben wir das Credo mit dem Wort: et vitam aeternam. Amen.
184
DIE EINHEIT VON GEIST UND MATERIE
IM CHRISTLICHEN GLAUBENSVERSTÄNDNIS
Das Thema dieser folgenden Überlegungen lautet: die Einheit von
Geist und Materie im christlichen Glaubensverständnis. Es wird
gesagt: «im christlichen Glaubensverständnis», um damit von
vornherein zu betonen, daß es sich weder um ein kontroverstheo-
logisches Thema handelt, das zwischen den christlichen Konfes-
sionen strittig wäre, noch um eine eigentliche philosophische Un-
tersuchung — wenn es sich auch zeigen wird, daß man auch in der
Theologie denken muß und eines philosophisch-begrifflichen
Werkzeuges nicht entbehren kann, will man deutlich machen,
was man eigentlich glaubt und was nicht-, noch viel weniger um
eine politische Streitfrage. Natürlich ist die Stellung dieser Frage
mitbedingt durch die Tatsache, daß es heute einen weltweiten
Materialismus gibt, der die Grundlagen des christlichen Glaubens
bestreitet. Gegenüber einem solchen Gegner, der hinsichtlich der
Schärfe seiner philosophischen Argumentation nicht unterschätzt
werden darf, der wenigstens scheinbar auch in uns Christen von
heute eine Erfahrung der Abwesenheit Gottes, der Notwendigkeit
und gleichzeitig rationalen Durchschaubarkeit des Ablaufes der
materiellen Welt auch als Grundlage des Bewußtseins und der
menschlichen Gesellschaft anrufen kann, der uns Christen als hoff-
nungslos reaktionäre Vertreter geschichtlich überholter Ideologien
und sich als Vertreter einer jetzt schon siegreichen Lehre der Zu-
kunft ansieht — hinsichtlich eines solchen Gegners muß das Chri-
stentum seine Positionen neu durchdenken; es hat keinen Grund
und kein Recht, so zu tun, als ob alle mit dem heutigen Mate-
rialismus gegebenen Fragen schon darum restlos aufgearbeitet
und beantwortet seien, weil es einen Materialismus immer schon
gegeben hat. Ein sehr bescheidener Beitrag zu diesen Auseinander-
setzungen wollen auch die jetzigen Überlegungen sein. Sie sind,
wie gesagt, von der Überzeugung getragen, daß wir Christen
durchaus Pflicht und Recht haben, uns gewissen Grundhaltungen
des heutigen Menschen zu stellen, sie unbefangen in uns aufzu-
nehmen, und daß wir, so wir dies nur richtig tun, bessere und
christlicher glaubende Christen werden. Dies letztlich einfach dar-
185
um, weil die Grundstruktur des heutigen Weltverständnisses gar
nicht so unchristlich ist, wie es sich selbst im Materialismus vor-
eilig und kurzschlüssig interpretiert, sondern im letzten Grunde
aus christlichen Wurzeln erwächst. Natürlich ist es bei einem sol-
chen Bemühen gar nicht vermeidbar, daß manches, was gesagt
wird, einem dezidierten Christen als eine falsche oder gefährliche
oder überflüssige Konzession an den Gegner erscheint, daß einem
solchen Christen der einfache, handfeste und erbitterte Wider-
spruch zum Materialismus als die einzig anständige und erfolg-
‚versprechende Haltung vorkommt. Aber ein solcher sollte doch
bedenken, ob denn eine solche weltweite, im Westen genauso wie
im Osten verbreitete materialistische Haltung nur Irrtum und
Schuld enthalten könne auch in der Beurteilung dessen, der an
Gottes Fügung in der Geschichte der Menschheit und an das Licht
des Logos glaubt, der alle Menschen erleuchtet. Das Christentum
und seine Theologie müssen sich gewiß hüten, faule Kompromisse
mit falschen philosophischen Systemen und mit einem Zeitgeist
zu schließen, in dem auch immer die Macht des Bösen und schuld-
hafte Verfinsterung am Werke sind. Aber eine wirkliche Theologie
darfsich auch nicht weigern, neu zu lernen, und darf nicht meinen,
sie führe in ihrer bisherigen Gestalt nicht auch Elemente der Ein-
trübung und der Einseitigkeit mit sich, die aus dem unchristlichen
Geist früherer Jahrhunderte stammen und nicht schon darum
christlich geworden sind, weil wir sie und ihren Widerspruch zu
den christlichen Grundpositionen aus Gewohnheit nicht deutlich
empfinden. Dieser kurze Beitrag kann natürlich nicht auch noch
unmittelbar auf die Frage der Existenz Gottes und seiner philoso-
phischen Erkennbarkeit eingehen. Er soll in einem ersten Teil
einen Überblick geben über die unmittelbaren Daten der christ-
lichen Verkündigung, mit denen eine Einheit von Geist und Ma-
terie gegeben ist. Er soll dann in einem zweiten Teil einige theo-
logische Überlegungen mitteilen, die, ausgehend von den im ersten
Teil genannten unmittelbaren Glaubensdaten, Sinn und
Trag-
weite dieser Einheit von Geist und Materie zu verdeutlichen
suchen.
186
Der christliche Glaube kennt eine Einheit von Geist und Materie
von deren Ursprung her, in ihrer Geschichte und in ihrem Ziel.
1. Der christliche Glaube kennt eine Einheit von Geist und
Materie insofern von ihrem Ursprung her, als er bekennt, daß die-
ser Ursprung ein und derselbe ist, nämlich die unendliche, abso-
lute und eine Wirklichkeit dessen, den wir Gott nennen. Wenn
wir diesen Satz sagen, müssen wir uns dabei zunächst einmal
klar machen, daß wir mit Gott nicht eine Größe benennen, die
uns vor unserer Erfahrung von materieller Welt und Geist
schon bekannt, in ihrer Existenz und ihrem Wesen schon un-
abhängig von Geist und Materie zugänglich wäre, so daß wir,
weil wir Gott schon wissen, von ihm auch sagen würden, gleich-
sam nebenbei, daß er auch die materielle Welt und jene Wirk-
lichkeit geschaffen habe, die wir Geist nennen, ganz gleichgültig
zunächst, wie wir deren Verhältnis zu dem bestimmen, was wir
die materielle Welt nennen, und auch gleichgültig, was wir
eigentlich genau meinen, wenn wir von Materie und materieller.
Welt sprechen. Wir meinen vielmehr mit Gott gerade jenes ab-
solute Geheimnis, das wir als Voraussetzung und Grund hinsicht-
lich des Objekts und des Subjekts immer in unserer geistigen
Weltbegegnung wenigstens implizite mitdenken, ob wir wollen
oder nicht. In dem Satz des christlichen Glaubens, den wir
aussprachen, steht also Gott als Grund und umfassende vorge-
gebene Einheit der Erfahrung von Geist und materieller Welt in
ihrer Einheit. Es wird also in diesem Satz gerade gesagt, daß wir
Gottnicht nur postulieren als schöpferische Ursache von zwei völlig
disparaten Wirklichkeiten, sondern daß wir ihn als die eine und
selbe Ursache von Materie und Geist darum als eine nennen, weil
wir eine ursprüngliche Verwiesenheit beider Größen aufeinander
in unserer Erfahrung schon gegeben finden. Ohne eine solche
letzte Verwandtschaft von Geist und Materie in der Einheit eines
wirklichen und inhaltlichen, wenn auch analogen Seinsbegriffs
und ohne die Erfahrung der Einheit von Geist und Materie im.
Akt des erkennenden Menschen selbst könnte der Mensch gar
nicht auf die Einsicht kommen, daß diese scheinbar so entgegen-
187
gesetzten und disparaten Wirklichkeiten einer Herkunft und eines
Ursprungs aus dem einen Gott sind, daß beide getragen werden
von der bleibenden aktuellen Kraft jenes unendlichen und not-
wendigen Seins, das wir eben Gott nennen. Wie die Geschichte
der Philosophie und die Geschichte der Bestreitungen des christ-
lichen Schöpfungsdogmas zeigt, ist dieser Satz von Gott dem
Schöpfer der Materie und des Geistes, so ursprünglich er auch
nicht nur ein Glaubenssatz, sondern ein Grundsatz der Existenz
des Menschen überhaupt ist, doch nicht einfach selbstverständlich.
Immer wieder wurde die Materie als das Dunkle, Widergöttliche,
Finstere, Chaotische empfunden, das zum Geist als dem wahren
Abbild und Statthalter Gottes in der Welt in Widerspruch undin
einem erbitterten Kampf steht, der die Natur- und Weltgeschichte
ausmacht, und immer wieder hat das Christentum gegen diese
Vorstellungen als kurzschlüssige und voreilige Interpretationen
menschlicher Erfahrung protestiert und sie als Irrtum und Häresie
verdammt, auch wenn nicht alles an der obzwar falsch interpre-
tierten Erfahrung des Menschen verkehrt war. Die Materie selbst
mit allem, was sie ist und besagt, stammt aus demselben Urgrund,
dem der kreatürliche Geist entspringt. Sie selber auch in ihrer
Endlichkeit, Zeitlichkeit und raumzeitlichen Differenzierung und
in ihrer Geschichte und in ihrem Unterschied (wenn auch nicht
Widerspruch) zum Geist entstammt Gottes schöpferischem Akt
selbst, und dieser reicht unmittelbar an sie selbst heran, so daß sie
gleich unmittelbar zu Gott ist und nicht eigentlich eine Art von
Gott weiter abstehendes, sekundäres Produkt einer Entwicklung,
in der Gott eigentlich nur das Werden des Geistes selbst inaugu-
riert hätte. Sie ist gut; sie sagt in ihrer Weise ihren Ursprung aus
und sie kann darum im letzten gar nicht der Widersacher des Gei-
stes sein, wenn anders die gnostische Irrlehre zu verwerfen ist, daß
in Gott selbst eine innere tragische Widersprüchlichkeit gegeben
sei. Wenn bei dieser Glaubensaussage von Gott als dem Schöpfer
von Geist und Materie sehr oft hinzugefügt wird, Gott, der Schöp-
fer «Himmels und der Erde », sei aber selber Geist, so ist
diese
natürlich einen richtigen Sinn bergende Aussage mit Vorsicht
zu
hören, denn Gott im christlichen metaphysischen Verständnis
ist
ja nicht ein Teil dieser Welt, sondern ihr sie umfassender
und alle
188
ihre differenzierten Wirklichkeiten unmittelbar tragender Grund,
nicht die durch die Teile der Welt hergestellte Einheit aller Wirk-
lichkeiten, sondern der vorgängige Grund der Möglichkeit dieser
Einheit, der darum auch dieser Gezweitheit von Subjektivität und
Objektivität vorausliegt, die wir Geist und Materie benennen.
Gottes «Geistigkeit» ist also von vornherein qualitativ anderer
Art als die innerhalb der Welt antreffbare, denn diese ist das von
der Materie Verschiedene, das die Materialität voraussetzt und
nicht schafft, jene ist der Grund von Geist und Materie in der Welt,
der zu beidem ein gleich unmittelbares Verhältnis hat und nur
darum « Geist» genannt wird, weil die von uns erfahrene Geistig-
keit uns mit Recht als das Höhere innerhalb der Welt erscheint und
selbst schon die transzendentale und zu sich kommende Beziehung
zu jenem tragenden Urgrund alles Seienden in ihrem Wesen ein-
schließt, den wir Gott nennen, und darum (durch diese intentio-
nale Unendlichkeit) die Negativität des einfach schlechthin und
in jeder Hinsicht Endlichen in ihrem Wesen nicht positiv ein-
schließt und somit eher zur Charakterisierung Gottes verwandt
werden kann als die Materialität des einzelnen in jeder Hinsicht
Endlichen. Wie weit darüber hinaus auch die Materialität selbst als
solche zum analogen Verständnis Gottes verwendet werden kann,
wenn natürlich nicht in genau derselben Weise wie die Geistigkeit
des transzendentalen Subjekts, kann letztlich nur dann genauer
beantwortet werden, wenn das genauere Verhältnis der kreatür-
lichen, weltlichen Geistigkeit zur Materie geklärt wäre. Ergäbe
sich nämlich oder ergibt sich, daß kreatürliche Geistigkeit ohne
Beziehung auf Materialität als eine Bedingung ihrer Möglichkeit
gar nicht denkbar ist, auch wenn diese Beziehung bei verschieden-
artiger Geistigkeit verschieden gedacht werden muß, dann würde
oder wird sehr deutlich werden, daß und warum die Charakteri-
sierung Gottes als Geist nur sehr analog zu verstehen ist und eigent-
lich nur geschehen kann, indem gleichzeitig der Ausgangspunkt
für die Erkenntnis Gottes per viam negationis et eminentiae auch
immer bei der Materie genommen wird. Aber davon kann jetzt
noch nicht gesprochen werden. Aufjeden Fall bedeutet.das christ-
liche Dogma von der Erschaffung der guten Materie und des Geistes
und die Verwerfung jedes Dualismus und Gnostizismus, die die
189
Materie a-göttlich oder widergöttlich und widergeistig sehen, auch
die Behauptung einer innersten und letzten Einheit und Ver-
wandtschaft von Geist und Materie. Wie diese Verwandtschaft und
Einheit von Geist und Materie untereinander genauer zu denken
sind, darüber sagt das christliche Schöpfungsdogma rein in sich
. noch nicht viel aus, es bedeutet aber doch immerhin eine entschei-
dende Aufforderung, darüber nachzudenken, wie auch in seiner
Geschichte und in seinem Ziel zusammengehört, was trotz seiner
-Unterschiedlichkeit einer Herkunft ist.
2. Geist und Materie haben eine Einheit in ihrer Geschichte.
Hinsichtlich dieser Tatsache können hier nur einige wenige An-
deutungen gemacht werden. Sie zeigen aber, daß die christliche
Grundkonzeption der nicht-göttlichen Wirklichkeit einen letzten
radikalen Dualismus von Geist und Materie verwirft. Ja, es ist
nicht einmal so, daß man dem christlichen Glaubensverständnis
gerecht wird, wenn man die materielle Welt in ihrer physischen
und biologischen Sphäre auffassen wollte als eine Art neutraler
Bühne, auf der sich die Geschichte geistiger Personen, ihrer Kul-
tur, ihres Heiles und Unheiles, des Werdens ihrer ewigen Vollen-
dung abspielen würde, wobei aber diese Bühne selbst von diesem
geistigen Geschehen unberührt bliebe oder die Geschichte der
Natur selber nur gewissermaßen zufällig auch der Schauplatz
einer solchen Geistesgeschichte wäre. Natürlich drängt sich eine
solche Vorstellung wegen des Pluralismus der menschlichen Er-
fahrung immer wieder vor. Natürlich kommt es dem Menschen
immer wieder so vor, als sei der Lauf der Natur am Menschen und
seiner Geschichte uninteressiert und als sei er der Fremdling inner-
halb einer Naturgeschichte, der darin nur eine ganz kurze Rolle
spiele, um sich möglichst rasch aus dieser Welt in ein Reich des
bloßen Geistes, des Jenseitigen und Gottes zu flüchten, während
die Geschichte der Natur unberührt davon ihren ehernen Gang
weitergehe. Natürlich ist der christliche Grundansatz von der Ein-
heit der Geschichte der Materie und des Geistes noch nicht in all
seinen Perspektiven durchdacht, weder hinsichtlich der Einbezie-
hung der Geschichte der Natur in die des Geistes noch umgekehrt
hinsichtlich der kosmischen Bedingtheit und Bedeutung der Gei-
stesgeschichte für die Naturgeschichte. Daß hier noch sehr viel zu
190
tun ist, ist allerdings auch nicht verwunderlich: die Reflexion des
Menschen kann der faktischen Geschichte in ihrer wirklichen
Konkretheit nicht in Wahrheit vorauseilen.
Der letzte Grundansatz für eine wahre Einheit von Geist und
Materie in ihrer Geschichte ist aber eindeutig gegeben. Er soll hier
zunächst nicht spekulativ entfaltet werden auf Voraussetzungen
und Folgerungen hin, die im ausdrücklichen Glaubensbewußtsein
der Christenheit nicht oder noch nicht deutlich gegeben sind; es
sollen hier für diese Einheit der Geschichte von Geist und Materie
nur einige Hinweise geboten werden, die im christlichen Dogma
unmittelbar greifbar sind.
Zunächst muß eine Schwierigkeit ausgeräumt werden, soweit
das innerhalb der Feststellung dieser ausdrücklichen Glaubens-
aussagen schon möglich ist, die gegen eine deutliche und konse-
quent bleibende Auffassung von dieser Einheit sich immer wieder
vordrängt. Der christliche Glaube spricht von der Existenz von
Engeln; diese werden in einer platonischen Formulierung als
«reine Geister » charakterisiert, und von beidem her entsteht dann
in einem durchschnittlichen, vulgären Glaubensverständnis, das
nicht einfach mit dem Dogma identifiziert werden darf, der Ein-
druck, es gebe ein geschaffenes Reich endlicher Geister, das von
der materiellen Welt und ihrer Geschichte völlig unabhängig seine
eigene Geschichte betreibe und so zeige, daß Geist und Materie
auch innerhalb der kreatürlichen Wirklichkeit nur sehr partiell
etwas miteinander zu tun haben. Von da aus ist dann die Vorstel-
lung der Welt als des bloß zufälligen und letztlich überflüssigen
Schauplatzes einer an sich auch wieder materielosen Geschichte
psychologisch fast nicht mehr vermeidbar. Nun kann hier weder
über das Dogma noch über die Theologie von den Engeln Genü-
gendes gesagt werden. Erst recht muß der Versuch unterbleiben,
hier zu zeigen, daß das Dogma von den Engeln mit dem beinahe
Märchenhaften, Mythologischen und für den heutigen Menschen
Unvorstellbaren einer landläufigen Engelsvorstellung nichts zu
tun hat. Hier kommt es nur darauf an, zunächst kurz zu zeigen,
daß in der christlichen Lehre von den Engeln durchaus genügend
Momente enthalten sind, die eine grundsätzliche Einbeziehung der
Engel und ihrer Geschichte in die des Kosmos erlauben, ja sogar
191
nahelegen. Es ist eine theologisch durchaus umstrittene, offene
Frage, ob die Schaffung der Welt zeitlich mit der der Engel zusam-
menfällt oder nicht. Läßt man berechtigtermaßen die Schaffung
_ der Geisterwelt der Engel mit der des materiellen Kosmos zusam-
menfallen (natürlich immer in dem Sinn, in dem die Setzung der
zeitlichen Welt durch eine nicht zeithafte Ursache in einem
« Zeitpunkt» geschehend gedacht werden kann), so ist von da aus
mindestens einmal der Zeitraum geistiger und materieller Ge-
schichte der gleiche. Weiterhin zeigen die theologischen Daten,
auf die hier im einzelnen nicht näher eingegangen werden kann,
daß die Geschichte auch der Engel und die der Welt in vieler Hin-
sicht mindestens einmal miteinander verflochten sind. Beider ge-
meinsamer Endpunkt ist das ewige Reich Gottes; die Begnadung
der Menschen als Bürger der materiellen Welt und der Engel ist die
gleiche; die Engel, ob sie als gut oder böse zu denken sind, üben
nach christlicher Lehre durchaus Funktionen in dieser Welt aus;
diese müssen, zumal sie in die materielle Welt hinab- oder hinein-
reichen, letztlich eben doch im Wesen der Engel begründet sein;
diese können durchaus auch nach der Schrift als kosmische (wenn
auch personale) Ordnungsmächte der Natur und ihrer Geschichte
aufgefaßt werden; die christliche Theologie hat den Gegenstand
der personalen Entscheidung der Geistermächte personaler Art,
Engel genannt, immer wieder in Christus und seiner Heilsfunk-
tion für die Geschichte der Menschheit und somit der materiellen
Welt gesehen. Betrachtet man dies alles, so wird man wohl der
Meinung sein dürfen, daß zunächst einmal die Lehre von den
Engeln als «reinen Geistern », so richtig der damit gemeinte Inhalt
auch sein mag, einer platonischen und nichtchristlichen Entwelt-
lichung des kreatürlichen Geistes unberechtigterweise Vorschub
leistet, und daß ferner trotz ihres Unterschiedes zu den Menschen
die Engel so gedacht werden können, daß sie von ihrem eigent-
lichsten und ursprünglichsten Wesen her in ihrer Weise Mächte
der einen, also auch materiellen Welt sind, zu deren Materialität
sie eine echte Wesensbeziehung haben. Jedenfalls aber darf man
sagen, daß die christliche Lehre von den Engeln einer entschiede-
nen und konsequenten Auffassung von der Einheit von Geist und
Materie in ihrer gemeinsamen Geschichte nicht grundsätzlich im
192
Wege steht. Da wir ja schließlich auch theologisch nur sehr wenig
Sicheres von den Engeln und Dämonen wissen, haben wir nach
_ dem Gesagten durchaus das Recht, auf die Einheit von Geist und
Materie zu blicken, wie sie uns in der Geschichte des Menschen zur
unmittelbaren und auch offenbarungsmäßig gedeuteten Erfah-
rung kommt, und diese Einheit als im Prinzip paradigmatisch zu
betrachten für die Einheit von Geist und Materie im kreatürlichen
Bereich überhaupt.
So gesehen ist für die christliche Theologie eine grundsätzliche
Einheit der Geschichte von Geist und Materie kein Problem. Der
Mensch ist in der Schrift des AT sehr undualistisch und sehr un-
platonisch eine Einheit in seinem Wesen und in seiner Geschichte,
und die Welt ist von vornherein als seine ihm zugedachte Umwelt
gesehen. Er stammt von der Erde, ist also (moderner ausgedrückt)
auch schon in der Schrift unbefangen als Produkt des materiellen
Kosmos gesehen, unbeschadet dessen, daß er auch als geistiger,
verantwortlicher Partner Gottes gewußt wird, der unmittelbar
von Gott gerufen ist, ohne daß darum die Schrift diesen einen Men-
schen in der paradoxen Zweiheit seiner Herkunft in zwei vonein-
‘ander unabhängige Wirklichkeiten, Geist und Materie genannt,
zerfallen läßt. Dementsprechend ist für die Schrift besonders des,
AT der ganze Mensch vom Tod in Mitleidenschaft gezogen; ist das
irdische, raumzeitliche Leben das Leben des personalen Geistes,
dem für die Bildung seiner frei getanen Endgültigkeit kein anderes
Leben vor oder nach diesem Leben materieller Raum-Zeitlichkeit
zur Verfügung steht; ist die Vollendung, auf die der Mensch hof- ,
fend blickt, nicht eine Befreiung des Geistes in einer der Materie
enthobenen Seinsweise, sondern die «Auferstehung des Fleisches»,
also eine Daseinsvollendung, in der, wenn auch in einer der Vor-
stellung entzogenen Weise, der eine, ganze Mensch aus Geist und
Materie zur Vollendung kommt. Dementsprechend vollzog sich die
Abkehr des Menschen von Gott am Beginn der Menschheits-
geschichte am Material der Welt in der autonomen Verfügung
über innerweltliche Güter, nicht in einer Verderbnis einer a-kos-
mischen Beziehung des Menschen zu Gott. Dementsprechend sind
die christlichen Gebote nie auf bloß innerliche Gesinnungsethik
bedacht, sondern enthalten konkrete materiale Forderungen, die
195
immer auch auf die Bewältigung der Aufgaben des einen, leib-
lichen und von daher auch sozial gebundenen Menschen hinzielen.
Dementsprechend vollzieht sich das, was wir christliche Erlösung
nennen, in der Übernahme und dem Ausleiden eines auch biolo-
gischen Geschehens im Tod. Dementsprechend ist der Höhepunkt
der Heilsgeschichte nicht die Entweltlichung des Menschen als
Geist, um so zu Gott zu kommen, sondern die absteigende und
irreversible Weltlichkeit Gottes, das Kommen des göttlichen Logos
in das Fleisch, die Annahme des Materiellen, so daß sie selber blei-
bende Wirklichkeit Gottes wird, in der Gott in seinem Logos sich
wirklich und wahrhaft uns für immer aussagt. Dementsprechend
ist die Heilsgeschichte des Einzelnen, sosehr sie je einmalige, per-
sonale Entscheidung bedeutet, doch christlich immer aufruhend
auf dem Willen Gottes zu einer geeinten Menschheit, zum Bund,
zur sozialen Vergesellschaftlichung und Greifbarkeit des Heils in
raumzeitlicher Geschichte der Kirche, in greifbaren Sakramenten,
in gesellschaftlichen Institutionen. Immer und überall wird der
Mensch vom Christentum gerade in der Geschichte seines Verhält-
nisses zu Gott als leibhaftes, materielles, gesellschaftliches Wesen
angesehen, das diese seine Beziehung zu Gott immer nur in dieser
materiellen Verfaßtheit seines Daseins haben kann. Indem er das
theo-logische und theo-nome Seiende immer nur ist, indem er das
kosmische Wesen ist, ist damit auch schon gesagt, daß seine Ge-
schichte als die einer unmittelbaren Beziehung zu Gott, dem Ur-
grund aller Wirklichkeit, und als Geschichte eines materiellen
Wesens, also eines solchen, das gar nicht anders denn. als Moment
am Kosmos gedacht werden kann (sosehr es Personalität, also je
einmalige Ganzheit dieser Welt selbst bedeutet), immer auch Ge-
schichte der materiellen Welt selbst ist und umgekehrt. Die Ein-
heit von Geist und Materie, weil beide je auf ihre Art Geschichte
haben, ist selbst eine geschichtliche Größe; diese entwickelt sich,
sie kommt im Menschen in ihr entscheidendes Stadium und voll-
endet sich selbst in der Vollendung des Menschen. Geist und Ma-
terie haben in ihrer Geschichte eine Einheit, die wächst, und beide
geschichtlichen Abläufe kommen, wie gleich noch genauer zu
sagen ist, an einem Punkt zu ihrer Vollendung.
5. Dementsprechend weiß die christliche Botschaft auch von
194
. einer Einheit von Materie und Geist in ihrer Vollendung,iin ihrem
Ziel. Zunächst einmal weiß der christliche Glaube nichts davon;
daß das, was wir Materie nennen und als solche erfahren, nur einer
vorläufigen und schließlich endgültig zu überholenden Periode der
Geschichte des kreatürlichen Geistes und der Freiheit angehöre.
Materie ist christlich nicht ein Stichwort für eine befristete Pe-
riode, sondern ein Momentan der Vollendung selbst, und esist viel-
leicht zum großen Teil nur ein platonisches, nicht sehr christliches
Vorurteil, daß man sich einen Vollendungszustand, in dem die
Geschichte in ihrer raumzeitlichen Dehnung in Endgültigkeit
überholt ist, für den kreatürlichen, endlichen Geist leichter vor-
stellen könne als für die Materie. Ist diese Vollendung für die Welt
im ganzen auch nicht der von der Welt selbst her planbare und
herstellbare Endpunkt, der ein Moment an der Geschichte selbst
wäre, sondern die im Glauben und in der Hoffnung vorgesehene
Aufhebung dieser Geschichte durch Gottes Tat selbst, in dessen
Kraft sich die Welt in ihr Ziel hinein überbietet, so ist damit gerade
gesagt, daß diese Vollendung weder für die materielle Welt noch
für den Geist konkret vorgestellt werden kann, aber gerade darum
unbefangen als die Vollendung der Welt gedacht werden muß, die
wir konkret erfahren, der Welt in ihrer Einheit aus Materie und
Geist in einer einen, was nicht heißt «vereinerleiten», Ge-
schichte. Darum kennt die christliche Eschatologie nicht nur und
nicht einmal in allererster Linie das atomisierte Heil des Einzelnen
je für sich in der Seligkeit seiner Seele, sondern das Reich Gottes,
den ewigen Bund, die triumphierende Kirche, den neuen Himmel
und die neue Erde. Soviel bildliche Elemente in all diesen Aussagen
stecken mögen, sosehr alle diese Glaubenssätze in ihrer bloß analo-
gen Begrifflichkeit verstanden werden müssen, immer ist inihnen
die Grundüberzeugung gegenwärtig, daß die materielle Welt in
ihrer Geschichte und die Geschichte des personalen Geistes im
Menschen an einem und demselben Punkt ihr Ziel finden und,
weil getragen von dieser Dynamik auf das eine Ziel, eben mit-
einander eine echte Einheit bilden.
195
; I
196
Materie nicht eigentlich, sondern setzt sie als bekannt voraus.
Schon hieraus ergeben sich Aufgaben grundsätzlicher Art für eine
systematische Überlegung über Verschiedenheit und Einheit von
Geist und Materie. Wenn diese Sätze wirklich verstanden werden
sollen, muß man wissen, was Geist und Materie eigentlich bedeu-
ten. Nur dann kann man den Satz verstehen, Geist und Materie
seien nicht dasselbe, nur dann kann man diesen Satz richtig ver-
stehen, d.h. ohne in einen absoluten Dualismus zu verfallen, dem
es nicht mehr gelingen könnte, Geist und Materie in Ursprung,
Geschichte und Ziel als Einheit zu begreifen. Was Geist bedeutet,
ist ein wenn auch der auslegenden, reflexen Artikulation bedürf-
tiges apriorisches Datum der menschlichen Erkenntnis, von dem
erst metaphysisch bestimmt werden kann, was eigentlich mate-
riell und Materie bedeutet. Es ist ein unmetaphysisches, im
schlechten Sinn materialistisches Vorurteil, zu meinen, der Mensch
gehe zunächst mit der Materie um, er wisse genau, was sie sei, und
müsse dann erst nachträglich, mühsam und höchst problematisch
auch noch « Geist» entdecken und könne darum nie recht wissen,
ob sich das damit Gemeinte nicht doch noch auf die Materie zu-
rückführen lasse, mit der er primär und fraglos wissend umgehe.
In Wirklichkeit ist dasjenige, womit der Mensch primär umgeht,
er selbst als der mit dem anderen von sich, der «Welt», wissend
und handelnd Umgehende, der Mensch also in einer Einheit und
Verschiedenheit von wissendem Subjekt und begegnendem Ob-
jekt, wobei Einheit und Verschiedenheit und Unvertauschbarkeit
dieser Momente gleich ursprünglich sind. Wenn ein Materialist
sagt, es gebe nur Materie, so muß er nur gefragt werden, was er
denn unter Materie verstehe, von der er sagt, sie sei die einzige
Wirklichkeit, und man wird erkennen, daß innerhalb eines mate-
rialistischen Systems, in dem das ursprünglich und allein Wesen
und Norm Gebende außerhalb der Einheit von Subjekt und Objekt
steht, der erste und letzte Satz eines solchen Systems überhaupt
keinen angebbaren Sinn hat. Wirklich naturwissenschaftliche
Aussagen können nämlich immer nur funktionelle Zusammen-
hänge zwischen Verschiedenem feststellen: wenn A ist,.dann er-
eignet sich B. Wenn alles Materie ist, dann ist naturwissenschaft-
lich unaussagbar und unbestimmbar, was dieses «Alles» sei, was
197
also Materie sei. Denn es kann definitionsgemäß nichts geben, von
wo aus dies «alles» in seinem gemeinten Sinn bestimmt werden
könnte als Funktion von etwas anderem. Die Versuche, die Ma-
terie — Alles zu bestimmen, könnten nur darauf hinauslaufen,
den reinen Formalismus dieses Netzes von funktionellen Aussagen
als das «Wesen » dieses «Alles » zu erklären, was eine höchst idea-
listische Deutung des Wesens der Materie wäre und mindestens
die Frage aufwerfen würde, ob dieses Wesen einfach die apriori-
stische Struktur der Erkenntnis des erkennenden Subjekts sei und
gar nichts mit der «Wirklichkeit an sich» zu tun habe. Oder das
Wesen dieser Materie bestünde in den rein empirischen Daten der
Erfahrung als solcher, die durch diese mathematisierten funktio-
nellen Zusammenhänge geordnet würden, ohne restlos in diese
aufgelöst werden zu können. Dann aber wäre erst recht keine
Aussage über die Materie gegeben, da diese rein aposteriorischen
und empirischen Daten als solche ja gerade unter sich verschieden
sind, als solche gar nichts « Einheitliches » darstellen, von sich al-
lein her also gar keine Aussage über die Materie erlauben und noch
viel weniger die These gestatten, es könne nur genau solches wie
das bisher Erfahrene geben. Der Satz also: Alles ist Materie, hat
im Mund eines bloß naturwissenschaftlichen Materialisten gar
keinen angebbaren Sinn, weil er innerhalb seines Systems und mit
seiner Methode grundsätzlich gar nicht sagen kann, was er unter
Materie versteht. Der Satz, es gebe nur Materie, könnte somit, soll
er überhaupt noch einen Sinn haben, nur das postulatorische und
heuristische Prinzip besagen wollen, daß eine absolute und
schlechthin in jedweder Weise irreduktible Pluralität absolut und
unter jeder Hinsicht disparater, auf gar keinen gemeinsamen
Nenner zu bringender Wirklichkeiten, die aber doch gleichzeitig
Gegenstände der einen möglichen Erkenntnis des einen und sel-
ben Menschen sein sollen, von vornherein eine logisch und sach-
lich unvollziehbare Vorstellung, ein metaphysischer Nonsens ist.
Dieses Prinzip ist durchaus richtig. Wenn man es aber in der ge-
nannten Weise formuliert, dann ist «Materie» sachlich mit dem
Begriff «Seiendes» identisch. Man könnte an sich eine solche
Gleichsetzung vornehmen, ohne damit schon etwas schlechthin
Falsches behauptet zu haben, weil mit dem Prinzip überhaupt
198
noch keine Aussage gemacht ist als die: Es gibt nur Seiendes, und:
_ Über schlechthin jedwedes Denkbares lassen sich wenigstens einige
Aussagen gemeinsam und für alle Seienden gültig machen. Man.
_ könnte sogar diese terminologische Anfangsfestsetzung mit dem
Hinweis positiv zu empfehlen suchen, es sei ja auch für eine christ- |
liche Philosophie im Unterschied zur platonischen und idealisti-
schen das dem Menschen in seiner Erkenntnis Erst-Begegnende,
das er also mit Recht als den Ausgangspunkt seiner Erkenntnis
und den Modellfall seiner möglichen Erkenntnisgegenstände be-
trachtet: das sinnlich Erfahrbare und in diesem Sinn das Materielle.
Aber dieser Empfehlung müßte entgegengehalten werden, daß es
zunächst bei dem aufgestellten postulatorischen und heuristischen
Prinzip deutlich bleiben müsse, daß mitihm noch durchaus verein-
bar bleibt, daß es innerhalb dieser einen «Materie» noch Unter-
schiede geben kann, durch die sich die einzelnen Wirklichkeiten
innerhalb dieser einen «Materie» so voneinander unterscheiden,
daß sie aufeinander nicht eigentlich zurückgeführt werden kön-
nen, sosehr nochmals auch dann die Frage nicht beantwortet ist,
ob die Einheit dieser voneinander irreduktiblen, wesentlich von-
einander verschiedenen Wirklichkeiten untereinander grund-
sätzlich oder faktisch eine bloß logische und ihrer eigenen Einzel-
wirklichkeit nachträgliche oder eine wie immer auch reale ist.
Und zweitens müßte dieser Empfehlung des fraglichen Prinzips
entgegengehalten werden, daß das wirklich Erstgegebene in der
menschlichen Erfahrung nicht das Materielle an und für sich,
sondern die Beziehungseinheit eines unter einem unbegrenzten
Horizont des Fragens fragenden Subjekts mit einem sich zeigenden
sinnlichen, aposteriorischen und innerhalb des transzendentalen
Horizonts aufgenommenen, von diesem aber nicht ableitbaren
Objekt ist. Die Urwirklichkeit der Erfahrung ist also die Einheit.
Sie verrät und bejaht zwar schon die innere Bezogenheit, Ver-
. wandtschaft und Einheit mit Subjekt und Objekt trotz und in ihrer
Verschiedenheit und gibt darum auch das Recht, das Subjekt und
das Objekt unter einen gemeinsamen Begriff und unter ein Wort
zu bringen. Diese Urwirklichkeit in ihrer Einheit erlaubt aber
nicht, in der Weise eines Panpsychismus oder eines dialektischen
Materialismus oder eines durchgängigen psychophysischen Paral-
199
lelismus für alles einzelne, das innerhalb dieser Einheit angetrof-
fen wird, für sich selbst wieder eine solche Beziehungseinheit
subjektiv-objektiver Art zu postulieren, weil dies ja offensichtlich
“einen sinnlosen Processus in infinitum einleiten würde oder den
in dieser Einheit antreffbaren Unterschied von Subjekt und
Objekt wieder aufheben würde. Vom Uransatz her ist es also, zu-
mal in Anbetracht der historischen Vorbelastetheit der Worte
«Materie » usw., nicht angebracht, die Subjektivität, die in dieser
Einheit angetroffen wird, auch unter das Wort «Materie» zu
subsumieren, weil damit der in der Einheit ebenso ursprünglich
angetroffene Unterschied zwischen dem Subjekt in seiner unbe-
grenzten Transzendenz und dem bloß angetroffenen Objekt min-
destens verundeutlicht würde. Die Weigerung, diese Termino-
logie zu verwenden, ist also noch nicht eine Vorentscheidung zu-
gunsten einer platonischen Vorstellung von Geist als dem zu Ma-
terie einfach Widersprüchlichen oder gänzlich Fremden noch eine
Vorentscheidung darüber, ob esinnerhalb der «Welt», d.h. inner-
halb des Raumes möglicher, erfahrbarer Einzelgegenstände, solche
geben könne, die schlechterdings und in jeder Hinsicht exempt
sein können von jenen « materiellen » Gesetzen, die wir an unserer
empirisch erfahrenen Wirklichkeit materieller Art entdecken,
oder ob dies nicht denkbar sei. Auch wenn wir eine durchgängige
und notwendige Bezogenheit von Geist und Materie aufeinander
im Raum von Welt postulieren, sind wir noch keine Materialisten
im Sinn einer vom Christentum verworfenen Interpretation der
Wirklichkeit. Denn daß Gott als Ursache aller in den Unterschied
von Subjekt und Objekt gezweiten Wirklichkeit, also von Geist
und Materie, diesem innerweltlichen Unterschied von Geist und
Materie transzendent ist, haben wir schon gesagt. Und ebenso ist
schon darauf hingewiesen worden, daß die christliche Lehre von
den Engeln nicht zwingend den Schluß erlaubt, es gebe kreatür-
liche Wirklichkeit geistiger Art, die schlechterdings nichts mit der
Materie zu tun habe. Es ist also gar nicht so unmittelbar einsichtig,
wie es auf den ersten Blick zu sein scheint, was Materie ist. Geist
aber ist mit der Frage nach ihm schon gesetzt und in seinem Wesen
schon erfahren und läßt sich in seinem Sinn aus der Frage selbst
in einer transzendentalen Deduktion entfalten. Was Materie im
200
r
201
N
202
und so auch unter dem Gesichtspunkt der Zielsetzung die Materie
nicht einfach inkommensurabel neben dem Geist stehen kann.
Die christliche Philosophie und Theologie bestreiten nämlich
durchaus mit Recht, daß Gott eine materielle Welt für sich allein
schaffen « könne », weil dies einfach sinnlos wäre. Sie müssen dann
aber das wirklich «Sinnlose » als das ontologisch Unmögliche er-
kennen, da die Unterscheidung zwischen einem physisch und
einem nur moralisch Unmöglichen hinsichtlich Gottes ein törich-
‚ter Anthropomorphismus ist. Das Materielle ist also für eine
christlich-theistische Philosophie und Theologie überhaupt nur als
Moment an Geist und für (endlichen) Geist denkbar. Man wird
also nicht sagen dürfen, daß den Christen nur daran gelegen sei,
den Unterschied zwischen Geist und Materie herauszuarbeiten,
daß sie die innere ontologische Wesensverwandtschaft und das
gegenseitige Bedingungsverhältnis übersehen hätten. Was wir Ma-
terielles nennen, ist mindestens in einer thomistischen Philoso-
phie immer gesehen worden als eingegrenzter, gewissermaßen
gefrorener Geist, als begrenztes Seiendes, dessen Sein als solches,
d.h. abgesehen von der realen Negativität und Begrenzung in
diesem Seienden (gewöhnlich « materia prima» genannt, die von
sich her keine positive Wirklichkeit bedeutet), genau jenes Sein
ist, das außerhalb einer solchen Begrenzung Bei-sich-Sein, Er-
kenntnis, Freiheit und Transzendenz auf Gott besagt. Natürlich
ist diese Eingrenzung im materiellen Seienden, sein Nicht-zu-
sich-selber-Kommen in Transzendenz auf das Sein schlechthin,
metaphysischer, wesenskonstitutiver Art, d.h. man darf sich nicht
vorstellen, diese innere, zum Wesen eines einzelnen materiellen
Seienden als eines bloß solchen gehörende reale Negativität könne
von ihm von sich aus abgestreift werden und es könne sich so in
einem bloß innerweltlichen Werdeprozeß in Geist verwandeln.
Da diese innere Negativität in ihm, insofern es bloß materiell ist,
die Setzung der transzendenten Ursache Gottes ist und so zu sei-
nem Wesen gehört, ist all sein Handeln schon immer und von
vornherein und notwendig eingefangen durch diese als Wesens-
grenze von Gott gesetzte Begrenztheit. Sein Handeln bewegt sich
darum auf dem Boden dieser Negativität, deren Aufhebung also
nie durch dieses Seiende als solches verwirklichbar ist. Es gibt also
203
. vom Materiellen aus mit den ihm wesenskonstitutiven Mitteln kei-
nen selbständigen und dem Wesen dieses Materiellen immanenten
Sprung in die «Noosphäre ». Aber diese Entschränkung des Be-
schränkten (Materielles genannt) geschieht eben im Geist, vor
allem auch dort, wo dieser Geist selber so in die Materialität ein-
geht, daß er sie von sich unterscheidet und bei sich behält als Mo-
ment seiner eigenen Geistwerdung, seines Zu-sich-Kommens,
nämlich im Menschen. Was so im Geist und durch Geist aus seiner
Negativität heraus entschränkt wird, ist eben die geistige Wirk-
lichkeit und Positivität des Materiellen, letztlich nichtirgend etwas,
was in seiner geistfremden Objektivität erkannt würde, sondern
ein Moment am Geist und an dessen Seinsfülle selbst. Nur so istja
letztlich auch in einer christlichen Philosophie ausdeutbar, was
Dogma des Christentums ist, daß nämlich die geistige Seele (als
geistige) Form des Leibes ist, was eben letztlich für die thomi-
stische Philosophie doch bedeutet, daß alle, auch alle positive ma-
terielle Wirklichkeit am Menschen Wirklichkeit und Ausdruck
seines Geistes ist. Darum ist die Leiblichkeit des Menschen not-
wendig ein Moment der Geistwerdung des Menschen, also nicht
das Geist-Fremde, sondern ein begrenztes Moment am Vollzug des
Geistes selbst. Und das gilt dann eben auch vom übrigen Materiel-
len, zumal dieses von vornherein als Umwelt, als die erweiterte
Leiblichkeit von Geist aufgefaßt werden muß, wobei es ontolo-
gisch gleichgültig ist, ob diese Wirklichkeiten rein äußerlich-zeit-
lich sich als gleichzeitig oder als zeitlich hintereinanderliegend
präsentieren, zumal es noch längst nicht ausgemacht ist, daß Gott
die materielle Welt auch hätte schaffen können ohne die innerlich
notwendige Gleichzeitigkeit und Einheit mit jener Geistigkeit, die
wir die der «Engel» nennen und hinsichtlich derer wir schon ge-
sagt haben, daß es eine durchaus offene Frage sei, ob nicht auch sie
von ihrem Wesen her eine notwendige Beziehung zur Materie hat,
ohne daß die Engel deswegen auch schon «leibliche» Wesen in
der Weise sein müßten, wie es die Menschen sind. Es ist im ersten
Teil der Überlegungen auch schon gesagt worden, daß der Geist
(wenigstens dort, wo erendlich ist) christlich nie so gedacht werden
kann, daß er sich, um vollendet zu werden, von der Materialität
wegbewege, daß seine Vollendung proportional zu seiner Entfer-
204
nung von der Materie wachse, wie es die ewige platonische Versu-
chung einer falschen Interpretation des Christentums ist, sondern
nur so, daß er sich durch die Vollendung des Materiellen selber
sucht und findet. Und wir können heute von einer christlichen
Deutung der gegenwärtigen Erfahrung des Menschen her durch-
aus sagen, daß diese Vollendung des Geistes in der Zuwendung zur
materiellen Welt nicht nur in einer solchen Zuwendung theoreti- -
scher Art, sondern auch in einer handelnden Veränderung dieser
Welt geschieht, in der der Mensch nicht mehr bloß Objekt, son-
dern auch tätiges Subjekt in der realen Geschichte der Natur wird.
Al dies ist nur denkbar, wenn von dem beiderseitigen Wesen her
Geist und Materie nicht einfach als sich fremde Größen neben-
einanderstehen. Wird aber die Materie als gefrorener Geist gedeu-
tet, geistig interpretiert, so bedeutet dies auch notwendig eine
höchst «materielle» Interpretation des endlichen Geistes. Das
wird am deutlichsten, wenn man noch einmal an die Fleischwer-
dung des göttlichen Logos denkt. Eine christliche Theologie und
Philosophie, die diese Grundwahrheit des Christentums nicht in
den Verdacht der Mythologie bringen will, muß sich heute fragen,
warum der Logos, der unendlich ist, wenn er aus sich heraus in die
Sphäre des Endlichen tritt und in ihr und ihrer Geschichte sein
eigenes Wesen zur Erscheinung bringen will, gerade materiell
wird und diese Materialität auch in der Vollendung dieser seiner
endlichen Erscheinung nicht wieder ablegt, sondern ewig beibe-
hält. Bei einer genaueren philosophischen Überlegung dieses
Grunddogmas kann man nicht stehenbleiben bei der Aussage, der
Logos habe diese und jene endliche Wirklichkeit «angenommen »,
und dabei voraussetzen, die Eigentümlichkeit des «Angenomme-
nen » sei eine in sich selbst schon feststehende und keiner weiteren
Deutung mehr bedürftige Größe, die ontologisch der «Annahme »
schon vorausliege (wasrein äußerlich, zeitlich natürlich richtig ist).
Es muß vielmehr an die augustinische Erkenntnis gedacht wer-
den, daß die Schöpfung dieses «Angenommenen » ein bloßes Mo-
ment an dem Sich-zur-Erscheinung-Bringen des Logos in seinem
eigenen Wesen ist, ein Moment an seiner Selbstaussage in die Di-
mension des Endlichen hinein. Dann aber muß auch noch die Ma-
terie, die «angenommen » wird und auch in der Vollendung der
205
Erscheinung des Logos als eines solchen noch gültig bleibt, als
Erscheinung des Logos, also des Geistes, betrachtet werden, als ein
wesentliches Moment an dem, was wird, wenn und indem der
Logos selbst als solcher sich in der Andersheit des Außergöttlichen
und Endlichen zur Erscheinung bringt und zeigt. Materie ist also
die Eröffnetheit und das Sich-in-Erscheinung-Bringen des per-
sonalen Geistes in der Endlichkeit und darum von ihrem Ursprung
her geistverwandt, Moment am Geist, ja Moment am ewigen
Logos, so wie er frei, aber faktisch, und zwar in Ewigkeit, ist. Damit
soll die Materie gar nicht idealistisch vergeistigt werden, denn
durch solche Sätze wird ja der Geist ebenso ursprünglich « materia-
lisiert». Es zeigt sich vielmehr, daß Geist und Materie nicht so in
fremder Disparatheit nebeneinander gedacht werden können wie
zwei beliebige Gegenstände unserer Einzelerfahrung, die in ihrer
Verschiedenheit in deren stumpfer Faktizität nebeneinander er-
fahren werden, vielmehr immer wieder, wie in der ersten, ur-
sprünglichen Erfahrung als, wenn auch untereinander verschie-
dene, so doch unauflöslich aufeinander bezogene Momente der
einen kreatürlichen Wirklichkeit gedacht werden müssen, so daß
der Christ eigentlich nur gleichzeitig Materialist und Spiritualist
sein kann, wenn mit diesen beiden Worten gesagt werden soll, daß
Geist und Materie im letzten nicht Worte für nebeneinander-
liegende, partikuläre Regionen der Gesamtwirklichkeit sind, son-
dern zwar wesensverschiedene, aber doch überall aufeinander be-
zogene, konstitutive Momente der einen Wirklichkeit, meinen,
wo immer wir sie antreffen.
3. Zur Einheit der Geschichte von Geist und Materie: Die bei-
den Größen, die wir betrachten in ihrem gegenseitigen Verhältnis
und in ihrerEinheit, sind keine statischen Größen, sondern kreatür-
liches Sein im Werden; sie haben eine Geschichte, sie entwickeln
sich. Der Gedanke der Geschichtlichkeit ist ein zutiefst christlicher
Gedanke. Daß die Welt eine Geschichte hat in einem einmaligen,
irreversiblen und gezielten Ablauf, das ist, wenigstens im Blick
auf die Geschichte der Menschheit, schon im AT eine fundamen-
tale Aussage. Und insofern das Christentum eine göttliche Vorse-
hung, eine Gemeinsamkeit aller Menschen in Ursprung, Bestim-
mung und Ziel, eine Fülle der Zeiten, eine Geschichte der Offen-
206
_ barung Gottes, den Gottmenschen als Mitte und Höhepunkt der
‚Geschichte, die Hoffnung als eine der Grundbefindlichkeiten des
christlichen Menschen, das ewige Reich Gottes, in dem am Ende
der Geschichte Gott alles in allem ist, kennt, gehört auch für das
NT und das Christentum überhaupt Geschichte, Geschichtlichkeit,
Zeit, Entwicklung (im weitesten Sinn des Wortes) zu den Grund-
kategorien des Daseinsverständnisses. Die ausdrückliche Erkennt-
nis, daß auch die Natur selbst Entwicklung und somit in ihrer Art
Geschichte kennt, magim AT und NT noch nicht deutlich greifbar
sein, zumal das Sechstagewerk am Anfang der Schrift doch eher
zu den Darstellungsmitteln als zum Aussageinhalt selbst gehört.
Da aber die Schrift und das christliche Glaubensverständnis doch
mindestens wissen, daß die Welt für das geschichtliche Dasein des
Menschen geschaffen ist, durch die Tätigkeit des Menschen selbst
verändert wird und teilnehmend in die Vollendung der Mensch-
heitsgeschichte eingeht, so hat der Werdecharakter auch der außer-
menschlichen Welt und Natur doch zum mindesten eine innere
Verwandtschaft mit den Grundüberzeugungen und Grundkate-
gorien des Christentums und kann in eine christliche Weltan-
schauung ohne weiteres assimiliert werden, sobald die natürliche
Erfahrung des Menschen Werden und Entwicklung in der Natur
als Umwelt des Menschen erkannt hat. Entsprechend dem Wesens-
unterschied von Geist und Materie ist natürlich der Werdecharak-
ter in beiden Fällen auch verschieden, worauf nicht näher einge-
gangen werden soll. Entsprechend der gegenseitigen Zuordnung,
Verwandtschaft und Einheit von Geist und Materie in der einen
kreatürlichen Welt sind auch Werden und Entwicklung von Geist
und Materie miteinander verflochten und bedingen sich gegen-
seitig.
