Daniela HAARMANN
Guest researcher (FWF-Schrödinger-Scholarship), Hungarian Academy of
Science and Austrian Academy of Science
In: Harald Heppner / Sabine Jesner (eds.), The 18th Century as Period of
Innovation, Yearbook of the Society for 18th Century Studies on South Eastern
Europe 2 (2019), 35–49.
DOI: 10.25364/22.2:2019.4
https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/deed.de
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Daniela Haarmann
Daniela HAARMANN*
About 1800 in the context of the upcoming national scholarliness language movements arose all over
Europe. Their intention was the standardisation as the establishment of the own native language as
a language of science and literature. One of them was Hungarian Language Renewal (Magyar
Nyelvújítás). This article provides an overview of this specific language renewal in first sections: The
first introduces the general European as the specific Hungarian background of this movement. Then,
the political, literary as linguistic dimensions of the Hungarian Language Renewal is analysed in
the parts two to four. These elaborations are likewise an introduction to an upcoming research
project. Therefore, this paper merely presents basic considerations and cornerstones of this project
than definite research results.
„Nicht allein die Verbreitung deines Namens, sondern genauso das Glück des
Vaterlandes und der Vergrößerung und Verschönerung unserer Sprache mögen
[durch dein Vorhaben] verfolgt werden.“1 Als Ferenc Kazinczy, der (möchtegern)
Diktator2 der ungarischen Gelehrsamkeit, 1791 diesen Wunsch an seinen
Freund György Aranka in Cluj (Klausenburg / Kolozsvár) 3 schrieb, hat dieser
gerade erst die Gesellschaft zur Pflege der ungarischen Sprache (ung.: Erdélyi
magyar nyelvmívelő társaság) ebendort gegründet. Die Pflege der ungarischen
Sprache war ein zentrales Anliegen zahlreicher ungarischer Gelehrter und
Politiker in dieser Zeit. Unter Pflege ist hierbei die Vermehrung des ungarischen
Wortschatzes, die Standardisation der Grammatik und Rechtschreibung sowie
die Entwicklung einer ungarischen Wissenschafts- und Literatursprache zu
verstehen; kurzum: eine Erneuerung der Sprache. Im Ungarischen wird diese
Bewegung Ungarische Spracherneuerung (ung.: Magyar Nyelvújítás) genannt.
Sie umfasst einen Zeitraum von ungefähr den letzten Jahrzehnten des 18.
Jahrhunderts und dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts.
Dieser Beitrag möchte einen Überblick über die zentralen Elemente der
ungarischen Spracherneuerung geben. Bislang ist dieses Thema
* Das dreijährige Forschungsprojekt trägt den Titel „A mi magyar nyelvünk. Die Ungarische
Spracherneuerung (1776–1825)“, finanziert durch ein Schrödinger-Stipendium (J4331) des Fonds
zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich (FWF).
1 Brief Ferenc Kazinczys an György Aranka, (27.09.1791), zitiert nach János Váczy (Hrsg.): Kazinczy
Ferencz levelezése [Korrespondenz von Ferenc Kazinczy], Bd. 2, Budapest 1891, (Kazinczy Ferencz
össze művei. Hamadik Osztály, 2), Brief-Nr. 383, 224 (fortan zitiert als KazLev II): „Azok nem tsak
Nevednek el-híresedését, hanem a' Haza boldogságát 's Nyelvünk gazdagúlását 's tsínosúlását is
tzélozzák.“
2 Nach Béla K. Király, Hungary in the Late Eighteenth Century. The Decline of Enlightened
heute landesübliche Bezeichnung. Zudem werden die deutschen und ungarischen Namen in
Klammern angegeben. Da es sich um einen deutschsprachigen Aufsatz handelt, werden zuerst die
deutschen genannt. Eine politische Aussage ist damit in keinem Fall verbunden.
