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Daniela Haarmann

Die Ungarische Spracherneuerung.


Einleitung in ein Forschungsprojekt

Daniela HAARMANN
Guest researcher (FWF-Schrödinger-Scholarship), Hungarian Academy of
Science and Austrian Academy of Science

In: Harald Heppner / Sabine Jesner (eds.), The 18th Century as Period of
Innovation, Yearbook of the Society for 18th Century Studies on South Eastern
Europe 2 (2019), 35–49.

DOI: 10.25364/22.2:2019.4

Contribution is published under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 4.0


International License.

https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/deed.de

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Daniela Haarmann

Die Ungarische Spracherneuerung.


Einleitung in ein Forschungsprojekt

Daniela HAARMANN*

About 1800 in the context of the upcoming national scholarliness language movements arose all over
Europe. Their intention was the standardisation as the establishment of the own native language as
a language of science and literature. One of them was Hungarian Language Renewal (Magyar
Nyelvújítás). This article provides an overview of this specific language renewal in first sections: The
first introduces the general European as the specific Hungarian background of this movement. Then,
the political, literary as linguistic dimensions of the Hungarian Language Renewal is analysed in
the parts two to four. These elaborations are likewise an introduction to an upcoming research
project. Therefore, this paper merely presents basic considerations and cornerstones of this project
than definite research results.

„Nicht allein die Verbreitung deines Namens, sondern genauso das Glück des
Vaterlandes und der Vergrößerung und Verschönerung unserer Sprache mögen
[durch dein Vorhaben] verfolgt werden.“1 Als Ferenc Kazinczy, der (möchtegern)
Diktator2 der ungarischen Gelehrsamkeit, 1791 diesen Wunsch an seinen
Freund György Aranka in Cluj (Klausenburg / Kolozsvár) 3 schrieb, hat dieser
gerade erst die Gesellschaft zur Pflege der ungarischen Sprache (ung.: Erdélyi
magyar nyelvmívelő társaság) ebendort gegründet. Die Pflege der ungarischen
Sprache war ein zentrales Anliegen zahlreicher ungarischer Gelehrter und
Politiker in dieser Zeit. Unter Pflege ist hierbei die Vermehrung des ungarischen
Wortschatzes, die Standardisation der Grammatik und Rechtschreibung sowie
die Entwicklung einer ungarischen Wissenschafts- und Literatursprache zu
verstehen; kurzum: eine Erneuerung der Sprache. Im Ungarischen wird diese
Bewegung Ungarische Spracherneuerung (ung.: Magyar Nyelvújítás) genannt.
Sie umfasst einen Zeitraum von ungefähr den letzten Jahrzehnten des 18.
Jahrhunderts und dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts.

Dieser Beitrag möchte einen Überblick über die zentralen Elemente der
ungarischen Spracherneuerung geben. Bislang ist dieses Thema

* Das dreijährige Forschungsprojekt trägt den Titel „A mi magyar nyelvünk. Die Ungarische
Spracherneuerung (1776–1825)“, finanziert durch ein Schrödinger-Stipendium (J4331) des Fonds
zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich (FWF).
1 Brief Ferenc Kazinczys an György Aranka, (27.09.1791), zitiert nach János Váczy (Hrsg.): Kazinczy

Ferencz levelezése [Korrespondenz von Ferenc Kazinczy], Bd. 2, Budapest 1891, (Kazinczy Ferencz
össze művei. Hamadik Osztály, 2), Brief-Nr. 383, 224 (fortan zitiert als KazLev II): „Azok nem tsak
Nevednek el-híresedését, hanem a' Haza boldogságát 's Nyelvünk gazdagúlását 's tsínosúlását is
tzélozzák.“
2 Nach Béla K. Király, Hungary in the Late Eighteenth Century. The Decline of Enlightened

Despotism. New York, London 1969, 148.


3 Der Artikel nutzt aus Gründen der einfacheren Auffindbarkeit eines Ortes für die Lesenden die

heute landesübliche Bezeichnung. Zudem werden die deutschen und ungarischen Namen in
Klammern angegeben. Da es sich um einen deutschsprachigen Aufsatz handelt, werden zuerst die
deutschen genannt. Eine politische Aussage ist damit in keinem Fall verbunden.

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überraschenderweise kaum berücksichtigt worden.4 Überraschend ist dies


deshalb, da diese Bewegung zentral für die Konstruktion eines ungarischen
Nationalbewusstseins war, das sich ebenso im Laufe des 18. Jahrhunderts
entwickelte. Gerade für die gegenwärtige Situation des rechts- und
nationalpopulistisch geführten Ungarn ist die Frage nach Sprache und Identität
von höchster Relevanz und omnipräsent in der politischen Alltagsrhetorik.
Diesem Forschungsdesiderat soll in aller Ausführlichkeit im Rahmen eines
eigenen Forschungsprojektes nachgegangen werden. Der vorliegende Beitrag
stellt die inhaltlichen Grundlagen der Spracherneuerung vor, auf die auch das
Projekt aufbaut.

Hierzu ist der Artikel in vier Abschnitte eingeteilt: Nach einer Einführung in
die grundlegende Forschungsproblematik stellen die Kapitel zwei bis vier die
drei zentralen Dimensionen der Spracherneuerung vor:

1. Politische Dimension: Diskussion auf einer politisch-administrativen


Ebene über den Gebrauch und die Einführung des Ungarischen in den
Bereichen des öffentlichen Lebens wie Bildung, Verwaltung und Politik.

2. Linguistische Dimension: Die Standardisierung der ungarischen


Sprache und Grammatik sowie die Sammlung des existierenden
Wortschatzes. Darauf aufbauend die Veröffentlichung von
Wörterbüchern und die Kreierung von neuem (Fach-)Vokabular zur
Schaffung einer Wissensschafts- und Literatursprache.

3. Literarische Dimension: Die Imitation und Übersetzung von sowohl


antiker wie zeitgenössischer Prosa unter Hinzuziehung von
Literaturbewegungen aus anderen Sprachräumen wie etwa der
Weimarer Klassik.