Soweit besteht hinsichtlich des Werdecharakters von Geist und
Materie noch kein besonderes Problem über das des Verhältnisses
von Geist und Materie überhaupt hinaus. Das eigentliche Problem,
so wie es die Menschen von heute beschäftigt, wird erst sichtbar,
wenn darauf reflektiert wird, daß Geist als eigentliches Selbst-
bewußtsein und Freiheit in der Welt unserer Erfahrung erst in
einem zeitlich viel späteren Moment auftritt oder wenigstens auf-
zutreten scheint als die materielle Welt und die Abfolge ihrer Ent-
207
wicklung. Man könnte zwar, christlich gesehen, mit dem Hinweis
auf die Engel als zugleich personale Wesen und kosmische Poten-
zen die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich jemals, auch nur zeit-
lich gesehen, eine geistlose, bloß materielle Welt gegeben habe
oder ob nicht die christliche Lehre von den Engeln die Geistge-
steuertheit der gesamten Naturgeschichte impliziere. Doch soll
von dieser Frage hier abgesehen werden, wenn man vielleicht auch
angesichts einer überindividuellen und rein von physisch-chemi-
schen Elementardaten nicht erklärbaren Strukturiertheit der Bio-
sphäre die Frage aufwerfen kann, ob eine solche entelechiale Ge-
formtheit der Natur und ihrer Geschichte eine Hypothese sei, die
schlechthin jenseits der natürlichen, menschlichen Erfahrung
liegt. Wir beschränken uns also auf die Feststellung als Ausgangs-
punkt unserer Überlegungen, daß menschliche Geistigkeit erst an
einem sehr späten Zeitpunkt und vermutlich doch auch an einem
sehr eingegrenzten Raumpunkt der Naturgeschichte entsteht. So
aber entsteht die Frage, ob die Geschichte der Natur und die des
Geistes nicht nur eine Einheit bilden, wenn und insofern beide
schon als gegeben vorausgesetzt werden, sondern auch eine Ge-
schichte bilden, d.h., in einem noch genauer zu bestimmenden
Sinn der Geist selbst als das Ergebnis der Naturgeschichte betrach-
tet werden darf, wenn diese an einem bestimmten Punkt ihrer
Geschichte angelangt ist, oder ob dies mit einem christlichen Ver-
ständnis des Unterschieds zwischen Geist und Materie und des
schöpferischen Verhältnisses Gottes zum Menschen in einem ganz
besonderen Sinn schlechterdings unvereinbar ist. Dies ist die
Frage, die nun zu behandeln ist. Bei der Beantwortung sind hier
im Rahmen eines bescheidenen Vortrags natürlich einige Voraus-
setzungen als schon gültig und angenommen zu machen, die in
einem anderen Zusammenhang selbst Gegenstand philosophischer
und theologischer Überlegung sein müßten. Zu den Sätzen, die
hier schon vorausgesetzt werden müssen, gehört zunächst natürlich
vor allem der Satz, daß alle Wirklichkeit, die wir erfahren, in ih-
rem Dasein und in ihrem Wesen, in ihrem Werden und in ihrer
Tätigkeit und ihrem Selbstvollzug gründet in einem absoluten
Sein, das wir Gott nennen und das der schöpferische, dauernd wir-
kende, alles in sein Eigensein und seine eigene Tätigkeit setzende
208
Urgrund von allem ist. Zu diesen Sätzen gehört auch der Satz vom
Wesensunterschied von Geist und Materie, den wir früher wenig-
stens kurz zu erläutern suchten.
Es scheint mit diesem Satz vom Wesensunterschied von Geist
und Materie die neugestellte Frage schon negativ beantwortet zu
sein, und es ist auch zuzugeben, daß die durchschnittliche theolo-
gische Interpretation des dogmatischen Satzes, daß Gott der un-
mittelbare Schöpfer des Geistes des Menschen als vom Materiellen
wesensverschiedenen konstitutiven Elementes ist, auch schon eine
negative Antwort auf die eben neugestellte Frage bedeutet: Da
einerseits der Geist nicht einfach als das immanente Entwicklungs-
produkt materiellen Werdens gesehen werden kann, entstammter
eben einer neuen schöpferischen Initiative Gottes, die ja hinsicht-
lich der Welt überhaupt für einen Theisten nicht bestreitbar ist
und so auch als neue und unableitbare keine besonderen Schwie-
rigkeiten bietet.
Allein die gestellte Frage kann und braucht wohl nicht so rasch
für einen Christen negativ entschieden zu werden, wie es nach
dem eben Gesagten zu sein scheint. Zunächst einmal hat es auch
für das christliche Verständnis des Verhältnisses von Gott und
Welt, wie es von Thomas von Aquin schon ausgebildet worden ist
in seiner Lehre, daß Gott als Schöpfer der natürlichen Welt tran-
szendentaler Grund für alles, aber nicht kategoriale und raumzeit-
lich lokalisierbare Ursache für bestimmtes Einzelnes ist, sondern
insofern durch « Zweitursachen » handle, etwas Mißliches an sich,
wenn das Entstehen der individuellen Geistseelen an bestimmten
Raum-Zeitpunkten in keiner Weise das Ergebnis der Welt und
ihres natürlichen, zweitursächlichen Werdens wäre, sondern an
solchen Raum-Zeitpunkten das schöpferische Wirken Gottes ge-
wissermaßen «rein» und weltlos ergriffen werden könnte, so daß
Gottes Wirken hier ein Tun in der Welt neben anderem Tun der
Geschöpfe wäre, anstatt der transzendentale Grund alles Tuns aller
Geschöpfe zu sein. Weiterhin entspricht doch die negative Ant-
wort auf die neue Frage wenig der undualistischen Grundkonzep-
tion des AT, in der der eine Mensch Wesen der Erde und Ergebnis
des schöpferischen Tuns Gottes ist, ohne daß die Schrift, um dies
verständlich zu machen, den Menschen zerteilt in einen Leib, der
209
unmittelbar nur von der Erde stammt, und in eine Seele, die un-
mittelbar allein von Gott herkommt. Ferner sieht gerade für das
Empfinden des modernen Naturwissenschaftlers diese Aufteilung
des Menschen in ein Stück Produkt der Weltentwicklung und in
ein solches, von dem ein solcher Entwicklungsgedanke schlechthin
ferngehalten werden müsse, zu sehr nach einem Kompromiß aus,
der eher zu den schlechten als zu den guten zu gehören scheint.
Und endlich wird in einer solchen negativen und den Menschen in
zwei zu äußerlich zueinander sich verhaltende Teile trennenden
und der wirklichen Wesenseinheit der konstitutiven Momente des
Menschen zuwenig gerecht werdenden Antwort nicht verständlich,
was nun doch eine heute in der Paläontologie beobachtete Tat-
sache ist, daß nämlich der Mensch eine lange, ihn vorbereitende
Geschichte hat, die in immer höheren Stufen lebendiger Gestalten
mit psychischem Leben mindestens ganz nahe an ihn heranführt.
Um in dieser Frage weiterzukommen und um unter ganz be-
stimmten Voraussetzungen und begrifflichen Präzisionen zu einer
positiven Antwort zu gelangen, muß in einer etwasabrupten Weise
hier zunächst der Begriff der aktiven Selbsttranszendenz erläutert
werden.
a) Es gibt Werden, und dieses Werden ist letztlich eben doch
nicht nur die bloß räumlich, zeitlich und quantitativ abgewan-
delte Kombination von statisch gleichbleibenden Grundelementen,
sondern Werden von wirklich Neuem, das eine innerweltliche
Herkunft hat und dennoch nicht einfach dasselbe ist wie dasjenige,
von dem es herkommt. Werden ist darum immer und von seinem
eigentlichen Wesen her Selbstüberbietung, nicht Replikation des-
selben. Werden ist vielmehr die vom Niedrigeren selbst erwirkte
Selbsttranszendenz des Wirkenden, ist aktive Selbstüberbietung.
Es ist hier leider nicht möglich, den transzendentalen Ursprungs-
ort eines echt metaphysischen Ursache- und Werdebegriffs deut-
lich zu machen, der in der Bewegung des Geistes selber liegt, wel-
cher sich selbst als radikalster Fall der Selbstübersteigung in der
Transzendenz auf das Sein überhaupt erfährt.
b) Ist aber das eigentliche Werden nicht Replikation, sondern
Selbstüberbietung, in der das Werdende wirklich mehr wird, als es
war, und dennoch dieses Plus nicht einfach das ihm von außen
210
_ Hinzugesetzte ist, was den Begriff eines echten Werdens inner-
weltlicher Art wieder aufheben würde, und soll solches Werden,
in dem Mehr entsteht, hinsichtlich dieses Mehr einen Grund haben,
dann kann diese werdend-wirkende Selbstüberbietung nur dadurch
geschehen, daß das absolute Sein Ursacheund Urgrund dieser Selbst-
bewegung des Werdenden derart ist, daß diese Selbstbewegung
diesen Urgrund als inneres Moment der Bewegung einerseits in
sich selbst hat und so wirklich Selbstüberbietung und nicht nur
passives Überbotenwerden ist und anderseits doch darum nicht
Werden des absoluten Seins ist, weil dieses als inneres Moment der
Selbstbewegung des sich selbst überbietenden Werdens gleich-
zeitig frei und unberührt über dem Werdenden steht, unbewegt
bewegend. Eben dadurch ergibt sich aber, daß die Bewegung nicht
dort aufhört, Selbstbewegung zu sein, wo sie Selbstüberbietung
wird, sondern dort zu ihnem eigenen Wesen kommt. Weil jede end-
liche Ursächlichkeit kraft des innerlich im Endlichen waltenden
absoluten Seins ist, und zwar immer und wesentlich, so daß gerade
durch das Innesein des absoluten Seins im endlichen Seienden die-
ses sein eigenes Sein und seine eigene Tätigkeit hat, kann und muß
dem endlichen Seienden die Ursächlichkeit zugesprochen werden
auch für dasjenige, was mehr ist als es selbst, für das, woraufhin es
sich selbst übersteigt. Innerhalb dieser metaphysischen Voraus-
setzungen kann unter einigen Präzisionen unbefangen gesagt wer-
den, daß ein endliches Seiendes mehr erwirken kann, als es ist.
Eine Verneinung solcher Möglichkeiten kann grundsätzlich nur
den Sinn haben, zu betonen und deutlich zu machen, daß eine
solche Selbstüberbietung aktiver Art durch ein Endliches in sei-
nem aktiven Werden nicht anders geschehen kann als in Kraft des
absoluten Seins als des absoluten Aktes, der ihm, seinem Werden
und seinem Tun innerlich ist, ohne dadurch zu einem konstituti--
ven Moment des Wesens dieses endlichen Seienden zu werden.
c) Das Wesen des jeweiligen Seienden, um dessen Transzendenz.
es sich handelt, ist dementsprechend nicht die Grenze dessen, was
in dieser Selbstüberbietung werden kann, wohl aber die Anzeige
dafür, daß a) von begrenzter Potenz aus etwas wird und werden
muß und dieses nicht schon immer verwirklicht ist, Anzeige also:
des noch Werdenmüssens, und daß b) unbeschadet der wirklichen.
£ 211
Selbstüberbietung der Ausgangspunkt der Bewegung, nämlich das
Wesen des sich selbst Bewegenden, auch immer eingrenzendes
Gesetz dessen bleibt, was von hier aus unmittelbar werden kann.
Der Ausgangspunkt kann sehr wohl, obwohl er überboten wird,
Anzeige dessen sein, woraufhin der Überschritt geht und wie weit
er unmittelbar gehen kann. Dies aber vorausgesetzt, ist im onto-
logisch gültigen Begriff des Werdens als wirklicher aktiver Selbst-
transzendenz auch die grundsätzliche Möglichkeit einer wesens-
überbietenden Selbstüberschreitung impliziert. Das kann darum
schon gesagt werden, weil für eine thomistische Metaphysik ver-
schiedene Wesenheiten trotz dieser Wesensverschiedenheitals ver-
schiedene Grade der Einschränkung des Seins und nicht als absolut
disparate Größen aufzufassen sind. Ein niedrigeres Seiendes ist also
in seiner Positivität nicht ein disparater Gegensatz zu einem höhe-
ren Wesen, sondern nur eine relativ engere Eingrenzung des Seins
durch dieses niedrigere Wesen im Vergleich zu einem höheren.
Wenn es sich also in seinem Werden selbst überbietet im Sinn einer
wesensübersteigenden Selbstüberbietung, dann bedeutet diesnicht
eine Setzung eines schlechthin disparaten und absolut wesensfrem-
den Seienden im Sinne einer schlechthinnigen generatio aequi-
voca, sondern von diesem thomistischen Ansatz ist von vornherein
klar, daß das neue Seiende alle positiven Wirklichkeiten des We-
sens des alten Seienden, von dem es herkommt, in sich als seine
eigenen Eigentümlichkeiten bewahren kann und bewahren muß.
All dies schließt auch bei einer solchen wesentlichen Selbsttran-
szendenz nicht aus, sondern ein, daß der Ausgangspunkt dieser Art
von Selbstüberschreitung, also das eigene Wesen des so sich selbst
überbietend Werdenden, das apriorisch einschränkende Gesetz
dafür ist, was hier und jetzt werden kann. Werden als wesentliche
Selbstüberbietung kraft des absoluten, innerlichen, aber über-
wesentlichen Seins schließt also die Frage des genaueren Hinter-
einanders der Etappen dieses nach vorn unbegrenzten Werdens
nicht aus, sondern ein. Was und wie etwas in einer solchen Werde-
reihe unmittelbar hintereinander kommen kann, läßt sich nur
aposteriorisch feststellen und ist aus der Natur der Sache heraus
eine schwierige Frage. Denn gerade bei wesentlicher Selbst-
transzendenz bedeutet der Begriff der Selbstüberbietung immer
212
ein Stück Diskontinuität, die gar nicht vermieden werden kann
und darf, soll nicht im Grunde echtes, qualitativ neues Wesens-
werden geleugnet werden. Andererseits aber verlangt die mit dem
endlichen Wesen des sich selbst transzendierenden Werdenden
gegebene Grenze des Werdenkönnens, daß die Diskontinuität
nicht zu groß gedacht wird, ja bedeutet das heuristische Postulat,
die «Sprünge » möglichst klein und die Übergänge möglichst flie-
Bend sein zu lassen, ohne freilich damit eine «Erklärung» der
Höherentwicklung geben zu wollen, in der das wesenhaft Neue
wegerklärt würde. Wenn also eine solche wesenhafte Selbsttran-
szendenz nicht unmittelbar beobachtet werden kann, wird man
wohl nie ganz über eine Doppeltheit in der methodischen Einstel-
lung hinauskommen: Man wird unbefangen mit solchen Sprün-
gen, mit Selbsttranszendenz zu einem neuen metaphysischen We-
sen rechnen und von daher gar nicht eine absolute Kontinuität, die
ein metaphysischer Nonsens wäre, fordern, und man wird doch
immer nach neuen, fließendere Übergänge schaffenden Zwischen-
stufen ausschauen.
Ist die ontologische und christliche Legitimität einer Selbst-
transzendenz auch wesensübersteigender Art gegeben und wird
die bisherige Darstellung der Einheit von Geist und Materie in den
Grundzügen für richtig gehalten, dann kann unbefangen auch
gesagt werden: Eine Entwicklung des Materiellen zum Geist hin
und die Selbsttranszendenz des Materiellen in den Geist ist philo-
sophisch und christlich eine legitime Vorstellung. Wenn nämlich
Werden wirklich Selbsttranszendenz ist, auch unter Umständen
zu einem neuen Wesen hin, freilich in Kraft der Dynamik des
absoluten Seins, was aber wiederum nicht aufhebt, daß es sich um
eine echte, aktive Selbsttranszendenz handelt, wenn Materie und
Geist nicht einfach disparate Größen sind, sondern Materie gewis-
sermaßen gefrorener Geist ist, deren einziger Sinn die Ermög-
lichung wirklichen Geistes ist, und wenn endlich kreatürliche
Geistigkeit immer Geistigkeit in Materialität bleibt bis in ihre
absolute Vollendung hinein, dann ist eine Entwicklung der Ma-
terie auf Geist hin kein unvollziehbarer Begriff, vorausgesetzt nur,
daß der Begriff der Entwicklung im Sinn jener wesentlichen
Selbsttranszendenz unter der Dynamik des absoluten Seins ver-
218
standen wird, die wir kurz anzudeuten versuchten. Gibt es über-
haupt unter der Bewegung durch das absolute Sein ein Werden im
Materiellen, durch das dieses sich selbst überbietet, dann kann,
da dieses absolute Sein Geist, Selbstbesitz und Freiheit ist, diese
Selbstüberbietung nur in der Richtung auf den Geist hin gesche-
hen. Ohne daß darum die wesenhafte Gestuftheit der Welt und
ihrer Entwicklung geleugnet werden müßte, ohne daß Entwick-
lung geleugnet werden müßte, ohne daß Entwicklung der Natur
und freie personale Geschichte gegenseitig eingeebnet werden
müßten, kann die Geschichte der Natur und die des Geistes als
eine Geschichte gesehen werden. Der höchste Grad alles zeugenden
Werdens ist die menschliche Geistigkeit, und auf sie hin tendiert
die Materie als aufihr letztes Wesens- und Gestaltprinzip, denn der
Mensch ist das Ziel alles zeugenden Werdens. Dieser Satz steht
schon bei Thomas von Aquin (ScG III,22). Materie und Geist ha-
ben eine Einheitin ihrem Ausgangspunkt, in ihrer Geschichte und
in ihrem Ziel. Beide bleiben ewig gültig vor Gott und bilden für
immer, jetzt und in der Vollendung, die aufeinander bezogenen,
nicht trennbaren Konstitutiven der einen kreatürlichen Wirklich-
keit.
214
THEOLOGIE DER FREIHEIT
Wenn hier etwas zur Theologie der Freiheit gesagt werden soll, so
kann es sich bei der Knappheit des zur Verfügung stehenden Rau-
mes von vornherein nicht darum handeln, einen Überblick über
die Dogmengeschichte und Theologiegeschichte der Lehre über
die Freiheit zu geben oder genauer die theologischen Aussagen
über das Wesen der Freiheit aus den theologischen Quellen der
Schrift, der Tradition und des kirchlichen Lehramtes zu erheben.
Beides ist hier unmöglich. Es muß uns genügen, in einer synthe-
tischen Weise zu sagen, was sich sachlich über das Wesen der Frei-
heit aus der Offenbarung ergibt!.
Auch seine Wesenseigentümlichkeiten letzter und unverlier-
barer Art bringt der Mensch, obwohl er sie in jedem seiner Akte
unthematisch vollzieht, im Gang seiner individuellen und kollek-
tiven Geschichte erst langsam thematisch objektiviert vor sich.
Und darum ist die Heilsgeschichte und Offenbarungsgeschichte
einschließlich der christlichen Theologiegeschichte auch eine Ge-
schichte der thematischen Selbstreflexion des Menschen auf sich
als Freiheitswesen. Es ist also nicht so, daß der Mensch thematisch
immer schon adäquat wisse, was menschliche Freiheit sei, und er
diesen Begriff, der immer schon gegeben ist, in der Aussage der
Offenbarung und der Theologie unverändert und ohne weitere
Vertiefung verwende. So mag es in der durchschnittlichen Schul-
theologie oft erscheinen; es ist aber in Wirklichkeit nicht so. Wir
können hier selbstverständlich nicht die Geschichte des griechisch-
abendländischen Freiheitsbegriffes auch nur in Kürze darstellen.
Bemerkenswert scheint dies zu sein: Schon die wirkliche Wahl-
freiheit, d.h. die Freiheit, die nicht allein dadurch gegeben ist,
daß der Mensch nicht von außen vergewaltigt wird, sondern daß
1 Zur näheren Ausführung dessen, was hier oft nur angedeutet werden kann, sei
es erlaubt, auf folgende Aufsätze des Verfassers in den früheren Bänden des Schrif-
ten zur Theologie zu verweisen: Die Freiheit in der Kirche, II, 95-114; Würde
und Freiheit des Menschen, II, 247-277; Theologie der Macht, IV, 485-508; Das
«Gebot» der Liebe unter den anderen Geboten, V, 494-517; ebenso (auch daraus
wurden Gedanken übernommen) auf J.B.Metz, Freiheit — theologisch, Handbuch
theologischer Grundbegriffe, hg. von H.Fries, München 1962, I, 405-414; Freiheit
als philosophisch-theologisches Grenzproblem, Gott in Welt I (Festschrift für K.
Rahner), Freiburg 1964, 287-314.
215
ihm über sich selbst eine freie Entscheidung abverlangt ist, die
also eher Forderung und Auftrag denn « Freiheit » ist - diese Frei-
heit kann erst im Christentum wirklich deutlich gesehen werden,
weil nur in ihm jeder der einmal Einzige von ewiger Gültigkeit —
in personaler Liebe von Gott zu Mensch - ist und darum derjenige,
der in höchster Selbstverantwortung und somit in Freiheit voll-
bracht werden muß.
Ist die Geschichte der Offenbarung in Jesus Christus in ihre end-
gültige, unüberbietbare eschatologische Phase getreten und ist die
innerweltliche Unüberholbarkeit dieser Phase nicht bloß ein rei-
nes Faktum (weil eben Gott nichts Neues mehr offenbaren will),
sondern mit dem neueren Wesen dieser Phase selbst schon gege-
ben, weil sie nur noch durch die unmittelbare Anschauung Gottes
grundsätzlich überboten werden kann, dann muß diese Figen-
tümlichkeit der Offenbarungsgeschichte in Christus auch von der
Selbstgegebenheit des Menschen für sich als Wesen der Freiheit
gelten: Die Freiheit, so wie sie von Gott her dem Menschen schöp-
ferisch dauernd zugesagt wird, ist die Freiheit der absoluten An-
nahme des absoluten Geheimnisses, das wir Gott nennen, und zwar
so, daß Gott nicht einer der «Gegenstände » ist, an dem neben
anderen sich eine neutrale Wahlfreiheit sachhafter Art betätigt,
sondern derjenige, der in diesem absoluten Akt der Freiheit erst
dem Menschen aufgeht und an dem das Wesen der Freiheit selbst
allein zu seinem vollen Wesensvollzug kommt.
216
Indifferenz gegenüber einem bestimmten, endlichen Gegenstand
innerhalb des Horizonts dieser absoluten Transzendenz gibtesnur,
insofern diese Transzendenz in jedem einzelnen, mit einem end-
lichen Gegenstand sich beschäftigenden Akt aus ist auf die ur-
sprüngliche Einheit von Sein überhaupt, und insofern dieser Akt
der Transzendenz (als Grund jedes kategorialen Sichverhaltens
zu einem endlichen Subjekt und auch zu dem in endlicher Be-
grifflichkeit vorgestellten Unendlichen) getragen ist durch ein
dauerndes Sicheröffnen und Sichzuschicken des Horizonts dieser
Transzendenz von ihm selbst her, ihres Woraufhin, das wir Gott
nennen.
Die Freiheit hat also einen theologischen Charakter nicht erst
dann und dort, wo Gott explizit in kategorialer Gegenständlichkeit
neben anderen Objekten vorgestellt wird, sondern immer und
überall, vom Wesen der Freiheit selbst her, weil in jedem Akt der
Freiheit Gott als ihr tragender Grund und letztes Woraufhin un-
thematisch gegeben ist. Wenn Thomas sagt, daß in jedem Objekt
Gott unthematisch, aber wirklich erkannt werde, so gilt dies auch
ebensosehr von der Freiheit: in jedem Akt der Freiheit wird Gott
unthematisch, aber wirklich gewollt und umgekehrt auch nur so
erfahren, was mit Gott eigentlich gemeint ist: das erkenntnis-
mäßig und willentlich unumgreifbare Woraufhin der einen, ur-
sprünglichen Transzendenz des Menschen, die sich in Erkenntnis
und Liebe auseinanderlegt.
Das Woraufhin der Transzendenz läßt nicht über sich verfügen,
sondern ist die unendliche, stumme Verfügung über uns in dem
Augenblick und immer, wenn wir beginnen, über etwas zu ver-
fügen, indem wir es urteilend den Gesetzen unserer apriorischen
Vernunft untertan machen. Es ist nicht nur bloß als das Worauf-
hin der Transzendenz selber gegeben (so daß von da her schon jede
These eines Ontologismus vermieden ist, weil dieses Woraufhin
nicht an sich selber erfahren, sondern nur in der Erfahrung der
subjektiven Transzendenz ungegenständlich gewußt wird) — son-
dern diese Gegebenheit ist die Gegebenheit einer solchen Tran-
szendenz, daß sie immer nur als Bedingung der Möglichkeit einer
kategorialen Erkenntnis und nicht für sich allein gegeben ist. Nie
kann man auf es direkt zugehen. Nie auf es unmittelbar zugreifen.
217
Es gibt sich nur, insofern es uns stumm auf ein anderes, auf ein
Endliches als Gegenstand des direkten Anblickes hinweist.
Für das christliche Verständnis der Freiheit ist es nun aber ent-
scheidend, daß diese Freiheit nicht nur ermächtigt ist von Gott
her und nicht nur aufihn als den tragenden Horizont kategorialer
Wahlfreiheit bezogen ist, sondern Freiheit Gott selbst gegenüber
ist. Dies ist das schauervolle Geheimnis der Freiheit im christ-
lichen Verständnis. Wo Gott nur kategorial begriffen würde als
eine Wirklichkeit neben anderen, als einer der vielen Gegen-
stände der Wahlfreiheit als eines neutralen Vermögens, das sich
mit diesem und jenem willkürlich beschäftigt, hat der Satz, die
Wahlfreiheit sei eine solche auch Gott gegenüber, keine beson-
dere Schwierigkeit. Daß aber die Freiheit eine solche gegenüber
ihrem tragenden Grund selbst ist, daß sie also schuldhaft die Be-
dingung ihrer eigenen Möglichkeit selbst verneinen kann in einem
Akt, der diese Bedingung notwendig noch einmal bejaht, das ist
die extreme Aussage über das Wesen der kreatürlichen Freiheit,
- die in ihrer Radikalität den üblichen kategorialen Indeterminis-
mus weit hinter sich läßt. Für die christliche Lehre von der Frei-
heit ist es entscheidend, daß diese Freiheit die Möglichkeit eines Ja
oder Nein gegenüber ihrem eigenen Horizont impliziert, ja da-
durch erst eigentlich konstituiert wird. Und zwar gerade nicht nur
und in erster Linie dort, wo Gott thematisch in kategorialen Be-
griffen gegeben und vorgestellt wird, sondern dort, wo er in der
transzendentalen Erfahrung als Bedingung und Moment an jeder
personalen, auf die innerweltliche Mit- und Umwelt gerichteten
Tätigkeit unthematisch, aber ursprünglich gegeben ist. In diesem
Sinne begegnen wir in einer radikalsten Weise überall Gott als der
eigentlichsten Frage an unsere Freiheit, in allen Weltdingen und
(wie die Schrift sagt) vor allem im Nächsten. Warum ist nun, ge-
nauer gefragt, der transzendentale Horizont der Freiheit nicht nur
die Bedingung ihrer Möglichkeit, sondern auch ihr eigentlicher
«Gegenstand»? Warum handeln wir in der Freiheit nicht bloß
uns, unserer Umwelt und personalen Mitwelt gegenüber ent-
weder wirklichkeitsgerecht oder wirklichkeitszerstörend unter je-
nem unendlich weiten Horizont der Transzendenz, von dem her
wir uns selbst und unserer Um- und Mitwelt frei gegenübertreten,
218
\
219
gegnens und Sichzuschickens dieses unsere Subjektivität tragen-
den Wovonher und Woraufhin unserer Transzendenz, dann ist die
Freiheit zu den begegnenden einzelnen Seienden immer auch eine
Freiheit gegenüber dem Horizont, dem Grund und Abgrund, der
sie uns begegnen und zum inneren Moment unserer empfangen-
den Freiheit werden läßt. In dem Maße und aus dem Grund, als
der Horizont dem Subjekt als erkennendem nicht gleichgültig sein
kann, sondern thematisch oder unthematisch dasjenige ist, mit
dem diese erkennende Transzendenz es zu tun hat, gerade auch
noch, wenn sie dieses Woraufhin nicht zum ausdrücklichen Ge-
genstand hat: in demselben Maße und aus demselben Grund hat
es die Freiheit, auch wenn sie sich immer am konkreten Einzelnen
der Erfahrung vollzieht und durch dieses zu sich selbst vermittelt
wird, ursprünglich und unvermeidlich mit Gott selbst zu tun. Frei-
heit ist in ihrem Ursprung Freiheit des Ja oder Nein zu Gott und
darin Freiheit des Subjekts zu sich selbst. Freiheit wäre die gleich-
gültige Freiheit zu diesem oder jenem, wäre ins Unendliche weiter-
gehende Wiederholung desselben oder des Konträren (was nur
eine Art desselben ist), eine Freiheit der ewigen Wiederkehr, des
selben Ahasvers, oder sie ist notwendig die Freiheit des Subjekts
zu sich selbst in seiner Endgültigkeit und so Freiheit zu Gott, so
wenig thematisch dieser Grund und eigentlichster und ursprüng-
lichster « Gegenstand » der Freiheit im einzelnen Akt der Freiheit
sein mag.
Dazu kommt eine zweite Überlegung, die erst den letzten theo-
logischen Grund der Freiheit als Freiheit Gott gegenüber ans Licht
bringt, hier aber nur gerade angedeutet werden kann. Wenn die
gnadenhafte und geschichtliche Konkretheit unserer Transzen-
denz getragen ist von der angebotenen Selbstmitteilung Gottes an
uns, wenn unsere geistige Transzendenz nie und nirgends als bloß
natürliche gegeben ist, sondern immer und überall umfaßt und
getragen ist durch eine gnadenhafte Dynamik unseres geistigen
Seins auf die absolute Nähe Gottes hin, wenn m.a. W. Gott konkret
nicht nur anwest als der sich immer entziehende und sich versa-
gende Horizont unserer Transzendenz, sondern sich als solcher in
dem, was wir vergöttlichende Gnade nennen, zu unmittelbarem
Besitz anbietet, dann erhält die Freiheit in der Transzendenz und
220
im Ja und Nein auf deren Grund hin eine Unmittelbarkeit zu
Gott, durch die sie in radikalster Weise zum Vermögen des Ja und
Nein Gott als solchem gegenüber wird. Dies in einer Weise, wie sie
natürlich mit dem abstrakt formalen Begriff der Transzendenz auf
Gott als den bloß fernen und abweisenden Horizont des Daseins-
vollzugs noch nicht gegeben wäre und von diesem allein her auch
nicht abgeleitet werden kann.
Freiheit kann, wie wir schon sagten, christlich nicht gesehen wer-
den als ein in sich neutrales Vermögen, dieses oder jenes zu tun in
beliebiger Reihenfolge und in einer Zeitlichkeit, dienur von außen
abgebrochen würde, obwohl sie, von der Freiheit her gesehen, ins
Unbestimmte weiterlaufen könnte, sondern Freiheit ist das Ver-
mögen, sich selbst ein für alle Mal zu tun, das Vermögen, das von
seinem Wesen her aufdie frei getane Endgültigkeit des Subjekts als
solchen geht. Dies ist offenbar doch in der christlichen Aussage vom
Menschen und seinem Heil und Unheil gemeint, wenn er als der
Freie sich selbst und die Totalität seines Lebens vor dem Gerichte
Gottes verantworten muß und verantworten können muß und das
ewig gültige Urteil über sein Heil und Unheil nach seinen Werken
geschieht von seiten eines Richters, der nicht auf die bloße Erschei-
nung des Lebens, auf das «Antlitz», sondern auf den frei verfüg-
ten Kern der Person, auf das «Herz» blickt. Wird in der Schrift
auch die formale Wahl- und Entscheidungsfreiheit des Menschen
mehr vorausgesetzt als zum eigentlichen Thema gemacht, ist das
explizite Thema der Schrift, besonders im Neuen Testament, auch
mehr die Paradoxie, daß die verantwortlich bleibende Freiheit des
Menschen, ohne aufgehoben zu werden, unter die Sklaverei der
dämonischen Mächte der Sünde und des Todes und in etwa sogar
unter das Gesetz versklavt ist und durch die Gnade Gottes erst
noch zu einer inneren Geneigtheit für das Gesetz befreit werden
muß (davon soll später noch die Rede sein), so ist dennoch nicht
daran zu zweifeln, daß für die Schrift der sündige und der gerecht-
fertigte Mensch für ihre Lebenstat verantwortlich sind und inso-
221
fern auch frei sind, daß also die Freiheit ein bleibendes Wesens-
konstitutiv des Menschen ist. Aber gerade insofern diese Freiheit
für die christliche Offenbarung absolutes Heil oder Unheil be-
gründet, und zwar endgültig und vor Gott, kommt erst ihr eigent-
liches Wesen zur Erscheinung. Für eine bloß profane Alltagserfah-
rung mag nämlich die Wahlfreiheit erscheinen als Eigentümlich-
keit nur des einzelnen Aktes des Menschen, der insofern ihm zu-
rechenbar ist, als er aktiv von ihm selbst gesetzt ist, ohne daß diese
Setzung von einer inneren Zuständlichkeit des Menschen oder von
einer äußeren Situation, die der aktiven Entscheidung voraus-
gingen, im voraus kausal schon festgelegt und in diesem Sinne er-
zwungen wäre. Ein solcher Begriff der Wahlfreiheit verteilt die
Freiheit im Vollzug atomisierend, exklusiv auf die einzelnen Akte
desMenschen, die nur durch eine neutrale, substantielle Selbigkeit
des sie alle setzenden Subjekts und seines Vermögens und durch
den äußeren einen Zeitraum des Lebens zusammengehalten wer-
den. Freiheit wäre so eigentlich nur Aktfreiheit, Zurechenbarkeit
des einzelnen Aktes an eine in sich selbst neutral bleibende und
darum sich selbst (solange die äußeren Bedingungen gegeben sind)
immer aufs neue bestimmen könnende Person. Wird nun aber
christlich gesehen, daß der Mensch über sich selbst als ganzen und
zwar endgültig durch seine Freiheit bestimmen und verfügen
kann, daß er also nicht nur moralisch zu qualifizierende, aber doch
eigentlich wieder vergehende Taten setzt (die ihm danach nur
noch juristisch oder moralisch angelastet werden), sondern durch
seine Freiheitsentscheidung wirklich im Grunde seines Wesens
selber in aller Wahrheit so gut oder böse ist, daß darin sein end-
gültiges Heil oder Unheil schon, wenn vielleicht auch noch ver-
borgen, gegeben ist, dann verwandelt und vertieft sich die ver-
antwortliche Freiheit in einer ungeheueren Weise. Die Freiheit ist
zunächst einmal «Seinsfreiheit». Sie ist nicht bloß die Qualität
eines zuweilen in Vollzug gesetzten Aktes und dessen Vermögens,
sondern eine transzendentale Auszeichnung des Menschseins sel-
ber. Soll der Mensch wirklich endgültig über sich verfügen kön-
nen, soll also diese « Ewigkeit » die Tat seiner Freiheit selbst sein,
soll diese Tat den Menschen wirklich im Grunde seines Wesens gut
oder böse machen können und soll dieses Gut- oder Bösesein nicht
222
bloß ein äußerer, akzidenteller Befall des Menschen sein (so daß _
diese Tat nur ein gut Bleibendes wider dessen Gutheit ins Ver-
derben zöge), dann muß die Freiheit zunächst einmal als Seins-
freiheit gedacht werden. Das will sagen: der Mensch ist jenes
Seiende, dem es in seinem Sein um dieses selber geht, das immer
schon ein Verhältnis zu sich selbst hat, Subjektivität und nie ein-
fach Natur, immer schon Person, nie einfach « vorfindlich », SON-
dern schon immer «für sich », « befindlich » ist. An diesem Seien-
den geschieht nichts über sein Selbstverhältnis hinweg, oder wenn.
so etwas geschieht, wird es erst subjektiv und heilshaft bedeutsam,
insofern es vom freien Subjekt als solchem in einer ganz bestimm-
ten Weise frei « verstanden », subjektiv übernommen wird; sein
«Ich » ist schlechthin unüberspringbar, unobjektivierbar, es kann
nie durch ein anderes ersetzt oder erklärt werden, auch nicht durch
die eigene reflexe Vorstellung von sich selbst; es ist echter Ur-
sprung, nicht noch einmal auf etwas anderes gestellt und deshalb
auch nicht von einem anderen her ableitbar bzw. auf ein solches
hin begründbar. Sein Verhältnis zu seinem göttlichen Ursprung
darf nie interpretiert werden am Leitfaden der kausalen und funk-
tionalen Abhängigkeitsbeziehungen, wie sie in unserem katego-
rialen Erfahrungsbereich obwalten, in dem der Ursprung behält
und bindet, nicht freisetzt, also Eigenstand und Herkünftigkeit in
umgekehrter, nicht gleicher Proportion wachsen. Der Mensch ist
durch seine Seinsfreiheit immer der Unvergleichliche, der in kein
System adäquat eingeordnet, keiner Idee adäquat subsumiert wer-
den kann. Er ist in einem ursprünglichen Sinn der Unantastbare,
so aber auch der Einsame und Ungeborgene, sich selber Zugela-
stete, der sich durch nichts von diesem einmal einsamen Selbst-
sein «absolvieren », sich selbst nie auf andere abwälzen kann. Der
Freiheit geht es darum auch ursprünglich nicht primär um dieses
oder jenes, das sie tun oder lassen kann; Freiheit ist ursprünglich
nicht das Vermögen der Wahlirgendeines Gegenstandes oder einer
einzelnen Verhaltensweise diesem oder jenem gegenüber, son-
dern die Freiheit des Selbstverständnisses, die Möglichkeit, zu sich
selber ja oder nein zu sagen, die Möglichkeit der Entscheidung für
oder gegen sich selbst, die dem wissenden Bei-sich-selbst-sein, der
erkennenden Subjekthaftigkeit des Menschen korrespondiert. Die
223
Freiheit geschieht nie als bloß gegenständlicher Vollzug, als eine
bloße Wahl «zwischen » einzelnen Objekten, sondern ist Selbst-
vollzug des gegenständlich wählenden Menschen, und erst inner-
halb dieser Freiheit, in der der Mensch sich selbst vermag, ist er
dann auch frei hinsichtlich des Materials seines Selbstvollzugs. Er
kann dies oder jenes tun oder unterlassen in Hinsicht auf seine
eigene, ihm unausweichlich auferlegte Selbstverwirklichung. Sie
ist ihm unausweichlich aufgegeben und ist bei aller Verschieden-
heit des konkreten Materials dieses Selbstvollzugs immer eine
Selbstverwirklichung auf Gott hin oder eine radikale Selbstver-
weigerung Gott gegenüber.
Dabei ist freilich zu sehen, daß dieses Grundwesen der Freiheit
zeitlich gestreut vollzogen wird, daß der jeweils angezielte Gesamt-
entwurf des Daseins, das eigene totale Selbstverständnis, die
«option fondamentale», vielfach leer und gegenständlich uner-
füllt bleibt, daß nicht in jeder einzelnen Freiheitstat die gleiche
aktuelle Tiefe und Radikalität der Selbstverfügung gegeben ist,
daß alle einzelnen Freiheitsakte, obwohl jeder von ihnen sich auf
das Wagnis totaler und endgültiger Selbstverfügung einlassen
will, sich immer ins Ganze der einen und ganzen Freiheitstat des
einen und ganzen, zeitlich-endlichen Lebens hinein aufgeben,
gerade weil sich jeder dieser Akte im Horizont des Ganzen des
Daseins vollzieht und von hierher Gewicht und Proportion emp-
fängt. Dementsprechend gibt es im biblisch und augustinisch ge-
prägten Begriff des Herzens, im Begriff der Subjektivität bei
Kierkegaard, in dem der «action » bei Blondel usw. das Verständ-
nis dafür, daß es einen solchen das Gesamt des Daseins umfassen-
den und durchprägenden Grundakt der Freiheit gibt, der sich
zwar mittels der einzelnen raumzeitlich lokalisierbaren und hin-
sichtlich ihrer Motive objektivierbaren Einzelakte des Menschen
realisiert und nur so vollzogen werden kann, der aber weder mit
einem solchen Einzelakt einfach in objektiver Reflexion identifi-
ziert werden kann noch das bloße moralische Fazit der Summe
dieser Einzelakte darstellt noch einfach mit der moralischen
Qualität des letzten der gesetzten freien Einzelakte (vor dem Tod)
identifiziert werden kann. Die konkrete Freiheit des Menschen,
in der er über sich als ganzen in Erwirkung seiner eigenen
224
Endgültigkeit vor Gott verfügt, ist die nicht mehr reflektierbare
Einheit in Differenz von formaler «option fondamentale» und
freien Einzelakten des Menschen, eine Einheit, die das konkrete
Sein des sich-vollzogen-habenden Freiheitssubjektes ist. Dabei ist
Freiheit gerade nicht, um das nochmals ausdrücklich zu betonen,
das Vermögen des Immer-wieder-anders-könnens, der unend-
lichen Revision, sondern das Vermögen des einmalig Endgültigen,
des gerade darum endgültig Gültigen, weil es in Freiheit getan ist.
Freiheit ist das Vermögen des Ewigen. Naturhafte Prozesse kön-
nen immer wieder revidiert und umgeleitet werden, sie sind ge-
rade darum gleichgültig. Das Ergebnis der Freiheit ist die wahre
Notwendigkeit, die bleibt. ;
225
fältigen und sich widersprechenden, zu vereinigen, weil sie alle
ausrichtet auf Gott, dessen Einheit und Unendlichkeit im Men-
schen diejenige Einheit schaffen kann, die die Vielfalt des End-
lichen eint, ohne sie aufzuheben; die Liebe allein läßt den Men-
schen sich vergessen (welche Hölle, wenn uns das nicht endlich ge-
länge), sie allein kann auch die dunkelsten Stunden der Vergan-
genheit noch erlösen, da sie allein an das Erbarmen des heiligen
Gottes zu glauben den Mut findet; sie allein behält sich nichts vor
und kann so auch über die Zukunft verfügen (die sonst der Mensch
in der Angst um seine Endlichkeit, mit der man sparsam umgehen
muß, sich aufzusparen versucht ist); sie kann mit Gott auch diese
Erde lieben, weil sie den liebt, den das Wagnis solcher Erde der
Schuld, des Fluches, des Todes und der Vergeblichkeit nie gereut
hat. Die Liebe zu Gott ist die einzige totale Integration des mensch-
lichen Daseins, und wir haben sie in ihrer Würde und alles umfas-
senden Größe nur begriffen, wenn wir sie als das verstanden ha-
ben, wenn wir ahnen, daß sie der Inhalt des Augenblicks der zeit-
lichen Ewigkeit sein muß und so der Inhalt der daraus geborenen
Ewigkeit bei Gott selbst.
Diese Liebe ist nicht eine bestimmte, angebbare Leistung,
die man genau umschreiben könnte, sondern ist das, was jeder
Mensch wird in der unvertretbaren Eigenart seines je einmaligen
Wesensvollzuges, etwas, das doch erst bekannt ist, wenn es getan
ist. Damit soll nicht gesagt werden, daß es keinen irgendwie all-
gemeinen Begriff von Liebe gebe: in dem Satz, der Mensch sei
verpflichtet, Gott zu lieben, und darin bestehe die eigentliche Er-
füllung des ganzen göttlichen Gesetzes. Aber der Mensch ist eben
doch verpflichtet, Gott aus seinem ganzen Herzen zu lieben. Und
dieses eine Herz, das der Mensch einzusetzen hat, die innerste
Mitte seiner Person, ist ein Einmaliges, und was es als dieses Ein-
malige in sich birgt, was eingesetzt und verschenkt wird in dieser
Liebe, das weiß man eben doch erst, wenn es getan ist, wenn der
Mensch sich wirklich selbst eingeholt hat und so erst weiß, was in
ihm ist, wer er konkret ist. In dieser Liebe läßt sich also der
Mensch auf das Abenteuer seiner eigenen, ihm zunächst verhüllten
Wirklichkeit ein. Er kann nicht von vornherein überschauen und
abschätzen, was eigentlich von ihm verlangt wird. Er wird ver-
226
langt, er selbst wird gewagt, er in der Konkretheit seines Herzens
und seines Lebens, das erst als vollbrachtes offenbart, was dieses
Herz ist, das in diesem Leben sich zu wagen und zu verschwenden
hatte. Bei allen anderen Leistungen mag man wissen, was eigent-
lich von einem verlangt wird. Man kann abschätzen, vergleichen,
sich fragen, ob Einsatz und Gewinn sich lohnen. Man kann diese
abverlangte Leistung durch etwas anderes rechtfertigen, durch
ein Ergebnis, das sie als sinnvoll ausweist. Bei der Liebe kann man
es nicht. Sie selbst ist das, was sie rechtfertigt. Sie selber aber erst
eigentlich als bis zum Ende aus ganzem Herzen und nach allen
Kräften vollbrachte.
Das christliche Ethos ist im Grunde nicht die Respektierung
von objektiven Sachnormen, die Gott in die Wirklichkeit hinein-
gelegt hat. Alle Strukturen der Dinge stehen unzer dem Menschen.
Er mag sie verändern, umbiegen, soweit er nur kann, er ist ihr
‘ Herr, nicht ihr Diener. Die einzige, letzte Struktur der Person, die
sie adäquat ausspricht, ist das Grundvermögen der Liebe. Und
diese ist maßlos. Und darum auch der Mensch. Und alle Sünde ist
im Grunde nur die Weigerung, dieser Maßlosigkeit sich anzuver-
trauen, ist die geringere Liebe, die darum, weil sie sich weigert,
die größere werden zu wollen, keine mehr ist. Natürlich bedarf der
Mensch, um real zu wissen, was damit gesagt wird, der Objektiva-
tionen, die ihm in der Vielzahl der Gebote entgegentreten. Aber
alles, was so in dieser Vielzahl der Gebote erscheint, ist Objekti-
vation oder Teilvollzug oder vorauslaufendes Anheben der Liebe,
die selber keine Norm hat, an der sie gemessen werden könnte
Man kann vom « Gebot » der Liebe sprechen, wenn man nicht ver-
gißt, daß dieses «Gesetz» dem Menschen nicht etwas gebietet,
sondern ihn selbst ihm aufträgt, ihn als die Möglichkeit der Liebe
in der Entgegennahme der Liebe Gottes, in der Gott nicht etwas,
sondern sich selbst gibt.
Gott aber ist trotz, nein, wegen seiner Absolutheit kein unper-
sönliches Es, kein asympotischer, ruhender Fluchtpunkt der Tran-
szendenz und Liebe der geistigen Person, sondern der «lebendige
Gott», dem gegenüber alle Tat des Menschen wesenhaft Antwort
aufseinen Anrufist. Darin gründet letztlich ihre Geschichtlichkeit.
Die Geschichtlichkeit des Menschen wird erst dann ganz ernst
227
genommen, wenn dieser sich in ein wesenhaft (und nicht bloß fak-
tisch-zufällig) Unverfügbares ausgesetzt weiß, wenn er sich also
letztlich als ein in die inappellable, souverän verfügte Freiheit
Gottes Existierender versteht. Diese wesentliche Verwiesenheit
des menschlichen Selbstverständnisses in die Freiheit Gottes und
die damit gegebene « wesentliche Geschichte mit Gott» ist letzt-
lich nichts anderes als der anthropologisch gewendete Ausdruck
dafür, daß alles Kreatürliche bleibend-aktuell von Gott abhängt.
Für den Menschen heißt das nämlich, daß er in seinem Selbstver-
ständnis, das sein Menschsein auszeichnet, von Gott abhängig
bleibt, daß er also Gott nie als ein verfügbares Element in dieses
Selbstverständnis einbauen kann. Die Erfahrung und Bejahung
der Unerschöpflichkeit, des Geheimnisses Gottes und seiner Frei-
heit gehören zur menschlichen Selbstbejahung als Geschöpf. Er
nimmt deshalb die ihm eigentümliche kreatürliche Abhängigkeit
dadurch an, daß er sich in seinem Selbstverständnis nicht einfach
als von sich her endgültig verfügbar (etwa als «reine Natur»)
interpretiert, sondern einer geschichtlichen Auslegung durch Gott
entgegenharrt.
In dieser geschichtlichen Auslegung konkretisiert sich, was oben
vom Ineinander transzendentalen und kategorialen Freiheits-
vollzuges gesagt worden ist. Menschliche Freiheit ist immer Frei-
heit an einem kategorialen Objekt und gegenüber innerwelt-
lichem Du, selbst dort noch, wo sie sich anschickt, unmittelbar und
thematisch Freiheit Gott gegenüber zu sein, weil ja auch ein sol-
‚cher Akt eines thematischen Ja oder Nein gegen Gott nicht unmit-
telbar sich zum Gott der ursprünglichen, transzendentalen Erfah-
rung, sondern nur zu dem Gott thematischer, kategorialer Refle-
xion, zu Gott im Begriff, nicht unmittelbar und allein zum Gott
transzendentaler Anwesenheit verhalten kann.
Gottes Wort kann, wenn es überhaupt in innerweltlicher Greif-
barkeit geschehen soll, nur als endliches Wort vom Menschen ge-
sprochen werden. Und ebenso gilt in «umgekehrter Richtung»:
der Bezug zu Gott ist in seiner Unmittelbarkeit notwendig ver-
mittelt durch innerweltliche Kommunikation. Die transzendentale
Eröffnung braucht einen kategorialen Gegenstand, einen Halt und
Anhalt gewissermaßen, um sich nicht im leeren Nichts zu ver-
228
lieren;; sie braucht ein innerweltliches Du. Die ursprüngliche Be-
ziehung zu Gott ist — Nächstenliebe. Wenn der Mensch nur im
Vollzug der Liebe zu Gott er selbst wird und er diese Selbstverfü-
gung in einer kategorialen Tat vollziehen muß, dann gilt, und gilt
in der Ordnung der Gnade vollendet: Der Akt der Nächstenliebe
ist der einzige kategoriale und ursprüngliche Akt, in dem der
Mensch die kategorial gegebene ganze Wirklichkeit erreicht und
darin die transzendentale und gnadenhafte, unmittelbar erfahrene
Erfahrung Gottes macht.
In diesem mit-menschlichen Bezug verschärft sich aber noch-
mals die Geschichtlichkeit der dialogischen Freiheit, indem sie es
nicht nur mit dem souveränen Gott, sondern auch mit den unver-
fügbaren Entscheidungen ihrer Mitwelt zu tun hat, von ihnen be-
stimmt wird und selbst konkret in bestimmten Situationen sich
entscheiden muß.
So ist Freiheit nicht nur das Vermögen der Prinzipien, sondern
immer auch zu « Imperativen» gerufen, zu Entscheidungen, die
sich nicht aus den allgemeinen Normen und ewigen Gesetzen
ableiten lassen (sowenig sie ihnen widersprechen dürfen) und
doch auch nicht belanglos beliebige Wahl lassen, sondern den Men-
schen ganz beanspruchen — aus der Situation seiner «Stunde»,
seiner Berufung heraus.
Eine Logik der konkreten Erkenntnis des je jetzt Gesollten, eine
Moral, die es nicht bei der Ablehnung der Situationsethik bewen-
den läßt, sondern ihrerseits eine echte Individualethik entwirft,
kann hier nicht entwickelt werden. Die Andeutung muß genügen.
Aber nur ein solches Verständnis wahrt das Geheimnis der Freiheit.
Freiheit ist zunächst einmal darum Geheimnis, weil sie nur ist von
Gott her und auf Gott hin, dieser aber wesentlich das unbegreif-
liche Geheimnis ist, das als solches gerade das Wovonher und
Woraufhin der Freiheit als solcher ist. Der Grund der Freiheit ist
der Abgrund des Geheimnisses, das nie aufgefaßt werden kann als
ein bloß noch nicht Gewußtes, aber einmal Begreifbares, sondern
vielmehr als das ursprünglichste Datum unserer transzendentalen
229
Erfahrung in Erkenntnis und Freiheit, das in seiner sölbetrep
ständlichen und bleibenden Unbegreiflichkeit der Grund der
Möglichkeit des Begreifens alles dessen ist, was innerhalb seines
Horizonts als einzelnes begegnet.
Wir müssen uns hier versagen, von diesem Ansatzpunkt aus die
Frage nach der wirklichen Erkennbarkeit der Freiheit erkennt-
nistheoretisch zu stellen. Freiheit ist kein Datum einer empirischen
Psychologie, denn eine solche kann nur funktionale Verknüp-
fungen einzelner Gegebenheiten innerhalb des Horizonts der Er-
fahrung überhaupt feststellen, die Freiheit aber wird im voraus
zu einer solchen gegenständlichen Erfahrung schon immer als
Gestalt transzendentaler Erfahrung überhaupt erfaßt, darin das
Subjekt als nicht gegenständlich objektivierbares sich frei weiß.
