CAPES
Type: Sekundärliteratur
10.1515/NO_W018442_0001
Frontmatter
Christian Benne
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Die gesammte Φλ[Philologie] ist gewissermaaßen nichts andres als Kritik. Die Kritik als Kunst kann nur an Schriften geübt
werden, und zwar an klassischen. Alles ist vereinigt hier: poetische Kritik, grammat.[ische] philologische, historische,
philosophische. – Dasselbe gilt auch wohl von Grammatik und Hermeneutik. (F. Schlegel, Zur Philologie I, [154])
Je mehr das Material anwuchs, um so höher steigerten sich die Ansprüche an die sorgfältigste Genauigkeit in der Behandlung
des Einzelnen; die immer mehr in die Breite gehende Detailforschung konnte nur durch eine in die Tiefe gehende Auffassung des
Ganzen beherrscht werden; je freier und höher die Idee dieses Ganzen, dem man zustrebte, gefaßt wurde, um so strenger und
schärfer mußte die Disciplin der philologischen Methode und Technik in fortschreitender Ausbildung gehandhabt werden. (Otto
Jahn, Bedeutung und Stellung der Alterthumsstudien in Deutschland )
Die sogenannte Krise in den heutigen Geschichtswissenschaften gäbe es kaum, so meine ich, trüge man das Wissen von den
Grundlagen in Methode und Ethos geisteswissenschaftlicher Arbeit bewußter mit sich. (Dieter Wuttke, Aby Warburgs Methode
als Anregung und Aufgabe )
Of course you can have hard-and-fast rules if you like, but then you will have false rules, and they will lead you wrong; because
their simplicity will render them inapplicable to problems which are not simple, but complicated by the play of personality. (A.E.
Housman, The application of thought to textual criticism )
Dans le domaine proprement littéraire, le contexte implique une familiarité avec d'autres textes, connus de l'auteur, ou utilisés
par lui, ou leurs équivalents, pour être bien en état de mesurer les possibilités de sens. (Jean Bollack, Sens contre sens.
Comment lit-on? )
Gibt der Autor zu viele Belege, so wird sein Buch unlesbar; gibt er zu wenige, so schwächt er die Beweiskraft. (Ernst Robert
Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter )
Ein Ding, ganz allein, würde gar nicht existieren – es hätte gar keine Relationen. Z.B. mein Buch. (Nietzsche, V 12[17]).
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Danksagung
Christian Benne
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Es ist mir Bedürfnis, all jenen zu danken, die mir Rat und Hilfe angedeihen ließen. Für Fehler und Missverständnisse trage ich selbstredend die alleinige
Verantwortung.
Das vorliegende Buch ist eine leicht überarbeitete Version meiner im Jahr 2003 fertiggestellten Doktorarbeit, die ich im Juni 2004 am Institut für Allgemeine
und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin verteidigt habe. Meinem Doktorvater Gert Mattenklott gebührt Dank an erster Stelle,
und zwar nicht um der Konvention willen (nichts gegen Konventionen –), sondern für seine unerreichte Liberalität und subtile Anregung. Daneben möchte
ich Werner Stegmaier herausheben, dem ich entscheidende Anstöße und Hinweise verdanke. Die Genannten ermunterten mich unabhängig voneinander,
die vorliegende Abhandlung, die im Keim zunächst als theoretisch-methodischer Beitrag einer anderen Studie geplant war, zur Dissertation auszuarbeiten.
Für die Übernahme des Zweitgutachtens danke ich besonders herzlich Bernd Seidensticker, von dessen Vorschlägen und Korrekturen die Arbeit viel
profitiert hat. Den Herausgebern der „Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung“, neben Werner Stegmaier also Günter Abel und Josef Simon, sei
für die ehrenvolle Aufnahme meines Beitrags in ihre wissenschaftliche Reihe gedankt, die im Walter de Gruyter Verlag souverän von Gertrud Grünkorn
betreut wird.
Ich danke ferner der Forschungsgruppe zur Nietzsche-Bibliographie, besonders Erdmann von Wilamowitz-Moellendorff, der über die Zeit zum Freund
geworden ist und mir die nicht ganz unparteiische Auseinandersetzung mit seinem illustren Vorfahr nachsehen wird. Von großem Nutzen waren mir die
Benutzung der Datenbank zur Weimarer Nietzsche-Bibliothek, schon bevor sie öffentlich zugängig wurde, sowie die vielen unschätzbaren Hinweise zur
Nietzscheforschung und den Weimarer Nietzsche-Beständen. Die Mitarbeiter des Goethe- und Schiller-Archivs und die Bibliothekare der Anna-Amalia-
Bibliothek, besonders der kleinen Sammlung im Schloss, waren über das zu erwartende Maß hilfsbereit, zuvorkommend und schnell. Wolfgang Ritschel hat
mir an einigen Stellen Nietzsches Handschrift gedeutet. In Weimar möchte ich außerdem Justus H. Ulbricht und Christiane Remus vom Nietzsche-Kolleg für
die Einladung zu anregenden Nietzsche-Tagungen, für die Betreuung und die Vermittlung hilfreicher Kontakte danken. Petra Dorfmüller hat mir als
Archivarin der Landesschule Pforta in Schulpforte schnell und unbürokratisch nützliches Material zur Verfügung gestellt. Dem Goethe- und Schiller-Archiv in
Weimar sei für die Druckge
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nehmigung unveröffentlichten Archivmaterials gedankt. Dank hat ebenso die Bibliothek der Süddänischen Universität in Odense verdient, deren
wunderbares Fernleihsystem mir in kürzester Zeit auch die obskursten Bücher und Artikel bescherte.
Meinem Freund Adam Paulsen danke ich für die richtige Mischung aus enthusiastischem Lob und vernichtender Kritik. Jørgen Hass, dem wahren
Philosophen, verdanke ich neben einer entscheidenden Anregung fundierte Kommentare zu einem frühen Entwurf und immer wieder neue stimulierende
Diskussionen. Mein verehrter Kollege Bengt Algot Sørensen war mir Vorbild in seinem unermüdlichen Forscherdrang und half bei der Klärung einzelner
Fragen. Hans-Gerald Hödl stellte mir dankenswerterweise, bevor ich ihn persönlich kennen lernen durfte, das unveröffentlichte Manuskript seiner
Habilitationsschrift zur Verfügung. Für kleinere Hinweise danke ich (in alphabetischer Reihenfolge) Steffen Arndal, Thomas Brobjer, Konstantin Broese,
Giuliano Campioni, Norbert Fries, Gunter Gebauer, Niels Henningsen, Birthe Hoffmann, Karl Pestalozzi, Manfred Pfister, Andreas Urs Sommer, Vivetta
Vivarelli, Martin Vöhler und Wolfram Wojtecki. Reinhold Schröder und Helge Haystrup haben akribisch Korrektur gelesen. Eine große Hilfe bei der Erstellung
des Druckmanuskripts waren mir Sabina Dabrowski und Angelika Hermann vom Walter de Gruyter Verlag.
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Wissenschaft verdient nur dann von anderen Stilen des Denkens und Schreibens unterschieden zu werden, wenn sie das Ideal
der Widerspruchsfreiheit ihrer Aussagen zumindest anstrebt. Im Falle Nietzsches ist dies der Forschung, sei sie philosophisch,
philologisch, theologisch oder historisch ausgerichtet, von jeher schwer gefallen. Noch immer werden exegetische
Widersprüche am liebsten Nietzsche selbst angelastet. Die folgende Abhandlung stellt einige der gewiss augenfälligsten
Widersprüche in Nietzsches autorisiertem und nicht-autorisiertem Werk ins Zentrum und verfolgt das Ziel, sie aufzulösen.
Wenn zu diesem Zweck eine philologisch-literaturwissenschaftliche Lektüre vorgeschlagen wird, liegt die Begründung dafür
vornehmlich in Nietzsches Schriften selbst. Umgekehrt lässt sich erst von dieser Begründung her bestimmen, was Philologie
bzw. Literaturwissenschaft sei. Es gilt bei Nietzsche an methodische Traditionen anzuknüpfen, die durch den Entwicklungsgang
namentlich der Neuphilologien verschüttet worden sind. Die Edition von Nietzsches philologischem Nachlass hat die
archäologische Vorarbeit geleistet. Nun ist eine behutsame Restauration geboten – ein Verfahren, das bewusst der Aneignung,
Umwandlung und dem Einverleiben entgegensteht und sich ihnen gegenüber als konservatorische Praxis versteht.
Nietzsche hat vom Eintritt in die Pforte bis zur Aufgabe der Basler Professur insgesamt 21 Jahre lang, also gut die Hälfte seines
bewussten Lebens, den größten Teil des Tages der Philologie gewidmet, darunter die intellektuell prägenden Jahre der Jugend.
Nietzsche, der es liebte, auf vielen Gebieten zu dilettieren, besaß nur in dieser Disziplin gründliche und methodische Kenntnisse.
Sein philosophiehistorisches, naturwissenschaftliches und sonstiges Wissen war, wie von der neueren quellenhistorischen
Forschung zur Genüge belegt, meist aus zweiter und dritter Hand angelesen. Allenfalls die eigenständige Beschäftigung mit
religiösen und literarischen Texten kommt noch in Betracht – sie weist freilich in nicht geringem Maße ebenfalls Spuren der
philologischen Schulung auf. Eines der einflussreichsten Bücher über Nietzsche, die bedeutende Studie Walter Kaufmanns, trägt
den bekannten Untertitel „Philosopher, Psychologist, Antichrist“ (Kaufmann, 31968). Der Philologe, der Nietzsche auch und
zuerst war, ist nicht nur für Kaufmann, sondern für den Großteil der Nietzscheforschung terra incognita geblieben. Es ist die
These dieser Arbeit, dass die Philologie auf Nietz
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sches Denken, und das heißt auf seine Schriften, stärker gewirkt hat als bisher wahrgenommen. Nietzsche ist Philosoph,
Zwar zeigt sich Nietzsche ohne Zweifel schon vor dem Ende seines Studiums enttäuscht von der Philologie. Übersehen wurde
aber die Rückkehr zu bestimmten methodischen Zügen der Philologie nach dem Bruch mit Wagner. Am 30. August 1877, auf
dem Höhepunkt der Desillusionierung vom Brotberuf, schreibt Nietzsche an Marie Baumgartner: „Ich weiss es, fühle es, dass
es eine höhere Bestimmung für mich giebt als sie sich in meiner Baseler so achtbaren Stellung ausspricht; auch bin ich mehr als
ein Philologe, so sehr ich für meine höhere Aufgabe, auch die Philologie selbst gebrauchen kann.“ (KGB II.5:282) Hierin liegt
offensichtlich eine Bedeutung von Philologie verborgen, die sich nicht in der oft karikierten ‚Kärrnerarbeit‘ erschöpft. Es muss
dieselbe Philologie sein, auf die sich Nietzsche später so oft beziehen soll: „Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es
vielleicht noch.“ (M Vorrede 5, 3:17). Was Philologie für Nietzsche bedeutet und in welchem Verhältnis sie zu Philosophie oder
Theologie steht, bedarf der Klärung.
Einschlägige Arbeiten über Nietzsches Philologie älteren Datums konzentrierten sich auf die Schul- und Studienzeit und
berücksichtigten allenfalls noch die Fragmente zu der geplanten Unzeitgemässen mit dem vorläufigen Titel „Wir Philologen“ aus
den frühen siebziger Jahren. Die ersten Arbeiten, die sich genauer mit Nietzsches Philologie beschäftigen, sind Howald (1920)
und Svoboda (1920). Letzterer beklagt schon damals ihre Vernachlässigung in der ständig wachsenden Nietzsche-Literatur. Die
Philologie spiele in Nietzsches Leben eine wichtige Rolle und habe stark auf die Entwicklung seiner Anschauung gewirkt (657).
Einseitig auf die Jugendphase bezogen bleibt Schlechta (1948); die Grundzüge seiner Darstellung entsprechen aber bis heute
der Standardauffassung. Aus der Perspektive der Klassischen Philologie haben sich jüngst Gigante (1999), Porter (2000a;
2000b), Hubert Cancik (1994; 1995) bzw. Cancik/Cancik-Lindemaier (1999; 2002) hervorgetan. Gemeinsam ist auch diesen
Studien die Konzentration auf den frühen Nietzsche. Glenn Most (1994) bescheinigt Nietzsches Philologie, in einer ansonsten
temperamentvollen Verteidigung des Interesses am Philologen Nietzsche, nur wenige Verbindungen zu seinem Hauptwerk. Mir
wird es im Gegenteil darum gehen, die beeindruckende Relevanz der Philo
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logie für Nietzsches mittlere und späte Schriften aufzuweisen und damit sein durchgehendes philologisches Denken
nachzuzeichnen. Nicht der professionelle Philologe Nietzsche oder seine Philologica stehen deshalb im Mittelpunkt [1], sondern
die Aufschlüsse, die sich aus der Beschäftigung mit Nietzsches Philologie über jenes Werk gewinnen lassen, das ihn vor allem
bekannt und bedeutend gemacht hat.
In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde mit der Edition von Nietzsches philologischem Nachlass
offensichtlich, dass das Verhältnis von Philosophie und Philologie bei Nietzsche neu zu bewerten ist (vgl. Schaffer, 1997; Riedel,
Hrsg., 1999). Diese Erkenntnis ist zunächst aus der detaillierten Arbeit an Edition und Kommentar erwachsen. Mit Recht kritisiert
etwa Barbara von Reibnitz, dass die Nietzscheforschung sich mit Nietzsches philosophischem Werk auf Kosten der
philologischen Arbeiten beschäftigt hat (1992:2). Sie kann zeigen, dass schon die editorische Trennung in philologische und
philosophische Schriften im Nachlass problematisch ist. Nietzsche, und zwar nicht nur der frühe, sei nur vor seinem
philologischen Hintergrund zu verstehen. Sie deutet kurz an, dass Nietzsches (philosophische) Sprachkritik aus der
methodischen Praxis philologischer Interpretation erwachsen sei: hier werde ich weitergehen und präzisieren. Erwähnt sei
ferner ein wichtiger Aufsatz des jung verstorbenen Federico Gerratana (1994), der ebenfalls bereits das nach wie vor geltende
Vorurteil angreift, demzufolge sich Nietzsche nach Überwindung eines philologischen Irrwegs der Philosophie zugewandt habe.
Seine Philosophie sei vielmehr eine Entwicklung aus der Philologie heraus. Ein anregender Beitrag aus jüngster Zeit ist Thouard
(2000), der von der richtigen Beobachtung ausgeht, dass Nietzsches Ausfälle gegen die Philologie aus der Zeit stammen, da er
ihr selbst die meiste Energie widmete, während er ihr die meiste Ehre zukommen ließ, als er selbst längst kein Berufsphilologe
mehr war.
Die Vernachlässigung der Philologie in der Beschäftigung mit Nietzsches Werk ist die Vernachlässigung einer bestimmten
Tradition der Philologie, nämlich der historisch-kritischen Methode in der besonderen Ausprägung der Bonner Schule. Vor allem
ihre Auffassung vom Text hat Nietzsche stark geprägt. Als Student und junger Professor brillierte Nietzsche in den Disziplinen
der Text- und Quellenkritik mit allen dazugehörigen Hilfs- und Unterdisziplinen von Paläographie bis Konjekturalkritik in einer
Weise, die seine unerhört frühe Berufung nach Basel rechtfertigte (Cancik, 1995:516f). Während seine Leipziger philologischen
Arbeiten vor allem aus literaturhistorischen Studien bestehen, beschäftigt er sich später eher mit Pseudoepigraphie und
Werkkonstitution, also Fragen der höheren Kritik, wie sie von seinem Lehrer Friedrich Ritschl beson
ders gefördert wurden. Kennzeichnend für Nietzsches Philologie, so Barbara von Reibnitz, seien Untersuchungen zu Motiven
und Wertmaßstäben von antiken Traditionen (1994:51) gewesen. Obwohl Nietzsche nach 1873 keine philologischen Arbeiten
mehr veröffentlicht, existieren viele Aufzeichnungen zu Vorlesungen, die er bis 1879 hält. Seine Lehrtätigkeit war dabei
durchaus nicht, wie Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff in seiner bekannten Polemik unterstellte, im Sinne der Tragödienschrift
angelegt. Im Gegensatz zu weit verbreiteten Auffassungen war Nietzsche ein absolut zeittypischer Philologe, der sich gerne,
„vielleicht allzu gerne“ der Konjekturalkritik befleißigte (Bornmann, 1994:68–71) [2]. Der wissenschaftshistorische Zugang der
vorliegenden Arbeit ist aus diesen Gründen kein schmückendes Beiwerk, sondern vermag Nietzsches Texte mit einiger
Sicherheit in angemessene Kontexte zu stellen. Gibt es in der Nietzscheforschung, vor allem aber in der Laienrezeption eine
Tendenz, Nietzsche in allen seinen Facetten immer schon im Voraus als originalen und radikalen Erneuerer aufzufassen, wird
hier also der umgekehrte Weg gewählt. Die Verkleinerung Nietzsches ist jedoch ebensowenig beabsichtigt wie die Reduktion
seines Werks auf den philologischen Zeitgeist. Vielmehr soll sich die Eigenart des Werks aus dem Kontrast zum theoretischen
und praktischen Umfeld der Philologie ergeben.
In der verbreiteten Unkenntnis von Nietzsches wissenschaftshistorischem Standort liegt auch die Ursache dafür, dass er bis
heute in der Geschichte der Philosophie und Literaturwissenschaft ein heikles Streitobjekt geblieben ist. Weil die konkrete
philologische Tradition nicht erkannt wurde, die in Nietzsches Denken hineinragt und von ihm bewusst und unbewusst
weitergetragen wird, hat man ihm jeweils einen Standpunkt untergeschoben, der zufälligerweise als Vorläufer der eigenen
Theorie gelten kann. Durch die Untersuchung der Grenzen dieser Art von Nietzscheauslegung, besonders aber durch die
Verfolgung des tatsächlichen Schicksals von Nietzsches Philologie lässt sich seine Entwicklung umso deutlicher herausarbeiten.
Angesichts der vorherrschenden Auffassung von Nietzsche als Antiphilologen und Stichwortgeber verschiedener neuerer
exegetischer Theorien und Praktiken soll damit eine Korrektur des Nietzschebildes erfolgen, die gleichzeitig Konsequenzen für
Selbstverständnis und Historiographie der Literaturwissenschaften im allgemeinen hat – um diese Konsequenzen
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selbst geht es im abschließenden Kapitel dieser Arbeit. Es dürfte einleuchten, dass die hier verhandelten Fragen Bedeutung über
die engen Grenzen spezialisierter Nietzscheforschung hinaus haben. Sie betreffen zuletzt einige grundlegende Probleme der
Wissenschaftsgeschichte und der literaturwissenschaftlichen Methodologie. Der theoretisch und methodisch geschulte Leser
Nietzsches befindet sich deshalb in einem Zirkel, der allerdings nicht zwangsläufig als vitiosus aufgefasst werden muss. Gibt
man sich nach dem Ende der metaphysischen und nachmetaphysischen Systematisierungsversuche von Nietzsches Werk als
Diskursanalytiker, Dekonstruktivist, Freudianer oder Systemtheoretiker zu erkennen, verstummen ja gemeinhin jene, die
ansonsten den ‚Text‘ ins Feld geführt hätten und ziehen sich hinter die mehr oder minder soliden Mauern ihrer eigenen
Interpretationsgemeinschaft zurück. Dasselbe wird von den Mitspielern erwartet. Sich Nietzsche gegenüber für eine bestimmte
Lesart zu erklären, ist aber mehr als das bekenntnishafte Verweisen auf zu idealen Lesern erkorene vorangegangene
Interpreten. Denn dass sich viele der im heutigen Wissenschaftsbetrieb zirkulierenden Großtheorien, wie beispielsweise die
genannten, direkt oder indirekt von Nietzsche herleiten, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Die Auseinandersetzung um die
Interpretation von Nietzsches Text ist immer eine Auseinandersetzung um den ‚richtigen‘ Nietzsche, selbst wenn ein solcher
Anspruch die Prämissen der jeweiligen Theorie hintertreibt [3].
Ohne die naheliegende Rhetorik des ad fontes bemühen zu wollen, scheint mir eine philologisch begründete Darstellung von
Nietzsches eigener Auslegungstheorie dringend nötig zu sein, besonders da deren wichtigste Begriffe, die weit über den
strapazierten Begriff der Interpretation hinausgehen, erstaunlich schlecht erfasst sind. Die Tatsache, dass Nietzsche aus Sicht
heutiger Auslegungstheorien zwischen allen Stühlen zu sitzen scheint, lässt sich auf seine Anlehnung an exegetische
Grundsätze einer Philologie, die spätestens am Ende des neunzehnten Jahrhunderts unzeitgemäß geworden war,
zurückführen. Die Ansicht, Nietzsche habe eine normative Auffassung von ‚Interpretation‘ vermitteln wollen, wird in diesem
Zusammenhang als zentrales Missverständnis neuerer Nietzscheaneignungen nachgewiesen. Zum Säulenheiligen der
‚Dekonstruktion‘ und verwandter Erscheinungen taugt er jedenfalls schlecht: ihr auf ihn bezogenes Argumentum ad
verecundiam war von Beginn an brüchig und kann die Last der Legitimation nicht tragen. Unzureichend auf ganz andere,
grundlegendere Weise ist aber auch die negative Vereinnahmung Nietzsches durch die philosophische Hermeneutik. Obwohl
Auslegung und Interpretation bei Nietzsche an so prominenter Stelle verhandelt werden, spielt er in der hermeneutischen
Theoriegeschichte kaum eine Rolle (vgl. Hofmann, 1996). Schon Abel (1984:170ff) argumentiert von ganz anderen Positionen
heraus gegen die Einreihung Nietzsches
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unter die hermeneutischen Klassiker. Für Stegmaier (1992:282f) ist Nietzsches Auffassung vom Verstehen im Gegensatz zum
hermeneutischen Klassiker Dilthey immer schon ein „Anders-Verstehen“, das Missverstehen in allem Verstehen sei das zentrale
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Problem seiner Philosophie. Die Philologie sowie der Begriff des Textes treten in Nietzsches mittleren und späten Schriften, den
Nachlass eingeschlossen, vor allem in Zusammenhang mit Auslegungsfragen auf. Die methodischen Aspekte der Philologie, um
die es mir hauptsächlich gehen wird, beziehen sich – mit ständiger Rücksicht auf den weiteren Kontext – folglich vor allem auf
Nietzsches vieldiskutierte Interpretationstheorie. Erschwert wird dieser Ansatz indes dadurch, dass die Ergebnisse ja auch auf
die Lektüre Nietzsches eigener Texte anwendbar und mit seinen impliziten Leseanweisungen kompatibel sein müssen.
Eine Arbeit, die dergestalt zwischen Reflexion und konkreter Arbeit am Text, zwischen historischer und systematischer
Darstellung, zwischen Philosophie und Literaturwissenschaft schwankt, stellt den Verfasser vor eine unlösbare Aufgabe und
mutet dem Leser einiges zu. Der hier gewählte Mittelweg wird dem einen zu deduktiv, dem anderen zu detailverliebt erscheinen.
Der Nietzscheforscher mag sich weniger für literaturtheoretische Diskussionen, der Literaturwissenschaftler weniger für die
Seitenpfade der Nietzscheforschung interessieren. Um argumentative Transparenz für verschiedene Fachtraditionen zu
gewährleisten, wurden auch Exkurse aufgenommen, die dem einen oder anderen banal vorkommen mögen. Ich glaube dies um
des großen Vorteils willen verkraften zu müssen, den diese Vorgehensweise hat: Die Nietzscheforschung kann von der
literaturtheoretischen und philologiehistorischen Perspektive profitieren, diese wiederum lässt sich durch das Exemplum
Nietzsche schärfer fassen. Alle Exkurse dienen am Ende dem angemesseneren Verständnis Nietzsches, d.h. dem adäquaten,
kritischen Umgang mit seinen Schriften. Die allgemeinen Fragen dienen dazu, den Horizont aufzuhellen, vor dem ihre Umrisse
umso deutlicher hervortreten. Möge die wechselseitige Erhellung nicht, wie das Bild suggeriert, selbstreferentiell bleiben.
Für die traditionelle Blindheit gegenüber der wahren Bedeutung der Philologie bei Nietzsche lassen sich vier wesentliche Gründe
identifizieren. Da sie nicht in einem gesonderten Kapitel gemeinsam behandelt werden, sondern sich aus der Diskussion
konkreter Probleme ergeben sollen, seien sie hier kurz zusammengefasst. Die einseitige Rezeption von „Wir Philologen“ wurde
bereits bemerkt und wird an entsprechender Stelle genauer erläutert. An zweiter Stelle steht der ebenfalls genannte Streit
zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion, der dazu führte, dass Fragen über den historischen Nietzsche kaum noch gestellt
wurden. Zuletzt tragen jedoch der Gang der Wissenschaftsgeschichte und ihrer Geschichtsschreibung – beide dominiert von
Nietzsches Rivalen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff – die Hauptverantwortung. Wenn sie am Ende der Arbeit ausführ
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lich behandelt werden, so soll damit auch gezeigt werden, warum das Missverständnis Nietzsches ein historisches, kein
zwangsläufig-systematisches ist.
Auf die Einleitung der Arbeit folgen vier Kapitel und ein Schlusskapitel. Zuerst werden die theoretischen philologischen
Voraussetzungen dargestellt und Nietzsches konkrete philologische Schulung geschildert. In den beiden anschließenden
Kapiteln werden Erscheinung und Funktion philologischer Theorie und Methode in Nietzsches Denken und Schriften
beschrieben. Ein Exkurs setzt die Ergebnisse in Beziehung zur Rezeptionsgeschichte insbesondere von Nietzsches Gedanken
über Auslegung bzw. Interpretation sowie zur Wissenschaftsgeschichte der philologischen Methodik. Der Umstand, dass
Nietzsches Verhältnis zur Philologie gegenläufig zur Chronologie der Entwicklung gelesen wird, ist beabsichtigt. Die Aufspaltung
der Behandlung von Nietzsches Verhältnis zur Philologie in das zweite und fünfte Kapitel musste in Kauf genommen werden,
denn der retrospektive Blick auf Nietzsches Philologie hat sich im Verlauf der Beschäftigung mit seinem Werk als fruchtbar
erwiesen. Das letzte Kapitel zieht Schlussfolgerungen für die Lektüre der Schriften Nietzsches selbst sowie für Relevanz und
Zukunft der philologischen Methodik. Es macht nicht zuletzt deutlich, wohin sich die Nietzschephilologie entwickeln mag, kurz:
„wie man wird, was man ist“ (EH, 6:255). Es ist mir in diesem Zusammenhang die Anmerkung wert, dass ich meine Ergebnisse
zunächst nicht gesucht habe, sondern im Zusammenhang anderer Studien eher zufällig darauf stieß. L'appetit vient en
mangeant: erst später wurde mein Jagdeifer geweckt und von den in der Danksagung Genannten befördert.
Um inhaltlichen und argumentativen Zusammenhalt zu gewährleisten, sind die Abschnitte großzügig komponiert. Die Kosten für
die Systematik blieben überschaubar; einige wenige Wiederholungen waren unvermeidlich – sie dienen nicht zuletzt der
Betonung der wichtigsten Thesen und Resultate. Um Lesbarkeit zu gewährleisten und die graphische Übersichtlichkeit nicht
über Gebühr zu strapazieren, wurden viele Belege in die Anmerkungen verwiesen. Für Belehrungen in Bereichen, in die ich mich
trotz mangelnder Kompetenz zu weit vorgewagt habe, bin ich ebenso dankbar wie für die Weiterführung oder Modifizierung des
hier gewählten Ansatzes. Habe ich auch nur durch Fehler und Missverständnisse auf die Notwendigkeit gründlicher Forschung
zur Verbindung Nietzsches zur philologischen Methodik und Wissenschaftsgeschichte hingewiesen, ist die Arbeit nicht umsonst
gewesen.
Zur Zitierweise: Nietzsches Werke werden mit den üblichen Siglen abgekürzt und nach der Kritischen Studienausgabe (KSA)
zitiert, Zitate aus den nachgelassenen Fragmenten werden unter Angabe der jeweiligen Abteilung der Kritischen
Gesamtausgabe der Werke (KGW), d.h. der entsprechenden römischen Ziffer, der Manuskriptnummer sowie der
Fragmentnummer (in eckiger Klammer) nachgewiesen. Die Philologica werden meist nach der KGW unter Angabe des Bandes
und der Seitenzahl angeführt. Zitate nach anderen Ausgaben oder Archiva
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lien werden an Ort und Stelle erläutert. Nietzsches Briefwechsel wird nach der Kritischen Gesamtausgabe der Briefe (KGB) unter
Angabe des Briefdatums, der Briefpartner sowie Bandnummer und Seitenzahl zitiert.
1.2. ‚Fundamentalvorgang‘ oder ‚Texthermeneutik‘?
Nietzsches Interpretationstheorie ist, zumal in den letzten Jahrzehnten, von kaum zu überschätzender Wirkung gewesen. Mit
Nietzsche verbindet man heute die radikalste Version des Perspektivismus und der Einsicht, dass es „gerade Thatsachen“ nicht
gebe, sondern „nur Interpretationen. Wir können kein Factum ‚an sich‘ feststellen“ (VIII 7[60]). Spätestens seit Nietzsche kann
sich kein Wissensgebiet, keine Domäne des Universums mehr der Interpretation entziehen. Seitdem alles Auslegung ist, ist alles
immer schon ausgelegt. Zu dieser Einsicht gehört die unvermeidliche Konsequenz, dass es keine „allein selig machende
Interpretation“ gebe, wie es in dem berühmten Brief Nietzsches an seinen Musiker-Freund Carl Fuchs vom 26. August 1888
heißt (III.5, 399ff). Interpretationen, so der landläufige Umkehrschluss, seien deshalb prinzipiell gleichwertig, was insofern
bedenklich ist, da laut Nietzsche jede Interpretation gleichzeitig eine interessengeleitete Fälschung sei, zu deren Wesen das
„Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen“ (GM III.24, 5:400) gehöre.
Interpretation bezeichne, kurz gesagt, ein Mittel, „um Herr über etwas zu werden“ (VIII 2[148]).
Komplizierterweise steht dieser klaren Aussage indes Nietzsches periodisch erhobene Forderung nach philologischem Takt in
der Auslegung entgegen. Der Mangel an Philologie, dies ein an vielen Stellen erhobener Vorwurf Nietzsches, führt
unausweichlich zu Interpretations fehlern [4]. Es scheint geradezu als könne Verfälschung bzw. Falschmünzerei in der
Interpretation durch Philologie umgangen werden. So liest man bei Nietzsche Sätze, die den Perspektivismus wieder infrage zu
stellen scheinen, etwa wenn er besonders den Theologen, bisweilen auch den Philosophen schlechte Lesekünste vorwirft. Nicht
nur an einer Stelle wird von der „Kunst, gut zu lesen“ sogar gefordert, „Thatsachen ablesen [zu] können, ohne sie durch
Interpretation zu fälschen“ (AC 52, 6:233). Wie aber kann das möglich sein, wenn es keine Fakten, sondern nur
Interpretationen gibt? Von welchem Standpunkt aus kann Nietzsche Interpretationen beurteilen? Welchen Zugang zu
„Thatsachen“ gibt es jenseits der Interpretation? Was sind Tatsachen? Nietzsches Lesebegriff stößt stellvertretend für die
meisten Nietzscheforscher in Andreas Urs Sommers großem Kommentar zum Antichrist auf
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Verwunderung: Nietzsche falle in die naive vorhermeneutische Urzeit zurück. Bei der Anwendung der Welt-als-Buch-Metapher
vergesse der Leser, dass er selbst Teil der Welt sei und als Tatsache nur gelte, was zur solchen erklärt worden ist. Sommer
verzweifelt letztlich an dem Begriff der Tatsache, der so gar nicht zu Nietzsche zu passen scheint – „Eine nähere Erörterung des
prekären Tatsachenbegriffs muss ich mir an dieser Stelle versagen.“ Tatsachen seien „offenbar für sich bestehende, irgendwie
substantiell sedimentierte Entitäten, die in einer Welt der ‚Dinge an sich‘ bestehen. Diese Tatsachen versperren jeder
perspektivistischen oder postmodernen Auflösung der Welt in Auslegungen unverrückbar den Weg.“ (2000:506f). Das Ding-
an-sich freilich, das weiß auch Sommer, gibt es zu diesem Zeitpunkt für Nietzsche gar nicht mehr.
Die nach wie vor einflussreichste philosophische Darstellung von Nietzsches Interpretationstheorie stammt von Günter Abel
(1984). Ausgehend von Wolfgang Müller-Lauters wegweisender Studie (1971) deutet er Nietzsches Weltauffassung als eine
Gesamtheit widerstreitender „Kräfte-Zentrierungen“ von dynamischen Willen-zur-Macht (1984:4), ein sich selbst austarierendes
Chaos von Machtquanten, die allen Entitäten eignen, ja mit ihnen identisch sind: ‚Realität‘ entstehe aus dem Prozess der
Kräfteorganisation, der weder finalistisch noch kausalistisch, weder teleologisch noch mechanisch zu beschreiben sei. Abel
sieht Nietzsche damit in der Tradition eines Aristoteles, Spinoza oder Leibniz: unter Einbeziehung und Umwandlung
organizistischen Denkens weite Nietzsche den Vorgang der Kräfteorganisation auf alles Seiende aus, auf organische und
anorganische, selbst auf kulturelle und generell zeichengebundene Phänomene wie etwa die Kunst (vgl. S. 113). Den
„Fundamentalvorgang“ (133f) des Willen-zur-Macht-Geschehens nennt Abel Interpretation. Alles Geschehen ist Interpretation:
„Geschehen kann nicht nicht-interpretativ sein.“ (172). Kräfte interpretieren andere Kräfte nicht bestimmter Zwecke wegen,
sondern aus blindem Machtkalkül. Der Interpretationsgedanke hat nach Abel somit eine zerstörerische Komponente. Da Sinn in
einem Geschehen nie statisch sein kann, muss er immer wieder in den Prozess hineinprojiziert werden. Durch die Zirkularität
dieser Art von Interpretation – man findet immer nur das, was man schon hineingelegt hat – wird das Objektivitätsideal
neuzeitlicher Rationalität infragegestellt wie nie zuvor (142f).
Abel betont also den Charakter der Interpretation als Mittel, um Herr über etwas zu werden und interessiert sich weniger für die
andere Seite. Dabei geht es ihm nicht darum, etwa mit Nietzsches Hilfe ‚Wirklichkeit‘ zu leugnen. Diese sei lediglich immer
notwendigerweise konstruiert (z.B. 173). Unklar bleibt bei Abel jedoch, auf welche Weise und in welchem Ausmaß ‚Wirklichkeit‘
in die Interpretationen überhaupt einfließen kann, wenn sie denn schon von Interpretation unterschieden wird. Wenn jedes
Geschehen, also jedes Interpretieren, sich „mit der sich in seinem Vollzug intern selbst-konstituierenden absoluten
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hängig. Abel postuliert jedoch gleichzeitig einen fünfstelligen Zirkel des Interpretationsgeschehens „von dem der
Interpretierende bereits interpretiert ist, wenn und indem er sich interpretierend auf anderes Seiendes bezieht, welches
seinerseits Interpretierendes und Interpretiertes, auch ihn wiederum interpretiert.“ (173) Interpretation hat demnach durchaus
eine transitive Komponente, wobei die Fünfstelligkeit dieses Prozesses wenig einleuchtet: vielmehr müsste es sich ja um einen
Prozess von unendlicher Stellenzahl handeln (die Fünfstelligkeit ist eine nach der Logik der Theorie bereits unzulässige
Fixierung).
Abels universale Theorie bezieht ausdrücklich die Interpretation in Kunst, Wissenschaft und generell allen menschlichen
Handlungen ein. So gebe es keinen prinzipiellen, nur einen graduellen Unterschied zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und
ästhetischer Erfahrung – letztlich nur einen Unterschied verschiedener Vokabulare (176). Der Kunst komme darüber hinaus eine
besondere Bedeutung zu, als schöpferische, form- und sinnerzeugende Kraft zeigt sich in ihr die „jeweils epochenspezifische
Gestalt der Welt- und Selbst-Interpretation“ (179). Kunstwerke bauen, da sie ihre Rechtfertigung in sich selbst trügen, eine
Gegenbewegung zum Nihilismus auf, denn wenn „der platonisch-christliche Sinn aus der Welt herausgezogen“ sei und Dasein
sinnlos erscheine, könne nur Kunst, nicht Wissenschaft zur Überwindung des Sinnvakuums beitragen (179f). Damit ist
wiederum nur die eine Seite des späten Nietzsche treffend paraphrasiert. Nahezu ungehalten reagiert Abel auf die aber auch
nicht zu ignorierenden Fälle, in denen „Nietzsche selbst sich einer wissenschaftlich-theoretischen Ausdrucksweise“ bedient
(190f). An diesen Stellen müsse man Nietzsche mit Nietzsche gegen Nietzsche lesen: eine eindeutig wenig befriedigende
Lösung. Auch die Behauptung, dass Nietzsche generell gegen „das Tatsächliche“ und den Positivismus polemisiere (z.B. 143)
lässt sich leicht widerlegen; selbst im Spätwerk – wie kommt etwa in Nietzsches als Beitrag zur Auslegekunst konzipierter
Abhandlung das Lob Taines und Rankes zustande (GM III.19, 5:387)? Wenn außerdem, wie von Abel vorausgesetzt, alle
Entitäten aus sich selbst heraus wirken und dadurch Realität hervorbringen, muss es auch Entitäten geben, auf die gewirkt
wird. Der Dialektik von Schöpfen und Geschöpftwerden, von Assimilieren und Assimiliertwerden kann man sich schwerlich
entziehen (auch wenn dies im Sinne Nietzsches möglicherweise nur ein von der Grammatik suggerierter Fehlschluss ist). Heißt
das aber, dass es doch interpretationslose Domänen bzw. nichtinterpretierende, nur interpretierte Entitäten gibt? [5] Abel, und
das ist das Hauptproblem, konkretisiert den Begriff der Interpretation an keiner Stelle. Er setzt voraus, dass der Leser schon
weiß, was gemeint sei, und begründet nicht, warum
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er ihn denn überhaupt weiterhin parallel zum Begriff des Geschehens verwendet. Ferner differenziert er nicht zwischen
Nietzsches Begriffen der Interpretation, der Auslegung, des Kommentars, des Lesens, Ablesens, Entzifferns usf., die doch alle
in verschiedenen Kontexten und mit ersichtlich unterschiedlicher Absicht verwendet werden. Wenn man die Interpretation
kosmisch-universal fassen möchte, darf man gleichwohl die Augen nicht vor dem Umstand verschließen, dass wir offenbar
einen Begriff benötigen, der beispielsweise das Sprachspiel des Umgangs mit schriftlichen Texten genauer beschreibt als eine
allgemeine und damit überfrachtete Interpretationstheorie.
Abels philosophischer Rekonstruktion von Nietzsches Interpretationstheorie entgegengesetzt müsste deshalb ein Ansatzpunkt
liegen, der von texthermeneutischen Erwägungen ausgeht. Der Literaturtheoretiker Hendrik Birus (1984a und 1984b) hat ihn
ausformuliert. Als erster und bisher einziger hat er etwas bemerkt, das doch mit Händen zu greifen ist, dass nämlich die auf die
Interpretation bezogenen, von den Philosophen immer wieder herangezogenen Fragmente aus Nietzsches Nachlass sich gar
nicht auf die Auslegung von Texten beziehen. Immer dann, wenn es um Textauslegung gehe, rede Nietzsche gerade nicht der
Willkür, dem Vergewaltigen, Zurechtmachen usf. das Wort. Man solle das nicht als hoffnungslos veraltetes und bedauerliches
Erbe vorhermeneutischer Tradition abtun, so Birus, denn gerade in Nietzsches Angriff auf Theologie und Christentum spiele
dieser Umstand eine herausragende Rolle. Philologische Gesichtspunkte wurden in diesem Zusammenhang bisher außer von
Birus (1984a und 1984b) nur von Figl (1984 und 1989) sowie Blondel (1986) aufgegriffen. Gerade Blondels Buch ist eine reiche
Quelle wichtiger Einzelbeobachtungen zum Verhältnis Nietzsches zur Philologie und wird an entsprechender Stelle
herangezogen werden.
Hendrik Birus geht von hermeneutischen Überzeugungen aus (1984b ist Gadamer gewidmet). Nietzsches Begriff der
Interpretation stellt für ihn deshalb keinen Paradigmenwechsel dar: so revolutionär wie immer angenommen sei Nietzsche
weder in seinen philologischen Reflexionen noch in späteren „hermeneutischen Grundüberlegungen“ (1984a:377) gewesen.
Birus betont die Selbststilisierung Nietzsches zum Philologen, die sich bis zum Ende nachweisen lässt. Gleichwohl vertritt er die
These (1984b), dass es falsch wäre, Nietzsche aufgrund dessen für die Philologie in Anspruch zu nehmen, da seine Praxis der
Auslegung sich stark von dem zunftüblichen Verfahren unterschieden hätte. Man müsse also zwischen einem wenig
revolutionären Interpretations begriff und einer wegweisenden Interpretations praxis unterscheiden. In Nietzsches Schriften
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la méthode‘.“ (1984b:440) [6]. Johann Figl hat als erster mit wirklichem Nachdruck auf die Bedeutung philologischer Theorie und
Methode in Nietzsches Auffassung vom Umgang mit Texten hingewiesen. Im Gegensatz zu Birus scheint bei ihm Nietzsches
Werk selbst jener vermisste Discours zu sein. Um Nietzsches Hermeneutik zu verstehen, komme man an philologischer
Methodik nicht vorbei (1984:111). Figl (1989:162) stellt vor allem wegen Nietzsches zahlreicher das Lesen betreffenden
philologischen Argumentationen die Auffassung in Frage, wonach sich Nietzsche spätestens seit der Tragödienschrift von der
Philologie abgewendet habe.
Weder Blondel noch Birus oder Figl stand ein sorgfältig edierter philologischer Nachlass zur Verfügung. Auch
philologiehistorische Quellen haben sie kaum einbezogen. Ihre Ergebnisse müssen deshalb in entscheidender Weise revidiert
werden. An dieser Stelle sei zunächst festgehalten, dass es zwei Möglichkeiten gibt, Nietzsches Interpretationstheorie
nachzuvollziehen. Eine philosophische, begrifflich-universale wie bei Abel und eine an der Praxis einer konkreten Art von
Interpretation, nämlich an Texthermeneutik und damit Literaturwissenschaft orientierte wie bei Birus. Alle anderen Ansätze
lassen sich zwischen Abel und Birus einordnen und zu ihnen in Beziehung setzen. Ich möchte einen Weg vorschlagen, der sich
zwischen Abel und Birus bewegt, ohne doch ein Mittelweg zu sein. Dabei wird es nicht nötig sein, alle anderen Ansätze als
untauglich abzuwerten. Naturgemäß liefern unterschiedliche Erkenntnisinteressen auch unterschiedliche Einsichten (darin liegt
die banale Essenz des Perspektivismus). Es können damit bestimmte Aspekte auf fruchtbare Weise unter neuem Dach vereint
werden – fruchtbar allein schon deshalb, weil so ein philosophisch-literaturwissenschaftlicher Austausch entsteht, der in der
quellenbasierten Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaft seinen Ausgangspunkt nimmt. Voraussetzung ist eine
Arbeitshypothese, die sich aus den unterschiedlichen Analysen von Nietzsches Schriften fast zwangsläufig ergibt, nämlich dass
es in der Tat verschiedene Domänen der Interpretation und Auslegung gibt, deren Differenzierung vor der relativ neuen
allgemeinen hermeneutischen Theorie noch zum Allgemeingut gehörte. Das Kriterium zur Unterscheidung dieser Domänen war
und ist der Grad ihrer Textualisierung. In Nietzsches Auslegung geht es nicht um ‚Wahrheit und Methode‘, sondern um ‚Text
und Methode‘.
Ganz unabhängig von Standpunkt und Erkenntnisinteresse lässt sich nämlich ein durchgehendes Merkmal aller bisherigen
Kommentare zu Nietzsches Interpretationstheorie feststellen: das Missverständnis über Nietzsches Textbegriff, das Hand in
Hand mit der Vernachlässigung der zeitgenössischen Philologie geht. Günter Abels Behauptung, in der Zirkularität des
Interpretationsgeschehens
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werde bei Nietzsche die Unterscheidung zwischen Text und Interpretation (und damit auch von Natur und Schein) aufgehoben
(1984:182), ist zur Standardversion geworden. Günter Figal, um eine aktuelle Interpretation von Nietzsches Auslegungstheorie
zum Ausgangspunkt eigener Überlegungen zu nehmen [7], findet den Interpretationsbegriff Nietzsches vor allem deshalb
schwer erklärbar, weil ihm oft ein negativer Beigeschmack anhaftet. Das lasse sich nur als Provokation und Überspitzung des
Problems auffassen (2001:21f). Nietzsche gehe es offensichtlich darum, die eigenständige Leistung des Interpreten zu betonen.
Was sich nur durch Interpretation zeige, kann natürlich nicht mit dem Interpretierten verglichen werden, denn wenn es sich
unvermittelt offenbarte, müsste ja gar nicht interpretiert werden. Für die Erfahrung gibt es nichts als verschiedene
Erscheinungsweisen, also Perspektiven. Nietzsche sei deshalb inkonsequent, wenn er an der Unterscheidung von Realität und
Interpretation festhält, was freilich durch die Eigenschaft der Interpretation erklärbar sei, nur relativ zu anderen
Interpretationen als solche erkannt zu werden, Interpretation immer von „etwas“ zu sein. Die entscheidende Pointe von
Nietzsches aufrechterhaltener Unterscheidung sei, dass die modifizierende Kraft der Interpretation der Realität erst Sinn und
Wert verleihe; eine Welt ohne Interpretation sei sinnlos, ihr Sinn verändere sich ja deshalb auch mit der jeweiligen Perspektive
(24). Die Welt ist deshalb kein Tatbestand, weil sie außerhalb unseres Erfahrungshorizontes liege. Figal schließt daraus die
Bestimmung der Interpretation zur „Wahrheit der Philosophie“ (26) und gar zum „Entwurf eines Erkenntnisprogramms“ (28).
Man könnte dieses Erkenntnisprogramm als die doppelte Herausforderung verstehen, der eigenen perspektivischen
Beschränkung bewusst zu bleiben, ohne dabei das außerhalb dieser Perspektive Liegende radikal zu leugnen. Eine so
verstandene Realitätsvermittlung, in welcher Perspektiven als zueinander komplementär verstanden werden, ist in der Tat eine
wichtige menschliche Universalie (wobei Nietzsches Auslegungsgedanke, vor allem in Verbindung mit dem Willen zur Macht, das
Anthropologische überschreitet). Dennoch muss Figals philosophische Lesart um eine philologische ergänzt werden. Die beiden
Ebenen der ‚Realität‘ und ‚Interpretation‘ reichen nämlich nicht aus. Zunächst ist fraglich, was Nietzsche tatsächlich unter
‚Realität‘ versteht, ob er mit diesem Konzept überhaupt operiert [8] bzw. ob der Mensch sich bei ihm nicht schon immer in ei
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nem Gewebe aus Zeichen bewegt (vgl. Stegmaier, 2000 [9]). Es gibt darüber hinaus eine weitere, von Figal nicht
berücksichtigte, vermittelnde Ebene zwischen Realität bzw. Zeichenwelt und Interpretation dieser Zeichen, eine Art
Interpretation erster Ordnung, die für Nietzsche außerordentlich wichtig ist: den Text. Der Text ist eine Interpretation, die sich
von anderen Auslegungsweisen durch die strenge Methode unterscheidet, mit deren Hilfe sie gewonnen wurde. So wie der Text
in der Philologie kein factum brutum ist, darüber täuschen sich die meisten Nichtphilologen unter Nietzsches Lesern, gibt es
auch einen ‚Text‘ der Kultur, des Leibes und der Welt, der vor der eigentlichen Interpretation erst aus den Fakten bzw. Zeichen
konstruiert werden muss: der Tatbestand darf in diesem Sinne nicht mit dem factum brutum verwechselt werden. In ihm steckt
nämlich die Bestand aufnahme, die auswählende Geste der philologischen Textkritik.
Karl Jaspers sah in seiner Nietzsche-Monographie ähnlich wie Ricœur [10] und viele andere Autoren bei Nietzsche ein in der
Philologie wurzelndes „Gleichnis der Auslegung für das Grundverhältnis des Daseins zum Sein“ (Jaspers, 21950:292); er glaubt
aber fälschlicherweise, es stamme aus dem Verhältnis von Text und Interpretation. In der philologischen Tradition, aus der
Nietzsche stammt, gilt der Text aber eben gerade nicht als „das Feststehende“ (ebd.) – und es ist deshalb nicht „die darüber
hinausgehende Interpretation“, die als „fragwürdig“ angesehen werden muss. Fragwürdig ist für den Philologen vielmehr an
erster Stelle die Überlieferung des Textes. Erst wenn sie gesichert ist, kann mit Gewinn gelesen werden [11]. Nietzsches Begriff
der Interpretation nimmt vor die
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sem Hintergrund eine sehr spezifische Bedeutung an, die dem Lesen sogar entgegengesetzt ist.
Nietzsches Verständnis der Auslegung richtet sich an dem aus seiner philologischen Schulung vorgegebenen Muster von
niederer und höherer Hermeneutik bzw. niederer und höherer Kritik aus. Die Philologie bleibt ihm sein Leben lang
Leitwissenschaft und Ideal der Exegese – auch die ‚Genealogie‘ hat er schließlich in Anlehnung an sie entworfen. An der oft
zitierten Stelle des erwähnten Briefs an Carl Fuchs über die allein selig machenden Interpretationen, wird ausnahmslos
unterschlagen, dass Nietzsche expressis verbis als „der alte Philologe“ spricht, der „aus der ganzen philologischen Erfahrung
heraus“ spricht (III.5, 399ff.; s.o.). Noch im Antichrist , einem seiner letzten Texte, kürt Nietzsche neben der Medizin die
Philologie zur Todfeindin des Aberglaubens (also des christlichen Glaubens).
Von einer „Umwertung“ der Philologie, wie z.B. von Schrift (1988) behauptet, oder gar der vollkommenen Lösung von ihr kann
bei dem Nietzsche nach der Geburt der Tragödie jedenfalls keine Rede sein [12]. Es wäre hingegen an der Zeit, Jean Graniers
Erkenntnis ernst zu nehmen, dass nämlich die „apologie de la science“, die Nietzsche als Polemik gegen die Metaphysik diene,
auf dem Paradigma der philologischen Methodik aufbaut (1966:75ff). Es wäre an der Zeit, sich von der Erkenntnis des großen
Karl Reinhardt leiten zu lassen, die dieser schon in einem Vortrag des Jahres 1928 äußerte:
Die Methode, die [Nietzsche] während seiner Lehrzeit schulgemäß zu handhaben gelernt hat, ist die philologische, historische
Methode seiner Zeit. Wo er in späteren Schriften über Methode redet, redet er mit Vorliebe von ‚Interpretation‘. Der Sinn, von
dem aus sein Begriff der Interpretation verstanden werden will, bestimmt sich durch den philologischen Begriff der
Interpretation, so wie er ihn als Philolog gelernt hat. (Reinhardt, 1960b:296f)
Niemand hat diese Vorlage bisher aufgenommen, auch Reinhardt selbst hat sie nicht vertieft. In den folgenden Kapiteln soll dies
nachgeholt werden, um schließlich den
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Gründen nachzugehen, warum nach Reinhardt niemand in dieser Weise über Nietzsche weitergedacht hat.
1.3. Methodische Vorentscheidungen, Text- und Quellengrundlage
Die vorliegende Studie fühlt sich der philologischen, nicht der philosophischen Nietzscheforschung verpflichtet. Für sie mögen
die Namen Mazzino Montinari oder Ernst Behler stehen – um nur jenen die Ehre zu erweisen, die sich gegen die Vereinnahmung
nicht mehr wehren können. Die quellenkritische Rekonstruktion von Nietzsches Denken in der Nachfolge Montinaris ist ein
überzeugendes Forschungsparadigma, freilich bedarf es verstärkter Bemühungen um die Lektüre und Auswertung der
gefundenen Quellen: die bloße Verkettung von Quelle und Text genügt heute weder dem erreichten Stand der
Literaturwissenschaft noch der Nietzscheforschung. Ich plädiere deshalb für eine zur philosophischen Nietzscheforschung
komplementäre, philologisch-literaturwissenschaftliche Lektüre als einer Kombination aus Edition, Textkritik, Quellenforschung
und Lektüre, die sich am methodischen Inventar orientiert, welches in langer praktischer Arbeit am philologischen Umgang mit
Texten entstanden ist – und das den Philologien, die sich allzu lange von ihrem eigenen methodischen Kern ablenken ließen,
selbst in Erinnerung zu rufen ist.
Wollte ein Philosoph damit anfangen, die Methode, nach der er philosophieren will, sich auszudenken; so gliche er einem Dichter,
der zuerst sich eine Aesthetik schriebe, um sodann nach dieser zu dichten: Beide aber glichen einem Menschen, der zuerst sich
ein Lied sänge und hinterher danach tanzte. Der denkende Geist muß seinen Weg aus ursprünglichem Triebe finden: Regel und
Anwendung, Methode und Leistung müssen, wie Materie und Form, unzertrennlich auftreten. Aber nachdem man
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angelangt ist, mag man den zurückgelegten Weg betrachten. (Schopenhauer, 1988, II.1:142)
Genauer beschrieben werden soll freilich die Text- und Quellengrundlage. Alle bisher publizierten Schriften Nietzsches,
einschließlich des Briefwechsels, sowie einige noch nicht publizierte Materialien sind berücksichtigt worden, namentlich die
Kollegnachschriften. Hier habe ich mich auf die philologischen Kollegnachschriften konzentriert. In ihrem Vorwort zu Band I.4.
der KGW begründen Herausgeber und Bearbeiter, Johann Figl und Ingo W. Rath, ihre Entscheidung, nur jene
Kollegnachschriften Nietzsches in die gedruckte Edition dieser Abteilung aufzunehmen, die nicht philologischen Inhalts sind. Die
Begründung überzeugt nicht. Insbesondere Figl sollte es aufgrund seiner eigenen Einsichten (s.o.) besser wissen. Für
Nietzsches „Bildungsgang“ seien die philologischen Kollegs weniger wichtig gewesen als die Handvoll theologischer und
philosophischer Vorlesungen, die er besonders zu Beginn seines Studiums hörte (S. ix). Bei dieser schlicht unbewiesenen
Behauptung handelt es sich um eine Nachwirkung jener unseligen und willkürlichen Trennung des philologischen vom
philosophischen Nietzsche. Zwar geben viele der philologischen Kollegnachschriften in der Tat wenig her, das nicht aus
Nietzsches philologischen Aufsätzen besser zu uns spräche. Die teilweise schwer leserliche oder verblasste Handschrift macht
die Lektüre nicht zum Vergnügen. Dennoch ist die Entscheidung durch nichts zu rechtfertigen. In ihrer geballten Konzentration
geben die Kollegnachschriften philologischen Inhalts ein wesentlich realistischeres Bild von Nietzsches „Bildungsgang“ als eine
verkürzende Darstellung, die Nietzsche von vornherein zum Philosophen stempelt, dessen Beschäftigung mit der Philologie
gleichsam bloßes Versehen war.
Da der frühe Nietzsche bzw. Nietzsche als Berufsphilologe jedoch selbst nicht im Mittelpunkt stehen, werden die
Kollegnachschriften nur in wenigen Fällen als Belegmaterial herangezogen; die entsprechende Übersicht im Literaturverzeichnis
dient vor allem der schnellen Orientierung und dem Nachweis des konkreten philologischen Bildungshintergrunds, der hier
behauptet wird. Nietzsches übrige Philologica sowie der methodisch-philologisch aufschlussreiche Nachlass sind genauer
untersucht worden, stehen jedoch gleichfalls nicht im Zentrum. Ausgehend vom philologischen Material liegt das Hauptgewicht
der Analyse vielmehr auf Nietzsches Hauptschriften, denn sie sind es, die das Interesse am Nachlass und an den ansonsten
absolut zeittypischen Vorlesungsnachschriften erst hervorgebracht haben. Die seit Heidegger vor allem in der akademischen
Philosophie verbreitete Auffassung, wonach Nietzsches eigene Veröffentlichungen nur „Vordergrund“ waren und seine wahre
Philosophie erst im Nachlass der achtziger Jahre – d.h. in den Fragmenten, die den Kern des ominösen Willen zur Macht
konstituierten [13] – zu finden sei (vgl. Heidegger, 61998, Bd.
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1:6ff), wird als unseriös abgelehnt. Aus philosophischer Sicht mag die Beschäftigung mit Kernsätzen bequem sein, deren
konkreten Werkkontext man vernachlässigen kann – die Philosophie liebt an der Literatur immer das Fragmentarische (man
denke nur an Hölderlin oder Celan). Nietzsches publizierte Schriften sind aber um einiges komplexer und anspruchsvoller als der
Nachlass der achtziger Jahre, auch wenn dieser durchaus eine Fundgrube für den Kenner der Schriften darstellt und wertvolle
Einsichten in Nietzsches Denkwerkstatt gestattet.
Nach wie vor gibt es eine deutliche Arbeitsteilung auf dem Gebiet der Nietzscheforschung. Die Philosophen konzentrieren sich
unvermindert auf den Nachlass (mittlerweile nicht mehr nur den späten, sondern auch den frühen), hier wirkt außer Heidegger
auch Schlechta nach. Die Philologen beschäftigen sich eher mit den von Nietzsche selbst publizierten Werken; auch Montinari
gab ihnen den Vorzug. Die zur Zeit besten Studien zu einzelnen Schriften Nietzsches kombinieren die verschiedenen Tugenden
und bearbeiten – auf ganz verschiedene Weise – mit einem am Nachlass quellenkritisch und textgenetisch geschulten
Viele Quellenstudien zu Nietzsches Lektüre beschränken sich auf den Nachweis von Stellen, in denen der Wortlaut zwischen
Quelle und Text so große Ähnlichkeit aufweist, dass Zufall ausgeschlossen und damit ein Einfluss bewiesen ist. Die bloße
Entdeckung einer Quelle sagt jedoch noch lange nichts über ihre Umfunktionierung im neuen Kontext von Nietzsches Text aus,
d.h. sie erlöst nicht
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vom Imperativ der Auslegung, die auf diesen Kontext vor allem Rücksicht zu nehmen hat. Ausgehend von Nietzsches
nachgelassener Bibliothek habe ich mich deshalb mit den für das Thema relevanten Quellen befasst, die Grenzen der Relevanz
aber kaum festgelegt. Die aktuelle Nietzscheforschung orientiert sich teilweise zu sklavisch am zufällig erhaltenen Bestand der
Weimarer Sondersammlung. Ich habe die Quellen aus der nachgelassenen Bibliothek um belegte oder sehr wahrscheinliche
Exemplare erweitert, die nicht (mehr) im Nietzsche-Archiv aufgestellt wurden. So hat Nietzsche bereits nach Aufgabe seiner
Basler Professur einen guten Teil der philologischen Literatur verkauft. Relevant sind darüber hinaus frühere und
zeitgenössische Autoren verschiedenster Herkunft, die sich auf thematisch verwandtem Gebiet bewegen, – und seien sie nur
als Kontrastfolie geeignet. Der Nachweis, ob Nietzsche sie gekannt hat oder nicht, ist in diesen Fällen gleichgültig.
Viele benutzte Quellen entstammen dem Bereich der Philologiegeschichte, die in der Forschung zur Wissenschaftsgeschichte
überraschend schlecht vertreten ist. Paradoxerweise haben die Geisteswissenschaften, die beizeiten alle anderen
Wissenschaften dazu anhielten, ihre Geschichte zu reflektieren, vergessen, vor der eigenen Haustüre zu kehren. Auch wenn
sich hier immerhin gerade etwas ändert, so gibt es heute fast mehr Literaturwissenschaftler, die sich forschungsmäßig mit der
Geschichte anderer Wissenschaften (Medizin, Anthropologie, Chemie usf.) beschäftigen, als mit der Geschichte der eigenen
Disziplin. Meine Versuche, Ordnung in das Archiv zu bringen, sind dementsprechend vorläufig und tastend [15]. Ich ziehe
ferner einige Quellen aus der europäischen Literaturgeschichte heran, seien sie nun in Nietzsches nachgelassener Bibliothek
erhalten oder nicht [16]. Nietzsche kannte die Literaturgeschichte besser als die Philosophiegeschichte, und seiner
ungewöhnlichen Belesenheit (er war, trotz gegenteiliger Beteuerungen, ein ausgesprochener Vielleser) kann man wohl nur auf
komparatistischem Weg gerecht werden. Gewiss gibt es in den Archiven noch ungehobene Schätze, selbst alle Schriften von
Nietzsches eigener Hand sind entgegen weit verbreiteter Annahmen noch nicht vollständig veröffentlicht. Ich erwarte von
neuen Funden jedoch keine Falsifizierung meiner Thesen. Die Arbeit mit dem einmal ausgewählten Material erschien letztlich
wichtiger als seine kontinuierliche Ergänzung.
[1] Der gediegene Überblick der Philologica Nietzsches in Cancik (1995) enthält auch eine Übersicht der Manuskripte. Viele
relevante Quellen zum jungen Philologen hat zusätzlich Porter (2000a) erschlossen. Beide Bücher könnten mit Gewinn parallel
zur vorliegenden Arbeit konsultiert werden.
[2] Wichtige Quellenhinweise bei Crescenzi (1994): hier findet sich ein gutes Verzeichnis Nietzsches enormer philologischer
Belesenheit, das eindeutig in dieselbe Richtung weist. Wissenschaftshistorisch interessant ist das Exemplar von Müller (1969a)
in Nietzsches nachgelassener Bibliothek, das mit vielen eigenhändigen Anstreichungen Nietzsches durchgearbeitet ist,
wahrscheinlich für Vorlesungszwecke in Basel (vgl. § 3 seiner enzyklopädischen Vorlesung in KGW II.3:357ff). Es handelt sich
um einen ausführlichen wissenschaftshistorischen Abriss aus kritischer Perspektive (die Niederländer waren besonders in der
Entwicklung der Textkritik maßgeblich gewesen), der hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kann, der aber zeigt, wie
gut Nietzsche sich in der Materie ausgekannt haben muss. Schon Barbara von Reibnitz (1992:9–35) bietet eine Fülle an
Informationen, Literatur- und Quellenhinweisen zu Nietzsches philologischer Schulung in Pforta, Bonn und Leipzig sowie der
philologischen Tätigkeit in Basel.
[3] Vgl. etwa die berechtigte Kritik Lothar Jordans an der Vereinnahmung Nietzsches für die Systemtheorie Luhmanns (Jordan,
1994). Zu Schwächen der Nietzsche-Rezeption im Umfeld des Poststrukturalismus auch Brenner (1998:156ff und 235f).
[5] Ähnliche Einwände formuliert Stegmaier (1992:312f). In Abels Interpretationszirkel werde kein Nicht-Interpretiertes mehr
vorgesehen, aber dennoch vorausgesetzt. Stegmaier betont interessanterweise ferner, dass Nietzsche nicht so sehr an
Perspektivismus und Interpretation interessiert sei, sondern vielmehr an Genealogie, an den Verflechtungen, Hierarchien und
Dynamiken von Interpretationen. Die folgenden Untersuchungen werden dies (freilich unter ganz anderen Voraussetzungen)
bestätigen.
[6] In diesem Aufsatz argumentiert Birus außerdem, dass es ausgerechnet Nietzsches Philologica seien, in denen zwischen
einem orthodoxen philologischen Interpretationsbegriff und unorthodoxer Praxis vermittelt werde. Allerdings übertreibt er die
Originalität der philologischen Schriften (ihm stand freilich nicht die einschlägige neuere Forschung zur Verfügung, insofern
handelt es sich um eine anerkennenswerte Pioniertat); die entscheidenden Quellen hat er nicht rezipiert.
[7] Figals Arbeit zeichnet sich durch ihre Kürze, Klarheit und Prägnanz vor anderen aus. Sie soll hier nicht in Frage gestellt,
sondern ergänzt werden. Eine Arbeit von minderem Rang zu widerlegen, wäre kein Kunststück gewesen. Ich betone das, weil
an dieser Stelle der Eindruck entstehen könnte, ich mache Figal für die Kunstfehler aller gewesenen und zukünftigen
Philosophen verantwortlich. Das Problem ist ein anderes. Figals für den philosophischen Diskurs angemessene
verallgemeinernde Ausdrucksweise läuft genauso Gefahr missverstanden zu werden wie Nietzsche selbst – was man diesem so
wenig vorwerfen kann wie jenem.
[8] Für Vorsicht gegenüber dem Begriff der Realität bei Nietzsche plädiert schon Granier (1966:326ff).
[9] Wenn ich recht sehe, entwickelt Stegmaier hier einen Ansatz Josef Simons weiter (Simon, 1986). Dieser war vom
traditionellen Begriff des Scheins ausgegangen, der philosophiehistorisch in erster Linie Gegensatz nicht zum Sein, sondern
zum wahren, unvermittelten Sein gewesen sei: Schein stelle dagegen das unwahre, dennoch Seiende dar. Für Nietzsches
Perspektivismus ist dies natürlich ausschlaggebend: alles Wissen ist Schein-Wissen, Wahrheit beziehe sich immer auf einen
bestimmten gegebenen Schein und sei selbst Schein. „Bei Nietzsche ist das Sein rein als bestimmtes Sein Schein und nicht erst
über die Reflexion auf ein wie auch immer reflektiertes Wesen. Es ist Schein durch die perspektivische Auflösung jeder
Wesensbestimmung und die daraus resultierende Negation eines vom Sein unterschiedenen wahren Seins.“ Sein wird also
Zeichen: „Nicht mehr Denken und Sein und auch nicht mehr Denken und Unterscheidung wahren und scheinhaften Seins sind
dasselbe, sondern Denken und Interpretation von Zeichen, nicht als Interpretation auf eine gedachte feste Bedeutung hin,
sondern als Übersetzung von Zeichen in andere Zeichen.“ (74). Stegmaier hatte dazu übereinstimmend bemerkt
(1992:319ff), dass Nietzsche den Schein nicht wie Leibniz und Kant als Abglanz eines an sich Seienden, sondern wie Hegel als
Schein eines Scheins denke und an derselben Stelle das Schein-Problem (kein absichtliches Wortspiel …) philosophisch näher
erläutert. Ich respektiere die philosophische Absicht, das Thema der Interpretation auf diese Weise gleichzeitig historisch wie
zeichentheoretisch zu öffnen, möchte aber von Anfang an deutlich machen, dass ich selbst darauf verzichten werde, und zwar
einerseits schon aus Gründen mangelnder Kompetenz, andererseits aber auch, weil ich bezweifle, dass Nietzsche selbst in
vergleichbarer Manier systematisch gedacht hat.
[10] Ricœur (1965:34) weist zwar darauf hin, dass Nietzsche den Auslegungsgedanken aus der Philologie geborgt habe,
schließt aber keine genauere Betrachtung des philologischen Erbes in der Interpretation an.
[11] Die Ausnahme unter den Philosophen ist Gadamer, der als ausgebildeter Philologe die Dialektik von Text und Interpretation
schon früh erkannte. Der Text sei durchaus nicht nur das Gegebene, oft führe erst die Interpretation (via Textkritik etc.) zum
Text. Er sei damit selbst ein hermeneutischer Begriff, eine Phase im Verstehensprozess, und nicht einfach das Endprodukt, als
das ihn die Linguistik analysiere (1986:341). Aufgabe der Philologie sei es dementsprechend, Texte zuerst „lesbar“ zu machen,
im extremen Falle als Übersetzung aus einer fremden Sprache. Textverständnis bleibt damit von kommunikativen Bedingungen
abhängig, die über den Wortsinn hinausreichen (341f) eine Erkenntnis, die nach der pragmatischen Wende auch in der
Linguistik unkontrovers ist. Leider hat Gadamer diesen Textbegriff nicht an Nietzsche ausprobiert. Welche Gründe dafür den
Ausschlag gegeben haben mögen, wird weiter unten erörtert.
[12] Die Chronologie ist hier, wie überall bei Nietzsche, von entscheidender Bedeutung. Die Colli/Montinari-Ausgabe hat
zweifelsfrei bewiesen, dass viele der für revolutionär und radikal gehaltenen fragmentarischen Äußerungen über die
Interpretation aus dem Nachlass weit vor den späten in sich geschlossenen Werken entstanden sind und deshalb keineswegs
als Nietzsches letztes Wort gelten dürfen. Da große Teile der bis heute einflussreichsten Nietzsche-Literatur noch auf der
Schlechta-Ausgabe beruhen (im besten Falle: besonders in Frankreich und den USA wird bekanntlich nach wie vor mit noch
unzureichenderen Übersetzungen und Nachlasskompilationen gearbeitet), können die falschen Vorstellungen noch lange
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nachwirken.
[13] Der eigentliche Skandal des von Elisabeth Förster-Nietzsche kompilierten Willen zur Macht war nicht so sehr die
philologische Unzulänglichkeit oder der bösartige Wille zur Fälschung (letztlich besteht der Wille zur Macht ja immer noch aus
Nietzsches Formulierungen), sondern der Umstand, dass dieses Machwerk Hauptwerkstatus beanspruchte.
[14] Schon Willy Haas, Herausgeber der „Literarischen Welt“ und einer der aktivsten Gegner des Nietzschearchivs unter
Elisabeth Förster-Nietzsche nannte Ecce Homo „eines der brilliantesten kulturkritischen Werke der Weltliteratur“ (Haas,
1929:1f). Zu dieser Tradition vgl. Benne (2004a).
[15] Im NPAU liegt seit kurzem ein Eintrag zur Philologiegeschichte von Joachim Latacz und Peter Lebrecht Schmidt vor
(„Philologie“ in Bd. 15/2, S. 238–327), der mir während der Abfassung des Manuskripts zwar noch nicht zur Verfügung stand,
dessen hervorragende Übersicht aber eine gute Vergleichsbasis zu den von mir herausgearbeiteten Linien abgeben kann. Hier
auch weitere bibliographische Hinweise zum Thema.
[16] Auf seine unsteten Wanderungen musste Nietzsche mit der Größe seiner Bibliothek haushalten. Wir wissen, dass er fast
alle belletristischen Werke, waren sie einmal gelesen, verschenkte bzw. verkaufte oder gegen neue Bücher eintauschte.
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CAPES
Type: Sekundärliteratur
10.1515/NO_W018442_0004
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Die Philologie ist für Nietzsche eine Lebensentscheidung gewesen. Schon in der Schulzeit nahm die Beschäftigung mit ihr seine
Abwendung vom Christentum vorweg; sie ließ ihn auf der Universität das Studium der Theologie abbrechen, zu dem er sich von
der Familie noch gedrängt gesehen hatte [17]. Von Beginn an ist die Philologie eine Entscheidung für wissenschaftliche
‚Redlichkeit‘, für Methodik: Nietzsche begeistert sich weniger für die Schilderung und Erforschung des griechisch-römischen
Altertums als für die strenge Kritik der Bonner Schule Friedrich Ritschls. Das Urteil der wichtigsten Biographen, die mehr als
andere das landläufige Nietzschebild geprägt haben, ist freilich einstimmig. Weder Walter Kaufmann (31968) noch Werner Ross
(21994) schenken der Philologie viel Aufmerksamkeit. Ross stellt die Basler Zeit zwar recht umfassend dar, interessiert sich
jedoch kaum für die eigentliche berufliche Tätigkeit Nietzsches und ihre Beziehung zu seinen anderen Lebensumständen oder
gar seinen Denkweg. Die Lösung Nietzsches von der Philologie interpretiert er als Prozess der Entfremdung. Walter Kaufmann
schreibt die Aufgabe der Basler Stellung vor allem gesundheitlichen Gründen zu.
Curt Paul Janz ist gründlicher. Er erzählt von einem den Büchern verfallenem Knaben, der in der Pforte methodisch und sachlich
von Koryphäen der Philologie exzellent ausgebildet worden ist [18] und vom Geist der Philologie völlig durchtränkt die Universität
bezieht. Aber Nietzsches Begeisterung für Friedrich Ritschl und seine Art der Philologie stellt Janz als gleichsam unfreiwillige, von
der charismatischen Persönlichkeit Ritschls ausgelöste, ansonsten wenig nachvollziehbare Faszination dar. Zwar erkennt Janz
die Bedeutung der methodischen Schulung Nietzsches durch die Philologie an, letztlich habe sie ihn aber „einen großen Teil
seines Lebens gekostet“ (Bd. 1:173ff). Spätestens mit der Entdeckung Schopenhauers und F.A. Langes in der Leipziger Zeit
beginne Nietzsches innere Lösung
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vom Fach. Wie die anderen Biographen auch behandelt Janz die Studienzeit oberflächlich und ohne besonderes Interesse. Der
Basler Dekade wird mehr Platz eingeräumt, allerdings steht hier das Verhältnis zu Wagner im Mittelpunkt. Nietzsche habe die
Professur dann aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben. Für Janz ist wie für die gesamte traditionelle Nietzscheforschung die
Philologie nach der Basler Zeit erledigt, obwohl er es am Rande doch erwähnenswert findet, dass Nietzsche die historisch-
kritische Methode im Antichrist wiederzubeleben scheine (Bd. 2:595). Die Biographen schreiben hinsichtlich Nietzsches
Eine differenziertere Lesart muss man, wie so oft, bei Lou Andreas-Salomé suchen. Auch sie verbindet die Aufgabe der
Professur mit Nietzsches Gesundheitszustand (2000:117f), da er sein geringes Augenlicht eben für andere Studien als
ausgedehnte philologische Mikroskopie benötigte. Auch sie betont, dass die strenge philologische Schulung durch die Methode
Ritschls die schöpferischen Kräfte des „jungen Feuergeist[es]“ (78) nicht zur vollen Entfaltung kommen ließ. Indes verbindet sie
gleichzeitig Nietzsches Affinität zur Feinheit, zur Subtilität in Auffassung und Erkenntnis mit seiner philologischen Herkunft (83).
Geht sie schon darin über die anderen Biographen hinaus, so lässt sich ihre grundsätzliche Einsicht in Nietzsches Denkdynamik
besonders gut auf sein Verhältnis zur Philologie anwenden:
[…] was Nietzsche am grundsätzlichsten zu bekämpfen scheint, das nimmt er schließlich selbst am grundsätzlichsten in seine
Theorie auf, – aber nur in den äußersten Consequenzen und im extremsten Sinn. Was er auf seinem Wege als Mittel zum
Zweck am entschiedensten verwirft, das benutzt er schließlich, um es seinem Endzweck, seinem Ziele selbst einzuverleiben. Ja,
man kann überall da, wo Nietzsche irgend etwas mit ganz besonderem Hasse verfolgt und erniedrigt, mit Sicherheit annehmen,
daß es irgendwie tief – tief im Herzen seiner eigenen Philosophie oder seines eigenen Lebens steckt. Dies gilt sowohl von
Personen wie von Theorien. (239)
Es gibt in der Tat eine Phase, in der Nietzsche die Philologie aktiv zu bekämpfen scheint. Auf sie wird später genau einzugehen
sein (s. v.a. 5.3.–5.5.). Die Forschung zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der Philologie hat sich zu ihrem Nachteil fast
ausschließlich auf diese Phase konzentriert, nämlich auf die Entstehungszeit der Notizen zur geplanten Unzeitgemässen
Betrachtung mit dem Titel „Wir Philologen“. Die Philologie werde sich, so heißt es dort Mitte der siebziger Jahre, selbst die
Existenzgrundlage entziehen, wenn sie ihren kritisch-zerstörerischen Pfad weiterverfolge: „Der zukünftige Philologe als
Sceptiker über unsre ganze Cultur und damit auch als Vernichter des Philologen-Standes.“ (IV 5[55]) – so lautet etwa der
Entwurf einer Kapitelüberschrift. Nietzsche stilisiert die Philolo
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gie zeitweilig zur blutarmen Beschäftigung von Hilfsarbeitern, die einer schaffenden Philosophie diametral entgegensteht. Das
Bild vom Philologen als Antipoden der wahren Griechen und bloßem „Kärrner“ der Wissenschaft (vgl. etwa Pöschl, 1979) liefert
Schlagworte bis heute [19].
„Wir Philologen“ hat in neuerer Zeit besonders durch die Aufnahme in den dritten Band der einflussreichen Ausgabe Schlechtas
(SA) gewirkt, nachdem sie erstmalig in der Großoktavausgabe (GA) und danach in der lange Zeit weit verbreiteten
Taschenausgabe von 1906 (TA) erschienen war und in der Folge in alle auf diesen Editionen beruhende Nietzscheausgaben
Eingang fand. Durch ihre Präsentationsform erhalten die Aufzeichnungen und unfertigen Reflexionen in Form einer
Fragmentsammlung unzulässigerweise Werkcharakter, der sie ununterscheidbar von den aphoristischen Büchern macht. „Wir
Philologen“ vermittelt die Illusion, Nietzsche habe hier zusammenhängend das letzte Wort über die Philologie gesprochen [20].
Allerdings heißt es in „Wir Philologen“ auch: „Man glaubt es sei zu Ende mit der Philologie – und ich glaube, sie hat noch nicht
angefangen.“ (IV 3[70]). Man kann darin die Absichtserklärung einer Zukunftsphilologie [21] erkennen, die Nietzsche dann
selbst doch nie verwirklicht hat. Es könnte aber auch sein, dass Nietzsche die Philologie unbewusst oder absichtlich in seinen
künftigen Denkweg eingebaut hat. Nicht umsonst weist Nietzsche in einer seiner bedeutendsten Arbeiten daraufhin, dass es
„historische und philologische Schulung“ gewesen sei, die ihn in Verbindung mit einem angeborenen psychologischen Sinn zu
seinen eigentlich neuen und revolutionären Fragen inspirierte (GM Vorrede 3, 5:249).
Der Irrtum, dem die Forschung bis heute unterliegt, besteht darin, der historisch-kritischen Kärrnerarbeit überhaupt jede
Bedeutung für Nietzsche abzusprechen. Kaum jemand scheint erkannt zu haben, dass sich seine philologiekritischen
Äußerungen in erster Linie gegen die Existenzform des Philologen, gegen den Berufsstand richten und nicht gegen die
Wissenschaft als solche. In Ecce Homo , dem bei aller Rhetorik zumindest passagenweise direktesten und unzweideutigsten
Buch Nietzsches, beschreibt er, „wie nutzlos, wie willkürlich“ sich seine ganze „Philologen-Exzistenz “ angesichts seiner
„Aufgabe“ ausnehme. Nur die zehn Basler Jahre verdammt er mithin als Zeitverschwendung, nicht die philologische
Ausbildungszeit: „Zehn Jahre hinter mir, wo ganz eigentlich die Ernährung des Geistes bei mir stillgestanden hatte, wo ich nichts
Brauchbares hinzuge
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lernt hatte“. Das methodische Studium der Philologie ist damit nicht getroffen, sondern nur der Umstand, bei ihm
stehengeblieben zu sein, statt darauf aufzubauen. „Ein geradezu brennender Durst ergriff mich: von da an habe ich in der That
Selbst in den Entwürfen zu „Wir Philologen“ ist Nietzsches Verhältnis zur Philologie nicht eindeutig negativ, sondern bestenfalls
ambivalent: „Gegen die Wissenschaft der Philologie wäre nichts zu sagen: aber die Philologen sind auch die Erzieher. Da liegt
das Problem, wodurch auch diese Wissenschaft unter ein höheres Gericht kommt.“ (IV 3[3]). Zieht man die pädagogischen
Aufgaben der Philologie ab, bleibt ein Residuum, welches die Philologie überhaupt erst als Wissenschaft legitimiert. Schon
Nietzsches wichtigster Lehrer Friedrich Ritschl äußert diesen Gedanken, wenn er auf den Widerspruch hinweist, der darin liege,
die Philologie einerseits als Bildungsfach der Schule zu instrumentalisieren, um sie im selben Atemzug für die reine und
zwecklose Wissenschaft zu reklamieren (1879:23).
Es fällt auf, dass auch Nietzsche sich späterhin negativ über die Philologie nur als pädagogisches Zwangsmittel äußert (z.B. GD
29, 6:129). Dass an ihren gewaltigen Materialmengen vor allem „ochsen“ zu lernen sei, wird freilich an anderer Stelle wiederum
als „unschätzbar“ gewürdigt, da hier jene Trennung von Lust und Pflicht eingeübt werde, welche erzieherische Grundlage vieler
Tätigkeiten sei (VIII 10[11]). Im Umfeld von „Wir Philologen“ tritt ein Nietzsche auf, der aktiv versucht, nützliche und weniger
nützliche Teile der Philologie voneinander zu scheiden. Der Titel soll eben „Wir Philologen“ und nicht „Die Philologen“ lauten;
Nietzsche sucht zu retten, was zu retten ist. Die schlimmsten Zweifel, sie fallen bereits in die frühe Studienzeit, hat er lange
hinter sich. Die Forschung hat sich um derlei chronologische Feinheiten freilich bisher kaum gekümmert, denn sie passen
schlecht zur teleologischen Entwicklungsgeschichte vom Philologen, der sich nach schrittweisem Desillusionierungsprozess
schließlich in den Künstlerphilosophen und freien Geist verwandelt.
Schon im Oktober 1868 formuliert Nietzsche gegenüber Paul Deussen die einprägsame Formel von der Philologie als „Mißgeburt
der Göttin Philosophie, erzeugt mit einem Idioten oder Cretin“ (KGB I.2:329). In einem Brief an Gersdorff vom 6. April 1867 – zu
einer Zeit, da er in anderen Briefen noch als überzeugter Jünger Friedrich Ritschls auftritt – beklagt er das Fehlen einer erheben
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den „Gesamtanschauung des Alterthums“. Die Philologen konzentrierten sich zu stark auf einzelne Punkte; ihre Arbeitsweise,
das Sichten aberdutzender Bücher, „die den Nerv des selbständigen Denkens ausglühen“, sei tödlich (I.2.208ff). Ein knappes
Jahr später bereits gibt er seine Absicht bekannt, „den Philologen eine Anzahl bittrer Wahrheiten zu sagen“, dass sie nämlich
von einigen wenigen großen philosophischen Geistern abhängen und immer abhängig waren, welche selbst kaum Philologie
getrieben haben (Brief an Rohde vom 1.–3. Februar 1868, I.2:245ff). Die vielen philologiekritischen Äußerungen für ausgewählte
Freunde (vor allem Deussen, Rohde und Gersdorff) dienen ihnen gegenüber als Nachweis, auf der Höhe der Zeit zu bleiben und
sich nicht als Musterschüler mit Leib und Leben dem künftigen Broterwerb verschrieben zu haben. Immerhin besteht die
Möglichkeit, dass der Liebhaber wechselnder Masken sich nur auf die jeweiligen Briefpartner einlässt. Nietzsche will nicht als
jemand gelten, der Schopenhauer missverstanden hat. Der im Vergleich zu seinen Kommilitonen so erfolgreiche Jungphilologe
relativiert ihnen gegenüber seine Leistungen, die ohne kolossales Engagement gar nicht hätten erbracht werden können.
Es ist übrigens zu bezweifeln, ob Nietzsche tatsächlich jemals Schopenhauerianer war [22]. Zwar sieht Nietzsche in dieser Zeit
seine eigene Zukunft durchaus eher in der Philosophie als der Philologie, die geplante Dissertation über den Begriff des
Organischen bei Kant als Mischung aus Philosophie und Naturwissenschaft ist aber bekanntlich eher von F.A. Lange angeregt
[23]. Als das Angebot der Basler Professur plötzlich über ihn hereinbricht, schreibt er am 16. Januar 1869 einen
aufschlussreichen Brief an Rohde, in welchem er sich für die Absage der lange vorbereiteten Reise nach Paris entschuldigt.
Eigentlich, so Nietzsche, habe er vor dem Angebot ja vorschlagen wollen, die Philologie zum „Urväterhausrath“ zu werfen und
gemeinsam Chemie zu studieren (I.2:360). Bereits hier findet sich also eine Vorahnung auf jene berühmte „Chemie der Begriffe
und Empfindungen“ (MA I.1, 2:23), mit denen Jahre später, nach dem langen
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beruflichen Intermezzo, Menschliches, Allzumenschliches anheben soll. Nietzsche ist nicht nach einer wie auch immer gearteten
Überwindung der Philologie plötzlich zum Philosophen mutiert. Im Gegenteil ergänzt er, bei anhaltender Skepsis gegenüber dem
Philologenberuf , die philologische Methode schon früh mit einem ausgeprägten, von F.A. Lange inspiriertem Interesse an den
Naturwissenschaften, deren Leitdisziplin die Chemie zu dieser Zeit noch ist.
Die Frage, warum Nietzsche nicht akademischer Philosoph geworden ist, drängt sich angesichts der Standardversion von
selbst auf. Es bereitete ihm offenbar keine Schwierigkeiten, als Student der Theologie zur Philologie zu wechseln. Warum
Zwar bewirbt sich Nietzsche 1871 in Basel informell auf eine Philosophiedozentur, wollte damit aber vor allem erreichen, dass
auf seine dann frei werdende Stelle Rohde berufen werden und sich ihm so wieder anschließen könnte [25]. Es blieb bei dem
einen halbherzigen Versuch, obwohl sich Mitte der siebziger Jahre erneut Gelegenheiten boten. Hätte Nietzsche sein Ziel
ernsthaft verfolgt, wäre es ihm vielleicht geglückt. Er spürte gewiss, dass eine philosophische Professur ebenso viele
Einschränkungen mit sich führen würde, wie eine philologische [26].
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Philosophische Themen ähnlich der einst geplanten Dissertation hat er nicht mehr aufgegriffen. Nietzsche blieb auf
philosophischem Gebiet ein Autodidakt, der nur wenige Grundtexte der Philosophiegeschichte gut kannte, der von Aristoteles
wohl nur die Rhetorik gelesen hat, dem viele philosophische Subdisziplinen und Fragestellungen fremd waren. Mit neueren
Philosophen kam er oft nur über zweite Hand in Berührung.
Nietzsche, der 1872, kurz vor dem Skandal um die Tragödienschrift, sogar einen Ruf nach Greifswald erhält, gibt seine
Professur aber auch nicht auf, um sich Wagners Bayreuther Projekt zu widmen, obschon ihm dergleichen Überlegungen nicht
unbekannt waren, sondern erst dann, als er mit Wagner längst gebrochen hat. Nietzsche bleibt ein Jahrzehnt lang
professioneller Philologe, der in den letzten Jahren zwar keine fachwissenschaftlichen Abhandlungen mehr veröffentlicht, aber
gewissenhaft Vorlesungen hält, die nicht vermuten lassen, dass es sich um den Verfasser der Geburt der Tragödie, geschweige
denn der Werke der achtziger Jahre handelt.
Noch in Conrad Bursians Geschichte der classischen Philologie in Deutschland aus dem Jahr 1883 gilt Nietzsche als
konventioneller Philologe in der grammatisch-kritischen Richtung seit Gottfried Hermann [27]. Bis heute ist nicht nur die
Tragödienschrift ein „fruchtbares Ärgernis“ der Philologie geblieben (s. Latacz, 1998), sondern werden sogar Nietzsches
einschlägige fachphilologische Arbeiten geschätzt (vgl. Barnes, 1986). In Nietzsches frühem Ungenügen an der Philologie ringt
in erster Linie eine berufliche, keine wissenschaftliche Krise nach Ausdruck.
2.2. Alexandrinismus
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Als Kontrast zu „Wir Philologen“ lohnt es sich, die Philologie bei Nietzsche aus rückwärts gewandter Perspektive, von den letzten
Werken her zu betrachten, denen Nietzsche selbst eine methodische Rückkehr zu Philologie bescheinigt hat. Die wichtigste
Qualität der Philologie in diesem Kontext lässt sich durch das Wort ‚Redlichkeit‘ bezeichnen. Das Motiv der Redlichkeit oder
intellektuellen Rechtschaffenheit zieht sich als der berühmte rote Faden durch Nietzsches Schaffen. Die Philologie ist ihr
Unterpfand, Philologie und Redlichkeit treten bei Nietzsche annähernd synonym auf. Philologie bedeutet wertsetzende
Selbstverpflichtung: einem Ethos gemäß zu forschen, das zwar nicht objektive, aber nachvollziehbare Ergebnisse liefert [28].
Ohne derartige Grundlage sind Kulturen zum Tode verurteilt: „Lob der Philologie: als Studium der Redlichkeit. Das Alterthum
gieng am Verfall derselben zu Grunde.“ (V 6[240]). Diese Notiz aus dem Jahr 1880 hat Nietzsche mehrfach in abgewandelter
Form verwendet. Am stärksten ausgebaut hat er sie in einer der letzten Schriften, im Antichrist [29]:
Die ganze Arbeit der antiken Welt umsonst: ich habe kein Wort dafür, das mein Gefühl über etwas so Ungeheures ausdrückt. –
Und in Anbetracht, dass ihre Arbeit eine Vorarbeit war, dass eben erst der Unterbau zu einer Arbeit von Jahrtausenden mit
granitnem Selbstbewusstsein gelegt war, der ganze Sinn der antiken Welt umsonst! … Wozu Griechen? wozu Römer? – Alle
Voraussetzungen zu einer gelehrten Kultur, alle wissenschaftlichen Methoden waren bereits da, man hatte die grosse, die
unvergleichliche Kunst, gut zu lesen, bereits festgestellt – diese Voraussetzung zur Tradition der Cultur, zur Einheit der
Wissenschaft; die Naturwissenschaft, im Bunde mit Mathematik und Mechanik, war auf dem allerbesten Wege, – der
Thatsachen-Sinn, der letzte und werthvollste aller Sinne, hatte seine Schulen, seine bereits Jahrhunderte alte Tradition! Versteht
man das? Alles Wesentliche war gefunden, um an die Arbeit gehn zu können: – die Methoden, man muß es zehnmal sagen, sind
das Wesentliche, auch das Schwierigste, auch das, was am längsten die Gewohnheiten und Faulheiten gegen sich hat. Was wir
heute, mit unsäglicher Selbstbezwingung – denn wir haben Alle die schlechten Instinkte, die christlichen, irgendwie noch im
Leibe –, uns zurückerobert haben, den freien Blick vor der Realität, die vorsichtige Hand, die Geduld und den Ernst im Kleinsten,
die ganze Rechtschaffenheit der Erkennt
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Es ist nicht mehr nachzuvollziehen, auf welche Texte des Augustinus oder anderer Kirchenväter sich Nietzsche hier bezieht [30].
Entscheidend ist vielmehr, dass in diesem Aphorismus beinahe Nietzsches gesamte philologische Theorie der Spätschriften
steckt. Die Kunst des guten Lesens – wie später ausführlich gezeigt werden wird, ist sie für Nietzsche zumal im Spätwerk
gleichbedeutend mit Philologie [31] – bildete also historisch die Voraussetzung methodischer Wissenschaftlichkeit insgesamt,
diese wiederum verkörpert den radikalen Gegensatz zur christlich-klerikalen, zur platonischen und dogmatischen
Weltanschauung.
Das bedarf der Erklärung. Wieso kann Nietzsche von der „Kunst, gut zu lesen“ behaupten, Grundlage aller Wissenschaften,
einschließlich der Naturwissenschaften zu sein, kurz: warum steht Philologie paradigmatisch für die „wissenschaftlichen
Methoden“? Damit zusammen hängt eine zweite Frage: an genau welche historische Vorbilder denkt Nietzsche? Durch
Auswertung des Gesamtwerks sowie quellenkritische Erwägungen soll in den folgenden Kapiteln u.a. dokumentiert werden,
dass Nietzsche auf die große Tradition der alexandrinischen Philologie des Museion anspielt, die sich die modernen
historischkritischen Philologen, allen voran seine eigenen Lehrer, zu Gründungsvätern
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ihrer Wissenschaft erkoren hatten [32]. Mehrfach beruft sich schon der mittlere Nietzsche auf die vorpatristische Philologie der
alexandrinischen Schule: „Die Christen verlernten das Lesen, und wie hatte sich das Alterthum, in seinen Philologen, bemüht, es
zu lernen!“ (VI 4[235]). Der alexandrinischen Herkunft verdankt sich Nietzsches Definition der Kunst des guten und richtigen
Lesens sowie ihrer Methodik als die „Herstellung und Reinhaltung der Texte, nebst Erklärung derselben“. Diese Definition ist
identisch mit der Programmatik der historischkritischen Philologie; das „einfache Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt“
umschreibt die kritische Rekonstruktion des historischen Sinns (MA I.270, 2:223).
Die Bezeichnung kritikós war für die Gelehrtenpoeten ab ca. 300 v. Chr. aufgekommen, zu einer Zeit, da die neue Kunstübung
von den Poeten Gelehrsamkeit forderte, d.h. die Arbeit mit Glossarien oder Anspielungen auf die alten Meister. Für die Reihe der
großen alexandrinischen Gelehrten und Bibliotheksvorsteher, beginnend mit Zenodotus von Ephesos und gefolgt u.a. von
Kallimachus und Eratosthenes, Aristophanes von Byzanz und Aristarchos, bürgerte sich zunächst die Bezeichnung
grammatikoi ein. Im Laufe des dritten vorchristlichen Jahrhunderts sterben die Gelehrtenpoeten aus. Eratosthenes ist der Erste,
der sich ausschließlich als Wissenschaftler versteht und den Begriff des philologos (statt grammatikos) prägt, womit
offensichtlich ein Universalgelehrter gemeint ist, der sich auf sprachlich-linguistischer Grundlage größere Wissensgebiete
erschließt und weniger als ein Philosoph an übergeordneten Prinzipien oder Systemen interessiert ist (Pfeiffer, 1968:156ff). Seit
Ende des dritten Jahrhunderts etablieren sich dann die philologischen Wissenschaftler (meist wieder unter dem Titel
grammatikoi), die ihre Kerntätigkeit in textkritischer und lexikographischer Arbeit, in Quellenforschung, Aufarbeitung von Realien,
dem Erstellen von Chronologien und Kommentaren, grammatischen Analysen und metrischen Studien finden. Die historisch-
kritische Methode ist geboren, zumindest aus Sicht des neunzehnten Jahrhunderts [33].
Im Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (KGW I.4:506–539) beklagt Nietzsche den selbstverschuldeten Mangel an
brauchbaren Mitschriften aus seiner Studienzeit. Die Klage wird im selben Atemzug in aufschlussreicher Weise relativiert:
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Im Grunde nämlich zog mich bei den meisten Collegien der Stoff durchaus nicht an, sondern nur die Form, in der der
akademische Lehrer seine Weisheit an den Mann brachte. Die Methode wars, für die ich lebhafte Theilnahme hatte; sah ich
Diese Selbsteinschätzung wird von anderen Belegen bekräftigt. Ohnehin war die Auffassung weit verbreitet, dass sich
wissenschaftliche Methode am besten in der Philologie erlernen lasse [34]. Die Philologie ist, wenigstens zu Beginn des
neunzehnten Jahrhunderts, aufgrund ihrer Erfolge besonders in Sprachwissenschaft sowie Text- und Bibelkritik methodische
Leitwissenschaft schlechthin und wird erst im Laufe der kommenden Dekaden von den erstarkenden Naturwissenschaften
abgelöst. Möglicherweise ist es allzu kühn, die „umschaffende Wirkung“, die bereits für den jungen Nietzsche von der
philologischen Methode ausgeht, zur Umwertung aller Werte im Antichrist in Beziehung zu setzen. Wie gezeigt werden wird,
gibt es für die Stichhaltigkeit dieser These aber gute Anhaltspunkte.
Kurz vor und während der Arbeit am Antichrist las Nietzsche zum wiederholten Male F.A. Langes Geschichte des Materialismus
(zuerst 1865/66 erschienen). In der zu diesem Zweck benutzten Ausgabe von 1887 hat er, wie zahlreiche Anstreichungen im
Exemplar der nachgelassenen Bibliothek beweisen, besonders das Kapitel IV mit dem Titel „Der Materialismus in Griechenland
und Rom nach Aristoteles. Epikur“ gründlich durchgearbeitet. Darin befindet sich folgende Passage:
Die Zeit liegt noch nicht fern, in der man sich darin gefiel, alexandrinischen Geist als das Stichwort für tatenscheue
Gelehrsamkeit und pedantische Wissenskrämerei zu gebrauchen. Selbst mit der Anerkennung alexandrinischer Forschung
verbindet man noch jetzt in der Regel den Gedanken, daß nur der völlige Schiffbruch eines tüchtigen nationalen Lebens dem rein
theoretischen Bedürfnisse der Erkenntnis einen solchen Raum habe zugestehen können. Diesen Ansichten gegenüber ist es
auch für unsern Gegenstand von Wichtigkeit, auf den schöpferischen Geist, auf den lebendigen Funken eines großartigen und
in seinem Ziel wie in seinen Mitteln kühnen und gediegenen Strebens hinzuweisen, daß uns die Gelehrtenwelt Alexandrias bei
näherem Einblicke zeigt. […] Nun läßt sich aber in Wirklichkeit nachweisen, wie die glänzende Naturforschung unserer Zeit in
der Epoche ihres Entstehens überall anknüpft an die Überlieferungen der Alexandriner. [Absatz] Weltbekannt sind die
Bibliotheken und Schulen von Alexandria, die Munifizenz der Könige, der Eifer der Lehrer und Lernenden. Allein alles das ist es
nicht, was Alexandrias historische Bedeutung macht: es ist vielmehr der Lebensnerv aller Wissenschaft, die Methode, die hier
zum erstenmal in einer Weise auftrat, die für alle Folgezeit entschied; und dieser methodologische Fortschritt ist nicht
beschränkt auf diese oder jene Wissenschaft, selbst nicht auf Ale
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xandria allein, er ist vielmehr das gemeinsame Kennzeichen hellenischen Forschens nach Abschluß der spekulativen Philosophie.
Die Grammatik, begründet in ihren ersten Elementen durch die Sophisten, fand in dieser Zeit einen Aristarch von Samothrake,
das Vorbild der Kritiker, einen Mann, von dem die Philologie unserer Tage noch gelernt hat. […] Es war nicht Mangel an innerer
Lebensfähigkeit, sondern der Gang der Weltgeschichte, der diesem Streben vorläufig ein Ziel setzte, und man kann sagen, daß
die Herstellung der Wissenschaften zunächst eine Herstellung der alexandrinischen Prinzipien war. (Lange, 1974, Bd.1:87ff.)
[35]
Die wissenschaftlichen Methoden entstanden demzufolge auf dem Boden der alexandrinischen Gelehrtenkultur, besonders
ihrer Philologie und „Kunst, gut zu lesen“ – und im Anschluss an die Epoche der Spekulation. Gerade im Antichrist spielt der
Gegensatz von Glaube und Wissenschaft eine entscheidende Rolle. Eine wirklichkeitsfremde Religion wie das Christentum ist
folgerichtig Todfeindin der Wissenschaft und lehnt „die Lauterkeit und Strenge in Gewissenssachen des Geistes“ ab. Deshalb
sind die Wissenschaften, namentlich die Philologie und die Medizin, ihre Gegner, wie sie Gegner jedes Aberglaubens seien. Die
Feinde des Paulus „sind die guten Philologen und Ärzte alexandrinischer Schulung –, ihnen macht er den Krieg“ (AC 47, 6:225f).
Zwei Dinge fallen hierbei ins Auge: erstens, dass Nietzsche es für notwendig erachtet, die guten Philologen alexandrinischer
Schule herauszusondern, mit der Implikation, dass es auch schlechte Philologen gibt. Zweitens stellt sich die Frage, was
Nietzsche zu dieser Feier der alexandrinischen Kultur bewogen hat, die er in seiner Frühzeit, besonders im Umfeld der
Tragödienschrift, in Grund und Boden verdammt hatte. Entweder hat Nietzsches Auffassung der Alexandriner eine Wandlung
erfahren – das entspräche der beliebten und bequemen Einteilung in verschiedene Schaffensphasen. Oder die Verdammung
des Alexandrinismus ist keine gewesen.
In der Geburt der Tragödie war die Kritik an den Alexandrinern ein kaum verhüllter Angriff auf die fortschrittsgläubige Moderne,
deren eigene, unerkannt irrationale Grundlage der Glaube an die Allmacht der Ratio ist:
Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten
Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen, dessen Urbild und
Stammvater Sokrates ist. Alle unsere Erziehungsmittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge: jede andere Existenz hat sich
mühsam nebenbei emporzuringen, als erlaubte, nicht als beabsichtigte Existenz. In einem fast erschreckenden Sinne ist hier
Besonders der Altertumswissenschaft, die es aufgrund ihres Forschungsgegenstandes eigentlich besser wissen sollte, wirft
Nietzsche vor, der wissenschaftli
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chen Methode blind zu vertrauen und dabei die existentiellen Fragen und Selbstbefragungen zu ignorieren:
Wer überhaupt in jenen Kreisen sich nicht völlig in dem Bemühen, ein zuverlässiger Corrector von alten Texten oder ein
naturhistorischer Sprachmikroskopiker zu sein, erschöpft hat, der sucht vielleicht auch das griechische Alterthum, neben
anderen Alterthümern, sich „historisch“ anzueignen, aber jedenfalls nach der Methode und mit den überlegenen Mienen
unserer jetzigen gebildeten Geschichtsschreibung. (GT 20, 1:130).
Bei Schopenhauer hatte Nietzsche gelernt, dass wissenschaftliche Erkenntnis vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreite
(Schopenhauer hält deshalb die Geschichte für keine wahre Wissenschaft), also durch die Ableitung von Beweisen aus
vorhergehenden Sätzen – Schopenhauer führt hier das alte rationalistische Erbe weiter. In Verlängerung uralter skeptischer
Dialektik identifiziert Schopenhauer als Irrtum, nur das Bewiesene als unzweifelhaft wahr anzusehen, während doch „vielmehr
im Gegentheil jeder Beweis einer unbewiesenen Wahrheit bedarf, die zuletzt ihn, oder auch wieder seine Beweise, stützt: daher
eine unmittelbar begründete Wahrheit der durch einen Beweis begründeten so vorzuziehen ist, wie Wasser aus der Quelle dem
aus dem Äquadukt.“ Keine Wissenschaft könne durch und durch bewiesen sein, sondern ruhe auf nicht mehr beweisbarer
Anschauung (Schopenhauer, 1988, Bd. 1:108–110). Durch die Missachtung derartiger philosophischer Einsichten unterlässt es
die Philologie laut Nietzsche, ihre eigenen Glaubensgrundsätze mit derselben Strenge zu untersuchen wie ihre
Forschungsobjekte.
Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die rhetorische Rückbesinnung Nietzsches auf die alexandrinische Tradition der Philologie
in der mittleren und späteren Zeit würdigen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Nietzsche hinter seine frühen philosophischen
Einsichten wieder zurückgeht. Da seine Zeitdiagnose sich schlicht geändert hat, will Nietzsche vielmehr die historisch-kritische
Wissenschaft lediglich anders dosieren als zur Zeit der Geburt der Tragödie. Als die Wagnersche Kulturrevolution in Bayreuth
abdankte und Wagner aus Nietzsches Sicht nur folgerichtig in Religion und Staatsaffirmation heimkehrte, blieb die
Verherrlichung der griechischen Welt als Gegenwelt, die monumentalische Historie, zunächst auf die vorbereitende kritische
Historie verwiesen. Das Christentum, auf dessen Trümmern die neue-alte Kultur entstehen sollte, war noch lange nicht besiegt.
Im Kampf gegen diese Hydra wird Nietzsche nun seine Mission sehen und die historisch-kritische Philologie zur Waffe
umfunktionalisieren, welche kommende Zeitalter einläuten soll, um sie schließlich überflüssig zu machen. Da er kein
praktizierender Philologe mehr ist, muss er sein Selbstverständnis nicht ausschließlich auf der Philologie gründen, sondern kann
sie zum Instrument in der Hand des freien Geistes machen.
Nietzsches Erkenntnisse der Frühzeit müssen deshalb nicht zu den Akten gelegt werden. Schon in Nutzen und Nachtheil hatte
sich Nietzsche über die erfolgrei
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che Annahme der kritisch-historischen Methode in der neueren Theologie (wie sie in der Bibelkritik eingetreten war) verwundert.
Offenbar hatte diese sich „aus Harmlosigkeit“ darauf eingelassen, ohne zu merken, dass die Geschichte „im Dienste des
Voltaire'schen écrasez steht“ (HL 7, 1:296). Wenn Nietzsche bemerkt, dass „eine Religion, die durch und durch
wissenschaftlich erkannt werden soll, am Ende dieses Weges zugleich vernichtet [ist]“, und zwar weil die Wissenschaft „so viel
Falsches, Rohes, Unmenschliches, Absurdes, Gewaltsames“ zutage fördere, dass sie die pietätvolle Illusion zerstöre (ebd.) [36],
so war dies im Kontext der Frühschriften nicht positiv gemeint, ging es Nietzsche doch um eine ganz anders geartete ‚Religion‘,
nämlich den griechischen Mythos (vgl. z.B. GT 23, 1:148f). Ihm zuliebe sollte sich die Historie zum Kunstwerk bilden und
„vielleicht Instincte erhalten oder sogar wecken“ (HL 7, 1:296). Man bedenke, dass schon die Tragödienschrift eine
Entwicklungslogik einander ablösender Zeitalter entwirft. Die Synthese aus dionysischem Zeitalter der Titanenkämpfe und
archaischer Lyrik sowie apollinischer Kultur des homerischen Epos und Dorertums in der attischen Tragödie wird durch die
Einseitigkeiten von Euripides und Sokrates wieder zunichte gemacht. Die zerstörerische Wirkung der Wissenschaft kann man
sich folglich aber auch zunutze machen. Nietzsche widmet sein Buch des Neuanfangs dem Autor des Écrasez (KSA 2:10) und
erfindet bald den Hammer, der zuerst zerstören muss, ehe er neue Werte schmieden kann.
Die Konsequenzen dieser Haltung liegen ab Menschliches, Allzumenschliches auf der Hand. Einige Hinweise auf Nietzsches
Rehabilitierung der historischkritischen Methode sowie der alexandrinischen Schule sollen an dieser Stelle genügen. Der
Erbfehler aller Philosophen sei ihr „Mangel an historischem Sinn“ (MA I.1.2.24f) – nicht so sehr eine Rehabilitierung Hegels
gegenüber Schopenhauer, sondern, wie der gesamte Aphorismus beweist, des empirischen Studiums des Menschen und
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seiner Lebensbedingungen. „Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten
giebt. – Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung.“ (MA I.1.2,
2:24f) In der 1886 veröffentlichten Vorrede zum zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches führt Nietzsche die
Selbstkorrektur seines Frühwerks offen fort: „und was ich gegen die „historische Krankheit“ gesagt habe, das sagte ich als
Einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar nicht Willens war, fürderhin auf ‚Historie‘ zu verzichten,
weil er einstmals an ihr gelitten hatte.“ (MA II Vorrede 1, 2:370). Nietzsche leistet, kurz
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gesagt, Abbitte an der wissenschaftlichen Vernunft. Mit „einigen dicken Irrthümern und Ueberschätzungen“ habe er die Welt
beurteilt (FW 5.370, 3:619). Nun ist es sogar „das Merkmal einer höhern Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche
mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen, als die beglückenden und blendenden Irrthümer, welche
metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen.“ (MA I.1.3.25) [37]. In Zeiten intellektueller
Konkurrenz, in der man, statt auf dem Dogma zu beharren, überzeugendere Argumente finden muss, erweist sich „das
methodische Suchen der Wahrheit“, mit dessen Hilfe nun „wirklich Wahrheiten entdeckt werden“ können (MA I.9.634, 2, 359f)
wieder als nützlich. Wer Nietzsche noch immer pauschal für den schärfsten Kritiker des Historismus hält, benötigt gute
Argumente [38].
In Nietzsches späten philologischen Arbeiten lässt sich dieser Übergang besonders schön beobachten. Aus der Vorlesung Der
Gottesdienst der Griechen , gehalten im Wintersemester 1875–76 bzw. Wintersemester 1877–78 (I.5.355–520), spricht ein
durchaus zwiespältiges Verhältnis zur griechischen Religion. Nietzsche charakterisiert den Boden, auf dem der griechische
Kultus entsteht, als Bereich des „unreinen Denkens“. Er ist ausgerechnet durch jene Eigenschaften charakterisiert, deren
Gegenteil Nietzsche mit dem streng-wissenschaftlichen Denken verbindet und ab Menschliches, Allzumenschliches einfordern
wird, nämlich durch (1.) Ungenauigkeit der Beobachtung, (2.) einen falschen Begriff der Kausalität und (3.) ein selektives
Gedächtnis, das nur für bestimmte „absonderliche Fälle“ wirkt, „während der Philosoph und der wissensch. Mensch gerade das
Gewöhnliche, Alltägliche als Problem faßt und interessant findet.“ (355f). Gerade der letzte Punkt ist schon sehr weit entfernt
von der Feier des auswählenden Gedächtnisses der frühen siebziger Jahre, in denen Nietzsche der historischen Methode der
Alexandriner ja gerade die Beliebigkeit des Erinnerns vorgeworfen hatte [39].
Unübersehbar wird die Rückwendung zur alexandrinischen Philologie jedoch erst im Kampf gegen die Allegorese. Dies ist ein
entscheidender, wenig beachteter Punkt in Nietzsches Denken, der wie kein zweiter die Wende der siebziger Jahre verdeutlicht.
Seit dem Erscheinen von Menschliches , Allzumenschliches gibt es
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in Nietzsches Werk zwar noch anspielungsreiche Auslegungen und kühne Deutungen, aber keine der Allegoresen mehr, die
noch die Geburt der Tragödie gekennzeichnet hatten [40]. Bereits im ersten Teil wird die pneumatische Auslegung (also die
Allegorese) der Metaphysik im Reich der Natur im selben Atemzug wie die theologische Bibelexegese angegriffen und mit „der
strengeren Erklärungskunst“ konfrontiert, „wie jetzt die Philologen sie für alle Bücher geschaffen haben: mit der Absicht,
schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber nicht einen doppelten Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen.“ (MA I.8, 2:28f)
Wie auch hinsichtlich der Buchlektüre schlechte Auslegegewohnheiten selbst in der gebildetsten Gesellschaft noch nicht
ausgestorben seien, treffe man ständig „auf Ueberreste allegorischer und mystischer Ausdeutung“ (ebd.). Allegorese wittert
bei einem schwierigen Text nicht Fehler oder Fälschungen wie es der Philologe täte, sondern nimmt ihn als gegeben hin und löst
die Widersprüche durch die Annahme einer weiteren, verborgenen Sinnschicht. Dadurch wird die Fälschung erst manifest und
die Auslegungsgrundlage verliert ihren Anspruch, ‚Text‘ genannt zu werden. Allegorese ist eine Erkenntnisform, die das bereits
Erkannte lediglich wiederzufinden sucht. Sie eignet sich Texte, Dinge, Menschen an, indem sie sie rundheraus zu dem erklärt,
das sie selbst gerne in ihnen sähe.
Nietzsche hat diese Praxis mit einer in seinem Werk prominenten Metapher bezeichnet, die aus der philologischen Teildisziplin
der Numismatik stammt und sich auf die Vernachlässigung des kritischen Sinns bezieht. Es ist die Allegorese, die sich hinter den
periodischen Vorwürfen der Fälschung und der Falschmünzerei verbirgt. Die Falschmünzerei ist Synonym der christlichen
Weltanschauung (z.B. FW 5.537, 3:600) sowie all jener Interpretationen, die auf unumstößlichen, durch keine Skepsis oder
Ironie gebrochenen Dogmen beruhen. In der Fälschung wird der böse Wille zum Missverstehen als einem So-und-nicht-
andersverstehen aktiv [41]. Eingeklagt wird von Nietzsche im Gegensatz dazu der gute Wille zum Verstehen – über dessen
Gelingen damit noch nichts ausgesagt ist. Der
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Redlichkeit bedarf es als „Daumenschraube“, die all jenen anzusetzen sei, die ihren Glauben „der ganzen Welt aufdringen
wollen“ (M 5.536, 3:306) [42].