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Hierzu ist der Artikel in vier Abschnitte eingeteilt: Nach einer Einführung in
die grundlegende Forschungsproblematik stellen die Kapitel zwei bis vier die
drei zentralen Dimensionen der Spracherneuerung vor:
4 Gyula Szekfű (Hrsg.), Iratok a magyar államnyelv kérdésének történetéhez. 1790‒1848 [Schriften
zur Geschichte der Frage der ungarischen Staatssprache]. Budapest 1926 (Fontes historiae
Hungaricae aevi recentioris); Vilmos Tolnai, A nyelújítás. A nyelvújítás elmélete és története [Die
Spracherneuerung. Die Theorie und Geschichte der Spracherneuerung]. Budapest 1929 (A magyar
nyelvtudomány kézikönye; II, 12); Lajos Csetri, Egység vagy különbözőség? Nyelv- és
irodalomszemlélet a magyar irodalmi nyelvújítás korszákban [Gemeinsamkeiten oder
Unterschiede? Sprach- und Literaturbetrachtungen in der Zeit der ungarisch literarischen
Spracherneuerung]. Budapest 1990 (Irodalomtudomány és Kritika); Adrienne Dömötör, A
nyelvújítás [Die Spracherneuerung], in: Ferenc Kiefer / Péter Siptár / Marianne Sz. Bakró-Nagy
(Hrsg.), Magyar nyelv [Die ungarische Sprache]. Budapest 2006 (Akadémiai kézikönyvek), 385‒
400; Ambrus Miskolczy, Kazinczy Ferenc útja a nyelvújítástól a politikai megújulásig [Der Weg
Ferenc Kazinczys von der Spracherneuerung zur politischen Erneuerung]. Bd. I–IV. Budapest
2009 (Kisebbségkutatás könyvek); Gesondert zu erwähnen sind die Forschungs- und
Editionsarbeiten von Attila Debreczeni u. a.: Attila Debreczeni, Csokonai, az újrakezdések költője.
A felvilágosult szemléletmód fordulata az életműben [Csokonai, der Poet der Neustarts. Die
Revolution der aufgeklärten Anschauung in seinem Lebenswerk]. Debrecen 1993 (Csokonai
könyvtár 1).; des. (Hrsg.), Első folyóirataink. Magyar museum. Vol 2: Kommentár [Unsere ersten
Periodika]. Debrecen 2004 (Csokonai könyvtár, Források (Régi kortársaink) 11), des. (Hrsg.),
Pálóczi Horváth Ádám művei [Die Arbeiten von Ádám Pálóczi Horváth]. Debrecen 2018 (Magyar
nyelvű Tudományos Kritikai kiadá). Ferner ist auf das laufende Dissertationsprojekt
Nationsgründer jenseits der Nation. Interkulturelle Resonanzen in Ungarns Sprachendiskurs
(Univ. Luzern) von Veronika Studer-Kovacs hinzuweisen.
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5 Siehe hierzu auch Dieter Breuer (Hrsg.), Aufgeklärte Sozietäten, Literatur und Wissenschaft in
Mitteleuropa. Boston, Berlin 2019 (Frühe Neuzeit 229). Das Buch konnte nicht mehr für den
vorliegenden Beitrag konsultiert werden, da es sich zum Zeitpunkt der Einreichung noch im Druck
befand.
6 Das Jahrbuch 3 der SOG18 (2020) wird sich der Situation von Sprachen in Südosteuropa im 18.
Process in Europe, in: Gopal Balakrishnan (Hrsg.), Mapping the Nation. London, New York 2012,
78–97, 79.
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wobei die Literatur, insbesondere ihre Poesie als einen Spiegel des
Zivilisationsgrades einer Nation wertet. 9
Herder war speziell für den ungarischen Sprachraum von Bedeutung, indem er
das baldige Aussterben dieser isolierten Sprache prophezeite. Auch wenn diese
Prophezeiung bis heute als permanentes Drohszenario rezipiert wird,
kritisierten schon im 18. Jahrhundert ungarische Gelehrte den deutschen
Denker. So bezeichnete der Piarist und Lehrer András Dugonics (1740–1818)
ihn als einen „deutschen Esel“ und andere erklärten ihn gleich zu einem Feind
des Magyarentums.10
Teils als Konsequenz der Gleichsetzung von Sprache und Nation, teils durch die
von der Reformation aufgekommene Hinwendung zur lokalen Umgangssprache
kam in Europa eine Abkehr von Latein zugunsten der Landessprache auf.