Wichtigstes Austauschforum für die ungarischen Gelehrten über diese Fragen


waren Briefkorrespondenzen. Zwar gab es zahlreiche Versuche, wie die eingangs

4 Gyula Szekfű (Hrsg.), Iratok a magyar államnyelv kérdésének történetéhez. 1790‒1848 [Schriften
zur Geschichte der Frage der ungarischen Staatssprache]. Budapest 1926 (Fontes historiae
Hungaricae aevi recentioris); Vilmos Tolnai, A nyelújítás. A nyelvújítás elmélete és története [Die
Spracherneuerung. Die Theorie und Geschichte der Spracherneuerung]. Budapest 1929 (A magyar
nyelvtudomány kézikönye; II, 12); Lajos Csetri, Egység vagy különbözőség? Nyelv- és
irodalomszemlélet a magyar irodalmi nyelvújítás korszákban [Gemeinsamkeiten oder
Unterschiede? Sprach- und Literaturbetrachtungen in der Zeit der ungarisch literarischen
Spracherneuerung]. Budapest 1990 (Irodalomtudomány és Kritika); Adrienne Dömötör, A
nyelvújítás [Die Spracherneuerung], in: Ferenc Kiefer / Péter Siptár / Marianne Sz. Bakró-Nagy
(Hrsg.), Magyar nyelv [Die ungarische Sprache]. Budapest 2006 (Akadémiai kézikönyvek), 385‒
400; Ambrus Miskolczy, Kazinczy Ferenc útja a nyelvújítástól a politikai megújulásig [Der Weg
Ferenc Kazinczys von der Spracherneuerung zur politischen Erneuerung]. Bd. I–IV. Budapest
2009 (Kisebbségkutatás könyvek); Gesondert zu erwähnen sind die Forschungs- und
Editionsarbeiten von Attila Debreczeni u. a.: Attila Debreczeni, Csokonai, az újrakezdések költője.
A felvilágosult szemléletmód fordulata az életműben [Csokonai, der Poet der Neustarts. Die
Revolution der aufgeklärten Anschauung in seinem Lebenswerk]. Debrecen 1993 (Csokonai
könyvtár 1).; des. (Hrsg.), Első folyóirataink. Magyar museum. Vol 2: Kommentár [Unsere ersten
Periodika]. Debrecen 2004 (Csokonai könyvtár, Források (Régi kortársaink) 11), des. (Hrsg.),
Pálóczi Horváth Ádám művei [Die Arbeiten von Ádám Pálóczi Horváth]. Debrecen 2018 (Magyar
nyelvű Tudományos Kritikai kiadá). Ferner ist auf das laufende Dissertationsprojekt
Nationsgründer jenseits der Nation. Interkulturelle Resonanzen in Ungarns Sprachendiskurs
(Univ. Luzern) von Veronika Studer-Kovacs hinzuweisen.

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erwähnte Gesellschaft zur Pflege der ungarischen Sprache, Sozietäten zu


etablieren, doch waren diese nur von kurzer Lebensdauer. Das gleiche galt für
die ungarischsprachigen Nachrichtenzeitungen und Fachzeitschriften, die um
1800 ins Leben gerufen wurden. Sie alle wurden nach nur wenigen Ausgaben
wieder eingestellt. Bislang ist nicht vollständig geklärt, wieso es nicht möglich
war, stabile Gesellschaften und Periodika zu etablieren. Allerdings sind
ähnliche Phänomene ebenso in anderen ost- und südosteuropäischen Ländern
feststellbar. Die Forschung tendierte bislang dazu, dies mit einem generellen
Desinteresse an Publikationen in der eigenen Landessprache und an der
Mitwirkung in Gelehrtengesellschaften zu erklären, allerdings spricht die
Unermüdlichkeit der Gelehrten dagegen, die trotz vorheriger Misserfolge immer
wieder versuchten, Gesellschaften, Zeitungen und Zeitschriften zu etablieren. In
Ungarn verlängerte sich die Lebenszeit der Journale mit der Gründung der
Akademie der Wissenschaften (1825) signifikant. Daher sind tiefergehende
wissenssoziologische Prozesse hinter dem Erfolg oder Misserfolg von
Gelehrtengesellschaften und -zeitschriften zu vermuten, die ebenfalls noch zu
untersuchen sind.5

Die Ungarische Spracherneuerung war nicht beispiellos in Europa. Im Kontext


der aufkommenden Nationalbewegungen sind solche
Spracherneuerungsbewegungen in zahlreichen Sprachräumen Europas
festzustellen.6 Auch wenn diese europäische Interaktionen Aufgabe eines
nachfolgenden Projektes sein wird, sollen bereits im vorliegenden Aufsatz
verschiedene Schnittpunkte zu anderen Sprachräumen angesprochen werden.

Einleitung: Die frühen Wurzeln der Ungarischen Spracherneuerung


Den generellen historischen Rahmen der Sprachenbewegungen bildete auf
europäischer Ebene der Übergang von der lateinischsprachigen Respublica
Litteraria zu einer neuen nationalen Gelehrsamkeit. Ihre Leitmotive war die
Idee einer gemeinsamen Herkunft, Geschichte und Sprache. Einer der ersten
und einflussreichsten Verfechter dieser Idee von Sprache als Ausdruck einer
Gemeinschaft war der Neapolitanische Philosoph und Geschichtsschreiber
Giambattista Vico (1668–1744), welcher in seiner Scienzia Nuova (1725) betonte,
dass eine historische Gesellschaft nur in ihrer eigenen Sprache vollkommen ihr
Wissen und ihre Werte ausdrücken könne.7 Die historische Gesellschaft verweist
hier bereits auf ein früh-nationales Konzept, in welchem Bewusstsein von einer
gemeinsamen Geschichte und Sprache die zwei wichtigsten Grundlagen einer
modernen Nation bilden.8 Johann Gottfried Herder (1744–1803) erweiterte
diesen Gedanken und stellte die Gleichung „eine Sprache = eine Nation“ auf,

5 Siehe hierzu auch Dieter Breuer (Hrsg.), Aufgeklärte Sozietäten, Literatur und Wissenschaft in
Mitteleuropa. Boston, Berlin 2019 (Frühe Neuzeit 229). Das Buch konnte nicht mehr für den
vorliegenden Beitrag konsultiert werden, da es sich zum Zeitpunkt der Einreichung noch im Druck
befand.
6 Das Jahrbuch 3 der SOG18 (2020) wird sich der Situation von Sprachen in Südosteuropa im 18.

Jahrhundert und dem aktuellen Forschungsstand widmen.


7 Vgl. Hubert Knoblauch, Wissenssoziologie. Konstanz3 2014 (UTB 2719), 33.
8 Vgl. Miroslav Hroch, From National Movement to the Fully-Formed Nation. The Nation-Building

Process in Europe, in: Gopal Balakrishnan (Hrsg.), Mapping the Nation. London, New York 2012,
78–97, 79.