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Die Geschichte der Fälschung beginnt für Nietzsche mit Paulus, dem Prototypen des Fälschers und Zurechtmachers (VIII
10[180]). Nietzsche fasst von Paulus ausgehend vor allem die „jüdische Priesterschaft“ als Fälscher par excellence auf. So
fälschten sie z.B. den Gottes- und Moralbegriff, die Geschichtsauffassungen. Die Bibel sei das Dokument dieser Fälschung: die
auf sie gestützte kirchliche Geschichtsinterpretation habe die Menschheit bis in Nietzsches Gegenwart stumpf für
„Rechtschaffenheit in historicis“ gemacht (AC 26, 6:194f) – eine Absage an alle Geschichtsauffassungen, die von der Theologie
die Teleologie und einiges mehr übernommen haben. Im Anschluss an Paulus konstituiert sich die theologische Exegese durch
Annahme eines sensus spiritualis, der über den sensus litteralis hinausgeht, ja diesem weit überlegen ist.
Die Schriftkritik des Paulus beginnt mit dem Gegensatz von gramma und pneūma: „Denn der Buchstabe [gramma] tötet, aber
der Geist [pneūma] macht lebendig“ (2. Kor. 3, 6) [43]. Um die spirituelle Konsistenz der Bibelexegese zu wahren, muss der Sinn
von seiner Bindung an die Materialität des Zeichens gelöst werden. Exegese in diesem Verständnis heißt, einen vorgefassten
Sinn aus einem Text dergestalt zu erstellen, dass Textpassagen, die oberflächlich nicht zu diesem Sinn passen, eine tiefere
Bedeutung zugemessen wird. Historisch gesehen entstehen so zwei grundlegend verschiedene Auslegungsweisen. Eine
‚aposterioristische‘, auf rhetorischer, sprachlicher, textimmanenter Analyse beruhende und auf die Herstellung der gemeinten,
der zu rekonstruierenden Intention des Autors gerichtete – und eine ‚apriorische‘, theologisch-allegorische Interpretation, die
zwischen sensus litteralis und sensus spiritualis bzw. allegoricus differenziert [44]. Dieser Gegensatz entfaltet sich namentlich im
Hellenismus, besonders am Klassiker dieser Zeit, Homer (auch wenn es Formen der Homer-Allegorese schon seit
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dem fünften vorchristlichen Jahrhundert gibt) [45]. Die alexandrinischen Gelehrten vom Schlage eines Eratosthenes und
Aristarchos, die sich durch eine fast modern anmutende textkritische Arbeit und strenge historisch-grammatische Methodik
auszeichnen, finden ihre Gegenspieler in der pergamenischen Schule eines Krates von Mallos, der Allegorese praktiziert und
dessen Form der allegorischen Interpretation, durch die Stoa vermittelt, bald von Philon von Alexandria auf das Alte Testament,
von den Kirchenvätern später auf die gesamte Bibel angewandt wird. Unbeschadet der Modifikationen bei Augustinus, etwa der
stärkeren Einbeziehung von Grammatik, Philologie, Geschichte, bleibt die Funktionsweise der Allegorese dieselbe und dient
letztlich immer denselben erbaulichen Zwecken. Sie ist damit nicht mehr zuvörderst auf Bewahrung und Verständnis des Textes
um seiner selbst willen gerichtet.
Allegorese ist natürlich keine paulinische oder christliche Erfindung, wie es bei Nietzsche bisweilen den Anschein hat. Die
heidnische Allegorese der Sophisten, der Pergamener und späteren stoischen Philosophen bis hin zu den Neuplatonikern
etabliert schon vorher bzw. parallel das Prinzip, an anstößiger Stelle im Homer oder in anderen Texten eine hyponoia, d.h. eine
moralisch und philosophisch befriedigendere Deutung zu suchen (vgl. z.B. Most, 1984). In der patristischen Hermeneutik wird
die Allegorese lediglich systematisiert, zuerst und auf entscheidende Weise von Origenes, der als Leiter der christlichen Schule
Alexandrias den Quellen beider Richtungen nahe war. Er ist der erste christliche Theologe, der sich systematisch
textphilologischer Methoden sowie alexandrinischer Kommentartechniken bedient und diese der Bibelauslegung unterordnet.
Die alexandrinischen Techniken übernimmt er allerdings nicht in ihrer Gesamtheit, sondern nur insofern sie seinem Zweck
dienen [46]. Wie für die frühe Patristik insgesamt ist ihm die Auslegung des überlieferten Textes wichtiger als die Textkritik, die
für die philologoi entscheidend war (Grant, 1957:145); bei textuellen Widersprüchen durfte man keinesfalls Überlieferungsfehler
oder falsche Übersetzungen vermuten [47].
So erfindet Origenes die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn, der über die doppelte Bedeutung jeder Bibelstelle hinausgeht. Der
sensus spiritualis wird bei ihm nochmals differenziert in den psychischen (moralischen) und pneumatischen (allegorisch-
mystischen) Sinn. Die pneumatische Auslegung steht dem wörtlichen
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Sinn entgegen, der nun allerdings als somatischer, im buchstäblichen Verstand mithin als (text)leiblicher konfiguriert wird.
Origenes benutzt gar das Bild vom „Fleische“ der Schrift, von dem jedoch nur der „Einfältige“ sich leiten lasse (1976:709–781;
vgl. auch Szondi, 1975:20).
Die triadische Auslegung nach somatischem-moralischem-pneumatischem Sinn spiegelt Origenes' christliche Auffassung von
der Aufteilung der Welt in Leib, Seele und Geist. Jede Bibelstelle hat als geoffenbarte Schrift unbedingt einen pneumatischen,
aber nicht unbedingt einen somatischen Sinn. Widersprüche und Ungereimtheiten im Text stellen einen Fingerzeig zur
pneumatischen Erklärung dar [48]. Aus Nietzsches Sicht vereinen sich in der pneumatischen Auslegung deshalb allgemeine
Askese und spezielle christliche Leibfeindlichkeit [49]. Heißt es bereits im Neuen Testament: „Der Geist ist's, der da lebendig
macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben.“ (Johan. 6, 63), so
spitzt Origenes diese Grundhaltung zum hermeneutischen Prinzip zu: „Die Niedrigkeit des Buchstabens führt uns zur
Kostbarkeit geistigen Verstehens.“ [50]
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ten – dem „einfache[n] Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt“ (s.o.) – ist demnach nicht, wie man vermuten könnte,
protestantischen Ursprungs [53], sondern geht weiter zurück, nämlich auf die zwei gegensätzlichen alexandrinischen
Philologenschulen. Wenn er sich immer wieder auf die guten Philologen (des Altertums) beruft, schließt er gleichzeitig die
schlechten , jene nämlich, die Allegorese betreiben, aus. Nietzsches ‚gute Philologen‘ stehen, wie zu sehen sein wird, in der
Nachfolge des Museion und umfassen die historisch-kritischen Meister von F.A. Wolf über Gottfried Hermann bis Friedrich
Ritschl, quellenkritisch fundierte, undogmatische Historiker wie Niebuhr und Ranke eingeschlossen. Die schlechten Philologen
der Neuzeit sind die Erben der Pergamener und Kirchenväter, die sich der Philologie nur zur Beförderung ihrer eigenen Ziele
bedienen.
Eine Quelle für Nietzsche ist Friedrich August Wolfs Vorlesung über die Encyklopädie der Alterthumswissenschaft (1831:310f)
gewesen, in der die Homerallegorese im historischen Überblick aus philologischer Perspektive dargestellt wird. Das Buch befand
sich in seinem Besitz und dürfte von ihm gründlich studiert worden sein. Noch wichtiger waren die Prolegomena ad Homerum
selbst (Wolf, 21859/1985). In Kapitel 51, am Ende des Buches, schildert Wolf die Konkurrenz zwischen Aristarch [54] und
Krates, wobei er klar Stellung für die alexandrinische Schule bezieht. Aristarch benutzte nämlich im Gegensatz zu Krates keine
anachronistischen oder allegorischen Interpretationen und arbeitete „non ad novas oppiniones [sic] temere affictas“, d.h. ohne
einfach neue Ideen zu applizieren. Wolf betont die stoische Herkunft des Krates (sein Cognomen lautete Stoicus!). Die
Schülerschaft des Krates – sie bekannte sich zur Stoa – war im vergleich zur alexandrinischen Tradition des Museion nur noch
lose miteinander verbunden. Sie leitete sich weniger aus der Dichtkunst als vielmehr aus einer Philosophie her, die zur
Allegorese enge Beziehungen aufwies:
Stoic philosophy was no longer in need of corroboration or illustration by the early poets; on the contrary, Crates could now
use the philosophy to give a complete new
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interpretation of the true meaning of the Homeric poems. He may have been unconscious of doing violence to poetry; certainly
a great many future scholars down to the present day have been induced by his example to apply philosophical doctrines in
various forms to the explanation of poetic and prosaic literature. (Pfeiffer, 1968:238)
Die Allegorese setzt sich nun durch: die beiden hellenistischen Richtungen können nicht Seite an Seite existieren. Die
unterschiedlichen Schulen in Alexandria selbst bleiben durch einen historischen Korridor getrennt. Sommer (2000:452ff und
456) wundert sich stellvertretend für viele, warum im Antichrist ausgerechnet Philologie und Medizin gemeinsam als Garanten
der Wissenschaftlichkeit gelten – und warum, angesichts der Polemik gegen Alexandria in der Geburt der Tragödie ,
ausgerechnet die alexandrinische Schule hervorgehoben wird. Sommer macht freilich den verbreiteten Fehler, die
alexandrinische Schule nur mit Clemens und Origenes, bzw. die alexandrinische Philologie mit Philon und der Entwicklung der
Allegorese zu verbinden: also genau dem Gegenteil dessen, worauf Nietzsche anspielt. Dagegen assoziieren Klassische
Philologen noch heute den Begriff der „Alexandriner“ in erster Linie mit dem Museion. Sommer denkt wohl v. a. an Franz
Overbecks Aufsatz zur Patristik (Clemens steht hier im Mittelpunkt der Darstellung), der freilich erst 1882 in der „Historischen
Zeitschrift“ erschien (Overbeck, 1984) – und damit als Quelle für Nietzsches Auffassung der Alexandriner zumindest im
Frühwerk zu spät kommt, selbst wenn man mündlichen Austausch in den Basler Jahren annimmt. Zwischen den Alexandrinern,
auf die Nietzsche sich bezieht, und den späthellenistischen Alexandrinern, die die Nietzscheforschung häufig mit Alexandria
assoziiert, liegen (berechnet auf ihren jeweiligen Kulminationspunkt) immerhin mehrere Jahrhunderte.
Die Stoa, die damit für den Niedergang der guten Philologie in Nietzsches Sinne verantwortlich ist, gewinnt in der Folgezeit
bekanntlich großen Einfluss auf Rom und römisches Geistesleben und bereitet für Nietzsche den Untergang der gesamten
antiken Kultur mit vor. Ihre durchschlagende Wirkung, das ist der springende Punkt, kann sie aber nur im jüdisch-christlichen
Kontext Alexandrias entfalten. Alexandria war nicht nur Sitz griechischer Gelehrsamkeit, sondern, als Heimat einer großen
mosaischen Gemeinde, auch jüdischer Philosophie, vor allem in späthellenistischer Zeit. Schließlich wurde es zu einem der
wichtigsten christlichen Zentren zu einem Zeitpunkt, da Nietzsches gute alexandrinische Philologen praktisch keine Rolle mehr
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re[n] Festhalten am supranaturalistischen Standpunkt“ gefunden hatten (1835:4). Zwar habe es bei den Griechen schon
Vorläufer gegeben (gemeint sind offensichtlich die Sophisten sowie die Stoa), aber erst im jüdisch geprägten Alexandria werde
diese Methode systematisiert, zuerst von Philon. Philon, der bedeutendste Vertreter des hellenistischen, Griechisch
schreibenden Judentums der Diaspora ist der erste, der versucht, Offenbarung und Glauben mit philosophischer Vernunft zu
verbinden und gilt damit als Vorläufer der christlichen Theologie.
Die Christen übernehmen nun die Allegorese von den Juden, da sie noch weit mehr auf sie angewiesen seien – Strauss skizziert
den Origenischen Dreischritt vom buchstäblichen bzw. leiblichen, moralischen bzw. psychischen und mystischen bzw.
pneumatischen Sinn und weist auch daraufhin, dass Origenes den paulinischen Korintherspruch über Geist und Buchstabe
ausdrücklich auf den Unterschied von buchstäblicher und allegorischer Auslegung bezieht. Viele weitere von Nietzsche
benutzte Quellen beschreiben die Traditionslinie der Allegorese von der Stoa bis Paulus sowie die Bedeutung Alexandrias für die
Ausbreitung der Stoa, so etwa Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie des Alterthums (21865) [57]
oder Burckhardt in seiner Griechischen Kulturgeschichte (vgl. Burckhardt, 1900ff).
Der Umstand, dass Weygolds Die Philosophie der Stoa nach ihrem Wesen und ihren Schicksalen von 1883 in Nietzsches
nachgelassener Bibliothek erhalten ist, beweist, dass er sich noch in den achtziger Jahren für das Thema interessiert haben
muss. Weygold führt die stoische Ethik in ihrem parallelen Streben nach Glück und Tugend auf Sokrates zurück. Die Stoa sei
halb orientalisch, jedenfalls passiver ausgerichtet als das tätige Griechentum und deshalb eher der Religion und Schwärmerei
zugeneigt (S. 70ff). Sie führe deshalb direkt ins Christentum, besonders Senecas Denken weise starke Affinitäten zum
Christentum auf. Entscheidend für den Sieg des stoisch geprägten Christentums über die Welt der Antike war laut Weygold die
Technik der Allegorese, die pneumatische Auslegung:
Ohne die allegorische Auslegung, die jedes Bedenken zu beseitigen verstand, wäre der zäh am Gesetz hängende Saulus
vielleicht nie ein Paulus geworden; ohne sie, die nicht nur Moses und die Propheten, sondern auch die griechische Weltweisheit
als Relief für die neue Lehre zu verwenden wusste, wäre der Sieg des Christentums zweifelsohne ein minder leichter gewesen.
[Absatz] Die Stoa hat aber auch ganz direkt auf Paulus und somit auf das Christentum gewirkt. [Absatz] Der cilicische Vorort
Tarsos war der berühmteste Sitz der stoischen Weisheit in ganz Asien. Fast jede Generation bis herab in die Zeiten des
Kaiserreiches hatte einen hervorragenden Stoiker aufzuweisen, der in Tarsos geboren und gebildet war. (Weygold, 1883:211f)
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Es dürfte nun einleuchten, dass jene „listigen, heimlichen, unsichtbaren, blutarmen Vampyrn“ aus dem eingangs zitierten
Aphorismus des Antichrist die jüdischchristlichen Allegoriker sein müssen. Der Gegensatz von Rom und Judäa, der in
Nietzsches Spätwerk in immer neuen Varianten auftaucht (s. GM I.16, 5:285ff), verkörpert den Gegensatz von Sinnlichkeit und
Freude am Tatsächlichen auf der einen und Askese und Spiritualität auf der anderen Seite; er ist damit auch ein Gegensatz
zweier Auslegungsarten, von guter alexandrinischer Philologie und jüdisch-christlicher Theologie [58]. Nietzsches scheinbarer
Antisemitismus im Spätwerk ist eine Kritik der Wurzeln des Christentums. Den Juden, die er ja andernorts in Schutz nimmt und
mit Lob überhäuft, wirft er nur eines vor, nämlich dass ihre Vorväter die „Erfinder des Christenthums“ (FW 2.99, 3:456) waren.
Es darf gleichfalls nicht mehr, wie noch in Sommers Antichrist -Kommentar (Sommer, 2000b:393f), verwundern, dass Paulus'
Falschmünzerei und Unehrlichkeit zu seiner Herkunft aus Tarsus, dem Hauptsitz der stoischen Aufklärung in Beziehung gesetzt
wird (Vgl. AC 42, 6:216 [59]). Die Zentralität des Paulus für die christliche Auslegungspraxis, v.a. durch die gründliche
Reinterpretation des Alten Testamentes im christlichen Sinn, die durch seine Herkunft aus jüdischrabbinischer Exegese und
Allegorese möglich wurde, ist auch in neuerer Zeit bekräftigt worden (Grant, 1957:47f). Zwar geht man heute davon aus, dass
die jüdische Tradition für Paulus wichtiger war als die Anregung durch die Stoa (darin ist er mit Philon nicht zu vergleichen) [60],
aber für Nietzsche war dies unerheblich [61]. Seine Paulus- und Stoa-Kritik tragen dieselben Züge (z.B. JGB 1.9,
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5:21f) [62]. Nicht von ungefähr identifiziert sich Nietzsche gern mit Epikur, dem Gegner der Stoa und gleichzeitigem Antipoden
theologisch inspirierter Weltbilder [63]. Werden die Epikuräer schon gegen die Stoiker ausgespielt, weil sie die intellektuell
reizbareren und feineren Geister gegenüber den grob und hart gewordenen Stoikern seien (FW 4.306, 3:544) [64], so stellt sich
Nietzsche mit Epikur auch gegen Platon (JGB 1.7., 5:20) – mit kaum verhüllter Anspielung auf Wagner und Schopenhauer.
Platon trägt für Nietzsche bekanntlich die philosophische Verantwortung dafür, dass überhaupt eine ‚Hinterwelt‘ gegenüber der
scheinbaren Welt angenommen wurde (vgl. z.B. Abel, 1984:104). Platon als „das größte Malheur Europas“, wie es in einem
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Nietzsches gesamte Aufzeichnungen zu diesem Komplex sind bereits in den Jahren 1867/68 von der Ablehnung des
Platonismus und Stoizismus gleichermaßen geprägt (z.B. S. 385). Ihnen wird Demokrits Begnügen mit der gegebenen Welt
entgegengesetzt – der Skeptiker Pyrrho sowie Epikur fußen auf Demokrit (394 u. 469). Demokrit lernt Nietzsche im Kolleg von
Georg Curtius zur griechischen Grammatik als ersten Grammatiker – d.h. Philologen! – der griechischen Sprache kennen, auf
dem auch die alexandrinische Grammatik und damit die großen Alexandriner aufbauten (GSA 71/50, Blatt 5). „Strenge
Wissenschaftlichkeit und Methodik kennzeichnet den Demokrit.“ (KGW I.4.: 379). Paulus dagegen wird in einem bedeutenden
Aphorismus aus der Morgenröthe als erster eigentlicher Christ und „Erfinder der Christlichkeit“ identifiziert. Durchsetzen
konnte sich dieser Fall „einer der ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen und eines ebenso abergläubischen als
verschlagenen Kopfes“ aber nur, weil in der Nachwirkung der von ihm selbst mitgestalteten Allegorese die Kunst des guten
Lesens der alexandrinischen Schule ausgestorben war:
[…] hätte man die Schriften des Paulus nicht als die Offenbarungen des „heiligen Geistes“, sondern mit einem redlichen und
freien eigenen Geiste, und ohne an alle unsere persönliche Noth dabei zu denken, gelesen, wirklich gelesen – es gab anderthalb
Jahrtausend keinen solchen Leser –, so würde es auch mit dem Christenthum längst vorbei sein […] (M 1.68, 3:64ff)
Die Zeitangabe verweist auf Renaissance und Humanismus, Geburtsstunde der neuzeitlichen Philologie, die bewusst an die
alexandrinische Schule anschloss. Die naheliegende Konsequenz aus dieser Analyse führt in die Aufwertung von Philologie und
‚gutem Lesen‘, wenn man sich die Bekämpfung des Christentums und seiner Folgen auf die Fahnen geschrieben hat.
Nietzsches Rehabilitierung des Alexandrinismus seit Menschliches, Allzumenschliches , die dann im Antichrist den Gipfel erreicht
hat, nimmt hier ihren Ausgangspunkt.
Freilich muss an dieser Stelle gleich einem möglichen Missverständnis vorgebeugt werden. Epikur, der sich in seinen Garten
zurückgezogen hat und die Welt hinter seinen Masken beobachtet, ist weder Gelehrter noch Philologe. Nietzsche hat seit
Menschliches, Allzumenschliches die Philologie nicht als ideale Lebensform wiederentdeckt, sondern, wie bereits bemerkt, als
praktisches Instrument in der Hand des souveränen Individuums, als Waffe in der Hand des Erkennenden. Philologie ist Fleiß
und kaltblütiger kritischer Blick und allerdings nicht identisch mit Geist, an dem es zumal in Deutschland, der zeitgenössischen
Hochburg der Philologie, immer gefehlt habe (vgl. VII 34 [138]). Die Leistung der Philologen ist es, „Vernichter jeden Glaubens,
der auf Büchern ruht“ (FW 358, 3:603) zu sein. Neuen Glauben können und sollen sie nicht geben.
Nietzsches Wiederentdeckung der Schlagkraft einer von den richtigen Händen geführten historisch-kritischen Methode
verdankt sich zum nicht geringen Teil der Freundschaft mit Franz Overbeck. Mit Recht hat Andreas Urs Sommer von Nietzsches
und Overbecks „Waffengenossenschaft“ gegen das Christentum
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gesprochen (Sommer, 1997). In Overbecks Basler Antrittsvorlesung vom 7. Juni 1870, die sich auch in Nietzsches Bibliothek
befand (Ueber Entstehung und Recht einer rein historischen Betrachtung der Neutestamentlichen Schriften in der
Theologie , gedruckt 1871; s. Overbeck, 1871) verteidigt Overbeck die historische Bibelkritik. Die Allegorese, v.a. das System
des von gelehrten Rabbinern geschulten Origenes muss Overbeck von historisch-kritischem Standpunkt als „Systematisirung
des Verkehrten“ (S. 10) ablehnen. Erst die Reformation besinne sich wieder auf die Schrift selbst, die historisch-kritische
Wissenschaft rehabilitiert vollends den historischen bzw. buchstäblichen Sinn. Wenn Sommer in seinem Vergleich Overbecks
und Nietzsches letzterem bescheinigt, theologischer als der Theologe Overbeck zu argumentieren (1997:43), so hat das
angesichts des frühen Nietzsche seine Berechtigung [65]. Bei Overbeck kann Nietzsche jedoch die zugleich redliche wie
gefährliche historische Kritik in der Praxis beobachten. Sie trägt zu seinem Abschied von der Wagnerschen Gegenreligion bei
und lässt ihm die Wissenschaft wieder als nützliche Bundesgenossin erscheinen.
Zu den Vorstudien des Antichrist gehörte Nietzsches konzentrierte Beschäftigung mit Julius Wellhausen, dem, so man will,
gesteigerten Overbeck. Overbeck und Wellhausen regten Nietzsche zwar an, bestätigten ihn aber letztlich nur auf einem Weg,
den er sowieso schon eingeschlagen hatte. In den bahnbrechenden Prolegomena zur Geschichte Israels (s. Wellhausen,
6 1905) und den Skizzen und Vorarbeiten (Wellhausen, 1884) wies Wellhausen die Abhängigkeit des Pentateuch von über lange
Zeit tradierter mündlichen Überlieferung nomadischer Stammesreligionen bis zu den Propheten nach und kehrte damit die im
Dem Einfluss Wellhausens kann die vorliegende Abhandlung nicht gerecht werden, seit Sommers vorzüglicher Behandlung des
Themas (Sommer, 2000b) besteht daran auch kein neuer Bedarf. Nietzsches eigentlich historisch-kritische Schulung geht
ohnedies nicht auf ihn, sondern auf die Bonner Schule der Klassischen Philologie zurück. Sie hat Nietzsche überhaupt erst die
Neigung zu Gelehrten wie Overbeck oder Wellhausen eingepflanzt und sein Denken von früh auf in Bahnen gelenkt, die sich
noch in den reifen Werken unschwer nachzeichnen lassen. Auf ihr soll deshalb in den folgenden Seiten das Hauptgewicht liegen.
2.3. Friedrich Ritschl und die Bonner Schule
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Die Klassische Philologie in der Tradition der sogenannten Bonner Schule, wie sie Nietzsche geprägt hat, ist heute nur noch
wenigen bekannt [66]. Weil die Geschichte der Altertumswissenschaft in Deutschland meistens aus der Perspektive der
Gräzistik erzählt wird, ist diese Schule, die von Latinisten dominiert wurde, zusätzlich in Vergessenheit geraten. Die historisch-
kritische Philologie, deren Bedeutung für Nietzsches Denken hier behauptet wird, bildet kein genau abgegrenztes, homogenes
Paradigma: die Philologie Friedrich Ritschls weist einige Merkmale auf, die sie vom Hauptstrom der auf Text- und Quellenkritik
beruhenden, streng wissenschaftlichen Methode unterscheidet, der sie normalerweise zugeordnet wird. Sie muss wegen ihrer
Bedeutung für Nietzsche deshalb genauer rekonstruiert werden [67].
Der überragender Repräsentant der Bonner Schule – „vir incomparabilis Ritschelius“, wie Nietzsche ihn in einem Brief an
Mushacke vom 15. Juli 1867 mit bewundernder Ironie nennt (I.2:220), hat Nietzsche bis an sein Lebensende fasziniert. Darin
unterschied er sich wenig von anderen Schülern Ritschls; wie sie schätzte er die besondere Mischung aus wissenschaftlicher
Strenge und intellektueller Offenheit [68]. Aus seiner Kritik an der Philologie hat er ihn, dem er einiges
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zu verdanken hatte [69], immer ausgenommen und empfahl auch während der Basler Zeit seine Schüler an Ritschl in Leipzig
weiter.
Selbst über Ritschls Tod hinaus ist Nietzsche der Bonner Schule immer verbunden geblieben. Interessanterweise bittet ihn Otto
Ribbeck [70] sogar noch am 24. Juni 1873, also nachdem der Verfasser der Geburt der Tragödie für die Fachwelt
wissenschaftlich erledigt war, um ein Referenzschreiben für den jungen Basler Philologen Gelzer, der für ein Extraordinariat
infrage kam. Höchst bedenkenswert angesichts des Adressaten auch die Einschätzung Gelzers durch Ribbeck: „Sein Aufsatz
über Lycurg im Rh⟨einischen⟩ M⟨useum⟩ ist ja gelehrt und scharfsinnig, indessen nicht gerade geeignet, die a priori, d.h. von
väterlichem Einfluß her sich aufdrängende Besorgniß zu beseitigen, daß er geneigt sein möchte die Geschichte mit einiger
Vorliebe und Voreingenommenheit für priesterliche oder religiöse Gesichtspunkte zu betrachten.“ (II.4. 265f). Otto Ribbeck
gehört zusammen mit den alten Bonner Professoren Schaarschmidt und Windisch zu einer sehr kleinen Auswahl von
Personen, an die Nietzsche auch später noch seine Bücher senden lässt [71].
Mit der Rehabilitierung des Alexandrinismus, die mit dem Verzicht auf die philologische Existenzweise zusammenfällt, ist nicht
nur Nietzsches Anerkennung dessen gemeint, was an der Philologie für ihn auch künftig bewahrenswert sein soll, sondern
gleichzeitig eine Verbeugung vor Ritschl. Ritschl, der Nietzsche alles, auch die Tragödienschrift, verzieh, bezeichnet sich in einem
ironischen Brief (mit der spöttischen Anrede „lieber Herr Professor“) vom 14. Februar 1872 nicht umsonst selbst als
„Alexandriner“ (II.2:541ff) [72]. Das Eigenverständnis
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Ritschls als Alexandriner war womöglich ausgeprägter als bei anderen Zeitgenossen. Mit dem Buch über Die Alexandrinischen
Bibliotheken (Ritschl, 1838) hatte er eine wichtige Studie zum Thema verfasst, die wohl auch eine Quelle für Nietzsches
Auffassung der alexandrinischen Philologen gewesen ist [73]. Entsprechend findet sich die Selbstbezeichnung „alter Philolog“,
derer Nietzsche sich später selbst gern bedient, ebenfalls schon bei ihm (Brief an Nietzsche vom 2. Juli 1872; II.4, 32ff) [74].
Ritschl muss ein begnadeter Lehrer gewesen sein, ein wissenschaftliches Organisationsgenie und Schulhaupt, das „seine ganz
singuläre Stellung in der Philologie des 19. Jahrhunderts“ weniger der Quantität seiner Forschung als seinem Charisma
verdankte (Schmid 1984:704) – selbst sein geplantes wissenschaftliches Hauptwerk, eine neue kritische Plautusausgabe, wurde
erst von den Schülern vollendet. Ihm war 1867 die erste akademische Festschrift der Welt gewidmet. Ritschls Wirkung in der
Öffentlichkeit war enorm: man denke nur an die Schilderung seiner Leipziger Antrittsvorlesung in Nietzsches Rückblick auf
meine zwei Leipziger Jahre (KGW I.4:506–539). Ritschl war ein großer Anreger; mit Respekt spricht Hermann Diels lange nach
Ritschls Tod von seinen „protreptischen Gaben“ (Brief an Usener vom 14. August 1888, in Diels/Usener/Zeller, 1992, Bd.1:238).
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zehnten Jahrhunderts [76]. Er stand für das unerschütterliche Zutrauen der philologischen Zunft in die letztliche Überlegenheit
der historisch-kritischen Philologie: „Besser methodisch irren, als unmethodisch d.h. zufällig das Wahre finden.“ (Ritschl,
1879:26) Die allgemeine Züge seiner Methode hat Conrad Bursian seinerzeit beschrieben als:
eine methodische Durchbildung von innen heraus, durch die der ganze Mensch gepackt und für sein gesammtes
wissenschaftliches Leben endgültig geformt ward. Die Zucht begann vor allem damit, jeden mit dem Gefühl seiner eigenen
Unzulänglichkeit zu durchdringen, in ihm die Ueberzeugung zu erwecken und zu stärken, daß sich in der Wissenschaft nichts
im Fluge erreichen lasse, daß die Götter vor den Erfolg den Schweiß gesetzt haben, daß man in redlicher Arbeit von dem
Kleinsten anfangen müsse, weil in der Wissenschaft eben nichts klein sei, und das scheinbar Kleine, gering geachtetet, auch das
Große gefährde. Und wer nun an die Arbeit ging, wurde ohne Gnade gezwungen, keiner Schwierigkeit auszuweichen, jede
vielmehr scharf ins Auge zu fassen und mindestens sich bewußt zu werden, wie weit ihre Bewältigung ihm gelungen. Mit
allgemeinen Wendungen oder mit bequemer Berufung auf Autoritäten durfte niemand sich beruhigen, überall mußte selbst
Hand angelegt und geprüft werden, bis alles zu voller oder doch möglichst erreichbarer Klarheit gebracht war. (1883,
Bd.2:814f)
Nicht zufällig klingt das wie eine Definition von Nietzsches Begriff der intellektuellen Rechtschaffenheit. Schon früh bezeichnet
Nietzsche seinen Lehrer als „eine Art wissenschaftliches Gewissen für mich“ – in einem Brief an Deussen vom 4. April 1867, der
ein schönes Beispiel seiner Begeisterung für die Philologie sowie seiner technischen Versiertheit bereits zu Beginn des Studiums
ist (I.2:205). Die von Bursian erwähnte redliche Arbeit am kleinsten Detail erinnert an den bereits zitierten ersten Aphorismus
von Menschliches, Allzumenschliches und „die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden
wurden“ (MA I.1, 2:23). Das Buch erscheint nicht lange nach Ritschls Tod. In seinem Kondolenzschreiben an Sophie Ritschl
(II.5:213f), einem ernsten Brief, der frei von Phrasen und in wahrhaft verehrungsvollem Ton abgefasst ist, verleiht Nietzsche
seiner großen Dankbarkeit, nicht zuletzt für Ritschls Verhalten im Streit um die Tragödienschrift Ausdruck [77]:
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Ich bin glücklich, noch aus dem letzten Jahre ein kostbares Zeugniss seiner unveränderten Milde und Herzlichkeit für mich in
einem Briefe zu besitzen und mir vorstellen zu dürfen, dass er, auch wo er mir nicht Recht geben konnte, mich doch
vertrauensvoll gewähren liess.
Nach dem Skandal um die Geburt der Tragödie baut Ritschl Nietzsche trotz aller persönlichen Betroffenheit wieder Brücken und
akzeptiert sogar ein Jahr später seinen (letzten) Beitrag für das „Rheinische Museum“, der wieder ganz im Sinne der Zunft
gehalten ist [78]. Im Kondolenzschreiben bedauert Nietzsche, dass es ihm nun nicht mehr möglich sei, Ritschl noch zu
Lebzeiten öffentlichen Dank und Ehre zukommen zu lassen, er wolle es aber in Zukunft mit aller Kraft nachholen. Seine letzten,
den ‚Alexandrinern‘ verpflichteten Werke, tun genau dies.
Ein realistisches Bild des jungen Nietzsche wird nur gewinnen, wer sich die Vorbildwirkung vergegenwärtigt, die der
Generationsgenosse Wagners für ihn erlangt. Nietzsche ist in Leipzig und später in der Schweiz zwischen zwei Welten hin- und
hergerissen, nämlich Ritschls Welt und Wagners Welt, gespalten in der Loyalität gegenüber zwei ebenbürtigen Charismatikern
[79]. Nietzsches Briefe schildern die Auseinandersetzung mit Ritschl, der von Wagnerei auf philologischem Gebiet wenig hält,
weil Wagner „vermöge seines ganzen Bildungsganges und seiner ganz anders gewendeten Lebensrichtung mit
Quellenforschung und Belegen nichts anzufangen weiß.“ (an Nietzsche am 2. Juli 1872; II.4, 32ff) Ritschl stellt dennoch weniger
Forderungen als Wagner, der unbedingte Unterordnung verlangt. Lediglich gegen den Absolutheitsanspruch von Kunst und
Philosophie wehrt sich Ritschl und verteidigt gegen sie die Geschichte und „speciell de[n] philologische[n] Zweig derselben“
(ebd.). Die persönliche Beziehung zu Nietzsche weiß er von den fachlichen Differenzen zu trennen, hatte er doch schon längst
akzeptiert, dass sein Lieblingsschüler im Gegensatz zu ihm selbst eher gräzistischen als latinistischen Studien zuneigte. Es ist
nur allzu natürlich, dass Nietzsche nach dem Bruch mit Wagner [80] wieder zu Ritschl tendiert. Noch am Ende seines
bewussten Lebens, in seinem persönlichsten Buch, hat er ihm das schönste Denkmal gesetzt:
(Ritschl – ich sage es mit Verehrung – der einzige geniale Gelehrte, den ich bis heute zu Gesicht bekommen habe. Er besass jene
angenehme Verdorbenheit, die uns
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Die Motivik der „Verdorbenheit“ und der „Schleichwege“ ist von Beginn an eng mit der Philologie verbunden [82]. Die Verbindung
des Gelehrten mit dem Genie behielt sich Nietzsche wohlgemerkt sonst selber vor. Doch wie kam Nietzsche überhaupt an
Ritschl, was bewog ihn, in Bonn zu studieren? Die Beantwortung dieser Frage wird sich u.a. als Schlüssel zu der Anspielung auf
Ranke erweisen.
Die Universität Bonn war nach Berlin die zweite große preußische Neugründung gewesen und sollte ihrem Profil nach zu einer
Art preußischem Oxford werden. Ihr philologisches Seminar hatte einen hervorragenden Ruf. Seit Janz (1978) hat sich die
Auffassung eingebürgert, Nietzsches Wahl seiner Studienorte sei abhängig von den Freunden gewesen, denen er jeweils gefolgt
sei: Deussen nach Bonn und Gersdorff nach Leipzig. Der Stand der Wissenschaft sei nur Vorwand gewesen. Dabei wird aber
übersehen, dass überdurchschnittlich viele Pförtner das Studium in Bonn aufnahmen, die meisten von ihnen als Philologen.
Nietzsches Prägung durch die Bonner Philologie beginnt nicht erst an der Universität, sondern schon in der Schule. Was Otto
Crusius über Erwin Rohde
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schrieb, mag auch auf Nietzsche zugetroffen haben: „Der Ruf FR. RITSCHLS und der Bonner Philologie im Bunde mit der
Romantik des Rheins und des Südens zog den hochstrebenden, lebensdurstigen Jüngling an die rheinische Hochschule“
(1902:8).
Die Pförtner Philologen scheinen von ihren Lehrern zum Studium in Bonn ermutigt worden zu sein. Dies hat etwas mit der
besonderen Ausrichtung der Philologie an beiden Institutionen zu tun. Beide waren von der Tradition Gottfried Hermanns
geprägt (für Schulpforte vgl. Paulsen, 31919ff, Bd.2:407ff). Einer der drei Gründungsväter des Bonner philologischen Seminars,
August Ferdinand Naeke, war selbst Hermann-Schüler und Alumnus Portensis gewesen (dazu Jensen, 1933). Die
Altertumswissenschaft war in Deutschland bekanntlich seit dem großen Philologenstreit zwischen dem ‚Wortphilologen‘
Gottfried Hermann und dem ‚Sachphilologen‘ August Boeckh in zwei Lager gespalten [83]. Die Hermann-Schule war in Leipzig,
Breslau und eben Bonn stark repräsentiert, wogegen die Boeckh-Anhänger sich in Halle und Berlin prestigereiche Bastionen
geschaffen hatten. Hermann stand sowohl dem Rationalismus und der Aufklärung, wie auch dem Humanismus und sogar der
Romantik nahe, von Kant inspiriert war er gegen die rein spekulative Philosophie, aber auch gegen übertriebenen philologischen
Enthusiasmus eingestellt: „die sprachlichen und literarischen Erscheinungen mit ihrer festen und durchsichtigen
Gesetzmäßigkeit bilden das Gebiet seiner wissenschaftlichen Tätigkeit; die neuen antiquarisch-historischen,
archäologischästhetischen Untersuchungen, welche von der Göttinger Schule ausgingen und durch WOLF und BOECKH nach
Halle und Berlin verpflanzt worden waren, zogen ihn weniger an.“ (Paulsen, 31919ff, Bd.2:407ff). Seine Schüler sprachen
verächtlich von Halle und Berlin, v.a. von Wolfs Seminar, „wo man von Sprache nichts verstehe und keine Kritik treibe“ (ebd.,
409f). Von Gottfried Hermann, dessen Wirkungsstätte Leipzig unweit von Naumburg liegt, stammt jener humanistisch-
antitheologische und historisch-kritische Geist, der Nietzsche so frühzeitig beeindruckt hatte [84]. Seine antitheologische und
antiklerikale Ausrichtung war
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geradezu ein Hauptzug dieses wichtigsten Lehrers Friedrich Ritschls. Noch zum dreihundertsten Jahrestag der Gründung der
Pforte im Jahre 1843 gratuliert Hermann mit einem antiklerikalen, wissenschaftsverherrlichenden Gedicht [85].
Nietzsches Theognis-Aufsatz, seine erste Arbeit, die im „Rheinischen Museum“ erscheint, ist zum großen Teil schon an der
Pforte entstanden. Die Hermannsche Schule ist hier, vor allem auf technisch-philologischem Gebiet bereits in einer Weise reif
entwickelt, die er sich niemals in so kurzer Zeit in Bonn hätte aneignen können. Aber auch die Bonner Schule Friedrich Ritschls
ist bereits mehr als nur in Konturen vorhanden. Das lag nicht zuletzt an Diederich Volkmann, der zu Nietzsches Zeit ein ganz
junger Lehrer war, nur sechs Jahre älter als er selber. Er war es, der Nietzsche den Theognis als Thema seiner Valediktionsarbeit
vorschlug. Nietzsche hatte ein enges Verhältnis zu seinem Naumburger Lehrer, bei dem er vorübergehend auch
Privatunterricht im Englischen nahm. Mit Volkmann arbeitete Nietzsche noch während der Leipziger Zeit zusammen, während
er bisweilen die gut ausgestattete Pförtner Bibliothek benutzte. Volkmann war Ritschlianer und hatte von 1857 bis 1861 (mit
kurzem Zwischenspiel in Breslau) sein Studium in Bonn absolviert. Mit seiner Arbeitet De Suidae biographicis quaestiones
selectae promovierte er bei Ritschl. Er hat die philologische Ausbildung an der Pforte entscheidend im Sinne der Bonner Schule
gestaltet, besonders während seines langen, freilich nach Nietzsches Zeit liegenden Rektorats [86].
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Immerhin spreche ich meine große Freude darüber aus, daß ich gerade mein erstes Jahr in Bonn zugebracht habe. Es kommt ja
wesentlich darauf an, als Philologe Methode zu lernen; und wo besser als hier? Gerade der Anfang des Studiums, die
Gewöhnung an eine bestimmte Richtung ist das Wesentliche. [88]
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Die Bonner Schule verstand sich ferner, und das ist vor allem bei Welcker, aber durchaus noch bei Ritschl der Fall, als
Fortführer Wilhelm von Humboldts und Friedrich August Wolfs. Bei aller Methodik und Wissenschaftlichkeit pflegte sie
freundschaftliche Beziehungen zur universalen Philologie anderer Sprachen, so etwa der von A.W. Schlegel begründeten
Sanskritphilologie, die ebenfalls unter der Bezeichnung Bonner Schule bekannt wurde (s. dazu Windisch, 1920). Ritschl war
persönlich mit Schlegel bekannt und korrespondierte mit ihm [89].
Die geistigen Wurzeln der Bonner Tradition von Text- und Quellenkritik reichen jedoch nicht nur zu den großen Philologen,
sondern bis in die Geschichtswissenschaft hinein, in erster Linie zu dem bedeutenden Historiker und Philologen Barthold Georg
Niebuhr, der ebenfalls in Bonn gewirkt hatte und dort 1831 gestorben war; er gehörte u.a. zu den Mitbegründern des
„Rheinischen Museums“. Niebuhrs Römische Geschichte , über die er zu lesen begann, nachdem ihn Humboldt 1810 an die
Berliner Akademie geholt hatte, machte Epoche. Die Geschichte der ersten vier Jahrhunderte Roms sei verfälscht, schrieb
Niebuhr in der Vorrede: „Wir müssen uns bemühen Gedicht und Verfälschung zu scheiden, und den Blick anstrengen um die
Züge der Wahrheit, befreit von jenen Uebertünchungen, zu erkennen.“ (Niebuhr, 1853:x). Auch ihm galt vor allem die
‚Methode‘ als ausschlaggebend, d.h. die kritische Analyse der Quelle, die ihren poetischen und mythischen Gehalt von
historischen Fakten trennte und unter Berücksichtigung der verschiedenen Ebenen der Quelle die Historie wieder zu
rekonstruieren suchte.
Nietzsche, dessen lebenslanges Projekt es ebenfalls sein wird, die Verfälschungen der (christlich geprägten)
Geschichtsschreibung aufzudecken, rechnete Niebuhr zu seinen intellektuellen Ahnen. Mehrmals zitiert er ihn wohlwollend als
Autorität. Im Kontext einer Polemik gegen die (christliche) Romantik und Wagner als ihrem letzten Vertreter heißt es bei
Nietzsche, das Beste, was Deutschland gegeben habe, sei die „kritische Zucht“ eines „Kant, F.A. Wolf, Lessing, Niebuhr usw.“,
d.h. die „Lust am Neinsagen und Zergliedern“ (VII 34[221]). Anders gesagt: obwohl die deutsche Kultur keine vom archaischen
Griechenland inspirierte Kulturrevolution hervorzubringen vermochte, kann man sich dennoch ihre eigentliche Leistung zunutze
machen, um wenigstens konkurrierende Bewegungen zu bekämpfen und auszuschalten [90].
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Niebuhr galt vielen eher als Philologe denn als Historiker, so etwa noch bei Droysen (51967:131) – der selbst als Philologe
begonnen hatte. In der Historik erkannte Droysen die große Leistung der Philologie bei der Erfindung der systematischen Kritik
zwar an. Gleichzeitig distanziert sich der Schüler Hegels und Boeckhs davon, dass Quellenkritik die ganze historische
Wissenschaft ausmachen solle. Die Schuld für die Verengung des Faches in diese Richtung sowie die einseitige Konzentration
auf schriftliche zum Nachteil materialer und anderer Quellen gibt er Niebuhr – und nach ihm Ranke (Droysen, 51967:95), der als
Nachfolger und Statthalter Niebuhrs angesehen wurde. Ranke, der übrigens wie Nietzsche Schulpforte besucht hatte, trifft sich
mit Ritschl nicht nur im Erbe der historisch-kritischen Schule, sondern auch in der Gegnerschaft zu Theodor Mommsen und der
antiquarischen Tradition. Das ist wohl der wichtigste Grund, warum Nietzsche Ritschl und Ranke in einem Atemzug nennen wird.
Niebuhr hat eine Hymne auf die philologische Wissenschaft verfasst, die Nietzsche bestens bekannt war. Der Herausgeber der
Ausgabe des Briefs an einen jungen Philologen , die Nietzsche besaß [91], betont in seiner Einleitung die Beeinflussung
Niebuhrs durch F.A. Wolf, beider Methodik sei miteinander verwandt gewesen. Die Römische Geschichte war ja in ihrer Leistung
und Wirkung durchaus mit Wolfs Prolegomena ad Homerum zu vergleichen (Wegner, 1951:163). In der Vorrede zum ersten
Teil der zweiten Ausgabe hatte sich Niebuhr zudem ausdrücklich auf die philologische Tradition seit Bentley berufen (s. Niebuhr,
1853) – ganz wie Wolf selbst und nach ihm Friedrich Ritschl.
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chen Wunsch Boeckhs sollte er sogar Nachfolger Lachmanns in Berlin werden. Ritschls Kompromissangebot bestand darin,
nicht die Bedeutung von antiquarisch-historischer Forschung an sich zu verneinen, aber als dringlichste Aufgabe der
zeitgenössischen Philologie für sie zunächst eine verlässliche Textgrundlage zu fordern, die nur mit strenger Methodik zu
erlangen sei [93]. Für Nietzsche gilt der Gegensatz zwischen Hermann und Boeckh deshalb als längst überholt: in beiden
Richtungen sei die Methodik als das Wichtigste erkannt und entsprechend fortentwickelt worden (vgl. z.B. §14 der Encyklopädie
der klassischen Philologie , KGW II.3:390f.).
Ritschl ging es nicht zuletzt um die Selbstständigkeit seiner Disziplin, deren Befreiung aus dem Status einer theologischen
Hilfswissenschaft noch nicht allzu lange zurücklag. Dafür war Methode natürlich unerlässlich (vgl. den Vortrag Ueber die
neueste Entwicklung der Philologie in Ritschl, 1879:1–18 [94]). Er plädiert sogar für einen in inhaltlicher Hinsicht äußerst
umfassenden Philologiebegriff, der eine Verwechslung mit der Historiographie der klassischen Antike als Unterabteilung der
Universalgeschichte nahelegt. Darin dürfe sich die Philologie indes nicht erschöpfen, denn die Reproduktion des Altertums wird
nur gelingen „in Erhaltung und Herstellung seiner realen Denkmäler“, also durch Textedition, wobei dann auch das
Sprachstudium zu seinem Recht komme, nämlich als „das wahre Organon aller philologischen Erkenntnis“. Hier glaubt Ritschl
den „Centralpunkt“ philologischer Arbeit gefunden zu haben, in dem die verschiedenen wissenschaftlichen Auffassungen von
Philologie zusammenlaufen und in welchem sie sich gegenseitig als gleichberechtigt anerkennen können. Die „reale
Reproduction“ der Texte sieht Ritschl als bisher höchste erreichte Stufe der Philologie an [95], wenn auch nicht
notwendigerweise als Ziel- und Endpunkt. Erst die Arbeit, so lässt sich sein Ansatz bündig kennzeichnen, dann das Vergnügen.
Auch darin folgt ihm Nietzsche [96].
Die Philologie hatte die Echtheitsfrage ins Zentrum ihrer Tätigkeit gerückt, weil die Schrift das wichtigste Medium war, in dem
sich die „Ueberreste alter Zeiten“ (Wolf/Buttmann, 1807:31) dokumentierten und diese schriftlichen Überreste als Zeugnisse
einer vorbildichen Vergangenheit und ästhetisch besonders
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wertvoll galten (32f). Gründungsvater F.A. Wolf, das sollte nicht vergessen werden, ist ein Zeitgenosse und Vertrauter Goethes.
Die klassischen Texte erlangen für ihn eine fast religiöse Dimension, die im Zeitalter der Herausgeberfiktionen und Fälschungen
[97] nicht kompromittiert werden darf. Der Status klassischer Texte wäre hinfällig ohne Prüfung von Echtheit, Alter und
Richtigkeit. Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit die Zentralität der philologischen Kritik, dem Herzstück der
Altertumswissenschaft (38f). Wolf führt die rein ästhetische Schätzung des Altertums im Sinne Winckelmanns, Lessings oder
Goethes zu einer historischen Wissenschaft fort, die dennoch nichts weniger als positivistisch im modernen Verstand ist.
Iudicium und Intuition, kurz: Divination des Philologen, sind noch immer notwendig, um etwa Homers Zeit gerecht zu werden;
sie muss freilich durch wissenschaftliche Beweisführung, also durch ‚Methode‘ nachprüfbar gemacht werden:
Die hohe Bedeutung der Prolegomena für die Geschichte der Philologie beruht noch mehr auf der von Wolf angewandten
Methode der Forschung als auf den dadurch gewonnenen Resultaten: sie gaben das erste, mustergültige Beispiel einer mit
richterlicher Strenge und Schärfe durch Abhörung aller Zeugen geführten Untersuchung über die Geschichte eines antiken
Geistesproductes von dem Zeitraume seiner Entstehung an nach den verschiedenen Epochen der Ueberlieferung. [98]
Wenn Ritschl das Hauptgewicht seiner Tätigkeit auf die Methode verlegte, entwickelte er mithin direkt das Erbe Wolfs weiter und
machte die Philologie dadurch für lange Zeit methodisch unangreifbar. „Es ist das Verdienst Ritschls in erster Linie, wenn der
klassischen Philologie der Erfolg geglückt ist, im Allgemeinbewußtsein des 19. Jahrhunderts eigenst als Wissenschaft der
Methode zu gelten.“ (Bickel, 1946:31) Gemeinsam mit Otto Jahn [99] und anderen Kollegen
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etabliert er eine Arbeitsweise, die außer Nietzsche viele andere Schüler entscheidend formte. Beispiele für die Durchführung
dieser Methode bieten nicht nur Nietzsches eigene philologische Arbeiten, sondern viele Beiträge im „Rheinischen Museum“.
Bonner Schule der klassischen Philologie heißt, um konkret zu werden, die Verbindung von Textkritik mit prosodischen,
metrischen, epigraphischen und literaturhistorischen Studien. Besonders wichtig sind ihr die Quellenforschung, die Etablierung
von Texten und ihre kritische Auslegung zum Zwecke der Sicherstellung von Texten und damit der Überlieferung. Sie versteht
sich als hart und unerbittlich in der Strenge ihrer Methodik, die gleichwohl nicht rein formal sein soll, sondern Strenge eher in
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Zusammenfassend seien in übersichtlicher Form jene wesentlichen methodischen Charakteristika der Bonner Schule im Sinne
Ritschls dargestellt, die bei Nietzsche auch außerhalb des philologischen Berufs nachgewirkt haben:
(1) Philologie baut bei Ritschl auf einem unumstößlichen Ethos auf, das „unerbittliche Strenge gegen jede Halbheit im Denken“
(Bickel, 1946:22) fordert. Friedrich Paulsen berichtet eine bezeichnende Anekdote von Ritschls Wahrheitsliebe. In seiner
Homervorlesung stutzt Ritschl und traut plötzlich der eigenen Erläuterung eines schwierigen Ausdrucks nicht mehr. Am
nächsten Tag verkündet er, sich doch nicht geirrt zu haben, er habe nämlich über Nacht noch einmal „den Homer“
durchgelesen, den ganzen versteht sich (Paulsen 31919ff, Bd. 2:453, Anm. 1) [100]. Zu dieser Grundhaltung gehört die
Selbststilisierung als ‚Alexandriner‘.
(2) Philologie hat zwar die universale Erkenntnis des Altertums zum Ziel, konzentriert sich aber in ihrer täglichen Arbeit auf
einzelne Punkte, die möglichst gründlich durchgeführt werden sollen. Die Methode ist immer an Einzelfragen und
Einzelproblemen ausgerichtet, rein memorierter Gedächtnisstoff wird abgelehnt. Gegenüber „jener flachen, arbeitsscheuen
Universalität, die nirgends eigentlich zu Hause ist“, zieht Ritschl es vor, sich auf einem Gebiet hervorzutun, anstatt auf vielen
nur unwichtige Rollen zu spielen (Ribbeck, 1879ff, Bd. 1:87) – ein Erbgut der Hermannschen Tradition. Er betont die Arbeit am
kleinsten, scheinbar unwichtigen Detail, die in engem Zusammenhang mit der unter (1) genannten Prüfung und Infragestellung
jeder Autorität, auch der eigenen, steht. Antiquarischer Sammelgeist soll durch intensive Konzentration auf ein genau
abgegrenztes Gebiet ersetzt werden (Ribbeck, 1879ff, Bd. 2:457f), wobei auch die Versenkung in einzelne Probleme maßvoll zu
geschehen hatte. Ritschl zeigte kein Interesse an massenhaften kritischen Textausgaben, wie er auch kein Freund riesiger
allumfassender Editionen eines einzelnen Schriftstellers war [101]. Zwar ist Kulturgeschichte der endgültige Referenzrahmen für
den Sinn des ganzen Unternehmens, aber überzeugende kulturgeschichtliche Thesen lassen sich nur induktiv aus der
gründlichsten Analyse konkreter ‚Monumente‘ entwickeln:
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Er setzte seinen Ehrgeiz nicht darein, zu den Nabobs der Gelehrsamkeit gerechnet zu werden. Was seinen Geist reizte, war
weniger der bequeme Besitz des Allen zugänglichen Wissens als das Erkennen und Erforschen verborgener Thatsachen und
Zusammenhänge. Nur was ihm selbst durch redliches Suchen zur Ueberzeugung geworden war und was er Andren durch
vollständige ‚Zusammenfassung und Abwägung aller in Betracht kommenden Momente‘ zur Ueberzeugung zu bringen hoffte,
legte er öffentlich vor, nicht in hastiger Eile, oft erst lange Jahre nach der Entdeckung. (ebd., S. 456)
Diese Selbstverpflichtung macht die Größe, aber auch die Beschränkung der Ritschl-Schule aus. Während und nach dem
Studium kritisiert Nietzsche die Hingabe an das Detail, welches die weiteren Zusammenhänge aus dem Auge verliert [102]. In
dem Moment, da er die Philologie verlässt und sich komplexeren Fragen etwa der Kulturphilosophie und Moralgeschichte
widmet, wird sie ihm wieder Vorbild redlicher Arbeits- und Kompositionsweise, nicht zuletzt in der Genealogie der Moral.
(3) Wesentlich bei der Behandlung der einzelnen untersuchten Punkte ist ihre Darstellung: das Verlangen der Ritschl-Schule
nach gewissermaßen künstlerischer Abrundung. „Es lag in ihr das Streben nach einer gewissen formell künstlerischen
Abrundung und virtuosen Behandlung wissenschaftlicher Fragen, möglich gemacht durch strenge Begrenzung derselben und
Concentrierung auf einen gegebenen Punkt.“ Ritschls Methode, schreibt Lou Andreas-Salomé, sei Nietzsche deshalb sogar
entgegengekommen (2000:79f). Mehr als andere Gelehrte dachte Ritschl an den Leser und forderte dies auch von seinen
Schülern (Schmid, 1984:passim). „Mein alter Lehrer Ritschl“, so Nietzsche am Ende seines Schaffens, „behauptete sogar, ich
concipirte selbst noch meine philologischen Abhandlungen wie ein Pariser romancier – absurd spannend.“ (EH Warum ich so
gute Bücher schreibe 2, 6:301)
(4) Ritschls Philologie ist nicht rein formal. Sie versteht sich als weniger mechanisch, auch und besonders in der Textkritik, als
die verwandte Praxis eines Karl Lachmann. Intuition, die sich auf intime Kennerschaft und weitreichende Textkenntnis stützt, ist
geradezu ihr Markenzeichen. Diese auswählende und divinatorisch-subjektive Form der Kritik soll jedoch kein zufälliges Ratespiel
abgeben, sondern durch Tatsachen abgesichert sein, die ohne Beteiligung der Persönlichkeit des Philologen ermittelt werden.
Mühsam erworbenes „gebildetes
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(5) Prüfstein und zugleich Zentrum der Ritschlschen Philologie ist die Textkritik. Das hat zwei Gründe. Im Umgang mit Texten
besteht, erstens, die Kernkompetenz der Philologie; Texte sind die wichtigsten Monumente, in denen sich die Überlieferung des
Altertums darstellt. Ohne verlässliche Texte und ohne genaue Arbeit am Text ist alles andere hinfällig. Der zweite ist
pädagogischer Art: „Andere mögen an geistesgeschichtlichen Konzeptionen das Talent ihrer Schüler erproben; Ritschl hat sich
über die Befähigung des einzelnen zu wissenschaftlicher Arbeit so Klarheit verschafft, daß er ihn textkritisch arbeiten ließ.“
(Bickel, 1946:22) In der Textkritik lässt sich die wichtigste Fähigkeit der philologischen Methode an überschaubaren Beispielen
einstudieren, nämlich kritisches Bewusstsein und, besonders in der Konjekturalkritik, Phantasie, die sich selbst wieder im
kritischen Zaum hält. Die Konjekturalkritik galt ja immer bis zu einem gewissen Grad als Neu- und Nachdichtung (vgl. Jensen,
1963:89). Der Konjekturalkritiker musste Werk und Autor kennen wie kein zweiter, wenn die Konjekturen ein gewisses Maß an
Wahrscheinlichkeit haben sollten. Die Bonner Schule wurde immer wieder mit dem Vorwurf angegriffen, einseitig Kritik zu treiben
– anstatt Pädagogen für die Schule zu erziehen, die sich etwas mehr in den Realien auskennen. In einem gemeinsamen Bericht
für das akademische Jahr 1861/62 verteidigten sich Ritschl und Jahn:
Allein wenn es feststeht, dass alle Erforschung des Alterthums ihre Wurzel hat in dem methodisch begründeten Verständniss
der alten Schriftsteller, dass fast jede Schwierigkeit, fast jeder Zweifel auf irgend welchem Gebiet der Alterthumswissenschaft
zurückzuführen ist auf ein Problem der Kritik und Hermeneutik, so ergiebt es sich mit Nothwendigkeit, dass die Kräfte sich
heranbildender Philologen vor allen Dingen zu
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üben sind an den Aufgaben, welche die Herstellung corrupter Textworte, um das richtige Verständniss zu erzielen, darbietet.
(Ribbeck, 1879ff, Bd. 2:283) [104]
(6) Im Zentrum dieser angewandten Methodenlehre steht somit das Verhältnis von Kritik und Hermeneutik. „Überall da, wo ein
strittiger Sachverhalt so entschieden wird, daß ihn zunächst eine ‚clara et distincta perceptio‘ auf das durch die Daten der
Überlieferung determinierte kritisch-hermeneutische Problem zurückführt, treibt man Philologie im Geiste Ritschls.“ (Schmid,
1984:703) Kritik und Hermeneutik lassen sich zwar in der Praxis nicht voneinander trennen, müssen aber theoretisch
auseinandergehalten werden. Da diese Einsicht für Nietzsche überaus wichtig wird, ist ihr ein gesondertes Kapitel gewidmet.
(7) Die charakteristische Tätigkeit des Philologen ist das Lesen. Das ist weniger banal als es klingt. Lesen will in einem langen,
möglicherweise das ganze Leben andauernden Prozess gelernt sein [105]. Die bloße Aufnahme schriftlich formulierten
Gedankenguts ist nicht damit gemeint. Philologisches Lesen geht über die Inhaltsanalyse hinaus und widmet der Form sowie der
Überlieferung des Textes größte Aufmerksamkeit, bis hin zur Materialität des Schriftträgers. Lesen ist das Erkunden des
Textsoma als tatsächlichem Körper bzw. Organismus. So waren etwa metrische und rhythmische Studien für Ritschl von hoher
Bedeutung. Lesen ist die verinnerlichte Ausübung von Kritik und Hermeneutik nach einem Grad der Verflechtung, der sie
unauflöslich macht, also einer Exegese, die sich auf Schritt und Tritt selbst beobachtet und kritisiert. Lesen muss dem
Gegenstand und dem Erkenntnisziel angemessen sein. Ritschl unterscheidet zwei hauptsächliche Lektüreverfahren: die
„tüchtige eindringliche, mit Kritik verbundene statarische Lectüre“ (meine Hervorhebung) – also die gründliche und langsame,
in die Tiefe dringende Lektüre – und die kursorische Lektüre, die reiche Kenntnisse und Sicherheit der Sprache (facultatem et
usum) zum Ziel hat [106]. Und er fährt fort:
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Einen gewissen Umfang der Lectüre alter Schriftsteller zu haben ist doch der Kern der ganzen philologischen Wissenschaft.
Das kömmt immer mehr ab; die neuen Bücher nehmen zu sehr in Beschlag; deshalb deren Studium von vielen verdammt; ganz
unwissenschaftlich; beides zu vereinigen; denn ohne die befruchtenden Ideen, die den Stoff beleben, ist alle Lectüre nur
Stockgelehrsamkeit oder reines Amüsement. [107]
Das Nonplusultra ist also die möglichst genaue Kenntnis von möglichst vielen Texten und unterschiedlichen Textsorten; das
Studium der Grammatik muss durch die Lektüre möglichst vieler Schriftsteller ergänzt werden (Ribbeck, 1879ff, Bd. 1:335).
Erst lange Gewöhnung an komplexes Lesen und die Kombination aus statarischer und kursorischer Lektüre macht
(8) Diese Betonung der Belesenheit in Verbindung mit ihrer oft demonstrierten philosophischen Abstinenz verweist auf den
letzten methodischen Kanon der Ritschlschen Philologie, nämlich die empirische Fundierung. Die Textkritik ist lediglich diejenige
philologische Teildisziplin, welche dieser Norm am nächsten kommt:
In der Tat ist die Textkritik, d.h. die souveräne Beherrschung der Urkunden, so geübt durch Verfolgung aller Belange der
betreffenden Stelle, die Primärquelle für jede geschichtliche Untersuchung. Damit wird die Textkritik und die Befähigung zu ihr
der Punkt, wo sich die Geister scheiden, die aus der Quelle trinken oder aus der Wasserleitung zapfen. Wenn an irgendeinem
Punkte die Methode der Geisteswissenschaft sich der induktiv-empirischen Methode der exakten Naturwissenschaft nähert, die
der Bestätigung der gedanklichen Aufstellung durch das Experiment bedarf, so ist es die Textkritik der klassischen Philologie.
(Bickel, 1946:23)
Bereits in einer akademischen Rede aus der ersten Bonner Zeit (1830–1848; vor der großen Italienreise) tadelte Ritschl „die
wechselseitige Geringschätzung, welche zwischen Vertretern der Natur- und der sogenannten Geisteswissenschaften
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geäussert werde“ (Ribbeck, 1879ff, Bd. 2:142). Dies sei am Ende für alle Wissenschaften schädlich. Maßstab des wahren
Gelehrten sei geradezu sein Verhältnis zu den Wissenschaften außerhalb des engen Spezialgebiets. Ritschl insistierte zwar auf
fachlicher Spezialisierung, ohne die kein Erkenntnisgewinn mehr möglich sei, fühlte sich indes immer der Einheit der
Wissenschaft verpflichtet. So beklagte er z.B. die Herauslösung der Archäologie aus der Philologie und wehrte sich gegen den
Anspruch auf Vorrang seitens der Theologie und der Philosophie, besonders jener, die das Beispiel des Aristoteles vergesse,
der doch wenigstens die Empirie zu schätzen gewusst habe. Der Rangstreit unter den Künsten sei ebenso verwerflich wie der
zwischen den Nationen: Ritschl überträgt bewusst Goethes Kosmopolitismus auf die Wissenschaft (ebd.). Der Charakter
philologischer Theorie und Methode wird, immer wieder in Auseinandersetzung mit dogmatischen Tendenzen jeglicher
Philosophie „als das durch fortgesetzten Versuch allmälig erwachsende, nie abgeschlossene Ergebniss empirisch gewonnener
Einsicht“ vertreten (ebd., Bd. 2:18f) [109]. Durch Suchen und Entdecken neuer Urkunden und Dokumente lassen sich etwa
quellenhistorische Thesen oder textkritische Konjekturen verifizieren und falsifizieren. Durch sprach- und stilhistorischen
Erkenntniszuwachs aufgrund sprachvergleichenden Studiums sowie durch die Parallelstellenmethode können Auslegungen
modifiziert werden. Der Vorwurf an Ritschl lautete häufig, zu sehr im Induktiven zu verharren. Das Experiment galt ihm
gleichwohl als Königsweg und die Naturwissenschaften waren ihm Verbündete gegen dogmatische Deduktionen der Theologen
und Metaphysiker [110].
Nietzsche wird diese Haltung mit seiner Wende nach Menschliches, Allzumenschliches in extremer Form einnehmen. Seine
Vorliebe für naturwissenschaftliche und physiologische Studien ist bekannt. Die Nähe Nietzsches zu experimentellem Denken ist
der Forschung schon seit längerem aufgefallen, möglicherweise zuerst Walter Kaufmann (vgl. 31968:85), der in dieser Hinsicht
vor allem von der angelsächsischen Nietzscheforschung weitergeführt wurde. Es soll hier behauptet werden, dass es die
spezielle philologische Schulung war, die einen fruchtbaren Boden für die Aufnahme naturwissenschaftlichen Denkens bei
Nietzsche bereitet
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hat. Besonders die frühen Aufzeichnungen zur Philologie belegen, dass sein methodisches Interesse an den empirischen
Wissenschaften in der Bonner Schule der Klassischen Philologie wurzelt [111]. In grundsätzlichen Reflexionen zur Methode der
Philologie misst Nietzsche ihre „Anstrebung möglichster Objektivität“ am naturwissenschaftlichen Ideal:
1. Erkenntniß der Überlieferung.
Ausgeschlossen werden die Subjekt. der Herausgeber, dann der revidier. Grammatiker
Die älteste Form wird gesucht, weil sie dem Alterthum am nächsten steht (Hülfsannahme: die Fehler vermehren sich progressiv.)
Dazu muß ein app⟨aratus⟩ crit⟨icus⟩ da sein, um die Verwandtsch. der codd.abzuschätzen. Dies geschieht nach äußeren Handhaben, Lücken
etc. (Paläogr⟨aphie⟩)
2. Erkenntniß der Verderbniß
a. augenscheinl. Verderbnisse
b. durch ratio erschließbar
z.B. objektiver Anhalt: Zahlensymmetrie
subjet.: best. Ansicht über die aesthet. Vollkomm⟨en⟩h.
des Autors.
z-B. eine allgemeine Ansicht über die häufigste Form der Verderbniß.
3. Erkenntn. der Heilung.
Diese Aufzeichnungen gehen zum großen Teil auf den Einfluss Ritschls zurück. Wichtig ist die Betonung der Unmöglichkeit, die
Subjektivität des Philologen vollends auszuschalten, die ihn ja erst vom Naturwissenschaftler unterscheidet. Gleichwohl
entwertet sie nicht die Ergebnisse des Philologen, wenn dieser nur verschiedene halb subjektive Zugänge miteinander vergleicht
und aus der Analo
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gie allmählich das Wahrscheinlichste herausschält. Nicht durch Einfühlung und Intuition möchte Nietzsche den Philologen vom
Naturwissenschaftler unterscheiden, wie es die Geisteswissenschaft des späten neunzehnten Jahrhunderts vorschlagen wird,
sondern durch ein an die Naturwissenschaften angelehntes, aber viel älteres Analogieschlussverfahren, in dem die Subjektivität
sich selber kontrolliert. In Nietzsches späten Schriften erhält dieses Verfahren eine Bezeichnung, der man die philologische
Herkunft kaum noch ansieht. Gemeint ist natürlich der berühmte Perspektivismus, der an späterer Stelle ausführlicher
behandelt werden wird.
Schließlich sei von inhaltlichen und formalen Bezügen Nietzsches zur Ritschl-Schule abgesehen, um die Persönlichkeit Ritschls
und seine Vorbildwirkung auf Nietzsche kurz zu beleuchten. Nietzsches philologischer Weggefährte Erwin Rohde schreibt:
Ihm war einzig im Forschen und Prüfen wohl; eben darum aber wurde seine Arbeit nie fertig. Denn wo wäre ein Abschluss des
Forschens denkbar, dessen Wesen die ewige Bewegung ist? Wie sollte ein solcher Geist sich in einer abgeschlossenen
Darstellung haben genügen können, zu welcher wiederum anders angelegte Gelehrte ein unabweisliches Bedürfniss treibt?
Rohde beschreibt nicht Nietzsche, sondern Ritschl selbst (Rohde, 1901:457) [113] – doch hätte er ebensogut den Freund
meinen können. Rohde nimmt Ritschl ferner so ausdrücklich von der typischen „gebundenen“ species des deutschen Gelehrten
aus (ebd.), dass man unwillkürlich an Nietzsches ‚freien Geist‘ als deren Widerpart denken muss. Wie andere Schüler auch
betont Rohde immer wieder das Prozessuale in Ritschls Denken, dessen Scharfsinn das einmal Erreichte immer wieder in Frage
stellte, seine „wahrhaft bildende Kraft“ in der Anregung anderer (460f):
Jene gewaltigen Arbeiten, durch die er, wie in weitem Schwunge daherfahrend, ganze Gebiete der Philologie von uraltem Wust
und Schlingengewächs säuberte, seine Arbeiten im Plautus, auf dem Gebiete der lateinischen Sprachgeschichte, füllen seine
Bonner, zum Theil noch seine Leipziger Jahre. Hier schuf er zum erstenmale Licht und Helligkeit; er regte in so unermesslichem
Umfange zu theilnehmender Arbeit an, dass, bei dem lebhaften Weiterbetreiben der von ihm in Fluss gebrachten Arbeit, man
fast in Gefahr kommen könnte zu vergessen, dass seine Schriften es waren, die zuerst und immer wieder die Probleme
hervorhoben, zu lösen begannen, einen so frohen und belebenden Hauch in diesen ganzen Betrieb brachten, wie ihn andere
Gebiete der Forschung nicht leicht je verspürt haben. Eben wegen der so lebhaft wirkenden, geistig zeugenden Kraft seiner
Arbeiten wurden diese oft schnell überholt, wie er sich selbst fortwährend überholte. (ebd.)
Als Nietzsche den Schritt weg von Wagner und zurück zu Ritschl geht, entscheidet er sich gegen den geschlossenen Mythos
und das zusammenhängende System. Die Komposition seiner Bücher nach der Tragödienschrift ist auch formal
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vom Denkstil Ritschls geprägt – einmal abgesehen vom Zarathustra , mit dem Nietzsche sich wieder in Konkurrenz zu Wagner
begibt.
2.4. Enzyklopädie: Grammatik, Kritik, Hermeneutik
James Whitman (1986) hat in einem wenig bekannten Aufsatz Nietzsche in die von ihm so bezeichnete „magisterial tradition“
der klassischen Philologie eingeordnet, eine eigenwillige Bezeichnung für die Schule der stark methodisch engagierten
Altertumswissenschaft des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Die Gelehrten aus der von Whitman identifizierten Tradition
werden von ihm durch ein besonderes Kennzeichen definiert: sie alle waren Verfasser philologischer Enzyklopädien (im Sinne
von Methodenlehren). Nietzsche gehört zur letzten Generation, für welche die Enzyklopädie noch zentraler Bestandteil des
Faches war [114]. Da die Methode den Kern der für Nietzsche maßgeblichen philologischen Theorie darstellte und sie es ist,
Die philologische Fachenzyklopädie war ursprünglich der Versuch, die disparaten Teile der Altertumswissenschaft zu einem
logisch verbundenen Ganzen zu verschmelzen. Sie ist deshalb untrennbar mit der Konsolidierung der philologischen Disziplin
verbunden. Erst durch F.A. Wolfs Enzyklopädie (s. Wolf/Buttmann, 1807 u. Wolf, 1831) wird die Beschäftigung mit den antiken
Sprachen und Kulturen überhaupt unabhängige Wissenschaft. Schon Conrad Bursian würdigte die schöpferische Leistung von
Wolfs Enzyklopädie, die durch die Zusammensetzung loser Teile die Disziplin begründete und, das entscheidende Moment, sie
auf den Boden einer Methode stellte, die sie von anderen Disziplinen abhob (1883, Bd. 1:543) [115]. Seit Wolf wird die Methode
deshalb getrennt von den Realien behandelt und steht in jeder Enzyklopädie am Beginn. Die eigentliche Methodenlehre oder
Enzyklopädie der Philologie besteht dabei traditionell aus drei Kernbereichen, die nacheinander beleuchtet werden sollen:
Grammatik, Kritik und Hermeneutik. Nietzsche hat wohl außer F.A. Wolfs noch August Boeckhs Enzyklopädie in ihren
Grundzügen gekannt, die zwar noch nicht publiziert vorlag, aber bereits im wesentlichen durch Vorlesungen seiner Schüler
verbreitetet war. Außerdem hat er natürlich die entsprechenden Vorle
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sungen Ritschls besucht, die sich in weiten Teilen rekonstruieren lassen [116]. Für seine eigene enzyklopädische Vorlesung
scheint er stark auf Bernhardys Grundlinien zur Encyklopädie der Philologie (1832) zurückgegriffen haben [117].
Bei Wolf werden die drei „Fundamentaltheile“, nämlich die methodischen Grundlagenfächer Grammatik, Kritik und Hermeneutik
von den „Hauptheilen“ der Realien (Geographie, politische Geschichte, Altertümer – d.h. v.a. Verfassung und Sitten –,
Mythologie, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte sowie Kunstgeschichte) getrennt (Wolf, 1831). Verbreitet war auch die
Einteilung Bernhardys, der die sog. Elemente der Philologie, nämlich Kritik und Hermeneutik von der Sprache (als Organon)
unterschied und diese drei den Realien entgegensetzte (in seinem Falle gehören Literaturgeschichte, Geographie, Geschichte
und Mythologie dazu, während Kunst, Numismatik, Epigraphik und Philologiegeschichte nur „Beiwerke“ sind, also nicht im
strikten Sinne zu den Realia gehören). Ritschls enzyklopädische Vorlesungen waren schon seit frühester Zeit in einen
allgemeinen Teil, einen zweiten Teil, der Hermeneutik, Kritik und Grammatik umfasste, einen Abschnitt zur griechischen und
römischen Literaturgeschichte sowie ein letztes Kapitel über Mythologie und Antiquitäten eingeteilt (vgl. Ribbeck, 1879ff, Bd.
1:243ff) [118]. Für Ritschl war die Methodenlehre idealer Mittelweg in wissen
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schaftlicher Hinsicht und pädagogisches Wundermittel in einem, denn „trotz aller Phrasen von höherer Auffassung der antiken
Welt und ihres geistigen Lebens auf der einen, und von geistloser Wortklauberei auf der andern Seite“ sei „das wahre Ziel
ächter Humanitätsbildung überwiegend auf dem Wege grammatischer Interpretation und ins eigne Leben dringende Lectüre
der classischen Schriftsteller“ zu erreichen: höchster Wert der praktischen Übung im Seminar sei und bleibe deshalb „die
Uebung strenger Kritik und Exegese“ (nach Ribbeck, 1879ff, Bd. 2:17). Die methodisch-enzyklopädischen Vorlesungen über
dezidiert philologische Hermeneutik und Kritik wurden in Bonn (und später Leipzig) deshalb immer umfassender und
ausgereifter (ebd.)
Die Grammatik wird von allen relevanten Autoren als Grundlage der Philologie behandelt. „Alle philologische Tätigkeit die mit Hilfe
kritischer und exegetischer Wissenschaft das Alterthum zu verstehen und zu entwickeln sucht, muss sich auf die Grammatik
als ihren wahren Grund und Boden stützen.“ (Bernhardy, 1832:165). Angesichts der kritischen Auseinandersetzung
Nietzsches mit der Grammatik in seinem Spätwerk könnte man meinen, dass er dieses Erbe nicht angetreten habe. „Ich
fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…“ heißt ein berühmtes Zitat aus der Götzen-
Dämmerung (KSA 6:78). Der Kontext dieser und ähnlicher Stellen beweist jedoch, dass sich Nietzsche hier immer mit einem
sehr engen Grammatikbegriff auseinandersetzt. Gemeint ist der logische Grammatikbegriff der Griechen, der im Cartesianismus
fortgesetzt. Auf ihm baut laut Nietzsche jede Metaphysik auf: Nietzsches Skepsis gegenüber der Grammatik bezog sich immer
auf die ungebührliche Übertragung grammatischer Kategorien auf metaphysische Probleme, etwa der formalen Unterscheidung
von Subjekt und Objekt in indogermanischen Sprachen auf die Einteilung der Phänomene in logische Subjekte und Objekte.
Hinter dem Grammatikbegriff der Philologie verbirgt sich jedoch eine ganz andere Auffassung von Sprache, die Nietzsche
gerade nicht angreift und ohne welche seine Kritik an der (cartesianischen) Grammatik gar nicht verständlich wäre. Schon F.A.
Wolf versteht unter Grammatik einen erstaunlich weiten Begriff, der seinem Inhalt nach der Sprachwissenschaft bzw. sogar der
modernen Linguistik viel näher als jeder Schulgrammatik steht, und zwar in synchroner wie diachroner Hinsicht (vgl.
Wolf/Buttmann, 1807:36). Grammatik ist hier weder logisch aufgebaut noch starres normatives System, sondern empirisch am
jeweils aktuellen Sprachgebrauch orientiert. Das ist insofern von Bedeutung, als Hermeneutik bei Wolf als die auf der
Grammatik aufgebaute „Kunst, die Gedanken eines Schriftstellers aus dessen Vortrage mit nothwendiger Einsicht aufzufinden“
bezeichnet wird, Hermeneutik also Teil der grammatischen, rhetorischen und historischen Auslegung ist (37).
Bei Wolf (1831:47) heißt es sogar: „Was die Logik für alle philosophischen Studien ist, das ist die Grammatik für alle
historischen.“ Bernhardy (1832) unterteilt die Grammatik in 1. allgemeine Grammatik (die sich u.a. mit Ursprung, allgemeinen
Bildungsgesetzen und Geschichte der Sprache, aber auch mit Typologie beschäftigt), 2. philosophische Grammatik, 3. die
besondere oder philologische Grammatik, nämlich die konkrete Formen-, Wort- und Strukturbildung des Lateinischen und
Griechischen unter Berücksichtigung ihres Sprachschatzes und ihrer Dialekte. Sie umfasst orthographische und orthoepische
Studien, Rhetorik, Kompositionslehre, Stilistik, Metrik und Übersetzungswissenschaft. Die philologische Grammatik entsteht auf
der Basis weitreichender Lektüre der konkreten sprachlichen und literarischen Quellen. Sie versteht sich als Kombination
historischer und analytischer Arbeit, wobei „beide Richtungen bloss verschiedene Thätigkeiten desselben Geschäftes“ seien,
„die auf Empirie gestützt und durch vernünftige Kombination gefördert werden; sie müssen von einer Kritik geleitet sein, welche
das Recht der Zeiten, das Individuelle, das Anomale herausfindet und mit den Gesetzen der Analogie verknüpft; aber diese
Bemühungen des Fleisses und der Urtheilskraft sind nichtig, wenn nicht eine grammatische Exegese vorangeht, der Takt und
die Kunst unter vorschwebenden Aehnlichkeiten mit Unbefangenheit einen Text zu deuten, und das Ergebniss solcher
Interpretation als Beobachtung aufzuweisen.“ (S. 216)
Ritschl ist auf dem Gebiet der Grammatik Anhänger der sprachvergleichenden, historischen Sprachwissenschaft. In der
Tradition eines Wilhelm von Humboldt fasst er die Sprache als Organismus auf, „der nicht mit dem logischen Verstande,
sondern durch die gemeinsame Wirkung aller Geisteskräfte erwachsen ist“ – dadurch sei der bisher herrschendenden
philosophischen Grammatik „der Hals gebrochen“ (Ribbeck, 1879ff Bd. 1:334). Ritschl förderte und forderte bei seinen
Schülern die Bekanntschaft mit der Indogermanistik, auch wenn sie nach seinem Verständnis eines gesonderten Studiums
bedurfte [119]. Nietzsche hatte großen Respekt vor den Leistungen der frühen Indogermanistik. In seinen sprachtheoretischen
Reflexionen finden sich ferner viele Spuren Humboldts und seiner Nachfolger (z.B. Gerber, 1871–74). Nietzsches Einwände
gegen die philosophische Grammatik sind bei Ritschl bzw. der organischen Grammatikauffassung Humboldts vorgeprägt;
Originalität hat er dafür, im Gegensatz zu anderen seiner Einsichten, nie beansprucht. So folgt Nietzsche auf grammatischem
Gebiet schon als Basler Professor den Vorlesungen, die er selbst gehört hat. In Ritschis Institutiones grammaticae linguae
latinae lautet der erste Satz in Nietzsches Mitschrift „Die Sprache ist weder Mechanismus noch Ergebniß der Spekulation,
sondern ein Organismus.“ (GSA 71/43, Blatt 2). Eine „empirisch-philosophisch-historische“, die
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Entwicklung berücksichtigende Auffassung der Sprache sei deshalb der richtige Ansatz, um sich ihr zu nähern (Blatt 3).
Nietzsches Vorlesungen über lateinische Grammatik (s. KGW II.2) aus dem Wintersemester 1869–70 wiederholen z.T. bis in die
Wortwahl Ritschls Darstellungen (s. die allgemeine Einleitung im ersten Kapitel, S. 185f) und legen besonderen Wert auf die
Definition der Sprache als Organismus, d.h. weder als bewusstes Erzeugnis eines Einzelnen noch einer Mehrheit. Ein
Organismus ist nie ganz zu erklären, nur zu beschreiben. Daraus folgt die Ablehnung der philosophischen Grammatik von allein:
Die tiefsten philosoph. Erkenntnisse liegen schon vorbereitet in der Sprache. Kant sagt: „ein großer Theil, viell. der größte Theil
von dem Geschäfte der Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe, die er schon in sich vorfindet.“ Man denke an Subjekt
und Objekt; der Begriff des Urtheils ist vom grammatischen Satze abstrahirt. Aus Subjekt u. Prädikat wurden die Kategorien von
Substanz und Accidenz. (ebd.)
Sprache müsse letztlich als ein Instinkt (!) aufgefasst werden, der in vergleichbarer Weise Kommunikation schon bei Bienen
oder Ameisen hervorbringt:
Instinkt ist aber nicht Resultat bewußter Überlegung, nicht bloße Folge der körperlichen Organisation, nicht Resultat eines
Mechanismus, der in das Gehirn gelegt ist, nicht Wirkung eines dem Geiste von außen kommenden, seinem Wesen fremden
Mechanismus, sondern eigenste Leistung des Individuums oder einer Masse, dem Charakter entspringend. Der Instinkt ist
sogar eins mit dem innersten Kern eines Wesens. Dies ist aber das eigentliche Problem der Philosophie, die unendliche
Zweckmäßigkeit der Organismen und die Bewußtlosigkeit bei ihrem Entstehn. (186)
Der Philologie stellen sich allerdings keine derartigen Probleme, denn ihre Sache sind Sprachursprungstheorien oder verwandte
philosophische Spekulationen nicht. Sie beschränkt sich auf die historische Beschreibung der Phänomene, anstatt sie auf
wenige Prinzipien zu reduzieren [120]. So ist bei August Boeckh (21886) die grammatische Auslegung ebenfalls schon
erstaunlich detailliert und, vom linguistischen Standpunkt aus, modern. Wörter haben nur im konkreten Zusammenhang eine
Bedeutung. Etymologie spielt zwar noch eine wichtige Rolle. Die Bedeutung ergibt sich aber letztlich aus der Kernbedeutung des
Lexems in Verbindung mit der Einschränkung durch historische Entwicklung und konkreter
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Anwendung im syntaktischen und pragmatischen Kontext. Grammatische Auslegung setzt natürlich, wie Boeckh erkennt,
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schon generische und individuelle Auslegung voraus; die Interpretationsstufen fließen ineinander [121]. Kurz gesagt:
Wittgensteins berühmte semantische Gebrauchstheorie war lange Zeit vorher, und zwar in differenzierter Form, philologisches
Allgemeingut. Die Philosophie hat das Rad einmal mehr neu erfunden.
Nietzsches späte sprach- und grammatikkritische Überlegungen beziehen sich nicht auf den Grammatikbegriff der Philologie,
auf die linguistisch-pragmatische Auslegung, sondern bauen auf ihrer Gebrauchstheorie auf, um sich gegen die scholastische
Grammatikauffassung der Metaphysik zu wenden. Die Nietzscheforschung hat zu ihrem Nachteil nicht beachtet, dass bei
Nietzsche zwei Begriffe von Grammatik bzw. Sprache vorkommen, nämlich einmal der logischphilosophische Grammatikbegriff,
den er kritisiert, und der empirische, textbasierte und textvergleichende Grammatikbegriff der Philologie, mit dem Nietzsche
selbst arbeitet [122] – man denke allein an die Rolle der vergleichenden, historischen
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Etymologie in der Genealogie der Moral. Ihre Methode beruht nicht zuletzt auf philologischer, sprachvergleichender Arbeit; der
historische Inhalt moralischer Vorstellungen wird über die sprachliche Analyse einzelner Konzepte erschlossen [123].
In der zeitgenössischen Philologie seit F.A. Wolf wird der Sprachgebrauch unter dem Begriff des usus loquendi geführt; seine
Bedeutung für Nietzsche soll später ausführlich thematisiert werden. An dieser Stelle genüge der Hinweis, dass Nietzsche
diesen Begriff in eingedeutscher Form in seine Schriften integriert: es ist, wie zu sehen sein wird, nicht der einzige Begriff der
philologischen Theorie, dem dies widerfährt. Schon im Aphorismus „Sprachgebrauch und Wirklichkeit“ aus Der Wanderer und
sein Schatten greift er „die Priester und Metaphysiker“ dafür an, die Menschen hinsichtlich der berühmten nächsten Dinge „an
einen heuchlerisch übertreibenden Sprachgebrauch gewöhnt“ (WS 5, 2:541) zu haben. Ihn zu analysieren und kritisieren wird
er sich zur Aufgabe machen. Die aus Nietzsches Sicht fatale Entwicklungslogik des christlich geprägten Abendlandes lässt sich
ja nicht zuletzt darauf zurückführen, dass „offenbar die Nichtbesitzenden und Begehrenden den Sprachgebrauch gemacht“
haben (FW 1.14, 3:387). Noch in einer Anmerkung zum Fall Wagner , also zu einer Zeit, da seine Skepsis gegenüber der
philosophischen Grammatik und dem schon immer
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sprachlich konfigurierten Denken unzweifelhaft ist, argumentiert Nietzsche als philologischer Analytiker des Sprachgebrauchs
(WA 9, 6:32) [124].
Methodisch gesehen ist die philologische Grammatik zugleich Voraussetzung und Rahmen der eigentlichen enzyklopädischen
Kernbereiche: Kritik und Hermeneutik. In allen philologischen Methodenlehren werden sie ausnahmslos gemeinsam behandelt.
Dies zu verstehen fällt nach dem Siegeszug der Hermeneutik als philosophischer Theorie schwer. Ohne Verständnis der
ursprünglichen philologischen Auffassung muss Nietzsches Auslegungstheorie aber widersprüchlich erscheinen.
Hermeneutik und Kritik sind in sich nochmals in niedere und höhere Formen gegliedert, auch die Bezeichnungen innere und
äußere sowie subjektive und objektive Hermeneutik bzw. Kritik waren üblich (diese Unterteilungen gehören zum Erbgut der
Bibelkritik). Niedere Kritik und Hermeneutik bezeichnen die Phase der Textkonstitution, der Prüfung sprachlicher und sachlicher
Information. Äußere Kritik bezieht sich auf die Prüfung des konkret überlieferten Materials, während innere aus dem
Werkkontext heraus argumentiert. Entsprechendes gilt für die innere Hermeneutik bzw. für die Dichotomie von subjektiver und
objektiver Kritik und Hermeneutik [125]. Jetzt erst kommt die höhere Hermeneutik hinzu, die zwar den Gesamtplan des Werks
berücksichtigt, aber noch immer keine ‚Interpretation‘ bzw. Auslegung im modernen Verständnis darstellt. Sie beschäftigt sich
mit Gattungsfragen, dem Verhältnis von Persönlichkeit und Gattung, der Analyse des Inhalts. Die höhere Hermeneutik beinhaltet
die philologische Arbeit nach Abschluss der eigentlichen Edition, wobei jene wieder auf diese zurückführen kann. Aus den
Problemen der höheren Hermeneutik ergeben sich schließlich die Fragestellungen der höheren Kritik, die Beschäftigung mit
Quellen und Vorbildern der Werke, die Frage nach Echtheit von Titel, Autor, Text (Pseudoepigraphie) unter Beachtung von
Indizien wie Chronologie, Sprache, Zeitumständen, Lehrmeinungen, Gehalt, Komposition oder literarischer Qualität. Der
Philologe wird ständig auf die niederen Ebenen von Kritik und Hermeneutik zurückverwiesen. Durch die zyklische Arbeit am Text
entsteht ein kritisch-hermeneutischer Zirkel sui generis:
Aufgabe der Hermeneutik das Verstehen, der Kritik das Urtheilen. Da man nicht urtheilen kann, ohne verstanden zu haben, so
wird von der Kritik die hermeneutische Aufgabe als gelöst vorausgesetzt. Sehr oft kann man aber das zu Verstehende auch
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nicht verstehen, ohne schon ein Urtheil über dessen Beschaffenheit gefasst zu haben: daher setzt das Verstehen auch die
Lösung der kritischen Aufgabe voraus. So entsteht ein Zirkel der in der Praxis immer wiederkehrt. (Ritschl nach Ribbeck,
1879ff, Bd. 1:334)
Friedrich Ritschl warnt in seinen enzyklopädischen Vorlesungen vor der Illusion, man könne allein mit streng logischen
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Schlüssen operieren. Doch auch das andere Extrem völliger Prinzipienlosigkeit wird missbilligt. Es sei vielmehr auf dem
Mittelwege zu verfahren und historisch nach Quellen und objektiven Grundlagen zu forschen, bevor die eher subjektive Arbeit
einsetzt: „die Geschichte des Textes zu erforschen, die glaubwürdigen von den unglaubwürdigen Handschriften zu
unterscheiden, die Familien zu finden!“ (ebd.)
Die Hermeneutik bezeichnete Ritschl schon in der Breslauer Zeit als „Kunst des Auslegens zum Behuf des Verstehens, die Kritik
als die des Urtheilens zum Behuf der Berichtigung“ – es sind allgemeine Techniken, die auch für die bildenden Künste oder die
Archäologie gelten (ebd., S. 243–246). Später wird er diese Auffassung erweitern und Kritik und Hermeneutik als Disziplinen
verstehen, „welche lehren, wie der reale Inhalt der Wissenschaft zu gewinnen sei“, wobei es in erster Linie um eine Anleitung
„zur Bewahrheitung und zum Verständniss der Ueberlieferung (nicht: des Ueberlieferten) nach Gestalt und Gehalt“ gehe, was
zunächst (!) auf die schriftlichen Quellen beschränkt bleibe (ebd., Bd. 2:18). „Kunst“ ist hier in der Bedeutung von techné zu
denken: Hermeneutik und Kritik sind handwerklich ausgebildete, d.h. durch lange Einübung erworbene Fertigkeiten und
Spezialkenntnisse auf einem bestimmten Gebiet. So wie man die Echtheit von Dokumenten nur durch genaue Kenntnisse des
Materials eines bestimmten Zeitraums entscheiden kann, kann man ihren Sinn ebenfalls nur durch Fachkenntnisse und nicht
kraft einer beliebigen ‚Theorie‘ erschließen. Ziel und Ergebnis dieser methodischen Herangehensweise an Texte bzw.
Überlieferungen ist in diesem Sinne somit kein allgemeines, sondern ein spezifisch philologisches Verständnis, das die Kritik mit
einschließt. In der Bonner Schule wird gerade auf diesen Umstand größter Wert gelegt, nicht nur bei Ritschl:
Das philologische Verständniß aber begnügt sich nicht im Allgemeinen Wort und Sinn zu begreifen und den Inhalt einer Schrift
kennen zu lernen, es will vielmehr durch strenge Rechenschaft über jede sprachliche oder sachliche Einzelheit dahin gelangen,
die Individualität des Schriftstellers im Ausdruck, im Stil, in der Auffassung und künstlerischen Behandlung seines Stoffes, im
Verhältniß zu seinem Volk und zu seiner Zeit, wie im Zusammenhange der ganzen Literatur, zu klarer Anschauung sich
vergegenwärtigen. (Jahn, 1868:33)
Die konkrete Verfahrensweise beim Zusammenspiel von Kritik und Hermeneneutik ist komparatistisch. Der qualifizierte Vergleich
der äußeren und inneren Gestalt der Quellen macht die spezifisch philologische Methodik aus. Die Besonderheit der historischen
Kritik liegt im Aufbau eines Apparates „von beweisenden, ergänzenden, erläuternden Stellen, welche zusammengefasst einen
tüch
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tigen Boden der Auslegung schaffen“ (Bernhardy, 1831:98f). Unabdingbar ist dazu Quellenarbeit, denn es gilt, den Autor aus
seiner Zeit heraus historisch, literarisch-ästhetisch und antiquarisch zu verstehen. Was er Vorgängern und Autoritäten
verdankt, muss freilich durch psychologische Prüfung ergänzt werden, weil die rein formale oder mechanische
Zusammenstellung nichts wert ist. Die Aussagekraft der Quellen muss durch mühsame Abwägung und Kombination geprüft
werden. Die Divination spielt eine entscheidende Rolle, freilich in Form einer methodisch inspirierten und kontrollierten
Vermutung [126].
In seiner eigener Methodenlehre, der bisher wenig kommentierten Encyklopaedie der klassischen Philologie und Einleitung in
das Studium derselben aus dem Sommersemester 1871 (KGW II.3:339–437) [127] scheidet Nietzsche gemäß der Tradition
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niedere und höhere Kritik von der niederen und höheren Hermeneutik. Seine Ausführungen passen insgesamt kaum zu den
Vorstellungen, die bis heute das landläufige Bild vom radikalen Verächter der zeitgenössischen Wissenschaft prägen.
Sprachliche Studien, heißt es hier zwar, vor allem solche vergleichender Art, seien nur Mittel und Vorbereitung der eigentlichen
Philologie; hingegen sei die „kritisch-hermeneutische Methode“ – oder einfach nur die „Methode“ – unumgänglich (390f).
Höhere Kritik mit ihren Fragen nach Echtheit und ästhetischer Beurteilung betrifft immer die Überlieferung, Hermeneutik das
Überlieferte. Die Kritik der Überlieferung sei bei verschiedenen Lesarten notwendig, die Textkritik nützlich für die Vorbereitung
der eigentlichen Arbeit, der höheren Kritik, welche vor allem auf literaturhistorischen Kenntnissen und umfassenden
Quellenstudien beruht (382). Voraussetzung zur Erkenntnis von Textverderbnissen sind strenge Logik, Sprachkenntnis [128]
und ein feinentwickelter Sinn für Verderbnisse, schließlich Sachverstand. Die Kritik ist deshalb am Ende eben auch Mittel zum
(philologischen) Verständnis, das durch (niedere) Hermeneutik nur vorbereitet wird; sie macht den wissenschaftlichen Kern, das
eigentlich Philologische der Philologie aus. So steht auch bei der höheren Kritik nicht so sehr der hermeneutische Ansatz,
sondern wiederum der Vergleich im methodischen Mittelpunkt. Der junge Philologe müsse sich – eine unerlässliche „ethische
Forderung“ – an „streng logische Operationen“ gewöhnen. „Die Wissenschaft hat nichts mit dem Genuß zu thun, außer in der
Lust an der strengen Wahrheit.“ Unwissenschaftlich ist folglich das oberflächliche Lesen der Ungeübten, das sich unkritisch auf
den nur zufällig vorhandene Textbestand stützt (373–376). Als Vorbilder, an denen man sich zu üben habe, nennt Nietzsche
Bentley, Wolf, Hermann „u. vor allem Ritschl“ (389).
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Gelehrsamkeit und Pädagogik vermittelt – ein Graben, der sich ihm ja durch die eigene Unterrichtspraxis aufgetan hatte.
Zum Vergleich lohnt ein Blick auf die Methodologie August Boeckhs, dem die klassische Philologie die ausführlichste Darstellung
ihrer Theorie dankt [129]. Aus Boeckhs Werk, der nicht nur bei Wolf, sondern auch bei Schleiermacher in die Schule gegangen
war, spricht deutliches Unbehagen gegen die kritische Philologie, wie sie später v.a. in der Ritschl-Schule kulminiert. Er plädiert
für methodische Arbeitsteilung zwischen der wissenschaftlich geprägten, zergliedernden und vom Verstand geleiteten Kritik
und dem „anschauenden setzenden Geist“, der die Philologie in ihrem Bemühen um „historische Construction“ (!) des
Altertums der Kunst anverwandelt (21886:26). Historische Wahrheit lasse sich erst durch die sich gegenseitig bedingenden
Bestandteile der Hermeneutik und Kritik ermitteln (178). Die Kritik hat in erster Linie die Aufgabe, Lesarten einzuschränken
(170ff). Dadurch „tödtet [sie] alle leere Phantasterei, alle Hirngespinste“ und übt durch Selbstkritik des Philologen eine Wirkung
auf die eigene Produktion aus (172). Die Kritik ist zwar nicht vor Fehlern und Fälschungen gefeit, das entwerte sie aber nicht als
Methode (so wie naturwissenschaftliche Methoden ja auch nicht durch die Möglichkeit von Fälschungen entkräftet werden). Zur
wahren Kritik gehöre eine noch höhere Begabung als zur Hermeneutik, außer Scharfsinn müssen ihre Praktiker einen stark
ausgeprägten „argwöhnischen Sinn“ besitzen und nicht alles für wahr und echt halten (173). Bis in den Wortlaut hinein finden
sich hier Parallelen in Nietzsches Auffassung vom künstlerischen Schaffensprozess. Der Künstler bzw. seine Phantasie schaffe
und erzeuge beständig Improvisationen und Nachahmungen. Die eigentlich künstlerische Begabung großer Künstler sei jedoch
ihr Geschmack, also ihr kritischer Sinn, der die Phantasie im Zaum hält. Er „trifft die Auswahl unter diesen Geburten und tödtet
die anderen ab, mit der Härte einer lykurgischen Amme.“ (IV 23[84]).
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Die Parallelen sind nicht zufällig, sondern darin begründet, dass Boeckh seinerseits nur eine Spielart der Wolfschen Philologie
darstellt, die Nietzsche über die Bonner Schule aufgenommen hat. Nachdrücklich hat Riedel (1996b) die Wichtigkeit der
Wolfschen Tradition für Nietzsche herausgestrichen, allerdings vernachlässigt er den Filter Ritschl, der manche Positionen Wolfs
modifiziert und für Nietzsche ebenso wichtig wird. Riedel geht an dieser Stelle auch noch davon aus, dass die Philologie v.a. eine
Beschäftigung des jungen Nietzsche sei. Er betont bei seiner Darstellung des Verhältnisses von Philosophie und Philologie bei
Nietzsche dessen „frühe Hermeneutik“, die als „methodische[s] Fazit“ der Auseinandersetzung mit Wolf gelten könne (132).
Riedel will Nietzsche auf diese Weise mit Macht in die Ahnengalerie der philosophischen Hermeneutik zwingen. Die Auffassung
von Vorverständnis u. dergl., die er bei Nietzsche auszumachen glaubt, findet sich freilich deutlicher bei anderen Philologen,
eben etwa Boeckh. Es ist zwar richtig, dass bestimmte kritische Verfahren der Hermann-Schule wie z.B. die Wortstatistik von
Nietzsche abgelehnt werden und Kritik bei ihm immer durch Hermeneutik vorbereitet wird (133). Gleichzeitig muss jedoch
Hermeneutik wiederum durch Kritik vorbereitet werden. Typisch für die Bonner Schule Ritschls, die Riedel ganz ignoriert, ist
genau der Umstand, dass sie das Schwergewicht auf Kritik legt, ohne die Notwendigkeit der Hermeneutik zu leugnen. Das
Verstehen im Sinne der klassischen philosophischen Hermeneutik ist in Nietzsches philologischer Schulung sekundär.
Riedels Ansatz verdient Aufmerksamkeit, weil er, im Gegensatz zu den meisten philosophischen Kommentatoren, das
hermeneutische Potential Nietzsches nicht einfach ignoriert. Es ist freilich verfehlt (und zugleich anachronistisch), Nietzsche
gewissermaßen zu einem der geistigen Väter hermeneutischer Theorie im zwanzigsten Jahrhundert zu stilisieren. So kann Denis
Thouards Lektüre der Encyclopaedie Nietzsches nur mit Vorsicht genossen werden. Mit unvollständigen Zitaten will Thouard
beweisen, dass Nietzsche die Hermeneutik auf Kosten der Kritik privilegiere – und damit die Philosophie auf Kosten der
Philologie. Er zitiert (2000, 162f; in nicht ganz einwandfreier französischer Übersetzung) folgende Stelle: „In diesem Sinne ist
Hermeneutik Vorbereitung der Kritik. Kritik selbst kann nicht Ziel sein, sondern nur Mittel für das Volle Verständniß. Insofern ist
Kritik nur eine Phase der Hermeneutik.“ (KGW II.3:375) Thouard verschweigt, dass Nietzsche unmittelbar darauf fortfährt: „Hier
entscheiden meist die Individualitäten u. ihre Tendenzen, wohin sie den Schwerpunkt legen. Jedenfalls ist Beides verwachsen.“
Der Fehler liegt hierbei in der Verwechslung von ‚vollem Verständiß‘ mit ‚Hermeneutik‘. Hermeneutik ist nach der Auffassung der
Zeit ein bloßes fachspezifisches Hilfsmittel, eine techné. Das volle philologische Verständnis schließt Kritik als techné sowie
grammatisches, d.h. sprachlichpragmatisches Verständnis mit ein.
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denn wenn man alles anzweifele, käme man niemals von der Stelle. Dank der großen Leistung der kritischen Tradition seien aber
heute schon fast alle Haupttexte kritisch bearbeitet: „Diese sittliche Strenge ist das Charakteristikum unserer Periode. Es wird
bald möglich sein, die Dinge zu componieren, die Periode der Synthesis nach der der [sic] Analysis.“ Thouard weist mit Recht
auf diese Stelle hin. Die Tragödienschrift ist ohne Zweifel der Versuch einer derartigen Synthese (Thouard, 2000:162). Schon
fragwürdiger nimmt sich die Behauptung aus, bei dem Zitat handele es sich um die Vergeltung (revanche) der Philosophie und
damit der Hermeneutik. Nietzsche fährt nämlich, und diesen Teil hat Thouard ebenfalls ignoriert, wiederum fort: „Jedenfalls hat
Jeder noch die Pflicht, sich hier gar nichts durchgehen zu lassen. Er muß sich erst dem Zeitalter der Analysis würdig erweisen,
ehe er an das Zeitalter der Synthesis denken darf.“ – Durch seine Arbeiten im „Rheinischen Museum“ fühlte sich Nietzsche wie
kein zweiter berechtigt, eine große Synthese zu wagen. Die kritisch-philologischen Referenzen von Ritschls Lieblingsschüler
konnten schlechterdings nicht angezweifelt werden. Er täuschte sich darin, aber zumindest war die Selbsttäuschung begreiflich.
Das Ziel der philologischen Auslegung von Wolf bis Ritschl und Nietzsche ist mit anderen Worten nicht ‚hermeneutisches‘
Verständnis im modernen Sinne, sondern die philologische Erklärung der Denkmäler, d.h. der zumeist schriftlich überlieferten
Quellen. Es sei daran erinnert, dass Nietzsches Philologie und Kunst des Lesens die „Herstellung und Reinhaltung der Texte,
nebst Erklärung derselben“ zum Inhalt hatte (MA I.270, 2:223; Kursivierung von mir). Die Tragweite dieses bescheidenen
Wortes kann nicht überschätzt werden. Denn Texte oder andere Quellen kann nur erklären, wer die drei Fundamentalteile
simultan berücksichtigt. Die philologische Erklärung, der redliche Umgang mit Texten umfasst grammatische Analyse, Kritik und
Hermeneutik. Dieses Zusammenspiel – und nur dieses Zusammenspiel – unterscheidet die philologische Exegese von anderen
Auslegungsweisen.
Die Sache wird nicht einfacher durch einige begriffliche Unschärfen. Bei Bernhardy und Ritschl sind Kritik und Hermeneutik Teil
desselben Verstehensprozesses. Ritschl verwendet in seiner positiven Begriffsbestimmung der Philologie sogar einen
vielsagenden Singularis: „Hermeneutik und Kritik ist die wichtigste Thätigkeit der Philologie, das beseelende Element, aber
deshalb nicht der Zweck.“ (nach Ribbeck, 1879ff, Bd. 1:330; Kursivierung von mir) [130]. Wenn man
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‚Verstehen‘ mit ‚Hermeneutik‘ übersetzt, wie heute üblich, dann muss eine mindestens dreigliedrige Hermeneutik angenommen
werden: niedere und höhere Hermeneutik als techné sowie Hermeneutik als volles Verständnis, das Kritik und Grammatik mit
einschließt. In Nietzsches Encyclopaedie entspricht der Begriff der Interpretation den ersten beiden Erscheinungsformen der
Hermeneutik; Auslegung und Exegese können synonym verwandt werden. Das Verstehen dagegen bezeichnet einzig und allein
den Prozess der Überbrückung der zeitlichen und mentalen Differenz zum Altertum, die Wiederherstellung des ursprünglichen
Sinns auf kritischer, sachlicher und linguistischer Grundlage:
Die Aufgabe erscheint zunächst leicht, einen Autor oder eine überlieferte Thatsache zu verstehen, ist aber etwas sehr
Schwieriges, bei dieser ungeheuren Entfernung u. Differenz der Nationalität. Wir sind nicht aus demselben Element erwachsen,
das hier erklärt werden soll. Wir müssen also mittelst Analogien uns zu nähern suchen. Insofern ist unser Verstehen des
Alterthums ein fortwährendes, viell. unbewußtes Parallelisieren. (KGW II.3:373)
Das Auffinden von Analogien und Parallelstellen bezeichnet aber die grundlegenden Operationen der Kritik. Hinzu kommt die
gewöhnliche Langsamkeit des philologischen Verstehens, da bis hin zu „Wort, Klang, Stilistik, Charakter“ alles am Autor fremd
sei. Nietzsche entgeht natürlich nicht, dass die Kategorien des Vergleichs und die Kriterien des Rubrizierens nicht vom Himmel
fallen, sondern gleichfalls erst durch irgendeine Form des Verstehens zustandekommen müssen. Er durchlebt eine intellektuelle
Klärungsphase, in der er grundsätzlich über das Verhältnis von Kritik und Hermeneutik nachdenkt. Infragestellen wird er es
nicht, auch wenn das Nachdenken im Anschluss an seine Schopenhauerlektüre schnell grundsätzliche Züge annimmt und zum
Nachdenken über das Verhältnis von Philologie und Philosophie wird:
Wir werden doch nicht alles Rubrizieren, alle Allgemeinbegriffe als „philosophisch“ bezeichnen. Ebensowenig alles Unbewußte
und Intuitive: auch selbst bei der philologischen Conjektur giebt es ein Erzeugen, das nicht ganz in bewußtes Denken
aufzulösen ist. (III 19[74]).
Bereits Boeckh hatte in Fortsetzung Schleiermachers gelehrt, dass Verstehen unabhängig von hermeneutischer Theorie immer
schon stattfinde, so wie Denken ja auch ohne die Kenntnis formaler Logik funktioniere. Verstehen sei „Kunst“ und beruhe
deshalb auf „einer halb bewusstlosen Fertigkeit“, zu der wie zu jeder anderen Kunst Talent und Übung gehören (21886:75).
Verstehen ist deshalb immer auch produktiv: eine Auslegungstheorie, die sich vor allem über die analytisch-zergliedernde Ratio
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der Kunst, es ist produktiv und konstruktiv. Die philologische Erklärung ist nichts anderes als die Kombination konstruktiver und
zersetzender Kräfte, produzierender Hermeneutik und einschränkender Kritik. Schon bei F.A. Wolf war das Erklären die
Kommunikation der verstandenen „Ideen und Empfindungen eines Andern“ (1831:274). Verstehen oder interpretatio sind aber
nicht mit der Hermeneutik des Verstehens prozesses identisch, denn mit der „Hermeneutik oder Erklärungskunst“ muss
„verbunden seyn eine scharfe Beurtheilungsgabe, die in die Analogie der Denkungsart des Andern eindringt“ – also Kritik, dazu
eine Menge sachlicher Kenntnisse sowie „Kenntnis der Sprache […] allerlei Untersuchungen grammatischer Art“, Geschichts-,
Sitten- und Literaturkenntnisse. Nietzsche wird das Erklären immer wieder von der bloßen Auslegung, d.h. der nicht durch Kritik
kontrollierten Hermeneutik oder Interpretation unterscheiden:
Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns! mit
Verlaub gesagt) und nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr
und muss auf lange hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten. Sie hat Augen und Finger für sich, sie hat den
Augenschein und die Handgreiflichkeit für sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack bezaubernd,
überredend, überzeugend, – es folgt ja instinktiv dem Wahrheits-Kanon des ewig volksthümlichen Sensualismus. (JGB I.14,
5:28)
Auch die induktive Auslegung der Physik unterscheidet sich in ihrem Status deshalb nicht von der deduktiven „Welt-Auslegung
nach der Manier des Plato“ (ebd.), die mit Hilfe „blasser kalter grauer Begriffs-Netze“ über die Sinne Herr bleibt, d.h. zu ihrer
selbstermächtigenden, letztlich pneumatischen Auslegungspraxis wenigstens mit Selbstbewusstsein steht. Erklärungen liefert
keine der beiden Auslegungsarten.
Die Scheidung der Begriffe des Erklärens und Verstehens wird normalerweise an die aufkommende Scheidung der Natur- und
Geisteswissenschaften geknüpft. Manfred Riedel assoziiert in seinem grundlegenden Buch (Riedel, 1978) das Erklären mit der
rationalistisch-deduktiven Tradition, das die Objekte unter Gesetze subsumieren möchte. Deshalb eigne es sich für die
kausalistischen Naturwissenschaften. Riedel setzt mit seiner Analyse aber erst am Ende des 19. Jahrhunderts, besonders bei
Dilthey ein [131]. Zwar vertrat etwa Ritschl (nach Rib
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beck, 1879f, Bd. 1:330) im expliziten Anschluss an Schelling (1974) bereits die Auffassung, dass die Philologie als historische
Wissenschaft vom menschlichen Geist im Gegensatz zur unhistorischen Naturwissenschaft stehe. Das betrifft aber gleichsam
nur das Untersuchungsobjekt, nicht die Methodik. So wie die frühen Naturforscher und Naturphilosophen sich unbedenklich
der Einfühlung und Intuition bedienen, lehnt sich Ritschl, wie bereits dargelegt, an gewisse Standards der empirischen
Wissenschaften an. Das ‚Erklären‘ ist deshalb bis ins letzte Drittel des neunzehnten Jahrhunderts durchaus ambivalent, von
den Naturwissenschaften zwar beeinflusst, aber nicht auf kausale Gesetze fixiert. Nietzsche, und das macht ihn in der
Geschichte der Auslegungstheorie so schwer fassbar, befindet sich im Grenzgebiet zwischen traditioneller Exegese und
modernem Positivismus [132].
Ritschl und Wolf geht es nicht um allgemeine Gesetze – sie betonen immer wieder das Inkommensurable jedes einzelnen Textes
– das heißt aber nicht, dass man deswegen auf den Vergleich mit anderen Texten verzichten sollte. Das Eigene und
Inkommensurable entsteht ja paradoxerweise erst im Vergleich. Die Erklärung entspricht für Wolf, Ritschl und Nietzsche
deshalb am ehesten der explicatio als Erläuterung des konkreten Wort- bzw. Textgebrauchs, sie steht zwischen den beiden
Polen der Deduktion und Deskription; nichts anderes ist gemeint mit dem „einfache[n] Verstehenwollen dessen, was der Autor
sagt“ (MA I.270, 2:223). Der Erklärer muss dabei nicht auf Phantasie verzichten: die Divination als durch Erfahrung erworbene
Fähigkeit, methodisch fundierte Voraussagen zu machen und Verbindungen zu sehen, gilt auch hier als wichtiges Supplement
zur Ratio.