Diese radikale Geheimnishaftigkeit der Freiheit des Subjekts
setzt sich auch fort in den freien Akt des Subjektes als solchen hin-
ein. Der einzelne Akt der Freiheit partizipiert insofern am Ge-
heimnis seiner Herkunft und seiner Hinkunft, als er nie in seiner
Freiheit und darum nie in seiner sittlichen Qualität absolut objek-
tivierbar ist. Diese Eigentümlichkeit ergibt sich zwar schon un-
mittelbar aus der strengen Subjektivität der Freiheit, sie ist aber
auch in den Offenbarungsaussagen ausdrücklich der Sache nach
hervorgehoben. In ihnen ist eine letzte Unobjektivierbarkeit der
Freiheit und der freien, konkreten Entscheidung gegeben. Jene
totale Entscheidung, in der der Mensch über das Ganze seiner
Wirklichkeit endgültig verfügt, d.h. diese Ganzheit selber in ihre
freibestimmte Endgültigkeit setzt (und nur insofern dies geschieht,
kann ein einzelner Akt wirklich voll frei genannt werden), istnach
der Offenbarung dem alleinigen Gerichte Gottes anheimzugeben.
Der Mensch zeitigt zwar in Freiheit und als bewußtes Subjekt
seine Endgültigkeit, er kann aber dieses Ergebnis seiner Freiheit
nicht noch einmal für sich selbst objektivieren, d.h. sich oder gar
andere in ihrer totalen Qualität vor Gott beurteilen. Insofern die
katholische Glaubenslehre erklärt, daß dem Menschen ein absolut
sicheres Urteil über seinen Rechtfertigungszustand oder sein ewi-
ges Heil als Pilger verwehrt sei und insofern auch die protestan-
tische Rechtfertigungslehre trotz aller Kontroversen in diesem
Punkt im letzten nicht widerspricht, weil auch für die lutherische
230
Rechtfertigungslehre der absolute Fiduzialglaube der immer an-
gefochtene bleibt, ist damit auch gesagt, daß der Mensch seine
Freiheitsentscheidung nicht gegenständlich adäquat und mit abso-
luter Sicherheit reflektieren kann, daß Freiheit wirklich Subjek-
tivität ist und diese in sich und ihrem Beisichsein eine ursprüng-
lichere Wirklichkeit ist als das Sachhafte, Vorhandene, das Gegen-
‘ ständliche, das von einem ihm vorgängigen Koordinatensystem
allgemeiner Begriffe her eindeutig bestimmt werden kann. Der
Mensch weiß zn der Tat seiner Freiheit selbst, wer er in Freiheit ist
und sein will. Aber eben dieses Wissen ist strenger selber, und dar-
um kann er dieses Wissen nicht als eine objektive und manipulier-
bare Größe von sich absetzen und so sich selber noch einmal eindeu-
tig das sagen, als was er sich selber auf Gott hin in seiner Freiheit
aussagt. Diese Aussage, die er selber ist, verschwindet gewisser-
maßen für ihn selbst in das Mysterium Gottes hinein. Eine absolut
sichere, satzhaft objektivierte Aussage über den Freiheitsvollzug
eines Menschen in einem bestimmten, raumzeitlich lokalisier-
baren Akt ist für diesen Menschen selbst und erst recht für andere
grundsätzlich unmöglich. Dies bedeutet zwar nicht, daß Freiheit
und Verantwortung überhaupt keine Größen seien, die sich im
Raum der menschlichen Erfahrung und Reflexion und im zwi-
schenmenschlichen Bereich fänden. Freiheit, auch als konkrete,
totale Selbstverfügung des freien Subjektes über sich selbst in
Endgültigkeit hinein, geschieht immer an einem vorgegebenen,
partikulären, kategorialenMaterial; Subjektivität, Person vollzieht
sich immer in Naturalität. Darin zeigt sich die Kreatürlichkeit
menschlicher Freiheit. Ebenso ist klar, daß der Mensch unbescha-
det der Unmöglichkeit einer adäquaten Selbstreflexion immer
auch das reflektierende, das sich selbst objektivierende und unter
die Normen allgemeiner Gültigkeit stellende Wesen ist. Es ist
eine katholische und angesichts der materialen Moral der Bibel
eine auch durchaus biblische Lehre, daß sich nicht bloß for-
male Prinzipien des subjektiven Freiheitsvollzugs des Subjekts
hinsichtlich dessen Richtigkeit oder Falschheit entwickeln lassen,
sondern auch durchaus materiale Normen objektiver und allge-
meingültiger Art hinsichtlich des richtigen oder falschen Vollzugs
dieser subjektiven Freiheit im kategorialen Material der Natur des
251
Menschen und seiner Welt. Von daher ist es dann selbstverständ-
lich, daß der Mensch zu einer gewissen reflexen und objektivierten
Selbstbeurteilung seines sittlichen Zustandes, also zu einem Urteil
hinsichtlich der Gegebenheit, Richtigkeit oder Falschheit seines
Freiheitsvollzugs in einem bestimmten materialen Akt sowohl er-
mächtigt als auch verpflichtet ist. Dieses Wissen um sich selbst,
das man sich selber sagen, das man kritisch prüfen kann, hinsicht-
lich dessen man zu einem gewissen, gültigen Resultat kommen
kann, ist aber gerade charakterisiert durch die Eigentümlichkeit
der pilgerschaftlichen Existenz des Menschen in diesem Leben, in
dem die Freiheit immer noch am Werk ist und darum jede Prü-
fung selbst noch einmal eine reflex nicht adäquat prüfbare Tat der
Freiheit ist. Es ist ein wirkliches Wissen, es gibt eine « Sicherheit »
der Art, wie eine solche im Raum der Geschichtlichkeit und Frei-
heit gegeben sein kann :eben als Anspruch, die Freiheit selbst wie-
der verpflichtend zu normieren. Man hat das Recht und die Pflicht,
dieses Wissen um sich selbst und schließlich auch um andere in das
Kalkül seines Lebens und seines aktiven Entscheidens und Han-
delns einzusetzen, weil anders man gar nicht existieren kann und
die restlose Enthaltung von einem solchen Urteilen das Risiko die-
ses Urteilens gar nicht vermiede, sondern selbst noch einmal eine
freie, riskante Entscheidung wäre. Und dennoch versteht sich die-
ses urteilende, entscheidende, riskierende, objektivierende Wissen
um die Freiheit nicht als das Endgültige, das schlechthin Sichere
und Inappellable. In diesem objektivierenden Wissen nimmt der
Mensch in seinem Selbstverständnis reflexer Art, das selbst noch
einmal eine Tat unreflektierter Freiheit ist, sich selber an und
überantwortet sich gerade darin als der sich so und so Verstehende
dem geheimnisvollen Gerichte Gottes, das in der unreflektierten
Tat seiner Freiheit verborgen geschieht. Freiheit ist Geheimnis.
232
einem Doppelten. Diese Freiheit erlebt und erfährt sich zunächst
einmal in ihrem transzendentalen Wesen getragen und ermäch-
tigt von ihrem absoluten Horizont her, den sie nicht bildet, son-
dern von dem her sie gebildet wird. Die Transzendentalität
des Geistes darf ja weder im Erkennen noch in der Freiheit der
Liebe so aufgefaßt werden, als ob der Geist sein Woraufhin, sein
«Ziel» von sich aus entwerfe und setze. Dieses selber eröffnet sich
vielmehr in einer eigentümlichen Weise des Entzogenseins von
sich her dem erkennenden und wollenden Geist (ohne daß - wie
schon gesagt — damit jene offene Vergegenwärtigung gegeben
wäre, die der Ontologismus behauptet); das Ziel wird im Vollzug
des geistigen Daseins selbst als die eigentlich bewegende Ursache
erfahren; der aktive Selbstentwurf des Geistes auf sein Ziel, seine
Zukunft hin, erfährt sich als durch das von sich her sich eröffnende
Ziel getragen, über das der Geist nicht verfügt, weil er dieses Ziel
nicht umgreift, sondern in Sein und Vollzug von ihm als dem über
ihn hinausliegenden konstituiert wird. Die Eigentümlichkeit der
Transzendentalität der Freiheit als der von ihrem Ziel her getra-
genen und ermächtigten bedeutet schon die Kreatürlichkeit dieser
Freiheit, die ihr im Vollzug unmittelbar bewußt wird. Insofern
diese Ermächtigung der Freiheit auf die Absolutheit des Seins hin
erfahren wird als gnadenhafte Ermächtigung zur absoluten Nähe
zu diesem Ziel - in dessen unmittelbarer Selbstmitteilung (gött-
liche Gnade genannt) -, verstärkt und verdeutlicht sich der Cha-
rakter der kreatürlichen Freiheit durch die ermächtigende Selbst-
eröffnung dieses Zieles (wenn auch diese Erfahrung eindeutig nur
durch ihre Interpretation in der übernatürlichen Wortoffenbarung
und im Glauben objektiviert werden kann).
Die Erfahrung der Kreatürlichkeit der Freiheit erweist sich
zweitens darin, daß diese Freiheit als Selbstverfügung des Sub-
jektes zu sich selbst auf Endgültigkeit hin notwendig vermittelt ist
durch eine von sich her aposteriorisch und unverfügbar und letzt-
lich ungeplant gebende Um- und Mitwelt. Der Mensch vollzieht
seine ursprüngliche Freiheit zu sich selbst immer nur im hinneh-
menden Durchgangdurch seine ihm.auferlegte Geschichte, die vor-
gegeben und auferlegt ist. Freiheit ist freie Antwort in Ja oder Nein
zu Notwendigkeit und erfährt daran nochmals ihre Kreatürlichkeit.
253
Die Situationsbedingtheit der kreatürlichen Freiheit, die nur
zu sich kommt, indem sie in Welt ausgeht, ist nun nach christ-
licher Lehre, die vor allem in den Implikationen der Lehre von
der Erbsünde und der Konkupiszenz enthalten ist, dadurch ge-
kennzeichnet, daß diese Situation immer und unausweichlich von
‘der Schuld mitbestimmt ist. Die Lehre von der Sünde im ersten
Ursprung der Gesamtgeschichte der Welt und der Menschheit und
die Lehre von der Konkupiszenz bedeuten nämlich, daß es für die
Freiheit des Menschen nie eine Situation und ein Material der Frei-
heit gibt (wenn Situation und Material adäquat und ohne willkür-
liche Abstraktionen gesehen werden), die nicht im voraus zu der
je eigenen positiven oder negativen sittlichen Entscheidung schon
durch die Schuld in der Geschichte der Menschheit mitbestimmt
wären, ohne daß es bis zum Ende der Geschichte gelingen könnte,
diese Hypothek der in der Situation der Freiheit objektivierten
Schuld jemals ganz zu eliminieren.
Insofern die Freiheit sich immer im fremden Material objekti-
vieren muß, um sich selbst zu finden, wird sie sich selbst entfrem-
det. Sie kann sich — wie schon gezeigt —-in dem, was sie im Material
der Situation getan hat, um selber zu sein, nie so eindeutig anblik-
ken, daß sie darin mit absoluter Sicherheit genau erkennen könnte,
was sie selber ist, das Ja oder Nein zu sich und zu Gott. Das schon
darum, weil es keine solche Objektivation gibt, von der man mit
absoluter Sicherheit sagen könne, sie habe in ihrer Konkretheit
allein aus Freiheit und nie aus Naturalität entspringen können. Als
kreatürlich vermittelte Freiheit wird sich diese Freiheit in ihrer
Objektivation unweigerlich in einem letzten Sinne zweideutigund
darum zum Geheimnis, als welches sie sich Gott übergeben muß.
Dieser Charakter der Zweideutigkeit der Objektivationen der Frei-
heit verschärft sich nun durch den Umstand, daß das der Freiheit
vorgegebene und in ihren konkreten Vollzug eintretende Material
immer schon mitbestimmt und gestaltet ist durch die Schuld vom
Anfang der Geschichte des Geistes an. Natürlich kann die Freiheit
des Einzelnen dieses von der Schuld anderer mitbestimmte Mate-
rial, das dem Freiheitsakt nicht äußerlich bleibt, immer noch ent-
weder so verstehen, daß sie die Schuldbestimmtheit dieses Mate-
rials als Leibhaftigkeit ihres eigenen Neins zu Gott ratifiziert, zur
254
objektiven Erscheinung der eigenen Schuld macht, oder so, daß sie
esin einer Partizipation des Kreuzes Christi im Ja zu Gott ausleidet
und überwindet. Aber eben diese Doppeldeutigkeit der vorgege-
benen Situation und ihres Freiheitsmaterials macht noch einmal
die ursprüngliche Freiheitstat zu einem letztlich nicht absolut re-
flektierbaren und nicht auflösbaren Geheimnis für die Freiheit
selbst und verbirgt den Sinn und die Qualität des einzelnen Lebens
wie der Menschheitsgeschichte als ganzer in das unerforschliche
Gericht Gottes hinein.
Insofern Freiheit immer und in jedem Akt Freiheit auf das Ge-
heimnis Gottes selbst hin ist, durch das sie getragen und ermächtigt
ist, ist der Akt der Freiheit wesentlich immer der Akt der Selbst-
übergabe des Menschen an die unverfügbare Verfügung Gottes
und in diesem Sinne wesentlich vertrauendes Wagnis. In der Ge-
schichte der Selbsterfahrung dieser Freiheit kann erst langsam zur
Erscheinung kommen, wie sich Gott dieser Freiheit zuschickt, die
sich ihm in ihrem Wagnis unbedingt anvertrauen muß ins Unver-
fügbare hinein, wenn sie sich ihm nicht verweigern will. Dieser
Sachverhalt verschärft sich noch durch das, was wir die Schuld-
situation der Freiheit genannt haben. Wenn nach katholischer
Lehre durch die Erbsünde die menschliche Freiheit auch nicht
zerstört worden ist, so ist sie doch dadurch zutiefst «verwundet»;
wenn also Gottes Zuspruch sie auch nicht völlig neuschaffen muß,
bedarf sie doch unbedingt seiner liebenden Hilfe. Die verletzte
Freiheit muß diese Hilfe (frei) annehmen und ist doch zu dieser
Leistung schon nicht aus sich selbst imstande. Schon dazu bedarf sie
der Befreiung durch die «zuvorkommende Gnade» des uner-
forschlichen Ratschlusses Gottes, der «sich erbarmt, wessen er
will, und verstockt, wen er will» (Röm 9,18), von dem wir aber
zugleich zu glauben gehalten sind, daß er « will, daß alle Menschen
selig werden » (1Tim 2,4).
Diesen endgültigen, unwiderruflichen Entschluß zur Befreiung
der Freiheit hat er in seinem Sohn kundgetan. Die Geschichte der
Erfahrung der Freiheit mit Gott ist also - aus seinem inappellablen
235
Willen heraus — Heils- und Offenbarungsgeschichte; sie ist die in
Jesus Christus zu sich selbst gebrachte Erfahrung, daß Gott sich
selbst in dem, was wir vergöttlichende Gnade nennen, der Freiheit
des Menschen zu absoluter Nähe und als Grund der freien Annahme
dieser Nähe, zu eigen gegeben hat. Der sich selbst ins Unverfüg-
bare Gottes hinein übergebenden Freiheit hat sich Gott selbst in
seiner innersten Göttlichkeit übergeben, er ist nicht bloß der ferne
Horizont, auf den als immer fernen hin der Mensch sein freies
Selbstverständnis entwirft, sondern ist zum Raum und «Gegen-
stand » dieses Freiheitsvollzuges in absoluter Unmittelbarkeit ge-
worden. Dieser in Christus ermöglichte und erhobene Freiheits-
vollzug ist jene befreite Freiheit, die Paulus als die « Freiheit der
Kinder Gottes», die eigentlich christliche Freiheit verkündet. Die
im Sohn (Jo 8,56), der Fleisch wurde, offenbar gewordene Liebe
des Vaters, die aletheia, macht frei (Jo 8,52), weil dort, wo sein
Pneuma ist, die Freiheit ist (2 Kor 3,17). Diese Freiheit ist eine
Freiheit von der Sünde (Röm 6, 18-23; Jo 8,51-36), vom Gesetz
(Röm 7,3f; 8,2; Gal 2,4; 4,21-51; 5,1.135) und vom Tod (Röm
6,21f.; 8,21): von der Sünde, insofern diese in tausendfacher Va-
riation der freie Vollzug der Selbstbehauptung in sich und in der
Welt ohne die Offenheit auf die Liebe Gottes (von ihm her und zu
ihm hin) ist; vom Gesetz, insofern dieses, obzwar der heilige Wille
Gottes, dem gnadenlosen Menschen (ob verletzt oder selbstherrlich
im Werk erfüllt) nur zum Stachel der eigenen Selbstbehauptung
gegen Gott oder vor Gott wird; vom Tod, insofern dieser nur die
Phänomenalität der Schuld ist. Angeeignet wird diese Freiheit, die
Christus ist und schenkt, dadurch, daß der Mensch, dem Ruf zu
dieser Freiheit gehorsam (Gal 5,15), im Glauben (und in dessen
Greifbarkeit, der Taufe) sich jenem Geschehen unterwirft, das
den Kerker der Welt aufbricht: der Menschwerdung, dem Tod und
der Auferstehung des Sohnes.
256
geschichte siegreich bleibenden umfaßt bleibt. Die Freiheit des
Menschen ist befreit hinein in die Unmittelbarkeit zur Seinsfrei-
heit Gottes selbst. Sie ist ermächtigt zu ihrem höchsten möglichen
Akt, der in ihrem formalen Wesen angelegt, aber von ihm nicht
gefordert ist. Die Freiheit auf Gott hin und von ihm her als der
Herkunft und der Zukunft der Freiheit und die Freiheit als dialo-
gisches Vermögen der Liebe vollzieht sich in der denkbar höchsten
Modalität dieser Aspekte: als Freiheit, die von Gottes Selbstmittei-
lung in personaler Liebe getragen ist und Gott selbst annimmt, so
daß Horizont und Gegenstand der zu sich selbst befreiten Liebe
identisch werden.
257
SCHULD - VERANTWORTUNG - STRAFE
IN DER SICHT DER KATHOLISCHEN THEOLOGIE
258
es für die katholische Theologie selbstverständlich, daß sie von
ihrer eigentlichsten Erkenntnisquelle aus und mit ihren spezifi-
schen Erkenntnismethoden doch auch so Aussagen macht über
Verantwortung, Schuld, Strafe, wie diese Begriffe im profanen
Bereich verstanden werden, und mit diesen Begriffen nicht einfach
Inhalte verbindet, die von vornherein mit dem profanen Ver-
ständnis dieser genannten Begriffe nichts zu tun hätten. So ist es
auch verständlich, daß sogar in allen theologischen Aussagen ein
vortheologisches, profanes Verständnis dieser Begriffe vorläufiger
Art vorausgesetzt wird und werden muß. Wüßten wir in einem
vortheologischen Wissen schlechterdings überhaupt nicht, was mit
Freiheit, Verantwortung, Schuld, Strafe gemeint sei, wäre auch
ein theologisches Verständnis dieser Begriffe gänzlich unmöglich.
Denn die letzten begrifflichen Urelemente auch der Sprache der
Offenbarung und der Theologie werden von der Offenbarung und
deren theologischer Reflexion nicht einfach von Grund aus neu
konstituiert, sondern die Sprache der Offenbarung greift immer
schon im profanen Bereich bekannte Begriffe auf, sosehr diese dann
einen vertieften, veränderten oder neuen Sinn dadurch erhalten
können, daß sie in einen neuen Zusammenhang gerückt werden.
Aus dem Gesagten ergibt sich, daß wir hier einerseits ein vortheo-
logisches Verständnis der hier zu behandelnden Begriffe schon
vorauszusetzen haben, daß wir anderseits zu zeigen haben, wel-
chen neuen und vertieften Inhalt diese Begriffe innerhalb der
Theologie und ihrer entscheidenden Aussagen erlangen und wie
schließlich von da aus, positiv bejahend und kritisch in Frage stel-
lend, die Theologie die profane Verwendung dieser Begriffe er-
hellt und beurteilt. Dieser geschlossene Zirkel vortheologischen,
allgemein menschlichen Verständnisses dieser Begriffe, einer Me-
tamorphose dieser Begriffe durch deren Einbeziehung in einen
theologischen Zusammenhang und einer theologisch kritischen
Erhellung ihrer profanen Verwendung muß (so gut es hier mög-
lich ist) alle unsere Überlegungen bestimmen.
239
u
240
meinsames Wissen um Verantwortung. Denn sonst könnten ja
. nicht alle Menschen wirklich Subjekt und Objekt des einen gött-
lichen Heiles von seiten ein und desselben Gottes in Christus Jesus
innerhalb einer einen Heilsgeschichte sein. Aus diesem theologi-
schen Grund heraus und nicht bloß aus Zeitmangel ist es darum
hier wohl gestattet, dieses vortheologische Wissen um Freiheit und
Verantwortung einmal vorauszusetzen. Diesbezüglich sei nur an-
gemerkt, daß man (ohne daß dies hier näher dargelegt werden soll)
in einer katholischen Theologie wohl unbefangen voraussetzen
kann, daß eine echte, wenn auch vorläufige und ihr eigentliches
Wesen noch nicht eingeholt habende Erfahrung von Freiheit und
Verantwortlichkeit denkbar und auch real vorkommend ist, in der
der Bezug der Freiheit und Verantwortung auf Gott und sein Ge-
setz, sosehr er implizit gegeben sein muß, noch nicht thematisch
zu sein braucht, daß es also, was die explizite Reflexion angeht,
unter Umständen durchaus eine atheistische Moral der Freiheit
und sittlichen Verantwortung geben könne und eine solche ja ge-
radein einem christlichen Verständnis der Ursprungsort eines ech-
ten und ursprünglichen Verständnisses für das sein kann, was
eigentlich mit Gott und dem göttlichen Gesetz gemeint ist.
Wir setzen also dieses vortheologische, profanhumaneVerständ-
nis von Freiheitund Verantwortung einfach voraus und fragen uns,
welche neue und vertiefte Interpretation diese Begriffe erfahren,
wenn sie in einen theologischen Zusammenhang gerückt werden.
Wir suchen diesen theologischen Ort der Deutung dieser Begriffe
uns
zunächst einmal möglichst schlicht zu bestimmen und fragen
Be-
dann, was sich von da her für das vertiefte Verständnis dieser
Ver-
griffe ergibt. Was den theologischen Ort als Ursprung und
und der mit ihnen gemeinte n
stehenshorizont dieser Begriffe
vielleich t ganz einfach so
Wirklichkeit angeht, so können wir
oder von ihm
sagen: Der Mensch verfügt vor Gott und aufihn hin
zwar so,
weg über die Totalität seines Wesens und Daseins, und
Exi-
daß diese zeitliche Verfügung die ewige Endgültigkeit seiner
der Mensch ist durch
stenz in absolutem Heil oder Unheil bildet:
rtlich.
seine Freiheit für sein ewiges Heil oder Unheil verantwo
zu entfal-
Diesen schlichten Satz gilt es in seinem Sinn daraufhin
Verantwortlich-
ten, was in ihm über das Wesen der Freiheit und
241
keit des Menschen gesagt ist. Im voraus dazu sei aber noch fest-
gestellt (weil wir später diese Thematik übergehen müssen), daß
die offenbarungsmäßig erhellte Erfahrung der Freiheit und Ver-
antwortung eben diese Freiheit als gnadenhafte Gabe Gottes, und
zwar sowohl in ihrem grundsätzlichen Bestand als auch in ihrem
guten Vollzug, erfährt und weiß — Freiheit also von vornherein
nicht in dem Sinne als autonomer Selbstbesitz des Menschen vor
oder gegen Gott verstanden wird, daß Gnade und Verfügung
Gottes und verantwortlicher Freiheitsvollzug gegenseitig sich be-
einträchtigende Größen, etwa im Sinn eines pelagianischen Syner-
gismus, wären, von denen eine nur auf Kosten der anderen sich
behaupten oder wachsen könnte. Göttliche Freiheit und Verfü-
gung werden von vornherein als Ermöglichungsgrund kreatür-
licher Verantwortung und Freiheit erfahren, so daß beide im
gleichen, nicht im umgekehrten Verhältnis wachsen. Dies voraus-
geschickt, ist nun zu sagen, was Freiheit als Selbstverantworten-
können und -müssen der Totalität des Subjekts in endgültigem
Heilund Unheil vor Gott genauer bedeuten. Denn dies ist offenbar
doch in der christlichen Aussage vom Menschen und seinem Heil
und Unheil gemeint, wenn er als der Freie sich selbst und die Tota-
lität seines Lebens vor dem Gericht verantworten muß und ver-
antworten können muß und das ewig gültige Urteil über sein end-
gültiges Heilund Unheilnach seinen Werken geschieht, von seiten
eines Richters, der nicht auf die bloße Erscheinung des Lebens,
auf das «Antlitz », sondern auf den frei verfügbaren Kern der Per-
son, auf das «Herz» blickt. Wird in der Schrift auch die formale
Wahl- und Entscheidungsfreiheit des Menschen mehr voraus-
gesetzt als zum eigentlichen Thema gemacht, ist das explizite
Thema der Schrift, besonders im Neuen Testament, auch mehr die
Paradoxie, daß die verantwortlich bleibende Freiheit des Men-
schen, ohne aufgehoben zu werden, unter die Sklaverei der dämo-
nischen Mächte der Sünde und des Todes und in etwa sogar unter
das Gesetz versklavt ist und durch die Gnade Gottes die Freiheit
erst zu ihrer eigentlichen Aufgabe der Liebe Gottes in einer
inne-
ren Geneigtheit für das Gesetz befreit werden muß, so ist dennoch
nicht daran zu zweifeln, daß für die Schrift der sündige und
der
gerechtfertigte Mensch für ihre Lebenstat vor Gott verantwort-
242
lich sind und darum und insofern auch frei sind, daß also die Wahl-
‘ freiheit bleibendes Wesenskonstitutiv des Menschen ist. Aber ge-
rade insofern sie für die christliche Offenbarung Heil oder Unheil
begründet, und zwar endgültig und vor Gott, kommt erst ihr
eigentliches Wesen zur Erscheinung. Für eine bloß profane Erfah-
rung mag nämlich diese Wahlfreiheit erscheinen bloß als Eigen-
tümlichkeit des einzelnen Aktes des Menschen, der insofern ihm
zurechenbar ist, als er aktiv vom Menschen selbst gesetzt ist, ohne
daß diese Setzung von einer inneren Zuständlichkeit des Menschen
oder einer äußeren Situation, die der aktiven Entscheidung voraus-
gingen, im voraus kausal schon festgelegt und in diesem Sinne
erzwungen wäre. Ein solcher Begriff der Wahlfreiheit verteilt die
Freiheit im Vollzug doch atomisierend, exklusiv auf die einzelnen
Akte desMenschen, die nur durch eine neutrale, substantielle Sel-
bigkeit des sie alle setzenden Subjekts und durch den äußerenZeit-
raum des Lebens zusammengehalten werden. Freiheit istso eigent-
lich nur Aktfreiheit, Zurechenbarkeit des einzelnen Aktes an eine
an sich selbst neutral bleibende und darum sich selbst (solange die
äußeren Bedingungen gegeben sind) immer aufs neue bestimmen
könnende Person. Wird nun aber christlich gesehen, daß der
Mensch über sich selbst als ganzen, und zwar endgültig durch seine
Freiheit bestimmen und verfügen kann, daß er also nicht nur
moralisch zu qualifizierende, aber eigentlich doch wieder verge-
gehende Taten setzt, die ihm danach nur noch juristisch oder mora-
lisch angelastet werden, sondern durch seine Freiheitsentschei-
dung wirklich im Grunde seiner Wirklichkeit selber in aller Wahr-
heit so gut oder böse zsz, daß darin sein endgültiges Heil oder Unheil
schon (wenn vielleicht auch noch verborgen) gegeben ist, dann
verwandelt und vertieft sich die verantwortliche Freiheit in einer
ungeheuren Weise. Die Freiheit ist zunächst einmal Seinsfreiheit.
Sie ist nicht bloß ein zuweilen im Vollzug gesetzter Akt, sondern
eine transzendentale Auszeichnung des Menschseins selbst. Sollder
Mensch wirklich endgültig über sich selbst verfügen können, soll
also Ewigkeit die Tat seiner Freiheit selbst sein, soll diese Tat nicht
etwas gut Bleibendes wider dessen Gutheitin ein Verderben ziehen
können, das diesem gut Bleibenden einfach nur widerspricht, soll
also Freiheit den Menschen wirklich im Grunde seines Wesens gut
245
oder böse machen können, und soll dieses Gut-oder-Bös-Sein nicht
bloß ein äußerer, akzidenteller Befall desMenschen sein, dann muß
die Freiheit zunächst einmal als Seinsfreiheit erscheinen!. Das
will sagen: Der Mensch ist jenes Seiende, dem es in seinem Sein
um dieses selbst geht, das immer schon ein Verhältnis zu sich selbst
hat, Subjektivität und nie einfach Natur, immer schon Person, nie
einfach vorfindlich, sondern immer schon befindlich ist. In diesem
Seienden geschieht an ihm nichts über sein Selbstverhältnis hin-
weg, sein «Ich » ist schlechthin unüberspringbar, unobjektivier-
bar, es kann nie durch ein anderes ersetzt oder erklärt werden,
auch nicht durch die eigene reflexe Vorstellung von sich selbst; es
ist echter Ursprung, nicht noch einmal auf etwas anderes gestellt
und deshalb auch nicht von einem anderen her ableitbar bezie-
hungsweise auf ein solches hin begründbar. Der Mensch ist durch
seine Seinsfreiheit immer der Unvergleichliche, der in kein Sy-
stem adäquat eingeordnet, keiner Idee adäquat subsumiert wer-
den kann. Er ist in einem ursprünglichen Sinn der Unantastbare,
aber auch der Einsame und Ungeborgene, sich selbst Zugelastete,
der sich durch nichts von diesem einmal-einsamen Selbstsein « ab-
solvieren» kann. Der Freiheit geht es darum auch ursprünglich
nicht primär um dieses oder jenes, das sie tun oder lassen kann.
Wahlfreiheit ist ursprünglich nicht das Vermögen der Wahl ir-
gendeines Gegenstandes oder einer einzelnen Verhaltensweise die-
sem oder jenem gegenüber, sondern die Freiheit des Selbstver-
ständnisses, die Möglichkeit, zu sich selber ja oder nein zu sagen,
die Möglichkeit der Entscheidung für oder gegen sich selbst, die
dem wissenden Bei-sich-selber-Sein, der erkennenden Subjekt-
haftigkeit desMenschen parallel ist. Die Freiheit geschieht nie bloß
als gegenständlicher Vollzug, als eine Wahl « zwischen » einzelnen
Objekten, sondern als Selbstvollzug des gegenständlich wählenden
Menschen, und erst innerhalb dieser Freiheit, in der der Mensch
sich selbst vermag, ist er dann auch «frei» hinsichtlich des Mate-
rials seines Selbstvollzugs. Er kann dies oder jenes tun oder unter-
lassen in Hinsicht auf seine eigene, ihm unausweichlich auferlegte
1 Hier und im Folgenden werden vom Vortragenden dankbar die Ausführungen
seines Freundes J.B.Metz benutzt aus: H.Fries, Handbuch theologischer Grund-
begriffe (München 1962), Bd. I, S.403-414 (Freiheit, theologisch)..
Vgl. jetzt auch
«Theologie der Freiheit» in diesem Band S. 215ff.
244
Selbstverwirklichung. Diese ist ihm unausweichlich aufgegeben,
und sie ist bei aller Verschiedenheit des konkreten Materials dieses
Selbstvollzugs immer eine Selbstverwirklichung auf Gott hin oder
eine radikale Selbstverweigerung Gott gegenüber. Denn das in
Freiheit gesetzte Heil oder Unheil im Gewinn oder Verlust Gottes
darf (darauf wird später noch ausführlicher zurückzukommen sein)
nicht als eine bloß äußere Reaktion eines richtenden oder beloh-
nenden Gottes verstanden werden, sondern ist selber schon in die-
ser Freiheit getan. Freiheitistso Vermögen zu Totalität; sie bringt,
soll sie selber Heil oder Unheil, also Bestimmung des ganzen Men-
schen wirken können, von sich aus den ganzen Menschen in seinen
ineinander spielenden Selbst-, Welt- und Gottesbezügen, in seiner
Herkunft und Zukunft ins Spiel. Freiheit ist immer Selbst-
vollzug des gegenständlich wählenden Menschen in Hinsicht auf
einen Gesamtvollzug, eine Gesamtverfügung seines Daseins vor
Gott. Dabei ist freilich zu sehen, daß dieses Grundwesen der Frei-
heit zeitlich gestreut vollzogen wird, daß der jeweils angezielte
Gesamtentwurf des Daseins, das eigene, totale Selbstverständnis,
die «option fondamentale » vielfach leer und gegenständlich un-
erfüllt bleibt, daß nicht in jeder einzelnen Freiheitstat die gleiche
aktuelle Tiefe und Radikalität der Selbstverfügung gegeben ist,
daß alle einzelnen Freiheitsakte, obwohl jeder von ihnen sich auf
das Wagnis totaler und endgültiger Selbstverfügung einlassen will,
sich immer ins Ganze der einen und ganzen Freiheitstat des einen
menschlichen, zeitlich-endlichen Lebens hinein aufgeben, gerade
weil sich jeder im Horizont des Ganzen des Daseins vollzieht und
von hierher Gewicht und Proportion empfängt. Dementspre-
chend gibt es im biblisch und augustinisch geprägten Begriff des
Herzens, im Begriff der Subjektivität bei Kierkegaard, in dem der
«action » bei Blondel usw. das Verständnis dafür, daß es einen sol-
chen das Gesamte des Daseins umfassenden und durchprägenden
Grundakt der Freiheit gibt, der sich zwar mittels der einzelnen
raumzeitlich lokalisierbaren und hinsichtlich ihrer Motive objekti-
vierbaren Einzelakte des Menschen realisiert und nur so vollzogen
werden kann, der aber mit einem solchen Einzelakt nicht einfach
in objektiver Reflexion identifiziert werden kann, noch das bloße
moralische Fazit der Summe dieser Einzelakte darstellt, noch ein-
245
fach mit der moralischen Qualität des letzten der gesetzten freien
Einzelakte identifiziert werden kann. Die konkrete Freiheit des
Menschen, in der er vor Gott über sich als ganzen in Erwirkung
seiner eigenen Endgültigkeit vor Gott verfügt, ist die nicht mehr
reflektierbare Einheit in Differenz von «option fondamentale »
und freien Einzelakten des Menschen, eine Einheit, die das kon-
krete Sein des sich vollzogen habenden Freiheitssubjekts ist.
Das Freiheitssubjekt ist verantwortlich, weil in der Freiheit das
Subjekt und es als solches wirklich selbst und nicht bloß etwas an
ihm sich überantwortet ist, es sich selbst nicht auf etwas anderes
als auf sich abwälzen kann und Gott gerade als derjenige definiert
werden könnte, der eine Freiheit in diesem Sinne setzen kann,
ohne darum wie jede kategoriale Ursache die Einschränkung die-
ser Freiheit zu sein.
Noch eine wichtige Eigentümlichkeit dieser verantwortlichen
Freiheit im theologischen Sinne ist hervorzuheben. Sie ergibt sich
zwar schon unmittelbar aus der strengen Subjektivität der Frei-
heit, ist aber auch in den Offenbarungsaussagen ausdrücklich der
Sache nach hervorgehoben: eine letzte Unobjektivierbarkeit der
Freiheit und der freien, konkreten Entscheidung. Jene totale Ent-
scheidung, in der der Mensch über das Ganze seiner Wirklichkeit
endgültig verfügt, das heißt diese Ganzheit selber in ihre frei-
bestimmte Endgültigkeit setzt, ist nach der Offenbarung dem allei-
nigen Gerichte Gottes anheimzugeben. Der Mensch zeitigt zwar in
Freiheit, also als bewußtes Subjekt seine Endgültigkeit, er kann
aber diesesErgebnis seiner Freiheitnicht noch einmal fürsich selber
objektivieren, das heißt sich oder andere in ihrer totalen Qualität
vor Gott beurteilen. Insofern die katholische Glaubenslehre er-
klärt, daß dem Menschen ein absolut sicheres Urteil über seinen
Rechtfertigungszustand oder sein ewiges Heil als Pilger verwehrt
sei, und insofern auch die evangelische Rechtfertigungslehre trotz
aller Kontroversen in diesem Punkt im letzten nicht widerspricht,
weil auch für die lutherische Rechtfertigungslehre der absolute
Fiduzialglaube immer der angefochtene bleibt, ist auch damit ge-
sagt, daß der Mensch seine Freiheitsentscheidung nicht gegen-
ständlich adäquat und mit absoluter Sicherheit reflektieren kann.
Er weiß in der Tat seiner Freiheit, wer er in Freiheit ist und sein
246
will. Aber eben dieses Wissen ister selber, unddarum kann er dieses
Wissen nicht als eine objektivierbare und manipulierbare Größe
von sich absetzen und sich so selber noch einmal eindeutig das sa-
gen, als was er sich selber vor Gott in seiner Freiheit aussagt. Diese
Aussage, die er selber ist, verschwindet gewissermaßen in das
Mysterium Gottes hinein.
Nun ist aber zu bedenken, daß für das christliche Verständnis
eben diese Freiheit das eigentliche Wesen der Freiheit überhaupt
ist, auch dort, wo sie sich nicht in dieser theologischen Weise the-
matisiert, weil es eben nicht eine eigentlich bürgerlich-profane
Freiheit und daneben eine theologische Freiheit vor Gott gibt, son-
dern diese das wahre Wesen jener bedeutet. Ist dies aber richtig,
dann folgt mit zwingender Notwendigkeit: eine absolut sichere
Aussage über den Freiheitsvollzug eines Menschen in einem be-
stimmten, raumzeitlich lokalisierbaren Akt ist grundsätzlich un-
möglich. Dies bedeutet zwar nicht, daß Freiheit und Verantwor-
tung überhaupt keine Größen sind, die sich im Raum der mensch-
lichen Erfahrung und Reflexion und im zwischenmenschlichen
Bereich finden. Wir haben ja schon einmal angedeutet, daß die
konkrete, totale Selbstverfügung des freien Subjekts über sich
selbst immer an einem vorgegebenen, partikulären, kategorialen
Material geschieht, Subjektivität sich vollzieht in Naturalität. Und
es ist ebenso klar, daß der Mensch, unbeschadet der Unmöglichkeit
einer adäquaten Selbstreflexion, immer auch das reflektierende,
das sich selbst objektivierende und unter die Normen allgemeiner
Gültigkeit stellende Wesen ist. Es ist eine katholische und, ange-
sichts der materialen Moral der Bibel, auch durchaus biblische
Lehre, daß sich nicht bloß formale Prinzipien des subjektiven Frei-
heitsvollzugs des Subjekts hinsichtlich dessen Richtigkeit oder
Falschheit entwickeln lassen, sondern auch durchaus materiale
Normen objektiver und allgemeingültiger Art hinsichtlich des
richtigen oder falschen Vollzugs dieser subjektiven Freiheit im ka-
tegorialen Material der Natur des Menschen und seiner Welt. Von
diesem Gesichtspunkt her ist es aber dann selbstverständlich, daß
der Mensch zu einer gewissen reflexen und objektivierten Selbst-
beurteilung seines sittlichen Zustandes, also hinsichtlich der Gege-
benheit, Richtigkeit oder Falschheit seines Freiheitsvollzugs, in
247
einem bestimmten materialen Akt sowohl ermächtigt als auch ver-
pflichtet ist; dieses Wissen um sich selbst, das man sich selber sagen
kann, das man kritisch prüfen kann, hinsichtlich dessen man zu
einem gewissen gültigen Resultat kommen kann, charakterisiert
gerade die Eigentümlichkeit der pilgerschaftlichen Existenz des
Menschen in diesem Leben, in dem die Freiheit immer noch am
Werk ist und darum jede Prüfung selbst noch einmal eine reflex
nicht adäquat geprüfte und prüfbare Tat der Freiheit ist. Es ist ein
wirkliches Wissen, es gibt eine Sicherheit, man hat das Recht und
die Pflicht, dieses Wissen um sich selbst und schließlich auch um
andere in das Kalkül seines Lebens und seines aktiven Entscheidens
und Handelns einzusetzen, weil anders man gar nicht existieren
kann und die restlose Enthaltung von einem solchen Urteilen das
Risiko eines solchen Urteilens gar nicht vermiede, sondern selbst
noch einmal eine freie, riskante Entscheidung wäre, und dieses ur-
teilende, entscheidende, riskierende Wissen versteht sich dennoch
nicht als das Endgültige, das schlechthin Sichere, das Inappellable.
In ihm nimmt der Mensch in seinem eigenen Selbstverständnis
sich selber an und überantwortet sich gerade als der sich so und so
Verstehende dem geheimnisvollen Gerichte Gottes.
Damit bekommt aber von der Theologie und nicht bloß von
einer skeptischen oder vorsichtigen Psychologie her das Urteil des
Menschen über das Bestehen und die Qualität einer Freiheitsent-
scheidung bei sich oder bei anderen auch im bürgerlichen, profanen
Bereich seine volle Eigentümlichkeit. Die Schrift und die Tradi-
tion setzen voraus, daß die Möglichkeit und die Notwendigkeit
eines solchen Urteilens besteht. Der Mensch darf, wenn er christ-
lich leben und handeln will, nicht einfach in die psychologisch
heute ja leicht erzeugbare Skepsis flüchten, man wisse ja im
Grunde doch nichts über Freiheit und Verantwortlichkeit eines
bestimmten Menschen in bestimmten Taten. Sonst könnte ja zum
Beispiel die Kirche in ihrer innerkirchlichen Zucht nur allgemeine
Prinzipien des Guten oder Bösen aufstellen, nicht aber ein einzel-
nes Handeln eines konkreten Menschen zum Beispiel mit dem
Kirchenbann belegen oder dem Einzelnen für sein konkretes Ver-
halten materiale und doch bindende Vorschriften geben. Aber an-
derseits muß der Mensch entsprechend dem gleichen Verhalten
248
der Kirche wissen, daß dieses von ihm nicht vermeidbare und
durchaus praktische Konsequenzen habende Urteilen ein vorläu-
figes, ein dem endgültigen Spruch Gottes unterstelltes, ein selbst
noch einmal für den Urteilenden riskantes Urteilen ist, so daß das
richtige und falsche Urteilen des Menschen, der Vollzug und die
Abstinenz von einem Urteilnoch einmal dem Urteilsspruch Gottes
anheimgestellt werden müssen. Man mag dieses überlegte und
kritische Urteilen hinsichtlich seines Ergebnisses moralische Sicher-
heit im Gegensatz zu einer metaphysischen Sicherheit oder ter-
minologisch anders benennen, es bleibt dabei, daß der Mensch zu
einer reflexen Wissensentscheidung hinsichtlich des Bestehens und
der Qualität seines Freiheitsvollzugs grundsätzlich verpflichtet ist
und dennoch diese Entscheidung selber und nicht eine skeptische
Abstinenz von ihr der Ausdruck der Selbstübergabe der wissenden
Freiheit an Gott ist.
Bevor wir das über Freiheit und Verantwortung Gesagte auf
den Begriff der Schuld anwenden, ist schließlich noch eine weitere,
zusätzliche Bemerkung über den theologischen Begriff der Frei-
heit und Verantwortung zu machen. Auch und gerade der theo-
logische Begriff der Freiheit und Verantwortung kennt eine innere
Variabilität und Abstufung von Freiheit und Verantwortung.
Nicht nur der Alltag, die Psychologie und das Recht wissen von
verschiedenen Stufen der Verantwortung und Freiheit, sondern
auch die Theologie, und zwar von ihrem eigenen Gesichtspunkt
aus. Das ist nicht selbstverständlich. In einem rein formalpsycho-
logischen Begriff der Wahlfreiheit hat eine solche Vorstellung na-
türlich leicht ihren Platz: die Souveränität des Subjekts in seiner
freien Entscheidung hinsichtlich seines aktiven Sicheröffnens ge-
genüber den es bewegen wollenden Motiven kann größer oder ge-
ringer sein; die dem Subjekt für seine Wahl angebotene Auslese
von Motiven ist durch Ursachen bestimmt, die der freien Entschei-
dung vorausliegen. Die Zahl der so angebotenen Möglichkeiten
für die Freiheit ist immer endlich, kann sehr begrenzt sein und so
die Freiheit, ohne sie formell aufzuheben, material so begrenzen,
daß sie fast oder sogar schlechthin null wird, weil im konkreten Fall
eine Mehrzahl von Motiven, zwischen denen gewählt werden kann,
nicht mehr gegeben ist. Viel schwieriger gestaltet sich das Problem
249
einer Gestuftheit von Freiheit und Verantwortung unter einem
theologischen Aspekt. Denn Freiheit im theologischen Sinn hat
sich gerade in ihrem ersten Ansatz gezeigt als jenes Überantwortet-
sein des Subjekts an sich selbst, durch das es über sich als Ganzes
definitiv für oder gegen Gott entscheiden kann. Von einem solchen
Ansatz her scheint nun der Begriff der Freiheit wirklich in indi-
visibili zu sein, ein Mehr oder Weniger von Freiheit scheint es
nicht geben zu können, weil das Subjekt entweder über sich als
Ganzes definitiv entscheidet oder nicht, und darum der Begriff der
Totalität und Radikalität des Betroffenseins des handelnden Sub-
jekts durch seine Freiheitsentscheidung zum Wesen der Freiheit
gehört. Tatsächlich wird man auch von diesem theologischen
Grundansatz her (was in der katholischen Moraltheologie völlig
unthematisch bleibt) sagen müssen, daß die Freiheitsentscheidung,
diein dem Ganzen eines Lebens geschieht, tatsächlich diese unteil-
bare Totalität und Radikalität hat, daß sie keine Grade zuläßt, daß
in ihr das Subjekt ganz über sich verfügt hat und die Möglichkeit
der Freiheit, die dem einzelnen Subjekt vorgegeben war, wirklich
restlos in diese definitive Entscheidung umgesetzt wird. Damit ist
(um einem naheliegenden dogmatischen Einwand gegen diese
These gleich zu begegnen) nicht gesagt, daß Weise und Grad der
Vollendung jedes Einzelnen, wenn diese Vollendungen unter-
einander verglichen werden, gleichartig und gleich groß sein
müßten. Denn es verbraucht zwar jeder Mensch, wenn die ge-
nannte These richtig ist, erschöpfend die Totalität der seiner Frei-
heit vorgegebenen Möglichkeiten. Da aber kreatürliche Freiheit
immer die Freiheit des sich selbst in seiner Eigenart vorgegebenen
Subjekts hinsichtlich dieser vorgegebenen, endlichen und in den
Einzelnen verschiedenen Wirklichkeiten ist, bedeutet eine formale
Gleichheit in der Totalität und Radikalität jedes Lebensvollzugs
nicht die Gleichheit des Ergebnisses der Endgültigkeit der getanen
Freiheit, da in deren Endgültigkeit ja das vorgegebene endliche
und verschiedene Material als konstitutives Moment eingeht. Diese
These von der formalen Gleichheit der Intensität des totalen, freien
Daseinsvollzugs bei allen wird man also vom theologischen Grund-
ansatz der Freiheit her nicht bestreiten dürfen, zumal sonst nicht
verständlich gemacht werden könnte, wie sonst durch diese Frei-
250
heit in der Zeit der ganze Mensch definitiv ins Heil oder Unheil
gebracht werden könnte, wenn nach beiden Seiten durch eine
solche Freiheitsentscheidung noch offene Möglichkeiten unaus-
genützt geblieben wären. Aber durch das Gesagte versperrt sich
die Theologie nicht der Einsicht in eine Gestuftheit von Freiheit
und Verantwortung, wie sie das Leben, die Psychologie, die Recht-
sprechung kennen. Ja, sie fordert, wie gesagt, aus ihren eigenen
Ansätzen eine solche Gestuftheit. Zunächst einmal braucht von
dem theologischen Grundansatz her in keiner Weise bestritten zu
werden, daß das der Freiheit durch die innere Verfaßtheit des
Menschen und durch die äußere Situation angebotene gegenständ-
liche Material, an dem sich die personale Freiheitsentscheidung als
Selbstverfügung realisiert und realisieren muß, endlich, variabel,
größer und kleiner sein kann. So etwas aber kann dann so weit
gehen, daß zum Beispiel das einer konkreten Freiheitsentscheidung
angebotene Material der Wahl nur Gegenstände umfaßt, die nach
den Maßstäben der objektiven Moral alle schlecht und verboten
sind. In einem solchen Falle wäre nach den aposteriorischen Krite-
rien des Alltags und der Psychologie unter Umständen von einer
Wahlfreiheit und Zurechnungsfähigkeit nicht mehr die Rede, ob-
wohl immer noch offenbleiben könnte, ob sich nicht auch diesem
Material gegenüber eine Entscheidung für oder gegen Gott er-
eignen kann. Weiterhin ist zu beachten, daß die Eigentümlichkeit
der totalen Lebensentscheidung als der des ganzen Lebens nicht
einfach ganz und ohne Vorbehalt dem einzelnen Aktinnerhalb.die-
ses Lebens zugeschrieben werden kann, insofern dieser Akt als
bloßes Stück des ganzen Lebens betrachtet und beurteilt werden
kann und muß und sein Verhältnis zu der einen Ganzheit der
Lebensentscheidung grundsätzlich der adäquaten Beurteilung des
Subjekts entzogen bleibt. Weil aus theologischen Gründen eine
adäquate und definitive Selbstbeurteilung dem Subjekt entzogen
bleibt, kann dem einzelnen Akt als bloß quantitativem Teil-
moment des ganzen Lebens die Radikalität und Totalität, die der
Freiheit an sich zukommt, nicht unbedingt zugesprochen werden,
und diese Unmöglichkeit ist nicht notwendig nur ein äußeres,
gnoseologisches Moment, sondern ein inneres Moment an diesem
Akt selbst. Er kann bloßes Teilmoment der gesamten, totalen Le-
251
bensentscheidung als Anlauf zu ihr oder als bloß partikuläre Mani-
festation der im Grunde des Freiheitssubjekts schon erfolgten, tota-
len Entscheidung sein. Im Unterschied zur gängigen Auffassung in
der evangelischen Theologie betont die katholische Theologie so-
gar, daß der Unterschied in der Radikalität und Totalität der Frei-
heitsakte, auch dort, wo Freiheit in einem formalen Sinn wirklich
gegeben ist, nicht nur graduell, sondern so wesentlich sein kann,
daß zwei Akte hinsichtlich ihrer Freiheit und Verantwortung und
Verfügung über das Subjekt gar nicht mehr univok übereinkom-
men, sondern bloß unter einen analog gemeinsamen Begriff der
Freiheitstat gestellt werden können. Die katholische Theologie
kennt nämlich den Unterschied zwischen schwerer und läßlicher
Sünde. In der ersten ist, wo sie wirklich subjektiv gegeben ist, eine
wirkliche Verfügung des Subjekts über sein Heil vor Gott gegeben
und insofern das eigentliche theologische Wesen der Freiheit ver-
wirklicht (auch wenn ein solcher Akt seine Endgültigkeit nur im
Ganzen der Lebensentscheidung und von der «option fondamen-
tale » her hat). In der zweiten, der läßlichen Sünde, ist zwar Frei-
heitim formalen Sinn einer aktiven Wahl zwischen zwei Möglich-
keiten noch gegeben, aber so, daß eine eigentliche Selbstverfügung
des Subjekts hinsichtlich seines Zieles, also der Ganzheit seines
Daseins, nicht geschieht. Wir können auf die theologischen Gründe
dieser Untersche idung und auf die ontologischen Voraussetzungen
im Wesen des geist-leiblichen Menschen für sie hier nicht einge-
hen. Es sollte nur auf diese Unterscheidung hingewiesen werden,
damit deutlich wird, daß auch die Theologie sich der wesentlichen
Gestuftheit von Freiheit und Verantwortung aus innertheologi-
schen Gründen bewußt ist.
III
Das über Freiheit und Verantwortung Gesagte gilt es nun auf den
Begriff der Schuld anzuwenden.