Gelehrte schrieben nicht mehr (ausschließlich) für die gebildete Elite, sondern
für die monoglotten, aber lesekundigen Teile der eigenen Landesbevölkerung.
Damit folgten Gelehrte einem weiteren Konzept der Aufklärung, und zwar,
Wissen auch für jene einsprachigen Teile der Bevölkerung zugänglich zu
machen. Damit war Wissen nicht mehr allein für einen kleinen elitären Bereich
vorbehalten, sondern wurde zum Mittel moralisch-nationaler Erziehung eines
„nützlichen Landsmannes“.
Ähnlich wie für Autorinnen und Autoren aus heutiger Zeit war die Wahl der
Publikationssprache eine Frage des Zielpublikums. Schrieb jemand in Latein, so
war der Beitrag lediglich für jene horizontale Schicht einer europäischen
Bildungselite verständlich, die in den Genuss einer humanistischen Ausbildung
gekommen war. Ein größeres internationales Publikum erreichte man, wenn
man seine Arbeiten in eine der gängigen anderen Sprachen des Okzidents
verfasste wie Französisch, Deutsch oder Italienisch. Das Publizieren in der
eigenen Landessprache hingegen bedeutete, sofern diese nicht eine der drei
genannten war, einen eingeschränkteren, nationalen Kreis an Leserinnen und
Lesern. Diese Überlegungen bewogen etwa den ungarischen Gelehrten Márton
György Kovachich (1774–1821), seinen Merkur von Ungarn (1786–1787) in
Deutsch und nicht in Ungarisch herauszugeben:
[…] den[n] in welcher Sprache, und für wen hätte man eine gelehrte Zeitung schreiben
sollen? in der lateinischen? diese war freylich die gelehrte Sprache, aber der größte Theil
hätte davon doch keinen Nutzen schöpfen können. Die ungarische ist weder allgemein noch
kultiviert genug für eine gelehrte Sprache, und der größte Theil deren, die derselben kundig
sind, hat nicht den Beruf, gelehrte Zeitungen zu lesen. […] Die deutsche Sprache haben wir
der lateinischen vorgezogen, weil sich in unsern Zeiten von so vielen neuen, den alten
Lateinern unbekannen Gegenständen nicht ohne Zwang, ohne neue Wörter und Wendungen,
und also nicht rein und gut lateinisch schreiben läßt […].11
Kronländer, welche in der freyen königlichen Haupt- und Residenzstadt Ofen von einigen
patriotischen Liebhabern der Litteratur, unter der Aufschrift: Merkur von Ungarn, heftweise
monathlich zu 6 Bogen auf das Jahr 1786. herausgegeben wird, Merkur von Ungarn, oder
Litteraturzeitung für das Königreich Ungarn und dessen Kronländer 1/1–6 (1768), 1–21, 10–12.
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Quelle: A Pallas Nagy Lexikona, Magyarország [Ungarn]. Bd. 12, Budapest 1896; Online:
<https://www.arcanum.hu/hu/online-kiadvanyok/Lexikonok-a-pallas-nagy-lexikona-2/m-
1120C/magyarorszag-114EA/>, 31.08.2019.
Über 150 Jahre war das Königreich Ungarn dreigeteilt gewesen (1526–1699).