Nietzsche wendet den Unterschied von Beobachten und Erklären auf das empirische Studium des Menschen an. Der Erklärer
stützt sich zwar auf sinnliche Eindrücke, lässt aber auch seiner durch Ratio („Scharfsinn“) und breite Kenntnisse gesteuerter
(Er-)Findungskraft (also der Divination) freien Lauf:
Zwei Arten Moralisten. – Ein Gesetz der Natur zum ersten Male sehen und ganz sehen, also es nachweisen (zum Beispiel das
der Fallkraft, der Licht- und Schallreflexion) ist etwas Anderes und die Sache anderer Geister, als ein solches Gesetz erklären.
So unterscheiden sich auch jene Moralisten, welche die menschlichen Gesetze und Gewohnheiten sehen und aufzeigen – die
feinohrigen, feinnasigen, feinäugigen Moralisten – durchaus von denen, welche das Beobachtete erklären. Die letz
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Man beachte die Wahl der Präposition durch : Scharfsinn und Wissen sind Voraussetzungen der gesteigerten Phantasie, d.h.
einer Divination, die zur Erklärung unerlässlich ist! Es dürfte jedenfalls deutlich geworden sein, dass es sich hier ganz und gar
nicht um eine frühe Form der Universalhermeneutik handelt. Nietzsche unterscheidet sich deutlich von einem Theoretiker, der
seither zum Klassiker der Interpretationstheorie avanciert ist, nämlich Schleiermacher. Gerade deshalb lohnt eine
Gegenüberstellung, denn auch Schleiermacher knüpfte ja bei F.A. Wolf an. Bis zu Wolf war Auslegung gleichbedeutend mit
Explikation der jeweiligen als dunkel angesehenen Stellen eines Textes gewesen. Schleiermacher, der sich im Zuge seiner
Platonübersetzungen selbst als Philologe und Editor zu bewähren hat, erkennt genau wie F.A. Wolf, Friedrich Ast und andere,
dass nicht mehr nach dem sensus einzelner dunkler Stellen, sondern nach dem sensus des Zusammenhangs gefragt werden
muss. Nicht mehr die Sache, sondern die Autorintention wird ausgelegt, das ist der eigentlich neue Ansatz bei Wolf und Ast
(vgl. Flashar, 1979:22), womit sie die schon in der sog. Aufklärungshermeneutik des achtzehnten Jahrhunderts begonnene
Arbeit systematisieren. Um die Intention des Autors glaubhaft zu dokumentieren, muss der Entstehungsprozess der
Auslegung nachgewiesen werden. An die Stelle der Allegorese bzw. der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn tritt so die
prozesshafte Auslegungsweise in historischer, grammatischer, geistiger Hinsicht (vgl. Szondi, 1975:157ff) [133].
Schleiermacher folgt in seiner Auslegungstheorie anfangs streng den philologischen Vorläufern. Es besteht kein Zweifel daran,
dass für ihn Hermeneutik und Kritik zunächst ebenfalls zusammen gehören, „weil die Ausübung einer jeden die andere
voraussetzt“ (1977:71). Kritik ist dabei ähnlich wie in der Philologie weit mehr als Textkritik und umfasst eben auch ästhetische
und inhaltliche Urteile. Gleichwohl beginnt mit Schleiermacher der Aufstieg der Hermeneutik auf Kosten der Kritik, insofern er
eine Auffassung von „Verstehen“ entwickelt, die beiden gleichsam vorgelagert ist. Hermeneutik in diesem Sinne findet immer und
gewissermaßen unfreiwillig statt, während Kritik schon der bewussten Anstrengung bedarf (ebd.). Kritik und Hermeneutik
gehen in seiner universalen Auslegungstheorie zu großen Teilen jeweils in der grammatischen und psychologischen Auslegung
auf, ohne freilich, und das ist wiederum das eigentlich Neue bei ihm,
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den Auslegungsoperationen der Kritik und Hermeneutik zu entsprechen. Die niedere Hermeneutik wird der höheren
Hermeneutik einverleibt, es folgen die beiden Stufen der Kritik. Verstehen ist „Ineinandersein“ (21928:140) von grammatischer
und psychologischer Auslegung, beide sind vollkommen gleichberechtigt. Kritik kann so durchaus auch auf der Ebene der
psychologischen Auslegung stattfinden, Hermeneutik im Bereich der Grammatik. Schleiermacher kennt in der psychologischen
Auslegung zwei Verfahren, das divinatorische und das komparative, die in etwa Konjektur und Kollation der philologischen Kritik
entsprechen. In der Praxis trete gemeinsam auf, was in der Theorie künstlich getrennt sei, denn man könne nicht ohne
Divination bestimmen, was denn überhaupt verglichen werden soll (vgl. 148 u. 153ff). Auslegung wird damit, darin folgt ihm z.B.
Boeckh, zu einer Kunst, die sowohl auf Sprachtalent wie auf Menschenkenntnis beruht und „nicht durch Regeln gegeben
werden [kann], welche die Sicherheit ihrer Anwendung in sich trügen“ (141). Die hermeneutische Aufgabe kann nur durch
Verbindung von Spekulation mit Empirie und Geschichte gelöst werden (204) [134].
In der philologischen Tradition, von der Schleiermacher sich mit seinem Entwurf emanzipiert, steht am Ende aber nicht das
Verständnis an oberster Stelle, sondern die Kritik in Form des (ästhetischen) Urteils, schon die Auswahl des zu verstehenden
Textes enthielt ja ein solches Urteil. Nicht die Suche nach irgendeinem wie auch immer gearteten sensus in der Auslegung steht
für Ritschl und für den Philologen Nietzsche im Vordergrund, sondern die endgültige Bewertung der sensus, die sich anhand
eines Textes möglicherweise feststellen lassen. Schleiermachers in Anlehnung an die Enzyklopädien von F.A. Wolf und Friedrich
Ast entworfene „Kunst des Verstehens“ (21928:137) als universaler Auslegungslehre (141), welche die speziellen
Auslegungslehren überflüssig machen soll, fände in Nietzsches Vorstellungswelt am ehesten in einer Kunst der kritischen
Auslegung ihre Entsprechung [135], die von der philologischen Lehre wenig abweicht.
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Wer Nietzsche als kritischen Denker (möglicherweise in der Tradition Kants) lesen will, kommt an der philologischen Kritik
deshalb nicht vorbei [136] und muss auch gegenüber der diltheyschen Version hermeneutischer Theorieentwicklung auf der
Hut sein [137]. Nietzsche verhielt sich völlig rational: Er orientierte sich nicht nur an der Auslegungstheorie, die seinen
philologischen Lehrern als vorbildlich galt, sondern am unangefochtenen Musterfach der Wissenschaftlichkeit in seiner Zeit.
Schleiermachers heutige, auf Dilthey und Gadamer zurückgehende Reputation darf bei seinen Zeitgenossen bis ans Ende des
Jahrhunderts nicht angenommen werden [138]. Spätestens seitdem sich ihr Fach darüber als moderne Disziplin konstituiert
hatte, galten die Philologen als die Experten der redlichen Auslegung schlechthin. Nietzsche konnte sich als Teilhaber an einem
Herrschaftswissen fühlen, demgegenüber Metaphysiker ebenso naiv schienen wie Theologen oder positivistische
Naturwissenschaftler. Diese Haltung lässt sich unabhängig von allen vermeintlichen Schaffensphasen ungebrochen nachweisen.
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rer Bildungsanstalten. An den Universitäten sei „an Stelle einer tiefsinnigen Ausdeutung der ewig gleichen Probleme ein
historisches, ja selbst ein philologisches Abwägen und Fragen getreten“ (KSA 1:742f), also etwa die Frage danach, ob
bestimmte Schriften tatsächlich diesem oder jenem Philosophen zuzuschreiben seien, ob er dies oder das wirklich gedacht
habe, welche Lesart zu bevorzugen sei. Philosophie sieht Nietzsche deshalb als Zweig der Philologie und ihre Vertreter als je
nachdem gute oder schlechte Philologen an. Die meisten Philosophen lassen sich von philologischer Warte aus ohne weiteres
als Dilettanten abtun. Das Problem sei nur, dass dabei die Philosophie selbst verschwunden sei, die produktive, schaffende
Weltanschauung und Wertsetzung, die Nietzsche in dieser Zeit wohl als positive Umdeutung von Langes „Begriffsdichtung“
(vgl. z.B. Lange, 1974, Bd. 2:943) denkt und möglicherweise später im Zarathustra zu praktizieren sucht. Für Nietzsche lässt
sich im Anschluss an F.A. Lange durch philosophische Sprache keine absolute Wahrheit mehr ausdrücken. Absolute Entwürfe
müssen vielmehr durch (philologische) Kritik von ihrem Alleinherrschaftsanspruch abgebracht werden, sofern sie sich als
lebensfeindlich erweisen. Nur eine künstlerische und wertsetzende und jedenfalls keine klassisch-metaphysische Philosophie
kann noch Aussagen schaffen, die – kraft ihrer Form – unwiderlegbar sind [139].
2.5. Die skeptische Wissenschaft
Abgesehen von der in Nietzsches Augen fatalen Strategie moderner Philosophie, sich nur noch auf Erkenntnistheorie oder
Philosophiegeschichte auszurichten, statt an ihrer gesetzgebenden, schaffenden Rolle festzuhalten, begeht sie den Fehler, auf
Wissenschaft, d.h. auf Philologie, Physiologie, Naturwissenschaft zu verzichten. Dergestalt von Unredlichkeit durchsäuert,
nähert sie sich allmählich wieder der Theologie an. In ähnlich unzulänglicher Manier steht ihr freilich die Anmaßung der
modernen Wissenschaft zur Seite, sich völlig unabhängig von Philosophie zu glauben. Nietzsche möchte das Dilemma durch
Rückgriff auf das Modell sich gegenseitig kontrollierender Kritik und Hermeneutik überwinden. Für den wahren Philosophen ist
nicht Verzicht auf Wissenschaft geboten, auch
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wenn diese in ihrem Wahrheitsglauben und Fortschrittswahn noch so naiv wirke, sondern ihre sinnvolle Handhabung, die nicht
zuletzt der Selbstprüfung dienen mag [140]. Im sechsten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse zählt sich Nietzsche
nach wie vor zu den „Gelehrten“ (KSA 5:129) und, „mit Verlaub“, den wissenschaftlichen Menschen (JGB 6.204, 5:130) – ein
spöttischer Rückblick auf seine Ausgrenzung durch die scientific community nach der Publikation der Tragödienschrift.
Nietzsche weist der Wissenschaft damit die Rolle einer falsifizierenden, kritisch kontrollierenden Instanz zu. Wissenschaft heißt
Skepsis; und die skeptische Wissenschaft par excellence wird seit jeher von der philologischen Methode verkörpert.
Für ihre auf die Spitze getriebene Skepsis war die Bonner Schule besonders bekannt geworden: gerade ihr Zweifel an allem und
jedem scheint Widerspruch herausgefordert zu haben [141]. Nur wenige Wissenschaften konnten sich mit ihrer
Detailverliebtheit und Akribie der Text- und Quellenkritik und des philologischen Lesens messen. Nietzsche setzt sich in seinen
Notizen und Reflexionen aus der Philologenzeit selbst mit Leistung und Grenze der philologischen Skepsis auseinander. Die
Stärke der Skepsis liege darin, jede Art von Dogmatismus zu bekämpfen und selbst den gesunden Menschenverstand als
Produkt jeweils einer Periode, eines Volkes, eines Individuums zu entlarven (KGW I.4.:404ff). Die Grenzen der skeptischen
Methode hält Nietzsche für noch nicht erreicht (I.4.:394). Der gesunde Menschenverstand erhebt immer wieder neu Anspruch
auf universale Geltung, deshalb muss Skepsis fortgesetztes Prinzip sein. Als Beispiel nennt Nietzsche das textkritische Prinzip,
diejenige Lesart eines Textes als am verlässlichsten anzusehen, die in den meisten Exemplaren überliefert wurde. Erst Skepsis
gegenüber diesem zunächst intuitiv überzeugenden Grundsatz ließ die moderne Philologie weiterschreiten. Durch hierarchische
Anordnung der Textzeugen konnte gezeigt werden, dass die Verbreitung einer Lesart unabhängig von ihrer Richtigkeit war,
dass mithin die Beziehung zwischen den Textzeugen weit wichtiger als ein rein quantifizierendes Kriterium ist:
Im Grunde ist man auf der Bahn litterarhistorischer Forschung nur dadurch fortgeschritten, daß man sich entschloß, keine
Frage auf dem Herzen zu behalten, daß man allmählich die übertriebene Pietät gegen alte Zeugnisse verlernte. Es war gewiß
etwas
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Ethisches in jener verstummenden Hingabe an die Urtheile des Alterthums, aber es war die Ethik des Weibes. In der neueren
Forschung, die kein Blatt vor den Mund nimmt, die den Kranz von dem einen Haupte Homers nahm und ihn in alle Winde
zerstreute, die den kühnen Titel Aristoteles pseudoepigraphus erfand, weht die kühne und unerschrockene Sittlichkeit des
Mannes. Hier sehen wir, wie Erkennen und Wollen, gesunder Menschenverstand und Moral in der allmählich heranreifenden
Wolf verkörpert den Fortschritt gegenüber Winckelmann. Die Skepsis hat einen Wert an sich, auch wenn sie am Ende nur die
alten Überzeugungen bestätigt: „Durch die Skepsis untergraben wir die Tradition, durch die Consequenzen der Skepsis treiben
wir die versteckte Wahrheit aus ihrer Höhle und finden vielleicht, daß die Tradition Recht hatte, obwohl sie auf thönernen Füßen
stand.“ (62) [142]
In Anlehnung an derartige philologische Betrachtungen aus der Frühzeit unterscheidet Nietzsche im Spätwerk zwei Formen der
Skepsis: eine ‚weibliche‘, lediglich passive, blutsaugerische, die aus dem französischen Atheismus erwächst und die harte,
‚männliche‘, griechisch-deutsche Skepsis, die neue Welten erschließen hilft. Die Skepsis der historisch-kritischen Methode ist es
für ihn gewesen, die Europa, mit Kant zu sprechen, erst aus dem dogmatischen Schlummer gerissen und den Weg zu neuen
Werten frei geräumt hat. Im Aphorismus 209 von Jenseits von Gut und Böse hat Nietzsche diesen Gegensatz beschrieben
und der historisch-kritischen Methode ein Denkmal gesetzt, jener „Skepsis der verwegenen Männlichkeit, welche dem Genie zum
Kriege und zur Eroberung nächst verwandt ist und in der Gestalt des grossen Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland
hielt“ (5:141). In ihrer zerstörerischen Kraft wird sie beinahe schon wieder schöpferisch. Von der Metapher des Untergrabens
bis zum Bild des Männlichen und Weiblichen knüpft Nietzsche zum Teil fast wörtlich an seine frühen Reflexionen an:
Diese Skepsis verachtet und reisst trotzdem an sich; sie untergräbt und nimmt in Besitz; sie glaubt nicht, aber sie verliert sich
nicht dabei; sie giebt dem Geiste gefährliche Freiheit, aber sie hält das Herz streng; es ist die deutsche Form der Skepsis,
welche, als ein fortgesetzter und in's Geistigste gesteigerter Fridericianismus, Europa eine gute Zeit unter die Botmässigkeit des
deutschen Geistes und seines kritischen und historischen Misstrauens gebracht hat. Dank dem unbezwinglich starken und
zähen Manns-Charakter der grossen deutschen Philologen und Geschichts-Kritiker (welche, richtig angesehn, allesammt auch
Artisten der Zerstörung und Zersetzung waren) stellte sich allmählich und trotz aller Romantik in Musik und Philosophie ein
neuer Begriff vom deutschen Geiste fest, in dem der Zug zur männlichen Skepsis entscheidend hervor
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trat: sei es zum Beispiel als Unerschrockenheit des Blicks, als Tapferkeit und Härte der zerlegenden Hand, als zäher Wille zu
gefährlichen Entdeckungsreisen, zu vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter öden und gefährlichen Himmeln. Es mag seine
guten Gründe haben, wenn sich warmblütige und oberflächliche Menschlichkeits-Menschen gerade vor diesem Geiste
bekreuzigen: cet esprit fataliste, ironique, méphistophélique nennt ihn, nicht ohne Schauder, Michelet. Aber will man nachfühlen,
wie auszeichnend diese Furcht vor dem „Mann“ im deutschen Geiste ist, durch den Europa aus seinem „dogmatischen
Schlummer“ geweckt wurde, so möge man sich des ehemaligen Begriffs erinnern, der mit ihm überwunden werden musste, –
und wie es noch nicht zu lange her ist, dass ein vermännlichtes Weib es in zügelloser Anmaassung wagen durfte, die
Deutschen als sanfte herzensgute willensschwache und dichterische Tölpel der Theilnahme Europa's zu empfehlen. (JGB 6.209,
5:141f)
Textgenetisch lässt sich zeigen, dass Nietzsche an dieser Stelle Lessing, Herder, Kant, F.A. Wolf und Niebuhr im Sinn hat (s. KSA
14:362f). Nur eine Philosophie, die das Stahlbad der Kritik erträgt, ohne sich ganz ihr zu ergeben, kann die Zukunft gestalten
(vgl. auch JGB 6.210, 5:142ff). Die Kritik, die Nietzsche meint, ist in Metaphern getaucht, welche, wie zu sehen sein wird,
ebenfalls auf die Philologie anspielen bzw. aus ihr stammen: die soldatische Strenge philologischer Redlichkeit gegen sich selbst,
die chirurgische Präzision der Textkritik, der harte ironische Blick, das Motiv des forschenden Reisens.
Nietzsches Beschäftigung mit dem skeptischen Potential der historisch-kritischen Methode geht darüber hinaus im Spätwerk
mit der Wiederentdeckung der skeptischen Philosophie einher. Philologie und Skepsis teilen dieselben Vor- und Nachteile. In
Aufzeichnungen aus dem Nachlass des Jahres 1888 spielt Pyrrhon, einer der Begründer der Skepsis, eine wichtige Rolle als
‚anständiger‘ Typus des Philosophen auf der einen und Nihilist und halber Buddhist auf der anderen Seite. Nietzsche scheint
sich mit Pyrrhon weitgehend zu identifizieren [143]. Im Antichrist feiert er den Skeptiker als einzigen intellektuell rechtschaffenen
Typus der Philosophiegeschichte (AC 12, 6:179), nachdem er kurz zuvor ein neuerschienenes Buch von Victor Brochard
entdeckt hatte, Les sceptiques grecs aus dem Jahr 1887. Es begeisterte ihn so sehr, dass er es, eine wirkliche Seltenheit bei
Nietzsche, namentlich erwähnt:
Ich muss ein Halbjahr zurückrechnen, dass ich mich mit einem Buch in der Hand ertappe. Was war es doch? – Eine
ausgezeichnete Studie von Victor Brochard, les Sceptiques Grecs, in der auch meine Laertiana gut benutzt sind. Die Skeptiker,
der einzige ehrenwerthe Typus unter dem so zwei- bis fünfdeutigen Volk der Philosophen!… (EH Warum ich so klug bin 3,
6:284)
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Nietzsches Begeisterung lässt sich durchaus darauf zurückführen, dass Brochard hier tatsächlich seine philologischen Studien
zu Diogenes Laertius aus dem „Rheinischen Museum“ wohlwollend zitiert (s. Brochard, 1887:48). Nietzsche findet die Affinität
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zwischen Skepsis und Philologie bestätigt. Genauso stark dürfte ihn jedoch die Analyse der Skepsis interessiert haben, die in
manchem an die eigene Analyse der Philologie seiner Jugendzeit erinnert. Die Skeptiker sind aus Nietzsches Sicht wie die
Philologen zunächst uneingeschränkt ehrenwerte Gegner nicht nur der Stoiker, sondern all jener, die ihr Weltbild anderen
aufdrängen wollen. Der kritischen Tätigkeit können sie aber keine eigenen produktiven Gegenentwürfe zur Seite stellen. Ihr
letztes Ziel ist der Seelenfrieden (ataraxia), der sie zu Nihilisten (im Sinne des Buddhismus) macht. Brochard, der sich gründlich
mit Pyrrhon auseinandersetzt, erwähnt das Problem, dass die konsequente Urteilsenthaltung (epoché), die die Skeptiker
fordern, logischerweise in absoluter Inertia endet (1887:359) und damit letztlich lebensfeindlich ist. Wie die Philologie, so muss
die Skepsis dosiert als Gegenspielerin philosophischer Eigenschöpfung eingesetzt werden.
In der Auslegungstheorie hat Paul Ricœur zwei sog. hermeneutische Stile unterschieden, deren einer es auf die Restauration
des Sinns einer Botschaft (récollection du sens) abgesehen habe und durch quasireligiöses Vertrauen (foi) auf die Sinnfälligkeit
des Textes gekennzeichnet ist (1965:36ff). Der andere strebe demgegenüber nach Demystifikation und Illusionszerstörung.
Ricœur nennt ihn die Hermeneutik des Verdachts (soupçon, S. 42). Nietzsche wird schon bei Ricœur selbst, noch stärker
jedoch im Anschluss an ihn als klassischer Verdachtshermeneutiker mit Marx und Freud in einem Atemzug genannt (ebd.)
[144]. Diese einflussreiche und willkürliche Einteilung hat fatale Auswirkungen für das Verständnis Nietzsches gehabt.
Nietzsches Verdacht ist nämlich von ganz anderer Art als der marxistische oder psychoanalytische. Im Gegensatz zu ihnen ist
er vor allem Ausdruck von Skepsis und bezieht sich, philologisch geschult, weniger auf den Inhalt des Textes selbst als auf
dessen Überlieferung und die Art und Weise sei
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ner Rezeption. Er ist deshalb gegenüber jeder Art von Sinn kritisch eingestellt, nicht nur gegenüber einem oder mehreren ganz
bestimmten. Ricœur vermochte dies nicht zu erkennen, weil er in seiner hermeneutischen Theorie bereits in einer Tradition
steht, die mit der Dialektik von Kritik und Hermeneutik nicht mehr vertraut ist.
In der 1886 verfassten Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches bemerkt Nietzsche, man habe seine Schriften „eine Schule
des Verdachts“ genannt. Er versteht dies als Kompliment, denn niemand habe „mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt
gesehn“ (KSA 2:13f). Es ist ein Verdacht, wie aus dem weiteren Kontext hervorgeht, der sich selbst gegen Nietzsches eigene
„Falschmünzerei“, gegen seine eigene „Kunst“ und Dichtung richtet. Dem Verdacht des Philologen, dass es sich bei einem Text
oder einer Textstelle um eine Fälschung oder ein Verderbnis handele, liegt ein dynamisches Konzept zugrunde, die Vorstellung
vom Prozess der Verwitterung oder bewussten Fälschung des Textes, der zumindest ansatzweise nachvollziehbar ist. In der
Vorrede zur Genealogie der Moral wird der „Verdacht“, der sich an die Ursprünge von Gut und Böse heftet, sogar explizit an
Nietzsches „historische und philologische Schulung“ geknüpft [145] – daraus resultierte die Abkehr von der quasi-
metaphysischen Ursprungssuche hin zur Untersuchung der Entstehungsbedingungen, also der Genealogie (KSA 5:249f).
Die aphoristischen Bücher Nietzsches enthalten ganze Kataloge von Fragen nach Herkunft und Ursprung [146] der Religion,
Erkenntnis, moralischen oder anderen Phänomenen, immer im Bewusstsein der Gefahr des Nihilismus, die durch allzuviel
Wühlen in der Vergangenheit droht. Menschliches, Allzumenschliches hebt deshalb mit einem Eingeständnis an: „Die Menschheit
liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge sich aus dem Sinne zu schlagen: muss man nicht fast entmenscht sein, um den
entgegengesetzten Hang in sich zu spüren?“ (MA I.1, 2:24). Angeregt zum genealogischen Studium der Moral hat Nietzsche
nach eigener Aussage Paul Rées „klares, sauberes und kluges, auch altkluges Büchlein“, in welchem ihm „eine umgekehrte und
perverse Art von genealogischen Hypothesen“ entgegentrat und zugleich anzog wie abstieß (GM Vorrede 4, 5:250). Die
„englische Art“ von Rées Moralphilosophie, d.h. die Methode, Vergangenheit an modernen moralphilosophischen Kategorien zu
messen, die selbst von dieser Vergangenheit erst hervorgebracht wurden, inspirierte Nietzsche zu einem Gegenprojekt, nämlich
die Grundsätze der erlernten philologischen Methode auf das neue Gebiet zu übertragen und in der Moralgeschichte den
historischen Sinn zu
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suchen, anstatt die nachteilige Abweichung der Vergangenheit von heutigen Vorstellungen zu demonstrieren.
Marxismus und Freudianismus dagegen, um auf die Verdachtshermeneutik zurückzukommen, haben mit dem historischen Sinn
nichts zu tun. Als Allegoresen des Unterbaus bzw. Unterbewusstseins sind sie statisch, insofern sie eine Bedeutung mit einer
anderen substituieren, etwa mit dem Klassenkampf oder der frühkindlichen Konfliktbiographie. Die Verdachtshermeneutik sucht
einen verborgenen oder versteckten Sinn. Nietzsches philologisch inspirierter Kritik geht es um zwei andere Dinge: der
Textkonstitution (Beantwortung der Frage: was genau soll eigentlich Sinnträger sein, wie und von wem ist dieser Text gefälscht
worden?) und anschließender Sinnprüfung und Sinnbeurteilung. Es ist ein Unterschied, der an die Debatte zwischen den
alexandrinischen Philologen und der Stoa erinnert. Wo diese einen Sinn „hinter der Welt“ (GM Vorrede 3, 5:249) vermutet,
verdächtigt Nietzsche mit jenen eher die Überlieferung. Nietzsche ist kein Verdachtshermeneutiker – weil er nämlich überhaupt
Kritik und Hermeneutik bedeuten über ihren wissenschaftlichen Inhalt hinaus schließlich zwei einander entgegengesetzte
Umgangsweisen mit dem fremden Objekt. Die Kritik versucht, das Fremde nach Möglichkeit in seiner Fremdheit und seinem
Eigencharakter zu bewahren. Die skrupulöse und skeptische Methode der Textkritik ist lediglich Ausdruck des Wunsches, das
Objekt in seinem originalen Zustand zu belassen bzw. diesen wiederherzustellen. Nachdrücklich verbietet sich der Kritiker selbst
jede Einflussnahme. Die Kritik verneint in der letzten Konsequenz die Möglichkeit der Übersetzung. Ihr ist jede Übersetzung eine
unredliche Vereinnahmung des Originals und nur dessen blasser Abglanz. Die Hermeneutik dagegen sieht in dieser Not eine
Tugend. Für sie ist Übersetzung das Ziel, denn ohne sie, ohne das Zurückführen des Fremden auf eigene Kategorien, gibt es
kein Verständnis, und die Hermeneutik verlöre jede Daseinsberechtigung.
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Die philologische Erklärung, deren Ansatz Nietzsche, wie zu sehen sein wird, aus der Philologie auf andere Gebiete überträgt,
teilt das Ziel der Aneignung durch die Hermeneutik nur insoweit, als das Fremde, d.h. der fremde Text, der antike Tempel, die
anderen Sitten und Gebräuche, nicht in ihrer besonderen Form und ihrem Eigensinn zerstört werden. Wer Platon lesen will,
muss zuerst Griechisch lernen und antike Geschichte studieren. Hermeneutik und Kritik sind nicht Aufgabe und Ziel der
Philologie, so schon Bernhardy, sondern ihre Instrumente zum Verständnis der Antike und zur Überwindung der
„Entfremdung“ (Bernhardy, 1832:57). Der Sinn des Altertums sei in „Denkmälern eines ungleichen Ranges“ verteilt und noch
dazu in fremden Sprachen ausgedrückt: Grammatik allein kann die Überwindung der Entfremdung ebenso wenig leisten wie das
Verständnis, also die Hermeneutik des vorliegenden Materials allein, denn die „Denkmäler“ müssen sowohl zuverlässig sein wie
auch gemäß ihres Ranges durch Kritik gewichtet werden (ebd., S. 57–59).
Bernhardy unterscheidet an dieser Stelle die Stoiker als Systematiker der Allegorese von den alexandrinischen Philologen als
Begründern der systematischen Hermeneutik, die vor allem auf Kritik beruhe, d.h. auf sauberen Texten, Kommentierung
derselben sowie ästhetischer Würdigung. Das Ziel der Hermeneutik bleibt dabei immer dasselbe, nämlich „das geistige Dasein
des Alterthums in seinen Schriften und schriftlichen Denkmälern ausgeprägt zu geniessen, zur Anschauung und in das
Selbstbewusstsein zu rufen“ – und zwar möglichst unter allmählicher Ausscheidung fremder Vorurteile und Meinungen
(1832:73). Nietzsche wird eine ähnlich taktvolle Auseinandersetzung nicht nur mit seinen eigenen Schriften fordern, sondern sie
generell obligatorisch für die Stellung des redlichen Philosophen zur Welt machen. Wenn er allerorten den Mangel an Philologie
beklagt, dann dringt er auf die Rehabilitierung der Kritik, die eine Rehabilitierung der Skepsis ist. Hermeneutik in der Form
unbeholfener bis durchaus subtiler Aneignungsversuche gibt es immer schon von allein.
[17] Paul Deussen berichtet, wie die Schüler der Schulpforte ihre Frömmigkeit durch einen historisch-kritischen, an der
philologischen Methodik ausgerichteten Umgang mit der Bibel verloren (1901:4).
[18] Dazu neuerdings Schmidt (1991ff, Bd. II.1). In den gut recherchierten Ausführungen finden sich viele Quellenhinweise.
[19] Man vergleiche auch die oft amüsante Gegenüberstellung der antiken Griechen mit den zeitgenössischen Philologen in IV
5[59].
[20] Zu „Wir Philologen“ sind in jüngster Zeit die vorbildlichen Arbeiten Canciks und Cancik/Cancik-Lindemaiers (1994, 1999,
2002) erschienen, wobei pädagogische Interessen im Mittelpunkt stehen; die hier interessierenden methodischen Fragen spielen
praktisch keine Rolle. Die höchst aufschlussreiche textgenetische Behandlung in Cancik (1994) demonstriert deutlich die
fließenden Übergänge der Aufzeichnungen zu später publizierten Schriften, darunter v.a. Menschliches, Allzumenschliches.
[21] Ich benutze den von Wilamowitz spöttisch gebrauchten Begriff als neutrale Abkürzung für Nietzsches wissenschaftliches
Reformprojekt. Dazu später mehr.
[22] Bereits im Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (KGW I.4:506–539) schildert Nietzsche seine Entdeckung
Schopenhauers ironisch-distanziert. Sie sei in eine Phase der Vereinsamung, Orientierungslosigkeit und des Weltschmerzes
gefallen (512ff). Auf die Ergriffenheit folgen bald wieder nüchternere Tage: „In jene Zeit fällt die Gründung des philologischen
Vereins.“ (514).
[23] Vgl. Nietzsches Brief an Gersdorff vom Ende August 1866, der seine Entdeckung Langes schildert (I.2:156ff). Für
Mushacke beschreibt Nietzsche im November 1866 Langes Geschichte des Materialismus als das bedeutendste
philosophische Werk der letzten Jahrzehnte; außer Kant, Schopenhauer und Lange benötige er keine weitere philosophische
Lektüre (I.2:180ff). Das Standardwerk zur Bedeutung Langes für Nietzsche ist Stack (1983), grundlegend nach wie vor aber
Salaquarda (1978). Nietzsche hat das 1866 erschienene Buch Langes im selben Jahr erworben und sehr schnell gelesen.
Salaquarda weist gegenüber anderen Autoren nach, dass Lange auch noch in den achtziger Jahren von großer Bedeutung für
[24] „Er hatte sich als für seinen Beruf für die Philologie entschieden, obwohl ihm schon damals klar war, daß sie ihm nur ein
Mittel, nicht das letzte Ziel sein könne.“ (Janz, 1978:172) So verwegen psychologisch spekuliert Janz an nur wenigen Stellen.
[25] Vgl. den Bewerbungsbrief für den philosophischen Lehrstuhl als Nachfolger Teichmüllers an den Ratsherrn und ehemaligen
Philologen Wilhelm Vischer-Bilfinger, der entscheidend für seine Berufung verantwortlich gewesen war. Im Brief vom Januar
1871 beklagt Nietzsche am philologischen Beruf v.a. die pädagogische Belastung, eine Selbsteinschätzung, die sich in vielen
anderen Briefen und Dokumenten wiederholt (die hohe Stundenzahl am Pädagogium, die kurzen Ferien, die Prüfungen usw.
halten ihn von der eigentlichen wissenschaftlichen Tätigkeit ab). In dem Brief gibt er zu, dass seine philosophische Kompetenz
ausweisbedürftig ist, fühlt sich aber „für jenes Amt befähigter […] als für ein rein philologisches“, wobei er ironischerweise seine
solide philologische Bildung hervorhebt, die es ihm ermögliche, Aristoteles und Platon richtig lesen zu können (II.1:174ff)! Die
Briefe im Umfeld zeigen, wie dringend er eine Wiedervereinigung mit Rohde wünscht, den er gleich als möglichen Ersatz
vorschlägt und den er sogar zu einer Bewerbung in Zürich drängt, um ihm näher zu sein. Im Briefwechsel lässt sich ferner
verfolgen, wie stark die Frustration über die Philologie mit pädagogischem Misserfolg und fehlender Anerkennung, insbesondere
nach dem Debakel der Tragödienschrift, zusammenhängt.
[26] Nietzsche begreift sich mehr und mehr als Künstler (bzw. Artist), höchstens als freien philosophe. In Guyaus Esquisse
d'une morale sans obligation ni sanction aus dem Jahr 1885 streicht er sich folgende Stelle mit dem Zusatz an: „So war meine
eigene Existenz in Basel.“ – „Supposons par exemple un artiste qui sent en lui le génie et qui s'est trouvé condamné toute sa vie
à un travail manuel; ce sentiment d'une existence perdue, d'une tâche non remplie, d'un idéal non realisé, le poursuivra,
obsédera sa sensibilité à peu près de la même manière que la conscience d'une défaillance morale.“ (zit. nach Förster-Nietzsche,
1897, 2.1:327). Nietzsches Vorstellung vom Philosophen ist das ausdrückliche Gegenteil des akademischen Beamten (SE 7,
1:409f). Jenen treffen vielmehr dieselben Vorwürfe wie alle anderen Gelehrten auch. Die Philologen zieht Nietzsche dabei sogar
noch allen Wissenschaftlern vor, die sich mit ein wenig dilettantischer Naturwissenschaft oder Historie legitimieren wollen,
besonders aber den Philosophiehistorikern, „denn bei den meisten gelehrten Arbeiten, welche Universitätsphilosophen machen,
hat ein Philolog das Gefühl, dass sie schlecht gemacht sind, ohne wissenschaftliche Strenge und meistens mit einer
hassenswürdigen Langweiligkeit.“ (SE 8, 1:416–418ff).
[27] Nietzsche wird hier mit der Arbeit über Diogenes Laertius erwähnt: „Für die Erforschung der von Diogenes für die
Compilation seines Werkes benutzten Quellen hat ein jüngerer deutscher Philolog, der leider seit 1879 durch Kränklichkeit sich
genöthigt gesehen hat, seine Lehrtätigkeit an der Universität Basel und am Pädagogium in Basel einzustellen, Friedrich Wilhelm
Nietzsche (geboren in Röcken bei Lützen 15. October 1844), Treffliches geleistet.“ In einer Anmerkung werden weitere
„beachtenswerte Arbeiten“ Nietzsches aufgezählt, außer den Arbeiten für das Rheinische Museum sogar die Geburt der
Tragödie ! (Bursian, 1883:929). Hermann Diels, Generationsgenosse Nietzsches und Herausgeber der von diesem so
geschätzten Vorsokratiker, setzt sich offenbar noch in den neunziger Jahren ernsthaft mit Nietzsches Philologica auseinander
(vgl. den Brief an Usener vom 17. November 1892 in Diels/Usener/Zeller, 1992, Bd.1:436) Zu Nietzsches Beschäftigung mit
Diogenes s. Barnes (1986) und Gigante (1994).
[28] Dass Nietzsches philologische Schulung Vorbild der intellektuellen Redlichkeit war, ist zwar andernorts auch erkannt
worden (etwa Sommer, 2000:162f). Wissenschaftlich ist diese Einsicht aber bisher folgenlos geblieben. Am einflussreichsten ist
wohl die Darstellung von Jaspers gewesen, der zwar allgemein die Bedeutung der Methode für Nietzsches Redlichkeit betont,
aber ihre philologische Herkunft unterschlägt, da sie ohnehin der Philosophie untergeordnet bleibe (21950:170–184). Die
Verbindung von Philologie und Wahrheitstrieb wird schon am Rande von Granier (1966) behandelt. Das ansonsten großartige
Buch von Brusotti (1997) widmet sich dem Motiv des Erkenntnistriebes und der intellektuellen Redlichkeit ohne näher auf die
Philologie einzugehen.
[29] Am Ende sieht Nietzsche dieses Buch bekanntlich sogar als das lange geplante Hauptwerk an: „Meine Umwertung aller
Werthe, mit dem Haupttitel ‚der Antichrist‘ ist fertig“ – Brief an Paul Deussen, 26. November 1888 (III.5:492). Vg-L auch
den Briefentwurf an Georg Brandes von Anfang Dezember 1888 (III.5:500ff).
[30] In Nietzsches nachgelassener Bibliothek befindet sich lediglich eine Teubner-Ausgabe von De civitate dei. Die
Confessiones hat Nietzsche freilich mit Sicherheit gekannt (vgl. KSA 14:732). Schon eine vergleichsweise frühe Stelle im
Nachlass verzeichnet anhand der Confessiones die entmännlichenden und entmannenden Folgen des vielen Betens (VII
34[141]).
[32] Die beste Darstellung zur alexandrinischen Philologie nach wie vor bei Pfeiffer (1968), dem die folgenden Ausführungen
einiges Faktuelle verdanken. Vgl. auch Nietzsches enzyklopädische Vorlesung, (die später ausführlich behandelt wird), wo er
sich über Alexandria und „jene enorme Welt der Forschung“ verbreitet, „von der wir durch das Mittelalter getrennt wurden u.
an die erst wieder mit der Renaiss. angeknüpft wurde. Damals entstand die strenge wissensch. Methode“ (KGW II.3:409).
[33] In Nietzsches Aufzeichnungen aus den Jahren 1867/68 wird in einem kurzen etymologischen Abriss der alexandrinische
Begriff der philologoi als „der unsrige“ bezeichnet, während die grammatikoi den litterati entsprächen und der kritikós den rein
ästhetischen Kritiker bezeichne. (BAW Bd. 4:3–8) Vgl. auch die Vorlesung zur Enzyklopädie in KGW II.3:344.
[34] In ähnlichem Sinne äußert sich Paul Deussen in einem Brief vom August 1866 (I.3:127). Er bereue, die Philologie zunächst
aufgegeben zu haben, denn nur hier könne man sich am besten in der „Methode“ üben, Philologie sei doch die Grundlage für
alles andere.
[35] Diese Stelle ist in allen Fassungen, die Nietzsche benutzt hat (also auch den früheren) identisch.
[36] In den Osterferien 1865 las Nietzsche Strauss' Leben Jesu (die 64er Ausgabe; vgl. Lit.-verz.) und lernte dort im Detail die
Applikation der Quellenkritik und des aus der Philologie entnommenen Mythosbegriffs auf das Neue Testament kennen, wie sie
ihm schon in der Schulzeit vorexerziert worden waren. Dieses Leseerlebnis führte in Verbindung mit den theologischen
Vorlesungen in Bonn zum endgültigen Bruch mit der Theologie. Vgl. zu diesem Komplex Figl (1984) sowie, ihm folgend, Hödl
(2002), bes. S. 270–276. Beide sind sich über die Bedeutung der Strauss-Lektüre für Nietzsches Wissenschaftskritik einig: der
Fall Strauss habe demonstriert, dass reine, autonome, von Glaubensgrundsätzen unabhängige Wissenschaft nicht existiere.
[37] Musik und Philosophie seien im Gegensatz zur wissenschaftlichen Philosophie nur Nachwehen religiöser Zeitalter (MA
I.131, 2:124: Freilich muss man „Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben, – sonst kann man nicht weise
werden. Aber man muss über sie hinaus sehen, ihnen entwachsen können; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie
nicht. Ebenso muss dir die Historie vertraut sein und das vorsichtige Spiel mit den Wagschalen: ‚einerseits – andererseits‘.“
(MA I.292, 2:236)
[38] Vgl. schon Karl Reinhardt: „Und auf die Historie sah sich Nietzsche endlich hingewiesen durch sein philosophisches
Hauptproblem: durch das Problem der moralischen Werte. So ist Nietzsches Denken mit der Historie verflochten wie das keines
zweiten Denkers.“ (1960b:297)
[39] Nietzsche ist zu diesem Zeitpunkt schon stark von Jacob Burckhardt beeinflusst, der in seiner Griechischen
Kulturgeschichte die wissenschaftlichen Geister und strengen Forscher unter den Griechen, sowie den Durchbruch der
Philosophie gegenüber dem Mythos außerordentlich positiv und als eigentliche Leistung der Griechen dargestellt hatte. S. bes.
Bd. 4:619–625 zur Bedeutung der Alexandriner.
[40] Beispiele dazu bei von Reibnitz (1992), S. 253f und 245f zu Nietzsches unhistorischer Behandlung des Ödipus- bzw.
Prometheus-Mythos (der Anachronismus in der GT ist ja schon seit Wilamowitz einer der wichtigsten und berechtigsten
Vorwürfe gegen sie). Letztlich ist die gesamte Ableitung der griechischen Tragödie aus den Leiden des Dionysos eine Allegorese,
so z.B. die Auffassung, dass alle Figuren der griechischen Bühne Masken des eigentlichen Helden Dionysos seien. Vgl. auch
Barbara von Reibnitz' Kommentar zu GT 10 (1992:259): Nietzsches typische Arbeitsweise bestehe darin, sich durch eklektisch-
auslegende Nacherzählung der griechischen Mythen (die oft selbst schon allegorische Auslegungen seien) einen neuen Mythos
zu schaffen, den er dann nochmals allegorisch liest („mehrfache Allegorese mehrerer (antiker) Allegoresen“, S. 261).
[41] Freilich sei gleich darauf hingewiesen, dass sich Nietzsche durchaus der Tatsache bewusst ist, dass die Fälschung
„Raffinement“ in die Auslegung gebracht hat. An mehreren Stellen hebt er hervor, wie der Mensch erst durch sie tief und
geistreich wurde (z.B. VIII 2[197]).
[42] Diese Privattugend habe aber – so konsequent muss Nietzsche sein, um die Redlichkeit nicht als Paradox ad absurdum zu
führen – etwas Empörendes, wenn auch sie wieder verabsolutiert werde. Nietzsche versichert den Leser, sie an sich zuerst
ausprobiert zu haben.
[43] Die Antithese von Geist und Buchstabe ist in der Tat eine paulinische Prägung, wobei gramma eigentlich als ‚Gesetz‘ zu
übertragen ist und ursprünglich gar nicht den Unterschied zweier Verstehensweisen bezeichnet, wie man später geglaubt hat
(vgl. Ebelings Lemma „Geist und Buchstabe“ in RGG, Bd. 2:1290–1295). Origenes interpretiert darin als erster einen
hermeneutischen Gegensatz, der dann in der Patristik und im Mittelalter eine wichtige Rolle spielen wird. Dies ist jedenfalls der
Ausgangspunkt Nietzsches, insofern kann die von Ebeling dargestellte ‚eigentliche‘ Bedeutung beiseite bleiben. Nach der
Darstellung vieler Autoritäten ähnelt Paulus' Unterscheidung von gramma und pneuma jedenfalls bereits Philons Unterscheidung
von buchstäblicher und wahrer Bedeutung (Grant, 1957:51).
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[44] Man könnte meinen, diese Kategorien seien durch die Entdeckung des hermeneutischen Zirkels gegenstandslos. Dem ist
jedoch nicht so, wie die weitere Argumentation zeigen wird. Auch wenn zweifelsohne jede Auslegung ein nicht zu entwirrendes
Chaos von tap down und bottom up- Prozessen bildet, gibt es doch wesentliche und selbst empirisch nachweisbare
Unterschiede in den Ergebnissen je nach hauptsächlich gewählter Perspektive und Strategie.
[45] Szondi (1975) beschreibt die Entstehung der Hermeneutik aus den seit der Antike überlieferten Auslegungsprinzipien des
sensus litteralis als der grammatischen Auslegung und des sensus spiritualis als der allegorischen und erzählt sie als die
Geschichte der Auseinandersetzung beider Intentionen. An der Homer-Kontroverse werde deutlich, wie das erste Prinzip
Unverständliches verständlich zu machen sucht, indem es z.B. den Sprachwandel berücksichtigte, während das zweite die
fremd gewordenen Zeichen nicht auf die „Vorstellungswelt des Textes“ beziehe, sondern auf seine eigene (19). Zur Homer-
Allegorese vgl. auch Curtius (111993:210–215).
[46] Vgl. z.B. Markschies (1999): u.a. mit aktuellen Forschungsergebnissen und Literaturhinweisen. Als moderne Apologie des
Origenes sowie der theologischen Allegorese lässt sich die grundlegende Arbeit von Grant (1957) lesen.
[47] Grant (1957:108). Hier ist auch eine aufschlussreiche Augustinus-Stelle zitiert.
[48] Origenes' Antwort auf die alte Frage (so alt wie Allegorese selbst), warum es denn in der Schrift überhaupt Allegorien gebe
und nicht vielmehr alles klar und einfach ausgedrückt sei, lautet weil die Heilige Schrift genau der Natur des Universums
entspreche; die Natur sei selber eine Allegorie, welche die versteckten Operationen der Vorsehung verdecke – ohne die
Hindernisse der Natur würde sich der Mensch nicht an den Schöpfer wenden bzw. ohne Widersprüche in der Schrift weniger
genau hinschauen. (Grant 1957:95)
[49] Gerade Origenes soll für seine Askese und Keuschheit berühmt gewesen sein. Es heißt er habe sich selbst entmannt, um
ungestörter weibliche Katecheten unterweisen zu können. (Quelle: Encyclopedia Britannica )
[50] „Unde vilitas litterae ad pretiositatem nos spiritualis remittit intelligentiae.“; zit. nach Böhner/Gilson (31954:57).
[51] Die sog. hapax legomena, die nur selten oder gar nur einmal auftretenden Ausdrücke, mussten freilich respektiert und
nicht einfach wegredigiert werden.
[52] Dieses Prinzip wird heute häufig als Aufforderung zur Werkimmanenz begriffen. In Wahrheit entstand es im Gegensatz zur
Allegorese und schloss etwa die Quellenforschung nicht aus, sondern berief sich sogar immer auf sie. Grundlegendes zur
Methodik der Alexandriner s. Hunger u.a. (1975). Nigel Wilson beschreibt in Nesselrath (1997:90f) die Prinzipien der
alexandrinischen Philologie in knapper und anschaulicher Form. Über die genaue Herkunft des Prinzips Homerum ex Homero,
das häufig mit Aristarch verbunden wird, herrscht Uneinigkeit (Schäublin, 1977). Nach Pfeiffer (1968:225f) sei die Maxime eher
Porphyrio zuzuschreiben, da Aristarch allgemeinen Grundsätzen wenig zugeneigt gewesen sei, auch wenn dieser spezielle Fall
dem Geist seiner Arbeit entspreche. Relativierend auch Most (1984). Die ‚alexandrinische Methode‘ ist letztlich wohl zu großen
Teilen eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts, besser: eine idealtypische Stilisierung zur Schaffung respektabler
Vorläufer.
[53] Auch Luther und andere Reformatoren hatten sich mit ihrem Grundsatz des scriptura sacra sui ipsius interpres ja gegen
den mehrfachen (vierfachen) Schriftsinn der Scholastik gewendet. Die bekannteste Stelle stammt aus Luthers
Tischgesprächen , in denen er gegen die „eitel Kunst“ der „Allegorien, Tropologien und Anagogik“ wettert, die er als junger
Theologe noch gelernt hatte. Sie seien „lauter Dreck“, und es sei im Gegensatz zu diesem gleißenden „Narrenwerk“ seine
„beste und erste Kunst, tradere scripturam simplici sensu denn literalis sensus, der tuts, da ist Leben, da ist Kraft.“
(1948:160f). Den Wortsinn kann er freilich nur privilegieren, weil für ihn die Bibel als Ganzes göttlich-spirituellen Ursprungs ist;
ohne Allegorese kommen seine Predigten naturgemäß auch nicht aus.
[54] Aristarch ist bei Wolf eher noch ein homme de lettres, weniger strenger Textkritiker. Er lehnte die allegorische
Interpretation Homers ab, weil er ihn aus Interesse an der Sache verbessern wollte. Seit den 1830er Jahren setzte sich Karl
Lehrs' Auffassung von Aristarch als einem durchaus strengen Philologen durch (vgl. Wolf, 1985:252).
[55] Schon lange vor dem verheerenden Brand im Museion (der möglicherweise nur Legende ist) und ungefähr ab Mitte des
zweiten vorchristlichen Jahrhunderts war die alexandrinische Philologie aus politischen Gründen in die Krise geraten. Die Schüler
des Aristarchos werden in alle Richtungen zerstreut, die neu entstehenden Schulen können das vormalige Niveau nicht mehr
erreichen. Mit Apollodorus beginnt nach der ununterbrochenen Kette seit Zenodotus die Reihe der Epigonen der Alexandriner.
[57] Vgl. bes. §63 im 1. Band zur jüdisch-alexandrinischen Philosophie. Die Bedeutung der allegorischen Auslegung sowie
Philons als Bindeglied wird von Ueberweg ausführlich behandelt (S. 197–206).
[59] Dort auch folgende Stelle: „Paulus wollte den Zweck, folglich wollte er auch die Mittel …“ – eine Kurzbeschreibung der
pneumatischen Auslegung.
[60] Pneuma als Zentralbegriff der paulinischen Anthropologie habe nichts mit dem Pneuma der Stoa zu tun, Pneuma bedeute
für Paulus „der auferstandene, der zeitlose Christus als die Geistesmacht, die in ihm selbst wie in allen Gläubigen das neue
Leben wirkt“. (Pohlenz, 1949:82).
[61] Die zeitgenössische Abhandlung von streicht ebenfalls Paulus' hellenische Bildung sowie die Kontinuität der Traditionen zur
Wissenschaft in Alexandria heraus. Paulus konnte demzufolge deshalb so erfolgreich auf dem Athener Markt sprechen, weil er
den sprachlichen und kulturellen Hintergrund der Hörer teilte, gleichzeitig sei er aber „Semite“ geblieben: „Paulus war der erste
Semit, der, einem auserwählten Stamme des Völkergeschlechts angehörig, seinem Volke treu blieb und den werthvollsten Besitz
desselben, die Energie des religiösen Lebens und reine Gottesanschauung, in hellenischer Zunge nach Hellas brachte. Damit ist
er in die grosse Lücke griechischer Bildung getreten.“ (1894:541). Die Stoa sei wesentlich semitisch geprägt, aber vom
Hellenismus einverleibt worden. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Paulus vgl. neuerdings Havemann (2001), der aber
nicht auf die Stoa eingeht; möglicherweise wird dies in der angekündigten Dissertation nachgeholt.
[62] Laut Abel (1984:108) bekämpft Nietzsche auch die spezifische Organismusvorstellung der Stoa und der von ihr
entwickelten Vorstellung der conservatio sui, dem etwa von Spinoza und Hobbes weiterentwickelten reinen
Selbsterhaltungsdenken, das nicht mehr über sich hinauswachsen will. Diesem Selbsterhaltungsdenken stellt Nietzsche ja
letztlich den Übermenschen entgegen (s. z.B. Benne, 2002a)
[63] Eine Stelle in demselben eingangs erwähnten Kapitel in Lange (1974) lädt zu der Spekulation ein, dass sich Nietzsche sogar
in seiner Arbeits- und Schreibweise direkt von seinem selbsterfundenen und an Lange geschulten Epikur inspirieren ließ:
„Unverkennbar spricht sich in dieser Verschmähung aller Zitate jener Radikalismus aus, der sich nicht selten mit
materialistischen Anschauungen verbindet: eine Verschmähung des historischen Prinzips gegenüber dem naturhistorischen.
Nehmen wir diese drei Punkte zusammen: daß Epikur Autodidakt war und sich keiner herrschenden Schule anschloß, daß er
ferner die Dialektik haßte und sich allgemein verständlicher Sprache bediente, endlich daß er nie zitierte und die
Andersdenkenden in der Regel einfach ignorierte, so haben wir hier wohl einen wesentlichen Grund des Hasses, den so manche
fachmäßige Philosophen auf ihn geworfen haben. Die Beschuldigung der Unergründlichkeit fließt aus derselben Quelle, denn
noch heutzutage ist nichts verbreiteter als die Neigung, in unverständlichen, durch einen Schematismus zusammenhängenden
Phrasen die Gründlichkeit eines Systems zu suchen.“ (S. 88). Zu Nietzsches Epikur vgl. ferner Bornmann (1984).
[64] Vgl. auch die berühmte Begegnung des Paulus mit den Epikuräern und Stoikern auf dem Areopag (Apostelgesch. 17).
Paulus geht hier geschickt auf die Stoiker und ihre Denkweise ein, da die Verständigung mit ihnen aufgrund vieler
Gemeinsamkeiten einfacher ist (Pohlenz, 1949:83).
[65] Sommer bezieht sich hier v.a. auf Nietzsches eigene Basler Antrittsvorlesung, auf die ich später genauer eingehen werde.
[66] Die Bonner Schule ging in ihrer einstigen Geschlossenheit spätestens nach den Umbrüchen des Zweiten Weltkriegs
endgültig verloren, v.a. konnte sie durch die vielen Neuberufungen nicht mehr in die Germanistik hineinragen, die nun zum
repräsentativen philologischen Fach aufgestiegen war – obgleich ein Richard Alewyn natürlich ein eminent ‚guter Philologe‘ war.
(Für persönliche Studienerinnerungen aus dem Bonn der Nachkriegszeit danke ich meinen Odenseer Kollegen Reinhold
Schröder und Bengt Algot Sørensen.) Die letzten Verteidigungen der Bonner Schule und ihrer methodischen
Grundüberzeugungen finden sich bei Wolfgang Schmid (1969) sowie in einem schönen historischen Abriss Hans Herters
(1975); der unerbittliche Zeitgeist jener Jahre drängte dergleichen jedoch soweit an die wissenschaftliche Peripherie, dass an
einen neuen Vorstoß ins Zentrum seither nicht mehr zu denken ist. Vgl. ferner Schmids Trauerrede auf den Latinisten Ernst
[67] Das Verhältnis Nietzsches zu Ritschl ist in der Forschung kaum thematisiert worden. Die beste Darstellung findet sich in
einem frühen Werk, das in dieser Hinsicht kurioserweise keine Schule gemacht hat, wohl auch, weil es in Deutschland nie
intensiv rezipiert worden ist. Gemeint ist der 2. Band von Andler (1920–1931) mit dem Titel La jeunesse de Nietzsche jusqu'à
la rupture avec Bayreuth , das ja ansonsten als Pionierwerk der heute so verbreiteten Quellenforschung zu Nietzsche gilt.
Unter der Überschrift „L'influence de Ritschl“ (S. 60–83) gibt es viele gute Beobachtungen, u.a. deshalb, weil der Kontextualist
Andler als einer der wenigen Nietzscheforscher Ribbecks große Ritschl-Biographie zu Rate gezogen hat. Andler vermochte
freilich nicht die Tragweite seiner Beobachtungen ermessen; für ihn blieb Philologie gleichbedeutend mit Neuhumanismus und
deshalb lediglich ein Stadium in Nietzsches früher Entwicklung, das spätestens durch die Entdeckung Schopenhauers ein Ende
fand.
[68] Im Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (KGW I.4:506–539) merkt Nietzsche die antiphilosophische Einstellung
Ritschls an, die mit einer Überschätzung seines Fachs einhergehe. Gleichzeitig aber räumt er ein: „Dabei war er frei von jedem
Credo in der Wissenschaft; und besonders verdroß ihn ein unbedingtes urtheilsloses Hingeben an seine Resultate.“ (S. 520)
[69] Vgl. den Dankesbrief an Ritschl nach Antritt der Stelle in Basel (2. August 1869; II.1:34f).
[70] Ribbeck, Ritschis Schüler und großer Biograph, ist übrigens, auch das ist wenig bekannt, ein Vorgänger Nietzsches in
Basel gewesen. In Basel nahm man gerne Ritschl-Schüler auf. Verantwortlich dafür war Ratsherr Wilhelm Vischer-Bilfinger, der
Philologie bei Welcker und Niebuhr in Bonn studiert hatte. Sein Leben lang hat er Nietzsche, in dem er sich selbst
wiederzuerkennen schien, auf väterliche Weise protegiert. Man bemerke, dass er auch ein Jahr bei August Boeckh in Berlin
studiert hatte. Sein Ideal war die universalhistorische Altertumswissenschaft in Wolfscher und Boeckhscher Tradition und die
fast künstlerische Verbindung von griechischer Dichtung, Kunst, Religion und Mythologie Welckers, aber auf strenger
wissenschaftlicher Grundlage. Diese musste in Basel vor allem verteidigt werden – das ist der Grund, warum er sich immer
wieder an Ritschl wandte. Nietzsche beeindruckte ihn wohl auch deshalb, weil er sich bei aller Strenge auch „um eine historisch-
mythologisch-künstlerische Gesamtschau der griechischen Antike“ zu bemühen schien (Janz, 1978:306ff), dies gilt aber erst
später, denn aus Nietzsches frühen, für die Anstellung relevanten Publikationen, war das noch nicht hervorgegangen.
[71] Vgl. z.B. den Brief an Verleger Naumann vom 8. November 1887; III.5:186ff. Zu dieser Gruppe gehören sonst außer den
alten Freunden und Wegbegleitern wie Deussen, Rohde, Overbeck, Fuchs und Gersdorff lediglich noch Burckhardt, Taine und
ausgewählte Naturwissenschaftler wie Wilhelm Wundt, Helmholtz, Dubois-Reymond und Ernst Mach sowie die Wagner-
Antipoden Hans von Bülow und Johannes Brahms.
[72] Im Postskriptum schreibt Ritschl: „Gegenüber Ihrer ‚Fülle der Gesichte‘ würde es wenig am Platze sein, wenn ich eine
alexandrinische Frage an Sie richten wollte über historisch-bibliothekarische Laertiana oder über des Alcidamas Μουσειον und
dergleichen frivola: daher unterlasse ich es. Vielleicht kommen Sie doch noch einmal von selbst darauf zurück, wenn auch etwa
nur zur Abwechslung und Ausspannung.“
[73] Ritschl lässt in seiner Studie keinen Zweifel an der Musterhaftigkeit der „kritische[n] Thätigkeit der Alexandriner“ (S. 59),
also der „Zenodotus, Kallimachus, Eratosthenes, Apollonius, Aristophanus, dieser Heroen wahrhaft grossartiger
Gelehrtenbildung“ (78).
[74] In einem Brief an Nietzsche vom 9. Januar 1872 (II.2:502f, hier parallel zitiert nach Crusius, 1902:56, Anm. 1, da wegen
eines Setzfehlers in der KGB nur unvollständig wiedergegeben) denkt Rohde über den besten Publikationsort für die Geburt
der Tragödie nach: „philologische Specialzeitschriften“ kämen nicht in Frage, denn „man denke sich das Gaffen des
versammelten Alexandria!“ Dann aber heißt es weiter: „in Alexandria aber wohnen, ausser einigen klugen Ritschls – die, wie der
Landpfleger sprechen werden: „Du rasest“ – zahllose Dumme, und ganz Einzelne, die nach tiefer Weisheit dürsten. Diesen
Dummen klänge die neue Mähr nicht anders als chinesisch!“
[75] Vgl. Bursian (1883, Bd.2:812ff). So wichtig auch seine Vorlesungen gewesen sein mögen, so lag sein Schwerpunkt doch
eindeutig auf der „Schulung der studirenden Jugend“ in Bonn und v.a in der Leipziger „philologischen Societät“ (814f), der
Nietzsche ja angehörte. Jensen (1933) nennt für den Zeitpunkt von Ritschls Tod eine Schülerzahl von über 40 (!)
Universitätsprofessoren und ebenso vielen Gymnasialdirektoren. Nietzsche hat Ritschls pädagogisches Geschick selbst
bezeugt. Im Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (KGW I.4:506–539) beschreibt er, wie sich Ritschl von seinem ersten
Vortrag ungewöhnlich begeistert zeigte: das sei die Stunde gewesen, da er durch „den Stachel des Lobes“ zum Philologen
geworden sei (S. 515). Er schildert ferner die Anhänglichkeit und Verpflichtung, die Ritschl gegenüber Studenten auslöste (520).
In den Briefen lässt sich verfolgen, wie Nietzsche durch Ritschls Ermunterung immer weiter in seinem Glauben an die Berufung
[76] Darin sind sich alle Quellen und Kommentatoren einig. Vgl. etwa CBE, S. 392: „The importance of Ritschl lies in the brilliant
handling of the critical and exegetical method perfected by him and in the consequent historical exploitation of the material
studied by him.“ Auch Wolfgang Schmid, einer der späten Nachfolger Ritschls auf seinem Lehrstuhl, sieht die „Methode“ als
dessen wichtigste Leistung an. Heute seien nicht mehr die Resultate seiner Arbeiten von Interesse, sondern lediglich „die Wege
auf denen sie gewonnen wurden“ (Schmid, 1984:700f). Neben Methodenlehre, Metrik, (lateinischer) Grammatik und
Wissenschaftsgeschichte hielt Ritschl stärker inhaltlich ausgerichtete Vorlesungen, namentlich zu Homer, Aeschylus,
Aristophanes und Plautus (ebd., S. 815f).
[77] Während der Auseinandersetzung zwischen Wilamowitz und Rohde und trotz vehementer Ablehnung der Tragödienschrift
durch die Berliner, Leipziger und Bonner Philologen sendet Ritschl sogar einen kurzen Gruß an Rohde und Nietzsche, obwohl
ihm Nietzsches Werk ganz und gar nicht geheuer ist: „Herzliche Grüße und zugleich aufrichtigste Glückwünsche dem tapfern
Dioskurenpaare zu der siegreichen Vernichtung frechsten und zugleich hohlsten Übermuthes!“ (19. November 1872; II.4:132)
[78] Vgl. die beiden letzten Teile der Arbeit Der Florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren
Wettkampf , die 1873 im „Rheinischen Museum“ erschienen (KGW II.1:270–337).
[79] Niemeyer (1996) beschreibt Nietzsches Verhältnis zu Ritschl in einer ansonsten verfehlten Analyse als Vatersuche.
[80] Unter diesem Bruch verstehe ich keine vollständige Abwendung, sondern den Prozess der Distanzierung in einem sehr
komplizierten Dreiecksverhältnis zwischen Nietzsche, Richard und Cosima. Siehe neuerdings Dieter Borchmeyers
Zusammenfassung eigener gründlichster Studien zum Thema in Borchmeyer (2002:445–473).
[81] EH Warum ich so klug bin 9, 6:295. Die von Nietzsche betonte Landsmannschaft mag durchaus eine Rolle gespielt haben.
Beide kommen aus dem bürgerlich-protestantischen Milieu Mitteldeutschlands. Beide tragen sie dieselben königstreuen
Vornamen. Im fremden Rheinland muss Ritschl etwas Heimatliches ausgestrahlt haben, das beispielsweise der Norddeutsche
Otto Jahn nicht bieten konnte. Zeit seines Lebens pflegte Nietzsche in der Fremde enge Beziehungen zu Menschen, die ihm der
sozialen oder regionalen Herkunft nach vertraut waren. Von Familie und den Pförtner Freunden abgesehen, braucht man nur an
den Leipziger Richard Wagner oder den Erzgebirgler Heinrich Köselitz (Peter Gast) zu denken.
[82] In Schopenhauer als Erzieher , der Schrift, die Nietzsches unverhüllteste Kritik an der Philologie enthält, wird dies zum
Ausgangspunkt einer durchaus ambivalenten Analyse von Ritschls Person, auf den unter der generischen Bezeichnung des
‚Gelehrten‘ freilich nur angespielt wird. Nietzsche versucht hier nachzuweisen, dass der Gelehrte durchaus nicht nur, wie sein
Selbstbild es will, von reinem Wahrheitstrieb angetrieben sei, sondern selbst einen komplizierten Trieborganismus darstelle wie
jeder andere Mensch auch: „Man nehme zuvörderst eine starke und immer höher gesteigerte Neubegier, die Sucht nach
Abenteuern der Erkenntniss, die fortwährend anreizende Gewalt des Neuen und Seltnen im Gegensatze zum Alten und
Langweiligen. Dazu füge man einen gewissen dialektischen Spür- und Spieltrieb, die jägerische Lust an verschmitzten
Fuchsgängen des Gedankens, so dass nicht eigentlich die Wahrheit gesucht, sondern das Suchen gesucht wird und der
Hauptgenuss im listigen Herumschleichen, Umzingeln, kunstmässigen Abtödten besteht.“ (SE 6, 1:394f). Dazu komme freilich
eine gewisse notwendige Biederkeit: Scharfsinn für die Nähe, aber Blindheit für große Zusammenhänge – bei den großen
Zusammenhängen möchte Nietzsche mit der Tragödienschrift ja über seinen Lehrer hinausgehen. Angesichts anderer Lehrer,
Kommilitonen usw. nennt Nietzsche weitere Motive zum Philologenberuf, die der hehren Auffassung von Berufung
entgegenstehen, etwa den Broterwerb, die Achtung anderer Gelehrter, die Eitelkeit, alleiniger Experte in einem abgelegenen
Gebiet zu sein, selbst reiner Spieltrieb (396ff). Gelehrte seien ihrem Lehrer gegenüber treu und gewöhnten sich schnell an die
Gewohnheit (ebd.) – wie die Schüler Ritschls. „Solche Naturen sind Sammler, Erklärer, Verfertiger von Indices“ (ebd.) – man
versteht die Anspielung auf das „Rheinische Museum“.
[83] Ernst Vogt hat nachgewiesen, dass der Streit zwischen Hermann und Boeckh nicht, wie gemeinhin angenommen, auf
einem Gegensatz von grammatisch-kritischer und historisch-antiquarischer Forschung beruhte, sondern „primär auf einem
unterschiedlichen Verständnis von Sprache.“ (1979:116) Für Hermann schloss Sprachbeherrschung Sachkenntnis schon mit
ein, für Boeckh war sie selbst Objekt der Philologie unter anderen Objekten (ebd.).
[84] Vgl. Paulsen (31919ff, Bd.2:465ff) zum offenen Konflikt der Jahrhundertmitte zwischen an heidnischer Antike
ausgerichteter humanistisch-philologischer Bildung auf der einen sowie Kirche und Christentum auf der anderen Seite. Ein gutes
Beispiel ist ein Vortrag Hermanns vor der Königlich-Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig vom 18. Mai 1847
(Hermann, 1877). In einer Argumentation, die dem Geist nach von Nietzsche stammen könnte, sträubt er sich gegen ein
bürgerlich-modernes, von christlicher Moral geprägtes Verständnis des Altertums und setzt ihm eine historisch angemessenere
Auffassung des Polytheismus entgegen: „Diese Gewohnheit, alle für das Leben wichtigen Begriffe und Lehren nicht in der lauen
Breite wohlverknüpfter Sätze, sondern gleich in kräftige lebenswarme Gestalten verkörpert vor Augen zu stellen, ist das
[85] Darunter die Verse: „Arceas a penetralibus tuis/quos seculum obtrudit/duos morbos/notitiam rerum plurimarum sine ullius
rei scientia/ […] et/impiam pietatem tenebriorum/hominem malum esse nec nisi credendoo/impetrare gratiam/divinam
dictantium.“ – in der Übersetzung Hermann Josef Schmidts: „Verbanne aus Deinem Innersten/die beiden Krankheiten,/die die
heutige Zeit Dir aufdrängen will:/die Vielwisserei ohne rechte Wissenschaftlichkeit/ […] und/die unfromme Frömmelei der
Finsterlinge,/die sagen, der Mensch sei schlecht/und könne nur durch den Glauben Gnade gewinnen.“ Vgl. Paulsen (31919ff,
Bd.2:467f) und Schmidt (1991ff, Bd. II.1:183f).
[86] Vgl. v.a. Die Ecce der Königlichen Landesschule Pforta im Jahre 1903. Verschiedene Nachrufe der Pförtner Lehrer
Nietzsches wurden mir freundlicherweise von Petra Dorfmüller, Archivarin der heutigen Landesschule zur Verfügung gestellt. In
einem verklärten autobiographischen Rückblick schreibt Nietzsche über die bewunderten Lehrer: „So aber lebten vor meinen
Augen Philologen wie Steinhart, Keil, Corssen, Peter, Männer mit freiem Blick und frischem Zuge, die mir zum Theil auch ihre
nähere Neigung schenkten.“ (BAW 5:253) Dass Volkmann nicht auftaucht, ist vor dem Hintergrund eines
Bewerbungsschreibens verständlich. Der blutjunge Volkmann war unbekannt, während die Genannten als Berühmtheiten ihres
Faches galten. Corssen und Steinhart sind Universalphilologen in der Tradition Wolfs, aber auf gründlicher
sprachlichphilologischer Grundlage. Peters Spezialgebiet war die quellenkritisch fundierte römische Geschichte. Keil hatte bei
Hermann in Leipzig studiert, aber auch in Berlin (vgl. Pietas scholae portensis ). Im Umfeld der letzten Leipziger Zeit notiert
Nietzsche sich über die Pforte: „Vielleicht würde mich die philologische Nüchternheit und Steifheit angewidert haben: aber als
Bild einer universell belebten und sein philolog. Fach belebenden Persönlichkeit war mir Steinhart von Werth. Corssen als
natürlicher Feind aller Spießbürgerei und doch in strammster wissenschaftl. Thätigkeit.“ (BAW 5:250) Nicht vergessen werden
sollte ein für Nietzsche ebenfalls wichtiger Lehrer, der Literarhistoriker Karl August Koberstein, der 1827 auf historisch-
kritischer Grundlage eine der ersten monumentalen deutschen Literaturgeschichten veröffentlich hatte. Eine fundiertere
philologische Ausbildung als auf der Pforte gab es sonst nirgendwo auf der Welt.
[87] Die Zeitschrift „Rheinisches Museum“ wurde Aushängeschild und Markenzeichen der Bonner Schule. Von Welcker
begründet, war Friedrich Ritschl lange Jahre ihr wichtigster Herausgeber, gefolgt von seinem späteren Biographen Otto
Ribbeck. Das „Rheinische Museum“ sei hier nicht nur der Vollständigkeit halber genannt. Thomas Brobjer (2000) hat mit Recht
die Vernachlässigung der vielbändigen Reihe in der Nietzscheforschung angemahnt. Keine redliche Rekonstruktion von
Nietzsches Philologie kommt an dieser mühsamen Kärrnerarbeit vorbei. Bekanntlich musste Nietzsche auf Ritschls Wunsch hin
den Index erstellen, eine Arbeit, die wohl nicht wenig zu seiner Frustration über die Philologie beigetragen hat. Das „Rheinische
Museum“ ist die beste Quelle für die Tradition der Philologie, aus der Nietzsche stammt. Ein typisches Heft der Jahrgänge, die
Nietzsche studiert und in denen er publiziert hat, stellt den weitaus meisten Raum Fragen der Textkritik, daneben der
Überlieferungs- und Quellengeschichte sowie der Echtheitskritik zur Verfügung. Ferner gibt es Beiträge zur Literaturgeschichte,
Epigraphie, Etymologie, Metrik und Archäologie, gelegentlich auch kunstwissenschaftliche und mythologische Aufsätze. Alle
konventionellen Gebiete der Altertumswissenschaft sind also vertreten; das Hauptgewicht liegt jedoch eindeutig auf der
kritischen Grundlage. In den Bänden der späten sechziger und frühen siebziger Jahre wird die Trennung von ‚harter‘ und
‚weicher‘ Philologie – Textkritik hier, Miszellen da – stärker akzentuiert, schon rein äußerlich. Hinzu kommen nun auch
gesonderte Abschnitte für Grammatisches, Antiquarisches, Historisches. Die verschiedenen Beiträge erscheinen in nach
Disziplinen geordneten Rubriken und demonstrieren damit, wie schnell sich das riesige Fach ausdifferenziert und Fachleute
hervorbringt, die in der Tat langsam den Blick über das große Ganze verlieren.
[88] Brief an Mutter und Schwester vom 10. Mai 1865 (I.2:51ff.) In den ersten Bonner Briefen an Mutter und Schwester kann
man ahnen, dass Nietzsche nicht unvorbereitet nach Bonn kam. Bereits im November 1864 führt er sie langsam auf den wohl
von Beginn geplanten Abfall von der Theologie hin (I.2:17ff). „Daß Männer wie Ritschl, der mir eine Rede über Philologie und
Theologie hielt, wie Otto Jahn, der, ähnlich wie ich, Philologie und Musik treibt, ohne eins von beiden zur Nebensache zu machen,
einen großen Einfluß auf mich üben, wird sich jeder vorstellen können, der diese Heroen der Wissenschaft kennt“ (Brief vom
10.–17. November 1864; I.2:18). Strengste Philologie auf der einen und Musik als Ventil auf der anderen Seite anstatt der
erwarteten Theologenlaufbahn, das sind die Attraktionen von Bonn, die sich vielleicht nur fern der Heimat so schnell
durchsetzen lassen. Am 2. Februar gibt Nietzsche dann seine Entscheidung zur Philologie bekannt (I.2:40).
[90] Vgl. auch das Niebuhr-Exzerpt im Umfeld von HL, III 29[95] – die Quelle ist unbekannt – demzufolge Geschichte
[91] Vgl. Niebuhr (1839). Das Exemplar in Nietzsches nachgelassener Bibliothek ist zwar unaufgeschnitten, aber in wichtigen
Aufzeichnungen aus den Jahren 1867/68 (BAW Bd. 4:3–8) notiert sich Nietzsche dieses Buch immerhin als einziges Werk zum
Thema „Über das Studium der kl. Philologie“.
[92] Ritschl nahm im Philologenstreit sogar, unerhört für einen Hermann-Schüler, ausdrücklich Boeckhs Sprachkenntnis und
Methode in Schutz. Er plädierte dafür, dass ‚Wortphilologen‘ den ‚Sachphilologen‘ gestatten mögen, bei dürftiger Quellenlage
über diese hinauszugehen. Sonst müssten sie auch bei sich selbst konsequent sein und auf Konjekturalkritik verzichten, d.h.
nur noch mechanisch Lesarten feststellen (s. Ribbeck, 1879ff, Bd. 1:328f). Figls (1984) Annahme, Nietzsche gehöre eher den
auf Hermann zurückgehenden ‚Sprachphilologen‘ als den auf Boeckh zurückgehenden ‚Sachphilologen‘ an, weil er nun einmal
Ritschls Schüler war, ist deshalb im besten Falle unpräzis. Figl folgt freilich einer verbreiteten Interpretation, die sich bis zu
Bursian und Wilamowitz' einflussreicher Philologiegeschichte verfolgen lässt, in der Ritschl als bloßer „Wortphilologe“ abgetan
wird (31998:61).
[93] Auch hier hatte Wolf den Weg gewiesen: „sobald die Schriftsteller interessant sind, müssen wir sie ihrer wahren Gestalt
nahe zu bringen suchen. Die Kritik ist die Basis der ganzen Alterthumswissenschaft; man kann auch nicht eher erklären, als bis
man verbessert hat.“ (1831:308)
[94] Auch als Lemma „Philologie“ im Conversations-Lexikon der neuesten Zeit und Litteratur , Bd. III, Leipzig, Brockhaus,
1833.
[95] Wer antike Autoren in Übersetzungen liest, könne immerhin ein nützlicher (Kunst-)Historiker sein, niemals jedoch Philologe,
wer sich dagegen nur mit niederer Kritik, mit Schreibfehlern und Fragen des Spiritus etc. beschäftige, sei in jedem Falle einer.
„Auf dieser Grundlage, aus diesem Boden können Kräfte der ersten Art und Früchte jener Art erwachsen, umgekehrt niemals.“
(Ritschl, 1879:27)
[96] IV 5[2]: „Das Alterthum in Schriften aufbaun – eine noch ganz ungelöste Aufgabe.“ Vgl. aber unten, bes. Kap. 5.3. u. 5.4.
[97] Man denke etwa an Ossian, der seinerzeit ja oft mit Homer verglichen wurde. In Kapitel 49 seiner Prolegomena äußert
Wolf bereits hellsichtige Zweifel an seiner Echtheit (Wolf 21859/1985).
[98] Bursian (Bd. 1:526f). Informationen und Literaturhinweise zu Wolf s. auch CBE. Über F.A. Wolf und die Begründung der
Philologie aus dem Geist des Humanismus vgl. Paulsen (31919ff, Bd. 2:210–247) – Wolf hatte seine Enzyklopädie-Vorlesung
(das spätere Museum ) auf Vorschlag Goethes verfasst, dem sie auch gewidmet war. Die enge Beziehung Wolfs zu Humboldt
und der Gründung der Berliner Universität beschreibt Bursian (1883, Bd. 1:536ff). Der beste neuere Überblick zur
Philologiegeschichte des neunzehnten Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf Wolf bei Horstmann (1978). Er hebt u.a. die
Entwicklung der Textkritik als der philologischen Methode schlechthin hervor.
[99] Nietzsches Studienzeit fällt bekanntlich in die Zeit des großen Streits zwischen Ritschl und Otto Jahn und ihren jeweiligen
Anhängern, ‚Jahnitscharen‘ und Ritschlianern. In der Forschung herrscht heute allerdings Einigkeit darüber, dass es sich dabei
weniger um einen Gelehrtenstreit als um einen Streit zwischen Gelehrten handelte. Nicht zwei unterschiedliche Auffassungen
von Philologie, sondern zwei unterschiedliche Persönlichkeiten gerieten aneinander (beide stammten aus der Hermann-Schule).
Der Anlass war eine Stellenbesetzung. Ritschls Abgang nach Leipzig und die damit verbundene Entlassung aus preußischen
Diensten wurde sogar vom König persönlich bedauert, während die Sachsen sich freuten, den renommierten Hermann-Schüler
wieder an seinem Ausgangsort zu haben. Vgl. bes. Ribbeck, (1879ff, Bd. 2:342ff). Kurzfassung bei Calder III (1983). Zu Jahn
jetzt auch Calder III/Cancik/Kytzler (Hrsg., 1991). Eine in der Nietzsche-Forschung übersehene, sehr gründliche Darstellung bei
Hübinger (1964) – mit vielen Quellen- und Literaturhinweisen. Ebenfalls gleichermaßen nützlich wie vernachlässigt Ehrhardt
(1982). Ob Nietzsches endgültiger Fortgang aus Bonn etwas mit dem Streit der Kollegen Ritschl und Jahn zu tun hat, ob
Nietzsche also Ritschl nach Leipzig folgt, ist in der Forschung umstritten und lässt sich auch nicht mehr mit völliger Sicherheit
entscheiden. Tatsächlich bewundert Nietzsche beide Lehrer, die sich wissenschaftlich und methodisch ja sehr nahe sind. Auf
dem Höhepunkt des Streits schreibt er eine große Arbeit bei dem sehr beliebten Jahn (KGB I.2:48), der ihm wegen seiner
künstlerischen Neigungen und seines Musikverständnisses nahe ist. Noch 1869 schenkt ihm Paul Deussen Jahns jüngst
erschienene Aufsatzsammlung mit der Widmung: „Dem lieben Freunde zur Erinnerung an frohe Tage und zum Zeichen
unwandelbarer Dankbarkeit, Liebe und Treue“ (vgl. Jahn, 1868 in Nietzsches nachgelassener Bibliothek). Der Briefwechsel, der
meist zur Klärung herangezogen wird, ist in diesem Fall unzuverlässig, da Nietzsche seine Begründung des Wechsels auf die
jeweiligen Adressaten abstimmt. Im Brief an Mutter und Schwester vom 29. Mai 1865 (I.2 58ff) nennt er Ritschl als Hauptgrund,
[100] Vgl. Ritschls Bruchstücke und Aphorismen zur Methodik (1879:19–32), in denen er u.a. die „heilige Scheu vor der
Wahrheit, der unbedingten, reinen, unerbittlichen, unbarmherzigen“ (23) beschwört.
[101] Vgl. schon Ribbecks Fazit „Das Ziel seiner wissenschaftlichen Bestrebungen war die lebendige Erkenntniss des
gesammten classischen Alterthums in allen seinen culturhistorischen Momenten. Wenn ihm hierzu überhaupt das unmittelbare
Studium der Quellen, inbesondre Vertrautheit mit den alten Autoren selbstverständliches Erforderniss war, so fand er nach
guter Humanistenart die Blüthe echt philologischer Meisterschaft in der Kunst, die Dichter zu erklären und ihren Text zu
verbessern. Während ihm aber für dieses engere Feld das grammatische Studium nur als Mittel galt, verkannte er weder die
selbständige Bedeutung, welche die Sprache als eine der wesentlichsten Aeusserungen des antiken Geistes für uns haben
muss, noch die Unentbehrlichkeit des vergleichenden Sprachstudiums für das etymologische Verständniss ihrer mannigfachen
Bildungen.“ (Ribbeck, 1879ff, Bd. 2:454ff)
[102] Nietzsche ist in der Philologiegeschichte bei weitem nicht der einzige, dem die minutiöse Arbeit am Detail nicht mehr
genügt. Der Däne Johann Nicolai Madvig, einer der profiliertesten Latinisten des neunzehnten Jahrhunderts und ein wichtiger
Einfluss auf Ritschl und die Bonner Philologie – er war ursprünglich für den Bonner Lehrstuhl im Gespräch, den dann letztlich
doch Ritschl erhielt –, Madvig also reflektiert in aphoristischen Bemerkungen des Jahres 1884, in hohem Alter, sein Ungenügen
an dieser speziellen Ausprägung der Philologie: „Allmählich ekelt mir vor der Philologie. Man dreht und wendet den erschöpften
Stoff, um einen neuen Inhalt herauszupressen und ihn zu widerlegen. Man verliert sich in Dingen, von denen man nichts weiß,
ohne sich an das Sichere und Wesentliche zu halten. – Und dann die unendliche Kleinlichkeit der Inschriften und Kuriositäten!“
(Madvig, 1917:17f; Übersetzung von mir)
[103] Die strenge Methodik, schreibt Nietzsche an Rohde in einem Selbstklärungsbrief, setze immer erst nach der geistigen
Hauptarbeit ein, oft helfen in erster Linie „philologischer Witz, eine sprunghafte Vergleichung versteckter Analogien und die
Fähigkeit, paradoxe Fragen zu thun“ (Brief vom 9. Dezember 1868, I.2:340) – das sind die ‚Schleichwege‘ Ritschls!
[104] Ritschl wurde seinen Ruf als einseitiger Textkritiker bei Gegnern wie Wilamowitz, der bald auch die
Wissenschaftsgeschichtsschreibung dominieren sollte, nicht mehr los. Der Eintrag zu Ritschl im 28. Band der ADB aus dem
Jahr 1889 ist eine der letzten differenzierten Einschätzungen: „Ueberhaupt machte er aus der Conjekturalkritik als solcher
keinen Beruf: er machte nicht Jagd auf Verbesserungen, sie bahnten ihm nur den Weg zu höheren Zielen. Auch nicht das
Herausgeben von Texten gab ihm die höchste Befriedigung, sondern die methodische Lösung von Problemen, auf welchem
Gebiete der Philologie es auch sein mochte. […] Die künstlerisch aufgebaute und durchgeführte Untersuchung, die umsichtige
und zwingende Beweisführung, die formvollendete Monographie war es, in der sich sein Lessing verwandter Geist am meisten
genug that. Wie dieser verstand er die Leser finden zu lassen, was er selbst noch zu suchen schien.“ (ADB, Bd. 28:659).
[105] Ritschl stellte zusammen mit einem Kollegen humoristisch gemeinte „Zehngebote für classische Philologen“ auf. Das
fünfte, durch diese Stellung im Verhältnis zum Dekalog des Alten Testaments also herausgehobene Gebot lautet: „Du sollst
lesen lernen.“ (s. Ribbeck, 1879ff, Bd. 2:45)
[106] Diese nützliche Unterscheidung ist aus den neuphilologischen Studienordnungen in Deutschland leider verschwunden. In
Nordeuropa, etwa in Dänemark, spielt sie jedoch nach wie vor eine wichtige, sogar prüfungsrelevante Rolle. Man bemerke, dass
sich die statarische Lektüre bei Ritschl nicht mehr im traditionellen Verstand auf die Entschlüsselung dunkler Stellen bezieht,
sondern gemäß der modernen Bedeutung auf die Gründlichkeit und Genauigkeit des Leseprozesses selbst.
[107] Nach Ribbeck, 1879f, Bd. 1:335. Man hört der Diktion an, dass sie aus einer Vorlesungsmitschrift stammt.
[108] Ein gutes und sprachlich leicht zugängliches Beispiel für Ritschls eigene Lektürepraxis (es ist in Deutsch und nicht dem
[110] Otto Jahn war sich mit Ritschl in der Verachtung der Philosophie (besonders der zeitgenössischen) vollkommen einig. Er
behauptete gern, nie in seinem Leben ein philosophisches Werk gelesen zu haben (nach Figl 1984:113). In Aufzeichnungen zur
philologischen Methodenlehre zwischen Herbst 1867 und Frühjahr 1868 notiert sich Nietzsche, dass Philologie immer im
Gegensatz zur Philosophie stehe. Hier gibt es auch einen ersten Hinweis auf Senecas 108. Brief an Lucilius, der dann in der
Basler Antrittsvorlesung zur Klärung des Verhältnisses von Philosophie und Philologie herangezogen wird – dazu später mehr
(BAW 4:3–8). Porter (2000a) hat in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit des (durch F.A. Lange vermittelten) Atomismus für
Nietzsche betont – und damit auch der empirischen Naturwissenschaft, und zwar keiner positivistisch, sondern skeptisch
verstandenen, welche weiß, dass die Sinne nur Schein, nicht Realität transportieren, die sich der Kontingenz allen Wissens, der
Unzuverlässigkeiten von Bedeutungen bewusst ist. Atomismus diene Nietzsche als Waffe gegen Mythologien und Dogmen (S.
94).
[111] Einen vorbildlich konzisen Überblick gibt Gerhard (1986). Nietzsches Denken sei eindeutig an neuzeitlicher empirisch-
experimenteller Wissenschaft orientiert. Die Herkunft dieses Denkens aus der spezifischen philologischen Methodik sieht
Gerhard jedoch nicht, obschon er die Rolle der (abstrakt verstandenen) Kritik bemerkt. Diese Querverbindungen können aber
hier nicht weiter thematisiert werden. Sie könnten zum Inhalt einer gesonderten Studie werden.
[114] Die letzte Enzyklopädie in dieser Tradition ist wohl Birt (1913) – seine Darstellung ist z.T. in dieses und das nächste Kapitel
eingeflossen. In jüngster Zeit erscheinen wieder verstärkt Einführungswerke in die philologischen Fächer, die den umfassenden
ursprünglichen, also die Realia enthaltenden Fachenzyklopädien in Aufbau und Inhalt ähneln. Freilich stammen sie heute
ausnahmslos von Verfasserkollektiven (z.B. Nesselrath, Hrsg., 1997 oder Graf, Hrsg., 1997) und verkörpern deshalb nicht
länger den methodischen Entwurf eines Einzelnen.
[115] Bereits in Vorlesungen Ritschls während seiner frühen Breslauer Station wird die Notwendigkeit der Enzyklopädie damit
begründet, dass wegen der späteren, unumgänglichen Spezialisierung keinem anderen Fach so sehr wie der Philologie eine
Gesamtübersicht not tue (nach Ribbeck, 1879ff, Bd. 1:243–246).
[116] Aus dem Leipziger Universitätsarchiv Rep. I/XVI/VII C Nr. 28, Bd. 2, lfd. Nr. 98 geht außerdem der Besuch einer
enzyklopädischen Vorlesung bei Georg Curtius hervor, von der sich freilich keine Spuren mehr nachweisen lassen; sie wird sich
von entsprechenden Kollegs Ritschls, bei dem Curtius selbst in die Schule gegangen war, wenig unterschieden haben (Hinweis
in Frey/Weinkauf, Hrsg., 1995:36f).
[117] In Aufzeichnungen zur Enzyklopädie zwischen Herbst 1867 und Frühjahr 1868 (BAW 4:3–8) notiert sich Nietzsche
Bernhardy zum Stichwort Literatur über Enzyklopädie. Dass er sich Bernhardy in Basel mehrmals entlieh, beweist die Übersicht
seiner Bibliotheksbenutzung bei Crescenzi (1994). Bernhardys Werk enthält übrigens ausgezeichnete bibliographische Angaben
und viele Quellen, die für die Wissenschaftsgeschichte noch auszuwerten wären. Allgemeines zur Enzyklopädie und ihrer
Geschichte bei Dierse (1977). Auf die philologische Enzyklopädie geht dieser allerdings nur kurz ein, wobei er Wolf und Boeckh
als ihre wichtigsten Vertreter hervorhebt (207–215). Erst aus der Philologie gelange die Enzyklopädie wieder in die
Geschichtswissenschaft; Droysen übernimmt sie von Boeckh. Zu den von Whitman (1986) hauptsächlich angeführten
Vertretern der Enzyklopädie (wie Bernhardy oder wie Matthiäs Enzyklopädie und Methodologie der Philologie von 1835)
könnte man viele weitere Titel ergänzen. Außer der hier später ausführlicher zu Wort kommenden Darstellung von F.A. Wolf
etwa Barbys Enzyklopädie und Methodologie des humanistischen Studiums von 1805, Kochs Enzyklopädie aller
philologischen Wissenschaften von 1793, Fülleborns encyklopaedia philologica von 1798, den Grundriß der Philologie von
Friedrich Ast u.v.a. – vgl. dazu BKA, S. 3f.
[118] Nah an Ritschls Enzyklopädie ist auch die Vorstellung vom Fach, wie sie Johan Nicolai Madvig in seinen
Lebenserinnerungen schildert (1887:98ff). Nietzsche griff im professionellen Leben oft auf Werke Madvigs zurück, von denen
sich eines, nämlich die berühmte Lateinische Sprachlehre für Schulen , noch in seinem Nachlass befindet. Madvig schildert das
vollkommene Sprachverständnis als Grundlage, aber nicht als Selbstzweck der Philologie. Dagegen sei die Enzyklopädie ihre
zentrale Disziplin. Philologie ist eine historische Wissenschaft, der sprachwissenschaftlich fundierte Kern der Kulturgeschichte.
[119] Auch andere Philologen unterscheiden die Philologie von allgemeiner Sprachwissenschaft, der es lediglich um die
möglichst genaue Erklärung der konkreten lateinischen, griechischen oder anderen Sprachformen geht, nicht um die Erklärung
der Texte und ihrer Relevanz (z.B. Bernhardy, 1832:165).
[120] Vgl. auch Nietzsches Mitschriften zu Ritschls Vorlesungen Einleitung und Anleitung zur lateinischen Grammatik und
Historische Grammatik der lateinischen Sprache nebst Einleitung in die römische Epigraphik (GSA 71/54); alle drei
genannten Vorlesungen Ritschls gehören zu den umfassendsten Mitschriften Nietzsches. Sie enthalten eine Fülle von
Aufzeichnungen zur Schrift- oder Alphabetgeschichte bis hin zu phonetischen Reflexionen, Lexikologie, Morphologie (hier
Wortlehre genannt), selbst zu metrischen und literaturwissenschaftlichen Aspekten, etwa zu Gattungsfragen oder zur
Epigraphik. Blatt 63 in letztgenannter Vorlesung enthält viele Literaturhinweise, u.a. zu Bopp, Schleicher und Humboldt (mit
längerem Kommentar). Ein aufschlussreiches Beispiel aus der nachgelassenen Bibliothek ist Wackernagel (1872). Der Franz
Bopp gewidmete Vortrag betont die logische Unmöglichkeit natürlicher Sprachen, nach strengen Regeln organisiert zu sein.
Sprache sei ein gestaltender, kreativer, instinktiver Prozess. Mit pedantischer Schulgrammatik sei ihr nicht beizukommen,
sondern nur durch empirische, sprachvergleichende Arbeit (bes. 54ff). Wackernagel wurde nach Nietzsches Abgang sein Basler
Nachfolger.
[121] Boeckh folgt hier unmittelbar seinem Lehrer Schleiermacher. Dessen Kursus in Hermeneutik und Kritik greift indes auf die
enzyklopädischen Vorbilder der klassischen Philologie zurück (s. Schleiermacher, 1977 bzw. 1967). Schleiermacher unterschied
die grammatische von der psychologischen Auslegung und verstand darunter wie die Philologen genaue Analyse sprachlicher
Phänomene jeglicher, keineswegs nur syntaktischer oder morphologischer Art (vgl. z.B. auch Köller, 1988:313).
[122] Aus Sicht der Philologen des neunzehnten Jahrhunderts geht die Philologie eben auf die Poetengelehrten, nicht auf
Aristoteles' Poetik zurück, wie es die heutige Standardauffassung der Geschichte der Literaturwissenschaft will, denn für die
Poetengelehrten und Alexandriner war wie für sie selbst Grammatik immer Dienerin der Textkritik und Interpretation und in
erster Linie empirisches Studium. Die formale Grammatik entwickelt sich demgegenüber erst sehr viel später während des
Hellenismus – als es mit der großen Zeit alexandrinischer Philologie schon wieder vorbei ist. Bei den Alexandrinern ist
Grammatik empirisches Wissen über Dichtung und Prosa der besten Autoren (vgl. Pfeiffer, 1968:272). Der Grammatiker war
bei den Griechen also ursprünglich Experte für die sprachlich und sachlich richtige Überlieferung: Grammatik umfasste damit
die Kunst der Interpretation und alle Kenntnisse, die dazu erforderlich waren. Der alte Grammatikbegriff muss deshalb eigentlich
mit Philologie oder „Textwissenschaft“ im Sinne einer umfassenden Sprach- und Literaturwissenschaft übersetzt werden – so
wie die Philologie die Grammatik in der Enzyklopädie v.a. deshalb privilegierte, weil sie dem eigenen methodischen
Selbstverständnis entsprach (vgl. Köller, 1988:19 und passim). Die philologische Grammatik ist eine Art Corpuslinguistik avant la
lettre, die in ihrer Tragweite bis heute nicht gewürdigt wurde, weil die Texte nach wie vor weitgehend unbekannt sind. Ferdinand
de Saussure trifft übrigens auf der ersten Seite seines viel zitierten, aber wenig gelesenen Cours de linguistique générale
genau dieselbe Unterscheidung zwischen grammaire und philologie – für die erste verweist er auf die griechische und
französische Grammatik (Descartes etc.), für die zweite auf die alexandrinischen Gelehrten und auf F.A. Wolf – und stellt ihnen
als dritte historische Auffassung von der Sprache die vergleichende Sprachwissenschaft an die Seite. Mit Saussures Einsicht in
die Arbitrarität des Zeichens lässt man bekanntlich meist die Geschichte der modernen Linguistik beginnen. Es lohnt sich darauf
hinzuweisen, dass dies etwa für Madvig bereits viele Jahrzehnte früher unkontrovers ist: „Das Grundfaktum in der Existenz der
Sprache ist dies, dass weder dieselben Laute für alle dieselbe oder wenigstens eine verwandte Vorstellung bezeichnen noch
dieselbe Vorstellung bei allen denselben Laut hervorruft, und dass dieses sich nicht bloss in den verschiedenen Sprachen
(Sprachgeschlechtern) zeigt, sondern im fortschreitenden Leben derselben Sprache. […] Das Wort wechselt Bedeutung,
während der Laut bleibt, der Laut ändert sich [bis zur völligsten Unkenntlichkeit], während die Bedeutung bleibt. Der Laut der
Wörter steht also in keinem natürlichen und nothwendigen Verhältniss zur Vorstellung und ihrem Gegenstand. Das Wort hat
nur eine Bedeutung für gewisse Menschen, die ihm diese Bedeutung unterlegen und geben; nur ist freilich dieses Verhältniss
kein Verhältniss zwischen einzelnen Menschen und einzelnen Wörtern, sondern ein mannigfach artikulirtes Verhältniss eines
ganzen Volkes […] und einer ganzen Sprache, ein Verhältniss, das sich durch den Verlauf der Zeiten und die Folge der
Geschlechter durchzieht“ (im Aufsatz „Ueber Wesen und Leben der Sprache“; 1875:59). Es ist genau diese, in philologischen
Kreisen verbreitete Sprachauffassung, die zur Notwendigkeit pragmatisch-empirischer Spracharbeit an der konkreten
Einzelsprache und ihrem Sprachwandel führt. In Standardwerken zur Geschichte der Sprachwissenschaft wie Arens (21969)
kommt die philologische Grammatik praktisch nicht vor. Schlimmer noch: bis heute, bis zu den neuesten, sonst über alle Zweifel
[123] Vgl. bes. Nietzsches Preisaufgabe zur ersten Abhandlung der GM (KSA 5:288f). Dafür lässt er sogar in letzter Minute
noch das Druckmanuskript ändern (Brief an Naumann vom 18. August 1887; III.5:130). In Nietzsches philologischen Kollegs
bzw. den Aufzeichnungen dazu gibt es viele Beispiele zur Etymologie, die an die Genealogie der Moral erinnern. Es wäre eine
kleine Nebenarbeit für sich, die verschiedenen Typen von Etymologien, die Nietzsche in der philologischen Theorie
unterscheidet, durch sein Werk zu verfolgen. Als Wissenschaftler unterscheidet Nietzsche drei Typen von Etymologien: die
Volksetymologie, die auf dem Verlust der ursprünglichen Bedeutung beruht und an ihren Irrtümern erkennbar ist; die gelehrte
Etymologie, die gewaltiges Wissen ohne inneren Zusammenhang sammelt; schließlich die wissenschaftliche, die auf den
Lautgesetzen sowie den Erkenntnissen zum Sprachzusammenhang beruht (s. KGW II.2:194 273). Auch an anderen Stellen
beruft sich Nietzsche auf ‚grammatisches‘ Expertenwissen, s. z.B. die Fußnote zu WA 9, 6:32).
[124] Die ausgezeichnete Dissertation von Martin Stingelin (Stingelin, 1996) habe ich leider zu spät wahrgenommen. Sie sollte
zum Begriff des Sprachgebrauchs bei Nietzsche unbedingt herangezogen werden. Dennoch ist Stingelins Herleitung von
Lichtenberg nicht völlig überzeugend: die philologischen Wurzeln dieser Optik Nietzsches – sie werden von Stingelin nur
angedeutet – scheinen mir am Ende doch relevanter zu sein.
[125] Bei Bernhardy (1832:123ff) stützt sich die niedere Kritik auf die konkreten Urkunden, die höhere auf innere Beweisgründe
– dies entspreche der Trennung in objektive und subjektive Kritik. Von der Paläographie aufwärts gibt es also eine ansteigende
Linie über die diplomatische Kritik bis hin zur höchsten Subjektivität, die nur durch glänzende Beispiele und aus der Fülle der
Erfahrung erworben werden könne.
[126] Zur Divination siehe v.a. Schaefer (1977): Ursprünglich (z.B. bei Cicero) reine Spekulation, konnte sie bald auch
Wahrsagekunst bzw. Mantik bedeuten. Etymologisch stammt divinare natürlich von divinus – die Gottheit betreffend, also eine
Tätigkeit aufgrund göttlicher Eingebung (S. 196). Schaefer zeichnet die Belege in der klassischen Literatur nach und erschließt
erst ab dem zweiten Jahrhundert den „säkularisierten Sinn“ im Sinne von ‚ahnen‘ und ‚vermuten‘ (201). Freilich ließen sich
schon bei Cicero neutrale und positive Belege des Wortes finden, nämlich für eine Vermutung, die auf Menschenkenntnis,
politischer Erfahrung, Kenntnis philosophischer Schriften und eigener philosophischer Tätigkeit beruht (205), kurz einem
komplexen Ineinander von Theorie und Empirie, nicht ganz verlässlich zwar, aber angesichts der divinierenden Person doch
vertrauenswürdig, besonders wenn sich die Divinationen häufig als zutreffend herausstellen. Der antiken (Text-)Kritik sind
divinatio und coniectura nicht bekannt, beide werden erst in Renaissance und Humanismus aufgegriffen, wobei die divinatio
höher als die coniectura bewertet wird, nun also fast ausschließlich positiv. Darin zeige sich das neue Selbstbewusstsein der
Renaissancephilologen, die den Wert ihrer Gegenstände auf die eigene Arbeit übertragen und denen dichterische Inspiration
selbst nicht fremd ist. Bei Bentley musste der Textkritiker neben historischen Kenntnissen und hohem Sachwissen v.a. scharfes
Urteilsvermögen und geradezu hellseherische Begabung besitzen, die ein Geschenk der Natur sei, genauso wie die dichterische
Inspiration. In dieser traditionellen Terminologie wurzele der selbstverständliche Gebrauch des neunzehnten Jahrhunderts: die
konkrete Textverbesserung wurde immer noch dem guten Einfall des Philologen zugeschrieben, die eigentlich strenge Methodik
bezog sich auf die Behandlung und den Vergleich der vorliegenden Quellen.
[127] Sie ist bisher nur von Wegmann (1994), Porter (2000a) und Campioni (2001) eingehender behandelt worden. Bei
Wegmann findet sich allerdings wenig Erhellendes, ja eher Irreführendes. Dass Nietzsche die Philologie kritisiere, die lediglich
„(niedere) Kritik und Grammatik“ (419) sei, ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Nietzsches Lehrer taucht bezeichnenderweise nur
ein einziges Mal und noch dazu in der Schreibweise Ritschel (422) auf. Wichtig und richtig ist Wegmanns Betonung des
kritischen Potentials, das die Philologie durch langsame, „retardierende“ Lektüre entfalte, die nicht primär auf (schnelles)
Sinnerfassen angelegt ist – dazu später mehr. Fundierter ist James I. Porters Analyse (2000a:167–224), die vielleicht an
Prägnanz gewonnen hätte, wenn er sich bei seinen wichtigen Beobachtungen zu Bernhardy darüber im Klaren gewesen wäre,
dass dessen Enzyklopädie eine Hauptquelle für Nietzsche gewesen ist. Porters Lektüre der Encylopaedie verfolgt jedoch ganz
andere Absichten, das Hauptgewicht liegt auf Nietzsches inhaltlicher Auseinandersetzung mit dem Klassizismus – trotz aller
(wenig überraschender) Parallelen zu Humboldt, die er nachzuweisen vermag. Bei Nietzsche werde die Enzyklopädie zur Anti-
Enzyklopädie, ihm gehe es darum, die Studenten von den gängigen Vorstellungen vom Altertum und seinem Studium
abzuwenden, auch lege er Wert auf die inkohärente, z.T. durch Zufälle gesteuerte Geschichte der Philologie und einige
normalerweise unreflektierte Schwierigkeiten des Faches, welche die Funktion hätten, die Studenten zu erschrecken. Porter fällt
zwar auf, dass Nietzsche die Studenten zum methodisch harten philologischen Studium auffordert und sich der Realia
weitgehend enthält, liefert aber keine überzeugende Begründung dafür (– so bringt er zwar in Anmerkung 121 zu Kapitel 4, S.
373 das Zitat, wonach Nietzsche sich vor allem für die Methode der Philologie erwärmt habe, greift dies aber auch nicht weiter
auf).
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[128] Nietzsche betont an späterer Stelle die Wichtigkeit des Stilstudiums. Stilgefühl, Stilgeschichte, Sprachgeschichte,
Stilvergleichung, auch Kenntnisse in Rhythmik und Metrik seien unabdingbare Voraussetzungen philologischer Arbeit (KGW
II.3:394).
[129] Es ist wahr, dass Boeckhs Darstellung um die Mitte des Jahrhunderts wenig wirken konnte, da er sie selbst nur durch
seine Vorlesungen verbreitet hatte und sie von Ernst Bratuschek schließlich erst 1877 herausgegeben wurden – vgl. z.B.
Landfester (1979:156). Wahr ist aber auch, dass unter der dominierenden Philologengeneration zu Nietzsches Zeit nicht
wenige Boeckh-Schüler waren und ausnahmslos alle ihn als einen der Meister des Faches anerkannten. An seinen Auffassungen
wurden die eigenen Überzeugungen entwickelt Dass Boeckh seither völlig zu Unrecht vernachlässigt worden ist, steht auf
einem anderen Blatt; dazu u.a. Strohschneider-Kohrs (1973). In eigenen Aufzeichnungen aus der Studentenzeit (BAW 4:3–8),
machte sich Nietzsche ausführliche Notizen zu Boeckh. Er ging in der Definition der Philologie von Wolf aus und fügte hinzu:
„Der Begriff Bökhs ist zu weit. Unterschied zwischen Philologie und Geschichte verschwindet: und zu eng (vergl. z.B. die
homerische Frage. Die Sprachvergleich.)“. Eine Altertumswissenschaft, die ganz mit Geschichte verwechselt werden kann,
möchte die Ritschl-Schule vermeiden. Die strenge Wissenschaft sollte sich zumindest auch – wie Boeckh es (noch) nicht tat –
der Ergebnisse der Indogermanistik bedienen. Schließlich zeigt der Hinweis auf die homerische Frage wohl einen Mangel an
ästhetischer Betrachtung auf, die für Nietzsche in der Folge Goethes Schlüssel zur Behandlung dieses alten Problems war.
Boeckh bleibt freilich ein gern benutzter Autor, in seiner Encyklopaedie zitiert Nietzsche ihn im Realia-Teil und weist u.a. auf
Boeckhs frühes Hauptwerk von 1817, Die Staatshaushaltung der Athener , hin (KGW II.3:435).
[130] Schon bei F.A. Wolf und Friedrich Ast ist Hermeneutik immer selbstverständlich nur in Verbindung mit Kritik und
Grammatik denkbar. „Die Kritik ist eine Wissenschaft für sich, die man viel umständlicher behandeln muss, als die vorige [d.h.
die Hermeneutik, C.B.]. Sie schliesst einen guten Theil der Erklärungskunst in sich. Hier sondern wir sie von ihr ab, was
praktisch nicht wohl möglich ist.“ (Wolf, 1831:305) Vgl. auch Flashar (1979:23). Bernhardy leitet diese Verbindung von den
Alexandrinern her: „Die Gelehrten des Alterthums haben die Kritik als einen Theil des exegetischen Geschäfts behandelt […].“
(Bernhardy, 1832:111 u. 165). Schließlich sei noch Niebuhr zum Beleg herangezogen: „Die Exegese ist eben die Frucht eines
vollendeten Studiums; bei ihr wird aus der Fülle der umfassenden Kenntnisse, beides der Sprache und der Sachen, gegeben: sie
ist nichts anderes als Ausdruck des Verständnisses, wie wo nicht die Zeitgenossen, doch wenigstens die etwas späteren
Nationen, für die schon die flüchtigen Beziehungen des Augenblicks verloren waren, verstanden, und dazu gehört ein reif
durchgearbeiteter Verstand, wie eine unendliche Menge von einzelnen Notizen.“ – und natürlich, das betont Niebuhr ohne
Unterlass, der kritische und gewissenhafte Umgang mit Quellenmaterial (1839:136).
[131] Freilich hat Riedel sein immer noch lesenswertes Buch in einer wissenschaftshistorischen Situation verfasst, in der die
Geisteswissenschaften durch einen ihren Gegenständen unangemessenen Szientismus allenthalben bedroht und in der
Defensive waren. Andererseits ist die Gleichsetzung des Erklärens mit positivistisch-kausalistischem Gedankengut zu einfach. In
seinem Buch versucht Riedel aber auf originelle Weise das rationalistisch-deduktive Erklären sowie das induktive Erklären der
empirischen Naturwissenschaften gegeneinander aufzuheben, indem er (sozusagen als Friedensangebot gegenüber der
analytischen Philosophie) Kant für das Verstehen reklamiert. Dieser habe mit seinem Verstehenskonzept leider gegen Herder
und den Historismus den kürzeren gezogen. Ob es hier Anknüpfungspunkte zu Nietzsche über die kantisch inspirierte
Philologie der Hermann-Schule oder über seine intensive Rezeption des Neukantianers F.A. Lange gibt (die vielleicht ihrerseits
nur auf der Grundlage der philologischen Schulung möglich war), würde eine nähere Untersuchung lohnen.
[132] Eine Periode, die außerordentlich schlecht erforscht ist. Zwar gibt es genügend Material zur Aufklärungshermeneutik und
Bibelkritik, dann wieder ab Dilthey, z.T. unter Berücksichtigung Schleiermachers. Aber nahezu die gesamte philologische
Reflexion des frühen und mittleren neunzehnten Jahrhunderts, die als Übergangszeit möglicherweise interessanteste Zeit (der
Schwächen des Ererbten wie des Kommenden gleichermaßen bewusst) – diese Literatur ist, von spärlichen Ausnahmen
abgesehen, weder in der philologie- noch der philosophiehistorischen Forschung behandelt worden. Hier liegt die Ursache vieler
Nietzsche betreffende Missverständnisse.
[133] Boeckh unterscheidet z.B. einen vierfachen Schritt von grammatischer über historische und individuelle bis zur
generischen Interpretation (21886:83), wobei die Auslegungsphasen nicht chronologisch, sondern integrativ ablaufen sollen.
Auch Ritschl unterscheidet in der Hermeneutik vier Stufen „des Nationalen, Temporalen, Generischen, Individuellen“ (nach
Ribbeck, 1879ff, Bd. 1:245). Bei jedem Text müssen nicht nur nationale und epochale Entstehungsbedingungen mitgedacht,
sondern auch die Gattung sowie die Individualität des Verfassers berücksichtigt werden, und zwar nicht in der Weise, dass jede
Textstelle eine nach diesen Kriterien gestaffelte Bedeutungsspanne aufweist, sondern dass der Zusammenhang des gesamten
Textes unter diesem Gesichtspunkt geprüft wird.
[134] Wenn Stegmaier (1992:176) auf die Nähe von Nietzsches Psychologie zu Schleiermachers Individualitätslehre hinweist,
weil auch in Schleiermachers Hermeneutik die methodische Arbeit erst auf das Erraten des Individuums im divinatorischen
[135] Der Textbestand von Schleiermachers Hermeneutik bzw. Hermeneutik und Kritik stellt selbst ein notorisches
philologisches Problem dar. Schleiermacher ist hier jedoch kein Thema, ich verwende lediglich einige aus vergleichender Sicht
interessante Positionen. Insbesondere gehe ich nicht auf die früheren Entwürfe zur technischen Auslegung ein.
[136] Der neuzeitliche Begriff der Kritik stammt aus der Philologie des Humanismus, die angetreten war, den Alleinanspruch der
Theologie zu brechen. Die epochalen Kritiken Kants verdecken diese wichtige Verbindung (vg-L Kurt Rötgers Lemma „Kritik“ in
GG Bd. 3:653f bzw. Rötgers, 1975:21f). Figl (1984) schält angesichts der Philologica Nietzsches zwei hermeneutische
Strategien heraus, eine kritische und eine im eigentlichen Sinne hermeneutische. Die Kritik befasse sich vor allem mit
Konjekturalkritik und vergleichender Überlieferungskritik, der Restitution von Worten bis zu ganzen Textzusammenhängen, der
fast naturwissenschaftlichen Verwendung von Sprachgesetzen, praktiziere kurz gesagt strenge Methodik, die Nietzsche
stringent durchzuhalten versuche (122). Hermeneutik müsse jedoch hinzukommen, denn die Verbesserung eines Textes werde
ja schon vor dem Horizont des Textideals durchgeführt. Da Hypothesen in der praktischen Arbeit auf Intuition beruhen, sei der
rein diskursive Weg nicht möglich und Phantasie werde als Voraussetzung des wissenschaftlichen Denkens begriffen (123f).
Reflexion messe die Ergebnisse der Phantasie, wobei ihr Unterschied nur ein gradueller sei, insofern auch wissenschaftliche
Begriffe auf Metaphern zurückgehen, es werden mithin Metaphern in verschiedenen Festigkeitsstufen miteinander verglichen.
Wissenschaftliches Erkennen bleibe deshalb notwendig interpretierend, da es schon in der Selektion interpretiert. Die Leistung
der rationalen Kritik bestehe darin, die Leistungsfähigkeit der „prärational-ästhetischen Erkenntnisvollzüge“ erst richtig bewusst
zu machen (126ff). Diese Fassung des Begriffs ist allzu weit und, jedenfalls auf die Wissenschaftsgeschichte bezogen,
unhistorisch. Für Nietzsche war die Kritik selbstverständlich keine hermeneutische Strategie, sondern idealtypisch von der
Hermeneutik getrennt. Seine Philologie hat er unzweifelhaft als kritische, nicht als hermeneutische Wissenschaft verstanden.