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wobei die Literatur, insbesondere ihre Poesie als einen Spiegel des
Zivilisationsgrades einer Nation wertet. 9

Herder war speziell für den ungarischen Sprachraum von Bedeutung, indem er
das baldige Aussterben dieser isolierten Sprache prophezeite. Auch wenn diese
Prophezeiung bis heute als permanentes Drohszenario rezipiert wird,
kritisierten schon im 18. Jahrhundert ungarische Gelehrte den deutschen
Denker. So bezeichnete der Piarist und Lehrer András Dugonics (1740–1818)
ihn als einen „deutschen Esel“ und andere erklärten ihn gleich zu einem Feind
des Magyarentums.10

Teils als Konsequenz der Gleichsetzung von Sprache und Nation, teils durch die
von der Reformation aufgekommene Hinwendung zur lokalen Umgangssprache
kam in Europa eine Abkehr von Latein zugunsten der Landessprache auf.
Gelehrte schrieben nicht mehr (ausschließlich) für die gebildete Elite, sondern
für die monoglotten, aber lesekundigen Teile der eigenen Landesbevölkerung.
Damit folgten Gelehrte einem weiteren Konzept der Aufklärung, und zwar,
Wissen auch für jene einsprachigen Teile der Bevölkerung zugänglich zu
machen. Damit war Wissen nicht mehr allein für einen kleinen elitären Bereich
vorbehalten, sondern wurde zum Mittel moralisch-nationaler Erziehung eines
„nützlichen Landsmannes“.

Ähnlich wie für Autorinnen und Autoren aus heutiger Zeit war die Wahl der
Publikationssprache eine Frage des Zielpublikums. Schrieb jemand in Latein, so
war der Beitrag lediglich für jene horizontale Schicht einer europäischen
Bildungselite verständlich, die in den Genuss einer humanistischen Ausbildung
gekommen war. Ein größeres internationales Publikum erreichte man, wenn
man seine Arbeiten in eine der gängigen anderen Sprachen des Okzidents
verfasste wie Französisch, Deutsch oder Italienisch. Das Publizieren in der
eigenen Landessprache hingegen bedeutete, sofern diese nicht eine der drei
genannten war, einen eingeschränkteren, nationalen Kreis an Leserinnen und
Lesern. Diese Überlegungen bewogen etwa den ungarischen Gelehrten Márton
György Kovachich (1774–1821), seinen Merkur von Ungarn (1786–1787) in
Deutsch und nicht in Ungarisch herauszugeben:

[…] den[n] in welcher Sprache, und für wen hätte man eine gelehrte Zeitung schreiben
sollen? in der lateinischen? diese war freylich die gelehrte Sprache, aber der größte Theil
hätte davon doch keinen Nutzen schöpfen können. Die ungarische ist weder allgemein noch
kultiviert genug für eine gelehrte Sprache, und der größte Theil deren, die derselben kundig
sind, hat nicht den Beruf, gelehrte Zeitungen zu lesen. […] Die deutsche Sprache haben wir
der lateinischen vorgezogen, weil sich in unsern Zeiten von so vielen neuen, den alten
Lateinern unbekannen Gegenständen nicht ohne Zwang, ohne neue Wörter und Wendungen,
und also nicht rein und gut lateinisch schreiben läßt […].11

9 Vgl. Knoblauch, Wissenssoziologie, 34.


10 Vgl. János Rathmann, Die „Volks-“ Konzeption bei Herder, in: Ulrich Herrmann (Hrsg.), Volk,
Nation, Vaterland. Hamburg 1996 (Studien zum Achtzehnten Jahrhundert 18), 58.
11 Márton György Kovachich, Entwurf einer Literaturzeitung für das Königreich Ungarn und dessen

Kronländer, welche in der freyen königlichen Haupt- und Residenzstadt Ofen von einigen
patriotischen Liebhabern der Litteratur, unter der Aufschrift: Merkur von Ungarn, heftweise
monathlich zu 6 Bogen auf das Jahr 1786. herausgegeben wird, Merkur von Ungarn, oder
Litteraturzeitung für das Königreich Ungarn und dessen Kronländer 1/1–6 (1768), 1–21, 10–12.

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Dieses Zitat präsentiert in der Publikationsstrategie eine


Nützlichkeitsrechnung: Da es dem Ungarischen es an Kultivierung mangle und
Latein kaum jemand verstünde, wird Deutsch zu einem Kompromiss zwischen
Gelehrsamkeit und einer größtmöglichen Leserschaft. Hierbei muss bemerkt
werden, dass 1787 bereits die Zeit der Germanisierung des öffentlichen Lebens
in der Habsburgermonarchie angelaufen war, die Joseph II. 1784 angeordnet
hatte. Diese Germanisierungspolitik goss noch zusätzlich Öl in die seit der
Wiedervereinigung und der (Re-)Integration der Länder der Stephanskrone in
die Habsburgermonarchie lodernden Streitereien über die Ungarn-Politik des
Wiener Hofes.

Abb. 1: Die Dreiteilung des Königreichs Ungarn im Jahre 1629

Quelle: A Pallas Nagy Lexikona, Magyarország [Ungarn]. Bd. 12, Budapest 1896; Online:
<https://www.arcanum.hu/hu/online-kiadvanyok/Lexikonok-a-pallas-nagy-lexikona-2/m-
1120C/magyarorszag-114EA/>, 31.08.2019.

Über 150 Jahre war das Königreich Ungarn dreigeteilt gewesen (1526–1699).
Diese Teilung wirkte sich auch auf die Sprachtraditionen aus, indem in den drei
Gebieten drei unterschiedliche Sprachpraktiken entstanden. Der westliche und
nördliche Teil stand unter der Herrschaft der katholischen Habsburger, und
entsprechend orientierten sich die Eliten hier an den gesprochenen Sprachen am
Wiener Hof (Deutsch, Französisch, Italienisch) und schließlich Latein. Der
mittlere Teil gehörte zum Osmanischen Reich, wo zumindest auf

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administrativer Ebene ein Gemisch aus Ungarisch und Türkisch herrschte. 12 Bis
heute zeugen zahlreiche türkischstämmigen Begriffe im Ungarischen von dieser
Zeit.13 Zudem war das mittlere Ungarn ein Zufluchtsort für protestantische
Flüchtlinge aus den deutsch-katholischen Ländern.14 Der östliche Teil, der aus
dem heutigen Ostungarn und Siebenbürgen bestand, war ein Satrapenstaat des
Osmanischen Reiches. Die lokale magyarische Oberschicht war protestantisch
und nutzte Ungarisch als Alltags- und Publikationssprache, doch fehlen
allerdings wiederum tiefergehende Studien zur Sprachpraxis in den drei Teilen
während der Frühen Neuzeit sowie Forschungen zu der Auswirkung dieser
Dreiteilung auf die Sprachenfrage des 18. Jahrhunderts.