Diese Teilung wirkte sich auch auf die Sprachtraditionen aus, indem in den drei
Gebieten drei unterschiedliche Sprachpraktiken entstanden. Der westliche und
nördliche Teil stand unter der Herrschaft der katholischen Habsburger, und
entsprechend orientierten sich die Eliten hier an den gesprochenen Sprachen am
Wiener Hof (Deutsch, Französisch, Italienisch) und schließlich Latein. Der
mittlere Teil gehörte zum Osmanischen Reich, wo zumindest auf
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administrativer Ebene ein Gemisch aus Ungarisch und Türkisch herrschte. 12 Bis
heute zeugen zahlreiche türkischstämmigen Begriffe im Ungarischen von dieser
Zeit.13 Zudem war das mittlere Ungarn ein Zufluchtsort für protestantische
Flüchtlinge aus den deutsch-katholischen Ländern.14 Der östliche Teil, der aus
dem heutigen Ostungarn und Siebenbürgen bestand, war ein Satrapenstaat des
Osmanischen Reiches. Die lokale magyarische Oberschicht war protestantisch
und nutzte Ungarisch als Alltags- und Publikationssprache, doch fehlen
allerdings wiederum tiefergehende Studien zur Sprachpraxis in den drei Teilen
während der Frühen Neuzeit sowie Forschungen zu der Auswirkung dieser
Dreiteilung auf die Sprachenfrage des 18. Jahrhunderts.
Außerhalb der Länder der Stephanskrone trat jedoch auch Wien deutlich als
Zentrum ungarischer Gelehrsamkeit hervor. Schon aufgrund des 1783
aufgelösten Theresianums, einer Ritterakademie zur Ausbildung von
habsburgtreuen Aristokraten für den Staatsdienst, der Universität und des
Sitzes des Kaisers ließ die intellektuelle wie politische Elite sich rund um den
Wiener Hof ansiedeln. Es ist aber auch hier noch offen, wie intensiv der
Austausch mit Gelehrten anderer Sprachen und Ethnien erfolgte.15
12 István Tóth, Hungarian Culture in the Early Modern Age, in: László Kósa (Hrsg.), A Cultural
History of Hungary. From the Beginning to the Eighteenth Century. Budapest 1999, 154–288,
210–211.
13 Diese sind nicht zu verwenden mit Begrifflichkeiten, welche die noch nomadischen Magyaren in
Jahrhundert (1606–1683). Stuttgart 2010 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen
Mitteleuropa, 37), 52; 98–99.
15 Für erste Ansätze siehe unter anderem Éva H Balázs, Bécs és Pest-Buda a régi századvégen [Wien
und Pest-Buda am Ende des alten Jahrhunderts]. Budapest 1987; für eine englische Übersetzung
siehe: Éva H Balázs, Hungary and the Habsburgs. An Experiment in Enlightened Absolutism.
Budapest 1997; György Kókay, A bécsi publicisztika és a magyar felvilágosodás [Die Wiener
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Politische Dimension
Die Wurzeln der ungarischen Sprachenfrage sind bis in das frühe 18.
Jahrhundert zurückführbar und können als direkte Konsequenz der (Re)-
Integrationspolitik des Wiener Hofes gedeutet werden. Im Zuge dieser Politik
wurde Latein zur Landessprache erhoben, der gesamte Bildungsbereich der
Kontrolle der katholischen Kirche unterstellt und damit der sekundäre und
tertiäre Bildungssektor latinisiert. Lokale Autoritäten in den mittleren und
östlichen Reichsteilen protestierten gegen die Latinisierung und kritisierten die
fehlende Tradition dieser Sprache. Konsequenterweise könnten viele der lokalen
Verwaltungsbeamten überhaupt gar kein Latein. Zudem fühlte man sich umso
unfairer behandelt, als dass in den habsburgischen Niederlanden und Italien die
jeweiligen Landessprachen im öffentlichen Leben zugelassen waren. 16
Die lang ersehnte Veränderung brachten dann die Auflösung des Jesuitenordens
1776 und die Bildungsreform Ratio Educations im Folgejahr, die die Kontrolle
über den Bildungssektor in die Hände des Staates legte. Da sie unter anderem
eine freie Sprachenwahl in den Mittelschulen sowie die Abfassung von
Dissertationen in einer im Reich repräsentierten Sprache erlaubte, setzte diese
Reform einen wichtigen Schritt, der Sprachenvielfalt im ungarischen Königreich
gerecht zu werden.19 So begannen die Piaristen und Paulaner, welche zahlreiche
Schulen im Reich unterhielten, neben Latein auch auf Ungarisch zu
unterrichten.20
kilenc esztendőt / Gyermek deák nyelvért veszejtse az időt / Ki jövén ne tudjon, hanem csak
veszendőt.“
19 Robert J. W. Evans, Austria, Hungary, and the Habsburgs. Essays on Central Europe (1683‒1867).
1686–1848 [Die Geschichte Budapests. Von der osmanischen Besatzung bis zur Märzrevolution].