[137] In klassischen Darstellungen wie Wach (1966) werden Philologen wie Ast und Wolf zu bloßen Vorläufern Schleiermachers
degradiert. Textvergleichen und Spätausläufern der philologischen Tradition wie eben Nietzsche hält diese These nicht stand.
[138] Vgl. z.B. Stegmaier (1992:147, Anm. 52): Schleiermacher etwa im Sinne Gadamers als Hermeneutiker zu lesen
entspreche ihm kaum; Hermeneutik blieb für Schleiermacher immer zweitrangig gegenüber Ethik und Dialektik. Siehe ferner
Wiehl (1979).
[139] Siehe bereits den Brief an Gersdorff von Ende August 1866: „Also das wahre Wesen der Dinge, das Ding an sich, ist uns
nicht nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von
unsrer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine
Bedeutung hat. Folglich, meint Lange, lasse man die Philosophen frei, vorausgesetzt, daß sie uns hinfüro erbauen. Die Kunst ist
frei, auch auf dem Gebiet der Begriffe. Wer will einen Satz von Beethoven widerlegen, und wer will Raphaels Madonna eines
Irrthums zeihen? –“ (I.2 160)
[140] In einer „Anmerkung für Esel“ betont Nietzsche, dass bei all seiner Kritik an der Einseitigkeit und mangelnden
Unvornehmheit der wissenschaftlichen und arbeitsamen Menschen, diese gleichwohl schätzenswert und unentbehrlich seien
(VIII 1[170]).
[141] Vgl. Ribbeck (1874), eine Antwort auf einen direkten Angriff Theodor Bergks auf die ausdrücklich so genannte Bonner
Schule, v.a. auf Ritschl, Usener, Bücheler und Ribbeck selbst. Er verteidigt den für sie typischen universalen Zweifel an aller
Überlieferung, sein letzter Satz lautet: „Mit dem dumpfen Buchstabenglauben an die heiligen Abschreiber und theils
andachtsvoller, theils scurriler Ausräucherung der bösen Geister des Zweifels wird Niemand erleuchtet.“ In einer redaktionellen
Anmerkung zu Müller (1869b:544) lehnt Ritschl interessanterweise die Bezeichnung Bonner Schule ab. Sie stamme vielmehr
von Bergk, der ihr damit Dogmatismus vorwerfen will. Dogmatismus aber ist für Ritschl die schlimmste Untugend der
Wissenschaft und dem eigenen skeptischen Standpunkt diametral entgegengesetzt.
[142] Interessante Ausführungen zur Reflexion der Skepsis in Nietzsches frühen Philologica bei Porter (2000a). Der der
Philologie inhärente radikale Skeptizismus, so Porters These, richte sich schließlich gegen sie selbst und werde deshalb von
Nietzsche als widersprüchlich verworfen. Porter bezieht sich nicht auf Nietzsches spätere Texte, sondern beschränkt sich auf
[143] Für biographisch interessierte Nietzscheleser, besonders aber für Hermann Josef Schmidt, dürfte folgendes Fragment
höchst bedeutsam sein: „Pyrrho, der mildeste und geduldigste Mensch, der je unter Griechen gelebt hat, ein Buddhist obschon
Grieche, ein Buddha selbst, wurde ein einziges Mal außer Rand und Band gebracht, durch wen? – durch seine Schwester, mit
der er zusammenlebte: sie war Hebamme. Seitdem fürchten sich am Allermeisten die Philosophen vor der Schwester – die
Schwester! Schwester! 's klingt so fürchterlich! – und vor der Hebamme!… (Ursprung des Coelibats)“ (VIII 14[162]).
[144] Diese Einschätzung hat sich schnell etabliert und blieb bis heute unangefochten. Vgl. noch Brenner (1998:306): „Marx,
Nietzsche und Freud haben das 20. Jahrhundert zu einem hermeneutischen Jahrhundert gemacht, indem sie das Verfahren der
Hermeneutik weit über deren traditionellen Bereich hinaus als Grundgestus des wissenschaftlichen Fragens bestimmt haben“.
Bereits Paul de Man bezeichnet das mit Recht als Klischee (1979:82). Unabhängig von Inhalten und Theorien verschiedener
Verdachtshermeneutiken ist ihre Verfahrensweise immer dieselbe. Sie räumt dem Interpreten den Primat ein und gibt vor,
unabsichtliche (unterstellte) uneigentliche Rede aufzudecken. Foucault (1967) hat dies als eine ganz neue Art der Hermeneutik
empfunden; wie Ricœur verband er Nietzsche, Marx und Freud in einem frühen Aufsatz durch ihre gemeinsame
Interpretationsstrategie, die letztlich in persönlicher narzisstischer Kränkung jedes einzelnen kulminiere und durch die jedwede
feste Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat zerrissen wird, da jedes Zeichen schon Interpretation eines anderen
Zeichens ist. Interessanterweise spielt Foucault hier lobend die Hermeneutik gegen die Semiotik aus, denn jene verneine die
Existenz ursprünglicher Zeichen, welche diese noch annimmt. Dieses Distanzieren vom Strukturalismus wird Auftakt zur
Neuentwicklung von Foucaults Methode, die sich bekanntlich wiederum an Nietzsche anlehnt (die Hermeneutik, die Foucault
meint, ist die Hermeneutik des Verdachts, nicht jene Gadamers).
[145] Vgl. etwa F.A. Wolf: „Beim Lesen und beim Ausgehen auf das, was fehlerhaft ist, ist Suspicion nöthig, und dann wieder
eine Unbefangenheit, mit der man sich dem Argwohn widersetzt; denn sonst findet man in jeder Zeile einen Fehler, oder man
liest mit Angst.“ (1831:326).
[146] Der Gebrauch der beiden Begriff ist, trotz Foucault, nicht ganz scharf gegeneinander abgegrenzt. Tendenziell bezieht sich
Herkunft vor allem auf den Prozess der Bedeutungsgenese, während Ursprung eher die ursprüngliche, später verfälschte
Etymologie bezeichnet.
[147] Die allegorische Interpretation ist dagegen für das, was man gewöhnlich unter der Hermeneutik des Verdachts versteht,
konstitutiv geworden. Demonstrieren lässt sich das leicht an einem berühmten Beispiel, Derridas Lektüre des Regenschirm-
Fragments („‚Ich habe meinen Regenschirm vergessen‘“; V 12[62]). Herausgelöst aus einem Kontext den wir nicht kennen, so
Derrida, kann dieser schlichte Satz alles und nichts bedeuten. Aber auch wenn durch Zufall ein solcher Kontext offenbar würde,
könnte man immer noch annehmen, es handele sich z.B. um einen Geheimkode, der nur für einen unbekannten Adressaten
dechiffrierbar sei. Vor dieser Möglichkeit ist die Hermeneutik in der Tat machtlos, genauso machtlos wie vor der unausbleiblichen
psychoanalytischen Lesart der Schirm als Phallus, das Vergessen – man weiß schon. Bestehe nicht sogar die Möglichkeit, so
Derrida, dass die Gesamtheit von Nietzsches Werk (la totalité du texte de Nietzsche) in dieser Hinsicht dem Fragment gleicht?
Derrida kann diese Möglichkeit nicht ausschließen, so wie auch seine eigene Reflexion vom selben Typ sein könnte, auch sie
könnte einen Geheimkode kommunizieren etc. ad infinitum. Zu Derridas Regenschirmbeispiel s. auch Blondel (1981/82:539),
eine exemplarische Auseinandersetzung mit fehlgeleiteter apriorischer Nietzsche-Exegese.
CAPES
Type: Sekundärliteratur
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In seinen mittleren und späten Texten spielt Nietzsche bewusst mit dem Repertoire der Philologie. Die bereits genannten
Beispiele sollen nun ergänzt und vertieft werden. Angesichts der Traditionen der Bonner Schule kommt der Konjekturalkritik,
Kern der niederen Kritik, besondere Bedeutung zu. Nietzsche schlägt bei seinen Lektüren so manche Emendatio vor, freilich
nicht immer so offensichtlich wie in dem Beispiel aus Menschliches , Allzumenschliches : „Lucas 18, 14 verbessert. – Wer sich
selbst erniedrigt, will erhöhet werden.“ (KSA 2:87) Aus einem wird wird ein will , kleinste Veränderungen haben die größte
Wirkung. Theologen und Metaphysiker ahnen nicht, in welchen Untiefen des Textes sie sich bewegen [149]. In der
Vorstellungswelt der Philologie seit F.A. Wolf, Gottfried Hermann und Friedrich Ritschl ist nicht die Interpretation von Texten die
zentrale Aufgabe des Forschers, sondern zuallererst seine Herstellung, nämlich als Herstellung des zu erklärenden
Tatbestandes. Jene Praxis der Textkritik, die heute unter dem Begriff der Lachmannschen Methode bekannt ist, geht, und das ist
für die Beschäftigung mit Nietzsche natürlich von höchstem Interesse, in vielen wesentlichen Zügen auf Friedrich Ritschl zurück
(Timpanaro, 21971:46–50) [150].
Zur Herstellung eines Textes werden alle durch die Heuristik identifizierten vorhandenen Überlieferungen zunächst kollationiert,
um Übereinstimmungen bzw. Abweichungen unter ihnen festzustellen. Die Beziehungen (Filiation) werden in Stemmata
festgehalten, wie sie Nietzsche selbst unzählige Male gezeichnet hat. Im Unterschied zu Lachmann genügte es Ritschl häufig,
Verwandtschaften von Texten aufzuzeigen; um den Urtext war er weniger bekümmert (Timpanaro, 21971:46–50). Texte, das
lernte Nietzsche von seinem Lehrer, stehen immer in einem komplizierten Beziehungsgewebe aus Einflüssen und
Versatzstücken, die
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ihrerseits wiederum einen zu entschlüsselnden Text ausmachen (lat. textus, Gewebe , Geflecht ). Der Philologe ist Editor und
Genealoge und hat in dieser Funktion lediglich die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen überlieferten Textzeugnissen
festzustellen. In die endgültige Recensio wird schließlich unter konsequentem Vergeht auf Interpretation die jeweils am besten
belegte Lesart aufgenommen – Lachmann bezeichnete diesen Grundsatz an einer berühmten Stelle der Vorrede zu seiner
Ausgabe des Neuen Testaments als „Recensere sine interpretatione et possumus et debemus.“ (zit. nach Karl Stackmann in
Die Recensio wird in der Ritschl-Schule streng von der Emendatio, der ‚Heilung‘, geschieden, dem Beseitigen von Korruptelen,
also verdorbenen Textstellen. Die Textherstellung als Verbesserung einzelner ‚dunkler Stellen‘ gehört damit der Geschichte an.
Emendationen sind schlagende Verbesserungen, Konjekturen ihre spekulativere Entsprechung (plausible Vermutungen, die,
modern gesprochen, falsifiziert und nicht verifiziert werden müssen). Zu den Voraussetzungen philologischer Arbeit gehört
deshalb die genaueste Untersuchung von Überlieferungszusammenhängen, eventuellen Kontaminationen, Interpolationen und
Beziehungen zwischen Texten ganz allgemein. Alle nur erreichbaren Textzeugen müssen in systematischer Weise einbezogen
und beschrieben werden. Auch die Materialität der Schriftstücke spielt eine Rolle, schließlich könnte es sich bei überlieferten
Fragmenten etwa um Palimpseste handeln. In der ausgearbeiteten Form dieser für Nietzsche maßgeblichen methodischen
Tradition beginnt Philologie also immer mit Kritik, genauer: mit Herstellung des Textes auf der Grundlage von Handschriften,
Exzerpten, Zitaten, Quellen, Vorbildern (manche Quellen können nur als Zitatenschatz interessant sein, um mit ihrer Hilfe
andere Texte zu emendieren, die sie selbst ausgeschlachtet haben bzw. umgekehrt). Dieses Stadium der sog. niederen Kritik
wird ergänzt von der sog. niederen Hermeneutik als erstem Stadium der Textauslegung. Der Sprachgebrauch des Textes wird
mit dem Usus verglichen, die Sacherklärung erläutert historische, biographische, lexikographische Umstände, der Text wird Satz
für Satz ausgelegt, zunächst ohne Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs, wohl aber unter Beachtung von Stil und
Gattung. Auf diese Weise entsteht der Kommentar, dessen extremste Form wohl eine annotierte Übersetzung darstellt. Wenn
sich in der niederen Hermeneutik Widersprüche ergeben, versucht die niedere Kritik entweder Korruptelen zu diagnostizieren
oder aber gleich eine Konjektur, das „Lieblingskind der Philologen“ (Birt, 1913:125) zu setzen.
Auf allen Ebenen der Kritik ist es immer wieder der Vergleich, dessen sich Nietzsche als bevorzugtem Verfahren der Philologie
bedient: „Die Voraussetzung, um Verwandtschaften nachzuweisen, ist Bekanntschaft mit den verschiedenen Parteien. Es gilt
Gleichförmiges nachzuweisen, das sich mit Gesetzmäßigkeit wiederholt.“ So beschreibt Nietzsche sein wissenschaftliches Credo
in den Vorlesungen über lateinische Grammatik des Wintersemesters 1869/70 (KGW
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II.2:188) [151]. Theoretisch ist es demnach denkbar, Texte maschinell, auf der Grundlage von Algorithmen in rein formaler
Hinsicht zu vergleichen, denn der erste Arbeitsschritt bei der Grundlegung eines Textes besteht immer darin, alle vorliegenden
materiellen Quellen rein routinemäßig zu kollationieren und die verschiedenen Lesarten vor allem sprachlich-stilistischer Art zu
notieren. Der Vergleich ist die grundlegende wissenschaftliche Operation, weil nur er zu analytischen Kategorien führt, die man
zueinander in Bezug setzen kann. „Ein Phänomen wird erst fixirt, dann erklärt. dh. die vereinzelte Thatsache wird in die
Rubriken eingeordnet, die eigentl. wissenschaftliche Prozedur.“ (vgl. KGW II.3: 373–376) Diese Prozedur mag in die Nähe
geistigen Fabrikarbeitertums geraten, aber nicht aufgrund ihrer Operationen, sondern nur im Falle ihres einseitigen und
ausschließlichen Einsatzes (369f). Deutlich wird Nietzsches Arbeitsweise als textkritisch geschulter Philologe beispielsweise in
den Prolegomena zu den Choephoren des Aeschylus , in welchen die Textverderbnis als „das unverständliche, das
ungrammatische, das unmetrische das unlogische das unaesthetische“ (KGW II.2:30) gebrandmarkt wird, das durch
Verschreibungen, Auslassungen, Einschiebungen, Versetzungen, kurz Fehler der Schreiber zustandegekommen ist, aber mit
großer Wahrscheinlichkeit emendiert werden kann [152]. In Zweifelsfällen sei jene Variante am nächstliegenden, welche am
häufigsten vorkomme – ein rein quantitatives, von der Subjektivität des Editors unabhängiges Kriterium. Bei der Emendatio
werde somit das subjektive Element der auch in der Kritik unerlässlichen Phantasie „am Zügel der ratio“ (ebd.) gehalten.
Die rein quantitativen Kriterien verlieren, wie oben erwähnt, schon zu Nietzsches Zeit an Boden. Bereits in grundsätzlich
theoretisch-methodischen Reflexionen der Jahre 1867–68 denkt Nietzsche über die „erstaunliche Kühnheit“ der
zeitgenössischen literarhistorischen Kritik nach: „Wir haben⟨n⟩ erstens den naiven Standpunkt verlassen, wo man die Zahl der
Zeugnisse zusammenstellte und der überwiegenden zustimmte.“ (KGW I.4:404; vgl. auch 406f) Vielmehr spielen nun auch bei
textuellen Fragen die ästhetische Gewichtung oder literarhistorische Zusammenhänge, d.h. Fragen der höheren Kritik eine
größere Rolle, ohne freilich die quantitativen Kriterien ganz abzulösen. „Es läßt sich nichts ausrechnen, aber die Möglichkeiten
lassen sich ihrer Zahl nach durch ratio verringern: die Möglichkeiten zu sehen ist Sache der Phantasie, die eingetaucht ist in die
Sprache u. den Sprachgebrauch des Dichters, in seine Anschauungen. Gefahr, den Dichter zu überdichten: es kommt viel auf
die aesthet. Gesammtschätzung
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an“. (KGW II.2:30) [153] Angesichts der Strenge und Konzentration textkritischer Methodik ist Nietzsches Befürchtung
durchaus nachzuvollziehen, zum „Fabrikarbeiter im Dienste der Wissenschaft“ (KGW I.4:222f) zu werden, der am Ende keine
Neigung mehr verspürt, größere Dinge zu erfassen und zum Vulgus der philosophischen Fakultät absinkt. Von daher ist es
umso bemerkenswerter, dass er sowohl als Berufsphilologe wie auch später an der wissenschaftlichen Methodik und ihrem
Streben nach Freiheit vom Subjekt des Philologen festhält. Ihr Wert steht für ihn immer außer Frage.
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Exemplar aufgespaltet, von dem nach allen vorliegenden Erkenntnissen die erste Spaltung ausging. Dieses Exemplar ist der
Archetypus, das Ziel aller philologischen Bemühungen. Der Philologe sucht nach den ‚Wurzeln‘ des Textes, um durch Vergleich
einen Archetypus zu rekonstruieren, der dem Original, also einem mit der Absicht des Autors übereinstimmenden Text, nahe
kommt. Der Archetypus wird dabei nicht naiverweise mit dem Original verwechselt, er gilt durchaus als Konstruktion, die bei
dem Erscheinen neuer Zeugen eventuell revidiert werden muss. Entscheidend ist aber der Wille des Editors zur Zurücknahme
seiner eigenen Individualität, auch wenn sich diese nicht völlig ausschalten lässt [156].
Das ist die entscheidende Schnittstelle der Lachmannschen und Ritschlschen Methode, ohne deren Kenntnis Nietzsches
Umgang mit dem Problem der Auslegung unverständlich bleiben muss. „Zur Wiederherstellung der antiken Schriftwerke,“ so
fasst Bursian die Tradition der Lachmannschen-Ritschlschen Textkritik zusammen, „bedarf es einer doppelten Thätigkeit: der
Untersuchung über die Person des Schriftstellers und über die ursprüngliche Gestalt seines Werkes, und der Darlegung seiner
Gedanken und Empfindungen sowie der Verhältnisse, unter welchen dieselben entstanden sind: das erstere ist die Aufgabe der
Kritik, das letztere die der Interpretation.“ (1883, Bd. 2:789f). Die Kritik besteht aus den drei Teilen des recensere, des
emendare und des originem detegere: die Aufdeckung des Ursprungs wird durch Abhörung der Zeugen und durch Korrektur
der falschen Zeugnisse wiedergewonnen. Da auf Interpretation so lange wie möglich verzichtet werden sollte, bezog sich
Methodik und Methodenstolz der Ritschl-Lachmannschen Methode fast immer auf die Recensio, besonders auf die strenge
Kollation und Einteilung in ein Stemma; die Recensio ist, gerade weil sie auf Interpretation verzichtet, ihr definitorischer Kern (vgl.
Schmidt, 1988) [157].
Die Metaphorik des Stammbaums hat die Philologen verführt, ein Allheilmittel war sie nicht. Die Ritschl-Schule ist heute
naturgemäß hoffnungslos veraltet. Da sie aufgrund ihrer raison d'être überall nur bewusste Fälschungen oder unbewusste
Interpolationen sah, kam sie zu manch zweifelhafter Emendatio. Es ist aber ihr Misstrauen, die grundsätzliche Haltung
gegenüber dem Zustand des Textes, die Nietzsche geprägt hat: wann immer er Theologie, Metaphysik und Naturwissenschaft
kritisiert, dann wegen der mangelhaften wissenschaftlichen
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Grundlage, denn es mangele am zuverlässigen Text, an einer sauber durchgeführten Recensio des
Untersuchungsgegenstandes. Die Kombination von Recensio und Ursprungsforschung der höheren Kritik bilden schließlich
auch den metaphorischen Hintergrund von Nietzsches eigenem positiven Beitrag zur philosophischen Methodik: der
Genealogie, die er als erster in die Philosophie einführte. Sie stammt nicht, wie allgemein vorausgesetzt, aus der Ahnen- und
Stammbaumforschung (Stegmaier, 1994:63f), sondern unmittelbar aus der zeitgenössischen Philologie; schon früh gibt es
Belege für seine Verwendung im philologischen Zusammenhang (z.B. KGW I.4.:360). Wohl griff die Philologie selbst
metaphorisch auf die Ahnen- und Stammbaumforschung zurück, wie dies ja auch in anderen Wissenschaften wie etwa der
Indogermanistik üblich geworden war [158]. Aber für Nietzsche hat diese Etymologie kaum eine Rolle gespielt [159].
3.2. Numismatisches
Denkt man die geschilderte Methode mit der im 2. Kapitel dargestellten philologischen Theorie zusammen, wirken Nietzsches
Texte nun weniger widersprüchlich. Nietzsches Genealogie steht in engem Zusammenhang mit seiner Analyse abendländischer,
platonisch-christlicher Allegorese und Dogmatik. Sie ist kritisches Instrument zur Entzifferung des historisch verfälschten
Textes:
Die Kirche hat nie den guten Willen gehabt, das neue Testament zu verstehen: sie hat sich mit ihm beweisen wollen. […] Es
bedurfte erst des neunzehnten Jahrhunderts […] um einige der vorläufigsten Bedingungen wieder zu gewinnen, um das Buch
als Buch (und nicht als Wahrheit) zu lesen, um diese Geschichte nicht als heilige Geschichte, sondern als eine Teufelei von Fabel,
Zurechtmachung, Fälschung, Palimpsest, Wirrwarr, kurz als Realität wieder zu erkennen … […] Was hilft alle wissenschaftliche
Erziehung, alle Kritik und Hermeneutik , wenn ein solcher Widersinn von Bibel-Auslegung wie ihn die Kirche aufrecht erhält,
noch nicht die Schamröthe zur Leibfarbe gemacht hat? (VIII 11[302]; Kursivierung von mir)
Page: 0102
Kritik und Hermeneutik allein – man beachte ihre Zusammengehörigkeit – sind nicht genug, wenn es an intellektueller Redlichkeit
In der zitierten Notiz wird jedoch bereits über bibelkritische Fragen hinausgegangen. Wie auch an anderen Stellen gezeigt
werden wird, verbirgt der Angriff auf die Theologie zumeist grundlegendere Positionen. Nietzsches Argumentation hat die Form
eines Chiasmus: innen entsprechen sich die Begriffe der „Wahrheit“ und die „heilige Geschichte“, außen „das Buch als Buch“
und die „Fälschung“ usw. Die Aufforderung, das Buch, also die Bibel, „als Buch“ zu lesen, ist nicht nur eine Aussage über die
Heilige Schrift, sondern, durch die nähere Kennzeichnung seiner Eigenschaften, über das Buch als Buch im allgemeinen. Wenn
man die Bibel als heilige Geschichte liest, an der es nichts zu deuteln gibt, dann fasst man sie als geoffenbarte Wahrheit auf.
Liest man sie dagegen als ein Buch wie andere Bücher auch, verdächtigt man sie (dieser Verdacht müsste dann bewiesen oder
entkräftet werden), gefälscht, zurechtmacht, interpoliert worden zu sein. Ein Buch generaliter als Buch zu lesen heißt deshalb
nicht anderes, als es nicht als „Wahrheit“, sondern als „Realität“ aufzufassen. Nietzsche setzt den Begriff der „Realität“ offenbar
mit Fälschung, Verwirrung und Zurechtmachung gleich – und parallelisiert ihn dadurch dem Begriff des Buches als Buch.
Auf das Messen der Realität an den Eigenschaften des Buches wird zurückzukommen sein. Bei der Beschreibung sowohl des
Buches als auch der Realität ist der Wahrheitsaspekt jedenfalls irrelevant angesichts viel grundlegenderer textkritischer
Schwierigkeiten. Das bedeutet jedoch nicht, dass man in bestimmten Bereichen laut Nietzsche Dinge oder Umstände niemals als
zumindest vorläufig „wahr“ bezeichnen kann. Wenn der Philologe einen Text der Interpolation verdächtigt, so schwebt ihm ja
eine von Interpolationen freie Variante vor, die dem Archetypus näher kommt. In jenen Bereichen also, wo sich die strenge
Methodik praktizieren lässt, wo sie dem Untersuchungsgegenstand angemessen ist, lassen sich Fälschungen und
Zurechtmachungen noch aufdecken, guten Willen und entsprechendes Material vorausgesetzt. So heißt es bei Nietzsche
angesichts protestantischer Glaubensstreitigkeiten:
und doch wurde darüber die Welt in Flammen gesetzt, also über Meinungen, denen gar keine Dinge und Realitäten entsprechen;
während in Betreff von rein philologischen Fragen, zum Beispiel nach der Erklärung der Einsetzungs-Worte des Abendmahls,
doch wenigstens ein Streit erlaubt ist, weil hier die Wahrheit gesagt werden
Page: 0103
kann. Aber wo Nichts ist, da hat auch die Wahrheit ihr Recht verloren (VM 226., 2:481)
Dies ist nicht etwa eine Übertreibung aus Nietzsches angeblicher positivistischer Phase. Für Nietzsche gibt es auch im Spätwerk
die Möglichkeit, wissenschaftlich unabhängig von Interpretation und Subjektivität zu arbeiten, wie eine von der Forschung
übersehene Stelle aus Jenseits von Gut und Böse beweist. Die Gelehrten als die „eigentlich wissenschaftlichen Menschen“
können vielleicht wirklich ihre herrschenden Triebe überwinden (!) bzw. ihren Erkenntnistrieb wie „ein kleines unabhängiges
Uhrwerk, welches, gut aufgezogen, tapfer darauf los arbeitet, ohne dass die gesammten übrigen Triebe des Gelehrten
wesentlich dabei betheiligt sind“ betreiben, wobei es gleichgültig sei, wo die kleine „Maschine“ angeworfen wird. Das
unterscheide sie von den alles persönlich nehmenden Philosophen (JGB 1.6, 5:19f). Zwar ist Nietzsche nach wie vor der
Auffassung, dass über die ‚maschinelle‘ Methode hinausgegangen werden müsse, so wie die Recensio allein ja auch nicht weiter
führt. Aber die Notwendigkeit philosophischer und divinatorischer Schöpfung entlässt nicht aus dem Imperativ intellektueller
Redlichkeit, die sich von der eigenen Subjektivität emanzipiert [160].
Ein prominenter Gegenbegriff Nietzsches zur intellektuellen Redlichkeit ist der Begriff der Falschmünzerei. Es ist auffällig, dass er
in Kontexten Verwendung findet, die an die Beschwörung textkritischer Redlichkeit und Methode denken lassen. Auch er ist vor
allem den christlich-platonisch geprägten Weltbildern entgegengesetzt. Es sei daran erinnert, dass die Numismatik ein wichtiger
Bestandteil der philologischen Enzyklopädie war. Bernhardy behandelte die ausdrücklich so bezeichnete „Falschmünzerei“
(1832:389) in einem gesonderten numismatischen Kapitel zur philologischen Enzyklopädie. Droysen demonstriert die Leistung
der Echtheitskritik am Beispiel der Münzkunde, die wegen der vielen antiken Falschmünzereien unverzichtbar war (51967:102f).
Auch die Münzkunde wird den Kriterien historisch-kritischer Philologie unterzogen. Wer eine falsche Münze als echtes
Zahlungsmittel ausgibt, dient unter dem Deckmantel der Solvenz eigenen Zwecken. Das Zahlungsmittel selbst wird dabei
entwertet. Misstrauen gegenüber der gängigen Münze beschützt vor dem Betrogenwerden und hilft, wahre Motive
aufzudecken. Der Leichtgläubige ist der Betrogene; und wer nicht betrogen werden möchte, muss eine gesunde Skepsis
entwickeln und wissen, woran man Fälschungen erkennt. Die Beschaffenheit der Münze spielt naturgemäß eine wichtige Rolle.
Genaueste Analyse und Kritik sind, im übertragenen Sinn, das Prüfinstrument – und der Vergleich ihre bevorzugte Methode,
denn man muss viele Münzen gesehen haben, um ein einzelnes Exemplar beur
teilen zu können. In der Gegenüberstellung von echten und falschen Münzen, auf der Grundlage möglichst breiter
numismatischer Kenntnisse, kann der Experte den Wert bestimmen, so wie der Philologe durch systematische Recensio und, in
der höheren Kritik, durch Belesenheit wachsende Gewissheit erlangt.
Selbstverständlich gibt es daneben die Ahnungslosen, die mit Falschgeld handeln ohne es zu wissen: Nietzsche nennt sie
„‚unbewusste‘ Falschmünzer“; in der deutschen Geschichte kämen sie häufig vor. Gemeint sind die idealistischen Philosophen,
namentlich Fichte, Schelling, Schopenhauer, Hegel, aber selbst Kant und Leibniz. Diese „Schleiermacher“ sollen „nie die Ehre
haben, dass der erste rechtschaffne Geist in der Geschichte des Geistes, der Geist, in dem die Wahrheit zu Gericht kommt über
die Falschmünzerei von vier Jahrtausenden, mit dem deutschen Geiste in Eins gerechnet wird.“ – Nietzsche meint naturgemäß
sich selber (WA 3., 6:361). Warum gerade Schleiermacher in den Genuss des wenig originellen Namenwortspiels kommt, ist
leicht einzusehen. Halb Philosoph, halb Theologe, ist er Verbindungsmann zwischen bewussten und unbewussten
Falschmünzern und, besonders in seiner zweiten Rolle, derjenige, der das Kapital aus fragwürdiger theologischer Quelle unter
die Leute bringt. Schleiermachers Name war wegen seiner epochemachenden Übersetzungen für die Zeitgenossen und gerade
für Klassische Philologen natürlich untrennbar mit Platon verbunden. Schleiermacher wird schon in Menschliches ,
Allzumenschliches (I.132, 2:125) als Begründer der „sich frei nennende[n] Theologie“ seine Art und Weise psychologischer
Erklärung religiöser Phänomene vorgeworfen [161]. Die
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„Tatsachen“, auf die er sich stütze, seien nicht nachweisbar bzw. existierten gar nicht; er ersetzt ihn durch einen gut
verschleierten pneumatischen Sinn. Wo keine echte Münze zu holen ist, wird Falschgeld gedruckt. Und wo es am Text mangelt,
wird er eben zurechtgemacht bzw. aus billigem Material gefälscht. In den aphoristischen Büchern und im Spätwerk hat
Nietzsche es sich zur Aufgabe gemacht, numismatische Gutachten auszustellen. Sie fallen meist vernichtend aus.
Ein zuverlässiger Text ist die Ausnahme, selten wie reines Gold und feine Schmiedekunst. Die minderwertigen Legierungen sind
die Regel, bedenklich, wenn sie als echte Ware angepriesen werden. Nietzsche kontrastiert die Falschmünzerei der Theologen
und Philosophen mit ihrem gesteigerten Gegensatz. Die Philologie nämlich sei „Goldschmiedekunst“ des Wortes (M Vorrede 5.,
3:17). Der Text, dessen Eigenschaften und Bedeutungsumfang noch näher zu bestimmen ist, stellt keinen Fakt , sondern ein
Artefakt dar, zu dessen Herstellung viel Geduld und Könnerschaft nötig sind. Nicht zufällig kommt der Begriff der
Falschmünzerei bei Nietzsche zum ersten Mal in Zusammenhang mit seinen philologisch-literaturhistorischen Entdeckungen
über die textuellen Verfälschungen Demokrits vor [162]. Einen Hinweis darauf, dass es sich hier um eine philologische Denkfigur
handelt, liefert auch Karl Rosenkranz, der Nietzsche kaum bekannt gewesen sein dürfte. In der Einleitung zu seiner Ästhetik
des Hässlichen aus dem Jahr 1853 streicht er den komparativen Charakter seiner Unternehmung heraus (1990:18f). Die
deutsche Literaturgeschichte sei durch das „Zurechtmachen“ (ein Lieblingsausdruck auch Nietzsches) der Physiologie, etwa
durch das Verschweigen von Sexualität gekennzeichnet und „für Mädchenpensionate und höhere Töchterschulen schon ganz
kastriert“ worden. Dadurch sei „eine unglaubliche Falschmünzerei der Geschichte der Literatur in Gang gekommen, die auch
schon über die pädagogischen Rücksichten hinaus die Auffassung entstellt und durch höchst einseitig ausgewählte traditionelle
Blumenlesen unterstützt worden ist.“ (9). Rosenkranz war nach Ausbildung und wissenschaftlichen Interessen ein gediegener
Philologe und hatte u.a. bei Lachmann studiert.
Dass die Falschmünzerei beim späten Nietzsche im Kontrast zur Umwertung aller Werte steht, ist mehrfach aufgefallen
(ausführlich und fundiert z.B. Sommer, 2000:153ff). Man vergleiche dazu den Brief an Georg Brandes vom 23. Mai 1888:
Diese Wochen habe ich dazu benutzt, „Werthe umzuwerthen“. – Sie verstehen diesen Tropus? – Im Grunde ist der Goldmacher
die verdienstlichste Art Mensch, die es giebt: ich meine der, welcher aus Geringem, Verachtetem etwas Werthvolles und sogar
Gold macht. Dieser allein bereichert; die andern wechseln nur um. Meine Aufgabe ist ganz kurios dies Mal: ich habe mich
gefragt, was bisher von der Menschheit am besten gehaßt, gefürchtet, verachtet worden ist: – und daraus gerade habe ich
mein „Gold“ gemacht … (III.5: 317f)
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Nietzsches alchemistische Goldmacherei ist natürlich nicht notwendigerweise dasselbe wie die Goldschmiedekunst des Wortes
der Philologie. Auffällig ist aber die Geschlossenheit der Metaphorik; die Goldschmiedekunst wäre gewissermaßen der nächste
Schritt. Während die Falschmünzer das Wertvolle entwerten, wertet Nietzsches das Wertlose auf und veredelt es schließlich. Im
selben Brief heißt es gleich im Anschluss: „Daß man mir nur nicht Falschmünzerei vorwirft! Oder vielmehr; man wird es thun.“
Gerade der Redliche muss ständig neue Beweise für seine Redlichkeit erbringen. Die historisch-kritische Methode, sei es in der
Textphilologie oder der Numismatik, sie sei sogar übertragen auf metaphysisches Gebiet, garantiert für den späten Nietzsche in
ihrer kritisch-zersetzenden die Überwindung des Platonismus in jeglicher Gestalt. Textuelle Unzulänglichkeiten nicht nur
Jörg Salaquarda hat Schopenhauer und Nietzsche als die zwei zentralen Denker im Paradigmenwechsel des neunzehnten
Jahrhunderts identifiziert, die den Menschen nicht mehr vom Geist, sondern vom Körper her zu begreifen suchen. Dies habe
auch methodische Konsequenzen: bei beiden lasse sich der methodische Vorrang des Leibes begründen aus seiner
Unhintergehbarkeit, seiner Komplexität im Verhältnis zum Geist; hier liege die Ursache der methodischen Nähe zum
Materialismus der modernen Naturwissenschaften, für die sich beide lebhaft interessiert hätten – wobei sich der Leib aufgrund
seiner Komplexität gleichzeitig jeglichem platten mechanistischem Materialismus verweigere (1994:41) [163]. Die enge
Verbindung von Nietzsches Leibdenken zur Philologie hat Salaquarda nicht gesehen. Die Philologie erst liefert das eigentliche
Bindeglied zur Naturwissenschaft. In der Philologie steht der Text in seiner ganzen organischen Vielschichtigkeit als Soma der
Auslegung bzw. Erklärung im Mittelpunkt. Die kritische Philologie der Ritschl-Schule und Nietzsches Schriften selbst strotzen
deshalb vor einer medizinischen Metaphorik, die sich auf den Textleib bezieht. Wenn Nietzsche „aus Geringem, Verachtetem
etwas Werthvolles“ herstellen möchte, wie es im eben zitierten Brief an Brandes heißt, so beachte man zunächst, dass laut
Nietzsche vor allem der Leib gering und verachtet ist, und zwar seitdem der Gegensatz von Rom und Judäa auf die Seite der
christlichen Spiritualität aus
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schlug. Die Wiedergewinnung des Leibes wird in der Tat zu Nietzsches zentralem Philosophern. Er steht darin ganz in der
Tradition der Rehabilitierung der Sinnlichkeit des deutschen Organismusdenkens. Die Wiedergewinnung des Leibes stellt im
übertragenen Sinne aber auch die extreme Metamorphose der philologischen Textkritik dar, deren Weiterentwicklung mit dem
Aufkommen des Organismusdenkens aufs engste verflochten war [164]. Die Besinnung auf den Leib geht in Nietzsches
Auseinandersetzung mit der Textverfälschung oder Falschmünzerei mit einer Besinnung auf den Textleib und den somatischen
Sinn einher.
Wenn der Philologe einen ‚verdorbenen‘ Text verbessert, spricht er von ‚Heilung‘, spricht er davon, den Finger auf die Wunden
des verdorbenen Textes zu legen. Die Heilkunde liefert die Hintergrundmetapher des philologischen Selbstverständnisses
schlechthin. Bei F.A. Wolf heißt es bezeichnenderweise: „Es geht in der Kritik, wie in der Medicin. Da giebt es Aerzte, die immer
auf die Krankheit los curiren, von der sie eben lesen, oder sie haben eine Parthie Krankheiten, unter die sie alle bringen.“
(1831:329). Für Ritschl ist der Philologe und Textkritiker eine Art Chirurg, der aus dem Leib des Textes krankes Fleisch
wegschneidet und Wunden heilen lässt. Die Emendatio leitet sich ja etymologisch von der ‚Heilung‘ her. Der griechische kritikós
bzw. der lateinische criticus weisen noch in der Antike sowohl eine philologische wie medizinische Konnotation auf, und zwar im
Sinne von urteilender bzw. scheidender Funktion (vgl. HWP, Lemma „Kritik“, S. 1250f). „Es bleibt eine Wohltat, dass scharfe
Messer erfunden sind, wenn auch mit ihnen gelegentlich mancher Unfug getrieben und einige Unschuldige todtgestochen
werden.“, so Ritschl (1879:27). Sein bekannter Schüler Franz Bücheler argumentiert ähnlich. Weil sich die klassische Philologie
als Disziplin ständig erweitere, müsse die methodische Grundlage, nämlich Hermeneutik und Kritik, wieder stärker betont
werden. Hermeneutik und Kritik, obschon in der Theorie getrennt, seien doch in Wahrheit eins. Ritschl sei der virtuose Meister
der (Text-)Kritik (1878:5ff). Diese Art von Kritik ist letztlich Maß aller Dinge, denn sie sei „dem menschlichen Geiste, was
Gesundheit dem Leibe“ (26), besonders schlagkräftig deshalb, weil sie ja, auch wenn sie gelegentlich über ihr Ziel hinausschießt,
als ihr eigenes „Correctiv“ sofort wieder selbst dem „Gesetz der Kritik“ unterworfen ist (ebd.) [165].
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Nietzsche empfiehlt den Studenten in seiner Encyklopädie in erster Linie methodisches Studium, jeden Tag solle man sich hierin
üben „wie der Mediciner an seinem cadaver“. Als Vorbilder nennt er Bentley, Wolf, Hermann und immer wieder vor allem Ritschl
(KGW II.3:388f). Nun klingt Nietzsches kryptische Devise, Philologie und Medizin seien gemeinsam die Gegnerinnen allen
Aberglaubens (AC 47, 6:226), noch weniger überraschend – und die oben beschriebene Verbindung zur alexandrinischen
Schule leuchtet noch mehr ein. Man sei nicht „Philolog und Arzt“, ohne nicht zugleich Gegner des Christentums zu sein: „Als
Philolog schaut man nämlich hinter die ‚heiligen Bücher‘, als Arzt hinter die physiologische Verkommenheit des typischen
Christen. Der Arzt sagt ‚unheilbar‘, der Philolog ‚Schwindel‘…“ (ebd.). Der Philologe ist gleichsam Anatom des Geistes. So wie es
dem Priester an grundlegenden physiologischen Kenntnissen mangelt und seine Ratschläge zur Leib- und Lebensführung
deshalb wenig förderlich bis schädlich sind, ist der Theologe ein schlechter Leser und Denker, weil er die Leiblichkeit des
Gedankens, die sich in der Verfassung des Textes niederschlägt, missachtet. Ein guter Arzt ist mehr als ein versierter Anatom,
aber ein Arzt kann nichts taugen ohne anatomische Kenntnisse – schon in seiner enzyklopädischen Vorlesung streicht
Nietzsche heraus, dass Anatomie und Medizin in Alexandria gleichzeitig mit Grammatik und Kritik entstanden seien (KGW
Im Spätwerk hat Nietzsche auf dergleichen philologisch-chirurgische Schulung höchsten Wert gelegt. Der ‚Arzt der Kultur‘ aus
der Frühzeit, der sich gegen die Dekadenz des modernen Lebens richtet, scheint wiederbelebt zu werden: „Hier Arzt sein, hier
unerbittlich sein, hier das Messer führen – das gehört zu uns, das ist unsre Art Menschenliebe“ (AC 7, 6:174). Die
medizinischphysiologische Metaphorik ist ferner in der Fröhlichen Wissenschaft und der Götzen-Dämmerung besonders
auffällig, aber nicht nur hier. In immer neuen Variationen ermahnt Nietzsche die Philosophen der Zukunft, Kritiker und
Experimentatoren zu sein – als Vorlage dient der experimentell vorgehende Textkritiker. Wenn die kritische Wissenschaft als
Werkzeug begriffen wird, kann sie die Philosophen der Zukunft geradezu auszeichnen. Der (philologisch geschulte)
philosophische Kritiker ist der gesteigerte, weil methodisch gefestigte Skeptiker:
Es ist kein Zweifel: diese Kommenden werden am wenigsten jener ernsten und nicht unbedenklichen Eigenschaften entrathen
dürfen, welche den Kritiker vom Skeptiker abheben, ich meine die Sicherheit der Werthmaasse, die bewusste Handhabung einer
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Einheit von Methode, den gewitzten Muth, das Alleinstehn und Sich-verantwortenkönnen; ja, sie gestehen bei sich eine Lust am
Neinsagen und Zergliedern und eine gewisse besonnene Grausamkeit zu, welche das Messer sicher und fein zu führen weiss,
auch noch, wenn das Herz blutet. (JGB 6.210, 5:142ff) [167]
Das Gegenteil dieser medizinischen technē der Heilung des (Text-)Leibes ist seine Tötung, oder schlimmer – seine
Vergewaltigung. Nietzsche hat die Vergewaltigung, wie eingangs geschildert, mit der Interpretation gleichgesetzt. Zum Wesen
der Interpretation gehöre das „Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen“
(GM III.24, 5:400). Das Umfälschen soll an die numismatischen Tricks der Allegoriker erinnern. Das vergewaltigende Wesen der
Interpretation bezieht sich angesichts einer Fülle von Indizien in Nietzsches Werkkontext auf den achtlosen oder brutalen
Umgang mit (Text-)Leiblichkeit und steht im Gegensatz zum medizinisch-philologischen Eingriff in heilender Absicht.
Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen und Ausdichten: es sind keine zufälligen Begriffe, mit denen Nietzsche die
Interpretation charakterisiert, sondern die eingedeutschten Begriffe für die verschiedenen Kategorien von Textkorruptionen
[168]! Das Wesen der Interpretation liegt in der Missachtung des Textleibes.
Um Phänomene erklären zu können, so wollte es die philologische Theorie, bedarf es des Zusammenspiels von Hermeneutik
bzw. interpretatio und Kritik. Wenn Kritik aber nicht möglich ist, sei es nun dem Unvermögen des Erklärers oder der
Schwierigkeit des Gegenstandes geschuldet, bleibt die Interpretation unkontrolliert. Folglich verfälscht und vergewaltigt sie ihren
Gegenstand, das zu Interpretierende. Interpretation als Vergewaltigung findet immer dann statt, wenn, erstens, Recensio (und
Emendatio) gar nicht erst gewollt sind, wie in der böswilligen Absicht des Falschmünzers; wenn, zweitens, nicht genügend
Textzeugen vorliegen oder wenn, drittens, eine Recensio des Forschungsgegenstandes selbst bei strengster Redlichkeit die
Kräfte des einzelnen Menschen übersteigt. Textualität und Textverfasstheit sind daher methodischer Prüfstein jeder
Philosophie.
Es sei hier ein Exkurs in Goethes Dichtung und Wahrheit angefügt, einem Werk, das nicht allein von Bedeutung ist, weil
Nietzscheimmer wieder darauf zurückgriff, sondern weil hier die Wolfsche Philologie von einer Seite beleuchtet wird,
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die Nietzsches eigene Position klarer hervortreten lässt. Die Stelle, um die es sich handelt, wird – und das ist nicht uninteressant
– schon in Bernhardys Enzyklopädie als Einleitung zum Abschnitt über Hermeneutik und Kritik zitiert (vgl. 1832:56). Im Kontext
der Auseinandersetzung mit der Bibelkritik beschreibt Goethe seine „Grundmeinung“, wonach es bei aller Überlieferung „auf
das Innere, den Sinn, die Richtung des Werks“ ankomme. Dieser quasi göttliche Kern sei unverwüstlich; Zeit und äußere
Einwirkung könne ihm nicht mehr anhaben „als die Krankheit des Körpers einer wohlgebildeten Seele“. Diese medizinische
Metaphorik wird ganz im Wolfschen Sinne auf den Prozess der Exegese übertragen:
So sei nun Sprache, Dialekt, Eigentümlichkeit, Stil und zuletzt die Schrift als Körper eines jeden geistigen Werks anzusehn;
dieser, zwar nah genug mit dem Innern verwandt, sei jedoch der Verschlimmerung, dem Verderbnis ausgesetzt: wie denn
überhaupt keine Überlieferung ihrer Natur nach ganz rein gegeben und, wenn sie auch rein gegeben würde, in der Folge
jederzeit vollkommen verständlich sein könnte, jenes wegen Unzulänglichkeit der Organe, durch welche überliefert wird, dieses
wegen des Unterschieds der Zeiten, der Orte, besonders aber wegen der Verschiedenheit menschlicher Fähigkeiten und
Denkweisen; weshalb denn ja auch die Ausleger sich niemals vergleichen werden.
Nun bestehe die eigentliche Aufgabe darin, so Goethe, das „Innere“ der Schrift zu erforschen „und dabei vor allen Dingen zu
erwägen, wie sie sich zu unserm eignen Innern verhalte, und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige erregt und
befruchtet werde“. Das unwesentliche Äußere könne man dagegen getrost der Kritik überlassen. Goethe unterscheidet freilich
Die Unfruchtbarkeit bloßer Kritik hatte Nietzsche, nicht zuletzt von Goethe inspiriert, in seiner Jugend angeprangert. Nun aber
ist er über ihn hinausgegangen. Das Innere einer Überlieferung lässt sich von seiner körperlichen Basis nicht mehr trennen.
Eine Schrift kann nur dann befruchten, wenn sie selbst ‚gesund‘ ist, denn sonst wirkt sie ansteckend und überträgt ihre
Krankheit auf die Verfassung des auslegenden Geistes. Was Goethe an anderer Stelle bemerkt hatte, dass nämlich die Wolfsche
Kritik auf religiöse Schriften angewendet nur schädlich und zerstörerisch wirke, während große Poesie davon profitiere und
letztlich intakt bleibe [169], spricht nurmehr für sie. Auf den synthetischen Ansatz bzw. das endgültige Ziel, aus der Lektüre
nämlich Anleitung zum eigenen Handeln zu gewinnen, muss damit nicht verzichtet werden. Ohne intellektuelle Redlichkeit aber
ist es nichts wert.
Im Kapitel „Von den Hinterweltlern“ im ersten Teil des Zarathustra hat Nietzsche ein kritisches und wenig verhülltes
Selbstporträt seines jugendlichen alter
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ego gezeichnet [170]: „Einst warf auch Zarathustra seinen Wahn jenseits des Menschen, gleich allen Hinterweltlern. Eines
leidenden und zerquälten Gottes Werk schien mir da die Welt.“ Der Dionysos der Tragödienschrift ist eine hinterweltlerische,
also letztlich unbewiesene platonische Idealisierung. Die landläufige Auffassung, wonach Nietzsche mit dem Zarathustra wieder
zu Positionen der Jugendzeit zurückkehre, könnte ungereimter nicht sein. Die Erfindung der Welt als Traum und „trunkne Lust“
des Dionysos, als das Wegsehn vom eigenen Leiden, wird hier als „Wahn“ dem „Wahnsinn“ jeglicher menschlicher Erfindung
gleich welcher Götter angeprangert. Nicht aus dem Jenseits kam die Idee des Dionysos, sondern sie entsprang dem Leiden
Zarathustras an der Welt selbst: „Der Leib war's, der am Leibe verzweifelte“, der an der Erde (ver-)zweifelte und sich zum
Troste eine Hinterwelt erfand. Gegen die Kranken und absterbenden Leibverächter, die das Himmlische erfanden, um dorthin
aus ihrem Elend zu fliehen – die Religion und Allegorese des Dionysos macht keine Ausnahme –, setzt er den Sinn für die Erde
und den gesunden Leib. Über die Dichter und Gottsüchtigen, meist „krankhaftes Volk“, wird der Erkennende und seine Tugend
der Redlichkeit erhoben: „Redlicher redet und reiner der gesunde Leib, der vollkommene und rechtwinklige: und er redet vom
Sinn der Erde.“ (KSA 4: 35ff)
Die typische Schlusskadenz, mit ihren rhythmischen Anleihen bei der Asklepiadeischen Odenstrophe (wie Hölderlin sie gern
verwendete) macht schon formal die neue Zielrichtung deutlich: so wie der Gedanke von der Form sich nicht trennen lässt, ist
jede Philosophie Symptom der leiblichen Verfasstheit, die sie erzeugte [171]. Das Innere, den ‚Geist‘ einer Philosophie, einer
Schrift, eines Menschen von seinem Äußeren, seinem Leib zu trennen, ist unredlich. Kritik muss sich immer auf das Ganze
erstrecken. Jede Annahme einer abstrakten Seele führt über die Allegorese unweigerlich zur fragwürdigen Annahme einer
Hinterwelt. Der nüchterne Ausdruck Nietzsches für den „Sinn der Erde“ außerhalb des Zarathustra lautet: Sinn für das
Tatsächliche bzw. Tatsachensinn. Mit seiner Hilfe wird die genealogische Methode erst eigentlich produktiv.
3.4. Tatsachensinn: Domänen der Genealogie
Die Methodik der philologischen Textkritik wurde wissenschaftshistorisch in dem Moment angreifbar, als sie es mit Fällen zu tun
bekam, in denen kein
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umfangreiches Corpus an Handschriften mehr vorlag, auf dessen Grundlage man verlässliche Texte herstellen konnte. Hier
handelt es sich um eine Bruchstelle in der Geschichte des neuzeitlichen Textbegriffs, die heute in Vergessenheit geraten ist.
Seitdem die philologische Forschung vor allem mit mediävistischen oder neuphilologischen Forschungen assoziiert wird, mit
einer Editionstechnik auf der Grundlage entweder sehr dürftiger oder aber überreicher Überlieferung (handschriflich oder gar
gedruckt), hat der Text einen neuen, autonomeren Status erlangt als noch für die Klassische Philologie zu Nietzsches Zeiten.
Der Text, als Begriff der Antike unbekannt, bezeichnete anfangs den Gegenstand selbst, das Buch, die ausgeschmückte Bibel
als Schriftträger. Er ist Fachterminus der liturgischen Tradition. Erst mit der Reformation und ihrem neuen Gewicht auf der
Exegese wird der Begriff ganz zur reinen Schriftlichkeit abstrahiert. Max Scherner (1996), der den besten neueren Überblick
zur Begriffsentwicklung vorgelegt hat, konzentriert sich auf die hermeneutische Tradition, die den Text schon immer als etwas
Gegebenes, Auszulegendes ansieht. Die Anerkennung einer eigenen kritischen Tradition in der Begriffsgeschichte, nach welcher
der Text als etwas Herzustellendes gilt, steht noch aus. Diese Tradition aber ist, wie gezeigt worden ist, die entscheidende für
Nietzsche und bestimmt seinen Gebrauch des Wortes.
Zu einem hergestellen Text gibt es auch einen Hersteller. Der Editor erwirbt Autorrechte. Ein kurioser philologischer Rechtsfall
mag dies verdeutlichen. Karl Lachmann selbst, der konsequenteste Verteidiger einer interpretationsfreien Recensio, hatte
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elle Redlichkeit und Strenge wurde der Recensio zum Verhängnis. Vor allem in der Version Ritschls ist diese Tradition der
Textkritik gewiss nie so naiv gewesen wie gern angenommen (z.B. Brenner, 1998:275f), sondern wusste im Gegenteil, dass
aller angestrebten Zurückhaltung der Persönlichkeit zum Trotz der Editor selbst eine Art Künstler ist, dem Anerkennung für
seine Leistung gebührt.
Der herzustellende Text als Kern der historisch-kritischen Philologie beruht weiter auf der Einsicht in die theoretische
Unendlichkeit ihrer Aufgabe. Einer der wichtigsten Unterschiede der neuzeitlichen Philologie zur Theologie lautete, dass Texte nie
für alle Zeiten gesichert, nie alle Schäden geheilt seien (vgl. Birt, 1913:164) [173]; hier radikalisierte sie die Bibelkritik. Statt einen
heiligen Text für alle Zeiten wiederzugewinnen, bleibt für die Philologie die Reinigung und Erhaltung der Texte immer Prozess.
Nicht-sakrale Texte überleben nur, wenn an ihnen immer wieder kritisch gearbeitet wird: dies schließt die Auslegung und
Kommentierung auf textkritischer Grundlage ein. Schon die Kategorie des Archetypus als Ziel philologischer Arbeit im Kontrast
zum eigentlichen Original zeigt, dass der sog. Lachmannschen Methode von vornherein eine textgenetische Matrix
zugrundeliegt. Nietzsche argumentierte überraschend modern gegen den Ausschluss von Wiederholungen bzw. Varianten und
Lesarten aus dem textkritischen Verfahren:
Man muß sich ja überhaupt bescheiden, in der Theogniskritik die echten Lesarten oder die echten Gedankenfolgen wieder
herzustellen; was aber erreicht werden kann, ein deutliches Bild der letzten Redaction, ihrer Zwecke, ihres Textverfahrens, das
verbietet diese Wiederholungen gering zu achten; vielmehr dürften die nachfolgenden Ausführungen zeigen, wie man sogar
von besagten Wiederholungen ausgehen muß, wenn man über jene Redaction und ihre Ziele sich belehren will. [174]
Der springende Punkt ist hierbei, dass Nietzsche als Textkritiker sich selbst wiederum kritisch mit dem ursprünglichen Redaktor
der Theognis-Spruchsammlung auseinandersetzt, der seiner Auffassung nach ein schlechter Philologe ist. Er beschuldigt ihn,
Theognis lediglich zu parodieren, um ihn als Lebemann, Trinker, Päderast u. dergl. darstellen zu können. Der Redaktor stellt die
Texte des The
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ognis aus moralischen Gründen auf unzulässige Weise verfälschend zusammen, weil er ihn moralisch-pädagogisch
kompromittieren wollte (179); um ihm zu schaden, sammelte er Parodien auf ihn (185). Aufgrund der dürftigen Quellenlage zu
Theognis, so Nietzsche, sind schon die Alexandriner auf Schlüsse aus den Dichtungen selbst angewiesen, um überhaupt
Anhaltspunkte zu Theognis' Leben zu haben.
Die Schwierigkeiten der textkritischen Arbeit potenzieren sich bis ins Unendliche, wenn ihre Methode als Vorbild
wissenschaftlicher Analyse auf andere Bereiche übertragen wird, wenn also z.B. die Kultur, der Mensch selbst oder gar die
Natur metaphorisch als ‚Text‘ angesehen wird, den es zu erklären gilt. Die Komplexität dieser Objekte macht redliche Arbeit so
gut wie unmöglich und lässt philologische Akribie nur eingeschränkt zu. Nietzsche unterscheidet deshalb vier Domänen nach
Maßgabe ihrer Erklärbarkeit, d.h. nach dem Status ihrer Textualisierbarkeit. Die scheinbare Widersprüchlichkeit von Nietzsches
Aussagen zur Interpretation kommt dadurch zustande, dass diese Differenzierung nicht wahrgenommen wurde. Bei den vier
Domänen handelt es sich um (1) schriftliche Überlieferungen, (2) menschliche Kultur und Gesellschaft im weitesten Sinne, (3)
die „Thatsache Mensch“ (WA Vorwort, 6:12) sowie (4) die ‚Natur‘, d.h. das außerhalb des Menschen liegende Objekt der (Natur-
)Wissenschaften.
Die Schwierigkeiten beim philologischen Umgang mit schriftlich überlieferten Texten – dem Modellfall von Erklärung und
Auslegung schlechthin – wurden bereits genannt. Sie werden dann von allgemeinem, d.h. über die Wissenschaft
hinausgehendem Interesse, wenn sie bei Texten auftreten, an denen sich eine Kultur oder Gesellschaft ausrichtet, namentlich
Die Zeit ist fern, wo auch ich, gleich jedem jungen Gelehrten, mit der klugen Langsamkeit eines raffinirten Philologen das Werk
des unvergleichlichen Strauss auskostete. Damals war ich zwanzig Jahre alt: jetzt bin ich zu ernst dafür. Was gehen mich die
Widersprüche der „Überlieferung“ an? Wie kann man Heiligen-Legenden überhaupt „Überlieferung“ nennen! Die Geschichten
von Heiligen sind die zweideutigste Litteratur, die es überhaupt giebt: auf sie die wissenschaftliche Methode anwenden, wenn
sonst keine Urkunden vorliegen, scheint mir von vornherein verurtheilt – blosser gelehrter Müssiggang … (AC 28, 6:199)
Während über die mit alexandrinischer Methodik redlich behandelten Überlieferungen oder aber über kleine rein sprachliche
Schwierigkeiten der Bibel meist die „Wahrheit gesagt werden kann“ (s.o.), ist der Textstand der Heiligen Schrift notorisch
unzuverlässig, da er von unredlichen Verfassern und Redaktoren stammt, die, allen wissenschaftlichen Prinzipien zum Hohn,
unverhohlen ihre eigenen Zwecke verfolgen und, wie der Redaktor des Theognis, auf moralische Einflussnahme zielen. Der Fall
Jesus kommt der unlösbaren Aufgabe gleich, vor die sich
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die Philologie angesichts eines codex unicus gestellt sieht, einer singulären Überlieferung, die eine Recensio unmöglich macht
[175].
Das Lob David Friedrich Strauss' wird jeden Leser der ersten Unzeitgemässen überraschen. Es ist wohl kaum eine
Entschuldigung gegenüber Strauss (so z.B. Thouard, 2000 – der das Zitat verkürzt und ausgerechnet den entscheidenden
textkritischen Passus fortlässt). Die Ironie, die darin mitschwingt, ist vor allem Selbstironie gegenüber dem eigenen jungen
Selbst [176]. Sie kommentiert eine Erkenntnis, zu der Nietzsche erst in seinem langsamen Lösungsprozess von der
akademischen Philologie gelangte, dass die ‚Methode‘ nämlich so universal und intersubjektiv nicht anwendbar ist, wie sie selbst
von sich glaubte. Ein geschickter Falschmünzer, der, philologisch geschult, es darauf anlegt, kann nachfolgenden Generationen
die redliche Erklärung unmöglich machen. Wo ein Text nicht mehr philologisch erstellt werden kann, ist der Erklärer auf
psychologische Divination zurückverwiesen. Der weiteren Zurechtmachung und Vergewaltigung sind damit Tür und Tor
geöffnet, da nur wenige Ausnahmepersonen jene intellektuelle Rechtschaffenheit aufbringen, deren Abwesenheit den Besitz der
erforderlichen divinatorischen Kraft wertlos macht.
Das Zitat enthält, wie der vorhergehende und der folgende Aphorismus zeigen, eine Anspielung auf Ernest Renan. Der gesamte
Antichrist ist, wie die neuere Forschung demonstriert hat, als Kommentar zu und Auseinandersetzung mit Renan zu lesen
[177], bisweilen sogar als Nietzsches eigenes „Leben Jesu“ in Antwort auf Strauss' gleichnamiges Werk sowie Renans La Vie
de Jésus (Thouard, 2000). So kritisiert Nietzsche gleich nach dem zweischneidigen Lob Strauss' die
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mangelhaften psychologischen, d.h. divinatorischen Fähigkeiten Renans, dem es angesichts der fehlerhaften Überlieferung nicht
gelinge, eine angemessene „Erklärung“ (!) des Typus Jesus zu erarbeiten (AC 29, 6:199f). Der Grund für die heftige
Auseinandersetzung Nietzsches mit Renan liegt nicht gleich auf der Hand. Lange suchen muss man ihn freilich nicht. Im
gesamten Antichrist – ein Echo auf ein Buch Renans desselben Titels (L'Antéchrist von 1873) – steht die Verfälschung der
Überlieferung durch die Priester, etwa die Verfälschung der Geschichte Israels und des Alten Testaments auf der Anklagebank.
Renan ist der Widergänger jener Priester, das Urbild des schlechten Philologen, von dem sich Nietzsche unterscheiden will. Die
Insistenz auf der ‚guten Philologie‘ im Antichrist hat genau diese Funktion. Renan ist eine Inkarnation des Paulus, die es mit
denselben Waffen wie jenen, nämlich denen der Wissenschaft zu bekämpfen gilt. In einem Nachlassfragment, das sich mit der
Psychologie des Paulus, den Kirchenvätern sowie mit der Jesus-Auffassung Renans auseinandersetzt, heißt es
bezeichnenderweise:
Alle diese heiligen Epileptiker und Gesichte-Seher besaßen nicht ein Tausendstel von jener Rechtschaffenheit der Selbstcritik, mit
der heute ein Philologe einen Text liest oder ein historisches Ereigniß auf seine Wahrheit prüft … [Absatz] es sind, im Vergleich
zu uns , moralische Cretins … (VIII 14[57]; Kursivierung von mir).
Renans Jesusbuch sowie seine anderen Schriften aus der Reihe zur Histoire des Origines du Christianisme erfüllten ja dem
Anschein nach alle Forderungen des jungen Nietzsche. Sie gaben sich wie die Tragödienschrift als dichterische Geschichte mit
wissenschaftlichem Anspruch, als Kunst auf dem Boden harter Kritik. Auch Renans Reflexionen über das Wesen der
Wissenschaft werden anfangs von der Philologie bestimmt; selbst das Motiv des Fabrikarbeiters findet sich bei ihm (vgl.
Barbera/Campioni, 1984). Nietzsches Antichrist und Renans Werk stammten offensichtlich aus derselben Tradition der
historisch-kritischen Philologie und Bibelkritik sowie der Erforschung des Ursprungs des Christentums. Nach Ausbildung und
Forschungserfahrung war auch Renan Philologe [178]. Renans voluminöse Bände beginnen stets mit Quellenkritik, die dem
Ausweis der Wissenschaftlichkeit der nachfolgenden Erzählung dienen soll. Dem oberflächlichen Betrachter musste Nietzsche
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im Antichrist deshalb als bloßer Epigone des Franzosen erscheinen – so wie er ja wenige Jahre zuvor im Anschluss an Paul Rée
als Epigone und Popularisierer der englischen Moralphilosophie gegolten hatte. Nietzsche konnte sich seinem Antipoden jedoch
ferner nicht fühlen. Die Angst vor der Verwechslung wird spätestens seit dem Bruch mit Wagner zu einem Grundzug seines
Denkens und Schreibens, und zwar mit einiger Berechti
Page: 0117
gung: selbst ein Georg Brandes wird Nietzsche mit Renan vergleichen [179]. Gegen Renans unzureichende Wissenschaft setzt
Nietzsche deshalb mit Nachdruck die strengeren methodischen Anforderungen der Bonner Schule.
Renan kennt das Ergebnis seiner Untersuchungen immer schon vorher: Jesus soll bei ihm durch den Genie- und Heldenbegriff
des neunzehnten Jahrhunderts erklärbar sein – was nebenbei auch Nietzsches Solidarisierung mit Strauss erklärt: Strauss ging
es noch, wie Nietzsche, um Demystifizierung der Jesusfigur, nicht um ihre Verherrlichung. In Renans Sammelwerk
Philosophische Dialoge und Fragmente , das Nietzsche in der deutschen Übersetzung Zdekauers von 1877 sehr genau
durchgearbeitet hatte, tritt entsprechend ein Autor zutage, der den Gottesbegriff mit moderner Wissenschaft zu vereinbaren
sucht. Neuzeitliche Physik und Chemie vertragen sich als Wissenschaften offenbar ohne weiteres mit religiösem Gedankengut.
Der Essay „Die Naturwissenschaften und die historischen Wissenschaften“ (S. 113–140) verlangt die induktive, positivistische
Methode auch für die Geschichtswissenschaft. Renans Wissenschaftsgläubigkeit ersetzt die Theologie nicht, sondern bestärkt
sie: absoluter Fortschritt in der Wissenschaft wird gleichbedeutend mit dem absoluten Zustand Gottes. In hegelianischer
Denkfigur wird der Mensch zum Werkzeug der Natur, damit diese sich selbst erkenne und auf diese Weise zur absoluten
Herrschaft des Geistes fortschreite (bes. S. 134ff). Renan musste auf Nietzsche als durch die deutsche Metaphysik noch weiter
als ohnehin schon durch das Christentum verdorbener theologischer Schriftsteller erscheinen: „Was wir in allen Fällen
behaupten können das ist, daß die schließliche Auferstehung sich durch die Wissenschaft vollziehen wird“ (Renan, 1877:139).
Ausdrücklich gegen Renan gerichtet heißt es deshalb bei Nietzsche: „Was hilft alle Freigeisterei, Modernität, Spötterei und
Wendehals-Geschmeidigkeit, wenn man mit seinen Eingeweiden Christ, Katholik und sogar Priester geblieben ist!“ (GD
Streifzüge 2, 6:111f).
Nietzsche gesteht Renan durchaus Wissenschaftlichkeit zu, kritisiert aber ihren Missbrauch für christliche Zwecke [180]. Der
Missbrauch unterscheidet sich von einer Instrumentalisierung oder Nutzung der Wissenschaft, wie sie Nietzsche selbst
vorschwebte, dadurch, dass sie in den Dienst der Allegorese gestellt und damit ad absurdum geführt wird. Wenn Nietzsche
Renan als unmännlich, gar als Eunuchen darstellt (GM III.26, 5:406f) hat dies also System: diese Eigenschaft
Page: 0118
gehört im Antichrist zu den schlechten Philologen, die zwar die wissenschaftliche Methode schlecht und recht zu handhaben
wissen, aber ihren ungesundunheilvollen Zwecken unterordnen. Für Texte aller Art, besonders für die zweideutige Literatur der
Heiligenlegenden benötige man dagegen gute Philologie. Die Funktion der Feier der Philologie im Antichrist liegt vor allem darin,
Renan auf dessen eigenen Prämissen zu begegnen und ihn durch ihre Widerlegung zu kompromittieren. Die Wolfsche und
Ritschlsche Tradition der Philologie gestattet Nietzsche, sich gegenüber einer der Theologie dienenden Bibelkritik sowie gegen
die Exzesse des Positivismus gleichermaßen abzugrenzen. An den Methoden verraten sich auch die Absichten [181].
Sind schon bei schriftlich überlieferten Denkmälern, dem Metier des Philologen, die Problemlagen mangelnder Zeugen,
komplexer Sujets oder simplen bösen Willens unübersehbar, so potenzieren sich diese ins kaum noch Fassbare, wenn ganze
geschichtliche Epochen untersucht werden sollen. Es will bei der Beschäftigung mit historischen Ereignissen bedacht sein, dass
von redlicher Kritik nicht mehr die Rede sein kann, denn ein ‚Text‘, den man sachlich kommentieren dürfte, ist vom Einzelnen gar
nicht mehr herzustellen. Anlässlich seiner Renan-Lektüre äußert sich Nietzsche in einem Brief skeptisch gegenüber dessen
Optimismus, dass „Geschichte überhaupt möglich“ sei, da ja alles in steter Veränderung begriffen ist (an Overbeck, 23. Februar
1887, III.5:28). So spielt der Mangel an Philologie, der ein Mangel an Text ist, beispielsweise eine Rolle für die
Erklärungsgeschichte der Französischen Revolution, in der schon zu ihrer Zeit „die schwärmerischen Zuschauer von ganz
Europa aus der Ferne her so lange und so
Page: 0119
leidenschaftlich ihre eignen Empörungen und Begeisterungen hinein interpretirt haben, bis der Text unter der Interpretation
verschwand“. (JGB 2.38, 5:56). Die schwärmerische Auslegung der Revolution ist politische Theologie, denn sie allegorisiert
darin ihre eigenen Wunschvorstellungen, statt, wie es philologisch geboten wäre, kalt die Details zu analysieren. Die gesamte
Auslegung historischer und kultureller Phänomene leidet an der Unzuverlässigkeit eben jener textuellen Basis, die überdies
durch Interpretation zusätzlich vergewaltigt und verfälscht wird. Alle Historiker erzählen von Dingen, die nur in der Vorstellung
je existierten, da aus notwendigem Mangel an Kritik nur eine unkontrollierte Interpretation übrig bleibt:
Als Gegenprogramm entwirft Nietzsche in seinem optimistischen Neuanfang als freier Geist zunächst eine Art philologisch
geschulter Kulturhistorie. Die philologisch-komparatistische Methodik auf die Geschichte anzuwenden gehörte zu den logischen
Folgerungen aus den Grundsätzen der Bonner Schule. Bereits Ritschl hatte in seinen Vorlesungen dargelegt: „In der That ist
zwischen einer Lesart und einem historischen Verhältniss des Staats-, Religionslebens u. s. w. durchaus gar kein wesentlicher
Unterschied, beide sind Thatsachen, entweder klar und unverfälscht, oder verdunkelt und verdorben überliefert.“ (nach
Ribbeck, 1879, Bd. 1:329f) – einschränkend hatte Ritschl freilich hinzugefügt, dass in letzterem Falle Hypothesen zu Gebote
stünden, „die nur möglichst viel innere Wahrscheinlichkeit haben müssen.“ Ohne Urteilsvermögen und Divination geht es eben
auch hier nicht. Gegenüber der Konjunkturalkritik ist sogar ein erheblich gesteigertes Maß an schöpferischer Phantasie
vonnöten.
Schon früh ruft Nietzsche das „Zeitalter der Vergleichung“ aus (MA I.23, 2:44), das „eine alle bisherigen Grade übersteigende
Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele“ (MA I.25, 2:46) zur
Voraussetzung macht, um in Zukunft überhaupt noch moralische und allgemeine gesellschaftliche Fragen diskutieren zu
können. Ein immenses Projekt. Der ‚Arzt der Kultur‘, zu dem sich Nietzsche in dieser Zeit gern stilisiert, muss zunächst eine
umfangreiche Recensio liefern, ehe ans Emendieren, also Heilen dieser Kultur überhaupt zu denken ist. Hier wird die
philologische Attitüde bewusst angenommen, und zwar durchaus unter Verwendung philologischer Begrifflichkeit, die freilich in
den veröffentlichten Werken häufig wieder verschleiert wird. Die Hoffnung, kulturelle Phänomene gewissermaßen textlich
dingfest zu machen, ihnen eine materiale Gestalt zu verleihen, an welcher der Philologe seine Lesekünste und seine heilende
Kritik erproben könnte, lässt sich geraume Zeit
Page: 0120
lang beobachten. In Der Wanderer und sein Schatten beschreibt Nietzsche etwa den Kultus als einen „feste[n] Wort-Text“, der
im Laufe der Geschichte funktionell bestehen bleibt, aber immer wieder neu „ausgedeutet“ würde (KSA 2:587):
Man kann durch Vergleichung der Völker beweisen, daß dies hier als gut und dort als schlecht empfunden wird: aber der
Gegensatz selbst von „gut“ und „schlecht“ ist überall vorhanden: nur daß die Handlungen anders einrubriziert werden. (VII
7[75])
Nietzsches Arbeitswut kennt auf diesem Gebiet keine Grenzen und begleitet ihn durch seine gesamte intellektuelle Biographie.
Anlässlich des Verhältnisses von Buddhismus und Christentum äußert er den indischen Gelehrten gegenüber seine Dankbarkeit,
dass man beide jetzt vergleichen könne (AC 20, 6:186). Aus diesem philologischen Komparatismus stammt letztlich das
erstaunliche und erstaunlich frühe Interesse Nietzsches an der zeitgenössischen Ethnologie, das seit den siebziger Jahren
nachweisbar ist und intensive Beschäftigung mit völkerkundlichen Fragen schon des Basler Gelehrten zur Folge hat. Zu nennen
sind hier vor allem Ethnologen aus dem angelsächsischen Raum wie Edward Tylor und John Lubbock, aber auch deutsche
Kulturanthropologen wie Adolf Bastian [182]. Nietzsche arbeitet ferner solche Abhandlungen wie die rechtswissenschaftlichen
Darstellungen auf ethnologischer Grundlage eines Joseph Kohler, Das Recht als Kulturerscheinung , oder eines Albert Hermann
Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis , durch [183]. Zum ersten Mal
begegnet Nietzsche die vergleichende Ethnologie und Kulturanthropologie bei F.A. Lange, wie überhaupt fast alle nicht-
belletristischen Autoren, mit denen sich Nietzsche später am intensivsten auseinandersetzt, hier erstmalig in seiner
Lesebiographie auftauchen. Lange lobt die Arbeiten Humboldts, Bopps und Steinthals zur vergleichenden Sprachforschung.
Leider seien die wissenschaftlichen Reisen (gemeint ist ethnologische Feldforschung) aufgrund der Vorurteile der
Berichterstatter, „ihrem Rassenstolz und ihrer Unfähigkeit, sich in den Zusammenhang eines fremdartigen Kulturlebens oder in
die Denkweise niederer Kulturstufen hinein
Page: 0121
zuversetzen“ wenig ertragreich gewesen (Lange, 1974, Bd. 2:832f). Erst in jüngster Zeit habe sich dies gebessert, namentlich
werden Bastian sowie Lubbock und Tylor gelobt; letztere zitiert Lange immer wieder gern und ausgiebig.
Indes erweist sich für Nietzsche die Vorstellung, einen Text der Geschichte, der Kultur- und Moralvorstellungen etablieren zu
können, als schwierig, ja im Grunde unmöglich, nicht zuletzt da „in der gesamten Geschichte der Menschheit bisher kein Zweck,
keine vernünftige geheime Leitung, kein Instinkt, sondern Zufall, Zufall, Zufall“ gewirkt haben (V 1[63]). Nun hatte zwar schon
F.A. Wolf mit seinen Prolegomena ad Homerum bewiesen, dass man keinen einzelnen Autor und damit keine einheitliche intentio
auctoris zur Herstellung eines zuverlässigen Textes annehmen muss. Wer sollte dieser Autor der Geschichte auch sein? Für
Deskriptiv betrachtet sind die Moralen (Plural!) nur eine Zeichensprache der Affekte, eine Zeichensprache des individuellen
Leibes (VII 7[58] bzw. [268]). Alle Religionen und Philosophien sind folglich Symptome eines bestimmten leiblichen Befindens (VII
25[407]) [184]. Normativ bedeutet Moral den Versuch, den Fluss der Geschichte zu verfestigen: „Die Thatsache ist der ewige
Fluß. Der Staat bemüht sich, aus seinen Bürgern etwas von bleibendem Charakter zu machen, die Moral aus jedem Individuum
etwas Festes“ (V 4[35]). Die Begriffe Zeichen und Symptom benennen bei Nietzsche (nicht- bzw. vorsprachliche) ikonische
Beziehungen. Ihnen muss nachgespürt werden, um auf dem Grund der oberflächlichen Moralen den Archetypus
lebensbejahender und –fördernder Moral zu rekonstruieren [185]. Dieser Archetypus aber muss am Leib ausgerichtet sein, am
Page: 0122
Leib verstanden als eine Art Palimpsest, den es vorsichtig zu entziffern gilt [186]. Erst dann, nach dem Vergleich unzähliger
entzifferter Leib-Palimpseste, läge ein zur Auslegung geeigneter Text vor. Nur indem Nietzsche nach den leiblichen
Voraussetzungen von Kulturen fragt, kann er seinem von Beginn an verfolgten Ziel näherkommen, nämlich jene Bedingungen
zu isolieren, die zur Blüte der griechischen Kultur führten.
Wer daraus die Schlussfolgerung zöge, Nietzsche würde angesichts eines Arbeitspensums, das jegliche menschliche Kräfte
übersteigt, auf redliche Arbeit in der Domäne menschlicher Geschichte und Kultur verzichten, hätte ihn gründlich
missverstanden. Dies würde ja der Falschmünzerei und jeglicher unredlich motivierter Auslegung den Weg ebnen und bei den
zeitgenössischen Machtverhältnissen den Fortbestand des Christentums dauerhaft sichern. In den Notizbüchern kommt sein
philologischer Widerwille gegen unredliche Verfälschungen besonders deutlich zum Ausdruck. Folgendes Zitat wird nach der
Manuskriptedition wiedergegeben, die genauer als die verkürzende Entsprechung der KGW ist [187]:
Ebenso wie ein guter Philologe [(und überhaupt jeder philol. geschulte Gelehrte)] einen Widerwillen gegen falsche [Text-
]Ausdeutungen (zb. die der [protest.] Prediger auf den Kanzeln) hat [– weshalb die gelehrten Stände nicht mehr in die K. gehen
–], ebenso, und nicht in Folge großer „Tugend“ „Redlichkeit“ usw. geht einem die Falschmünzerei der [moral u. religiösen]
Interpretation aller Erlebnisse gegen den Geschmack. (N VII I S. 163).
Um dem Missverständnis vorzubeugen, die Einsicht in den interpretativen Charakter jeder Moralphilosophie begründe ihre
Beliebigkeit, besonders die Beliebigkeit ihrer Genese, prägt Nietzsche nun den Ausdruck „Thatsachen-Sinn“, der im publizierten
Werk zum ersten Mal (und zwar bereits in antimetaphysischer Funktion) im zweiten Band von Menschliches , Allzumenschliches
verwendet wird (VM 33, 2:395).
In der Fröhlichen Wissenschaft werden die Anhänger Schopenhauers dafür kritisiert – Nietzsche setzt sich dabei versteckt
nicht nur mit Wagner, sondern auch mit seinen eigenen frühen Positionen auseinander –, nur die wenig wertvollen Beiträge
Schopenhauers aufzugreifen, seine „mystischen Verlegenheiten und
Page: 0123
Ausflüchte“ dort, wo er sich „vom eitlen Triebe, der Enträthseler der Welt zu sein, verführen und verderben liess“ (FW 2.99,
3:453ff). Nietzsche nennt die metaphysische Lehre von dem einen Willen, der allen Erscheinungen zugrunde liege, nennt
Ideenlehre, Genieästhetik und Mitleidsmoral. Stattdessen hätten seine Anhänger lieber die voltairistischen Seiten Schopenhauers
wahrnehmen sollen, seinen „gute[n] Wille[n] zu Helligkeit und Vernunft“, die „Stärke seines intellectuellen Gewissens“, seine
„Reinlichkeit in Dingen der Kirche und des christlichen Gottes“, seine Erkenntnisse über das Apriori der Kausalität, „der
Werkzeug-Natur des Intellects und der Unfreiheit des Willens“ – kurz: seinen harten „Thatsachen-Sinn“ (ebd.). Der
Tatsachensinn, der als „der letzte und werthvollste aller Sinne“ in Griechenland entstanden sei (AC 59., 6:247ff), ging mit dem
Aufkommen des Christentums wieder zugrunde. Erst die Neuzeit vermochte ihn wiederzubeleben.
Der Tatsachensinn bezeichnet seit Nietzsches Abwendung von Wagner den Kontrast zu jeglichem Platonismus. Die eigentliche
Größe der Griechen habe darin gelegen, die menschliche Natur nicht verneint oder vernichtet, sondern in Kulten und Festen
beschränkt und kanalisiert zu haben. Ihr Staat ist auf menschliche Eigenschaften hin ausgerichtet und bezeugt ihre
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Beobachtungsgabe, ihren „Sinn für das Thatsächliche“, der sie eben auch zur Wissenschaft befähigte (IV 5[146]; vgl. VM 220,
2:473). Die Christen haben Sinn und Instinkt für wahre Dinge und Realitäten zerstört (AC 58, 6:246). Tatsachensinn ist die
Anerkennung der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in allen Domänen, die sich nicht auf Dinge an sich reduzieren lassen [188].
Tatsachensinn und Hinterweltlersinn schließen einander aus. So bezweifelt Nietzsche Schopenhauers Annahme eines
eingeborenen metaphysischen Bedürfnisses; dieses sei vielmehr umgekehrt erst aus der Religion erstanden, unter deren
Herrschaft man sich daran gewöhnt habe, eine andere Welt als die je existierende anzunehmen [189]. Der redliche Umgang mit
Tatsachen – Erscheinungen – lässt sich jedoch, und das ist entscheidend, nur anhand von Tatbeständen praktizieren.
Tatbestände sind textualisierte (also nicht notwendigerweise kausale) Zusammenhänge von Tatsachen, die von einem
beobachtenden Subjekt zum Zwecke ihrer Erklärung zusammenredigiert worden sind. Der Tatbestand ist die eigentlich
interessante Ebene zwischen nicht direkt erkennbarem factum brutum auf der einen und Interpretation auf der anderen Seite.
Die Tatsache der Erscheinung kann und muss gegen dogmatisch geleitete Auslegungen immer wieder ins Feld geführt werden.
Dieser Grundsatz gilt nicht nur für die nach Nietzsches Auffassung unproblematische Domäne schriftlicher Texte: für sie gibt es
ja, entsprechende Überlieferung vorausgesetzt, ausgebildete Philologen. Er gilt auch, wie gerade gezeigt, für die Domäne der
menschlichen Kultur und Gesellschaft. Schließlich gilt er ebenso für die grundlegendere und
Page: 0124
noch kompliziertere Domäne der menschlichen Psyche. Der Typus des Heiligen beispielsweise beziehe seinen Ruf nur daher,
dass man seine „Seelenzustände“ falsch auslege, seine Bedeutung liegt mithin im „Zeichencharakter“, den er für die Nicht-
Heiligen gewinnt. Er selbst versteht „die Schriftzüge seiner Stimmungen, Neigungen, Handlungen nach einer Kunst der
Interpretation, welche ebenso überspannt und künstlich [ist], wie die pneumatische Interpretation der Bibel.“ Statt zunächst
den Text zu etablieren, konstruiere er lieber gleich den pneumatischen doppelten Sinn. „Das Verschrobene und Kranke in seiner
Natur, mit ihrer Zusammenkopplung von geistiger Armuth, schlechtem Wissen, verdorbener Gesundheit, überreizten Nerven,
blieb seinem Blick ebenso wie dem seiner Beschauer verborgen.“ (MA I.143, 2:139). Es gibt noch keinen ‚Text‘ des Heiligentypus
– Nietzsche wird sich an einem solchen versuchen. Die herkömmliche Psychologie habe dagegen angesichts des
Menschentypus Heiliger versagt, indem sie moralische Wertgegensätze „in den Text und Thatbestand“ hineingedeutet habe.
Das scheinbar unerklärliche, allen psychologischen Grundannahmen widersprechende „Wunder“ verdankte sich nur einem
Mangel an Auslegungskunst und letztlich einem „Mangel an Philologie“ (JGB 3.47, 5:69).
Mangel an Philologie ist gewissermaßen der Normalfall und kann nur durch höchste Kraftanspannung und intellektuelle
Redlichkeit auf kurze Zeit gebannt werden. In der eigenen Person so wie in einem Text zu lesen ist nicht möglich, da kein Text
vorliegt [190]. Mag man auch ein noch so versierter Selbstbeobachter und -erkenner sein, so kann man doch die eigene
Triebstruktur, den Grundtext unserer Existenz, nie wirklich erfassen, wie Nietzsche in seinem wichtigen, die Psychoanalyse
vorwegnehmenden Aphorismus 119 in der Morgenröthe schreibt. Statt kritisch-philologisch gelesen zu werden, wird diese
Triebstruktur nurmehr platt interpretiert, am offensichtlichsten im Traum: Träume haben den Sinn, die ausbleibende Befriedigung
bestimmter Triebe zu kompensieren (bestimmte ‚moralische‘ Triebe lassen sich im Gegensatz zum Hunger auf diese Weise
befriedigen) und seien nichts als sehr freie und willkürliche Interpretationen der Nervenreize, „von Bewegungen des Blutes und
der Eingeweide, vom Druck des Armes und der Decken, von den Thönen der Thurmglocken, der Wetterhähne, der
Nachtschwärmer und anderer Dinge dieser Art. Dass dieser Text, der allgemein doch für eine Nacht wie für die andere sehr
ähnlich bleibt, so verschieden commentirt wird“ habe verschiedene Ursachen, jedenfalls sei immer ein anderer Trieb obenauf
(KSA 3:111–114). Das wache Leben habe zwar nicht diese Freiheit der Interpretation, aber der grundlegende Mechanismus sei
derselbe; unsere Triebe interpretieren auch im Wachen lediglich die Nervenreize und schreiben ihnen je nach Bedürfnis
bestimmte Ursachen zu. Nietzsches resignierte Schlussfolgerung lautet, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen
Wachen und Träumen gebe und dass ferner „selbst bei einer Vergleichung sehr verschiedener Culturstufen“
Page: 0125
die Freiheit der einen Interpretation im Wachen möglicherweise dem Traum-Erleben der Person einer anderen Kultur entspricht.
Alles Bewusstsein ist vielleicht „ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht
unwissbaren, aber gefühlten Text“.
Von hier ist es nur ein Schritt zu der Auffassung, dass auch die bewusste Auslegung der Welt sich an den Prozess der
unbewussten anlehnt, dass also alle Auslegung typischerweise einem phantastischen, keinem philologischen Kommentar
entspricht. Alle bewussten Motive sind nämlich nur Oberflächenphänomene, Übertragungen des Kampfes der Triebe, der ein
Kampf um Gewalt ist (vgl. VIII 1[20]) [191]. Der Mensch legt unverstandene körperliche Leiden fälschlich als moralische Leiden
aus, mit dem Zweck, diese Leiden an sich selbst und an anderen zu rächen (VII 26[206]; vgl. oben). Der eigene Leib kann
deshalb nicht mehr als Text begriffen werden, den es auszulegen gilt, sondern höchstens als zurechtgemachter, verfälschter,
interpolierter Text, der auf diese Weise schon eine Interpretation darstellt. So ist im Grunde jede Philosophie eine Auslegung und
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ein Missverständnis des eigenen Leibes des Philosophen (vgl. FW Vorrede 2, 3:348f). Die Philosophie kann sich deshalb auch
nicht mehr über sich selbst aufklären, sondern bedarf der divinatorischen Prüfung von außerhalb. Die ‚Psychologie‘ muss ihr
vorgeordnet sein.
Nietzsches Psychologie ist die unter philologischen Vorzeichen stehende metaphorische Fortschreibung neukantianischen
Gedankenguts, wie er es bei F.A. Lange kennengelernt hatte. Welche Konsequenzen hat es eigentlich, wenn die Divinatio
aufgrund unzuverlässiger oder unzureichender ‚Textzeugen‘ privilegiert werden muss? Die Aufgabe lautet zunächst, auch ihr
wiederum ein methodisches Gepräge zu geben, sie, gerade wenn es wie in der Selbstbeobachtung um Erkenntnis auch der
eigenen Beobachtungsfähigkeit geht, aus der Selbstreferentialität zu befreien, einen Ort zu finden, der demjenigen des
Redaktors gegenüber den Überlieferungen gleicht – dies alles muss Inhalt redlicher Forschung sein. Langes Kapitel „Die
naturwissenschaftliche Psychologie“ (Lange, 1974, Bd. 2: 818–849) hat Nietzsche deshalb gründlich gelesen. Hier tauchen
neben den genannten Vertretern der sog. Völkerpsychologie wie Lubbock, Tylor und Bastian auch andere Namen erstmals auf,
die ihn bald stark beschäftigen sollen, Darwin und Spencer etwa, John Stuart Mill, Henry Buckle oder Alexander Bain; allesamt
Verfasser, die in Nietzsches nachgelassener Bibliothek und in zahlreichen seiner Lektürefrüchte figurieren. In seiner Abhandlung
warnt Lange vor den überzogenen Hoffnungen des Jahrhunderts, die Psychologie rein naturwissenschaftlich betreiben zu
können. Auch Kants empirische Psychologie, die statt auf Selbstbe
Page: 0126
obachtung auf die Beobachtung anderer gerichtet ist, verwirft er, selbst kantianisch argumentierend: innere und äußere
Beobachtung ließen sich nicht trennen:
Die äußere Beobachtung würde nie zu einer sichern empirischen oder gar zu einer exakten Wissenschaft geführt haben, wenn
nicht jede Beobachtung hätte geprüft werden können. Die Elimination der Einflüsse vorgefaßter Ansichten und Neigungen ist
das wichtigste Element des exakten Verfahrens, und dies Element gerade wird bei denjenigen Beobachtungen, die sich auf
eigne Gedanken, Gefühle und Triebe richten, unanwendbar; es sei denn, daß man die eignen Gedanken etwa ganz unbefangen
durch Schrift oder andre Mittel fixiert hat und nun nachträglich den Vorstellungsverlauf prüft, wie den eines Fremden. (1974,
Bd. 2: 827)
Aus den sich daraus ergebenden Aporien und dem Umstand, dass die impressionistische Methode zwangsläufig Mittel bleibt,
„den willkürlichsten Gebilden der Metaphysik den Schein empirischer Ableitung verleihen zu können“ (ebd.), stamme erst
eigentlich die Hoffnung auf naturwissenschaftlich strenge Methoden [192]. Die Sache wird für Nietzsche insofern interessant,
da Lange nun aus den genannten Gründen einen engen Zusammenhang von Psychologie und Physiologie postuliert, durch
deren Beobachtung in Zukunft verlässliche Ergebnisse zu erwarten sein mögen. Obgleich Lange den Erfolgsaussichten
gegenüber grundsätzlich skeptisch ist, will er zunächst Ergebnisse entsprechender empirischer Arbeit abwarten; seine Verweise
auf die Tierpsychologie und Experimente mit Säuglingen lassen vermuten, dass er sich höchstens eine Art Behaviourismus
erhoffte. Neben Langes Erkenntnis, dass es keinen Naturzustand des Menschen gibt, dass insbesondere der von Rousseau
beklagte Verlust des Naturzustandes des Menschen Fiktion sei (833f), wird für Nietzsche somit vor allem das Plädoyer für die
„somatische Methode“ (!) wichtig, an die Nietzsches Insistenz auf dem Textsoma, der leiblichen Bedingtheit alles Denkens und
Fühlens, gut anschließbar ist:
Diese Methode fordert, daß man bei der psychologischen Untersuchung sich so weit als irgend möglich an die körperlichen
Vorgänge hält, welche mit den psychischen Erscheinungen unauflöslich und gesetzlich verknüpft sind. Man ist aber, indem man
sie anwendet, keineswegs genötigt, die körperlichen Vorgänge als den letzten Grund des Psychischen oder gar als das
eigentlich allein Vorhandene zu betrachten, wie dies der Materialismus tut. Ebensowenig darf man sich freilich durch die wenigen
Gebiete, welche der somatischen Methode bisher unzugänglich sind, verleiten lassen, hier ein psychisches Geschehen ohne
physiologische Grundlage anzunehmen. (835) [193]
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Auf ähnliche Weise ist auch für Nietzsche das Verhältnis des Leibes zu den psychologischen Oberflächenphänomenen nicht
einfach ein kausales, sonst wäre ihre Erklärung ja kaum so schwierig. Noch in einem bedeutenden Fragment aus der Spätzeit
mit dem Titel „Der Phänomenalismus der ‚inneren Welt‘“ wird die innere Erfahrung zur Erfindung von Ursachen, nachdem die
Wirkungen bereits eingetroffen sind. Einmal mehr beschreibt Nietzsche sie in philologischen Metaphern. Die Erfindung der
Ursachen, ein kreativer Prozess, sei Interpretation bzw. Fiktion. Den Text als Text ablesen zu können, würde auf diesem Gebiet
bedeuten, sich selbst zu beobachten, ohne zu interpretieren, d.h. ohne Fiktionen hinzuzudichten. Eigenes Befinden zu
beschreiben, ohne einen Grund dafür anzugeben oder zu erfinden, wäre eine mithin gute „Philologie“ als die „späteste Form“
der inneren Erfahrung, die „vielleicht“ (!) kaum möglich sei. (VIII 15[90]).
In diesem unscheinbaren „vielleicht“ steckt eine Grenze, die regelmäßig dann überschritten wird, sobald man den Bereich des
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Menschlichen verlässt, d.h. den Bereich menschlicher Erzeugnisse von literarischen Texten bis hin zu gesellschaftlichen und
moralischen Systemen, den Bereich des Individuums selbst, kurz: des jeweiligen Bewusstseins, das durch einen Leib von
anderen Leibern mit entsprechender Psyche abgegrenzt ist. In diesen drei Domänen ist mit abnehmender Sicherheit redliche
Erkenntnis bzw. Erklärung möglich – durch philologisch geschulte Wissenschaft lassen sich hier in günstigen Fällen ‚Texte‘
herstellen, die nicht zuletzt auf die divinatorischen Fähigkeiten des Redaktors zurückgehen, der mit seinen
Untersuchungsobjekten ein Minimum an Erfahrungen teilt, welche das empathische Hineinversetzen (das schließlich methodisch
kontrolliert wird) überhaupt erst ermöglichen. In der letzten Domäne, der außerhalb des Menschen liegenden Natur ist dies
nicht mehr möglich. Sie ist dem menschlichen Bewusstsein inkommensurabel. Zwar: insofern der Mensch selbst Teil der Natur
ist, kann er ein gewisses limitiertes Erklärungspotential ausschöpfen, das immer auf ihn bezogen bleibt. Aber die Komplexität
des Großen-Ganzen übersteigt seine Möglichkeiten. Ein ‚Text‘ der Natur, den der philologische Künstler auszulegen habe, bleibt
romantische Utopie. Jeder Versuch in diese Richtung endet in Falschmünzerei. Wenn schon die Fixierung eines schriftlichen
Textstandes als Archetypus aus der Genese komplexer Beziehungen überlieferter Dokumente ans Fragwürdige grenzt und
Intellekt und Divinationsvermögen eines Forschers voll in Anspruch nimmt, trifft dies umso mehr auf die Welt der
Erscheinungen außerhalb schriftlicher Texte zu [194]. Jedwede Auswahl daraus ist in
Page: 0128
einem sich ständig in Entwicklung befindlichen Kosmos notwendigerweise unzulänglich: „In einer werdenden Welt ist ‚Realität‘
immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken oder eine Täuschung auf Grund grober Organe, oder eine
Verschiedenheit im tempo des Werdens.“ (VIII 9[62])
Nietzsche geht in dieser Ausdifferenzierung der Domänen also über die romantische Philologie hinaus. So galten beispielsweise
noch in Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803), die für die Philologie in der ersten
Phase ihrer Etablierung wichtig waren, philologische Methoden als universal ausdehnbar und anwendbar:
Der Physiker, wenn er erkannt hat, daß unter gewissen Bedingungen eine Erscheinung wahrhaft möglich sei, hat auch erkannt,
daß sie wirklich ist. Das Studium der Sprache als Auslegung, vorzüglich aber als Verbesserung der Lesart durch Konjektur, übt
dieses Erkennen der Möglichkeiten auf eine dem Knabenalter angemessene Art, wie es noch im männlichen Alter auch einen
knabenhaft bleibenden Sinn angenehm beschäftigen kann. [Absatz] Es ist unmittelbare Bildung des Sinns, aus einer für uns
erstorbenen Rede den lebendigen Geist zu erkennen, und es findet darin kein anderes Verhältnis statt, als welches auch der
Naturforscher zu der Natur hat. Die Natur ist für uns ein uralter Autor, der in Hieroglyphen geschrieben hat, dessen Blätter
kolossal sind, wie der Künstler bei Goethe sagt. Eben derjenige, der die Natur bloß auf dem empirischen Wege erforschen will,
bedarf gleichsam am meisten Sprach-Kenntnis von ihr, um die für ihn ausgestorbene Rede zu verstehen. Im höheren Sinn der
Philologie ist dasselbe wahr. Die Erde ist ein Buch, das aus Bruchstücken und Rhapsodien sehr verschiedener Zeiten
zusammengesetzt ist. Jedes Mineral ist ein wahres philologisches Problem. In der Geologie wird der Wolf noch erwartet, der die
Erde ebenso wie den Homer zerlegt und ihre Zusammensetzung zeigt. (Schelling, 1974:40f)
Nietzsche setzt anfangs große Hoffnungen in die Naturwissenschaft. Nicht weil er glaubt, mit ihrer Hilfe zu objektiven
Erkenntnissen gleich welcher Art zu gelangen. Ihre Rolle könnte eher die einer Schule der Redlichkeit gleich der Philologie sein:
die „Methode der mechanistischen Weltbetrachtung“ sei einstweilen die redlichste, „der gute Wille zu allem, das sich controlirt,
alle logischen Control-Forderungen, alles das was nicht lügt und betrügt“ (VII 25[447] und [448]). Die Physik soll also
gegenüber der Metaphysik eine ähnliche Rolle spielen wie die Philologie gegenüber der Theologie und den Sinn zur Beobachtung
der mannigfaltigen Erscheinungen und der Selbsterkenntnis, kurz: den Tatsachensinn schärfen. Im Aphorismus 335 der
Fröhlichen Wissenschaft mit dem bezeichnenden Titel „Hoch die Physik!“ (KSA 3:560ff) wird diese als Unterpfand genauer und
redlicher Beobachtung gefeiert.
Freilich führt der eigentlich wertvolle Tatsachensinn der Physik angesichts des unendlichen Gegenstandes nicht viel weiter als bis
zum Schutz vor den gröbsten
Page: 0129
dogmatischen Ansprüchen. Die Physik ist am Ende auch nur eine „Welt-Auslegung“, keine „Welt-Erklärung“ (JGB 1.14, 5:28) –
weil sie nämlich ihrerseits der für die Erklärung notwendigen Kritik ermangelt. Physiker wie Metaphysiker glauben, die Welt zu
erklären, aber sie haben ja nichts, das sie erklären könnten. Insofern ist ihre Auslegung nur der erste Schritt: die
Zurechtmachung eines Textes, die sie schon mit Erklärung verwechseln:
Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den
Finger zu legen: aber jene „Gesetzmässigkeit der Natur“, von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob – besteht nur Dank
eurer Ausdeutung und schlechten „Philologie“, – sie ist kein Thatbestand, kein „Text“, vielmehr nur eine naiv-humanitäre
Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam
Dieser Naivität zieht Nietzsche selbst einen unverblümt machthungrigen Platonismus vor, der gegenüber der plumpen
„Sinnfälligkeit“ des Sensualismus Vornehmheit verkörpert: „Es war eine andre Art Genuss in dieser Welt-Überwältigung und
Welt-Auslegung nach der Manier des Plato, als es der ist, welchen uns die Physiker von Heute anbieten, insgleichen die
Darwinisten und Antiteleologen unter den physiologischen Arbeitern, mit ihrem Princip der ‚kleinstmöglichen Kraft‘ und der
grösstmöglichen Dummheit.“ (JGB 1.14, 5:28). Wie schon die Philologie wird die Physik zum Problem, wenn sie die Grenzen
ihrer Domäne nicht anerkennt, v.a. aber sobald sie sich Wertsetzungskompetenz anmaßt und ihre Erkenntnisse als
Offenbarung auffasst. „Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? –
nun, um so besser. –“ (ebd.)
3.5. Genealogie der Moral
Die von Nietzsche nach dem Grad ihrer Textualisierungs- und Auslegungsfähigkeit unterschiedenen Domänen werden im
zeitlichen Verlauf seines Schaffens mit ungleich verteilter Aufmerksamkeit bedacht. Im Spätwerk sowie im späten Nachlass
erscheint der Begriff der Interpretation nicht deshalb häufiger, weil Nietzsche nun eine neue Interpretationstheorie zu
formulieren sucht, sondern lediglich, weil sich seine Interessen verschoben haben und er sich folglich eher in psychologischen
und naturwissenschaftlichen Domänen bewegt: Domänen der Interpretation, also der durch Kritik kaum mehr kontrollierbaren
Hermeneutik, weil in ihnen per definitionem kein Text mehr vorliegt oder vorliegen kann [195]. In
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der Studenten- und frühen Professorenzeit widmet er seine Kraft der ersten Domäne, nämlich Texten (und Kunstwerken) aller
Art. Die dabei erworbenen methodischen Grundsätze überträgt er im Anschluss daran auf das Gebiet, das ihn für die nächsten
Jahre am meisten beschäftigen soll, auf historische und kulturphilosophische sowie moralische Phänomene. Auf das gesamte
Schaffen hochgerechnet gewann diese mittlere Domäne die größte Bedeutung für Nietzsche, also die Auseinandersetzung mit
kulturellen und moralphilosophischen Problemen im weitesten Sinne. Die kulturphilosophischen Reflexionen bilden den Kern
seines bleibenden Erbes [196].
Diese mittlere Domäne stellt eine gerade noch realistische Herausforderung für jemanden dar, der in der ersten Domäne, an
der er sich schulen konnte, bereits alles erreicht hat und dem für die anderen Gebiete die Kompetenz und die Aussicht auf
tiefergehende Einsichten fehlt. Es ist auch die Domäne, die den individuellen Menschen am unmittelbarsten betrifft. Durch den
Versuch einer zugleich redlicheren wie subtileren Moralphilosophie und Kulturgeschichte können zumindest einige der
schädlichsten Entwürfe bekämpft werden. Es lohnt
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sich deshalb unter den hier vorgeschlagenen Gesichtspunkten einen erneuten Blick zurück auf jene Domäne zu werfen, deren
Mittelpunkt Nietzsches Genealogie der Moral darstellt. Nicht um die abschließende Würdigung des Buches mit dem
gleichnamigen Titel soll es gehen, sondern um die Grenzen des hier vorgeschlagenen Zugangs.
Nietzsches genealogische Rekonstruktion der moralischen Archetypen ist keine plötzliche Inspiration der Spätzeit, sondern
beginnt bereits im ersten Teil von Menschliches , Allzumenschliches . Die aus der historisch-kritischen Philologie stammende
Metaphorik der chirurgischen Strenge und der unerbittlichen Forschung nach Ursprung und Genese ist hier längst ausgeprägt.
In ihrem Rahmen fordert Nietzsche eine wissenschaftliche Gegendarstellung zur „falschen Erklärung“ der Philosophen, die
durchaus analytisch-langatmiger sein müsse als die allzu schönen synthetischen Entwürfe, die bisher bekannt waren:
in dem gegenwärtigen Zustande einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist die Auferweckung der moralischen Beobachtung
nöthig geworden, und der grausame Anblick des psychologischen Seciertisches und seiner Messer und Zangen kann der
Menschheit nicht erspart bleiben. Denn hier gebietet jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der
sogenannten moralischen Empfindungen fragt und welche im Fortschreiten die verwickelten sociologischen Probleme
aufzustellen und zu lösen hat: – die ältere Philosophie kennt die letzteren gar nicht und ist der Untersuchung von Ursprung und
Geschichte der moralischen Empfindungen unter dürftigen Ausflüchten immer aus dem Wege gegangen. Mit welchen Folgen:
das lässt sich jetzt sehr deutlich überschauen, nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrthümer der grössten
Philosophen gewöhnlich ihren Ausgangspunct in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und
Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis […] eine falsche Ethik sich aufbaut […] so bedarf es jetzt jener
Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde wird, Steine auf Steine, Steinchen und Steinchen zu häufen, so bedarf es der
enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen Arbeit nicht zu schämen […] (MA I.2.37, 2:59f)
In seiner gegen den Positivismus in der Geschichtswissenschaft gerichteten Teoria e storia della storiografica von 1916
identifiziert Benedetto Croce drei der Geschichtsphilosophie feindliche Lager, die er mit seinem Neuentwurf endgültig
überwinden möchte [197]. Es handelt sich erstens um die philologische Geschichtsschreibung, also die historisch-kritische
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Schule der Altertumswissenschaft, die, bewusst unphilosophisch, von der Quellenkritik ausgeht. An zweiter Stelle nennt Croce
die diplomatische Geschichte im Stile Rankes, die ebenfalls freiwillig auf philosophische Reflexion ihrer Tätigkeit verzichte, dabei
freilich Großes geleistet habe. Schließlich gebe es noch die eigentlich positivistische Richtung, für welche Fakten Fakten sind,
zwischen denen kausale Beziehungen oder gar gesetzesmäßige Zusammenhänge herzustellen seien; Croce nennt als Beispiel
Hyppolite Taine. In der Genealogie der Moral erhebt Nietzsche im Anschluss an Gedanken wie er sie seit der zitierten Stelle in
Menschliches , Allzumenschliches entwickelt hat, ausgerech
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net die Kombination aus historisch-philologischer Quellenkritik (s. GM Vorrede 3, 5:249), Ranke und Taine (GM III.19, 6:387) zum
methodischen Ideal. Seine Rhetorik bedient sich bedenkenlos beim Wissenschaftsdiskurs der philologischen Lehrer. Zwar gibt
es für ihn nach wie vor keine voraussetzungslose Wissenschaft (GM III.24, 6:399f). Auch schafft Wissenschaft selbst niemals
Werte und unterwirft sich immer einem Ideal, denn „wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke
ist“, werde das Ideal entbehrt (III.27, 6:409). Es führt indes kein Weg daran vorbei, dass Nietzsche, der von der (u.a. von Croce
inspirierten) Geistesgeschichte immer als einer der ihren reklamiert worden ist, an erster Stelle jenen Gelehrten und Philologen
verpflichtet war, von denen die Geistesgeschichte sich abzusetzen versuchte. Die Genealogie der Moral ist eine historische
Studie. Eine geschichtsphilosophische Arbeit will sie gerade nicht sein.
Auch auf dem Gebiet der Kultur- und Moralgeschichte, so die Botschaft der Genealogie der Moral , müssen sich die
Interpretationen an Tatbeständen (nicht Fakten) messen lassen, d.h. an auf redlichem Weg erlangten historischgenealogischem
Vergleichsmaterial [198]. Dies ist der Grund, warum die Interpretation in der Genealogie negativ konnotiert und vom Tatbestand
unterschieden wird. So sei die „Sünde“ nur Interpretation, nicht Tatbestand, als eine falsche „Causal-Auslegung […] von bisher
(!) nicht exakt zu formulirenden Thatbeständen“ (GM III.16, 5:376f). Ähnlich der Vorwurf vom „verhängnisvollste[n] Kunststück
der religiösen Interpretation“ der priesterlichen Umwertung der tierischen, rückwärts gewendeten Grausamkeit des schlechten
Gewissens als Schuld, unter Missachtung des physiologisch begründeten Leidens an sich selbst (GM III.20, 5:389f).
Nietzsches hohe Meinung von Ranke konnte bereits mit der gemeinsamen geistigen Herkunft aus der Pforte sowie der Schule
Niebuhrs in Verbindung gebracht werden. Die historisch-kritische Tradition der altertumswissenschaftliche Philologie kam
ebenfalls ausführlich zur Sprache. Erklärungsbedürftig ist nur noch die Rolle Taines. Es lässt sich zeigen, dass Taines Denken,
bzw. die Aspekte, die Nietzsche daraus auswählt, die logische Fortsetzung der Übertragung philologischer Methodologie auf das
Feld der Kultur und Geschichte darstellt.
Über die Beurteilung Taines kommt es noch 1887 zum Bruch mit Nietzsches engstem und längsten Freund, Erwin Rohde, der
Taine ablehnte. Die meisten Kommentatoren Nietzsches haben Taine bisher vernachlässigt, weil er unbequemerweise nicht zum
Bild des Philosophen passt, der im Spätwerk seine ‚positivistische‘ Phase überwunden habe. Indes bezieht sich Nietzsche
gerade in den späten achtziger Jahren enthusiastisch auf Taine; seine Werke in Nietzsches nachgelassener Bibliothek gehören
zu den am gründlichsten durchgearbeiteten
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Bänden. Es existiert sogar ein kurzer, von gegenseitigem Respekt geprägter Briefwechsel. Es gilt, sich von dem Hinweis leiten
zu lassen, den Nietzsche in seiner emotionalen Verteidigung Taines gegenüber Rohde selbst abgibt, dass Taine nämlich seiner
(Rohdes) „species“, also den Philologen, verwandter sei, als dieser annehme [199].
In der dritten, als Musterauslegung (GM Vorrede 8, 6:255) konzipierten Abhandlung der Genealogie der Moral , polemisiert
Nietzsche zum wiederholten Mal gegen Renan und fährt fort: „Um wie viel lieber will ich noch mit jenen historischen Nihilisten
durch die düstersten grauen kalten Nebel wandern!“ (GM III.26, 6:406). Dahinter verbirgt sich eine Anspielung auf Taine,
genauer auf dessen erstes Kapitel in der Histoire de la Littérature anglaise , die für Nietzsche besonders wichig war. Das Lob
ist, wie die Bezeichnung Nihilist deutlich macht, nicht uneingeschränkt, aber Taines Historiographie muss aus Nietzsches Sicht
Renans diametral entgegengesetzt sein, um eine derartige Verwendung zu rechtfertigen.
In der Geschichte der Literaturwissenschaft ist vor allem die Vorrede der Histoire de la Littérature anglaise zu einem
Meilenstein geworden, nämlich zum ersten wichtigen Dokument einer Literatursoziologie. Ehe daraus freilich der voreilige
Schluss gezogen wird, Nietzsche sei von der bekannten, hier erstmals einem großen Publikum präsentierten Analysetriade von
race, milieu, moment inspiriert worden, mag ein Blick in den Text von Nutzen sein, den Nietzsche schon am 11. März 1878 bei
seinem Buchhändler Schmeitzner bestellte. Im selben Sommer liest er ihn gründlich durch (dazu auch Campioni, 2001:148ff); er
bleibt in den achtziger Jahren sein konstanter Begleiter (s. z.B. VII 27[79]).
Nietzsche schätzt an Taine das klare Urteil und die Rhetorik methodischer Strenge, die jedoch nicht zu dogmatischen
Ableitungen führt [200]. Obwohl Taine, im Unterschied zu seiner Reputation, durchaus kein lupenreiner Positivist war – so spielte
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Dokumenten hergestellt oder auf ganz abstrakte Einheiten bezogen. Das Studium der Dokumente diene vielmehr einzig und
allein der Erkenntnis des individuellen Menschen dahinter. „Au fond il n'y a ni mythologie, ni langues, mais seulement des
hommes qui arrangent des mots et des images d'après les besoins de leurs organes et la forme originelle de leur esprit.“ (v).
Die Geschichte spreche nur durch das Individuum; auf seinen Charakter, seine Sitten und Handlungen habe sich der Historiker
zu konzentrieren. Taine zitiert u.a. Lessing als Autorität für die Forderung, den lebendigen Menschen der Vergangenheit vor das
innere Auge zu bringen. Wenn das Bild auch notwendigerweise unvollständig bleibe, so müssten doch möglichst viele
Beobachtungen und Kenntnisse darin einfließen. Taines Grundannahme besteht mithin in der Überzeugung, dass der homme
extérieur den homme intérieur verrät, also ein Studium der (Ver-)Äusserungen des Menschen Rückschlüsse auf seine wahre
innere Verfassung zulässt. Da es Taine um den Menschen als plastisches, immer von seiner Kultur geformtes Wesen geht – das
Gegenteil einer konstanten generischen Tatsache –, um ein Wesen, das sich in ständiger Entwicklung und Veränderung befindet,
lässt sich am ehesten noch der biographische Ansatz innerhalb der positivistischen Literaturwissenschaft von ihm herleiten.
Das Forschen in den Komplexitäten der Vergangenheit stilisiert Taine zur feinsten psychologischen Arbeit, zur subtilen Lektüre
eines schwierigen Textes, deren methodische Beherrschung sich der Forscher durch eine „éducation critique“ (xi) aneignet:
„tout luit est un indice; tandis que ses yeux lisent un texte, son âme et son esprit suivent le déroulement continu et la série
changeante des émotions et des conceptions dont ce texte est issu; il en fait la Psychologie .“ (xi). Taines Erläuterungen deuten
daraufhin, dass es sich dabei um eine Art geschulte empathische Divination handelt: dies sei eine ganz neue Form der
Geschichtsschreibung. Er bezeichnet seine Methode deshalb als „divination précise et prouvée des sentiments évanouis“ (xif).