Erste Auswertungen von biographischen Daten von über 200 ungarischen


Gelehrten in Vorbereitung des hier vorgestellten Forschungsprojektes zu
Publikationssprache, Herkunft und Konfession von ungarischen Gelehrten des
18. Jahrhunderts lassen aber erkennen, dass die drei unterschiedlichen
Sprachtraditionen nicht mit der Wiedervereinigung verschwanden, sondern
länger fortlebten. Deutlich erkennbar in diesem Zusammenhang ist, dass nach
wie vor die Sprachenwahl von der Konfession abhing: So haben katholische
Gelehrte eher in Latein und protestantische eher auf Ungarisch publiziert,
insbesondere dann, wenn sie aus den östlichen Reichsteilen stammten. Ebenfalls
belegen diese Daten, dass die meisten Spracherneuerer bis in die späten 1780er
Jahre nicht in einer größeren Stadt, sondern in peripheren Zentren wie Nitra
(Neutra/Nyitra) oder Košice (Kaschau/Kassa) lebten. Interessanterweise waren
weder der Regierungssitz in Bratislava (Pressburg/Pozsony) noch die
Universitätsstadt Trnava (Tyrnau/Nagyszombat) und auch nicht die königlich
Residenz- und ab 1777 kurzfristige Universitätsstadt Buda gelehrte Zentren.
Eine Ausnahme stellt Cluj (Klausenburg/Kolozsvár) als politisches, kulturelles
und wirtschaftliches Zentrum Siebenbürgens dar, wo traditionsgemäß eine
selbstbewusste magyarische Oberschicht wohnte. Ab den 1780er Jahren
entwickelte sich schließlich Pest zu dem dominanten Zentrum des Reiches
aufgrund einer grundsätzlichen Modernisierung dieser Stadt und 1784 wegen
des Umzugs der einzigen ungarischen Universität hierher.

Außerhalb der Länder der Stephanskrone trat jedoch auch Wien deutlich als
Zentrum ungarischer Gelehrsamkeit hervor. Schon aufgrund des 1783
aufgelösten Theresianums, einer Ritterakademie zur Ausbildung von
habsburgtreuen Aristokraten für den Staatsdienst, der Universität und des
Sitzes des Kaisers ließ die intellektuelle wie politische Elite sich rund um den
Wiener Hof ansiedeln. Es ist aber auch hier noch offen, wie intensiv der
Austausch mit Gelehrten anderer Sprachen und Ethnien erfolgte.15

12 István Tóth, Hungarian Culture in the Early Modern Age, in: László Kósa (Hrsg.), A Cultural
History of Hungary. From the Beginning to the Eighteenth Century. Budapest 1999, 154–288,
210–211.
13 Diese sind nicht zu verwenden mit Begrifflichkeiten, welche die noch nomadischen Magyaren in

der Zeit ihres Kontaktes mit den alttürkischen Völkern aufnahmen.


14 Markus Koller, Eine Gesellschaft im Wandel. Die osmanische Herrschaft in Ungarn im 17.

Jahrhundert (1606–1683). Stuttgart 2010 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen
Mitteleuropa, 37), 52; 98–99.
15 Für erste Ansätze siehe unter anderem Éva H Balázs, Bécs és Pest-Buda a régi századvégen [Wien

und Pest-Buda am Ende des alten Jahrhunderts]. Budapest 1987; für eine englische Übersetzung
siehe: Éva H Balázs, Hungary and the Habsburgs. An Experiment in Enlightened Absolutism.
Budapest 1997; György Kókay, A bécsi publicisztika és a magyar felvilágosodás [Die Wiener

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Politische Dimension
Die Wurzeln der ungarischen Sprachenfrage sind bis in das frühe 18.
Jahrhundert zurückführbar und können als direkte Konsequenz der (Re)-
Integrationspolitik des Wiener Hofes gedeutet werden. Im Zuge dieser Politik
wurde Latein zur Landessprache erhoben, der gesamte Bildungsbereich der
Kontrolle der katholischen Kirche unterstellt und damit der sekundäre und
tertiäre Bildungssektor latinisiert. Lokale Autoritäten in den mittleren und
östlichen Reichsteilen protestierten gegen die Latinisierung und kritisierten die
fehlende Tradition dieser Sprache. Konsequenterweise könnten viele der lokalen
Verwaltungsbeamten überhaupt gar kein Latein. Zudem fühlte man sich umso
unfairer behandelt, als dass in den habsburgischen Niederlanden und Italien die
jeweiligen Landessprachen im öffentlichen Leben zugelassen waren. 16

Auf bildungspolitischer Ebene lauteten die Proteste ähnlich: So könnten die


Schüler der Mittelschule kein Latein und demnach dem Unterricht nicht
folgen.17 Anstatt den Schülern nützliches und die neuesten Erkenntnisse der
Naturkunde zu lehren, würden insbesondere die vom Barockkatholizismus
geprägten Schulen der Jesuiten an längst überholten Inhalten festhalten. Dieser
paradoxen Situation widmete 1760 der Hauptgespan Lőrinc Orczy (1718–1789)
sogar ein Spottgedicht:

Traum von einer besser organisierten Studienverwaltung


Ob es den Wert sein soll, dass für neun Jahre
Ein Kind wegen der lateinischen Sprache die Zeit verschwendet
Und nach dem Abschluss nicht mehr wissen möge als lediglich das
Vergängliche.18

Die lang ersehnte Veränderung brachten dann die Auflösung des Jesuitenordens
1776 und die Bildungsreform Ratio Educations im Folgejahr, die die Kontrolle
über den Bildungssektor in die Hände des Staates legte. Da sie unter anderem
eine freie Sprachenwahl in den Mittelschulen sowie die Abfassung von
Dissertationen in einer im Reich repräsentierten Sprache erlaubte, setzte diese
Reform einen wichtigen Schritt, der Sprachenvielfalt im ungarischen Königreich
gerecht zu werden.19 So begannen die Piaristen und Paulaner, welche zahlreiche
Schulen im Reich unterhielten, neben Latein auch auf Ungarisch zu
unterrichten.20

Publizistik und die ungarische Aufklärung], A Magyar Könyvszemle. Könyv- és sajtótörténeti


folyóirat. Revue pour l'histoire du livre et de la presse 103 (1987), 229–231; Edina Zvara, Egy tudós
hazafi Bécsben. Görög Demeter és könyvtára [Ein gelehrter Patriot in Wien. Görög Demeter und
seine Bibliothek]. Budapest 2016.
16 Vgl. Henrik Marczali, Magyarország története II. József korában [Die Geschichte Ungarns zur Zeit

Josephs II.]. Bd. 2, Budapest2 1888, 395.


17 Vgl. Domokos Kosáry, Művelődés a XVIII. századi Magyarországon [Bildung im Ungarn des 18.

Jahrhunderts]. Budapest3 1996, 105.


18 Zitiert nach ebd.: „Álom a tudományok jobb rendben való intézéséről – Érdemes-e vajjon, hogy

kilenc esztendőt / Gyermek deák nyelvért veszejtse az időt / Ki jövén ne tudjon, hanem csak
veszendőt.“
19 Robert J. W. Evans, Austria, Hungary, and the Habsburgs. Essays on Central Europe (1683‒1867).

Oxford, New York 2006, 136.


20 Vgl. Lajos Nagy / György Bonis, Budapest története. A török kiűzetéstől a marcius forradalomig.

1686–1848 [Die Geschichte Budapests. Von der osmanischen Besatzung bis zur Märzrevolution].
Bd. 3, Budapest 1975, 196.

