Sprachvergleich
Sprachvariation
/~τ 7 kontakt
Λ /) V/1 Γ l·} verflleich
*J A/ Λ ίΦΙχ fJ variation
Herausgegeben von
Kirsten Adamzik und Heien Christen
ISBN 3-484-73055-2
Am 7. Februar 2001 feiert Gottfried Kolde seinen 65. Geburtstag. Dies war für
die hier versammelten Autoren - Kollegen, Freunde und Schüler des Jubilars -
ein willkommener Anlass, ihm einen Beitrag zu widmen, der ihre persönliche
Verbundenheit mit ihm zum Ausdruck bringt.
Die thematische Breite der hier vorgelegten Aufsätze, die aus der Linguistik,
Literaturwissenschaft und Mediävistik und aus dem germanischen und romani-
schen Sprachraum stammen, spiegelt nicht nur die Offenheit und Vielfalt der
Interessen und Arbeitsgebiete von Gottfried Kolde, sondern auch seine Neugier
und freundschaftliche Verbundenheit über Sprach-, Länder- und Disziplingren-
zen hinweg. Selten begegnet man in der akademischen Welt einem Forscher,
der so viel Anerkennung gefunden hat, so sehr in seiner Arbeit aufgeht und der
sich gleichzeitig mit solcher Bescheidenheit zurücknimmt. Undenkbar, dass
wissenschaftliche Kontroversen ihm je mehr bedeuten würden als der herzliche
Umgang, den er, ohne Ansehen von Rang und Namen, mit seinen Mitmenschen
pflegt.
Man darf es einen glücklichen Zufall nennen, dass Gottfried Kolde von
Göttingen gerade nach Genf kam, wo er im Jahre 1972 auf den ersten Lehrstuhl
für Germanistische Linguistik berufen wurde. Dort fand er ideale Bedingungen
für seine universitäre Tätigkeit, aber auch eine soziale und landschaftliche
Umgebung, von der er und seine Familie sich faszinieren ließen und in der sie
heimisch geworden sind. Der neue Arbeitsort hat Gottfried Koldes weitere
wissenschaftliche Arbeit entscheidend geprägt: Das mehrsprachige Land lenkte
seine Aufmerksamkeit zunächst auf Fragen des Sprachkontakts. Davon zeugt
besonders sein soziolinguistisches Grundlagenwerk zu zweisprachigen Gesell-
schaften, exemplarisch untersucht an den unterschiedlichen Verhältnissen in
den Städten Biel und Fribourg. Dieses Thema und die Sprachsituation in der
Schweiz insgesamt haben ihn bis in die jüngste Zeit immer wieder beschäftigt.
Die besonderen Arbeitsbedingungen - der Unterricht germanistischer Lin-
guistik vor allem an Französischsprachige und die Zusammenarbeit mit Lin-
guisten verschiedener Einzelsprachen - regten Gottfried Kolde zu zahlreichen
Studien in den Bereichen Sprachvermittlung und Sprachvergleich an. Und es
war vielleicht auch die anderssprachige Umgebung, die seine frühe Sensibilität
für Fragen der Sprachpflege und der Sprachkritik, wie sie schon seine Disser-
VI Vorwort
tation von 1964 bezeugt, noch steigerte und ihn zu weiteren viel beachteten
Forschungen auf diesem Gebiet anregte.
Fragen der Sprachkritik waren auch der erste Ausgangspunkt für die inten-
sive Beschäftigung mit dem Thema, das in den letzten Jahren im Vordergrund
seiner Arbeit stand: das schwierige Gebiet der Nominaldetermination, deren
Erfassung besonders in sprach vergleichender und universalgrammatischer Pers-
pektive höchst umstritten ist. Dass er die Spezialliteratur zu diesem Gegenstand
umfassend aufgearbeitet hat, dafür werden ihm auch noch künftige Forscher-
generationen dankbar sein.
Wir wünschen Gottfried Kolde, dass er an seinem 65. Geburtstag zusammen
mit seinen Gratulanten sich freut über den Reichtum seines bisherigen
Schaffens und dass er mit eben solcher Freude dem entgegensieht, was ihm die
Vielfalt seiner Interessen an künftiger Ernte eintragen wird.
Werner Abraham
Negativ-polare Zeitangaben im Westgermanischen und
die perfektive Kohäsionsstrategie l
Peter Blumenthal
Deixis im literarischen Text 11
Bernhard Böschenstein
Nominaldetermination im Deutschen und Französischen.
Beobachtungen an zwei Gedichten und ihren modernen
Übersetzungen (Rimbauds Bateauivre in Celans Fassung
und Hölderlins Ister in du Bouchets Version) 31
Renate Böschenstein
Lorenzos Wunde. Sprachgebung und psychologische Problematik
in Thomas Manns Drama Fiorenza 39
Heien Christen / Anton Näf
Trousers, shoues und Eis - Englisches im Deutsch von
Französischsprachigen 61
Erika Diehl
Wie sag ich's meinem Kinde? Modelle des Fremdsprachenunterrichts
in der Primarschule am Beispiel Deutsch im Wallis und in Genf 99
Jürgen Dittmann
Zum Zusammenhang von Grammatik und Arbeitsgedächtnis 123
Verena Ehrich-Haefeli
Die Syntax des Begehrens. Zum Sprachwandel am Beginn der
bürgerlichen Moderne. Sophie La Röche: Geschichte des Fräuleins
von Sternheim, Goethe: Die Leiden des jungen Werther 139
Karl-Ernst Geith
Der lip wandelt sich nach dem muot
Zur nonverbalen Kommunikation im 'Rolandslied' 171
VIII Inhaltsverzeichnis
Walter Haas
"L'usage du patois est severement interdit dans les ecoles."
Über den juristischen Umgang mit Substandardvarietäten 185
Liliane Haegeman
Word classes in Germanic: the case of West Flemish 201
Michael Langner
Fremdsprachenvermittlung an einer zwei-/mehrsprachigen
Universität. Realität und Zukunftsperspektiven des Modells
der Universität Freiburg/Fribourg 227
Walter Lenschen
Der Bauer im Ehren-Feld. Zur Inszenierung eines Begriffs im
Nationalsozialismus 235
Heinrich Löffler
Sprachen in der Stadt - am Beispiel Basels 245
Emilio Manzotti,
"Senza esclamativi". Sopra un testo di Giorgio Caproni 261
Matthias Marschall
Erwartungen und Routinen beim Lesen. Strategien beim
Leseverstehen in der Erstsprache (Französisch)
und in der Fremdsprache (Deutsch) 281
Eddy Roulet
A la frontiere de l'ordre de la langue et de l'ordre du discours:
la clause et l'acte 297
Peter Schmitter
Zur Rolle der Semantik in Humboldts linguistischem
Forschungsprogramm 307
Johannes Schwitalla
Lächelndes Sprechen und Lachen als Kontextualisierungsverfahren 325
Horst Sitta
Sprachwandel, Sprachverfall - oder nur die ganz alltägliche
Schlamperei? 345
Therese Studer
"Weisst du der deutsch?" Vom Umgang frankophoner
Deutschlemender mit den Artikelwörtem 357
Heinz Vater
Die Einsamkeit des 'unbestimmten Artikels' 379
Inhaltsverzeichnis IX
Sten Vikner
Predicative adjective agreement: Where German may be "easy",
but French and Danish are not "easies" 399
Iwar Werlen
Die Konstruktion der Deutschschweizer Diglossie in der Schule 415
Bettina Wetzel-Kranz
Biel zwanzig Jahre danach. Die Erfahrungen der ersten
gemeinsamen zweisprachigen Maturaabteilung des Deutschen
und des Französischen Gymnasiums Biel
aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler 437
Verzeichnis der Schriften von Gottfried Kolde 455
Werner Abraham
2. Syntaktische Kriterien
Das bedeutet zweierlei: Einmal zusammen mit (l l a), dass es in dem Zeitdauer-
ausdruck selbst einen Negationsreflex gibt, selbst wenn explizite Satznegation
vorläge; und zum ändern dass der gesamte negativ-polare Zeitdauerausdruck
mit dem Negationsreflex (NR.) eine komplexe syntaktische Binnenstruktur
aufweist. Siehe dazu (13a, b) als eine der Möglichkeiten.
(I3)a
NegP
(13)b AgrSP
"
Spez AgrS'
Das finite Verb V adjungiert sich an den Kopf der Neg-Konstituente mit NR
und rückt von dort nach AgrS auf, um die Kongruenzmerkmale abzusättigen, so
jedenfalls im Minimalismusjargon. Man beachte, dass ich NegP für das Deut-
sche jeglicher Entwicklungsstufe innerhalb von VP situiere, anders als Annah-
men, die anhand des Französischen entwickelt wurden (Pollock 1989).
6 Werner Abraham
TOPIKALISIERUNG MÖGLICH AUSSER OBER DIE SATZGRENZE HINAUS (AUS DEM ABHÄNGIGEN
SATZ HERAUS)
(14) a In jaren heb ik niet zo gelachen
In jaren heeft hem niemand gesproken
*In jaren dacht ze dat ze niet zo gelachen had
In geen jaren dacht ze dat ze zo gelachen had
b (<Schon>) Jahre(lang) (<schon>) habe ich nicht mehr so gelacht
(<Schon>) Jahre(lang) (<schon>) hat ihn niemand mehr so lachen
gesehen
<(Schon>) Jahre(lang) (<schon>) glaubte sie, dass sie nicht mehr so gelacht hatte
"Keine Jahre(lang) dachte sie, dass sie ihn (mehr) gesprochen hatte
Die Distributionen in (14) erlauben die Annahme, dass zwischen dem Satzne-
gator und dem Zeitdauerausdruck c-Kommando auf LF vorliegen muss; vgl.
auch (13a).
3. Echte Negativpolarität?
ZEITDAUERAUSDRUCK NICHT UNMITTELBAR RECHTS VON UND LINKS VON DER NEGATION
(15) a *Ik heb hem niet ooit gesproken Konstituentennegation
*Ik heb hem ooit niet gesproken Satznegation
Ik heb hem nooit gesproken Neg-Inkorporation
b *Ich habe ihn nicht je(mals) gesprochen Konstituentennegation
*Ich habe ihn je(mals) nicht gesprochen Satznegation
Ich habe ihn nie gesprochen Neg-Inkorporation
Beide Sprachen erfüllen dieselben Distributionsbedingungen. Im Unterschied zu
den Zeitdauerausdrücken führt allerdings Nachstellung der expliziten Negation
keineswegs zu Grammatizität. Wir ziehen aus diesem Unterschied den Schluss,
dass man von zweierlei negativ-polaren Ausdrücken sprechen muss: von sol-
chen, bei denen Negation in jeder strukturellen Position in die Konstituente
eindringt wozu je(mals)/ooit gehören; und zum ändern von solchen, die sich
dieses Eindringens in die Konstituente erwehren können bzw. deren Konstitu-
entenstruktur dieses Eindringen verhindert: dazu gehören die in (9a, b) verliste-
ten und hier untersuchten Zeitdauerausdrücke. Es wird eine besondere syntakti-
Negativ-polare Zeitangaben im Westgermanischen 7
TOPIKALISIERUNG
(17) a i *Ooit heb ik niet zo gelachen
ii *Ooit dacht ze dat ze niet zo gelachen had
in Nooit dacht ze dat ze zo gelachen had
b i *Je(maIs) habe ich nicht so gelacht
ii *Je(mals) glaubte sie, dass sie nicht so gelacht hatte
iii Nie glaubte sie, dass sie so gelacht hatte
Anders als bei (14) erlauben die Distributionen in (17) die Annahme, dass zwi-
schen dem Satznegator und dem Zeitdauerausdruck c-Kommando nicht nur auf
LF, sondern auch in der sichtbaren syntaktischen Struktur vorliegen muss. Auch
hier trennen sich also die beiden lexikalischen Klassen, und das Gemeinsame
der Unterschiede scheint darin zu fassen zu sein, dass die je(ma!s)-K\asse der
expliziten Negation stärker bedarf als die Klasse der Zeitdauerausdrücke, c-
Kommando z. B. muss bei der je-Klasse bereits in der sichtbaren Struktur
vorliegen, was bei Topikalisierung wie in (17) nicht gegeben ist. Wir haben
dagegen bei der Klasse der Zeitdauerausdrücke die c-Kommandierungsbedin-
gung bloß auf LF geortet.
Werner Abraham
Die folgenden Beispiele und Überlegungen dazu betreffen eine Unterklasse der
oben behandelten Zeitdauerausdrücke: nämlich solche mit definiter Zeitzählung.
Hoeksema (1996, 4) meint, bei der Perfektivitätsbeschränkung bei den Negati-
onspolaren definiter Zeitdauerausdrücke Ausnahmen registrieren zu müssen.
Folgende Distributionsunterschiede wie die in (18) scheinen zum einen darauf
zu weisen, dass sich definite Zeitdauerangaben nur bei punktuell perfektiven
Prädikaten verwenden lassen, nicht jedoch bei Zuständen und imperfektiven
Ereignissen.
(18) a Wir haben innerhalb von) zwei Tagen sieben Torten gegessen perfektiv
PERFEKTIVE KOHÄSIONSSTRATEGIE
(22)
Die Ereignispunktidentifikation, die in (22) eine Rolle spielt, hat ein Pendant
dort, wo Zustandsprädikate und Zeitdaueradverbien die Kohäsionsprobe zu
bestehen haben. Man vergleiche, was die Negation in den folgenden Beispielen
bewirkt.
(24) a Er war in drei Jahren (drei Jahre lang) *(nie/einmal) krank gewesen
b Sie hat (in) zwei Stunden *(keinen)/*einen/EINEN Anruf erhalten
c Sie hat in den letzten zwei Stunden *(keinen)/(*einen)/ *(EINEN) Anruf
erhalten
d Sie hat *(keine) zwei Stunden einen Anruf/*Anrufe erhalten
e Er ist in (den letzten) zwei Jahren *(nicht (EINMAL)) gelaufen/laufen
gewesen
Warum, so haben wir zu fragen, darf die Negation in (24a-d) nicht fehlen? Was
macht die Negation derart, dass grammatische Kohäsion zwischen dem Zeit-
daueradverb und den Prädikaten vorliegt, eine Kohäsion, die ohne Negation
durchbrochen ist? in+ Zeitraum-NP setzt eine delimitive Selektionsspanne, die
mit der Ereignisspanne des Prädikats verträglich sein muss. Die Beispiele zei-
gen aber, dass das Adverb nicht nur einen Zeitraum setzt, sondern Verträglich-
keit hinsichtlich definiter punktueller Erfüllung in dieser Spanne verlangt, nie-
(mals) setzt ebenso wie einmal eine solche definite Punktverträglichkeit. Siehe
10 Werner Abraham
im besonderen (24c, d, e), wo auch das neutrale nicht ein punktuelles Ereignis
impliziert. Dies scheint in besonderer Weise die Kohäsionstrategie zwischen
perfektiven und punktuellen Prädikaten und delimitiven Zeitdaueradverbien zu
bestätigen.
6. Literaturverzeichnis
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Alie de Boer/Helen de Hoop/Henriette Swart (Hg.): Language and Cognition 4. Yearbook
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ter praktisch und so gut wie. In: Edda Weigand/Franz Hindsnurscher (Hg.): Lexical struc-
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Hoeksema, Jack (1996): In days, weeks, months, years, ages: a class of negative polarity items.
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Kürschner, Wilfried (1983): Studien zur Negation im Deutschen. Tübingen.
Pollock, Jean-Yves (1989): Verb movement, universal grammar, and the structure of IP. In:
Linguistic Inquiry 20, 365-424.
Woude, Ton van der (1994): Negative contexts. Groningen, (Oxford 1997).
Peter Blumenthal*
Es ist seit langem bekannt, dass sich die deutschen und französischen Deiktika
hier und jetzt, ici und maintenant in der Situationsdeixis im Großen und Ganzen
gleich verhalten, in der von Karl Bühler so genannten Deixis am Phantasma
dagegen unterschiedlich. Innerhalb einer Gesprächssituation, in der der
Sprecher sich selber als Zentrum eines raum-zeitlichen Koordinatensystems
betrachtet, erweisen sich die genannten Adverbien also als nahezu äquivalent,
während sie sich im Recit, zumal im literarischen, nur in einem sehr begrenzten
Umfang entsprechen. Dieser soll im Folgenden genauer bestimmt werden.
In seiner Modernen deutsch-französischen Stilistik auf der Basis des Über-
setzungsvergleichs (1976, 197) beobachtet Grünbeck, dass für deutsches hier im
Recit in der französischen Übersetzung grundsätzlich nicht ici steht, sondern
das Adverb lä, das deiktisch oder anaphorisch verwendet werden kann. In die-
sem Sinne erklären auch die französischen Schulgrammatiken dem deutschen
Schüler, dass bei der Umwandlung der direkten in die indirekte Rede auf die
notwendigen Veränderungen in den Entsprechungen zwischen manchen Adver-
bien zu achten ist. Bei den zeitlichen Adverbien stellt sich die Situation insofern
etwas anders dar, als maintenant in der modernen französischen Literatur häufig
auch im Recit auftritt, und zwar an Stelle von a ce moment-lä, alors usw.
Grünbeck glaubt sogar, dass jetzt und maintenant - trotz grundsätzlich schärfe-
rer Unterscheidung von Deixis und Anaphorik im Französischen - in literari-
schen Texten ähnliche Funktionen haben:
In der Deixis-ad-phantasma-Ebene wird in der deutschen Sprache nicht unterschieden
zwischen der aktuellen, absoluten Gegenwart, dem Jetzt zum Zeitpunkt der Berichtabfas-
sung, und dem fiktiven Jetzt, der in der Vergangenheit gedachten Gegenwart, von der
subjekiven Perspektive der handelnden Bezugsperson oder der objektiven des Berichter-
statters aus gesehen. [...] Im Französischen unterscheidet man die reale von der fiktiven, in
die Vergangenheit prqjizierten Gegenwart bei "heute", jedoch nicht bei "jetzt" (202).
Anregungen zu diesem Beitrag sind aus einem gemeinsamen Seminar mit Volker Klotz
hervorgegangen. Ihm danke ich für spannende Diskussionen über Deixis.
12 Peter Blumenthal
a) das Adverb jetzt auf eine lange und stilistisch weniger ergiebige Tradition
nicht-deiktischer Verwendungen im Recit zurückblicken kann, die aller-
dings bis in das 19. Jahrhundert hinein an besondere semantische Bedin-
gungen geknüpft waren;
b) der nicht-deiktische Umgang mit hier in der Goethezeit einen textlinguis-
tisch und stilistisch höchst interessanten Wandel erlebt hat;
c) der Einsatz von nicht-deiktischem maintenant (und seltenerem ä present)
in der französischen Literatur von der Mitte des 19. Jahrhunderts ab ein
wesentliches Mittel zur Erschließung neuer stilistischer Möglichkeiten
geworden ist;
d) ici sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich von seinen ursprüng-
lich strikt situationsdeiktischen Gebrauchsbedingungen befreit.
Die Untersuchung erfolgt auf der Grundlage maschinenlesbarer Korpora.1 Für
das Französische steht die ausgezeichnete Datenbank Frantext zur Verfügung,
die die Literatur seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts erfasst. Für das Deutsche
verfügen wir leider noch nicht über einen derart weiten historischen Überblick.
In Anbetracht der von mir gewählten Arbeitsmittel kann hier das Korpus erst
um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzen, da für die frühere Zeit noch keine
für den verfolgten Zweck brauchbaren Datenbanken vorliegen. Wir stützen uns
im Wesentlichen auf die CD-ROM Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Lite-
ratur.
Der theoretische Rahmen für die folgenden Beobachtungen ist zu einem
guten Teil durch K. Bühlers Gedanken über die beiden Haupttypen der Deixis
(ad oculos und "am Phantasma"), durch K. Hamburgers (1977, 114ff.) Ausein-
andersetzung mit Bühler sowie durch u. a. von H. Weinrich betriebene Studien
zur Kombinatorik von Deiktika und Tempusmorphemen abgesteckt.
2. Zeitliche Deixis
2. l. jetzt
Die Entwicklung des Adverbs jetzt von der deiktischen Markierung des
Sprechmomentes zur anaphorischen Angabe der Zeitenfolge in der Erzählung
wird schon im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm (1877) beschrieben.
Soweit die dort versuchte Affiliation der Bedeutungen die historische Ent-
wicklung widerspiegelt, geht der letztgenannten Verwendung (bei Grimm =
jetzt 6) eine zeitlich kontrastierende (=jetzt 5) voraus:
jetzt mit einem praeteritum oder historischen praesens, und einen jungem, gleichsam der
gegenwart näheren abschnitt der Vergangenheit von einem früheren unterscheidend.
Hier liegt ein gewaltiger arbeitstechnischer Vorteil gegenüber früheren Arbeiten zum
Thema, etwa der heute noch sehr lesenswerten Analyse Weinrichs (1977) zur Kombinato-
rik von Tempus und Adverb (vor allem 226-244).
Deixis im literarischen Text 13
In unserem Korpus sind beide Etappen der Entwicklung von jetzt - auch die bei
Grimm nicht klar herausgearbeitete Bedeutung 6) ("auch sonst bei einer zeit-
folge") gut dokumentiert.
Zeitlich-kontrastierend (= Bedeutung 5) zu interpretieren ist jetzt in den
Texten des 18. Jahrhunderts (und auch noch bei Goethe):
(1) Herr F. und Sebaldus lebten nun den Winter über sehr eingezogen. Ihre Unterhal-
tung, vordem durch die Gesellschaft des Majors viel mannigfaltiger, ward jetzt
etwas einförmig.
(Nicolai: Sebaldus Nothanker, S. 336. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Lite-
ratur, S. 75121)
(2) Don Sylvio, der in tiefen Gedanken da gelegen war, und auf die Reden seines Rei-
segefährten keine Acht gegeben hatte, wachte jetzt auf einmal auf. Höre, Pedrillo,
sagte er, ich will dir meine Gedanken von dieser Begebenheit sagen, und ich bin
gewiß, daß ich mich nicht betrüge. Aber, wo ist die Zigeunerin hingekommen.
(Wieland: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva, S. 183. Digitale Bibliothek
Band 1: Deutsche Literatur, S. 100527)
Zeitadverbien (vordem in (1) oder das Plusquamperfekt (in (2) markieren hier
die vorausgehende Zeitstufe.
Bei den Romantikem mehren sich die Verwendungen, die Grimms Bedeu-
tung 6) entsprechen; Beispiel:
(3) Sie antwortete mit niedergeschlagnen Augen, daß sie noch kein Gelübde abgelegt
habe und auch keines ablegen werde, seit sie erfahren müssen, daß nicht die
Klostermauern, sondern ritterlicher Mut sie gegen Gewalt geschützt habe. Darauf
kniete der König vor ihr nieder, ergriff ihre Hand und zeigte ihr einen Goldring.
Und sie steckte ihren Finger hinein, denn ihre Augen verstanden sich und nannte
ihn ihren lieben Ritter, denn sie wußte nicht, daß es der König sei. Als aber jetzt
die Grafen ihr mit gebeugtem Knie die Hand küßten und das Heil ihrer neuen Kö-
nigin ausriefen, da erkannte sie die hohe Würde ihres Verlobten, wie sie sein ho-
hes Herz erkannt hatte, sie verbarg ihr Antlitz auf einer Brust und segnete alles
Unglück, in welchem der Himmel geprüft, ob sie dieses Glück ertragen könne,
wobei sie
(Arnim: Die Kronenwächter. Erster Band, S. 322. Digitale Bibliothek Band l :
Deutsche Literatur, S. 1237)
2.2. maintenant
Für die Romane Balzacs - zumindest die in Frantext enthaltenen - gilt, dass
maintenant und a present nicht im Recit vorkommen, also auf ihre traditionelle
Rolle in der Deixis ad oculos beschränkt sind.
In Stendhals Le Rouge et le Noir (1830) finden sich 41 Okkurrenzen von
maintenant; a present kommt nicht vor. In 15 Fällen steht maintenant außerhalb
der direkten Rede bzw. der unmittelbar wiedergegebenen Gedanken einer Figur.
14 Peier Blumenthal
(5) Elle se voyait moprisable. Ce moment fut affreux ; son äme arrivait dans des pays
inconnus. La veille eile avait goüte" un bonheur inoprouvd ; maintenant eile se
trouvait tout a coup plongoe dans un malheur atroce.
(6) [...] il se sentait une immense hauteur. Tout ce qui dtait au-dessus de lui la
veille. etait ä ses cötds maintenant ou bien au-dessous.
(7) C'est qu'il avait maintenant pour implacable ennemie cette imagination puissante,
autrefois sans cesse employed lui peindre dans l'avenir des succes si brillants.
Im folgenden Zitat wird der Zeitraum eines ganzen Lebens (im Plusquamper-
fekt) einer neuen Phase (im Passe simple und Imperfekt) gegenübergestellt:
(8) Pour la premiere fois Mathilde aima. La vie, qui toujours pour eile s'dtait trainoe
pas de tortue, volait maintenant.
Flaubert knüpft in Madame Bovary (1857; maintenant 62x, ä present 32x) an
diese Tradition des kontrastiven maintenant an:
(9) L'apothicaire, autrefois. se fut bien garde" d'une teile expression ; mais il donnait
maintenant dans un genre folätre et parisien qu'il trouvait du meilleur gout.
Häufiger sind aber Verwendungen einer ganz anderen Natur (vgl. Weinrich
1977, 231): maintenant als Signal geringer Distanz zwischen der Person des
enonciateur, die nach den Maßstäben der theorie de l 'enonciation für den Inhalt
des jeweiligen Satzes haftet, und dem wiedergegebenen Sachverhalt. Die Dis-
tanz geht gegen Null in den relativ seltenen Sätzen, in denen das Adverb in
erlebter Rede auftritt:
(10) Charles les regardait. croyait entendre l'haleine Idgere de son enfant. Elle allait
grandir maintenant ; chaque saison, vite, amenerait un progras. II la voyait dejä
revenant [...].
In formaler und inhaltlicher Nachbarschaft zur erlebten Rede stehen manche
Varianten der indirekten Rede, die sich im Grenzbereich zur berichteten Rede
(discours rapporte) befinden (vgl. Jeandillou 1997, 70ff.) und ebenfalls main-
tenant enthalten können:
(11) Emma, le soir, ecrivit au clerc une interminable lettre ou eile se dogageait du ren-
dez-vous: tout maintenant e"tait fmi, et ils ne devaient plus, pour leur bonheur, se
rencontrer. Mais, quand la lettre fut close, comme eile ne savait pas l'adresse de
L£on, eile se trouva [...]
Häufiger findet sich maintenant in Sätzen, die Gefühle, Stimmungen oder Ge-
mütszustände ausdrücken. Die Darstellungen verweisen dabei in einer schwer
zu analysierenden Weise auf einen verborgen bleibenden Beobachter, dessen
Inferenzen sie zu beinhalten scheinen. Diese entsprechen im folgenden Zitat
dem durch sembler modalisierten Inhalt der rhetorischen Frage:
Deixis im literarischen Text 15
(12) Emma maigrit, ses joues pälirent, sä figure s'allongea. Avec ses bandeaux noirs,
ses grands yeux, son nez droit, sä demarche d'oiseau et toujours silencieuse
maintenant. ne semblait-elle pas traverser l'existence en y touchant a peine, et
porter au front la vague empreinte de quelque prodestination sublime?
Auch im nächsten Beispiel lässt der von sembler präsupponierte experiencer (=
das implizite indirekte Objekt von sembler) an eine die Situation beobachtende
und analysierende Instanz denken:
(13) Le diner n'etait pas pret, n'importe ! Elle excusait la cuisiniere. Tout maintenant
semblait permis ä cette fille. Souvent son man, remarquant sä päleur, lui deman-
dait si eile ne se trouvait point malade. - non, disait Emma.
Die in der Nähe von maintenant auftretende epistemische Modalisierung wird
nicht durch das Verb sembler, sondern durch das Adverb peut-etre geleistet in:
(14) L'envie lui vint de retoumer chez l'heureux: ä quoi bon? D'icrire ä son pere ; il
otait trop tard; et peut-6tre qu'elle se repentait maintenant de n'avoir pas c6d6 ä
l'autre, lorsqu'elle entendit le trot d'un cheval dans l'alloe.
Der hier im Kontext von maintenant ungenannt bleibende Beobachter erfahrt
eine morphologische Realisierung durch mehr oder weniger genetisches vous
im nächsten Beispiel:
(15) Sa voix maintenant prenait des inflexions plus molles, sä taille aussi ; quelque
chose de subtil qui vous penotrait se dogageait meme des draperies de sä robe et
de la cambrure de son pied.
Dieses vous darf wohl als die deklinierte Form des im folgenden Zitat verwen-
deten on gelten, das auf einen potentiellen Beobachter verweist:
(16) Du reste, eile enveloppait tout maintenant d'une teile indifference, eile avait des
paroles si affectueuses et des regards si hautains, des fa9ons si diverses, que
ne distineuait plus l'ogo'fsme de la charitd [...]
Nebenbei sei daran erinnert, dass am Anfang des Romans die Mitschüler von
Charles als durchaus "reale" Beobachter in der 1. Person auftreten: "[...] Charles
fut definitivement envoye au college de Rouen, oü son pere l'amena lui-meme,
vers la fin d'octobre, a l'epoque de la foire Saint-Romain. II serait maintenant
impossible a aucun de nous de se rien rappeler de lui." Schon für diese Stelle ist
die Verbindung des (allerdings explizit gemachten) Beobachterstandpunktes mit
maintenant festzuhalten.
Während maintenant im Recit in Madame Bovary grundsätzlich im Dienste
einer besonderen Form der Perspektivtechnik steht, die einen Einblick ins
Innenleben der Personen erlaubt, kommen vereinzelt Verwendungen des Syn-
onyms a present vor, bei denen ohne psychologische Relevanz eine Phase in der
Folge von Ereignissen oder Situationen festgehalten werden soll; Beispiel:
(17) Personne a present ne venait les voir ; car Justin s'etait enfui ä Rouen, ou il est de-
venu gar?on opicier, et les enfants de Papothicaire frequentaient de moins en
moins la petite, [...]
Allerdings ist ä present zumindest im gegenwärtigen Französisch weniger ein-
deutig auf deiktische Bedeutung festgelegt als maintenant. Der Petit Robert
16 Peter Blumenthal
Für die späteren Romane lassen sich keine quantitativen Entwicklungen mehr
feststellen, die mit den recht spektakulären zwischen 1867 und 1877 vergleich-
bar wären.
Zola setzt diese deiktischen Zeitadverbien in Ansätzen bereits in den ersten
Romanen im Recit ein, systematischer dann in Germinal - allerdings für völlig
andere Ziele als Flaubert. Gerade in den ersten Kapiteln von Germinal be-
zeichnen maintenant und present Etappen in der Entdeckung der Romanwelt
durch den Helden, die zugleich auch dem Leser das Eindringen in diese Welt
ermöglichen. Diese Funktion bildet aber vermutlich nur eine besondere Anwen-
dungsform, einen effet de sens, einer umfassenderen aspektuell-temporellen Er-
scheinung, die hier kurz zu besprechen ist. Für das Verständnis der Wirkung des
im Recit auftretenden maintenant ist die Tatsache wesentlich, dass dieses
Zeitadverb grundsätzlich nur mit dem Imperfekt auftritt - einem Imperfekt, das
keineswegs wie das "imparfait de rupture" oder das "imparfait historique" auf
momentane Ereignishaftigkeit festgelegt ist. Innerhalb der zumindest potentiel-
len Durativität des Verbalgeschehens zwingt das Adverb maintenant aber den
Leser, auch eine punktuelle Interpretation der Gültigkeit der verbalen Aussage
ins Auge zu fassen, also eine Fokussierung auf eine Untermenge von Momenten
innerhalb des vom Verb abgedeckten Zeitabschnittes. Kurz, die Verbindung von
maintenant und Imperfekt stellt ein Interpretationsangebot an den Leser dar, im
dargestellten Gegenstandsbereich sowohl die Kategorien des Verlaufs als auch
des Momentanen zu erkennen. Diese beiden aspektuellen Charakteristika
machen es wahrscheinlich, dass die Aktionsart2 der in dieser Konstruktion
auftretenden Verben nicht punktuell (wie rencontrer) ist. Dagegen kommt die
entgegengesetzte Aktionsart, die Stative, durchaus vor (s. u.). Die soeben skiz-
zierte Synthese von Durativem und (fokussiertem) Punktuellem ist im französi-
schen Tempus- und Aspektsystem grundsätzlich nicht vorgesehen. Zola hat hier
Zur Verbindung von Aktionsarten und Deiktika im Deutschen vgl. Ehrich (1992,73ff.).
Deixis im literarischen Text 17
(21) Mais eile restait assise, la tete si pesante, qu'elle se renversait entre les deux
epaules, codant au besoin invincible de retomber sur le traversin. Maintenant. la
chandelle eclairait la chambre, carrie, ä deux fen€tres, que trois lits emplissaient.
II y avait une armoire, une table, [...]
Während man im Falle von (20) bei der Paraphrasierung zwischen zwei Tem-
pora schwanken kann (mit Bedeutungsunterschied: Ä ce moment- , la corbeille
de feu eclaira/eclairait...), scheint es kaum möglich, maintenant in (21) ohne
erhebliche Sinnänderung durch ein nicht-deiktisches Adverb zu ersetzen.
Unabhängig von der Richtung der Perspektive fallt auf, dass der vom Verb
im Imperfekt bezeichnete Vorgang meist die Voraussetzung für die Nennung
beschreibender Elemente darstellt. Deshalb ist bei allen Versuchen einer Um-
wandlung ins Passe simple zu beachten, dass die deskriptive Ruhepause inner-
halb der narrativen Umgebung durch die Tempusänderung in die Linearität der
Ereignisfolge eingeschmolzen und die entsprechende Information so banalisiert
würde.
Letztere Beobachtungen gelten auch für die Kombinationen von ä present
mit dem Imperfekt; so bildet das Aufwachen von Le Voreux den Einstieg in das
Ausmalen einer kleinen Szene:
(22) [...] tandis que le gros cheval jaune repartait tout seul, tirait pesamment entre les
rails, sous une nouvelle bourrasque, qui lui herissait le poil. Le Voreux, ä präsent.
sortait du reve. Etienne, qui s'oubliait devant le brasier ä chauffer ses pauvres
mains saignantes, regardait, retrouvait chaque partie de la fosse, [...]
Erheblich seltener - auch hier liegt eine Parallele zum Umgang mit den deikti-
schen Zeitadverbien bei Flaubert - stellt ä present ein Element der erlebten
Rede dar:
(23) Et il la lächa enfin, et il s'en alia, sans dire un mot. Un frisson avait glaco Etienne.
C'otait stupide d'avoir attendu. Certes, non, a präsent, il ne l'embrasserait pas, car
eile croirait peut-etre qu'il voulait faire comme l'autre. Dans sa vanito blessoe, il
eprouvait un voritable disespoir.
In sehr grober Zusammenfassung lässt sich sagen, dass maintenant und ä
present in den beiden genauer betrachteten Romanen von Flaubert und Zola im
Dienste von seinerzeit innovativen Erzähltechniken standen, aber trotz gewisser
funktioneller Überschneidungen (z. B. in der erlebten Rede oder als Einladung
zur Versetzung des Lesers in die Situation) auch zu unterschiedlichen Zwecken
eingesetzt wurden: bei Flaubert signalisieren sie oft eine Sichtweise, die auf aus
unmittelbarer Nähe vorgenommene psychologische Feinanalyse abzielt. Bei
Zola dienen sie der Unterbrechung der linearen Handlung durch Szenen durati-
ven Charakters, die den Gang der Ereignisse bisweilen auch in Etappen glie-
dern.
Hamburgers Auffassung (1977, 72; vgl. auch 120), dass in der literarischen
Verwendung zeitlicher Deiktika die "fiktiven Ich-Origines der Romangestalten"
zur Geltung kämen, trifft gewiss auf die zitierten Fälle von erlebter Rede bei
Flaubert und Zola zu. Sie lässt sich darüber hinaus mit der allmählichen
Entdeckung der fiktiven Welt durch den Zolaschen Helden vereinbaren. Sie
scheint aber weniger geeignet für die Analyse derjenigen Passagen in Flauberts
Madame Bovary, in denen maintenant ein Signal unter anderen für die Existenz
einer dem Helden externen beobachtenden Instanz darstellt. Hamburgers leicht
polemische Auseinandersetzung mit Bühlers "Deixis am Phantasma" trifft aber
insofern nicht den Kern des Problems, als die von ihr postulierte subjektive
Sichtweise der Romanfiguren keineswegs die von Bühler konzipierte "Verset-
zung" des Autors/Lesers in die geschilderte Situation ausschließt (vgl. Hambur-
ger 1977,116), sondern geradezu dazu einlädt.
Ein Blick auf die weitere Entwicklung der Literatursprache zeigt, dass die
zur Zeit von Flaubert und Zola lancierten neuen Möglichkeiten des Umgangs
mit zeitlichen Deiktika Schule gemacht haben. Dieser Sprachgebrauch scheint
aber ein Signum von Literarität geblieben zu sein. Der journalistische Stil ist
insofern andere Wege gegangen, als die Vergangenheitstempora zu Gunsten der
Tempora Präsens und Futur zurücktreten, welche sich - paradoxerweise -
zwecks Dramatisierung mit nicht-deiktisehen Zeitangaben wie ä ce moment
verbinden;4 Beispiel:
(24) Puis, se saisissant d'un bout de phrase prosidentielle M. Jospin attaque sur le fond:
"[...]". A ce moment, selon un te"moin, M. Chevenement arbore un large sourire,
tandis que M. Chirac parait un peu ddcontenanco. Plus tard, d'ailleurs, ä l'Elisee,
son entourage parlera de la "nervosito" du premier ministre. Pour l'heure, le
president lui ropond: "[...]". (Le Monde 28.5.1999, S. 9)
3. Räumliche Deixis
3.1. Hier
Die Entwicklung der räumlichen Deiktika hier und ici in der Literaturgeschichte
des Deutschen und Französischen ist insofern geradezu spiegelbildlich zu der
von jetzt und maintenant verlaufen, als es - abgesehen von Erscheinungen der
jüngsten Vergangenheit - über die stilistische Funktion von ici wenig zu sagen
gibt, während sich in der wechselnden Rolle von hier, die ähnlich spannend wie
die Geschichte von maintenant ist, Mutationen in der Strukturierung deutscher
Erzählprosa ausdrücken.
voir en pensoe, ma moustache brune et mes cheveux noirs, et la physionomie jeune de mon
visage. Maintenant, j'etais vieux. Adieu."
4
Ähnliches hat Weinrich (l977,228f.) in Inhaltsangaben festgestellt.
20 Peter Blumenthal
Die besondere Problematik von hier liegt in seiner hohen Polysemie. Die ur-
sprünglich räumliche Bedeutung wird nicht nur auf Zeitliches (= 'jetzt', Grimm
unter hier 6) übertragen, sondern auch auf Punkte des Handlungsverlaufs oder -
noch abstrakter - der Gedankenführung, wie es in Grimms Wörterbuch unter
hier 5) heißt:
hier in abgeblaszterer Stellung, nicht sowol auf den ort, als auf fall, läge, umstände, Ver-
hältnisse bezogen, namentlich auch bei entwicklung und darstellung von gedanken und
Schlüssen verwendet.
Auch die häufige Opposition zu da, dort wird gebührend hervorgehoben (unter
3). Es fehlt allerdings bei Grimm diejenige Erscheinung, die uns besonders
interessiert, nämlich die Verwendung des eigentlich deiktischen Adverbs im
Recit. Wir werden dieser Funktionsentwicklung wiederum anhand des schon
oben benutzten Korpus zur deutschen Literaturgeschichte nachgehen, uns aller-
dings strikt auf die räumliche Bedeutung beschränken.
Falls die in unserem Korpus vorgenommene Auswahl nicht irrefuhrt, ergibt
sich für die Verwendung von räumlichem hier ab Mitte des 18. Jahrhunderts ein
einfach zu beschreibendes Bild: In der Literatur vor Goethe verweist in der
Erzählung5 auftretendes hier in mehr als zwei Drittel der Fälle auf den Ort, den
der vorausgehende Satz (und vor allem sein Ende) als von den Personen der
Handlung soeben erreicht darstellt. Entsprechend der Thema-Rhema-Analyse
von Texten liegt meist lineare Progression (vgl. Vater 1992, 98) vor, also die
thematische Wiederaufnahme einer zuvor rhematisch eingeführten Information
(mögliche Ausnahme z. B. (29). Ich beschränke mich auf einige wenige Bei-
spiele aus den Werken des Korpus:
(25) Endlich mußten wir uns doch entschließen, wieder nach Amsterdam zurückzuge-
hen. Unsere Umstände forderten diese Trennung. Karoline begleitete uns nach
dem Haag. Sie erkundigte sich hier, ob sie nicht jemanden antreffen könnte, der
ihr von ihrem Bruder Andreas Nachricht geben könnte.
(Geliert: Leben der schwedischen Gräfin von G**, S. 54. Digitale Bibliothek Band
1: Deutsche Literatur, S. 19013)
(26) Der Baron hatte dem Obersten das ganze Gut gewiesen und führte ihn auch in das
Haus, welches gleich an dem Garten und sehr artig gelegen war. Hier nahmen sie
das Frühstück ein.
(La Röche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 19. Digitale Bibliothek
Band l: Deutsche Literatur, S. 64273)
(27) Das Pferd ward an den Wagen gebunden, und so zogen sie fort bis in das nächste,
nicht weit entlegene Städtchen. Hier blieben sie liegen, um ihren Verwundeten
verbinden zu lassen, dessen Beschädigung, nachdem den ändern Tag der Verband
abgenommen war, nicht gefährlich befunden ward.
(Nicolai: Sebaldus Nolhanker, S. 389. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Lite-
ratur, S. 75174)
(28) Und so geschah es, daß sie an dem ändern Tag seit seiner Ankunft, zu eben der
Zeit da die Herrschaft in einem Saale des Garten-Pavillions sich mit Gesprächen
5
Noch in Grimmeishausens Abenteuerlichem Simplizissimus (1669) kommt hier, wie im
Projekt Gutenberg (http://gutenberg.aol.de) leicht überprüfbar, fast ausschließlich in si-
tuationsdeiktischer Funktion, also in der direkten Personenrede, vor.
Deixis im literarischen Text 21
unterhielt, und der größte Teil des Hauses des nachmittäglichen Schlummers
pflegte, beide, ohne sich bestellt zu haben, und also von ungefähr oder durch eine
Würkung der magnetischen Kräfte, deren wir an einem ändern Orte Erwähnung
getan, in einer dicht verwachsenen Laube des Labyrinths zusammen kamen. Die
beiderseitige Absicht war, die Sieste hier zu machen.
(Wieland: Die Abenteuer des Don Sylvia von Rosalva, S. 560. Digitale Bibliothek
Band l: Deutsche Literatur, S. 100904)
(29) Wir ließen den Bucentoro zwischen tausend Fahrzeugen, unter dem Donner des
Geschützes von allen Schiffen aus den Häfen, in die offne See stechen und den
Dogen sich mit dem Meere vermählen; und er brachte mich mit seinem Führer
nach meiner Wohnung. Hier schied er von mir, ohne daß er mir weder sein Quar-
tier noch seinen Namen sagen wollte.
(Heinse: Ardinghello und die glückseligen Inseln, S. 5. Digitale Bibliothek Band
l: Deutsche Literatur, S. 40943)
(30) Wir waren nun gerade auf dem Wege, den Kapitän Cook gemacht hatte, und ka-
men den ändern Morgen nach der Botany-Bay - ein Ort, nach dem die englische
Regierung wahrhaftig nicht Spitzbuben schicken sollte, um sie zu strafen, sondern
verdiente Männer, um sie zu belohnen, so reichlich hat hier die Natur ihre besten
Geschenke ausgeschüttet. Wir blieben hier nur drei Tage; den vierten nach unserer
Abreise entstand ein fürchterlicher Sturm, [...].
(Bürger: Münchhausen, S. 128. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S.
7552)
In mehr als der Hälfte der narrativen Verwendungen von hier weist der Satz
darüber hinaus auf eine erreichte räumliche Etappe hin, die das Fortschreiten
der Handlung aufhält oder den Handlungsablauf gliedert.
Wo die bisher für narratives hier vorgeschlagene Analyse nicht zutrifft, lie-
gen meistens sehr besondere stilistische Bedingungen vor, wie die rhetorische
Figur der Anapher im folgenden Beispiel:
(31) Alles dieses machte die Gärten des Hippias den bezauberten Gegenden ähnlich,
diesen Spielen einer dichtrischen und malerischen Phantasie, die man erstaunt ist,
außerhalb seiner Einbildung zu sehen. Hier war es, wo Agathon seine angenehms-
ten Stunden zubrachte; hier fand er die Heiterkeit der Seele wieder, die er dem an-
genehmsten Taumel der Sinne unendlich weit vorzog; hier könnt' er sich mit sich
selbst besprechen; hier war er von Gegenständen umgeben, die sich zu seiner Ge-
müts-Beschaffenheit schickten, obgleich die seltsame Denk-Art, wodurch er die
Erwartung des Hippias so sehr betrog, auch hier nicht ermangelte, [...]
(Wieland: Geschichte des Agathon, S. 65. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche
Literatur, S. 101005)
Der Typ der thematischen Progression ist in (31) bezeichnenderweise ein ande-
rer als in den zuvor zitierten Beispielen: die durch hier eingeleiteten Sätze spe-
zifizieren jeweils das Hyperthema "Gärten des Hippias".
Die Opposition hier/dort spielt in dem besprochenen Zeitabschnitt eine ver-
gleichsweise geringe Rolle, was sich leicht an der seltenen Kookkurrenz beider
Adverbien ablesen lässt.
Diese Situation ändert sich grundlegend in Goethes Erzählprosa, die im
Korpus vor allem durch Wilhelm Meisters Lehrjahre (1796) und durch die
Wahlverwandtschaften (1809) vertreten ist. Hier bezeichnet nun nicht mehr die
Ruhe am erreichten Ziel, also eine Etappe im Handlungsverlauf, sondern die
Sphäre des oder der Protagonisten und entspricht damit Hamburgers Funktions-
22 Peter Blumenthal
Die gleiche Analyse gilt einige Seiten weiter für das folgende Zitat, in dem die
Gesellschaft (referenzidentisch mit dem Subjekt des Azer-Satzes in (32) das
Zentrum des deiktischen Systems darstellt:
(33) Die Gesellschaft begab sich wieder in das Schloß zurück. Nach aufgehobener Ta-
fel wurde sie zu einem Spaziergang durch das Dorf eingeladen, um auch hier die
neuen Anstalten in Augenschein zu nehmen. Dort hatten sich auf des Hauptmanns
Veranlassung die Bewohner vor ihren Häusern versammelt.
(Goethe: Die Wahlverwandschaften, S. 106. Digitale Bibliothek Band l: Deutsche
Literatur, S. 24682)
Das häufige Vorkommen von hier erklärt sich im Übrigen einfach dadurch, dass
dieses Wort auf den Ort des jeweiligen Hauptgeschehens hinweist. Als Fokus-
sierung des Handlungsortes kann 'hier' überall sein - unter der Bedingung
allerdings, dass der Ort durch Beschreibung einen gewissen Thematizitätsgrad
erreicht hat, gleichsam individuiert ist. Die Abfolge von dort und hier hat unter
diesem Gesichtspunkt Ähnlichkeit mit der Einführung eines neuen Textgegen-
standes, der zunächst durch den unbestimmten Artikel präsentiert wird und nach
seiner Identifizierung vom bestimmten Artikel begleitet ist. In diesem
kommunikativen Wert (Markierung von Thematizität) liegt ein Anklang an das
eine erreichte und somit bekannte Etappe markierende hier in der Literatur der
Zeit vor Goethe (= lineare Progression). Dementsprechend stellt im folgenden
Zitat der durch dort eingeleitete Satz den Ort vor, hier macht ihn zur Szene des
im Vordergrund stehenden Geschehens:
(35) Sowohl er, als Friedrich besuchten fast alle Nachmittage den einsamen Viktor,
dessen kleines Wohnhaus, von einem noch kleineren Gärtchen umgeben, hart am
Kirchhofe lag. Dort unter den hohen Linden, die den schönberaseten Kirchhof be-
schatteten, fanden sie den seltsamen Menschen vergraben in eine Werkstatt von
Meißeln, Bohrern, Drehscheiben und anderm unzähligen Handwerkszeuge, als
wollte er sich selber sein Grab bauen. Hier arbeitete und künstelte derselbe täg-
lich, soviel es ihm seine Berufsgeschäfte zuließen, mit einem unbeschreiblichen
Eifer und Fleiße, ohne um die andere Welt draußen zu fragen.
(Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, S. 156. Digitale Bibliothek Band 1: Deut-
sche Literatur, S. 10080)
3.2. Ici
(42) L'idee de se promener dans les rues lui parut tout a fait deraisonnable. Voilä deux
mois qu'ils otaient arrives ici et eile n'avait jamais mis le nez dehors. [ibidem]
Der Übergang des hier diskutierten ici von der paralitterature (die auch eine
contre-litterature sein kann) in eine Textgruppe, an deren hochliterarischen
Qualitäten kein Zweifel besteht, findet spätestens in dem preisgekrönten Roman
6
Benutzt wurde die Taschenbuchausgabe (Presses de la Cito, Paris 1951). Der Roman
findet sich im Frantext-Korpus.
26 Peter Blumenthal
von Y. Queffelec, Les noces barbares (1985) statt. Außerhalb der direkten Rede
kommt ici allerdings fast nur in Textabschnitten vor, die sich auch nicht dem
Recit zuordnen lassen. Diese liegen in einer Zone, die von der indirekten
Redewiedergabe über die erlebte Rede zu formal noch weniger markierten
Formen der Wiedergabe von Bewusstseinsinhalten reicht (s.o. zu Vautrin; vgl.
Hamburgers 'innere Vorgänge', 1977, 124) und von der die folgenden Zitate
einen treffenden Eindruck verleihen:
(43) Nicole interrompait son aporitif solitaire pour signaler ä son fils que ce n'otait pas
un hotel, ici. qu'il y avait un peu de politesse ä avoir, du respect, qu'il fallait
mettre la table avant demain matin, [...]
(44) II re~citait le Je vous salue Marie pour avoir des mots ä mächer. L'avenir ne
l'angoissait plus. C'est ici qu'il ferait son logis, sur le Sanaga. se voyait dej'a
renflouant l'epave [...]
(45) Ludo voyait ses traces de pas qu'allait raturer sous peu la mer montante et cette
pensde l'affligea. U trouverait bientöt le moyen de signaler ä tous qu'il otait ici
chez lui. En rejoignant la piste forestiere il entendit ä nouveau le sifflement qui
l'angoissait la nuit.
(46) C'otait la mere effrayee qui cherchait sä fille, n'osant pas soupconner qu'elle ait
pu dosoboir et commettre la folie de venir ici voir "son papa" : son papa !... le va-
nu-pieds du Sanaga, rhombic fou dont le bruit courait qu'il s'etait ochappe d'un
asile et que la police devait I'emmener [...]
(47) Une tristesse passionnoe 1'exaltait. Regardant sa mere il sentait monier ä ses levres
un secret qu'il ne connaissait pas encore et qu'il savait devoir proforer ici. dans le
fragile espace ou Nicole avait soudain fait le seul pas qui les eut jarnais rappro-
ches.
Nur in zwei Fällen mag der Leser geneigt sein, den fraglichen Satz dem Recit
zuzuordnen, und dies wegen seiner Einbettung in einen narrativen Kontext
besonders im nächsten Beispiel (vgl. die benachbarten Formen des Passe
simple):
(48) II parvint au tuyau bitume qu'il escalada bouleverso. C'dtait sa demeure, ici, toute
sa vie. II courut jusqu'au chemin desservant la plage.
Eine solche Interpretation scheint weniger plausibel in Zitat (44), wo das vor-
ausgehende Imperfekt (faisaii) und die folgende verbale Wendung mentalen
Inhalts (avait l'impression) eine psychologische Deutung des mittleren Satzes
nahelegen:
(49) II faisait doux. C'otait la premiere fois qu'il venait ici mais il avait l'impression
d'un retour au pays natal, meme ocöan, soleil et mßme immensite vide ;
seul le wharf manquait.
Falls sich der Leser dagegen in (48) und (49) dafür entscheidet, die Satzinfor-
mation als Bewusstseinsinhalt zu verstehen, so würde dies Rückschlüsse auf die
Funktion von ici erlauben: der Weg zu einer solchen Interpretation würde für
den mit dem Stil Queffelecs Vertrauten vor allem durch das räumliche Adverb
Deixis im literarischen Text 27
gewiesen, das damit eine ähnliche Signalwirkung erhielte wie das zeitliche
Adverb maintenani bei Flaubert.
Gerade der Vergleich der beiden letztgenannten Werke macht deutlich, wie
sehr die diachrone Untersuchung der Funktion von ursprünglichen Raumdeik-
tika auf unterschiedliche stilistische Niveaustufen achten muss.
4. Zusammenfassung
Wir haben uns mit einem kleinen Ausschnitt einer recht umfassenden Proble-
matik beschäftigt, den Funktionen situationsdeiktischer Adverbien im literari-
schen Recit des Deutschen und des Französischen. Im Vordergrund unseres
Interesses standen die historischen Phasen
- des Eindringens dieser Elemente in eine pragmatische Ebene der Sprach-
verwendung, für die sie ihrer Natur nach nicht geschaffen schienen,
- ihres weiteren Funktionswandels in der (sprachhistorisch gesehen) neuen
Umgebung.
Die Arbeitsgrundlage - große maschinenlesbare Korpora beider Sprachen -
besaß insofern gewisse Nachteile, als sie für das Deutsche nur in einem Aus-
nahmefall über die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückreicht und für das Franzö-
sische im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts relativ wenige Texte enthält. Trotz
dieser Einschränkungen konnten charakteristische Gemeinsamkeiten7 und Unte-
schiede zwischen den deutschen und französischen Deiktika herausgearbeitet
werden.
Der funktionale Kern der Gemeinsamkeiten liegt erwartungsgemäß und mit
K. Bühlers Ideen übereinstimmend darin, dass die ursprünglich situationsdeik-
tische Information der Adverbien zur Deixis ,am Phantasma umgestaltet wird,
also zu einer Möglichkeit der Versetzung (des Autors, des Erzählers oder des
Lesers) in die erzählte Welt, deren vertrauter oder psychologisch intimer Cha-
rakter durch die Adverbien des Typs 'hier'/'jetzt' unterstrichen wird. Weniger
voraussehbar war eine diachron-semantische Gemeinsamkeit beider Sprachen:
die Tatsache, dass der Weg von der situationsdeiktischen zur textdeiktisehen
(anaphorischen) Bedeutung meist über eine oppositive Zwischenstufe (z. B.
maintenant versus autrefois, jetzt versus früher, 'hier' versus 'anderswo')
führte. Die Gründe für diese Erscheinung liegen wohl darin, dass bei einer vom
Autor angestrebten zeitlichen oder räumlichen Kontrastbildung innerhalb des
Recit von den Deiktika 'hier' und 'jetzt' ein ausdrucksstärkerer Polarisierungs-
oder Gliederungseffekt ausgeht als von einer Kontrastierung mit Hilfe aus-
schließlich anaphorischer Adverbien (z. B. zu der Zeit versus später/daraufhin).
Die Deiktika in nicht-deiktischer Umgebung standen also ursprünglich überwie-
gend im Dienste einer rhetorischen Hervorhebungsstrategie.
Der fundamentale Gegensatz zwischen beiden Literatursprachen, der aber
aus der Sicht des deutsch-französischen Sprachvergleichs ebenfalls nicht völlig
überraschend ist, liegt im unterschiedlichen Umgang mit den Kategorien der
Zeit und des Raumes. Während die französische Literatur bis in die jüngere
Vergangenheit ihre Phantasma-Effekte aus der zeitlichen Deixis zieht (auf sti-
listisch eingrenzbare Sonderentwicklungen von ici wurde hingewiesen), setzt
die deutsche Literatur in diesem Bereich seit zwei Jahrhunderten auf Raumdei-
xis. Es stellt sich hier die nur in der Diskussion mit Literaturwissenschaftlern zu
lösende Frage, ob und in welchem Maße diese Erscheinung aus der kontrastiven
Analyse der Sprachsysteme (vgl. Blumenthal 1997, 48-72) ableitbar ist oder
aber im Zusammenhang mit anderen gegensätzlichen Strukturen deutscher und
französischer Romane gesehen werden muss.
Die genaue Ausgestaltung der großen und trotz aller Studien zum Thema et-
was vage bleibenden Sphäre der Deixis am Phantasma ist von Sprache zu Spra-
che, wenn nicht von Autor zu Autor verschieden. Für das Deutsche hatten wir
festgestellt, dass hier die Fähigkeit besitzt, die Aufmerksamkeit des Lesers auf
den Haupthandlungsstrang zu fokussieren; der Vorgang kann sich mit der Sig-
nalisierung einer zentralen Personenperspektive verbinden (Goethes Wahlver-
wandtschaften). An dieser Stelle sei aber noch einmal gesagt, dass eine andere
Korpusauswahl wahrscheinlich noch weitere stilistische oder rhetorische Funk-
tionen von nicht-deiktischem hier zu Tage gefördert hätte.
Im Französischen sind wir bei Flaubert und bei Zola auf zwei verschiedene
durch maintenant/'ä present signalisierte Versetzungsmöglichkeiten gestoßen: In
Madame Bovary bedeuten diese Adverbien, grob gesagt, psychologische Nähe
zu einer der Personen, und insbesondere der Heldin. In Germinal signalisieren
sie in engem Zusammenwirken mit Kategorien des Aspekts und der Aktionsart
Etappen in der visuellen Entdeckung der fiktionalen Wirklichkeit.
Deixis im literarischen Text 29
5. Literaturverzeichnis
l. Einleitung
Wenn Paul Celan 1957 Arthur Rimbauds Bateau ivre von 1871 übersetzt, sind
die Stellen abweichenden Artikelgebrauchs häufiger als die einer Entsprechung.
Celan erscheint in dieser Hinsicht als ein unbotmäßiger Übersetzer, als einer,
der im Deutschen die französische Rhetorik verändern möchte, aus der
Überzeugung heraus, Untreue sei hier treuer als Treue, da die getreue Wieder-
gabe der im Französischen so viel selbstverständlicheren Rhetorik im Deut-
schen befremdlich wirken würde. Natürlich bestimmen rhythmische Zwänge
sehr oft Celans Wahl. Auch sollte man oft den ganzen Vers, gelegentlich gar
noch den folgenden betrachten, um seine Entscheidung genauer würdigen zu
können. Mein Versuch hat z'weifellos einen geradezu abenteuerlichen Charak-
ter: ohne die wissenschaftliche Kompetenz des geschulten Linguisten, der das
gleiche Thema behandelt hat, versuche ich, die Abweichungen im Artikelge-
brauch, die Celan gegenüber Rimbaud aufweist, zu kommentieren. Dabei
möchte ich die in ihrer Unterschiedlichkeit signifikantesten Einzelverse her-
ausheben:
Der erste Vers fällt im Französischen dadurch auf, dass "Fleuves" großge-
schrieben wird. Nicht irgendwelche Flüsse, sondern mächtige, gewichtige
Flüsse müssen es sein, die diese Großschreibung rechtfertigen. Dies könnte den
definiten Artikel in der Übersetzung motivieren:
Conune je descendais des Fleuves impassibles
Hinab glitt ich die Flüsse, von träger Flut getragen
Könnte man sich hier im Deutschen einen unbestimmten Artikel vorstellen, der
ja formal durch Abwesenheit ausgedrückt werden müsste? In der Poesie scheint
der unbestimmte Artikel im Plural manchmal erst dann brauchbar zu sein, wenn
ein Adjektiv in die Lücke tritt, was hier nicht geschieht. Die Prägung "die
Flüsse" in der ersten Verszeile bringt eine vom Übersetzer gewollte Verfrem-
dung. Der Schein des Vertrauten erhöht die Fremdheit, wenn, da das Gedicht
hier einsetzt, kein Bezug auf früher Erwähntes möglich ist.
Beim ersten Vers der zweiten Strophe liegen die Verhältnisse anders:
J'e"tais insoucieux de tous les dquipages
Ich scherte mich den Teufel um Männer und um Frachten
Indem der Plural sowie die Totalität im Ausdruck "de tous les equipages" durch
eine Doppelformel "um Männer und um Frachten" wiedergegeben wird, ist der
im Französischen nach "tous" zu erwartende bestimmte Artikel in der deutschen
Fassung nicht mehr nötig, zumal ja auch die wörtliche Übersetzung "um alle
Mannschaften" keinen definiten Artikel enthalten hätte. Hier ist also die jewei-
lige grammatikalische Systematik in beiden Sprachen, der unterschiedliche
Gebrauch des Artikels nach tous bzw. alle, am Ursprung der unterschiedlichen
Handhabung des Artikels in der Übersetzung.
Im zweiten Vers der dritten Strophe:
plus sourd que les cerveaux d'enfants
wie Kinderhime stumpf
Nominaldetermination im Deutschen und Französischen 33
verhält es sich ähnlich. Wörtlich übersetzt müsste es heißen: "stummer als Kin-
derfilme". Der Komparativ zieht hier, anders als im Französischen, im Deut-
schen den unbestimmten Artikel nach sich. Dies mag auf die deutsche Überset-
zung abgefärbt haben.
In der vierten Strophe heißt es im zweiten Halbvers:
j'ai danse sur les flots
tanzt ich dahin auf steiler Welle:
Der Plural "les flots" bringt vom Inhalt her eine unbestimmte Konnotation mit
sich, die im Deutschen durch den unbestimmten Artikel, hier in der Form der
Abwesenheit, bestätigt wird.1 Ohne Adjektiv wäre der Singular mit abwesen-
dem Artikel grammatikalisch nicht möglich: "auf Welle". Die nahe liegendste
Übersetzung "tanzt ich auf den Wellen" fand Celan sicher zu banal.
In der fünften Strophe wird die generisch gefasste Unbestimmtheit in
"dispersant gouvemail et grappin" durch die entsprechende, dazu noch chias-
tische Doppelformel mit bestimmtem Artikel angemessen wiedergegeben. Auch
die Bestimmtheit wird im Deutschen, dank der Verdoppelung, hier generisch:
"fort schleudert es das Steuer, der Draggen barst und sank."
In der sechsten Strophe wird aus
Dovorant les azurs verts
Grünhimmel trank ich
wobei im Französischen der dem kosmischen Plural beigegebene bestimmte
Artikel paradoxerweise unbestimmter wirkt als der ihm entsprechende unbe-
stimmte Artikel "des", so dass die deutsche Fassung adäquat wirkt.
In der achten Strophe gibt die Verdoppelung von "Auge" für doppeltes
"voir" eine feierliche Formel wieder:
Et j'ai vu quelquefois ce que /"homrne a cru voir.
und manchmal sah mein Auge, was Menschenauge träumt.
"Menschenauge" ist auf seine komplexer strukturierte Weise dennoch ähnlich
fundamental wie "/'homme". Die Formelhaftigkeit wird im Deutschen durch
den abwesenden Artikel erhöht.
In der zehnten Strophe wird durch Verdoppelung der Substantive zwar die
Unbestimmtheit des Hauptworts "Ein Kreisen" für "La circulation" noch ge-
steigert:
La circulation des saves inou'fes
Ein Kreisen wars von Säften, ein unerhörtes Weben
Jedoch führt die Verstärkung in der deutschen Fassung dazu, dass ein Äqui-
valent für den französischen bestimmten Artikel geschaffen wird.
In der elften Strophe ist "J'ai suivi [...] la houle ä l'assaut des recifs" im
Französischen schwerlich mit unbestimmtem Artikel auszudrücken, im Deut-
schen "Ich folgt [...] der See, die Klippen stürmte" wiederum der bestimmte
Artikel hier aus rhythmischen Gründen nicht brauchbar.
1
Ich verzichte auf den z. B. in Harald Weinrichs Textgrammatik der französischen Sprache
verwendeten Ausdruck Null-Artikel.
34 Bernhard Böschenstein
jetzt in "hinter Frachten und Baumwollträgem" erinnert wird, wobei auch dies-
mal im Deutschen der Gebrauch des unbestimmten Artikels hinzukommt.
