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Handbuch Sprache in der Literatur

HSW 17
Handbücher Sprachwissen

Herausgegeben von
Ekkehard Felder und Andreas Gardt

Band 17
Handbuch Sprache
in der Literatur

Herausgegeben von
Anne Betten, Ulla Fix und Berbeli Wanning
ISBN 978-3-11-029584-9
e-ISBN [PDF] 978-3-11-029789-8
e-ISBN [EPUB] 978-3-11-039508-2

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Inhaltsverzeichnis

Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning


Einleitung   IX

I. Grundlegendes

Thomas Hecken
1. Was oder wann ist Literatur?   3

Lars Koch
2. Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und
Ausdruck   18

Marina Münkler
3. Transformationen der Freundschafts­semantik in Diskursen und
literarischen Gattungen seit dem Mittelalter   55

II. Textbeschaffenheit

Kirsten Adamzik
4. Literatur aus der Sicht von Text- und Diskurslinguistik   97

Emmanuelle Prak-Derrington
5. Der besondere Einsatz der sprachlichen Mittel im literarischen Erzähltext.
Das Beispiel der Personalpronomen   120

Ulrich Knoop
6. Das Wort im literarischen Text   140

Simona Leonardi
7. Metaphern in literarischen Texten   160

Martina Wörgötter
8. Satz und Zeichensetzung: Formen, Variationen, Entgrenzungen   182
VI   Inhaltsverzeichnis

III. Textproduktion

Monika Schmitz-Emans
9. Entwürfe und Revisionen der Dichterinstanz – poeta vates, poeta imitator,
poeta creator   205

Henrik Nikula
10. Das Problem der Ästhetizität von Texten   236

Angelika Redder
11. Dialogizität und Intertextualität   252

Ernest W. B. Hess-Lüttich


12. Medialität   272

Hanspeter Ortner
13. Semiotisierung und Semantisierung von Erfahrung, Weltsicht und Wissen in
literarischen Texten   290

Britt-Marie Schuster
14. Abweichen als Prinzip   310

Michael Hoffmann
15. Ironie als Prinzip   330

Monika Schwarz-Friesel
16. Das Emotionspotenzial literarischer Texte   351

IV. Textmerkmale von Epik, Lyrik und Dramatik

Georg Weidacher
17. Fiktionalität und Fiktionalitätssignale   373

Marie-Hélène Pérennec
18. Erzählern aufs Wort glauben? Sprachliche Merkmale der fiktionalen
Kommunikation   391

Ulrich Breuer
19. Sprache (in) der Lyrik   410
Inhaltsverzeichnis   VII

Hans-Werner Eroms
20. Sprachspiele und Rhetorische Figuren in der Lyrik   425

Hermann Korte
21. Sprache in Drama und Theater   449

Michaela Reinhardt
22. Fingierte Mündlichkeit und poetische Sprachgestalt im Theatertext   462

V. Textrezeption

Andreas Gardt
23. Interpretation   487

Jens Birkmeyer
24. Metaphern verstehen. Probleme einer literarischen Hermeneutik   509

VI. Perspektiven auf besondere literarische Bereiche

Eva-Maria Thüne
25. Der Umgang mit Sprache in der Migrationsliteratur   531

Moritz Baßler
26. Pop-Literatur   550

Bettina Kümmerling-Meibauer/Jörg Meibauer


27. Sprache in der Prosa für Kinder und Jugendliche   559

Michael Schikowski
28. Sachprosa, Sachtexte, Sachbuch   569

Sachregister   582
Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning
Einleitung

1 Zur Konzeption des Bandes


Von allen Wissensbeständen, die in der Handbuchreihe Sprachwissen bearbeitet
werden, sind diejenigen, die Sprache in der Literatur betreffen, wohl besonders
schwer zu erfassen. Im Bereich der Literatur gibt es bekanntlich nicht das Feste,
Normgebundene, durch Konventionen Abgesicherte des Sprachgebrauchs, wie wir es
aus den zentralen Textwelten kennen, die Adamzik (2016, 119) „Standardwelt“ (zu der
der Alltag gehört) und „Welt der Wissenschaft“ nennt. Diese Welten bzw. deren zen­
trale Wissensdomänen und Handlungsfelder sind es auch, die in der Handbuchreihe
in ihren relativ verbindlichen, den Sprachgebrauch bestimmenden Ausprägungen als
Recht, Wirtschaft, Medizin, Öffentlichkeit, Politik, Organisationen u. a. ihren Platz
haben. Im speziellen Handlungsfeld der Literatur dagegen sind sowohl die Prozesse
der Produktion als auch die der Rezeption viel offener und individueller. Das heißt,
man hat es, wenn man sich mit Literatur befasst, mit der „Welt des Spiels, der Fan­
tasie“ (ebd.) zu tun, also mit einem höheren Grad an Unbestimmtheit und Offenheit
als gewöhnlich, mit der Herausforderung zu Neuem, mit dem Spiel zwischen Norm
und Abweichung, mit dem Streben nach dem Anderssagen. Wie aber soll man eine
Sprachverwendung erfassen, in der die sprachlichen Mittel nicht eindeutig festgelegt
sind, sondern entgegen ihrer üblichen Verwendung eingesetzt werden können, so
dass vieles möglich ist? Durch die Themensetzungen dieses Bandes versuchen wir zu
zeigen, dass es trotz oder gerade wegen dieser Offenheit auch Festes und Musterhaftes
gibt, also eigene Prinzipien sowie Bevorzugungen bestimmter Mittel und Verfahren,
z. B. nach Gattung und Epoche, die zu beschreiben sich als Ansatz für ein Handbuch
anbietet. Nur darf dabei nie vergessen werden, dass alles auch ganz anders gesagt
werden kann. Diese Gedanken haben wir unserer Konzeption zugrunde gelegt.
Im Mittelpunkt aller Beiträge steht, gemäß dem gemeinsamen Anspruch sämt­
licher Themenbände der Reihe, die Frage, welches Wissen gebraucht wird, um lite­
rarische Texte zu produzieren und zu verstehen. Da dieses Wissen um historische
und zeitgenössische literarische Techniken und sprachliche und textsorten- bzw. gat­
tungsspezifische Erscheinungsformen erlernbar ist, eröffnet sich den Leserinnen und
Lesern eine neue Sicht auf Bekanntes wie auch auf in dieser Form noch nie Gesehenes
und Gehörtes.
Eine weitere wichtige Überlegung für unsere Gesamtkonzeption war, ob und wie
wir den unterschiedlichen Blick von Sprach- und Literaturwissenschaften auf unser
Thema berücksichtigen und auch verdeutlichen sollen. Obgleich die Beschäftigung
mit Sprache in der Literatur als ein gemeinsames Anliegen angesehen werden kann,

DOI 10.1515/9783110297898-203
X   Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning

hat die theoretische und methodische Ausdifferenzierung der beiden Disziplinen in


den letzten Jahrzehnten doch auch zu einer bedauerlichen Entfremdung geführt, so
dass zentrale Fragestellungen oft ganz unterschiedlich bearbeitet werden (vgl. Betten/
Schiewe 2011). Wenn die Reihenherausgeber für diesen Band mit Berbeli Wanning
eine didaktisch ausgerichtete Literaturwissenschaftlerin und mit Anne Betten und
Ulla Fix zwei auf Text- bzw. Dialoglinguistik und Stilistik spezialisierte Linguistin­
nen zur Zusammenarbeit aufgefordert haben, so dürften sie nicht zuletzt im Sinn
gehabt haben, eine Auseinandersetzung mit den Wissensbeständen und Erfahrungen
des jeweils anderen Fachgebietes anzuregen. Als Folge ergeben sich v. a. durch die
Auswahl der Autorinnen und Autoren der einzelnen Artikel (s. u.) aufschlussreiche
Einblicke in teilweise beträchtlich voneinander abweichende Auffassungen darüber,
was Literatursprache eigentlich ausmacht und welche Bedeutung der je spezifischen
Sprache eines Autors, einer Gattung, einer Epoche für die Werkkonstitution und
Interpretation beigemessen werden. Eine detaillierte Abstimmung des methodischen
Vorgehens war beim gegenwärtigen Verhältnis und Selbstverständnis der germanis­
tischen Teilfächer (vgl. Bleumer u. a. 2013) nicht möglich, aber, wie wir meinen, auch
nicht nötig. Für BenutzerInnen und Benutzer des Handbuchs eröffnet sich nämlich
gerade deshalb die Gelegenheit, sich selbst ein Bild von den jeweiligen Herangehens­
weisen der beiden Disziplinen zu machen und zu prüfen, worin sie divergieren, über­
einstimmen oder sich wechselseitig ergänzen. So verstanden ist der Band auch ein
Plädoyer, die (Diskussions-)Schranken zwischen den Disziplinen aufzuheben, das
Gespräch wieder aufzunehmen, Gemeinsamkeiten und wünschenswerte wechselsei­
tige Einflüsse zu überdenken und Felder möglicher künftiger Zusammenarbeit neu
auszuloten.
Obwohl die eher theoriegeleiteten Artikel nicht, wie konventionellerweise viel­
leicht zu erwarten, in einem Eröffnungskapitel zusammengefasst sind, weil die
Gesamtkonzeption anderen Leitlinien folgt, können sich die an einem Vergleich der
sprach- und literaturwissenschaftlichen Zugänge Interessierten z. B. durch gegen­
überstellende Lektüre der Artikel von Thomas Hecken, Monika Schmitz-Emans, Jens
Birkmeyer (Literaturwissenschaft) und von Kirsten Adamzik, Henrik Nikula, Hanspe­
ter Ortner (Sprachwissenschaft) einen ersten Überblick verschaffen. Die unterschied­
lichen Herangehensweisen zeigen sich besonders in den Schwerpunktsetzungen der
Behandlung konkreter Themen. Ein wesentlicher Teil der Beiträge weist eine intensive
Rezeption der Methoden der jeweils anderen Disziplin und die Auseinandersetzung
damit auf, was besonders für die text- und dialogwissenschaftlich basierten Artikel
gilt. In summa könnte (und sollte) daher trotz aller gegenteiligen Behauptungen, wie
man sie in beiden Teildisziplinen finden kann, der Eindruck überwiegen, dass sich
die meisten zumindest der hier zu Wort kommenden Wissenschaftlerinnen und Wis­
senschaftler mit den Forschungsergebnissen des ganzen Faches (und darüber hinaus)
auseinandergesetzt haben und bei ihren Analysen davon überzeugend profitieren.
Damit werden in diesem Band, wenn auch ohne eine explizite programmatische Aus­
einandersetzung, Beispiele gegeben, wie die germanistischen Teildisziplinen sich bei
Einleitung   XI

einem ihrer zentralen gemeinsamen Themenfelder wieder annähern und gegenseitig


inspirieren können.

2 Zum Aufbau des Bandes


In ihrem Einleitungsaufsatz zum Band 1 der Reihe Sprachwissen haben die Herausge­
berinnen die ihnen wesentlich erscheinenden Gedanken und Positionen zum Thema
„Sprache in der Literatur“ bereits dargelegt (Betten/Fix/Wanning 2015), ansetzend
an der alten Frage, was denn Literatur eigentlich sei, fortgeführt durch die proble­
matisierende Betrachtung von Mitteln, Verfahren und Mustern der Produktion lite­
rarischer Texte bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Abweichens,
mit Deautomatisierung als poetologischem Prinzip der Moderne und zur Diskussion
des Verhältnisses von Wissen, Verstehen und Interpretieren. Im vorliegenden Band
werden nun die dort nur kurz angesprochenen Phänomene ausführlich und spezifi­
ziert behandelt.
Die 28 Beiträge sind einzelnen Themenfeldern, die unsere Gliederung bestimmen,
nämlich Textbeschaffenheit, Textproduktion, Textrezeption und -vermittlung sowie Per-
spektiven auf einige besondere literarische Bereiche in unterschiedlicher quantitativer
Gewichtung zugeordnet. Die längeren bieten jeweils eine Basisorientierung für die
darauf folgenden Themenfelder.
Für die Strukturierung des Bandes war es hilfreich, sich die verschiedenen Wis­
sensbestände, über die wir für den Umgang mit literarischen Texten verfügen, genauer
vor Augen zu führen. Zunächst war es unser Anliegen, einen Aufsatz voranzustellen,
der zum Gegenstand literarischer Text, mit dem sich jeder Beitrag befasst, Grundsätz­
liches mitteilt. Das leistet Thomas Hecken mit der Antwort auf seine Frage „Was oder
wann ist Literatur?“, indem er das Phänomen ‚Literatur‘ an seiner Begriffsgeschichte
abhandelt. Weiter erschien es uns notwendig, das, was wir zum Gegenstandsbereich
Literatur wissen, nach diachronem und synchronem Wissen zu unterscheiden. Aus
diachroner Perspektive geht es darum, literarische Texte als historische Phänomene,
die inhaltlich und formal etwas über ihre Zeit aussagen, zu betrachten. Daraus ergab
sich die Idee, statt der in Handbuchkontexten eher üblichen Kategorienbeschrei­
bungen – z. B. die Fragen: Was ist eine Epoche? Wie definieren und beschreiben wir
Zeitstile? – zwei exemplarische Beschreibungen von Diskurssträngen durch die Jahr­
hunderte vorzustellen. Die Ausgangsfragen, die wir uns stellten, waren: Wie werden
Leitthemen in Diskursen über die Zeiten hinweg literarisch behandelt? In welcher
Gattung, in welcher Sprachform, mit welcher Perspektivierung erscheinen sie in einer
jeweiligen Zeit? Und wie verändern sich diese Phänomene? Die zwei Beiträge, die das
leisten, sind der Text von Lars Koch, „Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität,
Semantik und Ausdruck“, sowie Marina Münklers Abhandlung zu „Transformatio­
nen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen seit dem
XII   Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning

Mittelalter“. Beide zeigen in einem Überblick über literarische und sprachlich-gat­


tungsmäßige Entwicklungen eines Diskurses exemplarisch auf, wie Historizität und
Literarizität zusammengehen. Diese aus thematischen Gründen umfangreicheren
Beiträge folgen dem Aufsatz von Thomas Hecken, leiten den Band also gleichsam mit
ein.
Bei der Betrachtung des Phänomens Literatur und des literaturspezifischen
Wissens aus synchroner Perspektive ging es den Herausgeberinnen darum, im
Rahmen der Textproduktion Wissen über Textbeschaffenheit, Verfahren und Prinzi-
pien der Herstellung literarischer Texte sowie spezifische Textmerkmale im Bereich von
Lyrik, Epik und Dramatik zu erfassen. Der Blick richtet sich auf die Wissensbestände,
die bei der Textrezeption und -vermittlung eine Rolle spielen. Es zeigen sich so neue
Perspektiven auf Literatur. Grundlegende Beiträge stehen dem jeweiligen Teil voran,
speziellere folgen.
Der Teil, der sich der Textbeschaffenheit mit der Frage widmet, was wir über die
Formbedingungen und Formmöglichkeiten literarischer Texte wissen, wird eingelei­
tet von Kirsten Adamziks Beitrag „Literatur aus der Sicht von Text- und Diskurslin­
guistik“. Adamzik konstatiert, an dem Nebeneinander von Sprach- und Literaturwis­
senschaft ansetzend, dass es unmöglich sei, bestimmte Merkmale für Literarizität
festzulegen. Sie schlägt vor, die Merkmale in Beschreibungsdimensionen umzudeu­
ten, die sich auf sprachliche Äußerungen aller Art anwenden lassen. „Im Einzelnen
werden drei Literarizitätsmerkmale auf allgemeinere Eigenschaften zurückgeführt:
Poetizität ist verbunden mit hohem Gestaltungsaufwand, Fixierung (Schriftlich­
keit) wird operationalisiert als Geltungsdauer und Überlieferungswert, Fiktionalität
schließlich lässt sich in der allgemeinen Frage nach Bezugswelten aufheben.“
Dieser grundlegenden theoretischen Überlegung zur Frage, ob und wie Litera­
rizität bestimmt werden kann, die den Gestaltungsaufwand, also den sprachlichen
Anteil, einbezieht, folgen nun Beiträge, die sich ebendiesem Gestaltungsaufwand
widmen:
Emmanuelle Prak-Derrington geht in ihrem Beitrag „Der besondere Einsatz der
sprachlichen Mittel im literarischen Text“ davon aus, dass die heutigen Erzähltheo­
rien „in zwei entgegengesetzte Richtungen aufgeteilt werden können“: die sog. ‚kom­
munikativen‘ (Chatman, Genette u. a.) und die ‚poetischen‘ (Banfield, Kuroda u. a.).
Die Antwort auf die Frage, ob man den literarischen Text immer als einen kommuni­
kativen Akt betrachten könne, laute anders, je nachdem, wie bestimmte sprachliche
Mittel (vgl. Pérennec in diesem Band) interpretiert würden. Da dabei die Kategorie der
Person eine besondere Rolle spielt, exemplifiziert Prak-Derrington dies im Folgenden
am Beispiel der Personalpronomina. Sie fragt, welche Potenzen der Gebrauch von
Personalpronomen für das Erzählen hat, und zeigt, wie durch den Einsatz von Pro­
nomen zwei grundlegende Modi des Erzählens sowie zwei grundlegende Modi des
Lesens gestaltet werden können.
In dem Beitrag von Ulrich Knoop geht es um „Das Wort im literarischen Text“.
In der Gegenüberstellung zum außerliterarischen Umgang mit dem Wort werden die
Einleitung   XIII

Möglichkeiten des Gebrauchs eines literarischen „offenen“ Wortes als wesentlich


vielfältiger angesehen. Das Spektrum des „Standards“ werde immer wieder in seine
gesamtsprachlichen Möglichkeiten hinein erweitert, deren Erfassung „Grammatik“
und „Wörterbuch“ nur in Ansätzen leisten können. Das literarische Wort könne in
glückenden Fällen die gewohnte sprachliche „Abbildung“ (Bedeutung) aufheben
und mit seiner Performanz dem Vergänglichen des Realen die Dauer der wörtlichen
Erscheinung (Sein) geben.
Wie das Wort ist auch die Metapher nicht spezifisch für literarische Texte, sie trägt
jedoch oft entscheidend zur ästhetischen Wirkung bei. Simona Leonardi beschäf­
tigt sich mit den „Metaphern in literarischen Texten“, d. h. mit den „verschiedenen
Möglichkeiten des kreativen Umgangs mit Metaphern“, und zwar sowohl mit deren
verschiedenen Typen als auch ihren Funktionen. Über die „traditionell eher philoso­
phisch bzw. kultur- und literaturwissenschaftlich“ orientierte Metaphorologie hinaus
wird den Beziehungen der Metaphern zur alternativen Logik, ihrer textuellen Funk­
tion (u. a. zu Kohärenzbildung) und auch diachronen Veränderungen nachgegangen.
Dass auch der Syntax und, mit ihr verbunden, der Interpunktion als Stilmitteln
große Bedeutung zukommen kann, behandelt Martina Wörgötter an Beispielen des
19. und 20. Jahrhunderts. Waren seit der Klassik, aber auch noch bis tief ins 20. Jahr­
hundert hinein v. a. der kunstvolle Gebrauch als grammatisch korrekt geltender Satz­
modelle, die Variation von Wortstellung und Satzumfang (besonders Komplexität)
Merkmale literarischen Stils, so brach die Moderne diese eher geschlossenen Formen
auf, was Wörgötter am naturalistischen Drama ebenso wie an symbolistischer und
expressionistischer Lyrik und v. a. an den avantgardistischen Strömungen in Lyrik
und Prosa nach 1950 durch die „Formen, Variationen und Entgrenzungen“ von Satz
und Zeichensetzung demonstriert.
In dem Teil des Handbuchs, der dem Thema Textproduktion gewidmet ist, geht es
zunächst um Verfahren der Textherstellung. Hier ist ein Beitrag zum Thema „Entwürfe
und Revisionen der Dichterinstanz“ von Monika Schmitz-Emans vorangestellt. Aus­
gehend von der antiken Vorstellung, dass „der schöpferische Impuls vom Göttlichen
selbst“ ausgehe, werden die „wechselnden historischen Ausprägungen“ der Entwürfe
der Dichterinstanz skizziert: vom inspirierten poeta vates über den an „Überlieferun­
gen bzw. Regeln“ orientierten poeta imitator und poeta doctus hin zum poeta creator
als Autor im neuzeitlichen Sinne (v. a. als Genie und Konstrukteur), sowie schließlich
zum postauktorialen „Schreibersubjekt“ und dem neuen Dichtermodell des poeta lin-
guisticus, in dessen literarisch-poetologischen Texten die „Beziehung des Schriftstel­
lers zur Sprache“ im Zentrum stehe.
Es folgt ein Beitrag von Henrik Nikula zum Thema „Das Problem der Ästhetizi­
tät von Texten“, in dem literarische bzw. ästhetische Kommunikation als eine Konse­
quenz von Entkontextualisierung betrachtet wird, die es ermöglicht, Emotives in einer
direkteren Weise zu vermitteln, als dies bei nichtliterarischer Kommunikation der Fall
ist, was sich an der sprachlichen Gestaltung festmachen lässt. Welche Text­sorte als
literarisch gelten kann, ist davon abhängig, ob sie konventionell bzw. prototypisch in
XIV   Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning

literarischer Kommunikation zum Einsatz kommt. Als Texttyp unterscheiden sich die
literarischen Texte von Gebrauchstexten nicht durch eine besondere übergeordnete
Textfunktion, sondern dadurch, dass sie ein offenes Angebot an Interpretationsmög­
lichkeiten darstellen.
Angelika Redder wählt für ihre Ausführungen zu „Dialogizität und Intertextu­
alität“ einen wissenschaftsgeschichtlichen und einen systematischen Zugang: dies
erfordere die Klärung des Sprachbegriffs, der für die Kategorien Sprache und Litera­
tur einschlägig sei. Von Bachtin ausgehend, wird die moderne Forschungsdiskussion
der beiden Konzepte als Ausdruck wissenschaftsgeschichtlich sukzessiver Kritik dar­
gestellt; ihre Aufnahme in die Textlinguistik erweiterte die Diskussion um die Gegen­
überstellung mit allen nicht-poetischen Texten, was den „forschende[n] Blick“ auf
„immer wieder andere Faktoren der Kommunikation oder Kriterien der Textualität“
lenke.
Der Beitrag von Ernest W. B. Hess-Lüttich über „Medialität“ geht der Verände­
rung des Textbegriffs durch den Einfluss elektronischer Medien in einer historisch
fundierten Weise nach. Beginnend bei der Medialität des literarischen Textes als
solchem rekonstruiert der Autor verschiedene zeichen-, diskurs- und literaturtheo­
retische Ansätze der letzten Jahrzehnte und konzentriert sich dabei auf den für die
digitalen Medien wichtigen Begriff der Intertextualität, dessen traditionelle Skalie­
rungen heute im Konzept des ‚Hypertextes‘ bzw. der ‚Hyperfiction‘ im Rahmen der
Digital Humanities fortgesetzt werden. Von da ist es zu einer Theorie der Intermedi­
alität nicht mehr weit: Hess-Lüttich zeigt die Entwicklung von den 1980er Jahren bis
zur Jahrtausendwende anhand zahlreicher Beispiele. Dabei kommen dem Leser, der
gewissermaßen Co-Autor einer Hyperfiction wird, verschiedene neue Funktionen zu.
Aktuell lassen sich Übergänge zu verschiedenen neuen Kunstformen beobachten. Die
Geschichte der Hyperfiction ist noch lange nicht abgeschlossen.
Im nächsten thematischen Teil des Handbuchs werden Prinzipien der Textge-
staltung betrachtet. Vorangestellt wird diesen Beiträgen der Artikel von Hanspeter
Ortner „Semiotisierung und Semantisierung von Erfahrung, Weltsicht und Wissen in
literarischen Texten“, der das für literarische Texte konstitutive Prinzip der Semanti­
sierung aufdeckt. Durch die konventionelle Versprachlichung von Wissen komme es
zur Erfahrungsreduktion, manchmal zum Erfahrungsverlust. Durch Semiotisierung,
das ist die Neu-Etablierierung von Zeichen- und Kommunikationsverhältnissen, soll
ein neuer, lebendiger Bezug zur Erfahrung hergestellt werden, wobei unter Erfahrung
das unbewusste Wissen, gleichsam die „Rückseite“ des deklarativen Wissens, ver­
standen wird.
Es folgt der Beitrag von Britt-Marie Schuster zum „Abweichen als Prinzip“, in
dem das Abweichen gleichermaßen als auf das Sprachsystem und den Sprachge­
brauch bezogen, als mit literarischen Arbeitstechniken korrespondierend und als
intensive Arbeit am Sprachmaterial vorgestellt wird. Zentral ist die Beantwortung der
Frage, wie sich herkömmliches Abweichen von literarischem unterscheidet. An Bei­
spielen aus den Werken von Kurt Schwitters und Arno Schmidt u. a. wird gezeigt, wie
Einleitung   XV

Abweichungen miteinander vernetzt sein können und welche Rezeptionsleistung sie


von den Leserinnen und Lesern erfordern.
Michael Hoffmann wendet sich der „Ironie als Prinzip“ zu. Er betrachtet sie als
konstitutiv für „bestimmte Arten von Literatur“, wie z. B. für die Textsorten Satire
und Glosse. Zudem kann sie, so stellt er ergänzend fest, Texte belletristischer Gat­
tungen in ihrem individuellen Charakter prägen. Er zeigt, wie man Texten den ironi­
schen Gebrauch sprachlicher Mittel ansehen und wie man diesen beschreiben kann.
Außerdem setzt er sich mit dem traditionellen Verständnis von Ironie und Positionen
neuerer Forschung auseinander.
Dem „Emotionspotenzial literarischer Texte“ widmet sich Monika Schwarz-
Friesel, da ihre Wirkung maßgeblich davon abhänge. Auch wenn die Bedeutung von
Gefühlen und die „Interaktion von Kognition und Emotion“ nicht erst seit der „emo­
tiven Wende“ in den 1990er Jahren, sondern bereits seit der Antike sowohl für die
conditio humana im Allgemeinen als auch für die Funktion von Literatur im Beson­
deren (von Horaz‘ Ars poetica bis z. B. zu Ingeborg Bachmanns Wozu Gedichte) als
existenziell angesehen wird, blieb sie bisher in der literaturwissenschaftlichen Aus­
einandersetzung auf wenige Analysen beschränkt. Vorgestellt wird ein Ansatz, der
die „explizit und implizit kodierten Emotionsmanifestationen“ nicht nur auf allen
sprachlichen Ebenen erfasst, sondern darüber hinaus „die spezifische Interaktion
von Referenz, Über- und Unterspezifizierung und Informationsstruktur des gesamten
Textes“ einbezieht.
In den folgenden Beiträgen geht es weiter um Fragen der Textgestaltung, nun
aber unterschieden nach Epik, Lyrik und Dramatik. Im Kontext spezifischer Probleme
der Epik wendet sich Georg Weidachers Beitrag „Fiktionalität und Fiktionalitätssi­
gnale“ gegen den Vorwurf, Autoren fiktionaler Texte verbreiteten Lügen, und gegen
die damit einhergehende Abwertung von Fiktionalität. Mit fiktionalen Texten sei
keine Täuschung des Rezipienten intendiert und der fehlende Bezug zur empirischen
Wirklichkeit werde anders als bei Lügen offen angezeigt. Das ist der pragmatische
Aspekt von Fiktionalität. Zusätzlich konstatiert er den referenzsemantischen Aspekt,
nämlich den Bezug auf eine fiktionale Textwelt. Autor und Rezipient eines fiktiona­
len Textes müssen daher ihre Textweltmodelle äquilibrieren, sodass beide dem Text
einen übereinstimmenden kommunikativen Sinn zuschreiben, dessen wesentlicher
Bestandteil die fiktionale Modalität der Referenzen ist. In einem prototypischen fikti­
onalen Text finden sich zu diesem Zweck Fiktionalitätssignale in Form paratextueller
Hinweise und textueller Indizien.
Marie-Hélène Pérennec untersucht in ihrer Abhandlung „Erzählern aufs Wort
glauben? Sprachliche Merkmale der fiktionalen Kommunikation“ die Beziehungen
zwischen Leser und Erzähler. Pérennecs Ausgangspunkt ist, das Lesen von Fiktion
als Spiel anzusehen. Die Folgerung ist, dass die Leser als Partner dieses Spiels, wenn
sie erfolgreich sein wollen, den Spielpartner richtig einschätzen können müssen, also
alle Indizien über seine Person und sein Wertsystem, die der Erzähler in den Text
einbaut, aufzuspüren haben. Dazu gehören vor allem Deiktika und Bewertungsaus­
XVI   Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning

drücke, Inszenierung der Figurenrede und die stilistische Ausführung der Redewie­
dergabe. „Das Konzept der Polyphonie erlaubt es, alle Mittel zur Verunsicherung des
Lesers zu erfassen, diese machen aber wiederum das Lesespiel spannend.“
Der nächste Teil des Handbuchs behandelt spezifische Phänomene der Lyrik. Die
„Sprache (in) der Lyrik“, mit der sich Ulrich Breuer befasst, resultiert daraus, dass
sie in einem besonderen, nicht an den Normen der Alltagstauglichkeit orientierten
Verhältnis zur Prosasprache steht. Hier ist mitnichten die Versform entscheidend,
derer sich auch andere Gattungen bedienen. Eine ganz eigene Sprache entwickelt die
Lyrik jedoch nicht, sondern sie stellt einen spezifischen Umgang mit Sprache dar, sie
lebt geradezu aus einem Spannungsverhältnis verschiedener Sprachverwendungs­
modelle heraus. Breuer situiert die Sprache der Lyrik funktional zwischen Konstruk­
tion und Kommunikation, wofür die Theorien Sklovskijs, Tynjanovs und Jakobsons
stehen. In der Form der Lyrik eröffnet die Sprache einen kommunikativen Raum,
der ohne diese verschlossen bliebe. Dies fördert das Sprachdenken; neue kognitive
Strukturen entstehen, was auch die Entwicklung der Lyrik als literarische Gattung
beeinflusst, welche sich letztlich sogar über Sprachgrenzen hinwegzusetzen vermag.
In dem daran anschließenden Beitrag von Hans-Werner Eroms über „Sprach­
spiele und Rhetorische Figuren in der Lyrik“ wird zunächst geklärt, dass diese „tradi­
tionellen Mittel[ ], um Sprache stilistischen Glanz zu verleihen“, grundsätzlich auch
in der Sprache anderer funktionaler Bereiche (wie Werbung) genutzt werden. Unter­
sucht wird an Tropen und Figuren in Gedichten vom 17. Jahrhundert bis zur Gegen­
wart, was diese für ein bestimmtes sprachliches Kunstwerk leisten. Sprachspiele
können sich grundsätzlich auf allen Ebenen der Sprache manifestieren, haben eben­
falls eine lange Tradition seit dem Mittelhochdeutschen und stehen in der Moderne
teilweise unter Einflüssen von Linguistik und Semiotik (z. B. die Konkrete Poesie).
Im folgenden Teil geht es um spezifische Phänomene der Dramatik. Hermann
Korte gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die Entwicklung und Funktion der
Sprache im Theater. Als Grundelement des Dramas hat Sprache die besondere kom­
munikative Aufgabe zu erfüllen, eine über die Alltagscodes hinausgehende künstle­
rische Ausdrucksform zu sein. Die Sprache ist eng mit der Schauspielkunst verbun­
den, mit Stimme, Klang und Körperbewegung. Als Grundprinzip der dramatischen
Kunst kann die Spannweite der Sprache unbegrenzt weit gefasst werden und reicht
von ausgefeilter poetisch-rhetorischer Technik bis zu den verschiedenen Modi des all­
täglichen Sprechens. Die sprachliche Form hat zudem großen Einfluss, z. B. auf die
Unterscheidung von Vers- und Prosastücken einschließlich entsprechender Hybridi­
sierungen. Das Drama als primär diejenige Gattung, die nicht gelesen, sondern auf­
geführt wird, integriert Schweigen, Verstummen und Stille als vordergründig sprach­
lose Elemente; diese gehören zu den wirkungsvollsten theatralischen Möglichkeiten.
Daher weist gerade die Sprache des Dramas über sich selbst hinaus.
Michaela Reinhardt vertieft im Folgenden den Aspekt, dass den Autorinnen und
Autoren des Theaters der Gegenwart ein breites Spektrum bereits erprobter Schreib­
weisen zur Verfügung steht. Aus dem Spannungsfeld von „Fingierter[r] Mündlich­
Einleitung   XVII

keit und poetische[r] Sprachgestalt“ (d. h. möglichst naturgetreuer Darstellung und


höchster Stilisierung) wählt sie Theatertexte des 20. und 21.  Jahrhunderts aus, um
„unterschiedliche Verfahren sprachlicher Gestaltung“ vorzustellen, bezieht aber
auch besondere Wendepunkte ein, die heutige Schreibweisen vorbereitet haben.
Ein wichtiges Anliegen ist ihr, zu zeigen, dass (wie in allen literarischen Texten) die
Sprachgestalt niemals nur Dekor ist, sondern selbst Bedeutung generiert und z. B.
den gesellschaftskritischen oder politischen Charakter eines Stücks entscheidend
mitbestimmt.
Die Beiträge zu Aspekten der Textproduktion rundet ein kürzerer Teil zu Fragen
der Textrezeption und Vermittlung literarischer Texte ab. Andreas Gardts grundsätzli­
ches Interesse gilt der Verständigung über die Kategorie „Interpretation“, unter der er
die Darlegung von Bedeutung und intendierter Wirkung eines Textes oder multimo­
dalen Zeichenverbundes versteht. Entgegen unserer alltäglichen Redeweise ‚haben‘
Texte keine Bedeutung, diese werde vom Interpretierenden vielmehr in einem kon­
struktiven Akt am Text gebildet. Damit stellt sich die Frage nach der Objektivität von
Interpretation, die meist negativ beantwortet wird. Dagegen steht aber das Bestreben,
durch methodische Vorgaben der Beliebigkeit des Interpretierens zu begegnen. Die
neuere Sprachwissenschaft habe Verfahren der textsemantischen Analyse entwickelt,
„die, vor dem Hintergrund der pragmatisch-kommunikativen Einbettung von Texten,
deren Makro- und Mikrostrukturen beschreiben, dabei auf punktuelle wie auch flä-
chige Formen der Bedeutungskonstitution zugreifen“. Die Arten der Bedeutungskon­
stitution betrachtet Gardt als ausgesprochen komplex, wobei die Unterschiede zwi­
schen Gebrauchstexten und literarischen Texten signifikant seien.
Den Problemen der literarischen Hermeneutik unter besonderer Berücksichti­
gung der Metapherndeutung aus Sicht der Literaturwissenschaft und -theorie widmet
sich Jens Birkmeyer in seinem Beitrag. Es geht um Bedeutungskonstitution und
deren sprachbildliche Vermittlung bzw. Begründung. Birkmeyer zeichnet eine Ent­
wicklung nach, die von der Interaktionstheorie über das traditionelle Identitätsver­
ständnis der Metapher hin zu einer dynamisierten Kontextualisierung und schließ­
lich zu einer umfassenderen Metaphorologie führt. Auffällig ist die Zögerlichkeit, mit
der sich die Literaturwissenschaft der vorrangig linguistischen Theoriearbeit geöffnet
hat, was daran liegt, dass unterschätzt wurde, wie viel Theoriewissen um Metapho­
rik bei der hermeneutischen Deutung poetischer Metaphern eigentlich notwendig ist.
Dabei spielt der Rückgriff auf implizites Wissen eine große Rolle, erlaubt er doch die
Teilhabe an der Sinnrekonstruktion, die zwischen ‚Zum-Ausdruck-Bringen‘ und ‚Zur-
Geltung-Bringen‘ changiert. Es genügt dabei nicht, nur die semantischen Dimensio­
nen anzusprechen, vielmehr kommt es auf die besonderen heuristischen Qualitäten
der Metaphern im ästhetischen Kontext an.
Zu den Intentionen der Herausgeberinnen gehörte es, an das Ende des Hand­
buchs Beiträge über erst in jüngerer Zeit aufgekommene, spezielle Literaturbereiche
zu stellen, die das Nachdenken über Sprache in der Literatur noch einmal auf neue
bzw. weniger im Blickfeld liegende Wege lenken können. Das ist in vier Fällen gelun­
XVIII   Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning

gen: Migrationsliteratur, Pop-Literatur, Kinder- und Jugendliteratur und Sachprosa.


