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Die Entstehung der Angelsachsen

Chapter · January 2012


DOI: 10.1515/9783110273618.429

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1 author:

Heinrich Härke
Higher School of Economics Moscow
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Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven
nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde
RGA-E-Band 77 – Seiten 429–458
© De Gruyter 2012 • Berlin • Boston

Die Entstehung der Angelsachsen


Heinrich Härke

Zweck dieses Beitrags soll der Entwurf eines archäologischen Modells der
angelsächsischen Ethnogenese im nachrömischen Britannien sein. Zeitlich
und geographisch bleiben die Betrachtungen auf das 5. bis 7./8. Jahrhundert
n.Chr. in England beschränkt (Abb. 1). Aspekte der angelsächsischen Auswan-
derung vom Kontinent werden hier ebenso ausgeklammert wie die Frage des
Beitrags der wikingerzeitlichen Einwanderung aus Skandinavien zur engli-
schen Ethnogenese. Der thematische Schwerpunkt ist die Rolle der einheimi-
schen britonischen Bevölkerung in diesem ethnogenetischen Prozess; metho-
disch liegt der Schwerpunkt auf einer interdisziplinären Perspektive, besonders
den Erkenntnissen, die sich aus der Anwendung naturwissenschaftlicher Me-
thoden ergeben haben.

Zum Stand der Diskussion

Auch wenn die Forschungsgeschichte hier nicht im Vordergrund stehen soll,


so müssen doch einige einleitende Bemerkungen zum Stand der Diskussion
gemacht werden, um die nachfolgenden Überlegungen in einen Forschungs-
zusammenhang stellen zu können. Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts
beruhten die Vorstellungen zu Ursprung und Herausbildung der Angelsach-
sen weitgehend auf den wenigen Schriftquellen für das nachrömische Eng-
land. Demnach wären die Angelsachsen Mitte des 5. Jahrhunderts aus Nord-
deutschland und Jütland eingewandert, hätten die Einheimischen getötet,
vertrieben oder versklavt und sich in einem Vorgang ‚ethnischer Säuberung‘
den Süden und Osten der Insel untertan gemacht.1 Archäologische Erkennt-

1 Diese Quellen sind in erster Linie das Traktat des keltischen Mönch Gildas, die Kir-
chengeschichte von Beda Venerabilis sowie die Angelsächsische Chronik. Gildas:
De Excidio et Conquestu Britanniae, hrsg. von Michael Winterbottom. Arthurian
Period Sources 7 (London, Chichester 1978); Beda: Historia Ecclesiastica Gentis

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Abb. 1: Lage der im Text erwähnten Fundorte und Landschaften.

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nisse und die Ortsnamenforschung dienten im Wesentlichen der Veran-


schaulichung und Ergänzung des historischen Bildes, was inhaltlich und
methodisch kaum über Ansätze der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (oder
gar des späten 19. Jahrhunderts) hinausging.2 Der Schwerpunkt lag zumeist
auf der Rekonstruktion der Einwanderungs- und Eroberungsgeschichte,
wobei die Wanderung als eine direkte Übertragung ethnischer Gruppen und
Identitäten vom Festland auf die Insel vorgestellt und die Herausbildung der
Engländer als das Zusammenwachsen der eingewanderten Stämme der An-
geln, Sachsen und Jüten, mit Einsprengseln anderer Herkunft, aufgefasst
wurde.3
Ab dem Ende der 1980er Jahre gab es dann ein Umdenken, dessen Ur-
sprung allerdings eher in theoretischen Strömungen der Vorgeschichtsfor-
schung als in neuen Daten der Frühgeschichte lag, obwohl ein weiterer An-
stoß sicher aus der kritischen Neubewertung der Schriftquellen kam.4 Im
Einklang mit der Wanderungsfeindlichkeit (‚immobilism‘ in den ironischen
Worten von Christopher Hawkes)5 der Processual (New) Archaeology, die
mit einiger Verspätung auch die britische Frühgeschichtsforschung erreicht

Anglorum, hrsg. von Bertam Colgrave, Roger A.B. Mynors. Oxford Medieval
Texts (Oxford 1969); Angelsächsische Chronik, hrsg. von Dorothy Whitelock.
English historical documents c. 500–1042. 2. Aufl. (London, New York 1979).
2 Siehe besonders die sogenannte ‚Teutonist controversy‘ des späten 19. Jahrhun-
derts; Michael Biddiss (Hrsg.), Images of race. The Victorian Library (New York
1979); Hugh A. MacDougall, Racial myth in English history: Trojans, Teutons and
Anglo-Saxons (Montreal u.a. 1982).
3 Edward Thurlow Leeds, The archaeology of the Anglo-Saxon settlements (Oxford
1913); Robin G. Collingwood, John N.L. Myres, Roman Britain and the English
settlements to about 600 A.D. Oxford History of England 1 (Oxford 1936); Frank
M. Stenton, Anglo-Saxon England. Oxford History of England 2 (Oxford 1943);
Kenneth Cameron, English place-names (London 1961); Hans Kuhn, Artikel „An-
gelsachsen. I. Sprachliches“. In: RGA 1 (1973), S. 303–306; David M. Wilson,
„Angelsachsen. II. History; III. Archaeology“. In: RGA 1 (1973), S. 306–318; Mar-
garet Gelling, Signposts to the past (London 1978); John N. L. Myres, The English
settlements (Oxford 1986).
4 David N. Dumville, Sub-Roman Britain: history and legend. History 62, 1977,
S. 173–192; Patrick Sims-Williams, The settlement of England in Bede and the
Chronicle. Anglo-Saxon England 12, 1983, S. 1–41; Patrick Sims-Williams, Gildas
and the Anglo-Saxons. Cambridge Medieval Celtic Studies 6, 1983, S. 1–30; Bar-
bara Yorke, Fact or fiction? The written evidence for the fifth and sixth centuries
AD. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 6, 1993, S. 45–50.
5 Christopher Hawkes, Archaeologists and Indo-Europeanists: Can they mate?
Hopes and hindrances. In: Proto-Indo-European: The archaeology of a linguistic
problem. Studies in honour of Marija Gimbutas, hrsg. von Susan N. Skomal, Edgar
C. Polomé (Washington, D.C.), S. 202–213, hier S. 202; zur Wanderungsfeindlich-
keit siehe Heinrich Härke, Wanderungsthematik, Archäologen und politisches

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hatte, wurde in Publikationen dieser Forschungsphase oft versucht, den Um-


fang der angelsächsischen Einwanderung möglichst (und manchmal auch
unmöglich) tief anzusetzen, bis hin zu nur einigen Tausend Einwanderern.6
Die logische Konsequenz dieses Ansatzes war demnach die Vorstellung,
dass die Angelsachsen fast ausschließlich von den einheimischen Britonen
abstammten, die nach dem Abzug der Römer lediglich die Kulturattribute
und Sprache der verschwindend wenigen Einwanderer angenommen hät-
ten.7 Die einzigen neuen Daten, die in dieser Phase einen Einfluss auf die
Diskussion hatten, waren paläobotanische Ergebnisse, die eine weitgehende
Kontinuität der offenen römerzeitlichen Kulturlandschaft, eventuell sogar in
einigen Fällen Flurformen, in die nachrömische Zeit anzeigten.8
Die letzten zehn Jahre waren dann gekennzeichnet vom Einfluss neuer
biologischer Daten (DNS und stabile Isotopen) auf die Debatte sowie auf ar-
chäologisch-historischer Seite von Versuchen, die Rolle der einheimischen
Bevölkerung näher zu präzisieren und ein vorläufiges Fazit aus der laufen-
den Debatte zu ziehen.9 Die neuen Daten bestätigen ironischerweise angeb-

Umfeld. Archäologische Informationen 20, Heft 1, 1997, S. 61–71; Heinrich Härke,


The debate on migration and identity in Europe. Antiquity 78, 2004, S. 453–456.
6 Christopher J. Arnold, Roman Britain to Saxon England. London. Croom Helm Stu-
dies in Archaeology (London 1984); Richard Hodges, The Anglo-Saxon achieve-
ment (London 1989), besonders S. 65; Nicholas Higham, Rome, Britain and the
Anglo-Saxons (London 1992), besonders S. 165.
7 Zuletzt Francis Pryor, Britain A.D.: A quest for Arthur, England, and the Anglo-
Saxons (London 2004).
8 Martin Bell, Environmental archaeology as an index of continuity and change in
the medieval landscape. In: The rural settlements of medieval England. Studies de-
dicated to Maurice Beresford and John Hurst, hrsg. von Michael Aston, David Aus-
tin, Christopher Dyer (Oxford, Cambridge/Mass. 1989), S. 269–286; Susan Petra
Day, Woodland origin and ‚ancient woodland indicators‘: a case-study from Sid-
lings Copse, Oxfordshire, UK. The Holocene 3, Heft 1, 1993, S. 45–53; Susan
Dark, Palaeoecological evidence for landscape continuity and change in Britain ca.
A.D. 400–800. In: External contacts and the economy of Late Roman and Post-
Roman Britain, hrsg. von Ken R. Dark (Woodbridge 1996), S. 23–51; Petra Dark,
The environment of Britain in the First Millennium AD (London 2000), gegen die
frühere Vorstellung einer Rodungskolonisation durch die angelsächsischen Siedler
bei William G. Hoskins, The making of the English landscape (London 1955).
9 Zur einheimischen Bevölkerung siehe insbesondere Heinrich Härke, Briten und
Angelsachsen im nachrömischen England: Zum Nachweis der einheimischen Be-
völkerung in den angelsächsischen Landnahmegebieten. Studien zur Sachsenfor-
schung 11, 1998, S. 87–119; Nicholas Higham (Hrsg.), Britons in Anglo-Saxon
England. Publications of the Manchester Centre for Anglo-Saxon Studies 7 (Wood-
bridge 2007); Zusammenfassungen des Forschungsstandes bei Heinrich Härke,
Kings and Warriors: Population and landscape from post-Roman to Norman Bri-
tain. In: The peopling of Britain: the shaping of a human landscape. The Linacre

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lich ‚veraltete‘ Vorstellungen: Untersuchungen zur rezenten DNS zeigten


eine genetische Verwandtschaft eines großen Teils der englischen Landbe-
völkerung mit Friesen, Norddeutschen und Dänen,10 und die vorläufigen Er-
gebnisse der ersten Gräberfeldanalysen mit stabilen Isotopen zeigten einen
deutlich größeren Anteil an Eingewanderten in den ersten Generationen als
von Wanderungsskeptikern (zu denen auch die Initiatoren der Isotopenpro-
jekte zu rechnen sind) erwartet.11 In diesen Fällen kam es auch zu enger Zu-
sammenarbeit von Naturwissenschaftlern und Archäologen, was sich beson-
ders auf die Interpretation der biologischen Daten auswirkte und zur Arbeit
an Modellen führte, welche die Diskrepanz zwischen naturwissenschaftli-
chen Resultaten und archäologisch-historischen Erwartungen erklären und
auflösen sollten.
Mit den neuen Daten und dem Aufbau informierter Gegenpositionen zu
den wanderungsfeindlichen Modellen der 1990er Jahre schwingt das Pen-
del im Moment zurück, und aus der Diskussion zwischen unreflektierten
konventionellen Vorstellungen und weitgehend datenfreier Kritik ist eine
immer noch gelegentlich hitzige, aber deutlich fruchtbarere Debatte über
Wanderungs- und Ethnogeneseprozesse der nachrömischen Zeit in Eng-
land entstanden. Für die nähere Zukunft versprechen besonders interdiszi-
plinäre Ansätze mit gemeinsamer Auswertung biologischer Daten (Anthro-
pologie, DNS, stabile Isotopen) und archäologischen Materials Erfolg,
und das im Folgenden vorgestellte Modell der angelsächsischen Einwan-
derung und Ethnogenese beruht auf solch einem Ansatz. Die bis vor
kurzem skeptische, vielfach auch offen ablehnende Einstellung der meisten
britischen Frühgeschichtler gegenüber Ansätzen mit der Verwendung biolo-
gischer Daten12 ist jetzt langsam im Schwinden, aber dennoch dürfen die