Der Sinn dieser ausfuhrlichen Gegenüberstellungen liegt in der jeweils indi-
vidualisierten Situation jedes in den beiden Sprachen mit unterschiedlichem
Artikel wiedergegebenen Einzelverses. Die teils grammatikalisch, teils rhyth-
misch, teils semantisch, teils durch kontextuelle Zutaten wie Verdoppelung,
Substantiv-Komposition, syntaktische Umstellung begründete Abweichung in
der Behandlung des Artikels durch den Übersetzer gegenüber dem Original fällt
stärker ins Gewicht als das Gebot purer Wörtlichkeit, das für Celan in der Phase
seiner reimenden 'Umdichtungen', in den Jahren 1952-1961, nicht gilt. (Der
spätere Celan wird z. B.Henri Michaux' Prosa und prosanahe Dichtung 1966 viel
wörtlicher wiedergeben und auch den Artikel jeweils viel treuer übersetzen, weil
er ein nicht auf rhythmisch-syntaktische Verwandlung angelegtes Übersetzungs-
verfahren anstreben wird.)
Der enorme Freiraum, der dem deutschsprachigen 'Umdichter' hinsichtlich
der Wahl des Artikels bei gereimten französischen Gedichten seit George und
Rilke zur Verfügung steht, wird von Celan nie gedankenlos genutzt. Vielmehr
ist auch für ihn, wie für seine großen Vorgänger, die Möglichkeit, im Deutschen
den französischen Artikel manchmal wörtlich, manchmal abweichend
wiederzugeben, eines der wichtigsten Mittel, das der Übersetzer von Gedichten
einzusetzen vermag. Die Überprüfung der einzelnen Unterschiede führt zum
Ergebnis, dass angesichts der fast vollständigen Freiheit die jeweilige Entschei-
dung die Intention des übersetzenden Dichters mit besonderer Präzision offen-
legt. Gäbe es durchweg allgemeine grammatikalisch bindende Regeln, wäre
dies so nicht möglich. Freilich steckt hinter dem ungewöhnlichen Ausmaß an
Abweichungen auch eine heimlich leitende Überzeugung: Ein Gedicht von
1871, 1957 übersetzt, wird als Gegenstand notwendig gewordener innovativer
Revision betrachtet, wenn es, wie dies hier der Fall ist, in seinem Satz- und in
seinem Versbau traditionellen Mustern folgt - dem Alexandriner, der alternie-
renden Reimordnung a b a b, der vierzeiligen Strophe. Enjambements kommen
im Bateau ivre zwar öfters vor, aber sie haben keinen provokativen Charakter.
Sogar die Mittelzäsur des Alexandriners wird oft noch eingehalten. Celans
Wahl des Nibelungenverses an Stelle des Alexandriners zwingt ihn freilich, der
Mittelzäsur mehr Gewicht zu verleihen als Rimbaud, aber sie deutet auch auf
sein Bewusstsein von der Notwendigkeit, die abgegriffene deutsche Blankvers-
gewohnheit beim Übersetzen französischer Alexandriner abzustreifen.
Von den mit Celan befreundeten und mit ihm in gemeinsamer Arbeit verbun-
denen französischen Dichtem der Gegenwart ist vor allem Andre du Bouchet zu
nennen, dessen frühen Gedichtband Dans la chaleur vacante (Vakante Glut)
von 1961 Celan 1967 übersetzt hat. Andre du Bouchet, wie Celan einer der
36 Bernhard Böschenstein
"Wenn nämlich Krauter wachsen [...]" - "Oui, quand /'herbe pousse [...]": Dem
deutschen indefiniten Plural entspricht im Französischen ein Singular mit defi-
nitem Artikel. Der Hölderlin'sehe Vers ist hier nach pindarischem Vorbild
gnomisch, er stellt allgemeine Gesetze auf. Dem gnomischen Stil entspricht im
Deutschen der indefinite Plural und im Französischen der definite Singular, der
gnomischen Charakter annimmt.
Man nennet aber diesen den Ister.
Schön wohnt er. Es brennet der Säulen Laub,
Und reget sich. Wild stehn
Sie aufgerichtet, untereinander; darob
Ein zweites Maß, springt vor
Von Felsen das Dach. So wundert
Mich nicht, daß er
Den Herkules zu Gaste geladen,
Femglänzend, am Olympos drunten,
Da der, sich Schatten zu suchen
Vom heißen Isthmos kam,
Denn voll des Mutes waren
Daselbst sie, es bedarf aber, der Geister wegen,
Der Kühlung auch. Darum zog jener lieber
An die Wasserquellen hieher und gelben Ufer,
Hoch duftend oben, und schwarz
Vom Fichtenwald, wo in den Tiefen
Ein Jäger gern lustwandelt
Mittags, und Wachstum hörbar ist
An harzigen Bäumen des Isters (V.
Nominaldetermination im Deutschen und Französischen 37
"Es brennet der Säulen Laub" - "Flambe ä des colonnes un feuillage": die fran-
zösische Unbestimmtheit ist spezifischer als die deutsche Bestimmtheit. Diese
setzt eine Vertrautheit voraus, die für Hölderlin, der den Wald seiner heimatli-
chen Landschaft an der oberen Donau in einen griechischen Säulenwald
verwandelt, doppelt vorhanden ist, in abendländischer und in antiker Hinsicht,
für du Bouchet in doppelter Weise fehlt.
"[...] darob / Ein zweites Maß, springt vor / Von Felsen das Dach. So wun-
dert / Mich nicht, daß er / Den Herkules zu Gaste geladen [...] / Da der, sich
Schatten zu suchen [...]" - " [...] par-dessus, / Seconde envergure, avance / Le
toit de la röche. Aussi vois-je / L'accueil maintenant / Qu'a Hercule il dut offrir
[...] / Lorsque lui-meme, cherchant /'ombre [...]": Der abwesende unbestimmte
Artikel im Französischen hat heute eher Seltenheitswert, er kann, wie hier, in
einer Apposition stehen. Diese erlangt durch die ungewöhnliche Weglassung
des Artikels poetisierende, erhöhende Kraft. Hölderlins Formel "den Herkules"
enthält die Vertraulichkeit, die mit der Einladung nach Schwaben einhergeht.
Auch hier wird der französische Dichter die entsprechende Tonart nicht über-
nehmen wollen. "Schatten" durch "/Ombre" zu übersetzen, ist für ihn vorteil-
hafter, da der deutsche generische Ausdruck im Französischen durch einen
bestimmten Artikel poetischer wiedergegeben werden kann als durch den
partitiven Artikel "de /Ombre". Dieser wäre trotz seiner Unbestimmtheit zu
spezifisch, der abwesende Artikel dagegen wäre nicht idiomatisch.
"[...] wo in den Tiefen / Ein Jäger gem lustwandelt / Mittags, und Wachstum
hörbar ist / An harzigen Bäumen des Isters" - " [...] oü, dans un val, / Le
chasseur, ravi, erre / A midi, alors que entend grandir / Les arbres resineux
de l'Ister": Die Tiefen sind Hölderlin vertraut, du Bouchet fremd. Er muss sie
spezifizieren, wozu der unbestimmte Artikel nötig ist. Umgekehrt ist die Unbe-
stimmtheit des Jägers im Französischen durch den bestimmten Artikel genau
wiedergegeben, weil damit die Verallgemeinerung ausgedrückt werden kann.
Dadurch, dass du Bouchet statt "wo [...] Wachstum hörbar ist" "alors que
entend grandir" setzt, hat er die enge Verkettung des artikellosen Worts
"Wachstum" mit den artikellosen "harzigen Bäumen" geschwächt, so dass er
diese jetzt mit definitem Artikel versehen kann: "Les arbres resineux de l'Ister".
Hätte er hier "des" gesetzt, wären die Bäume zu sehr spezifiziert worden.
Gegen Schluss fasst eine lehrhafte pindarische Gnome die unfruchtbare Si-
tuation des Isters gegenüber dem feurigen jungen Rhein zusammen:
"Es brauchet aber Stiche der Fels / Und Furchen die Erd'" (V. 68f.) - "Mais
la röche appelle /'entame, / Et la terre le sillon": die französische Artikel-Sym-
metrie - zweimal definit - gegenüber der deutschen Opposition zwischen Ak-
kusativobjekt und Subjekt, indefinitem und definitem Artikel zeigt einen inter-
essanten Gegensatz zwischen beiden Sprachen an: Die größere Intensität kommt
durch den abwesenden Artikel zustande. So wird der Eingriff der Stiche und der
Furchen durch die Artikellosigkeit gesteigert. Im Französischen erzwingt die
Symmetrie der Formel eine ästhetische Korrespondenz, die geschlossener,
harmonischer wirkt, aber der verletzenden, kreativen Dynamik der deutschen
38 Bernhard Böschenstein
Opposition entbehrt. Diese Stiche, diese Furchen sind die Verse, die der Dichter
einschreibt. Die poetologische Dimension ist mit der Etymologie verknüpft
(versus ist ja von vertere - wenden, wie mit dem Pflug - abgeleitet).
Wenn bei diesem zweiten Gedichtvergleich die Abweichungen im Artikel-
gebrauch seltener sind und aus dem verschiedenen Verhältnis beider Dichter
zum Gegenstand des Gedichts, der schwäbischen Landschaft, wie aus der unter-
schiedlichen Wiedergabe pindarisierender Sprache im Deutschen und im Fran-
zösischen resultieren, so liegt dies, wie vorhin angedeutet wurde, auch daran,
dass beide Dichter, Hölderlin wie du Bouchet, ein bewusstes Verhältnis zum
syntaktischen Traditionsbruch haben, dem sich ihre Dichtung verschrieben hat.
Die literaturgeschichtliche Begründung hat hier einen entscheidenden Anteil am
spezifischen Befund des Artikelgebrauchs in Hölderlins Ister und in dessen
französischer Wiedergabe durch Andre du Bouchet.
Die hochgradig individuelle Motivation des jeweiligen Artikelgebrauchs in
poetischen Texten und ihren dichterischen Übersetzungen, wo literaturge-
schichtliche Konstellationen, grammatische Systeme, rhythmische Verhältnisse,
stilistische Eigenheiten für die Originale und für die Übersetzungen in je
durchaus unterschiedlicher Weise in Anspruch genommen werden müssen, hat
zur Folge, dass im gegenwärtigen Stadium der Forschung lediglich deskriptive
Annäherungen möglich zu sein scheinen, nicht verallgemeinernde Ergebnisse.
Daher setzt sich dieser Beitrag fast nur aus konkreten Beispielen zusammen und
zeigt eine Scheu vor Generalisierungen. Der Jubilar wird diese Scheu sicher im
vollen Maße verstehen.
4. Literaturverzeichnis
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Bonnefoy, Yves et al. (Hg.) (1967ff.): L 'Ephemere. Revue trimestrielle. Paris.
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- (1968/1983): Andro du Bouchet: Vakante Glut. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg.
v. Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Bd. 4: Übertra-
gungen I. Frankfurt a. M., 168-345.
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gen an zwei modernen Gedichten und ihren Übersetzungen. In: Ulrich Stadier (Hg.):
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Saint-John Perse (1942/1972): Exil. In: CEuvres completes. Paris, 121-137.
Weinrich, Harald (1982): Textgrammatik der französischen Sprache. Stuttgart.
Renate Böschenstein
Lorenzos Wunde
"Mit dem Worte stehen die Menschen am Anfang der Welterkenntnis und sie
bleiben stehen, wenn sie beim Worte bleiben. Wer weiter schreiten will, [...] der
muß sich vom Worte befreien und vom Wortaberglauben, der muß seine Welt
von der Tyrannei der Sprache zu erlösen versuchen" (Mauthner 1923, 1). Die
frühe Produktion des Autors Thomas Mann entsteht in einer literarischen
Sphäre, für die der Zweifel an der Tauglichkeit der Sprache zur Erkenntnis, wie
ihn Nietzsche, Hofmannsthal oder Mauthner umkreisen, fundamental ist. Wie
lässt es sich verstehen, dass uns gerade von einem so sehr dem Zweifel und der
Skepsis verhafteten Autor wie dem jungen Thomas Mann keine vergleichbaren
Texte vorliegen? Ja, dass er, weit entfernt, nach Erlösung von der Sprache zu
verlangen, die Sprache als einzige Erlöserin begrüßt? Einem Brief an den
Freund Grautoff aus dem Jahre 1898 ist ein Gedicht beigegeben, das alles Heil
in der Sprache sucht:
[·»]
Und weil der Menschen Seele zu ergründen
Hohnvoll auch mich der Drang gefangen hält,
Will ich es euch mit schwerem Worte künden:
Erkenntnis ist die tiefste Qual der Welt.
Denn Eines ist es, was in allem Leiden
Uns stark erhält und aufrecht fort und fort,
Ein trostreich Spiel voll höchster feinster Freuden
den Unglückseligsten: Es ist das Wort. (Mann 1894-1928/1975, 109)
Das die beiden Strophen verbindende denn muss sich auf das vorangehende
schwere Wort beziehen, auf die Möglichkeit also, die Einsicht in die Qual der
Erkenntnis TM formulieren, eine Möglichkeit, an der offenbar nicht grundsätz-
lich gezweifelt wird.
Natürlich bin ich nicht die erste, der die Absenz von Sprachkritik bei Tho-
mas Mann aufgefallen ist. Ulrich Dittmann hat in seinem Buch über Sprachbe-
wußtsein und Redeformen im Werk Thomas Manns nachzuweisen gesucht, dass
es zwar keine theoretischen Ausführungen zum Thema gibt, dass sich aber in
narrativer Form eine implizite Sprachkritik beobachten lasse. Er zieht die frühe
Skizze Enttäuschung heran, in der dem Icherzähler ein - vage mit den Zügen
Nietzsches versehener - Unbekannter mit Bitterkeit schildert, wie alle ihm in
der Realität begegnenden Phänomene den großen Erwartungen, welche ihre
40 Renate Böschenstein
sprachliche Evokation in ihm erweckt hatte, nicht standhielten. Mit Recht hat
aber Hubert Ohl in seinem dem Frühwerk gewidmeten Buch Ethos und Spiel
(1995,60) dagegen eingewandt, dass der Kontrast von Illusion und Wirklichkeit
nicht identisch ist mit dem grundsätzlichen Zweifel an der Ausdrucksfähigkeit
der Sprache. Ohl, der sonst gerade die primäre Prägung des jungen Autors durch
die Wiener "Modernen" betont, sieht ihn im Bereich der Sprachkritik ihrem
Einfluss entzogen, obgleich sie ihm aus seiner Zeitschriftenlektüre bekannt sein
musste. So hält es Ohl für undenkbar, dass Thomas Mann den im Oktober 1902
im Berliner Tag erschienenen Chandos-Brief nicht kannte.
Nun zeigen Thomas Manns Notizen zu dem geplanten Aufsatz über Geist
und Kunst, dass ihm die seine Kollegen beunruhigenden Sprachzweifel doch
nicht ganz fremd waren.1 Er zeichnet sprachkritische Bemerkungen Goethes
und Schopenhauers auf: "Sobald man spricht, beginnt man schon zu irren." -
"Sobald nämlich unser Denken Worte gefunden hat, ist es schon nicht mehr
innig, noch im tiefsten Grunde ernst" (Mann 1909-1913/1967, 219f.). Von den
Essays, in denen er das Material zu Geist und Kunst verwertete, ist aber keiner
einer ausführlichen Diskussion des Themas gewidmet. War es für ihn vielleicht
schon durch ein implizites Verfahren, nämlich die Wahl einer anderen Gattung,
überholt? Für Hofmannsthal bedeutete bekanntlich der Übergang zur Produk-
tion von Theaterstücken und Opemtexten die Möglichkeit, durch die Integration
der Sprache in ein größeres Ganzes ihrer Unzulänglichkeit abzuhelfen. Nun
besitzen wir auch vom jungen Thomas Mann ein Theaterstück, das dreiaktige
Drama Fiorenza. Da es - zu seinem Schmerz - wenig Erfolg hatte und auch
heute, obgleich außerordentlich aufschlussreich für sein Denken, ziemlich
marginalisiert ist, scheint es nicht überflüssig, seine äußere Struktur ganz kurz
zu skizzieren. Brennpunkt ist der Tod des Herrschers von Florenz, Lorenzo de'
Medici, am 8. April 1492. Schauplatz ist die Mediceer-Villa in Careggi, Zeit-
raum der Nachmittag des Todestages. Im l. Akt wird der Tod vorbereitet durch
Gespräche der dem kunstbegeisterten Lorenzo befreundeten Humanisten Poli-
ziano und Pico della Mirandola mit dem jungen Sohn Lorenzos, dem Kardinal
Giovanni. Thematisiert werden die starke Publikumswirkung von Lorenzos
Gegenspieler, dem asketischen Kanzelredner Savonarola, und dessen heftige öf-
fentliche Invektive gegen Fiore, die - ihn provozierende - Geliebte des
Magnifico. Der 2. Akt führt zunächst die Schar der von Lorenzo protegierten
Künstler vor und lässt dann Fiore selbst sowie Piero, den älteren Sohn Loren-
zos, einen groben Machtmenschen, auftreten. Die Gespräche in diesem Akt
evozieren die in der Stadt Florenz herrschenden Spannungen. Erst im letzten
Akt erscheint der todesnahe Herrscher selbst, der, nach Gesprächen mit
Freunden, Künstlern, Söhnen und der Geliebten, welche eine Retrospektive auf
sein Leben entrollen, mit Savonarola konfrontiert wird. Ihr Streitgespräch mün-
det in das Sterben Lorenzos und eine Vorausdeutung auf Savonarolas Feuertod.2
1
Zu diesem wichtigen Fragment vgl. den einleitenden Aufsatz von Wysling (1967).
2
In die innere Struktur des Werkes filhrt sehr gut ein die - leider ungedruckte - Dissertation
von Eilers (1967). Ein Exemplar der maschinenschriftlichen Fassung befindet sich im
Lorenzos Wunde 41
Wäre nun dieser dramatische Versuch vielleicht nicht nur Zeugnis von
Thomas Manns früh erworbener Passion für das Theater, sondern auch Aus-
druck eines heimlichen Misstrauens gegen das Vermögen einer ganz auf sich
selbst gestellten Sprache? Aber der Autor betonte in seinen Kommentaren, dass
das Stück wesentlich auf der Sprache beruhe. So sehr ihn das Bewusstsein der
"Zwitterform" seiner nicht sehr theatergerechten Dichtung im ganzen quälte, so
war er doch mit der sprachlichen Gestaltung zufrieden. "Psychologisch wird
wohl ein paar mal an Äußerstes gerührt, und als Stilist glaube ich damit zu
bestehen" (An Heinrich Mann, 18.2.1905; Wysling/Fischer 1975, 180). Aber
eben die Bedeutung, welche gerade die sprachliche Seite des Stücks für ihn
hatte, und die Empfindlichkeit, mit der er auf Kritik an dieser reagierte, weisen
auf eine Sprachproblematik in Fiorenza, die spezifischer ist als die zeittypische
allgemein-erkenntniskritische. Richard von Schaukai verletzte ihn tief, als er in
seiner Kritik im Berliner Tageblatt vom 5.3.1906 ein "völliges Versagen des
Dichterischen" in diesem Stück konstatierte. Der Kritiker ärgerte sich an den
"stilisierten Schnörkeln" einer "drangsalierten Sprache". Umso dankbarer war
der Autor für die "schönen Worte", mit denen Kurt Martens im Leipziger Tage-
blatt die Sprache von Fiorenza bedachte. "In einer wundersam prunkvollen und
doch kristallklaren Sprache predigen sie [die Personen des Stücks] die Ideen
ihres Schöpfers, der hier aus seinen düstersten Tiefen viel funkelndes Gestein
zutage förderte" (21.3.1906). Indes erkennt Martens in den von ihm bewun-
derten Renaissancefiguren doch etwas "Maskenhaftes". "Düsterste Tiefen" -
"Masken": ein hellsichtiger Kenner des Autors und der Person Thomas Mann
berührt hier durch die Wahl seiner charakterisierenden Ausdrücke wunde
Punkte.
In der Tat nehme ich an, dass Thomas Mann sich der Sprache gegenüber in
einer sehr individuellen kritischen Position befand, welche sich so früh heraus-
bildete, dass es zu jenem erkenntniskritischen Sprachzweifel gar nicht mehr
kommen konnte: Der Immediatkontakt zwischen der Welt und dem eigenen Ich,
wie ihn Hofmannsthal oder Benn ersehnten, war von vorn herein ausgeschlos-
sen. Ich möchte nicht der Versuchung verfallen, Thomas Manns erotische Ori-
entierung, nun wir einmal von ihr wissen, als Passepartout für das Verständnis
seiner Werke zu gebrauchen, aber in Bezug auf sein Verhältnis zur Sprache
scheint mir diese Perspektive unabdingbar. Es handelt sich um ein vorsichtiges
Verschweigen und Umschreiben gegenüber Mitmenschen und Öffentlichkeit.
Ja, sogar im Gespräch mit sich selbst, in den Tagebüchern, weiß noch der geal-
terte Autor, der große Rhetor, nur hilflose konventionelle Formeln zu finden:
Die Augen seines letzten Geliebten, des Zürcher Kellners, sind "gar zu hübsch",
er ist "etwas fürs Herz". Es ist nicht leicht, für jene Sprache, die im Gegensatz
zur distanziert-künstlichen steht, eine Bezeichnung zu finden. Sie "unmittelbar"
zu nennen, verbietet uns das Wissen, dass die Mediatisierung des Ausdrucks
durch die vorgegebenen Strukturen der Sprache nicht hintergehbar ist.
Thomas-Mann-Archiv, Zürich. Ich danke dem Archiv für die Erlaubnis zur Benutzung der
Materialien zu Fiorenza und den dort tätigen Mitarbeiterinnen für ihre Hilfsbereitschaft.
42 Renate Böschenstein
Vielleicht eignet sich "ungebrochen" am besten, wenn man unter der "Bre-
chung" die stete Reflexion des eigenen Sprechens im Bewusstsein versteht. Ist
auch die Vorstellung einer "natürlichen" Sprache ohne rhetorische Figuren eine
Illusion, so gibt es doch zwischen dem mehr oder minder Mittelbaren eine Gra-
dation, und unzweifelhaft befindet sich Thomas Manns Sprache am extremen
Ende der Skala. Meine These ist nun, dass er sehr früh lernen musste, sich den
am anderen Ende der Skala stehenden ungebrochenen, spontanen Ausdruck
seiner Gefühle zu versagen, und dass sich dieser Verzicht, automatisiert, auf
sein ganzes Sprechen und Schreiben übertrug, auch wo die Gegenstände nicht
tabuisiert waren. Solcher Verzicht steht in engem Zusammenhang mit dem, was
Thomas Mann später als seine "Montagetechnik" bezeichnete.3 Dieser Ausweg
wurde ihm von der kulturellen Fülle seiner alexandrinischen Epoche angeboten.
Bekanntlich muss jeder jugendliche Dichter eine Art von zweitem
Spracherwerb durchmachen, in dem er sich mit einem oder einigen Vorbild-
Autoren identifiziert, von denen er sich dann ablöst, um durch eine bestimmte
Auswahl und Akzentuierung des zur Verfugung stehenden Sprachmaterials eine
individuelle poetische Sprache zu gewinnen. Beim jungen Thomas Mann aber
verlief der Prozess offenbar so, dass an die Stelle der Ablösung eine enorm
gesteigerte Fähigkeit trat, sprachliche Modelle miteinander in einem komplexen
Kunstgebilde zu kombinieren - was zugleich bedeutete, dass die Bereitschaft
zur Identifikation bestehen blieb, bis hin zu dem, was der Autor von Lotte in
Weimar seine "Unio mystica" mit Goethe nannte (Gesammelte Werke XI, 147).
Während sich aber am Ende unseres Jahrhunderts bei den Lesern die Fähigkeit
entwickelt hat, Intertextualität, komplexe Sprachstrukturen und Selbstreflexion
als Vorzüge eines Textes zu würdigen, fand sich Thomas Mann an dessen Be-
ginn konfrontiert mit einer Situation, in welcher die Erwartungen der Leser
noch weithin vom Verlangen nach "Originalität" und unmittelbarem Ge-
fühlsausdruck bestimmt waren. Er litt unter den Kritiken, die ihm Kälte und
Künstlichkeit vorwarfen. Auf einer anderen Ebene war ihm selbst, der seine
Produktion als "Intimitäten und Confessionen" verstand, wie er 1904 an seine
verständnisvolle Freundin Ida Boy-Ed schrieb (Mann 1894-1928/1975, 146),
die Sehnsucht nach ungebrochenem sprachlichem Ausdruck sehr vertraut. Noch
der alte Autor notiert bei der Lektüre eines Romans von Anna Seghers melan-
cholisch, er hüte sich vor Geringschätzung angesichts der Absenz von "Artistik
und sprachlicher Lust" bei dieser Schriftstellerin. "Empfinde dabei Spiel, Witz
und Ironie als Leere [...]. Schließlich ist mein Werk ein Notbehelf- mit einigem
Kulturreiz" (Mann 1949-1950/1991, 3.7.1950). Jahrzehnte zuvor hatte er
öffentlich im Gesang vom Kindchen sein Verlangen nach einer anderen als
kritisch-narrativen Sprache bekannt, das ihn aber in eine beschämende Nieder-
lage geführt hatte:
Weißt du noch? Höherer Rausch, ein außerordentlich Fühlen
Kam auch wohl über dich einmal und warf dich danieder,
Daß du lagst, die Stim in den Händen. Hymnisch erhob sich
4
Zu dieser Symbolik vgl. die herausragende Darstellung des Zusammenhangs von Homo-
erotik und Dichtung durch Detering (1994).
44 Renate Böschenstein
ausfuhrlich seine Krankheit beschreibt. "Es war ein Nasenübel, ein fressendes
Leiden im Innern dieses edlen Organs." Gerettet wird Aldobrandino durch ein
so starkes Niesen, dass der Nase "ein Tier, ein Wurm, ein Polyp" entschlüpft,
"so lang wie mein längster Finger und von der widerlichsten Gestalt: haarig,
getigert, schlüpfrig und mit Saugern und Fangarmen versehen" (Gesammelte
Werke VIII, 1009f.). Dass in dieser komischen Kontrafaktur von Lorenzos
Leiden die Nase mit ihrem Polypen für eine gefährliche, angsteinflößende Art
von Sexualität steht, geht schon daraus hervor, dass in der Erzählung des - von
Thomas Mann in Goethes Übersetzung gelesenen - Cellini, die ihr zu Grunde
liegt, der Wurm sich im Leib befindet und durch Erbrechen zutage gefördert
wird (Cellini 1803/1991, 2. Buch, 5. Kap.). Der todesnahe Lorenzo behauptet,
gerade ein Lied auf die "Nasenflügel" der Fiore zu verfassen. Die sexuelle
Konnotation der Nase war Thomas Mann vielleicht nicht nur von der volkstüm-
lichen Tradition her gegenwärtig, sondern auch durch das Beispiel des Malers
Leo Putz, dem Modell des sexbesessenen Leo Zink im Doktor Faustus, der
ständig seine eigene Nase "ironisirt[e]" (Notizbücher II, 62).5 Die Transforma-
tion von Cellinis Krankheit in die des Malers untersteht dem gleichen Gesetz
wie der Ersatz des sexuellen Mangels in die Absenz eines Sinnes, nämlich,
psychologisch gesprochen, dem Gesetz der Verschiebung, in stilistischer For-
mulierung : dem Gesetz der Metonymie. Es ist das gleiche Gesetz, nach dem
Thomas Mann in anderen Texten die eine abweichende Richtung des Eros
durch eine andere abweichende ersetzen wird: so die Homoerotik durch den
Inzest. Unter den Signalen des Homoerotischen in Fiorenza bildet das "Nasen-
übel" den düsteren Kontrapunkt zu denjenigen, auf denen die Weihe der klas-
sischen Tradition liegt: dem platonischen Hintergrund der Dialoge, dem Hin-
weis auf Polizianos Lob schöner Knaben - und schließlich der Szene, in der
Lorenzo selbst den Knaben Gentile wegen der Schönheit seiner Hüften und
seines Ganges lobt und belohnt. Die Semantik des mangelnden Geruchssinns
erschöpft sich aber nicht in der sexuellen Entsprechung. Es gibt eine andere -
moralische - Bedeutung, die noch erörtert werden soll. Jedenfalls handelt es
sich um ein für Lorenzos Psyche zentrales Trauma. Wenn ich für sein geheimes
Leiden die Bezeichnung "Wunde" gewählt habe, so hat dies aber noch eine
zweite Begründung. Bei der Gestaltung von Fiorenza stand Thomas Mann im
Bann der ihn im Gegensatz zur "hysterischen Renaissance" vieler Zeitgenossen
überzeugenden Darstellung der Renaissancewelt in Conrad Ferdinand Meyers
Erzählungen. Leitmotiv von dessen Novelle Die Versuchung des Pescara ist die
Wunde, die ihn als einen Todgeweihten vor dem Verrat bewahrt und ihn, als
Seitenwunde, Christus ähnlich macht.6 Es besteht keine direkte inhaltliche
Parallele zwischen der rettenden Funktion dieser Wunde und der von Lorenzos
defizientem Sinnensystem, aber eine starke Analogie liegt in der Existenz eines
5
Ob Thomas Mann von dem Versuch des Berliner Arztes Wilhelm Fließ, die Beziehung
zwischen Nase und Sexualität zur wissenschaftlichen Theorie auszubauen, gehört hatte,
steht dahin.
6
Vgl. dazu die Interpretationen von Kaiser (1997, 103-111) und Laumont (1997, 280-298).
Lorenzos Wunde 45
Meyer war bekanntlich der Meister einer Kunstform, welche nach seinen psy-
chischen Voraussetzungen auch für den jungen Autor Mann nahelag: der Alle-
gorie, deren Name schon das "andere", uneigentliche, distanzierte, reflektierte
Sprechen impliziert. Gegenüber Hofmannsthal bekennt sich Thomas Mann zu
der scheinbar obsoleten Kunstform, welche ja "ästhetisch recht sehr in Verruf
sei. "Mir scheint trotzdem die poetische Allegorie von großen Massen eine hohe
Form zu sein [...]" (26.7.1909, Briefe I, 76). Für Fiorenza lag die allegorische
Struktur umso näher, als die Allegorie in der gewählten historischen Epoche so
sehr beliebt war: So kann der Autor zwanglos dem Lorenzo Fiore als eine fest-
lich geschmückte Stadt-Allegorie zuführen. Aber der "Verruf der Allegorie
beherrschte zu Beginn des Jahrhunderts bekanntlich speziell die deutsche Poetik
auf Grund der Kritik, die Goethe - und mehr noch einige Nachfolger - an ihr
geübt hatten, zu Gunsten eines eigentümlichen platonisierenden Symbolbe-
griffs. Unter einem frappanten Beispiel für die Macht unreflektierter Verteufe-
lung der Allegorie hatte Thomas Mann zu leiden, als Kerr nach der Berliner
Aufführung von Fiorenza seine schnoddrige Kritik verfasste: "In der Mitte steht
eine Frauensperson, die offenbar als Gleichnis für die Stadt Florenz zu gelten
vom Verfasser gewünscht worden ist [...]. Das Bildnis jener Frau ist [...] gewis-
sermaßen Philologenarbeit" (Berliner Tageblatt, 5.1.1913).
Schwierigkeiten mit der allegorischen Struktur von Fiorenza als dem Kampf
zwischen "Geist" und "Kunst" (um vorläufig die Mann'schen Begriffe festzu-
halten) hatten aber auch spätere wohlwollende Interpreten. Sie kritisieren die
Differenz zwischen dem Charakter der Figuren als Repräsentanten von geisti-
gen Phänomenen und deren psychischem Eigenleben. Mir scheint dagegen, dass
gerade diese Spannung zwischen der Gestaltung als Figuration und der Arbeit
an ihrer lebendigen Personalität es Thomas Mann ermöglichte, so komplexe
Personen zu erschaffen, wie sie seiner bisherigen Produktion noch fremd waren,
wobei der Facettenreichtum der allegorisierten Phänomene sich in eine Wider-
sprüchlichkeit, ja vielleicht sogar Inkohärenz umsetzte, die gerade dieses Werk
zu einem "modernen" machen. Ich möchte jetzt die drei Hauptgestalten in der
Weise analysieren, dass ich allegorische Repräsentanz, Persönlichkeitsstruktur
und Sprache in ihrer Verschlungenheit ins Auge fasse. Zuvor möchte ich aber
noch die Spannungen innerhalb der Sprachgebung skizzieren.
Es lassen sich in der Sprache des Stücks vier Schichten unterscheiden, von
denen zwei in einer mittleren Tonlage gehalten sind, während zwei andere jenen
"höheren Ton" und zugleich eine Art bekenntnishafter Unmittelbarkeit anstre-
ben. Hinter allen Schichten sind Identifikationsfiguren erkennbar. Die erste ist
46 Renate Böschenstein
der schon erwähnte Conrad Ferdinand Meyer. Aus den Dialogen seiner Novel-
len, deren Struktur oft der dramatischen nahekommt, hat Thomas Mann eine
klassizistische Kunstsprache übernommen, die gekennzeichnet ist durch eine
ausgewogene komplexe Syntax und eine überwiegend gewählte, mit leicht
archaisierenden Wörtern und Wendungen durchsetzte Lexik. Für Meyers Spra-
che hatte Thomas Mann die größte Bewunderung. "Es kommt darauf an, gut zu
schreiben. Nur wer am besten schreibt, hat das Recht auf die höchsten u. vor-
nehmsten Gegenstände. C. F. Meyer als Exempel" (Mann 1909-1913/1967,
152).7 Zumal die Sprache der Humanisten und ihres Mäzens ist hier vorgebildet.
So heißt es etwa am Anfang von Plautus im Nonnenkloster: '"Mein Poggio',
sagte nach einer eingetretenen Pause Cosmus Medici mit den klugen Augen in
dem häßlichen Gesichte [...]. 'Es ist unmöglich, daß du nicht, wählerisch wie du
bist, diese oder jene deiner witzigen und liebenswürdigen Possen, sei es als
nicht gesalzen genug oder als zu gesalzen, von der anerkannten Ausgabe des
Büchleins ausgeschlossen hast."' Die Renaissance-Welt, die durch Meyers
Kunstsprache evoziert wird, ruht sehr stark auf historischen Studien, wie
Burckhardts Cultur der Renaissance, und so ist in ihr schon Thomas Manns
Integration der Quellenschriften vorgearbeitet. Zum Verhältnis von Platonismus
und Christentum zitiert Villari, einer der Hauptgewährsmänner Thomas Manns,
in seiner Savonarola-Biografie Ficinos Wiedergabe antiker Vorausdeutungen
auf das Erscheinen Christi. "Virgil's berühmte Verse [über das göttliche Kind,
das als Christus interpretiert wurde] sind allgemein bekannt [...]. Und Porphy-
rius sagt in seinen Antworten: Die Götter erkannten die außerordentliche
Frömmigkeit und Religiosität Christi an, bestätigten, daß er unsterblich sei, und
legten das wohlwollendste Zeugniss für ihn ab" (Villari 1868, 49). Bei Thomas
Mann argumentiert Poliziano gegenüber dem jungen Kardinal Giovanni im
Zuge seiner Bemühungen um die Heiligsprechung Platons: "[...] an Virgils be-
ziehungsvolle Verse brauche ich meinen Schüler nicht zu erinnern. [...] und bei
Pörphyrius steht zu lesen, daß die Götter die ungewöhnliche Frömmigkeit und
Religiosität des Nazareners anerkannt, seine Unsterblichkeit bestätigt und im
ganzen das wohlwollendste Zeugnis für ihn abgelegt haben [...]" (Gesammelte
Werke VIII, 962). Mit leichter Hand wird das Ficino-Zitat der Dialogsituation
angepasst: der Humanist spielt auf die Lehrer-Schüler-Beziehung an; die Um-
kehrung der Verhältnisse aber in Bezug auf Christus und die Götter, über die
Villari erstaunt, wird verstärkt, indem der Name Christi durch die verfremdende
Umschreibung "der Nazarener" ersetzt wird.
In die Imitatio von Meyers Kunstsprache mischt sich die einer anderen ge-
mäßigten Sprache, die man die "bürgerlich-konventionelle" nennen kann. Es ist
jenes Idiom, das Thomas Mann seiner narrativen Sprache zu Grunde gelegt hat.
Aus diesem werden Wendungen in das Drama übernommen, die auch der Er-
zähler liebt, wie wacker oder nicht anstehen, zu. Zuweilen wirken sie wun-
derlich, so, wenn Pico della Mirandola vom Goldschmiede-Künstler Ercole
sagt: "Er hat viel Geschmack", wie Tony Buddenbrook vom Tapezierer Jakobs,
und gar Savonarola die Anzeichen der drohenden Apokalypse dahin zusam-
menfasst: "Gut, es ist also aus", von der rettenden Gnade aber sagt, sie sei
"eingetroffen", als sei sie ein Eisenbahnzug. Sie können aber auch - bewusst
oder unbewusst - die Funktion eines erhellenden Kommentars übernehmen. "Er
handhabt den Becher der Liebe und der Freude [...]" sagt Poliziano zu Anfang
über Lorenzos intensive Teilnahme am Karneval und deutet durch dieses nüch-
terne Verbum schon auf das Krampfhafte und Programmatische an dessen Be-
geisterung für das "Dionysische", das Lorenzo später im "höheren Ton" evozie-
ren wird. In diesem versucht sich aber auch Poliziano, wenn er die Herrlichkeit
seiner Epoche rühmt: "Die Welt lächelt im Erwachen, eratmend öffnet sie ihren
Kelch dem jungen Lichte, wie eine Blume ist sie, die aufblüht" (Gesammelte
Werke VIII, 985).
Dieser Ton geht am Schluss oft ins Rhythmisch-Musikalisierte über. "Und
eine, eine sah ich unter allen, Lorbeer im Haar und Lilien in der Hand" (Ge-
sammelte Werke VIII, 1041). Der Autor war, zumindest noch zur Zeit der Ber-
liner Aufführung, davon überzeugt, in solchen Sätzen die ersehnte Hymnenspra-
che gefunden zu haben. "Lesen Sie das", schrieb er nach Kerrs Rezension an
den ihm freundlich gesonnenen Kritiker Julius Bab, "[...] und sagen Sie, ob
'Fiorenza' 'Philologenarbeit' ist oder nicht!" (Wysling/Fischer 1975, I, 194).
Mit welchem Autor identifizierte er sich, wenn er seinen Figuren solche festlich
erhöhte Rede in den Mund legte? Hofmannsthal hatte mit seinem Tod des Tizian
nicht nur die Struktur der platonisierenden Dialoge, des raumzeitlichen Arran-
gements des Sterbetages und des den Protagonisten spiegelnden Schüler- und
Freundeskreises vorgegeben, sondern auch die spezielle Vereinigung von
magischer Musikalität und visueller Evokation, so, wenn der junge Maler
Gianino seinen Blick auf die nächtliche Stadt richtet:
Ich ahnt in ihrem steinern stillen Schweigen
Vom blauen Strom der Nacht emporgespült
Des roten Bluts bacchantisch wilden Reigen,
Um ihre Dächer sah ich Phosphor glimmen,
Den Widerschein geheimer Dinge schwimmen.
Und schwindelnd überkam's mich auf einmal:
Wohl schlief die Stadt: es wacht der Rausch, die Qual,
Der Haß, der Geist, das Blut: das Leben wacht.
Das Leben, das lebendige, allmächtge [...] (Hofmannsthal, 1882/1982, III, 45)
Die partielle Identität der feindlichen Brüder Lorenzo und Savonarola zeigt sich
darin, dass im Schlussgespräch des Stücks auch der Letztere an solchem lyri-
schen Pathos teilhat: "Vernehmt, vernehmt, Lorenzo Medici: Es kann der Geist
sich nach der Schönheit sehnen" (Gesammelte Werke VIII, 1062). Ihm ist sonst
natürlich die andere Variante des hohen Tons zugeteilt, die prophetische. Diese
Sprachschicht erscheint in zwei Varianten: der von Pico im ersten Akt geschil-
derten Predigt und den Formulierungen Savonarolas im Schlussdialog. Die erste
zu gestalten, war nicht schwierig. Außer auf die bei Villari wiedergegebenen
Predigten konnte Thomas Mann auf die Bibelsprache zurückgreifen und die
Rede seines Protagonisten von Luthers sprachlicher Wucht tragen lassen, so,
48 Renate Böschenstein
wenn der Prediger die Stadt Florenz schmäht: "Und an ihrer Stirn geschrieben
den Namen, das Geheimnis, die große Babylon, die Mutter der bösen Lust"
(Gesammelte Werke VIII, 976). Dabei modernisiert und mildert der Ausdruck
"böse Lust" Luthers derbe Formulierung: "die Mutter der Hurerei und aller
Greuel auf Erden" (Offenbarung 17).8
Zu fragen ist aber, ob die Bibelsprache nur die stilistische Fundgrube war,
die sich vom Thema her anbot, oder ob auch hier der Autor durch die Vermäh-
lung mit einer bestimmten Sprache eine gewisse Identifikation vollzog. Darauf
ist zurückzukommen. Eine sprachlich-psychische Identifikation aber ist wie
eine Kette durch die ganze Dichtung geschlungen: Im genus medium wie im
genus grande schlagen immer wieder die verinnerlichten rhetorischen Mittel
Nietzsches durch. Eine solche Identifikation - zum Beispiel durch die Art der
rhetorischen Fragen, aber auch durch den Zarathustra-Rhythmus, der sich dem
biblischen amalgamiert - ist eine viel tiefere Bindung als die Übernahme von
Gedanken und Begriffen: augenblicksweise ist die Identifikationsfigur im Text
anwesend.
3.1. Fiore
"Und Florenz? Was wird aus Florenz? Es ist deine Geliebte. Ich sehe es in
Witwengram verwelken ...": so redet Poliziano in fiktiver Frage den abwesen-
den kranken Lorenzo an (Gesammelte Werke VIII, 971). Immer wieder kehren
solche rhetorischen Personifikationen der Stadt, die, unabhängig von deren
Allegorisierung in Fiore, ex negativo zeigen, dass diese -fiktionale- Gestalt in
ihrer semantischen Funktion nicht aufgeht. Die Figur oszilliert mit einer gewis-
sen Freiheit zwischen allegorischer Evokation und psychologischer Gestaltung.
Dabei wird ihre Konzeption insofern der Natur der Allegorie sehr gerecht, als
ihre Beschreibung das "Künstliche" ihrer Erscheinung betont, also eine
Selbstanzeige des Allegorischen enthält. "Ihre Erscheinung ist streng linear,
ruhevoll symmetrisch, fast maskenhaft" (Gesammelte Werke VIII, 991). Auch
in ihrer Redeweise zeigt sich das Allegorische an. "Alles, was sie sagte, schien
etwas anderes zu verbergen" sagt einer der Künstler (Gesammelte Werke VIII,
995). Nach dem Strukturgesetz des Stücks wird Fiore zunächst indirekt einge-
führt, perspektiviert durch Picos Erzählung von ihrem Auftritt im Dom. Pico
Einer brieflichen Mitteilung von Stefan Pegatzky verdanke ich den Hinweis, dass Thomas
Mann sehr wahrscheinlich die Schilderung der "großen Hure Babylon" nicht direkt aus der
Bibel übernommen hat, sondern aus einem Zitat der Passage in einem Buch von O. Pa-
nizza: Der teutsche Michel und der römische Papst (1894), das er unter den im Hinblick
auf Fiorenza gelesenen Schriften aufführt, da seine Wiedergabe der Stelle in den Vorar-
beiten derjenigen Panizzas genau entspricht (Notizbücher 1,210 und 218).
Lorenzos Wunde 49
charakterisiert Fiore als Schauspiel, als den "köstlichen Anblick dieser be-
rühmten, prunkhaften, herrisch dahinschreitenden, göttlich schönen Frau" (Ge-
sammelte Werke VIII, 973). "Die Göttliche", "die Allerschönste" sind die At-
tribute, die ihr auch in der Rede der übrigen Personen zugeteilt werden. Sehr
geschickt wird die allegorische Ebene benutzt und zugleich zerstört. In dem
Moment, wo der Prediger in alttestamentlicher Rhetorik die Stadt Florenz zur
Buße aufruft - "dieser, Florenz, will dein König sein [...]" - (Gesammelte
Werke VIII, 978), tritt Fiore mit ihrem Gefolge ein, durchaus nicht identisch mit
den geängstigten Florentinern, aber auch nicht mit der großen Babylon, zu der
Rede und Geste des Mönchs sie machen. Sie ist eine Person, die menschlich auf
die Beleidigung reagiert, durch den "Laut der Wut" und die "wilde Bewegung",
mit der sie den Dom verlässt. Warum die stolze Geliebte des Magnifico sich auf
den psychischen Kampf mit dem Bettelmönch eingelassen hat, bleibt dem
Erzähler Pico natürlich verborgen. Aber auch Fiores späterer Bericht über die
Vorgeschichte macht die psychologische Situation nicht ganz klar. Warum
wollte das bereits von jungen Männern umworbene Mädchen gerade den hässli-
chen Stubenhocker Girolamo bis zum demütigenden Bekenntnis seines Sexu-
alverlangens treiben? Das Motiv bleibt unklar wie bei Gerda von Rinnlingen im
Kleinen Herrn Friedemann die Vermischung des menschlichen Interesses für
den kleinen Buckligen mit irreführender Koketterie. Gerade in solcher Unklar-
heit der Impulse aber emanzipiert sich die lebendige Person von der festgeleg-
ten Semantik. Ein Schlüssel zu Fiores Verhalten, der auch für die Vorgeschichte
gelten könnte, wird in ihren Gesprächen mit den Künstlern, mit Piero und mit
Lorenzo deutlich. Auch Fiore hat eine Wunde: dass sie nie als Person gewürdigt
wird. Zwar rühmt Pico ihre Verse, ihr Lautenspiel, ihre literarischen Kenntnisse,
aber das sind nur Accessoires ihres erotischen Reizes. Wie die traurig-schöne
Venus im Marmorbild des Thomas Mann so tief prägenden Eichendorff weiß
sie, dass sie für diejenigen, die ihre Person zu lieben meinen, nur ein Se-
xualobjekt ist. "Jeden verlangt nach mir" (Gesammelte Werke VIII, 1016). Eine
Folge dieser Erfahrung ist ihre, wie Lorenzo sagt, "kühle geschliffene Rede",
die ein wenig diejenige Imma Spoelmanns in Königliche Hoheit vorwegnimmt.
"Ihr tatet einen Gang durch den Garten, schöne Fiore?" - "Euer Scharfsinn trifft
das Rechte" ("Es läßt sich nicht leugnen, daß manches für diese Tatsache
spricht", antwortet Imma dem Prinzen, der sie anredet: "Sie machen also auch
dem Spital einen Besuch, gnädiges Fräulein?"). Wie wenig es mit der leiden-
schaftlichen Verehrung der Künstler auf sich hat, zeigt sich, wenn sie sich zwar
über die Beleidigung im Dom entrüsten, aber nicht wagen, sie zu rächen. Und
auch die Liebe des Lorenzo wird in der großen Klarheit des Sterbetages frag-
würdig. Es scheint zunächst grausam, wie Fiore sich von dem Sterbenden
distanziert. "Wie geht es dem Gebieter von Florenz?" (Gesammelte Werke VIII,
1040) fragt Fiore den Kranken, der mit Mühe dieser "gnädigen Göttin" einen
Rest von Lebenskraft vortäuscht. Wenn aber Lorenzo den Beginn seiner
Leidenschaft für Fiore evoziert, so wird ihre damalige allegorische Funktion, in
einer festlich geschmückten Barke die Stadt Florenz zu repräsentieren, zum
50 Renate Böschenstein
Mittel der Andeutung, dass sich der Medici nicht für ihre Person begeisterte,
sondern von einer Mischung erotischer und politischer Besitzgier ergriffen
wurde. "Ich sah dich an, und eine Pein ergriff mein Herz [...] nach dir! nach dir!
dich haben, Weltenblume [...]" (Gesammelte Werke VIII, 1041). Wie es auf der
allegorischen Ebene keine wirkliche Liebe zwischen Lorenzo und dem Volk
von Florenz gab, so enthüllt sich auf der persönlichen die scheinbar ideale Liebe
zwischen dem Anbeter der Schönheit und der göttlich schönen Frau als ein
steter psychischer Kampf. Lorenzo fragt sich, ob Fiores Liebe nicht nur die
Reaktion auf sein dynamisches Verlangen war und mit dessen Nachlassen ge-
endet hat. Auf seiner Seite bleibt "Leere und Entsetzen" zurück. Der kurze
Wortwechsel zwischen Fiore und Savonarola hat gleichfalls den Charakter einer
zusammenfassenden Rückschau. Den psychischen Kampf braucht offenbar
nicht nur der Mönch, um seine erotische Demütigung zu kompensieren, sondern
auch Fiore, um ihre Frustration wettzumachen - gegenüber dem vielleicht, der
von Anfang an in seiner geistigen Tätigkeit ein Reich besaß, das ihr verschlos-
sen war? - Am Ende des Stücks erlaubt es die überhöhende Allegorisierung,
Fiore eine mythische Dimension zu verleihen. Sie ist jetzt die Prophetin: "Laß
von der Macht! Entsage! Sei ein Mönch!" (Gesammelte Werke VIII, 1067) Hier
ist es aber gewiss nicht das blind der Rhetorik des Mönchs verfallene Florenz,
das allegorisch solche Warnung ausspricht, sondern eine starke weibliche Per-
son, deren Aggressivität sich schließlich als Maske der unerfüllten Liebe ent-
hüllt.
3.2. Lorenzo
Wie steht es mit Lorenzos Position zwischen Allegorie und individueller Per-
son? Seine Aufgabe ist es, Kunst und Schönheitsliebe zu repräsentieren. Die
Frage drängt sich auf: Warum wird er dann nicht aus der Perspektive seiner
Kreativität dargestellt? Der Vergleich mit dem Tod des Tizian zeigt, welch
größere Möglichkeiten sich gerade dadurch für den "höheren Ton" der Sprache
eröffnet hätten. Wenn Hofmannsthal die Kunst des Malers evozieren lässt,
entsteht eine suggestive musikalische Sprache, in die sich zugleich eine Philo-
sophie der Kunst einschließen lässt:
[...]
Ein Auge, ein harmonisch Element,
In dem die Schönheit erst sich selbst erkennt -
Das fand Natur in seines Wesens Strahl.
'Erweck uns, mach aus uns ein Bacchanal!'
Rief alles Lebende, das ihn ersehnte
Und seinem Blick sich stumm entgegendehnte. (Hofmannsthal, 1882/1982, III, 48f.)
Warum ließ Thomas Mann sich das Angebot der historischen Figur entgehen,
die ja eine Palette von Dichtungen und Essays verfasst hatte? Nur die Kame-
valsgesänge und das bukolische Liebesgedicht an Nencia werden kurz erwähnt.
Eine erste einfache Antwort ist, dass Lorenzos Schriften, soweit ich sehe, zu
Lorenzos Wunde 51
9
Die kürzlich erschienene schöne Ausgabe: Medici (1998) führt in der Bibliografie keine
Übersetzung aus dem 19. oder beginnenden 20. Jahrhundert an.
10
Merkwürdig ist, dass Lorenzo eine "eingedrückte" Nase zuerkannt wird, während sie dem
unbefangenen Blick auf dem Porträt eher als groß und vorspringend erscheint. Thomas
Mann hat sie aber offenbar gleich so wahrgenommen, denn auch in seiner der zu den Vor-
arbeiten gehörenden Beschreibung Lorenzos anhand des Bildes - das ihm in der Ge-
schichte der Mediceer von Heyck vorlag - kennzeichnet er sie mit dem gleichen Adjektiv
(1893-1937/1991-1992,1, 202). Das Porträt ist abgebildet bei Wysling/Schmidlin (1994,
154).
52 Renate Böschenstein
Reste religiöser Vorstellungen auf: das Fegefeuer, die göttliche Strafe, die Not-
wendigkeit der Gnade. Schuldhafte Teile von Lorenzos Leben treten ins Be-
wusstsein und werden rationalisiert, so die blutigen Kämpfe mit den rivali-
sierenden florentinischen Geschlechtem. Die Grundstimmung der Angst lässt
Lorenzos eigene Evokation seines vergangenen, dem Kult der Schönheit ge-
widmeten Lebens in einem gebrochenen Licht erscheinen. Diese Stimmung
kommt dem Autor Thomas Mann insofern zu Hilfe, als die Bemühung, diese
Vergegenwärtigung im "höheren Ton" zu gestalten, im Mund des todesnahen
Lorenzo auf gleichsam natürliche Weise fragwürdig wird. Das Versagen von
"Poesie und Überschuß" schlägt sich nieder im Versagen der angestrengt-eksta-
tischen Sprache, in der Lorenzo die Erinnerung an den "dionysischen" Karneval
wachruft: "[...] wenn Florenz dem Gotte erlag und die Würde der Männer und
die Schamhaftigkeit der Weiber hintaumelte in ein brünstiges Evoe [...]" (Ge-
sammelte Werke VIII, 1027).
Die Vorführung von verschiedenen Formen des Schönheitskults im letzten
Akt gewinnt einen psychologischen Sinn, wenn Lorenzo sich im Angesicht des
Todes hektisch an die von ihm gesammelten kostbaren Objekte - wie eine Ares-
statue - klammert. Sein Vermächtnis an seinen Sohn und Nachfolger gilt nur
der Sorge, den "Schatz von Schönheit" zu retten, mit dem die Medici Florenz
geschmückt haben, das dieses Geschenk nicht zu würdigen weiß. Hier wird
wieder eine Facette von Lorenzos Wunde offenbar: Seine erotischen Gefühle
haben sich weithin von den Menschen auf Kunstobjekte verschoben. Diese
Fixierung versucht er als eine Art Kontrafaktur der Religion zu rechtfertigen:
"Es geht um Seelen. Es geht um das Reich" (Gesammelte Werke VIII, 1035).
Als Religion kann der Schönheitskult auch das schuldhafte Verhalten des Herr-
schers rechtfertigen, wie den Missbrauch öffentlicher Mittel: "[...] die Schönheit
ist über Gesetz und Tugend" (Gesammelte Werke VIII, 1038). Lorenzos
Versuch, vor der Todesangst zu seinem alten Selbst zurückzufliehen, motiviert
psychologisch auch die "kindliche Lust", mit der er die banale Sexualkomik
einer Boccaccio-Novelle genießt. Dieser Teil von Lorenzos Persönlichkeit wird
im Übrigen recht klischeehaft als zügelloser Trieb nach Entjungferung der
Florentinerinnen erwähnt. Das gilt für den manifesten Text und die manifeste
Person, und zu diesen gehört es, dass gerade der Augenblick primitiver Heiter-
keit Lorenzos und seiner Freunde nach der Erzählung der Facetie mit der An-
kunft Savonarolas kontrastiert wird. Aber sicher nicht von ungefähr wird zwi-
schen die beiden Szenen Lorenzos Bewunderung für den Pagen mit den schö-
nen Hüften eingelegt. Damit wird blitzhaft auf jene Orientierung von Lorenzos
Eros hingedeutet, die sonst durch die steten Hinweise auf seine Erfolge als
Frauenheld überspielt wird und welche erst die tiefste Abweichung seines
Schönheitskults von der christlichen Religion bezeichnet. Lorenzo betrachtet
den Knaben ganz wie einen Kunstgegenstand: Er empfiehlt dem Maler Aldo-
brandino, sich die Linie dieser Hüften einzuprägen. Dieser Blick auf den Kna-
ben mit den Hermesbeinen als auf eine "nature morte" stimmt zu dessen Funk-
tion im Drama: Er ist der Todesbote, der zum Akt des Sterbens hinüberleitet.
Lorenzos Wunde 53
3.3. Savonarola
zielt sie darauf ab, die Selbstbezogenheit des Predigers in Sprache umzusetzen.
Savonarola spricht ebenso im Dialog mit Lorenzo: "Ich habe heute gepredigt im
Dom. Ich war krank danach. Ich lag zu Bette. Ich verließ es nur auf Eueren Ruf
(Gesammelte Werke VIII, 1057). Aber auch Lorenzo sagt: "Ich schließe die
Augen und lausche. Ich höre meines Lebens Melodie. [...] Ich bin geruchlos. Ich
kenne den Duft der Rose nicht [...]" (Gesammelte Werke VIII, 1062). In dieser
Konzentration auf das exponierte Ich kommen die beiden narzisstischen
Herrenmenschen zusammen. Wir haben im Lauf der Jahrzehnte gerade diesen
blockartigen Litaneistil als Instrument politischer Propaganda - aller inhalt-
lichen Schattierungen - zur Genüge kennengelernt, und so erscheint es fast als -
unbewusste? - Hellsicht, wenn der Autor durch Poliziano den großen geistli-
chen Rhetor als "traurigen Diktator" bezeichnen lässt.
4. Schlüsselwörter
Der große Schlussdialog enthält eine Reihe von Schlüsselwörtern, die in Tho-
mas Manns späterer Produktion immer wieder aufgenommen werden: Geist,
Leben, Sehnsucht, Gnade, wiedergeborene Unbefangenheit. Von diesen möchte
ich nur kurz auf Geist als einen Pfeiler der allegorischen Konstruktion eingehen
und dann abschließend zwei weniger plakative untersuchen: ruchlos und das
Kreuz verraten. Ich spreche hier von dem Wort Geist, denn wir haben hier einen
Modellfall jener Eigentümlichkeit des Mann'schen Denkens und Sprechens, die
so viel Verwirrung und Irritation stiften sollte: der Äquivokation. Obgleich sich
Thomas Mann gerade anlässlich von Fiorenza seiner Unsicherheit im Gebrauch
von Begriffen bewusst wurde - dem Bruder Heinrich bekannte er als Grund des
Scheiterns der "geistigen Construction" des Stücks, die Begriffe "Geist" und
"Kunst" seien ihm zu sehr "in einandergelaufen" (18.2.1905, Wysling/Fischer
1975, 179f.) -, blieb er ihr verhaftet.11 Im Lorenzo-Gespräch wird allerdings
eine Definition von Geist versucht. Auf Lorenzos Frage: "Was heißt Euch
Geist?" antwortet der Mönch: "Die Kraft [...], die Reinheit und Frieden will"
(Gesammelte Werke VIII, 1058). Er meint also den Geist Christi. Wenig später
wendet er aber die Bezeichnung Geist auch auf die Mentalität an, die er
bekämpft: die Mentalität der Epoche, bestimmt von Zweifel, Verständnis,
Toleranz. Seine eigene "heilige" Kunst definiert er als "Erkenntnis", spricht ihr
also eine intellektuelle Qualität zu. So kommt es fortan zur Kontamination von
religiösem Geist und kritischem Geist, die den Autor zu immer erneuter
kreisender Reflexion über den Literaten und sein Verhältnis zur Kunst stimulie-
ren wird. "[...] der Held dieser Diskurse war der durchaus Geistige und Geistli-
che, der Kritiker, der Literat, oder, in seiner Sprache, der Prophet [...]" heißt es,
unbekümmert um die Trennlinie zwischen den Begriffen, in den Betrachtungen
Auf dieses Problem gehen im Zusammenhang mit Fiorenza insbesondere Ohl (1995) und
Galvan (1999) ein.
56 Renate Böschenstein
über Savonarola (Gesammelte Werke XII, 93). Diese Äquivokation ist von
größter Bedeutung für des Autors eigene Form des Schreibens, denn das Be-
kenntnis zum kritischen Intellekt impliziert ja in Wirklichkeit den Verzicht auf
das Sprechen im "höheren Ton", wie es in Fiorenza gerade dem neobarbari-
schen Priester gelingt, der vorgibt, nicht aus intellektueller Schulung zu reden,
sondern aus göttlicher Inspiration - ein Intellektueller, der seinen Intellekt
verleugnet. War diese Kontamination von religiösem und kritischem Geist auch
verwirrend, so hatte sie doch eine Zeitlang die positive Funktion, dem Autor
den Rücken zu stärken gegenüber den Versuchungen pseudonaiver Kunst, wie
sie in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in die Mode kam. In dieser Zeit
entstand aus dem Material zu dem nicht ausgeführten großen Essay Geist und
Kunst ein kleiner Aufsatz: Der Künstler und der Literat, der die Vision eines
Künstlertums entwarf, in dem sich die Reinheit des Literaten, des kompromiss-
losen Adepten der "sacrae litterae", mit der Verständnistiefe der modernen
Kunst zu einer Mentalität der "Güte" vereinigen sollte.
Wie sehr Thomas Manns Denken und Gestalten von sprachlichen Assozia-
tionen gesteuert ist, zeigt das Leitwort ruchlos. "So sollst du mich stark und
ruchlos sehen!" ruft der sterbende Lorenzo seinem Feind entgegen (Gesammelte
Werke VIII, 1066). "[...] es gibt keine Ruchlosigkeit, vor der sich uns noch die
Haare sträubten", beschreibt Pico den Zustand von Florenz (Gesammelte Werke
VIII, 986).
Und hier öffnet sich eine weitere Dimension des Mangels von Lorenzos
Physis. Der Mönch fragt: "Ist denn auch Eure Seele ruchlos, wie man sich sagt,
daß Euere Nase geruchlos sei?" (Gesammelte Werke VIII, 1059). Das mangel-
hafte Sinnesorgan symbolisiert den Mangel an moralischem Sinn. Etymologisch
haben ruchlos und geruchlos nichts miteinander zu tun.12 Aber mit ruchlos kann
ein Lieblingswort des fin-de-siecle-Ästhetizismus in den Lorenzo-Kontext
eingeführt werden, um die damit verknüpften Vorstellungen ad absurdum zu
führen. In den Betrachtungen gibt Thomas Mann einen Überblick über die
Veränderungen in der affektiven Besetzung des Wortes. Schopenhauer hatte es
als "stärkste moralische Verurteilung" gebraucht, als "strafende Verurteilung
jedes" - per definitionem gegen das Leiden der Welt gleichgültigen - "Optimis-
mus". Nietzsche dagegen hatte das Wort umakzentuiert zu einem "dionysi-
schen" Wort, einem "Lob und Preis" auf das "Cesare-Borgia-Leben", und so
wurde ruchlos das "Leib-und Lieblingswort alles von Nietzsche herkommenden
Ästhetentums" (Gesammelte Werke XII, 53 8f). Thomas Mann benutzt diese
linguistische Erörterung, um sich von jener Bewegung noch einmal energisch
zu distanzieren. In Fiorenza hat er den Gleichklang geruchlos-ruchlos
ausgewertet, um die Verkehrung des Wortes ins Positive wieder zurückzu-
schrauben zum Ausdruck eines Mangels, jenes Mangels, der Lorenzo im Ange-
sicht des Todes zur Hilflosigkeit verdammt.
Nach Auskunft des Grimm'schen Wörterbuchs leitet sich ruchlos (im Sinne von 'negli-
gens, impius') vom ahd. ruahhalos ab, geruck ('odor') von ahd. riohhan ('rauchen, damp-
fen, duften').
Lorenzos Wunde 57
Das Gegenbild der "schönen Ruchlosigkeit" ist das Kreuz. Eine Besonder-
heit des nicht primär begrifflichen Denkens von Thomas Mann besteht darin,
dass Worte sich mit Bildern zu einem Zeichen verbinden können. Damit meine
ich jetzt nicht seine Anlehnung an Bild-Vorlagen, sondern die Ausbildung von
fundamentalen Chiffren. Das Kreuz ist eine solche Chiffre. Der junge Girolamo
ist vor der schamlosen "Unbefangenheit" der Weltlust in die Kirche als in den
"Weihbezirk des Kreuzes" geflohen. "Was sah ich? Ich sah das Kreuz verraten
auch hier" (Gesammelte Werke VIII, 1061). Was der Protagonist von Fiorenza
hier erlebt, beschreibt Thomas Mann in den Betrachtungen als ein vielfach
mögliches Verhalten. "Es gibt etwas, was ich von jeher in meinem Herzen den
'Verrat am Kreuz' nannte" (Gesammelte Werke XII, 427). Conrad Ferdinand
Meyer wird darum so positiv abgehoben von den "durch Nietzsche hindurchge-
gangenen Renaissance-Ästheten von 1900", weil er den "Verrat am Kreuz" nie
beging. "Er war Christ, indem er sich nicht verwechselte mit dem, was er
darzustellen sich sehnte: dem ruchlos-schönen Leben; er wahrte Treue dem
Leiden und dem Gewissen" (Gesammelte Werke XII, 541 f.). Bei Meyer selbst
ist das Kreuz ein zentrales Zeichen, in der Lyrik sowohl wie in den Novellen.