Bevor dies geschieht, soll wenigstens kurz angemerkt werden,
daß gerade aus theologischen Gründen und nicht nur aus solchen
einer Metaphysik der Freiheit die sittlich objektiv und subjektiv
richtige Freiheitstat und die objektiv und subjektiv schlechte und
252
verwerfliche freie Entscheidung nicht einfach als zwei gleichartig
nebeneinanderstehende species der Realisation schlechthin ein und
desselben Wesens der Freiheitstat betrachtet werden dürfen. Die
schlechte Freiheitstat verfehlt nicht nur das ihr eigentlich zuge-
ordnete Objekt, das Gute, Wesensgemäße, das vom absoluten Wil-
len Gottes gewollt ist, sie verfehlt auch das eigenste innere Wesen
der Freiheit selbst, weil die sittlich schlechte Realisation der Frei-
heit auch eine zwar freie, aber schlechte, mißglückte Realisation
der Freiheit selber ist, da Gott die Freiheit nicht als Möglichkeit
der subjekthaften, schöpferischen Setzung des Guten und Schlech-
ten, sondern als Möglichkeit der schöpferischen Setzung des Guten
geschaffen hat und somit die Freiheit auch sich selber verfehlt,
was sie allerdings «kann», wenn sie schlechte Freiheit ist. Dazu
kommt, daß die schlechte Freiheitsentscheidung in dem Raume,
in dem sich Gott schon im voraus zur geschöpflichen Freiheit, ohne
diese aufzuheben, zum Sieg der Liebe und des Heiles frei ent-
schlossen hat, das menschliche Böse eine eigentümliche Ohnmacht
trotzund in seiner gleichzeitigdamit gegebenen, gesteigerten Radi-
kalität und Gefährlichkeit erhält, die es noch einmal unmöglich
macht, die böse Entscheidung als eine gleichartige Realisation der
Freiheit und Verantwortung neben der Freiheitsentscheidung für
das Gute zu betrachten.
Unter diesem Vorbehalt freilich ist zu sagen, daß die Schuld,
theologisch gesehen, zunächst und in ihrem eigentlichsten Wesens-
grunde die totale und definitive Entscheidung des Menschen gegen
Gott, das Selbstverständnis des Subjekts im Nein gegen seinen tra-
genden Grund und gegenüber dem Horizont ist, innerhalb dessen
es sich im Ja und im Nein unausweichlich vollzieht; Schuld in die-
sem Sinne ist theologischer und metaphysischer Selbstmord, ohne
daß das Subjekt dadurch sich selbst ins Nichts entfliehen könnte.
Die christliche Lehre von der Schuld als Sünde beinhaltet die exi-
stentiell das Dasein des Menschen immer bedrohende Möglichkeit
einer solchen radikalen Selbstverneinung in Selbstverschließung
vor Gott. Daß so etwas überhaupt möglich ist, bedeutet jenes my-
sterium iniquitatis, das der Mensch zwar im Grunde seines Gewis-
sens erfahren kann, dem er aber immer wieder dort mit allen Mit-
teln des eigentlichen Selbstbetrugs, der Verdrängung, der Aus-
255
rede und der Zuhilfenahme aller in sich legitimen Mittel der Psy-
chologie entflieht, wo er sich nicht durch das Zeugnis der Offenba-
rung vor diese unmöglichste Möglichkeit seines Daseins zwingen
läßt. Freilich hat dieses Vermögen, die Möglichkeit einer so ver-
standenen Sünde und Schuld zu leugnen, darin wieder seinen
Grund, daß der Mensch nicht einfach immer und überall in den
konkreten Teilvollzügen seines räumlich und zeitlich gedehnten
Daseins das Ganze seines Daseins in die Verfügung der Freiheit
bringen kann und so einer wirklichen Sünde im vollen Sinn vor
Gott fähig ist. Weil er grundsätzlich eine adäquate Beurteilung
objektivierender Art hinsichtlich seiner Freiheitsentscheidung
nicht erreichen kann, weil er sich nicht eigentlich richten kann,
darum hat er auch nicht einmal das letzte Wort hinsichtlich seiner
Schuld, und eben diese Verfassung gibt ihm, theologisch gesehen,
die letzte, nie aufhebbare Möglichkeit, so etwas wie eigentliche
Schuld im Menschen als realisierbar zu bezweifeln oder zu leugnen.
Dazu kommt noch, daß im Raum der eschatologisch siegreichen
Gnade Gottes in Christo die Schuld in Wahrheit immer nur als die
im Grunde schon entmächtigte erfahren werden kann, auch wenn
offenbleiben muß, ob die Freiheit des Einzelnen nicht doch in jener
leeren Ohnmacht der Schuld verharren will, die ihr von Christus
her anhaftet und die ihr letztes Unwesen und ihre letzte Schreck-
lichkeit zugleich ausmacht. Schuld in dem genannten, theologi-
schen Sinne kann es geben und gibt es nach dem Zeugnis der Offen-
barung auch tatsächlich in der Geschichte, selbst wenn es uns nicht
verwehrt sein sollte zu hoffen, daß solche Schuld bei allen schließ-
lich doch einmalüberwunden werde. Und dieses theologische We-
sen der Sünde realisiert sich, wenn es sich realisiert, in jenen For-
men und Gestalten, die wir auch in einem bürgerlichen, profanen
Sinn als Schuld zu qualifizieren pflegen. Hiermit entsteht die
Frage nach dem genaueren Verhältnis von Schuld in theologi-
schem Sinn und Schuld in einem profanen Sinn. Zunächst noch
einmal: jenes absolute Nein definitiver Art der totalen Existenz
Gott gegenüber geschieht trotz seines umfassenden Charakters,
trotz seiner Unlokalisierbarkeit an einem bestimmten Raumzeit-
punkt der Existenz für das reflexe Bewußtsein doch in ganz be-
stimmten, konkreten Taten des Lebens. Die Sünde geschieht in
254
Sünden. Die Sünde geschieht nicht in einer bloß transzenden-
talen Innerlichkeit eines noumenalen Subjekts, sondern in den
Werken des Fleisches, die offenbar, greifbar sind, in Unzucht, Un-
reinheit, Schwelgerei, Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Ha-
der, Eifersucht, Zornesausbrüchen, Streitereien, Zwistigkeiten,
Spaltungen, Neid, Trunkenheit, Gelagen (Gal 5, 19-21): in Taten,
die, wie Paulus sagt, von der Erbschaft der Basileia ausschließen.
All dies ist zunächst verständlich: der Mensch als Geist ist nicht
abstraktes Subjekt, sondern leibhaftiger, geschichtlicher Geist, der
gerade seine Transzendenz am Material der Welt, seiner Leibhaf-
tigkeit und Geschichtlichkeit vollzieht, und zwar so, daß, wie die
christliche Lehre von der ewigen Gültigkeit des « Fleisches » zeigt,
dieses Material nicht bloß (wie etwa im Jedermann von Hofmanns-
thal) die äußerlich bleibende Gelegenheit ist, an der ein formal
guter Wille erprobt wird, sondern selbst als inneres, konstitutives
Moment in die bleibende Gültigkeit dieser Freiheitstat des Sub-
jektes eingeht. Aber wenn das Verhältnis von Schuld im theologi-
schen und im bürgerlichen Sinn genau bestimmt werden soll, darf
nicht übersehen werden, daß ein letztes Urteil über die Schuld vor
Gott als reflektierte, gegenständliche Aussage dem Menschen sich
selbst und anderen gegenüber verwehrt ist, und darum auch ein
solches definitives Urteil über eine solche wirklich bestehende
Schuld vor Gott auch am objektiven Material, an der raumzeit-
lichen Greifbarkeit, an der objektiven Qualität der menschlichen
Tat nicht eindeutig abgelesen werden kann. Das heißt aber:
grundsätzlich kann eine Tat objektiv schlecht sein und dennoch
keine Realisation der Schuld im theologischen Sinne sein, und es
kann jemand sein Nein gegen Gott realisieren in einer Gestalt, die
vor einer objektiven Sachmoral eher den Eindruck der Erfüllung
eines göttlichen Gebotes macht. Man kann dieser grundsätzlichen,
letzten Zweideutigkeit aller konkreten Taten eines Menschen hin-
sichtlich der Frage des Vorhandenseins von Schuld oder deren Feh-
len nicht ausweichen mit der klassischen Unterscheidung von Ge-
sinnung und äußerer Tat (Erfolg). Gewiß gibt es diesen Unter-
schied, wie schon die schlichte Alltagserfahrung zeigt, in der oft
eine gute Absicht, eine gute Gesinnung zu sachlich verkehrten
Mitteln greift oder umgekehrt eine schlechte Gesinnung wider
255
Willen objektiv Gutes bewirkt. Aber die Gesinnung, insofern sie
identisch sein soll mit dem eigentlichen, totalen Sein desMenschen
vor Gott und so als böse eigentliche Schuld bedeuten soll, ist für die
gegenständliche Reflexion nicht adäquat objektivierbar, und alles,
was an ihr wirklich für eine objektivierende Beurteilung davon in
Frage kommt, ist gerade die «äußere» Tat, vorausgesetzt, daß
man unter «außen» eben, wie man es metaphysisch muß, alles
und jedes versteht, was einer gegenständlich arbeitenden Refle-
xion oder Wissenschaft grundsätzlich zugänglich ist, so daß zu die-
ser äußeren Tat auch die « innere », aber reflektierbare Motivation
usw. gehört, weilauch dies alles noch diesseits jener unauflöslichen
und adäquat nicht reflektierbaren Einheit von Subjekt und seiner
Entscheidung liegt. Insofern kann in einem profanen, aussag-
baren und nachweisbaren Sinne von Schuld nur in jenem vorläu-
figen, offenen Sinn gesprochen werden, in dem der Mensch ein
reflexes, gegenständliches Wissen von seiner Freiheitsentscheidung
und getätigten Verantwortung haben kann und haben soll. Dieses
Wissen um die Schuld und Verantwortung im bürgerlichen Sinne
kann auf der einen Seite einen letzten Bezug auf Schuld im theo-
logischen Sinne nicht als schlechthin für es unerheblich beiseite
lassen, weil auch Freiheit und Verantwortung in einem bürger-
lichen, überhaupt noch angebbaren, echten Sinn ohne einen Bezug
auf Transzendenz, wirkliche Subjekthaftigkeit und somit Ver-
wiesenheit auf Gott nicht möglich ist (wie immer man diese
Transzendenz und ihren letzten Beziehungspunkt nennen mag).
Auf der anderen Seite aber ist dieses profane Wissen um Schuld
natürlich auf Kriterien angewiesen, die nicht unmittelbar theo-
logischer Art sind, und ist an Momenten dieser Freiheit, Verant-
wortung und Schuld interessiert, die innerweltlicher Art sind, und
ist, wo es sich um die Beurteilung der Freiheitstat eines anderen
handelt, hinsichtlich der Sicherheit und Eindeutigkeit eines sol-
chen Spruches noch schwieriger und problematischer als dort, wo
ein Subjekt auf seine eigene Freiheit, Verantwortung und Schuld
reflektiert, und bedarf darum auch strengerer Maßstäbe als die
Selbstbeurteilung, sollen aus einer solchen Fremdberrteilung
praktische Konsequenzen gezogen werden.
Es kann nicht Aufgabe des Theologen sein, hier die Prinzipien
256
zu entwickeln, nach denen das praktische Leben, zum Beispiel die
Gerichtspraxis, die Frage der Zurechnungsfähigkeit oder Unzu-
rechnungsfähigkeit genauerhin beurteilt. Von einem eigentlich
theologischen Standpunkt aus kann und muß aber gesagt werden,
daß auch aus theologischen Gründen (weil der Mensch nämlich
sonst gar nicht heilsentscheidendes Subjekt sein könnte) grund-
sätzlich dasVorhandensein einer formalen Freiheit bis zum Erweis
des Gegenteils zu präsumieren ist, wenn auch eine solche Präsump-
tion sehr vorsichtig zu behandeln ist, sobald es sich darum handelt,
diese grundsätzlich bestehende Seinsfreiheit des Subjektesineinem -
bestimmten Einzelakt realisiert zu sehen und so bei einem Einzel-
akt auf Schuld zu erkennen, auch nur in dem vorläufigen und dem
Spruch Gottes nicht vorgreifenden Sinn, in dem ein solches Urteil
überhaupt nur möglich ist. Denn es kann sowohl aus psychologi-
schen, «inneren » Gründen der konkrete Akt gar keine oder nurin
einem wesentlich geminderten Sinn eine Realisation der Grund-
freiheit sein, und es kann sein, daß die unfrei vorgegebene Aus-
wahl der materialen Möglichkeiten für die Freiheit schon so be-
grenzt war, daß der als objektiv schlecht zu qualifizierende Akt in
einem profanen Sinn darum kein Freiheitsakt ist, weil diese profan
allein interessierende Objektivität als Verstoß gegen die inner-
weltliche und bürgerliche Ordnung konkret die einzige Möglich-
keit des Handelns war, die dem Subjekt angeboten war. Die Theo-
logie wird anderseits den profan Urteilenden, notwendig und mit
Recht Urteilenden, immer wieder daran erinnern, daß auch für
den profanen Bereich ein noch so gewissenhaft gefällter Schuld-
spruch jene letzte Unsicherheit notwendig an sich trägt, die dem
theologischen Schuldspruch des Menschen notwendig, und zwar
aus theologischen Gründen anhaftet, weil die sachliche Vorausset-
zung für Schuld in beiden Sprüchen letztlich dieselbe ist, da eigent-
liche Freiheit auch im innerweltlichen, profanen Sinn gerade die
Freiheit auf Grund der Transzendenz ist, durch die der Mensch
über sich zum Heil und Unheil als ganzen vor Gott verfügt. So-
sehr das profane Leben richten muß, so ist doch auch ihm als sol-
chem paradoxerweise das Wort der Bergpredigt gesagt: « Richtet
nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. »
Aus Zeitmangel sei für anderes, das über Schuld theologisch an
257
sich noch gesagt werden müßte, auf die allgemeineren Ausfüh-
rungen über Freiheit und Verantwortung im allgemeinen zurück-
verwiesen.
IV
258
wendig als äußere, zusätzliche Strafe konzipiert werden muß oder
ob dies unbeschadet des christlichen Dogmas bezweifelt werden
kann. Wir meinen, daß letzteres möglich ist.
Wenn 1. beachtet wird, daß die personale Freiheit von ihrem
eigenen Wesen her eine definitive Entscheidung unwiderruflicher
Art sein willund unter bestimmten Voraussetzungen auch ist, daß
also Verstockung des Sünders mit Thomas von Aquin als inneres
Moment der eigenen Freiheitsentscheidung im Verworfenen und
nicht eigentlich als Moment seiner Strafe als solcher aufzufassen
_ ist; wenn 2. bedacht wird, daß eine Freiheitsentscheidung des
Menschen sich in Dimensionen und Schichten auswirkt und aus-
wirken muß, die einerseits wirklich zum Menschen gehören und
anderseits doch nicht einfach mit dem Freiheitssubjekt in seinem
subjektiven Ursprung identisch sind, und sich so Folgen der wah-
ren Schuld im ganzen Menschen auch dann noch behaupten kön-
nen, wenn die Freiheitsentscheidung als solche selbst revidiert ist;
wenn 5. beachtet wird, daß die sich in die ganze Wirklichkeit des
Menschen einbildende subjektive Entscheidung wegen der blei-
benden Welthaftigkeit und Leibhaftigkeit des Menschen, in der
sie sich vollzieht, immer und notwendig auf den Widerstand der
objektiven Struktur dieser Medien personaler Entscheidung stößt
und darum von sich aus notwendig Leid schafft: dann stößt wohl
die These, daß alle göttliche Strafe konnaturale Folge der Schuld
sei, die aus ihrem eigenen Wesen erfließt und nicht eigens von
Gott zugefügt werden muß, daß also Gott der Schuld Bestrafende
ist, indem er die objektiven Strukturen des Menschen und der Welt
geschaffen hat, theologisch nicht mehr auf ein unüberwindliches
Hindernis. Wir können hier die These weder genauer darlegen
noch im einzelnen verteidigen noch ihre Vereinbarkeit mit be-
stimmten Einzelaussagen der traditionellen und verpflichtenden
christlichen Dogmatik aufweisen. Sie mußte aber hier aufgestellt
werden, weil, wenn sie richtig ist, es sich zeigt, daß das Eigentüm-
liche der menschlichen Strafe im bürgerlichen Bereich sich gerade
nicht auf die Parallele mit der göttlichen Strafe berufen soll und
kann, sondern in ihrer Berechtigung, die grundsätzlich nicht be-
stritten werden soll, von anderswoher theologisch glaubhaft ge-
macht werden muß. Man kann, populär gesagt, nicht stillschwei-
259
gend oder ausdrücklich denken, Gefängnisse und Todesstrafe
müßten schon darum berechtigt sein, weil es eine Hölle gibt oder
andere göttliche Strafgerichte. Denn das Eigentümliche der
menschlichen Strafen ist ja gerade darin gelegen, daß das Übel, das
die Strafe ist und sein muß, um Strafe zu sein, nicht konnatural
einfach von selbst aus dem Schuldübel erfließt, sondern der stra-
fende Mensch das Strafübel zum Schuldübel hinzufügt und man
so grundsätzlich fragen kann, wieso man denn ein Übel durch die
Schaffung eines neuen überwinden könne. Es zeigt sich also, daß
die sittliche Berechtigung und die sittlichen Grenzen der bürger-
lichen Strafe anderswoher abgeleitet werden müssen. Das bedeutet
auch, daß man sich, christlich und theologisch gesehen, davor
hüten muß, der menschlichen Strafe einen eigentlichen Vergel-
tungscharakter schon deshalb zuzuschreiben, weil ein solcher der
göttlichen Strafe gewiß zukommt. Der vindikative Charakter der
göttlichen Strafe ist eben einfach objektiviert und gegeben in der
Unzerstörbarkeit des konkreten Wesens des Menschen und der
Welt, in deren absoluter Gültigkeit (mindestens im geistigen
Subjekt) das schon gegeben ist, was wir meinen, wenn wir sagen,
die Würde und die Hoheit des sittlichen Gesetzes verlange als solche
selber schon die Strafe für den, der sich unterfängt, sie zu verlet-
zen. Diesen aus dem Wesen der Wirklichkeit und der Schuld in
ihrem Zusammenstoß erfließenden vindikativen Charakter hat
aber die menschliche Strafe gerade nicht. Soll er ihr dennoch zu-
kommen, dann müßte dies mindestens eigens bewiesen und sach-
lich anders begründet werden. Konkret wird darum auch der
Christ durchaus sagen dürfen, daß Sinn und Zweck und Grenzen
der Strafe in der bürgerlichen Gesellschaft sich von dem Recht
und der Pflicht der bürgerlichen Gesellschaft herleiten, die objek-
tive Ordnung der Gesellschaft aufrechtzuerhalten: daß also die
sittliche Verfehlung eines Menschen nur dann und in dem Maße
zu bestrafen ist, wo und in dem Grade es sich um die Verteidigung
des bonum commune handelt. Mindestens praktisch ist die Strafe
in der bürgerlichen Ordnung auch von diesen theologischen Über-
legungen her als Selbstverteidigung der Gesellschaft gegenüber
den Übergriffen des Einzelnen zu betrachten und kann und soll
sich auf diese Selbstverteidigung beschränken, auch wenn eine
260
solche Verteidigung gegenüber einem, bei dem subjektive Schuld
mit einer genügenden moralischen Sicherheit vorausgesetzt wer-
den kann, andere Weisen und weitere Grenzen hat als gegenüber
‚einem, der ohne subjektive Schuld gegen objektive Güter der Ge-
sellschaft verstößt. Von daher wird dann auch verständlich, warum
bei der bürgerlichen Strafe eine zu absolute Sicherheit hinsichtlich
des Vorliegens einer Schuld nicht gefordert werden darf. Wo näm-
lich eine gewissermaßen kollektive Skrupulosität bewirken würde,
daß der Sicherungszweck der Strafe, der jaimmer auch von seinem
Wesen her prophylaktisch ist, nicht mehr erreicht wird, würde ge-
rade der Sinn und Zweck der Strafe aufgehoben, den diese in der
bürgerlichen Ordnung hat. Eine gewisse nüchterne Einkalkulie-
rung eines Risikos hinsichtlich der «Gerechtigkeit » der Strafe ist
durchaus erlaubt, weil ohne sie der profane Zweck der Strafe über-
haupt nicht erreicht werden kann, und weil eine absolute Sicher-
heit über die subjektive Schuld im eigentlichen, das heißt auch
theologischen Sinn, für den Menschen unerreichbar ist. Es man-
gelt an Zeit, die Frage zu behandeln, was sich von diesen allge-
meinen Überlegungen her eventuell für das Problem der Todes-
strafe ergeben könnte.
261
GERECHT UND SÜNDER ZUGLEICH
264
mitbringen, auf den hin er von Gott gerettet werden könne. Aus
diesem Abgrund einer gleichsam höllischen Verzweiflung heraus
und im reinen Glauben an die Gnade Gottes, auf nichts anderes
vertrauend, wisse der Mensch allein, daß er gerettet sei.
Im Laufe der Geschichte der reformatorischen Christenheit
konnte die urgewaltige Kraft dieses Erlebnisses erlahmen. Das
radikale Sünderbewußtsein war immer wieder in Gefahr, zu ver-
schwinden. In seiner humanistischen Erweichung fühlte sich der
Mensch als ein Wesen, das wie selbstverständlich unter dem Him-
mel eines liebenden Vaters lebte. Aber immer wieder brach in der
reformatorischen Christenheit das Bewußtsein auf, daß das Wesen
des Christentums und des christlichen Daseins in der Paradoxie die-
ser Formel «Gerechter und Sünder zugleich » bestehe. Erst dort,
wo die radikale Erfahrung bleibender Sündigkeit sich mit dem
Glaubensbewußtsein verbindet, dennoch durch die rettende Tat
Gottes ein Gerechtfertigter zu sein, ist einer ein Christ, allein im
Glauben daran, d.h. im immer neuen Absprung von sich selbst,
imimmer neuen kapitulierendenZugeständnis, ein Sünder zu sein.
Mit Absicht haben wir uns um ein Verständnis der reformatori-
schen Formel bemüht und es vermieden, einen formallogischen
und sehr einfachen katholischen Protest gegen diese Formel anzu-
melden. Absichtlich wurde vermieden, die Rechtsprechung von
seiten Gottes als eine rein äußere, « forensische », als ein reines
«als ob» zu charakterisieren. Denn alle diese nachträglichen theo-
logischen Deutungen, sowohl von katholischer wie von reforma-
torischer Seite, können den ursprünglichen Ausgangspunkt dieser
Formel nur verdunkeln.
266
erfahrenen Menschen selbst und für andere gegeben ist, kann die
ganze Tiefe und Radikalität der göttlichen Heilstat am Menschen
gar nicht einholen, wenn wir einmal voraussetzen, daß die Tat
Gottes das Eigentliche der Rechtfertigung bewirkt. Um Gottes
Gnade und Macht die Ehre zu geben, wird die katholische Recht-
fertigungslehre immer betonen, daß wir durch Gottes Gnade
\ Kinder Gottes werden und sind, daß uns in der Rechtfertigung der
Heilige Geist gegeben wird, daß wir Tempel Gottes, Söhne, Ge-
salbte und Geliebte Gottes durch Gottes Gnade sind. Diese Wirk-
lichkeit ist nicht nur eine ideologische Fiktion, nicht bloß ein «als
ob», sondern die wahre Wirklichkeit des Menschen selbst. Die
Rechtfertigung gestaltet als Tat Gottes den Menschen bis in die
tiefsten Wurzeln seines Seins um, verklärt und vergöttlicht ihn.
Deshalb ist der Gerechtfertigte nicht «zugleich gerecht und Sün-
der». Er ist nicht einfach in einer bloßen Paradoxie und dialek-
tischen Schwebe zugleich der Sünder und Gerechtfertigte. Denn
durch die Rechtfertigung wird er in Wahrheit aus einem Sünder,
der er war, ein Gerechter, der er vorher nicht war. In einem wah- |
ren Sinne hört er auf, Sünder zu sein. Die katholische Rechtfer-
tigungslehre glaubt, daß sie nur so der wirklichen Geschichtlich-
keit des Heilsgeschehens, der wirklichen Praevalenz der Tat Gottes
am Menschen, der Differenz zwischen Heilserfahrung und Heils-
wirklichkeit und der inneren Wahrhaftigkeit und Gültigkeit der
Tat und der Zusicherung Gottes am Menschen gerecht wird, die
ja den Menschen innerlich ergreift und verändert. Von hier aus
lehnte die katholische und antireformatorische Haltung und Lehre
auf dem Trienter Konzil diese Formel «Gerecht und Sünder» ab,
weil diese Formel mit ihrer Gleichzeitigkeit von Gerechtigkeit und
Sündigkeit das eigentliche Wesen der christlichen Rechtfertigung
verkenne. Das wirkliche Werden, Neuwerden, innerlich Gerecht-
fertigtwerden durch die Tat Gottes am Menschen wird jedenfalls
in dieser Formel nicht genügend deutlich. Das ist die eine Seite
der katholischen Stellungnahme zu dieser Formel.
Die katholische Theologie lehnt also die Formel «Gerecht und
Sünder zugleich » ab, weil sie den Zustand des Menschen objektiv
nicht richtig und adäquat wiedergibt. Die letzte Grundformel
menschlichen Daseins ist nicht eine schwebende Dialektik zwi-
267
schen Sündigkeit und Heiligkeit. Der Mensch ist wirklich über die
Todesgrenze hinübergeschritten. Er ist aufs Letzte, auf Gottes an
ihm wirksam gewordene Tat hin gesehen nicht mehr sündig und
gerechtfertigt zugleich, sondern gerechtfertigt und sonst nichts.
a. Heilsungewißheit
Aber kann der einzelne Christ mit einer absoluten Sicherheit von
sich behaupten, daß er wirklich ein Gerechtfertigter ist und dar-
um, weil er es ist, eben nicht mehr Sünder ist? Nach der Lehre des
Konzils von Trient ist eine absolute individuelle Heilsgewißheit
nicht gegeben. Verstehen wir diese Lehre des Trienter Konzils
nicht falsch. Sie sagt nicht, daß der Mensch in einer schlotternden,
feigen, Gott selbst mißtrauenden Angst um sein Heilleben müsse.
Vielmehr muß der Mensch von sich wegblicken auf Gottes unsag-
bare Gnade. Er soll vertrauen, daß er mitten in der Erfahrung sei-
ner inneren Brüchigkeit und Armseligkeit dennoch in aller Wahr-
heit immer das vielgeliebte, von der Gnade und dem Erbarmen
Gottes getragene Kind Gottes ist. Er muß die Freude, die Zuver-
sicht und die alles überwindende Hoffnung des Erlösten besitzen.
Es ist eine große, heilige Pflicht, in der Tugend, die wir die christ-
liche Hoffnung nennen, über die eigene, immer wieder erfahrene
Erbärmlichkeit hinwegzuspringen und sich auf Gottes uner-
268
gründliches Erbarmen zu verlassen. Der Mensch kann zwar nicht
in jener objektivierten Weise den Satz sagen, wie es dem dogma-
tischen Glauben hinsichtlich der in ihm ausgesagten Wirklich-
keiten möglich ist: Ich bin eindeutig und sicher gerechtfertigt.
Gerade diese Haltung eines Menschen, der sich selbst absolut in
Besitz nimmt, sich selbst durchprüft, ein Fazit seines eigenen Da-
seins zieht und seiner ganz sicher ist, soll er gerade nicht haben.
Er soll sie nicht deswegen nicht haben, weil er feige, unruhig,
ängstlich und mißtrauisch Gott gegenüber sein solle und dürfe. Im
Gegenteil, gerade weil er mit einer restlosen Großmut und Selbst-
verständlichkeit trotz der Erfahrung seiner eigenen Heilsunsicher-
heit auf Gott vertrauen soll, darum soll er sich wirklich mit einer
festen Hoffnung Gott anheimgeben, und zwar über all das, was er
von sich aus über sich erfährt, hinweg. Gerade diese von ihm ge-
forderte tapfere und unbedingte Hoffnung verlangt von ihm, daß
er die Haltung des restlosen Vertrauens auf die Gnade Gottes
nicht umbiegt in eine theoretisch reflektierte Heilssicherheit.
Diese würde ihn ja gerade wieder von Gott unabhängig machen
und wegen der Sicherheit ihrer Aussage wiederum von diesem
restlosen Vertrauen auf Gott dispensieren. Da aber der Mensch im
Akt der Hoffnung eine absolute Heilssicherheit glaubenshaft theo-
retischer, objektivierter Art über sich nicht erreichen kann, ist
damit gegeben, daß er sich immer schon darum als Sünder weiß.
Denn die Unmöglichkeit einer absoluten, radikalen Selbstversi-
cherung hat zur Folge, daß er sich immer wieder als Sünder, als
Bedrohter und Unsicherer erfährt, und diese Erfahrung nun nicht
als belanglos und theologisch irrelevant beiseite schieben darf, son-
dern sie nur in der Hoffnung, in der er von sich auf Gott hin ab-
springt, überwinden und gerade so immer wieder annehmen muß.
Wenn auch die katholische Theologie die abstrakte, ontologische,
objektive Formel «Gerecht und Sünder zugleich» nicht anneh-
men kann, so hat diese Formel doch eine Berechtigung, wenn sie
als Aussage der Erfahrung des einzelnen Menschen verstanden
wird. Denn wenn er auch mit aller Festigkeit darauf hoffen muß
und darf, vor Gott persönlich gerechtfertigt zu sein, so muß er zu-
gleich trotz dieser und in dieser Hoffnung fürchten, ein Sünder
zu sein.
269
b. Die Sündigkeit des Menschen durch die «läßlichen » Sünden
Seit der Zeit und mit den Worten Augustins betont die Kirche
«nicht nur demütig», «sondern in aller Wahrheit», daß der
Mensch Sünder sei und bleibe. Diese Lehre ist auch durch das
Trienter Konzil nicht dadurch aufgehoben, daß es einen bestimm-
ten Sinn der Formel «Gerecht und Sünder zugleich» für nicht
richtig erklärte. Wie kann aber der Gerechtfertigte Sünder sein
und bleiben, wenn er zugleich im Stand und der Haltung des Ge-
rechtfertigtseins beharrt? Jeder Katholik wird darauf antworten,
daß er auch als bleibend Gerechtfertigter immer wieder «läßliche
Sünden » begehe und dadurch immer wieder als Sünder zur ver-
gebenden Gnade Gottes fliehen müsse.
Der Gerechtfertigte, der Sünden begeht, verbleibt so lange im
Zustand der heiligmachenden Gnade, als er nicht objektiv und
subjektiv schwer sündigt, sagen der Katechismus und die Theo-
logie. Wenn dieser Satz auch richtig ist, so muß er doch sehr diskret
verstanden werden. Er ist tatsächlich weniger einfach, als es dem
durchschnittlichen katholischen Bewußtsein erscheint. Gewiß, so
denken viele, man ist immer noch ein wenig Sünder. Man begeht
seine täglichen Fehler, Unterlassungen, die kleinen Verstöße ge-
gen Gottes Gesetz und Willen. Und deshalb muß man sich als
armen Sünder bekennen. Ein solches Verständnis der Lehre vom
Unterschied zwischen schwerer und läßlicher Sünde und der Ver-
einbarkeit des Gnadenstandes mit läßlichen Sünden und läßlich
sündigen Haltungen unterschätzt aber doch wohl wesentlich die
wirkliche Tiefe, Bedrohtheit und Dunkelheit des christlichen
Daseins.
Nach katholischer Lehre gibt es wirklich den objektiv und sub-
jektiv radikalen Unterschied zwischen schwerer und läßlicher
Sünde. Biblisch gesprochen: es gibt im Dasein des Gerechtfertig-
ten, des geliebten Kindes Gottes Sünden, die das Kindschaftsver-
hältnis nicht aufheben; es gibt aber auch Sünden, die, wenn sie
wirklich mit der nötigen Klarheit, Entschiedenheit und Verant-
wortung geschehen, vom Reiche Gottes, wie Paulus sagt, und der
Erbschaft des Himmels ausschließen und den Menschen zum
Kinde des Zornes Gottes machen, solange er im Zustand der Sünde
270
_ verharrt. So berechtigt nun aber diese Lehre vom objektiven Un-
terschied zwischen schwerer und läßlicher Sünde ist, so dürfen.
wir ihn jedoch nicht mißbrauchen zu einer Verharmlosung des
christlichen Daseins. Zu leicht sagen wir, die läßliche Sünde zer-
störe die Gnade nicht, hebe die Rechtfertigung nicht auf, ver-
damme und verwerfe den Menschen nicht. Es seien ja nur mora-
lische Schwächen, kleine Trübungen unseres Verhältnisses zu
Gott, kleine Unvollkommenheiten, die die eigentliche Grund-
einstellung des Menschen zu Gott nicht ändern. Insofern es sich
wirklich nur um läßliche Sünden handelt, kann man, wenn auch
nur unter sehr ernsten Vorbehalten, dies sagen. Aber wissen wir
genau, daß unsere angeblich nur läßlichen Sünden wirklich nur
solche sind? Natürlich kann man sagen, daß gewisse Vorkomm-
nisse in unserem Leben, rein in sich betrachtet, gemessen an den
objektiven Normen, wirklich nur eine läßliche Sünde sind, zum
Beispiel eine Unfreundlichkeit gegen unseren Nächsten, eine Un-
andächtigkeit im Gebet, eine Ungeduld; das sind zweifellos Dinge,
die zwar das christliche Dasein belasten können, ihm anderseits
nicht die Freude des Erlöstseins, die Gnade der Geborgenheit in
Gott und die Heiligung durch den Heiligen Geist rauben dürfen
und können. In diesem Sinne sind Verfehlungen des Alltags ge-
wiß objektiv läßliche Sünde.
Es ist aber eine in der katholischen Moraltheologie und Beicht-
praxis nicht zu leugnende Einseitigkeit, die einzelnen Vorkomm-
nisse unserer sittlichen Handelns nur je für sich, gleichsam atomi-
siert zu betrachten. Wir übersehen dann oft die Gesamtstruktur
unseres sittlichen Verhaltens, unsere letzte Einstellung auf Gott,
unsere religiöse Grundbefindlichkeit. Der Mensch setzt nicht auf
dem Untergrund der Substantialität einer Seele rein objektiver
Art einzelne Akte, die er auf dem Faden der äußeren Zeit auf-
reiht, sondern der eine, ganze Mensch lebt aus einer Grundhaltung,
die entweder auf Gott hingerichtet oder von Gott abgekehrt ist.
Diese letzte, entscheidende, alles durchprägende Grundhaltung ist
aber für den Menschen gar nicht so leicht reflektierbar. Ja, sie ist
adäquat überhaupt nicht reflektierbar, weil sonst jene reflektierte,
theoretische Heilsgewißheit möglich wäre, die dem Christen nach
dem Trienter Konzil verwehrt ist. Wir können die einzelnen Taten
271
unseres Lebens anschauen, aber nicht unmittelbar einen Blick auf
die letzte Quelle dieser Taten in unserem Herzen tun. Aus dieser
Sicht gewinnt die Frage nach den läßlichen Sünden eine ganz an-
dere Ernsthaftigkeit, als wir vielleicht vermeinen. Könnte nicht
diese oder jene, in sich betrachtet harmlose Lieblosigkeit gegen-
über dem Nächsten im tiefsten nur das ferne Echo und Wetter-
leuchten eines letzten Grundegoismus sein, der am Ende tödlich
ist? Könnte eine solche Haltung des Egoismus, die sich vielleicht
gar nicht in äußerlich sehr häßlichen Taten äußert, die auch nach
einem bürgerlichen Moralkodex sehr verwerflich wären, im letz-
ten genau das sein, was wir eine Todsünde nennen? Könnte es
nicht sein, daß die Kühle unseres religiösen Lebens, diese leichte
und scheinbar harmlose Gleichgültigkeit gegen Gott, sowenig sie
sich auch in deutlichen Akten und Handlungen manifestiert,
dennoch einer letzten, freien, schrecklichen, tödlichen Gleich-
gültigkeit und Kälte Gott gegenüber entspringt? Und dies ist doch
alles andere als eine läßliche Sünde. Sicherlich bedeutet sie nicht
eine einzelne, an einen bestimmten Raumzeitpunkt unseres Le-
bens gebundene Tat. Kann sie aber nicht eine letzte Verlorenheit,
ein letztes grundsätzliches Nein gegen Gott bedeuten? Und das
wäre gerade das, was wir eigentlich den Zustand der schweren
Sünde nennen. So könnten wir noch auf manches hinweisen, was
dem Anschein nach nur eine sogenannte läßliche Sünde, aber in
Wirklichkeit das verhohlene und verhaltene Anzeichen für die
letzte, tödliche Abkehr des Menschen von Gott ist, die er sich selbst
nicht eingesteht, die er gleichsam anonym und mit der linken
Hand und dennoch im Grunde seiner Freiheit vollzogen hat. Da
wir aber immer wieder läßliche Sünden begehen, müssen wir
dann nicht erschreckt fragen, ob wir nicht in einem viel tieferen
und radikaleren Sinne Sünder sind, d.h. Menschen, die in der
Tiefe ihres Herzens nichts mit Gott zu tun haben wollen, obschon
sie nach außen hin in einem bürgerlich dünnen Sinne noch
fromme und anständige Menschen mit reiner Krawatte sein wol-
len? Dann aber erhält die Lehre, daß jeder Mensch insofern min-
destens ein Sünder ist, als er läßliche Sünden begeht, ein ganz an-
deres Gesicht. Das heißt wiederum nicht, daß wir uns für Verlo-
rene, vom Reiche Gottes Ausgeschlossene, vom Tröstergeist Ver-
272
lassene zu halten haben, obschon wir ehrlichen Herzens auf Gottes
Gnade vertrauen und uns Gott immer wieder zuwenden. Nur in
. dem Sinne gewinnt die Auffassung, daß wir Sünder sind, ein neues
Gesicht, als wir uns erschreckt fragen müssen, ob wir, die wir
hoffen, Gottes geliebte Kinder zu sein, nicht dennoch auch immer
wieder fürchten müssen, etwas ganz anderes zu sein, solange die
Grundwurzel unseres Herzens immer wieder Früchte hervor-
bringt, die wirklich nicht Früchte des Geistes sind.
So ist die Lehre von der bleibenden Sündigkeit des Menschen
durch läßliche Sünden eine ständige Frage an uns, was wir denn
eigentlich im tiefsten sind. Diese Frage müssen wir immer wieder
in der Hoffnung auf die Gnade Gottes in einem positiven Sinne
beantworten. Wir können es aber niemals in einer theoretischen
Heilsgewißheit stolz und selbstgewiß tun.
Wir müssen also die Unterscheidung zwischen schwerer und
läßlicher Sünde irgendwie überspringen, sosehr sie sachlich und
objektiv richtig ist, weil sie in der konkreten Reflexion auf unser
eigenes Dasein nicht restlos durchgeführt werden kann. Wir sind
tatsächlich auf der einen Seite Sünder, die hoffen, aus ihrer Sündig-
keit immer wieder aufs neue zur Barmherzigkeit Gottes fliehen zu
dürfen. Und auf der anderen Seite ist die Gerechtigkeit, und
wenn sie durch die Gnade Gottes wirklich in uns ist, immer auch
eine bedrohte und angefochtene und uns verborgene.
Man darf die Lehre von der bleibenden, dauernden Gerechtig-
keit durch die eingegossene, heiligmachende Gnade nicht so ver-
stehen, als sei diese Gerechtigkeit ein rein statischer Besitz, eine
statische Qualität im Menschen. Diese Gerechtigkeit ist vielmehr
immer durch Fleisch, Welt und Teufel angefochten und bedroht.
Sie ist immer wieder in die freie Entscheidung des Menschen ge-
stellt. Trotz ihres Charakters der Zuständlichkeit schwebt sie gleich-
sam auf der Spitze der freien Gnade Gottes und auf der Spitze der
Freiheit des Menschen. Die Gnade der Rechtfertigung muß immer
neu angenommen und vollzogen werden, da sie im Grund genom-
men immer neu von Gott geschenkt wird. Denn diese bleibende
ZuständlichkeitderGnadeistimmerder Freiheit desMenschen aus- _
gesetzt. Die Freiheit des Menschen wiederum kann die Gnade
Gottes nur annehmen und bewahren in und durch die freie Gnade
275
Gottes, die uns Gott letztlich ohne jedes Verdienst von unserer
Seite geschenkt hat und schenken muß. Da unsere Gerechtigkeit
immer angefochten ist, muß sie immer neu durch Gottes Huld
und Gnade uns geschenkt werden. Sie ist deshalb auch die letztlich
unverfügbare Gerechtigkeit. Gewiß glauben wir an den allge-
meinen Heilswillen Gottes. Aber dieser Heilswille ist, wenn er
auf je mich bezogen und wirksam wird, das ungeheure, unbe-
greifliche Wunder der absoluten Huld Gottes. Denn das freie Ja
des Menschen zur befreienden Gnade Gottes ist selbst noch einmal
ein Geschenk der Gnade Gottes. So müssen wir unsere eigene Frei-
heit nicht nur als Vermögen, heilshaft handeln zu können, sondern
auch als eine sich wirklich auf Gott hin öffnende Tat noch einmal
als Gnade Gottes erklären. So sind wir von uns aus immer Schuld-
ner der Gnade Gottes. Von uns allein aus können wir nicht das ge-
ringste tun, daß Gott uns seine Gnade zuwendet, denn unsere Bitte
um Gnade beruht auf unerbetener Gnade, die das Betenkönnen
und das Beten geben muß. Immer muß uns Gott mit seiner Gnade
zuvorkommen. Selbst wo wir das Persönlichste, Ureigenste zu tun
meinen und tatsächlich tun, erfahren wir gerade darin die frühere
und mächtigere Tat Gottes an uns. Von uns aus sind wir immer
Sünder. Von uns aus würden wir uns von Gott abwenden, wenn
Gottes Gnade uns nicht zuvorkommen würde. Angesichts der un-
verfügbaren Gnade Gottes, der angefochtenen Gerechtigkeit, der
unverfügbaren Gerechtigkeit sind wir immer Sünder. In diesem
Sinne kann man in dieser Formel « Gerecht und Sünder zugleich »
einen immer wahren und entscheidend wichtigen katholischen
Sinn finden.
Auch als Gerechtfertigter bleibt der Mensch Pilger. Er hat als sol-
cher nicht nur einen äußerlichen Zeitraum zu durchleben. Er ist
vielmehr unterwegs. In seiner persönlichen Heilsgeschichte ist er
auf der Suche nach dem Bleibenden, Unzerstörbaren und End-
gültigen. Wir pilgern im Glauben. Wir besitzen Gott nur auf
Grund der Hoffnung. In der Hoffnung strecken wir uns nach dem
Künftigen, das uns noch nicht gegeben ist, aus. So wird der Besitz
274
durch die Hoffnung gegeben, und durch dieselbe Hoffnung wird
der Besitz dem freien, unmittelbaren Zugriff des Menschen ent-
‚zogen. Durch unsere freie, personale Geschichte müssen wir erst
einholen, was wir durch die Tat Gottes, die uns rechtfertigt, schon
sind. Im Glauben und der Hoffnung, in immer neuer Anfechtung
und Bewährung, indem wir immer wieder Gottes Gnade in Frei-
heit annehmen, sind wir Pilger. Von Adam und dem Land der
Finsternis kommen wir und suchen das ewige Licht und die helle
Vollendung. Da die eine große Bewegung unseres Daseins aus un-
serer Verlorenheit auf Gott hin immer den Ursprungsort, von dem
diese Bewegung ausgeht, noch in sich trägt, sind wir als werdende
Pilger, die die Vollendung erst noch suchen, « gerecht und Sünder
zugleich ». Das heißt, wie schon gesagt, nicht, daß sich diese beiden
Größen in einer einfachen, statischen Dialektik immer gleichblei-
bend gegenüberständen. Wohl aber ist das konkrete Heilswirken
des Menschen immer gleichzeitig charakterisiert vom Ausgangs-
punkt, von dem wir herkommen, von der eigenen Verlorenheit,
die wir verlassen haben, wie auch vom Ziel, das wir in der Hoff-
nung schon besitzen, nach dem wir uns aber zugleich ausstrecken.
Hier realisiert sich das Werdesein der Kreatur. Man kann den ge-
schaffenen Menschen in seinem geschichtlichen Werdesein, in sei-
nem Gespanntsein zwischen Ausgang und Ende nur erkennen, in-
dem man auf Ausgang und Ende verweist. Jeder Moment dieses
Werdens ist durch beides charakterisiert, weil diese Bewegung ein
Woher und ein Wohin hat. Als werdender Bürger der ewigen
Herrlichkeit bewegt sich der Mensch immer zwischen Anfang und
Ende. Dieses « Zugleich » ist nicht eine Gleichzeitigkeit von An-
fang und Ende, sondern ein « Zugleich » in der Gespanntheit zwi-
schen beiden.
So hat die reformatorische Formel des simul justus et peccator,
wenn nur die Momente eines katholischen Neins zu dieser Formel
klar bleiben, durchaus einen, für das christliche Dasein positiven
Sinn. Gerade der katholische Christ sollte sich nicht als den « guten
Menschen » interpretieren, der im Grunde genommen, außer er
stehle silberne Löffel oder vergifte seinen Nachbarn, eigentlich von
vorneherein als guter Mensch in der Gnade lebt, so daß, wie das
moderne Empfinden oft meint, Gott sich eigentlich vor den Men-
275
schen rechtfertigen müsse; warum es so viel Leid, Finsternis und
Wirrnis in der Weltgeschichte gebe. Der Christ muß einmal be-
“griffen haben, daß er von sich aus nichts als Nichtigkeit und sich
allein überlassen nichts als Sünde ist. Wo immer er irgend etwas
Gutes an sich entdeckt, muß er dies als ursachlose, freie Gnade
Gottes anerkennen. Darum sollte auch der katholische Christ nicht
seine Gerechtigkeit vor Gott ausbreiten. Vielmehr sollte er Tag für
Tag seine Gerechtigkeit, die ihn in der Tat vergöttlicht, als un-
verdientes Geschenk der unberechenbaren Huld Gottes entgegen-
nehmen. Und wenn er das so ausdrücken will, daß er immer und
von sich aus ein armer Sünder und immer ein durch Gottes Gnade
Gerechtfertigter ist, falls er sich nicht durch Unglaube und Lieb-
losigkeit dieser Gnade Gottes verschließt, dann ist ihm das unbe-
nommen.
Auch katholische Heilige, wie die hl. Theresia vom Kinde Jesu,
haben das getan. Wenn sie es wagten, vor das Angesicht Gottes zu
treten, kamen sie von sich aus und für sich selbst mit leeren Hän-
den und bekannten sich wie Augustinus als Sünder. In diesem Be-
wußtsein der eigenen Sündigkeit entdeckten sie in sich das Wun-
der, daß Gott uns mit seiner Herrlichkeit die Hände füllt und unser
Herz überfließen läßt an Liebe und Gnade. Wer bekennt, daß er
von sich aus Sünder ist, erfährt gerade darin jene Gnade Gottes,
dieihn wirklich und wahrhaft zum Heiligen und Gerechten macht.
Dann spricht Gott ihn frei von aller Sünde, so daß er wirklich und
in Wahrheit von der letzten Wurzel seines Seins her heiliges, ge-
rechtes, seliges Kind Gottes ist.
276
e ÜBER DIE EINHEIT
VON NÄCHSTEN- UND GOTTESLIEBE!
278
a
Diese Erkenntnis, auf die hin wir uns vorzutasten versuchen, ist
ja, wenn wir ehrlich und nüchtern prüfen, nicht so ganz unmittel-
bar und deutlich in Schrift und Überlieferung bezeugt. Es ist ja
von zwei Geboten die Rede (Mt 22,39.40; Mk 12,31), von deren
zweitem nur gesagt wird, daß es dem ersten « gleich » sei. Immer-
hin: die beiden zusammen werden in der synoptischen Tradition
als lebengebender (Lk 10,28) Inbegriff der alttestamentlichen
Offenbarung in Schrift und Propheten gewertet (Mt 22,40), über
dem nichts Größeres mehr ist (Mk 12,51). Wobei für die synop-
tische Theologie der Liebe gewiß auch nicht übersehen werden
darf, daß in den eschatologischen Gerichtsreden des Herrn die
‚Nächstenliebe bei Matthäus als einziger Maßstab ausdrücklich er-
scheint, nach dem der Mensch gerichtet wird (Mt 25,54-46), und
ihr Erkalten als Inhalt der « Gesetzlosigkeit» unter den endzeit-
lichen Bedrängnissen hingestellt wird (Mt 24,12). Dazu kommt
noch in der synoptischen Tradition das rätselvolle Wort, daß Jesus
getan wird, was dem geringsten seiner Brüder getan wird, ein
Wort, das ja durch eine willkürlich altruistische Identifikation, die
nach vielen Auslegern Jesus selbst gewissermaßen bloß moralisch-
juridisch in einem bloßen «Als-ob» vornähme, nicht erklärt ist
Das Verständnis muß gewiß zunächst einmal von der absolut ein-
maligen Stellung, die Jesus sich als dem Sohn schlechthin, als dem
Da-sein Gottes und seiner Basileia zuerkennt, ausgehen und die
Einheit dieses Sohnes mit dem Menschen überhaupt deutlich zu
machen suchen. Dann aber werden wir wohl auch wieder zu der
Lehre von der rätselhaften Einheit von Gottes- und Nächsten-
liebe und zu deren christologischer Begründung und Radikali-
sierung geführt. Diese Lehre radikalisiert sich (ohne daß diese
280
Radikalisierung selbst reflektiert wird) bei Paulus: die Nächsten-
liebe (als das königliche Gebot: Jak 2,8) wird als die Erfüllung
des Gesetzes erklärt (Röm 13,8.10;Gal5, 14), somitals das« Band»
der Vollkommenheit (Ko1 3,14) und als der bessere «Weg», also
als die christliche Existenzform schlechthin und endeültig (1Kor
12,531-13,13). Bei Johannes finden wir dann eine erste Reflexion
auf die Berechtigung dieser Radikalisierung der Nächstenliebe
zum Ganzen der christlichen Existenz, die sonst als eine fromme
Übertreibung erscheinen könnte, wie sie ja in der Reflexion der
christlichen Paränese dahin abgemildert wird, daß die Nächsten-
liebe ein einzelnes Stück der christlichen Forderung sei, ohne wel-
ches eben trotz seiner Schwierigkeit das Heil verspielt werde.
Nach Johannes sind wir von Gott (Jo 14,21) und Christus geliebt,
damit wir einander lieben (Jo 13,34), welche Liebe das neue Gebot
Christi (Jo 13,34), das für ihn spezifisch (Jo 15, 12) und der Auftrag
für uns ist (Jo 15,17). Und so ist für Johannes die Konsequenz dar-
aus die, daß Gott, der die Liebe zst (1Jo 4, 16), uns geliebt hat, nicht,
daß wir ihn wiederlieben, sondern daß wir einander lieben (1Jo
4,7.11). Denn wir schauen ja Gott nicht, er kann nicht in gno-
stisch-mystischer Innerlichkeit allein wahrhaft erreicht werden,
so daß er so wirklich von der Liebe erreichbar wäre (1Jo 4,12),
und darum ist der «Gott ins uns» in der gegenseitigen Liebe der
Gott, den allein wir lieben können (1Jo 4, 12), so sehr, daß es wirk-
lich wahr ist und ein - für uns gewöhnlich gar nicht einleuchten-
des, aber für Johannes radikal zwingendes - Argument; daß, « wer
seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, Gott nicht lieben
kann, den er nicht gesehen hat» (1Jo 4,20).
Im unmittelbaren Wortlaut bleibt für uns an diesem Versuch,
die Konzentration des ganzen christlichen Gottesverhältnisses auf
die Liebe zum Bruder verständlich zu machen, vieles unbestimmt
und undeutlich. Ist vielleicht die Nächstenliebe auch hier noch
nur darum die «Bewährung» der Liebe zu Gott, weil uns Gott,
der geliebt werden soll, eben dieses Gebot der Nächstenliebe ge-
geben hat und ist also seine Erfüllung für uns nur der beste Prüf-
stein dafür, ob es uns mit der Liebe zu Gott ernst ist, wobei es aber
letztlich doch bei zwei verschiedenen Teilvollzügen der mensch-
lich-christlichen Existenz und bei zwei Geboten bleibt? Ist das
281
\
r
Wort vom Bruder, den man sieht, und von Gott, den man nicht
sehen kann, doch nur ein schlichtes argumentum ad hominem,
ein Schluß vom (nicht geleisteten) Leichteren zum Schwereren
(das dann gewiß erst recht nicht erfüllt wird) ? Oder dürfen wir die
Worte des Johannes radikal ernst nehmen, so daß wirklich der
«Gott in uns » der ist, der allein geliebt werden kann und eben in
der Liebe zum Bruder, so und nie anders, erreicht wird, und also
die Liebe Gottes so trifft, daß sie sich und uns mit sich weiterbewegt
auf den nahen Bruder hin und in der Liebe zu diesem, also als
eigentliche Nächstenliebe, zu sich und zur Vollendung kommt, uns
als Nächstenliebe zu Gott und seiner Liebe bringt?