Entscheidend für den Erfolg sei jedoch, dass die Methode mit der Beobachtung und dem Sammeln von Fakten beginne und erst
dann nach Ursachen suche (la recherche des causes). Taine bedient sich, ein Muster, das sich in seinen anderen Werken
wiederholt, immer wieder einer induktivnaturwissenschaftlichen Ausdrucksweise, gerne aus den klassifikatorischen Systemen
von Zoologie und Mineralogie [201]. Die berühmte Triade von race, milieu, moment als den drei hauptsächlichen Ursachen für
die individuellen Unterschiede der Menschen soll vor allem auf die Wichtigkeit der Interaktion von individueller Anlage des
Menschen mit Umwelt und Zeitalter, mit dominanten Gedanken und Diskursen hinweisen. Dies sei nicht zuletzt für die
Entstehung der jeweiligen Moral ausschlaggebend (xliii). Auch Taine geht es damit letztlich um eine ‚Genealogie‘ der Moral des
Individuums in seinem kulturellen Kontext. Die Kultur sei dabei als Körper aufzufassen – Taine geht von organizistischen
Vorstellungen im
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Sinne Herders aus, der auch namentlich erwähnt wird: „Une civilisation fait corps, et ses parties se tiennent à la façon des
parties d'un corps organique“ (xxxixf). Wenn sich im Organismus etwas verändert, habe dies immer Auswirkungen auf das
Ganze. Deshalb müsse immer der ganze Kontext beachtet werden. In seinen Arbeiten zur Geschichte Frankreichs will er die
Krankheit des Jahrhunderts therapieren: Nietzsche als ‚Arzt der Kultur‘ kann sich hier in einem Gleichgesinnten entdecken.
Nietzsche hat die Positivisten oft scharf angegriffen. Einen wirklich positivistischen Historiker wie Henry Thomas Buckle
bezeichnet er als seinen „stärksten Antagonisten“ und erteilt ihm in der Genealogie der Moral eine deutliche Absage – nicht
zuletzt aus Furcht vor Verwechslung [202]. Schon zur Zeit der Fröhlichen Wissenschaft leitet er das Verlangen nach Halt und
Gewissheit, „welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet“ (FW 5.347, 3:581f) aus einem
„Instinkt der Schwäche“ ab (583); der freie Geist tanze dagegen an Abgründen, d.h. finde zu „Lust und Kraft der
Selbstbestimmung […] bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist,
auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich zu halten“. Um der naheliegenden Verwechslung der genealogischen Methode mit dem
soziologischen Positivismus französischer Schule zu entgehen, kritisiert Nietzsche ausdrücklich das (an sich redliche)
„Stehenbleiben-Wollen vor dem Thatsächlichen, dem factum brutum“ und den damit zusammenhängenden moralischen
Überlegenheitsanspruch (GM III.24, 5:400f). Obwohl Taine dem Nihilismus der Positivisten laut Nietzsche ja nicht allzu fern steht,
ist es unwahrscheinlich, dass er ihn selbst zu den Positivisten gezählt hat. Die Forschungsrichtung des „petit faitalisme“ (ebd.),
wie Nietzsche sie in einem schönen Wortspiel beschreibt, ist kein Kennzeichen Taines. Nietzsche ist vielmehr fasziniert von
seinem Ausgangspunkt im naturwissenschaftlich überhöhten Organismusdenken, das einem naiven Materialismus ebenso fern
steht wie der reinen Spekulation. Wie bei ihm
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selbst stehen auch bei Taine der Leib und die physiologischen Grundlagen psychischer Phänomene im Zentrum der Analyse
[203].
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Wie beeindruckt Nietzsche ist, lässt sich u.a. am Kult um Stendhal („dieser letzte grosse Psycholog“, JGB 2.39, 5:57) ablesen,
den er im Anschluss an seine Taine-Lektüre entfaltet. Für die eigenen methodischen Grundüberzeugungen ergeben sich gleich
mehrere Anschlussmöglichkeiten. Zunächst fasst er Taines Methode als eine mit naturwissenschaftlicher Rhetorik unterfütterte
Fortführung Burckhardts auf, der ihm seit Basel als Modell des Historikers galt. In den Vorlesungen, die Nietzsche eifrig verfolgt
hatte, war ebenfalls die Literatur, besonders die Poesie (aber auch andere Kunstformen) als hervorragendste Quelle des
Historikers gefeiert worden, in der Ewig-Allgemeinmenschliches mit individuellen Besonderheiten, nationalen und epochalen
Spezifika vereint sind.
Die unüberschaubare Menge historischer Ereignisse, die ganze „Enormität“ der Geschichtsforschung mit ihrer unendlichen
Detailforschung, zu deren Durchführung „tausend Menschenleben mit vorausgesetzter höchster Begabung und Anstrengung
lange nicht ausreichen“ würden (Burckhardt, 1963:17), führten Burckhardt zur Überzeugung, das Studium der Geschichte mit
dem Studium des Geschichtlichen zu ersetzen. Er erkennt zwar an, dass Quellenstudium zu welchem Thema auch immer „nach
den Gesetzen der Erudition“ sehr viel Zeit kostet (19) und verlangt von jedem Historiker ein streng durchgeführtes ordentliches
Studium, in dem der Respekt für Wissenschaftlichkeit eingeübt wird. Aber gerade wenn man den modernen Quellenbegriff,
demzufolge alles Quelle sein kann, zugrundelegt, komme man nie sehr weit. Da Burckhardt auf Quellen zu verzichten aber nicht
gewillt ist, verlangt er lediglich ihre strenge Auswahl. Burckhardts Quellen sollen so viel wie möglich, der Historiker nur so viel wie
nötig sprechen. Man müsse zwar möglichst auf einem Gebiet Spezialist sein, solle sich aber auf anderen ruhig einen gewissen
Dilettantismus erlauben, wenn man überhaupt noch einen bescheidenen Überblick behalten wolle. Lieber vertiefe man sich nach
und nach, als ganz im Freien zu schweben [205].
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Auch Nietzsche weiß ja, dass jede redliche Moralphilosophie langsames, empirisches, kulturvergleichendes Studium heischt (z.B.
FW 1.7, 3:378ff). Nietzsche beklagt in einem frühen Stadium, dass ihm keine Heerscharen von Gelehrten zur Verfügung
stünden, die er auf das gewaltige Ziel ansetzen könnte. Freilich sei es schwierig, entsprechend geeignete Gelehrte mit der
nötigen Feinheit und Tiefe – der erforderlichen divinatorischen Begabung – zu finden [206]. Der Rückgriff auf literarische Quellen,
wie ihn Burckhardt und Taine demonstriert hatten, weist dagegen einen Ausweg, der angesichts des Dilemmas den besten
Kompromiss auf dem Weg zu dem von Nietzsche angestrebten Text der Kultur darstellt. Literarische Werke haben als öffentlich
verhandelte Symptome bestimmter Leiber einen repräsentativen Charakter angenommen, der sie in ihrer Summe als ‚Text‘ der
jeweiligen Kultur ausweist. Sie sind Abkürzungen auf dem steinigen Weg der Erudition, allerdings nur für den, der sie kritisch zu
handhaben und subtil zu lesen vermag.
Auf diese Weise kommt die Philologie doch wieder ins Spiel: seine hochspezialisierte literarisch-philologische Kompetenz, glaubt
Nietzsche, kommt seinem psychologischen Talent entgegen und kann über Umwege auch für das Studium kultureller
Phänomene fruchtbar werden. Kritisch-divinatorische Literaturgeschichte ist die einzige redliche Möglichkeit, Kulturgeschichte zu
betreiben. Nietzsches scheinbar so subjektive Auseinandersetzung mit der Weltliteratur, die sich durch das gesamte Werk
zieht, hat hier ihren Ausgangspunkt [207]: Autoren werden im Sinne Burckhardts und Taines als Schnittpunkte individueller und
kollektiver leiblicher Prozesse gedeutet. Ihre Werke lassen sich kraft ihres ästhetischen Mehrwerts darauf allerdings nicht
reduzieren, sondern geben immer wieder Anlass zu Revisionen der eigenen Theorie, die automatisch dadurch entstehen, dass
sich die Texte in ihrem Zusammenhang gegenseitig je neu beleuchten; dem Studium von Kultur in diesem Sinne ist der
Perspektivismus somit von vornherein eingebaut.
Schlüsselkonzept ist dabei die Metaphorik des Organischen, die Nietzsches Denkweise genauso konfiguriert wie jene
Burckhardts oder Taines. Wenn die Sprache selbst ein komplexer Organismus ist, sind es Texte, als aus ihrem Material
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mit dem Menschen, mit allem Lebendig-Individuellen gemein. Kulturen werden von Nietzsche in einer langen Tradition ebenfalls
als Organismen aufgefasst, da sie aus einzelnen Individuen komponiert sind, jedoch mehr als die Summe ihrer Teile darstellen.
Die organische Gemeinsamkeit der verschiedenen Entitäten begründet die Berechtigung wie die Notwendigkeit eines parallelen
Zugangs. Wie der menschliche Leib so sind Texte wie Kulturen unendlich, antiteleologisch, komplex und nie kausal deutbar,
sondern immer nur genetisch nachzuvollziehen: „Der Leib […] ist mehrsprachig. Entsprechend komplex, womöglich gar in sich
widersprüchlich ist sein Ausdruck. Und vor allem bleibt auch das Unterdrückte, Abgewiesene, Unentwickelte stets als solches
sichtbar. Der Leib kann nicht lügen.“ (Mattenklott, 1982:30) [208] Ein Text ist nicht in erster Linie durch kausale Verknüpfungen
seiner Glieder gekennzeichnet, sondern durch eine mannigfaltigere Reihe von z.T. nur assoziativen Verbindungen. Die Forderung
nach Text und Tatbestand entspricht deshalb gerade nicht den positivistischen Überzeugungen der Zeit. Durch Nietzsches
Schriften ziehen sich antikausalistische Motive wie ein roter Faden, und angebliche kausale Verbindungen sind eines der
Hauptmerkmale schlechter Interpretationskünste [209].
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Die Anlehnung an Burckhardt und Taine, die Nietzsche einmal als die einzigen wahren Leser seiner eigenen Schriften
bezeichnete [210], erlaubt Nietzsche somit, souveräne Distanz zum naiven Positivismus zu halten und dennoch als Maximalziel
immer wieder ein empirisches, an den Naturwissenschaften orientiertes Studium der Kultur- und Moralgeschichte als
„Naturgeschichte“ zu fordern, als strenge Wissenschaft, die zunächst Material sammelt, ordnet und systematisiert, um eine
„Typenlehre“ der Moral, kurz: eine Recensio, zu erstellen (z.B. JGB 5.186, 5:105f). Die „Fröhliche Wissenschaft“ – d.h. der
souveräne, essayistische, spielerische Umgang mit den Resultaten der Forschung – ist nur möglich nach einer Periode des
„langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst[es], der freilich nicht Jedermanns Sache ist“, sie ist der „Lohn“ dafür
(GM Vorrede 7, 5:255).
Ob es nicht der Maulwurf, Nietzsches Symbol des Philologen ist, der da unterirdisch am Werk ist? Schon in einem Brief an
Rohde vom 20. November 1868 werden die Philologen als Maulwürfe bezeichnet (I.2:334). In der Vorrede zur Morgenröthe von
1886 bezeichnet sich Nietzsche als „einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden“, kurz als „Maulwurf“, der er lange
gewesen sei, der in seiner Einsamkeit lange Licht und Luft entbehrte und nun wieder an den Tag zurückkehre, um seine
Erlösung und Morgenröte zu erleben (KSA 3:11). Dieses Bohren und Graben wird in der Folge übrigens nicht als unfreiwillig
beschrieben, sondern eher als Wagnis und Schicksal mit reicher Ausbeute – wenige Seiten darauf folgt der berühmte Aufruf zur
‚guten Philologie‘ an seine eigenen Leser (M Vorrede 5, 3:17).
Wenn sich Nietzsche, wie bereits erwähnt, zu Beginn der Genealogie der Moral von jenen Anthropologen und Ethnologen
distanziert, von denen er ursprünglich ausgegangen war, also besonders Tylor und Lubbock, aber auch John Stuart Mill, Darwin
und Spencer und, nicht zu vergessen, Rée selbst (vgl. bes. GM Vorrede 4, 5:250f), so kritisiert Nietzsche nicht nur die
irreführende Version ihrer ‚genealogischen‘ Methode, die sich an fiktiven Nützlichkeitspostulaten entlanghangelt, sondern,
grundlegender, ihren Mangel an historischem Sinn, den sie mit den idealistischen Philosophen teilen:
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Aber gewiss ist leider, dass ihnen der historische Geist selber abgeht, dass sie gerade von allen guten Geistern der Historie
selbst in (sic) Stich gelassen worden sind! Sie denken allesammt, wie es nun einmal alter Philosophenbrauch ist, wesentlich
unhistorisch; daran ist kein Zweifel. (GM I.2, 5:258)
Hier spricht der ‚alte Philologe‘, der seine Stärke gegenüber der akademischen Philosophie ausspielt. Mangel an historischem
Sinn bedeutet bei Nietzsche deshalb nichts anderes als die bloße Betrachtung geschichtlicher Entwicklung unter teleologisch-
normativem Aspekt. Der Mangel an historischem Sinn reproduziert den Erbfehler aller Philosophen, nämlich den Menschen als
endgültiges Wesen mit universalen Eigenschaften anzusehen, statt als wandelbares mit plastischer Natur [211]. Wie einst die
Stoiker, versuchen auch die neuzeitlichen Anthropologen ihr Menschenbild dem Rest der Menschheit aufzuzwingen, ein
Menschenbild, das in einer ganz konkreten historischen Situation entstanden ist: an der Schnittstelle von niedergehender
Religion, d.h. dem nur mehr nachwirkenden Christentum, und aufgehendem industriellen Zeitalter, das seine eigenen Götzen in
den Begriffen dieser Religion interpretiert. Mangel an historischem Sinn bedeutet deshalb schließlich auch die Vernachlässigung
des sensus historicus der philologischen Erklärung gegenüber dem sensus allegoricus in der theologischen Tradition.
Der Gegenentwurf einer philologisch, d.h. historisch-kritischen Moralphilosophie kleidet sich unmissverständlich in die
entsprechende Begrifflichkeit: Nietzsche wirft der bisherigen Moralphilosophie fehlenden „Argwohn“ dafür vor, „dass es hier
etwas Problematisches gebe.“ Doch nicht nur die text- und quellenkritische Skepsis fehlt, sondern ebenso jede „Prüfung,
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Moralen“ weiter (JGB 5.186, 5:106) [212]. Tylor, Lubbock, Spencer, Mill und die anderen „englischen Psychologen“ lassen ihre
ethnologische Feldarbeit und ihr anthropologisches Urteil von den Wertmaßstäben der eigenen Epoche leiten, auch wenn sie
immerhin die einzigen gewesen seien, die sich an einer Entstehungsgeschichte der Moral versucht hätten (GM I.1, 5:257).
Nietzsche möchte gerne annehmen „dass diese Forscher und Mikroskopiker der Seele im Grunde tapfere, grossmüthige und
stolze Thiere seien“ (258) und empfindet „Achtung […] vor den guten Geistern, die in diesen Historikern der Moral walten
mögen“ (GM I.2, 5:258) [213]. Allerdings sind sie anscheinend doch nur „kalte, langweilige Frösche“ (GM I.1., 5:258).
In Nietzsches Werk gibt es nämlich einen auffälligen Kontrast zwischen den Maulwürfen und Fröschen, der viele Parallelitäten
zum Kontrast unterschiedlicher Philologen- bzw. Gelehrtenschulen aufweist. Während die Maulwürfe, blind zwar gegenüber den
großen Zusammenhängen, immer auf der Suche sind und in ihrem rastlosen Wühlen durchaus fündig werden, sind die Frösche
durch ihre kalte Leidenschaftslosigkeit und ihr abträgliches Biotop, den unergründlichen Sumpf gekennzeichnet. Seine
philologischen Lehrer auf der Pforte hat Nietzsche ausdrücklich vom froschartigen Charakter sonstiger Gelehrsamkeit
ausgenommen: „Wenn ich damals gerade Lehrer gehabt hätte, von der Art, wie sie auf Gymnasien mitunter gefunden werden,
engherzige, froschblütige Mikrologen, die von der Wissenschaft nichts als den gelehrten Staub kennen: ich hätte den Gedanken
weit weggeworfen, jemals einer Wissenschaft anzugehören, der solche
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Schächer dienen.“ (BAW 5:253) [214]. Den Fröschen unter Philologen und verwandten Forschern ist Wissenschaft zum
Selbstzweck geworden, zum asketischen Ideal, das Nietzsche ja in der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral dann
ausführlich als nihilistische Besetzung der menschlichen Sinnleerstelle behandelt. Wenn Nietzsche in einem u.a. gegen „Frösche
und Schwächlinge“ gerichteten Aphorismus eine „Kritik der moralischen Werth-urtheile“ fordert, die sich von der
„Entstehungsgeschichte“ unterscheide, so schwingt darin die philologische Kombination aus niederer und höherer (urteilender)
Kritik mit (FW 5.345, 3:577f). ‚Maulwürfe‘ verkörpern die positiven Aspekte der Gelehrsamkeit bzw. Philologie; ‚Frösche‘ all das,
was Nietzsche an ihr abstößt.
Wer dergestalt als gnadenloser Richter und wissenschaftlicher Gutachter auftritt, steht selber in der Pflicht. Die Genealogie der
Moral ist Nietzsches ambitioniertester Versuch auf dem Feld der Moralphilosophie und -geschichte. Es ist der Versuch, über die
fröhliche, auf literarischen Quellen beruhende Wissenschaft hinauszugehen – als Demonstration dessen, was eigentlich
vonnöten wäre. Nietzsche macht aus der wissenschaftlichen Not eine Tugend, indem er sich, statt umfangreiche Quellenstudien
nachzuweisen, drastisch auf einige wenige ausgewählte Moralkonzepte beschränkt, die für einen einzelnen Forscher gerade
noch zu handhaben sind, – diese aber nach allen Regeln der Kunst genealogischvergleichend ableitet. Gegenüber Paul Rée und
dem „englischen Hypothesenwesen“ richtet er sich deshalb auf „das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-
Dagewesene, kurz die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit“ (GM
Vorrede 7, 5:254). Trotz Verzichtes auf den bislang unerreichbaren ‚Text‘ der Kultur bleibt das philologische Grundprinzip der
Orientierung am ‚Stemma‘ erhalten: durch Kollationierung historischer Ausprägungen von Moralbegriffen (bzw. den Motiven, die
zu ihnen führten) wird ihre Herkunft jeweils ableitbar. Die gängige Auffassung von Nietzsches Genealogie dahingehend, dass
„der anfängliche Sinn einer Sache keineswegs identisch mit den Trieben, Blättern, Blüten und Früchten [sei], die im Laufe der
Zeit aus dieser Wurzel spriessen“ (Sommer, 2000:140) lässt sich damit nicht nur vereinen, sondern beschreibt durchaus
treffend das Grundprinzip des Stammbaums [215]. So wie der Philologe den Archetypus bzw. die Textgeschichte
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unter Berücksichtigung späterer Varianten und Eingriffe rekonstruiert, arbeitet sich Nietzsche über die Genese der Begriffe an
ihre möglichst unverfälschten Ursprünge vor.
Der Aphorismus 32 im zweiten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse spricht eine noch deutlichere Sprache. Die
vormoralische Epoche (die Epoche vor dem Imperativ des Erkenne dich selbst ) bewertete Handlungen nach ihren Folgen. Die
Einpflanzung aristokratischer Werte kehrte den Blick um und fragte nach der Herkunft von Handlungen, um ihren Wert zu
ermitteln. Das war der erste Schritt zur Selbsterkenntnis. Auf verhängnisvolle Weise übernahm man jedoch die
Kausalitätsvorstellung und interpretierte die Herkunft jeweils als Absicht. Nietzsche fordert einen erneuten Blickwechsel und eine
weitere Vertiefung des Menschen. Der Wert einer Handlung liege gerade in dem, was nicht absichtlich an ihr ist.
Herkunftsuntersuchungen haben also zuoberst ihren Wert an sich, sie dienen, wie in der Philologie, nicht kausalen Erklärungen,
sondern entwerfen ein komplexes Netz aus Zusammenhängen:
Die Redlichkeit ist also sowohl Ausfluss der Moral wie Instrument ihrer eigenen Überwindung. Der Intellekt in der
Selbstbeobachtung befindet sich damit im Zustand permanenter Evolution.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die weitere Entwicklung der Kulturanthropologie. Er zeigt, wie
revolutionär Nietzsches Absicht einer Recensio von Moralsystemen anhand ausgewählter Konzepte wirklich war. Das Paradigma
Tylors, das lange Zeit Geltung hatte, wurde erst im zwanzigsten Jahrhundert in Frage gestellt. Clifford Geertz, der sich,
ausgehend von Max Weber (der hierin wiederum stark von Nietzsche geprägt ist) sowie der einfühlenden Feldarbeit eines
Malinowski, kritisch gegen Tylor absetzte, versucht eine hermeneutische Kulturanalyse zu begründen, die dem Ansatz
Nietzsches, bis auf einen entscheidenden Punkt, recht nahe kommt. Seine eigene Kulturauffassung sei semiotisch, schreibt er
am Anfang eines der einflussreichsten Bücher der letzten Jahrzehnte, in The Interpretation of Cultures (Geertz, 1975:5). Kultur
sei ein Netz
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von Bedeutungen, die der Mensch selbst erzeugt hat und welche nach Interpretation verlangen [216]:
Doing ethnography is like trying to read (in the sense of ‚construct a reading of‘) a manuscript – foreign, faded, full of ellipses,
incoherencies, suspicious emendations, and tendentious commentaries, but written not in conventionalized graphs of sound
but in transient examples of shaped behaviour. (10)
In der Übertragung der Netzwerkmetapher der Kultur in den Textbegriff erweist sich Geertz' Ansatz als philologischer [217].
Geertz erkennt natürlich die Gefahr der Textmetapher, die darin besteht, dass der Anthropologe sich als Außenstehender zu
diesem Text der Kultur erklärt. Eben das funktioniere nicht, der Text sei keine Ansammlung uninterpretierter Daten, sondern
enthalte schon die Auswirkung der Interpretationen auf den Beobachter selbst (z.B. S. 15). Geertz' berühmte ‚thick
descriptions‘ unterscheiden sich wenig vom kulturhistorischen Ansatz Burckhardts, nämlich die Quellen sprechen zu lassen,
kombiniert mit dem Eingeständnis der Beteiligung des Anthropologen, ja der Fruchtbarmachung dieser Beteiligung [218].
Das eigentliche Problem der Textmetapher liegt jedoch an anderer Stelle. Wenn Kultur von Geertz und anderen Ethnologen ohne
weiteres als Text aufgefasst wird, der gedeutet werden muss und dessen Verfasser die Handelnden der jeweiligen Kultur sind,
dann liegen die Wurzeln dafür zwar durchaus in der Philologie (vgl. auch Lenk, 1996), das Verfahren zur Identifizierung dieses
‚Textes‘ ist aber völlig unphilologisch. Der ‚Text‘ müsste von den Ethnologen nämlich zunächst in mühsamer empirischer Arbeit
erstellt werden: die Herauslösung verschiedener Kulturelemente zur ethnologischen Bearbeitung müsste entsprechend
begründet werden; sich mit schlechthin allen relevanten Phänomenen zu beschäftigen, ist gewiss unmöglich. Dieser
Herauslösungsprozess als Definition der jeweiligen ‚Kultur‘ stellt aber schon die eigentliche Arbeit dar. Carsten Lenk nennt
diesen Prozess deshalb richtigerweise das Textualisieren des Gegenstandes der Ethnologie. Der angebliche ‚Text‘ einer Kultur
besteht deshalb schon aus „Interpretationen erster Ordnung“, nämlich den Beobachtungen des Ethnographen,
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den Darstellungen der Informanten etc. (Lenk, 1996:119). Erst mit dieser Erkenntnis schließt die Ethnologie an den
Erkenntnisstand Nietzsches bzw. der historisch-kritischen Philologie an. Nietzsches Selbstbeschränkung in der Genealogie der
Moral bzw. der Rückgriff auf literarische Quellen andernorts war Hellsicht gegenüber den eigenen Grenzen – aus dem
philologischem Gewissen heraus. Es entbehrt nicht der Ironie, wenn – gewiss nicht aus Zufall! – die interpretative Ethnologie
gegenwärtig als eine Art philologischer Rückimport auf die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Texten übertragen wird
[219].
Abgesehen von dergleichen Konvergenzerscheinungen hat Nietzsches Genealogie methodisch einige sehr deutliche Spuren
hinterlassen, von denen drei repräsentative Beispiele herausgegriffen werden sollen, um den Bezug der Genealogie zur
philologischen Methodik abschließend zu klären. Am bekanntesten ist der Versuch Foucaults; seine Diskursanalyse hat ihre
Verwandtschaft zu Nietzsches Denken ja nie geleugnet. Jetzt erst lässt sich die ganze weitläufige philologische Familie erkennen,
aus der Foucault durch den Filter Nietzsche sein komparatistisches Arsenal und seine wissenschaftliche Rhetorik rekrutiert. Die
philologische Inspiration seiner Art der Historiographie erklärt den langen Widerstand der nachpositivistischen
Geschichtsschreibung gegen ihn. Sie erklärt vor allem seine auf den ersten Blick unverständliche Ablehnung der Interpretation:
Die Genealogie steht in diesem wegweisenden Aufsatz von 1971 jedoch nur scheinbar außerhalb der Interpretation, denn sie ist
sich ihres Perspektivismus bewusst, versteht sich aber, wie bei Nietzsche, als Vergleich von Interpretationen
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und kommt deshalb dem perspektivischen Lesen Nietzsches nahe, das im Zentrum der nächsten Kapitel stehen wird.
Diskursanalyse als die Geschichte nicht vorhersagbarer Machtdynamiken von Interpretationen, die sich um der zukünftigen
Einflussnahme willen jeweils ein System von Regeln schaffen, muss auch methodisch eben jenem dynamischen Charakter
gerecht werden. Der Siegeszug der Foucaultschen Genealogie in der Literaturwissenschaft verdankt sich ihrem Ursprung in der
philologischen Tradition (obwohl es sowohl Foucault wie der Literaturwissenschaft verborgen geblieben ist), denn sie gab ihr
einmal mehr die Möglichkeit, die eigene Praxis neu zu rechtfertigen. Nicht umsonst versteht sie sich als Methodik der kleinen
Schritte, als „un certain acharnement dans l'érudition“ (103). Programmatisch lautet der erste Satz: „La généalogie est grise:
elle est méticuleuse et patiemment documentaire. Elle travaille sur des parchemins embrouillés, grattés, plusieur fois récrits.“
(102). Parallel zu Nietzsches Ablehnung der Suche nach dem Ursprung der Dinge als einer Suche nach dem Wesen [220], so
Foucault, komme für die langsame, harte Historie als Genealogie ebenfalls nur die weitaus bescheidenere Suche nach der
Herkunft der Werte oder der Moral in Betracht, eine Beobachtung kontingenter Machtkämpfe. Sie muss sich durchaus bei
Einzelheiten aufhalten und mit Zufällen beschäftigen und wirke so dem Mythos des Ursprungs entgegen. Der Leib sei dabei der
Ort der Herkunft schlechthin, ihm seien die Ereignisse eingeschrieben. Er gehorche deshalb nicht nur den Gesetzen der
Physiologie, sondern auch der Geschichte: Foucault bedient sich folgerichtig ganz wie die kritischen Philologen medizinischer
Metaphern, um das Verhältnis des Genealogen zu seinem Gegenstand zu erläutern und betont wiederholt die Nähe des
historischen Sinns zur Medizin.
Am anderen Ende des Spektrums versuchte jüngst Bernard Williams (2002) unter Berufung auf Nietzsches intellektuelle
Redlichkeit eine Art wissenschaftliches Ethos zurückzugewinnen. Man müsse die Wahrheit (truth) von Wahrhaftigkeit
(truthfulness) unterscheiden. Nietzsches genealogische Methode sei die exemplarische Methode der Wahrhaftigkeit. Abgesehen
von der skandalösen und völlig unverständlichen Ignoranz deutschsprachiger Sekundärliteratur, vom Mangel an
Quellenkenntnis ganz zu schweigen (hier wurden gute Chancen vertan, selbst intellektuelle Redlichkeit zu praktizieren), enthält
Williams' Buch richtige Einsichten über Nietzsches Genealogie. So erkennt er, dass Nietzsches Tatsachensinn und
Wahrheitsliebe etwas mit seiner Selbststilisierung als ‚alter Philologe‘ zu tun haben (2002:16), verfolgt das Thema jedoch nicht
weiter. Die Genealogie selbst definiert er als Erzählung (narrative), welche die (mögliche) Entstehungsweise eines kulturellen
Phänomens erkläre (explain, S. 20). Diese Verteidigung der Relevanz fiktionaler Erzählmodi zur Erklärung der Genese von
Phänomenen kann bei einigem guten Willen als Intuition über Nietzsches Hinwendung zu literarischen Quellen gedeutet werden.
Andererseits liegt aber eine
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sowohl aus Unkenntnis der Wissenschaftsgeschichte wie der Nietzscheliteratur erwachsene Fehldeutung vor. Ein „narrative“ ist
die Genealogie der Moral nicht – will sie, wie vor allem Gary Shapiro (1982) demonstrieren konnte, gerade im Kontrast zu
Renans Arbeiten nicht sein. Die Genealogie ist sogar einer der am strengsten diskursiven Texte Nietzsches; sie soll das
analytische Gegenstück zur verfrühten Synthese eines Renan und verwandter Geister darstellen.
Bedeutender und gerade in diese Richtung bis heute wegweisend sind die Arbeiten Éric Blondels. Nietzsche, so heißt es in
einem frühen Aufsatz, bilde den physiologischen in einen philologischen Diskurs um, und es sei erstaunlich, wie Nietzsche beide
Diskurse im Spätwerk miteinander verbunden habe. Nietzsche spreche vom Leib nicht als empirischer, biologischer Realität, als
Gegenstand, sondern als zu entzifferndem, auszulegendem Text, „so daß die Philologie als Transzendentales des
genealogischen-physiologischen Diskurses über das unbekannte An-sich des Leibes figuriert (wohl gemerkt also weder Realität
noch pures Zeichen, reiner Schein).“ Es handele sich um eine kantische Denkfigur: Nietzsches Leib verhalte sich zum Text wie
das Ding an sich zur Erscheinung. Der Leib erscheine als Ursprung des Textes, als dessen „grosse Vernunft“ (1981/82:536)
[221].
Es erscheint unverständlich, warum Blondel nicht von der These ausgegangen ist, die schon die Chronologie von Nietzsches
geistigem Werdegang suggeriert, dass nämlich Nietzsche umgekehrt den philologischen Diskurs in den physiologischen
umgebildet habe. In seinem wichtigen Buch Nietzsche. Le corps et la culture: La philosophie comme généalogie philologique ,
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rische Nähe von Philologie, Physiologie und Medizin heraus. Es ist nur zu bedauern, dass Blondel während dieser Studien nicht
mit der tatsächlichen philologischen Tradition vertraut war, die für Nietzsche maßgeblich gewesen ist.
Vor allem Blondels Textbegriff entspricht dem Textbegriff Nietzsches kaum, wie nicht zuletzt seine Analyse des
Genealogiebegriffs deutlich macht. Aufgabe der Philologie als Genealogie des Textes sei es, ihren leiblichen Ursprung (l'origine
corporelle) an den Tag zu bringen (1986:52). Es zeigt sich aber, dass diese Herleitung immanent auf den bereits vorliegenden
Text bezogen bleibt. Blondels Textbegriff ist, wie in der französischen Tradition üblich, polemisch dem Werkbegriff
entgegengestellt, als eine Art pluralisierend-offene, interpretierbare Struktur, in der nicht nur der propositionale Inhalt zählt,
sondern auch die stilistische Verfasstheit, ja diese als Leiblichkeit des Textes sogar Vorrang genießt (z.B. 134f) [222]. Der
tendenziell inkohärente Text und seine Strukturen sind für Blondel deshalb Ausgangspunkt der Philologie statt, wie für
Nietzsche, End- und Höhepunkt. Während für Nietzsche Philologie zunächst bedeutet, einen Text zu erstellen, setzt Blondels
Auffassung der Philologie voraus, dass das jeweilige Analyseobjekt (wie etwa die Kultur) ohne weiteres als Text aufgefasst
werden kann, der dann zu lesen sei (194). Blondels wichtigster Intuition, Nietzsche habe als Philologe die Philosophie lehren
wollen, die Kultur als Text zu lesen bzw. die Philologie als generelles Modell der Kulturanalyse anzunehmen, ist deshalb nur
bedingt zuzustimmen.
Dennoch hat Blondel eine wichtige Beobachtung gemacht. Betrachtet man die Genealogie der Moral isoliert, könnte man in der
Tat zu der Auffassung kommen, Philologie sei in erster Linie eine Anleitung zum richtigen Lesen, nicht zuletzt von Nietzsches
eigenen Schriften [223]. Für Blondel ist die genealogische Methode letzlich identisch mit einer gewissenhaften Lektüre, mit
genauer Beachtung semantischer und phonologischer Feinheiten, mit dem sensiblen Ohr für rhetorische und stilistische
Nuancen. Es kann ferner kein Zufall sein, dass die Vorrede zur Genealogie der Moral (GM Vorrede 8, 5:255f) Nietzsches
vollständige Lesetheorie enthält. Es sei daran erinnert, dass Nietzsches gute Philologie zwei Bestandteile enthielt: die Herstellung
und die Kommentierung von Texten. Beides ist logisch voneinander unabhängig. Es leuchtet ein, dass sich selbst zu dem
verlässlichsten Text nicht automatisch ein adäquater Leser einstellt (und umgekehrt). In der dritten Abhandlung der Genealogie
untersucht Nietzsche die Herkunft und die Beweggründe der Gelehrten- und Philosophenexistenz. Die Abneigung der
Philosophen gegen Sinnlichkeit und Ehe sei eine Universalie (Abschnitt 7), sie zeig
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ten generell eine Vorliebe für das asketische Ideal. Aber: „man muss diesen Thatbestand erst interpretiren: an sich steht er da
dumm in alle Ewigkeit, wie jedes ‚Ding an sich‘“. Immerhin gilt es festzuhalten, dass es sich hier zumindest schon um einen Text
handelt, der auf einem vorgeführten Vergleich der philosophischen Existenzweise durch die Zeiten und Kulturen, nicht auf
bloßer Behauptung beruht [224]. Nietzsche scheut sich nicht, falsche Auslegungen der von ihm in der Genealogie identifizierten
Tatbestände beim Namen zu nennen. Um der Genealogie der Moral und anderen Texten Nietzsches gerecht zu werden, muss
daher das Lesen als zweiter wichtiger Bestandteil der Philologie untersucht werden. Erst dann lässt sich endgültig bestimmen,
was Nietzsche mit dem Begriff der Interpretation verbunden hat und in welcher Beziehung er zum Perspektivismus steht.
[148] Teile dieses und der folgenden beiden Abschnitte erscheinen in einer früheren Fassung in einem vom Weimarer Nietzsche-
Kolleg erarbeiteten Sammelband (Benne, 2003). Ich danke den Teilnehmern der Nietzschetagung Vom Umgang Nietzsches mit
Büchern zum Umgang mit Nietzsches Büchern vom 23.–25. September 2002 in Weimar für die Diskussion meiner dort
vorgetragenen Thesen.
[149] Wenn es seinem Zweck dient, nimmt es freilich auch Nietzsche mitunter nicht so genau mit dem Wortlaut, gerade im
Neuen Testament (einige Beispiele in Sommer, 2000b:336).
[150] Die Grundzüge dieser Methode sind zuletzt und auf bis heute geltende Weise bei Maas (31957) beschrieben.
[151] Vgl. z.B. Bernhardy (1832): „Alles was wir sehen u. was wir sind, fordert die Vergleichung heraus, darum muß der
Philolog einen contemplativen Geist haben. Er soll sich an dieser Vergleichung erziehen. Dabei wird er noch nicht zum Griechen:
aber er übt sich an dem höchsten Bildungsmaterial.“ (S. 372)
[152] Vgl. auch KGW II.3:376ff über Konjekturen bei Textverderbnissen wie Vertauschung von Buchstaben, Auslassungen,
Umstellungen, Interpolationen etc.
[154] Wichtig waren dabei ebenfalls die Beiträge des großen dänischen Latinisten Madvig, dessen Verbindung zur Ritschl-Schule
bereits erwähnt wurde. Nützlich dazu ich die Darstellung von Rubow (1938). Im Vorwort seiner berühmten Ausgabe von De
finibus bonorum et malorum (1839) definiert Madvig Ziel und Mittel der Textkritik. Aufgabe sei es, den Text soweit wie möglich
zu rekonstitutieren, so dass er dem Zustand am nächsten komme, in dem er die Hand des Verfassers verlassen habe,
unabhängig davon, ob uns dies in jedem Detail gefalle, ob wir ihn so schöner finden oder nicht. Mittel dazu seien vor allem die
Untersuchung von Handschriften, Zitaten, Anspielungen u. dergl.: bei unterschiedlichen Überlieferungen gelte es, verschiedene
Gruppen zusammenzustellen und möglichst auf einen Archetypus zurückzuführen, der nicht unbedingt mit der Handschrift des
Verfassers übereinstimmen muss (nach Rubow 1938:83). Die Methodenverwandschaft der genealogischen Methode mit der
historischen Quellenkritik ist kein Zufall, sondern liegt in ihrer Entstehungsgeschichte begründet (Maas, 31957:passim) – dies
bewies bereits die Kontinuität der Bonner Schule von Niebuhr bis Ritschl. Der Name Lachmanns ist freilich schon den
Zeitgenossen Synonym dieser Methode (vgl. Bursian, 1883, Bd. 2:788ff). Ritschls und Madvigs entscheidende
Weichenstellungen gerieten in Vergessenheit, da bei Lachmann die reine Textkritik unter Ausschluss anderer Interessen noch
viel stärker im Mittelpunkt der philologischen Arbeit stand. Bekannt wurde seine Methode nicht nur durch die im Vergleich zu
Ritschl mechanischere Anwendung (die sie im Klima des aufkommenden Positivismus begünstigte), sondern auch durch die
breitere Anwendung: Lachmann verwendete sie gleichermaßen und in berühmten Textausgaben auf lateinische, griechische
(antike und biblische), mittel- und neuhochdeutsche, poetische wie prosaische Texte. Schmidt (1988) hat in Auseinandersetzung
mit Timpanaro (21971) zeigen können, dass Lachmann die ihm zugeschriebene Methode in Wahrheit gar nicht so stark
praktizierte, sondern für seine Editionen immer in relativ frühem Stadium einen verlässlichen Text wählte, von dem er weiter
ging.
[155] In der eliminatio codicum descriptorum werden deshalb auch Überlieferungen ausgesondert, die sich für die
Textherstellung als wertlos erwiesen haben, z.B. jene, die sich lediglich auf bereits verwendete codices stützen.
[156] Ähnliche Untersuchungsergebnisse liefert schon Figl (1984), der in den philologischen Schriften Nietzsches vor allem ein
starkes Interesse an Quellen- und Überlieferungsforschung bemerkt, das auf mögliche Wiederherstellung des originalen Texts
gerichtet ist und streng zwischen Ursprünglichem und Hinzugekommenem unterscheidet (115f). Er diagnostiziert zu Recht „ein
grundsätzlich skeptisches Verhältnis zur vorgegebenen Gestalt des schriftlich fixierten Textes“. Die philologische Kritik soll die
Genese freilegen, gesucht sei letztlich immer wieder ein anderer, nicht fixierter Text (117). Die Implikationen dieser Beobachtung
für Nietzsches Interpretationstheorie hat Figl nicht gesehen.
[157] Ein aufschlussreicher Selbstkommentar zur Methode und ihrem Ethos findet sich in Lachmanns kleinem Aufsatz
„Rechenschaft über L. Ausgabe des Neuen Testaments“ in Lachmann (1876a:250–272).
[158] Etwa in August Schleichers berühmter Stammbaumtheorie der Entwicklung indoeuropäischer Sprachen, die Nietzsche
naturgemäß kannte. In den bisher edierten Philologica gibt es sogar eine schöne Reproduktion eines solchen Schleicherschen
Stammbaums zur Verdeutlichung der Entwicklung der lateinischen Sprache (KGW II.2:194).
[159] Inspiriert hat mich zu dieser Auffassung u.a. mein Kollege Jørgen Hass (2001:78f). Vgl. auch schon Hass (1982:51). Ich
kann ihm aber nicht darin folgen, dass Nietzsches Auffassung, es gebe keine Tatsachen, nur Interpretationen, auf die
Unmöglichkeit authentischer Texte im Sinne der Lachmannschen Methode zurückzuführen sei. Erstens glauben Lachmann und
Ritschl tatsächlich, authentische Texte (wenn auch nicht unbedingt Originale) herstellen zu können. Zweitens versteht
Nietzsche, wie meine Arbeit zeigen wird, unter ‚Interpretation‘ etwas spezifisch anderes. Dass die genealogische Philologie auf
Nietzsches philosophische Genealogie gewirkt haben könnte, hat als erster und außer Hass einziger schon Andler (1920–1931,
Bd. 2:78) bemerkt. Aber da er selbst die Tragweite dieses Gedankens nicht erkannte, wurde dieser von keinem seiner Leser
aufgegriffen – wohl auch weil die philologische Tradition der französischen Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte allzu
fremd war und Andler in Deutschland wenig Leser fand.
[160] Nietzsche zeigt sich außerdem mehrfach als Anhänger einer modern anmutenden wissenschaftlichen Heuristik im Sinne
einer Methodik zur Gewinnung vorläufiger, revidierbarer Wahrheiten (z.B. VII 25[449]). Man arbeite ja immer mit
Voraussetzungen, und sei es nur mit der, dass Erkenntnis möglich sei (VII 1884 26[126]). Ferner appelliert er mehrfach an
Ockhams Rasiermesser (z.B. JGB 1.13, 5:28 oder 2.36, 5:55).
[161] Gegen Schleiermacher findet sich schon ein frühes Zeugnis aus der Studienzeit, ein mögliches Indiz, dass Nietzsche die
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Abneigung gegen Schleiermacher von Ritschl erbte. „Mir persönlich gefällt die Gestalt des Democrit gewaltig, freilich habe ich sie
mir ganz neu reconstruiert, da unsre Philosophiehistoriker weder ihm noch Epikur je gerecht werden können, weil sie frumb
sind und rechte Juden vor dem Herrn; am allerwenigsten aber der weibische, geistreichelnde, unwahre und unklare
Schleiermacher“ (Brief an Gersdorff, I.2:350). Dieser antisemitische Seitenhieb sollte hier einmal mehr als Anspielung auf die
platonisch-jüdisch-stoische Tradition der Allegorese verstanden werden, zu welcher Schleiermacher als christlicher Theologe
und Platoniker nach Nietzsches Auffassung tendiert. Die deutsche Metaphysik ist für Nietzsche deshalb nichts anderes als die
letzte Transformation christlichen Gedankenguts. Schon Heine hatte genau dieselbe Linie gezeichnet: „Ja, wie einst die
alexandrinischen Philosophen allen ihren Scharfsinn aufgeboten, um, durch allegorische Auslegungen, die sinkende Religion des
Jupiter vor dem gänzlichen Untergang zu bewahren: so versuchen unsere deutschen Philosophen etwas Aehnliches für die
Religion Christi. Es kümmert uns wenig, zu untersuchen, ob diese Philosophen einen uneigennützigen Zweck haben; sehen wir
sie aber in Verbindung mit der Parthey der Priester, deren materielle Interessen mit der Erhaltung des Catholizismus verknüpft
sind, so nennen wir sie Jesuiten.“ (1979:191). Ähnlich auch Weygold: „Schon vor Zenon empfand man das Bedürfnis, den
zumteil läppischen Göttersagen einen tieferen Sinn unterzulegen […] Erst die Stoiker haben in ihrem Bestreben, die dem
Untergang verfallene Volksreligion zu retten, das Geschäft der Umdeutung in dem Masse planmässig und umfassend betrieben,
dass sie mit Recht als die eigentlichen Väter der Allegorik gelten können.“ (1883:210). Interessanterweise verwendet Heine an
derselben Stelle und im selben Zusammenhang den Ausdruck von „bloßem Spinnweb“ für die Systeme der (deutschen)
Metaphysik – ein Bild, das auch Nietzsche immer wieder bemüht (z.B. MA II.194, 2:464; M 71, 3:69; GM III.9, 5:357; AC 11,
6:178; viele Fälle im Zarathustra ).
[162] Vgl. den Brief an Gersdorff vom 16. Februar 1868, I.2:255.
[163] Zur Leib-Problematik s. ferner die Beiträge der 6. Nietzsche-Werkstatt Schulpforta unter dem Titel „‚Der Leib ist eine
grosse Vernunft‘“ – Die Aktualität der Philosophie der Leiblichkeit Friedrich Nietzsches“ vom 10.-13. September 1997,
abgedruckt in Nf 5/6 (2000).
[164] Eine Vertiefung dieses Umstandes würde an dieser Stelle zu weit führen. Die deutsche Philologie der Neuzeit ist schon seit
Winckelmann und Herder, besonders aber in der Goethezeit auf vielfältige Weise von organizistischen Vorstellungen befruchtet
worden: etwa in dem Sinne, dass Kulturen oder Sprachen als komplexe Organismen aufzufassen sind, deren Leiblichkeit ebenso
real ist wie ihr geistiger Gehalt; dass Sprachen oder Kulturen demzufolge auch wie lebende Wesen untersucht werden mussten
usw.
[165] Man vergleiche ferner das Porträt, das Büchelers Schüler Rudolf Borchardt in einem Nachruf aus dem Jahre 1908
zeichnet. Er würdigt vor allem Büchelers textkritische Arbeit und seinen kritischen Widerspruchsgeist, den dieser
selbstverständlich auch von den Studenten fordert. Ein Beispiel aus einer Übung zur Emendatio einer Plautus-Stelle: „Bücheler
zeigt, dass die bisherigen Verbesserungen nicht nur an sich unmöglich sondern methodisch falsch sind. Er betrachtet nicht
mehr das einzelne Wort sondern das Gefüge, in dem es steht: und siehe da, es zeigt sich daß die Gesundheit, die anscheinend
die eine wunde Stelle umgibt, ganz scheinbar ist; der Heilende verwandelt sich in den Zerstörer, reißt nach links und rechts das
Pflaster vom schlechten Gewebe und grenzt das gesunde mit unfehlbarem Auge davon ab. Man sieht nun in die ganze traurige
Verstümmelung hinein, man sucht selbst schon, halb unbewußt, während das Ohr dem Lehrer zuhört, nach Heilmitteln; da
klingt die Glocke.“ (1990:54f)
[166] Im Mittelalter wird die Grammatik häufig allegorisch als Greisin dargestellt, die in einem elfenbeinernen Kästchen
11
Instrumente zur chirurgischen Behandlung von Sprachfehlern aufbewahrt (Curtius, 1993:48f).
[167] In den unredigierten Notizheften kehrt das Motiv der chirurgischen Zergliederung immer wieder. Siehe etwa N VII I S. 13
im Kontext der Auseinandersetzung mit Kritik und Wissenschaft und kritischer Zucht für die Philosophen. In N VII I S. 17 will
sich Nietzsche zwar nicht nur als „Analysten“ und Experimentator sehen, gleichwohl sei die Kritik Vorbedingung seines Wesens
als „die Lust am Neinsagen u. Zergliedern, die Sicherheit der Hand, welche das Messer führt “ (Seite durchgestrichen): die
hier von mir kursivierte Stelle tritt als Einsetzung auf der nicht durchgestrichenen S. 29 beim Lob der kritischen Zucht eines
Kant, F.A. Wolf, Lessing, Niebuhr erneut auf – vgl. VII 34[221]. Dass Nietzsche ähnliche medizinische Metaphern u.a. bei Wolf
gefunden hat, zeigen auch die Exzerpte zu „Wir Philologen“, vg-L z.B. IV 3[35] zusammen mit dem KSA-Kommentar, KSA
14:558.
[168] Nämlich solcher Fachtermini wie z.B. lacunae, luxaturae, omissiones (vgl. z.B. Wolf, 1831:314ff).
[169] Nach Eckermanns Gesprächen mit Goethe (1. Februar 1827, Eckermann, 1968:214), „dem besten deutschen Buche,
das es giebt“ (WS 109, 2:599)
[170] Hier soll naturgemäß nicht behauptet werden, dass Zarathustra identisch mit Nietzsche oder auch nur dessen
Sprachrohr ist. Gleichwohl gibt es nicht wenige Stellen im Zarathustra , an denen Nietzsche biographischen Stoff verarbeitet.
[171] „Zarathustras Philosophie ist nicht nur – und womöglich nicht in erster Linie – in dem niedergelegt, was er sagt, sondern
darin, wie er es sagt. Tempo und Verhaltenheit, Ducken und Strecken, skandierte Rhythmik und melodisches Fließen haben ihr
Maß im kollektiven Ensemble des mythischen Leibes, für den hier – in diesem poetischsten von Nietzsches Werken – der
natürliche Körper steht.“ (Mattenklott, 1982:33)
[172] Siehe Lachmanns Polemik „Ausgaben classischer Werke darf jeder nachdrucken. Eine Warnung für Herausgeber“ aus
dem Jahr 1841, in Lachmann (1876b:558–576).
[173] Dieser Grundsatz gilt selbst dann, wenn der Text frei von jeder erkennbaren Crux, d.h. jedem nicht emendierbaren
Überlieferungsfehler ist.
[174] Zitiert nach Nietzsches Originalaufsatz im „Rheinischen Museum“: Zur Geschichte der Theognideischen
Spruchsammlung. RM 22 (1867), S. 162. An Fritz Bornmanns Edition dieses Aufsatzes für die KGW ist naturgemäß nichts
auszusetzen. Es lohnt sich aber bisweilen – nur deshalb sei diese Stelle eingefügt – den Originalkontext von Nietzsches
Publikationen zu berücksichtigen, insbesondere wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, um seine erste eigenständige
wissenschaftliche Publikation handelt. Dieser Kontext geht durch die Sammelpublikation der Philologica verloren. Im Vergleich zu
den anderen Aufsätzen derselben Ausgabe des „Rheinischen Museums“ wird nämlich deutlich, wie eng der Bereich der Text-
und Quellenkritik ist, auf die sich Nietzsche eingelassen hat – und wie erstaunlich weit er ihr schon zu entsprechen vermag.
Seine genaue Scheidung der überlieferten Handschriftengruppen bzw. -familien endet in einem schönen Stemma (S. 166). Man
versteht sehr gut, wie beeindruckt Ritschl von der Gelehrsamkeit des knapp 23jährigen gewesen sein muss, der ‚die Methode‘
tatsächlich schon in Vollendung beherrschte.
[175] Schon in Aufzeichnungen aus dem Jahr 1865 heißt es über Strauss' Leben Jesu : „Voraussetzungslos kann keine
historische Kritik in diesem Falle sein. Das Verhältniß Gottes zur Welt muß dem Forscher als feste Ansicht vorliegen. Daraus
dann Verwerfung oder Annahme des Wunderbegriffs.“ (KGW I.4:53). „In diesem Falle“ bedeutet eine Einschränkung gegenüber
der normalen philologischen Vorgangsweise, die in anderen Fällen bis zu einem gewissen Grade durchaus voraussetzungslos
sein kann. Andreas Urs Sommer hat ausführlich Nietzsches Inspiration durch Wellhausen beschrieben, dessen Nachweis der
literarischen Fälschung des Pentateuch von ihm auf die Evangelien übertragen werde (2000b:417f). Freilich kann keine Rede von
einer direkten Übernahme sein: Nietzsche fühlt sich von Wellhausen wohl lediglich in seinem philologischen Misstrauen
bestätigt.
[176] David Friedrich Strauss hatte ihn in der Jugend begeistern können, da er in revolutionärer Weise die historisch-kritische
Methode auf die Person Jesu anwandte. Noch in der Götzen-Dämmerung nennt er ihn deshalb den „ersten deutschen
Freigeist“ (GD Was den Deutschen abgeht 2, 6:104). Die erste Unzeitgemässe war bekanntlich eine Auftragsarbeit Wagners,
die Nietzsche später selbst bereute. Freilich war ihm Strauss auch persönlich als Repräsentant des selbstzufriedenen
Bürgertums suspekt, der ebenso wie dieses durch den vermeintlichen Sieg der deutschen Kultur als Modellfall der „Entartung“
des deutschen Geistes gelten kann. Anlass war das Erscheinen des „Bierbank-Evangeliums“ (ebd.), Strauss' vielgelesenen Der
alte und der neue Glaube von 1872.
[177] Vgl. bes. Shapiro (1982), Sommer (2000b) sowie Campioni (2001), hier v.a. Kap. II, S. 51–107. Schon Barbera/Campioni
(1984) konnten zeigen, wie der Antichrist aus der Polemik gegen Renans Versuch, das Christentum in der Figur des Jesus als
Genie zu retten, wuchs: „ein Versuch, der von Nietzsche als Symptom der Korruption der Vernunft und der innersten Instinkte
gesehen wird“ (299). Renan werde von Nietzsche als symptomatisch für die Erkrankung der Willenskraft des modernen
Frankreich gelesen (Campioni, 2001:74).
[178] In einem Brief an Köselitz vom 15. Januar 1888 erwähnt Nietzsche ein Buch von Georg Brandes mit Aufsätzen über
Renan, Flaubert, die Goncourts u.a., das ihm gerade zugegangen sei: „feines Zeug, wie es scheint.“ (III.5:233). Es handelt sich
um den Titel, der in Nietzsches nachgelassener Bibliothek noch vorhanden ist. Im Aufsatz über Renan wird dieser gleich auf der
ersten Seite als „Philologe“ vorgestellt (Brandes, 21887: 73).
[179] Vgl. Brandes (1901). Dagegen Nietzsche: „Ich will mit Niemandem mehr verwechselt werden“. So Nietzsche an Köselitz
am 17. April 1883, nach dem Ende seiner Beziehung zu Paul Rée, mit dem er ja in der Tat verwechselt worden war.
„Verwechselt mich vor allem nicht!“ (EH Vorwort 1, 6:257) ist ein Imperativ, der allen seinen Schriften eingeschrieben ist und
seine heftigen Ausfälle gerade gegen jene Autoren erklärt, die ihm besonders wichtig waren. Renan war übrigens einer der
wenigen Franzosen, die im Hause Wagner geschätzt wurden (Näheres in Campioni, 2001). Vgl. auch den Brief Nietzsches vom
18. April 1873: „Der verehrungswürdigsten Frau Gemahlin schicke ich heute, mit den besten Grüßen, den Paulus von Rénan
(sic).“ (II.3: 145).
[180] Zu Nietzsches Wahrnehmung Renans als religiösem Schriftsteller s. auch Zitat und Kommentar in JGB 3.48, 5:69f.
[182] Tylors grundlegendes Werk Primitive Cultures von 1871 hat Nietzsche nachweislich gekannt. Von Lubbock las er On
the Origin of Civilisation and the Primitive Condition of Man. Mental and Social Conditions of Savages (1870) in der
deutschen Übersetzung, die in der nachgelassenen Bibliothek erhalten ist (John Lubbock, Die Entstehung der Zivilisation und
der Urzustand des Menschengeschlechtes, erläutert durch das innere und äußere Leben der Wilden . Übers. v. A. Passow,
nebst einleitendem Vorwort v. Rudolf Virchow, Jena, 1875). Diese Seite Nietzsches ist noch immer zu wenig erforscht, bisher
lassen sich guten Gewissens allenfalls die höchst aufschlussreiche Quellenstudie von Orsucci (1996) sowie Thatcher (1983)
empfehlen. Ein Hinweis auf die Lektüre Lubbocks findet sich schon in MA I.111, 2:112.
[183] In Nietzsches nachgelassener Bibliothek sind diese Werke erhalten: Joseph Kohler, Das Recht als Kulturerscheinung.
Einleitung in die vergleichende Rechtswissenschaft , Würzburg, Stahel'sche Univers. – Buch- & Kunsthandlung, 1885 und
Albert Hermann Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis . 2 Bd.
Oldenburg, Schulzesche Hof-Buchhandlung und Hof-Buchdruckerei, 1880–81. Das Buch ist sehr genau durchgearbeitet
worden. Man beachte hier wiederum S. 2 des ersten Bandes und den Verweis auf die hervorragende „comparative Methode“
namentlich Bastians, Tylors und Lubbocks.
[184] Vgl. schon V 6[7]: „Oft wird ein Trieb mißverstanden, falsch gedeutet z.B. der Geschlechtstrieb, der Hunger, die
Ruhmsucht. Vielleicht ist die ganze Moral eine Ausdeutung physischer Triebe.“
[185] In der Tat stammt Nietzsches Forderung an die Philosophen, ‚jenseits von Gut und Böse‘ zu denken, aus der Erkenntnis,
dass es Moralphilosophie gar nicht geben kann, da es an moralischen Phänomenen gebricht. „Das moralische Urtheil hat Das
mit dem religiösen gemein, dass es an Realitäten glaubt, die keine sind“ (GD Die Verbesserer der Menschheit 1, 6:98). Moral ist
deshalb nur eine Missdeutung bestimmter Phänomene (ebd.), es fehlt am Text – „Das moralische Urtheil ist insofern nie wörtlich
zu nehmen: als solches enthält es immer nur Widersinn. Aber es bleibt als Semiotik unschätzbar: es offenbart, für den
Wissenden wenigstens, die werthvollsten Realitäten von Culturen und Innerlichkeiten, die nicht genug wussten, um sich selbst
zu ‚verstehn‘. Moral ist bloss Zeichenrede, bloss Symptomatologie: man muss bereits wissen, worum es sich handelt, um von
ihr Nutzen zu ziehen.“ (ebd.)
[186] Im Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (KGW I.4:506–539) beschreibt Nietzsche sein Interesse an Palimpsesten.
Am regelmäßigsten und eifrigsten habe er deshalb Paläographie bei Tischendorf gehört sowie, durch Ritschl vermittelt, viel mit
Handschriften gearbeitet (522ff).
[187] In eckigen Klammern stehen hier an syntaktisch passender Stelle die später hinzugefügten Stellen, die im Original über
dem Text stehen bzw. hineingezeichnet sind.
[188] Das Ding an sich ist für Nietzsche nur die letzte Inkarnation des christlichen Gottesbegriffs (s. z.B. AC 17, 6:184).
[189] FW 3.151, 3:494f; vgl. Schopenhauer, 1988, Bd.2, 17. Kapitel des 1. Buches, S. 184–218.
[190] „unbezwingliche[s] Misstrauen gegen die Möglichkeit der Selbst-Erkenntniss“ (JGB 9.281, 5:230)
[192] „[…] Anwendung einer Methode , deren ebenso kunstvoll entfaltete als naturgemäße Lehren sich der Menschheit erst
nach langem Streben enthüllt haben, und von deren Anwendbarkeit man die Grenzen nicht kennt. Der Kernpunkt aller der
zahlreichen Vorsichtsmaßregeln dieser Methode liegt aber gerade darin, daß der Einfluß der Subjektivität des Forschers
neutralisiert wird. Die subjektive Natur des einzelnen Menschen ist es aber gerade, welcher die Spekulation ihre jedesmalige
Gestaltung verdankt.“ (Lange, 1974, Bd. 2: 829)
[193] Es sei betont, dass Lange im anschließenden Exkurs in die Assoziationspsychologie die Kategorie der Kausalität für die
psychologischen Prozesse und Beobachtungen problematisiert und den Positivismus somit weit hinter sich lässt.
[194] In Otto Liebmanns Gedanken und Thatsachen von 1882, einem Buch, das Nietzsche gründlich gelesen und mit vielen
Anstreichungen versehen hat, werden interessante Parallelen zwischen der altertumswissenschaftlichen Teildisziplin der
Numismatik und der Naturforschung gezogen. Die komparative Methode der einen wird auf das Gebiet der anderen übertragen:
„Wenn an mehreren Stellen Europas eine Anzahl altrömische Münzen von ganz gleichem Gepräge, etwa mit demselben Bildniß
des Kaisers Vespasian, ausgegraben wird, so schließt jedermann von der Gleichheit ihres Gepräges darauf, daß sie aus
demselben Prägestock hervorgegangen sind. Wenn eine Anzahl Naturproducte, seien es Krystalle oder Gewächse oder Thiere,
von gleicher Form uns vor Augen tritt, so sehen wir uns zu einem analogen Rückschluß von der Gleichheit des Typus dieser
Dinge auf die Identität der formgebenden Ursachen gedrängt. Dieser naturphilosophische Schluß wird genau ebenso berechtigt
sein wie jener numismatische. Nur sind wir bei Artefacten, z.B. Münzen, über die Beschaffenheit der Ursache ihrer
Formgleichheit äußerst klar, während sie bei Naturproducten für uns in ein räthselhaftes Dunkel gehüllt bleibt.“ (1882:89)
[195] Zu Nietzsches instrumentaler Auffassung der Naturwissenschaft und der naturwissenschaftlichen Psychologie existiert in
der nachgelassenen Bibliothek ein wenig beachtetes Werk. Harald Hoffdings Psychologie in Umrissen auf Grundlage der
Erfahrung (Höffding, 1887) war ein Buch, dessen Titel Nietzsche sehr ansprechen musste. Es hat es gründlich
durchgearbeitet; es könnte für das Spätwerk, besonders den Antichrist und Ecce Homo , einige Bedeutung gehabt haben.
Høffdings Auffassung des Materialismus – damit ist hier naturwissenschaftliche Methodik gemeint – entspricht genau derjenigen
Nietzsches: er selber, so Hoffding, sei kein Materialist, bediene sich aber gern materialistischer Methodik. Sein Methodenideal ist
empirisch und phänomenologisch; Metaphysik darf es erst geben, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft seien.
Folgenden Satz hat sich Nietzsche gleich doppelt angestrichen: „Als naturwissenschaftliche Methode ist der Materialismus
unangreifbar. Etwas andres ist es, wenn die Methode ohne weiteres zu einem System umgebildet wird.“ (S. 74) Interessant
musste für Nietzsche der Versuch des dänischen Forschers sein, die Psychologie von objektbezogener Naturwissenschaft auf
der einen und Metaphysik auf der anderen zu unterscheiden, hier hat Nietzsche besonders heftig angestrichen, wie z.B. dies:
„Die unmittelbare Selbstbeobachtung und das unmittelbare Bewußtsein sind sowohl dem Physiologen als dem Metaphysiker die
Quelle, woraus sie schöpfen, die sie aber oft übersehen, weil ihr wesentliches Interesse nicht eben diese unmittelbare
Beobachtung ist, sondern das, was sie daraus schließen zu können glauben.“ (20). Bewusstsein hat freilich keine Grenzen im
Raum: „Die erste Schwierigkeit, die sich hier darbietet, entspringt daraus, daß die seelischen Zustände keine ruhenden und
festen Objekte sind wie diejenigen, welche den Gegenstand der physischen Beobachtung bilden.“ Hoffding gibt Anleitungen zur
Selbstbeobachtung, die von Nietzsche am Rand mehrmals mit ‚gut‘ und ‚ja‘ kommentiert werden, z.B. auf S. 21f: „Während des
Erlebens soll man nur das Netz mit allem darin Befindlichen ans Land ziehen, oder wie der Botaniker die Pflanzen einsammeln,
die sich zufällig darbieten. Das völlig und klar Erlebte wird in der Erinnerung bleiben und durch diese untersucht werden
können.“ Wenn diese Schwierigkeiten evtl. überwunden werden können, so besteht noch die Schwierigkeit der individuellen
Verschiedenheit der Beobachter, das gelte aber auch für Physik. Der Vergleich ist hier das probate Mittel – auch Hoffding
bezieht sich öfters auf Ethnologen wie Lubbock, Tylor, Spencer, aber auch auf die vergleichende Sprachwissenschaft. Man
müsse sich immer mit anderen Selbstbeobachtern vergleichen und das Chaos der Beobachtungen dann in eine Klassifikation
überführen. Die Tatsachen der Beobachtungen bilden nur die Grundlage, die nun noch erklärt werden müssen, indem man
Gesetze und Regeln für ihr Wechselverhältnis aufstellt, eben das sei die psychologische Analyse, wobei es aber nie
erschöpfende Sicherheit gebe (24f). Die Parallelen zu Nietzsches Perspektivismus (s.u.) liegen auf der Hand.
[196] Man muss durchaus nicht gleich so weit gehen wie schon Jean Granier: „Ainsi, on peut affirmer que Nietzsche a écrit,
pour l'étude des phénomènes moraux, un nouveau Discours de la Méthode, car il est le premier à avoir, d'une manière
systématique, fixé les règles d'une critique de toutes les valeurs.“ (1966:169f)
[197] Ich habe die französische Fassung unter dem Titel Théorie et Histoire de l'Historiographie benutzt.
[198] Auf ähnliche Weise will ja selbst Croce in seiner neuen Geschichtsschreibung nicht auf die Anreicherung des Materials mit
[199] Siehe den entrüsteten Brief vom 19. Mai 1887 (III.5:76f).
[200] Einige Urteile macht sich Nietzsche gleich zu eigen, wie das folgende Beispiel zeigt. Nietzsche kopiert zwar z.T. fast
wörtlich, aber, und das ist charakteristisch für seine Aneignungsweise, verschärft den ursprünglichen Gedanken noch. Konkret
geht es um den Vergleich von Goethes Faust und Byrons Manfred , seit frühester Jugend eines der wichtigsten Werke für
Nietzsche. Der Vergleich fällt bei Taine sehr zum Nachteil Goethes aus. Dessen Faust sei eigentlich eine traurige, völlig
untragische Gestalt „Triste héros, qui pour toute œuvre parle, a peur, étudie les nuances de ses sensations et se promène! Sa
plus forte action est de séduire une grisette et d'aller danser la nuit en mauvaise compagnie, deux exploits que tous les
étudiants ont accomplis.“ (Bd. 4:387f) Bei Nietzsche klingt dies, nicht lange nach der Lektüre des Taine'schen Buches so: „Die
Faust Idee. – Eine kleine Nähterin wird verführt und unglücklich gemacht; ein grosser Gelehrter aller vier Facultäten ist der
Uebelthäter. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Nein, gewiss nicht! Ohne die Beihülfe des leibhaftigen
Teufels hätte es der grosse Gelehrte nicht zu Stande gebracht. – Sollte diess wirklich der grösste deutsche ‚tragische Gedanke‘
sein, wie man unter Deutschen sagen hört?“ (WS 124, 2:606) Nietzsches Version wird noch gern zitiert; die Originalstelle ist
heute vergessen.
[201] „Ich behandle meinen Gegenstand, wie der Naturforscher ein Insekt behandeln würde.“ (Taine, 1877f, Bd. 1:xxiv) – so
Taine in seinem Vorwort seines Werks zur französischen Geschichte.
[202] Buckles History of Civilization in England (1857–61) sollte eine streng naturwissenschaftliche Art der
Geschichtsschreibung demonstrieren, die den Menschen als determiniert von Klima, Ernährung, Boden und anderen natürlichen
Voraussetzungen zeigte. Auf Comte und John Stuart Mill gestützt verwarf Buckle jegliche Spekulation und wollte nur Fakten und
Gesetze gelten lassen. Dazu Nietzsche: „[…] der berüchtigte Fall Buckle's; der Plebejismus des modernen Geistes, der
englischer Abkunft ist, brach da einmal wieder auf seinem heimischen Boden heraus, heftig wie ein schlammichter Vulkan und
mit jener versalzten, überlauten, gemeinen Beredsamkeit, mit der bisher alle Vulkane geredet haben.–“ (GM I.4, 5:262). An
Köselitz schreibt Nietzsche am 20. Mai 1887: „Die Bibliothek in Chur, ca. 20 000 Bände, giebt mir dies und jenes, das mich
belehrt. Zum ersten Male sah ich das vielberühmte Buch von Buckle „Geschichte der Civilisation in England“ – und sonderbar!
es ergab sich, daß B⟨uckle⟩ einer meiner stärksten Antagonisten ist.“ In Nietzsches Nachlass gibt es einige Stellen, die sich
kritisch gerade mit Milieutheorien auseinandersetzen (z.B. VIII 7[33]).
[203] Hinzu kommt, dass Taine, der im Gegensatz zu Renan dem christlichen Glauben fernsteht, die Bedeutung des
wissenschaftlichen Ethos ganz im Sinne der Philologie betont. Sein Griechenbild entspricht Nietzsches eigenen Idealisierungen
(vgl. Taine, 21866:vii).
[204] Empfehlenswert zu Taines Methodik Jæger (1917), bes. der Abschnitt über Taines englische Literaturgeschichte (S. 63
–91). Jæger hebt Taines Versuch hervor, über reine Analyse und Anatomie hinauszugehen; die von Jæger bei Taine
diagnostizierte Diskrepanz zwischen Forderung naturwissenschaftlicher Methode, zoologischer Taxonomie und mangelnder
eigener Anwendung trifft auch auf Nietzsche zu. Hier wie dort hat die Beschwörung der Wissenschaft den rhetorischen Zweck,
die eigene Redlichkeit über Zweifel erhaben zu machen. Die Standardbeschreibung von Taines heute vernachlässigtem Werk aus
literaturwissenschaftlicher Sicht findet sich bei Wellek (1966). Wellek betont die Bedeutung der Physiologie als Grundlage der
Moral bei Taine. Den Begriff der race übersetzt er passend mit dem (herderschen) ‚Volksgeist‘, während unter moment eher
eine Art ‚Zeitgeist‘ zu verstehen sei. Auch er zögert, Taine als Positivisten einzuordnen, dies gelte allenfalls in einem sehr weiten
Sinn, insofern Taine die Naturwissenschaften bewunderte. Sein Werk sei vielmehr (trotz großem Einfluss Hegels) als Reaktion
gegen den Idealismus zu sehen. In jüngerer Zeit hat Nordmann (1992) eine Rehabilitierung Taines gewagt und die Bedeutung
der komparatistischen Methode Taines, den experimentellen Charakter seiner Kritik sowie die Rolle der Lektüreerfahrung
(expérience) betont – nicht gerade Kennzeichen eines Musterpositivisten. Texte seien für Taine Symptome nicht für Dinge,
sondern Zeichen des inneren, zu ergründenden Menschen. Erfahrung stehe im Mittelpunkt; Taine gehöre an eine zentrale Stelle
des humanistischen Menschenbilds und der Geschichtsschreibung. Taine gehe konsequent vom Werk aus, das als Zeichen
(signe) seiner Materialität, der Psychologie seines Verfassers und der Soziologie seiner Entstehung gelesen werde: Stilistik,
Psychoanalyse und Soziologie seien nur die Fortsetzungen des zwanzigsten Jahrhunderts; Taine sei deshalb als Vater des
kritischen zwanzigsten Jahrhunderts zu lesen. Auch zur Ikonologie Panofskys bestehe eine Verbindung. Die Stichhaltigkeit all
dieser Thesen und Argumente muss die Taine-Forschung prüfen. Hier sei hinzugefügt, dass Nietzsche Taine bei aller
Bewunderung nicht unkritisch gegenüber stand. So sei Taine etwa durch Hegel verdorben worden (EH Warum ich so klug bin
3, 6:285).
[205] Im Wintersemester 1870/71 hörte Nietzsche Burckhardts Vorlesung über das Studium der Geschichte, die später unter
[206] N VII I S. 97f (genauer als die verfälschende Stelle in VII 34[147]). Vgl. auch JGB 3.45, 5:65f.
[207] „Nietzsche ist ein höchst subjektiver, ein genialischer Leser, der nur aufnimmt, was er gerade nötig hat, und bei dem es
an Fehldeutungen nicht mangelt […].“ (Wuthenow, 1994:40) Dies ist selbst eine Fehldeutung, weil sie die Rhetorik und
Instrumentalisierung von Nietzsches Lektüren verkennt (vgl. dazu Benne, 2004b).
[208] Das Organismusdenken Nietzsches kann hier nicht in dem Maß diskutiert werden, das es verdient hätte. Es lässt sich
aber an vielen Stellen nachweisen. Richtmaß des Organismus ist bei ihm immer der menschliche Leib; an ihm werden letztlich
sogar die größeren Organismen gemessen, die aufgrund ihrer Dimensionen aber noch nicht unbedingt komplexer sind. Einmal
mehr bestätigt sich die Einteilung der Domäne menschlicher Kultur unterhalb des individuellen Leibs: „Unser Leib ist etwas viel
Höheres Feineres Complicirteres Vollkommneres Moralischeres als alle uns bekannten menschlichen Verbindungen und
Gemeinwesen [sic!]: die Kleinheit seiner Werkzeuge und Diener ist kein billiges Argument dagegen! Was Schönheit betrifft, so
steht seine Leistung am höchsten: und unsre Kunstwerke sind Schatten an der Wand gegen diese nicht nur scheinende,
sondern lebendige Schönheit!“ (VII 7[133]). Auffällig ist auch Nietzsches Pflanzenmetaphorik, die in nahezu allen Domänen
immer wieder durchdringt: „Große Frage: wo bisher die Pflanze „Mensch“ am prachtvollsten gewachsen ist. Dazu ist das
vergleichende Studium der Historie nöthig.“ (VII 34[74]) Geht man aber über den Bereich des Menschlichen hinaus und in die
Welt des Kosmischen bzw. die Domäne der Naturwissenschaft, ist selbst eine Aussage über den organischen Charakter des
Universums bereits unredlich. Diese Domäne ist für Nietzsche scheinbar auf eine Weise unzugänglich, dass man hier höchste
Vorsicht praktizieren sollte: „Hüten wir uns, zu denken, dass die Welt ein lebendiges Wesen sei […] Wir wissen ja ungefähr, was
das Organische ist: und wir sollten das unsäglich Abgeleitete, Späte, Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde
wahrnehmen, zum Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es Jene thun, die das All einen Organismus nennen?“
(FW 3.109, 3:467ff – der gesamte Aphorismus, zu lang um hier in Gänze zitiert zu werden, ist äußerst aufschlussreich für die
Problematik des Organischen bei Nietzsche). Die Entstehung des Organismusdenken (nicht identisch mit der organologischen
Naturphilosophie der Romantik) ist mit der Geburt der Wolfschen Philologie untrennbar verbunden; der Geist Humboldts hat
ebenso darauf gewirkt wie der Geist Winckelmanns oder Goethes. In den altertumswissenschaftlichen und sprachtheoretischen
Texten, die Nietzsche studiert hat, findet es sich allerorten. Hinweise auf Nietzsches Organismusdenken bei Benne (2004b)
sowie Gebhard (1995).
[209] „Gesetzt, ich halte Jemanden für meinen Vater, so folgt daraus vielerlei für jede seiner Äußerungen gegen mich: sie
werden anders interpretirt. – Also unsere Auffassungen und Ausdeutungen der Dinge, unsere Interpretation der Dinge geben,
so folgt, daß alle ‚wirklichen‘ Einwirkungen dieser Dinge auf uns daraufhin anders erscheinen, neu intepretirt, kurz anders
wirken. Wenn nun alle Auffassungen der Dinge falsch waren, so folgt, daß alle Einwirkungen der Dinge auf uns auf eine falsche
Causalität hin empfunden und ausgelegt werden: kurz, daß wir Werth und Unwerth, Nutzen und Schaden abmessen auf
Irrthümer hin, daß die Welt, die uns etwas angeht, falsch ist. (VIII 5[19]). Gegen falsche Kausalitätsschlüsse argumentiert
schon Schopenhauer, von dem Nietzsche in dieser Hinsicht viel gelernt hat (z.B. 1988, 1. Buch §15, S. 127f).
[210] Burckhardt und Taine nennt Nietzsche gemeinsam mit nur einer weiteren Person, nämlich Bruno Bauer, in einem
Briefentwurf an Reinhart von Seydlitz: im Grunde habe er nur jene drei Leser. Über Taine fügt er hinzu: „Das ist endlich ein
Leser, dessen Cultur umfänglich genug ist, um mich zu verstehn“ (Briefentwurf vom 26. Oktober 1886, III.3:270f). Zu Bauer s.
den Kurzeintrag von Andreas Urs Sommer in NH, S. 413. Interessanterweise hob Bauer, in der Tat einer der wenigen frühen
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Nietzscheleser, den ‚mittleren‘, europabegeisteten Nietzsche heraus, den er als neuen Montaigne, Pascal und Diderot feierte. In
der Christentumskritik traf er sich ebenfalls mit Nietzsche, nicht zuletzt in der Herleitung von Teilen des Christentums aus der
Stoa sowie in der Ablehnung der historischen Verfälschung Jesu durch die Kirche.
[211] „Sie fragen mich, was Alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist? … Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr
Hass gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägyptizismus. Sie glauben einer Sache eine Ehre anzuthun, wenn sie
dieselbe enthistorisiren, sub specie aeterni – wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden
gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen. Sie tödten, sie stopfen aus,
diese Herren Begriffs-Götzendiener, wenn sie anbeten, – sie werden Allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten. Der Tod, der
Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachstum sind für sie Einwände, – Widerlegungen sogar. Was ist, wird nicht;
was wird, ist nicht …“ (GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 1, 6:74). Oder auch viel früher: „Erbfehler der Philosophen. –
Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine
Analyse desselben an's Ziel zu kommen meinen. Unwillkürlich schwebt ihnen ‚der Mensch‘ als eine aeterna veritas, als ein
Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge vor. Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist
aber im Grunde nicht mehr als ein Zeugniss über den Menschen eines sehr beschränkten Zeitraumes. Mangel an historischem
Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die allerjüngste Gestaltung des Menschen, wie eine
solche unter dem Eindruck bestimmter Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als die feste Form, von
der man ausgehen müsse.“ (MA I.1.2, 2:24f)
[212] „In England meint man Wunder, wie freisinnig die höchste Nüchternheit in Sachen Moral mache: Spencer, Stuart Mill. Aber
schließlich thut man nichts als seine moralische Empfindungen zu formuliren. Es erfordert etwas ganz anderes: wirklich
anders einmal empfinden zu können und Besonnenheit hinterher zu haben, um dies zu analysieren! Also neue innere
Erlebnisse, meine werthen Moralisten!“ (V 7[247]). Die „Moral-Historiker“ schlössen aus der Existenz verschiedener
Moralsysteme höchstens auf moralischen Relativismus, d.h. auf die Unverbindlichkeit jeglicher Moral, oder sie nähmen, in
gleicher Weise naiv, irgendeinen konstruierten Konsensus zumindest der christlichen Völker an: „sie stehen selbst unter dem
Regiment einer Moral, ohne es zu wissen und thun im Grunde nichts anderes als ihrem Glauben an sie zum Siege zu verhelfen:
– ihre Gründe beweisen nur ihren eigenen Willen, daß das und das geglaubt würde, daß das und das durchaus wahr sein solle.“
Kritisieren sie die Meinung eines Volkes über seine Moral, glauben sie die Moral selbst kritisiert zu haben, allein durch die
Bloßlegung des „Unkraut[s] von Unvernunft“ (VIII 2[163]).
[213] „Es giebt Wahrheiten, die am besten von mittelmässigen Köpfen erkannt werden, weil sie ihnen am gemässesten sind, es
giebt Wahrheiten, die nur für mittelmässige Geister Reize und Verführungskräfte besitzen: – auf diesen vielleicht unangenehmen
Satz wird man gerade jetzt hingestossen, seitdem der Geist achtbarer, aber mittelmässiger Engländer – ich nenne Darwin, John
Stuart Mill und Herbert Spencer – in der mittleren Region des europäischen Geschmacks zum Übergewicht zu gelangen anhebt.
In der That, wer möchte die Nützlichkeit davon anzweifeln, dass zeitweilig solche Geister herrschen? Es wäre ein Irrthum,
gerade die hochgearteten und abseits fliegenden Geister für besonders geschickt zu halten, viele kleine gemeine Thatsachen
festzustellen, zu sammeln und in Schlüsse zu drängen: sie sind vielmehr, als Ausnahmen, von vornherein in keiner günstigen
Stellung zu den „Regeln“ Zuletzt haben sie mehr zu thun, als nur zu erkennen – nämlich etwas Neues zu sein, etwas Neues zu
bedeuten, neue Werthe darzustellen!“ (JGB 8.253, 5:196f)
[214] „Geben sie sich weise, so fröstelt mich ihrer kleinen Sprüche und Wahrheiten: ein Geruch ist oft an ihrer Weisheit, als ob
sie aus dem Sumpfe stamme: und wahrlich, ich hörte auch schon den Frosch aus ihr quaken!“ (Za II „Von den Gelehrten“,
4:161). Immerhin lebt auch „der Gewissenhafte des Geistes“ im Sumpf (Za IV Der Blutegel, 4:309ff).
[215] Eine Sammlung verschiedenster Ansätze zur Bestimmung des Genealogiebegriffs findet sich in Schacht (Hrsg., 1994).
Besonders sei auf den Beitrag von Alexander Nehamas (Nehamas, 1994) hingewiesen, der einige der hier gemachten
Beobachtungen bestätigt. Die Genealogie versteht Nehamas als antikausalistischen Interpretationsprozess des radikalen
Historismus: auch wenn er diesen Begriff wohl kaum verwenden würde („For genealogy is a process of interpretation which
reveals that what has been taken for granted is the product of specific historical conditions, an expression of a particular and
partial attitude toward the world, history, or a text that has been taken as incontrovertible.“, S. 275). Er sei schon in der
zweiten Unzeitgemässen vorgebildet gewesen. Die Leistung der GM sei es gewesen, erstmals Phänomene wie Moral und
Askese als interpretierungsbedürftige Phänomen eingeführt zu haben (besser wäre hier: erklärungsbedürftige) und Moral selbst
bereits als Interpretation vor allem physiologischer Tatbestände entlarvt zu haben.
[216] Geertz benutzt den Begriff der Erklärung (explication) interessanterweise synonym zur Interpretation.
[217] Es ist hier nicht der Ort, die Entwicklung der amerikanischen Kulturanthropologie nachzuzeichnen. Es ließe sich aber leicht
zeigen, dass sie in ihrer Begründungsphase ohne den Import philologischen Denkens nicht denkbar gewesen wäre. Sie wurde
wesentlich von deutschen, kulturphilologisch geschulten Einwanderern wie Franz Boas geformt.
[219] Vgl. z.B. Bachmann-Medick (1996). Bachmann-Medick lässt sich auf die Metaphorisierung von Kultur als Text ein, ohne zu
bemerken, dass es sich letztlich um strukturalistisches Erbgut handelt: Handlungen und Ereignisse sollen als Text betrachtet
werden, um dadurch Bedeutungen erschließen zu können, bezeichnenderweise kennzeichne es deshalb Kultur und Text
gleichermaßen, „zu verschiedenen Lesarten“ aufzurufen (10). Bedenklich ist dabei nicht nur, dass die Allegorese wieder zu
neuen Ehren kommt (31ff), sondern dass der vermeintliche Hauptgegner des Dekonstruktivismus mit seiner Textzentrierung
(44) in Wahrheit gar keiner ist. Im „Verständnis der Textvermitteltheit von Kulturen ebenso wie von kulturellen Implikationen
literarischer Texte“ (45), der durchaus nicht neuen Beachtung sozialer Kontexte also, sollen der Ethnologie und der
Literaturwissenschaft zwar wichtige neue Gegenstandsbereiche zuwachsen, die sich sogar politisch betätigen, weil sie gegen
Marginalisierung bestimmter Gruppen und Kulturen gerichtet sind, obwohl die viel grundlegendere Frage nach der Konstitution
der entsprechenden Texte gar nicht erst angesprochen wird. Resultate, Gegenstände und Methoden des New Historicism und
verwandter Strömungen wirken denn auch häufig beliebig und nur oberflächlich überzeugend. Dem Kampf gegen die
Marginalisierungen hat sich die Dekonstruktion mittlerweile ohnehin selbst verschrieben.
[220] Nietzsche selbst unterscheidet freilich nicht so eindeutig wie Foucault den Ursprung von der Herkunft.
[221] In dem Brief an Gersdorff von Ende August 1866, der von seiner Entdeckung F.A. Langes berichtet, macht Nietzsche
zwar deutlich, dass auch unsere (sichtbaren) Organe nur Teil der Erscheinungswelt seien und die eigene Organisation, also der
eigene Leib so unbekannt wie die Außenwelt bleibt (I.2 160). Aber das rettet noch nicht das von Blondel noch verwendete Ding
an sich: dies würde ja schon eine Erkenntnis des Leibes voraussetzen, zu der es kein erkennendes Subjekt geben kann. Der
Leib kann nichts als seine Erscheinungsformen sein. Wenn wir also Texte, welcher Art auch immer, als Zeichen des Leibes
ansehen, dann macht die Summe dieser Zeichen eben den erkennbaren Leib aus. Eine Essenz dahinter zu vermuten wäre
Metaphysik und angesichts des steten Wandels nicht nur des Leibes auch unredlich. Möglicherweise hat Blondel dies ja auch
gemeint und nur missverständlich ausgedrückt oder ich habe ihn schlecht gelesen. Freilich sieht Blondel noch 1994 Nietzsches
Genealogie in der kritischen Tradition Kants. Er verweist u.a. auf Kants Verwendung des Begriffs in der ersten Auflage der Kritik
der reinen Vernunft , was mich nicht überzeugt. Die Genealogie sei auch Rées Ursprung entgegengestellt – ähnlich
argumentierte ja Foucault –; wobei der Unterschied wohl darin liegt, dass Nietzsche, der in der Tat nicht den Ursprung an sich
verfolgt, vielmehr bemüht ist, die verschiedenen möglichen Ursprünge zu kollationieren, um die Genese, also die genealogische
Beziehung zum aktuellen Gebrauch zu erforschen. Die einseitige Konzentration auf das kantische Erbe scheint mir für den
späten Nietzsche nicht plausibel.
[222] Vgl. auch Silverman (1994): der Begriff des Werks ist heute abhängig von der Idee des Autors, während der Text als
System verschiedener, vom Autor unabhängiger Codes auffassbar ist.
[223] „Cet appel de Nietzsche à la philologie est d'abord une exhortation à s'inspirer de la méthode philologique pour lire les
textes de Nietzsche d'une manière à la fois consciencieuse, conservatrice et nouvelle par rapport aux autres textes
philosophiques. […] Mais surtout, Nietzsche évoque la philologie parce que le style de son texte est intimement lié à la pratique
d'une méthode de lecture philologique appliquée au ‚texte‘ de la culture.“ (Blondel, 1986:137)
[224] In der gesamten Abhandlung konstruiert Nietzsche mehrere solcher, durch Kulturvergleich gewonnene fragmentarische
Texte. Die Voraussetzung zur guten Philologie ist also gegeben. Freilich stellt der 8. Abschnitt diese Einsicht schon wieder
ironisch in Frage, denn sie sei ja von einem Philosophen gekommen, für den die Determination durch Triebstruktur genauso
Gesetz sei wie für andere auch; psychologisches Misstrauen gegen sich selbst praktiziert Nietzsche mehrfach (vgl. auch GM
III.20, 5: 387). Wie immer warnt Nietzsche besonders vor falschen Kausalitätsschlüssen. Die Frage nach der Bedeutung des
asketischen Ideals, so lautet letztlich die Botschaft, dürfe man auch mit einem Verweis auf ihre Wirkung beantworten.
CAPES
Type: Sekundärliteratur
10.1515/NO_W018442_0006
Page: 0151
Lesen ist bei Nietzsche neben der (Text-)Kritik das zweite Merkmal der Philologie, das sie von anderen Wissenschaften bzw.
Tätigkeiten unterscheidet. Es bezeichnet das grundlegende philologische Verfahren, ohne das Kritik selbst auch nicht existierte.
Im Gegensatz zu den Philologen haben etwa Philosophen „nicht gelernt ordentlich zu lesen und zu interpretieren“ (IV 23[22]) –
man beachte schon an dieser Stelle die Unterscheidung des Lesens vom Interpretieren. Selbst Schopenhauer habe z.B. Kant
und Platon völlig missverstanden. Das „Abzeichen“ der Theologen sei ebenfalls ihr Unvermögen zur Philologie, denn Philologie
heißt „Thatsachen ablesen können ohne sie durch Interpretation zu fälschen“ (VIII 14[60]). Eine Variante im Nachlass ist noch
expliziter, hier ist die Interpretation eine völlig willkürliche Zutat zum Auslegungsprozess: „Das nenne ich den Mangel an
Philologie: einen Text als Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen“ (VIII 15[90]). Der
Stellenvergleich beweist, dass mit Mangel an Philologie nicht der Verzicht auf Interpretation gemeint ist, sondern das genaue
Gegenteil, ein Zuviel an Interpretation. Die Ellipse des zweiten Zitats hat einige Interpreten in die Irre geführt. Das
Missverständnis eines Lesens ohne Auslegung ist aber keine zwingende Lesart. Der Satz schließt zunächst naturgemäß nicht
aus, dass man fälschen kann, ohne zu interpretieren. Verfälschende Auslegung ist überdies noch immer Auslegung.
Interpretation selbst aber scheint, wie bereits dargelegt, in der Tat per se Fälschung zu bedeuten. Aus der Theorie der
philologischen Enzyklopädie folgte mit Notwendigkeit der fälschende, überwältigende und aneignende Charakter der
Interpretation, sobald sie durch Grammatik und besonders durch Kritik nicht mehr in Schach gehalten wurde. Dann wird nicht
mehr abgelesen, d.h. ein Text etabliert oder gelesen, sondern hineingelesen.
Ablesen und Lesen sind indes nicht synonym. Ablesen bezeichnet bei Nietzsche eher den Prozess der niederen Kritik, deren
Resultate mit strenger Methode gewonnen werden, wogegen Lesen selbst ein umfassenderer Begriff ist, der in eigener Weise
im Gegensatz zur Interpretation steht. Es handelt sich um einen operativen Unterschied: im Antagonismus des Lesens und
Interpretierens, den Nietzsche entfaltet, stehen sich zwei verschiedene Arten des exegetischen Zugangs gegenüber.
Interpretation bzw. Hermeneutik tendieren zur unredlichen,
Page: 0152
statisch-pneumatischen Auslegung, während das Lesen eng an die Kritik angelehnt wird. Nietzsche definiert die gute Philologie
Neben der genuinen und professionellen Tätigkeit des Philologen, die der schlechten, oberflächlichen und verfälschenden
Auslegung anderer Disziplinen überlegen ist, kennt Nietzsche eine weitere Bedeutung des Lesens. Lesen kann auch Flucht vor
dem Leben, Schwäche und Nihilismus bedeuten. Im exzessiven Lesen – und vor allem im philologischen Lesen – liegt die Gefahr
der Verkümmerung der Individualität des Lesers. Beide Aspekte des Lesens hängen, wie zu sehen sein wird, eng zusammen;
der Unterschied ist ein gradueller, kein absoluter.
Lesen, soviel sei vorausgeschickt, ist für Nietzsche in erster Linie im Bereich schriftlicher Texte möglich. Das ist weniger banal
als es klingt. Nietzsche weist damit auf die textuellen Schwierigkeiten außerhalb des philologischen Kompetenzgebietes hin, die
Lesen in den meisten Fällen zur fruchtlosen Anmaßung machen. Das Wort ‚Lesen‘ ist so unscheinbar, dass man ihm kaum
begriffliche Schärfe zutrauen mag. Kaum ein Literaturwissenschaftler, Historiker oder Philosoph, der auf sich hält, spricht heute
noch davon, Bücher oder Quellen zu lesen . Stattdessen wird interpretiert, analysiert, dekonstruiert. So ist es freilich nicht
immer gewesen. Neben der Begründung auf philologischer Kritik hat sich die Philologie als Disziplin über das Lesen konstituiert.
Schon frühzeitig erkennen sich die Philologen eine besondere Kompetenz im Lesen zu und benutzen es zur Abgrenzung von
anderen exegetischen Disziplinen wie der Theologie oder Jurisprudenz. Für Boeckh liegt der Unterschied zwischen Philosophie
und Philologie vor allem darin, dass erstere „primitiv“ erkenne, während letztere wiedererkenne , und zwar wesentlich durch die
Tätigkeit des Lesens. Das Lesen sei die „hervorragend philologische Tätigkeit, der Lesetrieb die erste Aeusserung des
philologischen Triebes“ (21886:16f). Philosophiegeschichte, das folgt bereits aus dieser Definition, sei deshalb eigentlich
Philologie (18). Ritschl nennt das Lesen die wichtigste Tätigkeit des Philologen und fordert die Schüler auf: „Lesen, viel lesen,
sehr viel lesen, möglichst viel lesen.“ (1879:28). Gleich auf der ersten Seite von Birts Kritik und Hermeneutik heißt es: „Der
Philologe muß Texte lesen; er muß sie lesbar machen.“ Einschlägige Belege finden sich bei fast allen wichtigen Autoren der
philologischen Tradition. Nietzsche ermahnt seine Studenten in der Encyclopaedie : „Da die Überlieferung gewöhnlich die Schrift
ist, so müssen wir wieder lesen lernen. Wir müssen wieder lesen lernen: was wir, bei der Übermacht des Gedruckten, verlernt
haben.“ (KGW II.3:404) Man müsse tiefer lesen, heißt es an derselben Stelle, denn der Umstand des Gedrucktseins
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suggeriere schon einen Tatbestand, der vielleicht nicht hinlänglich begründet ist. Nietzsche hält die Studenten damit nicht nur
zum Studium von Handschriften, Manuskripten, zu Paläographie und Textgenese an, sondern fordert vor allem immer wieder
das gründliche, mehrfache Lesen derselben Schrift – erst dann nehme man die entscheidenden Punkte wahr, so wie die
Korruptele einer verdorbenen Stelle sich auch erst langsam eröffne (ebd.).
Auch außerhalb des Seminarraums entwirft Nietzsche seinen idealen Adressaten als Leser , und zwar als Leser, der „ruhig sein
und ohne Hast lesen“ muss, der „nicht immer sich selbst und seine ‚Bildung‘ dazwischen“ bringe, der „noch nicht in die
schwindelnde Hast unseres rollenden Zeitalters hineingerissen“ ist (Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten , KSA 1:648f).
Neben Feinheit und Takt sind Langsamkeit und Gründlichkeit immer wieder hervorgehobene Eigenschaften der Kunst des guten
Lesens. Nietzsche bezieht sich bewusst auf ein unzeitgemäßes Zeitverständnis; das philologische Lesen ist im vorindustriellen
Zeitalter entstanden. Der Philologe ist der „Lehrer des langsamen Lesens“, und das bedeutet „langsam, tief, rück- und
vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen“ zu lesen (M Vorrede 5, 3:17). Den
schlechten Leser dagegen erkennt man an seiner Hast: „Beachten Sie wie schnell er liest, wie er die Seiten umschlägt – genau
nach der gleichen Sekundenzahl Seite für Seite. Nehmen Sie die Uhr zur Hand. Es sind lauter einzelne wohlüberdenkbare
Gedanken schwerere leichtere – und er hat für alle Einen Genuß! Er liest sie durch, der Unglückliche, als ob man je Gedanken-
Sammlungen durchlesen dürfte!“ (IV 47[7]). Die Art und Weise des Lesens und seine Geschwindigkeit muss also der Textsorte
angemessen sein. Aphorismen, ein literarisches Genre, lese man nicht zur schnellen Sinnerfassung. Ihr Sinn eröffnet sich nur
dem langsamen Leser: ein Grund, warum Nietzsche sich in seinen Schriften bevorzugt literarischer Gattungen bedient.
Im Kontrast zur voreiligen pneumatischen Auslegung, die schnell mit dem doppelten Sinn bei der Hand ist, bezeichnet das Lesen
offensichtlich das Einlassen auf fremde Gedanken und damit eine gewisse Passivität – „in fremden Wissenschaften und Seelen
spazieren gehn“ (EH Warum ich so klug bin 3, 6:284). Öffnet sich der Leser diesen Perspektiven des Textes, ist er ein guter
Leser [225]. Die schlechten Leser dagegen gehen vor „wie plündernde Soldaten“, denn „sie nehmen sich Einiges, was sie
brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Uebrige und lästern auf das Ganze.“ (VM 137, 2:436). Gutes Lesen
teilt mithin wichtige Eigenschaften der Kritik – das Einlassen auf das Fremde, dem seine Individualität zugestanden wird, den Takt
der zarten Finger und Augen. Schlechtes Lesen hingegen entspricht der Interpretation, die, auf sich allein gestellt, nach
Möglichkeit alles unterwirft und einverleibt. In der Passivität des guten Lesens liegt freilich die Gefahr alles Schwachen – vor allem
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gegenüber den „Soldaten“ –, nämlich vom anderen Geist fremdbestimmt zu werden, nur noch zu reagieren. Genau das macht
ja den Philologen (also den Fachmann des Lesens) zum décadent (vgl. EH Warum ich so klug bin 8, 6:292f). Von einer platten
Projektion eigener Vorstellungen und Empfindungen wie ihn das Bild der Interpretation als Vergewaltigung nahelegt, kann
jedenfalls beim guten Lesen Nietzsches keine Rede sein. Im Gegenteil erfordert es den Willen zu einer gewissen Distanzierung
von sonstigen Motiven. Schon F.A. Wolf schreibt:
Wenn wir etwas lesen wollen, müssen wir uns von allem Vorurtheil losmachen, d.h. mit gar keinem Wunsche dazu gehen, was
wir wohl da finden möchten, sondern uns blos dem Schriftsteller überlassen. Dies ist eine sehr wichtige Regel, zu der eine
grosse Nüchternheit des Geistes gehört, die nicht jedermann eigen ist. (1831:295)
Man könnte meinen, spätestens Gadamers Rehabilitierung des Vorurteils habe dies als Restbestand aufklärerischer Naivität oder
romantischer Utopie entlarvt. So einfach liegen die Dinge indes nicht.
Natürlich glaubt Nietzsche nicht, dass die Distanzierung von eigenen Affekten und Motiven, von eigenen Schemata, wie sie die
moderne Lesetheorie nennt [226], vollständig gelingt. Aber was sollte der Appell an das gute Lesen bezwecken, der zu fast
jedem von Nietzsches Werken seit Menschliches, Allzumenschliches gehört, wenn dieses Lesen nicht verspräche, dem
Geschriebenen bzw. Gemeinten näher zu kommen als jede beliebige andere Interpretation? Um ihn zu verstehen, so Nietzsche,
müsse man eben „rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte“ – und das bedeute u.a.: „Man muss gleichgültig
geworden sein, man muss nie fragen, ob die Wahrheit nützt, ob sie Einem Verhängnis wird ….“ Auch die unbedingte Freiheit
gegen sich selbst gehört zum guten Leser (AC Vorwort, 6:168). Ausgerechnet jenes Buch, das die Interpretation generell als
Vergewaltigung definiert, feiert das „Lesen als Kunst“ (GM Vorrede 8, 5:255f)! Die „Lesbarkeit“ (Nietzsches Begriff) nicht zuletzt
seiner eigenen Schriften kann nur durch langsames Wieder- und Wiederlesen – „Wiederkäuen“ [227] – zustande kommen
(ebd.). Es unterläuft die Schemata, indem es immer wieder neue Schemata anwendet – und immer wieder wenigstens versucht,
die Perspektive des Textleibes einzunehmen: gramma statt pneūma. Denn der ideale Leser liest gleichsam mit seinem eigenen
Leib, bis hinein in die kleinsten und scheinbar oberflächlichen Zeichen: „Kommata, Frage- und Ausrufezeichen, und der Leser
sollte seinen Körper dazu geben und zeigen, daß das Bewegende auch bewegt.“ (IV 47[7]).
Der offensichtliche Gegensatz von Lesen und Interpretieren ist keine Spezialität der Genealogie der Moral , sondern prägt
Nietzsches Schriften von Anfang an.
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In seinen wissenschaftlichen Schriften zieht Nietzsche, wie die meisten zeitgenössischen Philologen, den Begriff des Lesens
dem der Interpretation vor – auch wenn die interpretatio bzw. Interpretation als Synonyme zum Fachterminus der
hermeneutischen technē oder auch allgemein als Auslegung auftauchen (sie bezeichnen dann meist die inhaltliche Auslegung,
d.h. den sog. Sachverstand). Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung über die Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche in
einem Brief an Rohde über den jungen Wilamowitz: „Nur durch die frechsten Interpretationen erreicht er, was er will. Dabei hat
er mich schlecht gelesen, denn er versteht mich weder im Ganzen noch im Einzelnen.“ (8. Juni 1872, II.3:7). Interpretation
scheint hier sogar im Kontrast zum richtigen Lesen ein böswilliges Missverstehen zu bezeichnen. Um erklären zu können, was
Nietzsche unter dem Lesen versteht, reicht die isolierte Betrachtung seiner Schriften oder Briefe jedoch nicht aus. Erst durch
einen kurzen Blick in die Geschichte des Lesens lässt sich die besondere Bedeutung herausarbeiten.
Lesen bedeutet ursprünglich das Sammeln, besonders das Aufsammeln und Einlesen von Früchten oder Wein und wird im
Sinne des lateinischen lectio nach und nach auf das erbauliche Lesen der Schrift und das Lesen zum Vergnügen angewendet,
wobei die übertragene Bedeutung immer mehr Bereiche erfasst – jemandem im Gesicht lesen, im Buch der Welt lesen usf. [228]
Spätestens in dem Moment, da das Lesen zur verbreiteten Tätigkeit wird, also ungefähr seit der zweiten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts, kommt es zur bewussten Aufgliederung in verschiedene Arten und Weisen des Lesens. Sobald das hastige, rein
konsumierende Lesen zur Regel wird, erklärt sich die mehrmalige gründliche Lektüre ein- und desselben Buches als
Konsumverweigerung und die Zuständigkeit für eine Kunst des Lesens, die den Lohn aus sich selbst schöpft und ihr Ziel
jenseits vom bloßen Durchlesen sucht, das ohnehin nur die Lektüre des nächsten und übernächsten Buches vorbereitet [229].
Das Grimmsche Wörterbuch fasst den Un
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terschied so: „Der ernst und die anhaltende geistesarbeit beim lesen wird gezeichnet, wenn das verbum auch zugleich das
zurechtlegen und das durchdringen des dunkeln, das man geschrieben findet, mit ausdrückt, wie z.b. beim philologischen
lesen. […] umgekehrt aber ist lesen auch ein vergnügen, und heutiges tages eine allgemeine unterhaltung “ (GW, Bd.
Folgerichtig entstehen schon am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die ersten Anleitungen zum richtigen Lesen, wie etwa
Johann Adam Bergks Die Kunst, Bücher zu lesen aus dem Jahr 1799 [230], das bereits viele Topoi versammelt, die sich auch
bei Nietzsche nachweisen lassen. So lehnt Bergk eine allzu große Zahl von Büchern sowie umfangreiche Bibliotheken ab, da sie
Überdruss und Ekel erzeugen und es auch bei geistiger Nahrung Maß zu halten gelte. „Nur nüzliche Bücher und Meisterwerke
müssen unsere Gesellschafter seyn.“ (1799:33) Nietzsche bevorzugt angeblich eine kleine Zahl „bewiesener“ Bücher, zu denen
er immer wieder Zuflucht nehme: „Es liegt vielleicht nicht in meiner Art, Viel und Vielerlei zu lesen: ein Lesezimmer macht mich
krank.“ (EH Warum ich so klug bin 3, 6:284). Man begehe nicht den Fehler, dies wörtlich zu nehmen. Nietzsche war ein
geradezu unersättlicher Leser des „Viel und Vielerlei“, wie die umfangreiche Forschung zu seiner Lektüre in den letzten Jahren
nachweisen konnte [231]. Er schreibt sich lediglich in die Tradition des Connaisseurs ein, da die Lesewut zu Nietzsches Zeit
natürlich längst die Gelehrtenkreise erreicht hatte. Deren „obligatorisches Verhältnis zum Buch“ wächst sich in Zeiten des
Buchdrucks zur extremem Belastung aus; bis Mitte des achtzehnten Jahrhunderts waren die Bücher ja fast ausschließlich an
Gelehrte gerichtet (Fabian, 1977). Ihr kursorisches Lesen, erfunden zur schnellen Informationserfassung, bildete das Muster
für die hastige Romanlektüre. Spezialisierung vermochte offensichtlich bis heute das Problem der Literaturüberflutung nicht zu
überwinden – eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein.
Schon Schopenhauer kritisiert übermäßiges Lesen und Studieren als Ausdruck von Gedankenleere und als insgesamt der
Entwicklung eigener Gedanken wenig förderlich (1988, Bd. 2, 1.7:93). Der Mangel an Originalität im Vergleich mit den wahren
Philosophen, den „Selbstdenkern“, hat ernste Konsequenzen. Schopenhauer zitiert den schönen Vers aus Alexander Popes
Dunciad: „For ever reading,
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never to be read.“ Allen Hymnen auf das Lesen zum Trotz schlägt Nietzsche in dieselbe Kerbe:
Der Gelehrte, der im Grunde nur noch Bücher „wälzt“ – der Philologe mit mässigem Ansatz des Tags ungefähr 200 – verliert
zuletzt ganz und gar das Vermögen, von sich aus zu denken. Wälzt er nicht, so denkt er nicht. Er antwortet auf einen Reiz (–
einen gelesenen Gedanken), wenn er denkt, – er reagirt zuletzt bloss noch. (EH Warum ich so klug bin 8, 6:292f)
Schon der Hochschullehrer findet bei allem Lob des guten Lesens auch kritische Worte: „Bei der Lektüre erprobt der Einzelne
seine Originalität und Tiefe allgemeiner Voraussetzungen: ob nämlich alles sich in Fleisch u. Blut umsetzt; mitunter ist der
Gelehrte durch fortwährendes Einpumpen völlig abgestumpft. Im Allgem. ist es das sicherste Mittel, um keine eigenen Gedanken
zu haben, in jeder freien Minute ein Buch in die Hand zu nehmen.“ Nietzsche zitiert dazu den bekannten Vers aus dem Faust .
„Was du ererbt von deinen Vätern hast,/Erwirb es, um es zu besitzen.“ (KGW II.3:406) In Schopenhauer als Erzieher wird das
übertriebene Lesen des Philologen als Flucht vor der Langeweile interpretiert, als Flucht vor der Muße (die den Gegensatz zum
wahren Denker bezeichnet), „das heisst, er hört zu, wie jemand Anderes denkt und lässt sich auf diese Art über den langen Tag
hinweg unterhalten.“ (SE 6, 1:396). Nicht die Methode des Lesens wird kritisiert, sondern ihre übertriebene Anwendung. Es
kommt auf das Wie, Wozu und Wieviel des Lesens an, Lesen an sich ist noch kein Verdienst. Nietzsche will, gerade weil er das
Lesen an vielen Stellen feiert, betonen, dass er trotz allem kein Stubengelehrter mit den typischen Statussymbolen mehr ist
[232]. So wie sich die Philologie durch die statarische Lektüre aus der Gelehrtengemeinschaft der Polyhistorie
herausdifferenziert und im Genre der Fachenzyklopädie nicht zuletzt den Versuch unternimmt, die unendliche Bücherflut
einzudämmen, besteht Nietzsche auf dem Unterschied des freien Geistes zum gebundenen Professor.
Eine weitere Implikation aus Nietzsches Lesekritik ist jedoch weitaus interessanter. Es ist dem Gelehrten offenbar durchaus
möglich – in der Rezeptionsgeschichte von Nietzsches ‚Interpretationstheorie‘ absolut keine Selbstverständlichkeit – fremde
Gedanken aufzunehmen. In der daraus resultierenden Fremdbestimmung liegt ja gerade die beschriebene Gefahr. Lesen scheint
eine passive Tätigkeit zu sein, zu der Nietzsche die guten Leser auffordert, damit sie für seine Gedanken empfänglich werden.
Sein idealer Leser soll ein guter Philologe sein, der unermüdlich die philologische, d.h. die statarische, zyklische Lektüre aller
seiner Schriften praktiziert – „ein Leser, wie ich ihn verdiene, der mich liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen.“ (EH
Warum ich so gute Bücher schreibe 5, 6:305). In der Bonner Schule hatte die Lektüre immer ein konstruktives Ziel gehabt,
nämlich die Etablierung des Textes. Von reiner passiver Hingabe konnte keine Rede sein. Die Kritik, und zwar niedere wie höhere,
besteht ja aus
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beträchtlichen Bewertungen und Eingriffen in das Gelesene. Noch in Nietzsches Charakeristik des guten philologischen Lesens
als „Goldschmiedekunst und – kennerschaft“ des Wortes (M Vorrede 5, 3:17) kommt dieser konstruktive Aspekt zum
Ausdruck. Lesen, erfährt man an derselben Stelle, will deshalb gelernt sein – was aber gäbe es zu lernen, wenn der Leser nur
passiver Empfänger wäre?
Ein Hinweis auf den entscheidenden Unterschied beider Begriffe ist bereits in der Aktionsart der Wörter selbst verborgen: Lesen
bezeichnet einen Vorgang, Interpretation ein (statisches) Resultat. Die Aktionsart als eine Kategorie des Verbs bleibt hier in ihrer
Semantik, konkret der dynamischen Bedeutung in der Nominalisierung des Verbs ‚lesen‘ erhalten (kein ungewöhnlicher Vorgang
bei sog. Infinitivkonversionen), während man bei der Interpretation nicht mehr an den Vorgang des Interpretierens denkt,
sondern vielmehr seinen Abschluss betont. Es fällt auf, dass Nietzsche das Lesen häufig mit Metaphern der Fortbewegung bzw.
Reise beschreibt: anhand der oben zitierten Beispiele etwa als Spaziergang durch fremde Seelen oder aber als Raub- und
Kriegszug. Auch die wohl meistzitierte Stelle aus der Vorrede zur Morgenröthe , das Lesen mit „offen gelassenen Thüren“ (s.o.)
evoziert einen Erkundungsgang durch ein unbekanntes Haus. Interpretation ist substitutiv, sie bleibt auf der Stelle stehen, um
Bedeutungen beliebig untereinander auszutauschen. Lesen ist Bewegung.
In Nietzsches Schriften kommt ein durchgängiges Interesse am Reisen in allen seinen Formen zum Ausdruck, das dem Leser
die Augen über das Lesen selbst öffnen mag. Lesen und Reisen scheinen für Nietzsche nämlich verwandte Erfahrungen zu
beschreiben. „Ein Buch, wie dieses,“ formuliert Nietzsche in der Morgenröthe , „ist nicht zum Durchlesen und Vorlesen,
sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reisen, man muss den Kopf hinein- und immer wieder
hinausstecken können und nichts Gewohntes um sich finden.“
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(M 5.454, 3:274f) Die meisten Menschen glauben, notiert er sich Anfang der achtziger Jahre,
sie werden höhere Naturen, wenn jene schönen ruhigen Gegenstände auf sie eingewirkt haben: daher die Jagd nach Italien und
Reisen usw. alles Lesen und Theater-besuchen. Sie wollen sich formen lassen – das ist der Sinn ihrer Cultur-Arbeit!
Aber die Starken Mächtigen wollen formen und nichts Fremdes mehr um sich haben!
So gehen auch die Menschen in die große Natur, nicht um sich zu finden, sondern um sich in ihr zu verlieren und vergessen.
Das „Außer-sich-sein“ als Wunsch aller Schwachen und Mit-sich-Unzufriedenen. (VII 7[145])
Reisen und Lesen werden hier gemeinsam für ihre Passivität angegriffen. Eine Passivität wohlgemerkt, die Nietzsche bei seinen
eigenen Lesern wünscht, insofern er sie ja formen möchte. „Der nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend,
heranziehend, hinaufziehend, aufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich nicht umsonst einstmals zusprach:
‚Werde, der du bist!‘“ (Za IV 4:297). Wie beim Lesen, so gibt es auch beim Reisen zwei Varianten, die abgelehnt werden: die
rein empfangende und die rein plündernde. Erst ein Reisen bzw. Lesen, das eine Balance der beiden Tendenzen erreicht, das
seinen Stoff formt ohne ihn zu verwerfen, findet Nietzsches Zustimmung.
Die Parallelen zwischen Lesen und Reisen finden sich nicht nur bei Nietzsche, sondern scheinen systematischer Art zu sein.