Bei Thomas Mann hat das Fundamentalzeichen des Kreuzes seinen Ursprung
nicht etwa erst in dem von ihm wie von seinem Freund Bertram immer wieder
zitierten Nietzsche-Vers auf die Schopenhauer-Atmosphäre von "Kreuz, Tod
und Gruft". Dem toten Senator Mann hatte man ein Elfenbeinkreuz in die
Hände gelegt, und diese dem Sohn offenbar tief eingeprägte Imago wiederholt
der Autor, wenn er dem toten Thomas Buddenbrook und dem toten Großvater
Castorp ein Kreuz auf das Totenbett mitgibt. Der Verrat an diesem Kreuz, das
mit dem toten Vater metonymisch verbunden ist, wäre eine schwere, angstaus-
lösende Schuld. Offen oder angedeutet kehrt dieses Wort-Bild-Zeichen in Tho-
mas Manns Schriften immer wieder. Er lobt Hauptmanns Werke, weil sie "so
viel vom Kreuze" wissen - er sagt nicht einfach: "vom Leiden". Als Echo
qualvoll stirbt, fordert Leverkühn mit bitterem Hohn den katholischen Freund
Zeitblom auf, das Kreuzeszeichen zu machen. Und als Leitmotiv durchzieht das
Kreuz das unter der Oberfläche des Sprachspiels tiefreligiöse Buch vom Er-
wählten. Dass der liebenswürdige, aber egozentrische und gewissenlose Herr-
scher Lorenzo, geruchlos-ruchlos, das Kreuz verraten hat, ohne ein Bewusstsein
davon zu haben, ist sein schlimmster Mangel, seine ihm selbst unbekannte
Wunde. Savonarola aber hat den schlimmeren Verrat am Kreuz begangen. Er
hat das Kreuz gekannt - nicht nur durch sein eigenes Leiden am Außenseiter-
tum, sondern durch den Anblick der Leidenden im Kerker des Schlosses von
Este. Aber er hat diese Kreuzeserfahrung verraten, indem er sich in hybrider
Rede mit Christus identifizierte, um eine Machtposition zu gewinnen.
Der angemaßte Stellvertreter Christi führt das Schlüsselwort von der
"wiedergeborenen Unbefangenheit" ein (Gesammelte Werke VIII, 1064). Diese
Formel impliziert die Perversion einer ursprünglich religiösen Bedeutung. Wie-
dergeburt bedeutet ja die neue Geburt aus dem Geist Christi, wie sie Christus
dem Nikodemus erläutert. Die gleichsam harmlose "Wiedergeburt" der Antike
58 Renate Böschenstein
nennt der Mönch eine "schamlose Unbefangenheit". Viel schamloser ist sein
Verständnis der "wiedergeborenen Unbefangenheit", mit der er Erkenntnis
vorspiegelt, um den eigenen Willen durchzusetzen. Die Formel kehrt bekannt-
lich im Tod in Venedig wieder, aber nicht nur dort. Sie wird, zugleich mit dem
Hinweis auf ihren Verkünder in Fiorenza, zu einem Zeugnis für des Autors
eigene Angst vor dem Verrat am Kreuz - in jenem erschütternden Text, in dem
er, im politisch prekärsten Moment, auf der Schwelle des Zweiten Weltkriegs,
seine grausamste Selbstanalyse wagt: im Aufsatz Bruder Hitler.™ Hier zieht er
die Konsequenz aus der Einsicht, dass eine Analyse des Gehassten, auch um
den Preis, eine Analogie zu sich selbst zu entdecken, heilsamer ist als der unre-
flektierte Affekt. Die Analogie zwischen dem Typus des Künstlers, wie er hier
gesehen wird, und dem verbrecherischen Irrlehrer besteht zunächst in dem
jugendlichen Versagen in der Arbeitswelt und dem daraus entspringenden Res-
sentiment. Sie besteht aber spezieller darin, dass Hitlers Erfolg sich keiner
Sachkenntnis verdankt, sondern nur seiner "Beredsamkeit" - einer zwar
"unsäglich inferioren" Beredsamkeit, aber immerhin einer Instrumentalisierung
des Wortes, um seelische Macht über die Hörer - oder Leser - zu gewinnen
(Gesammelte Werke XII, 847). Der Autor schaudert hier zurück vor der künst-
lich-ungebrochenen, mit dem Unbewussten operierenden Sprache, er hofft auf
eine Zukunft, die "geistig unkontrollierte" Kunst nicht mehr kennen wird (Ge-
sammelte Werke XII, 852). Die Fähigkeit zur Analyse wird in diesem Aufsatz
zum Rettungsanker. Aber schon in den Betrachtungen, noch viel unsicherer in
seiner Position, hat Thomas Mann sich gegen das berühmte George-Wort über
Nietzsche gewandt: "sie hätte singen / nicht reden sollen diese neue seele!"
(Gesammelte Werke XII, 85ff.) Sein Nietzsche ist an dieser Stelle der Meister
der kritischen Prosa, der innovatorisch dank seinen psychologisch-analytischen
Gaben Denken und Sprache um differenzierte Erkenntnis- und Ausdrucksmög-
lichkeiten bereichert hat. Solches Schreiben hat auch Thomas Mann, dem Sin-
gen entsagend, endgültig gewählt, und dafür müssen wir ihm dankbar sein.
5. Literaturverzeichnis
Mit * bezeichnete Titel geben die von Thomas Mann benutzten Ausgaben an.
Böschenstein, Renate (1997): Der Erwählte - Thomas Manns postmodemer ödipus? In:
Colloquium Helveticum 26,71-101.
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Aus der Perspektive der Identitätsproblematik untersucht den Essay Gömer (1999).
Lorenzos Wunde 59
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vom Barock bis zur Gegenwart. Freiburg i. Br. etc.
Laumont, Christof (1997): Jeder Gedanke als sichtbare Gestalt. Formen und Funktionen der
Allegorie in der Erzähldichtung Conrad Ferdinand Meyers. Göttingen.
Mann, Thomas (1889-1936/1961): Briefe. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt a. M.
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u. Schmidlin, Yvonne (1994): Thomas Mann. Ein Leben in Bildern. Zürich.
Helen Christen /Anton Näf
l. Einleitung
Die Wörter im Titel unseres Aufsatzes stammen aus dem Text einer franzö-
sischsprachigen Genfer Schülerin der 8. Klasse. Die Wortbelege lassen erken-
nen, dass die Schülerin sich zwar einiges Wissen und Können im Deutschen
angeeignet hat, aber noch nicht in der Lage zu sein scheint, die beiden von ihr
gleichzeitig gelernten Schulfremdsprachen Deutsch und Englisch sicher ausein-
ander zu halten. Der zitierte Beleg dokumentiert einen Aspekt von Erfahrungen
im Kontakt mit französischsprachigen Deutschlernenden, der eher seiner Auf-
fälligkeit als seiner Kommunikationserschwerung wegen immer wieder Auf-
merksamkeit erregt: In Lernersprachen sind häufig nicht nur die von den Lehr-
personen nachgerade erwarteten Einflüsse der Muttersprache festzustellen,
sondern es "schlägt" in der (schriftlichen und mündlichen) Textproduktion auch
sprachliches Wissen weiterer Lernersprachen, hier des Englischen, "durch". Die
nachfolgenden Ausführungen widmen sich nun diesem Phänomen, das wir in
der Regel als Transfer zwischen verschiedenen Schulfremdsprachen bezeichnen
werden.
Sie hat eine rot trousers und eine pullover an. Ihre shoues sind weiss und ihre Eis sind
blau ('Sie hat eine rote Hose und einen Pullover an. Ihre Schuhe sind weiß und ihre
Augen sind blau.') Schriftlicher Beleg aus dem "Genfer Korpus" (vgl. Abschnitt 5.1.).
62 Helen Christen/Anton Näf
sprachigen erstreckt sich eben über eine längere Phase von "Versuch und Irr-
tum".
Man kann sich hingegen fragen, ob zur Benennung dieses Phänomens derart
implikationsreiche und überdies "statische" Termini wie Interimssprache oder
approximative system (Nemser 1971) geeignet sind, handelt es sich doch dabei
um nicht bloß von Sprecherin zu Sprecher stark variierende, sondern auch in-
nerhalb der Sprachproduktion desselben Individuums nach Situation und Zeit-
punkt stark fluktuierende Ensembles von sprachlichen Wissensbeständen. Theo-
retisch weniger prätentiöse Ausdrücke wie transitional competence (Corder
1967), "Zwischenkenntnisse", "Zwischenstadium" oder "gegenwärtiger Kennt-
nisstand" scheinen uns hier eher angemessen, da sie dem prozesshaften und
wenig stabilen Charakter dieses Phänomens besser Rechnung tragen.
Die Beschäftigung mit sprachlichem Transfer ist jedenfalls heute aktueller
denn je, hat aber im Vergleich zu früher eine deutlich andere Ausrichtung.
Fragen, die heute im Zusammenhang mit Transfer geklärt werden wollen, sind
auf der einen Seite sprachtheoretischer Natur und suchen eine Antwort darauf,
ob und wenn ja, welchen Zugang L2-Lernende zu den Prinzipien und Parame-
tern der Universalgrammatik haben, nachdem durch den Erwerb einer L l be-
reits eine einzelsprachliche Parametersetzung stattgefunden hat.
Auf der anderen Seite wird Transfer heute als kognitive Aktivität aufgefasst,
die auch, aber nicht allein darin besteht, L l-Merkmale auf die L2 zu übertragen
(was sich dann in direkten sprachlichen Reflexen als negativer Transfer äußern
kann), sondern bei den Lernenden außerdem zu einer unterschiedlichen kreati-
ven Nutzung der L l fuhrt: Laut diesen Annahmen kann die L l die Wahrneh-
mung gewisser Merkmale der L2 steuern und als Instrument zur Hypothesenbil-
dung über die Sprachstruktur neu zu lernender Sprachen dienen. Dieses sehr
breite Verständnis von Transfer schließt denn auch eine ganze Reihe von Phä-
nomenen wie Vermeidung und Überanwendung bestimmter Elemente mit ein,
ein Verständnis, das konzeptionell überaus sinnvoll, empirisch aber nur sehr
schwer nachweisbar ist. Wir fühlen uns dieser letzterwähnten Auffassung ver-
pflichtet, die den dynamischen Aspekt des Sprachenlemens und -produzierens
betont und davon ausgeht, dass die Lernenden aus den bereits vorhandenen
(sprachlichen) Wissensbeständen schöpfen.
Zu diesen Wissensbeständen gehören nun nicht nur die Erstsprache, sondern
auch weitere (im Lernerstadium befindliche) Fremdsprachen, die - wie Berruto
et al. (1988) ins Gespräch gebracht haben - als lingua d'appoggio, als
"Stützsprache" dienen können, indem die Lernenden aus ihrem erworbenen
Wissen über Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der zu lernenden Zweitspra-
chen geeignete Lernstrategien ableiten (vgl. Schmid 1995, 36f.). Dies ist vor
allem bei nahe verwandten Sprachen der Fall: Einer Französin, die zuerst
Deutsch und später Niederländisch lernt, einem Deutschen, der sich zuerst
Französisch und anschließend Italienisch aneignet, kann die jeweils früher
gelernte germanische bzw. romanische Sprache als Stützsprache dienen. Wer
die französischen Wörter la main, le pied, la barbe usw. kennt, wird sich ohne
64 Helen Christen/Anton Näf
große Mühe auch deren italienische Pendants merken können: la mono, U piede,
la barba usw. Soweit der positive Transfer. Die Lernenden werden aber immer
wieder mal in eine Falle treten und auch Lexeme wie *// visaggio 'Gesicht'
(ital. lafaccia) produzieren. Die Idee, dass eine L2 den Erwerb einer dritten
Sprache dadurch erleichtern kann, dass sie bei Wortschatzlücken ein (in vielen
Fällen zu einer korrekten Äußerung führendes) Ersatzangebot liefern kann, liegt
dem von Williams/Hammarberg (1994) geprägten englischen Terminus supplier
language zu Grunde (zit. bei Schmid 1995, 36f.). Die beiden Forscher sind
überdies zum - plausiblen - Ergebnis gelangt, dass der Einfluss der Stützspra-
che zunimmt, je kleiner der strukturelle Abstand zwischen L2 und L3 und je
größer die Kompetenz in der als Verankerungspunkt dienenden L2 ist.
Dies gleich vorweg: Es geht uns im Folgenden nicht darum, die englischen
"Spuren" in den deutschen Texten als Normverstöße zu diskreditieren: diese
sind vielmehr als Signale dafür anzusehen, wie Lernende ihr bereits erworbenes
sprachliches Wissen nutzen.
Wir untersuchen im Folgenden sowohl schriftliche wie mündliche Textpro-
duktionen, und zwar deshalb, weil wir davon ausgehen, dass diese beiden Sprach-
produktionsfähigkeiten unterschiedlichen Bedingungen unterworfen sind, die in
erster Linie mit der Schnelligkeit des Zugriffs auf die (zweit-)sprachlichen
Wissensbestände zusammenhängen. Wir gehen davon aus, dass die Reflexions-
zeit, die bei der Sprachproduktion zur Verfügung steht, die Aktivierung und
Deaktivierung sprachlicher Größen aus den beteiligten Sprachen beeinflusst. Da
die neuere psycholinguistische Forschung gute Gründe für die Annahme hat,
dass die sprachlichen Wissensbestände mehrsprachiger Individuen nicht in
einzelsprachlich getrennten Bereichen parzelliert, sondern in einem einzigen
Netzwerk verknüpft sind (vgl. für den lexikalischen Bereich Aitchison 1997,
309), sind alle sprachlichen Größen immer - je nach der Verknüpfung der
Elemente mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit - aktivierbar. Was bei we-
nig routinierten L2-Anfängerinnen und -Anfängern aktiviert bzw. wieder de-
aktiviert wird, dürfte (auch) mit der zur Verfügung stehenden Produktionszeit
zu tun haben.
An den öffentlichen Schulen der Westschweiz ist Deutsch die erste Fremdspra-
che (L2), die im Allgemeinen ab der 4. Primarklasse gelernt wird. Der Unter-
richt im Englischen, der L3, setzt dagegen erst im Laufe der Sekundarstufe I (im
8. Schuljahr) ein, mit kleineren Unterschieden je nach Kanton und Schultyp
(Näheres dazu bei von Flüe-Fleck 1994). Bei einer solchen Konstellation ist nun
von vorn herein damit zu rechnen, dass die beiden Fremdsprachen zahlreiche
Transfers vom "stärksten" beteiligten Kode her, dem Französischen als der
Muttersprache der Lernenden, aufweisen werden. Dieses Phänomen ist den
Englisches im Deutsch von Französischsprachigen 65
Sprache beurteilen und dann jene Elemente einer besonderen Prüfung unterzie-
hen, die nicht der deutschen, sondern der englischen Sprachnorm entsprechen,
also englische Interferenzen im "klassischen Sinne" sind. Wir orientieren uns
also vorläufig am Transferprodukt und nicht an der Transferproduktion. Be-
stimmte Präferenzen, die sich bei frankophonen Deutschlernenden auf Grund
der beteiligten Sprachen zeigen mögen, können mangels Vergleichsmöglich-
keiten mit Deutschlernenden anderer Erstsprachen bloß vermutet, aber nicht
eindeutig nachgewiesen werden. Im Folgenden wird ein Analyseraster - nach
den gängigen linguistischen Beschreibungsebenen geordnet - vorgegeben, das
dazu dient, die beiden Korpora auf Transfererscheinungen hin zu untersuchen.
Gleichzeitig werden dadurch anhand von Beispielen die Unterschiede in der
Verteilung der Transfers in den mündlichen und schriftlichen Daten illustriert.
Belege für diese Kategorie sind insgesamt selten. Dies hat sicher auch damit zu
tun, dass im Englischen die Flexionsmorpheme für die Deklination und die
Konjugation schon weitgehend abgebaut sind und die verbleibenden Flexions-
und Wortbildungsmorpheme mit deutschen Flexiven teilweise identisch sind.
4) Transfers auf der syntaktischen Ebene
(8) Sie wirklich liebt ihn (statt Sie liebt ihn wirklich) (mdl.)
(9) ...weil ich mag nicht die Schule aber ich kann sagen die beste Schule ich möchte
(statt die beste Schule, die ich möchte) (sehr.)
2
Mit "sehr." werden Belege aus dem schriftlichen Korpus (vgl. Abschnitt 5.1.), mit "mdl."
solche aus dem mündlichen Korpus bezeichnet (vgl. Abschnitt 6. l.).
3
Wir verzichten in unseren Ausführungen auf die "-Markierung bei abweichenden Formen
und verwenden statt dessen Spitzklammem (< >).
Englisches im Deutsch von Französischsprachigen 67
(14) Ich arbeite nicht viel <at> Schule jetzt (statt in der Schule) (sehr.)
(15) Er glaubt nicht <in> Gott (statt an Gott) (mdl.)
Hier wurde den deutschen Lexemen von den betreffenden Schülerinnen und
Schülern die für deren englisches Pendant gültige Bedeutung unterlegt.
6) Doppelgestützte Transfers auf der lexikalischen Ebene
Bei den unter 1) bis 5) behandelten Transfers handelt es sich um solche, die
eindeutig dem Einfluss des Englischen (L3 oder gelegentlich auch "Tertiär-
sprache" genannt) zuzuschreiben sind. Wir möchten aber noch einmal betonen,
dass der größte Teil der Transfers in unseren beiden Korpora eindeutig und
ausschließlich auf die französische Muttersprache zurückzuführen sind, z. B.
(18) Er hat die falsche < Touche> gedrückt ([tufa] statt Taste, engl. key) (mdl.)
Neben den exklusiv auf das Konto des Französischen (Typ <Touche>) und den
exklusiv auf jenes des Englischen (Typ <darke> Augen) gehenden Transfers
gibt es nun aber eine nicht zu unterschätzende Zahl von Fällen, bei denen in-
folge einer Wortschatzgleichung (oder gelegentlich auch wegen einer gramma-
tischen Strukturentsprechung) nicht eindeutig zu entscheiden ist, ob ein Transfer
vom Französischen oder ein solcher vom Englischen her vorliegt. Für dieses
wichtige Phänomen, dem bisher in der Kontaktlinguistik noch nicht die gebüh-
rende Beachtung zuteil wurde, schlagen wir hier den Fachterminus doppelge-
stützter Transfer vor. Natürlich ist es in diesen Fällen zunächst einmal näher
Mit Hilfe der obigen Kategorisierung wird in den Kapiteln 5 und 6 aufgezeigt,
ob und inwieweit die verschiedenen linguistischen Beschreibungsebenen im
mündlichen und schriftlichen Korpus von Transfererscheinungen betroffen sind.
5.1. Korpus
Unter diesen Umständen können wir also davon ausgehen, dass auch die
lernersprachlichen Transfers, die festgestellt werden können, tendenziell als
"deutsche" Textproduktionen intendiert sind und somit zur deutschen Interlan-
guage gehören. Dass die Schülerinnen und Schüler in "Notsituationen", d. h. in
der Regel bei fehlendem Vokabular, durchaus auch sprachliche Größen einflie-
ßen lassen können, bei denen sie sich bewusst sind, dass es sich nicht um
Deutsch handelt, zeigen jene lexikalischen Transfers aus dem Französischen,
die mit Anführungszeichen als Sonderfälle markiert sind. Ein einziger Schüler
wendet eine ähnliche Strategie bei einem englischen Lexemtransfer an: Weil
ihm offensichtlich das deutsche Lexem Eisenbahn fehlt, behilft er sich mit dem
englischen Railway. Mit den Anführungszeichen scheint er signalisieren zu
wollen, dass er sich im Klaren darüber ist, dass er sich in der "falschen" Fremd-
sprache befindet. Immerhin kann er aber mit dieser Strategie - im Gegensatz zu
"normalen" Ll-Transfers - Fremdsprachenkenntnisse ausweisen (vgl. zum stra-
tegischen Transfer Faerch/Kasper 1986).
5.3. Ergebnisse
Der Löwenanteil an negativen Transfers aus dem Englischen ist auf der Ebene
des Lexikons auszumachen, weshalb diese hier an erster Stelle besprochen
werden sollen.
Weitaus die meisten lexikalischen Transfers, nämlich 209 von 307 Tokens,
gehören zur Kategorie der "Direktübernahmen mit etymologischem Pendant"
("Kognaten"). Die transferierten englischen Lexeme haben also einen hohen
Grad an ausdrucksseitiger Ähnlichkeit zu jenen deutschen Wörtern, deren Stelle
sie sozusagen einnehmen. Die Ähnlichkeit bestimmter Lexeme ist in der Regel
die "Folge" der germanischen Sprachverwandtschaft von Deutsch und Englisch,
die sich in einer Reihe von transferierten englischen Lexemen mit nur geringfü-
gigen lautlichen und/oder grafischen Unterschieden manifestiert, z. B.
(21) Es war im <Summer> (statt Sommer)9
(22) Alle Schüler mögen andere Länder sehen, und es ist <better> wenn es ist London (...)
oder Wien (statt besser)
(23) Eine Woche würde es gehen, aber ein Monat ist es ganz <long> (statt lang)
Was das quantitative Verhältnis zwischen Types und Tokens betrifft, so sind einige Types
bei verschiedenen Lernenden belegt, wie man das in frühen Phasen des gesteuerten Er-
werbs bei Individuen durchaus erwarten kann, die mit denselben Lehrmitteln Deutsch und
Englisch lernen und dadurch denselben Wortschatz-Input bekommen (z. B. <sh>-Ortho-
grafie; better statt besser, Letter statt Brief, die syntaktischen Transfers beschränken sich
auf 4 Types).
Die Großschreibung kann als Indiz dafür gesehen werden, dass die Lernenden die transfe-
rierten Lexeme für deutsche halten.
72 Helen Christen/Anton Näf
10
Bemerkenswert am Beleg Horse ist, dass es sich um eine durchaus reguläre "deutsche" e-
Pluralbildung zu lemersprachlichem Singular *Hors handeln könnte.
Englisches im Deutsch von Französischsprachigen 73
(28) "Sommersby" beginnt, als Richard Gere von die <War> zurückkommt war (statt
Krieg)
(29) Die Ehern waren <kind>. intelligent und geduldig (statt nett)
(30) Dieses Krimi zeigt gut viele Problemen. Zum Beispiel die Konkurrenz zwiche die
Weissen und die <Darken> (engl. dark 'dunkel', statt die Schwarzen)
(31) ich möchte viele Reisen haben und <less> Stunde in die Schule, ich wollte auch das
Essen wäre <less> teuer (statt weniger)
(32) Sie wollen sich verreiraten, <but> das Fraulein trifft den Bruder des Mannes und
liebt ihn (statt aber)
Anders verhält es sich beim eingangs zitierten - für den Gesamtbefund aller-
dings untypischen - Beleg ihre Eis sind blau (engl. eyes 'Augen'), wo die deut-
sche Orthografie befolgt wird und hier zu einer (für die Lektüre befremdlichen
oder auch belustigenden) Homografie und damit wieder - zufällig? - zu einem
bereits existierenden "deutschen Wort" führt. Auch bei den "Direktübernahmen
ohne etymologisches Pendant" zeigt sich also, dass die meisten Lernenden, bei
denen derartige Transfers vorkommen, eine gewisse Vorstellung darüber zu
haben scheinen, wie Deutsch auf der Laut- und/oder Graphemebene strukturiert
ist (vgl. auch Trousers 'Hosen' mit "deutscher" <au>-Schreibung, jedoch
"englischem" s-Plural).
Auffalligerweise sind nun - im Gegensatz zu den Direktübernahmen mit
etymologischem Pendant - die Direktübernahmen ohne Pendant insofern sin-
gular, als sich die einzelnen Lernerindividuen bei jeweils unterschiedlichen
Lexemen in deren sprachlicher Zugehörigkeit irren, während die Lexeme mit
etymologischem Pendant gleich bei mehreren Lernenden zu Transfers führen
(z. B. sind Garden, India, Theatre bei mehr als einer Testperson belegt, Horse
und War jedoch nur bei einer). Dass sich bei einem bestimmten deutsch-engli-
schen Lexempaar mit großer formaler Ähnlichkeit gleichzeitig viele in der
Zugehörigkeit täuschen, bei einem deutsch-englischen Lexempaar ohne Ähn-
An diesem Beispiel zeigt sich deutlich, dass unsere - der Alltagsintuition nachempfundene
- Kategorienbildung in lexikalische Direktübernahmen mit/ohne etymologischen Pendants
nicht immer eindeutige Klassifizierungen erlaubt. Dieser Beleg legt die Vermutung nahe,
dass die Wissensbestände sämtlicher drei beteiligter Sprachen in die Bildung eingegangen
sein könnten: Die französische Aussprache der Grafie des englischen Lexems fuhrt hier
nämlich zum zielsprachlich korrekten deutschen Wort.
74 Helen Christen/Anton Näf
lichkeit aber nur ein einzelnes Lemerindividuum, darf unseres Erachtens als
Indiz dafür gelten, dass "interlinguale Nähe" Transfer begünstigt.
Ebenfalls in den Bereich der lexikalischen Transfers gehören 12 Direkt-
übemahmen von Wortgruppenlexemen. Die Verb-Präposition-Verbindungen,
die man wegen der "Polylexikalität" und "Festigkeit" der Präposition zu den
Wortgruppenlexemen oder Phraseologismen im weiteren Sinne zählen kann
(vgl. Burger 1998), machen dabei den größten Anteil aus, z. B.
(35) Deine Freunde und mich warten <för> Deine Neuigkeit (statt warten auf, engl. to
wait for)
(36) Wenn ich die Kurse wählen könnte, würde ich <in> alle interessieren (statt sich in-
teressieren för, engl. to be interested in)
(37) ich <bin> sehr gut (statt es geht mir sehr gut, engl. to be well)
(38) Jetzt, finde ich dass ich recht <war> (statt recht hatte, engl. to be right)
Für die Verwendung von nicht müssen im Sinne von 'nicht dürfen' wie in (41)
ist die Erklärung als Transfer vom Englischen her nicht die einzig mögliche.
Diese Abweichung wird nämlich - bedingt durch die entsprechende Polysemie
von frz. ne pas devoir - auch von französischsprachigen Lernenden ohne Eng-
lischkennrnisse produziert.
Es gibt nun auch eine hypothetische Ähnlichkeit zwischen Sprachen, die
von den Lernenden auf Grund ihrer Erfahrung mit (mindestens) doppelgestütz-
ten Interlexemen fälschlicherweise vermutet wird, weil aus dem oben beschrie-
benen Wissen um mehrfach gestützte Lexeme ein Übertragungsmechanismus
abgeleitet werden kann, der in vielen, aber nicht in jedem Fall zum Erfolg führt.
Englisches im Deutsch von Französischsprachigen 75
Dass die Lernenden im Falle von Leiter und Forest nicht die L l-Formen, sondern die
englischen L3-Formen realisieren, hat sich schon bei den Interlexemen mit direkten Ent-
sprechungen in allen drei beteiligten Sprachen gezeigt (siehe oben), wo ebenfalls tendenzi-
ell die englische Form in deutschen Lernertexten auftaucht. Die Lernenden wählen also
eine Form, die zumindest von ihrer L l abweicht.
76 Helen Christen/Anton Näf
Sehr schön zeigt sich hier die lernersprachliche Hypothesenbildung bezüglich deutscher
Personenbezeichnungen.
Englisches im Deutsch von Französischsprachigen 77
gemeint ist und es sich damit um einen Transfer auf der lexikalischen Ebene
handelt. Immerhin kommt aber die Graphemfolge <sw> auch in <Sweiz>, die
<Sweizrin>, <Swester> vor, wo ein englischer Lexemtransfer unwahrscheinli-
cher ist und wir eher eine englische Schreibung für eine deutsche Lautkombina-
tion annehmen können.
Die Verstöße gegen die deutschen Verschriftlichungskonventionen, so hat
sich bei den obigen Ausführungen gezeigt, sind nun aber bei den lexikalischen
Transfers und dort vor allem bei den Interlexemen besonders deutlich. Die
englischen Lexeme - ob Interlexeme oder nicht - sind in der Regel nicht an die
deutsche Orthografie adaptiert (vgl. als Ausnahme Eis 'Augen', Trousers 'Ho-
sen'). Diese Tatsache, dass einerseits englische Orthografie bei deutschen Le-
xemen (eingeschränkt) vorkommt und dass anderseits englische Lexeme offen-
bar problemlos in der englischen Schreibung in deutsche Texte übernommen
werden, macht unseres Erachtens deutlich, dass der Wissensstand darüber,
welche Grapheme in welchen Kombinationen im Deutschen vorkommen kön-
nen, bei einigen Lernenden beschränkt ist und möglicherweise früheres Wissen
und Können durch die später gelernten englischen Konventionen nachhaltig
"gestört" werden kann. Wenn die velaren Plosive im Satz das <Climat> war
<tropical> mit <c>-Schreibung erscheinen, so zeigt das wohl, dass jene Ver-
trautheit mit deutschen Schriftbildern noch nicht vorhanden ist, welche die
Lernenden veranlassen würde, eine <c>-Schreibung als suspekt zu betrachten.
Eine sichere Beherrschung deutscher Verschriftlichungskonventionen, so die
Annahme, könnte die Lernenden dazu befähigen, englische Lexeme auf Grund
der nicht-deutschen Graphemfolgen zu orten, sie entweder in Richtung deut-
scher Konventionen zu modifizieren (als Beispiele für lernersprachliche
"Eindeutschungen": <magik>, <Skotland>) oder sie als Nicht-Deutsch auszu-
scheiden. Eine Reihe von Lexemtransfers scheint also damit zusammenzuhän-
gen, dass die subtilen lautlichen und grafischen Unterschiede zwischen Deutsch
und Englisch (noch) nicht in ihrer einzelsprachlichen Spezifität erkannt werden
können. Dass diese "Abgrenzungssicherheit" nicht besteht, wird auch von
Lehrpersonen bestätigt, die Englisch unterrichten und dann bei Franzö-
sischsprachigen einschlägige deutsche Transfers finden.
Die Adjektive in den drei nachfolgenden Belegen sind wohl als englische
Transfers zu beurteilen (d. h. es handelt sich wiederum um englischen Lexem-
transfer), deren e-Suffixe können aber durchaus "deutsche" Deklinationsendun-
gen sein:
(54) Wir können in einen <Chinese> Restaurant essen oder <Italian> essen (statt chinesi-
schen, italienisch)
(55) Die <indiane> Menschen sind so verschiedene von uns (statt indianische, hier jedoch
im Sinne von 'Indianer')
(56) Der letzte Film, den ich gesehen habe, ist eine <Americane> Film (statt amerikani-
scher)
Während eine sichere Entscheidung "nach der einzelsprachlichen Herkunft" von
Flexiven oft nicht möglich ist (Typ must), ist es gerade bei den zuerst disku-
tierten Fällen (Typ er <was>) wohl angemessener, wiederum von einem Trans-
fer der ganzen Ausdruckseinheit, oder genauer: von einem Transfer einer Para-
digmenstelle und damit einer singulären Wortform auszugehen. Es zeigen sich
damit insofern deutliche Parallelen zu den Direktübernahmen mit etymologi-
schen Pendants, als auch hier vor allem ähnliche Ausdrucksstrukturen transfe-
riert werden.
Was nun die vergleichsweise seltenen Transfers aus der englischen Syntax
betrifft, so muss bedacht werden, dass negative Transfers, bei denen die engli-
sche Syntax offensichtlich modellbildend ist, naturgemäß eine geringe Auftre-
tenswahrscheinlichkeit haben, weil erstens die Zahl syntaktischer Regeln ohne-
Englisches im Deutsch von Französischsprachigen 79
hin beschränkt ist im Vergleich zum offenen System des Lexikons, weil zwei-
tens in Lernertexten gewisse komplexe Strukturen selten vorkommen und weil
es drittens nur wenige vom Französischen und/oder vom Deutschen divergente
englische Regeln gibt. Syntaktische Transfers aus dem Englischen kommen in
den untersuchten Lemertexten denn auch nur hinsichtlich von vier Phänomenen
vor: Relativsätze werden ohne Relativpronomen als Einleitewort angeschlossen,
vgl. (57) und (58); das (englische!) Temporal adverb steht nach dem Subjekt,
aber vor dem finiten Verb an zweiter Stelle wie in (59); das transferierte too
'auch' wird nachgestellt wie in (60), und es kommen vorangestellte Genitivattri-
bute mit s-Genitiv-Markierung vor wie in (61).
(57) Ich glaub es gibt keine Traumschule weil ich mag nicht die Schule aber ich kann sa-
gen die beste Schule <0> ich möchte (statt die ich (mir wünsche))
(58) In Europa, haben wir nicht eine schwerig Leben, haben wir alles <0> wir wollen
(statt alles was)
(59) Sie <qffen> habt Ringen und Ketten an (engl. often, statt sie hat oft)
(60) ich wäre eine gute Schülerin <too> (statt auch eine gute Schülerin)
(61) meinen Mutter's Freund; ihre Vaters Name; Gangster's Graupe; Freund's
Graupe."
Relativsätze ohne Anschlüsse scheinen am eindeutigsten als englische Transfers
erklärt werden zu können, da es Vergleichbares weder im Französischen noch
im Deutschen gibt. Solche Relativsätze - will man eine funktionalistische Er-
klärung für das Lemerverhalten suchen - haben den Vorteil, dass die Fehler-
quelle des Relativpronomens ausgeschaltet werden kann, da dieses ja nach
Numerus, Genus, Kasus flektiert werden muss. Was das vorangestellte Genitiv-
attribut betrifft, so fragt sich an dieser Stelle, ob die Interpretation als englischer
Transfer vielleicht nicht zu kurz greift: Derselbe Normverstoß ist auch vorstell-
bar als Folge einer Generalisierung des "sächsischen Genitivs", der im Deut-
schen ja eingeschränkt durchaus seine Gültigkeit hat (Peters Freund) und im
Fremdsprachenunterricht auch so gelernt wird. Der in den meisten Belegen
vorhandene - gegen die orthografischen Konventionen des Deutschen versto-
ßende - Apostroph deutet jedoch eher auf angelsächsische Provenienz dieser
Konstruktion hin.
Die 400 Texte, die das Korpus der vorliegenden Ausführungen bilden, stammen
- wie bereits ausgeführt - von 100 Schülerinnen und Schülern, die diese inner-
halb eines Schuljahres produziert haben. Es kann damit für jede Testperson die
Zeitspanne von einem knappen Jahr des Deutschlemens überblickt werden. Da
diese Testpersonen die Kinder und Jugendlichen von der 8. bis zur 12. Klasse
repräsentieren, kann das Material gleichzeitig eine relative Zeitspanne von fünf
Schuljahren dokumentieren. Was nun mögliche Entwicklungssequenzen in
Ob es ein Zufall ist, dass die Genitiwerstöfle einzig bei Personenbezeichnungen vorkom-
men, ist nicht zu ergründen.
80 Helen Christen/Anton Näf
Bezug auf die hier interessierenden Transfers betrifft, so können die folgenden
Feststellungen gemacht werden:
Die reale Zeitspanne von einem Schuljahr, dokumentiert durch vier meist
kleinere Texte, lässt keine interindividuellen Aussagen über eine Entwicklung
hinsichtlich der Transferprozesse zu. Die Neigung, englische Wissensbestände
zu transferieren, scheint individueller Natur zu sein oder vielleicht auch vom
Unterricht abzuhängen.15 Es gibt in fast allen Klassen Schülerinnen und Schüler
mit keinen, in allen Schulklassen solche mit wenigen und vielen englischen
Transfers. Was die aus dem Englischen transferierten Größen selbst betrifft, so
ist der Bereich des Lexikons interindividuell immer am stärksten betroffen, d. h.
auch auf individueller Ebene handelt es sich damit in den meisten Fällen um
Interlexeme und Direktübemahmen mit etymologischen Pendants, die transfe-
riert werden, und damit um Verstöße, deren Sinn selbst von einer des Engli-
schen unkundigen Leserschaft ohne weiteres entschlüsselt werden kann, so dass
es sich "bloß" um ein formales Problem handelt.16
Der Fall der Bedeutungstransfers erlangt erst ab dem 10. Schuljahr einen
gewissen Umfang, was mit der beschränkten Typen-Zahl dieser interlingualen
Teilübereinstimmungen zu tun hat und sicher auch damit, dass die betroffenen
"deutsch-englischen" Modalverben und Relativpronomen erst in einem etwas
elaborierteren Stadium in beiden Lemersprachen vorkommmen, mit dem im
ersten und zweiten Jahr des Englischunterrichts, beziehungsweise im 4. und 5.
Jahr des Deutschunterrichts, noch nicht zu rechnen ist. Dass der Transfer einen
gewissen Wissensstand in den beteiligten Sprachen voraussetzt, zeigt sich auch
darin, dass die quantitativen Spitzenwerte tendenziell nicht ganz am Anfang des
einsetzenden Englischunterrichts festzustellen sind.
6.1. Korpus
Odlin (1989, 129ff.) geht davon aus, dass jene Faktoren, die zur beträchtlichen individuel-
len Variation im L2-Erwerb führen, auch eine Rolle spielen bei Transferphänomenen,
nämlich z. B. Motivation, Klassengröße, Alter der Lernenden, Sprachbewusstheit ("awa-
reness of language"), Persönlichkeitsstruktur.
Vgl. Kolde (1975) zu den verschiedenen Arten von Normverstößen und ihrer Relevanz für
Sprachlemende. Dass formale Normverstöße wegen ihres Irritationspotentials kommuni-
kativ keineswegs unerheblich sind, wird vom Verfasser überzeugend aufgezeigt.
Englisches im Deutsch von Französischsprachigen 81
Jahren 1995-99 entstanden sind. Sie wurden vom Verfasser, der dabei als Ex-
perte fungierte, an den beiden - in den betreffenden Kantonen Lycee genannten
- westschweizerischen Gymnasien Lycee Denis-de-Rougemont in Neuchätel
(Neuenburg) und Lycee cantonal in Porrentruy (Pruntrut, Kanton Jura) gesam-
melt. Natürlich konnten die Prüfungsgespräche - schon aus institutionellen und
rechtlichen Gründen - nicht mittels Tonband aufgenommen werden; die
einschlägigen Belege wurden deshalb einfach während ihrer Produktion notiert,
und zwar in der Regel stenografisch, was sich schon aus Gründen des Zeit-
drucks als unumgänglich erwies. Da die Belege unwiderruflich verklungen sind,
ist eine Reproduktion sowie eine genaue Rekonstruktion ihres jeweiligen Äuße-
rungskontexts (wie im Falle des Genfer Korpus) nicht mehr möglich.
Wenn man die Belege des Neuenburger Korpus mit denen des Genfer Kor-
pus vergleicht, gilt es, drei Unterschiede zu berücksichtigen. Erstens: Während
das Letztere Schülertexte mit einer Streuung über 5 Schuljahre hinweg (von der
8. bis zur 12. Jahrgangsklasse) umfasst und damit auch diachronische Aussagen
über die Entwicklung der Transfeiprozesse zulässt (vgl. 5.3.6.), handelt es sich
beim mündlichen Korpus gleichsam um eine "Momentaufnahme", welche den
Sprachstand der - im Durchschnitt etwa 18- bis 19-jährigen - Jugendlichen am
Ende des 12. Schuljahres dokumentiert. Alles in allem können wir davon
ausgehen, dass die Absolventinnen und Absolventen des Gymnasiums sowohl
im Deutschen (nach insgesamt 9 Jahren Unterricht) als auch im Englischen
(nach 5 Jahren) über eine relativ hohe und schon einigermaßen gefestigte
Sprachkompetenz verfügen. Zweitens: Im Gegensatz zum Genfer Korpus sind
wir hier nun in der Lage, die - für eine angemessene Beurteilung und Einord-
nung eines Belegs oft wichtige - Aussprache der englischen Transfers zu ken-
nen (diese wurde bei der Erfassung der Daten, falls nicht "selbstverständlich",
phonetisch mitnotiert). Dort wo dies sinnvoll erscheint, wird im Folgenden die
tatsächlich erfolgte Aussprache in phonetischer Umschrift hinzugefügt. Und
drittens: Die Umstände der Materialsammlung bringen es mit sich, dass eine
quantitative Auswertung der Daten nur in einem sehr eingeschränkten Sinn
möglich ist (vgl. 6.3.1.).
Trotz solcher kleinerer Mängel bezüglich der erhobenen Daten handelt es
sich bei diesem Korpus aber um gesprochenes Sprachmaterial, das von den
Maturandinnen und Maturanden wenn auch nicht völlig frei und spontan, so
doch auf einen entsprechenden Impuls oder eine Frage von Seiten der Lehrper-
son hin produziert wurde. Natürlich könnte man einwenden, dass man derartige
Daten besser nicht im Rahmen eines Examens, sondern während des
"normalen" Deutschunterrichts erheben sollte. Es ist ja tatsächlich nicht von
vom herein auszuschließen, dass die Prüfungssituation Anzahl und Art der
Transfers beeinflusst. Aber vielleicht ist gerade die mündliche Maturaprüfung
insofern ein sehr geeigneter Anlass für die Durchführung einer derartigen Erhe-
bung, als während des Schuljahres der einzelne Schüler im Fremdsprachenun-
terricht wohl selten so lange zum dialogischen Sprechen kommt wie bei dieser
Gelegenheit.
82 Helen Christen/Anton Näf
Infolge der extrem kurzen Zeit, die für das Notieren der Belege zur Verfu-
gung stand, mussten die Belege zum Teil etwas vereinfacht werden, und zwar
im Sinne einer leichten Dekontextualisierung. In erster Linie wurden dabei
bestimmte Eigennamen durch Pronomina ersetzt (z. B. Ciaire Zachanassian
durch sie). Darüber hinaus ist auch nicht auszuschließen, dass infolge der steno-
grafischen Erfassung der Belege gewisse andere, gleichzeitig auftretende Fehler
verlorengegangen sind oder stillschweigend korrigiert wurden (insbesondere
falsche Adjektivendungen). Wenn somit auch die vorliegenden Daten als leicht
idealisiert anzusehen sind, so handelt es sich hier trotzdem um quasi-authenti-
sches Sprachmaterial, dessen globale Zuverlässigkeit, insbesondere was die
englischen Transfers und deren Einbettung in den Kontext des jeweiligen Satz
oder Teilsatzes betrifft, nicht zur Debatte steht.
Wie das Schreiben so ist auch das Sprechen mit je spezifischen Anforderungen
und Schwierigkeiten verbunden. Beim Sprechen einer Fremdsprache sind - im
Vergleich zur Muttersprache - jedoch noch zusätzliche Barrieren zu überwin-
den (Überwindung von Hemmungen, Aussprache-Schwierigkeiten, Verfügen
über bloß beschränkte sprachliche Mittel usw.). Mehrere Faktoren erleichtern
indes den mündlichen Sprachverkehr, insbesondere die Gemeinsamkeit der
Situation, die Möglichkeit zum Nachfragen und die niedrigeren Erwartungen
bezüglich Korrektheit und Stil. Die Haupterschwernis gegenüber dem Schreiben
besteht in der sehr kurzen Reflexions- und Reaktionszeit beim Formulieren der
Gedanken und beim "Pingpongspiel" von Frage und Antwort. Dies benachtei-
ligt insbesondere solche Lernende, die einen auf Anwendung von Regeln beru-
henden Zugang zu Fremdsprachen haben. Diese sind denn auch fast dauernd
"am Übersetzen" und oft kaum bereit und fähig, "aus ihrer Muttersprache her-
auszutreten" und ins kalte Wasser zu springen.
Auch wenn wir dies nicht strikt belegen können, haben wir doch durch die
Analyse der beiden Korpora den Eindruck gewonnen, dass sprachliche Trans-
fers von der L3 her in der mündlichen Sprachproduktion häufiger sind als in der
schriftlichen. Konfrontiert mit der Erfordernis, möglichst schnell auf einen
Stimulus der Lehrperson inhaltlich zu reagieren, bleibt den Lernenden oft nicht
genügend Zeit, um gleichzeitig die sprachliche Korrektheit ihrer Aussagen unter
Kontrolle zu halten. Allerdings ist auch in der Mündlichkeit kein "durchschnitt-
liches" Lemerverhaltens auszumachen (vgl. 5.3.1.). Gewisse Indizien deuten
nämlich daraufhin, dass Beimischungen aus dem Englischen in erster Linie bei
solchen Lernenden auftreten, die "ohne Rücksicht auf Verluste" frisch von der
Leber weg drauflos parlieren. Denjenigen Schülern und Schülerinnen hingegen,
die beim Sprechen - um die in der gegenwärtigen Spracherwerbsforschung
beliebte Metapher zu verwenden - ständig noch auf den eingeschalteten "Mo-
nitor" blicken, scheinen weniger Anglizismen zu unterlaufen. Diese Überwa-
Englisches im Deutsch von Französischsprachigen 83
chungsinstanz trägt nicht nur zur Vermeidung von "Englischem", sondern auch
ganz generell zu einer höheren Korrektheit des sprachlichen Outputs bei. Oft
werden von diesen Lernenden während oder unmittelbar nach einer Äußerung
allerlei sprachliche Korrekturen (bezüglich Adjektivendungen, Verbstellung
usw.) "nachgeliefert". Ein solches vorsichtiges Lernerverhalten ist umso ver-
ständlicher, als die herrschende Bewertungspraxis im Fremdsprachenunterricht
immer noch weitgehend auf die Schriftlichkeit und deren hohe Ansprüche an
formale Korrektheit ausgerichtet ist und typisch kommunikative Fertigkeiten
wie Diskursfähigkeit, Schlagfertigkeit, sprachliches Selbstvertrauen und "Risi-
kobereitschaft" kaum angemessen honoriert.
Die mündlichen Matura-Prüfungen haben meist einen Auszug aus einem
vorbereiteten literarischen Werk zur Grundlage. Das Handikap der fremdspra-
chigen Schülerinnen und Schüler besteht nun darin, dass ihnen ihre beschränk-
ten Mittel nicht immer erlauben, genau das auszudrücken, was sie eigentlich
sagen möchten, etwa weil ihnen eine Vokabel oder zumindest le mot juste nicht
zur Verfugung steht, sei es, dass sie diese noch nicht gelernt haben, sei es, dass
diese für sie im Moment gerade nicht abrufbar ist (Wortfmdungsstörung). Als
Ausweg aus einer solchen "Sackgasse" existieren verschiedene Strategien. Die
Lernenden können entweder dazu ansetzen, den Gedanken mit ändern Worten
neu zu formulieren, oder aber - was allerdings bei den Lehrpersonen nicht sehr
beliebt ist - auf das Französische als Metasprache ausweichen. Oft liefert auch
der Lehrer oder die Lehrerin dem ins Stocken geratenen Prüfling das Gesuchte.
Nur höchst selten wird indes zur Behebung dieser Art von Kommunikations-
blockaden auf das Englische zurückgegriffen. Bei den im Folgenden zu behan-
delnden "Anglizismen" handelt es sich also nicht um einen bewussten Rückgriff
auf einen dritten, bis zu einem gewissen Grad Lernenden und Lehrenden ge-
meinsamen Kode. Vielmehr dürfen wir davon ausgehen, dass die englischen
Einsprengsel in aller Regel als ganz normale Elemente der deutschen Interims-
sprache der betreffenden Schülerinnen und Schüler anzusehen sind. Nur im Fall
der englischen Konnektoren vom Typ because (vgl. 6.3.2.) dürfte die Sachlage
etwas anders sein.
6.3. Ergebnisse
Eine quantitative Auswertung des mündlichen Korpus ist infolge der besonde-
ren Umstände der Datensammlung nur sehr eingeschränkt möglich. In Sinne
einer Größenordnung kann man immerhin festhalten, dass etwa bei einem guten
Drittel aller Maturanden und Maturandinnen während dem viertelstündigen
Prüfungsgespräch Transfers zu beobachten sind, und zwar in der Regel ein
einziger. Nur gelegentlich produzierte derselbe Schüler bzw. dieselbe Schülerin
zwei oder mehr davon. Eine weitere Einschränkung ist zu beachten: Systema-
84 Helen Christen/Anton Näf
tisch gesammelt wurden nur die types; über die Frequenz der tokens sind leider
bloß Angaben zur Größenordnung möglich (z. B. "selten", "mehrfach", "häu-
fig").
Im Weiteren kann, wegen des geringen Korpusumfangs pro Prüfling, in der
Regel auch nicht gesagt werden, ob es sich bei den englischen Einsprengseln
um Abweichungen handelt, die auf einem Kompetenzdefizit beruhen, oder bloß
um "zufällige oder durch besondere Produktionsbedingungen erklärbare Ent-
gleisungen" (Kolde 1980, 173), eine Unterscheidung, die in der angelsäch-
sischen Forschung mit Hilfe des Begriffspaars error versus mistake terminolo-
gisiert worden ist.
Wegen des starken Zeitdrucks während des Belegsammelns konnte nicht
immer sofort entschieden werden, ob ein Beispiel wirklich einschlägig ist oder
nicht. Im Laufe der Auswertungsphase musste denn auch ein nicht geringer Teil
der zunächst einmal spontan gesammelten Fälle wieder ausgeschieden werden.
Viele davon erwiesen sich nämlich auf den zweiten Blick nicht als eindeutig auf
das Englische zurückführbar, sondern als doppelgestützt (vgl. 6.3.6.). Überhaupt
hat sich während der Arbeit an der Auswertung des Korpus gezeigt, dass den
doppelgestützten Interferenzen bei der Population des Neuenburger Korpus eine
eigentliche Schlüsselrolle zukommt.
Auch wenn für das mündliche Korpus im strengen Sinn keine Angaben quanti-
tativer Natur möglich sind, so steht doch zweifelsfrei fest, dass auch hier die
überwiegende Zahl der aus dem Englischen übernommenen Phänomene das
Lexikon betrifft. Wenden wir uns zunächst der "unbekümmerten" Übernahme
von fremdem Sprachgut in Form von Direktübemahmen zu.
Die auffälligste Untergruppe bilden dabei jene - insgesamt allerdings wie
im Genfer Korpus relativ seltenen - englischen Lexeme im deutschen Output,
für die im Deutschen kein etymologisches Pendant existiert (Typ: <darke>
Augen). Bei allen Belegen, die im Folgenden zitiert werden, ist zu berücksichti-
gen, dass deren Verschriftlichung natürlich nicht von den Schülerinnen und
Schülern, sondern vom Verfasser dieses Abschnitts stammt. Wir können nicht
wissen, wie diese ihre mündlich produzierten Äußerungen und die einschlägi-
gen Transfers geschrieben hätten.
(62) Er will, dass die Leute <him> respektieren (statt ihn) [him]
(63) Judo ist eine An von <selfdefense> (statt Selbstverteidigung) [selfdifens]
(64) Er hat sie an einem geheimen Ort <gemeetet> (statt getroffen) [gemi:tot]
(65) Alles war in einem <baden> Zustand (statt schlechten) [banden]
In (62) und (63) wird jeweils ein Lexem als sprachliches Zeichen im Sinne de
Saussures, d. h. mit Signifikant und Signifikat tel quel übernommen. Die betref-
fende Schülerin betrachtet <selfdefense> offenbar als ein eingebürgertes deut-
sches Fremdwort (vergleichbar etwa dem von den Wörterbüchern des Deut-
Englisches im Deutsch von Französischsprachigen 85
sehen registrierten Seifservice), Dies trifft auch auf das englische Verb to meet
'treffen, begegnen' in Beleg (64) zu (das natürlich nichts mit dt. mieten zu tun
hat), welches darüber hinaus noch morphologisch adaptiert wurde (Bildung des
Partizips II nach dem Muster der schwachen Verben). Das Adjektiv in Satz
(65), das mit dem "undeutschen" Langvokal [ :] realisiert wurde, ist morpholo-
gisch ebenfalls voll integriert.
Eine direkte Übernahme von Fremdlexemen ohne jegliche Adaptation (auch
nicht der Aussprache) ist vornehmlich bei einer kleinen Gruppe von unflektier-
baren Strukturwörtern zu beobachten, z. B. bei den Konnektoren because (66),
but (67) oder that (68):
(66) Sie hat Angst vor ihm, <because> - er ist ein Trinker.
(67) Er möchte es machen, <but> - (Selbstkorr.) aber er ist zu schwach.
(68) Er weiss, <that> - (Selbstkorr.) dass sie krank ist.
Neben vereinzelten Verben und Adjektiven sind auch hier vor allem Substantive
betroffen, desgleichen auch bestimmte geografische Namen wie die bereits oben
im Genfer Korpus registrierten Ländernamen (vgl. 5.3.2.) oder etwa wie Poland
in (72), das mitsamt seiner englischen Aussprache, d. h. mit dem im Deutschen
nicht existierenden Diphthong [ou] übernommen wurde.
Wenden wir uns nun den Bedeutungstransfers zu, die offenbar bei den -
sprachlich fortgeschritteneren - Lernenden des Neuenburger Korpus quantitativ
stärker ins Gewicht fallen als im Genfer Korpus. Während bei den Direktüber-
nahmen, wo nicht bloß eine Bedeutung, sondern ein meist hörbar fremder
Wortkörper "importiert" wird, die muttersprachlichen Zuhörer für einen Mo-
ment aus ihrer Muttersprache herausgerissen werden, ist dies bei den Fällen von
Bedeutungstransfer nicht der Fall. Es handelt sich hier ja - zumindest vorder-
gründig bezüglich der Lautgestalt - um ganz "normale" deutsche Wörter. Nicht
die Lexeme als solche wirken fremdartig, sondern deren Verwendung im gege-
benen Ko(n)text gibt zu Irritationen Anlass.
86 Helen Christen/Anton Näf
Es ist in diesem Zusammenhang nicht von Belang, dass es sich bei den beiden
ersten um etymologisch verwandte Paare (to become - bekommen;11 to show -
schauen), beim dritten aber bloß um ein ähnlich klingendes englisches Verb
romanischer Herkunft handelt (to stay - stehen). Man braucht im Übrigen nur
auf die indoeuropäische Grundsprache zurückzugehen, um zu sehen, dass sich
auch dieses Verbpaar als "urverwandt" erweist.
Während nun aber in Belegen wie (73) bis (75) jede und jeder des Deut-
schen Mächtige sofort merkt, dass "da etwas nicht stimmen kann", erweist sich
in ändern Fällen der Minimalkontext eines isolierten Satzes als nicht ausrei-
chend, um einen Fehler zu diagnostizieren, z. B. bei
(76) Er stand in dieser Bar.
(77) Er will schauen, was passieren kann.
Bei diesen und ähnlichen Belegen wird erst durch den situativen Kontext oder
den sprachlichen Kotext (in der Regel: Folgetext) klar, dass auch hier von den
betreffenden Lernenden die Bedeutungen 'bleiben' bzw. 'zeigen' intendiert
waren. Hier lässt sich nun zwanglos auch das folgende hübsche Beispiel an-
schließen:
(78) Der Mann liebte allein auf seiner Insel.
Der Zusammenhang macht klar: hier wird dem Wortkörper lieben die Bedeu-
tung von to live 'leben' unterstellt. Allerdings ist die Sachlage in (78) etwas
verwickelter als beim obigen 'Schulbeispiel' bekommen versus become. Zwi-
schen dem Verb lieben und seinem Kognaten to love besteht nämlich keine
Bedeutungsdifferenz. Hingegen kommt es nun hier infolge der ähnlichen
Lautungen zu einer Kontamination der beiden Paare lieben: to love und leben :
to live. Wahrscheinlich wird diese - ziemlich häufig zu beobachtende - Ver-
wechslung dadurch gefördert, dass die nicht zusammengehörigen Verben lieben:
to live beide einen /-haltigen Vokal enthalten.
Belege mit englischem Bedeutungstransfer bei Substantiven sind etwa die
beiden folgenden:
(79) Er ist ein <Jugend> (statt Jugendlicher)
17
Das Paar to become vs. bekommen gehört zweifellos zu jenen "falschen Freunden" oder
"falschen Kognaten" (Neuner 1999, 19), die am häufigsten zu Interferenzfehlem führen -
und zwar in beiden Richtungen. Der unfreiwillige Humor, der im Satz Can I become a
beefsteak? (deutscher Gast in englischem Restaurant) zum Ausdruck kommt, gehört heute
denn auch schon zum festen Anekdotenschatz der Fremdsprachendidaktiker.
Englisches im Deutsch von Französischsprachigen 87
Engl. youth hat - im Gegensatz zum Deutschen - neben der Bedeutung 'Ju-
gend' noch die zusätzliche Unterbedeutung 'Jugendlicher'. Im Kontext des
Satzes völlig unauffällig (und auch bezüglich der Pluralbildung voll integriert)
ist die Form Wälle in (80). Aus dem weiteren Ko(n)text geht aber eindeutig
hervor, dass hier weder von einer 'Erdaufschüttung' noch von einer '(Stadt)be-
festigung', sondern schlicht von den 'Wänden' (eines Zimmers) die Rede war
(engl. wall). Die für frankophone Lernende verwirrliche Polysemie von frz. mur
bei dessen Wiedergabe im Deutschen (Wand versus Mauer) mag bei diesem
Lexem zusätzliche Verwirrung stiften.
Zu erwähnen ist nun hier abschließend noch eine Gruppe von diversen un-
flektierbaren Strukturwörtem, deren identische grafische Gestalt im Deutschen
und im Englischen bei den Frankophonen zu Problemen beim korrekten Aus-
einanderhalten führt. Was diese Beleggruppe noch zusätzlich von den bisheri-
gen Fällen unterscheidet, ist die Tatsache, dass hier nicht bloß eine Bedeu-
tungs-, sondern darüber hinaus noch eine Wortklassendifferenz mit im Spiel ist.
(81) Er hat <still> Angst (statt immer noch)
(82) Dann rennte er <fast> (statt schnell)
(83) Die zwei ändern sind <also> gestorben (statt auch)
Dem - übrigens mit dt. Anlaut [ft-] ausgesprochenen - Element still in (81)
wird die im Englischen gültige Bedeutung ('immer noch' statt 'ruhig') und
Wortklasse (Adverb statt Adjektiv) unterlegt. Demgegenüber lässt das - mit
leicht gelängtem [a:] realisierte -fast, das in (82) ganz offensichtlich mit der
Bedeutung 'schnell' verwendet wird, weniger zwingend an die homographe,
etymologisch verwandte dt. Partikel fast 'beinahe' denken, so dass man hier
unter Umständen von einer Direktübemahme ausgehen könnte. In (83) wird
dem (deutsch ausgesprochenen) also die Bedeutung von engl. also 'auch, eben-
falls' unterlegt. Nicht bloß der Ko(n)text, sondern auch das Faktum, dass bei
dieser Schüleräußerung das Element also den Hauptton trägt, ist ein sicheres
Indiz dafür, dass hier nicht dt. also mit der Bedeutung 'folglich' gemeint sein
kann.
Auf besonders verwirrliche Art und Weise "reiben" sich die beiden Spra-
chen im Kopf der Lemer im Falle von bevor/before aneinander. Das unflektier-
bare deutsche Wort bevor kann nur als subordinierende Konjunktion ('ehe')
verwendet werden (dies ist auch im Englischen möglich), nicht aber, wie es
häufig geschieht, als Adverb ('vorher', 'zuvor') wie in (84) oder als Präposition
('vor') wie in (85). Die Polyfunktionalität von frz. avant (que) mag hier zusätz-
lich zur Verwirrung beitragen.
(84) Er ist trauriger als <bevor> (statt vorher)
(85) <Bevor> dem Essen, er bestellte einen Aperitif (statt vor)
88 Helen Christen/Anton Näf
Viele frankophone Schülerinnen und Schüler haben bei ihrer Aussprache des
Deutschen einen starken "Akzent". Dessen Besonderheiten (z. B. Lautsubstitu-
tionen, falsche Wortakzente, zu "flache" Satzintonation) lassen sich jedoch
größtenteils als Interferenzen von der Muttersprache her erklären. Demgegen-
über sind Transfers von Phonemen und Allomorphen aus dem Englischen nur
sehr selten zu beobachten. Sie treten insbesondere bei Direktübemahmen von
Lexemen auf. Im Bereich des Vokalismus betrifft dies etwa Vokale und
Diphthonge, die im Inventar des Deutschen nicht vorkommen (z. B. jene in but,
cat, bird, saw, say, go).
Auch bei den Konsonanten treten gelegentlich, wiederum in Direktüber-
nahmen, "undeutsche" Laute wie [ ] und [w] auf. Nur selten werden diese auf
deutsche Lexeme übertragen (vgl. oben Beleg (1) Wein). Manchmal werden
transferierte englische Lexeme lautlich teilweise eingedeutscht. Das trifft etwa
auf jene mit anlautendem [st-] (vgl. <stealen> in (13)) zu, die im Deutschen
gelegentlich mit [ft-] realisiert werden.
Die Aussprache von Wörtern mit stimmlosem anlautendem [s] (wie in <sin-
gen>) ist nicht leicht zu deuten. Mindestens drei Erklärungsmöglichkeiten
stehen zur Wahl: Es kann sich sowohl um eine Interferenz von der französi-
schen Muttersprache als auch um eine solche vom Englischen her handeln (to
sing). Schließlich ist auch eine allfällige Vorbildwirkung der Lehrperson nicht
auszuschließen, wird doch dieser Laut in der schweizerischen Standardsprache
meist stimmlos realisiert.
Zu gewissen Irritationen bei der Aussprache geben jene Grapheme Anlass,
denen in zwei oder gar in allen drei beteiligten Sprachen ein unterschiedlicher
Lautwert entspricht. Dies ist zum Beispiel beim Graphem <j> der Fall. Während
dessen Aussprache als [j] in deutschen Wörtern wie Jahr keinerlei Probleme
bereitet, kommt es bei deutschen Fremdwörtern französischer Herkunft wie
Journalist zu "hyperdeutschen" Realisierungen, mit [j] statt [3] im Anlaut. Eine
Lemerbildung wie die <Juwen> [d3u:van], für die Juden, zeigt, dass hier auch
noch die englische Realisierung dieses Graphems hereinspukt.
Ein Beleg wie (86) illustriert sehr schön das Spektrum der potentiellen Einfluss-
faktoren. Am plausibelsten ist es wohl, das Pluralzeichens bei Spilal-s als
Transfer vom Englischen her zu deuten (hospitals). Ebenfalls möglich ist jedoch
dessen Erklärung als Übergeneralisierung des deutschen s-Plurals; dieser nimmt
zwar frequenzmäßig im Deutschen nur eine marginale Stellung ein, ist aber
gerade bei Fremdwörtern gut verankert. Nicht völlig auszuschließen ist schließ-
lich eine Beeinflussung durch das stumme orthografische Pluralzeichen <-s>
des Französischen (das allerdings beim frz. Äquivalent dieses Worts nicht auf-
tritt: hopitaux).
Auch in (87) ist die Hypothese einer Beeinflussung durch das Englische nur
eine unter mehreren, existiert doch diese Verbform auch im gesprochenen
Deutsch. Im Weiteren ist, hier wie anderswo, das Vorliegen eines bloßen Flüch-
tigkeitsfehlers nicht völlig auszuschließen. Ob in (88) ein Transfer der Para-
digmenstelle (2. Person Sg.) (you) were vorliegt (vgl. 5.3.3.), muss ebenfalls
offen bleiben. Hingegen erscheint es wahrscheinlich, dass die häufig produ-
zierte lemersprachliche Infinitivform <verstanden> wie in (89) in ihrer Lautge-
stalt durch englisches to unierstand zumindest mitbeeinflusst ist. Es kann aber
auch eine - in dieser Position häufige - Verwechslung von Infinitiv und Partizip
II vorliegen, was umso verständlicher ist, als diese beiden Formen nicht nur im
gesprochenen Französisch, sondern auch im Deutschen nicht selten formal
zusammenfallen (z. B. behalten).
Die durch das Englische bedingten Fehler im Bereich der Wortbildung hal-
ten sich in engen Grenzen. Im Bereich der Suffixe kann man an Fälle wie die
folgenden denken:
(90) Er ist ein gefahrlicher <Kriminal> (statt Verbrecher)
(91) Das ist natürlich sehr <personal> (statt persönlich)
Was die Wahl des Lexems betrifft, gehören Belege wie die beiden obigen zur
Kategorie der doppelgestützten Transfers (frz. un criminel, engl. a criminal).
Das Faktum hingegen, dass in solchen Fällen meist dem "englischen" Suffix -al
der Vorzug gegeben wird, deutet darauf hin, dass wir es hier eher mit einem
Transfer vom Englischen her zu tun haben. Ganz offensichtlich wollen die
betreffenden Lernenden eben eine Fremdsprache produzieren und geben deswe-
gen der von ihrer Muttersprache abweichenden Form den Vorzug (vgl. oben in
5.3.2. die Bemerkungen zur Wortgestalt von music, coffee usw.).