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Dennoch brannten die Debatten über die Sprachenfrage weiter. Die


Germanisierungspolitik Josephs II. verschärfte diese zusätzlich und bedeutete
nach der Ratio einen Schritt zurück. Zahlreiche Aristokraten und Gelehrte
interpretierten die Einführung von Deutsch als verpflichtende Unterrichts- und
Verwaltungssprache als direkten Angriff auf die magyarische Nation, ihrer
politischen, sprachlichen und kulturellen Einzigartigkeit. Obwohl der Monarch
diese Deutschpflicht auf dem Totenbett wieder zurücknehmen musste, blieb die
Debatte weiter bestehen. Wie polemisch diese teilweise war, zeigt das folgende
Beispiel aus der Krönungsratssitzung 1792:

SPIELMANN: […] Aber darum soll man den Artikl [sic] de lingua barbara angehen lassen,
um die Hungarn gäntzlich von solchen Aemtern auszuschliessen.
ZICHY: Da verzeihen Sie, denn jede Nation hat ihre eigene Sprache, besonders da die
lateinische als eine lingua mortua anzusehen ist.21

Trotz der blutigen Niederschlagung der Jakobinerverschwörung (1795), wo


zahlreiche Unterstützer der Ungarischen Sprachenfrage den Tod auf dem
Blutfeld (Vérmező) fanden, konnten aus magyarischer Perspektive auch weitere
Erfolge errungen werden: So kam es 1805 zur Erlaubnis, auch Ungarisch als
Verwaltungssprache innerhalb des Königreichs zu nutzen. Wurde aber ein Akt
über die Grenzen weitergesandt (zumeist nach Wien) musste eine deutsche oder
lateinische Übersetzung beigefügt werden.22 Dieser und weitere kleinere
Schritte ebneten den Weg zur endgültigen Etablierung des Ungarischen als
einzige Staatssprache im Jahre 1844.

Linguistische Dimension
Ein generelles Problem zu Beginn der Ungarischen Spracherneuerung war der
Mangel an spezifischem Fachvokabular, das allerdings eine Voraussetzung zur
Schaffung einer Wissenschafts- und Literatursprache war. Speziell im Kontext
der zahlreichen naturkundlichen Entdeckungen, die das 18. Jahrhundert
prägten, war eine ungarische Wissenschaftssprache umso wichtiger, um den
Anschluss an andere europäische Länder nicht zu verlieren.

So war die Ungarische Spracherneuerung geprägt von der Kreation von


Neologismen sowie der Magyarisierung von fremdsprachigen Termini technici
aus der Naturkunde. Es fehlte nicht nur an naturwissenschaftlichem, sondern
auch an literarischem Fachvokabular. So finden sich in den Korrespondenzen
der Spracherneuerer immer wieder deutsche Begriffe wie Originalgedicht
(später ung.: eredeti munka), Strophe23 (versszak), Heft (füzet) oder Druckpapier
(nyomtató papírja). Genauso existieren im alltäglichen Ungarisch bis heute
zahlreiche Spiegelübersetzungen aus dem Deutschen wie etwa tükortojás
(Spiegelei), bestehend aus tükor (Spiegel) und tojás (Ei) oder magyarisierte

21 Protokoll des Krönungsrates (21.06.1792); zitiert nach Elemér Mályusz (Hrsg.), Sándor Lipót
Főherceg Nádor iratai [Die Schriften des Erzherzog-Palatins Alexander Leopold], Budapest 1926
(Fontes historiae Hungaricae aevi recentioris), 540. Anton Freiherr von Spielmann (1738‒1813),
Hof- und Staatsreferendar, fällt in den gesamten Protokollen durch seine rauen Äußerungen und
seiner gehässigen Haltung gegenüber allem und jedem auf, das oder der nicht deutsch ist.
22 Vgl. Gesetze vom 4. und 22. November 1805; zitiert in Gyula Szekfű, Iratok a magyar államnyelv

kérdésének történetéhez. 1790–1848 [Schriften zur Geschichte der Frage der ungarischen
Staatssprache]. Budapest 1926 (Fontes historiae Hungaricae aevi recentioris), 276–277.
23 Alternativ auch Strop oder Strófa geschrieben.

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Ausdrücke, die besonders aus dem ostösterreichischen Raum stammen, zum


Beispiel Virsli (Würstchen), Speisz (Speisekammer) oder partvis (Bartwisch,
Handkehrer). Zugleich kennt auch das österreichische Deutsch zahlreiche aus
dem Ungarischen übernommene Begriffe wie Karfiol (Blumenkohl), oder
Palatschinken (ung: palatcsinta / Pfannkuchen). Sie alle zeugen von dem langen
und für beide Sprachgruppen gewinnbringenden Zusammenleben.

Um das Ungarische als Publikationssprache zu etablieren, egal ob für


Sachliteratur oder Belletristik, war es genauso erforderlich, der Sprache eine
einheitliche Grammatik und Orthographie zu verleihen. Wie in anderen
Sprachen prägten lokale Besonderheiten das geschriebene Ungarisch um 1800
weitaus stärker, als es heute der Fall ist. Bekannt hierbei ist etwa der Disput
zwischen Ferenc Verseghy (1757–1822) und Miklós Révai (1750–1807), ob
Verben in der dritten Person Singular in der „bestimmten“ Konjugation (tárgyas
ragozás) mit „j“ oder „y“ geschrieben werden solle.24 Dies sei anhand des Verbs
látni (sehen) illustriert: Die Stammform ist lát, welche zugleich die dritte Person
Singular in der unbestimmten Konjunktion (alanyi ragozás) ist. Sie drückt aus,
dass eine Person (er/sie/es) etwas nicht näher Definiertes wie ein Haus sieht:
Hazat lát. Ist es aber bekannt, welches Haus diese Person sieht, handelte es sich
um ein bestimmtes Haus, erfordert der Verbstamm eine Erweiterung, um das
Konkrete auszudrücken: A hazat latja. Der ungarische Artikel a (der/die/das)
genauso wie die Verbendung -ja (nach heutigen orthographischen Regeln)
signalisieren beide die Bestimmtheit des Objekts.

Um 1800 wurde jedoch hauptsächlich die Endung gesprochen. Sie klingt ähnlich
wie im Deutschen jo, phonetisch geschrieben [jɒ]. Um den [j]-Laut in das
lateinische Alphabet zu übertragen, gibt es im Ungarischen prinzipiell zwei
Möglichkeiten: j oder y. Für den hier relevanten Zeitraum findet man in privaten
wie öffentlichen Schriftquellen die Schreibweise mit y sogar häufiger als die mit
j. Dennoch setzte sich nach lang geführten Diskursen Letztere durch.