Lectures 1999, hrsg. von Paul Slack, Ryk Ward (Oxford 2002), S. 145–175; Cathe-
rine Hills, Origins of the English (London 2003).
10 Michael E. Weale, Deborah A. Weiss, Rolf F. Jager, Neil Bradman, Mark G. Tho-
mas, Y chromosome evidence for Anglo-Saxon mass migration. Molecular Biology
and Evolution 19, Heft 7, 2002, S. 1008–1021; Cristian Capelli, Nicola Redhead,
Julia K. Abernethy, Fiona Gratrix, James F. Wilson, Torolf Moen, Tor Hervig, Mar-
tin Richards, Michael P.H. Stumpf, Peter A. Underhill, Paul Bradshaw, Alom
Shaha, Mark G. Thomas, Neal Bradman, David B. Goldstein, A Y chromosome
census of the British Isles. Current Biology 13, 2003, S. 979–984.
11 Paul Budd, Andrew Millard, Carolyn Chenery, Sam Lucy, Charlotte Roberts, In-
vestigating population movement by stable isotope analysis: a report from Britain.
Antiquity 78, 2004, S. 127–140; Janet Montgomery, Jane A. Evans, Dominic Pow-
lesland, Charlotte A. Roberts, Continuity or colonization in Anglo-Saxon England?
Isotope evidence for mobility, subsistence practice, and status at West Heslerton.
American Journal of Physical Anthropology 126, 2005, S. 123–138.
12 Vgl. z.B. M.N. Mirza, D.B. Dungworth, The potential misuse of genetic analyses

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Probleme dieser Arbeitsweise nicht außer acht gelassen werden. Dazu gehö-
ren in erster Linie die problematische und weiterhin umstrittene Identifizie-
rung ethnischer Gruppen im archäologischen Fundgut sowie das Verhältnis
von biologischer Population zu kultureller Gruppe und ethnischer Identi-
tät.13 Die methodischen Probleme der Erkennung von Wanderungen sind im
Vergleich dazu schon besser erarbeitet.14

Wanderung und Landnahme

Zu den Wanderungsfaktoren, die einen direkten Einfluss auf die nach-


folgende Ethnogenese nehmen können und in diesem Fall sicher auch ge-

and the social construction of ‚race‘ and ‚ethnicity‘. Oxford Journal of Archaeology
14, 1995, S. 345–354; Hills, Origins (wie Anm. 9), S. 71.
13 Zu ethnischer Identifizierung nach archäologischen Funden allgemein Sian Jones,
The archaeology of ethnicity (London 1996); Stefan Burmeister, Nils Müller-
Scheessel (Hrsg.), Soziale Grenzen – kulturelle Grenzen. Die Interpretation sozialer
Identitäten in der Prähistorischen Archäologie. Tübinger Archäologische Taschen-
bücher 5 (Münster 2006); für die Frühgeschichte Sebastian Brather, Ethnische Iden-
titäten als Konstrukte der frühgeschichtlichen Archäologie. Germania 78, 2000,
S. 139–177; Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtli-
chen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. Ergänzungsbände
zum RGA Bd. 42 (Berlin, New York 2004); speziell für das nachrömische England
John Hines, The becoming of the English: Identity, material culture and language
in Early Anglo-Saxon England. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History
7, 1994, S. 49–59; Walter Pohl, Ethnic names and identities in the British Isles: a
comparative perspective. In: The Anglo-Saxons from the Migration Period to the
eighth century: an ethnographic perspective, hrsg. von John Hines. Studies in His-
torical Archaeoethnology 2 (Woodbridge 1997), S. 7–40; Heinrich Härke, Sächsi-
sche Ethnizität und archäologische Deutung im frühmittelalterlichen England.
Studien zur Sachsenforschung 12, 1999, S. 109–122; zusammenfassend zum Ver-
hältnis von biologischer, ethnischer und kultureller Identität Heinrich Härke, Ethni-
city, ‚race‘ and migration in mortuary archaeology: An attempt at a short answer.
In: Early medieval mortuary practices, hrsg. von Sarah Semple, Howard Williams.
Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 14 (Oxford 2007), S. 12–18; vgl.
auch die kurzen Bemerkungen dazu bei Heinrich Härke, Ethnogenese über Nacht:
Eine Anekdote mit ernsthaftem Hintergrund. In: Zweiundvierzig. Festschrift für
Michael Gebühr zum 65. Geburtstag, hrsg. von Stefan Burmeister, Heidrun Derks,
Jasper von Richthofen. Internationale Archäologie – Studia honoraria, 25 (Rahden/
Westf. 2007), S. 35–38.
14 Speziell zur angelsächsischen Wanderung siehe Stefan Burmeister, Migration und
ihre archäologische Nachweisbarkeit. Archäologische Informationen 19, 1996,
S. 13–21; Michael Gebühr, Überlegungen zum archäologischen Nachweis von
Wanderungen am Beispiel der angelsächsischen Landnahme in Britannien. Archäo-
logische Informationen 20, 1997, S. 11–24.

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nommen haben, zählen insbesondere der zahlenmäßige Umfang der Ein-


wanderung sowie die konkreten Formen der Landnahme. Die Frage der Ein-
wandererzahlen bildet seit einiger Zeit einen Schwerpunkt kontroverser Dis-
kussionen. Konkrete Zahlen werden in keiner Quelle genannt; die
mehrfache Erwähnung der Ankunft von Einwanderergruppen in jeweils drei
Schiffen in Bedas Kirchengeschichte und der Angelsächsischen Chronik
stellt eindeutig eine Metapher innerhalb eines Eroberungsmythos dar.15 Ar-
chäologische Funde wiederum erlauben wegen ihres selektiven und frag-
mentarischen Charakters prinzipiell kein direktes Ableiten absoluter Zahlen,
im Falle des nachrömischen Englands nicht einmal das relativer Einwande-
rerzahlen, da die einheimischen Britonen nach dem Ende der römischen
Zeit archäologisch unsichtbar werden und somit als Vergleichsgruppe aus-
fallen.16 Damit bleibt nur der Ansatz mittels biologischer Daten, aber auch
diese können nur relative Zahlen liefern, deren Umsetzung in absolute
Zahlen wiederum eine Kenntnis der einheimischen Bevölkerungszahl
voraussetzt.
Schätzungen der Bevölkerung des römischen Britannien schwanken in
der neueren Literatur zwischen 2 und 6 Millionen, wobei die genaueste und
sorgfältigste Berechnung, welche die Ergebnisse regionaler Landesaufnah-
men extrapoliert, auf eine Zahl von 3,7 Millionen für das späte 3./frühe 4.
Jahrhundert kommt.17 In der spätrömischen und subrömischen Zeit könnte
es durch Krankheiten und Hungersnot einen Rückgang gegeben haben,18
aber unabhängig von diesen spezifischen Faktoren ist ein vorübergehender
Bevölkerungsrückgang eine typische Begleiterscheinung von politischer und

15 Dazu besonders Sims-Williams, Settlement (wie Anm. 4); Yorke, Fact (wie
Anm. 4).
16 A. Simon Esmonde Cleary, The ending of Roman Britain (London 1989); A.
Simon Esmonde Cleary, Approaches to the differences between late Romano-
British and early Anglo-Saxon archaeology. Anglo-Saxon Studies in Archaeology
and History 6, 1993, S. 57–63; Heinrich Härke, Invisible Britons, Gallo-Romans
and Russians: Perspectives on culture change. In: Britons in Anglo-Saxon England,
hrsg. von Nicholas Higham. Publications of the Manchester Centre for Anglo-
Saxon Studies 7 (Woodbridge 2007), S. 57–67.
17 Martin Millett, The Romanization of Britain: an essay in archaeological interpreta-
tion (Cambridge 1990), S. 182 Tab. 8.5; eine Übersicht über frühere Schätzungen
findet sich ebenda Tab. 8.1; siehe auch die Erörterungen bei Michael E. Jones, The
end of Roman Britain (Ithaca, New York 1996), S. 13–17.
18 John Wacher, The towns of Roman Britain (London 1975), S. 415–416; vgl. aber
Malcolm Todd, Famosa pestis and Britain in the fifth century. Britannia 8, 1977,
S. 319–325. – ‚Subrömisch‘ (sub-Roman) ist die geläufige Bezeichnung für die
kurze Phase zwischen dem Abzug der römischen Truppen (407 n.Chr.) und dem
Beginn der angelsächsischen Einwanderung (Mitte des 5. Jahrhunderts).

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sozialer Instabilität, was sich ab 1989 auch auffällig in Osteuropa und Ost-
deutschland zeigte. Veranschlagt man also für das spätere angelsächsische
Siedlungsgebiet im Süden und Osten des römischen Britanniens eine Bevöl-
kerung von etwa 2 Millionen und setzt dann einen Rückgang auf die Hälfte
über anderthalb Jahrhunderte an, so wird man für den Beginn der angelsächsi-
schen Landnahme um die Mitte des 5. Jahrhunderts mit einer einheimischen
Bevölkerung von gut 1 Million rechnen können. Diese Zahl wird bei weiteren
Berechnungen zugrunde gelegt, zumal sie sich auch sehr gut mit den Berech-
nungen der Bevölkerung Englands im 11. Jahrhundert verträgt.19
Die Ergebnisse einer an frühangelsächsischem Skelettmaterial vorge-
nommenen Oxforder Pilotstudie von alter Mitochondrien-DNS, die nur in
der weiblichen Linie vererbt wird, würden eine weibliche Maximaleinwan-
derung von 20% bedeuten, aber sie wurden in den 1990er Jahren noch vor
der Publikation wegen Bedenken hinsichtlich der Datenqualität zurückgezo-
gen.20 Die in letzter Zeit häufiger angefertigten Analysen von rezenter Y-
Chromosom-DNS, das nur in der männlichen Linie vererbt wird, haben den
Vorteil, dass sie technisch einfacher und schneller sind, somit auch größere
Untersuchungsreihen erlauben; der Einsatz rezenter Analysen für historische
Fragestellungen wird durch die im Vergleich zum Mitochondrien-DNS deut-
lich schnellere Mutationsrate der Mikrosatelliten der Y-Chromosom-DNS
ermöglicht, die eine ungefähre Datierung von Populationsereignissen (also
Ausbreitung, Einwanderung, katastrophale Bevölkerungsrückgänge etc.) er-
laubt. Ausgedehnte Analysenreihen von rezenter Y-Chromosom-DNS in der
heutigen Bevölkerung Großbritanniens haben in England eine introgressive
DNS identifiziert, die der Nordwesteuropas (also den historischen Auswan-
derungsgebieten) ähnlicher ist als der des westlichen und nördlichen Britan-
niens (also den Gebieten außerhalb der angelsächsischen Landnahme).
Zunächst führte dies zu einer Schätzung von 50% bis 100% Verdrängung
der einheimischen männlichen Bevölkerung.21 Eine breiter angelegte Unter-

19 Edward Miller, John Hatcher, Medieval England: Rural society and economic
change 1086–1348 (London 1978), S. 28–29.
20 Freundliche Mitteilung von Martin Richards (seinerzeit Oxford). Eine später in
Durham angefertigte Dissertation, für die die mt-DNS von Skelettmaterial aus
drei spätrömischen bzw. angelsächsischen Gräberfeldern analysiert wurde, hat
nichts zur Frage der angelsächsischen Einwanderung beigetragen; siehe Ana L.
Töpf, M. Tom P. Gilbert, Jack P. Dumbacher, A. Rus Hoelzel, Tracing the phylo-
geography of human populations in Britain based on 4th-11th century mtDNA
genotypes. Molecular Biology and Evolution 23, Heft 1, 2006, S. 152–161; Ana
L. Töpf, M. Tom P. Gilbert, Robert C. Fleischer, A. Rus Hoelzel, Ancient human
mtDNA genotypes from England reveal lost variation over the last millennium.
Biology Letters 3, 2007, S. 550–553.
21 Weale u.a., Y chromosome (wie Anm. 10).