Bei der Bildung ein <Philosopher> (vgl. oben Beleg (7)) mit Hilfe des Suf-
fixes -er denkt man zunächst natürlich einmal spontan an engl. philosopher (ge-
genüber frz. philosophe). Allerdings ist auch hier eine "lernersprachinterne" Er-
klärung möglich: der Schüler hätte dann einfach das auch im Deutschen häufig
zur Bildung von Personenbezeichnungen verwendete Suffix -er übergenerali-
siert. Für das Zutreffen dieser Annahme könnten auch andere einschlägige Fehl-
bildungen sprechen wie z. B. der <Dieber>, der <Möncher> (gegenüber engl.
thief und monk). Große Unsicherheit herrscht bei vielen Lernenden beim Verb
ermorden. Bei einem dafür typischen Beleg wie (92) sind aber ebenfalls ver-
schiedene Erklärungsmöglichkeiten zu erwägen.
90 Helen Christen/Anton Näf
Alle oben unter 5.3.5. für das schriftliche Korpus festgestellten Interferenzen im
Bereich der Syntax treten auch hier auf. Sie sind ebenfalls nicht sehr frequent;
am ehesten findet sich noch das vor das Verb auf die Zweitposition platzierte
Adverb wie im nachfolgenden Beleg:
(93) Der Vater <regelmässig> spricht mit seiner Familie (statt spricht regelmässig)
Andere allfällige Fremdeinflüsse sind viel subtilerer Natur und entsprechend
weniger kategorisch zu diagnostizieren. Die falsche Konstruktion der Dativer-
gänzung bei dreiwertigen Verben mit Hilfe einer Präposition wie in (94) könnte
zwar auch frankophonen Lernenden, die keine Englischkenntnisse besitzen,
unterlaufen. In diesem Fall lautet aber die verwendete Präposition meist an. Die
Präferenz für die Präposition zu (engl. to) könnte somit auf das Konto des Eng-
lischen gehen, ähnlich wie jene für die Präposition bei (engl. by) beim An-
schluss der Agensangabe in Passivsätzen wie (95):
(94) Sie gibt eine Milliarde <zu die Güllener> (statt den Güllenern eine Milliarde)
(95) Er wurde <bei der Polizei> verhaftet (statt von der Polizei)
Doppelgestützte Nomen:
(96) Das war keine gute <Solution> des Problems (frz. solution, engl. solution, dt. Lö-
sung)
(97) Er will keine <Orden> von ändern bekommen (frz. ordre, engl. order, dt. Befehl)
(98) Er hat gelügt über seine <Origin> (frz. origine, engl. origin, dt. Herkunft)
(99) Dieses Gedicht hat keine <Punktuation> (frz. ponctuation, engl. punctuation, dt.
Interpunktion)
Englisches im Deutsch von Französischsprachigen 91
Doppelgestützte Adjektive:
(100) Er ist <innocent> (frz. innocent, engl. innocent, dt. unschuldig)
(101) Das ist der <prinzipale> Grundför sein Verhalten (frz. principal, engl. principal,
dt. Haupt-)
(102) In den <publiken> Orten ist es verboten zu rauchen (frz. publique, engl. public, dt.
öffentlich)
Doppelgestützte Verben:
(103) Die Zeit <passt> sehr schnell (frz. passer, engl. to pass, dt. vergehen)
(104) Sie wollten ihnen die eigene Kultur <imposieren> (frz. imposer, engl. to impose, dt.
aufzwingen)
Es ist in der Regel nicht möglich zu beurteilen, ob diese Lexeme bereits - als
mehr oder weniger fossilierte Elemente - zur Interimssprache der betreffenden
Schülerinnen und Schüler gehören, oder ob es sich dabei bloß um das Ergebnis
des spontanen Ausprobierens einer Strategie handelt, die ja in zahlreichen än-
dern Fällen tatsächlich funktioniert (Dreierserien wie la situation: the situation:
die Situation).11 Dass hier jedoch nicht einfach ein kurzes "Umschalten" ins
Französische oder Englische (code-switching) vorliegt, geht aus der eindeutig
deutschen Aussprache dieser Elemente hervor: So wird etwa [printsipaja] ohne
Nasalierung wie im Frz., und im Gegensatz zum Englischen mit Endbetonung
ausgesprochen. Femer: [solutsioin] und nicht wie frz. [solysj5] oder engl.
[solu:Jn] usw.
Der Einfluss der doppelgestützten Lexik erfolgt aber nicht nur in Form von
"ohrenfälligen" Direktübernahmen, sondern auch in derjenigen der viel dis-
kreteren Bedeutungstransfers; deren Fehlerhaftigkeit tritt öfter erst bei Einbe-
ziehung des gesamten Äußerungskontexts zutage. Die meisten einschlägigen
Fälle betreffen Lexeme, die in der Ll Französisch und in der L3 Englisch eine
gemeinsame Polysemie aufweisen, die vom Deutschen nicht geteilt wird. Frz.
capitaine und engl. captain heißen eben beide sowohl 'Hauptmann' als auch
'(Schiffs)kapitän':
(105) Es war der <Kapitäri> (frz. capitaine, engl. captain, dt. im Kontext gemeint:
Hauptmann)
Bei vielen solchen Dreierserien existiert im Deutschen die Wahl zwischen einem Erbwort
und einem quasisynonymen Fremdwort lateinischen Ursprungs (z. B. Minderheit - Mino-
rität; genaue Beschreibung -präzise Deskription). Es wäre nicht schwierig nachzuweisen,
dass in den von Lernenden französischer Muttersprache produzierten deutschen Texten die
entsprechenden Fremdwörter stark übervertreten sind. In einer neueren Untersuchung ha-
ben Kolde/Rohner (1997, 237) auf das merkwürdige compositum mixtum aufmerksam ge-
macht, das dann entsteht, wenn solche - nicht selten die Konnotation "bildungssprachlich"
tragende - Fremdwörter im Verbund mit Verstößen gegen die Elementargrammatik (z. B.
Artikelfehlem) auftreten. Fortgeschrittene Lernende, die sich dieser Problematik bewusst
sind, versuchen öfter, hier mit Hilfe der Strategie "Im Zweifelsfall ein Wort deutscher
Herkunft" Gegensteuer zu geben, was jedoch auch nicht immer zu einem voll befriedigen-
den Resultat führt, z. B. in Sie muss ihre <Lage> <annehmen> (dt. eher Situation akzep-
tieren). Einen grossen Fortschritt in der Erfassung solcher subtiler Verwendungsunter-
schiede stellt das Wörterbuch der "faux amis" von Vanderperren (1994) dar.
92 Helen Christen/Anton Näf
(106) Er ist <unbewussf> (frz. inconscient, engl. inconscious, dt. im Kontext gemeint:
bewusstlos)
(107) Er <fragt> seinen Vater, ihm Geld zu geben (frz. demander, engl. to ask, dt. im
Kontext gemeint: bitten)
(108) Sie wollte eine Foto von ihm <nehmen> (frz. prendre une photo, engl. to take a
picture, dt. im Kontext gemeint: ein(e) Foto machen)
(109) Du <musst> hier nicht rauchen (frz. tu ne dots pas, engl. you must not, dt. im
Kontext gemeint: du darfst nicht)
Wenn auch die Ebene des Lexikons am stärksten von doppelgestützten Interfe-
renzen betroffen ist, so finden sich solche jedoch, infolge gemeinsamer gram-
matischer Strukturen zwischen Französisch und Englisch, gelegentlich auch in
der Morphologie, z. B. bei der Bildung des Komparativs (110) oder des Passivs
(111), in der Wortbildung (112) und in der Syntax, z. B. bei der Verbstellung
(113) oder einer Umschreibung wie in (l 14):
(110) Selber probieren ist <mehr interessant (frz. plus interessant, engl. more inte-
resting, dt. interessanter)
(111) Sie <ist> von der Polizei verhört (frz. etre, engl. to be, dt. werden)
(112) <atomische Bomben> (frz. des bombes atomiques, engl. atomic bombs, dt. Atom-
bomben)
(113) Eines Tages, <er beschliesst> wegzugehen (frz. unjour, U decide ..., engl. one day
he decides..., dt. eines Tages beschliesst er...)
(114) <Das ist warum> er traurig ist (frz. c 'estpourquoi, engl. that 's why, dt. deshalb)
Es sei hier nochmals darauf hingewiesen, dass in vielen Fällen die Annahme
eines Transfers nicht die einzige Erklärungsmöglichkeit darstellt. Der Beleg
(113) exemplifiziert einen der häufigsten Syntaxverstöße in der Sprachproduk-
tion französischsprachiger Lernender überhaupt. Bestimmte sprachwissen-
schaftliche Theorien gehen davon aus, dass die Reihenfolge "Subjekt vor Verb"
als die "natürlichere" Serialisierung zu gelten habe. Falls diese Hypothese
zutrifft, könnte sie die Generalisierung dieser Stellung auch im Deutschen erklä-
ren oder zumindest miterklären.
In allen obigen Belegen (96) bis (114) ist kein sicherer Rückschluss auf die
interferierende Sprache möglich. Die Problematik der Zuschreibung eines
Transfers an eine der beiden Sprachen lässt sich im Übrigen sehr schön am
Beispiel der Verben mit Reflexivpronomen illustrieren:
(l 15) Er möchte <ändern> (frz. changer, engl. to change, dt. sich ändern)
(l 16) Er lernt <sich> zu schweigen, (frz. se taire, engl. to be silent, dt. schweigen)
(l 17) Nachher <föhlte> sie besser, (frz. se sentir, engl. to feel, dt. sichföhlen)
7. Didaktische Konsequenzen
mehr als störend empfunden wird. Neuner und Hufeisen fordern denn auch zu
Recht die Entwicklung einer Didaktik und Methodik samt entsprechenden
Lehrmaterialien fiir "Deutsch als zweite Fremdsprache nach Englisch". Dass der
DaF-Unterricht, insbesondere außerhalb Europas, sich effektiver gestalten ließe,
wenn man ihn auf bereits vorhandenen Englischkenntnissen aufbauen würde, ist
eine an sich nahe liegende, aber noch kaum in die Praxis umgesetzte Idee. In
einer empirischen Untersuchung mit Sprechenden diverser außereuropäischer
Erstsprachen, die "Deutsch nach Englisch" gelernt hatten, war Hufeisen (1991,
zit. nach Rosier 1994, 15) zum Ergebnis gelangt, dass etwa ein Elftel aller Feh-
ler in deren L3 (Deutsch) mit korrekten Strukturen der - als Stützsprache die-
nenden - L2 (Englisch) übereinstimmten und damit mit einer gewissen Wahr-
scheinlichkeit auf das Konto des Englischen zu setzen sein dürften.
In der Westschweiz liegt nun, aus evidenten staatspolitischen Gründen, ge-
rade die umgekehrte Konstellation "Deutsch vor Englisch" vor. Wenn also die
Schüler und Schülerinnen mit dem Englischen beginnen, sind sie - um mit Neu-
ner zu sprechen-"keine 'unbeschriebenen Blätter' mehr, was fremdsprachliche
Lehr-Erfahrungen und Lem-Strategien angeht". Die Englischlehrenden in der
Romandie müssten nun alles Interesse daran haben, in ihrem Unterricht diese
spezielle Ausgangslage mitzuberücksichtigen. Infolge der engen Verwandt-
schaft der beiden germanischen Sprachen sind ihre Schülerinnen und Schüler
nämlich in der Lage, nicht bloß eine große Anzahl von Lexemen aus dem
Grundwortschatz sich leichter zu merken, sondern auch bestimmte Phänomene
und Unterscheidungen der Grammatik des Englischen viel schneller zu verste-
hen und zu automatisieren (starke versus schwache Verben, vorangestelltes
Adjektiv- und Genitivattribut usw.). Auch wenn es im vorliegenden Beitrag
ausschließlich um den negativen Transfer vom Englischen auf das Deutsche
geht, sollten wir darüber aber nicht die zweifellos bedeutende Lernerleichterung
durch die Wirkung des positiven Transfers aus den Augen verlieren. Weil dieser
jedoch nicht direkt beobachtbar und am sprachlichen Output "ablesbar" ist,
dürfte sich dessen Ausmaß wohl kaum je zuverlässig bestimmen lassen.
Die Englischlehrer und -lehrerinnen in der Westschweiz haben aber noch
einen weiteren didaktischen "Trumpf in der Hand. Dadurch dass das Englische
eine germanisch-romanische Mischsprache ist, befinden sie sich in der privile-
gierten Lage, gleich beide von den Schülerinnen und Schülern mitgebrachten
Idiome für das Lernen fruchtbar machen zu können. Dazu abschließend nur
noch je ein Beispiel aus Grammatik und Lexikon. Im Bereich der Morphologie
kennt das Englische sowohl die "germanische" (old-older- oldest: alt - älter -
öltest-) als auch die "romanische" Komparation (beautiful - more beautiful -
most beautiful: beau -plus beau - leplus beau). Und für den Begriff 'Freiheit'
stehen gleich zwei Signifikanten zur Verfügung, nämlich das ans Deutsche
anklingende freedom und das ans Französische anschließbare liberty. Der Um-
stand, dass die Lernenden bei der Begegnung mit der L3, dem Englischen,
schon etwas "älter" (im Sinne der Entwicklungsstadien von Piaget) sind, dürfte
Englisches im Deutsch von Französischsprachigen 95
8. Schluss
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98 Helen Christen/Anton Näf
1
Zur Rolle von Fremdsprachenkenntnissen auf dem Arbeitsmarkt in der Schweiz vgl. Grin
(1999).
1
Vgl. Doc. 8173 des Europarats vom 16. Juli 1998 ("Diversification linguistique").
3
Vgl. etwa Langner (1996); Kolde/Rohner (1997).
100 Erika Diehl
Vgl. die Erklärung der EDK zur Förderung des zweisprachigen Unterrichts in der Schweiz
1995 (Lüdi 1998, 8f.), Schneider/North (1999, 28).
Vgl. dazu Kolde/Rohner (1997, 212f). Zu den Anforderungen, die idealiter an Primar-
schullehrer für den frühen L2-Unterricht gestellt werden, siehe auch die Ausführungen in
den "Nürnberger Empfehlungen" des Goethe-Instituts von 1997 (insbes. 11 und 21).
Siehe dazu die Abschnitte "Methoden des frühen Fremdsprachenunterrichts" und
"Evaluation im frühen Fremdsprachenunterricht" in den "Nürnberger Empfehlungen" des
Goethe-Instituts (1997, 9f.).
Modelle des Fremdsprachenunterrichts in der Primarschule 101
Eine ausführliche Darstellung zur Situation des immersiven Unterrichts in Europa ist
nachzulesen bei Wode (1995). Zur Immersion im Primarschulbereich vgl. Kubanek-Ger-
man (1996), dort auch ein ausfuhrliches Literaturverzeichnis.
Siehe dazu Fuchs (1999, 67ff.).
Zu der terminologischen Abgrenzung von "Immersion" und "bi- bzw. multilingualem
Unterricht" vgl. Brohy (1999, 11); zur quasi offiziellen Definition "zweisprachiger Unter-
richt" seitens der EDK vgl. deren "Erklärung" von 1995. Als terminologische Alternative
zum bilingualen Unterricht bieten Stern et al. (1998, 4) den Terminus "inhaltsorientierter
Fremdsprachenunterricht" an. Ob sich einer dieser Termini - oder möglicherweise noch
ein anderer - im Endeffekt durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.
Vgl. den Abdruck der Thesen des Gesamtsprachenkonzepts und Kommentare dazu in
Babylonia (1998, H. 4,14-23).
102 Erika Diehl
Unterricht, vom Kindergarten bis zur Sekundarstufe II." Das darf allerdings
nicht darüber hinwegtäuschen, dass trotz all dieser Reformfreudigkeit im Jahr
1998 nur knapp 1% der Schweizer Schulkinder in den Genuss irgendeines Mo-
dells von zweisprachigem Unterricht gekommen ist, und zwar vorwiegend in
Regionen nahe der Sprachgrenze oder innerhalb zweisprachiger Kantone und
Städte, wo die Notwendigkeit von inner- und interkantonaler Kommunikation
eher einleuchtet. An der Spitze steht der Kanton Wallis: 40% aller schweizeri-
schen Kinder, die im Schuljahr 1998/99 irgendeine Form von zweisprachigem
Unterricht erhielten, wohnen im Wallis; in manchen Walliser Gemeinden kam
es schon vor, dass bis zu 22% der Schulkinder eines Jahrgangs zweisprachigen
Unterricht besuchten.
Erfüllt nun der zweisprachige Unterricht, so wie er bisher in der Schweiz prak-
tiziert wird, tatsächlich die Erwartungen, die an ihn herangetragen werden; ist er
dem frühen L2-Unterricht wirklich eindeutig überlegen? Die Evaluierungen der
kanadischen und europäischen Immersionsmodelle lassen offenbar keinen
Zweifel zu: Schüler aus zweisprachigen Klassen erreichen in jedem Fall ein
besseres Niveau als Schüler aus Kontrollklassen mit konventionellem L2-Unter-
richt. Sie sind den Muttersprachlern im Hör- und Leseverständnis äquivalent, in
mündlicher und schriftlicher Produktion nur leicht unterlegen.12 Kritischer sind
die Urteile über die grammatische Kompetenz: Es wurde beobachtet, dass die
kanadischen Immersionsschüler über eine geringere Skala von grammatischen
Strukturen verfügen13 und dass im Bereich der Syntax und beim Gebrauch von
Präpositionen häufig Fehler auftreten.14 Laugel/Laugner (1996, 182f.) berichten
von Syntax- und Deklinationsfehlern im Deutschen bei elsässischen Kindern
aus zweisprachigen Kindergärten. Und Hammerley zufolge etabliert sich unter
den kanadischen Immersionsschülem zuweilen geradezu eine Art "Pidgin", dem
später fast nicht mehr beizukommen sei.15 Beobachtungen dieser Art deuten
daraufhin, dass die L2-Grammatikkompetenz von Immersionsschülern derjeni-
gen von native speakers nicht äquivalent ist - was jedoch keineswegs ihre
sprachliche Überlegenheit gegenüber Schülern aus konventionellen Fremdspra-
chenklassen in Abrede stellt.
" Diese Zahlen sowie alle anderen hier genannten sind den Berichten von Brohy (1998 und
1999) entnommen.
12
Zu den positiven Ergebnissen von Immersionsunterricht vgl. u. a. Ellis (1994, 226), Wode
(1995, 14f. und 79), Stern (1998, 4 und 15), Peltzer-KarpfXZangl (1998, 105), Cathomas
(1999,45ff.), Ziberi-Luginbühl (1999, 33).
13
Genesee (l 996,44f.).
14
Endt(1996,73).
15
Vgl. Ellis (1994,226), der die Arbeiten von Hammerley (1987,1989) erwähnt.
Modelle des Fremdsprachenunterrichts in der Primarschule 103
Empfehlungen", der für das Ende des zweiten Jahres frühen L2-Untenrichtes
postuliert:
Das Kind soll [...] ausgewählte morpho-syntaktische Strukturen aus den erarbeiteten
Inhalten in natürlichen Kommunikationssituationen gebrauchen können. [...] Das Kind soll
einfache Texte aus dem Bereich der erarbeiteten Themen schriftlich erstellen können. [...]
Das Kind soll sich der Regelhaftigkeit von Sprache bewusst sein, ohne dass es
grammatische Regeln sind, die seine Sprachkenntnisse bestimmen. (18f.)
Der L2-Didaktiker müsste allerdings genauer wissen, welche "ausgewählten
morpho-syntaktischen Strukturen" denn nun von den Kindern erwartet werden
können, wie "einfache Texte" zu definieren sind und woran abzulesen ist, dass
dem Kind die "Regelhaftigkeit von Sprache" bewusst ist...
Einen wichtigen Schritt weiter fuhren Peltzer-Karpf/Zangl (1998). Die Au-
torinnen beobachteten den Englischerwerb im zweisprachigen Unterricht einer
Wiener Primarschule und gelangen für die Grammatik zu folgenden Phasenbe-
schreibungen: In der Anfangsphase gebrauchen die Kinder fast ausschließlich
"unanalysierte, auswendiggelemte Formeln", die in der Literatur häufig als
"Chunk" bezeichnet werden.17 Die sprachlichen Produktionen in dieser ersten
Phase sind weitgehend korrekt, insofern die eingesetzten Floskeln in adäquaten
Kontexten verwendet werden. Wo den Kindern L2-Lexeme fehlen, ersetzen sie
sie durch Lexeme der Ll. Auf diesen "pseudostabilen Ordnungszustand"
(Peltzer-Karpf/Zangl 1998, 163) folgt eine Phase der "Reorganisation", der
Analyse und Regelsuche. Nachdem in der vorausgegangenen Phase fremd-
sprachliches Material zunächst nur gespeichert wurde, können nun einfache
morphologische und syntaktische Regeln konstruiert werden, die allerdings zu
zahlreichen Abweichungen führen. Diese "turbulente Phase", wie sie Peltzer-
Karpf/Zangl (1998, 163) nennen, mündet dann in eine ruhigere Phase mit
"rigidem Regelverhalten", bei der die immer noch zahlreichen Abweichungen
durch Generalisierung von interimssprachlichen Regeln zustande kommen.
Nach den Beobachtungen der Autorinnen ist schließlich nach vierjährigem
Besuch von zweisprachigem Unterricht die Phase eines "kohärenten Systemzu-
standes" erreicht18 (was selbstverständlich nicht Fehlerlosigkeit bedeutet).
Für die hier beobachteten Primarschulkinder wäre nach Peltzer-Karpf/Zangl
zu erwarten, dass sie sich mitten in der Phase der "Systemturbulenzen" befin-
den: einerseits ist noch mit einem hohen Anteil an Chunks zu rechnen, anderer-
seits müssten auch schon erste Generalisierungen in der Verbalflexion auftreten.
Im Bereich der Satzmodelle erwarten die Autorinnen im zweiten Kontaktjahr
die Stabilisierung des S-V-O-Musters und einen deutlichen Anstieg von Frage-
sätzen, auch schon mit ersten S-V-InVersionen.
Die Ergebnisse der DiGS-Untersuchung stimmen mit diesen Beobachtungen
völlig überein: zunächst eine eindeutige Dominanz des S-V-O-Modells, dann in
Fragesätzen S-V-Inversion (wobei für frankophone Deutschlemer ergänzt wer-
den kann: zuerst in W-Fragen, dann in Entscheidungsfragen). Für den Bereich
der Verbalflexion gilt auch für die DiGS-Schülerpopulation, dass in der An-
fangsphase, die wir im DiGS-Projekt als "präkonjugale Phase" bezeichnet ha-
ben, überwiegend Chunks zu erwarten sind, daneben auch Infinitive und, in
geringerem Umfang, Nullmarkierungen. In der folgenden "turbulenten" Phase
sind die Kinder zwar in der Lage, Verbalflexive zu identifizieren, nicht aber
deren Funktion, so dass sie sie arbiträr distribuieren. In der Phase der "Regel-
findung" kommt es dann zu Generalisierungen bestimmter, individuell je ver-
schiedener Personalendungen (mit ebenfalls zahlreichen Abweichungen), bis
schließlich die Subjekt-Verb-Kongruenz bei regelmäßigen Verben normkon-
form hergestellt werden kann. Als nächstes werden Modalverb-Infinitiv-Ver-
bindungen bearbeitet, und im Bereich der Satzkonstruktionen parallel dazu die
Distanzstellung. Die nächsten Phasen - Perfekt und Nebensatz - dürften jenseits
des hier beobachteten Erwerbsniveaus liegen. Dasselbe gilt für den gesamten
Kasusbereich: Hier bleibt es während des ganzen oben dargestellten Erwerbs-
verlaufs beim Nominativ; wo flektierte Formen in Nominalgruppen erscheinen,
sind sie mit Sicherheit als Chunks einzustufen.
Es ist also anzunehmen, dass sich der grammatische Erwerbsstand der hier
untersuchten Primarschüler in erster Linie an ihrem Umgang mit den Verbal fle-
xiven ablesen lässt. Als größte Schwierigkeit dürfte sich die Unterscheidung
von Chunks und "echten", produktiven Flexiven erweisen, denn korrekte Mar-
kierungen sind ja an sich kein taugliches Kriterium für die Phasenbestimmung:
sie können sowohl in der Anfangsphase (als Chunks) als auch in der Turbulenz-
phase (als zufälliger "Treffer") und ebenso in der Phase der Regelfindung (als
Lernerhypothese) auftreten.
Diese Schwierigkeit ist in der folgenden Analyse umso größer, als die Da-
tenbasis viel zu schmal ist, um verlässliche Aussagen machen zu können. Es
musste mit Korpora gearbeitet werden, die zu anderen Zwecken erstellt worden
waren; so musste auch in Kauf genommen werden, dass die beiden Schüler-
gruppen in mehrfacher Hinsicht nicht vergleichbar sind. Insofern kann diese
Analyse gar keinen anderen Anspruch stellen als den, einige Denkanstöße für
spätere, systematischere Evaluierungs- und Vergleichsverfahren anzubieten.
3. Die Daten
An dieser Stelle sei ganz herzlich Anne-Laure Brogy gedankt, die mir wichtige Einblicke
in die Praxis des zweisprachigen PrimarschulUnterrichts im Wallis vemittelte und alle
meine Fragen jederzeit bereitwillig beantwortete.
106 Erika Diehl
richtet, teilweise auch Singen und Basteln; dies bedeutet einen durchschnittli-
chen Wochenkontakt von etwa 10-12 Stunden Deutsch. Einige der Kinder hat-
ten auch außerschulische Deutschkontakte über einen deutschsprachigen El-
ternteil. In einer der drei Klassen - im Folgenden als Klasse A bezeichnet - war
dem zweisprachigen Primarschulunterricht ein einjähriger zweisprachiger Kin-
dergartenbesuch vorangegangen, die Kinder der beiden anderen Klassen (B und
C) hatten einen ebensolchen Kindergarten über zwei Jahre hinweg besucht. Der
deutsche Input im Kindergarten kann nur sehr annähernd mit einer Spanne
zwischen einer und drei Stunden pro Woche veranschlagt werden.
Die untersuchten Sätze sind der dritte Teil eines Tests, den die Kinder am
Ende der 2. Primarschulklasse ablegten. Den Kindern wurde eine Bilderfolge
mit einem begleitenden Erzähltext auf Deutsch projiziert, zu dem sie französi-
sche Multiple-Choice-Fragen zum Verständnis beantworten mussten. Dann
wurde, anknüpfend an die vorgeführte Geschichte, mit jedem Schüler ein kurzes
Gespräch auf Deutsch geführt. Zum Abschluss sollten die Kinder schriftlich
fünf einfache Zeichnungen, die nur teilweise in einem Zusammenhang mit der
Geschichte standen, kurz beschreiben. Diese Bildbeschreibungen (pro Bild ein
Satz) bilden das hier untersuchte Walliser Korpus.20
Das Genfer Korpus umfasst Texte von 54 Kindern, ebenfalls aus drei Klas-
sen, die nach zwei Jahren Frühdeutsch verfasst wurden.21 Da der Deutschunter-
richt - besser, die sensibilisation ä l'allemand - zum Zeitpunkt der Datenerhe-
bung in Genf im 4. Primarschuljahr einsetzte, stammen die Texte vom Ende des
5. Schuljahres. Es handelt sich dabei um kleine Aufsätze, deren Themen zwar
nicht in allen drei Klassen identisch waren, die aber alle mit Selbstdarstellung
zu tun hatten: Was ich gerne mache, wo/wie ich meine Ferien verbringe, meine
Hobbies...
Als Lehrwerk diente in diesen Genfer Klassen der Cours romand, der über
zahlreiche Fragekonstellationen die Kinder zur Interaktion mit der Lehrperson
sowie untereinander anregen will.22 Im Idealfall belief sich der Deutschkontakt
auf 10-20 Minuten täglich; die Realität dürfte dem nicht ganz entsprochen ha-
ben. Auch in den Genfer Klassen gab es einige Kinder mit außerschulischem
Deutschkontakt.
Die beiden Korpora unterscheiden sich also, abgesehen von den verschiede-
nen Unterrichtsmodellen, in wesentlichen Punkten. Der entscheidendste ist
gewiss das Alter der Kinder: die Genfer Primarschüler sind durchschnittlich elf
bis zwölf Jahre alt, die Walliser sieben bis acht. Ein weiterer ist die Aufgaben-
stellung: den Walliser Kindern wurden fünf Sätze abverlangt, alles Aussage-
sätze in der 3. Person Singular, während die Genfer Kinder Gelegenheit beka-
men, wirkliche Texte - wenn auch minimalen Umfangs - zu redigieren. Auch
konnten sie, durch die Aufgabenstellung bedingt, Fragesätze anbringen, und sie
20
Dieses Blatt mit den Zeichnungen ist am Ende des Artikels wiedergegeben.
21
Die Texte stammen aus dem DiGS-Korpus, der bereits oben erwähnten Longitudinalstudie
zum Grammatikerwerb französischsprachiger Schüler in Genfer Schulen.
22
Der Cours romand ist inzwischen durch das Lehrwerk Tamburin abgelöst worden.
Modelle des Fremdsprachenunterrichts in der Primarschule 107
waren frei in der Wahl der Personalform, wenn auch die Themenstellung die
erste Person Singular favorisierte. Gemeinsam ist hingegen beiden Korpora,
dass sie nach zweijährigem schulischem Deutschinput entstanden sind, ohne
Grammatikunterricht und mit Konzentration auf Mündlichkeit; beide Kinder-
gruppen wurden nicht im Schreiben deutscher Texte geschult, sie bekamen
geschriebenes Deutsch nur zu sehen (in Aufgabenstellungen, an der Tafel, die
Genfer Kinder auch im Lehrbuch). Die Verschriftungen sind demnach sowohl
im Walliser als auch im Genfer Korpus weitgehend an der französischen Ortho-
grafie orientiert; sie blieben in dieser Analyse außer Betracht.
In diesem Bereich sind der Vergleichbarkeit der beiden Korpora auf Grund der
unterschiedlichen Aufgabenstellungen besonders enge Grenzen gesetzt. Erwar-
tungsgemäß verwenden beide Kindergruppen in ihren Aussagesätzen fast aus-
schließlich das S-V-O-Modell. Die Objektstelle kann dabei unterschiedlich
besetzt sein, sei es durch ein Objekt oder eine Adverbialbestimmung (weitaus
am häufigsten in Form einer Präpositionalphrase); häufig bleibt sie auch unbe-
setzt. Die entsprechenden Zahlen sind den Tabellen l und 2 zu entnehmen:
Zahlen für die drei Genfer Klassen getrennt rubriziert, denn die leicht vari-
ierende Themenstellung könnte zur Folge haben, dass die verschiedenen Satz-
modelle in den drei Klassen unterschiedlich häufig in Anspruch genommen
werden.
Satzmodell Klasse A Klasse B Klasse C insgesamt Anteil
S-V-O 33 52 17 102 35%
S-V-AB 14 10 17 41 14%
S-V 2 4 6
S-V-V 13 23 3 11 16 41 14%
S-V + S-V 8 4 7 19
*AB-S-V(-O) 5 7 10 22 7,6%
S-V-Präd.Nom. 16 1 2 19 6,5%
W-Fragen - 5 12 17 5,8%
S-V-O-AB - 4 6 10 3,4%
S-0-{AB/0) 5 2 3 10 3,4%
*S-V(-AB/0)? 4 5 - 9 3%
S, V, O, AB, (AB/O), 0 = s. Tab. 1; Präd.Nom. = Prädikatsnomen (hier meist Eigennamen),
* = Abweichende Konstruktion, ? = Markierung der Frage (die letzte Spalte erfasst somit
Entscheidungsfragen in der Form von Intonationsfragen, ohne Subjekt-Verb-Inversion).
Tab. 2: Die häufigsten Satzkonstruktionen im Genfer Korpus (Gesamtzahl der Sätze: 291)
Bei den Genfer Kindern springt die Stereotypie weniger ins Auge, abgesehen
von der eindeutigen Dominanz der S-V-O-Folge. Wo sich die Klassen in auf-
fälliger Weise unterscheiden, sind die verschiedenen Themenstellungen dafür
verantwortlich. Die Häufigkeit des S-V-Musters mit Prädikatsnomen in der A-
Klasse geht auf Vorstellungen der Art Ich heiße Muriel zurück; die W-Fragen in
der C-Klasse sind durchgehend Nachfragen an den Briefadressaten (was machst
du? wie geht es dir?). Insgesamt sind jedoch die Parallelen zwischen den beiden
Gruppen größer als die Unterschiede. Komplexere Sätze des Typs S-V-O-AB
sind in beiden Korpora selten; verblose Sätze kommen ebenso in beiden vor,
allerdings bei den Walliser Kindern häufiger als bei den Genfern, und unter den
ersteren vor allem in der -Klasse - woraus jedoch sicher nicht geschlossen
werden darf, dass die Walliser Kinder weniger in der Lage seien, grammatisch
wohlgeformte Sätze zu bilden. Die fehlenden Verben sind viel plausibler als
Wortschatzlücken zu interpretieren. Und dass bei den Walliser Kindern, anders
als bei den Genfer Kindern, auch Subjektelisionen vorkommen, findet vermut-
lich seine Erklärung darin, dass manche Kinder - und zwar gerade solche, die
mit dem Deutschen gewandter umgehen können als ihre Mitschüler - es unnötig
finden, dasselbe Subjekt fünfmal hintereinander zu wiederholen, zumal es ja
auch in der Aufgabenstellung explizit benannt wird.
Nur in zwei Punkten, die wohl nicht allein aus der unterschiedlichen Aufga-
benstellung herzuleiten sind, unterscheiden sich die Genfer Kinder deutlich von
den Wallisern. Erstens begnügen sie sich selten mit der Minimalkonstruktion S-
V, sondern sie erweitem sie um weitere Verben oder bilden koordinierte Satz-
reihen (ich essen und zeichnen / ich male und ich bade). Und zweitens nehmen
einige von ihnen Topikalisierungen von Adverbialbestimmungen vor, unter Bei-
Modelle des Fremdsprachenunterrichts in der Primarschule \ 09
behaltung der S-V-Folge, wie auf dieser Stufe ja auch nicht anders zu erwarten
ist (heute ich spiele ping-pong). Dass sich die Genfer Kinder auf dergleichen
Konstruktionen überhaupt einlassen, könnte durchaus auf steuernde Eingriffe
der Lehrerin zurückgehen. Zugleich zeigen die Produktionen der Kinder, dass
einer solchen Einflussnahme Grenzen gesetzt sind: koordinierte S-V-Sätze und
W-Fragen können sie fast auf Anhieb normgerecht realisieren; vereinzelt
gelingen auch schon normgerechte -Fragen, allerdings unter Beibehaltung des
in französischen Fragen obligatorischen Bindestrichs:
Willst-du komme in Villars? (Klasse B, Isabelle23)
Inversionen nach Topikalisierungen gehören einer viel späteren Erwerbsphase
an. Nur zwei Schüler bringen sie zuwege, einer sogar mehrmals, so dass der
Zufallsfaktor ausgeschaltet werden kann (zudem verwendet er zweigliedrige
Prädikate in Distanzstellung):
Heute ge ich in Conniland ud mom ge ich servolas braten. Mivur [= Mittwoch] ge ich rei-
ten (Klasse B, Yves)24
Nun stammt aber Yves aus einer Familie mit deutschsprachigem Hintergrund,
genauso wie die oben zitierte Isabelle. Das heißt nicht, dass ein Erwerbsvor-
sprung den Kindern aus mehr oder weniger deutschsprachigen Familien vorbe-
halten bleibt; vereinzelt gelingt dies auch anderen Kindern - diese werden je-
doch von ihren Lehrerinnen als besonders aufgeschlossen und interessiert be-
schrieben. Womit wieder die These bestätigt wird, dass der Vorteil eines
deutschsprachigen Familienhintergrundes aufgewogen werden kann durch
Motivation verbunden mit einer wie auch immer zu definierenden Sprachlem-
begabung.
Entsprechendes lässt sich auch im Walliser Korpus beobachten. Der rein
frankophone Michel aus der C-Klasse verwendet beispielsweise eine Satzrei-
hung:
Leila ist auf den besen der besen fliegt
Aber die einzige syndetische Satzverbindung des ganzen Walliser Korpus
stammt von Noemie, die wiederum in ihrer Familie Deutschkontakte hat:
Leila ats ein Besen und er get im Himel (C-Klasse)
ebenso wie Frederic, der als einziger zweigliedrige Prädikate mit Distanzstel-
lung verwendet:
sie dout pouding machen
die tut gimnastich machen (B-Klasse)
Damit sind die nächsten Erwerbsschritte vorgezeichnet, die jedoch für die
überwiegende Mehrheit der Walliser Kinder noch nicht repräsentativ sind.
23
Alle Namen der Kinder wurden geändert.
24
Zur Rolle der gehen- und iw/i-Paraphrasen (bzw. gaan und doen im Niederländischen)
beim Erwerb der Verb-Zweitstellung in der Ll vgl. Jordens (1990,1432).
110 Erika Diehl
Gegen die Analyse der Flexionsformen der Walliser Kinder könnte eingewendet
werden, dass sie zu gar keinen plausiblen Ergebnissen gelangen könne, weil in
allen fünf Sätzen des Walliser Tests ja nur die 3. Person Singular gefragt war.
Nun zeigt aber Tabelle 3, dass die Kinder sehr wohl auch die Personalendungen
der 1. Person Singular kannten, ebenso, wie einzelne Vorkommen des -.s-Fle-
xivs erkennen lassen, die 2. Person Singular, und sicher auch die Pluralformen,
was unter den Bedingungen des zweisprachigen Unterrichts ja auch gar nicht
anders denkbar ist. Die Frage ist also legitim, wie die Kinder die ihnen bekann-
ten Flexive funktional zuweisen, mit anderen Worten inwieweit sie -/ als Flexiv
der 3. Person Singular erkannt haben.
Um dies zu ermitteln, muss freilich - wie oben ausgeführt - zuerst festge-
stellt werden, inwiefern dergleichen korrekte -/-Markierungen nicht bloße
Chunks der Anfangsphase sind. Zu diesem Zweck sind in Tabelle 3 die neun
häufigsten Verben des Walliser Korpus zusammengestellt, einschließlich der
Markierungen, mit denen sie die Kinder versehen haben. Dabei werden die
Formen -/ und -te bzw. -en und -ene zusammengerechnet, da das affizierte -e
vermutlich nur als Verschriftung nach den Regeln der französischen Orthografie
zu verstehen ist, die am Wortende ein stummes -e verlangt, wenn der letzte
Konsonant hörbar sein soll. Wenn ein Verbstamm ausschließlich oder eindeutig
überwiegend mit demselben Flexiv erscheint, so besteht begründeter Verdacht,
dass es sich um einen Chunk handelt.
Nur zwei Verben erscheinen (quasi) ausschließlich in derselben Personal-
form: haben und sein. Dies ist keineswegs erstaunlich; in Anbetracht ihrer Fre-
quenz sind Auxiliare für den Chunk-Status geradezu prädestiniert, was die
Spracherwerbsforschung ohnehin schon lange weiß.
Inwieweit die Verbalflexive bei den Walliser Kindern tatsächlich schon
produktiv geworden sind, lässt sich also nur feststellen, wenn die Chunks ist
und hat aus der Zählung ausgeschlossen werden. Das ergibt Tabelle 4:
Modelle des Fremdsprachenunterrichts in der Primarschule 111
Es zeigt sich, dass die Walliser Kinder alle Strategien anwenden, die für die
ersten beiden Erwerbsphasen charakteristisch sind: Chunks, Infinitive und
112 Erika Diehl
25
Dies entspricht der in der Erwerbsforschung üblichen Annahme, dass bei einem Anteil von
80% die Zufallsgrenze deutlich überschritten sei.
Modelle des Fremdsprachenunterrichts in der Primarschule 113
Klammert man nun die Chunk-Vorkommen aus der Zählung aus und stellt für
die Gesamtheit der verbleibenden Flexive die Markierungspraxis der Genfer
Kinder zusammen, so zeigt sich Folgendes:
Hier zeigen sich nun schon deutlichere Unterschiede zum Walliser Korpus: Die
Genfer Kinder versehen 81% aller verwendeten Verben mit einem Flexiv (ge-
genüber 60% bei den Wallisern) und sie erreichen dabei immerhin einen Kor-
rektheitsgrad von 69% (gegenüber 47% bei den Wallisern), und dies, obwohl
sie sich zwischen vier verschiedenen Paradigmen entscheiden müssen. Der
Anteil von Infinitiven an der Gesamtheit der Fehlmarkierungen liegt deutlich
unter dem der Walliser (15% gegenüber 34%); nur bei Nullmarkierungen ist die
Differenz unerheblich (4% gegenüber 6%). Im Genfer Korpus überwiegen also
deutlich Markierungsstrategien, die für die zweite Erwerbsphase charakteris-
tisch sind.
Um dies noch gezielter zu überprüfen, wird abschließend zusätzlich der Er-
werbsstand jedes einzelnen Genfer Primarschülers ermittelt (Tabelle 9). Die
oben definierte Einstufungsskala kann hier übernommen werden, mit einer
Variante für Stufe IV: hier sollen mindestens 80% der Verben zielsprachenkon-
form markiert sein, und zwar in allen verwendeten Personen und Numeri.
Ein Vergleich der Tabelle 9 mit Tabelle 6 bestätigt eindeutig den Vorsprung
der Genfer Schüler. Zwar bestehen auch innerhalb der Genfer Klassen deutliche
Unterschiede, und zwischen der Walliser Klasse C und der Genfer Klasse C ist
die Differenz minimal. Alles in allem gerechnet sind jedoch deutlich mehr
Genfer Kinder auf den Stufen III und IV anzutreffen (wobei, soweit uns ent-
sprechende Angaben zur Verfügung standen, 5 der 12 Schüler auf Stufe IV
Modelle des Fremdsprachenunterrichts in der Primarschule 115
Nun wäre es sicher abwegig, diese Ergebnisse als Argument gegen den zwei-
sprachigen Unterricht ins Feld zu fuhren. Zum einen sind die hier bearbeiteten
Korpora viel zu schmal; zudem wird hier nur ein Moment im Erwerbsprozess
erfasst, und dieser verläuft, wie inzwischen hinlänglich bekannt ist, keineswegs
linear und müsste deshalb in seiner Dynamik über einen längeren Zeitraum
hinweg beobachtet werden, wie dies in der DiGS-Untersuchung geschehen ist. -
Ein viel gewichtigeres Argument gegen eine vorschnelle Interpretation dieser
Daten ist jedoch der Altersunterschied zwischen den beiden Kindergruppen.
Den um drei Jahre älteren Genfer Primarschulkindem stehen zweifellos andere
kognitive Mittel zu Gebote als den Walliser Kindern; zudem können sie auf eine
fünfjährige schulische Sozialisierung zurückblicken, die zweifellos nicht ohne
Folgen für ihr Lemverhalten geblieben ist. Insofern wäre es ein dringendes
Desiderat für künftige vergleichende Evaluierungen, den Faktor Alter konstant
zu halten. Jedenfalls kann den Walliser Kindern mit einiger Wahrscheinlichkeit
prognostiziert werden, dass ihre Deutschkompetenz derjenigen der Genfer
überlegen sein wird, wenn sie in drei Jahren deren Alter erreicht haben.
Und schließlich kann nicht genug betont werden, dass grammatische Kom-
petenz zwar ein relativ präzises Messinstrument für die Ermittlung von Er-
werbsständen sein kann - wie wir hoffen, in dieser Analyse gezeigt zu haben - ,
dass aber grammatische Korrektheit immer nur ein Kriterium unter anderen für
den Umgang mit Sprache sein kann. So ist zum Beispiel unbestritten, dass in
den Frühphasen des Erwerbs in erster Linie lexikalische Einheiten angesammelt
werden müssen, gewissermaßen als Grundlage für die später einsetzenden
grammatischen Bearbeitungsprozeduren. Und in dieser Hinsicht sind die Kinder
aus zweisprachigen Klassen ganz eindeutig im Vorteil gegenüber Kindern mit
frühem L2-Unterricht. Dies lässt sich sogar an den minimalen Korpora dieser
Untersuchung zeigen, was abschließend noch geschehen soll - sei es auch nur,
um die vorangegangenen grammatischen Analysen zu relativieren.
116 Erika Diehl
Salut!
Was märst du?
Ich brate un servolat und ich trinken un sirup. Comm!
Ich spiele ein clavir.
Ich male ein cats.
Ich esse ein apfel. ein bananen. (Pricila)
Ich gehe chine spiele clavir ond brate servelas, ich m'amuse gout ond j'espere vas du
auch. Ich reviens bientot salut ondgros bisoux. (Aurelie)
Guten tag!!
Was machst du?
Ich mache clavir und ich male ein papagei. Ich gehe esser ainenfrutsalade.
Was ist du?
Wann gehst-du einkaufen?
Ich gehe einkaufen samtag.
Aufidersenü (B, Rebecca)
Guten tag, ich bin Stefanie. Ich habe rennen und turnen und schwimen. Und lesen und ma-
len und spilen. Und sprechen und flehen. Und erzählen und Hund und Katze. Ich essen und
zeichnen ich kleben ich braten ich tanzen. (A, Stofanie)
Für die Genfer Kinder sind zwangsläufig die L2-Ausdrucksmittel der Aus-
gangspunkt, der festlegt, was sie von sich und ihrer Realität mitteilen können.
Wo die sprachlichen Mittel sich nicht mit der Realität decken, machen sie Zu-
geständnisse auf der Seite der Realität; sie müssen dann eben in den Ferien "am
See" gewesen sein und "servolas" gebraten haben, ob dies nun der Realität
entspricht oder nicht.
Ganz anders liegen die Verhältnisse bei den Walliser Kindern. Die Testauf-
gaben waren nicht mit den Lehrerinnen abgesprochen; sie waren für alle drei
Klassen dieselben und nicht auf speziell behandelte Themen zugeschnitten. Drei
der fünf Bilder konnten mit Vokabular aus dem erzählten Text beschrieben
werden; für die beiden letzten hingegen waren die Kinder auf ihren eigenen
Wortschatz angewiesen. Nur zwei Kinder kapitulierten vor dieser Aufgabe; alle
anderen versuchten eine Lösung, und zwar mit den unterschiedlichsten Sprach-
mitteln, die alle in einem realen Bezug zu den vorgegebenen Bildern standen.
Einige Beispiele zum 4. Bild:
Und wenn die dargestellte Tätigkeit überhaupt nicht verbalisiert werden kann,
dann beschreiben die Kinder irgendein Merkmal des Bildes, das durchaus zu-
treffend ist, zum Beispiel:
Die Hecse ist fro (A, Dalia)
118 Erika Diehl
5. Schlussbemerkungen
Wenn aus diesen Beobachtungen ein abschließendes Fazit gezogen werden soll,
so kann dies nur unter vielerlei Vorbehalten geschehen. Auf die Problematik der
Datenlage wurde schon hingewiesen, ebenso auf den entscheidenden Faktor des
Altersunterschieds. Hinzu kommt, dass das letzte Wort zum frühen L2-Unter-
richt sicher noch nicht gesprochen ist, und auch der zwei- bzw. mehrsprachige
Unterricht auf der Primarstufe befindet sich noch im Experimentierstadium. So
kann hier nur ganz behutsam formuliert werden, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem
die Daten erhoben wurden, die Genfer Primarschulkinder offenbar bessere
Chancen hatten, sich die Verbalmorphologie zu erarbeiten, vermutlich gefördert
durch die Stereotypie der vorgegebenen Satzmuster und die begrenzte Anzahl
von Verben. Dafür mussten sie in Kauf nehmen, dass sie ihre eigene Erfah-
rungswelt nur sehr fragmentarisch mit L2-Sprachmitteln ausdrücken konnten.
Die zweisprachig unterrichteten Walliser Kinder hingegen hatten offenbar auf
Grund des ungleich intensiveren Inputs bessere Chancen, sich einen reicheren,
differenzierteren Wortschatz und kompensatorische Strategien anzueignen, was
sie in die Lage versetzte, die L2 als echtes Kommunikationsmittel einzusetzen -
wenn auch um den Preis eines leichten Rückstandes in der Bearbeitung der
Verbalmorphologie.
Es wird nun von den jeweiligen didaktischen Präferenzen abhängen, wel-
ches der beiden Unterrichtsmodelle als effizienter beurteilt wird. Wir würden
nicht zögern, dem zwei- bzw. mehrsprachigen Unterricht den Vorzug zu geben,
besonders dann, wenn die Kinder - wie im Wallis vorgesehen - von der vierten
Klasse an zusätzlich zum fremdsprachlichen Sachunterricht "Frühdeutsch" als
Unterrichtsfach erhalten. So werden sie mit den nötigen Strukturierungshilfen
versehen, die sie dann, gestützt auf ihre vorgängige Erfahrung mit der L2, mit
Sicherheit leichter auffassen und verarbeiten können als Kinder aus konventio-
Modelle des Fremdsprachenunterrichts in der Primarschule 119
26
Sie kommen zu dem Schluss, dass auf Grund der neurologischen Entwicklung des Gehirns
"das Alter zwischen 6 und 10 optimale Voraussetzungen für den Erwerb einer Fremdspra-
che bietet" (Peltzer-Karpf/Zangl 1998, 13) - dies allerdings in Widerspruch zu Wode
(1995, 81 f.), der Forschungsergebnisse zitiert, nach denen frühe Immersion nicht zwangs-
läufig zu besseren Resultaten führe als mittlere und sogar späte Immersion.
27
Zu der entscheidenden Rolle, die im L2-Erwerb der Kontakt mit der Peer-Gruppe spielt,
vgl. u. a. Wode (1995) an verschiedenen Stellen, z. B. 106 und 136, und Brohy (1998, 7).
120 Erika Diehl
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Modelle des Fremdsprachenunterrichts in der Primarschule 121
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Umsetzungsbericht. Bem/Aarau.
122 Erika Diehl
Anhang
Name:
Was macht die Hexe Leila? Schreibe!
Jürgen Dittmann
1. Einführung
gängige Intelligenztests eingeht (so in den HA WIE, vgl. Tewes 1994). Bei
Normalprobandlnnen1 findet man in der Regel eine Zahlenmerkspanne zwi-
schen 6 und 7.5 Items, wobei allerdings individuelle Höchstleistungen von über
10 Items möglich sind, sowie eine moderate Abnahme mit dem Alter (vgl.
Kausler 1991; Ulrich et al. 1994).2
"Der alte Mann liest das dicke Buch" kann er überhaupt nicht korrekt nachspre-
chen. Dieses - auch die Patientinnen selbst - immer wieder irritierende Versa-
gen deutet auf einen keineswegs überraschenden Zusammenhang zwischen der
Fähigkeit, Listen unverbundener Items mittels der phonologischen Schleife zu
memorieren, und der Aufgabe, einen vorgesprochenen Satz wörtlich wiederzu-
geben. Die wörtliche Wiedergabe setzt ja das Behalten der phonologischen
Form des Satzes voraus, und dies belastet das Arbeitsgedächtnis sensu Baddeley
in ganz besonderem Maße (vgl. u. a. Vallar et al. 1990; Martin et al. 1994).4
Diese Anforderung spielt aber im Satzverstehen nur unter besonderen Bedin-
gungen eine Rolle: So ist immer wieder spekuliert worden, gewisse Korrektur-
prozesse beim Parsing, nämlich so genannte Reanalysen, erforderten den Rück-
griff auf die Oberflächenform des Satzes - und forderten entsprechend Arbeits-
gedächtniskapazität (vgl. u. a. Baddeley 1990; Caplan/Waters 1990; Waters et
al. 1991). Unter Normalbedingungen aber wird, nach allem, was wir heute
wissen, der 'Input', also der Satz in seiner Oberflächenform, Online', d. h. so,
wie er sukzessive hereinkommt, in allen Dimensionen analysiert (vgl.
Just/Carpenter 1987: "immediacy of processing"-Hypothese). Behalten wird
dann sein - gegebenenfalls verdichteter - Inhalt, während schon nach einigen
Sekunden die Erinnerung an die wörtliche Formulierung abgebaut ist. Es steht
gänzlich außer Frage, dass das Behalten des Inhalts so etwas wie Arbeitsge-
dächtniskapazität erfordert (vgl. u. a. Strube 1997, 899), allerdings ist es keine
Leistung der phonologischen Schleife, also keine Leistung des AG sensu
Baddeley, dem kein semantischer Kode zur Verfügung steht. Dies impliziert die
provisorische Unterscheidung zwischen einem 'phonologischen' und einem
'semantischen' Arbeitsgedächtnis, die bisher in der psycholinguistischen Mo-
dellbildung zum Arbeitsgedächtnis nicht gemacht worden ist, in der Neuro-
linguistik aber von Martin/Romani (1994) vorgeschlagen wurde.5
Die spannende Frage ist nun die nach der Rolle des Arbeitsgedächtnisses in
der syntaktischen Verarbeitung. Dabei ist für den Zusammenhang von Arbeits-
gedächtnisleistung und Verarbeitung syntaktisch unterschiedlich komplexer
Sätze folgender Befund wichtig: Bei WL (und, wie aus der Literatur bekannt ist,
auch bei anderen Patientinnen seiner Symptomatik) gibt es keinen einfachen
Zusammenhang zwischen syntaktischer Komplexität der präsentierten Sätze
und der Nachsprechleistung. Sätze des Typs
(1) Der alte Mann liest das dicke Buch
sind syntaktisch äußerst einfach, gleichwohl versagt WL hier völlig. Bei Sätzen
des Typs
(2) Der Hund mit dem lahmen Bein bellt,
Die Gegenposition, die von Potter/Lombardi (1990) vertreten wird, halte ich für widerleg-
bar.
Martin/Romani (1994) zeigen, dass bei Patientinnen mit Himschäden phonologisch,
semantisch und syntaktisch basierte Merkleistungen dissoziieren können; deshalb postulie-
ren sie außerdem eine syntaktische Komponente des Arbeitsgedächtnisses; ich komme
darauf unten, Abschnitt 4, zurück.
Zum Zusammenhang von Grammatik und Arbeitsgedächtnis 127
Man beachte, dass die Sätze nach der Silbenzahl langenkontrolliert sind.
Man beachte in diesem Zusammenhang, dass in (1) die Zahl der Propositionen gleich ist
wie in (2) und (3) - nämlich eins. Für einen Vergleich der Verstehensleistung ist das
wichtig, denn es scheint einen Zusammenhang zwischen propositionaler Komplexität und
Verstehensleitung relativ zur Arbeitsgedächtniskapazität zu geben (vgl. u. a. Strube 1997).
Der TT diskriminiert zuverlässig zwischen aphasischen und nicht-aphasischen Patientin-
nen mit Himschäden. Für eine Beschreibung der deutschen Version des vgl. Orgass
(1976).
128 Jürgen Dittmann
Die Normalprobandlnnen wurden von Constanze Schwan getestet; vgl. Schwan (1999).
Zum Zusammenhang von Grammatik und A rbeitsgedächlnis 129
Das heißt: Das Leistungsniveau ist durchgängig zu hoch, weit die Aufgaben zu leicht sind.
Vgl. die ausführliche Beschreibung in Dittmann/Schmidt (1998).
Vgl. Caplan/Waters (1999, 80).
Um sicher zu stellen, dass die Probandlnnen sich wirklich um das Verständnis der Sätze
bemühen und nicht nur das jeweils letzte Wort memorieren, haben wir in der Freiburger
Version des Lesespannentests willkürlich verteilte Verständnisfragen vorgesehen.
Abwandlungen des Tests finden sich bei Tumer/Engle (1989); Waters et al. (1987);
Tirre/Pena (1992); für eine erweiterte deutsche Version vgl. Hacker et al. (1994).
Es werden je fünf Blöcke von drei, vier bzw. fünf Sätzen präsentiert, insgesamt also 70
Sätze. Werden z. B. die Endwörter von drei der fünf Zwei-Satz-Sets richtig wiedergegeben
(also 6 von 10 Wörtern), hat die Untersuchungsperson die Spanne 2.0; gibt sie zusätzlich
die Endwörter von zwei der fünf Drei-Satz-Sets richtig wieder, bekommt sie noch 0.5
Punkte gutgeschrieben (nicht-lineare Interpolation); die Spanne beträgt dann also 2.5.
130 Jürgen Dittmann
16
"Upn" steht für "Untersuchungspersonen".
17
Vgl. Hemforth et al. (1994).
Zum Zusammenhang von Grammatik und Arbeitsgedächtnis 131
kret: Die Probleme z. B. mit Sätzen wie Die Dynamik, die der Schwung, den der
Flügel, den der Adler hat, hat, hat, ist beeindruckend könnten, im Sinne der
Chomskyschen Vermutung (vgl. oben, Abschnitt 1), der Begrenzung des Ar-
beitsgedächtnisses angelastet werden.
Nun sind jedoch jüngst massive Zweifel an der Reliabilität der von Carpen-
ter und Mitarbeiterinnen vorgelegten Befunde geäußert worden. Damit ergeben
sich Evidenzen gegen die "single-resource theory" und fur die alternative Mo-
dellvorstellung, die Caplan/Waters (1999, 79) "seperate-sentence-interpretation-
resource theory" nennen.
Es liegen also neuerdings Evidenzen dafür vor, dass die Annahme eines spezifi-
schen verbalen Arbeitsgedächtnisses (für auditiv-sprachliche und visuell-
sprachliche Items) nicht zutreffend ist. Diese betreffen erstens die Verarbeitung
von Relativsätzen. King/Just (1991) hatten argumentiert, die Leistungsunter-
schiede von 'low-span'- und 'high-span'-Upn seien in der für das Verstehen
von Objektrelativsätzen kritischen Region besonders groß.18 Im englischen Satz
The boy that the girl pushed kissed the baby ist diese kritische Region das Verb
des eingebetteten Satzes, pushed. Dies wäre Evidenz dafür, dass die Upn mit
der syntaktischen Verarbeitung ein Problem haben. Tatsächlich legen King/Just
aber keine statistische Analyse vor, die dies stützen würde. Caplan/Waters
(1999, 81) kommen in einer Studie mit auditiv präsentierten Subjekt- versus
Objektrelativsätzen an 100 Normalprobandlnnen zu dem Ergebnis, dass die
Lesezeiten für das Verb des eingebetteten Objektrelativsatzes zwar signifikant
länger sind als für das Verb des Subjektrelativsatzes, dass dieser Effekt aber für
'low-span'-Upn nicht größer ist als für 'high-span'-Upn. Auch Replikationen
der King/Just-Studie mit visuell dargebotenen Sätzen an 98 und mit auditiv
dargebotenen Sätzen an 63 Normalprobandlnnen ergaben keinen Effekt.
Zwar behaupten MacDonald et al. (1992), für Holzwegsätze des Typs
(10) The experienced soldiers warned about the dangers conducted the midnight raid.19
gezeigt zu haben, dass 'low-span'- und 'high-span'-Upn sich hinsichtlich der
Lesezeiten und der Trefferquote bei der Beantwortung von Fragen zu solchen
Sätzen unterscheiden (vgl. Just/Carpenter 1992). Waters/Caplan (1996a) weisen
jedoch in ihrer kritischen Überprüfung der Studie nach, dass sich in den Daten
" Gemessen wurden die Lesezeiten in einer "self-paced word-by-word reading task", bei der
die Upn Sätze wortweise mit selbst bestimmter Geschwindigkeit auf dem Computermoni-
tor abrufen.
" (10) ist 'lokal ambig', weil (a) -warned about the danger als VP mit warned als Hauptverb
plus Präpositionalphrase (das ist die präferierte Lesart) oder (b) als pronomenloser Relativ-
satz interpretiert werden kann; Lesart (b) wird durch das folgende Hauptverb conducted
erzwungen, d. h. an dieser Stelle setzt die Reanalyse ein.
132 Jürgen Dittmann
Wie man sieht, wird hier die lokale Ambiguität zugunsten der präferierten Lesart (warned
about the danger als VP mit Präpositionalphrase) und damit der einfacheren syntaktischen
Struktur aufgelöst.
Die Präsentation erfolgte mit der Methode der "rapid serial visual presentation", bei der
die Wörter eines Satzes nacheinander für ein kurzes Zeitintervall in der Mitte eines Com-
puter-Bildschirms präsentiert werden. Verwendet wurden Sätze wie The comedian that the
actor kicked ignored the pianist, mit der anschließenden Frage: Did the actor kick the co-
median? (Miyake et al. 1994, 687).
Zum Zusammenhang von Grammatik und Arbeitsgedächtnis 133
Propositionen enthalten, als mit solchen, die nur eine Proposition enthalten.
Dieses Resultat deutet also darauf hin, dass es Upn mit geringerer Arbeitsge-
dächtniskapazität schwerer fällt, die Information über das Agens jeder Proposi-
tion im Gedächtnis zu behalten.
4. Theoretische Schlussfolgerungen
Fassen wir zusammen: Diese und weitere Studien22 sprechen dafür, dass bei
Normalprobandlnnen die Geschwindigkeit und die Akkuratesse der syntakti-
schen Verarbeitung nicht in einer systematischen Weise mit der - durch den
Lesespannentest gemessenen - Kapazität des Arbeitsgedächtnisses zusammen-
hängen. Die neurolinguistischen Daten von Patientinnen mit pathologischer
Beeinträchtigung des Arbeitsgedächtnisses, gemessen mittels Merkspannen,
besagen dasselbe. Der bedeutsame theoretische Schluss daraus lautet: Arbeits-
gedächtnisleistungen, die in das Satzverstehen involviert sind, sind nicht iden-
tisch mit Arbeitsgedächtnisleistungen, wie sie von Arbeitsgedächtnistests (ins-
besondere dem Lesespannentest) gemessen werden (vgl. Caplan/Waters 1999,
92). Die Idee eines einheitlichen verbalen Arbeitsgedächtnissystems, also die
"single resource theory", muss aufgegeben werden, die Daten sprechen für die
Existenz eines separaten Arbeitsgedächtnisses für das Satzverstehen und damit
für die "seperate-sentence-interpretation-resource theory". Es wird aber die
Aufgabe zukünftiger Forschung sein, genauer herauszuarbeiten, welche Aspekte
des Satzverstehens diesem Arbeitsgedächtnis zuzuschreiben sind.
Caplan/Waters (1999, 78) unterscheiden - erkennbar noch provisorisch - zwi-
schen einem "interpretive" und einem "post-interpretive processing" bei der
Satzverarbeitung. Ersteres soll die Prozesse der Worterkennung und des Parsing
des Satzes, einschließlich der Zuweisung thematischer Rollen zu den Satzkons-
tituenten, umfassen, also die Prozesse, die man als 'grammatisch' im weiteren
Sinne bezeichnet und für die gelegentlich das Schlagwort "modular" verwendet
wird (vgl. Fodor 1983; Friederici 1990; Fanselow 1992). Letzteres hingegen
bezieht sich auf die 'Weiterverarbeitung' - in der Regel der Satzbedeutung -,
also jede Form des Räsonierens, die Speicherung im Langzeitgedächtnis, die
Einbettung in Handlungsplanung usw.
Für unterschiedliche Satztypen kann man argumentieren, dass die Verar-
beitungsbelastung ('processing load') mal eher auf der Ebene interpretativer,
mal eher auf der Ebene post-interpretativer Prozesse auftritt. Der Kontrast zwi-
schen Subjekt- und Objektrelativsätzen wäre etwa ein Kandidat für einen Ver-
arbeitungsunterschied auf der interpretativen Ebene - involviert ist nicht das
verbale Arbeitsgedächtnis sensu Baddeley oder Carpenter, die größere Belas-
tung durch Objektrelativsätze bleibt vielmehr in der interpretativen Domäne
22
Vgl. Caplan/Waters (1999, 84ff.) zu Arbeiten über die Auswirkung von zusätzlicher
Arbeitsgedächtnisbelastung auf die syntaktische Verarbeitung.
134 Jürgen Dittmann
(vgl. Caplan/Waters 1999, 79). Betrachten wir nun aber den Kontrast zwischen
den folgenden Sätzen:
(12) Die Maus, die die Katze, die die Frau schlug jagte, fraß die Wurst.23
(13) Bring bitte auf dem Heimweg vier Tomaten, ein Pfund Aprikosen, Orangensaft,
Zwiebeln, sechs Äpfel und einen Bund Karotten mit.24
Der erste Satz ist zwar relativ kurz, aber die Verarbeitungsbelastung ist so groß,
dass wir ihn nicht auf Anhieb verstehen. Die interpretativen Prozeduren sind
durch die Mehrfacheinbettung offensichtlich überlastet. Pinker (1998, 239)
formuliert die plausible Hypothese, dass der menschliche Parser hier nicht vor
der Menge, sondern vor der Art dessen, was er sich "merken" muss, kapituliert:
"Er ist damit überfordert, eine bestimmte Art von Phrase zu speichern, auf die
er noch zurückkommen muss, und zur gleichen Zeit ein weiteres Exemplar
genau der gleichen Art von Phrase zu analysieren." Im Sinne von Caplan/Wa-
ters ist hier also das spezifische 'Arbeitsgedächtnis' für Parsing überfordert.