Auch hier lohnt ein kurzer historischer Rückblick. Das neuzeitliche Lesen und das neuzeitliche Reisen entstehen nämlich im
selben geschichtlichen Augenblick und teilen nicht wenige Voraussetzungen und Eigenschaften. In den Briefen zur
Beförderung der Humanität , veröffentlicht in den Jahren 1793 bis 1797, bemerkt Herder:
Ehe Buchdruckerei da war, ging jede europäische Nation in einem engeren Bezirk von Ideen umher; ihr Charakter war vielleicht
fester. Durch Reisen und Lesen ist allem Bösen und Guten fremder Nationen die Tür geöffnet, und wenn es sich durch den
Namen Geschmack, „neuer, fremder Geschmack,“ Aufmerksamkeit erwerben kann, so hat es ohne weitere Überlegung die
Menge für sich. (8. Sammlung, 96; Herder, 1967f, Bd. 18:92; Kursivierung von mir)
Wie das Lesen, so erreicht auch das Reisen erst im achtzehnten Jahrhundert breitere, d.h. bürgerliche Bevölkerungsschichten.
Ist die frühe Neuzeit bis ins 17. Jahrhundert hinein vor allem die Ära der großen Entdeckungsreisen, so spaltet sich das Reisen
anschließend in die Forschungsreise und Expedition der Gelehrten auf der einen sowie die Bildungs- und Vergnügungsreise auf
der anderen Seite auf. An Italien, dem von Nietzsche erwähnten Reiseziel schlechthin, scheiden sich alsbald die Geister. Seit
Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke (Winckelmann, 21756) kommen die einen als
Archäologen, die anderen wegen der Ruinen-Romantik. Aus der traditionellen Kavalierstour wird freilich bald bürgerlicher
Standard, der, besonders nach Erfindung der Eisenbahn
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Seitdem die Welt im Wesentlichen entdeckt ist, richtet sich der Blick mehr aufs Detail, auf Geographie und Geologie, auf Botanik,
Ethnologie, Geschichte, auf Kunst und Kultur (dazu Wuthenow, 1980). Der traditionelle Gegensatz von Gelehrtenreise und
Kavalierstour [235] wird in der modernen Entwicklung zu einem Gegensatz von ernsthaftem, bildungsbeflissenem Reisen und
oberflächlichem, vergnügungssüchtigem Reisen umfunktioniert. Vergleichbar den ersten Anleitungen zum ‚richtigen‘ Lesen
entstehen zur selben Zeit die ersten Universitätsvorlesungen zum ‚richtigen‘ Reisen. So sollten die Studenten an der Universität
Göttingen [236] lernen, mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Sinnen zu empfinden. Um des Ziels größerer
Gelehrsamkeit willen, sollen sie lernen, die Augen aus den Büchern zu heben (vgl. Neutsch, 1999).
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In seinen Vorlesungen über Land- und Seereisen vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts, die sich im Unterschied zur
herkömmlichen Aufzählung von Sehenswürdigkeiten v.a. als Kompendium allerlei praktischer Hinweise verstehen, unterscheidet
z.B. Schlözer (s. Schlözer, 1962) zwei Arten des Reisens, nämlich die Geschäftsreise sowie die Reise um ihrer selbst willen: „Im
ersten Falle ist Reisen nur ein Mittel. Ist es Zweck, so ist es entweder a. special oder b. die Reise ist an sich Zweck, beabsichtigt
Humanität.“ (54). Ist letzteres gewollt, müsse man zu „sehen, hören, sammeln und schreiben“ lernen (ebd.), wozu auch
Sprachkenntnisse unabdingbar seien. In diesem „Sammeln“ schließt sich der Kreis zur Etymologie des Lesens. Reisen und
Lesen, mit Herder zu sprechen, sind die beiden Wege, Neues aufzunehmen, sich dem Fremden auszuliefern. Bücher „zeigen
uns den Weg, den wir gehen müssen , um Auffschluß über uns und über die Welt zu erhalten“, schreibt entsprechend Bergk
(1799:ix; Kursivierung von mir). „An English man does not travel to see English men“, heißt es bei einem von Nietzsches
Lieblingsautoren (s. VM 113., 2:424ff), in Laurence Sternes Sentimental Journey (1967:85). Wenig bekannt ist der Umstand,
dass Nietzsche Mitte der achtziger Jahre den Protagonisten dieses Werks aufgreift und einen Gedichtband konzipiert, der in
enger Beziehung zum Wanderer und sein Schatten steht. Der geplante Titel: „Der neue Yorick. Lieder eines empfindsamen
Reisenden.“ (Nachweise s. KSA 14:712f).
Empfindsamkeit und Aufnahmefähigkeit akzeptiert Nietzsche als Kriterien des erfolgreichen Reisens. In Burckhardts
sprichwörtlich gewordenem Cicerone ist immer wieder vom „aufmerksamen Beobachter“ (1978:238) die Rede, obwohl das
Buch dem flüchtigen Reisenden lediglich „die notwendigen Stilparallelen“ geben will und keinen Anspruch auf Tiefe und
Versenkung ins Einzelwerk erhebt (ix) – das bleibt offensichtlich dem Einzelnen überlassen. Der Cicerone bestärkt den
Grundsatz, dass ohne Lesen kein erfolgreiches Reisen stattfinden kann – und umgekehrt [237]: für die Philologen gehört der oft
mehrjährige Italienaufenthalt zum obligatorischen Studienprogramm. In Nietzsches Encyklopaedie gelten Reisen und
Ausgrabungen als „Hauptmittel“, um sich in die Lebenswelt der Antike hineinzuversetzen (KGW II.3:436).
Ritschl, der 1836/1837 in Italien verlebte, notiert in seinen Aufzeichnungen u.a. den Satz: „Damals, als die Alpen noch nicht so
leichten Fusses überschritten wurden und das Touristengeschwätz über Italien noch nicht Mode war, konnten Reiseberichte
noch auf empfänglichere Leser rechnen.“ (nach Ribbeck, 1879, Bd. 1:165ff). Faszinierend sind die Reisebriefe Ritschls mit sehr
genauen Beobachtungen und Betrachtungen und der Absicht, „seinen Lesern den möglichst vollen und scharf präcisirten Inhalt
des Gesehenen, Erfahrenen, Empfundenen vorzu
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legen, das Charakteristische der Landschaften wie der Leute und ihrer Sitten in lebensvollen, abgerundeten Bildern
wiederzugeben, ohne je in die ausgetretenen Geleise des Reisebeschreibers zu gerathen.“ (ebd.). In Leipzig sorgt er für ein
ständiges Reisestipendium, weil es unentbehrlich für das philologische Studium sei (Bd. 2:404) [238]. Niebuhrs Brief an einen
jungen Philologen wiederum, den Nietzsche wie erwähnt für seine Vorlesungen zur Methodenlehre benutzte, umschreibt das
gesamte philologische Studium mit den Begriffen der genau beobachtenden, vergleichenden Gelehrtenreise [239]:
Das Alterthum ist einer unermeßlichen Ruinenstadt zu vergleichen, über die nicht einmal ein Grundriß vorhanden ist, in der sich
jeder selbst zurecht finden und sie begreifen lernen muß, das Ganze aus den Theilen, die Theile aus sorgfältiger Vergleichung
und Studium, und aus ihrem Verhältniß zum Ganzen. Wenn jemand, der nur einen Anstrich von architektonischen Kenntnissen
hat, von Hydrostatik gar nichts weiß, den größten Theil der Ruinen Rom's kaum gesehen, außer Rom nun vollends gar nichts,
wenn ein solcher über die Ruinen der Wasserleitungen schreiben wollte, der würde etwas machen, wie ein Schüler, der über
einen Zweig der Alterthumskunde dissertiert. (1839:135) [240].
Nietzsche, der unermüdliche Spaziergänger und Wanderer, der selbst das halbe Leben ein Reisender ist, macht sich die enge
In der Wüste der Wissenschaft. – Dem wissenschaftlichen Menschen erscheinen auf seinen bescheidenen und mühsamen
Wanderungen, die oft genug Wüstenreisen sein müssen, jene glänzenden Lufterscheinungen, die man „philosophische
Systeme“ nennt: sie zeigen mit zauberischer Kraft der Täuschung die Lösung aller
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Räthsel und den frischesten Trunk wahren Lebenswassers in der Nähe; das Herz schwelgt, und der Ermüdete berührt das Ziel
aller wissenschaftlichen Ausdauer und Noth beinahe schon mit den Lippen, so dass er wie unwillkürlich vorwärts drängt. Freilich
bleiben andere Naturen, von der schönen Täuschung wie betäubt, stehen: die Wüste verschlingt sie, für die Wissenschaft sind
sie todt. Wieder andere Naturen, welche jene subjectiven Tröstungen schon öfter erfahren haben, werden wohl aufs
Aeusserste missmuthig und verfluchen den Salzgeschmack, welchen jene Erscheinungen im Munde hinterlassen und aus dem
ein rasender Durst entsteht – ohne dass man nur Einen Schritt damit irgend einer Quelle nähergekommen wäre. (VM 31, 2:393)
Die beiden zitierten Aphorismen stammen aus der Phase der Selbstklärung nach dem Desaster um die Geburt der Tragödie .
Bekanntlich war Nietzsche selbst für wissenschaftlich tot erklärt worden [241], weil scheinbar der ‚schönen Täuschung‘ der
Wagnerschen Kunstreligion und des Schopenhauerschen philosophischen Systems erlegen. Nietzsche denkt sich nun selbst als
den Suchenden, der das Zeitalter der Synthese allzu nahe glaubte, aber einsehen muss, dass die Suche weitaus mühsamer und
langwieriger war als erhofft. In Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs 1873 in Berlin erschienener Erwiderung auf Erwin Rohdes
Verteidigung der Tragödienschrift hieß es:
Nicht von dem wonnig lockenden rufe des dionysischen vogels, der uns den weg in die längst verlorene heimat zeigt, hab' ich
heut zu reden; wir tun einen ritt ins staubig trockne land der philologischen erudition. doch ich denke mir auch nicht dionysische
vögel als publicum, sondern philologen, die zwar aus dem borne der ewigen jugend zu trinken gewohnt sind, aber wol wissen,
dasz man dorthin nicht im Ikarosfluge gelangt, sondern in mühseligem wandern, nicht ohne „die askese selbstverläugnender
arbeit“. wenn ich da verspreche, jeden unnützen aufenthalt zu vermeiden, kann ichs wol wagen; für etliche erfrischende
aufheiterung sorgen schon die zukunftsphilologen […] (in Gründer, Hrsg., 1969:114)
Kein Zweifel: Nietzsche hat aus der schmerzlichen Erfahrung gelernt und sich selbst wieder auf den Weg begeben. Er
sympathisiert wohl am meisten mit jenem rasend Durstigen, der sich erneut auf die Suche ad fontes macht – und wie Nietzsche
die historische Kritik neu entdeckt. Es überrascht nicht, wenn das Bild der nie abgeschlossenen Reise als Entwurf von
Nietzsches geistigem Selbstverständnis bereits im frühen Nachlass von 1867/68 auftaucht, und zwar in Vorarbeiten zu einer
Studie über die Literaturgeschichte. Hier rügt Nietzsche die gewöhnliche „Laxheit in litterarischen Untersuchungen“ (KGW
I.4:395), die naturwissenschaftlichen Maßstäben nicht genügen. Er legt deshalb die strengen Kriterien Ritschls an, den er in dem
Entwurf an anderer Stelle feiert (KGW I.4:466). Nietzsche fährt fort:
Meine Methode ist, für eine einzelne Thatsache zu erkalten, sobald der weitere Horizont sich zeigt usw. So ist unser Streben
eine Wanderung ins Unbekannte mit der unsteten Hoffnung, einmal ein Ziel zu finden, wo man ausruhen kann.
Solche Ziele sind aber nur Einsichten voll wesentlichem Einfluß auf uns selbst.
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Das Ergebniß einer Forschung erregt unsren Verstand, aber unser Wesenskern bleibt kalt. Aber endlich stößt man doch einmal
an Auffassungen, Analogien usw. die uns kräftig in Bewegung setzen.
Es ist bei naturwiss. Forschung nicht anders. Das Treibende sind immer jene unbekannten fernen Gebiete, wo wir die Resultate
des Forschens mit dem des Lebens im Einkla⟨n⟩g sehn.
Manche bescheiden sich u. sind mit dem Wege zufrieden; es genügt ihnen nach Zielen zu wandern, sie sind zufrieden, ein
Streben nach Zielen zu besitzen. (KGW I.4:395f)
Die vage Hoffnung auf ein Ziel, bei dem man ausruhen möge, hat Nietzsche spätestens in den siebziger Jahren aufgegeben
(wenn er sie denn überhaupt je hegte). Das Wandern als Bild der mühsamen wissenschaftlichen (philologisch geprägten) Arbeit,
als Kombination kritisch-komparatistischer Quellenforschung und teilnehmenden, subtilen Lesens bleibt erhalten und wird von
Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch
herrschen, fand ich gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und aneinander geknüpft: bis sich mir endlich zwei
Grundtypen verriethen, und ein Grundunterschied heraussprang. (JGB 9.260, 5:280).
‚Wandern‘ bzw. philologisches Lesen ist dynamische, bewegliche Auslegung, die die wichtigsten Elemente der Kritik schon
integriert hat – im Beispiel aus Jenseits von Gut und Böse etwa die Recensio der Moralen, die zu zwei Archetypen führte.
Wandern ist kritisches Interpretieren (niedere und höhere Kritik), also Erklären und Bewerten, eine Weltbetrachtung, die sich
zuerst den Text erschafft, nämlich erwandert, der alsdann näher zu analysieren ist: „wir haben eine Kritik der moralischen
Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu thut eine Kenntniss der
Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben“ (GM
Vorrede 6, 5:253). Und gleich im Anschluss: „Es gilt, das ungeheure, ferne und so versteckte Land der Moral – der wirklich
dagewesenen, wirklich gelebten Moral – mit lauter neuen Fragen und gleichsam mit neuen Augen zu bereisen: und heisst dies
nicht beinahe so viel als dieses Land erst entdecken?…“ (GM Vorrede 7, 5:254). In seiner Vorschule der Ästhetik , die Nietzsche
wohl kannte, schreibt Jean Paul: „Will man sich einen größten Dichter denken, so vergönne man einem Genius die
Seelenwanderung durch alle Völker und alle Zeiten und Zustände und lasse ihn alle Küsten der Welt umschiffen: welche höhere,
kühnere Zeichnungen ihrer unendlichen Gestalt würd' er entwerfen und mitbringen!“ (Jean Paul, 1967:32). Andere Zeiten sind
für Jean Paul eben auch
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andere „Seelen-Zustände“ (ebd., S. 240). Nietzsches Wanderung durch die Moralen ist der künstlerische Versuch, die antike
Metempsychose mit Hilfe anthropologischer Wissenschaft und Divination von Kunstwerken nachzuvollziehen, die sich
gegenseitig durchdringen.
Im Wandern steckt natürlich auch der im Vergleich zum Berufsphilologen leichtere, unabhängigere Schritt. Der Wanderer ist
Herr seiner selbst. Der gute Leser ist ein guter Reisender, der zu Fuß unterwegs ist – sich allerdings von der Landschaft auch
nicht überwältigen lässt. Die Behauptung der Wanderleidenschaft bei Taine ist nicht zufällig, denn die literarischen Quellen, von
denen oben die Rede war, garantieren erst den freieren Zugang: sie erst fordern und gestatten die gaya scienza als Einübung
in die Souveränität. Nietzsches Aphorismus über „Reisende und ihre Grade“ ist in diesem Sinne als Allegorie seiner
Erkenntnistheorie als einer spezifischen Weiterentwicklung des philologischen Lesens zu verstehen:
Unter den Reisenden unterscheide man nach fünf Graden: die des ersten niedrigsten Grades sind solche, welche reisen und
dabei gesehen werden, – sie werden eigentlich gereist und sind gleichsam blind; die nächsten sehen wirklich selber in die Welt;
die dritten erleben Etwas in Folge des Sehens; die vierten leben das Erlebte in sich hinein und tragen es mit sich fort; endlich
giebt es einige Menschen der höchsten Kraft, welche alles Gesehene, nachdem es erlebt und eingelebt worden ist, endlich auch
nothwendig wieder aus sich herausleben müssen, in Handlungen und Werken, sobald sie nach Hause zurückgekehrt sind. –
Diesen fünf Gattungen von Reisenden gleich gehen überhaupt alle Menschen durch die ganze Wanderschaft des Lebens, die
niedrigsten als reine Passiva, die höchsten als die Handelnden und Auslebenden ohne allen Rest zurückbleibender innerer
Vorgänge. (VM 228, 2:483f) [242]
Bis in den Wortlaut hinein erinnert diese Stelle an den oben zitierten Vers Goethes über die Amalgamierung des Fremden. Reisen
bzw. Lesen – jegliche Aufnahme des Fremden – darf sich nicht in reiner Empathie und Empfänglichkeit, dem ‚gereist werden‘
erschöpfen. Diese Überzeugung gibt Nietzsche auch nach dem Bruch mit Wagner nicht preis. Gleichzeitig ist es nur die ‚Reise‘,
welche Erkenntnis des Fremden überhaupt ermöglicht. Die Reise, die eine Wanderschaft, eine suchende, gründliche, langsame,
einfühlende Tätigkeit ist, steht daher mit Recht im Gegensatz zum vergewaltigenden Kriegszug der Soldaten, die das Fremde
nicht kennenlernen, sondern lediglich besitzen wollen. Nietzsche hat deshalb an mehreren Stellen das gute und schlechte Reisen
nach Maßgabe der Reisemittel und Reiseart unterschieden und der Arbeitsweise der Gelehrten sowie dem Prozess des guten
und schlechten Lesens verglichen:
Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen gewöhnt,
und Jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen. Selbständige und vor
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sichtige Haltung der Erkenntniss schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab, der Freigeist ist in Verruf gebracht,
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namentlich durch Gelehrte, welche an seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre Gründlichkeit und ihren Ameisenfleiss
vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel der Wissenschaft bannen möchten: während er die ganz andere und höhere
Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten
Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Cultur zu zeigen. (MA I.5.282, 2:230f)
Der Freigeist geht offenbar noch über den Gelehrten hinaus, dessen Reiseart sich selbst längst dem Industriezeitalter angepasst
hat. Der Freigeist hält einerseits unzeitgemäß an der Fußreise fest, die die Gelehrsamkeit ursprünglich erst hervorgebracht
hatte, andererseits kann er auf den „Ameisenfleiß“ akribischer Wissenschaftstouristen ebenso verzichten, da seine souveräne
Perspektive ihm Einsichten gestattet, die anderen aufgrund ihrer Kurzsichtigkeit verwehrt bleiben. Hier besteht kein Zweifel, wen
Nietzsche mit dem Heerführer meint. Zu seinen Heerscharen, zu seiner Grundlage des „Sehen und Urtheilen“ werden die von
ihm gelesenen Bücher.
Nietzsche bedient sich mit seiner Allegorie nicht nur eines bis heute beliebten Mittels, nämlich durch Reisekritik gleichzeitig Lese-
und Kulturkritik zu üben (ein jüngeres Beispiel etwa Barthes, 1957), sondern stellt das eigene Lektüreverhalten als Wanderung
oder Spaziergang in eine Tradition, die in der engen Verbindung von Landschaft und Buch von der Gesellschaft sich abkehrt, ein
Reaktionsmuster, das bereits das achtzehnte Jahrhundert hervorgebracht hatte [243]. „Natursehnsucht, Weltschmerz und
Gesellschaftskritik“ (von König, 1996:13), wie sie zunächst im Spazierengehen symbolisiert werden, gehen dann auf das
Wandern über. Der Wanderer übernimmt, angestiftet vom romantischen Zeitgeist, die inhärente Kulturkritik. Später schließen
die urbanen Flaneure in ihrer Ablehnung der Massengesellschaft industriellen Typs an diese Verweigerungshaltung wieder an
[244]. Genau in dem Moment, da Raum- und Zeiterfahrung des industriellen Zeitalters durch den Eisenbahnverkehr völlig
verändert werden und die Bildungs- und Bäderreisen mit ihren fest umrissenen Zielen sich längst vom Privileg der
Oberschichten zum bürgerlichen Mainstream entwickelt haben, verwandelt sich das Wandern von der zweckgerichteten
Fortbewegung von A nach B hin zum Selbstzweck als „langsame, den Raum gleichsam körperlich abtastende Fortbewegung
durch Landschaft und Gesellschaft – sie dient nun als Mittel, um sinnliche Erfahrung und Anschauung zu sammeln“ (Kaschuba,
1999). [245] Diese
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neue Art der Fortbewegung entspricht in wesentlichen Zügen dem langsamen, am Textleib orientierten philologischen Lesen
gegenüber der Lesewut des beginnenden Massenzeitalters; das Zusammentreffen ihrer Entstehungsgeschichten ist nicht dem
Zufall geschuldet.
Wie Wandern und Flanieren ist das Lesen regellos, der Eingebung folgend, fröhlich. Zur Kunst wird es einerseits als technē, als
Kenner- und Meisterschaft, die nur durch lange Übung zu erlangen ist, andererseits durch den Willen zur Form; zur
Wissenschaft wird es, nach Nietzsches Verständnis, durch ständige Rücksicht auf die textuelle Basis. Der gute, philologisch
geschulte Leser gleicht dem langsamen Fußgänger, der sein Ziel nicht genau kennt und die Gegend nach allen möglichen
Gesichtspunkten betrachtet, der sich aus der Beschleunigung des Zeitalters herausnimmt. Der schlechte Leser fährt Eisenbahn
und weiß genau, wo er ankommt – der allerschlechteste fällt als christlicher Kreuzritter in fremde Lande ein. Gert Mattenklotts
Versuch, Nietzsches Aphorismenkunst mit einem Ausdruck Lichtenbergs als „spazierengehende[s] Denken “ zu erfassen
(1997:227) trifft daher, wenn man das metaphorische Feld ein wenig erweitert, ins Schwarze. Nietzsches Denken versteht sich
in erster Linie zwar als Wanderschaft, geht bisweilen aber durchaus spazieren oder flanieren [246].
In Nietzsches nachgelassener Bibliothek befindet sich ein Buch, dessen interessanteste Seiten zum Zeitpunkt der
Katalogisierung zwar teilweise noch unaufgeschnitten waren, das aber dennoch als zeittypisches Dokument die neue
Bedeutung des Reisens und die Verbindung des Reisens zum Lesen und Studieren verdeutlicht. Der beiliegende Prospect zu
David Kaltbrunners Der Beobachter. Allgemeine Anleitung zu Beobachtungen über Land und Leute für Touristen,
Exkursionisten und Forschungsreisende (Kaltbrunner, 1881) beginnt mit der Feststellung: „Wir leben in einer Zeit der Reisen
und geographischen Studien.“ Da Reisen so verbreitet sei, wolle die vorliegende Publikationsreihe eine Anleitung zum Reisen,
also v. a. zum genauen Beobachten, eine Einführung in die „Kunst“ des Reisens geben. In der ersten Lieferung werden
Eigenschaften und Fähigkeiten des idealen Reisenden beschrieben, z.B. außer Beobachtungsgabe und Forschungstrieb ein
kritischer Sinn, um die zu vergleichenden Tatsachen auch gebührend beurteilen zu können: die Anleihen bei der
zeitgenössischen Philologie sind deutlich spürbar. So wird denn auch die Bedeutung des Lesens in Verbindung mit der Reise
hervorgehoben, denn nur im Verhältnis zu den eigenen Kenntnissen könne man überhaupt sehen und beobachten. Man müsse
sich vollkommen auf das fremde Volk einlassen, die Sprache lernen, mit ihm leben (S. 146f). Dabei müsse man ständig
fortlaufende Notizen machen, am besten täglich (167). Der ideale Reisende achte auf
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jede Kleinigkeit, bis hin zu grammatischen Phänomenen; er sammele und vergleiche alles, auch die Sitten und Gebräuche, Klima,
Wo Wissenschaft selbstreflexiv wird, greift sie auf ein metaphorisches Vokabular zurück, das außerhalb ihrer Grenzen liegt und
dennoch die eigenen Besonderheiten veranschaulicht. Bis heute hat sich die Reisemetapher für das philologische Lesen
gehalten. Zwar verwenden fast alle Wissenschaften das Klischee vom Betreten des Neulands, wenn sie Weiterentwicklungen
innerhalb der Disziplin beschreiben, aber die philologische Lektüre ist hier besonders konsequent. Als ein Beispiel von vielen sei
Jean Bollack angeführt, einer der wenigen Philologen, die das philologische Lesen immer gegen außerphilologische Zumutungen
verteidigt haben. In seinem jüngsten Buch über Celan werden langjährige Notizen und Lesefrüchte zum „Expeditionsbericht“
und „Logbuch“ der „Erkundungsreisen“ (Bollack, 2000b:11) stilisiert [247]. In der Philologie ist seit Entstehung der Ethnologie
und Kulturanthropologie gerade die Textsorte der Feldforschung zum beliebten Bild geworden; Nietzsches Schriften sind
lediglich ein früher Beleg dafür.
Die Literaturwissenschaft unserer Tage geht den umgekehrten Weg und versucht über den Anschluss an die ethnologische
Forschung das philologische Lesen zurückzugewinnen. Möglicherweise hat hier auch die Konjunktur der wissenschaftlichen
Beschäftigung mit dem Genre der Reiseliteratur seinen Ursprung, die sich in den letzten Jahrzehnten beobachten lässt. Gert
Mattenklott entdeckt Segalens und Malinowskis [248] reisende Feldforschung als Paradigma poetischer Wissenschaft und
wissenschaftlicher Kunst zugleich (Mattenklott, 1996). Dass gerade Segalens Werk eine „Rhetorik und Topik“ bescheinigt wird,
die der „des erobernden Jägers“ entgegengesetzt sei und die „das Erleiden“ an die Stelle des „Tuns“ setze, ist nur umso
einleuchtender durch die dokumentierte Beeinflussung Segalens durch Nietzsche. Die reisenden Nachfolger Nietzsches, zu
denen Mattenklott außer Segalen und Malinowski noch Aby Warburg zählt (von dem
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später noch ausführlicher die Rede sein wird), seien einerseits durch eine Abkehr vom rein enzyklopädischen Reisen
gekennzeichnet, andererseits vermögen sie gleichfalls der doppelten Verführung zu entgehen, dem Fremden gegenüber
entweder naiv-imperial oder aber naiv-verklärend aufzutreten. Historische Betrachtung entgehe ganz wie das Reisen selbst „nur
dann dem Selbstverlust, wenn es als Kunst betrieben wird, die sich zuallererst um den Reisenden selbst zu kümmern hat“ (44)
und müsse auf der Ebene zwischen Unterjochung des Fremden bzw. der Bereitschaft, sich selbst vom Fremden unterjochen zu
lassen, angesiedelt sein. Mattenklott beschreibt damit eine Dialektik von Selbst- und Fremderfahrung, die als Übertragung von
Nietzsches Lesetheorie verstanden werden kann. Nietzsche nämlich macht die Operation des philologischen Lesens zum
Maßstab des Umgangs mit dem Fremden und dem Ich zugleich – parallel zum Maßstab der Kritik. So wie sich der Textbegriff nur
mit Mühe und angespannter Redlichkeit auf Bereiche außerhalb der Schrift übertragen lässt, benötigt der Leser ein stetig
wachsendes Maß an Subtilität und Übung, wenn er das Auge aus dem Buch hebt und nach innen bzw. nach außen richtet. Im
Lesen ergänzen die Blickrichtungen einander in einem ewigen Fluss, dessen Erkenntnisgrenzen noch längst nicht abgemessen
sind:
Wohin man reisen muss. – Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht nicht lange aus, um sich kennen zu lernen: wir brauchen
Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja Nichts als Das, was wir in jedem
Augenblick von diesem Fortströmen empfinden. Auch hier sogar, wenn wir in den Fluss unseres anscheinend eigensten und
persönlichsten Wesens hinabsteigen wollen, gilt Heraklit's Satz: man steigt nicht zweimal in den selben Fluss. – Das ist eine
Weisheit, die allmählich zwar altbacken geworden, aber trotzdem ebenso kräftig und nahrhaft geblieben ist, wie sie es je war:
ebenso wie jene, dass, um Geschichte zu verstehen, man die lebendigen Ueberreste geschichtlicher Epochen aufsuchen
müsse, – dass man reisen müsse, wie Altvater Herodot reiste, zu Nationen – diese sind ja nur festgewordene ältere
Culturstufen, auf die man sich stellen kann –, zu sogenannten wilden und halbwilden Völkerschaften namentlich, dorthin wo der
Mensch das Kleid Europa's ausgezogen oder noch nicht angezogen hat. (VM 223, 2:477f)
Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis ist nur durch die simultane Erforschung des Fremden zu haben. Sie lehrt uns die Genese
der eigenen Bedingtheit. Die ethnologische Feldforschung erinnert an die geschichtliche Relativität jeder individuellen Verfassung,
an den historischen Sinn. Die Reise fördert so das Lesen im eigenen Ich. Es gebe freilich, so fährt Nietzsche fort, noch „eine
feinere Kunst und Absicht des Reisens“, diejenige nämlich, die nicht an die physische Fortbewegung gebunden ist, sondern es
erlaubt, „Culturfärbungen“ auch in der Nähe zu beobachten, in Menschen und Gegenden, in denen sich ältere
Geschichtsmomente erhalten haben, namentlich fern der Großstädte. Man könne „nach langer Uebung in dieser Kunst des
Reisens“ sogar zum „hundertäugigen Argos“ werden, dem es schließlich leicht fällt, sich selbst, seine eigene Individualität („sein
ego“), in beliebige vergangene Zeiten und Orte zu versetzen, d.h. jene
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ungeheuren Abstände zu überwinden, die der geschichtliche Strom aufgerissen hat: „So wird Selbst-Erkenntniss zur All-
Erkenntniss in Hinsicht auf alles Vergangene“ (ebd.). Die multiperspektivische Sehweise, die noch genauer untersucht werden
Die Kunst des Reisens geht wie jene des guten Lesens mit einem Verbot der Allegorese einher. Das Allegoreseverbot ist bei
Nietzsche, wie anfangs demonstriert, unverzichtbar und geradezu Signatur der redlichen Philologie. Die „Philologie des
Christentums“, und das heißt die Theologen „bringen ihre Muthmaassungen so dreist vor wie Dogmen und sind über der
Auslegung einer Bibelstelle selten in einer redlichen Verlegenheit.“ Auf diese Weise – durch „eine unverschämte Willkürlichkeit
der Auslegung“ – bringe das Christentum dem ganzen Volk die „Kunst des Schlecht-Lesens“ bei, das Nietzsche detailfreudig
anhand von Beispielen belegt: „wo nur ein Holz, eine Ruthe, eine Leiter, ein Zweig, ein Baum, eine Weide, ein Stab genannt wird,
da bedeute diess eine Prophezeiung auf das Kreuzesholz“ (M 84, 3:79f).
Problematisch wird nun der Umstand, dass Nietzsches Reflexionen über das Lesen und Reisen selbst allegorisch geschildert
werden, und dies ist nur ein Beispiel von vielen. Verbietet Nietzsche dem Leser nicht die Annahme von Allegorien? Bedeuten das
„einfache Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt“ (MA I.270, 2:223) oder die Forderung, Tatsachen abzulesen „ohne sie
durch Interpretation zu fälschen“ (AC 52, 6:233) somit die Beschränkung des guten Lesers auf den sensus litteralis? Dagegen
spricht ja nicht nur die allegorische Behandlung des Reisemotivs, sondern auch Nietzsches Hinweis, in seinen eigenen Schriften
gebe es manches „zu lesen […] was nicht gerade darin geschrieben steht“ (VM 175, 2:455). Dagegen spricht z.B. auch die
durchaus glaubwürdige Anekdote Sebastian Hausmanns, der Nietzsche Mitte der achtziger Jahre auf Spaziergängen in Sils
Maria begegnete. Hausmann beklagt seine Lektüreschwierigkeiten; als Beispiel fällt ihm die bekannte Stelle über Frauen aus dem
Zarathustra ein („Ver
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giß die Peitsche nicht!“ – Za I, 4:86). Nietzsche antwortet: „Aber ich bitte Sie, das kann Ihnen doch keine Schwierigkeit machen!
Ich meine, es ist doch klar verständlich, daß das nur eine scherzhaft übertriebene, symbolistische Ausdrucksweise ist. Wenn du
zum Weibe gehst, so laß dich nicht von der Sinnlichkeit unterjochen, vergiß nicht, daß du der Herr bist, daß es die wahrlich auch
nicht geringe Aufgabe des Weibes ist, dem Mann als freundliche Begleiterin, als Verschönerin seines Lebens zu dienen.“ (nach
Gilman, 21985:410). Da die Rekonstruktion der Bedeutung von Lesen und Interpretieren bei Nietzsche naturgemäß auch
Auswirkungen auf unseren Umgang mit seinen eigenen Texten hat, muss hier nochmals weiter differenziert werden. Es gilt
zunächst, die Mechanismen der grundlegenden ersten Domäne, der Domäne schriftlicher Texte, bloßzulegen. In Verlängerung
des letzten Kapitels dürfte es einleuchten, dass man es erst verstehen muss, ins Innere von Nietzsches Schriften zu dringen,
ehe man mit seiner Hilfe die übrigen Domänen bereisen darf.
Verglichen mit philosophischen Verfassern wie Kant und Hegel und mit dem Großteil der akademischen Philosophie wirken
Nietzsches Texte gerade wegen ihrer „symbolistischen Ausdrucksweise“ literarisch. Nietzsche gilt spätestens seit Sarah
Kofmans wegweisender Studie (Kofman, 21983) als der Philosoph der Metapher. Die Metapher sei es, die ihn aus der
philosophischen Tradition heraushebe und einzigartig mache. Die Metapher sei bei ihm von Beginn an mehr als nur ein
Übertragungsmittel im Sinne der Rhetorik, also (im aristotelischen) Sinn sekundär zum Begriff. Im Gegensatz zu Aristoteles sei
für Nietzsche der Mensch geradezu das metaphorische Tier [249]. Wenn Nietzsche die Allegorese der Theologen und
Metaphysiker, der Christen und Idealisten angreift, kann er die Selbstbeschränkung auf den sensus litteralis nicht gemeint
haben.
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Allem Anschein zum Trotz liegt darin kein Widerspruch zur Forderung nach ‚einfachem Verstehenwollen‘ oder anderen
theoretischen Äußerungen Nietzsches zur Exegese. Nur vermeintlich ist die allegorische Praxis unvereinbar mit der
allegoresefeindlichen Theorie. Die Annahme einer ‚wörtlichen Bedeutung‘ im klassischen Sinne setzt sie nicht voraus. Der sog.
sensus litteralis existiert nämlich nur als Gegenstück zum sensus spiritualis. Wer diesen ablehnt, lehnt jenen gleich mit ab. Wie
Gerhard Kurz bemerkte, erscheint der sensus litteralis nur deshalb als ‚wörtliche‘ Bedeutung, weil das Augenmerk beim
fraglichen Text auf der allegorischen Bedeutung liegt, wobei es natürlich zwischen interpretierter und uninterpretierter
Bedeutung keinen Unterschied gibt – selbst die scheinbar wörtliche Bedeutung kann ja ihrerseits wieder metaphorisch sein usf.
(1982:30). Die Privilegierung des Wortsinns etwa im Anschluss an die Reformation ist somit ein historisch gewachsenes
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kulturelles Artefakt, das nur auf der Grundlage einer schon etablierten Trennung von eigentlicher und uneigentlicher Rede
beruht. Diese Trennung aber ist die ursprüngliche theologische Operation [250]. Im Gegensatz zu ihr steht nicht die Betonung
des sensus litteralis, sondern die rhetorische Auffassung der Sprache. Sprache ist danach schon immer tropologisch und kennt
keine essentialistische ‚Normalbedeutung‘ und damit keinen wesentlichen Unterschied von eigentlicher und uneigentlicher
Bedeutung. Es ist diese Sprachauffassung, der sich Nietzsche verpflichtet fühlt. Nietzsche meint also nicht, man müsse die
Sprache seiner Texte im traditionellen Sinne ‚wörtlich‘ nehmen, um dem Allegoreseverbot Rechnung zu tragen.
Das Problem ist damit freilich nur verschoben, nicht gelöst; denn wo verläuft die Grenze zwischen allegorischer Schreibweise
und Allegorese, zwischen Metapher, Symbol und Allegorie? Wie löst Nietzsche das Dilemma, auf Allegorese verzichten zu
wollen, ohne gleichzeitig die subtilsten Leistungen der Sprache und des Interpretierens einzuschränken? Wie ist redliches Lesen
angesichts der ständigen Möglichkeit von ironischer, allegorischer, metaphorischer oder symbolischer Rede und Bedeutung
überhaupt möglich? Es ist dies die Grundfrage der Literaturwissenschaft, ja der Exegese überhaupt (vgl. auch Szondi,
1962:270), und zwar bis heute. Mit Anklängen an die Reise- und Eroberungsmetaphorik, der sich schon Nietzsche bedient,
heißt es noch jüngst bei Walter Haug: „Kritische Verweigerung gegenüber allem allegorischen Interpretieren ist für den
Literaturwissenschaftler erstes Gebot, denn die Allegorese ist die krudeste Form der Usurpation des Fremden – auszunehmen
ist selbstverständlich jene Literatur, die sich
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schon selbst einem Modell ausgeliefert hat, die also genuin allegorisch ist.“ (Haug, 1999:76f) Das Erkennen des allegorischen
Modells bedarf aber bestimmter Kriterien, hängt mithin bereits wieder vom Verstehen ab. Die Sprache eines beliebigen Textes
kann noch so akribisch linguistisch analysiert werden: jede Analyse versagt vor der potentiellen übertragenen Bedeutung, vor
der generellen Eigenschaft sprachlicher Äußerungen, mehrdeutig zu sein. Diese Mehrdeutigkeit ist kein Problem, das den
sensus litteralis betrifft und demzufolge linguistisch zu lösen wäre, sondern ein Problem des Meinens und Verstehens [251] –
letztlich der Kommunikation zwischen Individuen.
Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat sich fast ausschließlich auf die Metapher konzentriert, obgleich diese nur im Kontrast
und Vergleich zu verwandten Phänomenen zu erklären ist. Freilich schließt der Gebrauch des Metapherbegriffs häufig die
Allegorie ein. Bei Nietzsche kommt man um eine Differenzierung von Allegorie und Allegorese, bildlichem Ausdruck und
figurativem Sprechen schon deshalb nicht herum, weil sie für ihn selbst noch unangefochtene Tatsache war. Es kann in diesem
Rahmen freilich nicht um eine neue Theorie der Metapher oder um eine vollständige Aufarbeitung etwa der Metapherntheorie in
den Schriften Nietzsches gehen [252]. Hier interessiert allein die Bedeutung der Metapher und ähnlicher Phänomene für das
Verhältnis der exegetischen Theorie zum Lesen und Interpretation bzw. zur Philologie. Über die mittlerweile traditionelle Frage
nach der Rolle von Metaphern in begrifflich-philosophischer Sprache, wie sie etwa Sarah Kofman in ihrem eben erwähnten Werk
stellt, wird damit hinausgegangen.
Kofman bezeichnet mit ‚Metapher‘ jede absichtliche bzw. unabsichtliche übertragene Redeweise. Ähnlich wie bei Blumenberg ist
diese nur ein Spezialfall von Unbegrifflichkeit (Blumenberg, 1973:77). Dies ist insofern problematisch, als von Nietzsche ja
gerade die Existenz begrifflich-unmetaphorischer Rede bezweifelt wird, wie Kofman selbst behauptet – und somit in zwei
Widersprüche läuft. Erstens kann man nicht die Ubiquität der Metapher behaupten und gleichzeitig ihren Gebrauch bei
Nietzsche hervorheben. Es handelt sich letztlich um das Dilemma, das die Dekonstruktion nicht nur in Kauf nimmt, sondern
provoziert: es gibt keinen Ausweg mehr, wenn die Metapher zugleich Objekt und Instrument der Analyse ist. Zweitens, und dies
hängt eng damit zusammen, kann Kofman sich nicht vollständig vom Dualismus des eigentlichen/uneigentlichen Sprechens
lösen. In ähnlicher Manier hat schließlich auch die linguistische Metapherntheorie bis heute den unseligen Gegensatz nicht
überwunden. Sie geht meist davon aus, dass im Verstehensprozess erst dann eine Metapher angenommen wird, wenn es
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Unterscheidet man dennoch, wie etwa Searle (1979), Satz- und Äußerungsbedeutung, so kommt auf diesen Unterschied gar
nichts an, denn außerhalb der Theorie treten Sätze bzw. Texte naturgemäß nur im Gebrauch auf. Die Interpretation
metaphorischer wie nicht-metaphorischer Ausdrücke beschränkt sich mithin auf die (Vor)Auswahl des richtigen Kontexts zum
Verständnis der Äußerung – was sich unter anderem daran zeigt, dass bei entsprechend angemessenem Kontext beide Arten
von Ausdrücken gleich schnell und leicht verarbeitet werden (vgl. schon Rumelhart, 1979). Mit Searle lässt sich aber erhärten,
dass für die Interpretation der Metapher keine außersprachlichen Konventionen, sondern in erster Linie die Beobachtung der
Konversationsmaximen (z.B. im Sinne von Grice) und Sprechaktregeln nötig sind: „metaphorical meaning is always Speaker's
utterance meaning.“ (1979:93). Um eine Metapher als Metapher zu interpretieren muss ich annehmen , sie stamme vom
Urheber der Rede bzw. des Textes. Folglich muss es auch regelmäßige Beziehungen zwischen Satzbedeutung (nicht
Wortbedeutung!) und Metaphorik geben. Die meisten Metaphertheorien [253] sind
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sich deshalb heute über die Kontextgebundenheit der Metapher einig. Das Bewusstsein einer ‚doppelten‘ Bedeutung ist immer
aus dem Verständnis des ganzen Kontexts abgeleitet. Die Dichotomie eigentlich/uneigentlich bezieht sich folglich auf den
Gegensatz kontextlos/kontextualisiert bzw. kontextüblich und kontextunüblich. ‚Wörtlich‘ oder ‚metaphorisch‘ zu sein ist keine
Eigenschaft von Wörtern oder Sätzen, sondern von Äußerungen und gehört deshalb in die Pragmatik, nicht die Semantik. Zu
ihrer Interpretation lassen sich daher nie allgemeine Regeln formulieren; immer entscheidet der kommunikative Rahmen von
Sprecher und Hörer bzw. Autor und Leser mit (vgl. Kurz, 1982:13).
Nietzsches Vertrautheit mit der traditionellen Rhetorik ist unbestritten und aufgrund seiner altertumswissenschaftlichen
Schulung naheliegend. Seine eigene Darstellung der antiken Rhetorik aus dem Sommersemester 1874 (KGW II.4:413–520)
zeigt allerdings auch, dass Nietzsche weit über Quintilian hinausgeht. In Anlehnung an ein Wort Jean Pauls aus der Vorschule
der Ästhetik wird die Sprache hier ganz zum Wörterbuch erblasster Metaphern [254]: Sprache ist tropisch, d.h. schon von
Natur aus ‚uneigentlich‘, dies macht ja auch die Abgrenzung der Tropen von den Figuren so schwierig. „Es giebt gar keine
unrhetorische ‚Natürlichkeit‘ der Sprache, an die man appeliren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter
rhetorischen Künsten“. Wenn Tropen, also die uneigentlichen Bezeichnungen, auch als wichtigstes „Kunstmittel“ der Rhetorik
gelten, so werde vergessen, dass hinsichtlich ihrer Bedeutung alle Wörter Tropen sind (425f). Nietzsche stützt sich in seiner
Vorlesung auf gängige antike sowie zeitgenössische rhetorische Lehrbücher. Für seine frühe Sprachauffassung [255] war
außerdem, wie die Forschung zweifelsfrei bewiesen hat, Gustav Gerber ausschlaggebend (Meijers, 1988), und damit gewisse
Aspekte der Humboldtschen Tradition. Schon bei Humboldt war die „Erzeugung der Sprache“ ganz allgemein „ein synthetisches
Verfahren und zwar ein solches im ächtesten Verstande des Worts, wo die Synthesis etwas schafft, das in keinem der
verbundenen Theile für sich liegt.“ (Humboldt, 1963:473; Hinweis in Kurz, 1982:16). Das Phänomen der Metapher ist
demzufolge kein künstliches, vom Menschen ornamental verwendetes Stilmittel, sondern Ausdruck der organischen,
gewissermaßen künstlerischen Entfaltung sprachlicher Kräfte.
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Nietzsches Wortdefinition lautet, Gustav Gerber folgend, so: „Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten.“
(WL, 1:879). Der Nervenreiz findet sich als Spur ikonisch (metaphorisch) in der Sprache wieder. Wenn Wörter bereits
Metaphern, d.h. Übertragungen aus den Komplexitäten des Leibes sind, können sie nichts ‚Eigentliches‘ mehr darstellen.
Nietzsches berühmte Definition der Wahrheit – ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz
eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die
nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken.“ (ebd., 881) – verfolgt den
Übertragungsgedanken lediglich zum logischen Schluss [256]. Eine Metapher hat bei Nietzsche damit v.a. zwei wichtige
Eigenschaften. Sie stellt erstens eine Übertragung dar und verweist zweitens ikonisch auf die Sphäre zurück, aus der sie
stammt. Metaphorischer Sprachgebrauch beruht also nicht auf Substitution, sondern auf Inter- und Transaktion. Sie kann nicht
durch eine Substitutionstheorie erklärt werden [257].
Ohne Zweifel wurde schon in der antiken Tradition, auf die Nietzsche sich stützt, Metaphorik als Übertragung (translatio)
angesehen. „Die moderne Idee einer Substitution oder Ersetzung eines eigentlichen Wortes durch ein uneigentliches ist somit
der traditionellen Rhetorik völlig fremd.“ (HWR, Bd. 5:1103). Selbst wenn Nietzsches Leser nur die Instrumente der antiken
Rhetorik handhabte, würde er sich nicht auf einen ‚eigentlichen‘ Wortsinn zu beschränken haben. Gerber musste Nietzsche in
der Interaktionstheorie deshalb nur bestärken: „Denn eben darauf kommt es an, dass Metapher und Gleichniss aus einer
Proportion hervorgehn, deren Verhältnisse verschiedenen Sphären angehören, so dass also nicht etwa die vertauschten
Begriffe selbst die Gleichung bilden, sondern die Verhältnisse, innerhalb derer sie an den einander entsprechenden Stellen
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erblickt werden.“ (1871ff, Bd. 2.1.:80) [258]
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Der Begriff der Metapher taucht in Nietzsches mittleren und späten Texten gar nicht mehr auf. Umso stärker häuft sich die
Verwendung von Ausdrücken wie ‚Zeichen‘ oder auch ‚Semiotik‘. Zwar gebe es, heißt es an einer bereits zitierten
repräsentativen Stelle in der Götzen-Dämmerung , keine moralischen Tatsachen, sondern nur eine Ausdeutung gewisser
Phänomene, das moralische Urteil bliebe jedoch als „Semiotik“ unschätzbar:
es offenbart, für den Wissenden wenigstens, die werthvollsten Realitäten von Culturen und Innerlichkeiten, die nicht genug
wussten, um sie selbst zu „verstehn“. Moral ist bloss Zeichenrede, bloss Symptomatologie: man muss bereits, wissen, worum
es sich handelt, um von ihr Nutzen zu ziehen. (GD Die „Verbesserer“ der Menschheit 1., 6:98)
Jede Moral steht mit anderen Worten für die (physiologische) Verfasstheit von Individuen und ganzen Kulturen. Der ‚Leser‘ der
Moralgeschichte, dem zwar kein verlässlicher Text (und keine moralischen Tatsache) vorliegt, kann anhand der zutagetretenden
Metaphorik gewisse Rückschlüsse ziehen. Lesen wäre hier der Versuch einer Rückübertragung im Sinne ikonischer translatio –
nicht auf etwas Eigentliches, sondern genealogisch auf den Ort der Herkunft.
Doch lässt sich das rein praktisch, d.h. in der konkreten Exegese, von Allegorese unterscheiden? Die Gefahr ist groß, aus der
‚Zeichenrede‘ beliebige Schlussfolgerungen zu ziehen. Streng genommen handelt es sich bei den Zeichen nämlich offenbar um
keine Metaphern mehr, auch deshalb vermeidet Nietzsche diesen Ausdruck. Ein entscheidendes Kriterium deutet er nämlich an,
indem er die Zeichenrede nur „für den Wissenden“ verständlich sein lässt. Es ist das Kriterium zur Unterscheidung der
Allegorie. Die Allegorie, die bei Quintilian als Tropus der inversio „aut aliud verbis aliud sensu ostendit“ (Inst. Or., VIII.vi.44) gilt,
d.h. etwas völlig anderes sagt, als sie zu sagen vorgibt, ist im Gegensatz zur Me
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tapher nur zu entziffern, wenn ein bestimmtes Wissen einbezogen wird. Im Gegensatz zur reinen Metapher, die sprachlich
unmittelbar verständlich ist, besteht zwischen allegorischem Ausdruck und bezeichnetem Inhalt zunächst keine ikonische,
sondern nur eine konventionelle, habitualisierte Beziehung. „Um Redewendungen zu verstehen, muß man sprachliche
Konventionen beherrschen, allegorische Texte kann man dagegen nur verstehen, wenn man literarische Konventionen
versteht.“ (HWR, Bd.5:1175f). Moral wäre mithin eher Allegorie als Metapher des Leibes. Wenn nun die Allegorie nur durch
Allegorese (im Sinne der pneumatischen Auslegung) entziffert werden könnte, dann gäbe es in der Tat keine redliche Lektüre,
dann wäre jedes Lesen und jedes Interpretieren gleich schlecht. Allerdings gibt es entscheidende Unterschiede zwischen Typen
von Allegorien und damit Verfahren von Allegorese.
Die Allegorie sucht man bei der Aufzählung von Tropen in Wahrheit und Lüge vergeblich. In der Darstellung lehnt Nietzsche,
wie in er klassischen Rhetorik üblich, „das Rätsel“ und die „ganz dunkle Allegorie“ als unstatthaft ab (KGW II.4:448). Die
Allegorie galt ferner bereits seit Jahrzehnten als intellektualistische und unsinnliche Gedankenfigur des Spekulativen schlechthin,
„der finstere Fond“, mit Walter Benjamin zu reden, „gegen den die Welt des Symbols hell sich abheben sollte“ (Benjamin,
1972:176f). Allegorie bedeutete, zum Allgemeinen das Besondere zu suchen (Goethe, HA Bd. 12:471), d.h. eine abstrakte Idee
in farbenfrohe Details zu hüllen mit der Absicht, sie zu bebildern anstatt aus der Beobachtung des Besonderen das Allgemeine
erkennen zu geben. „Its essence is violence“, heißt es noch in einer einschlägigen Untersuchung der jüngeren Zeit (Teskey,
1996:76). Allegorie wäre demzufolge rein konventionell, motiviert allenfalls durch jene Konventionen, die sie hervorbrachte, aber
nicht durch die Bilder selbst, in denen sie sich ausdrückt. Kraft dieser Verfahrensweise bringt die Allegorie in der Tat den
doppelten oder mehrfachen Schriftsinn in die Welt, der als Allegorese auf exegetischen Konventionen beruht. Sie wird zu einem
mächtigen Instrument, ja zur alles beherrschenden Autorität in dem Maße, in welchem die entsprechenden Konventionen
gesellschaftlich an Macht gewinnen. Allegorese als Geste der Herrschaft gegenüber dem Körper des Textes muss dann erst in
dem Moment fragwürdig werden, da die entsprechenden Konventionen an Einfluss verlieren und der unterdrückte Leib
zumindest rhetorisch sein Recht einklagt.
Der in der klassischen Theorie als tota allegoria bekannte Tropus wird jedoch bereits in den Anfängen der Rhetorik von einer
gemilderten Form, der allegoria permixta unterschieden. Im Gegensatz zur absoluten Allegorie enthält sie Anweisungen zur
Sinnentschlüsselung. Auch im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert gibt es immer wieder Versuche, die Allegorie zu
retten. Dabei macht man sich eine zeichentheoretische Unterscheidung zunutze, die schon in Sprachtheorie und Ästhetik des
achtzehnten Jahrhunderts tradiert ist, nämlich zwischen dem sog. signum naturale sowie dem signum arbitrarium bzw.
artificiale (dazu
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Sørensen, 1963:32ff und passim; Szondi, 1975:98–134). Durch alle Ablehnungen der Allegorie bis in postromantische Zeiten
Eine bewusste Fortsetzung oder Wiederaufnahme der Symboltheorie Goethes bzw. anderer Theoretiker wie etwa Creuzers
[261] lässt sich bei Nietzsche indes nicht nachweisen, obwohl er mit seiner Allegoresekritik fest in der antiallegorischen Tradition
der deutschen Klassik steht. Gemeinsam ist beiden die Stoßrichtung gegen den Platonismus der Theologen und Metaphysiker,
der im reinen Konventionalismus des signum arbitrarium bzw. signum artificiale seinen Aus
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druck findet. Die entsprechende Operation dieses Konventionalismus ist die Substitution; um Nietzsches Beispiel zu benutzen:
jedes Reis als Hinweis auf das Kruzifix zu lesen. Die Allegorie als Trope oder sogar als Figur lässt sich davon trennen, wenn sie
sich dem signum naturale annähert. Sie ist dann unproblematisch, wenn der Kenner dem Text einleuchtende Hinweise zur
intendierten allegorischen Rezeption nachweisen kann [262]. Bloße Vermutungen im Sinne einer auf der Substitutionstheorie der
Metapher beruhenden Hermeneutik des Verdachts sind nicht hinreichend. Anders gesagt: erst die Substitutionstheorie der
Metapher und anderer bildlicher Rede verführt zur Allegorese [263]. Nietzsches guter Leser
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akzeptiert keine Konventionen mit Universalitätsanspruch, die sich des Textleibes bemächtigen und die das gramma gegenüber
dem pneuma abwerten. Darin liegt selbst kein Verzicht auf Allegorie, sondern ein philologischer Imperativ zur erst eigentlich
allegorisch bewussten Exegese [264].
Damit wäre die Ursache identifiziert, die zu Nietzsches Abschied vom Begriff der Metapher seit Mitte der siebziger Jahre führt.
Mit dem Ausdruck ‚Zeichen‘ können nun die metaphorischen und die allegorischen ikonischen Zeichen benannt werden. Die
pneumatische Auslegung und das schlechte Lesen bleiben dagegen dem substituierenden Verfahren der Theologen und
Metaphysiken und damit den in den ‚Text‘ gelegten rein konventionellen Zeichen verhaftet. Nietzsches ‚Zeichendeutung‘ beruht,
unabhängig von der konkreten figurativen Ausformung der Zeichen, auf dem Gegenteil der Substitution, nämlich auf translatio
und damit auf der Bindung an den jeweiligen Kontext. Zeichendeutung ist Kontextstudium, und zwar des Kontexts der
konkreten Äußerung sowie des gesamten Werks [265]. Nietzsche betont deshalb für das Studium seiner eigenen Texte immer
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wieder, man sie im Werkzusammenhang lesen. Beachtet man nämlich den Werkzusammenhang, erwirbt man neben dem
Verständnis der Metaphorik auch jenes Wissen der Eingeweihten und die Hinweise, die zur Entschlüsselung der allegorischen
Struktur befähigen. Literarisches Lesen erlernen bedeutet identifizieren lernen, was alles auf eine bestimmte Textsorte bezogen
symbolisch heißen kann. Nur durch den Vergleich textinterner und textexterner Aspekte wird Sinn während der Lektüre
erzeugt (Kurz, 1982:76). Ohne Abstriche gilt dies auch für die Lektüre Nietzsches. Für die Auslegungspraxis ergibt sich daraus
ein Imperativ zur metaphorologischen Lektüre, wie sie etwa Hans Blumenberg praktizierte, d.h. die konkrete Herausarbeitung
von Metapherreihen und plausiblen Allegorien im Gesamtwerk und ihre Verbindung zu außertextlichen Sachverhalten. Die
auffällige Verbindung von Lesen und Reisen in Nietzsches Werk ist nur ein Beispiel, auf das Nietzsche durch die Wiederholung
des Motivs versteckt selbst immer wieder verweist [266].
Tatsächlich greift Nietzsche in dieser wie in allen exegetischen Fragen auf die Leistungen der zeitgenössischen Philologie zurück.
Die strikte Ablehnung der Allegorese bei gleichzeitiger Offenhaltung der Möglichkeit allegorischer Lektüre findet sich z.B. schon
bei Boeckh. Die Auslegungsfehler der Philosophen und
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Theologen zeigen sich laut Boeckh daran, dass sie aprioristisch – substitutiv – vorgingen, während philologisches Verstehen die
umgekehrte Denkrichtung, also die philologische verlange (21886:75). Induktion steht für Philologie, Deduktion für Philosophie.
Die allegorische Auslegung sei nur angemessen, wo z.B. der Mythos in der Produktion eines Textes auch eine Rolle spielte, wo
sie also vom Autor intendiert sei. Philosophen und Theologen werden deshalb besonders für ihre spekulativen, spitzfindigen
und unnötigen allegorischen Auslegungen kritisiert (92), mit deren Hilfe sie den Texten Sinn einfach „unterschieben“, ohne sich
genau mit grammatischen, historischen und individuellen Faktoren auseinandergesetzt zu haben, die ihre Interpretationen
entkräften könnten.
Die denkbar eleganteste Lösung zum Problem des eigentlich/uneigentlichen Sprechens hatte jedoch schon die Philologie, hier
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stellvertretend F.A. Wolf gefunden (der damit wohl seinerseits in einer längeren Tradition steht). Er fasst sie in den Begriff des
usus loquendi. „Die Sprache verändert sich, Wörter verändern ihre Bedeutungen und so hat jedes Wort seine Geschichte“
(1831:276). Metaphern und Allegorien weichen nicht vom sensus litteralis, etwa der Etymologie oder dem Lexikoneintrag, ab,
sondern höchstens, wenn sie wirkliche Neuschöpfungen sind, vom usus loquendi – der selbst schon ein ‚metaphorischer‘ sein
kann [267]. Der Sprachgebrauch erschließt sich nach Wolf deshalb auch nicht aus
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dem Studium von Lexika, sondern einzig und allein durch Vergleich der Schriftsteller, auch der unbedeutenden. „Wer den
Demosthenes gut lesen will, muss den Lysias lesen und die übrigen, welche gleichzeitig sind.“ (277) Der Sprachgebrauch
unterscheidet sich nach Zeiten und Gattungen (294) und natürlich auch von Schriftsteller zu Schriftsteller. Erst seine
umfassende Kenntnis, die nur durch eine ebenso umfassende Lesebiographie zu erlangen ist, erlaubt dem Leser, wirkliche
Sprachschöpfung zu erkennen. „Gewöhnlich nimmt man an, die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes sey ohne Bild, propria,
und die figürliche Bedeutung sey erst nachher damit verbunden worden. Dies ist aber ganz falsch. Die erste Sprache war ganz
voll von Bildern, und viele Wörter, die heut zu Tage propria vocabula zu seyn scheinen, haben ursprünglich eine bildliche
Bedeutung gehabt.“ Die eigentliche Bedeutung könne sowohl die (etymologisch) ursprüngliche oder eben die jeweils
„herrschende gewöhnliche Bedeutung“ bezeichnen – auf letztere habe man sich v.a. zu konzentrieren (Wolf, 1831:293f).
Metaphern können somit nicht durch den Vergleich von Lexika oder durch etymologische Exkurse identifiziert werden, sondern
nur durch eine historische Gebrauchsanalyse, die sich auf das Studium spezifischer Textkorpora stützt. Eine Allegorie darf nach
Wolf ferner nur angenommen werden, wenn es verlässliche Zeugen für eine allegorische Intention gibt, oder wenn der
Zusammenhang keinen befriedigenden Sinn ergibt. Entscheidend aber sei, dass jeder Satz und „jede Verbindung von Sätzen“
nur einen Sinn hat, soviel man sich über diesen auch streiten mag (ebd.). Wolf plädiert damit nicht für den einen idealen und
kohärenten Sinnzusammenhang. Er will im Gegenteil Sinnpluralismus zulassen und lediglich den doppelten Sinn der
pneumatischen Allegorese ausschließen. Metaphorologie bzw. jedes beliebige Äquivalent erlöst nicht von der Auslegung: die
Metapher muss als auffällige Übertragung, d.h. als je dem Leser auffällig erkannt werden. Die Auffälligkeit ist jedenfalls ein
praktikables Kriterium, über das sich streiten lässt, ohne dass entweder die Vorstellung eines eigentlichen Sprachgebrauchs zur
Bedingung gemacht wird oder aber der grundlegende tropologisch-figurative Charakter der Sprache geleugnet werden muss:
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Mithin schwebt im Beginn ein grammatisch-rhetorischer [Kursivierung von mir] Wortsinn vor, der durch Sprach- und
Sachkenntniss berichtigt oder begründet wird; dieser Wortsinn kann sich, insofern er verständig ist, weder in vielfache Gänge
(multiplicitas sensuum ) und subjektive Möglichkeiten verlieren, noch einem anderen, höheren oder tieferen (typicus, allegoricus )
Gehalte widersprechen oder gar zur Unterlage dienen. Indessen mag man nicht bezweifeln, dass manche Gattungen von
Autoren das Auffassen eines solchen Wortsinnes erschweren, und der unsichtbaren Divination Raum geben, weil sie den
Ausdruck durch Räthsel, Schwankung der Zeichen und Verworrenheit nach vielen Seiten hin offen lassen. (Bernhardy, 1832:80)
Auch bei Bernhardy beginnt die formale oder grammatische Hermeneutik mit Grammatik und Rhetorik. Um den exegetischen
Schwierigkeiten, die sich aus dieser „Schwankung der Zeichen“ zu begegnen, so Bernhardy, helfe nur die Erforschung des
Sprachgebrauchs, und zwar in allen „seinen Normen und Anomalieen“ (81). Vom nationalen und allgemeinen Sprachgebrauch
gehe man über zu dem besonderen, also den Periode und Gattung, Bildung, Denkweise und Lebenskreis transzendierenden
individuellen Eigenschaften eines Autors. Die Grundregel sei also, jeden Autor aus sich selbst und seinem Sprachgebrauch
heraus zu erläutern – Homerum ex Homero: „Je grösser die Freiheit und Fülle des Geistes, desto reicheres Material gewährt er
für diese Hermeneutik, welche schon wegen der Seltenheit des Vortrefflichen auf eine nur mässige Zahl sich einlässt; je
beschränkter die Persönlichkeit und der Kunstsinn, desto mehr tritt die Rücksicht auf den generellen Gebrauch in ihr Recht ein.“
– dabei sei natürlich Subjekivität und Divination des erfahrenen Exegeten, des „Erklärers“ (83), gefragt. In der Ritschl-Schule ist
dieser Zugang, der letztlich wohl aus der alten Parallelstellenmethode stammt, besonders ausgeprägt. Jacob Bernays, einer von
Ritschls bedeutendsten und dankbarsten Schüler, schildert sein philologisches Credo in dem an seinen Lehrer gerichteten
Vorwort zu einem seiner wichtigsten Werke, dem Scaliger , indem er sich selbst an seinen Protagonisten anlehnt. Scaliger habe
sich das Griechische allein durch Lektüre der Schriftsteller und „aus Beobachtung der Analogie“ (1965:35) angeeignet. So
konnte er sich seine eigene Grammatik erstellen. Maßstab seiner philologischen Solidität ist das Beherrschen der feinsten
Sprachnuancen, d.h. des usus linguae (36) [268]. Allein durch Beobach
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tung von Analogien und Nuancen wird man auch Nietzsches usus loquendi gerecht. Es stellt sich dabei heraus, dass letztlich
nicht die Allegorie zu seinem beliebtesten Stilmittel wurde.
4.3. Kunst der Anspielung: Maske, Spielraum
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allegorischen Redeweise tunlichst entsagt. Es kann wenig Zweifel daran geben, dass Nietzsche zur allegorischen Interpretation
geradezu auffordert. „Der ständige Verdacht ungesagter Hintergedanken provoziert Allegoresen.“ (Kurz, 1982:63) Das Beispiel,
das Gerhard Kurz zur Illustration dieser allgemeinen Feststellung dient, ist die in den Evangelien und der Offenbarung so beliebte
Wendung: Wer Ohren hat, zu hören, der höre! Nietzsche, der sich „wählerisch nur an wenige Ohren wendet“ (GM I.5, 5:262)
benutzt besonders gerne die auch aus der Bibel stammende (häufig in der Offenbarung auftretende) Version: „wer Ohren hat,
der höre“ (z.B. FW 10, 6:35). Seine feinen, jede – nicht nur musikalische – Nuance registrierenden Ohren, auf deren geringe
Ausmaße er besonders stolz ist, da sie, bildlich gesprochen, das Gegenteil aller allzu langen Eselsohren seien, sind ein beliebtes,
oft wiederholtes Motiv (s. z.B. EH Warum ich so gute Bücher schreibe 2, 6:301f). Viele ähnliche Hinweise auf Ungesagtes
verstärken den Effekt. Es scheint, als müsse man zu den Eingeweihten gehören, um in den erlesenen Kreis von Nietzschelesern
aufgenommen werden.
Selbst wenn man wie Gustav Gerber die Allegorie nicht nur im traditionellen Sinne als fortgeführte Metapher behandelt, sondern
auch ihre Nähe zu Ironie und Sarkasmus betont, d.h. als simulatio, die erkannt sein wolle [270], wäre sie für sich genommen
eigentlich unverständlich „und wer also ihr Bild als solches nicht erkennt, es für das eigentlich Darzustellende hält, würde von
ihr aus eines Besseren nicht belehrt werden.“ Sie bedarf deshalb immer besonderer Erklärung oder Wissensergänzung (1871ff,
Bd. 2.2.:256f). Nietzsche greift auf das älteste Mittel überhaupt zurück, Allegorien zu deutbaren ikonischen Zeichen, zur
‚Semiotik‘ zu machen. Er verwendet sie als Figuren (nicht Tropen) der Andeutung bzw. Anspielung und öffnet damit eine breite
Anwendungspalette. Schon Quintilian beschreibt, wie die Anspielung durch Erregung eines Verdachts (suspicio) zu verstehen
gibt, dass etwas anderes gemeint sein könnte, als es scheint (Inst. Or. IX.ii.65). Die Technik der Andeutung in allen ihren
Erscheinungsformen ist es, die Nietzsches Schriften ihr besonderes Gepräge gibt – nicht die Verwendung der Metapher, wie
Sarah Kofman meinte, und nicht der Gebrauch anderer Tropen oder Figuren.
Wie das ‚Lesen‘, so scheint freilich auch der Begriff der Anspielung seine Schärfe verloren zu haben. Neuere
Nietzschekommentatoren, die den Anspielungsreichtum Nietzsches zwar identifizieren, geben sich andererseits größte Mühe,
ihn zu umschreiben. Claus Zittel definiert den Zarathustra „als bewegliches Geflecht pluraler Beziehungen“ (2000:151) und
versucht einen Mittelweg zwischen radikaler Intertextualitätstheorie und altem Werkbegriff zu finden, indem
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Nietzsches Werk als „ein sich über seine Beziehungen zu anderen Texten erst herstellendes Gebilde “ oder als
„Organisations-Zentrum pluraler und reziproker Verweisungen“ begriffen werden soll (65f). Der Begriff der Anspielung trifft
Nietzsches Schriften insofern besser, als in ihm der ludische Charakter mitschwingt, der für Nietzsche – nicht zuletzt für den
Zarathustra – so wichtig ist.
Quintilian identifiziert drei Funktionen der versteckten, anspielungsreichen Rede. Man bediene sich ihrer entweder, wenn man
aus Sicherheitsgründen nicht offen sprechen dürfe, oder wenn dies (wohl aus Gründen des Takts) der Situation nicht
angemessen sei, oder drittens, wenn Abwechslung und Freude am Versteckspiel beabsichtigt seien. Von letzterem teilweise
abgesehen, sind die drei für Nietzsche ausschlaggebenden Gründe nicht darunter. So paradox es klingen mag, ist die Technik
der immer an der Grenze zur Allegorie lavierenden Anspielung für Nietzsche nämlich in erster Linie eine Versicherung gegen die
Allegorese und Plünderung der eigenen Texte. Wenn der Interpret vermuten muss, dass immer noch mehr gesagt wird als er
ohnehin schon annimmt, wird dem Missbrauch der Texte ein Riegel vorgeschoben – dass sich dies historisch als Trugschluss
erwiesen hat, ist noch kein Argument dagegen. Nietzsche hegt, wie zu zeigen ist, große Bedenken gegen die Ausleger seiner
Schriften: die „Schule des Verdachts“ (vgl. MA I Vorrede 1.2, 13f) ist auch eine Warnung an die Leser, mehr auf den Text zu
achten.
Damit ist die zweite wichtige Funktion der Kunst der Anspielung berührt. Da die Anspielung mit Argwohn und Hintergedanken
rechnet, verlangt sie wie die Allegorie stillschweigend geteiltes Wissen von Autor und Leser. „Die Kohäsion von Kulturen und
gesellschaftlichen Gruppen kann geradezu charakterisiert werden durch das Maß und die Selbstverständlichkeit indirekten
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Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden. Es ist noch
ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend Jemand es unverständlich findet: vielleicht gehörte eben dies zur
Absicht seines Schreibers, – er wollte nicht von „irgend Jemand“ verstanden werden. Jeder vornehme Geist und Geschmack
wählt sich, wenn er sich mittheilen will, auch seine Zuhörer; indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen „die Anderen“ seine
Schranken. […] Und nebenbei gefragt: bleibt wirklich eine Sache dadurch allein schon unverstanden und unerkannt, dass sie
nur im Fluge berührt, angeblickt, angeblitzt wird? (FW 5.381, 3:633f)
Gutes Lesen wiederum heißt damit, auf mögliche Anspielungen, auf nur angedeutete, angeblickte, angeblitzte Winke hin lesen.
Dazu sind hinreichende Textkenntnisse, d.h. Kenntnis des usus loquendi des Autors und seiner Zeit, sowie ein Mindestmaß an
Gemeinsamkeit mit dem Verfasser nötig. Die dritte Funktion der Anspielung liegt deshalb, und hier kommt das ludische Moment
zu seinem Recht, im ständigen ironischen Spiel mit dem Leser, das ihn durch Verunsicherung davon abhalten soll, voreilige
Schlüsse zu ziehen bzw. ihn an seiner Fähigkeit zweifeln lässt, dem Text gerecht zu werden. Bereits für den Textkritiker
Ritschlscher Prägung war das auf Anspielungen achtende Lesen von essentieller Wichtigkeit, um sich feinster Nuancen zu
versichern. Ob eine Interpolation oder eine Anspielung vorlag, ob eine Stelle den Leser bewusst oder unbewusst hinters Licht
führte, konnte für das Ergebnis der Lektüre und der Textkonstitution entscheidend sein. Nietzsche der Philologe hat dem
Verfasser Nietzsche diese Erkenntnis mit auf den Weg gegeben.
Für die dreifache Funktion einer auf Anspielungskunst beruhenden Kompositionsweise und Exegese benutzt Nietzsche zwei
Ausdrücke, die in den Kern seiner Auslegungstheorie (in der Domäne menschlicher Kommunikation) führen: Maske und
Spielraum. Sie sind allgemeiner und zugleich spezifischer als die Ironie, mit der Nietzsche oft assoziiert wird [272]. Sie treffen
ferner jene Eigenart Nietzsches besser, die im Begriff der Verdachtshermeneutik nur auf irreführende Weise ausgedrückt
werden kann. Für die Verdachtshermeneutik wird häufig der Aphorismus „Hinterfragen“ (Nietzsche prägte dieses heute
abgegriffene Wort) aus der Morgenröthe als Beleg herangezogen: „Bei Allem, was ein Mensch sichtbar werden lässt, kann man
fragen: was soll es verbergen? Wovon soll es den Blick ablenken? Welches Vorurtheil soll es erregen? Und dann noch: bis wie
weit geht die Feinheit dieser Verstellung? Und worin vergreift er sich dabei?“ (M 5.523, 3:301) Ähnlich heißt es in Jenseits von
Gut und Böse : „schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt?“ (JGB 9.289, 5:233f). Kann ein
Philosoph, so Nietzsches Frage, überhaupt letzte und eigentliche Meinungen äußern, liege bei ihm nicht „hinter jeder Höhle noch
eine tiefere Höhle“? Jede
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Philosophie verberge eine weitere, jede Meinung sei ein Versteck, jedes Wort eine Maske. „Alles was tief ist, liebt die Maske; die
allertiefsten Dinge haben sogar einen Hass auf Bild und Gleichniss.“ (JGB 2.40, 5:57f). Jeder tiefe Geist braucht eine Maske, um
ihn wachse sogar ständig eine Maske – „Dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes,
jedes Lebens-Zeichens, das er giebt. –“ Dahinter steht jedoch primär weder Ironie noch Verdacht, sondern die simple Einsicht,
dass es in der Auslegung wie in der menschlichen Kommunikation in hohem Maße auf die Berücksichtigung der Intentionen, der
bewussten wie der unbewussten, der Beteiligten ankommt. Es handelt sich letztlich um eine rhetorische Grundübung: Wer
spricht wann, warum, wie und zu welchen Zwecken? Nietzsche geht es nicht um das „einfache Verstehenwollen“ der Texte als
intentio operis, sondern um das „einfache Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt “(MA I.270, 2:223; Kursivierung von
mir), d.h. um den Versuch der Rekonstruktion der intentio auctoris. Die Textbedeutung kann nur in der Äußerungsbedeutung
vollends aufgehen. In ihrer Rekonstruktion muss sich der Exeget der Herausforderungen bewusst sein, die ihm durch Maske
und Spielraum, d.h. durch die Hürden der Anspielung, gestellt werden.
Das Maskenmotiv [273] hat neuerdings Vivetta Vivarelli einer eingehenden Analyse unterzogen und als eine Art Understatement
interpretiert, dass mit Selbststilisierung zur Vornehmheit verbunden und in erster Linie gegen die histrionische Existenz
Wagners gerichtet ist: „Die Maske ist die wichtigste Metapher der Vieldeutigkeit, wie sie dem Spiel des Sagens und
Verschweigens, der Undurchsichtigkeit und Durchsichtigkeit, der Verstellung und Enthüllung eignet; sie hat Symbolwert für ein
Denken, das sich des Paradoxons als eines stilistischen und philosophischen Prinzips bedient.“ (1998:8). Die Maske entspreche
der Larventradition des barocken Maskenballs und der höfischen Verstellungskunst des von Nietzsche geliebten französischen
siebzehnten Jahrhunderts. Verstellung werde von Nietzsche immer mehr als Kennzeichen hoher Menschen und Kulturen
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den Aufbau von Schranken um sich herum in einer schrankenlosen Welt – ist dies nicht der Kern des Pathos der Distanz?
Vergleichbar dem Dionysos als Gott der Maske, der sein Leiden apollinisch, im Stil des schönen Scheins ausdrücke, möchte
Nietzsche durch die Maske verwandte Geister anziehen. Nietzsches Schlüsselwort sei „errathen“ – er verlange von seinen
Lesern das Bemühen, auf diese Weise hinter seine Rätsel und Masken zu gelangen (51f).
Dieser von Vivarelli überzeugend als komplementäres Gegenstück zur Maske herausgearbeitete Begriff des Erratens lässt sich
mit Rücksicht auf Nietzsches Herkunft aus dem philologischen Denken unschwer auf die Divination zurückführen. Die Maske
bietet dieselbe Schwierigkeit wie ein unzugänglicher Text in schwer verständlicher Sprache. An den entscheidenden Stellen ruft
Nietzsche deshalb stereotyp die Philologie an. Die Maske war bekanntlich, und dies ist ohne Zweifel Nietzsches Ausgangspunkt,
die Erfindung des griechischen Schauspiels, die zwar einen Typus markierte, aber ein und demselben Schauspieler die
Gelegenheit gab, mehrere Rollen zu spielen, männliche und weibliche. Die daraus entstehenden Maskentypen, die dem
tragischen, komischen oder satyrischen Genre entsprachen, waren als solche unmittelbar verständlich. Aber mit dem
Verständnis der Rollen war das Schauspiel an sich noch nicht gedeutet. Die Aufgabe des Zuschauers war es nicht, die
Psychologie des dahinter versteckten individuellen Schauspielers zu entziffern, ihn gewissermaßen zu demaskieren, sondern die
Funktion der Maske im Drama zu erkennen. Um den Autor geht es, nicht um den Histrionen: um die allegorische Funktion der
Masken des Autors, die die Schauspieler darstellen.
Auf die enge Verbindung der divinatorischen Maskendeutung zu Nietzsches Metaphern- und Allegorieauffassung, zur
‚Zeichendeutung‘ gibt es viele Hinweise. Schon in Menschliches, Allzumenschliches sind Psychologe und „Zeichendeuter“
nahezu identisch (MA I Vorrede 8., 2:22). Ecce Homo zufolge bedient sich Platon des Sokrates „als einer Semiotik für Plato“
(EH Die Unzeitgemässen 3, 6:320). Durch Divination und Verständnis der Anspielungen kann mithin auch Platon ‚erraten‘
werden: zwischen Maske und Autor gibt es durchaus ikonische Beziehungen, dann nämlich, wenn der Autor mit dem
Maskenträger identisch ist. Eine Maske ist zwar durch ihre starre Undurchdringlichkeit gekennzeichnet, dadurch, dass man
hinter ihr gerade nichts erkennen kann. Aber tatsächlich wird hier nichts über Texte, sondern über die Urheber von Texten,
genauer: über ihre psychologische Beurteilung ausgesagt. Es gibt an keiner Stelle in Nietzsches Werk Versuche einer plumpen
allegorischen Auslegung anderer Autoren. Wohl aber gibt es zahllose psychologisch-divinatorische Gutachten, die sich auf den
Einsatz bestimmter Masken beziehen: sage mir, welcher Masken du dich bedienst, und ich sage dir, wer du bist.
Die „Höhlen“, die es dabei zu entdecken und erforschen gilt, sind ein gutes Beispiel. Sie sind Metaphern für das (physiologische)
Leiden des Menschen an sich selbst: Wenn man krank sei, solle man sich, wie die Tiere, am besten in eine
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Höhle verkriechen (VIII 9[103]). Man solle sich also absondern, um die übrige Gemeinschaft zu verschonen. Der Normalfall
bestehe freilich darin, sich nicht etwa in der Einsamkeit auszukurieren, sondern die unverstandenen körperlichen Zustände als
moralische Leiden (allegorisch-substitutiv) auszulegen und auf diese Weise an sich und anderen zu rächen. (VII 26[206]). Ruft
man sich Nietzsches Wortdefinition als Metapher eines Nervenreizes ins Gedächtnis, wird klar, worauf es hinausläuft. Masken,
Selbstporträts, Texte sind als ganzes ikonische Zeichen der Physiologie ihrer Urheber. Nicht jedem passt jede beliebige Maske.
Wem es gelingt, Texte daraufhin gründlich und geduldig zu lesen, der mag vielleicht doch einen kurzen Blick hinter die Maske
erhaschen – vielleicht nur deshalb, weil er sich selbst am besten erforscht hat und mit dem Anderen so weit verwandt ist, dass
er sich in ihm zu erkennen vermag.
Zur Zeichen- und Maskendeutung gibt es dementsprechend kein mechanisch zu befolgendes Erfolgsrezept. Nietzsche warnt
davor, seine eigenen Masken aus dem Zusammenhang zu reißen. So gebe es wissenschaftliche Menschen, die sich damit nur
einen heiteren Anschein verleihen wollen – Nietzsche denkt dabei wohl nicht nur an Burckhardt, sondern auch an sich selbst.
„Es giebt freie freche Geister, welche verbergen und verleugnen möchten, dass sie zerbrochene stolze unheilbare Herzen sind;
und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzugewisses Wissen.“ Kann man deutlicher über sich selbst
sprechen? Es gehöre „zur feineren Menschlichkeit“, so resümiert Nietzsche, „Ehrfurcht ‚vor der Maske‘ zu haben und nicht an
falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben.“ [274] Auf sich selbst bezogen verbittet sich Nietzsche in einer
Aufzeichnung das schnelle Urteil über die eigene Person:
Ich habe bei meinen Kritikern häufig den Eindruck von Canaille gehabt: Nicht was man sagt, sondern daß ich es sage und
inwiefern gerade ich dazu gekommen sein mag, dies zu sagen – das scheint ihr einziges Interesse, eine Juden-Zudringlichkeit,
gegen die man in praxi den Fußtritt als Antwort hat. Man beurtheilt mich, um nichts mit meinem Werk zu thun ⟨zu⟩ haben: man
erklärt dessen Genesis – damit gilt es hinreichend für – abgethan. (VIII 10[20])
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„Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften.“ (EH Warum ich so gute Bücher schreibe 1. 6:298). Voraussetzung zu
Divination und Psychologie ist nicht nur die richtige Empfänglichkeit, sondern Ähnlichkeit des Empfindens und der Persönlichkeit.
Nur als Ebenbürtiger darf man Verständnis beanspruchen. „Zuletzt kann Niemand aus den Dingen, die Bücher eingerechnet,
mehr heraushören, als er bereits weiss. Wofür man vom Erlebnisse her keinen Zugang hat, dafür hat man kein Ohr.“ (ebd.,
299f). Noch deutlicher und auf Nietzsches bewusste Kompositionsweise bezogen: „Alle feineren Gesetze eines Stils haben da
ihren Ursprung: sie halten zugleich ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten ‚den Eingang‘, das Verständniss, wie gesagt, –
während sie Denen die Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt sind.“ (FW 5.381, 3, 634). Auf die Ohren als
Anspielung auf die Anspielung muss nicht weiter hingewiesen werden. Für seine Schriften schwebt Nietzsche als idealer Leser
derjenige vor, der sich zunächst in den Text selbst versetzt und mit kritischem Takt versucht, die intentio auctoris zu verstehen
– die übrigens durchaus nicht nur bewusst, sondern dem Autor auch unbewusst sein kann. Dann ist freilich doppelte Vorsicht
angebracht. Der ideale Leser mag sich, mit Goethe gesprochen, das Fremde amalgamieren (s.o.). Aber er sollte durch das
eigene Innere ein Recht dazu erworben haben.
Die flache Auslegung wird dem „tiefen Geist“ (JGB 40, 5:58) nicht gerecht, wenn der Interpret seinem Objekt nicht gewachsen
ist. Nietzsche fasst diesen Gedanken in das häufig zitierte Wort „comprendre c'est égaler“ (VIII 1[182]), welches in Verbindung
mit der Auffassung von Interpretation als Mittel, um Herr über etwas zu werden (VIII 2[148]) entscheidend zur Anstößigkeit
seines Interpretationsbegriffs beigetragen hat, vor allem für die auf Dialog und „Horizontverschmelzung“ gerichtete
Gadamersche Schule und die daran anschließende philosophische Hermeneutik. Merkwürdig an dem vermeintlichen Skandalon
ist nur, dass es sich hier um eine alte, recht traditionelle hermeneutische Vorstellung handelt, die noch aus der
Aufklärungshermeneutik stammt und bis in die Frühromantik hineinreicht. Sie bildet den Hintergrund für Goethes oben zitierte
Überzeugung, dass jeder nur sich selbst aus dem Buch herauslese. Besonders nachdrücklich wird die Forderung nach
Ebenbürtigkeit des Interpreten in der philologischen Tradition, etwa bei Wolf erhoben (Wolf/Buttmann, 1807:38), und für
Schleiermacher ist die „Gleichsetzung mit dem Verfasser“ Ausgangspunkt jeder Auslegung (21928:147). Schleiermachers
psychologische Auslegung wollte ja „jeden gegebenen Gedankenkomplexus als Lebensmoment eines bestimmten Menschen“
auffassen, was sich nur aus Verhältnis von Sprecher und Hörer ergeben konnte: „Ist Denken und Gedankenverbindung in
beiden ein und dasselbe, so ergibt sich bei Gleichheit der Sprache das Verstehen von selbst“, auch wenn in der Praxis natürlich
immer Differenzen bestehen (155). Nietzsche reduziert dieses Prinzip lediglich auf seinen logischen Kern und macht aus der
Aus-Legung eine Aus-Lese, um zu erkennen, wer dieselbe Perspektive einnimmt, also von denselben Affekten beherrscht wird
wie er selbst. Den sprachlichen Zeichen, so
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Werner Stegmaier, werden als Zeichen „Deutungsspielräume“ zum Missverständnis zugestanden, ihr Gebrauch muss in der
Kommunikation Vielfalt garantieren, um der Vielfalt der Individuen gerecht zu werden; individueller Zeichengebrauch scheide die
Individuen voneinander (Stegmaier, 2000:48):
Es ist schwer verstanden zu werden. Schon für den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation soll man von Herzen
dankbar sein: an guten Tagen verlangt man gar nicht mehr Interpretation. Man soll seinen Freunden einen reichlichen Spielraum
zum Mißverständniß zugestehen. Es dünkt mich besser mißverstanden als unverstanden zu werden: es ist etwas Beleidigendes
darin, verstanden zu werden. Verstanden zu werden? Ihr wißt doch, was das heißt? – Comprendre c'est égaler. (VIII 1[182];
vgl. die Variante im Aphorismus (JGB 27, 5:45f)
Im Notizbuch gibt es eine durchgestrichene Seite, die als solche nicht in der KGW erscheint (N VII I S. 137; vgl. VII 34[86]), aber
Begriffe beinhaltet, die unverzichtbar sind, wenn man Nietzsches Denkentwicklung verfolgen will [275]. Sie enthält eine
bezeichnende Passage für die Verbindung von Nietzsches Metaphern- und Divinationstheorie: „Worte sind Tonzeichen für
Begriffe: Begriffe aber sind mehr oder weniger sichere Gruppen [Bild-Zeichen] für [oft] wiederkehrender, [u
oftzugleich]zusammen kommender Empfindungen.“ Um einander zu verstehen, müsse man dieselbe Art innerer Erlebnisse
haben. Deshalb verstehen sich Menschen eines Volks besser untereinander, auch wer unter ähnlichen klimatischen
Bedingungen gelebt habe usf. (vgl. dazu JGB 9.268, 5:221f). Dies alles kann aus Nietzsches Sicht auch unter durchaus
negativen Vorzeichen stehen. So verstehe der asketische Priester die Kranken und Leidenden, die „Schlechtweggekommenen“
An anderer Stelle ist Nietzsche noch radikaler, mit faustischen Anklängen heißt es: „Dem Geist, den wir begreifen –, dem
gleichen wir nicht: dem sind wir überlegen!“ (VIII 2[7]). In der Fröhlichen Wissenschaft greift Nietzsche die im „Volk“ verbreitete
Auffassung der Erkenntnis als Rückführung des Fremden auf etwas Bekanntes an, d.h. die schon im Frühwerk analysierte
Auffassung von Erkenntnis als Austausch von Metaphern verschiedener Festigkeitsstufen. Die Philosophen seien davon freilich
nicht weit entfernt: „Auch die Vorsichtigsten […] meinen, zum Mindesten sei das Bekannte leichter erkennbar als das Fremde;
es sei zum Beispiel methodisch geboten, von der ‚inneren Welt‘, von den ‚Thatsachen des Bewusstseins‘ auszugehen, weil sie
die uns bekanntere Welt sei!“ Dies sei jedoch vollkommen falsch, da das Bekannte und Gewohnte am schwierigsten zu
erkennen ist: „Die grosse Sicherheit der natürlichen Wissenschaften im Verhältniss zur Psychologie und Kritik der
Bewusstseins-Elemente – unnatürlichen Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte – ruht gerade darauf, dass sie
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das Fremde als Objekt nehmen“ (FW 5.355, 3:594f). Das Fremde als Objekt zu nehmen: Wenn Werner Stegmaier die
Problematisierung von Verständlichkeit und Unverständlichkeit bei Nietzsche als Radikalisierung der Vernunftkritik interpretiert,
weil sie deutlich mache, dass zum Verstehen auch Nicht-Verstehen gehöre (1992:346f), mag das philosophiehistorisch
berechtigt sein. Es lässt sich jedoch nicht belegen, dass Nietzsche seine Forderung als Beitrag zur Vernunftkritik oder in erster
Linie als Auseinandersetzung mit Kant gemeint hat. Vielmehr erinnert er die Exegeten an jene Kriterien der Wissenschaftlichkeit,
die er als Philologe selbst verinnerlicht hatte und für den Maßstab der Redlichkeit hielt.
Die Texthermeneutik ist gezwungen, den Text zu transzendieren, wenn sie die Intention des Autors zum Leitfaden der
Auslegung macht. Die Kunst liegt in der Gratwanderung, das Fremde einerseits fremd zu belassen, d.h. nicht gleich
einzuverleiben und auf das eigene Bekannte zu reduzieren – ohne sich auf der anderen Seite diesem Fremden völlig
auszuliefern. Die kühle naturwissenschaftliche Perspektive ist methodisches Vorbild; sie hat es freilich mit einem Objekt zu tun,
das keinen festen Tatbestand bildet. Auslegung als Zeichendeutung wird damit zur Divination und ‚Psychologie‘, die durch ihre
eigenen prekären Prämissen nur dann nicht kompromittiert wird, wenn sie in der Auslegung einen Spielraum zulässt, d.h. den
Verfasser nicht einseitig auf eine bestimmte Maske festlegt. Auf diesen Spielraum kommt letztlich alles an. Ist er tatsächlich ein
„'Raum', in dem sich jemand oder etwas nach eigenen ‚Spielregeln‘ verhalten kann, der aber gleichwohl durch Regeln oder
Gegebenheiten begrenzt ist, über die der, die oder das sich in ihm ‚Tummelnde‘ nicht gebietet“, also „ein Begriff oder Bild zur
Regelung der Geltung von Regeln“ (Stegmaier, 2000:46)?
Wenn Nietzsche als Autor durch das Mittel der Maske absichtlich Spielräume zu verschiedenen (Miss-)Verständnissen schafft,
so ist jede Vorstellung von regelgeleiteter Interpretation doch wohl widersprüchlich. Möglicherweise meint Stegmaier das auch,
denn bei seiner Lektüre von Aphorismus 27 in Jenseits von Gut und Böse finde ich die Einsicht: „Die Grenzen der Spielräume in
der Kommunikation unter Individuen werden durch die beteiligten Individuen gesetzt, willentlich oder unwillentlich.“ (46) Die
Interpretation legt also nicht nur den Text oder den Verfasser, sondern auch den Interpreten aus. Wie die Metapher des
Spielraums zeigt, soll Nietzsches Text nach seinem Willen als die Maske schlechthin gelten, an dem sich die Interpreten durch
„Feinheit der Interpretation“ zu bewähren haben [276].
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Gutwilligen Lesern seiner Texte gibt Nietzsche jedenfalls reichlich Material an die Hand. Hier liegt der Grund für den konstanten
autobiographischen (autofiktiven) Unterstrom in seinen Schriften, den bisweilen narzisstisch wirkenden Ich-Bezug. Ecce Homo
ist deshalb ein zentrales Werk in Nietzsches Œuvre, weil es als Anleitung zur Lektüre dieses Œuvres gemeint ist: „Wie man wird,
was man ist“, verspricht der Untertitel. Nietzsche verlangt nach einem guten Leser, der alle seine Schriften berücksichtigt und
sich von einer, wenn auch fiktiven intentio auctoris leiten lässt. Der gute Leser muss den guten Willen haben, das vom Autor
Gemeinte zu rekonstruieren. Weil er den Autor dazu erst kennenlernen muss, liefert Nietzsche die stilisierte Selbstbiographie
hinzu, um verfälschenden Darstellungen zuvorzukommen. Die Kenntnis des Autors ist nötig, um die redliche Lektüre des Werks
als Zusammenspiel von Meinen und Verstehen und nicht als Auslegung einer unhistorischen intentio operis aufzufassen, die am
Ende doch zur Allegorese führt. Schon F.A. Wolf hielt ein Verständnis literarischer Werke ohne biographische Kenntnisse für
unmöglich (1831:398). Nietzsche fordert Kenntnis des usus loquendi, seines individuellen, aber auch des usus literarischer
Konventionen, ferner Einblick in ein von ihm gestaltetes Anspielungsuniversum, das den Leser auf eine Ebene mit dem Autor
heben soll. So erklärt sich u.a. die Kanonbildung, die Ecce Homo vornimmt: die Verdammung der Antipoden, mit denen
Nietzsche nicht verwechselt werden will bzw. die Darstellung der Vorbilder und Inspirationsquellen. Weil Ecco Homo in Wahrheit
eine Leseanleitung ist, steht hier die Feier Ritschls Seite an Seite auch mit einer Verdammung der schlechten Philologie [277].
Wer die figurative Schreibkunst Nietzsches zum Anlass der Allegorese und Plünderung macht, entlarvt sich nicht nur als
schlechter Reisender/Leser, son
dern offenbart seine christlich-platonischen Instinkte. Denn das Christentum hegt einen instinktiven Hass gegen die Realität. Von
Jesus selbst – „diesem grossen Symbolisten“ – stammt das Rezept dazu. Nur „innere“ Realitäten habe er gelten lassen (AC 34,
6:206). Wenn wir diese Gedanken miteinander verbinden, heißt das: Jesus versuchte, die ganze Welt zurückzuführen auf das
ihm Bekannte und Vertraute, auf den Phänomenalismus seiner eigenen Welt. Statt sie in ihrer Fremdheit begreifen zu wollen,
betrieb er nur Allegorese seiner selbst; „den Rest, alles Natürliche, Zeitliche, Räumliche, Historische“ nehme er „nur als Zeichen,
als Gelegenheit zu Gleichnissen“ wahr (ebd.). Der gute Leser geht dagegen den umgekehrten Weg, für ihn sind natürliche oder
historische Tatsachen, sofern sie sich als solche etablieren lassen, keine Zeichen für etwas, sondern es sind die Phänomene
selbst, die nur in und als Zeichen erkennbar sind. Diese möglicherweise allgemeinste Definition des Lesens und Interpretierens
gilt für Nietzsche nicht nur in der Domäne der Philologie, sondern überall dort, wo es auf Redlichkeit und Subtilität
gleichermaßen ankommt.
4.4. Asketisches Ideal: Lesen und Interpretieren
Ist der Mangel an Philologie ein Dauerkennzeichen des Christentums und aller Theologie sowie der Metaphysik und schließlich
aller systematischen und dogmatischen Ansichten, so mangelt es der Philologie ihrerseits an der inneren Substanz, die sie ganz
für sich allein stehen ließe. Größe und Grenze teilt die skeptische Wissenschaft nicht zufällig mit der philosophischen Haltung
der Skepsis selbst, die immer schon ausformulierte Weltanschauungen voraussetzt, zu denen sie sich dann verhalten kann.
Der bei Nietzsche so deutliche Gegensatz von Lesen und Interpretieren trifft genau jenen Gegensatz von schöpferischer
Wirksamkeit und Instrument zur Widerlegung bzw. Abschätzung derselben. Schon oben wurde dargestellt, dass die Tugend
der Empfänglichkeit schnell in ihr Gegenteil, bloße Passivität, umschlagen kann. Philologisches Lesen ist deshalb bei allen
Vorzügen tendenziell stärker mit dem asketischen Ideal verquickt als die Interpretation; Lesen und Interpretieren verkörpern
zwei alternative Existenzweisen. Die eine ist nicht ohne die andere denkbar, weil nur die Philologie die Fehler der Interpretation
bloßlegen kann; sie selbst aber, als vor allem reaktive Kraft, auf den ersten Schritt durch die Interpretation angewiesen ist.
Einer der berühmtesten Beiträge Nietzsches zum Verhältnis von Philologie und Interpretation, gleichzeitig jener, der den
Kommentatoren bis heute das meiste Kopfzerbrechen bereitet, ist die folgende, in Auszügen schon zitierte Stelle:
Ein andres Abzeichen des Theologen ist sein Unvermögen zur Philologie. Unter Philologie soll hier, in einem sehr allgemeinen
Sinne, die Kunst, gut zu lesen, verstanden werden, – Tatsachen ablesen können, ohne sie durch Interpretation zu fälschen,
ohne im Verlangen nach Verständniss die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit
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zu verlieren. Philologie als Ephexis in der Interpretation: handle es sich nun um Bücher, um Zeitungs-Neuigkeiten, um Schicksale
oder Wetter-Thatsachen, – nicht zu reden vom „Heil der Seele“ … (AC 52, 6:233)
Alle bisher behandelten topoi sind hier nochmals versammelt, gleichsam zum Beweis, dass sie durchaus nicht allein für die
aphoristischen Büchern galten: Philologie ist im Spätwerk immer noch das Gegenteil einer Geisteshaltung, die Verständnis um
jeden Preis will und steht deshalb gegenüber der Interpretation aufseiten der Kritik, und zwar in allen Auslegungsdomänen. Ein
schlechter Exeget achtet des Spielraums nicht und legt sich schnell fest – so verfälscht er einen ohnehin schon fragwürdigen
Text noch weiter. Ein guter Leser scheut vor dem endgültigen Urteil zurück. Philologie, die auf Textkritik gegründete kritische
Lesekunst, wird nun aber auch eindeutig zur universalen Methode, welche die Ableitungen von Überzeugungen und
Welterklärungen aus dem christlichen Glauben oder jeder anderen dogmatischen Überzeugung ersetzt. Nietzsches Spielraum
bedeutet ein Angebot zum Lesen selbst dort, wo es noch keinen Text gibt; er ist eine Warnung vor Interpretation, dem
abschließenden Urteil über ein Buch, einen Menschen, eine Sache, das andere mögliche Lesarten abweist. Nietzsches
bedeutungsschwangere Pünktchen und Gedankenstriche, sein häufiger und charakteristischer Gebrauch konditionaler,
restriktiver, überhaupt modifizierender, den assertiven Wahrheitsanspruch abschwächender Ausdrücke wie ‚vielleicht‘, ‚gesetzt
den Fall‘, ‚wie?‘ hat hier sein theoretisches Fundament.
Nietzsches Begriff der Ephexis gehört zu ephektikos – zurückhaltend, unentschieden im Urteil – bzw. dem skeptischen
Grundsatz der epochē, der Urteilsenthaltung. Nietzsche wird auf die Ephektiker nicht zuletzt durch sein Studium des Diogenes
Laertius aufmerksam (Buch IX, 70, vgl. 1821, Bd.2:167). Das Wort ephexis hat Nietzsches Lesern Rätsel aufgegeben, da es
sich sonst nicht nachweisen lässt bzw. nur bei ihm die epochē bezeichnet. In der Genealogie der Moral übersetzt Nietzsche
selbst das Adjektiv ephektisch mit ‚abwartend‘:
Man rechne sich die einzelnen Triebe und Tugenden des Philosophen der Reihe nach vor – seinen anzweifelnden Trieb, seinen
verneinenden Trieb, seinen abwartenden („ephektischen“) Trieb, seinen analytischen Trieb, seinen forschenden, suchenden,
wagenden Trieb, seinen vergleichenden, ausgleichenden Trieb, seinen Willen zu Neutralität und Objektivität, seinen Willen zu
jedem „sine ira et studio“ […] (GM III.9, 5:357) [278].
Die genannten Tugenden sind diejenigen des Philologen, Tugenden freilich, deren asketische Signatur ihre eigene Problematik
hat. In Victor Brochards bereits erwähnter Studie Les sceptiques grecs (vgl. Kap. 2.5.), das Nietzsche kurz vor der
Niederschrift des Antichrist mit Begeisterung gelesen hatte, wurden nicht nur „époque“ und „adiaphorie“ als die zwei Begriffe
„qui résument tout le scepticisme“ (1887:75) identifiziert, sondern in den Rahmen des skeptischen Lebensideals der ataraxia,
des selbstgenügsamen Seelenfriedens gestellt, der, konträr zu den vitalsten Instinkten alles Organischen, nicht nur potentiell,
sondern faktisch nihilistisch ist. Nietzsches glaubt auf der Grundlage vorläufiger Studien organischer Phänomene – man denke
an seine naturwissenschaftliche Lektüre – den Charakter des Organischen schlechthin benennen zu können. Alles Lebendige ist
durch den Drang nach Wachstum durch Aneignung und Einverleibung und damit Interpretation gekennzeichnet. Ihn zu leugnen
oder durch Askese bezwingen zu wollen, und sei es durch Askese in der Interpretation, läuft auf Lebensverneinung hinaus:
Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte,
Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung, – aber wozu sollte man immer gerade
solche Worte gebrauchen, denen von Alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist? Auch jener Körper, innerhalb
dessen, wie vorher angenommen wurde, die Einzelnen sich als gleich behandeln – es geschieht in jeder gesunden Aristokratie –,
muss selber, falls er ein lebendiger und nicht ein absterbender Körper ist, alles Das gegen andre Körper thun, wessen sich die
Einzelnen in ihm gegen einander enthalten: er wird der leibhafte Wille zur Macht sein müssen, er wird wachsen, um sich greifen,
an sich ziehn, Übergewicht gewinnen wollen, – nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil er lebt,
und weil Leben eben Wille zur Macht ist. (JGB 9.259, 5:207f)
Man beachte jedoch bereits, dass Nietzsche daraus keine normativen Schlüsse zieht. Man beachte ferner, dass Leben
wesentlich , aber eben nicht ausschließlich Aneignung ist. Nietzsche hat in der Genealogie der Moral eine Musterauslegung der
eigenen Schriften mit der Analyse des asketischen Ideals verbunden. Askese wird bei Nietzsche besonders mit dem
Gelehrtentypus des Philologen assoziiert; möglicherweise ist die gesamte dritte Abhandlung zur Genealogie eine späte
Auseinandersetzung mit Wilamowitz, der in seinem Angriff auf die Tragödienschrift die Askese selbstverleugnender Arbeit
eingeklagt hatte (vgl. Kap. 5.4.) [279]. Eine Analyse der dritten Abhandlung der Genealogie unter diesen Gesichtspunkten kann
deshalb helfen, das Wechselverhältnis von Lesen und Interpretieren, Aneignung und Aufnahme, vitalen und asketischen
Instinkten zu klären.
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„Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht ‚entziffert‘; vielmehr hat
nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf.“ (GM Vorrede 8, 5:255). Mit Ablesen ist
hier offensichtlich die an Grammatik und Textleib, am usus loquendi ausgerichtete Etablierung des Texts und historischen Sinns
gemeint, zu welchem die Ausdeutung des sich daraus ergebenden Spielraums kommt. Die Entzifferung wäre dann die am
Leitfaden der Autorintention vorgenommene Einschränkung, die vor der jeweiligen Maske Respekt bezeugt. Sie erschließt die
figurativen, durch die Kunst der Anspielung erzeugten Bedeutungen. Weil der Erklärer dadurch riskiert, Allegorese zu betreiben,
praktiziert er Skepsis, d.h. ‚Ephexis‘, seiner eigenen Lektüre gegenüber. Das achte Stück der Vorrede zur Genealogie der Moral
schickt der Abhandlung die gesamte Lesetheorie voraus: vom allegorischen Anruf der „Ohren“ über die Forderung nach
Affinität des Lesers zum Text und zur Person Nietzsches, den Hinweis auf die Wichtigkeit der künstlerischen Form bis zum
Prinzip des Homerum ex Homero sowie dem Anspruch des Verfassers auf Kenntnisnahme sämtlicher Schriften durch den
Leser. Er sei hier in seiner Gänze zitiert:
– Wenn diese Schrift irgend Jemandem unverständlich ist und schlecht zu Ohren geht, so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht
nothwendig an mir. Sie ist deutlich genug, vorausgesetzt, was ich voraussetze, dass man zuerst meine früheren Schriften
gelesen und einige Mühe dabei nicht gespart hat: diese sind in der That nicht leicht zugänglich. Was zum Beispiel meinen
„Zarathustra“ anbetrifft, so lasse ich Niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief
verwundet und irgendwann einmal tief entzückt hat: erst dann nämlich darf er des Vorrechts geniessen, an dem halkyonischen
Element, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner sonnigen Helle, Ferne, Weite und Gewissheit ehrfürchtig Antheil zu haben.
In andern Fällen macht die aphoristische Form Schwierigkeit: sie liegt darin, dass man diese Form heute nicht schwer genug
nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht „entziffert“;
vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. Ich habe in der dritten
Abhandlung dieses Buchs ein Muster von dem dargeboten, was ich in einem solchen Falle „Auslegung“ nenne: – dieser
Abhandlung ist ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst ist dessen Commentar. Freilich thut, um dergestalt das Lesen als Kunst
zu üben, Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist – und darum hat es noch Zeit bis zur
„Lesbarkeit“ meiner Schriften –, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht „moderner Mensch“ sein muss: das Wiederkäuen
… (GM Vorrede 8, 5:255f)
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tet [280]. Die philologische Methode des Lesens entspricht dem Kommentieren. Das Lesen als Metapher für die distanzierende
Betrachtung der Welt ist eine Art Fließkommentar zur Phänomenologie des lesenden Individuums. So aufgefasst, ist die
Auslegung nie beendet, der Kommentar ist unendlich und kommentiert sich schließlich selbst. Lesen ist der Prozess des
Nachvollzugs, nicht endgültige Gewinnung eines Sinns. Der Sinn, dieses Bild taucht bei Nietzsche immer wieder auf, ist flüssig
und kann nur in der Bewegung nachvollzogen werden. Die Flüssigkeit des Sinns beschreibt nicht die Wandlung seiner
Bedeutung im Prozess der Rezeptionsgeschichte; er ist nicht dem grammatisch-historischen Sinn entgegengesetzt. Vielmehr
bezeichnet er den Spielraum des Kommentators. Die Theorie des flüssigen Sinns ist damit der denkbar größte Gegensatz zum
statischen sensus der sog. dunklen Stellen bzw. seinen Nachfolgern in der Allegorese [281]. Der Kommentar verzichtet auf die
Applikation, sofern er nicht schon selbst als solche aufgefasst wird; Lesen bedeutet ausschließlich die Kombination aus subtilitas
intelligendi und explicandi.
Der Kommentar als Protokoll der Lektüre ist seit den Alexandrinern der neben der Edition wichtigste Bestandteil philologischer
Arbeit. Zwar ist der Kommentar bei den alexandrinischen philologoi auf Wort- und Sacherklärung eingeschränkt und geht erst
während der Neuzeit darüber hinaus. Aber spätestens mit der Historisierung der Philologie zur universalen
Altertumswissenschaft seit F.A. Wolf versteht er sich als allgemeine, am sensus historicus ausgerichtete kritische Praxis. Er
gehört seither zu den fachbegründenden Bestandteilen der Philologie, mit dessen Hilfe die Philologen dem Text Grenzen setzen
können (vgl. Senger, 1993; Fohrmann, 1988) [282]. Zwar verliert sich der interpretierende Kommentar später wieder zugunsten
der reinen Erläuterung [283], aber seine Hauptaufgabe
Page: 0202
bleibt es, das Verständnis historischer Texte durch Rehistorisierung und Hinweis auf Unverständlichkeiten zu garantieren. Der
Kommentator vermag einerseits den Kontext, die Vorurteile und die Motive des Autors aus der Distanz besser zu übersehen,
kann andererseits aber natürlich nie denselben Wissensstand reproduzieren. Der Kommentar als „Ort der Vergegenwärtigung
des Entstehungszusammenhangs“ macht nicht nur die editorischen Entscheidungen plausibel, sondern reichert sie, das macht
ihn ja so verführerisch, mit biographischen, literaturhistorischen u.a. Begleitumständen an. Er ist dabei von Natur aus vorsichtig
gegenüber der Interpretation und versteht sich traditionell eher als Berichtigung falscher Thesen, damit der Leser das letzte
Wort behalte (Woesler, 1993:20–25). Nicht von ungefähr haben neuere Autoren deshalb darauf bestanden, dass der
Kommentar von der Bedrängnis gar nicht berührt ist, in der die Interpretation in der neuzeitlichen hermeneutischen Theorie
geraten ist. Ihn treffe der Vorwurf der Gewalttätigkeit nicht, den man der Interpretation gemacht habe (Haug, 1995). Den man
ihr, so müsste man ergänzen, ausgerechnet seit Nietzsche bzw. der dekonstruktivistischen Nietzscherezeption gemacht hat
[284].
Indem sich Nietzsche aber selbst dieser in der Philologie tradierten Unterscheidung von Kommentar und Interpretation bedient,
kann er seiner Kunst des guten Lesens jene Eigenschaften des Kommentars angedeihen lassen, die ihn von der Interpretation
unterscheiden. Sein Kommentar muss sich dabei nicht auf Wort- und Sacherklärung festlegen. Nietzsches gutes Lesen war ja
eher nachvollziehende Empathie, um Gleichklang mit dem Autor herzustellen; und sein Begriff des Kommentars ist folglich eine
Metapher für die Feinheit des Umgangs mit dem Spielraum als subtilitas der Auslegung in Verbindung mit der feinen
Vornehmheit kritischer Ephexis/epochē.
Dem Begriff der Interpretation ist bei Nietzsche dagegen die subtilitas applicandi vorbehalten, in welcher sich der flüssige Sinn
verfestigen soll. Als Applikation dient die Interpretation letztlich immer der Unterstützung vorgefasster Absichten und lässt sich
damit einem Gewaltakt, der vergewaltigenden Aneignung vergleichen. Der Schlussfolgerung Figls, wonach Nietzsches Theorie
des Lesens bedeute, dass Lektüre immer zur Tat führen solle (1989:169f), muss deshalb
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vehement widersprochen werden. Das Gegenteil ist der Fall. Figls Unbehagen an der eigenen Theorie äußert sich im wenig
überzeugenden Bemühen, Nietzsches Lesetheorie auf appellative Texte einzuschränken. Schon der junge Nietzsche macht
deutlich, dass es beim Lesen um das Verständnis geht, nicht um die Umsetzung dieses Verständnisses in die Praxis. In der
Vorrede zu den Vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten , in der Nietzsche die bekannte Reihe philologischer
Tugenden einklagt und den langsamen, gründlichen, mitdenkenden Leser anspricht, der zwischen den Zeilen liest, heißt es
unmissverständlich: „Wenn der Leser dagegen, heftig erregt, sofort zur That emporspringt, wenn er vom Augenblick die
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Früchte pflücken will, die sich ganze Geschlechter kaum erkämpfen möchten, so müssen wir fürchten, daß er den Autor nicht
verstanden hat.“ (KSA 1:648ff) Noch irreführender ist die Bezeichnung der Kunst des Lesens als Fortführung traditioneller
hermeneutischer Theorie seit Schleiermacher (Figl, 1989:169f). Die Hermeneutik Schleiermachers versucht noch, einen
konsistenten sensus herzustellen. Die Kunst des Lesens dagegen ist Nietzsches Metapher für die Flüssighaltung des Sinns, für
die, freilich nicht beliebige, Öffnung von Auslegungsmöglichkeiten.
Nietzsches Musterkommentar verkörpert schon vom Ausgangspunkt her das ernsteste exegetische Problem, das man sich in
diesem Zusammenhang vorstellen kann. Es ist nämlich bereits unklar bzw. umstritten, worauf sich der Kommentar, den die
dritte Abhandlung der Genealogie darstellen soll, überhaupt bezieht. Zwei Kandidaten stehen zur Auswahl, für die es jeweils
gewichtige Fürsprecher gibt. Entweder ist mit dem kommentierten Aphorismus das Zarathustra- Zitat gemeint, das als Motto
unmittelbar über der dritten Abhandlung steht – dies ist die nach wie vor verbreitetste Auffassung [285]. Oder aber, dafür hat
v.a. John T. Wilcox (1997) überzeugende Argumente gefunden, mit dem Aphorismus werde das erste Stück der dritten
Abhandlung von „Was bedeuten asketische Ideale?“ bis „[…] nicht wollen“ (GM III.1, 5:339) bezeichnet. Die Entscheidung
darüber hat naturgemäß weitreichende Konsequenzen für eine Rekonstruktion von Nietzsches Auslegungstheorie.
Für Wilcox sprechen mehrere Umstände, die mittlerweile von der Forschung akzeptiert worden sind [286]; aber selbst wenn
man sich von ihnen überzeugen lässt, hat man noch nicht die Funktion des Zarathustra -Zitats erklärt: Wilcox selbst verzichtet
darauf und sieht überhaupt keine Verbindung des Mottos zum Text. Man fragt sich, warum Nietzsche es dann überhaupt so
missverständlich einge
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setzt haben soll. Immerhin stammt es aus dem Abschnitt „Vom Lesen und Schreiben“ (KSA 4:48ff), einem Kapitel, das nicht nur
thematisch passt, sondern aus einer Aneinanderreihung kurzer Aphorismen besteht, die wie zwei Seiten Sprüche aus
Menschliches, Allzumenschliches ohne Leerzeilen wirken und deshalb plausibel als Quelle des zu kommentierenden Aphorismus
gelten könnte. Von Wilcox bzw. seinen Anhängern ist bisher nicht beachtet worden, dass Nietzsches Zarathustra -Motto schon
früh im Zusammenhang mit Aufzeichnungen zur Genealogie der Moral vorkommt. Offenbar ist es ursprünglich als Motto des
ganzen Buches geplant gewesen [287], wo es allerdings in den überlieferten Fragmenten des Druckmanuskripts nicht mehr
auftaucht. In der Erstausgabe steht es bereits vor der dritten Abhandlung, und zwar auf einer gesonderten Seite, woran sich
die heute maßgebliche Ausgabe, nämlich die KSA skandalöserweise nicht hält [288]. Der Leser konnte und kann nicht wissen,
dass GM III. 1 von Nietzsche tatsächlich erst später eingefügt wurde und es deshalb der vorangestellte Aphorismus sein muss,
auf den sich das achte Stück der Vorrede bezieht [289].