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suchung zeigte dann regionale Unterschiede dieses genetischen Zustroms


auf (Abb. 2), mit Anteilen von 24,4% bis 72,3% und einem Durchschnitt
von 54,1% des introgressiven DNS.22 Zwar kann der Zeitpunkt dieses Zu-
stroms nur allgemein auf die späte Eisenzeit bis Wikingerzeit datiert werden,
aber innerhalb dieses Zeitraums stellt die angelsächsische Wanderung die
offensichtlich grösste und damit wahrscheinlichste Ursache dar.
Analysen stabiler Isotopen, welche im gefundenen Knochenmaterial das
Isotopenverhältnis bestimmter Elemente (für Herkunftsfragen vornehmlich
Sauerstoff und Strontium, für Ernährungsfragen eher Kohlenstoff und Stick-
stoff) feststellen, ermöglichen im Idealfall die Identifizierung einzelner Ein-
wanderer und ihrer Herkunftsgebiete, liegen bisher aber nur für wenige an-
gelsächsische Gräberfelder vor. Die Untersuchung von West Heslerton hat
ein beträchtliches Maß an interner Mobilität innerhalb Britanniens und Ein-
wanderung von außerhalb aufgezeigt, wobei in der ersten Generation der
Anteil der Einwanderer aus Skandinavien bzw. Mitteleuropa bei 17% liegt.23
Bisher unpublizierte Analysen aus frühangelsächsischen Gräberfeldern Ost-
englands zeigen einen noch höheren Anteil von Einwanderern.24 Die aus
Wasperton und Winchester-Lankhills vorgelegten Analysen belegen Ein-
wanderer zumeist aus Mittel- und Südeuropa, vermutlich Föderaten, bereits
für die spätrömische Zeit, wobei in Wasperton der Anteil bei 20% der analy-
sierten spätrömischen Individuen liegt.25
Die zahlreicheren anthropologischen Daten aus frühangelsächsischen
Gräberfeldern lassen in einer systematischen Kombination mit dem archäo-
logischen Befund Aussagen über das Zahlenverhältnis von Einwanderern zu
Einheimischen in angelsächsischen Siedlungen zu. Die Grundlage dafür
stellt die Identifizierung der angelsächsischen Waffenbeigabesitte des 5./6.
Jahrhunderts als ein soziales und symbolisches Merkmal der Familien mit
Migrationshintergrund dar.26 Im Schnitt einer Stichprobe von 47 Gräberfel-

22 Capelli u.a., Y chromosome (wie Anm. 10).


23 Budd u.a., Population movement (wie Anm. 11); vgl. Montgomery u.a., Continuity
(wie Anm. 11).
24 Samantha Lucy, unpubl. Konferenzvortrag beim Internationalen Sachsensympo-
sium, Cambridge 2004.
25 Janet Montgomery, Jane Evans, Carolyn Chenery, Oxygen and strontium isotopes.
In: Martin Carver, Catherine Hills, Jonathan Scheschkewitz, Wasperton: A Roman,
British and Anglo-Saxon community in central England (Woodbridge 2009),
S. 48–49; Jane Evans, Nicholas Stoodley, Carolyn Chenery, A strontium and oxy-
gen isotope assessment of a possible fourth century immigrant population in a
Hampshire cemetery, southern England. Journal of Archaeological Science 33,
2006, S. 265–272.
26 Heinrich Härke, „Warrior Graves“? The background of the Anglo-Saxon weapon

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Abb. 2: Heutige Verteilung der introgressiven Y-Chromosom-DNS in Britannien


(Karte von Mark G. Thomas auf der Grundlage der Daten von Capelli u.a., Y chro-
mosome, wie Anm. 10).

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Die Entstehung der Angelsachsen 439

dern beträgt der Anteil der Waffengräber 47% aller Männergräber. Wenn die
Männer ohne Waffenbeigabe tatsächlich alles einheimische Britonen sein
sollten, dann stellen angelsächsische Siedlungen ethnisch gemischte Ge-
meinschaften dar, mit einem insgesamt nahezu ausgewogenen Zahlenver-
hältnis von Einwanderern und Einheimischen. Britonische Enklaven auf lo-
kaler und regionaler Ebene27 werden dieses Verhältnis in Richtung von 1:2
oder 1:3 zugunsten der Einheimischen verschieben, und im Norden Eng-
lands ist mit insgesamt deutlich weniger Einwanderern zu rechnen, aller-
dings auch bei geringerer Bevölkerungsdichte. Es ist sehr schwierig, diese
zusätzlichen Faktoren angemessen zu berücksichtigen, aber für das gesamte
Siedlungsgebiet (Abb. 3) kann man auf dieser Grundlage vermutlich ein un-
gefähres Zahlenverhältnis von 1:4 ansetzen, d.h. einen Einwandereranteil
von etwa 20% der Gesamtbevölkerung.28
Eine Umsetzung der relativen in absolute Einwandererzahlen kann an-
hand der obigen Schätzung der Bevölkerungsgröße vorgenommen werden.
Nach den Analysen des rezenten Y-Chromosoms wäre mit etwa 250.000 bis
500.000 männlichen Einwanderern zu rechnen, nach der unpublizierten Pi-
lotstudie der alten Mitochondrien-DNS mit 100.000 weiblichen Einwande-
rern. Der Unterschied könnte mit dem für Wanderungen typischen Ge-
schlechterungleichgewicht erklärt werden, aber es spielen sicher auch andere
Faktoren hinein, insbesondere soziale Prozesse im Gefolge der Wanderung,
welche die genetischen Proportionen zugunsten dominanter Einwanderer
verschieben würden (siehe S. 449–450). Wenn das Muster stabiler Isotopen
in West Heslerton überall zutreffen sollte, hätte es insgesamt etwa 170.000
Einwanderer gegeben. Das anthropologische Modell setzt eine ursprüngliche
Einwanderung von etwa 200.000 voraus, wobei allerdings Faktoren wie
die typisch hohe Geburtenrate von Einwanderern und die Akkulturation
von Einheimischen zu einer Überrepräsentation der Einwanderer führen
dürfte, so dass die tatsächliche Einwanderung wohl näher an 100.000 anzu-
setzen wäre.
Bessere und verlässlichere Ergebnisse sind mit den bisher vorliegenden
Daten nicht zu erzielen, aber die sich ergebenden Zahlen aus den verschie-
denen Ansätzen decken sich hinreichend gut, und sie geben zumindest eine
Vorstellung von der wahrscheinlichen Größenordnung der angelsächsischen
Einwanderung. Selbst Kritiker aus den Reihen der Genetiker, welche einige

burial rite. Past & Present 126, 1990, S. 22–43; Heinrich Härke, Angelsächsische
Waffengräber des 5. bis 7. Jahrhunderts. Zeitschrift für Archäologie des Mittelal-
ters, Beiheft 6 (Köln, Bonn 1992).
27 Härke, Briten (wie Anm. 9).
28 Eine frühere Darstellung dieses Modells findet sich bei Härke, Ethnizität (wie
Anm. 13).

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440 Heinrich Härke

Abb. 3: Verbreitung der frühangelsächsischen Gräberfelder und Hügelgräber des 5.


bis 7. Jahrhunderts (nach der Karte in Härke, Waffengräber, wie Anm. 26, Abb. 4).

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Die Entstehung der Angelsachsen 441

Interpretationen der DNS-Resultate bezweifeln, stimmen der Schätzung


von 100.000 bis 200.000 Einwanderern explizit zu.29 Eine Wanderung
dieses Umfangs wäre für die nachrömische Zeit auch keineswegs unge-
wöhnlich, weder relativ zur einheimischen Bevölkerung noch in absoluten
Zahlen.30
Der Mangel an Seetransportkapazitäten wird in Diskussionen immer
wieder als ein Argument gegen eine Masseneinwanderung nach England
über den Kanal oder die Nordsee angeführt.31 Abgesehen davon aber, dass
es zumindest ein Indiz für eine angelsächsische Auswanderungsflotte gibt,32
spielen zeitlicher Rahmen und geographischer Raum, über den sich die Aus-
wanderung erstreckten, eine entscheidende Rolle. Legt man in diesem Fall
einmal die Maximalzahl von 200.000 Auswanderern über den Zeitraum von
einem Jahrhundert (siehe S. 442) zugrunde, so bleiben trotzdem nur 2000
Auswanderer, die pro Jahr transportiert werden mussten. Je nach Annahmen
über zusätzliche Fracht wären dies zwischen 100 und 200 Bootsladungen
für Schiffe vom Nydam-Typ.33 Wenn dazu sehr vorsichtig angenommen
wird, dass jedes Boot nur zwei Hin- und Rückfahrten pro Saison machen
konnte, dann erfordert der Transport der Auswanderer und ihrer Habe nur
etwa 50 bis 100 Boote im Raum zwischen Rheindelta und Südnorwegen.
Eine Computersimulation dieser Transportfrage führt zu einem ähnlichen
Ergebnis: der Transport von 250.000 Emigranten aus der westlichen Ostsee
und Jütland nach East Anglia hätte 38 Jahre gedauert, wenn dabei 20

29 Stephen Oppenheimer, The origins of the British: A genetic detective story (Lon-
don 2006); John E. Pattison, Is it necessary to assume an apartheid-like social struc-
ture in Early Anglo-Saxon England? Proceedings of the Royal Society B 275,
2008, S. 2412–2418.
30 Zu den Wandalen siehe Guido M. Berndt, Vandal ways, ways of the Vandals. In:
Neglected barbarians, hrsg. von Florin Curta (Turnhout, im Druck); zu den Ostgo-
ten siehe Peter J. Heather, Goths and Romans 332–489 (Oxford 1991), S. 302–303;
allgemein Lucien Musset, The Germanic invasions (London 1975); Malcolm Todd,
Migrants and invaders: The movement of peoples in the ancient world (Stroud
2001); Brian Ward-Perkins, The fall of Rome and the end of civilization (Oxford
2005); Peter Heather, The fall of the Roman Empire: A new history (London
2005).
31 Publiziert ist dieses Argument z.B. bei Michael E. Jones, The logistics of the
Anglo-Saxon invasions. In: Papers of the Sixth Naval History Symposium held at
the U.S. Naval Academy on 29–30 September 1983, hrsg. von Daniel M. Masterson
(Wilmington 1987), S. 62–69.
32 Siehe Torsten Capelle, Eine Auswanderungsflotte der Völkerwanderungszeit. Deut-
sches Schiffahrtsarchiv 11, 1988, S. 15–19.
33 Ole Crumlin Pedersen, Boats and ships of the Angles and Jutes. In: Maritime Celts,
Frisians and Saxons, hrsg. von Sean McGrail. Council of British Archaeology, Re-
search Report 71 (London 1990), S. 98–116, hier S. 105–111.