Bd. 3, Budapest 1975, 196.
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SPIELMANN: […] Aber darum soll man den Artikl [sic] de lingua barbara angehen lassen,
um die Hungarn gäntzlich von solchen Aemtern auszuschliessen.
ZICHY: Da verzeihen Sie, denn jede Nation hat ihre eigene Sprache, besonders da die
lateinische als eine lingua mortua anzusehen ist.21
Linguistische Dimension
Ein generelles Problem zu Beginn der Ungarischen Spracherneuerung war der
Mangel an spezifischem Fachvokabular, das allerdings eine Voraussetzung zur
Schaffung einer Wissenschafts- und Literatursprache war. Speziell im Kontext
der zahlreichen naturkundlichen Entdeckungen, die das 18. Jahrhundert
prägten, war eine ungarische Wissenschaftssprache umso wichtiger, um den
Anschluss an andere europäische Länder nicht zu verlieren.
21 Protokoll des Krönungsrates (21.06.1792); zitiert nach Elemér Mályusz (Hrsg.), Sándor Lipót
Főherceg Nádor iratai [Die Schriften des Erzherzog-Palatins Alexander Leopold], Budapest 1926
(Fontes historiae Hungaricae aevi recentioris), 540. Anton Freiherr von Spielmann (1738‒1813),
Hof- und Staatsreferendar, fällt in den gesamten Protokollen durch seine rauen Äußerungen und
seiner gehässigen Haltung gegenüber allem und jedem auf, das oder der nicht deutsch ist.
22 Vgl. Gesetze vom 4. und 22. November 1805; zitiert in Gyula Szekfű, Iratok a magyar államnyelv
kérdésének történetéhez. 1790–1848 [Schriften zur Geschichte der Frage der ungarischen
Staatssprache]. Budapest 1926 (Fontes historiae Hungaricae aevi recentioris), 276–277.
23 Alternativ auch Strop oder Strófa geschrieben.
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Um 1800 wurde jedoch hauptsächlich die Endung gesprochen. Sie klingt ähnlich
wie im Deutschen jo, phonetisch geschrieben [jɒ]. Um den [j]-Laut in das
lateinische Alphabet zu übertragen, gibt es im Ungarischen prinzipiell zwei
Möglichkeiten: j oder y. Für den hier relevanten Zeitraum findet man in privaten
wie öffentlichen Schriftquellen die Schreibweise mit y sogar häufiger als die mit
j. Dennoch setzte sich nach lang geführten Diskursen Letztere durch.
Ein etwas kurioserer Fall war eine Diskussion zwischen Kazinczy, dem er
Sárospataker Gymnasialprofessor für klassische Sprachen Ferenc Nagy Vályi
(1765–1820) und dem Siebenbürger Verwaltungsbeamten und „Freizeit“-Poeten
Ferenc Kenderesi (1758–1824) darüber, ob das h im Ungarischen weiterhin
ausgesprochen oder gleich im Französischen zu einem h aspiré und damit bloß
gehaucht werden sollte. Allerdings verwarfen die drei Gelehrten die Idee schnell
wieder, da sie das Ungarische faktisch unverständlich machen würde:
In einem Wort: Nagy hat Recht, dieser gute ehrwürdige Ungar, [wenn] er auf seinem
Standpunkt verharrt, […] nicht zu wollen, dass had (Krieg) ad (jemand gibt) wäre, der harcz
(Kampf) arc (Gesicht), die hír (Nachricht) ír (jemand schreibt), der hely (Ort) ely (solche/r/s)
und der hang (Klang) ang, und so weiter.25
Kazinczy Ferencz levelezése [Korrespondenz von Ferenc Kazinczy], Bd. 10, Budapest 1910,
(Kazinczy Ferencz össze művei. Hamadik Osztály, 10), Brief-Nr. 2465, 438: „Egy szóval Nagynak
igaza van, ő jo Mejjü Magyar, talpán áll, […] hogy a had, legyen ad, a harcz, arcz, a hir, ír, a hely,
ely, és a hang ang: s a többi.“ (Zur besseren Lesbarkeit wurden die Interpunktion nach heutigen
deutschen Regeln gesetzt.)