Aus der behutsamen Abwägung aller vorliegenden Evidenz ergibt sich folgendes Bild. In der Tat bezieht sich das achte Stück
der Vorrede, wie von Wilcox sowie dem KSA-Kommentar behauptet, auf GM III. 1; dies ist der „Aphorismus“, den die dritte
Abhandlung kommentiert. Auf der anderen Seite muss auch das Zarathustra- Zitat bewusst gewählt worden sein; es steht in
engem Zusammenhang sowohl mit dem in der dritten Abhandlung thematisierten asketischen Ideal, als auch mit Nietzsches
Auslegungstheorie. Nietzsche hat es gezielt als Motto über diese Abhandlung gesetzt, nicht, wie ursprünglich geplant, über das
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gesamte Buch. Beide Passagen müssen somit nach ihrem Aussagewert für die Auslegungstheorie untersucht werden [290].
Wilcox hat schön gezeigt, wie Nietzsche im Text der dritten Abhandlung alle Elemente aus dem ersten Aphorismus (GM III. 1)
wieder aufgreift und diesen also linear kommentierend abhandelt. Der Kommentar werde somit seinem Genre gerecht und
dekomprimiere den Ausgangstext, was man in Bezug auf das Zarathustra- Zitat, das an keiner Stelle erwähnt wird, nicht
behaupten könne. Das ist ein wichtiger Punkt. Nietzsche demonstriert in der Tat, wie weit man kommt, wenn man den Wortlaut
des Aphorismus ernst nimmt und ihn paraphrasierend weiterdenkt. Er will letztlich den Beweis führen, dass seine gesamte
aphoristische Produktion als ungeheures System von Abkürzungen, Andeutungen und Anspielungen verstanden werden muss.
Der gute Leser müsste in der Lage sein, aus jedem von Nietzsches Aphorismen eine entsprechend explizitere und explikativere
Abhandlung zu verfertigen. Der gute Leser liefert sich Nietzsche damit in gewissem Umfang aus, er denkt und liest nach den
von Nietzsche gesetzten Prämissen. Von Vergewaltigung kann keine Rede sein, sonst müsste Nietzsche den eigenen
Aphorismus vergewaltigen, und dafür gibt keine Anhaltspunkte. Die Form von Nietzsches Musterkommentar ist ebenfalls
kompatibel mit der Auffassung vom Lesen als induktiver Methode und Kombination aus subtilitas intelligendi und explicandi. Der
Exeget interpretiert erst, wenn er aus dem flüssigen Sinn eine feste Schlussfolgerung zu ziehen versucht, insbesondere wenn
es sich dabei um eine deduktive dogmatische Ableitung der subtilitas applicandi handelt, denen die anderen, den Kommentar
konstituierenden subtilitas untergeordnet werden. Im gesamten Spätwerk einschließlich des Nachlasses gilt, dass Auslegung,
die sich als von der Applikation her bestimmt, Fälschung betreibt. Als Umsetzung des Vor-Urteils in Auslegung ist Interpretation
eher Dichtung als Auslegung, eher aktiv als passiv – und deshalb dem philologischen Lesen entgegengesetzt:
Die auf Applikation zielende Auslegung bzw. Interpretation wird von Nietzsche immer wieder negativ mit logischen
Fehlschlüssen wie der Verwechslung von Ursache und Wirkung assoziiert und als unwissenschaftlich angegriffen, wie in
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folgendem, einem von vielen Beispielen: „und wie schrecklich und vernunftwidrig ist schon diess, Ursache und Wirkung als
Ursache und Strafe zu verstehen! – aber man hat mehr gethan und die ganze reine Zufälligkeit des Geschehens um ihre
Unschuld gebracht, mit dieser verruchten Interpretationskunst des Straf-Begriffs.“ (M 1.13, 3:26) Die Interpretation steht nicht
zuletzt auf der Seite des festen Denkgebäudes im Gegensatz zur intellektuellen Rechtschaffenheit des ephektischen flüssigen
Sinns: „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“ (GD Sprüche und Pfeile 26, 6:63). Dem aktiv-umformenden
Charakter der Interpretation entsprechend, errichtet sie Gebäude einer reinen „Fiktions-Welt“, die „ihre Wurzel im Hass gegen
das Natürliche (– die Wirklichkeit! –)“, den an den Phänomenen ausgerichteten Tatsachensinn haben:
Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christenthume mit irgend einem Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre
Ursachen („Gott“, „Seele“, „Ich“ „Geist“, „der freie Wille“ – oder auch „der unfreie“); lauter imaginäre Wirkungen („Sünde“,
„Erlösung“, „Gnade“, „Strafe“, „Vergebung der Sünde“), […] eine imaginäre Psychologie (lauter Selbst-Missverständnisse,
Interpretationen angenehmer oder unangenehmer Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus mit
Hülfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie […] (AC 15, 6:181f)
Wer an der „Wirklichkeit“ leide, habe es eben nötig, sich daraus wegzulügen. Diese schöpferische Lüge, die sich der Allegorese
bedient – welche offensichtlich mit der „Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie“ gemeint ist –, diese schöpferische
Lüge also ist mit der Interpretation identisch; sie charakterisiert schon früh in Nietzsches Entwicklung die „christlichen
Interpreten des Leibes“ (M 1.86, 3:80f).
Die Interpretation ist damit nicht mehr allein Abzeichen des bösen Willens in der Auslegung, die sich als solche in der Kunst des
schlechten Lesens auch an schriftlichen Texten offenbaren kann, sondern ganz allgemein die einzige Möglichkeit, sich einem
Phänomen zu nähern, wenn ‚Lesen‘ wegen Textmangels ohnehin irrelevant geworden ist. Selbst guter Wille und intellektuelle
Redlichkeit wie in der Naturwissenschaft helfen angesichts der Komplexität und Kontingenz gewisser Phänomene nicht weiter.
Auf abstraktester Ebene und um des Überlebenswillens und Erweiterungskampfs wegen muss sich das Individuum sein Dasein
zurechtlegen, d.h. den nicht-erkennbaren Text fälschen, zurechtmachen, interpolieren. Schon 1881 ruft Nietzsche dies zum
„Hauptgedanke[n]!“ aus (V 11[7]). Wo das Leben selbst auf dem Spiel steht, ist kritischer Takt gefährlicher, dekadenter, kurz:
nihilistischer Luxus. Interpretation wird in dieser Domäne lebensnotwendig, unverzichtbar.
Auf diese Erkenntnis läuft Nietzsches späte Einsicht in den „interpretative[n] Charakter alles Geschehens“ hinaus. Wenn die
Basis der Erkenntnis die Selbsterkenntnis, die Selbsterkenntnis aber das Schwierigste überhaupt und unredliche Interpretation
ist, weil wir den Kampf unserer oft unbewussten Affekte nie übersehen können, dann gibt es in der Tat „kein Ereignis an sich.
Was geschieht, ist
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eine Gruppe von Erscheinungen ausgelesen und zusammengefaßt von einem interpretirenden Wesen.“ (VIII 1[115]). Auslesen
ist das Gegenteil sowohl von Textkritik als auch von Lesen, zwei Seiten derselben Medaille des Mangels an Philologie, nämlich der
Verwechslung von Erklärung und Text (VIII 15[82]). Nur so wird die berühmte Definition von Interpretation als „Mittel, um Herr
über etwas zu werden“ verständlich. Es ist der organische Prozess selbst, der ständiges Interpretieren voraussetzt und
verlangt (VIII 2[148]). Er sucht nicht nach Sinn in den Dingen, sondern steckt ihn hinein (VIII 1887 6[15]), indem er instinktiv die
relevanten „facta“ auswählt (VII 7[228]), ohne die sein Fortkommen nicht gesichert wäre. Die unmögliche Selbsterkenntnis als
Basis der Weltauslegung kann höchstens eines erreichen, das Nietzsche selbst als seine Aufgabe ansieht: die „Entmenschung
der Natur“ (V 11[211]). Sie erfordert, immer und immer wieder auf die fehlerhaften anthropomorphischen Interpretationen der
Welt hinzuweisen, durch die menschliche Kategorien wie Kausalität in die Welt der Phänomene projiziert werden [291].
Kausalität, um bei diesem für Nietzsche wichtigen Beispiel zu bleiben, ist nur bloßes Ausdrucksmittel, die Erklärung habe noch
gar nicht begonnen, ehe nicht ein ungeheurer Tatbestand (also ein ‚Text‘) beschrieben sei (vgl. VII 36[28]) [292].
Es kann am Ende jedoch nicht nachdrücklich genug betont werden, dass diese allgemeinen Überlegungen Nietzsches zur
Auslegung sich entschieden nicht auf die Auslegung von schriftlichen Texten beziehen. Es dürfte auch einleuchten, warum das
logischerweise nicht der Fall sein kann: Nietzsches Vorwurf an Theologen, Moralphilosophen und Naturwissenschaftler, auf
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unzureichender Textgrundlage und ohne die nötige Subtilität bei der Lektüre zu arbeiten, verlöre nämlich jeglichen Sinn. Gerade
weil die Auslegung von schriftlichen Texten das positive Gegenbeispiel für intellektuelle Redlichkeit abgibt, die sich in der
philologischen Arbeit am Text zeigt, muss sie einen anderen Status besitzen. Nietzsche spricht von den Welt -Auslegungen als
Symptomen eines herrschenden Triebes, nicht von Auslegungen im allgemeinen (VIII 1887 7[3]), wobei seine Begrifflichkeit
gerade im Nachlass nicht immer so deutlich ist, weil ihm ja selbst klar war,
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was er meinte – die von den Kommentatoren zur Explikation von Nietzsches Interpretationstheorie meistens herangezogenen
Zitate entstammen einem in dieser Hinsicht äußerst heiklen Textcorpus. In den publizierten Schriften gibt es hier jedenfalls keine
Ambiguitäten.
Günter Figal (2001) hatte behauptet, ohne Text gäbe es keine Interpretation, denn Interpretation sei immer Interpretation von
etwas. Er hat damit den heutigen Sprachgebrauch sowie gesunden Menschenverstand auf seiner Seite, nicht aber Nietzsche.
Interpretieren ist bei Nietzsche weniger rezeptiver denn schöpferischer Vorgang, ausgelöst von Konstellationen des Leibes und
von den diesen Konstellationen entsprechenden negativen oder positiven Folgen begleitet. Die Philologie und ihr Verhältnis von
Text und Interpretation ist deshalb keine Metapher für das beständig auslegende Dasein; Philologie ist, nach Boeckh, das
Erkennen des schon Erkannten – und, nach Nietzsche, das Schaffen von Möglichkeit des Erkennens. Figal soll darin Recht
behalten, dass Interpretation ‚etwas‘ interpretiert. Aber bei diesem ‚etwas‘ geht es eben nicht um Texte. Etwas interpretieren
heißt bei Nietzsche, etwas in die Welt zu setzen, welches das auszulegende Etwas erst konstruiert. Interpretieren heißt
Ausdehnung und Überwältigung; es ist im Grunde zwar nicht syntaktisch, aber semantisch intransitiv. Es ist an dieser Stelle,
also bezogen auf Domänen, die außerhalb des Zugriffs der Philologie liegen, dass Abels (1984) eingangs geschilderte
Rekonstruktion der Interpretation als quasi-dichterischem Fundamentalvorgang ihre eigentliche Erklärungskraft entfaltet.
Wie bereits in der Einleitung sei auch hier nochmals betont, dass Figal natürlich die aktive Rolle des Interpreten nicht verkennt.
Aber er scheint die Konsequenzen dieser Behauptung begrenzen zu wollen. Auch Abel betont die Konstruktionsleistung der
interpretierenden Instanz: „Im Interpretieren wird nicht eine objektiv seiende Welt wiedergegeben bzw. naturgetreu abgebildet,
sondern eine Welt als die So-und-so-Welt nach Maßgabe der internen Funktionen des Interpretations-Schemas, aus dem man
nicht heraustreten kann, allererst konstruiert.“ (1984:447) Selbst die Wahrnehmung ist nicht interesselos, sondern
machtgeleitet und auswählend. Alles ist Interpretation. Dies gilt jedoch bei Nietzsche nur auf abstrakter Ebene für alles
Organische. Die konkrete Methodenlehre philologischer Textexegese wird davon nur zum Teil erfasst, weil der ‚Text‘ mitgedacht
sein will. Abels Behauptung, dass in der Zirkularität des Interpretationsgeschehens die Unterscheidung von Text und
Interpretation und damit Natur und Schein aufgehoben werde (182), lässt sich bei Nietzsche also nicht belegen.
Nietzsche wendet sich als Philologe gegen die abendländische Universalmetapher der Lesbarkeit der Welt, der etwa
Blumenberg (21989) so akribisch nachgespürt hat. Die Welt als Buch gibt zunächst das Grundmuster allegorischer
Interpretation ab. Das Buch der Natur gehört zu den festen Topoi der Natursymboliker und speist sich letztlich aus mystischen
und neuplatonischen Quellen; beliebt bei ihnen übrigens die Metapher der Hieroglyphenschrift (vgl.
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Sørensen, 1963:144ff), die ja auch bei Nietzsche auftaucht. Wäre die Welt ein Buch, so müsste es eine intentio auctoris geben,
wenn auch nur als ästhetisch begründete integrierende Funktion – Gott, beispielsweise. Wie man für einen Text einen Redaktor
annehmen muss, so muss man also einen Verfasser der Erscheinungen annehmen, der aus arbiträren, konventionellen Zeichen
natürliche, ikonische Zeichen macht. Für einen Antiplatoniker ist dies natürlich unmöglich. Welterklärung ist deshalb schon aus
diesem Grunde notwendigerweise Allegorese. Im Buch der Welt, das bereits als Text nicht existiert, lässt sich zu allem Überfluss
auch nicht lesen. Übrig bleibt deshalb nur die Interpretation. Die einzigen intentiones, die sich in der Welt erahnen lassen, sind
die Myriaden von Machtquanten, welche nur durch Leiber von einander abgegrenzt sind und ein völlig undurchschaubares Auf-
und-Ab des Kampfes um die Herrschaft inszenieren. „Wer die Stelle eines Autors ‚tiefer erklärt‘, als sie gemeint war, hat den
Autor nicht erklärt, sondern verdunkelt.“ Typischerweise würden die Metaphysiker so verfahren. Um „zum Texte der Natur“
überhaupt ihre tiefen Erklärungen anbringen zu können, „richten sie sich häufig den Text erst daraufhin zu: das heisst, sie
verderben ihn.“ (WS 14, 2:551ff). Nietzsche führt auf diese Weise Lesen und genealogische Textkonstitution zusammen.
Falschmünzerei beruht auf zwei Operationen, nämlich der wissentlichen oder unwissentlichen Fälschung des Tatbestandes (des
Textes), welche wiederum vor allem durch Substitution der sensus und Anwendung des sensus allegoricus zustandekommt.
Nietzsches vielzitierte Einsicht, „gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum ‚an sich‘
feststellen“, bezieht sich deshalb eindeutig nicht auf Texte, freilich bereits auf den Leib des Auslegenden selbst. Schon das
Subjekt des Interpreten sei Dichtung, Hypothese, Auslegung. Zwar sei die Welt durchaus erkennbar, aber nur in der Form
unzähliger Sinne – das nämlich ist der Perspektivismus, der aus unseren Bedürfnissen und herrschsüchtigen Trieben stammt,
Peter J. Brenner beendet seine ansonsten meisterhafte historische Darstellung des Problems der Interpretation mit einem
Gemeinplatz, den ich hier zu widerlegen versucht habe. Als Nietzsche feststellte, dass es keine Tatsachen sondern nur
Interpretationen gebe, habe er dem Universalitätsanspruch der Hermeneutik den Boden bereitet: „Textauslegung ist
Weltauslegung; und das Verstehen von Welt vollzieht sich nach dem Modell der Hermeneutik.“ (Brenner, 1998:322) Das
Gegenteil ist der Fall. Textauslegung ist im besten Fall, nämlich dann, wenn Text und entsprechende Begabung und Ausbildung
zur Verfügung stehen, subtiles
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philologisches Lesen, Weltauslegung dagegen ist Interpretation im Sinne der subtilitas applicandi; sie ist ferner Dichtung bzw.
Auslegung, die notgedrungenerweise immer ‚fälscht‘, weil ihr kein Text zur Verfügung steht [293].
Die Frage, die Birus (1984:380) sinnvollerweise gestellt hat, nämlich wie Nietzsches Selbstverständnis als Philologe mit seiner
Auffassung des Interpretierens als Wille zur Macht zu vereinbaren sei, stellt sich demnach gar nicht. Wie eingangs bemerkt,
erkennt Birus völlig richtig und bisher als einziger, dass sich Nietzsches Interpretationsbegriff gar nicht auf die Auslegung von
Texten beziehe, sondern dass die schlechte Philologie nur auf die Erfahrung eines neukantianisch inspirierten Chaos von
Sinneseindrücken verweise (381ff). Interpretation muss dort einen Sinn hineinlegen, wo noch keiner existiert, also wiederum
nicht in Texte; leider entgeht ihm dabei, dass Interpretieren ganz allgemein im Gegensatz zum Lesen steht [294]. Birus'
Erklärung von Nietzsches widersprüchlichen Aussagen zur Philologie als „Doppelgesichtigkeit“ erweist sich nach Beachtung der
Chronologie als überflüssig. Seine Entdeckung der Forderung nach einer Kunst der Auslegung bei Nietzsche bleibt zu
unkonkret, denn diese Forderung findet sich wörtlich bei anderen Philologen von Wolf bis Boeckh. Anhand der
interpretatorischen Praxis Nietzsches erläutert Birus dessen Verbindung von psychologischer Tiefeninterpretation und
Entlarvung von Sprachkonventionen. Nietzsches Auslegungskunst sei v.a. durch zunehmende Historisierung der
psychologischen und grammatischen Interpretation (in Anlehnung an Schleiermacher!) gekennzeichnet. Im Gegensatz zu
Schleiermacher stehe deshalb nicht so sehr der synchrone Sprachstand des jeweiligen Verfassers im Mittelpunkt, sondern die
Etymologie (393) und der Mensch als „ein Feld von historischen Brüchen und Verwerfungen“ (394). Mit einem Ausblick auf
Foucault schließt er an die Genealogie als Aufhebung des Gegensatzes an, erkennt sie freilich nicht als philologischen Begriff und
– das ist gravierender – trennt bei der Betrachtung von Nietzsches Praxis nicht mehr zwischen Texten und Nichttexten.
Das „Buch der Natur“, so Blumenberg (2001:175f), erstreckt sich in seinem metaphorischen Gehalt auf Wörter, Silben und
Buchstaben: Syntax und Formenlehre sind normalerweise darin nicht vorgesehen (worin sich übrigens sein allego
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risch-substituierender Charakter verrät). Bei Nietzsche erlebt diese Metapher bzw. Allegorie zunächst ihren eigentlichen
Höhenflug. Ganz buchstäblich versucht er, den Text der Phänomene zu finden, dem er als Philologe am besten beikommen
kann. Die Geschichte des Menschen als lesbare „Majuskel-Schrift unsres Erden-Daseins“ (GM III. 11, 5:362) ist freilich in erster
Linie Wunsch und Absichtsäußerung. Nietzsche fordert vom Buch der Natur nun aber auch Syntax, als Philologe spielt bei ihm
die ‚Grammatik‘ vielleicht die entscheidende Rolle. Wenn man tatsächlich einen Text schaffen möchte, reicht es nicht aus,
Phänomene isoliert zu betrachten. Sie müssen unter Beachtung ihrer inneren Beziehungen zu einem neuen Ganzen
zusammengefügt werden. Nietzsches erfährt es am eigenen Leibe: daran scheitert der Mensch. Logische bzw. semantische
Beziehungen-an-sich kann er ebenso wenig erkennen wie Dinge-an-sich. Er legt deshalb Kausalität und ähnliche Kategorien in
die Phänomene hinein, er interpretiert [295]. Außerhalb des vom Menschen Erzeugten ist Lachmanns und Ritschls recensere
sine interpretatione in keinem Falle möglich, die Selbstauslegung des Menschen, des ‚noch nicht festgestellte[n] Tier[s] ‘ (JGB
3.62, 5:81), eingeschlossen [296].
Die anfangs gestellte Frage, ob Nietzsches Interpretationstheorie als Texthermeneutik oder Fundamentalvorgang beschrieben
werden muss, ist im Rahmen dieser Arbeit entschieden. Sowohl Birus wie Abel sollen Recht behalten, aber nicht über die
jeweilige Domäne hinaus. Granier (1966), der schon wesentliche Einsichten Abels (1984) vorwegnahm, stellte fest, dass sich
das Sein bei Nietzsche nur durch die Aktivität des Interpretierens erschließen lasse. Die Interpretation hänge mit dem Willen zur
Macht zusammen, da Sein Wille zur Macht ist (z.B. S. 463). Es zeigt sich nun aber, dass Seinserschließung erstens gar kein Ziel
von Nietzsches Denken ist, dass zweitens Interpretation nicht als Methode gleich der Philologie bzw. dem Lesen aufgefasst
wird, sondern als unvermeidliches Übel bzw. auch als wertfrei zu betrachtendes Geschehen im Sinne
Abels [297], dass drittens die Lektüre als bewusst exegetisches Verfahren und als Erkenntnisweise die Interpretation in
bestimmten Domänen ersetzen kann.
Damit ist zwar einiges, aber gewiss noch nicht das Wichtigste erklärt. Wäre Nietzsche hier stehen geblieben, hätte er lediglich
die ehrwürdige nominalistische und skeptische Tradition um eine neue Spielart bereichert. Das Zarathustra -Motto vom Beginn
der dritten Abhandlung ist noch immer so mysteriös wie zuvor, widerspricht es doch recht unverblümt dem Plädoyer des
vorsichtig-ephektischen Lesens mit seinem tendenziellen Nihilismus des asketischen Ideals: „Unbekümmert, spöttisch,
gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib, sie liebt immer nur einen Kriegsmann.“ (GM III.1, 5:339). Es genügt nicht,
dahinter nur ganz allgemein die naheliegende gegenseitige Ergänzung von Lektüre und Interpretation anzunehmen. Auflösen
bzw. konkreter fassen lässt sich das Rätsel von Nietzsches Auslegungstheorie nur mit Rücksicht auf den Perspektivismus. In
ihm ist Nietzsche einen Schritt weiter gegangen – auch im Fortdenken der philologischen Theorie.
4.5. Zum Perspektivismus
Nietzsche, der er es liebte, die berühmte Frage des Pilatus rhetorisch immer wieder neu zu stellen, verwendet im Spätwerk
auffällig häufig die Begriffe der Wahrheit und Wirklichkeit, auch wenn es um Domänen außerhalb schriftlicher Texte geht.
Mangelnder Respekt vor Wahrheit, Wirklichkeit und Natürlichkeit wird Moralphilosophen oder Theologen periodisch
vorgeworfen; das Hohelied auf Wissenschaft und wissenschaftliche Methode wurde bereits ausführlich thematisiert. Dabei kann
man sich mit Recht fragen, warum sich der Skeptiker in diesen Dingen so sicher sein kann, woher Nietzsche z.B. weiß, dass es
immer Starke und Schwache gibt und gegeben hat (so Sommer, 2000:536). Eine Antwort darauf könnte sein, dass Nietzsche
dergleichen Erkenntnisse für empirisch abgesichert und verifizierbar hält, dass es, wie die hier vorgeschlagene Analyse des
Genealogiebegriffs erlaubt, zumindest Ansätze zu einer Recensio im Text der kulturellen und moralischen Entwicklung gibt.
Page: 0213
Andererseits hält Nietzsche gerade auch im Spätwerk Forderung nach Redlichkeit und Ansprüche an Wahrheit in Domänen
aufrecht, in denen auch theoretisch jede empirische Sicherheit illusionär ist. Setzt Nietzsches ständige Anklage der Fälschung
und Falschmünzerei nicht voraus, dass es – gleich von welcher Domäne die Rede ist – unverfälschte Phänomene, dass es
Tatsachen gibt, die doch unabhängig von der Interpretation sind? Was ist Wahrheit? – gilt dies nicht auch für Nietzsches
Behauptungen? Sind jenen Fiktionswelten, die durch die Interpretation erzeugt werden, nicht-fiktive, nicht-interpretierte Welten
entgegengesetzt? Es gibt beim späten Nietzsche viele Stellen, die der Rhetorik seiner Interpretationsauffassung widersprechen
und die bei Autoren wie Günter Abel zur bereits beschriebenen Unwilligkeit führten, sich überhaupt auf die
wissenschaftsverherrlichende Diktion Nietzsches einzulassen [298].
Nietzsches berühmter Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne plädiert, das ist unkontrovers und
allgemein bekannt, für einen pragmatischen Wahrheitsbegriff. Wahrheit ist demnach keine irgendwie geartete Abbildung von
Tatsachen gleich welcher Definition im Sinne der Korrespondenztheorie mehr, sondern Fiktion und bloßer Schein, ein
unentbehrliches Instrument des Überlebenskampfes. Weniger bekannt ist, dass Nietzsche schon kurz darauf die Gefahren
eines derartigen Wahrheitsbegriffs erkannte, der seinen ideologischen Gegnern die stärkste Waffe in die Hand gab:
Christen-Skepsis. – Pilatus, mit seiner Frage: was ist Wahrheit!, wird jetzt gern als Advocat Christi eingeführt, um alles Erkannte
und Erkennbare als Schein zu verdäch
Page: 0214
tigen und auf dem schauerlichen Hintergrunde des Nichts-wissen-könnens das Kreuz aufzurichten. (VM 8, 2:383f)
Nietzsche muss nach Menschliches, Allzumenschliches einen Ausweg finden, der einerseits mit seinem Jugendwerk vereinbar
ist, der also nicht einfach zur Korrespondenztheorie zurückführt, und der dabei andererseits den Missbrauch des
Pragmatismus verhindert [299]. In einem zu Unrecht wenig beachteten Buch hat Jean Granier bereits vor geraumer Zeit
vorgeschlagen, dass Nietzsches Auffassung von Interpretation und Perspektivismus – Granier behandelt sie als Synonyme
(1966:314) – dieser Mittelweg ist. Granier nennt es den Mittelweg zwischen Skeptizismus und Dogmatismus. Wenn das Sein
immer schon interpretiertes Sein sei, werde jeder Glauben an ein Sein-an-sich ausgeschlossen, das unter Umgehung des
Perspektivismus und der Phänomene erschlossen werden kann. Auf der anderen Seite werde aber auch dem Agnostizismus
der Riegel vorgeschoben, für den alle Perspektiven gleichwertig sind. Die Lehre von der Interpretation garantiere die
Notwendigkeit der Hierarchisierung von Perspektiven, die sich am Kriterium eines „pragmatisme vital“ orientiert. Der große
Vorteil von Nietzsches Konzeption bestehe mithin darin, dass der Mannigfaltigkeit der Tatsachen (pluralisme de fait) im
Bewusstsein des Menschen Rechnung getragen werde, ohne den Unterschied zwischen einer „interpretation juste“ und einer
„interpretation inexacte“ aufzuheben. Wahrheit sei für Nietzsche die Ebene der strengen philologischen Lektüre, wobei Granier
nicht näher auf die konkrete zeitgenössische Philologie eingeht. Auf die Frage nach dem Ursprung von Nietzsches
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Interpretation der Interpretation findet Granier nicht zuletzt aus diesem Grund keine befriedigende Antwort. Nietzsches
Interpretationsphilosophie sei am ehesten eine Art offene, experimentelle Metaphilosophie, die den Perspektivismus erklärt, ihm
aber nicht entkomme: „il existe un type de savoir qui, tout en éclairant les structures de l'interprétation naïve, reste, d'une
certaine manière, sous la dépendance de la double loi du pluralisme et du perspectivisme.“ (Granier, 1966:603ff)
Bei aller analytischen Schärfe Graniers leiden seine Thesen an einem Textbegriff, der Nietzsche nicht gerecht wird. So glaubt er,
dass Nietzsches Berufung auf den Text eine Berufung auf objektive Tatsachen sei, obwohl er die Definition des Seins als Text
nicht für völlig unproblematisch hält: „L'Etre est semblable à un texte dont nous aurions à tenter l'exégèse, et cette tâche est
compliquée par le fait que le texte est obscur, parfois lacunaire, que plusieurs ‚lectures‘ en sont possibles et que, même,
certains fragments n'en n'ont pas encore été déchiffrés.“ (316). Granier erkennt das Sein durchaus als kulturelles Artefakt an,
das aus historischen Interpretationen zusammengefügt ist. Ihm bleibt indes verborgen, dass der Text eben keine Metapher des
Seins, sondern nur Ideal der Auslegung ist.
Page: 0215
Gravierender ist das Problem des Interpretationsbegriffs selbst. Granier muss zugeben, dass Interpretieren bei Nietzsche eben
nicht die geduldige Arbeit des Philologen bedeutet, sondern Eroberung, Äußerung des Lebenswillens und der vitalsten Instinkte
des Willens zur Macht: Text und Tatbestand werden von der Interpretation erst erzeugt (318ff). In der Konfrontation mit der
guten Philologie entdeckt Granier deshalb eine Antinomie zwischen dem „phénoménalisme perspectiviste intégral“ , der die
Vorstellung des Textes selbst in Frage stellt, und Nietzsches Konzept der Philologie, das gefährlich nahe am Dogmatismus (!)
laviere. Die Intuition vom Sein als interpretiertem Sein überwinde es durch die Überzeugung, dass derselbe Text mehrere
Auslegungen zulasse und es keine richtige Auslegung gebe: Philologie helfe lediglich dabei, Fehler zu eliminieren und erlöse nicht
vom Imperativ, selbst das Sein befragen und Interpretationen wagen zu müssen (320–326). Granier widerspricht sich freilich
selbst, wenn er Nietzsches strenge Philologie als „interprétation animée par le respect absolu du ‚texte‘“ bezeichnet (464) und
sie lediglich auf die genaue Entzifferung des Textes, weniger dessen Herstellung bezieht. Es heißt weiter: „c'est le texte qui
garantit le sens et non le sens qui est plaqué sur le texte.“ (504) – eine unbestreitbar richtige Beobachtung. Auch das Gegenteil,
nämlich die „interprétations délibérément tendancieuses“, die zur „injustice“ gegenüber dem Text führen (ebd.), lassen sich für
Nietzsche bekräftigen. Aber beides lässt sich eben nicht unter den Interpretationsbegriff subsumieren. In diesem Rahmen allein
lässt sich die Antinomie von Skeptizismus und Dogmatismus nicht lösen.
Ganz anders wird Nietzsches Wahrheitsbegriff in der einflussreichen Studie von Maudemarie Clark (1990) behandelt, in der
manche Traditionen der angelsächsischen Nietzscherezeption synthetisiert werden und die trotz einiger Fragwürdigkeiten [300]
bedenkenswerte Anstöße liefert. Clark arbeitet bei Nietzsche eine chronologische Entwicklung des Wahrheitsbegriffs heraus.
Auf die Frühphase, in der noch das Apriori unseres Erkenntnisapparates die Realität falsifiziere, folge die Ablehnung des Dinges-
an-sich, die mit der Haltung einhergehe, dass gar nichts gewusst werden könne und alles nur Schein sei. Diese Auffassung
werde vom reifen Perspektivismus ersetzt, da sich Wissen nun nicht mehr auf Repräsentation aufbaut. Erkenntnis sei jetzt,
wenn auch eingeschränkt, wieder möglich, allerdings nicht als Erkenntnis einer wahren Welt. Ab der Genealogie der Moral lasse
sich somit eine Art neokantianischer Wahrheitsbegriff diagnostizieren. Wichtig ist Clarks Betonung des deutlichen Unterschieds
von Früh- und Spätwerk sowie ihre Beobachtung, dass sich in den sechs letzten von Nietzsche selbst publizierten Werken „an
uniform and unambiguous respect for facts, the senses, and science“ feststellen lasse (1990:105). Ihr eigentlich neuer Beitrag
zur Debatte liegt dabei nicht so sehr darin, dass der Perspektivismus das Ding an sich ausschließt – so
Page: 0216
weit herrscht Einigkeit –, sondern darin, dass er nicht unbedingt die von ihr so genannte „falsification thesis“ aus der Zeit von
Ueber Wahrheit und Lüge impliziere, also die These, dass unser Erkenntnisapparat die Wirklichkeit verzerre. Im Gegenteil
werde dieser Auffassung durch den Perspektivismus die Basis entzogen. Clark widerspricht der verbreiteten Meinung, wonach
die Unvergleichbarkeit von Perspektiven bedeute, dass der menschliche Erkenntnisapparat die Wirklichkeit bzw. Wahrheit
verzerre, weil Wahrheit immer nur relativ zu einer bestimmten Perspektive bestehe. Dies hieße Nietzsche zu trivialisieren: er
müsste seine eigenen Meinungen etwa über Moralität dann auch nur als wahr aus seiner Perspektive halten, was angesichts der
vielen Beispiele, in denen Nietzsche andere Meinungen als falsch kritisiere, wenig überzeugend sei. Für die Beantwortung der
Frage, ob manche Perspektiven anderen relativ überlegen sein können, benötige man jedoch kein Ding an sich mehr, sondern
lediglich „standards of rational acceptibility“. Damit werde nicht die Kommensurabilität aller Perspektiven verlangt, sondern
lediglich an die Überzeugungskraft von Rationalitätskriterien appelliert. Nietzsche kann seine Perspektive als wertvoller, da
intellektuell höherwertig empfinden (Clark, 1990, bes. S. 138–141ff).
Clarks auf den ersten Blick elegante Erklärung beinhaltet jedoch zwei Voraussetzungen, die sich mit Nietzsche schlecht vereinen
lassen. Zunächst fordert die scheinbare Universallösung der Rationalitätskriterien den Einwand heraus, dass dadurch ein bei
Ausgerechnet anhand desjenigen Abschnitts aus der Genealogie der Moral , der daran keinen Zweifel lässt (GM III.12, 5:363ff),
versucht Clark, den Perspektivismus in diesem Sinn zu entschärfen. Ihre Argumentation hängt von dem Gegensatz der Begriffe
„seeing“ und „knowing“ (1990:128) ab, wobei „knowing“ offensichtlich unabhängig von perspektivischen Eigenschaften sein
soll. Im Original steht indes nicht „knowing“, also z.B. „wissen“, sondern „erkennen“, ein Wort, das im Englischen auch
Bestandteile von ‚perceive‘ und ‚recognize‘ enthält, also ganz und gar an der von Clark geleugneten optischen Metaphorik
teilhat [301].
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Damit fällt Clarks Beweisführung in sich zusammen: es gibt bei Nietzsche kein vom ‚Sehen‘ unabhängiges ‚Wissen‘; dies wäre,
wie es im Text ausdrücklich heißt, „ein Unbegriff und Widersinn“ (GM III.12, 5:364).
Ein ebenso ernstes Problem ist Clarks Bestehen auf dem analytischen Gegensatz von wahr und falsch. Bei Nietzsche jedenfalls
gibt es hier keinen Gegensatz: „Die Begriffe ‚wahr‘ und ‚unwahr‘ haben, wie mir scheint, in der Optik keinen Sinn.“ (WA Epilog,
6:51) Wenn Nietzsche Interpretationen oder Perspektiven als falsch kritisiert, impliziert dies nicht die Behauptung, dass es die
eine richtige gäbe, die Nietzsche vielleicht sogar selbst besäße. In dem so oft verkürzt zitierten Brief an Carl Fuchs vom 26.
August 1888 heißt es aus der Sicht des „alten Philologen“: „Was ‚unrichtig‘ ist, läßt sich in der That in zahllosen Fällen
bestimmen; was richtig ist, fast nie […] daß es überhaupt eine richtige d.h. Eine richtige Auslegung giebt, scheint mir
psychologisch und erfahrungsmäßig falsch.“ (III.5, 399ff) Der Philologe als Experte der Auslegung erstellt nicht etwa die einzig
wahre Interpretation eines Textes oder einer Sache, seine Aufgabe liegt vielmehr darin, die falschen Interpretationen als solche
kenntlich zu machen. „Derselbe Text erlaubt unzählige Auslegungen: es giebt keine ‚richtige‘ Auslegung.“ (VIII 1[120]). Das
Gleichnis von der Musikinterpretation, um das es in dem Brief an den Musiker Fuchs vorrangig geht, zeigt nicht nur, wie
Nietzsche die Philologie auf andere Gebiete überträgt, sondern macht deutlich, wie die Ablehnung des Gegensatzes zu
verstehen ist. Man kann leicht nachweisen, dass beispielsweise eine Note falsch oder gar nicht gespielt worden ist; zu
behaupten, dass die Noten ‚richtig‘, oder gar auf die einzig richtige Weise gespielt worden sind, ergibt keinen Sinn. Entweder
spielt man eine Note, oder man spielt sie falsch. Beim Spielen selbst gibt es naturgemäß jenen Spielraum, den der geübte
Interpret in der Auslegung nutzt, solange der Text – das Notenbild – stimmt: „Der Gegensatz ist nicht ‚falsch‘ und ‚wahr‘,
sondern ‚Abkürzungen der Zeichen‘ im Gegensatz zu den Zeichen selber“ (VIII 1[28]). In der konkreten Aufführung bewährt
sich der Musiker oder Philologe durch die individuelle Behandlung des Spielraums [302].
Gewiss kann Volker Gerhardt (1989) mit guten Argumenten aufwarten, wenn er Nietzsches Perspektivismus wenig revolutionär
und bei Kant, ja in der Antike und im mittelalterlichen Nominalismus vorgeprägt findet. In Verlängerung der optischen Metaphorik
bezeichnet er den Perspektivismus selbst als Perspektive, die streng genommen nicht wahrheitsfähig oder begrifflich zu klären
sei, es sei denn mit Hilfe der Metaphysik, die Nietzsche demnach mitnichten überwunden habe. Dies sei jedoch nicht weiter
tragisch, denn Nietzsche gehe es vor allem um
Page: 0218
die Abwehr dogmatischer Behauptungen. Der Perspektivismus sei letztlich die menschliche, die anthropologische Perspektive
schlechthin, nämlich als Selbstauslegung des Menschen in seiner Welt: dass verschiedene Subjekte mit unterschiedlichen
Positionen und Interessen zu verschiedenen Perspektiven kommen, sei nur billig.
Obwohl all dem also nicht grundsätzlich zu widersprechen ist, reicht es dennoch nicht aus, den Perspektivismus dergestalt als
Metamorphose einer herkömmlichen relativistischen Weltsicht aufzustellen, damit sie um so leichter abgetan werden kann.
Perspektivismus bedeutet für Nietzsche nämlich, und hier unterscheidet er sich von der Tradition, eine spezifische Analyse der
Auslegung, die versucht, aus der Not der Interpretation noch eine Tugend zu machen. Die Nähe des Perspektivismus zur
Philologie, die aus Nietzsches oben zitiertem Brief spricht, ist kein Zufall. Der Perspektivismus ist letztlich die konsequenteste
Weiterentwicklung jener philologischen Denkmuster, die Nietzsche seit seiner Schul- und Studienzeit geprägt haben.
Das Abwägen verschiedener Gesichtspunkte, das Befragen eines Textes unter den mannigfaltigsten Aspekten gehört zum
täglichen Brot des Philologen, sei er nun eher an kritischen oder eher an hermeneutischen Fragen interessiert. Es kennzeichnet
Will der Gelehrte von einem eben durchforschten Punkte zu einem andern, so rückt er den ganzen Seh-Apparat nach jenem
Punkte hin. Er zerlegt das Bild in lauter Flecke, wie einer, der das Opernglas anwendet, um die Bühne zu sehen und jetzt bald
einen Kopf, bald ein Stück Kleid, aber nichts Ganzes in's Auge fasst. (SE 6, 1:396)
Der Ton ist ganz anders schattiert als in der Encyclopädie . Gerade weil perspektivisches Arbeiten zur Grundausstattung des
Philologen gehört, lässt sich mit der Abrechnung hier gut beginnen. Nietzsches Vorwurf besteht in der bekannten Klage, dass
der Philologe über dem Detail die Gesamtschau und die Motivation vergesse, die ihn überhaupt erst zur Beschäftigung mit dem
Text oder Material geführt hatte. Schließlich beurteile er das Ganze nur noch nach den einzelnen Stellen und Fehlern, nicht mehr
nach dem inneren Zusammenhang. Auf dem eigentlichen Gebiet des Philologen, dem Text, ist diese Fehlentwicklung leicht zu
beheben. Die perspektivierende Lektüre muss deshalb nicht aufgegeben werden; im Gegenteil, sie muss sich lediglich von Zeit
zu Zeit gleichsam selbst aus der
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Distanz betrachten lassen, wie Nietzsche es u.a. in der Tragödienschrift versucht hat [303].
Der Perspektivismus wird aber in dem Moment erstrebenswert, ja zur einzigen Möglichkeit, an der ‚Methode‘ festzuhalten, wenn
es ohnehin keine Chance gibt, das Ganze zu überblicken. Was Nietzsche bei den Philologen einst rügte, erhebt er nun zur
Tugend, weil es angesichts der Komplexität textferner Domänen die einzige redliche Alternative in der Wahrnehmung ihrer
Phänomene darstellt. Der Perspektivismus ist deshalb vor allem auf die Erklärung außertextlicher Phänomene gemünzt. Er ist,
und diese Erkenntnis setzt bei Nietzsche spätestens mit der Morgenröthe ein, Modus des Gefangenseins in notwendigerweise
immer unvollkommenen Sinneseindrücken, deren spärlichen Daten wir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind:
Im Gefängniss. – Mein Auge, wie stark oder schwach es nun ist, sieht nur ein Stück weit, und in diesem Stück webe und lebe
ich, diese Horizont-Linie ist mein nächstes grosses und kleines Verhängniss, dem ich nicht entlaufen kann. Um jedes Wesen legt
sich derart ein concentrischer Kreis, der einen Mittelpunct hat und der ihm eigenthümlich ist. Ähnlich schliesst uns das Ohr in
einen kleinen Raum ein, ähnlich das Getast. […] Die Gewohnheiten unserer Sinne haben uns in Lug und Trug der Empfindung
eingesponnen: diese wieder sind die Grundlagen aller unserer Urtheile und „Erkenntnisse“, – es giebt durchaus kein Entrinnen,
keine Schlupf- und Schleichwege in die wirkliche Welt! (M 2.117, 3:110).
Deshalb aber soll man keinesfalls auf die Sinne verzichten, denn die wirkliche Welt existiert für Nietzsche so wenig wie das Ding
an sich. Der Perspektivismus ist angesichts des Dogmatismus, der gefährliche, lebensverneinende Prinzipien durchzusetzen
vermag, das kleinere Übel. In einer ohnehin nicht erklärbaren Welt schützt er wenigstens vor dem Glauben, die christlich-
platonische Hinterwelt bzw. die ihr korrespondierenden Ideen tatsächlich erkennen zu können. Die „Forscher und Versucher“
sehen, ähnlich dem Philologen im Verhältnis zum Text, aus möglichst vielen Perspektiven auf ihren Gegenstand:
Wir müssen versuchsweise mit den Dingen verfahren, bald böse, bald gut gegen sie sein und Gerechtigkeit, Leidenschaft und
Kälte nacheinander für sie haben. Dieser redet mit den Dingen als Polizist, Jener als Beichtvater, ein dritter als Wanderer und
Neugieriger. Bald mit Sympathie, bald mit Vergewaltigung wird man ihnen Etwas abdringen; Einen führt Ehrfurcht vor ihren
Geheimnissen vorwärts und zur Einsicht; Einen wiederum Indiscretion und Schelmerei in der Erklärung von Geheimnissen. Wir
Forscher sind wie alle Eroberer, Entdecker, Schiffahrer, Abenteurer von einer verwegenen Moralität und müssen es uns gefallen
lassen, im Ganzen für böse zu gelten. (M 5.432, 3:266)
Aus dem Vergleich verschiedener Perspektiven – aus der Recensio – erwächst ein Text, der es dem Berufenen nun gestattet,
sogar in jenen Domänen redlich zu
Page: 0220
walten, in denen allein die Interpretation das Sagen hat – als eine ‚Lektüre‘ im Reich der verschiedenen Interpretationen.
Nietzsche verbindet hier die Reisemetaphorik des guten Lesens und das philologische Motiv der „Sympathie“ (d.h. dem
Nachempfinden) mit dem Vergewaltigen durch die ‚Interpretation‘ des Plünderers. Daraus erwächst ein Hybrid, der weder allzu
passiver Leser oder Spaziergänger noch allzu draufgängerischer Landsknecht, sondern eine Art Expeditionsleiter ist, der
Mitarbeiter aus verschiedenen Disziplinen kommandiert. Das militärische Bild ist mit Bedacht gewählt, denn es stammt von
Nietzsche selbst. Ausgerechnet in seiner Musterabhandlung zur Kunst der Auslegung wird der Perspektivismus als
Interpretationsweise gefeiert, die durch gleichsam militärische Zucht der eigenen Affekte und Triebe – und das sind ja die
dergestalt einmal anders sehn, anders-sehn-wollen ist keine kleine Zucht und Vorbereitung des Intellekts zu seiner einstmaligen
„Objektivität“, – […] als das Vermögen, sein Für und Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen: so dass man
sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und Affekt-Interpretationen für die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss. (GM
III.12, 364f).
Jetzt erst wird die geheime Verbindung dieser Auslegungstheorie zum vorangestellten Motto deutlich, das hier wiederholt sei:
„Unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib, sie liebt immer nur einen Kriegsmann.“ (GM
III.1, 5:339). An der entsprechenden Stelle im Zarathustra wird das Wort ‚uns‘ nicht hervorgehoben (Za I Vom Lesen und
Schreiben, 4:49) – in der Genealogie hebt Nietzsche den Appell an die ausgewählten Leser hervor. Manche Erkenntnisse lassen
sich nur über ‚kriegerische‘ Handlungen gewinnen; besonders außerhalb von Texten. Der wahre Erkennende muss, um
Rechtschaffenheit zu wahren, über ein Heer von Kriegern, über eine Division von Affektinterpretationen verfügen, was freilich
einen Heerführer voraussetzt, der sich selbst und seine Affekte in der Gewalt hat – der Typus Cäsar ist Nietzsches Allegorie
dafür [304]. Ein Krieger muss sich in der Gewalt haben, um Gehorsam sich und anderen gegenüber praktizieren zu können. Es
darf hinzugefügt werden, dass bei Nietzsche ausgerechnet die Redlichkeit zu den positiven Eigenschaften des Kriegers gehört
(Za I Vom Krieg und Kriegsvolke, 4:58ff) [305].
Zugleich behält sich Nietzsche auch auf philologischem Gebiet das Vorrecht offen, nach Belieben zu interpretieren, absichtlich
Autoren so zu lesen, wie es den eigenen Zwecken dient. Wenn Nietzsche betont: „so will uns die Weisheit“, dann deutet er an,
dass dieses Vorrecht nicht allen, sondern nur den Schaffenden
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zusteht. Wenn Nietzsche für sich nur gute Leser fordert, heißt das nicht, dass er selber immer ein solcher sein muss. Im
Gegenteil: wäre er seinerseits in jedem Falle der passiv-empfangende Teil, hätte er gar keine guten Leser verdient. Seine
‚kriegerische‘ Aneignung anderer, seine bekannten fruchtbaren Fehldeutungen machten ihn ja erst eigenständig und damit
interessant. Der freie Geist, das souveräne Individuum, hat es eben in der Macht, selbst zu bestimmen, wann es liest und wann
es interpretiert. Es darf Ansprüche stellen, ohne ihnen notwendigerweise selbst immer zu genügen. Souveränität bedeutet, frei
über die eigenen Lese- und Interpretationsstrategien zu verfügen. Im kleinen Wörtchen „uns“ steckt letztlich eine alte
lateinische Schulweisheit: quod licet Jovi, no licet bovi.
Das Zarathustra -Motto über der dritten Abhandlung zur Genealogie der Moral dient somit vor allem der Versicherung gegen
die nihilistischen Gefahren des Skeptizismus, die im guten Lesen stecken, das die Vorrede einfordert und von dem Nietzsche
sich kraft seiner Souveränität ausnimmt. Auch der Skeptizismus muss Instrument bleiben; wer sich ihm asketisch ausliefert, hat
bereits verloren. Es ist zwar nicht mehr nachweisbar, aber vieles spricht dafür, dass Nietzsche bewusst offenließ, worauf sich
der „Commentar“ der dritten Abhandlung zur Genealogie der Moral bezog – weil er auf beide ‚Aphorismen‘ zugleich hinweist
und auf diese Weise elegant durch Skylla und Charybdis von Skeptizismus und Dogmatismus hindurchnavigiert. Das Motto hat
demzufolge sehr wohl mit dem Inhalt dieser Abhandlung zu tun. Ohne die Erinnerung an die Intentionalität der menschlichen
Perspektivik geriete sie in den Geruch interesseloser Naivität. Mit dem Motto entsteht eine Ambivalenz, die bis heute ihre eigenen
Leser selegiert. Da außerhalb von Texten das Lesen nicht möglich ist, werden dessen aus methodischer Sicht wesentliche
Komponenten, nämlich ewiger Vergleich und Ephexis, in die Strategie des Perspektivismus gerettet – ohne zugleich die
Interpretation zu leugnen, da jeder Kommentar, sobald er sein Ende erreicht, zur Interpretation wird. Nietzsche reklamiert für
sich selbst „jene Filigran-Kunst des Greifens und Begreifens überhaupt, jene Finger für nuances, jene Psychologie des ‚Um-die-
Ecke-sehns‘“ im selben Atemzug wie die Macht, seine eigenen Perspektiven umstellen, d.h. austauschen zu können: er selbst
kann also zwischen Perspektiven wechseln und ist folglich ein guter ‚Leser‘ auch dann, wenn er sich nicht philologisch betätigt
(EH Warum ich so weise bin 1. 6:265f). Die Mischung aus Interpretation und Skepsis ergibt zwar eine Aneignung, aber weniger
in der Form einer kruden Vergewaltigung als in der wechselseitigen Verführung von ‚Text‘ und Exeget.
Schon in Menschliches, Allzumenschliches geht Nietzsche auf große Distanz zur Trennung von Ding an sich und Erscheinung,
da sie zu statisch sei und das ständige Werden sowie den Umstand, dass die äußere Mannigfaltigkeit der Welt v.a. der
Geschichte ihrer Deutung zu schulden ist, übersehe. Erst die strenge Wissenschaft werde als Entstehungsgeschichte des
Denkens erkennen lassen, dass die Welt „Resultat einer Menge von Irrthümern und Phantasien“ ist, der als „Schatz
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der ganzen Vergangenheit“ auf uns gekommen ist. Freilich scheinen diese Irrtümer noch immer lebensnotwendig zu sein – die
Wissenschaft darf allenfalls schrittweise ihre Scheinhaftigkeit enthüllen (MA I.16, 2:36ff). Dieser Auffassung bleibt Nietzsche
lange Zeit, mindestens aber bis Mitte der achtziger Jahre verhaftet. Die Scheinhaftigkeit alles Erkennbaren schließt die Erkenntnis
selbst aber nicht aus. Denn obwohl die Menschen „lebendige Spiegelbilder“ sind, die ihre Gesetze in die Welt hineinsehen, ohne
So erklärt sich auch, warum im Anschluss daran und spätestens mit der Fröhlichen Wissenschaft , eine neue Analyse der
conditio humana entstehen kann. Lange Zeit, so schreibt Nietzsche hier, habe es im Reich der Erkenntnis nur Irrtümer
gegeben, weil ihre Nützlichkeit und arterhaltende Wirkung zu groß gewesen sei, um auf sie zu verzichten. Wahr und unwahr
bezeichneten jeweils das Alter der einverleibten, unangezweifelten „Grundirrthümer“, also Dogmen, die genauso gut
Grundwahrheiten heißen könnten [307]. Wenn es dennoch zum Konflikt zwischen Leben und Erkennen kam, wurde dem Leben
immer der Vorrang eingeräumt und der Zweifel als Tollheit gebrandmarkt – darauf verweist nicht zuletzt die berühmte Fabel vom
tollen Menschen am Ende der Fröhlichen Wissenschaft (FW 3.125, 3:480ff). Eine neue Qualität entsteht erst mit der feineren
Entwicklung von Redlichkeit und Skepsis, und zwar in genau dem Augenblick, da zwei verschiedene Auffassungen auf das
Leben passten, d.h. mit den Grundauffassungen in Übereinstimmung zu bringen waren. Ab jetzt lässt sich über den Grad des
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Nutzens streiten und stoßen Erkenntnisse und alte Grundirrtümer aufeinander, am heftigsten im „Denker“ selbst: hier stellt sich
die Frage nach den Bedingungen des Lebens. Der Ausgang dieses Kampfes sei entscheidend, nicht zuletzt als Antwort auf die
Frage, inwieweit die Wahrheit die Einverleibung in das Leben vertrage; Nietzsche behauptet, experimentell den ersten Versuch
zu unternehmen (FW 3.110, 3:469f) [308].
Wahrheit in diesem Sinne bedeutet nicht Wahrheit im Sinne einer Korrespondenztheorie und auch nicht rein pragmatische
Wahrheit, sondern neue Erkenntnis, die sich gegen alte Überzeugungen durchsetzen will. Erkenntnisse sind Mittel, um alte
Dogmen abzulösen. Das gibt ihnen epistemologisch keinen höheren Status, da sie ja ihrerseits wieder zu Dogmen gerinnen,
deren Zeit einst ablaufen wird. Sie haben nur solange Vorrang, wie sie sich empirisch nachweisbar als Kräfte erweisen, die dem
Leben, d.h. der Entfaltung und Erhöhung des Lebens dienlich sind. Wenn dies aber der Fall ist, und das ist der entscheidende
und meist übersehene Argumentationsschritt, müssen die neuen Erkenntnisse der jeweils historisch bedingten ‚Wirklichkeit‘
doch näher sein als die bereits einverleibten Wahrheiten. Sie entsprechen der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen im konkreten
Moment der Entwicklung ein wenig mehr und sind deshalb für die Erklärung temporär angemessener. Zu Irrtümern werden sie
dann wiederum im historischen Prozess.
Nietzsches Hauptinteresse gilt dabei nicht dieser temporären Wahrheit an sich, sondern ihrem Wert. „Wahrheit ist die Art von
Irrthum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Werth für das Leben entscheidet
zuletzt.“ (VII 34[253]) Jede Interpretation ist deshalb auf ihre Weise gleich richtig und gleich falsch, historisch aber von
unterschiedlichem Wert und damit Erkenntnisstand. Es gibt keine Wahrheit, weil es keinen ‚Text‘ gibt. Aber je gründlicher und
sensibler die Beobachtungen sind, desto besser umschreiben sie die Welt, die den Menschen etwas angeht. Die Qualität der
Beobachtung wiederum hängt von der Zahl der Perspektiven ab:
Daß der Werth der Welt in unserer Interpretation liegt (– daß vielleicht irgendwo noch andere Interpretationen möglich sind als
bloß menschliche –) daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben,
das heißt im Willen zur Macht, zum Wachsthum der Macht erhalten, daß jede Erhöhung des Menschen die Überwindung
engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven aufthut und
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an neue Horizonte glauben heißt – dies geht durch meine Schriften. Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch d.h. ist kein
Thatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist im Flusse, als
etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn – es giebt
keine „Wahrheit“. (VIII 2[108])
Die Welt, die uns etwas angeht, ist in erster Linie vital definiert, es ist die Welt der organisch-naturwissenschaftlichen Domäne.
Nietzsche behauptet nicht, dass alle Welten zwangsläufig immer Fälschungen sind. Ferner geht er auch nicht, wie es zunächst
den Anschein haben könnte, von einem quasi naturwissenschaftlichheuristischen Modell der schrittweisen Annäherung an die
‚Realität‘ aus, wie es die angelsächsische Nietzscheforschung favorisiert. Dies wäre genauso absurd wie die schrittweise
Perfektionierung der Auslegung eines Textes [309]. Nietzsche sieht im Gegenteil, und dies ist letztlich die logische Konsequenz
aus seiner durch philologische Metaphorik inspirierten Perspektive, ganz von der Unterscheidung von wahrer und scheinbarer
Welt ab, freilich schon etwas früher als Clark (s.o.) anzunehmen scheint. Bereits die Fröhliche Wissenschaft stellt sich die
Das gesamte erste Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse , das von den Vorurteilen der Philosophen handelt, hebt den
Gegensatz von Schein und Wahrheit auf, und in der Götzen-Dämmerung heißt es schließlich: „Die ‚scheinbare‘ Welt ist die
einzige: die ‚wahre Welt‘ ist nur hinzugelogen …“ (GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 2, 6:75). Nur wenig später (GD Wie die
„wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde, 6:80f) fasst es Nietzsche noch konsequenter: wenn die wahre Welt abgeschafft ist, dann
gibt es auch keine scheinbare mehr. Dies sei die letzte und höchste Erkenntnis, die über jene Erkenntnis der freien Geister
hinausgehe, dass die wahre Welt lediglich unnütz sei, was letztlich aus der nachkantischen
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Einsicht in die Unerreichbarkeit der wahren Welt stamme [310], die deshalb auch zu nichts mehr verpflichten vermag. Dies
erinnert nicht zufällig an das Verhältnis von eigentlichem und allegorischem Sinn: wenn es keine über den Wortlaut
hinausgehende allegorische Bedeutung gibt, dann gibt es auch keinen eigentlichen Wortsinn des Textes [311]. Maudemarie Clark
ist insofern unbedingt zuzustimmen, als aufgrund dieser Auffassung unser gesamter unmittelbarer Erkenntnisapparat die
Wirklichkeit in der Tat nicht mehr verfälschen und verzerren kann. Lüge ist nicht mehr Schein, denn die Erscheinungen sind das
einzige, was wir haben; Lüge ist nur noch das Beharren auf der Existenz einer dahinter liegenden Welt bzw. das Beharren auf
der Lügenhaftigkeit des Scheins. Die Götzen-Dämmerung feiert die Sinne dementsprechend als feinste „Werkzeuge der
Beobachtung“ und schlägt den Bogen zurück zur Wissenschaftlichkeit als Waffe gegen alle nichtempirischen, apriorischen
Disziplinen:
Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne anzunehmen, – als
wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernen. Der Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen
Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnisstheorie. Oder Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene
angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem […] (GD Die
„Vernunft“ in der Philosophie 3, 6: 75f)
Die wahre Welt konnte noch bei Platon vom Tugendhaften und Weisen erreicht und erkannt werden. Die verfeinerte Version des
Christentums verlegt die wahre Welt als Belohnung der Tugend ins Jenseits (GD Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde,
6:80f). Die einzig existierende Welt aber, die Welt des ständigen historischen Wandels, die Welt, von der allein die Sinne zeugen,
sie wird gerade von den „Begriffs-Götzendiener[n]“ als Lüge verunglimpft. Bei ihnen wird Historie zum „Glaube[n] an die Sinne,
Glaube[n] an die Lüge“ – mit der moralischen Schlussfolgerung, dass man sich vom Leibe, jenem irrationalen, auf den Sinnen
beruhenden Phänomen fernzuhalten habe (GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 1, 6:74). Vom Verfälschungsvorwurf
gegenüber dem Erkenntnisapparat ist somit in Nietzsches letzten Werken ausgerechnet nur noch die abstrakte Vernunft
betroffen, nicht mehr die sinnliche Perzeption.
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Dieses skeptische Ideal des Tatsachensinns und Sinneneindrucks [312] fällt nicht unbedingt als sensualistischer Wunschtraum
hinter Kant zurück. Weil Sinneseindrücke gedeutet werden müssen, kann Nietzsche sie nur als Interpretation und
Vergewaltigung gelten lassen. Das menschliche Fassungsvermögen lässt wie alles Organische immer nur Abkürzungen der
Zeichen statt der Zeichen selber, nur Fragment und Palimpsest zu. Verfälschung gehört deshalb zum Humanum, mit dem
einzigen Ausweg, der die intellektuelle Redlichkeit zum Teil zu retten vermag: dem Perspektivismus diesmal nicht als
Beschreibung von Kognitionsprozessen, sondern als Versuch, verschiedene Verfälschungen in derselben Weise zu vergleichen
wie der Philologe verfälschte Textzeugen rezensiert, um im Archetypus zumindest eine streng methodisch erzeugte
Arbeitsgrundlage zu haben. Die „reine Fiktions-Welt“ des Christentums kann im Antichrist deshalb so vehement angegriffen
werden, weil sie eben rein ist und erst gar nicht den Versuch unternimmt, sich von der eigenen Fiktionalisierung zu distanzieren.
Sie stammt aus dem Hass am Wirklichen selbst: wer an der Wirklichkeit leidet, muss diese, also das Zeugnis der Sinne,
weglügen (AC 15, 6:181f).
Bei Nietzsche steht die Lüge deshalb nicht mehr in begrifflichem Gegensatz zur Wahrheit, sondern zur intellektuellen Redlichkeit;
sie ist synonym zur bewussten oder unbewussten Falschmünzerei. Im Gegensatz zum Skeptiker sei der Philosoph (empirisch
gesehen) in fast allen Völkern die bloße Weiterentwicklung des Priestertypus, also des Falschmünzers, der sogar vor sich selbst
unredlich sei. Der Philosoph, der nolens volens vom Erkenntnistrieb geprägt ist und nur seiner Natur gemäß lebt, wenn
Gedanken, Werte und Bewertungen mit Notwendigkeit aus ihm heraus wachsen (GM Vorrede 2, 6:248), hat also auch eine
Schattenseite, insofern ihm „Theologen-Blut“ durch die Adern fließt (AC 8, 6:174f). Es ist
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bisweilen unklar, ob Nietzsche die Skeptiker deshalb überhaupt noch unter die Philosophen zählt [313].
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als „Experimental-Moral“ jedenfalls auf Beobachtung und Herkommen und sind nicht aus sich selbst heraus generiert.
Eine wichtige Einsicht spätestens seit der Genealogie der Moral lautete dabei, dass Perspektivismus, Wissenschaft, Erfahrung,
Skepsis und Methode allein kein Gegenideal zum asketischen Ideal verkörpern, sondern ihm selbst noch dienen, ja sein jüngster
und raffiniertester Ausdruck sind. Die „Redlichen und Wahrheitssuchenden“ (M 3.164, 3:147) fliehen in ihrer Wahrheitssuche
nach wie vor die Welt der Erscheinungen, selbst wenn sie sich als antiplatonisch oder antichristlich verstehen. So erheben sie
am Ende jenen Glauben zum Ziel ihrer Bemühungen, auf dem die Herrschaft ihrer Gegner erst beruht, nämlich den Glauben an
eine andere Welt als die je erfahrbare – dies gilt sogar für die Naturwissenschaft. Statt dem asketischen Ideal
entgegenzuarbeiten, arbeitet ihm alle Aufklärung zu, da sie noch immer unter dem platonisch-christlichen Imperativ zur Suche
nach der wahren Welt steht. Die „ganze Falschmünzerei der Transscendenz und des Jenseits“ (WA, 6:43) ist mit ihr jedenfalls
noch lange nicht am Ende. Zwar sei die strenge Arbeit der Wissenschaft wichtig und nützlich, am ehesten noch sei sie aber
Versteck (Maske?) für jene, die an Ideallosigkeit leiden und unfreiwillig genügsam werden, als eine Art Narkose und ein
Eskapismus vor den eigentlichen Fragen (GM III.23, 5:395ff). Schon die Fröhliche Wissenschaft hatte für eine Kritik des
Wahrheitswillens gestritten, insofern derjenige, der die Wissenschaft bejahe, offenbar eine andere Welt als die des Lebens
bejahe und damit seine eigene verneine. Nietzsche korrigiert seinen eigenen skeptischen Optimismus des freien Geistes als
„vergeistigtste Ausgeburt“ des asketischen Ideals. Im Asketismus gegenüber der Interpretation als Vergewaltigung lebt der
metaphysische Wert der Wahrheit an sich fort (GM III.24, 5:398f) [316].
Nietzsches Auslegungstheorie hängt in ihrem Kern somit tatsächlich eng mit dem in der dritten Abhandlung der Genealogie
analysierten asketischen Ideal zusammen. Das Streben nach Wissen und Wahrheit lässt sich durch die intentionale
Grundverfassung des Menschen erklären. Er bevorzuge den Willen zum Nichts gegenüber gar keinem Willen, das asketische
Ideal ist Füllelement der Sinnlücke, Default-Fall für das Objekt des Willens (vgl. 411f). Der Mensch braucht Sinn, d.h. festen Sinn.
Den flüssigen Sinn bekommt er in dem Moment nicht zu fassen, da er ihn am nötigsten hat. Er muss ihn in jeder konkreten
Anwendungssituation verfestigen, also interpretieren. Das bedeutende Nachlassfragment zum europäischen Nihilismus, das so
genannte Lenzer-Heide-Fragment vom 10. Juni 1887, erweist sich in diesem Zusammenhang als Schlüsseltext. Hier ist der
Nihilismus
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als Sinnverlust mit dem Begriff der Interpretation verbunden: „Eine Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die
Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe“. Die „viel zu extreme Hypothese“ Gott werde, wie
üblich in solchen Fällen, von einer ebenso extremen Hypothese abgelöst, welche die absolute Immoralität der Natur sowie ihre
Zweck- und Sinnlosigkeit dekretiert (N VII 3, S. 13–24; vgl. VIII 5[71]) [317].
Der Perspektivismus, der den intentionalen Sinn multipliziert statt erneut auf einen ausschließlichen (pneumatischen) Sinn zu
setzen, ist jedoch nur der erste Schritt zur Überwindung des Nihilismus. Sobald er sich selbst überschätzt, wird er wie die
Wissenschaft Bundesgenosse des asketischen Ideals. Der Perspektivismus darf nicht normativ gesetzt werden. Wirkliche
Gegenmacht zu dem alles verderbenden Einfluss des asketischen Ideals kann allein die Kunst sein (GM III.25, 5:402f). Sie ist
dem Nihilismus viel konsequenter entgegengesetzt als jede noch so redliche Wissenschaft. Der Perspektivismus, der immer
nahe an der Utopie der interesselosen Erkenntnis laviert und sich selbst als einen „Spiegel mit hundert Augen“ (s.o.) auffasst,
kann leicht zum heuchlerischen Instrument jener werden, die keine Schaffenden und Zeugenden mehr sind und deshalb das
Begehren verleumden (vgl. Za II Von der unbefleckten Erkenntniss, 4:156). Die ironische Selbstdistanz in der dritten
Abhandlung zur Genealogie der Moral hat hier ihre logische Begründung: der perspektivische Betrachter kann zwar eine
Recensio aus bisherigen Interpretationen herstellen, z.B. durch Kollation aller bekannten historischen Moralgesetze, und damit
etwa die Tendenz zur asketischen Existenz von Philosophen herausfinden. Aber indem er dies tut, betätigt er sich selbst als
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mus vermag das Schiff der Erkenntnis letztlich kaum davor zu schützen, entweder an der Scylla des Skeptizismus oder der
Charybdis des Dogmatismus zu zerschellen.
In der Kunst gibt es diese Probleme nicht. Die Schätzung des Scheins durch den Künstler bedeutet keine Rückkehr zur
Unterscheidung von wahrer und scheinbarer Welt etwa als Ausdruck von Dekadenz, denn „‚Schein‘ bedeutet hier die Realität
noch einmal, nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur … Der tragische Künstler ist kein Pessimist, – er sagt gerade Ja zu
allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist dionysisch …“ (GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 6, 6:78f). Auswahl,
Verstärkung und Korrektur des Scheins nähern den Künstler dem Editor an: er wird zum Redaktor der ‚Realität‘, der erfahrenen
(erfahrbaren) Phänomene. In ihrer schöpferischen Umgestaltung wird er aber auch zum Interpreten, zum erobernden Krieger,
der sich die Welt einverleibt,
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„die uns etwas angeht“ (JGB 2.34, 5:54). Er ist der einzige, der die tragischen Widersprüche von Leib und ‚Text‘ aushält, indem
er sie ewig zerstört und wieder neu erschafft. Diese Art der Interpretation wird von Nietzsche nur als und in der Kunst positiv
bewertet. Da es ihr gar nicht um Erkenntnis oder um Aussagen über wahr und falsch geht, steht sie selbst außerhalb des
Zugriffs von Verifizier- oder Falsifizierbarkeit. „Auswahl, Verstärkung und Korrektur“ ist der artistische Gegenpart zur
Falschmünzerei bzw. zum „Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten“ usw. (GM III.24, 5:400). Auch die
Kunst verfälscht den ohnehin nicht erkennbaren ‚Text‘ der Realität bzw. der Phänomene und Zeichen. Sie tut es, indem sie ihn
umdichtet und in der Aneignung neu entstehen lässt. Jedes Kunstwerk ist eine Wiedergeburt und Wiederkehr. Die
Interpretation, auf Erkenntnis oder auf normative Setzung abzielend und ihres eigenen fiktiven Status nicht bewusst,
vergewaltigt und leugnet die Realität bzw. die Wirklichkeit der Zeichen. Auf diesen Unterschied kommt alles an.
Es sind dergleichen Anklänge an Nietzsches Frühwerk, besonders an die Kunstmetaphysik der Tragödienschrift [319], die zu
dem Schluss verführt haben, Nietzsche kehre am Ende zu modifizierten Positionen seiner Jugend zurück und spare die
angebliche positivistische [320] mittlere Phase wieder aus, die man daher mit Recht ignorieren kann [321]. Es wurde bereits
bemerkt, dass dazu die Hymne auf die Wissenschaft schlecht passt, die gerade im letzten großen Buch immer wieder
gesungen wird [322]. „Grosse Geister“ seien Skeptiker – Zarathustra einge
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schlossen (AC 54, 6:236). Der Wissenschaft gilt Nietzsches offene Sympathie, weil sie „ohne Gott, Jenseits und verneinende
Tugenden“ (vgl. GM III.23, 5, 395ff) sei. Die „geistigsten Menschen“, denen Askese Lust, Bedürfnis, ja Natur und Instinkt ist,
werden sogar zum höchsten Typus ausgerufen. Sie seien die Stärksten: eben in der asketischen Selbstbezwingung liegt ihre
Lust, da es ihnen um Erkenntnis gehe – die gesamte Stelle ist ein deutliches Selbstporträt (AC 57, 6:243). Nietzsche knüpft
deutlich an die Wagnerkritik an, die immer auch eine Auseinandersetzung um die Rolle der Wissenschaft beinhaltet hatte.
Wagner, der Leitstern seiner Frühphase, fordere wie die Christen den blinden Glauben: „Es ist ein Verbrechen am Höchsten, am
Heiligsten, wissenschaftlich zu sein …“ (WA 3, 6:17); die Überwindung Wagners hat Nietzsche auch als Selbstüberwindung
wahrgenommen (WA Vorrede, 6:11).
Es gibt in Nietzsches Spätwerk nicht nur keine Distanzierung von den mittleren Büchern, sondern im Gegenteil viele explizite
Verweise auf sie (z.B. in GM III.24, 5:401 auf die Morgenröthe und die Fröhliche Wissenschaft). Seit Menschliches,
Allzumenschliches entwickelt sich sein Denken kontinuierlich, nicht sprunghaft. In einem späten Brief stellt er selbst eine Art
Kanon der eigenen Schriften auf, unter denen der Zarathustra ganz für sich steht und nicht für jedermann geeignet sei. Er
schlägt deshalb vor, mit den wichtigsten Büchern, nämlich Jenseits von Gut und Böse sowie der Genealogie der Moral zu
beginnen. Ihm selbst seien freilich die mittleren Bücher „am sympathischsten“, die gleichzeitig die persönlichsten seien. Die
Unzeitgemässen verdienten nur noch Beachtung, um seine „Entwicklung“ nachzuvollziehen, die Geburt der Tragödie wird gar
nicht mehr erwähnt (an Karl Knortz, 21. Juni 1988, III.5:339f).
Wie lässt sich all dies mit den eben gewonnenen Einsichten in die Rolle der Kunst bei der Überwindung des Nihilismus vereinen?
Man muss auch an dieser Stelle keine Zuflucht zur berühmten Widersprüchlichkeit nehmen, die Nietzsches Schriften angeblich
kennzeichnet. Zwischen Kunst und Wissenschaft gibt es ein klar bezeichnetes Verhältnis, das bereits aus dem Verhältnis von
Philologie und griechischem Altertum hervorgeht. Nietzsche schwankt spätestens seit Basel, möglicherweise schon seit dem
frühesten geistigen Erwachen, zwischen den Polen des Schaffens und Zerstörens, der Synthese und der Analyse, Kunst und
Wissenschaft. Bezeichnenderweise schreibt er in einer autobiographischen Skizze für die Professur in Basel: „Erst in der letzten
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finden […]“ (BAW 5:253) Der Rückfall sollte nicht lange auf sich warten lassen: „Sie hätten singen sollen, diese ‚neue Seele‘ –
und nicht reden!“ (Versuch einer Selbstkritik , KSA 1:15). Nietzsches Werk kann als Dichtung gelesen werden, aber auch als
Analyse; als philosophisches Gedicht oder wissenschaftliche Poesie. Aus dem Rückblick unterlegt Nietzsche diesem
wellenförmigen Verlauf eine einleuchtende Entwicklungslogik: auf den jasagenden Teil seines Schaffens, also den Zarathustra ,
sei der neinsagende gefolgt, nämlich eine Kritik der gesamten Modernität (EH zu JGB, 6:350f). Dies schließt die Möglichkeit
kommenden Schaffens nicht aus, sondern bereitet sie vor.
Eines nämlich, und das ist der entscheidende Grund für Nietzsches Sinneswandel gewesen, glaubt Nietzsche aus dem
gescheiterten Verhältnis zu Wagner gelernt zu haben: der Weg der Kunst steht nicht in jeder historischen Situation offen.
Wagner konnte nicht, wie von Nietzsche erhofft, zum neuen Homer oder Aischylos werden und eine Kulturrevolution einleiten,
die zur Wiederbelebung griechischen Geistes führen würde. In der falschen historischen Situation wird Kunst sogar, und genau
dies ist der „Fall Wagner“, zur lebensbedrohenden Gefahr. Da Kunst Dienerin der herrschenden Moral ist, treibt sie in der
Epoche der Herrschaft des asketischen Ideals den Niedergang voran, statt die Neugeburt vorzubereiten. So wie die Kunst als
Wille zur Täuschung und Heiligung der Lüge sehr viel stärker dem Glauben an eine wahre Welt entgegengesetzt ist, kann sie
auch zum mächtigen Instrument der Falschmünzerei werden. Das ist eine Frage der Hierarchie von Interpretationen. Der
Künstler, der (wie der späte Wagner) dem asketischen Ideal dient, verkörpert die denkbar größte Korruption (vgl. GM III.25,
5:402ff). Zwar stehen Homer und Platon für den absoluten geistig-moralischen Grundgegensatz (ebd.) – aber sie sind eben
keine Zeitgenossen, sondern durch Jahrhunderte getrennt.
Nietzsches Zeitdiagnose hat sich seit Leipzig und Basel grundlegend geändert. Europa befindet sich nicht im Angesicht
kommenden jugendlichen Aufschwungs – dieser Optimismus ist Nietzsche wie vielen anderen Zeitgenossen des beginnenden
Fin de Siècle gründlich vergangen –, sondern ist offenbar im unaufhaltbaren Niedergang begriffen. Das Christentum ist deshalb
so gefährlich, weil es sich zu einem sanften chinesischen Buddhismus entwickeln kann, der ihm einen langsamen,
möglicherweise Jahrhunderte währenden Tod garantiert (vgl. Benne, 2002a). Unter diesen Bedingungen ist der sich selbst
beherrschende Mensch, der seine Perspektiven in Zucht hält, noch das schönste Exemplar; er kann ja nichts dafür, einer
sinkenden Kultur anzugehören. Er gehört dann zu den großen Einzelnen, die mitten im Verfall den Um- und Aufschwung
vorbereiten, wie es beispielsweise in der Renaissance schon einmal geschah:
ein […] Mensch der späten Culturen und der gebrochenen Lichter wird durchschnittlich ein schwächerer Mensch sein: sein
gründlichstes Verlangen geht darnach, dass der Krieg, der er ist, einmal ein Ende habe; das Glück erscheint ihm, in
Übereinstimmung mit einer beruhigenden (zum Beispiel epikurischen oder christlichen) Medizin und Denkweise, vornehmlich als
das Glück des Ausruhens, der Ungestörtheit, der
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Sattheit, der endlichen Einheit, als „Sabbat der Sabbate“, um mit dem heiligen Rhetor Augustin zu reden, der selbst ein solcher
Mensch war. – Wirkt aber der Gegensatz und Krieg in einer solchen Natur wie ein Lebensreiz und -Kitzel mehr –, und ist
andererseits zu ihren mächtigen und unversöhnlichen Trieben auch die eigentliche Meisterschaft und Feinheit im Kriegführen mit
sich, also Selbst-Beherrschung, Selbst-Überlistung hinzuvererbt und angezüchtet: so entstehen jene zauberhaften
Unfassbaren und Unausdenklichen, jene zum Siege und zur Verführung vorherbestimmten Räthselmenschen, deren schönster
Ausdruck Alcibiades und Caesar (– denen ich gerne jenen ersten Europäer nach meinem Geschmack, den Hohenstaufen
Friedrich den Zweiten zugesellen möchte), unter Künstlern vielleicht Lionardo da Vinci ist. Sie erscheinen genau in den selben
Zeiten, wo jener schwächere Typus, mit seinem Verlangen nach Ruhe, in den Vordergrund tritt: beide Typen gehören zu
einander und entspringen den gleichen Ursachen. (JGB 5.200, 5:120f)
Es hat sich eingebürgert, Nietzsche den Wunsch zuzuschreiben, Kunst und Wissenschaft zu vereinen, die in der
abendländischen Geistesgeschichte in verderblicher Weise getrennt worden seien. Nietzsche habe keine Angst vor der
Verwechslung von Philosophie und Dichtung, so etwa die Grundaussage Kofmans (21983), denn dies würde ja fälschlicherweise
eine Trennung von Realität und Fiktion postulieren. Damit hat man jedoch die Interessenverschiebung übersehen, die Nietzsches
Frühwerk von den späteren Schriften trennt. Zwar hatte Nietzsche in der Basler Antrittsvorlesung einen Zentauren als
Idealwesen entworfen, indem sich Wissenschaft und Kunst gegenseitig aufheben. Ein lesendes Wesen, dem das Lesen nicht,
Nietzsches am Anfang der Arbeit geschilderte Neubewertung der Alexandriner im Spätwerk lässt sich in diesem Rahmen
präzisierend begründen. Wenn die Parallelisierung von alexandrinischem Zeitalter und Gegenwart nach wie vor Bestand hat,
bedarf seine Epoche mehr denn je der redlichen Philologie, um wenigstens die besseren Werte für folgende Jahrhunderte zu
retten. Im Gründungsdokument der modernen historisch-kritischen Philologie, in Friedrich Au
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gust Wolfs [323]Prolegomena ad Homerum – wissenschaftliche Muttermilch für Nietzsche – finden wir diesen Gedanken
vorgeprägt. Das aufschlussreiche 41. Kapitel stellt die alexandrinische Periode als Zeitalter des vertrocknenden Genius dar, das
Unfruchtbarkeit durch Gelehrsamkeit kompensiert – „in omnesque partes doctrinarum diffusa lectio“ [324], d.h. Erudition,
Strenge und Gründlichkeit treten an die Stelle eigener Gedanken und zeitigen eine Kunst der Kritik und Auslegung, die es so
vorher noch nicht gab. Wolf legt ebenso wie Nietzsche Wert darauf, dass dies in Zeiten des Niedergangs noch das Beste sei,
was man nur erhoffen könne, denn nur dadurch sei Homer überliefert worden [325], „um,“ wie es bei einem bedeutenden
Zeitgenossen Wolfs, nämlich Friedrich Schlegel, heißt, „da die Kraft neue Schönheit hervorzubringen nicht mehr vorhanden
war, wenigstens die alte auf die Nachwelt zu bringen.“ [326]
Wenn es in der Genealogie der Moral über die Wissenschaft heißt, dass sie „einstweilen“ beste Bundesgenossin des
asketischen Ideals sei, so scheint das auf die Aussicht zu deuten, einst auch (wieder) Bundesgenossin – wer weiß, vielleicht der
Kunst zu sein (GM III.25, 5:403). Der Verweis auf Leonardo im oben zitierten Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse
deutet zumindest in diese Richtung. Die Kunst ist zwar der Gegensatz zum asketischen Ideal, allein überwinden kann sie es
nicht aus eigener Kraft. Dazu bedarf es des Philosophen, der zugleich ein Künstler und Gesetzgeber ist, dessen
Begriffsdichtung aber die Prüfung durch Kritik, Methode, Skepsis und Tatsachensinn nicht scheuen muss. Möglicherweise
entsteht in Zukunft erneut der Typus jener von Nietzsche so verehrten Renaissancephilologen, den wohl einzigen empirisch
belegten Exemplaren der Zentauren aus dem Basler Homer-Vortrag [327]. Bis dahin verbittet sich Nietzsche jedoch die
Vermischung von Wissenschaft und Kunst. Im Gegensatz zu Aufklärung und Romantik gleichermaßen besteht Nietzsche bis
zum Schluss auf der Trennung von Philosophie, Kunst und Kritik. Der „unbedingte redliche Atheismus (– und seine Luft allein
athmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!)“ (GM
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III.27, 5:409) ist bis zum Heraufzug neuer überwältigender Mythen die einzig mögliche Existenzform. Die im Urteil
zurückhaltenden, vereinsamten und harten (obgleich nihilistischen, da an die wahre Welt glaubenden) „Nordpolfahrer“ (wie
Taine) seien den Artisten der Wissenschaft (Renan) bei weitem vorzuziehen. Solange das asketische Ideal ehrlich ist, an sich
glaubt und nicht kokettiert, müsse man Ehrfurcht vor ihm haben (GM III.26, 5:406f).
Am Ende, wir wissen es, wäre Nietzsche am liebsten doch Basler Professor statt Gott geworden – und damit ist wohl nicht nur
die maskenhafte, distanzierte Lebensweise Jakob Burckhardts gemeint, die Nietzsche zum Pathos der Distanz inspirierte [328].
Für die eigene Zeit sieht Nietzsche nur die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit zur kritischen Analyse. Das Publikum für seinen
künstlerischen Wurf, den Zarathustra , projiziert er bekanntlich in die ferne Zukunft [329]. Schon Menschliches,
Allzumenschliches erfindet für die Wissenschaft die Rolle als „Regulator“ gegenüber religiösen und künstlerischen Exzessen
(MA I.5.251, 2:208f); das Spätwerk hat diesen Gedanken lediglich zu Ende gebracht. Philologie und Wissenschaft, streng gegen
alles, sich selbst eingeschlossen [330], haben offenbar die Aufgabe, durch ihr unbarmherziges Streben nach Wahrheit das
asketische Ideal so weit in extremis zu führen, dass es sich schließlich selbst ad absurdum führt und aus seinen Trümmern eine
neue tragisch-dionysische Kunst hervorbricht, die allein den Schmerz um den Verlust der verlorenen Welt verwinden kann
[331].
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Nietzsches Philosophen der Zukunft sind zu diesem Zeitpunkt schon auf den Plan getreten und haben neue Werte geschaffen,
die jener Kunst den Rahmen absteckt. Schon früh hat Nietzsche ihren Bildungsweg beschrieben. Die wahren Philosophen
[225] Gutes Lesen, durch das man sich auf Fremdes einlässt, hilft sogar, dem entstehenden (europäischen) Nationalismus
entgegenzuwirken (WS 87, 2:593).
[226] Einen schnellen Überblick der aktuellen interdisziplinären Leseforschung bietet Franzmann u.a. (Hrsg., 1999), darin bes.
die Abschnitte „Geschichte des Lesens“ von Erich Schön, „Psychologie des Lesens“ von Ursula Christmann und Norbert
Groeben sowie „Neurobiologie des Lesens“ von Marc Wittmann und Ernst Pöppel.
[227] Das Wiederkäuen gehört in der Frühzeit noch zu den Topoi der Philologiekritik, s. z.B. HL 1, 1:250. In der
Encyklopaedie heißt es aber dezidiert: „Oft Lesen ders. Schrift ist viel wichtiger als zerstreuende Vielleserei“ (s. auch den
Kontext: KGW II.3:404ff).
[228] Vgl. z.B. das Lemma Lesen im GW. Lesen stammt etymologisch vom Auflesen und Zusammenstellen mit Runen
gekerbter Stäbchen und bezieht sich auf das Zusammenstellen dieser Stäbchen überhaupt, dann auf die Fähigkeit des Lesens
an sich. Bekanntlich ist Lesen zunächst vor allem das laute Lesen, also auch das Vortragen und Rezitieren. Im Begriffswandel
spiegelt sich auch seine Sozialgeschichte. Schon im Mittelalter wird jedoch der Leser dem Verfasser gegenüber gestellt, also
eine Antithese gebildet, die am Gegensatz vom Schöpferischen zum Rezeptiven ausgerichtet ist. Der Sammler von Früchten ist
eben nicht notwendigerweise ihr Erzeuger.
[229] „Jetzt, da jeglicher liest und viele Leser das Buch nur/Ungeduldig durchblättern […]“ kommentierte Goethe (BA Bd.
1:213). In Nietzsches Lieblingsbuch, Eckermanns Gesprächen mit Goethe (s.o.), heißt es unter dem Datum des 25. Januar
1830: „Er scherzte darauf über die Schwierigkeit des Lesens und den Dünkel vieler Leute, die ohne alle Vorstudien und
vorbereitende Kenntnisse sogleich jedes philosophische und wissenschaftliche Werk lesen möchten, als wenn es eben nichts
weiter als ein Roman wäre. [Absatz] »Die guten Leutchen,« fuhr er fort, »wissen nicht, was es einem für Zeit und Mühe
gekostet, um lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch jetzt nicht sagen, daß ich am Ziele
wäre.«“ (1968:635). Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts erfindet das extensive gegenüber dem intensiven Lesen im
institutionellen Rahmen der Lesegesellschaften, Leihbibliotheken und Clubs. Ein starker Anstieg der Produktion, nicht zuletzt an
Kalendern, Almanachen, Reisebeschreibungen, Zeitschriften, Journalen und Wochenschriften tun ein Übriges (s. z.B. von König,
1977).
[230] Ein Hauptgedanke Bergks lautet, dass bei der verwirrenden Vielfalt der Erscheinungen des Menschen und der Welt nur
genaue Beobachtung Aufschluss bringen kann. Bücher seien als Weltmodelle leichter zu beobachten und leichter zugänglich:
„Unser Geist ist gegen Betäubung gesichert und hat Muße, sich alles verständlich zu machen und dasselbe an seine bisherigen
Erfahrungen anzureihen.“ (1799:10). Ferner wird die aktive Tätigkeit des Lesens, d.h. die Rolle der schöpferischen
Einbildungskraft betont. Lesen bedeute nicht zuletzt, durch Anregung von außen den jeweiligen Stoff in sich selbst
wachzurufen, in sich selbst zu lesen (62). Ein guter Leser sei deshalb nicht Sklave des Autors, sonder beherrsche das Material
(66) – die Schauspielkunst wird zum Vergleich bemüht, Lesen sei nur durch Übung, nicht durch Regeln zu erlernen (69) und ist
also eine Art empathisches Nachempfinden (s. z.B. 200).
[231] Vgl. insbes. die Bände der Nietzsche-Studien aus dem vergangenen Jahrzehnt sowie die im Literaturverzeichnis unter
B3 aufgeführten Titel.
[232] Fabian (1977:60ff) hat u.a. die (ja bis heute andauernde) Selbststilisierung der Gelehrten durch ihre Privatbibliothek
beschrieben, die für das deutsche Sprachgebiet besonders typisch wurde.
[233] Gedicht „Erste Epistel“, BA Bd. 1:213–216. Goethe ist nicht der Auffassung, wie man anhand dieser isolierten Stelle auch
annehmen könnte, dass Lektüre generell Allegorese sei. Die Zahmen Xenien etwa kennen immerhin den Unterschied des Aus-
und Unterlegens: „Im Auslegen seid frisch und munter!/Legt ihr's nicht aus, so legt was unter.“ (HA, Bd. 2:329).
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[234] Ein aktueller kulturgeschichtlicher Überblick des Reisens bei Bausinger/Beyrer/Korff (Hrsg., 1999). Der beste
Ausgangspunkt zur Erforschung gerade des hier interessierenden Zeitraums ist die Forschungsstelle zur historischen
Reiseliteratur in der Landesbibliothek Eutin, Schleswig-Holstein. Vgl. auch die Beiträge in Brenner (1989).
[235] Vgl. z.B. Siebers (1999). Die Kavalierstour zur Vollendung der adligen Sozialisation und zur Schaffung nützlicher Kontakte
gibt es schon seit der frühen Neuzeit. Sie versiegt in dieser Form aber seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts fast völlig. Die
bürgerliche Version der grand tour schafft hier z.T. Ersatz, aber durch die darin angelegt Bildungsbeflissenheit auch Konkurrenz
zu den bürgerlichen Gelehrten, die sich nun durch ihre Gründlichkeit ernsthaft von den Dilettanten absetzen mussten, nachdem
die Vergangenheit dies nur sporadisch gefordert hatte. Eines der frühesten und verbreitetsten Beispiele dafür ist die
Italiänische / Dalmatische / Griechische und Orientalische Reise-Beschreibung von Jacob Spon und George Wheler (1690).
Die Vorrede beginnt in aufschlussreicher Manier: „Es ist gar gemein, daß die jenige, welche eine Reise-Beschreibung ans Liecht
geben, selbige auch nach ihrem Kopff und Sinn einrichten. Etliche gedencken nur der schönen Paläste, Kirchen, und dergleichen
Gebäude. Theils berichten den Leser von der Situation oder Lage der Städte, von deren Völckern, Vestungs-Bau, und Policey-
Ordnungen. Andere gehn noch weiter, und erzehlen von der Religion, Sitten, und Gebräuchen der Länder, welche sie gleichwol
nur durchreiset haben. Einige beschreiben die Erd-Gewächse, Metallen, und Handelschafft der Orte, die sie durchzogen. […]
Mich anlangend, habe ich in Warheit alle solche Particularitäten fleissig beobachtet, da ich sie ohne sondere Mühe und Unkosten
erfahren können. Es würde einem aber unschwer fallen zu mercken, ob ich schon mit aufrichtiger Bekanntnus zuruck hielte,
daß mein gröster Zweck dahin zielete, wie ich die alten Monumenta, derer von mir auf dieser Reise besehenen Länder, recht
entdecken, und mir bekandt machen möchte, und daß solches meine vornehmste Inclination war. Ich habe mich niemals sehr
darum bemühet, wie ich denen stattlichen Ceremonien zu Rom, oder den lieblichen Musiquen, und schönen Comödien in Italien,
beywohnen möchte […].“
[236] Die Göttinger Universität, geboren aus dem Geist der Aufklärung, war natürlich auch eine Vorreiterinstitution der
modernen Philologie. Vgl. z.B. Vöhler (2002). Aufschlussreich hier v.a. sein Hinweis auf das starke Interesse Gottlob Heynes,
F.A. Wolfs wichtigstem Lehrer, an Reiseberichten und ethnographischen Studien.
[237] Auch Burckhardt kleidet die Lektüreerfahrung in die Metaphorik der Reise (vgl. Burckhardt, 1900ff, Bd. 1:5). Sowohl das
Exemplar von Burckhardts Cicerone als auch Goethes Italienische Reise sind, den Anstreichungen in den Exemplaren von
Nietzsches Bibliothek nach geurteilt, fleißig benutzt worden.
[238] Ein gutes Beispiel der zeitgenössischen Gelehrtenreisen aus Nietzsches nachgelassener Bibliothek: Dr. H. Gelzer, Eine
Wanderung nach Troja. Basel, Schweighauserische Verlagsbuchhandlung (Benno Schwabe.), 1873
[239] Eine Reiseform, mit welcher der Sohn eines der bedeutendsten Reiseschriftstellers aller Zeiten, Carsten Niebuhrs nämlich,
bestens vertraut war.
[240] Die Entdeckungsreisen seit der Renaissance änderten nicht nur das Bild von der Welt sondern auch die Weise der
Welterfahrung. Navigatorische Metaphorik wird auf die Erschließung auch neuer geistiger Welten übertragen, auf den Kosmos
der gedruckten Texte, der zu erobern sei. Die relativ statische Welt der Gelehrtenexistenz bedient sich in der dynamischen Welt
der reisenden Durchdringung neuer Erdteile, beide Erfahrungen werden als nie abschließbare Aufgabe wahrgenommen. (s.
Fabian 1977:56ff).
[242] Inspiriert hat Nietzsche möglicherweise auch hier Laurence Sterne: vgl. dessen Kategorisierung der Arten von Reisenden
(1967:80f).
[243] Vgl. von König (1996:53ff). Zur engen Verbindung von Spazierengehen und Lesen im Freien auch Koebner (1977).
[244] Etwa der berühmte Flaneur Franz Hessel in einem Feuilleton mit dem Titel „Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen“
(Hessel, 1932), in welchem das langsame Spazierengehen als Gegenmittel zur Beschleunigung der technischen Moderne
begründet wird. Nur der Flaneur könne die Zeit richtig genießen, der Spaziergänger „liest die Straße wie ein Buch, er blättert in
Schicksalen, wenn er an Häuserwänden entlang schaut.“
[245] Einer der bedeutendsten Wanderreiseschriftsteller, Johann Gottried Seume, schreibt in Mein Sommer. „Wer geht, sieht
im Durchschnitt anthropologisch (!) und kosmisch mehr, als wer fährt. Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossen
darüber machen nach Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in
dem Manne und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge.“ (Seume, 1962:638)
[246] Volker Gerhardts bei Nietzsche diagnostizierter experimenteller „Methodenpluralismus des aphoristischen Denkens“
(1989:263) steht gewiss in enger Beziehung zum spazierengehenden Denken der aphoristischen Kunst.
[248] Malinowski ist in der Geschichte der Ethnologie durch seine teilnehmende Beobachtung berühmt geworden, für die
Einsicht, dass erst durch langes Leben vor Ort und Erlernen der Sprache Einsicht in Kulturen möglich sei. Malinowski, auf den
sich ja auch, wie bereits erwähnt, Geertz mit seiner interpretativen Ethnologie berief, verkörpert die Radikalform des Reisens als
‚Lesen‘ in einer fremden Kultur; philologisch ausgedrückt die hyperstatarische statt der kursorischen Lektüre des modernen
Tourismus. Malinowski bestand darauf, Beobachtungen, Eigeninterpretationen der „natives“ und Schlussfolgerungen des
Ethnologen sauber zu trennen (1983:3) und notiert die Schwierigkeiten, das riesige Quellenmaterial, welches noch nicht einmal
in Schriftform aufbewahrt ist, überhaupt aufzuarbeiten. Der „cardinal point of method“ – übrigens in Berufung nicht nur auf
Tylor und Morgan, sondern auch auf die philologisch inspirierte deutsche Völkerpsychologie und auf Bastian – liege im
breitestmöglichen Studium konkreter Phänomene (17). Zum wichtigsten Ziel ethnologischer Arbeit wird die Suche nach „the
typical ways of thinking and feeling, corresponding to the institutions and culture of a given community“ (23).
[249] Der Wille zur Macht äußere sich metaphorisch. Da die Metapher sich aber nicht mehr auf etwas Reales bezieht, sondern
ihrerseits schon auf Interpretation, müsse Nietzsche sie als Begriff fallen lassen, weil sie sonst zum gefährlichen
metaphysischen Dogma werde. Wenn Nietzsches Metapherntheorie zunächst strategisch eingesetzt werde, um jegliche Essenz
zu dekonstruieren, werde sie später durch das Wechselspiel von Text und Interpretation ersetzt. Die Metapher werde ‚Text‘,
Produkt einer jeweils einzigartigen Perspektive, weil die Bedeutung, die in ihr liegt, nicht mehr die Essenz der Welt betrifft; sie
selbst ist diese Perspektive als Ausdruck eines bestimmten Willens zur Macht. Die Genealogie, die historisch ist, weil jedes
Konzept eine Geschichte hat, sei auch deshalb vonnöten, weil die Metaphern als Symptome eines bestimmten Willens gelesen
werden müssen. Die genealogische Etymologie will nicht den Ursprung und die akkurate Bedeutung herausfinden, sondern
mannigfaltige Ursprünge, die dann hierarchisiert werden (Kofman bezieht sich hier auf den 3. Abschnitt des Vorworts zur
Genealogie der Moral ). Kofman erkennt an dieser Stelle das philologische Vorbild des Stemmas nicht, auch ihr Textbegriff
entspricht kaum dem Nietzsches, obgleich sie sich durchaus selbst philologischer Metaphern bedient. Die genealogische
Lektüre lehre, dass die Sprache der Moral eine verfälschende Interpretation darstellt, indem der Text des Leibes metaphorisch in
die oberflächliche Sprache des Bewusstseins überführt wird. Der Genealoge, also Nietzsche, bessere den wahren Text der
Moral wieder aus, indem er die Metapher umkehrt und die natürliche Hierarchie der verschiedenen Symbolsysteme
wiederherstelle. Dionysos sei die mythische Figur des ursprünglichen Texts des Lebens: nackt und ohne metaphysisches
Feigenblatt, frei von Scham, unschuldig. Gut lesen lernen heißt dann für Kofman nichts anderes, als den verfälschten
sekundären Text zu entziffern und die Eigentlichkeit der Triebe zu entdecken, die hier überschrieben waren.
[250] In Die Welt als Wille und Vorstellung , einem der wenigen philosophischen Bücher, die Nietzsche wirklich gründlich
gelesen hat, im bedeutenden Kapitel „Ueber das metaphysische Bedürfniss des Menschen“, erläutert Schopenhauer die
Notwendigkeit des allegorischen Charakters aller Religionen, da sie „für die Unzähligen bestimmt“ seien, „welche, der Prüfung
und des Denkens unfähig, die tiefsten und schwierigsten Wahrheiten sensu proprio nimmermehr fassen würden“. Es genüge
dementsprechend, dass Religionen nur „sensu allegorico“ wahr seien: als Mysterien und Dogmen aller Art, die nur nach
Glauben verlangen (1988, Bd.2, 17. Kapitel des 1. Buches, S. 184–218).
[251] Vgl. dazu schon Fries (1980), der die Schwierigkeit demonstriert, Mehrdeutigkeit linguistisch zu bestimmen. Er
unterscheidet Ambiguität (vom gewählten Grammatikmodell abhängige Mehrdeutigkeit) von genereller Vagheit (unabhängig vom
gewählten Grammatikmodell), die eben in keiner Weise exegetisch aufhebbar ist.
[252] Dazu etwa Otto (1998). Allgemeine Informationen s. neuerdings die ausgezeichneten Einträge zur Metapher von E. Ebbs
und zur Allegorie von W. Freytag im HWR.
[253] Szondi (1975:177) ordnete eine brauchbare und umfassende Metaphernlehre den wichtigsten „Desideraten“ der
Allgemeinen Literaturwissenschaft zu. Sie ist bis heute Desiderat geblieben. Wer sich auf dieses Gebiet wagt, muss Ausdauer
mitbringen. Aus dem Rennen geschieden sind mittlerweile jedoch die diversen Spielarten der Vergleichstheorie, v.a. deshalb, weil
Metaphern Ähnlichkeiten erst schaffen, statt, wie es die wahre Analogie tut, abzubilden (vgl. Kurz, 1982:19f). Metaphern lassen
sich nicht umschreiben oder ersetzen, ohne dass die spezifische Bedeutung verlorengeht. Konjunktur haben derzeit
kognitionswissenschaftlich ausgerichtete linguistische Ansätze, und zwar spätestens seit Lakoff/Johnson (1980). Gute Gründe
sprechen dafür, dass die Metapher etwas mit den grundlegenden Organisationsprinzipien und Prozessen menschlicher
Kognition zu tun hat. Die neueren Entwicklungen auf diesem Gebiet (etwa Turner, 1996) versuchen sogar bereits Anschluss an
die Literaturwissenschaft zu gewinnen, sind aber weder technisch, noch dem Grad der Subtilität nach genügend ausgereift und
jedenfalls in analytischen Zusammenhängen bisher nicht verwendbar. Als Theorien über das Bewusstsein müssen sie freilich
[254] „Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern.“ (Jean Paul,
1967:184)
[255] Behler (1994) hat freilich einschränkend den experimentellen Charakter von Nietzsches früher Sprachphilosophie betont.
Sie sei fortlaufender Reflexionsprozess, kein kohärentes System.
[256] Die Tropen werden auch in der Darstellung der antiken Rhetorik als Übertragungen von Nervenreizen und
Empfindungen erklärt. Dadurch ergeben sich wiederum Verbindungen zur Tradition der Wolfschen Philologie. Wolf hatte die
Sprache als Summe von Zeichen definiert, „die sich Menschen erfunden haben zum Ausdrucke ihrer Empfindungen und
Vorstellungen.“ (1831:49). Nietzsche unterscheidet sich davon nur insofern, als es bei ihm nicht mehr nur um die bewussten
Empfindungen geht.
[257] Mit Kurz (1982:2f) betrachte ich die Vergleichstheorie als Spezialfall der Substitutionstheorie.
[258] Hödl (1997) enthält neben vielen nützlichen Hinweisen zu Nietzsches Verhältnis zur Rhetorik auch eine gute Diskussion
des Einflusses von Gerber. Wichtig v.a., dass er nicht nur auf die Parallelen, sondern besonders auf die Unterschiede hinweist.
Nietzsche radikalisiere Gerbers Auffassung der Sprache als Rhetorik und besonders auch den Begriff der Übertragung:
während bei Gerber Vorstellungen und Laute Bilder von Empfindungen seien, ist für Nietzsche schon die Empfindung
Übertragung aus dem Nervenreiz. Für Nietzsche sei die Metapher nicht primär Bedeutungsübertragung, sondern bezeichne
den Übergang vom Nervenreiz zur Empfindung und von dieser zum Wort (1997:83ff). Möglicherweise spielen hier
sprachtheoretische Spekulationen, wie Nietzsche sie bei Wilhelm Wackernagel u.a. kennenlernte, eine Rolle. Wackernagel (1872)
in Nietzsches nachgelassener Bibliothek enthält einige Anstreichungen von Nietzsches Hand, z.B. zu interessanten
Ausführungen über das Verhältnis von Sprache, Musik, Sprechen und Poesie (z.B. S. 36). Wackernagel vergleicht menschliche
Sprache mit tierischen Äußerungen, ja leitet sie als Symptom von unmittelbaren physischen Bedürfnissen ab; Tier und Mensch
bilden eher ein Kontinuum, als dass die Sprache den Menschen vom Tier unterscheide. Freilich entwickeln diese physischen
Äußerungen im sozialen Kontext ganz neue Übertragungen und Ausformungen, die nun gesondert betrachtet werden müssen:
„Die Empfindungen, von denen die dunkle Seele des Thieres bewegt, die Triebe, von denen es bei all seinem Thun und Lassen
geleitet wird, bleiben unwandelbar durch alle Jahrtausende hin dieselben und ebenso unwandelbar die Laute, in denen es seine
Empfindung äussert […] Die eigentliche Menschensprache jedoch, in der sich Begriffe hoerbar (sic) verkörpern und die durch
Lehren und Lernen sich fortverpflanzt, die somit von Geist auf Geist gleichsam immer aufs neue geschaffen wird, sie schreitet
fort, wie von Geschlecht zu Geschlecht der Geist fortschreitet; sie bewegt, sie entwickelt sich, wie der Geist des Einzelnen, des
Volkes, der Menschheit in unablæssiger Bewegung sich entwickelt; sie hat ihre Wandelungen gleich und mit dem Menschen, sie
hat eine Geschichte wie die Völker.“ (15f). Die Wichtigkeit des Übertragungsbegriffes für Nietzsche im Anschluss an Gerber seit
den frühen siebziger Jahren hat auch Orsucci betont. Gerber sei nicht nur wegen der Einsicht in den metaphorischen Charakter
der Sprache wichtig für Nietzsche gewesen, „sondern auch dank seiner Einsicht in jenen Begriff von translatio , dessen
Berücksichtigung es erlaubt, in den verschiedensten Bereichen neue Gesichtspunkte zu gewinnen“ (1994:206). Begriffe haben
keine ursprünglichen Bedeutungen, sondern gehen, kontextabhängig, immer wieder in neue Zusammenhänge ein.
[259] So gibt sich etwa Lessing Mühe, die Fabel, das allegorische Genre schlechthin, nicht als Allegorie zu verstehen, nicht als
willkürliches, sondern als natürliches Zeichen, etwa als Exemplum. Die Kunst dieser Fabel besteht dann darin, so viele Hinweise
zu ihrer Entschlüsselung zu geben, dass man sie auch ohne Einweihung in die Spielregeln verstehen kann (Sørensen,
1963:38ff). Ein gutes Beispiel ist auch Jean Paul, v.a. weil Nietzsche die Vorschule der Ästhetik – und damit die einschlägigen
Abschnitte über Metapher und Allegorie (1967:182ff) – wohl gut kannte. Bei Jean Paul steht der bildliche Witz, der sich der
Phantasie verdankt, dem verstandesgeleiteten unbildlichen Witz entgegen. In der Metapher verschmelzen Geist und Materie,
der bildliche Witz „kann entweder den Körper beseelen oder den Geist verkörpern .“ (S. 184) Die Metapher sei die
ursprüngliche Sprechweise des Menschen, die sich erst nach der Trennung von Ich und Welt zum eigentlichen Ausdruck
entfärbt , wie Jean Paul es mit einer schönen Metapher beschreibt. Die Allegorie dagegen „ist seltner eine fortgesetzte Metapher
als eine abgeänderte und willkürliche.“ (189). Schon F.A. Wolf hatte die Metapher als „Bedeutung eines Wortes übertrage[n] von
einer sinnlichen auf eine intellectuelle Idee“ aufgefasst (1831:279). Hier gibt es nicht wenige Parallelen zu Nietzsche: neue
Bedeutungen, heißt es noch ganz am Ende, entstünden durch Übertragungen aus Bekanntem. Verstehen heißt „etwas Neues
ausdrücken können in der Sprache von etwas Altem, Bekanntem“ (VIII 15 [90]).
[260] In der klassisch-romantischen Theorie bedeutet das Symbol auch ohne symbolische Bedeutung etwas, hat also, im
Gegensatz zur Allegorie, ein Eigenleben – die Allegorie ist immer nur als Verweis auf das eigentlich Gemeinte lebendig. Der
Epoche ist insgesamt die Überzeugung eigen, dass durch bildlich-symbolische Darstellung ein neuartiges Erleben und Deuten
der Welt möglich ist und neuartige Erkenntnisse zu gewinnen sind, die sich von jenen auf diskursivem Wege erlangten qualitativ
unterscheiden. Im Verhältnis zur Tradition, die bildliche Darstellung nur als geistigen Schmuck gelten ließ, findet so ein radikaler
[261] Allerdings hat Nietzsche Creuzers Hauptwerk, Symbolik und Mythologie der alten Völker (Creuzer, 1836ff), durchaus
besessen, merkwürdigerweise hat er es sich erst (noch!) im Jahr 1884 angeschafft.
[262] Beispielsweise sind schon allegorische Gattungen an sich solche Hinweise, also etwa Fabeln und Satiren, Predigten,
Gnomen, Gleichnisse, Rätsel u. dergl. Auch gewisse Standardsituationen wie die (Pilger-)Reise oder die
Landschaftsbeschreibung haben sich in diesem Sinne etabliert. Der Zarathustra ist ein regelrechtes Kompendium allegorischer
Textgattungen.
[263] Eine kritische Auseinandersetzung mit Aristoteles, der normalerweise als Vater der Substitutionstheorie angesehen wird,
lässt sich schon in der Geburt der Tragödie nachweisen. „Die Metapher,“ heißt es hier, „ist für den ächten Dichter nicht eine
rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt.“ (GT 8, 1:60)
Barbara von Reibnitz (1992:213) sieht darin mit Recht eine Kritik an Aristoteles und der Regelpoetik. Es ist aber auch eine Kritik
an der Auffassung der Metapher als reiner Begriffssubstitution. Die Stelle erinnert ebenso an die Symbolauffassung der
Goethezeit und deutet möglicherweise auf eine Übernahme ihrer wesentlichen Prämissen hin. Der Symbolbegriff spielt in der
Literaturwissenschaft heute kaum noch eine Rolle, da ihn seine einst universelle und inflationäre Verwendung unbrauchbar
gemacht hat. Symbolik, dies ist bei aller Verwirrung nach wie vor die verbreitetste Bedeutung, beruht generell auf analogischen
und synekdochischen Beziehungen, wird also als Analogie oder Teil eines Ganzen aufgefasst (Kurz, 1982:66ff). Analogie und
Synekdoche sind weniger problematisch als Metapher und Allegorie, deshalb kann der Symbolbegriff auch freier und
unkontroverser benutzt werden. Wo sich die Verwendung der Metapher annähert, mit der das Symbol einiges gemeinsam hat,
kehren die Schwierigkeiten zurück. Das Symbol ist jedenfalls, das begründet den Unterschied zur Metapher und die Nähe zur
Allegorie, weniger an die Sprachform gebunden. Es gehört nicht zur internen Struktur des Zeichens, da es genau genommen,
nichts benennt. Es ist daher nicht durch Polysemie zu erklären und entsteht erst durch die Deutung: wie die Allegorie ist es in
erster Linie ein hermeneutisches, kein semiotisches Phänomen, das freilich nicht beliebig, sondern nur durch den
Textzusammenhang erschlossen wird (79). Der jüngste ernsthafte Versuch, den Symbolbegriff zu beleben, stammt von Ernst
Cassirer (71983). Das neuere Interesse daran zeigt, wie dringend die Suche nach Alternativen zur durch (Post-
)Strukturalismus und Semiotik vermittelten Substitutionstheorie geworden ist. Von Goethe ausgehend ist das Symbol bei
Cassirer keine dem ‚eigentlichen‘ Sprachgebrauch entgegengesetzte Ausdrucksweise, sondern die Verbindung von geistigem
Inhalt mit konkreten sinnlichen Zeichen, die in verschiedenen Sphären wie Sprache, Kunst, Mythos zur Wirkung kommt. „Denn
in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren
zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt. Eine Welt
selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet
sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft.“ (176f). Das in zeitliche Prozesse gelagerte Individuelle lasse sich
durch die Schaffung konkreter Symbole von innen heraus vergegenständlichen. Der Unterschied ästhetischer und religiös-
mythischer Symbolik lässt sich im Sinne Goethes, aber unter Verzicht auf den Allegoriebegriff erfassen: „Die künstlerische
Anschauung blickt nicht durch das Bild hindurch auf ein anderes, das in ihm ausgedrückt und dargestellt wird, sondern sie
versenkt sich in die reine Form des Bildes selbst und beharrt in ihr.“ (190) Die Sprache sei nicht nur begrifflicher Ausdruck,
sondern habe ihren je eigenen „Klang- und Gefühlswert“ (191): die Materialität der Kunstwerke besitzt ein gewisses Eigenleben.