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442 Heinrich Härke

Nydam-Boote kontinuierlich jeweils zwischen Mai und August eingesetzt


worden wären.34
Die zeitliche Erstreckung der angelsächsischen Einwanderung über ein
volles Jahrhundert steht nicht in Frage, auch wenn über diesen Zeitraum mit
wechselnden Intensitäten zu rechnen ist. Die unstrittig frühesten germani-
schen Funde des Föderaten-Horizonts datieren an den Beginn des 5. Jahr-
hunderts, vielleicht sogar schon in das späte 4. Jahrhundert, gefolgt von
einer Intensivierung des Zustroms aus Norddeutschland und Dänemark ab
der Mitte des 5. Jahrhunderts und zusätzlicher Einwanderung aus dem frän-
kischen und skandinavischen Raum ab dem späten 5. Jahrhundert.35 Der
Vergleich von Keramik in Brandgräberfeldern an der unteren Elbe mit der
von Spong Hill und Caistor-by-Norwich im östlichen England zeigt, dass
enge Kontakte zwischen Aus- und Einwanderungsgebieten über zwei bis
drei Generationen hinweg bestanden haben müssen.36
Die Einwanderung muss demnach eher als ein lang andauernder Vorgang
verstanden werden, nicht als einmaliges oder kurzzeitiges Ereignis. Die zeit-
liche Dimension wiederum, zusammen mit den in ihrer Intensität wechseln-
den Auswanderungsgebieten, hat sicher Konsequenzen für geographische
Unterschiede des Landnahmevorgangs gehabt. In Sussex hat die erste An-
siedlung offenbar kontrolliert stattgefunden, denn die frühesten sächsischen
Funde aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts sind zwischen den Flüssen
Ouse und Cuckmere konzentriert und sparen das Gebiet um die große römi-
sche Stadt Noviomagus Reginorum (Chichester) aus; erst im 6. Jahrhundert
dehnt sich die Fundverbreitung auf den Rest von Sussex aus.37 In Wessex
könnte es zwei aufeinander folgende Vorgänge gegeben haben: eine frühe,
punktuelle Ansiedlung germanischer Einwanderer, die sich in der Verbrei-
tung früher Gräberfelder (mit Belegungsbeginn in der Mitte und zweiten
Hälfte des 5. Jahrhunderts) um Winchester, Salisbury und Dorchester zeigt,
gefolgt von einer fortschreitenden Eroberung durch eine ethnisch gemischte
Kriegergruppe am Ende des 5. und in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts,

34 Freundliche Mitteilung von Michael Gebühr (Schleswig).


35 Sonia Chadwick Hawkes, Gerald C. Dunning, Krieger und Siedler in Britannien
während des 4. und 5. Jahrhunderts. Berichte der Römisch-Germanischen Kommis-
sion 43–44, 1962–63, S. 155–228; Horst Wolfgang Böhme, Das Ende der Römer-
herrschaft in Britannien und die angelsächsische Besiedlung Englands im 5. Jahr-
hundert. Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 33, Teil 2, 1986,
S. 469–574; Hines, Becoming (wie Anm. 13), S. 52–53.
36 Martin Weber, Das Gräberfeld von Issendorf, Kreis Stade. Phil. Diss. (Universität
Hamburg 1996), S. 175–176.
37 Martin G. Welch, Late Romans and Saxons in Sussex. Britannia 2, 1971, S. 232–
237.

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Die Entstehung der Angelsachsen 443

über die in den Schriftquellen berichtet wird.38 In East Anglia spricht die
Dichte der Brandgräberfelder für eine massive Einwanderung und Ansied-
lung vollständiger Familiengruppen, die lange Zeit an ihrem mitgebrachten
Brandritus und ihrer materiellen Kultur festhielten.39 Im Gegensatz zu Wes-
sex und den West Midlands scheinen Kriegergruppen hier kaum eine Rolle
gespielt zu haben, trotz der frühen Föderatenansiedlung um Norwich. Für
Bernicia, das nördlichste geschlossene Siedlungsgebiet germanischer Ein-
wanderer, gibt es schon seit einiger Zeit die Vorstellung einer handstreichar-
tigen Übernahme des britonischen Königreiches durch eine kleine Gruppe
von Angeln, aber ohne darauffolgende breite Bauernansiedlung von Ein-
wanderern, wodurch viele einheimische Züge der lokalen Kultur dort erhal-
ten blieben.40 Allerdings wird diese Vorstellung nach der Entdeckung größe-
rer angelsächsischer Gräberfelder wie Norton und West Heslerton etwas
modifiziert werden müssen.41

Ethnogenetische Prozesse

Es kann als gesichert gelten, dass die germanischen Einwanderer in das


nachrömische Britannien einer Vielzahl von ethnischen Gruppen angehör-
ten.42 Bedas Kirchengeschichte enthält zwei verschiedene Listen von ‚Stäm-

38 Martin Biddle, Hampshire and the origins of Wessex. In: Problems in economic
and social archaeology, hrsg. von Gale de Giberne Sieveking, Ian H. Longworth,
K.E. Wilson (London 1976), S. 323–342; Bruce Eagles, The archaeological evi-
dence for settlement in the fifth to seventh centuries AD. In: The medieval land-
scape of Wessex, hrsg. von Michael Aston, Carenza Lewis. Oxbow Monograph 46
(Oxford 1994), S. 13–32. Die widersprüchliche Datierung der Einwanderung in
Wessex nach den Funden und in der Angelsächsischen Chronik ist bereits Leeds,
Archaeology (wie Anm. 3), S. 52–55, aufgefallen; siehe dazu die vergleichende
Karte bei Heinrich Härke, Material culture as myth: weapons in Anglo-Saxon gra-
ves. In: Burial and society: the chronological and social analysis of archaeological
burial data, hrsg. von Claus Kjeld Jensen, Karen Høilund Nielsen (Aarhus u.a.
1997), S. 119–127, hier S. 121 Fig. 1.
39 Böhme, Ende (wie Anm. 35).
40 Leslie Alcock, Quantity or quality: the Anglian graves of Bernicia. In: Angles, Sax-
ons and Jutes, hrsg. von Vera I. Evison (Oxford 1981), S. 168–183.
41 Stephen J. Sherlock, Martin G. Welch, An Anglo-Saxon cemetery at Norton,
Cleveland. Council for British Archaeology, Research Report 82 (London 1992);
Christine Haughton, Dominic Powlesland, West Heslerton: the Anglian cemetery
(Yedingham 1999).
42 Der Begriff ‚Stamm‘ wird hier im Interesse terminologischer Klarheit vermieden,
weil er in erster Linie eine Gesellschaftsform bezeichnet und in diesem Sinne auch
international benutzt wird (‚tribe‘).

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444 Heinrich Härke

men‘, die an der Einwanderung beteiligt waren: die allgemein bekannte


Liste mit Angeln, Sachsen und Jüten sowie eine zweite Liste mit Friesen,
Rugiern, Hunnen, Altsachsen und Brukterern.43 Die ethnische Deutung ar-
chäologischer Funde bestätigt Beda im Großen und Ganzen, fügt aber mög-
liche weitere Gruppen zu den Listen hinzu: Franken im Süden der Insel,
mindestens einen Goten im Südwesten sowie Skandinavier aus Südnorwe-
gen im Osten.44 Es gibt eine Reihe archäologischer und onomastischer Indi-
zien, die darauf hin deuten, dass diese Gruppen sich wohl kaum in den eth-
nischen Blöcken niederließen, von denen Beda berichtet.45 Diese auch aus
praktischen Gründen zu erwartende Gemengelage von Einwanderern mit
örtlichen und regionalen Schwerpunktbildungen dürfte dann zur Vermi-
schung und Verschmelzung geführt haben, doch für diese Abläufe gibt es
keine erhellenden Funde oder Quellen, zumal die Einwanderergruppen ja
auch anthropologisch und genetisch nicht voneinander zu unterscheiden
sind. Interessant ist aber die Selektion einiger Identitäten (sächsisch, ang-
lisch, jütisch) als ‚Traditionskerne‘ für die Bildung neuer Stammeskönig-
tümer,46 während andere Identitäten, von denen man das auch hätte erwar-
ten können, es nicht so weit brachten. Zu den letzteren zählt die Gruppe der
fränkischen Kriegsführer, die auf der Grundlage charakteristischer Funde in
Waffengräbern Südenglands identifiziert worden ist;47 sie ging offenbar
ganz in der neuen regionalen Identität der Westsachsen und deren König-
reich auf.
Die Quellenlage für die einheimischen Britonen ist fast genau entgegen-
gesetzt, aber nicht weniger schwierig: archäologisch sind sie nach dem Ende
der römischen Zeit so gut wie unsichtbar, aber biologisch sind sie im Prinzip

43 Beda, Historia Ecclesiastica (wie Anm. 1), I.15 und V.9; Bedas Erwähnung von
Friesen wird bestätigt von Prokop; siehe Wilson, Angelsachsen (wie Anm. 3),
S. 307.
44 Zu Franken: Vera I. Evison, The fifth-century invasions south of the Thames (Lon-
don 1965); zum Goten: Catherine Hills, Henry Hurst, A Goth at Gloucester? Anti-
quaries Journal 69, 1989, S. 154–158; zur Einwanderung aus Skandinavien: John
Hines, The Scandinavian character of Anglian England in the pre-Viking period.
British Archaeological Reports 124 (Oxford 1984).
45 Härke, Ethnizität (wie Anm. 13), S. 110.
46 Zu Traditionskernen in der Stammesbildung siehe das grundlegende Werk von
Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung (Köln, Graz 1961); zur Be-
deutung des ethnischen und genealogischen Ursprungs auf dem Kontinent für die
regionale Stammesbildung in England siehe John Hines, Philology, archaeology
and the adventus Saxonum vel Anglorum. In: Britain 400–600: language and
history, hrsg. von Alfred Bammesberger, Alfred Wollmann (Heidelberg 1990),
S. 17–36; Hines, Becoming (wie Anm. 13); Pohl, Names (wie Anm. 13).
47 Evison, Invasions (wie Anm. 44).

