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Text 6

Ernst Hiemer
Herr Doktor! Lassen Sie mich
bitte in Ruhe
(1938)

Der Text sowie die dazugehdrige Illustration entstammen dem Giftpilz m giftsvamp
Kinderbuch »Der Giftpilz«. Das antisemitische Buch erschien erscheinen udkomme
1938 im Stiirmer Verlag, Niirnberg. Der »Stiinner« war ein mahnen formane
wamen advare
nationalsozialistisches Propagandablatt, das von Julius Strei- unwillig irriteret
5 cher (LX) herausgegeben wnrde. Unsinn m vrøvl
recht i orden
nge ist krank. Schon seit mehreren Tagen hat sie leich- BDM m = Bund

I tes Fieber und Kopfweh. Inge wollte nicht zum Arzt


gehen. »Ach, wegen so einer Kleinigkeit zum Doktor
Deutscher Madel
(nazist, organisation
for piger) LX
io rennen?« So sagte sie immer wieder, wenn die Mutter Madel n pige (gam­
mahnte und warnte. Fines Tages aber wurde die Mutter meldags)
unwillig. daherschwåtzen »strø
»Marsch! du gehst jetzt hiniiber zum Doktor Bernstein om sig med«
und lafit dich untersuchen!« So befahl die Mutter, einfåltig dum; ubegavet
is »Warum denn zum Doktor Bernstein? Der ist doch ein Zeug n (her) vrøvl
beleidigen krænke; tale
Jude! Und zu einem Juden geht doch kein deutsches ondt om
Madchen«, antwortete Inge. Mådelschaftsfiihrerin f
Die Mutter lachte. delingsfører (i BDM)
»Ach red' doch keinen Unsinn! Die Judenarzte sind erst letzthin for nylig
20 schon recht. Aber ihr in eurem BDM schwatzt lauter ein-
faltiges Zeug daher! Was versteht ihr Madchen schon
davon!«
Inge protestierte.
»Mutter, du kannst viel sagen, aber den BDM darfst
25 du nicht beleidigen. Und eines mufit du dir merken: Wir
BDM-Mådels wissen in der Judenfrage besser Bescheid
als so manche unserer Eltern. Unsere Madelschafts-
fiihrerin halt fast jede Woche einen kurzen Vortrag iiber
die Juden. Erst letzthin hat sie gesagt: Ein Deutscher darf
30 nicht zum Judenarzt gehen! Und ein deutsches Madchen
erst recht nicht! Denn die Juden wollen ja nur das deut-
sche Volk verderben. So manches Mådehen, das beim Heilung f helbredelse
Judenarzt Heilung suchte, fand dort Sieehtum und Sieehtum n sygdom
Schande f skændsel;
Schande. Ja, Mutter, so hat unsere Mådelschaftsfiihrerin
vnnære
gesagt. Und sie hat recht!« gescheit klog
5 Die Mutter wurde unruhig. Todfeind m dødsfjende
»Ach, ihr wollt immer gescheiter sein als die Alten. ... Jetzt reicht's nu er
Das, was ihr sagt, ist gar nicht wahr. Schau, Inge, ich det nok
kenne den Doktor Bernstein sehr gut. Er ist ein gar voriaut næsvis
sich weigern stritte
tiichtiger Doktor.«
imod
io »Aber er ist Jude! Und die Juden sind unsere Todfein- drohen true
de!« antwortete Inge. ungehorsam ulydig
Nun aber wurde die Mutter ernstlich bose. Warnung f advarsel
»Jetzt reicht's aber, du vorlautes Kind! Du gehst jetzt Erlebnis n oplevelse
sofort hinuber zum Doktor Bemstein! Und wenn du Sprechzimmer n kon­
sultationsværelse
is dich weigerst, dann solist du mich einmal kennenler-
Hohngelåchter n hån­
nen!« latter
So schrie die Mutter und drohte mit der Hånd. atemlos åndeløst
Inge wollte nicht ungehorsam sein und ging. Ging ... Was mag hvad mon
hinuber zum Judenarzt Doktor Bemstein!
20 Inge sitzt im Vorzimmer des Judenarztes. Sie mufi
lange warten. Sie blåttert in den Zeitschriften, die auf
dem Tisch liegen. Aber sie ist viel zu unruhig, als dafi sie
nur einige Såtze lesen konnte. Immer wieder muS sie an
das Gespråch mit der Mutter denken. Und immer wie-
25 der kommen ihr die Wamungen ihrer BDM-Mådel-
schaftsfuhrerin in den Sinn: »Ein Deutscher darf nicht
zum Judenarzt gehen! Und ein deutsches Mådel erst
recht nicht! So manches Mådehen, das beim Judenarzt
Heilung suchte, fand dort Sieehtum und Schande!«
30 AIs Inge das Wartezimmer betreten hatte, hatte sie ein
sonderbares Erlebnis gehabt. Aus dem Sprechzimmer
des Arztes klang ein Weinen. Sie horte die Stimme eines
Mådchens: »Herr Doktor! Herr Doktor! Lassen Sie mich
in Ruhe!«
35 Dann hor te sie das Hohngelåchter eines Mannes.
Dann war es auf einmal ganz still. Atemlos hatte Inge
zugehort. »Was mag das alles zu bedeuten haben?«
fragte sie sich, und ihr Herz klopfte bis zum Halse hin-
auf. Und wieder dachte sie an die Wamungen ihrer
40 BDM-Fuhrerin. -
Inge wartete schon eine Stunde lang. Wieder greift sie