Satz (13) ist zwar länger, hat aber offensichtlich eine einfache syntaktische
Struktur und macht den interpretativen Prozessen keine Schwierigkeiten. Dafür
ist es schwierig, sich diesen Satz auf Anhieb zu merken.25 Er belastet also die
post-interpretativen Prozesse, das allgemeine verbale Arbeitsgedächtnis ist
überfordert.
Die im Titel aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang von Grammatik
und Arbeitsgedächtnis können wir also nach dem gegenwärtigen Forschungs-
stand für das Satzverstehen vorläufig so beantworten: Das in interpretative
Prozeduren involvierte Arbeitsgedächtnis bildet ein eigenes Subsystem inner-
halb des verbalen Arbeitsgedächtnisses (vgl. Caplan/Waters 1999, 78), wobei
aus neurolinguistischer Sicht allerdings eine Differenzierung in eine semanti-
sche und eine syntaktische Komponente zu postulieren ist (vgl. oben, Abschnitt
2.2., zu Martin/Romani 1994). Eine alternative Formulierung dieser Hypothese,
die ich bevorzugen würde, ist, dass die interpretativen Prozesse ihre eigenen
'Arbeitsgedächtnisse' (oder temporären Zwischenspeicher, 'buffer') haben.
Letztere Redeweise würde ich bevorzugen, denn es ist wenig plausibel, anzu-
nehmen, ein Allzweck-Arbeitsgedächtnis habe sich in Subkomponenten diffe-
renziert. Plausibler erscheint die Hypothese, dass unterschiedliche 'Prozessoren'
23
Nach Pinker (l998, 237).
14
Nach Caplan/Waters (1999,79).
25
Es ist empirisch nachgewiesen, dass Englisch sprechende Normalprobandlnnen beim
Nachsprechen von Sätzen des Typs The removal firm took a bed, a cabinet, a wardrobe,
and a chair massive Probleme haben (vgl. Butterworth et al. 1990); hingegen können sie
Sätze ohne solche 'Listen' mit bis zu 25 Wörtern nachsprechen (vgl. Clark/Clark 1977,
137). Caplan/Waters (1999, 79) diskutieren den Kontrast zwischen Sätzen mit einer versus
zwei Propositionen, wie (a) The boy hugged the girl and the baby versus (b) The boy
hugged the girl and kissed the baby als Kandidaten für einen Verarbeitungsunterschied auf
der post-interpretativen Ebene; diese Vermutung muss man wohl in Zusammenhang mit
den Befunden zu den Agens-Bestimmungs-Experimenten (vgl. oben, Abschnitt 3) sehen.
Allerdings erscheint es wenig plausibel anzunehmen, dass Normalprobandlnnen mit
Sätzen wie (b) irgendein Problem haben sollten.
Zum Zusammenhang von Grammatik und Arbeitsgedächtnis 135
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Verena Ehrich-Haefeli
l. Einleitung
"Das Haus [war] mit sechs teils großen, teils kleinen Kindern besetzt." (La
Röche 1771/1983, 156f.) - "In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf
zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt [...]" (Goethe 1774/1981,
21): die gleiche Situation in extrem verschiedenen Ausdrucksweisen, in Roma-
nen, die fast gleichzeitig erschienen sind. Ein besonders sprechendes Indiz für
den tiefgreifenden Wandel der Subjektkonstitution (Genese der 'modernen
Individualität'), der mit der großen Epochenschwelle gegen Ende des 18. Jahr-
hunderts verbunden ist, ist die ebenso tiefgreifende Veränderung der Sprache.
Die vorliegende Arbeit, die vor allem den Veränderungen der Syntax nachgeht,
gehört zum Sprachkapitel eines größeren Projekts, das den geläufigen Erklä-
rungsweisen jenes epochalen Übergangs - den säkularisationsgeschichtlichen,
geistes- oder ideengeschichtlichen, sozialgeschichtlichen, diskursanalytischen -
eine psychohistorische Perspektive hinzufügt. Dass die Veränderung der psy-
chischen Strukturierung des Ich, wie sie an den Texten in mannigfacher Weise
abzulesen ist, auch veränderte Sprachstrukturen hervorbringt, das ist die Vor-
aussetzung der folgenden Ausführungen.
Die beiden Texte, die einander vergleichend zugeordnet werden, sind die
Geschichte des Fräuleins von Sternheim von Sophie La Röche, 1771, und Goe-
thes Die Leiden des jungen Werther, 1774. Von der Bedeutung des Werther als
einer Art Manifest der jungen Generation der 70-er Jahre braucht nichts gesagt
zu werden. Der Roman von Sophie La Röche, dem gleich nach seinem Erschei-
nen ein bedeutender Publikumserfolg beschieden war, gilt als einer der Kron-
zeugen der Empfindsamkeit; und wenn er auch nicht zu den großen Werken der
deutschen Literatur gehört, so ist er doch beeindruckend durch die Konsequenz
seiner Strukturierungen auf allen Ebenen des Texts. Mit diesem Vergleich stellt
sich die vorliegende Arbeit mitten in die Auseinandersetzung um das Verständ-
nis des 'Sturm und Drang' entweder als einer Gegenbewegung zu Aufklärung
und Empfindsamkeit - so die ältere Forschung, die gerne von 'Irrationalismus'
sprach - oder vielmehr als deren allenfalls radikalisierende Weiterentwicklung
(so Sauder 1984; 1989; Wegmann 1988; Titzmann 1990 u. a.). Die Analyse der
sprachlichen Strukturen - und andere, psychohistorisch orientierte Analysen
140 Verena Ehrich-Haefeli
kommt es auf den Kontext an, den syntaktischen wie den semantisch-situativen,
um Fragen des Wortschatzes angemessen beurteilen zu können.
Für die Auswahl der hier vorgelegten Textbeispiele waren zwei Kriterien
maßgebend: Vergleichbare Sprechsituationen, die entsprechende 'Textsorten'
hervorbringen. Außerdem - das ist bei diesen zwei Texten überraschend leicht -
eine Auswahl von Sätzen bzw. Satztypen, die je charakteristisch sind und beim
anderen mit Sicherheit so nicht vorkommen können. Im ersten Teil der Arbeit
wird eine umfänglichere spezifische Sprechsituation analysiert: Das Fräulein
von Sternheim und Werther erzählen dem Briefpartner ihre Begegnung mit
Natur. Hier werden zuerst Strukturmuster der Wahrnehmung analysiert, wobei
ersichtlich wird, wie eine veränderte Struktur des 'Erfahrene' neue Sprachfor-
men hervorbringt. Gestützt auf die Beobachtungen dieser ersten Gegenüber-
stellung, werde ich danach einige bevorzugte syntaktische Sprechweisen und
Satztypen analysieren. Der dritte Teil gilt der Sprache der 'Liebe'.
Dem empfindsamen Zeitgeschmack gemäß wird auch dem Fräulein von Stem-
heim ein unbeschreiblich starkes "Gefühl für die Schönheiten unserer physikali-
schen Natur" attestiert (La Röche 1771/1983, 334). Dennoch gibt es in dem
Roman nur wenig Passagen, wo eine Begegnung mit Natur dargestellt wird. Die
ausführlichste ist folgende:
Ich lege mich an mein Fenster, und sehe, wie getreu die Natur die Pflichten des ihr aufer-
legten ewigen Gesetzes der Nutzbarkeit in allen Zeiten und Witterungen des Jahres erfüllt.
Der Winter nähert sich; die Blumen sind verschwunden und auch bei den Strahlen der
Sonne hat die Erde kein glänzendes Ansehen mehr; aber einem empfindsamen Herzen gibt
auch das leere Feld ein Bild des Vergnügens. Hier wuchs Köm, denkt es, und hebt ein
dankbares Auge gen Himmel; der Gemüsgarten, die Obstbäume stehen beraubt da, und der
Gedanke des Vorrats von Nahrung, den sie gegeben, mischet unter den Schauer des anfan-
genden Nordwindes ein warmes Gefühl von Freude. Die Blätter der Obstbäume sind abge-
fallen, die Wiesen verwelkt, trübe Wolken gießen Regen aus; die Erde wird locker, und zu
Spaziergängen unbrauchbar; das gedankenlose Geschöpf murret darüber; aber die nach-
denkende Seele sieht die erweichende Oberfläche unsere Wohnplatzes mit Rührung an.
Dürre Blätter und gelbes Gras werden durch Herbstregen zu einer Nahrung der Fruchtbar-
keit unserer Erde bereitet; diese Betrachtung läßt uns gewiß nicht ohne eine frohe Empfin-
dung über die Vorsorge unsere Schöpfers, und gibt uns eine Aussicht auf den nachkom-
menden Frühling. Mitten unter dem Verlust aller äußerlichen Annehmlichkeiten, ja selbst
dem Widerwillen ihrer genährten und ergötzten Kinder ausgesetzt, fängt unsere mütterliche
Erde an, in ihrem Innern für das künftige Wohl derselben zu arbeiten. Warum, sag ich
dann, warum ist die moralische Welt ihrer Bestimmung nicht ebenso getreu als die physi-
kalische? (La Röche 1771/1983,241f.)
Dieser Passus stellt ein ausgezeichnetes Beispiel dar für jene "Rahmenschau",
die schon Langen (1934/1968) als typisch für die Aufklärung dargestellt hatte.
Es ist zuerst, räumlich konkret (und Langen verstand es nur so), der Blick
durchs Fenster, der den Rahmen schafft. So entsteht ein begrenzter, überschau-
barer Ausschnitt; die Totalität der Landschaft ist ausgeschlossen; eine feste Dis-
Die Syntax des Begehrens 143
tanz trennt den Beobachter von seinem Gegenstand. Und der räumlichen Tren-
nung entspricht eine wesensmäßige: "ich denke über diese Ungleichheit" (La
Röche 1771/1983, 242), welche die physikalische Welt von der moralischen
trennt.
Der räumlichen Distanz entspricht eine zeitliche, d. h. eine Distanz gegen-
über der Sukzession der Zeit überhaupt: Das Ich, das hier spricht, befindet sich
an einem Ort außerhalb der Zeit, von wo aus es "alle Zeiten des Jahres" auf
einen Blick übersieht. Und so wie das Auge über das Landschaftsbild schweift,
schweift es über die Zeit - einmal rückwärts in die Vergangenheit ("Hier wuchs
Korn, denkt es"), oder vorwärts in die Zukunft: Der nasse Herbstmatsch gibt der
"nachdenkenden Seele", die den Vorgang der Kompostierung kennt, "eine frohe
[...] Aussicht auf den nachkommenden Frühling." Das Ich hat sich also an den
'Ort der Vernunft' versetzt, jenen Ort der Übersicht, die sich über den verge-
henden Moment und das heißt über die Zeit als solche erhebt.
Das Prinzip der Rahmenschau funktioniert hier aber noch auf einer anderen
Ebene: es determiniert das Erfahren von Welt als begriffliche Rahmenschau. So
wie der Fensterrahmen dem Ausblick vorausgeht und diesen ermöglicht, so
wird im ersten Satz der begriffliche Rahmen für den ganzen Passus festgelegt.
Nutzbarkeit der Natur für den Menschen in physikotheologischer Sicht ist das
Thema, das Programm für alles Folgende, und das Auge findet nun illustrieren-
de Beispiele. Der Begriff ist das Primäre, was das Sehen in Gang setzt; die
Beispiele sind beliebig, vertauschbar, additiv aufgereiht in kurzen paratakti-
schen Sätzen, bis das Bild genügend gefüllt ist.
Und was ist das Resultat des Abschnitts, des Durchlaufens der verschiede-
nen Etappen dieser Betrachtung? Es ist die Bestätigung des Programms. Man ist
am Ende, wo man am Anfang war. Der Begriff, der den Blick leitet, ist wie ein
Filter, der das Sehen ermöglicht und beschränkt. Die enge Auswahl fällt auf:
Nur Nutzflächen und Obstbäume werden gesehen - und kein Gedanke z. B. an
Vergänglichkeit taucht auf, die doch stark aus den genannten Elementen spricht.
Man 'erlebt' das Erwartete, das Vorgegebene; 'Erfahrung' bedeutet hier Bestä-
tigung des Ausgangspunkts. So wundert es schließlich nicht, dass der empfind-
same Ertrag der verschiedenen Naturbetrachtungen des Romans immer derselbe
ist. Das entspricht dem Rezept, das Sophie von Sternheim selber erklärt als das
Verfahren ihrer Erziehung, nämlich dass "mir alles in den richtigen moralischen
Gesichtspunkt gestellt wurde. Nach diesem bildete man meine Empfindungen"
und lehrte sie, "Betrachtungen und Anwendungen zu machen." (La Röche
177l/l983, 241 bzw. 251)
Interessant ist, wie dieses Rahmenprinzip auf verschiedenen Ebenen auch
die Handlung des Romans strukturiert: am frappantesten beim glücklichen En-
de, wenn die Heldin das Gut Seymours, mit dem sie nach mannigfachen Tribu-
lationen endlich vereinigt ist, als Replik des Sternheim'schen Gutes einrichtet,
und ihren verstorbenen Eltern mit Tränen dankt dafür, dass sie ihr in der Kind-
heit "die richtigen Begriffe" gegeben haben (La Röche 1771/1983, 343). Die
väterliche Erziehung, deren Inhalt am Anfang genannt wird, erweist sich als
144 Verena Ehrich-Haefeli
3
Vgl. Kaiser (1981).
4
So Lavater und Merck (vgl. Goethe 1749-1805/1965, 95 bzw. 123), Nicolai (vgl.
Sommerfeld 1921, 251), Humboldt (vgl. Goethe 1774/1981, 531). Nicolais Urteil als eines
Die Syntax des Begehrens 145
Romans wähle ich die einfache des 10. Mai, die für den Vergleich besonders
geeignet ist, und werde mich bei der Analyse beschränken auf die Elemente, die
für die Gegenüberstellung der Anschauungsformen relevant sind. Werther also
schreibt an seinen Freund Wilhelm:
Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Früh-
lingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Le-
bens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. [...] Wenn das
liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen
Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum
stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend
mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt
zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mück-
chen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns
all nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwe-
bend trägt und erhält; mein Freund! wenn's dann um mein Auge dämmert, und die Welt
um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten -
dann sehne ich mich oft und denke: Ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du
dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel
deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! - Mein Freund -
Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Er-
scheinungen.
Hier nun fallen die Rahmenveranstaltungen weg, die bei Sternheim - als Aus-
druck einer Art epochaler Berührungsangst? - den Kontakt mit der Welt vor-
gängig kontrollieren und filtern. Als erstes wird die räumliche Distanz aufgege-
ben. Werther hat das Haus verlassen und ist nun in der Landschaft mitten drin
("das Tal um mich", "die Welt um mich her"). Anstatt dass man Natur als ge-
rahmtes Bild sich gegenüber hält, wagt man sich ihr anzuvertrauen, in ihr
gleichsam zu baden. Das ist möglich, weil Natur und Mensch, anders als in
Sternheim, hier einander verwandt sind: beide sind des gleichen Lebens voll.
(Dass "der Alliebende [...] uns all nach seinem Bilde schuf ", meint hier kühn
alle Geschöpfe, und so kann auch die "Welt um mich her" dem "Bild einer
Geliebten" verglichen werden.) Werther ist also in der Natur, und er gerät im-
mer mehr, immer tiefer in sie hinein; die Folge vom Großräumigen zum Kleine-
ren (Tal - Wald- im hohen Gras - näher an der Erde - näher am Herzen) be-
zeichnet auch eine progressive Annäherung. Das Auge, das vorerst die Land-
schaft wahrnimmt, genügt bald nicht mehr; die Mückchen werden auch "am
Herzen gefühlt", und wo es um das gänzliche Sich-Öffhen der Seele geht, das
bis zu einer Art Kommunion führt, muss das Auge, das nicht anders kann als
Distanz schaffen, ausgeschaltet werden: "wenn's dann um meine Augen däm-
mert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn
[...]".
Durch das Progressive dieser Annäherung, dieses Sich-Einlassens aber wird
die Zeit zur wichtigsten Dimension des Textes, d. h. die Zeitlichkeit des Erfah-
rene wie des Sprechens wird wesentlich. Für die Stemheim blieb nicht nur die
Landschaft, sondern auch die Zeit 'gegenüber', als ein Objekt der Betrachtung,
entschiedenen Gegners des Werther hat besonderes Gewicht: Er nennt ihn "den
vornehmsten und fast möchte man sagen den einzigen wahren deutschen Roman."
146 Verena Ehrich-Haefeli
von dem man hier oder dort einen Teil herausheben kann. Dem entspricht, auf
der Ebene der Syntax, die Addition kurzer Hauptsätze, deren Reihenfolge ver-
tauschbar ist. Werthers Begegnung mit der Landschaft aber vollzieht sich in der
Zeit, und dieses neuartig Prozesshafte realisiert sich in einer neuen Sprachform,
in der alles umspannenden syntaktischen Periode "Wenn [...] und [...] und [...],
ich dann [...] und [...]; wenn [...] und [...] ; wenn dann [...] und [...] - dann [...]"
Statt vertauschbarer Fertigstücke haben wir hier Etappen einer Progression,
deren Dynamik zunimmt: je mehr "wenn" (und dessen Äquivalente, die Mono-
tonie vermeiden helfen), desto mehr drängt der Satz vorwärts auf ein schließli-
ches "dann" zu. In dieser syntaktischen Dynamik realisiert sich der Verlauf
dieses einen Zusammenkommens von Ich und Natur; der immer näher und
inniger vernommene Anruf der Natur (in der Folge der Nebensätze) kommt im
letzten gleichsam an sein Ziel und entbindet die Antwort des Ich: "dann sehne
ich mich oft und denke [...]"
Diese we/in-Periode ist eine unvergleichliche syntaktische Gestaltungs-
weise, wenn es darum geht, die neue Zeitlichkeit des Erfahrens emphatisch in
der Zeitlichkeit des Sprechens auszudrücken. Sie ist eins der auffallendsten
Stilmerkmale in Goethes Prosa dieser Jahre; im Werther, der ja ein sehr kurzer
Text ist, kommt sie - nicht immer so einfach und rein durchgeführt - mehr als
15-mal vor, und immer an Stellen von besonderer Bedeutung und Intensität.
Auffallend an unserm Beispiel ist das sprachlich geringe Gewicht des Hauptsat-
zes, bei dem die so weitgespannte Dynamik der Nebensatzfolge anlangt,
manchmal fehlt der Hauptsatz überhaupt: Wichtiger als ein 'Ergebnis', wie es
der Hauptsatz mit seinem "dann" formaliter verspricht, ist offenbar, dass im
Durchgang durch die Folge der wenn-Sätze ein einmalig-konkreter Prozess
einer Kommunikation zwischen Ich und Welt in Gang kommt bzw. sich artiku-
liert. Oder re-artikuliert: Denn so wie mit den wenn-Sätzen das Ich sich der
laufenden Zeit anheimgibt und die Distanz der Übersicht preisgibt, so dienen
die wenn-Sätze der Aufhebung auch der Distanz zwischen vergangenem Ge-
schehen und Schreibgegenwart. Da sie im Präsens stehen und wenn hier die
Bedeutung hat von 'jedesmal wenn', helfen sie mit, das vergangene Erleben im
Jetzt des Schreibens wieder ganz gegenwärtig und lebendig zu machen.
Das Erfahren und Anerkennen von Zeitlichkeit als einer wesentlichen Di-
mension des Daseins hat verschiedene Folgen. Es bedeutet einmal ein Sich-
Öffhen für das Unvorhersehbare, das jeder neue Augenblick bringt und das im
Ich eine wiederum unvorhersehbare Antwort weckt. So verlaufen die Naturbe-
gegnungen Werthers sehr verschieden und lassen ihn in verschiedener Verfas-
sung zurück5 - "Manche unerwarteten Gefühle haben mich ergriffen" (Goethe
Nur ein paar Varianten seien genannt: Im ersten Teil des großen Briefs vom 18. August
wird eine der hier analysierten ganz ähnliche Situation entfaltet, nur komplexer und weit-
räumiger ausgeführt, die zu einer entgegengesetzten Reaktion des Ich führt; statt zu "er-
liegen unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen," fühlt das Ich des Briefs
vom 18. August sich "wie vergöttert" (Goethe 1774/1981, 52) und beantwortet die an-
dringende Herrlichkeit der Schöpfung - als der Künstler, der er sein möchte - mit einer
Landschaftsvision, die diese noch ins Erhabene steigert. Auch wird zweimal Naturland-
Die Syntax des Begehrens 147
schaft als Zerstörung erfahren, wieder mit entgegengesetzten 'Antworten* des Ich (18.
August zweiter Teil, 12. Dezember). Ganz anders nochmals der Brief vom 3. November:
Werther evoziert, vergleichbar den anderen Passagen in dynamisierenden wenn-Sätzen,
eine lieblich ihn ansprechen wollende Herbstlandschaft - um festzustellen, dass er zum
Sich-Öffhen für das Gegenwärtige, zu Begegnung und Antwort in seinem verstörten Zu-
stand nicht fähig ist.
148 Verena Ehrich-Haefeli
Langen (1952/1978, 1262) weist auf "die Klopstocksche Wenn-Periode" in Werther hin,
ohne den strukturellen Unterschied zu beachten, den ich auch in seitherigen Untersuchun-
gen nirgends bemerkt fand.
Bemerkenswert das Narzisstische und naiv Taktlose dieses Gedankenexperiments, indem
das Ich, um der gesuchten Erschütterung willen, alle geliebten Freunde und die noch
unbekannte künftige Geliebte, zuletzt auch den angeredeten Hauptfreund Ebert (der bis
dahin gleichsam als impliziter Leser fungiert) in den Tod schickt, um allein überlebend
fühlen und klagen zu können. An Fanny zeigt das gleiche Schema, nur umgebogen zuletzt
auf die erhabene Freude der Auferstehung. Das einzige Gedicht, das wirklich vergleichbar
ist, ist Sommernacht, es enthält aber nur einen zweigliedrigen we/tn-Satz.)
Geßner (1756/1973, 33).
Die Syntax des Begehrens 149
Die entscheidende Differenz springt ins Auge: Bei Werther artikulieren die
wenn-Sätze ein Kontinuum, es geht um die zeitliche Entfaltung der einen Situa-
tion, in die das Ich sich immer tiefer einlässt, um den Verlauf einer spezifischen
Kommunikation zwischen Ich und Welt. In Geßners Text ist die Serie disjunktiv
ans Vorangehende angeschlossen, nach dem Muster "oder wenn"; es geht
darum, andre Gelegenheiten vergleichbaren Entzückens in Gedanken herbeizu-
rufen zur Steigerung des gegenwärtigen: Statt vor der Grotte zu stehen sich auf
den Hügel hinzudenken oder ins Gras oder unter einen gestirnten Nachthimmel.
Die Verwandtschaft mit Klopstocks Verfahren ist offensichtlich, aber auch die
Beziehung zum Sternheim-Text: In allen dreien werden, von der Übersichts-
Position der Reflexion 'über der Zeit' aus, disjunktive Momente aus dem Vorrat
der Vorstellungen herausgegriffen im Hinblick auf einen spezifischen empfind-
samen Ertrag. Die Steigerungsdynamik, die - im Unterschied zur 'Flachheit'
der Stemheim'schen Betrachtung - bei Klopstock und bei Geßner durch die
wen/i-Serie bewirkt wird, intendiert eine rein-rhetorische Steigerung in der
Imagination, die zwar bei Geßner an die gegenwärtige Situation des Paares
anschließt, bei Klopstock ihrer aber gänzlich entraten kann.
3. Syntaktische Strukturen
Der erste Teil hat uns Skizzen von zwei Strukturmustem geliefert, die im Fol-
genden differenziert und konkretisiert werden sollen. Dabei werde ich mehr auf
den Text von La Röche eingehen, nicht nur weil er weniger bekannt ist, sondern
weil durch diese sprachliche Kontextualisierung das damals Unerhörte und
Packende der Werthersprache, das vor lauter Vertrautheit für uns gleichsam un-
sichtbar geworden ist und das mit den üblichen Beschreibungen wie Gefühls-
ausdruck, Sprache der Leidenschaft etc. noch keineswegs erfasst ist, wieder bes-
ser vor den Blick kommen kann.
Wenn von ihrem Fenster aus Sophie von Stemheim Pflichterfüllung und Nutz-
barkeit der Natur "sieht", folgen nachher immerhin illustrierende konkrete Bei-
spiele. Häufig aber fallen diese weg - über das hier Wesentliche verständigt
man sich gut auch ohne sie. So "sieht" die Heldin bei einem Besuch auf dem
Land "die Emsigkeit des Landmanns" (La Röche 1771/1983, 115) - um sich die
Schritte abstrahierender Distanzierung von hier allenfalls einschlägigen Realien
zu vergegenwärtigen, beachte man auch den generischen Singular! Werther
hingegen begegnet einem Bauemburschen, der an einem Pflug hantiert. Ein
Besuch auf dem Gut der Eltern Sophies wird so dargestellt:
150 Verena Ehrich-Haefeli
Wie angenehm ist der Eintritt in dieses Haus, worin die edelste Einfalt und ungezwun-
genste Ordnung der ganzen Einrichtung ein Ansehen von Größe geben! Die Bedienten mit
freudiger Ehrerbietung und Emsigkeit auf Ausübung ihrer Pflichten bedacht! (La Röche
1771/1983,45)
Die Distanzierung vom Konkreten prägt die Wahrnehmung durchwegs: Statt
Menschen und Dingen zu begegnen, trifft der Eintretende vorerst "Einfalt" und
"Ordnung" an, die sich mit der "Einrichtung" zu schaffen machen. Im folgen-
den Satz erscheinen zwar die Dienstboten, wenn auch im Sammelplural; aber
statt etwa den Tisch zu decken oder die Blumen zu gießen, sind sie "mit freudi-
ger Ehrerbietung auf die Ausübung ihrer Pflichten bedacht": Die mit den Perso-
nen angedeutete Konkretisation verflüchtigt sich wieder. Werther, in einer ana-
logen Situation, sieht anders und anderes:
Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Trep-
pen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Au-
gen, das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei
Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes
Kleid, mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und
schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Ap-
petits ab, gab's jedem mit solcher Freundlichkeit [...] (Goethe 1774/1981,21)
Wichtig scheint mir hier zu beachten, auf welch verschiedenem Niveau von
Konkretisation oder Abstraktion die Sprache im Ganzen sich situiert, besonders
wenn die gleichen syntaktischen Funktionen von Subjekt und Verb und dasselbe
Tätigkeitswort jeweils ganz anders funktionieren: Lotte gibt jedem Kind sein
Stück Brot / Ordnung und Einfalt geben der Einrichtung ein Ansehen von
Größe.
Auf solcher Abstraktionsebene bewegt sich nun ein großer Teil des Stemheim-
Textes, indem sehr oft, statt eines personalen Subjekts, die "richtigen Begriffe"
- Tugenden, moralische Werte etc. - an die Subjektsstelle im Satz treten. Ich
habe Stichproben ausgezählt, wonach in Sternheim unpersönliche Satzsubjekte
fast doppelt so häufig sind wie in Werther. Die Beispiele sind zahlreich: Seit
ihrem Unglück lebt Sophie in dem Bereich,
wo Niedrigkeit und Armut sich die Hände reichen. (La Röche 1771/1983, 237)
Die Billigkeit [führte mich] auf mich selbst [...] zurück. (La Röche 1771/1983,111)
Oh Geduld, du Tugend des Leidenden [...], wohne bei mir und leite mich [...] (La Röche
1771/1983,307)
Wie selig macht eine Entschließung, die von Tugend, Weisheit und Rechtschaffenheit ge-
billiget wird! (La Röche 1771/1983, 343)
Durch die Suggestion des "grammatischen Bedeutungsgehalts" von Subjekt und
Verb als "Träger" einer "Tätigkeit" (Admoni 1982, 158), oft verstärkt durch
eine /w-Anrede, entsteht hier eine Art von Personifikation, so dass wir uns
schließlich von einer ganzen Schar allegorischer Tugend-Damen umgeben se-
hen, die alle möglichen Tätigkeiten ausführen:
Dennoch sehe ich blühende Blumen, welche die Hoffnung [...] auf meine nun betretenen
Wege ausstreuet; Ruhe und Zufriedenheit lächeln mir zu; die Tugend, hoffe ich, wird mein
Flehen erhören, und meine ständige Begleiterin sein. (La Röche 1771/1983,240f.)
Die Syntax des Begehrens 151
Bewirkt die Personifikation hier eine Art von Konkretisation, mit Blumen
streuen, zulächeln, begleiten, die Hand reichen, führen etc. - oder ist die Kon-
kretisation nur scheinbar, schattenhaft, indem umgekehrt das Abstraktum den
Verbgehalt gleichsam auszehrt? Jedenfalls entsteht, durch eine emotionale
Aufladung der Tugendbegriffe - Sophie sagt, dass sie die väterlichen Grund-
sätze und Begriffe "liebt" (La Röche 1771/1983, 96) - eine Art Mythisierung
derselben, so dass die Tugend-Damen schließlich so etwas darstellen wie die
Heiligen der protestantischen Aufklärung. Dazu ist es ein durchaus weiblicher
Schwestern-Verein, der die bedrängte Heldin schützt und geleitet. - Durch
solche Hypostasierungen konstituiert sich schließlich eine ganze Sprachschicht,
die das Konkrete und Reale dem Blick immer wieder verdeckt; ja gewohnt an
den empfindsamen Umgang mit solchen Schattenwesen, handeln die Personen
endlich selbst wie Allegorien; beim glücklichen Ende heißt es von der Heldin
und ihrem Gatten:
Mit einer Hand stützen sie das leidende Verdienst [...], mit der ändern streuen sie Verzie-
rungen in der ganzen Herrschaft aus. (La Röche 1771/1983, 348)
Aufschlussreich ist Herders Kommentar zu diesem Sprachzustand, der ja nicht
nur der dieses einen Romans war: "O warum ist man durch die Sprache, zu
abstrakten Schattenbildern, wie zu Körpern, wie zu existierenden Realitäten
verwöhnt?" - und er sehnt sich danach, "sachenvoll" zu werden, frei von diesen
"Wortidole[n],
9 [...] taube[n] Begriffefn], Wortkränze[n] und Abstraktionen
[...r.
Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Passagen (über den Eintritt ins
Haus) wurde noch nicht genannt: Er betrifft den Gebrauch der Prädikatsstelle
bzw. die Differenz von Nominal- und Verbalstil. Langen geht auf diesen Unter-
schied ein, aber vor allem, indem er Herders Theorien referiert, nicht in verglei-
chenden Untersuchungen zur Syntax.
In Stemheims Satz ("Wie angenehm ist der Eintritt in dieses Haus") dient
die Kopula nur dazu, nominale Größen miteinander zu verbinden; folgerichtig
kann sie in den anschließenden gleich gebauten Sätzen sogar wegfallen.
Werther hingegen gebraucht volle Verben ("Als ich in den Vorsaal trat, fiel mir
das reizendste Schauspiel in die Augen"). Ähnlich beim Verb "geben", das
einmal bloßes Funktionsverb ist, das andre Mal ein konkretes Handeln bezeich-
net. Dieser Unterschied ist nun für beide Texte im Ganzen von größter Bedeu-
tung.
Insgesamt ist in Sternheim das Gewicht des Verbs in der Satzaussage gering,
oft minimal; hilfsverbartige Verben herrschen vor. Es sind einmal die vielen
solche Beispiele, von denen man mit Sicherheit sagen kann, dass sie im
Werther-Text so nicht vorkommen könnten; es sind solche, die auch unserem
heutigen Sprachgefühl, dem trotz aller seitherigen Veränderungen jener Struk-
turwandel eingeprägt geblieben scheint, fremd geworden sind. 'Normal' schiene
in all diesen Fällen eine verbale Wendung.
Mein Herz wurde bewegt; die Vorstellung ihrer Not und die Begierde zu helfen wurden
gleich stark. (La Röche 1771/1983,115)
Wer stellt vor, wer wünscht zu helfen? Das sprechende Ich nicht, es situiert sich
außerhalb: Es ist das, was vergleicht und beurteilt. Das, was vorstellt und
wünscht, scheint nicht 'Ich' zu sein; Vorstellung und Wunsch werden beurteilt,
als ob sie die eines anderen wären. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn
- wie es häufig vorkommt - das Possessivpronomen einträte, 'meine Vorstel-
lung', 'meine Begierde zu helfen'. Erst in einem verbalen Ausdruck - 'Ich
stellte mir ihre Not vor und wünschte zu helfen' - erscheint das sprechende Ich
als eins mit dem vorstellenden und wünschenden, d. h. mit dem 'erlebenden'
Ich; es verschwindet aber die Beurteilung. Der Satz illustriert schön die Fakul-
tätenpsychologie der Aufklärung, über die die junge Generation der 70-er Jahre
im Namen eines postulierten 'ganzen Menschen' spotten wird: Das Herz, als
Organ des sympathetischen Mitleids, aktioniert die Vorstellungskraft und den
Willen; über diese drei wacht das wortführende Ratio-Ich.
Einen häufigen Satztypus zeigt das folgende Beispiel, in dem von einer
Reise berichtet wird:
Diese Buchdruckerei [...] wurde ein Gegenstand meiner frohen Bewunderung des Kunst-
fleißes. (La Röche 1787,26f.)
statt etwa 'Ich bewunderte freudig diese Buchdruckerei'. Die verbale Formulie-
rung gibt bewundem als eine Art Handeln des Gemüts, das vom Ich ausgeht und
sich auf das Objekt richtet. Anders die Sprachhandlung des Sternheim-Satzes:
Die Buchdruckerei, als 'Satzgegenstand' - als Gegenstand des kopulativen
Urteilssatzes -, wird eingeordnet in jenes Fach einer in kategonalen Rahmen
aufgebauten Welt, wo die Objekte der Bewunderung untergebracht sind, Unter-
abteilung "Bewunderung des Kunstfleißes". Und das sprechende Ich, das, wie
wir nach heutigem Verständnis meinen, doch selber bewundert? Es ist die Ins-
tanz, die die Klassifizierung vollzieht, es nennt sich selber nur als Besitzer des
betreffenden Kategorienfachs. Problematisch wird die Zuordnung des froh: sich
zu freuen scheint obligatorisch bei allen Anlässen, Kunstfleiß zu bewundern. -
Ähnliche Formulierungen mit Gegenstand sind in Sternheim häufig, sie fehlen
aber in Werther; das macht sie hier besonders interessant:
So wurden sie ein Gegenstand des Hasses und der Verachtung. (La Röche 1771/1983, 155)
Das Schicksal [hat mich] zu einem Gegenstand [Ihrer] Großmut gemacht. (La Röche
1771/1983, 194)
[Ich vernahm] Seufzer [...], welche nicht mich zum Gegenstand hatten. (La Röche
1771/1983,221)
Seymour sitzt zu den Füßen des Gegenstands meiner Wünsche (La Röche 1771/1983, 335)
154 Verena Ehrich-Haefeli
(so der ältere Bruder des Seymour, der Sophie verzichtend liebt); auch spricht
man von einem Gegenstand meiner Wohltätigkeit, meiner Zärtlichkeit etc.
Immer wird hier gesprochen aus der Perspektive der Übersicht über die ganze
Kategorie - der Wohltätigkeitsaktionen, der Zärtlichkeitsregungen, der Beseuf-
zungen - und des Überblicks über die Vielzahl der potentiellen Adressaten. Es
ist das implizit Klassifizierende der Satzkonstruktionen mit Gegenstand, was zu
kollidieren scheint mit dem Gehalt der Aussagen, wo es um Gefühlsbeziehun-
gen oder gefühlsbetonte Handlungen geht; bei diesen spielen - für uns! - Krite-
rien wie Spontaneität und Authentizität mit - ein Erbe eben jenes Wandels der
Subjektkonstitution, um den es hier geht. Es zeigt sich hier ein Grundproblem
der Empfindsamkeit als eines kulturellen Programms des Kultivierens und
Reglementierens bestimmter sozial erwünschter Fühlweisen. Das bei Sophie
angewandte Erziehungsrezept (vgl. oben S. 143) fasst dieses Programm, in
einen Satz verkürzt, zusammen, nämlich dass "mir alles in den richtigen morali-
schen Gesichtspunkt gestellt wurde. Nach diesem bildete man meine Empfin-
dungen". - Nur ein einziges Mal erscheint die Konstruktion mit Gegenstand in
Werther, und zwar da, wo Lotte - wider besseres Wissen, möchte man denken -
sich in konventionelle Ratschläge flüchtet und Werther zuredet, auf Reisen
einen anderen "werten Gegenstand [seiner] Liebejzu] suchen" (Goethe
1774/1981, 103). Es ist die einzige Stelle, wo Lotte sich gleichsam am Geist des
Romans versündigt und wo die Liebenden aneinander vorbeireden: Werther, der
eins ist mit dieser seiner Liebe zur einzigen Lotte, soll sich einen Überblick über
seine Liebeschancen verschaffen und eine gute Wahl treffen!
3.3. Verbalabstrakta
10
"Der verallgemeinerte grammatische Bedeutungsgehalt, der die lexikale Bedeutung jedes
Substantivs überlagen, ist die Bedeutung eines Dinges."
15 6 Verena Ehrich-Haefeli
im Hinblick auf den moralischen Wert einer Handlung oder ihren Ertrag an
edlen Empfindungen; die Handlungen selbst erscheinen untergeordnet, mittels
Abstraktum verfugbar gemacht als Gegenstand von Urteilen oder indem sie
z. B. in einem Instrumental-Adverbiale untergebracht werden, das sie als Mittel
zu einem moralischen Zweck oder als Veranlassung wünschenswerter Empfin-
dungen fasst.
Und vorzüglich kann das sprechende Ich durch das Verbalnomen sein eige-
nes Handeln von sich abrücken, sich darüber erheben und es seiner Beurteilung
unterwerfen, als ob es das eines anderen wäre (vgl. oben S. 153) - in der ständi-
gen Selbstüberwachung, Selbstbeobachtung, die hier im Hinblick auf die
"richtigen Begriffe" nötig ist.
[...] wenn die sorgfältige Ausübung der Pflichten des Herrn auf meiner [...] Seite nicht
einen heilsamen Einfluß auf die Gemüter meiner Untertanen hätte. (La Röche 1771/1983,
44)
Hier muss die Wendung auf meiner Seite die durch das Verbalabstraktum
gründlich gekappte Verbindung von Handlung und Ich hinterher wieder anzei-
gen! Eine Formulierung wie die Ausübung meiner Pflichten als Herr würde
schon eine gewisse Annäherung anzeigen, die aber bezeichnenderweise vermie-
den wird. Eindrucksvoll auch im Folgenden die dem Bewusstsein eingebaute
Distanz dem eigenen Verhalten gegenüber:
[...] daß das Beste, was die Kräfte meiner Seele tun konnten, gelassene Ertragung des
Schicksals war. (La Röche 1771/1983,194)
Frau Hills lasse ich durch meinen Umgang und meine Unterredungen das Glück der
Freundschaft und der Kenntnisse genießen. (La Röche 1771/1983, 237)
Das letzte Beispiel zeigt, wie Selbstbeobachtung hier öfter Selbstlob, ja unum-
wundene Selbstbeglückwünschung wird. Darin manifestiert sich eine struktu-
relle Krux der Romangattung, zu welcher der Sternheim-Text gehört, die sich
schon in Richardsons Pamela (1740) zeigt: das Problem der zum Inbild aller
Tugenden idealisierten Heldin, die als Briefschreiberin sich selber darstellen
muss. Geschickter ist es, wenn die Heldin von anderen gelobt wird, wie hier von
der Großmama; Sophie ist eben Waise und volljährig geworden:
Du fängst den Gebrauch deiner Unabhängigkeit mit Ausübung der Wohltätigkeit an deiner
Großmutter an. (La Röche 1771/1983, 58)
Ein interessantes Detail hier ist, dass - um eine Ich-Aussage zu vermeiden - die
Familienrolle vorgeschoben wird, die erlaubt, von sich in der dritten Person zu
reden; die familiären und gesellschaftlichen Rollen erscheinen so oft wichtiger
als die Subjektivität des Rollenträgers. Dieser Satz nun zeigt eine bemerkens-
werte Verdoppelung der Abstraktionsschritte, indem er zu den bislang beschrie-
benen Verfahren hinzu explizit eine Klassifikationsleistung vollzieht." Der
Gebrauch deiner Unabhängigkeit bezeichnet die umfassende Gattung als Rah-
Implizit war das schon oft der Fall, indem ja Beurteilung als solche eine Einordnung in
kategorielle Rahmen vollzieht.
Die Syntax des Begehrens 15 7
men der fur Sophie jetzt möglichen Handlungen: Dass sie unter diesen allen als
erste die Ausübung der Wohltätigkeit wählt, das zeigt ihr edles Herz.
An dieser Stelle muss eine Überlegung zur Semantik eingerückt werden.
Immer ist von Verbalabstrakta die Rede - was sind denn das für 'Handlungen',
die jeweils in nominalisierter Form resümiert werden? Seine Unabhängigkeit
brauchen ist eine Wendung, die ein unabsehbares Feld potenzieller Handlungen
einschließt. Im zweiten Teil der Aussage wird zwar eingeschränkt, herabstei-
gend im Klassifikationsschema: 'Unabhängigkeit brauchen durch Ausübung
von Wohltätigkeit'. Aber auch dieses engere Teilfeld ist immer noch sehr weit:
Wohltätigkeit wie? für wen? Die weitere Spezifizierung erfolgt nun nicht durch
einen weiteren Verbbegriff, sondern durch das Objekt: Es ist der Teil von
Wohltätigkeit gemeint, der einer alten Frau gegenüber etwa in Frage kommt -
eigentliche Handlungen, worin solches Wohltun hier bestehen könnte, werden
nicht genannt und noch weniger gezeigt. Das heißt, dass auch das spezifizie-
rende zweite Verb (bezeichnenderweise handelt es sich auch hier um ein Funk-
tionsverbgefüge) sich immer noch weit über der Ebene konkreter Aktionen und
Vorgänge situiert. Auch im folgenden Satz - "Denn es ist eine edlere Wohltat,
das Alter zu beleben als den Armen Gold zu schenken"- kommen wir nicht
weiter: das Alter beleben bleibt im Verb fast so unbestimmt, und im Objekt das
Alter wird es wieder abstrakter. Dass dann noch die Sanftmut und die zärtliche
Güte der Sophie gerühmt werden, macht auch nicht ihr Handeln deutlicher,
sondern wieder nur dessen moralisch-empfindsames Ergebnis. Zehn Zeilen lang
wird davon gesprochen, und es wird schlechterdings nichts Konkretes, nichts
Vorstellbares evoziert. Damit hängt auch ein akutes Rezeptionsproblem des
Lesers zusammen: Er wird vom Text genötigt, sich auch rühren zu lassen, sich
mitzufreuen über die tugendempfindsame Vortrefflichkeit, aber zu häufig wird
ihm der Anlass dazu vorenthalten. - Anders nun in Werther:
Als wir in den mit zwei hohen Nußbäumen überschatteten Pfarrhof traten, saß der gute alte
Mann auf einer Bank vor der Haustür, und da er Lotten sah, ward er wie neu belebt, vergaß
seinen Knotenstock und wagte sich auf, ihr entgegen. Sie lief hin zu ihm, nötigte ihn, sich
niederzusetzen, indem sie sich zu ihm setzte, brachte viele Grüße von ihrem Vater, herzte
seinen garstigen, schmutzigen jüngsten Buben, das Quakelchen seines Alters. Du hättest
sie sehen sollen, wie sie den Alten beschäftigte, wie sie die Stimme erhob, um seinen halb
tauben Ohren vernehmlich zu werden [...] (Goethe 1774/1981, 31)
Und so fort - der Gegensatz spricht für sich. Wohltätigkeit ausüben, das Alter
beleben: Auch wenn syntaktisch die Handlung durch ein finites Verb als 'real'
geschehend gegeben würde, würden wir die handelnde Person doch nicht in
einer konkreten Situation agierend erblicken. Im Gegenteil: Jedesmal, wenn
eine Person genannt und dann mit einer solchen abstrakten verbalen Wendung
verknüpft wird, verflüchtigt sich auch die Vorstellung der Person, sie wird
selber 'abstrakt', schattenhaft wie oben die Dienstboten, die "mit freudiger
Ehrerbietung auf Ausübung ihrer Pflichten bedacht" waren.
In solcher Distanz von konkretem Handeln aber situieren sich sehr viele der
hier verwendeten Verben:
158 Verena Ehrich-Haefeli
Die einsamen Tage wurden mit Lesung guter Bücher, mit Bemühungen für die gute Ver-
waltung der Herrschaft, und mit edler anständiger Führung des Hauses zugebracht (La
Röche 1771/1983,20)
oder es geht in vielfachen Variationen um die Erstellung von Lebensplänen oder
die Einrichtung wohltätiger Anstalten. So entspricht der Neigung zu syntakti-
schen Abstraktionsstrukturen die Tendenz zu einem Wortschatz der Abstrakta,
der übergeordneten Rahmenbegriffe; auch im Lexikalischen bewegt der Text
sich gern auf der Ebene zusammenfassender Übersichten.
Eine besonders interessante Form erhalten die gezeigten syntaktisch zwei-
schichtigen "Betrachtungen", wenn zwei Handlungsweisen miteinander vergli-
chen oder verrechnet werden in einer Art tugendempfindsamer Buchhaltung.
Charakteristisch dafür ist eine ganze Gruppe von Merkantil-Verben, die uns
daran erinnern, dass diese Denkweise überhaupt zu dem "Mittelstande der
menschlichen Gesellschaft", das heißt zu der bürgerlichen Welt gehört: beloh-
nen, verdienen, ersetzen, entschädigen, schadlos halten, verlieren, vergelten,
auf Unkosten von etc.
Die Überdenkung der Pflichten, welche mir in dem neuen Kreise [...] angewiesen sind, hält
mich in Wahrheit für alle andre Vergnügungen schadlos. (La Röche 1771/1983, 37)
[...] daß ich durch meine Aufführung gegen meinen [...] Vater den Segen verdient habe, ein
gehorsames, tugendvolles Kind zu besitzen. (La Röche 1771/1983, 54)
Sollte die Delikatesse meiner Eigenliebe nicht der Pflicht der Hülfe meines notleidenden
Nächsten Platz machen? (La Röche 1771/1983,157)
Manche dieser Operationen empfindsamer Buchhaltung kommen auch ohne
Verbalnomina aus:
Ich wurde auf der Stelle für diese Tugend mit der Hoffnung belohnt, [...] (La Röche
1771/1983,137)
Gönne mir dieses Glück [mit der verstorbenen Gattin durch den Tod vereinigt zu werden]
auf Unkosten des Vergnügens, das dir das längere Leben deines Vaters gegeben hätte. (La
Röche 177l/l983, 56)
In dieser sprachlichen Verrechnungspraxis manifestiert sich besonders frappant
der distanzierende beherrschende Überblick über die ganze Sphäre der Gesin-
nungen, des Verhaltens und Handelns, der in den diversen sprachlichen Abs-
traktionsverfahren wirksam ist. Buchhaltung ist "Übersicht", so erklärt der
Handelsmann Werner seinem Freund Wilhelm Meister; sie erlaubt, "jederzeit
das Ganze zu überschauen, ohne daß wir es nötig hätten, uns durch das Einzelne
verwirren zu lassen. [... Sie] ist eine der schönsten Erfindungen des menschli-
chen Geistes" (Goethe 1796/1981, 37). In der Tat sind Werners Buchhal-
tungsprinzipien auch die, welche den Anschauungsformen zu Grunde liegen,
die wir am Sternheim-Text exemplifiziert haben. Und es weist nochmals auf
jenes Grundproblem der Empfindsamkeit hin als eines für uns paradoxen Pro-
gramms für Fühlweisen, dass der Merkantil Wortschatz gerade im Bereich der
tugendempfindsamen Familien-, Liebes- und Freundschaftsbeziehungen ver-
breitet ist; nicht nur Gellerts zärtliche Schwestern und Freundinnen, auch der
Musikus Miller spricht noch so.
Die Syntax des Begehrens 159
so der Oberste Stemheim im ersten Gespräch mit seiner Gemahlin. Eine verbale
Formulierung wie 'immer werde ich Sie zärtlich verehren' erwartet man nach
allem Voranstehenden wohl nicht mehr. Es heißt aber auch nicht z. B. 'zärtliche
Verehrung für Sie wird immer in meiner Seele sein'. Stattdessen vollzieht der
Satz eine definitorische Klassifikation, indem er das Verbalabstraktum Vereh-
rung als Besonderes einordnet in den Rahmen der übergeordneten Gattung
Gesinnung und dann aus dem Überblick über die möglichen Gesinnungen
spezifiziert, was hier passt: die Gesinnung meiner Seele -für Sie.13 Übrigens
folgt das ganze Gespräch auf inhaltlicher Ebene demselben Muster: Der Oberste
legt seiner Frau einen Überblick vor über die vier Klassen von Pflichten, die
sein Leben ausmachen, und spezifiziert, welche Stelle den Pflichten ihr gegen-
über fortan zukommt. Dieses Muster definitorischer Urteilssätze ist nun häufig
gerade im Bereich persönlichster Selbstaussage.
Sie sind der erste Mann, mit welchem ich mich allein befinde und welcher mir von Liebe
spricht; beides macht mir Unruhe. (La Röche 1771/1983, 173)
Sorgsam analysiert im Hinblick auf ihre doppelte Ursache, so legt das Fräulein
sich selbst und ihrem späteren Verführer ihre Beunruhigung dar; das sprechende
Ich scheint von dieser Unruhe nicht betroffen, diese spielt sich 'anderswo' ab.
[...] daß der Oberste der einzige Mann auf Erden ist, dessen Gemahlin ich zu werden wün-
sche. (La Röche 1771/1983, 29)
Die zwei lasterhaften Libertins, die für die Handlung des Romans nötig sind, bleiben hier
außer Betracht, aber auch für sie gilt mutatis mutandis dasselbe.
Interessanterweise werden hier unter der logischen Dominanz des Gattungsbegriffs die
Funktionen von Subjekt und Prädikativ ununterscheidbar.
160 Verena Ehrich-Haefeli
Ihre Fräulein Schwester ist das erste Frauenzimmer, welches meine beste Neigung hat. (La
Röche 1771/1983, 31)
Der Oberste ist der Mann, dessen ..., die Schwester ist das Frauenzimmer, wel-
ches ...: jedesmal handelt es sich um die explizite Einreihung in die betreffende
Gattung, der Männer, deren Gemahlin man werden, der Frauenzimmer, die man
lieben könnte; gesprochen wird wieder aus der Distanz solchen klassifikatori-
schen Überblicks. Dabei handelt es sich beidemal um das erste Aussprechen
einer langgehegten Liebe! - zu einer Drittperson wohlgemerkt. Nur die Situie-
rung des Einzelnen an den Vorzugsplatz innerhalb seiner Klasse - der einzige
Mann, das erste Frauenzimmer - drückt das Singuläre der beiden Personen
aus,14 und das Beteiligtsein des Ich wird im attributiven Relativsatz unterge-
bracht. Unstatthaft, unmöglich scheint hier eine verbale Wendung, in der das
sprechende Ich sich unmittelbar als Subjekt des Begehrens und des Fühlens für
ein Du bekennen würde. Sehr genau bezeichnet der Oberste das Verhältnis der
psychischen Instanzen, das hier herrscht, in seinen ersten Worten an die Frau,
die er liebt:
Mein Herz ist zur Verehrung der Tugend geboren, [...] meine Empfindungen [wurden] leb-
haft genug, Wünsche zu machen. Ich hätte diese Wünsche erstickt (La Röche 1771/1983,
36),
wenn er nicht zur Werbung aufgefordert worden wäre. Herz und Empfindungen
- die letztern sind es, die Wünsche machen! - sind nicht 'ich'; das was hier
spricht und allein zum Ich-Sagen berechtigt ist, ist das Ratio-Ich, das Herz und
Empfindungen überwacht und in strikter Ordnung hält. Entsprechend am Ende
des Romans, wenn Sophie sich entschließt, der endlichen Werbung Seymours
Gehör zu geben; dass ihr "Herz" (wieder nicht sie) einmal entsprechende Wün-
sche hegte, das wird als Vergangenes angedeutet; was den jetzt gefassten Ent-
schluss zum Jasagen betrifft, so verantwortet ihn das sprechende Ich allein mit
den "richtigen Begriffen": "Mein Herz ist ruhig. Wie selig macht eine Ent-
schließung, die von Tugend, Weisheit und Rechtschaffenheit gebilligt wird!"
(La Röche 1771/1983, 343).
Mag sein, dass beim Thema Liebe die Berührungsscheu, die den Sternheim-
Text überhaupt kennzeichnet, zu einer besonderen Art von nominaler Ver-
krampfung des Sprechens führt. Bei Werther scheint das Gegenteil zu gelten: In
syntaktisch einfachen Verbalaussagen, mittels einer Fülle von 'Handlungs'-
Verben sich selber immer neu als Subjekt seines Fühlens und Begehrens zu
bekennen, scheint eine wahre Lust des sprechenden Ich zu sein.
Wie ich mich [...] in den schwarzen Augen weidete, wie die lebendigen Lippen und die fri-
schen Wangen meine ganze Seele anzogen - (Goethe 1774/1981, 23 f.)
Wie [...] ich [...] an ihrem Arm und Auge hing [...] (Goethe 1774/1981,25) [beim Tanz]
Wie ich mich an dich schloß! dich vom ersten Augenblick an nicht lassen konnte! Wie ich
das alles verschlang! (Goethe 1774/1981, 123)
Situierung des Einzelnen an den Vorzugsplatz innerhalb seiner Klasse ist ein vorzügliches
Gestaltungsmittel auch bei Lessing, bei Wieland, um ein Hervorragendes, 'Einzigartiges'
auszudrücken, das doch nicht im eigentlichen Sinn als 'Individualität' aufgefasst wird.
Die Syntax des Begehrens 161
Ach wie mir das durch alle Adern läuft [...] eine geheime Kraft zieht mich vorwärts (Goe-
the 1774/1981,38f.)
Wie mich die Gestalt verfolgt! Wachend und träumend füllt sie meine ganze Seele! (Goe-
the 1774/1981,92)
In unerschöpflichen Variationen wird hier das dynamische Interaktionsgesche-
hen des Liebens im imaginär-realen Hin und Her zwischen dem liebenden Ich
und dem Du aktualisiert. Starke, sinnlich-konkrete Verbalhandlungen liefern die
Metaphern für das psychische Geschehen. Auf die Intensität des 'Verbalen'
kommt es offenbar an; das rhetorische wie, als Unsäglichkeitstopos eine Art
Pauschal-Adverbiale der Intensität, trägt das seine dazu bei. Wichtig ist, dass in
diesen Verbalaussagen der ersten Person keine Distanz zwischen dem spre-
chenden Ich und seinem Wünschen und Fühlen stattfindet. Ob das Ich dabei
sich als handelndes Subjekt oder als Adressat im Wechselgeschehen des Lie-
bens erfährt; ob es schreibend Erinnertes als gegenwärtig erlebt oder Gegen-
wärtiges durch Aussprechen sich zueignet, immer ist es distanzlos, unmittelbar
betroffen.
Aufhebung der Distanz kann auch mit ändern sprachlichen Mitteln erreicht
werden; dazu nochmals ein Vergleich:
Mein Herz sagt mir, daß sie unglücklich ist. Dieser Gedanke frißt das Herz, in welchem er
sich ernährt. (La Röche 1771/1983,203)
So Seymour, der es versäumt hat, Sophie durch eine rechtzeitige Werbung vor
ihrem Unglück zu bewahren. Hier sendet das Herz, wieder als Organ des sym-
pathetischen Mitleids, eine Botschaft an das Ich; das Ich aber steht als nicht
betroffenes über dem Leiden des Herzens und spricht davon, als ob es sich um
das Leid und das Herz eines Fremden handelte (immerhin ist das Verb fressen
im Kontext der Sternheim-Sprache unerhört). In Werthers Satz dagegen:
Mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt.
(Goethe 1774/1981, 53)
verändert das vorangestellte mir, auch wenn es unbetont ist, die Konstellation
völlig: 'mir geschieht es, dass ..." - das sprechende Ich selber ist im Zentrum
des Vorgangs. Dieses vorangestellte mir ist geradezu ein Stilzug der Sprache
Werthers, auch Goethes in jener Zeit, besonders in Briefen an vertraute Freunde
(vgl. Mattausch 1965,167 und 171)
Aufhebung also der Distanz zwischen dem sprechenden Ich und seinem
Fühlen und Wünschen - man kann es auch anders sagen: In diesen Sätzen
spricht ein anderes Ich als im Sternheim-Text, ein Ich, welches sein Begehren
'adoptiert' hat - als die innerste, die beste Kraft des Selbst; ein Ich, das sich -
unbeschadet seines starken Hangs zur Reflexion! - eins weiß mit jenem
"Sehnen und Streben des Busens" (Goethe 1774/1981, 72), von dem Werther
sich gedrängt, getrieben und beglückt fühlt. Dass dieses Ich sich eine neue,
dynamischere Sprache schaffen muss, das haben wir schon oben am Beispiel
der wenn-Penode gesehen, die zum syntaktischen Medium einer neuen Art des
'Erfahrens' umgeschaffen wird.
162 Verena Ehrich-Haefeli
Aber Werther spricht ja auch Momente seines Liebens, die ihn besonders
heftig oder schmerzlich ergreifen, ebenfalls im Medium der wen«-Periode aus.
Begegnung also mit der Natur oder mit dem Du - das neuartige 'Erfahren' als
dynamischer Prozess einer offenen Kommunikation oder Interaktion, an den das
Ich sich ohne Rückhalt hingibt, sich 'ganz' aufs Spiel setzend dabei, scheint
beidemal der gleichen Bewegungsstruktur zu folgen. Hier ist nun besonders
interessant, dass eins der frühsten Beispiele der wenn-Periode die große Passage
im Prometheusfragment ist, wo Prometheus seiner Tochter Pandora das ur-
sprüngliche Ziel jenes unbegreiflichen "Strebens und Sehnens" erklärt - es ist
eine Darstellung des Liebens, wie es zu einer immer innigeren seelischen
Kommunion und zur sexuellen Vereinigung zugleich führt. Und in der Tat liegt
der Ursprung der gezeigten Dynamisierungen - der Sprache, der Weltbegeg-
nung, ja des Subjekts, das sich als werdendes versteht - im veränderten psychi-
schen Stellenwert des Begehrens, das nicht mehr als ein ich-fremder, zu beherr-
schender physischer Affekt erfahren wird, nicht mehr als "tierische Wollust",
sondern als ein "heiliges Feuer", eine Kraft, die im "innig Innersten" (Goethe
1774/1981, 116f.) des Selbst entspringt.15 Das bedeutet einerseits Befreiung zu
einer neuartigen Intensität des Lebens, bringt aber auch neue unlösbare Kon-
flikte - beides exemplarisch gestaltet im Werther.
Statt distanziertes Handhaben nominaler Größen nun unmittelbares Impli-
ziertsein des sprechenden Ich in sinnlich-konkreten Verbalaktionen, die das
Handeln und Erleiden der bewegten Seele ausdrücken - das ist nur eine Form
der Dynamisierung der Sprache, um die es hier geht. Ein weitere Innovation der
Werthersprache ist die Auflockerung und Befreiung der Wortstellung; und bei
näherem Zusehen zeigt es sich, dass auch diese oft zu tun hat mit Intensivierung
des Prozesshaft-Sukzessiven und mit Ich-Unmittelbarkeit.
Ein erstes ist schon im vorigen Beispiel enthalten; es ist die Inversion, die
Werther ja selber thematisiert beim Streit mit dem Gesandten um seine
Schreibweise (Goethe 1774/1981, 61). Nun ist 'Inversion' im Hinblick auf die
damalige wie die heutige Schriftsprache ein falscher Terminus, weil die postu-
lierte Norm der Erststellung des Subjekts, von der die 'Inversion' sich abheben
sollte, eher eine legislatorische fixe Idee der aufklärerischen Grammatiker war
als eine sprachliche Realität. Ich werde aber trotzdem diesen Begriff gebrau-
chen, weil er ein Schlüsselwort der damaligen Diskussion um sprachliche Nor-
mierung oder Freiheit des Ausdrucks war und in der Literaturwissenschaft
immer noch gebraucht wird. Eine gute knappe Übersicht über den Streit um die
Wortstellung (Hamann, Klopstock, vor allem Herder) liefert Mattausch (1965,
121-137).
Inversionen gehören nun in der Tat zur 'Syntax des Begehrens', zur Sprache
der Leidenschaft - d. h. diejenigen, und das ist auch in Werther nur ein geringer
Anteil, die eigentliche Ausdrucksfunktion haben, wo das Sinnwort von der
Für die psychohistorische Erklärung dieses Wandels vgl. Ehrich-Haefeli (1995, 214-216;
im Druck).
Die Syntax des Begehrens 163
üblichen Stelle im Satz an den Anfang rückt und die Umstellung der regulären
Wortfolge eine vom Affekt geforderte Hervorhebung bewirkt.
Tanzen muß man sie sehen! (Goethe 1774/1981,24)
[Von Lottes Augen] Wie ein Meer, wie ein Abgrund ruhen sie vor mir. (Goethe 1774/1981,
92)
Tausend tausend Küsse hab ich darauf gedrückt, tausend Grüße ihm [dem Schattenbild]
zugewinkt. (Goethe 1774/1981,122)
O Lotte [...] umgibst du mich nicht! (Goethe 1774/1981, 122)
In diesen Kleidern, Lotte, will ich begraben sein, du hast sie berührt. (Goethe 1774/1981,
123)
So ungleich, so unstet hast du nichts gesehn als dies Herz. (Goethe 1774/1981,12)
Guter Gott [...] , alte Kinder siehst du und junge Kinder, und an welchen du mehr Freude
hast, das hat dein Sohn schon längst verkündet. (Goethe 1774/1981, 30)
Auf die 'subjektivierende' Funktion dieses einleitenden mir wurde schon hin-
gewiesen. Dabei ist aber zu beachten , dass dieses mir hier wie fast immer kei-
nen Akzent hat, die Funktion dieser Umstellung ist also nicht, durch eine unge-
wohnte Betonung das mir hervorzuheben. Wichtig hier ist die zweite Umstel-
lung, das Vorziehen des Akkusativ-Objekts, so dass der Vorgang, der das Ich
trifft, als ganzes (Verb mit beiden Objekten) und in steigender Betonung an den
Satzanfang rückt. Zuerst also, durch die Inversionen hervorgehoben, das Be-
rührtwerden und Leiden des Ich, Intensivierung des Verbalen, danach erst die
Benennung der Ursache, das Satzsubjekt - es ist das Umgekehrte von Stem-
heims Satz, in dem sie ihre Unruhe ausspricht. Ähnlich in Struktur und Wirkung
die folgenden:
Und mir durch die Seele gehn ein Trostgefühl und eine Erinnerung des Vergangenen
(Goethe 1774/1981, 91)
Es brennt noch auf meinen Lippen das heilige Feuer [...] (Goethe 1774/1981,117)
Es zerreißt mir mein inneres Eingeweide; ich kann nicht gerecht sein. (Goethe 1774/1981,
97)
Zum ersten Male, zum ersten Male ganz ohne Zweifel durch mein innig Innerstes durch-
glühte mich das Wonnegefühl: sie liebt mich! (Goethe 1774/1981,116f.)'
16
Schönbom an Gerstenberg (Goethe 1749-1805/1965, 82).
17
Die große Bedeutung der Präfixverben der Bewegung hat Langen (1949/1978) aufgewie-
sen.
164 Verena Ehrich-Haefeli
entstehende Satzganze willen, sich weniger auf das Einzelne einlassen kann: Da
das Verb noch aussteht, müssen die vorangehenden Adverbiale alle gleichsam
suspensiv oder halb-abstrakt, virtuell gelesen werden, sie können ohne das
Verb, dem sie zugeordnet sind, noch gar nicht voll 'aktualisiert' werden. Und
vom Satzende kehrt man kaum zurück, um das Manko an 'erfülltem' Lesen
nachzuholen - man hat ja verstanden. Der Übersicht stiftende Satzrahmen ten-
diert also dazu, die Evokationskraft des Einzel worts.zu schwächen - daher dann
die Intensivierung durch die Ausklammerung: "so simpel und so geistvoll!".