Wenn wir auf diese bibeltheologische Frage auch keine rein
exegetisch sichere Antwort geben können, so gibt uns die theo-
logische Reflexion in der Überlieferung ein Stück Mut mehr, sie
zugunsten des zweiten Teiles der Alternative, in der Richtung
einer radikalen Identität der beiden Lieben zu beantworten, wo-
bei zu beachten ist, daß einerseits diese theologische Tradition mit
ihren Theologumena auch keine absolut zwingende Entscheidung
der Frage liefert, anderseits aber doch auch bibeltheologische Da-
ten! für unsere Frage geltend macht, die in der Schrift selbst nicht
da ausdrücklich zur Auswirkung kommen, wo die Schrift an unsere
Frage rührt.
1 Z.B. wenn die Schrift erklärt, die Liebe zum Nächsten sei vom selben Pneuma
getragen (Gal 5, 22). ;
282
da von derliebenden Selbstmitteilung Gottesin der unerschaffenen
Gnade des Heiligen Geistes getragen, wirklich den Menschen mit
Gott eint, nicht wie er von uns erkannt ist, sondern so, wie eran
‚ sich selbst in seiner absoluten Göttlichkeit ist. Bei dieser These der
Schule, die Gottes- und Nächstenliebe mindestens in ihrem über-
natürlichen Vermögen, dereinen, eingegossenen, übernatürlichen,
theologischen Tugend der caritas, identifiziert, darf dreierlei nicht
übersehen werden: 1) Die Schule übersieht (grundsätzlich mit
Recht) nicht, daß eine solche caritas auch bloßer Anstoß zu solchen
personal-liebenden Weisen des Verhältnisses zum anderen sein
kann, die selbst formell nicht Akt der caritas sind, sondern nur
deren actus imperati, die sich selbst mehr in einer bloß humanen
Dimension halten. 2) Die Schule wird vermutlich oft bei der ge-
naueren Auslegung ihrer radikalen These, besonders dort, wo sie
sie zu begründen sucht, hinter ihr tatsächlich zurückbleiben, sie
abschwächen, sie so begründen, daß sie eigentlich nur verbal be-
stehen bleibt, und die existentialontologischen Voraussetzungen
der These nicht wirklich einholen. Und 3) würde die Schule, wenn
sie ausdrücklich gefragt würde, ob wirklich diese Identität schlecht-
hin gelte, wohl antworten: Jeder Akt der caritas dem Nächsten
gegenüber sei zwar formell, wenn auch vielleicht nur einschluß-
_ weise, Liebe zu Gott, weilder Aktja per definitionem «um des in
übernatürlicher Liebe geliebten Gottes willen » geschehe; aber die
Schule würde wohl verneinen, daß umgekehrt jeder Akt der caritas
zu Gott formell auch Nächstenliebe sei (wenn er natürlich auch die
Bereitschaft dazu einschließe), und vor allem würden heute noch
die meisten Theologen vor dem Satz zurückschrecken, der der
Grundthese ihren letzten Sinn, ihre eigentliche Schärfe und Un-
ausweichlichkeit gibt, daß nämlich überall, wo eine echte Liebe
zum Menschen ihr eigentliches Wesen und ihre sittliche Absolut-
heit und Tiefe erreicht, sie in der wirklichen Ordnung des Heiles
auch immer so von Gottes Heilsgnade unterfangen und überhöht
sei, daß sie auch caritas auf Gott hin ist, ob sie als solche caritas
ausdrücklich vom Subjekt thematisiert wird oder nicht.
Dahin aber geht das Verständnis der Identitätsthese, wie sie hier
gemeint ist, weil wir es sachlich für richtig und für das christliche
Selbstverständnis der Zukunft von grundlegender Bedeutung hal-
285
ten. Was damit gemeint ist, bedarf einer eingehenderen, wenn
auch unvermeidlich immer noch sehr summarischen Darlegung.
284
-
ZkTh 86
1 Vgl. dazu z.B. K. Riesenhuber: Der anonyme Christ nach K.Rahner,
1963; K.Rahner, Zur
(1964) 286-303; A.Röper, Die anonymen Christen, Mainz
Theologie des Todes # (Freiburg 1963) 79-86.
285
}
Dieses zweite aber ist zu sagen. Die Nächstenliebe, auch und ge-
rade, wenn wir sie zunächst einmal als sittliches Phänomen be-
trachten und noch gar nicht nach der theologischen Tugend der
286
‚caritas als solcher fragen, ist zunächst einmal nicht irgendeine der
. vielen nebeneinanderliegenden sittlich richtigen Reaktionen des
Menschen auf seine und seiner Umwelt Wirklichkeit, sondern der
Grund und Inbegriff des Sittlichen überhaupt. Warum und in wel-
chem Sinn ist dies so? In der äußeren Vielfalt seiner Umwelt be-
gegnet dem Menschen auf den ersten Blick eine bunte, scheinbar
willkürlich nebeneinandergereihte Vielfalt von Objekten, auf die
sich jeweils auch sein sittliches Tun beziehen kann, und die — wie
z.B. die Systematisierungen der speziellen Moral zeigen — dann
nachträglich und etwas willkürlich in Gruppen zusammenge-
faßt und geordnet werden. Aber die dem Menschen begegnende
Welt (wir sehen zunächst noch von Gott ab) ist unter verschiede-
ner Hinsicht als Welt des Menschen ursprünglicher eine. Das ist
schon dadurch gegeben, daß die wahre und eigentliche Umwelt
des Menschen seine personale Mitwelt ist. Diese Mitwelt ist die
Welt, durch die hindurch der Mensch sich findet und vollzieht
(erkennend und wollend) und - von sich wegkommt. Die Sachwelt
ist, personal und sittlich gesehen, nur als Moment am Menschen
und an seiner Mitwelt von Bedeutung. Das ergibt sich zunächst aus
der apriorischen Struktur des einen und ganzen Menschen (in Er-
kennen und Wollen), die der äußeren Vielfalt der möglichen Ge-
genstände ein einheitliches Gesetz ihrer möglichen Erkenntnis
vorgibt und somit diese Vielfalt als erfaßte und gewollte struktu-
riert. Ist aber Erkenntnis von ihrem Wesen her « Bei-sich-sein »,
bzw. Rückkehr zu sich selbst, und Freiheit nicht einfach das Tun-
können von diesem und jenem, sondern (formal) gesehen Selbst-
verfügung in Endgültigkeit hinein, geht es also dem Subjekt
(formal gesehen) immer um es selber, dann muß der Vielfalt der
möglichen Gegenstände des Menschen als geheimes, apriorisches
Gesetz vorgegeben sein, daß sie für den Menschen in Erkenntnis
und Freiheit insofern in Frage kommen und geordnet sind, als sie
diesem Bei-sich-sein und dieser Selbst-verfügung dienen können.
Dadurch aber ergibt sich, daß die Sachwelt nur als Moment der
Personwelt als möglicher Gegenstand des Menschen in Frage
kommt. Das zeigt sich auch in der traditionellen Lehre bei dem
Axiom: das Seiende und das Gute sind identisch: Das sittlich ob-
jektiv Gute ist im Personalseienden gegeben; ein Gut, das nicht
287
die Person ist oder auf sie als solche bezogen ist, kommt als objek-
tiver Wert sittlichen Handelns von vornherein nicht in Betracht.
Nun ist aber weiter sofort hinzuzufügen, daß dieses formale Wesen
der Erkenntnis und Freiheit als Selbst-besitz und Selbst-tat eben das
‚formale Wesen nach einer bestimmten Hinsicht besagt und nicht
egozentrisch mißverstanden werden darf. Inhaltlich ist — auch
schon wegen der Weltlichkeit und aposteriorischen Geschichtlich-
keit des Menschen — der aposteriorische Gegenstand die notwen-
dige Vermittlung des erkennenden Subjektes zu sich selbst, also —
das eben Gesagte vorausgesetzt — das erkannte personale Du die
Vermittlung zum Bei-sich-sein des Subjekts. Noch deutlicher und
radikaler ist dieser Sachverhalt bei der Freiheit: die freie Selbst-
verfügung ist als sittlich richtige und vollendete gerade die lie-
bende Kommunikation mit dem menschlichen Du als solchem
(nicht als bloße Negativität oder Andersheit für das «Ich», das
bloß sich selbst finden will, wenn auch am anderen). Da aber die
Erkenntnis (weil sie selber schon Tat ist) nur in der Tat der Frei-
heit zu ihrem eigenen, vollen Wesen gelangt, sich also in Freiheit
«aufheben» muß, um ganz sie selbst zu sein, hat sie erst ganz-
menschliche Bedeutung, wenn sie in die Freiheit, also in die lie-
bende Kommunikation mit dem Du integriert ist. Der Akt per-
sonaler Liebe zum menschlichen Du ist also der umfassende, allem
anderen Sinn, Richtung und Maß gebende Grundakt des Men-
schen. Ist das richtig, dann gehört die wesenhafte apriorische und
in Freiheit zu übernehmende Geöffnetheit auf das menschliche
Du überhaupt zur apriorischen Grundverfassung des Menschen,
ist ein wesentliches inneres Moment seiner (erkennenden und
wollenden) Transzendentalität. Diese apriorische Grundverfas-
sung (die in Freiheit angenommen werden muß, der aber der
Mensch sich auch versagen kann) wird in der konkreten Begeg-
nung mit dem konkreten Menschen erfahren. Der eine sittliche
(bzw. unsittliche) Grundakt, in dem der Mensch zu sich kommt
und über sich verfügt, ist also die (liebende oder hassende) Kom-
munikation mit dem konkreten Du, an dem der Mensch seine
apriorische Grundverwiesenheit an das Du überhaupt erfährt, an-
nimmt oder verneint. Alles andere ist Moment daran, Folgerung
daraus oder Anlauf dazu. |
288
N
Dieser Grundakt ist nach dem früher Gesagten aber in der ge-
'genwärtigen Ordnung des Heils, d.h. der übernatürlichen Ziel-
bestimmtheit seines Daseins, übernatürlich erhöht durch die eine
Selbstmitteilung Gottes in der ungeschaffenen Gnade und dem
daraus erfließenden dreieinen Grundvermögen der theologischen
Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe, wobei die theologische
Liebe von ihrem Wesen her Glaube und Hoffnung in sich selbst
hinein notwendig integriert und aufhebt. Der eine menschliche
Grundakt ist somit, wo er positiv geschieht, Nächstenliebe als cari-
tas, d.h. Nächstenliebe, deren Bewegung auf den Gott des ewigen
Lebens hin zielgerichtet ist.
291
Gottes willen» gerade nicht bedeutet: Liebe zu Gott allein am
«Material» des Nächsten als Gelegenheit zur bloßen Gottesliebe,
sondern wirklich: Liebe des Nächsten selber, die von Gott her zu
ihrer letzten Radikalität ermächtigt ist und beim Nächsten an-
kommt, um bei ihm zu bleiben.
Nun ist aber endlich gegenüber der These von der Nächsten-
liebe als dem einen, alles umfassenden Grundakt des menschlichen
Daseins der Einwand zu bedenken, der religiöse Akt, der auf Gott
geht, sei doch der Grundakt des menschlichen Daseins oder stehe
doch wenigstens gleichberechtigt und gleichursprünglich, ja sogar
höherrangig neben dem Akt der liebenden, personalen Kommuni-
kation. Dieser Einwand ist aber ein Mißverständnis. Zunächst ein-
mal ist zu beachten, daß Gott objektiv und für die subjektive In-
tentionalität des Menschen(in Erkennen und Freiheitstat und
deren Einheit) kein «Gegenstand» neben anderen ist (wenig-
stens nicht für die ursprüngliche Erfahrung Gottes), auf den sich
die Intentionalität des Menschen in derselben gestreuten und parti-
kulären Weise wie auf die Vielfalt der kategorial begegnenden
Gegenstände und Personen innerhalb der innerweltlichen Erfah-
rung richten kann. Gott ist ursprünglich nicht so gegeben, wie zu-
fällig und von außen und ohne, daß es vom Wesen der mensch-
lichen Intentionalität so sein muß, eine Blume oder Australien
« gegeben » sind. Der Mensch hat es nicht erst mit Gott zu tun, wo
er thematisch den Begriff Gottes als einer Wirklichkeit «neben »
anderen im bloß teilenden Unterschied zu diesen sich vorstellt.
Gott ist im ursprünglichen, einer reflexen Thematik vorausge-
henden Akt immer als der weltjenseitige, subjektiv und objektiv
(den Akt und seinen Gegenstand) tragende Grund der Erfahrung,
also indirekt in einer Art Grenzerfahrung gegeben, als Wovonher
und Woraufhin eines Aktes, der gegenständlich auf Welt zielt,
also, wie gleich noch ausführlicher zu sagen sein wird, liebende
Kommunikation mit dem welthaften Du (oder Nein dazu) ist. Gott
ist zunächst und ursprünglich im transzendentalen: unthemati-
292
schen (bzw. als solcher) Horizont der erkennenden und handelnden
Intentionalität des Menschen gegeben, nicht als «Gegenstand»,
der durch einen Begriff innerhalb dieses Horizontes vorgestellt
wird. Und selbst dort, wo Gott religiös-christlich thematisiert
wird, dort also, wo und insofern Er selbst (über eine solche philo-
sophisch-religiöse Thematisierung hinaus) durch den durch die
vergöttlichende Gnade eröffneten oder in seiner absoluten Weite
aufrechterhaltenen «Horizont» des Geistes (transzendental) ge-
geben ist (als übernatürlich sich zuschickendes Woraufhin dieser
Transzendentalität), und wo Er durch die heilsgeschichtliche
Wortoffenbarung (kategorial) als er selbst redet und durch beides
«Partner» personalen und direkten Verhältnisses zwischen ihm
und dem Menschen wird, geschieht dies (d.h. Gnaden- und Wort-
offenbarung und gnadenhaft reale Selbstmitteilung) immer gegen-
über einem und durch einen Menschen, der schon « weltlich » ist,
d.h. sich selbst in Freiheit gegeben ist durch den liebenden Ein-
gang in die Mitwelt, durch personale Begegnung und Kommuni-
kation mit dem Du der innerweltlichen Erfahrung.
Die (natürlich und übernatürlich) transzendentale Erfahrung
Gottes, die auch die notwendige Vorbedingung der geschicht-
lichen Wortoffenbarung ist und ihr tragender Grund bleibt, ist
nur möglich in und durch einen Menschen, der die weltliche
transzendentale (seiner apriorischen Verwiesenheit auf das Du) und
kategoriale (seiner konkreten Begegnung mit dem konkreten Du)
Erfahrung des menschlichen Du «schon » (in logischer Priorität)
hat und darin und daran die (wenigstens) transzendentale Erfah-
rung seiner Verwiesenheit auf das absolute Geheimnis (= Gott)
überhaupt nur vollziehen kann. Die in der Schule klassische These
(gegen Ontologismus und eingeborene Gottesidee), daß Gott nur
aposteriorisch aus der Schöpfung erkannt werden könne, will letzt-
lich, wo sie sich selbst richtig versteht, nicht sagen, daß derMensch
nur auf Gott stoße wie auf irgendeinen ihm bloß zufällig gegebe-
nen Gegenstand (diese Blume, Australien), mit dem er, von der
apriorischen Struktur seiner Erkenntnis her gesehen, ebensogut
nichts zu tun haben könnte, wohl aber, daß die transzendental
ursprüngliche (und in irgendeinem Maß auch kategorial zu objek-
tivierende) apriorische Erfahrung der ursprünglichen Verwiesen-
295
heit auf Gott, und so Gottes selbst, nur gemacht werden könne in
einem immer auch schon vollzogenen Ausgegangensein in die
Welt, die als Welt des Menschen primär eine Mitwelt ist. Gerade
weil die ursprüngliche Bezogenheit auf Gott transzendentaler, also
nicht gegenständlicher Art ist, sondern in der unendlichen Ver-
wiesenheit des Geistes des Menschen über alles Gegenständliche
der Mit- und Umwelt hinaus gegeben ist, ist die ursprüngliche Er-
fahrung Gottes (im Unterschied zu seiner absondernden Vorstel-
lung im Einzelbegriff) immer in einer weltlichen Erfahrung ge-
geben. Diese aber ist ursprünglich und total nur in der Du-Kom-
munikation da.
Weil jede begriffliche Reflexion auf die transzendentalen Be-
dingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und Freiheit selber
nochmals von diesen selben Bedingungen getragen ist, darum ist
auch der ausdrückliche religiöse Akt, in dem Gott zum reflexen
Thema der Erkenntnis und Liebe wird, nochmals unterfangen
und getragen durch jenen Akt, der eine transzendentale einschluß-
weise Gotteserfahrung (natürlich-übernatürlicher Art) bietet, in-
dem erin der Zuwendung zur Mitwelt, also in ausdrücklicher Kom-
munikation mit ihr, unthematisch auch die transzendentalen Be-
dingungen dieses Aktes (die transzendentale Verwiesenheit auf
. Gott und die transzendentale Geöffnetheit auf das menschliche
Du) erfahren läßt.
Der Akt der Nächstenliebe ist also der einzige kategoriale und
ursprüngliche Akt, in dem der Mensch die kategorial gegebene
ganze Wirklichkeit erreicht, sich ihr gegenüber selbst total richtig
vollzieht und darin schon immer die transzendentale und gnaden-
haft unmittelbare Erfahrung Gottes macht. Der thematisch reli-
giöse Akt als solcher ist und bleibt dem gegenüber sekundär. Er hat
zwar, wie schon gesagt, gegenüber dem thematischen Akt der
Nächstenliebe eine höhere Würde, wenn und insofern diese ge-
messen wird am jeweiligen ausdrücklichen, begrifflich vorgestell-
. ten Objekt des betreffenden Aktes. Er hat, gemessen an seinem
«Horizont», seiner transzendentalen Ermöglichung, dieselbe
Würde, denselben «Tiefgang», dieselbe Radikalität wie der Akt
ausdrücklicher Nächstenliebe, weil beide Akte notwendig getra-
gen sind von der (erfahrenen, aber unthematischen) Verwiesen-
294
N,
heit auf Gott und auf das innerweltliche Du und von der Gnade
(der eingegossenen caritas), also von dem, worauf der explizite Akt
sowohl des Gottesverhältnisses wie der Nächstenliebe «um Gottes
willen » reflektieren. Das ändert aber nichts daran, daß der pri-
märe Grundakt des immer schon « weltlichen » Menschen immer
ein Akt der Nächstenliebe ist und darin die ursprüngliche Gottes-
liebe insofern realisiert wird, als in diesem Grundakt auch die
Bedingungen seiner Möglichkeit angenommen werden, zu denen
die durch die Gnade übernatürlich erhobene Verwiesenheit des
Menschen auf Gott gehört.
296
Menschen «epochal» verschiedene Aspekte, unter denen sie sich
darbietet und dem Menschen bevorzugt zuschickt. Es gibt epochal
wechselnde «Stichworte», «Urworte», unter denen das eine
"Ganze der Gotteserfahrung aus der Ganzheit der Wirklichkeits-
1‘
und Subjektserfahrung heraus je neu angerufen wird und auf
uns zukommt.
Schon in der Schrift und dann im Laufe der Glaubens- und
Heilsgeschichte zeigt sich die Vielfalt solcher Stichworte, die
immer das Ganze meinen und implizieren, aber ebenso viele ver-
schiedene Tore sind, die je nach der Zeit oder der jeweiligen Eigen-
art der christlich-religiösen Erfahrung eines Menschen den jewei-
ligen Zugang zu diesem Ganzen bilden. Dieses «Stichwort» ist
z.B. für Paulus «der Glaube», aber so ist es nicht für jeden und
jede Zeit, auch wenn keiner ohne Glauben zu Gott findet. Man
könnte fragen, ob nicht der Ternar der drei göttlichen Tugenden
auch schon einen Raum solchen epochalen Wechsels des « Urwor-
tes» für eine religiöse Erfahrung andeutet, wie ja das Schlüssel-
wort für das Ganze bei Johannes nicht Glaube, sondern Liebe ist
und bei den Synoptikern sogar dafür « Umkehr » (Metanoia) steht.
Heute jedenfalls, wo die Menschheit in der Ungeheuerlichkeit
ihrer Zahl und konkreten Einheit, den notwendig neuen Formen
ihrer Gesellschaftlichkeit ganz neu lernen muß zu lieben, oder
untergeht, wo Gott so als die schweigende Unbegreiflichkeit neu
aufgeht, daß der Mensch versucht ist, ihn überhaupt nur noch
durch Schweigen zu ehren, und aller Atheismus, den es heute zum
erstenmal wirklich gibt, doch nur die pubertäre Fehlform dieser
Chance und Versuchung gegenüber der Unbegreiflichkeit Gottes
ist, wo eine ungeheure weltliche Welt entsteht, die der Mensch
selber schafft, die zwar nicht sakralisiert werden soll, aber in ihrer
von Gott geheiligten, d.h. auf ihn selbst hin geöffneten Tiefe er-
fahren und getan werden muß, - in einer solchen neu heraufzie-
henden Epoche könnte die « Nächstenliebe» das wirklich bewe-
gende Urwort und Schlüsselwort für heute sein. Wenn wir aber
heute sagen wollen: wer den Nächsten liebt, hat das Gesetz
schlechthin erfüllt; wenn wir einander lieben, dann ist die Heils-
endgültigkeit Gottes in uns (so könnte man 1Jo 4,12 übersetzen),
dann müssen wir radikal verstehen, warum in der Nächstenliebe,
297
.so sie nur echt ist und ihr eigenes, unbegreifliches Wesen bis zum
Ende annimmt, das ganze christliche Heil, das ganze Christentum
schon gegeben ist, das sich zwar noch in seine ganze Fülle und
Breite entfalten muß, die wir kennen und bewahren, aber in seiner
ursprünglichen Wurzel schon ergriffen ist, wenn einer den ande-
ren wahrhaft und « bis zum Ende » liebt.
298
BEITRÄGE ZUR EKKLESIOLOGIE
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A. PILGERNDE KIRCHE
502
Beichtstuhl und die Sakramente überhaupt, der Anspruch des
\ Papsttums zu durchsichtigen politischen Zwecken usw.? Daß wir
— so fährt diese Klage oder Anklage fort — daß wir alle Menschen
sind, das ist ja nicht verwunderlich; und daß auch die Menschen
der Kirche, auch ihre amtlichen Vertreter Menschen und Sünder‘
sind, das ist an sich weiter auch nicht verwunderlich. Wenn es sich
nur darum handelte, dann wäre es natürlich ungerecht, die Win-
kel der Kirchengeschichte nach den Sünden der Kirche zu durch-
forschen, aber — die Kirche will ja selbst wesentlich mehr sein als
eine menschliche Organisation, in der es unvermeidlich oft auch
menschlich und sehr menschlich zugeht. Sie will ja die Platzhal-
terin des heiligen Gottes in der Welt sein, die heilige Kirche; sie
behauptet sogar, daß sie durch ihre «hervorragende Heiligkeit
und ihre unerschöpfliche Fruchtbarkeit in allem Guten » in sich
selbst ein großer und beständiger Beweggrund der Glaubwürdig-
keit und ein unwiderlegliches Zeugnis ihrer göttlichen Sendung
sei (1.Vatikan. Konzil, DS 5013). Hier eben setzt-der Widerspruch
ein: wäre die Kirche bescheidener — so lautet der ewige Einwand
des Unglaubens -, dann könnte man ihr gegenüber milde sein und
ihr alles verzeihen, was wir auch uns selbst verzeihen. Weil sie sich
aber als die heilige erklärt, muß sie sich auch gefallen lassen, daß
man ihr Leben und ihre Geschichte mit Maßstäben mißt, die über
das Menschliche hinausgehen. Und was dann? Ist der Anspruch
auf Heiligkeit, den sie erhebt, dann nicht eine einzige Anmaßung,
die gerade das Gegenteil des maßlosen Anspruchs beweist?
Noch von einer dritten Seite her, so sagten wir, ist unser Thema
von Bedeutung. Es handelt sich für uns gar nicht um die Frage,
wie wir als Christen, die an die Heiligkeit der Kirche glauben, mit
der rein menschlichen Erfahrung von der Unheiligkeit der Kirche
fertig werden. Es ist vielmehr die dogmatische Frage gemeint:
was nämlich die Offenbarung selbst zur Unheiligkeit der Kirche
sagt. Mit anderen Worten: wir wollen nicht die Stimme der em- .
pörten Menschheit hören (wir wissen vielleicht wieder besser als
frühere Zeiten, daß eine solche «öffentliche Meinung» auch bei
ziemlicher Einmütigkeit eine sehr problematische Sache ist, und
daß gewöhnlich jeder die Erfahrung macht, die seinen Wünschen
entspricht), sondern wir wollen das Selbstzeugnis der Kirche von
505
ihrer eigenen Unheiligkeit vernehmen. Denn die Tatsache von
der Kirche der Sünder ist selbst ein Stück des Glaubensbewußtseins
der Kirche. Wenn nämlich jemand in einem allzu oberflächlichen
Optimismus die Kirche für durchaus «heilig» hielte, dann würde
die Kirche nicht sagen: Gott sei Dank, endlich einmal jemand, der
mich gerecht beurteilt, sondern sie müßte ihm geradezu sagen:
Du bist ein Häretiker, und die Wahrheit über mich ist nicht in dir;
deine Milde ist vom Bösen, und du hast nicht begriffen, was der
Geist Gottes denkt, weder über jene Heiligkeit, die er mir, der
heiligen, wirklich geschenkt hat, noch über jene Heiligkeit, die
- ich, die unheilige Kirche der Sünder, eben nicht habe; du hast jene
Heiligkeit, die du haben solltest, nicht in dir, sonst könntest du sie
nicht in mir zu finden glauben, so wenig wie jener, der mich ent-
täuscht anklagt, weil ich sie tatsächlich nicht habe.
Zwei Dinge stehen demnach zur Frage: die Kirche der Sünder
und: der sündige Mensch vor der heiligen Kirche der Sünder.
Die Kirche Gottes und seines Christus ist eine Kirche der Sünder.
Was damit gemeint ist, sei in zwei Gedankengruppen dargelegt:
die Sünder in der Kirche; die sündige Kirche.
1. Die Sünder in der Kirche. Es ist eine Glaubenslehre, daß die
Sünder zur Kirche gehören. Selbst Sünder, die verlorengehen,
können wahrhaft und wirklich zur Kirche gehören. Eine Glau-
benswahrheit, die die Kirche immer wieder gelehrt hat, in der
Väterzeit gegen den Montanismus, Novatianismus, Donatismus,
im Mittelalter gegen die Albigenser, gegen die Fraticellen, gegen
Wichf und Hus, in der Neuzeit gegen die Reformatoren, gegen
den Jansenismus und die Synode von Pistoia. Der Satz, daß die
Sünder, die der Gnade Beraubten oder die von Gott als verloren-
gehend Vorausgewußten, nicht zur Kirche gehören, ist eine
eigentliche und endgültig von der Kirche verworfene Häresie.
Sagen wir nicht vorschnell: das ist doch eine Selbstverständlich-
keit, an der nur ein Phantast zweifeln könnte. Das ist an sich gar
keine Selbstverständlichkeit. Selbstverständlich ist das eine: es
gibt eine bürgerliche « Religionsgesellschaft », genannt katho-
504
lische Kirche, und zu ihr gehören laut Ausweis des Standesamtes
nicht nur Leute, ‘von denen man behaupten kann, daß sie in
einem sehr bürgerlichen undoberflächlichen Sinn « Ehrenmän-
'ner» sind, die noch nicht « vorbestraft» sind, die man vielleicht
_ als Muster der Tugend aufstellen kann, ja die man schließlich
(wenn man einmal zu einem so volltönenden Titel greifen will)
als Heilige bezeichnen könnte. Das freilich ist sehr selbstverständ-
lich; aber damit ist weder das getroffen, was in diesem katholi-
schen Dogma mit dem Wort « Kirche» gemeint ist, noch, was man
mit dem Wort «Sünder» gemeint hat. Denn Kirche heißt in die-
sem Zusammenhang die Sichtbarkeit, die sakramentale Zeichen-
haftigkeit und Gegenwart Gottes und seiner Gnade in der Welt,
heißt geschichtliche Leibhaftigkeit Christi im Hier und Jetzt der
Welt, bis er wiederkommen und in seiner Gottesherrlichkeit « er-
scheinen » wird; Kirche heißt hier das Menschliche, das zwar un-
vermischt, aber auch ungetrennt mit dem Göttlichen verbunden
ist. Und « Sünder in der Kirche » bedeutet hier nicht einen Men-
schen, der mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt kommt (das kann
ja selbst bei einem, der Gottes Liebling ist, einmal vorkommen),
sondern «Sünder» heißt in diesem Glaubenssatz: Mensch, dem
Gottes Gnade wirklich fehlt, heißt Mensch, der fern von Gott
wandelt, Mensch mit einem Schicksal, das sich vielleicht mit un-
heimlicher Konsequenz zum ewigen Verderben hin entwickelt.
Und dieser Sünder gehört zu dieser Kirche; er ist nicht nur in ihren
bürgerlichen Amtsregistern eingetragen, sondern ist ihr Glied, ist
ein Stück Sichtbarkeit der Gnade Gottes in der Welt, Glied am
Leibe Christi! Ist das etwa selbstverständlich? Ist das etwas, was
uns schon die Erfahrung so leicht und eindeutig sagt? Oder ist das
nicht eine Wahrheit, die in ihrer Unbegreiflichkeit alles weit hin-
ter sich läßt, was die Anklagen und Proteste des Unglaubens gegen
die Unheiligkeit der Kirche vorbringen können ?
Eben diese Offenbarungswahrheit ist aber in der Schrift und |
Überlieferung klar bezeugt. Mit dem Himmelreich verhält es sich
wie mit einem Netz, das aus dem Meer der Welt gute und schlechte
Fische heraufzieht. Erst am Gestade der Ewigkeit werden die
Gerichtsengel am Ende dieser Zeit die Bösen aus der Mitte der
Guten aussondern und in den Feuerofen werfen (Mt 13,47-50).
505
Am Hochzeitsmahl des Himmelreiches werden sich auch solche
zu Tische setzen, die kein hochzeitliches Gewand anhaben und
schließlich an Händen und Füßen gebunden hinausgeworfen wer-
den (Mt 22, 11ff.). Die gleich den Jungfrauen auf die Ankunft des
Bräutigams harren, haben lange nicht alle genügend Öl für ihre
Lampen (Mt 25, 1-15). Es gibt « Brüder », die durch Ungehorsam
gegen die Kirche schließlich wie Heiden und öffentliche Sünder
werden (Mt 18,17). Auch der über das Hausgesinde des Herrn ger:
setzte Knecht kann verworfen werden (Mt 24,45-51).
Was der Herr in diesen Bildern lehrte, bezeugen auch die Apo-
stel: es gibt Sünder in der Kirche, Menschen, zu denen der Geist
spricht: Ich kenne deine Werke; du hast den Namen, daß du lebst,
doch du bist tot (Offb 3,1f.). Das eben ist das Erschütternde: man
hat wirklich den Namen des Lebens und ist doch tot.
Es fiel der Kirche der ersten Jahrhunderte schwer genug, diese
Glaubenswahrheit ohne Zittern zu fassen, und noch bei Augusti-
nus, der für diese Frage dogmengeschichtlich im Kampf gegen den
Donatismus von so großer Bedeutung geworden ist, ist es nicht
immer ganz klar, ob er mit seiner Theorie von Weizen und Spreu
. und von den durcheinandergemischten Staaten Jerusalem und
Babylon immer klar und entschieden die toten Glieder als wahre
Glieder am mystischen Leib Christi betrachtet oder nur meint, die
Grenzen zwischen diesen Staaten seien zwar immer schon ein-
deutig da, enthüllten sich aber erst am Ende der Zeiten. In dieser
Hinsicht hat sich dann im Laufe der Zeit das Glaubensbewußtsein
der Kirche weiter geklärt auf die Glaubenswahrheit hin: es gibt
Sünder, und diese gehören zur Kirche. In der Kirche ist Sünde und
Versagen. Und diese Sündigen und Versagenden sind ein Stück
der Leiblichkeit und der Erscheinungsform jenes göttlichen Heils
und jener göttlichen Gnade, die wir Kirche nennen.
Diese «Zugehörigkeit des Sünders zur Kirche» freilich muß
auch noch von einer anderen Seite gesehen, d.h. negativ abge-
grenzt werden: Der Sünder gehört nicht in demselben vollen Sinn
zur Kirche wie der Gerechtfertigte. Denn es ist zunächst einmal
selbstverständlich, daß von einer Zugehörigkeit zur Kirche in allen
Richtungen und Dimensionen geredet werden kann und muß,
in denen die Kirche selbst sich erstreckt, und daß darum, wer in
506
einer Dimension der Kirche nicht angehört, nicht im vollen Sinn
als ihr Glied betrachtet werden kann. Nun betonen aber (um nur
auf neuere lehramtliche Äußerungen der Kirche hinzuweisen)
'sowohl Leo XII. in seiner Enzyklika « Satis cognitum » (1896) wie
Pius XII. in der Enzyklika «Mystici Corporis Christi», daß es ein
ekklesiologischer Nestorianismus und rationalistischer Naturalis-
mus wäre, wollte. man in der Kirche nichts sehen als eine äußere,
rechtliche Organisation, bloß eine sichtbare Gesellschaft, eine
«Konfession » im bürgerlich-gesellschaftlichen Sinn des Wortes.
Sie ist vielmehr der lebendige Leib Christi, belebt vom Heiligen
Geist Gottes, zu dessen Wirklichkeit das göttliche Leben, die
Gnade, die Kraft des künftigen Äons gehören. Da nun aber der
Sünder diesen Heiligen Geist nicht besitzt, ist es selbstverständ-
lich, daß er auch nicht schlechthin zur Kirche in dem angedeuteten
Vollsinn des Wortes « Kirche » gehört. Dieser Satz bedeutet keinen
Widerspruch zu den früher angeführten Sätzen aus dem Dogma
der Kirche, in denen der Sünder einfach zum Glied der Kirche er-
klärt wird. In jenen Sätzen ist «Kirche» eben doch im Sinne der
äußeren Gesellschaft genommen; denn nur unter dieser Voraus-
setzung kann das Fehlen der inneren Begnadung im Sünder für
seine Kirchengliedschaft belanglos sein.
Daß dieser Kirchenbegriff nicht im Widerspruch steht zu der
eben erwähnten Lehre Leos XIII. und Pius’ XII., ergibt sich aus
folgenden Gedankengängen: Die Kirche hat gewissermaßen sa-
kramentale Struktur. Im Sakrament ist aber zu unterscheiden
zwischen dem sakramentalen Zeichen als solchem (und den Be-
dingungen seiner «Gültigkeit») einerseits und dem sakramen-
talen Zeichen, insofern es tatsächlich die sakramentale Gnade be-
wirkt und von ihr erfüllt ist, anderseits. Beide Begriffe sind wohl
auseinanderzuhalten; denn es kann unter Umständen ein «gül-
tiges Sakrament» geben, das faktisch die Gnade im Sakraments-
empfänger nicht bewirkt. Die Kirche ist nun gewissermaßen das
Ursakrament; es muß daher bei ihr zwischen ihrer sichtbaren
Leiblichkeit, insofern diese das Zeichen der Gnade ist, und der
Leiblichkeit, insofern sie gnadenerfüllte Wirklichkeit ist, unter-
schieden werden und dementsprechend auch zwischen einer (bloß)
«gültigen» und einer «fruchtbaren » Zugehörigkeit zur Kirche,
507
Die erste Art der Zugehörigkeit zur Kirche hat der Sünder, die
zweite nicht. Durch diese Unterscheidung wird aber die blei-
bende Zugehörigkeit des Sünders zur Kirche nicht etwa zu einer
harmlosen Angelegenheit äußerer, kirchenrechtlicher Art herab-
‘gedrückt. Der Sünder gehört zwar noch zur Sichtbarkeit der
Kirche, aber seine sichtbare Zugehörigkeit zur Kirche hat auf-
gehört, das wirksame Zeichen für seine unsichtbare Zugehörigkeit
zur Kirche als geistbelebter, heiliger Gemeinschaft zu sein. Der
Sünder hat gewissermaßen dieses Zeichen zur Lüge gemacht (ähn-
lich wie wenn einer ein Sakrament gültig, aber unwürdig emp-
fängt); denn er hat diese bleibende Zugehörigkeit zur Kirche des
Sinnes und der Wirkung beraubt, auf die sie ihrer ganzen Natur
nach eindeutig hingeordnet ist: der inneren, lebendigen Verbun-
denheit der Menschen mit Gott und untereinander im Heiligen
Geist.
2. Damit kommen wir zur ausdrücklichen Feststellung dessen,
was diese Glaubenslehre erst in ihrer ganzen Schärfe ausspricht:
Die Kirche ist sündig. Man kann schon nach dem bisher Gesagten
glaubensmäßig nicht mehr behaupten, daß es zwar «in» der
Kirche als einer äußeren Konfessionsorganisation Sünder gebe,
diese Tatsache aber keine Aussage über die Kirche selbst sei. Denn
wir haben schon gesehen, daß diese Sünder wirklich nach der
Lehre der Kirche Glieder, Teile, also Stücke der Sichtbarkeit der
Kirche selbst sind. Das ist nun noch weiter zu verdeutlichen. Um
das klarer zu sehen, müssen wir zwei Dinge bedenken. Wenn wir
nur sagen würden: Freilich gibt es Sünder in der Kirche, aber diese
Tatsache hat mit der eigentlichen Kirche nichts zu tun, dann setzen
wir einen idealistischen Begriff der Kirche voraus, der theologisch
gesehen sehr fragwürdig ist. Kirche ist dann eine Idee, ein Ideal,
etwas Seinsollendes, etwas, an das von der konkreten Wirklichkeit
aus Berufung eingelegt werden kann, etwas das gleichsam nur
asymptotisch in Annäherung langsam erreicht werden soll. So
etwas kann man natürlich immer lieben, zu dem kann man sich
bekennen, das ist etwas Unantastbares, von der Erbärmlichkeit des
Alltags nie Berührtes. Aber das ist im theologischen Begriff der
Kirche nicht eigentlich gemeint. In diesem Begriff ist die Kirche
etwas Reales: es ist die einzige Kirche, die es gibt und an die ge-
508
_ glaubt wird, aufjeden Fall und immer auch die sichtbar und recht-
lich organisierte Summe der Getauften und im äußeren Bekennt-
nis des Glaubens sowie im Gehorsam unter dem römischen Papst
Geeinten. Und von dieser Kirche kann man eben nicht sagen, sie
habe mit den Sünden ihrer Glieder nichts zu tun. Selbstverständ-
lich billigt sie die Sünde nicht; selbstverständlich gibt es in ihr
immer auch Menschen (und vielleicht sogar viele), diein irgend-
einem wahren, hier nicht weiter zur Erörterung stehenden Sinn
als Heilige bezeichnet werden müssen Aber wenn sie etwas Reales
ist, dann ist sie, wenn ihre Glieder Sünder sind und als Sünder
Glieder bleiben, eben selbst sündig. Dann ist die Sünde ihrer Kin-
der Makel und Befleckung des heiligen, geheimnisvollen Leibes
Christi selbst. Die Kirche ist eine sündige Kirche — das ist eine
Glaubenswahrheit, nicht eine primitive Erfahrungstatsache. Und
das ist eine erschütternde Wahrheit.
Dazu ist ein zweites zu bedenken. Wenn das Gesagte wahr ist,
dann ist es auch selbstverständlich, daß die amtlichen Vertreter
der Kirche, jene Menschen, die ein oberflächliches theologisches
Bewußtsein auch der katholischen Laien gern ausschließlich als
«die» Kirche betrachtet (als ob die Laien nicht auch « Kirche »
wären, als ob sie nur betreutes Objekt der Kirche darstellten,
ein Irrtum, den die Kirchenenzyklika Pius’ XII. nachdrücklich
bekämpft), auch Sünder sein können und es tatsächlich auch
in sehr wahrnehmbarem Sinne gewesen sind und sind. Dann ist es
aber nochmals um so deutlicher, daß die konkrete Kirche (noch
einmal: nur als konkrete ist sie Kirche!) sündig ist. Denn es ist
selbstverständlich, daß sich solche Sünden nicht nur auf einem
Feld des « Privatlebens» solcher Kirchenmänner bewegen, son-
dern auch sehr wesentlich einfließen können in die konkrete Weise
ihres Handelns als amtliche Vertreter der Kirche. Wenn die
Kirche handelt, leitet, Entscheidungen fällt (oder nicht fällt, wo
sie getroffen werden sollten), wenn sie verkündet, und zwar jeweils
den Zeiten und geschichtlichen Lagen entsprechend verkünden
soll, dann geschieht dieses Handeln der Kirche nicht durch ein
abstraktes Prinzip und nicht durch den Heiligen Geist allein, son-
dern dieses ganze Handeln der Kirche ist zugleich Handeln von
konkreten Menschen. Und da diese eben sündigen können, da sie
509
%
310
2
steht; sie ist heilig, weilihre ganze Geschichte mit allihren Höhen
und Tiefen immer in der Kraft ihres Lebensgrundes, des Heiligen
Geistes, hindrängt auf jenen letzten der Tage, auf den alle ihre
Wahrheit, ihr Gesetz und ihre Sakramente angelegt sind, aufden '
Tag, da der heilige Gott selbst unverhüllt in seiner Welt erschei-
nen wird. Sie ist und bleibt unfehlbar, wenn sie unter den hier
nicht näher zu bestimmenden Voraussetzungen eine feierliche
Glaubensentscheidung trifft. Ihre Sakramente sind von der Wür-
digkeit ihrer Spender unabhängig, sind von objektiver Gültigkeit
und Wirksamkeit: heilig und heiligend. Sie ist (wie wenig ist die-
ses Wunder der Kraft und Gnade ihres Heiligen Geistes selbst-
verständlich; aber dieses Wunder geschieht durch alle Jahrhun-
derte immer neu!), sie ist nie der Versuchung erlegen, die Wahr-
heit und die Normen, die ihre sehr menschlichen Verkünder pre-
digen, an die Schwäche und Halbheit der Menschen anzupassen;
sie ist zu allen Zeiten in der sündigen Welt für die Heiligkeit Got-
tes und seines Christus eingestanden und, wenn wir begriffen
hätten, wie gern der Mensch seine Grundsätze nach seinen Taten
ausrichtet, dann würden wir den ewigen «Widerspruch» zwi-
schen der heiligen Verkündigung und dem menschlichen Leben
bei den Predigern des Evangeliums der Kirche nicht so sehr als
Ärgernis denn als Erweis der Wirksamkeit des Geistes Gottes in
einer heiligen Kirche erkennen. Die Kirche ist auch tatsächlich in
so vielen Gliedern von solcher selbst empirisch feststellbarer Hei-
ligkeit, daß sie auch in ihrer äußeren Erscheinung für den Men-
schen guten Willens, der von der Glaubensgnade erleuchtet wird,
ein beständiges Glaubensmotiv und ein unwiderlegliches Zeugnis
ihrer göttlichen Sendung an der Stirne trägt. Sie ist wahrhaftig in
allen Jahrhunderten in einer gar nicht selbstverständlichen, son-
dern wunderbaren Weise die ewig fruchtbare Mutter heiliger
Menschen, die heilige Kirche, die Braut Christi gewesen, deren
jetzige Erscheinung schon dem Glaubenden verheißt, daß sie ein-
mal die Braut sein wird, die ohne Makel und Runzel zur Hochzeit
des Lammes eingehen kann — dann, wenn einmal im Lichte des
ewigen Lebens offenbar werden wird, was sie unter der Gestalt
der Sünderin jetzt schon wirklich ist. Aber all das gibt der Kirche
und uns als Kindern der Kirche nicht das Recht, sie gleichsam
511
hochmütig und überlegen von der Sünde zu distanzieren, die nicht
bloß in der Welt, sondern auch in der Kirche ist, und durch die sie
‚selbst wirklich sündig ist, sündig (auch dort, wo sie viel besser ist
als die, die draußen sind) in einer Weise, in der eben nur sie sündig
sein kann; denn nur sie kann durch ihre Sünde die ewige Sicht-
barkeit Christi in der Welt, die sie ist, entstellen und Christus ver-
bergen — und das vor den Menschen, die ihn auf Tod und Leben
suchen müssen!
Wenn es also Heiligkeit und Sünde im « Erscheinungsbild » der
Kirche gibt (und Kirche ist wesentlich « Erscheinung», geschicht-
lich greifbar machendes Zeichen der Gnade Gottes in der Welt),
dann ist damit natürlich nicht gesagt, daß Sünde und Heiligkeit
in der Kirche das gleiche Verhältnis zum verborgenen Wesens-
grund der Kirche haben und so in gleicher Weise zur Kirche ge-
hören. Ihre geschichtlich greifbare Heiligkeit ist Ausdruck dessen,
was sie ist, was sie unzerstörbar und unverlierbar bis zum Ende
der Zeiten bleibt: Gegenwart Gottes und seiner Gnade in der Welt.
Die Kirche ist immer mehr als ein Verein, mehr als « Rechts-
kirche» und Konfessionsorganisation, weil sich mit ihr untrenn-
bar der Heilige Geist Gottes verbunden hat. Und dieser Geist
Gottes, in sich selbst verborgen, schafft sich immer wieder neu eine
die Welt überführende Sichtbarkeit seiner bleibenden Gegenwart
in der greifbaren Heiligkeit der Kirche. In dieser Heiligkeit - nicht
in der Sünde! - ist «phänotypisch » die innere Herrlichkeit gege-
ben, die das unverlierbare Erbe ausmacht, aus dem heraus sich ihre
Gestalt bildet. Nie kann - im Gegensatz zu allen anderen ge-
schichtlichen Gebilden mit Einschluß der «Kirche» des Alten
Testamentes - diese Leiblichkeit der Kirche so durch Schuld ent-
stellt werden, daß der belebende Geist aus ihr weichen oder in ihr
sich nicht mehr geschichtlich sichtbar darstellen könnte. Denn die
Macht des Todes wird sie nicht überwältigen (vgl. Mt 16,18). Die
Sünde an der Erscheinung der Kirche hingegen ist zwar wirklich an
der Kirche selbst, insofern sie wesentlich «Leib» und geschicht-
liche Gestalt ist und insofern in dieser Dimension Sünde sein kann ;
denn der existentielle Ursprungsort der Sünde, an dem sie selbst
ursprünglich west, das «Herz», liegt ja auch tiefer und verborge-
ner unter der Schicht des Geschichtlichen und Gesellschaftlichen,
512
in die freilich die Sünde sich immer und notwendig hineinvoll-
zieht und in der die Sünde zur Sünde der Kirche wird. Aber diese
Sünde in der Kirche ist nicht offenbarender Ausdruck dessen, was
‘ die Kirche in ihrer eigenen, lebendigen Wurzel ist, sondern ist des-
sen verhüllender Widerspruch, ist gewissermaßen exogene Krank-
heit ihrer Leiblichkeit, nicht endogener Erbschaden der Kirche
selbst (wenn die Sünde auch immer verrät, «was im Menschen
ist»). Denn die Schuld streng als solche ist immer ein Widerspruch
gegen Gott und seinen Christus, der ohne Sünde die Sünde aus-
gelitten und überwunden hat, ein Widerspruch gegen den Geist
Christi, durch den er seine Braut im Wort des Lebens durch die
Wassertaufe geheiligt hat. Die Schuld ist darum auch Wider-
spruch zu dem, was die Kirche ist. Man kann ja nicht sündigen,
damit Gottes Gnade überströmender und heller in Erscheinung
trete (vgl. Röm 3,5; 6,1), eine Wahrheit, die durch eine heute
auch unter Katholiken schleichend verbreitete Sündenmystik dia-
lektischer und gnostischer Art verdunkelt zu werden droht. Und
darum ist die Kirche nicht sündig, damit so Gottes Gnade sich
überströmender offenbaren könne; die Sünde bleibt Wirklichkeit
an ihr, die ihrem Wesen widerspricht; ihre Heiligkeit aber ist
Offenbarung ihres Wesensgrundes.
Freilich ist zu diesem Satz gleich noch ein Zweifaches hinzuzu-
fügen, damit die logische Scheidung der Begriffe (die auch Aus-
druck der wirklichen Verhältnisse ist) die dunkle und heilbrin-
gende Mischung der Wirklichkeit nicht aufzuheben scheine. Ein-
mal: in der konkreten Ordnung des Heiles, deren erstes und letztes
Achsenkreuz eben das Kreuz Christi ist, können auch das Leid der
einmal begangenen Schuld, ihre menschliche Ausweglosigkeit,
die Angst und Trostlosigkeit, die an ihr ist, das irdische Dunkel,
das uns die Schuld und das aus Schuld folgende Leid oft so ununter-
scheidbar ineinanderfließen läßt, zur Erscheinung und zum Mit-
vollzug des Kreuzes Christi in der Welt werden, kann in Christus
die offenbarende Folge der Sünde zu ihrer Überwindung werden.
Wenn die Kirche an der Sünde leidet, erleidet sie die Erlösung von
ihrer Schuld; denn sie leidet ihre Schuld in Christus, dem Ge-
kreuzigten, zumal da die Sünde, soweit sie nicht im verborgenen
«Herzen», sondern in der Welt und so in der Kirche ist, zwar
515
. Sünde ist (weil das «Herz» seine eigene Tat, wenn sie sein soll,
immer in die Welt hineinrealisieren muß), aber ebensosehr schon
Folge der Sünde ist (weil Leiblichkeit der eigentlichen und ver-
borgenen Bosheit des Herzens) und, als solche in die Kirche hinein-
vollzogen, der Kirche gerade die Möglichkeit gibt, sie auszuleiden
' und zu überwinden. Wenn wir darum der Sünde in der Kirche
begegnen, sollten wir dies nicht vergessen. Wir nehmen ja ge-
wöhnlich nicht Ärgernis an der Sünde der Kirche, sondern an den
Folgen dieser Sünden. Wir ärgern uns z.B. meist nicht am « hart-
herzigen Klerus», weil er liebeleer vor Gott ist, sondern weil er
uns nichts gibt oder weil sein «Versagen » unsern Stolz auf die hei-
lige Kirche, als deren Glieder wir vor den Heiden erscheinen, de-
mütigt und uns vor denen « blamiert», die draußen sind. Warum
lieben wir die Kirche nicht so, daß wir demütig und schweigend
die Schmach ihrer Sünde ausleiden? Das würde sie eher heilig
machen als unsere Proteste gegen die Skandale in der Kirche, so
‚angebracht und löblich sie auch oft sein mögen, und sowenig der
Protestierende von dem getadelt werden soll, der nicht zuvor auf
den Protest hin in sich gegangen ist, seine Schuld bekennt und
sich zu bessern bemüht. Zweitens: wenn die Sünde in der Kirche
«bloß» Widerspruch zu ihrem Geist, Verzerrung und Krankheit
an ihrem Erscheinungsbild ist, dann wird die Sünde dadurch nicht
harmlos. Denn die Kirche soll die Erscheinung der Gnade und
Heiligkeit Gottes in der Welt sein, soll Tempel des Heiligen Gei-
stes sein. Die Sünder in der Kirche aber machen diese Gestalt zum
Ausdruck der Bosheit ihres Herzens, zur « Räuberhöhle». Diese
furchtbare Wahrheit bleibt, sosehr man auch sagen muß, daß
Sünde und Heiligkeit an der Gestalt der Kirche nicht dasselbe Ver-
hältnis zu ihrer inwendigen «Wahrheit» haben.