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Der nächste Schritt führte über die Diskurse in Korrespondenzen hinaus und
bestand aus der Publikation von Grammatik- und Wörterbüchern (ein- oder
mehrsprachig) sowie Lehrbüchern, was zeitgleich zu vergleichbaren
Veröffentlichungen in anderen Sprachräumen erfolgte. So etwa verfasste der
siebenbürgische protestantische Geistliche Péter Bod (1712–1762) ein
ungarisch-lateinisches und ein lateinisch-ungarisches Wörterbuch, welches
posthum in zwei Bänden 1767 publiziert wurde. Der protestantische Bischof
Mihály Benedek (1748–1821) gab 1795 eine in Debrecen verfasste Grammatik
heraus und der genannte Verseghy publizierte seinerseits 1816 und 1818
mehrfach für den Schulgebrauch aufgelegte Bücher über die Rechtschreibung
und Grammatik. Zudem veröffentlichte er ungarische Lehrbücher für
deutschsprachige Schüler. In all diesen propagierte er das „Konjunktions-j“, was
auch zum Erfolg dieser Schreibvariante beigetragen haben dürfte.
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Daniela Haarmann
Literarische Dimension
Genauso wie ein Fachvokabular sowie einheitliche Rechtschreib- und
Grammatikregeln für die Entwicklung einer Schriftsprache obligat waren,
verhielt es sich mit der Etablierung von Literaturgattungen. Gerade im 18.
Jahrhundert entfalteten sich in verschiedenen Sprachräumen Europas
zahlreiche Stilrichtungen, deren einflussreichsten der Klassizismus und die
Romantik waren. Freilich stellte es auch ein Ziel der Spracherneuerer dar, diese
Gattungen in die magyarische Literatur einzuführen.
Ein methodischer Schritt zur Etablierung einer eigenen Literatur war die
Übersetzung von antiker wie zeitgenössischer Poesie und Lyrik. Die
Komposition von Originalgedichten ergänzte diesen Schritt, welche ihrerseits
die Stilistik, Rhythmik und Motive anderer Sprachen imitierten. 26 Wichtigstes
Vorbild hierbei war die Literatur der klassischen Antike. Der Begriff „Klassik“
galt schon in der Antike als Inbegriff des Musterhaften und wurde dann im
frühneuzeitlichen Europa namensgebend für Kunst- und Literaturbewegungen
in verschiedenen Sprach- und Kulturräumen. Entsprechend galt die Etablierung
einer eigenen klassischen Kultur als Ausdruck des Entwicklungszustandes von
Sprach- und Kulturräumen.27 Auch wenn einzelne Räume wie die französischen
und italienischen bereits im 16. und 17. Jahrhundert eine klassische Epoche
hatten, begann diese in den meisten anderen erst im 18. oder gar erst im 19.
Jahrhundert.
26 Parallel zu diesem Beitrag wird auch ein Aufsatz veröffentlicht, der sich genauer mit Übersetzung,
Imitation und Komposition von Poesie in der ungarischen Spracherneuerung befasst: Daniela
Haarmann, „To my Arion I have already written – Arion“: Multilingual Methods and Practices of
the Hungarian Poetry about 1800, in: Aled D. Rees / Julian E. Preece (Hrsg.), Multilingual
Literature (Arbeitstitel), Cambridge, im Druck.
27 Vgl. Rolf Selbmann, Deutsche Klassik. Paderborn et al. 2005 (KulturKompakt/UTB 2593), 12. Die
Begriffe von „Ländern“ oder „Nationalkulturen“ (Selbmann) wird an dieser Stelle bewusst
vermieden, da einerseits diese klassische Epoche auch grenzübergreifend sein konnte und
andererseits innerhalb von Grenzen unterschiedliche Charakteristika aufweisen konnte (siehe
Weimarer Klassik in Abgrenzung zur Klassik im sonstigen deutschen Sprachraum). Zudem hatte
der Nationsbegriff bekanntlich in der Frühen Neuzeit noch ganz andere Bedeutungen als heute
und „Länder“ haben eher die Existenz von Staatsgebilden assoziiert, die es noch nicht gab.