Ein fest eingeplanter Beitrag über „Weibliches Schreiben: Schreiben Frauen anders?“
wurde bedauerlicherweise nicht abgegeben, so dass dieses eigentlich auch an diese
Stelle gehörende Thema nicht vertreten ist.
Einen starken Innovationsimpuls empfängt die deutsche Gegenwartsliteratur
durch den „Umgang mit Sprache in der Migrationsliteratur“. Eva-Maria Thüne legt
dar, dass dieser nicht unproblematische Begriff nur in der ersten Generation „ein
Ankommen von außen“ meint, auf verschiedene Generationen bezogen jedoch eher
die Produktivmachung „sprachlich-kulturelle[r] Divergenzen und Kontraste“. Refle­
xionen über Sprache, unterschiedliche Formen ihrer Entautomatisierung und Trans­
lingualität sind charakteristisch, wobei der Sprachenwechsel als Verlusterfahrung
thematisiert werden kann, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität jedoch auch als
Gewinn empfunden werden: Etwas Abwesendes (Räume, Zeiten, Sprachen) klingt
immer mit, bereichert die deutschsprachige Literatur aber um neue Perspektiven.
Pop-Literatur verwendet eigene poetologische Verfahren, die sich auf paradig­
matische Dimensionen der Möglichkeit bis hin zu paralogischen Formaten konzen­
trieren. Moritz Baßler teilt die Entwicklung der Pop-Literatur von den ersten pop-
affinen Anfängen in den 1970er Jahren bis zur Gegenwart in drei Phasen ein. Auffällig
sind die paradigmatische Verwendung von Katalogen bzw. Listen und die Integra­
tion von Markennamen als Zeichen einer neuen Textur in Erzählungen. Eine neue,
krasse Literatursprache entsteht, teils als Provokation des Bildungsbürgertums, teils
als selbstbewusster Marker im Übergang zur künstlerischen Neoavantgarde und zur
Jugendliteratur. Die Koordinaten verschieben sich zur Jahrtausendwende, wenn die
Arbeit mit textlichem Fremdmaterial nicht mehr authentisch wirkt, sondern funktio­
nal wird. Die Entwicklung kulminiert in einem neuartigen, nicht-trivialen Verhältnis
von Literatur und Kultur, wenn pop-literarische Werke den Anspruch aufgeben, als
organische Ganzheiten den Teilen einen Sinn zuzuweisen.
Die Sprache in der Kinder- und Jugendliteratur wirkt sich bei jüngeren Kindern
unterstützend auf den primären Spracherwerb aus und vergrößert bei älteren Kindern
und Jugendlichen den Wortschatz, die Reflexion sprachlicher Strukturen sowie das
Verständnis von komplexen Zusammenhängen aus verschiedenen Perspektiven.
Damit hat die kinder- und jugendliterarische Sprache großen Einfluss auf die so wich­
tige Schnittstelle von kognitiver Kompetenz und moralischer Entwicklung. Der Artikel
von Bettina Kümmerling-Meibauer und Jörg Meibauer vollzieht die Sprachbeob­
achtungen entlang der beiden Leitlinien Einfachheit/Komplexität und Anpassung/
Überschreitung. Jede Beurteilung der Komplexität eines kinderliterarischen Textes
muss das Sprachvermögen und das Komplexitätsverständnis der Zielgruppe berück­
sichtigen. Dies gilt auf der Wort- und Satzebene ebenso wie für die Kriterien Kürze,
Dichte und Umfang. Ausgehend von der Sprachstandsstufe der kindlichen Leser sind
auch Überschreitungen von sprachlichen und inhaltlichen Normen möglich, was das
Verständnis literarischer Texte vertieft und fördert.
Einleitung   XIX

Die Forschung zur Sachprosa ordnet sich um die zentralen Begriffe Authentizi­
tät, Glaubwürdigkeit und Sachlichkeit, welche teilweise auch stilbildend sind. Die
als Sachprosa bezeichnete Literatur umfasst das Spannungsfeld zwischen fiktionalen
und faktualen Genres. Vom nicht-fiktionalen Erzählen in Reiseberichten, Reportagen
und Ratgebern sowie in Briefen, Bildern und Biographien – um nur einige Formen der
Sachprosa zu nennen – bis zu einer Poetik des Sachbuchs ist es noch ein längerer Weg,
den Michael Schikowski in seinem Beitrag beschreibt. Er tritt ein für eine historisch-
systematische Gliederung der Sachprosa, die sich an Krisen und gesellschaftlichen
Umbrüchen orientiert. Das Besondere dieser Textsorte ist, Text ohne Textmerkmale,
sachlicher Stil ohne Stilmerkmale zu sein, unabhängig vom Zeitgeschmack, gleich­
sam faktual. Schikowski schlägt vor, epochenübergreifende textinterne Kriterien zu
entwickeln, um die herkömmliche Trennung in fiktionale und faktuale Texte zu über­
winden.

Danksagung: Die Herausgeberinnen danken den Reihenherausgebern Ekkehard


Felder und Andreas Gardt dafür, dass sie das Thema „Sprache in der Literatur“ in die
Reihe aufgenommen haben. Ebenfalls danken wir Daniel Gietz als unserem Ansprech­
partner beim Verlag de Gruyter für seine Offenheit unseren Fragen gegenüber und für
seine umsichtige verlegerische Betreuung. Für ihre äußerst zuverlässige Arbeit beim
Lektorieren und Einrichten der Texte gilt unser Dank Sophia Schleichardt in Leipzig
sowie Bastian Dewenter und Jasmin Held in Siegen.

Literatur
Adamzik, Kirsten (2016): Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. Berlin/Boston.
Betten, Anne/Jürgen Schiewe (2011): Vorwort. In: Dies. (Hg.): Sprache – Literatur – Literatursprache.
Linguistische Beiträge. Berlin, 7–12.
Betten, Anne/Ulla Fix/Berbeli Wanning (2015): Sprache in der Literatur. In: Ekkehard Felder/Andreas
Gardt (Hg.): Handbuch Sprache und Wissen. Berlin/Boston (HSW 1), 455–474.
Bleumer, Hartmut u. a. (Hg.) (2013): Turn, Turn, Turn? Oder: Braucht die Germanistik eine
germanistische Wende? Eine Rundfrage zum Jubiläum der LiLi [Themenheft]. Zeitschrift für
Literaturwissenschaft und Linguistik 172.
Fix, Ulla (2013): Sprache in der Literatur und im Alltag. Berlin.
I. Grundlegendes
Thomas Hecken
1. Was oder wann ist Literatur?
Abstract: Die Begriffsgeschichte von „Literatur“ steht hier im Mittelpunkt. Sie beginnt
mit einem Rekurs auf die Antike und das Mittelalter und endet bei der heute in Ver­
lagen und beim Publikum üblichen Unterscheidung von Belletristik und Sachbuch.
Wie ist es zu dieser Reduktion auf einen scheinbar simplen Dualismus gekommen?
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert benennt der Begriff „Literatur“ noch etwas Minder­
wertiges, ihm wird „Dichtung“ als Bezeichnung einer hochgeachteten Kunstform ent­
gegengesetzt. Ein späterer Begriffswandel führte zu dem heute üblichen Gebrauch,
mit „Literatur“ sowohl Werke der Wortkunst als auch alles in Textform Veröffentlichte
zu bezeichnen. Literatur ist im engeren Begriffsgebrauch jedoch da, wo Alltagsspra­
che überboten bzw. verfremdet wird. Der gesellschaftliche Konsens trifft sich beim
kleinsten gemeinsamen Nenner, der Unterscheidung von „fiction“ und „non-fiction“.
Dadurch kommt dem Kriterium „Fiktionalität“ eine so große Bedeutung zu, dass die
Auswirkungen dieser Begriffsoszillation Literaturwissenschaftler, Poetologen und
Ästhetiker umtreibt.

1 Eine kleine Begriffsgeschichte von ‚Literatur‘


2 Literatur als Kunst
3 Implizite Trennung
4 Explizite Trennung
5 Konsequenzen der Unterscheidung
6 Literaturwissenschaft
7 Literatur

1 Eine kleine Begriffsgeschichte von ‚Literatur‘


In der deutschsprachigen Gegenwart (Stand: 2017) trifft man als Leser, der sich für
Kultur und Wissenschaft interessiert, recht häufig auf das Wort ‚Literatur‘: Philolo­
gen werden als ‚Literaturwissenschaftler‘ bezeichnet; der Hanser Verlag trennt auf
seiner Website in der Rubrik „Bücher“ die Sparte „Romane & Erzählungen“ u. a. von
„Krimi“, „Gedichte“, „Naturwissenschaft“, „Geschenkbücher“, „Geschichte“, „Bio­
graphisches“ sowie „Literatur, Kunst, Musik“; Hausarbeiten und Qualifikations­
schriften unterscheiden zwischen ‚Primär‘- und ‚Sekundärliteratur‘; Experten ver­
weisen auf die ‚reiche Literatur‘ zur Mineralogie oder zur Krebsforschung; Zeitungen
beschäftigen ‚Literaturkritiker‘.
Allgegenwärtig ist das Wort aber nicht. Die FAZ nennt auf ihrer Internetseite ohne
weitere Differenzierung eine Rubrik „Bücher“, selbst der Suhrkamp Verlag kennt auf

DOI 10.1515/9783110297898-001
4   Thomas Hecken

seiner Website erst einmal ebenfalls nur „Bücher“, um dann nach „Neuerscheinun­
gen“, „aktuelles Programm“, „Bestseller“, „eBooks“ „Werkausgaben“, „Neuüberset­
zungen“ und „Themen, Genres & Länderschwerpunkte“ zu separieren. Von ‚Literatur‘
ist dort keine Rede.
Selbst in einzelnen Häusern herrscht beim Begriffsgebrauch keine Einheitlich­
keit. Die Beilage zur Frankfurter Buchmesse wird von der Printredaktion der FAZ z. B.
nicht „Bücher“, sondern „Literatur“ betitelt, gesondert in „Belletristik“ und „Sachbü­
cher“. Diese letzte Unterscheidung findet man auch in einigen Verlagsprogrammen,
zwar nicht, wie bereits gesehen, in denen von Hanser und Suhrkamp, aber bei der
Deutschen Verlags-Anstalt (DVA), die auf ihrer Repräsentanz im Netz das „Programm
Literatur“ und das „Programm Sachbuch“ führt, dazu kommt nach der Willkür der
verlegerischen Marketinginteressen das „Programm Architektur & Garten“.
In den USA ist die Zweiteilung von Literatur und Sachbuch noch besser erhalten
bzw. häufiger anzutreffen, allerdings heißt es dort zumeist nicht mehr ‚literature‘,
sondern ‚fiction‘. Auch die New York Times trennt auf ihrer Internetseite in der Rubrik
„Books“ zwischen „Fiction“ und „Nonfiction“. Der Grund dafür aus Sicht eines Betei­
ligten: ‚Literature‘ klinge „nach Schule, ernsthaft und nicht nach Spaß; ‚fiction‘ zu
lesen ist lustiger‘, so ein Journalist beim Boston Globe“ (Martel 2010, 197).
Wenn man dieser Einschätzung vertraut, gilt es wahrscheinlich als noch ‚lus­
tiger‘, keine Bücher mehr in die Hand zu nehmen, sondern auf die Displays von
Handys und Tablets zu schauen. Zumindest im Deutschen hat ‚Literatur‘ aber den
technologischen Wechsel überstanden; zwar nicht im allgemeinen Sprachgebrauch,
aber in speziellen wissenschaftlichen und feuilletonistischen Artikeln hört man von
„Internetliteratur“ oder „Netzliteratur“. Damit werden nicht immer nur Romane, die
in Fortsetzungen und mit Hyperlinks erscheinen, angesprochen, sondern z. B. auch
Blogs.
Die Beispiele mögen genügen. Sie belegen, dass ‚Literatur‘ heutzutage in einer
sehr weiten Fassung verwendet wird, die alles in Schriftform Gedruckte und Veröf­
fentlichte meint – und in einer engeren Fassung, die für ‚Literatur‘ den Bereich der
Kunst reserviert. Die erste Bedeutung orientiert sich überwiegend an lat. ‚littera‘
(Buchstabe), die zweite trifft unter den Letterngebilden eine Auswahl, die sich künst­
lerischen Kriterien verdankt.
Die erste Variante steht in einer langen Tradition, die zweite ist moderner. Wie
weit die Tradition zurückreicht, erkennt man leicht, wenn man vom Lateinischen ins
Griechische wechselt: Das griechische Wort für ‚Buchstabe‘ lautet ‚gramma‘, davon
kommt ‚Grammatik‘ her – und Grammatik steht an der ersten Stelle jener sieben ‚artes
liberales‘, die seit der Spätantike den Fächerkanon ausmachten (im frühen Mittelal­
ter wurden ihnen sieben ‚mechanische Künste‘ gegenübergestellt). In der gängigen
Unterteilung der sieben regelgerechten ‚freien Künste‘ in ‚Trivium‘ (Grammatik, Rhe­
torik, Dialektik) und ‚Quadrivium‘ (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) fehlt
zur heutigen Überraschung u. a. die Poesie, wenn sie auch im Zusammenhang von
Grammatik und Rhetorik zum Unterrichtsstoff gehörte (vgl. Kristeller 1976a).
Was oder wann ist Literatur?   5

Nach Anfängen in Bologna 1321 werden ab dem 15. Jahrhundert in den Universi­


täten „Poesie und Eloquenz […] als fortgeschrittene Kurse gelehrt, die den Elementar­
unterricht in der Grammatik und Rhetorik voraussetzten, und auf das Studium der
lateinischen Dichter und Prosaschriftsteller wurde der größte Wert gelegt“ (Kristel­
ler 1976b, 219). Der ‚litteratus‘ ist entsprechend „ein Kenner der Grammatik und der
Poesie (wie noch der lettré in Frankreich), aber nicht notwendigerweise Schriftstel­
ler“ (Curtius 1948, 52), genauso wie eben ‚litteratura‘ nicht nur Poesie oder kunstvolle
Prosa bezeichnet.
Die im 18.  Jahrhundert wirkungsvoll durchgeführten Operationen, die regelge­
leiteten, nützlichen Bereiche (wie Grammatik, Rhetorik, Naturwissenschaften) von
den schönen und/oder dem Genie obliegenden Künsten zu trennen, führen zu dem
engeren Begriff von ‚Literatur‘, der auch heute noch Anwendung findet. Mit ‚Belle­
tristik‘ ist die alte Diskussion um die ‚Beaux Arts‘, die schönen Künste, gegenwär­
tig in Wortform weiterhin greifbar, wenn auch kaum einem Deutschen, der etwa die
Spiegel-Bestsellerliste (mit ihrer Unterscheidung zwischen „Belletristik“ und „Sach­
buch“) studiert, die Herkunft und Bedeutung des Wortes geläufig sein dürfte.
Die Übernahme des frz. ‚belles lettres‘  – und seine heutige Verwendung durch
viel gelesene Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine – zeigt bereits deutlich, dass
im Deutschen ‚schöne Literatur‘ ungebräuchlich sein dürfte. Die Stelle der ‚schönen
Literatur‘ ist historisch durch ‚Dichtung‘ und ‚Poesie‘ belegt gewesen. In seiner Kritik
der Urteilskraft hält Kant fest, dass „in aller schönen Kunst“ das „Wesentliche in
der Form“ bestehe, nicht in sinnlichen Reizen, die zur „Zerstreuung“ dienen. Unter
diesen schönen Künsten nehme nun die „Dichtkunst (die fast gänzlich dem Genie
ihren Ursprung verdankt, und am wenigsten durch Vorschrift, oder durch Beispiele
geleitet sein will)“, den „obersten Rang“ ein (Kant 1974, 264 f.), weil bei ihr weder –
wie bei der Malerei – durch den „Reiz der Farben“ noch – wie bei der Musik – durch
die „angenehme[n] Töne des Instruments“ die Form-Seite (bei der Malerei wäre das
die für Kant entscheidende „Zeichnung“, bei der Musik die „Komposition“) in den
Hintergrund gedrängt und das ästhetisch erforderliche „interesselose Wohlgefallen“
gestört werden kann (ebd., 141; 267 ff.).
Diese Überlegungen haben bei Idealisten wie bei Verfechtern des Bürgerlichen
Realismus, bei Ästhetizisten wie Formalisten Anklang gefunden. Das reicht bis in
die Wortwahl hinein. Im 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahr­
hunderts dient ‚Literatur‘ recht häufig als Kennzeichnung für etwas Minderwertiges,
wenn mit ‚Dichtung‘ die erhabene, wirklichkeitstranszendierende, ästhetisch gerei­
nigte Kunst ausgezeichnet wird. Begriffe wie ‚Asphaltliteratur‘ und ‚Zivilisationslite­
rat‘ sind mit ‚Dichtung‘ als zweitem Teil des Kompositums (Asphaltdichtung, Zivilisa­
tionsdichter) nicht oder kaum denkbar.
Diese Anschauung war aber stets mehr oder minder umstritten. Vor allem Kon­
zeptionen des Naturalismus, der Neuen Sachlichkeit, des Dadaismus, der engagierten
Literatur standen dem aus unterschiedlichen Gründen entgegen. Sie haben sich zwar
nicht mit ihren jeweiligen spezifischen Programmen auf breiter Front durchgesetzt,
6   Thomas Hecken

sind aber zumindest insofern vollständig in die Literaturauffassungen der künstleri­


schen und feuilletonistischen Kreise eingegangen, als ‚Literatur‘ seit Ende der 1960er
Jahre von fast niemandem mehr der ‚Dichtung‘ unterworfen wird.
Wir können also für die deutsche Gegenwart (und, wohl ohne große prognosti­
sche Kräfte bemühen zu müssen, für die absehbare Zukunft) festhalten: ‚Literatur‘
bezeichnet im heutigen Sprachgebrauch zwei Phänomene: zum einen, in der engeren
Fassung, Werke der Wort-Kunst, zum anderen, in der weiteren Fassung, alles in Text­
form Veröffentlichte. In der ganz weiten Fassung, die man selten antrifft, fällt unter
‚Literatur‘ alles schriftlich Niedergelegte, auch das Unveröffentlichte.
Wie steht es mit bloß mündlich öffentlich gewordenen Texten? Hugo Steger (1982,
14) behauptet in Was ist eigentlich Literatursprache?, Sagen, Märchen, Zaubersprüche
würden „nicht erst dadurch zur Literatur, daß sie aufgezeichnet werden“. Offenkun­
dig gilt dies aber nach dem Stand heutiger Begriffsverwendung nicht für alle mög­
lichen Witze, Komplimente, Anzüglichkeiten, Sprüche, Reden usf., sondern nur für
‚orale Literatur‘ (im Sinne von ‚künstlerischen Werken‘), so dass auch diese Variante
in unsere Zweiteilung bereits Eingang gefunden hat, nämlich in der engeren Fassung,
die, wie sich spätestens jetzt herausstellt, nicht allzu eng ist.
Hugo Steger, der eine ähnliche Aufteilung vorgeschlagen hat, weist noch darauf
hin, dass „immer wieder Forscher das Wort Literatursprache gleichbedeutend mit
Schriftsprache benutzt“ und sich damit von der „allgemeinen Lebenspraxis“ entfernt
hätten (ebd.). Deshalb nimmt er diese Variante von seinem Überblick zum „heutigen
allgemeinsprachlichen Gebrauch“ (ebd., 13) aus. Forscher nehmen offenkundig nicht
an der „allgemeinen Lebenspraxis“ teil.
Unser Überblick hingegen zieht diese Konsequenz nicht und schließt den Begriffs­
gebrauch einiger Forscher nicht vom ‚Leben‘ aus. Darum unsere Formulierung vom
‚schriftlich Fixierten‘ (sei es mit Tinte, Schreibmaschine, Papier oder in digitalisierter
Form) als Angabe zur sehr weiten Fassung des heutigen ‚Literatur‘-Begriffs.

2 Literatur als Kunst


Interessanter als die weite ist die engere Fassung. Um sie wird häufiger gerungen.
Den Grund dafür kann man leicht angeben. Kunst und Kultur besitzen nicht nur unter
vielen Gebildeten, sondern auch in der staatlichen Ordnung einen hohen Rang. Zur
Literatur im Sinne eines sprachlichen Kunstwerks zu zählen ist darum eine Auszeich­
nung. Sie wird z. B. in Deutschland mit steuerlichen Vorteilen für Schriftsteller hono­
riert und verfügt über den Schutz des Grundgesetzartikels 5 Abs. 3: „Kunst und Wis­
senschaft, Forschung und Lehre sind frei.“
Wie der Begriff ‚Trivialliteratur‘ allerdings anzeigt, ist es nicht ausgeschlossen,
dass auch Werke mit geringem oder gar keinem Renommee zur ‚Literatur‘ im engeren
Sinne zählen. Im Gegensatz zur (früheren) Ehre der Dichtung (ein Kompositum ‚Tri­
Was oder wann ist Literatur?   7

vialdichtung‘ war und ist bezeichnenderweise nicht im Umlauf) verfügt ‚Literatur‘


bislang über weniger Noblesse. Wenn man etwas zur Literatur schlägt, vollzieht man
damit nicht automatisch eine Hochwertung. Es gibt auch weniger gute Literatur.
Zwar ist es auch möglich, von ‚schlechter Kunst‘ zu reden. Wenn nicht alles
täuscht, wird diese Möglichkeit aber seltener ergriffen. ‚Kunst‘ und ‚Kultur‘ besitzen
einen höheren Rang, einen noch besseren Klang als ‚Literatur‘. Entsprechend fällt die
Aufregung geringer aus, wenn in den Augen der Öffentlichkeit heute ein Werk als sehr
schlechte oder anstößige Literatur gilt.
Ein weiterer Grund für den geringeren Streit- und Ehr-Wert von ‚Literatur‘: Lite­
ratur wird nur sehr selten direkt vom Staat oder öffentlich-rechtlichen Einrichtungen
finanziert. Im Unterschied zu Werken der bildenden Kunst, zu Theater- und Musik­
aufführungen wird Literatur zudem weit überwiegend von einzelnen Personen rezi­
piert. Öffentliche Ausstellungen und Darbietungen führen in Zeiten gewährter indivi­
dueller Freiheiten rascher zu Erregungen und Skandalen als die stille Lektüre – und
sie führen darum schneller zu Urteilen wie ‚Das ist gar keine Kunst‘.
Daraus, dass solche erregten Urteile in den letzten drei Jahrzehnten sogar ange­
sichts von obszönen Theaterinszenierungen oder unverständlichen, wiewohl teuren
Werken der bildenden Kunst kaum noch zu hören sind, kann man freilich sicher
schließen, in welch geringem Maße der Ausruf ‚Das ist ja überhaupt keine Literatur‘
ertönt, wenn heutzutage starkes Missfallen zum Ausdruck gebracht werden soll. Nach
über einem Jahrhundert avantgardistischer Entgrenzungen ist der Literatur-Begriff
kaum noch umkämpft oder auch nur Gegenstand von Diskussionen.

3 Implizite Trennung
Dennoch besitzen die historischen Debatten in der Gegenwart weiterhin Einfluss.
Sie werden zwar nur noch sehr selten herangezogen, um Literatur von Non-Literatur
abzugrenzen, aber sie wirken sich im Bereich der Kunst regelmäßig auf die Unter­
scheidung von guter und schlechter Literatur aus.
Zu nennen sind hier vor allem formalistische, modernistische Theorien und Lek­
türen in der Nachfolge Kants. Die Anmerkungen Kants zu den Bedingungen eines
interesselosen ästhetischen Urteils münzen sie auf das Werk um. Das ‚Literarische‘,
das einen Text zu einem Werk der Literatur mache, liegt für sie im Bruch mit jener
Alltagssprache, die auf verständlich kommunizierte Inhalte setzt. Verfremdung, Ent­
täuschung und Negation solcher Alltagssprache, ihre Subversion oder Überbietung
sowie metasprachliche, selbstreflexive Äußerungen sind folgerichtig die Merkmale
ihrer ‚Literatur‘ (vgl. Plumpe 2001).
Der Ausschluss sich realistisch verstehender Werke ist freilich nicht von Erfolg
gekrönt gewesen. Sie zählen heute genauso grundsätzlich zur Literatur (im Sinne der
Kunst) wie Artefakte dadaistischer oder konkreter Poesie. Die Unterscheidung macht
8   Thomas Hecken

sich aber noch recht häufig bemerkbar, wenn es unter Lektoren, Feuilletonisten und
anderen Lesern, die sich der Avantgarde oder gehobenen Kultur zurechnen, darum
geht, gute von schlechter Literatur zu scheiden. Dann sind Äußerungen wie ‚das Buch
ist nur auf der inhaltlichen Ebene interessant‘, ‚bietet keine Widerhaken‘, ‚ist einfach
vernutzbar‘ immer abwertend gemeint.
Anerkannte Literatur-Rezensenten üben weitgehend Verzicht, einen Roman zu
loben, weil man sich mit dessen Helden oder ausdrücklichen Botschaften identifi­
ziert oder weil man dessen wie auch immer geartetes Erregungspotential verspürt.
In den „Literatur“-Seiten der FAZ wird z. B. ausdrücklich dem „Effekt“ abgeschwo­
ren und von der besprochenen Autorin Jennifer Egan ein „weniger rasantes, brüchi­
geres Erzählen“ gefordert, ein Erzählstil, wie er sich in Jonathan Franzens Buch Die
Korrekturen finden lasse. Das Fazit stellt beide Schriftsteller hart gegeneinander: „In
beiden Büchern werden über mehrere Generationen, durch mehrere Berufsgruppen
und Gesellschaftsschichten hindurch amerikanische Befindlichkeiten umkreist  –
aber Franzen taugt nicht für Hollywood, Egan schon. Das ist ihr [Egans] Problem.“
(2002, 21; diese und die folgenden Beispiele sind der „Literatur“-Beilage der FAZ zu
den Buchmessen 2002 [8.10.2002, Nr. 233] und 2003 [7.10.2003, Nr. 232] entnommen).
Den Unterschied macht also – bündig gesprochen – das „brüchigere Erzählen“.
Selbst wenn dies nicht so klar gesagt wird, finden sich in nur wenigen Rezensi­
onen der Buchmessen-Beilagen lobende Aussagen über ein Erzählwerk, die sich in
erster Linie auf dessen Themen oder Motive stützten. „Es sind nicht die Themen, um
derentwillen wir Richard Fords Erzählungen immer wieder lesen“ (2002, 19), heißt es
in einer Rezension unmissverständlich. Nur über den Umweg der Erzählweise scheint
den Inhalten zumindest eine Art Fünftel- oder Sechstel-Lob gezollt zu werden. Häufig
liest man von der „großen Leichtigkeit“ der Figurenskizze (2002, 6), einer „glaub­
haften“ Beschreibung selbst unwahrscheinlicher Gefühle (2002, S. 1), „präziser“
Beschreibung (2002, 7), „großer Ehrlichkeit“ (2002, 5), „mikroskopischer Aufmerk­
samkeit“ (2002, 7) „genauer“ Beobachtung (2002, 8), „unerschütterlicher Aufmerk­
samkeit“ (2003, 5), „Welthaltigkeit“ (2003, 4), so dass man zumindest auf die Idee
kommen könnte, die derart aufmerksam beschriebenen Dinge lohnten die genaue
Betrachtung auch.
Wenn allerdings widersinnig von einem „Stil, dem nicht die kleinste Geste entgeht“
(2002, 9), die Rede ist, verliert sich jene Idee wieder weitgehend. Dann bleiben Nach­
erzählungen des Inhalts übrig, mit denen nur selten eine positive Wertung verbunden
wird. Auf diese Art und Weise wird der Vorrang der „Form“ als Garant des ästhetischen
Urteils gebührend berücksichtigt. Die gelobte ‚Beschreibungsgenauigkeit‘ bleibt als
Begriff diffus genug und geht nicht im wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch auf.
Die FAZ-Rezensenten vermeiden durchweg diesen Schritt, indem sie höchstens auf
modern kunstreligiöse, paradoxe Weise den Vorrang literarischer Form zum Garan­
ten dafür erheben, noch außerliterarische Referenten richtig zu erfassen; etwa wenn
von Schreibverfahren gesprochen wird, die „den Dingen keine Gewalt antun“ (2002,
4), von „Verfremdungen“, die gerade „Wirklichkeitsnähe“ bewiesen (2002, 7), oder
Was oder wann ist Literatur?   9

gar von der „Form der Erzählung“ schlechthin, die alleine noch den „Spielraum der
Wahrnehmung“ ermessen könne (2002, 4).
Wie um die Gefahr zu umgehen, dass auch die Bewertung bestimmter Schreib­
weisen gleich mit einem politischen oder wissenschaftlichen Modell kurzgeschlos­
sen wird, steht die Analyse von Stilelementen sogar einige Male für sich, um manch­
mal erst am Ende des Artikels einem weniger spezifischen Lob oder Tadel Platz zu
machen. Ein reines Leseprotokoll – ‚diese Passage habe ich überblättert, jene inte­
ressiert gelesen, diese hat mich erregt …‘  – wird zumeist eben nicht geliefert. Als
ausschließlich subjektives oder interessegeleitetes soll das Urteil keineswegs ausge­
wiesen werden. Deshalb legt man im Zuge der Rezension auch nicht seine soziale
Herkunft, die Geschichte seiner Idiosynkrasien, seine didaktischen Ziele oder ähn­
liches offen, sondern erweckt den Anschein, als verfüge das Objekt des Urteils über
eine allgemeiner determinierende Kraft; dann heißt es nicht: ‚aus folgendem Grund
langweilen mich Thesenstücke‘, sondern es heißt: „papierne Dialoge“ machten die
„Lektüre“ des Romans „zur Strapaze“ (2003, 18); oder es heißt: gebannt „liest man
immer weiter“ (2002, 19), „erscheint uns glaubhaft“ (2002, 1).
Die Figur des „man“ und der Gebrauch des Plurals sollen aber auf keinen Fall
eine Pluralität der Stimmen verhindern. Im Aufmacher der FAZ-Literaturbeilage wird
die entscheidende Aussage aus einem Roman herbeizitiert. Es handelt sich um eine
Regel. Sie besagt, dass „es für einen Schriftsteller keine Regeln gibt“ (2002, 1). Dies
mag so sein oder auch nicht – die Rezensenten jedenfalls formulieren tatsächlich an
fast keiner Stelle ausdrücklich eine Regel oder sprechen herrisch eine Anweisung aus.
Doch ihr Bemühen, eine ausführlichere Angabe von „Form“-Elementen zur Grund­
lage ihres Urteils zu machen, führt sie auf stillerem Weg in den Regel-Sektor. Zwar
wird die Subjektivität des Urteils versuchsweise gewahrt, indem keine allgemeine
Anweisung ausgesprochen wird, aber dennoch durch den apodiktischen Ton des Ein­
zelfall-Urteils getilgt. So ist es nach Ansicht eines Rezensenten gut, über die DDR fol­
gendermaßen zu schreiben: mit „Kunstverstand“, „von keiner Mission beseelt“, „frei
von Klischees, die gerade die gute Absicht produziert“, „ohne verbissene Verdächti­
gung“ oder „ulkhafte Nostalgie“, in einem „lakonischen und zuweilen unerbittlichen
Ton“. (2003, 3)
Es scheint fast, als sollte die Unbegründetheit des Urteils seinen Anweisungscha­
rakter überdecken. Doch wenn man nicht annimmt, dass es in der Welt der Literatur
immer nur einzigartige Konstellationen gibt, bietet sich stets die Möglichkeit, eine mit
einem Urteil versehene detaillierte Analyse eines Textes als technische, regelgerechte
Doktrin explizit umzuformulieren oder sie implizit als solche aufzufassen. Auf diese
Weise kann eine literarische Regel – auch unausgesprochen – wieder greifen.
Es bleibt dann die Frage, ob solch eine Anweisung nicht nur den Status (und
sogar die Kraft) besitzt, gute von schlechter Literatur, sondern auch Literatur von
Non-Literatur zu trennen. Wiederum mit der Unterscheidung ‚explizit/implizit‘ lässt
sich für die Gegenwart eine klare Tendenz feststellen: In Blättern wie der FAZ werden
agitatorische, triviale, klischeehafte Werke nicht definitiv aus dem Bezirk der Lite­
10   Thomas Hecken

ratur ausgeschlossen, sie tauchen aber als Besprechungsgegenstand einfach in den


‚Literatur‘-Beilagen nicht auf, es sei denn, um in seltenen Fällen paradigmatisch als
Negativbeispiele verurteilt zu werden. Der Ausschluss ist also de facto gegeben, er
wird jedoch nicht definitorisch vollzogen.

4 Explizite Trennung
Die explizite, definitive Unterscheidung von Literatur/Non-Literatur im engeren
Sinne muss folglich heutzutage durch andere Kriterien zustande kommen. Wenn die
Variante der Wertung nicht oder kaum genutzt wird – ‚Literatur‘ wären in dem Fall
einfach alle guten Romane, Gedichte, Dramen und was sonst als literarisches Genre
anerkannt würde –, bleibt noch der Weg über neutrale Angaben offen.
Nach der Diskreditierung der Rhetorik ist hier allerdings jener Pfad versperrt, der
‚Literatur‘ mit einem Über- oder Hochmaß an rhetorischen Figuren, mit Satzbau-Raf­
finesse und großem Wortschatz identifiziert (und die einfache Sprache nicht einem
beachtlichen ‚genus humile‘, sondern der Non-Literatur im Sinne von Unkunst vor­
behält).
Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass in Lektoratsgutachten, Rezensi­
onen, ästhetischen Urteilen solche Kriterien zur Auszeichnung von ‚guter Literatur‘
genutzt werden. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass einzelne Individuen oder
Gruppen solche Kriterien weiterhin nutzen, um ein Werk kategorisch zur ‚Literatur‘
zu schlagen. In der maßgebenden Kunstwelt der Verlage, Universitäten, staatlichen
Institutionen, Zeitungs-Feuilletons etc. werden sie aber in der Gegenwart nicht mehr
zur grundsätzlichen Bestimmung von ‚Literatur‘ genutzt. Nach einigen realistischen
und avantgardistischen Wenden führt auch einfache Sprache, eine wenig komplexe
Intrige, Stillosigkeit, reduzierter Wortschatz keineswegs zwangsläufig zur Verban­
nung aus dem literarischen Sektor.
Nach den empirischen Befunden, die zu Beginn dieses Aufsatzes mit einigen
Beispielen präsentiert wurden, bleibt demnach gegenwärtig nur die Unterscheidung
‚fiktional/nicht-fiktional‘ wirksam übrig. Besonders im US-amerikanischen Raum
wird sie verwandt, um Literatur (im engeren Sinne der Kunst) von anderen Veröffent­
lichungen zu scheiden: „fiction“/„non-fiction“ (NYT); in Deutschland schwingt das
etwa in der Unterscheidung „Belletristik“/„Sachbücher“ (FAZ) bzw. von „Literatur“/
„Sachbuch“ (DVA) mit.
Diese Unterscheidung überwölbt die ebenfalls aussagekräftige Genreordnung.
Dass Elegien, Komödien, Hirtengedichte etc. zur Literatur zählen, ist unbestritten,
nach der modernen Verabschiedung des antiken Kanons gibt es aber Bedarf für eine
mindestens ergänzende, wenn nicht sogar konstitutiv neue Bestimmung. Metrum und
Reim gelten für Gedichte und Dramen nicht mehr obligatorisch, der Roman kommt
Was oder wann ist Literatur?   11

als neue Gattung machtvoll hinzu, das trägt dazu bei, Fiktionalität ins Zentrum der
‚Literatur‘-Zuschreibung zu befördern.
An der Sprache kann man den Roman nicht unbedingt von einer Reportage oder
einer Autobiografie unterscheiden, das heutige Drama nicht mehr in jedem Fall von
der Mitschrift eines Gesprächs, darum besitzt das Merkmal der Fiktionalität enorme
Bedeutung. An ihm hängt nun sehr häufig die Last oder das ehrenvolle Gewicht der
‚Literatur‘.