514
scheint uns hier wichtiger zu sein, die Frage nämlich, wie wir
selbst, die Kinder und Glieder dieser Kirche, mit der Tatsache ihrer
Sündhaftigkeit fertig werden. Genauer gesagt: welches muß un-
' sere eigene Haltung sein, damit uns dieses ewige Ärgernis der
Kirche nicht zum Ärgernis, sondern zur Auferbauung unseres
eigenen Christseins und damit für unsern Teil auch zur Aufer-
bauung der Kirche beiträgt?
Zunächst einmal: diese Kirche in ihrer Konkretheit ist die
Kirche, die einzige Kirche, die Kirche Gottes und seines Christus,
die Heimat unserer Seelen, der Ort, an dem allein wir den leben-
digen Gott der Gnade und des ewigen Heils finden. Denn diese
Kirche ist mit Christus und dem Geiste Gottes eines — unver-
mischt, aber ungetrennt. Es gibt aus dieser Kirche keine Flucht,
die zum Heil sein könnte. Man kann in seine unverbindliche
Privatsphäre flüchten, man kann in eine Sekte oder etwas ähn-
liches fliehen. Man mag dort weniger von der Sünde, der Enge, dem
Skandal belastet und belästigt werden. Man kann dann ein groß-
artiges Alibi besitzen, daß man nichts mit «dieser» Kirche zu tun
habe; man ist vielleicht näher bei seinen Idealen, aber näher bei
Gottistman nicht. Man kann auch nicht gegen die konkrete Kirche
an ein anderes Ideal Berufung einlegen; denn es gibt nur jenes,
das sich ewig mit dieser Kirche vereinigt hat und ewig nur in ihr.
lebt, und aus dem man selbst herausgefallen ist, wenn man sich
zugunsten eines selbstgemachten Ideals von der Einheit dieser
Kirche, von ihrer Liebe, ihrem Glauben und ihrem Gehorsam
trennt. Man kann nicht sozusagen in einer generatio aequivoca die
Kirche neu gründen wollen; denn sie ist für alle Zeiten bis zum
Ende der Tage vom einzigen Herrn gegründet. Man kann kla-
gend, weinend, beschwörend und zornig, anklagend und eifernd
von ihr zu ihr fliehen, aber man kann nie mit Recht von ihr weg-
fliehen ;man kann sie nie verlassen, ohne im selben Maße auch das
zu verlieren, was man vorgibt, retten zu wollen.
Alle noch so hohe Geistigkeit, die die Magdgestalt und die Ge-
stalt der Sünderin an der Kirche nicht mehr erträgt - in Demut
und Liebe, mit der Langmut und Geduld Gottes -, entpuppt sich
über kurz als Schwarmgeisterei, als das Gespenst jener Geistigkeit,
in der der Mensch schließlich in sich selbst verfangen bleibt. Man
519
muß auch den Wahn aufgeben, in der Kirche bleibend «reinlich »
‚scheiden zu wollen zwischen dem «Göttlichen» und dem
«Menschlich-Allzumenschlichen » in der Kirche. Wo und soweit
die Kirche das selbst tut (und sie istda wirklich großzügig und ehr-
lich genug, wenn wir nur genau auf sie hören), dahaben wir wahr-
haftig das Recht, in Theologie; in kirchlicher Kunst, in Praxis und
Leben, in Andachtsweisen und Wegen zu Gott die Freiheit der
Kinder Gottes auch für uns in Anspruch zu nehmen, und niemand
soll, wie Pius XI. in bezug auf die theologischen Lehrmeinungen
sagte, von uns mehr verlangen, als was die eine Mutter aller, die
Kirche, von allen wirklich (und nicht nur vermeintlich) verlangt.
Je genauer wir diese Kirche, ihr Leben und ihre Lehre kennen, je
. offener und vorurteilsfreier wir aufihre Weisungen hören, um so
mehr werden wir merken, wie weit diese Kirche ist und wie sehr
sie uns von uns selbst befreit in die Weite Gottes hinein, selbst dort,
wo sie Grenzen zu ziehen und harte Worte zu sprechen scheint.
Wenn wir aber gegen diese Scheidung von Göttlichem und
Menschlichem, die sie selbst vornimmt, zu unterscheiden anfan-
gen — wo haben wir den verbürgten Maßstab für diese Scheidung?
Wo die Gewähr, daß wir nicht unserem eigenen engen Geschmack
verfallen, daß wir nicht (wenn auch nur in einem bestimmten
Bereich) den Heiligen Geist verwerfen, wo wir das Menschliche in
der Kirche zu beschneiden und zu reinigen suchen, wo wir glau-
ben, Mißbräuche und Fehlentwicklungen feststellen und besei-
tigen zu müssen ?
Trotzdem: auch bei dieser ersten und grundlegenden Haltung
wird der ehrliche Gläubige Sünden und Mängel, Ärgernis und
Versagen bei seiner Mutter sehen. Und wenn er wirklich ein
Christ ist und wenn sein Auge und Herz an der Unerbittlichkeit
des Evangeliums geschult sind, vielleicht mehr als bei anderen
Menschen — kann er die Sünden dann ableugnen, soll er sie ver-
tuschen oder verkleinern? Nein. Gewiß wird er als reifer Mensch
nicht zu jenen gehören, die triumphierend ihre Objektivität und
geistige Freiheit dadurch zu zeigen suchen, daß sie aus allen Win-
keln der Vergangenheit und Gegenwart die Skandale der Kirche
zusammenkehren und sie bei jeder Gelegenheit vor jedem aus-
breiten, der sie hören oder auch nicht hören will. Gewiß wird er
516
_ Verständnis dafür haben, daß die dunklen Seiten einer großen
Geschichte (und das ist die Kirchengeschichte schon rein mensch-
lich gesehen) nicht notwendig der Hauptinhalt einer ersten Ge-
‚schichtsfibel für Unreife sein müssen. Er wird nicht sagen, es sei
Geschichtsfälschung oder Geschichtsklitterung, wenn die Kirchen-
geschichte nicht zur chronique scandaleuse gemacht wird; denn
von allem anderen abgesehen: die Geschichte des Geistes Gottes
in der Kirche ist immer noch wichtiger und anziehender als die
Geschichte menschlicher Erbärmlichkeit. Aber es wird auch für
ihn ein sehr deutlicher dunkler Rest in der Geschichte der Kirche
bleiben, und dieses Dunkel wird uns nicht nur begegnen, wenn
wir die Geschichte der Kirche studieren, sondern wir werden auch
in unserem eigenen Leben mit ihm zu tun haben, gerade dann,
wenn wir mit der Kirche leben, und je mehr wir es tun. Wie dieser
dunkle Rest auf den einzelnen Menschen wirkt, das hängt natür-
lich zu einem guten Teil von seinem geistigen Temperament ab.
Aber es ist vielleicht nicht einmal gut, wenn wir zu leicht mit ihm
fertig werden.
Was aber, wenn wir die Sünde klar im Antlitz unserer heiligen
Mutter Kirche erblicken, wenn uns in den heiligen Hallen des
Hauses Gottes das Versagen, die Hohlheit, die Geschäftemacherei,
die Herrschsucht, das Geschwätz, die doppelte Buchführung, die
Engherzigkeit begegnen — was soll dann unsere Haltung sein? Wir
wollen diese Dinge sehen als Menschen, die zutiefst wissen und er-
fahren haben, daß sie selbst auch Sünder sind. Wenn wir fremde
Sünden sehen, vergessen wir so leicht, daß wir nur zu geneigt sind
zu beten: «Herr, ich danke dir, daß ich nicht bin wie einer von
diesen Sündern da, wie diese selbstgerechten Pharisäer im Hause
des Herrn », mit anderen Worten, daß wir auch in der Pose des de-
mütigen Zöllners — Pharisäer sein können. Wenn uns die Sünde in
der Kirche zunächst einmal unsere eigene Sünde ins Bewußtsein
ruft, wenn sie uns zu unserm eigenen Erschrecken wieder klar-
macht, daß ja — ob wir nun Priester oder Laien, mächtige oder
kleine Leute im Reiche Gottes sind — auch unsere Sünden Sünden
der Kirche sind, daß wir alle unsern Teil zur Armut und Not der
Kirche beitragen und daß das auch gilt, wenn diese unsere Sün-
den in keiner Skandalchronik der Kirche ihren Platz gefunden
517
t
518
ihr Mund immer noch das Wort des Herrn verkündet, getreu und
unerbittlich in der klaren Festigkeit'und Eindeutigkeit der Liebe,
daß sie in ihrem mütterlichen Schoße immer neu und immer wie-
der das Leben für ihre Kinder empfängt, daß ihr immer wieder
der Geist Gottes Menschen erweckt, die heilig sind — Kinder und
Weise, Propheten und verborgene Beter, Helden und Kreuzträger
-, daß in ihr immer bis zum Ende der Tage die Erlösung des Herrn
geschieht. Und wir werden immer wieder, wenn auch unter Trä-
nen — seien es nun Tränen der Reue oder Tränen der Freude —
beten können: Ich glaube an die heilige Kirche.
Die Schriftgelehrten und Pharisäer - es gibt solche ja nicht nur
in der Kirche, sondern überall und in allen Verkleidungen-werden
immer wieder «das Weib » vorden Herrn schleppen und siemitdem
geheimen Hochgefühl, daß «das Weib» -Gott sei Dank-doch auch
nicht besser istals sie selbst, anklagen:: « Herr, dieses Weib ist beim
Ehebruch auf frischer Tat ertappt worden. Was sagst du dazu?»
Und dieses Weib wird es nicht leugnen können. Nein, es ist ein
Ärgernis. Und es gibt nichts zu beschönigen. Sie denkt an ihre
Sünden, weil sie sie wirklich begangen hat, und sie vergißt dar-
über (wie könnte die demütige Magd anders?) die verborgene und
die offenbare Herrlichkeit ihrer Heiligkeit. Und so will sie nicht .
leugnen. Sie ist die arme Kirche der Sünder. Ihre Demut, ohne
die sie nicht heilig wäre, weiß nur von ihrer Schuld. Und sie steht
vor dem, dem sie angetrautist, vor dem, der sie geliebt und sich für
sie dahingegeben hat, um sie zu heiligen, vor dem, der ihre Sünde
besser kennt als alle ihre Ankläger. Er aber schweigt. Er schreibt
ihre Sünde in den Sand der Weltgeschichte, die bald ausgelöscht
sein wird und ihre Schuld mitihr. Er schweigt eine kleine Weile,
_ die uns Jahrtausende scheint. Und er verurteilt dieses Weib nur
durch das Schweigen seiner Liebe, die begnadet und freispricht.
In allen Jahrhunderten stehen neue Ankläger neben «diesem
Weib» und schleichen immer wieder davon, einer nach dem an-
dern, von den Ältesten angefangen; denn es fand sich nie einer,
der selbst ohne Sünde war. Und am Ende wird der Herr mit dem
Weib allein sein. Und dann wird er sich aufrichten und die Buh-
lerin, seine Braut anblicken und sie fragen: «Weib, wo sind sie,
die dich anklagten ?Hat keiner dich verurteilt?» Und sie wird ant-
519
worten in unsagbarer Reue und Demut: «Keiner, Herr.» Und
sie wird verwundert sein und fast bestürzt, daß keiner es getan hat.
Der Herr aber wird ihr entgegengehen und sagen: «So will auch
ich dich nicht verurteilen.» Er wird ihre Stirn küssen und spre-
chen: «Meine Braut, heilige Kirche. »
520
- SÜNDIGE KIRCHE NACH DEN DEKRETEN
DES ZWEITEN VATIKANISCHEN KONZILS
1 Daß Sünder noch in einem wahren Sinne Glieder der Kirche sind, ist sachlich
durch das Konzil von Konstanz (vgl. die Irrtümer Hus’ und Wyclifs, z.B. DS 1201,
1203, 1205, 1296 etc.) definiert. Bekannt ist die Geschichte dieses Dogmas: immer
wieder gab es im letzten «schwärmerische» Bewegungen, wie der Montanismus,
Donatismus, die verschiedenen häretischen Wanderprediger und Sektierer des XII.
Jahrhunderts, Katharer, Wiclif und Hus, die den Traum der ganz reinen Kirche
hatten, aus der jeder verbannt ist, der die Taufgnade verloren hat. Vgl.R.A.Knox,
Enthusiasm, Oxford 1950; deutsch: Christliches Schwärmertum, Köln 1957;
H.Grundmann, Ketzergeschichte des Mittelalters (Die Kirche in ihrer Geschichte,
II, G, 1) Göttingen 1963. Gegen solche Lehre zog das Konzil von Konstanz einen de-
der
finitiven Schlußstrich. Seit Konstanz wurde aber in der üblichen Lehre von
sogar in
Kirchengliedschaft diese konziliare Lehre unnuanciert tradiert (zum Teil
Glied
der reformatorischen Theologie): der Sünder mit schwerer Schuld ist einfach
der Kirche, vorausgesetzt, daß er den Glauben nicht verloren hat. Bei dieser Betrach-
tungsweise wird die Kirche lediglich gesehen unter der Rücksicht ihrer Sichtbarkeit,
aus die
Gesellschaftlichkeit und geschichtlichen Erscheinungsform und von da
(volle) Mitgliedschaft bestimmt; dazu wird gesagt, die (auch öffentliche) Sündigkeit
der
eines Gliedes tangiere die in der genannten Dimension konstitutiven Merkmale
und diese
Kirche nicht und verändere darum auch nicht die Struktur der Gliedschaft
des « Spiri-
selbst. Es ist beachtenswert, daß das neue Dekret (Nr.1#, bei Betonung
zu leugnen oder
tum Christi habentes») hier tiefer und deutlicher sieht, ohne darum
Wesen der
zu verdunkeln, was das Konzil von Konstanz definiert hat: zum vollen
des Einzelnen
Kirche gehört auch ihr Hl. Geist, die innere Gnade; sie muß als Gnade
adäquat beschrieben
darum auch genannt werden, wenn die volle Kirchengliedschaft
Sinn und in
werden muß; der Sünder ist also nicht einfach schlechthin im selben
beiden Glied-
derselben Fülle Glied der Kirche wie der Gerechtfertigte. Zwischen
und «gülti-
schaften obwaltet dasselbe Verhältnis wie zwischen « bloß gültigem»
ist wirklich Sakra-
gem und fruchtbarem » Sakrament. Auch das gültige Sakrament
« wiederaufleben »);
ment (sonst könnte es ja nicht unter bestimmten Bedingungen
was es sein sollte und sein will: die Erscheinung der tatsächlich
aber es ist nicht das,
zur Kirche (als Ursakra-
gespendeten Gnade. So ist die Zugehörigkeit des Sünders
anzeigt: die innere Gnade
ment) zwar gültig, aber sie gibt ihm faktisch nicht, was sie
Sinne Glied der Kirche.
der Kirche. Doch bleibt: der Sünder ist in einem wahren
521
absehen, wahrhaft und demütig (vgl. DS 1557) bekennen müssen:
« vergib uns unsere Schuld » (ebd. Mt 6,12, vgl. auch DS 229) —
das ist einfaches explizites Dogma der Kirche. Dann aber entsteht
die Frage, wie sich diese Tatsache verhalte zu einem anderen Fak-
tum, das ebenfalls Dogma ist: die Kirche ist die heilige Kirche.
Wie ist diese und jene Tatsache vereinbar, wenn die Heiligkeit
‚der Kirche, die das Credo bekennt, doch nicht reduziert werden
darf auf die unverletzliche Heiligkeit der objektiven Institutionen,
ihrer Lehre und ihrer Sakramente? Tatsächlich war diese Frage in
der alten Kirche und in der mittelalterlichen Theologie lebendig
und hatte dort eine bewegte Geschichte. Es ist ein weiter Weg von
der Aussage Pauli, daß die Kirche geheiligt sei «ohne Flecken
oder Runzeln» (Eph 5,27) bis zur ernüchterten Feststellung
Augustins im Kampf gegen den tugendstolzen Pelagius und Pela-
gianismus, der eine Unsündlichkeit des normalen Christen für
möglich hielt, das Wort Pauli gelte, genau genommen, nur von
der himmlischen Kirche der. Vollendung!. Dementsprechend
sprach man dann in der Väterzeit und im Mittelalter unbefangen
von der sündigen Kirche, von der Kirche als Sünderin, und zwar
nicht nur in dem Sinn, daß das Erbarmen Gottes eine sündige
Menschheit zur heiligen Kirche gemacht hat, also von der sün-
digen Kirche, insofern sie von ihrer Herkunft aus betrachtet wird,
sondern auch von der Kirche, insofern sie jetzt sündig ist, von
ihrer Sündigkeit als religiösem Zustand.
Die Offenbarung des NT weiß jedenfalls, daß die Verläßlichkeit
eines festen Glaubens noch nicht eine falsche Sicherheit bedeutet.
Es gibt keine Befestigung in der Gnade. Selbst Petrus verleugnet
den Herrn. «Es wäre unbegreiflich, wenn solche Worte und Er-
eignisse sich nur auf die Gründungsakte der Kirche bezögen, für
ihren einmal festgelegten Bestand keine Bedeutung mehr hätten.
1 Zur Deutung der Eph.-Briefstelle (5,27) durch die lateinischen Väter (escha-
tologische Deutung), die Tradition, die moderne evangelische und katholische
Exegese vgl. besonders H.Schlier, Der Brief an die Epheser, Düsseldorf 1957,
S.256ff., vor allem S.258 Anm.4 (Lit.). Zur Auslegung in der Vätertradition vgl.
E.v.Dobschütz, Das Decretum Gelasianum in kritischem Text herausgegeben und
untersucht (Texte und Untersuchungen 38,4) Leipzig/Berlin 1912, S.236£. Als
Ergänzung vgl.Hugo Rahner, Symbole der Kirche, die Ekklesiologie der Väter,
Salzburg 1964, S.394f. Zur frühmittelalterlichen Auslegung vgl. A.M. Landgraf,
Dogmengeschichte der Frühscholastik IV, 2 (Regensburg 1956) 48-99.
322
Das NT redet nicht anders von den Sicherungen, die der Kirche
Christi zuteil geworden sind, als daß sie hart daneben den dro-
henden Mißbrauch, den möglichen Abfall stellt. Nirgends ist die
Unbeflecktheit.der Braut eine fertige Tatsache, die die Braut nur
hinnehmen und um diesie sich nicht weiter zu sorgen hätte. 1» Die
Pastoralbriefe bezeugen bereits deutlich den Abfall und Rückfall.
Kein Sakrament, keine Geistsendung und auch keine Unterschei-
dung der Geister sichert endgültig das Heil, das aus dem Glauben
kommt (vgl. Hebr 6, 4f).
Das Problem der sündigen Kirche wird zwar nicht expressis
verbis im NT behandelt. Es gibt sündige Kirchenglieder (ob alle so
sind, wird nicht gesagt); fraglich kann bleiben, ob das Versagen
einer Gemeinde als gesamtkirchliche Sündigkeit angesehen wer-
den kann. Die Betonung liegt - vor allem bei Paulus und Johannes
— eher auf der Heiligkeit und idealen Gestalt der Kirche. Histo-
risch ist wohl zu bemerken, daß zwar eine gewisse Ratlosigkeit in
den neutestamentlichen Briefen über die trotz des Lebens in
Christus gebliebene Sündhaftigkeit erkennbar ist; doch die ganze
Wucht der Frage nach der «sündigen Kirche» als ganzer tritt
(auch begrifflich) faktisch erst später auf, wenn mit dem dritten
Jahrhundert durch den Beginn der Volkskirche das Problem un-
ausweichlich wird. Dennoch läßt schon die häufige Paränese er-
kennen, wie sehr noch Sündigkeit in der gesamten Kirche vor-
handen war; gewiß wird nirgends gesagt, die Kirche werde als
solche davon nicht betroffen. Auch die Aussagen des NT über die
Heiligkeit und Vollkommenheit der Kirche sind nicht so, daß für
Sündigkeit kein Raum mehr wäre. Alle Heiligkeitsaussagen haben
stark eschatologischen Charakter, die Stellen über das «heilige
Volk Gottes» (Apg 15,14; 18,10; Rm 9,25; 2Kor 6,16; Tit 2,14;
Hebr 4,9; 8,10; 10,30; 15,12; 1Petr 2,9f), den «heiligen Rest»,
1 Hans Urs v.Balthasar, Casta meretrix: Sponsa verbi. Skizzen zur Theologie II,
Einsiedeln 1961, 203-305, hier S.218. Zum AT vgl. ebd., S.208ff., zum NT S.215ff.
2 Die Frage bleibt offen, weil wir hier absehen müssen von der Lehre des Pau-
lus, in der die « Ortskirche» nicht bloß ein Verwaltungsbezirk der Kirche, sondern
— sogar unter einer gewissen Vorordnung — die konkrete Erscheinung der Kirche
schlechthin ist, so daß es für Paulus doch wohl kaum in Frage kommt, Prädikate
schlechthin der Kirche überhaupt abzusprechen, die er für die Ortskirche unbedenk-
lich gelten läßt.
525
das «neue Jerusalem», die «Braut des Lammes», den «Tempel
Gottes», die « königliche Priesterschaft» (Röm 9,6; Hebr 8,8;
Gal 4,26; 2Joh 1,13; Apk 12,1ff) usw. beschreiben die Kirche
gewissermaßen vom Ende und von der Vollendung her, von
«oben», ohne damit schon eine Aussage über Vorhandensein
oder Fehlen von Sünde in der faktisch bestehenden Kirche machen
zu wollen, was vielmehr Aufgabe einer Beschreibung von «un-
ten» wäre. Das geschieht teilweise bei Matthäus. Die Kirche ist
ständig von innen bedroht (Mt 24,10ff), durch Irrlehrer und
Lügenpropheten, durch den Versuch, ihre Sendung zu mißbrau-
chen, wie es Jesus in seiner Versuchung nicht erspart geblieben ist
(Mt 4,1ff): Mt 13,24; 13,56; 13,47: Gott gewährt auch dem
Bösen Raum in der Kirche, das Unkraut kann wachsen bis zur Zeit
der Ernte, im Fischnetz sind gute und schlechte Fische, was wohl
nicht nur das Verhältnis der Kirche zur «Welt», sondern auch
einen empirischen Zustand der Kirche selbst beschreiben will,
zumal Mt 16 und 18 ein Zuchtverfahren gegenüber sündigen
Gemeindegliedern kennt, in dem «Binden» und «Lösen» ein
bleibendes Verhältnis der Gemeinde zu ihrem sündigen Glied vor-
aussetzt, das zu denen, die draußen sind, so nicht besteht (vgl. 2Kor
2,5-11; 1Kor 5,1-13). Hier wie bei Matthäus wird die Wirk-
samkeit des Satans in der Gemeinde beschrieben und zugleich die
erst im Gericht, nicht aber jetzt schon lösbare Verfllochtenheit von
Sünde und Heiligkeit in der Kirche. — Bei Johannes und Paulus
treten in der Kirche ideale Züge deutlich hervor. Für die Sündig-
keit der Kirche kann man vielleicht folgendes anführen: Ganz all-
gemein ist jetzt noch die Zeit der Schwachheit, Unvollkommenheit
und Versuchung (1Kor 4, 11ff; 13,9 ff; 2Kor 4,7 ff). In 1Kor 5, 1-13
im Falle des Blutschänders in Korinth hat die Gemeinde als ganze
versagt, wie Paulus ausdrücklich feststellt, weil sie sich nicht von
dem Sünder distanziert hat. Streitereien, Spaltungen sind weitere
Verfehlungen, die Paulus in den Gemeinden kennt (1Kor 1,10ff).
Ob jedoch die Stelle 1Kor 5, 1-15 brauchbar ist für einen biblischen
Hintergrund in der Frage nach der sündigen Kirche, könnte des-
halb zunächst bezweifelt werden, weil das Korrektiv für die Ge-
meinde-Sünde doch wieder eine « kirchliche Instanz », der Apostel
nämlich, ist, der die bindende Satansübergabe des Sünders vor-
524
nimmt (1Kor 5,4f; vel. 1Tim 1,20), und so ist die Reinheit der
Heilsgemeinde wiederhergestellt. Aber eben dieser Akt des Apo-
stels setzt voraus, daß die Gemeinde als solche sich durch diese
Blutschande des einzelnen Gliedes betroffen wissen mußte, da
Paulus weiß, daß eine solche richtende Scheidung, wie er sie vor-
nimmt, gegenüber einem Heiden gar nicht nötig ist und die
Christen mit einem solchen unbefangen verkehren können, weil
dessen Verhalten die Gemeinde als solche nicht tangiert (1Kor
5,9-15). Im Falle des Blutschänders ist der Schlechte wirklich
religiös, nicht nur soziologisch in der Mitte der Gemeinde und
muß darum «herausgeschafft» werden. Seine Sünde affiziert die
Gemeinde als solche. Umgekehrt kann das Bild vom Leibe, das
hier wie in Eph, Kol, Röm, Gal gebracht wird, nicht, wie es oft
geschieht, für die Heiligkeit der Kirche angeführt werden; es
meint zuallererst die Einigkeit und Einheit der Kirche. Eph
4,15ff spricht vom Wachstum zum Pleroma Christi hin, die Voll-
kommenheit der Kirche wird hier also deutlich als eschatologischer
Zustand begriffen. Im Hebr ist unsere Frage nicht unmittelbar be-
antwortet: Zwar ist das Gottesvolk unterwegs auf der Wander-
schaft, im Zustand der Unfertigkeit bei allem Festhalten an der
ündoracıs; der charakteristische Fehler ist das «droornvaı» (Hebr
(Hebr
- 3,12). Doch zugleich ist das Volk, aus «u£roxoı Xgıorod»
3,14) bestehend, als Ganzes nicht mehr von der Verwerfung
betreffbar (Hebr 10,24f), wohl aber können die Einzelnen durch
in
die «Sünde» die Teilhabe am Gottesvolk verfehlen und damit
den Zustand des abgefallenen Gottesvolkes Israel und des Unge-
horsams zurückfallen. Die Sünde bedeutet also hier Ausschluß aus
im
der Heilsgemeinde. Wie weit durch solche Sünde, die sich
selbst
Bereich des wandernden Gottesvolkes selbst erhebt, dieses
reflektiert.
mitaffiziert wird, darauf wird nicht mehr ausdrücklich
(Apk 2-3) ist
_ In den sieben Sendschreiben an die Gemeinden
3,6. 13.22)
der Adressat jeweils die Gemeinde (2,7; 2,11.17.29;
ist also die Gemeinde selbst
als solche (samt ihrem Bischof). Hier
Gericht
unbefangen als sündig, der Bekehrung bedürftig und vom
bedroht gesehen.
des
Für die Kirchenväter haben die verschiedenen Szenen
von jeher viel Bedeut ung ge-
Evangeliums mit den Sünderinnen
525
habt im Blick auf die konkrete Wesensgestalt der Kirche. Die Hure
bei Lukas 7, die fragwürdige Samariterin mit ihren fünf oder
sechs Männern (Jo 4,17f), Maria Magdalena! und überhaupt Jesu
Verkehr mit Zöllnern und Sündern (vgl.Mk 2,15-16; Mt 9,11;
Mt 11,19 par.), die Ehebrecherin in Johannes 8 und andere
Worte (Mt 21,31f) und Gleichnisse Jesu (vgl.Lk 15, 11f) bleiben
für die Väter Symbole einer ernsten Einsicht in Sünde und Un-
heil inmitten der Kirche. Im Rückgriff auf den Eifer der alttesta-
mentlichen Propheten um die Reinheit des Gottesvolkes Israel
verstärkten sich Anklage und Schuldbewußtsein, aber auch das
Erstaunen über das Wunder der Vergebung und der Gnade ange-
sichts der Treulosigkeit und der Erwählung des neubundlichen
Gottesvolkes. Die Drohreden der Propheten gegen das gefallene
Jerusalem, Sodoma und Gomorrha, Tyros und Sidon, Ninive, die
Klagelieder und viele andere Fragmente aus Isaias, Jeremias, Eze-
chiel, Osee und auch aus dem Hohenlied werden Symbole für die
Macht und das Elend der Sünde in der Kirche. Rahab und ihr
Haus?, die Heirat Osees mit der Dirne als bildliche Darstellung
des Treuebruchs des Volkes gegen seinen Herrn ®, die erste Un-
treue Evas* und besonders die Jerusalem-Texte (Ez 16; 23;
Jer
4,29ff etc.), die besonders hart klingen, das Schicksal der Tha-
mar und andere Motive® werden von den Vätern und der mittel-
alterlichen Theologie zu Mahnzeichen für die Kirche, die mit
bitterer Eindringlichkeit immer dann verkündigt werden, wenn
der leidenschaftliche Eifer geisterweckter Propheten und ent-
schlossener Kirchenreformer gegen die übermächtigen
MiBß-
stände und Schäden der Kirche protestierend zur Buße aufrief”.
Zwar ist oft von der sündigen Herkunft der Kirche die Rede,
von
den Menschen der Kirche (also nicht so oft unmittelbar
von der
1 Ausführlich dazu U. Holzmeister, Die Magdale
nenfrage in der kirchlichen
Überlieferung: ZkTh 46 (1922) 402ff., 556ff. — Vgl.
auch v. Balthasar, 1.c, S.236548.
2 Vgl. dazu die vielen Texte bei H. U.v.Balthasar,
a.a.O. S.222-239; Jean Da-
nielou, « Sacramentum Futuri », Paris 1950, S.217-23
2.
® H.U.v.Balthasar, a.a.0. $8.239-951.
4 Ebd. S.251-257.
5 Ebd. S.257-280.
6 Ebd. S.280-289; zum Babylon-Motiv. S.289ff., zu Sulamith
$.297ff.
? Vgl. dazu Yves M.-J. Congar, Vraie et fausse reforme
dans l’eglise (Unam
Sanctam 20) Paris 1950, S.155ff., 170ff., 200ff.,
217£E., 220, besonders den dritten
Teil S.356f., S.539ff.
-
526
# Ä ’
528
dige Notwendigkeit einer Reinigung und Buße der Kirche be-
wahrt. Zeugnis davon geben heute noch z.B. die Orationen vom
1.Fastensonntag und vom 15.Sonntag nach Pfingsten!.
Kurz gesagt: von der Sache und der Geschichte des ekklesiolo-
gischen Dogmas her ist die Frage nach der Kirche der Sünder eine
reale Frage, die noch nicht gänzlich aufgearbeitet ist und auch in
einer normalen Ekklesiologie von heute noch nicht deutlich ge-
nug ihren gebührenden Platz gefunden hat. Und doch hätte diese
Frage ihre existentiell-religiöse Bedeutung für das Leben des
Einzelnen und der Kirche als solcher. Daß die Schuld des Einzel-
nen (der Hirten und der Herde) eine Bedeutung für die Kirche
hat, sie selbst affiziert, ist einerseits doch kaum ein Thema, das
in einer durchschnittlichen Lehre von der Sünde in Theologie
und Verkündigung vorkommt und doch nicht nur ein Thema der
ältesten Tradition von der Schrift an ist; denn ohne diese Lehre
von der Sünde und der Schuld des Einzelnen in ihrer Bedeutung
für die Kirche kann die ganze vielschichtige Bußgeschichte ein-
schließlich deren Wurzeln im AT und NT bis ins Spätmittelalter
nicht verstanden werden. Dieses Thema kann und muß im reli-
giösen Leben des Einzelnen und im « Erwachen der Kirche in den
Seelen » von wirklich weittragender Bedeutung werden. Und wie
soll das Bewußtsein von der «Ecclesia semper reformanda®» in
dessen wirklicher Schärfe und Tiefe (wo es sich eben um dauernde
Metanoia der Kirche und nicht nur um «zeitgemäße» Adapta-
tionen der Liturgie, des Rechtes, der Pastoral handelt) lebendig
sein, wenn man unwillkürlich nur aus dem Bewußtsein lebt, die
einzelnen Menschen in der Kirche wären ja evtl. unvollkommen
und sogar sündig, aber bei der Kirche sei dennoch immer alles
in Ordnung, weil sie selbst ja zweifellos «heilig» sei und kein
Schatten der Unzulänglichkeit ihrer Glieder auf sie selbst fallen
könne?
Das Thema hat auch eine große ökumenische Bedeutung. Die
529
protestantische Theologie erhebt ja immer wieder den Vorwurf,
daß die katholische Ekklesiologie zu sehr «von oben» ausgehe,
die Kirche bloß als objektive Institution, als « Heilsanstalt» sehe
und diese Kirche dann in einer luziferischen theologia gloriae ver-
herrliche, anstatt sie in einer theologia crucis als die Gemeinde
der Sünder, die dauernd neu von ihrer immer neuen Schuld zur
reinen, immer neu aktuell sich ereignenden Gnade Gottes flieht
und so nur und nur insoweit überhaupt wahrhaft Kirche ist, unter
das Kreuz zu stellen, damit sie da sich nicht ihrer Herrlichkeit
rühme, sondern ihre Schuld bekenne und darin allein «heilig»
sei. Natürlich implizierte eine katholische Antwort auf diesen
«Protest» gegen eine wahre oder vermeintliche katholische
Lehre von der Heiligkeit der Kirche, soll die Antwort adäquat
sein, die ganze katholische Lehre vom Verhältnis von Natur und
Gnade, vom Wesen der Gnade, vom Wesen der Rechtfertigung,
von Wahrheit und Falschheit des lutherischen Prinzips «simul
justus et peccator!», vom Verhältnis zwischen dem schon Gegen-
wärtigen und dem eschatologisch noch Ausständigen in der christ-
lichen Existenz und in der Kirche. Aber die Frage, wie weit wir
die pilgerschaftliche Existenz der sündigen ecclesia crucis beim
Bekenntnis der heiligen ecclesia gloriae? in der Lehre respek-
tieren und im kirchlichen Leben erst nehmen, ist doch eine ernste
Frage protestantischer Theologie an uns. Darum ist unser Thema
auch von eminenter ökumenischer Bedeutung.
II
550
doch nach einer einigermaßen gleichmäßigen und irgendwie ab-
gerundeten Darstellung des Wesens der Kirche, wie schon der
ganze Aufbau des Dekrets in der Folge seiner Kapitel zeigt und
wie es sich auch aus der pastoralen Zielsetzung des Dekrets er-
gibt, die nur bei einer gewissen Abrundung der Behandlung des
Themas erreicht werden kann. Von da aus ist es keine unbillige
oder von vornherein das Dekret überfordernde Frage, wenn wir
zu ermitteln versuchen, was das Dekret über «Die Kirche der
Sünder » sagt.
Hier ist zunächst nüchtern festzustellen, als Hinweis auf eine
Tatsache, nicht als Anklage, daß das Kirchendekret diese Frage
nicht in der ausdrücklichen Deutlichkeit, Intensität und Aus-
führlichkeit behandelt, wie man es vielleicht erwarten könnte.
Es ist aus diesem Thema kein thematischer Abschnitt geworden,
ja nicht einmal eine Reihe von gewichtigen Sätzen. Wir werden
im Folgenden zu zeigen versuchen, daß das Dekret sich aber über
dieses Thema dennoch nicht völlig ausschweigt, ja durchaus be-
achtliche Ansätze für eine Theologie der Sünde in der Kirche als
solcher bietet. Aber daß diese Frage sehr thematisch wird, daß sie
als «Anliegen» der Verfasser des Dekrets oder des Konzils sehr
deutlich wird, daß das, was gesagt wird, das ökumenische Ge-
wicht der Frage spürbar werden läßt, das kann man gewiß nicht
sagen. (Man könnte sogar sagen, daß der paränetische Duktus der
Texte, wenn man dieses Wort bilden darf, fast immer vom Guten
zum Besseren der Tugend geht, nicht von der Sünde und ihrer
Anerkenntnis zur immer neuen Ergreifung der vergebenden
Gnade, was doch auch bei Voraussetzung der inneren Rechtferti-
gung möglich wäre, da ja auch der Gerechtfertigte immer noch
ein Sünder bleibt, der der stets neuen Vergebung Gottes bedarf.)
Man darf diese Feststellung darum schon machen, weil im Konzil
‘von einigen Vätern tatsächlich über dieses Thema mehr ge-
wünscht worden war, ohne daß dieser Vorschlag genügend durch-
drang!. Diese Tatsache zeigt wohl, daß diese Feststellung nicht
1 Diese Stimmen der Väter bekunden sich nicht bloß in der allgemeinen Beto-
nung, die Kirche habe jeden «Triumphalismus» zu meiden. Väter wie z.B. Bischof
Stefan Läszlö (Eisenstadt, Österreich) u.a. haben die Behandlung des Themas auch
ausdrücklich gefordert und Textvorschläge gemacht. Vgl. die Rede Läszlös « Die
er:
nur aus ganz subjektiven Perspektiven heraus getroffen ist. Dieses
Faktum eines gewissen Mangels ist aber auch wieder verständ-
lich: das Dekret ist nicht von vornherein als gleichmäßiger und
systematisch vollständiger Abriß einer ganzen Ekklesiologie kon-
zipiert worden. Es ist in einer gewissen Zufälligkeit langsam ge-
wachsen durch Anreicherung des vorkonziliaren Schemas, das
doch von Anfang an nur bestimmte Einzelthemata behandeln
wollte, die man in der Römischen Theologie für aktuell hielt,
aus der vor allem das vorkonziliare Schema erwachsen ist. Dazu
kommt, daß man bei einer eingehenden Behandlung des Themas
nicht leicht um die Frage herumgekommen wäre, ob und in wel-
chem Sinne man nicht nur von einer Kirche der Sünder, d.h.
von einer solchen Kirche sprechen dürfe, in der es schwere Sün-
der gibt und in der (z.B. im Sinne Augustins) auch alle anderen
in gewisser Weise schon durch «läßliche Sünden » Sünder sind,
sondern ob man in der Tat auch von einer sündigen Kirche spre-
chen dürfe, ja müsse, d.h. ob man das explizit sagen dürfe und
müsse. Wie die faktische Lage in der heutigen Theologie und vor
allem in der theol. Kommission, in deren Mitte das Dekret aus-
gearbeitet wurde, ist bzw. war, konnte man nicht hoffen, daß
über diese Frage genügend leicht eine hinreichende große Majo-
rität erzielt werde. Dafür war doch bei vielen Vätern das Gespür
für die unmittelbar theologische und mittelbar auch ökumenische
und pastorale Bedeutung des Problems einfach nicht deutlich
genug entwickelt. Und in der traditionellen Ekklesiologie des letz-
ten Jahrhunderts war das Thema auch nicht so ausdrücklich ent-
faltet (über die Lehre von der Zugehörigkeit der Sünder zur
Sünde in der Kirche», in: Konzilsreden, hrsg. von Y.Congar-H. Küng-D.O’Hanlon,
Einsiedeln/Zürich/Köln 1964, S.35-38. Zum Teil erkennt man darin H.Küngs
Einfluß, der bereits in der Zeit der Konzilsvorbereitung auf diese Thematik auf-
merksam machte, vgl.z.B. Rechtfertigung. Die Lehre Karl Barths und eine katho-
lische Besinnung, Einsiedeln 1957, 240-242; Konzil und Wiedervereinigung. Er-
neuerung als Ruf in die Einheit, Wien/Freiburg/Basel 1962°, 22-52 (Lit.). Vgl.
außerdem zum Thema außer dem schon genannten Werk Congars (8.329, Anm.2
dieser Abhandlung) noch Ch.Journet, L’Eglise du Verbe incarne, 2 vol. -— Bruges
1941, 1951, vol.1, XIIIs; II, 395s., besonders 895-894; H. de Lubac, Katholizismus
als Gemeinschaft, Einsiedeln/Köln 1943, 61ff. Der Verfasser darf selbst auf einige
bescheidene Versuche aufmerksam machen, vgl. besonders Die Kirche der Sünder,
in: Stimmen der Zeit 140 (1947) 163-177, auch selbständig erschienen: Die
Kirche der Sünder, Freiburg i.B. 1948 und Wien 1948 u.a. (wieder aufgenommen
in diesen Band, vgl. vorhergehenden Beitrag).
552
Kirche hinaus), daß es der Mehrheit der theologischen Kommis-
sion oder den Konzilsvätern als ein selbstverständlich ausdrück-
lich zu behandelndes Thema hätte erscheinen müssen. Damit ist
die Tatsache der Zurückhaltung des Dekrets in dieser Frage
wohl genügend erklärt.
Immerhin: das Dekret geht der Frage nicht ganz aus dem Weg,
wenn auch nicht in einer zusammenhängenden Darstellung an
einem Ort. Schließlich sagt das Dekret so viel, daß es der künf-
tigen Theologie genügend «Wachstumsreiz» bietet. Die folgen-
den Ausführungen haben den Sinn, diese Möglichkeiten im
Dekret selbst zur Darstellung zu bringen.
III
554
Sünde und in die Gewalt des Teufels übergebe (vgl. DS 1668),
hört er noch nicht auf, der Gesellschaft der Kirche (Societas Eccle-
siae) «inkorporiert» zu sein. Natürlich läßt an sich das erwähnte
'«,corpore‘ quidem, sed non ‚corde‘ (in ecclesiae sinu) remanere »
für sich allein genommen noch viele Deutungen zu!. Der Sache
nach aber wird man bei allseitiger Würdigung des ganzen De-
kretes und der es unmittelbar tragenden theologischen Tradition
sagen müssen, daß es sich um eine echte Inkorporation handelt,
die eine positive heilshafte Bedeutung hat?. Man wird auch sagen
können, sie hat die heilspositive Bedeutung, wie sie einem gülti-
gen, aber unfruchtbar empfangenen Sakrament (vor allem der
Taufe) zukommt, das so nicht empfangen werden dürfte, das
aber dennoch « wiederaufleben » kann und dazu von sich aus eine
Verpflichtung und innere Dynamik mitbringt. Das ist ja schon
gegeben durch die Erklärung, auch beim Sünder (der im ganzen
Satz ja mitverstanden wird) sei das vinculum sacramentorum
(vgl. Nr. 14) gegeben. Das alles bedeutet aber dann auch umge-
kehrt, daß diese Sünder die «Qualität» (wenn wir einmal so
sagen dürfen) der Kirche selbst mitbestimmen. Sie gehören ja
immer noch — und unter dem Gesichtspunkt der Gesellschaftlich-
keit sogar «plene» — zum Corpus der Kirche (incorporantur) und
1 Bei Augustinus hat es ja oft fast die Bedeutung des bloßen Anscheins, des
Fiktiven: Spreu auf der Tenne der Kirche. Vgl. dazu die schon genannte Studie
von F.Hofmann, Der Kirchenbegriff des hl. Augustinus, München 1933; J. Ratzin-
ger, Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche, München 1954;
H.U.v.Balthasar, Augustinus. Das Antlitz der Kirche, Einsiedeln 1955°. Für das
frühscholastische Fortleben ähnlicher Formeln vgl. A.M.Landgraf (Anm.2) S.60
bis 63, 72, 84, 88, 99.
2 Das kann deswegen gesagt werden, weil diese «Inkorporation» ja doch noch
eine Verbindung mit Christus, wenigstens durch den compago visibilis, durch die
vincula professionis fidei, sacramentorum et ecclesiastici regiminis ac communionis
(Nr.14) bedeutet.
3 Natürlich kann dieser Satz die Frage hervorrufen, ob nicht denn auch der un-
gläubig gewordene Getaufte dieses vinculum sacramentorum noch besitze und we-
nigstens bei bloß «innerem», d.h. gesellschaftlich nicht manifest werdendem
Unglauben noch das vinculum professionis fidei (was etwas anderes ist als der Glaube
selbst) habe und so noch ebenso der Kirche inkorporiert sei wie ein bloßer Sünder.
Es scheint, daß man auf diese Frage mit einem Großteil der Theologen ruhig mit
Ja antworten kann, ohne von den in Nr.14 getroffenen Entscheidungen abzuwei-
chen, weil dieser Passus auf diese Frage nicht eingeht. Vgl.K.Rahner, Die Glied-
schaft in der Kirche nach der Lehre der Enzyklika Pius’ XII. «Mystici Corporis
Christi», in: Schriften zur Theologie II, Einsiedeln, Zürich, Köln 19647, 7-94,
bes. S.19£., S.14 Anm.3.
555
sind Glieder des in der katholischen Kirche verfaßten Volkes
Gottes. Die Kirche steht ihnen nicht nur als die unberührte
Heilsanstalt gegenüber, die bedauert, daß ihre Sorge nicht mehr
Erfolg hat, sondern muß diese Sünder als ein Stück von sich selbst,
als ihre Glieder betrachten !.
Tatsächlich weiß der Sache nach das Dekret, daß die Kirche
eine sündige Kirche ist und nicht nur in ihr (der heiligen Heils-
anstalt) sich Sünder (als Objekt ihrer Heilssorge) befinden. Das
Dekret vermeidet zwar den Ausdruck «sündige Kirche». Aber
es kommt die Sache, nämlich ein Betroffensein der Kirche selbst
durch die Sünden ihrer Glieder, zum Vorschein. Wie diese Be-
troffenheit theologisch genauer zu fassen sei, darüber enthält das
Dekret keine Aussagen, so daß wir gegen Schluß dieser Abhand-
lung darauf zurückkommen müssen. Aber daß eine solche Betrof-
fenheit nach dem Dekret vorliegt, darüber kann kein Zweifel
sein. Zunächst wird ausdrücklich gesagt, daß die Sünden der
Christen die Kirche « verwunden » (peccando vulnerare). Natür-
lich könnte man an sich sagen, die Verwundung der Kirche be-
stehe formell in (gesellschaftlich, öffentlich usf. gegebenen) Sün-
denfolgen, die in der Kirche gegeben seien, nicht aber darin, daß
in einem gewissen Sinne die Kirche selbst Subjekt dieser Sünde
ihrer Glieder sei, sie also nur durch Sünde geschädigt werde, da-
durch aber nicht sündig sei. Nun wird aber ausdrücklich gesagt,
daß die Kirche «semper purificanda » (Nr. 8) sei, daß sie « poeni-
tentiam et renovationem semper prosequitur» (Nr.8), daß sie
«seipsam renovare non desinat» (Nr.9), was doch gewiß eine
moralische Erneuerung wenigstens einschließt?2, da nach dem
Textzusammenhang dadurch die Kirche die treue und des Herrn
würdige Braut ist und bleibt. Subjekt solcher Erneuerung und
Reinigung ihrer selbst kann aber die Kirche nicht sein, wenn sie
556
nicht in einem gewissen Sinn! auch Subjekt von Sünde und
Schuld zuvor gewesen wäre bzw. ist. Es wäre hermeneutisch bare
Willkür, wollte man behaupten, « Kirche» bedeute hier plötzlich
nur die durchschnittliche Menge der einzelnen Gläubigen. Kirche
bedeutet, was das Wort auch sonst bedeutet: eben die Kirche.
Sie ist «in proprio sinu peccatores complectens» (Nr.8) und hat
darum nicht nur äußere, sondern auch innere «afflictiones et
difficultates» (Nr.8), sogar in gleicher Weise (pariter). Es wäre
wohl willkürlich, würde man gerade moralische Bedrängnisse und
Nöte ausschließen ?. Dem entspricht es, wenn Nr.65 gesagt wird,
daß die Kirche nur in Maria «ad perfectionem iam? pertingit,
quae est sine macula et ruga» (Nr. 65). Die augustinische Inter-
pretation von Eph 5,25-27 wird hier also in gewisser Weise mit-
vollzogen: die Kirche selbst hat (von Maria abgesehen) als pil-
gernde noch die «macula et ruga», die Gläubigen, die Christi-
fideles *, müssen noch « peccatum devincere » (Nr. 65), «incessanter
renovemur» (Nr.7, cfr.Eph 4,25). Von da aus kann man unbe-
fangen das Folgende von der Kirche selbst verstehen, wenn gesagt
wird: « Cum vero in multis offendimus omnes (cfr. Jac3,2), miseri-
cordiae Dei iugiter egemus atque orare quotidie debemus: ‚Et
dimitte nobis debita nostra‘ (Mt 6,12)» (Nr.40). Es ist ein wenig
857
bedauerlich, daß die Anmerkungen des Textes! nicht auch auf
das Konzil von Carthago von 418? und auf das Konzil von Trient®
verweisen. Denn diese Texte wären wirklich « klassische » Stellen
im Vergleich zu den faktisch zitierten Hinweisen. Immerhin: es
wird dazu auf Augustin (neben Pius XII.) aufmerksam gemacht;
dieses antipelagianische «Wir alle sind Sünder» bei Augustin
und in Carthago (im Rückgriff auf Paulus Röm 3,23; 5,18 u.a.)
war aber gerade der Grund, weswegen Augustinus die Kirche
selbst als sündig erklärte und ihr das «ohne Makel und Runzel»
erst für die Ewigkeit verhieß. Darf aber die Kirche selbst in be-
stimmtem Sinne als Subjekt der Schuld ihrer Glieder gesehen
werden, dann wird auch verständlich, wie sie als Subjekt der
«tentationes» aufgefaßt werden kann (Nr.9: «Per tentationes
vero... procedens ecclesia»), wobei die «tentationes» als Ver-
suchung zur Schuld, nicht als bloße «Schwierigkeit» und «An-
fechtung» verstanden werden müssen, weil sie sonst nicht von
den im gleichen Satz genannten «tribulationes» unterschieden
werden könnten. Von da aus hat es dann auch ein ekklesiologi-
sches Gewicht und ist nicht bloß eine auf das Individuum bezo-
gene, vielleicht sogar individualistisch verstandene Aussage, wenn
von den Laien in der Kirche gesagt wird, sie hätten die Aufgabe,
«regnum peccati in se devincere» (Nr.36), und wenn auch die
Bischöfe als solche betrachtet werden, die immer noch auch die
Aufgabe haben, «mores ad bonum commutare » (Nr.26). Gerade
für diesen Dienst am irrenden und nichtwissenden Bruder wird
angeführt, daß der Hirte, selbst aus den Menschen genommen,
mit Schwachheit umkleidet ist (vgl.Hebr 5,1f). Freilich wird
das Thema nicht mehr behandelt, wie nämlich die Führer der
Kirche nicht nur auch Sünder sein können, es im augustinischen
Sinne sogar auch alle sind (vgl. DS 229/230; 1575), und vor allem,
wie sich diese Sündigkeit unvermeidlich, wenn auch in gestufter
Weise, auf das Ganze ihrer Amtsführung auswirkt und wie von
da aus die Kirche beinahe notwendig auch in ihrer amtlichen
Dimension in einem ganz spezifischen Sinne « sündig» ist; auf
1 Vgl. Anm.3 zu Nr.40 von Kapitel V (Verweise auf Augustinus und auf «My-
stici corporis »).
2 Vgl. DS 229/230 (can.7 und 8).
3 Vgl. DS 1537 (Decretum de iustificatione, cap. 11).
538
diese Fragen geht das Dekret nicht mehr ein bzw. entfaltet sie
nicht weiter.
Weil es das Thema dieses "Aufsatzes eigentlich schon über-
' schreitet, sei nur kurz darauf hingewiesen, daß das Dekret immer
wieder auch die von Gott in seinem Geist durch Christus der
Kirche gegebene Kraft der Kirche hervorhebt, die Sünde in ihrem
eigenen Bereich immer wieder zu überwinden. Ihre Glieder
müssen und können gegen den Fürsten dieser Welt kämpfen
(Nr. 48), die Welt, die ja auch in der Kirche ist, umgestalten (vgl.
Nr.31; 35), die Sünde in sich besiegen (Nr.65). In der Kirche
besteht darüber hinaus das Ministerium reconciliationis (vgl.
Nr.28) und die dauernde Gegenwärtigsetzung und Anwendung
(applicare) des einen, versöhnenden Opfers des Kreuzes Christi
(vgl.Nr.3; 28).