Ein etwas kurioserer Fall war eine Diskussion zwischen Kazinczy, dem er
Sárospataker Gymnasialprofessor für klassische Sprachen Ferenc Nagy Vályi
(1765–1820) und dem Siebenbürger Verwaltungsbeamten und „Freizeit“-Poeten
Ferenc Kenderesi (1758–1824) darüber, ob das h im Ungarischen weiterhin
ausgesprochen oder gleich im Französischen zu einem h aspiré und damit bloß
gehaucht werden sollte. Allerdings verwarfen die drei Gelehrten die Idee schnell
wieder, da sie das Ungarische faktisch unverständlich machen würde:

In einem Wort: Nagy hat Recht, dieser gute ehrwürdige Ungar, [wenn] er auf seinem
Standpunkt verharrt, […] nicht zu wollen, dass had (Krieg) ad (jemand gibt) wäre, der harcz
(Kampf) arc (Gesicht), die hír (Nachricht) ír (jemand schreibt), der hely (Ort) ely (solche/r/s)
und der hang (Klang) ang, und so weiter.25

24 Vgl. István Magócsy, A Révai-Verseghy-vita eszme- és kultúrtörténeti vonatkozásai [Der Révai


Verseghy-Streit hinsichtlich der Geistes- und Kulturgeschichte], in: Ferenc Kulin / István Magócsy
(Hg.): Klasszika és romantika közöttt [Zwischen Klassik und Romantik]. Budapest 1990, 26–34.
25 Brief Mihály Kenderesys an Ferenc Kazinczy, (26.06.1813), zitiert nach: János Váczy (Hrsg.):

Kazinczy Ferencz levelezése [Korrespondenz von Ferenc Kazinczy], Bd. 10, Budapest 1910,
(Kazinczy Ferencz össze művei. Hamadik Osztály, 10), Brief-Nr. 2465, 438: „Egy szóval Nagynak
igaza van, ő jo Mejjü Magyar, talpán áll, […] hogy a had, legyen ad, a harcz, arcz, a hir, ír, a hely,
ely, és a hang ang: s a többi.“ (Zur besseren Lesbarkeit wurden die Interpunktion nach heutigen
deutschen Regeln gesetzt.)

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Daniela Haarmann

Der nächste Schritt führte über die Diskurse in Korrespondenzen hinaus und
bestand aus der Publikation von Grammatik- und Wörterbüchern (ein- oder
mehrsprachig) sowie Lehrbüchern, was zeitgleich zu vergleichbaren
Veröffentlichungen in anderen Sprachräumen erfolgte. So etwa verfasste der
siebenbürgische protestantische Geistliche Péter Bod (1712–1762) ein
ungarisch-lateinisches und ein lateinisch-ungarisches Wörterbuch, welches
posthum in zwei Bänden 1767 publiziert wurde. Der protestantische Bischof
Mihály Benedek (1748–1821) gab 1795 eine in Debrecen verfasste Grammatik
heraus und der genannte Verseghy publizierte seinerseits 1816 und 1818
mehrfach für den Schulgebrauch aufgelegte Bücher über die Rechtschreibung
und Grammatik. Zudem veröffentlichte er ungarische Lehrbücher für
deutschsprachige Schüler. In all diesen propagierte er das „Konjunktions-j“, was
auch zum Erfolg dieser Schreibvariante beigetragen haben dürfte.

Abb. 2: Titelblatt von Versehgys Ungarischer Grammatik

Doch Grammatiken, Wörterbücher und Lehrbücher sind tückisch, denn sie


assoziieren den Benützerinnen und Benützern die Existenz von zeitlosen und
allgemeingültigen Regeln, hinter deren Formulierung und Entwicklung jedoch
immer Personen stehen. Wie sich die Meinung einer Person oder eines Kollektivs

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Daniela Haarmann

zu einem bestimmten Sachverhalt durchsetzen und zu einer allgemein


akzeptierten Fakt werden kann – wie etwa das „Konjunktions-j“ –, gilt es im
Rahmen des hier vorgestellten Forschungsprojektes mithilfe
wissenssoziologischer Ansätze zu analysieren.

Literarische Dimension
Genauso wie ein Fachvokabular sowie einheitliche Rechtschreib- und
Grammatikregeln für die Entwicklung einer Schriftsprache obligat waren,
verhielt es sich mit der Etablierung von Literaturgattungen. Gerade im 18.
Jahrhundert entfalteten sich in verschiedenen Sprachräumen Europas
zahlreiche Stilrichtungen, deren einflussreichsten der Klassizismus und die
Romantik waren. Freilich stellte es auch ein Ziel der Spracherneuerer dar, diese
Gattungen in die magyarische Literatur einzuführen.

Ein methodischer Schritt zur Etablierung einer eigenen Literatur war die
Übersetzung von antiker wie zeitgenössischer Poesie und Lyrik. Die
Komposition von Originalgedichten ergänzte diesen Schritt, welche ihrerseits
die Stilistik, Rhythmik und Motive anderer Sprachen imitierten. 26 Wichtigstes
Vorbild hierbei war die Literatur der klassischen Antike. Der Begriff „Klassik“
galt schon in der Antike als Inbegriff des Musterhaften und wurde dann im
frühneuzeitlichen Europa namensgebend für Kunst- und Literaturbewegungen
in verschiedenen Sprach- und Kulturräumen. Entsprechend galt die Etablierung
einer eigenen klassischen Kultur als Ausdruck des Entwicklungszustandes von
Sprach- und Kulturräumen.27 Auch wenn einzelne Räume wie die französischen
und italienischen bereits im 16. und 17. Jahrhundert eine klassische Epoche
hatten, begann diese in den meisten anderen erst im 18. oder gar erst im 19.
Jahrhundert.

Einen Aufschwung gab zweifellos das Ideal Johann Joachim Winckelmanns


(1717–1768), wonach die eigene Kultur nur durch Nachahmung der antiken
Kunst zu einer eigenen und unverwechselbaren Größe gelangen könne.28 Wie
Sándor Radnóti in seinen Arbeiten zeigte, war Winckelmanns Gedankengut
auch in Ungarn präsent. 29 Um dieses Ideal zu erreichen, war die Übersetzung

26 Parallel zu diesem Beitrag wird auch ein Aufsatz veröffentlicht, der sich genauer mit Übersetzung,
Imitation und Komposition von Poesie in der ungarischen Spracherneuerung befasst: Daniela
Haarmann, „To my Arion I have already written – Arion“: Multilingual Methods and Practices of
the Hungarian Poetry about 1800, in: Aled D. Rees / Julian E. Preece (Hrsg.), Multilingual
Literature (Arbeitstitel), Cambridge, im Druck.
27 Vgl. Rolf Selbmann, Deutsche Klassik. Paderborn et al. 2005 (KulturKompakt/UTB 2593), 12. Die

Begriffe von „Ländern“ oder „Nationalkulturen“ (Selbmann) wird an dieser Stelle bewusst
vermieden, da einerseits diese klassische Epoche auch grenzübergreifend sein konnte und
andererseits innerhalb von Grenzen unterschiedliche Charakteristika aufweisen konnte (siehe
Weimarer Klassik in Abgrenzung zur Klassik im sonstigen deutschen Sprachraum). Zudem hatte
der Nationsbegriff bekanntlich in der Frühen Neuzeit noch ganz andere Bedeutungen als heute
und „Länder“ haben eher die Existenz von Staatsgebilden assoziiert, die es noch nicht gab.
28 Vgl. Johann Joachim Winckelmann. Gedanken über Nachahmung der griechischen Werke in der

Malerey und Bildhauerkunst. Dresden, Leipzig2 1756.