5 Konsequenzen der Unterscheidung


Trotz der Bedeutung der Abgrenzung wird sie allerdings zumeist kaum einmal stren­
ger kontrolliert. Verlage interessieren sich nicht besonders dafür, ob der Roman weit­
gehend oder vollständig autobiografisch geprägt ist, es sei denn, es handelt sich um
Geschichten über berühmte Personen, deren Intimleben preisgegeben wird. Dies
sorgt zuverlässig für hohe Verkaufszahlen und großes mediales Interesse, oftmals
begleitet von einer feuilletonistischen Abwertung des Titels. Begriffe wie ‚Kolportage­
literatur‘ oder ‚Schlüssellochroman‘ zeigen allerdings an, dass es zu einem komplet­
ten Ausschluss aus dem Reich der Literatur nicht notwendigerweise kommt.
Der Leser wiederum fragt in allen anderen, unbekannteren Fällen zumeist auch
nicht bohrend nach, sondern verlässt sich einfach auf den Peritext des Verlags, wenn
er auf dem Buchumschlag die Angabe ‚Roman‘ oder ‚Erzählung‘ liest. Falls die Erzäh­
lung die Grenzen des physikalisch Möglichen nicht überschreitet, besitzt er – da er
den Autor in der Regel nicht näher kennt – keinen Anhalt, über den Wirklichkeits­
gehalt der Geschichte mehr als bestenfalls einigermaßen begründete Spekulationen
anzustellen. Eine Ausnahme stellen medial stark präsente Autoren dar, die in ihren
Werken über Künstler schreiben, die öffentlich auftreten; in diesem Fall kann der
Leser den Abgleich von Roman und Wirklichkeit kenntnisreicher vornehmen; in allen
anderen Fällen muss er sich auf Indiskretionen verlassen.
Selbst die Steuerbehörde schreitet aber nicht ein, wenn Rezensenten oder andere
Insider darauf hinweisen, dass es sich bei den Helden eines ‚Romans‘ allesamt um
lebende Personen handelt und um Handlungen, die stattgefunden haben. Hier reicht
die Tatsache, dass Verlage eine entsprechende Literatur-Klassifikation (im engeren
Sinne der Kunst) vorgenommen haben, fast immer aus, um für eine günstigere Taxie­
rung zu sorgen. Da in Deutschland die Künstlersozialkasse (KSK) auch Journalisten
aufnimmt, fällt für sie die Notwendigkeit der Unterscheidung von ‚fact‘ und ‚fiction‘
ohnehin weg.
Bloß eine Institution ist etwas häufiger  – wenn auch insgesamt gesehen sehr
selten – aufgerufen, genauere Prüfungen vorzunehmen: die Justiz. Sie muss darum
auch als einzige Institution ab und zu angeben, was als Kunst und Fiktion gilt. Einige
Fälle haben alle Instanzen durchlaufen, darum liegen Urteile des Bundesverfassungs­
12   Thomas Hecken

gerichts vor; die ‚Literatur‘- und ‚Fiktionalitäts‘-Frage ist demnach zumindest in juris­
tischem Sinne endgültig entschieden (jedenfalls solange das Bundesverfassungsge­
richt sein Urteil nicht selbst modifiziert).
Anlässlich eines Verfahrens zu Klaus Manns Roman „Mephisto“ hält das höchste
Gericht in einem Beschluss des Ersten Senats vom 24. Februar 1971 fest:

Das Wesentliche der künstlerischen Bestätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der
Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten For­
mensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist
ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind.
Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist
primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuel­
len Persönlichkeit des Künstlers. (BVerfGE 30, 173 [187 f.])

Diese Definition wird in weiteren Verfahren vom Bundesverfassungsgericht durch


die Jahrzehnte immer wieder aufgegriffen. Neben der Bindung an ein expressives
Künstler-Subjekt kommt der „bestimmten Formensprache“ große Bedeutung zu. Ein
späteres Urteil vom 27. November 1990 attestiert der indizierten Schrift „Josefine Mut­
zenbacher“ beispielsweise, dass bei ihr die „schöpferische[] Gestaltung“ in der „Form
des Romans zum Ausdruck“ komme (BVerfGE 83, 130 [137]).
Was ein Roman ist, wird vom Gericht zwar nicht gesagt, zum Verhältnis des
sprachlichen Kunstwerks zur Wirklichkeit äußert es sich jedoch im Sinne der idealis­
tischen Tradition (vgl. Seiler 1983):

Auch wenn der Künstler Vorgänge des realen Lebens schildert, wird diese Wirklichkeit im Kunst­
werk ‚verdichtet‘. Die Realität wird aus den Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten der empi­
risch-geschichtlichen Wirklichkeit gelöst und in neue Beziehungen gebracht, für die nicht die
‚Realitätsthematik‘, sondern das künstlerische Gebot der anschaulichen Gestaltung im Vorder­
grund steht. (BVerfGE 30, 173 [189])

Später geht das Gericht von der Verengung auf „anschauliche[] Gestaltung“ wieder
ab, es bleibt aber bei seiner Leitlinie, auch angesichts realistischer und dokumenta­
rischer Werke Kunst-Literatur an Wirklichkeitstranszendenz zu binden. Im Beschluss
des Ersten Senats vom 13. Juni 2007 zum Roman „Esra“ von Maxim Biller heißt es:
„Zu den Spezifika erzählender Kunstformen wie dem Roman gehört, dass sie zwar
häufig – wenn nicht regelmäßig – an die Realität anknüpfen, der Künstler dabei aber
eine neue ästhetische Wirklichkeit schafft.“ (BVerfGE 119, 1 [28])
Wie kommt es nun zu solch einer ‚Kunst-Realität‘? Eine Antwort des Gerichts
betont die (teilweise) Lösung von der außer-literarischen Wirklichkeit, die (teilweise)
Fiktion:

Je stärker der Autor eine Romanfigur von ihrem Urbild löst und zu einer Kunstfigur verselb­
ständigt (‚verfremdet‘; vgl. BVerfGE 30, 173 [195]), umso mehr wird ihm eine kunstspezifische
Betrachtung zugutekommen. Dabei geht es bei solcher Fiktionalisierung nicht notwendig um die
Was oder wann ist Literatur?   13

völlige Beseitigung der Erkennbarkeit, sondern darum, dass dem Leser deutlich gemacht wird,
dass er nicht von der Faktizität des Erzählten ausgehen soll. (BVerfGE 119, 1 [29])

Je stärker also der Leser einen Unterschied des Romanhelden zu einer (früher) leben­
den Person erkennt, desto stärker erkennt er den Fiktionsgrad. Was aber, wenn keine
„Verfremdung“ waltet? Dann muss das ‚Ganze‘ den Unterschied bilden, meint das
Gericht:

Dabei ist zu beachten, ob und inwieweit das ‚Abbild‘ gegenüber dem ‚Urbild‘ durch die künst­
lerische Gestaltung des Stoffs und seine Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des
Kunstwerks so verselbständigt erscheint, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten
des Allgemeinen, Zeichenhaften der ‚Figur‘ objektiviert ist. (BVerfGE 119, 1 [28])

Damit ist aber das Fiktions-Kriterium bereits wieder zu den Akten gelegt worden, an
seine Stelle treten, ohne dass der Wechsel angezeigt oder reflektiert würde, schwer
fassliche Überlegungen zum „Gesamtorganismus“ und zum Symbolhaften künstle­
rischer Literatur. Kein Wunder, dass das Gericht die Beantwortung der Frage kurz
danach dem Rezipienten aufbürdet:

Die Gewährleistung der Kunstfreiheit verlangt, den Leser eines literarischen Werks für mündig
zu halten, dieses von einer Meinungsäußerung zu unterscheiden und zwischen der Schilde­
rung tatsächlicher Gegebenheiten und einer fiktiven Erzählung zu differenzieren. Ein literari­
sches Werk, das sich als Roman ausweist, ist daher zunächst einmal als Fiktion anzusehen, das
keinen Faktizitätsanspruch erhebt. Ohne eine Vermutung für die Fiktionalität eines literarischen
Textes würde man die Eigenarten eines Romans als Kunstwerk und damit die Anforderungen der
Kunstfreiheit verkennen. Diese Vermutung gilt im Ausgangspunkt auch dann, wenn hinter den
Romanfiguren reale Personen als Urbilder erkennbar sind. (Ebd.)

Knapper gesagt: Wenn ‚Roman‘ auf dem Umschlag steht, sollte der Leser glauben, es
handele sich um ein fiktionales Werk, selbst wenn er erkennt, dass es sich um eine
Darstellung vergangener Wirklichkeit handelt. Als habe man diese Argumentation
ausgleichen wollen, hat das Bundesverfassungsgericht zu Beginn seiner Ausführun­
gen beschwichtigend eingeräumt:

Wegen der gerade für die Kunstform des Romans, aber auch die künstlerisch gestaltete Auto­
biographie, die Reportage und andere Ausdrucksformen (Satire, Doku-Drama, Faction) häufig
unauflösbaren Verbindung von Anknüpfungen an die Wirklichkeit mit deren künstlerischer
Gestaltung ist es nicht möglich, mit Hilfe einer festen Grenzlinie Kunst und Nichtkunst nach dem
Maß zu unterscheiden, in dem die künstlerische Verfremdung gelungen ist. (BVerfGE 119, 1 [21])

Genau das hat man aber dann getan, indem man das Kriterium der (Teil-)Fiktiona­
lität einführte. Es rasch wieder ohne Angabe von Gründen zugunsten anderer Krite­
rien  – Symbol, Ganzheit, ästhetische Rezeption  –, die ebenfalls nicht näher erläu­
tert werden, zurückzulassen, trägt nicht dazu bei, für Offenheit zu sorgen, sondern
nur dazu, die Grenzziehung zum Willkürakt zu machen. Wenn postuliert wird: „Ein
14   Thomas Hecken

fälschlicherweise als Roman etikettierter bloßer Sachbericht käme nicht in den


Schutz einer kunstspezifischen Betrachtung“ (BVerfGE 119, 1 [29]), ist das zwar ein­
deutig, den Unterschied zwischen „Sachbericht“ und „Roman“ hat man aber keines­
wegs unzweideutig erklärt.
Im konkreten Fall konzedierte man, dass es sich bei „Esra“ um ein Kunstwerk
handele: Der Roman besitze „eine zweite“ hinter der „realistischen Ebene“, er treibe
ein „Spiel“ mit der „Verschränkung von Wahrheit und Fiktion“ (BVerfGE 119, 1 [31]).
Dennoch wurde sein Vertrieb verboten, weil die sexuelle Intimsphäre einer leben­
den, erkennbar dargestellten Person verletzt worden sei (BVerfGE 119, 1 [34]). Ob die
dargestellten sexuellen Details nun tatsächlich der sexuellen Praxis der Person ent­
sprechen, ob es sich bei ihnen um eine Mischung aus Wirklichkeitswiedergabe und
Fiktion handelt, spielt für den Entschluss freilich überhaupt keine Rolle:

Die eindeutig als Esra erkennbar gemachte Klägerin […] muss aufgrund des überragend bedeu­
tenden Schutzes der Intimsphäre nicht hinnehmen, dass sich Leser die durch den Roman nahe­
gelegte Frage stellen, ob sich die dort berichteten Geschehnisse auch in der Realität zugetragen
haben. (Ebd.)

Nicht nur wegen der Seltenheit des Verbots-Falls, sondern vielleicht auch wegen
dieser Pointe hat das Urteil keine großen Debatten ausgelöst. Letztlich doch unab­
hängig von der diskutablen Beantwortung der Fragen nach dem Status von Fakten,
Fiktionen, Verfremdungen wird „Esra“ als Kunstliteratur anerkannt, die Bedeutung
der Persönlichkeitsrechte aber teilweise höher veranschlagt. Auch dieser Fall kann
demnach als Beleg für unsere These dienen: Die Frage, was Literatur (im Sinne der
Kunst) ausmacht, wird heutzutage nicht als wichtig erachtet.
Das hat aber nichts mit einer Geringschätzung der Literatur zu tun. Es liegt im
Gegenteil daran, dass derzeit alle maßgeblichen westlichen Institutionen der Kunst
und Literatur einen hohen Rang einräumen. Diese Rangzumessung erfolgt auch und
gerade im Horizont der modernen, regellosen und normbrechenden Kunst. Darum
favorisieren gegenwärtig Institutionen (wie auch das deutsche Verfassungsgericht),
herrschende Parteien und wirkungsmächtige Kunstkreise im Westen einen offenen,
antitraditionellen Kunstbegriff, um innovative, kreative Abweichungen – mit denen
man stetig rechnet, ohne zu wissen, in welche Richtung sie gehen werden  – nicht
bewusst oder unwillentlich zu behindern (theoretisch dazu Weitz 1956).
Diese Offenheit führt dazu, dass man nicht länger um den Zuschnitt der Kunst­
literatur ringt. Sogar potenzielle oder mutmaßliche ‚Erweiterer‘ und ‚Übertreter‘
können sich von vornherein aufgenommen wissen, für Übertretungen besteht prinzi­
piell kaum oder gar kein Raum mehr. Alle möglichen Schreibweisen und Inhalte sind
gegenwärtig als Teil eines literarischen Werks statthaft.
Was oder wann ist Literatur?   15

6 Literaturwissenschaft
Was aber ist mit der Wissenschaft von der Literatur? Von ihr darf man doch wohl nicht
nur präzisere Analysen und Definitionen, sondern auch mehr an Bedeutungszumes­
sung erwarten, schließlich geht es um ‚ihren‘ Gegenstand.
Solange sich viele Philologen als Kanonstifter verstanden, galt das auch. Zwei
Beispiele mögen es belegen. Der bekannte Philologe Emil Staiger wandte sich noch
Ende der 1960er Jahre in einer Aufsehen erregenden Rede gegen moderne, experi­
mentelle, dekadente, obszöne Werke, auch gegen politisierte Romane, Gedichte und
Dramen: Beim Ausdruck ‚Littérature engagée‘ werde „niemand wohl, der die Dich­
tung wirklich als Dichtung liebt“, lautet eine von Staigers Ausschlussformeln (1967,
91). Es ist kein Zufall, dass Staiger hier von „Dichtung“, nicht von Literatur spricht.
Aber auch unter denjenigen, die mit dem Wort ‚Literatur‘ ihren Frieden gemacht
haben, konnte man noch in den letzten Jahrzehnten teilweise ähnliche Abgrenzun­
gen lesen. In seinem Buch „Der Literaturbegriff“ setzte sich Helmut Arntzen mit
Nachdruck dafür ein, Literatur von einer „instrumentellen Sprachauffassung, deren
Praxis die Wissenschaftssprache, vor allem aber die Zeitungssprache wurde“, abzu­
setzen. Kafka und Musil hätten „die ungeheure Anstrengung der Literatur“ auf sich
genommen“, weil sie „einen Sinn zu vermitteln hatten, der nur im Sprechen dieser
Romane erscheinen konnte.“ Folgerichtig tritt Arntzen gegen eine Konzeption ein,
deren Literaturbegriff sich auch auf „Dokument, Reportage, wissenschaftsanaloge[]
Darstellung“ erstreckt (Arntzen 1984, 143).
Konsequenzen hat Arntzens Position nicht nur für den Zuschnitt der Literatur
(im Sinne von Kunst), sondern ebenfalls für die Vorgehensweise der Literaturwissen­
schaft. „Überflüssig, ja schädlich“ sei eine „Interpretation, die sich als Deutung einer
umgangssprachlichen Paraphrase des literarischen Textes versteht“. Seine Alterna­
tive: „Erst eine Interpretation, die sich auf die Sprachlichkeit der Texte und damit auf
Sprache überhaupt einläßt, kann diesem Sinn näherkommen, wenngleich ihr bewußt
sein muß, daß sie ihn nie erreicht“ (ebd., 144).
Mit der Aufforderung, bei der Betrachtung von Kunstliteratur auf die Sprache
zu achten und nicht bloß Inhaltskondensate als fixe Botschaften auszugeben, hat
Arntzen zweifellos einen überzeugenden Vorschlag unterbreitet. Nun war (und ist)
das aber ohnehin Konsens unter Germanisten, Anglisten etc., diesen Vorschlag hätte
er demnach gar nicht machen müssen. Seine anderen Punkte hingegen, von denen
er meint, dass sie mit dem Sprach-Imperativ zusammenhängen, sind zwar auch nicht
originell, sie besaßen aber zum Zeitpunkt, als Arntzen sie vorbrachte, keine größere
Anhängerschaft mehr.
Anders gesagt: Eine stark exklusive Bestimmung von ‚Literatur‘  – gar verbun­
den mit der Betonung hermeneutischer Sinnsuche – vertritt die weit überwiegende
Mehrheit der Literaturwissenschaftler in der Gegenwart nicht, ja lehnt sie sogar oft
entschieden ab. Die heutigen Philologen sehen als ihren wissenschaftlichen Gegen­
stand zumeist nicht nur (kanonisierte) Gedichte, Dramen, Romane, Kurzgeschichten,
16   Thomas Hecken

sondern auch Reportagen, Nachrichtenmagazingeschichten, Drehbücher, Werbeslo­


gans, Fan-Fiction, ‚Schund‘-Literatur etc. Das bedeutet keineswegs, sie alle würden
diese Texte untersuchen oder lehren, es bedeutet aber, dass sie ihren Kollegen nicht
verbieten möchten, so zu verfahren.
Vier Theorien- und Methoden-Komplexe haben zu dieser Ausweitung beigetragen
(zum Überblick etwa Rosenberg 2003; Livingston 2003; Jannidis/Lauer/Winko 2009):
– erstens groß ansetzende Konzeptionen wie z. B. Marxismus, Konstruktivismus
und Strukturalismus, deren Untersuchungsverfahren auf alle möglichen Texte
Anwendung finden können;
– zweitens Ansätze des New Historicism und des Poststrukturalismus, die nicht
von abgeschlossenen Werken ausgehen, sondern auch Epen, Sonette, Trauer­
spiele kanonisierter Autoren als Gewebe beliebiger anderer Texte ansehen (vgl.
etwa Culler 1982; Baßler 2005);
– drittens geschmackssoziologische und historische Untersuchungen, die bestrei­
ten, dass es so etwas wie eine Ontologie der Literatur geben könne, und statt­
dessen darauf verweisen, dass Menschen und Gruppen in genau beschreibbaren
unterschiedlichen Konstellationen zu je verschiedenen ‚Literatur‘-Bestimmun­
gen gelangt sind und weiter gelangen (etwa Becker 1982);
– viertens ist eine objektivistische, positivistische Wende zu verzeichnen, die ästhe­
tische Wertung und philologische Analyse voneinander separiert, so dass die
Beschränkung, nur als wertvoll und hochrangig erachtete Werke wissenschaft­
lich zu untersuchen, nicht mehr unbefragt gilt; zumindest ist es diesen Philo­
logen in der Tradition des Empirismus und der Analytischen Philosophie (Ayer
1970) nicht mehr möglich, die Beschränkung mit wissenschaftlichen Gründen zu
stützen (etwa Kreuzer 1975; Schmidt 1980).

Diese Ausweitung findet eine gewisse Entsprechung in der Zurückhaltung heutiger


Literaturwissenschaftler, eine Wesensbestimmung oder eine normativ stark aufge­
ladene Definition von ‚Literatur‘ vorzulegen. Man belässt es entweder bei Nominal­
definitionen (gibt also lediglich an, was man selber meint, wenn man den Begriff
gebraucht) oder verzichtet ganz auf Erläuterungen. Eine dritte Möglichkeit, die auch
noch auf dieser Linie liegt, aber seltener ergriffen wird, besteht darin, den Literatur­
begriff so zu fassen, dass er a) auch auf Zeiten Anwendung finden kann, die noch
über keinen verfügten, und er b) keine wichtige bisher gebrauchte Definition aus­
schließt (Jannidis/Lauer/Winko 2009, 29).
In der Summe laufen all diese Ansätze auf die Frage ‚Wann ist Literatur?‘ hinaus.
Man gibt selber keine Antwort auf die Frage ‚Was ist Literatur?‘ mehr  – zumindest
keine mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, auf Ewigkeitswert, auf den Status
richtiger (platonisierender) Ideen- und Formenschau oder auf zwingende normative
Kraft (vgl. Plumpe 2001). Stattdessen beantwortet man die ‚Wann‘-Frage und zeigt
auf, welche verschiedenen Antworten auf die Frage z. B. in unterschiedlichen sozi­
alen Schichten, von unterschiedlichen künstlerischen Gruppierungen, von unter­
Was oder wann ist Literatur?   17

schiedlichen Poetologen und Ästhetikern in unterschiedlichen historischen Epochen


oder Momenten gegeben wurden. Solch eine Antwort zu geben, vor allem mit Blick
auf die deutsche Gegenwart, war auch das Ziel des vorliegenden Aufsatzes.

7 Literatur
Arntzen, Helmut (1984): Der Literaturbegriff. Geschichte, Komplementärbegriffe, Intention. Eine
Einführung. Münster.
Ayer, Alfred J. (1970): Sprache, Wahrheit und Logik [Language, Truth and Logic, 1936]. Stuttgart.
Baßler, Moritz (2005): Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche
Text-Kontext-Theorie. Tübingen.
Becker, Howard S. (1982): Art Worlds. Berkeley.
Culler, Jonathan (1982): On Deconstruction: Theory and Criticism after Structuralism. Ithaca.
Curtius, Ernst Robert (1948): Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern.
Jannidis, Fotis/Gerhard Lauer/Simone Winko (2009): Radikal historisiert: Für einen pragmatischen
Literaturbegriff. In: Dies. (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des
Literarischen. Berlin/New York, 3–44.
Kant, Immanuel (1790): Kritik der Urteilkraft. Frankfurt a. M. 1974.
Kreuzer, Helmut (1975): Veränderungen des Literaturbegriffs. Göttingen.
Kristeller, Paul Oskar (1976a): Das moderne System der Künste. In: Ders.: Humanismus und
Renaissance II. München, 164–206.
Kristeller, Paul Oskar (1976b): Die italienischen Universitäten der Renaissance. In: Ders.:
Humanismus und Renaissance II. München, 207–222.
Livingston, Paisley (2003): Literature. In: Jerrold Levinson (Hg.): The Oxford Handbook of Aesthetics.
Oxford/New York, 536–554.
Martel, Frédéric (2011): Mainstream. Wie funktioniert, was allen gefällt [frz. Original 2010], München.
Plumpe, Gerhard (2001): Programme moderner Literatur. Eine systemtheoretische Skizze. In:
Herbert Jaumann u. a. (Hg.): Domänen der Literaturwissenschaft. Tübingen, 131–143.
Rosenberg, Rainer (2003): Verhandlungen des Literaturbegriffs. Studien zu Geschichte und Theorie
der Literaturwissenschaft. Berlin.
Schmidt, Siegfried J. (1980): Grundriss der Empirischen Literaturwissenschaft, Bd. I. Braunschweig/
Wiesbaden.
Seiler, Bernd W. (1983): Die leidigen Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der
deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert. Stuttgart.
Staiger, Emil (1967): Literatur und Öffentlichkeit [Rede, gehalten am 17. Dezember in Zürich]. In:
Sprache im technischen Zeitalter, H. 22, 90–97.
Steger, Hugo (1982): Was ist eigentlich Literatursprache? In: Freiburger Universitätsblätter 21/76,
13–36.
Weitz, Morris (1956): The role of theory in aesthetics. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 15,
27–35.
Lars Koch
2. Angst und Gewalt in der Literatur:
Historizität, Semantik und Ausdruck

„Nicht der Schlaf der Vernunft erzeugt Monster,


sondern die aufmerksame,
nie schlafende Rationalität“
(Deleuze/Guattari 1977, 144).

Abstract: Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der literarischen Repräsenta­
tion, Inszenierung und Reflexion von Angst seit circa 1800. Er zeichnet wesentliche
Entwicklungslinien moderner Angst nach, zeigt auf, welche Themenkomplexe der
Angst Eingang in die deutsche Literatur gefunden haben und skizziert, welche lite­
rarischen Verfahren erprobt wurden, um ein körpernahes Affektgeschehen in einen
mediatisierten Zeichenprozess zu überführen. Angst, so die Ausgangsthese, ist einer­
seits eine Grundemotion des Menschen, die einen langen evolutionsbiologischen
Index aufweist, zugleich ist sie aber immer auch Produkt zeitbedingter kultureller
Überformungen: Wie Angst erlebt wird, aus welchen Anlässen heraus sie entsteht
und nicht zuletzt auch wie sie als Kondensat kommunikativer Praktiken gesellschaft­
lich wirksam wird, ist ebenso historisch wie kulturell variabel. Die Literatur, verstan­
den als eine ästhetische Beobachtungsinstanz zweiter Ordnung, registriert kulturell
imprägnierte Realisierungsformen von Angst, sie stellt sie symbolisch verdichtet dar,
ordnet sie in einem diskursiven Ermöglichungszusammenhang ein und zeichnet ihr
dialogisches Verhältnis zu zeitgenössischen Verunsicherungsintensitäten und kol­
lektiven Bedrohungswahrnehmungen nach. Damit ist die Literatur ein prädestinier­
ter Zugang zu einer Kulturgeschichte der Angst.

1 Angst und Literatur


2 Historizität, Semantik und Ausdruck von Angst in der Literatur seit 1800
3 Fazit: Für eine medienkulturwissenschaftliche Literaturgeschichte der Angst
4 Literatur

1 Angst und Literatur


Nachfolgend wird davon ausgegangen, dass die Literatur der Moderne wesentlich
eine Literatur der Angst ist. Konzeptualisiert als Beobachtungs- und Reflexionsme­
dium zweiter oder dritter Ordnung, setzt sich die Literatur seit der Aufklärung mit
kulturellen Konjunkturen von Angst und Verunsicherung auseinander, reflektiert im

DOI 10.1515/9783110297898-002
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   19

19.  Jahrhundert über die Angstpotenziale innerhalb eines sich verändernden anth­
ropologischen Denkgebäudes und entdeckt schließlich im 20. Jahrhundert vor dem
Hintergrund zweier Weltkriege und vielgestaltiger sozialer, ökonomischer und reli­
giöser Entwurzelungstendenzen Angst und Entfremdung als conditio humana des
modernen Subjekts. Philosophisch vorbereitet vom Diskurs des Erhabenen (vgl. Zelle
1987) und poetologisch angeleitet von der Gothic novel, entsteht auch in der deutsch­
sprachigen Literatur seit etwa 1800 ein intensiviertes Interesse für Angst, Furcht und
Schrecken, das nicht alleine mit den Aufmerksamkeitsnotwendigkeiten und themati­
schen Vorlieben eines sich autonomisierenden Literaturmarktes erklärt werden kann,
sondern als Signal eines umfassenden Problemdrucks einer breiteren Einordnung in
einen sich verändernden soziokulturellen Ermöglichungszusammenhang bedarf.
Wenn der Fokus innerhalb dieses Artikels also auf Angst als einer emotionalen
Signatur der Literatur seit circa 1800 gelegt werden soll, dann ist damit eine methodi­
sche Weichenstellung vorgenommen, die andere literaturwissenschaftliche Zugangs­
weisen zum Phänomen literarischer Angst nicht prinzipiell zurückweist, wohl aber
zugunsten eigener literaturhistorischer Fragestellungen weitgehend bei Seite lässt.
Unberücksichtigt bleibt vor allem ein aktuell vielbeschrittener Forschungszweig,
der die Wirkungsästhetik literarischer Texte im Zuge der Erzeugung von Emotionen
beim Leser in den Vordergrund rückt (vgl. Mellmann 2006; Hillebrandt 2011; bezogen
auf Angst Trautwein 1980; Hillebrandt/Poppe 2012; Lickhardt 2012). Demgegenüber
soll hier Literatur unter funktions- und problemgeschichtlichen Vorzeichen als ein
prädestinierter Zugang zu einer Kulturgeschichte der Emotionen gefasst werden, als
eine Agentur der Genese und Dekonstruktion emotionaler Semantiken, als ein ästhe­
tisches Medium, das Angst thematisiert und präsentiert (vgl. Winko 2003).
Orientiert man sich an Thomas Anz, der schon in den 1970er Jahren festgestellt
hatte, dass die Literatur „im Rahmen einer ihr eigenen Logik zur Geschichte mensch­
licher Ängste einiges Material“ (Anz 1975, 238) liefert, dann stellt sich die Aufgabe,
den einzelnen für die Angst-Thematik einschlägigen literarischen Text innerhalb
einer kulturellen Rahmung zu situieren, die erst verständlich macht, inwieweit die
literarische Darstellung von Angst als dialogischer Beitrag zur Erörterung von zu
einem spezifischen Zeitpunkt vorherrschenden, soziokulturellen Problemlagen
gelesen werden kann. Vor dem Hintergrund einer modernen Auslegungsnotwen­
digkeit von Wirklichkeit ist die Funktion der modernen Literatur dabei als durchaus
janusköpfig zu verstehen: Zum einen bearbeiten und reflektieren literarische Texte
Erfahrungen von Individuen und Kollektiven, sie erproben Handlungsweisen und
stiften, indem sie nachvollziehbare, überschaubare Geschichten entwerfen, Orien­
tierungswissen. Gerade in durch technische oder politische Modernisierungsschübe
verursachten gesellschaftlichen Umbruchs- und Krisenzeiten fungiert die Literatur so
als Medium der Thematisierung von Sinnproblematiken, insbesondere dort, wo sie
affektive Skripte, Wahrnehmungsschemata und Rollenmuster in die gesellschaftliche
Kommunikation einspeist, trägt sie zudem zur „Selbstvergewisserung gegen Kontin­
genzerfahrungen“ (Braungart 1996, 164) bei.
20   Lars Koch

Zum anderen führt die Literatur  – seit der Herausbildung eines autonomen
Literatursystems im 18. Jahrhundert ist dies ein wesentliches Element ihrer ästheti­
schen Programmatik – selbst wiederum zur Komplexitätssteigerung, insofern sie als
Agentur der Pluralisierung von Realitätsvorstellungen tätig wird, dem scheinbar Not­
wendigen das ebenfalls Mögliche gegenüberstellt und so an der Entwertung von Tra­
dition und der Infragestellung der Autorität von Deutungsmustern mitarbeitet. Sich
mit Literatur auseinanderzusetzen, bedeutet in der Moderne zunehmend, sich aus
dem „Absolutismus der Wirklichkeit“ (Blumenberg 1979, 9 ff.) zu lösen – damit sind
Emanzipationschancen verbunden, aber auch Risiken der normativen und epistemi­
schen Desorientierung.
Versteht man vor diesem Hintergrund Angst als eine kommunikative Ressource,
die im Modus der vom literarischen Text geleisteten affektiven Ansprache ganz unter­
schiedliche Wissens- und Diskurssysteme aufzurufen und zu verschalten in der Lage
ist, dann wird einsichtig, dass ihre Resonanz auch in ganz unterschiedliche Richtun­
gen verlaufen kann: Als Signal einer drohenden Gefahr kann die literarisch evozierte
Angst politisch instrumentalisiert werden, um herrschende Gesellschaftsordnungen,
um Macht, Herrschaft und Gewalt zu legitimieren und Gefügigkeit einzufordern.
Genau so hat literarische Angst auch immer wieder gewirkt, als Plausibilisierungs­
instanz, die bestimmte Handlungsformen, Vorurteile und Denkmodelle unterstützt
(im Hinblick auf den Detektivroman als Medium des Rationalismus vgl. Conrad 1974).
Gegenteilig kann Angst aber auch als ein Marker fungieren, der anzeigt, dass mit der
außertextuellen Welt, auf die sich der literarische Text vermittelt oder direkt bezieht,
etwas nicht stimmt. Angst wird dann zum emotionalen Vehikel der Kritik, zu einer
Codierung des Erzählten, die als fortgesetzte ästhetische Irritation die Ordnung der
Dinge innerhalb wie außerhalb des Textes problematisiert.
Literaturhistorisch lohnend ist die Beschäftigung mit der literarischen Darstel­
lung und Thematisierung von Angst in jedem Falle: Indem sich das Augenmerk auf
die angstgestimmten Grundierungen der Literatur der Moderne richtet, auf die in
ihr verhandelten Intensitäten von Angst als plötzlichem Schrecken, als Stimmung
schleichender Unheimlichkeit oder als Spannungsmoment diffuser Erwartung,
wird es möglich, eine eigene Geschichte der Genese von Subjektformen und sozia­
len Ordnungen zu erzählen. Ziel einer solchen Literaturgeschichte der Angst ist es,
das „komplexe Zusammenwirken von kollektiven Vorstellungen, affektiven Mustern,
Grundüberzeugungen und Verhaltensweisen“ (Arnold-de Simine 2000, 38) innerhalb
literarischer Texte nachzuvollziehen und daraus die Interaktion von realhistorischem
Kontext und angstthematischem Text abzuleiten.
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   21

2 Historizität, Semantik und Ausdruck von Angst in


der Literatur seit 1800
Geht es nachfolgend um Angst in der deutschsprachigen Literatur seit 1800, dann
sind damit gleich zwei erklärungsbedürftige Setzungen vorgenommen. Der Fokus auf
Angst in der deutschsprachigen Literatur ergibt sich aus der methodischen Verzah­
nung von außerliterarischem Erfahrungsanlass und innerliterarischen Thematisie­
rungen (vgl. hierzu auch Koch 2013, 237 ff.). Natürlich finden sich auch in anderen
Literaturen vor dem Hintergrund anderer nationalkultureller und politischer Kon­
texte mannigfaltige Literarisierungen von Angst. Diese treffen sich sicher auch viel­
fach inhaltlich und gestalterisch mit deutschsprachigen Angstliteraturen, treten
gar mit diesen in ein wechselseitiges Beobachtungs- und Austauschverhältnis ein.
Gleichwohl schien es ratsam, den von vorneherein schon breit gespannten Bogen
dieses Artikels nicht noch weiter zu fassen. Zwar wird auf direkte Einflusssphären von
und Bezugnahmen auf nicht-deutsche Angstliteraturen – etwa im Kontext der Gothic
novel oder der Texte Edgar Allen Poes – punktuell hingewiesen, wenn sich daraus ein
nuancierteres Bild der deutschsprachigen Angstliteratur ergibt. In der Regel soll aber
vor allem die deutschsprachige Literatur Beachtung finden, zum einen aus rein prag­
matischen Gründen, zum anderen, weil sich auch in ihr die spezifischen Problem­
lagen einer Literatur der Angst  – das gewaltimprägnierte Verhältnis des Menschen
zu seiner inneren und äußeren Natur, die Gewalterfahrungen zweier Weltkriege, die
Sinnnotstände metaphysischer Obdachlosigkeit – exemplarisch thematisieren lassen.
Ein ähnliches Argument gründet sich auf die Setzung des Beginns dieser Betrach­
tung um 1800. Sicher trifft auch hier der Widerspruch zu, dass schon für die Litera­
tur des Mittelalters (vgl. Tuczay 2008) und dann für die des Barock eine Artikulation
von Ängsten  – vor den Naturgewalten, vor Hunger oder dem gegnerischen Heer  –
zu konstatieren ist (vgl. Meumann/Niefanger 1997). Diese Ängste scheinen aber vor
dem Hintergrund religiöser Erklärungsmuster und poetologischer Programme einen
anderen, weniger bedeutsamen Stellenwert innerhalb der Anthropologie und eine
andere Funktion innerhalb literarischer Texte und der dort evozierten Weltmodelle
gehabt zu haben. Dass man Angst als eine bedeutsame emotionale Signatur der
Kultur bestimmen kann, ist wohl erst für die Moderne zutreffend. Um 1800 kommt es
im Rahmen der Säkularisierung und der technischen und politischen Dynamisierung
zu jenen Entsicherungs- und Freisetzungsprozessen, die das moderne Subjekt eng
mit der Erfahrung von Angst verbinden. Genau in dieser Ambivalenz einer umfassen­
den soziokulturellen Transformation bewegt sich die Literatur seit der Aufklärung:
Darum bemüht, das Individuum durch den Abbau von (Aber-)Glaube und religiö­
ser Bevormundung zu einem neuen Selbstbewusstsein zu führen, arbeitet Literatur
zugleich mit an der Erosion des epistemologischen, anthropologischen und morali­
schen Bodens, auf dem sich der Einzelne zunehmend desorientiert bewegt. „Nicht
nur“, so fasst Christian Begemann die mittelfristig ambivalente Wirkung der in dem
22   Lars Koch

Begriff „Aufklärung“ gebündelten Veränderungstendenzen zusammen, „machen die


aufklärerische Umstrukturierung des Weltbildes, des Realitäts- und Naturbegriffs, die
Zerstörung tradierter ‚Vorurteile‘ und die Entzauberung der Natur bestimmte Ängste
erst möglich […]. Fundamentaler noch ist ein anderer Konnex: Dieselbe Bewusst­
seins- und Psychostruktur, die als Voraussetzung aller theoretischen und praktischen
Naturbeherrschung […] gelten muss, […] ist eine Quelle innerer Angst“ (Begemann
1987, 11).