M
Abb. 6. Origimlillustration zu Text 6 von Fips (Philipp Rupprecht), der viele antisemi-
tische Karikaturen zeichnete.

20.
nach den Zeitschriften und versucht zu lesen. Da offnet Teufel m djævel
sich die Tiire. Inge blickt auf. Der Jude erscheint. Ein verbogen krum
Schrei dringt aus Inges Mund. Vor Schreck lafit sie die Verbrecher- forbryder-
wulstig fyldig
Zeitung fallen. Entsetzt springt sie in die Hohenlhre Grinsen n grin
Augen starren in das Gesicht des jiidischen Arztes. Und fleischig tyk; »kødfidd«
dieses GesTcht ist das Gesicht des Teufels. Mitten in die­ sich fassen genvinde
sem Teufelsgesicht sitzt eine riesige, verbogene Nase. fatningen
Hinter den Brillenglasern funkeln zwei Verbrecherau- zupacken gribe fat
gen. Und um die wulstigen Lippen spielt ein Grinsen. entsetzt forfærdet
beschamt flov;
10 Ein Grinsen, das sagen will: »Nun hab ich dich endlich, beskæmmet
kleines, deutsches Madchen!« Vorwurf m bebrejdelse
Und dann geht der Jude auf sie zu. Seine fleischigen Miihe f besvær
Finger greifen nach ihr. Nun aber hat sich Inge gefafit. Trane f tåre
Noch ehe der Jude zupacken kann, schlagt sie mit ihrer ins Wort fallen afbiyde
15 Hånd in das fette Gesicht des Judenarztes. Dann ein allmahlich efterhånden
Sprung zur Tiire. Atemlos rennt Inge die Treppe hinun- É
ter. Atemlos stiirzt sie aus dem Judenhaus. Weinend
kommt sie zu Hause an. Die Mutter erschrickt, als sie ihr
Kind sieht. »Um Gottes willen, Inge! Was ist passiert?«
20 Es dauert lange, ehe das Kind nur ein Wort sprechen
kann. Dann aber erzåhlt Inge ihr Erlebnis beim Juden-
arzt. Entsetzt hort die Mutter zu. Und als Inge ihre
Erzahlung beendet hat, senkt die Mutter beschamt den
Kopf.
25 »Inge, ich hatte dich doch nicht zu einem Judenarzt
schicken sollen. Als du fort warst, da machte ich mir
schon Vorwiirfe. Ich hatte keine Ruhe mehr. Am hebsten
hatte ich dich gleich wieder zuriickgeholt. Ich ahnte
plotzlich, dafi du doch recht hattest. Ich ahnte, dafi dir
30 etwas zustoSen wiirde. Aber nun ist alles doch noch gut
gegangen. Gott sei Dank!«
So stohnt die Mutter und hat Miihe, ihre Tranen zu
verbergen.
Allmahlich hat sich Inge beruhigt. Nun lachelt sie
35 schon wieder. »Mutter, du hast mir schon so viel Gutes
getan. Ich danke dir dafur. Aber eines mufit du mir jetzt
versprechen: fiber den BDM ...«
Die Mutter fållt ihrem Kind ins Wort.
»Ich weiB schon, was du sagen willst, Inge. Ich ver-
40 spreche es dir. So allmahlich merke ich, dafi man sogar
von euch Kindem etwas lernen kann.«
Inge nickt. Spruch m fyndord;
»Du hast recht Mutter. Wir BDM-Madels, wir wissen »guldkorn«
schon, was wir wollen, auch wenn ihr uns nicht immer Ehre f ære
gesunden blive sund
so ganz versteht. Mutter, du hast mich friiher so man-
og rask
5 chen Spruch gelehrt. Heute will ich dir einen Sprudl Heilkunst f lægekunst
sagen, den du dir merken mufit!« ... gefunden = gefun­
Und langsam und bedeutungsvoll spridit Inge: den hat »finder«
»Den Judenarzt im deutschen Land Sinn m (her) sindelag
Hat uns der Teufel hergesandt. furderhin frn nu af
io Und wie der Teufel schandet er
Die deutsche Frau, die deutsche Ehr'.
Das deutsdie Volk wird nicht gesunden,
Wenn es nicht bald den Weg gefunden
Zu deutscher Heilkunst,
15 deutschem Sinn,
Zum deutschen Arzte furderhin.«

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