[264] Schon die Allegorieverteufelung der Klassik hatte geringe praktische Auswirkungen, wie man nicht zuletzt am Faust
ablesen kann. Es ist das Verdienst Benjamins, die Allegorie in ihrem Kunst- und Ausdruckswert rehabilitiert zu haben. Leider
vermied er, Allegorie und Allegorese streng zu trennen. In jedem Falle schwebt ihm eine Art Substitutionstheorie der Allegorie
vor. Alles kann alles andere bedeuten, was die Dinge einerseits entwertet, aber durch den verweisenden Status auch wieder
erhöht. Es ist nicht unerheblich, dass Benjamin statt des Trauerspielbuches ursprünglich eine Studie über die Scholastik geplant
hatte (Menninghaus, 1980:79). Winfried Menninghaus hat gezeigt, wie sehr Benjamins Bestimmung der Allegorie vom Kontext
des Buches und (sprach-)philosophischer Erwägungen abhängt; aus dem Zusammenhang könne sie nur unter großen
Verlusten gelöst werden (132f). Menninghaus lässt sich denn auch selbst auf Allegorese nicht ein – er arbeitet streng in der
philologischen Herangehensweise des Kommentars (vgl. seine Fußnote 1, S. 227) – und bemerkt, dass auch Benjamin nur
solchen Werken allegorischen Status zuerkennt, in denen Allegorie auch stilbildend, d.h. das „dominierende Sprachprinzip“ sei
(141). Von der Begründung einer prinzipiell neuen Literaturwissenschaft, die eventuell für eine Auseinandersetzung mit
Nietzsche relevant sein könnte, kann deshalb nicht die Rede sein. Kurz: Benjamins wichtige Einlassungen zur Allegorie sind für
unsere Zwecke wenig brauchbar. Wir müssen sie – im Sinne Benjamins – am eigenen Objekt entwickeln. Benjamins Einfluss auf
[265] Damit ist der Unterschied von Metapher und Allegorie, den Kurz (1982:32) in die Begriffe „Bedeutungsverschmelzung“
(Metapher) und „Bedeutungssprung“ (Allegorie) fasst, in der konkreten Exegese nebensächlich. Zwar kann man in der Tat die
Metapher als Satzanweisung ausformulieren, während der Rekonstruktion der Allegorie zunächst unverbunden die Analyse des
scheinbar wörtlichen Sinnes vorausgeht, aber dieser muss nun in beiden Fällen in seiner kontextuellen Potenz beachtet
werden.
[266] Viele der etwa von Blumenberg in seinem metaphorologischen Lebenswerk untersuchten Phänomene sind nach
herkömmlichen Begriffen ja eigentlich Allegorien, aber da sie nicht unbedingt auf Allegorese beruhen, ist ihre Aufnahme in einen
weiten Metaphernbegriff gerechtfertigt. Allegorese dagegen bezieht sich nie auf eine (fiktive) intentio auctoris oder intentio
operis, sondern sucht im Text nach Belegen für die intentio lectoris, indem sie den Text als sekundär gegenüber einer
vorgeschobenen Bedeutungsebene einordnet. Derridas Abwehr der Kontextualisierung in seinem Regenschirm-Beispiel (s.o.) ist
bezeichnend für das schlechte, bloß substituierende Lesen. Erst wenn das Regenschirm-Fragment als kontextuell ableitbar zu
rekonstruieren wäre (unabhängig vom ‚Wahrheitsgehalt‘), kann ich es überhaupt als ‚Text‘ und Kommunikationsakt ansehen.
Den Regenschirm durch einen Phallus zu ersetzen ist eine verhältnismäßig schlichte Operation; Scharfsinn benötigt man für sie
nicht. Es lässt sich bisher kein Kontext überzeugend nachweisen, in welchem die spezielle Bedeutung des Regenschirms
zusammen mit dem Phallus eine relevante übertragene Bedeutung im Gesamtzusammenhang von Nietzsches Werk annehmen
könnte. Die Kontextgebundenheit ist übrigens heute selbst in der semiotischen Theorie unkontrovers. Die „Verteidigung des
wörtlichen Sinns“ (Eco, 1995:40) ist naiv, denn der Text legt seinem Interpreten nicht als solcher Zwänge auf (die müssten ja –
gemäß der Einsicht in den Perspektivismus – für jeden verschieden sein). Zwänge entstehen vielmehr durch die Kontexte, in
denen Autor, Text und Interpret gleichzeitig stehen. Das Ergebnis der Rezeption wird also nicht durch den metaphorischen Text
gesteuert, sondern durch die Interaktion, die letztlich „durch den allgemeinen Rahmen der enzyklopädischen Kenntnisse einer
bestimmten Kultur“ (204) bestimmt sei. Zwar kann sich ein Interpret „dafür entscheiden, jede beliebige Äußerung als
metaphorisch zu betrachten, wenn seine enzyklopädische Kompetenz ihm das erlaubt“, aber es gibt ein
„Legitimationskriterium“, nämlich den allgemeinen Kontext, „in dem die Äußerung steht“, d.h. den kommunikativen Rahmen. Es
ist dabei freilich die Frage, ob literarische Texte, wie Eco behauptet, solche Kommunikationsformen seien, in denen jede
metaphorische Interpretation zulässig ist (ebd.). Erstens würde dadurch unsere Auffassung von Literatur beträchtlich
erweitert, der literarische Kanon aber andererseits auch um wichtige Texte ärmer. Drittens lässt sich die Zulässigkeit ja nur in
Bezug auf bestimmte Gruppen oder gar Individuen feststellen, was den Wert dieser Literaturdefinition doch beträchtlich
mindert.
[267] Selbst die Metapherndefinition des Aristoteles, die nach allgemeiner Auffassung die Substitutionstheorie begründet hat,
spricht bei genauerem Hinsehen eher von Übertragung aus unüblicher (nicht ‚uneigentlicher‘) Verwendungsweise und nicht von
Substitution (1982:67f); seine Beispiele sind freilich eindeutiger. Noch deutlicher ist das wichtigste rhetorische Lehrbuch aller
Zeiten, nämlich Quintilians Institutio Oratoria . Der griechische Begriff der Metapher wird eindeutig als Übertragung übersetzt,
und zwar als translatio „ex eo loco in quo proprium est, in eum in quo auf proprium deest auf translatum proprio melius est.“
(VIII.vi.5). Eine Standardparallelübersetzung dieser Stelle – „from the place to which it properly belongs to another where there
is either no literal term or the transferred is better than the literal .“ – ist ungenau. Hinter dem Attribut proprius steckt nicht
die essentialistische ‚wörtliche‘ Bedeutung, sondern wohl eher der angemessene, übliche Gebrauch, der seine eigene
Weiterentwicklung, d.h. den historischen Charakter der Sprache, schon mit einbezieht. Dementsprechend ist auch bei dem für
Nietzsche entscheidenden Sprachforscher Gustav Gerber das Uneigentliche lediglich das Neue, d.h. Gegenteil des usus (vgl.
1871ff Bd. 2.2.:21f). Erst die moderne Metapherntheorie konnte die ursprüngliche Bedeutung dieser Auffassung wieder
herausarbeiten: „Die Metapher bricht punktuell eine Konvention. Die Metapher ist eine Abweichung – nicht vom wörtlichen
Gebrauch […] sondern vom dominanten Gebrauch eines Wortes.“ (Kurz, 1982:17). Da es natürlich keine homogene Sprache
gebe, sondern diese aus vielen verschiedenen Dialekten, Gruppensprachen und Fachsprachen zusammengesetzt sei, ist der
dominante Gebrauch, und damit die Metaphorik, aber nicht für alle Leser gleich verbindlich. Außerdem, so muss hinzugefügt
[268] In Reflexionen zur Metapher vom Anfang der siebziger Jahre bezeichnet Nietzsche die Metapher noch als eine Art
Analogieschluss, der Ähnlichkeiten entdeckt bzw. „neu belebt“ (III 19[227ff]), fügt aber hinzu: „Nun aber giebt es keine
‚eigentlichen‘ Ausdrücke und kein eigentliches Erkennen ohne Metapher. Aber die Täuschung darüber besteht, d.h. der Glaube
an eine Wahrheit des Sinneseindrucks. Die gewöhnlichsten Metaphern, die usuellen, gelten jetzt als Wahrheiten und als Maaß für
die seltneren. […] Das Erkennen ist nur ein Arbeiten in den beliebtesten Metaphern […] Also der Usus kämpft gegen die
Ausnahme an, das Regelmäßige gegen das Ungewöhnliche. Daher die Achtung der Tageswirklichkeit vor der Traumwelt.“ (III
19[228]) Der Usus ist nicht der Domäne des Metaphorischen enthoben, sondern wird lediglich nicht als tropologisch reflektiert.
‚Metaphorische‘ Wendungen werden durch häufigen Gebrauch bekanntlich usualisiert und schließlich lexikalisiert und damit
weniger abhängig vom Kontext. Freilich besteht immer die Möglichkeit der Remetaphorisierung, darauf beruhen z.B. die meisten
Kalauer. Nietzsche bedient sich selbst einer einflussreichen Metapher, um diesen Prozess zu beschreiben. Wahrheiten seien
„Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“ (WL, 1:881). Da sich das
Sprachbewusstsein im Laufe der Zeit verdunkele, heißt es bei Gustav Gerber, werden aus Tropen „eigentliche“ Wörter (Gerber,
1871ff, Bd. 2.1.: 94). Gerade die philosophische Nietzscheforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten dafür sehr interessiert.
Abel (1984:177ff) macht im Gegensatz zu Derrida oder Kofman noch einen Unterschied zwischen Begriff und der Metapher, die
diesem vorgelagert sei. Begriffe seien geronnene Metaphern, deren Herkunft nicht mehr ersichtlich und wohl auch nicht
erwünscht sei. Freilich erzeugt bei Abel das Ästhetische, das in engem Zusammenhang mit der Metapher steht, erst Form und
Sinn. Derrida (1972) will zeigen, dass die Metapher, gleichermaßen Objekt und Instrument der Analyse, für die Philosophie
unumgänglich ist, obwohl die Metapher ein klassisch-metaphysisches Konzept darstelle (261). Derrida (1987) verteidigt und
präzisiert diese Darstellung gegen Ricoeurs Anschuldigung (Ricœur, 1986), er habe die Abnutzung (usure) der Metapher als
Weg zur Begrifflichkeit dargestellt (einschließlich einer höchst aufschlussreichen Passage, in der sich Derrida darüber
beschwert, falsch gelesen und missverstanden worden zu sein!). Die Auseinandersetzung mit Heidegger und der Metaphysik
interessieren mich an dieser Stelle nicht. Ungünstig hat sich die äußerst einflussreiche Derrida-Tradition aber schon deshalb
ausgewirkt, weil sie die konkrete Bedeutung des eigenen Metapherbegriffs nie geprüft hat. Hier liegt auch, obwohl Derrida es
selbst nicht bemerkt hat, der Kern der Auseinandersetzung mit Ricœur.
[269] Claus Zittels Aussage über den Zarathustra ist insofern auf alle publizierten Schriften Nietzsches (also ausgenommen
den fragmentarischen Nachlass) auszuweiten: „Der Symbol- wie der traditionelle Allegoriebegriff sind viel zu grobschlächtig, um
die vielfältigen und transitorischen ästhetischen Bezugsformen des Zarathustra einfangen und ihren Sinn explizieren zu
können.“ (2000:120) Freilich sind Zittels Ausführungen zum Allegorie- und besonders zum Symbolbegiff nicht immer stichhaltig.
Weder Allegorie noch Symbol sind z.B. notwendigerweise immer „auf Sinnganzheit“ (ebd.) gerichtet.
[270] Zwar könne sich auch die Ironie der Metapher bedienen, jedoch läge darin noch nicht die Ironie als solche. Der Tropus
transzendiert sich hier selbst und gerät in die Nähe der gesondert behandelten Sinnfiguren. Als Sinnfigur ist die Allegorie die
Darstellung eines Gedankens in bestimmter Form, „welche ihren Zweck erfüllt, wenn alle Züge des Bildes der Bestimmtheit des
Gedankens im ganzen Umfange entsprechen, wenn also von diesem kein Rest bleibt, der seine Verbildlichung nicht gefunden
[271] Gerhard Kurz merkt mit Recht an, dass die Wertschätzung der Allegorie im Mittelalter (und, so müsste man ergänzen, in
der höfischen Kultur des Barock) auf ein sehr homogenes Publikum hindeute (1982:38). Kofman (21983), die nicht zwischen
Metapher und Allegorie unterscheidet, deutet den metaphorischen Stil unabhängig von dergleichen kulturhistorischen
Erwägungen als aristokratisch, weil er den Herdenmensch ausschließe und damit auch in der Hermeneutik Pathos der Distanz
garantiere. Freilich liest sie die Metapher immer im Gegensatz zum Begriff: wer sich auf die Metapher stütze, müsse in einer
Welt, die sich zum Begriff bekennt, mit dem Risiko rechnen, ähnlich dem tollen Menschen (vgl. FW 3.125, 3:480ff) falsch oder
gar nicht verstanden zu werden.
[272] Gegen die Ironie polemisiert schon MA I.6.372, 2:259f. Laut Behler (1975) ist die Ironie bei Nietzsche als
Dekadenzsymptom eher negativ besetzt. Im Sinne von Verstellung bezeichne sie Ranghöhe: Nietzsche vermeide wegen der
romantischen Anklänge den Ironiebegriff und verwende dafür den Ausdruck der Maske, der mit der antiken dissimulatio
verwandt sei.
[273] Eine gute Einführung in Nietzsches Auffassung von Maske und „Verkleidungs-Formen“ in NW Der Psycholog nimmt das
Wort 3, 6:435f – gerade in ihrer antiwagnerischen Stoßrichtung. Als erste hat wohl Lou Andreas-Salomé die Wichtigkeit von
Maske und Verstellung in jeder Lebensphase Nietzsches erkannt (z.B. 2000:40). Einflussreich war v.a. das Kapitel „Maske“ in
Bertram (1919:157–180). Die Maske wird bereits hier im Zusammenhang mit dem Problem des Schauspielerischen behandelt.
Nietzsche gebe sich gegenüber Wagner als Anti-Schauspieler. Allerdings ist die Maske bei Bertram eher negativ konnotiert, was
ja bei Nietzsche nicht der Fall ist. Obwohl Bertram die Notwendigkeit der Maske seit Menschliches, Allzumenschliches
anerkennt, gebe Nietzsche im Motiv der Maske später „die kluge Maxime preis, die eigentümliche Verkleidungstechnik, die seine
Charakteristiken fremder Seelen und Geister zu seltsam hintergründlichen Bildnissen seiner selbst macht.“ Die wichtigsten
Masken, d.h. Personen, durch deren Porträts Nietzsche eigentlich über sich selbst spreche, seien u.a. Sokrates, Heraklit,
Empedokles, Epikur, Leonardo, Shakespeare, Pascal, Napoléon, Goethe (173), auch seine Herder-Schilderung könne man auf
ihn münzen. Sterne, der Meister der Zweideutigkeit, kennzeichne Nietzsches Stil am besten (177).
[274] JGB 9.270, 5:226. Hätte Nietzsche den Zarathustra unter Pseudonym, etwa unter dem Namen Richard Wagner
veröffentlicht, so heißt es in Ecce Homo , „der Scharfsinn von zwei Jahrtausenden hätte nicht ausgereicht, zu errathen“, dass
es sich um den Verfasser von Menschliches, Allzumenschliches handele (EH Warum ich so klug bin 4. 6:287).
[275] Die Edition der KGW verfährt oft willkürlich bzw. nach keinem klar erkennbaren Prinzip im Umgang mit durchgestrichenen
Seiten oder Wörtern – selbst Druckmanuskripte weisen Korrekturen auf, die der KSA-Kommentar nicht nachweist.
[276] Das Wort ‚Spielraum‘ stammt schon aus dem achtzehnten Jahrhundert und bezeichnete ursprünglich „bes. das
Verhältnis der Weite eines Geschützrohres zu dem angepaßten, die Gleitfähigkeit gewährenden Durchmessers des
Geschosses“ (EWD, S. 1325). Innerhalb des Geschützrohres kann keine Rede von Regeln sein. Das Wort wird schon bald
übertragen im Sinne von Möglichkeit , nicht vorhersagbarer Bewegung verwendet. Als Kompositum zweier Substantive müsste
es aufgrund seines lexikalisierten metaphorischen Gebrauchs wahrscheinlich als exozentrisch klassifiziert werden, bezöge sich
also nicht auf einen Raum, viel weniger noch auf ein ‚Spiel‘. Sehr viel eher ist es als Zusammensetzung von Verb und Substantiv
aufzufassen. Die deutsche Sprache kennt viele ähnlich Fälle, in denen dieses Bildungsprinzip aufgrund des Zusammenfalls mit
der Form des Substantivs verdeckt ist. Hier würde die semantische Beziehung der beiden Konstituenten lokal bestimmt sein –
Raum, in dem etwas spielt/gespielt wird/‚Spiel‘ hat (-raum ist ein häufiges Grundwort für diese Art von Bildungen). Das soll kein
Versuch einer etymologisch-eigentlichen Begriffsbestimmung sein, sondern darlegen, wie der (nicht nur bei Nietzsche
vorherrschende Gebrauch im Sinne von eben nicht regelgeleiteter Bewegung entstanden sein könnte.
[277] Die alternative Lesart Stegmaiers ist ebenfalls bedenkenswert. Nietzsche mache in Jenseits von Gut und Böse sowie
der Genealogie der Moral die abendländische Moral der unbedingten Rechtfertigung als Gegner aus und interpretiere den
redlichen Atheismus der Wissenschaften als Spitze moralischer Entwicklung, die sie sich selbst aufhebe, weil ihre Macht
gebrochen sei, wenn an ihre Unbedingtheit nicht mehr vorbehaltlos geglaubt werde. An ihre Unbedingtheit werde aber in dem
Moment gezweifelt, wo gezeigt wird, dass sie selbst das Werk von Individuen unter ihren jeweiligen Lebensbedingungen war:
Nietzsche interpretiere nun die moralische Ontologie aus den Lebensbedingungen ihrer beiden ersten Lehrer, nämlich Sokrates
(Wissenschaft) und Paulus (Religion). Um gehört zu werden, vergröbere und verkürze er bewusst dasjenige, was spätere
genauere Studien differenzieren mögen. Um konsequent und intellektuell redlich zu bleiben, müsse er nun auch sich selbst als
Urheber der Gegenbewegung aus seinen Lebensbedingungen zu erkennen geben und diesen Zweck verfolge Ecce Homo
(1992:341f). Etwas simplifizierend heißt es bei Ricœur: „Mit Nietzsche vor allem ist eine ‚genealogische‘ Art der Infragestellung
der Philosophen aufgekommen, die sich nicht darauf beschränkt, ihre erklärten Absichten zu registrieren, sondern sie dem
Verdacht aussetzt und ihre Gründe auf ihre Beweggründe und Interessen zurückführt.“ (1986: 254) Diese Art von
Verdachtshermeneutik lehnt Nietzsche freilich, wie gezeigt wurde, für seine eigenen Schriften kategorisch ab.
[279] Das asketische Selbstverständnis war ein Charakterzug der Hermann-Schule und wurde nicht zuletzt an der Pforte
kultiviert. Noch in seinen Vorlesungen am Ende des Jahrhunderts beruft sich Wilamowitz auf Hermann im Zusammenhang mit
der Behauptung, dass der Philologe nur durch Aufopferung seiner eigenen Individualität groß werde und jedenfalls nichts mit
dem Dichter und Propheten gemein habe (nach Poulsen, 1946:64).
[280] Vgl. Nowak (2001:199). Zur Begrifflichkeit und Herkunft der verschiedenen subtilitas vgl. Kapitel II.2 in Gadamer
(31972:290f).
[281] In Zusammenhang mit dem flüssigen Sinn scheint auch das Motiv des Dampfes zu stehen, der als weitere Steigerung
gelten kann. Während der Sinn etwa in der textuellen Exegese flüssig ist, gelten auf der Ebene menschlicher Handlungen und
geschichtlicher Ereignisse, von der Natur ganz zu schweigen, andere Zustände: „[…] vermeintliche Handlungen und deren
vermeintliche Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft
und nur als Dampf wirkt.“ (M 4.307, 3:224f) Der ‚Leser‘ der Weltgeschichte kann schon froh über flüssigen Sinn sein, ihm
muss es darum gehen, den ‚Dampf‘ in diesen relativ handhabbaren Aggregatzustand zu verwandeln. Eine subtile begriffliche
Analyse des flüssigen Sinns aus philosophischer Sicht findet sich bei Stegmaier (1994:70–88).
[282] Der griechische Kommentar der Alexandriner ist das scholion (von scholē, Muße) und steckt im scholastēs als Mann der
Muße und natürlich im Scholaren u.ä. (Raible, 1995:68).
[283] Heute gilt das Interesse am Kommentar v.a. dem Instrument zur Kompensation von Kenntnissen, die durch sozial- und
bildungsgeschichtliche Entwicklungen verlorengegangen sind. Der Kommentator werde zum Souffleur (Roloff, 1993). Die
Dominanz des Sachkommentars verdeckt sein interpretatorisches Potential, was sich freilich wieder ändern mag. Bei Raimar
Zons (1995) finden sich interessante Anregungen zum Verhältnis von Kommentar und Interpretation. Letztere werde als
professionelle, auf Sinnverstehen zielende Lektüre erst seit dem späten achtzehnten Jahrhundert privilegiert, obwohl es nach
wie vor andere Auslegungsformen gab. Der Kommentar hat immer in dem Moment Konjunktur, da Kunstwerke ästhetisch
autonom werden, d.h. aus kultischen (besser: ritualen) Kontexten herausgerissen, sozial und funktional ortlos werden.
[284] Haug plädiert für eine Trennung von neuzeitlicher Hermeneutik und Kommentar, obwohl er Mischformen wie deutenden
Kommentar und kommentierende Interpretation anerkennt (334). Die Neuzeit kenne im Gegensatz zum Mittelalter mit seiner
Vielfalt an Kommentierungsformen fast nur noch den Sachkommentar. Dagegen setzt Gladigow den Kommentar als
Kontrollinstanz zwischen Text und Leser an und bezieht ihn ganz auf die Interpretation: „In der Funktion, Verständnis oder
Applikation eines Textes zu normieren, ist die Interpretation – wie schon Nietzsche gesehen hat – ein Instrument von
Herrschaft.“ (1995:36) Die Berufung auf Nietzsche ist typisch für eine gewisse literaturwissenschaftliche Betriebsblindheit, die,
ihren eigenen Grundüberzeugungen zum Trotz, sich in diesem Fall hartnäckig weigert, historischen Sprachwandel und
individuellen Sprachgebrauch anzuerkennen. Eine hervorragende Übersicht zum Problem des Kommentars im 1993er Heft von
„editio“; dort viele Literaturhinweise. Sehr empfehlenswert auch Assmann/Gladigow (Hrsg., 1995).
[285] Noch in einem Standardwerk zur Genealogie wie Schacht (1994) wird diese Auffassung von Koryphäen wie Schacht
selbst, Arthur C. Danto oder Bernd Magnus vertreten.
[286] Überzeugend etwa die Argumentation, der kurze fiktive Dialog am Ende von GM III. 1 beziehe sich auf die
angesprochene Unverständlichkeit in GM Vorrede 8. Der Ausdruck „in anderen Fällen“ unterscheidet ferner zwischen dem
Zarathustra (dem das Motto entstammt) und der Form des Aphorismus. Wilcox diskutiert die inkonsistente Übersetzung von
Auslegung als wahlweise exegesis oder interpretation: sein eigener Vorschlag, explication, kommt der Sache, nämlich der
Erklärung, zwar in der Tat näher, läuft allerdings Gefahr mit einer explication de texte verwechselt zu werden.
[287] Vgl. N VII 3 S. 32 u. 34f bzw. KGW VIII 5[74]. Die erhaltene Druckfahne (Signatur der Anna-Amalia-Bibliothek Nr. C 4616)
weist freilich viele Korrekturen von Nietzsche und Köselitz auf.
[288] Vgl. die Erstausgabe von Naumann aus dem Jahr 1887. Die KGW reproduziert das Motto auf einer separaten Seite,
jedoch fehlt auch hier der sowohl im Druckmanuskript als auch in der Erstausgabe vorhandene Zusatz, der den
[289] Eine kurze Anmerkung dazu führt bereits der KSA-Kommentar (KSA 14:380). Im Druckmanuskript ist schon GM Vorrede
7 unterschrieben und datiert (ebenfalls auf Juli 1887); der Zusatz muss also kurz danach eingefügt worden sein. GM III. 1 ist
dagegen tatsächlich als Extrablatt zum Druckmanuskript erhalten, und zwar mit einer handschriftlichen Notiz Nietzsches in der
oberen rechten Ecke: „Anfang zur dritten Abhandlung.“ Zum Druckmanuskript gehört auch der Entwurf eines
Inhaltsverzeichnisses von Nietzsches Hand mit den Titeln der einzelnen Abhandlungen und ohne Vermerk des Aphorismus. In
einem Brief an Naumann vom 20. Juli 1887 erbittet sich Nietzsche das Manuskript zurück (III.5:115), am 14. August 1887
verspricht er die dritte Abhandlung, die schon zu drei Vierteln fertig sei (III.5:127f). Am 28. August 1887 schickt Nietzsche GM
III und gleichzeitig zwei lose Blätter, nämlich die Inhaltsangabe sowie einen Nachtrag zur Vorrede (III.5:135f). Ähnliche
Nachforschungen im Goethe- und Schiller-Archiv hat Maudemarie Clark angestellt (vgl. dazu im Anhang zu Wilcox, 1997:611
–614). Das Zarathustra -Motto sei wahrscheinlich von Nietzsche auf die Druckfahnen nachgetragen worden, oder aber
Nietzsche habe nunmehr verlorene Anweisungen an Naumann geschickt. Allerdings kann auch sie angesichts der
unvollständigen Überlieferung nur über einen Nachtrag spekulieren.
[290] Stegmaier geht in seinem Standardwerk aufgrund des KSA-Kommentars davon aus, dass GM III. 1 der fragliche
Aphorismus ist (1994:296), ist aber mit Recht wenig glücklich darüber. Das Zarathustra -Zitat scheint einfach besser zu
Nietzsches Aussagen über die Interpretation (nicht das Lesen!) zu passen.
[291] Baumanns Handbuch der Moral von 1879, eine unterbewertete Quelle aus Nietzsches nachgelassener Bibliothek, hat
nicht nur viel zu Nietzsches Reflexionen über den Willen zur Macht beigetragen, sondern zählt schöne Beispiele dafür auf, wie
kausale Urteile durch Zufall entstehen oder klare Fehlinterpretationen sind. Die falsche Willenstheorie, die das Abendland
geprägt habe, gehe auf die Vermischung stoischen, christlichen und neuplatonischen Gedankenguts zurück (bes. 1879:97ff).
Baumann zieht auf physiologischer Grundlage und mit naturwissenschaftlichem Duktus z.T. dieselbe ethnologische Literatur zu
Rate wie Nietzsche selbst und entfaltet eine philologisch-etymologische Begriffsgeschichte, die in manchem an die Genealogie
der Moral erinnert. Interessant mit Blick auf dieses Werk auch seine Unterscheidung dreier menschlicher Naturen, nämlich des
wirtschaftlichen Menschen, des Muskelkraftmenschen und der geistigen Natur, die ihrerseits in intellektuelle, religiös-
kontemplative und ästhetische Spielarten unterteilt wird.
[292] Der Glaube an die (kantischen) Venunftkategorien wie Zweck, Kausalität, Einheit u. dergl. ist für Nietzsche kein
nebensächliches Problem, sondern die Ursache des Nihilismus schlechthin, da der Wert der Welt durch sie immer an Kategorien
gemessen wurde, welche sich auf eine fingierte Welt bezogen (VIII 11[99]).
[293] Selbst ein ausgezeichneter Nietzschekenner und Philologe wie Ernst Behler meint angesichts von Nietzsches
Verstehensbegriff, dass dieser sich erst vollends manifestiere, „wenn Nietzsche die charakteristischen Auslegungs- und
Interpretationstechniken – das unendliche Interpretieren, den Gebrauch der Masken, die Demaskierung oder die Aufdeckung
von Fehlinterpretationen – auf die großen Themen seines philosophischen Nachdenkens anwendet.“ Nietzsche aber propagiert
keine Auslegungstechniken in diesem Sinne. Seine Auslegungstheorie ist nicht positiv, sondern kritisch, seine Gedanken über
Interpretation reine Diagnose. Was Behler beschreibt, bezieht sich auf das Lesen.
[294] Birus (1984:384) hat darauf hingewiesen, dass aus den zum Wesen des Interpretierens gehörenden Attributen des
Vergewaltigens usw. nicht folgt, dass sich das Interpretieren darin erschöpfe. Das ist zweifellos ein guter, wenn auch etwas
haarspalterischer Gedanke. Denn selbst wenn es außer dem Vergewaltigen noch ‚etwas‘ gäbe, würde dies dadurch entwertet
und wäre mithin gleichgültig.
[295] Nietzsches in diesem Zusammenhang zentraler Begriff vom falschen Urteil bezieht sich augenscheinlich auf alle
dogmatischen, nicht empirisch gewonnenen Meinungen, bis hin zu den „synthetischen Urtheile[n] a priori“ Kants (JGB 1.4,
5:18). Immer wieder werden sie mit Vereinfachung, also Reduktion von (textueller, leiblicher, kosmischer) Komplexität assoziiert
(vgl. z.B. JGB 2.24, 5:41) – eben jenem Aspekt der Zurechtmachung, der als schlechte Philologie und Psychologie (Divination)
zur Grundlage der Interpretation wird (auch JGB 3.59, 5:78) – vgl. z.B.: „Die Deutschen haben sich einen Wagner zurecht
gemacht, den sie verehren können: sie waren noch nie Psychologen, sie sind damit dankbar, dass sie missverstehn.“ (WA 5,
6:21f)
[296] In Thomas Manns hintergründigem Nietzsche-Roman Doktor Faustus ist der Nietzsche prägende und quälende innere
Konflikt von Kunst/Philosophie und Kritik/Philologie in zwei Personen aufgespalten, nämlich in den genialischen Musiker Adrian
Leverkühn und seinen Biographen, den trockenen Philologen Serenus Zeitblom. Als Adrians schwärmerischer Vater beide
Knaben in die Geheimnisse der Natur, ihrer Schrift, Zeichen und Chiffren einführen will, verweigert Serenus sich ihm geistig:
„Schon damals aber, als Knabe, begriff ich sehr deutlich, daß die außerhumane Natur von Grund aus illiterat ist, was in meinen
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Augen eben gerade ihre Unheimlichkeit ausmacht.“ (1952:26). Eine unerhört hellsichtige Stelle, wenn man Thomas Mann hier
nicht zuviel unterstellt. Der Redlichkeit halber sei erwähnt, dass ich meinen vermeintlich exklusiven Fund auch bei Blumenberg
(21989:18) entdecken musste, wo die Stelle zum Trost nicht in Zusammenhang mit Nietzsche gebracht wird.
[297] Wenn Blondel die Deutung bzw. Auslegung als strenge Exegese von der Interpretation als „commentaire plus ou moins
libre, glose surajoutée infidèle au texte“ und die Philologie zudem als Ethos und Garant intellektueller Rechtschaffenheit
bezeichnet (1986:149ff), so ist dieser Unterschied beschrieben. Freilich spielt das Erklären doch eine andere Rolle als Blondel
annimmt, seine Differenzierungen von Erklären und Ausdeuten, von Auslegen und Interpretieren sind nicht wasserfest. Er
verkennt, dass sich die Interpretation bei Nietzsche kaum auf Texte erstreckt und dass der Kommentar eher dem Lesen
zuzuschlagen ist. Wie bei Granier muss man auch bei Blondel darauf bestehen, dass Nietzsche mit dem Interpretieren im
Unterschied zum Lesen überhaupt keinen Ehrgeiz auf Erkenntnis verbindet. Erkenntnis ist für das Interpretieren sekundär, da
es ihr eher um Selbstentfaltung geht.
[298] Denis Thouard, der sich Abel explizit anschließt, hat dennoch stärker als dieser die Relevanz der Philologie betont und
muss sich naturgemäß ebenfalls die Frage stellen, wie sich die Eloge auf die Philologie als „réduction de l'interprétation“ mit dem
Perspektivismus der unendlichen Interpretation vereinen lasse: welchen Platz gibt es hier noch für philologische Genauigkeit und
Langsamkeit? Man müsse unterscheiden zwischen kritischer Anwendung (l'usage critique) der Philologie „pour dissoudre et
dénoncer des interprétations conscientes“, den bewussten Interpretationen einerseits und dem interpretativen und
wertsetzenden Charakter (le statut interprétatif et évaluatif) allen Wissens, aller Dinge, allen Geschehens andererseits. Die
Interpretation werde nicht deshalb als Gegenteil der Wahrheit denunziert, um durch etwas anderes ersetzt zu werden, das
selbst wahr sei, sondern es sei im Gegenteil die Interpretation selbst, die Wahrheit schaffe. Die kritische Philologie „garde toute
sa pertinence au niveau des représentations conscientes“ ohne irgendeinen Objektivismus zu implizieren. Interpretationen seien
zu vernichten insofern sie ungerechtfertigte Idealisierungen darstellen, die das Spiel der Kräfte verdecken, das sie erst
hervorgebracht hat. Sobald die Philologie freilich nach positiven Interpretationen trachte, anstatt diese nur zu dekonstruieren,
werde sie in Nietzsches Augen wieder zur Metaphysik (Thouard, 2000:167). Die Ambiguität der Philologie bestehe darin,
zugleich jene unerbittliche Askese zu sein, die sich auf die Form des Diskurses konzentriert und, gefangen in der Sprache
(langage) und deshalb selbst der metaphysischen Grammatik unterworfen, dieselben Fehler zu wiederholen, die sie anprangert
und bekämpft. Außerdem heißt es: „Le programme de la généalogie sera quelque sorte de défaire l'interprétation usurpatrice à
l'origine des traditions: elle aura largement recours à la critique philologique. Mais elle opposera à la fausse interprétation une
contre-interprétation symptomatologique, une sémiotique enracinée dans le refus d'interpréter.“ (ebd.). Thouards ansonsten
gut belegte Argumentation leidet an der Vermischung der Auslegungsdomänen sowie daran, dass er die Textherstellung als
Zentralpunkt von Nietzsches Philologie nicht erkennt.
[299] Schon in Menschliches, Allzumenschliches wird mit dem reinen Pragmatismus gebrochen. Die freien Geister, und das
macht sie den gebundenen Geistern suspekt, binden ihren Begriff der Wahrheit eben nicht an den persönlichen Nutzen (MA
I.2.38, 2:61; MA I.5.227, 2:191).
[300] So kann von Quellenkenntnis keine Rede sein; zum Teil sind auch Zweifel an Clarks Deutschkenntnissen angebracht. Ihre
Erklärung des Perspektivismus wird von einer naiven Auffassung der Metapher als Analogie getrübt.
[301] Diese Praxis muss angeprangert werden, denn Clark behauptet nicht nur, den deutschen Text benutzt zu haben,
sondern sogar die „excellent translations“ an einigen Stellen selbst korrigiert zu haben (1990:xii). Ihre Entscheidung, ganz auf
die Einbeziehung des (bekanntlich nicht in Gänze übersetzten) Nachlasses zu verzichten, erscheint nun in neuem Licht.
[302] „Le virtuose imprime à l'œuvre son style propre, c'est-à-dire sa manière inimitable de la comprendre et de l'exécuter.“
(Granier, 1966:315). Auch dem mit Quellen arbeitenden Historiker wird von Granier zugestanden „une initiative créatrice de la
part de celui qui interprète, initiative créatrice qui n'est pas le signe d'une attention distraite, de la désinvolture ou du
dilettantisme, mais est requise par la nature même du ‚texte‘.“ (ebd.)
[303] In den frühen Aufzeichnungen verwendet Nietzsche auch das optische Gleichnis vom Betrachten eines Gemäldes. Es sei
dem ästhetischen Genuss abträglich, wenn das Gemälde nur noch aus allernächster Nähe betrachtet werde (vgl. BAW Bd.
5:270ff).
[304] „wenn man hier unter den ‚Tyrannen‘ unerbittliche und furchtbare Instinkte begreift, die das Maximum von Autorität und
Zucht gegen sich herausfordern – schönster Typus Julius Cäsar […]“ (GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 38, 6:140).
[305] Lob der Wissenschaftlichkeit verbindet sich häufig mit dem Lob ihrer soldatischen Tugend (FW 4.293, 3:533). Im
Zarathustra -Motto geht es natürlich um „Weisheit“, nicht um „Wahrheit“: Weisheit ist ein weniger zweideutiger Begriff,
gewissermaßen Erkenntnis, die ihren fragwürdigen Charakter reflektiert hat bzw. Wahrheit, die sich Gedanken über ihren Wert
gemacht hat.
[307] „Das Ganze der organischen Welt ist die Aneinanderfädelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich“ –
„Unsere Welt als Schein, Irrthum – aber wie ist Schein und Irrthum möglich? (Wahrheit bezeichnet nicht einen Gegensatz
zum Irrthum, sondern die Stellung gewisser Irrthümer zu anderen Irrthümern, etwa daß sie älter, tiefer einverleibt sind, daß wir
ohne sie nicht zu leben wissen und dergleichen.)“ (VII 34[247])
[308] „Es ist, wie man erräth, nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung
überlasse ich den Erkenntnisstheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik) hängen geblieben
sind. Es ist erst recht nicht der Gegensatz von ‚Ding an sich‘ und Erscheinung: denn wir ‚erkennen‘ bei weitem nicht genug, um
auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die ‚Wahrheit‘: wir ‚wissen‘ (oder
glauben oder bilden uns ein) gerade so viel, als es im Interesse der Menschen-Heerde, der Gattung, nützlich sein mag: und
selbst, was hier ‚Nützlichkeit‘ genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene
verhängnissvollste Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehn.“ (FW 5.354, 3:593)
[309] Wenn etwa Leiter (1994) die Nähe Nietzsches zu naturwissenschaftlichem Denken und Empirismus hervorhebt, die beide
mit reinem Perspektivismus nicht kompatibel seien, so ist dies zwar korrekt beobachtet, geht aber am Kern vorbei. Denn als
philologische Theorie ist der Empirismus durchaus mit dem Perspektivismus vereinbar. Nietzsches philologisches Denken weist
jene Parallelen zur Naturwissenschaft auf, die Leiter und andere ausgemacht haben, nicht umgekehrt. Der Zwischenschritt ist
allerdings entscheidend für das Verständnis. So muss Leiter zwar konzedieren, dass für Nietzsche alles interpretationsabhängig
und interpretationsbedürftig zu sein scheint, versucht aber, den eigenen Standpunkt zu retten, indem er behauptet, dass
Interpretation nicht negativ gemeint und mit Lesen identisch sei. Mit Recht betont er freilich, dass in der optischen Metaphorik
die Möglichkeit liege, ein Objekt besser als andere zu sehen. Je mehr Perspektiven ich benutze, desto besser nehme ich ein
Objekt wahr, auch wenn ich es nie vollständig sehen kann. Nietzsches Erkenntnistheorie lasse eine bescheidene Objektivität zu,
die sich der Nichtexistenz uninterpretierter Fakten bewusst bleibt und in welcher alles Wissen menschlich, allzumenschlich ist –
aber es sei letztlich doch Wissen und nicht einfach Meinen oder Glauben. Philosophisch sei dies vielleicht nicht sehr originell,
aber Nietzsches Ehrgeiz habe ohnehin eher auf anderen Gebieten gelegen (womit Leiter am Ende Recht haben könnte – einige
philosophische Einsichten Nietzsches erinnern an die staunenden Einsichten des Autodidakten in längst Bekanntes, das freilich
in einer Weise formuliert wurde, die sie wieder originell erschienen lassen).
[310] Kant machte aus der Realität einen Schein, der nicht mehr widerlegbar war und rettete die wahre Welt und damit das alte
Ideal und dessen Folgen für moralische Imperative: eine erlogene Welt kann einfach (dogmatisch) behauptet werden (AC 10,
6:176f).
[311] Wichtig in diesem Zusammenhang Clarks Deutung von „Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“ (GD, 6:80f); vgl.
Clark (1990:109–117). Es handele sich um Nietzsches Selbstdeutung der eigenen Entwicklung. Nietzsche lehne es ab, die
empirische, wissenschaftliche Welt als illusorische Scheinwelt abzutun, weil damit ja immer noch das Ideal einer wahren Welt
gewahrt bleibe. Im Vergleich zum Frühwerk negiere Nietzsche nicht mehr einfach nur das Ding an sich bei gleichzeitiger
Annahme einer bloßen illusorischen Scheinwelt; schließlich beruhe die Ablehnung von Wahrheit und Verfälschungshypothese
auf der Annahme eines Ding an sich. Freilich würde ich diese Einsicht Nietzsches früher ansetzen als Clark.
[312] Victor Brochards Studie des griechischen Skeptizismus weist ausdrücklich auf die Methode der Skeptiker hin,
Sinneseindrücke zu vergleichen, und dadurch zu auf Beobachtung und Experiment gestützten Wahrscheinlichkeitsschlüssen zu
kommen, die u.a. auch als Handlungsgrundlage dienen. Der Skeptiker halte sich allein an die Oberfläche der Dinge, die Welt der
Erscheinungen (apparances) und folge dem Impuls seiner Leidenschaften genauso wie er seinen Verstand gebraucht. „Le
scepticisme consiste à comparer et à opposer entre elles, de toutes les manières possibles, les choses que les sens perçoivent,
et celles que l'intelligence conçoit. Trouvant que les raisons ainsi opposées ont un poids égal (ισοσθηενεια) , le sceptique est
conduit à la suspension du jugement (εποχη) et à l'ataraxie. Cette suspension du jugement ne doit pas s'entendre en un sens
trop large. Lorsqu'il y est contraint par une sensation qu'il subit, le sceptique ne s'interdit pas d'affirmer. S'il a chaud ou froid, il
ne dira pas: je crois que je n'ai pas chaud ou froid. Il ne doute jamais des phénomènes. Mais s'il s'agit d'une de ces choses
cachées (αβηλα) que les sciences prétendent connaître, il doute toujours. […] Le sceptique a un critérium, non pour
[313] Eine frühe Stelle zeigt, wie der Erkenntnistrieb mit der intellektuellen Redlichkeit und dem gewohnheitsmäßigen Streben
nach Gerechtigkeit zusammenhängt, das ursprünglich aus Nützlichkeit entstand (weil es Ehre brachte), nämlich in VM 26,
2:389ff. Das Kennzeichen des Priesters im Spätwerk ist nicht zuletzt die Ignoranz der Wissenschaft und die Bestimmung der
Begriffe wahr und unwahr (AC 12, 6:179). Sein Glaubensbedürfnis hängt eng mit nur einer einzigen Perspektive zusammen,
die eine strenge Optik und damit auch Zucht und Hingabe erfordert: dann dürfe er aber über die Begriffe wahr und unwahr
nicht verfügen – eben weil ihm die Einsicht in andere Perspektiven abgeht. Verhängnisvoll werden die Einseitigen, die
Monoperspektivisten dann, wenn sie als Fanatiker ihre Optik anderen aufzwingen wollen; von Savonarola bis Luther, von
Robespierre bis Saint-Simon gab es viele Beispiele, die am Ende Gründen nicht mehr zugängig waren. Überzeugungen sind
unter Umständen dementsprechend „gefährlichere Feinde der Wahrheit“ als bewusste Lügen, zwischen Überzeugung und
Lüge bestehe kein Unterschied. Über Wahr- und Unwahrheit könne der Mensch in manchen (!!) Fragen gar nicht entscheiden,
bisweilen sind eben die Grenzen der Vernunft erreicht, etwa in Fragen der Moral (AC 55.6, 237ff). „Wir freien Geister“, so
Nietzsche dagegen, seien selbst schon die Umwertung aller Werte in der Kriegserklärung „an alle alten Begriffe von ‚wahr‘ und
‚unwahr‘.“ Nietzsche lobt die „vorsichtige misstrauische Art“ der wissenschaftlichen Menschen, die deshalb unter Verachtung
gelitten haben. Der Wissenschaftler sei „Tschandala“ gewesen: „jedes ‚du sollst‘ war bisher gegen uns (!) gerichtet“ (AC 13,
6:179f).
[314] Beweise, dass ‚wahr‘ und ‚falsch‘ im Zweifelsfall nach wie vor an den Nutzen für das Leben gebunden sind, finden sich im
Spätwerk immer wieder (z.B. AC 9, 6:175f)
[315] Mit Recht wirft Sommer Nietzsche mangelnde philologische Skepsis gegen die von ihm benutzte fragwürdige Ausgabe des
Gesetzbuch des Manu vor (2000:562ff). Freilich geht es Nietzsche eindeutig darum, empirische Erfahrung gegen dogmatische
Behauptung auszuspielen: Manu wird in diesem Sinne funktionalisiert. An anderen Stellen finden wir auch eine Kritik des Manu,
nicht zuletzt weil hier ebenfalls der priesterliche Typus als höchster Typus propagiert wird (VIII 15[45]). Man ahnt, wie schwierig
das Verhältnis von publiziertem Text und Nachlass sein kann: bei den Nachlassfragmenten wird man den Kontext nie kennen,
den Nietzsche ihnen zugedacht hätte.
[316] Seit Wissenschaft sich von der Kirche emanzipiert hat, will sie mehr als nur Mittel sein (FW 3.123, 3:479f). Nietzsches
modern anmutende Verteidigung heuristischer Hypothesenbildung in der Forschung ist aber bereits ironisch gebrochen. Denn
dem Misstrauen gegenüber festen Überzeugungen, das sich im Vorläufigkeitscharakter der Hypothesen ausspricht, liegt ja
selbst eine sehr feste Überzeugung zugrunde. Wissenschaft ist nie voraussetzungslos. Grundlegender als die Frage nach der
Wahrheit ist die Frage nach dem Sinn der Wahrheitssuche überhaupt. Sie ist eng mit der Frage nach dem Sinn der Moral
verwandt (vg-L FW 5.344, 3:574ff).
[317] Moral gibt dem Leiden einen Sinn, weil der Mensch immer einen Sinn nötig hat. Er kann sich die Welt nicht anders als
intentional, d.h. sinngerichtet vorstellen – möglicherweise nur aufgrund der grammatischen Verhältnisse. Nehamas bemerkt
ganz richtig die Verbindung von Moral und Interpretation, die eben darin besteht, ein bestimmtes Phänomen als Handlung zu
verstehen und sie einem Agens zuzuschreiben. Nietzsche versuche in diesem Sinne, Interpretation zu vermeiden, indem er das
Leiden eben nicht intentional auslege, sondern physiologische und soziale Gründe zu finden versuche (1994:279f).
[318] Mit großer Vorsicht zu genießen sind die Arbeiten Alan D. Schrifts, die vor allem im englischen Sprachraum bis heute
einflussreich bleiben. Schrift (1988) behauptete, Nietzsche kritisiere die „Kunst des richtigen Lesens“ im (oben zitierten)
Aphorismus 270 von Menschliches, Allzumenschliches! Sie werde von Nietzsche angeblich abgelehnt „insofar as it fails to
account for the rich ambiguity and multiplicity of textual meanings.“ (87) Vom Wunsch nach einfachem Textverständnis
verblendet, verkenne der Philologe den „doppelten Sinn“. Das führe Nietzsche zu einer neuen Perspektive auf die Philologie, in
der die Kunst des richtigen Lesens zur Kunst des guten Lesens transformiert werde. Die Kunst des guten Lesens setze
Nietzsche gleichzeitig dem scheinbaren Relativismus des Perspektivismus entgegen. Gutes Lesen heiße auch, eine gewisse
Autonomie des Textes zu respektieren und offen zu bleiben „to that which the text presents“ (87f). Schrift vermischt hier
richtige und falsche Beobachtung, praktiziert jedenfalls weder die Kunst des guten noch des richtigen Lesens. Der doppelte Sinn
ist, wie ich gezeigt habe, durchaus negativ gemeint und bezieht sich auf die Allegorese. Schrifts Fehler über diese Stelle ist auch
andernorts entdeckt worden (Seigfried, 1988:100). Im Aphorismus 84 der Morgenröthe , der die schlechte Philologie des
Christentums anprangert und Redlichkeit gegenüber dem Text fordert, d.h. eine strikte Trennung von Interpretation und Text,
[319] Zum berühmten Satz aus der Geburt der Tragödie , wonach Dasein und Welt nur als ästhetisches Phänomen
gerechtfertigt seien, hat Barbara von Reibnitz einen bedenkenswerten Hinweis auf die wörtliche Bedeutung von aisthētikon
phainomenon gegeben: die ‚anschauende Erscheinung‘ sei der Gegensatz des Gottesbegriffes, die Lust am Schein als Kunst ist
allein imstande, was Theologie und Philosophie sich lediglich anmaßten, nämlich eine Kosmozidee zu schaffen. Gleichzeitig könne
sich Nietzsche auch gegen Schopenhauer wenden, da in der Lösung der Daseinsproblematik, die auch für diesen in der Kunst
liegt, nicht Weltverneinung und -überwindung angelegt sei, sondern das ganze Gegenteil (1992:169f).
[320] Schon nach traditionellem Verständnis müsste sich das Etikett des Positivismus für Nietzsche verbieten. Zwar gibt sich
Menschliches, Allzumenschliches überaus metaphysikfeindlich und wissenschaftsfreundlich, aber der philosophische
Hintergrund ist eher skeptisch-nominalistisch als positivistisch im klassischen Verständnis; immer wieder wird an intellektuelle
Kühle und Beherrschtheit appelliert. Wert legt Nietzsche auf Entlarvungen alltäglicher, oft nicht mehr bemerkter informeller
Fehlschlüsse. Die Bedeutung der Gewohnheit und Gewöhnung, in Sitte wie in Wissenschaft ist von zentraler Bedeutung: eine
dem Positivismus fremde Vorstellung. Auch wenn die Wissenschaft mit falschen Größen operiere, so seien diese doch
wenigstens konstant und lieferten deshalb relativ sichere, d.h. auf strengem Wege erlangte Resultate, auf die sich aufbauen
lasse (z.B. MA 1.19, 2.40f). Es ist immerhin auch der Begriff der ‚Strenge‘, die die Phänomenologie dem Positivismus
entgegensetzen wird, ohne bereit zu sein, auf bestimmte Rationalitätsansprüche zu verzichten.
[321] Trotz Montinaris Vorliebe für sie kommen die mittleren Schriften Nietzsches erst in allerjüngster Zeit wieder zu ihrem
Recht, so z.B. bei Brusotti (1997) oder Vivarelli (1998).
[322] Wissenschaft mache gottgleich, weil damit Priestern und Göttern ein Ende gesetzt werde, Wissenschaft sei im biblischen
Mythos vom Baum der Erkenntnis die Sünde an sich, die Erbsünde, das schlechthin Verbotene. Die Priester erfinden sogar den
Krieg, den Feind aller Wissenschaft, um sie desto besser bekämpfen zu können (AC 48, 6:226f). Nur in glücklichen Zeiten
gedeihe die Wissenschaft als „der gesunde Begriff von Ursache und Wirkung“ (AC 49, 6:228).
[323] „Der achte April 1777, wo F.A. Wolf für sich den Namen stud.philol. erfand, ist der Geburtstag der Philologie.“ (IV 3[2]). Es
ist der Tag, an dem die Ausdifferenzierung der Philologie zu einem selbständigen, insbesondere von der theologischen Fakultät
unabhängigen Fach beginnt. Dazu z.B. Wegner (1951:passim).
[324] „(Ausgreifende) Lektüre verbreitete sich in allen gelehrten Disziplinen.“ Außer Wolf (21859) habe ich die übersetzte und
annotierte Ausgabe von Grafton, Most und Zetzel (1985) benutzt.
3
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[325] Vgl. zu dieser Leistung der Alexandriner auch Reynolds/Wilson (31991).
[326] So Schlegel in seiner Abhandlung „Vom Wesen der Kritik“ aus der Lessing-Studie des Jahres 1804 (Schlegel, 1967ff, Bd.
1.3:55). Es handelt sich um einen verbreiteten Topos der zeitgenössischen Philologie. Die Stärke der Alexandriner, schreibt u.a.
Bernhardy in einem für Nietzsche wichtigen Buch (s.u.), bestand „in mühsamer Kunst und seltener Gelehrsamkeit“, mit deren
Hilfe sie es vermochten, die griechischen Mythen und Fabeln zu bewahren und weiterzutragen (1832:100).
[327] Nietzsche spielt auf das enge Wechselverhältnisses von Kritik und Kunst in der Renaissance an. Gombrich hat die
wissenschaftliche Kritik in der Renaissance als ‚Sauerteig‘ bezeichnet, der dazu beitrug, ihre Kunst auf die Höhe zu heben. Zu
Nietzsches hoher Wertschätzung der sog. Poeten-Philologen der Renaissance vgl. auch Campioni (2001:141ff).
[328] Brief an Burckhardt vom 6. Januar 1889 (III.5:577ff); der Ton ist allerdings eher sarkastisch.
[329] Vgl. ferner die Briefe an Ernst Wilhelm Fritzsch vom 20. August 1887 (III.5:131) und Carl Riedel vom 20. Oktober 1887
(III.5:173f), gute Beispiele dafür, dass Nietzsche noch immer nicht aufgegeben hat, mit dem ominösen „Hymnus an das Leben“
auch als Musiker, also Künstler zu reüssieren, und zwar völlig unabhängig von seinen sonstigen intellektuellen Tätigkeiten in jener
Periode. Sein vernichtendes Urteil über die Möglichkeit von Kunst in der Gegenwart beruht nicht zuletzt auf einem persönlichen
Trauma.
[330] Vgl. etwa FW 4.307, 3:544f zur Wichtigkeit der Kritik auch an der eigenen Person, und zwar selbst dann, wenn sich
etwas Lebensbejahendes regt. Die ständige Spannung zwischen Schaffen und Kontrolle durch Kritik muss also vom Individuum
ausgehalten werden, daran erst wächst es.
[331] Ähnlich Clark (1990:198f): Nietzsche lehne zwar den blinden Glauben an die Wahrheit ab, nicht aber die Verpflichtung zur
Wahrheitssuche; auf diese Weise könnten neue Ideale gefunden werden, die das asketische Ideal erst überwinden, wobei
Wissenschaft das Ideal nicht selbst aufstellt. Nur so glaubt Clark, den Wahrheitstrieb aus der Determination durch die
unbewusste Triebstruktur zu befreien (vgl. 194f). Letztlich geht es ihr darum, die Wahrheit im Sinne eines
naturwissenschaftlichen Methodenideals zu retten, was mit Nietzsches philologischen Denkstrukturen freilich nicht vereinbar
ist, da der Sinn und damit die Wahrheit für den Philologen flüssig ist. Noch nicht ausgeschöpft sind die Rückverbindungen zu
Gustav Gerbers Kunstauffassungen, die besonders den jungen Nietzsche prägten. Der erste Satz in Die Sprache als Kunst
lautet: „Die Werke der Kunst bringen uns Freude, gleichsam eine Bejahung unserer Natur. Wir aber suchen die Freude, wie das
Leben selbst, denn diese ist eben nichts anderes, als der Genuss des Lebens.“ (Gerber, 1871ff, Bd. 1:1) Diese Bejahung des
Lebens durch den Spieltrieb der Kunst sei in der menschlichen Natur angelegt; seine Unterdrückung führt gleich der
Unterdrückung des kindlichen Bewegungsdranges zu „Pein und Qual“ (4). Der Schmerz wird somit zum „Stachel“ und
Ursprung des Kunstwerks; er entsteht beim Menschen – im Gegensatz zum Tier – aus dem Kampf des bewussten Ich mit
seiner Natur, aus dem Dilemma, Natur und doch nicht Natur zu sein (15).
[332] Der positive Begriff des Philosophen hat wenig mit dem Universitätsphilosophen zu tun, wenigstens hier bleibt Nietzsche
Schopenhauer treu. Vielmehr bezeichnet er den Gesetzgeber und Schaffer neuer Werte und nicht zuletzt jemanden, der „Vieles
und vielerorts gewesen“ ist, der also Perspektiven austauschen kann: „Ich musste eine Zeit lang auch Gelehrter sein.“ (EH
Die Unzeitgemässen 3, 6:320f). Schon früher hieß es: „Wir sind etwas Anderes als Gelehrte: obwohl es nicht zu umgehn ist,
dass wir auch, unter Anderem, gelehrt sind.“ (FW 5.381, 3:633ff). Seit seiner Wiederentdeckung des methodischen Potentials
der Philologie unterscheidet Nietzsche die Angestellten der Wissenschaft von jenen Philosophen, um derentwillen die
Wissenschaft überhaupt existiert. Letztere müssen unter eigenen Bedingungen erkennen; ihre Erkenntnisse lassen sich von
der Person nicht wie bei jenen anderen, den bloßen Werkzeugen, trennen (z.B. WS 171, 2:624ff).
[333] Die Selbstidentifikation mit Hamlet spielt für Nietzsches eine wichtige Rolle. Hamlet zaudert bei Nietzsche nicht, wie es die
Tradition will, aus einem Übermaß an Reflexion, sondern aus einem Übermaß an Einsicht und Erkenntnis. Hamlet ist Ephektiker
und deshalb ‚Philologe‘: in einem übermütigen Brief an die Schwester vom 11. November 1885 meldet sich Nietzsche etwa als
„der hamletische Maulwurf“!
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CAPES
Type: Sekundärliteratur
10.1515/NO_W018442_0007
5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
Christian Benne
Page: 0238
Nietzsche ist als Philologe nicht nur in der Nietzscheforschung oder der Philosophie, sondern auch in den philologischen
Disziplinen selbst vernachlässigt worden. Ihnen muss man daraus gewiss einen gravierenderen Vorwurf machen als jenen,
hätten sie doch eher als andere Fächer in der Lage sein sollen, die Bedeutung der Philologie für Nietzsche zu ermessen. Aus der
klassischen Philologie ist Nietzsche bekanntlich früh verbannt und erst spät für sie wiederentdeckt worden. Methodisches Ideal
hätte er hier freilich auch dann nicht werden können, wenn man die wahre Bedeutung der historisch-kritischen Schule bei ihm
wahrgenommen hätte, denn in ihrer Anwendung auf dem Gebiet der Philologie unterschied er sich kaum von seinen
Zeitgenossen. Die folgenden Kapitel gehen der Frage nach, warum Nietzsche dergestalt verkannt worden ist und an welchem
geistesgeschichtlichen Ort er künftig aufgesucht werden sollte.
Den philologischen Disziplinen insgesamt gilt Nietzsche heute entweder, französisch inspiriert, als radikaler Vorläufer der
Dekonstruktion – in diesem Fall wird fleißig und unzusammenhängend aus dem Spätwerk, dem Nachlass der achtziger Jahre
bzw. aus zweiter Hand zitiert [334]. Oder er tritt als Essayist des Apollinischen und Dionysischen auf, als Tragödientheoretiker
und Wiederbeleber der Mythenforschung sowie als ästhetisierender Verfechter der Kunstreligion und Schlüsselfigur der
deutschen Geistesgeschichte. Diese, vor allem in der deutschen Literaturwissenschaft vorherrschende Tradition, bevorzugt,
nahezu unter Ausschluss der anderen Schriften, die Tragödienschrift; allenfalls der vermeintliche Kritiker des Historismus, also
der Verfasser der zweiten Unzeitgemässen , tritt noch in Erscheinung [335]. In Anbetracht der hier aufgeworfenen Fragen
interessiert
Page: 0239
zunächst die Auseinandersetzung zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion [336], da sie im Kern eine Auseinandersetzung
über Nietzsches Interpretationstheorie ist. Es soll nicht darum gehen, die allzu oft dargestellten Positionen zu rekapitulieren,
sondern zu begründen, warum sich Nietzsche weder als Protohermeneutiker noch als Säulenheiliger der Dekonstruktion eignet
[337]. Im Anschluss daran werden Vor- und Nachgeschichte des philologischen Nietzsche nicht zuletzt auch deshalb
nachvollzogen, um den Kontext und die Folgen der verfochtenen Thesen schärfer fassen zu können.
Page: 0240
Auffassung hermeneutischer Grundprobleme und seinem Fehlen in hermeneutischer Theoriebildung [339]. Unabhängig von Figl:
Gerade von Gadamer hätte man doch erwarten können, einen Autor zu berücksichtigen, dessen Gedankenwelt so offensichtlich
um das Problem der Auslegung und Interpretation kreiste. Man könnte versucht sein, dies mit dem Abgrenzungsversuch
gegenüber einer Verdachtshermeneutik zu erklären, die der Interpretation zwar Allgegenwart zugesteht – das wäre nur im
Sinne der universalen Hermeneutik –, sie aber zugleich mit Attributen versieht, in denen sich die entsprechenden Philosophen
nicht gern beschrieben sehen. Interpretation als Vergewaltigung oder eine Hermeneutik des Verdachts, welche die Offenheit des
Textes betont und Horizontverschmelzung ablehnt, kann in Gadamers Verständnis eigentlich keine Hermeneutik sein [340].
Für Nietzsche ließ sich indes die Gegnerschaft zu einer auf bloßer Allegorese beruhenden Verdachtshermeneutik nachweisen.
Gadamer kann die entsprechende Rhetorik Nietzsches nicht entgangen sein. Ein fundamentaler Unterschied ergibt sich aber,
wenn man Gadamer konsequent auf seinen fiktiven, möglicherweise nie erreichbaren Punkt der optimalen
Horizontverschmelzung festlegt, auch wenn der laut Gadamer in der Praxis natürlich nicht auftrete. Nietzsche strebt im
Umgang mit Texten und anderen Phänomenen selbst in der Theorie primär gar keine ‚Interpretation‘ oder
Horizontverschmelzung an, sondern allenfalls die Verbindung von Interpretation mit Kritik. Er entwirft, wenn es um die
Auslegung schriftlicher Texte geht, ein Modell des Lesens, das dem flüssigen Sinn gerecht werden soll. Das Modell der
Horizontverschmelzung geht dagegen noch von zwei statischen sensus bzw. intentiones aus, die sich verschmelzen lassen. Bei
zwei Horizonten, die sich in ständiger Bewegung befinden, wäre die Analogie der Verschmelzung sinnlos. Es ist letztlich der
Perspektivismus, der die größte Herausforderung für eine Universalhermeneutik darstellt und der wohl der wichtigste Grund für
Gadamers Distanz zu Nietzsche war (vgl. auch Hofmann, 1994:278).
Man könnte einwenden, dass eben der Prozess der Horizontverschmelzung die Tatsache des flüssigen Sinns erfasse. Dagegen
spricht aber der Umstand, dass Gadamer anders als Nietzsche Lesen und Interpretieren nicht als jeweils rezeptivpassive und
schöpferisch-aktive Verhaltensweisen unterschied, sondern als weitgehend synonym auffasste. Lesen enthalte immer schon
eine Auslegung, daher stamme die Ambiguität des Wortes Interpretation, das ebenso auf künstlerische
Page: 0241
Reproduktion, wie z.B. die musikalische, angewandt werde. Zwischen reproduzierender Auslegung wie in der musikalischen
Darbietung und der philologischen Lektüre, so eine Hauptthese in Wahrheit und Methode , bestehe kein prinzipieller
Unterschied. Allerdings weiß jeder geübte Leser, dass Lesen prinzipiell selbstverständlich anders funktioniert als Vom-Blatt-
Spielen. Allein normales, flüchtiges, Sinn erfassendes Lesen ist schon auf der Ebene der Neurophysiologie ein äußerst
komplexes Ineinander perzeptiver und konstruktiver Prozesse (optisch-lexikalisch-syntaktisch), die, das ist entscheidend,
simultan verlaufen und durch Rückkopplung (‚hermeneutische Zirkel‘ jeglicher Art) gekennzeichnet sind. Professionelles Lesen
ist kein linearer Prozess, sondern arbeitet mit Stellenvergleich, Vor- und Rückspringen, Anstreichungen usf. Die Musik, die so
gespielt wird wie Philologen lesen, ist bisher glücklicherweise nicht zur Aufführung gelangt. Noten ‚lesen‘ und vom Blatt spielen
sind ‚Interpretation‘ in Nietzsches Sinn höchstens insofern, als der Musiker während der Aufführung nicht zurückgehen und
seine ‚Perspektive‘ ändern kann; er ist dem zeitlichen Verlauf unterworfen. Mit Abschluss des Konzerts ist das Stück
‚interpretiert‘, denn es hat eine einmalige Form angenommen. Das Schöpferische dieser Interpretation zeigt sich in der
affektiven Ausgestaltung des Spielens über einem bestehenden Text. Der mehrfach erwähnte Brief Nietzsches an Fuchs bezieht
sich in seiner Erläuterung über Interpretation genau aus diesem Grund auf die Musik.
Das philologische Lesen weist laut Gadamer wie die Interpretation ein Moment der Applikation auf (vgl. zu den folgenden
Ausführungen Kap. II.2 in Gadamer, 31972). Sie bilde das Band, das die je nach Fach verschiedenen Hermeneutiken einen soll.
Die Verschmelzung von subtilitas intelligendi und subtilitas explicandi zum Verstehen und Auslegen in der romantischen
Hermeneutik habe zur Herausdrängung der Applikation (die erbauliche Anwendung in der Predigt, das Urteil des Juristen) aus
der allgemeinen Verstehenslehre geführt, die sich seitdem auf das Enträtseln und Rekonstruieren des Anderen beschränkte. Da
im Verstehen aber angeblich immer „so etwas wie eine Anwendung“ enthalten sei, weil der Interpret den Text auf seine
gegenwärtige Situation beziehe, müsse die Applikation in die Vorstellung eines einheitlichen Vorgangs des Verstehens
einbezogen werden. Mithilfe dieser klassischen Petitio principii will Gadamer die geisteswissenschaftliche Hermeneutik von der
juristischen und theologischen her neu bestimmen (S. 294), und in der Tat: wenn Theologie und Jurisprudenz, zumindest
methodisch, die Leitwissenschaften etwa für Philologie und Historiographie abgäben, dann wäre die ‚Interpretation‘ auch ihre
Leitoperation.
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in seiner Schleiermacher-Rezeption nicht nur, wie inzwischen vielfach belegt, die grammatische Auslegung als materiale
Grundlage der psychologischen Auslegung (vgl. schon Szondi, 1975:135,166) [341], sondern privilegierte vor allem die
Hermeneutik auf Kosten der Kritik. Erklärungs- und Auslegungskunst werden bei ihm eins mit Hermeneutik – und deshalb mit
Interpretation. Gadamer war Katalysator einer fatalen Begriffsverwirrung, in der die Hermeneutik als Theorie des Verstehens mit
der Hermeneutik als technē gleichgesetz bzw. diese in jener aufgelöst wurde.
Wenn die Theorie der Hermeneutik selbst keine Kritik mehr beinhaltet, dann ist freilich nicht nur der Beliebigkeit Tür und Tor
geöffnet. Nun hat, und das ist der entscheidende Beitrag Gadamers gewesen, die Philosophie wieder ein Wort mitzureden. Das
eigentliche Ziel der philosophischen Hermeneutik, das bei Gadamer im Vergleich zu anderen Hermeneutikern nur besonders
deutlich zu Tage tritt, liegt in der Rückgewinnung der Autorität der Philosophie als wissenschaftlicher Disziplin und Krone der
Schöpfung, die mit dem ungeheuren Erfolg der Naturwissenschaften und dem Anspruch der anderen Einzeldisziplinen, ihre
Methodik nun selbst zu reflektieren, in Bedrängnis gekommen war. Wenn man nachweisen konnte, dass es ein allgemeines, den
Disziplinen vorgelagertes Verstehen gibt, dessen Parameter auch das spezielle Verstehen determinieren, dann hätte die
Philosophie wieder einen genuinen Kern und bildete wie eh und je nach idealistischer Vorstellung die Krone im Baum der
Erkenntnis.
Man kann diese Strategie bei Gadamer bis ins Detail verfolgen, gerade in seiner Konfrontation mit Historikern und Philologen,
den ärgsten Konkurrenten der philosophischen Hermeneutik in der Auslegungstheorie. Der Historiker interpretiere Texte auf
etwas hin, das nicht in der „gemeinten Sinnrichtung“ (31972:319) zu liegen brauche, in der Texte also Dokumente sind, die erst
durch
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den Vergleich mit anderen Daten und Quellen ihre wahre Bedeutung erlangen. Philologen seien schon so weit Historiker
geworden, dass ihnen die Texte nicht mehr Vorbild seien, diese also nicht mehr um ihrer selbst willen gelesen werden. Philologie
sei deshalb Hilfsdisziplin der Historie geworden: „Das zeigte sich etwa an der klassischen Philologie, als sie sich selber
Altertumswissenschaft zu nennen begann, so bei Wilamowitz.“ (320).
Philologie wird hier also bereits auf das Verstehen reduziert. Die Philologie heißt freilich mitnichten erst seit Wilamowitz
Altertumswissenschaft, sondern schon seit F.A. Wolf, bei dem das Verhältnis zwischen Klassizismus und Historismus
komplizierter ist. Gadamer verschweigt genau die wissenschaftliche und methodische Tradition, der u.a. Nietzsche angehört.
Auf diese Weise kann nun aber der Philosoph als Theoretiker der Hermeneutik den Retter der Philologie aus der tödlichen
Umarmung der Historiographie geben – und diese sogar gleich mitbefreien. Er ist es, der den Philologen daran erinnert, immer
schon zu applizieren insofern er „an dem großen, uns alle tragenden Geflecht aus Herkommen und Überlieferung“ webe (323)
– wie übrigens der Historiker auch, dessen hermeneutischer Gegenstand schließlich gleichfalls die Einheit der Überlieferung sei.
Um den Herrschaftsanspruch der philosophischen Hermeneutik auszudehnen, spricht Gadamer folgerichtig vom Leser des
großen Buchs der Weltgeschichte, vom „Text der Weltgeschichte“ (ebd.), mit dem sich Nietzsche aus Bedenken des
professionellen Textkritikers so schwer getan hatte.
Die ‚Applikation‘ in den Geisteswissenschaften, die Gadamer hier vertritt, hat freilich einen ganz anderen Status als die
Applikation in Theologie und Jurisprudenz. Während sie dort zeitlich das Ende eines konkreten Auslegungsprozesses markiert –
in der Predigt oder in der Anwendung des Gesetzes im Gerichtsaal – bezeichnet das ‚Weben‘ des Traditionszusammenhangs
den immer neuen Anfang der Auslegung [342]. Es zeigte sich, dass dieses Verfahren sich nicht, wie Gadamer
optimistischerweise noch angenommen hatte, „selbst dem beherrschenden Anspruch des Textes“ – und zwar „im Dienste
dessen, was gelten soll“ – unterordnet (Gadamer, 31972:295). Erreicht hat Gadamer lediglich, dass sich in den Philologien die
letzten Vorstellungen vom engen Zusammenhang der Grammatik, Kritik und Hermeneutik verflüchtigten und durch die Triade
der subtilitas intelligendi, explicandi und applicandi ersetzt wurden, die aus der religiösen Wurzel des Pietismus stammen. In der
Applikation der Geisteswissenschaft will Gadamer jedoch nicht allein die (pietistische) Erbauung wiederbeleben, sondern einer
mo
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nistischen Utopie huldigen, die mit Macht die auseinanderfallenden Wissensdomänen in eine organische Einheit zwingt.
Allen auf Gadamer aufbauenden Methodenlehren bzw. Auslegungstheorien ist die Schwächung der oder gar der Verzicht auf die
(bewusste oder unbewusste) Autorintention gemeinsam. Der ohnehin unsichere Status des auszulegenden Fremden wird damit
prekärer bis zu dem Punkt, wo die Erkennbarkeit des Anderen überhaupt geleugnet wird. Kritiker haben an diesen beiden
Punkten angesetzt; und es zeigt sich, dass Nietzsches Lese- und Auslegungskunst eher zu den Argumenten der Kritiker passt.
Bezeichnenderweise geht etwa Hirsch in seinem grundlegenden Werk (Hirsch, 1967) von jener philologischen Tradition aus, die
auch für Nietzsche maßgeblich war. Hirsch beruft sich nicht zuletzt auf die Alexandriner und die Schule des Kommentars
(1967:127); Philologen wie August Boeckh sind für Hirsch Vorbild der redlichen Interpretation. Wie bei Nietzsche muss auch für
Hirsch die Autorintention erstes und letztes Kriterium der Auslegung bleiben. Die rhetorische Geste, sich auf den Text zu
konzentrieren, ver
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decke lediglich die Intentionen des Lesers. Da es in der Natur des Texts liege, immer „somebody's meaning“ (3) auszudrücken,
wurde aus der Auslegung der Autorintention eben Rezeptionstheorie, gegen die Hirsch ebenso große Vorbehalte hat, wie gegen
den radikalen Historismus, für den sich die Bedeutung eines Textes mit dem Wandel der Zeiten verändert. Hirschs Buch ist W.K.
Wimsatt gewidmet, einem Autor mithin, der zu den bekanntesten und schärfsten Kritikern der sog. intentional fallacy gehörte:
selbstverständlich sind auch für Hirsch nicht die Autoren die einzig wahren Autoritäten für den Sinn ihrer Texte. Er fällt nicht in
die naive Auffassung zurück, vor der schon Nietzsche, ausdrücklich als Philologe sprechend, als einem weit verbreiteten Irrtum
warnt: „Ein Dichter ist absolut keine Autorität für den Sinn seiner Verse: man hat die wunderlichsten Beweise, wie flüssig und
vag für sie der ‚Sinn‘ ist –“ [344]. Die Attribute des Sinns beziehen sich hier der Kongruenz wegen eindeutig auf die Verse: ihr
Sinn ist und bleibt vag und flüssig und kann deshalb vom Autor so wenig wie von anderen Auslegern verfestigt werden. Da der
Mensch immer intentional, immer auf einen Sinn ausgerichtet ist und lieber das Nichts will als nicht wollen will und weil schließlich
die Grammatik indoeuropäischer Sprachen immer eines Agens bedarf, so Nietzsches Einsicht schon vor der Genealogie der
Moral , benötigen wir immer die Intention als Leitfaden der Auslegung, und sei sie nur fiktiv.
Die Autorintention ist bei Nietzsche wie bei Hirsch ein Rekonstruktionsversuch der Entstehensbedingungen, d.h. der „aims and
attitudes“ (224) des Autors – obwohl Hirsch nicht ausdrücklich darauf hinweist, so umfasst dies eben auch „attitudes“, die dem
Autor möglicherweise selbst nicht bewusst sind. Hirsch schließt somit an die alte philologisch-hermeneutische Forderung an,
den Autor besser zu verstehen als dieser sich selbst. Wichtig ist dabei Hirschs sehr frei nach Frege getroffene Unterscheidung
von Sinn (meaning) und Bedeutung (significance), die mehrfach zur Unterscheidung von interpretation und criticism in
Beziehung gesetzt wird. Der Sinn, d.h. die rekonstruierte Autorintention, bleibe konstant, während die Bedeutung sich je nach
Interpretationskontext ständig änderte. Auf den Sinn zielt die Interpretation, mit der Bedeutung beschäftigt sich die Kritik als
„that field of endeavor which describes the relationships of texts to larger contexts of reality and value“ (143). Wie in der
philologischen Divination geht auch die Interpretation Hirschs immer vom „guess“ aus (170), der ständig überprüft werden will.
Obwohl Hirsch letztlich aus denselben Quellen schöpft wie Nietzsche, gibt es dennoch Unterschiede, die eine Verwechslung
ausschließen. Zwar erkennt Hirsch durchaus an, dass es offensichtlich verschiedene Interpretationen gibt, die auf
unterschiedliche Perspektiven und Interessen zurückgehen, bleibt aber der Vorstellung der Interpretation als einer „progressive
discipline“ (170) verhaftet, die zu gültigen Interpretationen vorstoßen kann und ungültige aussortiert. Gültige Interpretationen
sind selbstkritischem, rationalem Denken verpflichtet und
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durch Evidenz begründet. Die besten, d.h. die überzeugendsten Interpretationen [345] werden sich in einer Art survival of the
fittest der Vernunftentfaltung durchsetzen. Hier gilt derselbe Einwand wie gegen Maudemarie Clark (s.o.): Nietzsche ist
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realistischer, indem er anerkennt, dass Auslegungen auch von anderen Kriterien als Rationalitätskriterien beurteilt werden. Es ist
eine seiner Grundthesen, dass sich in der abendländischen Geschichte jene lebensfeindlichen Auslegungen durchgesetzt haben,
die es nach Vernunftgründen eigentlich nicht verdient hätten. In ähnlicher Weise lief auch Nietzsches Einwand gegen den
Darwinismus auf die Erkenntnis hinaus, dass sich typischerweise die Schwachen gegenüber den Starken durchsetzen [346].
Nietzsche ist deshalb konsequenter, wenn er zunächst rein deskriptiv das gute vom schlechten Lesen und von der
Interpretation unterscheidet. Als Philologe begnügt er sich mit dem Nachvollzug des flüssigen Sinns und der Entkräftung aller
mit Machtanspruch auftretenden Interpretationen, auch wenn dies unter Dekadenzverdacht steht. Die scheinbar so rational
gewonnene Interpretation Hirschs wäre für Nietzsche Vergewaltigung des flüssigen Sinns wie jede andere Interpretation auch.
Nietzsche versuchte eine der Hauptschwierigkeiten von Auslegung und Kritik, die Möglichkeit der Wahrnehmung und des
Erkennens des Fremden, durchaus traditionell zu lösen, indem er eine zwischen Autor und Exeget bestehende
Kommensurabilität forderte, auch wenn die Schwierigkeit offensichtlich schon bei der Selbsterkenntnis, dem Phänomenalismus
der inneren Welt beginnt. Gadamers Insistenz auf der Geschichtlichkeit allen Verstehens, d.h. auf der historischen Bedingtheit
jeder Auslegung, ist damit scheinbar schwer zu vereinbaren. Die historisch diskreten Vorurteile schließen Erkenntnis des
historisch Fremden nahezu aus. Schon Hirsch hält ein interessantes Argument dagegen. Wenn bei Gadamer und Heidegger der
Abstand zwischen Individuen schließlich doch annähernd überwunden werden kann, so müsse auch der Epochenabstand
überwindbar sein, da er ja nichts anderes als den Abstand je zweier Individuen beschreibe (1967:258). Der schärfste Kritiker
Gadamers auf diesem Gebiet ist je
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doch Emilio Betti geworden. Gleich Nietzsche bzw. der philologischen Tradition ist er der Auffassung verpflichtet, dass „nur ein
Geist gleichen Niveaus und kongenialer Veranlagung Zugang zum redenden Geist gewinnt und in der Lage ist, ihn in
sinnadäquater Weise zu verstehen“ (1962:53). Zwar gesteht er Gadamer die Geschichtlichkeit des Verstehens und die aktive
Rolle des Interpreten zu, hält aber die Unmöglichkeit von Objektivität sowie eine daraus resultierende Aufgabe des
wissenschaftlichen Anspruchs für keine zwingende Folgerung.
Der Begriff der Objektivität darf nicht im Sinne eines direkten, uninterpretierten Zugangs zum Ding an sich missverstanden
werden. Gemeint ist vielmehr die Erkenntnis der Phänomene „in ihrem eigenen Selbstsein“ (28), die auch dann nicht
ausgeschlossen ist, wenn endgültige Erkenntnis in historicis nie erreichbar ist. Werde das „Eigentümliche des Anderen“ (35)
nicht respektiert, so wird aus dem anvisierten Dialog ein Monolog, in welchem der Interpret ein fragwürdiges Monopol auf die
Wahrheit besitzt (43ff). Die „Umstellung“ in eine fremde Subjektivität wird durch die eigenen Subjektivität nicht nur nicht
behindert, sondern diese macht jene auf der Grundlage gemeinsamen „Menschtums“ überhaupt erst möglich (12f): aus dieser
Antinomie stamme die gesamte Dialektik des Auslegungsprozesses. Mit Bettis Hilfe lässt sich der Objektivitätsbegriff von seinen
heutigen naturwissenschaftlichen Prämissen befreien, die für kulturelle Phänomene nicht ausreichen. Objektivität aus
philologischer Sicht heißt eben – und es ist diese Denkfigur, die sich bei Nietzsche nachweisen ließ –, den Anderen in seiner
Andersartigkeit zu respektieren und zu rekonstruieren. Diese Bedeutung von Objektivität lässt sich am besten mit einem
philologischen Beispiel verdeutlichen, nämlich am Gleichnis der Lektüre eines in fremder Sprache verfassten Werks. Es ist ein
Unterschied, ob ich es mir in einer Übersetzung aneigne oder mich der Mühe unterwerfe, die fremde Sprache zu erlernen
(wobei der Lektüreerfolg hier natürlich wieder vom Grad der Sprachbeherrschung abhängt).
Verstehen ist für Betti ebenso wie in Nietzsches Lesekunst das Wiedererkennen und Nachkonstruieren des Sinns, und zwar
nicht als romantische Einfühlung. Auf die Subjektivität kann und soll nicht verzichtet werden, denn nur aus ihr kommen die
interessanten Fragen. Aber bewusst applikativ-persönliche Interessen, Wünsche, Motive seien zurückzustellen (23). Scharf
richtet sich Betti deshalb gegen Gadamers Auffassung vom applikativen Charakter des Lesens wie der Auslegung schlechthin.
Applikationsleistung sei nur bei normativ ausgerichteter Auslegung angemessen; es gibt bei Betti einen qualitativen Unterschied
zur eher kontemplativen Auslegung in Geschichtswissenschaft und Philologie – eine genaue Entsprechung der passiven
Auslegungskunst bei Nietzsche. Tatsächlich bestimmt Betti die Gemeinsamkeit von Historiographie und Philologie sogar ganz im
Geiste der historisch-kritischen Philologie in der „historischen Kritik der Überlieferung“ anstelle der Applikation (48f). Als
Autorität und Unterstützung seiner Auffassung der fachbegründenden Bedeutung von Kritik zitiert Betti
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schließlich sogar Nietzsche selbst (50), ein Umstand, der die Interpretationstheoretiker merkwürdigerweise bis heute nicht
stutzen ließ.
Betti fand zu Nietzsche durch die Abwendung von der Heideggerschen und Gadamerschen Version hermeneutischer Theorie
und indem er die eigene hermeneutische Theorie der Kritik öffnet. Einen an Nietzsche ausgerichteten konsequent
antihermeneutischen Gegenentwurf hat der Dekonstruktivismus aufgestellt. Es ist bekannt und wurde auch in dieser Arbeit
Im Zentrum der Debatte zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion steht die Frage, ob die Interpretation im Anschluss an
Nietzsche durch den Machtgedanken vollständig beschrieben ist [347]. Keiner der Beteiligten hat die spezifische Bedeutung des
Interpretationsbegriffs bei Nietzsche erkannt. Keiner wollte die Funktion des Lesens als Gegenbegriff zur Interpretation
wahrnehmen, weil damit die Absicht, nämlich den spezifischen Interpretationsbegriff zu universalisieren und auch auf die
Domäne der Philologie, also schriftlicher Texte, auszudehnen, vereitelt worden wäre. Selbst Ernst Behler, dem hervorragenden
Philologen und einem der besten Nietzschekenner, ist nur mit Einschränkungen zuzustimmen, wenn er, eher auf Derridas Seite
stehend, Nietzsches aktiven Interpretationsbegriff in der gegenseitigen „Durchdringung verschiedener Interpretationsweisen“,
in der „bewußten Auswechslung von Perspektiven“ verortet (1988:97). Dabei hatte Nietzsche ja bewusst den Begriff der
Interpretation weder normativ ver
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wendet oder noch den Perspektivismus als Heilsweg beschrieben. Denn schon jede Einsicht in das menschliche Dasein selbst
als ein essentiell auslegendes wird durch die Annahme des Perspektivismus relativiert, da sich der menschliche Intellekt
ebenfalls nur „unter seinen perspektivischen Formen“ und jedenfalls nicht „um [seine] Ecke“ sehen kann. Durch unsere Einsicht
in die Begrenzung unserer Perspektive ist die Welt wieder unendlich geworden, denn sie enthält die Möglichkeit unendlicher
Interpretationen. Aber, so Nietzsche, „wer hätte wohl Lust, dieses Ungeheure […] sofort wieder zu vergöttlichen?“, d.h. das
Unbekannte statt den Unbekannten anzubeten? Zu viel „Teufelei, Dummheit, Narrheit der Interpretation“ gäbe es dabei! (FW
5.347, 3:626f). Ein früherer, wenig beachteter und an vergleichsweise entlegener Stelle publizierter Aufsatz Behlers traf es
deshalb besser. Behler führt hier Nietzsches häufigen Vorwurf des Mangels an Philologie auf „ein Fehlen des kritischen Sinnes“
zurück (1983:22) und beschreibt die Philologie als kritisches Pendant zum Ausbalancieren des menschlichen Schaffensdrangs.
Der Perspektivenwechsel sei notwendig bei der Auslegung, um die negativen Aspekte der Interpretation auszugleichen (28)
[348].
Derrida hat, Behler ist kein Einzelfall, vor allem in den literaturwissenschaftlichen Seminaren Anhänger gefunden. Sein Projekt
der Verwischung von Gattungsgrenzen zwischen Philosophie und Literatur schien ja auf eine Ausweitung literaturkritisch-
rhetorischer Methoden auf die Lektüre philosophischer Texte hinauszulaufen und damit das Fach relevanter und interessanter
zu machen. Freilich konnte Derrida Nietzsches Begriff der Philologie nicht gerecht werden; seine kritischen Exegesen müssen
sich selbst der Kritik des Philologen aussetzen. Ein guter Ausgangspunkt ist das Nietzsche-Buch Otobiographies (Derrida,
1984a). Typisch für die von Derrida hier selbst demonstrierte exegetische Technik, die ja implizit behauptet, u.a. auf Nietzsche
selbst zurückzugehen, ist das Ausgehen von scheinbaren Nebensächlichkeiten bei gleichzeitiger Konzentration auf den genauen
Wortlaut des Textes. Die Schwierigkeiten bei der Lektüre von Derridas Text liegen in erster Linie in der graphischen
Unübersichtlichkeit, die durch ständige in Klammern gesetzte Originalzitate entsteht. Schon hier stößt man auf ernsthafte
Probleme, die Derridas eigene Voraussetzungen infrage stellen. Die Originalzitate Nietzsches sind nicht immer korrekt
wiedergegeben, manche von ihnen ungrammatisch. Übersetzungen bedient sich Derrida mit einer Selbstverständlichkeit, die
Verwunderung erregt. Insgesamt wirkt Otobiographies wie eine genau beobachtende, kommentierende Paraphrase Nietzsches
und käme dem ‚Lesen‘ nahe, wenn Derrida die Lektüre nicht ausgerechnet am Ende mit immer
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weiterreichenden Hypothesen verbände, welche die Lektüre zunichte machen und in Allegorese überführen [349].
Die auffälligste Gemeinsamkeit zwischen Literaturwissenschaftlern, die sich auf einen durch die Brille des Dekonstruktivismus
gesehenen Nietzsche berufen, sowie dem historischen Nietzsche selbst besteht gleichwohl in der Konjunktur des Begriffs der
Lektüre auf Kosten der Interpretation. „Criticism is a metaphor for the act of reading, and this act is itself inexhaustible“ schrieb
Paul de Man bereits in einem frühen Buch (1971:107). Ist damit dasselbe gemeint wie bei Nietzsche? Derridas Beispiel lässt
daran zweifeln. Bei den redlichsten und reflektiertesten Autoren kann man freilich den Versuch beobachten, über den Umweg
der antihermeneutischen Wende des Poststrukturalismus an das komplexere philologische Lesen der Frühzeit anzuknüpfen,
das noch Kritik und Grammatik einschloss und sich als Kommentar verstand. So begründet David Wellbery ein Lesen, welches
sich nicht auf wahre oder falsche Lesarten versteift, sondern „welches die eigene Prozeßhaftigkeit mitreflektiert“, in dem also
Unter den einflussreichen neueren Lesetheorien kommt diejenige Stanley Fishs der philologischen Tradition in einigen Punkten
recht nahe. Die Basis von Fishs Argumentationen ist die Überzeugung von der Sinnlosigkeit des Unterschieds von eigentlicher
und uneigentlicher Sprache (z.B. 1980:97), wobei er sich u.a. auf die Sprechakttheorie Searles bezieht, um zu zeigen, dass jede
sprachliche Äußerung erst im jeweiligen Handlungskontext Bedeutung erlangt. „Meaning is human“ (96) – banal aber richtig.
Fish ist vor allem dank der Radikalität bekannt geworden, die vermeintlich jede Beziehung zwischen Leser und Text kappt. Sein
eigentliches Anliegen ist jedoch ein anderes. Nicht die Beziehung zwischen Form und Inhalt soll negiert werden, sondern die
Möglichkeit, diese objektiv nachzuvollziehen. Sein literaturtheoretisches Werk lässt sich als Kritik einer Bewegung verstehen, die
ihre von der Grammatik letztlich unabhängigen Interpretationen auf linguistische Phänomene aufpfropft, die je nach Kontext
Unterschiedliches
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bedeuten können, und welche sich aber zur Untermauerung der Interpretationen auf eben jene selbst ausgewählten
linguistischen Phänomene beruft (z.B. 1980:77). Wie kein zweiter hat Fish gezeigt, dass in ‚linguistisch‘ inspirierten Analysen
grammatische Kategorien auf unzulässige Weise semantisiert werden, um die rhetorische Strategie der Interpretation zu
verdecken [351]. Die Bedeutung eines Textes, so vielleicht sein Fazit, „is not the capacity of a syntax to express it, but the ability
of a reader to confer it“ (83). Damit herrschen nicht zwangsläufig Beliebigkeit oder Abwendung vom ‚somatischen‘ Gehalt des
Textleibes, Fishs eigene Lektüren demonstrieren das (z.B. seine Milton-Arbeiten). Seine Praxis , auf die, nach eigenem
Verständnis, am Ende alles ankommt, läuft auf eine Art gaya scienza des genauen Lesens hinaus, das sich selbst die Grenzen
definiert und keine Illusionen über die eigene Objektivität mehr hegt. Das Gewicht liegt auf dem Prozess des Lesens und der
Interaktion des Lesers mit dem Text, nicht auf dem Resultat bzw. der Extrahierung von Bedeutung im Sinne eines statischen
sensus. Damit verteidigt Fish, ohne es zu wissen, die Philologie im Sinne Nietzsches gegen die Interpretation, die sich der
Philologie erst im ausgehenden neunzehnten sowie im zwanzigsten Jahrhundert bemächtigt hatte. Seine Vorstellung von
Rhetorik als Antiessentialismus gehört ebenso in diese frühere Tradition (vgl. besonders Fish, 1989).
Allerdings zeigt sich auch hier eine – folgenschwere – Differenz zur Philologie und damit letztlich zu Nietzsche. Fish bezweifelt die
Aussagekraft des sog. Wortsinnes, da dieser immer nur in einem schon gegebenen institutionellen Rahmen spezifischer
Interpretationsgemeinschaften etwas bedeute. In der philologischen Tradition dagegen gibt es durchaus einen Wortsinn, der
sich freilich nicht erst durch den Gegensatz zum allegorischen Sinn ergibt. Nietzsche als Philologe hat den Wortsinn als
Textsoma immer als Ideal vor Augen, wenn er vom Lesen redet. Fish hat bei seinen bahnbrechenden Studien zu den
Interpretationsgemeinschaften eine Interpretationsgemeinschaft vergessen oder bewusst ausgeklammert, die seine Theorie
zwar nicht entkräftet, aber doch komplizierter macht. Die Rede ist von der Interpretationsgemeinschaft der Muttersprachler
bzw. Sprachbenutzer, die zwar auch fiktiv oder zu allgemein sein mag, die jedoch angenommen werden muss, um die
Möglichkeit von Kommunikation, Übersetzung usf. überhaupt zuzulassen. Searles Sprechakttheorie beruht auf nichts anderem.
Selbst die radikalsten Sprachskeptiker kommen um den usus loquendi nicht herum. Sogar bei Derrida finden sich Sätzen wie
„Üblicherweise bezeichnet ‚Sache‘ die chose , nicht das sinnliche oder zuhandene Ding, sondern die fragliche Sache, die
Angelegenheit, die dann gegebenenfalls Anlaß zum Streit gibt.“ (1984b). Stützt er sich auf einen Lexikoneintrag, auf Etymologie,
auf Untersu
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chungen empirischer Textkorpora? Immer wieder fragt Derrida nach der Bedeutung als dem Gebrauch eines Wortes (z.B.
1984:102f über ‚unheimlich‘).
Mit Fish lässt sich immerhin erkennen, dass Auslegungen von Texten im Kontext von vorgefassten Annahmen über Auslegung
und Text stattfinden. Freilich muss man akzeptieren, dass Interpretationsgemeinschaften nicht hermetisch von einander
abgetrennt sind, sondern sich zueinander wie konzentrische Kreise verhalten, die von der muttersprachlichen
Interpretationsgemeinschaft des usus loquendi eingefasst werden. Aus der Tatsache, dass der Text kein Ding an sich ist, das
irgendwie direkt erkannt werden könnte, folgt nicht, dass er keine Materialität besitzt. Fish bestreitet nicht den Wert des
Rückgriffs auf die Materialität als gute Überzeugungsstrategie, als Strategie des Lesers, auf eine Weise Sinn zu erzeugen, die
konstitutiv für eine bestimmte Interpretationsgemeinschaft, beispielsweise die philologische wird. Aber er verkennt, dass
grammatische Überlegungen – im Sinne des ursprünglichen philologischen Grammatikverständnisses – durchaus unersetzlich
sind, sofern sie nicht einem positivistischen Selbstverständnis entspringen. Das bedeutet nicht die Rückkehr zur Analyse des
‚Wortsinns‘, sondern nur die Anerkennung des Wechselspiels zwischen Aspekten verschiedener Interpretationsgemeinschaften
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in der konkreten Auslegung während des Leseprozesses [352].
Die Befürworter einer Renaissance des Lesens, darunter die bereits Genannten, verstehen sich trotz ihres philologischen
Erbgutes paradoxerweise häufig als Antiphilologen, was angesichts des Umstands unverständlich ist, dass gleichzeitig eine
Brücke zu Nietzsches Spätwerk geschlagen werden soll, in dem die Philologie besonders gefeiert wird. Ausdrücklich auf
Nietzsche bezieht sich etwa Roland Barthes. Nietzsches später Begriff der Interpretation bedeute angeblich folgendes:
„Interpréter un texte, ce n'est pas lui donner un sens (plus ou moins fondé, plus ou moins libre), c'est au contraire apprécier de
quel pluriel il est fait.“ (1970:11) Dieses offene Interpretieren im polysemischen, konnotativen Text wird mit der dogmatischen
Praxis der Philologen konfrontiert: „Les uns (disons: les philologues), décrétant que tout texte est univoque, détenteur d'un
sens vrai, canonique“ (13). Mit Nietzsche hat dies offensichtlich nur am Rande zu tun; die Grenzen, die Nietzsche zwischen
Lesen und Interpretieren zieht, sind bis zur Unkenntlichkeit verwischt, die Rolle des Textes bleibt ausgeblendet [353].
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Der wohl einflussreichste Literaturwissenschaftler, der mit Hilfe Nietzsches und in Anlehnung an Derrida den Versuch
unternommen hat, eine dekonstruktive Art der Lektüre zu etablieren, ist natürlich Paul de Man gewesen. Als einer der wenigen
neueren Theoretiker hat er den Begriff der Philologie im positiven Sinne verwendet. So legt er, zumindest rhetorisch, Wert auf
„historical and philological facts as the preparatory condition for understanding“ sowie als Basis der literaturwissenschaftlichen
Ausbildung (s. 1986:3–20). Wie bei Nietzsches gutem Lesen widersetzt sich de Man der eindeutigen Festlegung auf letztgültige
Deutungen. In einem Interview [354] definierte er die Philologie als gleichbedeutend mit Textnähe und Vertrauen in den Text. In
der Selbstbeschreibung des Unterschieds zwischen Derrida und der eigenen Position klingt die alte Boeckhsche Definition des
Unterschieds von Philosoph und Philologe sowie die Differenz des Interpreten und Lesers bei Nietzsche an: „The difference is
that Derrida's text is so brilliant, so incisive, so strong that whatever happens in Derrida, it happens between him and his own
text. He doesn't need Rousseau, he doesn't need anybody else; I do need them very badly because I never had an idea of my
own, it was always through a text, through the critical examination of a text …“ (118).
Hier enden indes die Parallelen. Der „return to philology“ (de Man, 1982), den de Man seinen literaturwissenschaftlichen Kollegen
empfahl, hat mit Nietzsches Philologie wenig zu tun. Weil de Man, von den Neuphilologien geprägt, die Geburtsstunde der
Philologie an das Ende des neunzehnten Jahrhunderts verlegt, kann sie nur noch am Rande mit herkömmlicher Kritik und selbst
traditioneller Rhetorik zu tun haben. Sein Philologiebegriff ist stark von der positivistischen Sammlerperiode jener Jahre geprägt;
subtile Lektüre ist ihm nicht automatisch untergeordnet. Dennoch: Die Rückkehr zur Philologie sei eine Rückkehr „to an
examination of the structure of language prior to the meaning it produces“ (ebd.). Literatur – und das schließt im Verständnis
der Dekonstruktivisten ja potentiell alle Texte ein – müsse zuerst als Rhetorik und Poetik angesehen werden, ehe man zu
Geschichte und Hermeneutik fortschreite. Direkt an Nietzsche anschließend betont de Man die Unhintergehbarkeit von Rhetorik
und Überredungskunst, die Zentralität der Tropik (z.B. 1979:103). Nirgendwo ist Nietzsche von Paul de Man und den
Dekonstruktivisten stärker missverstanden worden als hier.
Nietzsches rhetorisches Tropenmodell, so de Man, liefere den Schlüssel zu seiner Metaphysikkritik (1979:109), Nietzsches
„deconstruction seems to end in a reassertion of the active performative function of language and it rehabilitates persuasion as
the final outcome of the deconstruction of figural speech“ (131). Die Basis dafür soll anscheinend die Sprachauffassung
Nietzsches hergeben, die angeblich rhetorisch auf Kosten der Referentialität sei, Sprache gewinne bei ihm Autorität nicht mehr
durch Entsprechung zu außersprachlicher Referenz, sondern durch „intrinsic resources of figures“ (106). Nietzsche sei als
radikaler
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Zweifler an einer Verbindung von Ursprung und Zweck zur Dekonstruktion genetischer Zusammenhänge jeglicher Art
angetreten und folglich Gegner historischer Betrachtungsweisen an sich. In Wahrheit ist Nietzsches Genealogie jedoch, wie
gezeigt werden konnte, der Versuch gewesen, genetische Zusammenhänge aufzuzeigen, die zwar nicht auf simpler Kausalität
beruhen, aber dennoch nachweisbar sind. Er versteht seine Arbeit im Gegensatz zu de Mans Behauptung geradezu als
Ausfluss des historischen Sinns. Diesen historischen Sinn, den er für sich beansprucht, spricht er den angelsächsischen
Moralphilosophen ab. Die sprachlichen und etymologischen Untersuchungen, die dabei im Zentrum stehen, verdanken ihre
Durchschlagskraft ihrer außersprachlichen Referenz in besonderem Maße; von unverbindlichem Spiel kann bei Nietzsche keine
Rede sein, denn sonst verlöre sein gesamtes Werk die Motivation. Auf unzulässige Weise werden Nietzsches frühe derivative
Spekulationen über die Natur der Sprache mit den Werken der Reifeperiode zusammengeschweißt.
Freilich ist bereits die Behandlung von Nietzsches angeblichen rhetorischen und tropischen Denken mangelhaft bis zum Punkt
der Unbrauchbarkeit. Der Titel von de Mans wichtigstem theoretischem Buch – Allegories of Reading – ist ein erster Hinweis.
Die Allegorie wird bei de Man im krassen Gegensatz zu Nietzsche zum bevorzugten Tropus, weil sie die paradigmatische
Paul de Man stützte sich v.a. auf Nietzsches Rhetorikvorlesungen, die im Umfeld des Dekonstruktivismus durchgehend stark
rezipiert worden sind. Mittlerweile ist bekannt, dass die Vorlesungen ein Kompendium aus dem Aristoteles und Quintilian unter
Verwendung weiterer Standardwerke und nicht gekennzeichneter Zitate aus zeitgenössischen Lehrbüchern darstellen. So
revolutionär wie es die Dekonstruktivisten gerne hätten, waren Nietzsches Einsichten in die Rhetorik jedenfalls nicht. Die
scheinbare Radikalität der hier vorgetragenen Einsichten liegt in der rhetorischen Sprachauffassung selbst. Allerdings ist
Nietzsche offenbar nie ein großer Anhänger rhetorischer Systematik gewesen, häufig äußert er sich negativ über bloße
Rhetorik bzw. über die Rhetorik als künstlich kon
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struiertes „Stückwerk“ (WA 10, 6:35), da sie für ihn traditionell eher in die Sphäre des Histrionischen bzw. der plakativ-
unsubtilen Effekthascherei fällt [355].
Paul de Man spielt die Rhetorik als Domäne figuraler Rede gegen Grammatik und Logik (den verbliebenen Elementen des Trivium)
aus. Sein Grammatikbegriff ist restriktiv und entspricht eher der philosophischen Logik als der empirischen
Gebrauchsgrammatik der Philologen. Auch eine noch so ausgereifte grammatische Analyse kann seiner Auffassung nach nicht
alle rhetorischen bzw. figuralen Dimensionen eines Textes erfassen. Diese Einsicht ist zwar richtig, wird aber durch die Art und
Weise ihrer Verwendung zum Problem. Durch den Verzicht, figurale Bedeutungen auf sprachlich-grammatische Phänomene
sowie außersprachliche Referenzen zu beziehen sowie durch die Privilegierung der Substitution verliert auch die Rhetorik ihren
Sinn. Es gibt nun nichts mehr, woran sie sich messen lassen muss, bis hin zur Autorintention: laut de Man zwingt der figurale
Charakter der Sprache letztlich jeden Autor, etwas anderes zu sagen als beabsichtigt [356].
Selbst wenn de Mans Thesen wasserdicht wären: das System der Rhetorik ist ohnehin kein brauchbares Instrument zur
Analyse von Texten. Gleich dem Regelgebäude der Hermeneutik kann es der Exeget erst auf der Grundlage einer schon
erfolgten Interpretation anwenden. Rhetorik oder hermeneutische Kanones sind höchstens Begründungs- und
Rationalisierungsmittel einer vorgelagerten Texterfahrung. Durch die Hermeneutik als Regelsystem oder philosophische
Wissenschaft wird, wie schon F.A. Wolf erkannte, das Ziel „einen Schriftsteller zu erklären“ nicht erreicht, denn: „Kunst lässt
sich nur absehen. Die Hermeneutik oder Auslegungskunst kann uns kein System von Regeln verschaffen. Hier ist,
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wie bei allen Künsten, das Nachahmen, was zur Erlangung eigener Fertigkeit nothwendig ist.“ (Wolf, 1831:292ff) [357].
Von de Mans Rhetorikbegriff bleibt deshalb lediglich die nackte Willkür des Lesers, die Interpretation als Vergewaltigung des
Texts, die Kunst des schlechten Lesens. Ernst Behler (1989) hat denn auch als wichtigsten Einwand gegen de Man mit Recht
geltend gemacht, dass dessen Lektüren immer auf dieselben Schlussfolgerungen hinauslaufen (1989:305f). Die Lektüre wird
reduktionistisch und routinehaft. Dekonstruktivistische Lektüren gehen meist von einer hypothetischen ‚Normallektüre‘ (deren
Herkunft und Status ungeklärt bleiben) aus, die ‚gegen den Strich‘ gelesen wird und dadurch zu neuen Einsichten führen soll.
Wo sie sich nicht auf den Nachweis der mannigfaltigen Auslegungsmöglichkeiten beschränken, suchen sie im Text meist nach
Bekräftigungen politischer und soziologischer Thesen – gerne führen sie den Nachweis der Unterdrückung und Ausgrenzung
auf Kosten anderer –, geraten also genau in die Falle, deren Allgegenwart aufzudecken sie ursprünglich angetreten waren. Die
Auslegung bleibt statisch, der Wanderer tritt auf der Stelle. Jürgen Fohrmann hat in seiner subtilen Kritik des de Man'schen
Sprach- und Rhetorikkonzepts das schöne Wort der „Überraschungsfreiheit“ geprägt (1993:92) [358]. Von Nietzsches
‚Ephexis in der Interpretation‘ kann in der dekonstruktiven Aneignung seiner Gedanken zur Auslegung jedenfalls keine Rede
mehr sein. Zwar weist die Lektüre der Dekonstruktivisten mehr Gemeinsamkeiten mit seinen ursprünglichen Intentionen
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auf als mit der philosophischen Hermeneutik, allerdings ist das entscheidende Kriterium, nämlich die intellektuelle Redlichkeit,
auch hier nicht zu Hause [359].
Dem Philologen Nietzsche geht es auch in späten Werken wie der Genealogie der Moral um Rekonstruktion, nicht um
De(kon)struktion. In der dekonstruktivistischen Schule ist von ‚Goldschmiedekunst des Wortes‘ nichts mehr zu spüren.
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Entscheidend bleibt, dass die Dekonstruktivisten im Verzicht auf den textlichen und editorischen Horizont – und trotz
gegenteiliger Beteuerungen – letztlich den Fehler begingen, den Gadamer erst theoretisch als Tugend entwickeln wollte: die
Auslegung von der Applikation her zu denken. Zu Hermeneutik und Dekonstruktion gleichermaßen bietet deshalb das
philologische Denken des historischen, nicht des zurechtgemachten Nietzsche eine sinnvolle und redliche Alternative.
5.2. Tradition der Frühromantik oder Hermeneutik der Aufklärung?
Die selbstbewusste Philologie, die in der heutigen Literaturwissenschaft eine Minderheit repräsentiert, versteht sich immer als
von Hermeneutik und Dekonstruktion gleichermaßen verschieden und bedient sich dabei fortdauernd eines methodischen
Arsenals und einer theoretischen Rhetorik, deren Verwandtschaft mit Nietzsches Philologieauffassung nicht zu übersehen ist.
Der französische Literaturwissenschaftler Jean Bollack [362], um ein renommiertes Beispiel zu nennen, setzt sowohl der
Hermeneutik wie der Dekonstruktion eine radikale Historisierung entgegen, die nicht von der unendlichen Übersetzbarkeit des
Sinns ausgeht, sondern ihn gleichsam archäologisch wieder zu rekonstruieren sucht. Die Autorintention ist ihm deshalb als
Leitfaden unverzichtbar. Wie Nietzsche wirft er der Hermeneutik, so etwa Ricœur, einen versteckten Platonismus vor, der Texte
nur als Illustrationen von Ideen auffasse.
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Die Philologie ist eine kritische, kontrollierende Tätigkeit, die sich selbst die Allegorese verbietet, die auf Kritik, Quellenforschung
und ästhetischer Sensibilität beruht und immer von der textuellen Grundlage ausgeht. Gegenüber der philosophischen
Hermeneutik betont Bollack das andere Verhältnis des Philologen zum fremden Text, den Abstand, den er bewusst wahre,
indem er den Text immer als unbekannt empfinde und ihn deshalb historisch zu lesen versuche. Die Lektüre der kritischen,
philologischen Hermeneutik beinhalte auch die Prüfung früherer Interpretationen, der eigenen eingeschlossen. Nicht nur bei
Gadamer, sondern selbst bei Ricœur sei Lektüre eine Aneignung (appropriation) des Textes durch den Leser – der Theologe und
Psychologe interessiere sich nicht für den Sinn des Textes an sich (2000a:119f). Auch wenn die philosophische Hermeneutik es
naiv finde, so Bollack, gebe es doch den Willen, an Texte möglichst vorurteilslos heranzugehen, gebe es ein Stadium des
Unverständnisses, das Voraussetzung des Verständnisses sei. Die Dekonstruktion wiederum greift Bollack für ihren
unkritischen Umgang mit dem Text sowie ihre ungenügende Aufmerksamkeit gegenüber sprachlichen Nuancen an, die über
begriffliche Spekulationen hinausgehen [363].
Bei allen Ähnlichkeiten zum philologischen Denken Nietzsches ist Bollack nichts weniger als ein Nietzscheaner. Er sieht sich
selbst in einer Tradition der Aufklärung, die eine andere Variante der Moderne darstelle als jene, die im Frankreich des
zwanzigsten Jahrhunderts dominiert habe und die durch den Nietzscheanismus (nicht notwendigerweise Nietzsche selbst
[364]) repräsentiert werde. Andererseits deutet Bollacks Ansatz auf die deutsche Frühromantik zurück; nicht umsonst bezieht
er sich vor allem auf Schleiermacher (dessen Werk in Frankreich so gut wie unbekannt ist). Die Parallelen zwischen Bollack und
dem in dieser Arbeit herausgearbeiteten Nietzsche müssen demnach dadurch erklärt
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werden, dass Nietzsches philologisches Denken selbst sowohl aufklärerische wie romantische Züge trägt.
Nietzsches Denken ist immer wieder mit der Frühromantik, besonders mit Friedrich Schlegel in Verbindung gebracht worden
[365]. Auch zwischen Dekonstruktion (v.a. de Man'scher Prägung) und (Schlegelscher) Frühromantik sind häufig deutliche
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Laut Ernst Behler, dem besten Kenner des frühromantischen Erbes in Nietzsches Werk, war Nietzsche schon seit der Pforte
mit der Frühromantik vertraut. Die Quellenlage sowohl für die frühe oder späte Beschäftigung Nietzsches mit dieser Periode
oder aber mit einzelnen Autoren ist jedoch außerordentlich unbefriedigend. August Wilhelm Schlegel, mit der Bonner Schule eng
verbunden, hat mit seinen Vorlesungen nachweislich auf das Frühwerk gewirkt, darin erschöpft es sich aber bereits. In Bonn
und Leipzig hat sich besonders Ritschl stark zu Friedrich Schlegel bekannt (Behler, 1978:70f). Als Anhänger Schlegels und
Creuzers wird Ritschl schon von Howald (1920) geschildert. Ritschl hat nach diesen Vorstellungen das Programm Schlegels in
seiner Konzeption der Philologie weitergeführt. Die Parallelen zwischen seinem Schüler Nietzsche und Schlegel könnten damit
plausibel erklärt werden.
Allerdings gibt es eine überwältigende Anzahl von Belegen aus Ritschls unmittelbaren Umfeld, die ihn eher zum Gegner der
Romantik und der romantischen Philologie machen. Gewöhnlich gilt Lessing als sein Vorbild und Vorläufer. Schon Ritschls
Schüler und Biograph vergleicht ihn immer wieder mit Lessing (z.B. Ribbeck, 1879ff, Bd. 2:451f), ebenso ein später
Lehrstuhlnachfolger (Schmid, 1984:703). Für Ritschl sei wie für Lessing Trieb und Suche nach Wahrheit über deren Besitz
gegangen. Auch anderen zeitgenössischen philologischen Enzyklopädisten gilt Lessing als einer der ihren, denn er „lehrte
strenges Urtheil und unbefangene Methodik, die wie in einer Uebungsstätte des Geschmacks und der kritischen Wissenschaft
auch das kleinste nicht verschmähte, auf die Werke der Schrift und Kunst anwenden“ (Bernhardy, 1832:18). Im Jahr 1946
versucht Ernst Bickel, ein Schüler Büchelers und ein weiterer Nachfolger auf Ritschls Bonner Lehrstuhl, wieder am
humanistischen Bildungssystem anzuknüpfen, das durch die finsteren Jahre unterbrochen war. Ritschl sei dazu am besten
geeignet, denn im Gegensatz zu Zeitgenossen wie Welcker oder Schülern wie Usener sei er nie vom Geist der deutschen
Romantik beseelt gewesen, sondern habe in Abkehr von Schelling, Hegel und aller Romantik sein Ideal in der kritizistischen
Tradition einerseits sowie historisrischen und naturwissenschaftlich-positivistischen Paradigmen andererseits gesucht. Allenfalls
zu derjenigen Frühromantik weise er Gemeinsamkeiten auf, die sich ebenfalls noch dieser Tradition verpflichtet fühlte (1946:30).
In dieser Einschränkung Bickels liegt des Rätsels Lösung. Die Parallelen zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche
kommen dadurch zustanden, dass sie beide auf ähnliche Weise die Philologie Friedrich August Wolfs weitergedacht haben. In
der Philologie nach Wolf sind, gerade in Bonn, zwei Ausprägungen der Frühromantik wirksam geworden. Auf der einen Seite
jene Forschungen, die mit den Namen Creuzers, Welckers und Useners verbunden sind und den Blick auf mythologische und
religionshistorische Phänomene richteten. Auf der anderen Seite stehen die philologischen Arbeiten der Brüder Schlegel, die in
der Tat auch auf Ritschls historisch-kritische Methode deuten. Für die Schlegels liegt
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wie für Ritschl im „Geist echter Kritik“ der Kern der Philologie, wobei August Wilhelm in seinen Vorlesungen Wert darauf legte,
dass Kritik nicht ausschließlich darin bestehe, Fehler aufzudecken. Vielmehr erkläre sie, in idealer Verbindung historischer und
ästhetischer K