2.1 Um 1800: Angst in der Schauerliteratur und in der Schwarzen


Romantik

Die Parallelisierung von historischen Erfahrungsgehalten und literaturwissenschaft­


lichen Epochenbegriffen ist eine heikle Angelegenheit. Wenn also im Folgenden
ab und an auf eine entsprechende Terminologie zurückgegriffen wird, dann nicht,
um an einer epochenpoetologischen Diskussion zu partizipieren, sondern um eine
ungefähre historische Einordnung der aufgerufenen Texte zu ermöglichen. Geht man
vom Problembezug der Literatur aus, dann fällt auf, dass sich Spätaufklärung, Sturm
und Drang und Romantik mit ähnlichen anthropologischen Herausforderungen
befassen. Begriffe wie „Angst“, „Schrecken“ und „Grauen“ werden hier zu Chiffren
des sich schleichend einstellenden Gefühls, dass sich auf der anderen Seite der in
Europa grassierenden Aufklärungseuphorie eine dunkle Gegenbewegung vollzieht,
die den seiner religiösen und sozialen Traditionen verlustig gegangenen Menschen in
eine nicht mehr verstandene, kalte und bedrohliche Welt hinaus treibt. Nicht lange
nachdem die „Natur durch die Technik domestiziert“ (Alewyn 1974, 315) wurde und
der Aberglaube an Dämonen und andere teuflische Gestalten von der Vernunft aus
den nunmehr taghell ausgeleuchteten Räumen der Wirklichkeit weitestgehend ver­
bannt worden war, entsteht ein neues literarisches Interesse für eine Ästhetik des
Obskuren, des Undurchsichtigen und der mit einer Erfahrung erneuten Autonomie­
verlusts gekoppelten Angst.
Zu einem zentralen Thema wird diese moderne Angst erstmalig in der Schauerli­
teratur der Spätaufklärung. Der Schauerroman aus der Feder von hoch produktiven
Autoren wie Christian Heinrich Spieß, Karl Gottlob Cramer oder Joseph Alois Gleich
handelt von und arbeitet mit Ängsten vor dem Übernatürlichen, die das aufgeklärte
Publikum eigentlich schon abgelegt zu haben meinte, die ihm jetzt aber im Rahmen
einer ästhetischen Erfahrung wiederbegegnen. Indem sie solcherart Gespenster und
unheimliche, nicht-verstehbare Mächte als angstmachende Akteure diegetischer
Textwelten wieder aufleben lässt, operiert die Schauerliteratur an der Schwelle von
Aufklärung und Romantik. Die Gründe für diese Renaissance des Spukhaften als
literarischem Sujet sind in der Literaturwissenschaft immer noch umstritten. Lange
Zeit dominierte die Erklärung Richard Alewyns, der in der literarischen Konjunktur
von Dingen, die in früheren Zeiten Quellen einer realgeschichtlichen Angst gewesen
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   23

waren, eine Kompensation für die rationale Entzauberung der Welt zu erkennen
vermeinte. Naturphänomene wie z. B. Gewitter und übernatürliche Phänomene wie
Gespenster werden demnach erst dann zu Gegenständen der Literatur, wenn sie in
der Realität aufgrund intellektueller oder technischer Kontroll- und Distanzierungs­
praktiken keinen wirklichen Bedrohungsgehalt mehr besitzen (vgl. Alewyn 1965;
1974) und so zum Anlass eines „angenehmen Grauens“ (Zelle 1987) werden können.
Eine andere, der Kompensationsthese entgegengesetzte Erklärung für das Auf­
kommen von Angst in der Schauerliteratur sieht in dieser einen symbolischen Arti­
kulationsraum realgeschichtlicher Irritationserfahrungen. Demnach berichtet die
Schauerliteratur von einem sukzessiven Einwandern der Erkenntnis der nicht rati­
onal kontrollierbaren Nachtseite der menschlichen Natur und der situativen Gefähr­
lichkeit der Einbildungskraft in den kulturellen Selbstverständigungsdiskurs. Der
Vernunftglaube erschrickt quasi über die Begrenztheit der eigenen Orientierungs­
kraft und lokalisiert dabei  – im Medium des literarischen Textes  – bislang überse­
hene anthropologische und soziale Gefahrenzonen der im Entstehen befindlichen
bürgerlichen Welt. Deren Errungenschaften  – eine sich steigernde Komplexität der
wissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Erkenntnis- und Aushandlungs­
prozesse – werden nunmehr selbst zu Quellen des Misstrauens und der Verunsiche­
rung. Zeitlich weit auseinanderliegende Texte wie Friedrich Schillers Der Geisterseher
(1787/89) und E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi (1820) bringen demnach
eine moderne Überforderungsangst zur Sprache, die aus der mit der „Erosion pro­
videntieller Schicksalsmuster und ihrer transzendenten Instanzen“ (Neumann 2002,
204) einhergehenden Erfahrung einer Undurchsichtigkeit der Welt resultiert. Schil­
lers Geisterseher wird auf dieser Grundlage lesbar als ein „soziopsychologisches
Exempel gesellschaftlicher Destabilisierung in einer Krisenzeit“ (Barkhoff 2010, 26),
das die zentralen Angst-Quellen der Metaphysik – das unsichtbare Reich der Geister,
die Macht der Magier, den unergründlichen Willen Gottes – als politischen Verschwö­
rungszusammenhang in die Register der sich systemisch ausdifferenzierenden Gesell­
schaft einträgt. Hoffmanns Novelle, angelegt als ein Kriminalstück rund um eine rät­
selhafte Mordserie, Begehren und Juwelenraub im Paris des Jahres 1680, zielt in die
gleiche Richtung. Auch hier geht es vor dem Hintergrund politischer, technischer und
medialer Beschleunigungseffekte um die unzureichende Verstehbarkeit der Welt. Die
Novelle zeigt, wie eine kollektive Verunsicherung um sich greift, die „aus der Ver­
wischtheit und Unlesbarkeit der Spuren, die sich im wirren und bedrohlichen Chaos
der Wahrnehmungen und Ereignisse abzeichnen“ (Neumann 2002, 185), erwächst.
Neben einer neuen Sensibilität für die äußeren Bedrohlichkeiten der modernen
Lebenswelt, die nicht zuletzt in den Gewaltexzessen der Französischen Revolution
deutlich geworden waren, tritt zudem die Einsicht, dass auch im Innenraum des Men­
schen große Gefahren und unkontrollierbare Mächte lauern. Die im Schauerroman
evozierte Angst ist keine mehr, die sich direkt aus Religion und Metaphysik speist.
Im Gegenteil entspringt sie genau der sich durchsetzenden Erkenntnis, dass mit der
Entwertung religiöser Deutungsmuster der Mensch ganz auf sich selbst zurückgewor­
24   Lars Koch

fen worden ist und nunmehr alleine mit seinen inneren Dämonen, seinem zügello­
sen Begehren und seinen undurchsichtigen emotionalen Regungen zurechtkommen
muss. In gewisser Weise, so Jürgen Barkhoff, wandern die Gespenster aus der Außen-
in die Innenwelt des Menschen ein: „Schauerlich ist in der Moderne nicht mehr der
Blick über die Grenze ins Reich der Abgeschiedenen, sondern der ins Nichts, nicht
mehr die Ungewissheit angesichts des von Gott über uns verhängten Schicksals,
sondern das Gefühl des Ausgeliefertseins an die nackte Kontingenz, nicht mehr die
Angst vor Sünden und Höllenstrafen, sondern vor der nihilistischen Vernichtung
aller Werte“ (Barkhoff 2010, 38). Ein fundamentaler Zweifel an der Fähigkeit zur
Selbsterkenntnis greift um sich, gerade weil das Konzept „Seele“ als Sitz der Persön­
lichkeit nicht mehr akzeptiert wird und die Vernunft eine umfassende Stabilisierung
des zunehmend als Naturwesen gedachten Menschen nicht zu leisten vermag (vgl.
Košenia 2008). Angst ist in diesem Kontext der emotionale Ausdruck eines Problema­
tisch-Werdens von Subjektivität und wissenschaftlicher Erschließung der Welt, das
tief in der Logik der Aufklärung und der von ihr produzierten metaphysischen Verun­
sicherung verankert ist. Literarische Angst wird so, man denke etwa an den Zusam­
menhang von optischen Medien, wissenschaftlicher Wissensproduktion und Wahn­
sinn in Hoffmanns Der Sandmann (1816) – zu einer symbolischen Begleiterscheinung
der „Selbstaufklärung der Aufklärung“, die über das, was sie im Aufklärungsprozess
über den Menschen herausfindet, wenig erfreut ist: „Der Roman der Schauerroman­
tik dreht sich um die Frage, unter welchen Bedingungen das Ich überhaupt ‚ich‘ sagen
kann; gleichzeitig artikuliert er die irrationale Seite des Menschen […], die aus dem
Bild des rational denkenden, modernen Menschen ausgeschlossen wird“ (Murnane/
Cusack 2010, 16).
Die Literatur nimmt im Prozess des Reflexivwerdens der Aufklärung insofern
eine Doppelstellung ein, als sie einerseits als Seismograph des kulturellen Unbeha­
gens fungiert und eine entsprechende Phänomenologie der menschlichen Innenwelt
betreibt, andererseits selbst aber aufgrund ihrer Fähigkeit zur Stimulanz der Einbil­
dungskraft als Teil des Problems angesehen wird. Goethe etwa blickt mit großem
Misstrauen auf die unkontrollierbaren Gefühlswallungen, die vom „heißen Imaginä­
ren der Romantik“ (von Graevenitz 2014, 31) erzeugt werden können. Die Einbildungs­
kraft, so schreibt er 1805, „lauert als der mächtigste Feind, sie hat von Natur aus einen
unwiderstehlichen Trieb zum Absurden, der selbst in gebildeten Menschen mächtig
wirkt und gegen alle Kultur die angestammte Rohheit fratzenliebender Wilden mitten
in der anständigsten Welt wieder zum Vorschein bringt“ (zit. n. Iser 1991, 295). Noch
deutlicher kommt die Angst vor der affektiven Macht der literarischen Imagination in
einem Brief von Ludwig Tieck an Wilhelm Heinrich Wackenroder zum Ausdruck, in
dem er von seinen Erlebnissen bei der Lektüre des Romans Der Genius (1790/94) von
Carl Grosse berichtet:

Nach zwei Uhr war das Buch geendigt. Eine kleine Pause, worinn ich nichts sprechen, nicht
denken konnte, alle Scenen wiederholten sich vor meinen Augen […] als plötzlich  – noch
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   25

schaudre ich wenn ich daran denke, noch kann ich die Möglichkeit nicht begreifen  – […]
schwarze Nacht und grause Todesstille, gräßliche Felsen ernst und furchtbar [aufstiegen…]. Ich
war auf einige Sekunden hin wirklich wahnsinnig (Wackenroder 1991, 48 f.).

Die Einbildungskraft, die in Form einer radikalisierten Aktualisierung antiker Vor­


behalte nun auch Goethe und Tieck sehr beunruhigt (vgl. Sloterdijk 2001), ist genau
besehen nur der hochverdichtete Sonderfall eines intensivierten Misstrauens gegen­
über der affektiven Disposition des Menschen, wie sie – angeleitet von einer zuneh­
menden Psychologisierung des Menschenbildes im Kontext von Erfahrungsseelen­
kunde und Empfindsamkeit  – vor allem dann die Schwarze Romantik thematisch
beschäftigt. In Die Elixiere des Teufels (1814/15) von E. T. A. Hoffmann, aber auch zuvor
schon in Ernst August Friedrich Klingemanns Nachtwachen (1804) oder in Ludwig
Tiecks Der Runenberg (1804) erscheint der Mensch ganz und gar von seinen Trieben
bestimmt, bekommt das rationalistische Selbstbild des aufgeklärten Bürgertums, das
in der gelingenden Affektkontrolle das Ergänzungsstück zur Familie als einer produk­
tiven Keimzelle der modernen Gesellschaft sah, massive Risse.
Ihre Themen findet die Schwarze Romantik, deren düstere Perspektive auf die
Gesellschaftsfähigkeit des Einzelnen bis weit ins 20.  Jahrhundert ausstrahlen und
noch bei Autoren wie Franz Kafka und Ernst Jünger literarische Spuren hinterlassen
wird (vgl. Bohrer 2004), in den Extremzuständen von Gewalt, entgrenzter Sexualität
und Wahnsinn. Die Literatur der Angst um 1800 erwächst aus „dem Grauen vor dem
Unbekannten“ (Schlegel 1989, 528), sie erzählt von einem tief verunsicherten Ich, das
sich in Zeiten sozialer und normativer Umbrüche in der Welt symbolisch neu einrich­
ten muss und dabei immer wieder an Grenzen der Versteh- und Steuerbarkeit stößt.
Wiederkehrendes Kernelement der Schwarzen Romantik ist daher eine Bestands­
aufnahme der „Beschädigung der menschlichen Substanz im Zivilisationsprozess“
(Klein 2004, 116) und die Darstellung eines umfassenden subjektiven Selbstverlusts,
der – ganz im Sinne einer Dialektik der Aufklärung – aus dem Prozess der Unterord­
nung der inneren und äußeren Natur und der gewaltsamen Einpassung des Denkens
und Verhaltens in gesellschaftliche Muster herrührt. Gerade die Sexualität der
romantischen Protagonisten und Protagonistinnen wird dabei zu einer Kraft eigenen
Rechts, die sich nur unter größten Schwierigkeiten dauerhaft sublimieren lässt. Die in
vielen Texten transportierte Diskreditierung der Vernunft als Medium der Vergesell­
schaftung wird textintern übersetzt in ein Figurenpersonal, dessen Handeln einzig
von seiner aggressiven Triebstruktur motiviert scheint. Die wahnsinnigen, triebhaften
Protagonisten E. T. A. Hoffmanns, allen voran die Doppelgänger-Figuration Medar­
dus/Victorin in den Elixieren des Teufels, fungieren als Personifikationen eines funda­
mental Anderen, das die soziale Ordnung nicht von außen her in Frage stellt, sondern
aus deren verdrängtem Inneren hervorbricht und nur sichtbar gemacht werden kann,
weil es sogleich als pathologischer Sonderfall der bürgerlichen Normalität markiert
wird. Genau davon berichtet die schwarze Romantik (vgl. Vieregge 2008): dass das
selbstkontrollierte, selbstdurchsichtige und selbstgewisse Ich der Aufklärung immer
26   Lars Koch

nur eine Fiktion war, die sich stabilisieren konnte, weil es Verfahren des Ausschlus­
ses und der Verdrängung gab. Hoffmann, der durch die Lektüre von Gotthilf Hein­
rich Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften (1808) und der
späteren Symbolik des Traums (1814) für die Wirkmacht der Sexualität sensibilisiert
worden war, weist genau aus dieser Spannung heraus „dem Trieb und der Ratio neue
Plätze im Arrangement des psychischen Haushalts zu“ (Alt 2010, 129). Dass die Sexua­
lität sich allen Praktiken der Kontrolle und der Einhegung widersetzt und nur um den
Preis des Wahnsinns dem Herrschaftsanspruch des Bürgertums unterworfen werden
kann, übersetzt Hoffmann in die Figurenkonstellation von gutem Held und bösem
Doppelgänger, wobei sehr deutlich wird, das der Letztere schlussendlich am längeren
Hebel sitzt. Von den Elixieren des Teufels ausgehend, durchzieht die Metapher des
Doppelgängers die Kultur der Moderne. In einer genealogischen Linie, die von Hoff­
mann und Edgar Allen Poe über Robert Louis Stevenson und Oscar Wild bis zu David
Lynch reicht, berichtet sie davon, dass die gewaltsame Unterdrückung und Kanalisie­
rung des Triebschicksals zu neuer Gewalt führt, und davon, dass affektkontrollierte
Vernunft und triebhafter Wahnsinn die beiden Seiten einer in der Moderne immer
schon prekären Subjektivität darstellen.

2.2 Im 19. Jahrhundert: Metaphysische Obdachlosigkeit und die


Angst des einsamen Subjekts

Der Umgang mit Sinnverlust und erodierender Orientierungssicherheit bleibt eines


der insistierenden Grundprobleme der modernen Literatur und Philosophie. Letzt­
lich sind die großen Utopien und politischen Religionen des 19. und 20. Jahrhunderts
Versuche einer Antwort auf die von Jean Paul noch als Schreckensvision ausgemalte
Erkenntnis, dass der Mensch nach dem Tode Gottes in Einsamkeit die Welt als Kon­
glomerat des „starre[n], stumme[n] Nichts“, der „kalte[n], ewige[n] Notwendigkeit“
und des „wahnsinnige[n] Zufall[s]“ wird ertragen müssen (Paul 1928, 251). Die Lite­
ratur indes interessiert sich weniger für den Erfolg solch neuer Großerzählungen als
vielmehr für die Verlustbilanzen und bleibenden Schäden, welche die Dialektik der
Aufklärung im modernen Subjekt verursacht. Einer der wichtigsten Chronisten des
sozialen und moralischen Ordnungsverlusts ist Heinrich von Kleist, der in seinen
Erzählungen und Dramen immer wieder Figuren vorführt, denen der Boden unter den
Füßen immer weniger als fester Halt erscheint und die nunmehr von einem fundamen­
talen Schwindel erfasst durch ihre jeweiligen Erzählwelten taumeln. Kleists Texte, die
man als literarische Krisenexperimente verstehen kann, in denen die Effekte der epi­
stemologischen, normativen und politischen Zentrifugalkräfte der Moderne auf den
Einzelnen, aber auch auf soziale Gruppen untersucht werden, erzählen – allen voran
Das Erdbeben in Chili (1807) – von der Unmöglichkeit dauerhafter Selbstkontrolle und
der Angst, die eintritt, wenn die bislang „verlässlichen Wahrnehmungs-, Denk- und
Verhaltensweisen“ (Janz 2005, 221 f.) nicht mehr funktionieren und Gesellschafts­
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   27

strukturen sich in Anomie auflösen. Als „Indikator gravierender Irritationen im kultu­


rellen Gefüge“ (Janz 2005, 219) wird der Schwindel so zu einer „anthropologische[n]
Schlüsselerfahrung“ (Janz 2005, 217) der Jahrzehnte nach 1800, die die Konsolidie­
rung der individuellen Selbstgewissheit als ein nicht lösbares Problem aufgibt. Weit
mehr als eine bloße Reaktion auf die zeitweilige Störung des Gleichgewichtssinns
fungiert der von Angstzuständen begleitete Schwindel als Verweis auf eine grundsätz­
liche Instabilität der sozialen und moralischen Raumkonstitution, welche die Denk-
und Darstellbarkeit der Ordnung der Dinge und der Welt insgesamt prekär werden
lässt (vgl. Hamacher 1985). Wenn Kleist in seinem Essay Über das Marionettentheater
(1810) davon berichtet, „welche Unordnung, in der natürlichen Grazie des Menschen,
das Bewusstsein anrichtet“ (Kleist 1961, 343), dann markiert er damit ein die Moderne
kennzeichnendes Auseinandertreten von Körper und Geist. Die ebenso gewaltsame
wie angstgestimmte Zurücknahme dieser Desintegration in der Unterwerfung der
Physis unter Vernunft und Willen wird immer wieder – man denke an Alfred Döblins
Geschichte Die Tänzerin und der Leib (1910; vgl. Koch 2015) oder an Darreen Aronows­
kys Kinofilm Black Swan (2010) – zum Gegenstand der Kunst werden.
Ein ähnlicher Blick auf das insuffiziente Subjekt und das Chaos der Welt, wie
ihn Kleists Poetik des Extremen eröffnet, artikuliert sich auch im schmalen Oeuvre
von Georg Büchner, der wiederkehrend der Frage nachgeht, wie es um die individu­
ellen und kollektiven Sinnhaushalte der Moderne steht. Seine Figuren, allen voran
Lenz und Woyzeck, sind gekennzeichnet von einer schwarzen Anthropologie, die
sich in „unbenennbare[r] Angst“ (Büchner 2009b, 139) Bahn bricht. Das Erzählfrag­
ment Lenz (1835) etwa stellt sich in eine Tradition des Bildungsromans, wie er von
Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) konfiguriert wurde, präsentiert aber in
dem wandernden Lenz einen Protagonisten, der auf allen Ebenen daran scheitert,
die Sinneseindrücke und Gedanken seiner Reise durch die erhabenen Landschaf­
ten der Vogesen zu einem harmonischen Weltbild zu formen. Während die deutsche
Klassik noch mit großer Hoffnung auf die Fähigkeit des Einzelnen blickte, sich die
Welt im Medium von Bildung und Kultur zu einem Ganzen zusammenzufügen, erken­
nen die modernistischen Literaturen danach, angefangen bei schwarzer Romantik
und Vormärz, überall nur noch blinde Triebhaftigkeit, Gewalt und – ins Ästhetische
gewendet – Bruchstückhaftigkeit. Für den aus der inneren Balance geratenen Lenz
gilt dementsprechend, was Büchner seinem Woyzeck paradigmatisch aussprechen
lässt: „jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“
(Büchner 2009c, 217). Büchners Texte werden so zu Dokumenten eines entsicherten,
einsamen Bewusstseins, das, in einen entleerten Himmel gestellt, auf sich selbst
zurückfällt (vgl. Vietta 1992, 133 ff.): „es wurde ihm entsetzlich einsam, er war allein,
ganz allein, er wollte mit sich sprechen, aber er konnte, er wagte kaum zu atmen, das
Biegen seines Fußes tönte wie Donner unter ihm, er mußte sich niedersetzen; es fraß
ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren, er riß sich auf und flog
den Abhang hinunter“ (Büchner 2009b, 138). Der durch eine einsame Berglandschaft
irrende Lenz fungiert als personelle Metapher einer ängstlichen Subjektivität, der der
28   Lars Koch

eigene Körper mit seinen Begierden fremd geworden ist, die im christlichen Heilsver­
sprechen nur noch eine tote, nicht mehr aufzuweckende Kinderleiche zu erblicken
vermeint (vgl. ebd., 150 f.) und Entlastung vom Leerlauf der Reflexion allenfalls in der
Dringlichkeit physischer Schmerzerfahrungen finden kann (vgl. Oberlin 2014). Die
Hoffnung auf Geschichte als Fortschritt, die säkularreligiöse Erbin der Aufklärung,
hat sich bei Büchner in ihr Gegenteil verkehrt. Erschüttert von den Gewaltexzessen
des jakobinischen Terrors während der Französischen Revolution und ernüchtert von
der politischen Stagnation der deutschen Kleinstaaterei, markieren Geschichtspessi­
mismus, Fatalismus und Todesangst ein untergründiges Gravitationszentrum seiner
Poetik, die der Titelheld seines Revolutionsdramas Dantons Tod kurz vor seiner Hin­
richtung zu einer fatalistischen Klage über die Sinnlosigkeit der Welt anleitet:

Wir sind alle lebendig begraben und wie Könige in drei- oder vierfachen Särgen beigesetzt, unter
dem Himmel, in unseren Häusern, in unseren Röcken und Hemden. – Wir kratzen fünfzig Jahre
lang am Sargdeckel. Ja, wer an Vernichtung glauben könnte! Dem wäre geholfen. – Da ist keine
Hoffnung im Tod; er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeltere, organisierte Fäulnis,
das ist der ganze Unterschied (Büchner 2009a, 119).

Der Zusammenhang von Angst und Sinnverlust, der alle Protagonisten Büchners
mehr oder weniger explizit betrifft, macht ihn zu einem paradigmatischen Autor der
Moderne. Die für die Jahrhundertwende 1900 zentrale Problematik einer „Krise des
Ichs“ ist hier ebenso angelegt wie die Frage nach dem Verhältnis von Religion, Politik,
Weltanschauung und zur Entgrenzung tendierender Gewalt. Eine Entwicklungslinie
der modernen Literatur führt von Büchner über Autoren der klassischen Moderne wie
etwa Hermann Broch, Elias Canetti oder – anders gewendet – Hans Henny Jahnn zu
den Autoren des Transzendenzverlusts in den 1960er und 1970er Jahren, wie etwa
Thomas Bernhard, dem die Geschichte nach zwei Weltkriegen in seinem Romande­
büt Frost (1963) wie ein einziges „Schlachthaus“, ein „Totenmaskenball“ erscheint
(Bernhard 1971, 255, 248). Bernhards Figuren, allen voran der Protagonist Konrad in
dem Roman Das Kalkwerk (1970), sind in unumkehrbarer Weise solipsistisch defor­
miert. Eingeschlossen in eine Ummantelung der Angst, ist ihnen die eigene Psyche
ein labyrinthisches Gefängnis, ein „Verfinsterungsort“ (Bernhard 1970, 59), den es im
fortgesetzten Selbstgespräch auszuhalten gilt.
Während die Angstamplitude in der Romantik und im Vormärz deutlich aus­
schlägt, stellt die Angst im nachfolgenden literarischen Realismus eher eine wohltem­
perierte Hintergrundatmosphäre dar. Gleichwohl ist sie auch hier deutlich spürbar,
etwa dort, wo der allgemeine Fortschrittsoptimismus im Hinblick auf die mit Indust­
rialisierung und sozialer Dynamisierung verbundene Traditionsentwertung in Frage
gestellt wird. Mit Blick auf Theodor Fontane etwa kann man davon sprechen, dass
sich die Literatur erneut als Seismograph der „herrschenden, hochgradig instabilen
kulturellen Atmosphäre“ (Gay 2002, 185) erweist. Von den Angstwelten Kleists und
Büchners unterscheidet den Realismus gleichwohl eine Tendenz zur Prosaisierung
der Angst. So geht es nunmehr weniger um die Darstellung eines letztlich spekula­
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   29

tiven, postmetaphysischen horror vacui, der zur Verdeutlichung auf Dämonen, Irre
und andere Figurationen der Devianz zurückgreift, als vielmehr um konkretere Beun­
ruhigungsanlässe einer Welt im sozialen und ökonomischen Wandel, die in Romanen
wie Unwiederbringlich (1891) oder Der Stechlin (1897) zum Gegenstand des Erzählens
werden. Auch der Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht dabei
noch unter dem Eindruck der politischen Umbrüche der letzten Jahrhundertwende
und den großen Modernisierungskrisen von 1789, 1815 und 1848, die in aller Deut­
lichkeit vor Augen geführt hatten, dass die Stabilität der sozialen und politischen
Ordnung immer nur eine vorläufige ist. „Das Trauma der Revolution“, so Gerhard
von Graevenitz zusammenfassend, „blieb lebendig in der Furcht vor dem Wandel,
vor der Destabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Aufbruch in die
Moderne von Anfang an begleitet hatten“ (von Graevenitz 2014, 36). Neben einer kon­
servativen Sehnsucht nach politischer Beständigkeit geht es dem Realismus vor allem
auch darum, die Veränderung sozialer Hierarchien und Geschlechterkonstellationen
zu reflektieren, paradigmatisch etwa in Szene gesetzt in der titelgebenden Hauptfi­
gur des Romans Effi Briest (1894/95), die als Ehebrecherin zum Opfer überkomme­
ner Moralvorstellungen und verunsicherter Rollenmuster wird. Ihrer ‚Krankheit
zum Tode‘, die am Ende des Romans steht, geht ein Leben zwischen zwei Männern
voraus, das geprägt ist von Schuld, Furcht vor Entdeckung und wiederholten Angst-
Attacken, die symptomatologisch die Gewalt anzeigen, die Effi durch die von ihrem
Ehemann, Baron von Innstetten, verkörperte männlich dominierte Sexual- und Ehe­
moral angetan wird:

Nein. Und das ist es, warum ich vor mir selbst erschrecke. Was da lastet, das ist etwas ganz
anderes – Angst, Todesangst und die ewige Furcht: es kommt doch am Ende noch an den Tag.
Und dann außer der Angst… Scham. Ich schäme mich. […] Ja, Angst quält mich und dazu Scham
über mein Lügenspiel (Fontane 2008, 271).

Fontane bringt insofern eine neue Dimension der Angst ins Spiel, als sein Text deut­
lich werden lässt, dass Angst wesentlich über Blickkonstellationen, Momente der
Exponiertheit und die (manchmal auch bloß vorgestellte) Anwesenheit Anderer ver­
mittelt ist. Der kontrollierende, angstinduzierende Blick der Gesellschaft wird gerade
in der zeitlichen und mentalitätsgeschichtlichen Nähe des Fin de siècle, als tradierte
soziale Verhaltensmodelle ihre Selbstverständlichkeit verlieren und die Grenzen des
Sag-, Zeig- und Machbaren im Zuge gesellschaftlicher Liberalisierungstendenzen zur
Disposition stehen, zum Thema der Literatur. Dies hat nicht unwesentlich mit den
sukzessiven Entdeckungen der Instanz des Über-Ichs in Psychologie und Psychoana­
lyse zu tun, wie die Erzählungen Arthur Schnitzlers – allen voran sein Leutnant Gustl
(1900) – vorführen, die sich im neuartigen Narrationsmodus des Bewusstseinsstroms
mit Fragen der Ehre bzw. des Ehrverlusts auseinandersetzen (vgl. Guntersdorfer
2013, 105–119). Die Gewalt der öffentlichen Meinung wird aber auch aus autonomen
Gründen der literarischen Intertextualität zu einem Dauerbrenner der Jahrhundert­
30   Lars Koch

wende, wie etwa Stefan Zweigs Novelle Angst (1910) zeigt, die erneut die Gewissens­
angst einer ehebrechenden Frau aus bürgerlichem Hause zur Darstellung bringt (vgl.
Lickhardt 2013) und dabei nicht ohne intertextuelle Bezüge zu Fontane, aber auch zu
Gustave Flauberts Madame Bovary (1857) auskommt.
Dass man sich die historische Genese der Literatur der Angst nicht als Abfolge
radikal voneinander unterschiedener Epochen, sondern sehr viel eher als einen flie­
ßenden Transformationsprozess wiederkehrender Themen und Reflexionsfiguren
unter der Maßgabe sich verändernder ästhetischer Modellierungen vorzustellen hat,
wird deutlich, wenn man nach der Fortführung eines der zentralen Angstanlässe der
schwarzen Romantik unter realistischen Vorzeichen fragt, nämlich nach dem Tod.
Auch hier, in der Imagination des individuellen Schicksals an seinem Ende, hält eine
die nachromantische Periode kennzeichnende Sachlichkeit Einzug. Das Sterben-
Müssen wird mit der Erosion christlicher Rettungsnarrative zu einem fundamenta­
len Skandalon der Kultur. Während romantische Autoren wie etwa Novalis ihr Heil
in der Stilisierung des Todes zum romantisierenden Lebensprinzip suchten (vgl.
Sepasgosarian 1991), blicken Texte wie Nikolaus Lenaus Ballade Der traurige Mönch
(1836) oder Theodor Storms Spukgeschichtensammlung Am Kamin (1862) im Medium
eines phantastisch gestalteten „Bewusstseinsrealismus“ (Freud 1989, 108) melancho­
lisch-nüchtern auf das von allen Jenseitshoffnungen entkleidete Lebensende. In der
zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts geht es, angeleitet von den Todesphilosophien
Kierkegaards und Schopenhauers, nunmehr weniger darum, den Tod sinnhaft in
einer romantischen Unendlichkeitsemphase aufzuheben, als ihn und die mit ihm ver­
bundene Angst vielmehr als unüberwindliche Herausforderung jeder Lebensführung
und aller Sinnstiftung anzuerkennen und in der Krise des endlichen Bewusstseins zu
lokalisieren. Parallel zu einem neuerlichen Ästhetisierungsschub in der Dekadenz-
Literatur, die an die Romantik anknüpfend den Tod vor allem als Ausweg aus der
bürgerlichen Langeweile zu literarisieren trachtet, kündigt sich in Schnitzlers Novelle
Sterben (1894) eine programmatische Existenzialisierung des Todes an, die nach 1900
in Texten wie Thomas Manns Tod in Venedig (1911) oder Herrmann Brochs Der Tod des
Vergil (1945) literarisch fortgeführt werden wird. Schnitzler, der als Arzt wohl einen
konkreteren Zugang zum Lebensende hatte, beobachtet mit „klinischer Präzision“
(Pfeiffer 1997, 150) das „Prüffeld des Todes“ (Allerdissen 1985, 161) und registriert
dabei vor allem eines: die Angst seines sterbenden Protagonisten Felix, angesichts
des Siechtums die Kontrolle über sich selbst zu verlieren und mit dem körperlichen
Ende auch das Ende seiner individuellen Welt akzeptieren zu müssen. Der Tod wird
so zu einer Evaluationsinstanz des Lebens – ein Gedanke, der spätestens seit Martin
Heideggers Sein und Zeit (1927) zum Kernbestand aller Sterblichkeitsphilosophie
gehört (vgl. Gehring 2010), der aber auch in der Literatur, etwa in Fritz Zorns Mars
(1977), Christa Wolfs Kassandra (1983) oder Martin Walsers Angstblüte (2006), immer
wieder aufgeworfen worden ist.
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   31

2.3 Um 1900 – Angst und die ‚Tragödie der Kultur‘

Als Georg Simmel 1911 seinen Essay Der Begriff und die Tragödie der Kultur schrieb,
bewegte er sich auf der Höhe der zeitgenössischen Kulturkritik. Im Zentrum dieser
eigentlich schon in Schillers Briefe[n] über die ästhetische Erziehung des Menschen
(1793) angelegten und von Friedrich Nietzsche im Bild des „tollen Menschen“ (Nietz­
sche 1988, 481) verdichteten Klage über die ethischen Kosten der Moderne stand die
Einsicht, dass der Mensch in seiner Eigenschaft, ein kulturschaffendes Wesen zu sein,
einem nicht aufzuhaltenden Entfremdungsprozess ausgesetzt sei, der seiner inneren
und äußeren Natur, seiner Freiheit und seiner Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung
Gewalt antue (zum kulturkritischen Diskurszusammenhang vgl. Bollenbeck 2007).
Simmel und andere Autoren, etwa Ludwig Klages oder Oswald Spengler, sahen die
Gesellschaft trotz aller technischen Fortschritte von einem normativen Verfallspro­
zess betroffen, der ihre Mitglieder in Leid und Angst stürze.
Eine ästhetische Übersetzung fand diese, in einer Semantik der Angst artiku­
lierte, technikkritische Zeitdiagnose zuvorderst in der expressionistischen Großstadt­
literatur. Gerahmt von der politischen Stagnation des wilhelminischen Kaiserreichs
und untergründig provoziert von den großen epistemologischen Erschütterungen,
die sich neben Nietzsche auch mit den Namen Marx, Freud und Bohr verbanden,
entwerfen die Expressionisten die Stadt als einen von den neuen Medien Fotografie
und Film organisierten Wahrnehmungs- und Verkehrsraum, der das Individuum mit
seiner beschränkten Perzeptionsfähigkeit überfordert und damit in Verunsicherung
versetzt (vgl. hierzu grundlegend Anz 2010). Vorbereitet von Rainer Maria Rilkes Die
Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) ist es vor allem die expressionistische
Lyrik, die die mit der kulturellen Entfremdung verbundene Angst in vielfältigen Vari­
ationen ausbuchstabiert. Während Rilke, der das vagierende kulturelle Unbehagen
während seines ersten Paris-Aufenthalts literarisch aufgriff, vor allem an einer aus
der großstädtischen Topografie abgeleiteten Senso-Motorik der unheilvollen Stim­
mung und der Angst interessiert war, fokussieren die expressionistischen Autoren
das mit dem Ballungsraum der Stadt verbundene Folgeproblem einer moralischen
und sozialen „Entbettung“ (Giddens 1996, 81). Dabei wird die Stadt zu Sujet und
Chiffre einer körperlichen und weltanschaulichen Entwurzelungserfahrung, die das
lyrische Ich in Gedichten wie Der Gott der Stadt (1910) von Georg Heym, Ernst Blass’
In einer fremden Stadt (1912) oder Alfred Lichtensteins Die Stadt (1913) als Angstge­
schehen erlebt. Die Selbstverständlichkeit subjektiver Autonomie zerbricht dabei an
den Kristallisationskernen der modernen Technik – dem Verkehr und den Medien –,
deren Darstellung zwischen der Kenntlichmachung von zufälliger Zusammenhang­
losigkeit und der Evokation einer dämonischen Eigenmacht changiert und das Ich in
Verwirrung, Sprachlosigkeit und Panik stürzt (vgl. Anz 1982).
Von den Dingen und Körpern weiß der Expressionismus in Form parataktischer
Sprachmuster zu berichten, dass diese dem Subjekt vor allem im Modus der Aufsäs­
sigkeit begegnen. Damit einher geht ein Gefühl des Wirklichkeitsverlusts, der sich
32   Lars Koch

poetisch als Auflösung eines Wahrnehmungsganzen und Aneinanderreihung bruch­


stückhafter Einzelheiten darstellt. Der inhaltlichen Markierung eines umfassenden
Ordnungsverlusts entspricht dabei auf formaler Ebene eine Destruktion der gram­
matischen Ordnung, so dass das expressionistische Sprachkunstwerk insgesamt als
programmatischer Bruch mit allen von der Klassik angestellten literarischen Bemü­
hungen um Schönheit und Harmonie aufgefasst werden kann.
Die großen Städte, allen voran Berlin, erscheinen in der expressionistischen Lite­
ratur somit als Zonen der Gefahr, in denen der Einzelne physisch und psychisch ange­
griffen zu werden droht. In diesem Sinne schreibt etwa Ernst Blass 1919, als hätte er
Robert Wienes paradigmatischen Angstfilm Das Cabinet des Dr. Caligarie (1920) schon
gesehen, über die Unwirklich- und Unwirtlichkeit der Stadt:

Das Leben draußen ist unheimlich geworden, die anderen Dinge haben sich uns […] entfremdet,
ja verfeindet, sie drohen uns zu überfallen, und was wir für unsere Wohnung und liebe Gewohn­
heiten halten, könnte jeden Augenblick die höhnische Miene annehmen. Nur unser Spiegelbild
lebt in diesen Räumen, unser Selbst ist uns entwendet worden, aber es kann zu jeder Zeit als
Doppelgänger auftreten und uns verfolgen und narren (Blass 1919, 63).