Das folgende Beispiel zeigt noch einen weiteren, in unserm Zusammenhang
besonders interessanten Aspekt:
Und wie ich wehmütig hinabsah auf ein Plätzchen, wo ich mit Lotten unter einer Weide ge-
ruht, auf einem heißen Spaziergange, - das war auch überschwemmt, und kaum daß ich die
Weide erkannte! (Goethe 1774/1981, 99)
Wieder bedarf es der Umformung in einen regulären Klammersatz, um die
Wirkungen der Ausklammerung zu fassen. 'Und wie ich wehmütig auf ein
Plätzchen hinabsah, wo ich auf einem heißen Spaziergang mit Lotten unter einer
Weide geruht'. Bei dieser Formulierung bleibt das Ich gleichsam am Ort der
Übersicht, oben auf dem Felsen, von wo es die Überschwemmung übersieht, es
blickt aus Distanz auf das Plätzchen hinunter so wie auf die ferne Erinnerung. In
Werthers Satz aber, wo die einzelnen Elemente nicht von der Satzklammer
beherrscht werden, kann das Richtungsverb in seiner Bewegung aktualisiert
werden, das Ich folgt gleichsam seinem Blick "hinab" und ist nun wieder unten
am Plätzchen bzw. in der Erinnerung, die nun Stück um Stück auftaucht, um
wieder nah und lebendig zu werden: mit Lotten - unter einer Weide - an einem
heißen Sommertag. So bewirkt also auch die Ausklammerung eine
Verminderung der Distanz, möglichst unmittelbares nahes Impliziertsein des
sprechenden Ich in der evozierten Situation. Dem Sukzessiven der
Redeentfaltung entspricht das Sukzessive - und entsprechend Intensivere - des
Geschehens, des Aufrufens der Erinnerung. Eine strukturelle Analogie zu dem,
was wir an der Episode der Naturbegegnung beobachteten, fällt auf.
Mattausch nennt neben der affektiven Betonung als wichtigste Funktion der
Ausklammerung die sukzessive Redeentfaltung bzw. sukzessives Denken; da er
aber keinen Vergleichskontext heranzieht und bei Einzelsätzen bleibt, kommt er
zu einer eher irreführenden Deutung der sprachlichen Tendenzen, die in den
Ausklammerungen am Werk sind: Sukzessives Denken versteht er als
"Abneigung gegen weite Spannungsbögen" (Mattausch 1965, 159), als Tendenz
zu einem bloß reihenden Nacheinander der Glieder. Unser Beispiel mit seiner
Fortsetzung zeigt schön, wie anders das Nacheinander hier funktioniert. Von
Spannungsverlust, von bloßer Reihung als Verminderung von struktureller
Komplexität kann keine Rede sein. Freilich bricht das angefangene Satzgefüge
nach "Sommertag" ab, formaliter folgt nach dem Gedankenstrich ein neuer
Hauptsatz "das war auch überschwemmt". Die Fachsprache nennt das 'Rück-
kehr in die syntaktische Ruhelage' (sie ist im Werther-Text nicht selten) - der
Satz als Sinnzusammenhang aber kommt an dieser Stelle ja nicht zur Ruhe, im
166 Verena Ehrich-Haefeli
Gegenteil: die Hauptsache der ganzen Aussage, dass das geliebte Plätzchen jetzt
zerstört ist, und so zerstört, dass Werther es kaum wiedererkennt, kommt ja erst.
Man kann die Probe aufs Exempel machen, um zu bemerken, wie überflüssig
die fehlenden Konjunktionen sind: 'Und wie ich wehmütig auf ein Plätzchen
hinabsah, wo ich [...] geruht, sah ich, daß auch das überschwemmt war, so daß
ich kaum die Weide erkannte' (in dieser Form könnte der Satz im Sternheim-
Text stehen). Es ist die vollständige Verdeutlichung aller logischen Artikula-
tionen, die dem Satzganzen hier seine Energie und Spannung nimmt. "Kein
Bindewörtchen darf außenbleiben", ärgert sich Werther über die Schreibvor-
schriften des Gesandten (Goethe 1774/1981, 61). Die Auflockerungen der
Wortstellung und das Weglassen logischer Scharniere beeinträchtigen das
energetische Gerichtetsein und die innere Kohärenz der Aussage nicht. Das
trifft auch zu auf die Stellen, wo als Zeichen von Werthers Verstörung die
äußerliche Desintegration des regulären Satzbaus am größten ist. Die unmittel-
bare Fortsetzung der analysierten Stelle zeigt das deutlich:
[...] und kaum daß ich die Weide erkannte! Wilhelm! Und ihre Wiesen, dachte ich, die Ge-
gend um ihr Jagdhaus! wie verstört jetzt vom reißenden Strome unsere Laube! dacht' ich.
Und der Vergangenheit Sonnenstrahl blickte herein, wie einem Gefangenen ein Traum von
Herden, Wiesen und Ehrenämtern.
Wohl kommt hier, vor Schmerz über die Zerstörung der geliebten Landschaft,
kein Satzgefüge zustande, sondern eine nur reihende Nennung - aber variiert -
der Einzelelemente; in dieser Reihung aber summiert sich die emotionale Span-
nung, die dann im abschließenden Gleichnissatz alles Vorangehende zusam-
menfasst im Bild eines, der alles Seine verloren hat.18
Hier wird nun ein Desiderat deutlich, das ich nicht nur aus Raumgründen
nicht leisten kann, nämlich über kurze Einzelsätze hinaus die Modulationen der
Wortstellung bzw. der Satzgliedfolge im Verlauf eines Textganzen zu verfol-
gen. In diese Textpartitur wäre zu integrieren - was Mattausch an einzelnen
Sätzen zeigt -, wie die Umstellungen der Wortfolge von Satz zu Satz jeweils
auch die Akzentverhältnisse und die Satzmelodie variieren. Die meist kurzen
Briefe entfalten ja nur die eine Thematik oder Situation, die Werther gerade
erfüllt, und sind entsprechend in einem Zug durchgeführt, in einem 'Textrhyth-
mus', der jedem Brief spezifisch ist, in der Art der Sätze einer Musikkomposi-
tion. Dieser Textrhythmus ist das Medium, in dem das Nacheinander der Rede
selber 'sprechend' und individuell wird; er charakterisiert eine Sprache, die
nicht nur Seelenbewegungen nennt und darstellt, sondern selber auch Bewegung
ist.
Es lohnt sich, zwei, drei Seiten der (langen) Stemheim-Briefe und zum Ver-
gleich zwei, drei Werther-Briefe sich laut vorzulesen. Dass es im Sternheim-
Bezeichnend, dass die Zusammenfassung hier in einem Bild vollzogen wird und nicht in
einer begrifflichen Reflexion über den "Verlust aller irdischen Glücksgüter", wie das
Fräulein von Sternheim sie an entsprechender Stelle anstellt. Der Unterschied der
Funktionsweisen von Bildern und Metaphern in den beiden Texten konnte hier nicht
entwickelt werden.
Die Syntax des Begehrens 167
Text so gut wie keine expressiven Inversionen gibt (eine einzige ist mir aufge-
fallen, und zwar im Moment des größten Unglücks der Heldin, nicht etwa des
endlichen Liebesglücks) und auch Ausklammerungen zu fehlen scheinen, wun-
dert jetzt nicht; denn da hier Fühlen und Wünschen - sowieso schon gefiltert
durch die "richtigen Begriffe" - nur vom Ratio-Ich besprochen werden, selber
aber nicht mitsprechen dürfen, haben sie weder Anlass noch Gelegenheit, die
geregelte Satzordnung in Bewegung zu bringen. So herrscht im Stemheim-Text
eine merkwürdig neutrale, gleichförmige Tonlosigkeit; in den Werther-Briefen
hingegen spricht eine Stimme von beinahe schockierender Lebendigkeit, Nähe,
Intimität - und von einem unabsehbaren Modulationsreichtum. Zu dieser
Stimme gehören ja nicht nur die leidenschaftlichen Aufschwünge der Be-
glückung, der Verzweiflung; zu ihr gehört auch, neben noch ändern Registern,
ein herzlich-vertraulicher umgangssprachlicher Ton - auch hier spielen Inver-
sionen etc. eine große Rolle -, dank dessen einfacher Wärme gerade die kleinen
Szenen und Details des Alltags dem Leser "so interessant und herzlich" werden
(Goethe 1774/1981, 23), wie Lotte es sich beim Lesen wünscht. Auffallend
auch, wie viele Dinge und Wesen von Werther mit du angeredet werden - bei
dem Fräulein von Stemheim sind es nur die Tugenden. Wenn die damaligen Le-
ser von der "Wahrheit" des Werther-Texts so beeindruckt waren, verdankt sich
das wohl nicht nur der 'realistischen' Nähe des Texts zum sinnlich-konkreten
Einzelnen, Wirklichen (s. oben S. 144); die unwiderstehliche Wirkung des
Buchs verdankte sich auch dem so noch nicht erhörten Ton einer lebendigen
Stimme, in der ein Mensch als ein 'Ganzes' sich mitteilt.19 Das eigentlich In-
novative der Werthersprache liegt also nicht so sehr in Inversionen und Aus-
klammerungen und anderen Einzelheiten, sondern darin, dass hier ein individu-
eller Prosarhythmus laut wird - das sprachliche Äquivalent dessen, dass die
Dynamik des Begehrens hier mitspricht und Individualität als zeitlich werdende
sich konstituiert.
Zum Schluss ist noch eine grundsätzliche Reflexion nötig. An der wenn-Pe-
riode, diesem Spezifikum der Werthersprache, das das neuartige "Streben" der
modernen Individualität sprachlich demonstriert, hat sich beispielhaft gezeigt,
dass sprachliche Innovation kaum denkbar ist, ohne dass der Autor sich auf
schon vorhandene Gestaltungsweisen stützt.20 Das Neue ist dabei nichtsdesto-
weniger neu; entscheidend ist, in welcher Weise das überkommene Material im
neuen Text und Kontext umfunktioniert wird. Diese Reflexion gilt natürlich
auch für die anderen innovativen Aspekte der Werthersprache, die hier aus-
schließlich im Hinblick auf ihre Funktion erörtert wurden, ein neuartig komple-
xes 'Ich' auszusprechen. Die neuen Ausdrucksbedürfhisse dieses 'Ich' schaffen
sich ihre Sprache natürlich nicht voraussetzungslos; es "geht" ihm nicht einfach
"von Herzen", wie Faust zu Wagner meint. Sehr Vieles an Sprachmustem,
Tönen, Wendungen, Registern muss gespeichert und verinnerlicht worden sein,
19
Vgl. Ehrich-Haefeli (1994, 63ff.); Schings (1994).
20
Auf die Herkunft der literarischen wenn-Penode als solcher aus der Homiletik hat Herder
hingewiesen.
168 Verena Ehrich-Haefeli
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der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart.
Karl-Ernst Geith
Als die Burgunder auf Einladung Kriemhildes an den Hof von Etzel kommen,
sind sie vorher schon von Dietrich von Bern über die Einstellung und die Ge-
sinnung Kriemhildes unterrichtet und vor bösen Absichten der Königin gewarnt
worden:
sol leben die vrouwe Kriemhilt, noch mac schade ergen (Str. 1726, 2)
Kriemhilt geht bei der Ankunft der Burgunder mit ihrem Gesinde zu ihnen und
begrüßt allein ihren Bruder Giselher:
Kriemhilt diu schoene mit ir gesinde gie
da si die Nibelunge mit valschem muote enpfie.
si kuste GiseMren und nam in bi der hant.
daz sah von Tronege Hagen den heim er vaster gebant
sprachliche Handlungen, die die Erscheinung und den Charakter einer Figur in
wirksamer Weise hervortreten lassen können, oder um körperliche Ausdrucks-
formen, die das Sprechen begleiten und unterstützen.1
Zieht man die Begriffe der modernen Linguistik heran, so handelt es sich
bei diesen Fällen um verbale und nichtverbale Kommunikation, um Sprechakte
und Ausdrucksformen der Körpersprache.
Der Zusammenhang von direktem Sprechen und begleitenden körper-
sprachlichen Ausdrucksformen war auch schon im Mittelalter bekannt und ist in
zahlreichen Zeugnissen belegt. Zu erinnern ist nur an das sehr differenzierte
System der Gebärden und Zeichen in den Klöstern als Mittel zur Befolgung des
Schweigegebots, an die Rituale und Gesten im religiösen, vor allem liturgischen
Bereich oder an die Gesten und Gebärden bei Rechtshandlungen oder politi-
schen Aktionen.2
Die Verbindung von sprachlichem Ausdruck und körperlichem Verhalten
wurde von Thomasin von Zirclaria (1965, V. 912-921) so gekennzeichnet:
Der lip wandelt sich nach dem muot.
des libes gebaerde vns dicke bescheit,
hat ein man Heb oder leit.
da von mac ein ieglich man.
der die gebaerde bescheiden kan,
M der gebaerde, ob er wil,
version dinges harte vil.
ein ieglich tue hat
sin gebaerd, swer hat den rät
daz erz erkennt und ouch den sin.
Vorher war schon das richtige Verhalten von junchherren und juncfrouwen
beschrieben worden, wobei sprachliche (niht lüt sprechen, V. 406; selten iht
sprechen, V. 465f.; schallen und geuden, V. 297) und nichtsprachliche Ele-
mente (swingen niht sin hende, V. 445; sitzen mit bein über bein, V. 412; lachen
niht ze vil, V. 529) unterschiedslos genannt werden.
Im vorliegenden Beitrag soll der Versuch unternommen werden, nach Ele-
menten der nichtverbalen Kommunikation im deutschen Rolandslied zu fragen
und das betreffende Material unter den relevanten Aspekten der linguistischen
Diskussion zu untersuchen. Da das Rolandslied eine Übertragung der Chanson
de Roland ins Deutsche darstellt, wenn auch mit deutlichen Erweiterungen oder
Kürzungen des deutschen Autors, wird in jedem Fall der afrz. Text als Ver-
gleichsgrundlage heranzuziehen sein, um Übernommenes und Eigenes im deut-
schen Werk unterscheiden zu können.
In der linguistischen Diskussion werden nonverbale Kommunikationsfor-
men zu den illokutionären Sprechakten gerechnet, die sich statt der Sprache
anderer Ausdrucksformen bedienen (vgl. dazu Karabalic 1994, 7ff). Die wich-
tigsten Ausdrucksmittel dieser Art sind Mimik und Gesichtsausdruck, Blick-
1
Für die höfische Literatur ist das Material zusammengestellt bei Peil (1975).
2
Vgl. zu den verschiedenen Erscheinungsweisen der Körpersprache die Beiträge in
Langages 10 (1968).
Zur nonverbalen Kommunikation im Rolandslied 173
oder der Ablauf von Zweikämpfen zu dem Bereich des Gebarens gerechnet
werden und so die Genauigkeit des Zugriffs verloren geht.
Am eindrucksvollsten werden im Rolandslied Manifestationen nichtverbaler
Art im Zusammenhang mit Karl dem Großen beschrieben. Karl, der sich, anders
als in der Chanson de Roland, als die zentrale Figur des Rolandslied erweist,
hält nicht nur ausgedehnte predigtähnliche Ansprachen oder spricht mehrmals
eindringliche Gebete, er begleitet und unterstützt seine sprachlichen Äußerun-
gen auch in der Regel mit Ausdrucksformen nonverbaler Art oder reagiert mit
solchen Manifestationen auf Reden und Handeln seiner Umgebung.3
Das geschieht vor allem in Situationen der Trauer und des Schmerzes.
Schon als Roland von Genelun und den Fürsten zum Anführer der Nachhut
vorgeschlagen wird, reagiert Karl aus Bestürzung und Trauer über diesen Be-
schluss mit starken körpersprachlichen Äußerungen:
Der kaiser harte erblaichte:
daz houbit er nidir naicte,
daz gehdrde von ime flöch,
3
Hier und im Folgenden sollen aus dem Material des Rolandslied aus räumlichen Gründen
nur die wichtigsten Stellen herangezogen werden. Auf weitere Stellen wird nur verwiesen.
174 Karl-Ernst Geith
Vgl. Karabalic (1994, 134). Es ist abwegig dieses Verhalten Karls als "eindeutig,
unwürdig" zu bezeichnen, wie Schubert (1991,103) das tut. Karls Schmerz ergibt sich hier
und schon bei der Ernennung Rolands zum Anführer der Nachhut aus seiner starken
Bindung an Roland und gehört wie die anderen Eigenschaften des Kaisers zu den
Merkmalen seiner Herrscherpersönlichkeit.
Vgl. Chanson de Roland, V. 773; 841; 2414; 2943; 4001.
Vgl. dazu Beszard (1903).
Vgl. auch Rolandslied, V. 8771 f.
Vgl. auch V. 1539; 2737; 5696.
Vgl. auch V. 7131; 7437.
176 Karl-Ernst Geith
schrieben werden. So heißt es über die Fürsten, als sie die Leiche Rolands se-
hen:
Fürsten die Herren
rouften sich selben harte.
Bi hare unt bi barte
liden si groz ungemach. (Rolandslied, V. 7522-7525)
Kollektives Weinen wird öfters auch von dem ganzen Heer der Franken be-
richtet:
Si müsen alle vol wainen (Rolandslied, V. 3239)''
Zu den Expressiva, d. h. den nonverbalen Ausdrucksformen von Emotionen
gehören neben den Tränen noch weitere körpersprachliche Äußerungen. Zu
nennen ist hier zunächst der Blick als Ausdruck von Zorn oder Angst: Als Ge-
nelun von Karl der Handschuh als Symbol seiner Gesandtenfunktion überreicht
wird, heißt es von ihm:
Er tete die wulvine blicke (Rolandslied, V. 1418)
In der Chanson de Roland erscheint an der entsprechenden Stelle:
Vairs out les oilz et mult fier lu visage (Chanson de Roland, V. 283)
Von dem zornerfüllten Blanscandiz wird gesagt:
Der alte mit deme barte
der irzumte harte,
ime vüreten diu ougen (Rolandslied, V. 2151-2153)
Bei Genelun wird später der Gegensatz von äußerem Verhalten und innerer
Stimmung so charakterisiert:
Genelun in mittin gestirnt —
truobe was ime sin muot -
mit lachenten ougen. (Rolandslied, V. 2853-2855)
Auch das Erbleichen kann Zorn oder Angst ausdrücken:
Genelun erbleichte harte (Rolandslied, V. 1382)
In der Chanson de Roland fehlt hier eine körpersprachliche Reaktion:
Et li quens Guenes en fut mult anguisables (Chanson de Roland, V. 280)
Auch bei Karl und Marsilie ist das Erbleichen Ausdruck von Angst. Als Roland
als Anführer der Nachhut vorgeschlagen wird, heißt es von Karl:
Der kaiser harte erblaichte (Rolandslied, V. 2965)
Ähnlich reagiert Marsilie, als er die Botschaft Karls vernimmt:
Marssilie al umbe warte,
er erbleichte harte,
er gwan manigen angestlichen gedanc (Rolandslied, V. 2052-2054)
10
Vgl. auch V. 1733; 7494; 7938; 3134; 3239.
11
Vgl. V. 7495; 7522; 7938.
Zur nonverbalen Kommunikation im Rolandslied 177
12
Vgl. auch V. 1756; 2855; 3709.
13
Vgl. dazu Burger (1960,2-11); femer Payen (1981, 387-391).
178 Karl-Ernst Geith
Äußerungen der Sprecher mit dem Ausdruck üfspranc eingeleitet, ein Zug der
in der Chanson de Roland fehlt:
Üf spranc der helt Rölant (V. 911)
Genelun üf spranc (V. 1093)
Uf stunt der erzebiscof Turpin (Rolandslied, V. 969)
Als Emotionsausdruck kann auch Karls Schweigen, manchmal verbunden mit
dem Senken des Kopfes, gewertet werden. Dieses Verhalten erscheint in Situa-
tionen der Unentschlossenheit oder als Ablehnung der Vorschläge anderer
Figuren des Werkes. Während und nach der Rede von Blanscandiz, in der er das
Friedensangebot von Marsilie vorträgt, heißt es über Karl:
Der kaiser sich alliz enthilt,
also ime sin wistum riet,
unze er die rede getichte.
Daz houbit er widir üf richte,
er sprach. [...] (Rolandslied, V. 771-775)
Dieses "beredte" Schweigen Karls erscheint auch als seine Reaktion auf die
Vorschläge der Fürsten:
Der kaiser geswigete vile stille
[...]
Daz houbit er nidir neigete,
daz s!n niman innen wart (Rolandslied, V. 1047-1053)
Das Schweigen des Kaisers und das Senken des Kopfes als Zeichen der Nach-
denklichkeit erscheint im gleichen Zusammenhang auch schon in der Chanson
de Roland, wobei dort noch eine weitere Geste - das Händeaufheben - das
Verhalten Karls begleitet:
Li empereres en tent ses mains vers Deu
Baisset sun chef, si cumencet a penser. Aoi
Li empereres en tint sun chef enclin,
de sä parole ne fut mie hastifs;
Sa custume est qu'il parolet a leisir.
Quant se redrecet, mult par out fier lu vis,
Dist ad messagesf...] (Chanson de Roland, V. 137-143).
Wenig später werden in der Chanson de Roland noch weitere Gesten Karls
genannt, die sein Schweigen begleiten:
Li emperere en tint sun chef enbrunc,
Si duist sa barbe, afaitad sun gernun,
ne ben ne mal ne respunt sun nevuld (Chanson de Roland, V. 214-216)
Sehr wahrscheinlich liegt in dieser Form des Nachdenklichseins - pensif-Seins
- das Erzählmotiv eines archaischen Trancezustandes vor, wie es sich auch in
anderen literarischen Kontexten, z.B. bei König Artus, im Parzival oder Iwein,
findet.15
14
Vgl. auch V. 425; 585; 1140; 1298; 1332; 1364; 3113; 2570; 2093; 6101; 7353.
15
Vgl. dazu Wolf (1999, 255, Anm. 8 und 171 mit Anm. 62).
Zur nonverbalen Kommunikation im Rolandslied 179
Eine andere Form des Schweigens von Karl wird durch seine Hilflosigkeit
und Ohnmacht bewirkt, beim Gottesgerichtskampf einen eigenen Vertreter
gegen den für Genelun kämpfenden Pinabel zu finden. Hier sind die stummen
Blicke des Kaisers - eines der wenigen Beispiele von Blickkontakten im Ro-
landslied - der Ausdruck seiner Emotion:
Von manne ze manne
sach der kaiser hin unt her (Rolandslied, V. 8808f.)
In der Chanson de Roland fehlt dieses Motiv. Karls Seelenzustand wird dort
wieder durch das Senken des Hauptes angedeutet:
MuH l'enbrunchit e la chere et le vis (Chanson de Roland, V. 3816)
Eine Reihe von Ausdrucksmitteln der Körpersprache lassen sich bei Karl - und
anderen Figuren - als Ritualia d. h. konventionelle Vollzugsmittel in ritualisier-
ten Situationen, bestimmen.16 Es sind vor allem Gesten, die bei Gebeten und
liturgischen Situationen beschrieben werden. Am häufigsten wird dabei das
Niederknien zum Beten genannt.
Der kaiser viel zu der erde (Rolandslied, V. 3048)
oder:
der kaiser sin gebet sprach:
in siner halsperge
viel er dicke zu der erde (Rolandslied, V. 1075-77)
Eine Sonderform der Gebetshaltung ist das Niederfallen in Kreuzesgestalt, das
bei Olivier und Roland und einmal auch bei Karl genannt wird:
Do viel er in crücestal (Rolandslied, V. 6493)
Rolant viel in crücestal (Rolandslied, V. 6895)
16
Vgl. dazu V. Karabalic (1994,117).
17
Ähnlich V, 2998; 3499; 3937; 5791; 6966; 6990; 7903; 8881.
18
Vgl. auch V. 4868; 6916; 7906.
180 Karl-Ernst Geith
Entsprechend der geistlichen Umformung des Rolandslied, wird dort viel mehr
gebetet als in der Chanson de Roland, und diese Gesten sind in dem deutschen
Werk also auch häufiger vertreten.
Als ritualisierte Gesten, die sowohl bei Heiden als auch bei Christen er-
wähnt werden, sind die körpersprachlichen Ausdrucksformen bei Begrüßung,
Abschied oder Bezeugung der Freundschaft und Verehrung. Hier erscheinen
immer wieder vor allem die Vemeigung, der KUSS und die Umarmung.
Die beiden nigen alle samt (Rolandslied, V. 439)
Genelun geneich sinem herren (Rolandslied, V. 1636)
Der KUSS kann als Geste des Abschieds oder der Freundschaft genannt werden.
Als Genelun zu den Heiden aufbricht, heißt es von Karl:
Der chaiser chuste in sä zestunt (Rolandslied, V. 1537)
Als Geste der Freundschaft kann der KUSS von Brachmunt gelten:
Uf stunt do Brachmunde,
si kust in (= Genelun) da ze stunt (Rolandslied, V. 2569f.)
Die Umarmung kann den KUSS begleiten oder auch allein genannt werden:
Mit umbeslozzenen armen
si chusten ein ander
behanden si sich vingin (Rolandslied, V. 2219-2221)
19
Vgl. auch V. 676; 1442; 1668; 1906; 6488; 8352; 8621.
J0
Ich folge hier dem emendierten Text von Kartschoke (1993, 684f.); vgl. auch V. 2220;
2717; 2479; 3217; 8725.
Zur nonverbalen Kommunikation im Rolandslied 181
des Hauptes durch den Mantel bei Marsilie als Ausdruck seiner extremen
Trauer interpretiert werden.
Er viel üf denbanc
den mantel er umbe daz houbit want. (Rolandslied, V. 2735f.)
Auch Genelun drückt seine Verzweiflung durch eine Geste mit seinem Mantel
aus:
Den mantel warf üf die erde (Rolandslied, V. 1453)
Um eine eher archaische Geste handelt es sich wohl, wenn Paligan die Königin
Brechmunda zum Trost unter seinem Mantel birgt:
Paligan vie sie unter sinin mantel,
er tröste die frouwin (Rolandslied, V. 7390f.)
Alle diese Szenen fehlen in der Chanson de Roland.
Außerhalb des engeren Bereiches der sprachlichen Kommunikation können
auch Kleidung und Ausrüstung eine zeichenhafte Funktion haben, d. h. Aus-
druck einer nonverbalen Kommunikation sein.22
Das wird im Rolandslied besonders deutlich bei der Schilderung der äußeren
Erscheinung von Genelun, bei der besonders das Leuchten seines Gesichtes her-
vorgehoben wird:
Sin antlizze was hersam
Sin varwe di bran
sam die lichten vüres flammen (Rolandslied, V. 1658-1660)
Ähnlich wird auch das Gesicht Karls beschrieben, als sich ihm die heidnischen
Boten nahem:
Sin antlize was wunnesam
[...]
Ja IQchten sin ougin
sam der morgensteme
[...]
sin antlizze was zirlich
[...]
die lüchte gab in den widirslac
sam der sunne umbe mittin tac. (Rolandslied, V. 683-696)
Doch solche Stellen gehören bereits zum Bereich der Beschreibung und sind
nicht verbunden mit Sprechakten.
Insgesamt erweist sich das Material der nonverbalen Kommunikation als
wichtiges Element der Darstellung in beiden Roland-Dichtungen. Die körper-
sprachlichen Äußerungen unterstreichen und verstärken in wirkungsvoller
Weise das Sprechen der Personen. Dabei sind die Akzente in den beiden Wer-
ken unterschiedlich verteilt. Die Chanson de Roland ist in der Nennung von
emotionalen nonverbalen Ausdrucksformen sparsamer und nüchterner als das
Rolandslied, dafür etwas illustrativer bei Vorgängen aus dem feudalrechtlichen
Bereich. Im Rolandslied ist der Anteil der religiösen und liturgischen Gesten,
11
Vgl. zu diesem Aspekt Raudszus (1985).
Zur nonverbalen Kommunikation im Rolandslied 183
sowie das Inventar der Schmerz- und Klagegesten stärker vertreten, besonders
in Verbindung mit der Figur Karls.
Literaturverzeichnis
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Literatur. Hg. v. Martina Backes/Francis G. Gentry/Eckart Conrad Lutz. Tübingen, 251-
270.
Walter Haas
l. Einleitung
Cyril Hegnauer zeigt sich in seiner Abhandlung über das Sprachenrecht erstaunt
über den bescheidenen Platz, den dieser Zweig der Rechtspflege in der
mehrsprachigen Schweiz einnimmt.1 Doch so überraschend ist dies nicht. Die
Eidgenossenschaft setzt in einem gewissen Sinne vorrevolutionäre staatsrechtli-
che Verhältnisse fort, in denen der über die Sprache definierten Nation keine
legitimationsstiftende Funktion zukam. Die Schweiz ist weder wegen noch trotz
ihrer Mehrsprachigkeit eine Nation. Sie ist vielmehr ein Staatswesen, für dessen
Zusammenhalt keine Einzelsprache eine Rolle spielt, wie für die meisten
Staatswesen des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Das Zusammenleben der
Sprachträger wird vorwiegend durch Tradition und Brauch geregelt, nicht durch
geschriebenes Recht.2
Ein weiteres "vormodernes" Charakteristikum der Schweizer Sprachwirk-
lichkei ist eine ungewöhnlich starke Stellung der Substandardvarietäten.3 Dies
kompliziert die mehrsprachige Situation zusätzlich und macht "ausgefeilte"
Regelungen noch unpraktikabler. In der deutschen Schweiz werden von allen
Einheimischen in fast allen mündlichen Situationen lokale Dialekte verwendet,
während die Standardsprache ebenso durchgehend für alles Geschriebene dient,
eine Situation, für die Gottfried Kolde den Begriff der medialen Diglossie ge-
prägt hat.4 Ähnlich, wenn auch nicht identisch, sind die Verhältnisse in der
italienischen und in der rätoromanischen Schweiz. Nur in der Westschweiz sind
die patois fast vollständig durch standardnahe Register ersetzt worden.5 Das
Konfliktpotenital wird nochmals erhöht durch die Tatsache, dass die Dialekte
Gottfried Kolde hat sich, ursprünglich aus dem niederdeutschen Raum stammend, als einer
der ersten soziolinguistisch mit dem alltäglichen Zusammenleben der Sprachen in der
Schweiz beschäftigt. Es hat sich aus dem Thema ergeben und ist keiner festschriftlichen
Zwangssynthese zu verdanken, dass in meinem Beitrag vom Französischen, Deutschen,
Schweizerdeutschen und Niederdeutschen die Rede ist. Ich hoffe, die Materie so abgehan-
delt zu haben, dass der Jubilar einigen meiner Ideen zustimmen kann, aber hoffentlich
nicht allen. Das würde unserm Wesen und unserem guten Verhältnis widersprechen.
Hegnauer (1947, 3).
Windischetal. (1992).
Vgl. Haas (1998).
Kolde (1981, 65ff.).
Darstellung z. B. in Schläpfer (1982).
186 Walter Haas
nicht nur ein gutes Zeichen; sie zeigt auch, dass das Zusammenleben der Ge-
meinschaften problematischer geworden ist.11 Umso bedenklicher wird damit
die notorische Unreflektiertheit zentraler Begriffe, mit denen die rechtliche
Diskussion die "Realität" einzufangen versucht. Einen Musterfall dafür bietet
der Gebrauch der Ausdrücke Sprache und Dialekt. Ich stelle die These auf, dass
das Sprachenrecht mit Hilfe dieser Begriffe naiv und daher besten Gewissens
ein Zweiklassenrecht praktiziert, vor dem die einen Idiome und damit ihre Spre-
cher minderen Rechts sind als die ändern, und möchte diese These anhand eini-
ger Beispiele vertreten.
Art. 70
1. Die Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr
mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätotomanische Amtssprache des
Bundes.
2. Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Um das Einvernehmen zwischen den
Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusam-
mensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Min-
derheiten.
3. Bund und Kantone fördern die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprach-
gemeinschaften.
4. Der Bund untersützt die mehrsprachigen Kantone bei der Erfüllung ihrer besonderen
Aufgaben.
5. Der Bund unterstützt Massnahmen der Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung
und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache.
Der Sprachenartikel von 1848 galt unverändert bis 1938, de facto bis zur Revision von
1996, welche einige (zaghafte) Neuerungen brachte. Sprachlich ersetzte sie im deutschen
Text Nationalsprache durch Landessprache. Dieser Ausdruck (übernommen vom geschei-
terten Verfassungsentwurf von 1977) vermeidet den im Deutschen besonders problemati-
schen Begriff der Nation. Die Totalrevision der BV von 1999 brachte bereits drei Jahre
später wieder einige Änderungen; fortschrittlich ist die Verankerung der Sprachenfreiheit
in Art. 15.
Vgl. z. B. die Diskussionen in den eidgenössischen Räten, die zur Revision des Sprachen-
artikels 1996 geführt haben: Amtliches Bulletin der Bundesversammlung - Ständerat,
1992, S. 1044ff.; 1050ff; Nationalrat, 1993, S. 1541ff. Ebenfalls einschlägig für unser Pro-
blem sind die Parlamentsdiskussionen über den Bericht zur Verbesserung der Verständi-
gung zwischen den Sprachgebieten: Amtliches Bulletin der Bundesversammlung - Stände-
rat, 1993, S. 1032ff.; Nationalrat, 1994, S. 362ff.; 379ff. - Femer: Schläpfer et al. (1991).
Erst beginnend mit dem Reglement von 1942 finden sich auf der Freiburger Kantons- und
Universitätsbibliothek deutsche Fassungen der entsprechenden Texte - dies ist für die
sprachenpolitische Situation dieses Kantons aufschlussreich, gehört aber nicht zum
Thema.
188 Walter Haas
Auf den ersten Blick scheint der Artikel typisch für sprachenrechtliche Normen:
Er regelt die Verwendung mehrerer Idiome, die zur Auswahl stehen,13 und er tut
dies in einer Domäne, die dem Staate zur Regelung übertragen ist. Ein zweiter
Blick enthüllt einige Auffälligkeiten. Ziel des Artikels ist nicht etwa die Festle-
gung der Geltungsbereiche der beiden Schulsprachen - was man von einer
Sprachenregelung in einem mehrsprachigen Kanton vor allem erwarten würde.
Offenbar wurden aber die überlieferten Sprachverhältnisse als so selbstver-
ständlich empfunden, dass sie gesetzlicher Festlegung nicht zu bedürfen schie-
nen. Viel wichtiger war ein sprachpädagogisches Ziel: Über die Einschränkung
des Mundartgebrauchs wollte man die Kenntnis der Standardvarietäten fördern.
Auch die Unreflektiertheit der Sprachbegriffe fehlt im Freiburger Schulregle-
ment nicht. So könnte es überraschen, dass die Schulsprachen als Mutterspra-
chen bezeichnet werden, obwohl sie von den Schülern offenbar schlechter als
die Dialekte verstanden wurden. Doch der Begriff Muttersprache steht hier
nicht für "Erstsprache", sondern für "nationale Standardsprache", im Sinne
einer Ideologie, die man von Frankreich übernommen hatte.14 Immerhin erlaubt
der zweite Satz den didaktischen Einsatz des Dialekts, und hier verrät sich zwei-
fellos der Einfluss des Freiburger Reformpädagogen Pere Gregoire Girard
(1765-1850), der den Muttersprachunterricht systematisch auf der Mundart
hatte aufbauen wollen.15
Aus dem sprachpädagogischen Ziel des radikalen Regimes von 1850 wurde
in der Revision durch die Konservativen von 1886 ein eigentliches sprachpoliti-
sches Programm:
Art. 171
L'usage du patois est severement interdit dans les ecoles; la langue fran9aise et l'allemand
grammatical (Schriftdeutsch) sont seuls admis dans Fenseignement. Les instituteurs veil-
lent a ce que, en dehors de l'ecole et dans les conversations entre enfants, il en soit de
meme.
13
"Im Verhältnis zur Sprache an sich ist das Recht notwendigerweise untergeordnet" [...]
"Der Begriff des Sprachenrechts bezeichnet somit die Frage nach der rechtlichen Normie-
rung des Gebrauches der verschiedenen menschlichen Idiome." (Hegnauer 1947, 5f, Anm.
14
1).
Vgl. Goebl (1986).
15
Ziel auch von Girards Sprachunterrichts war selbstverständlich die Beherrschung der
Standardsprache, und er sagte einmal, dass die Mundarten die Erreichung dieses Ziels er-
schwerten. Ihn deshalb zum Feind der Mundarten abzustempeln, wozu Patois-Freunde
neigen (s. Anm. 19), ist völlig verfehlt. Girard teilte Pestalozzis Überzeugung, dass der
Unterricht vom Bekannten auszugehen habe, und er war der erste (nicht nur im französi-
schen Sprachgebiet), der folgerichtig auch den Sprachunterricht auf die Mundart der Kin-
der aufbaute; deshalb ließ er in seiner Grammaire des campagnes (Fribourg 1821) häufig
vom Patois ins Französische und umgekehrt übersetzen oder er ließ die Kinder über
"maieutische" Fragen z. B. das Pronominalsystem des Patois produzieren, um sie dessen
Struktur entdecken zu lassen. Mit der Feststellung "En franfais, c'est autrement" werden
dann die abweichenden Standardformen an die bewusst gewordenen muttersprachlichen
Strukturen angeknüpft. Wertende Bemerkungen zur Mundart fehlen. Vgl. Both (1941,
49ff.) zur Methode der Grammaire des campagnes.
Über den juristischen Umgang mit Substandardvarietäten 189
16
Sie wurde als Artikel 188 wörtlich in die Revision von 1913 übernommen.
17
Vgl. Hegnauer (1947, 12ff.)· - Sie wird seit 1999 von der totalrevidierten Bundesverfas-
sung ausdrücklich garantiert (Art. 18), während sie 1996 noch im Parlament gescheitert
war (s. unten, Abschnitt 4).
18
Der entsprechende Artikel 177 lautet in der deutschen Version: "Es ist streng verboten,
sich in der Schule des Dialekts zu bedienen; die französische und die schriftdeutsche Spra-
che sind beim Unterrichte allein zulässig."
19
Der Kampf um die frankoprovenzalischen Dialekte in der Schule ist ausführlich dargestellt
bei Humbert (1943, speziell 205ff.). - Die Verteidiger des Patois neigen dazu, die Haupt-
schuld am Verschwinden der Mundarten der Schule zuzuweisen; dabei wird aber nicht nur
eine gewisse soziokulturelle Bereitschaft zur Mundartfeindlichkeit in der romanischen
Sprachkultur vergessen, sondern auch die historische Tatsache, dass es in der Westschweiz
schon seit dem 17. Jahrhundert städtische Kreise gab, welche das Standardfranzösische zu
ihrer Alltagssprache gemacht hatten. Die Verdrängung des Patois in den (meist katholi-
schen) Reliktgebieten war die Weiterführung eines Prozesses, der anderswo in der franzö-
sischen Schweiz lange vorher begonnen hatte.
20
Wie die Verdrängung der Patois im französischen Kantonsteil nicht isoliert von der Situa-
tion in der übrigen Westschweiz verstanden werden kann, so ist auch die "Lebenskraft"
der deutschen Freiburger Mundarten vor dem Hintergrund der deutschen Schweiz zu se-
hen. Anders als im französischen Landesteil (und im deutschen Reich) hatten sich hier vor
der Französischen Revolution keine autochthonen Gruppen gebildet, welche die Standard-
sprache zur Alltagssprache gewählt hatten. Der Sprachenartikel des Freiburger Schul-
190 Walter Haas
reglements, der ganz auf der französischen Kulturtradition aufbaut, hatte im deutschen
Kantonsteil nicht die geringste Chance der Durchsetzbarkeit.
21
Die Formulierung der ersten Ausgabe (1923, 26) wird unverändert in die zweite Ausgabe
(1949, 391) übernommen.
22
Art. 7.
1. Der Unterricht wird in den Schulkreisen, deren Amtssprache Französisch ist, auf franzö-
sisch, in den Schulkreisen, deren Amtssprache Deutsch ist, auf deutsch erteilt.
2. Gehören einem Schulkreis entweder eine Gemeinde mit französischer und eine Ge-
meinde mit deutscher Amtssprache oder eine zweisprachige Gemeinde an, so gewährleis-
ten die Gemeinden des Schulkreises den unentgeltlichen Besuch der öffentlichen Schule in
beiden Sprachen.
23
Es ist schon behauptet worden, der Dialektgebrauch in der deutschen Schweiz sei "en fait
le seul probleme linguistique de notre pays". Ständerat Jean Cavadini in der Diskussion
des Vorschlags eines neuen Sprachenartikels, Amtliches Bulletin der Bundesversammlung
- Ständerat, 1992,1048; Widerspruch von Bundesrat Cotti ebd., 1057.
24
Zur Realität des Deutschunterrichts in der Romandie vgl. Kolde (1987), Kolde/Rohner
(1997). Kolde/Rohner (1997, 226f.). berichten z. B. von (vereinzelten und schwierigen)
Über den juristischen Umgang mit Substandardvarietäten 191
Wunder also, dass man sich unter diesen Umständen gem an den rechtlichen
Unterschied zwischen einem "Dialekt" und einer "Sprache" erinnert. Warum
sollte man den Dialekt nicht wie seinerzeit die Freiburger Regierung kurzerhand
verbieten, wenigstens dort, wo der Zentralstaat Einfluss nehmen kann, z. B. in
den staatlichen Medien der deutschen Schweiz? Denn diese Unternehmen re-
flektieren die Sprachsituation der Region und lassen ihre Sendungen zu einem
erheblichen Teil in Mundart moderieren.25
Gestützt auf solche Überlegungen schrieb 1992 die Schweizerische Konfe-
renz der kantonalen Erziehungsdirektoren unter dem damaligen Ständerat Jean
Cavadini an den Bundesrat als Konzessionsbehörde:
Da die Erfahrung leider gezeigt hat, dass die SRG nicht in der Lage ist, aus eigener Ein-
sicht den Dialektgebrauch zu beschränken, muss dieses Anliegen offensichtlich von der
Konzessionsbehörde aufgenommen werden. Wir ersuchen Sie daher, im Rahmen der Kon-
zession grundsätzlich den Gebrauch des Hochdeutschen vorzuschreiben; Sendungen in
Mundart sind selbstverständlich für die lokalen Medien und für besondere Situationen und
Sendegefasse vorzubehalten.26
In abgeschwächter Form trug der Bundesrat diesem Begehren in der erneuerten
Konzession Rechnung und verbot den Mundartgebrauch für gewisse Sendun-
gen:
Art. 3.6.
In wichtigen, über die Sprach- und Landesgrenzen hinaus interessierenden Informations-
sendungen ist in der Regel die Hochsprache zu verwenden; dies gilt insbesondere für alle
sprachregionalen Nachrichtensendungen.27
Solche Maßnahmen werden damit begründet, dass sie das Verständnis zwischen
den Sprachregionen förderten. Dies ist wenig wahrscheinlich - dafür kennt man
die Mediengewohnheiten der Regionen zu gut.28 Wie beim Sprachenartikel des
alten Freiburger Schulreglements konnte die wahre Absicht der Erziehungsdi-
rektoren nur die Veränderung des alltäglichen Sprachgebrauchs der Deutsch-
schweizer sein, indem sie deren Dialekte aus einer Domäne zu verbannen such-
ten, die für den Status eines Idioms wichtig ist, weil sie es "vernehmbar" macht.
Alles weist darauf hin, dass es diese symbolische Komponente des medialen
Mundartgebrauchs ist, gegen die sich die Reaktion richtet, nicht das Verständ-
nisproblem.
Wer eine derartige Kampagne gegen ein Idiom führen würde, das als
"Sprache" bezeichnet wird - und wäre es noch so klein -, müsste mit einem
Sturm der Entrüstung rechnen. Es würde in der Tat als Gipfel der Tyrannei
aufgefasst, wenn man eine Sprache verbieten wollte (und dies in ihrem eigenen
Territorium), weil Anderssprachige sie nicht verstehen. In diesem Fall aber geht
es um "Dialekte", und Dialekte sind a priori Sprachen mindern Rechts.
Die Unterscheidung zwischen Sprache und Dialekt kann also durchaus ju-
ristisch relevant werden - sogar verfassungsrechtlich. Dies will ich an einem
dritten Beispiel zeigen.
29
Vgl. Saussure (1916/1983,43).
30
Saussure (1916/1983, 31).
31
Die Neutralität gegenüber der Dialekt-Standard-Problematik gilt noch ausgeprägter filr die
"mentalistischen" Richtungen der Linguistik, in denen die menschliche Sprachfahigkeit
und nicht mehr ein doch etwas zirkulärer Strukturbegriff "l Ordre propre" der Sprache vor-
gibt.
32
Wortlaut der früheren und spätem Verfassungen: Anm. 10.
Über den juristischen Umgang mit Substandardvarietäten 193
33
Schläpferetal.(1991,225).
34
Diese autoritäre Einstellung ist auch bei Personen anzutreffen, die sich für die Verständi-
gung zwischen den Sprachregionen einsetzen. So verlangt z. B. der Sekretär der Stiftung
Sprachen und Kulturen mit einem Vokabular, das den Polizeieinsatz nicht ausschließt,
dass "die Konzessionsbedingungen für Radio und Femsehen, die einen wichtigen Anteil
der Sendungen in der Schriftsprache verlangen, endlich durchgesetzt werden" (Ghisla
1997,156).
35
Vgl. Baur(1970).
194 Walter Haas
nur im Sinne einer "Fremdsprache", die man besonders lernen muss,36 sondern
vor allem auch im Sinne eines historisch-genetisch fremden Importgewächses.
Doch selbst wenn man diese zweifellos verfehlte Prämisse37 akzeptieren würde,
bliebe der Vorschlag auf halbem Wege stehen. Man müsste, um alle Missver-
ständnisse zu verhindern, von "den schweizerdeutschen Dialekten" im Plural
sprechen; ebenso müsste eine pluralische Form für das Rätoromanische gefun-
den werden, das ebenfalls kein einziges Sprachsystem ist und damals nicht
einmal eine einheitliche Standardsprache besaß, und es müssten die italieni-
schen Dialekte und selbst die Reste der frankoprovenzalischen und französi-
schen Mundarten genannt werden. Es geht ja nicht an, die einen Mundarten
gegenüber den ändern zu diskriminieren. Vermutlich müsste auch der Begriff
Amtssprache genauer definiert werden. Wenn er sich nur auf die Standardspra-
che beziehen sollte, könnte sich die "mundartfreundliche" Verfassungsrevision
wiederum, wie in der "lateinischen" Interpretation, gegen die Dialekte auswir-
ken (etwa vor Gericht oder in Parlamenten).
Aber sowohl die Änderung der Verfassung zu Gunsten der Dialekte wie die
Änderung der Wirklichkeit auf Grund der Verfassung sind gleichermaßen welt-
fremde Vorschläge. Die Auffassung von "Sprache" als System hat zwar für die
Linguistik methodische Vorteile, da sie eine "saubere" Bestimmung der sprach-
lichen Kemphänomene und ihre Abgrenzung von "außersprachlichen" Faktoren
(wie Medium, Gesellschaft usw.) erlaubt; ihr ideologischer Vorteil ist es, dass
sie die Autonomie der Sprachwissenschaft begründet. Aber der Systembegriff
schafft schon für die linguistische Theorie Probleme: Er erschwert das Ver-
ständnis der Zusammenhänge zwischen verschiedenen, aber ähnlichen Syste-
men und lässt die Beziehungen zwischen Sprache und Gesellschaft verschwin-
den. Aber gerade der Gebrauch verschiedener Systeme neben-, mit- und durch-
einander in einer vielschichtigen Gesellschaft macht die komplexe Sprachwirk-
lichkeit aus.
Unserm Alltagswissen ist dies selbstverständlich. Wenn wir von den
"Dialekten der deutschen (französischen, italienischen...) Sprache" reden, dann
meinen wir mit "der deutschen (französischen, italienischen...) Sprache" nicht
ein bestimmtes Einzelsprachsystem, sondern das, was Coseriu eine Historische
Sprache genannt hat: Eine Menge von Einzelsprachsystemen, die untereinander
ähnlich, weil historisch verwandt sind.38 Dazu gehören zahllose Ortssprachsys-
teme, eine große Anzahl weiterer Substandardvarietäten und endlich als hervor-
gehobene, polyfunktionale, kodifizierte Varietät die jeweilige Standardsprache.
Das Recht hat es mit der Sprachwirklichkeit zu tun, nicht mit einem System
"qui ne connait que son ordre propre". Wer der Sprachwirklichkeit gerecht
36
Jede ausgebaute, polyfunktionale Standardsprache erfordert von allen ihren Verwendern
besondere, vom "natürlichen" Ll-Erwerb unterschiedene Lernprozesse; Standardsprachen
wären somit per definitionem immer "Fremdsprachen". Eine solche Ausdrucksweise wäre
wohl kaum besonders hilfreich.
37
Schuld daran sind nicht zuletzt zweihundert Jahre "preußisch-teleologischer" Sprachge-
schichtsschreibung.
38
Coseriu (l970, 32ff).
Über den juristischen Umgang mit Substandardvarietäten 195
werden will, muss die Sprache als Historische Sprache verstehen. Sowohl "das
Volk" wie die Verfassung haben es vernünftigerweise immer so gehalten, das
war die Auffassung von Fleiner/Giacometti (1949, 391), und sie wurde von der
"Kommission Saladin" (1989) in ihrem im sprachpolitischen Bericht vertreten.
Gegen diese "deutsche" Interpretation von Sprache als Historische Sprache
aber wandte sich 1992 die Kommission des Ständerats bei der Diskussion über
die Revision des Sprachenartikels. Nicht zuletzt aus Angst davor, dass die Dia-
lekte verfassungsrechtliche Anererkennung erhalten könnten, lehnte sie es es ab,
das Prinzip der Sprachenfreiheit in der Revision von 1996 zu verankern:
Un auteur ne soutient-il pas avec des arguments tres serieux, que le developpement de la
liberte de la langue aurait pour consequences I'extension de la protection jurdidque aux
dialectes!39
Um noch sicherer zu gehen, schlug die Kommission vor, in der bundesrätlichen
Formulierung des Verfassungsartikels "das Deutsche" in "Deutsch" abzuän-
dern; damit glaubte sie das eine standardsprachliche System in der Verfassung
verankern zu können und die (schweizerdeutschen) Mundarten vom Verfas-
sungsschutz auszuschließen:
La commissione ha cambiato il testo in "Deutsch", "Französisch", "Italienisch" e
"Rätoromanisch", intendendo con ciö ehe "Deutsch" e la deutsche Sprache, non "das Deut-
sche", cioe tutto il conglomerato dei possibili dialetti ehe si possono parlare nell'ambito
della lingua tedesca.40
Der Rat verzichtete 1992 zwar auf die Verankerung der Sprachenfreiheit, in
Bezug auf die "Artikelfrage" aber entschied sich das Parlament schließlich für
die "artikelhaltige" Formulierung des Bundesrates. Wollte es damit verhindern,
dass den Dialekten der Verfassungsschutz entzogen wurde? Solche Vorsicht
wäre übertrieben gewesen. Wenigstens im Deutschen stimmt es durchaus nicht,
dass die Sprachbezeichnungen ohne Artikel eindeutig die Standardsprachen
denotieren und die Sprachbezeichnung mit Artikel eindeutig die Historischen
Sprachen.41 Deshalb ist es auch kaum von Bedeutung, dass die neue Verfassung
39
Ständerat Roth in: Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Ständerat, 1992, 1054.
40
Ständerat Salvioni in: Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Ständerat, 1992, 1049.
Die Diskussion dokumentiert den bemerkenswerten Versuch, einen ursprünglich zum
Schutz des Rätoromanischen gedachten Verfassungsartikel in ein deutschschweizerfeindli-
ches Instrument umzubiegen - unter arglos-beflissener Beihülfe bildungsbürgerlicher
Ratsmitglieder aus der Deutschschweiz.
41
Leider hat dieses Problem keine so luzide Darstellung gefunden, wie der Artikel in Sach-
verhaltsnominalen durch Gottfried Kolde. Wenn ich hier dennoch einige Bemerkungen
wage, dann in der Hoffnung, der Jubilar könnte zur Darstellung eines Gegenstands heraus-
gefordert werden, über das selbst dickleibige Grammatiken schweigen. Wir haben es hier
zum einen mit einem semantischen Unterschied zwischen den beiden Sprachbezeichnun-
gen zu tun, zum ändern mit einem Unterschied im Artikelgebrauch. Der semantische Un-
terschied wird von der Dudengrammatik folgendermaßen umschrieben: "Mit das Deutsche
wird die Sprache ganz allgemein bezeichnet, mit das Deutsch dagegen eine besondere Art
oder Form, die durch irgendeinen Zusatz näher bestimmt wird" (5. Auflage 1995, Ziffer
385). Dass das Deutsche die Sprache "ganz allgemein" bezeichnen soll, hat der Kom-
mission des Ständerats missfallen. Umgekehrt hat ihr an der Bezeichnung (das) Deutsch
gefallen, dass sie sich auf eine "besondere Art oder Form" dieser Sprache beziehe. Irr-
196 Walter Haas
von 1999 sich nun doch für die artikellosen Sprachbezeichnungen entschieden
hat - konsequent in Artikel 4 (Landessprachen), inkonsequent in Artikel 70
(Sprachen), wo neben Deutsch, Französisch, Italienisch weiterhin das Rätoro-
manische steht.42 Ob mit oder ohne Artikel: Praktikabel sind Sprachregelungen
gerade in der Schweiz mit ihren zahlreichen Substandardvarietäten nur, wenn
man Sprachen als Historische Sprachen versteht; gerecht können sie nur dann
sein, wenn sie prinzipiell allen dazugehörigen Einzelsprachsystemen den
Anspruch auf Sprachenfreiheit und Respekt einräumen. Das schließt nicht aus,
dass ein bestimmtes System, normalerweise die Standardsprache, in bestimmten
Bereichen bevorzugt wird, das ist notwendig, hilfreich und deshalb auch unbe-
stritten. Aber solche Bevorzugungen müssen funktional begründet, verhältnis-
mäßig und auf das Notwendigste beschränkt sein. Vor allem dürfen sie sich
nicht auf eine selbstverständlich unterstellte Rechtsungleichheit der Substan-
dardvarietäten stützen.
Nur so sind unfruchtbare Auseinandersetzungen über die "Erhebung" der
Dialekte zu "Landessprachen" und das schädliche Gegeneinanderausspielen von
Dialekten und Standardsprache zu vermeiden. Und dies wiederum kommt allen
Varietäten und ihren Sprechern zugute. Dies möchte ich im letzten Abschnitt
anhand eines europäischen Beispiels zeigen.
tümlicherweise aber ist sie davon ausgegangen, dass mit der besondem Art automatisch
die Standardsprache gemeint sei. Die Grammatik sagt aber ausdrücklich, dass die Art oder
Form "durch irgendeinen Zusatz näher bestimmt" wird (resp. werden muss, wenn man auf
Eindeutigkeit Wert legt). Hier kommt nun der Artikel zusätzlich ins Spiel. Er (oder ein an-
derer Determinant) steht, wenn die "nähere Bestimmung" im gleichen "Nominal" genannt
wird: das Deutsch der Schweizer, sein Deutsch war sehr schweizerisch. Der Artikel fehlt,
wenn die "nähere Bestimmung" in einer Konstituente außerhalb des Nominals auftritt: Sie
sprach Deutsch (= ihr Deutsch, das Deutsch dieser Person); Die Landessprachen sind
Deutsch... (= das Deutsch, das Landessprache ist). Deutsch verhält sich, was den Artikel-
gebrauch angeht, etwa wie ein Name: Diskulanten waren Jean und Jose gegen Der kämp-
ferische Jean unterstützte den eloquenten Jose, und Namen designieren bekanntlich das,
dem sie im Namengebungsakt verliehen wurden - wer oder was das ist, geht aus dem Na-
men selber nicht hervor. Der Artikelgebrauch hat auch bei Namen mit Determiniertheit
und Indeterminiertheit zu tun, wobei hier Artikellosigkeit "paradoxerweise" gerade die be-
sondere Determiniertheit betont. So kann sich das artikellos gebrauchte Deutsch durchaus
ganz eindeutig auf die Historische Sprache Deutsch beziehen - wenn wir es denn so wol-
len. Vgl. Kolde (1989, 91).
Falls hinter der Wahl der Sprachbezeichnung das Rätoromanische die Meinung stehen
sollte, dass damit eindeutig auf die Einheitssprache Rumänisch grischun verwiesen werden
könne, dann wäre das angesichts Anm. 41 ein paradoxer Trugschluss.
Über den juristischen Umgang mit Substandardvarietäten 197
§ l Definitionen.
Der Ausschluss der Dialekte zeugt wieder von der selbstverständlichen Rechtlo-
sigkeit der Substandardvarietäten, der Verzicht auf eine Definition dagegen gibt
die Entscheidung darüber, was als Dialekt gelten soll, der Willkür der Adminis-
trationen preis. Der zentrale Begriff Minderheitssprache wird seinerseits bloß
durch den (bloß linguistischen?) Unterschied zur Amtssprache umschrieben, der
natürlich auch bei allen Dialekten gegeben wäre.
Das führte zu tragikomischen Ergebnissen. So versuchte ein Teil der nieder-
deutschen Wortführer zu "beweisen", dass Niederdeutsch (im Singular) kein
"Dialekt" im Sinne von Art. l des Abkommens sei, sondern eine "andere" Spra-
che.44 Die Argumente waren wissenschaftlich zweifelhaft und ethisch fragwür-
dig, da sie zeigen mussten, warum etwa das Bairische trotz seines "Anders-
seins" und seiner Lebendigkeit keine "Minderheitssprache" sei; dies aber lief
notwendigerweise auf eine Diskriminierung der übrigen deutschen Dialekte
hinaus.45 Die Aktion wurde deshalb auch nicht von allen am Plattdeutschen
interessierten Kreisen mitgetragen.46 Dank eines alten "Niederdeutsch-My-
43
Der Text ist leicht zugänglich bei Giordan (1992, 585ff.), die hier zitierte dt. Fassung
stammt aus den Unterlagen zur Diskussion über den Status des Niederdeutschen als Min-
derheitssprache.
44
Die Anfrage von 90 Abgeordneten, Niederdeutsch in das Abkommen über Regional- oder
Minderheitssprachen aufzunehmen, wurde von verschiedenen "Expertisen" unterstützt; die
erste Diskussion im Bundestag fand am 17. l .1994 statt.
45
Vgl. den sarkastischen Kommentar aus Bayern zur niederdeutschen Minderheitssprache,
der auch die Qualität der Argumente gut charakterisiert: "Auf 'plattdütsch', had de Peters
Lisa (sie is a geborene Prigge und kimmd aus Buxtehude) am Freitag im Parlament gsagd,
kannd ma fast ois 'so seggen wi Du dat dinkst, beleidigen kannst de Minschen nich". Des
is bedauerlich, weil manchmoi muass ma ebban aa beleidign kenna, und in so an Fall is
mehr als wia guad, wenn ma des Boarische drauf had. Da konnsd ois sagn und de Leid
beleidign. Und wennsd a Glück hasd, merkan ses ned amoi!" (Süddeutsche Zeitung,
15./16.1.1994)
46
So wurde etwa in einer plattdeutschen Zeitschrift die Meinung vertreten, Niederdeutsch sei
zwar eine Gruppe von Mundarten, aber gerade "für sie müssen Hilfen verlangt und ihre
Stärkung - auch im öffentlichen Leben - soll erreicht werden. Im Gesamtgefüge der Spra-
chen haben sie ihren Platz, ihre Funktion und ihre Würde." (Michelsen 1991, 382f.). Ver-
treter solcher Ansichten wurden von der ändern Seite für das schleppende Verfahren mit-
verantwortlich gemacht: "Aver dat geev ok mang de Plattdütschen een paar Dwarsdrie-
vers, de dumm Tüüch snackt, wat nich just tohelpen deiht, dat dat fixer löppt." Institut für
niederdeutsche Sprache e. V., Protokoll der Jahresmitgliederversammlung vom 3.5.1997.
198 Walter Haas
thos"47 waren die staatstragenden Kreise aber bereits an die Idee gewöhnt, "das"
Niederdeutsche sei etwas anderes als eine Menge "bloßer" Dialekte; die Aner-
kennung von öffentlich wenig präsenten Dialekten als Minderheitssprache
schien offenbar problemlos (was beim Bairischen wohl anders gewesen wäre),
und sie macht sich auch nicht schlecht, besonders wenn man die Probleme
Frankreichs mit seinen Minderheiten dagegen hält - so erhielt "das Niederdeut-
sche" schließlich mit Wirkung vom 1.1.1999 die Anerkennung als "Regional-
sprache" durch den Bundestag.
Die baskischen, bretonischen oder okzitanischen Mundarten Frankreichs
(um nur einige wenige Fälle zu nennen) teilen mit den niederdeutschen Dialek-
ten weitgehend den soziolinguistischen Status. Aber die baskischen und bretoni-
schen Dialekte werden auf Grund des großen linguistischen Abstands zu den
Umgebungssprachen traditionellerweise als eigenständige Sprachen angesehen,
die okzitanischen haben diese Einschätzung der Erinnerung an ihre mittelalterli-
che Literatur zu verdanken. Frankreich verfügt also über "unbezweifelte" Min-
derheitssprachen, die man nicht gut als bloße Dialekte abtun kann. Wenn des-
halb der Präsident der Republik im Juni 1999 dem Abkommen seine Unter-
schrift verweigerte, so war das zwar nicht "fortschrittlich", aber konform mit
einem in diesen Dingen eben wirklich "rückständigen" Verfassungsrecht.48
Einen Ausweg böte nur die Reform der Verfassung, wie sie der Premierminister
in der Folge erwog. Gleichzeitig aber hat der Präsident gerade durch die Unter-
schriftsverweigerung die Minderheitssprachen als "wirkliche Sprachen" aner-
kannt - denen man aus diesen Gründen die Konkurrierung der einzigen Staats-
sprache nicht erlauben durfte.
Es zeigt sich, dass die Entscheidung darüber, was "Sprache" oder "Dialekt"
sei, in der Realität nicht nach kohärenten Kriterien getroffen wird. Die Verfas-
ser des Abkommens über Minderheitssprachen wollten diese Willkürlichkeit
aufrechterhalten, damit alle unterschreiben und dennoch jene Substandardva-
rietäten weiterhin diskriminieren konnten, die sie diskriminieren wollten. Der
französische Staatspräsident konnte dieses Angebot nicht annehmen.
Die Turbulenzen um die Minderheitssprachen sind eine weitere Konsequenz
der selbstverständlichen rechtlichen Benachteiligung von Substandardvarietä-
ten. Um in den Genuss gleicher Rechte wie die Sprecher so genannter "Spra-
chen" zu kommen, müssen sich die Sprecher so genannter "Dialekte" zu un-
würdigen Wortklaubereien bereit finden, oder sie müssen gar aus ihren Dia-
lekten über sprachplanerische Maßnahmen eine eigene Standardsprache kreie-
ren. Wenn gleichzeitig die traditionellen Attitüden gegenüber Dialekten beste-
hen bleiben, laufen die Mutterdialekte durch die Schaffung einer neuen Stan-
dardsprache Gefahr, nun dieser gegenüber in eine "rechtlose" Stellung zu gera-
Immerhin sind damit bayerische Befürchtungen über die niederdeutsche Unfähigkeit zum
Beleidigen (Anm. 45) widerlegt.
Der Ausdruck stammt von Heeroma (o. J., 15f.)·
"La langue de la R£publique est le francais." Loi constitutionnelle no 92-554 du 25 juin
1992, Art. 2.2. Zit. nach Gauthier et al. (1993,23).
Über den juristischen Umgang mit Substandardvarietäten 199
ten. Schwerwiegender scheint noch, dass die Idee der Standardsprache selber ad
absurdum geführt wird durch die Schaffung von immer neuen, oft mit bestehen-
den Sprachen eng verwandten, häufig sprecherarmen Standardsprachen. Sicher
standen und stehen hinter diesem Prozess meist nationalistische Ideologien als
treibende Kraft. Doch auch die selbstverständliche Ungleichbehandlung von
Substandardvarietäten kann funktional unnötige Standardisierungen geradezu
erzwingen. Deshalb profitieren auch die Standardsprachen letztlich davon, wenn
den Substandardvarietäten jener Respekt entgegen gebracht wird, auf die jedes
menschliche Idiom Anrecht hat.
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Liliane Haegeman
This paper examines the relation between gender marking on the noun and
movement of the noun within the noun phrase. I will show that contrary to
claims made by Bernstein (1993), the trigger for noun-movement cannot rest in
the presence or absence of the terminal vowel on the noun which marks gender
or noun-class. I will also show that Bernstein's related claim that the Romance
languages differ from the Germanic languages in terms of the presence versus
absence of the terminal vowel is empirically incorrect. When we extend the
empirical data only slightly beyond the languages she considers, i. e. German
and English, there is robust evidence for postulating word-markers in the Ger-
manic languages as well. The empirical data on which I concentrate here are
from a dialect of Dutch, West Flemish, which is my native language.2
This paper is written for my colleague, Professor Gottfried Kolde, whose work on the
noun phrase led me to also do research in that area of language. Indeed his book
Nominaldetermination has made research into the nominal structure quite a lot easier.