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Die Entstehung der Angelsachsen 445

von den Einwanderern unterscheidbar. Die Argumente für das Überleben der
einheimischen Bevölkerung in den angelsächsischen Siedlungsgebieten brau-
chen hier nicht im Einzelnen wiederholt zu werden.48 Zu den wichtigsten In-
dizien gehören neben Erwähnungen in Schriftquellen, insbesondere den Ge-
setzen des Königs Ine von Wessex, zum einen die altenglischen Ortsnamen
auf walh-, die auf ‚Waliser‘ (Fremde, d.h. Britonen) hinweisen, zum anderen
eine kleine Zahl von als keltisch geltenden Artefakttypen aus angelsächsi-
schen Fundzusammenhängen, in erster Linie Ringfibeln mit Nadeldurch-
bruch und Hängebecken mit emaillierten Attaschen.49 Zusammengenommen
belegen diese Indizien ein Überleben von britonischen Handwerkern und En-
klaven bis in das 7./8. Jahrhundert, mit einer gestreuten Verbreitung über
ganz England (Abb. 4). Britonische Siedlungen oder Gräberfelder, die in die
nachrömische Zeit datierbar wären, sind aus den angelsächsischen Landnah-
megebieten nicht bekannt.50
Dafür sind die Britonen in der Karte der rezenten Y-Chromosom-DNS
erkennbar, wo sie regional unterschiedlich zwischen 27,5% und 75,6% der
heutigen männlichen Bevölkerung stellen (Abb. 2). Dieser Anteil spie-
gelt nur zum Teil das Überleben wider, denn er wurde vermutlich noch
durch soziale Prozesse nach der Landnahme abgesenkt (siehe S. 449–450).
Stabile Isotopenanalysen in den angelsächsischen Gräberfeldern von West
Heslerton und Wasperton haben gezeigt, dass zwischen 60% und 70% der
analysierten Individuen vor Ort aufgewachsen sind (siehe S. 437), aber dies
würde natürlich auch für die Nachkommen eingewanderter Siedler gelten.
Die anthropologischen Daten männlicher Körperbestattungen in frühan-
gelsächsischen Gräberfeldern können im Zusammenhang mit der Waffen-

48 Siehe die ausführliche Zusammenstellung bei Härke, Briten (wie Anm. 9), mit den
Detailverweisen und der Literatur; zur archäologischen Unsichtbarkeit vgl. Anm. 16.
49 Zu den Gesetzen von Ine siehe Die Gesetze der Angelsachsen, hrsg. von Felix Lie-
bermann (Halle 1903); zu Ortnamen auf walh- Kenneth Cameron, The meaning
and significance of Old English walh in English place-names. Journal of the Eng-
lish Place-name Society 12, 1979–1980, S. 1–53; zu den ‚keltischen‘ Fundtypen
siehe die Übersicht und die Zusammenstellung der Literatur bei Härke, Briten (wie
Anm. 9), S. 96–103.
50 Zum einheimischen Bestattungsritus zuletzt David Petts, Burial, religion and iden-
tity in sub-Roman and early medieval Britain: AD 400–800. Unpubl. Phil. Diss.
(University of Reading 2001); vgl. auch Elizabeth O’Brien, Post-Roman Britain to
Anglo-Saxon England: Burial practices reviewed. British Archaeological Reports
289 (Oxford 1999). Das früher spätrömisch bis nachrömisch datierte Gräberfeld
von Queenford Farm an der Oberen Themse ist nach neuen Radiokarbondatierun-
gen ausschließlich spätrömisch; Catherine M. Hills, Tamsin C. O’Connell, New
light on the Anglo-Saxon succession: two cemeteries and their dates. Antiquity 83,
2009, S. 1096–1108.

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446 Heinrich Härke

Abb. 4: Verbreitung der wichtigsten Indizien für britonische Populationen im nach-


römischen England (™ = walh-Ortsnamen nach Cameron, wie Anm. 49; ■ = Hänge-
becken und -attaschen nach Härke, Briten, wie Anm. 9, Abb. 4; ▲Ringfibeln mit
Nadeldurchbruch, nach Karte ebda., Abb. 6).

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Die Entstehung der Angelsachsen 447

beigabesitte dahingehend interpretiert werden, dass die dahinterstehenden


Bestattungsgemeinschaften ethnisch-biologisch gemischt waren und die
Männer (und einige der Kinder) der Einwandererfamilien mit Waffen bestat-
tet wurden, die Männer der britonischen Familien dagegen ohne Waffen.51
Wenn die Waffengräber den Einwandereranteil richtig wiedergeben, so lag
er im 5./6. Jahrhundert lokal unterschiedlich zwischen 29.5 und 82.4 %, mit
einem Durchschnitt von 47%. Für die Frauengräber lässt sich eine ähnliche
Analyse nicht durchführen, weil die Beigabensitte dort deutlich vielschichti-
ger und komplizierter ist.52
Eine eingehende Analyse von Gräberfeldern mit hinreichend detaillierten
Daten führt zu zwei Modellen von Gemeinschaften im Süden Englands. Be-
rinsfield (in Wessex, bei Dorchester an der oberen Themse) stellt den klarsten
Fall des ersten Typs dar, der wahrscheinlich die Folge einer Einwanderung ge-
schlossener Familiengruppen war.53 Hier liegt der Waffengräberanteil bei
64% der adulten Männer, nicht viel über dem regionalen Schnitt von 53%.
Die chronologische Abfolge der Gräber lässt drei parallel belegte Gräberfeld-
bereiche erkennen, die jeweils das Bestattungsareal einer sozialen Gruppe von
etwa 10 bis 15 lebenden Personen darstellten. Gräber von unterschiedlichem
Status wie auch Männergräber mit und ohne Waffen finden sich in allen drei
Arealen. Im südöstlichen Areal liegen genügend anthropologische Daten vor,
um sagen zu können, dass Männer mit und ohne Waffen unterschiedliche epi-
genetische (nicht-metrische) Merkmale am Skelett aufweisen, wie sie inner-
halb von Familien beobachtet werden, ohne dass ihre Heritabilität im einzel-
nen nachgewiesen werden konnte.54 Diese Situation lässt sich am besten mit
der Existenz dreier großer Haushalte erklären, in denen jeweils Sachsen und

51 Die detaillierte Darstellung der Interpretation, des Argumentationsganges und der


zugrunde liegenden Daten findet sich bei Härke, Waffengräber (wie Anm. 26), be-
sonders S. 195–200, eine englische Zusammenfassung bei Härke, Warrior (wie
Anm. 26).
52 Siehe Nicholas Stoodley, The Spindle and the Spear: a critical enquiry into the
construction and meaning of gender in the early Anglo-Saxon burial rite. British
Archaeological Reports 288 (Oxford 1999).
53 Vorlage des Gräberfeldes durch Angela Boyle, Anne Dodd, David Miles, Andrew
Mudd, Two Oxfordshire Anglo-Saxon cemeteries: Berinsfield and Didcot. Thames
Valley Landscapes Monograph 8 (Oxford 1995), mit der Analyse durch Härke auf
S. 67–75. Eine neuere Analyse, welche die Interpretation hier im Großen und Gan-
zen stützt, wurde von Duncan Sayer, Community, kinship and household: An ana-
lysis of patterns in early Anglo-Saxon inhumation cemeteries. Unpubl. Phil. Diss.
(University of Reading 2007) durchgeführt.
54 Vgl. allgemein Bernd Herrmann, Gisela Grupe, Susanne Hummel, Hermann Piep-
enbrink, Holger Schutkowski, Prähistorische Anthropologie. Leitfaden der Feld-
und Labormethoden (Berlin u.a. 1990).

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448 Heinrich Härke

Britonen zusammen lebten, aber auf unterschiedlichem sozialen Niveau stan-


den und keine Mischehen eingingen, denn sonst wären die anthropologischen
Unterschiede nicht über die Belegungszeit des Gräberfeldes erhalten geblie-
ben. Es gibt hier keine lokale Kontinuität vom spätrömischen Gräberfeld
Queenford Farm, in einer Entfernung von nur 1 km, dessen Population andere
anthropologische Merkmale aufweist und eine andere Ernährung hatte.55
Das zweite Modell, wahrscheinlich die Folge der örtlichen Landnahme
einer Kriegergruppe, ist bei Stretton-on-Fosse (in den West Midlands, im
Grenzbereich von Wessex und Mercia) gegeben.56 Hier liegt der Waffengrä-
beranteil unter den adulten Männern bei 82%, deutlich über dem südenglischen
Durchschnitt. Unmittelbar neben dem angelsächsischen Gräberfeld fanden
sich zwei romano-britische Gräberfelder, und in diesem Fall gibt es sowohl
Kontinuität als auch Diskontinuität. So finden sich Spuren derselben textilen
Techniken in römerzeitlichen und angelsächsischen Gräbern (eine in England
ungewöhnliche Situation), und die epigenetischen Skelettmerkmale laufen
ebenfalls durch. Das anthropologische Material des angelsächsischen Gräber-
feldes zeigt aber auch das Erscheinen eines neuen Männertypus, der höher und
schlanker gewachsen war als die romano-britischen Männer. Die Gesamtsitua-
tion lässt sich am ehesten als Ergebnis einer Landnahme durch eine germani-
sche Kriegergruppe deuten, deren Mitglieder sich einheimische Frauen nah-
men. Falls dieser Typ der Landnahme in der Regel durch einen auffallend
hohen Anteil von Waffengräbern angezeigt wird, dann war er deutlich seltener
als der Typ der Landnahme durch Familiengruppen (Modell Berinsfield).
Ein drittes Model, das des sogenannten ‚Elitetransfers‘, hat Alcock für
die Landnahme in Bernicia angenommen, wo eine vermutlich nur kleine
Gruppe von Einwanderern die einheimische Führungsschicht ersetzte.57

55 Richard A. Chambers, The Late- and Sub-Roman cemetery at Queenford Farm,


Dorchester-on-Thames, Oxon. Oxoniensia 52, 1987, S. 35–69; B. T. Fuller, T. I.
Molleson, D. A. Harris, L. T. Gilmour, R. E. M. Hedges, Isotopic evidence for
breastfeeding and possible adult dietary differences from Late/Sub-Roman Britain.
American Journal of Physical Anthropology online, 2005, DOI 10.1002/
ajpa.20244; Hills, O’Connell, New light (wie Anm. 50).
56 Vorlage des Gräberfeldes durch William J. Ford, The Romano-British and Anglo-
Saxon settlement and cemeteries at Stretton-on-Fosse, Warwickshire. Transactions
of the Birmingham and Warwickshire Archaeological Society 106, 2002, S. 1–115.
Die hier zusammengefasste eigene Analyse der archäologischen und anthropologi-
schen Daten erfolgte auf der Grundlage der seinerzeit noch unpublizierten Gra-
bungsdokumentation und des anthropologischen Gutachtens von Ann Stirland.
57 Alcock, Quantity (wie Anm. 40); ähnlich schon Brian Hope-Taylor, Yeavering: an
Anglo-British centre of early Northumbria. Department of Environment Archaeolo-
gical Reports 7 (London 1977), S. 282; dagegen Rosemary Cramp, Anglo-Saxon
settlement. In: Settlement in North Britain 1000 BC – AD 1000, hrsg. von John C.