Neben den materiellen Räumen der Entfremdung, den Nachtbars, den zugigen Bahn­
höfen und den unmenschlich wirkenden Straßenzügen sind es vor allem Orte eines
inneren Ausnahmezustands, die besichtigt und als motivische Amalgamierung der
Themen Großstadt und Triebschicksal ausgestellt werden. Deutlich wird die Insta­
bilität der symbolischen Ordnung vor allem an der literarischen Konjunktur sexuell
insuffizienter Männer, die mit der Körperkontrolle auch die Definitionshoheit über
ihre Positionierung im gesellschaftlichen Feld zu verlieren drohen. Die frühen Texte
Alfred Döblins, sein Romanerstling Jagende Rosse (1900) etwa oder auch die Geschich­
tensammlung Die Ermordung einer Butterblume (1913), gehen entschieden mit der
von den wilhelminischen Vätern verordneten Triebökonomie ins Gericht und führen
dabei vor, dass aufgrund der Stauung von Libido-Energien unweigerlich der Angst-
Lust-Pegel steigt. Die „gottverfluchte Sehnsucht“ (Döblin 1987, 67), von der Döblins
Protagonist in den Jagenden Rossen spricht, der an Gott gerichtete Angstschrei des
Frauenhassers in den Memoiren eines Blasierten (1913) oder auch die Paranoia, die
Herrn Fischer in Die Ermordung einer Butterblume in Reaktion auf die Unterdrückung
seines homosexuellen Begehrens ergreift, stellen Döblins Erzählungen in eine Reihe
mit den literarischen Portraits der aus Trieb- und Körperdisziplinierung erwachsen­
den Psychopathologien bei Georg Heym, Alfred Kubin oder Franz Jung. Heyms Der
Irre (1913) etwa schildert eine Dezentrierung des männlichen, sexuell und intellek­
tuell gehemmten Protagonisten, der, von seinem Verfolgungswahn bedrängt, als
unheimlicher Doppelgänger des affektkontrollierten bürgerlichen Subjekts in einen
Amoklauf der Gewalt und schlussendlich in den Selbstmord getrieben wird.
Das Verhältnis von Moderne, Autodestruktion und Angst ist nicht zuletzt von
Franz Kafka auf meisterliche Weise literarisch gestaltet worden. Auffällig ist dabei,
dass Angst als Affekt oder Emotion anders als in seinen autobiografischen Schriften
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   33

auf der Oberflächenebene seiner fiktionalen Texte kaum präsent ist. Kafka schafft es
gleichwohl, eine Atmosphäre der Verunsicherung und der Opazität als grundlegende
Stimmungslage seiner Textwelten zu kreieren, so dass Hermann Brochs Einschät­
zung, das Kafkas Texte „von aller Angst und aller Untergründigkeit beschwert“ (Broch
1975, 113) seien, nur zugestimmt werden kann. Kafkas Poetologie der Angst hinterlässt
bei den Leser_innen einen umso vehementeren Eindruck, als seine ästhetische Stra­
tegie darauf abzielt, entlastende Rationalisierungen  – eine Adressierung der Angst
als Ereignis in der Gefühlswelt einzelner Figuren, die narrative Depotenzierung von
diffuser Angst zu einem konkreten Furchtobjekt – zu verunmöglichen. Gerade weil er
vagabundierende Bedrohungswahrnehmungen mit punktuellen Verdichtungen des
Ekelhaften und des Grotesken verbindet und in labyrinthische Narrationen einbaut,
die kausallogische Handlungsmacht negieren und Verantwortlichkeit in einen ano­
nymen Machtzusammenhang überführen, bewegt sich Kafka bewusstseinsgeschicht­
lich, medientechnisch und biopolitisch – quasi in Echtzeit – auf der Höhe des retro­
spektiv entwickelten Moderne-Diskurses (vgl. Jansen 2012; Vogl 2010; Alt 2009). Das
Moment des Kafkaesken, das seine drei Romane – allen voran Das Schloss (1922; vgl.
Kleinwort/Vogl 2013) – ebenso organisiert wie seine Erzählungen – man denke etwa
an die alptraumartige Sammlung Ein Landarzt (1918) –, stellt sich dergestalt als Meta­
pher für die Einsicht dar, dass gesellschaftlich konventionalisierte Erkenntniswei­
sen an der Aufschlüsselung einer immer komplexeren und zugleich hermetischeren
Erscheinungsweise der Welt wie des Ichs scheitern müssen. Kafkas Texte sind inso­
fern unheimlich, als sich in ihnen die Wahrnehmung der epistemologisch-metaphysi­
scher Bodenlosigkeit der institutionalisierten Welt in eine Ästhetik des leeren Grunds
übersetzt, die Walter Benjamin mit dem Hinweise auf die „wolkige Stelle“ (Benjamin
1980, 427) in den Parabeln Kafkas zu übersetzen versucht hat. Kafkas Texte führen
vor, dass es zwischen Zeichen und Bedeutung einen „unüberbrückbare[n] Hiatus“
gibt, „den keine metaphysische Evidenz mehr“ (Alt 2008, 373) schließen kann.
Medium einer solchen Dekonstruktion aller Letztbegründungsanstrengungen sind
dementsprechend weniger sprachliche Botschaften, die etwa vom Erzähler oder dem
Figurenpersonal gesendet oder empfangen würden, als vielmehr eine willkürliche
Körperlichkeit und Gestik der Angst (vgl. Käuser 2013; am eigentlichen Punkt der
Angst bei Kafka vorbei geht hingegen Duhamel 2012), die Semantik durch Präsenz
ersetzt und damit – man denke etwa an Kafkas Erzählung Die Sorge des Hausvaters
(1920) – auf die Kontingenz aller Sinnbehauptungen aufmerksam macht.

2.4 Die 1920er Jahre – Deutungsnotstände und Sinnabbrüche

Die Kultur der Weimarer Republik steht vor der großen Aufgabe, dem millionenfa­
chen Sterben auf den Schlachtfeldern Europas und dem Zusammenbruch eines poli­
tischen und ökonomischen Systems einen Sinn abzutrotzen oder doch zumindest
die Erfahrungen  – und Erfahrungsentwertungen  – der zurückliegenden Jahre zur
34   Lars Koch

Darstellung zu bringen. Wie Helmut Lethen herausgearbeitet hat, ist Angst als Fun­
damentalemotion der 1920er Jahr dabei zunächst auf der Diskursoberfläche wenig
präsent. Ganz im Gegenteil reüssieren in Literatur und Philosophie „Verhaltensleh­
ren der Kälte“ (vgl. Lethen 1994), die Affektkontrolle propagieren und das Subjekt
davor warnen, seine Kreatürlichkeit und seinen emotionalen Haushalt offen zu
artikulieren. Gegen Angst und Scham setzt man auf Coolness, ein affektives Setting
also, das den psychologischen Anforderungen der industrialisierten Kriegsführung
ebenso wie den Überreizungen des hektischen Großstadtlebens in adäquater Weise
zu entsprechen scheint. Unterbrochen wird die neue Sachlichkeit des Kultur erst in
den letzten Jahren vor 1930, als es, angeführt von Erich Maria Remarques Im Westen
nichts Neues, zu einem Ende der von Walter Benjamin beschriebenen Stummheit der
Weltkriegsteilnehmer und einer Wiederkehr ihrer Erinnerung im Medium der Litera­
tur kommt. Diese Konjunktur des erzählten Krieges ist nunmehr auch eine Konjunk­
tur der Angst. In Romanen und Erinnerungsbüchern wie Edlef Köppens Heeresbe-
richt (1931), Arnolt Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa (1930) oder Werner
Beumelburgs Die Gruppe Bosemüller (1930) streiten Autoren von links und rechts um
die erinnerungspolitische Deutungshoheit über die Jahre 1914–1918 (vgl. Koch 2014a).
Angst ist dabei auf zwei verschiedenen Ebenen präsent. Zum einen als panikartige
Todesangst während der Schlacht, als Erschütterung angesichts des Todes der Kame­
raden und der offenkundigen Sinnlosigkeit des Abschlachtens. Zum anderen in ihrer
programmatischen Abwesenheit, die sie doch als Leerstelle präsent hält. Paradigma­
tisch für eine solche Form von heroischer Panzerung, die mit aller Macht das Ausbre­
chen der Angst verhindern will, sind die Erzähler in den Kriegsbüchern Ernst Jüngers,
die den Krieg als Lebenssteigerung „in Stahlgewittern“ zu genießen vorgeben, dann
aber, wenn das soldatische Subjekt im Sperrfeuer der Schrapnelle und Affekte den
Boden unter den Füßen zu verlieren droht, narrative Zuflucht bei der eingeführten
Bildlichkeit der schwarzen Romantik suchen (vgl. Koch 2005, 229 ff.). Um eine Über­
flutung des Erzählers mit unheroischer Angst zu verhindern, ruft Jünger immer dort,
wo dieser in seinen Grundfesten erschüttert wird, Bilder und Narrative der Romantik
auf, die ästhetische Distanz verschaffen und die Autorfiktion des kaltblütigen Helden
stabil halten. Den existenziellen Krisen, denen auch Jünger als Offizier an der West­
front ausgesetzt war, kommt man erst auf die Spur, wenn man seine Literarisierung
des Krieges nach Maßgaben einer „Ästhetik des Schreckens“ (vgl. Bohrer 1978) nicht
von vorneherein als protofaschistischen Bellizismus kategorialisiert, sondern nach
der Funktion der Verwendung tradierter Metaphern und schwarzromantischer Topoi
fragt. Unweigerlich kommt man dann bei einer genauen Lektüre zu der Einsicht, dass
Jüngers Erzähler immer dann auf intertextuelle Modellierungen zurückgreifen, wenn
sie Gefahr laufen, sich im Grauen der Materialschlachten zu verlieren. Der Einsatz von
Erzählmustern, die Aspekte einer eigeführten Heldenepik mit Momenten postroman­
tischer Décadence verbinden, wird in Texten wie Das Wäldchen 125 (1925) oder Feuer
und Blut (1925) zu einer Selbstversicherungsstrategie, die in der Konstruktion eines in
der kulturellen Tradition verankerten soldatischen Ichs eine punktuelle Emanzipa­
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   35

tion aus der Herrschaft der Kriegstechnik und der von ihr entfesselten, industriellen
Gewalt ermöglicht.
Kennzeichnend für die kulturellen Bearbeitungsprozesse des Krieges ist, dass
dieser oftmals auch in solchen literarischen Texten anwesend ist, die zunächst einmal
von ganz anderen Dingen zu erzählen scheinen. Die deutschsprachigen Hauptwerke
der 1920 Jahre, Thomas Manns Zauberberg (1924), Alfred Döblins Berlin Alexander-
platz (1929), Hermann Brochs Schlafwandler-Trilogie (1930/1932) und Robert Musils
Mann ohne Eigenschaften (1930/2009), sind alle auf je eigene Weise durch das Ereignis
des Ersten Weltkriegs affiziert. In zweien davon, bei Döblin und Broch, geht es dabei
zugleich darum, Angst als die zentrale emotionale Signatur der Moderne herauszu­
arbeiten, die den Krieg in einen Zusammenhang mit einem umfassenden ‚Zerfall der
Werte‘ stellt und ihn als grell ausgeleuchtetes Symptom einer umfassenden Krise der
Moderne zu verstehen gibt. Franz Bieberkopf, der Protagonist in Berlin Alexander-
platz, ist in seiner Subjektivität durch und durch von Angst bestimmt: Die Großstadt
Berlin erlebt er, nachdem er aus einer – nicht zufällig vier Jahre andauernden – Haft
entlassen wird, als einen gefährlichen Lebensraum, der ihn in seinem gewalttäti­
gen Durcheinander aus Menschenmassen, Technik und Verkehr sukzessive in den
Wahnsinn treibt. Der dritte Roman von Brochs Schlafwandlern mit der Überschrift
„Hugenau oder die Sachlichkeit“ ist eine breit angelegte Analyse der psychischen
und normativen Verwüstungen der Moderne, die die Menschen in eine von Angst und
Panik bestimmte Masse verwandelt haben, die für die Verführungen eines dämoni­
schen Anführers anfällig ist (vgl. Koch 2014b). Broch, der in den späten 1930er Jahren
seine Arbeit an der Massenwahntheorie (1960) beginnt, entwirft schon in den Schlaf-
wandlern ein emotionssoziologisches Erklärungsmodell für die Attraktivität des auf­
kommenden Nationalsozialismus, der – so Brochs Quintessenz – erfolgreich ist, weil
er die vagabundierende Angst kanalisiert und auf ein konkretes Furchtobjekt – die
Juden – lenkt (vgl. Kittsteiner 2006).
Genau für jene Ambivalenz der Angst, in der eine (vermeintliche) Gefahr auf
diffuse Weise gefühlt, aber nicht konkretisiert werden kann, interessiert sich auch
Franz Kafka in seinem Text Der Bau (1928), der noch einmal aus anderer Warte vor
Augen führt, wie eng die Weltkriegserfahrung und die Genese und Konfiguration
des modernen Bewusstseins verbunden sind. Der Text, der einen wichtigen Beitrag
zu einer politischen Zoologie der Gefahr liefert, erzählt von einem nicht genauer
beschriebenen Tier, das tagein tagaus damit beschäftigt ist, seinen Bau zu perfek­
tionieren und präventiv gegen mögliche Eindringlinge abzusichern. Der Alltag des
Tiers wird empfindlich gestört, als eines Tages ein nicht genauer zu lokalisierendes
Geräusch zu vernehmen ist. Gerade die fehlende Spezifik des Geräuschs wird zu
einer Quelle der Angst als einem rekursiven Ansteckungsgeschehen, öffnet es doch in
seiner Unbestimmbarkeit eine Tür zur potenziell zügellosen Imagination drohender
Gefahren. Neben einem deutlichen zeitlichen Index – der Text adressiert die Wahr­
nehmungsstruktur des Grabenkriegs, in dem das Ohr ein zentrales Organ der Gefah­
renaufklärung war (vgl. Kittler 1990) – weist Kafkas Bau damit zugleich einen refle­
36   Lars Koch

xiven Zugriff auf die Herausforderung einer modernen Epistemologie der Feindschaft
unter Bedingungen, in denen aufgrund Taktik und Tarnung die Ortung und Ordnung
des Feindes immer schwerer fällt. Die Nicht-Ortbarkeit der Geräuschquelle, die Unfä­
higkeit der Aufklärung der Urheberschaft, motiviert eine Protoparanoia des Ver­
dachts, die den Krieg im 20. und 21. Jahrhundert durchweg begleitet. Präzise nimmt
Kafka damit eine Einsicht vorweg, die angesichts der Fetischisierung von Sicherheit
in den letzten Jahren und verstärkt nach 9/11 von der Soziologie, Literatur- und Medi­
enwissenschaft diskutiert wurde: Dass Angst ein sich selbst verstärkendes Phänomen
ist und Prävention als Strategie der Eindämmung von Angst zur Entgrenzung tendiert
(vgl. Balke 2003; Horn 2014, 297 ff.).

2.5 Nach dem Zweiten Weltkrieg: Holocaust und Zerstörung

Während in der 12jährigen Terrorherrschaft der Nationalsozialisten die Publikati­


onsmöglichkeiten für eine Literatur der Angst kaum vorhanden waren, wird Angst
nach 1945, bezogen auf die Repräsentierbarkeit von Holocaust und Verfolgung, aber
auch im Kontext der Erinnerung an die Gewalt des Krieges erneut zu einer wesent­
lichen Ausdrucks- und Reflexionsform einer gegenwartskritischen Literatur. War es
vor 1945 vor allem Ernst Jüngers Roman Auf der Marmorklippe (1939), der es schaffte,
die Gewaltherrschaft der Nazis an der Zensur vorbei in das allegorische Angstbild
einer Schinderhütte im Wald zu packen, so mehren sich nach 1945 die literarischen
Stimmen, die gegen den dominanten Chor der ‚Stunde Null‘ und die stumme Mehr­
heit des Neuanfangs eine kritische Bilanz des ‚Dritten Reiches‘ ziehen und dabei
immer wieder auf Angst als Grundgefühl der Jahre 1933–1945 zu sprechen kommen.
Kursorisch lassen sich innerhalb dieser literarischen ‚Inventur‘ drei Angstfelder
unterscheiden: Zum einen eine deutsche Selbstbespiegelungsliteratur, die nach den
Verwüstungen fragt, die der Krieg an Front und Heimatfront hinterlassen hat. Zum
zweiten die Literatur einer erneuten Zwischenkriegszeit, die unter dem Eindruck der
Atombomben-Abwürfe von Hiroshima und Nagasaki die Zukunft als einen kommen­
den Krieg imaginiert. Und zum dritten eine ethische Literatur des Holocausts und der
Verfolgung, die die Opfer zu Wort kommen und die Untaten der Deutschen in ihrer
ganzen Brutalität ins Bild treten lässt.
In der ersten Zeit dominiert die literarische Rekonstruktion des Krieges und die
am Realismus der US-amerikanischen short story orientierte, nüchterne Beschreibung
der Orientierungslosigkeit in der von Niederlage, Zusammenbruch und ideologischem
Absturz traumatisierten Nachkriegsgesellschaft. In Texten wie Wolfgang Borchardts
Draußen vor der Tür (1947), in Alfred Döblins Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein
Ende (1956) oder auch den frühen Erzählungen und Romanen Heinrich Bölls – Der
Engel schwieg (1945/1992) etwa  – wird nicht ohne ein oftmals das Programm der
nüchternen Bestandsaufnahme durchkreuzendes Pathos ein geopolitisch zerrisse­
nes Deutschland dargestellt, das materiell zerstört und moralisch diskreditiert noch
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   37

ganz unter dem Schock des Zusammenbruchs steht. Auch wenn die deutschsprachige
Nachkriegsliteratur immer wieder Gefahr läuft, in Kitsch abzugleiten – etwa dort, wo
sie davon erzählt, dass das soldatische Kinderherz „von Angst erdrosselt worden“ (Böll
1992, 37) ist –, dominiert insgesamt ein antiideologischer Gestus. In bewusster Abset­
zung von gesamtgesellschaftlichen Ideologien und Programmen geht es in Theodor
Plieviers Stalingrad (1945) oder Alfred Anderschs Kirschen der Freiheit (1952) um den
einzelnen Soldaten in seiner zwischen Angst und Freiheit oszillierenden Bedingtheit,
die Fragen nach der Schuld mit Hinweisen auf den Zwangs- und Gewaltcharakter des
NS-Systems abzumildern versucht. Indem dabei eine Unterscheidung zwischen dem
Einzelnen und der Gewalt des totalitären Staats eingeführt wird, arbeiten diese Texte
mit an der Etablierung eines generationenspezifischen Entschuldungsnarrativs, das
die Privatisierung der Kriegserfahrung gegen Fragen nach der politischen Dimension
des eigenen soldatischen Tuns in Stellung bringt und so auch die Mehrheit der Deut­
schen zu Opfern der NS-Gewaltherrschaft erklärt (vgl. Ächtler 2013).
Parallel zur sogenannten ‚Trümmerliteratur‘ entstehen zudem zahlreiche Texte,
die den Krieg selbst zum Thema machen und dabei herausarbeiten, dass auch hier
angesichts von Barbarei, Gewalt und Tod Angst die dominierende Form der emotiven
Wirklichkeitswahrnehmung war. In einer die gängigen Varianten des Opfernarrativs
konterkarierenden Weise gelingt es Alfred Andersch, die verschiedenen Themenkom­
plexe und Ressourcen der Nachkriegsangst in seiner Gespenstergeschichte Die Letzten
vom ‚schwarzen Mann‘ (1951) zu einer eindringlichen Atmosphäre des Unheimlichen
zu verdichten. Die mit Anleihen an E. T. A. Hoffmann arbeitende Geschichte erzählt
von zwei untoten Soldaten, einem Deutschen und einem Amerikaner, die nach Been­
digung der Kampfhandlungen auf der Suche nach Erlösung durch die Wälder der Eifel
irren, überall aber nur auf Fremdenangst und Ablehnung stoßen.
Fernab solch allegorischer Zugriffe, die erst in einem übertragenen Sinne die
Kriegsgewalt als ein Verdrängungsgeschehen markieren, das in der Nachkriegsreali­
tät in Form unheimlicher Doppelgänger-Figurationen wiederkehrt und den Konsens
des Beschweigens stört, geht der anfangs von der Literaturkritik gefeierte Autor Gert
Ledig in seinem Ostfront-Roman Stalinorgel (1955) das Phänomen der Kriegsgewalt
in formaler Radikalität und Direktheit auf eine fast schon phänomenologische Weise
an. Dabei wird Angst aus der Froschperspektive des Fronteinsatzes zu einer von allen
Soldaten geteilten Erfahrung, die politische und militärische Unterschiede aufhebt:
„Eine Lokomotive aus Menschenleibern, angetrieben von Angst und Panik“, haben
sie alle „dieselbe Angst“, sie haben die gleichen Wünsche: „ein bißchen Nahrung,
etwas Wärme, nicht mehr leiden zu müssen“. „Nur andere Uniformen und andere
Gesichtszüge. Sonst waren sie genau so verdreckt, genau so überanstrengt, genau so
gehorsam“ (Ledig 2000, 44, 20, 45, 110).
Bei Ledig, der neben Nossack einer der wenigen Autoren war, der auch das
Thema des Bombenkriegs gegen deutsche Städte aufgriff, erfährt man in einer an
die Literatur des Ersten Weltkriegs anknüpfenden Intensität von den kinetischen
und affektiven Energien, von denen das soldatische Bewusstsein überflutet wird,
38   Lars Koch

und von der Angst, dass der nächste Angriff der letzte gewesen sein könnte. An das
Schreibverfahren einer viszeralen Eindringlichkeit anknüpfend, schafft es sein Luft­
kriegsroman Vergeltung (1956), die physischen und psychischen Verheerungen des
Bombenterrors in einer Anschaulichkeit zu evozieren, die den Roman zu einem der
wichtigsten deutschsprachigen Bücher über den Zweiten Weltkrieg macht. Der Clou
des Romans besteht darin, die Frage nach Moral und Vergeltung nicht als abstrakte
philosophische Debatte zu behandeln, sondern als einen rekursiven psychologi­
schen Verrechnungsmodus, der in seiner alltäglichen Evidenz der Gewalterfahrung
einfache Dichotomien von gut und böse, legitimer und illegitimer Gewalt unterläuft.
Für die deutsche Nachkriegsgesellschaft war die Mischung aus nicht einzufangen­
der Angst, grotesker Gewalt und Fragment-Ästhetik gleichwohl zu viel: Zunächst als
wichtige Stimme der jungen Literatur gerühmt, wurde Ledig aufgrund der obszönen
Gewalt seiner Schilderung des Bombardements einer deutschen Stadt nunmehr
scharf angegriffen. Nachdem sein dritter Roman, Faustrecht (1957), bei Publikum
und Kritik auf Missachtung stieß, verschwand er für viele Jahre aus dem Kanon der
Kriegsliteratur, bevor er im Kontext der Debatte der 1990er Jahre um „Luftkrieg und
Literatur“ (Sebald 1999) wiederentdeckt und rehabilitiert wurde. Diese Debatte, die
W. G. Sebald mit einer Poetik-Vorlesung angestoßen hatte, macht die Länge der Halb­
wertszeit deutlich, die das Trauma des Bombenkriegs kennzeichnet. In einem der
jüngsten Beiträge zur Luftkriegsliteratur, dem Roman Kaltenburg, hat sich 2008 der
Dresdner Schriftsteller Marcel Beyer des Themas angenommen, allerdings verbunden
mit einer Verschiebung in Richtung anthropologischer Urformen der Angst, die die
Stadtgeschichte Dresdens mit Reflexionen über das Zusammenspiel von ontogeneti­
schen und geschichtlichen Angstanlässen und der grundsätzlichen Angstdisposition
von Menschen und Tieren verbindet.
Eine weitere Justierung der Perspektive, die die deutsche Literatur nach 1945 im
Hinblick auf eine europa- oder gar weltpolitische Dimension hin öffnet und dabei
das Verhältnis von Gewalt, Technik und Angst weiter im Blick behält, reflektiert die
menschliche Fähigkeit zur Selbstauslöschung, die die Atombombenabwürfe über
Japan als Denkmöglichkeit auf die Tagesordnung gesetzt haben. Die Angst vor einem
atomaren Overkill bleibt, von der „apokalyptisch aufgeladenen Nullpunktsituation
von 1945“ (Scherpe 1989, 289) ausgehend, nunmehr eines der zentralen Schreckens­
szenarien der westdeutschen Literatur. In der Lyrik – bei Günter Eich oder Ingeborg
Bachmann etwa, die in ihrem Gedicht Alle Tage (1952) feststellt, „der Krieg wird
nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt“ (Bachmann 1993, 46)  – wird der Atomtod
im Medium einer abstrakteren Metaphorologie der Angst ebenso zum Thema wie im
Roman (vgl. Eggert 1991). Von Arno Schmidts Roman-Trilogie Nobodaddy’s Kinder
(1951–1953) über Friedrich Dürrenmatts Der Winterkrieg in Tibet (1981) und Gudrun
Pausewangs Die Kinder von Schewenborn oder… sieht so unsere Zukunft aus? (1983)
bis hin zu Günter Grass’ Postapokalypse-Roman Die Rättin (1986) versucht die Litera­
tur auf unterschiedlichen ästhetischen Komplexitätsniveaus die von Günther Anders
philosophisch beklagte „Apokalypse-Blindheit“ zu beenden, indem sie im Sinne
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   39

einer „Abschreckungskunst“ (Horstmann 2012) die Anschaulichkeitspotenziale der


poetischen Imagination gegen das Unvorstellbare eines Endes der Menschheit in Stel­
lung bringt. Alleine im Jahr 1983, in dem die atomare Aufrüstung Westdeutschlands
einen entscheidenden Schub erfährt, erscheinen eine ganze Reihe von Texten, die vor
einem drohenden Untergang der Menschheit warnen, u. a. Der Bunker von Gerhard
Zwerenz, ENDE – Tagebuch aus dem Dritten Weltkrieg von Anton Andreas Guhas und
Das Komitee von Alex Gfeller. Angst spielt dabei nicht alleine als Reaktion auf die dro­
hende Gefahr eines Atomkriegs eine Rolle, sondern darüber hinaus auch in einem das
anthropologische Selbstverständnis angreifenden Form, insofern die Kernwaffen-
Arsenale zum Symbol einer technologischen Bedingtheit der menschlichen Existenz
werden, die sich dem Einfluss des Einzelnen entzieht und einer eigenen, militärisch-
technologischen Logik zu folgen scheint.
Während sich die deutsche Literatur mit dem zurückliegenden und dem drohen­
den nächsten Krieg intensiv auseinandersetzt, bleiben die Vernichtung der Juden und
die anderen Gräueltaten der Nazis zunächst im toten Winkel der deutschen Öffentlich­
keit. Erste ästhetische Bearbeitungen des NS-Terrors wie Albrecht Haushofers Moabi-
ter Sonette (1945), Nelly Sachs’ Lyrikband In den Wohnungen des Todes (1947) oder
Paul Celans später zum paradigmatischen Holocaustgedicht erklärtes Poem Todes-
fuge (1948) finden zunächst genauso wenig Beachtung wie autobiografische Erin­
nerungstexte, wie sie u. a. von Luise Rinser schon früh nach dem Ende des ‚Dritten
Reiches‘ veröffentlicht wurden. Gemeinsam haben diese literarischen Emanationen
der Opferperspektive, dass sie die Herrschaft der Nationalsozialisten und das von
ihnen ins Werk gesetzte Verfolgungsregime als Verlust eines primären Wirklichkeits­
vertrauens und als eine fortgesetzte Dominanz eines ubiquitären Bedrohungsgefühls
beschreiben. Hervorgehoben wird diese Entgrenzung der Angst in prägnanter Weise
in Ilse Aichingers Die größere Hoffnung (1948). Aichinger, die sich in ihren Essays
strikt gegen eine Programmatik des Nullpunkts gewendet und der Kahlschlagliteratur
eine Verdrängung des geschichtlichen Leids vorgeworfen hatte, berichtet in diesem
autobiografischen Roman aus der Perspektive der 15jährigen Ellen vom Schicksal
‚nichtarischer‘ Kinder und der Angst, die sie als Überlebende über das Ende des NS
hinaus bis in die Gegenwart hinein begleitet. Isolation, Demütigung und Angst vor
der Abholung durch die Geheimpolizei sind die Grundbedingungen eines Lebens, das
keinen Entwicklungshorizont besitzt und in dem Angstlosigkeit zum Kernelement
einer Idee der Erlösung wird – wenn diese auch, wie die Nebenfigur Kurt bei einer
Geburtstagsfeier mit Blick auf ein offenes Fenster vorschlägt, mit dem Tod erkauft
wird: „Wenn wir jetzt springen würden, einer nach dem andern! Einen Augenblick
lang und wir hätten keine Angst mehr. Keine Angst. Stellt euch das vor!“ (Aichinger
2012, 111; vgl. Ivanovic 2012).
Eine breitere literarische Debatte der Schrecken der Judenverfolgung setzt in
Deutschland erst mit Peter Weiss’ Theaterstück Die Ermittlung (1965) ein. Weiss, der
die Verhandlungen der Frankfurter Auschwitzprozesse in einer Mischung aus dar­
stellendem Spiel, szenischer Lesung und Oratorium in einen theatralen Raum über­
40   Lars Koch

führte, gab den Anstoß zu einer ausgreifenden Erinnerung an die Shoah, die sich
vor allem in Form autobiografischer Zeugenschaft der Totalisierung der Angst stellt,
gleichzeitig aber immer wieder an die Grenzen der Repräsentierbarkeit eines Grauens
stößt, das sich gerade durch Sprachlosigkeit und die Entwertung der gesamten sym­
bolischen Ordnung auszeichnet (vgl. Bayer/Freiburg 2009).
Dass die Textgattung der Holocaust-Literatur eine historische Dimension der
Ausgrenzungserfahrung aufweist, die hinter das Jahr 1933 zurück verweist, belegt
u. a. Heinrich Heines Roman-Fragment Der Rabbi von Bacharach, das, schon 1840
Zeiterfahrungen mit historischem Material überblendend, aus der Perspektive eines
Rabbis und seiner Frau davon erzählt, wie sehr die jüdische Lebenspraxis im deut­
schen Sprachraum bereits im Mittelalter aufgrund von Ritualmordverleumdungen
und den dadurch ausgelösten, wiederkehrenden Pogromen von „Todesängsten“ und
„grausenhafte[n] Angstgefühl[en] bestimmt war“ (Heine 1968, 621). Der Mechanis­
mus der Kanalisierung von Angst und Unzufriedenheit in die Identifizierung eines
Objekts der Andersartigkeit, das dann ausgegrenzt und angefeindet werden konnte,
ist also keine genuine Erfindung des NS, sondern war auch im 19. Jahrhundert schon
ein gängiger Modus der Affektpolitik. Die Texte, die während und nach der Nazi-Dik­
tatur entstanden sind, radikalisieren die von Heine fokussierte Politik der Angst zu
einem omnipräsenten Bedrohungsgefühl, das sich aus der konkreten Gefahr für Leib
und Leben speist, gleichzeitig aber auch eine fundamentale Entwurzelung der Juden
innerhalb der deutschen Gesellschaft anzeigt. Für die Deutschen jüdischen Glaubens
brechen nach 1933 alle kulturellen Verankerungen innerhalb der deutschen Tradition
weg. Genau diesen Verlust einer symbolischen Heimat, die mit einem kollektiv geteil­
ten Erfahrungsraum auch einen gemeinsamen Erwartungshorizont kollabieren lässt,
hatte der aus dem Exil zurückgekehrte Germanist Richard Alewyn im Blick, als er
1949 angesichts eines wieder aufblühenden Goethe-Kults feststellte: „Zwischen uns
und Weimar liegt Buchenwald“ (Alewyn 1984, 335).
Artikuliert sich in Alewyns Sentenz die retrospektive Abgeklärtheit eines Über­
lebenden, verzeichnen andere Texte quasi in Echtzeit den Prozess des Auseinander­
fallens einer gemeinsam geteilten Welt. Angesichts der NS-Gewalt notiert z. B. Victor
Klemperer in seinem Tagebuch immer wieder in einer Semantik des Abgrunds die
eigene Todesangst und die Gefahr, angesichts der alltäglichen Erniedrigungen und
Ausgrenzungen in den „Bruchstücke[n] des Wahnsinns zu versinken“ (Klemperer
1999, 37). Jurek Beckers Jakob der Lügner (1969) beschreibt das von Angst und Not
beherrschte Leben im Ghetto, und Ruth Klüger berichtet in ihren Erinnerungen von
ihrer Angst, die sie in ihrer Zeit im KZ permanent begleitete: „Die Baracke im Ausch­
witzer Frauenlager, wo ich als Zwölfjährige die letzten paar Nächte vor dem Abtrans­
port nach Groß-Rosen mit vier Frauen auf der untersten Pritsche verbrachte, voller
Angst vor dem Tod, bis der Schlaf die Angst ablöste, die dann am Morgen wiederkam.
Dann das Aufatmen, als es doch nur zur Zwangsarbeit, nicht zur Vergasung ging“
(Klüger 2010, 233 f.).
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   41

Noch einmal in einer anderen Perspektive erscheint das Verhältnis von NS-Terror,
Angst und Überlegen bei Jean Améry und Imre Kértesz. Beide berichten davon, dass
die Angst so groß werden kann, dass sie unweigerlich zum Absterben aller Emotionen
führt. In Amérys Essays Die Tortur (1965) und Weiter leben – aber wie? (1982) zeigt
sich, dass das Erlebnis der Folter, dem der Autor in SS-Gefangenschaft ausgesetzt
war, ihr eigentliches Ende überdauert und alle Zukunft zu einem Nachspiel dieser
immensen Gewalterfahrung macht, aus dem letztlich nur die Selbsttötung befreit
(vgl. Diner 2012). In eine ähnliche gedankliche Richtung zielt auch Kertesz’ Roman
eines Schicksallosen (1975), der einen Protagonisten präsentiert, dessen totale see­
lische Zerstörung in der Gefangenschaft gerade dadurch deutlich wird, dass er von
seinen schrecklichen Erlebnissen in einem merkwürdig angstfreien, immunen Duktus
erzählt, der deutlich werden lässt, dass er eigentlich nur als emotional Untoter das
Jahr 1945 überlebt hat (vgl. Koppenfels 2007, 334 f.).