29 Sándor Radnóti, Az eredetiség Winckelmann-nál [Die Originalität bei Winckelmann], Holmi 17/2

(2005), 174–192; ders., The Origins of a New Reception of Antiquitiy. Autopsy and the
Transformation of Perception/Vision in Winckelmann, in: Ernő Marosi / Gábor Klaniczay (Hrsg.),
The nineteenth-century process of “musealization” in Hungary and Europe. Budapest 2006
(Collegium Budapest; 17), 21–28; ders., „Xenídion s Etelke” (A magyar winckelmanniánizmus
határai) [Die Grenzen des ungarischen Winkelmannismus]. In: Holmi 20/11 (2008), 1428‒1454;

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Daniela Haarmann

und Imitation von antiken Werken ein zentraler Punkt in der Arbeit der
Spracherneuerer. Hierzu hält Gábor Vermes fest, dass führende ungarische
Poeten wie Dávid Baróti Szábo (1739–1819), Miklós Révai (1750–1807) oder
Benedek Virág (1754–1830) ausschließlich die römischen Poeten wie Virgil oder
Horaz zum Vorbild nahmen, um ihren persönlichen wie den öffentlichen
Geschmack zu bedienen.30 Tatsächlich waren aber griechische und römische
Autoren gleichermaßen beliebt. So übersetzte der uns bereits bekannte
bekannte Sárospataker Gymnasialprofessor Nagy Homer oder der Arzt und
Naturkundler János Földis (1755–1801) den griechischen Lyriker Anakreon (um
575–490 v. Chr.).

Ein Kuriosum dieser Imitation antiker Prosa war die Selbstvergabe von
„Künstlernamen“ wie Orpheus (Kazinczy) oder Arion (Ádám Horváth). Man
redete sich in Briefen mit diesen Namen an oder unterschrieb damit. Orpheus
war dann ebenso der Name von Kazinczys Literaturzeitschrift, welche das erste
ungarischsprachige Fachjournal für Literatur war und für jeden ambitionierten
ungarischsprachigen Dichter unabhängig der Qualität seiner Werke ein Forum
bieten sollte.31

Neben der antiken Prosa orientierten sich die ungarischen Spracherneuerer


stark an der deutschen Klassik – nicht allein an der Weimarer –, die ihrerseits
sich auch trotz vereinzelter Kritik an Winckelmann hielt. Ferenc Kazinczy etwa
übersetzte die „Idyllen“ (1756) von Salomon Geßner (1730–1788), welche neben
Goethes „Leiden des jungen Werthers“ das meistgelesene Werk des 18.
Jahrhunderts im deutschen Sprachraum war. 32 Natürlich fehlten keine
Übersetzungstätigkeiten zu Goethe, Schiller oder Lessing, zudem komponierten
die Spracherneuerer Originalgedichte nach dem Vorbild verschiedener
deutscher Poeten.

Der deutsche Sprachraum dürfte hierbei aus den folgenden Gründen für die
Ungarn von besonderem Interesse gewesen sein: Nahezu alle Vertreter der
Spracherneuerung sprachen Deutsch auf Muttersprachenniveau. Zudem
studierten die protestantischen Ungarn häufig in den protestantischen
deutschen Ländern, da es für sie in der Habsburgermonarchie keine äquivalente
Studienmöglichkeiten gab. Ferner erlebte die deutsche Sprache einen
vergleichbaren Prozess, der allerdings ein paar Jahrzehnte früher begann und
dank der kulturellen Voraussetzungen, die der Weimarer Hof seinen Dichtern
Goethe, Schiller, Herder und Wieland anbot, auch weitaus fortgeschrittener
war.33

ders., Jöjj és láss! A modern művészetfogalom keletkezése. Winckelmann és a következmények


[Komm und schau! Die Entstehung der modernen Kunstbewegung. Winkelmann und die Folgen].
Budapest 2010.
30 Vgl. Gábor Vérmes, Hungarian Culture and Politics in the Habsburg Monarchy, 1711–1848.

Budapest, New York 2014, 67.


31 Vgl. Ferenc Kazinczy, Bé-vezetés [Einführung]. In: Orpheus 1 (1790), 5–10, 7.
32 Vgl. Selbmann, Deutsche Klassik, 29.
33 Siehe hierzu auch: Lajos Némedi, Bessenyei György és a német felvilágosodás [György Bessenyei

und die deutsche Aufklärung]. In: Az Egri Pedagógiai Főiskola Évkönyve VI (1960), 261–286;
Szauder József: Kazinczys Klassizismus, in: Leopold Magon (Hrsg.): Studien zur Geschichte der
deutsch-ungarischen literarischen Beziehungen. Berlin 1969, 141–157; József Varga, Goethesche
Gedichte in der Nachdichtung von Kazinczy. In: Német filológiai tanulmányok / Arbeiten zur
deutschen Philologie 13 (1979), 348–354; Miklós Nagy, Die ungarische romantische Trias und

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Daniela Haarmann

Ein vergleichbares intellektuelles Milieu, wie es Weimar bot, fehlte im Ungarn


des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Zur gleichen Zeit, als die deutsche
Literaturgeschichte von Weimar aus neu geschrieben wurde, war die ungarische
Geisteswelt nach wie vor dezentralisiert und vornehmlich auf die Peripherie
verteilt. Entsprechend lang waren die Kommunikationswege, um Gedichte und
Ideen zur Verbesserung von Anliegen in der linguistischen Dimension
austauschen zu können.34 Die strikte Zäsur erschwerte zudem die Publikation
von hochklassiger Literatur. Die Überwachung jeder Form von intellektuellem
Zusammenkommen ‒ sei es in Gesellschaften, Salons oder Kaffeehäusern ‒ und
die strenge Zensur dämpften die Bestrebungen der ungarischen
Spracherneuerer weiter.35

Abschließende Bemerkungen
Dieser Aufsatz versuchte, eine Übersicht über die ungarische Spracherneuerung
und das hierüber handelnde Forschungsprojekt zu geben. Da dieses erst am
Anfang steht und handfeste Schlüsse noch nicht möglich sind, handelt es sich
hier nur um abschließende Bemerkungen und kein Fazit. Sie sollen offene
Fragen zusammenfassen und generelle theoretische und methodische Ansätze
des Projektes kurz illustrieren.