In ungefähr derselben Weise findet sich die Lehre von der
Kirche der Sünder auch ausgesprochen oder vorausgesetzt in an-
deren Dekreten des 2. Vatikanum. Im Ökumenismusdekret (Nr.4
[AAS 57 (1965) 95]) wird zugegeben, daß das Angesicht der
Kirche den getrennten Brüdern und der Welt durch den Mangel
an christlichem Eifer « weniger » aufleuchte und so das Wachstum
des Reiches Gottes verzögert werde. Die Kirche müsse von Tag
zu Tag « gereinigt und erneuert» werden, bis sie endlich Christus
sich darstellen könne «herrlich und ohne Makel und Runzeln »
(l.c.). Die Kirche selbst wird also unbefangen als Subjekt der
Reinigung und Erneuerung angesprochen, wenn auch das, wovon
sie gereinigt werden muß, etwas zu vorsichtig und milde ange-
deutet wird (als Mangel von «fervor», aus dem die Pflicht des
Strebens nach der «perfectio christiana» sich ergibt). Insofern
aber Eph 5,27 in der Weise Augustins interpretiert wird, ist
doch auch angedeutet, daß der Mangel an «Eifer» und die Not-
wendigkeit, nach «Vollkommenheit» zu streben, in der Sünde
innerhalb der Kirche ihren Grund haben. Nr.6 ist von der «re-
novatio Ecclesiae» die Rede (1.c.96), von einer « perennis refor-
matio» (l.c.97), der die Kirche, qua humanum terrenumque
institutum, dauernd bedarf, wozu ausdrücklich eine Reformation
«in moribus» gerechnet wird. Das aber schließt als terminus a
quo gewiß die Sünde ein, von der also die Kirche in einer dauern-
539
den « Reformation» «gereinigt» werden muß. Das wird noch
deutlicher, wenn in diesem Dekret betont wird, daß diese Refor-
mation mit der «interior conversio!» zu einer «novitas mentis»
beginnen müsse (Nr. 7,1.c.97). Eine gewisse Änsstlichkeit macht
sich dann freilich geltend, wenn, wo von der Schuld gegen diese
Einheit explizit die Rede ist und von der Bitte um Vergebung,
«wir» (nicht mehr die Kirche!) das Subjekt der Schuld und der
Vergebungsbitte ist (Nr. 7, 1.c.97). Ähnlich ist auch Nr. 3 (l.c.95)
nur davon die Rede, daß die Trennungen von der katholischen
Kirche geschehen seien «non sine hominum utriusque partis
culpa». Auch auf katholischer Seite also ist Schuld, aber aus-
drücklich wird sie nur ihren «Menschen» angelastet, wodurch
natürlich eine Schuld der Kirche selbst nicht geleugnet wird, zu-
mal doch für diese Schuld zunächst einmal die Amtsträger der
Kirche in Frage kommen, die rechtlich im Namen der Kirche
handeln, so daß ihre Schuld doch sehr empirisch greifbar die
Kirche als solche affiziert.
IV
540
vom Dekret der irdischen Kirche gegeben. Dafür genügt aber
im Sinne des Dekrets offenbar auch nicht die «objektive » Heilig-
keit ihrer Institutionen und Lehren. Denn es wird immer wie-
der auf die «subjektive» Heiligkeit ihrer Glieder in diesem
Zusammenhang verwiesen. Das ganze Kapitel V ist dafür Zeuge.
Aber auch Kapitel IV und VI haben nur eine sinnvolle Funktion
innerhalb des Kirchendekretes, wenn die Notwendigkeit dieser
«subjektiven» Heiligkeit anerkannt wird. Die Kirche muß also
«subjektiv» gleichzeitig «heilig» und sündig sein. Aber wie und
in welchem Sinne dies möglich ist, darüber wird keine genauere
Reflexion angestellt. Es wird gesagt, daß die Kirche auf Erden
eine «vera sanctitas, licet imperfecta» (Nr.48) habe. Man
könnte von daher einfach denken, daß von ihrer Heiligkeit das
gilt, was von der Heiligkeit des einzelnen Gerechtfertigten gilt:
er ist wirklich durch die Rechtfertigungsgnade heilig, aber seine
Heiligkeit ist noch bedroht und muß ihre Fülle und Vollendung
erst noch finden ?. Diese Heiligkeit soll erst noch «aktualisiert»
werden, wie es ja Nr.40 ausdrücklich gesagt wird. Man könnte
dem hinzufügen, daß das Dekret überdies ausdrücklich voraus-
setzt, daß es solche Gerechtfertigten, sogar von großer Vollkom-
menheit, in der Kirche faktisch gibt, wie Kapitel V und VI voraus-
setzen und ausdrücklich sagen (vgl. z.B. Nr.42). Aber sind durch
die Feststellung, daß es in der Kirche sowohl Sünder wie Gerecht-
fertigte (eben vielleicht von großer Vollkommenheit) gibt, die
zwei Aussagen schon miteinander versöhnt? Diese Vereinbarkeit
käme noch deutlicher in ihrer Möglichkeit und Wirklichkeit zum
Vorschein, wenn man wenigstens noch einrechnete, daß die irdi-
sche Kirche mindestens in Maria schon ihre « perfectio» erreicht
hat, durch die sieschon « ohne Makelund Runzel» ist (vgl. Nr. 65).
Aber eine solche Zusammenschau der beiden Aussagen genügt
offenbar nicht. Es wäre — bei aller Richtigkeit — doch eine Aus-
fiucht gegenüber der besonderen Struktur unserer Frage. Die
Lösung wäre zu verfrüht. Denn die « indefectibilitas » der Heilig-
541
keit der Kirche (Nr.39) kommt der Heiligkeit des einzelnen Glie-
des (auch hinsichtlich der «ontologischen» und subjektiv noch
unvollkommenen Heiligkeit) nicht zu (vgl. DS 1541, 1544,
1575 etc.). Also ist diese «indefectibilitas» der Heiligkeit der
Kirche noch nicht verständlich gemacht. Schon der Begriff aber
bedeutet doch offenbar, daß das Verhältnis von Sünde und Hei-
ligkeit in der Kirche nicht das bloß äußerlich dialektische Ver-
hältnis des Nebeneinanderbestehens von Sünde und Heiligkeit ist
(verteilt auf verschiedene Glieder), sondern daß die Heiligkeit
der Kirche einen Vorrang vor ihrer Sündigkeit hat, so daß das
von Gott her letztlich entscheidende Prädikat der Kirche ihre
durch die eschatologische Tat Gottes gewirkte Heiligkeit und
nicht ihre Sündigkeit, die ihr gegebene, über die Sünde dauernd
obsiegende Heiligung durch Gott in Christus ist. Deswegen läßt
sich auch nicht das Verhältnis von Sünde und Heiligkeit, wie es
in einem katholischen Sinne beim einzelnen Gerechtfertigten
ausgesagt werden kann und wo auch von einem «simul iustus et
peccator » die Rede sein kann, auf das Verhältnis von Sünde und
Heiligkeit der Kirche einfach übertragen. Nirgends zeigt sich
deutlicher, daß das Wesen der Kirche eben nicht nur die Summe
ihrer Einzelglieder ist. Gerade hier aber liegt das entscheidende
Problem, denn aus diesem eigenen «Wesen» der Kirche darf
keine falsche «Hypostasierung» entstehen. Aber auf all diese
Bestimmungen reflektiert das Dekret ja nicht mehr. Man kann
nur noch auf Nr.48 hinweisen, wo wenigstens ein Ansatzpunkt
für die Lösung dieser genaueren Frage gegeben ist. Durch Chri-
stus, seine Inkarnation, durch Kreuz und Erhöhung ist die escha-
tologische Situation schon da. « Jam (ergo) fines saeculorum ad nos
pervenerunt (cf.1Kor 10,11) et renovatio mundi irrevocabiliter
est constituta atque in hoc saeculo reali quodam modo anticipatur:
1 Zum «simul iustus et peccator» vgl. die S.330 Anm.1 erwähnte Lit. Zu Luther
vgl, die kritische Arbeit von W.Joest, Paulus und das lutherische Simul Iustus et Pec-
cator, in: Kerygma und Dogma, 1(1955) S.269-320; für ein auch mögliches katho-
lisches Verständnis dieser Formel vgl.H.Küng, Rechtfertigung, Die Lehre Karl
Barths und eine katholische Besinnung, Einsiedeln 1957, S.231#f.; H. U.v. Balthasar,
Karl Barth, Darstellung und Deutung seiner Theologie, Köln 19622, S.378#f£. (Vgl.
auch die dort zitierte Literatur von R.Grosche, A.Kirchgäßner, H.Volk); vgl.
K.Rahner, Gerecht und Sünder zugleich, in: Geist und Leben, 36 a 963), S.434 bis
443 (vgl. auch in diesem Band, oben S. 261).
542
etenim Ecclesia iam in terris vera sanctitate licet imperfecta in-
signitur.» D.h. doch sachlich!: durch Christus und seinen Kreu-
zessieg ist nicht nur die Möglichkeit von Heil für die erlöste
Menschheit als ganze, also vor allem für die Kirche gegeben, son-
dern durch die tatsächlich siegreiche Gnade ist die Realisierung
dieser Möglichkeit gegeben und auch offenbar geworden; weil
durch den eschatologischen Sieg Christi verwirklicht und offenbar
geworden ist, daß wirksame (nicht nur hinreichende) Gnade Got-
tes und Christi nicht nur möglich, sondern tatsächlich gegeben
wird, und zwar bis zum Ende der Zeiten, ist durch diese in Christo
offenkundige Prädestination der wirksamen Gnade die Kirche als
ganze? von Gott im voraus zum tatsächlichen Verhalten ihrer
Glieder davor bewahrt, grundsätzlich und wesentlich aus der
Gnade und Verheißung Gottes herauszufallen. Darum ist die
Kirche (auch subjektiv) «indefectibiliter sancta». Deswegen ist
das Verhältnis der Kirche als ganzer zu Gerechtigkeit und Sünde
nicht die Beziehung einer neutralen Freiheit zu zwei, gleichsam
«objektiv» (von ihr aus gesehen) gleichrangigen Möglichkeiten.
Sie ist als ganze, vom Menschen her gesehen, die zu jeder Heilstat
und Gerechtigkeit aus eigener Kraft völlig unfähige (vgl. DS
1541 ff usw.), also auch in diesem Sinne sündige, und sie ist durch
Gottes zuvorkommende, wirksame Gnade, die absolut prädesti-
niert ist, die in wahre Heiligkeit eingesetzte, wenn diese von
Gott verfügte Heiligkeit auch auf Erden noch wachsen muß.
Weil diese Verfügung des wirksame Gnade prädestinierenden
Gottes für die Kirche als ganze die Freiheit der Menschen, ohne
sie aufzuheben oder zu verletzen, schon überholt hat und dies im
544
in der endgültigen Bezeugung ihres Glaubens und in den Sakra-
menten!.
Da dies immer letztlich und für jeden einzelnen Fall, vom Men-
schen unverfügbar, das Werk der wirksamen, ungeschuldeten
Gnade ist, ist für das katholische Kirchenverständnis durchaus
jenes «aktualistische» Moment im Sein und Tun der Kirche ge-
geben, das die protestantische Theologie fälschlicherweise in der
katholischen Ekklesiologie vermißt: Auch das « Objektivste» und
« Institutionellste » in der Kirche wird nur vellzogen und ’allseitig
richtig vollzogen unter der Gnade Gottes. Und wenn die Kirche
die auch «subjektiv» und nicht nur institutionell heilige Kirche
ist, und zwar in einer wahrhaft jetzt schon gegebenen Realität,
nicht bloß im forensischen Zuspruch und nicht nur in eschatolo-
gischer Hoffnung des bloß Ausständigen, dann gibt Gott der
Kirche diese Heiligkeit, indem er ihr und ihren Gliedern die
Möglichkeit und Wirklichkeit schenkt, dauernd von ihrer Sündig-
keit zu dem Erbarmen Gottes zu fliehen, das allein heilig macht.
1 Das Amt und seine Funktionen in der Kirche in Lehre, Kult, Sakrament, Lei-
tung und Kirchenzucht muß noch nicht ohne weiteres, in allen Fällen-und unter
allen Voraussetzungen dieselbe Qualität eschatologischer Indefektibilität besitzen,
die wir der Kirche als ganzer zuerkennen müssen. Zum Sinn dieser Fragen, ihrer
Beantwortung und ihren Folgen vgl.K.Rahner, Kirche und Parusie Christi, in:
Catholica, 17 (1963), 113-128, besonders Abschnitt III, S.122-126. Die Ausführun-
gen dieses Aufsatzes liegen auch sonst dem hier unternommenen Versuch zugrunde
bzw. ergänzen ihn und schließen Mißverständnisse aus. Vgl. auch den Aufsatz in
diesem Band $. 348.
545
Das folgende Literaturverzeichnis bringt nur eine Auswahl der in dem
vorliegenden Versuch herangezogenen Sekundärliteratur. Das Verzeiclı-
nis erhebt damit natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
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logie II, Einsiedeln 1961, S. 205-305.
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Congar, Y.M.-J. Vraie et fausse reforme dans l’eglise (Unam Sanc-
tam 20), Paris 1950.
Comment l’eglise sainte doit se renouveler sans
cesse?, in: Sainte Eglise (Unam Sanctam 41), Paris
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Dobschütz, E., v. Das Decretum Gelasianum in kritischem Text her-
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suchungen, 58,4) Leipzig/Berlin 1912, S.236f. (Pa-
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Grundmann, H. Ketzergeschichte des Mittelalters (Die Kirche in
ihrer Geschichte, Band II, Lieferung G, Teil TI)
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Holzmeister, U. Die Magdalenenfrage in der kirchlichen Überliefe-
rung, in: ZKTh 46 (1922) S. 402-422, 556-584.
Hofmann, F, Der Kirchenbegriff des Hl. Augustinus in seinen
Grundlagen und in seiner Entwicklung, München
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Knox, R.A. Christliches Schwärmertum, Köln 1957.
Küng, H. Rechtfertigung, Die Lehre Karl Barths und eine
katholische Besinnung, Einsiedeln 1957, S. 231 ff.
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M.Roesle-O.Cullmann, Begegnung der Christen
(Festschrift für Otto Karrer) Frankfurt a.M. 1960,
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Landgraf, A.M. Dogmengeschichte der Frühscholastik IV /2 (Regens-
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Läszlö, St. Die Sünde in der Kirche, in: Konzilsreden, hrsg.
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346
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Rahner, Hugo Die Kirche, Gottes Kraft in menschlicher Schwäche,
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Salzburg 1964, S.394£. (Eph. 5,27 u.ö.).
Rahner, Karl Kirche der Sünder, in: Stimmen der Zeit, 140 (1947)
S. 163-177; selbständig erschienen Wien 1948 und
Freiburg 1948, vgl. diesen Band S. 501.
Die Gliedschaft in der Kirche nach der Lehre der
Enzyklika Pius’ XII. «Mystiei Corporis Christi», in:
Schriften zur Theologie II, Einsiedeln, Zürich, Köln
1964?, S. 7-94.
Vergessene Wahrheiten über das Bußsakrament, in:
Ebd., S. 143-183.
Die Kirche der Heiligen, in: Schriften zur Theo-
logie III, Einsiedeln, Zürich, Köln 1964, S.111-126.
Kirche und Parusie Christi, in: Catholica 17 (1965)
S. 113-128, vgl. diesen Band S. 348.
Gerecht und Sünder zugleich, in: Geist und Leben
36 (1963) S. 4534-443, vgl. diesen Band S. 262.
Ratzinger, ]J. Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der
Kirche, München 1954.
Riedlinger, H. Die Makellosigkeit der Kirche in den lateinischen
Hohelied-Kommentaren des Mittelalters (BGPhMA
38,3) Münster 1958.
Schlier, H. Der Brief an die Epheser, Düsseldorf 1957, S. 256 Fk.
Seybold, M, Sozialtheologische Aspekte der Sünde bei Augusti-
nus (Studien zur Geschichte der kath.Moraltheolo-
gie XI) Regensburg 1964 (Lit.).
Teichtweier, G. Die Sündenlehre des Origenes (Studien zur Ge-
schichte der katholischen Moraltheologie VII) Re-
gensburg 1958.
547
KIRCHE UND PARUSIE CHRISTI
1 Wenn einerseits bedacht wird, was an einer Wiederkunft Christi «an sich »
objektiv sein kann, was in den biblischen und traditionellen Aussagen daran bild-
hafte Vorstellung sein muß (vgl. dazu K.Rahner, Theologische Prinzipien der Her-
meneutik eschatologischer Aussagen: Schriften zur Theologie IV, 401-428), wenn
andererseits nicht übersehen wird, daß das «Ankommen» der Menschen bei dem
verklärten Christus durch ihre eigene (persönliche und kollektive) Vollendung die
Tat Gottes in Christus selbst ist, dann kann dieser Satz kein Bedenken erregen. Er ist
aber wichtig, weil die Wiederkunft Christi gerade nicht ein erneutes Einrücken
Christi in unsere jetzige Raumzeitlichkeit sein kann, soll sie nicht mythologisch
aufgefaßt werden, sondern deren Aufhebung in der Verklärung. Eben dieses aber
will dieser Satz sagen. \
548
\
Gottes, Verdammnis, Neuer Himmel und Neue Erde als Aspekte
der kosmischen Endvollendung) praktisch identifizieren, setzen wir
auch voraus, daß das wirklich christliche Grundverständnis der
Heilsgeschichte an ihr eine echte Zeitlichkeit kennt, eine wirk-
liche Einbezogenheit des ganzen Menschen (mit Leib, Seele und
Welt) indas Heilund einedialektische Einheit und Verschiedenheit
im Menschen als individueller Person und als Glied der mensch-
lichen Gemeinschaft. Daraus ergibt sich aber, daß die Letzten
Dinge, als in Wahrheit noch ausständige, in einer echten, auch
«weltlichen» Zeitlichkeit als noch in der Zukunft liegende ge-
meint sind. Es wird also nach dem Verhältnis der Kirche zu der so —
550
letzte der Fall, dann wäre die Kirche als solche nicht primär die
Gemeinschaft der pilgernd Glaubenden und Hoffenden, sondern
nur statisches, immer gleich bleibendes Heilsinstrument, das,
selbst ohne Geschichte, nur auf die Einzelnen und ihr Heil ange-
wendet würde. Zwar hat die Kirche, weil sie ein wahres Wesen
hat, das nicht durch die Geschichte, sondern durch deren Ab-
schaffung aufgehoben wird, und weil sie das erfüllte Sakrament des
endgültigen Heiles ist, die Präsenz des exhibitiven Wortes Gottes
der Gnade und des Heiles in gleicher Weise und in gegenseitigem
Bedingungsverhältnis hört und dieses Wort selber ist, ein in der
Geschichte Bleibendes; aber eben dieses Bleibende und Unzer-
störbare hat sie in einer wirklichen, echten, geschichtlichen Ge-
stalt, die sich verändert, die stets neu gesucht, in ihrer historischen
Unableitbarkeit und Kontingenz ertragen werden muß, und deren
Wandel zwar immer auch Aufgabe und Ergebnis des Tuns der
Menschen ist, die dem Worte Gottes gehorsam sind, trotzdem aber
nicht adäquat vorausberechenbar ist. Die Kirche lebt also, richtig
verstanden, immer von der Proklamation ihrer eigenen Vorläufig-
keit und ihrer geschichtlich fortschreitenden Aufhebung in dem
kommenden Reich Gottes, dem sie entgegenpilgert, um es zueer-
reichen, weil Gott ihr in der Parusie Christi als seiner eigenen Tat
entgegenkommt und auch ihr eigenes Pilgern in der Kraft dieses
Kommens Christi geschieht. Das Wesen der Kirche ist die Pilger-
schaft auf die ausständige Zukunft hin.
II. Die Kirche hat aber zur Vollendung der geschaffenen Wirk-
lichkeit und Geschichte und also zur Parusie Christi ein besonderes
und von dem anderer kreatürlicher Wirklichkeiten verschiedenes
Verhältnis, weilsie selbst eine eschatologische Wirklichkeitist, d.h.
in ihr die vollendete Zukunft, unbeschadet ihrer Ausständigkeit,
schon eine wirkliche Gegenwart besitzt, sie also gewissermaßen
im Ziel auf das Ziel hin pilgert und um diese ihre eigentümliche,
eben eschatologische Situation glaubend so weiß, daß dieses Mo-
ment auch zu jenem Glauben gehört, der sie selber konstituiert.
1. Die Kirche ist zunächst einmal in dem Sinne selber eschato-
logische Größe, daß sie die Kirche der mit dem Heiligen Geist
Christi Begnadeten ist und diese Begnadigung ihrer Glieder zu
ihrem eigenen Wesen gehört. Unbeschadet nämlich der Heils-
551
ungewißheit! des Einzelnen und seiner Heilsgefährdetheit und
unbeschadet der katholischen Lehre, daß auch die Sünder zur
Kirche gehören, darf die Kirche nicht als eine bloß äußere Reli-
gionsorganisation aufgefaßt werden. Sie ist der Leib Christi gerade
auch insofern, als ihre Glieder mit dem Geiste Christi begnadet
sind, und dieser Geistbesitz gehört zu den wesentlichsten konsti-
tutiven Elementen der Kirche selbst. Das Verständnis also des
- Wesens der Kirche hängt wesentlich vom Verständnis dessen ab,
was wir Rechtfertigung, Heiligung, Salbung und Versiegelung
mit dem Heiligen Geist, Teilnahme an der göttlichen Natur, Ein-
wohnen des dreifaltigen Gottes, Neuschöpfung der Kreatur nen-
nen. Es ist selbstverständlich, daß in diesem Zusammenhang nun
nicht die ganze katholische Lehre von der übernatürlichen, ver-
göttlichenden und rechtfertigenden (Vergebung spendenden) Be-
gnadigung des Menschen in Jesus Christus durch Glaube, Hoff-
nung und Liebe und durch die Taufe vorgetragen werden oder
darüber hinaus noch diese Lehre kontroverstheologisch verdeut-
licht werden kann, obwohl selbstverständlich von daher allein ein
adäquates Verständnis des Wesens der Kirche im katholischen
Sinn und ihres Verhältnisses zur Parusie gewonnen werden
könnte. Hier soll nur einiges wenigstens darüber gesagt werden,
daß von der katholischen Rechtfertigungslehre her die Kirche
selbst als eine eschatologische Größe erscheint. Die heiligende
Rechtfertigung ist als übernatürliche Selbstmitteilung Gottes an
den Menschen, die im Ereignis der Rechtfertigung schon wahrhaft
geschieht und nicht bloß als zukünftige und noch gänzlich aus-
stehende Gabe verheißen wird, selbst schon in Wahrheit und
Wirklichkeit die Gabe des ewigen Lebens, eben dasjenige, worin
das ewige Leben als Vollendung des Menschen und seiner Ge-
schichte bestehen wird: Gott selbst, der sich jetzt schon dem Men-
schen in seiner Gnade zu eigen gegeben hat, da diese im letzten
nichts anderes ist als der sich selbst mitteilende und sich zum Prin-
1 Es ist hier nicht der Ort, diese Lehre von der Heilsungewißheit des Einzelnen
genauer darzulegen (vgl. DS 1541 1566) und sie « dialektisch» zu vereinen mit der
«firmissima spes», die auch der einzelne Christ haben darf und haben muß. Worauf
es hier ankommt, ist nur die Erkenntnis, daß in dieser Hinsicht die Situation des
Einzelnen und die Situation der Kirche als ganzer (die Situation aller Christen distri-
butiv verstanden und aller Christen kollektiv verstanden) nicht dieselbe ist.
552
zip und Gegenstand des Lebens der geistigen Kreatur machende
Gott. Zwar verwirft das Christentum die Lehre, daß das Leben
Gottes selbst von vornherein die eigentliche Wesenstiefe des Men-
schen sei, so daß er nur zu sich selbst kommen müßte, um bei Gott
zu sein, aber das Christentum, mindestens in seinem katholischen
Selbstverständnis, lehrt eindeutig, daß Gott sich selbst mit seiner
eigenen, unendlichen Herrlichkeit schon jetzt dem Glaubenden
und Liebenden zu eigen gibt und kraft seines allgemeinen Heils-
willens auch gegenüber allen Sündern dieses sein eigenes Leben
als Grund und Gegenstand des kreatürlichen Lebens jedem Men-
schen allezeit anbietet, wenn auch aus reiner Gnade und Liebe,
so daß der faktische Mensch in der Geschichte seines Wesensvoll-
zugs unweigerlich dem Gott des ewigen Lebens in Christo Jesu
begegnet, wenn er sich nicht dem eigenen Wesen und seiner kon-
kreten Geschichte in freier Schuld versagt. Und insofern rechtfer-
tigende Gnade im katholischen Verständnis nicht nur irgendeine
Vergebung der Schuld oder Gerechtmachung oder Ausrüstung zu
einem positiv sittlichen Tun, das Gott gefällt, ist, sondern im letz-
ten Verstand der sich selbst mitteilende Gott in seiner ganzen, un-
aussprechlichen Herrlichkeit und Lebensfülle, ist diese Gnade
grundsätzlich unüberbietbare und also endgültige und in diesem
Sinne eschatologische Verfassung des Menschen. Sie ist im letzten
und
kein bloß kreatürlicher Zustand des Menschen, von dem aus
mittels dessen er eine noch völlig ausstehende zukünftige Ver-
faßtheit sucht, die er rein gedanklich vielleicht schon vorsehen und
anstreben würde als das noch nicht Seiende. Sie ist die Angekom-
ge-
menheit seiner endgültigen Zukunft, die gerade als schon
ein-
schenkte seine Geschichte trägt, in der er diese seine Zukunft
katholischen Lehre des all-
holt und annimmt. Sosehr wir von der
gegenüber sagen
gemeinen Heilswillens Gottes her allen Sündern
die
müssen, daß diese Bewegung im Ziel auf das Ziel hin durch
Men-
Gnade als allen Menschen angebotene grundsätzlich allen
und die
schen wenigstens möglich ist, so ist das Glaubenswissen
aller Menschen selber
Annahme dieser eschatologischen Situation
! und
noch einmal von derselben Gnade ermöglicht und getragen
und Liebe selbst nicht nur Ge-
1 Insofern die Annahme der Gnade in Glaube
Gnadenangebot Gottes ist, sondern Ge-
schichte der menschlichen Reaktion auf das
555
gehört insofern selbst zur eschatologischen Situation der Menschen
und macht zusammen 'mit dem Angebot der Selbstmitteilung
Gottes an alle Menschen jene eschatologische Wirklichkeit aus, in
der die Rechtfertigung des ausdrücklich glaubenden Christen und
damit auch die innere Wirklichkeit der Kirche selbst besteht. Diese
eschatologische, endgültige und wesenhaft unüberbietbare und
im christlichen Glauben ausdrücklich ergriffene und proklamierte
Begnadigung des Menschen durch die Selbstmitteilung Gottes an
den Menschen ist natürlich in einem als übernatürlich vergött-
lichende und den Sünder vergebend rechtfertigende zu verstehen
und macht in dieser Einheit die eschatologische Gabe aus, durch
die die Kirche das ist, was sie ist.
2. Dieses eschatologische, unüberbietbare und unwiderrufliche
Selbstangebot des dreifaltigen Gottes an die Menschheit ist nicht
nur als Mitteilung Gottes selbst grundsätzlich unüberbietbar und
nicht nur durch die ewig gültig bleibende Inkarnation des Wor-
tes Gottes und durch die Auferstehung des Sohnes unwiderruflich,
so daß auch das Gericht gerade auf Grund des reuelosen Heilswil-
lens geschieht, dieses Selbstangebot ist auch insofern eschatolo-
gisch und insofern damit das Wesen der Kirche konstituierend, als
dieses Selbstangebot durch seine eigene Kraft (durch die prädefi-
nierende Macht der Gnade) ihm tatsächliche Annahme von seiten
der Menschheit erwirkt und von sich aus diese Annahme als end-
gültige, als Sieg der Liebe Gottes unaufhebbar sichert. Die sieg-
reiche, nicht nur die angebotene, sondern die in Glaube, Hoffnung
und Liebe durch die Kraft der Gnade angenommene Selbstmittei-
lung Gottes gehört als solche eschatologische, siegreiche selbst zum
Inhalt jenes Glaubens, durch den die Kirche selbst konstituiert
wird, den Sieg Gottes über die Sünde der Welt preisend bekennt
und dadurch diesem Sieg auch schon jetzt eine geschichtliche, ge-
wissermaßen sakramentale Präsenz und Greifbarkeit in der Welt
schichte der Gnade als solcher, ist auch von daher schon klar, daß die Rede von der
eschatologischen Bewegung der Geschichte auf das Ziel im Ziel selbst mit einer
wahren Ausständigkeit, mit einem wahren «Noch-nicht» durchaus vereinbar ist.
Aber auch umgekehrt: die Ausständigkeit der Zukunft hebt ihre wahre Gegenwart
nicht auf. Denn die Lehre von der Gnade (mindestens im katholischen Verständnis)
besagt nun einmal, daß Gott in seiner Selbstmitteilung das „ni der Bewegung auf
das Ziel ist, das er selbst ist.
554
verleiht. Die Kirche ist somit konstituiert als die Gemeinde der
Glaubenden und Bekennenden, daß Gottes Gnade als verge-
bende, Gott selbst mitteilende Liebe in der Welt tatsächlich siegt.
und dieser Sieg in der freien Annahme dieser Liebe von seiten der
Menschen nochmals das Werk dieser gnadenhaften Selbstmittei-
lung Gottes ist. Insofern dieser bekennende Glaube an diesen
eschatologischen Sieg der Gnade Gottes selbst ein Moment an die-
sem Sieg ist und nicht bloß eine humane Antwort des Menschen
auf eine Tat Gottes, die als solche diese Reaktion der Kreatur noch
nicht einbegreifen würde, zu der sie synergistisch hinzuträte,
glaubt und bekennt die Kirche, daß dieser eschatologische Sieg des
Selbstangebotes Gottes, wenn auch nicht bloß in ihr, so doch ge-
rade auch in ihr und an ihr Ereignis ist. Denn die Kirche ist die
Gemeinde, deren Glauben diesen Sieg proklamiert, und zwar so,
daß diese Proklamation des endgültigen und schon unwiderruflich
eingetretenen Sieges Gottes, und nicht nur dieser selbst, in der
Geschichte der Menschheit nicht mehr untergeht. Ist aber diese
Glaubensproklamation dieses Sieges als geschichtliche Greifbar-
keit seiner selbst unbesiegbar und ein inneres, konstitutives Mo-
ment an diesem Sieg selbst und gleichzeitig an der Kirche, dann ist
die Kirche notwendigerweise diejenige, die zum Preis der Gnade
Gottes von sich bekennt, daß in ihr die Annahme der göttlichen
Selbstmitteilung, also die Rechtfertigung der Menschen, nie un-
tergeht und der Glaube daran als geschichtliche Gegenwart dieses
Sieges nie untergehen kann. Insofern also bekennt die Kirche von
sich eine Indefektibilität ihrer Heiligkeit und ihres Glaubens. Ob,
in welcher Weise, unter welchen Voraussetzungen diese Indefekti-
bilität der Kirche in Liebe, Hoffnung und Glaube von ihrem letzten
Wesen her auch ein Charakteristikum des Institutionellen an ihr
und des Amtes ist und sein muß, das kann und braucht an diesem
Punkt der Überlegungen noch nicht weiter bedacht zu werden,
wenn auch vermutlich erst diese neue Frage die eigentliche kontro-
verstheologische Problematik berühren würde. Die Kirche ist also
nicht bloß jene Wirklichkeit, die sich im Ziel auf das Ziel hin be-
wegt, sondern gleichzeitig und damit auch die, deren Bewegung
die Bleibendheit dieser Bewegung im Ziel bedeutet und verkün-
digt und durch beides zusammen jene eschatologische Größe dar-
555
stellt, die auf die Parusie des Herrn als zukünftige dadurch wartet,
daß sie die Parusie des Herrn als gegenwärtige in sich trägt und so
‚Gegenwart und Zukunft sich gegenseitig tragen aus dem ein für
allemal in der «Vergangenheit » geschehenen und ewig gültig.
bleibenden Ereignis Christi in der Menschwerdung des Wortes
Gottes, dem Tod und der Auferstehung Christi.
5. Was unter Iund II 1-2 gesagt wurde, ist insofern gleichzeitig
wahr und möglich, als die Selbstmitteilung Gottes an die Mensch-
heit in der Weise durch die Macht der Gnade von der Kirche an-
‚genommen und besessen ist, die als Glaube im Unterschied zum
unverhüllten Schauen und als Hoffnung, die sich auf das noch
Ausständige ausspannt, beschrieben werden muß und dadurch der
empfangenden Gnade des ewigen Lebens die Eigentümlichkeit
der Verborgenheit verleiht. Die Verborgenheit der Gnade als des
jetzt schon gegebenen Lebens der Ewigkeit und der Besitz dieses
Lebens gerade als Glaube und Hoffnung im Unterschied zum un-
verborgenen Besitzen bedingen sich gegenseitig und bilden in
ihrer Einheit die Eigentümlichkeit der eschatologischen Situation
der Kirche. Sie lassen sich dennoch in etwa hintereinander be-
schreiben. Die Selbstmitteilung Gottes an den Menschen ist inso-
fern verborgen, als sie ihm in der Phase und Situation ihrer freien,
geschichtlichen Annahme durch die Lebenstat des Menschen nicht
gegeben ist als dasjenige, womit er sich als dem unmittelbaren
Gegenstand seines geistigen Selbstvollzugs in dessen eigener Wirk-
lichkeit, also durch unmittelbare Schau und unvermittelte Ge-
meinschaft, beschäftigen kann, sondern als das (wenn auch im
Glaubenswort gewußte) Prinzip seines gehorsamen Umganges mit
den von Gott verschiedenen Weltdingen personaler und sachlicher
Art. Der Mensch der Gnade bewegt sich im Ziel, gerade und nur
insofern dieses Ziel das Prinzip der Bewegung auf das Ziel selber
hin ist. Glaube und Hoffnung sind darum, obwohl getragen von
Gott selbst als ihrem Prinzip, «nur» Glaube und Hoffnung im
Unterschied zum besitzenden, genießenden Schauen in Unmittel-
barkeit und geben insofern der empfangenen und angenommenen
Selbstmitteilung Gottes den Charakter der Verborgenheit, als der
Glaube immer vermittelt ist durch das kategoriale Wort des Glau-
bens (der fides ex auditu) und darum die absolute transzendentale
356
Verwiesenheit des Menschen auf den Gott des dreifaltigen Lebens,
durch dessen reale Selbstmitteilung nie für sich selbst allein zur
Gegebenheit in sich selbst kommen läßt und darum auch die
Hoffnung, obzwar sie getragen ist vom Erhofften selbst und nur so
hoffen kann, das Erhoffte sich selber immer nur im kategorialen
Wort über das Erhoffte vorstellen kann. Die Bewegung im Ziel auf
das Ziel hin heißt Glaube und Hoffnung durch die welthaft ge-
schehene Vergegenständlichung des im Glauben und in der Hoff-
nung schon wirklich Besessenen, und diese welthaft kategoriale
Vergegenständlichung als notwendige ist die Bedingung dafür, daß
diese göttliche Selbstmitteilungnoch in geschichtlicher, freier Ent-
scheidung des Menschen angenommen werden kann. Dies aber ist
wiederum nicht nur verlangt von der Würde der freien Person
her, die mit Gottes Leben begnadet werden soll, und von der
Eigenart des mitzuteilenden göttlichen Lebens her, das personale,
freie Liebe ist und eine gleichartige Antwort von ihr selbst her
erfordert, sondern auch und vor allem durch die letzte Struktur
der göttlichen Heilsökonomie, die auf jenem Christus beruht, der
darum Mensch in Freiheitund Gehorsam ist, weil gerade darinGott
als der im Endlichen erscheinen kann, der er ist und in Freiheit
uns gegenüber sein will!. Durch die Verborgenheit der göttlichen
Selbstmitteilung in Gnade, die jetzt schon gegebenes ewiges Leben
ist, und durch die Eigentümlichkeit der Annahme dieser göttlichen
Mitteilung als Annahme in Glaube und Hoffnung ist aber die
wirkliche eschatologische Gegenwart der endgültigen und un-
widerruflichen und als solche definitiv angenommenen Zukunft
nicht aufgehoben, sondern bestätigt. Denn Glaube und Hoffnung
sind nicht menschliche Stellungnahmen zu einem Ausständigen
und so nur Verheißenen, sondern personaler Selbstvollzug des
Menschen, dessen letztes und notwendigstes Prinzip für das Wesen
und das tatsächliche Geschehen dieses Aktes die Gnade Gottes
selber ist. Diese aber ist nicht irgendeine Hilfsstellung zu einem /
Akt, der doch wieder bloß menschlich und kreatürlich wäre und
diese Hilfe und das göttliche Wort der Offenbarung der bloß
1 Vgl. dazu vom Verfasser: Probleme der Christologie heute: Schriften zur Theo-
IV,
logie I, 169-222; Zur Theologie der Menschwerdung: Schriften zur Theologie
137-155.
557
menschlichen Wesensapriorität depotenzierend untertan machen
würde. Diese Gnade des Glaubens und des Hoffens ist (unbeschadet
kreatürlicher und notwendiger Auswirkungen der Gnade, die mit _
Recht auch noch einmal Gnade genannt werden müssen) im letz-
ten Grunde Gott selbst, der es durch seine Selbstmitteilung an den
Menschen ermöglicht, daß dessen Akt wahrhaft menschlich bleibt .
‚und dennoch das Hören und Sagen des Wortes Gottes als solchen
selber und nicht bloß des Reflexes dieses Wortes Gottes im Hori-
zont bloßer Endlichkeit und bloß menschlich-geistiger Transzen-
dentalität ist; diese Selbstmitteilung Gottes als Grund der Hoff-
nung bewirkt, daß dieses Hoffen des Menschen nicht bloß den
Begriff eines ausständig Gehofften im Horizont menschlichen Be-
gehrens ergreift, sondern das Erhoffte selbst. Insofern Glaube und
Hoffnung das Geglaubte und das Gehoffte, nämlich den Gott des
ewigen Lebens, zum inneren Prinzip des Glaubens und Hoffens
selber haben, und insofern dieses apriorische Prinzip des Glaubens
und Hoffens unbeschadet der notwendigen kategorialen Vermitt-
lung durch das menschliche Wort im Akt des Glaubens und der
Hoffnung selber erfahren, wenn auch nicht in seinem eigenen
Selbst gegenständlich vorgestellt wird, kann und muß unbefangen
von einer Gnaden-, Offenbarungs- und Glaubenserfahrung ge-
sprochen werden. In dieser ist der Kirche ihre eschatologische
Gabe, durch die sie selber konstituiert wird, nicht nur sachlich ge-
geben, sondern auch erfahren. Die Kirche ist die Gemeinde derer,
die die eschatologische Gabe, die Gott selbst ist, schon besitzen, die-
sen Besitz wirklich in Freiheit annehmen, den Besitz und ihre
Annahme im Glauben als durch Gottes freie Liebe bewirkt be-
kennen und die Enthüllung dieses Besitzes aus der Kraft dieses
Besitzes heraus erhoffen. Sie gehört darum der noch laufenden
Zeit an, insofern sie durch Glaube und Hoffnung sich noch auf das
Ziel hinbewegt, d.h. die Parusie Christi noch auf sich zukommen
lassen muß, und sie gehört gleichzeitig der Ewigkeit an, als sie in
Kraft der schon angekommenen Zukunft sich auf ihr Ziel hin-
bewegt. Die Selbsterfahrung der Kirche als der das eschatologische
Heilsgut «nur» in Glaube und Hoffnung besitzenden Gemeinde
ist natürlich nicht bloß insofern Erfahrung von Glaube und Hoff-
nung, als eine selber wieder bloß abstrakt erfahrene Vermittlung
558
des eigentlich Geglaubten und Gehofften in menschlicher, kate-
gorialer Gegenständlichkeit erfahren wird. Diese Vermitteltheit
ist eine geschichtlich konkrete und bedeutet für den Glauben und
die Hoffnung wirkliche Dunkelheit, Anfechtung, Bestehenmüs-
sen immer neuer, unvorhergesehener Situationen, Widerspruch
vom Unglauben, von der Verzweiflung, von einer innerwelt-
lichen Zukunftsutopie her, kurz, die konkrete Geschichte der
Kirche ist die Vermittlung, durch die sich die transzendentale
Glaubens- und Hoffnungserfahrung der Gnade als des göttlichen
Lebens selbst vergegenständlicht und so konkret zum Gegenstand
der Heilsentscheidung wird. Und diese Geschichte der Erfahrung
der Kirche ist darum in einem Vermittlung und Anfechtung des
Glaubens und des Hoffens. Würde eine positive Vermittlungs-
funktion der Geschichte geleugnet, so würde im Grunde bestritten,
daß die Kirche in ihrem ausdrücklichen Bekenntnis des Glaubens,
das doch der Dimension der Geschichte angehört, selbst noch ein-
mal ein Werk der Gnade ist und nicht nur ein bloß menschlicher
Reflex auf eine metahistorisch bleibende Gnade. Würde der Cha-
rakter der Anfechtung an dieser Geschichte für den Glauben ge-
leugnet (theoretisch oder praktisch), dann würde die Kirche im
Grunde als die offenbare Präsenz Gottes in der Welt betrachtet, und
aus Glaube und Hoffnung würde ein offenbarer Besitz des ewigen
Lebens, der höchstens noch durch jene menschliche Geschichte
in etwa verhüllt werden könnte, die dem Heil und seinem Besitz
äußerlich bleibt und kein Moment an der Heilsgeschichte als
solcher ist.
II. Es soll in diesem dritten Abschnitt eine Frage wenigstens
noch kurz berührt werden, die unter II offengelassen wurde, die
Frage nämlich, wie sich genauerhin die Kirche als Institution und
Amt zur Kirche als eschatologischer Größe verhält. Der eschatolo-
gische Charakter der Kirche selbst war ja entwickelt worden vom
Begriff der Kirche als Heilsfrucht, nicht so sehr von der Kirche als
Heilsmittel her. Nun hängen diese beiden Aspekte innerlich we-
sentlich miteinander zusammen, wenn sie auch nicht einfach mit-
einander identifiziert werden können. Die Kirche ist ja mindestens
zum Teil gerade Heilsmittel, insofern sie die eschatologisch durch
die prädefinierende Macht der Gnade Gottes konstituierte, glau-
559
bende und bekennende Gemeinde derer ist, die die siegreiche
Gnade der vergöttlichenden und vergebenden Selbstmitteilung
Gottes an die Menschheit rühmen und als «Mitarbeiter Gottes»
im Dienste der Gnade eben gerade durch dieses glaubende Be-
kenntnis missionarisch die Menschen zur Annahme dieser gött-
lichen Gnade bewegen. Schon von da her kann die Kirche als in-
stitutionelles Heilsmittel und die Kirche als Heilsfrucht nicht
adäquat voneinander unterschieden werden. Da es aber das Amt
in der Kirche gibt, dieses und seine Funktionen aber nicht donati-
stisch mit der Kirche als Gnade einfach identifiziert werden kön-
nen, so ist die Frage des Verhältnisses zwischen Kirche als Institu-
tion und Kirche als Heilsfrucht, d.h. als eschatologische Gegenwart
des endgültigen Heiles, mit dem noch nicht beantwortet, was unter
II über Kirche als eschatologische Größe gesagt wurde. Die not-
wendig zu machenden Unterscheidungen zwischen dem Glauben
als amtlich verkündetem und dem Glauben als heilswirksam exi-
stentiell angenommenem, zwischen dem gültigen sakramentalen
Zeichen und dem gnadenhaft faktisch wirksam werdenden Sakra-
ment, zwischen einer institutionellen und charismatischen Struk-
tur der Kirche, zwischen der Kirche als der im ganzen heilsgewis-
sen und von der prädefinierend siegreichen Gnade Gottes in
Glaube und Liebe bewahrten und dem Einzelnen, der unbe-
schadet seiner äußeren Zugehörigkeit zur Kirche ein Sünder und
der Verlorengehende sein kann, zeigen, daß mindestens nicht ohne
weiteres in allen Fällen und unter allen Voraussetzungen das Amt
und seine Funktionen in der Kirche in Lehre, Kult, Sakrament,
Leitung und Kirchenzucht dieselbe Qualität eschatologischer In-
defektibilität besitzen, die wir der Kirche als ganzer zuzuerkennen
haben. Wenn die Indefektibilität der Kirche in Glaube und Liebe
(in beider Hinsicht natürlich je in eigener Weise) der Kirche zu-
kommt, insofern sie selber eschatologische Heilsfrucht ist und von
da aus letztlich theologisch eine Indefektibilität des Amtes! abzu-
1 Es ist damit nicht bestritten, daß eine letzte Indefektibilität des Arntes in der
Kirche aus den neutestamentlichen Stellen der Schrift, die unmittelbar vom Amt,
seiner Sendung und seiner Funktion in der Kirche sprechen, erhoben werden kann.
Aber wenn dann darüber hinaus gefragt wird, warum diesem Amt eine solche Inde-
fektibilität im Neuen Bund zukommt, obwohl doch bis dahin in der positiv von Gott
geleiteten und gesteuerten Heilsgeschichte eine solche Indefektibilität einem Amt
560
_ leiten ist, dann zeigt sich vom eben angedeuteten Unterschied zwi-
schen der Kirche als Heilsmittel und der Kirche als Heilsgemeinde,
daß man auch in katholischem Verständnis durchaus eine Inde-
fektibilität des Amtes in all seinen Funktionen, wenn auch bei
jeder in ihrer ganz spezifischen Weise, annehmen muß, diese Inde-
fektibilität aber auch gleichzeitig, insofern sie vom Amt, der In-
stitution und somit der geschichtlich greifbaren Gestalt der Kirche
ausgesagt wird, als einen Grenzfall der Kirche auffassen darf (den
es freilich im katholischen Verständnis der Kirche wirklich und
konkret greifbar gibt), anstatt, wie es in der katholischen Theolo-
gie gewöhnlich geschieht, diese Indefektibilität nur hinsichtlich
des Lehramtes deutlich zu entwickeln und dann aber diese In-
defektibilität als den Normalfall aufzufassen und andere lehrhafte
Akte des Amtes als Grenzfälle, denen diese Indefektibilität, hin-
sichtlich der Lehre Unfehlbarkeit genannt, nicht zukommt. Im-
merhin, und das ist zunächst hier das entscheidende, gibt es für
die Kirche auch in ihrem institutionellen Amt eine Indefektibili-
tät, und nicht nur für die Kirche als eschatologische Heilsge-
meinde. Diese Indefektibilität hat aber, so dürfen wir wohl auch
innerhalb eines katholischen Kirchenverständnisses sagen, ihren
Sachgrund in der Kirche als eschatologischer Heilsgemeinde.
Denn nicht nur kann jene aus dieser faktisch abgeleitet werden,
wie gleich noch zu zeigen ist, es werden auch dadurch die Grenzen
der Indefektibilität des Amtes verständlich, die unverständlich
blieben, wenn diese Indefektibilität rein und allein als formale
Ausrüstung des Amtes in der Kirche durch die rechtliche Beauf-
tragung von seiten Gottes aufgefaßt würde. Und schließlich wird
nur so begreiflich, warum sich die Kirche in ihrem Amt eine solche
Indefektibilität zuschreibt, während sie eine solche dem doch auch
ursprünglich von Gott gestifteten Amt in der Kirche des AT ab-
spricht. Nach katholischem Verständnis kommt aus der Indefekti-
bilität der eschatologischen Heilsgemeinde darum auch dem Amt
in der Kirche eine Indefektibilität zu, weil von Christus dieses Amt
gar
nicht zukam, auch nicht, wenn es von Gott verliehen worden war, dann kann
einer Kirche
nicht anders geantwortet werden als: weil es sich hier um das Amt in
als solche)
handelt, die selbst eschatologische Heilsfrucht ist und als solche (und nur
gar nicht anders als indefektibel sein kann.
561
(als Lehr- und Hirtenamt) als autoritative Größe in der Kirche
‚gestiftet ist, von der Glaube, Kult und Handeln der Gemeinde
abhängen und abhängen müssen, die Heilsgemeinde aber in ihrem
Glauben und Leben, mindestens in der Dimension der geschicht-
lichen Greifbarkeit, aufhören würde, die geschichtliche Gegen-
wart und Greifbarkeit des Sieges der Gnade Christi zu sein, wenn
sie entweder grundsätzlich und wesentlich als ganze durch ihr
Amt von Christus, seiner Wahrheit und seiner Liebe losgerissen
werden könnte oder, damit dies nicht geschehe, grundsätzlich und
revolutionierend sich von diesem Amt und seiner geschichtlichen
Legitimation lossagen müßte. Damit sind aber auch schon grund-
sätzlich die Grenzen der Indefektibilität dieses Amtes hinsichtlich
seiner Lehr-, Heiligungs- und Hirtengewalt angegeben: ein sol-
cher Akt des Amtes partizipiert dann an der Indefektibilität der
eschatologischen Heilsgemeinde, wenn und insofern er diese, falls
ernichtauch selbst indefektibel wäre, bei Respektierung der Struk-
tur der Kirche von Christus losreißen würde und die Kirche als
geschichtlich greifbare aufhören würde, eschatologisch indefek-
tible Heilsgemeinde zu sein. Dies aber würde geschehen, wenn
das oberste Lehr- und Hirtenamt der Kirche hinsichtlich der Ge-
samtkirche von seiner höchsten Lehr- und Hirtengewalt in defi-
nitiver, alle mit letzter Verpflichtung bindender Gewalt Gebrauch
machen würde und dabei so der Wahrheit und dem Heiligungs-
willen Christi widersprechen würde, daß die Annahme und Be-
folgung eines solchen Aktes die Gesamtkirche als ganze in einen
eindeutigen Widerspruch zu Christus, alsoin schlechthinnigen Irr-
tum als Nein zu seiner Wahrheit oder als Nein zu seiner einigen-
den und heiligenden Liebe setzen würde. Die sakralrechtliche
Präzision dieses Prinzips, wodurch ein Akt des Amtes der Kirche
als indefektibel im Glauben an sie selbst und ihre eschatologische
Indefektibilität erfaßt werden kann, gehört wohl nicht mehr in
den Rahmen dieser Überlegung hinein. Von dem genannten Aus-
gangspunkt lassen sich aber auch deutlich die Grenzen dieser In-
defektibilität der Kirche in den verschiedenen Vollzügen des Am-
tes erkennen. Wo es sich nicht um einen definitiven und als irre-
versibel gesetzten Akt des Amtes der Gesamtkirche handelt, hat
er die Prärogative der Indefektibilität der Kirche nicht notwendig
562
und mit Glaubensgewißheit
in sich selber. Und insofern die Kirche
als dienoch pilgernde, wartende, hoffende auch die versuchte und
angefochtene sein muß, damit ihr Verhältnis zu der in ihr selbst
schon gegebenen Heilsverwirklichung das des Glaubens und der
Hoffnung sei, und zwar die von ihrer pilgerschaftlichen Existenz
selbst versuchte, gehören die Akte, denen diese Indefektibilität
nicht zukommt, notwendig und unvermeidlich zu ihrer pilger-
schaftlichen Existenz im Glauben und Hoffen. Von hier aus wäre
freilich deutlicher, als es in der katholischen Ekklesiologie zu ge-
schehen pflegt, darauf zu reflektieren, wie diese indefektiblen und
defektiblen Selbstvollzüge der Kirche, und zwar zumal in ihrem
Amt, sich in der konkreten Existenz der Kirche und des christ-
lichen Daseins in einer Weise durchdringen, die eine absolut rein-
liche Scheidung dieser beiden Akte durch die das geschichtliche
Dasein begleitende Reflexion gar nicht erlaubt. Es kann auf diesen
Punkt hier leider nicht genauer eingegangen werden, sosehr er
vielleicht zu einer erheblichen Entschärfung des kontroverstheo-
logischen Gegensatzes zwischen den christlichen Konfessionen bei-
tragen könnte. Es sei nur wenigstens vermerkt, daß auch nach
katholischem Verständnis z.B. eine «unfehlbare » Definition eines
Papstes oder eines Konzils noch nicht notwendig bedeutet, daß
diese Definition allseitig, in jeder Hinsicht opportun, d.h. in
ihrem Inhalt in der entsprechenden geschichtlichen Situation von
der Menge der Gläubigen leicht assimilierbar und für den Glau-
bensvollzug als einen und ganzen sehr förderlich sein müsse. Eine
Definition besagt auch als unfehlbare noch nicht notwendig, daß
in ihrem faktischen Verständnis trotz aller Klarheit und Präzision
ihrer Formulierungen in einer bestimmten geschichtlichen Situa-
tion faktisch nicht begleitende Interpretationen, Vorstellungs-
schemata, praktische Auswirkungen usw. mitgegeben sein können,
die an der Infallibilität einer solchen Definition durchaus nicht
partizipieren, ihre glaubensmäßige Aufnahme erschweren oder
vielleicht sogar ohne subjektive Schuld bei bestimmten Hörenden
unmöglich machen und erst in einer späteren geschichtlichen Si-
tuation der Kirche von dem in der Definition wirklich und eigent-
lich Gemeinten reflex und deutlich unterschieden werden können.