28 Vgl. Johann Joachim Winckelmann. Gedanken über Nachahmung der griechischen Werke in der
(2005), 174–192; ders., The Origins of a New Reception of Antiquitiy. Autopsy and the
Transformation of Perception/Vision in Winckelmann, in: Ernő Marosi / Gábor Klaniczay (Hrsg.),
The nineteenth-century process of “musealization” in Hungary and Europe. Budapest 2006
(Collegium Budapest; 17), 21–28; ders., „Xenídion s Etelke” (A magyar winckelmanniánizmus
határai) [Die Grenzen des ungarischen Winkelmannismus]. In: Holmi 20/11 (2008), 1428‒1454;
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Daniela Haarmann
und Imitation von antiken Werken ein zentraler Punkt in der Arbeit der
Spracherneuerer. Hierzu hält Gábor Vermes fest, dass führende ungarische
Poeten wie Dávid Baróti Szábo (1739–1819), Miklós Révai (1750–1807) oder
Benedek Virág (1754–1830) ausschließlich die römischen Poeten wie Virgil oder
Horaz zum Vorbild nahmen, um ihren persönlichen wie den öffentlichen
Geschmack zu bedienen.30 Tatsächlich waren aber griechische und römische
Autoren gleichermaßen beliebt. So übersetzte der uns bereits bekannte
bekannte Sárospataker Gymnasialprofessor Nagy Homer oder der Arzt und
Naturkundler János Földis (1755–1801) den griechischen Lyriker Anakreon (um
575–490 v. Chr.).
Ein Kuriosum dieser Imitation antiker Prosa war die Selbstvergabe von
„Künstlernamen“ wie Orpheus (Kazinczy) oder Arion (Ádám Horváth). Man
redete sich in Briefen mit diesen Namen an oder unterschrieb damit. Orpheus
war dann ebenso der Name von Kazinczys Literaturzeitschrift, welche das erste
ungarischsprachige Fachjournal für Literatur war und für jeden ambitionierten
ungarischsprachigen Dichter unabhängig der Qualität seiner Werke ein Forum
bieten sollte.31
Der deutsche Sprachraum dürfte hierbei aus den folgenden Gründen für die
Ungarn von besonderem Interesse gewesen sein: Nahezu alle Vertreter der
Spracherneuerung sprachen Deutsch auf Muttersprachenniveau. Zudem
studierten die protestantischen Ungarn häufig in den protestantischen
deutschen Ländern, da es für sie in der Habsburgermonarchie keine äquivalente
Studienmöglichkeiten gab. Ferner erlebte die deutsche Sprache einen
vergleichbaren Prozess, der allerdings ein paar Jahrzehnte früher begann und
dank der kulturellen Voraussetzungen, die der Weimarer Hof seinen Dichtern
Goethe, Schiller, Herder und Wieland anbot, auch weitaus fortgeschrittener
war.33
und die deutsche Aufklärung]. In: Az Egri Pedagógiai Főiskola Évkönyve VI (1960), 261–286;
Szauder József: Kazinczys Klassizismus, in: Leopold Magon (Hrsg.): Studien zur Geschichte der
deutsch-ungarischen literarischen Beziehungen. Berlin 1969, 141–157; József Varga, Goethesche
Gedichte in der Nachdichtung von Kazinczy. In: Német filológiai tanulmányok / Arbeiten zur
deutschen Philologie 13 (1979), 348–354; Miklós Nagy, Die ungarische romantische Trias und
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Daniela Haarmann
Abschließende Bemerkungen
Dieser Aufsatz versuchte, eine Übersicht über die ungarische Spracherneuerung
und das hierüber handelnde Forschungsprojekt zu geben. Da dieses erst am
Anfang steht und handfeste Schlüsse noch nicht möglich sind, handelt es sich
hier nur um abschließende Bemerkungen und kein Fazit. Sie sollen offene
Fragen zusammenfassen und generelle theoretische und methodische Ansätze
des Projektes kurz illustrieren.