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Die Entstehung der Angelsachsen 449

Hier im bevölkerungsarmen Nordengland, an der Nordgrenze des angel-


sächsischen Siedlungsgebietes, wäre demnach der Anteil der Britonen an
der Gesamtbevölkerung noch höher als im Süden.58
Der Verbleib der archäologisch unsichtbaren Britonen wird durch diese
drei ethnischen Modelle allerdings nur zum Teil erklärt. Angesichts der
Größe der einheimischen Bevölkerung ist es schwer vorstellbar, dass alle
Britonen in angelsächsischen Siedlungen gelebt haben sollten, denn ange-
sichts der sich aus den Modellen ergebenden Zahlenverhältnisse würde dies
eine riesige Einwandererzahl, etwa in derselben Größenordnung wie die der
einheimischen Bevölkerung, voraussetzen. Es muss also davon ausgegan-
gen werden, dass eine beträchtliche Zahl von Britonen in eigenen Enklaven
lebte, die eben zumeist archäologisch unsichtbar bleiben. Lokale Enklaven
werden durch Ortsnamen auf walh- angezeigt (Abb. 4), regionale Enkla-
ven durch Blöcke keltischer Orts- und Flussnamen, so im Heideland von
Essex und Suffolk, den Marschen der Fens, den Bergen der Pennines und
zwischen den Flüssen Tyne und Tees im Nordosten.59
Ein möglicherweise kontroverses Element des sich ergebenden ethni-
schen Bildes im 5./6. Jahrhundert (Abb. 5) dürfte der hier vorgeschla-
gene Mangel an Mischehen zwischen Angelsachsen und Britonen während
und kurz nach der Landnahme sein, doch historische, linguistische und ge-
netische Argumente stützen diese Deutung. Die Gesetzessammlung des Kö-
nigs Ine von Wessex nennt sechs Klassen von ‚Walisern‘ (Britonen), alle
auf niedrigerem, zumeist unfreiem Status; zugleich aber geht aus den Geset-
zen hervor, dass Sachsen und Britonen eng zusammen lebten, in mehreren
Fällen explizit im selben Haushalt.60 Diese Gesetze sind unlängst vom His-
toriker Woolf als Grundlage seiner Hypothese einer Apartheidgesellschaft
benutzt worden.61 Neuere linguistische Studien haben die Existenz eines

Chapman, Harold C. Mytum. British Archaeological Reports 118 (Oxford 1983),


S. 263–297, hier S. 269–271; Rosemary Cramp, Northumbria: the archaeological
evidence. In: Power and politics in early medieval Britain and Ireland, hrsg. von
Stephen T. Driscoll, Margaret R. Nieke (Edinburgh 1988), S. 69–78, hier S. 74.
Vgl. Anm. 40 und Anm. 41.
58 Vgl. Margaret Faull, British survival in Anglo-Saxon Northumbria. In: Studies in
Celtic survival, hrsg. von Lloyd Laing. British Archaeological Reports 37 (Oxford
1977), S. 1–55; Nicholas J. Higham, Britons in Northern England in the Early Mid-
dle Ages: Through a thick glass darkly. Northern History 38, Heft 1, 2001, S. 5–25.
59 Zu walh-Ortsnamen Cameron, Meaning (wie Anm. 49); zu regionalen Enklaven
Kenneth H. Jackson, Language and history in early Britain. Edinburgh University
Publications, Language & Literature 4 (Neuaufl. Edinburgh 1956), S. 235–238.
60 Erlassen zwischen 688 und 694 n.Chr.; Paragraphen 23.3, 24.2, 32, 33, 54.2, 74.1;
Gesetze der Angelsachsen (wie Anm. 49).
61 Alex Woolf, Apartheid and economics in Anglo-Saxon England. In: Britons in

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450 Heinrich Härke

Abb. 5: Modell der ethnisch-genetischen Zusammensetzung der Bevölkerung Eng-


lands vom 5. bis 9. Jahrhundert (schwarz: angelsächsische Immigranten und ihre
genetischen Nachfahren; gepunktet: akkulturierte Britonen mit materieller Kultur
angelsächsischen Typs; weiß: nicht akkulturierte Britonen).

keltischen Substratums im Altenglischen aufgezeigt und aus soziolinguisti-


scher Sicht wahrscheinlich gemacht, dass die beiden Sprachguppen eng zu-
sammen gelebt haben müssen, aber Mischehen selten gewesen sein dürften.62
Elemente von Apartheid finden sich auch in anderen ‚Eroberungsgesell-
schaften‘ des Frühmittelalters.63 Die Annahme vorübergehender Apartheid in
England hilft auch bei der Erklärung der Diskrepanz zwischen der rezenten
Häufigkeit der introgressiven Y-Chromosom-DNS (54%) und den Einwande-
reranteilen, die sich aus allen anderen Ansätzen ergeben (zwischen 10% und
20%). Computersimulationen der ethnischen Verhältnisse im Gefolge der
angelsächsischen Landnahme haben gezeigt, dass eine Kombination von
Statusunterschied und Apartheid auch bei einer proportional geringen Ein-
wanderung vergleichsweise schnell zu einer Überrepräsentation der DNS der
dominanten Einwanderer führt. Je nach Variablen wie dem Grad des Fort-
pflanzungsvorteils (als Folge des Statusunterschiedes, gemessen an den Dif-
ferenzen im Wergeld) und der Häufigkeit von Mischehen kann der Anteil des
introgressiven Y-Chromosom-DNS innerhalb von 15 Generation von 10%
auf bis zu 50% steigen.64

Anglo-Saxon England, hrsg. von Nicholas Higham (Woodbridge 2007), S. 115–


129. Auf der Grundlage der archäologisch-anthropologischen Daten ist diese These
bereits von Härke, Briten (wie Anm. 9), S. 113; Härke, Ethnizität (wie Anm. 13),
S. 118, vertreten worden.
62 Gary D. German, Étude sociolinguistique de l’Anglais du Pays de Galles. Unpubl.
Phil. Diss. (Université du Littoral 1996).
63 So z.B. unter dem westgotischen König Eurich; siehe P. David King, Law and so-
ciety in the Visigothic kingdom. Cambridge Studies in Medieval Life and Thought
5 (Cambridge 1972).
64 Mark G. Thomas, Michael P. H. Stumpf, Heinrich Härke, Evidence for an apart-

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Die Entstehung der Angelsachsen 451

Die Integration der einheimischen Bevölkerung

Das Bild ändert sich im 7./8. Jahrhundert durch eine zunehmende Akkul-
turation, wodurch früher unsichtbare Britonen archäologisch als ‘Angel-
sachsen‘ sichtbar werden, sowie eine Assimilierung von einheimischen
Populationen bei andauerndem Fortpflanzungsvorteil der von Einwande-
rern abstammenden Populationen, wodurch der Anteil der introgressiven
Y-Chromosom-DNS deutlich vergrößert wird (Abb. 5). Einzelheiten dieser
beiden Prozesse sind nicht immer erkennbar, aber die Prozesse werden als
solche vom Endergebnis einer spätestens im 9./10. Jahrhundert bestehenden
gemeinsamen englischen Kultur und Identität vorausgesetzt. Die Übernahme
der angelsächsischen materiellen Kultur durch die einheimischen Britonen
heißt noch nicht, dass sie sich nun auch als Angelsachsen fühlten; es fehlen
aber die Schriftquellen, die allein diese Frage beantworten könnten.
Der Akkulturationsprozess hat in manchen Fällen sicher schon vor dem
7./8. Jahrhundert eingesetzt, wie das Beispiel von Wallingford an der Oberen
Themse zeigt. Der altenglische Ortsname (‚die Furt der Leute des Walisers‘)
bezeichnet eine einheimische Siedlung in einer Landschaft mit zahlreichen
frühen angelsächsischen Gräberfeldern.65 Die einzigen nachrömischen Grä-
ber, die im heutigen Bereich der Kleinstadt gefunden wurden, gehören zu
einem kleinen Gräberfeld mit etwa 30 Gräbern, die zwar angelsächsische
Funde enthielten, aber keine Waffen.66 Falls dies tatsächlich der Friedhof der

heid-like social structure in early Anglo-Saxon England. Proceedings of the Royal


Society B 273, 2006, S. 2651–2657; Mark G. Thomas, Heinrich Härke, Gary Ger-
man, Michael P. H. Stumpf, Limited social constraints on interethnic marriage:
Unions, differential reproductive success and the spread of ‚continental‘ Y chromo-
somes in early Anglo-Saxon England. In: Simulation, genetics and human pre-
history, hrsg. von Shuichi M. Matsamura, Peter Forster, Colin Renfrew (Cambridge
2008), S. 61–70; zur Diskussion dazu siehe Pattison, Apartheid (wie Anm. 29);
Mark G. Thomas, Michael P. H. Stumpf, Heinrich Härke, Integration versus apart-
heid in post-Roman Britain: a response to Pattison. Proceedings of the Royal
Society B 275, 2008, S. 2419–2421. Weitere Arbeit mit einem demischen Modell
deutet an, dass für die Zunahme der Einwanderer-DNS das Ausmaß des Statusun-
terschiedes wahrscheinlich wichtiger ist als das Element der Apartheid (freundliche
Mitteilung von Mark Thomas).
65 Zum Ortsnamen siehe Margaret Gelling, The place-names of Berkshire, Part II.
English Place-Name Society 50 (Cambridge 1974), S. 535–536; zu den benachbar-
ten frühangelsächsischen Gräberfeldern siehe Tania Dickinson, The Anglo-Saxon
burial sites of the Upper Thames region, and their bearing on the history of Wessex,
circa AD 400–700. Unpubl. Phil. Diss. (University of Oxford 1976).
66 Edward Thurlow Leeds, An Anglo-Saxon cemetery at Wallingford, Berkshire.
Berkshire Archaeological Journal 42, 1938, S. 93–101. Da dies allerdings eine äl-

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452 Heinrich Härke

einheimischen Siedlung war, dann muss dies eine britonische Enklave gewe-
sen sein, die im 6. Jahrhundert (der Datierung des Gräberfeldes) bereits fast
vollständig akkulturiert war, aber noch im 7./8. Jahrhundert (als die Ortsna-
men auf walh- und -ingas entstanden) von den Altenglisch sprechenden
Nachbarn als ‚walisisch‘, d.h. britonisch, angesehen wurde.67 Am Südrand
der Fens in Ostengland, wo Jackson aufgrund onomastischer Indizien eine
regionale britonische Enklave vermutet, zeigt die Konzentration emaillierter
Fibeln einen etwas anderen Akkulturationsprozess an: hier kombinieren die
Einwohner im 6. Jahrhundert eine keltische Verzierungstechnik mit angel-
sächsischen Fibeltypen, die dann im Zusammenhang eines angelsächsischen
Ritus, der bekleideten Körperbestattung, ins Grab gelangten.68
In Siedlungen ist der Akkulturationsprozess noch schwieriger nachzuwei-
sen. In der späteisenzeitlichen und römerzeitlichen Siedlung Coombe Down
auf Salisbury Plain, einer dünn besiedelten Kreidehochebene in Wessex,
wurden bei Grabungen 1992 auch einige Scherben grasgemagerter Keramik
angelsächsischen Typs gefunden, die zugleich der einzige Hinweis auf eine
nachrömische Kontinuität dieser ansonsten einheimisch-eisenzeitlich anmu-
tenden Siedlung darstellt.69 Ein vielleicht ähnlicher Fall auf regionaler
Ebene liegt in Suffolk vor: die in römischer Zeit dicht besiedelten schweren
Lehmböden sind im 5. bis 7. Jahrhundert fast fundleer, haben eine dünne
Fundstreuung im 8./9. Jahrhundert und dann wieder eine große Funddichte
im 10./11. Jahrhundert. Dies könnte die Folge einer vorübergehenden Auf-
gabe und späteren Neubesiedlung der schweren Böden sein, die mit nachrö-
mischen Methoden nur schwer zu bearbeiten waren; es ist aber mindestens
ebenso wahrscheinlich, dass diese chronologische Abfolge die vorüberge-
hende Unsichtbarkeit der einheimischen Bevölkerung und ihre darauffol-
gende, langsame Akkulturation widerspiegelt.70

tere Rettungsgrabung im Stadtbereich war, könnte es sein, dass nicht alle dazuge-
hörigen Gräber gefunden worden sind.
67 Zu Ortsnamen auf walh- siehe Cameron, Meaning (wie Anm. 49); zu Ortnamen
auf ‑ingas siehe John MacN. Dodgson, The significance of the distribution of Eng-
lish place-names in ‑ingas, -inga- in south-east England. Medieval Archaeology
10, 1966, S. 1–29.
68 Zur britonischen Enklave in den Fens siehe Jackson, Language (wie Anm. 59),
S. 235–238; Thomas Charles Lethbridge, The Anglo-Saxon settlement in Eastern
England: a reassessment. In: Dark Age Britain, hrsg. von Donald B. Harden (London
1956), S. 112–122; zu emaillierten Fibeln am Rande der Fens siehe Christopher
Scull, Further evidence from East Anglia for enamelling on Early Anglo-Saxon me-
talwork. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 4, 1985, S. 117–124.
69 Freundliche Mitteilung von Roy Entwistle und Martin G. Fulford (Reading).
70 Stanley West, West Stow: the Anglo-Saxon village. East Anglian Archaeology, Re-
port 24 (Ipswich 1985), S. 168.