I wish to use this opportunity to thank him here, not only for the intellectual collaboration
throughout the years we were together in Geneva, but I wish to thank him especially for
being such a wonderful and supportive human being. I will always remember the conver-
sation we had in October 1998.
Part of this work was presented in my DES class in Geneva 1997/98. Thanks to the parti-
cipants for their comments, especially to Enoch Aboh, Holger Albrecht, and Eric
Haeberli. Thanks to Kirsten Adamzik, Hans Broekhuis, Marcel den Dikken and Henk van
Riemsdijk for comments on a first version of this paper. Thanks also to Jacques van
Keymeulen for help with the dialectal data, and to my mother and Marleen Vandenberge
for patiently going over WF minimal pairs.
A first version of this paper appeared in GenGenP (1998). Part of the discussion is also
taken up in Haegeman and Gueron (1999) and in Alexiadou et al. (in preparation).
For reasons of space I will ignore the diachronic evidence for word markers in the earlier
stages of English, German, Dutch etc. In earlier stages of the Germanic languages the fol-
lowing word classes were distinguished :
a- stems : masculine or neuter
o-stems: feminine
i-stems: masculine, feminine or neuter
u-stems: masculine, feminine or neuter
η-stems: masculine, feminine or neuter
Athematic consonant stems.
See for instance Lass (1994, 123ff. for discussion). In spite of the obvious presence of
terminal vowels (i.e. word markers in Bernstein's terminology) these languages also did
not display systematic lower N-movement.
202 Liliane Haegeman
I will adopt a broadly generative approach to syntax along the lines of the
Principles and Parameters framework. The starting point of the paper is the
distribution of nouns and adjectives in the following examples:
(1) a French lechatnoir
b Italian il gatto nero
c English the black cat
d German die schwarze Katze
e Dutch de zwarte kat
In French and in Italian, two Romance languages, the adjective follows the head
noun; in English, German and Dutch, three Germanic languages, the adjective
precedes the noun. The question arises how to derive this word-order variation.
The apparently systematic difference between the Romance languages and their
Germanic counterparts also calls for an explanation.
I first provide a survey of the two types of analyses available in the Princi-
ples and Parameters framework. In section 2, I summarise an analysis which
assumes that the nouns in (1) occupy a fixed position and which differentiates
between adjective-noun order in Germanic and noun-adjective order in Ro-
mance in terms of the directionality of the adjunction of the adjectival projec-
tion (AP). I will reject this analysis both on conceptual and on empirical
grounds. Section 3 summarises the alternative view, which presupposes that the
adjectives in (1) occupy a fixed position and which derives the ordering
differences in terms of movement of the noun (N-movement). This derivation is
in line with related findings on the distribution of the verb inside the clause. As-
suming that the N-movement analysis is on the right track, section 4 examines
the trigger for the movement. An at first sight attractive proposal is that made
by Bernstein (1993), who relates N-movement in Romance and its absence in
Germanic to the observation that Romance Ns are systematically characterised
by a terminal vowel which correlates with their gender or noun-class. Accord-
ing to Bernstein, the presence versus absence of a terminal vowel correlates
with the presence versus absence of a functional head, which she labels WM for
Word Marker. Bernstein proposes that the availability of the WM head deter-
mines the possibility of N-movement and also of indefinite N-ellipsis. I will
show that the correlation is problematic with respect to standard German,
which, according to Bernstein, lacks the word marker but which does allow for
indefinite N-ellipsis. As a first solution one might envisage dissociating indefi-
nite N-ellipsis from N-movement and correlating only the latter with the pre-
sence of WM. In Section 4,1 will show that the correlation between the pres-
ence of WM and N-movement as such also breaks down and that, contrary to
Bernstein's claims, there are Germanic languages which offer robust evidence
for postulating WM. West Flemish, a dialect of Dutch, is a case in point. Like
German, the language has indefinite N-ellipsis and like German, it lacks N-
movement. My conclusion will be that the presence versus absence of the overt
terminal vowel does not correlate directly with the availability of N-movement.
Word classes in Germanic: the case of West Flemish 203
One might propose that the word-order variation between the Germanic lan-
guages and the Romance languages illustrated in (1) is determined by paramet-
ric variation in the base structure. For instance, French and Italian could be
argued to differ from English and German with respect to the direction of ad-
junction of AP to NP: AP would right-adjoin in the Romance languages and it
would left-adjoin in the Germanic languages. Assuming that the head of the
nominal constituent is D and that what we so far have labelled NP should thus
be relabelled DP (Abney 1987, Horrocks/Stavrou 1987), for general discussion
see Kolde 1989), the structures of the constituents in (1) could be as in (2), with
(2a) representing the Romance languages and (2b) the Germanic ones.
(2) DP
I
D'
NP
NP AP
I
N*
I
N
I
gatto nero
b. DP
I
D'
AP NP
I
N'
I
N
the black
I
cat
The structures in (2) raise many problems. One is conceptual. (2) presupposes
that directionality of adjunction is subject to parametric variation, i. e. that there
exists parametric variation in phrase structure. This position is not generally
accepted. Specifically, Kayne (1994) adopts a universal base approach to phrase
structure and proposes that there is no parametric variation in the base. In his
so-called 'antisymmetric' approach, specifiers always are generated to the left
of the head, and complements are always generated to the right. As a result, all
204 Liliane Haegeman
movement targets a position to the left. Kayne's proposal rules out rightward
movement and right-adjunction in a principled way.
3
Thanks to Kirsten Adamzik for discussing these data with me.
4
Thanks to Kirsten Adamzik for help on French data.
Word classes in Germanic: the case of West Flemish 205
Let us return to the question of the ordering of the noun and the adjective in (1).
The pattern displayed in (1) can be summarised schematically as in (6a):
(6) a Romance Del N AP
Germanic Del AP N
Section 2 refutes an analysis which derives the ordering differences in terms of
a fixed position of the determiner and of the head noun and a difference in the
position of the adjective. Schematically, the analysis in section 2 can be repre-
sented as in (6b).
(6) b Romance Det N AP
Germanic Det AP N
An alternative approach to the pattern in (6a) would be to assume a fixed posi-
tion for Det and for the APs. Under this assumption, the variation in (1) could
be derived by differentiating the positions of N:
(6) c Germanic Det AP N
Romance Det N AP
In terms of Kayne's (1994) interpretation of the Universal Base Hypothesis, in
which all movement is leftward, the Germanic pattern would be closer to the
underlying order than the Romance one, which would be derived by leftward
movement of N.
The schematic summary of the distribution of N with respect to adjectives is
reminiscent of the analysis of the distribution of the verb in English and in
French as elaborated in work by Pollock (1989). Consider the data in (7), which
show the distribution of the verb clause-internally.
(7) a Lulu often visits Nelson,
b *Lulu visits often Nelson,
c Lulu visite souvent Nelson
d *Lulu souvent visite Nelson.
206 Liliane Haegeman
It is assumed that the syntax of the adverbial adjuncts is the same in English
and in French (see also Cinque 1999 for a detailed study) and that the differen-
ces in the clause-internal word-orders in the two languages are derived in terms
of absence (English) or presence (French) of head-movement of the finite verb
(Pollock 1989). This is shown schematically in (7e), where t (for trace) indi-
cates the base position of the verb (V).
(7) e English Subject adverb V object
French Subject V adverb t object
English, on the other hand, does not display strong inflection. Except for the
verb be, the only variation is found in the present tense third person. English
inflection is weak and does not attract the finite verb.
(8) d English finite paradigm
Tense Present Past
Person+Number
Isg talk talked
2sg talk talked
3sg talks talked
IE! talk talked
2pl talk talked
3pl talk talked
Word classes in Germanic: the case of West Flemish 207
The proposal that N moves DP-internally, which has been put forward in the
literature and which we adopt here, is supported by other data. NP-internal N-
Vikner (1997) discusses the observed movement of the verb in VO languages like
French, English and the Scandinavian languages. He signals that the problem for
detecting verb movement is complicated in the OV languages like German and Dutch. In
those languages the head follows the complement, at least in the surface string, and it has
often been proposed that the inflectional head I also follows the VP. Thus even if V
moves to I this will not have an overt reflex, since V will move rightward. In (a) V has
not moved to I, in (b) it has.
a dat [1P Jan morgen [VP naar Gent [v gaat,] ] [,]]
that Jan tomorrow to Ghent t goes
b dat [,p Jan morgen [yp naar Gent [v t,] ] [| gaaty]]]
For arguments that V does move to I in the Germanic OV languages see Haegeman
(1998a,b).
208 Lilians Haegeman
movement has been proposed to account for the availability of N-initial DPs il-
lustrated in the Italian examples in (10):
(10) a La mia casa e bella,
b Casa mia 6 bella.
c *La casa mia έ bella.
d *Casa la mia έ bella.
In (lOa) the definite article la occupies D. Simplifying the structure for exposi-
tory reasons, we will assume, that the possessive pronoun mia occupies a fixed
position in the DP. In (10b), the head N casa precedes the possessive pronoun.
The movement of Ν is only possible in the absence of the determiner (lOc, d).
The complementary distribution between the Det-possessive pronoun sequence
and the N-possessive pronoun sequence leads us to propose the landing site of
the leftward N-movement in (lOb) is D.
(10) e [DP [D casa,,] [^ mia fo [N lj]]]
In Italian, N-to-D movement is lexically restricted: it applies to the N casa, to
kinship names Hke^aoVe ('father'), madre ('mother'), zio ('uncle'), etc. and to
proper names (Longobardi 1994 and 1996).6
Other instances of N-to-D movement have been discussed in the literature.
(11) illustrates Rumanian, in which the N left-adjoins to the article, the latter a
bound morpheme (Longobardi 1994 and 1996, Giusti 1997).
(11) a lupu-1 Mariei
wolf the Maria's
b lupi-i Mariei
wolves-the Maria's
Longobardi (1996) assimilates the N-to-D movement observed in the Italian
sentences in (10) to the Semitic 'construct state' illustrated for Hebrew by
(12a). (12a) contrasts with the so called 'free state' in (12b). Both examples are
from Siloni (1997a, 21). See also Ritter (1987 and 1991).
(12) a beyt (*sel) ha-'is ha-gadol
house the-man the big
'the man's big house'
b ha-bayit ha-gadol *(sel) ha-'is
the-house the big of the-man
'the man's big house'
Longobardi (1994 and 1996) proposes that the trigger for N-movement is the
requirement that the canonical position for the determiner, D, be overtly realised,
As pointed out by Kirsten Adamzik (p. c.) the following examples in German poetry
probably also are to be derived by leftward N to D movement:
(i) a Manschen klein - ging allein
Hans-diminutive small - went alone
b R slein rot... R slein auf der Heiden
Rose-diminutive red... rose-diminutive on the heath
However, in German N-to-D movement is not productive and stylistically restricted.
Word classes in Germanic: the case of West Flemish 209
because this position hosts the referential features of the DP (i.e. of the nominal
projection). When N has a strong referential feature, it moves to D.
Bernstein (1993)'s account for lower N-movement has the result of eliminating
the asymmetry between V-to-I movement and N-movement in terms of the
location of the trigger. In her analysis, the trigger for N-movement is directly
related to a property of the head N rather than being stated in terms of the in-
flectional properties of D or of A.
Bernstein proposes that lower N-movement depends on the availability of a
specific functional head, which she labels WM for Word marker. The WM head
It is true that the V2 phenomenon in Germanic may be related to the agreement inflection
on C (cf. Haegeman 1992 for WF complementiser-agreement, Zwart 1993 and 1996 for
theoretical proposals), but crucially this movement is not to be equated to V-to-I
movement, rather V moves (via I) to C. V-to-C movement is parallel to N-to-D
movement, illustrated in (10-12).
Word classes in Germanic: the case of West Flemish 211
In (18b) bound morphemes are inserted under the functional heads and
merge with N by N-movement. In a Minimalist checking approach (Chomsky
1993 and 1995) the N libros ('books') would be inserted with its inflection
under N and would check the various components of its morphology by moving
tot he lexical heads. The difference between these two implementations is, I
think, not relevant for the point at issue.
b DP
I
D'
D NumP
Νι m'
Νι m WMP
WlVI'
Wl\Λ ΝΡ
N'
1
los -0 libr-
Bernstein proposes that the availability of the head WM and of its projection
WMP are not universal. They only occur in languages in which the N stem is
associated with the terminal vowel which directly reflects gender. In Romance
languages, N moves to Num via WM. In Germanic, on the other hand, the
projection WM is alleged to be absent and, because of this, N cannot move past
the adjective.
According to Bernstein (1993), the presence of WM(P) also determines the
possibility of N-ellipsis. Consider the contrast in (19) between Spanish and Ital-
ian, on the one hand, in which N-ellipsis is possible, and English, on the other,
in which it is not:
(19) a Spanish uno pequeflo
a small (one)
b Italian uno piccolo
c English* a small
In Spanish (19a), the form of the masculine singular indefinite article varies de-
pending on the presence or absence of the head N: when the N-head is present
the article always has the form un, when N is absent, the indefinite article takes
the form uno:
(20) a Spanish Un libra grande esta encima de la mesa
a big book is on the table
b Spanish *Uno libra grande esta encima la mesa
c Spanish Uno grande esta encima la mesa
Word classes in Germanic: the case of West Flemish 213
Bernstein proposes that the -o ending of the indefinite article in (20c) is the
nominal WM. In a context of N-ellipsis, WM cannot be spelt out as a terminal
vowel on N. As an affix, WM cannot remain unattached. Hence, WM moves to
D. In addition the indefinite article, which is assumed to start out as a specifier
of NumP, also adjoins to D. (20d) is the relevant structure (Bernstein (1993,
129).
(20)d. DP
WM NP
Recall that Bernstein links the availability of the projection WMP, hence of
lower N-movement, to the overt gender-related terminal vowel. French raises an
obvious problem for her proposal, as this language does not offer the same
robust evidence for postulating WM. Concerning this issue, Bernstein (1993)
says:
French does not exhibit the robust system of terminal vowels that characterise Spanish
and Italian. Like nouns in all Romance language, French nouns have inherent gender, but
they do not exhibit the declension class markers we observed for Italian and Spanish. In
fact, with several notable exceptions [...] French nouns resemble their English counter-
parts: Their morphological appearance is rather varied and plurality is indicated by word-
final -5, phonetic realisation being limited to contexts of liaison [...]
Like Italian and Spanish, however, and unlike English, French admits (indefinite) null
nominal constructions:
In the next section I turn to a detailed discussion of the gender system in West
Flemish (WF), a dialect of Dutch. We will see that not only does the language
have indefinite N-ellipsis, but it also offers robust evidence for postulating a
WM. Yet, like German, the language lacks lower N-movement.
(26) c Gender in WF
Def. Indef. Possessive Demonstra- Adjective Noun Transla-
article Article Pronoun tive tion
Masc sg Den Nen Menen Dienen Nieuwen Hund dog
Femsg De En Men Die Nieuwe Katte cat
Neut sg Et En Men Da Nieuw Katje kitten
Plural De Men Die Nieuwe Hunden
Kalten
Katjes
The article een ('a') is pronounced [on], the verb een ('have') is pronounced [ε:η].
218 Liliane Haegeman
There are a few exceptions to the general pattern, which I will not discuss in de-
tail here (see Haegeman 1998). I return to some of them in sections 5.2. and 5.3.
The exceptions to the pattern constitute what Harris (1991) referred to as the
Residue (4.2.2.). Leaving aside the exceptions we can state the generalisation in
(29):
(29) Terminal in West Flemish
-e <=> feminine gender
If the relatively rare instance of French terminal vowels invoked by Bernstein
(section 4.2.2., examples (22)) are taken as robust evidence for postulating the
WM position, then, surely, the regularity of the terminal vowel on feminine
words offers robust evidence for the hypothesis that WF has WM, realised as -e
(i. e. schwa) in feminine N and by an abstract morpheme in masculine or neuter
nouns.
Further support for the WM-status of WF -e is also available. As was the
case in Romance, the WM word marker (i. e. the terminal vowel -e ) is not ex-
clusive to the N-system. Terminal -e is also found on a subset of predicative
adjectives, as shown by schuone in (30). The adjectival terminal vowel does not
reflect gender here. In (30a) und ('dog') is masculine, in (30b) katte ('cat') is
feminine, us in (30c) is neuter. As shown by (30d) the form schuone is also
used with plural subjects. Not all predicative adjective display a terminal vowel,
though. As illustrated in (31) wit ('white') does not take this vowel.
(30) a dienen und is schuone/*schuon
that dog is beautiful
Word classes in Germanic: the case of West Flemish 219
(32) a Feminine words which would lack the terminal -e in the Kleit dialect
as ('axis'), balk ('beam'), beuk ('beech'), boog ('bow'), broer ('brother'), bull
('hump'), eik ('oak'), es ('ashthree'), haan ('cock'), Haas ('hare'), heer ('gentle-
man') hul ('bush'), kin ('chin'), naam ('name'), neus ('nose'), os ('ox'), rogge
('barley'), rug ('back'), zoon ('son')
(32) b Neuter words which would have the terminal -e in the Kleit dialect
bed ('bed'), einde ('end'), hart ('heart'), hemd ('shirt')
Taeldeman says
Dat men de eind -e in het Kleits en in vele andere zuidwestelijke dialekten toch heel sterk
als een aanduiding van het vrouwelijke genre is gaan aanvoelen, blijkt vooral uit een
aantal analogische genusveranderingen: enerszijds zijn oog en oor allebei oorspr. onzij-
dige η-stammen (dus met eind -e), vrouwelijk geworden; anderszijds is hand, oorspr.
vrouwelijk maar zonder eind -e, onzijdig geworden. (1984,50)
That the final -e in the Kleit dialect and in many other south-western dialects has come to
be felt very strongly as an indication of feminine gender is shown especially by a number
of analogical gender-changes: on the one hand, oog ('eye') and oor ('ear'), both originally
neuter «-stems (that is with end -e), have become feminine; on the other hand, hand
('hand') originally feminine but without -e, has become neuter. (1984, 50)
As was the case in my own dialect, adjectives and adverbs may also exhibit the
word marker in the Kleit dialect (cf. Taeldeman 1984, 50 for examples).
Further evidence for the robust status of (29), the gender/terminal vowel cor-
relation in WF, is shown by the fact that acronyms and abbreviations also dis-
play the correlation between terminal vowel and gender. The form of the acro-
nym or of the abbreviation determines its gender, and the grammatical gender
of the acronym is independent from the grammatical gender of the head N in the
abbreviated expression. For instance, the abbreviation ASLK in (34a) is treated
as a masculine N, in spite of the fact that the head N, kasse ('bank') (34b) is
feminine. Similarly, SP in (35a), with the feminine head noun partye ('party')
(35b) is masculine.
(34) a ASLK [a: es el ka:] masculine
Algemene Spaar en Lijfrentekas
general savings and rent bank
b kasse bank, cashdesk feminine
(35) a SP [es pe:] masculine
Socialistische partij
b partye party feminine
222 Liliane Haegeman
WF loan words borrowed from French have become fully assimilated to the WF
gender system, and are compatible with generalisation (29). Regardless of the
grammatical gender of the French source N, loan Ns ending in -e will be femi-
nine, those not in -e masculine or neuter. (37) provides some examples.
(37) French loanwords
French source Gender WF loanword Gender Translation
Chauffage Masculine Chauffage Feminine Central heating
Garage Masculine Garage Feminine Garage
Loan words from Anglo-Saxon origin also display the correlation (29) between
terminal vowel and feminine gender:
(38) Anglo-Saxon loan words
English WF Gender
Computer Computer Masculine
Modem Modem Masculine
Bypass Bipas Masculine
Diskette Diskette feminine
There are two Ns for the concept 'lift' in WF: a loanword from French, ascen-
seur, which lacks terminal -e and is masculine, and a loanword from English,
lifte, which has the terminal -e and is feminine:
(39) a ascenseur masculine lift
b lifte feminine lift
6. Conclusion
In this paper I have examined some aspects the role of grammatical gender in
terms of DP syntax. Bernstein (1993) links the availability of a terminal vowel
in Romance to the presence of the functional head WM. She proposes that the
availability of WM correlates with (i) indefinite N-ellipsis and (ii) N-movement.
Bernstein postulates that Romance languages have the head WM while
Germanic languages lack WM.
I have shown that the correlations postulated by Bernstein are empirically
inadequate. A first problem is raised by German, for which Bernstein claims
that WM is not projected, thus accounting for the absence of lower N-move-
ment, but which clearly has indefinite N-ellipsis. Following Lobeck (1995) and
Kester (1996), I propose that the availability of N-ellipsis is a function of adjec-
tival agreement rather than of the presence of WM.
The WF data show that the direct correlation which Bernstein proposes be-
tween the availability of a terminal vowel, the functional head WM and lower
N-movement cannot be maintained either. WF has robust evidence for postu-
lating a WM head, indeed it seems to me that the evidence is stronger than that
offered by French, and yet the language lacks lower N-movement.
The data discussed so far do not allow us to endorse Bernstein's proposal
that the presence of terminal vowels reflecting gender, related to the functional
head WM, is the trigger for lower N-movement and for indefinite N-ellipsis.
224 Liliane Haegeman
While the latter may well be a function of the availability of adjectival agree-
ment, the trigger for N-movement remains a matter for future research.10
7. References
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10
In keeping with the analyses proposed for V-tnovement one might propose that the WM
is in fact universal and that N-movement depends on the strength of WM. Strength may
be defined in terms of the number of distinctive forms. Observe that even though WF has
a terminal vowel it only singles out the feminine N, and neuter and masculine do not
have the terminal vowel. However, this proposal raises the question of the status of the
French WM, which is also largely abstract and yet French has N-movement.
Another path to pursue might be based on the observation that the Romance languages
have a binary opposition in the gender system while the Germanic languages have
masculine, feminine and neuter. This was also true for the earlier stages (see ftn. 1). I
hope to clarify the issue and the status of neuter gender in future work.
Word classes in Germanic: the case of West Flemish 225
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Michael Langner
Vor einigen Monaten wurde ich eingeladen, einen Beitrag zur Festschrift von
Gottfried Kolde zu schreiben, wobei sich dieser Beitrag, wenn irgend möglich,
an den Arbeitsbereichen des Jubilars orientieren solle, die in der Einladung
genannt waren: Fragen der Mehrsprachigkeit und des Sprachkontaktes, der
Sprachpflege und -kritik, des Sprachunterrichts sowie diverse Gebiete der
Grammatik. Ursprünglich hatte ich gehofft, alle oder zumindest die meisten
dieser Bereiche in den Aufsatz einschließen zu können, hatte ich doch in den
vergangenen 20 Jahren fast alle diese Bereiche zumindest berührt. Dann be-
merkte ich aber, dass die Realisierung dieser Absicht den Beitrag gesprengt
hätte. Deswegen konzentriere ich mich bei meinen folgenden Ausführungen nur
auf Fragen der Mehrsprachigkeit, des Sprachkontaktes und des Sprachunter-
richts, die aber im langen Wirken des Jubilars keine kleine Rolle gespielt haben.
Alltag der Studierenden war seinerzeit sicher auch schon zweisprachig geprägt.
Heute gestaltet sich dieser Studienalltag sogar mehrsprachig, was durch einen in
den letzten Jahrzehnten gewachsenen Anteil ausländischer Studierender Realität
wurde.
Erst ca. während der 80-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts besann man
sich auf das schlummernde Kapital der 'Zweisprachigkeit' und versuchte, es in
'klingende Münze' umzusetzen. Der Gebrauch dieser Metaphern beleuchtet
einen doppelten Aspekt: einerseits die Integration der bisher doppelt einsprachig
geführten Studiengänge zu stärker zweisprachigen Lehrangeboten (zuerst an der
Rechtswissenschaftlichen und der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen
Fakultät), andererseits aber auch die In-Wert-Setzung zweisprachiger Ab-
schlüsse für den Arbeitsmarkt. In den beiden genannten Fakultäten gibt es seit
dieser Zeit sogenannte zweisprachige Lizentiate, die bestätigen, dass ein gewis-
ser Teil der Studien (einschließlich Prüfungen) in der jeweils zweiten Studien-
sprache absolviert worden sind.
Während dieser Neuorientierung der beiden Fakultäten auf zweisprachige
Studien wurde etwas ganz deutlich, was während der friedlichen Koexistenz
zweier einsprachiger Studiermöglichkeiten oft nicht bemerkt worden war: Die
Universität Freiburg beherbergt nicht einfach nur zwei Sprachen, sondern es
treffen hier auch zwei akademische Welten aufeinander. Dies ist völlig unmili-
tärisch gemeint, soll aber deutlich machen, dass die Realität zweier akademi-
scher Kulturen mit teilweise recht unterschiedlichen Traditionen nicht einfach
nur unter ein reglementarisches Dach zu bringen sind, damit der Mehrwert der
Zweisprachigkeit zum Tragen kommen kann, sondern dass es eine intensive
Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Lern- und Forschungstraditionen
geben muss. Dem Beitragenden wurde dies so richtig klar, als er sich einerseits
in einer Projektgruppe mit den Fragen einer "fremdsprachlichen Studierfähig-
keit" im Zusammenhang mit der Förderung studentischer Mobilität in Europa
beschäftigte, andererseits während der Mitarbeit bei der Evaluation der Univer-
sität Freiburg, bei der die verschiedenen Fachbereiche und Fakultäten genauer
analysiert wurden.
Zweisprachiges Studieren bedeutet demnach nicht einfach den Erwerb von
fremdsprachlichen Fachkompetenzen zusätzlich zu den 'üblichen' Fachkennt-
nissen, sondern die Erfahrung mit unterschiedlichen Denk- und Lehrtraditionen,
und dies alles - als Freiburger Besonderheit - "unter einem Dach".3
Einen besonderen Auftrieb der Bemühungen um die Förderung der Zwei-
sprachigkeit gaben dann die Ergebnisse der schon erwähnten (externen) Univer-
sitäts-Evaluation zu Beginn der 90-er Jahre. Als eine der wichtigsten Empfeh-
lungen stand im Abschlussbericht, dass die grosse Besonderheit "Zweispra-
chigkeit der Universität Freiburg/CH" verstärkt werden solle, denn ganz speziell
3
Dies soll aber nicht als Plädoyer für ein Verweilen an einer Hochschule missverstanden
werden. Ganz im Gegenteil begreife ich die Freiburger Situation als a) eine sehr geeignete
Form der Vorbereitung auf studentische Mobilität und b) als Möglichkeit, durch Mobilität
eventuell noch entsprechende Kompetenzen in weiteren Fremdsprachen zu erwerben.
Fremdsprachenvermittlung an einer zwei/mehrsprachigen Universität 229
dadurch unterscheide sie sich von anderen Hochschulen. Nur durch eine Förde-
rung dieser Besonderheit könne sich die alma mater friburgensis im Schweizer
Wettbewerb positionieren.
So wurden auf Initiative des Rektorats in den letzten Jahren Strukturen ge-
schaffen, mit deren Hilfe die aktuelle Situation der Zweisprachigkeit an der
Universität Freiburg analysiert, aus dieser Analyse Vorschläge herausgearbeitet
und dann die zu treffenden Massnahmen begleitet werden sollten. Nachfolgend
werden die wichtigsten Leitlinien für die Planung bis ins Jahr 2001 kurz skiz-
ziert:
L L Strukturen
Die anstehenden Revisionen der Statuten der Universität und derjenigen der
Fakultäten müssen berücksichtigen, dass "der interkulturelle Dialog und die
Zweisprachigkeit zu fördern" sind. Dies z. B. durch Umgruppierung der Lehr-
personen desselben Fachbereichs in zweisprachige Departemente.
Eine ständige Zweisprachigkeitskommission soll dann die Bemühungen zur
Förderung der Zweisprachigkeit unterstützen und durch eigene Initiative weiter
ausbauen.
1.2. Lehre
Bis zum Jahr 2001 sollen alle Fakultäten zweisprachige Studiengänge und eben
auch zweisprachige Abschlüsse vorsehen. Dabei steht auf der einen Seite des
Spektrums von Möglichkeiten der zweisprachige akademische Abschluss (Li-
zentiat/Diplom), welcher quantitativ und qualitativ genau festgelegt werden soll.
Somit soll eine hohe Minimalqualität dieser Abschlüsse garantiert werden kön-
nen. Zwischen dem auf der anderen Seite des Spektrums vorgesehenen Besu-
chen von Lehrveranstaltungen in der anderen Sprache und dem Ablegen der
Prüfungen in der ersten Studiensprache liegt dann als Zwischenweg das Studie-
ren in der zweiten Studiensprache einschließlich von Prüfungen in dieser Spra-
che, aber unterhalb der quantitativen Schwelle der Definition eines zweispra-
chigen Abschlusses. Für den zweisprachigen Abschluss sind eigene Diplome
vorgesehen, während die anderen zweisprachigen Studiermöglichkeiten attes-
tiert werden (können).
Die Studienpläne berücksichtigen heute schon die Lehrveranstaltungen in
der anderen Sprache (mit entsprechenden Äquivalenzen).
230 Michael Langner
1.3. Fremdsprachenlernen
Das Splitting zweisprachig/mehrsprachig weist darauf hin, dass sich die Universität Frei-
burg/Fribourg von der Definition her als zweisprachige Hochschule mit den Unter-
richtssprachen Deutsch und Französisch versteht, dass damit aber keineswegs die anderen
Landessprachen und Englisch als Wissenschaftssprache beeinträchtigt werden sollen. Dies
wird auch in den Ausführungen des Rektorates zur Zweisprachigkeitspolitik un-
missverständlich gesagt.
Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass doch eine ganze Reihe von Studierenden
zweisprachig/mehrsprachig sind, wenn auch nicht hinsichtlich der beiden Unterrichtsspra-
chen.
Fremdsprachenvermittlung an einer zwei-/mehrsprachigen Universität 231
2.l.Mediathek
Die im Rahmen der Maßnahmen zur Förderung der Zweisprachigkeit neu ge-
schaffene (Fremdsprachen-)Mediathek bietet den Universitätsangehörigen im
Rahmen eines Selbstlernzentrums ein Zusatzangebot im Bereich Fremdspra-
chen. Sie bietet derzeit Lernmaterialien im Bereich Audio-Kassetten (der Be-
stand der bisherigen Audiothek wurde integriert), Video-Kassetten und Com-
puter-Materialien (CD-ROMs, Diskettenprogramme und Intemet-Lemangebote)
an ca. 16 Audio-/Lese-Arbeitsplätzen, 4 Video-Stationen und momentan 14
Multimedia-Computern mit Intemetanschluss. Im Rahmen der Einrichtung der
Mediathek wurde auch ein eigener Server für das Zentrum angeschafft, auf dem
u. a. Lemsoftware und Nachschlagewerke zentral zur Verfügung stehen und auf
den auch die Eigenentwicklungen von Lernangeboten gelegt werden.
Die autonomiefördemden Lemformen in der Mediathek werden gestützt
durch ein regelmäßiges Angebot von Lernberatung, welches einerseits zur Fest-
stellung der spezifischen Lernbedürfnisse dient, andererseits aber auch das
Angebot von Evaluationsmöglichkeiten mit einschließt.
Zusätzlich zu den Lernangeboten für Studierende, die nur vom Angebot der
Mediathek Gebrauch machen wollen, gibt es an der Mediathek aber auch Mate-
rialien, die begleitend zu den Kursangeboten des Zentrums in Deutsch, Franzö-
sisch und Englisch benutzt werden. Hier sollen mehr und mehr auch Mate-
rialangebote in Zusammenarbeit von Mediatheksleitung und Lehrkräften der
anderen Bereiche realisiert werden, die den spezifischen Bedürfnissen der Stu-
dierenden im Bereich Fachsprachenerwerb entgegenkommen. Ein Beispiel ist
ein Angebot für "Fachsprache Wirtschaft" (FaWi-Deutsch), welches im Intranet
der Universität zur Verfügung steht. Diese Angebote, die teilweise auf Internet-
seiten basieren und teilweise mit Autoren-Tools erstellt werden, haben den
Vorteil schneller Aktualisierungsmöglichkeiten und sollen in Zukunft kontinu-
ierlich ausgebaut werden.
Fremdsprachenvermittlung an einer zwei/mehrsprachigen Universität 233
Derzeit ist das Lemangebot der Mediathek noch weitgehend an die Arbeits-
plätze im Zentrum gebunden. Der nächste Schritt soll dann in Richtung Intranet
gehen, so dass spezielle Programme von den verschiedenen Multimedia-Räu-
men der Universität aus genutzt werden können. Und dann muss überlegt wer-
den, ob bestimmte Lernmöglichkeiten eventuell auch von den privaten Compu-
tern der Studierenden zu Hause genutzt werden könnten (sei es über den Fern-
zugang zur Universität RAS, sei es über ein Intemetangebot mit Passwort-
schutz).
Neben diesen Aufgaben der Mediathek für die Förderung der Zweisprachig-
keit der Studierenden soll die Einrichtung aber auch dazu dienen, die zukünfti-
gen Fremdsprachenlehrer und -lehrerinnen mit den neuen Medien vertraut zu
machen, die mehr und mehr den Fremdsprachenunterricht auch an den Schulen
beeinflussen werden. In Lehrveranstaltungen soll diese Zielgruppe theoretisch
und praktisch auf die zukünftigen (medialen) Entwicklungen im Bereich der
Fremdsprachenvermittlung vorbereitet werden.
Die schon weiter oben angeführten Aufgaben des Zentrums im Bereich der
Fremdsprachenvermittlung sind aber nur ein Arbeitsschwerpunkt neben ande-
ren. Weitere Schwerpunkte sind die Forschung und die Kooperation bei ver-
schiedensten Projekten:
Die Qualität des Fremdsprachenunterrichts an Universitäten kann nicht ohne
begleitende Forschung gewährleistet werden. Deswegen wurde das Zentrum
und seine vier Bereiche ganz bewusst akademisch in die Hochschule eingeglie-
dert, und keine Konstruktion gewählt, die sich in reiner Dienstleistung (als quasi
parauniversitäre Einrichtung) erschöpft. Damit soll u. a. verhindert werden, dass
der Fremdsprachenerwerb als von geringerer Wichtigkeit angesehen wird. In
diesem Zusammenhang stehen auch die Einrichtung der beiden Professuren für
Deutsch bzw. Französisch als Fremdsprache, die in den vergangenen Jahren
erfolgte. Damit erhielten die Fächer "Deutsch als Fremdsprache / Französisch
als Fremdsprache" auch akademisches Gewicht (für Deutsch als Fremdsprache
ist dies die erste Schweizer Professur!).
Das Zentrum wird sich auch in Zukunft - ganz in der Tradition der ehemali-
gen Sprachinstitute - weiter im Bereich von Projekten mit anderen Universitä-
ten und weiteren Bildungsinstitutionen engagieren. Zu nennen sind derzeit die
Trinationale Kooperation im Bereich der internationalen Fremdsprachen-Di-
plome, die Mitarbeit bei der Erstellung und Evaluation des Europäischen
Fremdsprachenportfolios (Schweizer Fassung), das Internet-Forum für Juristen
{Fachsprache Recht Französisch) und in der Zukunft der virtuelle Verbund
zwischen Hochschulen mit ähnlichen Einrichtungen und der Austausch von
Fachsprachen-Angeboten mit anderen Hochschulen.
234 Michael Langner
Außerdem gab und gibt es eine gute Zusammenarbeit mit der neuen mehr-
sprachigen Universität Bozen/Bolzano/Bulsan in Südtirol. Das Treiburger Mo-
dell' war und ist dort ein wichtiger Ausgangspunkt bei der Ausarbeitung des
Sprachenkonzepts, der Prüfungen zur Feststellung einer fremdsprachlichen Stu-
dierfähigkeit und den Planungen für ein universitäres Sprachenzentrum.
3. Ausblick
4. Literaturverzeichnis
l. Enzyklopädische Artikel
Wir beginnen mit einigen Artikeln zum Stichwort Bauer in drei zeitlich aufein-
ander folgenden Ausgaben des Meyerschen Konversationslexikons.
Brunneretal. (1972ff).
236 Walter Lenschen
Landwirt bearbeitet zur Erzeugung landw. Produkte Grund und Boden als Besitzer, Pachter
oder Siedler. "Bauer" heißt nur der Eigentümer eines Erbhofes; (vgl.) Reichserbhofgesetz.
(Bd. 2, 1336).
Das Merkmal des Selbstbewirtschaftens, das kurz vorher im selben Lexikon
noch für Bauer als grundlegend genannt wurde, ist hier wieder verschwunden.
An seiner Stelle kennzeichnet jetzt das Eigentum an einem Erbhof den Bauern,
unter Vernachlässigung auch der Betriebsgröße. Die Begriffe Landwirt und
Bauer können nun offenbar nicht mehr wechselseitig füreinander eintreten, ihre
Teilsynonymie ist beendet. Deflatorisch genauer bestimmt erscheint Bauer,
während Landwirt fast wie eine Restkategorie wirkt.
Diese Tendenz bestätigt sich im Artikel "Reichserbhofgesetz", in demselben
Lexikon.
3
Wirklich erschienen sind nur die Bände l bis 9 und der Atlas-Band.
238 Walter Lenschen
Bauer (ahd. bur, pur; mhd. bur[e], auch gebur von bur, "Wohnung"), das Haupt einer mit
Bodenbesitz organisch verknüpften Familieneinheit, in der Frühgeschichte der den freien
Germanen gemeinsame Beruf, von dem die Unfreien ausgeschlossen waren; später bis zur
Machtübernahme allgemeine Bez. für ackerbau- oder viehzuchttreibende Landbevölke-
rung. Im Dt. Reich ist heute B. nach dem Reichserbhofges. vom 29.9.1933 der Eigentümer
eines t Erbhofs, während der Eigentümer ändern land- und forstwirtschaftlich genutzten
Grundbesitzes ohne Unterschied der Besitzgröße L a n d w i r t heißt. Früher z. T. übliche
Benennungen, wie etwa Rittergutsbesitzer, Gutsbesitzer u. ä., sind daher unstatthaft. (Band
1,1936, Sp. 1009f.)
Der Artikel beginnt mit einer rhetorisch wirkenden, aber ungenauen Aussage
über den Bauern. Der Boden, von dem da die Rede ist, muss anscheinend nicht
einmal bewirtschaftet werden - es genügt, dass die Bauemfamilie mit ihm
"organisch verknüpft" ist. Und diese organische Verknüpfung - könnte sie nicht
auch zu einem Garten in der Stadt existieren? Die beiden Begriffe Bauer und
Landwirt sind völlig voneinander getrennt, entsprechend der Entwicklung in der
vorhergehenden Auflage des Lexikons. Die Metaphern "Haupt", "organisch",
"verknüpft" suggerieren um Bauer herum naturwüchsige oder artisanale Ver-
hältnisse in feierlicher Atmosphäre. Der Bauembegriff ist mit zusätzlichen
Merkmalen - Familienhaupt, besondere Beziehung zum Boden - ausgestattet
und ästhetisch angehoben worden; definitorische Kraft besitzen diese Kompo-
nenten aber wohl kaum, denn Landwirt kann hier und an seinem alphabetischen
Ort dargestellt werden, ohne dass auf solche Komponenten Bezug genommen
werden müsste. Die Verfasser des Artikels wissen, dass hiermit die Konstella-
tion Landwirt - Bauer umgestoßen wird. Geschichtlich Gewordenes wird dras-
tisch verändert, während gleichzeitig Lippenbekenntnisse zur Geschichte abge-
legt werden. Der letzte Absatz des Artikels bietet eine Lösung für dieses Pro-
blem: wenn es in vergangenen Jahrhunderten einen weniger guten Bauembe-
griff gegeben habe, so sei das von Juden verursacht worden.
Durch eine bewußte Verhöhnung des t Bauerntums schufen jüd. Literaten Hand in Hand
mit der judenhörigen Presse den Begriff des "dummen B.", der dann auch in gemeinen,
den B. herabsetzenden Karikaturen so nachhaltig verbreitet wurde, daß sich mancher B.
lieber Landwirt oder Oekonom nannte. Erst den Maßnahmen des nat.-soz. Staates und sei-
ner zielbewußten t Agrarpolitik blieb es vorbehalten, zugleich mit der Rettung des B. vor
dem wirtschaftl. Zusammenbruch auch die Bez. B. wieder zu einem Ehrennamen zu ma-
chen.
Der Artikel Landwirt in diesem Lexikon ist kurz, sachlich, ohne rhetorischen
Aufwand:
Landwirt, der Eigentümer oder Besitzer von land- und forstwirtschaftlich genutztem
Grundbesitz, der nicht t Erbhof ist, im Gegensatz zum t Bauer und Gärtner. (Meyers Le-
xikon, 8. Auflage, Band 7, Leipzig 1939, Sp. 219)
Der Bauer im Ehren-Feld 239
2. Sprachregelung im Gesetzestext
(2) Der Eigentümer oder Besitzer anderen land- oder forstwirtschaftlich genutzten
Grundeigentums heißt Landwirt.
(3) Andere Bezeichnungen für Eigentümer oder Besitzer land- oder forstwirtschaftlich
genutzten Grundeigentums sind unzulässig.
Bauer ein besserer Mensch sei".6 So wurden 1933 Zins- und Steuersenkungen
zu Gunsten der Landwirtschaft beschlossen, die seit neuestem als "Erbhöfe"
deklarierten Anwesen durften nur bis zu einer gewissen Höhe mit Schulden
belastet werden, sie durften im Erbfall nicht aufgeteilt und überhaupt nur mit
gerichtlicher Erlaubnis verkauft werden - kurz: sie sollten dem üblichen Handel
entzogen werden. Zwar wurde nur etwa ein Drittel aller landwirtschaftlichen
Betriebe zu Erbhöfen, aber diese genossen gewisse Privilegien und waren Ob-
jekte gesteigerter Aufmerksamkeit, auch staatlich herbeigeführter Sympathien.
Dass bäuerliche Themen in der Malerei des so genannten Dritten Reichs, we-
nigstens bis zum Kriegsbeginn, eine überproportional große Rolle spielten, ist
längst beobachtet worden.7 Die Dargestellten erschienen dann oft weniger als
Individuen denn als Repräsentanten ihres Standes, als Typen, die etwas bewusst
Exemplarisches an sich hatten. Die beliebtesten Handlungen dieser gemalten
Bauern sind das Pflügen und das Säen, beides gelegentlich ins Symbolische,
Monumentale gehoben oder auch dem Religiösen angenähert. Die Betrachter
konnten hier sehen, und das war die ideologische Funktion dieser Malereien,
was sie in ihrer Welt vermissten: gesicherte Existenz, Geborgenheit, überschau-
bare Verhältnisse.
Zu ähnlichen Feststellungen kamen wohl auch Leserinnen und Leser von
Texten, die den nationalsozialistischen Bauembegriff verbreiten sollten, in
Schul- oder Schulungsbüchern. Wir beschränken uns hier auf zwei Beispiele.
Der erste Text, deutlich genug betitelt "Der Bauer wird Landwirt",8 zeigt den
Unterschied zwischen Bauer und Landwirt am Gegensatz zwischen Vater und
Sohn, Klaus Wienecke und Hans. Der Vater, rückblickend zufrieden mit seinem
Leben als Bauer, obwohl es ärmlich und einfach war, hat den Hof seinem Sohn
übergeben. Er betrachtet nun, was Sohn Hans, der sich Landwirt oder Oekonom
nennen lässt, alles anders macht. Die Ernte ist jetzt viel größer als früher, denn
der Sohn orientiert sich am Gewinn, er verwendet Kunstdünger und Maschinen,
er hat Schulen für Landwirte besucht. Aber er hat keinen Respekt vor den Tra-
ditionen seiner Familie, die schon seit Jahrhunderten diesen Hof besitzt. Altes
bäuerliches Kulturgut wurde durch wertlose Dinge aus Stadt und Fabrik ver-
drängt, die Mode hat Einzug gehalten, die vertrauten sozialen Gruppen in Haus
und Dorf sind aufgelöst, gesellschaftliche Differenzen zwischen denen, die den
Hof besitzen, und denen, die nur dort arbeiten, sind aufgebrochen. - Nachdem
der Autor diese Serie von reaktionären Gemeinplätzen als Gedanken und Äuße-
6
Schoenebaum(1980, 198).
7
Bartetzko et al. (1975). Dies ist auch die Quelle für die folgenden Aussagen zur
nationalsozialistischen Bauemmalerei.
8
Lorenz(1934,
Der Bauer im Ehren-Feld 241
rangen von Vater oder Sohn präsentiert hat, scheint es ihm doch geraten, den
wichtigsten Punkt unverhüllt, im Klartext sozusagen, unters Publikum zu brin-
gen. Dieser Textteil, im Original mit dem Titel "Schluß" versehen, lautet so:
Mancherlei Anzeichen, die wenig Gutes für die Zukunft erhoffen ließen, hat Klaus Wie-
necke von seinem Hofe aus beobachtet, doch die fürchterlichste Gefahr, die unserm Volke
drohte, blieb seinen Augen verborgen.
Die zunehmende Verstädterung bedeutete Abnahme der Geburtenzahl. Bald überwogen in
den Städten die Todesfalle alle Zugänge; das Sterben unseres Volkes setzte ein.
Nur draußen auf dem Lande herrschten gesündere Verhältnisse, in den Bauernhöfen über-
wog immer noch die Zahl der Neugeborenen die der Sterbenden; der Bauer bewährte sich
als die letzte Lebensquelle des deutschen Volkes. Man hätte ihn und seinen Hof deswegen
hegen und schützen sollen.
Was aber taten die kurzsichtigen Staatsmänner der Nachkriegszeit?
Durch ungerechten, übermäßigen Steuerdruck trieben sie ihn vielfach von seinem ererbten
Hof, oder sahen wenigstens ungerührt zu, wie er immer mehr verelendete.
Nur ein Wunder vermochte das sterbende Deutschland zu retten, und dieses Wunder kam
mit Adolf Hitler, dem Vorkämpfer des Staatsgedankens von B l u t und Boden.
Dieser Übergang von der narrativen Art zur offen agitatorischen zeigt im vor-
liegenden Fall wohl die begrenzten Möglichkeiten des Verfassers, der vor allem
am propagandistischen Aspekt seines Tuns interessiert war. Unser zweiter Text
zum Bauembegriff des Nationalsozialismus ist seiner erzählerischen Mittel
sicherer, sein Autor ist Wilhelm Lennemann (1875-1963), der schon seit An-
fang des Jahrhunderts Bücher mit Bauemthematik veröffentlicht hatte. Dieser
Text von 1937 mit dem Titel "Ein Bauemwort" passte anscheinend so gut zu
dem seit 1933 propagierten Bauernbild, dass die Geschichte sehr rasch ins
Schullesebuch aufgenommen wurde. Sie wurde also im Deutschunterricht für
10- bis 14-jährige Volksschüler/innen verwendet. Aus einem solchen Lesebuch
wird sie hier vollständig wiedergegeben, weil sie heute wohl nicht mehr leicht
zugänglich ist.9
Ein Bauemwort.
Bei dem Oberpräsidenten von Westfalen, dem Freiheim von Vincke, weilte einst ein balti-
scher Graf zu Besuch. Das war ein gar vornehmer Herr, der den Bauern geringer achtete
als das Vieh im Stall und das Wild in den Wäldern. Der volkstümliche und bäuerliche
Freiherr kam darob des öftem hart mit ihm aneinander.
"Wenn Sie einmal westfälische Bauemart kennenlernten", sagte er, "so würden Sie sich
beugen vor ihrer Kraft, ihrem Stolze und ihrer Würde!"
"Auf das Wunder bin ich gespannt!" lachte der Balte überlegen.
Der Freiherr war kein Freund vieler Worte; an einem der nächsten Tage aber wußte er es
einzurichten, daß ihr ziemlich ausgedehnter Morgenspaziergang vor einem grossen Bau-
erngehöft endete, das in einem Kranze vieler wetterstarker Eichen lag.
"Mit dem Bauern hätte ich etwas zu bereden", meinte der Freiherr und trat durch das Tor in
den Hof, an dessen Rückseite sich die massive und langgestreckte Bauemburg erhob.
Wohl oder übel musste der Balte ihm folgen.
In dem Balken über der grossen Dielentür standen wie mit dem Beil die Worte eingehauen:
Der baltische Graf schritt still und besinnlich dahin. Der Freiherr störte ihn nicht in seiner
Nachdenklichkeit. An der nächsten Wegebiegung blieb der hochadlige Herr stehen, wandte
sich und sah noch einmal über den Hof hin. Das Wunder dieses westfälischen Bauern be-
gann langsam in ihm aufzublühen. Er sah dann seinen Begleiter an, verschluckte einen
vielleicht ärgerlichen Vordersatz seiner Meinung und sagte nur: "... aber ein ganzer Kerl
ist's doch!"
"Nicht wahr?" freute sich der Oberpräsident; "ein Bauer ist's und könnte ein König sein!"
In diesem Text soll der Graf - und mit ihm der Leser - seine Vorstellung von
Bauer korrigieren, er erhält eine "Lehrstunde". Der Fehler des ironisierten "gar
vornehmen Herrn" besteht darin, dass er Bauern für kleine Landwirte hält (ähn-
lich wie das Lexikon von 1924, s. 1.1.) und sie geringschätzt, wohl aus der
Perspektive eines östlich der Elbe residierenden Großgrundbesitzers. Zur Beleh-
rung führt ihn sein Gastgeber, (Ludwig) Freiherr von Vincke (1774—1844, d. h.
Zeitgenosse des Freiherm von Stein und der "Bauernbefreiung"), der seit 1815
Oberpräsident von Westfalen war, zu einem namenlosen westfälischen Bauern.
Von Arbeit ist um diesen Bauern herum nichts zu sehen, so wenig wie von Ma-
schinen oder Geräten, trotzdem ist er offenbar wohlhabend. Wichtiger ist für
diesen Text, denn das gehört zu der Lektion, die hier erteilt wird, das Haus eine
"Bauernburg" zu nennen, wodurch der Unterschied zwischen Bauer und Adel
hier als nicht existent behauptet wird, ähnlich wie in der Figur des adligen
Oberpräsidenten, der zugleich der "erste Bauer im Lande" genannt wird. Dessen
Eichenstock ist nicht zufällig aus demselben Holz wie die Bäume, die den Hof
des Bauern umgeben. Beide, Bauer und Freiherr, vertreten ein Gesellschaftsmo-
dell, das vor das Hochmittelalter zurückgreift und in dem Bürger und Arbeiter
so wenig einen Platz haben wie Stadt oder Industrie im Text. Rechnen gilt hier
als Tätigkeit des Balten, also der anderen, und Schreiben geschieht "wie mit
dem Beil"; die moderne Welt liegt weitab.
Nicht nur die Grenze zum Adel, sondern auch die zum geistlichen Bereich
ist für diesen Bauern nicht vorhanden, dessen Diele an eine "Kirchenhalle"
denken lässt, dessen Herkunft in liturgienahen Formeln ("Mein Geschlecht kam
aus der Ewigkeit und geht in die Ewigkeit") ausgesprochen und dessen Auftritt
als "Wunder" ausgegeben wird. Als Hinweis auf die besonderen Kräfte dieses
Bauern erscheint in seiner Umgebung, und zwar nur in seiner, Unbelebtes als
belebt, die Diele "reckte sich", die Bauernburg "erhob sich". Solche Zeichen
sind um den Oberpräsidenten herum nicht vorhanden, trotz Eichenstock, blauem
Kittel und einer Wortkargheit, die ihn dem Bauern ähnlich macht, dem Bauern,
der ja auch nicht durch seine Beredtheit, sondern missverstehend und ge-
sprächsabbrechend, vor allem gestisch Größe und Würde demonstriert.
Die Lexikon-Angabe, ein Bauer sei "organisch mit Bodenbesitz verknüpft"
(aus dem Jahr 1936, s. 1.5.), wird in diesem Text recht deutlich ausgeführt,
weniger dagegen seine Funktion als "Haupt einer Familieneinheit". Zwar gibt es
die Bäuerin, die grußlos, wortlos im gegebenen Moment zur Stelle ist und fürs
leibliche Wohl der Männer sorgt, ohne selbst wahrgenommen zu werden. Aber
Söhne oder Töchter des Dreiundsiebzigjährigen treten nicht auf; irgendwo
müssten sie aber vorhanden sein, wenn das Geschlecht in "Ewigkeit" weiterbe-
244 Walter Lenschen
stehen soll. Die Geschichte zeigt also nur einen Teil der Bauer-Merkmale aus
dem Lexikon von 1936. Trotzdem ist deutlich geworden, dass dieser westfä-
lische Bauer nicht wirtschaftlich, sondern "weltanschaulich" konzipiert ist.
Insofern entspricht er völlig den Schriften des damaligen "Reichsbauernfuhrers"
W. Darre, in denen es immer wieder hieß, die Wichtigkeit der Bauern für
Deutschland sei mit nur wirtschaftlichen Argumenten nicht zu begründen.
4. Literaturverzeichnis
1
Barbour/Stevenson (1998, 108-144), Löffler (1994, 150-153); spezielle Forschungsüber-
blicke bei Bürkli (1999,1-24) und Leuenberger (1999, 5-18).
2
Barbour/Stevenson (1998,108-144), Löffler (1994,150-153).
246 Heinrich Löffler
Analyseschritte berücksichtigen. Dies gilt in gleichem Maße für die Stadt als
Vorkommensbereich und Schmelztiegel verschiedenster sprachlicher Strömun-
gen - von der Basissprache einer alteingesessenen Bevölkerung bis zu den
Assimilationsprozessen einer zugezogenen ausländischen fremdkulturellen
Bevölkerungsgruppe. Dass diese Verhältnisse dann in jedem Land und in jeder
Stadt jeweils noch einmal verschieden sein konnten, machte trotz einiger
Vorbilder (z. B. Labov 1966 u. a.) das Bestreben, Stadtsprachen exemplarisch
zu erforschen, nicht gerade leichter.
Die Stadt-Soziolinguistik konnte sich jedoch neuer Möglichkeiten der em-
pirischen Sprachforschung bedienen, die von unterschiedlichen Disziplinen und
Erkenntnisinteressen an ganz verschiedenen Orten und in verschiedenen Kul-
turkreisen entwickelt worden waren.
Die soziolinguistische Defizit-Theorie hatte den Blick auf die amerikani-
schen Städte mit hohem Anteil schwarzer Bevölkerung gerichtet, deren wenig
ausgebildete Sprache als Ursache für mangelnden Schul- und Berufserfolg
verdächtigt wurde.
In europäischen Städten machten sich seit den 50-er Jahren zunehmend die
"Gastarbeiter" auch sprachlich bemerkbar, spätestens als deren Kinder die
Regelschulen des Gastlandes besuchen sollten.
Mit dem Reizwort "Bildungskatastrophe" der späten 60-er Jahre kam die
Defizit-Theorie auch nach Deutschland: Es gab zu wenig höhere Schulabgän-
ger, und auch hier wurden als mögliche Ursache Sprachdefizite, so genannte
sozial bedingte Sprachbarrieren eruiert. In deren Gefolge tauchte das Schlag-
wort von den Dialekten als Sprachbarrieren auf. All dies bewirkte schließlich
einen Aufbruch hin zur genaueren Untersuchung dessen, was sprachlich der Fall
ist - also zur empirischen Sprachforschung. Hier nun wurden die Städte nicht
nur nicht mehr ausgelassen, sie waren vielmehr der Vorkommensort dieser
neuen Phänomene. Empirische Sprachforschung fand also neuerdings vorwie-
gend in Städten statt, auch wenn nicht alles unter dem Titel Stadtsprachenfor-
schung verbucht wurde.
Aber nicht nur soziolinguistische Sonderfalle wie die restringierten Codes
von Unterprivilegierten waren ins Blickfeld geraten, auch der Normalfall Stadt,
ja der Normalfall "Ort"3 war jetzt von Interesse. Wie sprechen die Leute denn
überhaupt, Männer, Frauen, Kinder, Erwachsene: wer, wann, wo, mit wem,
worüber, in welcher Sprache - um eine berühmte Formel der Medienanalyse
(die im Übrigen schon aus der Antike stammt) auf die Orts- und Stadt-Kommu-
nikation anzuwenden.4
Standen zuvor die Sprachen und ihre Varianten, Substandards, Dialekte und
Varietäten im Vordergrund des Interesses, so kamen zunehmend auch die
Sprecher und Sprecherinnen, der sprechende Mensch in seiner Umgebung und
3
Vgl. "Erp-Projekt" als Ortssprachenforschung (Besch 1981,1983,1985)
4
Als "Lasswell'sche Formel" bekannt, jedoch seit der Antike geläufig: quis, quid, ubi,
quibus auxiliis, cui, quomodo, quändo.
Sprachen in der Stadt - am Beispiel Basels 247
In den Jahren 1993 bis 1996 wurde das Projekt "Stadtsprachen - Sprachen in
der Stadt - am Beispiels Basels" vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert
am Deutschen Seminar der Universität Basel durchgeführt. Es sah sich in Kon-
zept und Vorgehen in der eben genannten Tradition. Direkte thematische und
methodische Vorbilder oder Anstoßgeber waren neben dem früheren "Erp-
Projekt" (Besch 1981, 1983; Besch/Mattheier 1985) und seinen Folgearbeiten
(z.B. Lausberg 1991, Macha 1993), das Mannheimer Projekt (Kallmeyer
1994/95) und die Berliner Projekte (Schlobinski 1987; Dittmar et al. 1988),
dann in der Schweizer Forschungslandschaft die frühen Arbeiten von Gottfried
Kolde aus den Städten Biel und Fribourg (Kolde 1981), Iwar Werlens Arbeiten
zu einem Bemer Stadtquaitier (Werlen et al. 1992; Werlen 1995) und Heien
Christens Untersuchungen zur Schweizerischen Umgangssprache (Christen
1992; 1995). Für die schwierigen Probleme, Beziehungsgeflechte (Netzwerke)
zu erheben und darzustellen (Milroy 1980) oder das umgangssprachliche Varia-
tionsspektrum abzubilden (u. a. Auer 1990), gab es eine Reihe von neueren
Vorschlägen.
Der Reiz des Basler Projekts bestand darin, dass Basel im Vergleich zu an-
deren Städten gewisse eigene Merkmale aufweist (Burckhardt et al. 1984;
Löffler 1998, 76-79): Basel ist ein wenn auch kleiner Stadtstaat und hat somit
gemeinsame Züge mit Berlin und Hamburg, so seltsam dies beim wahren Grö-
ßenvergleich klingen mag. Basel liegt als Zentrumsort in einem Dreiländereck,
ist also zu zwei Dritteln von Staatsgrenzen umgeben. Obwohl die Nachbarlän-
der und natürlich auch die Schweizer Nachbarschaft dialektgeographisch zum
selben Großraum gehören, bildet Basel geradezu eine Sprachinsel. Mit den
Dialektmerkmalen gehört es ins nördlichere Niederalemannische und mit sei-
nem Stadtdialekt bildet es geradezu ein sprachliches Bollwerk, dessen "Mau-
ern" trotz gemeinsamer alemannischer Grundlage als pragmatische Sprach-
Vgl. auch die schon länger zurückliegende "Schwarzwaldaktion", bei der alle Einwohner
dreier Dörfer im Nordschwarzwald im Grenzdreieck von Schwäbisch-Alemannisch-
Fränkisch aufgenommen wurden (Ruoff 1973, 111-121).
Für Projektbeschreibungen vgl. Bürkli/Leuenberger (1998), Hofer/Leuenberger (1998),
Leuenberger (1997), Löffler (1995; 1998).
248 Heinrich Löffler
grenzen auch und gerade von Laien wahrgenommen werden. Nicht unerwähnt
bleiben darf - besonders gegenüber nichtSchweizer Publikum - dass die Nor-
mal-Sprache in der Stadt ein "Dialekt" ist, der jedenfalls den phonetischen
Status eines Dialektes hat, von der lexikalischen und pragmatischen Ausstattung
und Funktion her jedoch alle Merkmale einer Hochsprache zeigt. Dieser
gegenüber nimmt das Standard-Deutsche den Status einer Subvarietät an, die
nur noch wenigen formalisierten Anlässen oder dem restringierten Umgang mit
Fremden vorbehalten ist. Für den Zusammenhang des Projekts ist ferner von
Bedeutung, dass der Basler Dialekt in seiner Grundgestalt (als Basis-Dialekt)
und Geschichte seit über hundert Jahren immer wieder Gegenstand wissen-
schaftlicher und populärer Darstellungen gewesen ist. Das "Baseldeutsche" ist
also im traditionell-dialektologischen Sinn gut erforscht.7
Eine Gesamtbeschreibung der Sprache oder Sprachen in der Stadt - auch der
Kommunikation in der Stadt - ist kaum möglich. Das Projekt musste sich daher
auf einige für Basel vermutlich typische Aspekte beschränken. Diese orientier-
ten sich an unseren Vermutungen (Hypothesen) - und an der Machbarkeit.
Wir nannten die "Orte" in der Stadt, an denen wir urbanes Sprechen ver-
muteten, "Sprachmärkte", da uns diese Metapher nicht nur wegen ihrer Bild-
und Vorstellungskraft, sondern auch aus sachlichen Gründen besonders
geeignet schien:
- Das Marktrecht war im Mittelalter schon ein Merkmal der Stadt ("Martini-
Markt", "Herbstmarkt"). Heute sind an diese Stelle Verkaufs- und Vergnü-
gungsmessen getreten - mit gleichbleibender Funktion.
- Märkte sind Plattformen für Begegnungen, dienen als Börse, Drehscheibe
oder Treffpunkt für den Austausch von Waren und Informationen.
- Märkte sind auch Plätze oder große Verkehrsflächen, die wiederum als Be-
gegnungsraum oder Treffpunkt vieler Personen dienen, ob einheimischer
oder fremder.
- "Sprach-Markt" soll hier nicht als Metapher für ökonomische Marktwirt-
schaft im Sinne von Angebot-Nachfrage oder als Tausch von Waren gegen
Geld verstanden sein (wie z. B. bei Bourdieu 1990, 1984; vgl. Löffler
1998,79f).
- Sprache auf dem Sprach-Markt ist Vehikel und Medium der Begegnung,
der Kommunikation und Interaktion.8
Binz (1888), Bruckner (1932), Hinderung (1997), Hoffmann (1890), Müller (1953), Pilch
(1977), Seiler (1879), Socin (1896), Suter (1976).
Der Basler Marktplatz selber ist kein Sprachmarkt: Auf den tatsächlichen Marktplätzen
finden sich kaum Einheimische. Elsässer Obsthändler verkaufen den Touristen ihre Äpfel,
die sie aus der Basler Markthalle beziehen. Die Citys sind auch in anderen Städten von
Fremden, Marktfahrem, Touristen, Einkäufern aus der Umgebung, Pendlern usw. bevöl-
kert und nur selten von Einheimischen.
Sprachen in der Stadt - am Beispiel Basels 249
sehe erlernen kann.9 Letzteres wird auch tatsächlich bis auf den heutigen Tag
mehrfach angeboten.
71 gezielt ausgewählte Personen aus den Sprachmärkten standen über die gan-
zen drei Jahre zur Verfügung:
aus einem Warenhaus (EPA): 17 Personen
- aus einem Großbetrieb (Ciba, jetzt Novartis): 16 Personen
- Schulen (Sekundarstufe I): 27 Personen (Lehrer und Schüler dreier Schu-
len)
- Fasnacht: 15 Personen (davon waren neun identisch mit den obigen)
- Eine Kontrollgruppe von fünf Personen, die man als "Altbasier" bezeich-
nen könnte.
Die eine Hälfte der Probanden war jeweils in Basel sozialisiert, die andere
Hälfte stammte von außerhalb. Frauen und Männer waren annähernd gleich
vertreten.
Die traditionelle Forschung wird insbesondere durch den Sprachatlas der deutschen
Schweiz (SDS) repräsentiert, sowie durch zahlreiche ortsgrammatische und historische
Arbeiten zum Baseldeutschen.
Vgl. auch hierzu wieder Löffler (1995; 1998) und die Methodenkapitel bei Hofer (1998,
1031 .), Bürkli (1999,133ff.), Leuenberger (1999,68ff.).