Zudem handelt es sich um eine Bewegung, die sich nicht auf eine rein
intellektuelle Ebene beschränken lässt, sondern umfasste ebenso eine politische
Dimension samt Diskussionen und Disputen über die Anwendung von
Ungarisch im öffentlichen Raum. Es wird ein zentrales Anliegen des Projektes
Goethe, in: Antal Mádl / László Tarnói (Hrsg.), Goethe-Studien: zum 150. Todestag des Dichters.
Budapest 1982 (Budapester Beiträge zur Germanistik 9), 181–195; Lajos Némedi: Über die
Anfänge der Goethe-Rezeption in Ungarn 1776 bis 1831. In: Germanistisches Jahrbuch DDR-UVR
2 (1983), 111–129; István Fried, Goethe und Kazinczy. Einige Fragen der ungarischen Goethe-
Rezeption, in: László Tarnói (Hrsg.), Rezeption der deutschen Literatur in Ungarn 1800–1850, Bd.
1: Deutsche und ungarische Dichter. Budapest 1787 (Budapester Beiträge zur Germanistik 17),
47–90; Lajos Némedi, Einige Probleme der frühen Goethe-Rezeption in Ungarn, in: Hans-Joachim
Althof (Hrsg.), Johann Wolfgang Goethe, Thomas Mann, Gruppe 47, Textlinguistik und Stilistik,
Kontrastive Untersuchungen, Sprachnorm. Deutsch als Fremdsprache, Methodik für
Fortgeschrittene. Fachsprachen, Landeskunde. Beiträge der Fachtagung von Germanisten aus
Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland in Budapest vom 16.–19. 1988. Szeged – Bonn 1989
(Dokumentationen & Materialien 13), 131–142.
34 Für weitere Informationen siehe Miklós Kamody, Levelezés és utazás Kazinczy Ferenc korában
[Briefverkehr und Reise in der Zeit Ferenc Kazinczys]. In: Széphalom. A Kazinczy Ferenc Társaság
évkönyve 2 (1989), 33–60.
35 So beklagt auch Kazinczy in einem Brief an Aranka vom 21.07.1792: „Wielands Diogenes und die
durch Gábor Dayka übersetzten Verse des Abelard werden vom Wiener Zensor nicht erlaubt! Ein
unglücklicher Aspekt.“ (A’ Wieland Diogenesét és a’ Dayka Gábor által fordított Abelard verseit a
Bécsi Censor meg nem engedé!) Zitiert nach KazLev II, Brief-Nr. 404, 264.
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Daniela Haarmann
Auch wenn die Einführung des Ungarischen als Staatssprache und die
Abschaffung des Latein ein großer realpolitischer und symbolischer Erfolg war,
kam es in der zweiten Jahrhunderthälfte dann zu einer radikalen
Magyarisierungspolitik. An dieser Stelle darf nicht vergessen werden, dass das
Reich der Stephanskrone seit dem Mittelalter multiethnisch und vielsprachig
war und das Ungarische nie eine absolute Mehrheit hatte. Die häufig als
„natürliches“ Resultat behandelte Sprachenpolitik der 1830er und 1840er war
keineswegs so selbstverständlich und selbsterklärend. Hier gilt es zusätzlich zu
den bereits bestehenden Diskursen zur Unterdrückung der anderen Ethnien
und Sprachen im Königreich zu klären, inwieweit die Magyarisierung die
Erneuerungsbewegung anderer Sprachen im Reich beeinflusste, behindert oder
anspornte. Lohnenswert zu untersuchen wäre demnach, ob es gemeinsame
Muster, Methoden, Konzepte und Praktiken der anderen Sprachbewegungen
gab.
36 Miroslav Hroch, Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen
Vergleich. Göttingen 2005 (Synthesen. Probleme europäischer Geschichte; 2), 45–47.
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