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Die Entstehung der Angelsachsen 453

Diese Akkulturation scheint ein weitestgehend einseitiger Vorgang gewe-


sen zu sein, und die daraus resultierende gemeinsame Kultur war eine angel-
sächsische, keine hybride Kultur. Dies gilt ebenso für die Sprache: die ein-
heimische Bevölkerung übernahm die altenglische Sprache und gab nach
einer Phase der Zweisprachigkeit die eigene auf.71 Es scheint nur wenige
Ausnahmen von dieser einseitigen Akkulturation zu geben. So könnte das
frühangelsächsische Haus von einem kleinen romano-britischen Bauern-
haustyp abstammen, wobei die Steinbauweise durch Holzbau ersetzt wurde.
Die Argumente dafür beruhen aber ausschließlich auf statistischen Analy-
sen, und dieser insularen Deutung ist aus kontinentaleuropäischer Sicht wi-
dersprochen worden.72 Die Rundhütte eisenzeitlich-römischen Typs in der
angelsächsischen Siedlung von Quarrington ist bisher ein Einzelfall ohne
Parallelen.73 Eine Ausnahme auf regionaler Ebene stellt Northumbria dar,
dessen Kultur deutliche keltische Beiträge zur Kunst und vielleicht auch zur
Sozialstruktur und Kampfesweise aufwies.74 Allerdings treten diese Bei-
träge am deutlichsten nach der Christianisierung im 7. Jahrhundert auf, was
nahelegt, dass sie ebenso gut auf Impulse aus dem christlichen Nordwest-
england, Schottland und Irland zurückgehen könnten wie auf die einheimi-
sche Bevölkerung in Northumbria.
Der biologische Prozess der Assimilierung der britonischen Bevölkerung
bzw. der Vermischung der beiden Populationen lässt sich mit archäologi-
schem Material kaum belegen, aber anthropologische Daten geben hier einige
Hinweise. Im 7./8. Jahrhundert sank die durchschnittliche Körperhöhe männ-

71 Jackson, Language (wie Anm. 59), S. 242–246; Hines, Philology (wie Anm. 46);
Hines, Becoming (wie Anm. 13); John Hines, Britain after Rome: between multi-
culturalism and monoculturalism. In: Cultural identity and archaeology: the con-
struction of European communities, hrsg. von Paul Graves-Brown, Sian Jones,
Clive Gamble (London, New York 1996), S. 256–270; Thomas Charles-Edwards,
Language and society among the insular Celts AD 400–1000. In: The Celtic world,
hrsg. von Miranda J. Green (London, New York 1995), S. 703–736.
72 Zusammenfassung der Debatte mit den Literaturverweisen bei Härke, Briten (wie
Anm. 9), S. 105.
73 Gary Taylor, An Early to Middle Saxon settlement at Quarrington, Lincolnshire.
Antiquaries Journal 83, 2003, S. 231–280.
74 Allgemein zum keltischen Beitrag zur Kultur in Northumbria Nora K. Chadwick,
The Celtic background of Early Anglo-Saxon England. In: Celt and Saxon, hrsg.
von Nora K. Chadwick (Cambridge 1963), S. 323–352; Leslie Alcock, Roman Brit-
ons and Pagan Saxons: an archaeological appraisal. Welsh History Review 3, 1966–
67, S. 228–249; Hope-Taylor, Yeavering (wie Anm. 57); Cramp, Northumbria (wie
Anm. 57); zur Sozialstruktur Alcock, Quantity (wie Anm. 40); zur Kavallerie in
Northumbria Nicholas Hooper, The Aberlemno stone and cavalry in Anglo-Saxon
England. Northern History 29, 1993, S. 188–196.

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454 Heinrich Härke

licher Individuen in angelsächsischen Gräberfeldern um 1,5 cm, in Wessex


gar um 2,4 cm, gegenüber dem Durchschnitt des 5./6. Jahrhunderts.75 Auf
Umwelteinflüsse lässt sich diese Entwicklung kaum zurückführen, und
Hinweise auf eine Veränderung der Ernährungsweise liegen für diesen Zeit-
raum nicht vor. Die wahrscheinlichste Deutung bestünde damit in der Akkul-
turation britonischer Enklaven, die dadurch ihre niedrigere Körperhöhe in
den angelsächsischen Durchschnitt einbrachten, in der Assimilierung britoni-
scher Populationen und in einer Zunahme von Mischehen zwischen Angel-
sachsen und Britonen.
Akkulturation und Assimilierung geschahen vor dem Hintergrund von
Veränderungen im Grabbrauch, die insgesamt auf eine Konzentration des
Reichtums und eine Verschärfung sozialer Unterschiede hinweisen. Im
7. Jahrhundert, parallel zum Auslaufen der Brandgräbersitte, ging auch die
Beigabensitte in den Körpergräbern zurück und lief schließlich im frühen
8. Jahrhundert aus. Während aber der Anteil beigabenloser Gräber zunahm,
blieb die durchschnittliche Ausstattung beigabenführender Bestattungen,
also auch diejenige der schrumpfenden Zahl von Waffengräbern, unverän-
dert.76 Gleichzeitig traten vom Ende des 6. Jahrhunderts an, überwiegend
aber im 7. Jahrhundert, sehr reiche Hügelgräber auf, welche die reichsten
Gräber des früheren 6. Jahrhunderts deutlich in den Schatten stellten.77 Vor

75 Härke, Waffengräber (wie Anm. 26), S. 196–199. Die unpublizierte, aber in der Li-
teratur gelegentlich zitierte Untersuchung von romano-britischem und angelsächsi-
schem Skelettmaterial aus Wessex durch Caroline M. Stuckert, Roman to Saxon:
population biology and archaeology. Unpubliziertes Vortragsmanuskript, Society
for American Archaeology Forty-Fifth Annual Meeting (Philadelphia 1980) beson-
ders S. 4–5, kam zu einem entgegengesetzten Ergebnis; siehe die Verwendung
ihres unpublizierten Manuskripts für wanderungsfeindliche Argumente bei Arnold,
Britain (wie Anm. 6), S. 129–130, und das sekundäre Zitat nach Arnold bei Hod-
ges, Achievement (wie Anm. 6), S. 32. Stuckert arbeitete aber mit einer sehr viel
kleineren Stichprobe, deren Gräber zudem nicht einzeln nach den Grabfunden, son-
dern nur ganz grob nach der Belegungszeit des jeweiligen Gräberfeldes datiert wur-
den, was eine zuverlässige Beurteilung der chronologischen Entwicklung natürlich
unmöglich macht.
76 Heinrich Härke, Changing symbols in a changing society: the Anglo-Saxon weap-
on burial rite in the seventh century. In: The age of Sutton Hoo, hrsg. von Martin
Carver (Woodbridge 1992), S. 149–165.
77 Christopher J. Arnold, Stress as a stimulus to socio-economic change: Anglo-
Saxon England in the seventh century. In: Ranking, resource and exchange. As-
pects of the archaeology of early European society, hrsg. von Colin Renfrew, Ste-
phen Shennan (Cambridge 1982), S. 124–131; Christopher J. Arnold, An archaeol-
ogy of the early Anglo-Saxon kingdoms (London, New York 1988); Deborah J.
Shephard, The social identity of the individual in isolated barrows and barrow cem-
eteries in Anglo-Saxon England. In: Space, hierarchy and society, hrsg. von Barry

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Die Entstehung der Angelsachsen 455

diesem Hintergrund ist es signifikant, dass gerade jetzt die Waffenbeigabe


nicht mehr mit größerer Körperhöhe korreliert war.78 Es sieht also so aus,
als ob nun die Waffenbeigabe eine neue, rein soziale Funktion bekam: der
rituelle Ausdruck des Sozialstatus einer offenbar zunehmend gemischten
Führungsschicht wurde jetzt, etwa anderthalb bis zwei Jahrhunderte nach
der Einwanderung, wichtiger als die rituelle Darstellung der ethnischen
Herkunft.
Die Hügelgräbersitte und die zunehmende Wiederverwendung älterer
Denkmäler, meist vorgeschichtlicher Grabhügel, stellen weitere Indizien
dar. Unabhängig von der Deutung der beiden Elemente ist es offensicht-
lich, dass sie einen starken autochthonen Bezug aufweisen, sei es durch
das Nachahmen einer vorgeschichtlichen Grabform, sei es durch das ge-
zielte Einbringen sekundärer angelsächsischer Bestattungen in vorge-
schichtliche Grabhügel.79 In England finden sich beide Formen nicht selten
nebeneinander am selben Fundort.80 Auf Lowbury Hill, wo das ältere
Denkmal eine römische Tempelanlage war, setzt sich der autochthone
Bezug bis in die Funde des angelsächsischen Grabhügels fort, der im 7.
Jahrhundert mit Material aus der römischen Einfriedung direkt neben die-
ser angelegt worden war.81 Zwar wurden auch schon im 5./6. Jahrhundert