2.6 1970er und 1980er Jahre: Konjunkturen der Warn-Literatur


und Gender-Codierung des Gefahrensinns

Die 1970er und 1980er Jahre sind eine Dekade der politischen und ökonomischen
Krise, in der sich eine zunehmende Sensibilisierung für die Endlichkeit natürlicher
Ressourcen und die Grenzen des Wachstums in Verbindung mit einem wachsenden
Misstrauen gegenüber der Steuerungsfähigkeit und Zuverlässigkeit der Technik lite­
rarisch in einer „Virulenz und Konjunktur der Katastrophe“ (Lilienthal 1991, 194)
Bahn bricht. Ein zentrales Thema ist dabei der drohende Dritte Weltkrieg, der in
einem postapokalyptischen Bilderensemble aus Staub, Dreck und Ruinen als eine
wahrscheinliche Zukunft vorgestellt wird. Neben der Warnung vor den schrecklichen
Konsequenzen einer nicht beherrschbaren Kriegslogik gerät zudem auch die zivile
Großtechnik in den Fokus der Katastrophenimagination. Vorbereitet von den Unfäl­
len von Harrisburg (1979) und Bhopal (1984) ist es vor allem die Reaktorexplosion
von Tschernobyl, die 1986 zum Zeichen für die „Alltags- und Arbeitskatastrophe
unserer Industriezivilisation“ (ebd., 203) wird. Die Literatur reagiert auf das sich stei­
gernde Gefahrenbewusstsein, das einen massiven Zweifel an den Risikokalkülen der
Ingenieure und Politiker impliziert, mit der Entwicklung des neuen Subgenres der
„kupierten Apokalypse“, d. h. einer Vorstellung des Weltendes, das von seiner heils­
geschichtlichen Aufhebung abgekoppelt wird (vgl. Vondung 1987).
Dystopische Texte wie Matthias Horx’ Es geht voran (1982), Ulla Berkéwicz’ Michel,
sag ich (1984) und Herbert W. Frankes Endzeit (1985) vermischen schon bekannte
Angst-Szenarien des Atomkriegs mit der Warnung von neuen ökologischen Risiken
und setzen – paradigmatisch zu beobachten in Christa Wolfs Post-Tschernobyl-Erzäh­
lung Störfall. Nachrichten eines Tages (1987)  – gegen die männlich kodierte Gewalt
einer „perfektionierte[n] Naturbeherrschung“ (Beck 1986, 300) eine weiblich kodierte
Angst, die sich angesichts der fatalen Konsequenzen der totalen Technifizierung aus­
42   Lars Koch

breitet. Insgesamt ist für die Literatur der 1970er und vor allem der 1980er Jahre die
Tendenz kennzeichnend, Zukunft immer weniger als offenen Möglichkeitsraum zu
denken und stattdessen ein ‚noch nicht, aber bald‘ des Endes der Menschheit zu ima­
ginieren. Diese „Risikogesellschaft ist eine katastrophale Gesellschaft. In ihr droht
der Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden“ (Beck 1986, 31).
Dass sich in der Bebilderung einer möglichen Endzeit Angst mit Lust vermischt,
dass vielleicht sogar die Warn-Literatur nicht alleine als Emanation eines kritischen
Gegendiskurses, sondern auch als eine parasitäre Spektakel-Literatur aufzufassen
wäre, hatte schon früh Hans Magnus Enzensberger erkannt, der in seinem Text Zwei
Randbemerkungen zum Weltuntergang (1978) die deutsche Untergangsfixierung kriti­
siert und eine neue Form von Realpoesie als Alternative zum Alarmismus des öffent­
lichen Diskurses ins Spiel gebracht hatte. „Ich wünsche Dir, wie mir selber und uns
allen“, so Enzensberger, „ein bisschen mehr Klarheit über die eigene Konfusion, ein
bisschen weniger Angst vor der eigenen Angst, ein bisschen mehr Aufmerksamkeit,
Respekt und Bescheidenheit vor dem Unbekannten. Dann werden wir weiter sehen“
(Enzensberger 1978, 8).
In der Literatur der 1980er Jahre entwickelt sich eine stabile Wahrnehmungsscha­
blone, die die gewaltsame Ausbeutung der Natur mit der ideologischen Selbstkons­
truktion von dominanter Männlichkeit verbindet. Schon in Christa Wolfs Erzählung
über den Reaktorunfall in der Ukraine wird deutlich, dass der notwendige, einzig
zu einer Umkehr der Verhältnisse fähige Gefahrensinn einem weiblich konnotierten
Denkhorizont entspringt. Angst – mit Hans Jonas könnte man auch von einer „Heu­
ristik der Furcht“ (Jonas 1979, 62 ff.) sprechen – wird zur feministischen Lebensgrund­
lage und Voraussetzung einer kritischen Ermächtigung der Frau, die aus der Kom­
plizenschaft von „Entfremdungs- und Entwirklichungsprozessen“ (Wolf 2000, 189)
aus- und in Form literarischer Interventionen in das männliche Freund-Feind-Den­
ken einbrechen will. Christa Wolfs Texte der 1980er Jahre, die im Hintergrund immer
auch von den Auflösungstendenzen der DDR erzählen, verstehen sich in diesem sehr
konkreten Sinne als Gegenwartsliteratur, auch wenn sie das Setting und die Analyse
der Angst wie in Kassandra (1983) in eine archaische Zeit des Mythos verlegen. Diese
Erzählung, die eine fortgesetzte Reflexion über die Produktivität und Dysfunktiona­
lität von Angst darstellt, steht metathematisch in einem engen Dialog mit Marlen
Haushofers zivilisationskritischem Roman Die Wand (1963), der eine Protagonistin
in einer postkatastrophischen Natur isoliert, in der sie – Robinson Crusoe gleich –,
die Welt und ihre mit männlicher Autorität verbundenen Ordnungen des Sag- und
Sichtbaren mit anderen Augen sehen lernt. Haushofer und Wolf ist gemein, dass sie
die „reale Gefahr einer Weltkatastrophe“ (Wolf 1989, 10) mit der Konstatierung eines
Geschlechterkampfs verbinden, dessen Ausgang eng mit dem Schicksal der Mensch­
heit verknüpft wird. Ähnlich wie Elfriede Jelinek (u. a. Die Klavierspielerin, 1983), Eva
Demski (Scheintod, 1984) oder Monika Maron (Die Überläuferin, 1986) geht es beiden
Autorinnen darum, das Geschlechterverhältnis als ein repressives Machtverhältnis zu
deuten, das einerseits auf einer Oberflächenebene in der Relationierung von Mut und
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   43

Männlichkeit bzw. Angst und Weiblichkeit gesellschaftlich wirksame Rollenmuster


prägt, tiefenstrukturell aber selbst als geschlechtsspezifisch kodiertes Angst-Gesche­
hen durchschaubar gemacht werden kann. Die ‚großen‘ politischen wie die ‚kleinen‘
körperbezogenen Ängste erscheinen einer feministisch motivierten Literatur als
Ergebnis des Gewalthandelns männlicher Akteure, die ihre eigene Autorität um den
Preis der Konstruktion der Frau als angstmachendem Anderen erkaufen. Der Kampf
um die Befreiung des weiblichen Subjekts, der immer auch die Utopie einer anderen
Gesellschaft zumindest implizit ins Spiel bringt, greift Kontexte und Denkfiguren der
existenzialistischen Angstphilosophie auf und transformiert sie  – in aller Klarheit
nachzuvollziehen in Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt (1966–1971; vgl. Kanz
1999) – in ein heuristisches Instrumentarium zur Analyse moderner Herrschafts- und
Gewaltverhältnisse (vgl. Kanz 2013).
Eng verknüpft mit dem literarischen Projekt, Angst als Korrelat des Geschlech­
terverhältnisses zu durchdenken, ist der Versuch, genau diese Relation auch als
Moment der Erscheinungsweise totalitärer Machtsysteme kenntlich zu machen.
Neben Bezügen, die immer wieder den Faschismus als grelle Ausleuchtung der ins­
trumentellen Ausbeutung von Mensch und Natur markieren, sind es vor allem die
kommunistischen Machtsysteme Osteuropas, die literarisch als Ökologien der Angst
thematisiert werden. Gut nachzuvollziehen ist der Versuch, eine Affektpolitik der Dik­
tatur zu skizzieren, etwa in Christa Wolfs Erzählung Was bleibt (1989), die 1990 zum
Anlass eines heftigen geschichts- und kulturpolitischen Streits über die politische
Situierung der Autorin wie um den Status und das Erbe der ostdeutschen Nachkriegs­
literatur wurde. Auch wenn man die Selbstpositionierung der Erzählerin als Opfer
des Machtapparats vor dem Hintergrund der zweifellos vorhandenen Privilegierung
Christa Wolfs nicht unbedingt teilen mag, leistet der Text jenseits einer solchen, mög­
licherweise zu eindimensionalen autobiografischen Lesart, eine komplexe Analyse
der Deformationen von Subjektivität im Medium der Angst. Wichtig für das Verständ­
nis der Effekte von Veralltäglichung und Kontrolle unter einem totalitären Regime
ist Was bleibt, weil der Text zeigt, wie der Angst stiftende Blick der Überwacher in
der Imagination der Überwachten sukzessive zu einer nicht kontrollierbaren Form
der Selbst- und Umweltbeobachtung führt, die das Gefühl einer Exponiertheit radikal
entgrenzt. Die gesamte Umwelt verwandelt sich für die Ich-Erzählerin in Was bleibt in
ein Panoptikum im Sinne Michel Foucaults: Eben weil nicht genau zu unterscheiden
ist, welcher Blick von einem Mitarbeiter der Staatssicherheit herrührt und welcher
Blick bloßer Zufall ist, entsteht eine paranoide Hemmung, die alle Lebensvollzüge
entsichert und die Vorstellung von Privatheit auflöst.
In eine ähnliche Richtung wie Christa Wolf geht auch Herta Müller. Ihre Texte, die
zum Großteil in Rumänien unter der Diktatur Nicolae Ceausescus entstanden sind,
greifen den Zusammenhang von Unterdrückung und Angst als Sprachproblem auf. In
Texten wie Herztier (1994) oder Der König verneigt sich und tötet (2003) sucht Müller
nach einer Poetik des Widerstands, die deutlich macht, dass die totalitäre Omniprä­
senz des Verdachts die politisch Verfolgten auf allen Ebenen – der des Körpers, der
44   Lars Koch

des Denkens und eben auch der der Sprache – tangiert (vgl. Steffens 2011). Die Angst
strukturiert den Wahrnehmungs- und Sprachapparat. Müller präsentiert eine klaust­
rophobische Subjektivität, die innere und äußere Räume der Einengung und der per­
manenten Kontrollvermutung durchquert:

Aber der Suff schützt den Schädel vor dem Unerlaubten, und der Fraß schützt den Mund. Wenn
auch die Zunge nur noch lallen kann, verläßt die Gewöhnung der Angst die Stimme nicht. Sie
waren in der Angst zu Hause. Die Fabrik, die Bogeda, Läden und Wohnviertel, die Bahnhofshal­
len und Zugfahrten mit Weizen-, Sonnenblumen- und Maisfeldern paßten auf. Die Straßenbah­
nen, Krankenhäuser, Friedhöfe. Die Wände und Decken und der offene Himmel (Müller 2009,
39).

Effektiv ist die Politik der Angst, weil die Handlanger des Geheimdienstes Sekuritate
immer unkalkulierbar bleiben. Wer wann warum von den männlichen Schergen zum
Verhör abgeholt wird, ist in einem hohen Maße kontingent: „Alle wollten fliehen […].
Nur der Diktator und seine Wächter wollten nicht fliehen. Man sah es ihren Augen,
Händen, Lippen an: Sie werden heute noch und morgen wieder Friedhöfe machen
mit Hunden und Kugeln. […] Man spürt den Diktator und seine Wächter über allen
Geheimnissen der Fluchtpläne stehen, man spürt sie lauern und Angst austeilen“
(Müller 2009, 55 f.). Diese Unkalkulierbarkeit und Intransparenz der staatlichen
Gewalt, die eine kollektive Dimension der Angst mit einer individuell-existenzialis­
tischen verknüpft, ist ein wesentliches Kennzeichen, das so unterschiedliche Dikta­
turen wie die in Chile, Argentinien, Portugal, Rumänien oder der DDR miteinander
verbindet.

2.7 Nach der Jahrtausendwende: 9/11, Krieg, Prävention

Die Angst-Signaturen der Gegenwartsliteratur in Echtzeit zu verzeichnen, stellt ein


schwieriges Unterfangen dar. Das thematische Spektrum der Gegenwartsliteratur ist
zu fluide, als dass ein stabiler Kanon relevanter Angsttexte zeitnah genau zu bestim­
men wäre. Gleichwohl lassen sich einige Emotionscluster fokussieren: Eine zentrale
Stellung innerhalb der zeitanalytischen Literatur der Gegenwart nehmen sicherlich
die Anschläge vom September 2011 und der ihnen nachfolgende War on Terror ein.
Zwar war auch schon der Terror der Roten Armee Fraktion in der Literatur der 1980er
Jahre bei Autoren wie Friedrich Christian Delius (Mogadischu Fensterplatz, 1987) oder
Rainald Goetz (Kontrolliert, 1988) als eine den kollektiven Gefühlshaushalt adres­
sierende, Paranoia induzierende Kommunikationsstrategie reflektiert worden. Im
Gegensatz zur Literatur der Gegenwart hatte der Terror der 1970er und 1980er Jahre
aber keineswegs die Literatur in gleichem Maße auch als ein Darstellungsproblem
herausgefordert, wie dies im Kontext des Massenmords von Al Qaida und der Gegen­
maßnahmen der USA in Afghanistan und Irak nunmehr der Fall ist. Literarische
Annäherungen wie Katrin Rögglas really ground zero (2001), Katharina Hackers Die
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   45

Habenichtse (2006) oder Thomas Lehrs September (2010) stehen vor der Aufgabe, mit
literarischen Mitteln mit der Eindringlichkeit und Ubiquität der TV-Bilder der einstür­
zenden Türme von New York konkurrieren zu müssen. Sie tun dies, indem sie in Form
von „traumatischen Texturen“ (Reinhäckel 2012) den Gefühls- und auch Angstdyna­
miken nachspüren, die unter der Prämisse „Es wird nichts mehr so sein, wie es war“
(Hacker 2006, 287) von der Medienberichterstattung nach dem September 2001 aus­
gelöst wurden und bis in die jüngste Vergangenheit nachwirken. Deutlich wird dabei,
dass in der globalisierten Mediengesellschaft das individuelle Erleben politischer
Großkonflikte immer schon von medialen Skripten präfiguriert ist und Terror vor
allem als Ergebnis der medialen Durchmischung von Narrativen, Bildern und Erwar­
tungen den Alltag bedrohlich überschattet. Das analytische Potenzial, die aus der
relativen Distanz Deutschlands zum heißen Krieg gegen den Terror erwächst, machen
sich Friedrich von Borries’ 1WTC (2011) oder auch Marlene Streeruwitz Die Schmerz-
macherin (2011) zu Nutze, um nach den affektpolitischen Effekten und den Autoim­
munreaktionen des Antiterrorkriegs zu fragen. Beide Romane zeigen auf, dass sich
das politische Klima in Richtung einer sicherheitsfixierten Protoparanoia entwickelt
hat, die Freiheitsrechte zugunsten von Präventionsabwägungen auflöst. Emblema­
tische Figur der sich wechselseitig verstärkenden Interaktion von realer Bedrohung
und machtpolitisch nutzbarer Bedrohungsfiktion ist der unerkannte Schläfer, der
erst in dem Moment als Feind zu erkennen ist, in dem er zuschlägt. In Reaktion auf
die Unmöglichkeit einer präzisen Epistemologie der Feindschaft gerät die Wirklich­
keit insgesamt unter Verdacht, insofern nie klar ist, ob nicht gerade die momentane
Ereignislosigkeit ein Anzeichen für bevorstehende Gefahr darstellt (vgl. Koch 2010).
Von Borries macht auf diesen imaginativen Überschuss der Terrorangst aufmerksam,
wenn er das Streben nach einer möglichst lückenlosen Überwachung zum eigentli­
chen Fluchtpunkt des politischen und polizeilichen Handelns nach 9/11 erklärt. In
gewisser Weise an Rainald Goetz’ frühen Text Polizeirevier (1983, vgl. Häusler 2014)
anknüpfend, geht es ihm darum, die Zirkularität von Beobachtung, Gegenbeobach­
tung und Beobachtung der Gegenbeobachtung als eine Spirale der Angst versteh­
bar zu machen, die nahezu zwangsläufig in immer weitere Eruptionen von Gewalt
münden wird. Deutlich wird in der Literatur, die sich mit den Folgen der Anschläge
von New York und Washington beschäftigt, dass die anderthalb Jahrzehnte seit der
Jahrtausendwende unter einem Diktat der Dringlichkeit und der Ahnung einer kom­
menden Katastrophe stehen. Um kommendes Unheil abzuwehren, scheint nahezu
jedes Mittel erlaubt zu sein. Angst, das zeigt von Borries in seinem kolportagehaften
Text, der Anleihen beim Thriller nimmt, die übersichtliche Handlungsebene aber mit
einem wikipedia-ähnlichen Glossar zum Zusammenhang von Beobachtung, Sicht­
barkeit und ästhetischer Intervention verbindet, wirkt selbstverstärkend und fordert
einen Aktionismus heraus, der Teil des Problems, nicht Teil der Lösung ist.
Dass mit dem War on Terror auch immense völkerrechtliche und kriegsökono­
mische Umbrüche verbunden sind, macht hingegen Die Schmerzmacherin deutlich.
Anhand der Protagonistin, die eine Ausbildung bei einer u. a. in Afghanistan enga­
46   Lars Koch

gierten privaten Sicherheitsfirma macht, entwirft Streeruwitz das Porträt des aktu­
ellen Nicht-Kriegs (vgl. Werber 2010), der sich vor allem durch das Kollabieren der
Unterscheidung von Kombattant und Nicht-Kombattant, Polizei und Armee, Staat­
lichkeit und Privatheit charakterisieren lässt. Im Zeitalter der low intensity conflicts
ist der Ausnahmezustand auf Dauer gestellt, entsteht eine neue Gouvernementali­
tät der permanenten Wachsamkeit, die die Individuen ganz auf die Wahrnehmung
von Bedrohung hin ausrichtet und Sicherheit zur obersten Maxime allen politischen
Handelns bestimmt (vgl. Daase/Engert/Junk 2013). Die Schmerzmacherin, dass unter­
scheidet den Roman von 1WTC, geht das Problem der durch Angst deformierten
Subjektivität als Aufgabenstellung der Erzählstruktur an. Der Roman vermeidet in
seiner textuellen Bauform jeden Eindruck von Überblick und Orientierung. So wie die
Unterscheidungskategorien des Politischen zunehmend an Trennschärfe einbüßen,
erodiert die Autorität und Souveränität des Erzählers, der daran scheitert, Realität
und Fiktion, Spur und Hirngespinst noch unterscheiden und die verschiedenen Sin­
neseindrücke, Gedankenfetzen und Erinnerungsfragmente noch zu einer homogenen
Narration integrieren zu können. Die Orientierungslosigkeit der Erzählinstanz, die in
Die Schmerzmacherin zu einer wichtigen Zeitdiagnose wird (vgl. Werber 2012), verbin­
det die Gegenwartsdeutung von Streeruwitz mit anderen katastrophen- und krisen­
sensiblen Gegenwartsromanen – etwa Thomas Glavinic’ Texten Die Arbeit der Nacht
(2006) und Lisa (2011) oder auch Thomas von Steinaeckers Roman Das Jahr, in dem
ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen (2012) –, die grundsätz­
lich an einer Erkenn- und Verstehbarkeit der postmodernen Medien- und Finanzwelt
zweifeln und in einer „Zirkelbewegung“ (Koschorke 2013, 245) zwischen Wirklichkeit
und Text die Verdichtung und das Scheitern von Kontroll- und Sicherheitsdispositi­
ven als Evidenz der Verunsicherung und der Angst in Szene setzen.
Die subjektprägenden Effekte von einer generalisierten Sicht auf Zukunft als
Bedrohung stehen auch im Fokus von Katrin Rögglas kulturnarratologischer Gegen­
wartsdiagnose die alarmbereiten (2010). Röggla, die schon zuvor in ihrem Essay-Band
disaster awareness fair (2006) über die wahrnehmungskonfigurierende Wirkung
populärkultureller Katastrophenfantasien nachgedacht hatte, entwirft in dieser
Geschichtensammlung das Bild einer Gegenwartsgesellschaft, deren Möglichkeits­
sinn ganz durch einen ausufernden Gefahrensinn verdrängt wurde. Die Erzähler und
Figuren der hier versammelten, komplementären Erzählsituationen sind allesamt in
einem grassierenden Katastrophismus gefangen, der ein um sich greifendes „präven­
tivdenken“ (Röggla 2006, 25) herausfordert. Röggla entlarvt in die alarmbereiten die
durch die Medien erzeugte Hysterie der permanenten breaking news als Instrument
einer kapitalistischen Aufmerksamkeitsökonomie, die Angst als Aufforderung zu Prä­
vention und Ablenkung in Profit verwandelt. Die einzelnen Geschichten der Samm­
lung, die allesamt in indirekter Rede gehalten sind und damit die wirklichkeitskon­
stitutive Macht der Sprache unterstreichen, beleuchten die unterschiedlichen worst
case-Szenarien der Gegenwart und zeigen auf, dass diese wesentlich zur Akkumula­
tion politischer oder ökonomischer Macht beitragen. Der entscheidende Punkt dabei,
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   47

dies macht schon Rögglas Titel deutlich, ist der Zeitbezug der Angst: Als „Erwartungs­
affekt“ (Bloch 1954, 350 f.) lässt sie ein Handeln attraktiv erscheinen, das den Über­
tritt bloß potenzieller Gefahren aus der Imagination in die Realität verhindern soll.
Genau in diesem Einsatz für eine Gegenwart, die sich nicht ändern soll, realisiert sich
der unter Zuhilfenahme greller Umbruchs- und Untergangssemantiken operierende
Konservatismus der Präventionsdoktrin (vgl. Holzinger/May/Pohler 2010, 227 ff.).
Eben weil nach jeder nur knapp verhinderten Katastrophe bereits der nächste Ernst­
fall lauert, entsteht eine postutopische Situation weitgehender Entpolitisierung, die
hinter der Aufrechterhaltung fortgesetzter Denormalisierungsängste die Arbeit an der
Stabilität der Machtverhältnisse verbirgt.
In einer gewissen thematischen Korrespondenz zum gegenwartsliterarischen
Terror-Reflexion steht Julie Zehs Roman Corpus Delicti (2009), der das Paradigma
der Prävention aufgreift, allerdings vom Kontext der Geopolitik in das Bezugsfeld der
Körper- und Biopolitik überträgt. Zehs Dystopie, die den Diskurs des Rechts mit dem
der Biomedizin verbindet, fragt nach den bürgerrechtlichen Kosten, die ein ganz am
Leitwert der Sicherheit orientiertes Gemeinwesen zu zahlen hat. Anknüpfend an eine
Tradition des dystopischen Romans, wie sie von Aldous Huxley, George Orwell und
Ray Bradbury begründet wurde, stellt Corpus Delicti den Körper ins Zentrum eines
Heils- und Angstgeschehens, in dem verschiedene gegenwartskulturelle Krisennarra­
tive zusammenlaufen und zum diegetischen Entwurf eines geschlossenen staatlichen
Systems totaler Kontrolle hochgerechnet werden. Im Entwurf einer Gesundheitsdik­
tatur greift Zeh den sich in den letzten Jahren intensivierenden Gesundheits- und Vor­
sorgediskurs auf und überblendet, geschult an den biopolitischen Theorien Foucaults
und Agambens, verschiedene Fragestellungen über Gentechnik, Pränataldiagnostik
und regierungsnotwendigen Krankheitsrisiken, die sich alle darin treffen, dass sie
den individuellen Körper mit dem sozialen Körper der Gemeinschaft normativ ver­
schalten. Von literarischen Beschäftigungen mit jener Angst, die die Krankheit zum
Tode hervorruft (etwa Max Frischs Homo Faber, 1957; Erica Pedrettis Valerie oder Das
unerzogene Auge, 1986; oder – unter ganz anderen sprachtheoretischen und poetolo­
gischen Voraussetzungen – Elfriede Jelineks Todkrank.doc (für Christoph Schlingen-
sief), 2009), unterscheidet sich Corpus Delicti im Hinblick auf die Relationierung von
Angst und Krankheit: Hier geht es nicht mehr in existenzieller Hinsicht um die Angst,
die die lebensbedrohende Erkrankung begleitet, sondern um das Nachdenken über
Angst vor einer schweren Erkrankung als einer politischen Ressource, die genutzt
werden kann, um das Verhalten der Bevölkerung zu lenken. Corpus Delicti führt eine
biopolitische Ratio „der totalen Beherrschung des Körpers“ (Geisenhanslüke 2013,
228) vor, die in den gegenwärtig geführten Debatten um die Privatisierung des Sozi­
alstaats bereits angelegt ist. Der Roman macht klar, dass derzeit eine Entwicklung
zu konstatieren ist, die Krankheit nicht mehr als Schicksal, sondern als individuel­
les Versagen im Umgang mit genetischen Risiken begreift. Indem Zeh das auch von
Röggla reflektierte Präventionsprinzip als biopolitisches Programm der Sorge um
den eigenen Körper konturiert, wird deutlich, wie sich im Zuge von AIDS und Human
48   Lars Koch

Genome Project und vor dem Hintergrund schwindender finanzieller Ressourcen die
Physis zu einem Angst-Terrain eigener Logik entwickelt. Auch hier wird eine Tendenz
wirksam, die die Gegenwart vom Rückblick einer katastrophischen Zukunft her
ausleuchtet und den gesunden Körper als einen solchen beschreibt, dessen latente
Erkrankung bloß noch nicht zum Ausbruch gekommen ist. Angesichts der techni­
schen Manipulationsmöglichkeiten der Physis stehen nicht nur die riskanten Verhal­
tensweisen des Einzelnen zur Debatte: Das Schicksal der Protagonistin Mia Holl, die
aufgrund ihrer vermeintlichen Devianz wegen Terrorismus angeklagt und verurteilt
wird, wirft vielmehr ein exemplarisches Licht auf eine juridisch-medizinische Praxis,
die den Anfang und das Ende des Menschen zur Disposition stellt und den auf sein
nacktes Leben reduzierten Menschen zur Verfügungsmasse eines humankapitalisti­
schen Ressourcenmanagements bestimmt (vgl. Lemke 2007).
Bezeichnend für die Angst nach der Jahrtausendwende ist also, dass sie räum­
lich und zeitlich einer Zone der Unsichtbarkeit und der Latenz entspringt: Einem
‚Noch-Nicht‘ der terroristischen Tat, der unheilbaren Krankheit, der katastrophalen
Zukunft. Aus dieser zeitlichen Struktur, die die Katastrophe als ein vorausliegendes
Ereignis imaginiert, das aber schon die Gegenwart betrifft, resultiert eine Prolifera­
tion der Angst, die den Alltag mit einem Hintergrundrauschen der Bedrohlichkeit
auffüllt. Zwei Romane, die diese Veralltäglichung der Angst in Zeiten ubiquitärer
Krisenrhetoriken seismografisch verzeichnen, sind Peter Hennings Die Ängstlichen
(2009) und Dirk Kubjuweits Angst (2012). In beiden Romanen geht es nicht um große
Katastrophenängste, sondern um eine um sich greifende Verunsicherung, die zuneh­
mend auch die bislang stabile bürgerliche Mittelschicht als eine Sorge um eine mögli­
che Verschlechterung der ökonomischen Lage uns als Angst vor einem schleichenden
Abstieg erfasst. Henning und Kubjuweit besichtigen Figurenensembles, die allesamt
die Fähigkeit verloren haben, ihrem Leben eine dauerhafte Form und ein grundle­
gendes Gefühl von Beheimatung in der Welt zu verschaffen. Angesichts einer bislang
nicht gekannten Zunahme an Komplexität der Zusammenhänge von Ökonomie,
Ökologie und letztlich auch Wissen insgesamt, dem die Politik mit immer weniger
Entscheidungs- und Handlungskompetenz gegenübersteht, führen beide Romane
insuffiziente Protagonisten vor, die die Orientierung verloren haben und angesichts
der eigenen Aktionsunfähigkeit in Angst abgleiten. In Kubjuweits Text, in dessen
Zentrum ein gutsituierter Berliner Architekt und Familienvater steht, ist es ein Hartz-
IV-Empfänger, der die Wohnung im Souterrain bewohnt und als Figur einer unheim­
lichen Wiederkehr der verdrängten ökonomischen Abstiegsängste im Zentrum des
Wohlstands mit Vorwürfen des Kindesmissbrauchs und zudringlichen Liebesge­
dichten für Irritation sorgt. Bei Henning fungieren die Figuren allesamt als kapita­
listisch deformierte Identitätsattrappen, die den Gang der Dinge passiv und gänzlich
entpolitisiert ertragen. Gesellschaft spielt auf der Ebene der Figurenwahrnehmung
in Angst wie in Die Ängstlichen nur noch als Arsenal der Unannehmlichkeiten und
der durch Zäune und Denkbarrieren außen vor zu haltenden Umwelt eine Rolle. Die
aufklärerische Idee, dass die Gesellschaft ein Projekt der gemeinsamen Gestaltung
Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   49

einer besseren Zukunft sein könnte, erfährt in einer Stimmung spätkapitalistischer


Alternativlosigkeit keine Resonanz mehr. Damit adressieren beide Romane ein Psy­
choklima von Angst, Depression und Schlaflosigkeit, wie es derzeit in einer ganzen
Zahl von soziologischen Zeitdeutungen entworfen wird (vgl. Bude 2014; Crary 2014;
Rosa 2013). Gesellschaft wird hier nur noch als ein Gewaltzusammenhang vorgestellt,
der weniger in Form energetischer Ausbrüche, dafür aber im Modus fortgesetzten nie­
derschwelligen Drucks eine Konformität des Denkens und Handelns erzeugt, die von
den Betroffenen als Entfremdung erfahren wird.