Sprachen in der Stadt - am Beispiel Basels 251
2.3.3. Durchführung
Phase II
1) Freies Gespräch anhand eines Leitfadens über die Kenntnis und Einstellung
zur eigenen Spracheinvielfalt) und die der anderen
2) Matched Guise-/Einschätzungstests über sechs Sprachproben desselben
Textes. Eine fiktive Rede anlässlich der Übergabe eines Neubaus durch die
Architektin wurde sechsmal auf verschiedene Weise von einer einzigen
Person gesprochen. Die veränderlichen Variablen waren eingebaute Marker
für
l. Altes Baseldytsch (i-Aussprache: Kopf, Entrundungen: scheen, grien,
tiefer /'-Diphthong: daig, Hinterzäpfchen-r: dr Lehrer)
252 Heinrich Löffler
Phase III:
1) Schriftliche Sprachdiarien
2) Sprachliche Tagesläufe (18 Ganztags-Aufhahmen mit Funkmikrofon aus
Warenhaus, Großbetrieb und Schule)
Vor den Aufnahmen wurden aus dem Bereich Großbetrieb von 12 Probanden
Sprachdiarien angefertigt, auf Grund derer dann von sechs Personen Ganztags-
aufhahmen an ihrem Arbeitsplatz gemacht wurden. Dasselbe geschah im Wa-
renhaus und in der Schule. Systematisch ausgewertet sind die Aufnahmen vom
Großbetrieb (Bürkli 1999). Schule und Warenhaus werden in der Schluss-
publikation verglichen (Häcki Buhofer/Löffler 2000). Die Ganztages-Aufhah-
men mit Transkriptionen stellen eine einmalige Datengrundlage dar.
Für alle drei Phasen standen über drei Jahre hin dieselben 71 Probanden zur
Verfügung.
3. Ergebnisse11
- Das alte Baseldytsch existiert noch bei einer kleinen Gruppe von Alteinge-
sessenen oder solchen, die sich dafür halten. Ihre Sprache ist in der Basel-
deutschen Grammatik und im Wörterbuch beschrieben (Suter 1992). Die-
ses alte Baseldytsch wird auch von solchen wahrgenommen, die es nicht
mehr sprechen. Es existiert also in den Köpfen der übrigen Basler und kann
im Rollenspiel annähernd imitiert werden. Vor allem die Sprache der Fas-
nacht benutzt die Merkmale des Baseldytsch. Fasnächtier (unter den Bas-
lern!) sprechen auch außerhalb der Fasnacht noch am ehesten das traditio-
nelle Baseldytsch.
Es ist mir eine ganz besondere Freude, dass der erste zusammenfassende Forschungsbe-
richt als Festschrift-Beitrag für Gottfried Kolde erscheinen kann. G. Kolde hat das Projekt
durch seine Vorarbeiten nicht nur mit angeregt, er hat sich auch bei der konkreten Vorbe-
reitung an maßgeblicher Stelle dafür eingesetzt und bei weiteren Gelegenheiten an Zwi-
schenpräsentationen und Diskussionen im Rahmen des Postgraduierten-Programmes
"3eme cycle" teilgenommen. Da die drei Mitarbeiter bzw. Mitarbeiterinnen einen Teilbe-
reich des Projekts zum Thema einer Dissertation machen konnten, sind die Ergebnisse in
Form dieser Dissertationen publiziert (Hofer 1998, Bürkli 1999, Leuenberger 1999).
Sprachen in der Stadt - am Beispiel Basels 253
3. Basellandschaftlicher Dialekt,
4. Altes Baseldytsch und Elsässisch.
Dabei besteht eine ziemliche Homogenität unter den Probanden bezüglich der
Rangfolge: Das alte Baseldeutsche wird nicht besonders hochgehalten, das
Elsässische ebenfalls nicht. Geschätzt werden hingegen das mittlere Baseldeut-
sche und die in Basel gebrauchte und zu hörende Varietät des Basler Umlands.
Am besten schneiden also die beiden mittleren Varianten ab. Ein Stadt-Land-
Gefälle ist auf Schweizer Seite nicht feststellbar.
- Die Einstellungen .haben jedoch wenig Einfluss auf das eigene Sprachge-
brauchsverhalten .
- Hauptfaktor der persönlichen Variation: die individuelle Veranlagung und
die Situation/Konstellation.
Vgl. Bürkli (1999, 371ff.). Im Fokus standen sechs Personen des Gesamt-Samples aus
dem Sprachmarkt "Großbetrieb", welche Baseldeutsch sprachen. - (Einen anderen Fokus
hat die Lizentiatsarbeit von Jean-Marc Wise (1995), der ebenfalls mit Leuten aus der Ciba
gearbeitet hat: Die anglophonen Führungspersonen in der Chemie benutzen im Kontakt
mit deutschschweizer Mitarbeitern eine Art Echo-Englisch (back-checking). Auch dort
wurden große individuelle Unterschiede der "Anpassung" auf Sprachniveau festgestellt,
insbesondere auch in der Verwendung nonverbaler Unterstützung).
Eine Sprecherin aus dem Großbetrieb gab bei der Einschätzung des eigenen täglichen
Sprachrepertoires an, dass 95% davon in Englisch sei. Die Aufnahme hat ergeben, dass
Sprachen in der Stadt — am Beispiel Basels 255
Bemerkenswert ist dabei der überraschende Befund, dass die Schule für
Sprachvariationsphänomene nicht gerade ergiebig ist. Die Schüler sprechen
während eines Tages herzlich wenig. Die Verkäuferinnen hingegen kommuni-
zieren auf zwei Ebenen: gegenüber der Kundschaft in der Funktion Warenhaus,
also Sprachmarkt, gegenüber der Rayon-Kollegin in der Funktion Arbeits-Kol-
lege. Einer ähnlichen Doppelstrategie bediente sich bei dem Großbetrieb ein
Portier, der sich als wahrer Sprachvirtuose erwies (Bürkli 1999, 173-181).
Bei den Datenerhebungen und deren Korrelationen haben sich weder die Va-
riablen Alter, Geschlecht oder Beruf noch die Variable Sprachmarkt als signifi-
kante variationssteuernde Faktoren erwiesen. Vielmehr sind es die Individuen
und deren persönliche Kompetenz und Disponibilität, welche das Variations-
verhalten maßgeblich bestimmen. Ein mächtiger Faktor ist dabei die Ortsloya-
lität. Obwohl viele davon reden, war es bisher nicht gelungen, Ortsloyalität
operationalisierbar zu machen oder gar zu messen.
Petra Leuenberger hat in ihrer Dissertation ein Verfahren entwickelt, nach
welchem die sensitiven Faktoren für Ortsloyalität erhoben werden können.
Diese wurden dann mit sprachlichen Verhaltensmerkmalen korreliert mit fol-
genden Ergebnissen (Leuenberger 1999, 193ff):
- Ortsloyalität ist messbar.
- Ortsloyalität lässt sich mit sprachlichen Variablen korrelieren.
- Ortsloyalität als "affektive Ortsbezogenheit" wird nicht automatisch durch
"Wohnort" oder "Wohnsitz" an dem entsprechenden Ort erzeugt, sondern
vielmehr durch Indikatoren wie: Wohn"dauer", bisherige Wohnorte,
Wohnsitz der Herkunftsfamilie, politische Partizipation oder Mitgliedschaft
in einer Clique. So haben manche Agglomerationsbewohner eine zweifa-
che Loyalität, weil sie lange in Basel gewohnt haben und dann in die Um-
gebung gezogen sind oder umgekehrt. Bei Pendlern konstituiert der Ar-
beitsplatz in der Stadt allein noch keine Ortsloyalität. Es ist auch kein Ge-
heimnis, dass die meisten maskierten Personen, welche an der Fasnacht die
Basler Straßen bevölkern, aus der Agglomeration stammen - und überdies
Frauen sind.
Auf das Basler Untersuchungs-Sample bezogen heißt das:
- Diejenigen "Basler" und "Altbasier", welche die stärksten Merkmale der
Ortsloyalität aufweisen, sind sprachlich am wenigsten variationsfreudig
und haben deshalb das schmälste sprachliche "Kontinuum".
- Pendler aus der Agglomeration mit gespaltener Loyalität sind beweglicher.
das Englische einen Anteil von gerade 15 % hatte (Bürkli 1999, 163-166). Tagesläufe aus
den beiden anderen Sprachmärkten (Warenhaus und Schule) werden in der Schlusspubli-
kation (Häcki Buhofer/Löffler 2000) ausgewertet.
256 Heinrich Löffler
- Auch hier erweist sich bei allen Variationsphänomenen immer wieder das
Individuum als Hauptsteuerungsfaktor.
Diese sprecherzentrierten Ergebnisse rühren vielleicht daher, dass man bisher
fast immer von der Sprache und den Sprachdaten ausgegangen war, indem man
die Sprecher als deren Lieferanten zwar in Kauf nahm, sie aber bald aus dem
Auge verlor und immer nur nach der Sprache und ihren Veränderungen Aus-
schau hielt.
Ich habe an anderer Stelle einmal gefordert, dass die künftige pragmatische
Dialektologie eine Sprecherdialektologie statt einer Dialekt-Dialektologie sein
müsste (Löffler 1986; 1991). Vielleicht sind dies schon die ersten Früchte einer
entsprechenden Entwicklung. Wenn es also die Sprecherbiographien und -kom-
petenzen sind, welche die Haupttriebfedern sprachlicher Flexibilität und damit
des Sprachwandels überhaupt abgeben, wird denn auch so manche Theorie der
Varietätenlinguistik ihr Konzept modifizieren müssen.
4. Offene Fragen
Trotz der Breite der Versuchsanordnung kann eine Untersuchung der Sprach-
lichkeit einer Stadt immer nur ausschnittsweise erfolgen. Selbst bei diesem
selektiven Vorgehen bleiben einige Erklärungs-Desiderate:
Welche anderen Faktoren neben der individuellen Idiolektalität müssen in
einem weiteren Erklärungszusammenhang herangezogen werden? Hierzu müs-
sen neuere Leitbegriffe wie sprachliche Identität, soziale und lokale Loyalität,
Akkomodation, Assimiliation, Akkulturation oder Integration in das Erklä-
rungsfeld miteinbezogen werden. Auch mussten bei der Beobachtung weitere
Sprachmärkte und Gruppierungen berücksichtigt werden, wie etwa einzelne
Stadt-Quartiere, die sehr einflussreichen Zünfte und Vereine, nichtbasler
Schweizer (Schweizervereine) und vor allem auch die ausländische Bevölke-
rung, welche über ein Viertel der Stadtbewohner ausmacht. Zu beachten wären
auch die typischen alten und neuen Stadt-Medien (Zeitung, Lokalradio, Lokal-
fernsehen), die zu einem Teil die Sprachlichkeit reflektieren, bestimmte Ten-
denzen jedoch auch verstärken. Neben dem Basler Kontinuum würden sich
noch andere Varietäten, Ausgleichsdialekte, verschiedene Linguae Francae oder
Pidginisierungseffekte abzeichnen. Noch nicht beschrieben ist der Status, die
Rolle und die Funktion des Standarddeutschen in Basel. Schließlich könnte man
weiteren Fragen nachgehen: Ist Basel eine sprachliche City und wenn ja, ist
diese nur eine Drehscheibe oder ein Schmelztiegel? Was ist urban an der Basler
Sprachlichkeit und übertragbar auf andere Städte? Was ist Schweiz-typisch und
damit übertragbar auf andere Schweizer Städte? Was ist basel-typisch, d. h.
singular und nicht übertragbar? Oder als nicht uninteressante Randfrage: Wie ist
die sogenannte "Basler Schnuure" urbanlinguistisch einzuordnen (Ersig 1996)?
Die Liste der offenen Fragen und damit dessen, was noch zu tun wäre, ist
länger als die der Ergebnisse.
258 Heinrich Löffler
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260 Heinrich Lößler
"Senza esclamativi"
Sopra un testo di Giorgio Caproni
1. Introduzione
1
E I'etichetta continiana per una versione (a cui in toto si aderisce) filologicamente, stori-
camente e retoricamente agguerrita, e caratterizzata da un forte Geschmack an Zeichen,
della ricostruzione dei significati 'grammaticali' del testo poetico nel senso piü esteso del
termine 'significato' (inclusivo in particolare delle architetture dei signiflcanti). Cfr. Con-
tini( 1970 [1965], 410).
2
Caproni (1998a).
3
Le traduzioni poetiche sono ora raccolte in Caproni (1998b). Sulle soluzioni adottate e sui
risultati si veda in particolare Mengaldo (1991,175-194).
4
Caproni (1990). Una scelta di testi era apparsa due anni prima nella rivista "Akzente"
accompagnata da un saggio della germanista italiana Lea Ritter Santini.
262 Emilio Manzotti
legge fuori del territorio in cui vige. Questi confini esistono: sono i confini della scienza; k
da 11 ehe comincia la ricerca poetica. Non so se aldilä ci sia qualcosa; sicuramente c'e
1'inconoscibile.
Al tema del 'muro', dei limiti posti alia conoscenza, e quindi della relativa
pochezza delle imprese umane, si aggiunge nella raccolta il tema correlate e dal
canto suo totalmente negative del 'vuoto', del 'nulla': di quel "deserto, intero"9
ehe si instaurera alia scomparsa dell'uorno, e ehe forse e gia sottostante alle
"sembianze" percepibili della vita. Questo ulteriore tema della negativitä ri-
suona gia nella epigrafe preposta a tutta la raccolta - un'altra epigrafe per una
poetica ehe e in effetti del contrappunto -, tratta aalVincipit di una lettera gio-
cosa di Annibale Caro del 13 ottobre 1532 a degli interlocutori in Roma:
"Siamo in un deserto e volete lettere da noi, e voi siete a Roma e non ci scrivete.
Che discrezione e la vostra? e ehe maggioranza e quella ehe tenete con noi?"10
All'espressione citata, e citata come:
Siamo in un deserto,
e volete lettere da noi
(Annibal Caro)
Caproni attribuisce naturalmente un valore simbolico simile a quello del deserto
della Ginestra leopardiana, certo ben diverso da quello lieve dell Originale, in
cui il 'deserto' era la Tolfa, la regione montagnosa tra Civitavecchia e Brac-
ciano, dove "altro non c'e ehe grotte e spini, / e cave, e catapecchie, e rompi-
colli".11
3. L'architettura formale
L'accostamento e reso piu plausibile dalle molte altre traccie in Caproni delta poesia di
Eliot. Si veda per qualche rimando Dei (1997).
Ma si badi ehe 1'intonazione di un'esclamativa di costituente e grosso modo, come per le
frasi dichiarative, di tipo conclusivo, con la peculiarita di un innalzamento tonale pi o
meno grande sul termine modificato dalla forma k- (= come): cioe alto e bestia. Per le ca-
ratteristiche della protonla esclamativa si rinvia a Canepari (1999, 200-201).
"Senza esclamativi" 265
Cfr. \'Apparate critico (Caproni 1998a, 1555): "17/4/80 leggo in Valentines (Nouveau, p.
48): Famour, au diable Fanimal!".
"Senza esclamativi" 267
potto di un eventuale parallele semantico con una delle letture ammesse dalla
successiva unita sintattica, pare poco compatibile col carattere agentivo di pa-
role nella relativa ehe scavano...). Certo le parole sono per 1'uomo, nella conce-
zione corrente, lo strumento principe di conoscenza e di durata. Come non
pensare a quel topos fondatore delle culture occidental! ehe e 1'oraziano exegi
monumentum acre perennius?15 alia consapevolezza cioe del lavoro compiuto,
dell'aver eretto un monumento di parole contro cui saranno impotenti le piogge,
i venti e la innumerabilis annorum series. Ma nel nostro testo trova espressione
una concezione meno ottimistica della efficacia referenziale della parola, una
concezione ehe direi poco linguistica e molto poetica, mutuata da una corrente
irrazionalistica comunque anti-razionale della filosofia novecentesca e svilup-
pata in una direzione inedita. Le nostre parole, secondo le immagini con cui
Caproni mette in scena 1'impotenza pratica (non poetica!) del Verbo, servireb-
bero in realta solo ad innalzare monumenti 'vuoti', dei monumenti ehe sono
privi di contenuto. Di piü, questi monumenta non si stagliano nella luce, non
Vinnalzano', bensi, con radicale inversione dellOraziano exigere (ehe vale a
rigore 'concludere', ma anche con ragionevole trapasso 'edificare'), scendono
giü verso il fondo, 'sprofondano' a modo di tombe catacombe nel suolo: in un
suolo anch'esso di nessuna consistenza, fatto labile, 'vuoto'.16 La stessa materia
dei monumenti di parole non e salda e dura come e piü del bronzo, ma impalpa-
bile, 'vuota' anch'essa.
Parole vuote, dunque, ehe non offrono riparo o salvezza. Gioverä osservare
ehe simili manifestazioni un po' paradossali di sfiducia nel Verbo, espresse in
una lingua alia quale si nega la capacitä di esprimere alcunche, sono ricorrenti
nella poesia di Caproni, inducendo un sotterraneo effetto di polemica nei con-
fronti della tradizione letteraria (D'Annunzio, ma anche Ungaretti, ehe ha parole
'scavate' e rade, eppure cariche di senso: "Quando trovo/in questomio silenzio /
una parola /scavata e nella mia vita/come un abisso"17). La sfiducia nel Verbo
assume successivamente forme diverse. II Poeta a volte parla, si sforza di
farlo, ma non domina lo strumento e provoca quindi negli interlocutori reazioni
di rifiuto magari violento, senza riuscire ad instaurare con essi nessun contatto,
come accade nella quartina Sassate, anch'essa da // muro della terra:19
Ho provato a parlare.
Forse ignoro la lingua.
Tutte frasi sbagliate.
Le risposte: sassate.
15
Od. Ill, 30: "Exegi monumentum acre perennius | Regalique situ pyramidum altius, | Quod
non imber edax, non Aquilo impotens | Possit diniere aut innumerabilis || Annorum series
et fuga temporum. | Non omnis moriar, multaque pars mei | Vitabit Libitinam...".
16
Torna alia mente il felice titolo di un romanzo di Herbert Rosendorfer: Der Ruinenbau-
meister, il 'capomastro di rovine', o 'delle rovine'.
17
Sono i w. 9-13 di Commiato - cfr. Piccioni (1969, 58).
18
Caproni (1998a, 366).
268 Emilia Manzolti
Altre volte, come ne Le parole (da // franco cacciatore19), gli strumenti del
nominare provocano il dileguarsi, il 'dissolversi' del referente extralinguistico,
con immagini ehe rinnovano felicemente il topos della distanza incommensura-
bile posta dalle parole tra noi e la realtä:
Le parole. Gia.
Dissolvono 1'oggetto.
Come la nebbia gli alberi,
il flume: il traghetto.
In altri casi, ancora, la parola viene equiparata ad una insidia, una modalitä del
Male (la parola e la tagliola sono "una cosa sola"20), dell'apocalittica Ur-Bestia,
ad un tempo preda affannosamente perseguita e essa stessa cacciatrice
implacabile. A volte questa Bestia mortale si nasconde nella parola (la preda,
nella poesia omonima,21 si inselva nella nostra voce), dietro di essa (in
solo22 la "Bestia assassina", la "Bestia ehe ti vivifica e uccide" e letteralmente
dietro la Parola), sparisce in essa (cfr. L Ora,23 w. 8-9). Questi cortocircuiti
analogici, portati alle estreme conseguenze, sfociano quasi inevitabilmente nella
identitä senza mezzi termini della Bestia (cioe del Male), della Parola-i)«o/na
(gr. , - ? 'nome, denominazione, parola, espressione') e della Morte,
come assicurano 1'apposizione traparentesi di Let,24 vv. 14-15:
lei, la Bestia
(Fonoma)
e uno degli Appunti senza data delle Poesie disperse25 (con corsivo dell'autore a
sottolineare il rifiuto di una ipotesi meno estrema, ehe cioe il nome "avvicim
alia morte"):
II nome awicina alia morte?
No. II nome e la morte.
E in un breve testo del Conte di Kevenhuller, la raccolta ehe per gran parte
svolge il tema della caccia alia "feroce Bestia", intitolato appunto L 'onoma,26 la
Bestia cercata e imprendibile e ormai semplicemente la Parola, la Grammatica:
19
Caproni (1998a, 460). La traduzione tedesca di Helbling (Caproni 1990, 110): "Die Worte
eben. | Sie lassen die Dinge zergehen. || Wie der Baum im Nebel ertrinkt. | Wie der Fluß
vor der Fähre versinkt", vede una doppia comparazione (nella seconda il fiume dissolven-
do il traghetto, con in piu un abbastanza prosaico tentativo di razionalizzazione semantica
deirimmagine, come giä nella prima comparazione), la dove l Originale ne ha una sola con
un triplice oggetto (soggetto: la nebbia) ehe scompone un paesaggio unitario di alberi,
fiume e traghetto. I due punti, all'origine del fraintendimento dello Helbling, servono in
realtä unicamente ad enfatizzare Fultimo tempo, il piu rilevante, il piü 'solido', della enu-
merazione; allo stesso modo nella chiusa di Paesaggio: "Nell'orrido del Lupo. | Nell'
orrido della vecchiaia. | Di dirupo in dirupo, | la vipera: la sterpaia" - (Caproni 1998a, 650).
20
Cos! nei quattro versi de La tagliola di Res amissa (Caproni 1998a, 797).
21
// Conte di Kevenhüller (Caproni 1998a, 558-559).
22
// Conte di Kevenhüller (Caproni 1998a, 561).
23
// Conte di Kevenhüller (Caproni 1998a, 555).
24
// Conte di Kevenhüller (Caproni 1998a, 568).
25
Caproni (l998a, 967).
26
Caproni (l998a, 569).
"Senza esclamaiivi" 269
27
Cfr. la chiusa de La porta (Caproni 1998a, 610). Ma tutta questa lirica 'nominale', ehe
allinea (sul modello di Montale ndVAnguilla, o piü pertinentemente sul modello liturgico
delle Litanie) in aggettivi frasi relative le proprieta della porta (vi compare tra 1'altro al
v. 12 la intransitivita), e una mirabile trasposizione delle insufficienze ontologiche (per
Caproni) della parola: "porta | ehe, dalla trasparenza, porta | nell'opacita...".
28
Caproni (1996 [1947], 18).
29
Caproni (1996 [1947], 19).
30
Concessione, in Res amissa (Caproni 1998a, 805). II "maleficio | de cuantos ejercemos el
oficio | de cambiar en palabras nuestra vida", per cui "siempre se pierde lo esencial" (J. L.
Borges, La luna, w. 14-17), e tipico tema borgesiano, ehe in un luogo de El hacedor
trova in particolare applicazione proprio ad una inefTabile rosa gialla: "Marino via la rosa,
como Adan pudo verla en el Paraiso, y sintio que ella estaba en su eternidad y no en sus
palabras y que podemos mencionar o aludir pero no expresar" (Una rosa amarilla, in Bor-
ges (1963, 60)).
31
Cost ne // nome del Conte di Kevenhüller (Caproni 1998a, 632): "II nome non e la per-
sona. || II nome e la larva. || Di tutti i circostanti | a malapena e salva | - famelica - 1'icona.
|| (Eroi, e figuranti.)"
32
Nel primo dei gia citati Appunti senza data (Caproni 1998a, 967).
270 Emilio Manzotti
In Cronistoria (Caproni 1998a, 99). Si attira 1'attenzione sulla esclamativita non segnalata
dalla punteggiatura.
"Senza esclamativi" 271
34
Ne // seme del piangere (Caproni 1998a, 198). L'abbozzo parzialmente citato e riprodotto
neH'apparato di Caproni (1998a, 1352).
35
Caproni (1998a, 213).
272 Emilia Manzotli
36
Fedone, LXVI. Di N. Marziano la traduzione citata.
37
Sviluppo qui un suggerimento di O. Besomi.
La difficolta la stessa ehe si incontra ad interpretare, poniamo, il vuoto della libreria
come "il vuoto lasciato dalla libreria".
39
Caproni (1998a, 291).
"Senza esclamativi" 273
2
1991, 185), "sembra d'awertire una lontana, domestica eco del medioevale
'ubi est?'", constata cosi pateticamente, dal punto di vista delle erbe e delle
minime creature rimaste orfane, 1'instaurarsi del deserto la dov'era vita e
potenzialitä di vita. Non piü il mormorio (maretta) del grano al vento del
mattino, non piü il mare di spighe nelle notti di luna piena, inutile cercare il
grano, il "suo solito sussurro", nel "deserto campo":
Dov'e, campo, il brusio della maretta
quando rabbrividivi ai libeccioli?
Ti resta qualche fior d'erba cometta,
i fioralisi, i rosolacci soli.
E nel silenzio del mattino azzurro
cercano in vano il solito sussurro;
mentre nell'aia, la, del contadino
trobbiano nel silenzio del mattino.
Dov'e, campo, il tuo mare ampio e tranquillo,
col tenue vel di reste, ai pleniluni?
Pei nudi solchi trilla trilla il grillo,
lucciole vanno per i solchi bruni.
E nella sera, con ansar di lampo,
cercano il grano nel deserto campo.
Del resto anche altrove40 in Caproni i "campi morti d'agosto" sono uno dei
luoghi emblematici del vacua (assieme ad esempio alle impervie superfici per-
pendicolari del logo e del monte, alle "febbri di dicembre"), di quel deserto
Nulla in cui "si raggira" la preda (w. 14—15) rendendo paradossalmente cieco,
proprio per la sua esplosiva evidenza sopra un fondale vuoto, 1'occhio del cac-
ciatore.
II sentimento del 'deserto' futuro domina ISidrometra, una composizione
del Muro della terra ehe introduce, sulla scorta di un ricordo infantile registrato
dal poeta in un 'foglio di diario' di poco anteriore,41 un'assoluta novita nel
Bestiario poetico anche novecentesco: ridrometra, appunto, il filiforme emittero
'pattinatore' delle superfici stagnant!42 ('idrometra' e nome per Caproni proba-
nelFacqua morenti ο morti e spesso di zanzare, nel momenta in cui queste sfarfallano dalla
pupa. L'Hydrometra stagnorum L. [...], col corpo esile e cilindrico, il capo e le zampe
allungatissime, cammina lentamente sulle acque stagnant! ed e disinvolta anche sulla
terra".
43
Si noti, lasciando di altre manifestazioni owie di binarieta, ehe nella seconda strofa
egualmente equipara, raddoppiandolo, il 'portare con noi' al precedente 'andar perduto'; e
ehe I'awerbiale in fondo all'acqua riceve una doppia qualificazione: la coppia aggettivale
sindetica incerta e lucida, e la relative doppia il cui velo nero... (doppio il soggetto: idro-
metra, libellula; doppio il verbo pattinera, sorvolera, con doppio futuro ossitono di terza
singolare in -a).
44
Un aspetto notevole della grammatica as\\'Idrometra e I'insistenza sul pronome noi e suoi
derivati e ad un tempo la sua negazione. Se enfatiche sono la collocazione e iterazione di
noi, noslro (con insistenza ai limiti della grammaticalita, salvata nei primi due versi dalla
dislocazione a sinistra: cfr, altrimenti: ^Tutte le nostre testimonianze di noi testimoni...),
noi d'altra parte non compare mai, almeno esplicitamente, come soggetto (e sottinteso
nella seconda strofa), ma 6 defilato, preposizionale: di noi, con noi, per quanta occupi nella
prima occorrenza la posizione d'apertura. Che sia questo un modo di porre ΓΙο e di ne-
garne nel contempo per via sintattica la permanenza e quindi il valore?
"Senza esclamativi" 275
45
Una ulteriore coppia polare, il mondo delle sembianze, cioe delle 'immagini' dell'Ora, e il
mondo della storia, viene introdotta all'inizio della seconda strofa. A questa nuova coppia
viene applicata una Variante (porteremo con noi) della prima predicazione negativa.
46
La quali fica conserva un'eco dei sintagmi "testimone del (suo) tempo" e, soprattutto,
"testimone di Dio": "colui ehe reca testimonianza dell'esistenza di Dio, del suo agire" (cfr.
Act. 2, 32 Hunc lesum resuscitavit Deus. cuius omnes nos festes sumus, e 4, 33 Et virtute
magna reddebant Apostoli testimonium resurrection is lesu Christi domini nostri). Ma le
nostre 'testimonianze' possono ben essere se non false, inadeguate, inani... AI ehe si ag-
giunge l'idea ehe fuori delle nostre testimonianze non vi e, malgrado I'impiego del termine
realtä, nulla di reale al mondo - un mondo destinato quindi a svanire con noi, con una
forte dose di ironia sullOggetto del nostro testimoniare, privo di esistenza autonoma.
276 Emilio Manzotti
E piü esplicitamente, e con la gia citata traduzione italiana, a margine di uno dei
nove fogli48 inseriti nella copia personale della raccolta:
Ach, wo ist Juli und das Sommerland!
Ah! dov'fc luglio e il paese d'estate
Hugo von Hofmannstahl: La nostalgia del vecchio per Testate
"Canto di vita e altre poesie", trad, di Elena Croce, Einaudi, pag. 65 [in realta 64}-66.
Des alten Mannes Sehnsucht nach dem La nostalgia del vecchio per Testate
Sommer
Wenn endlich Juli würde anstatt März, Se finalmente luglio fosse invece di marzo,
Nichts hielte mich, ich nähme einen Rand, Nulla mi tratterrebbe, prenderei l'aire
Zu Pferd, zu Wagen oder mit der Bahn E a cavallo, in carrozza o con la ferrovia
Kam ich hinaus ins schöne Hügelland. Sboccherei nella bella contrada di collina.
Da stünden Gruppen großer Bäume nah, E11 avrei vicini, gruppi di grandi alberi;
Platanen, Rüster, Ahorn oder Eiche: Platani, olmi, aceri o querce:
Wie lang ists, daß ich keine solchen sah! Da quanto, quelli, non H ho piu veduti!
Da stiege ich vom Pferde oder riefe Allora io dal cavallo smonterei oppure:
dem Kutscher: Halt! und ginge ohne Ziel Ferma! griderei al cocchiere, ed andrei senza
meta
nach vorwärts in des Sommerlandes Tiefe. Avanti, verso il cuore del paese d'estate.
Und unter solchen Bäume ruht ich aus; E sotto gli alberi, quegli alberi riposerei,
In deren Wipfel wäre Tag und Nacht Nelle cui cime in una,
Zugleich, und nicht so wie in diesem Haus, Giorno e notte sarebbe, non come in questa
casa,
Wo Tage manchmal öd sind wie die Nacht Dove i giorni talvolta sono vacui come notti
Und Nächte fahl und lauernd wie der Tag. E le notti insidiose e scialbe come il giorno .
Dort wäre alles leben, Glanz und Pracht. La tutto sarebbe vita, risplendente, magnifica.
Und aus dem Schatten in des Abendlichts E invece delTombra la beatitudine
Beglückung tret ich, und ein Hauch weht Del tramonto, e se un soffio mi sfiora,
47
E ripresi in Caproni (1998a, 389-390).
48
Cfr. Caproni (1998a, 1054-il "Fascicolo 15° 1-12"-e 1555).
Se ne ricordi la datazione d'autore al 1970.
50
Cosi nella Introduzione (p. 9) la traduttrice stessa, ehe pure riconosce di essere stata "a
volte costretta a ricalcare il ritmo per non far scomparire gli effetti di ripetizione, e il gioco
a volte ambiguo ehe sono parte essenziale del linguaggio di Hofmannsthal".
"Senza esclamativi" 277
hin,
Doch nirgend flüsterte: "Alles dies ist Non pero mai bisbiglia, "tutto questo 6 nulla".
nichts."
Das Tal wird dunkel, und wo Häuser sind, La valle si fa scura, e dove sono case
Sind Lichter, und das Dunkel weht mich an, sono luci, e I'oscurita m'investe,
Doch nicht vom Sterben spricht der nächtige Non pero di morire parla il vento notturno,
Wind.
Ich gehe übern Friedhof hin und sehe Passo attraverso il cimitero e vedo
Nur Blumen sich im letzten Scheine wiegen, Solo fiori cullarsi nell'ultimo chiarore
Von gar nichts ändern fühl ich eine Nähe. E proprio di nient'altro sento la vicinanza.
Und zwischen Haselsträuchern, die schon E fra macchie ehe giä s'abbuiano di nocciuoli,
düstem,
Fließt Wasser hin, und wie ein Kind, so Scorre acqua, e come un fanciullo m'apposto
lausch ich
Und höre kein "Dies ist vergeblich" E non sento alcun bisbigliare di "Invano!"
flüstern!
Da ziehe ich mich hurtig aus und springe 11 svelto mi spoglio per saltare
Hinein, und wie ich dann den Kopf erhebe Dentro, e poi quando rialzo la testa,
ist Mond, indes ich mich mit dem Bächlein C'& luna, ma io ancora combatto col ruscello.
ringe.
Halb heb ich mich aus der eiskalten Welle, Mi sollevo a meta dallOnda ghiaccia,
und einen glatten Kieselstein ins Land E un liscio ciottolo del greto scagliando
Weit schleudernd, steh ich in der Lontano, nel campo, m'ergo nel chiarore della
Mondeshelle. luna.
Und auf das mondbeglänzte Sommerland E sul paese estivo dalla luna argentato
Fällt weit en Schatten: dieser, der so traurig
Cade ampia un'ombra: questa stessa ehe cosl
triste
Hier nickt, hier hinterm Kissen an der Wand? Mi fa cenno, qui dietro il cuscino, alia parete?
So trüb und traurig, der halb aufrecht kauert Che cosl fosca e triste, accoccolata a mezzo si
sporge
Vor Tag und böse in das Frühlicht starrt prima del giomo fissando la nuova luce, esosa,
Und weiß, daß auf uns beide etwas lauert? E sä ehe noi due qualcosa c'insidia?
Er, den der böse Wind in diesem März Lei sä ehe l'esoso vento in questo marzo
So quält, daß er die Nächte nie sich legt, Tormenta si ehe notte mai si stende,
Gekrampft die schwarzen Hände aufsein E mani nere ha contratte sul cuore?
Herz?
Ach, wo ist Juli und das Sommerland! Ah! dov'6 luglio e il paese d'estate?
Non e facile capire a prima vista cosa in questo testo relativamente oscuro, e
comunque mal rischiarato dalla traduzione interlineare, abbia potuto attirare
l'attenzione di Caproni, oltre a quella tonalitä generale ehe E. Croce etichet-
tava51 negativamente di "tetro materialismo crepuscolare". Un vecchio, in una
notte di marzo, fantastica di un luglio di pienezza vitale, di un incantato paese
dell'estate verso cui precipitarsi a cavallo, in carrozza con la ferrovia, un
paese dove tutto sarebbe, un po' come nella Invitation au voyage baudelairiana,
Leben, Glanz und Pracht, dove nulla ricorderebbe IMllusorietä delle cose, ehe
Alles dies ist nichts, e ehe Dies ist vergeblich; e dove sarebbe possibile una
52
Caproni (1998a, rispettivamente 96,98,101,105,120).
53
Come ad esempio ne /lamenti, l del Passaggio d'Enea, al primo e all'ultimo verso: "Ahi i
nomi per Fetemo abbandonati | sui sassi", "oh i nomi senza palpito — oh il lamento" (Ca-
proni 1998a, 115), nelPapertura di Treno del Seme del piangere (Caproni 1998a, 224):
"Ahi treno lungo e lento | (nero) fino a Benevento", e in innumerevoli altri luoghi.
54
Che cito dalla miniantologia di dicharazioni poetiche riportata in Falcetto (1997,109).
"Senza esclamaüvi" 279
Com'erano alberati
e freschi i suoi pensieri!
[Sulla strada di Lucca, Caproni (1998a, 196)]
*
Com'era acuto 1'ago
e agile e fine 1'estro!
[...]
Livorno tutta intomo
com'era ventilata!
Come sapeva di mare
sapendo il suo lavorare!
[La ricamatrice, Caproni (1998a, 198)].
Che viene aperta da uno straordinario Dies irae in negative, una risposta a la moniere di
Caproni ad interrogativi celebri dei Sepolcri foscoliani: "Nessun tribunale. | Niente. || As-
sassino innocente, | agli occhi di nessuno un cranio | varra 1'altro, come | varra 1'altro un
sasso un nome | perso fra 1'erba. || La morte | (il dopo) non privilegia | nessuno. || Non c'e
per nessuno, | bruciata ogni ormai inattendibile | mappa, nessuna via regia" (Caproni
1998a, 413; ivi la lapalissade alia pagina 417).
280 Emilia Manzotti
7. Bibliografia
l. Einleitung
An die Lektüre eines Textes tragen wir immer schon Erwartungen heran. Eine
der Lehren, die ich dem Jubilar verdanke, besteht darin, zu solchen Erwartungen
Distanz zu halten, sie auf der Grundlage des Textes oder des Korpus immer
wieder zu überprüfen - auch auf die Gefahr hin, dass ein Beispiel sich nicht so
gut in die Argumentation einfügt, wie es meine Erwartung zunächst hat hoffen
lassen. Im folgenden Beitrag geht es um Erwartungen, und zwar in zweierlei
Hinsicht: zum einen sind die Erwartungen von Lesern hinsichtlich der Fortset-
zung von Texten Gegenstand der Untersuchung, die zu zeigen versucht, in
welchem Verhältnis die Erwartungen der Leser, hier der Versuchspersonen, zur
jeweils konkreten Textgestalt stehen; zum anderen spielen die Erwartungen des
untersuchenden Linguisten eine zentrale Rolle: nicht nur weil ich - typisch
linguistisch - unterstelle und erwarte, dass der Gebrauch bestimmter Aus-
drucksformen in bestimmten Kontexten die Wahl der einen oder der anderen
Fortsetzungsmöglichkeit beeinflusst, sondern mehr noch, weil ich in Abhän-
gigkeit von den vorgegebenen Kontexten bestimmte Antworten erwarte und
andere ausschließe.
Unsere Erwartungen als routinierte Leser gründen auf unserem Wissen über
den Inhalt des Textes (Überschrift, Zusammenfassung, Abstract, Vorankündi-
gung etc.), über seine Zugehörigkeit zu einer Textsorte (Gebrauchsanleitung,
Novelle, Zeitungstext, Roman), aber auch auf Informationen, die der Text selbst
an bestimmten Stellen liefert (Inhaltsverzeichnis, Kapitel- oder laufende
Überschriften, metatextuelle Äußerungen). Mit solchen Hinweisen auf das, was
wir von einem bestimmten Text erwarten können, bleiben wir im Rahmen ex-
pliziter Hinweise auf den Inhalt des Textes. Beim Lesen des Textes werden
Erwartungen jedoch begleitend weiter gesteuert. Und hier nun - so meine Er-
wartung - spielen grammatische Ausdrucksmittel eine besondere Rolle. Etwas
vergröbernd kann man sagen: Die erstgenannten inhaltlichen Indikatoren
stecken den Rahmen dessen ab, was wir von dem Text oder einem Teil des
Textes erwarten können, die zweite Gruppe von Indikatoren dagegen steuert
unsere Erwartungen ganz konkret auf die Fortführung des gerade gelesenen
Textes, diese Indikatoren fungieren quasi als Wegweiser durch die Struktur des
Textes.
282 Matthias Marschall
2. Das Testdesign
1
Vgl. dazu Posner (1972).
2
Vgl. Bronckart et al. (l999).
Erwartungen und Routinen beim Lesen 283
3. Die Testpopulation
Die Tests wurden in Genf mit Schülern des College (Klassenstufen 10 bis 13)
durchgeführt. Die Schüler sind zwischen 15 und 19 Jahre alt, französischer Erst-
sprache (keine muttersprachlichen Deutschsprecher) und haben mindestens seit
dem 7. Schuljahr Deutschunterricht. Pro Klassenstufe haben je mindestens zwei
Klassen (ungefähr 20 Schüler) an den Tests teilgenommen. In der Klassenstufe
13 konnte der Test nur mit einer Klasse durchgeführt werden. Da es sich um das
Matura-Jahr handelt, waren Schüler (und Lehrer) weniger bereit, an einem Test
teilzunehmen. Die Ergebnisse aus dieser Klasse müssen daher ausgeschlossen
werden, weil die Gruppen für eine aussagekräftige Auswertung der Ergebnisse
zu klein sind. In den Klassenstufen 11 und 12 hat ein Teil der Schüler sowohl
den deutschen als auch den französischen Test mitgemacht. Für diesen Teil der
Population lassen sich die Ergebnisse der beiden Sprachen direkt miteinander
vergleichen.
Zusätzlich habe ich eine Klasse aus Speyer in die (deutschen) Tests einbe-
zogen, die während der Testperiode zu einem Austausch mit einer 12. Klasse in
Genf war. Diese Klasse dient somit als Kontrollgruppe.
An dieser Stelle möchte ich dem Direktor des College de Candolle danken,
dass er seine Zustimmung für die Testdurchführung an seiner Schule gegeben
hat, sowie natürlich den Lehrern, die eine Unterrichtsstunde geopfert und mir
mit ihren Bemerkungen und Kritiken wertvolle Hinweise gegeben haben. Am
meisten fühle ich mich allerdings den Schülern verpflichtet, die die Testaufga-
ben mit großem Ernst gelöst und die so meine Untersuchung überhaupt erst
ermöglicht haben.
284 Matthias Marschall
4. Ergebnisse
4.1. Pronominalisierung
Für die Strukturierung von Texten ist der Wechsel von pronominaler und nomi-
naler Wiederaufnahme von großer Bedeutung (s. Marschall 1995, Schecker
1995). Das erklärt die besondere Stellung, die diese Probleme in meiner Dar-
stellung einnehmen. Zunächst soll jedoch mit einer Reihe von Testaufgaben
überprüft werden, welche Strategie die Schüler bei der Zuordnung von Prono-
minalisierungen in der Muttersprache und in der Zweitsprache anwenden (eine
Voruntersuchung dazu habe ich in Marschall (1992) für die Klassenstufen 8 und
9 vorgestellt). Den Schülern wurden Kontexte vorgelegt, in denen zwei
Nominalgruppen gleichen Genus und Numerus im Hauptsatz und im Nebensatz
vorkommen. Das Pronomen im nachfolgenden Hauptsatz sollte über die Wahl
einer der beiden Antwortvorgaben disambiguiert werden. Dabei stellt die Zu-
ordnung zur Nominalgruppe im Hauptsatz die erwartete syntaktische Strategie
dar, während Zuordnung zur NG im Nebensatz eine Kontiguitätsstrategie zeigt.
Schematisch lässt sich dieser Aufgabentyp folgendermaßen darstellen:
Gruppe A Gruppe B
erwartet nicht erwartet erwartet nicht erwartet Summe
Speyer 32 1 22 2 57
% 97 3 92 8
10. Klasse 38 19 35 19 111
% 67 33 65 35
11. Klasse 43 14 42 18 117
% 75 25 70 30
12. Klasse 62 19 70 23 174
% 77 23 75 25
Summe 143 52 147 60 402
Tab. l: Ergebnisse der deutschen Tests nach Aufgabentyp l
Gruppe A Gruppe B
erwartet nicht erwartet erwartet nicht erwartet Summe
11. Klasse 41 16 40 20 117
% 72 28 67 33
12. Klasse 46 8 54 12 120
% 85 15 82 18
Summe 87 24 94 32 237
Tab. 2: Ergebnisse der französischen Tests nach Aufgabentyp l
Die Übersicht zeigt, dass in der 12. Klasse die Schüler die syntaktische Einbet-
tung systematisch bei der Zuordnung des kritischen Pronomens berücksichtigen.
286 Matthias Marschall
In der 11. Klasse liegen die Ergebnisse darunter. Interessant ist dabei, dass auch
in der 12. Klasse die Ergebnisse der muttersprachlichen Schüler unterschiedlich
sind: Die deutschen Schüler weisen einen höheren Anteil erwarteter Antworten
auf als die französischsprachigen. Auch im Vergleich der beiden Testergebnisse
der 11. Klasse (französisch und deutsch) zeigt sich in den Antworten in der
Fremdsprache ein höherer Anteil erwarteter Antworten.
Das Testdesign ermöglicht, für beide Sprachen und im deutsch-französi-
schen Vergleich die Kohärenz der Antworten der Versuchspersonen zu analy-
sieren. Für die diskutierten Manipulationen nach dem ersten Schema habe ich
überprüft, ob die Versuchspersonen in ihrem Antwortverhalten kohärent sind,
d. h. ob sie in verschiedenen Manipulationen das gleiche Verhalten gewählt
haben, oder ob die gleiche Person jeweils unterschiedlich auf die Manipulatio-
nen reagiert. Zunächst die Übersicht der deutschen Antwortkohärenz (die
Prozentzahlen berechnen sich jeweils auf das Gesamt der Gruppe - also mit den
inkohärenten Antworten):
Gruppe A Gruppe B
erw. nicht erw. inkohärent erw. nicht erw. inkohärent Summe
10. Klasse 26 7 24 21 5 28 111
% 46 12 42 39 9 52
11. Klasse 38 9 10 33 9 18 117
% 67 16 18 55 15 30
12. Klasse 50 7 24 55 8 30 174
% 62 9 30 59 9 32
Summe 114 23 58 109 22 76 402
Tab. 3: Kohärenz des antwortverhaltens bezüglich des Aufgabentyps l in der deutschen
Testbatterie
Diese Tabelle zeigt, dass die Versuchspersonen sich bei den erwarteten Ant-
worten sehr kohärent verhalten. Das heißt wer in einer Manipulation die erwar-
tete Antwort gewählt hat, wählt sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch in den
übrigen Manipulationen. Die nicht erwarteten Antworten dagegen erweisen sich
nur in einem geringen Maße als durchgängige Strategie. Das verstärkt unsere
Ergebnisse insofern, als erwartete Antworten nicht zufallig gewählt werden,
sondern auf der Basis einer Lesestrategie.
Der Anteil inkohärenten Antwortverhaltens ist zwar insgesamt relativ hoch,
nimmt jedoch von der 10. bis zur 12. Klasse zu Gunsten des kohärent erwarte-
ten Antwortverhaltens ab.
In den französischen Tests beobachten wir die gleiche Tendenz, allerdings
mit ausgeprägteren Unterschieden zwischen den Klassenstufen (vgl. Tabelle 4).
Auch hier treten die erwarteten Antworten durch einen hohen Kohärenzgrad
hervor, während die nicht erwarteten Antworten nicht auf einer Strategie zu
beruhen scheinen. Inkohärentes Antwortverhalten stellt zwar einen relativ gro-
ßen Anteil dar, jedoch ist dieser im Vergleich zu dem Verhalten in den deut-
schen Tests deutlich geringer und nimmt auch hier (zusammen mit den kohä-
renten nicht erwarteten Antworten) zu Gunsten der erwarteten Antworten ab.
Erwartungen und Routinen beim Lesen 287
Gruppe A Gruppe B
erwartet nicht erwartet erwartet nicht erwartet Summe
11. Klasse 41 16 40 20 117
% 72 28 67 33
12. Klasse 23 4 27 6 60
% 85 15 82 18
Summe 64 20 67 26 177
Tab. 4: Kohärenz des Antwortverhaltens bezüglich des Aufgabentyps l in der französischen
Testbatterie
Die Versuchspersonen, die an beiden Tests teilgenommen haben, zeigen sich
auch sprachübergreifend kohärent (da die Gruppen in den beiden Tests jeweils
neu verteilt wurden, können hier nur die erwarteten mit den nicht erwarteten
Antworten verglichen werden - unabhängig von der Gruppe):
erwartet nicht erwartet inkohärent Summe
U.Klasse 133 32 108 273
% 49 12 40
12. Klasse 86 14 40 140
% 61 10 29
Summe 219 46 148 413
Tab. 5: Kohärenz des Antwortverhaltens bezüglich des Aufgabentyps l in beiden Testver-
sionen (deutsch und französisch).3
Auch dieser Vergleich des Antwortverhaltens zeigt, dass die Antworten auf der
Grundlage einer Strategie ausgewählt werden. In der Grafik (Abbildung 1) wird
darüber hinaus noch deutlich, dass zwar die Kohärenz bei nicht erwartetem
Antwortverhalten über beide Klassenstufen in etwa gleich bleibt, inkohärentes
Antwortverhalten dagegen zu Gunsten erwartet kohärenten Antwortverhaltens
abnimmt.
• erwartet
-nicht erwartet
- inkohärent
10
3
In diesen Ergebnissen sind die Kohärenzen aus mehreren Tests des gleichen Typs
summiert. Daraus ergeben sich die hohen Gesamtzahlen.
288 Matthias Marschall
Nominalgruppen ein Hauptsatz vorgeschaltet ist, in dem eine der beiden Nomi-
nalgruppen schon genannt wird. Schema 2 zeigt die Struktur dieser Aufgabe.
In der Aufgabe wurden folgende Kontexte mit den entsprechenden Antwort-
möglichkeiten vorgegeben:
Frll
(A) Dans le bar, il y avait deja trois camionneurs qui buvaient de la biere sans
alcool. Deux collogues entrerent bruyamment, lorsque les trois s'appretaient
payer et continuer leur chemin. Ils se retoumerent brusquement et...
(B) Dans le bar, il y avait dejä trois camionneurs qui buvaient de la biere sans
alcool. Ils appretaient payer et continuer leur chemin, lorsque deux collogues
entrerent bruyamment. Ils se retoumörent brusquement et ...
(a) ... les inviterent ä prendre place ä cöti d'eux.
(b) ..., regardant vers la porte, s'assurerent que personne ne les suivait.
Auf der Grundlage unserer obigen Überlegungen sowie der Ergebnisse der
Aufgaben nach Schema l müsste das Pronomen im dritten Hauptsatz sich auf
den Antezendenten im direkt vorausgehenden Hauptsatz beziehen. Für die
Gruppe A erwarten wir also die Antwort (b), für B die Antwort (a). Die Ergeb-
nisse zwingen uns das hier zu Grunde gelegte Modell zu modifizieren:
Gruppe A Gruppe B
erwartet nicht erwartet erwartet nicht erwartet Summe
11. Klasse 8 11 15 5 39
% 42 58 75 25
12. Klasse 2 16 20 2 40
% 11 89 91 9
Summe 10 27 35 7 79
Tab. 6: Ergebnisse der französischen Tests nach Aufgabentyp 24
Die Ergebnisse der Gruppe B entsprechen voll und ganz unseren Erwartungen -
sie sind sogar im Vergleich zu den Ergebnissen der ersten Aufgabengruppe
deutlich höher. In der Gruppe A dagegen sind die Ergebnisse umgekehrt. In der
12. Klasse wird eindeutig die (nicht erwartete) Antwort (a) bevorzugt, und in
der 11. Klasse findet sich eine leichte Mehrheit für die gleiche Antwort.
Auf der Grundlage der Ergebnisse der ersten Aufgabengruppe können wir
eine Kontiguitätsstrategie als Erklärung dieser Wahl ausschließen. Die Ergeb-
nisse dieser Aufgabe sprechen selbst schon gegen eine solche Interpretation,
denn warum sollte die eine Gruppe eine syntaktische, die andere eine Kontigui-
tätsstrategie anwenden?
Hier ist nun zu erwarten, dass das kritische Pronomen jeweils auf die No-
minalgruppe im übergeordneten Hauptsatz bezogen wird. So ergibt sich für
die Gruppe A eine Erwartung zu Gunsten der Antwort (b), für die Gruppe B
zu Gunsten der Antwort (a).
5
Die Möglichkeit der direkten Zuweisung von Pronomen zeigen auch Müsseler/Rickheit
(1990) auf der Basis von Reaktionszeitmessungen auf.
290 Matthias Marschall
Wieder ist der Anteil erwarteter Antworten in der Gruppe B sehr hoch und in
der Gruppe A überwiegen die nicht erwarteten Antworten. Die Ergebnisse der
Gruppe A sind zugleich gegenüber denen der Gruppe B einigermaßen stabil.
Das lässt die Vermutung zu, dass diese Version der Aufgabe den Schülern ein
Erwartungen und Routinen beim Lesen 291
nicht gänzlich entscheidbares Problem stellt: Ein gleichbleibender Teil der Test-
personen wendet hier eine syntaktische Strategie an.
Fassen wir die Resultate der Aufgaben zu Pronominalisierung zusammen: In
der Muttersprache sind die Schüler ab der 10. Klasse in der Lage, den syntakti-
schen Status der Antezendenten bei der Zuordnung eines nachfolgenden Pro-
nomen zu berücksichtigen (Schema 1). Bei Vorgabe erweiterter Kontexte zeigt
sich, dass die Schüler zunehmend eine antizipatorische Lesestrategie anwenden,
bei der sie nicht von einem Pronomen ausgehend rückwärts gewandt nach ei-
nem Antezedenten suchen, sondern exponierte Nominalgruppen schon beim
Auftreten mit einer Adresse für künftige Pronominalisierungen versehen und
damit eine mögliche Pronominalisierung vorwegnehmen. Diese antizipatorische
Strategie ist dabei so stark, dass sie in der Fremdsprache mit einer syntaktischen
Interpretation in Konflikt gerät (vgl. die unentschiedenen Ergebnisse aller
Klassenstufen bei Schema 3) bzw. syntaktische Interpretationen in der
Muttersprache tendenziell ausschaltet.
4.2. Renominalisierung
Wenn die Besetzung der Subjektsfunktion für die Entwicklung von Texterwar-
tungen genutzt wird, ergeben sich folgende Verteilungserwartungen: in der
Gruppe A sollte die Antwort (b), in der Gruppe B die Antwort (a) überwiegen.
Hier die entsprechende Aufgabe aus dem deutschen Test (die französische ist
völlig parallel dazu konstruiert):
292 Matthias Marschall
DtVIII
(A) Gegen acht Uhr ist Alexander verhaftet worden. Er versuchte gerade, in ein
Schmuckgeschäft einzubrechen, das vor einer Woche umgezogen war. Richter
Reger hat ihn zu drei Monaten unter Bewährung verurteilt. . . .
(B) Gegen acht Uhr ist Alexander verhaftet worden. Er versuchte gerade, in ein
Schmuckgeschäft einzubrechen, das vor einer Woche umgezogen war. Er ist
vom Richter Reger zu drei Monaten unter Bewährung verurteilt worden. . . .
(a) Auf dem Weg vom Gericht nach Hause ist er rückfällig geworden: diesmal war
es ein bankrottes Modegeschäft.
(b) Er meinte, dass Alexander durch die Lächerlichkeit seiner Tat schon genug ge-
straft sei.
Hier die Ergebnisse in der Übersicht:
Gruppe A Gruppe B
erwartet nicht erwartet erwartet nicht erwartet Summe
Speyer 9 2 5 3 19
% 82 18 63 38
10. Klasse 12 7 12 6 37
% 63 37 67 33
11. Klasse 16 3 11 9 39
% 84 16 55 45
12. Klasse 18 9 18 13 58
% 67 33 58 42
Summe 46 19 41 28 134
Tab. 9: Ergebnisse der deutschen Tests nach Aufgabentyp 4
Die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich: in der Gruppe "Speyer" zeigt sich
eine relativ geringe Sicherheit bei der Berücksichtigung der Subjektsfunktion in
der Gruppe B, wogegen die Gruppe A ganz klar in ihrem Antwortverhalten auf
eine Einbeziehung dieser Information hindeutet. Die Ergebnisse der franzö-
sischsprachigen Schüler verraten eine deutliche Unsicherheit in der Behandlung
dieser Aufgabe: In der Gruppe A zeichnet sich zwar eine Mehrheit im Sinne
einer Berücksichtigung der Subjektsfunktion ab, in der Gruppe B deuten die
Ergebnisse auf eine Unsicherheit hin. In keiner der beiden Gruppen ergibt sich
jedoch eine klare Entwicklungslinie.
Betrachten wir nun die Ergebnisse aus den französischen Tests:
Gruppe A Gruppe B
erwartet nicht erwartet erwartet nicht erwartet Summe
11. Klasse 15 4 9 11 39
% 79 21 45 55
12. Klasse 16 2 16 6 40
% 89 11 73 27
Summe 31 6 25 17 79
Tab. 10: Ergebnisse der französischen Tests nach Aufgabentyp 4
In der 12. Klasse scheint die Einbeziehung der Besetzung der Subjektsfunktion
für die Erstellung von Texthypothesen erworben zu sein. In der 11. Klasse kol-
lidiert sie offensichtlich mit einem anderen Interpretationsverfahren, worauf die
Ergebnisse der Gruppe B hinweisen.
Erwartungen und Routinen beim Lesen 293
5. Zusammenfassung
siert sind.6 Man kann also nicht ohne weiteres auf grammatische Kenntnisse
verzichten und darauf zählen, dass top rfown-Prozesse allein das Textverstehen
sichern. Solche höheren Verstehensprozesse können nur dann wirklich effizient
zum Tragen kommen, wenn sie von konkreten sprachlichen Kenntnissen, und
dazu zählt auch grammatisches Wissen, gestützt werden.
6. Literaturverzeichnis
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Reuchlin/Jacques Lautrey/Christian Marendaz/Thoophile Ohlmann (Hg.): Cognition, l'in-
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Marschall, Matthias (1993): Routinen beim Textverstehen: Eine Voruntersuchung zu Strate-
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ger Texte. In: Georges Kleiber/Günter Kochendörfer/Martin Riegel/Michael Schecker
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COR-Kolloquiums im Herbst 1998 in Freiburg. Tübingen, 107-128
Müsseier, Jochen / Rickheit, Gert (1990): Inferenz- und Referenzprozesse bei der Textverar-
beitung. In: Sascha W. Felix/Siegfried Kanngießer/Gert Rickheit (Hg.): Sprache und Wis-
sen. Studien zur kognitiven Linguistik. Opladen, 71-98.
Posner, Roland (1972): Theorie des Kommentier ens. Eine Grundlagenstudie zur Semantik und
Pragmatik. Frankfurt a. M.
Schecker, Michael (1996):'Kontakt' und 'Distanz': Systematik und Funktionsweise von Pro-
nominalisierungen (und Renominalisierungen) im Text. In: Marcel Perennec (Hg.): Pro-
formen im Deutschen. Tübingen, 161-177.
J'aimerais aborder deux questions qui restent problematiques dans toutes les
approches du discours: celle de la frontiere entre 1'ordre de la langue et l'ordre
du discours (pour reprendre la terminologie de Benveniste 1966) et celle, co-
rollaire, de la definition de l'unite discursive minimale. Je n'ai pas la prevention
d'apporter une reponse definitive ces questions complexes, mais J'aimerais
montrer comment une approche modulaire de l'organisation du discours, teile
qu'elle est presentee dans Roulet (1999) et dans Roulet et al. ( paraftre), permet
de definir l'unite syntaxique maximale: la clause (selon la terminologie de
Berrendonner 1990) et l'unite discursive minimale: l'acte (ou enonciation), et
conduit a remettre en question 1'hypothese d'une coupure radicale entre l'ordre
de la langue et l'ordre du discours.
On admet en effet generalement qu'une frontiere nette separe l'ordre de la
langue de l'ordre du discours et que celle-ci se situe, comme le suggerait Ben-
veniste,1 la hauteur de la phrase. Cette conception est illustree par la theorie de
la pertinence; c'est ainsi que Reboul/Moeschler definissent "I'enonce", unite
pragmatique ou discursive, comme "une phrase en usage" (1998, 41). Mais la
coupure ainsi posee entre les deux ordres de la langue et du discours est con-
testee aujourd'hui par plusieurs chercheurs (voir en particulier Charol-
les/Combettes 1999 et Charolles a paraitre2). Je montrerai que cette conception
repose sur une definition de l'unite linguistique, ou plus precisement syntaxi-
que, maximale: la phrase, qui est pour le moins problematique et qu'elle ne
permet pas de rendre compte de maniere satisfaisante des proprietes de certaines
constructions.
Cette conception souleve aussi le probleme delicat de la definition de l'unite
discursive minimale. Comme je l'ai montre dans Roulet ( paraitre), la defini-
tion de I'enonce comme phrase en usage proposee par la thdorie de la pertinence
ne permet pas de saisir cette unite discursive minimale. Les tenants de l'analyse
Saussure se demandait: "Une thoorie assez rdpandue protend que les seules unite's concre-
tes sont les phrases [...]. Mais d'abord jusqu'ä quel point la phrase appartient-elle a la lan-
gue?" (1972,148), question ä laquelle il r6pondait un peu plus loin ainsi: "La phrase est le
type me'me du syntagme. Mais eile appartient ä la parole, non ä la langue" (1972, 172).
Je precise que de refuser ä la phrase le Statut de catigorie syntaxique ne revient pas ä lui
dinier toute pertinence. J'ai suggoro dans Roulet (1994) que la phrase ftait une unito dis-
cursive, qui releve de l'organisation poriodique du discours.
A lafrontiere de l Ordre de la langue et de l Ordre du discours 299
5
J'utiliserai dorenavant le terme de clause, plutot que celui de proposition maximale (ou
independante), parce qu'il n'implique pas Pexistence d'une structure predicative et qu'il
300 EddyRoulet
3. A partir de lä, examen des formes de la langue dans leur interpretation linguistique
habituelle (Bakhtine 1976,137).
C'est en suivant cette voie, au debut des annees quatre-vingt, que l'analyse de
nombreux dialogues authentiques nous a amenes ä degager une structure hierar-
chique du discours qui est le produit emergent de la negociation sous-jacente a
toute interaction et qui comporte trois rangs: l'echange, l'intervention et l'acte
(cf. Roulet et al. 1985).
Nous postulions alors que l'unite discursive minimale etait l'acte de lan-
gage, tel qu'il est defini dans la theorie de Searle. Mais on sait que la reflexion
de Searle portait d'abord sur des actes de langage isoles et qu'il a propose une
definition de l'acte illocutoire, articulant une force illocutoire et un contenu
propositionnel, qui relevait d'une demarche methodologique ascendante et nous
ramenait de fait a la proposition. Les travaux de Rubattel et d'Auchlin ont mon-
tre que l'acte de langage, defini par la combinaison d'une force illocutoire et
d'un contenu propositionnel, ne pouvait constituer l'unite discursive minimale.
Rubattel (1987) a montre que des segments textuels qui n'avaient pas la forme
propositionnelle, comme le syntagme prepositionnel malgre la pluie, jouaient
dans le discours le meme röle (ici de contre-argument) qu'une unite de forme
propositionnelle comme bien qu 'il pleuve, et qu'on perdait une generalisation
importante si on ne les traitait pas comme des actes (raison pour laquelle il a
introduit le terme de semi-acte). Auchlin (1993) a fait une observation analogue
ä propos des syntagmes detaches ou disloques a gauche.
Ces observations ont entraine l'abandon de l'hypothese simple selon
laquelle l'acte de langage constituait l'unite discursive minimale, mais elles ont
du meme coup singulierement complique le probleme du reperage de cette
unite; en effet, ä partir du moment oü on renonce au entere simple selon lequel
la limite inferieure de l'acte est defmie par une forme propositionnelle, oü
s'arreter? Comme l'ont montre les recherches des psychologues de l'action, un
acte comme "prendre un stylo", "ecrire une lettre" ou "adresser une requete"
peut toujours etre decompose en actes plus petits.
Pour surmonter cet obstacle, il faut 1) se rappeler que l'acte en question est
l'unite minimale d'un processus de negociation, et que celui-ci implique des
etapes successives, qui doivent faire l'objet d'un enregistrement par les interac-
tants, et 2) exploiter une suggestion tres interessante de Berrendonner (1990)
concernant la definition de l'unite minimale de ce qu'il appelle la macro-syn-
taxe (qui correspond a l'ordre du discours6): l'enonciation, ä partir precisement
de la notion d'enregistrement en memoire discursive. Je postule ainsi que, pour
constituer une etape du processus de negociation sous-jacent ä toute interaction,
tout acte doit faire l'objet d'un enregistrement en memoire discursive (dans le
sens de Berrendonner 1990). Comme, selon Berrendonner, cet enregistrement
en memoire discursive peut etre atteste par certaines traces, on dispose d'un
entere operatoire pour identifier l'unite discursive minimale.
On nous rdtorquera qu'il est possible de dire Je ne I'aijamais lu, ce livre, mais le parallele
avec 1'exemple procodent fait penser que le syntagme nominal detache est r£gi par le
verbe. Quant aux exemples du type j'ai souvent entendu parier de ce livre, ce chef
d'aeuvre, ils relevent manifestement d'une autre construction, avec une clause appositive.
A lafrontiere de l Ordre de la langue et de l Ordre du discours 303
Pour Martinet, la 2*°* articulation conceme les phonömes et la lere les morphemes, ce qui
conduirait ä trailer la nouvelle articulation en ononciations introduite par Berrendonner
comme articulation de niveau 0. Sans pretendre modifier la terminologie en usage, j'utilise
ici, pour les besoins de mon explication, les notions de l*", 2*°* et 3 articulations pour
qualifier respectivement les articulations en phonemes, morphames et enunciations. II fau-
drait d'ailleurs ajouter une quatrieme articulation, pour qualifier articulation des actions,
qui releve du module referentiel (cf. Filliettaz 1998).
304 Eddy Roulel
References bibliographiques
Auchlin, Antoine (1993): Faire, montrer, dire. Pragmatique comparee de l'enonciation en
franqais et en chinois. Berne.
A lafrontiere de l Ordre de la langue et de l Ordre du discours 305