Die klarste Verkündigung der moraltheologischen Prinzipien als
565
der Einweisung in den Vollzug der Liebe zu Gott und dem Näch-
sten lassen dennoch den Einzelnen und die Kirche weitgehend im
dunkeln, wie sie in der konkreten Situation angewendet werden
müssen : welchen konkreten Beruf ein Einzelner ergreifen soll (ob-
wohl dies heilsentscheidend sein kann), wie die dialektisch gegen-
einander stehenden Prinzipien der Güte und Strenge in der Er-
ziehung, des Eiferns und der Toleranz im öffentlichen Leben usw.
konkret dosiert, gleichzeitig respektiert werden sollen, wie sich die
Kirche konkret und praktisch zu den christusfeindlichen Welt-
mächten stellen soll, was das wirklich Richtige bei einer Stellung-
nahme zu den ABC-Waffen ist. Solche und ähnliche Dunkelheiten
gibt es unzählig viele im Leben der Kirche und der einzelnen
Christen. Die Quaestiones disputatae der Moraltheologie betreffen
wahrhaftig nicht bloß Subtilitäten, die von keiner praktischen Be-
deutung sind. Die Theorien der «Moralsysteme » zur Lösung sol-
cher Dunkelheiten helfen auch nicht viel weiter, weil diese Theo-
rien selber wieder dunkel in sich und in ihren Anwendungen sind.
Man kann sich nicht einmal mit dem Gedanken trösten, daß diese
Dunkelheiten dem Heil nicht schaden können, wenn nur der gute
Wille da ist. Denn es könnte ja sein, daß man leichter und deut-
licher merken könnte, daß man in Wahrheit diesen guten Willen
vielleicht gar nicht hat, wenn der böse Wille sich nicht so leicht
hinter theoretische Dunkelheiten verstecken könnte. Alle diese
wenigen, eigentlich selbstverständlichen, kleinen Hinweise sollen
hier nur auf eines aufmerksam machen: die Lehre von der Inde-
fektibilität des Amtes in Lehre und Leitung bewirkt gar nicht, daß
die Kirche und der einzelne Christ in eitel Licht von Klarheit zu
Klarheit wandern. Kirche und Christ müssen trotz dieser Indefekti-
bilität mühsam durch das Dunkel dieses Äons pilgern, und beiden
bleibt zu allerletzt nur eines: das Vertrauen auf die Gnade Gottes
allein. Die katholische Lehre von der Indefektibilität des Amtes
‚und seiner Akte unter bestimmten Voraussetzungen besagt also
gar nicht, daß dieser Bezirk in absolut reiner und in jeder Hinsicht
möglicher Unterscheidung von allem Defektiblen in der Kirche
besessen werden könnte, daß es also nach katholischem Kirchen-
verständnis gleichsam ein Stück Kirche gebe, das rein unterschie-
den von allem anderen nur die Kirche der göttlichen Stiftung des
564
reinen Heiles und der absolut Keen Wahrheit und
Liebe Christi wäre.
IV. Das Thema Kirche und Eschatologie wäre doch wohl nur
unvollständig behandelt, würde der Blick bei dieser Überlesung
nicht auch gelenkt auf jene innerweltlichen Zukunftshoffnungen
und -utopien, die es heute gibt in einer Art und Dringlichkeit, die
es früher nicht geben konnte. Gewiß war auch derMensch früherer
Zeiten ein Mensch, der sein Leben in Freiheit aktiv gestalten
konnte und mußte. Aber der Raum solch freier, aktiv von innen °
herkommender Gestaltungsmöglichkeiten seines Daseins war in
früheren Zeiten und auch vor allem in der Zeit des entstehenden
Christentums so eng begrenzt und schon so übersehbar, daß diese
Möglichkeit der Zukunft praktisch doch mehr oder weniger als
nahe Gegenwart erlebt werden mußte, der Mensch doch mehr
bloß ein inneres Verhältnis der Ergebung oder des Protestes ge-
genüber einem ihm der Sache nach einfach durch die Natur auf-
erlegten Schicksal haben, aber nicht eigentlich der aktive, schöp-
ferische Entwerfer und Planer seiner selbst, seiner Umwelt und
so auch einer entfernteren Zukunft sein konnte. Das aber kann er
heute. Er nimmt die Natur als seine Umwelt nicht nur mehr oder
weniger hin, sondern er verwandelt sie und gestaltet sie zu der
Umwelt um, in der er von sich aus zu leben beschlossen hat. Die
Natur ist nicht mehr einfach die vorgegebene, unveränderliche
Bühne, auf der er sein Dasein auch als Geschichte seines Heiles
und seines Unheiles treibt, sondern das bloße Material, der Stein-
bruch, aus dem er sich erst eigentlich die Szenerie erbaut, in der
als dem Ausdruck seines eigenen Selbstverständnisses er sein ge-
schichtliches Dasein führen will. Die praktischen Möglichkeiten
eines solchen aktiven Selbstvollzugs in der aktiven Umgestaltung
des menschlichen Daseinsraumes mögen auch heute noch sehr
begrenzt sein: diese Zukunft hat aber schon begonnen; es gibt
einen ungeheuer geweiteten Raum der Zukunft, die der Mensch
planend vorwegnimmt. Dieser wirklich neuen Daseinserfahrung
des Menschen muß das Christentum begegnen; sie ist nicht un-
mittelbar und adäquat allein vom NT her zu bewältigen, weil es
diese Daseinserfahrung damals in einem irgendwie erheblichen
Maße nicht gab. Die Kirche als die eschatologische Heilsgemeinde
365
des Glaubens und der Hoffnung auf eine Zukunft, die Gott selbst
schenkt und die nicht vom Menschen entworfen und gemacht
wird, muß mit dieser neuen Daseinserfahrung eines Menschen,
dem sich auch für sich als Einzelnen und für die Menschheit als
ganze eine vorhergesehene, planbare und herstellbare, wirkliche
und weite Zukunft eröffnet, fertig werden. Dazu gehört zunächst
einmal, daß das Christentum die im letzten christliche Wurzel
dieser Situation des neuen Menschen erkennt und so diese neue
Situation als echt christliche annimmt. Diese Situation hat tat-
sächlich einen christlichen Ursprung, weil a) das Christentum von
seinem Wesen her die Gesamtwirklichkeit primär als Geschichte
und die Natur als ein Moment darin begreift und nicht umgekehrt,
weil b) die Natur als wahrhaft geschaffene und somit als nicht gött-
liche und Gott als der personale Partner des Menschen besagen,
daß nicht eine numinose Natur, sondern das Wort Gottes und der
Mensch selber die eigentlichen Statthalter Gottes in der Welt sind
und die Natur in Wahrheit das ist, was der Mensch sich untertan
machen soll, weil sie nichts anderes ist als die Fortsetzung der
Leibhaftigkeit des Menschen und darum in ihm und seiner Ge-
schichte zur Vollendung kommt und nicht umgekehrt der Mensch
im letzten das außer- und vormenschliche Geschick der Natur teilt.
Ist einmal die christliche Herkunft der neuen Situation des Men-
schen als homo faber sui ipsius et mundi trotz aller Hybris und Ver-
derbtheit gesehen, unter denen dieses neue Daseinsverständnis
entstanden ist und heute sein Wesen und Unwesen treibt, dann
muß das Christentum unbefangen anerkennen, daß eine inner-
weltliche Zukunftsplanung und -utopie nicht nur, christlich ge-
. sehen, legitim ist, sondern das von Gottes Providenz dem Men-
schen zugedachte Schicksal, in dessen Tun und Erleiden er allein
sein christliches Dasein heute echt und ganz leben kann. Erst unter
dieser Voraussetzung kann dann das Christentum den Menschen
von heute sagen, daß auch diese Zukunft unter dem Vorzeichen
der Kreatürlichkeit, der Sünde, des Gesetzes, des Todes, der Ver-
geblichkeit und der Erlösung durch Christus steht und daß auch
diese Zukunft dadurch erlöst und geheiligt und zu ihrem eigent-
lichen Sinn gebracht ist, daß sie schon überholt ist durch die ange-
kommene Zukunft Christi und der göttlichen Selbstmitteilung und
566
{
darum auch diese Zukunft, soll in ihr das wahre Heil des Menschen
werden, geschehen muß im Kairos Christi. Die Kirche aber muß
sehen und leben, daß sie nicht dadurch die wahre und glaubwür-
dige eschatologische Gemeinschaft des Heiles ist, daß sie die res-
sentimentgeladene, zu kurz gekommene und ängstliche Schar de-
rer ist, die sich der Größe, der Pflicht und der Gefahr dieser Welt
der Zukunft versagen oder ihr gegenüber bloß und ausschließlich
ein Verhältnis finden wie gegenüber einem in sich gleichgültigen
Material christlicher Tugendübung ohne ein ursprüngliches, welt-
liches Interesse, das gerade in seiner profanen Weltlichkeit vom
Christen als einem solchen angenommen werden muß, ohne diese
Weltlichkeit nochmals religiös zu sublimieren. Was dies alles kon-
kret genauer bedeutet, wie die einzelnen christlichen Bekennt-
nisse in dieser Situation ihre je spezifischen Aufgaben, Chancen
und Gefahren des Versagens haben, das kann hiernicht mehrnäher.
bedacht werden. Es müßte dies aber geschehen, soll das Selbst-
verständnis der Kirche als eschatologischer Heilsgemeinde, der
sich Gott gegeben hat und die auf sein Reich noch wartet, nicht
heute von der Kirche selbst mißdeutet und von den Nichtchristen
mißverstanden werden. |
867
B. DER BISCHOF IN DER KIRCHE
VORWORT
#
mentalität aufzuheben, nicht aus. Dann ist aber nicht nur die
Behauptung der Sakramentalität der niederen Weihestufen im
Mittelalter nicht mehr so absurd, wie Strotmann meint (vgl.
S.190), sondern eine geschichtliche Gestaltungsmöglichkeit der
einzelnen Weihestufen gegeben, so daß eine gewisse Unbestimmt-
heit der Grenzen zwischen Patriarch und einfachem Bischof, de-
‚ren Betonung die Entrüstung Strotmanns erzeugt (vgl.S.193),
wirklich — dogmatisch gesehen — nichts Erstaunliches an sich hat,
aber praktische Konsequenzen haben kann. — Wenn ich finde,
daß die Maßnahme Johannes’ XXIII., alle Kardinäle zu Bischöfen
zu machen, theologisch sinnvoll sein kann, dann bin ich in der
Gesellschaft des Papstes in guter Gesellschaft, auch wenn meine
Meinung nicht die Billigung Strotmanns findet (vel.S.191f.),
ohne daß ich — was nicht weniger wichtig ist — sehen kann, wie
Strotmann seine eigene Meinung in dieser Frage eigentlich be-
gründet.
Wenn Strotmann die Idee einer « Personaldiözese » für absurd
hält (vgl.S.195; S.197), so scheint ihm das Dekret über die
Orientalischen Kirchen (Nr.4) des II. Vatikanum nicht Recht zu
geben, denn hier ist doch die Möglichkeit vorgesehen, daß « Hier-
archiae variarum Ecclesiarum particularium» «in eodem teri-
torio» existieren können. Das sind dann doch der Sache nach Per-
sonaldiözesen. Warum sollen denn andere denkbare Fälle a priori
unmöglich sein? Wenn es so etwas grundsätzlich nicht geben
könnte, wäre doch eigentlich auch eine Abtei wie Chevetogne
mit ihrem ortsfremden Ritus nicht möglich.
Meine Überlegungen über Sinn und Gestaltung des Kardinals-
kollegiums zielen in keiner Weise darauf hin, es an die Stelle
des
Bischofskollegiums zu setzen. Was in diesem Zusammenhang
von
Strotmann über meine Auffassung gesagt wird, ist ein absolute
s
Mißverständnis. Wie er selbst das Wesen des Bischofsamtes
be-
schreibt (vgl.$.195), ist - gemessen an den Aussagen des II. Vati-
kanums — doch nur die Hälfte der ganzen Wahrheit. Die Bischöfe
sind als corpus und collegium (mit und unter dem Papst) der
eine,
oberste Träger aller Vollmacht in der Kirche; das gehört in
das
Wesen des bischöflichen Amtes entscheidend hinein. Dann
aber
entsteht heute nun einmal zwangsläufig die Frage, ob und wie
die-
570
ses Kollegium durch eine kleinere Gruppe repräsentiert und hand-
lungsfähig gemacht werden könne. Durch eine solche Gruppe
wird das Bischofsamt doch nicht zu einem Pfarrerkollegium de-
gradiert, wie Strotmann zu fürchten scheint, genausowenig, wie
durch eine Versammlung der Patriarchen die ihnen untergeord-
neten Bischöfe zu einfachen Priestern werden. Diese Frage nach
einer solchen Repräsentanz ist ja vom Konzil und nicht bloß von
mir angemeldet und vom Papst entgegengenommen worden
(«Bischofsrat»). Ein Vollkonzil kann heute nicht genügend die
gesamtkirchliche Funktion des Bischofskollegiums wahrnehmen.
Es ist doch so: der Träger jener bischöflichen und unmittelbaren
Jurisdiktion über die ganze Kirche und alle Einzelkirchen, die das
Dogma vom Römischen Primat ausspricht, wird doch am sinn-
vollsten von der Repräsentanz der ganzen Kirche gewählt. Ist
aber diese Repräsentanz für diese Wahl praktisch nicht durch eine
Versammlung sämtlicher Bischöfe der Kirche aktionsfähig, dann
ist es am sinnvollsten, wenn ein Wahlausschuß des Bischofskol-
legiums (= Kardinalskollegium) diese Wahl vornimmt. Voraus-
setzung ist nur, daß das Kardinalskollegium so gebildet ist, daß
es diese Repräsentanz des Bischofskollegiums darstellt. Ich sehe
auch jetzt noch nicht, wie der Protest Strotmanns gegen die-
sen Gedanken wirklich begründet wird. Wir werden abzuwar-
ten haben, wie Paul VI. das Kardinalskollegium weiter fort-
und umbildet. Die bisherigen Ansätze dieser Weiterentwick-
lung scheinen dieser hier vorgetragenen Entwicklung jedenfalls
nicht absolut zu widersprechen. Man sieht mindestens nicht,
11nzwischen hat Paul VI. zu Beginn der IV. Konzilssession in seiner Ansprache und
»
in dem später veröffentlichten «Motu proprio» die Bildung des « Bischofsrates
mit dem
bekanntgegeben. Dieser Bischofsrat ist nach seiner jetzigen Struktur nicht
und in
gegenwärtigen Kardinalskollegium identisch. Insofern scheinen die oben
dem folgenden Aufsatz gemachten Bemerkungen überholt zu sein. In Wirklichkeit
aber bleibt erst noch abzuwarten, wie sich denn die beiden Organe des Bischofsrates
zueinan-
konkret konstituieren, welche Koordination die beiden Beratungsgremien
egium
der erhalten und wie sich dieser gesamte «Rat» wirklich zum Kardinalskoll
ist sicher auf
überhaupt verhält. Ein sehr großer Prozentsatz der heutigen Kardinäle
die eine oder andere Weise in diesem Bischofsrat vertreten. Das konkrete Verhältnis
nicht
von Kardinalskollegium und Bischofsrat ist aber, mindestens für die Zukunft,
sind hier
«klar». Entwicklungsmöglichkeiten und Übergänge mannigfacher Art
Überschwang der
durchaus möglich. Außerdem wäre es verhängnisvoll, nun im
Bedeutung
Freude angesichts des endlich verwirklichten Bischofsrates die faktische
daß das
des Kardinalskollegiums zu unterschätzen. Man darf nur daran erinnern,
374
daß man in Rom das Kardinalskollegium als «institution peri-
mee» (vgl.S.191) betrachtet. Man könnte ja auch schlicht da-.
gegen fragen: Wer soll denn den Papst wählen, wenn man das.
Kardinalskollegium abschafft? Weder 3000 Bischöfe scheinen
dafür doch praktisch recht geeignet zu sein noch die Pfarrer‘
von Rom. Wer also? Die Möglichkeit, an der Papstwahl teil-
‚nehmen zu können, war doch gerade ein Hauptgrund der Pa-
triarchen (wenigstens von Maximos IV. Saigh), doch in das Kar-
dinalskollegium einzutreten. Zur Zeit gehören 4 orientalische
Patriarchen dem Kardinalskollegium an, was Strotmann zuvor
heftigst ablehnte (vgl.S.191). Ich will hier nicht weiter auf
diese Sache eingehen und Kapital für meine These aus der
Tatsache schlagen, daß gerade Maximos IV. doch in das Kardi-
nalskollegium einzog. Schließlich wäre auch einzugehen auf die
juristischen Änderungen des Kardinalsstatuts (Präzedenz, Titel-
kirche usf. )!.
"Wenn meine bescheidene Frage (mehr war es nicht !), ob man
nicht den Primat als oberste Stufe des Weihesakramentes auffas-
sen könne, von Strotmann als barer Unsinn abgelehnt wird (vgl.
S.189f.), so möchte ich nochmals sagen: Was ist eigentlich die
Übertragung des Amtscharismas der Unfehlbarkeit und die we-
gen der Indefektibilität der Kirche von seiten Gottes sichere Zusage
göttlicher Amtsgnade zur rechten Verwaltung dieses Amtes?
Warum kann man diese Verleihung solcher Amtsvollmacht nicht
als «opus operatum» auffassen? Wenn man heute bestrebt ist,
Jurisdiktion und bischöfliche Weihegewalt enger zusammenzu-
rücken (vgl. dazu die Bemerkung Strotmanns S.190 Anm. 2),
wenn man die relative Ordination als den Normalfall der bischöf-
lichen Weihe erneut betont, warum ist es dann absurd, die rela-
372
tive Weihe des Papstes für diesen Primatialsitz nicht als spezifi-
. sche Bischofsweihe (als ihre höchste Stufe) zu betrachten? Wenn
. man einwendet, üblicherweise, heute und schon lange sei der
Papst schon vor der Papstwahl Bischof, dann könnte man auf
frühere Zeiten und auf deren Praxis als eigentliches theologisches
Grundmodell für die Beantwortung der Frage hinweisen; man
könnte sagen, dasselbe Problem tauche ja auch auf, wenn ein Bi-
schof auf einem anderen Sitz Patriarch wird und man müsse also
da eine sinnvolle Lösung finden; man könnte sagen, daß Wahl
und Annahme der Primatialgewalt ebensogut als sakramentales
Zeichen (bzw. als Ergänzung der bischöflichen Handauflegung)
betrachtet werden können wie eine Handauflegung, zumal heute
jedermann weiß, daß die Möglichkeit der Kirche, Form und Ma-
terie eines sakramentalen Ritus selbst zu bestimmen, sehr weit
reicht. Es gibt auch andere Sakramente (Ehe, Buße), die in einem
rechtlichen Vorgang bestehen und doch Sakramente sind. Man
stellte bisher diese Frage nicht, sie ist ungewohnt. Ist das aber ein
durchschlagendes Argument dafür, die Frage als scholastisch
sinnlose Spitzfindigkeit abzulehnen? Bei der bisherigen ge-
schichtlichen Entwicklung der Sakramentenlehre und des päpst-
lichen Primats scheint mir das nicht der Fall zu sein, weil diese
Geschichte gewiß nicht abgeschlossen ist. Strotmann sagt, die
angenommene Papstwahl verleihe keinen «character inde-
lebilis». Ich frage zurück: Bedeutet das die Negierung eines
Sakramentes? Was ist mit dem «character indelebilis» eines
in relativer Ordination für eine bestimmte Kirche geweihten
Bischofs, wenn er definitiv auf seine Kirche und die Jurisdik-
tion über sie verzichtet? Könnte der Fall der Resignation eines
Papstes auf sein Amt nicht in gleicher Weise wie bei einem
solchen Bischof gesehen werden, so daß es gar nicht so ausge-
macht ist, daß im Fall der Papstwahl ein richtig verstandener
«character indelebilis» fehlt? Müßte man nicht gerade von
einer östlichen Theologie her mit diesem untilgbaren Charak-
ter sehr vorsichtig umgehen? — Ich schlage auch kein «nou-
veau genre d’ev&ques» vor (vgl.S. 195), sondern ich suche nur
einen theologischen Sinn in einer bestehenden Einrichtung (von
Titularbischöfen) zu finden, gerade um ein Prinzip zu haben,
>19
das dem Mißbrauch dieser Einrichtung wehrt. Ich sehe nicht,
wieso ich damit etwas Sinnloses tue.
Die Frage nach dem Episkopat in der Kirche, nach seiner kolle-
‚gialen Einheit und seiner Funktion in der Kirche als des höchsten
Trägers aller Vollmacht in Einheit mit dem Papst gehört zu den
zentralen Fragen des tagenden Konzils. Entsprechend dem Wesen
eines Konzils, der Art und den Grenzen seiner Aussagemöglich-
keiten wird das Konzil, wenn auch Wichtigstes und Grundlegend-
stes, zu diesem Thema nur weniges ausdrücklich sagen können. Es
wird vermutlich 1. erklären, daß in der Kirche nicht nur eine nach-
trägliche, gedankliche Summe vieler einzelner Bischöfe, sondern
ein eigentliches Kollegium als eine kollegiale Einheit (eine «mo-
ralische Person ») besteht, daß diese kollegial verfaßte Einheit des
Gesamtepiskopats zum unveränderlichen Verfassungsrecht der
Kirche gehört («göttlichen », nicht positiv kirchlichen, wandel-
baren Rechtes ist), daß dieses Kolleg ein Haupt im römischen
Papst hat, der nichtnur « princeps inter pares » ist, sondern (gerade
als Haupt dieses Kollegiums) seine Voll-Machten hat, dieihm nach
dem I. Vaticanum zukommen, und darum dieses Kollegium immer
nur in Einheit mit dem Papst ein Kollegium ist und als solches
handeln kann. Das Konzil wird vermutlich 2. sagen, daß dieses so
verstandene Kollegium der Träger der höchsten und vollen Gewalt
in der Kirche (Weihe- und Hirtengewalt in den drei «Ämtern »
der Lehre, des Priestertums und der oberhirtlichen Leitung) ist,
die nach dem Willen Christi und dem Wesen der Kirche in dieser
Kirche gegeben ist. Es wird, so meinen wir, 5. erklären, daß dieses
Kollegium diese seine Gewalt nicht nur (in außerordentlicher
Weise) auf einem ökumenischen Konzil ausübt, sondern auch
außerkonziliar ausüben kann (unter den dafür aus seinem Wesen
erfließenden Voraussetzungen, wozu natürlich vor allem die Mit-
wirkung des Papstes gehört). Es werden dann wohl 4. aus diesen
dogmatischen Grundsätzen einige — schüchterne - Konsequenzen
gezogen: daß jeder Bischof eine Verantwortung (wenn auch nicht
Jurisdiktion) für die ganze Kirche trägt, die sich in einer aus dem
574
Amt selbst erfließenden Hilfspflicht z.B. für die Missionen auszu-
wirken hat, daß Bischofskonferenzen eine praktische Folgerung
dieser brüderlichen Einheit der Bischöfe untereinander sind.
‚Nichts wird vermutlich gesagt werden über das genauere Ver-
hältnis des Papstes zum (übrigen) Kollegium, d.h. über die auch
im Verhältnis Papst-Konzil vom I. Vaticanum ausdrücklich offen-
gelassene und auch heute umstrittene Frage, ob es zwei inadäquat
unterschiedene Subjekte der höchsten Gewalt (Papst und Kolle-
gium) gibt oder nur eines, welche zweite Theorie wieder in ganz
verschiedener Weise verstanden werden kann. Offen bleibt die hi-
storische Frage, wie sich der Träger der kirchlichen Vollmacht aus
der «Verfassung» der apostolischen Urkirche entwickelt hat, also
die Frage der genaueren historischen Abkünftigkeit des Bischofs-
kollegiums vom Apostelkollegium (und darin die Frage der Weise
der Aufgliederung des letztlich einen Amtes der Kirche in Bischofs-
amt und Amt der einfachen Priester und somit der genauen Ab-
grenzung dieser beiden Gewalten). Unberührt bleibt die Frage,
wie genauerhin die Aufnahme des einzelnen Bischofs in das Kol-
legium geschieht (wir werden gleich auf diese Frage zu sprechen
kommen). Nicht behandelt wird die Frage, welches die genaueren
Modalitäten des außerkonziliaren, aber kollegialen Aktes des Kol-
legiums sind, welche Möglichkeiten der Initiative also den Mit-
gliedern des Kollegiums in Richtung auf sein Haupt zukommen,
welcher (ausdrücklichen oder stillschweigenden, kanonistisch ge-
faßten oder parakanonistischen) Art die Mitwirkung des Papstes
dabei sein müsse oder könne, ob das sogenannte « ordentliche Lehr-
amt» des Bischofskollegiums (zusammen mit dem Papst), dem
nach katholischer Lehre unter bestimmten Voraussetzungen die-
selbe Unfehlbarkeit zukommt wie einer päpstlichen Kathedralent-
scheidung, ein solcher kollegialer Akt sei (was uns eigentlich selbst-
verständlich erscheint) oder nicht.
Hier soll nun weder auf die theologische Begründung der vom
Konzil vorgetragenen Lehre eingegangen werden, noch direkt
zu den angedeuteten offenbleibenden Fragen, die mit dieser Lehre
513
gegeben sind, Stellung genommen werden. Es sollen vielmehr
einige Ausblicke von dieser Lehre aus auf eine mögliche künftige
Praxis auf eigene Rechnung und Gefahr versucht werden. Soweit
dazu auch eine Meinungsbildung über theologisch strittige Fragen
notwendig ist, muß sie natürlich gewagt werden. Dabei ist aller- -
dings wieder nicht zu übersehen, daß solche praktischen Möglich-
‘keiten zwar von solchen theologischen Meinungen aus anvisiert
werden können, aber dann selber doch nicht nur möglich sind,
wenn diese Meinungen richtig sind. Positiv rechtliche Satzungen
in der Kirche innerhalb des Rahmens des unabänderlichen gött-
lichen Verfassungsrechtes der Kirche können in verschiedener
Weise gerechtfertigt werden, und sie brauchen nicht unmöglich
oder inopportun zu sein, wenn eine bestimmte Begründung nicht
die Zustimmung aller findet.
Bei allen folgenden Erwägungen ist nicht zu vergessen: Die
Kirche ist eschatologische Heilsgröße, die von der Gnade Gottes
dauernd umfaßt bleibt, und gleichzeitig sichtbare Gemeinschaft,
die die geschichtliche Präsenz dieser Heilsgröße von gewisser-
maßen sakramentaler Art (also bleibend gültige Präsenz der
Gnade) ist. Damit ist gegeben, daß ihre Verfassungsstruktur, so-
weit sie juris divini ist, an ihrer Indefektibilität teilhat. Es kann
also nicht sein, daß wesentliche Momente der seinsollenden Ver-
fassung der Kirche im Leben der Kirche gänzlich ausfallen oder
überhaupt nicht beachtet werden. Es kann also z.B. nicht sein, daß
das Kollegium der Bischöfe unter dem Papst als Haupt iure divino
als Träger der höchsten Vollmachtenin der Kirche einmalsschlecht- .
hin nicht gekannt sei oder kein sich am Leben der Kirche auswir-
kendes Moment sei. Und bei einigem unbefangenen Zusehen läßt
sich Wirklichkeit und Wirksamkeit einer solchen Größe auch tat-
sächlich beobachten. All dies schließt wiederum nicht aus, daß
vieles an solchen Wirklichkeiten parakanonistisch existiert und
lebt. Dies schon darum nicht, weil es ja nicht eigentlich eine ge-
schriebene Verfassung der Kirche gibt. Der CIC ist keine, wenn
er auch Elemente davon namhaft macht. Überdies hat das Be-
wußtsein der Kirche über ihre Verfassung genauso eine Geschichte
wie ihr Dogma undihr Glaubensverständnis. Wie dieses vonihrem
unreflex vollzogenen Leben lebt, so hat es in seiner Entwicklung
376
und Geschichte auch einen Einfluß auf das konkrete Leben der
Kirche. Überdies erfordert die stets sich wandelnde äußere ge-
‚schichtliche Situation der Kirche eine immer neue Konkretisie-
rung der bleibenden Wesensstruktur der Kirche entsprechend den
Bedingungen der jeweiligen Zeit, weil ja auch das reale Wesen
der Kirche (was mehr ist als die Idee ihres Wesens) immer nur in
den kontingenten, geschichtlichen Menschen und ihrem ge-
schichtlich bedingten Tun existiert. Daher ist es selbstverständ-
lich, daß das bleibende Wesen der Kirche, ihre göttlich gestiftete
Verfassung, mehr oder weniger klar, rein und wirksam im ge-
schichtlichen Erscheinungsbild der Kirche hervortreten kann. In
diesem Sinn war z.B. der päpstliche Juridiktionsprimat zweifellos
nicht immer so «da», wie er es jetzt ist. Infolgedessen kann und
darf man sich immer fragen, ob nicht diese oder jene Momente die-
ser Verfassung der Kirche reiner in Erscheinung treten, intensiver
gelebt werden könnten, ob nicht Zufälligkeiten historischer Ent-
wicklung solche Momente verdunkeln, ob der « Phänotyp» (wenn
man einmal so sagen darf) nicht verfassungsrechtlich (in geschrie-
bener oder ungeschriebener Verfassung und Verfassungsleben)
besser dem verfassungstheoretischen «Genotyp» der Kirche ent-
sprechen könnte. Nur wo man die Verfassung der Kirche in einer
geschriebenen Verfassung aufgehen ließe und die Verfassung der
der Kirche mysteriums- und geschichtslos identisch wäre mit den
Paragraphen einer gesatzten Verfassung und also das Verfassungs-
leben der Kirche nur daraufhin geprüft werden könnte, ob fak-
tisch diese Paragraphen eingehalten werden oder nicht, kann diese
Selbstverständlichkeit bezweifelt werden.
Dabei ist für die Beurteilung der frühesten Entwicklung des
Verfassungsdogmas und -lebens in dem Übergang von der Kirche
der Apostel (der «Urkirche» im theologischen Sinn) zur Kirche
des 2.Jahrhunderts (des «Frühkatholizismus ») folgendes zu be-
achten. Es kann in dieser Kirche unter Umständen eine Eintwick-
lung der Verfassung möglich sein und historisch beobachtet wer-
den, die einerseits wirklich eine geschichtlich spezifizierende De-
termination der ursprünglich gegebenen weiteren, plurivalenten
Möglichkeiten in der Verfassungsstruktur der Kirche ist und den-
noch für das katholische Verständnis der Verfassung der Kirche
377
den Charakter göttlichen Rechtes hat und behält. Dazu ist nur er-
fordert, daß man a) versteht, daß jedes geschichtlich einmalige
Gebilde und so auch die Kirche in sehr vielem eine «einbahnige »
Geschichte hat und darum nicht jede Entwicklung und geschicht-
liche Entscheidung revidierbar sein muß oder sein kann, daß man -
b) voraussetzen kann und darf (historisch nachher als verständlich
und berechtigt, wenn vielleicht auch nicht als «zwingend » nach-
weisbar), daß eine solche Entwicklung eine legitime, wenn auch
nicht einfach notwendige, Entscheidung war, die die an sich viel-
leicht plurivalente Möglichkeit sinnvoll und unvermeidlich in
einer Richtung konkret werden und sich spezifizieren ließ, und
wenn c) vorausgesetzt wird, daß eine solche Entscheidung noch
. zum apostolischen Zeitalter gehört, also theologisch noch als Mo-
ment am Offenbarungsvorgang und nicht bloß an der Tradierung
der «mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossenen » Offen-
barung betrachtet werden kann. Wenn also z.B. am Ende des
apostolischen Zeitalters eine episkopale Verfassung der Kirche
praktisch überall gegeben ist, weil sie zu Beginn des « Frühkatho-
lizismus» überall geschichtlich greifbar wird, so kann diese als
«luris divini» verstanden werden, ohne daß man sie in den Neu-
testamentlichen Schriften so deutlich ausgebildet, so eindeutig
gegenüber « presbyteralen» Tendenzen als vorwiegend erklären
müßte, daß eine andere Verfassungsentwicklung von vornherein
überhaupt nicht denkbar gewesen wäre. Diese Bemerkung ist hier
nicht unwichtig. Haben wir auch hier nicht Aufgabe und Absicht,
die Kollegialität des Bischofskollegiums theologisch aus den loci
theologici der Dogmatik und des Kirchenrechts nachzuweisen, so
kann eine solche Bemerkung doch verständlich machen, daß und
in welchem Sinn jene spätere, deutlicher gegebene Verfassungs-
struktur der Kirche gut « neutestamentlich » ist, die wir bei unse-
ren folgenden Überlegungen voraussetzen. Und überdies ist es ja
gerade die kollegiale, die (wenn das Wort richtig verstanden wird)
«presbyterale» Idee in der Verfassung der Kirche, für die hier
praktische Konkretisationen bedacht werden, ohne die «monar-
chische » Idee in derselben Verfassung zu gefährden.
Wir gehen für unsere Überlegungen von der Frage aus, wie sich
die Kooptation eines Bischofs in das Kollegium zu seiner Bestellung
578
zum Bischof, diese Kooptation zur Amtsübertragung (durch Or-
dination und Jurisdiktionsverleihung oder durch das erste allein)
genauer verhalte. Schließen sich diese beiden Seiten des bischöf-
lichen Amtes (Gliedschaft im Kollegium; Bischofsamt) und der
Amtsverleihung (Aufnahme ins Kollegium; Amtsverleihung) ge-
genseitig in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis ein, oder
ist die Zugehörigkeit zum Kollegium eine bloße, gewissermaßen
sekundäre Folge des bischöflichen Einzelamtes und seiner Verlei-
hung? Man kann diese Frage auch studieren am analogen Fall: ist
der Papst oberster Hirte der Kirche einfach und nur, weil er Bischof
von Rom ist, mit dessen römischem Bischofsamt (untrennbar oder
— durch einen päpstlichen Akt -trennbar) das Oberhirtenamt ver-
bunden ist, oder ist er — wenigstens wirklich absolut logisch
« gleichzeitig» oder sogar logisch «früher» Haupt der Gesamt-
kirche und so gewählt, so daß er damit oder dadurch auch Bischof
von Rom wird? Wird bei der Papstwahl der Nachfolger Petri ge-
wählt, insofern dieser auch letztlich unabhängig vom römischen
Bischofsamt Oberster Hirt der Kirche ist, so daß dadurch auch der
Bischof von Rom bestellt wird, weil Petrus eben auch die Leitung
der Römischen Gemeinde innehatte, oder wird an sich in erster
Zielsetzung «nur» der Bischof von Rom gewählt, der dadurch,
daß er Bischof von Rom ist, auch Inhaber des universalen Petrus-
amtes wird, weil es dieses in der Kirche geben muß und dem Bi-
schof von Rom als Nachfolger Petri als dieses ersten Römischen
Bischofs auch dieses oberste Hirtenamt zufällt? Welche prakti-
schen Folgen sich aus dieser kniffligen und scheinbar uninteressan-
ten Frage ergeben könnten (für den Papst und -hier vor allem für
die Bischöfe) wird sich noch zeigen. Bei der Beantwortung dieser
beiden Fragen, die letztlich eine sind, treten wir hier nicht für ein
absolut einbahniges sachliches, logisches Prioritäts-, bzw. Poste-
rioritätsverhältnis zwischen den beiden Momenten ein, die fak-
tisch in jedem der beiden Ämter (Papst und Bischof) gegeben sind.
Es genügt uns, ein wenigstens wechselseitiges Bedingungsverhält-
nis zwischen beiden Momenten zu behaupten, also die Meinung
zu widerlegen, als sei Gliedschaft am Kollegium, bzw. oberstes
Hirtenamt eine reine nachträgliche Folge des anderen Momentes
(bischöfliches, meist territorial begrenztes Einzelamt; Römisches,
379
lokales Bischofsamt). Wir sagen also, daß man mindestens auch den
gegebenen Sachverhalt so sehen kann und muß, daß man formu-
lieren kann: Weil einer (durch Weihe und kanonische Sendung) ins
Bischofskollegium aufgenommen wird, ist er Bischof. Weil einer
zum obersten Hirten der Kirche erwählt wird (und dies annimmt),
ist er Bischof von Rom. Und nicht nur umgekehrt. Wir sind uns
bewußt, daß diese so vorsichtig formulierte These keine letzte
formalrechtliche und logische Klarheit besitzen mag. Aber sie
scheint uns berechtigt (wenigstens als Minimaltheorie) und genügt
für unsere angestrebten Ausblicke auf die gegebene oder erhoffte
Praxis der Kirche.
Zur Begründung der These ist zunächst darauf hinzuweisen,
daß das Bischofskollegium in der ganzen christlichen Tradition als
Nachfolger des Apostelkollegiums betrachtet wird. Daß die Bi-
schöfe Nachfolger der Apostel in deren (vererbbarem) Amt sind, ist
katholische Glaubenslehre. Wenn ein Bischofskollegium existiert
und ein Apostelkollegium existierte, dann kann und muß unter
Voraussetzung dieser Glaubenslehre gesagt werden, daß das Bi-
schofskollegium als solches Nachfolger des Apostelkollegiums als
solchen ist. Anders kann auch die Vollmacht eines Konzils gar nicht
erklärt werden, da der einzelne Bischof ja nicht unfehlbar ist, das
Konzil es aber ist, und diese höchste Vollmacht und lehramtliche
Unfehlbarkeit ihm nicht vom Papst übertragen werden kann.
Dann könnte nämlich diese übertragene Gewalt nicht die höchste
Gewalt in der Kirche sein, was aber der Fall ist. Dementsprechend
qualifiziert z.B. Salaverri die These, daß das Bischofskollegium
(innerhalb und außerhalb des Konzils) Träger unfehlbarer Lehr-
gewalt (unter bestimmten Voraussetzungen) sei, als katholisches
Dogma. Das Kollegium folgt als solches dem Apostelkollegium und
ist formell dessen Weiterexistenz und darin hat ein Bischof als
Glied die höchste Gewalt, die ihm überhaupt zukommt. Nun ist
aber das Apostelkollegium nicht konstituiert durch - sit venia
verbo — Lokalapostel. Seine Existenz und Vollmacht geht einer
eventuellen Übernahme einer territorialen Einzelfunktion durch
den einzelnen Apostel sachlich voraus, selbst wenn jene legendäre
Aufteilung der Welt unter die Apostel wahr wäre. Und ebenso ist
das Petrusamt mindestens einmal in Petrus selbst und seine Haupt-
580
funktion im Apostelkollegium ursprünglich nicht «lokal» spezi-
fiziert. Weder Petrus noch das Apostelkollegium übten eigentlich
die Funktion eines Jerusalemer «Ortsbischofs » aus, die immer
nur als in Jakobus gegeben angesehen wurde. Ist also das Bischofs-
kollegium als solches formell Nachfolger des Apostelkollegiums als
solchen, so muß auch diese Eigentümlichkeit von ihm gelten. Als
Kollegium ist es nicht einfach die Einheit von Ortsbischöfen als
solchen, sondern ein kollegiales Führungsgremium der Kirche, das
als solches seine Vollmacht nicht ableiten kann aus der lokal be-
grenzten Vollmacht seiner Glieder als Ortsbischöfe. Natürlich ist
es ein theologisches Problem, das eine Antwort fordert, warum
dieses Nachfolgekollegium konstituiert wird durch Männer, die
(mindestens allermeist und zuerst überhaupt nur) eine örtlich be-
grenzte kirchliche Funktion innehatten; natürlich ließe sich von
da aus in die Differenz zwischen Apostelkollegium und Bischofs-
kollegium, die es auch gibt, tiefer eindringen. Aber diese Fragen,
die hier nicht zur Diskussion stehen, dürfen die Einsicht nicht ver-
dunkeln, daß das Bischofskollegium als solches seine Existenz und
sein Recht von einem Kolleg herleitet, das nicht gebildet war aus
Männern mit territorial umschriebener Sendung und Vollmacht,
und daß das Bischofskollegium auf jeden Fall nicht formal auf-
gebaut werden kann aus Einzelbischöfen, insofern sie territorial
begrenzte Vollmachten haben. Dasselbe gilt auch für das Petrus-
amt. Aus der lokalen Funktion Petri und seiner Nachfolger als
Träger dieser lokalen Aufgaben und Vollmachten läßt sich die
Funktion des obersten Hirten nicht ableiten. Ein Bewußtsein für
diese Grundstrukturen zeigt sich auch in der altkirchlichen Praxis,
daß bei der Wahl eines neuen Ortsbischofs nicht nur die Ortsge-
meinde und ihr Klerus, sondern die Nachbarbischöfe, Metropo-
liten und Patriarchen mitwirkten. Die Wahl des Papstes durch
das Kardinalskollegium ist wenigstens formell Wahl durch die
suburbikarischen Bischöfe oder jedenfalls nicht einfach nur durch
die Repräsentanten der Römischen Gemeinde als solcher. Auch die
Praxis eines internationalen Kardinalskollegiums, die uns heute
doch fast selbstverständlich erscheint, zeigt, daß es sich wenigstens
heute formell und unmittelbar nicht nur um die Wahl des Römi-
schen Bischofs als solchen, sondern um die Wahl des obersten Hir-
581
ten der ganzen Kirche handelt. Darum setzte sich seit der Ein-
richtung dieses Wahlmodus eine immer stärkere Internationali-
sierung des Kardinalskollegiums durch. Die Zuweisung einer römi-
schen Titelkirche an die Kardinäle, die keine suburbikarischen
Bischöfe sind, macht nur deutlich, daß man bei dieser Sicht des
Wahlsinnes das Bewußtsein nicht verlieren wollte, daß es sich da-
bei auch immer gleichzeitig um die Bestellung des römischen Orts-
bischofs handelt. Wir dürfen auf Grund dieser Andeutungen wohl
. sagen: Die Aufnahme und Zugehörigkeit zum Bischofskollegium
(bzw. Bestellung zum obersten Hirten als solchen) ist eine wesent-
liche, gleichrangige und unmittelbar mit dem betreffenden Amt
gegebene Seite des Bischofsamtes (Petrusamtes) bzw. seiner Ver-
leihung, dienicht einseitig aus der anderen Seite (lokale Vollmacht)
abgeleitet oder bloß von dieser her gesehen werden darf. Ein Bi-
schof ist Ortsbischof, weil und insofern er zum Bischofskollegium
als dem obersten Führungsgremium der Gesamtkirche gehört,
wenn auch damit die umgekehrte Sicht nicht in ihrer Berechti-
gung bestritten werden soll. Weihe und kanonische Sendung ha-
ben unmittelbar auch den Sinn der Aufnahme in dieses Kollegium,
das selbst keinen territorialen Charakter hat und dessen gesamt-
kirchliche Vollmacht nicht daher kommt, daß die einzelnen Bi-
schöfe ihre territorial begrenzten Vollmachten zusammenstückeln
und so mitihr den ganzen Erdkreis decken. Dabei bleibt es natür-
lich doch wahr und wichtig, daß sie im Kollegium ihre Partikular-
kirchen repräsentieren und deren Schätze — geistliche Eigenart,
geschichtliche Situation, lebendige Kraft, Wille zur Verantwor-
tung für das Ganze der Kirche - der ganzen Kirche zur Verfügung
stellen.
Il
Von diesem erreichten Punkt aus sind nun jene ins Praktische ge-
henden Ausblicke zu gewinnen, die wir suchen. Wir versuchen,
einige zu zeigen, ohne daß es uns dabei auf eine systematische
Ordnung ankommt.
582
” Das Kardinalskollegium
Wenn das Kollegium der Bischöfmit e dem Papst als seinem Haupt
die höchste und volle Vollmacht in der Kirche innehat, dann läge
es an sich nahe, daß dieses bei einer notwendig gewordenen Neu-
wahl sein neues Haupt wählt. Denn die Bestellung des Papstes als
obersten Hirten der ganzen Kirche ist, wenn wir recht haben,
dogmatisch mindestens ebenso wichtig wie die Wahldes Papstes als
Bischof von Rom. Und der erste Gesichtspunkt ist heute praktisch
im Unterschied zu den ersten Jahrhunderten der Kirche von so
viel größerer Bedeutung als der zweite, daß er bei einer Art
« Kompetenzstreit» hinsichtlich des Wahlmodus zweifellos den
Vorrang haben muß. Eine solche Wahl durch die Körperschaft, die
die ganze Kirche repräsentiert, wäre auch heute beim heutigen
Weltverkehr im Unterschied zu den ersten achtzehn Jahrhunder-
ten der Kirche praktisch nicht undurchführbar. Daß die geschicht-
liche Entwicklung des Kardinalskollegiums selbst implizit vom
Bewußtsein getragen ist, es handle sich nicht bloß um die Wahl des
römischen Bischofs als solchen durch die römische Ortskirche, son-
dern um die Wahl eines Mannes, an dem die ganze Kirche als
solche unmittelbar interessiert sein darf und soll, wurde schon frü-
her gesagt. Es läge also von einem rein systematischen Denken her
durchaus nahe, daß die Vertretung der Gesamtkirche deren neues
Haupt wählt. Selbst wenn man sagen würde, die nächststehenden
Mitarbeiter des verstorbenen Papstes sind das beste Wahlgremium,
so wäre nochmals zu sagen: Die nächsten Mitarbeiter des Papstes
sind, theologisch gesehen, hinsichtlich der Regierung der Gesamt-
kirche eben gerade die Bischöfe und nicht die Leiter zentraler
Ministerien, die als solche höchstens eine vom Papst delegierte
Vollmacht auf die Kirche hin haben, die wesentlich begrenzt ist,
und nicht jene Vollmacht, die dem Kollegium iure divino zu-
kommt.
Nun ist einmal aber auch mit allem Respekt die Tatsache der
Geschichte und Existenz des Kardinalskollegiums als Wahlgre-
mium für den Papst zu bedenken. Und man braucht die Augen
nicht davor zu schließen, daß eine Wahl des Papstes durch das
Bischofskollegium heute technisch zwar möglich ist, darum aber
585
doch unter anderen Gesichtspunkten schwer durchführbar wäre.
Eine solche Wahl wäre praktisch doch nur möglich, wenn die Ver-
sammlung aller Bischöfe wieder eine Art (wenigstens vorbereiten-
den) Wahlausschuß bildete. Und dann wären wir eben wieder bei
einer Art Kardinalskollegium. Die Geltendmachung des Gedan-
kens, daß das Bischofskollegium verfassungstheologisch am ehesten
zur Wahl des Papstes berufen wäre, läßt sich also dadurch gerade
am besten praktisch realisieren, daß das Kardinalskollegium selbst
so gestaltet ist, daß es als praktische Repräsentation des Bischofs-
kollegiums angesehen werden kann (was ja in keiner Weise be-
deuten muß, daß es bei der Wahl des Papstes an irgendwelche
«Aufträge» gebunden sei und ein Kardinal nicht ganz nach sei-
nem eigenen Gewissen wählen könne und müsse). Wie die Praxis
des Konzils zeigt, bildet sich eine solche repräsentative Funktion
des Kardinalskollegiums parakanonistisch tatsächlich langsam wie
von selbst heraus: die Kardinäle haben hier größere Rechte, ihre
Voten abzugeben, und faktisch hat ihr Wort in der Aula mehr Ge-
wicht als das anderer Bischöfe. Und doch sprechen sie hier als Mit-
glieder des Bischofskollegiums. Selbst wenn man sagt, es gezieme
- jaschon der Funktion eines Kardinals als eines Mitglieds der ober-
sten Regierung der Kirche, auch Bischof zu sein, auch wenn er
nicht als Glied einer engeren Repräsentanz des Bischofskollegiums
als solchen angesehen wird, so könnte dem wieder entgegenge-
halten werden, daß ein Kardinal als solcher gar nicht Mitglied der
obersten Regierung der Kirche ist, sondern Beamter des Papstes,
während der Papst selbst und unter ihm das Bischofskollegium die
oberste Regierung der Kirche bilden, also für einen Kardinal von
seiner wirklichen Funktion, wie sie da ist oder aufgefaßt wird,
‚seine Aufnahme ins Bischofskollegium nicht recht verständlich
gemacht werden kann. Sind die Kardinäle doch faktisch insgesamt
Bischöfe, so wird das am verständlichsten, wenn ihr Kollegium als
engere Repräsentanz des Bischofskollegiums aufgefaßt wird. Die
seit seinem halben Jahrhundert stetig fortschreitende Internatio-
nalisierung des Kardinalskollegiums weist in dieselbe Richtung.
Dazu kommt folgender Umstand: Johannes XXIII. hat sämt-
liche Kurienkardinäle, die noch nicht Bischöfe waren, zu Bischö-
fen ordiniert. Es wird schwer sein zu sagen, was dabei über die Be-
584
tonung der Würde und Bedeutung eines Kardinals hinaus die ge-
nauere Absicht war. Ob diese Praxis in Zukunft beibehalten wird,
läßt sich auch noch nicht sagen. Man wird auch gestehen dürfen,
daß dieser Vorgang einen zunächst seltsam berührte; man konnte
den Eindruck haben, daß die höchste Stufe der Weihehierarchie
fast nach Art von Orden und Titeln zu gewissermaßen gesellschaft-
lich-dekorativen Zwecken benützt werde, daß jemand der Titel
eines Amtes verliehen werde, an dessen Ausübung gar nicht ge-
dacht werde, da sie als bloße Kardinäle, ohne Bischof zu sein, auf
dem Konzil iure divino nicht notwendig Sitz und Stimme hätten
wie residierende Bischöfe. In der Perspektive, die sich uns hier
eröffnet, sieht die Sache ganz anders aus. Es ist zunächst durchaus
sinnvoll, daß ein Mann von der Bedeutung eines Kardinals dem
Bischofskollegium angehört, da dieses seinem Wesen nach (der
Summe der Ortsbischöfe als solcher mindestens gleichgeordnet)
als oberstes, kollegiales Führungsgremium der Kirche nicht zur
aus Ortsbischöfen bestehen muß, sondern sinnvoll auch solche Mit-
glieder umfaßt, die ebenso unmittelbar zur Gesamtregierung der
Kirche beitragen wie Ortsbischöfe. Solcher Art sind aber die Kar-
dinäle. Es ist also eigentlich eine Ausrichtung, Vereinfachung und
Klärung der konkreten Struktur der Kirche, wenn solche Männer
dem iure divino gesetzten Führungskollegium der Kirche wirklich
auch angehören ;wenn sakramental verankert wird, was sie recht-
lich und praktisch auf jeden Fall sind. Das kann nur so lange unklar
bleiben, als man in einer zu unnuancierten Weise der Meinung ist,
das Bischofskollegium könne sich seiner Natur nach an sich und
im ersten Ansatz allein aus Ortsbischöfen zusammensetzen. Über-
windet man dieses Vorurteil und begreift man, daß jemand, der,
von der Sache her gesehen, tatsächlich an dem höchsten Führungs-
gremium der Kirche beteiligt ist, auch die sakramentale Bevoll-
mächtigung und Amtsgnade dafür haben soll, dann wird die Maß-
nahme Johannes’ XXIII. als sachlich richtig erscheinen. Dann
aber wird das Kardinalskollegium eine Art Kommission oder Aus-
schußkolleg des Bischofskollegiums, dem an sich am sinnvollsten
von der letzten Verfassungsstruktur der Kirche her die Wahl des
Papstes zukommt, und es wird verständlich, warum es auch heute
und in Zukunft am besten das Papstwahlkollegium bildet. Vor-
585
\
2. Titularbischöfe
586
zu den territorialen Gliedern der Kirche liegen oder mehrere Diö-
zesen umfassen, gibt und geben muß, so gibt es Ämter und Auf-
gaben in der Kirche institutioneller Art, die sich einer normalen
territorialen Aufgliederung nicht fügen und doch sachlich von
derselben Bedeutung für die Kirche sind wie die Funktion eines
Ortsbischofs. Eine katholische Universität z.B. von dem Rang der
Universität Löwen ist mindestens ein ebenso bedeutendes « Glied »
der Kirche wie eine kleine italienische Landdiözese. Es ist also gar
nicht sinnlos oder. der Verfassun