3 Fazit: Für eine medienkulturwissenschaftliche


Literaturgeschichte der Angst
Versteht man den Begriff der Entfremdung, wie er hier in unterschiedlichen histo­
rischen Konstellationen als sozialbegriffliche Entsprechung zum Phänomen der
Angst entwickelt wurde, in einem umfassenden Sinne als Ergebnis eines modernen
Entkopplungsprozesses, der das Auseinanderfallen von Erfahrung und Erwartung,
Struktur und Handlung, Privatheit und Öffentlichkeit, Arbeit und Kapital, Ökono­
mie und Politik, Körper und Geist – vielleicht sogar Natur und Kultur – analytisch zu
fassen versucht, wird deutlich, dass sich Angst in mittelfristiger Sicht als eine emotio­
nale Signatur der Literatur der Moderne konturieren lässt, die sich trotz der Differen­
zierung diskreter Anlässe und Kontexte in eine Kontinuität der letzten rund 250 Jahre
stellt. Eine medienkulturwissenschaftlich informierte Literaturgeschichte der Angst
nähert sich vor diesem Hintergrund einer Geschichte der Emotionen an, wie sie seit
einigen Jahren von der Geschichtswissenschaft betrieben wird (vgl. Hitzer 2011). Sie
teilt mit dieser die Einsicht, dass es wenig Sinn macht, Angst alleine als anthropolo­
gische Konstante in einen evolutionsbiologisch-kognitionspsychologischen Rahmen
zu stellen. Als symbolische Verdichtung verbindet literarische Angst Individuen und
Gesellschaft, als Kondensat kommunikativer Praktiken vermittelt sie zwischen indi­
viduellen und kollektiven Gefühlslagen – damit ist sie ein hervorgehobener Gegen­
stand zur retrospektiven Aufschlüsselung kultureller Dynamiken und Prozesse. Auch
wenn die Literaturgeschichte in dem in diesem Beitrag vorgeschlagenen Sinne mit der
Geschichtswissenschaft den Ansatz teilt, Angst als „kulturelle Matrix“ (Gerok-Reiter/
Obermaier 2007) der Weltwahrnehmung zu begreifen, geht die medienkulturwissen­
schaftliche Beschäftigung mit der kulturellen Codierung der Angst (die freilich neben
der Literatur um andere Medien zu erweitern wäre) gleichwohl über den Status quo
der historischen und soziologischen Emotionsforschung hinaus. Sie konstatiert eine
grundlegende Historizität der Angst, bricht aber das enge faktuale Quellenkorpus der
Geschichtswissenschaft auf und erweitert es im Wissen um die konstitutive Medialität
der Angst um die Textarchive der fiktionalen Literatur, die sie als einen funktionalen
Speicher und Ort der Artikulation kultureller Problem- und Verunsicherungslagen
50   Lars Koch

begreift. Als Beobachtung zweiter oder manchmal gar dritter Ordnung ist insbeson­
dere die Literatur dazu in der Lage, Angst als Zeitphänomen in symbolisch verdich­
teter Weise zur Sprache zu bringen und sie in Form von Umschriften, Übersetzungen
und Narrativierungen in kommunikativ anschlussfähige Szenarien und verhaltens­
stabilisierende Skripte zu transformieren, die als Medien der Objektivierung selbst
wiederum wesentlich zur gesellschaftlichen Selbstauslegung beitragen. Eine solche
Perspektive auf Literatur, die nach den inhaltlichen Bezügen, der Formensprache und
der medialen Rahmung der Angst fragt, bedeutet weder, ihren Eigenwert, ihre ästhe­
tischen Verfahren und ihr affektives Kalkül zu verleugnen, noch sie als bloße Wider­
spiegelungsphänomene der wirklichkeitskonstituierenden Macht der Gesellschafts­
struktur unterzuordnen (vgl. Stäheli 1998). Indem die medienkulturwissenschaftliche
Angstforschung die Frage nach Semantiken und narrativen Kontexten von Angst
stellt, schafft sie es, die wechselseitige Signifikation von Welt, Subjekt, Diskurs und
kulturellem Artefakt in der notwendigen Komplexität zu betrachten. Damit schafft
sie einen Zugang zur Angst als einem kulturellen Zusammenhang, der in diachroner
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Marina Münkler
3. Transformationen der Freundschafts­
semantik in Diskursen und literarischen
Gattungen seit dem Mittelalter
Abstract: Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich mit der diskursiven und literari­
schen Inszenierung und Reflexion von Freundschaft seit dem Mittelalter. Er zeichnet
die Transformationen vormoderner und moderner Konzeptionen von Freundschaft
nach, zeigt auf, wie diese mit Kulturen und Praktiken verbunden sind, und skizziert,
welche Semantiken und Topoi dabei eingesetzt werden. Freundschaft, so die Aus­
gangsthese, ist einerseits neben Verwandtschaft und Liebe eine Grundkonstellation
menschlicher Beziehungen, sie ist aber andererseits nur in den jeweiligen sozialhisto­
risch bedingten kulturellen Überformungen erfassbar: Wie Freundschaft beschrieben
wird, welche Emotionen ihr zugeschrieben werden, zwischen welchen Personen und
aus welchen Gründen sie entsteht, ob sie beständig oder brüchig ist und nicht zuletzt,
wie sie als Kondensat kommunikativer Praktiken gesellschaftlich wirksam wird, ist
historisch wie kulturell variabel. Als Beobachtunginstanz zweiter Ordnung bearbei­
tet Literatur historische, kulturelle und diskursive Praktiken und Darstellungsformen
von Freundschaft, stellt sie symbolisch verdichtet dar und setzt sie in ein dialogi­
sches Verhältnis zu den jeweils zeitgenössischen Praktiken von Freundschaft. Die
der Freundschaft diskursiv und literarisch zugemessene Bedeutung schwankt jedoch
erheblich. Es formieren sich diskursive und literarische Verdichtungsräume und
-zeiten, in denen die Erwartungen an das, was Freundschaft für den Einzelnen und
die Gesellschaft zu leisten vermag, besonders hoch sind. Solche Verdichtungsräume
und -zeiten bilden denn auch einen Schwerpunkt der Untersuchung. Welche unter­
schiedlichen Aspekte dabei aufgerufen und je spezifisch bearbeitet werden, wird nicht
zuletzt von den konkreten medialen Bedingungen und gattungsspezifischen Formen
literarischer Texte bestimmt. Die Kulturgeschichte der Freundschaft mit ihren beson­
deren Verdichtungen lässt sich somit in erster Linie als eine Kulturgeschichte ihrer
semantischen Transformationen in diskursiven und literarischen Texten begreifen.

1 Freundschaft als Code des sozialen Systems


2 Die Evolution der Freundschaftssemantik
3 Historische Aneignungen und Transformationen der Freundschaftssemantik
4 Freundschaftskonstellationen
5 Medien und Gattungen der Freundschaftssemantik
6 Literatur

DOI 10.1515/9783110297898-003
56   Marina Münkler

1 Freundschaft als Code des sozialen Systems


Historisch wie systematisch betrachtet, lässt sich feststellen, dass Freundschaft
ebenso als soziale Institution wie als persönliche Nahbeziehung fungieren kann. Als
soziale Institution schafft Freundschaft Verbindlichkeit und Vertrauen zwischen Per­
sonen, die über einen gemeinsamen Habitus und die ihm zugeschriebenen Tugen­
den verfügen. Als persönliche Nahbeziehung stabilisiert sie Identität durch den Aus­
tausch mit einem Anderen, der als Vorbild, Spiegel des Selbstbildes oder alter ego
begriffen werden kann. Damit begründet Freundschaft sowohl sozio-politische als
auch persönliche Vernetzungen, die zur Stabilisierung des sozialen Systems beitra­
gen können. Freundschaft kann daher als zentrales Element eines gesellschaftlichen
Tugendsystems sowie als Fundierungsbegriff gesellschaftlicher Ordnung eingesetzt
werden, aber auch als Code für Intimität, wobei sie jeweils sehr spezifische Aus­
prägungen erfahren kann. In der Vielfältigkeit ihrer Funktionen lässt sich Freund­
schaft mit Niklas Luhmann als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium
beschreiben, das auf der Ebene des sozialen Systems die Anschlussfähigkeit von Kom­
munikation steigert (vgl. Luhmann 1980; Luhmann 1993; Münkler 2015). Luhmann
geht davon aus, dass jedem System eine Umwelt gegenübersteht, die ebenfalls aus
Systemen besteht, welche aber nicht unmittelbar zugänglich sind. Anschlussfähig­
keit zwischen einander opaken Systemen wird durch Kommunikation hergestellt, die
sich jedoch nicht durch Eindeutigkeit, sondern durch unterschiedliche Selektionsof­
ferten auszeichnet. Sinn entsteht durch die Auswahl von Selektionsofferten, die umso
anschlussfähiger sind, je stärker sie auf bereits vorliegende Sinnkonstruktionen
Bezug nehmen können. Solche anschlussfähigen Konstruktionen nennt Luhmann
symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, die sich als einen Bestand an
Zeichen, Gesten, Redewendungen und Bildern beschreiben lassen.
Freundschaft stellt für soziale Strukturbildungen einen Vorrat an Semantiken
zur Verfügung, der das Gelingen von Kommunikation und Interaktion wahrschein­
licher macht. Dadurch tendiert das Kommunikationsmedium Freundschaft aber
zum inflationären Gebrauch. Das gilt insbesondere für bestimmte historische Peri­
oden oder literarische Epochen, in denen die Freundschaftssemantik besonderen
Aufschwung nimmt, wie etwa im Humanismus oder im 18. Jahrhundert mit Aufklä­
rung und Empfindsamkeit. Vielfach verbindet sich in solchen Hochkonjunkturen die
Semantik von Freundschaft mit literarischen Strömungen oder Bildungsbewegun­
gen, deren Anerkennung noch fragil ist. Man sucht Gleichgesinnte, mit denen sich
zu verbinden gleichermaßen Notwendigkeit wie tiefes Bedürfnis ist oder jedenfalls
als solches beschrieben werden kann. Aber auch jenseits der besonderen Konjunk­
turen der Freundschaftssemantik gehört Freundschaft zu jenen elementaren Formen
sozialer Vernetzung, für die es einen permanenten Bedarf gibt, weil in stratifizierten
und erst recht in funktional differenzierten Gesellschaften die sozialen Beziehun­
gen und deren Pflege nicht mehr allein über Familie und Verwandtschaft gesteuert
werden können (vgl. Eisenstadt/Roniger 1984, 269–293). Der Begriff der Freundschaft
Transformationen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen   57

muss daher soziale Strukturlasten tragen, die ihn mit einer Vielzahl von Funktionen
befrachten. Das Spezifikum des symbolisch generalisierten Kommunikationsmedi­
ums Freundschaft besteht nun darin, dass es solche Strukturlasten zu tragen vermag,
weil es als Code der Öffentlichkeit fungieren kann, der in erster Linie politisch-soziale
Vernetzungen bezeichnet, aber auch als Code von Intimität, der enge, gegenüber
Dritten abgegrenzte persönliche Bindungen markiert. Aus dieser Doppelheit ergeben
sich jedoch weitreichende Ambiguitäten, die synchron und diachron für die Semantik
von Freundschaft kennzeichnend sind. Phänomenologisch resultieren diese Ambigu­
itäten daraus, dass die beiden idealtypisch unterscheidbaren Modelle von Freund­
schaft als sozialer Institution und persönlicher Nahbeziehung auf der Ebene der kom­
munikativen Codes nicht eindeutig zu trennen sind und sich mit anderen Codes, wie
denen von Verwandtschaft und Liebe, überschneiden.
In welcher Weise sich die Codierung je ausprägt, hängt nicht zuletzt davon ab,
ob sie in diskursiven oder narrativen Texten erfolgt. Grundsätzlich kann man dabei
zwischen der Ethik und dem Ethos der Freundschaft unterscheiden, wobei die defini­
torische Grenze zugleich als systematische Grenze zwischen Diskursen und Narrati­
onen verläuft: Diskurse begründen eine Ethik der Freundschaft, in der Freundschaft
als elementarer Teil von Lebens-, Sitten- und Tugendlehren formuliert wird (bspw. bei
Aristoteles, Cicero, Montaigne), wohingegen Narrationen ein Ethos der Freundschaft
inszenieren, das in einzelnen Protagonisten verkörpert und in Interaktionen reprä­
sentiert wird. Die Trennung zwischen Ethik und Ethos kann in unterschiedlichen lite­
rarischen Gattungen und Formen jedoch auch aufgehoben werden. Dialoge etwa sind
als Repräsentation von face-to-face-Kommunikation nicht nur ein entscheidendes
Medium der diskursiven Bearbeitung dessen, was unter Freundschaft je verstanden
werden soll, sondern setzen sie auch in Szene. Sie machen die Codierungen von Ethik
(Anforderung) und Ethos (Leistung) durchlässig, weil sie sowohl diskursiv (Platon,
Cicero, Aelred von Rievaulx) als auch narrativ (vom Epos bis zum zeitgenössischen
Roman) einsetzbar sind. Der Dialog verknüpft damit Theorien und Praktiken freund­
schaftlicher Interaktion; er partizipiert gleichermaßen an der Entwicklung einer
Ethik wie an der Repräsentation eines Ethos der Freundschaft. Das gilt erst recht für
die Dialoge in dramatischen Texten. Ihre sprachlichen Handlungsmuster, Sequenz­
muster und Strategien (vgl. Fritz 1994) lassen deshalb Rückschlüsse auf den Status
und die Funktion der szenisch inszenierten Freundschaften zu, wobei neben den
sachlich-informationellen und argumentativen Elementen die Aspekte phatischer
Kommunikation (bei Malinowski: Kommunion, vgl. ders. 1923; Senft 2009) bedeut­
sam sind, also solcher Kommunikation, bei der es nicht um Informationsaustausch,
sondern um Beziehungsaufbau und Beziehungsstabilisierung, d. h. um Anschluss­
kommunikation geht.
An beiden Aspekten, der Ethik wie dem Ethos der Freundschaft, partizipiert auch
die Lyrik, die als Gattung programmatischen wie erlebnishaften Sprechens nach
beiden Seiten hin offen ist. Lyrik kann sowohl über Freundschaft und ihre Anfor­
58   Marina Münkler

derungen sprechen als auch den Freund adressieren, indem seine herausragenden
Tugenden, seine Einzigartigkeit und Unverzichtbarkeit gelobt und gepriesen werden.
Gerade weil für Freundschaft sowohl eine Ethik als auch ein Ethos entworfen
worden ist, kann sie soziales und symbolisches Kapital im Sinne Pierre Bourdieus
generieren. Hinsichtlich der Relevanz von Freundschaft für die Begründung, Stabili­
sierung und Differenzierung sozialer Ordnung ist es deshalb sinnvoll, neben Niklas
Luhmanns Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien Pierre Bour­
dieus Begriff des sozialen Kapitals (vgl. Bourdieu 1983, 6 ff.) sowie die ihm zugrunde
liegende Habitustheorie zu berücksichtigen. Habitus bezeichnet bei Bourdieu ein
System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, die bestimmen, in welcher
Weise Personen kommunizieren, wie sie sich kleiden, geben und verhalten (vgl.
Bourdieu 1998, 99; Bourdieu 1970, bes. 37 ff.). Unter sozialem Kapital versteht er die
„Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines
dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegen­
seitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder […] Ressourcen, die auf
der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983, 190 f.). Freundschaftsbe­
ziehungen können neben Verwandtschaft als solche Netze begriffen werden, mittels
derer Individuen nicht nur in die Gesellschaft insgesamt, sondern in spezifische Teil­
systeme integriert werden, die ihnen den Zugang zu sozialer oder politischer Macht
ermöglichen. Freundschaftliche Beziehungsnetze bedürfen jedoch fortwährender
„Institutionalisierungsarbeit“, um die Reproduktion dauerhafter Bindungen zu
gewährleisten, die als unbedingte Verpflichtungen erscheinen und den „Zauber des
Geweihten“ (ebd., 192) in sich tragen.
Kulturelles Kapital bezeichnet dagegen spezifische Aspekte wie den Zugang zu
Bildungsressourcen und die Verfügung über relevantes Wissen, das durch seine inten­
sive Inkorporation einen spezifischen Habitus ausprägt (vgl. Bourdieu 1983, 185 f.;
Bourdieu 1970). Die Verfügung über kulturelles Kapital reguliert dementsprechend
häufig auch den Zugang zu freundschaftlichen Bindungen, und das gilt umso mehr,
je stärker Freundschaft als Anspruchsbegriff formuliert oder repräsentiert wird. Nur
wer über kulturelles Kapital verfügt, wird als freundschaftswürdig betrachtet. Das
hat Frauen in der Tradition der entsprechenden Diskurse und Erzählungen lange Zeit
nicht nur von der Entwicklung einer Freundschaftsethik, sondern, von wenigen Aus­
nahmen abgesehen, auch vom Ethos der Freundschaft ausgeschlossen.

2 Die Evolution der Freundschaftssemantik


Neben der Liebe gehört Freundschaft zu den sozialen Semantiken, die geeignete
Welt- und Selbstdeutungsmuster für die Strukturbildung von Inklusions- wie Exklusi­
onsindividualität zur Verfügung stellen. Während die stratifizierte, d. h. hierarchisch
strukturierte Gesellschaft der Vormoderne Individualität als Inklusionsindividuali­
Transformationen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen   59

tät begreift, in der der Einzelne Individualität nicht gegen, sondern mittels der Inte­
gration in seine soziale Schicht entfalten kann, bietet die moderne funktional dif­
ferenzierte Gesellschaft diese Möglichkeit nicht mehr. Aufgrund der funktionalen
Differenzierung kann der Einzelne in seinem Stand nicht mehr vollständig aufgehen,
sondern muss in verschiedenen Funktionen derjenige sein, der in den unterschied­
lichen Teilsystemen je gefordert ist. Da die Semantik von Freundschaft eng mit der
Identitätsbildung und deren Aufrechterhaltung verbunden ist, muss sie sich dem­
entsprechend wandeln. Die Evolution der Freundschaftssemantik verläuft dabei von
einer öffentlichkeitsbezogenen, sozio-politischen Vorstellung von Freundschaft, in
der dieser eine herausragende Bedeutung für Konstituierung wie Bestand von Bür­
gerschaft respektive Herrschaft attestiert wird, über eine zunehmende Intensivierung
und Pluralisierung hin zu einer Intimisierung von Freundschaft als gemeinsamem
Erfahrungs- und Erlebnisraum, in dem der Freund als der einzige erscheint, der
Zugang zur vollständigen und häufig widersprüchlichen Identität seines alter ego
hat. Die Semantik von Freundschaft vermag damit horizontale und vertikale Vernet­
zung, Loyalität und Verbindlichkeit, Vertrautheit und Vertraulichkeit sowie Nähe und
Distanz gleichermaßen zu regulieren.
Lexikalisch zeigt sich das an den semantischen Transformationen der Begriffe
Freund und Freundschaft. Das alt- und mittelhochdeutsche Lexem friunt/vriunt wird
auf ein schwaches Verb zurückgeführt, das im Gotischen als frijōn (lieben) überliefert
ist. Morphologisch betrachtet handelt es sich beim Substantiv frijōnds um ein Partizip
Präsens (‚der Liebende‘). frijōnds bedeutet also zunächst: der Liebende, der in Liebe
Verbundene. In der gotischen Bibel des Bischofs Wulfila entspricht frijōnds jeweils
dem griech. phílos in der Vorlage (vgl. hierzu und zum nachfolgenden Nolte 1990).
Die ursprüngliche Gebrauchssphäre von idg. *prijo- bezog sich nach Meinrad Schel­
ler 1. auf die „Bezeichnung der Zugehörigkeit des Körpers und seiner Teile“, 2. auf
die „Bezeichnung der Blutsverwandtschaft“ (vgl. Scheller 1959, 73 f.). Bereits germ.
*frijōnd hat nach Scheller die beiden Hauptbedeutungen Freund und Verwandter.
Diese in der semantischen Forschung immer wieder behauptete Gleichsetzung (mit
Differenzierungen: vgl. Green 2000, 57–59) ist freilich nicht wirklich überzeugend. In
den althochdeutschen Glossen steht friond meist für lat. amicus, carus, cliens. Keines
dieser Nomen hat im klassischen Latein die Bedeutung von Verwandter. Im Mittel­
lateinischen kann amicus auch für den Verwandten bzw. Verschwägerten gebraucht
werden, aber die Bedeutung von verwandt ist nicht dominant und sie meint nicht in
engerem Sinne blutsverwandt, sondern bezeichnet den weiteren Verwandtschaftsver­
band mit angesippten Verwandten.
Nach Verena Epps grundlegender Untersuchung (vgl. Epp 1999) wurde im Früh­
mittelalter das lateinische Wort amicitia für vier unterschiedliche Beziehungsver­
hältnisse verwendet: die persönliche Freundschaft, die Klientel- bzw. Gefolgschafts­
beziehung, das (außen-)politische Bündnis, die geistliche Verbindung der Christen
untereinander und mit Gott. Amicitia bezeichnete damit wechselseitige, wertbezo­
gene und religiös begründete Verpflichtungen, die zwischen zwei oder mehreren Per­
60   Marina Münkler

sonen bestanden, kontraktuelle und affektive Aspekte umfassten und sich in beider­
seitigen Diensten äußerten. Verwandtschaft spielt dabei eine kleinere Rolle, als dies
in der Forschung zur Semantik von Freundschaft immer wieder vertreten worden ist.
Die Verwandtschaft bezeichnenden lateinischen Nomen cognatus, affinis, propinquus
etwa, wurden mit ahd. mag übersetzt, consanguinis mit ahd. gisibbo. Das zeigt sich
auch bei Notker (950–1022), bei dem die Gleichsetzung von amicus – friunt im Sinne
des neuhochdeutschen Freund (vertraut, aber nicht verwandt) durch den jeweiligen
Kontext eindeutig ist (Nolte 1990). In der Bedeutung des klass. amicus steht neben
friunt in den Übersetzungen auch wini und trût. Wini bedeutet Geliebter, trût bezeich­
net den Vertrauten.
Friunt sind häufig die Schwurbrüder, die ein Freundschaftsbund i. S. eines rechts­
förmigen Aktes verbindet (vgl. Nolte 1990). Das althochdeutsche friunt umfasst einen
weiteren Kreis als die Blutsverwandtschaft, nämlich die Gesamtheit derer, die in der
Lage und dazu verpflichtet sind, für einen Stammesgenossen rechtlich einzutreten.
Die rechtlichen Verpflichtungen der Freundschaft werden durch eine Reihe von ahd.
Glosseneinträgen bestätigt, in denen das lat. foedus, pactum, testamentum jeweils mit
friuntscaf wiedergegeben wird. So reiht z. B. der Abrogans (lat.-dt. Glossar um 750):
federis – friuntscaf – friuntskephi. Freundschaft hat damit einen rechtsverbindlichen,
institutionellen Charakter. Das spricht dafür, dass friuntscaf dazu da war, das Band
der Verwandtschaft zu ergänzen, wo dieses für die Organisation des herrschaftlichen
Verbands nicht ausreichte. Wo das Band der Verwandtschaft brüchig wurde, war
friunt­scaf umso stärker gefordert. Das zeigt sich etwa daran, dass friuntscaf in Berich­
ten über die Zerfallskämpfe des Karolingerreichs häufig verwendet wird. Ahd. friunt-
laos bezeichnet demgegenüber das Fehlen eines loyalen Verbandes von Verbündeten
und Getreuen. Im Hildebrandslied etwa wird Dietrich, der vor seinem Konkurrenten
Odoaker nur von wenigen engen Gefährten begleitet in den Osten fliehen muss, von
Hildebrands Sohn Hadubrand als friuntlaos man bezeichnet. Der Begriff freondlaos
findet sich auch in angelsächsischen Rechtstexten und bedeutet dort, dass man keine
Gefährten, also keine Schwurbrüder, Rechtshelfer, Stammesgenossen, Kampfgenos­
sen hat.
Die im Mittelhochdeutschen häufig gebrauchte Formel friunt unde mage bezeich­
net den gesamten Schutz- und Hilfsverband eines Adligen, der neben den Freun­
den auch Verwandte umfasst. Das mittelhochdeutsche Wörterbuch von Benecke,
Müller und Zarncke gibt folgende Bedeutungen für friunt an: a) „guter freund“; b)
„der geliebte, gatte“; c) „der verwandte“; „bisweilen sind auch die vasallen mit ein­
geschlossen“. Lexers Mittelhochdeutsches Handwörterbuch nimmt als zusätzliche
Bedeutung auf: d) „kriegs-, bundesverwan[d]ter“, d. h. alle, die durch Treuebindung
dem Herrn zu Rat und Hilfe verpflichtet sind. Bei der Bedeutung c) wird aber in der
Regel durch Zusätze deutlich gemacht, dass Verwandter gemeint ist. Häufig wird
dann friunt durch erborn, anerborn ergänzt. Wie b) zeigt, gab es – wie beim Mittel­
lateinischen amicus oder dem altfranzösischen amîs – neben der auf die herrschaft­
liche Ordnung bezogenen, homosozial orientierten Semantik von vriunt auch die
Transformationen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen   61

Bedeutung Geliebter oder Gatte. Die Überschneidung von Freundschafts- und Liebes­
semantik von vriunt kann sowohl für Personen bzw. Figuren männlichen als auch
weiblichen Geschlechts verwendet werden, so etwa in Konrad Flecks Flore und Blan-
scheflur, wo es über das Paar heißt, si was sîn friunt, er ir amîs. Die Vermischung der
Semantik von Freundschaft und Liebe wird auch an den Synonymen von friunt/vriunt
deutlich. Synonyme von friunt/vriunt sind u. a. geselle, trûtgeselle, günner, holde, liep­
haber, trûtgespil, wine.
Geselle als Synonym zu vriunt wurde schon im Mittelalter häufig verwendet,
im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit wird es zum dominanten Nomen für die
Bezeichnung einer auf Loyalität und wechselseitigem Vertrauen beruhenden Bezie­
hung. In Loher und Maller (um 1437) etwa sprechen sich die beiden titelgebenden
Freunde, die in unverbrüchlicher Treue miteinander verbunden sind, nahezu durch­
gängig als geselle an, Freund kommt dagegen nur an fünf Stellen vor. Solche Domi­
nanz von geselle oder geselschaft gegenüber freündt und freündschaft ist jedoch nicht
die Regel; zumeist werden beide synonym verwendet und mit Adjektiven wie guot
oder getreüw begleitet, was auf den axiologischen Anspruch der Nomen verweist. Seit
dem 16.  Jahrhundert tritt die Bedeutung Vertrauter jedoch zurück und die Zugehö­
rigkeit zum Haus in den Vordergrund. Geselle bezeichnet dann in erster Linie den
seinem Handwerksmeister treu dienenden und von ihm ausgebildeten Handwerker,
der durch Hausgenossenschaft zur weiteren Familie des Meisters gehört. Auch der
Handwerksgeselle partizipiert noch an den ethischen Anforderungen, aber diese
sind nicht mehr dominant, sondern entwickeln sich in Richtung der Bezeichnung für
einen Status.
Seit der Frühen Neuzeit übernehmen Enzyklopädien und Lexika zunehmend die
Aufgabe, Freundschaft zu definieren, wobei in der Regel eine Zweiteilung von Freund­
schaft in persönliche und zweckorientierte Beziehungen vorgenommen wird. Eine
solche Zweiteilung zeigen die Artikel zum Thema Freundschaft in Johann Heinrich
Zedlers Grosse[m] vollständige[m] Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste
(1734–1754), das allerdings die deutschen Lexeme Freundschaft und Freund nicht
verzeichnet, sondern sich der lateinischen Lexeme Amicitia und Amicus bedient.
Mit Amicitia wird nicht der Beziehungsmodus, sondern die gleichnamige römische
Göttin bezeichnet, eine Parallelpersonifikation zur griechischen Göttin Philotes. Ihre
Beschreibung von Kopf bis Fuß repräsentiert die mit der Freundschaft verbundenen
Werte und Normen: Die Göttin ist jung, weil man bemerken soll, dass Freundschaft
niemals altert; ihr Haupt ist unbedeckt, weil sie jedem zu dienen bereit ist, ihr Kleid
ist armselig, weil man daran erkennen soll, dass man sich vor einem Freund auch in
ärmlicher Kleidung nicht schämen soll; am Saum des Kleides sind Mors et Vita (Tod
und Leben) geschrieben, weil man erkennen soll, dass Freundschaft Treue bis in den
Tod verlangt, etc. Zedlers Lexikon stellt damit die ethische Dimension der amicitia in
den Mittelpunkt. Das Lexem Amicus dagegen bezeichnet die ethisch anspruchslose
Geschäftspartnerschaft:
62   Marina Münkler

Amicus ein Freund / die Correspondenten derer Kauff=leute werden also genennet dahero sagen
die Kauff=leute offtermals, mein Freund hat mir dieses oder jenes geschrieben, sein Amico in
Hamburg verschafft ihm die Waaren in einem guten Preis (Zedler 1734, Bd. 1, Sp. 1732).

Damit fallen die Semantiken von Amicitia und Amicus auseinander; Amicitia bezeich­
net einen vergangenheitsbezogenen Wertbegriff, von dem anzunehmen ist, dass er
auch noch für die Gegenwart Gültigkeit haben soll, Amicus den zeitgenössischen
Sprachgebrauch. Durch das Fehlen der Lexeme Freundschaft und Freund ist aller­
dings nicht feststellbar, wie weit dies auch für die deutschen Wörter gelten würde.
Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeut-
schen Mundart (Bd. 2, Leipzig 1796, 285) verzeichnet unter dem Lexem Freundschaft
aber eine ähnliche Doppelheit:

Freundschaft, 1) die gegenseitige Anhänglichkeit, welche Personen von übereinstimmenden


Gesinnungen für einander empfinden u. durch Handlungen, welche auf Förderung gegensei­
tiger Zufriedenheit u. Wohlseins gerichtet sind […]. F. heißt auch 2) der Umgang u. das Zusam­
menleben mit Personen, deren Neigung auf Einen Zweck gerichtet ist, zu dessen Verfolgung blos
Selbsucht antreibt, der aber ohne Verbindung Mehrerer nicht erreicht werden kann.

In einem der Knotenpunkte der literarisch-kulturellen Konjunkturen von Freund­


schaft hat sich damit lexikalisch eine Ambiguität ausgebildet, die darauf verweist,
dass das im 18. Jahrhundert literarisch verbreitete Pathos der Freundschaft (s. u.) die
Vorstellung von Freundschaft keineswegs vollständig dominiert.
Bemerkenswerterweise findet sich solch überschießendes Pathos aber unter dem
Lexem Freundschaft im Damen Conversations Lexikon (1853), das Freundschaft sakra­
lisiert und sie dazu scharf von der Liebe abgrenzt:

Freundschaft, ein heiliges, wenn nicht das heiligste Gefühl, oder vielmehr der reine Einklang
aller Gefühle im Accorde des geselligen Lebens; ein oft mißbrauchtes Wort; ein Utopien, ein
Traumland des Herzens; die Oase in der heißen Wüste des Daseins, an deren immerfrischer
Quelle der müde, lechzende Wanderer nach allen Stürmen ausruht und sich erquickt, um den
heiligen Ort seiner Bestimmung zu erreichen. […] Sie reißt nicht hin, wie die Liebe, aber sie zieht
an, dauernd; sie glüht und strahlt nicht, wie die Liebe, aber sie wärmt und erhellt; sie verzehrt
und schmachtet nicht stürmisch und krank, wie die Liebe, aber sie sehnt sich, glücklich zu
machen und im fremden Glück das ihrige zu finden. Nur die redlichsten Herzen sind wahrer
Freundschaft fähig, für Liebe hingegen ist fast jedes Gemüth empfänglich. Liebe ist Leiden­
schaft, Freundschaft Ruhe. (Ebd., 253)

Gegen die Tradition, die Freundschaft männlich codiert, leitet das Damen Conversa-
tions Lexikon daraus den Vorzug weiblicher Freundschaften ab:

Nach allem dem hier Gesagten ergibt sich der natürliche Schluß, daß Freundschaft im weibli­
chen Herzen leichter Wurzel fassen und sich nähren kann als im männlichen, da dieses, leiden­
schaftlicher von Natur, im Ganzen für dieses ruhige Gefühl weniger Anhaltspunkte bietet. […]
Freundschaft also ist vor Allem eine weibliche Tugend; Freundschaft unter Männern ist darum
Transformationen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen   63

seltener, am seltensten zwischen Männern von gleichem Geschäfte. […] So viel ist gewiß: Freund­
schaft wohnt gern in einem leidenschaftslosen, frommen, sich selbst verläugnenden Herzen;
Ruhe aber, Frömmigkeit und Selbstopferung, sind vorzugsweise Eigenschaften einer unverderb­
ten Weiblichkeit. (Ebd., 253 f.)

Mit Pathos versucht der Artikel offenbar aufzuwiegen, was Frauen in großem Umfang
verschlossen bleibt: der Zugang zu Freundschaftsnetzwerken und dem damit verbun­
denen sozialen und kulturellen Kapital. Demgegenüber geht Meyers Konversations-
Lexikon von 1907 unter dem Rubrum Freundschaft wieder ganz selbstverständlich
von einer Dominanz männlicher Beziehungen aus, die in erster Linie ständisch
codiert und an einen spezifischen Habitus gebunden sind:

Freundschaft ist das auf gegenseitiger Wertschätzung beruhende und von gegenseitigem Ver­
trauen getragene freigewählte gesellige Verhältnis zwischen Gleichstehenden. Zwischen Perso­
nen, die, sei es äußerlich (in sozialer Hinsicht), sei es innerlich (ihrer geistigen und sittlichen
Entwickelung nach) auf sehr ungleichen Stufen stehen, ist eigentliche F. ausgeschlossen, weil
sie unmöglich den gleichen Wert füreinander haben können; hier tritt an Stelle derselben das
Verhältnis der Gönnerschaft des Höherstehenden zum Niedrigerstehenden (z. B. des »großen
Herrn« zum »kleinen Mann«, des reifen Mannes zum Jüngling, des Meisters zum Schüler), das
seine Ergänzung findet durch das Respekts- oder Pietätsverhältnis des letztern zum erstern.
(Ebd., 96)

Funktionale Differenzierung ist in dieser Definition stark von ständischer Codierung


überformt, was zu einer extremen Asymmetrisierung solcher Beziehungen führt, die
nicht als soziales Kapital dienen. Solche asymmetrischen Codierungen verschwinden
in der Gegenwart völlig. Auch ethische Anforderungen werden zwar noch formuliert,
aber sie werden als freiwillig beschrieben und damit aus einem Anforderungs- und
Bewährungsprofil in ein persönlichkeitsbezogenes Modell ohne soziale Rückbindung
und Kontrolle transformiert. So definiert die Brockhaus-Enzyklopädie von 1988 (Bd. 7,
654 f.) Freundschaft als

Form sozialer Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Partnern, die durch gegenseitige
Anziehung und persönlichkeitsbezogene Vertrautheit und durch Achtung bestimmt ist und
Hilfs- und Opferbereitschaft und freiwillige Verantwortung für den anderen einschließen kann,
im Unterschied zu zweckbedingten partnerschaftlichen Verbindungen.