Ein grundsätzliches Problem in der bisherigen Forschung zur ungarischen


Spracherneuerung ist, dass sie sich vorwiegend um die Person von Kazinczy
dreht. Zwar beachtet sie den grundsätzlichen zeithistorischen Kontext, nicht
aber die wissenssoziologischen Aspekte. Wie gezeigt wurde, lebte die
Spracherneuerung durch die Ambitionen zahlreicher Persönlichkeiten,
Gelehrte, Politiker und Mäzene. Für die weitere Arbeit gilt, die Zusammenarbeit
und gegenseitige Beeinflussung dieser Akteure zu studieren und einflussreiche
Individuen wie Kazinczy in den soziologischen Kontext einzuordnen.

Zudem handelt es sich um eine Bewegung, die sich nicht auf eine rein
intellektuelle Ebene beschränken lässt, sondern umfasste ebenso eine politische
Dimension samt Diskussionen und Disputen über die Anwendung von
Ungarisch im öffentlichen Raum. Es wird ein zentrales Anliegen des Projektes

Goethe, in: Antal Mádl / László Tarnói (Hrsg.), Goethe-Studien: zum 150. Todestag des Dichters.
Budapest 1982 (Budapester Beiträge zur Germanistik 9), 181–195; Lajos Némedi: Über die
Anfänge der Goethe-Rezeption in Ungarn 1776 bis 1831. In: Germanistisches Jahrbuch DDR-UVR
2 (1983), 111–129; István Fried, Goethe und Kazinczy. Einige Fragen der ungarischen Goethe-
Rezeption, in: László Tarnói (Hrsg.), Rezeption der deutschen Literatur in Ungarn 1800–1850, Bd.
1: Deutsche und ungarische Dichter. Budapest 1787 (Budapester Beiträge zur Germanistik 17),
47–90; Lajos Némedi, Einige Probleme der frühen Goethe-Rezeption in Ungarn, in: Hans-Joachim
Althof (Hrsg.), Johann Wolfgang Goethe, Thomas Mann, Gruppe 47, Textlinguistik und Stilistik,
Kontrastive Untersuchungen, Sprachnorm. Deutsch als Fremdsprache, Methodik für
Fortgeschrittene. Fachsprachen, Landeskunde. Beiträge der Fachtagung von Germanisten aus
Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland in Budapest vom 16.–19. 1988. Szeged – Bonn 1989
(Dokumentationen & Materialien 13), 131–142.
34 Für weitere Informationen siehe Miklós Kamody, Levelezés és utazás Kazinczy Ferenc korában

[Briefverkehr und Reise in der Zeit Ferenc Kazinczys]. In: Széphalom. A Kazinczy Ferenc Társaság
évkönyve 2 (1989), 33–60.
35 So beklagt auch Kazinczy in einem Brief an Aranka vom 21.07.1792: „Wielands Diogenes und die

durch Gábor Dayka übersetzten Verse des Abelard werden vom Wiener Zensor nicht erlaubt! Ein
unglücklicher Aspekt.“ (A’ Wieland Diogenesét és a’ Dayka Gábor által fordított Abelard verseit a
Bécsi Censor meg nem engedé!) Zitiert nach KazLev II, Brief-Nr. 404, 264.

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Daniela Haarmann

werden, die Schnittpunkte und Interaktionen zwischen Politik und


Gelehrsamkeit zu rekonstruieren. Außerdem wird zu untersuchen sein,
inwieweit die Gelehrten Einfluss auf die Politik nehmen konnten und vice versa.
Die Untersuchung lehnt sich an Miroslav Hrochs Drei-Phasen-Modell zur
Entstehung einer nationalen Identität. Demnach sind in der ersten Phase die
maßgebenden Akteure die Gelehrten, welche die Integrationskriterien wie
gemeinsame Geschichte, Sprache oder Kulturtraditionen erst definieren. In
einer zweiten Phase werden diese Kriterien innerhalb der Angehörigen einer
ethnischen Gruppe mit dem Ziel verbreitet, ein Nationalbewusstsein zu
schaffen. Wiederum sind hier zumeist Gelehrte die Akteure, aber ebenso
Politiker, Privatiers oder Mäzenen (siehe etwa Ferenc Széchényis Gründung der
Nationalbibliothek im Jahre 1802). In einer dritten Phase kommt es dann zur
Mobilisierung der breiten Masse und zur Ausarbeitung eines politischen
Programms.36 Während die Phasen eins und zwei innerhalb des
Projektzeitraumes zu verorten sind, erfolgt die Massenmobilisierung und
Formulierung eines politischen Programmes erst zum Ende des
Untersuchungszeitraumes.

Namentlich war es die Gründung der Ungarischen Akademie der


Wissenschaften 1825 und die politische Sprachbewegung der 1830er und 1840er
Jahre mit der Etablierung des Ungarischen als Staatssprache 1844, welche die
Sprachenfrage auf eine ganz neue Ebene hoben. Im späten 18. und frühen 19.
Jahrhundert war diese nur lose organisiert, wurde politisch hitzig, aber mit nur
geringen Resultaten debattiert. Mit der Gründung der Akademie wurde sie
institutionalisiert und damit strukturiert. Ein signifikantes Ergebnis war, dass
die Gelehrtenzeitschriften langlebiger wurden, wodurch zwar nicht stabile
öffentliche Foren, sondern intensivere und fokussierte und Diskurse entstanden.

Auch wenn die Einführung des Ungarischen als Staatssprache und die
Abschaffung des Latein ein großer realpolitischer und symbolischer Erfolg war,
kam es in der zweiten Jahrhunderthälfte dann zu einer radikalen
Magyarisierungspolitik. An dieser Stelle darf nicht vergessen werden, dass das
Reich der Stephanskrone seit dem Mittelalter multiethnisch und vielsprachig
war und das Ungarische nie eine absolute Mehrheit hatte. Die häufig als
„natürliches“ Resultat behandelte Sprachenpolitik der 1830er und 1840er war
keineswegs so selbstverständlich und selbsterklärend. Hier gilt es zusätzlich zu
den bereits bestehenden Diskursen zur Unterdrückung der anderen Ethnien
und Sprachen im Königreich zu klären, inwieweit die Magyarisierung die
Erneuerungsbewegung anderer Sprachen im Reich beeinflusste, behindert oder
anspornte. Lohnenswert zu untersuchen wäre demnach, ob es gemeinsame
Muster, Methoden, Konzepte und Praktiken der anderen Sprachbewegungen
gab.

36 Miroslav Hroch, Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen
Vergleich. Göttingen 2005 (Synthesen. Probleme europäischer Geschichte; 2), 45–47.

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