C. Burnham, John Kingsbury. British Archaeological Reports S 59 (Oxford 1979),


S. 47–79; Stephen Pollington, Anglo-Saxon burial mounds: Princely burials in the
6th and 7th centuries (Swaffham 2008).
78 Härke, Waffengräber (wie Anm. 26), S. 197–198.
79 Shephard, Identity (wie Anm. 77) hat angelsächsische Grabhügel als Anspruch auf
Landbesitz durch die neue angelsächsische Elite gedeutet; Robert van de Noort,
The context of Early Medieval barrows in western Europe. Antiquity 67, 1993,
S. 66–73 sieht sie als heidnische Alternative zur Kirchengrablege. – Zur Wiederbe-
nutzung vorgeschichtlicher Denkmäler im angelsächsischen England siehe Eva
Thäte, Alte Denkmäler und frühgeschichtliche Bestattungen: Ein sächsisch-angel-
sächsischer Totenbrauch und seine Kontinuität. Archäologische Informationen 19,
1996, S. 105–116; Howard Williams, Ancient landscapes and the dead: the reuse of
prehistoric and Roman monuments as early Anglo-Saxon burial sites. Medieval Ar-
chaeology 41, 1997, S. 1–32; Howard Williams, Monuments and the past in early
Anglo-Saxon England. World Archaeology 30, Heft 1, 1998, S. 90–108; eine Über-
sicht über die europäische Diskussion zur frühmittelalterlichen Sitte der Wiederbe-
nutzung älterer Denkmäler findet sich bei Eva S. Thäte, Monuments and Minds.
Monument re-use in Scandinavia in the second half of the first millennium AD.
Acta Archaeologica Lundensia, series in 4°, No 27 (Lund 2007), S. 29–49, 75–97.
80 So bei Ford and Swallowcliffe Down, beide in Wessex, beide mit auffallend rei-
chen Gräbern; John Musty, The excavation of two barrows, one of Saxon date, at
Ford, Laverstock, near Salisbury, Wiltshire. Antiquaries Journal 49, 1969, S. 98–
117; George Speake, A Saxon bed burial on Swallowcliffe Down. English Heri-
tage, Archaeological Report 10 (London 1989).
81 Das Hängebecken und die Lanzenspitze, letzteres ein Unikat, hatten ‚keltische‘

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456 Heinrich Härke

ältere Denkmäler bei der Anlage angelsächsischer Friedhöfe wiederbe-


nutzt, aber mit der Anlage von Grabhügeln stieg im 7. Jahrhundert der An-
teil dieses Lagetyps um die Hälfte.82
Im Zusammenhang mit der Akkulturation und Assimilierung einer zu-
nehmenden Zahl von Britonen im 7./8. Jahrhundert macht die zunehmende
Betonung der einheimischen Vergangenheit durchaus Sinn. Zum einen
könnte sie ein britonischer Ausdruck einheimischer Wurzeln sein, zum an-
deren könnte sie aber auch eine Verschiebung der Herrschaftslegitimation
der angelsächsischen Führungsschicht von Eroberung (ausgedrückt in der
Waffenbeigabesitte) auf Status und einheimische Bezüge andeuten. Die
Christianisierung im 7. Jahrhundert machte solche neuen Bezüge auch not-
wendig, und die Wiederaufnahme der einheimischen Grabhügelsitte und die
‚einheimische‘ Platzierung solcher Grabhügel genau zu dieser Zeit stellen
eine interessante Parallele zum Umschreiben der angelsächsischen Herr-
schergenealogien nach der Christianisierung dar.83 Allerdings scheinen an-
dere Aspekte der Schriftquellen dieser Deutung der Wiederbenutzung frühe-
rer Denkmäler zu widersprechen. Die klaren ethnischen Unterscheidungen
in den Gesetzen von Ine sowie die ethnische Rhetorik in Bedas Kirchenge-
schichte und in der Angelsächsischen Chronik zeigen, dass es zumindest auf
der ideologischen Ebene keine größere Durchlässigkeit der ethnischen
Grenzen ab dem 7./8. Jahrhundert gab. Vielleicht aber wurden in den
Schriftquellen die ethnischen Grenzen gerade deswegen neu betont, weil sie
in der Realität bereits zu verschwimmen drohten.
Namen von Königen des 7. Jahrhunderts legen jedenfalls den Gedanken
an germanisch-britonische Mischehen zumindest auf höchstem Niveau
nahe. So ist der Name des westsächsischen Königs Cædwalla sicher kel-
tisch, der des Königs Penda von Mercia möglicherweise.84 Aber solche Hei-

Emailleverzierung; zu den Funden allgemein siehe Donald Atkinson, The Romano-


British site on Lowbury Hill in Berkshire (Reading 1916), S. 19–23; die Neuvor-
lage der Lanzenspitze sowie generell zur Deutung von Lage und Funden des Grab-
hügels siehe Heinrich Härke, Lowbury Hill, Oxon: A context for the Saxon barrow.
Archaeological Journal 151, 1994, S. 202–206.
82 Unter den seit 1945 ausgegrabenen und somit hinreichend gut dokumentierten an-
gelsächsischen Gräberfeldern und Grabhügeln steigt der Anteil von 47% im 5./6.
Jahrhundert auf 71% im 7./8. Jahrhundert; Williams, Landscapes (wie Anm. 79);
Heinrich Härke, Howard Williams, Angelsächsische Bestattungsplätze und ältere
Denkmäler: Bemerkungen zur zeitlichen Entwicklung und Deutung des Phäno-
mens. Archäologische Informationen 20, 1997, S. 25–27.
83 Zum Umschreiben der Genealogien siehe Charles R. Davis, Cultural assimilation
in the Anglo-Saxon royal genealogies. Anglo-Saxon England 21, 1992, S. 23–36.
84 Zu Cædwalla siehe Jackson, Language (wie Anm. 59), S. 244; zu Penda siehe
Chadwick, Background (wie Anm. 74), S. 336. Die alte Vorstellung, dass Cerdic,

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Die Entstehung der Angelsachsen 457

raten, in denen britonische Frauen ihren Kindern dann offenbar keltische


Namen gaben, waren sicher eher eine Frage der Staatsraison und die Folge
von politischen Verträgen zwischen benachbarten Herrscherhäusern, und sie
können kaum als Beleg für zunehmende ethnische Vermischung in den un-
teren sozialen Schichten dienen.

Schlussfolgerungen

Die insularen Angelsachsen waren unzweifelhaft das Ergebnis eines ethno-


genetischen Prozesses, in dem die Integration der einheimischen britoni-
schen Mehrheitsbevölkerung in die eingewanderten ethnischen Gruppen
vom europäischen Festland eine ganz wesentliche Rolle spielte. Die Ein-
wanderung selber muss man sich als eine über einen langen Zeitraum
erstreckende Serie von Landnahmen vorstellen, in der im Verlaufe eines
Jahrhunderts zwischen 100.000 und 200.000 Einwanderer auf die Insel
kamen, die aber wahrscheinlich nicht mehr als höchstens 20% der Gesamt-
bevölkerung stellten. Einwandererzahlen, geographische Zersplitterung und
Zeitrahmen bedeuten, dass es eine Reihe unterschiedlicher Siedlungs- und
Ethnogeneseabläufe gegeben haben dürfte.
Innerhalb dieser Abläufe lassen sich zwei oder drei Phasen unterschei-
den. In der Einwanderungsphase (5./6. Jahrhundert) kam es zur Bildung eth-
nisch gemischter Gemeinschaften, allerdings zunächst mit nur begrenzter
genetischer Vermischung von eingewanderten und einheimischen Populatio-
nen. Erst in einer zweiten Phase (überwiegend im 7./8. Jahrhundert) kam es
dann zunehmend zur Integration der Einheimischen in die Gesellschaft der
sozial und kulturell dominanten Einwanderer durch Akkulturation und Assi-
milierung (Abb. 5). Noch vor Beginn der breiteren Einwanderung könnte es
eine Phase gegeben habe, in der kleine Gruppen von Föderaten, z.T. aus den
späteren Auswanderungsgebieten, im spät- und subrömischen Britannien
angesiedelt wurden und dort ihre eigenen Identitäten weiterführten oder ent-
wickelten, aber die Quellenlage dazu ist deutlich problematischer als die für
die spätere Ethnogenese der Angelsachsen.
Es kann kaum ein Zufall sein, dass die Schaffung einer gemeinsamen
englischen Identität aus der Verschmelzung regionaler angelsächsischer und
separater britonischer Identitäten zusammenfällt mit den ersten Anzeichen
für Staatsbildungen in England.85 Die im gleichen Zeitrahmen ablaufende

der Gründer des westsächsischen Königreiches, einen keltischen Namen trug, geht
auf Jackson, Language (wie Anm. 59), S. 613–614 zurück, gilt aber nicht mehr als
sicher (freundliche Mitteilung von David Dumville, Aberdeen).
85 Zu früher Staatenbildung im angelsächsischen England siehe Arnold, Archaeology

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458 Heinrich Härke

Christianisierung (ab dem Ende des 6. Jahrhunderts) schaffte eine einheitli-


che ideologische Grundlage für beide Prozesse, die dann im 9. Jahrhundert
abgeschlossen sein dürften. Britonen sind nämlich in der Gesetzessammlung
von König Alfred nicht mehr erwähnt, obwohl sie in Ines Gesetzen, die
Alfreds Sammlung angefügt waren, mehrfach auftreten.86
Die besten Analogien für Schlüsselaspekte des oben vorgestellten Mo-
dells finden sich im normannischen England, wo die einheimische Bevölke-
rung einen niedrigeren sozialen und auch geringeren rechtlichen Status
besaß als die normannische Minderheit und wo Mischehen zunächst selten
waren,87 und besonders im Bereich der deutschen Ostsiedlung des Mittelal-
ters, wo aus der Vermischung deutscher Siedler mit einheimischen Popula-
tionen die ‚neuen Stämme‘ der Schlesier, Pommern und Preußen entstanden,
die sich als Deutsche verstanden, aber genetisch natürlich gemischt waren.88
In Ostpreußen hatten die vom Deutschen Orden ins Land gebrachten deut-
schen und holländischen Siedler anfangs einen besseren rechtlichen Status,
der sich an ihrer größeren Produktivität orientierte, bis dann über einen Pro-
zess der rechtlichen und wirtschaftlichen Angleichung der einheimischen
Bevölkerung ein kultureller und linguistischer Prozess in Gang kam, an
dessen Ende aus den dortigen Balten und Slawen ‚ethnische‘ Deutsche ge-
worden waren.89 Solche historischen Parallelen sollten bei zukünftigen For-
schungen zu diesem Beispiel und vielleicht auch anderen Vorgängen früh-
mittelalterlicher Ethnogenese stärker berücksichtigt werden, ohne dabei aus
den Augen zu verlieren, dass jeder Fall seine Eigenheiten aufweist und aus
seinem eigenen Kontext und auf der Grundlage seiner eigenen Quellen und
Daten verstanden werden muss.

(wie Anm. 77); Hodges, Achievement (wie Anm. 6); Steven Bassett (Hrsg.), The
origins of Anglo-Saxon kingdoms (Leicester 1989); Barbara Yorke, Kings and
kingdoms of early Anglo-Saxon England (London 1990), besonders Kap. 8; Chris-
topher Scull, Archaeology, early Anglo-Saxon society and the origins of Anglo-
Saxon kingdoms. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 6, 1993,
S. 65–82; Nicholas J. Higham, The convert kings: power and religious affiliation in
early Anglo-Saxon England (Manchester 1997).
86 Gesetze der Angelsachsen (wie Anm. 49).
87 George Garnett, Franci et Angli: the legal distinctions between peoples after the
conquest. Anglo-Norman Studies 8, 1985, S. 109–137.
88 Allgemein dazu Peter Erlen, Europäischer Landesausbau und mittelalterliche deut-
sche Ostsiedlung. Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 9
(Marburg 1992).
89 Hauptseminar über ‚Sozialgeschichtliche Aspekte der Eroberung Preußens durch
den Deutschen Orden‘, Prof. Reinhard Wenskus, Universität Göttingen, Sommerse-
mester 1973. Ich bin Prof. Wenskus sehr dankbar für die Gedankenanstöße, die ich
in seinem Hauptseminar erhalten habe; meines Wissens sind die dort behandelten
ethnogenetischen Aspekte von ihm nie veröffentlicht worden.

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