Die ethische Dimension von Hilfs- und Opferbereitschaft ist damit nunmehr aus einer
Sollens- in eine Kann-Bestimmung transformiert worden, die für die Beurteilung von
Freundschaften nicht mehr als Maßstab fungieren kann. Das entspricht dem Anforde­
rungsprofil der funktional differenzierten Gesellschaft. Wo Freundschaft privatisiert
worden ist, kann sie nur noch das leisten, wofür ihr die funktionale Differenzierung
Platz lässt, und das kann nur das sein, was mit der dafür erforderlichen Entschei­
dungsfreiheit vereinbar ist.
64   Marina Münkler

3 Historische Aneignungen und Transformationen


der Freundschaftssemantik

3.1 Historischer Abriss

Sowohl in der ritterlich-aristokratischen als auch in der philosophisch-ethischen Tra­


dition ist Freundschaft öffentlich, und zwar in dem doppelten Sinne, dass sie öffent­
lich bekundet wird und öffentliche Wirksamkeit im Hinblick auf die Strukturierung
der Gemeinschaft erlangt. Anders als Liebe, die im Mittelalter erst durch starke Subli­
mierung und Poetisierung gesellschaftsfähig gemacht werden kann, ist Freundschaft
auf die Gesellschaft und ihre Beziehungsrepräsentation bezogen. Liebe tendiert zur
Heimlichkeit, zur Abkehr von den gesellschaftlichen Verpflichtungen oder gar zur
Negierung der gesellschaftlichen Ordnung, während Freundschaft öffentlich bekun­
det wird, wechselseitige Anerkennung voraussetzt und die gesellschaftliche Ordnung
durch die Freiwilligkeit und emphatische Begründung der wechselseitigen Verpflich­
tungen stützt. Die Ausbildung eines gesellschaftlichen Tugendsystems ist in Antike
und Mittelalter daher eng an den Begriff der Freundschaft gebunden.
Freundschaft im Mittelalter bestimmt sich zunächst vor dem Hintergrund der
Konstruktionen sozialer Ordnung in vorstaatlichen, aber hierarchisierten Gesell­
schaften, in denen eher personale Bindungen als institutionelle Arrangements den
Zusammenhalt garantieren (vgl. Althoff 1990; Garnier 2000). Als horizontale wie
vertikale Bindung innerhalb des Adels steht sie neben Verwandtschaft (vgl. Althoff
1990; Rexroth/Schmidt 2007) und Patronage (vgl. Eisenstadt/Roniger 1984; Asch
2011) als den weiteren Organisations- und Stabilisierungsformen sozialer Ordnung.
Das schließt emotional grundierte, persönliche Nahbeziehungen nicht aus, sondern
begünstigt sie vielmehr, insofern emphatische Beziehungen als zusätzliches stabili­
sierendes Element fungierten, es führt aber zu Problemen, wenn sich daraus unter­
schiedliche Imperative ergeben, die miteinander in Konflikt geraten (vgl. van Eickels
2004; Oschema 2005; 2006). Als wichtiger Aspekt mittelalterlicher Freundschafts­
semantiken ist neben den innerweltlichen Freundschaftskonzeptionen die amicitia
spiritualis (vgl. Langer 1994) zu betrachten, die ihren Ort keineswegs nur im Kloster,
sondern auch außerhalb der Orden in religiösen Laiengemeinschaften hat. Grundlage
der spirituellen Freundschaft ist nicht zuletzt die Konzeption der Gottesfreundschaft,
die Gott als spirituell stabilisierendes Element bis in den Pietismus und die von ihm
beeinflussten Strömungen der Empfindsamkeit in die Struktur von Gemeinschaften
integrierte und ihnen auf diese Weise einen transzendenten Horizont verlieh.
Um Freundschaft als besondere Anspruchsbeziehung sichtbar zu machen, ist sie
mit einer Reihe ritualisierter Handlungen verbunden. Zu den traditionellen Ritualen
von Freundschaft gehört neben der Umarmung der Kuss (vgl. Manger 2006; Martin
2006). Zeitgenössisch vorwiegend an der französischen Tradition des mehrfachen
Wangenkusses orientiert, war er seit der Antike als Mundkuss ein vom Liebeskuss
Transformationen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen   65

nicht leicht zu unterscheidendes, aber diskursiv stets unterschiedenes Ritual bei


Begrüßung und Abschied, wurde aber auch im Rahmen politischer Verhandlungen,
insbesondere bei Friedensschlüssen, sowie im liturgischen Kontext, als Zeichen fried­
licher und freundschaftlicher Übereinstimmung, eingesetzt (vgl. Münkler/Standke
2015, 9–23). Entgegen dem rituellen Gebrauch wurde dem Freundschaftskuss diskur­
siv wie literarisch im Mittelalter wie in der Frühen Neuzeit und erst recht im 18. Jahr­
hundert das Signet der Spontaneität des Gefühlsausdrucks aufgeprägt.
Der Humanismus wird häufig als Hochkonjunktur, das 18. Jahrhundert gar als das
‚Jahrhundert der Freundschaft‘ bezeichnet. Zweifellos gehören beide, Humanismus
und 18. Jahrhundert, zu jenen Phasen, die sich durch einen inflationären Gebrauch
der Freundschaftssemantik auszeichnen. Dafür können sozial-, bildungs- und litera­
turgeschichtliche Gründe angeführt werden. Die Bewegungen des Humanismus und
der Aufklärung erfassten nur relativ kleine gebildete Schichten des Bürgertums. Die
sie bejahenden Gruppen huldigten deshalb häufig dem Ideal der Freundschaft und
der Zweisamkeit, das die erforderliche Netzwerkbildung emphatisch überhöhte.
Einen weiteren Höhepunkt einer stark gruppenorientierten Freundschaftsseman­
tik bildete die Jugendbewegung des späten 19. und 20.  Jahrhunderts, insbesondere
die Wandervogel-Bewegung (1896–1913), aber auch die Bündische Bewegung (1919–
1933), die zum großen Teil in der Hitlerjugend aufging. Sie förderten die Semantik
einer gemeinschaftsbezogenen Freundschaft. Die beiden Weltkriege führten dann
dazu, dass die Semantik von Freundschaft von der Kameradschaftssemantik überla­
gert wurde.
Nach dem zweiten Weltkrieg und infolge des zunehmenden Individualismus seit
den sechziger Jahren wird Freundschaft zunehmend zu einem Adoleszenzphänomen,
das einerseits durch Auflehnung gegen die Elterngeneration, andererseits durch
Erlebnishaftigkeit und gemeinsame Liminalitätserfahrungen gekennzeichnet ist. Seit
den 2000er Jahren lässt sich beobachten, dass die durch die neuen Medien bewirk­
ten Transformationen bei zunehmendem Individualismus zugleich eine Lockerung
und eine höhere Stabilität bestehender Freundschaften auch über große räumliche
und zeitliche Entfernungen hinweg ermöglichen. Sie sind Teil einer Identitätspolitik,
die eine Geschichte sich permanent fortsetzender und gleichzeitig endlos erweiter­
barer stabiler Beziehungen suggeriert. Dadurch verwischen erneut die Grenzen von
Freundschaft, Bekanntschaft und Netzwerkbildung, was für die hochgradig individu­
alisierten Lebensentwürfe unabdingbar ist. Die Kommunikationen werden bei gleich­
zeitiger Steigerung von Intimität entpersönlicht; was man unter anderen medialen
Bedingungen nur seinem engsten Freund anvertraut hätte, wird nun mit einer großen
Zahl von Personen kommuniziert. Es entsteht so ein Kommunikationsmodus, in dem
die Unterscheidung zwischen Freunden und Fremden mehr oder weniger hinfällig
wird, weil Kommunikation mit Freunden gegenüber Fremden kaum noch abgeschirmt
werden kann, dies teilweise, wie verschiedene Blogs und youtube-Videos demonstrie­
ren, aber auch gar nicht mehr soll.
66   Marina Münkler

3.2 Die politisch-ethische und die sozio-moralische Tradition

Für die literarische Geschichte der Freundschaftssemantik ist der Tugenddiskurs ein
zentraler Anknüpfungspunkt. In der antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitli­
chen Tradition spielt der Freundschaftsbegriff für die Behandlung ethischer Fragen
eine zentrale Rolle; freilich ist Freundschaft hier kein Code der Intimität, sondern
ein Code der Sittlichkeit. Freundschaft impliziert als kontinuierliche Konnotation
Vertrauen und Vertraulichkeit, aber nicht unbedingt Privatheit. Hierin liegt eine der
entscheidenden Differenzen der modernen gegenüber vormodernen Vorstellungen
von Freundschaft. In der antiken Ethik wird Freundschaft als das Vehikel sittlicher
Vervollkommnung und als Stifterin von Gemeinsinn betrachtet. Aristoteles betrachtet
die Freundschaft als Perfektionsform des Sozialen, in der die idealen Merkmale einer
politischen Gemeinschaft vollkommen realisiert werden. Er behandelt sie deshalb in
der Nikomachischen Ethik, in deren Aufbau sie das Verbindungsglied zwischen dem
Einzelnen und der Stadt, den Übergang von der Ethik zur Politik bildet. Nach der
aristotelischen polis-Konzeption reichen Recht und Gerechtigkeit allein nicht aus,
um eine echte Gemeinschaft zu bilden. Gemeinschaft wird erst durch die über dem
Reich der dike liegende Sphäre geschaffen, in der man dem Anderen mehr zubilligt
als ihm nach Recht und Gesetz zusteht (epieikeia). Für Aristoteles ist dies eine zent­
rale Voraussetzung für das Funktionieren der polis, denn nur dort, wo die Menschen
befreundet sind, herrschen die Göttinnen der Eintracht (homonoia) und der Gerech­
tigkeit (dikaiosyne).

Die Erfahrung lehrt auch, daß Freundschaft die Polisgemeinden zusammenhält und die Gesetz­
geber sich mehr um sie als um die Gerechtigkeit bemühen, denn die Eintracht hat offenbar
eine gewisse Ähnlichkeit mit der Freundschaft. […] Sind die Bürger einander freund, so ist kein
Rechtsschutz nötig, sind sie aber gerecht, so brauchen sie noch außerdem die Freundschaft […].
(Nikomachische Ethik, VIII, 1, 182)

Allerdings ist nicht jede Form der Freundschaft vollkommen. Vollkommen ist die
Freundschaft nur als Tugendfreundschaft, die durch Vertrauen und Stabilität gekenn­
zeichnet ist, während die Lust- und Nutzenfreundschaft lediglich auf ihren Zweck
bezogen sind und mit dessen Erfüllung vergehen.
An der Dreiteilung des Freundschaftsbegriffs in Lust-, Nutzen- und Tugendfreund­
schaft orientiert sich in der römischen Ethik insbesondere Cicero, wobei er jedoch die
Tugendfreundschaft sehr viel stärker von der Nutzenfreundschaft abhebt als Aristote­
les. In seinem Dialog Laelius de amicitia formuliert Cicero mittels der Gestalt des mit
seinem Freund Scipio Africanus als Vorbild präsentierten Laelius einen codex legum
amicitiae, dessen Kern die Definition der wahren Freundschaft als omnium divinarum
humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio (Laelius, 154) bildet.

Es ist nämlich die Freundschaft nichts anderes als die Übereinstimmung in allen irdischen und
überirdischen Dingen, verbunden mit Zuneigung und Liebe. (Ebd., 155)
Transformationen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen   67

Das bedeutet aber keineswegs, dass Freundschaft als rein persönliche Nahbeziehung
bestimmt worden wäre. Die persönliche Beziehung unterliegt dem Code des Politi­
schen und dessen Orientierung an Gemeinwohl und Gemeinsinn, dessen Grundlage
sie bildet. Freundschaft gilt Cicero als zentrale Voraussetzung für die Stabilität der
Gemeinschaft:

Schafft man aber die Verbindung, die aus der Sympathie erwächst, aus der Welt, dann kann
keine häusliche Gemeinschaft, keine Stadt mehr bestehen, und nicht einmal die Bestellung der
Felder kann weitergeführt werden. (Ebd., 159)

Freundschaft ist damit das zentrale Element einer gänzlich auf Gemeinschaft und
Gemeinsinn hin orientierten Identitätspolitik, die den Anforderungen einer stratifi­
zierten Gesellschaft entspricht. Wahre Freundschaft, so Laelius, kann es nur unter
den viri boni (tugendhaften Männern) geben, die sich durch Beständigkeit, Festigkeit,
insbesondere aber Treue (fides) auszeichnen. Die tugendhaften Männer sind grund­
sätzlich Angehörige der herrschenden Oberschicht, die für das Wohl der politischen
Gemeinschaft, der res publica, Sorge zu tragen haben.
Tugend ist demnach der Code ihres Herrschaftsanspruchs. Die Liebe gibt den
ersten Impuls, ein Band der Freundschaft zu knüpfen, aber erst die Tugend kann sie
wirklich hervorbringen, denn:

gerade die Tugend ist es, die Freundschaft hervorbringt und zusammenhält, und es kann
Freundschaft ohne die Tugend unter keinen Umständen geben. (Ebd., 155)

Tugend (virtus) ist aber nicht nur Ursache und Maßstab der Freundschaft, sondern
auch ein politischer Kampfbegriff, der eine Grenzlinie innerhalb der herrschen­
den Schicht zieht. Wer untugendhaft zu seinem eigenen Vorteil agiert, verliert den
Anspruch auf wahre Freundschaft und damit zugleich die Legitimität seines Machtan­
spruchs. Die Dreiteilung von Freundschaft in Lust-, Nutzen- und Tugendfreundschaft
führt somit nicht nur terminologische Differenzierungen ein, sondern Scheidelinien
im Kampf um die Vorherrschaft in der res publica. Niemals, so Laelius, dürfe man
daher vom Freund Untugendhaftes verlangen oder dem Freund, der Untugendhaftes
verlangt, nachgeben. Tugendhaftigkeit aber ist – wie Ciceros Laelius, dessen Tugend­
freundschaft mit Scipio Africanus dem Jüngeren innerhalb des Dialoges als Vorbild
fungiert, seinen Schwiegersöhnen vermittelt – ein seltenes Phänomen, weil Rom von
Nutzenfreundschaften beherrscht wird, die sich den Staat zur Beute machen.
In der Einschätzung der Gesellschaft machte Cicero Tugendfreundschaft damit
zur Ausnahme, diskursiv jedoch für lange Zeit zur Regel. Da Selbstbeschreibun­
gen selten ohne Selbststilisierungen auskommen, lässt sich beobachten, dass der
Tugendfreundschaft in der Geschichte der Freundschaftsethik und damit auch des
Freundschaftsbegriffs immer wieder der Vorzug gegeben wurde. Zur Lust- und Nut­
zenfreundschaft mochte sich niemand bekennen. Beide wurden zweifellos gepflegt,
aber nicht zur Norm erhoben oder gar gepriesen, was freilich nicht verhindert hat,
68   Marina Münkler

dass politische, ökonomische und soziale Vorteile in der Begründung und Pflege von
Freundschaften eine zentrale Rolle spielten und spielen. Insbesondere der Nutzen­
freundschaft haftet seit ihrer Verdammung durch Cicero der Ruch der Falschheit, der
Verlogenheit und der Korruption an, weswegen in der Geschichte des Freundschafts­
diskurses auch kaum noch versucht wurde, Differenzierungen einzuführen, die eine
Unterscheidung zwischen Beziehungspflege sowie politischer Verbindlichkeit und
eigennütziger Speichelleckerei etabliert hätten.
Für die Frühe Neuzeit war Ciceros Laelius von großer Bedeutung. 1535 wurde er
unter dem Titel Marci Tulij Ciceronis verdeutschts Büchle/von dem Lob und vnderwey-
sung der freündschaft ins Frühneuhochdeutsche übersetzt (vgl. Kühlmann 2008, 211;
Braun 2001, 291–295) und zugleich terminologisch an zentralen Stellen umcodiert.
Ciceros Konzeption der Tugendfreundschaft wurde nicht nur mit der christlichen
Nächstenliebe gleichgesetzt, sondern auch mit der universalen Liebe, die auch die
Feindesliebe einbezog. Semantisch erfolgte die Transformation von der Tugend­
freundschaft zur universalen Liebe dadurch, dass virtuosus (tugendhaft) mit früm
übersetzt wurde. Damit wurde der exklusive Charakter der Tugendfreundschaft
negiert, der für Ciceros Konzeption entscheidend war.
Die politischen Klugheitslehren des 16. und 17. Jahrhunderts, deren sozialer Ort
der Hof mit seinen strengen Hierarchisierungen und undurchsichtigen Einflusssphä­
ren war, versuchten dagegen, ein sozial belastbareres und enttäuschungsresistente­
res Modell zu etablieren. Die neuerliche semantische Transformation funktionierte
darüber, dass das Misstrauen in den Freundschaftsdiskurs eingeführt und als Vor­
sicht beschrieben wurde, die nicht nur, wie bei Cicero, in den Anfängen der Freund­
schaft als Prüfung des Freundes gedacht war, sondern als dauerhafte reservatio
mentalis. Schon in Baldassare Castigliones Cortegiano (1528), der im 16. Jahrhundert
zweimal, nämlich 1565 und 1593 (vgl. Burke 1996, 80), ins Deutsche übersetzt wurde,
wird Misstrauen gegenüber dem Freund als eine aus bitterer Erfahrung gewonnene
Klugheitsregel formuliert:

Da es mir jedoch mehr als einmal passierte, von dem getäuscht zu werden, den ich am meisten
liebte und in den ich vor jedem anderen das Vertrauen setzte, geliebt zu werden, habe ich zuwei­
len bei mir gedacht, daß es gut sei, sich niemals auf einen Freund zu verlassen und sich einem
Freund, so teuer und geliebt er auch sei, nicht derart zur Beute zu geben, daß man ihm ohne
Vorbehalt alle seine Gedanken mitteilt, wie man es sich selbst gegenüber tun würde (Cortegiano,
147).

Die soziale Differenzierung des Hofes machte es unmöglich, sicher zu wissen, wer
tugendhaft war und wer nicht und wie lange er es blieb. Sie machte auch Ansprü­
che an die eigene Tugendhaftigkeit obsolet, weil der Tugendhafte als der Dumme
erschien, der nicht in der Lage war, auf die soziale Differenzierung mit einer Differen­
zierung seines emotionalen Haushalts zu reagieren.
Cicero fand seinen Platz daher eher in bürgerlichen Kreisen, die an Macht und
Herrschaft noch nicht beteiligt waren und deshalb Tugend weiterhin als Grundlage
Transformationen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen   69

von Freundschaft und Vertrauen formulieren konnten. Eng an Cicero orientierte sich
etwa Georg Philipp Harsdörffer, der in seinen Frauenzimmer Gesprächspiele[n] (1646)
postulierte, bei der Wahl eines Freundes müsse man auf dessen Rechtschaffenheit
achten. Hatte man diese erst einmal festgestellt, erübrigte sich jede weitere Vorsicht
und die Tugendfreundschaft konnte als Vertrauensbeziehung gefeiert werden, die
alle sozialen Funktionen gleichzeitig übernehmen konnte:

Die Tugendfreundschaft ist die löblichste Wollust in diesem Leben  / die Hüterin der Gemein­
schaft unter den Menschen / die Tröst- und Helfferin in den Nöthen / und die Theilhaberin unsrer
geheimsten Gedancken (Frauenzimmer Gesprächspiele, 361).

Wie Cicero lehnte Harsdörffer jede Form der Nutzenfreundschaft ab und charakte­
risierte sie als „falsche Freundschaft“, deren „schändliche Höflichkeit  / eine ver­
dekkte Lügenkrämerei“ (ebd., 362) sei. Wie unschwer zu erkennen ist, richtete sich
die Ablehnung der Nutzenfreundschaft gegen die Höfe und ihre galanten Konversati­
onsformen, die als Unaufrichtigkeit gebrandmarkt wurden. Kritik an den Höfen war
im 16. und insbesondere im 17. Jahrhundert ubiquitär und wurde auch in zahlreichen
Sprichwörtersammlungen verbreitet.
Eine ähnliche Stoßrichtung gegen die Unaufrichtigkeit formulierte auch der als
Sprachforscher bekannte Justus Georg Schottelius in seiner 1669 erschienenen Ethica.
Schottelius orientierte sich ebenfalls an Cicero, rückte aber die emotionale Basis der
Freundschaft noch stärker in den Mittelpunkt, indem er sie als „ehrliche, offenbare
Liebe und Gegenliebe“ beschrieb, die aber weiterhin dem Modell von Tugend und
Ehre verpflichtet blieb (Ethica, 594 f.).
Ein gänzlich anderes Freundschaftsmodell hat dagegen Michel de Montaigne ent­
wickelt. Er bezieht Freundschaft nicht auf die politische Ordnung und deren Bestand,
sondern allein auf die Möglichkeit, sich selbst in einem anderen zu erkennen und
mit ihm als alter ego in eine intime Kommunikation einzutreten, die Freundschaft als
Offenbarungsraum des Selbst etabliert. Für Montaigne wurde das Ich zum Ich, indem
es zum Du eines anderen wurde, den es zugleich zu seinem Ich machte. Eine so intime
Freundschaft, die intern die Möglichkeit zu absoluter Vertrautheit und Vertraulich­
keit eröffnete, war nach außen nicht mehr kommunizierbar. Auf die Frage, warum er
Etienne de la Boétie geliebt habe, so schrieb Montaigne in seinem Essai del amitié,
könne er nur antworten, „weil er er war, weil ich ich war“ (Von der Freundschschaft,
101).
Im ausgehenden 17. und 18.  Jahrhundert, das als das Jahrhundert der Freund­
schaft gilt, spielte die Bedeutung der Freundschaft für die Begründung einer Tugend­
ethik dagegen kaum noch eine Rolle. Die literarische Bedeutung der Freundschaft
wuchs, aber für die Begründung der Ethik verlor sie in dem Moment an Relevanz, als
begonnen wurde, die Moral aus der Natur bzw. dem Naturrecht und der Vernunft zu
begründen. So bezeichnete es Christian Thomasius als Irrtum, die Freundschaft zur
Grundlage der Norm des Guten zu machen (vgl. Vollhardt 2001, 191 f.):
70   Marina Münkler

Die meisten Irrthümer kommen daher / daß die Weltweisen disputiren / ob die Eigenliebe oder
die Freundschafft  / die Norm des Guten sein solle  / das ist  / ob die Eigenliebe die Norm der
Freundschafft / oder die Freundschafft die Norm der Eigenliebe seyn solle.
Weiser Leute Eigenliebe und Freundschafft sind einander gleich / nicht entgegen gesetzet. Denn
es giebt eine gesunde und verdorbene Eigenliebe  / es giebt eine kluge und närrische Freund­
schaft. Demnach kann keines von beyden des anderen Norm sein (Christian Thomasius 1709, 1,
IV, 41 f.).

Und auch Christian Fürchtegott Gellert, der ihr in Gedichtform einen Lobpreis gesun­
gen hatte, ließ sie in seinen Vorlesungen über Freundschaft nur dann gelten, wenn sie
sich der Tugend unterordnete.

In so weit also die Freundschaft eine gleichseitige Übereinstimmung des Charakters und eine
von der Natur veranstaltete Aehnlichkeit des Gemüths voraussetzt, in so weit kann sie keine
allgemeine Pflicht sein. Und in so weit wir bloß dieser Stimme der Natur, die unsere Herzen ein­
ander zuführen will, gehorchen, in so weit ist es noch keine Tugend (Vorlesungen über Freund-
schaft, 258).

Freundschaft wird damit der Erfüllung anderer Tugenden nachgeordnet. Entschei­


dend dafür war nicht zuletzt die auch bei Kant erfolgte Umstellung von der Tugen­
dethik zur Pflichtethik, die keines Bezugs auf einen anderen mehr bedurfte. Das eröff­
nete die Möglichkeit einer Emotionalisierung der Moral bei gleichzeitigem Rückzug
der Freundschaft auf die Privatsphäre.

4 Freundschaftskonstellationen

4.1 Freundschaftsnetzwerke

Die Bildungsbewegung des Humanismus, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhun­
derts auch in Deutschland Fuß fasste, führte zu einer Gruppenbildung, die in erster
Linie durch Reisen erfolgte. Deutsche Studenten zogen in die Zentren des Humanis­
mus in Italien, wo sie die studia humanitatis und einige der berühmten italienischen
Humanisten wie Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola kennenlernten.
In Deutschland war die Gruppe der Humanisten jedoch sehr viel kleiner als in Italien,
vergleichbare Institutionen wie die Florentiner Akademie fehlten und die deutschen
Universitäten wurden von den Scholastikern beherrscht. Um ihre Bildungsbestre­
bungen und das neu erworbene Selbstbild zu verwirklichen, mussten die deutschen
Humanisten sich nach dem Vorbild des italienischen Humanismus zusammenschlie­
ßen und untereinander intensive Netzwerke begründen und pflegen. Dazu dienten
ihnen das Reisen, der Briefverkehr und die Gründung von Freundschaftsbünden. Auf
den teils ausgedehnten Reisen der Humanisten suchte man bevorzugt die besonders
angesehenen humanistischen Gelehrten auf, bei denen man in der Regel zuerst sein
Transformationen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen   71

Stammbuch vorlegte, in das die schon bestehenden Kontakte eingetragen waren (vgl.
Trunz 1931, 34 f.). Auf diese Weise ergaben sich Gespräche über Fragen der Literatur
und der Bildung. Die Stammbücher bildeten eine ‚Philothek‘, ein Verzeichnis der lite­
rarischen Freunde, in das diese sich mit eigener Hand eintrugen.
Um neue Kontakte aufzunehmen oder bestehende zu verstetigen, war der Brief
die wichtigste Ergänzung oder Alternative. Die dadurch erfolgende Netzwerkbil­
dung funktionierte über die Semantik von Freundschaft. Man trug einem anderen
Gelehrten die Freundschaft an (amicitiam offere) und dieser nahm sie an (in ami-
citiam accipere). Daraus ergaben sich regelrechte Freundschaftsnetzwerke, denn
man hatte nicht selten 30 bis 50 Freunde, die ihrerseits über einen ähnlich großen
oder noch größeren Freundeskreis verfügten (vgl. Trunz 1931, 38). Von daher lag es
nahe, Freundschaftsbünde zu gründen. 1495 gründete Konrad Celtis in Heidelberg
die Sodalitas literaria Rhenana. Ihr Vorbild war der Freundeskreis des italienischen
Humanisten Marsilio Ficino, der sich seinerseits an der Platonischen Akademie ori­
entierte. Man traf sich zu regelmäßigen Gesprächen und Symposien, bei denen unter­
schiedliche Themen besprochen wurden. Die humanistischen Freundschaftsbünde
zelebrierten ihre geistige Verbundenheit in Fragen der Bildung, der Wissenschaften,
der Gelehrsamkeit und der Begeisterung für die Antike und die von ihr verkörperten
Tugenden in Abgrenzung von ihren scholastischen Gegnern. Freundschaft war für
die Humanisten deshalb „nicht nur ein selbstverständliches philosophisches Thema,
sondern geradezu die Bedingung ihrer Existenz“ (Rädle 2014, 161).
Auch im 18.  Jahrhundert bildeten sich Freundschaftskreise, allerdings mit
geringerer Institutionalisierung. Der Status des freien Schriftstellers verlangte, zwi­
schen Konkurrenz und Korrespondenz oder Kooperation zu changieren. Auf dieser
Grundlage bildeten sich semi-private Freundeskreise, bei denen es sich zumeist um
pietistische oder anakreontische Dichterbünde handelte. Der bekannteste anakreon­
tische Dichterkreis war der Halberstädter Dichterkreis um Johann Wilhelm Ludwig
Gleim, der ein breites Beziehungsnetz um sich herum gesponnen hatte. Gleim, der
sich selbst in erster Linie über seine Freundschaftspflege definierte und der Freund­
schaft in seinem Haus einen Tempel errichtete, entfaltete einen regelrechten Freund­
schaftskult und wurde auf diese Weise nicht nur wegen seiner Großzügigkeit zu
einem begehrten Freund, sondern auch, weil man über ihn mit zahlreichen anderen
Dichtern in Kontakt treten konnte. Wichtigstes Dokument seines schon zu Lebzeiten
legendären Freundschaftskultes waren die zwischen 1746 und 1771 von ihm veröffent­
lichten vier Bände von Freundschaftliche[n] Briefe[n]. Sie priesen das stille Glück des
gesellschaftlichen Abseits mit geselligem Zusammentreffen, geistvoller Unterhaltung
und freundschaftlichem Verstehen (vgl. Hermand 2006, 20). Der Ton der Briefe ist
idyllisch-verspielt (vgl. ebd., 21), was einen hohen Grad persönlicher Verpflichtung
aber keineswegs ausschließt.
Neben Gleims anakreontischem Freundschaftskreis gab es auch politischere
Freundschaftskreise, wie etwa den Göttinger Hainbund, dessen Publikationsorgan
seit 1770 der von Heinrich Christian Boie herausgegebene Musenalmanach war. Sechs
72   Marina Münkler

junge Dichter schlossen am 12. September 1772 in der Nähe des Dorfes Weende unter
einer Gruppe von Eichen einen „ewigen Bund der Freundschaft“ und verpflichteten
sich durch einen Eid, ihr Leben fortan in den Dienst der Tugend, des Vaterlandes und
der Freiheit zu stellen (vgl. Lüchow 1995; Hermand 2006, 22). Sie gaben sich Freund­
schaftsnamen wie Bardenbold, Gottschalk oder Minnehold, um auf diese Weise ihre
Verbundenheit mit der deutschen Dichtertradition hervorzuheben. Die politische
Dimension wurde dabei ästhetisch überlagert und semantisch überhöht. Es ging nicht
mehr nur um die Konstruktion einer persönlichen Identität, die in einer sich zuneh­
mend funktional differenzierenden Gesellschaft ihren Platz selbst suchen musste,
und nicht mehr nur um den Anspruch auf Teilhabe an der Macht, sondern auch um
die Konstruktion einer Vergangenheit, in deren Kontinuität man sich sehen konnte.
Freundschaftsnetzwerke blieben nicht auf das 18. Jahrhundert und die Empfind­
samkeit beschränkt. Sie formten sich immer wieder neu, wobei neben dem Modell der
Vereinigung Gleichgesinnter auch das Modell des sich um einen messianisch insze­
nierten Charismatiker scharenden Kreises von Jüngern ausgeprägt wurde. Ein solches
Modell war insbesondere im frühen 20. Jahrhundert für den George-Kreis kennzeich­
nend (vgl. Egyptien 2012). Stefan George bildete das Zentrum einer Verehrungsge­
meinschaft, in der zwar alle, die sich um ihn scharten, selbst als Dichter Anerken­
nung beanspruchten, aber George als ihren Leitstern verehrten. George modellierte
seinen Freundeskreis nach dem Vorbild Christi und seiner Jünger, wie eine von ihm
veröffentlichte Dichtertafel demonstriert, die, mit Georges Porträtfoto im Zentrum,
um ihn herum zwölf seiner Dichterfreunde in unterschiedlicher Größe und damit
subtil hierarchisiert zeigt (vgl. Karlauf 2007, 336–340; Bildtafel nach 256). In dem
Knaben Maximin, eigentlich Maximilian Kronberger, um den George sich zeitweise
intensiv bemühte, bildete er sich auch seinen Lieblingsjünger Johannes, der freilich
vor dem Meister starb und dann zum Gegenstand eines intensiven Totenkults wurde.

4.2 Dichterfreundschaften

Einzelne und enge bis intime Künstlerfreundschaften, von denen es bis heute zahlrei­
che gibt, haben sich häufig aus einer Geste der Abgrenzung entwickelt, die aus unter­
schiedlichen Gründen entstehen konnte: fehlender Anerkennung, mangelnder Ver­
netzung, ideologischer Ächtung. In der funktional differenzierten Gesellschaft sind
sie ein entscheidendes Forum der Anerkennung, insofern die wechselseitige Wert­
schätzung als Ersatz gesellschaftlichen Ansehens fungieren oder diese überbieten
kann. Die Dichterfreundschaft bildet damit häufig zugleich ein elitäres Konzept, das
als wechselseitige Zuschreibung von Exzellenz und Genie den Anspruch auf höchste
Geltung des jeweiligen Werks formuliert und stabilisiert. Häufig etabliert sich die
gegenseitige Versicherung der Höchstbedeutsamkeit füreinander dort, wo man, vom
Gefühl der emotionalen, intellektuellen oder moralischen Überlegenheit durchdrun­
gen, auf ein Meer von Mittelmäßigkeit herabblickt.
Transformationen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen   73

Das in der deutschen Tradition berühmteste, aber auch umstrittenste und am


häufigsten umgedeutete Beispiel einer Dichterfreundschaft ist zweifellos die Freund­
schaft zwischen Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller (vgl. Osterkamp 2011;
Pfeiffer 2000, 202–205). Von den zahlreichen zeitgenössischen Freundschaftsbünden,
deren kommunikativen Austausch Goethe hämisch als „Wechselnichtigkeit[en]“ cha­
rakterisierte, hielten sie sich fern. Ob sie sich wie im Modell der Tugendfreundschaft
zueinander hingezogen fühlten, ist fraglich. Insbesondere Schiller begriff Goethe
in den Anfangszeiten ihrer Bekanntschaft als Konkurrenten, der seine eigene Aner­
kennung wenn nicht verhinderte, so doch behinderte. Sie fühlten sich auch durch­
aus nicht von Natur aus zueinander hingezogen; als Schiller zwischen Juli 1787 und
Januar 1789 erstmals in Weimar wohnte, unterhielten sie keinen Kontakt miteinander.
Das dürfte vermutlich daran gelegen haben, dass sich ihre berufliche und soziale Stel­
lung deutlich unterschied: Goethe war Mitglied der herzoglichen Regierung und als
Dichter geachtet und verehrt, Schiller befand sich auf der Flucht und war auf einen
Mäzen und Förderer angewiesen – eine Rolle, die Goethe nicht spielen wollte. Schiller
hatte noch nicht genügend soziales Kapital angesammelt, um eines Goethe würdig zu
sein, Goethe hatte bereits einen Habitus ausgeprägt, der ihn für Schiller eher absto­
ßend erscheinen lassen musste.
Gemeinsame naturwissenschaftliche Interessen, ein Gebiet, auf dem beide dilet­
tierten, beförderten ihre Beziehung, die dann in der Auseinandersetzung mit den
politisch liberalen bis libertären Positionen jener Dichter intensiviert wurde, die mehr
oder weniger der französischen Revolution anhingen. Mit ihnen rechneten sie in den
im Musenalmanach des Jahres 1797 erschienenen Xenien gnadenlos ab und gaben
sich damit erstmals als zusammengehörige Gleichgesinnte zu erkennen.
Selten aber schwang sich ihre Gemeinschaft zu emphatischen Formulierungen
oder Freundschaftsbekundungen auf. Insbesondere Goethe war in dieser Hinsicht
äußerst zurückhaltend, was nach Osterkamp daran lag, dass die Semantik von
Freundschaft um 1800 bereits so überstrapaziert war (vgl. Osterkamp 2011, 201), dass
sie gerade wegen ihrer pathetischen Bekundungen weitgehend bedeutungsentleert
war. Goethes Briefe an Schiller klingen denn auch wenig emphatisch oder gar pathe­
tisch, formulieren aber dennoch das Ideal eines Gemeinsinns, der auf der Zuschrei­
bung ähnlicher künstlerischer Auffassungen fußte. So schrieb Goethe in Reaktion auf
Schillers Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung:

Ich habe ihre Prinzipien und Deduktionen desto lieber, da sie mir unser Verhältnis sichern und
mir eine wachsende Übereinstimmung versprechen. (Briefwechsel, 170; vgl. Böhler 1980).

Umgekehrt nahm Schiller an der Entstehung des Wilhelm Meister mit großem Inte­
resse Anteil, was sich darin zeigt, dass er an Kritik nicht sparte. Der so erfolgende
literarische Austausch machte erhebliche Institutionalisierungsarbeit in der Regulie­
rung von Nähe und Distanz erforderlich, in der immer wieder subtile Austarierungen
benötigt wurden.
74   Marina Münkler

Erst in der Literaturgeschichte des 19.  Jahrhunderts wurden Goethe und Schil­
ler zum Dioskurenpaar stilisiert, in dem sich zwei Genies nahezu zwangsläufig und
unauflöslich miteinander verbunden hatten. Hermann Hettner schrieb in seiner
Geschichte der deutschen Literatur über Goethe und Schiller, sie seien sich in „volls­
ter Wesens- und Strebensverwandtschaft“ verbunden gewesen. Ihre „edelste Männer­
freundschaft“ habe sich durch „aufrichtigste gegenseitige Anerkennung und Vereh­
rung“ ausgezeichnet (zit. nach Böhler 1980, 35). Die Vorstellung vom Dioskurenpaar
als sich wechselseitig anerkennende Einzigartigkeit verdoppelte die ihr zugrunde-
liegende Geniekonzeption und verdichtete sie ikonisch zu einem nationalen Symbol.
Die befreundeten Genies markierten so den Gipfelpunkt eines national gedachten
Schaffens, das in der Freundschaft seine Einzigartigkeit etablieren sollte.

5 Medien und Gattungen der Freundschaftssemantik

5.1 Freundschaftsbriefe

Der Brief hat als Medium der Freundschaft eine lange Tradition. Als Kommunikati­
onsmedium ergänzt er in der Regel die face-to-face-Kommunikation, kann aber auch
ganz an ihre Stelle treten, und fungiert so als stabilisierendes, gelegentlich aber
auch begründendes und zentrales Element der Freundschaft. Berühmte Briefe oder
Briefwechsel, angefangen mit den Paulusbriefen an die ersten christlichen Gemein­
den und Ciceros Briefen an Atticus und an seine Freunde (ad familiares), über die
Briefwechsel der Humanisten und zahlreicher Dichter seit dem 17.  Jahrhundert bis
hin zu zeitgenössischen Freundschaftsbriefwechseln bilden eine eigene Rhetorik
der Freundschaft aus, die zwischen emphatischen Freundschaftsbekundungen und
regelmäßigem Neuigkeiten- und Interessenaustausch oszilliert. Zentral waren dafür
Elemente der phatischen „Kommunion“ (vgl. Malinowski 1923; vgl. Senft 2009), der
bestätigenden Rede und der wechselseitigen Versicherung der anhaltenden Freund­
schaft.
Freundschaftsbriefe waren deswegen aber keineswegs nur ein Kennzeichen pri­
vater oder intimer Kommunikation. Zahlreiche Freundschaftsbriefe, insbesondere des
Mittelalters und des Humanismus, wurden in Briefsteller aufgenommen oder ediert.
Freundschaftsbriefe hatten damit auch eine normative Dimension, weil sie das Ethos
der Freundschaft nicht nur durch den Austausch inszenierten, sondern es häufig
auch performativ zur Geltung brachten. Nicht zuletzt waren Briefe auch das Medium
der homosozial weiblichen und der heterosozialen Freundschaft, weil sie den orts-
und raumgebundenen Frauen erlaubten, miteinander Kontakt z